Marina Kojer Martina Schmidl Herausgeberinnen
Demenz und palliative Geriatrie in der Praxis Heilsame Betreuung unheilbar demenzkranker Menschen
Dr. Dr. Marina Kojer Wien, Österreich Dr. Martina Schmidl, MAS 1. Medizinische Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie, Geriatriezentrum am Wienerwald, Wien, Österreich
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ISBN 978-3-7091-0200-8 SpringerWienNewYork
Danksagung
Wir möchten allen Autorinnen und Autoren herzlich für die Geduld und Toleranz danken, mit der sie auf unsere Kritik an ihren Texten reagiert und unsere zahlreichen Änderungsvorschläge zur Kenntnis genommen haben. Herzlichen Dank schulden wir auch Herbert Tichova. Seine wunderschönen Fotos sind eine große Bereicherung für unser Buch. Ganz besonderer Dank aber gebührt Dr. Ulf Schwänke: Er ist uns von Anfang an mit Rat und Tat zur Seite gestanden, hat sich alle fertigen Texte mit großer Geduld und akribischer Genauigkeit nochmals vorgenommen und durch seine wertvollen Anregungen wesentlich zum Gelingen dieses Buches beigetragen.
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Vorwort Claudia Bausewein
Palliative Care hat in den letzten Jahren in vielen Ländern, so auch in Österreich, deutlich an Bedeutung gewonnen. Eine gute und würdevolle Betreuung in der letzten Lebensphase wird zunehmend als Recht für jeden Menschen gefordert. Für lange Zeit schien Palliativbetreuung aber vorwiegend Patienten mit Tumorerkrankungen offenzustehen. Erst langsam wird auch erkannt, dass Patienten mit anderen zum Tode führenden Erkrankungen eine mindestens genauso hohe Symptombelastung und vergleichbare Palliativbedürfnisse haben. In vielfacher Hinsicht eine besondere Gruppe stellen geriatrische Patienten und Patientinnen, und besonders solche mit Demenzerkrankungen, dar. Die Begleitung dieser Menschen fordert alle Betreuenden auf vielfache Weise heraus: Die Kommunikation und Interaktion mit den Betroffenen ist häufig schwierig, wenn nicht unmöglich; demente Menschen sind in ihrer Persönlichkeit verändert; durch zunehmenden Funktionsverlust und Einschränkungen in der Mobilität steigt die Pflegebedürftigkeit; die medizinische Betreuung ist komplex, bedingt durch Multimorbidität und hohe Symptombelastung. Viele demente Menschen werden in Alten- und Pflegeheimen betreut, die aber häufig nicht ausreichend auf diese Herausforderungen vorbereitet und dafür ausgestattet sind. Demente Menschen und solche, die sich um sie kümmern, finden in der Bevölkerung und in der Politik nur wenig Unterstützung. Die beiden Ärztinnen Marina Kojer und Martina Schmidl haben den Bedarf für Palliative Geriatrie und deren Möglichkeiten schon zu einer Zeit erkannt, als für viele noch gar nicht klar war, was Palliative Care und Palliativmedizin bedeuten. Im deutschsprachigen und wohl auch europäischen Raum haben beide Autorinnen wohl die längste Erfahrung in diesem Bereich. In ihrem Buch „Demenz und Palliative Geriatrie in der Praxis“ zeigen Marina Kojer und Martina Schmidl aufgrund ihres reichen Erfahrungsschatzes, unterstrichen durch internationale Literatur, die vielfältigen Möglichkeiten der Palliativen Geriatrie für die Betreuung von Menschen mit fortgeschrittener Demenz
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Vorwort
in der stationären Altenpflege auf. Sie beleuchten die Betreuung von alten und an Demenz erkrankten Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven. Nicht nur Ärztinnen, Pflegende und Therapeuten kommen zu Wort, sondern auch Ehrenamtliche und Angehörige finden einen breiten Raum. Im Zentrum aber stehen immer der Patient und seine Sicht! Einfühlsame Beispiele, die sich durch das ganze Buch ziehen, geben einen lebendigen Einblick in den Alltag der stationären Altenpflege und spiegeln ein Menschenbild wider, das geprägt ist von Achtsamkeit, Mitgefühl und Ehrfurcht. Durch eine Grundhaltung des Verstehen-Wollens der Situation und des Erlebens von dementen Menschen fordern die Autorinnen und Autoren auf, nachzufragen, tieferzugehen, sich nicht zu früh mit oberflächlichen Erklärungen zufriedenzugeben. Vielmehr geht es darum, den dementen Menschen, der Beziehung braucht, einfühlsam und nicht verurteilend in den Mittelpunkt zu stellen. Beziehung braucht Kommunikation. So spielt in einem Bereich, in dem Menschen aufgrund ihrer Erkrankung häufig nur noch eingeschränkt oder nicht mehr kommunizieren können, Kommunikation eine besondere Rolle. Deshalb zieht sich dieses Thema durch das ganze Buch, nicht redundant, sondern aus verschiedenen Perspektiven zeigend, wie Kommunikation mit den Betroffenen, aber auch unter allen anderen Beteiligten gelingen kann. Das Recht auf Kommunikation ist wie das Recht auf Kontinuität in der Betreuung, oder auf Gesellschaft und auch auf Erfüllung der Bedürfnisse, ein Menschenrecht, das dementen Menschen nicht automatisch zugesprochen wird. Marina Kojer und Martina Schmidl fordern in ihrem Buch diese Menschenrechte für die ihnen Anvertrauten ein und fordern die Betreuenden dazu auf, sich für diese Menschenrechte der dementen Menschen einzusetzen. Palliative Care wird häufig mit der Begleitung am Lebensende gleichgesetzt, aber sie sollte dann beginnen, wenn eine unheilbare Krankheit durch quälende Schmerzen und andere Beschwerden für die Betroffenen zur Belastung wird. Das Buch zeigt deutlich, dass Menschen, die in Alten- und Pflegeheimen leben, in ihrer Lebensqualität schon lange vor dem Lebensende stark durch die Folgen der Demenz beeinträchtigt sein können und deshalb Palliative Care von Anfang an brauchen! Demente Menschen leiden genauso unter Schmerzen und anderen unkontrollierten Symptomen wie Patienten mit anderen unheilbaren Erkrankungen. Geriatrische Symptomkontrolle fordert ein spezielles Wissen, da die Erfassung und auch die Therapie von Schmerzen und anderen Symptomen bei dementen Menschen besondere Herausforderungen mit sich bringen. Schmerzen werden häufig unterdiagnostiziert und unkontrollierte Schmerzen belasten
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Vorwort
den dementen Menschen besonders, da er sich häufig nicht mehr entsprechend äußern kann. Die Besonderheiten der medikamentösen und nichtmedikamentösen Schmerztherapie, besonders auch bei Organveränderungen, finden in diesem Buch einen breiten Raum. Dabei werden auch der Einsatz von Psychopharmaka und insbesondere die Risiken und der Missbrauch beim Einsatz bei älteren Menschen kritisch beleuchtet. Wichtiger Teil der Begleitung von dementen Menschen ist die Betreuung in der letzten Lebensphase und im Sterben. Nicht erst hier sehen sich die Betreuenden auch ethischen Fragen gegenüber, wie Fragen der Ernährung, der Sedierung oder der Einleitung oder Fortführung lebensverlängernder Maßnahmen. Oft reagieren Professionelle und Angehörige dementen Menschen gegenüber hilflos und ohnmächtig. Die Unwissenheit über die Möglichkeiten der Palliativen Geriatrie birgt die Gefahr, sich von den Betroffenen zu distanzieren und sie durch Machtausübung in die Vorstellungen der Professionellen und Umstehenden zu pressen. So wird die Realität in Heimeinrichtungen bis zur Frage der Gewalt in der Pflege in diesem Buch immer wieder sehr nüchtern beschrieben, ohne etwas zu beschönigen. Aber statt sich mit der Situation zufriedenzugeben, hinterfragen die Autoren und Autorinnen das eigene Verhalten und zeigen, wie durch den Perspektivenwechsel und einen kritischen und reflektierenden Blick auf das eigene Handeln fruchtbare neue Ansätze für die Betreuung dementer Menschen wachsen können. Das geht natürlich nicht von alleine. Dazu braucht es entsprechende Rahmenbedingungen. Betreuung in der stationären Altenpflege kann nur gelingen, wenn ein interdisziplinäres Team aus Ärztinnen, Pflegenden, Therapeuten und Ehrenamtlichen seine unterschiedlichen Fähigkeiten zusammenbringt. Kompetenz im eigenen Bereich ist dabei eine unabdingbare Voraussetzung. Aber es braucht auch organisatorische Rahmenbedingungen. Diesen wird ein besonderes Augenmerk geschenkt, da es in Einrichtungen der stationären Altenpflege zu einem Kulturwandel kommen muss, um palliative geriatrische Betreuung auf hohem Niveau zu ermöglichen. Intelligente Organisationen brauchen intelligente und begeisterte Menschen, die sich einer Sache verschreiben. Organisationsentwicklung und Projektmanagement sind dabei wichtige Ressourcen, ohne die eine Änderung der Betreuungskultur in Institutionen nicht möglich ist. Die Bevölkerungsentwicklung in Europa stellt uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe. Die Zahl der demenzkranken Menschen wird deutlich zunehmen und adäquate Betreuungskonzepte müssen dringend entwickelt werden.
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Vorwort
Die Palliative Geriatrie muss hier eine zentrale Rolle einnehmen. Marina Kojer und Martina Schmidl sind wichtige Botschafterinnen für die Palliative Geriatrie und ihre Möglichkeiten. Das haben sie durch dieses Buch wieder einmal unterstrichen. Es ist den Autoren und Autorinnen und den beiden Herausgeberinnen zu wünschen, dass dieses Buch eine weite Verbreitung findet und vielen Menschen Anregungen und Ermunterung gibt, dem Beispiel von Marina Kojer und Martina Schmidl in der Betreuung von dementen Menschen zu folgen und eine „heilsame Betreuung für unheilbar an Demenz Erkrankte“ zu ermöglichen!
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Claudia Bausewein Einleitung: Unheilbar dement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Kojer, Martina Schmidl
1
Geriatrische Symptomkontrolle 1
Kommunikation: Verstehen und verstanden werden . . . . . . . . . . . . . . 1.1
1.2
Kommunikation – Kernkompetenz der Palliativen Geriatrie . . . . . Marina Kojer
11
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4
Die Brücke zum Du . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen, um helfen zu können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Folgen misslingender Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 15 16 20
Die Bedeutung von Symbolen in der „Sprache“ demenzkranker Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gunvor Sramek
21
1.2.1
1.2.2
1.2.3 1.3
9
Die Symbolsprache alter Menschen mit beginnender Demenz (Validation: Phase 1 „Mangelhafte Orientierung“). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Symbolsprache alter Menschen mit fortgeschrittener Demenz (Validation: Phase 2 „zeitverwirrt“ und 3 „sich wiederholende Bewegungen“). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Vorgangsweisen in der Begleitung. . . . . . . . . . . . .
22
24 26
Gestörtes Verhalten – Verhalten, das uns stört? . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Kojer, Ursula Gutenthaler
27
1.3.1 1.3.2
27 31
1.3.3 1.3.4
Gestörtes Verhalten ist mehr als ein Symptom . . . . . . . . . . . „Blitzableiter“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursula Gutenthaler Welche Fragen stellen wir?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderndes oder gestörtes Verhalten? Ein Exkurs.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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35 37
Inhaltsverzeichnis
2
Demenz und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
2.1
Schmerz hat viele Gesichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Kojer
41
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5
42 43 43 44
2.2
Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Kunz 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6
3
Der Schmerz der unbegreiflichen Bedrohung . . . . . . . . . . . . Der Schmerz, sich nicht ausdrücken zu können . . . . . . . . . . Der Schmerz, sich nicht mehr zurechtzufinden . . . . . . . . . . Der Schmerz, sich hilflos und ausgeschlossen zu fühlen . . Der Schmerz, respektlos und demütigend behandelt zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 47
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die multimorbide ältere Schmerzpatientin . . . . . . . . . . . . . . Schmerz und Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Konzept des Schmerzmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Assessment-Instrumente zur Fremdbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47 48 50 51 68
Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
3.1
3.2
69
Ernährung und ablehnendes Essverhalten aus Sicht der Pflegenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Snezana Lazelberger
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3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
Ursachen für ablehnendes Essverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährungsassessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was können wir durch unsere Bemühungen erreichen? . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78 79 85 87
Die ärztliche Sicht: Ernährung und Nahrungsverweigerung bei Hochbetagten mit fortgeschrittener Demenz . . . . . . . . . . . . . . . Martina Schmidl, Marina Kojer
87
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.2.8 3.2.9
„Frau Hedwig isst nicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Ursachen für eine Nahrungsverweigerung. . . . . . . . . . . . . . . 88 Der Stoffwechsel im höheren Lebensalter und bei Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 PEG-Sonde als Patentlösung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Risiken einer PEG-Sonde bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 PEG-Sonde: Wer entscheidet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Keine PEG-Sonde: Was geschieht dann?. . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Ernährungsbezogene Qualitätsmerkmale eines Pflegeheims . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Schlussbemerkungen aus prominentem Mund . . . . . . . . . . 101
xii
Inhaltsverzeichnis
4
Die letzte Lebensphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Martina Schmidl, Marina Kojer 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
4.6
5
Wann beginnt die letzte Lebensphase? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frau Maria – eine Patientinnengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Zeit im Heim: Irritation, Labilität, gelingende oder misslingende Anpassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phase der Balance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phase der Verschlechterung des Allgemeinzustands; das Nachlassen der Lebenskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Was bedeutet Palliative Care in dieser Phase? . . . . . . . . . . . .
105 106 107 111 113 114
Die Zeit des Sterbens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.6.1 Woran erkennt man, dass eine Patientin sterbend ist? . . . . 120 4.6.2 Was bedeutet Palliative Care in der Zeit des Sterbens? . . . . 121
Sterben demenzkranke alte Menschen anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.1
Die Begleitung Sterbender in den unterschiedlichen Phasen der Demenz nach Naomi Feil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Marina Kojer, Gunvor Sramek 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4
5.2
Phase 1 nach Naomi Feil: „Mangelhaft orientiert“. . . . . . . . Phase 2 nach Naomi Feil: „Zeitverwirrt“. . . . . . . . . . . . . . . . . Phase 3 nach Naomi Feil: „Sich wiederholende Bewegungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phase 4 nach Naomi Feil: „Vegetieren“. . . . . . . . . . . . . . . . . .
132 135 138 140
Sterbebegleitung aus der Sicht der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Ursula Gutenthaler 5.2.1
Herbstlicher Abschied von Frau Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Menschenbild und Haltung 6
Yes we can! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Marina Kojer
7
Was macht die Pflege von demenzkranken alten Menschen so schwierig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Snezana Lazelberger 7.1
8
Die Palliative Haltung in der Pflege und Betreuung von Menschen mit fortgeschrittener Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Der Einfluss des Personals auf Lebensqualität und Sterbekultur in Pflegeheimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Dirk Müller 8.1 8.2
Unkenntnis und Überforderung: Ein Teufelskreis . . . . . . . . . . . . . . 176 Lebenswertes Leben bis zuletzt als Kernauftrag der Altenpflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
xiii
Inhaltsverzeichnis
8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 9
Gute Konzepte geben Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ängste erkennen und reduzieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung mit Herz und Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gutes Personal langfristig entwickeln und motivieren. . . . . . . . . . . Positive Gesprächskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualität setzt sich durch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178 180 180 182 183 184
Intelligente Pflegeheime: Palliative Care und Organisationsentwicklung im Alten- und Pflegeheim . . . . . . . . . . . . . . 185 Katharina Heimerl 9.1 9.2
9.3 9.4
Von intelligenten Personen zu intelligenten Organisationen . . . . . Es beginnt mit der Organisationsdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Ein Beispiel für eine Organisationsdiagnose: Die Analyse der relevanten Umwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Die Organisationsdiagnose als erster Veränderungsschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Palliative-Care-Prozesse erfordern komplexes Projektmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.1 Palliative-Care-Prozesse verändern die Organisationskultur im Alten- und Pflegeheim . . . . . . . 9.4.2 Palliative Kultur braucht einen langen Atem – vor allem von der Leitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
188 190 191 193 193 195 195 197
10 Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 10.1 Das Recht auf kommunikative Grundversorgung . . . . . . . . . . . . . . . 201 Marina Kojer 10.1.1 Das Recht, krank zu sein und entsprechend behandelt zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 10.1.2 Das Recht, Teil einer Gemeinschaft zu sein . . . . . . . . . . . . . . 204 10.2 Recht auf „chronische“ Heimärztinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Martina Schmidl 10.2.1 Bewohnerin oder Patientin?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 10.2.2 Aufgaben der Heimärztin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 10.3 Recht auf Schmerzlinderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Martina Schmidl 10.3.1 Schmerzen bei demenzkranken Menschen: ein alltäglicher Befund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Warum werden Schmerzen bei Demenzkranken nicht erkannt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.3 Die Folgen chronischer Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.4 Schritte zu einer verlässlicheren schmerztherapeutischen Versorgung von Demenzkranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
xiv
212 214 215
216
Inhaltsverzeichnis
10.4 Das Recht auf Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Susanne Pirker, Hans Pirker 10.4.1 Ehrenamtliche Mitarbeit an der Abteilung für palliativmedizinische Geriatrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Susanne Pirker 10.4.2 Besuche auf der Männerstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Hans Pirker 10.5 Recht auf (Ergo-)therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Andrea Fink 10.5.1 „Weltenmacher“, Brückenbauer, Wegbegleiter . . . . . . . . . . 230 10.5.2 Die therapeutischen Brücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 10.6 Recht auf bedürfnisgerechte Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Gunvor Sramek, Marina Kojer 10.6.1 Hochbetagte ohne (oder mit beginnender) Hirnleistungsstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 10.6.2 Hochbetagte mit mehr oder weniger weit fortgeschrittener Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 10.6.3 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 10.7 Recht auf Sexualität. Beispiele aus der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Gunvor Sramek 10.7.1 Wie können wir uns diesem Thema nähern?. . . . . . . . . . . . . 10.7.2 Besseres Verständnis ermöglicht bessere Begleitung . . . . . 10.7.3 Die Welt der alten Menschen mit einer beginnenden Demenzerkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7.4 Alte Menschen mit fortgeschrittenen Demenzerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
244 245 246 256
11 Die Bedürfnisse alter desorientierter Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Andrea Fink 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5
Physiologische Bedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Anerkennung und soziale Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267 268 270 275 279
12 Gewalt in der Pflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Monique Weissenberger-Leduc 12.1 Was alles ist Gewalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Arten von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Gewalt durch aktives Tun. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.2 Gewalt durch Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
283 284 284 287
12.3 Warum wird gegen Demenzkranke Gewalt ausgeübt? . . . . . . . . . . . 288 12.4 Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
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Inhaltsverzeichnis
Ethik 13 Selbst und Selbstaktualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Andreas Kruse 13.1 13.2 13.3 13.4
Das Selbst im Prozess der Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kategorien eines gelingenden Lebens im Alter. . . . . . . . . . . . . . . . . . Generativität und Integrität bei Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297 300 305 308
14 Widersprüche im Pflegeheim balancieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Katharina Heimerl 14.1 Warum ein Text über Widersprüche zum Thema „Ethik“? . . . . . . . 14.2 Widerspruchsfelder in Alten- und Pflegeheimen . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.1 Widersprüche, die an die Existenz des Menschen selbst gebunden sind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.2 Widersprüche, die in den Unterschieden zwischen sozialen Konstellationen begründet sind . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.3 Systembedingte Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.4 Entwicklungsbedingte Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.5 Widersprüche, die in der speziellen Logik eines Systems liegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Mit Widersprüchen im Alten- und Pflegeheim umgehen . . . . . . . . 14.3.1 Der Umgang auf individueller Ebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.2 Positionen auf einem Kontinuum annähern . . . . . . . . . . . . . 14.3.3 Der Umgang auf strategischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.4 Widersprüchliche Ansprüche als Ursache ethischer Dilemmata erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313 313 314 317 318 319 320 322 322 323 324 324
15 Die „kleine Ethik“ – Überlegungen einer Ärztin und einer Pflegeperson. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Martina Schmidl, Monique Weissenberger-Leduc 15.1 Gewissenserforschung einer Ärztin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 15.2 Die Bedeutung der „kleinen Ethik“ in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . 331 15.3 Die Bedeutung der „kleinen Ethik“ für die Ärztin . . . . . . . . . . . . . . . 335 16 Die „große Ethik“ – Entscheidungen am Lebensende . . . . . . . . . . . . . . . 341 Marina Kojer, Martina Schmidl 16.1 Prinzip der Reiseplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 16.2 Die Bedeutung des mutmaßlichen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 16.2.1 „Ethik als Frage nach dem Guten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
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Inhaltsverzeichnis
Angehörige 17 Psychosoziale Beratungsangebote für Angehörige von Demenzkranken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Sigrid Boschert 17.1 „Maßgeschneiderte“ Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2 Auswirkungen von Interventionen für betreuende und pflegende Angehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3 Begleitung der Partnerinnen von Demenzkranken. . . . . . . . . . . . . . 17.3.1 Der Weg der kleinen Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359 359 362 363
17.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 18 Angehörige von Pflegeheimpatientinnen als Adressatinnen von Palliative Care. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Martina Schmidl 18.1 18.2 18.3 18.4
Das Leiden der Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer sind „die Angehörigen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was macht es so schwierig, mit Angehörigen umzugehen? . . . . . . Leitfaden für die Begleitung von Angehörigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.1 Erstgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.2 Der weitere Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369 372 372 375 376 380
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Andreas Heller Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Marina Kojer, Martina Schmidl Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Autorinnen- und Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
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Einleitung: Unheilbar dement Marina Kojer, Martina Schmidl
Saluti et solatio aegrorum Zu Heilung und Tröstung der Kranken – Widmung, seit 1784 über dem Haupteingang des Wiener Allgemeinen Krankenhauses zu lesen
Vor einiger Zeit hielt ich (Marina Kojer) einen öffentlichen Vortrag zum Thema Demenz. In der anschließenden Diskussion richtete eine etwa 80-jährige Dame folgende Frage an mich: „Finden Sie, dass man einem Menschen mit beginnender Demenz seine Diagnose mitteilen sollte?“ Ich antwortete, wie wohl fast alle Ärztinnen geantwortet hätten: Jeder Mensch hat ein Recht darauf zu erfahren, dass er krank ist und was ihm fehlt. Das gibt ihm die Möglichkeit, sich rechtzeitig auf die veränderte Lebenslage einzustellen, für später vorzusorgen und zur Zeit der Diagnose bereits bestehende Probleme besser zu verstehen. Die Krankheit ist zwar nicht heilbar, es gelingt aber, bei einem großen Teil der Patientinnen und Patienten mit Hilfe bestimmter Medikamente, kurzfristig eine gewisse Besserung zu erzielen und das weitere Fortschreiten der Demenz bis zu einem Jahr hintanzuhalten. Die alte Dame meldete sich noch einmal: „Dann soll ich ‚diese Tabletten‘ doch nehmen?“, fragte sie unsicher. „Sie ist selbst eine Betroffene!“, dachte ich erschrocken. Mich erfasste ein Gefühl großer Hilflosigkeit. Was hatte ich ihr in diesem Augenblick, was haben wir als Gesellschaft den Betroffenen überhaupt anzubieten? Die Antwort, die ich dann gab, war zwar richtig, aber war sie eine Hilfe für diesen Menschen in großer Not? Ich sprach von dem Wert der gewonnenen Zeit, davon, wie wichtig es ist, alles noch rechtzeitig regeln zu können. Ich erzählte von dem wachsenden Selbstbewusstsein von Menschen mit beginnender Demenz, die sich in den letzten Jahren immer öfter auch selbst zu Wort melden, zu ihrer Krankheit Stellung nehmen und beginnen, ihre Rechte einzufordern (Taylor, 2010; Demenz Support Stuttgart, 2010; Braam, 2011). Die alte Dame sah mich aus weisen Augen zweifelnd an: „Ist es wirklich erstrebenswert, die Qual zu wissen, was auf einen zukommt, um ein Jahr zu verlängern?“
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Einleitung: Unheilbar dement
Mit der Diagnose wird ein Urteil ausgesprochen, ein Urteil, das „nicht mehr rückgängig zu machen“ ist (Wißmann, 2010, S. 48). Wer erfährt, dass er Krebs hat, kann noch immer hoffen, geheilt zu werden. Mag sie bei manchen Kranken auch noch so klein sein – eine gewisse Chance besteht stets, dass die Erkrankung doch einen anderen als den wahrscheinlichen Verlauf nimmt. Für an Demenz Erkrankte gibt es – bislang jedenfalls – keine Hoffnung auf Entrinnen. Die Krankheit ist vom ersten Tag an unheilbar. Sobald der Urteilsspruch gefallen ist, wissen die Betroffenen, was ihnen bevorsteht. Es kann in der Tat nicht erstaunen, dass diese Krankheit die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Scham, Ekel, vor allem aber die Gefahr, einmal selbst zu erkranken, lösen massive Abwehrreaktionen aus. Die „Normalen“ nehmen schwerer Erkrankte oft als menschenunwürdige Existenzen wahr und legen die größtmögliche innere Distanz zwischen sich und die Betroffenen. Je größer die zum Selbstschutz aufgebaute Distanz wird, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, die Verletzlichkeit, Hilf- und Wehrlosigkeit der Betroffenen wahrzunehmen, geschweige denn sich davon berühren zu lassen. Häufig wird zudem versucht, den Krankheitswert der Demenz zu verleugnen und die Schuld bei den Erkrankten selbst zu suchen. Haben sie am Ende jahrzehntelang unvernünftig gelebt, zu viel oder zu fett gegessen, sich zu wenig bewegt und verabsäumt, ihren Geist so weit zu schulen, wie es sich gehört, wenn man gesund bleiben will? Auch wenn all das beim besten Willen nicht zutrifft, bleibt eine andere – wenn auch sehr spekulative – Erklärung offen: Vielleicht gibt es einen in der Tiefe der Seele verborgenen Grund, der manche dazu veranlasst, sich in die „Krankheit des Vergessens“ fallen zu lassen? So vertritt z. B. der Sohn des seit Jahren an Demenz erkrankten berühmten Philologen, Literaturkritikers und Autors Walter Jens die – wissenschaftlich völlig haltlose – Meinung, sein betagter Vater sei aus Schamgefühl über seinen in ganz jungen Jahren erfolgten und lebenslang verheimlichten Eintritt in die NSDAP in die Demenz geflohen (Jens, 2010). Aus medizinischer und psychologischer Sicht ist freilich zu fragen, ob es überhaupt einen dermaßen triftigen Grund geben kann, dass sich ein Mensch aus freien Stücken in eine Krankheit fallen lässt, die ihn nicht nur körperlich schädigt, sondern tief in die Persönlichkeit eingreift, ihn seiner Erinnerungen und seines gesamten geistigen Rüstzeugs beraubt und völlig hilflos zurücklässt. Die Angst vor der Demenz ist in unserer Gesellschaft offenbar immens und setzt einen Teufelskreis in Gang: Aus Furcht, einmal selbst betroffen zu sein, suchen die Gesunden so viel Distanz zu dem drohenden Unheil zu gewinnen, dass sie in der Lage sind, eine mögliche Gefährdung der eigenen Zukunft aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Dis-
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Einleitung: Unheilbar dement
tanz und Verdrängung führen dazu, dass man die Kranken gar nicht mehr wahrnimmt und ganz aus den Augen verliert. Was als Selbstschutz begann, wird so zum Wegbereiter der gesellschaftlichen Ausgrenzung. Dieser Prozess wiederum macht es der Allgemeinheit um vieles leichter, einen Schritt weiter zu gehen und den Einsatz von Ressourcen für Hochbetagte und Demenzkranke zu rationieren. Diese zunehmende Rationierung wirkt sich negativ auf Betreuungsqualität und Befindlichkeit der Betroffenen aus, das Elend wird dadurch schließlich unübersehbar und heizt so die Angst weiter an. Bis jetzt weiß niemand genau, wie die Demenz entsteht. Der Erfolg bisheriger Therapien ist fraglich und nicht anhaltend. Müssen Ärztinnen und Pflegende sich demnach damit abfinden, dass sie den Betroffenen außer der Diagnose nichts anzubieten haben? Wir sind überzeugt davon, dass das nicht so ist! Nein, wir stehen nicht mit leeren Händen da: Da Heilung den Demenzkranken verwehrt ist, haben sie bereits vom ersten Augenblick an Anspruch auf Palliative Care. Laut der weltweit anerkannten Definition der WHO steht fest: “Palliative Care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problems associated with life-threatening illness through the prevention and relief of suffering …” (WHO, 2002). Die Auffassung, dass diese Definition auch sehr alte multimorbide, häufig an Demenz erkrankte Menschen miteinschließt, ist noch immer nicht ganz unumstritten, doch allmählich beginnt sich diese Erkenntnis auch in maßgeblichen Fachkreisen durchzusetzen: “Advanced dementia should be considered a terminal illness similar to untreatable cancer, striving for maximal comfort instead of maximal survival at all costs” (Volicer, 2004, S. 66). Das Know-how von Palliativmedizin und Palliativpflege hat sich erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt. Gleichwohl ist das Wissen um die Bedeutung von Verständnis und Zuwendung für die Befindlichkeit von unheilbar Kranken und Sterbenden keineswegs eine Erfindung unserer Zeit. So widmete der österreichische Kaiser Joseph II. bereits rund zweihundert Jahre vor der Geburt von Hospizbewegung und Palliative Care das große, heute als Universitätsklinik geführte „Allgemeine Krankenhaus“ der Stadt Wien der „Heilung und Tröstung“ der Kranken. Bereits damals wurde also der Zuwendung und dem sorgenden Ausharren an der Seite der Leidenden ein ebenso hoher Stellenwert eingeräumt wie den Maßnahmen der kurativen Medizin. Demenzkranke sind zu gut 98 % hochbetagt, mit den primär für jüngere Tumorpatientinnen und -patienten entwickelten Methoden und
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Einleitung: Unheilbar dement
Konzepten allein kann ihnen daher nicht ausreichend geholfen werden. Wie wir schon vor Jahren aufzeigen konnten, haben geriatrische Patientinnen und Patienten andere Bedürfnisse und brauchen daher ein eigenes, auf multimorbide, an Demenz leidende Hochbetagte zugeschnittenes Konzept (exemplarisch Kojer, 2009; Kojer und Heimerl, 2009). Wie jedes andere Fachgebiet, in dem die Zuwendung zum Menschen essenziell ist, fordert Palliative Geriatrie von uns zugleich Wissen, Können und Haltung. Um Menschen in diesem schweren Lebensabschnitt beizustehen, muss man ohne Zweifel viel können und viel wissen. Vor all dem aber geht es um die Haltung, mit der eine Beziehung zu den Kranken aufgebaut wird. Ist diese nicht gegeben, können wir bestenfalls gut ausgebildete Facharbeiterinnen und Facharbeiter sein. Wir unterschieden uns dann in Ausübung unserer Berufe von Automechanikern oder Computerfachleuten nur durch das „Material“, dem wir unsere fachliche Kompetenz zukommen ließen. Um dem facettenreichen Gefühlsleben Demenzkranker gerecht zu werden, um diese hochsensiblen, zu feinsinnigem emotionalem Verstehen befähigten Menschen nicht laufend zu verletzen, sind wir in erster Linie dazu berufen, mitfühlende Menschen zu sein. In erster Linie? Ist hier nicht doch eher Fachlichkeit gefordert? Der Theologe und Psychotherapeut Franz Schmatz meint dazu: „Fachleute, Spezialisten, Profis, Macher hat unsere Welt heute viele! Hat sie auch genügend MENSCHEN?“ (Schmatz und Schmatz, 1995, S. 51). Erst sobald Menschlichkeit und Mitgefühl sie beseelt haben, können unsere fachlichen Fähigkeiten ihren vollen Wert entfalten. Nur dann kann es gelingen, auch mit fortgeschritten Demenzkranken in Fühlung zu kommen und zu bleiben. Nur dann können wir uns ihrem „Anderssein“ weit genug annähern, um auch ihre manchmal nur diskreten Signale wahrzunehmen und allmählich immer besser zu verstehen. Wir dürfen ihnen nicht von der – nur scheinbar – „höheren Warte“ der geistig Gesunden begegnen, sondern sind aufgerufen, uns ihnen mit offenem Herzen von Mensch zu Mensch zuzuwenden. Um sie ein Stück weit in ihre Welt begleiten zu können, müssen wir auch ihre Sprache erlernen. Dann zeigen uns die Demenzkranken selbst, wie wir ihnen helfen können, sich in ihrem Leben wohler zu fühlen. Unser Buch will Wege und Möglichkeiten dazu aufzeigen. Pflegeheime stehen heute häufig im Brennpunkt der öffentlichen Kritik. Vielfach werden sie für überflüssig gehalten, ersetzbar z. B. durch geeignetes bürgerschaftliches Engagement und „demenzfreundliche Kommunen“ (Gronemeyer, 2007; Dammann und Gronemeyer, 2009; Dörner, 2010). Wir teilen diese Ansicht nicht! Die fortschreitende Mul-
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Einleitung: Unheilbar dement
timorbidität Hochbetagter und die oft sehr großen, im Verlauf der Demenz anstehenden Probleme stellen Ansprüche, denen nur die stationäre Betreuung durch ein menschlich engagiertes und hoch kompetentes multiprofessionelles Team gerecht werden kann. Zur Diskussion gestellt werden sollten freilich die von Einrichtungen und von Leitungspersonen zu erbringenden Voraussetzungen, weiters die Gesamtzahl und Berufsgruppenverteilung der nötigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Art und Ausmaß der für deren Qualifizierung erforderlichen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen. Wir wenden uns daher mit diesem Buch vor allem an die in Pflegeheimen tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um ihnen Mut zu machen, selbst den Weg zu versuchen, den wir gegangen sind. In den vergangenen Jahren ist das Genderbewusstsein erfreulicherweise stark gestiegen. Allmählich beginnt es sich durchzusetzen, in Texten entweder sowohl die weibliche als auch die männliche Form (also Patientinnen und Patienten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) oder das stets ein wenig befremdlich wirkende „Iota feministicum“, das mitten im Wort stehende große „I“, zu verwenden (also PatientInnen, MitarbeiterInnen). Wir weichen in unseren Texten von diesem Prinzip ab – nicht ohne Grund: Pflegeheime sind Frauenwelten (Reitinger et al., 2005), Welten, in denen überwiegend hochbetagte Frauen leben, die von jüngeren Frauen gepflegt, ärztlich behandelt, therapeutisch betreut sowie von weiblichen Angehörigen und Ehrenamtlichen besucht werden. Um diese Realität zu spiegeln, und auch um der weniger schwerfälligen Lesart willen, verzichten wir, wenn nicht ausdrücklich von einem Mann die Rede ist, auf Gendergerechtigkeit und verwenden daher ausschließlich die weibliche Form. Eine geschlechtliche Diskriminierung für die Patienten, Mitarbeiter, Ehemänner und Söhne, die – wenn auch viel seltener als Frauen – in den Heimen anzutreffen sind, ist durch diese Wortwahl ganz bestimmt nicht beabsichtigt.
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Geriatrische Symptomkontrolle
1 Kommunikation: Verstehen und verstanden werden
Kommunikation – Kernkompetenz der Palliativen Geriatrie
1.1 Kommunikation – Kernkompetenz der Palliativen Geriatrie Marina Kojer Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern da, wo man verstanden wird. Christian Morgenstern
Es war erst seit kurzer Zeit möglich, China zu bereisen, als mein Mann und ich beschlossen, unseren nächsten Urlaub dort zu verbringen. Ohne allzu große Mühe gelang es uns, eine Gruppenreise zu buchen. Bei der Ankunft in Peking waren wir dann sehr erstaunt, festzustellen, dass die Gruppe nur aus uns beiden bestand. Ob das gut gehen konnte? Aber siehe da, alles funktionierte großartig! An unseren Zielorten erwartete uns stets pünktlich ein gut Englisch sprechender Führer, der uns für die Zeit unseres Aufenthalts ganz zur Verfügung stand. Doch eines Tages erwartete uns niemand. Wir standen mit unseren Koffern auf einem Bahnsteig riesigen Ausmaßes, Menschenmassen strömten in beiden Richtungen an uns vorbei. Geduldig warteten wir, aber niemand kam. Die Telefonnummer des zuständigen chinesischen Reisebüros war griffbereit. Wir mussten nur ein öffentliches Telefon finden und wissen, wie es zu bedienen ist. Ich sprach Vorbeieilende in Englisch an. Niemand verstand mich. Manche schauten neugierig oder befremdet. Einige bemühten sich vergeblich herauszufinden, was ich wollte. Wir imitierten das Läuten eines Telefons, sprachen in einen imaginären Hörer – die Zuschauer freuten sich und lachten, niemand verstand, um was es uns ging. Nach und nach kroch panische Angst in mir hoch; ich fühlte mich so hilflos und verloren wie nie zuvor im Leben. Kommunikation – Kernkompetenz der Palliativen Geriatrie
1.1.1
Die Brücke zum Du
Kommunikation ist die einzige Brücke zwischen Ich und Du. Ohne eine Möglichkeit der gegenseitigen Verständigung findet niemand Hilfe, Orientierung oder Sicherheit. Der Homo sapiens ist nicht dafür geschaffen, ganz auf sich allein gestellt zu überleben. Da wir dafür nicht ausgerüstet sind, meldet sich, sobald wir uns verlassen fühlen, unser Überlebenstrieb – unsere instinktgesteuerten Alarmglocken beginnen zu schrillen. Unser Leben wird überhaupt erst dadurch
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Marina Kojer
möglich, dass wir andere Menschen verstehen und von ihnen verstanden werden.
Kommunikation im Alltag Gelingende Kommunikation ist für uns alle die unabdingbare Vorbedingung guter Lebensqualität. Um sich im Alltag wohlfühlen zu können, genügt es nicht, gesprochene oder geschriebene Worte auszutauschen, wir sind zudem auf die Fähigkeit angewiesen, Mimik und Körpersprache zu verstehen, eine Situation zu erfassen, Gefühle oder Stimmungen zu erfühlen, um uns ein Bild zu machen und sinnvoll reagieren zu können. Selbst wenn wir dies nicht beabsichtigen, teilen wir uns anderen in jedem Augenblick mit – durch alles, was wir tun, ja durch alles, was wir sind. Die reichhaltige Ausstattung unseres Gehirns liefert die Voraussetzungen für ein subtiles gegenseitiges Verstehen. Viel öfter, als uns bewusst wird, orientieren wir uns an meist unbewussten, nonverbalen Mitteilungen unserer Mitmenschen. Eine bestimmte Körperhaltung, die Art, die Hand zu reichen, eine hochgezogene Augenbraue oder das Vermeiden von Blickkontakt sind Aussagen, über die wir nicht erst nachdenken müssen, um sie zu verstehen. Oft trägt diese Art der Information weit mehr zur Beurteilung einer Situation bei als der verbale Austausch. Marina Kojer
Diese an sich selbstverständlichen Erkenntnisse drohen in unserem immer schneller, unpersönlicher und „elektronischer“ werdenden Leben allmählich in den Hintergrund gedrängt zu werden. Bewusst werden sie uns vor allem dann, wenn wir gerade selbst auf ein mitfühlendes und verständnisvolles Du angewiesen sind. Im Gegensatz zu uns sind sehr alte, multimorbide, zunehmend hilflose Patientinnen jeden Tag, jede Stunde darauf angewiesen, dass andere ihre Anliegen verstehen und sich ihnen zuwenden.
Kommunikation mit Hochbetagten Sich vor Augen zu halten, welche Schlüsselrolle die Kommunikation im eigenen Leben spielt, hilft uns begreifen, wie schwer es Menschen haben, denen nicht mehr das ganze, für reibungsloses gegenseitiges Verstehen erforderliche Leistungsrepertoire als Ressource zur Verfügung steht. Treffen hochbetagte Patientinnen auf gleichgültige oder auch nur auf gedankenlose Gesprächspartnerinnen, ist es für sie häufig unmöglich, diese zu verstehen und sich selbst mitzuteilen. Chronische Erkrankungen, Beeinträchtigungen des Seh- und Hörvermögens und altersassoziierte Leistungseinbußen sind Hemmschuhe, die oft kaum zu überwinden sind. Erkrankungen wie M. Parkinson oder ze-
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Kommunikation – Kernkompetenz der Palliativen Geriatrie
rebrale Insulte schränken die Möglichkeiten, sich mit Worten und körpersprachlich auszudrücken, stark ein. Verlangsamung, raschere Ermüdbarkeit und nachlassende Konzentrationsfähigkeit erschweren den Gesprächskontakt. Nicht selten gelten hochaltrige Menschen nur deshalb als schwer kontaktierbar, insgesamt problematisch oder unkooperativ, weil wir uns nicht bewusst machen, wie grundlegend ihre Erschwernisse ihr Kommunikationsverhalten beeinträchtigen und steuern. Um das Leben Hochbetagter nicht unnötig schwer und bitter werden zu lassen, ist es unerlässlich, sich dessen bewusst zu bleiben. Es ist nicht schwer, die daraus zu ziehenden Schlüsse in das eigene Kommunikationsverhalten einfließen zu lassen. Die Kommunikation mit sehr alten Menschen scheitert immer wieder an den gleichen Fehlern oder Unachtsamkeiten (Kojer, 2005):
Mängel in Hinblick auf Einstellung und Haltung Gedankenlosigkeit Unpersönliches Verhalten Kommunikation von „oben nach unten“ Beibehalten des eigenen raschen Tempos Ungeduld Verzicht auf nonverbale Kommunikation
Kommunikation mit demenzkranken Hochbetagten Demenzkranke Patientinnen sind überwiegend hochbetagt, leiden an den gleichen Erkrankungen und Einbußen wie gleichaltrige zerebral intakte Patientinnen und sind daher ebenso wie diese auf ein Kommunikationsverhalten angewiesen, das ihre Einschränkungen berücksichtigt. Zudem machen sich die Folgen ihrer fortschreitenden Demenz bemerkbar und schränken ihre kommunikativen Möglichkeiten noch weiter ein. Um mit ihnen in Beziehung zu treten, sind respektvolle Haltung, gut hörbare Stimme, Geduld und guter Wille allein nicht mehr ausreichend. Der junge, freundliche und sehr bemühte Neurologe spricht mit der sehr alten demenziell erkrankten Frau B.: „Wissen Sie, wie alt Sie sind?“ Frau B. schweigt. Er fragt weiter: „Vielleicht so ungefähr?“ Frau B. schaut weg und murmelt etwas Unverständliches. „Kennen Sie die Wohnadresse, an der Sie jetzt sind?“ Frau B. wird unruhig und wirkt verstört … Es genügt nicht, „das Richtige“ zu sagen und zu tun. Jede Mitteilung muss so erfolgen, dass sie die Betreffende erreichen und von ihr verstanden werden kann. Stimme und Tonfall, Augen und Hände erwei-
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Marina Kojer
sen sich oft als geeignetere und beredtere Mittel, um einen Kontakt herzustellen. Die Wehrlosigkeit demenziell Erkrankter, ihr Ausgeliefertsein an eine Situation gibt dem „Wie“ jeder Begegnung seine besondere Bedeutung. Es ist sinnlos, sich nur freundlich zu geben. Demenzkranke durchschauen Lippenbekenntnisse und eingelernte Gesten auf Anhieb. Damit eine Beziehung wachsen kann, müssen wir den Kommunikationspartnerinnen aufrichtig begegnen und bereit sein, ihnen dorthin zu folgen, wo sie beheimatet sind. Einverständnis kann mit Menschen, die an fortgeschrittener Demenz leiden, nur mehr auf der Gefühlsebene hergestellt werden. Erfahrung, Übung und Routine machen es uns zwar häufig leichter, das Richtige zu sagen und zu tun, können aber echte menschliche Anteilnahme nicht ersetzen, denn „man kann nicht routiniert ‚mitfühlend‘ sein. Entweder man ist routiniert oder mitfühlend!“ (Gottschlich, 2007, S. 72). Um mitzufühlen, muss ich ein Du so nahe an mich heranlassen, dass mich sein Leid berührt. Das erfordert die von Respekt, Wertschätzung und Achtsamkeit getragene Haltung der Palliative Care. Diese Haltung bildet – gepaart mit kommunikativer Kompetenz im Umgang mit demenzkranken Hochbetagten – die unverzichtbare Voraussetzung für die palliativgeriatrische Arbeit. Bei unserem Bemühen, mit desorientierten und verwirrten Menschen in Beziehung zu treten, haben wir seit vielen Jahren die besten Erfahrungen mit der Validation1 nach Naomi Feil gemacht (Feil, 2010; de Klerk-Rubin, 2010; vgl. S. 131 ff.; S. 242 ff.; S. 21 ff.). Validation unterscheidet sich von den meisten anderen in der Geriatrie verwendeten Methoden und Konzepten dadurch, dass sie für die Patientinnen keine Ziele festlegt, keine Anforderungen an die Betroffenen stellt und von ihnen keine „Fortschritte“ erwartet. Validierende Begleitung möchte den Kranken Angst, Unsicherheit und Einsamkeit ersparen und sollte nicht „als eine Art ‚Gleitmittel‘ für den reibungsloseren Ablauf … missverstanden“ werden (Gottschlich, 2007, S. 30). Validationsanwenderinnen sind bereit, demenzkranke alte Menschen heute, morgen, immer so zu akzeptieren, wie sie sind, und sie empathisch auf ihrem Weg zu begleiten. Mit Hilfe der Validation gelingt es viel leichter, eine Beziehung anzuknüpfen, demenziell Erkrankten näherzukommen und hellhörig für Bedürfnisse zu werden. Der Philosophie der Methode entsprechend, geschieht dies immer zu den Bedingungen der Kranken und in der Absicht, ihnen Wärme, Nähe und Zuwendung zu geben und ihr Leid mit ihnen zu tragen.
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Validation nach Naomi Feil ist eine vielfach bewährte Kommunikationsmethode für den Umgang mit hochbetagten Demenzkranken.
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Kommunikation – Kernkompetenz der Palliativen Geriatrie
1.1.2
Verstehen, um helfen zu können
Hochbetagte genießen kein hohes Ansehen. Sind sie auch noch an Demenz erkrankt, sinkt ihr Ansehen in den Augen der Allgemeinheit noch weiter ab. Wer in unserer Welt bestenfalls mit gemischten Gefühlen angeschaut wird und auch über keine Lobby verfügt, hat nicht viel zu erwarten. Viele Entscheidungsträger berücksichtigen daher immer noch nicht ausreichend, dass Investitionen in Haltung und Kommunikationsfähigkeit ihrer Mitarbeiterinnen für die Menschen, die in ihren Einrichtungen betreut werden, zum unverzichtbaren Lebenselixier werden. Kompetenz in Kommunikation mit schwer kontaktierbaren alten Menschen macht einen wesentlichen Teil der Professionalität aller in der Geriatrie Tätigen aus. Fehlt diese Kompetenz, ist es häufig nicht möglich, körperliches und seelisches Leid zu lindern; die Verständnislosigkeit der Betreuerinnen kann sogar sehr leicht Anlass für zusätzliches Leid werden. Frau D. ist in letzter Zeit unbeweglicher geworden. Die Ärztin verordnet ihr daher die Teilnahme an dem von einer Physiotherapeutin geleiteten Gruppenturnen, das regelmäßig einmal wöchentlich stattfindet. Acht Patientinnen sitzen im Kreis; die Therapeutin erteilt Kommandos: „Wir heben beide Arme …“. Frau M. fragt: „Wozu soll ich das machen?“, bekommt aber keine Antwort. Nach einigen Minuten steht sie auf und geht weg. Frau D. wirkt sehr unsicher; sie weiß sichtlich nicht, was man hier von ihr will. Die Therapeutin mahnt sie immer wieder in lehrerhaftem Ton, wenn sie eine Übung nicht richtig macht. Frau D. kriecht immer mehr in sich zusammen; sie spürt genau, dass sie nicht den Erwartungen entspricht, alles falsch macht und Unwillen erregt. Ungeduldig drückt ihr die Therapeutin einen kleinen Ball in die Hand und sagt: „Zusammendrücken!“ Frau D. schaut den Ball, den sie zusammendrücken soll, unglücklich an und lässt ihn hilflos fallen. Es ist Sinn und Zweck der Palliativen Geriatrie, unheilbares körperliches und seelisches Leid zu lindern. Da ein Großteil unserer Patientinnen nicht mehr in der Lage ist, sich allgemein verständlich mitzuteilen, müssen wir alles daransetzen, die Kranken möglichst genau kennenzulernen, sie sorgfältig und einfühlsam zu beobachten und tragfähige Beziehungen zu ihnen herzustellen. Ist all dies gewährleistet, gelingt es uns zwar auch nicht immer, aber doch meistens, zu erkennen, was die Betroffenen gerade quält, stört, ängstigt oder beunruhigt. Erst dann wird es für uns möglich, gezielt nach Abhilfe zu
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Marina Kojer
suchen. Misslingt die Kommunikation, fehlt die wichtigste Voraussetzung für ein sinnvolles palliatives Arbeiten. Mein eingangs geschildertes Urlaubserlebnis in China war nicht wirklich gefährlich, aber es hat mir einen Vorgeschmack dessen gegeben, was in einem Menschen vorgeht, der dringend Hilfe braucht und – obwohl er von anderen Menschen umgeben ist – niemanden findet, der seinen Hilferuf versteht. Eine „lästige“ Patientin, die sich immer wieder an mich wendet, kann unter Schmerzen, einer vollen Blase, Hunger, Angst und jeder Menge anderer Beschwerden und Bedürfnisse leiden. Auf jeden Fall braucht sie die Nähe eines mitfühlenden Du, sie braucht einen Menschen, der sie ernst nimmt und gemeinsam mit ihr nach dem sucht, was ihr in diesem Augenblick das Leben schwer macht. Stattdessen erfolgt oft genug eine ganz andere Reaktion: „Kommunikative Zuwendung wird gesucht – Psychopharmaka werden verordnet …“ (Gottschlich, 2007, S. 46). Psychopharmaka sind aus der Behandlung demenzkranker Hochbetagter nicht ganz wegzudenken, sie sollten aber nur verordnet werden, weil sie indiziert sind und nicht, weil wir nicht gelernt haben, uns in geeigneter Weise auf eine Patientin einzulassen und ihren Hilferuf zu verstehen. Die derzeitige Verschreibungstaktik spricht leider noch oft eine andere Sprache.
1.1.3
Die Folgen misslingender Kommunikation
Verletzung der Würde Hinter den Missverständnissen zwischen Patientinnen und Mitarbeiterinnen steckt so gut wie nie eine böse Absicht, sie sind vielmehr Folge der eigenen Hilflosigkeit. Was soll eine Schwester tun, wenn die demenzkranke alte Dame sich die schmutzige Inkontinenzeinlage unter keinen Umständen wechseln lassen will, wenn sie schreit, um sich schlägt und sich „durch nichts“ beruhigen lässt? Die Einlage muss gewechselt werden und sie wird auch gewechselt. Möglicherweise ist dazu die Hilfe einer Kollegin nötig, die die aufgeregte, sich heftig sträubende Frau für ein paar Augenblicke festhält. Was soll die Ärztin machen, wenn die fiebernde Patientin, der sie Blut abnehmen muss, heftigen Widerstand leistet? Irgendwie muss auch sie mit einer Situation, die sie nicht gewollt hat, fertig werden. Wenn es nicht gelingt, eine Beziehung herzustellen und Vertrauen zu erwerben, ist unsere Antwort auf Schmerz, Angst, Scham und Ratlosigkeit sehr häufig die Anwendung von – wenn auch gut gemeinter – Gewalt (siehe Abb. 1).
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Kommunikation – Kernkompetenz der Palliativen Geriatrie
Misslingende Kommunikation
Verletzung der Würde
Zwang
Schmerzen nicht erkannt
Beschwerden nicht erkannt
Schmerzen nicht behandelt
Beschwerden nicht behandelt
Missachtung Demütigung
Fehlbehandlungen
Leid – Angst – Rechtlosigkeit
Abb. 1 Misslingende Kommunikation
Nicht erkannte Schmerzen und andere Beschwerden Solange niemand weiß, dass eine Patientin Schmerzen hat oder von anderen somatischen Beschwerden gequält wird, lässt sich schwerlich etwas dagegen unternehmen! Da Verhaltensauffälligkeiten Teil des Krankheitsbilds sind, werden sie häufig als unvermeidliche Übel gesehen und es wird erst gar nicht nach einer Ursache gesucht (vgl. S. 27 ff.). Immer wieder kommt es vor, dass quälende Beschwerden von selbst aufhören, z. B. dass Bauchschmerzen verschwinden, sobald die Patientin Stuhl abgesetzt hat, oder dass sie zufällig von Pflegenden im Rahmen von Routinehandlungen (z. B. durch Lagewechsel) behoben werden. Mit Beseitigung der Ursache hört in der Regel auch das „herausfordernde Verhalten“ auf. Bleibt die Ursache hingegen weiter bestehen, werden die Verhaltensauffälligkeiten ständig wiederkehren und sich möglicherweise sogar noch verstärken. Je länger die Störung andauert, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass dann Unruhe, Schreien, Aggression oder ablehnendes Essverhalten für die Primärstörungen gehalten und statt der Ursache behandelt werden. In diesem (nicht seltenen) Fall geschieht nicht nur nichts, um Leiden zu lindern. Es erfolgen meist Fehlbehandlungen, die neues Leid schaffen und einen Teufelskreis zunehmender Belastungen und Beschwerden in Gang setzen. Am häufigsten kommen dabei Psychopharmaka zum Einsatz, die zwar die Le-
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Marina Kojer
bensäußerungen der Betroffenen dämpfen, gegen quälende Schmerzen aber naturgemäß wirkungslos bleiben müssen. Frau F. ist in den letzten Tagen ohne erkennbaren Grund misslaunig, sehr unruhig und ständig auf den Beinen. Beim An- und Ausziehen reagiert sie aggressiv. Wirklich schlimm ist es aber nur in der Nacht. Trotz des Schlafmittels, das sie ohnedies jeden Abend bekommt, schläft sie kaum und beginnt immer wieder so gellend zu schreien, dass dadurch die Patientinnen in den benachbarten Zimmern aufwachen. Frau F. beruhigt sich auch dann nicht, wenn die Schwester zu ihr kommt, ihr gut zuredet und sie streichelt. Die Stationsleitung bittet den Arzt bei seiner nächsten Visite, etwas gegen dieses Schreien zu tun. Er verordnet eine höhere Dosis des Schlafmittels und im Bedarf 10 Tropfen Psychopax (Diazepam). Die Nächte verlaufen jetzt ruhiger. Tagsüber ist Frau F. zwar recht müde und sehr wackelig auf den Beinen, will aber trotzdem immer wieder aufstehen und herumgehen. Die Pflegenden befürchten, dass sie hinfällt und sich weh tut. Daher verordnet der Arzt ein mildes Beruhigungsmittel für tagsüber und einen Taillengurt zum Selbstschutz. Frau F. hat in der Folgezeit weniger Appetit und verschluckt sich immer öfter. Sie verhält sich jetzt ruhig … Wie lässt sich dieser Teufelskreis unterbrechen oder ganz vermeiden? Die Antwort darauf enthält einige wesentliche Kriterien palliativgeriatrischen Arbeitens: 1. Die Mitarbeiterinnen arbeiten gerne mit demenzkranken Hochbetagten und begegnen ihren Patientinnen mit Respekt, Wertschätzung und Empathie. 2. Sie sind ausreichend in Kommunikation mit Demenzkranken geschult und setzen diese Kompetenz laufend ein. 3. Sie wissen, dass das Verhalten Demenzkranker stets einen Grund hat, und beherrschen die Kunst der einfühlsamen Beobachtung. Es ist für sie selbstverständlich, ihre Beobachtungen miteinander zu besprechen und laufend mündlich und schriftlich im multidisziplinären Team zu kommunizieren. 4. Schmerzen erkennen, Schmerztherapie und die Behandlung anderer quälender Beschwerden sind ein wesentlicher und selbstverständlicher Teil der Teamarbeit.
Der Weg von der Fürsorglichkeit zur Verdinglichung Menschen mit fortgeschrittener Demenz wird, weil sie nicht folgerichtig denken und nicht verbal kommunizieren können, häufig still-
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Kommunikation – Kernkompetenz der Palliativen Geriatrie
schweigend jede Möglichkeit der Willensbildung und Willensäußerung aberkannt. Die Betreuerinnen sind stets die Mächtigeren, diese Tatsache lässt sich nicht wegdiskutieren. Es ist vor allem eine Frage ihrer Haltung, zu erkennen, dass Demenzkranke in jeder Phase ihrer Erkrankung bestimmte, für sie bedeutsame Entscheidungen treffen können. Vor allem wenn die Erkrankung erst mäßig weit fortgeschritten ist, leiden unsere Patientinnen oft an dem Verlust von Selbstvertrauen. Häufig müssen wir sie dann erst dazu ermutigen, sich eine Entscheidung zuzutrauen und sie zu treffen. Dies gelingt am besten durch
den Aufbau einer tragfähigen Beziehung zur Betreuerin, die Schaffung einer Atmosphäre der Sicherheit und Geborgenheit, einfache, verständliche Information, wiederholte Gespräche ohne Zeitdruck, Signale der Betreuerin wie „Du bist nicht allein“, „Ich bleibe bei Dir“, „Ich helfe Dir“, „Wir schaffen es gemeinsam“.
Selbst in der Zeit vollständiger Hilflosigkeit können Demenzkranke noch immer Ja-nein-Entscheidungen zu körpernahen Erlebnissen treffen (vgl. Wunder, 2008). Sie zeigen z. B. deutlich durch Blickkontakt oder durch ein Lächeln, ob sie etwas wollen und – z. B. durch Abwehrbewegungen oder Schreien – wenn sie etwas nicht wollen. Längere Bekanntschaft mit einer Patientin und ihren persönlichen Eigenarten macht es uns zwar auf alle Fälle leichter, ihr Verhalten richtig zu deuten, doch die wichtigste Voraussetzung, um Willensäußerungen schwer Demenzkranker zu erkennen, ist die persönliche, von Achtsamkeit und Zuwendung getragene Beziehung, die uns mit ihnen verbindet. Gleichgültigkeit dem anderen Menschen gegenüber geht dagegen stets mit Beziehungsverlust einher und macht es uns unmöglich, diskrete Signale wahrzunehmen und als Mitteilungen zu verstehen. Je wichtiger uns das Wohlergehen eines Menschen ist, desto sorgsamer und selbstverständlicher werden wir auf jede seiner Lebensäußerungen achten und bemüht sein, angemessen darauf zu reagieren. Angemessen ist eine Reaktion schwer demenzkranken Patientinnen gegenüber nur dann, wenn wir zu „Kommunikatoren der Hilfe“ (Huber, 1994) werden und den Betroffenen – vor allem nonverbal – zeigen, dass wir sie verstehen und uns bemühen, ihrem Wunsch nachzukommen. Je weiter die Demenz fortgeschritten ist, desto wichtiger wird unsere vorausschauende Fürsorglichkeit für die Kranken. Wenn wir das eigene Verhalten nicht immer wieder kritisch hinterfragen, entwickelt sich daraus allmählich, fast unmerklich die Gewohnheit, über diese Pati-
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entinnen „zu ihrem Besten“ zu verfügen. Wir denken und handeln für die derart „Befürsorgten“ und merken gar nicht, dass wir blind und taub für ihre Signale geworden sind. Damit drängen wir sie noch weiter in den Rückzug, statt ihnen zu helfen, auf ihre Weise am Leben teilzunehmen. Studienergebnisse des Heidelberger Instituts für Gerontologie liefern den wissenschaftlichen Beweis für etwas, was Validationsanwenderinnen längst aus Erfahrung wissen: Demenzkranke Menschen sind hoch sensibel, leichter verletzbar als andere und können sich kaum mehr vor belastenden Umwelteindrücken schützen (Kruse, 2008, S. 9). Angesichts dieser Erkenntnisse haben wir uns stets zu fragen, ob wir uns tatsächlich so verhalten, dass die emotionalen Ressourcen unserer Patientinnen (denn es sind Ressourcen und keine „Störungen“!) in vollem Umfang zum Tragen kommen können. Ein Mensch, den wir nicht nur nach bestem Wissen und Gewissen umsorgen, sondern für den wir auch denken und handeln, wird mit der Zeit – wenn wir uns seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit nicht bewusst bleiben und seine Ressourcen nicht erkennen – mehr als Versorgungsobjekt denn als Person wahrgenommen. Mit dieser Verdinglichung eines lebenden und atmenden Du verwandelt sich Fürsorglichkeit einem Menschen gegenüber in bloße Erledigung.
1.1.4
Zusammenfassung
Die Bedeutung einer mitfühlenden Kommunikation für die Lebensqualität demenzkranker Hochbetagter kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wollen wir erkennen, was einer Patientin fehlt, die keine Worte mehr für ihren Schmerz hat, müssen wir uns von ihr wie von einem „Kompass“ (Kruse, 2010) führen lassen. Diese Feststellung betrifft vor allem Demenzkranke, aber nicht nur sie! Nach Maximilian Gottschlich gilt für jeden Menschen, der ärztliche Hilfe sucht: „Wer den Patienten verstehen möchte, muss versuchen, sich in seine Gefühlswelt einzufühlen“ (Gottschlich, 2007, S. 24). Palliative Geriatrie lebt mehr als jede andere Sparte in Medizin und Pflege von dem Verständnis für die Gefühlswelt der Kranken. Unsere Patientinnen können ihre körperlichen und seelischen Beschwerden nicht mehr gedanklich reflektieren; sie erleben sie vorwiegend oder ausschließlich auf der Gefühlsebene. Ohne das kontinuierliche Aufrechterhalten einer lebendigen Beziehung ist es fast unmöglich, ihnen die Hilfe zuteilwerden zu lassen, die sie brauchen. Gelingende Kommunikation bis zuletzt und der Aufbau tragfähiger Beziehungen zu unseren Patientinnen bilden das Fundament der
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Die Bedeutung von Symbolen in der „Sprache“ demenzkranker Menschen
Palliativbetreuung von demenzkranken Hochbetagten. Unsere Arbeit basiert auf diesem Fundament; dieses Buch soll mithelfen, unsere Erkenntnisse und Botschaften weiterzutragen. Für die Palliative Geriatrie gilt – in Abwandlung eines bekannten Satzes von Arthur Schopenhauer: Kommunikation ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Kommunikation. Die Bedeutung von Symbolen in der „Sprache“ demenzkranker Menschen
1.2 Die Bedeutung von Symbolen in der „Sprache“ demenzkranker Menschen Gunvor Sramek Hochbetagte Menschen mit Demenz drücken sich sehr häufig verschlüsselt aus. Dazu benützen sie während des gesamten Verlaufs ihrer Erkrankung Symbole. Diese Symbole stehen stets für etwas, das für die Betroffenen von ganz besonderer Bedeutung ist. Ein Symbol kann stellvertretend für Menschen, Dinge und Ereignisse, aber auch für Werte, Gefühle oder Bedürfnisse (z. B. nach Liebe oder nach Ansehen) verwendet werden. Alte Menschen in den Anfangsphasen ihrer Demenz drücken sich in der Regel über die Sprache aus; je weiter die Krankheit fortschreitet, desto häufiger werden Worte von Bewegungen oder Handlungsabläufen abgelöst. Demenziell Erkrankte wiederholen ihre Symbole immer und immer wieder in der gleichen Art und Weise. Worte oder Laute, Rhythmus, Körperhaltung, Körperspannung, Emotion und Gesichtsausdruck verändern sich dabei kaum. Stets ist deutlich zu spüren, dass es dabei um etwas ganz Bestimmtes geht, das für die Betroffenen besonders bedeutsam ist. Das verwendete Symbol weist immer auf das ihm zugrunde liegende Bedürfnis hin. Es gelingt uns allerdings nicht, jedes Mal dieses Bedürfnis zu erkennen. Wenn es aber gelingt, ist dies für die Betreuenden häufig ein Schlüssel, der es ihnen möglich macht, einen besseren Zugang zu diesem Menschen zu finden. Sie kommen der Betreffenden dann näher, verstehen sie besser, können richtiger auf ihre Signale reagieren und rascher erkennen, welche Art von Begleitung sie braucht. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist es zu lernen, mit demenzkranken alten Menschen zu kommunizieren (vgl. Feil und de Klerk-Rubin, 2005; Feil, 2007; Kojer et al., 2007; Gutenthaler und Kojer, 2009).
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Gunvor Sramek
1.2.1
Die Symbolsprache alter Menschen mit beginnender Demenz (Validation: Phase 1 „Mangelhafte Orientierung“)
In dieser Phase der Demenz weisen Symbole oft auf alte seelische Verletzungen, aber auch auf schmerzliche Verluste und Ängste in der Gegenwart hin. In verschlüsselter Weise wird etwas zum Ausdruck gebracht, das die Betroffenen sehr belastet und das sie unbedingt vor sich und vor anderen verstecken möchten. Der Symbolcharakter eines solchen Verhaltens wird leider nur selten erkannt. Vielmehr werden diese im Großen und Ganzen durchaus orientiert wirkenden Menschen oft für unangenehme, wenn nicht gar bösartige Zeitgenossen gehalten. Das kommt vor allem dann vor, wenn sie – was häufig geschieht – andere zu Unrecht beschuldigen. Die Umgebung bestraft ihr Verhalten allmählich mit Ausgrenzung und trägt damit unbewusst zum Fortschreiten der Krankheit bei. Gunvor Sramek
Personen mit beginnender Demenz leben in der ständigen Angst, „ihr Gesicht zu verlieren“. Sie brauchen unbedingt ein Ventil, um sich auszudrücken, ihren Schmerz herauszuschreien, um auf diese Weise Dampf abzulassen. Die Bedürfnisse, die sie nur in verschlüsselter Form äußern können, kennen wir alle: Jede von uns möchte beachtet, geliebt und anerkannt werden. Wir alle möchten selbstbestimmt leben. Die verschlüsselten Aussagen sind fast immer Hilfeschreie von Menschen in seelischer Not, die versuchen, ihre große Verletzlichkeit hinter einer Mitteilung mit Symbolcharakter zu verstecken. Logische Argumente, Erklärungen und Begründungen können daher nicht weiterhelfen. Sie tragen sogar dazu bei, alles noch schlechter zu machen. Wir müssen akzeptieren lernen, dass man demenziell veränderte Hochbetagte nicht zur Einsicht bringen kann. Durch sinnlose Diskussionen und Kämpfe geraten die Betroffenen nur in immer stärkere seelische Not und lassen uns allmählich an unserer zunehmend als sinnlos empfundenen Arbeit verzweifeln.
Beispiele für Symbole, die sich häufig hinter Beschuldigungen verbergen „Niemand gibt mir hier etwas zum Essen! Die vergessen mich immer!“ Aussagen über fehlendes oder vergiftetes Essen deuten fast immer auf das Gefühl hin, keine Zuneigung zu erhalten, nicht geliebt zu werden, überflüssig zu sein und dadurch immer mehr zu vereinsamen. Dieses Gefühl hat in der Regel nicht viel mit der rea-
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Die Bedeutung von Symbolen in der „Sprache“ demenzkranker Menschen
len Situation zu tun. Die Ursachen dafür gehen meistens bis in die Kindheit zurück. Im hohen Alter ist im Allgemeinen nicht mehr genug Kraft vorhanden, um diese nie bewältigten Verwundungen endlich bewusst aufzuarbeiten oder sie weiterhin zu verdrängen. Die schmerzenden Gefühle tauchen unabweisbar aus der Tiefe auf und werden in voller Stärke noch einmal erlebt. Der „Hunger“ dieses alten Menschen ist der Hunger nach Zuwendung. Das wäre in dieser Situation kontraproduktiv: Wird der Symbolcharakter der Aussage nicht erkannt, könnte eine bemühte Betreuerin etwa so reagieren: „Aber da steht doch noch Ihr Teller; Sie haben ja fast alles aufgegessen!“ Die Person mit der beginnenden Demenz wird daraufhin noch lauter schimpfen, die Betreuerin wird verärgert reagieren. Die Situation schaukelt sich allmählich auf. Der unverstandene alte Mensch reagiert mit Verzweiflung und Rückzug und vereinsamt immer mehr. Die laufend frustrierten Betreuerinnen nähern sich allmählich dem Burnout. So könnte eine hilfreiche Reaktion aussehen: „Hat sich niemand um Sie gekümmert?“ … „Haben Sie so lange warten müssen?“ „Waren Sie ganz alleine?“ Auf diese Weise versucht man, das Bedürfnis nach mehr Zuneigung und Anteilnahme zu stillen. „Sie stehlen alle wie die Raben; meine Perlenkette ist jetzt auch weg.“ Gestohlener Schmuck deutet häufig auf das Gefühl hin, Schönheit, Attraktivität und Ansehen verloren zu haben. Diese alten Frauen können und wollen sich nicht damit abfinden, im Zuge des Alterungsprozesses das einzubüßen, was ihnen immer besonders wichtig war. Sie sind überzeugt davon, dass nur ihr gutes Aussehen ihnen früher dazu verholfen hatte, in der Gesellschaft „jemand zu sein“. Hinter dem Symbol versteckt sich das Bedürfnis, begehrt zu sein, geliebt, gelobt und anerkannt zu werden. Das wäre in dieser Situation kontraproduktiv: „Schauen Sie – ich habe die Perlenkette gefunden. Sie lag wieder in der Lade.“ Das Bedürfnis wird nicht erkannt; die alte Frau und die Betreuerin reden aneinander vorbei. Die Situation wird daher immer mehr eskalieren. So könnte eine hilfreiche Reaktion aussehen: „Die schöne Perlenkette! Die steht Ihnen so gut.“ … „Von wem haben Sie die bekommen?“ …. „Ah, von Ihrem Mann. Hat er Sie sehr geliebt?“ … „Wie haben Sie sich kennengelernt?“ … „Hat er nur Sie gesehen?“ … „Da waren Sie sicher sehr stolz und glücklich!“ Hier geht es darum, ein wenig von dem Bedürfnis zu stillen, eine schöne und begehrte Frau zu sein.
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Gunvor Sramek
„Die Geldbörse ist weg! Ich muss sofort die Polizei anrufen!“ Die verschwundene Geldbörse symbolisiert meistens den zunehmenden schmerzenden Verlust an Selbstständigkeit, die Angst vor Abhängigkeit und Hilflosigkeit. Als besonders bedrückend erleben die Betroffenen die Angst davor, wichtige Entscheidungen vielleicht schon in naher Zukunft nicht mehr selbst treffen zu können. Im Vordergrund steht hier das Bedürfnis danach, den sozialen Status nicht zu verlieren. Das wäre in dieser Situation kontraproduktiv: „Die Geldbörse ist sicher wieder irgendwo im Schrank, da war sie neulich ja auch.“ Eine solche Reaktion muss wie ein Peitschenschlag auf das ohnedies gefährdete Selbstbewusstsein wirken. So könnte eine hilfreiche Reaktion aussehen: „Die Geldbörse ist weg, sagen Sie?“ … „Ist das schon öfter vorgekommen?“ … „Ja?“ … „Ist das früher auch schon passiert?“ … „Nein?“ … „Waren Sie früher immer gewohnt, alles im Griff zu haben und selbst zu regeln?“ … „Was waren Sie von Beruf?“ Das Wesentliche ist in diesem Fall, das Bedürfnis, nach sozialem Ansehen und Selbstständigkeit anzusprechen und etwas zu finden, das mithilft, das Selbstwertempfinden des alten Menschen zu stärken.
1.2.2
Die Symbolsprache alter Menschen mit fortgeschrittener Demenz (Validation: Phase 2 „zeitverwirrt“ und 3 „sich wiederholende Bewegungen“)
Wenn wir sehr alte, zunehmend desorientierte Menschen begleiten, befinden wir uns mit ihnen auf dem großen zeitlichen Bogen zwischen einst und jetzt. Um gemeinsam mit ihnen auf dem Bogen ihres Lebens hin und her wandern zu können, müssen wir sehr flexibel sein. Schreitet die Demenz fort, wird uns der erkrankte Mensch manchmal gleichzeitig in mehrere Zeitzonen mitnehmen. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen für ihn zu einer Welt, die nur er selber kennt. Oft werden wir daher nicht zuordnen können, wo wir gerade sind. Auch dann ist es wichtig, mitzugehen, denn eine gute, verständnisvolle Begleitung kann nur auf diesem Bogen stattfinden. Symbole können in dieser Phase der Erkrankung sehr unterschiedlich ausgedrückt werden: in Worten, sprachlich (oder durch einzelne Silben oder Laute) in Verbindung mit bestimmten Bewegungen oder nur durch diese Bewegungen. Stets repräsentieren sie etwas besonders Bedeutsames aus der Vergangenheit. Alters- und demenzbedingte Verluste spielen – anders als zum Beginn der Erkrankung – jetzt keine
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Die Bedeutung von Symbolen in der „Sprache“ demenzkranker Menschen
Rolle mehr, sie tun nicht mehr weh und müssen daher nicht mehr hinter Symbolen versteckt werden. Bei Personen mit weit fortgeschrittener Demenz verschmelzen die verwendeten Symbole immer mehr mit der Person, dem Wert, dem Erlebnis oder Bedürfnis, das sie ursprünglich repräsentieren. So wird die Puppe z. B. immer mehr zum lebendigen Kind.
Beispiele für Symbole und für das, wofür sie stehen Puppe/Kind. Frau W. hat sich ihr Leben lang vergeblich ein Kind gewünscht. Eines Tages findet sie auf der Station eine Puppe; die Puppe wird zu dem Kind, dem sie endlich ihre ganze Liebe geben kann. Sie hält sie ganz behutsam, streichelt sie und küsst sie liebevoll. Sollte die Puppe, wenn die Demenz noch weiter fortgeschritten ist, verloren gehen, würde Frau W. vielleicht ihre eigene Hand als Ersatz benützen. Das wäre in dieser Situation kontraproduktiv: „So eine schöne Puppe! – Wie heißt sie denn?“ Die alte Frau reagiert nicht. Sie spielt nicht mit einer Puppe, sie liebkost ihr Kind! So könnte eine hilfreiche Reaktion aussehen: Die Betreuerin beugt sich zu der alten Frau und streichelt „das Kind“ behutsam im gleichen Rhythmus mit. Sie sagt: „So lieb; ganz lieb, so vorsichtig machen Sie das.“ Die alte Frau hebt dann wahrscheinlich den Kopf und schaut ihre Begleiterin mit einem dankbaren, glücklichen Gesichtsausdruck an. Handtasche/Büroschrank. Frau H. war früher für das Einkassieren der Mieten in einem großen Gemeindebau verantwortlich. Sie hatte viel Verantwortung und war sehr genau; alle konnten sich auf sie verlassen. Jetzt stopft sie ihre Handtasche mit vielen Zetteln voll; die Tasche wird zu ihrem Büroschrank. Sie hat noch immer das Bedürfnis, zu arbeiten, nützlich zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Die Handtasche ist jetzt ihr wichtigster Besitz. Das wäre in dieser Situation kontraproduktiv: „Sollen wir die vielen Zettel nicht weggeben? Alle brauchen Sie doch wirklich nicht! Schauen Sie – es sind viel zu viele. Die Handtasche geht ja gar nicht mehr zu.“ So könnte eine hilfreiche Reaktion aussehen: „Haben Sie immer viel zu tun gehabt?“ „Mussten Sie alles gut aufheben und Ordnung halten?“ „Wie konnten Sie das alles schaffen?“ „Hat Ihnen niemand geholfen?“ Handlauf/Klaviertasten. Für Frau H., eine alte Klavierlehrerin, ersetzt im Pflegeheim der glatt lackierte Handlauf die Tasten. Sie geht unermüdlich hin und her und spielt auf dem Handlauf stundenlang
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mit ihren Fingern Klavier. Dabei singt, summt und brummt sie sehr zufrieden vor sich hin. Zusammenhängend sprechen kann sie nicht mehr. Die alte Frau liebte ihren Beruf sehr und war ihr Leben lang immer mit Musik beschäftigt gewesen. Der Handlauf ist jetzt das Wichtigste für sie. Ohne ihn konnte und wollte Frau H. nicht leben. Sie starb sehr rasch, als sie in ein Privatsanatorium ohne lange Gänge und ohne Handlauf verlegt wurde. Das wäre in dieser Situation kontraproduktiv: Die besorgte Betreuerin unterbricht das „Klavierspiel“, schiebt einen Stuhl hin und sagt: „Schauen Sie – hier können Sie sich ausruhen. Sie müssen ja schon ganz müde sein von dem vielen Hinund-Hergehen.“ So könnte eine hilfreiche Reaktion aussehen: Die Begleiterin geht im gleichen Schritttempo mit der alten Dame mit, nimmt dabei behutsam den „freien“ Arm, mit dem sie gerade nicht am Klavier übt, und versucht, ein wenig mitzusummen. Das Ende des langen Handlaufs unterbricht den Vorgang für einige Augenblicke. Das ist der richtige Zeitpunkt, um eine Pause vorzuschlagen: „Immer fleißig, immer fleißig. Möchten Sie jetzt eine Pause machen? Oder vielleicht etwas trinken? Wollen Sie hier Platz nehmen?“
1.2.3
Ziele und Vorgangsweisen in der Begleitung
In der Anfangsphase einer Demenz zielt die Kommunikation in erster Linie darauf ab, dem alten Menschen zu helfen, den Druck alter Verletzungen sowie Angst, Unmut und Verzweiflung herauszulassen. Die Betroffenen legen in dieser Zeit besonderen Wert auf ihre Selbstständigkeit. Daher empfiehlt es sich in der Regel, auf Berührungen und auf gefühlsbetonte Worte zu verzichten. Wenn ihre Kernaussage in anderen Worten zurückgespielt wird, gibt das der aufgebrachten Beschuldigerin das Gefühl, ernst genommen und verstanden zu werden. Nachfragen und behutsames Eingehen auf unausgesprochene Bedürfnisse tragen dazu bei, Vertrauen wachsen zu lassen. Es ist hilfreich, immer wieder zu versuchen, das gefährdete Selbstwertgefühl des alten Menschen zu stärken. In späten Phasen der Demenz können wir die alten Menschen nur mehr über die Gefühlsebene erreichen. Wenn wir ihnen Nähe und Halt schenken, helfen wir ihnen am meisten. Dies gelingt aber nur, wenn wir bereit sind, ihre Welt, ihre Wirklichkeit und ihre Gefühle vorbehaltlos als ihre Wahrheit anzuerkennen. Menschen mit fortge-
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Gestörtes Verhalten – Verhalten, das uns stört?
schrittener Demenz leben in ihrer eigenen Welt. Diese Welt ist für sie sehr wichtig; sie haben keine andere. Die von ihnen verwendeten Symbole können der Schlüssel sein, der uns den Zugang zu dieser inneren Welt erschließt. Die Bilder von früher, die alte Menschen jetzt mit ihrem inneren Auge vor sich sehen, die Stimmen und Klänge aus der Vergangenheit, die sie mit dem inneren Ohr hören, werden nicht nur erinnert, sie werden neu erlebt! In dieser Phase brauchen die Betroffenen viel Berührung, vor allem aber unsere ehrliche Anteilnahme an den Gefühlen und Bedürfnissen, die sie gerade bewegen. Gestörtes Verhalten – Verhalten, das uns stört?
1.3 Gestörtes Verhalten – Verhalten, das uns stört? Marina Kojer, Ursula Gutenthaler Nichts empfinden sowohl Angehörige als auch professionelle Betreuerinnen als so belastend wie das störende oder (in moderner Terminologie) „herausfordernde“ Verhalten Demenzkranker. Nichts sonst erfüllt sie mit solcher Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, weder die immer stärker abnehmende Gedächtnis- und Orientierungsleistung noch der allmählich fast vollständige Verlust von Denken und Logik, noch auch die schweren Kränkungen, wie sie z. B. auftreten, wenn die alte Mutter ihre Tochter, der Ehemann seine Frau nicht mehr erkennt.
1.3.1
Gestörtes Verhalten ist mehr als ein Symptom
Gestörtes Verhalten gilt als klassisches Symptom der Demenz. Allerdings wird häufig übersehen, dass sich dieses Symptom durch die Diagnose allein weder erklären noch begründen lässt. Menschen mit fortgeschrittener Demenz können sich unserer üblichen Kommunikationsformen nicht mehr bedienen; wenn die Sprache allmählich verloren geht, drücken sie sich über ihren Körper und durch ihr Verhalten aus. Die Signale, die sie aussenden, müssen daher in erster Linie als Kommunikationsversuche von Menschen verstanden werden, die ihre körperliche oder seelische Not nicht mehr in der üblichen Weise mitteilen können. Für jedes Verhalten gibt es einen Grund. Es darf z. B. nicht weiter verwundern, wenn eine alte Dame schreit, das Essen verweigert und sich möglicherweise stundenlang verstört und „aggressiv“ (eigentlich: abwehrend) verhält, nachdem jemand ihren Rollstuhl verschoben hat,
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Marina Kojer, Ursula Gutenthaler
ohne zuvor mit ihr Kontakt aufzunehmen und sie darauf vorzubereiten. Charakteristisch für die Erkrankung ist nur die Art und Weise, in der Demenzkranke uns mitteilen, dass es ihnen nicht gut geht. Die Signale sind stets mehrdeutig, hinter ein und demselben Verhalten kann sich daher sehr vieles verbergen. Das erschwert die Zuordnung und führt häufig dazu, dass man sich mit der Diagnose Demenz als Begründung zufrieden gibt und gar nicht erst nach einem möglichen Grund für ein Verhalten sucht. Fast schon regelhaft kommt es zudem zu unreflektierten Zuschreibungen: Abwehrverhalten wird z. B. fast immer als „Aggression“ bezeichnet und als Angriff gesehen. Dabei liegt es auf der Hand, dass viele Ursachen (z. B. Erschrecken, Angst, Schmerz) dafür verantwortlich sein können, wenn ein völlig desorientierter, hilfloser Mensch meint, etwas von sich abwehren zu müssen. Auslösend kann alles sein, was die augenblickliche körperliche oder seelische Befindlichkeit der Betroffenen negativ beeinflusst. Häufige körperliche Ursachen gestörten Verhaltens sind u. a. Marina Kojer, Ursula Gutenthaler
Schmerzen Juckreiz Exsikkose Hunger, Durst Beginnender Infekt Obstipation Harnverhaltung O2-Versorgung Medikamentennebenwirkung Überdosierung Blutdruck Blutzucker Subdurales Hämatom.
Auffälliges Verhalten kann aber auch eine Reaktion auf das Fehlverhalten der Betreuerinnen und ungünstige Umweltfaktoren sein oder auf unbewältigte Erlebnisse aus der Vergangenheit zurückgehen. Als Umweltfaktoren, die häufig gestörtes Verhalten hervorrufen, sind zu nennen:
Angstauslösende Faktoren (z. B. Erschrecken, Einbettzimmer) Eingesperrt sein (z. B. Steckgitter) Licht- und Reizmangel Mangel an Zuwendung Lieblose, gleichgültige Behandlung Reizüberflutung (z. B. Radio, Fernseher)
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Gestörtes Verhalten – Verhalten, das uns stört?
Schlechte Lage Drückende Kleidung (z. B. schlecht sitzendes Netzhöschen) Respektloses, entwürdigendes Verhalten (z. B. beim Nahrungzureichen) Verzweiflung, weil ein Anliegen nicht verstanden wird Einsamkeit. Solange es uns nicht gelingt, eine Beziehung herzustellen und dem demenzkranken alten Menschen so weit wie möglich in seine Welt zu folgen, bleibt er für uns unzugänglich. Wenn die Kommunikation dauerhaft misslingt, müssen sich Demenzkranke vollständig verunsichert, hilflos, unverstanden und in einer feindlichen Welt allein gelassen fühlen. Um sich einigermaßen in ihrem Leben zurechtzufinden, brauchen sie indes unbedingt das Gefühl, zu verstehen und auch selbst mit ihren Anliegen verstanden zu werden; sie brauchen Sicherheit und Geborgenheit. Sind diese existenziellen Grundbedürfnisse nicht gestillt, ist es dementen Menschen nicht möglich, zu jemandem Vertrauen zu fassen; ihre stets vorhandene Angstbereitschaft und Stressgefährdung nimmt dann noch weiter zu. So entsteht allmählich ein Teufelskreis: Die Verhaltensauffälligkeiten werden immer stärker und dominieren allmählich das gesamte Zustandsbild. Den Betreuerinnen gelingt es immer weniger, mit den laufend schwieriger werdenden Situationen umzugehen. Sie konzentrieren sich nur mehr darauf, mit dem nervenden, ihre Arbeit erschwerenden und behindernden Verhalten der Betroffenen irgendwie zurechtzukommen. Es ist leicht verständlich, dass dann häufig zu sedierenden Medikamenten gegriffen wird, auch wenn in vielen Fällen bessere und sinnvollere Lösungen zu finden gewesen wären. Oft lässt sich die medikamentös erzwungene Beruhigung nicht so genau dosieren, dass die Patientinnen, wenn die Wirkung eingetreten ist, noch so wach sind, dass sie in ihrer Weise am Leben teilnehmen können. Die chemische Zwangsjacke dient dann unbeabsichtigt eher dazu, ihnen – für ein paar Stunden, für Tage, vielleicht für immer – aus ihrem persönlichen Leben herauszuhelfen. Zudem haben die verwendeten Präparate viele Nebenwirkungen und sind auch in ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand alles andere als harmlos. So belegt z. B. eine Studie, dass ® durch die Therapie sowohl mit alten – z. B. Haldol (Haloperidol) – als auch mit neueren atypischen Neuroleptika – z. B. Zyprexa (Olanzapin) oder Seroquel® (Quetiapin) – das Risiko Hochbetagter, an einer Pneumonie zu erkranken (und in einem Viertel der Fälle auch zu sterben), beträchtlich ansteigt (Trifirò et al., 2010). Besonders verhängnisvolle Nebenwirkungen haben Benzodiazepine, vor allem das – zumindest in Österreich – noch immer viel zu häufig verwendete
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Marina Kojer, Ursula Gutenthaler
Diazepam (Psychopax®, Gewacalm®). Zum einen führt die muskelrelaxierende Wirkung von Diazepam bei schwachen und gebrechlichen Hochbetagten zu Gangstörungen und stark erhöhter, mit erheblichem Verletzungsrisiko (Schenkelhalsfraktur!) verbundener Sturzgefahr. Bei diesen Patientinnen ist zudem mit anhaltender Benommenheit und beträchtlichen Störungen des noch vorhandenen Erinnerungs- und Merkvermögens zu rechnen. Außerdem besteht durch die besonders hohe Halbwertszeit auch noch die große Gefahr einer Kumulation dieser nicht ungefährlichen Wirkstoffe. Noch schlimmer als die Belastungen Demenzkranker durch den zu großzügigen Einsatz von Psychopharmaka wirkt sich die Tatsache aus, dass die hinter dem störenden Verhalten verborgenen körperlichen und seelischen Leiden oft für immer unbemerkt untergehen. Eine Reihe von Studien belegt eindrucksvoll, dass ein großer Teil von Hochbetagten mit fortgeschrittener Demenz nicht oder nicht ausreichend schmerztherapeutisch behandelt wird (exemplarisch Shega et al., 2006; Horgas und Elliot, 2004; vgl. auch S. 47 ff.). Unbehandelte Schmerzen können das Leben zur Hölle machen. Darüber hinaus kostet es sehr viel Kraft, damit zu leben, Kraft, die ein Mensch im hohen Alter nicht mehr haben kann. Je schwächer Körper und Geist werden, desto mehr nimmt die seelische Verletzlichkeit zu. Ständig wiederkehrende Kränkungen durch Missverständnisse, Missachtung, Machtausübung sind daher für hochsensible, hochbetagte, körperlich schwache Demenzkranke noch viel schwerer zu ertragen als für andere, kognitiv weniger eingeschränkte Menschen. Das Leid wächst durch mangelnde Kommunikation, Gedankenlosigkeit und fehlende Achtsamkeit oft ins Unermessliche. „Mit der sprachlichen Distanz geht auch die ethische Distanz einher, die die Flucht aus der Wirklichkeit des Leidens des anderen ermöglicht“ (Gottschlich, 1998, S. 52). Dieser Zusammenhang macht auch die bestürzenden Ergebnisse einer großen Studie (Di Giulio et al., 2008) verständlich, die u. a. aufzeigt, dass in italienischen Pflegeheimen mehr als 58 % der Patientinnen mit fortgeschrittener Demenz bis zu ihrem Tod fixiert werden. Alles Fachwissen muss vergeblich bleiben, solange wir nicht lernen, auch mit schwer kontaktierbaren Demenzkranken in Beziehung zu treten, und daher nicht in der Lage sind, ihre Schmerzen, ihre quälenden körperlichen und seelischen Beschwerden sowie ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, ja wenn uns unter Umständen nicht einmal bewusst wird, dass wir eine Sterbende vor uns haben. Es wäre schon einiges erreicht, wenn die Betreuerinnen (Angehörige, Pflegekräfte, Ärztinnen) aufhörten, selbst Verursacherinnen von Verhaltensstörungen zu werden.
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„Blitzableiter“
Voraussetzung für eine sinnvolle Betreuung, die den Bedürfnissen Demenzkranker weitgehend gerecht zu werden vermag, ist daher der Erwerb von Kompetenz in Kommunikation. Erst durch gelingende, empathische Kommunikation und den Aufbau tragfähiger Beziehungen wird es möglich, die Kranken so zu akzeptieren, wie sie sind, und sich einfühlsam auf ihren Gemütszustand einzustellen. Durch diese „radikal patientenorientierte“ (Heller, 2000) Haltung ließe sich vieles zum Besseren verändern. Klaus Dörner bringt den Zusammenhang zwischen gelingender Kommunikation und der Qualität der fachlichen und menschlichen Betreuung auf den Punkt: „Je intensiver die Beziehung zwischen dem anderen und mir ist … desto angemessener werden mein Handeln und meine Entscheidung sein“ (Dörner, 2001, S. 54). Ursula Gutenthaler
1.3.2
„Blitzableiter“ Ursula Gutenthaler
Seit vielen Jahren leite ich als Stationsschwester gemeinsam mit unserer Stationsärztin Martina Schmidl die palliative Demenzstation einer geriatrischen Palliativabteilung in Wien. In Mehrbettzimmern pflegen, behandeln und betreuen wir hochbetagte, an fortgeschrittener Demenz erkrankte Patientinnen. „Blitzableiter“
Es war einer jener düsteren Spätherbsttage, an denen es nie ganz licht wird. Der Vormittag war sehr anstrengend gewesen. Ich spürte ganz deutlich, dass ich geladen und voller Ungeduld war. Mir wurde bewusst, dass meine Stimme im Gespräch mit meinen Mitarbeiterinnen einen aggressiven Unterton hatte. Zusätzlich setzte ich mich selbst unter Druck: Ich wollte die anliegenden Arbeiten und Telefonate so schnell wie möglich hinter mich bringen. Um meine innere Ruhe wiederzufinden, gönnte ich mir ein paar Minuten Pause, trank eine Tasse Tee und atmete tief durch. Trotzdem spürte ich auch weiterhin meine innere Anspannung. Gegen Mittag hörte ich aus einem Krankenzimmer laute Rufe nach einer Schwester. Viele unserer Patientinnen sind nicht mehr in der Lage, zu läuten, wenn sie etwas brauchen. Um schneller und besser auf Rufe oder auf einen Notfall reagieren zu können, lassen wir daher die Türen zu den Zimmern offen. Als ich das Zimmer betrat, aus dem die Rufe kamen, bot sich mir folgende Situation: Frau Maria lag abgedeckt im Bett, sie bewegte
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Ursula Gutenthaler
unruhig Arme und Beine und schrie abwechselnd „Schwester“ und „Kurti“ (ihr Sohn). Die Bettdecke lag am Fußboden. Ehe ich noch zu Frau Maria gehen konnte, sah ich, dass Frau Theresia, die Patientin im Bett gegenüber, mit dem ganzen Oberkörper, Kopf voran, aus dem Bett hing. Sie drohte in den nächsten Sekunden aus dem Bett zu fallen! Ich drehte das Licht an und stürzte rasch zu ihr hin, um die Gefahr abzuwenden. Um sie besser anfassen zu können, versuchte ich zuerst, die Hand, mit der sie sich am Steckgitter des Nachbarbetts anklammerte, von dort zu lösen. Gleichzeitig sprach ich sie an. Sie reagierte üblicherweise freudig auf mein Kommen; wir hatten von Anfang an ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Diesmal aber machte sie sich nur steif. Plötzlich fing sie an laut zu schimpfen: „Verschwinde, lass mich in Ruhe“ und „Siehst du nicht, da ist ein Mann neben mir!“ So kamen wir nicht weiter. Zu zweit wäre es leichter gewesen, Frau Theresia wieder richtig in ihr Bett zu legen. „Bis eine Mitarbeiterin mir helfen kommt, wenn ich rufe, liegen wir womöglich beide auf dem Fußboden“, dachte ich. Daher packte ich sie etwas energischer an beiden Schultern und versuchte, ihren Oberkörper zurück in das Bett zu ziehen. Sofort kam eine Flut von Beschimpfungen aus ihrem Mund. Kurz entschlossen hob ich sie hoch und legte sie rasch ins Bett. Jetzt fuchtelte sie mit den Armen um sich. Meine Versuche, sie zu beruhigen, schlugen komplett fehl. Sie spuckte mich an und trat mit den Beinen nach mir. Sie war außer sich. Es gelang mir nicht, sie zu beruhigen und ihr aggressives Verhalten zu mildern. Ich stand etwas hilflos neben ihr und schaute sie an. Ihr verzweifelter Gesichtsausdruck und ihr kleiner zarter Körper rührten mich. Ich schaute in ihre Augen, sprach sie mit ruhiger Stimme an und berührte sie zart am Oberarm. Sie fixierte mich böse und spuckte mich plötzlich an. Ich war ganz verdutzt. Gleich darauf landete eine schallende Ohrfeige auf meiner Wange. Durch die Wucht des Schlages fiel mir meine Brille von der Nase. Ich hatte nicht schnell genug reagieren können. Ich hob die Brille auf und stand ziemlich verdattert da. Warum dieser Wutausbruch? Warum diese Aggression? Warum nur? Frau Theresia wirkte jetzt einigermaßen ruhig. Frau Maria auf der anderen Seite des Zimmers hatte mittlerweile aufgehört, ständig zu rufen, und sich auf wunderbare Weise von selbst beruhigt. Ich deckte sie zu, streichelte ihr über den Kopf und sagte noch ein paar liebe Worte. Daraufhin beschloss ich, das Zimmer vorerst einmal zu verlassen.
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„Blitzableiter“
In meinem Dienstzimmer ließ ich das eben Erlebte noch einmal Revue passieren. Jetzt, bei genauerer Betrachtung, konnte ich Frau Theresia ihr Verhalten gar nicht verübeln. Ich verstand plötzlich, dass ich die Ohrfeige nicht grundlos bekommen hatte. Normalerweise kann ich auch in schwierigen Situationen von innen heraus ruhig und empathisch reagieren. Diesmal konnte ich es nicht. Ich hatte geglaubt, durchaus beherrscht und freundlich zu sein. Vielleicht hätte ich nicht nur mich selbst, sondern auch andere damit täuschen können. Demente Menschen verfügen aber über besonders feinsinnige Antennen. Sie spüren ganz genau, ob ihr Gegenüber nur freundlich tut oder ihnen mit echter Zuwendung begegnet. Ich hatte an diesem Tag bereits genug, war frustriert, innerlich unruhig und geladen. Daher empfand und erlebte Frau Theresia mich und meine Handlungen als aggressiv; aufgeregt, schockiert und verletzt, wehrte sie sich dagegen. Auch die unter normalen Bedingungen sanftesten Personen können in solchen Augenblicken mit Worten oder Taten aggressiv reagieren. Eigentlich ist es falsch, hier von „Aggression“ zu sprechen; es handelt sich vielmehr um das berechtigte Abwehrverhalten eines Menschen, der sich angegriffen und bedroht fühlt. Infolge der Demenz kann dieser Verhaltensimpuls nicht kontrolliert werden und schlägt daher ungebremst durch. Frau Theresia hatte einfach auf meine Frustration und Nervosität reagiert. Als ich wieder einen kühlen Kopf hatte, versuchte ich herauszufinden, was genau das massive Abwehrverhalten bei Frau Theresia ausgelöst haben könnte, und stellte fest: Ich habe mich, als ich erschrocken zu ihr hinstürzte, wahrscheinlich außerhalb ihres Gesichtsfelds befunden; daher konnte sie mich nicht rechtzeitig sehen. Ich bin auf ihre Signale nicht adäquat eingegangen. Ich habe mich nicht angemessen mitgeteilt und wurde daher von ihr nicht verstanden. Ich habe zu rasch in die für mich sehr beängstigende Situation eingegriffen und sie dadurch erschreckt. Ich habe durch zu schnelle Bewegungen zusätzliche Ängste ausgelöst. Frau Theresia hat meine negative Stimmung gespürt und sich von mir angegriffen gefühlt.
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Ursula Gutenthaler
Gedanklich und gefühlsmäßig versuchte ich mich in die Welt von Frau Theresia zu begeben: Wie mag sie selbst wohl die Situation erlebt haben? Vielleicht so: Im Raum ist wenig Licht, es ist „düster“, ich sehe nur die Umrisse der Zimmertür. Eine weibliche Stimme ruft ständig: „Schwester“ … „Kurti“. Die Stimme wird immer lauter. Warum kommt niemand zu Hilfe? Wo bin ich denn? Dieses ständige grelle Rufen macht mich ganz unruhig. Ich setze mich auf und schaue mich um – neben mir sehe ich ein Bett. Kommen die Rufe von dort? Da, im Nebenbett liegt jemand! Wer ist das? Noch immer diese schrecklich laute Stimme! Ich will aufstehen! Ich strecke meinen Arm nach vorne. Aha, da ist etwas zum Anhalten. Noch ein bisschen vorrutschen. Ich rüttelte an dem Steckgitter des Nebenbetts. Ich sage: „Aus! Hör’ auf mit dem Schreien!“ In dem Bett liegt jemand, ein alter Mann … Was macht er hier? Er soll nachhause gehen! Der Mann reagiert nicht. Ich habe Angst vor ihm. Mir wird schwindlig, ich falle …! Jemand fasst mich unsanft an den Schultern. Ich habe Angst! Jetzt spricht jemand, eine Stimme, die ich nicht verstehen kann. Lass’ aus, der Mann soll hier weg! Der Druck an meinen Schultern wird fester. Jemand sagt „herausfallen“. Sie soll aufhören, ich bin zornig und will Ruhe haben!
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„Blitzableiter“
Ich werde hochgehoben und ins Bett gedrückt. Was will sie von mir? Warum macht sie etwas, das ich nicht will? Sie soll weggehen, oder …! Die Person geht nicht, sie ist noch immer da. Sie ist böse. Sie soll verschwinden!! Ich spucke sie an, hole aus und gebe ihr eine Ohrfeige … Jetzt ist mir wohler! Ich höre Schritte, die sich in Richtung Tür bewegen. Es ist still. Jetzt habe ich meine Ruhe, endlich …! Nach etwa einer halben Stunde ging ich zu Frau Theresia, um nachzuschauen, ob sie sich schon beruhigt hatte. Sie lag ruhig im Bett, streichelte ihre Stofftiere und wirkte sehr zufrieden. Ich setzte mich zu ihr an den Bettrand, schaute in ihre Augen und berührte ganz vorsichtig ihren „Teddy“. Dieses Mal reagierte sie genau so, wie ich es von ihr gewöhnt war; unser altes Verhältnis war wiederhergestellt. Frau Theresia lachte mich an und sagte: „Ach mein ‚Weibi‘, gut, dass du da bist.“ Sie erzählte mir, dass ihr Liebling, der Teddy, sehr brav wäre, gut geschlafen habe und dass es jetzt an der Zeit wäre, ihm etwas zum Essen zu geben. „Er hat großen Hunger, weißt Du.“ Ich blieb noch ein paar Minuten bei ihr sitzen. Vom vorhergehenden aggressiven Verhalten war keine Spur mehr vorhanden. Fazit: Mein Mangel an Empathie und meine für sie deutlich spürbare Nervosität und Unruhe hatten Frau Theresia geängstigt und mich darüber hinaus zum „Blitzableiter“ für ihre aufgestauten Spannungen gemacht.
1.3.3
Welche Fragen stellen wir?
Die Inkontinenzeinlage der demenzkranken, häufig verhaltensgestörten Patientin ist voll mit Stuhl, auch ihre Hände sind stuhlverschmiert. Die alte Frau will sich nicht reinigen lassen und schreit laut. Beim nächsten Versuch wird sie „aggressiv“, wehrt sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, schlägt wild um sich, kratzt, beißt, stößt
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Ursula Gutenthaler
mit den Füßen und versucht, die Pflegekraft an den Haaren zu reißen … Angesichts dieser oder einer ähnlich schwierigen Alltagssituation eröffnen sich zwei Zugangswege: 1. Aus der Perspektive der Patientin: Was könnte diese alte Frau so stark quälen und belasten, dass sie sich heftig dagegen zur Wehr setzen muss? Ist die Annäherung vielleicht unangekündigt oder zu rasch erfolgt und hat die Patientin erschreckt? Verletzt es ihr Schamgefühl, wenn jemand, der ihr nicht vertraut ist, sich in einem intimen Körperbereich zu schaffen machen will? War vielleicht zufällig ein Pfleger bei ihr, vor dem sie sich noch viel mehr schämt als vor einer Frau? Hat ihr die Pflegeperson in dem Bemühen, sie zu drehen, unbeabsichtigt einen Schmerz zugefügt? 2. Unsere eigene Perspektive: Wir kümmern uns nur um das, was uns selbst belastet und quält. Vielleicht weil wir gerade an diesem Tag besonders müde und daher ungeduldiger sind als sonst …, vielleicht weil weniger Personal im Dienst ist …, vielleicht weil heute besonders viele Patientinnen unruhig sind und uns das Leben schwer machen …, vielleicht weil gerade diese Patientin „immer“ so schwierig und unangenehm ist … Vielleicht aber sind wir ganz einfach daran gewöhnt, in dieser Weise auf Störsituationen zu reagieren. Die Entscheidung für einen der beiden Zugangswege bestimmt maßgeblich die Antwort auf folgende Frage: Welches vorrangige Ziel verfolgen wir, wenn wir eine geeignete Maßnahme erwägen? Überlegen wir, wie der alten Frau am besten zu helfen wäre? Geht es uns vor allem darum, ihr körperliches oder seelisches Leid so gut wie möglich zu lindern oder – falls das möglich ist – sogar ganz zu beseitigen? Oder suchen wir nur nach einer raschen Lösung, um die störende Situation in den Griff zu bekommen oder tunlichst überhaupt zu beenden? Was tatsächlich in jedem einzelnen Fall geschieht, kann sehr unterschiedlich sein und hängt stark von der Philosophie des Pflegeheims, von Engagement und Ausrichtung der Station und natürlich auch von den jeweils verantwortlichen Mitarbeiterinnen aller Berufsgruppen ab. Falls man sich dafür entscheidet, der Patientin ein geeignetes Präparat zu verabreichen, und sie sich daraufhin beruhigt, ist die Situation fürs Erste bereinigt. Aber denken wir dann noch darüber nach, ob
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„Blitzableiter“
sich die medikamentös beruhigte verhaltensgestörte Person jetzt tatsächlich wohler fühlt? Haben wir damit die Ursache für das gestörte Verhalten ausgeschaltet? Hat ihr die getroffene Maßnahme geholfen? Haben wir ihr damit etwas Gutes getan? Wenn ja, woran stellen wir das fest? Geht es ihr erkennbar besser oder kann sie sich nur nicht mehr zur Wehr setzen, weil sie zu gedämpft ist? Oder ist die Sache mit Beendigung der Störung für uns erledigt? Wir sind erleichtert und hören auf, uns weiter mit dieser Patientin zu beschäftigen. Es ist für alle, die in der Altenpflege arbeiten, wichtig, sich selbst immer wieder mit der Frage zu konfrontieren, ob einem das Leid der demenzkranken Patientinnen noch nahegeht. Wie weit sind wir bereit, uns auf die Menschen einzulassen, die wir Tag für Tag betreuen? Wenn wir dazu nicht (oder nicht mehr) bereit sind, haben wir zugleich damit auch die Fähigkeit aufgegeben, uns von fremdem Leid berühren zu lassen.
1.3.4
Herausforderndes oder gestörtes Verhalten? Ein Exkurs.
In der deutschsprachigen Literatur hat sich in den letzten Jahren für das veränderte, auf den ersten Blick unbegreifliche Verhalten von Menschen mit Demenz der Begriff „herausforderndes Verhalten“ durchgesetzt. Mit dieser Formulierung soll besonders betont werden, dass die in die Betreuung eingebundenen Personen sich durch dieses Verhalten herausgefordert fühlen sollen, sowohl fachlich kompetent als auch mit Einsicht, Verständnis, Güte und Geduld zu reagieren und nach guten Lösungen zu suchen. Der früher allgemein gebräuchliche Ausdruck „Verhaltensstörung“ wurde verworfen, um nicht den Eindruck zu erwecken, man wolle die Kranken der Störung bezichtigen, sie also für etwas anklagen oder gar zur Verantwortung ziehen, wofür sie nichts können. Wir halten den Begriff der Herausforderung aus mehreren Gründen für nicht geeignet: Es ist naheliegend, unter „herausforderndem Verhalten“ ein die Umwelt provozierendes Verhalten zu verstehen. Das würde bedeuten, dass die Kranken ihr Verhalten bewusst und gezielt einsetzen. Diese Sichtweise aber widerspräche diametral der mit der Umbenennung verbundenen Absicht. Unabhängig davon, wie dieses Verhalten benannt wird, empfinden Angehörige und Betreuerinnen aller Berufsgruppen Agitation, anhaltendes Rufen oder Schreien, ständige Bewegungsunruhe und „Aggression“ in der Regel als Störung. Das ist eine Tatsache, die
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Ursula Gutenthaler
nicht geleugnet und nicht schöngeredet werden kann. Was sollte daran auch schlimm oder verwerflich sein? Selbst ein heißgeliebtes Baby kann uns stören, wenn es uns nachts aus dem Schlaf weckt. Das darf auch sein; es kommt – ebenso wie bei der Demenzkranken – nur darauf an, mit welcher Haltung und in welcher Art und Weise man auf die Störung reagiert! In den letzten Jahren macht sich zunehmend eine unseres Erachtens übertriebene und unangebrachte Überempfindlichkeit oder Wehleidigkeit breit, wenn es darum geht, etwas zu benennen, was in Zusammenhang mit dem Begriff Demenz steht. Es wird alles darangesetzt zu zeigen, dass man diese Krankheit als Krankheit wie jede andere empfindet und selbstverständlich bereit ist, die davon Betroffenen uneingeschränkt als wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft zu akzeptieren. Vielerorts wird sogar schon verkrampft nach Umschreibungen gesucht, die helfen könnten, den Begriff Demenz (lat. „ohne Geist“) wenn möglich ganz zu vermeiden. Das steigende Bedürfnis nach liebenswürdigen Umbenennungen treibt allmählich seltsame Blüten. So wird die Weglauftendenz Demenzkranker in Deutschland jetzt vielfach als „Hinlauftendenz“ bezeichnet, um deutlich zu machen, dass diese Menschen das Recht dazu haben, ihre eigenen Ziele (z. B. „nach Hause gehen“) zu verfolgen. Die Belastung von Personal und Familie besteht aber auch weiterhin darin, dass die Patientinnen den einigermaßen sicheren Ort, an dem sie betreut werden, verlassen, also weglaufen. Unabhängig davon, ob wir nun von „gestörtem“ oder von „herausforderndem“ Verhalten sprechen – das Entscheidende ist, dass wir bereit sind, den Mitteilungscharakter der Lebensäußerungen unserer Patientinnen auch dann wahrzunehmen, wenn sie unsere Abläufe stören. Dieses Bemühen um eine Sichtweise „vom Anderen her“ (wie Klaus Dörner es nennt) trägt wesentlich dazu bei, aufmerksamer für die Bedürfnisse Demenzkranker zu werden und die Kranken so vor großen Belastungen zu bewahren.
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2 Demenz und Schmerz
Schmerz hat viele Gesichter
2.1 Schmerz hat viele Gesichter Marina Kojer Wenn Ärztinnen von Schmerzen sprechen, sind damit in der Regel körperliche Schmerzen gemeint. Das darf nicht verwundern: Körperliche Leiden zu heilen oder zu lindern ist zwar nicht ihre einzige, wohl aber ihre wichtigste Aufgabe. Chronische Schmerzen sind im hohen Alter häufig. Bleiben sie unbeachtet, rauben sie den Betroffenen nicht selten die letzten Kräfte und die letzte Lebensfreude und können ihnen das Leben zur Hölle machen. Schmerzen rechtzeitig zu erkennen und adäquat zu behandeln muss daher eine vorrangige Aufgabe der Palliativen Geriatrie sein; diesem Thema ist in diesem Buch ein langes und ausführliches Kapitel gewidmet (vgl. S. 47 ff.). Doch damit allein ist es noch nicht getan. Schmerz betrifft immer den ganzen Menschen, daher muss bei der Schmerzbehandlung stets der ganze Mensch mit seinen Sorgen und Nöten im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Marina Kojer
Cicely Saunders, die Begründerin der Hospizbewegung, prägte für den alle Dimensionen des Seins umfassenden Schmerz den Begriff „total pain“ (Saunders, 1993) und wurde nie müde zu betonen, dass körperliches, seelisches, soziales und spirituelles Leid als Ganzheit gesehen werden müssen. Das Lindern von „total pain“ ist ein zentrales Anliegen der Palliative Care. In der Arbeit mit Demenzkranken hat sich dieses Grundprinzip bisher bedauerlicherweise noch nicht ganz durchsetzen können. Die Hauptgründe dafür sind mangelnde Achtsamkeit und misslingende Kommunikation. Zahlreiche Kapitel dieses Buches benennen Verhaltensweisen, die im Kontext von Demenz häufig seelisches Leid auslösen oder verstärken und zeigen hilfreiche Alternativen auf (vgl. z. B. S. 27 ff., S. 11 ff., S. 327 ff., S. 131 ff.). Um zu begreifen, was Demenzkranke quält, ist die bekannte Einteilung der nicht somatischen Schmerzen in seelische, soziale und spirituelle Schmerzen nicht aussagekräftig genug. Diese Einteilung bezieht sich im Wesentlichen auf Zustände, die wir alle – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – aus eigener Erfahrung kennen und bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen können. Die Leiden demenziell Erkrankter werden zum Gutteil aus Quellen gespeist, mit denen wir persönlich noch nicht Bekanntschaft machen mussten. Wir waren noch nie hochbetagt, schwach und vollständig hilflos. Meine ehrenamtliche Tätigkeit in Pflegeheimen gibt mir reichlich Gelegenheit, den Menschen, die dort leben, näher zu kommen und ihr Leid mitzuerle-
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Marina Kojer
ben. Auf den nächsten Seiten möchte ich einige Beispiele für nicht körperliche Schmerzen Demenzkranker exemplarisch herausgreifen; sie sind wahrscheinlich aussagekräftiger als alle klugen Erklärungen.
2.1.1
Der Schmerz der unbegreiflichen Bedrohung
Frau M., eine große, stattliche Frau leidet an einer bereits sehr weit fortgeschrittenen Demenz. Sie ist fast vollständig unbeweglich, kann schon seit geraumer Zeit nicht mehr sprechen und nur mit großer Mühe schlucken. Einmal komme ich gerade dazu, wie Frau M. mit Hilfe einer Hebevorrichtung aus dem Bett gehoben und in das Badezimmer gebracht werden soll. Eine Schwester steht neben ihr und erklärt ihr, was gerade mit ihr geschieht: „Ich rolle Sie jetzt auf den Kran, mit dem wir Sie dann gleich aus dem Bett heben werden.“ Frau M. reagiert nicht; die Worte erreichen sie nicht mehr. Sie erschrickt heftig, als sie nach Verlassen des weichen, warmen Bettes auf einer harten kühlen Unterlage landet, und reißt angstvoll die Augen auf. Ihr ganzer Körper verkrampft sich. Die Schwester redet ihr die ganze Zeit über beruhigend zu: „Haben Sie keine Angst, ich bin bei Ihnen.“ Das ist zwar sehr lieb gemeint, bleibt aber völlig wirkungslos ohne fürsorgliche Berührungen, die Frau M. Halt und Sicherheit geben könnten. – Die Hebevorrichtung fährt hoch. Frau M. spürt, dass um sie herum die Welt in Bewegung gerät, erschrickt noch stärker, fühlt sich extrem unsicher und hilflos ausgeliefert. Sie fängt gellend zu schreien an und schlägt mit den Armen um sich. Die Schwester weiß sichtlich nicht, wie sie die Situation beherrschen soll, und wird immer nervöser. „Ihnen passiert ja nichts, ich bin ja bei Ihnen“, sagt sie mit erhobener Stimme. „Jetzt schreien Sie doch nicht so!“ Demenzkranke werden von solchen Erlebnissen regelrecht überfallen. Da sie ihre Eindrücke nicht mehr in einen Sinnzusammenhang einordnen können, reagieren sie unweigerlich mit Angst und Panik. Sie erkennen die Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung nicht und haben daher nichts mehr, was sie gegen diese qualvollen Gefühle einsetzen könnten. Es braucht nur wenig, um den Betroffenen solche Erlebnisse zu ersparen: Die körperliche Nähe eines anderen Menschen und seine warme, tröstliche Zuwendung bieten ausreichend Schutz und vermitteln das Gefühl, gehalten, beschützt und sicher zu sein.
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Schmerz hat viele Gesichter
2.1.2
Der Schmerz, sich nicht ausdrücken zu können
Frau D. sitzt in sich gekehrt im Aufenthaltsraum. Ich setze mich zu ihr und nehme mit ihr Kontakt auf. Sie schaut mich an und sagt: „Schau mir in die Augen!“ Ich befolge diese Aufforderung. Sie nimmt meine Hand und lächelt zufrieden. Wir schauen einander lange Zeit in die Augen. Dann möchte Frau D. mir etwas mitteilen, aber nach den ersten Worten geraten die Laute durcheinander und werden immer unverständlicher. Sie schüttelt unglücklich den Kopf und versucht es noch einmal. Diesmal ist gar nichts mehr zu verstehen. Frau D. probiert es wieder und wieder. Anstrengung und wachsende Verzweiflung sind ihr deutlich anzusehen. Ich umarme sie und sage mitfühlend: „Das ist sehr schlimm, wenn es nicht geht.“ Frau D. nickt, lächelt mich kurz an und sagt klar und verständlich: „Schön, dass du da bist.“ Dann kommt immer wieder Unverständliches. Frau D. schaut mich jetzt fast ununterbrochen mit bittenden Augen an und hält die ganze Zeit über meine Hand sehr fest. Ich signalisiere ihr immer wieder, dass ich aufmerksam zuhöre, und bemühe mich, einzelne Worte und wiederkehrende Silbengebilde zu wiederholen. Das scheint es für sie leichter zu machen. Sie lächelt mich an sagt „danke“. Wir können Menschen, die spüren, dass sie im Begriff sind, mit der Sprache eines ihrer wichtigsten Ausdrucksmittel zu verlieren, den Schmerz nicht ersparen, aber wir können den furchtbaren Verlust ein kleines Stück weit mit ihnen tragen und ihnen zeigen, dass wir sie weiterhin achten und ernst nehmen. Das allein ist schon hilfreich für sie.
2.1.3
Der Schmerz, sich nicht mehr zurechtzufinden
Ich begegne der 97-jährigen Frau K. unmittelbar nach ihrer Aufnahme im Pflegeheim. Sie schaut unglücklich vor sich hin und wirkt sehr unsicher. Ich setze mich zu ihr und begrüße sie mit ihrem vollen Namen: „Grüß Gott, Sie sind Frau Hilde K.“ Sie schaut mich zögernd an und sagt nach einer kurzen Pause leise „…gard“. Ich glaube zu verstehen, was sie meint, und wiederhole „Sie sind Frau Hildegard K.“ Frau K. nickt, greift nach meiner Hand und lässt sie nicht mehr los. Wir sitzen schweigend zusammen und schauen einander in die Augen, dann sagt Frau K. bittend: „Kommen Sie öfter zu mir!“ Ich verspreche es. Frau K. greift jetzt auch nach meiner anderen Hand: „Kommen Sie oft“, sagt sie drängend, „ich brauche je-
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Marina Kojer
manden, den ich lieb haben kann.“ Ich beuge mich nahe zu ihr: „Ja, ich komme oft und wir plaudern miteinander.“ Frau K. schaut mich unsicher an: „Ich weiß aber gar nichts …“ Ich versichere, dass das überhaupt nicht wichtig ist. Frau K. lächelt mich zum ersten Mal an und streichelt meinen Arm. Nach einer Pause flüstert sie mir ins Ohr: „Ich muss aufs Klo!“ Mein Angebot, eine Schwester zu holen, lehnt sie ängstlich, ja fassungslos ab. „Bitte, bitte, ich will bei Ihnen bleiben!“ Ich begleite sie auf die Toilette. Ein wenig später sitzen wir einander wieder gegenüber. Frau K. schüttelt den Kopf und sagt voll Verzweiflung: „Ich weiß gar nichts!“ Ich halte sie sanft an beiden Schultern und antworte: „Sie haben das Gefühl, Sie kennen sich nicht aus.“ Frau K. nickt und flüstert mir nach einer kurzen Pause ins Ohr: „Ich habe Angst!“ Ich spiegle ihre Mimik und Haltung und sage: „Immer Angst …“ Frau K. nickt und malt mit der rechten Hand ein großes Fragezeichen in die Luft. Dann sagt sie leise: „Ich weiß nicht, wo ich bin.“ Sie ist erst vor kurzem hier angekommen, denke ich, der Abschied von zu Hause war sicher belastend; kein Wunder, dass sie hier nicht alles mitbekommen hat. Vielleicht kann ich ihr durch eine sachliche Information helfen? Ich sage: „Sie sind im Pflegeheim B.“ Aber die alte Frau kann von dieser Auskunft nicht mehr profitieren; ihre Demenz ist schon zu weit fortgeschritten. Sie zuckt hilflos die Schultern und schüttelt verzweifelt den Kopf. Sie braucht keine Realitätsorientierung, sondern jemanden, dem sie vertraut und der ihr ein wenig Halt und Sicherheit gibt. Ich schließe sie in die Arme und sage liebevoll: „Ich bin bei Ihnen.“ Frau K. seufzt, lehnt den Kopf an meine Brust und sagt erleichtert: „Du bist lieb!“ und nach einer kleinen Pause: „Bleib bei mir.“ Wir glauben oft fälschlicherweise, dass wir verunsicherten Demenzkranken mit Sachinformationen helfen können. Das ist so gut wie nie der Fall. Eine hilfreiche Antwort auf häufig unausgesprochene Fragen und Bitten von Menschen, die nur mehr in ihrem Gefühlsleben zu Hause sind, kann nur aus dem Versuch erwachsen, mitfühlend zu verstehen und aus dem eigenen Gefühl zu reagieren.
2.1.4
Der Schmerz, sich hilflos und ausgeschlossen zu fühlen
Frau Rosenstein wird in ihrem Rollstuhl zum Gedächtnistraining gebracht und zu den etwa fünfzehn anderen Teilnehmerinnen ge-
Name geändert.
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Schmerz hat viele Gesichter
setzt. Die Leiterin des Trainings liest eine Frage nach der anderen vor: „Wer kennt die Hauptstadt von Italien?“ Zwei oder drei alte Damen rufen „Rom!“, werden gelobt und strahlen. „Wie geht das weiter: Was Hänschen nicht lernt …“ Ein alter Herr ruft schnell „lernt Hans nimmermehr!“, wird gelobt und freut sich. Weitere Fragen folgen. Richtige Antworten kommen zumeist von den gleichen vier oder fünf Personen, einige andere wissen zumindest hie und da eine passende Antwort. Zwei von den Teilnehmerinnen, die nie antworten können, stehen bald auf und gehen weg, einige andere machen die Augen zu und entziehen sich der Situation, indem sie einschlafen. Frau Rosenstein sitzt, den Blick auf ihre zu Fäusten geballten Hände gerichtet, mit angespanntem Gesicht in ihrem Rollstuhl und rührt sich nicht. Nach dem Gedächtnistraining werden alle Teilnehmerinnen wieder zu ihren Plätzen gebracht. Frau Rosenstein wirkt zugleich aufgebracht und ratlos. Ich begrüße sie, setze mich zu ihr, versuche, ihre Körpersprache zu spiegeln, und sage mit verhaltenem Zorn in der Stimme: „Verdammt noch einmal!“ Frau Rosenstein schaut kurz auf: „Ja!“ Eine ihrer Fäuste landet energisch auf der Tischplatte. Statt einer Antwort schlage ich auch mit meiner Faust auf die Tischplatte. Die alte Frau schaut mich an und öffnet langsam ihre Fäuste; sie wirkt jetzt sehr unglücklich. Plötzlich schlägt sie mit der rechten Hand auf den Tisch. „Da ist die Rosenstein!“, stellt sie aufgebracht fest. Ich nicke. Daraufhin schlägt sie mit ihrer linken Hand in großem Abstand zur rechten wiederholt sehr fest auf die Tischplatte und sagt verzweifelt: „Und wo sind die anderen Steine?“ Es ist nicht schwer zu verstehen, wie weh es ihr getan hat, in der Gruppe sitzen zu müssen und nicht antworten zu können. Sie hat sich mitten unter den anderen ausgeschlossen und vollständig verlassen gefühlt. Zu dem tröstlichen Gedanken, dass viele andere auch nur ruhig dagesessen sind und nichts gewusst haben, war sie schon längst nicht mehr fähig.
