ED NAHA
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ED NAHA
Der Roman zum Film Ins Deutsche übertragen von Wolfgang Neuhaus Scanned by Doc Gonzo Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Allgemeine Reihe Band 13 243 Erste Auflage: Januar 1990
© Copyright 1989 by Lorimar Productions, Inc. All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1989 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Dead Bang Lektorat: Martina Sahler Titelfoto: Warner Books Umschlaggestalrung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Steckstor, Bensberg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-13243-2 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Erster Teil Ein Held ist nicht mutiger als ein normaler Mensch — er ist fünf Minuten länger mutig. Ralph Waldo Emerson
Nur noch zwei Tage bis Weihnachten, und Jerry Beck war in Sachen Mord unterwegs. Er hockte in der kleinen, schmuddeligen Kneipe in Los Angeles und starrte durchs schmutzige Fenster nach draußen. Am trüben abendlichen Himmel schwebte der Goodyear-Zeppelin. FRÖHLICHE WEIHNACHTEN, kam von hoch droben die frohe Botschaft der Glühlampenketten. NUR NOCH ZWEI EINKAUFSTAGE! Draußen vor der Kneipe hatte jemand ein paar mickrige elektrische Christbaumkerzen an zwei spindeldürre Palmen gehängt. Beck seufzte. Heile Welt, ade. Er ließ sich tiefer in seinen Stuhl rutschen und starrte auf den smogvernebelten Mond. Welch eine Stadt, dachte er. Wie hatte seine Ex-Gattin immer gespottet? Jesus Christus wäre in Los Angeles geboren worden. Aber man fand keine drei Heiligen. Und eine Jungfrau schon gar nicht. Er nippte an seinem Drink und stierte düster vor sich hin. Er hatte gottverdammt keine weihnachtlichen Gefühle. Er fühlte sich krank. Der Kerl, der Beck gegenübersaß, quasselte und quasselte. Beck versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Unbewußt schnüffelte er an seiner rechten Hand. Tabak. Er konnte ihn riechen. Wie den Tod. Beck hatte vor zwei Tagen das Rauchen aufgegeben. »Wenn du's zwei Tage lang durchhältst, bist du übern Berg«, hatte ihm jemand mal gesagt.
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Zwei Tage, und er stank immer noch nach Scheiße. Nach Nikotin. Na ja, kam aufs gleiche raus. Ein fetter Mann mit ungepflegtem Zottelbart kam in die Kneipe getorkelt und brachte den heißen, erstickenden Atem des Santa-Ana-Windes mit in den verräucherten Raum. Beck spürte Schweißtropfen auf der Stirn prickeln. Welch eine Weihnacht. Temperaturen um die 30 Grad. Typisch für Los Angeles. Jerry Beck hatte erst ein einziges Mal eine Weiße Weihnacht erlebt: mit Schnee im Marktwert von zwei Millionen Dollar, den eine Gruppe illegaler Einwanderer verhökern wollte, die ein so schauderhaftes Englisch sprachen, daß einem der Gürtel aus der Hose rutschte. Zwei Burschen an der Bar führten idiotische Streitgespräche über Seelenwanderung und Volleyball und versuchten, durch ihre geistigen Ergüsse zwei junge Miezen zu beeindrucken, um sie dann schneller aufreißen zu können. Die beiden Kerle waren braungebrannte, aufgeblasene Arschlöcher. Die beiden Mädchen kauten wie zwei Kühe auf ihren Kaugummis herum. Wären ihre Kleider nur ein bißchen kürzer gewesen, wären es Blusen gewesen. Beck versuchte, sich auf seinen Drink zu konzentrieren. Er hielt die rechte Ex-Raucherhand so weit wie möglich von der Nase weg. Eigentlich könnte er seine Klamotten packen und aus Los Angeles verschwinden. Würde ihm gar nicht schwerfallen. Was war das schon für eine Stadt? Eine Wucherung, jawohl. Mehr nicht. Nur eine riesige Wucherung voll von Möchtegerns und Niegewesens. Diese Stadt war das Eldorado der verkrachten Existenzen. Umherstreifende Straßengangs knallten unschuldige Zeugen ihrer Einbrüche und Überfälle ab, nur weil sie die falsche Hautfarbe hatten. Der Smog nahm so bedrohliche Formen an, daß den Herstellern von Gasmasken eine goldene Zukunft in Aussicht stand. Beck starrte den winzigen Weihnachtsbaum an, der vor ihm auf dem Tisch stand. Ein armseliges Lämpchen an seiner Spitze blinkte in unregelmäßigen Abständen auf. Er strich mit
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dem Finger über ein Schild auf dem Plastikständer des Baumes. >Made in Taiwan. < Irgendwo in der Kneipe grölte jemand Stille Nacht, aber mit einem Akzent, wie Beck ihn noch nie gehört hatte. »Schtüüühülä Nooocht, hooi-ligä Nooocht...« Beck seufzte tief. Er konzentrierte sich auf den Mann, der ihm gegenüber saß. Der Bursche quasselte immer noch vor sich hin wie ein mit Aufputschmitteln vollgepumpter Papagei. Beck entschloß sich, aufmerksamer zu sein. Schließlich war er deswegen hier — um sich das Gesabber dieses Trottels anzuhören. Aber irgendwie fühlte er sich dem ganzen Mist heute abend nicht gewachsen. Er versuchte, seine immer wieder abschweifenden Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Er mußte diese Sache hier zu Ende führen. »Also, wieviel?« fragte der Mann nervös und benutzte seine Cocktail-Papierserviette dazu, sich den Schweiß vorn Kinn abzuwischen. Beck zuckte die Achseln und rieb sich mit der Hand übers kurze blonde Haar. »Willst du einen schwarzen Burschen oder einen weißen?« »Wo liegt denn der Unterschied?« sagte der frettchengesichtige Mann ungeduldig. »In der Hautfarbe.« Das Frettchen rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Was soll das sein? Ein Witz? Es geht um meine hurensohngottverdammte Mutter!« Beck zuckte wieder die Achseln und bedauerte in seinem tiefsten Innern die galoppierende Inflation des Zerfalls traditioneller Familienbande in dieser Stadt. Allmählich gelang es ihm, sich auf sein