2.1.5
Der Schmerz, respektlos und demütigend behandelt zu werden
Es ist 8.30 Uhr früh. Frau S. liegt noch im Bett. Ihre Nachbarin wird gerade fertig angezogen in den Aufenthaltsraum gebracht. Da sie sonst immer ausdauernd zu schreien anfängt, wird sie ziemlich zeitig gewaschen. Herr Robert, der Zivildiener, kommt in das Zimmer, lässt die Tür offen stehen und beginnt wortlos und bedächtig damit,
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Marina Kojer
das leere Bett frisch zu überziehen. Frau S. schaut zu ihm hinüber und ruft bittend „Karl“. Herr Robert reagiert nicht. Frau S. ruft noch einmal „Karl, Karl!“. Herr Robert schaut nicht auf, er sagt gleichgültig: „Ich bin nicht der Karl.“ Frau S. hört auf zu rufen und macht die Augen zu. Eine Schwester kommt herein; Herr Robert und sie sprechen unbekümmert und laut miteinander über eine Fernsehsendung, ganz als ob Frau S. gar nicht da wäre. Dann verlassen sie das Zimmer; die Tür bleibt offen stehen. Ich gehe zu Frau S. und begrüße sie. Sie schaut mich traurig an und sagt: „Ich könnt’ den ganzen Tag weinen, aber ich fang’ gar nicht an.“ Frau S. spürt wie alle Demenzkranken ganz genau, wenn sie missachtet wird. Sie kann sich nicht wehren, sondern nur die Augen zumachen und versuchen, die Welt so gut es geht auszublenden. Werden hilflose Menschen wie Frau S. verletzt und gedemütigt, bleiben ihnen nur zwei Möglichkeiten: Sie können entweder aggressiv reagieren oder sich zurückziehen. Sind die Kranken immer wieder Respektlosigkeit und Demütigung ausgesetzt, ziehen sie sich allmählich immer weiter in sich zurück und entziehen sich damit auf ihre Weise dem Schmerz. Sie gehen so weit in ihr Inneres, dass sie schließlich nicht mehr am Leben teilnehmen können und nur mehr vor sich hindämmern. Wie viele Menschen im „Endstadium der Demenz“ sind von uns auf diesen Weg gedrängt worden? Um das Leid hochbetagter Demenzkranker zu lindern, braucht es mehr als fachliche Kompetenz. Diese Aufgabe erfordert Zuwendung, Mitgefühl, Intuition, Kreativität, vor allem aber die Bereitschaft, in Beziehung zu treten und auch auf schweigende Bitten einfühlsam zu reagieren. Mit-Menschlichkeit, Kommunikation, Achtsamkeit und die Bereitschaft, sich auf ein Du einzulassen, kann man nur bis zu einem gewissen Grad lernen. Diese Fähigkeiten setzen eine Haltung voraus, die es uns möglich macht, die Menschen, die wir betreuen, in ihrer Krankheit zu achten und ihnen aufrichtig unsere Hand entgegenzustrecken. Mit den Worten von Hélder Câmara: „Die Menschen belasten Dich? Trag sie nicht auf den Schultern Schließ sie in Dein Herz.“ (Câmara,1981, S. 38)
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
2.2 Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen Roland Kunz
2.2.1
Einleitung
Seit über hundert Jahren steigt in ganz Europa die mittlere Lebenserwartung ständig an. Betrug sie in Mitteleuropa um 1900 noch rund 50 Jahre, liegt sie 2008 in der Schweiz für Frauen bei Geburt bereits bei 84,4 und für Männer bei 79,7 Jahren (Bundesamt für Statistik, Bern). Viele Krankheiten, die früher zu einem vorzeitigen Tod führten, können heute behandelt werden. Behandelbar heißt aber nur in wenigen Fällen auch heilbar. Da die Wahrscheinlichkeit chronischer Krankheiten einschließlich der Demenzen mit zunehmendem Alter stetig ansteigt, müssen sich die meisten Menschen damit abfinden, früher oder später mit diesen Leiden zu leben. Eine australische Studie ergab, dass 82 % der über 75-Jährigen unter mindestens zwei, 33 % sogar unter vier und mehr Krankheiten gleichzeitig leiden (Britt et al., 2008). Viele dieser Erkrankungen sind mit chronischen Schmerzen verbunden. Die EuroCoDe-Studie, die die Daten aus 17 europäischen Ländern zusammenfasst, hat folgende Demenz-Prävalenzen ergeben (EuroCoDe, 2008): Roland Kunz
Tabelle 1 Prävalenz der Demenzerkrankungen in Europa Geschlecht
80- bis 84-jährig
85- bis 89-jährig
90- bis 94-jährig
>95-jährig
Frauen
16 %
29 %
44 %
49 %
Männer
15 %
21 %
29 %
32 %
Diese Zahlen machen deutlich, dass wir bei der Behandlung, Pflege und Begleitung von hochaltrigen Menschen mit multimorbiden Patientinnen konfrontiert sind, die von mehreren körperlichen Erkrankungen und immer häufiger auch von kognitiven Einschränkungen betroffen sind. Je deutlicher aber für Angehörige, Pflegende und Ärztinnen im Verlauf der Erkrankung Verhaltensauffälligkeiten zu den zentralen Problemen und Anliegen werden, desto mehr geraten andere Krankheiten und ihre Auswirkungen in den Hintergrund. Die betroffenen Patientinnen selbst können uns nicht mehr darauf aufmerksam machen. Eine Studie aus Schweden (Marengoni et al., 2009) zeigt
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deutlich auf, dass bei über 80-jährigen Demenzkranken viel seltener Begleiterkrankungen diagnostiziert werden als bei zerebral Gesunden. Eine amerikanische Untersuchung an insgesamt 21.380 Pflegeheimbewohnerinnen ergab, dass 49 % von ihnen an chronischen Schmerzen litten. Von diesen erhielten 24,5 % keinerlei Analgetika und von den Behandelten hatten nur 47 % eine fixe Verordnung (Won et al., 2004). Ein Literatur-Review berichtete, dass teilweise sogar deutlich mehr Bewohnerinnen in Pflegeheimen unter chronischen Schmerzzuständen leiden; der Anteil reichte von 49 bis 83 % (Fox et al., 1999). Eigene Erfahrungen zeigen, dass rund 60 % der Bewohnerinnen von Pflegeheimen demenziell erkrankt sind. Aus diesen Zahlen wird klar, dass sehr viele pflegeabhängige Demenzpatientinnen unter chronischen Schmerzproblemen leiden müssen. Eigene unveröffentlichte Untersuchungen haben ergeben, dass in unserer Langzeitpflegeinstitution Menschen mit diagnostizierter Demenz im Schnitt deutlich seltener Analgetika erhalten als solche ohne kognitive Beeinträchtigung, obwohl uns das Risiko der reduzierten Schmerzerkennung bei diesen Patientinnen bewusst ist. Wir führen regelmäßig Schulungen für das Pflegepersonal durch und bemühen uns im Rahmen der ärztlichen Visite für die Problematik zu sensibilisieren. Viele schmerzhafte Krankheiten bei älteren Menschen können wir nicht mehr kurativ behandeln, umso wichtiger wird eine palliative, symptomatische Schmerztherapie, um die Lebensqualität und Selbstständigkeit der Betroffenen so weit wie möglich zu erhalten. Hindernisse für eine adäquate Schmerztherapie im Alter sind eine erschwerte Schmerzerfassung durch kognitive Beeinträchtigung, das schicksalhafte Akzeptieren der Schmerzen durch Betroffene und Therapeutinnen („Sie sind schließlich nicht mehr zwanzig, Frau Müller“), die Angst vor dem größeren Nebenwirkungspotential im Rahmen der Multimorbidität und die oft eingeschränkte Compliance.
2.2.2
Die multimorbide ältere Schmerzpatientin
Wenn wir von älteren Patientinnen sprechen, meinen wir damit eine Gruppe, die sich nicht einfach chronologisch definieren lässt (zum Beispiel alle Patientinnen ab Alter 65). Es handelt sich vielmehr um Patientinnen in fortgeschrittenem Lebensalter, die sich nicht in erster Linie in der Anzahl gelebter Jahre ähnlich sind, sondern in Gemeinsamkeiten bezüglich Lebenssituation, Morbiditäten, Funktionseinschränkungen sowie Bedarf an Unterstützung und medizinischer Be-
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
handlung. Wie bereits dargelegt, ist in dieser Bevölkerungsgruppe die Prävalenz chronischer Schmerzen deutlich erhöht. Die Wahrnehmung, Erfassung und adäquate Behandlung der Schmerzen ist von zentraler Bedeutung für die Lebensqualität dieser Menschen. Wie einleitend bemerkt, leidet die älter werdende Patientin mit zunehmendem Alter unter einer steigenden Anzahl chronischer Erkrankungen und degenerativer Prozesse. Der Anteil älterer Menschen mit vier und mehr unheilbar fortschreitenden Krankheiten hat in den letzten zwanzig Jahren um 300 % zugenommen (Uijen und van de Lisdonk, 2008). Diese Entwicklung nimmt, wie diese Studie zeigt, mit dem Fortschritt der Medizin weiterhin zu. Als Folge davon erhöht sich einerseits die Zahl möglicher Schmerzursachen, andererseits steigt die Anzahl eingenommener Medikamente und damit das Risiko von Interaktionen. Die Angst davor verleitet die behandelnde Ärztin nicht selten vorschnell zum Verzicht auf eine Schmerztherapie. Können Schmerzen bei jüngeren Menschen meistens einer klaren Ursache zugeordnet werden, wird es bei der älteren Patientin immer schwieriger ihre Kausalität eindeutig zu klären. Die Schmerzbilder wirken durch die ätiologische Überlappung oft verwirrend und widersprüchlich auf die Behandelnden und wechseln in Intensität und Charakter, wodurch die Glaubwürdigkeit der Schmerzäußerungen abnimmt. „Sie sagt jedes Mal etwas anderes, das kann ja gar nicht stimmen“, lautet dann nur zu oft die Interpretation. Bei demenzbetroffenen Menschen werden Schmerzerfassung und -analyse noch schwieriger. Die häufigsten Schmerzursachen bei betagten Menschen sind im Bereich des Bewegungsapparats zu finden. Degenerative Veränderungen der Gelenke und der Wirbelsäule, oft begleitet von rezidivierenden Entzündungsschüben, stehen im Vordergrund, aber auch Osteoporose kann, durch plötzliche Wirbeleinbrüche hochakute und hartnäckige Schmerzepisoden verursachen. Diese Probleme können zu eingeschränkter oder aufgehobener Mobilität und zu massiver Einschränkung der Selbstständigkeit führen. Als weitere Schmerzursachen ist an Neuropathien, beispielsweise im Rahmen eines Diabetes mellitus oder nach Herpes zoster, aber auch nach Schlaganfall oder bei engem Spinalkanal zu denken. Daneben können Gefäßerkrankungen, (akute) Entzündungen, Steinleiden, eine koronare Herzkrankheit oder Verletzungen durch (nicht beobachtete) Stürze Ursache eines Schmerzzustandes sein. Im Rahmen der Multimorbidität sind wir somit oft mit komplexen Schmerzsituationen konfrontiert. Als multifaktoriell bedingtes Phä-
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nomen kann beispielsweise ein Schmerz im Bein am Morgen beim Aufstehen durch eine Arthrose bedingt sein, am Nachmittag bei längerer Gehstrecke von einem Ischämieschmerz bei arterieller Verschlusskrankheit abgelöst werden und nachts die Folge einer peripheren Neuropathie darstellen. Schon bei kognitiv kompetenten und kommunikationsfähigen Patientinnen kann die Analyse und Interpretation einer solchen Schmerzproblematik schwierig sein, umso komplizierter wird sie, wenn die Betroffenen dement und kommunikationsbehindert sind. Nur interprofessionelle Zusammenarbeit, sorgfältige Beobachtung und gute Dokumentation sowie die Berücksichtigung aller objektivierbaren Befunde kann uns helfen, diese Herausforderung so gut wie möglich zu bewältigen.
2.2.3
Schmerz und Demenz
Die Tatsache, dass demente ältere Menschen weniger Analgetika erhalten, wurde immer wieder mit einer verminderten Schmerzwahrnehmung zu erklären versucht. Was wissen wir tatsächlich über das Schmerzerleben bei Demenzkrankheiten? Eine Übersichtsarbeit über experimentelle Studien zum Einfluss der Alzheimerkrankheit auf die Schmerzverarbeitung (Kunz und Lautenbacher, 2004) hat Forschungsarbeiten analysiert, die elektrische, thermische und mechanische Schmerzreize verwendet hatten. Zusammenfassend haben sich folgende Erkenntnisse ergeben: Die Schmerzschwelle (die Reizstärke, ab der ein Reiz als schmerzhaft erlebt wird) zeigt keine signifikanten Unterschiede zwischen Alzheimer-Patientinnen und kognitiv unbeeinträchtigten Kontrollpersonen. Auch der Fluchtreflex an den Extremitäten auf Schmerzreize trat in beiden Gruppen bei vergleichbaren Reizstärken auf. Deutliche Unterschiede zeigten sich bei der Toleranzschwelle (Grenze zwischen noch tolerablem und nicht mehr tolerablem Schmerzreiz). Die Toleranzschwelle liegt bei Alzheimer-Patientinnen signifikant höher. Die mimische Aktivität nach Schmerzstimulation ist deutlich größer bei Patientinnen mit kognitiver Beeinträchtigung. In den vegetativen Schmerzreaktionen (Anstieg der Herzfrequenz und des systolischen Blutdrucks) unterscheiden sich die beiden Gruppen ebenfalls. Bei Schmerzreizen mit geringer Intensität waren die vegetativen Reaktionen bei den Demenzkranken stark vermindert, bei hohen Reizen gab es keine Unterschiede.
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
Generell zeigt sich im Alter eine tendenzielle Erhöhung der Schmerzschwelle. Dies könnte durch eine alterskorrelierte Dysfunktionalität der afferenten Schmerzfasern erklärt werden. So konnte ein zunehmender Verlust von myelinisierten und noch mehr von unmyelinisierten Nervenfasern nachgewiesen werden (Ochoa und Mair, 1996; Verdu et al., 2000). Andererseits sinkt die Schmerztoleranzschwelle, wofür Einbußen in der endogenen Schmerzhemmung im präfrontalen Kortex verantwortlich gemacht werden (Edwards et al., 2003). Es ist deshalb zu vermuten, dass der Organismus des älteren Menschen wahrscheinlich für Schmerzintensität und Schmerzchronifizierung empfänglicher wird. Veränderungen in der affektiven Verarbeitung des Schmerzreizes bei dementen Patientinnen könnten schließlich zu atypischen Verhaltensreaktionen wie Angst, Agitation oder Aggressivität führen (Scherder et al., 2005). Vor allem Patientinnen mit fortgeschrittener Demenz sind wahrscheinlich vermindert in der Lage, Schmerzreize als Schmerzempfindung wahrzunehmen und adäquat darauf zu reagieren und zeigen dann Reaktionen, die wir nicht primär mit Schmerz in Verbindung bringen (Snow et al., 2004).
2.2.4
Das Konzept des Schmerzmanagements
Das Wort „Management“ soll nicht suggerieren, dass wir den Schmerz immer erfolgreich in die gewünschten Bahnen lenken können, sondern ausdrücken, dass der Umgang mit Schmerzen älterer Menschen viel mehr bedeutet als die Einleitung einer medikamentösen Therapie. Das Grundraster des Schmerzmanagements umfasst folgende Aspekte: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Wahrnehmung eines Schmerzproblems Adäquate Schmerzerfassung Analyse der Schmerzproblematik Gemeinsame Zielformulierung Einleitung einer Therapie Erfolgskontrolle
Wahrnehmung eines Schmerzproblems Die große Verbreitung und die Häufigkeit von Schmerzen führen dazu, dass sie von vielen alten Menschen als Preis für das höhere Lebensalter akzeptiert und deshalb nur auf gezielte Befragung geäußert werden. Antworten wie „ich darf nicht klagen“ oder „es muss“ bei der Frage nach dem Befinden weisen auf diese Haltung hin. Die Häufig-
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keit chronischer Schmerzen (sie sind im Alter fast gleich häufig wie die grauen Haare, also gehören sie scheinbar zum Alter) und das Underreporting können die Behandelnden dazu verleiten, Schmerzen oft nur eine untergeordnete Bedeutung beizumessen, was zu ihrer chronischen Unterbehandlung beiträgt. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die Angst vor dem Älterwerden oft in der Angst vor zunehmenden Schmerzen begründet ist. Für fortgeschritten demenzkranke Patientinnen, die nicht mehr verbal kommunizieren können und teilweise veränderte affektive Reaktionen zeigen, bedarf es einer besonders hohen Aufmerksamkeit und Sensibilität, um mögliche Schmerzprobleme zu erkennen. Viele Symptome und Verhaltensänderungen älterer Menschen werden als eigenständige Probleme behandelt, weil ihr Zusammenhang mit einem chronischen Schmerzleiden nicht erkannt wird. Folgende Situationen sind deshalb bei allen älteren Patienten – mit oder ohne Demenz – auf einen möglichen Schmerzhintergrund zu überprüfen: Schlafstörungen: Viele alte Menschen klagen über Schlaflosigkeit. Schlafstörungen gelten deshalb als typisches Problem des Alters. Primär werden daher häufig Schlafmittel verordnet, ohne dass nach der Ursache der Schlafstörung geforscht wird. Obwohl vor allem neuropathische und ischämische Schmerzen gehäuft nachts auftreten und auch Rückenschmerzen die Schlafqualität erheblich beeinträchtigen können, werden selten Schmerzprobleme als Ursache in Betracht gezogen. Schlafstörungen sollten daher erst dann mit Sedativa behandelt werden, wenn Schmerzen oder andere Ursachen – wie eine Nycturie, verbunden mit der Angst, bei beginnender Inkontinenz zu spät zur Toilette zu gelangen – als gezielt therapierbare Ursachen ausgeschlossen wurden. Sozialer Rückzug, Isolation und Depression: Schmerzbedingte Immobilität bei Gelenkserkrankungen kann zum Rückzug und damit zum Verlust von sozialen Kontakten führen und die Freude an Aktivitäten rauben. Dadurch wird die Entstehung von Depressionen und Angstgefühlen begünstigt. Depressionen und Angst können ihrerseits das Schmerzerleben verstärken. Schmerzen erinnern die Patientin an ihre Krankheit, an die Abhängigkeit und möglicherweise auch an den nahenden Tod und können so das Schmerzerleben weiter verstärken. Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust: Chronische Schmerzen können den Appetit beeinträchtigen und die Freude am Essen rauben. Das führt allmählich zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes und zum weiteren Rückzug. Da bei Patientinnen mit fort-
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
geschrittener Demenz die verminderte Nahrungsaufnahme mit begleitendem Gewichtsverlust ein häufig beobachtetes Phänomen darstellt, besteht die Gefahr, dass nicht an Schmerzen gedacht und das Problem vorschnell der Demenz zugeschrieben wird. Motorische Unruhe: Ein Mensch, der unter Rückenschmerzen leidet, hat Mühe, längere Zeit auf einem Stuhl zu sitzen. Er möchte zwischendurch aufstehen und herumgehen, weil dies die Schmerzen lindert. Demente Patientinnen sind häufig durch ihre starke Unruhe gekennzeichnet; kaum hat man sie auf einem Stuhl platziert, stehen sie wieder auf und wandern herum. Sie können sich kaum ein paar Minuten auf eine Beschäftigung konzentrieren. Dies kann einerseits durch mangelnde Konzentrationsfähigkeit und erhöhte Ablenkbarkeit bedingt sein, andererseits müssen wir aber daran denken, dass die Patientinnen vielleicht – durch Schmerzen getrieben – gleichsam ihrem Schmerzproblem davonlaufen wollen. Vor der Verordnung von beruhigenden Medikamenten muss daher unbedingt sorgfältig nach Schmerzen gesucht werden. Aggressivität und Abwehrverhalten: Demente Menschen lehnen manchmal pflegerische Handlungen oder Versuche, sie zu mobilisieren, vehement ab. Sie klammern sich ans Bett, wehren sich verbal und tätlich gegen jede Annäherung. Oft geschieht dies, weil sie nicht verstehen, was man mit ihnen vorhat, sich überfordert fühlen und Angst haben. Wir müssen aber auch daran denken, dass die Patientin sich möglicherweise wehrt, weil sie Angst vor Schmerzen hat oder fürchtet, dass ihre bestehenden Schmerzen dadurch verstärkt würden. Apathie und Indifferenz: Patientinnen mit fortgeschrittener Demenz sind oft in ihrer Mobilität eingeschränkt, sitzen tagsüber nur noch stundenweise in einem Lehnstuhl oder können vielleicht gar nicht mehr mobilisiert werden. Sie nehmen aus unserer Sicht kaum mehr Anteil an ihrer Umgebung, reagieren nicht mehr auf Ansprechen oder Berührung. Gerade bei diesen Patientinnen ist es besonders wichtig, auch an Schmerzen zu denken. Starke Schmerzen können die Aufmerksamkeit für die Umgebung reduzieren und gezielte Reaktionen blockieren. Zwei Patientinnenbeispiele sollen diese Problematik darstellen: Frau M. ist 67 Jahre alt; sie leidet seit vielen Jahren an einer Multiplen Sklerose mit zunehmender kognitiver Beeinträchtigung. Sie ist weitgehend bettlägerig und kann verbal nicht mehr kommunizieren. Den Pflegenden fällt auf, dass sie zeitweise sehr abwesend wirkt und dann kaum reagiert, wenn man sie anspricht. Da sie durch ih-
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re Grundkrankheit vollständig gelähmt ist, sind in diesen Phasen an ihr keinerlei auffällige Veränderungen zu beobachten. Einige Zeit wird darüber spekuliert, ob Frau M. eine Form von Krampfanfällen hat. Eine klare Handlungsoption ergibt sich aber nicht. Schließlich berichtet eine Pflegemitarbeiterin, ihr sei aufgefallen, dass Frau M. bei diesen Anfällen vermehrt schwitzt und dass sie den Eindruck habe, der Bauchumfang habe zugenommen. Bei der daraufhin durchgeführten Ultraschalluntersuchung des Abdomens finden wir einen riesigen Stein im Nierenbecken mit einer schweren Hydronephrose! Frau B., 86-jährig, ist seit zwei Jahren im Pflegeheim und leidet an einer progredienten Demenzerkrankung. Sie freut sich über Besuche und plaudert gerne über frühere Zeiten. Eines Tages werde ich zu ihr gerufen, weil sie völlig apathisch im Bett liegt. Auf Ansprache reagiert sie nicht, blickt nur an die Decke und beachtet die Menschen an ihrem Bett nicht. Bei der Untersuchung finden sich keine Hinweise auf einen Schlaganfall, ein Infekt kann ausgeschlossen werden. Das Studium der Patientenakte ergibt, dass die Patientin unter einer schweren Osteoporose litt, bevor die Demenz in den Vordergrund trat. Hatte sie möglicherweise eine frische Wirbelfraktur? Wir entschlossen uns, der Patientin als erste Maßnahme vor weiteren Abklärungen eine gute Analgesie zu bieten. Nach fünf Morphintropfen wurde die Patientin wacher, begann zu sprechen und reagierte wieder wie gewohnt. Die weiteren Abklärungen bestätigten die Wirbelfraktur.
Adäquate Schmerzerfassung Schmerzerfassung beim älteren Menschen im Allgemeinen Die Diagnostik akuter und chronischer Schmerzzustände wird im Alter nicht nur durch sensorische Beeinträchtigungen (Seh- und Hörbehinderungen) erschwert, sondern auch durch häufige kognitive Einschränkungen. Die Überprüfung dieser Funktionen hat deshalb der Schmerzerfassung immer vorauszugehen. Sind alltagsrelevante Einschränkungen im kognitiven und sensorischen Bereich ausgeschlossen, finden übliche Instrumente zur Erfassung der Schmerzintensität wie die Visuelle Analogskala (VAS) bei älteren Patienten ebenso Verwendung wie bei jüngeren. Ob sie in dieser Altersgruppe ebenso valide sind, ist nicht gesichert, denn die Anzahl falscher Selbsteinstufungen nimmt mit dem Alter zu (Jensen et al., 1986). Es konnte gezeigt werden (Herr und Mobily, 1993), dass die Feh-
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
lerrate von der Art der Präsentation der Skala abhängt. Die Darbietung der VAS scheint vertikal günstiger zu sein als horizontal, die Fehlerquote wird so geringer. 40 % der von diesen Autoren untersuchten älteren Menschen gaben an, mit einer verbalen Ratingskala besser umgehen zu können als mit der visuellen Analogskala. Die Schmerzerfassung bei älteren Patienten kann verbessert werden, indem die visuelle Analogskala verbal mit Adjektiven unterlegt wird (etwa geringer, starker, unerträglicher Schmerz). Die bisher ungenügend auf die spezifischen Bedürfnisse von Älteren ausgerichtete Schmerzerfassung führt in der Praxis zu einem Underreporting. Assessment-Instrumente wie die VAS sind primär für die Erfassung von akuten, beispielsweise postoperativen Schmerzen, entwickelt worden. Sie sind aber nur sehr bedingt geeignet, komplexe chronische Schmerzen älterer Menschen zu erfassen und in ihrer Bedeutung für die Gesamtsituation dieser Patientinnen zu gewichten. Um die Bedeutung chronischer Schmerzen und deren Auswirkung auf die Aktivitäten älterer Patientinnen zu erfassen, eignet sich die in Tabelle 2 dargestellte Philadelphia Geriatric Center Pain Intensity Scale (Parmelee et al., 1991) wesentlich besser. Tabelle 2 Philadelphia Geriatric Center Pain Intensity Scale 1. Wie stark sind Sie in den letzten Wochen ganz allgemein durch Schmerzen beeinträchtigt worden? 2. Wie stark sind Sie im Moment durch Schmerzen beeinträchtigt? 3. Wie stark sind Sie von den Schmerzen beeinträchtigt, wenn sie am stärksten sind? 4. Wie viele Tage in der Woche werden die Schmerzen richtig schlimm? 5. Wie stark werden Sie von den Schmerzen beeinträchtigt, wenn sie am schwächsten sind? 6. Wie stark haben die Schmerzen ihre Alltagsaktivität beeinträchtigt? Mit Ausnahme von Punkt 4, für den die Anzahl Tage verzeichnet wird, gilt folgende Skala: 1 = überhaupt nicht, 2 = ein wenig, 3 = mäßig, 4 = ziemlich stark, 5 = sehr stark
Schmerzerfassung bei Demenz Die Schmerzerfassung bei Menschen mit fortgeschrittenen Demenzerkrankungen stellt eine besondere Herausforderung dar. Besonders bei älteren Menschen, die in ihrer gewohnten Umgebung leben, werden Demenzsymptome oft lange nicht oder nur ungenügend wahrgenommen und in ihrer Ausprägung unterschätzt. Dadurch wird das Schmerzassessment nicht den Fähigkeiten dieser Patientinnen angepasst, was
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zur fatalen Fehleinschätzung und Unterversorgung bei der Schmerzbehandlung führen kann. Im Rahmen des allgemeinen geriatrischen Assessments sind deshalb immer auch die kognitiven Fähigkeiten und Einschränkungen zu erfassen. In der Praxis haben sich Screening-Tests wie der Uhrentest oder der Mini-Mental-Status (MMS) bewährt, um sich über die kognitiven Fähigkeiten einer geriatrischen Patientin ein erstes Bild zu machen. Eine anschließende detailliertere neuropsychologische Abklärung ist sehr hilfreich, um die Fähigkeiten und Einschränkungen der Betroffenen besser einschätzen zu können und das Schmerzassessment entsprechend anzupassen. Folgende Probleme erschweren die Schmerzerfassung im Rahmen einer Demenz: Kommunikationsstörungen bis zur kompletten Sprachlosigkeit führen zur zunehmenden Unfähigkeit der Patientin, ihren Schmerz zu äußern und zu beschreiben. Wortfindungsstörungen werden in der Regel rasch erkannt, Sprachverständnisstörungen hingegen werden oft lange unterschätzt. Wenn die demente Patientin die Frage nach Schmerzen nicht mehr versteht, verhält sie sich ähnlich, wie wir es von hörbehinderten Menschen kennen: Sie wird mit unspezifischen Antworten, vielleicht mit Schulterzucken oder einem Lächeln reagieren, was zur Fehleinschätzung der Schmerzproblematik verleiten kann. Verordnungen und Erklärungen können dann nicht mehr richtig verstanden werden, Verhaltensempfehlungen beispielsweise zur Schonung kommen bei der Patientin gar nicht an, werden aber möglicherweise mit einem Nicken bestätigt. Einschränkungen der exekutiven Funktionen: Verstehen und Benutzung von Schmerzerfassungs-Instrumenten erfordern ein abstraktes Denk- und Vorstellungsvermögen. Eine VAS wird als Strich wahrgenommen, die Patientin fährt vielleicht mit dem Finger dem Strich entlang, kann sich aber nicht vorstellen, dass dieser etwas mit ihren Schmerzen zu tun haben soll. Teilweise wird in der Literatur in Anlehnung an die Schmerzerfassung bei Kindern die Verwendung einer Gesichter-Skala empfohlen. Für Demenzkranke ist es aber oft schon früh im Krankheitsverlauf eine Überforderung, diese schematischen Gesichtsdarstellungen als Gesichter mit einem bestimmten Ausdruck wahrzunehmen. Sie sehen nur noch Kreise, Striche und Punkte ohne tieferen Sinn. Auch Zusammenhänge zwischen bestimmten Aktivitäten und Schmerzen können von den Patientinnen nicht mehr erkannt werden, weshalb sie oft eine notwendige Schonung nicht einhalten. Sie ziehen beispielsweise die Fixation einer Vorderarmfraktur wieder ab oder wandern trotz Frakturen an den unteren Extremitäten herum. Dadurch wird das Schmerzproblem häufig für die Betreuenden gar nicht sichtbar und das Vorurteil,
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demente Patientinnen seien weniger schmerzempfindlich, wird scheinbar bestätigt. Eine Verordnung von Analgetika nach Bedarf ist nicht mehr sinnvoll, da die Patientinnen den Zusammenhang zwischen ihren Beschwerden und der Notwendigkeit einer Medikamenteneinnahme nicht mehr verstehen. Gedächtnisstörungen: Schon nach kurzer Zeit können sich die Betroffenen nicht mehr daran erinnern, dass sie zum Beispiel bei der Mobilisation unter starken Schmerzen gelitten haben. Beim Besuch der Ärztin werden sie deshalb unter Umständen nicht über die erlebten Schmerzen berichten und sagen, es gehe ihnen gut. Möglicherweise widersprechen sie sogar den Aussagen der Betreuerinnen, was bei diesen Ärger und Frustration auslösen kann und dazu führt, dass das Thema Schmerzen bei dieser Patientin künftig nicht mehr ernst genommen wird. Verordnete Therapien werden von den Betroffenen oft nicht eingehalten, weil sie diese vergessen. Das kann dazu führen, dass ein fehlender Therapieerfolg angenommen oder ein nur geringer Leidensdruck vermutet wird. Veränderung der Wahrnehmung und des Körperschemas: Demenzkranke können unter einer veränderten Wahrnehmung des eigenen Körpers leiden. Sie sind dann nicht mehr in der Lage, einen Schmerz in seiner Funktion zu verstehen und in ihrem Körper zu lokalisieren. Entsprechend undifferenzierte Auskünfte sind die Folge. Oft zeigen die Betroffenen auf den Kopf, wenn man sie fragt, wo sie Schmerzen verspüren. Der Griff zum Kopf ist aber wohl eher als Ausdruck zu verstehen, dass im Kopf etwas nicht mehr stimmt, dass die Patientin spürt, dass sie ihren Schmerz nicht mehr einordnen kann. Tatsächlich ist der Schmerz vielleicht an einer ganz anderen Körperstelle lokalisiert. Entsprechend sorgfältig sind diese Patientinnen am ganzen Körper zu untersuchen. Umgekehrt beobachtet man manchmal abnorme Körperhaltungen, die jedoch nicht zwangsläufig Folge von Schmerzen sein müssen, sondern auch durch eine verschobene Wahrnehmung der Umgebung bedingt sein können. Eine Patientin ging von einem Moment zum anderen in einer auffälligen Schräghaltung und ließ sich nicht aufrichten. Lag sie aber im Bett, verschwand die Fehlhaltung. Unter der Vermutung eines akuten Rückenschmerzes mit entsprechender Schonhaltung erhielt sie Schmerzmittel, die aber keine Besserung brachten. Nach einigen Tagen der Unklarheit löste sich das Rätsel: Die Patientin konnte uns erklären, dass sie so schräg gehen müsse, weil der Boden so stark zur Seite geneigt sei! Die falsche Wahrnehmung der Umgebung führte zu der für uns unverständlichen Anpassungsreaktion. Dies zeigt nebenbei, wie
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wichtig die gute Beleuchtung und Farbwahl in Stationen für Demenzpatientinnen ist. Welche Möglichkeiten der Schmerzerfassung können nun empfohlen werden? Gerne hätten die meisten Betreuenden ein Instrument, das einen Score, einen numerischen Wert liefert und den Schmerz der Patientinnen quantifiziert (so wie wir den Blutdruck, die Temperatur oder den Blutzucker messen können). Dann könnten wir den Schmerz vermeintlich objektivieren und den Erfolg unserer Maßnahmen wieder prüfen. Schmerz als subjektives Erlebnis kann aber nie objektiviert werden, nur die Angaben der Patientin sind verlässlich: „Schmerz ist das, was der Patient darüber sagt, und ist vorhanden, wenn es der Patient sagt“ (McCaffery et al., 1997). Doch genau diese Möglichkeit des Schmerzausdrucks fehlt den meisten Demenzpatientinnen. In der Literatur finden sich einige Arbeiten, die verschiedene häufig verwendete Assessment-Instrumente in ihrer Anwendung bei Demenzpatientinnen miteinander vergleichen. Eine englische Arbeit (Closs et al., 2004) verglich die folgenden fünf Instrumente VRS (Verbal Rating Scale), NRS (Numeric Rating Scale), FS (Faces Scale), CS (Color Scale) und MVAS (Mechanical Visual Analogue Scale) bezüglich ihrer Anwendbarkeit in den verschiedenen Demenzstadien. Die VRS mit den Auswahlantworten keine – leichte – mäßige – starke Schmerzen konnte von 97 % der Patientinnen mit einem MMS-Score zwischen 10 und 24 erfüllt werden, die NRS von 87 %. Der mittlere MMS-Score der Patientinnen, die damit nicht mehr befragt werden konnte, betrug bei der VRS 2,3, bei der NRS 4,9, bei der CS 8,0 und bei der FS 9,2. CS, FS und MVAS konnten von mehr als einem Drittel der Probanden nicht verstanden werden. Diese Arbeit empfiehlt letztlich die VRS, da diese bei einem MMS über 10 der Fremdbeobachtung überlegen ist. Eine andere Arbeit (Wynne et al., 2000) verglich einerseits die vier Assessment-Instrumente McGill Word Scale, Wong Baker Faces Scale, VAS und Verbal Rating Scale, andererseits untersuchte sie, wie die Patientinnen ihre Schmerzen am besten lokalisieren konnten: durch Zeigen an einer Puppe, durch Zeigen auf einem gezeichneten Körper-Schema oder an sich selbst. Sie teilte die Patientinnen nach ihrem MMSErgebnis in zwei Gruppen (über und unter 15 Punkte) ein. In beiden Gruppen schnitt zwar die McGill Word Scale am besten ab, doch von den Patientinnen mit fortgeschrittener Demenz (MMS < 15) konnten 38 % mit keinem der Instrumente kooperieren. Die Schmerzlokalisierung gelang am besten an sich selbst, das Übertragen der schmerzenden Stelle auf eine Puppe oder ein Schema überforderte die Abstraktionsfähigkeit dieser Patientinnen.
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Wenn demente Menschen sich nicht mehr verbal zu ihren Schmerzen äußern können, bleibt uns nur die aufmerksame Beobachtung ihres Verhaltens, um Hinweise auf mögliche Schmerzen zu erhalten. Damit ergibt sich aber ein entscheidender Wechsel: Nicht mehr die subjektive Schmerzwahrnehmung der Person selbst steht im Zentrum, sondern die Fremdbeobachtung, die jedoch nie frei von subjektiver Interpretation durch die Beobachterin ist. Studien, die die subjektive Beschreibung durch die Patientin mit der Fremdeinschätzung vergleichen, zeigen zum Teil starke Diskrepanzen (Snow et al., 2004; Krulewitch et al., 2000). Diese Unterschiede variieren zudem erheblich beim Vergleich der Fremdeinschätzungen durch Angehörige, Pflegende und Ärztinnen sowie in Abhängigkeit vom Betreuungsort (zu Hause, Pflegeheim, Spital). Tendenziell schätzen alle Beobachterinnen die Schmerzintensität geringer ein, als sie von der Betroffenen selbst angegeben wird. Diese Tatsache müssen wir uns immer wieder in Erinnerung rufen, wenn wir mit Fremdbeobachtungs-Instrumenten arbeiten.
Total Pain Der Schmerz als Erlebnis betrifft immer den ganzen Menschen in all seinen Dimensionen. Cicely Saunders, die Begründerin der Hospizbewegung, hat dafür den Begriff des globalen Schmerzes („total pain“) geprägt. Der Mensch ist eine Einheit von Körper, Seele und Geist, der Schmerz betrifft ihn daher in allen Dimensionen seines Seins: biologisch, seelisch, psycho-sozial, kulturell und spirituell. Entsprechend drückt sich der Schmerz auch über ganz unterschiedliche Systeme aus (Büche, 2006): affektives System: Reizbarkeit, Verbitterung, Angst, Aggressionen, Apathie und Depressionen bis zu Suizidgedanken sind mögliche Reaktionen. motorisches System: Verspannungen der Muskulatur, Immobilität, Bewegungsdrang, Schonhaltung, Fluchtbewegungen sind Beispiele. vegetatives System: Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg, Schwitzen sind die bekanntesten Reaktionen. kognitives System: Konzentrations- und Aufmerksamkeitseinschränkungen mit Interesselosigkeit oder Gedächtnisstörungen können Schmerzfolgen sein. Den Schmerz in all seinen Dimensionen und mit seinen unterschiedlichen Auswirkungen zu erfassen ist schon bei kognitiv und kommunikativ kompetenten Patientinnen eine riesige Herausforderung und basiert vor allem auf dem Gespräch mit der Patientin. Wenn das Gespräch nicht mehr möglich ist und nur noch die Fremdbeobachtung
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bleibt, werden wir uns dem Schmerz der Patientin nur noch sehr partiell nähern können, vieles wird uns immer verborgen bleiben. Je besser wir den Menschen vor seiner Demenzerkrankung gekannt haben, umso eher werden wir ihn in seinem persönlichen Erleben verstehen können.
Assessment-Instrumente zur Fremdbeobachtung Bevor wir uns mit möglichen Assessment-Instrumenten auseinandersetzen, müssen wir festhalten, dass keines der bekannten und etablierten Instrumente in der Lage ist, alle oben angesprochenen Komponenten des Schmerzes zu erfassen, dass diese Instrumente nie die notwendige Multidimensionalität aufweisen können, um alle Faktoren des Schmerzerlebens mit einzubeziehen. Ein Review zum nonverbalen Schmerzassessment bei Patientinnen mit Demenz hält ernüchtert fest: „Die existierenden Tools sind immer noch im Frühstadium der Entwicklung und Testung. Bis heute gibt es kein standardisiertes Tool in Englisch, das für die breite Anwendung empfohlen werden kann“ (Herr et al., 2006). Die Beobachtung der Demenzpatientin in Hinblick auf mögliche Schmerzen fokussiert auf Veränderungen in ihrem Verhalten. Welches Verhalten einer dementen Patientin kann uns auf mögliche Schmerzen hinweisen? Die American Geriatrics Society hat in ihren Guidelines zu chronischen Schmerzen bei älteren Menschen folgende sechs Ausdrucksmuster identifiziert (AGS Panel, 2002): Mimik: trauriger, ängstlicher, gespannter, veränderter Gesichtsausdruck, Grimassieren, geschlossene oder zusammengekniffene Augen u. ä. Stimmlicher Ausdruck: Stöhnen, Schreien, Wimmern, geräuschvolles Atmen, Nach-Hilfe-Rufen u. ä. Bewegungsmuster: Verspanntheit, Abwehr, Schaukeln, verminderte Bewegung, veränderter Gang, erschwerte Mobilisation, Fluchtbewegungen u. ä. Veränderung der sozialen und interpersonalen Interaktionen: Aggressivität (tätlich und verbal), Abwehr von Pflegehandlungen, Rückzug von sozialen Aktivitäten, inadäquate Reaktionen u. ä. Veränderungen in Alltagsaktivitäten: verminderter Appetit, Abweisung von Nahrung, Schlafstörungen oder vermehrtes Ruhebedürfnis, verstärktes Wandern, Unruhe u. ä. Mentale und affektive Veränderungen: Verwirrung, Weinen, Reizbarkeit, sichtbares Leiden.
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Geeignete Assessment-Tools sollten möglichst alle diese Verhaltensauffälligkeiten erfassen. Zahlreiche Instrumente wurden in den letzten zwanzig Jahren publiziert, vorwiegend auf Englisch, manche auf Französisch. Wenige davon wurden in die deutsche Sprache übersetzt, bei den meisten Übersetzungen fehlt eine Validierung der deutschen Version. Die zitierte Übersichtsarbeit (Herr et al., 2006) weist zudem darauf hin, dass auch bei einer validierten Übersetzung die Anwendung in einer anderen Sprache grundsätzlich problematisch ist. In deutscher Sprache existieren nicht autorisierte Übersetzungen von Doloplus 2 und von ECPA (Kunz, 2002), eine validierte freiere Übersetzung von ECPA unter dem Kürzel BISAD (Fischer, 2007) und eine validierte Version von PAINAD (Warden et al., 2003) unter der Kurzbezeichnung BESD (Basler et al., 2006). PAINAD bzw. BESD erfasst nur drei der sechs Kategorien aus den AGS Guidelines. Der wichtigste Unterschied zwischen ECPA und Doloplus 2 einerseits und BESD andererseits besteht im Beobachtungsintervall. BESD erfasst das Verhalten während einer bestimmten Aktivität, ECPA und Doloplus 2 sind retrospektive Team-Analysen des Verhaltens der Patientin in den letzten 48 Stunden. Die eigene Anwendung von BESD hat gezeigt, dass das Verhalten der Patientin in einer Einzelsituation stark von der Bezugsperson und von Umgebungsfaktoren abhängen kann und dadurch beträchtliche Unterschiede im Score entstehen können. Die retrospektive Analyse eines längeren Beobachtungszeitraumes unter Einbezug der Wahrnehmungen des ganzen Betreuungsteams bei ECPA und Doloplus 2 scheint deshalb aussagekräftiger. Im Anhang dieses Kapitels sind ECPA und BESD abgedruckt. Ist es nun sinnvoll, mit solchen Skalen zur Beobachtung schmerzbedingter Verhaltensauffälligkeiten (es sind keine SchmerzerfassungsInstrumente, wie in der Praxis manchmal fälschlicherweise vorgegeben wird) zu arbeiten, wenn ihre Aussagekraft weiterhin umstritten ist? Die meisten Autoren befürworten trotz der Einschränkungen den gezielten Einsatz dieser Tools (Hadjistavropoulos, 2005). Sie sind in der Praxis durchaus hilfreich, den Anwenderinnen muss aber immer bewusst sein, dass sie keine absoluten Schmerzindikatoren sind und dass es keine lineare Beziehung zwischen Score und Schmerzintensität gibt. Der unbestrittene Nutzen der Beobachtungsskalen liegt darin, dass im Betreuungsteam die Aufmerksamkeit für Verhaltensauffälligkeiten und deren Zusammenhang mit möglichen Schmerzen geschärft und die interdisziplinäre Kommunikation gefördert wird.
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Zusammenfassende Empfehlung für das Schmerzassessment bei Patientinnen mit schwerwiegenden kognitiven Einschränkungen: 1. Befragung der Patientin mit einfachen Fragen und einem Angebot von Auswahlantworten (zu Schmerzstärke, Schmerzcharakter und zur Lokalisation). Ist dies nicht mehr möglich (meistens bei MMS < 10), ist mit Schritt 2 fortzufahren. 2. Beobachtung und Dokumentation des Verhaltens mittels validierter Skala, deren Anwendung geschult wurde und die allen Anwenderinnen vertraut ist. 3. Patientinnengeschichte sorgfältig erheben und ergänzen. Im Verlaufe einer Demenzerkrankung treten die Auswirkungen der Erkrankung auf Selbstständigkeit und Verhalten in den Vordergrund, dagegen geraten wichtige anamnestische Angaben und die Diagnosen anderer, möglicherweise schmerzhafter Erkrankungen in den Hintergrund. 4. Angepasste physikalische Untersuchung der Patientin 5. Probatorische analgetische Therapie unter gleichzeitiger Beobachtung möglicher Veränderungen im Verhalten.
Analyse der Schmerzproblematik Sobald wir von der Patientin selbst oder durch Fremdbeobachtung Hinweise auf ein Schmerzproblem erhalten haben, folgt als nächster Schritt die Analyse der Situation: Was spielt ursächlich eine Rolle, welche Faktoren können möglicherweise gezielt beeinflusst werden? Wer ist an dieser Analyse beteiligt? Jede involvierte Person kann dazu beitragen: die Patientin, die Pflegenden, die Ärztin, die Angehörigen und je nach Situation auch Mitglieder anderer Berufsgruppen wie Physiotherapie, Aktivierungstherapie, Psychologie und Seelsorge. Ist es ein neu aufgetretenes Schmerzproblem oder die Veränderung einer bekannten Problematik? Wurde ein Sturz oder ein Fehltritt beobachtet? Sind andere Zeichen wie ein Bluterguss oder Fieber erkennbar? Welche Hinweise gibt uns die Patientinnengeschichte? Im Sinne des Total Pain ist auch nach seelischen Belastungen wie Verlusten, Ängsten, Veränderungen des Lebensmilieus zu suchen. Es geht bei der Analyse aber auch darum, das Umfeld zu beachten: Ist das Bett zu hart, ist der Stuhl oder Rollstuhl zu hoch oder zu tief, ist die Gehhilfe richtig eingestellt, trägt die Patientin ungeeignetes Schuhwerk? Aus dieser Analyse können sich neben der Einleitung einer analgetischen
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
Therapie auch verschiedene Optionen ergeben, wie der Schmerz gezielt und kausal angegangen werden kann.
Gemeinsame Zielformulierung Die meisten multimorbiden alten Menschen leiden nicht nur an Schmerzen, sondern auch an anderen Problemen und Symptomen. Um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, muss zuerst einmal geklärt werden, wodurch sie am meisten beeinträchtigt wird. Oft leiden Patientinnen zwar an Schmerzen, fühlen sich aber durch andere Symptome oder Einschränkungen viel stärker in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt. Wird nun in einer Institution die Qualität der Pflege und Behandlung in erster Linie an der Schmerzbehandlung gemessen, besteht die große Gefahr, dass andere, für die Patientin oft wichtigere Probleme nicht erkannt und behandelt werden. Schmerzbehandlung muss immer Teil eines umfassenden Palliativkonzeptes sein, das durch ein holistisches Assessment den Menschen in seiner Ganzheit erfasst und daraus – möglichst zusammen mit der Betroffenen – die Prioritäten ableitet. Palliative Care stellt die Bedürfnisse und Ziele der Patientin ins Zentrum. Dies bedeutet für die Zielformulierung, dass nicht nur die Prioritäten in der Behandlung, sondern auch das Ziel der Schmerzbehandlung mit der Patientin bzw. mit ihren Angehörigen besprochen werden muss. Ist eine dauernde Schmerzfreiheit überhaupt erreichbar und um welchen Preis? Vielleicht ermöglichen hohe Analgetikadosen zwar Schmerzfreiheit, die Behandelte büßt dafür aber mit verstärkten Nebenwirkungen oder mit einer Verschlechterung anderer Funktionen, z. B. der Gehfähigkeit. Welche Gefahren ergeben sich daraus? Welche Risiken sollen bewusst in Kauf genommen werden? Für viele Betroffene ist das realistische Ziel die Schmerzfreiheit in Ruhe, bei einer schweren Arthrose muss aber vielleicht ein gewisses erträgliches Maß an Schmerzen bei der Mobilisation oder beim Gehen in Kauf genommen und mittels Hilfestellung erleichtert werden.
Schmerztherapie Anhand der Zieldefinition und der interdisziplinären Analyse wird nach den geeigneten Therapieformen gesucht oder werden bestehende Behandlungen angepasst. Der Behandlungsplan hat immer zwei Perspektiven gleichzeitig zu berücksichtigen: die Ursachen und das Schmerzausmaß.
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Roland Kunz
Tabelle 3 Kausale und symptomatische Ansätze der Schmerztherapie Kausaler Ansatz (Ursachenorientiert)
Symptomatischer Ansatz (Schmerzorientiert)
Schmerzursache(n) bekämpfen: Medizinische/chirurgische Maßnahmen Externe Faktoren anpassen Rollstuhl, Stuhl, Bett Bewegungsmuster korrigieren Kinästhetik, Physiotherapie Hilfsmittel einsetzen Rollator, Gehstock Belastungen anpassen Gehstrecke, Mobilisation Psychotherapie Seelsorge
Schmerzempfindung vermindern: Gezielter Einsatz von Analgetika Geeignete Galenik Stufenweises Vorgehen (WHOStufenschema) Fixe Verordnung bei chronischem Schmerz, nicht auf Verlangen Angepasste Reserveverordnung Physikalische Maßnahmen durch Pflege Wickel, Wärme/Kälte Physiotherapie Psychotherapie Zuwendung durch Pflege oder Angehörige Basale Stimulation Ablenkung durch Gespräche, Musik Motivation zu mehr Aktivität
Die medikamentöse Schmerztherapie orientiert sich an den Grundsätzen By the mouth: Das Therapiekonzept soll möglichst einfach sein und altersspezifische Aspekte berücksichtigen. Auf parenterale Medikamentenverabreichung kann außer in Notfällen oder am Lebensende verzichtet werden. Die Wahl der Galenik ist individuell an die Patientin anzupassen: Kann sie große Tabletten schlucken oder eher nur Tropfen? Kann die zu Hause lebende Patientin die Tabletten noch selber aus der Verpackung nehmen oder die Tropfen abzählen? Wegen der oft zahlreichen anderen Medikamente, die die multimorbide Patientin einzunehmen hat, sind retardierte Formen vorzuziehen, um die Anzahl der Tabletten klein zu halten und gleichzeitig eine möglichst gleichmäßige Schmerzlinderung rund um die Uhr zu erreichen. By the clock: Chronische Schmerzen, wie sie im Alter überwiegen, benötigen eine fest verordnete Dauertherapie mit retardierten Präparaten. Die Verordnung von Schmerzmedikamenten auf Verlangen erfordert einerseits kommunikative und kognitive Kompetenz, andererseits erzeugt sie eine Abhängigkeit vom Verständnis
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
des Pflegepersonals und beinhaltet damit eine zusätzliche Schwelle. Demente Patientinnen sind in der akuten Schmerzsituation oft nicht fähig, ein Schmerzmittel einzunehmen, sie lehnen oft alle Maßnahmen ab. Auch deshalb ist die fixe Dauermedikation vorzuziehen; alternativ ist manchmal auch die Verabreichung eines Medikamentes vor schmerzhaften Handlungen sinnvoll. By the ladder: Bei alten Menschen gilt ebenso wie bei jüngeren, dass die subjektiv erlebte Schmerzintensität die Stärke des Medikamentes bestimmt und nicht die Diagnose. Wenn nötig, ist auch bei geriatrischen Patientinnen nicht mit dem Einsatz starker Analgetika zu zögern. Die Analgetika werden in drei Stärkestufen eingeteilt. Tabelle 4 Die häufigsten im Alter eingesetzten Analgetika Stufe Analgetikagruppe Substanzen
Bemerkungen
1
Nichtopioide
Erste Wahl1 Eher kurzfristig Nur kurzfristig, Gefahr der Nierenschädigung und anderer schwerer Nebenwirkungen
2
Schwache Opioide Tramadol Codein
Im Alter häufig Schwindel, Verwirrung, Nausea als NW
3
Starke Opioide
Bei vorsichtiger Therapieeinleitung und Dosissteigerung auch im Alter einsetzbar. Individuelle Verträglichkeit macht eventuellen Wechsel untereinander notwendig.
Paracetamol Metamizol NSAR
Morphin Hydromorphon Oxycodon Fentanyl Buprenorphin Methadon
Die Unterscheidung zwischen schwachen und starken Opioiden hat sich eingebürgert, macht aber in der Praxis wenig Sinn. Aufgrund der stärkeren Nebenwirkungen und der beschränkten Therapiebreite von Tramadol empfehle ich, direkt zu den starken Opioiden überzugehen, die korrekt eingesetzt besser verträglich sind und eine steigende Dosierung ermöglichen. Codein wird in der Leber zu Morphin metabolisiert, entsprechend ist es nur logisch, diesen Umweg zu umgehen und direkt mit Morphin zu behandeln. Bei der Behandlung von älteren Menschen mit Schmerzmedikamenten sind die altersbedingten Veränderungen des Organismus zu beachten. Sowohl die Resorption als
1
In Deutschland und Österreich wird üblicherweise Metamizol als Präparat der ersten Wahl empfohlen (Anmerkung der Herausgeberinnen).
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Roland Kunz
auch die Verteilung der Substanz im Körper, ihr Abbau und die Ausscheidung der Abbauprodukte verändern sich mit zunehmendem Alter. Dadurch werden Wirkungseintritt, Wirkdauer und mögliche Nebenwirkungen beeinflusst. Die wichtigsten zu beachtenden Veränderungen sind: Die kontinuierliche Abnahme des kardialen Indexes bringt einen verzögerten Wirkungseintritt mit sich. Die Reduktion der Leberfunktion kann zu einer geringeren Bioverfügbarkeit und einem verlangsamten Metabolismus führen. Die abnehmende Nierenfunktion kann eine verlängerte Wirkdauer sowie Kumulation der Substanz und ihrer Abbauprodukte mit toxischen Nebenwirkungen zur Folge haben. Die Abnahme des Körperwassers mit relativer Zunahme des Körperfettes führt zu einer veränderten Verteilung in den Kompartments und teilweise zu höheren Wirkspiegeln. Eine Verringerung der Plasmaproteine bewirkt höhere Anteile freier Substanz im Blut, die leichter die Blut-Hirn-Schranke passieren. Die Konsequenz davon sind häufigere Nebenwirkungen auf das Zentralnervensystem. Die atrophische und oft faltige Haut mit vermindertem subkutanem Fettgewebe kann die Resorption der Substanz aus Schmerzpflastern beeinträchtigen. Die Aufzählung dieser Vorsichtsmaßnahmen soll nicht zu mehr Zurückhaltung beim Einsatz von Analgetika führen, sondern zu einer wohlüberlegten Verordnung. Die Literatur zeigt, dass mit zunehmendem Alter immer weniger und vorwiegend schwächere Schmerzmedikamente eingesetzt werden, obwohl die Häufigkeit chronischer Schmerzen zunimmt (Landi et al., 2001). Zu den einzelnen Analgetika-Stufen gemäß WHO sind folgende Punkte zu beachten (Kunz, 2006 und 2009): Stufe 1: Nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) sind nur kurzfristig und zur Entzündungshemmung einzusetzen. Langfristiger Einsatz kann zu asymptomatischen Ulcera im oberen Gastrointestinaltrakt mit plötzlichen lebensgefährlichen Blutungen führen. Die eingeschränkte Nierenfunktion und die oft ungenügende Flüssigkeitsaufnahme begünstigen unter NSAR ein Nierenversagen, Wasserretention kann zur kardialen Dekompensation führen. Paracetamol ist das Mittel der Wahl im Alter, sofern keine relevante Leberschädigung vor-
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
liegt. Die kurze Wirkdauer der Stufe-1-Präparate erfordert einen korrekten, regelmäßigen Einnahmerhythmus (Vorsicht: Morgen-Mittag-Abend bedeutet in der Institution oft sehr unterschiedliche Intervalle!). Problematisch bei Paracetamol ist die Galenik: Die Tabletten sind sehr groß, Suppositorien eignen sich nicht für die Dauertherapie und Brausetabletten werden wegen ihres Geschmackes meist nur über kurze Zeit toleriert. Metamizol (Novalgin®) eignet sich gut in Form von Tropfen, sollte aber wegen des beschriebenen Agranulozytose-Risikos (die Literatur dazu ist jedoch kontrovers) besser nur kurzfristig eingesetzt werden. Stufe 2: Tramadol kann in Dosen über 200 mg/Tag häufig zentralnervöse Störungen (Verwirrung) und Übelkeit bewirken. Der Wechsel auf ein Opiat der Stufe 3 ist deshalb höheren Dosen von Tramadol vorzuziehen. Codein kann von einem Teil der Bevölkerung nur ungenügend in die aktive Wirkungsform Morphin umgewandelt werden. Stufe 3: Alle Opiate sind vorsichtig einzutitrieren (d. h. die Dosis schrittweise zu steigern), da die Reaktionen und die Verträglichkeit individuell und nicht klar voraussehbar sind. Kurz wirksame Präparate wie Morphin-Tropfen werden zur Titration eingesetzt nach dem Grundsatz „start low – go slow“. In der Praxis bewährt sich eine Einstiegsdosis von 3 mg alle vier Stunden, die tropfenweise gesteigert wird. Nach dem Erreichen der erwünschten Wirkung erfolgt der Wechsel auf retardierte Präparate. Wenn die Kooperation der Patientin diese Titration nicht zulässt, kann ausnahmsweise auch mit 2 10 mg retardiertem Morphin in Tablettenform begonnen werden. Hydromorphon und Oxycodon bilden kaum aktive Metaboliten und eignen sich auch für den vorsichtigen Einsatz bei Patientinnen mit einer Niereninsuffizienz. Sie sind in dieser Situation dem Morphin, das zu einer Kumulation von aktiven Metaboliten mit zentralnervösen Nebenwirkungen führen kann, vorzuziehen. Transdermale Therapiesysteme (TTS, Patches) sind wegen der veränderten Resorption, vor allem bei kachektischen Patienten, unsicher. Bei wechselnder Schmerzsymptomatik oder am Lebensende sind sie infolge ihrer tagelangen, gleichförmigen Wirkungsweise zudem zu statisch. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass Opiate richtig eingesetzt auch gerade für den alten Menschen geeignete Analgetika sind; sie bewähren sich sowohl im Langzeiteinsatz
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Roland Kunz
wie auch für demenzbetroffene Menschen. Voraussetzungen sind aber eine niedrige Anfangsdosierung, die langsame Dosissteigerung und die Beachtung der Einschränkungen (Niereninsuffizienz). Die obligaten Nebenwirkungen der Opiattherapie sind von Anfang an zu behandeln: Die Übelkeit dauert meist nur wenige Tage und kann in dieser Zeit mit Haloperidol tiefdosiert gut kontrolliert werden, die Obstipation muss dauernd behandelt werden. Opiate verursachen insgesamt viel seltener gefährliche Nebenwirkungen als NSAR. Neben der Behandlung der körperlichen Schmerzursachen und dem Einsatz von Schmerzmitteln kann auch die Physiotherapie einen wichtigen Beitrag zur Linderung der Schmerzen bieten. Neben direkter Beeinflussung zum Beispiel mit Wärme- und Kälteanwendungen kann sie die kognitiv nur wenig beeinträchtigte Patientin neue, weniger schmerzhafte Bewegungsmuster lehren oder das Pflegeteam bei der geeigneten Lagerung beraten. Da der Schmerz immer den ganzen Menschen in seiner Einheit als Körper, Seele und Geist betrifft, kann psychotherapeutische Hilfe im weiteren Sinne das Schmerzerleben auch bei alten, dementen Menschen positiv beeinflussen. Ein angstfreies Milieu, beruhigende Rituale und sinnstiftende Beschäftigungen gehören dazu. Für Patientinnen mit leichter Demenz kann die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte, mit schmerzhaften Verlusten und mit den existenziellen Fragen am Lebensende eine wichtige Säule der Begleitung sein.
Erfolgskontrolle Die Schmerzbehandlung alter und dementer Menschen mit chronischen Krankheiten ist ein Prozess, der ständige Anpassung an sich verändernde Situationen erfordert. Deshalb muss der Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen immer wieder überprüft, müssen Nebenwirkungen erfasst und behandelt werden. Insbesondere darf der Fokus nicht allein auf das Schmerzproblem gerichtet bleiben, sondern muss auch andere Symptome und Probleme, die die Lebensqualität beeinträchtigen, einbeziehen.
2.2.5
Schlussbemerkung
„Man sieht ihn nicht, aber spürt ihn. Manchmal. Und manchmal auch nicht. Der Schmerz hat tausend Gesichter. Er ist ein Phantom. Den Schmerz auf eine Sichtweise zu reduzieren, tut ihm weh. Worte und
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
Konzepte, mit denen man das Phänomen zu benennen und zu klassifizieren versucht, greifen zwangsläufig in die Leere. Und doch sind sie notwendig, gerade für die Arbeit in einer Institution. Schmerz ist eine der wichtigsten Türen zum Verständnis des Universums Mensch.“ So heißt es im Vorwort zum interdisziplinären Schmerzkonzept des Spitals Affoltern, Schweiz. Alte und demente Menschen, die in der Kommunikation eingeschränkt sind, brauchen diese Tür zum Verständnis ganz besonders.
2.2.6
Anhang: Assessment-Instrumente zur Fremdbeobachtung
ECPA Echelle comportementale de la douleur pour personnes âgées non communicantes (Morello R., Jean A., Alix M., Groupe Regates 2002, deutsche Version Kunz R. 2003) Datum:
Patient:
vis.:
Geb.:
Zimmer:
Datum: Dimension 1: Beobachtungen vor der Pflege ITEM 1 – Gesichtsausdruck: Blick und Mimik 0
entspannter Gesichtsausdruck
1
besorgter, gespannter Blick
2
ab und zu Verziehen des Gesichts, Grimassen
3
verkrampfter u./o. ängstlicher Blick
4
vollständig starrer Blick / Ausdruck
ITEM 2 – Spontane Ruhehaltung (Suche einer Schonhaltung) 0
keinerlei Schonhaltung
1
Patient vermeidet eine bestimmten Position, Haltung
2
Patient wählt eine Schonhaltung
3
Patient sucht erfolglos eine schmerzfreie Schonhaltung
4
Patient bleibt vollst. immobil (wie festgenagelt durch Schmerzen)
69
Roland Kunz
ITEM 3 – Bewegungen und Mobilität (im u/o außerhalb des Bettes) 0
Patient mobilisiert und bewegt sich wie gewohnt*
1
Pat. bewegt sich wie gewohnt*, vermeidet aber gewisse Bewegungen
2
seltenere / verlangsamte Bewegungen entgegen Gewohnheit*
3
Immobilität entgegen Gewohnheit*
4
Apathie, Niedergeschlagenheit oder starke Unruhe entgegen Gewohnheit*
* im Vergleich zu den vorhergehenden Tagen ITEM 4 – Kontakt zur Umgebung (Blick, Gesten, verbal) 0
üblicher Kontakt wie gewohnt*
1
Herstellen von Kontakt erschwert entgegen Gewohnheit*
2
Pat. vermeidet Kontaktaufnahme entgegen Gewohnheit*
3
Fehlen jeglichen Kontaktes entgegen Gewohnheit*
4
totale Indifferenz entgegen Gewohnheit*
Dimension 2: Beobachtungen während der Pflege ITEM 5 – ängstliche Erwartung bei Pflege 0
Patient zeigt keine Angst
1
ängstlicher Blick, angstvoller Ausdruck
2
Patient reagiert mit Unruhe
3
Patient reagiert aggressiv
4
Patient schreit, stöhnt, jammert
ECPA Seite 2 ITEM 6 – Reaktionen bei der Mobilisation 0
Pat. steht auf / lässt sich mobilisieren ohne spezielle Beachtung
1
Pat. hat gespannten Blick / scheint Mobilisation und Pflege zu fürchten
2
Pat. klammert mit den Händen / macht Gebärden während Mob. und Pflege
3
Patient nimmt während Mobilisation / Pflege eine Schonhaltung ein
4
Patient wehrt sich gegen Mobilisation oder Pflege
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Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
ITEM 7 – Reaktionen während der Pflege von schmerzhaften Zonen 0
keinerlei Reaktionen während der Pflege
1
Reaktionen während Pflege, ohne Eingrenzung
2
Reaktion beim Anfassen od. Berühren schmerzhafter Zonen
3
Reaktion bei flüchtiger Berührung schmerzhafter Zonen
4
Unmöglichkeit, sich schmerzhafter Zone zu nähern
ITEM 8 – verbale Äußerungen während der Pflege 0
keine Äußerungen während der Pflege
1
Schmerzäußerung, wenn man sich an den Patienten wendet
2
Schmerzäußerung, sobald Pflegeperson beim Patienten ist
3
spontane Schmerzäußerung od. spontanes leises Weinen, Schluchzen
4
spontanes Schreien oder qualvolle Äußerungen
Total
Anwendungshinweise: ECPA wird nur angewendet, wenn eine Schmerzerfassung mit üblichen Instrumenten unmöglich ist Wachkoma-Patienten können mit ECPA nicht erfasst werden ECPA wird von Pflegenden ausgefüllt, die die Patientin zumindest in den letzten zwei Tagen gepflegt haben ECPA ist ein Erfassungsinstrument für Verhaltensänderungen, die auf Schmerzen hinweisen, jedoch kein direktes Schmerzerfassungsinstrument. BESD (Beurteilung von Schmerzen bei Demenz) Name des/der Patient/-in: ………………………………………………………………………………….. Beobachten Sie den Patienten/die Patientin zunächst zwei Minuten lang. Dann kreuzen Sie die beobachteten Verhaltensweisen an. Im Zweifelsfall entscheiden Sie sich für das vermeintlich beobachtete Verhalten. Setzen Sie die Kreuze in die vorgesehenen Kästchen. Mehrere positive Antworten (außer bei Trost) sind möglich.
□ Ruhe □ Mobilisation und zwar durch folgende Tätigkeit: …………..……… 71
Roland Kunz
Beobachter/in: ....……………………….…………………………………………..........
Atmung (unabhängig von Lautäußerung) normal gelegentlich angestrengt atmen kurze Phasen von Hyperventilation (schnelle und tiefe Atemzüge) lautstark angestrengt atmen lange Phasen von Hyperventilation (schnelle und tiefe Atemzüge) Cheyne Stoke Atmung (tiefer werdende und wieder abflachende Atemzüge mit Atempausen)
nein
ja
□ □ □ □ □ □
□ □ □ □ □ □
□ □ □ □ □ □
□ □ □ □ □ □
Punktwert 0 1
2
Negative Lautäußerung keine gelegentlich stöhnen oder ächzen sich leise negativ oder missbilligend äußern wiederholt beunruhigt rufen laut stöhnen oder ächzen weinen
0 1
2
Name ………………..…………………………………………………………
Gesichtsausdruck lächelnd oder nichts sagend trauriger Gesichtsausdruck ängstlicher Gesichtsausdruck sorgenvoller Blick grimassieren
72
nein
ja
□ □ □ □ □
□ □ □ □ □
Punktwert 0
1
2
Schmerzmanagement bei älteren und kognitiv beeinträchtigten Menschen
Körpersprache
□ □ □ □ □ □ □ □ □
entspannt angespannte Körperhaltung nervös hin und her gehen nesteln Körpersprache starr geballte Fäuste angezogene Knie sich entziehen oder wegstoßen schlagen
Trost trösten nicht notwendig Ist bei oben genanntem Verhalten ablenken oder beruhigen durch Stimme oder Berührung möglich? Ist bei oben genanntem Verhalten trösten, ablenken, beruhigen nicht möglich? TOTAL / von max.
□ □ □ □ □ □ □ □ □
□ □ □ □ □ □
0
1
2
0 1 2 __/10
Andere Auffälligkeiten: ………………………………………………………………………………...... ………………………………………………………………………………...... ………………………………………………………………………………...... ………………………………………………………………………………...... Beobachtungsanleitung und Auswertung BESD Geben Sie an, in welcher Situation die Beobachtung stattfindet (z. B. im Sitzen, im Bett liegend, während des Waschens oder Gehens). Bitte beobachten Sie die/den BewohnerIn in dieser Situation zwei Minuten lang und achten Sie darauf, ob sich die beschriebenen Verhaltensweisen zeigen. Kreuzen Sie anschließend in dem Beobachtungsbogen die zutreffenden Verhaltensweisen an (Spalte „ja“). Markieren Sie bitte zur Kontrolle auch die Spalte „nein“, wenn Sie ein Verhalten nicht beobachtet haben. Zu den einzelnen Begriffen gibt es eine ausführliche Beschreibung, die Sie vor dem Ausfüllen gewissenhaft durchlesen sollten.
73
Roland Kunz
Die Beobachtung bezieht sich auf fünf Kategorien: Atmung, negative Lautäußerungen, Gesichtsausdruck, Körpersprache und Trost. Für jede Kategorie sind maximal 2 Punktwerte zu vergeben. Für die Auswertung addieren Sie die in der rechten Spalte angegebenen Werte über die einzelnen Kategorien, wobei Sie nur den jeweils höchsten erzielten Wert pro Kategorie berücksichtigen. Es ist ein maximaler Gesamtwert von 10 für Schmerzverhalten möglich. Ein Wert von 6 oder darüber in einer Mobilitätssituation wird von uns als behandlungsbedürftig angesehen.
74
3 Ernährung
Snezana Lazelberger Ernährung und ablehnendes Essverhalten aus Sicht der Pflegenden
Ernährung und ablehnendes Essverhalten aus Sicht der Pflegenden
3.1 Ernährung und ablehnendes Essverhalten aus Sicht der Pflegenden Snezana Lazelberger Frau J. war bereits untergewichtig, als sie zu uns kam. Zuvor war sie ziemlich lange auf einer anderen Station betreut worden. Da ihre Verhaltensauffälligkeiten im Laufe der Zeit immer stärker zugenommen hatten und das Team sich schließlich nicht mehr zu helfen wusste, wurde Frau J. auf unsere Station verlegt, die auf demenzkranke Menschen spezialisiert ist. Die Verlegung war für sie ein großer Schock. Mit einem Schlag hatte sie nicht nur die gewohnte Umgebung verloren, sondern auch alle vertrauten Bezugspersonen. Darauf reagierte sie u. a. damit, dass sie in den ersten Tagen nach der Aufnahme bei uns jegliche Nahrungsaufnahme sehr energisch ablehnte. Jedes Mal, wenn wir ihr etwas anboten, schrie sie laut und spuckte alles, was irgendwie doch in ihrem Mund landete, sofort wieder aus. Es war überaus schwierig, sie dazu zu bringen, auch nur die allernötigsten Medikamente zu schlucken. Auch die Flüssigkeitszufuhr gestaltete sich äußerst problematisch. Frau J. war nicht dazu zu bewegen, mehr als ein paar Schlückchen zu trinken, Infusionen montierte sie sofort ab. Zu unserem Entsetzen verlor sie sehr rasch weiter an Gewicht. Ihr Sohn kam stets erst am späten Nachmittag nach der Arbeit zu Besuch, daher dauerte es ein paar Tage, ehe ich ihn fragen konnte, was seine Mutter früher gern gegessen hatte. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Meine Mutter hätte von Fredi-Keks, Schokolade und Milch leben können!“ Das gab uns Anhaltspunkte für unser weiteres Vorgehen. Unser Versuch, Frau J. ein wenig warme Milch zu geben, scheiterte. Als Nächstes probierten wir es mit Grießbrei, gemischt mit sehr viel Nutella. Im ersten Augenblick reagierte Frau J., wie wir es von ihr gewohnt waren, mit Abwehr und „pfui, geh weg da!“, doch dann nahm sie den Schokoladengeschmack in ihrem Mund wahr. Ihr Gesicht verklärte sich von einem Augenblick zum anderen: „… ah … gut!“ Bei seinem nächsten Besuch brachte der Sohn ihr die geliebten Fredi-Keks mit. Frau J. war hocherfreut, aß jedoch nicht viel davon. Aber Nutella pur löste bei ihr große Begeisterung aus, sie strahlte mich an: „Gut Schatzilein … wunderbar!“ Dennoch verlor sie, wenn auch langsamer, noch immer an Gewicht. Nach ein paar weiteren Tagen aß sie einmal zu meiner Überraschung den ganzen Teller Grießbrei mit Nutella leer und verlangte sogar nach! „Na so was!“, rief ich mit
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Snezana Lazelberger
freudigem Erstaunen. Frau J. sah mich schelmisch an und meinte: „Aber blad wir i nimma!“1 Mit der Zeit begann Frau J. regelmäßig etwas mehr zu essen und zu trinken. Endlich gelang es, den Gewichtsverlust zu stoppen, allerdings auf einem sehr niedrigen Niveau. An Gewicht zugenommen hat Frau J. seither zwar nicht, aber anscheinend fühlt sie sich so, wie sie ist, recht wohl. Jedes Mal, wenn sie mich sieht, schaut sie mich erwartungsvoll an und fragt: „Hast du Schokolade?“
3.1.1
Ursachen für ablehnendes Essverhalten
Sehr alte Menschen essen häufig nur kleine Mengen. Patientinnen mit Demenz reagieren, wenn sie sich nicht wohlfühlen, darüber hinaus oft damit, dass sie weitgehend oder ganz aufhören zu essen. Viele sehr unterschiedliche körperliche und seelische Ursachen können bei Demenzkranken zum Verlust der Freude am Essen, zu Appetitlosigkeit und zur vollständigen Ablehnung jeglicher Nahrung führen: Häufige körperliche Ursachen sind:
Schmerzen Andere quälende körperliche Beschwerden Depression Nebenwirkung von Medikamenten (z. B. starke Opioide) Hoch dosierte Psychopharmaka Schluckstörungen Schwere Obstipation Mundtrockenheit Soor Druckstellen, offene Stellen im Mund …
Häufige seelische Ursachen:
Fühlt sich in ihrer Umgebung nicht wohl Leidet unter Lärm, Unruhe Versteht nicht, wird nicht verstanden Wird respektlos behandelt Erfährt zu wenig Zuwendung
1
„Aber dick werde ich nicht mehr“ (Wiener Dialekt).
78
Ernährung und ablehnendes Essverhalten aus Sicht der Pflegenden
Essen schmeckt nicht Unbekannte Kost Nahrung unansehnlich, passiert, vermischt Lieblose Verabreichung Keine Rücksicht auf Vorlieben und Abneigungen
Im Fall von Frau J. war die Ursache leicht zu erkennen: Sie war ihr Leben lang eine eher schwache Esserin gewesen, der Schock der Verlegung hatte ihr dann vollends den Appetit genommen. Wenn ein Mensch mit Demenz vor Erreichung des Endstadiums seiner Erkrankung aufhört zu essen, hat das immer einen Grund, den es zu finden und zu beheben gilt. Zuzeiten kann es recht schwierig sein, die Ursache des ablehnenden Essverhaltens festzustellen. Durch die enge partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Pflegenden gelingt es jedoch oft, auch nicht unmittelbar augenfällige körperliche Ursachen zu finden oder sicher auszuschließen. Um mit der Vielzahl anderer möglicher Ursachen vertraut zu sein, braucht es Kompetenz, ausreichend Erfahrung mit demenzkranken Patientinnen, eine gute Beobachtungsgabe und nicht zuletzt die unverzichtbare respektvolle und zuwendende Haltung allen Lebensäußerungen der Kranken gegenüber. Die Beziehung zwischen einer Demenzkranken und der Betreuerin, die ihr das Essen zureicht, entscheidet oft über die Menge der aufgenommenen Nahrung. Fehlende Kommunikation und Mangel an Beziehung sind wesentliche Ursachen von Nahrungsverweigerung.
3.1.2
Ernährungsassessment
In den letzten fünfzehn Jahren wird dem Ernährungszustand hochbetagter Menschen generell ein immer größeres Gewicht beigemessen. Es wurde bereits eine Reihe von Beurteilungsinstrumenten (AssessmentTools) zur Feststellung der Ernährungssituation im Alter entwickelt (z. B. MNA, „Mini Nutritional Assessment“). Auch zur Feststellung möglicher Ursachen für gestörtes Essverhalten bei Demenzkranken (z. B. Blandford Skala „Adversive Feeding Behaviour Inventory“; Kolb, 2007) und um anhand gezielter Beobachtungen spezifische Bedürfnisse der Patientinnen zu erkennen und im Pflegeplan zu berücksichtigen, wurden eigene Skalen entwickelt (EdFED-Q, Edinburgh Feeding Evaluation in Dementia Questionnaire; Kolb, 2009). Einer der Arbeitsschwerpunkte meiner Station ist es, unseren Patientinnen die Freude am Essen zu erhalten, diese Freude zu fördern und
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Snezana Lazelberger
alles zu tun, sie wiederzuerwecken, wenn sie verlorenzugehen droht. Unser Ziel ist die bestmögliche Lebensqualität und nicht das Erreichen eines bestimmten Gewichts. Noch weniger geht es uns darum, unsere Patientinnen dazu zu bringen, sich vorwiegend von „Gesundkost“ zu ernähren und plötzlich Gefallen an Speisen zu finden, die sie ihr Leben lang nicht gewohnt waren. Für uns ist die Hauptsache, dass unseren alten Damen und Herren das Essen schmeckt. Wenn dies wie bei Frau J. nur mit Hilfe von viel Schokolade zu erreichen ist, sind wir auch damit einverstanden. Diese sicher unorthodoxe Vorgangsweise wird in besonderen Fällen auch von Fachleuten anerkannt (vgl. Kolb, 2007). Unser Ernährungsassessment orientiert sich an Befinden und Verhalten unserer Patientinnen und verzichtet auf die Anwendung von Skalen. Wir beschränken uns auf wenige, einfache, aber wirklich konsequent durchgeführte Maßnahmen: Bestimmung des BMI (Body-Mass-Index) bei der Aufnahme. Wenn die Körpergröße infolge von Wirbelsäulenverkrümmungen, Beindeformitäten oder Kontrakturen i. B. der unteren Extremitäten nicht exakt bestimmbar ist, messen wir mit einer Schublehre die Fersen-Kniehöhe und verwenden diesen Wert zur Bestimmung des BMI. Gewichtskontrolle im Allgemeinen einmal im Monat, bei Risikopatientinnen (sehr niedriger BMI, rascher Gewichtsverlust innerhalb kurzer Zeit) auch öfter. Gewichtsbiographie: War die Patientin immer schon so schlank? Ist das Gewicht schon seit längerem auf diesem Niveau stabil? Wann hat sie begonnen, an Gewicht zu verlieren? War eine akute Krankheit auslösend für den Gewichtsverlust? Wie mobil ist sie? Im Anschluss an eine Gewichtskontrolle wird einmal im Monat evaluiert, ob die bisher getroffenen Maßnahmen erfolgreich waren oder verändert bzw. ergänzt werden müssen. Halbjährig besucht unsere Diätassistentin unsere Patientinnen. Gemeinsam mit ihr wird der Ernährungszustand jeder Patientin evaluiert – falls erforderlich werden weitere Maßnahmen besprochen. Für Risikopatientinnen kommt die Diätassistentin, wann immer dies nötig ist, und erstellt für jede einen maßgeschneiderten Diätplan. Bei großen und anhaltenden Ess- und/oder Trinkschwierigkeiten werden Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr bilanziert.
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Ernährung und ablehnendes Essverhalten aus Sicht der Pflegenden
Die Portionen untergewichtiger Patientinnen werden kalorisch angereichert. Dazu eignet sich Schlagobers2 besonders gut: Es erhöht den Nährwert und – noch wichtiger – es steigert als Geschmacksverbesserer die Freude an Essen und Trinken und damit oft auch die Menge der aufgenommenen Kost. Schlagobers passt nicht nur hervorragend zu Kaffee, Kakao, süßen Cremes und Kuchen, es lässt sich z. B. auch gut in Soßen und gebundene Suppen rühren. Zwischen den Mahlzeiten bieten wir immer wieder verlockende Kleinigkeiten zum Naschen an wie Kekse, Obst oder Fruchtzwerge. Bei Schluckbeschwerden sollte es selbstverständlich sein, bei Speisen und Getränken auf die richtige Konsistenz zu achten. Diese leicht durchführbaren Maßnahmen bringen aus unserer Erfahrung weit mehr als das Anbieten teurer bilanzierter Trinknahrungen, die den alten Menschen häufig nicht besonders gut schmecken und nur von wenigen nach viel gutem Zureden wirklich ausgetrunken werden.
Essen soll Freude machen! Uns ist vor allem daran gelegen, dass unsere Patientinnen sich bei uns wohlfühlen. Wenn sie das tun, essen sie auch lieber! Ihr Befinden ist uns auf jeden Fall wichtiger als ihr Körpergewicht. Essen gehört zu den Freuden des Lebens. Um zu gewährleisten, dass das Essen unseren Patientinnen tatsächlich Freude macht, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein: Gute Atmosphäre Wir bemühen uns um eine Atmosphäre, in der sich die von uns betreuten Menschen entspannt und freudig ihren Mahlzeiten widmen können. Dazu gehört z. B. die Art und Weise, wie man jemanden zum Essen bittet. Es macht einen großen Unterschied, ob die Schwester sagt „kommen Sie zum Mittagessen“ oder „darf ich Sie zum Mittagessen einladen“. Unsere Patientinnen werden zur Mahlzeit gebeten und dann zuvorkommend bedient. Brauchen sie beim Essen Hilfe, muss diese ohne Zeitdruck, mit großer Achtsamkeit und Zuwendung geleistet werden. Als spezialisierte Demenzstation haben wir für das Personal andere Dienstzeiten als andere Stationen, daher können wir die dafür nötige Zeit gut einteilen. Ich weiß aber von früher, wie schwierig es ist, die Nahrung so zuzureichen, wie es sein sollte, wenn dafür zu
2
Österreichisch für Schlagsahne.
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wenige Mitarbeiterinnen zur Verfügung stehen. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass Essschwierigkeiten erwiesenermaßen stark zunehmen, wenn das Essen gehetzt, ohne Einstellung auf die Betreffende, womöglich sogar im Stehen und mit zu großem und zu vollem Löffel gereicht wird. Vertraute Rituale Das Tagesmenü, Tag und Datum stehen mit Kreide geschrieben an der „Wirtshaus-Tafel“. In der Jugend unserer Patientinnen war das Mittagessen für alle Menschen die Hauptmahlzeit. Gegessen wurde, wenn die Mittagsglocken läuteten, also um 12 Uhr. Deshalb läuten auch bei uns jeden Tag vor Beginn des Mittagessens auf CD aufgenommene Mittagsglocken. Dann wissen alle: Jetzt ist Mittagszeit, gleich kommt das Essen! Nette Tischnachbarinnen Niemand sitzt gerne neben einem Menschen, den er nicht mag. Es ist daher wichtig, für eine gute und sinnvolle Tischordnung zu sorgen. Demenzkranke können ihre Affekte nicht mehr unter Kontrolle halten. Wenn Tischnachbarinnen sich nicht vertragen, führt das daher unweigerlich zu einem Gezeter und Geschrei, unter Umständen sogar zu Handgreiflichkeiten. Als Folge davon essen nicht nur die beiden Streitenden nicht, sondern alle, die an diesem Tisch sitzen. Die meisten stehen dann einfach auf und gehen weg. Aus diesem Grund versuchen wir auch stets, unsere Patientinnen so zu setzen, dass sie mit Menschen, die sich in ungefähr dem gleichen Stadium ihrer Erkrankung befinden, zusammensitzen. Wenn die Demenz einer Dame noch nicht so weit fortgeschritten ist wie bei ihrer Nachbarin und sie z. B. noch viel Wert auf gute Tischsitten legt, kann es nicht gut gehen, wenn ihre Nachbarin mit den Händen in ihrem Teller herumpanscht und sich womöglich auch noch ungeniert von den Tellern ihrer Nachbarinnen bedient. Appetitanregende Präsentation der Mahlzeit Das Auge isst immer mit! Jeder Mensch hat mehr Freude an seiner Mahlzeit, wenn alle Speisen ansprechend auf dem Teller angerichtet sind. Wir haben uns angewöhnt, kleine Portionen anzurichten. Wenn eine schwache Esserin einen allzu vollgefüllten Teller vor sich stehen hat, vergeht ihr häufig bereits der Appetit. Hat es einer Patientin geschmeckt und sie hat ihren Teller leer gegessen, fragen wir: „Möchten Sie vielleicht noch …?“ Auch ob die Schwester einer alten Dame den
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Ernährung und ablehnendes Essverhalten aus Sicht der Pflegenden
Teller wortlos hinstellt oder ob sie sie anlächelt und ihr einen guten Appetit wünscht, macht gerade für hochsensible Demenzkranke einen Unterschied. Ich möchte etwas essen, was mir schmeckt Auf unserem Speisezettel gibt es vorwiegend Speisen, die von früher bekannt sind. Das Angebot trägt der Vorliebe der meisten alten Menschen für süße Speisen Rechnung. Individuelle Vorlieben und Abneigungen werden berücksichtigt. Das verbale Anbieten von Auswahlmöglichkeiten überfordert die Kranken oft und lässt sie resignieren. Wird z. B. beim Austeilen gefragt „Wollen Sie lieber Braten mit Gemüse oder Kaiserschmarrn?“, so ist das nicht selten zu schwierig. Die Betreffende wird sich beschämt und unsicher fühlen und eine ausweichende Antwort geben wie „Ist egal“ oder „Wie Sie wollen“. Werden ihr hingegen die Teller mit den angerichteten Speisen gezeigt, kann sie die Entscheidung problemlos treffen. Fragen nach zukünftigen Präferenzen (z. B. nach Speisewünschen für den nächsten Tag) sind sinnlos geworden. Die Kranken können sich später weder an die Frage noch an ihre Antwort erinnern. Ich möchte so essen, wie ich es will Jede Patientin darf bei uns so essen, wie sie möchte, egal ob mit Messer und Gabel, nur mit dem Löffel oder mit den Händen. Wer gerne allein isst, kann das tun, egal wie lange es dauert und wie Tisch und Fußboden nachher aussehen. Manche Demenzkranke vergessen während der Mahlzeit, dass sie gerade beim Essen sind. Werden sie immer wieder geduldig und liebevoll daran erinnert, essen sie oft die ganze Portion auf. Da manche unserer Patientinnen gerne sehr früh aufstehen, andere dagegen sich mit Vorliebe lange in ihr gemütliches, warmes Bett kuscheln, servieren wir je nach Bedarf ein individuell gestaltetes Frühaufsteher- oder Spätaufsteherfrühstück. Abendliche Spätmahlzeiten werden nach Bedarf angeboten. Nachtaktive Damen und Herren bekommen auch mitten in der Nacht noch etwas zu essen, wenn sie gerade Lust darauf haben. Einige unserer Patientinnen haben einen besonders starken Bewegungsdrang, sind fast den ganzen Tag auf den Beinen und verbrauchen daher sehr viel Energie. Für die Dauer einer Mahlzeit ruhig sitzen zu bleiben schaffen sie nicht; nach ein paar Bissen sind sie schon wieder unterwegs. Für sie stellen wir entlang ihrer „Wanderroute“ Teller mit appetitlich angerichtetem Fingerfood auf und sie bedienen sich im Vorbeigehen. Greifen sie nicht von selbst zu, geht eine Pflegeperson mit ihnen mit und reicht ihnen das Essen. Durch flexible Abläufe und mit Hilfe kreativer Ideen gelingt es uns
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immer wieder zu vermeiden, dass unsere Patientinnen gar nichts oder viel zu wenig essen. Frau F. ist eine unserer wanderlustigen Damen. Wir haben beobachtet, dass sie immer zu dem Stehpult geht, auf dem wir das Essen für Patientinnen herrichten, die im Zimmer essen, weil sie gerade bettlägerig sind oder Besuch haben. Frau F. hat es sich angewöhnt, an diesem Pult Zwischenstation zu machen, mit den Händen in die angerichteten Teller zu greifen, sich zu nehmen, was ihr gefällt, und damit weiterzugehen. Da wir wissen, dass es unmöglich ist, einem demenzkranken Menschen etwas abzugewöhnen, richten wir nun das Essen an einem anderen Platz her und halten dort, wo Frau F. gerne ihre Zwischenstation macht, für sie einen Teller mit einer Speise bereit, von der wir wissen, dass sie sie besonders gerne hat (z. B. Knödel mit Ei). Auf diese Weise isst Frau F. mühelos pro Tag ein bis zwei Teller leer. Als Nachtisch bekommt sie schön hergerichtete Cremes mit Schlagobers und einem Tupfen Nutella oben drauf. Die isst sie mit Begeisterung im Stehen mit Hilfe von Biskotten3. Wir müssen uns jetzt keine Sorgen mehr machen, dass sie zu wenige Kalorien zu sich nimmt! Auch Herr R. ist ein Dauerläufer. Als er zu uns kam, machte er uns von Tag zu Tag größere Sorgen, weil er durch nichts in der Welt dazu zu bewegen war, etwas zu essen. Egal was wir ihm anboten, ob mit den anderen bei Tisch oder im Gehen – er lehnte alles ab. Hinzu kam, dass er den ganzen Tag in Bewegung war und kaum eine Minute stillsitzen konnte. Es ist nicht verwunderlich, dass er dabei immer mehr an Gewicht verlor – die Kilos purzelten nur so! Wir versuchten alles Erdenkliche, doch der Erfolg blieb auch weiterhin aus. Unsere Verzweiflung wuchs von Tag zu Tag. Schließlich erzählte uns die Frau von Herrn R. in einem der vielen Gespräche, die wir mit ihr führten, dass früher seine erklärte Lieblingsspeise ein Big Mac von McDonald’s gewesen sei. Daraufhin bat ich Frau R., doch bei ihrem nächsten Besuch einen Big Mac mitzubringen. Sie kam und überreichte ihrem Mann den Pappkarton von McDonald’s. Was dann geschah, war wie ein Wunder; wir konnten kaum unseren Augen trauen: Herr R. setzte sich nieder (!) und machte sich sofort daran, den Mac direkt aus dem Pappkarton zu essen. Er sog genießerisch den Duft ein, betastete mit sichtlicher Vorfreude das weiche MacSpezialbrötchen und kostete dann verklärt jeden einzelnen Bissen
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Österreichisch für Löffelbiskuits.
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Ernährung und ablehnendes Essverhalten aus Sicht der Pflegenden
dieser Köstlichkeit aus. Als er fertig war, war in dem Karton nicht einmal ein Brösel übrig geblieben. In der Folge sorgten wir dafür, dass für Herrn R. immer wieder ein Big Mac nachgeliefert wurde. Freude und Begeisterung wiederholten sich jedes Mal von neuem. Mit der Zeit begann Herr R. dann auch andere Nahrungsangebote zu akzeptieren. Der Big Mac blieb aber für ihn auch weiterhin die Krönung aller leiblichen Genüsse.
3.1.3
Was können wir durch unsere Bemühungen erreichen?
Ich weiß aus langjähriger Erfahrung, dass es nicht realistisch ist, bei multimorbiden, fortgeschritten dementen Hochbetagten größere Gewichtszunahmen zu erwarten. Nur in Einzelfällen ist es möglich, dass jüngere Alzheimer-Patientinnen deutlich an Gewicht zunehmen und das Gewicht dann auch länger halten können. Für uns gilt: Wenn wir erreichen, dass unsere Patientinnen sich bei uns wohlfühlen und nicht weiter abnehmen, ist das ein Erfolg. Manchmal müssen wir uns aber auch damit zufriedengeben, dass eine Patientin nur weniger schnell abnimmt. Die Hauptsache für uns ist, dass alle Patientinnen mit Freude essen, die eine mehr, die andere weniger. Keine von ihnen hat eine PEG-Sonde. Das bisher Gesagte gilt für Patientinnen, die aller Voraussicht nach noch eine gewisse Lebensspanne vor sich haben. Wenn das Lebensende näher rückt, ändern sich fast alle Zielsetzungen der Pflege und damit auch der Stellenwert, den wir der Nahrungsaufnahme für das Wohlbefinden zuordnen. Das einzig sinnvolle Ziel einer Ernährungstherapie bei Hochbetagten in den letzten Wochen ihres Lebens wäre die Verbesserung der Lebensqualität. Davon kann aber – wie zahlreiche Studien belegen (exemplarisch Callahan, 2000) – keine Rede sein! Nahrung, die der Körper nicht mehr ordnungsgemäß weiterverarbeiten kann, Flüssigkeit, für deren Umwälzung Herz und Kreislauf nicht mehr genügend Kraft haben, bringen keinen Nutzen, sondern belasten den Organismus und können zu einer Reihe ernsthafter Beschwerden führen, die einfach zu vermeiden gewesen wären. Es ist nicht leicht, sich einzugestehen, dass eine Patientin, die wir über lange Zeit gepflegt, betreut und begleitet haben, an ihrem Lebensende angelangt ist und dass jeder weitere Versuch, ihr Leben (oder besser gesagt: ihr Sterben) zu verlängern, nur belastend und qualvoll für sie sein kann. Auch für unsere Ärztin ist es nach langer Bekanntschaft schwer, die Hoffnung auf Besserung aufzugeben. Oft hat sie einer Patientin im Lauf der Zeit bei etlichen interkurrenten Erkrankungen
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Snezana Lazelberger
helfen können, sich wieder zu erholen, nun stellt sich keine bleibende Besserung ein. Die Ärztin muss erkennen, dass sie nun vor einer anderen, ebenso wichtigen Aufgabe steht. Es gilt jetzt, Schmerzen und quälende Beschwerden zu lindern und der Sterbenden bis zuletzt fachlich und als Mensch beizustehen (vgl. S. 103 ff.). Es ist ein besonders schwerer Schritt für alle in unserem Team, sich bewusst zu machen, dass das Befinden der Patientin sich nicht deshalb massiv verschlechtert hat, weil sie nicht isst und trinkt, sondern dass sie nicht isst und trinkt, weil sie im Sterben liegt. Ist dieser Schritt einmal gelungen, ist der verführerische Gedanke an das Setzen einer PEG-Sonde als Patentlösung in der Regel ein für alle Mal vom Tisch. Frau G. erkrankte eines Tages an einem leichten fieberhaften Infekt. Solche Infekte sind bei unseren Patientinnen häufig, daher machten wir uns zuerst keine besonderen Sorgen. Aber auch als der Infekt abgeklungen war, erholte sich Frau G. nicht mehr richtig. Sie war ständig müde, Aktivitäten, an denen sie früher stets freudig teilgenommen hatte, interessierten sie jetzt nicht mehr. Innerhalb kurzer Zeit wurde sie bettlägerig und begann, von Tag zu Tag weniger zu essen und zu trinken. Der Zustand von Frau G. verschlechterte sich rasch und unaufhaltsam. Uns allen wurde klar, dass sie bald sterben würde. Dennoch gab es viele Diskussionen über die weitere Vorgangsweise. Einige Teammitglieder meinten: „Niemand kann wissen, wann sie wirklich stirbt. Das kann noch wochenlang dauern! Man kann sie doch nicht einfach so lange ohne jede Nahrung lassen!“ Das Team diskutierte mit großer innerer Beteiligung darüber, ob eine PEG-Sonde in dieser Situation nicht doch hilfreich wäre, und kam schließlich zu der Einsicht, dass dadurch für Frau G. bestimmt nichts mehr besser, aber voraussichtlich vieles schlechter werden könnte. In der letzten Woche ihres Lebens wollte Frau G. gar nichts mehr essen. Wir boten ihr zwar, ohne sie zu bedrängen, immer wieder liebevoll ganz kleine Mengen ihrer Lieblingsspeisen an, aber sie presste stets den Mund zusammen und wendete den Kopf ab. Mundpflege mit Butter oder Öl akzeptierte sie hingegen sehr gerne. Frau G. erfuhr viel Zuwendung und wurde sorgfältig palliativ gepflegt und betreut. Unsere Ärztin setzte zuletzt alle oral eingenommenen Medikamente ab. Die Schmerztherapie und symptomlindernde Maßnahmen wie Mundpflege, Hautpflege, Basale Stimulation und angenehme Lagerung hatten oberste Priorität. An ihren letzten beiden Lebenstagen bekam Frau G. auch keine Infusion mehr.
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Die ärztliche Sicht: Ernährung und Nahrungsverweigerung bei Hochbetagten
3.1.4
Zusammenfassung
Viele gesundheitliche Probleme können für den Appetitverlust verantwortlich sein. Mögliche körperliche Ursachen müssen in Zusammenarbeit mit der behandelnden Ärztin festgestellt und behandelt oder ausgeschlossen werden. Ein besonders hoher Stellenwert kommt dabei der Frage zu, ob eine Patientin, die uns das verbal nicht mehr mitteilen kann, nicht isst, weil sie Schmerzen hat (vgl. S. 47 ff.). Patientinnenbeobachtung ist seit jeher eine Domäne der Pflege. Die entscheidenden Hinweise auf das Vorliegen von Schmerzen müssen daher von Schwestern und Pflegern kommen. Der freundliche und warme Geist, der auf einer Station herrscht, sowie Haltung und Kompetenz der Mitarbeiterinnen sind Voraussetzungen dafür, dass unsere Patientinnen ihre Lebensfreude und damit die Freude am Essen nicht ganz verlieren. Wer keine Freude am Leben hat, hat in der Regel auch keine Freude am Essen. Appetitlosigkeit ist häufig ein Zeichen dafür, dass eine Demenzkranke sich in ihrer Umgebung nicht wohl, sicher und geborgen fühlt, unter Respektlosigkeit, fehlender Kommunikation, Mangel an Zuwendung und Beziehung leidet. Gegen Lebensende ist die abnehmende Freude am Essen nicht selten Teil eines allgemeinen Rückzugs. Die ärztliche Sicht: Ernährung und Nahrungsverweigerung bei Hochbetagten
3.2 Die ärztliche Sicht: Ernährung und Nahrungsverweigerung bei Hochbetagten mit fortgeschrittener Demenz Martina Schmidl, Marina Kojer
3.2.1
„Frau Hedwig isst nicht“
Frau Hedwig ist 87 Jahre alt und bereits seit einigen Jahren demenzkrank. Seit etwa einem Jahr lebt sie in einem Pflegeheim und fühlt sich dort offenbar recht wohl. Ihre verbalen Ausdrucksmöglichkeiten sind schon seit langem auf wenige Worte beschränkt. Sie isst jedoch noch selbstständig und kann – wenn auch etwas unsicher – kürzere Strecken ohne Hilfe gehen. In den letzten Wochen wird Frau Hedwig zunehmend immobil und zeigt, dass sie mehr Zeit im Bett verbringen möchte. Sie wirkt müde und spricht noch weniger. Den Pflegekräften fällt auf, dass ihr das Essen immer mehr
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Martina Schmidl, Marina Kojer
Mühe macht. Oft sitzt sie stumm und ratlos vor ihrem vollen Teller und muss immer wieder dazu ermuntert werden anzufangen. In den letzten Tagen macht Frau Hedwig, auch wenn eine Schwester sie dabei einfühlsam unterstützt, keinen Versuch mehr, selbstständig zu essen. Die Mahlzeiten müssen ihr jetzt eingegeben werden. Das ist mühsam und zeitaufwändig, denn Frau Hedwig macht immer erst nach längerem Zureden den Mund auf. Ist der Bissen schließlich im Mund gelandet, schiebt sie ihn eine Zeitlang von einer Seite zur anderen, bevor sie ihn endlich schluckt. Die schließlich nach vielen Mühen aufgenommene Nahrungsmenge ist sehr gering. Frau Hedwig war bereits zur Zeit der Aufnahme eher leichtgewichtig; in den letzten Wochen hat sie weiter an Gewicht verloren. Pflegepersonal, Angehörige und Ärztin sind besorgt. Sie stehen vor der schwierigen Aufgabe zu entscheiden, was nun zu tun ist. Martina Schmidl, Marina Kojer
Wir sind in Pflegeheimen immer wieder mit solchen Situationen konfrontiert. Um kompetent und verantwortungsbewusst mit diesem Problem umgehen zu können, ist ein guter Wissensstand – sowohl zu den möglichen Ursachen für ablehnendes Essverhalten als auch zur Prognose nach Anlage einer Ernährungssonde – erforderlich.
3.2.2
Ursachen für eine Nahrungsverweigerung
Essen und Trinken sind normale menschliche Bedürfnisse. Verliert jemand über längere Zeit zunehmend den Appetit oder hört sogar ganz auf zu essen, hat das stets einen Grund. Demenzkranke unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von zerebral intakten Menschen. Die Betreuenden müssen sich daher stets als Erstes fragen: „Warum isst dieser Mensch nicht?“, und nicht: „Braucht er eine PEG-Sonde?“ Ablehnendes Essverhalten kann in jeder Phase der Demenz auftreten, am häufigsten ist es in der Endphase der Erkrankung, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen kann. Appetitverlust und allmähliches Einstellen der Nahrungszufuhr gehören auch zu den Kennzeichen der Endphase der Demenz und sind Teil des normalen Sterbeprozesses (vgl. S. 103 ff.). Verliert eine Patientin jedoch bereits vor Erreichen dieser Phase den Appetit, gibt es immer einen Grund dafür, nach dem sorgsam gesucht werden sollte. Patientinnen in mittleren Demenzstadien können ihre Bedürfnisse meist nicht mehr allgemein verständlich mitteilen; es liegt daher an den Betreuerinnen herauszufinden, was nicht in Ordnung ist. Das ist oft gar nicht leicht. Gelingende Kommunikation mit der Betroffenen,
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Die ärztliche Sicht: Ernährung und Nahrungsverweigerung bei Hochbetagten
die genaue Kenntnis ihrer Persönlichkeit, ihres Verhaltens und ihrer „wunden Punkte“ sind dafür unverzichtbare Voraussetzungen. Medizinische und seelische Probleme müssen sorgfältig abgeklärt, mögliche störende Umweltfaktoren bedacht werden. Die Auslöser von Inappetenz und ablehnendem Essverhalten sind in der Regel in diesen Bereichen zu finden. Wir möchten hier nur einige besonders häufige gesundheitliche Störungen nennen, die das Essverhalten beeinträchtigen können: Missstände im Bereich des Mundes. Oft findet sich hier eine Ursache für das veränderte Verhalten. Kariöse Restzähne, eine schlecht sitzende Prothese, Druckstellen, schmerzhafte Aphten oder eine den Geschmack massiv beeinträchtigende Soorinfektion sind für die Betroffenen sehr belastend und relativ leicht behebbar. Leider ist die ordnungsgemäße Pflege von Mund und Zähnen vielerorts noch immer eine Schwachstelle. Schmerzen gehören – nicht nur bei Hochbetagten – zu den häufigsten Ursachen der Inappetenz. Es ist hinlänglich bekannt, dass vor allem Demenzkranke häufig an unerkannten und daher unbehandelten Schmerzen leiden. Multimedikation. Geriatrischen Patientinnen wird oft unkritisch eine große Zahl von Medikamenten verordnet. Schon das regelmäßige, mühsame Schlucken so vieler Tabletten kann zu anhaltender Inappetenz führen. Viele Präparate beeinträchtigen zudem das Essverhalten durch ihre Nebenwirkungen. Wir möchten hier vor allem auf höher dosierte Psychopharmaka hinweisen, die nicht selten den Appetit deutlich dämpfen und zudem das Schlucken erschweren. Dysphagie. Im hohen Alter und bei fortgeschrittener Demenz sind Schluckstörungen häufig. Die Kranken schieben einen Bissen endlos im Mund herum, neigen dazu, sich zu verschlucken und zu husten. Dysphagiekost und logopädische Betreuung können hilfreich sein. Inappetenz ist ein klassisches Symptom der Depression und Depressionen sind bei demenzkranken alten Menschen häufig. Ihr Erscheinungsbild ist allerdings oft verwaschen und nicht ganz leicht von den Symptomen der fortschreitenden Demenz zu trennen. Sorgfältige Beobachtung und genaue Kenntnis der Patientin erleichtern die Diagnose. Mit der erfolgreichen Behandlung der Depression normalisiert sich auch das Essverhalten. In einem sehr späten Stadium der Demenz nehmen die Betroffenen oft nur mehr unzureichende Nahrungsmengen zu sich (Mitchell,
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Martina Schmidl, Marina Kojer
2007). Diese Tatsache ist nicht zu leugnen. Welche Schlüsse daraus gezogen werden können und welche Konsequenzen daraus abzuleiten sind, soll auf den folgenden Seiten diskutiert werden.
3.2.3
Der Stoffwechsel im höheren Lebensalter und bei Demenz
In die Entscheidung darüber, was zu geschehen hat, wenn eine hochbetagte Patientin immer weniger isst, müssen stets auch Erkenntnisse mit einfließen, die sich aus den veränderten Stoffwechselbedingungen ergeben. Im hohen Alter sind eingeschränkte Nahrungsaufnahme und Gewichtsverlust normale Erscheinungen (Wilson und Morley, 2003; Roberts und Rosenberg, 2006). Bei Untersuchungen an Menschen mit sehr weit fortgeschrittener Demenz fand sich eine deutlich reduzierte Stoffwechselrate. Die Ursachen dafür dürften in der bestehenden Muskelatrophie, dem atrophierten Gehirn und der körperlichen Inaktivität zu suchen sein. Die meisten Kranken haben zu diesem Zeitpunkt bereits Phasen der kontinuierlichen Gewichtsabnahme hinter sich. An diese Gegebenheiten hat sich der Körper durch eine weitere Senkung der Stoffwechselrate und die verbesserte Aufnahme von Proteinen angepasst. Dieser Zustand kann fast unabsehbar lange bestehen bleiben (Hoffer, 2006a). Unsere eigenen Erfahrungen weisen in die gleiche Richtung. Schwer demente Menschen mögen dünner sein und weniger essen, als wir für richtig halten, aber sie „verhungern“ nicht, sondern befinden sich dabei in einem Zustand der physiologischen Homöostase (Hoffer, 2006b). Eine Untersuchung an hospitalisierten Demenzkranken führte zu ähnlichen Ergebnissen: Die Patientinnen wiesen in der Regel bereits anamnestisch einen relevanten Gewichtsverlust auf. Ihr Zustand war durch niedrige Stoffwechselraten, niedrigen Energieverbrauch und stabiles Gewicht charakterisiert. Es fanden sich jedoch keine gesundheitlichen Schäden, die damit in Verbindung gebracht werden konnten (Wang et al., 1997). Aus dieser Schau erscheint es daher gerechtfertigt, den Willen eines Menschen zu respektieren, der es vorzieht, nur die Nahrungsmengen zu sich zu nehmen, mit denen er sich wohlfühlt und die sein niedriges Gewicht einigermaßen stabil halten (Hoffer, 2006b).
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Die ärztliche Sicht: Ernährung und Nahrungsverweigerung bei Hochbetagten
3.2.4
PEG-Sonde als Patentlösung?
Der Begriff des „Nährens“ steht in enger Beziehung zu Liebe, Fürsorge und Menschlichkeit. Es ist stets ein schwerer Entschluss, einem Mitmenschen Nahrung oder gar die in unseren Augen angemessene Flüssigkeitsmenge vorzuenthalten. Derzeit wird daher bis zu einem Drittel der Patientinnen mit fortgeschrittener Demenz mit einer PEG-Sonde versorgt. Die meisten Sonden werden erst gesetzt, wenn die Erkrankung bereits sehr weit fortgeschritten ist und das Lebensende näher rückt. Für andere Kranke, z. B. für Menschen, die nach einem Schlaganfall oder infolge einer Tumorerkrankung nicht schlucken können, kann das Setzen einer Ernährungssonde ein Segen sein; für Demenzkranke fehlen bisher die Beweise dafür, dass die Maßnahme zu diesem Zeitpunkt gesundheitliche Verbesserungen nach sich zieht. Dennoch erhoffen sich Angehörige, Ärztinnen und Pflegende von der Sondenernährung eine deutliche Verbesserung des Zustands fortgeschritten Demenzkranker (Li, 2002). Wir wollen das Thema im Folgenden anhand eigener Erfahrungen und mittels sorgfältiger Literaturanalyse näher beleuchten. Verhungern und verdursten? Schwer demenziell Erkrankte können uns nichts mehr über ihre subjektive Lebensqualität mitteilen; daher gibt es hierzu keine harten wissenschaftlichen Daten. Untersuchungen zum Thema Hunger und Durst an kognitiv intakten terminal Kranken lassen jedoch auch Rückschlüsse auf die Bedürfnisse von Menschen im Endstadium einer Demenz zu. Eine Studie an terminal Krebskranken ergab, dass die meisten von ihnen weder Hunger noch Durst hatten. Um die Bedürfnisse der wenigen Patientinnen zu stillen, die doch über Hunger oder Durst klagten, genügten geringe Nahrungs- und Flüssigkeitsmengen, Mengen, die bei weitem nicht ausreichen, um den täglichen Bedarf zu decken (McCann et al., 1994). Es ist legitim davon auszugehen, dass Patientinnen, die kein Bedürfnis verspüren, zu essen und zu trinken, weder hungrig noch durstig sind. Das häufige und sehr belastende Gefühl der Mundtrockenheit ist nicht mit Durst gleichzusetzen; es lässt sich nicht durch Infusionen, sondern ausschließlich durch sorgfältige Mundpflege lindern (vgl. S. 103 ff.).
Kann die PEG-Sonde gesundheitliche Probleme lösen? In den vielen Jahren unserer Arbeit mit demenziell erkrankten Hochbetagten konnten wir niemals feststellen, dass sich Ernährungsprobleme in der Endphase der Erkrankung durch von uns gesetzte Maß-
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Martina Schmidl, Marina Kojer
nahmen vermeiden oder verringern ließen. Weder durch das Anbieten von eiweiß- und kalorienreicher Kost oder Nahrungssupplementen noch durch Sondenernährung waren nennenswerte Erfolge zu erzielen. Auch wenn wir die Lebensqualität von Menschen mit fortgeschrittener Demenz nicht quantitativ erfassen können, bieten nonverbale Kommunikation und einfühlsame Beobachtung doch reichlich Gelegenheit, etwas über das Befinden der Kranken zu erfahren. Quälende Symptome, die in Beziehung zu Nahrungs- und Flüssigkeitsmangel stehen könnten, ließen sich bei Patientinnen, die nur mehr sehr wenig zu sich nahmen, nicht feststellen. Die Betroffenen wirkten ruhig und entspannt und schienen sich wohl zu fühlen. Eine Erklärung für die anscheinend gute Befindlichkeit bieten die bei anhaltendem Nahrungs- und Flüssigkeitsmangel auftretenden Stoffwechselveränderungen: Sowohl die sich rasch bildende Ketose als auch die vermehrte Ausschüttung körpereigener Endorphine wirken schmerzlindernd und euphorisierend und tragen so entscheidend zum Wohlbefinden bei (Chabot und Walther, 2010; Weissenberger-Leduc, 2009). Im Gegensatz dazu nehmen wir immer wieder wahr, dass PEG-Sonden sehr oft zu anhaltendem Unbehagen führen und die Befindlichkeit ernsthaft beeinträchtigen. Wir sehen, dass Patientinnen voller Unruhe an der Sonde herumnesteln oder versuchen, sie herauszuziehen. Sie verletzen sich dabei nicht selten, vor allem wenn die Sonde mittels Naht an der Bauchwand befestigt ist. Unruhe und Verletzungsgefahr machen immer wieder freiheitsentziehende Maßnahmen oder Sedierung notwendig. Hartnäckige Obstipation, quälender Meteorismus, anhaltende Diarrhöen oder nässende, schlecht heilende Ekzeme um die Einstichstelle können das Befinden nachhaltig beeinträchtigen. Außerhalb der Geriatrie sind diese negativen Begleiterscheinungen von PEG-Sonden immer noch zu wenig bekannt. Eine Befragung von Internisten und Hausärzten zu ihrem Wissen über Nutzen und Risiken von PEG-Sonden bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz ergab: 93,7 % der Befragten gingen davon aus, dass das Legen einer Sonde den Ernährungszustand verbessert, 76 % waren der Meinung, auf diese Weise Aspirationspneumonien verhindern zu könnten, 61 % glaubten, damit die Lebenszeit zu verlängern (Shega et al., 2003). Doch nicht nur unsere Erfahrungen, sondern auch die im Folgenden angeführten Ergebnisse der Literaturrecherche (exemplarisch Sanders et al., 2000) sprechen eine andere Sprache: Malnutrition. Bisherige Studien und Metaanalysen (Finucane et al., 1999; Gillick, 2000; Cervo et al., 2006; Sampson et al., 2009) zeigten keine signifikanten Verbesserungen von ernährungsassoziierten
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Störungen wie Gewichtsverlust, erhöhte Infektanfälligkeit oder verschlechterte Wundheilung. Trotz Zufuhr adäquater Kalorienmengen nimmt das Gewicht (sowohl Körperfett als auch „Lean Body Mass“) weiter ab (Dharmarajan et al., 2001; Finucane et al., 1999). Auch eine Untersuchung an 40 Patientinnen in herabgesetztem funktionellem und kognitivem Status, denen über lange Zeit große Mengen an standardisierter Sondenernährung zugeführt wurden, lieferte ähnliche Ergebnisse (Henderson et al., 1992). Dekubitalulzera. Etliche Studien kamen zu dem Schluss, dass die Sondenernährung weder das Entstehen von Dekubitalulzera verhindern noch die Abheilung bestehender Ulzera beschleunigen kann (Finucane et al., 1999; Gillick 2000; Berlowitz et al., 1996; Berlowitz et al., 1997; Sampson et al. 2009). Andere Studienergebnisse deuten sogar darauf hin, dass Dekubiti bei Patientinnen mit PEG häufiger auftreten (Michocki und Lamy, 1976; Dharmarajan et al., 2001). Die Aspirationspneumonie ist ein wesentlicher Risikofaktor für die Mortalität von Pflegeheimpatientinnen. Ernährungssonden werden oft gesetzt, um dieses Risiko zu vermeiden. Das Setzen einer PEG kann indes weder die Aspiration von Speichel noch das Regurgitieren von Mageninhalt verhindern (Grunow et al., 1989). Mehrere Untersuchungen belegen, dass liegende Sonden sogar ein zusätzliches Aspirationsrisiko darstellen könnten (Finucane und Bynum, 1996; Feinberg et al., 1999; Dharmarajan et al., 2001; Mitchell et al., 1997). Funktioneller Status. In Studien an sondenernährten fortgeschritten dementen Pflegeheimpatientinnen waren auch in dieser Hinsicht keine Verbesserungen feststellbar. Stuhl- und Harninkontinenz blieben unverändert bestehen, es besserten sich weder Sprachvermögen noch kognitiver Status oder Mobilität. Positive Einflüsse auf Vigilanz oder die Bewältigung von Aktivitäten des täglichen Lebens (ATLs) blieben ebenfalls aus (Finucane et al., 1999; Callahan et al., 2000; Dharmarajan et al., 2001). Selbst ein Langzeitfollow-up über 18 Monate ergab bei keiner einzigen Patientin eine Besserung des Funktionszustands (Kaw und Sekas, 1994). Überlebenszeit. Zerebral intakte Pflegeheimpatientinnen wurden gefragt, ob sie für den Fall einer schweren Demenz mittels Ernährungssonde versorgt werden wollten. Etwa ein Drittel der Befragten entschied sich für die Sonde. Als Hauptargument dafür wurde die Aussicht auf ein längeres Leben genannt (Mitchell et al., 1997). Eine große Studie an 1.386 über 65-jährigen Pflegeheimpatientinnen kam indes zu dem Ergebnis, dass Sondenernährung keinen signifikanten Einfluss auf die Lebensdauer von Menschen mit fortgeschrittener Demenz hat. Auch andere Studien (Mitchell et al.,
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Martina Schmidl, Marina Kojer
1997; Abuksis et al., 2000; Meier et al., 2001; Murphy und Lipman, 2003) und alle großen Übersichtsarbeiten (Finucane et al., 1999; Gillick, 2000; Dharmarajan et al., 2001; Cervo et al., 2006; Sampson et al., 2009) weisen in diese Richtung. Lebensqualität. Der Einfluss der Maßnahme auf die Befindlichkeit lässt sich am besten aus der Analyse der im Zusammenhang mit der Sonde auftretenden quälenden Beschwerden und Beeinträchtigungen ableiten. Große Reviews (Finucane et al., 1999; Gillick, 2000; Cervo et al., 2006; Sampson et al., 2009) beschreiben regelmäßig folgende besonders häufig auftretende Nebenwirkungen: – Infektionen (lokal und systemisch) – Bauchbeschwerden (Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Obstipation …) – Aspiration, Aspirationspneumonie – Verlust der Freude am Geschmack der Speisen – Verlust von Kontakt und Beziehung zum Pflegepersonal Die Ergebnisse eines älteren Reviews bestätigen unsere Erfahrung, dass viele Kranke nach Setzen der Sonde nachhaltig von Beschwerden gequält werden, die zu verstärktem Leiden und zu einem relevanten Absinken der Lebensqualität führen (Sheiman, 1996). Wir schließen uns daher der Meinung des führenden amerikanischen Demenzforschers Ladislav Volicer an: “This imbalance of burdens and benefits of tube feeding justifies the recommendation that tube feeding is not to be used in individuals with advanced dementia” (Volicer, 2004, S. 64). Fazit Die Patientinnen, um die es hier geht, sind sehr alt, sie sind multimorbid, gebrechlich und leiden an weit fortgeschrittener Demenz. Weder eigene Erfahrungen noch die Ergebnisse der Literaturrecherche rechtfertigen die Annahme, dass sich das Leben dieser Menschen durch Sondenernährung erleichtern, verbessern und/oder verlängern lässt. Angesichts dieser Studienlage drängt sich die Frage auf, welches realistisch erreichbare Therapieziel das Setzen einer Ernährungssonde noch rechtfertigen kann.
3.2.5
Risiken einer PEG-Sonde bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz
Schwer demenzkranke Hochbetagte sind besonders labil und verletzlich; es gehört nicht viel dazu, um ihr körperliches und seelisches Gleichgewicht massiv zu stören oder sogar ihr Leben zu bedrohen.
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Die ärztliche Sicht: Ernährung und Nahrungsverweigerung bei Hochbetagten
Gesundheitliche Risiken Die Zufuhr von (im Durchschnitt) eineinhalb Liter Sondennahrung führt bei herzschwachen Patientinnen häufig zur Flüssigkeitsüberlastung und damit zu Lungenödem und peripheren Ödemen (Strätling et al., 2005). Aspirationspneumonien kommen oft vor; sie zählen (wie erwähnt) zu den häufigsten Todesursachen von Hochbetagten. Da diesen Patientinnen aggressive Therapien oder große operative Interventionen kaum mehr zugemutet werden können, müssen schwerere sondenassoziierte Risiken auch dann sehr ernst genommen werden, wenn sie nur selten auftreten. Sondenwanderung durch Magen oder Dünndarmwand Peritonitis nekrotisierende Fasciitis, bedingt durch bakterielle Verschleppung beim Setzen der Sonde Perforation Akute Blutung Ösophagusperforation
Mortalität Die Überlebensraten nach Setzen einer PEG sind insgesamt bescheiden (Weixler, 2002). Für alle Patientengruppen zusammen beträgt die Mortalität innerhalb der ersten 30 Tage 28 % und innerhalb von 3 Monaten 44 % (Sanders et al., 2000). Im Median lebten die Patientinnen nach Setzen der Sonde nur etwas mehr als 6 Monate (Mitchell und Tetroe, 2000)! Demenzkranke haben eine noch deutlich schlechtere Prognose: 54 % sterben im ersten Monat, 78 % innerhalb von 3 Monaten und 81 % nach 6 Monaten. Nur 10 % leben länger als ein Jahr (Sanders et al., 2000). Daraus lassen sich folgende Schlüsse ableiten: 1. PEG-Sonden werden sehr häufig erst dann gesetzt, wenn die Kranken bereits auf ihr Sterben zugehen. 2. Der Großteil der Patientinnen ist zu dem Zeitpunkt, an dem die Sonde gesetzt wird, in der terminalen Phase der Erkrankung. 3. Die Sonde ändert nichts am weiteren Krankheitsverlauf (Christmas und Finucane, 2003). 4. Da die Belastung des Eingriffs für diese Patientinnengruppe besonders hoch ist und die Zahl gravierender Komplikationen im Spätstadium der Demenz deutlich ansteigt, ist anzunehmen, dass das Setzen der Sonde das Leben der Betroffenen sogar verkürzen kann.
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Psychische und soziale Risiken Das Reichen der Nahrung nimmt bei Patientinnen mit Essschwierigkeiten in der Regel viel Zeit in Anspruch. Aus diesem Grund sind die Pflegenden dazu gezwungen, relativ viel Zeit mit ihnen zu verbringen. Mit dem Setzen der PEG-Sonde verlieren die Kranken daher jeden Tag viel an Sozialkontakt und persönlicher Zuwendung. Nicht selten kommen überforderte Pflegekräfte fast nur mehr zu den Betroffenen, um nötige Pflegehandlungen vorzunehmen. Patientinnen, die bis zum Setzen der Sonde an den gemeinsamen Mahlzeiten teilgenommen hatten, geht nun auch die regelmäßige Tischgemeinschaft verloren. Sie bleiben entweder in einiger Distanz zu den Essenden im gleichen Raum oder sind zur Zeit der Mahlzeiten allein in ihrem Zimmer. Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz sind kaum mehr in der Lage, von sich aus in Kontakt zu treten. Nimmt man ihnen die wichtigsten Gelegenheiten weg, Berührung, Nähe und Gemeinsamkeit zu erleben, droht die soziale Isolation. Geruch und Geschmack einer guten Speise sind für jeden Menschen ein Genuss. Für Hochbetagte mit schwerer Demenz gibt es nicht mehr viel, was sie noch genießen können. In der Regel sehen und hören sie schlecht, sind immobil und völlig hilflos. Das Essen gehört zu den ganz wenigen Genüssen, an denen Demenzkranke teilhaben können. Der verführerische Duft der Lieblingsspeise und ihr guter Geschmack im Mund sind freudige Erlebnisse und bereiten Genuss, selbst wenn es lange dauert, ehe das Schlucken gelingt und insgesamt nur eine winzige Menge aufgenommen werden kann. Es ist übrigens durchaus möglich, auch Patientinnen mit liegender Sonde Nahrung zu reichen, leider geschieht dies aber bisher nur selten. Frau M. leidet an einer weit fortgeschrittenen vaskulären Demenz. Nach einem schon länger zurückliegenden schweren Schlaganfall wird sie über eine PEG-Sonde ernährt. Ihre Tage verbringt sie mit den anderen Patientinnen im Aufenthaltsraum. Wenn das Essen kommt, wird ihr geriatrischer Stuhl etwas ins Abseits geschoben und in eine halb liegende Position gebracht, ehe die Schwester den Beutel mit der Sondennahrung anhängt. Die weit geöffneten Augen von Frau M. sind sehnsuchtsvoll dorthin gerichtet, wo die anderen jetzt ihr Mittagessen einnehmen. Ihr ist seit dem Setzen der Sonde noch niemals eine Speise gereicht worden. Ich (Marina Kojer) habe vor kurzem begonnen, ehrenamtlich in dem Heim zu arbeiten. Ein paar Tage lang beobachte ich Frau M., dann biete ich ihr mit einem ganz kleinen Löffel ein wenig Apfelmus an. Sie schaut mich strahlend an, macht sofort den Mund auf und gibt sich dann ganz dem Genuss
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hin. Den kleinen Bissen behält sie eine Zeitlang im Mund, schluckt ihn dann aber ohne besondere Schwierigkeit hinunter, schaut mich erwartungsvoll an und macht sofort den Mund für den nächsten Löffel auf. Ich hatte Frau M. bis dahin noch nie so entspannt und vergnügt gesehen. Je schwächer Geist und Körper werden, desto schmerzlicher wird die eigene Ohnmacht, werden Scham, Kränkung und Demütigung empfunden; die Betroffenen haben nichts mehr, was sie dagegen einsetzen könnten. Einen Menschen rasch und wortlos mit einigen Handgriffen an den Schlauch anzuschließen, der die Sondennahrung auf direktem Weg in den Magen befördert, während den Mitpatientinnen die Mahlzeit gereicht wird, ist entwürdigend. Auch in späten Phasen ihrer Erkrankung bleiben Demenzkranke überaus sensibel und spüren ganz genau, wie mit ihnen umgegangen wird. Hinzu kommt, dass Kontakt und Beziehung zu Patientinnen, die fast nur mehr ruhig dasitzen oder daliegen, allmählich und fast unmerklich verloren zu gehen drohen. Solange man sich noch Tag für Tag bemüht, die Kranken zu nähren und daher mehr Zeit mit ihnen verbringt und sorgsam auf ihre kleinen persönlichen Eigenarten achtet, ist diese Gefahr nicht groß. Mit dem Legen der Ernährungssonde steigt für die Betroffenen das Risiko, nur mehr als Versorgungsobjekte wahrgenommen zu werden. Klaus Dörner bezeichnet diesen Prozess sehr treffend als die Umwandlung von Menschen in Sachen (Dörner, 1994).
3.2.6
PEG-Sonde: Wer entscheidet?
Die Endphase der Demenz fällt häufig, aber nicht immer, mit den letzten Lebenswochen zusammen. Wie erwähnt gibt es auch Patientinnen, die mit nur minimalen – aber von Hand gereichten! – Nahrungsmengen über lange Zeit in unverändertem Zustand weiterleben (Hoffer, 2006a, 2006b). Im internationalen und interdisziplinären Diskurs ist man heute übereingekommen, dass das Setzen einer PEG-Sonde nicht Teil der „unverzichtbaren Basisversorgung“ ist, sondern eine gezielte ärztliche Therapie darstellt (Strätling et al., 2005). Die Letztverantwortung liegt daher bei der Ärztin, die die Behandlung anordnet. Ist sie nach sorgfältiger Abklärung der klinischen Situation davon überzeugt, dass die Therapie nicht indiziert ist, also nicht dem besten Nutzen der Patientin dient, darf sie sie nicht verordnen bzw. muss eine bereits bestehende Therapie absetzen (de Ridder, 2010). Die Übernahme der Ver-
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antwortung sollte jedoch nicht dazu führen, dass andere Beteiligte nicht in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden (Genaueres dazu s. S. 103 ff.)! Folgende Personen sollten an dem Entscheidungsprozess teilnehmen: Die Patientin selbst. Gegen den Willen bzw. gegen den mutmaßlichen Willen der Betroffenen darf eine PEG weder angelegt noch verwendet werden (Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, 2004). Genaue Kenntnis der Person, laufender Kontakt und einfühlsame Beobachtung erlauben den Rückschluss auf Bedürfnisse und mutmaßlichen Willen. Verhalten, verbale und nonverbale Mitteilungen, bekannte Vorlieben und Abneigungen helfen mit zu erkennen, was die Betreffende zu diesem Zeitpunkt selbst möchte. Daher kommt dem mutmaßlichen Willen stets mehr Gewicht zu als der, meist in einer ganz anderen Ausgangslage abgefassten, Patientenverfügung. Die Angehörigen. Sie sind durch ihre Gefühlsbindung an die Kranke am stärksten belastet. Es liegt in der Verantwortung des betreuenden Teams, sie rechtzeitig (das heißt möglichst von Anfang an) auf die in der Endphase der Demenz auftretenden Probleme und anfallenden Entscheidungen vorzubereiten. Es ist wichtig, stets daran zu denken, dass die Angehörigen bis zu ihrem Lebensende mit der getroffenen Entscheidung weiterleben müssen. Wie gut oder schlecht sie das können, hängt zum Großteil von der Art der Vorbereitung und von dem Verlauf des Entscheidungsprozesses ab. Auf keinen Fall darf einer Angehörigen in fachlich und menschlich unverantwortlicher Weise eine solche Entscheidung allein aufgebürdet werden! Das betreuende Team. Pflegende, Therapeutinnen und Hilfskräfte, jede von ihnen hat persönliche Beziehungen zu der Patientin, jede hat sich schon Gedanken darüber gemacht, wie es weitergehen soll. Ein Entscheidungsprozess, an dem alle aktiv teilnehmen können, macht es ihnen leichter, die Entscheidung mitzutragen. Essen und Trinken sind die Grundpfeiler unserer Existenz. Wir empfinden das Ernähren von Schwachen, Alten und Kranken geradezu als soziale Pflicht. Die Diskussion über Reduktion oder Einstellung der Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit wird daher zumeist sehr emotional geführt. Für alle Beteiligten ist es schwierig zu begreifen, dass es in dieser Lebensphase im Interesse einer Patientin sein kann, ihr Belastungen zu ersparen, die die künstliche Ernährung nach sich zieht. Noch viel schwieriger ist es, die Vorgangsweise auch mit dem Herzen zu bejahen. Ein solcher Schritt ist immer sehr schmerzlich und belas-
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Die ärztliche Sicht: Ernährung und Nahrungsverweigerung bei Hochbetagten
tend. Er wird wesentlich leichter, wenn das Gespräch darüber nie abreißt, die verantwortliche Ärztin alles immer wieder mit den Beteiligten bespricht, dabei aber zugleich klar die Last der Verantwortung übernimmt. Dennoch bleibt es – vor allem für Angehörige – schwer loszulassen.
3.2.7
Keine PEG-Sonde: Was geschieht dann?
Der Verzicht auf künstliche Ernährung ist eine palliative Maßnahme, die nur dann angezeigt ist, wenn die Nahrungszufuhr einer Patientin nicht mehr nützt, sondern sie nur noch zusätzlich belastet. In unserem Beitrag zur Betreuung am Lebensende führen wir genauer aus, dass Verzicht auf Ernährung oder eine andere Therapie nicht bedeutet, dass wir nun gar nichts mehr für die Schwerkranke tun können. Was sich in einer solchen Situation ändert, ist ausschließlich das Ziel der Therapie: Da Heilung oder wesentliche Besserung nicht mehr möglich sind, zielen jetzt alle Handlungen und Unterlassungen darauf ab, Leiden zu vermeiden und die Lebensqualität der Betroffenen so weit möglich zu verbessern. Hierzu bedarf es kompetenter und behutsamer ärztlicher und pflegerischer Leistungen, um körperliche Schmerzen und andere quälende Beschwerden zu lindern. Ebenso wichtig aber sind die genaue Beachtung von erkennbaren Wünschen, Ängsten oder Willensäußerungen sowie das fortgesetzte Bemühen, die Betroffene Wärme, Nähe und Beziehung spüren zu lassen. Die Kranke soll sich bis zuletzt sicher, geliebt und geborgen fühlen, sie soll wahrnehmen, dass wir für sie da sind und dass sie uns wichtig ist. Auch ihren Angehörigen gebührt in dieser besonders schweren Zeit ein gerütteltes Maß an Beachtung und Begleitung. Sie brauchen immer wieder unsere Bestätigung dafür, dass wir miteinander die richtige Entscheidung getroffen haben (näheres dazu siehe S. 367 ff.).
3.2.8
Ernährungsbezogene Qualitätsmerkmale eines Pflegeheims
Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle gehören zu den gängigen Schlagworten unserer Zeit. Wir fragen uns allerdings immer wieder, ob alles, was unter „guter Qualität“ verstanden wird, tatsächlich dem Wohlbefinden der Patientinnen dient. So stoßen wir z. B. wenn es um maßgebliche Qualitätskriterien für die Güte der Ernährung von Hochbetagten mit weit fortgeschrittener Demenz geht immer wieder auf den Body-Mass-Index (BMI) als das Maß aller Dinge. Hoch im Quali-
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tätskurs steht auf alle Fälle das Vermeiden von Gewichtsverlust, besonders erwünscht wäre eine Gewichtszunahme bis zu dem für alte Menschen als angemessen befundenen BMI-Wert. Diese Kriterien schreien geradezu nach „weiterführenden Maßnahmen“ (PEGSonde), wenn alle anderen Bemühungen scheitern, die Betroffenen dazu zu bewegen, mehr von der kalorisch angereicherten und liebevoll präsentierten Kost zu sich zu nehmen. Wir bezweifeln ernsthaft, dass ein höherer BMI in der Endphase der Demenz tatsächlich zum Wohlbefinden der Betroffenen beiträgt. Statt die Qualität ernährungsbezogener Betreuung primär mit Hilfe der Waage feststellen zu wollen, empfehlen wir die Beachtung einiger in unseren Augen maßgeblicherer Kriterien für das Wohlergehen Demenzkranker: Die Patientinnen hören nicht vor dem Erreichen der terminalen Phase ihrer Erkrankung endgültig auf zu essen. Es wird allen Patientinnen ermöglicht, selbstständig zu essen (mit Besteck, Löffel oder Fingern), auch wenn sie lange dazu brauchen. Dabei wird allgemein akzeptiert, dass von einem Menschen mit fortgeschrittener Demenz keine guten Tischsitten zu erwarten sind. Wenn das selbstständige Essen nicht mehr möglich ist, wird die Nahrung liebevoll, geduldig und kompetent von Pflegenden, versierten Angehörigen oder ehrenamtlichen Helfern gereicht. Über den Tag verteilt werden immer wieder mundgerechte Happen und wohlschmeckende Getränke angeboten. Patientinnen, die bereits zur Zeit der Aufnahme eine PEG-Sonde haben oder denen aus triftigem Grund (z. B. nach schwerem Schlaganfall) eine Ernährungssonde gesetzt werden musste, werden immer wieder kleine Mengen geeigneter Speisen angeboten. Die Aus- und Fortbildung von Pflegepersonal und Ärztinnen in Palliativer Geriatrie hat einen hohen Stellenwert und wird laufend angeboten. Es wird von den Mitarbeiterinnen aller Berufsgruppen erwartet, nicht nur ihre fachlichen Fertigkeiten einzusetzen, sondern auch als mitfühlende Menschen mit ihren Patientinnen in Beziehung zu treten. Diese Qualitätskriterien sind zwar nicht so simpel zu überprüfen wie das Körpergewicht, aber auch von nicht geriatrisch ausgebildeten Personen durchaus gut zu befolgen.
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3.2.9
Schlussbemerkungen aus prominentem Mund
Zum Glück stehen wir mit unserer Haltung nicht allein da, sondern sehen uns von maßgeblichen Kollegen in vielem bestätigt: „Es gibt keine ‚PEG-Sonden-Pflicht‘ bei demenzbedingter Mangelernährung.“ Prof. Dr. Christian Müller-Busch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (Müller-Busch, 2010) „Es wird derzeit in Krankenhäusern und Pflegeheimen vieles in bester Absicht getan, was Menschen – ungewollt – aktiv am friedlichen Sterben hindert.“ Prof. Dr. Gian-Domenico Borasio, Lehrstuhl für Palliativmedizin an der Universität Lausanne (Borasio, 2010) „Ausgang jeder … palliativen Arbeit ist die Aufmerksamkeit für die Betroffenen …, die es ermöglicht, aus der Perspektive der Betroffenen zu denken und zu fühlen, um Versorgung … in ihrem Sinne zu entwickeln.“ Prof. Dr. Andreas Heller, Lehrstuhl für Palliative Care an der Universität Klagenfurt (Heller, 2007, S. 191) „Da das sukzessive Einstellen der Nahrungsaufnahme im Rahmen des Endstadiums der Demenz vom Alzheimertyp nicht die Ursache des Sterbens, sondern einer seiner Begleitumstände sein dürfte, erscheint es ethisch eher geboten, dem betroffenen Menschen und seinen Angehörigen in dieser Situation liebevolle Zuwendung (auch im Sinne einer adäquaten händischen Nahrungseingabe) anzubieten, als reflexartig den vielleicht momentan einfacheren Weg einer Ernährung per Sonde vorzuziehen.“ Prim. Univ.-Doz. Dr. Peter Fasching, ehem. Abteilungsvorstand in dem Geriatriezentrum Baumgarten der Gemeinde Wien (Fasching, 2001, S. 39)
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4 Die letzte Lebensphase Martina Schmidl, Marina Kojer
Die letzte Lebensphase
4.1 Wann beginnt die letzte Lebensphase? Die letzte Lebensphase wird oftmals mit der Zeit der Palliativbedürftigkeit gleichgesetzt. Es wird immer wieder versucht, diese Zeit bei Hochbetagten anhand medizinischer Parameter schärfer zu fassen und auf einen Zeitraum einzuengen, z. B. auf die 6-Monats-Mortalität nach dem Auftreten von Bettlägerigkeit, ernsthaften Essschwierigkeiten mit Gewichtsverlust, wiederholten febrilen Episoden oder einer Pneumonie (Mitchell et al., 2009; Mitchell et al., 2010). Wir möchten von dieser ausschließlich krankheitsbezogenen, auf die letzten Monate und Wochen fokussierten Sicht abweichen. Nach unserer Schau umfasst die letzte Phase des Lebens den gesamten Zeitraum der besonderen „Care-Bedürftigkeit“ im hohen Alter (vgl. Kojer und Heimerl, 2009) und bezieht dabei auch einschneidende lebensgeschichtliche Faktoren mit ein. An die großen Abschnitte des Lebens (Kindheit, Jugend, reifes Erwachsenendasein, Zeit des Alterns und Altseins) schließt nach zahlreichen Leistungseinbußen und Verlusten bei einem großen Teil der Menschen ein variabel langer Abschnitt an, der durch seine hohe Leidenslast für Betroffene und Angehörige gekennzeichnet ist. Weit fortgeschrittene Multimorbidität, steigende Hilfsbedürftigkeit und Demenz machen die Bewältigung des Alltags immer schwerer. Lebensgeschichtlich ist dies die Zeit, in der die Sorge um den Verlauf der begrenzten, noch bis zum Tod verbleibenden Wegstrecke bestimmend für den Lebensablauf wird. Der Planungszeitraum für die Betroffenen – soweit sie noch selbst planen können – lautet jetzt nicht mehr „bis in einem Jahr“ oder „in mehreren Monaten“, sondern „bis zuletzt“. Kann ich bis zuletzt in meiner Wohnung bleiben oder muss ich mein Zuhause aufgeben? Was darf bis zuletzt auf keinen Fall geschehen? Wenn Mutter oder Vater an Demenz erkrankt sind, plant die Familie „… bis zuletzt“. Können wir Mutter oder Vater bis zuletzt gut zu Hause versorgen? Können und wollen wir uns das abverlangen? (vgl. S. 367 ff.). Welches Heim bietet unserer Mutter die notwendigen Voraussetzungen für ein gutes Leben und ein gutes Sterben? Die letzte Lebensphase demenzkranker Menschen beginnt spätestens dann, wenn sie in einem Pflegeheim aufgenommen werden. Sie sind zu dieser Zeit in der Regel hochbetagt, und die Betreuung zu Hause ist aus vielen Gründen unmöglich geworden. Sowohl die Demenz als auch einige andere chronische Krankheiten sind weit fortgeschritten. Das Lebensende ist noch nicht erreicht, aber es rückt allmählich in Sichtweite. In dieser Zeit brauchen die Betroffenen
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vermehrt ärztliche und pflegerische Hilfe. Sie brauchen nicht nur, aber auch Palliative Care. Mit der Aufnahme in ein Heim beginnt zumeist nicht – wie man vermuten könnte – eine langsame und kontinuierliche Zustandsverschlechterung bis zum Tod. Für die meisten Patientinnen lässt sich der weitere Verlauf vielmehr in vier sehr unterschiedliche Abschnitte unterteilen: 1. Zeit der Irritation, der Unruhe, der gelingenden oder misslingenden Anpassung an dieses existenzielle Lebensereignis. 2. Phase der Balance: Der Zustand der Patientinnen kann bei guter Betreuung einigermaßen stabil gehalten, unter Umständen sogar für einige Zeit verbessert werden. 3. Phase der Verschlechterung des Allgemeinzustands: Ein zunehmendes Nachlassen der Lebenskraft wird erkennbar. 4. Die Zeit des Sterbens. Diese vier Phasen werden im Folgenden ausführlich erläutert und anhand der Geschichte einer Patientin in die Alltagspraxis der Palliativen Geriatrie übersetzt.
4.2 Frau Maria – eine Patientinnengeschichte Frau Maria ist 85 Jahre alt und demenzkrank. Seit etwa zwei Jahren fiel den Angehörigen eine kontinuierliche Verschlechterung ihrer kognitiven Leistung auf. Das Probewohnen in einem Pensionistenheim (Wohnmöglichkeit für noch weitgehend selbstständige ältere Menschen) scheiterte Anfang des Jahres auf Grund der beträchtlichen Orientierungsstörungen. Frau Maria kommt eines Tages in Begleitung ihres Sohnes, ihrer Schwiegertochter und ihres Enkels als „Soforteinweisung“ aus ihrer Wohnung zur Aufnahme ins Pflegeheim. Die Einweisung wurde notwendig, da sie die Hilfsdienste in der letzten Zeit nicht mehr in die Wohnung gelassen hatte. Sie kann selbstständig gehen, ist zeitlich, örtlich und situativ nur mangelhaft orientiert, wirkt jedoch trotzdem sehr resolut: „Ich will auf jeden Fall sofort nach Hause“, sagt sie. „Hier bleibe ich nicht. Warum werde ich hier eingesperrt?" Die Angehörigen berichten über Aggressionsdurchbrüche und paranoide Ideen in der Vergangenheit. Zuletzt hätte sie wenig gegessen
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und getrunken. In den letzten Monaten wurde sie wiederholt stationär im Krankenhaus aufgenommen. Diagnosen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Cerebrovaskuläre Demenz mit Verhaltensauffälligkeiten Chronisches Vorhofflimmern Herzschrittmacher seit 5 Jahren Chronische kardiale Insuffizienz Mechanischer Klappenersatz wegen Mitralinsuffizienz Grad II Hochgradige Aortenstenose Ulcus cruris mit Osteomyelitis linker Vorfuß Anämie
4.3 Die erste Zeit im Heim: Irritation, Labilität, gelingende oder misslingende Anpassung Für jede Hochbetagte sind Verlassen des eigenen Zuhauses und Eintritt in die Institution Pflegeheim einschneidende Ereignisse, die starke emotionale Reaktionen auslösen und nicht ohne weiteres verarbeitet werden können. Demenzkranke und zerebral intakte Menschen unterscheiden sich grundlegend sowohl in der Art und Weise, in der sie diese Lebenskrise erleben, als auch in den Möglichkeiten, sie zu bewältigen. Personen ohne Einschränkung ihrer geistigen Leistungsfähigkeit erkennen die Notwendigkeit dieser schmerzhaften Zäsur, können sich bis zu einem gewissen Grad darauf vorbereiten und sind daher in der Lage, den Schritt aus Vernunftgründen zu akzeptieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie ihr Zuhause gerne verlassen, geschweige denn wünschen, für den Rest ihres Lebens in einem Pflegeheim „zu Hause“ zu sein. Einsicht ist nicht gleichbedeutend mit innerer Zustimmung! In einer qualitativen Studie vergleicht ein alter Mann diese Situation mit seiner Einberufung zum Militär im Zweiten Weltkrieg. „Wissen Sie: Ich habe müssen; es geht nicht anders. ICH HABE MÜSSEN! Es ist nichts anderes übrig geblieben bei mir, nicht?“ (Erlach-Stickler, 2009, S. 101). Demenzkranke werden zumeist erst in einem Heim aufgenommen, wenn die Krankheit schon fortgeschritten ist. Verlust der Fähigkeit, folgerichtig zu denken, und massive Gedächtniseinbußen verhindern zu diesem Zeitpunkt jegliche Einsicht in die Notwendigkeit, die eigene Wohnung zu verlassen. Auch wenn die Angehörigen sich alle Mühe
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geben, den alten Menschen vorzubereiten – die Betroffene realisiert ihren Zustand nicht, versteht nicht, warum sie auf einmal ihre vertraute Umgebung verlassen soll, und vergisst überdies die bemühten Gespräche, die sie von der Notwendigkeit dieses Schritts überzeugen sollen, von einem Tag auf den anderen. Die Übersiedlung kommt für sie immer überfallsartig als unbegreifliches und extrem beängstigendes Ereignis. Die alte Frau ist ratlos, kann das, was mit ihr geschieht, nicht zuordnen, fühlt sich verloren, überfordert, bestraft. Mit der vertrauten Umgebung gehen oft auch noch die letzten Reste der Orientierung verloren. Menschen mit fortgeschrittener Demenz leben zugleich in verschiedenen Zeitabschnitten ihres Lebens; sie können gleichzeitig ein wenig da und ein wenig dort sein. Ängste aus der Kindheit verschmelzen mit Ängsten von heute. Menschen, die als Kinder Trennungstraumata erlebt haben (z. B. die Trennung von den Eltern im Zweiten Weltkrieg, aber auch eine plötzliche Spitalsaufnahme), fühlen sich jetzt besonders verloren und verlassen. Aus dem Gleichgewicht gebracht, verlieren sie den Boden unter den Füßen und landen im Nirgendwo. Daher suchen sie verzweifelt nach Sicherheit, danach, wieder irgendwo Halt zu finden. Auf einer Bank in dem großen, schönen Garten des Pflegeheims kauert barfuß und im Nachthemd eine sehr alte Frau. Ihr Gesicht drückt Ratlosigkeit aus, die weit geöffneten Augen starren ins Leere. Wie sich herausstellt, ist sie erst am Vortag aufgenommen worden. Eng an sich gepresst hält sie eine WC-Bürste – wohl der einzige Gegenstand, der ihr in dieser fremden Umgebung vertraut vorgekommen war. Sind diese unspektakulären Patientinnen wirklich palliativbedürftig? Demenzen sind progrediente Erkrankungen, die den Tod beschleunigen. Auch viele andere chronisch fortschreitende Krankheiten, an denen Hochbetagte häufig leiden, wie Herzinsuffizienz oder Diabetes mellitus, bedrohen ihr Leben. „In der WHO-Definition von 2002 erhält die Palliativmedizin, verstanden als Summe der Maßnahmen zur Erhaltung der Lebensqualität im Angesicht einer lebensbedrohlichen Erkrankung, ihren richtigen Platz als fester Bestandteil der ärztlichen Betreuung von Beginn der Erkrankung, d. h. von der Diagnosestellung an“ (Borasio und Volkenandt, 2008). Damit dürfte die Frage grundsätzlich beantwortet sein. Was ist es nun genau, was unsere Patientinnen bereits in der Zeit der Anpassung aus dem Angebot der Palliativen Geriatrie brauchen?
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Sie brauchen von Anfang an unsere von Respekt und Wertschätzung getragene palliative Grundhaltung, die auf der Überzeugung von der Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit aller Menschen beruht, unabhängig von deren Lebensalter und dem körperlichen und/oder geistigen Zustand. Diese Haltung steht bereits in der ersten Zeit nach der Aufnahme auf dem Prüfstand, denn Angst, Verlorenheit und Panik der Betroffenen äußern sich in der Regel in Abwehr, Widerstand und Verweigerung, d. h. in Verhaltensweisen, die den Mitarbeiterinnen das Leben ziemlich schwer machen. Um den völlig aus der Bahn geworfenen alten Menschen den Weg der Anpassung zu ermöglichen, gilt es, diese schwierige Zeit mitfühlend mit ihnen auszuhalten. Aus dieser palliativen Grundhaltung entwickelt sich allmählich das Bewusstsein für die ethischen Erfordernisse sowohl im Alltag als auch im Vorfeld des Sterbens, wenn in der Regel große Entscheidungen anstehen. Gelingende Kommunikation und der Aufbau von Beziehung bilden die Voraussetzung dafür, sich dem Anderssein demenzkranker Hochbetagter anzunähern und ihre Bedürfnisse besser zu erfassen. Hierzu ist es erforderlich, eine „Sprache“ zu erlernen, die gegenseitiges Verstehen ermöglicht. Uns und unseren Mitarbeiterinnen gelingt dies seit vielen Jahren durch die Validation nach Naomi Feil (vgl. S. 131 ff.). Der palliative Zugangsweg zu den Kranken hilft, das Maß zwischen zu viel und zu wenig zu finden. Es gilt zu erfassen, dass die Verwirklichung des Machbaren kaum jemals im Interesse unserer Patientinnen liegen kann. Wichtig ist auch das jeweils primäre Therapieziel zu erkennen. „In der Medizin gibt es im Wesentlichen nur drei primäre Therapieziele: 1. Heilung, 2. Lebensverlängerung und 3. Erhöhung der Lebensqualität. Diese Therapieziele können oft gleichzeitig vorliegen, jedoch kann in jeder Patientensituation jeweils ein primäres Therapieziel genannt werden, welches dann regelhaft von sekundären Therapiezielen begleitet wird“ (Voltz, 2009). Im Zustand fortgeschrittener Multimorbidität aufgenommene Pflegeheimpatientinnen leiden häufig an bisher unerkannten und unbehandelten Symptomen ihrer chronischen Erkrankungen und profitieren daher stark von den Möglichkeiten, lindernd einzugreifen. Können, Wissen und Fertigkeiten im Bereich der Palliativen Geriatrie im Umgang mit Schmerzen und anderen belastenden Beschwerden bilden im hohen Alter das Grundgerüst guter Lebensqualität. All dies gilt im Großen und Ganzen nicht nur für die Phase der Irritation, sondern auch für die daran anschließende Phase der Balance.
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Frau Maria – die Zeit der Irritation Die ersten Wochen im Pflegeheim sind für Frau Maria eine sehr schwierige Zeit. Sie wirkt ängstlich, angespannt und irritiert. Sie weiß nicht, wo sie ist, warum sie hier ist und wie sie mit der plötzlichen Wende in ihrem Leben zurechtkommen soll. Ihr größter Wunsch ist es, wieder „nach Hause“ zu gehen. Sie lehnt in ihrer Verzweiflung zunächst jede Untersuchung und alle Medikamente ab. Es ist viel Geduld notwendig, um Frau Maria zum Essen und Trinken zu verführen. Unzählige Male am Tag entfernt sie sich den Verband über den tiefen eitrigen Wunden am Fuß. Sie irrt nachts umher, legt sich zu Mitbewohnerinnen ins Bett und verlässt tagsüber wiederholt die Station, um endlich „nach Hause“ zu kommen. Die Situation wird zusätzlich durch körperliche Beschwerden belastet: Atemnot, Beinödeme und eine hartnäckige Obstipation mit den entsprechenden Folgen wie ständige Unruhe, Schlaflosigkeit und Angst machen sowohl Frau Maria als auch uns schwer zu schaffen. Was ist für Frau Maria jetzt wichtig? Aus Gesprächen mit den Angehörigen wissen wir, dass Frau Maria immer sehr selbstständig war und stets danach getrachtet hat, unabhängig zu sein. Wir versuchen, ihre Wut und Verzweiflung zu akzeptieren, und führen immer wieder geduldig validierende Gespräche, die das „Nachhausegehen“ zum Thema haben. Mit Hilfe der Physiotherapeutin arbeiten wir an dem Erhalt der selbstständigen Mobilität. Die Pflegenden unterstützen Frau Marias Selbstständigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens. Wir antworten ehrlich auf ihre immer wiederkehrenden Fragen „Wo bin ich hier?“ und „Was mache ich hier eigentlich?“. Ich (Martina Schmidl), als die zuständige Ärztin, erkläre ihr auf ihren Wunsch bei jeder Visite ihren Gesundheitszustand und warum sie jetzt unsere Hilfe braucht. Ich versichere ihr immer wieder, dass wir uns freuen, sie hier zu haben, und dass wir uns gerne um sie kümmern. Die respektvoll geführten Gespräche, die Akzeptanz ihrer Gefühle und die ehrliche Zuwendung, die sie durch das ganze Team erfährt, führen schließlich dazu, dass Frau Maria zu uns Vertrauen fasst. Sie beginnt, die Medikamente einigermaßen regelmäßig zu nehmen, und lässt sich ihre Wunden verbinden. Nach einigen Wochen klingen die körperlichen Symptome allmählich ab: Die Beinödeme bilden sich zurück, die Geschwüre an den Füßen verheilen, die Stuhlprobleme sind gelöst. Schließlich werden sogar fürsorgliche körperliche Berührungen möglich. Wir freuen uns über ihre liebevollen Umarmungen, sie lacht, wenn wir uns begegnen, und es stellt sich sogar heraus, dass
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sie Humor hat und gerne Witze macht. Hin und wieder geistert sie zwar nachts auf der Station herum, lässt sich aber von den Pflegenden in der Regel gut beruhigen. Frau Maria hat sich nun relativ gut eingelebt. Sie spricht zwar hin und wieder vom „Nachhausegehen“, versucht jedoch nicht mehr wegzulaufen. Zu unserer Erleichterung isst und trinkt sie nun regelmäßiger als zu Beginn des Aufenthaltes und scheint sich sowohl körperlich als auch seelisch zu stabilisieren. Eines Tages äußert sie von sich aus den Wunsch, zum Zahnarzt zu gehen, weil sie „nicht gut beißen kann“. Da Frau Maria über schlechtes Sehen klagt, wird von der Augenärztin eine operative Sanierung des grauen Stars vorgeschlagen. Frau Maria äußert nach Rücksprache mit ihrem Sohn auch selbst den Wunsch, operiert zu werden. Die Operation gelingt gut und Frau Maria freut sich über die verbesserte Sehleistung: „Dass ich Sie jetzt einmal gut sehen kann, Frau Doktor!“, ruft sie mir zu.
4.4 Phase der Balance Die Kompensationsfähigkeit hochbetagter Menschen mit mehreren, zum Teil schon weit fortgeschrittenen chronischen Erkrankungen ist sehr gering; daher ist ihr Zustand stets potenziell bedroht, von einem Tag auf den anderen zu kippen. Die Symptome mehrerer verschiedener Krankheiten zu balancieren, ohne dabei den ganzen Menschen aus dem Auge zu verlieren, bedeutet nicht selten eine Gratwanderung. Die Sorge um das Wohlbefinden darf sich ja nicht auf körperliche Faktoren beschränken, sondern muss stets die ganze Person mit ihren Wünschen und Bedürfnissen, Neigungen und Abneigungen im Blick behalten, um jede Einflussnahme behutsam planen zu können. Auch dafür ist die gelingende Kommunikation eine unabdingbare Voraussetzung. Zu erwartende Konsequenzen, Nutzen und Risiko jeder Maßnahme müssen angesichts der Gesamtsituation und der Eigenheiten der Kranken jeweils kritisch hinterfragt werden. Diese „multidimensionale Fürsorge“ ist die wichtigste Form der palliativen Symptomkontrolle in der Geriatrie und erfordert die interprofessionelle partnerschaftliche Zusammenarbeit aller am Krankenbett Tätigen. In Abhängigkeit von dem jeweils vorherrschenden Zustandsbild benötigen die alten Menschen über die gesamte Zeit – nacheinander oder gleichzeitig, einmal mehr, einmal weniger – kurative und palliative Therapie. Hinzu kommen physio- und ergotherapeutische Maßnah-
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men zur Förderung der Selbstständigkeit und zur Erhöhung der Lebensfreude. Diese Aktivitäten tragen viel dazu bei, das Selbstbewusstsein zu heben und die Lebensqualität entscheidend zu verbessern (vgl. S. 228 ff.). Aufgabe der Ärztinnen ist es, zu heilen, was heilbar ist (z. B. einen Infekt), und quälende Beschwerden, die nicht mehr geheilt werden können (z. B. chronische Schmerzen oder eine langjährige Obstipation), zu lindern. Aufgabe des gesamten Teams ist es, zu erkennen, was gerade nottut, und den desorientierten und gebrechlichen alten Menschen in ein Netz stabiler Beziehungen einzubetten, das ihm ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Wenn das gelingt, können wir in vielen Fällen nach einer gewissen Zeit eine anhaltende Verbesserung des physischen und psychischen Zustands, ein für alle Beteiligten beglückendes Aufblühen feststellen. Das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten nimmt wieder zu; daraus erwächst die Möglichkeit, noch vorhandene kognitive Ressourcen erneut zu mobilisieren. Wir können immer wieder beobachten, dass die Demenz bei solcherart betreuten Patientinnen langsamer fortschreitet, z. B. bleiben Sprachvermögen oder die Fähigkeit, selbstständig zu essen, länger erhalten, als zu erwarten gewesen wäre. Frau Maria – die Phase der Balance In den nächsten Monaten wirkt Frau Maria zufrieden. Sie ist selbstständig gehfähig, spaziert fast den ganzen Tag auf der Station herum und nimmt von sich aus zu einigen Mitbewohnerinnen Kontakt auf. Frau Maria schläft meistens gut, beteiligt sich regelmäßig an den kleinen Festen und Aktivitäten der Station und scheint sich an die neue Lebenssituation gewöhnt zu haben. Die Zeit dieser guten körperlichen und seelischen Verfassung wird jedoch mehrmals durch schwere Harnwegsinfekte unterbrochen. Schmerzen und hohes Fieber machen der alten Frau jedes Mal schwer zu schaffen. Frau Maria ist dann völlig desorientiert und so müde, dass sie nicht mehr essen will und nur mühsam ein paar Schlucke trinken kann. Daher müssen Antibiotikum und die notwendige Flüssigkeit jeweils für einige Tage infundiert werden. Solange es ihr noch sehr schlecht geht, lässt die Kranke diese Prozedur ruhig über sich ergehen, doch sobald sich ihr Zustand auch nur ein bisschen bessert, entledigt sie sich sofort der lästigen Nadeln und Schläuche. Inzwischen kennen wir dieses Verhalten und freuen uns darüber: Wir wissen, Frau Maria beginnt sich zu erholen. Es ist in der Tat so, dass Frau Maria sich immer wieder mehr oder weniger selbstständig mobilisiert, noch bevor wir von ihrer „Standfestigkeit“ überzeugt sind. Wir sind zu Recht etwas besorgt, wenn wir sie auf sehr wackeligen Beinen neben dem Bett stehen sehen. Doch Frau Maria lässt sich nicht aufhalten. „Ich
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will aus dem Bett! Ich muss hinaus!“, sagt sie und ist nicht bereit, auch nur eine Minute länger auf unsere Hilfestellung zu warten. Der Sohn ist jedes Mal sehr besorgt, wenn seine Mutter mit hohem Fieber teilnahmslos daniederliegt, und äußerst verwundert darüber, dass sie sich von den Strapazen dieser schweren Erkrankungsschübe relativ rasch wieder so gut erholen kann.
4.5 Phase der Verschlechterung des Allgemeinzustands; das Nachlassen der Lebenskraft Selbst bei der besten Betreuung geht die Phase der Balance für jede Patientin nach Wochen oder Monaten, selten auch erst nach Jahren einmal zu Ende. Das Allgemeinbefinden verschlechtert sich deutlich und die Lebenskraft lässt nach. Chronisch fortschreitende Erkrankungen wie Herzinsuffizienz, Morbus Parkinson oder arterielle Durchblutungsstörungen, deren Symptome bislang einigermaßen gut beherrschbar waren, drohen nun zu entgleisen und führen vermehrt zu belastenden Beschwerden wie Atemnot, Beinödemen, Schmerzen, Gangstörungen und allgemeiner Schwäche. Akute Gesundheitsstörungen, wie schwere Infekte der Atem- und Harnwege, aber auch akut exazerbierende Entzündungen arthrotischer Gelenke treten vermehrt und in immer kürzeren Abständen auf. In dieser Phase zunehmender Krankheitsanfälligkeit können sich die Kranken zwischen den akuten Ereignissen nicht mehr vollständig erholen; ihr Allgemeinzustand verschlechtert sich mit jedem Infekt. Noch gehfähige Patientinnen werden jetzt häufig gangunsicher und sind ständig in Gefahr zu stürzen. Immer wieder kommt es dabei zu Frakturen, vor allem zu der sehr häufigen Schenkelhalsfraktur. Ein gebrochener Schenkelhals muss in der Regel operativ behandelt werden. Starke Schmerzen, Transferierung in die fremde Umgebung eines Krankenhauses, Narkose und Operation bedeuten für geschwächte, multimorbide Demenzkranke außerordentlich große körperliche und psychische Belastungen. War noch vor etwa 30 Jahren eine Schenkelhalsfraktur im hohen Alter für viele ein Todesurteil, so überleben heute in der Regel auch Hochbetagte in schlechtem Allgemeinzustand den Eingriff. Dennoch markieren Fraktur und nachfolgende Operation so gut wie immer eine Zäsur. Viele Patientinnen bleiben nach dem Eingriff für den Rest ihres Lebens bettlägerig; bestenfalls kommt es zu einer Mobilisation in den Rollwagen.
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Die Phase der zunehmenden Schwäche und Labilität kann Tage, Wochen, aber auch viele Monate dauern. Der körperliche, seelische und kognitive Zustand verschlechtert sich in dieser Zeit kontinuierlich oder in Schüben.
4.5.1
Was bedeutet Palliative Care in dieser Phase?
Wenn wir einen Menschen über einen längeren Zeitraum begleitet, ihn dabei besser kennen gelernt und eine Beziehung zu ihm aufgebaut haben, steht er uns recht nahe. Ist es uns darüber hinaus gelungen, den Zustand einer Patientin durch Achtsamkeit, kompetentes Handeln, stetes Bemühen um glückende Kommunikation, durch Zuwendung und Geduld über längere Zeit zu verbessern, freuen wir uns über diesen Erfolg. Kündigt sich dann die Zeit der irreversiblen Verschlechterung und letztlich die Zeit des Sterbens an, fällt es uns trotz Palliativausbildung und langer Erfahrung nicht leicht, uns einzugestehen, dass der Abschied näher rückt und wir für die verbleibende Zeit andere Aufgaben zu übernehmen haben als bisher. Erkennen der veränderten Situation Die erste Aufgabe für Ärztinnen, Pflegende und Therapeutinnen besteht darin, den grundlegend veränderten Gesundheitszustand bewusst wahrzunehmen und klar zu benennen. Dazu ist es hilfreich, nicht nur vom Ist-Zustand auszugehen, sondern sich den Verlauf der letzten Monate genau anzuschauen. Häufig zeichnet sich dann eine Reihe von Leitsymptomen ab, die uns das Erkennen der Veränderungen erleichtert. Diese Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und sind nicht immer und nicht bei jeder Patientin zu beobachten: Bei Diabetikern ändert sich der Insulinbedarf ohne ersichtlichen Grund. Beruhigungs- und Schlafmittel, die bis dahin erforderlich waren, müssen reduziert bzw. abgesetzt werden. Der Analgetikabedarf verändert sich. Herzinsuffizienz und Ödemneigung nehmen zu. Der Blutdruck sinkt. Blutdrucksenkende Medikamente müssen reduziert oder abgesetzt werden. Die Infekthäufigkeit nimmt zu. Die Abstände zwischen den Infekten werden kürzer. Die Mobilität nimmt ab; vormals mobile Patientinnen werden bettlägerig.
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Die letzte Lebensphase
Wesensänderungen sind möglich; eine alte Frau, die früher lebhaft und robust erschien, wird jetzt z. B. plötzlich sanft, zugänglich oder weinerlich. Die Patientinnen wirken oft lustlos, ziehen sich zunehmend zurück und zeigen immer weniger Interesse an ihrer Umgebung. Müdigkeit und Schwäche nehmen zu; die Patientinnen schlafen mehr. Der Appetit nimmt allmählich immer deutlicher ab. Diese Art von Veränderungen wahrzunehmen mag manchem auf den ersten Blick nicht allzu schwer erscheinen. Wir erleben jedoch in unserem Arbeitsalltag immer wieder, wie schwer es fachlich und menschlich fallen kann, den augenblicklichen Zustand und die weiteren Aussichten zu beurteilen. Handelt es sich vielleicht nur um eine vorübergehende Verschlechterung? Gerade wenn wir einer Patientin über lange Zeit geholfen haben, gesundheitliche Krisen einigermaßen gut zu überstehen, sind wir nur allzu bereit, sehr viel an therapeutischem und pflegerischem Know-how zu „investieren“, um das Rad noch einmal herumzudrehen. Oft haben wir über viele Wochen oder Monate im Team und mit den Angehörigen schwierige Entscheidungen getroffen, therapeutische Strategien entwickelt und wieder verworfen. Wir haben uns mit der Persönlichkeit der Kranken auseinandergesetzt und viele berührende, traurige und auch heitere Augenblicke mit ihr erlebt. Daher wollen wir manchmal gar nicht sehen, dass sie wahrscheinlich in absehbarer Zeit sterben wird. Dass wir die Veränderungen der Kranken oft nicht zeitgerecht erkennen, liegt auch an unserer Arbeitsweise als „chronische“ Ärztinnen, Pflegekräfte und Therapeutinnen: Wir sind „zu nahe an der Patientin“ – sowohl durch unsere tägliche Präsenz auf der Station als auch durch die herzliche und fürsorgliche Beziehung, die uns mit ihr verbindet. Da Ärztinnen des Wiener Krankenanstaltenverbundes (KAV) ihre Patientinnen tagtäglich besuchen, fallen ihnen kleinere Veränderungen oft nicht gleich auf. Es kommt daher vor, dass uns erst eine Kollegin darauf aufmerksam macht, die die Patientin nur hin und wieder in ihrem Nachtdienst sieht. Wird uns nicht rechtzeitig bewusst, dass Gefühle unsere Schau und unser Handeln ungünstig beeinflussen können, laufen wir Gefahr, notwendige Entscheidungen zu verzögern oder Fehlentscheidungen zu treffen, die zusätzliches Leiden verursachen. Es muss uns klar vor Augen stehen, dass an diesem Punkt Entscheidungen über das weitere Prozedere zu treffen sind.
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Beobachten, entscheiden, handeln Werden die Zeichen des Nachlassens der Lebenskraft nicht rechtzeitig erkannt, besteht die Gefahr, in einen nicht angebrachten diagnostischen und therapeutischen Aktionismus zu verfallen. Da wir nie wirklich sicher sein können, was der nächste Tag, die nächste Woche bringt, wohin sich die Waagschale des Lebens dieser Patientin letztlich neigen wird, und da wir immer wieder erlebt haben, dass ein alter Mensch sich wider Erwarten noch einmal erholt, ist – solange wir nicht klarer sehen – die Zeit unsere beste Verbündete. Anders als im Akutspital müssen in unserer Arbeit Entscheidungen nur sehr selten von heute auf morgen getroffen werden. Zumeist ist es möglich, eine gewisse Zeit abzuwarten und erst dann endgültig zu entscheiden. Dennoch sehen wir immer wieder, wie schwer es sein kann, sich die notwendige Zeit zu nehmen, um in Ruhe die weitere Entwicklung zu beobachten. Offenbar ist uns ein Großteil der „passiven Stärken des Menschen“ verloren gegangen: „die Geduld, die Langsamkeit, die Stillefähigkeit, die Hörfähigkeit, das Wartenkönnen, das Lassen, die Gelassenheit“ (Steffensky, 2007, S. 10). Wir sind immer wieder versucht, „nur um der eigenen Hilflosigkeit zu entgehen, irgendetwas zu tun; irgendwelche Dinge zu treiben, an denen sich herumbasteln lässt“ (ebd., S. 25). Es ist nicht leicht, die Situation zwar besonnen zu beobachten, aber gleichzeitig fähig zu bleiben, innerhalb eines adäquaten Zeitraums zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen wollen. Dass wir in Hinblick auf den weiteren Verlauf so gut wie nie über sichere Informationen verfügen, erschwert die Aufgabe erheblich. Zumeist können wir uns nur an Wahrscheinlichkeiten und an unseren Erfahrungen orientieren. Jahrzehntelang waren Ärzte und Ärztinnen davon überzeugt, dass es nur ihnen und ihnen allein zusteht, schwierige Entscheidungen zu treffen; viele sind auch heute noch dieser Ansicht. Im Gegensatz dazu sind wir davon überzeugt, dass eine Ärztin mit einer solchen Entscheidung allein überfordert ist. Gemeinsam erarbeitete Entscheidungen beruhen auf Wissen und Erfahrung mehrerer Personen. Gespräche im Team, mit den Angehörigen oder anderen für diese Patientin relevanten Personen können daher nicht hoch genug bewertet werden. Eine Ärztin kann nicht davon ausgehen, das Verhalten einer Patientin besser einschätzen zu können als eine erfahrene Schwester, eine Angehörige kann nicht annehmen, den Erfolg einer medizinischen Maßnahme besser beurteilen zu können als die behandelnde Ärztin. Das Anerkennen und Respektieren der Kompetenz der anderen Gesprächsteilnehmerinnen ist daher die Voraussetzung dafür, gemeinsam qualitativ bessere Ergebnisse zu erzielen.
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Die letzte Lebensphase
Therapieziele überdenken Einmal getroffene Entscheidungen sind nicht in Stein gemeißelt, sondern müssen immer wieder überdacht, neu definiert oder revidiert werden. Hat sich das Verhalten der Patientin geändert? Sind neue Symptome zu beobachten? Hat sich der Allgemeinzustand weiter verschlechtert oder vielleicht sogar wieder etwas verbessert? Wir erleben immer wieder, dass sich eine Patientin, die wir fast schon aufgegeben hatten, wider Erwarten noch einmal erholt, sodass bereits verworfene therapeutische Möglichkeiten plötzlich wieder in einem anderen Licht erscheinen. Die rechtliche Situation adäquat einschätzen Es steht außer Frage, dass sich ärztliche und pflegerische Entscheidungen an den gültigen Gesetzen orientieren müssen. Wir erleben jedoch nicht selten, dass das Schreckgespenst einer starren und unbarmherzigen „Rechtslage“ auftaucht, sobald gegen Ende des Lebens schwierige Entscheidungen anfallen. Es wird dann damit argumentiert, dass die ungünstige rechtliche Situation uns keine Wahl lässt, ja uns geradezu Entscheidungen aufzwingt, die wir sonst nie getroffen hätten. Diese Argumentation erwächst häufig aus einem Gefühl der Unsicherheit im Umgang mit schwierigen Situationen, aus Angst vor der Verantwortung und/oder aus mangelnder Kenntnis der rechtlichen Praxis. Es ist die Aufgabe jeder Ärztin, sich in dieser Situation mit mehreren Fragen zu konfrontieren und sie ehrlich zu beantworten: 1. Wie einengend ist die rechtliche Situation tatsächlich? Ist es am Ende nur die eigene Angst, für die gesetzten Maßnahmen einstehen zu müssen, die mir „die Hände bindet“ und mich dazu veranlasst, mich hinter rechtlichen Vorgaben zu verstecken? Im Allgemeinen können wir davon ausgehen, dass wir uns auf sicherem Boden bewegen, wenn wir schlüssig und nachvollziehbar dokumentieren, warum wir etwas tun bzw. nicht tun. 2. Bin ich versucht, zu meiner eigenen „Absicherung“ sinnlose Zusatzuntersuchungen oder Therapien anzuordnen? 3. Muss hier tatsächlich eine rechtliche Entscheidung getroffen werden, oder geht es nicht vielmehr darum festzustellen, ob für eine geplante Maßnahme überhaupt eine medizinische Indikation vorliegt? Eine solche ist nur gegeben, wenn die geplante Therapie ein realistisch erreichbares Ziel verfolgt. Legitime Therapieziele lassen sich, wie erwähnt, an den Fingern einer Hand abzählen: Heilung, Lebensverlängerung und Verbesserung der Lebensqualität. Wenn das Lebensende sich abzeichnet, sind in vielen Fällen weder recht-
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liche noch ethische Kenntnisse erforderlich, um zu einer guten Entscheidung zu kommen, sondern vielmehr ein fundiertes medizinisches Fachwissen (vgl. Borasio, 2008). Ist beispielsweise das Setzen einer PEG-Sonde zu diesem Zeitpunkt noch indiziert? Muss auch jetzt noch eine Infusion mit dem Ziel der Flüssigkeitssubstitution verabreicht werden? Muss ich der schmerzgeplagten Patientin tatsächlich eine höhere Opiatdosis vorenthalten, weil dadurch angeblich das Leben verkürzt werden könnte? Entscheide und handle ich wirklich stets in dem Bewusstsein, dass Demenz eine unheilbare, zum Tod führende Krankheit ist (vgl. Ouldred und Bryant, 2008)? Dass Demenzkranke häufig nicht als Palliativpatientinnen wahrgenommen werden, erklärt, warum man ihnen oft wesentlich aggressivere diagnostische oder therapeutische Maßnahmen zumutet als Patientinnen mit weit fortgeschrittenen Karzinomen. Ein entscheidender weiterer Grund dafür, dass Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz eine ihrem Zustand gemäße Behandlung vorenthalten wird, ist in dem Scheitern der Kommunikation zu suchen. Die Kompetenz, mit dementen Menschen zu kommunizieren, ist die Kernkompetenz der Palliativen Geriatrie. Fehlt sie, werden Patientinnen, mit denen man nicht in Beziehung treten kann, allmählich nur mehr als Objekte, „als eine Art Werkstück“ wahrgenommen; ihre Schmerzen, ihr Leid und ihr nahendes Lebensende gehen ihren Betreuerinnen nicht mehr wirklich nahe und werden kaum registriert. Frau Maria – die Phase der Verschlechterung des Allgemeinzustands; das Nachlassen der Lebenskraft Nach einigen Monaten fällt auf, dass Frau Maria immer unsicherer geht. Wir bitten die Physiotherapeutin, ihr dabei zu helfen, einen Rollator zu benützen. Frau Maria gewöhnt sich relativ schnell an die Gehhilfe, doch die Strecken, die sie auf einmal zurücklegt, werden zusehends kürzer. Sie ist jetzt häufiger verwirrt und wirkt insgesamt müder. Dennoch ist sie von großem Bewegungsdrang erfüllt und lässt sich nicht davon abhalten, den ganzen Tag unterwegs zu sein. In der nächsten Zeit stürzt Frau Maria immer wieder und zieht sich dabei zahlreiche Hämatome und Hautverletzungen an Armen und Beinen zu. Trotz der Stürze ist ihr das selbstständige Gehen weiterhin äußerst wichtig. „Ich will aufstehen. Ich bleibe nicht sitzen!“, sagt sie. Auf Grund ihres Vorhofflimmerns und des Herzklappenersatzes war Frau Maria bis zu diesem Zeitpunkt ausreichend mit Marcoumar antikoaguliert. Da sie jetzt so oft stürzt, ist die Gefahr verstärkter Blutungen viel zu groß, um die Therapie in dieser Weise fortzusetzen. Wir besprechen die Situation mit den
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Angehörigen und kommen gemeinsam zu dem Schluss, dass das Ziel unserer Bemühungen jetzt die möglichst gute Lebensqualität sein muss. Frau Maria wäre todunglücklich, wenn man sie daran hindern wollte, selbstständig zu sein, aufzustehen und herumzuspazieren. Die Gefahr, sich bei einem Sturz schwer zu verletzen, und der Verzicht auf optimale Antikoagulation müssen dafür in Kauf genommen werden. Nach einigen Wochen erkrankt Frau Maria an einer Pneumonie, von der sie sich unter einer adäquaten Therapie gut erholt. Nach überstandener Krankheit gelingt es trotz täglicher Physiotherapie nur langsam, sie wieder zu mobilisieren. Es dauert einige Zeit, ehe Frau Maria wieder – wenn auch mühsam – kürzere Strecken gehen kann. In den nächsten drei Monaten verschlechtert sich ihr Allgemeinzustand kontinuierlich. Sie wirkt immer müder, wird schwächer und ist zunehmend unsicher auf den Beinen. Dennoch ist sie weiterhin von einem Gedanken beseelt: „Ich will hinaus!“ In der nächsten Zeit übersteht sie eine weitere schwere Pneumonie, danach erholt sie sich nur mehr sehr zögerlich. Die Mobilisation in den Rollwagen gelingt mit großer Mühe, auf die Füße kommt Frau Maria nicht mehr. Innerhalb weniger Wochen wird sie bettlägerig; sie ist jetzt sehr schwach und wirkt unglücklich. Nach und nach verliert sie den Appetit, isst immer weniger und hört schließlich fast ganz auf zu essen. Da sie auch viel zu wenig trinkt, wird ihr die nötigste Menge an Flüssigkeit über subkutane Infusionen zugeführt. Damit ist sie gar nicht einverstanden und wehrt sich immer wieder dagegen. Wie sollen wir weiter vorgehen? Frau Maria war lange bei uns; sie hat sich durch unsere Betreuung überraschend gut stabilisiert und wir haben sie lieb gewonnen! Jetzt würden wir ihr so gerne dazu verhelfen, wieder in einen besseren Zustand zu kommen! Wir können sie doch nicht einfach sterben lassen! Es ist schwierig zu begreifen, ja den Gedanken überhaupt zuzulassen, dass sich das Lebensende ankündigt. Damit Frau Maria die für sie beste Therapie bekommt und ihr unnötige Belastungen erspart bleiben, dürfen wir die Augen jedoch nicht davor verschließen, dass sie voraussichtlich bald sterben wird. Jetzt ist es an der Zeit, unsere Therapieziele neu zu definieren. Sollen wir die nächste Pneumonie wieder kurativ behandeln? Was machen wir, wenn Frau Maria ganz aufhört zu essen? Was werden wir tun, wenn sie die Infusionen im-
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mer wieder entfernt, ihre Medikamente nicht nehmen will? Mit welchen Aufgaben sind wir als Palliativmedizinerinnen konfrontiert? Es gibt eine klare Antwort auf diese Fragen: „Palliativmedizin ist die Weiterführung der für den Patienten optimalen Therapie mit geändertem Therapieziel“ (Borasio, 2009). Was ist jetzt für Frau Maria wichtig? Wir besprechen die Situation mit dem Sohn und der Schwiegertochter. Die Angehörigen haben die zunehmende Schwäche und den verschlechterten Allgemeinzustand natürlich auch bemerkt. Wir kommen überein, dass „gute Lebensqualität“ für Frau Maria jetzt bedeutet, möglichst wenig unter Schmerzen oder anderen belastenden Symptomen zu leiden. Alles, was wir dazu beitragen können, wird geschehen. Alles, was Frau Maria nur zusätzlich belasten würde, werden wir unterlassen.
4.6 Die Zeit des Sterbens Weil wir das Lebensende niemals genau vorhersehen können, bleibt es selbst für Ärztinnen und Pflegende mit langjähriger Berufserfahrung eine schwierige Aufgabe, den Zeitpunkt rechtzeitig zu erkennen. Im Laufe unseres Berufslebens lernen wir, dass wir in dieser „nicht wissbaren“ Situation zumindest mit Wahrscheinlichkeiten operieren können. Das bedeutet, dass wir den in nächster Zukunft bevorstehenden Tod als wahrscheinlichste Möglichkeit akzeptieren. Wenn wir gleichzeitig sorgsam auf Anzeichen einer unerwarteten Besserung achten, haben wir es auch weiterhin in der Hand, unser Therapieziel falls erforderlich jederzeit zu ändern. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die uns den Rücken stärkt und den Mut gibt, anstehende Entscheidungen zu treffen.
4.6.1
Woran erkennt man, dass eine Patientin sterbend ist?
Besonders hilfreich für das Erkennen der Anzeichen des nahenden Todes ist die Begleitung und Betreuung durch gleichbleibende Personen. So kann die gute und vertrauensvolle Beziehung wachsen, die es uns leichter macht, die Kranke, ihr Verhalten und ihre Bedürfnisse immer besser kennenzulernen und zu verstehen. Kontinuierliche Gespräche im Team dienen dazu, die beobachteten Veränderungen zu sammeln, auszusprechen und so allen Teammitgliedern bewusst zu machen.
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Die Zeichen des nahenden Sterbens können von Mensch zu Mensch variieren und unterschiedlich deutlich ausgeprägt sein. Auf jeden Fall ist es nützlich, sich typische Veränderungen und Signale bei Bedarf ins Bewusstsein zu rufen. Die Patientin hört ganz auf zu essen und zu trinken. Trotz bester Pflege und Lagerung wächst die Dekubitusneigung. Eine nicht demenzkranke oder nur mäßig demente Patientin spricht davon, dass sie „nach Hause“ oder „heimgehen“ will. Eine bisher stets unzufriedene Patientin bedankt sich bei allen für die gebotene Hilfe oder verabschiedet sich plötzlich von den Betreuerinnen. Die Patientin wird plötzlich unruhiger und ängstlicher. Sie wird immer stiller und dämmert vor sich hin. In den letzten Lebenstagen weisen die folgenden Symptome immer deutlicher auf den kurz bevorstehenden Tod hin: Die Sterbende ist häufig zu schwach, um zu sprechen und zu schlucken. Rasselatmung setzt ein (Sekrete in Hypopharynx und Luftröhre können infolge der Schwäche nicht mehr abgehustet werden). Das Herz versagt, es kommt zum terminalen Lungenödem. Die Klarheit des Bewusstseins schwankt. Phasen der Bewusstlosigkeit treten auf und nehmen zu. Die Zentralisation des Kreislaufs setzt ein (kenntlich an den marmorierten Extremitäten). Der Atemrhythmus verändert sich (schneller, unregelmäßig, Atempausen). Bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz wird der bevorstehende Tod häufig selbst jetzt noch nicht erkannt! Wie eine große italienische Studie zeigt, werden die Sterbenden nicht selten bis zuletzt fixiert; es werden ihnen Antibiotika und i.v. Infusionen verabreicht (Di Giulio et al., 2008).
4.6.2
Was bedeutet Palliative Care in der Zeit des Sterbens?
Therapieziele definieren; entscheiden, was zu tun und was zu lassen ist Haben wir im Team erkannt, besprochen und akzeptiert, dass der Tod nicht mehr fern ist, stellt sich die Frage, was für die gute Betreuung der
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Sterbenden jetzt wichtig ist. Standen in den vergangenen Wochen und Monaten noch immer sowohl kurative als auch palliative Behandlungsmöglichkeiten zur Diskussion, haben wir nunmehr ausschließlich palliative Maßnahmen im Blick. Konsequente Beobachtung, Weitergabe und Dokumentation der Symptome und Verhaltensweisen der Sterbenden bilden die unabdingbaren Voraussetzungen für eine gute Symptomkontrolle. Der laufende Austausch der individuellen Beobachtungen, das stetige Abgleichen der Eindrücke und die dem jeweiligen Zustand angepassten notwendigen Änderungen in Pflege oder medizinischer Behandlung sind jetzt zentrale Themen. Kommunikation mit der Sterbenden Die Kommunikation muss an den Zustand der Patientin angepasst werden. Validation (vgl. S. 131 ff.) und Basale Stimulation bewähren sich als geeignete nonverbale Kommunikationsmethoden. Wir gehen immer wieder zu der Sterbenden, treten mit ihr in Kontakt, beobachten ihr Verhalten, ihren Gesichtsausdruck und ihre Atmung, um herauszufinden, ob sie unter Schmerzen, Angst oder einem anderen quälenden Symptom leidet. Die Sterbende soll spüren, dass sie nicht verlassen wird, dass sie bis zuletzt für uns wichtig bleibt. Mundpflege Die regelmäßige, behutsame und gründliche Mundpflege ist eine der bedeutsamsten palliativen Maßnahmen für Sterbende. Es gibt viele Untersuchungen darüber, dass der trockene Mund zu dieser Zeit eines der unangenehmsten Symptome darstellt. Es ist auch vielfach belegt, dass Infusionen die Mundtrockenheit nicht beheben können und nur konsequente Mundpflege das Durstgefühl ausreichend lindert. Schonende Lagerung Die regelmäßige Lagerung Bettlägeriger zur Verhinderung von Dekubitalulzera ist in Pflegeheimen Routine. Diese prophylaktische Maßnahme ist, wenn eine Patientin im Sterben liegt, nicht mehr sinnvoll, sondern stellt nur mehr eine unnötige Belastung dar. Winzige, die Sterbende nicht beeinträchtigende Lageveränderungen (Mikrolagerung) sind jetzt völlig ausreichend. Auf Schmerzzeichen achten, Schmerztherapie anpassen Das sorgsame und einfühlsame Achten auf Schmerzzeichen ist eine wesentliche Pflegekompetenz. Pflegende verbringen viel mehr Zeit mit den Patientinnen als die Ärztin und kennen ihre Schützlinge da-
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her viel besser. Der laufenden Beobachtung von Schmerzzeichen kommt vom ersten bis zum letzten Tag große Bedeutung zu. Schmerzen dürfen nicht nur, sie müssen ihren Platz in Teamgesprächen und Dienstübergaben haben. Es ist sehr wichtig, dass alle Teammitglieder lernen, laufend auch kleinste Veränderungen zu beachten. In den letzten Lebenstagen gewinnt diese Kompetenz weiter an Bedeutung. Schmerzäußerungen zeigen sich oft nur mehr sehr diskret und sind schwer zu erkennen; die Befindlichkeit der Sterbenden kann von einer Stunde zur andern wechseln. Punktuelle Erhebungen sind daher unzureichend; sie stellen nur eine Momentaufnahme dar. Werden Schmerzzeichen beobachtet, sollte dies der behandelnden Ärztin umgehend mitgeteilt werden, damit so schnell wie möglich eine adäquate Schmerztherapie verordnet werden kann (vgl. S. 47 ff.). Bei Sterbenden hat sich die subkutane Gabe von Morphinen – falls notwendig auch kontinuierlich über eine Motorspritze – bewährt. Beobachtung und Dokumentation der Schmerzzeichen helfen der Ärztin, die jeweils erforderliche Morphindosis zu finden. Anpassen der Medikamente In der Regel können zu diesem Zeitpunkt fast alle Medikamente gestrichen werden. Prophylaxen (Heparin, Marcoumar, Lipidsenker, Vitamin D etc.) sind nicht mehr indiziert. Sie sind zu diesem Zeitpunkt sinnlos geworden und daher mit sofortiger Wirkung abzusetzen. Aufgabe der Ärztin ist es nur jene Medikamente beizubehalten oder zu verordnen, die Symptome lindern können, unter denen die Sterbende jetzt leidet. Anpassen der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr Die meisten Sterbenden wollen weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich nehmen. Der sterbende Organismus braucht weder das eine noch das andere. In der Zeit des Sterbens kommt es nach und nach zum Versagen der Organe. Der Körper kann daher weder Nahrung noch Flüssigkeit adäquat aufnehmen und weiterverarbeiten. Infundiertes Wasser, das nicht mehr ausgeschieden werden kann, sammelt sich in den Geweben, vor allem in der Lunge (Lungenödem). Durch den Verzicht auf künstliche Flüssigkeitszufuhr lassen sich sowohl die quälenden Symptome eines Lungenödems als auch die durch periphere Ödeme verursachten Schmerzen und belastenden Spannungs- und Schweregefühle vermeiden oder doch deutlich reduzieren. Künstlich zugeführte Nahrung „ernährt“ nicht mehr, sondern führt nur mehr zu Übelkeit, Erbrechen, Aspiration, Magenbeschwerden, Diarrhö und starkem allgemeinem Unwohlsein. Sterbenden künstlich Flüssigkeit
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und/oder Nahrung zuzuführen hieße also, in bester Absicht das Falscheste zu tun! Um dies zu vermeiden, müssen wir bereit sein, die „Physiologie des Sterbens“ zu akzeptieren und unsere Maßnahmen dem natürlichen Verlauf des Sterbeprozesses anzupassen, statt zu versuchen, gegen diesen zu arbeiten. Atemnot lindern Atemnot ist eines der häufigsten Symptome, von denen Sterbende gequält werden. Auch Angehörige und Betreuerinnen halten es in der Regel schlecht aus, hilflos zuzusehen, wenn ein Mensch nach Atem ringt und zu fürchten ist, dass er demnächst erstickt. Wir haben das Bedürfnis, „zu helfen“, zumindest aber „etwas zu tun“! Der erste Reflex von Pflegekräften und Ärztinnen ist es daher oft, über die Nase Sauerstoff zu verabreichen. Da Sterbende im Allgemeinen mit offenem Mund atmen, atmen sie den zugeführten Sauerstoff jedoch gleich wieder über den Mund aus. Es gelangt kaum Sauerstoff in die Lunge und selbst das bisschen, das unter Umständen dort landet, kann nicht mehr aufgenommen werden. Die Maßnahme ist nicht nur sinnlos, sie ist kontraproduktiv: Sie trocknet die ohnedies schon zu trockenen Schleimhäute von Mund und Rachen noch weiter aus und steigert damit das Durstgefühl, vgl. Abb. 1.
DURST
ATEMNOT
FLÜSSIGKEIT
SAUERSTOFF (nach Borasio, 2009)
Abb. 1 Zufuhr von Flüssigkeit und Sauerstoff in der Terminalphase
Die einzige zielführende Therapie der terminalen Atemnot ist die kontinuierliche parenterale Gabe von Morphinen, die das Gefühl der Luftnot lindern. Zusätzliche Hilfen sind wiederholte beruhigende Kontaktaufnahmen mit der Sterbenden und eine adäquate Lagerung mit etwas erhöhtem Oberkörper.
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Beachtung der Rasselatmung Die Rasselatmung in der Sterbephase belastet die Patientin selbst kaum, während Angehörige und Betreuerinnen häufig stark unter dem begleitenden Geräusch leiden. In der Hoffnung, der Sterbenden damit Erleichterung zu verschaffen, versuchen Betreuerinnen häufig, die Sekrete durch Mund oder Nase abzusaugen. Dies führt bestenfalls zu einer sehr kurzfristigen Entlastung von Angehörigen und Personal, ehe das Rasseln erneut unvermindert einsetzt. Von den Sterbenden selbst wird das Absaugen als äußerst quälend empfunden, sie versuchen, sich so gut es geht mit ihren letzten Kräften dagegen zu wehren. Eine geeignete Lagerung kann das unangenehme Geräusch zumindest abmildern. Eine medikamentöse antisekretorische Therapie ist aus unserer Schau nicht angezeigt. Sie entlastet zwar die Begleiterinnen, trocknet aber den Mund der Sterbenden noch mehr aus. Harn- und Stuhlausscheidung beobachten, Handlungsbedarf abschätzen Alle in der Geriatrie Tätigen wissen, wie wichtig es ist, auf regelmäßigen Stuhlgang zu achten. Eine hartnäckige Obstipation kann bei hochbetagten Menschen zu sehr belastenden, manchmal sogar zu bedrohlichen Zuständen führen. Daher sind Pflegende und Ärztinnen stets darauf bedacht, das Stuhlverhalten ihrer Patientinnen sorgfältig zu beobachten und rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. In der Zeit des Sterbens ändern sich auch hier die Wertigkeiten: In der Regel hat die Betroffene schon mehrere Tage kaum oder gar nicht gegessen, substanzielle Stuhlmengen sind daher nicht zu erwarten. Wenn der Bauch weich und schmerzfrei ist, sind belastende Abführmaßnahmen nicht angezeigt. Ein sterbender Mensch, der nicht mehr trinkt und keine Infusion bekommt, scheidet immer weniger und schließlich gar keinen Harn mehr aus. Das ist ein natürlicher Vorgang; es besteht demnach kein Handlungsbedarf. Anders ist es nur, wenn die Sterbende durch eine Harnverhaltung ihre schmerzhaft gefüllte Blase nicht entleeren kann. In diesem Fall wird das Setzen eines Katheters zur palliativen Notwendigkeit.
Ruhig werden, innehalten, die Sterbende wahrnehmen In Pflegeheimen ist der Tod ein Dauergast. Auch wenn die Begleitung Sterbender für manche mit den Jahren fast schon zur „Routine“ geworden sein sollte, muss allen in der Betreuung Tätigen stets bewusst bleiben, dass der Tod nicht ein Ereignis wie viele andere ist. Er bedeu-
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tet das unwiderrufliche Ende eines einmaligen und einzigartigen Lebens. Es ist daher geboten, dem Abschied vom Leben mit dem nötigen Respekt und der angemessenen Aufmerksamkeit zu begegnen. Das gelingt allerdings nur dann, wenn wir uns darauf einlassen, für einige Augenblicke innezuhalten, selbst zur Ruhe zu kommen und uns dem Geschehen ganz zu öffnen. Es braucht die innere Ruhe und dieses vorbehaltlose Offensein, um zu erspüren, was die Sterbende jetzt von uns braucht und wie wir ihr beistehen können. Ein Mensch nimmt Abschied vom Leben, er stirbt, er verlässt seine bisherige Existenz. Wir spüren, dass wir im Letzten nicht imstande sind zu begreifen, was hier vor unseren Augen geschieht. In diesen Augenblicken sind wir oft ergriffen, wir denken daran, dass auch unsere Lieben und auch wir selbst einmal sterben werden. Wir dürfen diese Gefühle ruhig zulassen, ohne unsere professionelle Rolle zu verlassen. Wir können uns auf den Tod eines anderen Menschen nur einlassen, wenn uns bewusst ist, dass das Sterben uns nicht unberührt lässt. Wenn wir nicht hart, zynisch oder depressiv werden wollen, führt kein Weg an der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit, mit dem zukünftigen Tod unserer Freunde und Verwandten vorbei. Es ist ratsam, diese belastenden Gefühle z. B. in einer Supervisionsgruppe bewusst wahrzunehmen und zu besprechen. Wir können nicht unbeschadet über Jahre existentielle Fragen, Ängste oder Trauer in uns „einlagern“, ohne uns immer wieder damit auseinanderzusetzen. Diese zunächst vielleicht lästig oder belastend erscheinende „Arbeit“ ist ein wesentlicher Schutz für unser eigenes Seelenleben.
Angehörige informieren und begleiten Die Angehörigen haben ein Recht darauf, während der Zeit der zunehmenden gesundheitlichen Verschlechterung ständig über den Zustand von Eltern oder Ehepartnern auf dem Laufenden gehalten zu werden. Sie werden auch jetzt, sobald wir erkennen, dass die Patientin nun im Sterben liegt, in Kenntnis gesetzt. Dabei ist es wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen: Wir sprechen mitfühlend, aber deutlich über „Sterben“ und „Tod“ und verstecken uns nicht hinter hilflosen Umschreibungen wie „wenn sie einschläft“ oder „wenn etwas passiert“. Bereits in früheren Gesprächen und Begegnungen mit den Angehörigen haben wir vereinbart, zu welchen Tages- und Nachtzeiten sie benachrichtigt werden möchten und ob sie die Sterbende begleiten wollen (vgl. S. 367 ff.).
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Mitpatientinnen informieren und begleiten Falls die Sterbende mit anderen ein Zimmer teilt oder näheren Kontakt zu anderen Patientinnen hatte, werden diese behutsam darüber informiert, dass es ihr sehr schlecht geht und sie vermutlich bald sterben wird. Die Bedürfnisse der anderen können ganz unterschiedlich sein. Einige wollen gar nicht wissen, wie es ihrer Mitbewohnerin geht, andere machen sich große Sorgen, wieder andere vergessen das Gesagte sofort oder begreifen gar nicht, dass jemand stirbt. Es gibt auch immer Patientinnen, die genau beobachten, wie wir der Sterbenden begegnen, wie wir sie behandeln und was wir für sie tun. Sie tun dies, um zu erfahren, was mit ihnen geschehen wird, wenn sie eines Tages sterben. Es ist wichtig, das im Blick zu behalten, um diesen Menschen im Gespräch, vor allem aber durch unser Verhalten das beruhigende Gefühl zu vermitteln, dass wir uns sorgsam, liebevoll und bis zum letzten Atemzug um jede unserer Patientinnen kümmern. Frau Maria – die Zeit des Sterbens Frau Maria ist nach mehreren mit Mühe überstandenen Pneumonien sehr, sehr schwach und müde geworden. Sie liegt jetzt ständig im Bett und schläft viel. In den letzten Tagen hat sie ganz aufgehört zu essen, kann ihre Medikamente nicht mehr schlucken und trinkt nur wenige Milliliter am Tag. In einem Teamgespräch kommen wir zu der Einsicht, dass Frau Maria jetzt sterbend ist. Was ist für Frau Maria jetzt wichtig? Ziel unserer Bemühungen ist es zu verhindern, dass Frau Maria unnötig leidet. Sie soll keine Schmerzen haben, wir achten genau auf das Auftreten von Atemnot, Angst, Unruhe oder anderen quälenden Beschwerden, um diese rechtzeitig erkennen und behandeln zu können. Wir möchten das Lebensende für Frau Maria so wenig belastend wie möglich gestalten und ihr Sterben nicht unnötig verlängern. Für die Angehörigen kommt diese Situation nicht unerwartet. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder miteinander besprochen, wie wir uns verhalten wollen, wenn Frau Maria stirbt. Da die Pflegenden berichten, dass Frau Maria zeitweise unruhig ist und bei Pflegehandlungen leise jammert, versorgen wir sie über eine Schmerzpumpe kontinuierlich subkutan mit Morphium. Unter dieser Therapie wirkt sie bald ruhig und entspannt. Die Betreuerinnen achten auf eine sorgfältige und regelmäßige Mundpflege. Obwohl sie nicht trinkt, bekommt sie keine Infusion. Die Angehörigen
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beobachten dankbar, dass wir Frau Maria nicht einfach „abgeschrieben“ haben, sondern immer wieder nach ihr sehen. Die Sterbende wird jetzt nicht mehr – wie in den Wochen zuvor – alle zwei bis vier Stunden gelagert; wir begnügen uns mit einer Mikrolagerung. Da Frau Maria schon seit Tagen nicht mehr isst, ihr Bauch weich ist und sichtlich keine Beschwerden verursacht, werden auch nach dem vierten Tag ohne Stuhlgang keine abführenden Maßnahmen in Betracht gezogen. Die Körperpflege bleibt auf das absolut Notwendige beschränkt. Schließlich beginnt Frau Maria leicht zu fiebern, wirkt dabei aber ruhig und entspannt. Sie bekommt kein Antibiotikum. Die Versorgung mit Morphium über die Schmerzpumpe läuft weiter. Der volle fachliche und menschliche Einsatz des Teams ist jetzt gefordert. Jedes Teammitglied schaut immer wieder nach Frau Maria. Alle versuchen, kurz zur Ruhe zu kommen, bevor sie das Zimmer der Sterbenden betreten, um besser erspüren zu können, wie es ihr geht und ob sie Hilfe braucht. In der Zeit des Sterbens müssen „Menschen in helfenden Berufen … in erster Linie Mensch sein, das heißt, sich in allen Lebenslagen als Mensch erweisen und bewähren. Erst dann kann greifen, was berufliche Ausbildung zusätzlich anzubieten hat“ (Mettnitzer, 2009, S. 60 f.). Frau Maria lebt noch vier Tage lang, sie wird in dieser Zeit von uns allen liebevoll betreut und begleitet. Bis zuletzt wirkt sie ruhig und entspannt. Die Angehörigen besuchen sie regelmäßig und bringen immer wieder ihre Dankbarkeit für die sorgfältige und liebevolle Begleitung zum Ausdruck. Am Morgen des 4. Tages stirbt Frau Maria ganz ruhig, ohne erkennbare Zeichen des Leidens.
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5 Sterben demenzkranke alte Menschen anders?
Marina Kojer, Gunvor SramekDie Begleitung Sterbender in den unterschiedlichen Phasen der Demenz nach N. Feil
Die Begleitung Sterbender in den unterschiedlichen Phasen der Demenz nach N. Feil
5.1 Die Begleitung Sterbender in den unterschiedlichen Phasen der Demenz nach Naomi Feil Marina Kojer, Gunvor Sramek Demenz ist der Sammelbegriff für eine Reihe von neurodegenerativen Erkrankungen. All diese Erkrankungen schreiten über viele Jahre chronisch fort und sind unheilbar; alle beschleunigen den Tod. Ein großer Teil der Patientinnen stirbt in einem späten Stadium der Demenz, doch ist die Wahrscheinlichkeit zu sterben in jeder Phase der Erkrankung relativ hoch, da die meisten Betroffenen erst im hohen Alter erkranken. In den vergangenen Jahren hat die Begleitung Sterbender in den Heimen einen immer höheren Stellenwert gewonnen. Nach Jahrzehnten des Totschweigens wird diesem Thema jetzt zu Recht ein wichtiger Platz unter den Aufgaben eines Heims eingeräumt. Hospizvereine, Non-Profit-Organisationen und andere Träger sind bemüht, die Defizite früherer Jahre möglichst rasch wettzumachen. Es nimmt allerdings Wunder, dass dabei nur selten explizit auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz eingegangen wird, obwohl diese mittlerweile 60 bis 80 % der Pflegeheimpatientinnen ausmachen. Demenzkranke sterben zwar nicht anders als ihre zerebral intakten Altersgenossinnen, aber sie brauchen eine andere Art der Begleitung. Ihren Bedürfnissen nach Kontakt, Nähe und Beziehung muss – abhängig von der Phase ihrer Erkrankung – anders begegnet werden. Auf den folgenden Seiten wollen wir näher auf die Bedürfnisse Hochbetagter in den verschiedenen Phasen der Demenz eingehen. Es geht hier nicht um die Darlegung medizinischer Erkenntnisse, sondern um die Praxis des Umgangs mit dementen Patientinnen. Daher orientieren wir uns an den von Naomi Feil definierten Validationsphasen (Feil, 2010; Feil und de Klerk-Rubin, 2010; Kojer et al., 2007; Gutenthaler und Kojer, 2009), und nicht an der medizinischen Stadieneinteilung. Gute Begleitung ist nur dann möglich, wenn die verbale und/oder nonverbale Kommunikation mit der Sterbenden gelingt und sich daraus eine von Vertrauen getragene Beziehung entwickelt. Mit den wechselnden Phasen der Demenz ändert sich auch die geeignete
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Marina Kojer, Gunvor Sramek
Form der Begegnung. Kontaktaufnahme und Kommunikation müssen den jeweiligen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Betroffenen entsprechen. Da vermutlich nicht alle unsere Leserinnen über Kenntnisse in Validation verfügen, werden wir zu Beginn kurz die wesentlichen Merkmale der jeweiligen Phase vorstellen und einige grundsätzliche Hinweise zur Kommunikation geben, ehe wir auf die Begleitung in den letzten Lebenswochen eingehen.
5.1.1
Phase 1 nach Naomi Feil: „Mangelhaft orientiert“
Zu Beginn der Demenz sind die Betroffenen noch weitgehend (wenn auch nicht mehr vollständig) orientiert. Wenn erste Einbußen und Fehlleistungen eintreten, spüren sie genau, dass etwas mit ihnen nicht mehr stimmt. Die Gefahr, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, macht ihnen Angst, verunsichert sie und beschämt sie zutiefst. Daher setzen sie alles daran, ihre zunehmenden Fehlleistungen vor sich selbst und vor anderen zu verbergen. Die massive Bedrohung ihres Gleichgewichts führt dazu, dass sie ihren Mitmenschen oft misstrauisch und ablehnend begegnen. In dieser schwierigen, für Betroffene und Betreuerinnen gleichermaßen belastenden Zeit ist das Gelingen der Kommunikation eine besonders anspruchsvolle Aufgabe. Charakteristisch für mangelhaft Orientierte ist ihre Neigung, andere ungerechtfertigt zu beschuldigen (vgl. S. 21 ff.) oder pausenlos über Missstände und alle möglichen körperlichen Leiden zu jammern. Da Leistungseinbußen und andere Verhaltensauffälligkeiten noch nicht besonders augenfällig sind, werden diese Verhaltensweisen oft nicht als Symptome einer beginnenden Demenz erkannt, sondern für Zeichen eines „schlechten Charakters“, wenn nicht gar eines beginnenden Verfolgungswahns gehalten. Einige wesentliche Elemente der Kommunikation mit mangelhaft orientierten Hochbetagten: Nicht korrigieren, nicht konfrontieren! Lassen Sie Mitteilungen stehen, ohne sie in Zweifel zu ziehen, zu verbessern oder eine persönliche Stellungnahme abzugeben. Umformulieren. Das Wiederholen von Kernaussagen mit anderen Worten gibt der Patientin das Gefühl, ernst genommen und verstanden zu werden. W-Fragen (wer, was, wann, wie, wie oft?) geben den alten Menschen die Möglichkeit, ihrem Herzen Luft zu machen.
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Die Begleitung Sterbender in den unterschiedlichen Phasen der Demenz nach N. Feil
Vorsicht vor zu viel Nähe. Die Kommunikation sollte sich in dieser Zeit im Allgemeinen auf sachliche verbale Mitteilungen beschränken. Gefühle nicht direkt ansprechen. Die Betroffenen verleugnen meist ihre Gefühle. Es ist daher nicht günstig, sie damit zu konfrontieren.
Wie begleite ich mangelhaft orientierte Sterbende? Diese Patientinnen brauchen erfahrene Begleiterinnen mit Takt und viel Fingerspitzengefühl, vor allem aber mit Kompetenz in Kommunikation mit sehr alten Menschen in Phase 1. In der Regel legen die Betroffenen trotz zunehmender Schwäche und Müdigkeit bis zuletzt Wert darauf, ihre Eigenständigkeit zu bewahren, sich nicht vereinnahmen zu lassen und auf die Möglichkeit, sich abzugrenzen. Die Anforderungen, die sich daraus für Begleiterinnen ergeben, sind hoch: Erkennen der beginnenden Demenz. Für Menschen, die die Sterbende erst jetzt kennenlernen und kaum oder gar keine Erfahrung mit Personen in dieser Phase haben, stellt das in der Regel eine schwer lösbare Aufgabe dar. Vertrauensverhältnis zwischen der Sterbenden und ihrer Begleiterin. Im Allgemeinen ist dafür eine bereits länger bestehende Beziehung erforderlich. Menschen mit sehr viel Erfahrung im Umgang mit mangelhaft orientierten Hochbetagten kann es aber gelingen, noch in den letzten Tagen und Wochen eine tragfähige Beziehung herzustellen. Wechselnde, fremde Begleiterinnen kommen für mangelhaft orientierte Sterbende auf keinen Fall in Frage. Gefühl für Distanz und Nähe. Das Ausmaß an Distanz, das die Betroffene bisher für sich eingefordert hat, ist auch jetzt für sie richtig. Begleitung setzt oft starke Emotionen frei. Ein solcher Gefühlsüberschwang, verbunden mit dem Wissen, dass Wärme und Nähe trösten und geeignet sind, Angst und seelischen Schmerz zu lindern, verleitet zuweilen zu einem gut gemeinten Durchbrechen der persönlichen Distanzschranke der Kranken. Jede Patientin hat das Recht, selbst über den Abstand zu entscheiden, den sie für sich beanspruchen möchte. Bei mangelhaft orientierten alten Menschen wirkt sich die fehlende Distanz besonders negativ aus: Sie können dieses Verhalten überhaupt nicht verzeihen. Schon die kleinste Grenzüberschreitung kann eine beginnende Beziehung im Keim zerstören. Vorsicht bei Berührungen. Arbeits- und Funktionsberührungen – z. B. im Zuge der Körperpflege oder während einer ärztlichen Untersuchung – werden, wenn zuvor die Erlaubnis dafür eingeholt
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Marina Kojer, Gunvor Sramek
wurde, zumeist gut toleriert. Persönliche, „private“ Berührungen wie Streicheln, Handhalten oder Umarmen sind in der Regel unerwünscht. Selbst wenn die Schwerkranke andeutet, dass Sie ihr etwas näher kommen dürfen, ist das kein Freibrief. Die Betroffene wird zwar vermutlich positiv darauf reagieren, wenn Sie ihr eine Hand auf die Schulter legen, denn diese eher kumpelhafte oder freundschaftliche Form der Berührung heißt nicht mehr als „Hallo, ich bin da“. Wenn Sie aber z. B. mit beiden Händen ihre Schultern umfassen, schaffen Sie eine intimere Situation, die Ihrem Gegenüber keinen Raum lässt auszuweichen. Eine Altenpflegerin, die einmal wagte, einen sehr schwachen, sterbensnahen alten Herrn, dem sie sich sehr nahe glaubte, an der Wange zu streicheln, löste damit eine unvorhergesehen heftige Abwehrreaktion aus. Der alte Herr erstarrte; mit äußerster Anstrengung stieß er nur zwei Worte hervor: „BITTE NICHT!“ Selbstbestimmtheit respektieren, auch wenn die Patientin schon sehr schwach ist. Es ist bei diesen Menschen besonders wichtig, auch in Kleinigkeiten alle Formen des Respekts und der Höflichkeit zu wahren. In der letzten Lebenszeit kommt es nicht selten zu verblüffenden, nicht vorhersehbaren Wesensänderungen, die das Bild plötzlich ganz verändern. Hierzu zwei Beispiele: Frau H. war eine typische Beschuldigerin. Über lange Zeit nützte sie jede sich bietende Gelegenheit, um ihre Mitmenschen des Diebstahls zu bezichtigen und heftig als „Gfraster“ 1 zu beschimpfen. In den letzten Wochen ihres Lebens hörte sie vollständig auf zu schimpfen, dankte für jede Kleinigkeit und wurde ganz mild und voller Güte. Frau S. war mehr als 70 Jahre lang glücklich verheiratet gewesen. In ihrem letzten Lebensjahr war sie mangelhaft orientiert und entwickelte sich zu einer „Jammerin“: „Alles tut mir weh“, „Hier hilft mir ja niemand!“. Nur auf ihren Mann ließ sie nichts kommen. Wenn er bei ihr war, war alles gut … In den letzten drei Monaten ihres Lebens wendete sich das Blatt: Sie war anhaltend bitterböse auf ihn, glaubte, dass er hinter jedem Weiberrock her sei und beschimpfte ihn laufend: „Du Schwein, ich weiß genau, dass du mich betrügst.“ „Du hast diesen Huren meinen Schmuck geschenkt!“ „Du
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Österreichisch für heimtückische, bösartige Menschen.
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Die Begleitung Sterbender in den unterschiedlichen Phasen der Demenz nach N. Feil
wartest nur darauf, dass ich tot bin!“ Frau S. wollte ihren Mann in ihren letzten Lebenstagen nicht mehr sehen und starb völlig verbittert. Der arme, fast 100-jährige Mann schüttelte immer wieder stumm den Kopf, weinte bitterlich und verstand die Welt nicht mehr. Manchmal überrascht die plötzliche Offenheit von Menschen, die sich vorher krampfhaft bemühten, ihren Schutzschild zu wahren und niemanden in ihr Inneres blicken zu lassen. Nun bricht dieser Schutzwall plötzlich ein und die Sterbenden werden von dem Bedürfnis überwältigt, das auszusprechen, was sie bis dahin über Jahrzehnte schamvoll verschwiegen haben. Eine hochbetagte Dame beichtet z. B., dass sie schwanger war und das Kind abgetrieben hat. Aus dem alten Mann bricht mit einem Mal hervor, dass er Syphilis hatte. Für die Begleitung ist es wichtig, genau auf Veränderungen zu achten und das eigene Verhalten den veränderten Erfordernissen anzupassen.
5.1.2
Phase 2 nach Naomi Feil: „Zeitverwirrt“
Orientierung und Kontrolle gehen allmählich vollständig verloren. Die Fähigkeit, sich verbal auszudrücken, nimmt immer mehr ab. Immer öfter kommt es vor, dass eine Patientin die Worte, die sie gerade sagen möchte, nicht mehr findet. Oft sucht sie verzweifelt danach, probiert es wieder und wieder und verstrickt sich dabei nur stärker in einen unverständlichen Wort- und Silbensalat. Die Betroffenen verstehen stets ein wenig mehr, als sie selbst in Worten ausdrücken können. Außerdem nimmt das intuitive Verstehen von Situationen und Zusammenhängen im Verlauf der Erkrankung enorm zu und kann so einen Teil des Verlorenen wettmachen. Frau R. war eines Tages besonders unruhig. Als ich (Marina Kojer) mich zu ihr setzte, beruhigte sie sich bald und lächelte mich an. An diesem Tag empfand sie mich als nahe Vertraute. „Dass du heute gekommen bist!“, rief sie erleichtert. Wir hatten unsere Arme umeinandergelegt und saßen eine Weile ruhig da. Dann stand ich einen Augenblick auf; als ich zurückkam, streckte sie mir beide Hände entgegen und blickte mir liebevoll in die Augen. Ich setzte mich zu ihr und schloss sie wieder in die Arme. Doch sehr schnell machte sich mein Rücken unangenehm bemerkbar. Noch ehe ich daran denken konnte, den Stuhl umzustellen, stellte Frau R. plötzlich besorgt fest: „Du sitzt nicht gut!“
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Marina Kojer, Gunvor Sramek
Das Hauptcharakteristikum dieser 2. Phase ist der zunehmende Verlust des Bezugs zu Zeit und Raum. Mit fortschreitender Demenz tritt die Gegenwart immer mehr in den Hintergrund. Die Demenzkranken bewegen sich auf einem Zeitkontinuum frei und fließend durch ihr Leben. Kindheit, Erwachsenenleben und Gegenwart – alle Zeiten können gleichzeitig existieren. Oft gehen die Betroffenen weit, weit in ihre frühe Kindheit zurück und „springen“ dann unter Umständen innerhalb von Sekunden in einen anderen Lebensabschnitt. Die verschiedenen Zeiten vermischen sich. Was war und was ist, bildet ineinander verwoben eine neue, nur der betreffenden Person selbst zugängliche Realität. Parallel zu dem Verlust der Orientierung lassen auch Gedächtnis und Denken immer stärker nach. Für die Betroffenen ist jetzt nichts mehr ganz unmöglich; selbst die Grenze zwischen Tod und Leben verfließt. Der Tod kann kommen und wieder gehen (Kojer und Sramek, 2007). Der 87-jährige Herr A. erzählt mir (Marina Kojer) von seiner Frau. Sie war, wie er stets betont, seine große Liebe. Die Ehe der beiden überdauerte viele Jahrzehnte. „Ja, die Anna“, sagt er und nickt bedächtig, „die ist schon lange im Himmel.“ „Da werden Sie auch hinkommen und sie wiedersehen“, meine ich. Herr A. ist mit meiner Antwort gar nicht einverstanden. Er runzelt die Stirn und bemerkt missbilligend: „Warum denn? Sie kann doch auch wieder zu mir herunterkommen!“ In der Phase 2 werden Nähe und Berührung immer wichtiger, während das gesprochene Wort zunehmend an Bedeutung verliert und in den Hintergrund tritt. Allein zu sein macht den Kranken Angst; sie brauchen Menschen, die ihnen durch ihre körperliche Nähe in ihrer immer haltloser werdenden Welt wieder Halt geben können und das Gefühl vermitteln verstanden zu werden. Einige wesentliche Elemente der Kommunikation mit zeitverwirrten Hochbetagten: Schauen Sie der Patientin in die Augen. Begegnen Sie ihr nicht „von oben nach unten“, sondern auf Augenhöhe. Lassen Sie sie selbst das Ausmaß an Nähe bestimmen, das sie gerade braucht. Wiederholen Sie ihre Kernaussage wörtlich. Stellen Sie W-Fragen. Kommunikation bedeutet in dieser Phase sprechen UND berühren.
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Die Begleitung Sterbender in den unterschiedlichen Phasen der Demenz nach N. Feil
Versuchen Sie, das Gefühl, das die Kranke gerade bewegt (Angst, Freude, Schmerz, Trauer, Fröhlichkeit …), nachzuempfinden und drücken sie es mit Hilfe ihrer Körpersprache und mit ihrer Stimme aus.
Wie begleite ich zeitverwirrte Sterbende? Für die Begleitung in der letzten Lebenszeit ist die bessere Bekanntschaft zwar nicht unbedingt nötig, aber doch sehr förderlich. Es erweist sich als hilfreich, mit besonderen Eigenheiten vertraut zu sein und Vorlieben ebenso wie Abneigungen genauer zu kennen. Achten Sie auf jedes kleine, diskrete Zeichen von Abwehr oder zunehmender Müdigkeit. Ein Besuch ist nicht immer und zu jeder Zeit willkommen. Gehen Sie öfter zu der Patientin, aber bleiben Sie nicht zu lange bei ihr. Lange Besuche überfordern die Kranke. Rechnen Sie nicht damit, erkannt zu werden. Stellen Sie sich jedes Mal – auch mehrmals täglich – vor, wenn Sie kommen. Sprechen Sie wenig und langsam; verwenden Sie dabei kurze Sätze und einfache Worte. Das gesprochene Wort sollte stets von Berührungen begleitet werden. Die Bedeutung des Wortes tritt immer mehr zurück, die Kommunikation muss zunehmend durch körperliche Nähe und über die Hände der Betreuerinnen angeboten werden. Religiöse Bezüge. Sehr viele heute Hochbetagte hatten zumindest in ihrer Kindheit und Jugend eine enge Beziehung zur Religion. Auch wenn diese Beziehung im Laufe des Lebens in den Hintergrund getreten ist, gewinnt „der liebe Gott“, wenn der Tod näher kommt, zunehmend an Bedeutung. Oft empfinden die Patientinnen es als hilfreich, wenn man laut mit ihnen betet oder ein bekanntes Kirchenlied anstimmt. Die 102-jährige Frau B. hatte in ihrer letzten Lebenszeit, wenn es finster wurde, immer große Angst und versuchte dann, den Rosenkranz zu beten. Sie kam nie sehr weit, der Text schwamm in ihrem Kopf davon. „Heilige Maria, Mutter Gottes … Du bist gebenedeit unter den Weibern …“ (so hieß der Text in ihrer Jugend). Unruhig warf sie den Kopf hin und her und versuchte es wieder und wieder: „Heilige Maria, Mutter Gottes …“, doch mehr von dem für sie tröstlichen Text wollte sich nicht mehr einstellen. Wenn ich (Marina Kojer) mich zu ihr setzte und laut mit ihr betete, konnte sie den ganzen Text leise mitsprechen, verlor ihre Angst, wurde ruhig und schlief ein. Verabschieden Sie sich jedes Mal, wenn Sie gehen, sowohl mit ein paar Worten als auch mit einem sanften Verstärken des Drucks Ihrer Hände.
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Marina Kojer, Gunvor Sramek
Es kommt manchmal vor, dass ein Mensch, kurz bevor er stirbt, noch einmal für kurze Zeit ganz klar wird. Die meisten Mitarbeiterinnen mit jahrelanger Erfahrung in der Altenpflege können von solchen Erlebnissen berichten. Der völlig desorientierte Herr B. lag schon lange Zeit im Pflegeheim, als seine schwerkranke Frau starb. Auf die Mitteilung von ihrem Tod reagierte er überhaupt nicht. Auch in den folgenden Monaten änderten sich weder seine Stimmungslage noch sein Verhalten. An dem Tag, an dem er plötzlich und unerwartet starb, sah er der Ärztin bei der Visite völlig klar und zielgerichtet in die Augen und sagte: „Ich gehe jetzt zu meiner Frau.“ Wenige Stunden später war er tot. Eine Erklärung für dieses immer wieder beobachtete Phänomen gibt es bislang nicht.
5.1.3
Phase 3 nach Naomi Feil: „Sich wiederholende Bewegungen“
Die Betroffenen ziehen sich immer weiter aus unserer Welt zurück und verlieren allmählich vollständig die Möglichkeit, sich sprachlich auszudrücken. Was für sie wichtig ist, drücken sie vorwiegend durch die für die einzelne Patientin charakteristischen, immer gleich bleibenden Bewegungen und Handlungsabläufe aus, die dieser Phase ihren Namen geben. Es kommt auch häufig vor, dass eine Kranke immer wieder ein Wort (z. B. „hallo, hallo …“) oder für sie typische Lautgebilde wiederholt. Bewegungen und Laute haben für die Betreffende eine ganz besondere Bedeutung, sie stehen für Personen, Erlebnisse oder Werte, die ihr Leben weitgehend bestimmt haben. Frau G. brauchte im Pflegeheim einen Tisch für sich allein. Sie war stundenlang damit beschäftigt, mit einer Hand, dann wieder mit beiden Händen in verschiedener Weise auf dem Tisch zu hantieren. Zuletzt nahm sie stets das Glas mit ihrem Getränk, verteilte die darin enthaltene Flüssigkeit über den Tisch und strich dann mit dem Boden des Glases sehr sorgsam über die gesamte Fläche. Als ich (Marina Kojer) Frau G. einmal mit meiner Hand in ihren Bewegungen begleiten wollte, reagierte sie mit großem Unmut und klopfte mir sehr energisch auf meine vorwitzigen Finger. Am nächsten Tag erfuhr ich von der Tochter, dass die im Krieg verwitwete Frau G. ihre beiden Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg über viele Jahre als Hausschneiderin durchbringen musste. Wenn die Kleinen mit ihren
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Die Begleitung Sterbender in den unterschiedlichen Phasen der Demenz nach N. Feil
Händchen die auf dem Tisch ausgebreitete Arbeit störten, wurde sie böse und klopfte ihnen stets energisch auf die Finger. In ihrer Welt arbeitete Frau G. auch jetzt noch als Hausschneiderin, das konnte ich jetzt deutlich erkennen. War ein Stück fertig, befeuchtete sie es sorgfältig und bügelte es dann mit dem Wasserglas. Trotz zunehmender Schwäche und Müdigkeit behalten die alten Menschen bedeutsame Bewegungsmuster bei. Ihre Bewegungen werden immer kleiner und sind zuletzt nur mehr als Andeutungen erkennbar. Die Hinweise für eine gelingende Kommunikation mit zeitverwirrten Patientinnen treffen im Wesentlichen auch für Patientinnen in der Phase der sich wiederholenden Bewegungen zu. Es bestehen keine grundlegenden, wohl aber wesentliche graduelle Unterschiede zwischen diesen beiden Phasen der Demenz: Die Betroffenen sind ausschließlich über die Gefühlsebene erreichbar; die Fähigkeit, den Inhalt des gesprochenen Worts zu verstehen, ist vollständig verloren gegangen. Berührungen sind jetzt die eigentlichen Träger der Kommunikation. Spiegeln Sie Mimik, Gestik und Lautbildungen. Damit vermitteln Sie der Patientin das Gefühl, nicht allein zu sein und verstanden zu werden. Es ist wichtig zu wissen, wo Berührungen sinnvoll sind: In der fortgeschrittenen Demenz geht nach und nach ein großer Teil der Körperwahrnehmung verloren. Dieser Prozess setzt bereits in der Phase der Zeitverwirrtheit ein. Je weiter entfernt vom Kopf eine Körperpartie ist, desto früher kann sie nicht mehr mit Bestimmtheit als zum eigenen Ich gehörig wahrgenommen werden. Bei weit fortgeschrittener Erkrankung werden Berührungen nur mehr dann sicher wahrgenommen, wenn sie an Schultern, Nacken, in den oberen Abschnitten von Brustkorb und Rücken und im Bereich des Kopfes erfolgen. Das Gesicht ist eine Intimzone. Berührungen sollten nie dort, sondern stets an eher „öffentlichen“ Körperzonen beginnen (z. B. Oberarme, Schultern).
Wie begleite ich Sterbende in der Phase der „sich wiederholenden Bewegungen“? Stellen Sie sich schon bevor Sie das Zimmer betreten auf eine Begegnung auf der Gefühlsebene ein.
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Marina Kojer, Gunvor Sramek
Nähern Sie sich dem Bett langsam und von vorne, um die Patientin nicht zu erschrecken. Wählen Sie eine Sitzposition, bei der Sie der Kranken möglichst nahe sind. Personen werden nicht mehr erkannt. Eine vorausgegangene längere Bekanntschaft ist daher in dieser Phase nicht mehr wichtig für eine gelingende Beziehung. Es entscheidet ausschließlich die Fähigkeit, mit einem Menschen mit sehr weit fortgeschrittener Demenz rasch vertraut zu werden. Dies gelingt durch Haltung, Kompetenz, Erfahrung und nicht zuletzt durch echte Zuwendung und ein offenes Herz. Sprechen Sie wenig; versuchen Sie, Ihrer Stimme dabei einen möglichst klaren, tiefen und fürsorglichen Klang zu geben. Klangfarbe und Tonfall der Stimme können Gefühl und Haltung der Sprecherin zu der Kranken transportieren. Das wichtigste Kommunikationsinstrument sind unsere sprechenden Hände. Mit beseelten Händen kann es bis zuletzt gelingen, die Kranken immer noch zu erreichen. Die Hände sollten immer zuerst „anfragen“, ob sie in diesem Augenblick wirklich willkommen sind, und sich zurückziehen, sobald sich kleine, an Atemrhythmus, Mimik oder beginnender Unruhe erkennbare Anzeichen von Abwehr zeigen. Begleiterinnen können über ihre Hände Nähe, Sicherheit, Geborgenheit und Ruhe vermitteln. Unruhige Berührungen (z. B. auf und ab streicheln), schnell wechselnde, unsichere oder fahrige Bewegungen der Hände verursachen dagegen eher Unbehagen und verunsichern die todesnahen Patientinnen. Es kann zwar bestimmt nicht schaden, die Hand zu halten, die Wahrscheinlichkeit, dass diese klassische Geste der Anteilnahme und Fürsorglichkeit die Kranke noch erreicht („das gilt mir“, „mir geschieht etwas Gutes“), ist indes überaus gering. Die Besuche sollten noch kürzer sein als in der Phase 2. Es bleibt weiterhin wichtig, sich jedes Mal kurz zu verabschieden, ehe man den Besuch beendet.
5.1.4
Phase 4 nach Naomi Feil: „Vegetieren“
In der vierten und letzten Phase haben sich die Kranken bereits vollständig in ihr Inneres zurückgezogen und dämmern vor sich hin. Ihre Augen sind meist geschlossen oder schauen blicklos ins Leere. Die Betroffenen reagieren weder auf Ansprache noch auf Berührung.
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Die Begleitung Sterbender in den unterschiedlichen Phasen der Demenz nach N. Feil
Wie begleite ich vegetierende alte Menschen im Leben und im Sterben? Immer wieder werden wir mit der Ansicht konfrontiert, dass Begleitung in dieser Phase erfolglos und daher überflüssig ist. Diese Ansicht teilen wir nicht: Es kommt vor, dass nicht mehr ansprechbare Demenzkranke auf gezielte, liebevolle Zuwendung nach einiger Zeit doch noch überraschend mit positiven Signalen reagieren (vgl. S. 262 f.). Durch kontinuierliche validierende Betreuung kann es sogar gelingen, dass Betroffene in die Phase 3, manchmal sogar in eine fortgeschrittene Phase 2 zurückkehren und wieder in ihrer Weise am Leben teilnehmen (Gutenthaler, 2009; Falkner, 2009). Wir können nie wissen, was in einem Menschen vorgeht, der scheinbar unerreichbar vor uns liegt. Auch wenn wir nicht wissen, ob unsere Zuwendung den Menschen erreicht, dürfen wir ihn nicht in Stich lassen. Empfehlenswert sind häufige, sehr kurz dauernde Besuche (zwei bis drei Minuten), in denen wir uns der Patientin konzentriert mit „ausgefahrenen Antennen“ und all unseren Sinnen zuwenden. Wunder darf man sich davon freilich nicht erwarten. Es ist am besten, in dem Bewusstsein hinzugehen, dass mit größter Wahrscheinlichkeit keine sichtbare oder spürbare Reaktion erfolgen wird. Versuche, der Sterbenden Wärme, Nähe und das Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln, sind niemals sinnlos. Oft spüren sowohl fortgeschritten Demenzkranke als auch kognitiv intakte Sterbende die Zuwendung, die sie erfahren, haben aber nicht mehr die Kraft, es uns zu zeigen. Wie auch immer: Diese Besuche macht man nicht, um „Erfolg“ zu haben, sondern um einen Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz am Ende seines Lebens nicht ganz allein zu lassen und in der Hoffnung, ihm auch jetzt noch ein wenig beistehen zu können. Selbst wenn Kranke schon weit weg sind: Sie sind noch am Leben! So kann eine einfühlsame Begleitung aussehen: Die Kontaktaufnahme erfolgt über Berührungen (entweder mit beiden Händen im Bereich der Schultern oder indem Sie eine Hand behutsam auf das Brustbein legen). Konzentrieren Sie sich während der kurzen Zeit Ihres Besuchs mit aller seelischen Kraft auf den Menschen, der vor Ihnen liegt. Setzen Sie sich möglichst nahe zu ihm hin.
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Ursula Gutenthaler
Umfassen Sie eine Zeit lang mit sanftem, ruhigem Druck beide Schultern, ehe Sie Ihre Hände langsam und mit größter Achtsamkeit weiter in Richtung Hals, Nacken und Kopf gleiten lassen. Lassen Sie ihre Hände zwischendurch immer wieder „fragen“, ob sie da, wo sie gerade sind, willkommen sind. Versuchen Sie, im Rhythmus der Sterbenden mitzuatmen, und begleiten Sie die Ausatmung eventuell mit einem Summton. Achten Sie auch auf Mitteilungen Ihres eigenen Körpers. Diese Art der Begleitung setzt ein hohes Maß an Konzentration und Intensität voraus. Verkrampfen Sie sich nicht, überfordern Sie sich nicht. Die Begleitung Demenzkranker in ihrer letzten Lebenszeit ist eine schwierige, aber auch schöne und lohnende Aufgabe, eine Aufgabe, die Kompetenz in Kommunikation mit desorientierten alten Menschen, innere Ruhe und ehrliche Zuwendung erfordert. Begleiterinnen sollten Verständnis für die Persönlichkeit der Kranken und das verinnerlichte Wissen um Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes Menschen mitbringen. Kierkegaard spricht in den folgenden Zeilen von der für Helfer erforderlichen Haltung. Seine Worte treffen auch auf die Haltung zu, die wir brauchen, um Demenzkranken bis zuletzt beistehen zu können: „Der Helfer muss zuerst knien vor dem, dem er helfen möchte. Er muss begreifen, dass zu helfen nicht zu herrschen ist, sondern zu dienen; dass Helfen nicht eine Macht, sondern eine Geduldausübung ist; dass die Absicht zu helfen einem Willen gleichkommt, bis auf Weiteres zu akzeptieren, im Unrecht zu bleiben, und nicht zu begreifen, was der Andere verstanden hat“ (zit. nach Husebø und Klaschik, 2003, S. 49).
Sterbebegleitung aus der Sicht der Pflege Ursula Gutenthaler
5.2 Sterbebegleitung aus der Sicht der Pflege Ursula Gutenthaler In meinem langen Schwesternleben habe ich viele Menschen im Leben und auch im Sterben begleitet. Bis in die Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts war Sterbebegleitung im Pflegeheim noch eine Ausnahme. Damals sah die Mehrzahl der Schwestern und Pfleger es durchaus nicht als ihre Aufgabe an, sich über die nötigste Körperpfle-
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Sterbebegleitung aus der Sicht der Pflege
ge hinaus um sterbende Patientinnen zu kümmern. Einige wenige verspürten freilich auch damals das Bedürfnis, einen alten Menschen, den sie oft lange Zeit betreut hatten, in seinen letzten Lebenstagen nicht allein zu lassen. Diese Bemühungen wurden von den Vorgesetzten im Allgemeinen nicht besonders gern gesehen und bestenfalls geduldet; sie blieben daher über lange Zeit auf das persönliche Engagement Einzelner beschränkt. Für die meisten Pflegepersonen war das Thema Tod und Sterben sowohl unheimlich als auch angstbesetzt und löste daher nur intensives Unbehagen und starke Abwehr aus. Im Nachtdienst war der am häufigsten abgegebene Kommentar angesichts einer mit dem Tod ringenden Patientin der Stoßseufzer: „Hoffentlich stirbt sie nicht in meinem Dienst!“ Wenn jemand bereit war, sich über das Nötigste hinaus um Sterbende zu kümmern, waren es am ehesten die Abteilungshelferinnen, also die am wenigsten qualifizierten Mitarbeiterinnen einer Station. Sie setzten sich aus eigenem Antrieb gelegentlich für kurze Zeit zu einer Sterbenden, hielten ihr die Hand oder wischten den Schweiß von ihrer Stirne. Diplomierte Pflegekräfte kamen in den letzten Lebenstagen oft nur zu einer Patientin, um die erforderlichen Pflegehandlungen vorzunehmen, und machten darüber hinaus keinen Versuch, in Kontakt zu treten. Auch die Ärztinnen nahmen bis auf seltene Ausnahmen die Betreuung ihrer im Sterben liegenden Patientinnen noch nicht als ihre Aufgabe wahr. Bei der Visite machten sie in der Regel nur die Tür auf, warfen einen kurzen Blick auf den Menschen, für den „leider nichts mehr zu machen war“, und machten dann die Tür rasch wieder hinter sich zu. Sterben wurde in einem Pflegeheim im Allgemeinen als peinlicher, leider ab und an unvermeidbarer Zwischenfall angesehen, den Mitarbeiterinnen zur Kenntnis zu nehmen hatten und aussitzen mussten. Die Angelegenheit wurde „offiziell“ so wenig wie möglich beachtet. Je weniger Aufmerksamkeit man dem Ganzen schenkte, je weniger davon gesprochen wurde, desto besser. Zum Glück wurde in den Heimen damals noch viel seltener gestorben als heute. Die Menschen, die zur Aufnahme kamen, waren noch nicht ganz so alt und noch nicht ganz so krank wie in den letzten Jahren. Sie lebten üblicherweise bis zu ihrem Tod noch einige Jahre im Heim. Mir selbst war die Begleitung Sterbender immer ein Anliegen. Ich hatte jede einzelne Patientin gut gekannt, oft über lange Zeit gepflegt, betreut und durch körperlich und seelisch schwere Zeiten begleitet. Es war mir daher wichtig, sie auch in dieser allerletzten Phase nicht allein zu lassen. Damit machte ich mich bei meinen Kolleginnen nicht gerade beliebt. Sie betrachteten mein Bemühen um jemanden, „der schon mehr drü-
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Ursula Gutenthaler
ben als da ist und nichts mehr davon hat“, als eine Marotte, möglicherweise auch als Ausrede, um etwas anderes nicht tun zu müssen, und achteten daher vor allem genau darauf, dass ich mich nicht vor der „eigentlichen“ Arbeit drückte. In dieser Atmosphäre der wohl nur gespielten Gleichgültigkeit dem Lebensende gegenüber konnte ich natürlich nicht erwarten, von anderen aufgefangen zu werden, wenn das Sterben einer Patientin mich seelisch stark beanspruchte. Da ich damals selbst noch kaum etwas von Palliative Care wusste und nur mein Gefühl als Anhaltspunkt dafür hatte, wie man einem Menschen in seinen letzten Tagen und Stunden helfen kann, war das sehr oft der Fall. Jahre später, ich arbeitete mittlerweile als Stationsschwester an einer anderen Abteilung, begann sich vieles zu ändern. Ich hatte das große Glück, in meiner Stationsärztin Martina Schmidl und sehr bald auch in Marina Kojer, unserer ärztlichen Leiterin, gleichgesinnte Menschen zu treffen, denen der Umgang mit sterbenden Patientinnen ein ebenso großes Anliegen war wie mir. Die Einstellung im ganzen Haus begann sich allmählich zu ändern. Ich will an dieser Stelle nicht über die palliative Pflege Sterbender im Allgemeinen und sterbender Demenzkranker im Besonderen schreiben. Darüber gibt es schon genug gute Publikationen, die jederzeit nachgelesen werden können (exemplarisch: Kern, 2007; Augustyn und Kern, 2007; Weissenberger-Leduc, 2009). Ich sehe meine Aufgabe vielmehr darin, am Beispiel der Begleitung bis zuletzt aufzuzeigen, wie es gelingen kann, den Geist und die Haltung der Palliativen Geriatrie in das Team einer Pflegeheimstation zu tragen und dort zu verankern. Durch die besonders gute, partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen mir und Martina Schmidl gelang es auf unserer Station leichter als auf vielen anderen Stationen die Initialzündung für den großen Veränderungsprozess zu setzen, der unserer gesamten Arbeit und ganz besonders dem Umgang mit Tod und Sterben eine neue Richtung gab. Wenn wir eine sterbende Patientin zu betreuen hatten, versuchten wir, unseren Mitarbeiterinnen vorzuleben, wie sorgfältig, einfühlsam und zuwendend Behandlung, Pflege und Begleitung erfolgen können und wie wichtig dafür die gute interprofessionelle Zusammenarbeit ist. Dabei achteten wir darauf, immer wieder die eine oder andere Schwester mit einzubinden. Allmählich wurde spürbar, dass die Tür zu den von Angst und Unwissenheit verbarrikadierten Herzen unserer Mitarbeiterinnen einen Spaltbreit aufzugehen begann und Interesse und Freude an der neuen Arbeitsweise wuchsen. Sterben wurde langsam zu einem Thema, über das bei Dienstübergaben, bei Besprechungen oder in den Pausen gesprochen werden konnte. Martina Schmidl
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Sterbebegleitung aus der Sicht der Pflege
und ich zeigten offen unsere eigenen Gefühle, unsere Betroffenheit und immer wieder auch unsere Hilflosigkeit und versuchten so, unsere Einstellung und Haltung in das Team hineinzutragen. Zudem gewöhnten wir uns an, dass eine von uns in jeder Teambesprechung ein etwa 15-minütiges Referat hielt und dabei über jeweils eine Facette der Palliative Care sprach, die das Team zu der Zeit gerade im Zusammenhang mit unseren Patientinnen beschäftigte. Oft erzählten wir auch über interessante Fortbildungen, die wir selbst gerade besucht hatten, und stellten in der Gruppe die Anwendbarkeit daraus gewonnener Erkenntnisse für unsere Arbeit zur Diskussion. Wenn wir Sterbende zu betreuen hatten, sprachen wir stets auch die Gefühle der Mitarbeiterinnen an: „Wie geht es dir damit?“, „Ist es sehr schwer für dich, einen Menschen loszulassen, den du so lange gekannt und mit all seinen Eigenarten liebgewonnen hast?“ Allmählich wagten alle, sich selbst und den anderen einzugestehen, dass es uns nicht gleichgültig lassen konnte, wenn jemand, der für uns fast schon ein Teil der Familie geworden war, aus dem Leben schied. Mit der Zeit sprachen auch andere mit, und es ergab sich ein offener Austausch. Der Prozess der Umstellung war für uns leichter, weil Martina Schmidl und ich uns immer über alles besprechen und in schwierigen Situationen gegenseitig stützen konnten. Beide waren wir bemüht, stets ein offenes Ohr für die Fragen und Sorgen unserer Mitarbeiterinnen zu haben. Unsere Freude war groß, als wir immer öfter feststellen konnten, dass auch in unserer Abwesenheit viel von dem, was wir uns für unsere sterbenden Patientinnen wünschten, gemacht worden war. Nach dem Tod einer Patientin konnten Mitarbeiterinnen, die die Sterbende in ihrer letzten Nacht betreut hatten oder eine besondere Bindung zu ihr gehabt hatten, sicher sein, mit mir, mit Martina Schmidl, aber auch mit jeder anderen im Team darüber sprechen zu können. Niemand war mehr gezwungen, belastende Erlebnisse oder Trauer um einen Menschen, von dem es schwer war, Abschied zu nehmen, in seinem Inneren zu verschließen und mit sich allein auszutragen. Zwei bis drei Tage nach dem Tod einer Patientin setzten wir uns immer noch einmal im Sozialraum zusammen, zündeten eine Kerze an und sprachen über den Menschen, der uns verlassen hatte. Dabei wurde geweint und gelacht. Erinnerungen an bestimmte Episoden, an kleine, lustige Begebenheiten, an typische Aussprüche oder Bewegungen wurden ausgetauscht. Dabei wurde diese Patientin mit all ihren Eigenheiten und Besonderheiten in unseren Herzen noch einmal lebendig. Eine besondere Hürde für das Team, aber auch für die Leitungskräfte war es, gemeinsam zu lernen, sowohl als Professionelle als auch als
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Ursula Gutenthaler
mitfühlende Menschen mit Therapierücknahme oder Therapieabbruch umzugehen. Unsere Ärztin achtete stets darauf, das Team nicht zu überfordern und dadurch vor den Kopf zu stoßen, dass sie es mit bereits fix beschlossenen Tatsachen konfrontierte. Gemeinsam folgten wir einer klaren, gut mitvollziehbaren Linie. Alles Wesentliche wurde bis ins Detail besprochen: Wo auf ihrem Lebensweg steht die Patientin? Was kann ihr (nicht uns!) jetzt noch helfen? Was haben wir bis jetzt unternommen? Ist alles geschehen, was sinnvoll war? Welches Ziel verfolgen wir? Jede Mitarbeiterin konnte nachfragen, sich ihre eigene Meinung bilden, diese in der Diskussion vertreten und an der gemeinsamen Entscheidung mitwirken. Eine große Hilfe für die Pflege und Betreuung Schwerkranker und Sterbender stellt die gute Dokumentation dar. Jedes Teammitglied vermochte nachzulesen, wie der gestrige Tag, die letzte Nacht verlaufen und welche Maßnahmen getroffen worden waren. Auf diese Weise war es für unsere Mitarbeiterinnen leichter, Entscheidungen zu verstehen und mitzutragen. Häufig fiel es der einen oder anderen trotz allem schwer, diese oder jene lebenserhaltende Maßnahme nicht mehr zu ergreifen, aber bald erfassten alle, dass wir jetzt zwar nichts mehr unternahmen, um das Sterben zu verlängern, aber sehr viel taten, um die Beschwerden Sterbender zu lindern, ihnen Angst und Unruhe zu nehmen und sie bis zuletzt zu begleiten. Im Lauf der Jahre kamen immer ältere und immer schwerer demente Patientinnen zu uns. Die Verweildauer bis zu ihrem Tod wurde immer kürzer, zuletzt war sie oft so kurz, dass es uns manchmal nicht mehr gelang, rechtzeitig eine Beziehung zu ihnen aufzubauen, ehe sie verstarben. Vor allem Patientinnen, die in sehr schlechtem Allgemeinzustand zu uns kamen und deren Demenz bereits so weit fortgeschritten war, dass man mit ihnen nicht mehr verbal kommunizieren konnte, stellten uns oft vor große Probleme. Glücklicherweise konnten wir unsere guten Kenntnisse in Validation nach Naomi Feil zu Hilfe nehmen und gewannen so etwas mehr an Sicherheit. Wir konnten uns z. B. darauf verlassen, dass wir auch mit schwerst Demenzkranken rasch guten Kontakt finden würden. Wir wussten, dass das Zustandekommen einer vertrauten Beziehung zu Menschen mit sehr weit fortgeschrittener Demenz nicht von der Dauer und Intensität der Bekanntschaft, sondern von der Art der Begegnung abhängt. Wenn es gelingt, diesen Menschen offen zu begegnen, sich ihnen einfühlsam und aufrichtig zuzuwenden, ist schon vieles gewonnen. Wir hatten gelernt, wie man sich behutsam dem Bett nähert, wie man die Patientin begrüßt, wo und wie es sinnvoll ist zu berühren. Es ist wichtig, oft zu kommen, aber jedes Mal nur wenige Minuten zu bleiben. Ständige Anwesenheit und dauernde Kontaktversuche überfordern schwer demenziell Er-
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Sterbebegleitung aus der Sicht der Pflege
krankte. Die Kontinuität einer Sicherheit und Geborgenheit vermittelnden Betreuung kann mit wiederholten Kurzbesuchen am besten gewahrt werden. Diese Aufgabe wird stark geforderte Teammitglieder häufig unter erheblichen Druck bringen. Ihre Arbeit lässt die nötigen Unterbrechungen oft nicht zu. Für die Stationsleitung ist es einfacher, daher habe in vielen Fällen ich diese Besuche übernommen. Ich konnte mir meine Arbeit so einteilen, dass ich jedes Mal, wenn eine Aufgabe erledigt war, zu der sterbenden Patientin schaute. Ich begrüßte sie bei jedem Besuch aufs Neue, setzte mich dann eine kurze Weile zu ihr, nahm, solange das noch möglich war, Blickkontakt mit ihr auf, berührte sie behutsam und hielt sie sanft mit beiden Händen. Stets achtete ich genau auf die Reaktionen meines Gegenübers, um rechtzeitig zu erkennen, ob mein Besuch in diesem Augenblick wirklich erwünscht war. Meist fielen nur wenige Worte. Manchmal kam es, wenn ich mich verabschiedete und aufstand, vor, dass eine Patientin mich an meinem Kleid zurückhielt. Ich verstand ihren Appell „bitte bleib bei mir“ und setzte mich wieder für ein paar Minuten zu ihr. Schon bald zeigte sich, dass auch dann, wenn die erforderliche Einstellung gegeben und der Wille vorhanden war, nicht jedes Teamglied sich gleich gut für die Begleitung von Menschen in ihren letzten Tagen und Stunden eignet. Wenn wir eine sterbende Patientin zu betreuen hatten, versuchten wir daher, die Pflegeperson, die eine besondere Beziehung zu ihr hatte und der es ein Anliegen war, sie zu begleiten, so gut es ging für diese Aufgabe freizuspielen. Einigen gelang es besonders gut, sich in der Begleitung feinfühlig auf den Schweregrad der Demenz einzustellen und so auf die Patientin zuzugehen, wie es ihr am wohlsten tat. Um dieses Gefühl zu entwickeln, braucht es keine besondere Qualifikation in der Pflege; unser Abteilungshelfer, Herr Roland, war z. B. ein ganz hervorragender Begleiter. Entscheidende Hemmschuhe für das Gelingen palliativer Pflege und Betreuung, vor allem aber für die gute Begleitung Sterbender, sind ein unzufriedenes, uneiniges Team, mangelndes Vertrauen untereinander und zu der Leitung und hohe Fluktuation. Je mehr mit fremden, von einer anderen Station ausgeborgten Mitarbeiterinnen oder gar mit geleastem Personal gearbeitet werden muss, desto stärker leiden Betreuungsqualität und Teamkultur. Bereits eine Mitarbeiterin, die weder mit Demenzkranken arbeiten will noch das nötige Interesse für Palliative Care aufbringt, kann unter Umständen ein ganzes Team destabilisieren. Es kam immer wieder vor, dass nach einer Phase, in der wir uns freuten, weil alles so gut lief, plötzlich, z. B. durch Schwangerschaften oder Pensionierungen, ein Teil des Teams wegbrach und
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Ursula Gutenthaler
durch Mitarbeiterinnen, die einen ganz anderen Arbeitsstil gewohnt waren, ersetzt wurde. Ihre Unzufriedenheit breitete sich manchmal wie ein Infektionsherd auch auf andere aus. Es entstand dann rasch der Eindruck, dass von einem Tag zum anderen gar nichts mehr richtig klappte. Zwar stellte sich in der Regel bald heraus, dass bei weitem nicht alles Erreichte verloren gegangen war und dass meist in relativ kurzer Zeit wieder ein gutes Betreuungsniveau erreicht werden konnte, doch war dies nur mit viel Arbeit, großem Bemühen, gutem Willen von allen Seiten und vielen klärenden Gesprächen zu erreichen. Einige neue Mitarbeiterinnen fanden mit der Zeit Gefallen an unserer Arbeitsweise und freuten sich dann darüber, bei uns gelandet zu sein. Es kam aber auch vor, dass Stabilisierung und gutes Klima im Team erst wieder erreicht werden konnten, wenn wir uns von einer Mitarbeiterin trennten, die nicht bereit oder nicht in der Lage war, mit demenzkranken Patientinnen palliativgeriatrisch zu arbeiten. – Auf jeden Fall sind gute Frustrationstoleranz und die Bereitschaft, immer wieder von vorne anzufangen, unverzichtbar, wenn es darum geht, die letztlich alles entscheidende palliative Grundhaltung wieder und wieder in ein Team hineinzutragen. Der langwierige Prozess des Entstehens und der Etablierung von palliativer Haltung und palliativer Kultur in einem Pflegeheimteam ist detailliert beschrieben. Ausführlich haben wir das Thema bereits in unserem Buch „Alt, krank und verwirrt“ behandelt (vgl. die Beiträge von Gutenthaler und Kojer; Michalek; Zsifkovics; Arndorfer, 2009). Abschließend möchte ich am Beispiel einer geglückten Begleitung zeigen, wie sehr dabei nicht nur die gute, kompetente und sorgsame Schwester, sondern der ganze Mensch mit all seinem Denken, Fühlen und Tun gefordert ist.
5.2.1
Herbstlicher Abschied von Frau Maria
Der 89-jährigen, schwer demenzkranken Frau Maria ging es schon seit einiger Zeit zunehmend schlechter. Sie hatte vier Jahre bei uns gelebt; jetzt galt es, Abschied zu nehmen. In der langen Zeit unserer Bekanntschaft war sie uns sehr ans Herz gewachsen. Uns verband eine ganz besondere Geschichte: Als Frau Maria in elendem körperlichem Zustand nach langem Krankenhausaufenthalt auf unserer Station aufgenommen wurde (Gutenthaler, 2009), hatte sie sich ganz in ihr Inneres zurückgezogen und war für uns weder durch Ansprache noch durch Berührung erreichbar. Sie lag fast reglos da; waren ihre Augen einmal offen, blickten sie nur ins Leere. Ein solches Zustandsbild bei einem schwer dementen Menschen nennt man üblicherweise „Endstadium der Demenz“; es gilt als hoffnungslos. Da-
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Sterbebegleitung aus der Sicht der Pflege
mit wollten wir uns nicht zufriedengeben! Wir hofften, Frau Maria, die doch vor ihrem Krankenhausaufenthalt laut Auskunft des Sohnes zwar dement, aber dennoch recht munter gewesen war, noch einmal ins Leben zurücklocken zu können, und gaben nicht auf. Immer wieder gingen wir zu ihr und versuchten mit viel Zuwendung, großer Nähe und wiederholten, liebevollen Berührungen an die alte Frau heranzukommen. Dazu nahmen wir alle für Phase vier („Vegetieren“) geeigneten Techniken der Validation nach Naomi Feil zu Hilfe. Darüber hinaus bemühte vor allem ich mich jeden Tag darum, Frau Maria durch gezielte Basale Stimulation dabei zu unterstützen, ihren eigenen Körper und die Umwelt wieder besser wahrzunehmen. Es brauchte etwa ein halbes Jahr intensiven Bemühens, bis das Wunder gelungen war: Frau Maria war wieder ins Leben zurückgekehrt. Sie nahm Anteil an der Umgebung, suchte jetzt sogar von sich aus mit uns Kontakt, aß und trank selbstständig und begann auch wieder ein paar Worte zu sprechen. In der langen Zeit intensiver Sorge und Zuwendung war unsere Beziehung zu Frau Maria besonders eng geworden und blieb es auch, solange sie lebte. Mit den Jahren war die Demenz weiter fortgeschritten und hatte allmählich eine verbale Verständigung unmöglich gemacht. Frau Maria fühlte sich aber weiterhin bei uns sicher, geborgen und verstanden. Der nonverbale Kontakt zwischen uns blieb fast bis zu ihrem Tod ungestört und herzlich. Nun lag sie schon seit Tagen im Sterben und der Abschied zog sich quälend hin. Auf Wunsch der Angehörigen hatte unser Anstaltspriester sie besucht und ihr die Krankensalbung gegeben. Frau Maria war so schwach geworden, dass sie nun auch nicht mehr in der Lage war, nonverbal mit uns zu kommunizieren. Es war uns allen ein großes Anliegen, „unserer Mizzi“ (in Wien gebräuchliche Koseform für Maria) ein sanftes Sterben zu ermöglichen. Im multiprofessionellen Team besprachen wir bis ins Detail, wie wir sie betreuen, pflegen und begleiten wollten, um ihr die Zeit, die ihr noch verblieb, zu erleichtern. Mit einer guten Schmerztherapie hatten wir bereits dafür gesorgt, dass Frau Maria nicht unnötig leiden musste. Solange sie es gut tolerierte, lagerten wir sie alle zwei Stunden behutsam um. Ihre Haut wurde regelmäßig mit Olivenöl und dreiprozentigem Lavendelöl eingerieben. Wir achteten auf eine gute, sorgsame Mundpflege in kurzen Abständen; auch Lippen, Augen und Nase wurden regelmäßig gepflegt. Jede von uns ging so oft wie möglich zu ihr, nahm nonverbal Kontakt zu ihr auf, hielt sie und blieb eine Weile bei ihr. Frau Maria wollte nicht mehr essen und trinken und spuckte alles, was ihr angeboten wurde aus. Da wir wussten, dass dies Teil des natürlichen Sterbeprozesses ist, machten
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Ursula Gutenthaler
wir uns darüber keine Sorgen, hörten aber dennoch bis zuletzt nicht auf, ihr kleine Mengen von ihren Lieblingsspeisen anzubieten. Ich hatte gehofft, durch diese vielfältigen Maßnahmen alles veranlasst und alles selbst getan zu haben, damit unsere Mizzi sich nicht mehr quälen musste und friedlich sterben konnte, doch wenn ich ihr ins Gesicht schaute, sah und spürte ich, dass es ihr nicht gut ging, dass irgendetwas sie sehr belastete. Ihre Haltung wirkte angespannt, unruhig bewegte sie den Kopf hin und her, zog die Augenbrauen hoch, auf der Stirn und um den Mund zeigten sich gequälte Fältchen, ihre Augen rollten immer wieder unstet von oben nach unten, sie rümpfte die Nase und verzog den Mund. Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Ursache dahintersteckte. Innere Unruhe? Was störte sie so sehr? Quälte sie etwas Belastendes aus der Vergangenheit? Fühlte sie sich trotz unserer Zuwendung einsam? Hatte sie womöglich doch noch Schmerzen? Behutsam veränderte ich ihre Körperlage ein wenig und blieb bei ihr, um zu sehen, ob sie dadurch ruhiger würde. Zwar wirkte sie für kurze Zeit etwas weniger angespannt, aber schon bald begann sie wieder zu grimassieren und die Unruhe stellte sich erneut in vollem Umfang ein. Ich zerbrach mir vergeblich den Kopf. Wie könnte ich ihr helfen? Was könnte ich noch für sie tun? Ich setzte mich in den Stützpunkt der Station, nahm die Pflegemappe zur Hand und schaute noch einmal genau alle in den letzten Tagen geschriebenen Berichte durch. Vielleicht fand sich ein Hinweis? Aber ich fand nichts, was mir weiterhalf. Daher beschloss ich, die ganze Mappe Seite für Seite durchzugehen. Dabei stieß ich schließlich auch auf die Biographie mit ausführlichen Informationen darüber, wie Frau Maria gelebt hatte, bevor wir sie kennenlernten. Jetzt erinnerte ich mich auch wieder an eine Erzählung ihres Sohnes: Seine Mutter hatte früher immer gerne und ausdauernd in ihrem Garten gearbeitet. Vor ihrer Erkrankung war diese Arbeit für sie über lange Zeit der wichtigste Lebensinhalt gewesen. Auch später, als sie bereits körperlich und geistig müde geworden war, pflegte sie ihre Blumen, ihr Gemüse und ihren Rasen mit großer Liebe, so gut sie es vermochte. In der letzten Zeit bevor sie im Pflegeheim aufgenommen wurde, konnte sie ihren Garten nicht mehr selbst betreuen, verbrachte aber weiterhin viele Stunden dort. Sie saß dann auf einer Bank, später lag sie auf einer Decke und freute sich noch immer über das Blühen und Gedeihen um sie herum. Der Frühherbsttag, an dem sie im Krankenhaus aufgenommen werden musste, war warm und sonnig. Beim Abschied von zu Hause weinte sie um ihren Garten. Ihr Sohn musste ihr fest versprechen, sich in ihrer Abwesen-
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Sterbebegleitung aus der Sicht der Pflege
heit gut um ihn zu kümmern. (Wie er mir einmal berichtete, tat er das auch stets nach bestem Wissen und Gewissen. Leider gediehen Blumen, Gemüse und Rasen bei ihm trotz aller Mühe niemals so gut wie bei seiner Mutter). Ich dachte nach. Der Garten hatte also im Leben von Frau Maria eine besonders wichtige Rolle gespielt. Es war Herbst, als sie sich – wie sich später herausstellen sollte – für immer von ihrem Garten verabschieden musste. Verspürte sie jetzt, da ihr Leben zu Ende ging, wieder Sehnsucht nach ihrem Garten? Es wäre wohl einen Versuch wert, ihr ein bisschen herbstlichen Garten an ihr Krankenbett zu bringen, dachte ich. Ich ging in die Parkanlage hinter unserem Haus und sammelte die schönsten Blätter, dazu noch etwas Moos, Gras und feuchte Erde. Dann ging ich mit allem, was ich gesammelt hatte, zu Frau Maria, gab Moos, Gras, Erde und einige Blätter in eine Nierentasse und richtete den Strahl des Ultraschallverneblers vorsichtig so darauf, dass sich der herbstliche Duft in dem austretenden Dampf entfalten konnte. Mit den restlichen Blättern umkränzte ich Frau Maria und legte ihr zuletzt die schönsten gelben, roten und braunen Blätter auf die Brust. Ich berührte zart ihre Hand, hielt sie ein wenig und streichelte sie sanft. Nach kurzer Zeit schloss Frau Maria die Augen, Gesicht und Körper wirkten jetzt ganz entspannt. Sie atmete kräftig durch die Nase ein und aus, als ob sie den Duft des herbstlichen Gartens in sich einsaugen wollte. Dann begann sie mit ihrem Zeigefinger meine Hand zu streicheln. Ich empfand es als Zeichen ihres Wohlbefindens und hatte das Gefühl, ihre Sehnsucht erfüllt und ihr mit diesem Gartenerlebnis tatsächlich eine Freude bereitet zu haben. Nach etwa zehn Minuten schlief sie entspannt ein. Die Unruhe kehrte auch später nicht mehr wieder. Sie starb am übernächsten Tag ruhig und friedlich in Anwesenheit ihres Sohnes. Herbstlicher Abschied Spielend trieb der Wind das bunte Laub vor sich her. Er singt das ewige Lied vom Abschied. Zarte Sommermelodien sind längt verklungen und verrauscht. Doch jeder Abschied zieht einen neuen Anfang nach sich. Annegret Konenberger
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Menschenbild und Haltung
6 Yes we can! Marina Kojer
Yes we can!
Im Auftrag der Gesellschaft setzt unsere Gesundheits- und Sozialpolitik die Bedingungen fest, unter denen die Mitarbeiterinnen von ambulanten Diensten und Pflegeheimen arbeiten. Erklärte die Politik die Behandlung, Pflege und Betreuung von Demenzkranken zur Priorität und stattete sie mit den erforderlichen Ressourcen aus, dann stünde die Demenzversorgung auch auf der Agenda der Träger ganz oben, es gäbe mehr und besser ausgebildetes Personal und die Arbeit wäre sehr viel leichter für uns. Die Gesundheitspolitik hat auch dafür gesorgt, dass das Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen Fuß gefasst hat. Eine gute Idee! Nur: Es wurde kein eigenes, auf die Belange der Pflegebedürftigen ausgerichtetes Qualitätsmanagement entwickelt, sondern ein von der Autoindustrie entwickeltes Beurteilungssystem übernommen. Damit fallen automatisch all jene Merkmale guter Betreuung weg, die sich nicht messend, zählend und wiegend erfassen lassen. Entscheidende Kriterien wie Mitgefühl, Zuwendung und einfühlsames Beobachten können somit nicht in der Wertung erscheinen. Auf diese Weise entwickelt sich ein neues Menschenbild: Aus Patientinnen (kranken Menschen) werden Kundinnen (potenzielle Käuferinnen) und im weiteren Verlauf „Fälle“, die möglichst ökonomisch gemanagt werden sollen. Doch: „Der Unterschied zwischen einem kranken Menschen beim Arzt und einer defekten Maschine in der Werkstatt ist fundamental. Wenn die Medizin das vergisst, ist sie keine mehr“ (Hontschik, 2009 S. 69); wenn die Pflege das vergisst, degeneriert sie zur Ausgabestelle für Servicepakete. Erst wenn sich ein nicht nur sach-, sondern auch menschengerechter Qualitätsbegriff im Gesundheitswesen durchsetzt, bekommt die Beziehung zwischen Patientinnen und Betreuerinnen den Stellenwert, der ihr zusteht. Wir hätten dann viel mehr Zeit für die Kranken und müssten nicht einen viel zu großen Teil unserer Zeit darauf verwenden, das System zu bedienen. Verordnungen, Bestimmungen, Gesetze, ein materialistisches Menschenbild, das sich nur an dem „Nutzwert“ einer Person orientiert und aus Menschen „Kostengrößen“ macht, das negativ geprägte Bild des hohen Alters in unserer Gesellschaft (abgebaut, verlangsamt, intolerant, körperlich und geistig unbeweglich) – all das macht Menschen, die in der Altenpflege arbeiten, das Leben schwer. Zudem verführen nicht nur einschlägige Bestimmungen, sondern auch die „allgemeine Meinung“ dazu, das eigene Fehlverhalten vor sich selbst damit zu rechtfertigen, unter den „gegebenen Umständen“ gehe es leider nicht anders. Zweifellos sind die Bedingungen für die Palliative Geriatrie nicht eben günstig. Doch niemals sind alleine die Umstände schuld –
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Marina Kojer
es ist immer die Einzelne, die darüber entscheidet, ob es nicht doch auch anders ginge. Wir sind alle für unser Tun verantwortlich und mitverantwortlich dafür, wie die Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht! Die Altenpflege hat mit zahlreichen, großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Aber muss es so weitergehen und – wie oft zu hören ist – sogar noch schlechter werden? Ich bin überzeugt davon, dass wir nicht dazu verurteilt sind, tatenlos, wenngleich bedauernd, dabei zuzusehen. Die Gesellschaft, das sind wir alle. Wir sind es, die letztlich das Sagen haben; wir sind daher auch diejenigen, die etwas verändern können. Jede von uns bestimmt das in der Gesellschaft vorherrschende Altersbild mit. Jede einzelne Pflegekraft entscheidet in jedem Augenblick, wie sie dem alten Mann, der sich nicht waschen lässt, oder den Angstschreien der verwirrten alten Frau begegnen will. Das Stationsteam legt fest, welche Werte auf dieser Station gelten sollen. Menschenbild und Haltung der Leitungspersonen bestimmen auf allen Ebenen der Hierarchie den Stil der ganzen Einrichtung maßgeblich mit. Wir können, jede an ihrem Platz, aktiv für unser Menschenbild, für unsere Ideen eintreten, wir können versuchen, Kolleginnen, aber auch Menschen in unserem Bekanntenkreis dafür zu begeistern und Vorgesetzte dafür zu gewinnen. Je mehr Menschen ernsthaft bereit sind, sich für ihre Überzeugungen einzusetzen, desto größer sind die Erfolgschancen. Sogar auf höchster politischer Ebene können auf diese Weise grundlegende Veränderungen erzielt werden, wie historische – auch zeithistorische – Beispiele zeigen. Einer einigen und entschlossenen Bevölkerung gelingt es manchmal sogar Diktatoren zu stürzen. Wird ein Projekt von Anfang an unterstützt und mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet, ist es freilich viel leichter, gute Ideen umzusetzen. Aber auch ohne politische Rückendeckung und wirtschaftliche Förderung dürfen wir uns nicht entmutigen lassen: Auch dann ist es immer wieder möglich, in Einrichtungen der Altenpflege große positive Veränderungen auf den Weg zu bringen. Die Betreuung gebrechlicher, multimorbider, großteils demenzkranker Hochbetagter kann nur dann qualitätsvoll sein, wenn wir uns bewusst machen, dass die Patientinnen unsere Lehrerinnen sind. Denn nur sie vermögen uns zu zeigen, was für sie wichtig ist und wie wir einfühlsam auf ihre körperlichen und seelischen Bedürfnisse eingehen können. Die Initialzündung dafür setzt nicht die Politik und nur selten der Träger. In der Regel ist es die Leitung einer Einrichtung, die über Abflachung der Hierarchie, partizipativen Führungsstil und Vorbildwirkung den Prozess in Gang bringt. Der erste und wichtigste Schritt besteht darin,
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selbst gegenüber Patientinnen, Angehörigen und Mitarbeiterinnen eine respektvolle und wertschätzende Haltung zu leben. Diese Haltung macht auch hellhöriger für die Probleme, Wünsche und Bedürfnisse der Kranken. Dazu zwei Beispiele: In den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gelang es Leitung und Mitarbeiterinnen einer großen Abteilung eines Pflegekrankenhauses der Gemeinde Wien ohne Unterstützung von außen, ohne zusätzliche finanzielle oder personelle Ressourcen, das Grundkonzept einer Palliativen Geriatrie zu erarbeiten und erfolgreich mit seiner Umsetzung zu beginnen (Kojer, 2009). 2004 startete das Unionhilfswerk in Berlin – dies also die Initiative eines Trägers – mit dem Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie und bemüht sich seither in seinen Heimen konsequent sowohl um Menschenbild und Haltung der Leitungspersonen als auch um Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterinnen (vgl. S. 173 ff.). In diesem Buch schlagen wir Qualitätskriterien vor, die sich an einem humanistischen Menschenbild orientieren (vgl. S. 199 ff.). Es sind weder Kriterien für ein „demenzgerechtes Wohnen“ noch für das zweckdienliche pflegerische, medizinische oder therapeutische Equipment. Forderungen dieser Art haben zwar durchaus ihre Berechtigung und ihren Stellenwert im Rahmen einer guten Betreuung. Doch die Qualität, von der wir hier sprechen, ist eine Qualität der Haltung und der erforderlichen beruflichen Kompetenz. Diese Qualität im Auge zu behalten, daran zu arbeiten und andere auf diesem Weg mitzunehmen, ist eine Aufgabe, an der jede Einzelne von uns erfolgreich mitarbeiten soll und kann.
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7 Was macht die Pflege von demenzkranken alten Menschen so schwierig? Snezana Lazelberger
Was macht die Pflege von demenzkranken alten Menschen so schwierig?
Ich bin Stationsschwester einer Spezialstation für demenzkranke alte Menschen. Derzeit betreuen wir 20 an fortgeschrittener Demenz erkrankte alte Damen und Herren. Unsere Patientinnen und Patienten sind noch gehfähig und haben fast alle einen deutlich erhöhten Bewegungsdrang. Immer wieder merke ich, dass Mitarbeiterinnen anderer Stationen unsere Arbeit für angenehmer und weniger fordernd halten als ihre eigene. Laut ausgesprochen wird diese Meinung zwar kaum, aber hinter vorgehaltener Hand gibt es genug neidvolle, nicht selten auch ein wenig abschätzige Kommentare: „Die haben ja nichts zu tun! Sie haben lauter ‚gute‘ Patientinnen, die man nicht in einem fort heben und lagern muss. So gut sollte es uns auch einmal gehen!“ Haben wir es wirklich leichter? Urteilen Sie selbst! Es ist noch früh am Morgen. Frau L. geht leicht vorgeneigt im Nachthemd und barfuß über den Gang. Sie fühlt sich offensichtlich gar nicht wohl. Ihre Körpersprache lässt keinen Zweifel daran, dass ihr etwas äußerst unangenehm ist. Worum es sich dabei handelt, ist nicht schwer zu erkennen: Sie hat Stuhl gehabt und das stört sie jetzt sehr. Ihr Bemühen, sich von dem unangenehmen Gefühl, das ihr gerade sehr zu schaffen macht, zu befreien, hat seine Spuren an ihren Händen und an dem Nachthemd hinterlassen. Ein häufiges Ereignis. Ob daraus eine dramatische Situation oder nur eine kleine, vorübergehende Störung wird, hängt von der Person ab, die jetzt auf Frau L. zukommt. 1. Die „normale“ Reaktion. Eine aufgeregte Schwester kommt eilends gelaufen: „Na bitte! Schon wieder! Bleiben Sie stehen! Greifen Sie ja nirgends hin!“ Sie ruft sehr laut über den Gang: „Hat wer Zeit? Ich brauche eine zweite!“ Frau L. umklammert haltsuchend mit einer Hand alles, was sie zu fassen bekommt (den Handlauf, eine Bank, einen Sessel), mit der anderen Hand wehrt sie die Pflegekraft energisch ab. Dabei schreit sie sehr erregt und aufgebracht: „Geh, geh, geh! Hilfe! Hilfe!“ Sie fühlt sich angegriffen und versucht, sich mit aller Kraft zu wehren. Wenn auf das Rufen der Schwester auch noch eine zweite Person erscheint, gerät Frau L. ganz außer sich, sieht sich von einer Übermacht bedroht, gefährdet, bloßgestellt, will sich nicht anfassen lassen, schlägt um sich, tritt mit den Füßen, reißt die „Angreiferinnen“, falls sie sie zu fassen kriegt, an den Haaren und hinterlässt an allem, was sie berührt, ihre braunen Spuren. Schließlich gelingt es den beiden Pflegepersonen, Frau L. mit gebremster Kraft (blaue Flecke dürfen nicht entstehen!) an je einem Unterarm zu ergreifen. Ergrimmt „begleiten“ sie die schimpfende, schreiende, sich verzweifelt sträubende alte Dame in die Dusche.
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Snezana Lazelberger
Dort hält eine sie energisch fest, die andere entkleidet sie. Schließlich landet Frau L. in der Dusche und wird sauber gemacht. Auch danach ist die alte Frau noch tief verstört und nicht eben einfach im Umgang. Kommentar einer der beiden Schwestern: „Die braucht was …“ Psychopharmaka als Pflege erleichternde Maßnahme? Das kann und darf nicht die Lösung sein! 2. Die professionelle Reaktion. Eine Schwester sieht die verzweifelte Frau L. den Gang entlangwandern. Sie geht langsam auf sie zu, begrüßt sie freundlich und nimmt mit ihr Blickkontakt auf: „Guten Morgen Frau L. Oh, ohne Schuhe! Wollen Sie Ihre Schuhe anziehen? Darf ich Sie begleiten?“ Die Schwester weiß, dass Frau L. ein ausgeprägtes Schamgefühl hat und großen Wert auf ihre Intimsphäre legt, daher fügt sie erst nach einer kleinen Pause leise und langsam hinzu: „… und ein bisschen sauber machen“. Sie nimmt ganz behutsam Körperkontakt mit Frau L. auf. Frau L. schaut sie erleichtert an und geht anstandslos mit ihr mit. Die Schwester geht mit Frau L. auf eine geräumige Toilette. „Kommen Sie; Hände waschen.“ Wenn die Hände wieder sauber sind: „Geben wir gemeinsam die Hose runter? Das ist ja unangenehm … so, gut!“ Jeder Schritt wird angekündigt und das Einverständnis von Frau L. abgewartet. Alles geschieht ganz langsam. So gelingt es, in großer Ruhe das „Malheur“ zu beseitigen. Frau L. geht es wieder gut, sie lacht die Schwester an. Diese Vorgangsweise kostet natürlich Zeit; aber nicht mehr Zeit als die Aufgabe, eine sich verzweifelt wehrende Patientin mit Gewalt sauber zu machen, eine Aufgabe, die noch dazu zwei Pflegekräfte gleichzeitig beschäftigt! Außerdem haben die Probleme mit der erregten und verstörten Frau L. mit der Wiederherstellung von Sauberkeit zumeist noch kein Ende! Die Körperpflege ist ein nicht wegzudenkender Teil unserer Arbeit, doch der größere, bei weitem bedeutsamere Teil der Betreuung demenzkranker alter Menschen ist die Beziehungspflege. Was immer zu geschehen hat, muss respektvoll, einfühlsam und im ununterbrochenen verbalen und körpersprachlichen Dialog mit der Patientin geschehen. Ein solches Zwiegespräch erledigt sich nicht nebenbei. Es erfordert ein hohes Ausmaß an Kompetenz in Kommunikation. Eine Begegnung gelingt nur dann, wenn wir es schaffen, einer verwirrten, verunsicherten oder aufgebrachten alten Frau mit fortgeschrittener Demenz auf ihre Gefühlsebene zu folgen und ihr dort zu begegnen. Dazu genügt es nicht, lieb und freundlich zu sein! Wenn uns die veränderte Erlebniswelt fremd ist und wir die „Sprache“, in der wir Perso-
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nen in den unterschiedlichen Phasen einer demenziellen Erkrankung erreichen können, nicht beherrschen, kann gegenseitiges Verstehen nur sehr schwer glücken. Diese „Sprache“ erlernt man am besten durch eine Ausbildung in Validation nach Naomi Feil. Wenn es für den erfolgreichen Einsatz dieser Methode bisher auch keine evidenzbasierten Studien gibt, so legen doch die deutlich sichtbaren Erfolge und die Erlebnisberichte der Anwender ein deutliches Zeugnis ab (exemplarisch: Breitenwald-Khalil und Falkner 2009; Falkner 2009; Kojer 2009). Validation lehrt nicht nur nützliche Techniken, sie weckt – und das ist vielleicht der größte Gewinn – Verständnis für die veränderte Welt, in der desorientierte Hochbetagte zu Hause sind. Sie öffnet Augen und Herzen für den Gefühlsreichtum und die hohe Sensibilität, die diese Menschen auszeichnen. Validation will nichts anderes sein als eine spezifische Kommunikationsmethode, die den Betroffenen dabei hilft, ihr Leben zu ihren eigenen Konditionen zu einem guten, würdigen Ende zu bringen. Besseres Verständnis fördert die Entwicklung einer neuen wertschätzenden Einstellung und Haltung. Diese Haltung deckt sich im Wesentlichen mit der Haltung von Palliative Care.
7.1 Die Palliative Haltung in der Pflege und Betreuung von Menschen mit fortgeschrittener Demenz Palliative Care verlangt von den Pflegenden neben fundierten allgemeinen Pflegekenntnissen eine Menge fachspezifisches Wissen und das Erlernen der zahlreichen Fertigkeiten einer lindernden Pflege. Wissensinhalte und Fertigkeiten lassen sich mit mehr oder weniger Mühe erlernen. Damit allein ist es aber in der Palliative Care bei weitem nicht getan! Diese Fähigkeiten sind oft wenig hilfreich, wenn sie nicht von der erforderlichen respektvollen, wertschätzenden und empathischen Haltung getragen werden. Es ist auch diese Haltung, die in der Begegnung mit demenzkranken Hochbetagten die größten Anforderungen an die Mitarbeiterinnen stellt. Sie ist an zwei Voraussetzungen geknüpft: 1. Persönliche Eignung: Patientinnen mit fortgeschrittener Demenz zu pflegen und zu betreuen ist eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit, die Begabung und Neigung voraussetzt. 2. Ausbildung: Wer nicht gelernt hat, schwierigen Situationen kompetent zu begegnen, wird kaum in der Lage sein, sich den Patientinnen in der anzustrebenden Art zuzuwenden. Da die Kompetenz
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in Kommunikation den Grundpfeiler der palliativen Demenzbetreuung bildet, möchte ich an dieser Stelle besonders auf die Bedeutung fundierter Kenntnisse in Validation, aber auch in Basaler Stimulation hinweisen (auf Letztere vor allem in ihrer Funktion als nonverbale Kommunikationsmethode). Die Haltung, die unser Verhalten zu demenzkranken alten Menschen steuert, entspringt einer ganzheitlichen Schau. Um die Schwierigkeiten und die vielen Stolpersteine aufzuzeigen, die die Pflege und Betreuung unserer Patientinnen mit sich bringt, möchte ich im Folgenden auf einige der wichtigsten Anforderungen an unsere Haltung eingehen, die sich tagein, tagaus im Arbeitsalltag einer Demenzstation stellen. Diese einzelnen Facetten sind im Grunde nicht völlig voneinander zu trennen; sie überschneiden sich, ergänzen einander und ergeben erst gemeinsam ein Ganzes. Innere Zustimmung zur Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit jedes, auch des schwerst an Demenz erkrankten Menschen. Nur auf diesem Wege kann ehrlicher Respekt entstehen. Die unleugbare Überlegenheit einer Person mit ungestörter Hirnleistungsfähigkeit in alltagspraktischen Dingen verführt dazu, ein hilflos gewordenes Gegenüber geringer einzuschätzen und weniger zu achten. Die Versuchung ist groß, über jemanden verfügen zu wollen, der sich im Leben nicht mehr zurechtfindet. („Da bleiben Sie jetzt sitzen!“, „So geht das nicht!“, „Jetzt machen Sie endlich den Mund auf!“) Verständnis für das Anderssein der Anderen. Es geht darum, nicht nur mit dem Kopf, sondern auch auf der Ebene der eigenen Gefühlswahrnehmung zu begreifen, dass der demenzkranke Mensch so sein muss, wie er ist, dass er von uns nicht verändert werden kann. Akzeptanz der Anderen ohne Wenn und Aber. Es ist nicht nur völlig sinnlos, es ist auch verletzend und zutiefst verunsichernd für diese hochsensiblen Menschen, wenn man sie immer wieder korrigiert und vergeblich versucht, sie zu der Art von Patientinnen zu machen, mit denen sich einfacher arbeiten ließe. Die Akzeptanz der jeweiligen Wirklichkeit, in der eine Patientin gerade lebt. Frau S. hat früher als Krankenschwester gearbeitet. Diese Lebensaufgabe war für sie immer sehr wichtig und ist es auch heute noch. Jetzt ist unsere Station ihr Arbeitsplatz; sie fühlt sich wieder als Krankenschwester. Ich bin für sie die Oberschwester und damit eine Respektsperson, „die letzte Instanz“, an die man sich zu wenden hat, wenn man etwas braucht. Zu den Mitarbeiterinnen verhält sie sich
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„kollegial“. Sie ist sehr fleißig und freut sich, wenn sie sich „im Dienst“ nützlich machen kann. Dazu bekommt sie auch reichlich Gelegenheit. Immer wieder fragt sie nach, was es noch zu tun gibt, und freut sich sehr über die Anerkennung ihrer Leistungen. Besonders glücklich macht es sie, wenn wir sie als „Fachfrau“ um Rat fragen. Täglich macht sie einen Kontrollgang durch die Station: „Wenn der Primar kommt, muss alles in Ordnung sein!“ Zumeist ist sie ganz zufrieden mit dem, was sie sieht: „Na ja, schaut ja ganz ordentlich aus.“ Mich nahm Frau S. vor allem in den ersten Wochen der Eingewöhnung stärker in Anspruch. Täglich gegen 15 Uhr klopfte sie aufgebracht an meine Tür und holte mich vom Computer weg: „Oberschwester, schauen Sie sich das an! Die rennen ja alle herum! Wir werden mit der Arbeit nicht fertig! Die müssen ja ins Bett!“ Oft gelang es mir, sie mit der Versicherung zu beruhigen, dass wir leicht fertig werden, wenn wir alle zusammen anfassen, und sie davon zu überzeugen, dass es für sie nach so viel Arbeit jetzt Zeit wäre, einmal Pause zu machen. Nicht selten hörte ich dann aber bereits nach kurzer Zeit die sehr laute Stimme von Frau S. aus einem Zimmer. Ich ging der Stimme nach. Einmal hatte Frau S. gerade eine kleine, zarte Patientin gegen deren Willen auf ein Bett gesetzt, pflanzte sich jetzt, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihr auf und fuhr sie energisch an: „Jetzt horchen Sie einmal zu! Sie sind die Patientin und ich bin die Schwester! Wenn ich sag’, legen Sie sich nieder, dann legen Sie sich nieder!“ Die andere stand auf und ging weg. Frau S. sah mich in der Tür stehen und hoffte auf meine Unterstützung: „Oberschwester so schaffen wir das nie! Jetzt ist es schon bald vier Uhr und die rennen noch immer herum!“! Ich ersuchte sie, mir bei einer dringenden, sehr wichtigen Arbeit zu helfen. Frau S. faltete dann mit voller Hingabe Wäsche zusammen oder wischte die Tische ab. Ich sagte: „Was sollte ich nur ohne Sie machen, Frau S.! Sie sind wirklich tüchtig!“ Geduld haben, Bereitschaft, sich trotz Zeitdruck (ein wenig) Zeit zu nehmen. Wir haben viel Arbeit und die Zeit, die dafür zur Verfügung steht, ist oft knapp bemessen. Vor allem in den Morgenstunden ist in der Regel sehr viel zu tun. Frau G., eine kleine, sehr gepflegte und adrette Frau, sucht regelmäßig, sobald sie in der Früh munter wird, nach ihrem Mann. Sie geht herum und ruft immer wieder laut: „Erich, Erich, so komm doch her!“ Eine Schwester geht auf sie zu: „Guten Morgen Frau G.!“
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Frau G. schaut die Schwester an und sagt erfreut: „Guten Morgen.“ „Was brauchen Sie denn, Frau G.?“, fragt die Schwester. Frau G. antwortet in breitem steirischem Dialekt: „Jo aussi will i!“ Gleich darauf strahlt sie die Schwester an und sagt: „Komm her zu mir!“ Sie freut sich über den Kontakt und will ihn festhalten. Dann zeigt sie auf ihre schönen, noch immer dichten weißen Haare: „I hab früher vü mehr Haar g’habt! Vü, vü!“ Über ihre schönen Haare spricht sie besonders gerne; sie ist sehr stolz auf sie und möchte dafür bewundert werden. Auf ihren Mann kommt sie jetzt nicht mehr zu sprechen. Sie ruft ihn stets, wenn sie etwas braucht. Früher war er immer zur Stelle gewesen, um ihr zu helfen. Im Augenblick sind ihre Bedürfnisse auch ohne Erich erfüllt: Sie hatte Bedürfnis nach Gesellschaft, wollte ein wenig plaudern und dabei als schöne und gepflegte Frau wahrgenommen werden. Einfühlsame Beobachtung. Positive Kontaktaufnahme, das Entstehen von Beziehung und der Aufbau von Vertrauen gelingen nur mit wachen Augen und offenem Herzen. Um den alten Menschen nicht unnötig zu erschrecken und damit Angst und Abwehrhaltung zu provozieren, gilt es, bei jeder Annäherung erst einmal festzustellen, ob man überhaupt schon wahrgenommen wurde. Vor jeder Handlung muss im steten Austausch das Einvernehmen mit dem Gegenüber gesucht und hergestellt werden. Einen ganz besonders hohen Stellenwert hat diese Form der Beobachtung, wenn es darum geht, die Schmerzen eines alten, schwer demenziell erkrankten Menschen möglichst frühzeitig zu erkennen, auch wenn dieser keine Worte mehr dafür hat. Frau K. war sehr unruhig. Sie stand immer wieder auf, ging zum Handlauf, blieb dann leise vor sich hin jammernd dort stehen, seufzte, stöhnte und riss die Knöpfe ihrer Bluse ab. In der Nacht schlief sie sehr schlecht. Uns fiel auf, dass sie immer wieder ihre Schuhe auszog und barfuß weiterging. Das schien ihr gutzutun. Taten ihr die Füße weh? Wir schauten uns die Füße genau an, konnten aber nichts Auffallendes feststellen. Ich bat unsere Stationsärztin, die Füße von Frau K. zu untersuchen. Das tat sie sehr sorgfältig – aber auch sie fand nichts und vermutete psychische Ursachen für das auffällige Verhalten. Wir versuchten, den Zustand mit Hilfe regelmäßiger validierender Gespräche, Basaler Stimulation und Aromapflege zu verbessern. Nichts half. Mittlerweile waren wir auf Grund laufender einfühlsamer Beobachtungen überzeugt davon, dass Frau K. Schmerzen hatte, und baten unsere Ärztin, mit einer Schmerztherapie zu beginnen, auch wenn die
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Schmerzursache nicht bekannt war. Frau Dr. M. war schwer zu überzeugen, gab aber schließlich nach und verschrieb eine niedrig dosierte Therapie. Frau K. wirkte weiterhin gequält. In wachsender Verzweiflung machte die Ärztin einen Versuch mit Psychopharmaka. Die Patientin blieb sehr unruhig, nur jammerte sie jetzt leiser und langsamer, ging unsicher und war stärker sturzgefährdet. Die Mittel wurden wieder abgesetzt. Wir baten Frau Dr. M., die Schmerztherapie zu steigern, aber sie wollte der Sache erst auf den Grund gehen. Da Frau K. beim Gehen auffallend zu humpeln begonnen hatte, wurde sie zum Röntgen geschickt. Becken, Hüften und Knie zeigten dem Alter entsprechend normale Befunde. Auch Blut- und Harnbefunde ergaben keine wesentlichen pathologischen Ergebnisse. War das Verhalten von Frau K. wirklich „nur“ eine Folge ihrer Demenz? Wir Pflegepersonen konnten uns damit nicht zufriedengeben. Aus unserer Sicht sprach das Verhalten von Frau K. deutlich für Schmerzen in den Füßen. Auf unsere dringenden Bitten hin schickte Frau Dr. M. die Patientin nun auch noch zum FußRöntgen: Es fanden sich Fersensporne an beiden Füßen. Frau K. erhielt Einlagen für ihre Schuhe und für den Anfang eine adäquate Schmerztherapie. Daraufhin behielt sie ihre Schuhe an und wurde rasch ruhiger. Das Tempo der betreuten Person akzeptieren. In den letzten 50 Jahren hat sich die Geschwindigkeit, in der unser Arbeits-, aber auch unser Privatleben abläuft, stark gesteigert. Mit zunehmendem Alter werden die Menschen aber allmählich immer langsamer. Darüber hinaus sind Patientinnen mit fortgeschrittener Demenz deutlich in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt und können sich kaum mehr konzentrieren. Die Diskrepanz, die so zwischen der Erlebniswelt von desorientierten Hochbetagten und jener ihrer Betreuerinnen entsteht, kann nur von Seiten der „Schnellen“ verkleinert werden. Diese „Entschleunigung“ stellt, wie die anfangs beschriebene Situation mit Frau L. zeigt, hohe Anforderungen an die Pflegekräfte. Bereitschaft, jeden Tag und jedes Mal wieder von vorne anzufangen. Die 86-jährige Frau H. ist eine fröhliche und kontaktfreudige Frau. Sie kann sich verbal noch sehr gut ausdrücken, ist aber völlig desorientiert. Eine „angenehme“ Patientin – mit einer Ausnahme: Sie will mindestens einmal, oft auch mehrmals täglich, die Station verlassen und tut das, da sie ist sehr gut zu Fuß ist, auch blitzschnell. Durch die Ankündigung der nächsten Mahlzeit lässt sie sich vielleicht zunächst noch davon abbringen: „Gut, dann esse ich noch – aber dann
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muss ich wirklich gehen.“ Kaum mit der Hauptspeise fertig, steht sie auf, geht in ihr Zimmer, packt ihre Sachen in ein Bündel und verabschiedet sich vergnügt: „Vielen Dank für Speis und Trank! Ich geh jetzt!“ Sie macht die Tür auf (der Alarm schrillt), verlässt die Station und beginnt munter die Stiegen hinunterzugehen. Eine Schwester kommt ihr nach: „Frau H., wo möchten Sie denn hingehen? Es gibt noch etwas Gutes zu essen!“ Frau H. bleibt auf der Stiege stehen, schüttelt den Kopf und sagt freundlich, aber bestimmt: „I bitt ihna, i muass ja ham! I hab ja a Arbeit daham, i mach ja alles allein! I kann ja net einfach so lang wegbleiben, weiß ja kaner, wo i bin. I kann ja nicht einfach weg sein! I muass den Mistkübel ausleeren! Wie stellen Sie sich das vor?“ „Wo sind Sie denn daheim?“, fragt die Schwester. „Eh net weit weg. Ist ja nur das klane Stückl da … Wie heißt das?“ Schwester: „Sie haben ja keine Jacke an; es ist kalt draußen.“ Frau H.: „Na, i hab ka Zeit!“ Die Schwester fragt nochmals: „Sollen wir die Jacke miteinander holen?“ Frau H. zuckt die Achseln: „Na ja.“ Ihr Bündel weiterhin fest unter dem Arm folgt sie der Schwester zurück auf die Station. Es kommt manchmal vor, dass sie unterwegs im Gespräch mit der Schwester ihr Anliegen vergisst. Meistens aber lässt sie sich die Jacke anziehen und sagt dann vergnügt: „Aber jetzt geh ma!“ „Wollen Sie mit mir mitgehen und mir ein bisschen helfen?“, fragt die Schwester, „ich habe noch etwas zu erledigen.“ In der Regel geht Frau H. mit. Besonders groß ist die Freude und Befriedigung der alten Frau, wenn sie dabei die verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen darf, den Stationshund zu führen. Meist genügt eine Runde um das Haus. Danach ist Frau H. sehr zufrieden. Sie hat Bewegung gemacht, sich verstanden gefühlt, sich über das Gespräch mit der Schwester gefreut und – sehr wichtig für sie – sie hat den Hund geführt und sich dadurch nützlich gemacht. Arbeiten und nützlich sein haben in ihrem Leben einen sehr hohen Stellenwert. Nach diesem harmonischen und befriedigenden kleinen Ausflug bleibt Frau H. in der Regel für den Rest des Tages problemlos auf der Station. Obwohl hier die Validation nicht optimal angewandt wurde – die Schwester hat mehrfach vergeblich versucht, die alte Frau abzulenken, statt gleich auf das deutlich erkennbare Bedürfnis, nützlich zu sein („I hab ja a Arbeit daham …“), einzugehen –, ist diese Begegnung letztlich gut gelungen. – Aber spätestens am nächsten Tag packt Frau H. wieder ihr Bündel. Am nächsten Tag … Es ist viel zu tun, ein Brechdurchfall grassiert auf der Station, eine Patientin hat Bauchkrämpfe und fiebert hoch, einige andere sind sehr unruhig. Der Alarm schrillt; Frau H. beginnt frohgemut die Stiegen hinunterzugehen. Eine Schwester ruft ihr
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nach: „Kommen Sie bitte zurück, Frau H.!“ Frau H. schreit zurück: „Na! I hab no was zu tun!“ Die Schwester seufzt resigniert und geht ihr nach. Auf der Stiege entspinnt sich eine Diskussion. Schwester (etwas entnervt): „Kommen Sie bitte auf die Station!“ Frau H.: „Na! Was wollen S’ denn, i hab was zu tun!“ Nach mehrmaligem Hin und Her wird die Diskussion lauter und hitziger. Frau H.: „ Glauben S’, i bin scho ganz deppert? Dass i net weiß, was i tua?“ Aufregung auf beiden Seiten. Die Schwester wird immer ungeduldiger; Frau H. will nur weg: „Nein! I geh jetzt! Wer sind Sie überhaupt?“ Sie reißt sich los, geht sehr zielstrebig bis zum Ausgang, hält dann inne, wird unsicher: „Wo muass i denn jetzt hingehen?“ Resigniert schüttelt sie den Kopf und lässt sich unzufrieden und sichtlich geknickt von der seufzenden Schwester zurückführen. Zurück auf der Station mahnt die Schwester: „Jetzt bleiben Sie aber da!“, dreht sich um und wendet sich sofort einer anderen Arbeit zu. Kurze Zeit darauf schrillt der Alarm – Frau H. ist schon wieder auf der Stiege. Die Schwester wischt sich den Schweiß von der Stirne. „Die Frau ist ein Wahnsinn, die rennt die ganze Zeit weg. Heute habe ich sie schon fünfmal zurückgeholt!“ Die Bereitschaft, die Führung abzugeben und sich von der Patientin zu ihren Zielen führen zu lassen. Diese Facette der Haltung zeigt sich zum Beispiel in der Bereitschaft, ein „Nein“ zu akzeptieren („Ich will jetzt nicht essen, mich nicht hinsetzen, keine Medikamente nehmen, mich nicht waschen …“), auch wenn es die eigene Arbeitsroutine stört. Ein Mensch, dem seine Erkrankung so viel an Selbstständigkeit genommen hat, braucht zum Erhalt seines Selbstbewusstseins und um sich selbst nicht als Person zu verlieren dringend die Möglichkeit, dort, wo es noch möglich ist, Entscheidungen zu treffen, eigenständig zu handeln und Erfolgserlebnisse zu haben. All diese Beispiele zeigen, worin die wesentlichen Schwierigkeiten in der Pflege und Betreuung alter Menschen mit fortgeschrittener Demenz bestehen. Im Vordergrund steht die allgegenwärtige psychische Belastung. Sie begleitet uns Minute für Minute durch unseren beruflichen Alltag. Unsere Patientinnen leben in ihrer Welt und drücken ihre Bedürfnisse in ihrer Art und Weise aus. Unsere Aufgabe ist es, jeder einzelnen von ihnen auf ihre Gefühlsebene zu folgen, mit ihr in Beziehung zu treten, darauf zu achten, sie nicht zu verletzen, ihre körperlichen Schmerzen und quälenden Beschwerden zu erkennen und möglichst zu lindern. Darüber hinaus müssen wir ihre seelischen Bedürfnisse (z. B. nützlich sein, Sehnsucht nach Geborgenheit, nach
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einer Bezugsperson) und ihre Ressourcen wahrnehmen und ihr so gut wie möglich dabei helfen, sich als wertvolles Mitglied der Gemeinschaft zu fühlen. Dies alles fordert uns ohne Unterbrechung sowohl in unserer fachlichen als auch in unserer menschlichen Kompetenz und ist daher von niemandem vollständig zu erbringen. Zum Glück verzeihen uns unsere Patientinnen auch unser Fehlverhalten, wenn sie spüren, dass wir ihnen ehrlich zugewandt sind. Dieses Zugewandtsein erklärt auch, warum wir trotz aller Belastungen gerne unserem Beruf nachgehen.
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Der Einfluss des Personals auf Lebensqualität und Sterbekultur in Pflegeheimen
In Einrichtungen der stationären Altenpflege leben immer mehr hochbetagte, schwer pflegebedürftige, multimorbide und an Demenz erkrankte Bewohnerinnen. Ein vom Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie (KPG) durchgeführtes Forschungsprojekt in Berliner Pflegewohnheimen macht dies beispielhaft deutlich (Müller und Woskanjan, 2009): Bewohnerinnen litten hauptsächlich an Herz-KreislaufKrankheiten, Stoffwechselerkrankungen (insbesondere Diabetes) und degenerativen Veränderungen des Bewegungsapparates. Fast 50 % waren dement. Psychische Krankheiten wie Angststörungen und Depressionen fanden sich bei jeder Fünften. Im Durchschnitt litten die Bewohnerinnen an Krankheiten aus drei verschiedenen Diagnoseklassen. Wenn das Sterben näherrückte, nahm die Häufigkeit von Schmerzen und anderen quälenden Symptomen deutlich zu. Fast alle Bewohnerinnen bedurften zu dieser Zeit einer kontinuierlichen medizinischen Betreuung. Das Durchschnittsalter zum Todeszeitpunkt betrug 88 Jahre. Das Forschungsprojekt ergab weiterhin, dass das Pflegepersonal der Begleitung der Bewohnerinnen bis zum Tod einen hohen Stellenwert beimisst. Allerdings sind die Pflegenden mehrheitlich der Meinung, dass für diese Tätigkeit eine spezielle Ausbildung und persönliche Eignung wichtig sind. Nur wenige Mitarbeiterinnen fühlen sich jedoch durch ihre Berufsausbildung auf die Betreuung von demenzkranken und sterbenden Menschen ausreichend vorbereitet. Sie wünschen sich vor allem Kenntnisse in Palliativmedizin und -pflege, wüssten aber auch gerne mehr über das Verhalten in Notfällen, über die Gesprächsführung mit Angehörigen und über den Umgang mit Demenzkranken. Des Weiteren wünschen sich die Mitarbeiterinnen Anerkennung durch die Leiterinnen und sie legen Wert auf ein gutes Betriebsklima. Dieses „gefühlte Klima“ ist von mehreren Faktoren abhängig: Anerkennung der Betreuungs- und Begleitungsaufgaben als vollwertige Tätigkeit Vermeidung von persönlicher Überlastung Sinnvolle Bildungsangebote, die auch verlässlich wahrgenommen werden können Ermunterung zur weiteren Qualifizierung Wertschätzung für eigene Ideen und Anregungen
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8.1 Unkenntnis und Überforderung: Ein Teufelskreis Erkrankungen, insbesondere die Demenz mit ihren Einschränkungen und Veränderungen, erfordern differenzierte Angebote, die den jeweiligen individuellen Bedürfnissen der Kranken gerecht werden. Kein leichtes Unterfangen im pflegerischen und medizinischen Alltag und in einer Gesellschaft, in der Altern, Sterben und Tod oft noch tabuisiert werden. Die Unsicherheit im Umgang mit hochbetagten Menschen sowie mit ethischen Fragen im Umfeld des Todes ist nach wie vor groß. In den Pflegeheimen fehlen vielfach fachliche Kenntnisse, ethische Standards und eine geeignete Organisationskultur. Dies führt dazu, dass die Bewohnerinnen häufig aus Unkenntnis entwürdigend behandelt werden. Wird ein demenzkranker alter Mensch nicht mehr als Person, sondern als Störung des Pflegeablaufes betrachtet, dann führt das in der Regel zu gravierenden Fehlern bei Pflege und Betreuung. Solche Fehler können wiederum Depressionen oder Aggressionen der Bewohnerinnen auslösen – als Folge nimmt auch die Unzufriedenheit sich sorgender Angehöriger zu. Es startet ein Teufelskreis, unter dem nicht nur Bewohnerinnen und Angehörige, sondern auch Mitarbeiterinnen massiv leiden. Viele Mitarbeiterinnen leiden zudem unter dem schlechten Image der Altenpflege. Positive Nachrichten schaffen es immer noch selten in die Medienwelt und damit in das Bewusstsein der Gesellschaft; berichtet wird eher über Skandalöses. Überforderung des Personals sowie unzureichende Finanzierung der geriatrischen Pflege werden dann zwar bedauert, Konsequenzen werden aber nur selten gezogen. Als Projektleiter des KPG berate ich Pflegeheime und andere Einrichtungen für demenzkranke und sterbende geriatrische Patientinnen. Einige dieser Einrichtungen entschließen sich dazu, das Konzept der Palliativen Geriatrie zu übernehmen, und sind damit sehr erfolgreich. Hier gelingt trotz teilweise schwierigen Rahmenbedingungen, was bisher eher selten ist: eine gute, liebevolle Pflege und Betreuung der hochbetagten und demenzkranken Menschen bis zum Lebensende, ausgeführt von Schwestern und Pflegern, die sich dabei wohlfühlen. Die wichtigsten Faktoren, die zu solchen positiven Veränderungen führen, werden im Folgenden kurz beschrieben.
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8.2 Lebenswertes Leben bis zuletzt als Kernauftrag der Altenpflege Zunehmend mehr alte Menschen können weder zu Hause noch in Wohngemeinschaften für Demenzkranke adäquat versorgt werden. Daher gewinnen Pflegeheime als letztes Zuhause alter Menschen immer mehr an Bedeutung; sie müssen sich zwei wesentliche Ziele setzen: 1. Der Alltag ist so zu gestalten, dass sich sowohl Bewohnerinnen als auch Mitarbeiterinnen wohlfühlen. 2. Es ist eine Kultur des Lebens und Sterbens zu entwickeln, d. h., es sind konzeptionelle, personelle und organisatorische Voraussetzungen zu schaffen, die ein Leben und Sterben in Würde möglich machen und den Bedürfnissen der Bewohnerinnen entsprechen. Todesnähe ist ein Charakteristikum der Geriatrie und muss daher in der Arbeit der Heime ihren Niederschlag finden. Der Umgang mit dem Sterben der Bewohnerinnen gehört zu den qualifizierten geriatrischen Kompetenzen (Frühwald, 2008). Das bedeutet nicht, dass ständig über Sterben und Tod gesprochen werden soll und die aktivierende Pflege unterbleiben kann. Es gilt aber, dem Thema Abschied grundsätzlich mehr Beachtung zu schenken und das dafür erforderliche Wissen und Können zu erwerben. Hochbetagte haben schon viele Abschiede hinter sich; im Heim kommen neue Abschiede hinzu, etwa der Abschied vom Geschmackssinn („Nichts schmeckt mehr so wie früher!“), der Abschied von Fähigkeiten („Ich kann nicht einmal allein zur Toilette gehen!“) oder der Abschied von der Frau im Nachbarzimmer. Deshalb ist es wichtig, dass Mitarbeiterinnen die Biographien, Vorlieben und Abneigungen der betreuten Menschen kennen. Sensibles Beobachten, einfühlsame Gespräche und ein guter Kontakt zu den Angehörigen helfen den Bewohnerinnen, besser mit Leistungseinbußen und Verlusten zurechtzukommen. Dies gelingt nur, wenn Bewohnerinnen und Angehörige von Anfang an von einer offenen, vertrauensvollen, geduldigen und unterstützenden Atmosphäre umgeben sind. Darum beginnt „Begleitung bis zuletzt“ bereits mit dem Einzug in eine Pflegeeinrichtung. Lebensendlichkeit und Abschied sollten auch im Interesse der Mitarbeiterinnen gelebt und nicht verschämt verschwiegen werden. Dann können Pflegekräfte diesen Themen gelassen be-
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gegnen und auf die Bedürfnisse der Bewohnerinnen eingehen. Es gilt, die Signale der alten Menschen einfühlsam wahrzunehmen und so zu beantworten, dass jede Einzelne bis zuletzt ihren individuellen Weg gehen kann. Das ist keine leichte Aufgabe. Darum ist es gut, sich mit den eigenen Hoffnungen, Fragen und Ängsten auseinanderzusetzen – so wie eine Mitarbeiterin, die mich am Sterbebett einer 78-Jährigen fragte: „Werde ich auch einmal so daliegen?“
8.3 Gute Konzepte geben Sicherheit Gute Konzepte berücksichtigen, dass Hochbetagte mit und ohne Demenz unter unheilbaren, chronisch fortschreitenden Krankheiten und deren Symptomen leiden. Die Komplexität der Beschwerdebilder erfordert von Anfang an individuelle palliative Angebote, die ein beschwerdearmes Leben und das größtmögliche Ausmaß an Selbstbestimmtheit zum Ziel haben. Damit dies gelingen kann, brauchen die Pflegeheime ein Konzept für ihre Arbeit, positive Ziele und vor allem die gemeinsame Diskussion der Beschäftigten hierüber. Hieraus erwächst der unschätzbare Vorteil, dass möglichst viele mit dem Thema vertraut sind und sich hinter „ihrem“ Konzept versammeln. Es ist daher nicht empfehlenswert, das Konzept schnell von einer Qualitätsbeauftragten schreiben zu lassen. Vielmehr sollten die Grundsatzfragen von den Mitarbeiterinnen selbst diskutiert und beantwortet werden. Einige seien hier kurz aufgezählt: Welche Bedürfnisse haben Demenzkranke? Wie wird die pflegerische und medizinische Betreuung sichergestellt? Welche Begleitangebote sind wichtig und warum? Wie werden Angehörige eingebunden? Welcher baulichen Voraussetzungen bedarf es? Was zeichnet eine wohnliche Atmosphäre aus? Wie werden Teamarbeit und Kooperation mit externen Partnern gelebt? Wie werden Mitarbeiterinnen eingearbeitet und motiviert? Wie wird die Betreuungsqualität gemessen und gesichert? Wer macht was und mit wem und für wen? Sind diese Fragen geklärt, dann finden Pflege und Betreuung nicht nach „Schema F“ statt, sondern geben sinnvolle Antworten auf die unterschiedlichen Lebenssituationen der Menschen, die sie in An-
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spruch nehmen. Das macht die Arbeit spannend und herausfordernd – ein schönes Gefühl für Mitarbeiterinnen. Sie arbeiten jetzt ziel- und lösungsorientiert und haben Freude daran. Leitlinien, etwa zur Sterbebegleitung oder zum Umgang mit Demenzkranken, ergänzen ein solches Konzept sinnvoll. Ich habe erlebt, dass eine Leitlinie zur Sterbebegleitung drei Jahre diskutiert wurde und das ist durchaus in Ordnung. Nun bietet diese Leitlinie eine für alle verbindliche Grundlage, wie die Begleitung von sterbenden Menschen sowie deren Angehöriger in ihren Grundzügen gestaltet werden soll. Ein ethisches Fundament für die tägliche Altenpflege ist entstanden. Das schafft Sicherheit im Arbeitsalltag. Darüber hinaus bewähren sich sinnvolle Standards und Notfallpläne, z. B. zum Umgang mit Suizidabsichten oder zu Fragen am Lebensende. Selbstverständlich müssen alle Handlungsanleitungen in Qualitätszirkeln, Teamsitzungen, Fallbesprechungen und praxisrelevanten Fortbildungen kontinuierlich weiter diskutiert und reflektiert werden. Qualitätsmanagement wird so für die Mitarbeiterinnen lebendig und praktisch erlebbar. Es geht nicht mehr um starre Abläufe und Strukturen oder um eine Dokumentation, die bestenfalls als Leistungsnachweis taugt. So viel Dokumentation wie nötig, so wenig Dokumentation wie möglich, lautet vielmehr die Devise. Außer einem vernünftigen Konzept sind ausreichende personelle Ressourcen notwendig, damit die individuelle Betreuung der Bewohnerinnen überhaupt möglich wird. Des Weiteren brauchen Mitarbeiterinnen einen stabilen Dienstplan. „Ich gehe in meiner Freizeit nicht mehr ans Telefon. Womöglich ist meine PDL dran!“, sagte mir eine Mitarbeiterin vielsagend. Nur wenn sich der Dienstplan am realen Pflege- und Betreuungsbedarf der Bewohnerinnen orientiert, können sich Mitarbeiterinnen wirklich auf die alten und kranken Menschen einstellen. Wo dies nicht so ist, werden Mitarbeiterinnen häufiger krank. Auch eine schlechte Arbeitsorganisation oder der mangelnde Einbezug von Ideen der Mitarbeiterinnen können zu Mutlosigkeit, Resignation und erhöhter Krankheitsanfälligkeit führen. Hier muss schnell reagiert werden, etwa durch Teambildungsprozesse und das Kultivieren einer offenen und vertrauensvollen Gesprächskultur. Außerdem brauchen Mitarbeiterinnen einen überschaubaren Arbeits- und Verantwortungsbereich. „Wie soll ich mich auf Demenzkranke einlassen, wenn ich mal hier und mal dort arbeite?“, klagte eine Mitarbeiterin einer großen Pflegeeinrichtung. Es wäre zu wünschen, dass mehr Pflegeheime erkennen würden, dass zufriedene Mitarbeiterinnen gute Mitarbeiterinnen sind.
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8.4 Ängste erkennen und reduzieren Unter den vielen Sorgen und Ängsten im Arbeitsalltag steht für die Mitarbeiterinnen an erster Stelle die Sorge um die Bewohnerinnen: „Was ist, wenn es Frau Meier am Abend schlechter geht?“ „Habe ich etwas vergessen?“ „Was mache ich, wenn Frau Krause schreit oder nach mir schlägt?“ „Was erwartet mich hinter der Zimmertür der Sterbenden?“ Auch der organisatorische Ablauf kann Angst machen, wenn man sich der Aufgabe nicht ganz gewachsen fühlt, z. B. Angst davor hat, etwas für eine anstehende Qualitätsprüfung schriftlich formulieren zu müssen, oder davor, etwas im Team anzusprechen. Mir fällt immer wieder auf, dass Mitarbeiterinnen mitunter Angst vor ihren Kolleginnen oder vor der Leitung haben. Eine Spirale der Unsicherheit setzt sich in Gang und zeitigt das beängstigende Gefühl, allem nicht mehr gewachsen zu sein. Ängste der Mitarbeiterinnen rechtzeitig zu erkennen und ihnen zu begegnen ist darum Aufgabe der Leitungen. Allein das Aussprechen der Angst wirkt meist bereits entlastend. Wann immer möglich, sollten Mitarbeiterinnen Angst machenden Situationen nicht allein ausgesetzt werden. Hier hilft vor allem ein gutes Team. Ein gutes und kollegiales Verhältnis im Team und eine von Vertrauen getragene Beziehung zur Leitung geben Sicherheit. Gute Teamarbeit zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es nicht als Zeichen von Schwäche gilt, eine Kollegin zu Hilfe zu holen, wenn man allein nicht weiterweiß. Auch eine freundliche räumliche Atmosphäre wird von Pflege- und Betreuungskräften als sehr wohltuend und entlastend erlebt.
8.5 Bildung mit Herz und Verstand Weiterbildung ist unerlässlich. Dabei geht es nicht um bloße Informationsaufnahme, vielmehr um gemeinsames Lernen, um eine gemeinsame Entwicklung, die auch aus der Erfahrung, aus Erfolgen und Misserfolgen gespeist wird. Wie eine Kollegin es einmal ausdrückte: „Wissen schafft Sicherheit!“ Hierzu gehören die Reflexion des eigenen Tuns, das Schulen der Beobachtungsgabe, die Fähigkeit, Beobachtungen zu verbalisieren, sowie das gemeinsame Gespräch. Auf die Bedeutung der Kommunikation für die gelingende palliative Versorgung im Altenheim weist auch eine Studie des Zentrums für Palliativmedizin der Uniklinik Köln hin (Vogt, 2010, S. 11).
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Ich erlebe immer wieder, dass sich die Teilnahme einer Leiterin an wichtigen Fortbildungen ihres Teams bewährt, z. B. an dem 40-stündigen Curriculum „Palliative Praxis“ (Robert Bosch Stiftung, 2006). Die Leiterin schlägt dabei gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Ihr Wissen wird aufgefrischt (oder sogar erweitert), sie beteiligt sich aktiv am Gruppengeschehen, und sie erfährt, wo ihre Mitarbeiterinnen der Schuh drückt und wo rasche Veränderungen anstehen. Alle Gruppenteilnehmerinnen machen die positive Erfahrung von Gemeinsamkeit und Teamarbeit. „Ines, am Mittwoch habe ich Sie wirklich bewundert! Wie Sie sich im Rollenspiel so wunderbar auf die Demenzkranke eingelassen haben. Das hätte ich nie hinbekommen!“, sagte eine Pflegedienstleitung der erstaunten Teilnehmerin im Abschlussfeedback. Das stärkt, erhöht das Selbstbewusstsein und spricht sich positiv herum. Leider verfügen zahlreiche Mitarbeiterinnen über keinerlei Ausbildung in der Altenpflege1. Zudem geraten sie häufig durch Zufall oder Zwang (z. B. über das Arbeitsamt) in dieses anspruchsvolle Tätigkeitsfeld. Der mitunter noch zu hörenden Aussage, eine gute Hausfrau sei auch eine gute Pflegekraft, kann niemand zustimmen, der die Arbeit in der Altenpflege kennt. Für die Begleitung Hochbetagter, Demenzkranker und Sterbender muss man sich nicht nur persönlich eignen, sondern auch fachlich ausreichend darauf vorbereitet werden. Die Qualifikationen der Mitarbeiterinnen müssen den Bedürfnissen der Betreuten entsprechen. Dies bedeutet im besten Fall, dass jede Mitarbeiterin über eine Basisqualifikation im Umgang mit Demenzkranken und in der Palliativbetreuung verfügt. Zusatzqualifikationen wie Palliative Care für Pflegeberufe, gerontopsychiatrische Pflege, Kommunikation mit Demenzkranken oder Basale Stimulation sind wesentliche Ergänzungen der Teamkompetenz. Durch Aus- und Weiterbildung verändern sich Haltungen zum Positiven und es können sich Prozesse entwickeln, die sich unter dem Oberbegriff „lernende Organisation“ zusammenfassen lassen. Strukturelle Hemmnisse lassen sich dann leichter abbauen. Die Mitarbeiterinnen wollen in der Regel einbezogen werden und Verantwortung übernehmen. Der Umgang mit hochbetagten Menschen erfordert Respekt und Kompetenz; daran muss das Pflegeheim als Organisation gemessen werden. Ich empfehle, gegebenenfalls externe Hilfe und Beratung in Anspruch zu nehmen, wobei die Beraterinnen über genü-
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Dies gilt nur für Deutschland. In Österreich ist eine Mindestausbildung für alle in der Pflege Tätigen gesetzlich vorgeschrieben.
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gend Erfahrung in der Altenpflege verfügen und die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen, Bewohnerinnen und Angehörigen kennen sollten.
8.6 Gutes Personal langfristig entwickeln und motivieren „Woher soll ich nur geeignete Mitarbeiterinnen bekommen?“, werde ich regelmäßig gefragt. Offen gesagt: Wenn ich mir manche Einrichtungen genauer ansehe, stelle ich fest, dass ich da auch nicht arbeiten wollte. Existiert aber ein Klima, in dem Offenheit und Vertrauen herrschen, Höflichkeit und Humor Basis der Zusammenarbeit sind und das Personal kreative, manchmal unkonventionelle und ungewöhnliche Lösungswege finden darf, ist das ein Ansporn für die Mitarbeiterinnen, sich positiv zu entwickeln. Ein konstruktives und angenehmes Betriebsklima sowie eine den Bedürfnissen von Bewohnerinnen und Personal entgegenkommende Umsetzung der Palliativen Geriatrie sprechen sich meist sehr schnell herum. Erfahrungen zeigen, dass sich neues und kompetentes Personal dann sogar fast von allein einstellt. Allerdings ist es schlichtweg unmöglich, alte Menschen und deren Angehörige adäquat zu betreuen, wenn unverzichtbare persönliche Fähigkeiten und Haltungen, Engagement und fachliche Kompetenzen auf Dauer fehlen. Sind einzelne Mitarbeiterinnen trotz Qualifikationsmaßnahmen und Teamarbeit nicht bereit oder nicht in der Lage sich anzupassen, muss man sich von ihnen verabschieden, damit das Einrichtungskonzept nicht gefährdet wird, vor allem aber im Interesse der Bewohnerinnen und engagierten Mitarbeiterinnen. Ganz wichtig ist: Alle Mitarbeiterinnen brauchen Lob und Anerkennung für ihr Tun. Darüber hinaus wollen sie hin und wieder bestärkt werden und ein Wort des Dankes hören. Es tut gut, wichtig zu sein, ein Ziel zu haben und an einer bedeutsamen und sinnvollen Sache mitzuwirken. Das motiviert und trägt auch über manch schwierige Arbeitssituation hinweg. Einen wichtigen Beitrag leistet auch die angemessene Bezahlung. Das Schaffen von persönlichen Freiräumen und von Möglichkeiten zur Entlastung, das Etablieren von Ritualen oder Entspannungstechniken kann viel dazu beitragen, eine angenehme Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Vielleicht erwachsen hieraus auch einmal Kraft und Mut, „Nein“ zu sagen, sowie die Gewissheit, hierfür nicht kritisiert zu werden.
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8.7 Positive Gesprächskultur In vielen Einrichtungen beobachte ich eine erschreckende Sprachlosigkeit sowohl in den Teams als auch gegenüber Bewohnerinnen und Angehörigen. Gesprächsleitfäden oder -standards helfen hier nicht weiter. Vielmehr gilt es, das offene und wertschätzende, ja liebevolle Gespräch zu „erlauben“ und zu schulen. Hier dürfen und müssen Emotionen und Humor Platz haben. Diese Art von Gesprächen kann sowohl im Zuge einer Sterbebegleitung als auch in einer „herausfordernden Situation“ mit einem demenzkranken Menschen oder in einer retrospektiven Fallbesprechung nach dem Tod einer Bewohnerin hilfreich sein. Es bewährt sich, dazu Selbsthilfekompetenzen zu nutzen. Denn Mitarbeiterinnen und Teammitglieder wissen häufig selbst am besten, was ihnen gut tut. Nötig sind regelmäßige Treffen, in denen positive und negative Betreuungssituationen besprochen werden. Gemeinsames Reflektieren und die Suche nach Lösungen führen in der Regel sowohl zu Verbesserungen im Arbeitsalltag als auch zu besserer Betreuungsqualität. Ich empfehle, leicht umsetzbare Methoden wie Moderationstechnik oder kollegiale Beratung beherzt auszuprobieren und dann gezielt einzusetzen. Nach einer gewissen Eingewöhnung macht das den meisten Mitarbeiterinnen Spaß und schafft gegenseitiges Vertrauen. Denn in einer Atmosphäre des Vertrauens lassen sich eigene Werte und Einstellungen offener besprechen. Gespräche über die Haltung zum Beruf oder über die Einstellung zu Bewohnerinnen und Kolleginnen, über Werte, die dem Verständnis von Pflege und Betreuung zugrunde liegen, werden möglich. Gerade im Pflegeheim gilt die Devise: Mitarbeiterinnen brauchen nicht mehr Kontrolle. Sie brauchen klare Aufgabenstellungen, geregelte Verantwortlichkeiten, realistische Ziele, Motivation, Lob und nicht zuletzt eine positive Gesprächskultur. Hilfe anzunehmen ist oft nicht einfach. „Das mache ich alleine!“, höre ich häufig. Aber niemand kann alles können. Daher ist die Vernetzung und Zusammenarbeit mit Partnern (z. B. Demenz- oder Hospizdiensten, Fachärztinnen, Beratungsstellen, Seelsorgerinnen) wichtig. Alle lernen voneinander und tragen ihre Kompetenzen im Interesse der hilfsbedürftigen alten Menschen zusammen. Außerdem eröffnen sich so Freiräume, die für die dringend benötigte Selbstpflege der Mitarbeiterinnen, für Fallbesprechungen oder für Überlegungen über sinnvolle Veränderungen genutzt werden können. Man kann aus wenig viel machen, wenn alle ihre Ideen einbringen und engagiert mitarbeiten.
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8.8 Qualität setzt sich durch Palliative Geriatrie basiert auf funktionierender Kommunikation und auf der Gestaltung von Beziehungen zu den Bewohnerinnen, zu ihren Angehörigen und im Team. Nur unter diesen Voraussetzungen können fachliche Arbeit, Betreuung und Begleitung kompetent und zielführend erbracht werden. Gelingt dies, entstehen auf allen Ebenen befruchtende Begegnungen: Zwischen den alten Menschen und Mitarbeiterinnen, zwischen Mitarbeiterinnen und Angehörigen, zwischen den alten Menschen und ihren Angehörigen. Das Sicheinlassen auf eine gelebte Qualitätsarbeit tut allen Beteiligten gut und motiviert, Althergebrachtes zu reflektieren und Neues zu gestalten. Ein sinnvolles Qualitätssicherungssystem muss der fortschreitenden Multimorbidität der Bewohnerinnen, den Besonderheiten der Demenzbetreuung und den Bedürfnissen Sterbender gerecht werden. Im Interesse aller Beteiligten muss ebenso Wert auf offene und ehrliche Kommunikation und auf Reflexion gelegt werden wie auf regelmäßige, gut dokumentierte Fallbesprechungen und Pflegevisiten. Das stärkt jede Einzelne im Betreuungsteam. Von der Arbeitszufriedenheit und dem Gefühl der Sicherheit bei fachlichen Entscheidungen profitieren letztlich alle: Bewohnerinnen, Angehörige und Mitarbeiterinnen.
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9 Intelligente Pflegeheime: Palliative Care und Organisationsentwicklung im Alten- und Pflegeheim Katharina Heimerl
Intelligente Pflegeheime: Palliative Care und Organisationsentwicklung
Für viele Menschen ist das Alten- und Pflegeheim ihr „letztes Zuhause“. Nur wenige können, wenn sie einmal im Pflegeheim aufgenommen sind, darauf hoffen, wieder nach Hause entlassen zu werden.1 Im Jahr 2008 sind in Österreich 10.033 Männer und Frauen in einem Alten- und Pflegeheim verstorben, das entspricht fast 15 % aller Verstorbenen (Statistik Austria 2009, eigene Berechnungen). Der Trend ist rapide steigend, im Jahr 1988 waren es noch rund 5 %, im Jahr 2000 rund 11 %, 2007 waren es knapp unter 14 % (Pleschberger, 2008; Statistik Austria, 2009). Vielfach wird diese zunehmende Institutionalisierung am Lebensende kritisiert, immer wieder wird damit argumentiert, dass die Mehrzahl der Menschen zu Hause sterben möchte. Eine differenziertere Sichtweise ist hier notwendig: „Noch um das Jahr 1900 ging man zum Sterben nach Haus. Weniger als zehn Prozent der Menschen in Deutschland verbrachten das Ende ihres Lebens im Krankenhaus. Heute ist das umgekehrt: 80 bis 90 % der Menschen sterben im Krankenhaus oder im Heim. Die Menschen sind geneigt, das als eine Verschlechterung anzusehen. Lautet die Frage: Im Kreise der Familie – von vertrauten Gesichtern umgeben – oder auf der Intensivstation, mit Schläuchen und gehetztem Personal? Die Antwort liegt dann offenbar klar auf der Hand. Aber – so muss man einwenden – die Verlegung des Sterbeortes in Institutionen hinein geschieht ja im Allgemeinen nicht gegen den Willen der Moribunden. Warum also ist die Institution der bevorzugte Ort?“ (Gronemeyer, 2002, S. 139). Die Hypothese, der ich mich anschließen möchte, lautet: Die Institution ist für viele aus sehr unterschiedlichen Gründen der bevorzugte Ort für das Lebensende – manchmal nur deshalb, weil Institutionalisierung unter vielen „hundsmiserablen“ Lösungen eine weniger miserable darstellt (Loewy, 1995). Oft auch deshalb, weil zu Hause keine Angehörigen da sind, die die Pflege übernehmen können oder denen sie zumutbar wäre, weil also häusliche Pflege nicht gewährleistet ist. Unbestritten ist, dass in der Begleitung am Lebensende die Betreuung in Pflegeheimen wichtiger geworden ist. Umgekehrt spielt die Begleitung von Menschen am Lebensende eine wichtige Rolle in Alten- und
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Hier soll darauf hingewiesen werden, dass es eines der wesentlichen Ziele der Pflegeheime der Gemeinde Wien ist, möglichst viele alte Menschen so weit zu rehabilitieren, dass sie nach kleineren Adaptierungen der Wohnung und mit ambulanten Hilfen wieder in der Lage sind, zu Hause zu leben. 2002 wurden z. B. im GZW etwa 15 % der Patientinnen wieder nach Hause entlassen.
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Pflegeheimen. Zunehmend erfährt dieses Thema Beachtung, neuere Publikationen weisen auf die Bedeutung des Themas hin (siehe unter anderem Kojer, 2009; Pleschberger, 2006; Froggatt et al., 2010). Was macht die Aufgabe so schwierig? „Eine ‚Kultur des Sterbens in den komplexen Organisationen unseres Sozial- und Gesundheitswesens ist immer eine ‚Organisationskultur des Sterbens‘. Es braucht eine doppelte Aufmerksamkeit, um menschenwürdigeres Sterben zu ermöglichen, für die Betroffenen, die Helfenden und für die Rahmenbedingungen und Umstände: Keine Sterbebegleitung, ohne Bedingungen des Sterbens zu gestalten“ (Heller, 2000, S. 14). Das Verständnis von Palliative Care für hochbetagte Menschen hat sich erweitert. Längst geht es nicht mehr um eine „Engführung“ in Bezug auf Sterbebegleitung – Palliative Care beginnt dann, wenn unheilbare Krankheit durch quälende Schmerzen und andere Beschwerden für die Betroffenen zur schweren Belastung wird. Palliative Care – für zerebral intakte wie für demenzkranke Hochbetagte – erfordert „Lebensbegleitung bis zuletzt“. Menschen in Pflegeheimen brauchen Palliative Care von Anfang an. Bei weit fortgeschrittener Multimorbidität und/oder Demenz mit ihren belastenden körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Folgen (vgl. Kojer und Heimerl, 2009) können Toilettentraining, Aktivierung und Animation nicht mehr die wichtigsten Ziele der Betreuung sein. Bei diesen schwer chronisch kranken Patientinnen besteht eine spezifische „Care“-Bedürftigkeit, die ihren Niederschlag in Pflege, Betreuung und ärztlicher Behandlung finden muss. Auch für dieses erweiterte Verständnis von Palliative Care gilt die Aussage: Palliative Kultur im Alten- und Pflegeheim ist Organisationskultur. Es braucht doppelte Aufmerksamkeit, einerseits für die Personen – die betroffenen Mitarbeiterinnen, Bewohnerinnen und Angehörigen – und andererseits für die Organisation als Ganzes – für ihre Rahmenbedingungen, Entscheidungsstrukturen, für ihre Regeln, Routinen und Rituale.
9.1 Von intelligenten Personen zu intelligenten Organisationen Lernen und Veränderung hat nicht nur bei Personen mit Intelligenz zu tun. „Wie kommt es, dass intelligente Menschen in dummen Orga-
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nisationen arbeiten und umgekehrt?“, fragt Willke (1997) und postuliert damit, dass es eine Intelligenz der Organisation gibt. Intelligenten Organisationen gelingt es, das Wissen von einzelnen Mitarbeiterinnen so aufzubereiten, dass daraus das Wissen der Organisation wird – „dummen Organisationen“ gelingt dies nicht. Diese Erfahrung machen immer wieder auch Mitarbeiterinnen in Pflegeheimen: Eine Mitarbeiterin nimmt an einer Fortbildung in Palliative Care teil und kommt von dort mit der gesicherten Erkenntnis zurück, dass Palliative Care im Pflegeheim eine interdisziplinäre Aufgabe ist, an der außer der Pflege auch Medizin, Psychotherapie, Seelsorge und Sozialarbeit zu beteiligen wären. Wieder zurück auf der Station stellt die Mitarbeiterin fest, dass es erstens niemanden gibt, der sich für ihr neu erworbenes Wissen interessiert und dass es zweitens im Pflegeheim keine Strukturen gibt, in denen Interdisziplinarität gelebt werden kann. Es gibt keine Besprechungen, zu denen „Nicht-Pflegende“ eingeladen sind; die Zusammenarbeit mit den Hausärztinnen klappt nicht; für Psychotherapie gibt es kein Geld und keine Stelle, die Sozialarbeiterin des Trägers ist ausschließlich für das benachbarte Krankenhaus zuständig und betritt das Pflegeheim nie; die Mitarbeiterinnen des ehrenamtlichen Besuchsdienstes irren vereinsamt auf der Station herum. Ein solches Pflegeheim kann das wertvolle neu erworbene Wissen seiner Mitarbeiterin nicht aufnehmen, es bleibt als Organisation in seiner Intelligenz hinter der Intelligenz seiner Mitarbeiterin zurück. Neben vielen anderen Problemen steht hier eines im Vordergrund: Wenn Mitarbeiterinnen sich fortbilden, begeistert zurückkommen und ihr Wissen auf der Station dann nicht umsetzen können, steigt ihre Frustration und sinkt ihre Motivation. Je weiter das Wissen darüber, wie es sein könnte (nämlich beispielsweise interdisziplinär), und die Wahrnehmung der von Einzelpersonen nur schwer beeinflussbaren Defizite im Alltag auseinanderklaffen, desto stärker werden Gefühle der Wut, der Ohnmacht und der Resignation. Diese Frustration treibt die Mitarbeiterinnen noch schneller ins Burnout, als dies durch die hohen Belastungen des Berufs nicht selten ohnedies der Fall ist. So könnte sich manche Mitarbeiterin wünschen, sie hätte die Fortbildung nicht besucht und hätte nie erfahren, wie verbesserungswürdig ihre Einrichtung ist. Das Bestreben intelligenter Organisationen ist es, dass „… das Wissen von Organisationsmitgliedern – einschließlich des impliziten und
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stillschweigenden Wissens – symbolisch aufbereitet, organisiert und schrittweise in ein eigenständiges Wissen der Organisation transformiert [wird]“ (Willke, 1997, S. 107). Das ist schwierig. Pflegekräfte und Leitungspersonen, die mit Kopf, Herz und Hand in einem Pflegeheim arbeiten, haben ein zentrales Anliegen: Sie wollen, dass es ihren pflegebedürftigen und multimorbiden Bewohnerinnen so gut wie möglich geht (s. S. 311 ff.). Die Anforderungen, die das Pflegeheim als Organisation stellt, werden hier als Hindernis gesehen, das zwischen Pflegenden bzw. Leitenden und ihren Bewohnerinnen steht. Damit Betreuung gelingen kann, braucht es einen Blickwechsel hin auf die „Organisation“, es braucht eben jene von Andreas Heller beschriebene „doppelte Aufmerksamkeit“: die für Personen (Betroffene und Helfende) und für die Organisation (Heller, 2000, S. 14).
9.2 Es beginnt mit der Organisationsdiagnose Palliative Care ist als Aufgabe in Alten- und Pflegeheimen ja nicht neu. Immer schon werden und wurden hier auch schwerkranke, multimorbide Menschen, Menschen mit Demenz und Menschen am Lebensende betreut. Das Rad muss daher nicht neu erfunden werden. Vieles von dem, was bisher getan wurde, ist gut, hilfreich und unterstützt Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen. Anderes ist weniger gut, gehört verbessert. Die Kunst besteht darin, das eine vom anderen zu unterscheiden. Dazu dient die Organisationsdiagnose. Es geht dabei um folgende Fragen: Was brauchen schwerkranke, multimorbide Menschen, Menschen mit Demenz und Menschen am Lebensende, damit es ihnen gut geht? Was belastet sie? Welche Bedürfnisse haben sie? Wie gehen wir in unserer Einrichtung mit ihnen um? Was gelingt uns gut? Was wollen wir verbessern? Viele Perspektiven sind wichtig, hilfreich und geeignet, um eine Organisationsdiagnose zu gestalten – alle hängen letztlich miteinander zusammen. Auf allen Ebenen gleichzeitig zu beginnen, überfordert im Alltag. Es empfiehlt sich, mit einer Perspektive anzufangen und erst nach und nach die anderen Perspektiven einzuholen. Hilfreiche Perspektiven für die Organisationsdiagnose sind die der Bewohnerinnen,
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Intelligente Pflegeheime: Palliative Care und Organisationsentwicklung
der Angehörigen, der Mitarbeiterinnen, der Leitung und der relevanten Umwelten. Die Entwicklung einer großen Zahl von Instrumenten für die Organisationsdiagnose in Palliative Care – viele davon maßgeschneidert für Pflegeheime – belegen die Bedeutung dieses Schrittes für die Umsetzung von Palliative Care (vgl. Alsheimer, 2008; BAG 2007; Hospiz Österreich, 2009; Wegleitner und Heimerl, 2009). Um die Sichtweisen der Bewohnerinnen einzuholen, eignet sich beispielsweise eine Bewohnerinnenbefragung, wie sie bereits mehrfach beschrieben wurde (Heimerl et al., 2009). Eine Einschränkung dieser Vorgangsweise besteht allerdings darin, dass Menschen mit fortgeschrittener Demenz, die in vielen Heimen bereits die Mehrzahl der Bewohnerinnen bilden, nicht befragt werden können. An dieser Stelle soll ein anderes Beispiel für eine Organisationsdiagnose als Beginn eines Palliative-CareProzesses dargestellt werden.
9.2.1
Ein Beispiel für eine Organisationsdiagnose: Die Analyse der relevanten Umwelten
Wenn Palliative Care im Alten- und Pflegeheim umgesetzt werden soll, ist es wichtig zu verstehen, welche Personen, Systeme und Sichtweisen („Akteure“) für das Gelingen dieser Umsetzung bedeutsam sind. Nicht alle wichtigen Akteure sind Teil des Pflegeheims, viele sind „extern“, befinden sich aus Sicht der Pflegenden außerhalb der Einrichtung, zum Beispiel die Angehörigen, der Träger, die Stadtverwaltung, die Spenderinnen und Sponsorinnen, die zukünftigen Bewohnerinnen, die niedergelassenen Ärztinnen, mit denen es (noch) keine Zusammenarbeit gibt. Am besten beginnt ein Palliative-Care-Prozess damit, zu verstehen, wer hier warum eine Rolle spielt, spielen kann oder spielen sollte. Das heißt, wer könnte Auskunft auf die Fragen geben: Was gelingt gut und was sollte besser sein? Ein wichtiges Prinzip kann so berücksichtigt werden: Wer ausgeschlossen ist (oder sich ausgeschlossen fühlt), leistet Widerstand. Wer einbezogen wird, dazugehört, bringt sein Wissen, seine Erwartungen und Befürchtungen ein und trägt so zum Veränderungsprozess bei. Zur Erstellung der Umweltanalyse für ein Palliative-Care-Projekt hat sich folgendes Vorgehen in Schritten bewährt (vgl. Grossmann und Scala, 1996; Königswieser und Exner, 1998):
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Katharina Heimerl
1. 2.
3.
4. 5.
Liste der relevanten Umwelten des Projektes erstellen Relevante Umwelten in einer Graphik um das Projektteam gruppieren Nähe/Distanz Bedeutung Qualität der Kooperation Auswählen von jenen Umwelten, deren Kooperation für das Erreichen der Ziele des Projektes am wichtigsten ist Wer ist unverzichtbar für den Erfolg des Projektes? Wer kann das Projekt zum Scheitern bringen? Welche Umwelten sind wie in das Projekt einzubeziehen? Welche Schritte sind dafür zu setzen?
Abb. 1 Projektumweltanalyse – Schritte
Die in Schritt zwei beschriebene Graphik, die auf einem möglichst großen Blatt Papier (am besten auf einem Flipchart) gezeichnet werden sollte, könnte so aussehen wie in Abbildung 2 (vgl. Grossmann und Scala, 1996; Königswieser und Exner, 1998):
Medien
Ärztinnen
+/– Angehörige
nah – fern
++
++
Palliative Care Projekt
wichtig – unwichtig gute – schlechte Kooperation
+/–
Geplantes Projektteam
Krankenkasse
Abb. 2 Projektumweltanalyse – Graphik
Eine Umweltanalyse ist einerseits einfach, aber gleichzeitig auch kompliziert. Sie ist einfach, weil sie in einer guten Stunde durchführbar ist – kompliziert wird sie, weil sie oft über 20, manchmal an die
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Intelligente Pflegeheime: Palliative Care und Organisationsentwicklung
30 unterschiedliche relevante Umwelten aufzeigt und die Entscheidung, welche dieser genannten Personen und Systeme in das Projekt einzubeziehen sind, nicht leicht fällt. Für diese Prioritätensetzung sind die folgenden beiden Fragen hilfreich: Wer ist unverzichtbar für das Gelingen des Projekts? Wer könnte das Projekt zum Scheitern bringen?
9.2.2
Die Organisationsdiagnose als erster Veränderungsschritt
Am Beispiel der Umweltanalyse lassen sich zwei Zielsetzungen der Organisationsdiagnose unterscheiden: 1. Organisationsdiagnose als reiner Erkenntnisgewinn. Sie kann zum Beispiel von einer Unternehmensberatung oder von der designierten Projektleiterin alleine durchgeführt werden. In diesem Fall entsteht wertvolles Wissen, das aber bei den durchführenden Experten oft „versickert“. 2. Organisationsdiagnose als erster Veränderungsschritt. Für die Erstellung der Analyse müssen bereits jene Personen herangezogen werden, deren Kooperation für das Projekt und die Zukunft von Palliative Care in diesem Heim wichtig ist: die angedachte Projektgruppe, die Heimleitung, Hausärztinnen, Vertreterinnen der Angehörigen. Sie kommen durch das gemeinsame Erstellen der Umweltanalyse miteinander ins Gespräch und können dabei relevante Erfahrungen einbringen, Wissen zum Thema austauschen, erste Maßnahmen planen oder sich bereits für bestimmte Maßnahmen entscheiden.
9.3 Palliative-Care-Prozesse erfordern komplexes Projektmanagement Wenn man etwas Neues in einer Organisation einführen will, sind Projekte unverzichtbar. Das Schönste an ihnen ist, dass sie ein Ende haben. Sie sind zeitlich begrenzt und überschaubar, sie haben ein oder mehrere gut definierte Ziele und sie haben idealerweise Erfolgskriterien, anhand derer man sehen kann, ob diese Ziele tatsächlich erreicht wurden. Somit erfüllen Projekte eine doppelte Funktion: Sie tragen zur Problemlösung und zur Entwicklung der Organisation bei (vgl. Grossmann und Scala, 1996, S. 77).
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Einen Palliative-Care-Prozess als Projekt zu gestalten bedeutet: Es braucht einen Auftrag der Leitung und die Zusage von Ressourcen (z. B. Räume, Arbeitszeit der Mitarbeiterinnen, eventuell auch externe Moderation). Der Auftrag sollte an eine Projektleiterin im Haus gehen, die sich für den guten Ablauf des Projektes einsetzt und die Umsetzung der Ergebnisse in Maßnahmen, Initiativen oder Folgeprojekten in die Wege leitet. Der Projektauftrag legt die wichtigsten Rahmenbedingungen des Projektes fest: Ziele, Erfolgskriterien, Projektbeteiligte, Ressourcen im Projekt, geplante Maßnahmen, Zeitplan und Kosten(schätzung). Projekte sind quer zur Hierarchie eingerichtet und weichen vom Normalbetrieb ab. Organisationen des Gesundheitssystems funktionieren streng hierarchisch, daher ist der hierarchiefreie Raum für sie eine wesentliche, anfangs oft auch befremdende Besonderheit. Doch nur wenn die Hierarchie im Rahmen des Projekts außer Kraft gesetzt wird, kann das enorme Erfahrungswissen der Mitarbeiterinnen in Bezug auf Ressourcen und Defizite im Umgang mit schwerkranken, fortgeschritten dementen und sterbenden Menschen zum Tragen kommen. Es kann manchmal schwierig sein, Mitarbeiterinnen an der Basis davon zu überzeugen, dass sie in dem Projekt auch in Gegenwart der Leitung von ihrem Recht Gebrauch machen dürfen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, aber es lohnt sich. In Projektgruppen darf gedacht, geplant und entschieden werden, was im normalen hierarchischen Betrieb nicht möglich ist. Immer wieder stoßen Projektgruppen daher auf Widerstände: Die Hierarchie setzt sich zur Wehr. Projekte zu leiten verlangt viele Kompetenzen, unter anderem die Fähigkeit, unvermeidliche Konflikte mit der Hierarchie zu bearbeiten. Ohne externe Begleitung kann das sehr schwierig sein. „Eine Projektorganisation braucht, um wirkungsvoll arbeiten zu können: eine klar definierte Aufgabe und einen Vertrag eine transparente und leistungsfähige Entscheidungsstruktur eine mit der Aufgabenstellung übereinstimmende Zusammensetzung des/der Team(s) Raum und Zeit für die Projektarbeit und die dazu notwendigen Ressourcen Investition in die soziale Entwicklung des Projektes zirkuläre Zielplanung
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einen klar definierten und in Abschnitte gegliederten Arbeitsplan Projektmarketing regelmäßige Selbstevaluation und Berichterstattung Verbindung zu relevanten Entscheidungsprozessen in der Linienorganisation die Wahrnehmung von Leitungsfunktionen externe Unterstützung: Training, Supervision oder Organisationsberatung“ (Grossmann/Scala, 1996, S. 87) Die Aufgaben sind vielfältig, ihre Bewältigung erfordert Ressourcen. Es macht aber auch klar, warum Palliative Care nicht einfach umzusetzen ist, indem beispielsweise eine Mitarbeiterin auf Fortbildung geschickt wird. Es gibt viele Strategien des „erfolgreichen Scheiterns“ in der Umsetzung von Palliative Care (vgl. Heimerl, 2010). Zu ignorieren, dass die Umsetzung von Palliative Care ein komplexes Projektmanagement braucht, ist eine davon. Projektmanagement ist anspruchsvoll; Aufträge zu verhandeln und Projekte zu leiten oder zu koordinieren sind herausfordernde Aufgaben. Es braucht dafür eigenes Wissen, das nicht mit der Ausbildung zur Pflegenden, zur Ärztin, zur Sozialarbeiterin mitvermittelt wird. Das Know-how ins Haus zu holen ist eine Entscheidung der Leitung und gelingt entweder über die Qualifizierung einer leitenden Mitarbeiterin oder durch externe Beratung.
9.4 Conclusio 9.4.1
Palliative-Care-Prozesse verändern die Organisationskultur im Alten- und Pflegeheim
In den Leitbildern von Alten- und Pflegeheimen lesen wir beispielsweise von gepflegtem und sicherem Wohnen, von der Balance zwischen Aktivierung und Muße, von zahlreichen Freizeitaktivitäten, von Leben in Gemeinschaft, von Respekt vor der Individualität der Bewohnerinnen, von größtmöglichem Mitspracherecht der Bewohnerinnen. Palliative Care will multimorbiden und/oder demenziell erkrankten Hochbetagten ein lebenswertes Leben bis zuletzt ermöglichen, Sicherheit und Geborgenheit schenken, Leiden lindern und den Tod weder verlangsamen noch beschleunigen.
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Die tradierte Form der Altenhilfe einerseits und Palliative Care andererseits verfolgen unterschiedliche Zielvorstellungen; sie setzen nicht die gleichen Schwerpunkte. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen jeweils andere Aspekte. Die Widersprüche, die sich daraus ergeben, lassen sich nicht ohne weiteres in die Logik eines Heims integrieren. In Palliative Care geht es nicht vorrangig um Aktivierung und Freizeitaktivitäten. Es geht darum, Schmerzen und andere belastende Beschwerden, die das Leben zur Qual machen können, bestmöglich zu lindern. Es geht darüber hinaus auch darum, eine Atmosphäre der Wärme und des Vertrauens zu schaffen, in der sich jeder einzelne alte Mensch in seinem oft langen letzten Lebensabschnitt akzeptiert, wertgeschätzt und verstanden fühlt. Aus den Leitbildern von Altenund Pflegeheimen bleibt der lange Weg alter Menschen bis zum Tod oft ausgeklammert; es wird daher auch „vergessen“, dass Sterbebegleitung ein wichtiges Kerngeschäft ist, das nicht als Nebensache abgehandelt werden darf. Die Auseinandersetzung mit Palliative Care im Pflegeheim muss daher eine Auseinandersetzung mit den handlungsleitenden Zielsetzungen mit sich bringen. Hand in Hand damit kommt es zu einer Veränderung der Organisationskultur. Organisationskultur ist ein „… Muster gemeinsamer Grundprämissen, das die Gruppe bei der Bewältigung ihrer Probleme […] erlernt hat, das sich bewährt hat und somit als bindend gilt und das daher an neue Mitglieder als rational und emotional korrekter Ansatz für den Umgang mit diesen Problemen weitergegeben wird“ (Schein, 1995, S. 25). In der Organisationskultur lassen sich drei Ebenen mit jeweils unterschiedlichem Grad der Sichtbarkeit beschreiben: An der Oberfläche die „Artefakte“; das sind alle sichtbaren Strukturen und Prozesse, die leicht zu beobachten, aber schwer zu entschlüsseln sind. Die mittlere Ebene wird von den „bekundeten Werten“ gebildet, die Mitglieder als Mittel zur Darstellung ihrer Kultur verwenden und anderen gegenüber vorzeigen. Tief verwurzelt finden sich die „Grundannahmen“; das sind unbewusste, selbstverständliche Anschauungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle (vgl. ebd., S. 29 f). In der Abbildung 3 werden den drei Ebenen exemplarisch einzelne, für Palliative Care charakteristische Haltungen und Kennzeichen zugeordnet, dabei wird die Organisationskultur mit einer Seerose verglichen.
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Intelligente Pflegeheime: Palliative Care und Organisationsentwicklung
Sichtbare Zeichen
Abschiedsraum Der Sarg wird „vorne“ herausgetragen Erinnerungen an Verstorbene
Ausgesprochene Normen und Werte
Leitbild Routinemäßige Gespräche über Tod und Sterben „Hier kann man über Tod und Sterben sprechen“
Implizite Normen und Werte
Abb. 3 Die Seerose als Metapher für Palliative Kultur (vgl. Schein, 1995)
9.4.2
Palliative Kultur braucht einen langen Atem – vor allem von der Leitung
Die Veränderung der Organisationskultur ist eine der zentralen Leitungsaufgaben: Die Leitung prägt die Grundprämissen in der Einrichtung, macht „das Klima“ und kann Aufmerksamkeit auf das Thema Palliative Care lenken, indem sie es zur „Chefsache“ erklärt. Mitarbeiterinnen schauen auf die Signale, die die Leitung setzt. Sie nehmen genau wahr, ob die Leitung mit ihnen so umgeht, wie es Leitbilder und Zielsetzungen versprechen. In vielen Einrichtungen sieht es zunächst so aus, als ob sie an der Umsetzung von palliativer Kultur scheitern könnten. Zu sehr drängt die Alltagsarbeit in den Vordergrund, zu wenig Energie bleibt für Reflexion, für das Erproben von Neuem, für das Aushandeln von neuen Zielsetzungen. Hier ist es wichtig, den Faktor Zeit mit zu berücksichtigen. Langer Atem von Seiten der Leitung bedeutet: langfristige kontinuierliche Arbeit an der eigenen Haltung gegenüber Bewohnerinnen, Angehörigen und Mitarbeiterinnen; Zuversicht, auch wenn sichtbare Erfolge auf sich warten lassen; Wertschätzung für kreative Ideen von Mitarbeiterinnen, auch wenn diese manchmal einen kleinen Umweg mit sich bringen.
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10 Menschenrechte
Marina KojerDas Recht auf kommunikative Grundversorgung
Das Recht auf kommunikative Grundversorgung
10.1 Das Recht auf kommunikative Grundversorgung Marina Kojer Frau J. geht unsicher auf die Schwester zu, schaut sie ratlos und bittend an und sagt mit leiser Stimme: „Was soll ich machen, was soll ich machen?“ Wenn die Schwester antwortet, bleibt Frau J. einen Augenblick lang ruhig stehen. Gleich darauf kommt sie wieder und fragt neuerdings: „Was soll ich machen, was soll ich machen?“ Die Antworten der Schwester variieren von „Setzen Sie sich dort drüben zu den anderen“ über „Kommen Sie halt mit mir mit“ bis zu „Gib endlich Ruhe!“. So geht es seit ein paar Tagen und es spricht nichts dafür, dass Frau J. sich diese „sinnlose Fragerei“ wieder „abgewöhnt“. Den Pflegenden fällt nichts ein, was sie noch tun könnten, um das störende Verhalten von Frau J. zu stoppen. Sie sind mit ihren Nerven am Ende. Trotz ihrer „selbstverständlichen“ Überlegenheit einer schwer dementen alten Frau gegenüber erleben sie, dass sie in dieser Situation selbst hilflos sind. Sie können Frau J. nicht ändern, ihr nervendes Verhalten nicht einfach „abstellen“. Schließlich geschieht das, was in solchen Fällen meistens geschieht: Frau J. wird ein dämpfendes Medikament verordnet und die Dosis so lange gesteigert, bis das Präparat ausreichend „hilft“. Frau J. hört auf zu fragen und bleibt dort sitzen, wo man sie hingesetzt hat. Wie fühlt sich ein Mensch, der so behandelt wird? Wir können es höchstens ahnen! Das folgende kleine Erlebnis gab mir zu denken: Vor einiger Zeit sprach ich in einer großen deutschen Stadt drei junge Mädchen an, die mir plaudernd entgegenkamen. Ich wollte sie nach dem Weg fragen. Die drei beachteten mich nicht, ja sie schauten nicht einmal kurz auf, sondern setzten ihr Geplauder fort und gingen an mir vorbei. Ich fühlte mich im ersten, noch unreflektierten Augenblick nicht nur verletzt und gedemütigt, ich zweifelte sogar für einen kurzen Moment an mir selbst: Hatte ich die Mädchen tatsächlich angesprochen? In diesem Augenblick spürte ich selbst die typische Angst Demenzkranker, sich selbst verloren zu gehen. Frau H. kam aus einem anderen Pflegeheim. Sie war erst seit Kurzem bei uns. In den ersten Tagen ging sie, kaum dass wir auftauchten, aufgeregt und besorgt wirkend auf uns zu und fragte ängstlich: „Bin ich die Huber Theresia?“ Wir berührten sie jedes Mal mit Zu-
Name geändert.
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Marina Kojer
wendung, nickten mit dem Kopf und bestätigten: „Ja, Sie sind die Huber Theresia.“ Frau H. seufzte dann erleichtert auf und war für kurze Zeit beruhigt. Nach einigen Tagen wurden die Fragen seltener und hörten schließlich ganz auf. Der Bioethiker Erich Loewy nennt als entscheidende Bedingung für ein lebenswertes Leben die Möglichkeit, „nicht nur am Leben zu sein, sondern ein Leben zu haben“ (Loewy, 1999–2001). „Hat Frau J. ein Leben“, wenn ihre Bitte um Hilfe, um Orientierung, Sicherheit und Zuwendung nicht verstanden wird und die Antwort darauf letztlich darin besteht, sie mit Hilfe einer chemischen Zwangsjacke zu „beruhigen“? Die wichtigste Voraussetzung dafür, „ein Leben zu haben“, besteht für Demenzkranke in der Wahrung ihres Rechts auf eine ihrem Zustand angemessene Kommunikation. Wer in seiner sozialen Arbeit ständig mit Taubstummen konfrontiert ist, weiß, dass für die Ausübung seines Berufs die Beherrschung der Gebärdensprache vorausgesetzt wird. Wäre es nicht ebenso selbstverständlich, dass Menschen, die in Pflegeheimen arbeiten, in denen großteils Demenzkranke betreut werden, deren „Sprache“ erlernten? Anlässlich der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten wurden 1776 erstmals die Menschenrechte verkündet: “All men are created equal …” Danach dauerte es noch fast 200 Jahre bis zur „Declaration of Human Rights“ der Vereinten Nationen. Diese Deklaration markiert einen enormen Schritt in der ethischen Entwicklung der Menschheit und hätte der Ausgangspunkt für den Weg in eine humanere Gesellschaft werden sollen. Wie wir alle wissen, ist auf unserer Welt seither sehr viel geschehen (und geschieht weiterhin), das sich nicht mit den Gedanken der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen in Einklang bringen lässt. Noch immer werden vielerorts Zugehörige bestimmter Rassen, Religionen und Volksgruppen diskriminiert, noch immer haben Genderfragen ihre Berechtigung nicht verloren. Diese ungelösten Probleme sind allgemein bekannt und werden laufend diskutiert. Man sucht nach besseren Lösungen – wenn auch bis jetzt ohne durchschlagende Erfolge. Im Gegensatz dazu erfolgt die Diskriminierung demenzkranker Menschen im Großen und Ganzen unbemerkt. Sie geht Hand in Hand mit der stillschweigenden und wohl auch unbeabsichtigten Aberkennung wesentlicher Menschenrechte.
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Das Recht auf kommunikative Grundversorgung
10.1.1 Das Recht, krank zu sein und entsprechend behandelt zu werden In den Ländern mit hoher Lebenserwartung leidet der Großteil der über 50-Jährigen unter mindestens einer chronischen Erkrankung. Erstaunlicherweise versteht man trotzdem unter Krankheit noch immer primär eine akute Gesundheitsstörung. In logischer Konsequenz fühlen sich Krankenkassen für die Finanzierung einer erforderlichen stationären Unterbringung chronisch Kranker nicht zuständig und die Heime für chronisch Kranke stellen keine Ärztinnen an. „Solange wir … die Heilung als das höchste Gut und Ziel ärztlichen Tuns ansehen, sind wir in Gefahr, den Patienten mit chronischem Verlauf für etwas Minderwertigeres zu halten …“ (Dörner, 2001, S. 102). Wenn die Betroffenen nicht nur unheilbar krank, sondern auch noch hochbetagt sind und zudem an Demenz leiden, nimmt die „Minderwertigkeit“ in den Augen der Umwelt offenbar noch weit höhere Ausmaße an. Als ich mich für die von mir geleitete „Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie“ um Ressourcen zur Verbesserung der Wohnqualität bemühte, kommentierte ein in der Rehabilitation tätiger Kollege dies mit der Bemerkung: „Für Verbesserungen an Ihrer Abteilung Geld zu investieren ist reine Vergeudung. Ihre Patienten merken nicht einmal, ob Vorhänge an den Fenstern hängen!“ Weil Demenzkranken das Recht auf kommunikative Grundversorgung vorenthalten wird und weil uns daher ihre Möglichkeiten, die Welt zu erleben, verborgen bleiben, werden die Ressourcen dieser alten Menschen im Allgemeinen von der Gesellschaft gröblich unterschätzt. Demenziell erkrankte Patientinnen verstehen nicht nur stets ein wenig mehr, als sie selbst auszudrücken vermögen, sie erfassen über ihre hochdifferenzierte Gefühlswahrnehmung oftmals komplexe Zusammenhänge und erleben auf diese Weise – ohne sich dagegen wehren zu können – Ablehnung, Demütigung, Verachtung oder Ekel ihrer Mitmenschen mit aller Deutlichkeit und mit allen Konsequenzen für ihre seelische Befindlichkeit. Eine fundierte Schulung in Kommunikation mit desorientierten Hochbetagten ist noch immer nicht selbstverständlicher Teil der Ausbildung zur Altenpflegerin, ganz zu schweigen von der Ausbildung zur Krankenschwester – und das, obwohl auch an vielen Spitalsabteilungen (z. B. Innere Medizin, HNO-Heilkunde oder Augenheilkunde) die meisten Patientinnen achtzig Jahre oder noch älter sind! In Österreich beginnt die Situation sich in den letzten Jahren langsam zu verbessern. Zwar wird Pflegekräften auch in Österreich im Rahmen ihrer Berufsausbil-
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Marina Kojer
dung keine umfassende Schulung geboten, aber zumindest sind in den Curricula der Pflegeschulen einige Stunden für die Grundlagen der Validation nach Naomi Feil vorgesehen. Das ist noch immer viel zu wenig, um ausreichende Kompetenz in Kommunikation mit demenzkranken Hochbetagten zu erwerben, aber es ist doch ein Anfang.
10.1.2 Das Recht, Teil einer Gemeinschaft zu sein Im gerichtlichen Vollzug gilt länger dauernde Einzelhaft ohne die Möglichkeit, mit anderen zu kommunizieren, als wesentliche Strafverschärfung. Die Schwere der Strafe besteht im Entzug des Rechts, Teil der menschlichen Gesellschaft zu sein. Demenzkranken Patientinnen geht es, vor allem wenn ihre Erkrankung weiter fortgeschritten ist, in dieser Hinsicht häufig um nichts besser als gemeingefährlichen Gewaltverbrechern. Ohne etwas verbrochen zu haben, erleiden sie die gleiche Strafe. Sobald sie nicht mehr imstande sind, sich „wie normale Menschen“ auszudrücken, landen sie im kommunikativen Abseits. Keine Straftat, sondern eine schwere, völlig unverschuldete Erkrankung hat es ihnen unmöglich gemacht, die Brücke vom Ich zum Du zu überqueren. Wenn wir, die wir dazu durchaus in der Lage wären, uns nicht darum bemühen, den Weg zu ihnen zu suchen und zu finden, oder wenn wir – aus Mangel an Kompetenz – diesen Weg nicht finden können, schließen wir demenzkranke Patientinnen aus der Welt der Menschen mit normaler Hirnleistungsfähigkeit aus. Wir verlassen die Kranken gerade zu dem Zeitpunkt, da sie uns mehr brauchen als je zuvor, nämlich dann, wenn die Demenz sie vollständig hilf- und wehrlos gemacht hat. Ihre weit über das normale Maß hinaus gesteigerte Sensibilität und Verletzlichkeit (Kruse, 2008; Kojer et al., 2007) liefert sie dem Leben schutzlos aus. Menschen mit fortgeschrittener Demenz befinden sich ihrem eigenen Erleben nach oft genug in einer Art von Isolationshaft, selbst dann, wenn sie sich mit anderen zusammen in einem Raum aufhalten. Sie sind dazu verurteilt, in einem für sie ausweglosen kommunikativen Nirgendwo zu leben, das sie aus eigener Kraft nicht mehr verlassen können. Verstummt leiden sie an Angst, Verlassenheit und Ratlosigkeit und können nichts anderes tun, um dem Schmerz zu entfliehen, als sich in ihre eigene Welt zurückzuziehen. „Dort wo Leiden nicht ausgedrückt werden kann, bleibt es im Menschen“ (Gottschlich, 2007, S. 86) und nimmt zu, solange sich daran nichts ändert. Warum gibt es so oft niemanden, der die stummen Bitten wahrnimmt und versteht?
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Wenn ich eine Demenzstation oder einen Demenzwohnbereich betrete und eine Reihe von alten Menschen in der „Pflegeheimhaltung“, also still, mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf und auf dem Schoß liegenden Händen um den Tisch sitzen sehe, weiß ich mit Sicherheit, dass die Betreuten unter dem chronischen Mangel an Kommunikation leiden, dass sie, wenn sie auch noch am Leben sind, gleichwohl bestimmt kein Leben haben. Die wichtigste Voraussetzung für eine menschenwürdige Existenz, nämlich zu verstehen und mitfühlend von anderen verstanden zu werden, ist für sie nicht gegeben. Daran können auch Qualitätszertifikate oder andere Errungenschaften moderner Pflege und Betreuung, die ein Heim auf seine Fahnen schreibt, nichts ändern. Bereits vor vielen Jahren habe ich mit Staunen beobachten können, welche fundamentalen Veränderungen stattfinden, wenn ein Team lernt, mit Patientinnen in allen Phasen der Demenz in Beziehung zu treten. Nach der Ausbildung eines kompletten Stationsteams in Validation nach Naomi Feil (Feil, 2010) war die Station kaum mehr wiederzuerkennen. Die Patientinnen waren zu neuem Leben erwacht, nahmen von sich aus Kontakt auf, lachten, weinten und plauderten – wenn auch zum Teil unverständlich – mit uns und mit ihren Mitpatientinnen (Kojer, 2009). Diese eindrucksvollen Erlebnisse machten mir mit einem Schlag klar, was gelingende Kommunikation für die Lebensqualität demenzkranker Menschen, aber auch für die Lebensqualität der pflegenden, behandelnden und betreuenden Mitarbeiterinnen bedeutet. Nach der Ausbildung des Personals in Validation konnten die Patientinnen sich plötzlich wieder in ihrer Weise mitteilen, fühlten sich verstanden, sicher und als gleichwertige Mitglieder in der Gemeinschaft aufgenommen. Sie erfuhren Zuwendung, wurden berührt und gehalten und spürten, dass die Menschen, die sie umgaben, mit ihnen fühlten. Die Pflegenden gewannen die Möglichkeit, sinnvoll und befriedigend zu arbeiten. Sie mussten nicht mehr so oft in erloschene Gesichter sehen, an fast reaktionslosen Körpern herumhantieren und mit geängstigten, sich sträubenden Kranken kämpfen. Wenn sie kamen, wurden sie oft freudig begrüßt und herzlich bedankt, sie erkannten, wie viel jede Einzelne von ihnen dazu beitragen kann, dass es den Patientinnen besser geht, und sie erlebten freudig, wie schön es ist, Erfolg zu haben. Demenzkranke sind keine Mangelwesen, sondern unheilbar kranke Menschen, denen es ebenso wie anderen Kranken zusteht, wahr- und ernst genommen und ihren Bedürfnissen entsprechend behandelt und gepflegt zu werden. Solange es für Mitarbeiterinnen von Pflegeheimen nicht selbstverständlich ist mit ihren Patientinnen in Beziehung treten
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zu können, wird das Leben vieler Demenzkranker auch weiterhin im vollständigen Rückzug enden, ohne dass es so sein müsste, und die Arbeit mit ihnen wird oftmals freudlos und frustrierend sein. Martina Schmidl
10.2 Recht auf „chronische“ Heimärztinnen Das Recht auf eine kontinuierliche ärztliche Sorge durch vertraute Personen Martina Schmidl Die ärztliche Versorgung in Pflegeheimen ist bis auf wenige Ausnahmen im Großen und Ganzen mangelhaft. Trotz der zum Teil ermutigenden – jedoch regional begrenzten – Versorgungsmodelle, fehlen bisher flächendeckende, dauerhaft verlässlich funktionierende Strukturen. Zudem sind Ärztinnen bisher in der Regel für die umfassende und komplexe Aufgabe, hochbetagte, multimorbide und größtenteils verwirrte Menschen in Pflegeheimen adäquat zu betreuen, nur unzureichend ausgebildet. Zusätzlich lässt die Vergütung dieser anspruchsvollen und zeitintensiven Arbeit vielerorts noch immer zu wünschen übrig. Die Folge: Kranken pflegebedürftigen Menschen wird mit dem Einzug ins Heim mehr oder weniger die – ansonsten allen Bürgerinnen selbstverständlich zustehende – adäquate medizinische Versorgung vorenthalten. Die gängige Begründung lautet, dafür sei kein Geld vorhanden. Offensichtlich sind wir nicht (mehr) bereit, sehr alte und kranke Menschen als das anzuerkennen, was sie sind: Menschen, die unserer Fürsorge und Mitmenschlichkeit bedürfen. Im Gegenteil: Sie scheinen uns zunehmend zur unerquicklichen Last zu werden, sind plötzlich nicht mehr Kranke, Patientinnen, Bedürftige. Die Sprache der Verantwortlichen ist entlarvend: Pflegebedürftige werden immer häufiger als „Kundinnen“ des „Dienstleistungsbetriebs Pflegeheim“ bezeichnet. Somit hätten wir es folgerichtig mit guten und schlechten Kundinnen zu tun: „Je mehr die Medizin sich ökonomisieren lässt und Patienten in Kunden umdefiniert, desto mehr gilt derjenige als guter Kunde, bei dem Investitionen sich am schnellsten lohnen, bei dem mit geringem Aufwand das meiste zu erreichen ist“ (Dörner, 2001, S. 97). Folgte man dieser Auffassung, müsste Nachstehendes gelten: Alte, pflegebedürftige, an chronischen unheilbaren Krankheiten leidende Menschen sind schlechte „Kunden“ und daher wirtschaftlich uninteressant. Ganz abgesehen von den moralischen Bedenken, die sich hier rühren müssten, scheinen viele Menschen die bittere Tatsache zu vergessen, dass die Wahrschein-
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lichkeit, selber einmal alt, krank und verwirrt und somit existenziell auf Hilfe angewiesen zu sein, von Jahr zu Jahr steigt. Laut den Prognosen der Demografen wird die Bevölkerungsgruppe mit der größten Zuwachsrate in den nächsten Jahrzehnten die der 80- bis 100-Jährigen sein. Wir oder unsere Angehörigen werden also höchstwahrscheinlich selbst Betroffene sein!
10.2.1 Bewohnerin oder Patientin? Rund zwei Drittel der Menschen, die derzeit in Pflegeheimen wohnen, sind Frauen im Alter zwischen 80 und 90. Bei der Aufnahme leiden sie im Durchschnitt an fünf bis sieben schweren Krankheiten. Diese meist chronischen Erkrankungen bestehen in aller Regel schon über einen längeren Zeitraum und sind unheilbar. 60 bis 80 % der Patientinnen leiden an einer Form der Demenz. Zudem haben alte Menschen oft Schmerzen! Seit Jahren wird in zahlreichen Untersuchungen aufgezeigt, dass das Altern – ungeachtet des kognitiven Status – mit einem beträchtlichen Ausmaß an schmerzhaften Zuständen einhergeht (Horgas und Elliot, 2004). Das Leiden an unerkannten Schmerzen stellt insbesondere in Pflegeheimen ein großes Problem dar. Eine Untersuchung in den USA aus dem Jahr 2006 ergab, dass fast die Hälfte der Demenzkranken sowie der Menschen mit Schmerzen, die nicht von bösartigen Tumoren verursacht sind, keine oder nur eine unzureichende Schmerztherapie erhielten. Diejenigen mit dem größten Risiko für unzureichende Schmerzbehandlung waren älter, mittel bis schwer dement und in den Aktivitäten des täglichen Lebens beeinträchtigt (Shega, 2006). Da Schmerzen heutzutage im Großen und Ganzen gut behandelbar sind, liegt der Gedanke nahe, dass alte Menschen unter Schmerzen leiden müssen, weil ihre Schmerzen zu wenig beachtet und daher auch unzureichend behandelt werden. Hinzu kommt, dass etwa drei Viertel der Kranken so stark in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, dass sie auf einen Besuch der Ärztin vor Ort angewiesen sind (Hallauer et al., 2005). Da in vielen Fällen kurative Therapiemöglichkeiten fehlen, gewinnen palliative Maßnahmen an Bedeutung. Häufig werden kurative und palliative Maßnahmen abwechselnd oder gleichzeitig notwendig. Fazit: Menschen in Pflegeheimen brauchen eine adäquate ärztliche Betreuung und haben daher selbstverständlich das Recht auf eine ausreichende, fachkundige und kontinuierliche medizinische Behandlung. Weil hohes Alter und fortgeschrittene Multimorbidität tägliche Präsenz erfordern, sollte diese Betreuung durch ärztliches Personal erbracht werden, das als Teil des betreuenden Teams dauerhaft vor Ort arbeitet. Martina Schmidl
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10.2.2 Aufgaben der Heimärztin Persönliche Beziehungen herstellen In Pflegeheimen werden chronisch kranke Menschen in der Regel bis zu ihrem Tod betreut. Die Verweildauer liegt im Bereich von Monaten bis Jahren. Das Pflegeheim wird somit im ursprünglichen Sinne zum „Heim“ und zum Lebensmittelpunkt der letzten Monate oder Jahre. Diese Tatsache hat wesentlichen Einfluss auf die Art der Beziehung zur Kranken und ihren Angehörigen. Ärztinnen, die nach wie vor primär mit dem Blick auf akute Krankheiten ausgebildet werden, haben es in Pflegeheimen – in denen chronische Krankheitsverläufe und unheilbar Kranke zu versorgen sind – mit einer völlig anderen Realität zu tun. Dies hat Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Ärztin und Patientin. Während bei akuten Erkrankungen das medizinische Handeln an sich im Vordergrund steht und die Beziehung zwischen Ärztin und Patientin eine untergeordnete Rolle spielt, verlieren – je chronischer eine Erkrankung verläuft – die jeweiligen „Krankheitsmerkmale für den Umgang an Bedeutung und die persönlichen Beziehungen werden zunehmend entscheidend“ (Dörner, 2001, S. 112). Für die chronisch Kranke wird daher die vertrauensvolle Beziehung zu einer Ärztin, die sie verlässlich begleitet, die ihre Geschichte kennt, die sie versteht und von der sie sich verstanden fühlt, zur Grundlage guter Sorge und Begleitung. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, muss die Ärztin bereit sein, sich auf den kranken Menschen einzulassen und geduldig „mit ihm zu sein“ (Gottschlich, 2007, S. 130). Vielfach wird an dieser Stelle eingewendet: „Dafür haben wir keine Zeit.“ Damit ich mich als Ärztin nicht in eine „Zeitnotstimmung“ hineinfantasiere und dem Gespräch die nötige Ruhe geben kann, gestatte ich mir die innere Haltung: „Zeit spielt keine Rolle!“ Natürlich ist damit nicht die messbare Zeit gemeint, sondern nur meine innere „Haltungs-Zeit“ (Dörner, 2001, S. 60). In der Praxis stellt sich im Übrigen heraus, dass die innere Haltung „Zeit spielt keine Rolle“, die uns ruhig und gelassen werden lässt, paradoxerweise Zeit spart. Denn durch die Hinwendung, die Geduld und die Langsamkeit bleibt der Kranken viel Aufregung und Erschöpfung erspart. Die gemeinsame Zeit wird nicht mit Gegenwehr, Ungeduld und Widerspruch vergeudet (vgl. Dörner, 2001). Grundlage jeder funktionierenden Beziehung ist die gelingende Kommunikation. Da an anderer Stelle bereits das Thema Kommunikation erschöpfend behandelt wird, beschränke ich mich auf eine Anmerkung, die mir besonders am Herzen liegt. In den Pflegeheimen leben – je nach Erhebung – zwischen 60 und 80 % demenzkranke Menschen. Diese entziehen sich der „normalen“ Alltagskommunika-
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tion, die wir mit zerebral Gesunden pflegen. Wir scheitern kläglich, wenn wir nicht erkennen, dass Menschen mit Demenz mit der üblichen rationalen Sprache nicht erreichbar sind. Wenn ich mich mit der Kranken nicht verständigen kann, wenn ich keine Ahnung habe, was sie quält, und auch nicht weiß, wie sich die Betreffende normalerweise verhält, wie soll ich dann jemals ihre speziellen Bedürfnisse wahrnehmen oder Verhaltensänderungen erkennen? Wie soll ich ohne diese entscheidenden Informationen einen Menschen untersuchen, Schmerzen erkennen oder eine maßgeschneiderte Therapie durchführen? Wie soll ich vermeiden, Symptome durch Sedativa zu verschleiern? Die für Ärztin und Patientin so notwendige Kommunikation gelingt nur dann, wenn Ärztinnen, die in Pflegeheimen arbeiten, über gute Kenntnisse in der Kommunikationsmethode der Validation verfügen (Schmidl, 2009).
Veränderungen der Kranken frühzeitig erkennen Die tägliche Visite ermöglicht der Heimärztin eine gute Kenntnis der Kranken und ihres Verhaltens (Stokes et al., 2005). Kleine Verhaltensänderungen fallen somit frühzeitig auf, wodurch häufig schwere Krankheitsverläufe positiv beeinflusst werden können. Die Behandlung in der vertrauten Umgebung durch vertraute Personen erspart der Kranken unnötiges Leid. Insbesondere Verwirrungszustände, die durch belastende Transferierungen oder unnötige Untersuchungen regelhaft hervorgerufen werden, können vermieden werden. Im Gegensatz zur herbeigerufenen Notärztin oder Krankenhausärztin kennt die Heimärztin nämlich das „normale“ Verhalten der Kranken und ihre Krankengeschichte ziemlich gut. Erfreulicherweise vermindert die Behandlung vor Ort im Pflegeheim nicht nur die Belastungen der Patientinnen, sie spart darüber hinaus auch noch Kosten für unnötige Untersuchungen, Transporte und das kostspielige Belegen eines Akutbetts. Die Heimärztin garantiert engmaschige Verlaufskontrollen und notwendige Therapieanpassungen, z. B. bei der Einstellung auf Psychopharmaka, im Rahmen von Infekten, kardialen Störungen, Blutzuckereinstellung bei Diabetikerinnen und nicht zuletzt bei der Schmerztherapie.
Regelmäßige Kommunikation im interdisziplinären Team Heimärztinnen sind keine Solistinnen, sondern Teil eines interdisziplinären Teams. Nur in dem Zusammenspiel der Berufsgruppen kann die Betreuung der alten, kranken und verwirrten Menschen einigermaßen zufriedenstellend gelingen. Die tägliche – und dadurch engmaschige – interdisziplinäre mündliche und schriftliche (Doku-
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mentationsblatt) Informationsweitergabe gewährt den notwendigen kontinuierlichen Informationsfluss.
Über kurative und palliative Maßnahmen entscheiden Grundlage des heimärztlichen Handelns ist die fundierte Fachkompetenz in den Bereichen Geriatrie und Palliative Geriatrie. Die vielfach komplexen Krankheitskonstellationen erfordern die kontinuierliche ärztliche Beobachtung der Kranken und ihres Verhaltens. Nur wenn die Ärztin „ihre“ Patientinnen kennt, ist sie imstande, eine adäquate Behandlung einzuleiten. Zu den schwierigsten Aufgaben in der Begleitung von multimorbiden, sehr alten Menschen mit Demenz gehört meines Erachtens die Kunst, rechtzeitig zu entscheiden, welche Ziele zum jeweiligen Zeitpunkt verfolgt werden sollen und inwieweit kurative und/oder palliative Behandlungsmaßnahmen angezeigt sind. Vorrangiges Ziel aller unserer Bemühungen und Überlegungen sollte stets die „gute Lebensqualität“ der Kranken sein. Das bedeutet in einer Zeit, in der die Möglichkeiten der Medizin sich immer mehr ausweiten, dass nicht alles, was theoretisch machbar wäre für die hochbetagten und dementen Patientinnen auch tatsächlich sinnvoll oder zumutbar ist. Im interdisziplinären Team sind daher frühzeitig und sorgfältig Entscheidungen bezüglich der Therapieziele und deren Änderungen zu besprechen. Die Entscheidung darüber, ob denkbare Behandlungen durchgeführt werden sollen oder nicht, muss sich immer an dem erwartbaren Nutzen bzw. an der Belastung, die sie voraussichtlich für die Patientinnen mit sich bringen, orientieren. In der Praxis hat sich bewährt, zusätzlich zu der Frage, ob wir alles getan haben, was getan werden kann, stets auch die Frage zu diskutieren, ob wir alles gelassen haben, was gelassen werden sollte? Die Grenzen des für die Patientin Zumutbaren und Sinnvollen bleiben so deutlicher im Blick.
Ethische Entscheidungssituationen erkennen; Entscheidungen vorbereiten und herbeiführen Im Laufe der Zeit verändert sich der Gesundheitszustand der Patientin. Chronische Krankheiten schreiten fort, neue gesundheitliche Probleme treten auf. Die Heimärztin hat jetzt die Aufgabe, bestehende Therapieziele möglichst rasch zu überdenken und gegebenenfalls an die veränderte Situation anzupassen. Das frühzeitige Erkennen von Entscheidungssituationen gelingt jedoch nur dann zufriedenstellend, wenn die Ärztin täglich vor Ort ist, die Beobachtungen und Einschätzungen des Pflegepersonals einholt und die Patientin sieht. Sie ist darüber hinaus vertraut mit dem (mutmaßlichen) Willen der Patientin und mit den Haltungen und Hoffnungen der Angehörigen. Durch die
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Kenntnis der Krankengeschichte, der Person und durch den Gedankenaustausch mit dem Pflegepersonal hat sich mit der Zeit so etwas wie ein „Gefühl für den Gesamtzustand“ dieses speziellen Menschen entwickelt. Die Heimärztin weiß relativ genau, welche Perspektiven sich für die Patientin noch eröffnen können und wen sie in ihre Entscheidungen einbeziehen sollte.
Beziehung zu den Angehörigen herstellen Zur Definition der Palliativmedizin gehört auch der Anspruch auf eine umfassende Versorgung der Familien dieser Patientinnen durch ein multiprofessionelles Team. Das heißt im Idealfall, dass Patientin und Familie für das betreuende Team eine „Behandlungseinheit“ darstellen. Angehörige treten in der Praxis jedoch bisher eher am Rande des Medizin- und Pflegebetriebes in Erscheinung und werden im Wesentlichen erst dann wahrgenommen, wenn man von ihnen etwas braucht oder wenn sie Unzufriedenheit äußern (Schmidl, 2007). In Pflegeheimen wird vielfach noch übersehen, dass – insbesondere pflegende – Angehörige Mitbetroffene, also selber Leidende sind und sich daher in einer Ausnahmesituation befinden. Nicht selten sind sie aufgrund der enormen Belastungen, die mitunter seit vielen Jahren bestehen, selber krank geworden und bedürfen unserer Hilfe und Zuwendung (Näheres s. S. 367 ff.).
Sterbende ärztlich begleiten Auch für eine erfahrene Ärztin oder Pflegekraft ist es sehr schwer, die Sterbephase zu erkennen. Es ist die Aufgabe der Heimärztin, die Sterbephase rechtzeitig wahrzunehmen und im Team zu kommunizieren. In einer Teambesprechung ist festzustellen, dass das Sterben bei diesem Menschen jetzt begonnen hat, denn nur dann, wenn die Sterbephase erkannt und benannt wurde, können die notwendigen Maßnahmen ergriffen, kann unnötiges Leid verhindert werden. Das ist allerdings eine schwierige Aufgabe, sollen wir doch zu einer Entscheidung kommen, obwohl wir niemals alle erforderlichen Informationen haben können und daher weit davon entfernt sind, eine sichere Prognose stellen zu können! Dennoch muss – trotz aller Unsicherheiten – eine vorläufige Entscheidung getroffen werden. Wir versuchen, die Sterbephase zu erkennen, indem wir mit Hilfe unserer Fachkenntnisse und Erfahrungen Symptome beobachten, ihren Voraussagewert deuten und dann auf Basis des wahrscheinlichen weiteren Verlaufs entscheiden. Hinlängliche Sicherheit, dass ein Mensch tatsächlich stirbt, haben wir bestenfalls in den letzten 48 bis
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72 Stunden. Doch dann ist es für sehr vieles bereits zu spät, weil wir versäumt haben, die Sterbende vor sinnlosen Belastungen zu schützen und sie in ihrer oft sehr langen letzten Lebensphase adäquat zu behandeln und zu begleiten. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Begleitung von schwerkranken, dementen und sterbenden Menschen und deren Angehörigen eine Reihe von ärztlichen Tugenden verlangt und „von Seelsorge nicht mehr abzugrenzen“ ist (Braun, 2003, S. 448). Ärztinnen, die Sterbende und ihre Angehörigen begleiten, müssen lernen, rechtzeitig die medizinischen und ethisch-moralischen Grenzen ihres Handelns zu erkennen. Zu Wissen und Können „müssen Menschenliebe und Wahrhaftigkeit, Einfühlungsvermögen, Mut und Treue treten“ (ebd., S. 448). Das lernen Ärztinnen in ihrer Ausbildung jedoch in der Regel nicht. Mehr oder weniger sich selbst überlassen, bemühen sich viele Heimärztinnen darum, das notwendige Wissen Stück für Stück in der täglichen Praxis zu erwerben. In den Niederlanden wurde diese Misere erfreulicherweise bereits erkannt und ein vielleicht wegweisender und ermutigender Weg eingeschlagen. Seit einigen Jahren haben Ärztinnen dort die Möglichkeit, eine Ausbildung zum „Facharzt für Pflegeheimmedizin“ zu absolvieren. Recht auf Schmerzlinderung
10.3 Recht auf Schmerzlinderung Martina Schmidl „Schmerztherapie ist ein fundamentales Menschenrecht.“ (DGSS1, 2007, S. 2)
10.3.1 Schmerzen bei demenzkranken Menschen: ein alltäglicher Befund Der zentrale Auftrag von Palliative Care ist es, so gut es geht dazu beizutragen, die Lebensqualität unheilbar Kranker zu erhalten oder zu verbessern. Das Lindern von Schmerzen ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für „gute Lebensqualität“. Daher muss sichergestellt sein, dass wirklich alle Betroffenen eine adäquate Schmerztherapie
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Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e. V.
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erhalten. Dieses Ziel wird zumindest für die große Gruppe der Demenzkranken noch immer bei weitem nicht erreicht. Untersuchungen belegen, dass die schmerztherapeutische Versorgung von alten Menschen mit fortgeschrittener Demenz bislang äußerst mangelhaft ist (Mobily et al., 1994; Morrison und Siu, 2000; Reynolds et al., 2002; Horgas und Elliot, 2004; Shega et al., 2006; Smalbrugge et al., 2007). Es ist also höchste Zeit, konsequent darüber nachzudenken, wie wir dafür sorgen können, dass die Schmerzen von dementen Menschen verlässlich gelindert werden. Auch für Demenzkranke sind Schmerzen kein auferlegtes Schicksal, mit dem sie sich abzufinden haben! Es ist heute durchaus möglich, auch in schwierigeren Fällen Schmerzfreiheit, zumindest aber eine akzeptable Schmerzlinderung zu erreichen. Wenn demente Menschen heute noch unter chronischen Schmerzen leiden müssen, dann vor allem deshalb, weil diese von den Pflegekräften, Ärztinnen und Therapeutinnen zu selten erkannt und daher entweder gar nicht oder nur unzureichend behandelt werden (vgl. S. 206 ff.). Darüber hinaus ist die Ansicht, dass demente Menschen weniger stark unter ihren Schmerzen leiden als kognitiv intakte Personen, immer noch weit verbreitet (vgl. Achterberg et al., 2010). In der Literatur gibt es jedoch keine ernst zu nehmenden Hinweise darauf, dass Demenzkranke ihre Schmerzen als weniger quälend empfinden als nicht demente Menschen. Es ist daher davon auszugehen, dass das, was auch jedem anderen Schmerzen bereitet, dementen Menschen ebenfalls weh tut. Soll die kompetente therapeutische Versorgung von Demenzkranken weder ein Akt des guten Willens noch ein Produkt des Zufalls bleiben, ist die Ausbildung aller Ärztinnen und Pflegenden in Schmerzerfassung – zumal bei schwer kontaktierbaren Patientinnen – und Schmerztherapie unverzichtbar. Tatsächlich konstatiert die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS): „Die Aus-, Weiter- und Fortbildung über Schmerzdiagnostik und -therapie ist in Deutschland unzureichend“ (DGSS, 2007, S. 4). Dies trifft ebenso für Österreich zu. Zweifellos verdient das Erkennen und Behandeln somatischer Schmerzen unsere volle Aufmerksamkeit. Das komplexe Phänomen Schmerz ist indes mit erfolgter Behandlung seines körperlichen Anteils bei weitem noch nicht erschöpft. Die ausschließliche Konzentration auf den physischen Schmerz bewirkt bei vielen Patientinnen nur eine – wenn auch bedeutende – Teilentlastung. Um eine umfassende Linderung zu erreichen, müssen auch seelische, soziale und spirituelle Aspekte beachtet und mit einbezogen werden. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die ganze Bandbreite möglicher nicht körperlicher Schmerzen bei Demenzkranken abzu-
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handeln (vgl. dazu Kojer et al., 2007). Ich beschränke mich daher auf die Erwähnung von zwei häufig vermeidbaren Schmerzquellen, die mir besonders wichtig sind: 1. Der Schmerz, den Mangel an Mitgefühl und Wertschätzung hervorrufen. Demenzkranke sind hilflos, abhängig und unsicher. Das Gefühl, ihrer Umwelt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, macht sie besonders verletzlich. Ungeduldig hingeworfene Worte, ein respektloser Tonfall oder eine nicht angekündigte körperliche Berührung kränken demente Menschen in besonderem Maße. 2. Der Schmerz, den jeder Ortswechsel hervorruft. Das Leben in einer fremd gewordenen und unsicheren Welt wird durch vertraute Personen, vertraute Abläufe und vertraute Örtlichkeiten erträglicher. Leidet eine Patientin zusätzlich zu ihrer kognitiven Beeinträchtigung auch noch unter körperlichen Symptomen – zum Beispiel einer Pneumonie –, verschlechtern sich in der Regel auch ihre kognitiven Fähigkeiten. Die Kranke kann sich unter diesen Umständen noch weniger orientieren und verständlich machen als sonst. Häufig wird sie in dieser Situation gesteigerter Ratlosigkeit und Verletzlichkeit auch noch ins Krankenhaus transferiert. Es ist nicht verwunderlich, dass ihre große seelische Not viele Demenzkranke in dieser fremden, nicht für sie geschaffenen Umwelt delirant werden lässt (vgl. S. 206 ff.).
10.3.2 Warum werden Schmerzen bei Demenzkranken nicht erkannt? Schmerzen von Demenzkranken bleiben in erster Linie aufgrund gravierender Kommunikationsprobleme unerkannt. Die gelingende Kommunikation zwischen den Betreuenden und den Kranken ist jedoch Dreh- und Angelpunkt einer befriedigenden Behandlung und Begleitung. Gute Kenntnisse in „Validation nach Naomi Feil“ und „Basaler Stimulation“ gehören daher zum unverzichtbaren Rüstzeug für alle Personen, die mit dementen alten Menschen zu tun haben. Ärztinnen, Pflegende und Therapeutinnen müssen in der Lage sein, mit „ihren“ Patientinnen so weit in Beziehung zu treten, dass sie ihr „normales“ Verhalten, ihre Vorlieben und Abneigungen kennen. Dieses Wissen ist äußerst wertvoll, denn jede Verhaltensänderung kann bedeuten, dass die Patientin Schmerzen hat. Misslingt die Kommunikation mit der Kranken, gibt es kein Wissen darüber, wie sie sich „normalerweise“ mitteilt, auf welche Weise eine Kontaktaufnahme gelingen kann, was sie beunruhigt oder wie sie auf Störungen reagiert;
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dann werden von den Betreuerinnen häufig anstelle der Schmerzen nur die Schmerzfolgestörungen, zum Beispiel Unruhe oder Schlaflosigkeit, wahrgenommen und entsprechend behandelt. Die Folge ist, dass die auffällig gewordenen Menschen Psychopharmaka oder Hypnotika erhalten mit dem Ergebnis, dass sie zwar weiterhin unter ihren Schmerzen leiden, jedoch ruhig sind und daher für die Betreuerinnen nicht mehr verhaltensauffällig erscheinen (vgl. S. 206 ff.).
10.3.3 Die Folgen chronischer Schmerzen Akuter Schmerz hat die Funktion, Schädigungen des Organismus frühzeitig anzuzeigen. Er ist daher als Warnzeichen zu verstehen, das auf eine mögliche gesundheitsschädliche Ursache hinweist. Wird diese Ursache gefunden und beseitigt, lässt der Schmerz in der Regel nach. Hält der Schmerz jedoch länger an, verliert er seine Warnfunktion und verselbstständigt sich. Die Folgen sind schwerwiegende Beeinträchtigungen für Leib und Seele. In Interviews mit kognitiv intakten Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden, wird das Ausmaß dieses quälenden Zustands deutlich erkennbar. Die Interviewten berichten über dieselben Gefühle wie Folteropfer: Sie wünschen sich nur mehr, dass die Schmerzen endlich ein Ende haben. Wenn sie eine Änderung ihrer Situation für aussichtslos halten, denken viele Betroffene laut Angaben von Human Rights Watch (HRW, 2009) schließlich sogar daran, sich das Leben zu nehmen, oder beten darum, sterben zu dürfen. Angesichts dieser Aussagen wird verständlich, dass Demenzkranke, die von andauernden Schmerzen gequält werden, mit der Zeit unter schweren Depressionen und Angstzuständen leiden, um am Ende erschöpft und resigniert den sozialen Rückzug anzutreten. Doch nicht nur die Seele nimmt Schaden. Unzureichend behandelte Schmerzen haben gerade bei älteren Menschen auch schwerwiegende körperliche Folgen. Chronische Schmerzen beeinträchtigen z. B. das Immunsystem, verzögern den Genesungsverlauf, führen zu Essstörungen und zu einer weiteren Abnahme der Hirnleistungsfähigkeit. Darüber hinaus nimmt das Aushalten von chronischen Schmerzen sehr viel Kraft in Anspruch, Kraft, die Hochbetagte dringend für andere Leistungen bräuchten: Gangunsicherheiten und Stürze, die nicht selten zu Frakturen und anderen schweren Verletzungen führen, sind an der Tagesordnung. Häufig müssen Frakturen operativ versorgt werden und heizen so den Teufelskreis einander potenzierender körperlicher und seelischer Schmerzen weiter an. Diese Belastungen wären in vielen Fällen vermeidbar, wenn die „Diagnose Schmerz“ recht-
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zeitig gestellt und der alte Mensch entsprechend behandelt worden wäre. Obwohl dank der Errungenschaften der modernen Medizin heutzutage auch sehr alte Menschen die operative Versorgung einer Schenkelhalsfraktur vergleichsweise gut verkraften, bedeuten Eingriffe dieser Art weiterhin ein nennenswertes Risiko, können zu bleibender Immobilität führen und nicht selten auch bei sorgfältigster Behandlung mit dem Tod der Patientin enden. Stürze und deren Folgen fallen unter die zehn häufigsten Todesursachen von alten Menschen in den USA (Barclay und Lie, 2009). “Pain can kill!” (WHO, 2002, S. 83).
10.3.4 Schritte zu einer verlässlicheren schmerztherapeutischen Versorgung von Demenzkranken Das Recht auf Schmerzlinderung formulieren Angesichts der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, Schmerzen zu lindern, und in Anbetracht der Fülle belastender Folgen unerkannter, unbehandelter oder nicht ausreichend behandelter Schmerzen fordern internationale Organisationen – zum Teil seit vielen Jahren – das Recht auf eine adäquate Schmerztherapie für alle, die sie brau2 chen (DGSS, 2007; HRW, 2009; ÖSG , 2009). Die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes hat 2007 mit der Ethik-Charta ein Dokument vorgelegt, „das ethische Orientierung in Grundsatzfragen und speziellen Herausforderungen im Umgang mit Schmerz bieten soll“ (DGSS, 2007, S. 2). Die Charta enthält einen umfassenden Forderungskatalog, der als Aufruf verstanden werden soll, die Anstrengungen und Kräfte zu bündeln, um eine qualitativ hochwertige Schmerztherapie zu realisieren. Ich nenne im Folgenden die drei Forderungen, die mir im Zusammenhang mit der adäquaten schmerztherapeutischen Versorgung von Demenzkranken besonders wichtig erscheinen: 1. „Jeder Patient hat einen Anspruch auf sorgfältige und umfassende Untersuchung der Schmerzursachen sowie auf umfassende Diagnostik und Therapie unter Einschluss psychologischer, psychiatrischer und sozialer Aspekte“ (ebd., S. 2). 2. „Die allgemeine und fachbezogene Schmerztherapie muss in der Approbationsordnung bzw. Weiterbildungsordnung Prüfungsfach sein“ (ebd., S. 7).
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Österreichische Schmerzgesellschaft.
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3. „Die Besonderheiten in der Kommunikation mit Schmerzpatienten und Palliativpatienten müssen alle in der Schmerztherapie Tätigen lernen, und sie müssen in der Aus- und Weiterbildung gelehrt werden“ (ebd.).
Sicher stellen, dass das Recht auf Schmerzlinderung in der Alltagspraxis verlässlich seinen Niederschlag findet Wie sehr Wunsch und Wirklichkeit in Bezug auf eine adäquate Schmerztherapie immer noch auseinanderklaffen, beschreibt ein Bericht von Human Rights Watch (HRW) aus dem Jahre 2009: Es wird geschätzt, dass 80 % der Weltbevölkerung entweder gar keinen oder keinen ausreichenden Zugang zu einer angemessenen Schmerztherapie haben. Laut HWR ist das Leiden an therapierbaren Schmerzen absolut nicht nur ein Problem der Dritten Welt. Die tagtäglichen Erfahrungen vieler Ärztinnen zeigen, dass auch in den USA und in Europa Millionen von Menschen unter gut behandelbaren Schmerzen leiden. In unseren Breiten sind in dieser Hinsicht die demenzkranken alten Menschen besonders gefährdet. Sie haben die Möglichkeiten und Fähigkeiten verloren, für sich selber zu sprechen; darüber hinaus steht ihnen auch keine lautstarke Lobby zur Seite, die bereit ist, konsequent für ihren Anspruch einzutreten. Gut gemeinte und sorgfältig erhobene Befunde und berechtigte Forderungen engagierter Organisationen bleiben nur schöne Worte, solange die verantwortlichen Entscheidungsträger nicht ernsthaft in die Pflicht genommen werden. Es geht darum, gesetzlich einzufordern, dass Schmerzerfassung und Schmerztherapie verpflichtend in bestehende und künftige einschlägige Curricula für professionelle Ausbildungen integriert werden und dass die dafür erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Denn nur wenn Ärztinnen, Pflegerinnen und Therapeutinnen über das notwendige Wissen und Können verfügen, besteht die berechtigte Hoffnung, dass auch die Schmerzen alter und dementer Menschen überall erkannt und ordnungsgemäß behandelt werden, statt für die Betroffenen zu einer folterähnlichen Dauerbelastung zu eskalieren. Gutes Fachwissen verhilft in der Regel zu einer angemessenen Sicherheit in Diagnose und Therapie, hingegen hat Unwissenheit häufig Unsicherheit zur Folge. Diese Unsicherheit gilt es durch eine gute Ausbildung so weit wie möglich zu minimieren. Ebenso wie viele andere Kolleginnen konnte auch ich oft beobachten, dass Unsicherheiten in Diagnostik und Therapie besonders häufig sichtbar werden, wenn das Leben zu Ende geht. Dies äußert sich einerseits in Überbehandlung (z. B. mit Psychopharmaka oder mit zur Unzeit eingesetzten lebenserhaltenden Maßnahmen), auf der anderen Seite in Unterver-
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sorgung (z. B. mit Schmerzmitteln). Die Ethik-Charta der DGSS nimmt Bezug auf folgenschwere Unsicherheiten, die eine dringend erforderliche Schmerzbehandlung von Menschen in ihrer letzten Lebensphase häufig behindern und nicht selten ganz verhindern. Daher möchte ich mit einem Appell aus dieser Charta schließen, der sich in der täglichen Praxis im Umgang mit Sterbenden für mich und andere als hilfreich erwiesen hat: Susanne Pirker
„Eine symptomorientierte, angemessene Medikation sollte aber nicht daran scheitern, dass Ärzte die Grenze zwischen erlaubt und verboten ziehen können oder dies zu tun wagen. Faktisch ist dies häufig eines der Probleme in der Sterbebegleitung und bei der Durchführung leidenslindernder Therapien am Lebensende, die eine konsequente Symptomlinderung zum Ziel haben müssen. Diese sind auch dann nicht verboten, wenn eine Medikation den Sterbeprozess beschleunigen sollte. Solche Maßnahmen sind ethisch und rechtlich zulässig, solange sie das Ziel der Linderung verfolgen und nicht darauf abzielen, den Tod herbeizuführen“ (DGSS, 2007, S. 4–5).
10.4 Das Recht auf Gesellschaft Aufgaben und Möglichkeiten ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Susanne Pirker, Hans Pirker
10.4.1 Ehrenamtliche Mitarbeit an der Abteilung für palliativmedizinische Geriatrie Susanne Pirker Bis zum Jahr 2000 habe ich als Ärztin mit großer Freude im Geriatriezentrum am Wienerwald gearbeitet. Meine berufliche Heimat war die Abteilung für palliativmedizinische Geriatrie. Schon bevor ich in Pension ging, wusste ich, dass das Ende meiner angestellten Berufstätigkeit für mich nicht die endgültige Trennung von „meiner“ Abteilung sein würde. Der Wunsch, Patientinnen als freiwillige Helferin zu begleiten, war lange vorher in mir gereift. Schwestern und Pfleger, Ärztinnen, Therapeutinnen und Abteilungshelferinnen in der Geriatrie sind in ein enges Arbeitskorsett gepresst
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und haben daher nur sehr begrenzte Möglichkeiten, sich einer Patientin längere Zeit zuzuwenden. Schon allein aus diesem Grund bildet das Engagement ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen eine sinnvolle und notwendige Ergänzung in der Betreuung unheilbar chronisch kranker und pflegebedürftiger Hochbetagter. Geriatrische Patientinnen sehnen sich danach, Menschen zu finden, die sich für sie Zeit nehmen, ihnen zuhören und zeigen, dass sie sie so wertschätzen, wie sie sind. Freiwillige Helferinnen sind nicht unter Druck, sie haben kein bestimmtes Arbeitspensum zu erledigen und können es sich daher erlauben, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Sind Helferinnen länger an einer Station tätig, lernen sie „ihre Patientinnen“ sehr gut und oft von einer ganz anderen Seite kennen als die „Hauptamtlichen“. Nicht selten können sie unerkannte, oft seit langer Zeit verschüttete Talente entdecken und fördern. Hochbetagte haben oft schon vor langer Zeit ihre Selbstsicherheit und große Teile ihres Selbstwertgefühls eingebüßt. Erfahren sie nun endlich wieder Anerkennung, kann ihre Selbstsicherheit langsam wieder zurückkehren. Ehrenamtliche Mitarbeit an der Abteilung für palliativmedizinische Geriatrie
Wie es begann Eine ehrenamtliche Helferin allein kann nicht sehr viel bewegen. Es war daher von Anfang an mein Ziel, auch andere für die Idee zu gewinnen, pflegebedürftigen alten Menschen Zeit zu schenken. Zwar war in Österreich die ehrenamtliche Tätigkeit für Pflegeheimpatientinnen damals noch kein Thema, aber ich hatte das Glück, Verbindung zu dem größten Wiener Bildungshaus, dem nahe gelegenen Kardinal-König-Haus, zu haben, in dem seit vielen Jahren Kurse für Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung abgehalten wurden. Dort wären, dachte ich, wohl am ehesten Menschen zu finden, die sich für meine Sache interessierten. Ich bekam die Gelegenheit, mein „Projekt“ in dem laufenden Kurs vorzustellen, und hatte auf Anhieb Erfolg. Einige Teilnehmerinnen dieses Kurses entschlossen sich, ehrenamtlich an unserer Abteilung mitzuarbeiten. Meine langjährige Erfahrung mit den Abläufen im Haus, mit Patientinnen und Mitarbeiterinnen erwies sich von Anfang an als großer Vorteil. Ich führte alle neuen Helferinnen ein, stellte sie den Patientinnen und dem Personal vor, begleitete sie in den ersten Tagen und half ihnen, Beziehung zu Patientinnen anzuknüpfen. Auf diese Weise konnten sie von meiner langjährigen Erfahrung profitieren. Dieses Vorgehen bewährte sich sehr: Die Helferinnen verloren rasch die Scheu vor der für sie fremden Welt und gewannen an Sicherheit. Für die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen war es so leichter zu erkennen, dass ehrenamtliche Helferinnen ihnen nichts wegnehmen, sondern auch für sie eine wertvolle Ressource darstellen.
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Glück und Zufall bescherten uns einen unschätzbar wertvollen weiteren Helfer: Seine Ausbildung zum Validationsanwender ermöglichte ihm, auch mit schwierigen Patientinnen in den verschiedenen Phasen der Demenz zu kommunizieren. Außerdem war er früher als Führungskraft im gehobenen Management tätig und konnte uns daher in Fragen der Organisation und Vernetzung sowie in rechtlichen Dingen, mit denen wir nicht so vertraut sind, beraten und unterstützen. Ursprünglich kam er zu uns, weil er in der Nähe wohnte und im Rahmen seiner Ausbildung in Validation nach Naomi Feil regelmäßig Begegnungen mit verwirrten Hochbetagten dokumentieren musste. Dabei schloss er die alten Damen ins Herz, fand Gefallen an der Arbeitsweise der Abteilung und blieb als ehrenamtlicher Helfer bei uns. Bald erkannte auch die Leitung des Geriatriezentrums die Vorteile ehrenamtlicher Tätigkeit, startete einen öffentlichen Aufruf und organisierte eine erfahrene Schwester als Ansprechperson für Interessierte. Über diesen Weg fanden sich ein paar weitere Damen bei uns ein. Die Gruppe wurde aber nie sehr groß. Es kam zwar immer wieder jemand dazu, dafür mussten uns andere nach einiger Zeit aus gesundheitlichen oder familiären Gründen wieder verlassen.
Die Singgruppe Schon in den Jahren meiner ärztlichen Tätigkeit an dieser Abteilung hatte ich oft und gerne mit meinen Patientinnen gesungen und konnte dann immer wieder feststellen, wie viel Freude das Singen allen machte. Oft bekamen dabei selbst mürrische und verschlossene Hochbetagte wieder frohe Gesichter, konnten sich ein wenig öffnen und fingen an mitzusingen. Auch manche an weit fortgeschrittener Demenz erkrankte alte Damen, die schon längst aufgehört hatten zu sprechen, fingen wieder zu singen an; oft stellte sich heraus, dass sie noch die kompletten Texte der alten Lieder beherrschten! Musik im weitesten Sinn, also jede Art von Rhythmen, Tönen, Melodien, ruft fast in allen Menschen irgendeine Reaktion hervor. Viele freuen sich ganz einfach darüber, andere fühlen sich an gute oder schlechte alte Zeiten erinnert, manche fühlen sich auch gestört. Diese langjährigen Erfahrungen nahm ich in meine ehrenamtliche Tätigkeit mit und gab sie an andere weiter. Daher begannen wir sehr bald mit den Patientinnen, die wir besuchten, zu singen. Im Dezember 2000 sangen wir mit einigen alten Frauen meiner früheren Station Weihnachtslieder und dieses Angebot fand großen Anklang. Daraus entwickelte sich allmählich unsere „Singgruppe“. Die Mitglieder dieser Gruppe sind Patientinnen in unterschiedlichen Phasen der Demenz. Fast alle sind
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zeitlich und örtlich vollständig desorientiert, viele können nicht mehr sprechen. Oft werden uns alte Damen und Herren gebracht, die sich auf ihren Stationen unangenehm bemerkbar machen, weil sie sehr unruhig sind oder immer wieder weglaufen wollen. Meist fühlen sie sich in der Gruppe wohl und geborgen, bleiben sitzen und nehmen – je nach körperlichen Möglichkeiten, Temperament und Tagesverfassung – sogar Kontakt mit ihren Sitznachbarinnen auf. Das ist bis heute so geblieben. Manchmal haben wir bis zu dreißig verwirrte, verhaltensauffällige, zum Teil schwer demente Hochbetagte in der Gruppe. Das ist eigentlich viel zu viel! Dennoch: Alle scheinen diese Stunde zu genießen, in der Regel fängt niemand von ihnen an zu schreien oder will wieder weggehen. Ein besonders schönes und einprägsames Beispiel für die Wirkung von Musik und Gemeinsamkeit auf die Gefühlswelt dieser alten Menschen schenkte uns Herr G. In dem Aufenthaltsraum, in dem die Singgruppe an diesem Tag stattfinden sollte, saß er, als wir eintraten, allein an einem Tisch. Von den Schwestern erfuhren wir, dass Herr G. nicht an der Gruppe teilnehmen wollte. Ich fragte ihn trotzdem noch einmal: „Möchten Sie hierbleiben und, wenn es Ihnen gefällt, vielleicht auch mitsingen?“ Er schaute finster drein, weil wir seine Ruhe gestört hatten, reagierte ablehnend und zeigte sehr deutlich, dass er weder mit uns im Kreis sitzen noch weggeführt werden wollte. Er wollte sitzen bleiben, wo er immer saß, und seine Ruhe haben. Während allmählich die Gruppenteilnehmerinnen ankamen und im Kreis Platz nahmen, blieb Herr G., den Blick zur Wand gerichtet, an seinem Tisch sitzen. Wir waren ratlos. Schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als „seitlich von Herrn G.“ mit dem Singen zu beginnen. Einige Patientinnen waren erstaunt darüber, dass Herr G. nicht mitmachte, sondern allein an seinem Tisch saß. Wir versuchten zu erklären: „Herr G. sitzt immer hier, es ist sein Stammplatz. Er möchte eben jetzt auch so sitzen bleiben.“ Wir begannen wie immer mit „Grüß Euch Gott alle miteinander“, dann kamen Volkslieder, Wunsch- und Lieblingslieder der Patientinnen, „Schwesterchen komm tanz mit mir“ und an diesem Tag auch „Hänschen klein“. Zum Schluss sangen wir wie immer „Kein schöner Land in dieser Zeit“. Dann bedankten wir uns mit Applaus für ihr Mittun bei unseren Patientinnen und brachten alle wieder an ihre Stationen zurück. Herr G. war nun wieder allein. Wir stellten noch Tische und Sessel an ihren Platz zurück und verabschiede-
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ten uns von Herrn G. Als ich mich als Letzte von ihm verabschiedete, fragte ich ihn, ob wir ihn sehr gestört hätten. Herr G. schaute mich lange schweigend an. Dann traten Tränen in seine Augen, er umfasste meine Arme und sagte leise: „Ich danke dir.“ Von da an kam Herr G. mit krankheitsbedingten Unterbrechungen bis einige Tage vor seinem Tod jede Woche zu uns in die Singgruppe. Die letzten Male kam er in einer Liege oder wurde in seinem Bett hereingeschoben. Er konnte nicht mehr mitsprechen und mitsingen, aber er war wach und hielt Blickkontakt. Jedes Mal sangen wir für ihn sein Lieblingslied „Hänschen klein“ und dann lächelte der meist sehr ernst dreinblickende alte Mann. Hans Pirker
10.4.2 Besuche auf der Männerstation Hans Pirker Zu Beginn meines Berichts möchte ich mich kurz vorstellen. Ich bin 70 Jahre alt und seit einigen Jahren in Pension. Früher war ich als Internist mit der Zusatzausbildung Psychotherapie tätig. Für die Arbeit meiner Frau habe ich mich von jeher interessiert, sie früher oft im Dienst besucht und dabei auch viele ihrer Patientinnen kennengelernt. Angeregt von den vielen Erzählungen meiner Frau über ihre ehrenamtliche Tätigkeit, begann 2006 auch ich damit, Patienten zu besuchen. Seither besuche ich jede Woche an einem Tag schwierige und vereinsamte alte Herren auf einer der beiden Männerstationen. Bevor ich von meinen Begegnungen erzähle, möchte ich aufzeigen, wie ich nach den Erfahrungen, die ich in den vergangenen Jahren gesammelt habe, den ehrenamtlichen Besuchsdienst verstehe und welche Aufgabe ich für mich persönlich zu erkennen glaube. Ich komme nicht als Arzt oder Therapeut zu den Patienten, sondern als einfacher Besucher. Anfangs dachte ich, ich müsse, bevor ich auch nur die Tür zu einem Zimmer aufmachte, Diagnosen, Therapie und Biographie studieren. Diese Vorstellung ließ ich im Lauf der Zeit ganz fallen. Ist etwas besonders zu beachten, informieren mich die Schwestern ohnedies darüber oder es ist so offensichtlich, dass es nicht zu übersehen ist. Wenn ich jetzt einen Patienten kennenlerne, weiß ich erst einmal gar nichts von ihm. Ich bitte nicht darum, Einblick in seine Krankengeschichte nehmen zu dürfen, ich erfahre nur das, was er selbst mir in seiner Weise berichtet. Ich bringe nur mich mit und die Zeit, die der Patient dringend braucht und die dem Pflegepersonal oft fehlt. Man-
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che Patienten beanspruchen sehr viel Zeit, bei anderen genügen kurze Interaktionen. Oberstes Gebot bei jedem von ihnen ist der unbedingte Respekt vor seiner Person. Respekt allein genügt allerdings nicht. Um die Bedürfnisse eines sehr alten, chronisch kranken und dementen Menschen zu erkennen, muss es gelingen, mit ihm in Beziehung zu treten, seine Eigenheiten kennenzulernen und Freundschaft mit ihm zu schließen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass für demenzkranke Patienten die positive menschliche Beziehung ebenso wichtig und wirksam ist wie ein Medikament, das sie brauchen. Auch das gute Einvernehmen mit dem Pflegepersonal ist von großer Bedeutung. Es gelingt am besten, wenn der Besuchsdienst sich von vornherein klar von den Pflegenden abgrenzt, seine Aufgaben und Möglichkeiten erkennt und nicht versucht, sich in ihre Aufgaben einzumischen und „ein bisschen mitzupflegen“. Besuche auf der Männerstation
Sehr hilfreich für mich sind die fallweise stattfindenden Zusammenkünfte der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und die Supervisionsgruppe, die der psychologische Dienst des Geriatriezentrums am Wienerwald anbietet. Gerade in der Betreuung von demenzkranken Patienten bewegen wir uns oft in dem Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Das bringt viele Fragen und Unsicherheiten mit sich und kann unter Umständen sehr belastend werden. Im Folgenden möchte ich von meinen Erfahrungen und Erlebnissen mit einigen Patienten berichten, die ich im Lauf der Zeit begleitet habe oder noch immer begleite. Vorausschicken möchte ich, dass meine Angaben nur auf den oft lückenhaften oder durch ihre Krankheiten veränderten Erzählungen der Patienten und auf Bemerkungen des Personals beruhen und daher ziemlich unsicher sind.
Ein Besuchstag Mit der Zeit wurde mir klar, dass meine wichtigste Aufgabe darin besteht, für die Patienten, die ich besuche, da zu sein – und zwar in der Art und Weise, die sie selbst wünschen –, auf ihre Gefühle und Bedürfnisse zu achten und ihnen in jeder Situation respektvoll zu begegnen. Wenn ich nach einem Besuchstag nach Hause komme, halte ich die Begegnungen mit den Patienten jedes Mal schriftlich fest. Die folgende Schilderung ist ein Ausschnitt aus einem solchen Tag und soll einen kleinen Eindruck von dem vermitteln, was ich als Besuchsdienst tue und erlebe. Ich gehe in das Zimmer von Herrn N. Eine Schwester will gerade damit beginnen, ihm sein Mittagessen zu verabreichen, und ist froh
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darüber, dass ich sie jetzt ablösen kann. Ich tue es gerne. Essen zu geben ist eine sinnvolle, aber auch fordernde Art der Kommunikation mit Patienten mit fortgeschrittener Demenz. Herr N. ist auch diesmal, wie bei meinem letzten Besuch, mittags im Bett. Er ist noch schlaftrunken; das Erwachen dauert bei ihm immer länger. Allmählich wird er ganz wach. Er schaut mich wissend an: „Was bringt das alles, wohin führt das denn?“, fragt er und wirkt dabei gar nicht dement. Die Suppe ist noch sehr heiß, daher beginne ich vorsichtig und gebe zuerst jeweils nur ganz wenig, später dann immer mehr auf den Löffel. Allmählich ist die ganze Suppe aufgegessen. Weiter geht es mit der breiigen Hauptspeise; sie ist inzwischen abgekühlt, daher muss ich nicht mehr so stark aufpassen. Beim Kartoffelpüree kann man aber nie wissen, ob es wirklich kühl genug ist; es bleibt sehr lange heiß. Der Teller ist halbleer, da sagt Herr N. plötzlich: „Jetzt bin ich aber angefressen!“ 3 Das klingt sehr glaubwürdig, daher lege ich den Löffel weg. Aber nach einer Weile merke ich, dass Herr N. doch weiteressen möchte. Ich biete ihm einen vollen Löffel an, er macht sofort den Mund weit auf und isst vergnügt den Teller ganz leer. „Jetzt muss er aber wirklich ‚angefressen‘ sein“, denke ich und bringe ihn in eine bequeme Ruhelage, damit ihn der volle Bauch nicht drückt. Für eine Weile bleibe ich neben ihm sitzen, ohne etwas zu tun oder zu sagen, ehe ich nach meinen anderen Patienten sehe. Anfangs hatte ich immer das Gefühl, das sei zu wenig und wollte unbedingt irgendetwas tun. Diesem Gefühl darf man nicht nachgeben, Aktionismus ist hier nicht angebracht. Die Uhren sehr alter Menschen ticken viel langsamer als unsere. Nach etwa zehn Minuten gehe ich hinaus und versuche, für Herrn N. eine Zeitung aufzutreiben. Ich begrüße kurz Herrn K. und nehme mir vor, später wiederzukommen. Sein Gesichtsausdruck hat sich in letzter Zeit verändert, er schaut mit leeren Augen vor sich hin. Schon bei meinen letzten Besuchen war mir aufgefallen, dass sich sein Zustand verschlechtert. Schließlich finde ich im Raucherzimmer eine Zeitung und bringe sie zu Herrn N. Er beginnt die Überschriften zu lesen, nickt dazu bedeutsam und schaut mich an. Er versteht nicht, was er liest, aber wir sind uns nonverbal einig darüber, dass es sich um wichtige Neuigkeiten handelt. Es ist unsere Art des Gesprächs. Später gehe ich zu Herrn S. und reiche ihm die Jause, Karamellpudding. Es schmeckt ihm gut und er isst alles auf. Herr S. hat keine Hirnleistungsstörung. Mit ihm führe ich ein längeres Gespräch; er
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Österreichisch für „satt“.
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sehnt sich danach, mit jemandem zu reden. Diesmal kommen wir, da er früher oft und gern mit seiner Frau gewandert ist, auf das Wandern zu sprechen. Da meine Frau und ich auch immer gern gewandert sind, ergeben sich hier Gemeinsamkeiten. Mit Herrn S. führe ich immer wieder intensive und ergiebige Gespräche. Dabei muss ich nur darauf achten, mich stets unmissverständlich auszudrücken, denn er ist leicht zu kränken. Wenn er sich kränkt oder ärgert, wird er von einer Welle der Aggression erfasst, ja geradezu überschwemmt. Doch Gespräche über die „gute, alte Zeit“ bescheren ihm schöne Erinnerungen und tragen viel zu einer ausgeglichenen Stimmungslage bei. Solche Gespräche beginnt Herr S. in der Regel damit, dass er kräftig über die gegenwärtigen Missstände schimpft, und endet mit angenehmen Erinnerungen aus der Vergangenheit. Ich lasse Herrn S. schimpfen, zeige nur Verständnis für ihn persönlich, ergreife aber nicht Partei. Herr S. ist sehr sprunghaft; der größte Feind kann für ihn kurz darauf wieder zum Freund werden. Früher, als Herr N. sein Bettnachbar war, ging er regelmäßig heftig auf ihn los. Jetzt ist das alles vergessen und es herrscht große Freude, wenn ich einmal mit Herrn N. bei ihm auftauche. Nach Ende unseres Wandergesprächs verlasse ich Herrn S. wieder und suche Herrn R. auf. Herr R. sitzt weit nach vorne gebeugt auf seinem Bett. Ich setze mich dicht neben ihn auch auf das Bett. Herr R. ist ganz in sich gekehrt, aber ich spüre, dass er mich erkennt. Plötzlich steht er auf und versucht, auf sehr unsicheren Beinen zu seinem Rollator zu gelangen, der ein paar Meter weiter an der Wand steht. Ich biete ihm meine Hand als Stütze an. Herr R. schlurft wortlos mit seinem Rollator aus dem Zimmer und steuert mühsam auf die Toilettenanlage am anderen Ende des Ganges zu. Ich begleite ihn. Vorher erkundige ich mich bei einer Schwester, ob ich ihn allein auf die Toilette gehen lassen könne. Sie bejaht. Herr R. stellt seinen Rollator vor der Tür ab, geht hinein und sperrt die Tür zu. Ich verlasse nach kurzem Zögern meinen Beobachtungsposten vor der verschlossenen Tür und gehe wieder zu Herrn N. Da die Zimmertür offen steht, kann ich von hier aus sehen, wenn Herr R. das WC verlässt. Die Zeit vergeht und Herr R. taucht noch immer nicht auf. Ich gehe nachschauen: Der Rollator steht noch auf seinem Platz, die Toilettentür ist verschlossen. Nichts rührt sich. Als ich bald darauf das nächste Mal nachsehe, öffnet sich die Tür zaghaft; sehr wackelig, Halt suchend, auf die Türschnalle4
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Österreichisch für Türklinke.
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gestützt, erscheint Herr R. Seine Hose hängt herunter, an seinem Gesäß haftet Stuhl. Ich eile ihm zu Hilfe. Um ihm nicht das Gefühl zu geben, wie ein kleines Kind behandelt zu werden, ziehe ich Windelhose und Hose einfach über das beschmutzte Gesäß und begleite ihn wieder in sein Zimmer zurück. Er geht mühsam zu seinem Bett und setzt sich hin. „Er ist schmutzig“, denke ich, „aber er sitzt wieder sicher und zufrieden da und man bemerkt von außen nichts.“ Später berichte ich einer Schwester von dem Vorfall und mache sie darauf aufmerksam, dass er gereinigt werden muss. „Ich weiß“, sagt sie, „aber es ist wichtig für Herrn R., allein auf die Toilette zu gehen, auch wenn es für ihn ein gewisses Risiko und für uns mehr Arbeit mit sich bringt.“
Die Freundschaft mit Herrn F. Der erste Patient, den ich besuchte, war der alleinstehende Herr A., der niemals Besuch bekam. Sein Bettnachbar, Herr F., erhielt auch nie Besuch, lehnte aber einen Besuchsdienst stets energisch ab. Ich begann also, Herrn A. zu besuchen. Wenn ich kam, lag Herr F. in seinem Bett und hielt, während ich mich Herrn A. zuwendete, sein Mittagsschläfchen. Ich begrüßte stets auch Herrn F.; darüber hinaus hatten wir keinen Kontakt. Herr F. gehörte zu den „jungen“ Patienten. Er war etwas jünger als ich, mittelgroß, schlank und zart. Auffallend an ihm waren seine vielen Operationsnarben und sein von den Stürmen des Lebens verwüstetes Gesicht. Seine geistige Leistungsfähigkeit war zum Teil noch gut erhalten, brach in anderen Bereichen jedoch ganz ein. Er sprach undeutlich und war oft schwer zu verstehen. Da er vieles nicht mehr selbst machen konnte, war er stark auf fremde Hilfe angewiesen. Als Persönlichkeit wirkte er grob und unberechenbar und neigte zu Aggressionen. Dahinter verbargen sich aber eine große Feinfühligkeit und eine seltsame Art von Zärtlichkeit, die er nicht zeigen wollte. Obwohl er durchaus aufstehen und sich mit Hilfe eines Rollators, wenn auch humpelnd, fortbewegen konnte, nahm er seine Mahlzeiten im Bett ein. Wenn er fertig war, stand er auf, nahm den bereitstehenden Rollator und brachte den leeren Teller zum Tisch. Sonst verließ er sein Bett nur, wenn er zur Toilette gehen musste. Darüber hinaus verweigerte er jede Aktivität. Ich besuchte also Herrn A. und Herr F. schlief währenddessen. Die Wochen vergingen. Allmählich bemerkte ich, dass Herr F. nur so tat, als ob er schliefe. Er hörte mit, wenn ich mit Herrn A. sprach, und begann, sich in das Gespräch einzubringen und mir zu erklären, was
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Herr A. nicht erklären konnte. Bisher hatten Herr A. und Herr F. – wiewohl Bettnachbarn – keinen persönlichen Kontakt miteinander gehabt. Jetzt kam mit meiner Hilfe ein indirekter Kontakt zwischen den beiden zustande: Wenn Herr F. etwas sagte, vermittelte ich es an Herrn A. weiter: „Herr F. hat gemeint …“ Gab Herr A. seinerseits darauf eine Antwort, teilte ich Herrn F. mit: „Herr A. sagte …“ Herr F. hortete in seinem Nachtkästchen „Mannerschnitten“ (Waffeln mit Haselnusscreme). Die Schnitten stellten für ihn sichtlich einen besonderen Wert dar; wenn sich die Gelegenheit ergab, wies er voll Stolz auf sie hin. Eines Tages wollte er mir beim Verabschieden eine Packung schenken – eine besondere Auszeichnung! Im Augenblick wusste ich nicht, wie ich reagieren und mich verhalten sollte, wollte ich doch das Geschenk weder annehmen noch zurückweisen. Schließlich fand ich einen Kompromiss: Ich nahm die Schnitten mit gebührendem Dank entgegen, gab sie ihm dann aber zurück und bat ihn, sie für mich aufzubewahren, bis ich wiederkäme. Bei meinem nächsten Besuch eine Woche später wartete er schon und überreichte mir die Schnitten. Als ich wieder ging, übergab ich sie ihm neuerlich zur Aufbewahrung. Dieses Ritual behielten wir über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren bis zu seinem Tod bei. Mein Besuchsdienst hatte sich bald auch auf andere Patienten der Station ausgeweitet. Allmählich begann Herr F. sich, wenn ich nicht da war, um die Patienten zu kümmern, zu denen ich regelmäßig kam. Wenn er mich das nächste Mal sah, berichtete er mir darüber. Während seiner Besuche bei Mitpatienten verhielt er sich rau und unsentimental, doch schien das die Besuchten nicht zu stören; mit der Zeit wurden sie zu seinen Freunden. Da „meine“ Patienten in verschiedenen Zimmern untergebracht waren, musste Herr F. durch seine Besuche seinen Aktionsradius erweitern. Die veränderte Lebensweise tat ihm sichtlich gut: Er fuhr nun mit dem Rollstuhl auf der ganzen Station herum, seine Sprache wurde besser, er nahm etwas an Gewicht zu und gewöhnte sich an, an Stationsfesten teilzunehmen. Unsere persönlichen Begegnungen hatten sichtlich einen besonderen Stellenwert für ihn, blieben aber immer nur kurz. Manchmal kam auch meine Frau auf die Station. Herr F. lernte sie kennen, fasste Vertrauen zu ihr und entschloss sich schließlich, an der von ihr geleiteten Singgruppe teilzunehmen. Wenn ich ihn besuchte, erzählte er mir von seiner Teilnahme an der Singgruppe und berichtete, was meine Frau angehabt hatte. Von meiner Frau erfuhr ich, dass Herr F. den Platz neben einer bestimmten Patientin bevorzugte und gerne und mit schöner Stimme mitsang.
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Herr F. hatte sich auf der Station einen geachteten Platz erworben, es ging ihm gut und er fühlte sich wohl. Dennoch dachte er immer auch an das Sterben. Wenn ich mich am Ende eines Besuchs von ihm verabschiedete und hinzufügte, wann ich wieder käme, antwortete er oft: „Hoffentlich lebe ich dann noch.“ Eines Tages machten sich bei ihm Schluckstörungen bemerkbar. Es wurde ein Karzinom festgestellt. Die Krankheit schritt rasch voran, doch Herr F. machte nicht viel Aufhebens davon; man merkte ihm kaum etwas an. Als meine Frau und ich ihn zum letzten Mal besuchten, lag er im Bett. Wir setzten uns zu ihm. Herr F. wirkte sehr schwach und müde. Er war gefasst, schien für den Abschied bereit zu sein und uns trösten zu wollen. Einmal schaute er mich an, hob den Arm und fuhr mir mit der Hand in den Bart. Ich fühlte, das war seine scheue Form der Zuwendung. Als ich das nächste Mal kam, erfuhr ich, dass er einige Tage nach unserem Besuch friedlich gestorben war. Andrea Fink
10.5 Recht auf (Ergo-)therapie Gibt es ein Recht auf Therapie, wenn eigentlich „nichts mehr zu machen ist“? Andrea Fink Das Wort „Therapie“ leitet sich vom griechischen „therapeia“ (Dienst, Pflege, aber auch Hochachtung) ab. Der Begriff „Rehabilitation“ kommt aus dem Französischen. Réhabiliter bedeutet „die Ehre, das soziale Ansehen wiederherstellen“. Das Wort stammt aus einer Epoche, in der es üblich war, dass Männer ihre Ehre im Duell verteidigten. Schade, dass diese Begriffe viel von ihren ursprünglichen Bedeutungen verloren haben, die deutlicher bewusst machen könnten, warum Therapien auch dann wichtig sind, wenn keine entscheidende Zustandsverbesserung mehr erzielt werden kann. Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie gelten indes im palliativ geriatrischen Bereich noch immer als Luxus. Die (wenigen) angestellten Therapeutinnen werden hauptsächlich im Rehabilitationsbereich beschäftigt, wenn eine deutliche Funktionsverbesserung im Bereich des Möglichen liegt. Gerade wenn ein Mensch alt, krank und verwirrt ist, gerade wenn sein Leben zu Ende geht, sollte er ein Recht auf Therapie im Sinne von Dienst und wertschätzender Begleitung haben, ebenso wie ein Recht auf „Rehabilitation“ im Sinne von Erhaltung der Würde bis zuletzt.
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In den gesetzlichen Vorschriften spiegelt sich das nicht wider. Die Wohn- und Pflegeheimgesetze bzw. Alten- und Pflegeheimverordnungen der einzelnen österreichischen Bundesländer weisen meist nur sehr oberflächlich auf die Pflicht des Heimträgers hin, zeitgemäße und fachgerechte Therapien anzubieten. Diese Formulierungen beziehen sich zudem meist auf medizinische Therapien und nicht unbedingt auf die Angebote von Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Auf diese gehen die Verordnungen nur sehr begrenzt ein.5 Recht auf (Ergo-)therapie
In Deutschland scheint die Situation nicht anders zu sein. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes „Bund der Krankenkassen e. V.“ hat im November 2009 eine Grundsatzstellungnahme für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz in stationären Einrichtungen veröffentlicht. Auch demenziell Erkrankte haben Anspruch auf rehabilitative Leistungen zur Beseitigung oder Verminderung der Krankheitsfolgen, insbesondere im Bereich der Aktivitäten und der Teilhabe. Im Gegensatz dazu wird die Zweckmäßigkeit rehabilitativer Leistungen, insbesondere der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 40 SGB V) bei demenziell Erkrankten häufig kontrovers diskutiert und eher negativ beurteilt“ (MDS 2009, S. 53). Erfahrene Therapeutinnen, die mit Demenzkranken arbeiten, sehen indes regelmäßig beachtliche Erfolge. Der Anspruch der Kranken wird zwar grundsätzlich anerkannt, die Inanspruchnahme der Leistungen aber ohne wirklich stichhaltige Begründung verweigert. Zwar werden im Rahmen des pflegerischen Assessments einige Konzepte und Tests beschrieben, die auch von Ergotherapeutinnen, Physiotherapeutinnen und Logopädinnen angewandt und durchgeführt werden, namentlich erwähnt werden Ergotherapie und Krankengymnastik jedoch lediglich in Zusammenhang mit der Verordnung von Heilmitteln. Die Bedeutung der Zusammenarbeit mit anderen Professionen wird der Vollständigkeit halber z. B. im Bereich der Sturzprophylaxe erwähnt. Wer diese ande-
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Nach dem Wiener Wohn- und Pflegeheimgesetz steht den Patientinnen zumindest ein „Recht auf funktionserhaltende, funktionsfördernde und reintegrierende Maßnahmen entweder durch zur Verfügung stellen von Therapeuten oder durch Vermittlung von Therapeuten zu.“ (§ 4 (2) 3.) Zusätzlich wird in den Punkten 1. und 2. auf die freie Arzt- und Therapiewahl und die adäquate Schmerzbehandlung hingewiesen. Physiotherapeutinnen, medizinisch-technische Fachkräfte und Masseurinnen können mit manuellen Maßnahmen (z. B. Bewegungstherapie, Lymphdrainage, Massagen), durch balneotherapeutische Angebote (z. B. Bäder, Packungen) und durch Elektrotherapie einen großen Beitrag zur adäquaten Schmerzbehandlung leisten. Auch auf das Recht der Patientinnen auf Verordnung und Beschaffung von Hilfsmitteln wie Rollstühlen oder Gehhilfen beim Vorliegen physischer Beeinträchtigung wird hingewiesen.
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ren Berufsgruppen sind und welche Aufgaben sie haben, bleibt in diesem über 200 Seiten umfassenden Schriftstück über Demenzbetreuung der Phantasie des Lesers überlassen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit, wie ich sie in den fünfzehn Jahren, in denen ich im Geriatriezentrum am Wienerwald als Ergotherapeutin in der Demenzbetreuung tätig bin, oft leben und erleben konnte, ist anscheinend immer noch eher die Ausnahme als die Regel. Das ist verwunderlich. Alle Berufsgruppen klagen gleichermaßen über Personalmangel – manches Manko könnte durch vermehrte interdisziplinäre Zusammenarbeit ausgeglichen werden. Demente Patientinnen werden auch nicht als Lieblingsklientel gehandelt und doch könnte der Eindruck entstehen, es bestünde Interesse daran, die Demenzbetreuung zum Monopol der Pflege zu erklären. Haben alte, desorientierte Menschen kein Recht auf Ergotherapie, Physiotherapie oder Logopädie? Ist es vielmehr ein gesellschaftspolitischer Gnadenakt, wenn sie ausnahmsweise einmal therapeutische Hilfe erhalten.
10.5.1 „Weltenmacher“, Brückenbauer, Wegbegleiter Menschen mit Demenz, die Einbußen im kognitiven Bereich erleiden, verfügen nach wie vor über Fähigkeiten, sich in ihrer Weise auszudrücken, zu kommunizieren und sich kreativ zu entfalten. Sie sind in der Lage, sich selbst als Person zu erfahren und Lebensqualität trotz Demenz zu erleben. In der Regel brauchen sie dazu jedoch unsere Unterstützung. Physiotherapeutinnen, Ergotherapeutinnen und Logopädinnen können auch einen wesentlichen Beitrag leisten, um Brücken zwischen den Menschen mit und denen ohne Demenz zu bauen (vgl. Wißmann, 2007, S. 10). In einem Gespräch mit Gabriele Wallner, Stationsleitung einer geriatrischen Langzeitstation mit ganzheitlicher Betreuungsphilosophie im Geriatriezentrum am Wienerwald, entwickelte sich die Metapher von Weltenmachern und Brückenbauern. Die Pflegerinnen sind die Weltenmacher für unsere Patientinnen. Sie gestalten die (Um-)Welt Pflegeheim für die alten desorientierten Menschen lebenswert. Wir Therapeutinnen gehören zu den Brückenbauern, die dazu beitragen, dass die Patientinnen in dieser Pflegeheimwelt so aktiv wie möglich leben können. Zusätzlich braucht es Wegbegleiter: Ärztinnen, die akute Erkrankungen und Entgleisungen behandeln, quälende körperliche Symptome und Schmerzen lindern, Seelsorgerinnen, die spirituell begleiten, Angehörige, ehrenamtliche Helferinnen und viele andere.
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10.5.2 Die therapeutischen Brücken Die Brücke zum Sein In unserer leistungsorientierten Gesellschaft haben immer mehr Menschen den berechtigten Wunsch, nicht nur ihres Tuns, sondern auch ihres Daseins wegen geschätzt und geliebt zu werden. Einfach der Mensch sein zu können, der man ist, bedeutet, von anderen angenommen zu werden, wie man ist, um schlussendlich auch sich selbst so annehmen zu können. Beziehung, Einbeziehen, Annehmen, Mitempfinden und Fürsorge sind die zentralen Begriffe des Seins (Wilber, 2009, S. 74). Für sehr alte desorientierte Menschen, die ihr Leben lang Leistung erbracht haben, ist es wichtig, jetzt einfach sein zu dürfen, angenommen zu werden mit allen Eigenheiten und Defiziten, anerkannt zu werden mit dem großen Schatz an Gefühlen und Erfahrungen. So wird den Betroffenen geholfen, sich auch selbst anzunehmen und ihr Leben in Frieden mit sich selbst abzuschließen. Deshalb ist Validation nach Feil für Pflegende, Therapeutinnen, Ärztinnen und andere in die Betreuung eingebundene Personen die wichtigste Grundlage gelingender Hilfestellung. In der Validation wird jeder alte Mensch so angenommen, wie er geworden ist. „Zuhören mit Empathie … baut Vertrauen auf, reduziert die Angst und gibt die Würde zurück“ (Feil und de Klerk-Rubin, 2005, S. 18). Gelingende Kommunikation schafft Vertrauen und bildet damit die Basis dafür, dass die Patientinnen offen über ihre Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse sprechen können. So gelingt es trotz ihrer kognitiven Einbußen, mit ihnen gemeinsam realistische Therapieziele zu formulieren und umzusetzen. Vertrauen ist auch und gerade dann unverzichtbar, wenn das Lebensende näher rückt und der Mensch allmählich auf sein Sterben zugeht. Alle Therapeutinnen kennen die Situation, wenn Therapie nicht mehr sinnvoll und möglich ist, wenn eben nur noch das Sein zählt. Meist ziehen wir uns dann zurück, denn die nächste Patientin steht ja schon auf unserer Warteliste. Doch ist die Patientin, die wir jetzt nicht mehr besuchen, nicht ein Mensch, der uns vertraut hat, der sich durch uns in seinem Sein bestätigt gefühlt hat? Darf dieser Mensch jetzt nicht mehr hoffen, von uns bis zuletzt begleitet zu werden? Herr P., ein über 70-jähriger Patient mit Darmkrebs, Depressionen und beginnender Demenz, wurde mir zur Therapie zugewiesen. Der ständige durch den Darmkrebs verursachte Blutverlust schwächte ihn sehr und trug zu seiner Antriebslosigkeit bei. Es war nicht
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schwer, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, wenn man ihn nicht drängte und auch einmal seine Ablehnung annehmen konnte. So gelang es in kurzer Zeit, ihn dazu zu motivieren, eine Baumwolltasche für seine Frau, die ihn täglich besuchte, zu bemalen. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rasch, und buchstäblich mit seinen letzten Kräften wurde das Geschenk noch fertig. Die Therapie wurde beendet. Immer wenn ich morgens mit einem Zimmerkollegen von Herrn P. das selbstständige Waschen und Anziehen trainierte, rief mich Herr P. zu sich. Es waren meist nur ein paar Minuten, in denen es nicht immer etwas zu sagen gab. Ich war einfach da, hielt seine Hand und teilte den Schmerz. Herr P. wollte nicht sterben, bis zum Schluss kämpfte er gegen den Tod. An den Tagen vor seinem Tod nahm ich mir mehrmals die Zeit, bis zu einer Stunde an seinem Bett zu bleiben und einfach mit ihm zu sein. Dabei durfte ich erleben, „dass wir in unserer Beziehung zum Sterbenden nicht nur Gebende sind. Früher oder später erkennen alle, die mit Sterbenden arbeiten, dass sie mehr bekommen als geben“ (Sogyal Rinpoche, 2009, S. 215).
Die Brücke der Wahrnehmung Die Wahrnehmung ist die Brücke zwischen dem Ich und der Welt und auch eine Brücke zum Sein. Altersbedingte Leistungseinbußen in Bezug auf Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken führen dazu, dass sich der Mensch schlechter in seiner Außenwelt orientieren kann und dass sich auch zunehmend der Bezug zum eigenen Körper verändert. Je desorientierter der alte Mensch wird, desto weiter zieht er sich in sich zurück und benutzt mehr und mehr seine „inneren Sinne“. Es ist daher nicht verwunderlich, dass für Demenzkranke Erinnerungsbilder aus der Vergangenheit zur lebendigen Wirklichkeit werden, wenn ihre Sinne allmählich schwinden, dass Geräusche aus der Gegenwart sich mit Erlebnissen aus der Vergangenheit verbinden oder dass alte Menschen, die schlecht hören, zunehmend misstrauischer werden, weil sie vieles nicht richtig verstehen und oft das Gefühl haben, man beobachtet sie oder spricht über sie. Bäume und Sträucher, die vom Fenster aus zu sehen sind, werden zu Soldaten, die Wache stehen. Ein ehemaliger Botschafter, der in Indien und China tätig war, sieht Schlangen, die am Boden kriechen. Eine meiner ersten Patientinnen war Frau F. Wenn sie das Klingeln des Schwesternrufs hörte, sagte sie oft: „Schwester, gehen Sie hinunter ins Mezzanin! Meine Eltern läuten und niemand lässt sie rein.“
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Multisensorische Aktivierung ist ein wesentlicher Beitrag, um das Leben der alten Menschen, die mit vielen Veränderungen und Verlusten zu kämpfen haben, attraktiver zu gestalten, um den Rückzug aufzuhalten bzw. um sie in der Orientierung in der Außenwelt, aber vor allem in der Orientierung in sich selbst zu unterstützen. Gunvor Sramek erzählte in meiner Validationsausbildung oft von einer alten dementen Frau, die so treffend sagte: „Da oben ist der Kopf und da unten sind die Füße, aber irgendwie hängt das alles nicht mehr zusammen.“ In frühen Phasen der Demenz kann die Körperwahrnehmung noch aktiv durch bewusstes Bewegen oder Abklopfen des eigenen Körpers gefördert werden. In späteren Phasen, wenn die körperliche Aktivität – bedingt durch Altersveränderungen und durch den Verlust kognitiver Fähigkeiten – abnimmt, setzen Physiotherapeutinnen die Basale Stimulation ein und verwenden spezielle Massagetechniken sowie andere Methoden zur Förderung der Wahrnehmung und des Wohlbefindens wie z. B. Shiatsu oder Craniosacraltherapie. Physio- und Ergotherapeutinnen arbeiten meist Hand in Hand. Setzt die Physiotherapeutin ihren Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Körperwahrnehmung, kann sich die Ergotherapeutin beruhigt auf die sensorische Stimulation und Aktivierung konzentrieren. „Um die Umwelt erfahren zu können, muss der Mensch sich selbst erleben und seine Körpergrenzen spüren. Die Körperwahrnehmung ist somit auch die Voraussetzung dafür, Eindrücke aus der Außenwelt aufzunehmen. Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken sind aber nicht nur die Verbindungen zur Umwelt, sie ermöglichen uns auch unsere Wahrnehmungen kreativ zu verarbeiten und umzusetzen und geben uns dadurch das Gefühl, dass das Leben lebenswert ist“ (vgl. Winnicott, S. 78).
Die Brücke der Kommunikation (vgl. S. 11 ff.) Je desorientierter der alte Mensch wird, desto mehr schwindet sein Bedürfnis zu sprechen. Die Gründe dafür liegen einerseits in der veränderten Wahrnehmung, andererseits in der Tatsache, dass wir häufig nicht auf seine Signale (z. B. auf bedeutsame Schlüsselworte) reagieren und selbst Dinge sagen, die für ihn nicht mehr von Bedeutung sind. Nicht zuletzt geht das Sprachvermögen aber auch durch mangelnde Übung und Praxis verloren. Wer nimmt sich schon Zeit, mit den stark verlangsamten alten Damen zu plaudern, die das meiste ohnedies nicht mehr verstehen. In unserer primär auf Sachverstand und Leistung ausgerichteten Welt ist es bereits schwierig genug zu erreichen, dass Gefühle und Bedürfnisse gehört und anerkannt werden, wenn wir
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sie aussprechen. Wie schwer muss es erst sein, mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen von anderen wahrgenommen und verstanden zu werden, wenn die Möglichkeit schwindet, sich über Worte mitzuteilen. Logopädinnen sind Expertinnen bei Schwierigkeiten, sich sprachlich auszudrücken und Gesprochenes zu verstehen. Gehen sie mit validierender Grundhaltung auf die Patientinnen zu und verfügen zumindest über grundlegende Kenntnisse in Validation, können sie alte desorientierte Menschen dabei unterstützen, ihr Sprachvermögen länger zu erhalten. Dies geschieht leider zu selten, denn Logopädinnen sind in den meisten Institutionen noch rarer als Ergo- und Physiotherapeutinnen, daher bleibt es ihre Hauptaufgabe, Patientinnen mit neurologischen Erkrankungen (z. B. nach Schlaganfall) zu helfen, wieder besser spechen und schlucken zu lernen (vgl. Institut für Physikalische Therapie und Rehabilitation (IPMR) im GZW 2010, S. 15).
Die Brücke der Bewegung Die Möglichkeit, sich zu bewegen, ist eine weitere wichtige Brücke zur Welt. Auch im palliativ-geriatrischen Bereich lässt sich die Bewegungsfähigkeit fördern bzw. erhalten. Schmerzen des Bewegungsapparats wirken bewegungshemmend. Mit physiotherapeutischen Methoden der Schmerztherapie ist häufig Linderung zu erzielen. Auf diese Weise können auch Medikamente eingespart werden. Daneben bilden Gangschulung, Kontrakturprophylaxe, Atemtherapie und Ergometrietraining wesentliche Schwerpunkte der Physiotherapie. Es mag oft recht seltsam wirken, wenn man – je nach Anzahl der vorhandenen Geräte – zwei oder drei Damen „vor sich hin radeln“ sieht. Doch Susanne Handwerk, eine meiner Kolleginnen am IPMR des Geriatriezentrums am Wienerwald, beschreibt, dass dies oft die einzige Möglichkeit für ein effektives Herzkreislauftraining bei sehr alten Menschen ist, denn früh Erlerntes bleibt und Radfahren ist auch unseren sehr alten dementen Damen vertraut. Zusätzlich ermöglicht das Radfahren eine aktive Bewegung im Bein bei gleichzeitiger Schonung der Hüft- und Kniegelenke. Es ist also ein ideales Training bei Schmerzen, Arthrosen und nach Operationen. Die physiotherapeutischen Gruppenangebote wie (Sitz-)Gymnastik oder Boccia bieten unterschiedliche Möglichkeiten wie Kraft-, Gleichgewichts- und Koordinationstraining sowie Verbesserung der Körperwahrnehmung. Sie unterstützen zusätzlich auch die Kommunikation und das Miteinander und lassen alte demente Menschen erleben, dass Bewegung trotz Alterseinbußen immer noch Spaß und Freude machen kann (Handwerk, 2010, S. 24).
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Es ist immer wieder schön zu beobachten, wie durch das gemeinsame Tun auch längst vergessen geglaubte Fähigkeiten wiederentdeckt werden. Vor allem das Training mit verschiedenen Bällen ist vielen unserer Patientinnen aus der Kindheit vertraut und fördert die Beweglichkeit, die Reaktionsfähigkeit und die Kraft. Die Generation, die ohne Auto und Computer aufgewachsen ist, erinnert sich gern an Fahrradtouren und Tanzabende und findet schnell Freude daran, sich auch jetzt wieder gemeinsam zu bewegen. Nach einigen Monaten des regelmäßigen „Turnens“ ist das Krafttraining mit Hanteln, Gewichtsbällen und „Therabändern“ oder die Durchführung von 30 Kniebeugen auch für so manche über 90-jährige Dame zur Selbstverständlichkeit und zum willkommenen Fixpunkt im bewegungsarmen Alltag geworden (ebd.). Für unsere alten, in der Bewegung oft schon stark eingeschränkten Damen ist der passende Rollator oder Rollstuhl ein wichtiges Hilfsmittel, um möglichst mobil zu bleiben. Der Rollstuhl ist aber weit mehr als ein Transportmittel, das den Patientinnen ermöglicht, von A nach B zu kommen. Unsere Patientinnen verbringen oft einen Großteil des Tages sitzend. Optimale Sitzhaltung und Lagerung sind wichtig, um Schmerzen zu reduzieren und Wohlbefinden zu ermöglichen. Ergotherapeutinnen und Physiotherapeutinnen sind geschult darin, Gehhilfen und Rollstühle den Bedürfnissen der Patientinnen entsprechend anzupassen und den Umgang damit mit den Patientinnen zu trainieren. Demente Menschen brauchen in der Regel keine teuren speziellen Antriebsarten. Sie trippeln meist mit den Beinen mit. Der Rollstuhl soll also möglichst leicht sein und die richtige Höhe haben, damit die Füße auf dem Boden stehen und das Mitgehen ermöglichen. Die passende Sitzbreite ist wichtig, damit die Greifreifen an den Antriebsrädern gut erreichbar sind. Optimales Material und optimale Stärke des Sitzkissens erleichtern das lange Sitzen.
Die Brücke des Tuns Hauptaufgabe der Ergotherapie ist es, die Handlungsfähigkeit des Menschen in den für ihn wichtigen Lebensbereichen zu erhalten. Die zentrale Frage der Ergotherapeutin im palliativen Bereich lautet deshalb: „Was willst du tun und wie kann ich dir dazu verhelfen?“ Wenn Wiederherstellung nicht mehr erzielbar ist, kann das Ausüben einer Tätigkeit entweder durch Modifikation der Handlung selbst oder durch Veränderung bzw. Anpassung der Umwelt oft doch noch ermöglicht werden. Dies gelingt unabhängig davon, ob es sich um Aktivitäten aus den Bereichen Selbsterhaltung und Produktivität oder aus dem Freizeit- und Erholungsbereich handelt. Ergotherapeutinnen
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helfen, indem sie analysieren, adaptieren und gestalten, motivieren und beraten. Tätigkeiten aus dem Alltag und aus dem handwerklichkreativen Bereich werden ebenso wie bekannte Spiele und eigens angefertigte Therapiemittel eingesetzt, um motorische, kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten zu erhalten, zu fördern bzw. wiederherzustellen. Als Frau C., einst begeisterte Klavierspielerin, erstmals der Ergotherapie zugewiesen wurde, war es schwierig, ihr etwas anzubieten. Im kreativ handwerklichen Bereich sowie bei alltagsorientierten Aktivitäten stand sie zwar mit Rat und Tat zur Seite, wollte jedoch nicht selbst tätig werden. Da die zuständige Ergotherapeutin das Harfespiel beherrscht und sich auch mit der therapeutischen Wirkung dieses Instruments beschäftigt, wählt sie die Harfe als Mittel für die nächste Therapieeinheit. Schon beim Betreten des Therapieraumes reagiert Frau C. mit Freude. Ihr Interesse ist sofort geweckt. Sie sucht nach den richtigen Worten, kann das Instrument aber nicht benennen. Mit einem Lächeln im Gesicht, auffordernd auf die Harfe zeigend, sagt sie: „Spielen Sie damit!“ Beim Vorspielen passieren kleinere Fehler. Sofort ist Frau C. wieder in der Rolle der Unterrichtenden. Sie lobt die Therapeutin und spricht ihr Mut zu. Sie sagt mit den wenigen noch vorhandenen Worten und mit Hilfe ihrer Gestik: „Der Vater hat ‚es‘ auch spielen können.“ Die Ergotherapeutin bietet Frau C. an, mit ihrer Hilfe selbst die Harfe zu spielen. Nach anfänglichem Zögern versucht Frau C., die Saiten der Harfe entlangzustreichen und spielt gemeinsam mit der Betreuerin eine kleine Melodie. Sie lächelt und hat offensichtlich Freude an den Klängen. Sie erinnert sich wohl an ihren Vater, den sie sehr geliebt hat. Frau C. hat erstmals wieder den Mut, etwas in die Hand zu nehmen, selbst etwas zu tun. Ein erster Schritt ist gelungen. Vielleicht wird es in einiger Zeit möglich sein, sie auch zu alltagsorientierten oder kreativen Tätigkeiten in der Gruppe zu motivieren. Der 71-jährige Herr T. nimmt an einer ergotherapeutischen Werkgruppe teil. Er war nie verheiratet, hatte keine Kinder und ging in seinem Beruf als Installateur regelrecht auf. Aufgrund des alkoholbedingten demenziellen Abbaus und des damit verbundenen Selbstfürsorgedefizits wurde er im Geriatriezentrum aufgenommen. Seine Biographie legte eine handwerkliche Tätigkeit als das Therapiemittel der Wahl nahe. Meist sitzt er verloren und teilnahmslos im Raucherzimmer. Er vergisst von einer Minute zur nächsten. Wird er in die Gruppe gebracht, erkennt er dennoch sofort seinen für ihn vorbereiteten Arbeitsplatz und beginnt zu arbeiten. Er
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bohrt, er sägt, er schleift. Er erkennt den Arbeitsauftrag und setzt das Werkzeug richtig ein. Er arbeitet ca. 1½ Stunden konzentriert und mit Freude. So können kognitive Fähigkeiten wie Konzentration, Merkfähigkeit, Handlungsplanung gefördert werden. Am Ende des Vormittags präsentiert Herr T. mit Stolz seine Arbeit und verlässt zufrieden die Ergotherapie. Sein Bedürfnis, „nützlich und produktiv zu sein“, ist erfüllt. Frau L. – ihre Geschichte wird im Kapitel Bedürfnisse noch genauer beschrieben – ist bettlägerig. Sie kann deshalb nicht an Gruppenaktivitäten teilnehmen, dennoch möchte sie gerne aktiv tätig sein. Ihre Arme und Hände sind gut beweglich. Früher hat sie gerne gehäkelt und gestrickt. Aufgabe der Ergotherapeutin ist es, durch Sammeln von Informationen, Erkennen von Problemen und Ressourcen Therapieziele festzulegen und einen Therapieplan zu erstellen. Therapieziel bei Frau L. ist einerseits, die vorhandenen motorischen Fähigkeiten im Bereich der Arme und Hände zu erhalten. Andererseits geht es darum, die kognitiven Fähigkeiten zu fördern und zu verbessern und ihr die Möglichkeit zu bieten, produktiv und aktiv tätig zu sein. Es müssen also Aktivitäten gefunden und gegebenenfalls adaptiert werden, die auch im Bett durchgeführt werden können. Anfangs arbeiten wir zweimal in der Woche 30 bis 45 Minuten. Sie stickt, näht kreative Bilder aus bunten Knöpfen oder stellt Blumen aus Bast her. Auf längere Sicht wird es aufgrund der knappen Ressourcen erforderlich sein, gemeinsam im interdisziplinären Team zu überlegen, ob eine Seniorenbetreuerin, Animationsbeauftragte oder ehrenamtliche Mitarbeiterin in enger Zusammenarbeit mit der Ergotherapeutin die Durchführung der Aktivität übernehmen kann. Wenn die kognitiven Fähigkeiten schwinden, sind kreativ handwerkliche Tätigkeiten oft zu abstrakt. Handlungen aus dem Alltag, die der alte Mensch regelmäßig durchgeführt hat und die in seinem Leben einen hohen Stellenwert hatten, bleiben hingegen eher im Gedächtnis haften. So ist es auch bei Frau M. Sie ist 86 Jahre alt, war Hausfrau und Mutter von zwei Söhnen. Sie sieht und hört sehr schlecht. In ihrem Zimmer tastet sie sich unsicher vom Bett zu ihrem Platz am Tisch vor. Oft lebt sie gleichzeitig in verschiedenen Lebensphasen. Einerseits weiß sie, dass sie sich in einer „Krankenanstalt“ befindet und legt auf dem Gang selbstständig ihre täglichen „Therapiewege“ zurück, andererseits erzählt sie von den Männern, die nachts mit Scheinwerfern leuchten, um die Frauen abzuholen.
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In der alltagsorientierten Frühstücksgruppe genießt sie es, dabei zu sein, wenn der Kaffee gekocht und der Tisch gedeckt wird. Sie freut sich auf zwei dünne Scheiben frisches Schwarzbrot, die sie selbst mit Margarine und Marmelade nach Wahl bestreicht. Während des Frühstücks spricht sie kein Wort. Sie kann sich nur mehr auf eine Tätigkeit konzentrieren und nimmt die Gespräche der anderen Teilnehmer dann offenbar nicht wahr. Wenn sie sich richtig satt gegessen hat und bis zum gemeinsamen Abwasch noch etwas Zeit bleibt, hat sie umso mehr zu erzählen. Alle anderen kommen kaum mehr zu Wort, wenn sie von ihrer Familie, den Geschwistern und ihrer Jugendzeit erzählt. Einmal wurden Frau M. die Morgenmedikamente nicht in ihrem Zimmer, sondern während der Zeit, die sie in der Gruppe verbrachte, verabreicht. Sie war ganz erstaunt und sagte: „Das ist ja hier wie im Spital, da kriegt man ja auch Medikamente.“ Ein Beispiel, das sehr gut zeigt, dass man nur ein paar Meter von seinem Zimmer entfernt die Verluste des Altseins für kurze Zeit vergessen kann. Ich hoffe, die Fallbeispiele zeigen eindrucksvoll, dass Therapien – auch wenn kein formeller Rechtsanspruch darauf besteht – die Lebensqualität dementer Patientinnen deutlich verbessern können. Ob Weltenmacher, Brückenbauer oder Wegbegleiter: Unabhängig von der Berufsgruppe ist es unser aller Aufgabe, nicht dem Leben Tage, sondern den Tagen Leben zu geben.
10.6 Recht auf bedürfnisgerechte Unterbringung Einbett- oder Mehrbettzimmer? Gunvor Sramek, Marina Kojer Fachleute, die die Errichtung neuer Pflegeheime planen, gehen dabei verständlicherweise von ihren eigenen Anforderungen an die Wohnqualität aus. Jüngere Angehörige mit intakter Hirnleistung wünschen sich für ihre alten Eltern das, was sie auch für sich selbst wünschten, wenn sie in einem Heim leben müssten. Die logische Konsequenz daraus ist die Forderung nach der Etablierung von Einbettzimmern mit Dusche und WC als Qualitätsstandard für alle Heimbewohnerinnen. Erst in den letzten Jahren beginnen sich da und dort leise Zweifel zu regen, ob eine solche Pauschalforderung den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen, die in diesen Räumen leben sollen, tatsächlich immer gerecht wird (Volicer, 2006; Dürrmann, 2007; Rutenkröger und Kuhn, 2008). Gunvor Sramek, Marina Kojer
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Recht auf bedürfnisgerechte Unterbringung
Noch vor zwanzig Jahren waren die Menschen, die in Heimen lebten, ohne Zweifel zum überwiegenden Teil echte „Bewohnerinnen“, das heißt weitgehend selbstständige Seniorinnen, die sich vor allem Hilfe zur Bewältigung ihres Alltags wünschten und deshalb von ihrer Wohnung in eine Alteneinrichtung übersiedelten. Mittlerweile ist nicht nur die Lebenserwartung deutlich gestiegen, es ist es auch gelungen, die ambulante Betreuung stark auszubauen und wesentlich zu verbessern. Heute können alte Menschen viel länger als früher in ihrem Zuhause bleiben und übersiedeln zumeist erst im hohen Alter in ein Heim. Sie werden in der Regel mit weit fortgeschrittener Multimorbidität, Behinderung und Pflegebedürftigkeit aufgenommen; ein Großteil (derzeit etwa 70 %) ist an Demenz erkrankt. Aus den Altenheimen wurden allmählich Pflegeheime, in denen Hochbetagte mit hohem Bedarf an pflegerischer und ärztlicher Versorgung leben. Es liegt auf der Hand, dass sich diese „Bewohnerschaft“ eigentlich aus chronisch Kranken zusammensetzt, deren Ansprüche an die Wohnqualität sich nicht vereinheitlichen lassen. Dies erfordert ein Umdenken von Leitungspersonen, Mitarbeiterinnen und Angehörigen. Sie müssen versuchen, sich in die Lage der Betroffenen einzufühlen, um in ihren Überlegungen von deren Bedürfnissen ausgehen zu können. Das ist schwierig und auch nur bedingt möglich: Wir waren alle noch nicht 90 Jahre alt, behindert und/oder an Demenz erkrankt. Recht auf bedürfnisgerechte Unterbringung
10.6.1 Hochbetagte ohne (oder mit beginnender) Hirnleistungsstörung Viele von ihnen legen großen Wert auf Privatheit, auf Rückzugsmöglichkeit und das größtmögliche Ausmaß an Selbstständigkeit. Es ist ihnen wichtig, selbst zu bestimmen, mit wem sie wie oft und wie lange Kontakt haben. Sie möchten ihre eigene, stets rasch verfügbare Toilette haben, Radio und Fernseher an- und abschalten können, wann immer sie Lust haben, und das gewünschte Programm frei auswählen. Mit verwirrten, desorientierten Mitbewohnerinnen wollen sie zumeist nicht konfrontiert werden. Viele haben große Angst davor, selbst einmal so zu werden. Wenn sie ihr eigenes Zimmer, ihr eigenes kleines Reich haben, sind sie sehr zufrieden. Hier redet ihnen niemand drein, hier fühlen sie sich sicher und geborgen. Müssen sie in einem Mehrbettzimmer leben, leiden sie darunter und sind unglücklich. Da die meisten Bewohnerinnen heute erst hochaltrig und in schlechtem Zustand im Heim aufgenommen werden, hat sich die durch-
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schnittliche Verweildauer in den vergangenen Jahrzehnten drastisch reduziert. Dennoch gibt es auch jetzt noch Hochbetagte, die mehrere Jahre dort leben. In dieser langen Zeit können sich die Ansprüche und Wünsche an die Wohnform stark verändern. Mit zunehmender Gebrechlichkeit und/oder mit dem Fortschreiten der Demenz wird ein Einbettzimmer, in dem sich der alte Mensch sehr wohl gefühlt hat, unter Umständen nach einigen Jahren nicht mehr seinen Bedürfnissen entsprechen. Um darauf zeitgerecht mit den richtigen Maßnahmen zu reagieren, sind die Beobachtungen der Betreuungspersonen, vor allem der Pflegekräfte, von entscheidender Bedeutung. Auch unter den Heimbewohnerinnen mit intakter Hirnleistung finden sich nicht nur Einzelzimmerliebhaber. Daneben gibt es auch eine kleinere Gruppe eher anlehnungsbedürftiger Hochbetagter, die nicht gerne ganz allein sind. Dafür kann es viele Gründe geben: die lebenslange Gewohntheit mit anderen auf relativ engem Raum zusammenzuleben, das Wahrnehmen der eigenen schweren Krankheit und Hilfsbedürftigkeit, das vorangegangene, angstbesetzte Leiden unter Einsamkeit und Hilflosigkeit in der eigenen Wohnung. Solche Menschen verzichten gerne auf ihr eigenes kleines Reich, wenn sie dafür die Sicherheit gewinnen, Nachbarn um sich zu haben und nicht ganz auf sich allein gestellt zu sein. Sie leben gerne in einem Mehrbettzimmer – aber nur mit Mitbewohnerinnen ohne Demenz.
10.6.2 Hochbetagte mit mehr oder weniger weit fortgeschrittener Demenz In diese Gruppe fällt die Mehrzahl der Patientinnen in Pflegeheimen. Alte Menschen, deren Orientierung vollständig verloren gegangen ist, brauchen im Allgemeinen die Anwesenheit anderer, um sich wohlzufühlen. Sie wollen das Gefühl haben, dass ständig jemand da ist, mit dem sie Kontakt haben und kommunizieren können; sie wollen Teil einer Gruppe sein und brauchen die Gemeinschaft. Sehen, spüren oder hören sie keinen Menschen, sind sie unglücklich und voller Angst. Allein gelassen sind sie verloren, unsicher, kennen sich nicht aus und wissen nicht, wohin sie gehen müssen, um wieder jemanden zu finden. Jedes Mal, wenn sie verlassen werden, fragen sie sich verzweifelt, „wann kommt jemand?“. Sie vergessen, dass sie gerade Besuch hatten, dass die Schwester gerade bei ihnen war und ohnedies regelmäßig wiederkommt. Allein in ihrem Einbettzimmer fühlen sich solche Menschen von allen verlassen und sind von großer Angst erfüllt. Oft rufen sie „Hallo, Hallo“ oder „Hilfe, Hilfe“, schreien laut, ver-
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lassen ihr Bett und irren herum oder reißen z. B. vor Verzweiflung ihre Inkontinenzeinlagen in kleine Fetzchen. Natürlich bringt das Mehrbettzimmer auch Unannehmlichkeiten wie Lärm, unangenehme Gerüche oder schimpfende Mitbewohnerinnen mit sich. Die Nachteile können aber bei weitem das positive Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit im sozialen Miteinander nicht aufwiegen. „Meine Mutter fühlt sich nur in ihrem Einbettzimmer wohl!“ Es kommt vor, dass Kinder von demenziell erkrankten Hochbetagten glaubwürdig versichern, dass ihre Angehörigen sich nur in einem Einbettzimmer wohlfühlen. War der demenzkranke alte Mensch von Kindheit an gewohnt, allein in einem Zimmer zu sein, und hat auch später sein Zimmer nie mit einem anderen Menschen geteilt, kann es sein, dass er im Pflegeheim sein Einbettzimmer nicht mehr verlassen will. Er wehrt sich heftig (wird „aggressiv“) und schreit, wenn die Betreuerinnen versuchen, ihn in den Gemeinschaftsraum zu bringen. Er hat den Bezug zur Außenwelt verloren, hat Angst vor dem „draußen“, Angst davor, nicht mehr zurückzufinden, Angst vor jeder Veränderung. Sein Zimmer ist sein Zufluchtsort, gleichzeitig aber auch sein unsichtbares Gefängnis, das er nicht mehr zu verlassen wagt. Diese Isolierung fördert durch das Fehlen von Umweltreizen den zunehmenden Rückzug und das Fortschreiten der Demenz. Noch vorhandene Fähigkeiten wie Mobilität und Sprache gehen schneller verloren. Wo fühlen sich Menschen mit fortgeschrittener Demenz am wohlsten? Die meisten demenzkranken Hochbetagten fühlen sich total verlassen und unsicher, wenn sie keinen anderen Menschen sehen und hören können. Sie brauchen ständig die Gewissheit, nicht allein zu sein. Wenn es dunkel wird, haben desorientierte Hochbetagte noch mehr Angst; sie wissen noch weniger, wo sie sind und was sie hier sollen. Da jeder Mensch einmalig, einzigartig und zudem von seiner individuellen Vorgeschichte geprägt ist, wird es aber auch immer wieder jemanden geben, dessen Bedürfnisse von den genannten abweichen. Unsere Erfahrung deckt sich mit den Berichten vieler Pflegender, dass sich für Hochbetagte in fortgeschrittenen Demenzphasen zumeist Vierbettzimmer am besten eignen. Dort finden die Bewohnerinnen laufend neue Impulse und Möglichkeiten für soziale Kontakte. Wer noch etwas mobiler ist, kann den weniger Mobilen helfen und sich so
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nützlich und gebraucht fühlen. Außerdem hat jede ihre eigene Ecke, in der sie sich geborgen fühlen kann, ohne den Überblick über all das zu verlieren, was gerade im Zimmer vor sich geht. In Dreibettzimmern entsteht häufig eine „Zwei-gegen-eins-Situation“, unter der die dritte Person, die den beiden anderen als Blitzableiter dient, leidet. Zweibettzimmer können nur dann eine gute Lösung sein, wenn die Chemie zwischen den beiden Bewohnerinnen stimmt. Schwerkranken und Patientinnen mit großen Einschränkungen, die sich oft im Zimmer aufhalten (müssen), fehlen hier die vielen, kleinen Impulse, die sich in Mehrbettzimmern Tag für Tag ganz von selbst ergeben.
10.6.3 Schlussfolgerungen Die räumliche Ausstattung eines Heimes sollte sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren, für die es errichtet wird. Wesentliche Kriterien sind neben dem Ausmaß an körperlicher Krankheit und Pflegebedürftigkeit vor allem das Vorliegen oder Fehlen einer Demenz. Sollen nicht ausschließlich Menschen mit fortgeschrittener Demenz betreut werden, wird es sinnvoll sein, neben einer größeren Zahl von Mehrbettzimmern auch einige Einbettzimmer für orientierte Patientinnen mit geringeren pflegerischen und medizinischen Bedürfnissen einzuplanen. Den Bedürfnissen demenzkranker Patientinnen wird man im Regelfall mit der Unterbringung in – ausreichend großen – Mehrbettzimmern eher gerecht werden. Gunvor Sramek
10.7 Recht auf Sexualität. Beispiele aus der Praxis Die Sehnsucht bleibt. Gunvor Sramek Den Anstoß zu diesem Beitrag lieferte die Teilnahme an einem Symposium zum Thema Sexualität im Alter. Zu meiner großen Überraschung wurden Menschen mit Demenzerkrankungen hier nicht erwähnt. Anscheinend hatte sich niemand gefunden, der sich über diese wichtige Zielgruppe äußern wollte oder konnte. Lebenserfahrungen, die im engeren oder weiteren Sinne mit Sexualität zu tun haben, haben jedoch für alle Menschen einen ganz besonderen Stellenwert. Der Mensch bleibt durch alle Phasen der Demenz bis zum Lebensende Frau oder Mann. Das zeigt sich an folgendem Beispiel:
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Recht auf Sexualität. Beispiele aus der Praxis
„Hab’ leider nie eine Frau gehabt“
Recht auf Sexualität. Beispiele aus der Praxis
Herr P., ein alter Mann mit weit fortgeschrittener Demenz, war uns von der Stationsschwester für die Teilnahme an einer neuen Validationsgruppe empfohlen worden. Er saß den ganzen Tag teilnahmslos im Aufenthaltsraum der Pflegestation. Eigentlich saß er nicht; er hing eher, den Oberkörper ganz weit vornübergebeugt, auf dem Sessel. Seine Arme baumelten reglos links und rechts herunter wie zwei schwere Fremdkörper. Es ging ihm sichtlich nicht gut. Er war ziemlich schwerhörig und weder zeitlich noch örtlich orientiert. Herr P. war in der Gruppe der „Hahn im Korb“. Als sich herausstellte, dass er die Geselligkeit unter den vielen Frauen genoss und die Nähe zu den Damen suchte, gaben wir ihm die Aufgabe, immer die Getränke und Kekse an die einzelnen Frauen im Kreis zu verteilen. Er machte das mit einer unglaublichen Herzlichkeit und legte seinen ganzen Charme an den Tag. Jede Dame bekam dabei ein paar nette Worte, eine Streicheleinheit oder eventuell ein Küsschen (sogar auf den Mund) – je nach Bedarf. Seine Fähigkeit zu spüren, was gerade gewünscht wurde, war einzigartig. Bei jeder Musik ergriff er von sich aus sofort die Hände seiner Nachbarinnen und „tanzte“ mit ihnen. Wenn wir über das Thema „Männer oder Frauen“ sprachen, sagte er laut und mit Nachdruck: „Leider hab’ ich NIE eine Frau gehabt, sonst wär’ ich nicht hier!“ Durch die Möglichkeit, sich immer wieder als Mann bestätigt zu fühlen und von den vielen Frauen angehimmelt zu werden, änderte sich das Leben von Herrn P. total. Sitzhaltung und Lebensfreude verbesserten sich nach einigen Wochen so stark, dass die Stationsschwester und das Pflegepersonal nur so staunten. Die Geschlechtsidentität, die sich z. B. in der Anrede „Herr“ oder „Frau“ ausdrückt, wird auch im hohen Alter weiter aufrechterhalten. Das gilt auch für sehr alte Menschen mit Demenzerkrankungen. Ob man es will oder nicht – sie bringen die Geschichte ihrer Sexualität mit allen Freuden und Leiden mit ins Pflegeheim. Es ist daher nur recht und billig, in einem Kapitel über die Menschenrechte alter und dementer Menschen auch das Recht auf Sexualität, auf Akzeptanz und auf ein Ausleben ihrer Bedürfnisse einzufordern – soweit dadurch die Rechte anderer nicht verletzt werden. Pflegende und Angehörige müssen dies berücksichtigen, auch wenn es ihnen oft schwerfallen mag. Meine im Folgenden dargelegten Erfahrungen sollen dazu beitragen, leichter Zugang zu der Art und Weise, in der alte demenzkranke Men-
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schen sexuelle Nöte und Bedürfnisse ausdrücken, zu finden und natürlicher und verständnisvoller damit umzugehen. Der Umgang mit sexuellen Themen in Senioreneinrichtungen und Pflegestationen ist sehr unterschiedlich und hängt u. a. davon ab, in welchem Land man lebt. In den katholischen Ländern Südeuropas ist man eher zurückhaltend. Dass auch sehr alte und demente Menschen eine sexuelle Identität und entsprechende Bedürfnisse haben, wird heruntergespielt oder sogar geleugnet. In den nördlichen, protestantischen Ländern Skandinaviens herrschen dagegen ganz andere Sichtweisen und Lösungsmuster vor: Dort werden in vielen Pflegeeinrichtungen – abhängig von dem individuellen Bedarf – Softpornos, Bildmaterial oder andere Hilfsmittel zu Verfügung gestellt. In speziellen Fällen gibt es auch bezahlte „Liebesdienste“. Dies geschieht meistens mit Wissen der Angehörigen, aber manchmal auch ohne sie zu informieren. Darüber wird individuell entschieden.
10.7.1 Wie können wir uns diesem Thema nähern? Niemand von uns ist sehr alt und an einer Demenz erkrankt; eigene Erfahrungen können uns daher nicht weiterhelfen. Im Laufe einer Demenzerkrankung verändert sich vieles. Sehr alte Menschen mit Demenz verhalten sich anders und reagieren anders, sie brauchen daher eine andere Art der Begleitung. Welche Form diese Begleitung haben sollte, das wissen auch die Expertinnen selten; Psychologinnen, Ärztinnen und Sexualpädagoginnen betreten hier zum Großteil Neuland. Da dieses Spezialgebiet bisher kaum erforscht ist, findet man auch kaum Literatur über dieses Thema. Die überraschende Erkenntnis, die wir auf Grund von langer Erfahrung im Umgang mit alten und dementen Menschen gewonnen haben, lautet: Diese Menschen selbst sind unsere wichtigsten Lehrmeister. Wir sollten ihnen daher sehr gut zuhören und dabei ihre verbalen und nonverbalen Äußerungen genau beachten. Wir lernen dadurch, ihre wechselnden Emotionen und Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen und erkennen zweierlei: Verbale Äußerungen sind manchmal klar und eindeutig, aber manchmal auch verschlüsselt und nicht leicht zu durchschauen. Näheres dazu folgt später. Nonverbale Äußerungen und Signale gewinnen immer mehr an Bedeutung je weiter die Demenz fortschreitet. Geschulte Betreuerinnen bekommen einen Blick für das Verhalten der einzelnen al-
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ten Menschen. Sie können Veränderungen z. B. in Körperspannung, Mimik, Stimme, Wortwahl, Blick und sich wiederholenden Bewegungen wahrnehmen. Erfahrene Betreuerinnen wissen auch sehr genau Bescheid über die Vorlieben und Abneigungen eines alten, demenzkranken Menschen.
10.7.2 Besseres Verständnis ermöglicht bessere Begleitung Einfühlsame Beobachtungen des Verhaltens, verknüpft mit theoretischem Wissen über die Welt alter, dementer Menschen, bilden die Grundlage für unser Verständnis. Erst durch ein besseres Verstehen ergeben sich Möglichkeiten für sinnvolle Antworten, Reaktionen und Hilfestellungen. Gerade im Bereich der Sexualität erfordert gute Begleitung viel Verständnis und Kompetenz. Folgende Punkte können hilfreich sein: Die eigenen Grenzen kennen – sich dabei weder in etwas hineindrängen noch einengen lassen. Das menschliche Grundbedürfnis der alten Person empathisch akzeptieren. „Sich einschwingen“ auf den alten Menschen und gezielte Fragen z. B. nach dem Partner stellen, der diese Person geliebt hat. Das gilt vor allem für Menschen, die noch sprechen können. Auf die Emotion eingehen, z. B.: „Sie sehnen sich nach Nähe und bekommen sie nicht.“ Eine gut geschulte Altenbetreuerin reagiert auf verschiedene, typische Aussagen von alten Menschen in der Anfangsphase der Demenz (z. B. anklagende, unrealistische Behauptungen, wie „da ist ein Mann unter meinem Bett“) zuerst mit einer kurzen Wiederholung der emotional wichtigsten Worte. Damit zeigt sie, dass sie das Gefühl als echt anerkennt. „W-Fragen“ (wer, was, wo, wann, wie) geben der erregten Person die Möglichkeit, über ihren Kummer zu sprechen. Es ist dabei wichtig, nicht zu lügen und keine eigene Stellungnahme abzugeben, d. h. der Person weder recht zu geben noch ihr zu widersprechen. Es geht nicht darum, ob das Gesagte unserer Realität entspricht. Der alte Mensch soll spüren, dass er ernst genommen wird, dass ihm jemand wirklich zuhört, der bereit ist, seine Gefühle als wahr anzuerkennen und mit ihm zu teilen. Diese Art der validierenden Begleitung muss geübt werden, um sie wirklich zu beherrschen. Wenn man den alten Menschen in dieser Situation allein lässt, ignoriert oder seine Aussagen bagatellisiert, werden seine Behauptungen
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immer grotesker und seine Ausdrucksweisen immer krasser. Sein Leidensdruck steigt. In der Anfangsphase einer Demenz müssen die Betreuerinnen daher äußerst vorsichtig vorgehen. In diesem Stadium möchten die alten Menschen sich meistens hinter einer Schutzwand verstecken. Sie wollen nicht wissen, warum sie solche eigenartigen Dinge sagen, und sie wollen schon gar nicht mit ihren Emotionen und Bedürfnissen konfrontiert werden. Sie kämpfen permanent nach innen und nach außen, um nicht entlarvt zu werden. Die bekannte Biographie eines alten Menschen hilft uns meistens nicht wirklich weiter. Wir kennen immer nur den Teil seiner Lebensgeschichte, den der Betreffende preisgegeben hat. Dort wo es um Tabuthemen geht, die oft ein Leben lang verschwiegen wurden, wissen wir sehr wenig oder nichts. Das lebenslange Schweigen resultiert meistens aus Angst und Scham, aber sehr häufig auch aus dem Wunsch, die nahen Angehörigen nicht zu belasten. Die Situation ändert sich mit fortschreitender Demenz. Aus mehreren Gründen ist es sinnvoll, zwischen noch weitgehend orientierten Menschen am Anfang einer Demenzerkrankung und völlig Desorientierten mit fortgeschrittener Demenz zu unterscheiden. Wenn die Demenz fortschreitet, werden Gefühle oft anders ausgedrückt und die Betreuerinnen sollten anders darauf reagieren.
10.7.3 Die Welt der alten Menschen mit einer beginnenden Demenzerkrankung Noch weitgehend orientierte sehr alte Menschen haben oft ein starkes Bedürfnis, sich selbst und anderen zu zeigen, dass sie noch alles unter Kontrolle haben. Sie wollen ihre Unsicherheiten und Vergesslichkeiten vor den anderen verbergen und auf gar keinen Fall durchschaut werden. Sie können und wollen nicht akzeptieren, dass sie alt werden und dass es ganz normal ist, wenn sich viele Dinge nach und nach verändern. Daher klammern sie sich an frühere Verhaltensmuster. Daraus ergeben sich einige typische Verhaltensweisen, die bei Frauen und Männern gleich oder unterschiedlich sein können. „Sie macht DAUERND mit anderen Männern rum!“ Ein alter Mann, der sich seit einiger Zeit auffallend laut und „aggressiv“ verhält, befindet sich in der Phase einer beginnenden Demenz. Er hat viele Verluste erlitten; seine Mobilität, sein Kurzzeitgedächtnis, sein Gehör und andere Kompetenzen sind jetzt deutlich
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eingeschränkt. Er kann nicht mehr „der Mann im Haus“ sein. Jetzt schimpft er laut vor sich hin – vor allem über seine langjährige Ehefrau – und behauptet wiederholt, „Sie macht DAUERND mit anderen Männern rum“. Diese Beschuldigungen werden zwar nicht näher definiert, bedeuten aber sicher, dass es sich seiner Überzeugung nach um mehr als einen kleinen Flirt handelt. Projektionen wie diese sind sehr bekannte Verhaltensmuster. Sie werden von Männern und Frauen vor allem in der Anfangsphase einer Demenz häufig benützt. Andere müssen also für das herhalten, was der alte Mensch bei sich selbst nicht wahrhaben will. Das gleiche Verhaltensmuster kommt auch vor, wenn bei einem alten Mann die Potenz schwindet oder wenn eine alte Frau erlebt, dass ihre Chancen dahinschwinden, als Geliebte und begehrenswerte Frau gesehen zu werden. Diese alten Menschen leugnen und verdrängen ihre altersbedingten Veränderungen und Verluste. Das Leben hat ihnen etwas Wichtiges, das ihnen vermeintlich auch jetzt zusteht, gestohlen! Der „schwächere“ Partner spricht plötzlich beschuldigend über den agileren, gesünderen Partner und behauptet, dass dieser mit anderen Personen „Sex hat“. Angehörige und Betreuerinnen sind verunsichert und ratlos. Warum sagt der alte Mensch plötzlich so etwas Verrücktes? Was kann man dagegen tun? Auf gut gemeinte Gegenargumente reagiert er überhaupt nicht. Es handelt sich um einen letzten, verzweifelten, verschlüsselten Versuch, dem anderen mitzuteilen: „Ich will meine Rolle als Ehepartner/Ehepartnerin nicht verlieren; ich will noch dazugehören und als Mann oder Frau begehrt werden.“ Natürlich kommt es (insbesondere bei alten, demenzkranken Frauen) auch vor, dass früher erlebte Kränkungen – wie häufige Untreue des Partners – sehr vehement ausgedrückt werden. Meistens zeigen sich diese Kränkungen aber erst in einer späteren Demenzphase deutlich. Im Fortschreiten der Krankheit fallen die Hemmschwellen. Jetzt können Tabuthemen aufgegriffen und ausgedrückt werden; der alte Mensch kann endlich seinen aufgestauten Gefühlen freien Lauf lassen.
Verhaltensweisen von Frauen mit beginnender Demenz Alte Frauen mit beginnender Demenz sprechen sexuelle Wünsche und Bedürfnisse entweder gar nicht oder – wenn der innere Druck ansteigt – nur in verschlüsselter Form aus. Einige Beispiele für solche verschlüsselten Aussagen:
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„Da liegt ein Mann unter meinem Bett.“ „… sieben junge Männer vom Priesterseminar waren da unten im Garten. Sie haben alle einen schwarzen Umhang gehabt und darunter waren sie ganz nackt!!!“ „SIE haben meine Unterhosen gestohlen! Schauen Sie nicht so – ich hab’ es genau gesehen! Ich hab’ immer nur Unterhosen mit Seidenglanz; mein Mann hat viel Wert darauf gelegt, dass ich schöne Unterwäsche trage.“ „Mein BH wurde gestohlen! Wo ist er? Ich will lieber TOT sein, als ohne diesen BH zu leben. Mein Mann wollte immer, dass ich eine gute Figur mache! SO kann ich nicht weiterleben. Wir haben immer eine gute Figur in der Gesellschaft abgegeben.“ Diese Aussagen werden alle mehrmals wiederholt und mit sehr viel Emotion vorgebracht. Alle Versuche, solchen Aussagen mit „vernünftigen Gegenargumenten“ beizukommen, sind zum Scheitern verurteilt. Logik und realitätsbezogene Vernunft wirken hier sogar kontraproduktiv. Wenn niemand der alten Frau zuhört, sie ernst nimmt und ihr Bedürfnis versteht, werden die verschlüsselten Behauptungen mit der Zeit immer übersteigerter! Aus dem einen Mann unter dem Bett wird vielleicht nach und nach eine ganze Fußballmannschaft! Alte noch weitgehend orientierte Frauen sind ganz besonders glücklich, wenn sie ab und zu von einem Mann in einer „höheren“ Position angesprochen werden und sich von ihm bevorzugt behandelt fühlen. Respektspersonen gewinnen jetzt immer mehr Bedeutung. Diese alten Menschen leiden ganz besonders unter ihrem unaufhaltsamen Abbauprozess. Daher ist es sehr wichtig, etwas zu finden, das ihr Selbstwertgefühl immer wieder ein wenig stärkt. Das erfordert von den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung viel Verständnis und Einfühlungsvermögen. Es geht hier nicht um Lobhudelei, sondern um die ernst gemeinte Anerkennung einer jetzt oder in ihrer früheren Lebenszeit erbrachten Leistung. Es geht darum, etwas zu finden, das den alten Menschen „aufblühen“ lässt. Einige Beispiele für solche wertschätzenden Aussagen: „Waren Sie immer gewohnt, alles ganz alleine zu machen?“; „Haben Sie dort viel Verantwortung gehabt?“; „Wie haben Sie das alles geschafft?“; „Da haben Sie viel durchgemacht!“ „Er beobachtet mich“ Ich betreute Frau S. einige Jahre einmal in der Woche. Auf mein Läuten öffnete Frau S. die Eingangstür zu ihrer kleinen Wohnung. Sofort legte sie ihren Zeigefinger an die Lippen und sagte: „Wir müssen LEISE reden. Er sitzt manchmal da oben.“ Sie zeigte auf die
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Milchglasscheibe, die in der Decke über der Abwasch6 eingebaut war, um über einen Lüftungsschacht etwas Tageslicht hereinzulassen. Auf meine Frage „Da oben – was macht er da?“ antwortete sie leise, verschmitzt: „Er beobachtet mich, wenn ich mich ausziehe!“ Frau S. konnte nicht zugeben, dass sie sich danach sehnte, als Frau wahrgenommen zu werden. In ihrer Not musste sie ihre Sehnsucht irgendwie verschlüsselt zum Ausdruck bringen. Nach etwa einem Monat wurde ihr dieses dauernde Beobachtetwerden allerdings zu viel. Es war dann nicht mehr positiv besetzt, sondern negativ und für sie sehr belastend. Es war nicht leicht, eine gute Lösung zu finden. Wo findet man einen Mann? Professionelle Validation alleine war hier nicht ausreichend! Einige Wochen später war es mir gelungen, drei Männer in den Alltag von Frau S. zu integrieren. Zwei von ihnen waren jung, hilfsbereit und sehr freundlich, beide waren in einem Sozialberuf tätig und befanden sich in unmittelbarer Nähe. Jeder von ihnen kam einmal in der Woche vorbei, um z. B. leere Gläser und Flaschen für die Glassammlung abzuholen oder den Eiskasten zu enteisen. Der Dritte war ein älterer, erfahrener und verständnisvoller katholischer Pfarrer. Nach einem kurzen Telefongespräch verstand er die Situation. Er nahm sich von nun an nach jeder Sonntagsmesse extra einige Minuten Zeit, um sich zu Frau S. zu setzen und respektvoll und sehr wertschätzend mit ihr zu plaudern. Er lobte sie, weil sie sich trotz ihrer Gehbehinderung immer die Mühe machte und den Weg zur Kirche zu Fuß zurücklegte. Von dem „Mann hinter der Glasscheibe“ habe ich nie mehr etwas gehört. In der Anfangsphase der Demenz verdrängen Frauen ihre sexuellen Wünsche. Sie erzählen oft – auch wenn das nicht stimmt –, dass ihr verstorbener Ehemann gut zu ihnen war und betonen, dass sie nach seinem Tod immer „rein“ geblieben sind, weil sie „so was“ nicht brauchen. Einige dieser Frauen erzählen, dass sie sich in ihrer Jugend mit ihrem Papa über Dinge unterhalten konnten, wo die Mama nicht mithalten konnte. „Da war die Mama eifersüchtig.“ Der Papa gewinnt zunehmend an Bedeutung. Extrem verbitterte und enttäuschte Frauen machen laufend negative Aussagen über alle Männer. Sie projizieren dabei ihre alten Enttäuschungen auf heutige Personen. Man erlebt auch öfter, dass alte Frauen, die meinen, im Leben sexuell zu kurz gekommen zu sein, extrem eifersüchtig werden und andere Frauen, die ihrer Meinung nach mehr
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Aufmerksamkeit von den Männern bekommen, als „Huren“ bezeichnen (s. u.). Über Themen wie Sehnsucht, Sexualität, Selbstbefriedigung, Abtreibung, Vergewaltigung oder sexuelle Unterdrückung wollen oder können Frauen in dieser Phase meistens überhaupt nicht reden (siehe weiter unten: „Mein Unterleib“). „Du Hure, verschwind!“ (Die alte Mutter wünscht sich ihren Sohn als Partner.) Nach einem Validationsseminar erzählte mir eine Kursteilnehmerin, dass sie mit ihrem Ehemann und dessen Mutter in einem großen Haus zusammenlebt. Sie hielt diesen Zustand fast nicht mehr aus. Die alte Schwiegermutter wirkte meistens ziemlich orientiert, aber sie öffnete ständig alle Türen und ging ohne anzuklopfen zu dem Ehepaar ins Schlafzimmer. Sie kam auch ins Badezimmer, und zwar vor allem genau dann, wenn ihr Sohn duschte. Leider gab es im gesamten Wohnbereich keine versperrbaren Türen. Die alte Dame war immer sehr freundlich zu ihrem Sohn und liebte es, halb ausgezogen um ihn herumzuschwänzeln. Dieses Verhalten hatte sich in letzter Zeit immer mehr verstärkt. Der Sohn ignorierte das Ganze und es störte ihn anscheinend auch nicht besonders. Zur Schwiegertochter sagte die alte Dame laufend ganz schreckliche Dinge: „Du Hure, verschwind von hier!“ oder: „Was machst DU hier, was willst DU?“ Wenn die Schwiegertochter antwortete: „Ich wohne hier“, blieb das ohne Wirkung. Aus lauter Verzweiflung hatte sie schließlich kapituliert und schlief seit einigen Monaten nicht mehr im Ehebett, sondern alleine auf einem Gästebett im Keller. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Wie ließ sich hier helfen? Da ich im Seminar verschiedene Validationstechniken durchgenommen hatte, konnten wir gezielt Reaktionsmöglichkeiten auf Beschimpfungen und Demütigungen üben. Die Schwiegertochter musste lernen, ihre Körperspannung, die Stimme, das Sprechtempo und die Wortwahl richtig einzusetzen, z. B. die für die Schwiegermutter „wichtigen Worte“ zu wiederholen und nachzufragen, ohne selbst Stellung zu beziehen. Außerdem gab ich ihr den Rat, drei Riegel zu kaufen und diese an den wichtigsten Türen im gemeinsamen Wohnbereich montieren zu lassen (WC, Badezimmer, Schlafzimmer). Danach sollte sie unbedingt sofort zu ihrem Mann in das Ehebett zurückkehren. – Des Weiteren riet ich dringend davon ab, die tieferen Ursachen dieser schwierigen Situation selbst mit ihrem Mann zu besprechen. Beide waren viel zu sehr in das Ganze involviert. Gemeinsam suchten wir nach einer nicht beteiligten Vertrauensperson, die dieses schwierige Gespräch führen könnte, und kamen auf die erwachsene Tochter. Die Tochter sollte ihrem Vater behutsam erklären,
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dass seine alte Mutter sich langsam verändert hat und ihren Sohn jetzt mehr und mehr als Partner für Tisch und Bett für sich allein haben wollte. Dieser Zustand würde sich immer mehr zuspitzen, wenn man nicht gegensteuerte. Natürlich könnte die alte Dame ihre sexuellen Wünsche niemals zugeben! Sie sollte mehrmals in der Woche in ein Tageszentrum oder einen Seniorenclub gebracht werden, um mit anderen Frauen und Männern Kontakt zu bekommen und auch, um zu Hause ein wenig Ruhe einkehren zu lassen. Monate später erfuhr ich durch eine Freundin, dass es durch meine Tipps rasch zur Entspannung gekommen war und die Familie dadurch eine ganz neue Lebensqualität gewann.
Der Druck alter, schwerwiegender Verletzungen im sexuellen Bereich Missbrauch, Vergewaltigung und/oder sexuelle Unterdrückung in Kindheit oder Jugend können anfangs nur in verschlüsselter Form gezeigt werden. In dieser frühen Phase einer Demenzerkrankung ist es meistens bereits zu spät für eine konventionelle Gesprächstherapie. Der alte Mensch will oder kann sich den schrecklichen Erlebnissen nicht mehr stellen; er kann und er will sich nicht gezielt daran erinnern. Dazu hat er nicht mehr die Kraft. Es kommt deshalb zunehmend zu massiven, schwer durchschaubaren Verzweiflungsausbrüchen, die die Betreuerinnen überfordern, wenn sie nicht dafür geschult sind. „Der Stuhl muss an der Tür stehen!“ (Bewältigungsstrategien) Frau V., seit 17 Jahren im Senioren- und Pflegeheim, immer umgänglich und selbstständig, wird plötzlich pflegebedürftig. Tagsüber beschuldigt sie das Personal, dass man sie vergiftet. Das Essen hier sei für ihren Magen nicht gut. Dabei hält sie mit beiden Händen ihren Unterleib, als würde sie einen schwangeren Bauch stützen. Es wird ein kindskopfgroßer Tumor an ihrer Gebärmutter diagnostiziert, den man aber wegen des hohen Alters (96 Jahre) nicht mehr operiert. Als die Nachtschwester am Abend einen Blick ins Zimmer werfen möchte, entdeckt sie plötzlich, dass ein schwerer Stuhl unter der Türklinke eingeklemmt ist. Frau V. beschwert sich massiv darüber, dass jemand in der Nacht in ihr Zimmer will. Als man ihr zu erklären versucht, dass die Nachtschwester nach ihr sehen muss und daher der Stuhl wieder weg müsse, wird sie aggressiv und zunehmend ablehnend. Die Gynäkologin, die ich gemeinsam mit ihr aufsuche, stellt fest, dass die kinderlose Frau V. einmal schwanger gewesen war, auch
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wenn sie das selbst leugnet. Frau V. war verheiratet: „Wir hatten eine gute wirtschaftliche Ehe, Kinder hatten wir keine, das war halt so – ich liebe aber Kinder!“ (Sie gibt mir ihre gehortete Butter für meine Kinder mit, damit sie was „Gutes“ haben.) Im Zuge der Begleitung erzählt Frau V. immer ganz leise und verstohlen, dass sie eine „Freundin“ hatte, die vom Vater „übernommen“ wurde (Ausdruck für sexuellen Missbrauch). Diese „Freundin“ hätte sich wohl umgebracht, sie war auf einmal weg und nicht mehr zu finden. Nach regelmäßigen Besuchen bei Frau V. wuchs ihr Vertrauen zu mir. Immer öfter erzählte sie die gleichen Begebenheiten wie bei der angeblichen Freundin aus ihrem eigenen Leben. Offenbar war die Geschichte der Freundin ihre eigene Geschichte, die sie nur so ausdrücken konnte. In der beginnenden Demenz versuchte sie sich zu schützen, indem sie in der Nacht den schweren Stuhl vor die Tür stellte. Ihren großen Tumor im Unterleib trug sie wie den schwangeren Bauch, der für sie für immer „vergiftet“ war. Wir vereinbarten mit dem Pflegeteam und Frau V., dass der Stuhl von nun an 20 cm von der Tür entfernt stehen sollte. So konnte man bei Bedarf in das Zimmer. Das Team war offen für die neuen Ideen. Daher konnte es Frau V. den selbstkreierten Schutz und die Kontrolle zugestehen. Das aggressive Verhalten von Frau V. legte sich, ihre Beschuldigungen ließen nach.7 Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass es hinter jedem Verhalten einen nachvollziehbaren Grund gibt, auch wenn er so verschlüsselt ausgedrückt wird, dass wir ihn nicht erkennen können. Das sollten wir nie vergessen. „Mein Unterleib“ (Zuhören und begleiten, ohne Grenzen zu verletzen) Auf dem Gang einer mir fremden Pflegestation höre ich hinter einer angelehnten Türe sehr laute, verzweifelte Rufe. Folgende vier Aussagen wiederholen sich immer wieder: „Jesus liebt mich“ – „Mein Unterleib“ – „ Ich will glücklich sein“ und „Hilfe, Hilfe“. Zuerst höre ich mir das genau an, dann klopfe ich, gehe in das Zimmer und sehe eine alte, sehr gepflegte Frau voll angezogen mit Pullover und Rock ausgestreckt auf ihrer Bettdecke liegen. Die alte Dame drückt dauernd mit verkrampften Händen gegen das Schambein. Dabei schaut sie ganz gerade vor sich hin. Ich versuche ihre Verzweiflung und Anspannung aufzunehmen und sage sehr ernst, etwas angespannt und 7
Fallbeispiel von Petra Fercher, diplomierte Ergotherapeutin und zertifizierte Validationstrainerin nach Naomi Feil.
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im gleichen Tonfall und Rhythmus wie sie: „Hilfe? – brauchen Sie Hilfe?“. Sie antwortet gepresst und laut: „Ja“ und schaut mich für einen kurzen Moment gezielt an. Ich setze mich ruhig auf die Bettkante und sage: „Ist etwas passiert?“ Sie schaut wieder gerade vor sich hin und ruft laut mit gepresster Stimme: „Mein Unterleib!“ Ich vermute, dass sie nicht über ihre Erlebnisse sprechen kann, weil es sich um ein Tabuthema handelt, und stelle keine weiteren Fragen. Ich sage sehr ernst: „Da ist etwas Schlimmes passiert!“ Sie sagt rasch: „Lass ma’ das“. Meine Vermutung ist also richtig. Sie kann oder will nicht über das Geschehene sprechen. Wie kann ich sie trotzdem meine Anteilnahme spüren lassen? Wie kann ich sie begleiten, ohne ihre Grenzen zu verletzen? Ich beschließe, es ohne Worte zu versuchen. In dieser Phase der beginnenden Demenz werden länger anhaltende Berührungen von einer fremden Person meistens abgelehnt. Um ihr zu signalisieren, dass ich genau verstanden habe, dass es um ihren Unterleib geht, wende ich Kopf und Oberkörper deutlich ihr zu und richte meinen Blick auf die verkrampften Hände in ihrem Schoß. Ich spüre die Verzweiflung und Angst, die durch diese Hände ausgedrückt werden. Mit viel Aufmerksamkeit lege ich meine rechte Hand vorsichtig, langsam und ohne ein Wort seitlich auf diese beiden verkrampften Hände über ihrem Schambein. Da ich keinen Widerstand spüre, lasse ich meine Hand dort ruhig liegen. Wir sprechen dann in ganz kurzen Sätzen über Jesus und seine Liebe zu ihr und zu den Menschen. Es entwickelt sich ein kurzer Dialog. Wir sprechen auch darüber, glücklich sein zu können. Das alles geschieht ohne Augenkontakt, obwohl ich ihr Gesicht jetzt immer wieder anschaue. Plötzlich dreht sie den Kopf zu mir, schaut mich mit einem liebevollen Gesichtsausdruck an und sagt: „Sie sind eine Gute; sie sind ein Engel.“ Ihre Mimik und ihre Stimme sind jetzt ganz verändert. Gleichzeitig lockert sich die Verkrampfung ihrer Hände und in ihrem ganzen Körper. Erst jetzt nehme ich meine rechte Hand von ihren Händen weg. Beim Abschied greife ich dann das Thema „Ich will glücklich sein“ noch einmal auf. Ich wünsche ihr, dass sie ab und zu einen Moment erleben darf, wo sie glücklich sein kann. Sie nimmt meine Hand mit beiden Händen, drückt sie fest, bedankt sich und schaut mich mit einem wunderschönen Lächeln an. Diese alte Frau hatte mich vorher noch nie gesehen. Trotzdem spürte sie sofort, dass ich sie ernst nehme und ihren „Schutzschild“ nicht verletzen werde. Sie fühlte genau, dass ich den Schmerz des Erlebten nicht bagatellisiere, sondern mit ihr teile. Sie wusste, dass sie mir vertrauen kann. Ich verlasse sie in der Hoffnung, dass sich jemand findet, der diese alte Frau weiterhin in diesem Sinne begleiten kann.
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Verhaltensweisen von Männern mit einer beginnenden Demenz Sehr alte Männer mit beginnender Demenz äußern ihre Sehnsucht nach Sexualität und Erotik meistens durch unmissverständliche Andeutungen, vor allem in Gegenwart einer jüngeren, charmanten, sehr weiblichen Frau. Manche Männer versuchen, ihre Bedürfnisse z. B. durch kleine anzügliche Bemerkungen, andere durch ganz eindeutige Handbewegungen gegenüber weiblichen Personen in ihrem Umfeld auszudrücken. Ein alter Mann versucht immer wieder, seine Pflegerin zu berühren. Sie hat die Situation die ganze Zeit unter Kontrolle: Sie nimmt seine Hand liebevoll, aber deutlich dort weg, hält weiterhin ruhig seine Hand in ihrer Hand und gibt ihm die nötige Aufmerksamkeit. Er bekommt seine Streicheleinheiten, ohne dass es je problematisch wird. Würde man sein Verhalten ignorieren oder ihn gar zurechtweisen, könnte der Schuss leicht nach hinten losgehen. Es könnte z. B. passieren, dass sich der Mann exponiert. Pflegerinnen sollten hier nicht mit Panik reagieren. Voraussetzung dafür ist ein gutes Verständnis der eigenen Sexualität. Es ist auf jeden Fall wichtig, dass der alte Mann trotzdem Zuwendung bekommt. Ehefrauen, egal ob verstorben oder noch lebend, sind für Männer in dieser Phase meistens kein Grund, um nicht offen zu sein für neue Eroberungen. Diese Männer äußern ihre akuten sexuellen Wünsche meistens mehr oder weniger direkt und so gut wie nie in verschlüsselter Form. Hier unterscheidet sich das Verhalten alter Frauen in einer vergleichbaren Phase sehr deutlich von dem der alten Männer. „Ich will, dass du mir hilfst“ Ich werde zu Herrn H. gerufen, weil er die Schwestern immer öfter „ordinär“ verbal attackiert und immer wieder sagt, dass sie ihm nicht „helfen“. Die Schwestern reagieren beschämt, fühlen sich nicht wohl in ihrer Haut und ignorieren ihn immer öfter während der Pflege. Daraufhin werden die Äußerungen von Herrn H. heftiger. Herr H. will, dass die Pflegerinnen seine Intimwäsche übernehmen („Mach du das, ich will, dass du mir hilfst“), obwohl Herr H. dazu durchaus noch selbst in der Lage ist. Besuch bei Herrn H.: Ich begrüße ihn mit Händedruck und mir fällt sofort auf, dass er mich nicht mehr loslassen will. Er sieht mich direkt an, sein Blick hat für mich etwas sehr Intensives. Ich führe meine zweite Hand an seinen Unterarm und löse so den Händedruck. Ich sage: „Ich habe gehört, sie brauchen Hilfe, Herr H.?“ Herr H.: „Ja das
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bräuchte ich, nur keiner gibt mir das.“ Ich: „Wo kann man helfen, was bräuchten Sie für Hilfe?“ Herr H.: „Na da.“ (Zeigt auf sein Glied und reibt sehr wild daran.) Ich nehme ihn ernst: „Ah da brauchen Sie Hilfe, oh das ist schwierig …“ Noch bevor ich zu Ende gesprochen habe, setzt Herr H. fordernd ein: „Ich will, dass du mir hilfst!“ Sehr klar, entspannt und freundlich entgegne ich: „Herr H., ich bin dafür nicht zuständig und auch die Schwestern sind das nicht!“ Damit äußere ich klare eigene Grenzen, ohne ihn dabei zu verletzen. Man kann jedoch für Herrn H. mehr tun, wenn man ihn und seine Bedürfnisse ernst nimmt. Ich spreche mit ihm über das, was früher war; er ist kognitiv in dieser Phase noch dazu in der Lage. „Herr H., was haben Sie früher gemacht, wenn Sie diese Bedürfnisse hatten und alleine waren?“ Herr H. erzählt, dass „ja eh seine Frau da war“. Er sagt: „Ich war Holzfäller, da hat man viel im Wald gearbeitet.“ Darauf ich: „Ah, da haben Sie körperlich sehr schwer gearbeitet!“ Herr H.: „Ja, da will man das dann haben, das da!“ (Deutet wieder auf sein Glied, aber ohne daran zu reiben. Er ist viel ruhiger und spricht nun auffällig „kultiviert“.) Ich: „Herr H., was haben Sie gemacht, wenn ihre Frau einmal müde war …?“ Herr H: „Na ja, dann hab ich’s ja noch selber können, aber jetzt geht das nicht mehr, es funktioniert nicht mehr richtig. Ich brauche Hilfe!“ Wir versuchen, ein Lösung zu finden: Ich frage Herrn H., ob er „diese Hefte“ kennt. (Wir brauchen jetzt auch nichts mehr direkt anzusprechen, es genügt in dieser Form. Herr H. fühlt sich ernst genommen.) Herr H. nickt auf meine Frage und meint: „Glauben S’, dass das mir helfen könnte?“ Ich: „Sie könnten es ja einmal versuchen. Wenn Sie möchten, rede ich mit Herrn P., dem Stationsleiter – er könnte etwas Passendes für Sie besorgen.“ Herr H.: „Vielleicht geht das, wir werden sehen … Danke, dass Sie mit mir geredet haben, sonst hilft mir ja keiner!“ Der Stationsleiter war bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Herr H. sagte zwar auch danach immer wieder einmal, er bräuchte Hilfe, jedoch viel seltener und nicht mehr in so ordinärem Ton. Jetzt wussten die Schwestern, wie sie damit umgehen sollten. Sie konnten auf die Hefte verweisen: „Herr H., wenn Sie möchten, hol ich einen Pfleger, der Ihnen ein Heft gibt!“ Für manche Schwester ist es auch kein Problem, Herrn H. das Heft selbst zu geben. Herr H. ist mittlerweile verstorben. Dieses Gespräch wurde mit Ein8 verständnis der Tochter als Praxisbeispiel aufgezeichnet. 8
Fallbeispiel von Petra Fercher.
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Sich in einem Team der Herausforderung solcher Themen und Situationen zu stellen, ist sicher nicht einfach. Auch hier bedarf es der Akzeptanz und Offenheit dem Thema Sexualität gegenüber. Erst dadurch ergeben sich für beide Seiten Unterstützung, Erleichterung, mehr Sicherheit und das Gefühl, ernst genommen zu werden.
Frühe Verletzungen im sexuellen Bereich Wenn in frühen Jahren eine Verletzung im sexuellen Bereich erfolgt ist, wird auch ein alter Mann am Anfang einer Demenzerkrankung dieses Thema gar nicht oder nur in verschlüsselter Form zum Ausdruck bringen. Er benützt dann eventuell eine Person aus seiner unmittelbaren Umgebung, um sie verschlüsselt dessen zu beschuldigen, was er als Kind oder Jugendlicher erlitten hat. Dazu wählt er unbewusst jemanden aus seiner Umgebung aus, der ihn an die Person von damals erinnert und diese jetzt für ihn repräsentiert. Er benützt also ein Symbol (vgl. S. 21 ff.).
„Bevormundungen“ durch weibliche Betreuungspersonen Alte Männer können sehr aggressiv reagieren, wenn „blöde Weibsbilder“ sich in ihre „privaten Angelegenheiten“ einmischen, sie z. B. auffordern, sich zu duschen oder die Unterwäsche zu wechseln. Ohne individuell ausgedrückte und häufig wiederholte Worte der Wertschätzung ist ein Auskommen mit solchen alten Männern fast unmöglich. Sie brauchen immer wieder ein wenig Lob und Anerkennung. Anordnungen lassen sie sich eher von einem Arzt oder vom Direktor des Hauses geben als von einer Frau. Respektspersonen gewinnen jetzt immer stärker an Bedeutung.
10.7.4 Alte Menschen mit fortgeschrittenen Demenzerkrankungen Das Fortschreiten einer Demenz zeigt sich an einer Vielzahl von Indikatoren, von denen hier nur einige benannt werden: Die Kontrolle geht nach und nach verloren. Mit der Zeit verlieren die alten Menschen die Kontrolle über ihr Leben ganz. Sie leben zunehmend in einer Welt, in der sie sich zwischen dem „Hier und Jetzt“ und Erlebnissen aus der Vergangenheit hin und her bewegen. Die Welt von heute und die Welt von gestern vermischen sich. Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung können sich ohne Probleme gleichzeitig in mehreren Ebenen ihres Be-
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wusstseins befinden. Ein Beispiel aus der Presse: Ein alter Mann, ehemaliger Offizier, hat seine um etliche Jahre jüngere zweite Ehefrau mit seiner Militärwaffe erschossen. Er fühlte sich angeblich bedroht von der „Einbrecherin, die hier nichts zu suchen hat und nicht verschwinden will“. Die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegende Zeit als Offizier blieb im Langzeitgedächtnis des alten Mannes lebendig. Seine viel kürzer zurückliegende zweite Ehe war bereits dem Vergessen anheimgefallen. Viele Fähigkeiten haben abgenommen: die Selbstständigkeit, das Kurzzeitgedächtnis, der Orientierungssinn, das richtige Zuordnen, das logische Denken, das Sehen, das Hören, die Mobilität … Intuition und Sensibilität nehmen zu. Parallel zur Verschlechterung vieler Befähigungen erhöht sich aber die Fähigkeit zu spüren, was die Personen in ihrem Umfeld gerade empfinden. Eine einfühlsame Kommunikation über die emotionale Ebene wird deshalb immer wichtiger. Demenzkranke lügen nicht; ihre Emotionen sind immer echt. Das Körperschema ist nicht mehr intakt. Desorientierte alte Menschen verlieren nach und nach das Gefühl für den eigenen Körper. So bleibt z. B. zwar das Schmerzempfinden erhalten, aber die Fähigkeit, das Gespürte richtig zuzuordnen, verschlechtert sich zunehmend. Personen werden verwechselt. Bekannte Personen aus dem nahen Umfeld können manchmal nicht mehr richtig zugeordnet werden. Betreuerinnen und/oder Angehörige bekommen gelegentlich neue Identitäten, entweder nur vorübergehend oder für immer. Es gibt keine Tabuthemen mehr. Sexuelle Wünsche, aber auch sexuelle Ängste und Erlebnisse können endlich frei geäußert werden. Manche Menschen „befreien sich“, indem sie sich immer wieder nackt ausziehen. Manche befriedigen sich in Anwesenheit anderer ungeniert selbst. Nicht selten berühren die alten Menschen ihre Betreuerinnen plötzlich und ohne Vorwarnung an den intimsten Körperstellen. Oft legt sich ein mobiler desorientierter Mensch zu einem anderen ins Bett und kuschelt sich an. Oder ein alter Mann mit fortgeschrittener Demenz nimmt unmissverständlich die Hand der Betreuerin und führt sie zu seinem Geschlechtsteil. Die Betreuerin reagiert einfühlsam: „Es fehlt Ihnen, aber ich kann Ihnen DAS nicht geben“, deckt ihn zu und berührt ihn liebevoll im Gesicht. Traumatische Erlebnisse aus der frühen Vergangenheit kommen jetzt wieder. Erlebnisse, die möglicherweise jahrzehntelang verschwiegen wurden, melden sich. Alte Frauen können z. B. immer wieder „Geburten“ durchmachen. Dies geschieht manchmal, weil
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die alte Frau obstipiert ist und daher einen starken Druck im Bauch verspürt, den sie nicht richtig zuordnen kann. Sie ruft: „Das Kind kommt“ und presst und presst, als ob sie Presswehen hätte. Solche „Geburten“ können sich aber auch ohne jeden äußeren Anlass ereignen. Ursache dafür kann z. B. eine Fehlgeburt, eine schwierige Geburt oder der unerfüllte Kinderwunsch sein. Viele Frauen haben lebenslang Schuldgefühle wegen einer Abtreibung, nicht selten in Zusammenhang mit einer Vergewaltigung (siehe das folgende Beispiel). Sich ausziehen müssen (ein Akt der Befreiung) Die alte Frau sitzt im Rollstuhl. Sie stöhnt und jammert ziemlich laut und ist andauernd damit beschäftigt, sich den Pullover mit beiden Händen vorne hochzuheben. Es schaut so aus, als würde sie ständig vergeblich versuchen, sich von diesem Kleidungsstück zu befreien. Es strengt sie an; sie gönnt sich aber kaum eine Pause, um ihre Arme auszuruhen. Dieses pausenlose „Sich-ausziehen-Müssen“ kann Verschiedenes bedeuten, doch immer ist in irgendeiner Weise etwas „Zum-aus-der-Haut-Fahren“. Oft handelt es sich um einen Akt der Befreiung. Diese alte Frau wirkt verkrampft und verzweifelt. Ich nehme schräg gegenüber von ihr Platz und versuche gemeinsam mit ihr diese „Ausziehbewegung“ zu machen. Dabei frage ich: „Muss das weg?“ „Stört Sie das?“ Die alte Frau reagiert nicht. Sie stöhnt, macht die Bewegung weiter und ignoriert mich vollkommen. Als es mir schließlich gelingt, mit ihr Blickkontakt zu bekommen, frage ich: „Wollen Sie ihn loswerden?“ – Sie antwortet: „Was?“ und lässt den Pullover los. Ich: „Na, den Pullover“ – und greife ihren Pullover kurz an. Sie schaut zum ersten Mal gezielt hinunter auf den Pullover und sagt dann: „Ah, DER – na, der ist eh ganz schön.“ Sie stöhnt jetzt nicht mehr. Sichtlich ist sie im „Hier und Jetzt“ angelangt. Ihre Hände sind nun ganz ruhig. Die alte Frau hat offenbar den Pullover nur stellvertretend benützt, um sich von etwas Belastendem von früher zu befreien. Sie ist sich wahrscheinlich gar nicht darüber im Klaren, dass sie sich pausenlos den Pullover wegreißt und dabei laut stöhnt. Ich stelle weitere kurze, gezielte Fragen im emotionellen Bereich und berühre die alte Frau dabei am Nacken, an den Schultern und am Rücken. Ganz langsam, abgehackt, immer nur zwei drei Worte auf einmal, kommt Folgendes heraus: „Es waren vier Männer – ich war ein junges Mädchen – ich war nicht allein – es waren noch andere junge Mädchen dabei. Es war schrecklich.“ Die alte Frau fühlt sich
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entsetzlich beschmutzt und entwürdigt. Sie möchte weg, nur weg. Sie möchte sich von dieser schrecklichen Erinnerung befreien. Sie wirkt jetzt sehr entspannt und bedankt sich bei mir sehr lieb für den Besuch. Sie lächelt nicht, aber sie wirkt jetzt ruhig. Weder die Stationsleitung noch das Team hatten je etwas von einer Vergewaltigung gehört. Sie wussten nicht, dass dieses sehr unruhige Verhalten mit einem Ereignis von vor fast siebzig Jahren zusammenhing. Es ist also sehr wichtig, dass das Pflegepersonal aufmerksam das Verhalten der alten Menschen beobachtet und unerklärliche Reaktionen nicht gleich als Verhaltensstörung abtut. Oft gibt das scheinbar störende Verhalten wichtige Hinweise auf verborgene Ursachen. Dann bedarf es besonderer Empathie, um den Kontakt zu der Patientin nicht zu belasten. Oft geben Demenzkranke aber auch ganz klare Hinweise auf ihre Bedürfnisse, so wie in dem folgenden Beispiel: Selbstbefriedigung unter Verletzungsgefahr Schwestern einer Bettenstation berichteten mir folgende Situation: Eine sehr verwirrte alte Frau, die auf der Bettenstation lebte und noch recht mobil war, hatte sich in der letzten Zeit mehrmals selbst im Intimbereich schwer verletzt. Sie war immer wieder auf der Suche nach langen Gegenständen, mit denen sie sich selbst befriedigen konnte. Zuletzt hatte sie sich mit dem spitzen Stiel einer Haarbürste so schwer verletzt, dass sie stark blutend gerade noch rechtzeitig im Krankenhaus behandelt werden konnte. Das Thema Selbstbefriedigung konnte jetzt endlich offen besprochen werden. Trotzdem mussten wir behutsam vorgehen. Die Anschaffung eines Vibrators war hier die einzig vernünftige Lösung. Darüber waren sich alle einig; es war aber nicht sofort klar, wer ihn bezahlen sollte. Auch die Fragen nach der Hilfestellung bei der ersten Anwendung, nach Reinigung und Aufbewahrung mussten erst geklärt werden. Das Team war nicht auf eine solche Situation vorbereitet. Das Beispiel unterstreicht nicht nur die Notwendigkeit, die Sexualität als Bestandteil des Lebens auch sehr alter und dementer Menschen zu akzeptieren, es macht zugleich deutlich, dass neben der Kommunikation mit den Patientinnen auch die Kommunikation im Team thematisiert werden muss. Wenn die Pflegenden selbst das Thema Sexualität
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tabuisieren oder achtlos darüber hinweggehen, werden sie kaum jenes Einfühlungsvermögen aufbringen, das für einen wertschätzenden Umgang mit der Sexualität alter Menschen nötig ist. Haben sie aber einmal akzeptiert, dass die Sexualität auch im hohen Alter zum Leben dazugehört, fällt es ihnen auch leichter zu erkennen, wenn scheinbar eindeutige Verhaltensweisen von Menschen mit fortgeschrittener Demenz in Wirklichkeit gar nichts mit Sexualität zu tun haben wie im folgenden Beispiel: Die Oberschenkel der Schwiegertochter und die Hinterbeine der Jungstiere Eine Jungbäuerin schilderte mir das Verhalten ihres Schwiegervaters: Als der „Opa“ schon sehr lange Zeit unter einer Demenz gelitten hatte, wurde er zum Schluss so schwach, dass er nur mehr im Bett liegend gepflegt werden konnte. Der alte Bauer strich während der Pflege immer wieder mit seiner geschlossenen Hand und mit ernster Miene fest von oben nach unten an der Außen- und Innenseite der Oberschenkel der Schwiegertochter herunter. Die junge Frau trug im Sommer meistens eine eng anliegende, schwarze, glänzende „Radlerhose“. Zuerst empfand sie diese wiederholten Streichbewegungen als sehr unangenehme „Anmache“ – also als sexuelle Belästigung. Als sie aber den ernsten, fast verbissenen Ausdruck in den Augen des alten Mannes beobachtete, wurde sie immer überzeugter davon, dass er gar nicht sie meinte, sondern etwas „in einer ganz anderen Welt“ tat. Sobald ihr das klar wurde, ließ sie diese sich wiederholenden Streichbewegungen ruhig zu. Es störte sie nicht mehr. Als ich die Jungbäuerin fragte, wo sich ihr Schwiegervater in den letzten Jahren am liebsten aufgehalten hatte, antwortete sie: „Im Kuhstall bei den Jungstieren.“ Er war gewohnt gewesen, die glatten, schwarzen Beine der Jungstiere rundherum von oben nach unten mit etwas Streu vom Dreck zu säubern. Die Streichbewegung war sehr wahrscheinlich eine „Arbeitsbewegung“ aus der aktiven Zeit des alten Mannes. Im früheren (Berufs-)Leben oft ausgeübte und gleichsam automatisierte Bewegungen – wie Zusammenlegen von Wäsche, Bügeln, Abschließen von Räumen oder Klavierspielen – bleiben auch in der fortgeschrittenen Demenz oft erhalten. Wenn sie auch für den Außenstehenden häufig nicht ohne weiteres zuzuordnen sind, können sie wie in obigem Beispiel dem Demenzkranken das Gefühl geben, einer wichtigen Aufgabe nachzukommen und nützlich zu sein. Manchmal lassen bestimmte Verhaltensweisen auch erkennen, wonach sich jemand sehnt und wie es ihm gelingt, das Ziel einer unerfüllbaren Sehnsucht in seiner Realität vielleicht doch noch zu erreichen.
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„Das lange weiße Kleid“ Frau H. war noch recht mobil, aber sehr schwerhörig und auch zeitlich und örtlich nicht mehr orientiert. Sie erzählte mir immer wieder von ihrem Papa: „Weißt du, es ist mein Papa. Er wird kommen und das wird wunderschön sein. Er ist ein großer General; er hat eine Uniform und wunderschöne Stiefel an – schön … Ich werde ein langes, weißes Kleid anhaben und wir werden miteinander tanzen.“ Dabei schaute Frau H. mit einem verklärten Blick hoch hinauf und machte mit beiden Händen eine ganz bestimmte, symmetrische Handbewegung, als zeichne sie die Umrisse ihres Papas von unten nach oben in die Luft. Diese Handbewegung machte sie auch noch Jahre später, als die Demenz weiter fortgeschritten war und sie die Fähigkeit zu sprechen ganz verloren hatte. Mit der Zeit wurde die Bewegung kleiner und der glückliche Ausdruck in ihrem Gesicht war nicht mehr ganz so deutlich sichtbar. Aber der Papa blieb immer in ihren Gedanken. Sie lebte mit ihm. Er war bis zum Schluss der wichtigste Mann in ihrem Leben. Diese alte Frau hatte ohne Zweifel am Ende ihres Lebens nicht das Bedürfnis, zu ihrer Mutter zu gehen, sondern zu ihrem Vater. Das kommt eher selten vor. Die meisten alten, demenzkranken Menschen sehnen sich kurz vor ihrem Tod nach der Mutter oder zumindest nach einer liebevollen, einfühlsamen mütterlichen Person, die Halt und Geborgenheit gibt. Ich hatte den Eindruck, dass die alte Frau die lang ersehnte Vereinigung mit dem wichtigsten Mann ihres Lebens jetzt in dieser Weise offen ausdrücken konnte.
Wenn die Sprache verloren geht Alte Menschen sind keine Kleinkinder. Begleitungen im nonverbalen Bereich erfordern viel Einfühlungsvermögen und Respekt. Obwohl diese alten, schwer demenzkranken Menschen Inkontinenzeinlagen brauchen und jemand ihnen das Essen eingeben muss, sind sie erwachsene Menschen. Sie haben im Laufe der Zeit eine lange Reihe von Verlusten erlitten, sie haben ein langes, oft intensiv gelebtes Leben mit Höhen und Tiefen hinter sich. Vieles ist in ihrem Unterbewusstsein gespeichert, auch wenn es im Augenblick nicht abrufbar ist. Wenn die Demenzerkrankung sehr weit fortgeschritten ist, ist es nicht mehr von großer Bedeutung, ob Patientin und Betreuerin einander kennen. Der alte Mensch kann die Personen in seinem Umfeld schon lange nicht mehr richtig zuordnen. Für ein gelungenes Miteinander zählen jetzt andere Fähigkeiten: das Zulassenkönnen von großer Nä-
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he, Mitgefühl (nicht Mitleid!), die Möglichkeit, dem anderen respektvoll auf gleicher Augenhöhe zu begegnen und die Kunst, auf kleine Signale zu reagieren. Die Begleitung dieser alten Menschen ist nur über den emotionalen, vorwiegend von Berührungen getragenen Zugangsweg möglich. Das gesprochene Wort wird eher über den Tonfall und nicht mehr über den Inhalt aufgenommen. Ein unerwartetes Lächeln (Ein furchtbares Trauma im Intimbereich? Was man tun kann, wenn ein alter Mensch nicht mehr reagiert) Die Stationsschwester bat mich um Hilfe in der Begleitung einer alten Frau, die angeblich als Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht worden war. Frau A. leidet unter einer fortgeschrittenen Demenz. Sie ist sehr schwach, wimmert dauernd vor sich hin und spricht seit längerem nicht mehr. Ihre Augen sind immer geschlossen, sie reagiert nicht. Scheinbar ist sie überhaupt nicht mehr erreichbar. Wir betreten gemeinsam das Zimmer. Frau A. liegt zusammengekauert im Bett. Die Augen sind geschlossen, die Hände zu Fäusten zusammengekrampft vor der Brust „fixiert“. Der ganze Körper scheint verkrampft. Immer wieder ist ein leises, sehr hohes und gepresstes, weinerliches Wimmern zu hören. Ich setze mich sehr vorsichtig auf die Bettkante. Durch Anspannen meines Bauches versuche ich, eine ähnliche Körperspannung zu erreichen wie die alte Frau. Um mit ihr in Gleichklang zu kommen, bemühe ich mich, ihren Atemrhythmus aufzunehmen. Es gelingt allmählich. Jetzt atmen wir synchron, wobei sie mich „dirigiert“. Ich lege meine linke Hand ruhig seitlich an ihren Halsansatz und sage jeweils beim Ausatmen sehr ernst: „Das ist sehr schlimm … es ist furchtbar… das kann man nicht vergessen… das kann man NIE vergessen.“ Zwischen diesen kleinen Sätzen mache ich immer wieder eine Pause. Ihr Atemrhythmus wird allmählich ein klein wenig langsamer. Die mimische Muskulatur um Augen und Mund bewegt sich kaum merklich. Meine linke Hand gleitet nun hinunter auf ihr Brustbein. Jetzt begleite ich den Atemrhythmus jeweils mit einem ganz zarten Druck beim gemeinsamen Ausatmen und summe dazu einen längeren, tiefen Ton. Mit meiner anderen Hand halte ich sie nun auch seitlich am Kopf. Frau A. legt ihre Wange ein wenig in meine Hand. Wir atmen gemeinsam weiter und ich summe mit. Meine Hände bleiben, wo sie sind. Mehrmals wische ich ganz vorsichtig mit meinem rechten Daumen die „unsichtbaren Tränen“ unter ihrem Auge weg. Ihre Körperspannung nimmt ein wenig ab. Das
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Wimmern hört allmählich ganz auf. Ich sage: „Vielleicht ist es jetzt etwas besser.“ Dann lasse ich meine Berührungen ausgleiten und verabschiede mich. Ich gehe um das Fußende des Bettes herum, bleibe etwa zwei Schritte vom Bett entfernt stehen und drehe mich noch einmal zu Frau A., um mich auch innerlich von ihr zu verabschieden. Plötzlich öffnet sie ganz wenig die Augen, schaut mich gezielt an und lächelt zart. Die eine Faust öffnet sich und Frau A. winkt mir, ohne dabei ihre Hand von der Decke abzuheben, ein paar Mal mit vier Fingern zu. Ich winke zurück und freue mich. Die Stationsschwester und ihre Kolleginnen können es nicht fassen! Ich zeige ihnen, wie man einen Menschen in dieser Art begleitet, und übe mit ihnen. Die alte Frau hat wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben. Sie soll in ihrer allerletzten Lebenszeit gut begleitet werden. Es gelingt nicht immer, einen alten, sehr schwachen Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz zu einer so deutlich positiven Reaktion zu veranlassen wie in dem zuletzt geschilderten Beispiel. Trotzdem ist es wichtig, auch Menschen zu begleiten, die wenig oder gar nicht reagieren. Wir vertrauen darauf, dass diese alten Menschen unsere Nähe, Zuwendung und echte Anteilnahme spüren. Erfolgserlebnisse sind schön, doch die Zuwendung, die man schenkt, darf nicht davon abhängen, ob sie einen sichtbaren Erfolg zeitigt. Dies gilt umso mehr, wenn es um eine sexuelle Thematik geht. Allgemeingültige Hinweise für gute Begleitung in diesem heiklen Bereich lassen sich nicht geben. Jeder Mensch hat seine Biographie und seine Sexualität. Wir müssen uns stets auf diesen einen Menschen einstellen und die Situation jedes Mal neu sehen. Das Thema Sexualität bleibt wichtig bis zum Lebensende. Wenn wir nicht wegschauen und immer für dieses Thema offen sind, können wir viel dazu beitragen, die Lebensqualität alter Menschen zu erhöhen.9
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Ich möchte mich bei Kolleginnen und Freundinnen herzlich für Gedankenaustausch, Fallbeispiele und nützliche Tipps bedanken. Besonderen Dank an: Petra Fercher, Christel Reisner, Doris Otte, Elfriede Panholzer, Vicki de Klerk-Rubin.
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Die Bedürfnisse alter desorientierter Menschen
Abraham Maslow, einer der wichtigsten Begründer der humanistischen Psychologie, veröffentlichte bereits 1943 seine Motivationstheorie, in der er die körperlichen, sozialen und seelischen Bedürfnisse des Menschen in der so genannten Bedürfnispyramide zusammenfasste. Er vertrat die Ansicht, dass die höheren Bedürfnisstufen erst dann angestrebt werden, wenn die darunterliegenden Stufen erreicht wurden. Diese eindimensionale Sichtweise ist heute umstritten. Einvernehmen herrscht jedoch darüber, dass Maslow die zentralen menschlichen Grundbedürfnisse, die auch für die schwächsten und hilfsbedürftigsten Menschen in unserer Gesellschaft gelten, treffend benannt hat. In unserer Zeit, die in vielem nur noch auf Verstand und Leistung setzt, wird es immer schwieriger, Bedürfnisse und Gefühle zu äußern, die eigene Not und Schwäche zu zeigen und trotzdem anerkannt zu werden. Noch viel schwieriger ist es, von anderen mitfühlend wahrgenommen zu werden, wenn man alt, krank und verwirrt ist, wenn das Leben zu Ende geht.
11.1 Physiologische Bedürfnisse Da Menschen mit fortgeschrittener Demenz sehr häufig „höhere“ Bedürfnisse wie Anerkennung oder Selbstverwirklichung nicht mehr zugetraut oder sogar schlichtweg abgesprochen werden („Sie bekommt nichts mehr mit“), habe ich zuerst erwogen, die Reihenfolge, in der ich die Bedürfnisse bespreche, umzudrehen, die Pyramide also auf den Kopf zu stellen. Dafür spräche bei flüchtiger Betrachtung auch, dass physiologische Bedürfnisse – oder das, was man dafür hält – nicht selten zu wichtig genommen werden („warm, satt, sauber“). Marina Kojer hat mich indes daran erinnert, dass – wenn man genauer hinsieht – die „logischen physiologischen Bedürfnisse“, die noch immer für viele Betreuerinnen Priorität haben, sich häufig nicht mit den Bedürfnissen der Betroffenen decken. Wer gelernt hat, die Signale Demenzkranker empathisch zu verstehen, der „hört“ ihre Botschaften, z. B.: „Ich habe mich bis zu meinem 85. Lebensjahr immer nur zweimal in der Woche ganz gewaschen und es ist mir dabei gut gegangen. Warum muss ich jetzt täglich von Kopf bis Fuß abgeschrubbt werden?“ oder „Ich gehe auf mein Lebensende zu. Ich brauche auf dem letzten Stück Wegs bis zum Tod keine Sondennahrung; sie belastet mich nur.“ Ich glaube sagen zu können, dass unsere Pflegeheime sich ehrlich bemühen, die fundamentalen Bedürfnisse zu erfüllen. So werden unsere Patientinnen häufig sogar mehr als genug mit Nahrung versorgt und es
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wird genau auf die Flüssigkeitszufuhr geachtet. Aber wie sieht es mit dem Recht auf Sexualität aus (vgl. S. 242 ff.)? Das Wort Sex kommt im Vokabular der Heime fast nicht vor. Für das Auge wird meist viel getan: Mit hohem Engagement von Seiten der Pflege werden die Stationen jahreszeitlich dekoriert, um so auch die zeitliche Orientierung der Bewohnerinnen zu unterstützen. Für das Ohr wird meist zu viel getan. Nicht selten werden die eigenen Bedürfnisse gedankenlos mit den Bedürfnissen der Betreuten gleichgesetzt. Dann ertönt z. B. den ganzen Tag lang laute rhythmische Musik aus dem Radio. Politik und Gesellschaft fordern in einer Zeit, in der nach Wohlstand, Reichtum und Luxus gestrebt wird, immer mehr Hotelqualität in den Pflegeheimen. Das ist bis zu einem gewissen Grad berechtigt und zudem sehr beliebt bei den Mitarbeiterinnen: Man tut den Betreuten etwas Gutes, das Ergebnis „schöneres Wohnen“ ist augenfällig – und am eigenen Verhalten muss nichts verändert werden. Immer wieder wird aber auch des Guten zu viel getan (vgl. S. 238 ff.). Das Gebot der Stunde lautet: Widerstand leisten gegen „Zuvielisation“ (Cohn und Terfurth, 2001, S. 124). Entscheidend sind Verbesserungen dieser Art sicher nicht. Viel zu kurz kommen aber nach wie vor die Wünsche nach Berührung, Zärtlichkeit, Sicherheit und Geborgenheit, nach Gefühlen wie z. B. danach, sich zu Hause zu fühlen und dazuzugehören. „Der Schlüssel zu einer glücklichen Ausgewogenheit im modernen Leben ist Einfachheit“ (Sogyal Rinpoche, 2009, S. 43). Was ein Mensch einem bedürftigen anderen geben kann, ist durch nichts anderes zu ersetzen.
11.2 Sicherheit Im Sommer tourte ich mit meinem Mann und meinen beiden Kindern (5 und 3 Jahre) durch Lappland. Fast jede Nacht schliefen wir an einem anderen Ort, in einer Hütte eines Campingplatzes. Eines Abends beobachtete ich meine Kinder, wie sie vergnügt am Wasser spielten. Als sie müde und hungrig wurden, sagte meine Tochter zu ihrem kleinen Bruder: „Komm, lass uns nach Hause gehen.“ Ich war gerührt und überrascht zugleich. Wie leicht kann man sich in der Fremde zu Hause fühlen! Nicht die Umgebung ist dafür maßgeblich; zu Hause ist man da, wo man sich sicher, geschützt und geliebt fühlt. Unsere Pflegeheime bieten ein hohes Maß an Sicherheit im Sinne geschützter Unterbringung und Sicherstellung der Versorgung. Die –
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nicht unbegründete – Angst vor dem nächsten, von den Medien hochgespielten Pflegeheimskandal führt dazu, dass wir manchmal versucht sind, unsere Bewohnerinnen unter einen Glassturz zu stellen. Wir schützen sie vor jedem kleinsten Risiko, ohne daran zu denken, dass „ein Leben, bei dem nicht von Zeit zu Zeit alles auf dem Spiel steht, nichts wert ist“ (Luise Rinser). Wir wollen alle Gefahren aus dem Weg räumen, rauben den Menschen aber damit oft auch Freiheitsspielraum und Lebensqualität. Frau W. war für ihr hohes Alter geistig noch recht fit. Sie hatte einige Orientierungs- und Gedächtnislücken, aber die werden mit 96 doch erlaubt sein, oder? Immer wieder stürzte sie. Manchmal hatte sie Glück im Unglück und kam mit Prellungen und blauen Flecken davon. Schlussendlich zog sie sich jedoch eine Schenkelhalsfraktur zu. Die Rehabilitation verlief ziemlich erfolgreich. Selbstständig gehen konnte Frau W. jedoch nicht mehr. Da sie immer wieder aufstehen wollte, wurde sie zu ihrer Sicherheit mit einem Gurt fixiert. Sie litt unter diesem Gurt und genoss immer wieder die Therapie, in der wir den Gurt entfernten und den Rollstuhl mit einem Sessel tauschten, um wenigstens für eine halbe Stunde das Gefühl zu fördern, körperlich frei zu sein und bei der Wahl der Übungen oder Therapiespiele selbst entscheiden zu können. Jedes Mal, wenn ich nach der Therapieeinheit den Gurt nahm und Frau W. bat, ihn wieder anbringen zu dürfen, lächelte sie mich an und sagte: „Meinetwegen müssen sie ihn nicht wieder hinaufgeben.“ Ich habe mich oft gefragt, wie sie sich entschieden hätte, wenn man ihr die Entscheidung überlassen hätte. Hätte sie die Gefahr eines weiteren Sturzes erkannt und in Kauf genommen? Oder hätte sie doch den Sicherheitsgurt gewählt? Worüber darf man mit fast 100 noch entscheiden? Es gilt, jene Frage zu beantworten, die Marina Kojer in einem Vortrag gestellt hat: „Wir nehmen dir so vieles weg – Wohnung, Selbständigkeit, Geld, Kleidung, vertraute Gesichter, Natur, Vergangenheit, Zukunft, den eigenen Willen, Entscheidungsfreiheit, lieb gewordene Gewohnheiten, den persönlichen Lebensstil, Sinneseindrücke –, muss das wirklich alles sein?“ (Kojer, 2000). Auch Frau L. lehrte mich, was es heißt, sich sicher und geborgen zu fühlen. Die Bedürfnisse alter desorientierter Menschen
Anfang des Jahres kommt Frau L. zu uns ins Pflegeheim. Sie erzählt, dass sie zu Hause von einer Heimhilfe betreut worden war. Sie sei
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schon über zweieinhalb Jahre bettlägerig. Wie es eigentlich dazu gekommen sei, wisse sie nicht. Frau L. hatte bereits Kontrakturen in Hüfte und Knie. Eine riesige Bauchwandhernie zieht ihren Körper so stark zur Seite, dass dadurch bereits auch Wirbelsäule und Rücken verkrümmt sind. Alle tun ihr Möglichstes. Die Physiotherapeutin übt mit ihr im Querbettsitz. Wir versuchen, einen Spezialrollstuhl für sie anzufordern. Es ist gar nicht einfach, von der Krankenkasse einen Spezialrollstuhl für Bewohnerinnen geriatrischer Langzeiteinrichtungen zu bekommen. Wir schafften es! Frau L. bekommt einen großartigen Multifunktionsstuhl mit verstellbarem Rücken, kippbarer Sitzfläche, Kopfstütze – fast ein Ferrari unter den Rollstühlen. Doch Frau L. ist alles andere als zufrieden. Sie verweigert das Querbettsitzen und die Mobilisation in den Rollstuhl. Unvorstellbar für uns! Welch ein Gewinn an Lebensqualität müsste es für Frau L. sein, wenn sie ihr Bett wieder verlassen, ihren Alltag mitgestalten, wenn sie an Aktivitäten teilnehmen könnte? Der Transfer in den Luxusrollstuhl muss mit dem Lifter erfolgen. Beim Hochheben schneiden die engen Gurte ins Fleisch; das Hängen in der Luft ist ungewohnt und macht Angst. Wenn Frau L. nicht ganz korrekt sitzt, hat sie keine Möglichkeit, ihre Lage zu verändern. Sie hat Schmerzen, fühlt sich unwohl, jammert, will zurück ins Bett. Nur da fühlt sie sich sicher, von da aus hat sie alles, was rund um sie geschieht, unter Kontrolle. An den Aktivitätsgruppen kann sie nicht teilnehmen, obwohl sie gerne etwas getan hätte. Zweimal in der Woche biete ich ihr deshalb im Bett handwerklich kreative Tätigkeiten an, um so mit den Mitteln der Ergotherapie dazu beizutragen, ihre körperlichen und kognitiven Fähigkeiten zu erhalten.
11.3 Soziale Anerkennung und soziale Beziehungen Ich gehe durch den Tagraum einer Station, auf der ich seltener tätig bin. Wie immer begrüße ich die um die Tische sitzenden Damen mit einem einfachen freundlichen „Guten Morgen“. Ich höre eine Dame sagen: „Ist das eine neue Schwester, die habe ich ja noch nie hier gesehen.“ Ihre Tischnachbarin antwortet: „Die muss neu sein, denn die alten grüßen nicht.“ Diese Situation ist vielleicht ein bisschen zum Schmunzeln, doch sie sollte uns auch zum Nachdenken anregen. Wir treten morgens unseren Dienst an, begrüßen unsere Kolleginnen bei der Dienstübergabe. Natürlich grüßen wir auch, wenn wir in ein Zimmer gehen, aber wie oft gehen wir in der Hektik des Alltags achtlos an Bewohnerinnen vorbei
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oder denken nicht daran, dass wir ihnen, vor allem wenn sie an Demenz leiden, in ihrer Realität immer wieder neu begegnen, auch wenn wir sie bereits in der Früh begrüßt hatten. Wir vergessen, wie viel Würde ein „Grüß Gott“ geben kann, wie viel Dazugehörigkeit ein Lächeln schenkt und wie viel Halt und Sicherheit eine Berührung vermitteln kann. Die Bedürfnisse alter desorientierter Menschen
Oft höre ich dann von Seiten des Personals: „Zum Reden haben wir keine Zeit.“ Meist braucht es jedoch nur ein freundliches Wort, einen liebevollen Blick oder ein Lächeln im Vorübergehen, um den alten Menschen das Gefühl zu geben, wertgeschätzt zu werden und dazuzugehören. Demenzkranke wünschen sich das, was wir alle uns wünschen: einen Platz im Leben, an dem sie sich wohlfühlen, Zuwendung erfahren und in vertrauten, familiären Beziehungen leben dürfen. Sie wünschen sich, wahrgenommen, anerkannt und respektiert zu werden. Es fällt auf, wie viel Zeit und Energie Betreuerinnen aus allen Berufsgruppen aufbringen, um z. B. den Garten unkrautfrei zu halten. In der schönen Jahreszeit kann man sie zu jeder Tageszeit im Garten arbeitend beobachten. Meist haben sie eine Gruppe von Bewohnerinnen um sich geschart. Die Bewohnerinnen schauen dem geschäftigen Treiben gerne zu, sie genießen den Garten, die Natur, die frische Luft. Das ist gut so. Doch manchmal kommt in mir die Frage auf: Wollen wir überhaupt Zeit dafür haben, uns auf sie einzulassen, mit ihnen in Beziehung zu treten, oder fällt es vielen Betreuenden leichter, sehr geschäftig etwas für die Bewohnerinnen zu tun, anstatt ihnen zuzuhören und mit ihnen zu fühlen? Sogyal Rinpoche beschreibt diese Haltung in „Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“ als westliche Faulheit, wenn man das Leben mit zwanghaften Aktivitäten so voll stopft, dass keine Zeit mehr bleibt, sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern (Sogyal Rinpoche, 2009, S. 39). Doch ebenso wie die alten Menschen gerne Schönes erleben oder von schönen Erinnerungen erzählen, ist es für sie wichtig, über ihre Schmerzen, Ängste und auch über den bevorstehenden Tod zu sprechen. Denn nur „schmerzhafte Gefühle, die ausgedrückt, akzeptiert und von einem vertrauenswürdigen, aufmerksamen Zuhörer validiert (das heißt wertgeschätzt) werden, werden schwächer. Schmerzhafte Gefühle, ignoriert und unterdrückt, werden stärker“ (de Klerk-Rubin, 2006, S. 33). Eines Vormittags treffe ich Frau F. auf dem Gang. Die Frau, die sich meist lautstark bemerkbar macht, ist ruhig, blass, wirkt müde. Ihre Augen kann sie kaum offen halten. Sie erzählt von ihrer Zimmerkollegin, die ihr in der Nacht noch zugewinkt hat, bevor sie verstorben ist. Es war die Dritte, die in ihrem Zimmer starb, seit sie hier ist.
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„Man gewöhnt sich nie daran“, meint sie. Sie sieht die Schwestern, die Ärztinnen, eine nach der anderen ins Zimmer kommen. Man schickt sie aus dem Zimmer oder wie ein kleines Kind zurück ins Bett, bevor man den leblosen Körper hinausfährt. Niemand spricht mit ihr. Niemand interessiert sich dafür, wie sie sich fühlt, wenn sie sieht, wie die Zimmerkollegin stirbt. Aufgrund von Bauarbeiten im Keller wird die Verstorbene nicht in den dafür vorgesehenen Raum gebracht, sondern von den Trägern, wie in manchen großen Pflegeheimen immer noch üblich, in einem entsetzlich aussehenden Blechsarg direkt von der Station abgeholt. Frau F. bittet die Träger, stehen zu bleiben. Sie macht ein Kreuz und wünscht ihrer Zimmerkollegin „Schlaf wohl“. Auch gegen Ende des Vormittags möchte Frau F. nicht wieder in ihr Zimmer gehen. Sie hat mit ihrer Mitpatientin zwar, solange diese lebte, kaum ein Wort gesprochen, doch jetzt erlebt sie die Leere im Zimmer. Sie spürt, dass etwas fehlt. Oft überhören wir die Schlüsselworte unserer Patientinnen, mit denen sie ihre Ängste vor dem bevorstehenden Sterben ausdrücken wollen. Doch sollte nicht gerade ein Pflegeheim ein Ort sein, wo die Bewohnerinnen jederzeit über das Sterben und die damit verbundenen Sorgen und Ängste sprechen dürfen? Wäre es nicht besonders wichtig, den Bewohnerinnen zu zeigen, dass die Sterbenden bis zuletzt liebevoll begleitet werden und dass schlussendlich auch noch der leblose Körper respektvoll behandelt wird, um ihnen so zumindest einen Teil ihrer Angst zu nehmen? Immer noch schieben die meisten Betreuerinnen das Thema Tod weit weg, um sich nicht mit Unangenehmem auseinandersetzen zu müssen. Aber „wie kann jemand ein guter Arzt sein, ohne zu wissen, wie man einem Menschen in der letzten Lebensphase auch spirituell beistehen kann? Wie kann jemand eine gute Krankenschwester sein, wenn sie nicht zumindest begonnen hat, sich ihrer eigenen Angst vor dem Tod zu stellen“ (Sogyal Rinpoche, 2009, S. 419), wenn sie den alten Menschen, die um Rat und Beistand bitten, nichts zu sagen hat? Es ist seit langem bekannt, dass alte Menschen sich in einem Pflegeheim am wohlsten fühlen, wenn Umgebung und Alltag die größtmögliche „Normalität“ gewährleisten. Selbstverständlich gilt es, alle Maßnahmen zu fördern, die diese „Normalität“ unterstützen, allerdings nur in dem Maße, in dem dabei die individuellen Vorlieben, Interessen, aber auch die Abneigungen und Ängste der Bewohnerinnen berücksichtigt werden. Denn jede Bewohnerin gleich gut zu betreuen bedeutet nicht, alle in der gleichen Weise zu behandeln, sondern die Individualität jeder einzelnen zu erkennen, zu akzeptieren und sie darin zu unterstützen, diese Einmaligkeit auch zu leben.
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Auf der Suche nach sinnvollen Aktivitäten für die Bewohnerinnen sind in den letzten Jahren außer den herkömmlichen Animationsangeboten wie Kochgruppen, Musikgruppen, Werkgruppen oder Gedächtnistraining viele erwähnenswerte Maßnahmen entstanden, die mehr Leben in die Institutionen bringen und soziale Kontakte ermöglichen sollen. Der Garten, wie bereits angeführt, wird sehr oft wieder als wichtiger Lebensraum entdeckt. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Bewohnerinnen selbst wieder aktiv tätig werden oder das Geschehen rundherum beobachten und sich daran erfreuen. Der Garten bietet nicht nur die Möglichkeit zum sozialen Miteinander außerhalb der Station, er bietet viele Sinnesreize, die das Leben reicher und lebendiger machen und zum Genießen und Träumen einladen: in prächtigen Farben blühende Blumen, das Zwitschern der Vögel, den Duft nach frisch gemähtem Gras oder eine kühlende Brise. In den vergangenen 20 Jahren wurden vielerorts gemeinsam mit Kindergärten und Kinderhorten Projekte gestartet, die das Miteinander der Generationen fördern und sowohl den Kindern als auch den alten Menschen Freude machen. Als besonders sinnvoller und erfolgreicher Ansatz erwies sich auch das Einbeziehen von Tieren als „vierbeinigen Therapeuten“. Tiere sind uns zumindest in einem Punkt bei Weitem überlegen. Sie akzeptieren hochbetagte, in ihrer körperlichen und/oder geistigen Leistungsfähigkeit eingeschränkte Menschen, wie sie sind, sie machen keinen Unterschied zwischen jung und alt, dement und nicht dement. Sie geben keine guten Ratschläge, sondern sind einfach da, schauen die Person, die sich ihnen zuwendet, an, schenken Nähe, Wärme und Vertrautheit und hören einfach zu. Da zu sein, uns zuzuwenden und zuzuhören – diese Fähigkeiten sollten wir Betreuenden versuchen wieder zu erlernen. Viele bewährte therapeutische und pädagogische Methoden wie z. B. Erinnerungs- und Biographiearbeit, Gedächtnistraining, Montessoripädagogisches Arbeiten usw. werden eingesetzt, um die Bewohner zu beschäftigen und auch abzulenken. In der Anwendung dieser Methoden wird oft nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt, dass Menschen, die heute in Pflegeheimen aufgenommen werden, viel älter, kränker und pflegebedürftiger sind als vor 20 oder 30 Jahren und dass der überwiegende Teil von ihnen an Demenz erkrankt ist. Es fehlt nicht an Angeboten für körperlich und geistig einigermaßen Agile, doch die Mehrzahl der Pflegeheimbewohner geht fast leer aus. Bei genauer Betrachtung der Beschäftigungsangebote fällt auf, dass oft dieselben Bewohnerinnen in allen Gruppen vertreten sind, nämlich die „Pflegeleichten“, mit denen noch „etwas anzufangen ist“, die sich
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gut mit der Situation Pflegeheim abgefunden haben und lieb und nett sind. Manchmal könnte der Eindruck entstehen, dass man förmlich um sie streitet, während andere, vor allem jene, die gern als unkooperativ und aggressiv beschrieben werden, kaum die Möglichkeit haben, etwas zu tun, das ihnen Freude macht, sie Erfolg erleben lässt und ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit gibt. Mindestens ebenso benachteiligt wie die „Schwierigen“ sind die sehr desorientierten Alten, die sich nicht mehr so lange konzentrieren können, die mit ihrer Unruhe und ihrem Bewegungsdrang die Gruppen stören. Handwerklich kreative Techniken sind ihnen häufig zu abstrakt und ergeben in ihrer Realität keinen Sinn mehr. Anweisungen können sie nicht mehr verstehen. Komplexen Handlungsabläufen können sie nicht mehr folgen. Aber auch sie haben das Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit, wollen Gefühle ausdrücken und gehört werden, wollen dazugehören, nützlich sein und gebraucht werden. All diese Bedürfnisse können in einer Validationsgruppe erfüllt werden. Frau K. sitzt im Gang, ihr Blick geht in die Ferne. Es scheint, als wäre sie weit weg. Irgendwo in der Vergangenheit, in einer Welt, in der das Leben noch in Ordnung war, wo es einen Sinn in der Realität gab. Was mag sie wohl denken? Der Rollator steht neben ihr. Sie dreht ihn, rutscht unruhig auf dem Sessel hin und her, als wolle sie aufstehen. Was möchte sie tun? Hilflos schaut sie den vorbeigehenden Personen nach. Wenn sich unsere Blicke treffen, schaut sie mich mit großen Augen Hilfe suchend an. Was erwartet sie? Wenn ich Frau K. zur Validationsgruppe abhole, weiß sie von einem zum nächsten Mal nicht, was auf sie zukommt. Sobald sie neben ihrer Nachbarin sitzt, ergreifen die beiden Damen gegenseitig ihre Hände, sie plaudern miteinander, ja sie „busserln“ sich ab und bestätigen einander: „Du bist lieb.“ Jeder in der Validationsgruppe erhält eine kleine Aufgabe, erfüllt somit wieder eine soziale Rolle, die wertgeschätzt wird, Freude bereitet und die Würde wiederherstellt. Bei Frau K. zeigt sich sehr schnell, dass sie im Singen aufgeht, aufrecht mit klarem Blick und einem entspannten Ausdruck im Gesicht stimmt sie die Lieder in der Gruppe an. Alle setzen mit ein und es ist plötzlich egal, dass man die Strophe nicht mehr vollständig kennt. Die Energie und die Freude am gemeinsamen Tun sind spürbar. Im Gespräch drückt Frau K. ihr Mitgefühl für die anderen aus, sie folgt immer aufmerksam den Worten der anderen und bestätigt,
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was für sie wichtig ist: „Man darf sich nicht immer alles gefallen lassen“ oder „Schlimm, wenn man plötzlich alleine ist“. Es entsteht ein Austausch zwischen den Bewohnerinnen, der nicht mehr alltäglich für sie ist (Bonomo et al., 2010, S. 10 f.). Je desorientierter die alten Menschen sind, desto mehr sind wir gefordert, Achtsamkeit für ihre Signale zu entwickeln. Auch wenn ihnen die Worte fehlen, teilen sie sich uns mit: Durch ihr Verhalten, ihre Bewegungen, ihre Mimik und Gestik, durch ihren Blick, die Körperhaltung und auch durch die Atmung drücken sie Bedürfnisse und Gefühle aus. Sie putzen und wischen, falten und klopfen oder schreien und schmatzen. Eine „Validationsschachtel“ ist für diese Bewohnerinnen oft sehr hilfreich. Es ist dies ein Korb oder eine Schachtel mit Alltagsgegenständen, z. B. verschiedenen Stoffresten, Servietten, Bechern, Maßband usw., die es den Frauen ermöglichen, in ihrer Welt aktiv tätig zu sein. Die Validationsschachtel kann, wie beschrieben, sehr allgemein oder auf die Biographie bezogen befüllt sein. Einer Frau, die liebevoll Servietten faltet, als ob es die Babywäsche von früher wäre, kann man die Schachtel auch mit Stoffwindeln oder Babykleidung füllen. Für Männer eignen sich oft Holzbausteine aus Naturholz oder mit Reis oder Linsen gefüllte Stoffsäckchen, die so wie die verschiedenen Stoffreste und unterschiedlichen Materialien zusätzlich eine gute sensorische Stimulation bilden. Die Bedürfnisse alter desorientierter Menschen
Viele der sehr desorientierten alten Menschen verstehen auch unsere Worte nicht mehr. Trotzdem ist es leicht, ihnen Anerkennung und Wertschätzung entgegenzubringen, indem wir ihre Gefühle aufgreifen, sie ansprechen und spiegeln oder wenn wir gelernt haben mit unseren Händen zu kommunizieren. Wir können Demenzkranken dabei helfen, ihre Gefühle auszudrücken, wir können sie durch unsere Berührung stimulieren oder beruhigen, Gefühle und Erinnerungen verstärken und wieder beleben, aber auch durch quälende Gefühle verursachte seelische Schmerzen lindern. Diese Menschen können sich nur für sehr kurze Zeit konzentrieren. Oft reichen fünf Minuten, um ihnen zu signalisieren: „Du bist wertvoll. Du gehörst dazu.“
11.4 Selbstverwirklichung An der Spitze der Pyramide steht das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Die alten desorientierten Menschen sind sozusagen an der Spitze ihres Lebens angelangt. Es ist ihr wichtigstes Bedürfnis, das noch verbleibende Leben in Würde zu leben und dann auch in Frieden sterben zu können. Naomi Feil geht wie Erik Erikson (1993) davon
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aus, dass die Menschen in verschiedenen Lebensabschnitten unterschiedliche Lebensaufgaben zu erfüllen haben. Ungelöste Aufgaben drängen gegen Ende des Lebens danach, endlich gelöst zu werden, damit es schließlich gelingen kann, in Frieden Abschied zu nehmen. Desorientierte Hochbetagte haben nicht mehr die Möglichkeit, die Dinge „mit Vernunft“ anzugehen. Sie tun dies auf ihre Art und Weise und können so die losen Enden ihres Lebens zusammenfügen. Oft müssen jahrzehntelang eingesperrte Gefühle und Bedürfnisse endlich hervorbrechen und ausgelebt werden, damit sie ihren Frieden finden können. Dazu brauchen sie unsere Hilfe. Diese beginnt mit der Bereitschaft, sie ein Stück in ihre Realität zu begleiten. Wir müssen die Weisheit erkennen, die hinter der Desorientierung steckt, und akzeptieren, dass ihr Verhalten, so fremd und seltsam es uns auch scheinen mag, ihnen ermöglicht, ihre letzte Lebensaufgabe zu erfüllen, Unerledigtes aufzuarbeiten und unerfüllte Bedürfnisse zu leben, bevor sie sterben. Naomi Feils Tabelle der Maslow’schen Bedürfnispyramide – angewandt auf ältere desorientierte Menschen (Abb. 1) – hilft uns, das Bedürfnis, das hinter dem Verhalten steht, leichter zu erkennen. Bedürfnis nach Maslow
Angewandt auf ältere, desorientierte Menschen
Bedürfnis nach Selbstverwirklichung: das eigene Potenzial vollständig realisieren
Aufarbeitung von unerledigten Aufgaben, um in Frieden leben und schlussendlich auch sterben zu können
Ästhetische Bedürfnisse: Symmetrie, Ordnung, Schönheit
das Gleichgewicht wiederherstellen, wenn das Augenlicht, das Gehör, die Mobilität und das Gedächtnis schwinden
Kognitive Bedürfnisse: verstehen und entdecken
der unerträglichen Realität Sinn geben, einen Platz finden, wo man sich wohlfühlt und wo Beziehungen familiär sind
Bedürfnis nach Wertschätzung: Zustimmung und Anerkennung erreichen
Bedürfnis nach Anerkennung, Status, Identität und Selbstwert; gebraucht werden und produktiv sein
Bedürfnis nach Zugehörig- gehört werden und respektiert sein; Gefühle keit und Liebe: mit anderen ausdrücken und damit angehört werden; sich verbunden sein geliebt und geborgen fühlen, Sehnsucht nach menschlichem Kontakt Sicherheitsbedürfnis: sich umsorgt werden, sich sicher und geborgen sicher und geborgen fühlen fühlen und nicht unbeweglich und festgehalten sein Abb. 1 Maslow’sche Bedürfnispyramide, angewandt auf ältere, desorientierte Menschen (Feil, De Klerk-Rubin 2005, S. 20)
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Frau W. – ich habe anfangs schon von ihr erzählt – ist 96 Jahre alt. Sie ist schwach, sturzgefährdet und durch eine ausgeprägte Parkinsonsymptomatik auch sehr verlangsamt. Es braucht lange, bis sie die Worte, die sie hört, in ihrem Kopf verarbeitet und bis die Antwort schlussendlich über ihre Lippen kommt. Zwar weiß sie genau, was sie sagen möchte, aber das richtige Wort fällt ihr häufig nicht mehr ein. Wenn man ihr Zeit lässt, auf sie eingeht, ihren Gefühlsausdruck spiegelt und sie berührt, ist es erstaunlich festzustellen, wie viel Weisheit in ihren Worten liegt. Sie spricht immer wieder darüber, wie schlimm es für sie ist, bevormundet und nicht mehr ernst genommen zu werden. Sie leidet darunter, wenn man auf sie herabsieht, nur weil sie schon sehr alt und langsam ist. Viele sehen in ihr nur eine alte schwache, zeitweise verwirrte Frau, die bei vielen Tätigkeiten des täglichen Lebens (Waschen, Anziehen …) auf Hilfe angewiesen ist. Kaum jemand denkt an all das Schwere, das sie erlebt hat, mit dem sie ganz allein fertig werden musste. Ihr Sohn ist im Alter von vier Jahren im Krankenhaus gestorben. Niemand hat diese Trauer mit ihr geteilt. Ihr Mann war im Krieg eingerückt. Ihren Brief über den Tod des Sohnes hat er wahrscheinlich nie bekommen. Auch er ist nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Einmal sagte Frau W.: „Damals habe ich begonnen, steif zu werden.“ Die einzigen Wünsche, die Frau W. noch hat, sind die nach Geborgenheit, Wertschätzung, Respekt und nach der Freiheit, selbst über die Zeit, die ihr noch bleibt, entscheiden zu können. Unter dieser Voraussetzung würde sie auch noch gerne ihren 100. Geburtstag erleben. Wenn die Gegenwart mit den vielen Verlusten, die das hohe Alter mit sich bringt, zu schmerzlich wird, ziehen sich sehr alte desorientierte Menschen oft in die Vergangenheit zurück, in der sie geliebt und gebraucht wurden. Die dünnen, fast nur mehr aus Haut und Knochen bestehenden Beine über dem Bettende hängend, so saß Frau E., als ich das Zimmer betrat. Es war erstaunlich, wie viel Kraft die dünne Frau aufgebracht hatte, um sich trotz aller Sicherheitsmaßnahmen „zu befreien“. Ich stellte mich vor sie hin, berührte sie mit festem Druck an beiden Schultern und begrüßte sie mit leiser, liebevoller Stimme: „Guten Tag, Frau E.“ Sie hielt inne, schaute mich an, legte die Hände um meinen Hals, ihren Kopf an meine Schulter. Ihre Beine schlang sie um meinen Körper. „Mamicka, meine Mamicka.“ Es waren nur
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Sekunden, die wir so verharrten, aber Sekunden, in denen Frau E. das Gefühl hatte, wieder ein kleines Kind in den Armen ihrer Mutter zu sein, geborgen zu sein. Sekunden, die jetzt schon Jahre zurückliegen, und immer noch berührt es mein Herz, wenn ich an dieses Erlebnis zurückdenke. Wer einmal erkannt hat, dass das Verhalten alter desorientierter Menschen einen Grund hat, wird nicht mehr nur die defizitbehaftete, manchmal störrische Demenzkranke sehen, sondern eine Person mit Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Kreativität und auch Spiritualität, eine Person mit Wünschen und Bedürfnissen nach Anerkennung und Wertschätzung, nach Trost, nach Dazugehören, nach sinnvoller Betätigung und nach Liebe (vgl. Wißmann, 2007, S. 9). Maslow spricht in diesem Zusammenhang von den Bedürfnissen nach Anerkennung und sozialen Beziehungen. Frau F. ist erst Ende 70 und es fiel ihr anfangs sehr schwer zu akzeptieren, dass sie ihren Lebensabend in einem Heim verbringen muss, weil sie zu Hause zunehmend verwahrlost war. Sie hatte kein leichtes Leben, sie musste immer kämpfen. Über 20 Jahre arbeitete sie als Prostituierte. Immer stand sie am Rande der Gesellschaft. Jetzt ist es nicht anders. Jetzt kämpft sie den aussichtslosen Kampf gegen die Verluste des Altwerdens. Sie macht andere für ihre Vergesslichkeit verantwortlich oder findet eine Menge an Ausreden. Die anderen erleben sie als unkooperativ und aggressiv. Sie schimpft, spuckt und manchmal schlägt sie auch. Warum? Sie wünscht sich – ungeachtet ihrer Vergangenheit – endlich akzeptiert und wertgeschätzt zu werden. Sie fordert Eigenständigkeit, will sich nicht vorschreiben lassen, wie viel, wo und wann sie rauchen darf und wie und wo sie den Tag verbringt. Ihr Vertrauen gewinnt man, indem man sie nicht ständig korrigiert, sie nicht zurechtweist, sondern ihr mit Respekt begegnet, ihr zuhört. Manchmal erzählt sie von ihren Erfahrungen als Prostituierte. An anderen Tagen sind die Erinnerungen so schmerzlich, dass sie gar nicht darüber sprechen möchte. Dann erzählt sie gerne von ihren heute schon erwachsenen beiden Kindern oder will die neuesten Streiche meiner Kleinen hören. In diesen Augenblicken sind wir beide einfach Mütter und da gibt es mitunter viel zu lachen. Fast täglich erzählt sie von ihrem „neuen Schwarm“ auf der Männerstation, mit dem es – so wie mit allen anderen Männern in ihrem Leben – nicht immer leicht ist. Oft leuchten ihre Augen dann wie die eines verliebten Schulmädchens. Man kann sie verrückt nennen, aber auch weise. Denn ist es nicht Weisheit, vieles, das man im Leben vermisst hat, nachzuholen und doch noch zu erleben?
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11.5 Resümee Wie die Fallbeispiele zeigen, kann den Bedürfnissen der Bewohnerinnen oft durch menschliche Initiative ohne großen Aufwand entsprochen werden. Meine Ausführungen sind nicht als Kritik gemeint, sondern als Versuch aufzuzeigen, in welche Fallen wir uns einfangen lassen, anstatt die Bewohnerinnen von unseren unterschiedlichen Sichtweisen und Möglichkeiten profitieren zu lassen. Die Bedürfnisse alter desorientierter Menschen
Wir streben nach mehr Standards und nach immer mehr messbaren Ergebnissen, um zu beweisen, was wir leisten. Dabei vergessen wir oft, dass sich Menschsein und -bleiben eben nicht in Zahlen messen lässt. Um die wesentlichen Bedürfnisse alter desorientierter Menschen zu erfüllen, nämlich sich sicher, geschützt und geliebt zu fühlen, nützlich, aktiv, tätig zu sein, spontane Gefühle ausdrücken zu können und gehört zu werden, braucht es keine Paläste und keine perfektionistische Wissenschaftlichkeit. „Therapeuten und Seelsorger wissen längst, dass es nicht die Methode ist, die den Menschen Heilung bringt, sondern allein die Liebe. Rogers beschreibt diese Liebe als uneingeschränkte, wertschätzende Anteilnahme, als Empathie“ (Grün, 2005). Unabhängig davon, welchen medizinischen, therapeutischen oder pflegerischen Ansatz man wählt, als Erstes braucht es eine tragfähige Beziehung, damit Bewohnerinnen und Helferinnen aufnahmebereit und somit lernfähig sind (vgl. Monshi, 2009, S. 14). Ausschlaggebend ist also nicht so sehr das, was wir tun, sondern die Einstellung, mit der wir es tun. Der Weg dahin kann nicht von heute auf morgen zurückgelegt werden. Die kleinen, oft unscheinbaren Schritte des Einzelnen scheinen uns meist wie Tropfen auf den heißen Stein. Es ist ein langer Atem nötig, um Veränderung zu bewirken, und es müssen viele Voraussetzungen dafür erfüllt sein. Dennoch gibt es keine Alternative! Nur wenn viele Menschen den Mut und die Kraft zu den kleinen Schritten finden, können sich allmählich auch die gesellschaftlichen Strukturen verändern, in denen wir leben (vgl. Löhmer und Standhardt, 2006, S. 111 f.).
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12 Gewalt in der Pflege Monique Weissenberger-Leduc
Gewalt in der Pflege
Gewalt kann überall stattfinden, im öffentlichen Raum, in Institutionen wie Krankenhaus und Pflegeheim ebenso wie in der Familie. Je privater die „Tatorte“ sind, desto seltener werden konkrete Tatbestände bekannt. Die wenigen vorliegenden Studien (Seidel, 2007; Cooper, 2008; Dohner, 2010) lassen jedoch befürchten, dass das Gewaltrisiko in der Familie am höchsten ist. Als Pflegeperson möchte ich das Thema jedoch auf die personelle Gewalt in der Pflege einengen, wo der häufige, enge und intime Kontakt zwischen Pflegeperson und Patientin viele Gelegenheiten für Gewaltanwendung bietet. Ich sehe es als eine Aufgabe der Palliativen Geriatrie, diese viel zu wenig beachtete Gefahr ins Bewusstsein zu rufen und nach Lösungsansätzen zu suchen. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass Personen mit Demenz nicht nur Opfer von Gewalt sind, sondern nicht selten auch selbst Gewalt ausüben. Dann haben wir uns stets zuerst zu fragen, was die Patientin dazu gebracht hat und was sie uns durch ihr Verhalten auf ihre Weise mitteilt. Heftige Abwehrreaktionen („Aggression“) werden in der Regel durch unser Fehlverhalten ausgelöst, wenn wir der Betroffenen z. B. ohne es zu wissen Schmerzen zugefügt oder sie in Angst und Panik versetzt haben (vgl. S. 27 ff.). Eine andere Form von Gewalt kann der kranke Mensch dadurch ausüben, dass er den Freiraum seiner Betreuerin massiv einschränkt, indem er z. B.: nie allein sein will, jedes Mal krank wird, wenn die Bezugsperson ein paar Tage Auszeit nehmen möchte, keine fremde Person im Haus zulässt, alle Hilfe verweigert. Personen mit Demenz können auf ihre Umgebung erheblichen Druck ausüben, um sie zu bestimmten Aktionen zu zwingen, z. B.: „Ich esse nicht, solange meine Tochter nicht da ist.“ „Nur Maria kann mir die Haare richtig eindrehen. Wenn sie nicht da ist, lasse ich mich nicht frisieren!“ Gewalt in der Pflege
12.1 Was alles ist Gewalt? Von den meisten Menschen wird Gewalt als physischer Akt verstanden, mit dem man anderen Schmerzen oder körperliche Verletzungen zufügt. Das ist jedoch nur eine von vielen möglichen Erscheinungsformen von Gewalt. Der Begriff lässt sich nicht klar und eindeutig definieren, umfasst aber – wie die folgenden drei Definitionen zeigen – viel
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mehr. Margret Diek (1987) betont, dass Gewalt nicht nur in einer Handlung, sondern auch in einer Unterlassung bestehen kann und sowohl mit Hilfe körperlicher als auch psychischer Maßnahmen (z. B. beschimpfen, geringschätzig behandeln) ausgeübt wird. Dagegen fasst Rolf Hirsch (2001) – in Anlehnung an Johan Galtung (1975 und 1993) – den Begriff wesentlich weiter und bezieht außer der personellen auch die strukturelle (z. B. unzureichender Personalschlüssel, fehlende Qualifizierung des Personals, fehlende Ärztinnen) und die kulturelle Gewalt mit ein (z. B. das negative Altersbild in der Gesellschaft). Im Fokus steht hier die „vermeidbare Beeinträchtigung menschlicher Grundbedürfnisse“ (Galtung, 1993, S. 106). Strukturelle Gewalt wird durch die Rahmenbedingungen vorgegeben. Da sie „geräuschlos“ ist (Galtung, 1975, S. 16), wird sie meist gar nicht als Gewalt wahrgenommen, sondern als „normal“ empfunden; das macht sie viel schwerer fassbar und oft auch gefährlicher als die personelle Gewalt. Kulturelle Gewalt entfaltet ihre Wirkung über Stereotype (z. B. die „Überalterung“ unserer Gesellschaft), Vorurteile (z. B. Demenzkranke „sind wie kleine Kinder“, „bekommen nichts mehr mit“) und unreflektierte Werturteile, z. B. dass fortgeschritten dement zu sein ein „entwürdigender“ Zustand sei (für weiterreichende Informationen siehe Weissenberger-Leduc und Weiberg, 2011). Der wichtige Beitrag, den die Definition der WHO (WHO, 2002) zur Abrundung des Bildes der Gewalt leistet, liegt in der Feststellung, dass Gewalt eine Verletzung der Menschenrechte darstellt: “Elder abuse is a violation of Human Rights and a significant cause of injury, illness, lost productivity, isolation and despair.”
12.2 Arten von Gewalt In der folgenden Einteilung orientiere ich mich weitgehend an dem Österreichischen Gewaltbericht (Hörl und Spannring, 2002) und ergänze ihn durch Beispiele aus dem Pflegealltag. Gewalt in der Pflege
12.2.1 Gewalt durch aktives Tun Körperliche Gewalt Das Zufügen von Schmerzen und sichtbaren Verletzungen ist die am deutlichsten erkennbare Form der Gewalt. Weit weniger augenfällig sind scheinbar „normale Pflegehandlungen“, wie z. B.:
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Gewalt in der Pflege
Eine hochbetagte, multimorbide Patientin wird aus dem Liegen mit einem einzigen Ruck auf die Bettkante gesetzt. Sie erschrickt und hat keine Zeit, sich körperlich und psychisch langsam an die neue Lage zu adaptieren. („Ich bin ganz erschrocken und durcheinander!“) Der Transfer vom Bett in den Rollstuhl erfolgt übergangslos und schnell – die Patientin verliert buchstäblich den Boden unter den Füßen. („Ich habe Angst!“) „Füttern“ statt das Essen einzugeben: Wird ein Löffel nach dem anderen verabreicht, ohne auf den Essrhythmus der Patientin Rücksicht zu nehmen, droht ein Erstickungsgefühl. („Mein Mund ist noch voll, ich bekomme keine Luft! Ich muss ausspucken, sonst ersticke ich!“) Beim Waschen und Ankleiden nimmt die Pflegeperson keine Rücksicht auf das Zeitgefühl der gebrechlichen Hochbetagten, sondern arbeitet in ihrem eigenen Rhythmus. („Es geht alles viel zu schnell, ich komme gar nicht mit.“) Unter Misshandlung versteht man körperliche Gewalt, die einem anderen Menschen erheblichen Schaden zufügt. Typische Beispiele dafür sind Schlagen, Verbrennen (bei der Körperpflege, beim Essenverabreichen) oder Immobilisieren durch mechanische Fixierungen wie Bettgitter oder Sitzgurte. Aber auch harmlos wirkende „TherapieTische“, die – an Rollstühlen angebracht – die Bewegungsfreiheit maximal einschränken, oder die unauffällige, aber „wirksame“ Methode, einen Rollstuhl zwischen Tisch und Wand einzuklemmen, sind um nichts besser! Zu den immobilisierenden Misshandlungen ist auch die Verabreichung von deutlich überdosierten sedierenden Medikamenten zu zählen. Diese Präparate beschränken nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Beweglichkeit, indem sie die so Misshandelten daran hindern, am Leben teilzunehmen. Auch die missbräuchliche Verwendung der Mobilisation darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Oftmals werden Hochbetagte, die sich nicht mehr dagegen wehren können, gegen ihren Willen erbarmungslos aus dem Bett befördert – „Das ist gesund für Sie!“. Auch das ist grobe körperliche Gewalt. Sexuelle Belästigung oder sexueller Missbrauch Dies sind Sonderformen der körperlichen Gewalt. Mit jeder direkten oder indirekten Berührung im Intimbereich, in die der alte Mensch nicht eingewilligt hat und die seine Schamgrenze missachtet, tut man
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ihm Gewalt an. Hochbetagte sind in einer Zeit zur Welt gekommen, in der das Schamgefühl einen wesentlich höheren Stellenwert besaß als heute. Für viele alte Damen ist schon der bloße Gedanke unerträglich, von einem jungen Mann gewaschen zu werden. Noch um vieles schlimmer ist es, wenn bekannt ist oder vermutet werden kann, dass eine Patientin Ende des Zweiten Weltkriegs oder danach von Besatzungssoldaten vergewaltigt worden ist. Wird sie dennoch von einem Pfleger gewaschen, vielleicht sogar von einem, dessen Akzent verrät, dass er aus dem ehemaligen Ostblock kommt, werden die Erinnerungen an das erlittene Trauma wieder wach. In der Welt einer Person mit Demenz können sich Vergangenheit und Gegenwart miteinander vermischen; sie erlebt Angst, Schmerz und Demütigung wieder neu. Solche Dinge geschehen oft „nur“ aus Gedankenlosigkeit, sie sind sexuelle Gewalt, auch wenn die böse Absicht fehlt! Psychische Misshandlungen, „Verletzungen der Seele“ Dazu gehören nicht nur Beschimpfungen und gezielte grobe Kränkungen, sondern z. B. auch Schuldzuweisungen – „Frau Mayer1 ist aggressiv“. Gespräche mit einer anderen Person über den Kopf der Patientin hinweg – „Sie hat in letzter Zeit stark abgebaut“. Einschüchterungen – „Bist jetzt ruhig!“ (sehr laut und autoritär). Drohungen – „Wenn Sie jetzt nicht essen, weisen wir Sie ins Spital ein!“. Respektloses, verächtliches Ansprechen – „Omi, schlucken!“. Demütigungen. Eine Schwester spricht im Beisein der Patientin mit deren Tochter: „Ihre Mutter war gestern so herzig. Sie hat sich eine rote und eine grüne Socke angezogen!“ Möchte die alte Frau in dieser Weise verkindlicht werden? Finanzielle Ausbeutung Entwenden von Geld oder Vermögensbestandteilen – „Schenk mir Zigaretten!“. Verkauf von Eigentum einer Patientin hinter deren Rücken. Angehörige lehnen es ab, erforderliche Hilfsmittel (z. B. eine Dekubitusmatratze) zu kaufen, obwohl sie für die Patientin ein hohes Pflegegeld beziehen.
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Alle Namen in diesem Beitrag sind geändert.
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Gewalt in der Pflege
Nicht sachgemäße Verwendung von Medikamenten oder Hilfsmitteln (z. B. wird der Pflegeschaum für die Intimwäsche für den ganzen Körper verwendet). Einschränkung des freien Willens Unterbindung der freien Wahl des Wohnorts, obwohl keine Diagnose vorliegt, die den weiteren Verbleib in der eigenen Wohnung ausschließt. („Herr Jung wird direkt vom Spital ins Pflegeheim überstellt.“) Die Schwester entscheidet, was die alte Dame anzieht, obwohl diese eigene Vorstellungen dazu hat. „Herr Holz wehrt sich massiv gegen das Waschen. Luise will Klaus zu Hilfe kommen. ‚Es geht schon, solange er nicht richtig zuschlägt, … er will heute seinen Dickkopf zeigen‘“ (Koch-Straube, 2003, S. 118).
12.2.2 Gewalt durch Vernachlässigung Vernachlässigung ist die wiederholte – bewusste oder unbewusste – Verweigerung oder Unterlassung von notwendigen Hilfeleistungen. In der Pflege zählen dazu nicht erbrachte Leistungen zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Ernährung, Körperpflege und Prävention (z. B. Verzicht auf prophylaktisches Eindicken der Trinkflüssigkeit und richtige Lagerung, um Verschlucken und damit die Gefahr des Entstehens einer Aspirationspneumonie hintanzuhalten). Passive Vernachlässigung, z. B.: Das Pflegepersonal nimmt sich nicht die Zeit, Patientinnen beim Essen zu unterstützen, was oft zu Mangelernährung und in weiterer Konsequenz zum Setzen einer PEG-Sonde führen kann. Trinkgläser werden so hingestellt, dass die alten Menschen sie nicht sehen oder nicht selbst erreichen können. Zu geringe Flüssigkeitsaufnahme begünstigt Stürze und Verwirrtheit. Aus Unachtsamkeit werden Falten im Leintuch nicht geglättet oder Brösel nicht aus dem Bett entfernt. Dadurch steigt die Dekubitusgefahr.
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Aktive Vernachlässigung, z. B.: Das nasse Bett wird nicht frisch überzogen, weil die Patientin nervt. Die Patientin wird nach dem Stuhlgang nicht gewaschen, obwohl sie es selbst nicht tun kann. Das Essen wird nicht gereicht, weil es die Pflegerin ekelt. Medikamente (z. B. Analgetika) werden – oft als „Bestrafung“ für unangemessen scheinendes Verhalten – nicht verabreicht. Medikamente werden – meist aus Unwissenheit – so verabreicht, dass sie ihre Wirkung nicht oder zu spät entfalten. Wird z. B. ein Präparat gegen M. Parkinson, das L-Dopa enthält, erst zum Frühstück mit dem Milchkaffee verabreicht, so wird L-Dopa durch die Milch inaktiviert. Zudem nimmt man der Betroffenen damit jede Möglichkeit, ihr Frühstück selbstständig einzunehmen, denn nur durch rechtzeitige Verabreichung etwa 30–45 Minuten vor dem Frühstück hat die Patientin die Möglichkeit, ihre Motorik rechtzeitig zu aktivieren. Psychische Vernachlässigung, z. B.: Der Rollstuhl mit der Patientin wird im Gang oder vor der Tür des Friseurs „abgestellt“; der verwirrte alte Mensch bleibt allein zurück. Isolierung: Das Pflegepersonal betritt das Einbettzimmer nur für unbedingt notwendige Pflegehandlungen oder die Person mit Demenz wird im Aufenthaltsraum so hingesetzt, dass sie mit niemandem Kontakt aufnehmen kann. Die Schwester wäscht die Patientin schweigend und ignoriert deren Bedürfnis nach Kommunikation, Wertschätzung und Zuwendung.
12.3 Warum wird gegen Demenzkranke Gewalt ausgeübt? Thomas Görgen (1999) nennt fünf Erklärungsansätze für Gewalt in Institutionen: Gewalt in der Pflege
1. Überlastung Von mehreren Faktoren, die das Entstehen von Gewalt begünstigen, wird am häufigsten die Überlastung genannt. Ursachen dafür können sein:
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Die sich verändernde „Klientel“ in Pflegeheimen. Die Menschen gehen in immer höherem Alter mit bereits gravierenden körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen in ein Heim. Das deutsche Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) schätzt, dass etwa 60 % der Pflegeheimbewohnerinnen demenzkrank sind (BMFSFJ, 2002). Diese Zahlen gelten auch für Österreich. Knapper werdende personelle Ressourcen. Es steht immer weniger Zeit für die Patientinnen zur Verfügung. Zeitknappheit ist eine nicht zu bestreitende Realität. Sie wird jedoch viel zu oft als Vorwand benützt, um das eigene Verhalten nicht ändern zu müssen. Ausbildungsmängel sowohl hinsichtlich Stress- oder Konfliktbewältigung als auch zum Thema Demenz. Nötig sind neben Kenntnissen des Krankheitsbilds und des veränderten Erlebens auch Kenntnisse in Kommunikation, Basaler Stimulation und Kinästhetik. Anhaltende Überforderung kennzeichnet den Weg in ein Burnout. Die anfängliche Begeisterung für den Beruf weicht allmählich Desillusionierung, Gereiztheit, Schuldzuweisungen, zunehmender körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung, Desinteresse und Gleichgültigkeit. Man schaltet auf ein Minimalprogramm und arbeitet Tag für Tag mit wachsendem Widerwillen sein Pensum ab. Erfolgen nicht rechtzeitig Hilfestellung und Entlastung, drohen Aggressivität, im schlimmsten Fall sogar Gewalttätigkeit, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch. 2. Persönlichkeitsfaktoren Nicht jeder Mensch eignet sich für den Pflegeberuf, noch weniger für die besonders fordernde Pflege multimorbider und hochbetagter Personen mit Demenz. Dies wird leider häufig nicht zur Kenntnis genommen. Die weit verbreitete Ansicht, jeder könne alte Menschen betreuen und pflegen, kann verheerende Folgen nach sich ziehen. Wenn Pflegepersonen die positive Grundeinstellung zu pflegerischen Tätigkeiten fehlt, wenn sie dem Beruf nur wegen des Gehalts nachgehen, wenn sie den Patientinnen gleichgültig begegnen und Alter und Hinfälligkeit gegenüber negativ eingestellt sind, dann entsteht ein Nährboden für Gewalt. Zu schweren Gewalthandlungen kommt es vor allem bei Pflegenden mit kaum ausgeprägtem Einfühlungsvermögen, bei Suchtkranken und bei Menschen, die an unverarbeiteten Autoritätskonflikten leiden oder selbst in der Kindheit Gewalt erfahren haben.
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3. Macht Jedes Machtgefälle kann Gewalt auslösen. Wie leicht es dazu kommen kann, zeigen z. B. die Vorfälle im US-Gefängnis Abu Ghraib. Pflegepersonen, die demenzkranke Menschen pflegen und betreuen, sind immer die Stärkeren. Erwacht in ihnen die Freude an der Macht über ihre Patientinnen, ist es nur mehr ein kleiner Schritt zum Missbrauch dieser Macht durch Gewalt. Die Patientin wird dann nicht mehr als gleichberechtigte Partnerin in einer professionellen Beziehung gesehen, sondern nur mehr als eine Akkumulation von Defiziten wahrgenommen, die es zu pflegen gilt. 4. Fehlende Kontrolle Zum Teil wird Gewalt auf einen Mangel an Kontrolle zurückgeführt: „Hier wären Defizite der behördlichen Heimaufsicht – zu geringe Kontrolldichte, Vorankündigung der Heimnachschauen –, aber auch institutionsinterne Kontrolldefizite zu erwähnen. Zu letzteren gehören etwa das informelle Tolerieren bestimmter Formen des Umgangs mit Pflegebedürftigen, mangelnde Kompetenzen der Leitung im Erkennen von Misshandlungsanzeichen, allgemeine Führungsdefizite und unklare Aufgaben- sowie Organisationsstrukturen“ (Görgen, 2002, S. 5 f.). 5. Gewaltgeneigte Subkultur Institutionen bilden häufig ein Umfeld von ähnlich Denkenden und Handelnden. In diesem Zusammenhang unterscheidet Görgen zwischen „Gewalt in der Institution“ – sie betrifft eine Einzelperson, die in einer Institution arbeitet und Gewalt ausübt – und „institutionalisierter Gewalt“, die ein „Verhaltensmuster“ einer Gruppe von Menschen, etwa eines Pflegeteams, kennzeichnet. Üben alle Teammitglieder Gewalt aus oder tolerieren sie diese bei Kolleginnen, finden sich folgende Kennzeichen: Ein stillschweigendes Übereinkommen, dass Gewaltanwendung manchmal unumgänglich ist. Die Überzeugung, dass Personen mit Demenz kontrolliert und in gewisser Weise erzogen werden müssen. Erklärungs- und Rechtfertigungsstrategien, die Fehlverhalten plausibel und entschuldbar machen: „Wir haben nicht genug Personal. Wie sollen wir da auf Wünsche eingehen?“
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Hinweise auf Misshandlungen werden von der Gruppe geleugnet und umgedeutet. Zeuginnen verhalten sich wie Komplizinnen. Im Team herrscht Angst davor, als „Verräterin“ oder „Nestbeschmutzerin“ dazustehen und aus diesem Grund von den anderen gemobbt zu werden. Gewalt in der Pflege
12.4 Lösungsansätze Leitungsverständnis Die Leitung bestimmt entscheidend, welcher „Geist“ in einem Haus gelebt wird. Eine Haltung, die von der Leitung zwar eingefordert, aber Mitarbeiterinnen, Patientinnen und Angehörigen gegenüber nicht gelebt wird, hat von vornherein keine Aussicht, sich in der Einrichtung durchzusetzen. Es braucht ein personzentriertes Leitungsverständnis, um Mitarbeiterinnen zum Umdenken anzuregen und von einem humanistischen Menschenbild zu überzeugen. Eine autoritäre Leitung, die den Mitarbeiterinnen keinen persönlichen Handlungsspielraum einräumt, produziert geradezu frustriertes Personal. Hohe Leistungsforderung in Kombination mit mangelnder Anerkennung und Wertschätzung für die erbrachte Arbeit bildet oft die Voraussetzung für das Entstehen von Gewalt. Flache Hierarchien, in denen die Mitarbeiterinnen mitbestimmen dürfen, tragen dagegen viel dazu bei Patientinnen, unabhängig davon, in welchem körperlichen oder kognitiven Zustand sie sich befinden, als gleichwertige und gleichwürdige Menschen zu sehen und zu behandeln (vgl. z. B. Kojer und Zsifkovics, 2009; Michalek, 2009; Weissenberger-Leduc und Weiberg, 2011).
Empowerment statt Defizitorientierung Personen mit Demenz wurden bisher häufig nur als defizitäre Wesen wahrgenommen und entsprechend behandelt. Im Gegensatz dazu rückt das Empowerment-Konzept die noch vorhandenen Fähigkeiten in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die WHO beschreibt „Empowerment for Health“ als einen Prozess, der dem Einzelnen zu mehr Einfluss auf Handlungen und Entscheidungen verhilft (WHO, 1998). Bilden nicht die Schwächen, sondern die besonderen Fähigkeiten der Patientinnen die Basis von Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz, nehmen wir die Menschen bewusster wahr und beginnen, sie mit anderen Augen zu sehen. Wir erkennen dann, dass auch Personen mit fortgeschrittener Demenz, die nicht mehr sprechen können, durchaus fähig sind, ihre Wünsche und Bedürfnisse nonverbal auszudrücken. Sie sind hochsensibel und dadurch in der Lage, sehr
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rasch die Haltung zu erspüren, mit der ihnen ihr Gegenüber begegnet. Die größte Stärke liegt in ihrem Gefühlsreichtum. Es liegt an uns, uns darum zu bemühen, ihnen auf der Gefühlsebene näherzukommen und eine neue Art der Beziehung zu ihnen zu finden. Demenzkranke zu unterstützen bedeutet, sie bewusst als einmalige und einzigartige Menschen wahrzunehmen, ihnen respektvoll und wertschätzend zu begegnen, sorgsam auf ihre Signale zu achten (vgl. S. 27 ff.), und sie zu selbstständigem Handeln zu ermutigen. Unterstützung meint auch, dass wir unser Tempo an Rhythmus und Lebensgefühl der Personen mit Demenz anpassen und zulassen, dass sie z. B. mit den Fingern essen, auch wenn das nicht unseren Normen entspricht. Das gibt ihnen die Möglichkeit, aktiv und lustvoll am Leben teilzunehmen.
Qualifizierung Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz sind keine leichten Aufgaben. Mitarbeiterinnen, die in der Lage sein sollen, diese Aufgabe verantwortungsbewusst zu erfüllen, muss daher die Möglichkeit geboten werden, dafür notwendige Fähigkeiten zu erwerben. Nur dann kann mit Recht von ihnen erwartet werden, dass sie die erforderliche Haltung leben und in ihrem Alltag immer wieder mit schwierigen und fordernden Situationen zurechtkommen. Neben dem Erwerb von Kompetenz in Kommunikation – eine bewährte Methode dafür ist die Kommunikation nach Naomi Feil – ist zumindest eine Grundausbildung in Palliativer Geriatrie erforderlich, wie sie die Curricula „Palliative Geriatrie“ (Kojer und Schwänke, 2010) in Österreich und „Palliative Praxis“ (Robert Bosch Stiftung, 2006) in Deutschland anbieten. Dringend anzuraten sind auch Kurse in Basaler Stimulation (Bienstein und Fröhlich, 2010) und Kinästhetik (Asmussen, 2010), einer Methode, die das Wohlbefinden der Patientinnen steigert und zugleich die körperliche Belastung des Pflegepersonals reduziert. Dass es auch in Zeiten von Personalknappheit und Verpflichtung zur Wirtschaftlichkeit möglich ist, Bedingungen in Pflegeheimen zu schaffen, unter denen sich Patientinnen und Mitarbeiterinnen wohlfühlen können, beweisen Beispiele von Good Practice (vgl. z. B. Weissenberger-Leduc und Weiberg, 2011, S. 139 f.; Kojer und Zsifkovics, 2009).
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Ethik
13 Selbst und Selbstaktualisierung Andreas Kruse
Selbst und Selbstaktualisierung
13.1 Das Selbst im Prozess der Demenz Das Selbst lässt sich definieren als das Gesamt jener Merkmale einer Person, die für deren Art des Erlebens und Erfahrens, des Erkennens und Handelns sowie des Verhaltens von grundlegender Bedeutung sind. Das Selbst lässt sich dabei in verschiedene Bereiche differenzieren, so kann zum Beispiel zwischen dem körperlichen, dem kognitiven, dem emotionalen, dem motivationalen, dem sozialen Selbst differenziert werden1. Das Selbst ist zudem durch Werte, Normen, Überzeugungen, Ziele, Themen und Motive bestimmt, die die Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse, Handlungen und Verhaltensweisen beeinflussen und dabei ein höheres Maß an Stabilität zeigen. Das Selbst ist dem Menschen in seinem täglichen Handeln nicht immer in ganzem Umfang bewusst, vielmehr ist ein Prozess der Selbstreflexion notwendig, um das Selbst in seiner Ganzheit und Vielfältigkeit wirklich zu erkennen – aus diesem Grunde wird hier zu Recht von Selbsterkenntnis gesprochen. Das Selbst ist, wie der Begriff der Selbstreflexion oder Selbsterkenntnis vielleicht nahelegen könnte, nicht allein, auch nicht primär kognitiv determiniert. Auch wenn Kognitionen große Bedeutung im Prozess der Selbstreflexion oder Selbsterkenntnis besitzen, auch wenn wir auf Befragung hin meist schon nach kurzem Nachdenken Merkmale benennen können, die wir als zentral für unsere Person erachten, so umfasst das Selbst auch Bereiche der Person, die „in Fleisch und Blut“ übergegangen sind, das heißt grundlegende emotionale und verhaltensbezogene Bereitschaften und Orientierungen, aber auch grundlegende Überzeugungen sowie Deutungen unser selbst wie auch der uns umgebenden Umwelt, sofern diese Überzeugungen und Deutungen spontan erfolgen und weniger das Resultat einer aktuell vorgenommenen Reflexion darstellen2. Den Kern des Selbst bildet die Identität der Person, die jene Merkmale umfasst, die für deren Selbstverständnis und Selbst-
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William James differenziert bereits 1890 zwischen „material“, „social“ und „spiritual self“ sowie zwischen „self as known“ und „self as knower“, George Herbert Mead unterscheidet 1934 in seinem Hauptwerk „Mind, Self and Society“ zwischen einem erkennenden „I“ und einem jeweils erkannten „Me“; Charles Horton Cooley prägte 1902 den Begriff des „looking-glass self“, der ebenso wie jener des „situational self“ (McCall & Simmons, 1978) oder die Theorie der sozialen Identität (Tajfel, 1981) die hervorgehobene Bedeutung sozialer Situationen für die Aktualisierung unterschiedlicher Bereiche des Selbst betont. Deutlich wird dies auch am Beispiel so genannter possible selves, die nach Hazel Markus als kognitive Komponenten von Hoffnungen, Ängsten, Zielen und Bedrohungen anzusehen bzw. als motivationaler, evaluativer und interpretativer Kontext gegenwärtiger Sichtweisen des Selbst zu berücksichtigen sind (Markus & Nurius, 1986).
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interpretation von zentraler Bedeutung sind (siehe zum Beispiel Birren & Schroots, 2006; Coleman, 1986). Die Identität, deren Ausbildung im Jugendalter erfolgt, weist – wenn man diese über weite Abschnitte des Lebenslaufs betrachtet – eine bemerkenswerte Kontinuität auf. Dies heißt: Das Selbstverständnis, die Selbstinterpretation des Menschen verändert sich im Lebenslauf nicht tief greifend, nicht grundlegend – unter der Voraussetzung allerdings, dass die Person nicht mit Ereignissen und Erlebnissen konfrontiert wird, die die Identität erschüttern. Kontinuität bedeutet aber nicht, dass die Identität – einmal ausgebildet – immer gleich bliebe. Vielmehr ist gemeint, dass sich Verbindungen zwischen der Identität in späteren und der Identität in früheren Lebensjahren herstellen lassen, auch wenn sich einzelne Aspekte der Identität unter dem Eindruck neuer Aufgaben und Anforderungen, aber auch neuer Handlungsoptionen, graduell wandeln, auch wenn die Identität mehr und mehr in anderen psychologischen Aufgaben aufgeht, so zum Beispiel in der Aufgabe der Intimität, der Generativität (Engagement für nachfolgende Generationen), der Integrität (Ausbildung einer bejahenden Einstellung zum eigenen Leben) (siehe schon Erikson, 1966). Die Demenzerkrankung berührt das Selbst zutiefst, vor allem wenn diese Erkrankung bereits weit fortgeschritten ist. In Kürze seien einige Aussagen zur neurodegenerativen Demenz vom Alzheimer-Typ und den mit dieser Demenzform verbundenen Verlusten getroffen, um damit das Verständnis möglicher Folgen für das Selbst zu fördern. Als erstes Symptom bei fortgeschrittener Erkrankung dominiert eine deutlich reduzierte Gedächtnisfunktion. Intakte Gedächtnisleistungen sind an intakte Gehirnstrukturen, insbesondere des Hippocampus, des entorhinalen Cortex, der Amygdala, des medialen Schläfenlappens und von Teilen des Thalamus gebunden. Pathologische Veränderungen in diesen Gebieten, die zur Unterbrechung des Informationsaustauschs mit anderen Hirnregionen führen, bilden die Ursache des bei Alzheimer-Demenz beobachteten Verlusts der Lernfähigkeit. In der Folge treten mnestische Störungen, verringerte Handlungskompetenz, Einbußen des planenden Handelns und des räumlichen Sehens auf. Die abnehmende Integration von somatosensorischen, visuellen und verbalen Informationen führt zur Ausbildung von Apraxie, amnestischer Aphasie und visueller Agnosie. Prozedurales Lernen, motorische Funktionen, phonemische und syntaktische Aspekte der Sprache, Körperwahrnehmung und elementare visuelle Wahrnehmung sind hingegen deutlich länger erhalten. – Die hier genannten Fähigkeits-, Fertigkeitsund Funktionsverluste sind zum einen für die Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Selbsterkenntnis von Bedeutung, zum anderen für
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den Selbstausdruck. Die verbale Artikulation von Werten, Normen, Zielen und Motiven gelingt immer weniger, auch deren Reflexion ist immer weniger möglich, ebenso wie die prägnante, differenzierte Wahrnehmung des Ich – als dem Zentrum der Person. Der Anstoß zu Handlungen wie auch die Kontrolle des Handlungsablaufs unterliegen immer weniger dem Ich, somit wird das gesamte Verhalten demenzkranker Menschen immer sprunghafter, unsteter, unkontrollierter. Damit sind nun die Bedingungen für den Selbst-Ausdruck, für die Selbst-Verwirklichung immer weniger gegeben. Bedeutet dies aber nun, dass das Selbst bei einer weit fortgeschrittenen Demenz gar nicht mehr existierte, gar keine Möglichkeit des Ausdrucks mehr fände? An dieser Stelle wird die Annahme vertreten, dass vor dem Hintergrund einer Konzeption des Selbst, die dieses nicht allein in seiner kognitiven Qualität, sondern auch in seinen anderen Qualitäten – dies heißt in seiner emotionalen, sozialen, kommunikativen, alltagspraktischen, empfindungsbezogenen und körperlichen Qualität – begreift, davon ausgegangen werden kann, dass dieses Selbst auch bei einer weit fortgeschrittenen Demenz in einzelnen seiner Qualitäten fortbesteht, selbst wenn diese Qualitäten nur noch in Ansätzen ansprechbar und erkennbar sind. Hier kann durchaus ein Vergleich zur psychischen Situation eines in seinem Bewusstsein deutlich getrübten sterbenden Menschen vorgenommen werden, der auch nicht mehr alle Qualitäten seines (früheren) Selbst zeigt, bei dem aber einzelne Qualitäten – wenn auch nur in Ansätzen oder Resten – erkennbar, vernehmbar oder spürbar sind. Dies zeigt sich zum Beispiel dann, wenn sterbende Menschen auf Musik, auf Texte, auf Gebete, aber auch auf Berührung, ja auch auf Geschmacks- und Geruchsempfindungen antworten, reagieren. Wenn nun also über Selbstverantwortung bei sterbenden Menschen mit einer Demenzerkrankung gesprochen wird, dann ist von einem umfassenden Verständnis der Selbstverantwortung auszugehen – nämlich in dem hier explizierten Verständnis des Selbst. Es geht nämlich weniger um die Frage, inwieweit diese Menschen in der Lage zu selbstbestimmten Entscheidungen und Handlungen sind – etwa in dem Sinne, wie in der Öffentlichkeit über Selbstbestimmung am Lebensende gesprochen wird –, sondern vielmehr stehen Überlegungen darüber im Vordergrund, inwieweit im Prozess des Sterbens einzelne Qualitäten des Selbst, wenn auch nur in Ansätzen, wenn auch nur in ihren Resten, erkennbar sind. Zudem soll dafür sensibilisiert werden, dass der Begriff
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der Selbstbestimmung auch mit Blick auf deren früheste Formen (Vorformen) verwendet werden kann: nämlich in der Hinsicht, dass ich es bin, von dem die aktuelle Aktion ausgeht, der diese Aktion ausübt, und nicht ein anderer Mensch, zum Beispiel mein Gegenüber. Schon diese basale Wahrnehmung der Eigenaktivität ist ein Fundament der Selbstbestimmung. Wenn über Selbstbestimmung oder Selbstverantwortung bei Demenz gesprochen wird, dann ist hier ein breites Spektrum an Ausdrucksformen gemeint, das bis zu der beschriebenen, basalen Wahrnehmung der Eigenaktivität reicht. Greifen wir nun diese Überlegungen auf und fügen wir sie in einen Entwurf zum gelingenden Leben im Alter ein.
13.2 Kategorien eines gelingenden Lebens im Alter Dieser ethische Entwurf wählt dabei die folgenden fünf Kategorien als Ausgangspunkt (siehe auch Kruse, 2005): 1. 2. 3. 4. 5.
Selbstständigkeit, Selbstverantwortung, Bewusst angenommene Abhängigkeit, Mitverantwortung, Selbstaktualisierung.
Diese Kategorien bilden auch Grundlage unseres Verständnisses des Wohlbefindens demenzkranker Menschen: Auch für diese ist die Erfahrung, dass die eigenen Aktionen und Reaktionen von einem selbst ausgehen, also nicht durch andere determiniert sind, bedeutsam. Demenzkranke Menschen weisen eine erhöhte Verletzlichkeit auch in der Beziehung zu anderen Menschen auf, weswegen jede erlebte Form der Fremdbestimmung auch als Eindringen in die eigene Person empfunden wird. Hier zeigt sich, dass Selbstständigkeit und Selbstverantwortung in den verschiedenen Schweregraden der Demenz verschiedenartige Gestalt annehmen können, doch als ein Thema der Person weiterhin bestehen. Die bewusst angenommene Abhängigkeit gewinnt im Kontext der Demenz besondere Bedeutung: Demenzkranke Menschen müssen sich mit der Erfahrung zunehmender Abhängigkeit auseinandersetzen, wobei sie gleichzeitig eine stark ausgeprägte Abhängigkeit von der Unterstützung anderer Menschen in den späteren Stadien der Erkrankung antizipieren. Dabei stellt die Fähigkeit, diese Abhängigkeit bewusst annehmen zu können, das Ergebnis eines hoch anspruchsvollen seelisch-geistigen An-
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passungsprozesses dar. Die Mitverantwortung betont die grundlegende Bezogenheit des Menschen auf andere sowie das Bedürfnis nach aktiver Gestaltung der Beziehungen mit anderen. Aus dem Kontext der Palliativversorgung – und zwar schon ihren Anfängen mit den Schriften von Cicely Saunders – ist bekannt, dass die aktive Gestaltung der Beziehungen mit anderen Menschen für das subjektive Wohlbefinden schwerkranker oder sterbender Menschen essenzielle Bedeutung besitzt. Und auch bei demenzkranken Menschen finden wir viele Hinweise auf die grundlegende Bezogenheit auf andere, die sich vor allem darin zeigt, dass Demenzkranke auf eine konzentrierte und feinfühlige Ansprache antworten, auch wenn im späten Stadium der Erkrankung derartige Antworten vielfach nur noch aus Mimik und Gestik erschlossen werden können. Im thematischen Kontext der Mitverantwortung spielt die Frage, inwieweit wir bei demenzkranken Menschen das Motiv der Generativität beobachten können, dies heißt das Motiv der Sorge für andere Menschen (siehe dazu Kruse & Schmitt, 2011; McAdams, 2009), eine nicht unwichtige Rolle. Darauf wird später ausführlicher einzugehen sein. Die Selbstaktualisierung in ihrer Bedeutung für die psychische Situation Demenzkranker wurde bereits thematisiert: Sie kann im Grunde genommen als Kern auch der anderen vier Kategorien verstanden werden, die hier differenziert wurden. Denn in der Erhaltung von Selbstständigkeit und Selbstverantwortung – wenn auch vielleicht nur noch in ihrem Rudiment –, in der Bezogenheit auf andere, in der Bereitschaft, Hilfe anderer bewusst anzunehmen, gleichzeitig etwas für andere zu tun, spiegeln sich immer Aspekte des Selbst wider, die sich in konkreten Situationen verwirklichen. Definieren wir diese Kategorien noch genauer: Selbstständigkeit beschreibt die Fähigkeit des Menschen, ein von Hilfen anderer Menschen weitgehend unabhängiges Leben zu führen oder im Falle des Angewiesenseins auf Hilfen diese so zu gebrauchen, dass ein selbstständiges Leben in den für die Person zentralen Lebensbereichen möglich ist. Selbstverantwortung beschreibt die Fähigkeit und Bereitschaft des Individuums, den Alltag in einer den persönlichen Vorstellungen eines guten Lebens entsprechenden Art und Weise zu gestalten und sich reflektiert mit der eigenen Person („Wer bin ich? Was möchte ich tun?“) wie auch mit den Anforderungen und Möglichkeiten der persönlichen Lebenssituation auseinanderzusetzen. Zudem beschreibt Selbstverantwortung im Prozess der medizinischen und der pflegerischen Versorgung die Mitbestimmung des Patienten bei der Entscheidung über die Art der zu wählenden Intervention. In der bewusst angenommenen Abhängigkeit spiegelt sich die Fähigkeit des
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Menschen wider, das – auch objektiv gegebene – Angewiesensein auf Unterstützung als Ergebnis seiner Verletzlichkeit und damit als ein Merkmal der conditio humana zu deuten. Sie beschreibt weiterhin dessen Fähigkeit, irreversible Einschränkungen und Verluste anzunehmen, wobei diese Fähigkeit durch ein individuell angepasstes und gestaltbares System an Hilfen gefördert wird, durch Hilfen, die dazu beitragen, Einschränkungen und Verluste in Teilen zu kompensieren oder deren Folgen erkennbar zu verringern. In der Mitverantwortung kommt die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen zum Ausdruck, sich in die Lebenssituation anderer Menschen hineinzuversetzen, sich für andere zu engagieren, sich als verantwortlichen Teil innerhalb der Gemeinschaft zu definieren. Selbstaktualisierung beschreibt die Verwirklichung von Werten, Fähigkeiten, Neigungen und Bedürfnissen und die in diesem Prozess erlebte Stimmigkeit der Situation (die auch verstanden werden kann als Sinnerleben des Menschen). Dabei ist für das angemessene Verständnis der Selbstaktualisierung die Aussage wichtig, dass die Person sehr verschiedenartige Qualitäten umfasst: In einer groben Differenzierung kann dabei zwischen den körperlichen, den kognitiven, den emotionalen, den empfindungsbezogenen, den sozial-kommunikativen, den ästhetischen und den alltagspraktischen Qualitäten unterschieden werden. Und jede dieser Qualitäten kann schon für sich alleine Quelle der Selbstaktualisierung bilden. Diese fünf Kategorien bilden, wie bereits betont, nach unserem Verständnis den Kern des (in der Sprache der Nikomachischen Ethik ausgedrückten) guten Lebens im Alter. Denn Selbstständigkeit und Selbstverantwortung spiegeln das Moment der Selbstsorge – oder der Verantwortung vor sich selbst und für sich selbst – wider, das deswegen als bedeutsam für das gelingende Leben erachtet werden kann, da es die Fähigkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens akzentuiert. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass auch bei der Demenz – solange entsprechende körperliche und seelisch-geistige Ressourcen gegeben sind – die Selbstsorge ein bedeutendes personales Moment der Würde des Menschen bildet und sich der Respekt vor der Würde dieses Menschen auch im Respekt vor dessen Fähigkeit zur Selbstsorge ausdrückt. Diese umfasst Selbstständigkeit und Selbstverantwortung, und die Aufgabe einer fachlich wie auch ethisch fundierten medizinischen, pflegerischen, sozialen Betreuung ist darin zu sehen, die bestehenden Ressourcen für ein (in Grenzen) selbstständiges und selbstverantwortliches Leben zu erkennen und zu fördern. Selbstverantwortung wird dabei in zweierlei Weise bedeutsam: Zum einen zeigt sich diese in der gedanklich-emotionalen Vorwegnahme der verschiedenen Phasen der
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Demenz und der Artikulation von Erwartungen, die an die Begleitung in diesen verschiedenen Phasen gerichtet werden – in diesem Kontext kommt der Aufklärung von demenzkranken Menschen in den frühen Phasen der Demenz großes Gewicht zu. Zum anderen zeigt sich diese im verbalen und nonverbalen Ausdruck von Bedürfnissen und Emotionen in spezifischen Situationen. Die Erweiterung auf den nonverbalen Ausdruck ist nicht nur aus wissenschaftlichen, sondern auch aus ethischen Gründen von großem Interesse: Denn damit wird ein möglicher Weg zur vermehrten Beachtung der Selbstverantwortung des demenzkranken Menschen beschritten – und zwar in der Hinsicht, dass mit der Erfassung des nonverbalen Ausdrucks von Bedürfnissen und Emotionen die Möglichkeit eröffnet wird, dass der Wille dieses Menschen möglichst umfassend umgesetzt und damit zur Erhaltung der – allerdings nur in engen Grenzen gegebenen – Selbstverantwortung beigetragen wird. In der Mitverantwortung spiegelt sich die grundlegende Zugehörigkeit des Menschen zur Gemeinschaft wider, ohne die menschliches Leben gar nicht denkbar ist – und dies gilt selbstverständlich auch für demenzkranke Menschen. Dabei ist Mitverantwortung auch im Sinne der Mitgestaltung des öffentlichen Raums zu deuten (Arendt, 1960), die mit der subjektiven Erfahrung verbunden ist, für andere Menschen etwas tun zu können, auf andere Menschen reagieren zu können, Reaktionen von anderen Menschen auf das eigene Verhalten zu erfahren. Eine Person zu sein, die einen Teil der Gemeinschaft bildet, ist eine für das subjektive Lebensgefühl entscheidende Erfahrung. Mit dieser Aussage soll auch deutlich gemacht werden, dass nicht allein die soziale Integration und die erlebte Zugehörigkeit für das Lebensgefühl demenzkranker Menschen zentral sind, sondern – unter der Voraussetzung entsprechend gegebener Ressourcen – auch die Erfahrung, die empfangene Hilfe erwidern, anderen Menschen etwas geben und damit den sozialen Nahraum mitgestalten zu können. Die Angewiesenheit auf den anderen Menschen (und zwar im Sinne bewusst angenommener Abhängigkeit) ist als weitere grundlegende Erfahrung des Menschen zu verstehen, die in Arbeiten von Martin Buber (1972) mit dem Begriff der Begegnung umschrieben wird: In der Begegnung, so Martin Buber, wird uns deutlich, dass wir nicht ohne den anderen sein können, dass wir grundlegend auf den anderen bezogen sind. Nehmen wir die Mitverantwortung und die bewusst angenommene Abhängigkeit zusammen – nämlich als Ausdrucksformen grundlegender Bezogenheit –, so sprechen wir damit eine Qualität des Menschen – nämlich seine tiefe Zugehörigkeit zur Menschheit – an, wie diese in folgenden Worten des britischen Theologen und Schriftstellers John
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Donne (1572–1631) aus dem Jahre 1624 zum Ausdruck gebracht wird (Donne, 1624/2008): “No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main; if a clod be washed away by the sea, Europe is the less, as well as if a promontory were, as well as if a manor of thy friend’s or of thine own were; any man’s death diminishes me, because I am involved in mankind, and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.” 3 Kommen wir schließlich zur Selbstaktualisierung, die in der Sprache der Existenzpsychologie Viktor Frankls (2005) als Streben des Menschen nach Verwirklichung von Werten zu verstehen ist. Dabei differenziert Viktor Frankl zwischen drei grundlegenden Wertformen, in denen sich das umfassende Verständnis der Person und ihrer Möglichkeiten zur Wertverwirklichung ausdrückt: homo faber als der schaffende Mensch, homo amans als der liebende, erlebende, empfindende Mensch, homo patiens als der leidende, erleidende, sein Leiden annehmende Mensch. Bemerkenswert an dieser Theorie ist die Aussage, wonach auch – und Frankl geht so weit zu sagen: gerade – in Grenzsituationen Selbstaktualisierung möglich ist. In der Verwirklichung der Einstellungswerte, das heißt, der Fähigkeit, in einer Grenzsituation zu einer neuen Lebenseinstellung zu gelangen (homo patiens), erkennt Frankl sogar die höchste Form der Wertverwirklichung. Prozesse der Selbstaktualisierung bilden zudem den Kern psychologisch-humanistischer Theorien, die von der Annahme ausgehen, dass das Streben nach Selbstverwirklichung die Entwicklung über die gesamte Lebensspanne antreibe; zu nennen sind hier Arbeiten von Charlotte Bühler (1959). Im Erleben der Stimmigkeit einer Situation sieht Hans Thomae das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen der personalen Geschehensordnung des Menschen (wie sich diese ausdrückt in ihren Lebensthemen) und dem Gehalt einer Situation; hinzu tritt das Bedürfnis des Menschen nach Verwirklichung der Leitideen und Lebensthemen. Dieses Bedürfnis wird mit dem Begriff des propulsiven Ich umschrieben (Thomae, 1966). Für das Verständnis der
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Übersetzung durch den Verfasser: Niemand ist eine Insel, in sich selbst vollständig; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinentes, ein Teil des Festlands. Wenn ein Erdklumpen vom Meer fortgespült wird, so ist Europa weniger, gerade so als ob es ein Vorgebirge wäre, als ob es das Landgut deines Freundes wäre oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.
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Selbstaktualisierung bei Demenz ist die von Viktor Frankl vorgenommene Differenzierung zwischen den drei Werten – homo faber, homo amans, homo patiens – von grundlegender Bedeutung, zeigt diese doch, dass im Erleben und Lieben, dass in der Begegnung Quellen der Wertverwirklichung und Sinnerfahrung liegen. Diese Differenzierung korrespondiert mit der Notwendigkeit, sich grundsätzlich um die Erfassung der verschiedenen Qualitäten der Persönlichkeit zu bemühen und sich nicht ausschließlich auf die kognitiven Qualitäten zu konzentrieren (Wetzstein, 2010). Die Tatsache, dass demenzkranke Menschen Glück und Freude empfinden können – und dies selbst bei einem weit fortgeschrittenen Verlust ihrer kognitiven Leistungskapazität –, macht deutlich, wie wichtig es ist, von dem Potenzial zur Selbstaktualisierung auch bei Demenzerkrankung zu sprechen (Lauter, 2010). Dieses Potenzial zur Selbstaktualisierung beschränkt sich keinesfalls auf kognitive Qualitäten, sondern schließt alle Qualitäten der Person ein.
13.3 Generativität und Integrität bei Demenz In Beiträgen zur psychischen Entwicklung im hohen Alter wird betont, dass die zunehmende Erfahrung von Endlichkeit und Endgültigkeit zu einer qualitativ neuen Selbst- und Weltsicht beitragen kann, die mit Begriffen wie Generativität und Integrität umschrieben wird: Zu nennen sind hier vor allem die theoretischen Beiträge von Erik H. Erikson (1966) sowie von Dan P. McAdams (2009). Der Begriff der Generativität bezieht sich auf das Bedürfnis, einen über die Begrenztheit des eigenen Lebens hinausgehenden Beitrag zu leisten, wobei generatives Verhalten im familiären wie auch im gesellschaftlichen Kontext verwirklicht werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Generativität im Kern ein interpersonales, die Passung zwischen Person und sozialem Umfeld oder zwischen Person und Gesellschaft bezeichnendes Konzept darstellt. Generatives Verhalten resultiert also nicht alleine aus dem Bedürfnis nach symbolischer Unsterblichkeit, sondern setzt auch Vertrauen in die Natur des Menschen und die jeweilige Gesellschaft voraus, das ein Engagement für andere Menschen als zumindest sinnvoll erscheinen lässt. Der Begriff der Integrität bezieht sich explizit auf die Fähigkeit, gelebtes wie ungelebtes Leben zu akzeptieren, die eigene Entwicklung als stimmig, das eigene Leben als sinnvoll zu erleben. Die Entwicklung von Integrität wird dadurch gefördert, dass sich die Person von Nebensächlichkeiten löst oder diese zu transzendieren in der Lage ist. Ähnlich wie die Entwicklung von Generativität verweist auch die Entwicklung von
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Integrität auf die in einer gegebenen Gesellschaft verfügbaren Möglichkeiten, eigenes Handeln an Sinnentwürfen zu orientieren und als sinnvoll zu erfahren. Im hohen Alter stellt sich dem Menschen vermehrt die psychologisch hoch anspruchsvolle Aufgabe, sich von lieb gewonnenen Menschen zu verabschieden, einzelne Ziele, Interessen und Aktivitäten aufzugeben. Eine tragfähige Lebensperspektive kann nur aufrechterhalten, gegebenenfalls auch wiedergefunden werden, wenn es gelingt, trotz einer nicht mehr zu leugnenden Zunahme von Verlusten und eigener Verletzlichkeit das eigene Leben im Sinne einer im Werden begriffenen Totalität wahrzunehmen. Dieses kann vielleicht auch gerade wegen der Erfahrung von Endlichkeit, Vergänglichkeit und Endgültigkeit als wertvoll erkannt werden. Eine tragfähige Lebensperspektive kommt in einer Bindung an das Leben zum Ausdruck, die sich als positive Lebensbewertung, als Erwartung, auch die verbleibenden Jahre noch sinnvoll gestalten und nutzen zu können, sowie als Wunsch nach sozialer Teilhabe äußert (Lawton, 2000). Empirische Untersuchungen zeigen, dass sich in dieser Bindung an das Leben unabhängig vom körperlichen und psychischen Zustand der betroffenen Menschen erhebliche Unterschiede finden (Moss, Hoffman, Mossey & Rovine, 2007; Rott, 2010). Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich in einer erhaltenen Bindung an das Leben die jeweils bestehenden Möglichkeiten einer fortgesetzten Teilhabe und die im sozialen Umfeld verfügbaren emotionalen und instrumentellen Unterstützungspotenziale unmittelbar widerspiegeln. Wenn das eigene Leben im hohen Alter als nutzlos empfunden wird, so spiegeln sich in dieser Haltung nicht lediglich die von einem Menschen für ein gutes Leben als nicht mehr gegeben erachteten Kriterien wider. Vielmehr verweist eine derartige Haltung gegenüber dem eigenen, durch Verluste und Verletzlichkeit geprägten Leben in besonderer Weise auch auf das Ausmaß an Demütigung und Achtung, das einem Menschen entgegengebracht wird. Übertragen wir diese Aussagen auf die Lebenssituation eines demenzkranken Menschen: Ist es angemessen, bei diesem von Generativität und Integrität als bedeutsamen Lebensthemen auszugehen? Es sei hier die These aufgestellt, dass zumindest in frühen Stadien der Demenz das Bedürfnis nach Verwirklichung von Generativität und Integrität bestehen kann. Als ein Beispiel für die Generativität lassen sich jene demenzkranken Menschen nennen, die in der Lage und auch willens sind, über ihre Erkrankung zu berichten – und dies aus drei Motiven: zum einen, um nahestehenden Menschen Einblick in ihre
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Verletzlichkeit zu geben. Damit werden Zugehörige in die Lage versetzt, Demenzkranke besser zu verstehen und deren Verhalten nicht immer auf sich selbst zu beziehen, sondern auch mit der verringerten Kontrolle über Affekte und Emotionen, aber auch über die soziale und räumliche Umwelt in Verbindung zu bringen, die bei demenzkranken Menschen gegeben ist. Zum anderen, um Menschen teilhaben zu lassen an der eigenen Auseinandersetzung mit diesen letzten Grenzen des Lebens und ihnen damit Wissen sowohl über Anforderungen des Lebens als auch über die Kapazität, diese Grenzen anzunehmen, zu vermitteln – dieses Wissen, verbunden mit Eindrücken, die bei der Begleitung eines demenzkranken Menschen entstehen, kann durchaus bedeutende Anstöße zur eigenen Reflexion über Grenzen des Lebens geben. Zum dritten, um ganz generell das Verständnis für die Situation demenzkranker Menschen zu fördern und die Sensibilität für die Bedürfnisse dieser Menschen zu schärfen. Das Beispiel des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan, der sich als demenzkranker Mensch an die Öffentlichkeit gewandt hat, um offen über seine Erkrankung zu sprechen, ist vielen in lebendiger Erinnerung. Mit dieser an die Öffentlichkeit gerichteten Rede hat Ronald Reagan in bedeutsamer Weise zur Förderung der Demenz- und Pflegeforschung in den USA beigetragen. Findet sich auch ein Beispiel für die Integrität als Bedürfnis demenzkranker Menschen? Auch wenn im fortgeschrittenen Stadium der Demenz die Integrität des Menschen zerstört zu sein scheint – deutet doch der Verlust der kognitiven Leistungskapazität vermutlich auf diesen Verlust hin –, so dürfen zwei Aspekte nicht übersehen werden. Der erste Aspekt: In einem frühen Stadium der Demenz kann sich die betreffende Person bewusst auf die Krankheit und die aktuell erlebten Grenzen einstellen sowie künftige Grenzen gedanklich und emotional antizipieren. Sie kann in diesem Kontext bestimmen, welche Form der fachlichen und menschlichen Begleitung sie wünscht; dabei kann sie dies differenziert für die verschiedenen Stadien der Demenz tun, mit denen sie aller Voraussicht nach konfrontiert sein wird. Dabei kann sie auch Situationen benennen und genauer charakterisieren, die hergestellt oder aufrechterhalten werden sollten, um damit zu ihrer Lebensqualität beizutragen. Derartige Formen des Sich-Einstellens auf die Krankheit und der Vorbereitung auf die verschiedenen Phasen der Krankheit lassen sich durchaus als das Bemühen um Förderung von Integrität deuten. Dabei sollte bedacht werden, dass Erik H. Erikson (1966) Integrität als einen Zustand begreift, in dem das Individuum zwar das eigene Leben als in dieser einmaligen Gestalt notwendig, sinnerfüllt und gut deutet, sich aber zugleich der Tatsache unerfüllt gebliebener Ideale, Ziele und Wünsche bewusst ist. Die Integrität schließt vorübergehend auftre-
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tende Krisen – die der Bewusstwerdung unerfüllt gebliebener Seiten des Lebens geschuldet sind – keinesfalls aus. Entwickeln wir diesen Gedanken weiter, so lässt sich die Annahme aufstellen, dass die Erfahrung der Integrität auch bei Bewusstsein einer Erkrankung möglich ist, die die Persönlichkeitsentfaltung wie auch die Selbstständigkeit und Selbstverantwortung in zunehmendem Maße einschränken wird. Die Integrität konstituiert sich sozusagen vor der Aggravation der Erkrankung und ihrer Symptome.
13.4 Abschluss Bei dem Versuch, zu einem tieferen und umfassenderen Verständnis der Lebenssituation des demenzkranken Menschen zu gelangen, sollten wir uns von einer Aussage leiten lassen, die Baruch de Spinoza (1632–1677) in seinem im Jahre 1670 (anonym) veröffentlichten Tractatus theologico-politicus getroffen hat (Spinoza, 1670/1984): „Sedulo curavi humanas actiones non ridere, non lugere neque detestari, sed intellegere“4 (S. 171). Und auch im Falle einer weit fortgeschrittenen Demenz darf nicht ein „Schlussstrich“ unter den Menschen gezogen und diesem die Lebensqualität sowie die Fähigkeit, glückliche Stunden zu erleben, abgesprochen werden. Vielmehr ist der Mensch – wie Karl Jaspers (1883–1969) in seiner 1913 verfassten Schrift „Allgemeine Psychopathologie“ (Jaspers, 1996) hervorhebt – immer als „offene Möglichkeit“ zu verstehen: „Im Leben gilt alles nur bis so weit, noch ist Möglichkeit, noch ein Leben in die Zukunft, aus der neue Wirklichkeit, neue Tat auch das Zurückliegende neu und anders deuten kann“ (S. 37). Die Demenzerkrankung konfrontiert – vor allem in einem fortgeschrittenen Stadium – mit einer Seite des Lebens, die Individuum und Gesellschaft vor besondere Herausforderungen stellt: mit der Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz. Die hohe Anzahl von Neuerkrankungen – diese wird in der Bundesrepublik Deutschland mit 250.000 jährlich geschätzt – und der kontinuierliche Anstieg in der Anzahl demenzkranker Menschen – dieser liegt in der Bundesrepublik Deutschland bei jährlich 35.000 – führen nicht nur die Notwendigkeit vor Augen, kausale Therapieansätze zu ent-
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Übersetzt: Ich habe mich stets bemüht, das Tun der Menschen weder zu belachen noch zu beweinen, auch es nicht zu verabscheuen, sondern es zu begreifen.
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wickeln, sondern legen auch den intensiv geführten, öffentlichen Diskurs über den Umgang mit Grenzen des Lebens nahe. Auch wenn zu hoffen ist, dass bald kausale Therapieansätze für Patientinnen und Patienten mit Alzheimer-Demenz entwickelt werden, so ist doch vor zu großem Optimismus zu warnen: Trotz intensiver Forschung und zunächst vermuteter Erfolge ist es bislang noch nicht gelungen, die Alzheimer-Demenz ursächlich zu behandeln. Mit dieser Aussage wird nicht die dringende Notwendigkeit in Frage gestellt, intensiv Therapieforschung zu betreiben. Und doch erscheint es als angemessen, die Frage zu stellen, ob in dieser Krankheit die letzten Grenzen der menschlichen Existenz offenbar werden. Für eine positive Antwort auf diese Frage spricht die Tatsache, dass die Prävalenz der Demenzerkrankungen in sehr hohem Alter deutlich zunimmt: Schätzungen gehen dahin, dass bei etwa einem Fünftel der 80-Jährigen und älteren, jedoch bei fast einem Drittel der 90-Jährigen und älteren Menschen eine Demenz vorliegt: Die hohe Korrelation zwischen Prävalenz und Lebensalter scheint dafür zu sprechen, dass die Demenz letzte Grenzen unseres Lebens beschreibt.
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Widersprüche im Pflegeheim balancieren
14.1 Warum ein Text über Widersprüche zum Thema „Ethik“? Im Alltag der Pflegenden im Alten- und Pflegeheim gibt es ständig etwas zu entscheiden. Soll die Bewohnerin jetzt gewaschen werden oder später, hat sie genug gegessen, kann man das Fieber noch anstehen lassen oder brauchen wir eine Ärztin? Solche und viele andere Fragen stellen sich immer wieder. Manches lässt sich leichter entscheiden oder löst sich von selbst, das Fieber sinkt vielleicht auch ohne Behandlung. Anderes wieder lässt sich nicht leicht entscheiden, löst sich nicht von selbst, sondern wird konflikthaft: Die Bewohnerin will nicht mehr essen und trinken und die Angehörigen fürchten, dass sie verhungert und verdurstet. Das belastet die Pflegenden, wird mit nach Hause genommen, hindert vielleicht daran, pünktlich nach Hause zu gehen, führt zu Auseinandersetzungen, manchmal zu Drohungen oder zu Streit. „Ethik“, so formuliert Larissa Krainer, „ist eine Frage der Entscheidung, aber ethische Fragen sind offenbar nicht so leicht zu entscheiden wie andere Fragen (jedenfalls nicht in der Kategorie entweder/oder)“ (Krainer 2007, S. 26). Um mit belastenden Situationen im Alten- und Pflegeheim umgehen zu können, ist es einerseits wichtig, sie als ethische Dilemmata zu begreifen. Anderseits ist es wichtig zu verstehen, dass es Widerspruchsfelder gibt, die die Ursache für diese Dilemmata bilden. Das ist vor allem von Bedeutung, um sich nicht fälschlich auf die Suche nach einem oder einer „Schuldigen“ zu begeben – eine Dynamik, die in Organisationen des Gesundheitssystems schnell zur Stelle ist, unweigerlich in eine Sackgasse führt und keinen geeigneten Umgang mit Widersprüchen darstellt.
14.2 Widerspruchsfelder in Alten- und Pflegeheimen Es gibt zentrale Widerspruchsfelder – so die These von Larissa Krainer und Peter Heintel (Krainer und Heintel, 2010; Heintel, 2005) –, die ursächlich für zahlreiche Konflikte sind: existenzielle Widersprüche, Widersprüche in der sozialen Konstellation, systembedingte, entwicklungsbedingte und strukturelle Widersprüche. Diese Widersprüche (man kann sie auch Gegensätze oder Polaritäten nennen) treten als unterschiedliche Positionen auf, die jede für sich ihre Berechtigung haben. Sie können daher nicht aufgelöst werden, indem ein Standpunkt einfach abgeschafft wird, z. B. durch die Entscheidung, dass die
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Vertreterinnen einer der beiden Positionen Unrecht haben (Krainer und Heintel, 2010). Ein Beispiel aus der Betreuung im Pflegeheim soll das veranschaulichen: Es kommt in unserer Zeit nicht selten vor, dass die nächste Angehörige (z. B. die Tochter) eines alten Menschen im Ausland lebt und daher nicht von einer Stunde zur anderen zur Stelle sein kann, wenn ihre Mutter im Sterben liegt. Um der todesnahen, schwachen und „lebenssatten“ Hochbetagten unnötiges Leid zu ersparen, wäre es richtig, ihr Sterben nicht hinauszuzögern (Kojer und Heimerl, 2009). Um der Tochter, die ihre Mutter liebt und sehr an ihr hängt, die Möglichkeit zu geben, sich noch zu verabschieden, wäre es indes richtig, alles daranzusetzen, die Sterbende bis zur Ankunft der Tochter am Leben zu erhalten. Die beiden Standpunkte stehen zueinander im Widerspruch, obwohl beide durchaus legitim sind. Hier geht es nicht darum, wer recht hat und wer nicht. Widersprüche sind in der menschlichen Existenz vorgegeben, so Krainer und Heintel, und sie sind andauernd. Aber nicht jeder Widerspruch muss zu einem (ethischen) Dilemma führen. Es kann auch gelingen, Widersprüche zu erkennen, explizit zu machen und mit ihnen umzugehen. Widersprüche in Organisationen erfordern einen bewussten Umgang auf mehreren Ebenen: auf der strategischen Ebene, auf der Ebene der Kommunikationsstrukturen und auf der individuellen, persönlichen Ebene. In zahlreichen Projekten, in denen wir als Team der IFF mit Altenund Pflegeheimen gearbeitet haben (siehe beispielsweise Wegleitner und Heimerl, 2007; Reitinger und Heimerl, 2007), berichteten die Beteiligten von Widersprüchen in ihrem Alltag. Im Folgenden sollen sie jenen Widerspruchsfeldern, die Krainer und Heintel benennen, zugeordnet werden.
14.2.1 Widersprüche, die an die Existenz des Menschen selbst gebunden sind Heintel nennt sie „… solche von gewaltiger Tiefe und Wirksamkeit“ und führt beispielsweise den Widerspruch zwischen Jung und Alt oder den zwischen Leben und Tod an.
Pflegeheime als Orte zum Leben und Orte zum Sterben Der zentrale Widerspruch im Alten- und Pflegeheim ist der zwischen Leben und Tod. Für Krainer und Heintel ist dies ein Widerspruch im Unbestimmten, denn der Tod ist zwar eine Gewissheit, aber: „Wir
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wissen vom Tod eigentlich nichts, nicht, was er ist und wie er sein wird“ (Krainer und Heintel, 2010, S. 78). Für die Träger der Altenhilfe stellt sich – sowohl was ihre Wirkung nach außen als auch die nach innen betrifft – die existenzielle Frage: Sind unsere Häuser „Orte zum Leben“ oder „Orte zum Sterben“? Die Träger gehen sehr unterschiedlich mit diesem Widerspruch um. Manche beziehen sich in ihrem Leitbild nur mit einer kleinen Andeutung darauf, dass die Bewohnerinnen in ihren Häusern bis zu ihrem Tod sorgsam gepflegt werden und dort sterben. Andere widmen die Hälfte ihres Leitbilds dem Thema Sterbebegleitung. Wie unauflöslich Widersprüche sind, wird hier besonders klar. Wer tot ist, hat aufgehört zu leben: Tod und Leben sind daher unvereinbare Gegensätze. Aber Sterbende sind Lebende, daher müssen Häuser zum Leben zwangsläufig auch Häuser sein, in denen Sterben als unverzichtbarer Bestandteil des Lebens gut gelebt werden muss und kann. Und: Nur wo man gut gelebt hat, kann man auch gut sterben. Und umgekehrt gilt: Nur wo es eine gute Begleitung im Sterben gibt, kann man sich auch gut darauf einlassen, das hohe Alter zu leben. Die Zeit vor dem Tod ist für die meisten Menschen mit großer Pflegebedürftigkeit verbunden. Je näher zum Lebensende, desto mehr verschiebt sich der Schwerpunkt des „guten Lebens“ von dem, was die aktivierende Pflege anzubieten hat, hin zu Palliative Care. Denn auch „wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun“ (Heller et al., 2007). Hier scheinen unterschiedliche Pflegekonzepte zueinander im Widerspruch zu stehen und damit verbunden auch unterschiedliche Pflegeziele. Ein Beispiel: Mitten im Leben geht es für die Pflege natürlich darum, das Wundliegen zu vermeiden, es ist geradezu eines der wichtigsten Qualitätskriterien, die Anzahl der Dekubiti möglichst niedrig zu halten. Am Lebensende aber, wenn das ständige Gewendetwerden, das das Wundliegen vermeiden kann, für die Sterbenden zur Qual wird, ist es gut und richtig, von vereinbarten Qualitätskriterien abzugehen und den Dekubitus zuzulassen. Dies gilt auch, wenn dadurch – im Extremfall – Nachfragen der Gerichtsmedizin ausgelöst werden könnten, denen im Übrigen bei guter Dokumentation gelassen begegnet werden kann.
Der Widerspruch zwischen Autonomie und Fürsorglichkeit Ein zweiter existenzieller Widerspruch im Alten- und Pflegeheim ist der zwischen Autonomie einerseits und Fürsorglichkeit andererseits. So stehen Leitung und Pflegende in der Altenhilfe beispielsweise vor der Frage: Ist es zulässig, eine schwer demenzkranke Bewohnerin mit
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der Straßenbahn in das Stadtzentrum fahren zu lassen, weil das ihrem augenblicklichen Willen entspricht? Das würde bedeuten, die Autonomie der Bewohnerin zu respektieren, wenngleich wir wissen, dass sie die Folgen ihrer Handlungen nicht mehr absehen kann. Oder sollen wir sie im Haus festhalten und damit unserer Verantwortung nachkommen, die Bewohnerin vor Gefahren zu schützen? Wenn ja, wie sollen wir sie festhalten: elektronisch, medikamentös, mit versperrten Türen oder an Bett und Stuhl gebunden? Wenn wir uns dafür entscheiden, sie gehen zu lassen, und die Bewohnerin erleidet eine Unfall, wie sieht dann die Frage nach Verantwortung oder gar nach Verschulden aus? Wie werden das die Angehörigen sehen? Wenn wir uns für das Festhalten entscheiden, wie sehen diese Fragen dann aus? Gibt es hier überhaupt eine gute Lösung? Oder müssen Leitung und Mitarbeiterinnen es einfach ertragen zu wissen, dass Bewohnerinnen sich ständig in Gefahr bringen und dass das der Preis für ihre Würde und für ihre Freiheit ist? Auch wenn dieser Widerspruch für Pflegeheime besonders deutlich ist, weil immer mehr Bewohnerinnen auf Grund von körperlichen Einschränkungen und durch fortschreitende Demenz nur sehr begrenzt in der Lage sind, ihre Autonomie auch selbstverantwortlich zu leben: Der Widerspruch gilt für das Gesundheitssystem und für die Gesellschaft generell, Loewy1 spricht von der „Dialektik zwischen Autonomie und Verantwortlichkeit“, für die gilt: „In der größeren Gesellschaft und in der medizinischen Praxis gibt es ein anhaltendes Zusammenspiel zwischen Autonomie einerseits und Paternalismus (als Ausdruck von Verantwortlichkeit) andererseits“ (Loewy 1996, S. 59). Beide, Autonomie und Verantwortlichkeit, haben – so Loewy – „ihren Platz“ (Loewy 1996, S. 63), ihre Berechtigung, damit beschreibt Loewy diese Dialektik als unauflöslich. Der Widerspruch zwischen Autonomie und Fürsorglichkeit kann auch genährt werden durch das Grundverständnis von Ethik, mit dem an die Bearbeitung von ethischen Dilemmata im Alten- und Pflegeheim herangegangen wird: Ein Grundverständnis, das – im Sinne von Loewys Health Care Ethics – Verantwortlichkeit in die Nähe von Paternalismus rückt, stellt die Autonomie als Wertvorstellung ins Zentrum. Ein Grundverständnis im Sinne von Care Ethik orientiert sich stärker an Achtsamkeit und Fürsorglichkeit. Pflegeheime sind „Frauenwelten“ und es wurde von der Care Ethik gezeigt, dass gerade für Frauen
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Die Übersetzung der Zitate von Erich Loewy erfolgte durch Katharina Heimerl.
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Fürsorglichkeit einen besonderen Stellenwert einnimmt, wesentlich mehr als Autonomie, weil das Prinzip der Fürsorglichkeit und das Leben in asymmetrischen Beziehungen den Erfahrungen von Frauen entspricht (Conradi, 2001).
14.2.2 Widersprüche, die in den Unterschieden zwischen sozialen Konstellationen begründet sind Loewy unterscheidet bei Health Care Professionals zwischen zwei Arten von Dilemmata: Die erste Art stellen die externen Dilemmata dar. Sie werden von außen an die Pflegenden herangetragen – zum Beispiel wenn unterschiedliche Standpunkte zwischen Familien- oder Teammitgliedern bestehen (Loewy 1996, S. 73). Die zweite Art bilden die internen Dilemmata. Loewy bezeichnet sie als universell menschlich. Interne Dilemmata entstehen, wenn Pflegende sich mit gegensätzlichen Ansprüchen auseinandersetzen. Es sind die Widersprüche im Individuum selbst, die besonders belasten, die unauflöslich und anhaltend bestehen bleiben. Pflegende berichten von solchen internen Dilemmata: Sie wollen sich einerseits gut in ihre Familie einbringen, Zeit mit Partnern und Kindern verbringen und daher zum Beispiel so viel Zeit wie nur möglich zu Hause verbringen. Andererseits wollen sie sich aber so gut sie können um die Bewohnerinnen kümmern und bleiben daher immer wieder über ihre Dienstzeit hinaus an ihrem Arbeitsplatz. Wenn Pflegende die Bedeutung ihres Berufes betonen, relativieren sie damit gleichzeitig die Bedeutung ihrer Familie und/oder ihrer „Privatheit“ und umgekehrt. Sie sind ständig von Widersprüchen umgeben und – wie in diesem Fall – von internen Widersprüchen erfüllt. Die soziale Rollentheorie hat schon in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts postuliert, dass intra-role conflicts sehr viel schwieriger zu lösen sind als inter-role conflicts. Sie sieht den oben beschriebenen Konflikt als Konflikt zwischen zwei Rollen (inter-role conflict). Ein solcher Konflikt ist viel leichter aufzuheben als Konflikte innerhalb derselben Rolle (intra-role conflicts). Ein intra-role conflict entsteht beispielsweise, wenn Pflegedienstleitung, Angehörige, Kollegin und Bewohnerin unterschiedliche Erwartungen an die Rolle ein und derselben „Pflegerin“ haben (siehe u. a. Claessens, 1968). Täglich konfrontiert sind Mitarbeiterinnen und Leitungen in der Altenhilfe auch mit dem Widerspruch zwischen Gleichbehandlung und
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individueller Behandlung, das heißt mit Unterschieden zwischen den Bewohnerinnen und deren Konsequenzen für die Betreuerinnen. Zunächst einmal besteht der Anspruch, dass alle Bewohnerinnen das gleiche Recht auf Pflege, Zuwendung und auf die Zeit der Mitarbeiterinnen haben, dass es Verteilungsgerechtigkeit in Bezug auf diese knappen Ressourcen gibt. Aber dann gibt es eben immer wieder vereinzelt Bewohnerinnen, die alles auf den Kopf stellen und mit nichts zufrieden sind; es gibt sehr fordernde Bewohnerinnen mit beginnender Demenz, die ihr Schicksal nicht akzeptieren können und stets glauben, dass ihnen Unrecht geschieht. Darüber hinaus gibt es immer wieder alte Menschen, die durch Krankheit und/oder seelische Not vorübergehend oder auf Dauer mehr Zeit und Zuwendung brauchen als andere. Ist es gut, fair und gerecht, einigen Bewohnerinnen mehr Zuwendung zu geben als anderen, weil sie und ihre Krankheit es verlangen? Übersehen wir vielleicht den Betreuungsbedarf der meisten Bewohnerinnen, nur weil einige so laut schreien, dass es nicht zu überhören oder nicht zu ertragen ist?
14.2.3 Systembedingte Widersprüche Systeme brauchen Grenzen, müssen sich abgrenzen. „Soziale Gebilde und damit die in ihnen entwickelten Kulturen brauchen Grenzen (räumliche, quantitative, organisatorische) und Grenzen setzen heißt immer auch Ausschluss anderer. Ohne Grenzen diffundieren Systeme und verlieren ihre kollektive Handlungsfähigkeit“ (Heintel 2005, S. 18). Systeme sind aber auch auf Grenzüberschreitung in Form von Kooperation angewiesen. Kooperation enthält per se einen Widerspruch: Man kann nur gut interdisziplinär arbeiten, wenn man eine gute eigene Berufsidentität hat, muss seine berufliche Identität also zuerst definieren, eigene Handlungsspielräume und ihre Grenzen erkennen, ehe gute Kooperation mit anderen Berufsgruppen möglich wird. Entwickelt sich aus dieser Definition oder Abgrenzung des eigenen BerufsIch eine Ausgrenzung anderer Berufs-Ich, erschwert dies die gelingende Kooperation oder macht sie sogar unmöglich – der Widerspruch ist in diesem Fall vorprogrammiert und unauflöslich. Der gute Umgang mit diesem Widerspruch erfordert die Einsicht, dass die gemeinsame Sorge um eine Bewohnerin nur durch das Zusammenführen der Kompetenzen unterschiedlicher Berufsgruppen getragen werden kann. Im Pflegeheim wird dieser Widerspruch spürbar als Konflikt zwischen interner Pflege und externer Medizin. Die Medizin ist leider für viele Pflegeheime außerhalb der Systemgrenzen angesiedelt, gehört also
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zur Umwelt und wird repräsentiert durch mehr oder weniger gut angebundene Hausärzte und -ärztinnen. Die Pflege dagegen befindet sich vollständig innerhalb der Grenzen, mehr noch, die Berufsgruppe der Pflege dominiert das Alten- und Pflegeheim. Unausgesprochen besteht der Anspruch, dass die Pflege alle Probleme selbst lösen können muss. Tatsächlich muss sie aber in vielen Fällen mit der Medizin kooperieren. Das kann immer wieder zu Konflikten mit der externen Medizin führen: Der Kontakt mit der behandelnden Ärztin ist zu distanziert, man kennt sich zu wenig, um eine vertrauensvolle, partnerschaftliche Zusammenarbeit aufzubauen. Oder die Ärztin ist nicht greifbar, wenn man sie braucht, sie hat keine Zeit, ist in der Ordination, hat das Handy abgeschaltet. Dieser strukturelle Konflikt kann eskalieren, wenn die Medizin in Gestalt eines Notarztes oder einer Notärztin über das Pflegeheim „hereinbricht“.
14.2.4 Entwicklungsbedingte Widersprüche Sie lassen sich auch als Widersprüche aufgrund von „historischer Ungleichzeitigkeit“ bezeichnen, ein Beispiel dafür ist der für jede Organisation und insbesondere für Alten- und Pflegeheime wichtige Widerspruch zwischen Bewahren und Verändern. Der Mensch wird, „… solange er nicht daran gehindert wird, versuchen sich zu entwickeln, zu verbessern, zu verändern … Die Bewahrer kämpfen gegen die Veränderer“ (Heintel 2005, S. 21). Auch hier ist der Widerspruch unvermeidlich und unauflösbar. Viele Veränderungen werden von außen an Pflegeheime herangetragen, als Herausforderungen der externen Umwelt: Der ökonomische Druck nimmt zu, Ressourcen werden gekürzt. Gleichzeitig sind die Bewohnerinnen zur Zeit der Aufnahme von Jahr zu Jahr älter und kränker und haben einen immer höheren Pflegebedarf. Der Prozentsatz der Bewohnerinnen mit Demenz nimmt ständig zu. Veränderung ist in diesen Fällen nicht etwas, wofür sich Alten- und Pflegeheime entscheiden, sie passiert zwangsläufig, indem sich die Einrichtungen an die neuen Bedingungen anpassen müssen, um als Organisation zu überleben. Ein Beispiel: Noch am Ende des letzten Jahrhunderts war eine beachtliche Anzahl an Bewohnerinnen beim Einzug ins Pflegeheim in der Lage, ihren Alltag mit wenig Hilfe selbst zu bewältigen; viele Einrichtungen verfügten über einen mehr oder weniger großen Wohnbereich oder Appartements. Da seit einigen Jahren viele Menschen bei der Aufnahme einen deutlich höheren Pflegebedarf aufweisen, müssen die Träger ihr Konzept umstellen, Wohnbereiche oder Appartements zu-
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gunsten des Pflegebereiches verkleinern oder umbauen. Bewahren ist in diesem Fall nicht möglich, es braucht Anpassung an die sich stetig verändernden Bedingungen. Veränderung löst aber auch immer Angst aus und – verbunden damit – das Bedürfnis zu bewahren, zu erhalten und zumindest das, was als gut (an)erkannt wird, fortzusetzen.
14.2.5 Widersprüche, die in der speziellen Logik eines Systems liegen Diese sind vor allem durch die unterschiedlichen sozialen Einheiten (Bereiche, Abteilungen, Teams, Projekte), aus denen ein System besteht, begründet, aber auch durch unterschiedliche Kommunikationsstrukturen, widersprüchliche Zielsetzungen, Regeln und Vereinbarungen. Ein Beispiel: Pflegeheime sind in Stationen gegliedert, zwischen denen ein unausgesprochener Konkurrenzdruck bestehen kann. Wenn nun eine Station als Modellstation vom Träger mit mehr Ressourcen ausgestattet wird, so verschärft sich der Druck und Unterschiede zwischen den Stationen werden als Konflikte sichtbar. Auch der Widerspruch zwischen den Zielen des Pflegeheims, die meist im Leitbild klar verankert sind, und dem Weg dorthin, der in der Leitbildumsetzung oft unklar bleibt, gehört hierher. Besonders konflikthaft wird es erlebt, wenn die Leitung Ziele vorgibt und im Leitbild verankert, sie aber selbst nicht vorlebt. Werden beispielsweise Autonomie und Respekt im Leitbild formuliert, wird die Leitung erwarten, dass Pflegende den Bewohnerinnen mit Respekt begegnen und ihre Autonomie fördern. Spricht im Gegensatz dazu eine hierarchisch agierende Leitung den Mitarbeiterinnen den eigenen Entscheidungsspielraum ab, schränkt deren Autonomie ein und behandelt sie respektlos, sind Konflikte unausweichlich. Wenn sich die Betreuungspersonen selbst als zu sehr abhängig und unselbstständig erleben, ist nicht zu erwarten, dass sie die Selbstbestimmtheit der Bewohnerinnen fördern. Respekt vor den Pflegenden und Respekt vor den Gepflegten, Autonomie der Pflegenden und Autonomie der Gepflegten bedingen einander gegenseitig – gibt es hier Widersprüche, wird das von den Mitarbeiterinnen als konflikthaft und belastend erlebt (vgl. Heimerl und Seidl, 2000). Ein besonders deutlicher Widerspruch besteht oft zwischen den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und jenen der Angehörigen. Dieser Widerspruch ist in der Logik eines Systems begründet, in dem Pflegebedürftigkeit und Hinfälligkeit der Bewohnerinnen von der Aufnahme
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im Heim bis zum Tod laufend zunehmen. Ein Mensch, der sich „lebenssatt“ dem Ende seiner Lebenszeit nähert und im Vorfeld des Sterbens allmählich aufhört zu essen und zu trinken, der – falls man ihn nötigen will – die Hand mit dem Löffel wegschiebt, sich wegdreht, den Mund nicht öffnet oder die Nahrung wieder aus dem Mund rinnen lässt, zeigt damit häufig Anzeichen seines nahenden Todes. Wenn aber die Angehörigen nicht erkennen (oder nicht glauben wollen), dass der zunehmende Kräfteverfall von Mutter oder Vater natürliche Folge und nicht Ursache des näher rückenden Lebensendes ist, sind sie voller Angst, dass der geliebte Mensch verhungert und verdurstet. Aus ihrer Logik müssen sie darauf bestehen, dass der Bewohnerin Essen und Trinken eingegeben werden – oder versuchen dies selbst mit mehr oder weniger sanfter Gewalt zu tun. Sie bestehen unter Umständen auf Infusionen, vielleicht sogar darauf, dass eine Ernährungssonde gesetzt wird. Quälende, beide Seiten zermürbende Konflikte dieser Art lassen sich nur vermeiden, wenn sowohl die Bedürfnisse der Bewohnerin als auch die der Angehörigen ernst genommen und als legitim anerkannt werden, Angehörige von Anfang an als Adressatinnen von Palliative Care erkannt werden, von Anfang an eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung zu ihnen aufgebaut wird (vgl. S. 367 ff.). Ein weiterer Widerspruch ist in der Kernaufgabe und im Grundverständnis von Pflege angelegt; er beruht auf dem „Gegensatz Individuum vs. System“ (Heintel 2005, S. 23): Für Mitarbeiterinnen und Leitende im Pflegeheim stehen die Menschen im Mittelpunkt, die Pflegebedürftigen und Hochbetagten. Für sie, als „Menschen für Menschen“, erbringen die Mitarbeiterinnen ihre Dienstleistung (vgl. Grossmann und Scala, 2002). Das Pflegeheim als Organisation mit notwendigen Regeln und Abläufen, mit vielfältigen Abhängigkeiten von anderen Institutionen ist oft nicht so sehr im Blick. Das Organisatorische wird vielmehr als Hindernis gesehen, das zwischen Pflegenden bzw. Leitenden und ihren Bewohnerinnen steht. Gleichzeitig wird schmerzlich bewusst, wie wichtig die Funktionalität des Systems ist, die Aufgabenteilung, die Dienstplanung, der Personalschlüssel, die technischen Hilfsmittel, der geregelte Tagesablauf. Dass im Alten- und Pflegeheim Standards entwickelt werden und für ihre Einhaltung gesorgt wird, ist Voraussetzung für das Funktionieren des Systems. Eine Einrichtung wie das Pflegeheim ist auf ein gewisses Maß an Ordnung angewiesen. Es braucht geregelte Abläufe, einge-
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spielte Routinen und das Einhalten von Hygienevorschriften, damit Bewohnerinnen gut betreut und gepflegt werden können. Gerade weil aber schwache, in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkte und demenzkranke Menschen dort wohnen und gepflegt werden, ist die Notwendigkeit groß, auf deren Individualität einzugehen und Respekt vor ihren besonderen Wünschen zu haben. Die Demenz kennt keine Benimmregeln, folgt ihren eigenen Gesetzen, ihrer eigenen Ordnung und setzt die althergebrachte Ordnung außer Kraft. Der Widerspruch zwischen der von Menschen mit Demenz erzeugten „Unordnung“ und der erwünschten „Ordnung“ und Berechenbarkeit in der stationären Altenhilfe führt Mitarbeiterinnen und Leitung oft genug an ihre Grenzen. Wie viel Individualität können und sollen wir zulassen, wie viele Routineabläufe und Verhaltensregeln für unsere demenzkranken Bewohnerinnen außer Kraft setzen? Können wir zulassen, dass eine Bewohnerin mit Demenz das Mittagessen ihres Sitznachbarn aufisst? Auch wenn es nicht zu ihrer Diät passt? Auch wenn wir Sorge haben, dass ihr Nachbar nicht genug gegessen hat? Daran schließen sich die Fragen: Können Mitarbeiterinnen mit ihren knappen Zeitressourcen diese eigenen Regeln für Menschen mit Demenz auch einhalten? Stationen, die ausschließlich demenzkranke Bewohnerinnen betreuen, haben es – zumal ihnen zumeist ein höherer Personalstand zugebilligt wird – leichter, den Arbeitsablauf auf die besonderen Verhaltensweisen ihrer Bewohnerinnen abzustimmen. In der Mehrzahl der Heime werden jedoch noch immer zerebral intakte und demenzkranke Bewohnerinnen gemeinsam betreut; Konflikte sind dann praktisch unvermeidbar. Wie können Alten- und Pflegeheime den Widerspruch zwischen der Beschleunigung durch den ökonomischen Druck einerseits und der Verlangsamung als Bedürfnis hochbetagter Menschen balancieren?
14.3 Mit Widersprüchen im Alten- und Pflegeheim umgehen 14.3.1 Der Umgang auf individueller Ebene Kommen wir zurück zum Beispiel der demenziell veränderten Bewohnerin, die das Heim verlassen möchte: Der Widerspruch bleibt
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bestehen – geht die Bewohnerin weg, so ist sie in Gefahr, wird sie im Heim festgehalten, so geschieht das gegen ihren Willen. Der Weg aus der Sackgasse ist ein schwieriger, hochprofessioneller Weg. Er führt über die gelingende verbale und nonverbale Kommunikation mit der demenzkranken Bewohnerin, zum Beispiel über die Validation nach Naomi Feil. In einem ersten Schritt gilt es herauszufinden, welches Bedürfnis hinter dem Wunsch wegzugehen steckt. Sucht die alte Dame vielleicht Sicherheit, Liebe und Geborgenheit (die Mutter)? Oder sucht sie vertraute Menschen von früher? Möchte sie eine Aufgabe erfüllen, nützlich sein (ihre kleinen Kinder betreuen, im Beruf etwas leisten)? Ist das Bedürfnis einmal erkannt, kann es in einem kurzen entlastenden Gespräch aufgegriffen werden. Oft gelingt es relativ rasch, die Situation aufzulösen, sofern die respektvolle und wertschätzende Haltung, die Palliative Care auszeichnet, und eine fundierte Ausbildung in Validation nach Naomi Feil vorhanden sind. Solange Mitarbeiterinnen in Pflegeheimen Ausbildungen vorenthalten werden, die erforderlich sind, um die schwierigen Aufgaben, die ihr Beruf Tag für Tag mit sich bringt, gut zu bewältigen, bleiben Dilemmata dieser Art unvermeidlich.
14.3.2 Positionen auf einem Kontinuum annähern Bei vielen Widersprüchen handelt es sich weniger um diametrale Gegensätze oder um Pole an entgegengesetzten Enden eines Spektrums, sondern vielmehr um zwei Positionen auf einem Kontinuum. Dies sei am Beispiel des Konfliktes zwischen Bewahren und Verändern erläutert: Der diametrale Gegensatz könnte „unbedingtes Festhalten vs. gelebtes Chaos“ lauten. Auf dem Kontinuum liegen jedoch viele andere Positionen, über Bewahren des Bewährten und vorsichtiges Anpassen hin zu notwendigem Verändern. Bewahren und Verändern sind beides Ausprägungen des Umgangs mit den Anforderungen in einer sich wandelnden Welt. Sie machen das Spannungsfeld deutlich. So könnte beispielsweise die zum Bewahren neigende Pflegedienstleiterin über Veränderungen nachdenken und der zum unsteten Verändern neigende Qualitätsmanager darüber, wo es Gutes zu bewahren gibt. Beide zeigen dann die Bereitschaft, einander zu akzeptieren und voneinander zu lernen. Je näher sie einander auf dem Kontinuum kommen, desto besser kann es gelingen, mit den zugrunde liegenden Widersprüchen umzugehen und Konflikte zu verringern. Die Einsicht, dass Pflegequalität, Zuwendung und Fürsorge bewahrt werden, auch wenn Betreuende ihr Verhalten an neue Erfordernisse anpassen, versöhnt die beiden extremen Pole und Persönlichkeiten miteinander.
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14.3.3 Der Umgang auf strategischer Ebene Der Widerspruch zwischen Leben und Tod ist unauflösbar. Aber: Muss dieser Widerspruch für Alten- und Pflegeheime zum ethischen Dilemma werden? Müssen Leben und Sterben als unvereinbare Gegenpole erlebt werden? Bis hier unterstützen wir Leben – Schnitt – ab da begleiten wir Sterben? Oder sind konfliktfreie Wege denkbar, die den Ansprüchen lebensfrischer alter Menschen ebenso gerecht werden wie den Ansprüchen Sterbender? Die Erfahrung zeigt, dass die jeweiligen Zielvorstellungen eines Hauses darüber entscheiden, ob und inwieweit Anforderungen als Dilemmata erlebt werden. Gilt die bestmögliche Lebensqualität der Betreuten von ihrer Aufnahme im Pflegeheim bis zu ihrem Tod als oberstes Ziel, zeichnet sich der Zugangsweg der Palliativen Geriatrie (vgl. u. a. Kojer, 2009) als Weg aus dem Konflikt ab: Das Pflegeheim wird zu dem Ort, an dem sich multimorbide, behinderte, demenzkranke Hochbetagte wohlfühlen können. Dieser Anspruch bedingt, dass die sich mit zunehmender Multimorbidität, Demenz, Schwäche, Hinfälligkeit und Hilflosigkeit stetig verändernden Bedürfnisse eine kontinuierliche Anpassung des Angebots nach sich ziehen. Der Weg im Heim führt unter dem unveränderten Gesichtspunkt der bestmöglichen Lebensqualität in einem ungebrochenen Kontinuum der Pflege, Behandlung und Betreuung vom Leben zum Tod.
14.3.4 Widersprüchliche Ansprüche als Ursache ethischer Dilemmata erkennen Widersprüche hinterlassen kein gutes Gefühl, vor allem dann, wenn sie spürbar, aber nicht besprechbar sind. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, warum ethische Dilemmata als Situationen beschrieben werden, die nicht befriedigend gelöst werden können. „Ein ethisches Dilemma kann definiert werden als (1) ein schwieriges Problem, das scheinbar nicht befriedigend gelöst werden kann, oder (2) eine Situation, in der es um die Wahl zwischen gleichermaßen unbefriedigenden Lösungen geht. Nicht alle Dilemmata im Leben haben ethischen Charakter, aber ein ethisches Dilemma ergibt sich dann, wenn moralische Ansprüche miteinander im Konflikt stehen“ (Davis et al., 1997, S. 6, Übersetzung KH). In allen beschriebenen widersprüchlichen Situationen kann es keinen gemeinsamen Nenner geben, ohne die eigene Haltung zu verändern, eingefahrene Bahnen zu verlassen und neue Wege zu suchen und zu
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gehen; es scheinen jeweils beide Notwendigkeiten einsichtig. Liegt die Ursache für das ethische Dilemma tatsächlich außerhalb dessen, was durch die Organisation bzw. die Individuen, die ihr angehören, gelernt und verändert werden kann, ist das entlastend (wir sind nicht schuld daran). Die Auswirkung wird aber von Individuen getragen – das ist belastend (wir können es nicht ändern). Widersprüche als Quelle für ethische Dilemmata zu erkennen schafft die Voraussetzung dafür, dass sie bearbeitet werden können, dass ein Ethikgespräch stattfinden kann, denn: „Beim ethischen Gespräch geht es um den Prozess des Umgangs mit Widersprüchen und einer möglichen Entscheidungsfindung“ (Heller, 2009, S. 1). Diese Erkenntnis führt geradewegs in einen weiteren Widerspruch, der auch hier bestehen bleiben wird: Das Schaffen von Reflexionsräumen, der Umgang mit Widersprüchen, das Führen von Ethikgesprächen – dies alles braucht ein gewisses Maß an Besprechungszeit und an Teamzeit – und Zeit ist eine knappe Ressource im Pflegeheim. Leitungsentscheidung, besser noch Einvernehmen, wie diese knappe Ressource eingesetzt werden soll, ist gefordert. Unreflektierte und unausgesprochene Widersprüche führen zu Konflikten und zu Reibungsverlusten im Alltag – gelingende Ethikgespräche entlasten, hinterlassen ein gutes Gefühl und helfen so wieder Zeit einzusparen. Eine Tatsache, die die Entscheidung der Leitung für das Schaffen von Reflexionsräumen erleichtern könnte.
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Die „kleine Ethik“ – Überlegungen einer Ärztin und einer Pflegeperson
„Verletzungen der persönlichen und kollektiven Würde stellen vielleicht eine noch nicht erkannte pathogene Kraft dar, die das physische, mentale und soziale Wohlergehen ebenso beeinträchtigen kann wie Viren oder Bakterien.“ Jonathan Mann
Alte Menschen werden im Pflegeheim von Angehörigen verschiedener Berufsgruppen betreut. Die meisten Betreuerinnen sind Pflegepersonen; sie kennen die Patientinnen oder Bewohnerinnen am besten, verbringen am meisten Zeit mit ihnen und haben am häufigsten Gelegenheit, durch ihr Verhalten entscheidenden Einfluss auf deren Befindlichkeit zu nehmen. Da heute ausschließlich schwer pflegebedürftige, fortgeschritten multimorbide Hochbetagte in den Heimen aufgenommen werden, sollte auch den behandelnden Ärztinnen eine wichtige Rolle zukommen. Leider gibt es noch immer kaum angestellte Heimärztinnen (vgl. S. 206 ff.). Auch wenn palliativ tätige Schwestern und Ärztinnen in ihrem Bemühen zu helfen die gleichen Menschen mit der gleichen Grundhaltung pflegen, behandeln und begleiten, hat doch jede Berufsgruppe ihren eigenen Blickwinkel. Wenn es darum geht, das eigene Verhalten im Alltag auf den Prüfstand zu stellen, stößt jede Berufsgruppe auf für sie charakteristische Schwachstellen. Die beiden dabei entstehenden Bilder ergänzen sich, ergeben gemeinsam ein deutlicheres – wenn auch längst nicht vollständiges – Bild von der Verletzlichkeit demenzkranker Hochbetagter und der Notwendigkeit, ihnen in jedem Augenblick mit Respekt und großer Achtsamkeit zu begegnen.
15.1 Gewissenserforschung einer Ärztin In dem Moment, in dem wir den Fuß über die Schwelle des Pflegeheims setzen, werden wir unablässig mit Situationen konfrontiert, die uns – ob wir es wollen oder nicht – Entscheidungen abverlangen. Wir entscheiden uns Minute für Minute und handeln danach, sei es in Bezug auf Patientinnen, Mitarbeiterinnen oder Kolleginnen. Im Getriebe des Alltags, angesichts der Fülle von Anforderungen, denen wir nicht selten unter Zeitdruck gerecht werden müssen, ist es nicht verwunderlich, dass wir das meiste routiniert erledigen. Wir sehen, hören und fühlen im Wesentlichen gewohnheitsmäßig. Das bedeutet, dass wir vieles sehr eingeschränkt oder gar nicht wahrnehmen; selbst dann, wenn sich die Dinge genau vor unseren Augen und Ohren abspielen.
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Emotionale und geistige Routinen trüben den Sinn für das Neue, Einmalige und Einzigartige. Die Welt des Einzelnen – sowohl die der Patientinnen als auch die der Betreuenden – bleibt weitgehend unbekannt, im Dunkeln. Wir erledigen unsere „Arbeit“ weiter wie gewohnt und merken nicht rechtzeitig, wie emotional stumpf und gleichgültig wir im Laufe der Zeit werden. Dieser Entwicklung gilt es – zum Wohle aller – Einhalt zu gebieten. Die Hektik des Arbeitsalltags nimmt uns jedoch häufig derart gefangen, dass uns kaum Zeit, Kraft oder Mut zum Innehalten bleiben, um beispielsweise darüber nachzudenken, ob wir eigentlich noch „richtig“ handeln. Entscheide ich tatsächlich noch „zum Besten“ der Kranken? Begegne ich ihnen noch immer fürsorglich oder reduziere ich meine Kontakte und Aufgaben auf das „Versorgen“ nach den Regeln der Kunst? Wie viele der unzähligen kleinen und kleinsten Entscheidungen und Handlungen erfolgen nur mehr routiniert professionell und werden aus dem „Wissen“ jahrelanger Erfahrung großteils mechanisch abgespult? Wann bin ich zuletzt aus meinem Alltagstrott ausgebrochen, bin zurückgetreten und habe versucht, mich von meiner Erfahrung zu distanzieren, um an meinen „Gewissheiten“ zu zweifeln? Wann habe ich zuletzt eine Patientin oder mich selber mit offenen Sinnen wahrgenommen, unbelastet und „neu“, sozusagen mit den aufmerksamen Augen einer Anfängerin, für die noch nichts Routine geworden ist? Bin ich mit meinen Sinnen ausreichend in Kontakt, um die Not der anderen überhaupt noch zu bemerken? Bin ich so weit „zu Sinnen gekommen“, dass ich die Sehnsucht der Kranken, als Person anerkannt und geschätzt zu werden, tatsächlich wahrnehme? Reagiere ich angemessen auf die Sehnsucht alter gebrechlicher, in ihrem Ausdrucksvermögen eingeschränkter Menschen, in die „Gemeinschaft der Vollwertigen“ aufgenommen zu werden? Spüre ich in mir das dafür erforderliche Mitgefühl? Die Beschäftigung mit diesen Fragen erfordert Ruhe und Zeit, aber auch Mut und Wahrhaftigkeit. Es würde uns sicherlich schmerzen, wenn wir am Ende unserer Überlegungen erkennen müssten, dass gerade das, was am notwendigsten gebraucht wird, in einem erstaunlichen Maße fehlt: Präsenz, Mitgefühl und Fürsorglichkeit (Kabat-Zinn, 2006). Selbstverständlich kann uns – auch beim besten Willen – diese reflektierte Präsenz nicht jede Minute des Tages gelingen. Es ist jedoch nicht nur lohnend, sondern meines Erachtens dringend notwendig, von Zeit zu Zeit zur Ruhe zu kommen, um offenherzig mit frischem Geist und wacher Seele auf die alten Routinen und immer gleichen Mühlen des Alltäglichen hinzusehen und hinzuhören. Auf diese Weise eröffnen wir nach und nach jene Räume, die uns erlauben, den anderen, den Mitmenschen, aber auch uns selbst wieder zu erfühlen.
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15.2 Die Bedeutung der „kleinen Ethik“ in der Pflege „Mit Achtsamkeit horchen“ Die „kleine Ethik“ oder die „Achtsamkeit im Alltag“ ist eine Haltung, eine unser Verhalten maßgeblich mitbestimmende innere Einstellung. Sie wurzelt im „Herzen“, das heißt in der eigenen Innerlichkeit, und handelt aus dem Herzen. Sie analysiert nicht. Die Achtsamkeit „horcht“ und lebt im Verborgenen. Die Kunst der Achtsamkeit in der Pflege beruht auf der Wiederentdeckung des Begriffs „horchen“. „Horchen“ bedeutet für mich die Fähigkeit, meine Sinne so zu schärfen, dass von mir alle positiven und negativen Winzigkeiten des Pflegealltags wahr- und ernst genommen werden können. Achtsam zu sein bedarf der unablässigen Übung und stellt eine ständige Herausforderung an meine Sinne dar. Die Fähigkeit, achtsam zu horchen, hilft mir dabei, den Sinn oder die Bedeutung im Verhalten der hochbetagten multimorbiden Personen (mit und ohne Demenz) besser zu erkennen. Es ist jedoch nur dann möglich zu erkennen, was hinter dem jeweiligen Verhalten steckt, wenn wir unserer eigenen Sinne gewahr werden und sie mit Bedacht einsetzen. Achtsam zu sein bedeutet daher zunächst einmal, zu den eigenen Sinnen (zurück) zu kommen, sie wieder bewusst wahrzunehmen, zu schulen und schließlich gut einzusetzen. Diese Aufgabe ist zwar fordernd und sicherlich niemals abgeschlossen, jedoch nicht nur schwierig und anstrengend. Die eigenen Sinne zu verfeinern, imstande zu sein, sie präziser zu nutzen, steigert die Lebensfreude und bringt uns in Kontakt mit unseren menschlichen Ursprüngen. Darüber hinaus fördert meine Achtsamkeit sowohl die Wertschätzung, die ich für mich selbst empfinde, als auch meine positive Einstellung dem Leben gegenüber. Durch die Wiederentdeckung, Schärfung und fortwährende Übung unserer Sinne kann es nach und nach gelingen, sowohl uns selber und unser Verhalten als auch das Verhalten der Menschen in unserer Umgebung bewusster und umfassender „sinnlich“ wahrzunehmen. „Mit dem Herzen horchen“ Die Kunst, „mit dem Herzen zu horchen“, besteht darin, dass ich als Pflegeperson, Begleiterin oder Weggefährtin stets darauf achte, mich auf die Kranken einzulassen und mir ihre Situation „zu Herzen“ zu nehmen. Ich kehre wieder und wieder zu meinem „Herzen“, dem innersten Zentrum meines Wesens, zurück. Der Begriff „Herz“ hat in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung: Gemeint ist ein „Organ des Horchens und des Antwortens“; es ist zuständig für das Wahrnehmen von Gefühlen; es ist der Sitz der Empathie und der
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Achtsamkeit. Dort – in unserem „Herzen“ – sind wir wahrhaftig bei uns selbst. „Mit dem Herzen horchen“ bedeutet daher für mich: mit meinem ganzen Wesen wahrnehmen. Wenn mir dies gelingt, gelingt es mir auf einer tieferen Ebene mit der anderen Person mitzuschwingen. Ich nähere mich diesem „Du“ dabei auf eine nicht rationale Weise und versuche, den „Sinn“ oder die Bedeutung des Augenblicks oder der Situation zu erspüren. Zu diesem Zeitpunkt kann und muss ich den „Sinn“ noch nicht verstehen. Achtsamkeit im Pflegealltag Das Herz erschließt mir als „Wahrnehmungsorgan“ auf der psychosozialen Ebene Sinn oder Bedeutung. Das Auge als Organ für die Wahrnehmung von Licht sieht zum Beispiel die Vielfalt und Vielschichtigkeit von Pflegesituationen: Im Speisesaal wird das Mittagessen eingenommen. Frau Maier versucht mit der Gabel die Suppe zu essen. Sie weiß nicht mehr, welches Besteck für welche Speisen benötigt wird. Mit dem Herzen horche ich auf ihre Unsicherheit und Hilflosigkeit. Die Achtsamkeit sagt mir: Nimm diese Situation ernst, nimm sie ganz bewusst wahr. Ich biete Frau Maier einen Suppenlöffel so an, dass sie ihn annehmen kann, ohne sich gedemütigt, bevormundet oder bloßgestellt zu fühlen. Herr Lux sitzt viel zu weit vom Tisch entfernt. Seine Hand zittert stark. Die Kartoffeln fallen auf seinen Schoß, ehe sie den Mund erreichen können. Das Glas von Herrn Müller ist viel zu voll. Wie soll er das schwere Glas mit seinen schwachen und verkrümmten Fingern heben? Frau Slim will nicht essen. Sie meint, sie hat keinen Appetit. Mein Ohr hört ihre leisen Darmgeräusche. Könnte es sein, dass ein anderes Grundbedürfnis jetzt Vorrang hat? Ich rieche den Brei von Frau Schulz. Es ist tagein, tagaus derselbe Geruch. Frau Schulz rührt den Brei nicht an. Sie bemüht sich erfolgreich darum, mit ihrer Hand eine Apfelspalte auf dem Teller von Frau Konrad zu erreichen. Frau Konrad kann sich nicht dagegen wehren. Sie sagt leise, aber klar und deutlich „nein!“. Ich sehe die Hilflosigkeit in ihrem Blick, höre sie in ihrer Stimme. Später schmecke ich die Apfelspalte, die mir Frau Schulz mit großer Freude reicht. Jetzt bin ich für sie ihre kleine Tochter. Ich nehme wahr, dass Herr Stapfer versucht, mit seiner Gabel den Pudding von Herrn Ruhig zu erreichen. Er schafft es tatsächlich immer wieder. Bissen für Bissen isst er den Pudding von Herrn Ruhig auf. Herr Ruhig schaut genau zu, sagt aber nichts. Es stört ihn sichtlich nicht. Später bei der Körperpflege spüre ich, wie rau das Handtuch ist, und rieche das dezente Parfum von Frau Konrad. Ich bin mir bewusst, dass sie sehr viel Wert auf ihr Aussehen legt. Ich begreife die Sorgen von
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Frau Maier, die um 12 Uhr ihre Kinder von der Schule abholen muss und daher jetzt unruhig wird. Ich begreife, dass Herr Dr. Weiss keine Zeit zum Frühstücken hat, da er sonst zu spät im Büro sein würde. Er sagt: „Ich war nie krank. Ich war immer pünktlich.“ Ich erfasse mit allen meinen Sinnen die Befindlichkeiten ganz unterschiedlicher Personen. Ich erfasse täglich auch die Schönheit des sehr alten Menschen. Später halte ich die Hand einer alten Frau und fühle, dass in diesem Moment ein Gespräch stattfindet, dessen „Sinn“ weit über Worte hinausgeht. Diese Geste ist so einfach und stellt doch hohe Ansprüche an mich: Ich spüre in meinem Inneren das Versprechen „Ich bin für dich da“. Unsere Berührung ist zweckfrei, ohne praktisch-pflegerische Rechtfertigung; ich bin tatsächlich ganz bei ihr. Wir, ich und du tasten uns gemeinsam durch diese Situation und spüren dem „Sinn“, der Bedeutung dieses speziellen Augenblicks nach. Ich spüre ein gegenseitiges Geben und Nehmen in vertrauensvoller Zweisamkeit. Ich bin mir deiner Anwesenheit in ganz besonderer Weise bewusst und bin ganz wach. Für diesen Augenblick bin ich dankbar. Eine Hand in der meinen in Stille halten, aushalten, ist eine Herausforderung. Es ist keine „überflüssige“ Geste; auch sie ist Ausdruck meiner Achtsamkeit. Stille aushalten bedeutet Unterbrechung des Alltags; los-lassen können bedeutet: „Ich widme dir so viel Zeit, wie dir gebührt, so viel Zeit, wie du brauchst.“ Dieses Stillhalten ermöglicht den Aufbau einer Beziehung zu meinem Gegenüber. Ich vergegenwärtige mir deine Anwesenheit. Mein „Herz“ ruft mich auf, genau hinzuhorchen, hellhörig zu werden für diesen Augenblick der Begegnung. Wenn meine Sinne wieder leben dürfen und ich bereit bin, allen Gefühlen, auch dem Leid und dem Schmerz, ausreichend Raum zu geben, können Augen dankbar aufleuchten und funkeln. Das Gefühl, wahr- und ernst genommen und verstanden zu werden, schenkt Sicherheit, Geborgenheit und Teilhabe am Leben. Auch wenn es mir nicht immer gelingt: Ich versuche, mich immer wieder auf den Wert der Achtsamkeit zu besinnen, ich mache mich Tag für Tag immer wieder auf den Weg. „Verweilen im gegenwärtigen Augenblick“ In der Hektik des Alltags fällt es oft schwer, die notwendige Ruhe zuzulassen, um im gegenwärtigen Augenblick zu verweilen. Wie oft gelingt es nicht! Wie oft ertappe ich mich, dass ich mit meinen Gedanken in der Vergangenheit, in der Zukunft oder ganz woanders bin: Dann bin ich blind und taub für die gegenwärtige Situation, nicht in der Wirklichkeit des Augenblicks, nicht bei den Kranken, nicht prä-
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sent. Ich bemerke meine Blindheit und Taubheit für die Kranken schmerzlich, wenn ich zwei Personen mit Demenz gleichzeitig im Stehen das Essen eingebe. Dann bin ich nicht wach für die vielen leisen Mitteilungen, die auf mich zukommen, nicht offen, nicht gegenwärtig; wenn ich während einer Pflegehandlung mit der Kollegin plaudere, bin ich nicht gegenwärtig; wenn ich bei der Körperpflege Radio höre, bin ich nicht gegenwärtig; wenn ich beim Esseneingeben die winzige Kopfbewegung von Frau Lind nicht spüre und in ihrer Bedeutung begreife, bin ich nicht gegenwärtig; wenn ich die Unruhe, die Angst, die Hilflosigkeit, den Schmerz von Frau Müller, die gerade ihre Geldbörse sucht, nicht mit allen Sinnen wahrnehme, bin ich nicht gegenwärtig, sondern taub für die Signale der Kranken. Achtsamkeit in der Gestaltung der Umgebung Zur „kleinen Ethik“ im Alltag gehört auch die Gestaltung des Hauses, der Station. Sollen sich die Bewohnerinnen wohlfühlen und sich so gut wie möglich selbstständig zurechtfinden, muss die Umgebung auf die Bedürfnisse der alten Personen mit Demenz zugeschnitten sein. Das „Hinhorchen“, das besondere Achten auf die vielen kleinen Zeichen der Sehnsucht und Bedürftigkeit, erweckt in uns innovative und kreative Ideen sowie die Liebe zum Detail und hilft uns, den passenden Rahmen für diese Bedürfnisse zu finden. Hier einige Beispiele für die „demenzgerechte“ Gestaltung der Räume: Durch die geschickte Platzierung von altbekannten Gegenständen an wichtigen Orten wie Speiseraum, WC oder an der eigenen Zimmertür geben wir Orientierungshilfen; wir legen Wert darauf, eine „Kinderzimmeratmosphäre“ zu vermeiden, sorgen für adäquate Lichtquellen und für das richtige Maß zwischen anregender Vielfalt und Überreizung. Damit wir das rechte Maß bei der Gestaltung der Räume finden, ist es wichtig, die betroffenen Menschen in ihrem Alltag genau zu beobachten, hinzuhorchen, hinzusehen und die Atmosphäre zu erspüren. Das gelingt nicht nur so im Vorbeigehen. Es bedarf der Ruhe und muss geübt werden. Diese Ruhe gestatte ich mir von Zeit zu Zeit. Oft genügen einige wenige Minuten des Innehaltens, um zu mir und zu „meinen Sinnen zu kommen“. Zum Schluss noch ein Gedanke zum „Wert“ der achtsamen Pflege: Achtsamkeit ist vom ökonomischen Standpunkt betrachtet wertlos, da kostenlos, gratis und nicht budgetierbar. Sie kann weder gemessen noch in Zahlen oder Geldbeträgen gefasst werden. Daher wird sie von den Ökonomen nicht als „Wert“ wahrgenommen. Und doch ist Achtsamkeit in unserer täglichen Praxis der größte Schatz, der größte „Aktivposten“, den der Mensch (die Mitarbeiterin) in sich birgt.
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15.3 Die Bedeutung der „kleinen Ethik“ für die Ärztin Seit Anbeginn meiner ärztlichen Tätigkeit beschäftigt mich die Frage: Wie werde ich eine „gute“ Ärztin? Ich empfinde es bis heute als einen großen Verlust, dass sich während meiner Ausbildung nur sehr selten Menschen fanden, von denen ich in dieser Beziehung lernen konnte. Die Weitergabe der klassischen Ausbildungs-Trias „skills, knowledge and attitude“ beschränkte sich im Wesentlichen auf die beiden ersten Lernziele. Das – zugegeben – schwierige Thema „attitude“, also die innere Haltung oder Einstellung, kam hingegen viel zu kurz. Nur wenigen Kolleginnen schien es ein größeres Bedürfnis zu sein, Antworten auf folgende Fragen zu suchen: An welchen Werten und Zielen soll ich mich als Ärztin orientieren? Auf Basis welcher Grundhaltungen soll ich ärztliche Entscheidungen treffen? Inwieweit erlaubt der medizinische Betrieb allen Beteiligten, den Kranken und mir selbst, unsere Persönlichkeit zu wahren, gleichsam „eigen-artige“ Personen zu bleiben? Wo liegen die Grenzen von standardisierten medizinischen Prozessen? Wie lange sind die von der Organisation verordneten Ablaufpläne noch hilfreich und von welchem Zeitpunkt an verkehren sie sich ins Gegenteil und zielen an den tatsächlichen Bedürfnissen der Kranken vorbei, werden unbrauchbar oder sogar schädlich für alle Beteiligten? Die Praxis lehrte mich, dass große ethische Entscheidungen am Lebensende nicht ständig auf der Tagesordnung stehen, dass mich vielmehr die unzähligen kleinen ethischen Entscheidungen im Verlauf der tagtäglichen Begegnungen mit den Kranken beschäftigen. Fragen tauchten auf: Gestattet das medizinische System der Patientin, sich weiterhin als ein Mensch mit Zweifeln, Ängsten und Hoffnungen zu erleben? Dürfen Ärztinnen Personen aus Fleisch und Blut bleiben? Bis zu welcher Grenze darf ich selber berührbar bleiben und mich den Patientinnen und ihrem Leid öffnen? Und ganz grundsätzlich: Wie, in welcher Rolle soll ich mich den Kranken nähern, was darf ich sagen, was verschweigen und welche Ziele soll ich im Gespräch verfolgen? Diese Fragen erhielten eine besondere Brisanz, als ich begann, fast ausschließlich chronisch kranke, gebrechliche und sehr hilflose Menschen zu behandeln und zu begleiten. Aus den Begegnungen mit diesen Patientinnen lernte ich: Sobald ich mich ein wenig auf einen Menschen und seine Leiden einlasse, spüre ich, dass die Beziehung
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zwischen mir und meiner Patientin, dass das gesprochene Wort, mein Blick, meine Körpersprache mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Hier ist die Ärztin nicht nur in ihrer beruflichen Kompetenz, sondern vor allem als Person gefordert und gefragt. Dagegen treten die medizinisch-technische Diagnostik und die potenziellen Therapien in der Begegnung mit hochbetagten chronisch Kranken immer mehr in den Hintergrund. Selbstverständlich wird das medizinische Repertoire auch weiterhin eingesetzt, wenn dies nötig und sinnvoll erscheint, es spielt aber für die Patientin im Verlauf der chronisch fortschreitenden Krankheiten eine zunehmend nachgeordnete Rolle. Die Visite: Ein Beispiel aus der Praxis Es ist Dienstagvormittag. Ich habe mir für heute vorgenommen, mich soweit ich es vermag, in die Lage meiner Patientinnen hineinzuversetzen und mir dabei mein Verhalten und meine Gedanken während der Visite so gut es geht bewusst zu machen. Während ich das erste Zimmer betrete, gehen mir folgende Fragen durch den Kopf: Wie öffne ich die Türe und wie betrete ich den Raum? Wie mache ich mich bemerkbar, ohne „aufzutreten“ und ohne die Kranke ihre Wehrlosigkeit, ihre allzeitige körperliche Verfügbarkeit für die Ärztin spüren zu lassen? Ich bleibe an der Tür kurz stehen und beobachte die Patientin. Dabei versuche ich zu erfassen, ob sie überhaupt bemerkt hat, dass jemand in das Zimmer getreten ist. Ich lächele ihr zu und bewege mich ruhig und langsam in den Raum hinein, um ihr Zeit zu geben, mich wahrzunehmen. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, wie wichtig das ist. Während ich mich ihr nähere, versuche ich zu erspüren, ob sie tatsächlich bereit ist, mich zu „empfangen“. Meine ich zu erkennen, dass sie dazu bereit ist, mit mir Kontakt aufzunehmen, stelle ich mich vor, strecke meine Hand zur Begrüßung aus, warte auf ihre Reaktion und achte auf meine Sprache. Ich versuche mir bewusst zu machen, welche Signale ich aussende: Benütze ich Worte und Gesten der Macht, bin ich hier die „Chefin“? Verwende ich die Diktion des Bürokraten und „Datenverwalters“: sachlich, jedoch ohne Gefühl? Verbreite ich das Gefühl der Zeitnot, gebe ich zu verstehen, dass meine Zeit besonders kostbar ist und die Patientin sich deswegen kurz zu fassen und nach mir zu richten hat? Heute klagt Frau B. über Bauchschmerzen. Ich frage sie, ob ich mir ihren Bauch ansehen darf. Sie sagt „Ja“. Seit meiner Ausbildung in Validation nach Naomi Feil untersuche ich niemals eine Patientin – unabhängig davon, ob sie hellwach ist oder vor sich hin zu dämmern scheint, ob sie dement ist oder im Koma liegt –, ohne mit ihr zu sprechen und ohne ihr zu sagen, was ich als Nächstes vorhabe.
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Ich achte darauf, dass meine Hände nicht „in Besitz nehmen“, sondern vorsichtig fragend, tastend Kontakt aufnehmen. Professionelle Berührungen – sei es die Untersuchung des Bauches, der Lunge oder beim Blutdruckmessen – können gleichzeitig immer auch Berührungen der Fürsorge sein, eine Begegnung von Mensch zu Mensch. Ich werde mir heute meiner Macht bewusst. Ich bin gesünder, stärker, selbstbewusster als Frau B. und darüber hinaus befugt, Entscheidungen – für sie oder mit ihr – zu treffen. Mein Ziel ist es, bei jeder Begegnung ihr Vertrauen zu gewinnen oder zu erneuern. Ich erkenne, dass ich durch meine Berührungen und meine körperliche Nähe die gewohnten (Scham-)Grenzen der Patientin überschreite. Es ist wichtig, dieses Eindringen in die Privatsphäre der Kranken genau zu spüren. Ich sorge dafür, dass ich durch mein Verhalten nicht den Eindruck erwecke, mir den Körper der Patientin – und damit ihre ganze Person – schamlos anzueignen. Ich versuche, meine Übermacht zu mildern, indem ich mit der Kranken – sowohl mit den Händen als auch emotional – behutsam „in Fühlung“ komme. Ich spreche mit ruhiger Stimme Worte der Zuwendung, handle bedächtig und lasse zu, dass Frau B. ihre Angst oder Abwehr mitteilen kann. Sie soll spüren, dass sie auch dann angenommen wird, wenn sie nicht „gehorcht“. Obwohl Frau B. vorher der Untersuchung des Bauches zugestimmt hat, dreht sie sich bei der ersten Berührung plötzlich unwillig auf die Seite. (Viele Jahre lang hätten mich Reaktionen dieser Art ungeduldig gemacht; ich hätte der Kranken ihre „Inkonsequenz“ übel genommen.) Ich überlege: Ist diese Untersuchung, sind die zu erwartenden Konsequenzen und Maßnahmen tatsächlich sofort notwendig oder kann ich noch zuwarten? Habe ich fixe Vorstellungen davon, was in einer bestimmten Situation zu tun ist? Beuge ich mich gewohnheitsmäßig den zum Teil starren Regeln der Organisation, die zwar in bestimmten Situationen sinnvoll sein mögen, jedoch in diesem individuellen Fall zum Vorteil der Patientin zu durchbrechen wären? Wann bin ich zum letzten Mal zur Ruhe gekommen, um darüber nachzudenken, ob ich noch mit dem Herzen bei meiner Arbeit bin? Oder drifte ich – ohne mir dessen bewusst zu sein – mit weitgehend abgeschotteten Sinnen und gnadenloser Routine, stets den vorgeschriebenen Standards folgend, durch meinen Alltag? Frau B. hat sich indessen entspannt, meine Hand in ihrer. Ich darf sie jetzt doch untersuchen. Während ich den Bauch vorsichtig abtaste, beobachte ich ihre Reaktionen. Ich frage sie, ob sie Schmerzen hat und ob ihr die Untersuchung unangenehm ist. Sie schüttelt den Kopf. Ich sage ihr, dass ich jetzt das Stethoskop auf den Bauch setze, um die Darmgeräusche zu hören. Alles geschieht ruhig, in einem sehr langsamen Tempo, während ich
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mit tiefer ruhiger Stimme zu ihr spreche. Die Patientin soll spüren, dass ich ganz bei ihr bin, sie ernst nehme und ihr helfen möchte. Ich begegne ihr nicht zum ersten Mal; in allen früheren Kontakten habe ich mich bemüht, ihr Vertrauen zu gewinnen, und versucht, ihre Bedürfnisse, ihr Wesen und ihr Verhalten kennenzulernen, um ein Gefühl für sie zu entwickeln. Ich versuche, mich im Laufe der Begegnung – zumindest für kurze Zeit – von den Fesseln meiner Rolle als Ärztin zu befreien, um eine Begegnung von Wesen zu Wesen – abseits der eingefahrenen Vorstellung von „Arzt oder Patient sein“ – auf der „kreatürlichen Ebene“ zu gestatten. Ich spüre auf diese Weise die „ganze Person“ – meine und die der Patientin – wesentlich deutlicher und fühle mich als Mensch mit einem anderen Menschen verbunden. Eine solche Begegnung gelingt nicht an jedem Tag; immer wieder kommt es vor, dass die Berufsrolle Siegerin bleibt. Die Untersuchung ergibt keinen auffälligen Befund: Frau B. hatte lediglich seit drei Tagen keinen Stuhlgang. Ich weiß, dass sie Einläufe verabscheut. Ich verschreibe ihr daher ein Abführmittel, das sie in Form von Tropfen einnehmen kann. Das Beachten solcher vergleichsweise kleinen Wünsche der Patientin, die ich leicht erfüllen kann, bedeuten für Frau B. mehr Selbstbestimmung und das tröstliche Gefühl, ernst genommen zu werden. Sie spürt, dass ihre Worte nicht ungehört verhallen, sondern wahrgenommen und verstanden werden. Wenn ich eine Patientin wieder verlasse, verabschiede ich mich von ihr. Das gebietet schon allein die Höflichkeit. Das Abschiednehmen soll deutlich erkennbar und für den dementen Menschen verständlich sein. Ich suche Blickkontakt (möglichst in Augenhöhe), reiche der Patientin die Hand und lasse zwei bis drei Atemzüge vergehen, um der dementen Frau die Gelegenheit zu geben zu verstehen, was gerade geschieht. Danach entferne ich mich langsam rückwärts gehend von Frau B. Auf diese Weise ist es möglich, den Blickkontakt noch etwas länger zu halten und ihr zuzuwinken. Ich freue mich, dass mir die Begegnung mit Frau B. heute so gut gelungen ist. Das ist bei weitem nicht immer so. Wie oft bleibe ich – aus den verschiedensten äußeren und inneren Gründen – hinter meinen eigenen Standards zurück; dann finde ich weder die notwendige Ruhe noch den richtigen Tonfall. Doch gottlob verzeihen mir die Patientinnen in der Regel geduldig meine Unzulänglichkeiten! Nachdem ich das Zimmer verlassen habe, wird mir wieder einmal deutlich bewusst, dass wir über die tatsächliche Befindlichkeit unserer hochbetagten, dementen Patientinnen aus eigener Erfahrung gar
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nichts wissen – auch wenn wir uns noch so sehr darum bemühen, die Situation empathisch zu erfassen: Wir waren noch nie 85 Jahre alt oder dement! Dieses Nicht-Wissen im Hinterkopf stets präsent und abrufbar zu halten, ist äußerst nützlich. Wir können dieses NichtWissen als einen „Mahner“ verstehen, der uns immer wieder daran erinnert, dementen Menschen mit einem offenen, frischen Geist und mit dem notwendigen Augenmaß zu begegnen.
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Die „große Ethik“ – Entscheidungen am Lebensende
The art of palliative care lies in finding the best course of action for each unique patient. (Randall und Downie, 1999)
Hochbetagte, die in einem Heim aufgenommen werden, leben dort in der Regel bis zu ihrem Tod. Die Aufnahme markiert den Beginn ihrer – kürzeren oder längeren – letzten Lebensphase. Pflegeheime dürfen sich daher nicht damit begnügen, „Häuser zum Leben“ (Slogan des Kuratoriums der Wiener Pensionistenheime) zu sein, sie müssen auch gute Orte zum Sterben sein. Mitarbeiterinnen eines Heims stehen, wenn das Lebensende in den Blick kommt, immer wieder vor schwierigen Entscheidungssituationen und müssen lernen, professionell damit umzugehen. Solange weiterführende therapeutische und diagnostische Maßnahmen für schwerkranke Hochbetagte nicht oder nur sehr beschränkt zur Verfügung standen (früher hielt man z. B. größere Operationen in hohem Alter grundsätzlich für kontraindiziert), war das nicht besonders schwierig. Heute konfrontiert uns die moderne Medizin mit einer enormen Palette an Machbarem. Immer öfter müssen wir uns fragen, ob wir berechtigt oder verpflichtet sind, Menschen am Lebensende den Belastungen noch möglicher Diagnostik und Therapie auszusetzen. Es wird offenbar immer schwieriger, das Leben dann abzuschließen, wenn es dafür Zeit zu sein scheint. So wäre der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon im Jänner 2006 mit Sicherheit nach einem schweren Schlaganfall gestorben, wäre nicht sein Tod zu diesem Zeitpunkt politisch unerwünscht und sein Weiterleben medizinisch „machbar“ gewesen. Seither liegt er im Koma. „Sterben und Tod wird unter den Bedingungen der modernen Medizin häufig erst möglich, wenn der Einsatz der vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten begrenzt bzw. darauf verzichtet wird“ (Müller-Busch, 2008, S. 60).
Große ethische Entscheidungen im Kontext Demenz „Menschliches Leben ereignet sich im Spannungsfeld von Unabhängigkeit und Abhängigkeit“ (Reitinger und Heller, 2010, S. 743). Mit fortschreitender Demenz sind die Betroffenen immer stärker auf ihre Betreuerinnen und deren Verständnis angewiesen. Einschränkungen des abstrakten Denkens, Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit, Sprachstörungen und zahlreiche andere Leiden hindern sie zunehmend daran, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu äußern und durchzusetzen. Die Verantwortung für die Betroffenen liegt daher zunehmend
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bei anderen, bei Angehörigen, Pflegenden, Ärztinnen, Therapeutinnen, teilweise auch bei ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen. Müssen Entscheidungen, bei denen es um Leben und Sterben geht, mit oder ohne Beteiligung der Erkrankten getroffen werden, fühlen sich nicht nur Angehörige, sondern auch Profis häufig überfordert. Soll – darf – muss die Patientin trotz fortgeschrittener Demenz und schlechtem Allgemeinzustand zur Behandlung ihrer Pneumonie in ein Krankenhaus transferiert werden? Obwohl Studienergebnisse (Thompson et al., 1999; Saliba et al., 2000; Dosa, 2005; Volicer, 2007) deutlich darauf hinweisen, dass die Überstellung in ein Spital solchen Patientinnen mehr schadet als nützt, sind Transferierungen wegen einer Pneumonie noch immer sehr häufig. Soll – darf – muss eine Ernährungssonde gesetzt werden, weil die schwer demenzkranke Patientin aufgehört hat zu essen? Wie an anderer Stelle ausgeführt (s. S. 87 ff.), ist dies genau genommen keine Frage der Ethik, sondern eine der medizinischen Indikation. Dennoch ist ein großer Teil der Mitarbeiterinnen aller Berufsgruppen mit dieser Situation so überfordert, dass noch immer vielen Patientinnen in der Endphase ihrer Erkrankung eine Ernährungssonde gesetzt wird, obwohl der Eingriff zu diesem Zeitpunkt nicht indiziert ist. Soll – darf – muss die Patientin einer weitergehenden aggressiven Diagnostik und Therapie ausgesetzt werden, obwohl es ihr sehr schlecht geht und der Erfolg dieser belastenden Maßnahmen äußerst ungewiss erscheint? Soll – darf – muss das Therapieziel dahingehend geändert werden, dass von nun an nicht mehr Lebensverlängerung angestrebt wird, sondern die bestmögliche Lebensqualität (s. S. 103 ff.)? Die Entscheidung für einen Therapierückzug oder einen Therapieverzicht fällt niemals leicht. Liegt es daran, dass wir den Tod als persönliches Versagen verstehen? Oder daran, dass „unsere Kultur den Tod ausgebürgert“ hat und er „nicht zum Leben und dessen Ende gehört“ (Mettnitzer 2009, S. 82)? Angesichts großer Ungewissheit fällt es besonders schwer, weitreichende Entscheidungen treffen zu müssen. Das Zusammenspiel von gebotener Fürsorglichkeit und Respekt vor dem Recht, selbst zu entscheiden, macht es besonders problematisch, Entscheidungen zusammen mit Demenzkranken oder für sie zu treffen. Nur wenige geriatrische Patientinnen können ganz autonom entscheiden, aber fast alle können bis zu einem gewissen Grad an der Entscheidung mitwirken. Besonders fordernd ist die Entscheidungsfindung, wenn Demenzkranke ihren Willen zwar klar äußern können, wir aber daran zweifeln müssen, ob sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung klar genug erkennen.
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Die „große Ethik“ – Entscheidungen am Lebensende
Frau Alexia Frau Alexia ist bei der Aufnahme ins Pflegeheim 79 Jahre alt und leidet an mehreren bereits weit fortgeschrittenen chronischen Erkrankungen. Sie sitzt im Rollwagen und grüßt uns freundlich, wirkt jedoch irritiert und ängstlich. Trotz ihrer mittelgradigen Demenz kann sie sich verbal noch erstaunlich gut mitteilen. Der anwesende Ehemann wirkt besorgt. Er berichtet, dass seine Frau in den letzten Monaten wegen ihrer vielen schweren Erkrankungen und auch weil sich die häusliche Versorgung zunehmend schwierig gestaltete wiederholt im Krankenhaus aufgenommen werden musste. Nun sei die Betreuung zu Hause endgültig nicht mehr möglich und die Verlegung in ein Pflegeheim unumgänglich geworden. Bei Frau Alexia finden sich zwischen den Zehen des linken Fußes mehrere kleine Ulcerationen, die zunächst unter entsprechender Therapie abzuheilen scheinen. Doch im Verlauf der nächsten Wochen verschlechtert sich der Befund: Die Geschwüre werden größer, das umgebende Gewebe erscheint gerötet und geschwollen. Da offenbar eine schwere Durchblutungsstörung vorliegt, wird die Patientin der Gefäßambulanz vorgestellt. Dort wird eine PAVK IV festgestellt und – neben der üblichen medikamentösen Therapie – eine Angiographie vorgeschlagen. Diese lehnt Frau Alexia in mehreren ausführlichen Gesprächen, in denen ihr der Sinn dieser Untersuchung erklärt und das drohende Unheil bei Fortschreiten der PAVK geschildert wurde, wiederholt dezidiert ab. Bei jeder Visite spricht die zuständige Ärztin in einfachen Worten über die fortschreitende Krankheit. Sie setzt Frau Alexia geduldig auseinander, dass man – sollte sich die Situation weiter verschlechtern – eventuell eine Amputation des Fußes oder des Unterschenkels in Erwägung ziehen müsse, um ihr Leben zu retten.
Wer darf entscheiden? Gerade in dringlichen Entscheidungssituationen ist die Versuchung groß, sich und andere vorschnell mit der Frage zu konfrontieren, was denn nun zu geschehen habe. Doch davor muss geklärt werden, wer in diesem Fall überhaupt berechtigt ist, eine Entscheidung zu treffen. Früher stellte sich diese Frage nicht. Auf Grund seines Fachwissens entschied der Arzt (damals vorwiegend ein Mann). Teammitglieder, Angehörige, ja sogar die Patientin selbst hatten seine Entscheidung zu akzeptieren und damit zu leben. Doch die Zeit des Paternalismus ist endgültig vorbei. Für uns ist es selbstverständlich, dass jeder Mensch das Recht hat, selbst zu entscheiden, was mit ihm geschehen soll.
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Heute droht – vor allem in den Vereinigten Staaten – das veraltete Modell des Paternalismus in sein Gegenteil umzukippen: Die Ärztin informiert ihre „mündige Patientin“ möglichst „objektiv“ über alle Behandlungsoptionen mitsamt Erfolgsaussichten, Nebenwirkungen und Risiken und überlässt ihr die Wahl. Die Entscheidung wird Menschen überlassen, die dank mangelndem Fachwissen nicht in der Lage sind, ohne fachlichen Rat sinnvoll zu entscheiden. Randall und Downie bezeichnen diese Vorgangsweise sehr treffend als „customersalesperson model“ (Randall und Downie, 1999, S. 41). Dass Entscheidungen für Demenzkranke auf diesem Weg nicht getroffen werden können, liegt auf der Hand. In etwas abgewandelter, besonders unschöner Form ist dieses Modell jedoch auch bei uns anzutreffen, wenn nämlich Angehörigen Demenzkranker allein die Verantwortung für eine Entscheidung aufgebürdet wird. („Soll Ihre Mutter verhungern oder eine PEG-Sonde bekommen?“) Care Ethik Wenn wir ohne paternalistisches Vorgehen Entscheidungen von großer Tragweite für Demenzkranke treffen wollen, die selbst dazu nicht mehr in der Lage sind, können wir uns nur darum bemühen, sorgsam ihren mutmaßlichen Willen zu ergründen, um dann als Treuhänderinnen der Betroffenen in ihrem Sinne zu handeln. Erst die Entwicklung der Care Ethik in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts (Gilligan, 1999) hat es möglich gemacht, Begriffe wie Fürsorge, Beziehung und Mitgefühl in der Ethik salonfähig zu machen und unser Augenmerk ein Stück weit von der sachlichen Richtigkeit auf den betroffenen Menschen zu lenken. „Der konkrete Andere rückt in das Zentrum der Ethik“ (Weissenberger-Leduc, 2004, S. 230) und fordert gerade in Entscheidungssituationen unsere respektvolle, wertschätzende und liebevolle Haltung. Für Demenzkranke, die sich durch ihre besondere Hilf- und Wehrlosigkeit auszeichnen, ist diese Achtsamkeit und engagierte Sorge besonders bedeutsam: Wenn wir gemeinsam mit ihnen zu möglichst guten Entscheidungen kommen wollen, müssen wir uns von den Betroffenen selbst zu ihren Zielen leiten lassen. Diese Einsicht ist noch nicht überall gewachsen. In vielen Teams gibt es niemanden, der in seiner Ausbildung gelernt hat, wie man „gute Entscheidungen“ für demenzkranke Menschen am Lebensende trifft. Auch wir lernten erst im Laufe der Zeit, dass Fachwissen und Erfahrung alleine dafür nicht ausreichen. Neben tragfähigen Beziehungen zu Betroffenen und Angehörigen, genauen Biographiekenntnissen
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und guter partnerschaftlicher Kommunikation im Team ist nicht zuletzt auch Intuition erforderlich. Die Erkenntnis, dass eine gute Entscheidung auch immer etwas mit unserer Intuition zu tun hat (und haben darf!) und dass es legitim ist, auf sein eigenes „gutes“ oder „schlechtes“ Gefühl zu hören, war eine große Erleichterung für uns. Es ist nicht nur „erlaubt“, es ist sogar explizit erwünscht, diese persönlichen Empfindungen zu äußern und in die Diskussion einzubeziehen! Es wurde uns bewusst, dass sich „in jedem therapeutischen Bündnis, besonders aber in der Sterbebegleitung Menschen letztlich immer im Vertrauen auf Ungewisses zusammenfinden“ (MüllerBusch, 2008, S. 57). Um zu möglichst guten Entscheidungen zu kommen, sind wir daher auf jeden Fall auf die Meinung anderer angewiesen. „Ethik braucht die Kompetenz geteilter Inkompetenz. Niemand hat alleine den Blick auf das Ganze“ (Reitinger und Heller, 2010, S. 737). Zu dem Kreis der Entscheiderinnen gehören die Patientin selbst, ihre wichtigsten Angehörigen oder Bezugspersonen, die zuständige Ärztin, die Stationsleitung, ein oder zwei Mitglieder des Pflegeteams, eventuell auch noch ein oder zwei Mitarbeiterinnen aus anderen Berufsgruppen, die sich mit Entscheidungen am Leben auseinandersetzen. Die Anzahl der Teilnehmerinnen sollte jedoch nicht zu groß sein, wenn die Entscheidung zeitnah fallen muss. Die Verantwortung für die letztlich getroffene Entscheidung trägt die Ärztin (vgl. S. 103 ff.).
16.1 Prinzip der Reiseplanung Da große ethische Entscheidungen stets in einer Grauzone der Ungewissheit gefällt werden müssen, ist es vorteilhaft, klare Richtlinien dafür zu haben, wie vorgegangen werden kann, um ohne große Umwege zu einer möglichst guten und sinnvollen Entscheidung zu gelangen. Eine Reihe hilfreicher Methoden für ethische Fallbesprechungen steht dafür zur Verfügung. Die bekannteste und heute am häufigsten verwendete ist die Nimwegener Methode (Steinkamp und Bordijn, 2000), sie ist aber nicht immer ganz leicht in den Alltag eines Pflegeheims zu integrieren. Wir wollen daher an dieser Stelle ein einfacheres Modell vorstellen, das sich auch für geriatrische Settings bewährt hat: das Prinzip der Reiseplanung nach Loewy. Dieses Konzept weist einige entscheidende Vorteile auf: Es ist kurz, prägnant, für alle, die an solchen Besprechungen teilnehmen, leicht zu verstehen, erfordert keine besondere Schulung und lässt sich problemlos gemäß den jeweiligen Erfordernissen adaptieren.
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Loewy beschränkt sich auf drei prägnante Fragen: 1. Wo sind wir? Diagnose und Ausmaß der Erkrankung(en) müssen feststehen, ehe man weiter vorgeht. “Good ethics... is dependent upon good and accurate facts” (Loewy und Springer-Loewy, 2000, S. 47). Dafür zu sorgen ist Aufgabe der Ärztin. Für Frau Alexia können wir die Frage klar beantworten: Sie ist fortgeschritten multimorbid und leidet im Bereich ihres linken Beins an der schwersten Form einer arteriellen Verschlusserkrankung. 2. Wo wollen wir hin (Quo-vadis-Frage)? Die Ärztin erstellt Szenario und Prognose für den bestmöglichen und für den wahrscheinlichsten Fall. Entscheidungsfähige Patientinnen können sich dann, nach ausführlicher fachlicher Beratung, für den Weg entscheiden, der am besten mit ihren individuellen Werten in Einklang zu bringen ist. Entscheidungen für Demenzkranke stellen uns vor weit schwieriger zu lösende Probleme. Eine Amputation kommt für Frau Alexia überhaupt nicht in Frage! Sie würde „lieber sterben, als sich ein Bein abnehmen lassen“. Trotz ihrer demenziellen Erkrankung hat das Team den Eindruck, dass Frau Alexia – zumindest zeitweise – den Sinn der vorgeschlagenen Untersuchungen begreift und die Tragweite ihrer Ablehnung versteht. Die Frage, wieweit sie die Konsequenzen ihrer Ablehnung erfasst, bleibt dennoch offen. Die Ulzera zwischen den Zehen werden trotz entsprechender Behandlung deutlich größer und sind mit schwarzem nekrotischem Gewebe belegt. Zusätzlich haben sich weitere Geschwüre im Bereich des Knöchels und des Vorfußes entwickelt. Die Quo-vadis-Frage muss vorerst offen bleiben und wird uns noch länger zu beschäftigen haben. 3. Wie kommen wir zu diesem Ziel? Je klarer die Quo-vadis-Frage zu beantworten ist, desto einfacher ist es, geeignete zielführende Mittel zu finden. Für Frau Alexia sind wir noch lange nicht so weit.
16.2 Die Bedeutung des mutmaßlichen Willens Um entscheidungsfähig zu sein, muss eine Patientin ausreichend über das gesundheitliche Problem informiert sein und verstehen, welche Konsequenzen verschiedene Behandlungsoptionen nach sich ziehen. Sie muss genug Zeit haben, um sich den eigenen Werten und Vorstellungen entsprechend zu entscheiden oder die Entscheidung an andere (Ärztin, Angehörige) zu delegieren (Loewy und Springer-Loewy, 2000, S. 33).
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Die Entscheidungsfähigkeit Demenzkranker kann von Tag zu Tag, ja sogar von Stunde zu Stunde schwanken. Daher ist es besonders wichtig, stets große Sorgfalt darauf zu verwenden, ihren mutmaßlichen Willen festzustellen. Wünsche und Werthaltungen, die uns die Patientinnen selbst mitteilen oder auf die wir im Kontakt mit ihnen schließen können, und Angaben der Angehörigen fließen maßgeblich in die Entscheidungsfindung ein. Mitarbeiterinnen in der Geriatrie genießen das Privileg, ihre Patientinnen in der Regel wesentlich länger und besser zu kennen als ihre in Krankenhäusern beschäftigten Kolleginnen. Sie laufen daher viel weniger Gefahr zu vergessen, dass sie es auch bei weit fortgeschrittener Demenz „nicht mit einer Krankheit zu tun haben, an der auch ein Mensch hängt, sondern mit einem Menschen, an dem auch eine Krankheit hängt“ (Dörner, 2001, S. 119). Je genauer wir eine Patientin, ihre Lebensgeschichte, ihre Vorlieben und Abneigungen kennen und je besser sich unser Gesprächskontakt mit der oder den nächsten Angehörigen entwickeln konnte, desto sicherer werden Entscheidungen ausfallen. Die Unsicherheit, worüber Demenzkranke noch oder nicht mehr selbst entscheiden können, bleibt aber auch dann bestehen. Wann beschneide ich ungerechtfertigt ihren Anspruch, eigene Ziele zu verfolgen – wann liefere ich sie diesem Anspruch hilflos aus, obwohl sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung nicht mehr absehen können? Frau Alexia hat in vielen Gesprächen mit der Ärztin, den Pflegenden und ihrem Ehemann wiederholt: „Ich will lieber sterben. Ich will nicht, dass das Bein abgenommen wird!“ Sie hat die Angiographie wiederholt abgelehnt und ihre Meinung bis zuletzt nicht geändert. Mit dem Ehemann steht das Team von Anfang an in gutem Gesprächskontakt. Er wird laufend über den Zustand seiner Frau und den Krankheitsverlauf informiert. An der Besprechung der Teammitglieder mit ihrem Ehemann nimmt Frau Alexia nicht teil. Eine Diskussion in der Gruppe wäre für sie eine Überforderung. Außerdem will niemand in ihrem Beisein „über sie hinweg“ sprechen. Der Ehemann eröffnet das Gespräch und erzählt, dass „das Schreckgespenst einer Amputation schon früher einmal Thema“ war. Seine Frau hat diese Möglichkeit jedoch immer wieder mit den Worten abgelehnt: Sie „würde lieber sterben“. Er leidet sichtlich darunter, dass sie sich nicht behandeln lassen will, ist aber dennoch bereit, ihren Willen voll zu akzeptieren, und wünscht sich, dass auch wir das tun. Auch auf wiederholtes Nachfragen bleibt er dabei, dass seine Frau „eine Amputation auf keinen Fall wollte“.
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Außerdem habe er „in der letzten Woche den Eindruck gehabt, dass seine Frau mit dem Leben abgeschlossen hat“. Er hat das Gefühl, dass sie möglichst bald und ohne Schmerzen sterben will. So weit scheint der weitere Weg klar vorgegeben. Aber: Ist ein Mensch in diesem Stadium der Demenz in der Lage, Entscheidungen von solcher Tragweite zu treffen? Laut Einschätzung der Ärztin ist der Allgemeinzustand von Frau Alexia zwar jetzt noch relativ gut, er könnte sich indes sehr rasch so weit verschlechtern, dass man das Risiko einer Amputation nicht mehr einzugehen wagt. Falls eine Amputation durchgeführt werden soll, müsste der Eingriff jetzt geschehen. Eine endgültige Entscheidung muss daher rasch getroffen werden.
16.2.1 „Ethik als Frage nach dem Guten“ (Heller, 2009, S. 158) Gibt es angesichts der Tatsache, dass ein Mensch mit mittelgradiger Demenz eine potenziell lebenserhaltende Maßnahme strikt ablehnt, noch die Möglichkeit, „gut“ zu entscheiden? Im Zweifelsfall für das Leben? Laut Befund der Gefäßchirurgie besteht eine vitale medizinische Indikation für eine Amputation. Ohne den Eingriff wird sich aus der trockenen eine feuchte Gangrän und in der Folge eine Sepsis entwickeln. Leben und Sterben können sich unter Umständen noch Wochen oder sogar Monate hinziehen. Vieles spricht dafür, dass Frau Alexia weiß, dass sie sterben wird, wenn sie sich nicht operieren lässt; ihr Entschluss steht in Einklang mit früheren Aussagen. Aber kann sie tatsächlich ermessen, wofür sie sich entscheidet? Was es – selbst bei guter palliativer Betreuung – bedeutet zu erleben, dass ein Bein gangränös wird und allmählich abstirbt? Welche furchtbaren, möglicherweise kaum mehr beherrschbaren Schmerzen dieser Zustand mit sich bringen kann? Wahrung der Grundprinzipien der Ethik Für Ehemann, Stationsleitung, Ärztin und Pflegeteam hat der immer wieder bekundete Wille von Frau Alexia einen hohen Stellenwert. Alle würden ihren Willen gerne akzeptieren. Reicht das für eine verantwortliche Entscheidung gegen die Amputation? Die Verpflichtung, Gutes zu tun (Prinzip der Benefizienz) und Schlechtes abzuwehren (Prinzip der Non-Malefizienz), ist eine tra-
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gende Säule der Ethik. Es gibt jedoch genug Situationen, in denen sich keine wirklich gute Lösung finden lässt, sondern bestenfalls eine weniger schlechte (Loewy, 1995). Um im besten Interesse von Frau Alexia handeln zu können, tasten wir uns mühsam im Gespräch vorwärts und versuchen, sowohl die zu erwartenden Belastungen einer Operation als auch ihren möglichen Nutzen abzuschätzen. Dabei werden widersprüchliche Wünsche und Gefühle offenbar. Eine Mitarbeiterin bringt diese Ambivalenz auf den Punkt: „Wir wollen nicht, dass sie leidet, aber wir wollen auch nicht, dass sie stirbt.“ Ortswechsel, Hospitalisation und Narkose belasten Demenzkranke besonders stark. Sie reagieren häufiger als nicht demente Hochbetagte mit Infekten, einem Delir oder versterben in der postoperativen Phase. Wir müssen uns fragen: Dürfen wir Frau Alexia diesen Belastungen aussetzen? Falls Frau Alexia die Operation übersteht (das ist möglich, aber nicht sicher), wird es ihr dann subjektiv und objektiv besser oder schlechter gehen? Wäre die erzielte Lebensverlängerung am Ende nur eine Verlängerung des Sterbens? Wäre sie verzweifelt darüber, ohne Bein weiterleben zu müssen? Würde sie den Ehemann, das Team dafür verantwortlich machen? Als wirklich hilfreich in dem Entscheidungsprozess erweist sich letztlich die Frage: „Was glauben wir, will Frau Alexia auf gar keinen Fall?“ (Loewy, 1995). Hier sind wir uns in vielem einig: Frau Alexia will bestimmt nicht von uns allein gelassen und an einen fremden Ort transferiert werden. Sie will bestimmt zu nichts gezwungen werden und nicht unnötig leiden. Allmählich kristallisiert sich heraus, dass wir die Belastungen einer Amputation deutlich höher einschätzen als ihren möglichen Nutzen. Wir beschließen schließlich gemeinsam, auf weiterführende medizinische Maßnahmen zu verzichten und stattdessen alles zu tun, um für Frau Alexia die bestmögliche Lebensqualität zu gewährleisten. Ehemann, Ärztin und Stationsleitung besprechen die Entscheidung für eine palliative Weiterbehandlung mit Frau Alexia. Sie ist sichtlich erleichtert und sagt: „Gott sei Dank habe ich jetzt meine Ruhe!“ Mit der Entscheidung leben Das Team rechnet damit, dass das Leben von Frau Alexia nun sehr bald zu Ende geht. Ihr Zustand wird zwar von Tag zu Tag schlech-
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ter, doch der Tod lässt auf sich warten! Manche Teammitglieder beginnen daran zu zweifeln, ob sie die richtige Entscheidung getroffen haben. Einige fragen sich, ob nicht doch jetzt noch alle Hebel in Bewegung gesetzt werden sollten, um das Leben von Frau Alexia zu verlängern, auch wenn das für diese große Belastungen mit sich brächte. Stationsleitung und Ärztin nehmen diese Sorgen ernst. Sie rufen wiederholt Wunsch und Willen der Patientin in Erinnerung und besprechen im Team immer wieder den Krankheitsverlauf. Es stellt sich heraus, wie wichtig es ist, stets von Neuem bewusst zu machen, wie viel das Team tun kann, um die Leiden von Frau Alexia zu lindern, und wie gut ihm das gelingt. Obwohl sich die Gangrän am Bein zunehmend ausweitet, liegt Frau Alexia ganz ruhig und entspannt im Bett und scheint keine Schmerzen zu haben. Das hilft den „Zweiflern“, die Situation wieder klarer zu sehen, zu dem eingeschlagenen Weg ja zu sagen und die schwere Zeit gemeinsam auszuhalten. Der Ehemann ist zwar traurig, aber gefasst. Er sagt: „Ich bin darauf vorbereitet. Ich habe mich von meiner Frau in den letzten Tagen schon oft verabschiedet.“ Drei Tage später verstirbt Frau Alexia ruhig und friedlich in seiner Anwesenheit.
Fazit „Jede ethische Entscheidung ist ein Abwägungsproblem, in der Ethik kann es keine Absolutheitsansprüche geben“ (Eckhardt, 2010). Der Weg der Entscheidungsfindung ist abhängig von den Antworten auf folgende Fragen: „Was soll bei uns gelten und warum?“ (ethische Vorgaben oder Leitlinien des Pflegeheims) (Heller, 2009, S. 160). Was ist für diesen einmaligen und einzigartigen Menschen gültig, mit dem gemeinsam oder für den entschieden werden muss? Ist das, was wir planen, für diesen Menschen tatsächlich das Bestmögliche? Wir können nicht mehr tun, als die Betroffene so gut es geht in den Prozess einzubeziehen, sämtliche verfügbaren Informationen zu sammeln und alle möglichen Gesichtspunkte zu bedenken. „Unsere Entscheidungen fällen wir von Fall zu Fall, zwei gleiche Fälle gibt es nicht. Auch im Nachhinein können wir nicht sicher sein, ob wir richtig oder falsch gehandelt haben, weil wir niemals wissen können, wie es anders gelaufen wäre“ (Schragel, 2009, S. 70).
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Angehörige
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Psychosoziale Beratungsangebote für Angehörige von Demenzkranken
Die Zahl der Demenzkranken wird sich in Zukunft alle 20 Jahre nahezu verdoppeln (ADI World Alzheimer Report, 2009). Dadurch ist die Gesellschaft nicht nur mit einer stetig steigenden Zahl kranker Menschen und zunehmenden Kosten konfrontiert, sondern auch mit einer rasch wachsenden Gruppe von Angehörigen. Es sind zum Großteil Frauen, die sich in dieser seelisch, körperlich und finanziell belastenden Situation befinden. Angehörige von Demenzkranken sind erhöhten Risiken für psychische und physische Krankheiten ausgesetzt (exemplarisch Schulz und Martire, 2004). Am meisten belastet sind die Partnerinnen. Ihnen möchte ich mich in diesem Kapitel daher besonders zuwenden. Sie leiden unter starker Erschöpfung, oft auch unter Traurigkeit, schlechtem Gewissen und Einsamkeit. Etwa 25 % der pflegenden und 5 % der nicht pflegenden Partnerinnen haben Depressionen (Adams, 2008). Große Angst bei Angehörigen löste eine medial weit verbreitete Studie aus (Norton et al., 2010), nach der Partnerinnen und Partner von Demenzkranken ein sechsfach höheres Risiko tragen, selbst an einer Demenz zu erkranken. Dies gilt vor allem für Männer. Die Bestätigung durch Kontrollstudien steht noch aus. Laut der in sechs europäischen Ländern durchgeführten EUROFAMCARE-Studie (Lamura et al., 2006) fühlen sich zwei Drittel der Angehörigen durch Familie, Freunde und Bekannte ausreichend unterstützt, viel zu wenig dagegen von Gesundheits- und Sozialdiensten. Nur eine Minderheit der Angehörigen (in Österreich etwa ein Viertel; Pochobradsky et al., 2005, S. II und S. 32) nimmt Beratungs- und Unterstützungsangebote in Anspruch, selbst wenn diese kostenlos angeboten werden (IDA-Studie, 2010). Die Ursachen dafür sind vielfältig: Negative Einstellungen der Angehörigen und der Kranken zu externen Diensten spielen dabei ebenso eine wichtige Rolle wie die Kosten der Beratungsangebote und der Wunsch nach einem höheren Maß an Autonomie. Angebote, die nicht den individuellen Vorstellungen entsprechen, werden abgelehnt. Hinzu kommt, dass die Demenz in der schwierigen Anfangsphase der Erkrankung in vielen Familien tabuisiert, häufig auch ganz geleugnet wird. Das schränkt die Inanspruchnahme von Angeboten ein oder verhindert sie ganz. Durch verbesserte Information allein lässt sich das Verleugnen der Krankheit kaum beeinflussen. Dazu bedarf es meist eines längeren Beratungsprozesses. Im Frühjahr 2009 meldete sich die 60-jährige Frau A. telefonisch bei der Angehörigenberatung. Ihr 68-jähriger Ehemann ist an frontotemporaler Demenz mit progressiver Aphasie erkrankt; die Diagnose
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wurde bereits zwei Jahre zuvor gestellt. Eine frontotemporale Demenz zeichnet sich durch massive Verhaltensänderungen und Störungen des Sozialverhaltens aus. Vor der Diagnosestellung hatte Frau A. das Verhalten ihres Mannes, obwohl es ihr merkwürdig vorkam, immer wieder entschuldigt. „Er war nie aggressiv und plötzlich schreit er beim Heurigen den Kellner an, weil das Glas nicht bis auf den Punkt eingeschenkt ist.“ Bereits beim ersten Hausbesuch war die psychische Belastung von Frau A. klar erkennbar, doch muss beim Erstkontakt behutsam vorgegangen werden. Auf ihren Wunsch informierte die Beraterin Frau A. über (sozial)rechtliche und finanzielle Themen und über Betreuungsangebote für ihren Mann. Daraufhin reichte Frau A. noch am selben Tag den Pflegegeldantrag ein. Dagegen erzeugte die Vorstellung, den Ehemann versuchsweise für einen Tag die Woche in einem Tageszentrum anzumelden, in ihr großes Unbehagen: „Ich kann ihn doch nicht abschieben! Er tut mir so leid.“ Beim zweiten Treffen äußerte Frau A. den Wunsch, an der von uns angebotenen Gesprächsgruppe für Angehörige von Demenzkranken teilzunehmen. Sie war überzeugt davon, dass dies die geeignete Unterstützungsform für sie wäre. In dem Erstgespräch vor der Aufnahme in die Gruppe mit der dafür zuständigen Kollegin ergaben sich Bedenken, die auch offen angesprochen wurden. Frau A. wollte aber unbedingt den Versuch wagen. In der Gruppe fiel auf, dass Frau A., wenn andere Teilnehmerinnen von ihren Problemen erzählten, immer wieder mit Sätzen reagierte wie „Das ist bei uns Gott sei Dank noch nicht so schlimm, wir sind da noch am Anfang“ oder „So weit ist das mit meinem Mann noch nicht, er kann ja noch …“ usw. Mit der Zeit war in Hinblick auf Äußerungen, Mimik und Körpersprache immer deutlicher erkennbar, dass sich Frau A. emotional aus der Gruppe „ausklinkte“, um die als belastend empfundenen Erzählungen der anderen nicht an sich heranzulassen. Eine der beiden Leiterinnen thematisierte dies vorsichtig in der Gruppe und Frau A. wurde dazu ermutigt, wieder zur Einzelberatung zu gehen. Die darüber informierte Erstberaterin nahm am anderen Tag Kontakt zu Frau A. auf und vereinbarte mit ihr einen Gesprächstermin. Es brauchte fast ein Dreivierteljahr mit wöchentlichen Beratungen, bis Frau A. die Erkrankung und die neue Lebenssituation akzeptieren konnte und bereit war, eine Tagesbetreuung für ihren
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Mann auszuprobieren. Mittlerweile geht der Ehemann fünf Tage die Woche in ein Tageszentrum, was ihm und seiner Frau sehr gut tut. Frau A. erhält nach wie vor regelmäßig Beratung.
17.1 „Maßgeschneiderte“ Angebote Ein häufiger Grund dafür, dass Angebote nicht in Anspruch genommen werden, ist der Wunsch nach flexiblen, kostengünstigen sowie den individuellen Vorstellungen entsprechenden Hilfsangeboten. Seit mehr als zwanzig Jahren bildet Angehörigenarbeit einen meiner Arbeitsschwerpunkte. Seit 2003 leite ich die „Psychosoziale Angehörigenberatung“ der Caritas der Erzdiözese Wien. Derzeit stehen dafür zwei beratend und therapeutisch ausgebildete Mitarbeiterinnen mit insgesamt 50 Wochenstunden zur Verfügung. Der Schwerpunkt der Beratungen liegt mit ca. 60 % bei Angehörigen von Demenzkranken – meist Partnerinnen und Töchtern. Das kostenlose Angebot umfasst Einzelberatungen, Langzeitbegleitung (meist bei hochbetagten Angehörigen), Trauerberatung und -begleitung, das „Angehörigentelefon“ (einmal die Woche für drei Stunden, auf Wunsch anonym) sowie 1 eine monatliche Gesprächsgruppe für Angehörige von Demenzkranken. Die Gespräche finden in der Caritas bzw. nach Bedarf auch in den Wohnungen der Ratsuchenden oder an einem anderen geeigneten Ort statt. Von Hausbesuchen profitieren immobile und hochbetagte ebenso wie erwerbstätige Angehörige, die aufgrund ihrer Mehrfachbelastung über ein geringes Zeitbudget verfügen.
17.2 Auswirkungen von Interventionen für betreuende und pflegende Angehörige Zahlreiche Interventionsstudien (exemplarisch Sörensen et al., 2002; Pinquart und Sörensen, 2006) zeigen auf, dass manche Angebote für Angehörige eher geringe bis mäßige Effekte zeitigen. Die am häufigsten untersuchten Zielkriterien sind Verzögerung der Heimaufnahme, Verringerung von Depression, Reduktion objektiver und subjektiver
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Förderung aus Sponsorenmitteln des „Forums Palliative Praxis Geriatrie“ (FPPG).
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Belastungen sowie von Trauerreaktionen. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Bei Angehörigen von Demenzkranken konnten Informationsstand, Befähigung zum Umgang mit den Kranken und das subjektive Wohlbefinden positiv beeinflusst werden; des Weiteren wurde ein verringernder Effekt auf Belastungen und Depressionen beobachtet (Pinquart und Sörensen, 2006). (Selbsthilfe-)Gruppen allein, kurze Interventionen und Kurse genügen meistens nicht, sie sind mit individueller und längerer Beratung (Langzeitkontakt) zu kombinieren (Brodaty et al., 2003). Gute Effekte von Angehörigengruppen sind für Kriterien wie emotionaler Rückhalt, soziale Kontakte, Kontrolle über die eigene Lebenssituation, Erleichterung der Pflege und psychische Entlastung nachgewiesen (vgl. Kurz et al., 2005). Selbstverständlich stellt die Veränderungsbereitschaft eines Individuums stets die unverzichtbare Voraussetzung jeder erfolgreichen Intervention dar.
Ein kritischer Blick auf gängige Zielkriterien von Interventionsstudien Depression Hier ist anzumerken, dass ein Großteil der Angehörigen keine klinisch relevante Depression aufweist, depressive Verstimmungen dagegen kommen häufiger vor. Da Angehörigengruppen sich meist monatlich für zwei Stunden treffen, wäre es unrealistisch zu hoffen, eine Depression in diesem Setting signifikant verbessern zu können. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass neben einer vermittelten ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung zusätzliche psychoedukative2 und psychosoziale Beratung (meist längere Einzelberatungen) sehr positive Effekte auf die Depression der betreffenden Angehörigen haben. Belastungen und Trauerreaktionen im Krankheitsverlauf Demenzen sind unheilbar fortschreitende Erkrankungen. Das Befinden der Angehörigen hängt eng mit dem Befinden der Kranken zusammen. Je weiter die Erkrankung fortschreitet, je deutlicher die
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Psychoedukation ist das Übersetzen komplizierter medizinischer Begriffe in die Sprache des Patienten oder Angehörigen. Sie sollen dadurch mehr Wissen über die Erkrankung und mögliche Behandlungsmaßnahmen erhalten und beim Umgang mit der Krankheit unterstützt werden.
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Demenz Persönlichkeit und Verhalten der Betroffenen verändert, desto größer wird die Belastung der Angehörigen. Diese krankheitsbedingte Entwicklung trägt, insbesondere bei Partnerinnen von Demenzkranken, nicht wenig zu den als „schwach“ oder „mäßig“ beschriebenen Effekten bei. Nicht erst die Verringerung der Belastung, die in vielen Studien als Erfolg gefordert wird, bereits der Erhalt des Status quo beweist den positiven Effekt einer Intervention! Trauer ist eine Weggefährtin auf dem Weg „des langen Abschieds“ von einem Menschen, der an Demenz leidet. Trauer um den Verlust von Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen, vor allem aber die Angst davor, „wie schrecklich es noch kommen kann“, sind häufige Gesprächsthemen in der Beratung oder Gruppe. Im Rahmen einer qualitativen Untersuchung wurden 400 pflegende Angehörige von Alzheimerkranken gefragt, was sie im Betreuungsalltag am meisten belastet. An erster Stelle nannten über 80 % der Befragten den „Abschied von der Person, wie sie einmal war“ (Frank, 2008). Andauernde Verluste bedrohen das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle über den Lebensalltag: „Das Schlimmste ist, ich fühle mich so hilflos.“ „Es macht mich so traurig, dass man die Krankheit nicht aufhalten kann.“ „Zuschauen zu müssen, nichts tun zu können ist deprimierend.“ „Man weiß nicht, wie lange diese Phase jetzt anhält, wann wieder etwas schlimmer wird.“ Um das Gefühl von Kontrolle zu stärken oder wiederherzustellen, sollten in der Beratung Sicherheit, Kontinuität sowie Stabilisierung auf mehreren Ebenen hergestellt werden: Sicherheit für die Persönlichkeit der betreffenden Angehörigen (Akzeptanz der Individualität, Autonomie und Einzigartigkeit des Individuums), Sicherheit in der Beziehung und Interaktion (Aufbau von Vertrauen, Stabilisierung, Halt geben) und auf Organisationsebene. Entscheidend sind die Halt gebende Funktion in der Beratungsbeziehung und das „Aus-Halten“. Der schützende Raum dient der Stabilisierung des Individuums und bildet die Basis für eine vertrauensvolle Beratung. Wissensvermittlung unter Berücksichtigung der individuellen Situation (Psychoedukation) ist ebenfalls ein unverzichtbarer Teil in der Beratung von Angehörigen. Wenn Angehörige lernen, sich den Kranken gegenüber anders zu verhalten und anders mit ihnen zu kommunizieren, wächst ihr Selbstwertgefühl und das Gefühl der Kontrolle im Alltag kehrt allmählich zurück. Gleichzeitig profitieren auch die Demenzkranken davon. Etwa 20 % der pflegenden Angehörigen von Demenzkranken weisen nach dem Tod der betreuten Person eine komplizierte Trauer
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mit stark depressiven Symptomen auf (Schulz et al. 2008). Diese Reaktionen traten bei Angehörigen, die an psychosozialen Interventionen teilnahmen, in deutlich geringerem Umfang auf. Verhinderung bzw. Verzögerung der Heimaufnahme Dieses bei Interventionsstudien (offenbar auch im Interesse der Kostenersparnis) beliebte Zielkriterium stellt für die professionelle Angehörigenarbeit kein Erfolgskriterium dar. Wir wissen aus der Praxis, dass eine Heimaufnahme sowohl für die Betreuungsperson als auch für die Demenzkranke oftmals die einzige Möglichkeit darstellt, die Lebensqualität beider zu erhalten, ja sogar zu verbessern. Der Gedanke an eine Heimeinweisung stürzt die Angehörigen jedoch in einen Konflikt und wird fast immer als persönliches Versagen erlebt. Dieser Konflikt wird noch weiter genährt durch das gesellschaftliche Vorurteil gegen das „Abschieben ins Heim“. Dieses Spannungsfeld offen zu thematisieren wirkt bereits entlastend. Zudem ist es sehr hilfreich, von jemand anderem zu hören, dass man „kein schlechter Mensch“ ist, wenn man nicht mehr weiterkann, und dass eine Heimaufnahme auch sein darf. In der Einzelberatung oder Gruppe kommt dem gemeinsamen Prozess des „Erlaubnis-Erteilens“, z. B. für eine Heimaufnahme, große Bedeutung zu. Ohne Entscheidungsdruck erhalten Angehörige die Möglichkeit, sich in einer Atmosphäre der Wertschätzung ihrer eigenen Situation bewusst zu werden. Was gerne übersehen wird: Auf der emotionalen Ebene bleiben Angehörige auch nach der Heimaufnahme bis zum Tod der Kranken in ihrer Rolle als betreuende und pflegende Angehörige. Vor allem Partnerinnen leiden an schlechtem Gewissen, Depressionen, Trauerreaktionen und einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes (exemplarisch Meuser und Marwit, 2001; Grant et al., 2002). Aufgrund unserer Erfahrungen in der Beratungspraxis empfehlen wir, psychosoziale Beratung auch nach einer Heimaufnahme der Demenzkranken für Angehörige anzubieten.
17.3 Begleitung der Partnerinnen von Demenzkranken Immer wieder sind wir mit älteren und alten Partnerinnen konfrontiert, die trotz Überlastung auf einer häuslichen Betreuung bestehen und sich dafür Verständnis, Respekt und begleitende Beratung wünschen. Für Partnerinnen steht nicht die Belastung, sondern die Paarbeziehung im Mittelpunkt der Entscheidung (Franke, 2006). Eigene
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Lebenspläne sind mit denen der erkrankten Person verbunden. Nicht das Trennende zählt, sondern die Suche nach dem, was trotz allem verbindet. Das Wichtigste ist, die Paarbeziehung und damit den eigenen Lebensentwurf zu retten; dafür wird viel in Kauf genommen. Konflikte entstehen meist, wenn es nicht gelingt, Paar- und Pflegebeziehung voneinander zu unterscheiden. Hier kann Beratung hilfreich sein. Welche Anteile können als Paar noch gelebt werden? Wo sind die Bereiche, in denen das nicht mehr möglich ist und die Pflegebeziehung im Vordergrund stehen muss? Beraterinnen wissen, wie schwer und schmerzvoll dieser Balanceakt ist und dass er oft nicht gelingt. Eine 50-jährige Ehefrau quält sich in der Angehörigengruppe mit der Frage, ob sie für Finanzgeschäfte die Sachwalterschaft3 für ihren demenziell erkrankten 53-jährigen Mann beantragen soll. In der sich anschließenden Diskussion sprechen alle Argumente dafür. Da sich die Ehefrau für ihre Absicht schämt, wird auch die emotionale Ebene thematisiert. In der nächsten Gruppensitzung berichtet sie, dass die Sachwalterschaft beantragt ist und dass sie sich nun wie eine Verräterin fühlt: „Ich bin eine schlechte Ehefrau, eine gute Ehefrau tut ihrem Mann so etwas nicht an.“ Sie meint, illoyal gehandelt zu haben, weil sie diese Entscheidung ohne ihn getroffen hat. Das Dilemma zwischen Ehe- und Pflegebeziehung wird deutlich: Beantragt die Ehefrau die Sachwalterschaft nicht, „versagt“ sie in der Pflegebeziehung. Beantragt sie die Sachwalterschaft, „versagt“ sie in der Paarbeziehung. Rational betrachtet weiß sie, dass die fortschreitende Demenz die Entscheidung notwendig machte, auf der Gefühlsebene sieht es aber anders aus.
17.3.1 Der Weg der kleinen Schritte Angehörigenberatung bei hochbetagten Menschen wird häufig zu einer Langzeitberatung. Für Beraterinnen ist es wesentlich, Wissen, Können und Haltung in sich zu vereinen. Zusätzlich zur fachlichen Kompetenz ist „Herzensbildung“ gefragt. Wahrung der Autonomie der Einzelnen in der Beratung ist sehr wichtig, da die Furcht vor professioneller Bevormundung gerade bei alten Menschen groß ist.
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Die Sachwalterschaft in Österreich entspricht in etwa der „Gesetzlichen Betreuung“ in Deutschland.
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Herr B. ist 85 Jahre alt und lebt mit seiner an Alzheimer erkrankten Ehefrau zusammen. Ab und zu kommt die Enkelin, um Einkäufe und andere Erledigungen zu tätigen. Der Enkelin werden die Sorgen, mit denen der Großvater sie jedes Mal überschüttet, allmählich zu viel, sie rät ihm zu einer Angehörigenberatung. Nach einiger Zeit ist Herr B. einverstanden. Beim Erstbesuch der Beraterin schildert Herr B., dass er den Alltag mit seiner kranken Frau „wunderbar schaffe“. Vor allem ist er sehr stolz auf seine hauswirtschaftlichen Fähigkeiten, wären da nur nicht die für ihn zermürbenden Überredungskünste an seine Frau. Er müsse ihr ständig sagen „Bitte rühr’ die Mikrowelle nicht an“, „Geh’ nicht alleine auf das WC“ oder „Heute hast du schon dreimal die Blumen gegossen!“. Warum seine Frau nicht auf ihn hört, kann er nicht verstehen. Ist sie boshaft? Will sie ihm etwas zu Fleiß machen? Herr B. ist verzweifelt. Das alles strengt ihn enorm an und bedeutet für ihn großen psychischen Stress. Die Beraterin informiert Herrn B. im Laufe der Besuche immer wieder über die Erkrankung und versucht, das für ihn unverständliche Verhalten seiner Ehefrau zu erklären. Am Ende jedes Besuches sagt Herr B.: „Ich weiß, es ist die Erkrankung.“ Im Alltag und in der jeweiligen Situation ist es für ihn aber fast nicht möglich zu begreifen, warum seine Frau die einfachsten Alltagserledigungen nicht mehr ausführen kann. Weitere Hilfe von außen lehnt er ab. Dennoch merkt die Beraterin, dass die Gespräche ihm sehr gut tun. Sie nehmen viel Last von seiner Seele, er kann und darf über alles sprechen, fühlt sich ernst genommen und verstanden. Mit der Zeit fasst er zunehmend Vertrauen, bezieht die Beraterin telefonisch in seine alltäglichen Sorgen, Überlegungen und Planungen mit ein und kann schließlich zulassen, dass eine Heimhelferin4 weitere Entlastung bringt. Erst eineinhalb Jahre später kommt die Ehefrau in ein Heim, da Herr B. die Betreuung wegen schwerer gesundheitlicher Probleme nicht mehr bewältigen kann. Eine frühere Heimaufnahme wäre
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Heimhilfen leisten Betreuung und Unterstützung bei der Haushaltsführung und den Aktivitäten des täglichen Lebens.
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Psychosoziale Beratungsangebote für Angehörige von Demenzkranken
sinnvoll und möglich gewesen, doch Herr B. schaffte es jedes Mal knapp davor, sie zu verhindern. Im Heim besuchte Herr B. seine geliebte Frau regelmäßig. Er lebte noch ein knappes Jahr und wurde bis zu seinem Tod von der Beraterin begleitet. Frau B. lebt immer noch im Pflegeheim. Während der Langzeitbegleitung von Herrn B. dachte die Beraterin oft, dass ein schnelleres Entscheiden und Handeln dem alten Herrn viel Kummer und Kraft ersparen könnte. Sie wusste aber, dass ihre Sicht von außen nicht der Sicht und den Möglichkeiten von Herrn B. entsprach. Für ihn war nicht „Joggen“ gefragt, sondern langsames Gehen. Einen Schritt vor den anderen setzen, pausieren, um dann wieder einen neuen Schritt wagen zu können. Das war der Rhythmus, der Herrn B. guttat, dies entsprach seinen Möglichkeiten. Das Beispiel zeigt: Sobald das Vertrauen gewonnen ist, zählen die Beraterinnen zum „erweiterten“ sozialen Netz der Angehörigen; auf sie kann nach Bedarf immer wieder zurückgegriffen werden. Sozial abgelehnte Gefühle wie Wut werden erst geäußert, wenn eine tragfähige Vertrauensbasis besteht. Erst dadurch werden Aussagen wie die folgende möglich: „… dann will er sich nicht waschen lassen und ich kann ihn nur mehr anschreien ‚Du Schwein‘!“ Es ist entlastend, das eigene Fehlverhalten offen ansprechen zu können, ohne eine vernichtende Kritik befürchten zu müssen. Vertrauen ist auch die Voraussetzung dafür, um hier in der Beratung gegensteuern zu können und Gewalt zu verhindern.
17.4 Fazit Durch „maßgeschneiderte“ Angebote können Angehörige nachweislich entlastet werden. Eine Kombination verschiedener Interventionen (Psychoedukation, psychosoziale Beratung, Psychotherapie und Gruppenangebote) erweist sich in der Praxis als besonders wertvoll. Dies wird durch Forschungsergebnisse bestätigt (z. B. Sörensen, 2002; Pinquart und Sörensen, 2006). Hilfreich wären zusätzliche kostengünstige Angebote wie eine auf Demenzkranke spezialisierte und nach Bedarf abrufbare Pflegeberatung, ambulante und teilstationäre Betreuungsangebote wie Tagesund Nachtpflege, Betreuung für Zuhause, beispielsweise stundenweise, für einen Tag oder ein Wochenende. In Österreich wurde im
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Sommer 2007 eine 24-Stunden-Betreuung per Gesetz eingeführt, die allerdings an Voraussetzungen (Wohnsituation, ausreichende finanzielle Mittel) gebunden ist. Zielkriterien der Forschenden stimmen häufig nicht mit denen der Praxis und mit denen der Angehörigen selbst überein. Künftige Studien würden von einem verstärkten Austausch zwischen Forschung und Praxis und von der vermehrten Einbeziehung der Angehörigen profitieren. Neue Fragen sind zu stellen: Welche Ziele haben die jeweiligen Angehörigen? Welche Form der Entlastung und Unterstützung suchen sie? Was kann in der jeweiligen konkreten Lebenssituation hilfreich sein? Betreuung und Pflege durch Angehörige und nahestehende Menschen sind nicht einfach „Privatsache“. Es sind Leistungen für die ganze Gesellschaft. Daher müssen entschieden mehr finanzielle Mittel bereitgestellt werden, um Angehörige zu unterstützen und zu entlasten. Das muss vor allem im Hinblick darauf geschehen, dass die familiäre Betreuung und Pflege schon allein aus Kostengründen – nicht nur in Österreich – sozialpolitisch erwünscht ist. Doch viel wichtiger als die Kostenersparnis sind die positiven Auswirkungen einer psychosozialen Beratung für die demenzkranken Menschen und für ihre Betreuerinnen.
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Angehörige von Pflegeheimpatientinnen als Adressatinnen von Palliative Care
Palliative Care umfasst nicht nur die Sorge für unheilbar Kranke, sondern auch die Sorge für deren Angehörige. Im Idealfall stellen Patientin und Familie für das betreuende Team eine „Behandlungseinheit“ dar. Die Angehörigen spielen im Leben von Demenzkranken eine bedeutende Rolle: Sie sind Zuflucht, Tröster und nicht zuletzt „Nabelschnur“ in die Welt nach „draußen“. Oft bilden sie die einzige und letzte Verbindung mit der „Normalität“ und der eigenen Vergangenheit. Schon allein durch ihr Dasein helfen enge Bezugspersonen den dementen Menschen, körperlich und seelisch zu überleben. Im Alltag des Medizin- und Pflegebetriebs haben sie bisher jedoch nur eine marginale Rolle. Sie werden vor allem dann wahrgenommen, wenn man von ihnen etwas braucht (Informationen, Unterschriften etc.) oder wenn sie sich beschweren. Den Wenigsten ist bewusst, dass sich insbesondere pflegende Angehörige oft seit Jahren in einer Ausnahmesituation befinden, dass sie von Anfang an Mitbetroffene, ja Leidende sind. Infolge der enormen Dauerbelastung erkranken viele von ihnen auch selbst. Es ist höchste Zeit, dass diese Menschen um ihrer selbst willen Beachtung finden und nicht nur als „Anhängsel“ der Patientinnen wahrgenommen werden (Schmidl, 2007).
18.1 Das Leiden der Angehörigen Die Wahrscheinlichkeit, selbst einmal an einer Demenz zu erkranken oder eine demenzkranke Angehörige in der Familie zu haben, steigt mit jedem Jahr. Die nüchternen Zahlen sind bekannt. Wir nehmen sie meist zur Kenntnis, ohne viel darüber nachzudenken. Doch wie fühlt es sich wirklich an, wenn die vormals eher abstrakte Bedrohung durch eine Demenz plötzlich und meistens „völlig unerwartet“ hautnah und konkret zum eigenen Alltag wird? Obwohl ich seit vielen Jahren demenzkranke Menschen betreue und die Krankheit daher rechtzeitig erkennen müsste, traf mich die Demenz meiner Schwiegermutter „völlig überraschend“. Ich, die „Fachfrau“, verpasste die ersten Anzeichen und nahm die Veränderungen erst viel zu spät wahr! (Schmidl, 2010). Ich kann mich noch gut an den Besuch bei meiner Schwiegermutter erinnern, bei dem mir blitzartig klar wurde: Sie ist dement! Die vormals saubere Wohnung war verstaubt, in der Küche stand offenbar bereits seit Tagen das ungewaschene Geschirr, im Schlafzimmer lagen auf Bett und Boden unzählige Kleidungsstücke herum. Meine Schwiegermutter – früher eine energische und gepflegte Frau – stand nun unsicher und ungekämmt, in schmutziger Kleidung vor mir. In meinem Inneren mischten sich Entsetzen, Sprachlosigkeit, Wut, Mitleid
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und tiefe Trauer. Vor allem tat sie mir unendlich leid! Eines war mir augenblicklich klar: Sie brauchte ab sofort Hilfe. „Essen auf Rädern“, Heimhilfe und Putzhilfe ließen sich rasch und problemlos organisieren. Doch wir hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Meine Schwiegermutter ließ die Hilfsdienste zuerst nur zögerlich und bald gar nicht mehr ins Haus. Sie beschimpfte die Mitarbeiterinnen vom Fenster aus und schickte sie zum Teufel! Obwohl wir natürlich wussten, dass ihr Verhalten Ausdruck ihrer unerträglichen Hilflosigkeit, ihrer Scham und Verzweiflung war, waren uns diese Vorfälle entsetzlich peinlich und wir entschuldigten uns bei dem Hilfsdienst. Allmählich wurde uns das ganze Ausmaß des Unglücks bewusst. So konnte es nicht weitergehen. Wir wohnten damals in etwa 50 km Entfernung und hatten daher selbst keine Möglichkeit, hilfreich einzugreifen. Das Haus meiner Schwiegermutter bot genug Platz für uns alle; mein Mann war pensioniert und für mich war das Pendeln zur Arbeit kein großes Problem. Daher fassten wir Hals über Kopf den Entschluss zu übersiedeln. Ich bin der Leiterin „unseres“ Hilfsdienstes bis heute überaus dankbar für ihre Bemühungen und ihr bewundernswertes Organisationstalent. Gemessen an den knappen Ressourcen, vollbrachte sie immer wieder „Wunder“ in der Diensteinteilung und schaffte es meistens im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten den Bedarf an notwendigen Leistungen zu decken. Mehr konnte sie unter den gegebenen Umständen sicher nicht tun. Dennoch: Die unzureichende Ausbildung der Mitarbeiterinnen, die ständig spürbare Zeitnot und das knappe, häufig wechselnde Personal ließen keine adäquate Betreuung zu. Tag für Tag gravierende Mängel wahrzunehmen, ohne eingreifen zu können, ist zermürbend. Wir wagten nicht, den Hilfsdienst zu kritisieren, wir sahen ja, dass alle sich bemühten und dabei nicht selten an ihre Leistungsgrenzen kamen. Zudem wollten wir das gute Verhältnis zwischen uns und ihnen unter keinen Umständen aufs Spiel setzen. In dieser Zeit wurden echte Freunde erkennbar. Es gab nur wenige Menschen, mit denen wir unsere Situation besprechen konnten. Aber auch denen, die uns zuhörten, waren die schrecklichen Bilder, Gefühle und möglichen Zukunftsszenarien nicht auf Dauer zumutbar. Bisher war ich überzeugt davon gewesen, dass der forcierte Ausbau der ambulanten Dienste die ausreichende Betreuung von Kranken und Angehörigen sicherstellt. Nun wurde mir bewusst, wie wenig wir „Profis“ von den Lebensumständen pflegender Angehöriger wissen. Selbst wenn die Mitarbeiterinnen des Hilfsdienstes mehrmals täglich erscheinen und eine Putzhilfe regelmäßig nach dem Rechten sieht, sind damit täglich nur wenige Stunden abgedeckt. Was passiert in den ver-
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bleibenden etwa 20 Stunden? Wer putzt, weil die Kranke sich laufend ihrer Inkontinenzeinlagen entledigt, Tag für Tag immer wieder Harn und Stuhl vom Boden weg? Wer organisiert den Installateur, wenn das WC verstopft ist, weil sie wie schon so oft ihre Einlage hineingeworfen hat? Wer lässt die Dienste ins Haus? Und wenn die Kranke später zunehmend immobil wird: Wer hilft bei der Mobilisation, beim Lagern, bei der Körperpflege, wenn eine Person alleine diese Tätigkeiten nicht mehr schafft? Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann ahnen, wie sich Nächte anfühlen, in denen man immer wieder senkrecht im Bett sitzt, weil die demente Angehörige in der Wohnung herumgeistert und dabei zahlreiche Besorgnis erregende Geräusche verursacht. Bei jedem „Rumpler“ fährt einem der Schreck in die Glieder: „Um Himmels willen, jetzt ist sie gestürzt und liegt hilflos auf dem Boden!" Man springt aus dem Bett und findet die Demenzkranke vielleicht vergnügt auf dem Sofa sitzend vor. Sie ist dabei, Wasser auf den Boden zu gießen, um zu putzen; durch die Tür sickert langsam Wasser ins Wohnzimmer – sie hat vergessen, den Hahn abzudrehen. In anderen Nächten trifft man die Kranke blau im Gesicht und fast stranguliert mit grotesk verbogenen Armen an. Sie hat sechs Schichten Pullover, Blusen, Jacken und T-Shirts an und versucht gerade, zuerst die dritte Schicht auszuziehen. Die immer wieder gestörte Nachtruhe zehrt an den Nerven. Ich fühle mich zunehmend überfordert und bemerke, wie gereizt und ungeduldig ich werde. Die subtilen, meist wohl ohne böse Absicht geäußerten Beurteilungen, Ratschläge und Vorstellungen der Helfenden sind für mich kränkend und demütigend. Andere wissen, scheint es, stets besser, was zu tun und was zu lassen ist! Auf unsere Privatsphäre wird oft kaum Rücksicht genommen. Ich habe den Eindruck, dass Menschen, die bei uns ein und aus gehen, häufig nicht wissen, dass sie eigentlich „Gäste“ sind. Es empört mich, wenn eine fremde Person die ganze Küche nach einem Löffel durchsucht, wenn ich daneben stehe und sie mich jederzeit fragen könnte. Wieso nimmt sie einfach die Tomate, die dort liegt, um sie für die Schwiegermutter aufzuschneiden, ohne sich vorher zu erkundigen, ob mir das recht ist? Ich ertappe mich bei der Frage: „Wie lange noch? Wann hört das endlich auf?“ und bin entsetzt über meine eigenen Gefühle. Ich schäme mich für meine Gedanken, aber sie sind trotzdem da! Ich überlege mir genau, was ich den Helferinnen mitteile, welche Fragen ich stelle, wie viel ich von meinen Gefühlen offenbaren darf, um „korrekt“ zu wirken und nicht als „schlechte“ Angehörige dazustehen. Alles, wirklich alles dreht sich ausschließlich um die Kranke! Wie es mir, wie es uns geht, interessiert niemanden! Wer fragt, ob wir Hilfe brauchen? Wen kümmert es, dass wir längst an unsere Grenzen gekommen sind? Ich erlebte am eigenen Leib, wie es ist, wenn Angehörige nicht als Leidende
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wahrgenommen werden, sondern als Personen, die Pflichten haben, „funktionieren“ sollen und kontrolliert werden müssen. Behandeln wir die Kranke gut genug oder vernachlässigen wir sie am Ende? „Woher hat sie die blauen Flecken?“ „Hier sieht es aber sehr unordentlich aus!“ Wir haben offenbar nur Pflichten, aber keine Rechte. Wir haben unbegrenzt belastbar zu sein, uns höflich und korrekt zu benehmen und zu jeder Zeit moralisch einwandfrei zu denken und zu handeln!
18.2 Wer sind „die Angehörigen“? Selbstverständlich lassen sich meine Erfahrungen als pflegende Angehörige nicht verallgemeinern. Jede betroffene Person, jede Angehörige hat ihre individuelle Persönlichkeit, ihre besonderen Lebensumstände und eine nur für sie zutreffende „eigenartige“ Geschichte. Da die traditionelle Familie längst nicht mehr den „Normalfall“ darstellt und so genannte „Patchwork-Familien“ immer stärker zunehmen, muss der Begriff „Angehörige“ heute zudem weiter gefasst werden. “Family is anyone who shows up when illness strikes … and stays on to help” (Levine, 2003, S. 377). In diesem erweiterten Sinn wird der Begriff im Folgenden verwendet. Für Patientinnen in Pflegeheimen bedeutet diese inhaltliche Erweiterung, dass Nachbarinnen, langjährige Freundinnen oder Lebensgefährtinnen zu „Angehörigen“ werden können. Sehr häufig handelt es sich dabei um die Menschen, die die Kranken pflegten und betreuten, solange sie noch in ihrem eigenen Heim lebten. Etwa 80 % aller Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut. Hauptpflegepersonen sind vor allem Partnerinnen (20 %), Töchter (23 %) und Schwiegertöchter (10 %). Etwa 45 % der Betreuerinnen sind noch im erwerbstätigen Alter und müssen Beruf und häusliche Pflege miteinander vereinbaren. Der andauernde Druck, dem pflegende Angehörige ausgesetzt sind, beeinträchtigt nicht nur ihren Gesundheitszustand, sondern führt auch zu erheblichen finanziellen Belastungen und mindert Leistungsfähigkeit und Karrierechancen am Arbeitsplatz (Hammer, 2004).
18.3 Was macht es so schwierig, mit Angehörigen umzugehen? Viele Pflegende und Ärztinnen bemühen sich ernsthaft darum, nicht nur für ihre Patientinnen Sorge zu tragen, sondern auch für deren
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Angehörige. Dennoch mache ich – bei anderen und bei mir – immer wieder die Erfahrung, dass die Kommunikation mit Angehörigen in der täglichen Praxis zu wünschen übrig lässt. Dank der Schwierigkeit und Komplexität dieser Aufgabe ist das nicht verwunderlich, zumal nur selten spezifische Aus- oder Weiterbildungen angeboten werden. Häufig erteilt die Organisation keinen konkreten Auftrag dafür. Daher wird in der Regel auch kein Konzept erarbeitet, an dem man sich orientieren könnte. Sich selbst überlassen, bemüht sich jede auf ihre Art, den Angehörigen gerecht zu werden und sie so gut es geht zu begleiten. Pflegetheoretisch gehören die Angehörigen „zur Umgebung des Patienten, die seine Gesundheit beeinflusst“ (Kuhlmann, 2004, S. 146). Unabhängig vom Zustand der Patientin gelten Angehörige selbst auch als „Pflegeempfängerinnen“; es ist Aufgabe der Pflegenden dazu beizutragen, sie zu entlasten und ihren Stress zu reduzieren. Die Philosophie der „Ganzheitlichkeit“ besagt, dass die Pflege der Kranken auch die Pflege der Familie mit einschließt. Diese Sichtweise wird jedoch in der Praxis nicht überall verwirklicht. Da Ausbildung und Übung weitgehend fehlen und die Sicht des eigenen Berufsbildes die Betreuung von Angehörigen nicht immer einschließt, wird der Kontakt mit Besucherinnen oft vermieden. Pflegende erleben Angehörige häufig nur als zusätzliche Belastung. Ihrer Ansicht nach besteht ihre „eigentliche Aufgabe“ ausschließlich darin, Patientinnen zu betreuen (ebd., S. 148). Vielfältige Strategien helfen, sich zu entziehen: Man achtet auf die strikte Einhaltung der Besuchszeiten, konzentriert sich besonders auf die technischen Aspekte der Pflege, gibt sich sehr beschäftigt … Die Unsicherheit darüber, wie Pflegekräfte mit den – zum Teil heftigen – Emotionen der Angehörigen umgehen sollen, führt dazu, dass viele von ihnen versuchen, emotionalen Situationen auszuweichen, die eigenen Empfindungen so gut es geht zu unterdrücken und sich „standardisiert“ zu verhalten. Angehörige würden sich das Gegenteil wünschen. Sie empfinden Mitgefühl als tröstend und schätzen es, „Gefühl und Herzenswärme zu erleben“ (ebd., S. 149). Im Alltag von Ärztinnen spielen Angehörige bisher nur eine Nebenrolle. Sie gewinnen meist erst dann an Bedeutung, wenn sie fehlen, wenn sie gerade gebraucht werden oder wenn sie Forderungen stellen. Die Begleitung von Angehörigen gehört bis jetzt offenbar nicht zum allgemein akzeptierten Berufsbild von Ärztinnen. Ebenso wie die Pflegenden sehen viele Ärztinnen ihre Aufgabe ausschließlich in der Behandlung ihrer Patientinnen. Dazu Klaus Dörner: „Wenn ich einem neuen Patienten in der Praxis oder auf der Station zur Begrüßung die Hand gebe, muss ich wissen, dass dies schon mein erster Irrtum ist. In Wirklichkeit gebe ich damit einer Familie die Hand, für die ich damit
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Zuständigkeit und Verantwortlichkeit in unterschiedlicher, aber noch unbekannter Intensitätsverteilung übernehme“ (Dörner, 2001, S. 139). Da wir unsere Patientinnen im Pflegeheim meist über lange Zeit betreuen, hat diese Erkenntnis für uns große Bedeutung. Die Dauer der Bekanntschaft beeinflusst die Beziehung zwischen Ärztin, Patientin und Angehörigen maßgeblich. Im Laufe der Zeit wird die Qualität dieser Beziehung nicht nur für die Patientin, sondern auch für ihre nächsten Bezugspersonen immer wichtiger; tiefer gehende Gespräche gewinnen zunehmend an Bedeutung. In der Praxis weichen Ärztinnen diesen meist schwierigen und bewegenden Gesprächen jedoch häufig aus. „Gute Kommunikation“ erfordert die Fähigkeit, die Gefühle anderer auszuhalten und eigene Gefühle auszudrücken. Ärztinnen haben in der Regel mit beidem Schwierigkeiten und ziehen ein „affektiv neutrales Gesprächsverhalten“ (Gottschlich, 1998, S. 76) vor. Damit werden sie den Erwartungen ihres Gegenübers allerdings kaum gerecht. Wille, Fähigkeit und der Mut, sich in ihre Lage einzufühlen bilden wesentliche Voraussetzungen für eine gute Angehörigenbetreuung. Diese Aufgabe ist alles andere als leicht! Der Begriff Demenz ist zwar mittlerweile fast jedem Menschen geläufig, aber die wenigsten ahnen das Ausmaß an Leid, das sich hinter diesem Wort verbirgt. Auch Profis sind – ebenso wie ich – meist erst dann in der Lage, Angehörige zu verstehen, wenn sie sich selbst in dieser Rolle erlebt haben. Vielleicht müssen wir das Leid tatsächlich erst „am eigenen Leibe“ verspürt haben, um zu erkennen, dass die Auseinandersetzung mit den Problemen der Angehörigen „von gleicher Notwendigkeit und Dringlichkeit“ (Dörner, 2001, S. 139) ist wie die Auseinandersetzung mit den Problemen der Patientinnen. Diese Forderung ist gewaltig! Ist es überhaupt menschenmöglich, dem Anspruch zu genügen und Tag für Tag das geforderte Maß an Geduld, Verständnis und Mitgefühl aufzubringen? Klaus Dörner lässt uns hoffen, dass wir „es schaffen können“, auch ohne in jeder Minute „alles“ zu geben: „Kein Mensch ist dazu ständig in der Lage. Es reicht für die Beziehungsstiftung völlig, wenn dem Arzt das in der Realität nur gelegentlich, minutenweise, vielleicht nur für einen einzigen, begnadeten Augenblick gelingt“ (ebd., S. 106). Angehörigenarbeit steht und fällt mit der partnerschaftlichen Begegnung von Mensch zu Mensch und dem Aufbau einer tragfähigen, von Vertrauen getragenen Beziehung. Vertrauen muss verdient werden und braucht Zeit, um zu wachsen. “Meaningful relationships require continued presence” (Stanley und Zoloth-Dorfman, 2001, S. 670). Grundvoraussetzung für ein heilsames Verhältnis ist daher die Sicherstellung der Kontinuität der Betreuung durch dieselben Personen.
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Gute Begleitung von Angehörigen erfordert die partnerschaftliche Zusammenarbeit im interprofessionellen Team. Es gibt viele Aufgaben, die sowohl von Pflegenden als auch von Ärztinnen übernommen werden können. Dazu gehört das Ergreifen der Initiative zu einem Erstgespräch, dazu gehört es, da zu sein, zuzuhören und die bisherige Leistung der Angehörigen wertzuschätzen. Daneben hat jede Berufsgruppe auch ihre spezifischen Aufgaben. Erst das harmonische Zusammenspiel von Ärztinnen und Pflegekräften schafft die nötigen Voraussetzungen für eine gelingende Begleitung von Kranken und Angehörigen. Diese interprofessionelle Harmonie beruht unter anderem auf einer klaren Rollenverteilung. Die Aufgaben ergeben sich vor allem aus der jeweiligen Fachkompetenz. Da die Pflegenden Tag und Nacht anwesend sind und den Angehörigen daher häufiger und kontinuierlicher begegnen, fällt das Schwergewicht der Begleitung ihnen zu. Sie haben viel mehr Möglichkeiten, in Kontakt zu kommen; dabei lernt man sich allmählich besser kennen, vielfach entwickelt sich daraus eine vertraute, familiäre Kommunikation. In der Regel sind es Pflegende, die die Klagen der Angehörigen mitfühlend anhören und bereit sind, ihre Belastungen mit ihnen zu tragen. Sie sind es, die in Krisenzeiten Hilfe anbieten und die zur Stelle sind, um Angehörige, die eine Sterbende begleiten, zu unterstützen und ihnen Sicherheit zu geben. Die erste ärztliche Aufgabe besteht darin, für die Angehörigen Zeit zu haben. Es genügt nicht, Diagnosen mitzuteilen. Eine besorgte Tochter hat das Recht darauf, Näheres über eine Krankheit und ihren Verlauf zu erfahren, Therapieoptionen und die Ursachen für eine Therapiezieländerung erklärt zu bekommen, von der Ärztin persönlich informiert zu werden, wenn sich der Zustand verschlechtert, wenn das Sterben abzusehen ist und wenn schließlich der Tod eingetreten ist.
18.4 Leitfaden für die Begleitung von Angehörigen „Begleitung von Angehörigen ist eine komplexe Aufgabe und kann daher nicht allein in Form von Standards oder kurzen Merksätzen formuliert werden. Sie ist eine Frage der Haltung“ (van Minnen-Buser, 2000, S. 12). „Gebrauchsanweisungen“ können Fachwissen nicht ersetzen und es schon gar nicht durch das „Engagement des Herzens“ beseelen (Gottschlich, 1998, S. 83). Ist man sich dieser Tatsachen bewusst, spricht einiges dafür, einen Leitfaden – z. B. ein Angehörigenkonzept – an der Hand zu haben, der als Wegweiser dienen kann und zumindest das technische Rüstzeug bereitstellt. In der Praxis verläuft die Begleitung von Angehörigen niemals ausschließlich über formale Kontakte. Sie besteht vielmehr aus der Abfolge einer – auf die Beteilig-
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ten zugeschnittenen – Mischung aus formalen und informellen Begegnungen. In der Regel sprechen Angehörige mit vielen verschiedenen Mitarbeiterinnen, daher müssten alle im Stationsbetrieb Tätigen so weit fortgebildet werden, dass sie diese Aufgabe mittragen können. Die Begleitung von Angehörigen ist ein Prozess, der mit der Aufnahme einer Patientin beginnt und über deren Tod hinausgeht. Mit fortschreitender Krankheit ändern sich nicht nur die Bedürfnisse der Kranken, sondern auch die der Angehörigen. Im Folgenden werden kurz einige Eckpunkte des Leitfadens vorgestellt, der aus der Arbeit meiner Station hervorgegangen ist (Schmidl, 2007). Der Leitfaden definiert acht Zeitpunkte, zu denen es angebracht erscheint, Kontakt und Gespräch mit den Angehörigen zu suchen. Erstgespräch nach der Aufnahme ins Pflegeheim. Das zweite Gespräch nach zwei bis drei Wochen des Einlebens dient vor allem der Klärung mittlerweile aufgetauchter Fragen. Häufige informelle Gespräche während der unterschiedlich langen Zeit, in der der Gesundheitszustand der Patientin einigermaßen stabil ist. In dieser Phase geht es vor allem darum, den Kontakt zu halten, sich näher kennenzulernen und sich laufend über den aktuellen Zustand der Kranken auszutauschen. Mitteilung einer gravierenden Verschlechterung des Gesundheitszustands Begleitung der Angehörigen während der Sterbephase Mitteilung des Todes Verabschiedung von der Toten Zeit der Trauer. Die Hauptpunkte werden im Folgenden erläutert.
18.4.1 Erstgespräch Es gibt Heime, in denen die Heimleiterin diese Aufgabe übernimmt, in anderen tun dies Sozialdienst oder Pflegedienstleitung. Verwaltungsfragen oder finanzielle Themen sind wichtig, sie sollten indes besser in einem anderen Gespräch geklärt werden. Ich halte es für eine wesentliche Weichenstellung, wenn Stationsleitung und betreuende Ärztin dieses Gespräch gemeinsam führen. Das gibt den Angehörigen die Möglichkeit, die neue Situation zu besprechen und (häufig erstmalig) umfassend Auskunft über Krankheit(en) und Verlauf sowie über spätere mögliche Komplikationen zu erhalten. Ein gutes erstes Gespräch
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schafft die Basis für eine vertrauensvolle zukünftige Zusammenarbeit. Es darf aber kein einmaliges Ereignis bleiben, vielmehr sollte es den Beginn eines kontinuierlichen Dialogs kennzeichnen. Mitarbeiterinnen von Organisationen, die intensiv mit Angehörigenkonzepten arbeiten, berichten überwiegend, dass sich mit der verbesserten Kommunikation auch das Klima auf der Station deutlich verbessert. Hat früher der Impuls überwogen, den Angehörigen auszuweichen, sucht man jetzt eher die Begegnung mit ihnen. Der Sozialraum ist nicht mehr „gesperrt“, sondern offen für einen Kaffeeplausch. Auf diese Weise wird eine Gesprächskultur möglich, die für den kontinuierlichen, nicht bloß auf Krisensituationen beschränkten Informationsaustausch sorgt. Für dieses erste Gespräch sollten sich die Beteiligten möglichst ungestört in einem freundlichen Raum zusammensetzen. Wichtigstes Ziel ist es, den Grundstein zu einer Beziehung zwischen den Gesprächsteilnehmerinnen zu legen. Die offene Haltung von Schwester und Ärztin trägt ebenso wie ein gastliches Angebot („z. B. „Dürfen wir Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“) wesentlich dazu bei, Spannung abzubauen. Es ist sehr beängstigend, einer unbekannten und anonymen Institution gegenüberzustehen. Durch das Kennenlernen konkreter Personen bekommt diese Institution „ein Gesicht“ und verliert dadurch an Schrecken. Daher soll das Erstgespräch möglichst zeitnah zur Aufnahme stattfinden. Es dient dazu, Informationen auszutauschen, Einschätzungen abzugleichen und Fragen zu beantworten. Die Angehörige kann endlich ihr Herz ausschütten und ihre Ängste, Befürchtungen und Belastungen zur Sprache bringen. Der folgende Patientinnenbericht stellt exemplarisch den Verlauf einer Beziehung zwischen Angehörigen, Pflegekraft und Ärztin vom Zeitpunkt der Aufnahme bis nach dem Tod dar. Frau Erna Frau Erna ist zum Zeitpunkt der Aufnahme 88 Jahre alt, mittelschwer dement, kachektisch und selbstständig gehfähig. Sie ist gut kontaktierbar, erscheint aber ängstlich und zurückgezogen. Auf einfache Fragen antwortet sie relativ geordnet, wenn auch sehr einsilbig. Frau Erna leidet laut Arztbrief unter unbestimmten Schmerzen in den Gelenken und unter episodenhaft auftretenden Unruhezuständen in der Nacht, die die Angehörigen ängstigen und belasten. Bei der Aufnahme sind Tochter und Schwiegersohn anwesend. Beide sind etwa Mitte 60 und wirken müde. Sie erzählen von der bereits jahrelangen häuslichen Pflege, geprägt von an Intensität zuneh-
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menden Symptomen der Demenz. In der letzten Zeit hatte sich der Zustand der Mutter derart verschlechtert, dass die Angehörigen „das alles nicht mehr schaffen“ konnten. Die Entscheidung, die Mutter in ein Pflegeheim zu geben und fremden Menschen anzuvertrauen, sei ihnen schwergefallen; vielleicht hätten sie deshalb zu lange zugewartet. Aber, so waren sie sich einig, „so gut wie zu Hause kann man so einen Menschen eben nirgendwo anders betreuen“. Beide wirken nervös, unbehaglich und irgendwie schuldbewusst. Unsere Mitteilung, dass so gut wie alle Angehörigen auf die Dauer damit überfordert sind, einen Menschen mit fortgeschrittener Demenz zu Hause zu versorgen, nehmen sie zwar zweifelnd, aber doch auch erleichtert zur Kenntnis. Pflegende Angehörige fühlen sich zu Recht als Expertinnen für „ihre“ Kranken und sollen nicht das Gefühl bekommen, dass ihre Kompetenz plötzlich nichts mehr gilt und wir ab sofort „alles besser wissen“. Tatsächlich können wir von ihnen viel für den Umgang mit einer Patientin lernen. Zudem müssen wir von Anfang an zur Kenntnis nehmen, dass Patientin und Angehörige eine Einheit bilden, die nicht in Frage gestellt werden darf: “After many years of struggle with advanced chronic illness, family caregivers are as much a part of the unit of care as the patient him- or herself” (Tulsky, 2003, S. 327). Mitfühlendes Anhören und Mittragen von Klagen der Angehörigen Die Tochter berichtet gerne über den Alltag zu Hause. Die Worte und Sätze überschlagen sich geradezu, sie kommt kaum dazu, Luft zu holen, und berichtet ohne Punkt und Komma über das schwere Leben als pflegende Angehörige. Sie erzählt von dem Stress, dem sie ausgesetzt war, wenn sie die Mutter alleine lassen musste, von dem Durcheinander in der Wohnung, wenn sie morgens zu ihrer Mutter kam, und von der Angst, ihre Mutter könnte in der Nacht stürzen und dann bis zum nächsten Tag mutterseelenallein, verletzt und mit Schmerzen auf dem Boden liegen. Während sie atemlos erzählt, wird ihr plötzlich klar, was sie in der Vergangenheit alles geleistet und mitgemacht hat. Sie sagt plötzlich: „Ich weiß nicht, wie ich das alles geschafft habe – über all die Jahre. Wenn ich mir selber zuhöre, frage ich mich, wie das so lange gut gehen konnte.“ Oft brauchen Angehörige nichts so sehr wie jemanden, der ihnen zuhört und sich dafür interessiert, was sie durchmachen (Levine, 2003). Leider haben sie meist wenig Gelegenheit, ausführlich über ihre Situation zu sprechen. Es gibt wenige Menschen, die dafür in Frage kommen, außerdem hindert sie die Scham über ihre vermeintliche Schwä-
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che daran, sich mitzuteilen („Andere schaffen das doch auch!“). Das Erstgespräch sollte ihnen Gelegenheit geben, sich endlich einmal alles von der Seele zu reden. Das mitfühlende Zuhören ist eine Aufgabe für Pflegekräfte und Ärztinnen. In der tagtäglichen Praxis sind es dann aber vor allem die Pflegenden, die immer wieder ein offenes Ohr für die Sorgen und Probleme der Angehörigen haben. Liliane Juchli bedauert, dass das Anhören der Klagen einer Patientin nie in der Pflegedokumentation aufscheint, obwohl Pflegende diese Aufgabe häufig erbringen. Sie schreibt: „Nirgends fand ich … vermerkt: Klagen angehört, Tränen getrocknet …“ (Juchli, 1992, S. 124). Ich möchte diese wichtige Aufgabe auf die Angehörigen ausweiten und anregen, diese wichtige Pflegehandlung ernst zu nehmen. Es ist primär Aufgabe der Pflegenden, möglichst viel über die Patientin zu erfahren und den Angehörigen gleichzeitig zu signalisieren, dass sie auch über ihre eigenen Belastungen und Gefühle sprechen dürfen. Die Tochter von Frau Erna hat das starke Bedürfnis, der Schwester so viel wie möglich über die Gewohnheiten der Mutter zu erzählen und zugleich ihr Herz auszuschütten. Am Ende bietet die Schwester der Tochter an, bei Fragen oder Anliegen jederzeit zu ihr kommen zu können. Die Tochter wirkt erleichtert darüber, dass sie über ihre Sorgen sprechen konnte, sie fühlt sich getröstet, weil sie erfahren hat, dass es „normal“ ist, einen Elternteil mit dieser schwierigen Symptomatik in einem Pflegeheim unterzubringen. Es beruhigt sie, dass die Schwester ihr „nicht so von oben herab“ begegnet, es ihr vielmehr leicht macht, auch von sich zu erzählen. Am Ende des Gesprächs wirkt sie sichtlich weniger beklommen als zu Beginn. „Zeit haben“ Ich habe immer wieder die Beobachtung gemacht, dass gerade Ärztinnen überzeugt sind, viele Aufgaben nicht erledigen zu können, weil sie dafür zu wenig Zeit haben. Natürlich spielt Zeit für jede von uns eine Rolle und ist stets limitiert. Erfahrungsgemäß dauern Erstgespräche für eine Ärztin nicht länger als 20 bis 30 Minuten. Um dem Gespräch die nötige Ruhe zu geben, gestatte ich mir die Haltung, dass Zeit keine Rolle spielt (vgl. S. 206 ff.). Dadurch signalisiere ich der Gesprächspartnerin, dass ich in diesem Augenblick ganz für sie da bin. Informieren über Wesen und Verlauf der Krankheit Die Angehörigen von Frau Erna fragen mich nach dem Gesundheitszustand der Mutter, nach Diagnose und Prognose. Wir kommen bald auf mögliche künftige Probleme zu sprechen. Ich informiere die Angehörigen z. B. darüber, dass mit Fortschreiten der
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Erkrankung immer damit zu rechnen ist, dass eine Patientin nicht mehr bzw. nicht mehr ausreichend essen will oder kann. Damit treffe ich genau ins Schwarze. Die Angehörigen machen sich nämlich schon „die längste Zeit“ Sorgen, weil die Mutter nichts essen will und in den letzten Monaten bereits stark abgemagert ist. Die Tochter befürchtet, dass die Mutter „eines Tages verhungert“, und sie dabei tatenlos zusehen muss. Ich erkläre ausführlich den wahrscheinlichen Verlauf der Krankheit und warum die künstliche Ernährung über eine Sonde bei Demenzkranken in fortgeschrittenen Stadien so gut wie nie angezeigt ist. Die Tochter ist sich auch sicher, dass ihre Mutter nie eine Sonde gewollt hätte. Dessen ungeachtet findet sie es sehr schwer mit anzusehen, wie die Mutter „immer weniger wird“. An dieser Stelle ist es wichtig zu klären, dass die Entscheidung gegen eine künstliche Ernährung nicht bedeutet, „ab nun isst dieser Mensch nichts mehr“ (Christmas und Finucane, 2003). Die Alternative zur PEG-Sonde ist vielmehr, dass dafür gut ausgebildetes und erfahrenes Personal das Essen reicht und genug Zeit dafür zur Verfügung gestellt wird. Essen ist oft eine der letzten sinnlichen Freuden der Kranken (vgl. Lazelberger und Chladek, 2009; s. auch S. 87 ff.). Die Schwester fragt die Tochter, ob sie nicht auch selbst probieren möchte, der Mutter das Essen zu reichen, und gibt ihr damit das Gefühl, aktiv in das Geschehen eingreifen zu können. Die Tochter nimmt den Vorschlag dankbar an.
18.4.2 Der weitere Verlauf Frau Erna lebt sich in den nächsten Wochen gut ein, ihr Zustand stabilisiert sich. Ihre Tochter wird auf ihren Wunsch hin unter der Obhut der Stationsleitung in die Pflege der Mutter einbezogen. Gemeinsam wird besprochen, was die Mutter gerne isst und in welchem Zustand die Nahrung sein muss, damit sie sich möglichst wenig verschluckt. Die Tochter hilft auch bei der Zubereitung der Nahrung, püriert das Gemüse oder dickt Flüssigkeiten ein und bietet ihrer Mutter dann immer wieder kleine Mengen davon an. Zu diesem Zeitpunkt kann Frau Erna noch weitgehend selbstständig essen. Die Tochter hilft auch bei der Körperpflege, beim Duschen und Anziehen. Dabei ist sie in der Lage, den Schwestern immer wieder Tipps für den leichteren Umgang mit ihrer Mutter zu geben. Auf diese Weise wird die Tochter mehr und mehr in den Stationsalltag integriert und kann selbst feststellen, dass ein ganzes
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Team notwendig ist, um einen demenzkranken, alten und gebrechlichen Menschen so zu pflegen, dass er sich wohlfühlt (vgl. ebd.). Sie geht fast täglich mit der Mutter spazieren und beginnt schließlich auch andere Patientinnen mitzunehmen, die keinen Besuch bekommen. Nach einigen Wochen fühlt sich die Tochter auf der Station willkommen und gut aufgenommen. Sie bringt für das Team Kuchen mit, der Umgangston ist ungezwungen, sie selbst wirkt entspannt. Der Schwiegersohn begleitet seine Frau fast täglich auf die Station, hält sich aber eher im Hintergrund, beobachtet die Abläufe und sieht seine Aufgabe im Wesentlichen darin, da zu sein und seiner Frau zur Seite zu stehen. Der Zustand der Patientin bleibt zwar für einige Monate relativ stabil, aber die Demenz schreitet langsam fort. Nach und nach wird es für Frau Erna immer schwieriger, zu essen und zu trinken. Schließlich wird sie bettlägerig. Wenn der Zustand einer Patientin sich dauerhaft verschlechtert, müssen die Angehörigen davon rechtzeitig informiert werden. So gut wie alle nehmen die Einladung zu einem ausführlicheren Gespräch über Prognose und weiteres Vorgehen dankbar an. Viele Angehörige erfasst zu diesem Zeitpunkt erstmals konkrete Angst um das Leben der Kranken; sie brauchen jetzt dringend einen Menschen, der ihnen mitfühlend zuhört und an ihrem Leid Anteil nimmt: „Der Begleiter ist zunächst nicht der kluge Ratgeber, der Fachmann mit Informationsvorsprung oder der Profi, der Antworten auf alle Fragen hat. Er ist zunächst einer, der geduldig mitgeht und zuhört, ein Mensch, bei dem Ängste und Klagen nicht ungehört verhallen, sondern verstehend und mitfühlend aufgenommen werden“ (Aulbert, 1997, S. 739). Auch wenn es noch nicht wirklich aktuell ist, ist spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen, das Thema Sterbebegleitung anzusprechen. Damit geben wir den Angehörigen Zeit und Gelegenheit, um in Ruhe darüber nachzudenken. In einem ersten Impuls lehnen es viele Menschen strikt ab, Elternteil oder Partnerin bis zuletzt zu begleiten. Die meisten waren noch nie mit einer Sterbenden konfrontiert, scheuen sich vor dem Unbekannten und haben Angst, der Situation nicht gewachsen zu sein. Zudem sind sie beeinflusst von dem, was sie im Fernsehen gesehen haben oder was ihnen andere erzählt haben (Levine, 2003). Wenn wir ihnen immer wieder versichern, dass wir bereit sind, sie zu unterstützen, und sie bestimmt nicht allein lassen, und wenn sie erfahren, dass bei uns viele Angehörige „ihre“ Sterbenden begleiten, beginnen sie die Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen.
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Der Zeitpunkt ist gekommen, gemeinsam mit der Tochter zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Als hilfreich erweisen sich die zu Beginn des Heimaufenthaltes geführten, später immer wieder kurz aufgenommenen Gespräche zum Thema „Änderung des Essverhaltens“. Jetzt können wir an diese Gespräche anknüpfen. Die Tochter hat sich in der Zwischenzeit oft gefragt, wie es sein würde, „wenn es so weit ist“. In den letzten Monaten hatte sie die Gelegenheit genützt, andere Patientinnen mit Essstörungen zu beobachten und den Krankheitsverlauf besser kennenzulernen. Nun ist sie in der Lage, dem Problem bei ihrer Mutter gefasster zu begegnen. Auf die Frage, was sie denn jetzt für das Wichtigste hielte, antwortet die Tochter: „Das Wichtigste ist, dass meine Mutter nicht leiden muss.“ Die Schwester erklärt ihr, was in der palliativen Pflege geschieht und wie sie dabei helfen kann. Da die Tochter mittlerweile bereits in vielen Tätigkeiten versiert ist, kann sie, wenn sie möchte, weite Teile der Pflege selbstständig übernehmen. Zusätzlich zeigen ihr die Pflegenden, wie man eine gute Mundpflege macht, geben ihr hilfreiche Tipps dafür und helfen ihr dabei, die Mutter zu lagern. Da Frau Erna immer wieder unruhig wirkt, zeigt eine Schwester der Tochter einige einfache, beruhigend und entspannend wirkende Techniken aus der „Basalen Stimulation“. Sie signalisiert der Tochter, dass sie in dieser schweren Zeit für sie da ist, wenn ihre Hilfe gebraucht wird. Die Angehörige fühlt sich entlastet; sie spürt, dass die Schwester ihre Beobachtungen ernst nimmt, bereit ist, ihre Fragen zu beantworten, und mitfühlend zuhört, wenn sie ihr Leid klagt.
Sterbephase Es ist außerordentlich wichtig, die Angehörigen rechtzeitig davon zu informieren, dass die Sterbephase beginnt. In der Regel geschieht das telefonisch innerhalb des Zeitrahmens, der vorher vereinbart worden war (vgl. S. 103 ff.). Sobald die Angehörige auf der Station erscheint, begrüßen wir sie und gehen mit ihr zu der Sterbenden. Wir betreten ruhig das Zimmer, gehen zu der Patientin, erklären ungefragt auffällige Symptome wie die Rasselatmung, sprechen darüber, ob diese Symptomatik die Sterbende belasten kann, und sagen, falls nötig, was wir dagegen unternehmen. Oft fragen Angehörige, was sie jetzt noch für die Sterbende tun können. Wir versuchen, Vorschläge zu machen, die der Persönlichkeit, den Möglichkeiten und Neigungen dieser Person entsprechen. Die Palette reicht von Schweißabtupfen über Mundpflege, leichte Massage der Füße, zarte, liebevolle Berührungen bis zu „alles sagen, was ich ihr noch sagen möchte“ und zu Gebeten. Die Möglichkeit, auch jetzt noch aktiv Liebe und Fürsorge zu zeigen, kann
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Angehörigen helfen, die Zeit des Sterbens und ihren eigenen Schmerz leichter zu ertragen. Falls die Seelsorgerin bisher noch nicht verständigt wurde, tun wir das – sofern die Angehörigen dies wünschen – spätestens jetzt. Drei Wochen später fällt Frau Erna in ein Koma und stirbt eines Nachts in Abwesenheit der Tochter. Wie vereinbart wird die Tochter am nächsten Morgen vom Tod der Mutter verständigt und kommt mit ihrem Ehemann auf die Station, um sich von der Verstorbenen zu verabschieden. Mitteilung des Todes Eine so schwerwiegende und emotional belastende Nachricht schreit im Grunde nach der Nähe eines Mitmenschen, der bereit ist, die Betroffenen zu stützen und aufzufangen. Grundsätzlich sollte die Todesnachricht daher persönlich an Ort und Stelle überbracht werden (Buckman, 1992). Vor allem in Großstädten ist das in der täglichen Praxis jedoch oft nicht möglich; meistens muss man sich mit einem Anruf begnügen. Es empfiehlt sich dafür ein Telefon in ruhiger Umgebung aufzusuchen, sich niederzusetzen, um sich zu sammeln, selbst zur Ruhe zu kommen und diese entscheidende Mitteilung nicht nur „im Vorbeigehen“ zu erledigen. Das Gespräch gewinnt dadurch an Qualität. Einige ruhige Atemzüge können helfen, sich darauf einzustimmen. Langsames, klares und ruhiges Sprechen gibt der Angehörigen Zeit, die Situation zu erfassen. Schließlich stellen wir die Frage: „Möchten Sie noch einmal auf die Station kommen, um sich von der Verstorbenen zu verabschieden?“ Wir ermutigen die Angehörigen zu diesem Abschied und versichern, dass wir sie dabei begleiten und, wenn sie es wünschen, bei ihnen bleiben. Es wäre jedoch ganz falsch, jemanden dazu zu drängen. Jeder Mensch hat das Recht, sich so zu entscheiden, wie er es für sich für richtig hält. Verabschiedung von der Verstorbenen Eine Pflegeperson begleitet die Angehörigen zu der Verstorbenen und beantwortet Fragen nach dem Verlauf der letzten Stunden vor Eintritt des Todes. Die Schwester berührt die Verstorbene sanft und nimmt so den Hinterbliebenen die Scheu, die Tote auch selbst zu berühren. Nach einer Weile fragt sie, ob sie dableiben soll oder ob sie jetzt lieber allein sein möchten. In dem Abschiedsgespräch einige Tage nach dem Versterben von Frau Erna betont die Tochter wiederholt, dass sie unsere Offenheit
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und Wahrhaftigkeit im Gespräch über Therapieziele und Prognose ganz besonders geschätzt hat. Mit Tränen in den Augen sagt sie, dass sie das Gefühl hat, dass wir ihre Mutter nie verlassen haben, sondern bis zuletzt für sie da waren. Die Tochter hatte sich mit einigen Mitpatientinnen und Angehörigen gut angefreundet und kommt noch heute, zwei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, auf die Station zu Besuch. Palliative Begleitung endet nicht mit dem Tod der Patientin, sondern sollte den Hinterbliebenen – sofern erwünscht – auch in der Zeit der Trauer zur Seite stehen. Mit den knappen personellen Ressourcen eines Pflegeheims ist dies allerdings nur in sehr beschränktem Ausmaß möglich. Das Angebot eines Abschiedsgesprächs mit Bezugspflegekraft und Ärztin zeigt den Hinterbliebenen, dass sie auch noch nach dem Tod der Patientin als Person wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Eine einfache Möglichkeit ist das Versenden von persönlich gehaltenen handgeschriebenen Beileidskarten wenige Wochen nach dem Tod. Diese kleine Geste bedeutet für die Hinterbliebenen oft sehr viel (Tolle et al., 1986, S. 578). Auch die Teilnahme an der Beerdigung ist ein Zeichen der Wertschätzung und Fürsorge der Verstorbenen und ihrer Familie gegenüber.
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Nachwort Andreas Heller
Palliative Geriatrie als narrative Praxis und Theorie Palliative Geriatrie – von Marina Kojer als „interdisziplinäres Fach“ kreiert und praktiziert – reagiert auf die wachsende und bedrängende Notwendigkeit, sich intensiv um unheilbar demente Menschen zu sorgen. Hochbetagte Menschen mit Demenz sind schwerkrank; sie müssen daher als Patientinnen gesehen werden und dürfen nicht im Euphemismus der „Bewohnerin“ versteckt, wenn nicht gar gedemütigt werden. Geschichte und Schicksal dieser Menschen, ihre aktuelle und oft akut-palliative Situation bilden eine bleibende Herausforderung für die Gesellschaft und für alle Helfenden in den stationären und ambulanten Einrichtungen der Altenhilfe. Wie sollen wir demenzkranken Menschen begegnen, ohne uns gleichzeitig über sie hinwegzusetzen? Zunächst müssen wir in Kontakt treten und uns bemühen, eine Beziehung aufzubauen. Wie dies geschehen kann, wird exemplarisch an vielen Stellen des vorliegenden Buches beschrieben und begründet. Das Buch ist eine große Erzählung über den Umgang mit kranken Menschen, die wir bisher nie richtig als Personen wahrgenommen haben, Menschen, die jetzt ganz neu in ihrer Sprachlosigkeit zu uns sprechen, Menschen, die eine Anrede an uns sind, so dass wir selbst keine Ausrede haben können. Wir sind in dieser kommunikativen Beziehung hellhörig geworden für die Schwingungen der Wortlosigkeit und lernen allmählich selbst die Sprache der Zuwendung und Hinwendung, der Aufmerksamkeit und der Achtung. Wie ein roter Faden zieht sich durch dieses Buch die Hoffnung, dass es möglich ist, zu demenzkranken Menschen eine Beziehung von Du zu Du zu finden. Das ist eine wirkliche Innovation für die moderne Medizin, für die Sorge um andere und natürlich für Palliative Care.
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Nachwort
Der modernen Medizin mangelt es an der Fähigkeit, das aufzunehmen, was Menschen mit schweren Erkrankungen erschüttert: die existenziellen Brüche, inneren Verletzungen, quälenden Verzweiflungen, tragenden Hoffnungen, die schmerzende Trauer, die Angst vor dem Sterben. Die existenziellen Brüche und Bewegungen des Lebens werden allzu oft auch in den Lebensqualitätserfassungen auf das quantitativ Messbare reduziert. Statistisch erhobene Werte können jedoch kein Maß für die subjektive Befindlichkeit sein. Dies gilt in besonderer Weise für demenziell Erkrankte. Seit dem 18. Jahrhundert entwickelt sich die „klinische Fallgeschichte“ als vorherrschende Kommunikationsform im Krankenhaus. Klinik meint hier nicht allein den Ort der Behandlung, sondern auch die darin praktizierte Medizin. Dadurch verändert sich der „medizinische Blick“. Der Charakter dieser eher medizinisch-technischen Sichtweise ist in Diagnosen und kurvenmäßig darstellbaren Verläufen von Krankheitsentwicklungen in Zeichen, Symptomen, Labordaten etc. mathematisiert und aggregiert. Es interessiert mehr die Geschichte der Krankheit als die des Krankseins. Die Krankendaten werden so entpersönlicht und abstrahiert, dass die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind, „ihre Kranken-Geschichte“ zu lesen und zu verstehen. Diese Befundorientierung ignoriert das Befinden der Personen als relevante Kategorie. So versachlicht sie auch die Arzt-Patient-Beziehung; für deren verstehende Interpretation ist da kein Platz. Medizin als „Beziehungsmedizin“ bleibt so ein historisches Postulat. Hospizarbeit, Palliative Care und Palliative Geriatrie sind Philosophien, Haltungen (erst viel später Konzepte); sie sind auch – darauf sei hier besonders hingewiesen – Geschichten eines anderen Umgangs mit Menschen, die schwerkrank, sterbend und trauernd sind. In diesen Geschichten kommen die existenziellen Sorgen angesichts der verrinnenden Lebenszeit zum Ausdruck, die gerade in der Hospizarbeit und in der Palliativsorge eine große, wenn nicht sogar tragende Bedeutung haben. Es macht den besonderen und innovativen Charakter dieser hospizlich-palliativ-geriatrischen Sichtweise aus, dass die offizielle Geschichte im Umgang mit Krankheit gebrochen und unterbrochen wird durch die Geschichten der Kranken. Geschichten formieren und humanisieren die Zeit und den Raum neu. Organisationen erscheinen ja deshalb zuweilen so unmenschlich, weil in ihnen kein Platz und keine Zeit für Geschichten und Erzählungen zu sein scheint. Palliative Geriatrie versucht, Organisationslogiken zu unterbrechen und jene zu Lasten der Patienten gehenden Brüche zu
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Nachwort
minimieren, die bürokratische Erfordernisse den Mitarbeiterinnen aufzwingen. Hier wird eingelöst, was die Erfahrung und hospiztragende Einsicht etwa einer Elisabeth Kübler-Ross war: Die Betroffenen selbst sind die Lehrmeister. An der Art und Weise ihres Lebens, Leidens und Sterbens geht auf, was wichtig, wertvoll und bedeutsam ist, für sie selbst und für die, die Sorge um sie tragen. Charakteristisch für diese Sicht auf die betroffenen „unheilbar dementen“ Menschen ist die Haltung des bedingungslosen Respekts, der Akzeptanz der anderen um ihrer selbst willen, der Aufmerksamkeit für ihre einmalige Geschichte, der Anteilnahme an ihrem unwiederholbaren Schicksal. Die Art und Weise, wie ich Menschen sehe, die Haltung, aus der heraus ich mich auf sie hin bewege, drückt mein Verhältnis zu ihnen aus. Deshalb wird es in der Palliativen Geriatrie wichtiger, daran zu erinnern: Wir sprechen von Menschen und nicht von Fällen, von Subjekten des Krankseins und des Sterbens und nicht von Objekten der Behandlung. Um diesen Personcharakter zum Tragen zu bringen, eignen sich Erzählungen. Erzählungen spielen in Zeit und Raum, sie haben einen Anfang und ein Ende, beginnen in der Regel immer irgendwo in der Mitte des Lebens. Bei Geschichten demenzkranker Menschen handelt es sich nicht um Geschichten im herkömmlichen Sinne. Es sind Splitter und Bruchstücke aus dem, was die Kranken selbst oder ihre Angehörigen berichten, aus den Beobachtungen und Erfahrungen, die wir mit ihnen machen, und aus Ergänzungen, die wir selbst – oft unbewusst – vornehmen, wenn wir einander von den Patienten erzählen. Alles zusammen bildet ein Mosaik, das niemals vollständig werden kann. Erzählungen setzen eine Beziehung zwischen dem, der erzählt, und derjenigen, die sich darauf einlässt, voraus. Die zugewandte Haltung hat Einfluss auf das Erzählte, konstituiert es mit. Erzählungen handeln in der Regel von Personen mit ihren Gedanken und Gefühlen. Geschichten helfen zu verstehen, wie und warum und unter welchen Umständen Menschen krank geworden sind und wie sie sich zu ihrer Situation, ihrem Sosein in Beziehung setzen. So helfen sie uns, Patienten in ihrem Kranksein zu verstehen, die Kommunikation mit den Helfenden zu verbessern und zu tragfähigen Entscheidungen zu kommen. Ohne Erzählungen kann ich nicht angemessen, personzentriert, individuell, ganzheitlich verstehen, aufnehmen und behandeln. Palliative Geriatrie ist narrativ, also eine erzählende Praxis, weil die Menschen „Geschichtenerzähler“ sind. Helfen ist narrativ, weil ich mir
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Nachwort
erzählen lassen muss, was die Betroffenen wollen, was sie nicht wollen und was sie bewegt. Die Ethik ist narrativ, weil gute Entscheidungen das Einbeziehen der Geschichte der Betroffenen voraussetzen. Keinen anderen Zweck haben die vielschichtigen Leitfäden aller Ethikmethoden. Die Betroffenen selbst und die von ihrem Schicksal Mitbetroffenen müssen gemeinsam mit den Helfenden eine große Erzählung weben, um eine Entscheidung zu treffen und zu verantworten. Stets bilden Erzählungen den Anfang; sie legen den Grundstein für neue Erzählungen. Eine Erzählung bindet die Zuhörerinnen, weil in ihr immer mehr aufleuchtet als in Daten und Zahlen, nämlich die Person, die Charakteristik eines Menschen. Auch in den reflektierenden Settings des Berufsalltags, z. B. in der Supervision, wird erzählend rekonstruiert, Verflechtungen in den Beziehungen können aufgehellt werden. Deshalb macht es Sinn, dass Menschen in helfenden Berufen Geschichten fördern und Erzählungen stimulieren. Erforderlich ist eine Haltung zuhörender und zugewandter Aufmerksamkeit sowie umfassender Präsenz. Es ist das Verdienst der Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren des hier vorliegenden Werkes, dass sie uns diesen neuen Blick auf die Palliative Geriatrie eröffnen und uns teilhaben lassen an den vielfältigen Geschichten sowohl der Patientinnen als auch der Pflegenden. Die Artikel dieses Sammelbandes ergeben in ihrer Gesamtheit ein neues und bewegendes Kapitel in der fortdauernden Erzählung der Palliativen Geriatrie.
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Ausblick Marina Kojer, Martina Schmidl
Die Gesellschaft kann die Augen nicht mehr vor der hohen und ständig weiter steigenden Zahl von Demenzkranken verschließen. Anfang 2010 widmete das Magazin „Spiegel Wissen“ dem Thema Demenz ein ganzes Heft; das war ein deutliches Signal. Es war geeignet, die Hoffnung auf vermehrte Beachtung der Bedürfnisse der Betroffenen zu wecken, auf die ernsthafte Suche nach besseren Betreuungsbedingungen und entsprechenden Finanzierungsmöglichkeiten. Bereits der erste Blick auf die Zeitschrift musste etwaige Erwartungen jedoch erheblich dämpfen: Das Titelblatt zeigt das Foto einer herzlich lachenden alten Dame, der ihr ebenfalls fröhlicher Partner liebevoll den Arm um die Schulter legt. Die Überschrift dazu lautet: „Die Reise ins Vergessen“. Schlägt man das Heft auf, signalisieren Artikel wie „Endstation Wellness“ und „Sexdienste im Pflegeheim“ erfreuliche Aussichten für ein Leben mit Demenz. Auch Menschen mit fortgeschrittener Demenz lachen. Auch Menschen mit einem fortgeschrittenen Karzinom lachen. Aber würde man für eine Ausgabe zum Thema Krebs ein Bild dieser Art wählen? Würde man einen Weg, der zum Tod an Krebs führt, als „Reise“ bezeichnen? Würde man die letzten Lebenswochen, selbst wenn sie unter den günstigsten Bedingungen stattfinden, „Endstation Wellness“ nennen? An fortgeschrittener Demenz erkrankt zu sein bedeutet, auf schwankendem Boden zu stehen, ohne Orientierung, ohne Bewältigungsstrategien. Es heißt: nicht sprechen, nicht gehen, nicht allein essen zu können, unsicher, hilflos, abhängig und machtlos zu sein. Die Krankheit greift – im Gegensatz zu den meisten anderen – von Anfang an in die Gehirntätigkeit und damit unmittelbar in die Persönlichkeit ein und löscht zunehmend Gedächtnis, Denkvermögen, Urteilsfähigkeit, sprachliches Ausdrucksvermögen und Selbstkontrolle aus. Von Beginn des Pensionsalters an steigt die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, mit jedem Lebensjahr. Mit dem Ansteigen der Lebenserwartung ist auch das Risiko zu erkranken gestiegen. Demenz geht uns alle an. Wir alle sind potenziell Betroffene.
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Ausblick
Was ist bis jetzt geschehen, um die bestmögliche Betreuung Demenzkranker – und unsere eigene zukünftige Betreuung – zu gewährleisten? Hat die Wohlstandswelt alle verfügbaren Kräfte gebündelt, um dieses vorrangige Ziel zu erreichen? Weit gefehlt! Unsere Gesellschaft verschließt bis jetzt die Augen vor den Tatsachen. Mit einer immer härteren Ressourcenbeschränkung für die heute Betroffenen fällt sie bedenkenlos das Urteil über die eigene Zukunft. Wie sehen die bisher getroffenen Maßnahmen aus? In Japan hat man damit begonnen, Hochbetagte durch Roboter pflegen zu lassen. Auch in Amerika sind Pflegeroboter im Einsatz (Creutz, 2006). Das kommt billiger. In Deutschland und Österreich versucht man, dem Problem der alternden Bevölkerung vor allem durch zunehmende Einsparungen auf dem Pflegesektor zu begegnen. „Bei der Pflege [von an Demenz Erkrankten] geht es darum, eine … Mindestnorm sicherzustellen … Mit einer Gewährleistung von Ernährung, Sauberkeit und Sicherheit wäre schon viel erreicht“ (Held, 2008). Kaum oder gar nicht ausgebildete Billigarbeitskräfte sollen die minimal erforderliche Personalausstattung für die Betreuung Demenzkranker sicherstellen. Dieser Plan geht zu Lasten der Erkrankten: Die menschenwürdige Pflege, Betreuung und Begleitung multimorbider und demenzkranker Hochbetagter erfordert – wie jede qualifizierte Sozialleistung – charakterliche Eignung, Neigung, Begabung und adäquate Ausbildung. Eine Anerkennung, geschweige denn Aufwertung der geriatrischen Arbeit lässt auf sich warten. In der Altenpflege tätige Pflegekräfte, Ärztinnen und Therapeutinnen haben ein deutlich geringeres soziales Ansehen und werden oft schlechter bezahlt als ihre an anderen Stellen beschäftigten Kolleginnen, obwohl die Altenpflege, insbesondere die Pflege von Demenzkranken, zu den schwierigsten und verantwortungsreichsten Aufgaben in unserem Gesundheitswesen zählt! Wen darf es da wundern, wenn die Attraktivität dieser Berufe stetig abnimmt und viele Schwestern und Pfleger bereits nach wenigen Jahren aussteigen. Vor diesem Hintergrund ist das vorliegende Buch entstanden. Es musste geschrieben werden, um aufzuzeigen, dass es auch anders geht. Es wurde geschrieben, um die legitimen Bedürfnisse Demenzbetroffener in den Mittelpunkt zu stellen und anhand zahlreicher Bei-
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Ausblick
spiele von „good practice“ zu demonstrieren, wie es gelingen kann, diesen Bedürfnissen besser gerecht zu werden. Dass das Billigangebot „warm, satt, sauber“ dafür nicht ausreicht, wird jedem Denkenden klar sein. Dass es aber auch nicht genügt, „die soziale Seite der Krankheit“ (Gronemeyer, 2007, S. 223) stärker zu beachten und die Betroffenen besser in die Gesellschaft einzugliedern, mag nicht auf Anhieb einleuchten. Dieser relativ neue Ansatz, dem Problem zu begegnen, wurzelt in der vergeblichen Hoffnung, der Demenz über geeignete soziale Maßnahmen doch noch zu entrinnen. Wenn Demenzkranke im Pflegeheim „wie Hülsen ihres vergangenen Lebens wirken“ (ebd., S. 215), dann nicht deshalb, weil sie im Heim leben, sondern weil die Menschen, die sie betreuen, nicht gelernt haben, mit ihnen auf Augenhöhe zu kommunizieren und daher ihre Nöte und Bedürfnisse nicht erkennen, nicht beachten und nicht lindern können. Ungewollt drängen sie die Betroffenen mehr und mehr in den Rückzug. Die Kranken müssen sich zurückziehen, damit sie nicht mehr so oft verletzt werden. Verfügte die Altenpflege über ausreichendes und gut ausgebildetes Fachpersonal, das die ihm zustehende Wertschätzung erfährt, müssten die Kranken sich nicht schützen. Warum sollte es Menschen mit fortgeschrittener Demenz generell besser gehen, wenn sie zu Hause leben, wo die schwierige und anstrengende Betreuung der Kranken von überforderten Angehörigen erbracht werden muss? Auch eine „demenzfreundliche Kommune“ (www.aktion-demenz.de) wäre nur dann hilfreich, wenn ihre Mitglieder über die erforderlichen Kompetenzen verfügten. Nicht das „Wo“, das „Wie“ der Betreuung ist ausschlaggebend! Demenzkranke sind weder „wahnsinnig“ noch „dumm“, sie sind anders. Um dieses „Anderssein“ ein wenig besser zu verstehen, müssen wir lernen, ihnen auf der Gefühlsebene zu begegnen, denn dort sind sie zu Hause. Damit Demenzkranke im Pflegeheim eine möglichst lange und gute Zeit der körperlichen und seelischen Balance erleben dürfen, ist es erforderlich, wachsam zu sein und sorgfältig auf kleine Veränderungen des Befindens zu achten. Ausschließlich die Patientinnen selbst können uns mitteilen, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Nur wenn wir ihre „Sprache“ erlernen, hat unser Angebot die Aussicht, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Erst dann kann es gelingen, unsere fachliche Kompetenz sinnvoll einzusetzen und den Kranken zu helfen, bis zuletzt ein menschenwürdiges Leben zu führen. Der immer bedrohlicher werdende Pflegenotstand in der Versorgung hochbetagter und demenzkranker Menschen wird derzeit von allen Seiten lautstark beklagt. Das hindert uns zukünftig Betroffene jedoch
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Ausblick
nicht daran, sehenden Auges einer nicht mehr verantwortbaren Unterversorgung entgegenzugehen. Dessen ungeachtet haben wir uns als Gesellschaft jetzt dafür entschieden, andere Prioritäten zu setzen. Es ist daher nicht möglich, das nötige Geld in die Pflege zu investieren. Mit diesem Buch wollen wir zeigen, dass sich die Situation deutlich verbessern lässt – die der Demenzkranken, die ihrer Angehörigen, aber auch die der Mitarbeiterinnen aller Berufsgruppen. Wir schreiben über das, was Menschen für ihre demenziell erkrankten Mitmenschen tun können. Eine chronische Krankheit, die mit gravierenden, stetig zunehmenden Verlusten einhergeht, kann nie „Endstation Wellness“ sein; sie bleibt stets ein schwer zu (er)tragendes Schicksal. Es kann aber zumindest gelingen, das Leben um vieles erträglicher zu machen. Die dafür erforderlichen Ressourcen sind bescheiden. Wir hoffen, dass unser Appell Gehör und Beachtung finden wird.
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Glossar
Abdomen: Bauch Affekt: Gemütserregung Afferente Schmerzfasern: dem Zentralnervensystem zuströmende Nervenleitungsbahn Agitation: krankhafte Unruhe Aggravation: (Krankheits-)Verschlimmerung Alzheimerkrankheit: häufigste Form der Demenz (siehe Dement, Demenz) Amnestische Aphasie: Wortfindungsstörung Amputation: Abtrennung eines Körperteils Analgesie: Aufhebung oder Unterdrückung der Schmerzempfindung Analgetika: Medikamente, die eine schmerzstillende oder schmerzlindernde Wirkung haben Anämie: Blutarmut Angiographie: radiologische (siehe dort) Darstellung der Blutgefäße Antibiotikum (Mehrzahl: Antibiotika): Arzneimittel zur Behandlung bakterieller Infektionskrankheiten Antikoagulation: die Gabe eines Medikaments zur Hemmung der Blutgerinnung Aortenstenose: Herzklappenfehler, bei dem der Ausflusstrakt der linken Herzkammer verengt ist Aphasie: Sprachstörung durch Schädigung der Sprachregion im Gehirn (zum Beispiel nach Schlaganfall) Aphten: schmerzhafte Geschwüre der Schleimhaut Apraxie: neurologische Bewegungsstörung, die den Menschen – trotz erhaltener Bewegungsfähigkeit – unfähig macht, Gegenstände sinnvoll zu verwenden; die Betroffenen wissen z. B. nicht mehr, was man der Reihe nach tun muss, um ein Streichholz anzuzünden Arterielle Verschlusskrankheit oder periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK): umgangssprachlich „Schaufensterkrankheit“; bezeichnet eine Störung der arteriellen Durchblutung der Beine; Hauptursache ist die Arteriosklerose (umgangssprachlich Arterienverkalkung) Arthrose: Abnützungserkrankung eines Gelenks Aspiration: Eindringen flüssiger oder fester Stoffe in die Atemwege während der Einatmung durch fehlende (bzw. mangelhafte) Schutzreflexe Aspirationspneumonie: Lungenentzündung durch Aspiration
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Glossar
Assessment: Einschätzung, Erfassung Atrophie: Gewebeschwund Basale Stimulation: für Behinderte, Demenzkranke und Sterbende geeignete Pflegemethode, die darauf abzielt, über gezielte Sinnesreize den Bezug zum eigenen Körper und zur Umwelt zu verbessern Bauchwandhernie: umgangssprachlich „Eingeweidebruch“; bezeichnet den Austritt von Eingeweiden aus der Bauchhöhle; eine Ausstülpung des Bauchfells schiebt sich durch eine angeborene oder erworbene Lücke in den tragenden Bauchwandschichten Benzodiazepine: chemische Untergruppe von Beruhigungsmitteln (Tranquillizer) Body-Mass-Index (BMI): Maßzahl für die Bewertung des Körpergewichts in Relation zur Körpergröße Bolus: genau definierte Dosis eines Medikaments, die bei Bedarf rasch über eine liegende Injektionskanüle verabreicht werden kann Cerebrovaskulär: die Blutgefäße des Gehirns betreffend, im weiteren Sinne auch die Hirndurchblutung betreffend Compliance: kooperatives Verhalten der Patientin z. B. in Bezug auf die Einnahme von Medikamenten, das Befolgen einer Diät oder die Veränderung eines Lebensstils Conditio humana: die Bedingung des Menschseins Curriculum: Studienplan Dekubitus: Druckgeschwür, Wundliegen (vor allem bei Bettlägerigkeit) Delir: akute, aber rückbildungsfähige Bewusstseinsstörung Dement: an Demenz leidend Demenz: fortschreitende degenerative Veränderungen des Gehirns mit allmählichem Verlust von Gedächtnis und Denkfähigkeit Diabetes mellitus: Zuckerkrankheit Diarrhö: Durchfall Diazepam: Arzneistoff aus der Gruppe der Benzodiazepine (siehe dort), der insbesondere bei akuten und chronischen Spannungs- und Erregungszuständen sowie Angststörungen angewendet wird Dysphagie: Schluckstörung Empathie: Mitgefühl, Einfühlungsvermögen Empowerment: Strategien und Maßnahmen, die geeignet sind, den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung im Leben von Menschen zu erhöhen Endogen: Prozesse, die im Körper selbst und nicht durch äußere Einflüsse entstanden sind Endorphine: körpereigene Opioide (siehe dort) Ergometrie: Messung der körperlichen Leistung unter dosierbarer Belastung, z. B. auf einem Fahrradergometer
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Glossar
Ergotherapie: Therapieformen zur Hebung oder Erhaltung der Lebensqualität und zur Erzielung der größtmöglichen Selbstständigkeit Euphemistisch: beschönigend Exazerbation: deutliche Verschlechterung des Krankheitsbildes chronisch verlaufender Erkrankungen Fraktur: Knochenbruch Frontotemporale Demenz: Form der Demenz, bei der der Abbau von Nervenzellen zunächst im Stirn- und Schläfenbereich (Fronto-Temporal-Lappen) des Gehirns stattfindet; von hier aus werden u. a. Emotionen und Sozialverhalten kontrolliert Galenik: Lehre von der Herstellung von Arzneimitteln Gangrän: umgangssprachlich „Wundbrand“; Absterben von Gewebe als Folge von Sauerstoffmangel bei schweren Durchblutungsstörungen Gefäßerkrankungen: Erkrankungen der Arterien, Venen und der Lymphwege Gender: bezeichnet das soziale oder psychologische Geschlecht einer Person im Unterschied zu ihrem biologischen Geschlecht; Gender bezeichnet also alles, was in einer Kultur als typisch für ein bestimmtes Geschlecht angesehen wird (z. B. Kleidung, Beruf usw.) und verweist nicht unmittelbar auf körperliche Geschlechtsmerkmale Heparin: Wirkstoff, der die Gerinnbarkeit des Blutes herabsetzt Herpes zoster: umgangssprachlich „Gürtelrose“; eine schmerzhafte Viruserkrankung, die hauptsächlich durch einen streng einseitigen, streifenförmigen Hautausschlag in Erscheinung tritt Herzinsuffizienz: eingeschränkte Funktionsfähigkeit des Herzens; stärkste Ausprägung der Herzinsuffizienz ist das Herzversagen Holistisch: ganzheitlich Homöostase: das physiologische (siehe dort) Streben nach Erhaltung eines Gleichgewichts, das für die Lebenserhaltung und Funktion eines Organismus oder eines Organs notwendig ist Hospiz: früher: Herberge; heute: ambulante oder stationäre Einrichtung zur interdisziplinären Behandlung (Schmerztherapie und Symptomkontrolle), Pflege und Begleitung Schwerstkranker und Sterbender Hydronephrose: krankhafte Erweiterung des Nierenhohlsystems durch eine chronische Harnabflussstörung Hypnotikum (Mehrzahl: Hypnotika): Schlafmittel Hypopharynx: der unterste Teil des Rachens Indikation: Heilanzeige; Grund zur Anwendung einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme Inkontinenz: Unfähigkeit, den Abgang von Harn und/oder Stuhl willentlich zu kontrollieren Insuffizienz: ungenügende Leistung eines Organs oder Organsystems
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Glossar
Interventionsstudie: auch Behandlungsstudie; untersucht, ob eine Behandlungsmethode tatsächlich wirksam ist Ischämie: Verminderung oder Unterbrechung der Durchblutung eines Organs, Organteils oder Gewebes Kardiale Insuffizienz: siehe Herzinsuffizienz Kardialer Index: kennzeichnet die Leistungsfähigkeit des Herzens Karzinom: bösartiger Tumor, Krebs Ketose: durch erhöhten Abbau von Fettsäuren verursachter Stoffwechselzustand bei Nahrungsmangel Kinästhetik: spezielle Pflegemethode mit deren Hilfe es gelingt, Patienten schonend und angenehm zu drehen oder zu mobilisieren Kognitiv (Hauptwort: Kognition): das Denken betreffend; Sammelbegriff für Fähigkeiten, die Wahrnehmung, Erkennen, Denken, Lernen und Erinnern betreffen Koma: schwerste Form einer Bewusstseinsstörung; der Patient ist durch äußere Reize nicht weckbar Kontraindikation: wörtlich „Gegenanzeige“; ein Umstand, der die Anwendung eines diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens verbietet Kontraktur: dauerhafte Verkürzung von Muskeln, Sehnen und Bändern, die zu einer bleibenden Einschränkung der Beweglichkeit führt Körperschema: auch Körperbild; das Gewahrsein der Lage aller Körperteile zueinander Kortex: Großhirnrinde Kumulation: Anhäufung von Arzneisubstanzen im Organismus durch zu häufige Gabe oder durch verzögerte Ausscheidung Kurative Maßnahmen: heilende Maßnahmen Lipidsenker: Arzneimittel, die die Blutfette senken Logopädie: Fachdisziplin, die sich mit Sprach-, Sprech-, Stimm-, Schluckoder Hörbeeinträchtigungen beschäftigt Lungenödem: umgangssprachlich „Wasserlunge“; vermehrte Flüssigkeitsansammlung in der Lunge Marcoumar: Arzneimittel, das die Gerinnungsneigung des Blutes herabsetzt und so die Bildung von Blutgerinnseln verhindert Metabolismus: Stoffwechsel Metamizol: Schmerzmittel Meteorismus: übermäßige Ansammlung von Gas im Verdauungstrakt Mini-Mental-State-Test (MMSE): häufig verwendeter Demenztest Mitralinsuffizienz: eingeschränkte Funktionsfähigkeit einer Herzklappe (Mitralklappe) Mnestische Störungen: Gedächtnisstörungen Mobilisation: Maßnahmen, die der Förderung und Erhaltung der Bewegungsfähigkeit dienen
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Glossar
Morphium/Morphin: stark wirksames Schmerzmittel; Opiat Mortalität: Sterberate Motorspritze: Vorrichtung, mit deren Hilfe Medikamente über einen längeren Zeitraum gleichmäßig oder als Bolus (siehe dort) unter die Haut oder über eine Vene zugeführt werden Multimedikation: gleichzeitige Anwendung verschiedener Arzneimittel gegen mehrere Erkrankungen Multimorbidität: gleichzeitiges Bestehen von mehreren Krankheiten Multiple Sklerose: chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems Myelin: Biomembran, die wie eine Isolationshülle die Nervenfasern umgibt Nekrose: Untergang oder Absterben von Zellen Nekrotische Fasciitis: eine plötzlich auftretende, schnell verlaufende und schwerwiegende Infektionskrankheit der Haut und Unterhaut Neuroleptika: Psychopharmaka, die vor allem bei schweren psychischen Störungen eingesetzt werden, beruhigend wirken und motorische Unruhe vermindern Neurologie: Lehre von den Erkrankungen des Nervensystems und der Muskulatur Neuropathie: Empfindungsstörung (mit oder ohne Schmerzen) durch Erkrankung (Störung) von Anteilen des Nervensystems Neuropsychologie: Teilgebiet der Psychologie, das sich mit dem Verhalten und Erleben aufgrund physiologischer (siehe dort) Prozesse beschäftigt NSAR: nicht stereoidale Antirheumatika; Gruppe von entzündungshemmend wirksamen Schmerzmitteln Nycturie: vermehrtes nächtliches Wasserlassen Obstipation: Stuhlverstopfung, Darmträgheit Ödem: Einlagerung von Flüssigkeit im Gewebe Opioid: stark wirksames Schmerzmittel, das morphinartige Eigenschaften aufweist Ösophagus: Speiseröhre Osteomyelitis: infektiöse Entzündung des Knochenmarks Osteoporose: Erkrankung des Skelettsystems mit Verminderung der Knochensubstanz und erhöhter Bruchanfälligkeit Palliative Care: Praxis und Theorie einer von verschiedenen Berufsgruppen gemeinsam getragenen Behandlung, Pflege, Betreuung und Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen sowie die Begleitung ihrer Angehörigen; unabdingbare Voraussetzungen für Palliative Care sind fachliches Können, Respekt, Einfühlungsvermögen und Zuwendung Palliative Geriatrie: Behandlung, Pflege, Betreuung und Begleitung schwerstkranker und sterbender alter Menschen und Begleitung ihrer Angehörigen Paranoid: unter Verfolgungswahn leidend
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Glossar
Parkinson: Parkinson’sche Krankheit, Morbus Parkinson; fortschreitende, durch Zittern und schwere Bewegungsstörungen gekennzeichnete neurologische Erkrankung Paternalismus: ärztliche Haltung, die dazu führt, dass der Arzt auf Grund seines Fachwissens für den Patienten entscheidet Pathogen: eine Krankheit auslösend Pathologie: Lehre von den Krankheiten Patientenverfügung: schriftliche Vorausverfügung, mit der ein Mensch in bestimmte medizinische Behandlungen einwilligt oder sie ablehnt; sie wird dann wirksam, wenn der Betreffende zum Zeitpunkt der Behandlung nicht einsichts-, urteils- oder äußerungsfähig ist PAVK IV: periphere arterielle Verschlusskrankheit Stadium 4; bezeichnet die schwerste Form einer Störung der arteriellen Durchblutung; zum weitaus überwiegenden Teil sind die Beine davon betroffen; Hauptursache ist die Arteriosklerose (umgangssprachlich Arterienverkalkung) PEG-Sonde (PEG = Perkutane Endoskopische Gastrostomie): während einer Magenspiegelung gesetzte Ernährungssonde; durchdringt Magenwand und Bauchdecke; ermöglicht die Zufuhr von Nährlösungen direkt in den Magen Peritonitis: Entzündung des Bauchfells Phonem: kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der Sprache Physikalische Untersuchung: Untersuchung des Patienten durch Besichtigung, Betasten, Hören, Messen usw. Physiologie: Lehre von den normalen Lebensvorgängen im menschlichen Organismus, im Gegensatz zu Pathologie (Lehre von den krankhaften Veränderungen) Physiologisch: ordnungsgemäß funktionierend (zum Beispiel: ein Organ), im Gegensatz zu pathologisch (krankhaft) Physiotherapie: therapeutische Einflussnahmen auf den Bewegungsapparat wie Krankengymnastik, Bewegungsübungen, Massagen, Kälte-WärmeAnwendungen; dient der Anregung und gezielten Behandlung gestörter Funktionen und der Linderung von Beschwerden Pneumonie: Lungenentzündung Präfrontaler Kortex: Teil der Großhirnrinde an der Stirnseite des Gehirns Probatorisch: versuchsweise Progrediente Erkrankung: fortschreitende Erkrankung Prophylaxe: Maßnahmen zur Vorbeugung von Krankheiten und gesundheitlichen Komplikationen Psychopharmaka (Einzahl: Psychopharmakum): Medikamente, die die Aktivität des Zentralnervensystems beeinflussen und sich auf Stimmung, Emotionalität, Lebensgefühl und Wachheitszustand auswirken können Psychosozial: Kombination von psychischen und sozialen Aspekten; betont die Bedeutung sozialer Einflüsse auf die psychische Entwicklung und Befindlichkeit Psychotherapie: alle Formen der psychologischen Behandlung von seelischen Störungen mit und ohne körperliche Auswirkungen
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Glossar
Querbettsitzen: Aufsetzen am Bettrand; erste Maßnahme der Mobilisation nach längerer Bettlägerigkeit Radikale Patientenorientierung: ethische Grundhaltung des betreuenden Teams; vollständige Ausrichtung des Denkens, Planens und Handelns auf die Wünsche, Bedürfnisse und Ziele der betreuten Person; setzt bedingungslosen Respekt vor Persönlichkeit und Willen des Patienten voraus Radiologie: Teilgebiet der Medizin, das sich zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken mit der Anwendung von elektromagnetischen Strahlen und mechanischen Wellen befasst Regurgitation: Zurückströmen z. B. von Speisebrei aus der Speiseröhre in den Mund Resorption: Aufnahme von Stoffen (zum Beispiel Arzneimitteln) über Verdauungsapparat, Haut oder Schleimhaut Retrospektiv: zurückschauend; das Gegenteil hierzu ist prospektiv (vorausschauend) Rezidiv: das Wiederauftreten von Symptomen oder Krankheiten Rollator: gebräuchliche, mit Rädern versehene Gehhilfe Rudiment: (Über)Rest, Überbleibsel Sachwalter: gesetzlicher Betreuer; vom Gericht beauftragter und befugter Vertreter bei mangelhafter (fehlender) Geschäftsfähigkeit; Hauptaufgabe: Wahrung der Interessen und Ansprüche des Menschen, den er vertritt Schenkelhalsfraktur: Bruch des Halses (schlanker Teil unterhalb des Gelenkskopfes) des Oberschenkelknochens; häufige Sturzfolge bei alten Menschen (vor allem bei Frauen) Schlaganfall: plötzlicher Ausfall der Blutversorgung eines Hirnareals durch Gefäßverschluss oder Blutung Schmerzassessment: Schmerzerfassung Schmerzdiagnostik: Feststellung von Art und Ausmaß von Schmerzen Schmerzpumpe: Vorrichtung, mit deren Hilfe dem Patienten über einen längeren Zeitraum gleichmäßig oder als Bolus (siehe dort) unter die Haut oder über eine Vene Schmerzmittel zugeführt werden Schmerztherapie: Behandlung von Schmerzen Screening: Reihenuntersuchung mit dem Ziel, möglichst frühzeitig das Vorliegen einer Krankheit zu erkennen Sedativa: Beruhigungsmittel Sedierung: (meist medikamentöse) Beruhigung Sensomotorische(s) Aktivierung/Training: Übungen zur Verbesserung der Sinneswahrnehmung und der Bewegungsabläufe Sepsis: umgangssprachlich „Blutvergiftung“; Folgeerscheinung einer Infektion mit Bakterien, deren Toxinen, Viren, Pilzen oder Parasiten; schwere, den ganzen Organismus betreffende Entzündungsreaktion Somatisch: körperlich Soorinfektion: Infektion mit einem Hefepilz
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Glossar
Spinalkanal: der von den Wirbellöchern gebildete Kanal innerhalb der Wirbelsäule Stethoskop: ärztliches Instrument zur Feststellung von normalen und krankhaften Geräuschen von Herz, Lunge, Darm Suizid: Selbsttötung Supervision: fachliche Unterstützung von Professionellen und Teams, z. B. zur Verbesserung der Zusammenarbeit oder zur besseren Arbeitsorganisation Symptomkontrolle: Beherrschung quälender Beschwerden durch gezielte Pflegemaßnahmen und medikamentöse Therapie Syntax: Lehre vom korrekten Satzbau Taillengurt: verhindert das Herausrutschen aus dem Rollstuhl Terminalphase: Zustand der Todesnähe; der Tod tritt mit größter Wahrscheinlichkeit innerhalb von Tagen ein Total pain: totaler Schmerz; berücksichtigt neben der körperlichen auch die seelische, soziale und spirituelle Dimension des Schmerzgeschehens Tramadol: Schmerzmittel Transdermale Therapiesysteme: Arznei in Pflasterform (z. B. Schmerzpflaster); der Wirkstoff wird langsam über die Haut aufgenommen Uhrentest: Test zur Früherkennung von Demenzerkrankungen Ulcus cruris: Geschwür im Bereich des Unterschenkels Ulzera: Mehrzahl von Ulkus (Geschwür) Validation (nach Naomi Feil): wörtlich „Gültigerklärung“; Methode, um mit desorientierten Hochbetagten zu kommunizieren Vegetatives Nervensystem: das unwillkürliche, vom Willen nicht direkt beeinflussbare Nervensystem Vigilanz: Wachheit, andauernde Aufmerksamkeit Visuelle Agnosie: Störung in der Verarbeitung visueller Reize durch das Gehirn; führt dazu, dass die betroffene Person Gegenstände oder Gesichter zwar sieht, aber unfähig ist, sie zu erkennen Vitale (medizinische) Indikation: absolute Indikation (siehe dort) zu einem bestimmten therapeutischen Vorgehen aufgrund bestehender Lebensgefahr Vorhofflimmern: Herzrhythmusstörung Wirbelfraktur: Bruch eines Wirbels Zerebral: das Gehirn betreffend Zerebraler Insult: umgangssprachlich „Schlaganfall“; plötzlicher Ausfall der Blutversorgung eines Hirnareals durch Gefäßverschluss oder Blutung
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Sachverzeichnis
Angst 2, 22, 42, 44, 48f., 51ff., 59, 68, 70, 136, 201, 204, 215, 231, 239ff., 246, 248, 253, 269f., 272, 320f., 334, 337, 378, 381, 394, 412 Ängste 62, 99, 180, 257, 271f., 335, 377, 380f. Anteilnahme 253, 263, 279 Anzeichen des nahenden Todes 120 Anzeichen von Abwehr 140 Apathie 53, 59, 70 Appetitlosigkeit 52, 78, 87 Appetitverlust 87f. Arbeitsorganisation 179, 418 ärztliche Versorgung 206 Aspirationspneumonie 92ff., 411 Assessment-Instrumente 55, 58, 60, 69 Atemnot 124 Atmosphäre 81, 183, 196, 334 auffälliges Verhalten 28 Aufgabe der Ärztinnen 112 Aufgabe der Leitungen 180 Aufnahme 43, 53, 66, 70, 77, 80, 85, 88, 90, 100f., 106, 207, 214, 279, 319, 321, 324, 343, 345, 376f., 405, 417 Ausbildung 100, 159, 165, 175, 212f., 373 Ausnahmesituation 211, 369 Autonomie 315ff., 320, 363, 394, 399, 402, 412
A Abhängigkeit 52, 59, 64, 202, 301, 321, 343, 402 Abschieben ins Heim 362 Abschied 44, 177, 222, 227f., 253, 263, 276, 314, 338, 352, 376, 383f., 400, 402 Abschiedsgespräch 383f. Absicherung 117 Abtreibung 250, 258 Abwehrreaktionen 283 Abwehrverhalten 28, 53 Achtsamkeit 41, 46, 81, 275, 316, 329, 331ff., 346, 395, 401 Aggression 28, 32, 59, 225f., 398 Aggressionsdurchbrüche 106 Aktionismus 116, 224 Aktivitäten des täglichen Lebens (ATLs) 93 Akzeptanz 166, 243, 256 Alltag 54f., 60, 177, 209, 217, 235ff., 249, 270, 272, 275, 313f., 319, 325, 329ff., 337, 347, 369, 373, 378, 380, 399, 406, 409 Altersbild 158 Analgetika 48, 50, 57, 63ff., 411 Analgetika-Stufen gemäß WHO 66 Angehörige 126, 177f., 211, 321, 344, 357 Angehörigenarbeit 374, 430 Angehörigengruppen 360, 402 Angehörigenkonzept 375, 377, 406
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Sachverzeichnis
B
chronische Schmerzen 41, 52, 55, 64, 215 Compliance 48, 412 Curriculum Palliative Praxis (Robert Bosch Stiftung) 181 customer-salesperson model 346
Basale Stimulation 64, 86, 122, 214, 233, 394, 412 Bedürfnisse 233, 237, 265, 269, 271, 275, 279, 391 Bedürfnisstufen 267 Begegnung 220, 222f., 227, 303, 333, 335ff., 374, 376f. Beileidskarten 384 Belastungen 62, 64, 98, 209, 211f., 215, 343, 351f., 372, 375, 377, 379 Benzodiazepine 29, 412 Beobachtungen 69f., 79, 92, 168, 210, 240, 245, 382 Beratungs- und Unterstützungsangebote 357 Berührungen 26, 42, 133, 253, 262f., 337, 382 Beschäftigungsangebote 273 Beschuldigungen 22, 247, 252 Betreuungsqualität 3, 147 Betriebsklima 175 Bewegungsdrang 59, 83, 163, 274 Bewegungsfähigkeit 234, 411, 414 Bewegungsmuster 60, 64, 68, 139 Bewohnerinnenbefragung 191, 399 Bezahlung 182 Beziehung 46, 61, 79, 87, 91f., 94, 97ff., 120, 131, 205, 208, 211, 214, 219, 223, 231f., 270f., 276, 278f., 317, 321, 333, 335f., 346, 374, 377, 397, 402 Beziehungsmedizin 386 Beziehungspflege 164 Billigarbeitskräfte 390 Biographie 80, 222, 236, 246, 263, 273, 275, 346 Burnout 189, 289
D Dekubitalulzera 93 Demütigungen 250, 286 Depressionen 52, 59, 89, 215, 231 diagnostische Maßnahmen 34, 343 Dienstplan 179, 321 Diskriminierung 202 Distanz 3, 30, 96, 133, 319, 330 Dokumentation 50, 62, 122, 146, 179, 210, 315, 379, 396 Dreibettzimmer 242 Durstgefühl 122 Dysphagie 89, 412
E ehrenamtliche Tätigkeit 41, 219f., 222 Eigenständigkeit 278 Eignung 175 Einbettzimmer 238, 240ff. Einbußen 51, 132, 230ff., 234 Einfühlsame Beobachtung 92, 168, 245 Einfühlungsvermögen 212, 248, 260f., 412, 415 Einschränkung 47ff., 54, 56, 59, 61ff., 68, 242, 287, 316, 343, 414 Einsparungen 390 Einstellung 82, 98, 209, 279, 331, 335 Einzelberatung 358, 430 Emotion 98, 236, 244ff., 248, 257f., 262, 330, 337, 373, 383, 413, 416 Empathie 35, 231, 259, 279, 331, 412
C Care Ethik 316, 346 Care-Bedürftigkeit 105, 188
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Sachverzeichnis
Frauen 5, 47, 207, 220, 237, 243, 246ff., 254, 257f., 275, 316f., 357, 396, 399, 406, 417 Frauenwelten 316 Freiheitsspielraum 269 Führungsdefizite 290 Führungsstil 158 Fürsorge 91, 111, 206, 231, 236, 323, 337, 346, 382, 384, 402
Empowerment-Konzept 291 Endorphine 92, 412 Endstadium der Demenz 46, 148 Entscheidungsfindung 325, 344, 349, 352 Entschleunigung 169 Entspannungstechniken 182 Entwicklung der Organisation 193 Erfahrungen 48, 90ff., 94, 116, 211, 217, 220, 222f., 231, 242ff., 278, 317, 372, 403 Erinnerungen 225, 271, 275, 278 Erinnerungsbilder 232 Ernährung 76f., 79f., 85, 87f., 91ff., 97ff., 321, 344, 380, 397, 405, 416 Ernährungsassessment 79f. Ernährungssonde 88, 91, 93f., 97, 100, 321, 344, 416 Erschöpfung 208, 357 Erstkontakt 358 Essverhalten 17, 76ff., 88f., 382, 402 Ethik 202, 216, 218, 313, 316, 325, 327, 331, 334f., 341, 344, 346f., 350ff., 395f., 398, 402, 406f., 409f., 428f. Ethik-Charta der DGSS 218, 396 Ethikgespräch 325 ethische Dilemmata 313, 324f. ethische Entscheidungssituationen 210
G Gangunsicherheiten 215 Geborgenheit 241, 261, 268, 274, 277, 323, 333 Gedächtniseinbußen 107 Gedächtnisstörungen 57, 59, 414 Gedächtnistraining 44f., 273 Gedankenlosigkeit 286 Geduld 83, 100, 167, 208, 214, 337f., 345, 371, 374, 381 Gefühle 42, 52, 126, 145, 215, 223, 231, 233f., 245ff., 258, 267f., 271, 274ff., 279, 331, 333, 351, 370f., 374, 379 Gefühlsebene 14, 26, 139, 171, 292, 391 Gefühlsleben 4, 44 Gefühlswahrnehmung 203 Gefühlswelt 221 Gehhilfen 235 Gemeinschaft 96, 204f., 240f., 330, 394 Genderbewusstsein 5 Generativität 298, 305f. geriatrische Arbeit 390 Geschlechtsidentität 243 Gespräche 64, 84, 116, 177, 225, 238, 325, 345, 349, 374, 376, 379, 382, 399 Gesprächskultur 179, 377 Gesundheitspolitik 157 Gewalt 283f., 290, 297 Gewichtskontrolle 80 Gewichtsverlust 52f., 78, 80, 90, 93, 100
F Facharzt für Pflegeheimmedizin 212 Fachpersonal 391 Fallbesprechungen 183, 347, 407 finanzielle Ausbeutung 286 flache Hierarchien 291 Flüssigkeitssubstitution 118 Flüssigkeitszufuhr 77, 80, 123, 268 Fortbildungen 145
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Sachverzeichnis
K
Gleichberechtigung 202 Grauzone der Ungewissheit 347 Grenzen 210, 212, 233, 245, 252f., 255, 307, 318f., 322, 335, 337, 370f. Grundausbildung 292 Grundbedürfnisse 29, 267 Gruppenaktivitäten 237
Ketose 92, 414 klinische Fallgeschichte 386 kognitive Ressourcen 112 Kommunikation 41, 46, 50, 56, 61, 69, 79, 87f., 92, 109, 131, 164, 181, 202ff., 208f., 214, 217, 224, 231, 233f., 257, 259, 292, 314, 320, 323, 347, 373ff., 377, 393, 398ff. Kommunikation im Team 259, 347 Kommunikation mit Angehörigen 373 Kommunikationsstörungen 56 Konflikte 194, 313, 317, 319ff., 325, 399 Konsequenzen 90, 203, 318, 337, 344, 348f. Kontinuität der Betreuung 374 Kontrolle 51, 68, 73, 80, 82, 99, 209, 246, 252, 254, 256, 270, 290, 361, 413, 418 Konzepte 63, 69, 178, 229, 315, 377 Kooperation 67, 318 Koordinationstraining 234 Körpergrenzen 233 Körperhaltungen 57 Körperpflege 332, 334, 371, 380 Körperschema 57, 257, 414 Körpersprache 45, 73f., 336 Körperwahrnehmung 139, 233f. Kosten 209, 334 Krafttraining 235 Krankengeschichte 209, 211, 222 Kränkungen 30, 247
H Haltung 4, 38, 44, 46, 51, 57, 59, 66, 69f., 73, 79, 87, 101, 159, 165, 197, 205, 208, 210, 228, 234f., 243, 271, 275, 321, 323f., 329, 331, 335, 346, 349, 373, 375, 377, 379, 387, 396, 413f., 416f. handwerkliche Tätigkeiten 237 Heime für chronisch Kranke 203 holistisches Assessment 63 homo amans 304 homo faber 304 homo patiens 304 Hotelqualität 268
I Identität 243f., 257, 276, 297, 318, 396 Image der Altenpflege 176 innere Einstellung 331 innere Ruhe 126 Institutionalisierung am Lebensende 187 Integrität 298, 305 interdisziplinäre Zusammenarbeit 230 interprofessionelle Zusammenarbeit 50 inter-role conflicts 317 intra-role conflicts 317 Intuition 46, 257, 347 Isolierung 241, 288
L Lagerung 68, 86, 122, 235, 415 Langzeitberatung 363 Lebensende 64, 67f., 85, 87, 91, 98f., 218, 231, 242, 263, 267, 315, 321, 335, 341, 343, 346, 395, 399, 405
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Sachverzeichnis
Lebenserwartung 47, 203, 239, 389 Lebensfreude 41, 87, 112, 243, 331 Lebensgeschichte 68, 246, 349 Lebensqualität 12, 48f., 63, 68, 80, 85, 91f., 94, 99, 117, 205, 210, 212, 230, 238, 251, 263, 269f., 324, 344, 351, 394, 401, 403, 409, 413 Lebensumstände pflegender Angehöriger 370 Lebensverlängerung 117, 344, 351 Leidensdruck 57, 246 Leistungseinbußen 12, 177, 232 Leistungsgrenzen 370 Leitbilder 197 Leitbildumsetzung 320 Leitlinien 179, 352 Leitung 47, 51, 62, 65, 68, 73, 98f., 197, 208, 210, 212, 214, 218ff., 228, 230, 239, 244f., 252, 259, 261ff., 315ff., 320, 322, 325, 347, 350ff., 373, 375f., 380f., 384, 398f., 404, 406, 409, 411, 413, 415, 427, 429f. Leitungsverständnis 291 lernende Organisation 181 letzte Lebensphase 105 Letztverantwortung 97 Liebe 44, 79, 81, 83, 85f., 91, 93, 98, 100f., 212, 214, 221, 227, 244f., 248f., 252ff., 257, 261, 271f., 274ff., 323, 334, 346, 348f., 382ff., 398, 409 Lob 45, 59, 182, 217, 236, 248f., 256, 338, 409
Menschenbild 157 Misshandlung 285 Misshandlungsanzeichen 290 Mitgefühl 4, 46, 214, 262, 274, 330, 346, 373f., 398, 400, 412 Mitpatientinnen 97, 127, 205, 384 Mittagessen 81f., 96, 223, 322, 332 Mobilität 49, 52f., 59, 70, 74, 93, 207, 216, 241, 246, 257, 276 Morphium 127, 415 Mortalität 93, 95, 415 Motivationstheorie 267 multidimensionale Fürsorge 111 Multimedikation 89, 415 Multimorbidität 5, 48f., 105, 207, 239, 324, 415 multiprofessionelles Team 5, 211 multisensorische Aktivierung 233 Mundpflege 86, 91, 149, 382
M
O
Machtgefälle 290 Malnutrition 92 Medikamente 49, 53, 57, 64ff., 77f., 86, 89, 123, 234, 238, 411f., 415f. Medikamentenverabreichung 64 Mehrbettzimmer 238ff.
Obstipation 68, 78, 92, 94, 125, 415 Opiate 67f. Organisationsdiagnose 190, 193 Organisationskultur 176, 196 Orientierung 44, 202, 216, 233, 240, 257, 268f., 276, 334, 417 Ortswechsel 214, 351
N Nachtruhe 371 Nähe 16, 41f., 53, 60, 71, 85, 91, 96, 99, 131, 211, 220, 231, 243ff., 247, 249, 262f., 273, 315f., 321, 323, 332, 335ff., 375f., 383, 418 Nahrungsverweigerung 79, 87f., 404 Neuroleptika 29, 415 nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) 66 Nicht-Wissen 339 Nutzen 61, 85, 92, 97, 210, 331, 351
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Sachverzeichnis
P
Q
Paarbeziehung 362 Palliative Care 41, 63, 101, 188, 212, 315, 321, 323, 367, 369, 394f., 397, 399ff., 405ff., 415, 427ff. palliative Grundhaltung 109, 148 palliative Kultur 188 Palliative-Care-Prozess 194 partnerschaftliche Zusammenarbeit 79, 144, 319, 375 Paternalismus 316, 345f., 416 Patientenverfügung 98, 416 Patientinnenbeobachtung 87 PEG-Sonde 85f., 88, 91f., 94ff., 99ff., 287, 346, 380, 397, 416 Personal 48, 60, 65, 81, 88, 94, 100, 205, 207, 210f., 219, 222f., 230, 243, 251, 259, 271, 321f., 370, 380, 403, 408f. Personalknappheit 292 Personalschlüssel 284, 321 personelle Ressourcen 179, 289 Pflegebedarf 319 Pflegebedürftigkeit 239, 242, 315, 320 Pflegedokumentation 379 Pflegeheim 41, 43f., 48, 54, 59, 87f., 93, 99, 101, 201f., 205ff., 211f., 219, 229f., 238ff., 243, 251, 267ff., 272ff., 311, 313ff., 318ff., 329, 343, 345, 347, 352, 367, 372, 374, 376, 378f., 384, 394, 397, 399ff., 405f., 408f. Pflegenotstand 391 Pflegequalität 323 Pflegevisiten 184 physiotherapeutische Gruppenangebote 234 Physiotherapie 62, 64, 68, 228ff., 234, 416 Privatsphäre 337, 371 Projektmanagement 195 Psychopharmaka 16, 78, 89, 164, 209, 215, 217, 415f.
Qualifikationen 181 Qualitätskriterien 99f., 159, 315 Qualitätsmanagement 157, 179 Qualitätssicherungssystem 184
R rechtliche Situation 117 Rehabilitation 203, 228f., 234, 269, 400, 427, 429 Reiseplanung nach Loewy 347 Ressourcen 172, 203, 237, 318ff., 322, 370, 384, 392 Ressourcenbeschränkung 390 Roboter pflegen 390 Rollstuhl 44f., 62, 64, 227, 235, 258, 269f., 418
S Sachwalterschaft 363 Sauerstoff 124, 413 Schamgefühl 286 Schamgrenzen 337 Schenkelhalsfraktur 113, 216, 269, 417 Schlafstörungen 52, 60 Schluckbeschwerden 81 Schlüsselworte 233, 272 Schmerzassessment 55f., 60, 62, 417 Schmerzbilder 49 Schmerzchronifizierung 51 Schmerzen 17, 30, 41f., 47ff., 51ff., 55ff., 63f., 66, 68f., 71, 78, 86f., 89, 99, 168, 207, 209, 212ff., 230, 234f., 270f., 275, 330, 336f., 350, 352, 377f., 415, 417 Schmerzerfassung 48f., 51, 54ff., 58, 61, 71, 213, 217, 402, 417 Schmerzfolgestörungen 215 Schmerzschwelle 50f.
424
Sachverzeichnis
Sterbebegleitung 98, 142, 196, 218, 315, 347, 381, 398 Sterbephase 211, 376, 382 Stimme 42, 45, 49, 73, 140, 201, 227, 239, 245, 250, 253, 277, 322, 331f., 337f., 383, 398 strukturelle Gewalt 284, 398 Stürze 49, 215f., 378 Sturzgefahr 30 Supervisionsgruppe 126, 223 Symbole 21 Symptomkontrolle 122, 413, 418
Schmerztherapie 48f., 63f., 86, 123, 149, 207, 209, 212f., 216f., 234, 394, 401f., 405, 413, 417 Schmerzursachen 49, 68, 216 Schmerzverarbeitung 50, 402 Schmerzwahrnehmung 50, 59 Schmerzzeichen 122 seelische Verletzungen 22 Selbstaktualisierung 302 Selbst-Ausdruck 299 Selbstbefriedigung 250, 259 Selbstbestimmtheit 134, 320 Selbstbestimmung 300, 338, 394, 410, 412 Selbsterkenntnis 297 Selbstreflexion 297 Selbstsorge 302 Selbstständigkeit 48f., 62, 112, 171, 239, 257, 301, 322, 402, 413 Selbstverantwortung 301, 402 Selbstverwirklichung 267, 275f., 299 Selbstwertgefühl 219, 248, 361 sensorische Stimulation 233, 275 sexuelle Ängste 257 sexuelle Belästigung 260 sexuelle Gewalt 286 sexuelle Wünsche 247, 257 Sicherheit 42, 44, 179, 202, 205, 211, 215, 217ff., 223, 240f., 246, 256, 268f., 271, 276f., 323, 332f., 343, 349, 373, 375, 400, 405 Singgruppe 220ff., 227 sinnstiftende Beschäftigungen 68 Sondenernährung 91ff. soziale Kontakte 96, 241, 273 soziales Ansehen 390 Spätmahlzeiten 83 Spiritualität 278 Sprache der Zuwendung 385 Sprachlosigkeit 56, 369, 385 Stabilisierung 361 Standards 179, 279, 321, 337f., 375 Stationsleitung 147, 230, 259, 347, 350ff., 376, 380, 429
T Tabuthemen 246f., 257 Tageszentrum 251, 359 Tätigkeiten des täglichen Lebens 277 Team 61, 68, 77, 86, 98, 120, 205, 207, 209ff., 237, 252, 256, 259, 314, 317, 320, 325, 345ff., 369, 375, 381, 404, 417f. Teambesprechung 145, 211 Teambildungsprozesse 179 Teamkultur 147 Tempo 250, 292, 337, 413 therapeutische Maßnahmen 343 Therapieabbruch 146 Therapieanpassungen 209 Therapiemittel 236 Therapieplan 237 Therapierückzug 344 Therapieverzicht 344 Therapieziele 109, 210, 231, 237, 344, 384 Tischgemeinschaft 96 Tischordnung 82 Tod 47, 52, 95, 143, 208, 216, 218, 222f., 227, 232, 249, 261, 267, 271f., 277, 314f., 321, 324, 343f., 352, 375ff., 383f., 393, 399, 401, 407, 418 Todesnachricht 383 Tonfall 214, 253, 262, 338 total pain 41, 59, 62, 418
425
Sachverzeichnis
Verluste 22, 62, 68, 136, 233, 238, 246f., 261, 277f., 325 Vernachlässigung 287 Verteilungsgerechtigkeit 318 Vertrauen 110, 131, 168, 208, 227, 231, 250, 252f., 263, 271, 278, 319, 321, 333, 337f., 347, 365, 374, 377f. Vierbettzimmer 241 Vorlieben 79, 83, 98, 214, 245, 272, 349 Vorurteile 284
transdermale Therapiesysteme 67, 418 Transferierungen 209, 344 Trauer 145, 219, 277, 361, 370, 376, 384, 427
U Überbehandlung 217 Überlastung 95, 288 Überlebenszeit 93 Umweltanalyse 192 Unruhe 53, 60, 70, 78, 92, 215, 274, 334, 377, 411, 415 Unterversorgung 56, 218
W Wahrnehmen von Gefühlen 331 Wahrnehmung des eigenen Körpers 57 Wahrnehmung des Ich 299 Wahrscheinlichkeiten 116 Weiterbildung 180, 216f., 373, 427 Werte 48, 60, 74, 92, 158, 202, 216, 247, 273, 335, 348, 370, 396 Widersprüche 196, 313f. Widerspruchsfelder 313f., 399 Willensäußerungen 19, 99 Wissen 41, 45f., 50, 73, 82, 84, 86, 88, 91f., 202, 212, 214, 217, 224, 240f., 244ff., 268, 272, 279, 315f., 329f., 339, 344ff., 352, 370f., 373, 375, 378, 395, 399, 402, 406f., 409, 411, 416, 428ff. Wissen der Organisation 189 Wissensvermittlung 361 Wohnbereich 205, 250, 319 Wohnqualität 203, 238f. Würde 53, 86, 213, 218, 228, 231, 251, 254, 258, 271, 274f., 277, 316, 329f., 333, 348ff., 373, 382, 402f., 405
V Validation 122, 204f., 209, 214, 220, 231, 233f., 243, 249f., 274f., 323, 336, 397f., 401, 407, 418, 427, 429f. Validation nach Naomi Feil 14, 146, 165, 204f., 214, 220, 231, 323, 336, 401 Validationsgruppe 243, 274 Validationsphasen 131 Validationsschachtel 275 Validationstechniken 250 Verantwortung 88, 97ff., 248, 316, 343, 346f., 402 verdursten 91 Vergewaltigung 250f., 258f. Verhaltensänderungen 52, 71, 209, 214 Verhaltensauffälligkeiten 17, 47, 61, 77, 132 Verhaltensmuster 246f. Verhaltensstörung 37, 259 verhungern 90f., 346 Verletzlichkeit 204, 214, 300, 329, 406 Verletzungen der Seele 286
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Sachverzeichnis
Z
Zeitdruck 81, 167, 329 Zeitnot 208, 336, 370 Zeitressourcen 322 Zielkriterien 359 Zuwendung 42, 46, 64, 79, 81, 86f., 96, 101, 110, 202, 205, 211, 228, 254, 263, 271, 318, 323, 337, 399, 408, 415
Zärtlichkeit 226, 268 Zeit 41ff., 45, 47f., 53f., 57, 61ff., 67f., 77ff., 85ff., 90ff., 95ff., 201f., 204, 206ff., 215ff., 219ff., 229f., 232ff., 243, 246, 248ff., 253f., 256f., 259ff., 263, 267ff., 275, 277, 314f., 317ff., 321f., 325, 329f., 332ff., 343ff., 352, 369ff., 394, 396f., 399f., 402f., 405, 408, 415ff., 427, 429 Zeit der Trauer 376, 384
427
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Claudia Bausewein Dr.in med., Internistin, PhD und Master in Palliative Care (King’s College London), Diploma in Palliative Medicine (University of Wales). Von 2001–2007 Oberärztin der Palliativstation des Interdisziplinären Zentrums für Palliativmedizin am Klinikum der Ludwig-Maximiliana-Universität München-Großhadern. Seit 2007 im Department of Palliative Care, Policy and Rehabilitation, Cicely Saunders Institute, King’s College London, derzeit als Senior Clinical Research Fellow und Saunders Scholar. E-Mail:
[email protected] Sigrid Boschert Diplom-Sozialpädagogin (FH). 1989–1999 bei einem Caritasverband in Baden-Württemberg tätig (u. a. Aufbau ehrenamtlicher Hospizarbeit, Angehörigenberatung, Trauerberatung). Seit 1999 bei der Caritas der Erzdiözese Wien (Grundlagenarbeit, Fachberatung und Weiterbildung rund um die Themen Hospiz, Demenz, Altenarbeit usw., Leitung der Psychosozialen Angehörigenberatung). Lehrbeauftragte in Palliativlehrgängen. E-Mail:
[email protected] Andrea Fink Ergotherpeutin, langjährige Mitarbeiterin an der Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie im Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) in Wien. Zertifizierte Validationslehrerin nach Naomi Feil, externe Vortragende an der FH für Ergotherapie Wien. E-Mail:
[email protected] Ursula Gutenthaler DGKS, Ausbildungen in Palliative Care, Validation, Basaler Stimulation, Aromatherapie. Langjährige Leitung der Palliativen Demenzstation (gemeinsam mit Dr. Martina Schmidl) an der Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie im Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) in Wien. E-Mail:
[email protected] 429
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Katharina Heimerl Assoziierte Univ.-Prof.in Dr.in MPH, Medizinerin, Gesundheitswissenschaftlerin. Leiterin an der Abteilung für Palliative Care und Abteilungsleiterin der Abteilung für Palliative Care und OrganisationsEthik der IFF (Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung) der Universität Klagenfurt in Wien. Lehrt, forscht, publiziert und ist als Organsationsberaterin im Bereich Umsetzung und Evaluierung von Palliative Care tätig. E-Mail:
[email protected] Andreas Heller Univ.-Prof. Dr. MA (Theologie, Philosophie, Ethik, Sozialwissenschaften, Organisationsberatung), stellvertretender Leiter der Abteilung für Palliative Care und OrganisationsEthik der IFF (Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung) der Universität Klagenfurt in Wien, Leiter des Internationalen Universitätslehrgangs Palliative Care und des DoktorandInnen- und HabilitandInnenkollegs Palliative Care und OrganisationsEthik. E-Mail:
[email protected] Marina Kojer Dr.in med. Dr.in phil. (Psychologie), Ärztin für Allgemeinmedizin, Psychologin. Primarärztin i. R. der 1. Medizinischen Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie im Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) in Wien. Honorarprofessorin und Konsulentin der IFF (Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung) der Universität Klagenfurt. E-Mail:
[email protected] Andreas Kruse Univ.-Prof. Dr. phil Dipl. Psych. Direktor des Instituts für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Dekan der Fakultät für Verhaltensund Empirische Kulturwissenschaften. Vorsitzender der Sechsten Altenberichtskommission der Deutschen Bundesregierung. E-Mail:
[email protected] Roland Kunz Dr. med. Chefarzt der Geriatrie und des Kompetenzzentrums für Palliative Care am Spital Affoltern (Schweiz), Präsident von palliative ch, der Schweizerischen Gesellschaft für palliative Medizin, Pflege und Begleitung. Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der med. Wissenschaften. Dozent für Palliativmedizin u. a. an der Universität Zürich.
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Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Snezana Lazelberger DGKS, Ausbildung in Palliative Care, Validation, Basaler Stimulation und zur Praxisanleiterin. Langjährige Mitarbeiterin an der Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie im Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) in Wien. Derzeit Stationsleitung einer Demenzstation im GZW. E-Mail:
[email protected] Dirk Müller Examinierter Altenpfleger, Ausbildung in Palliative Care, Projektleiter des Kompetenzzentrums Palliative Geriatrie (KPG) und Fundraisingbeauftragter, Unionhilfswerk Berlin. E-Mail:
[email protected] Hans Pirker Facharzt für Innere Medizin, Psychotherapeut (AT), Diplom für psychotherapeutische Medizin der Österreichischen Ärztekammer. Über viele Jahre stellvertretender ärztlicher Leiter des Zentrums für ambulante Rehabilitation der BVA (Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter) in Wien. Seit einigen Jahren in Pension. E–Mail:
[email protected] Susanne Pirker Dr.in med., Ärztin für Allgemeinmedizin. 1974–2000 als Stationsärztin und Oberärztin an der Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie im Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) in Wien tätig. Seit einigen Jahren in Pension. E-Mail:
[email protected] Martina Schmidl Dr.in Martina Schmidl, MAS (Palliative Care), Ärztin für Allgemeinmedizin. Oberärztin an der 1. Medizinischen Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie im Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) in Wien. Arbeitsschwerpunkt Palliative Betreuung von Demenzkranken. E-Mail:
[email protected] Gunvor Sramek Diplomierte VTI Validationslehrerin und Masterin nach Naomi Feil. Langjährige Erfahrung in der Begleitung behinderter und demenzkranker Menschen. Angehörigenarbeit in Gruppen, Einzelberatungen, Seminartätigkeit und Lehrgangsleitungen für autorisierte Validationsausbildungen. Prüfungskommissionsvorsitzende bei Validationsprüfungen. Hauptberuflich als Validationslehrerin in Österreich tätig. E-Mail:
[email protected] 431
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Monique Weissenberger-Leduc Begeisterte DGKS seit 1978, DDr.in phil. (Philosophie und Soziologie) und Mag.a der Pflegewissenschaften. 1995 Abschluss einer zweijährigen PalliativeCare-Ausbildung an der medizinischen Fakultät, Paris. Arbeitsbereich: Palliative Geriatrie mit dem Schwerpunkt Pflege von Personen mit Demenz in der Praxis. E-Mail:
[email protected] 432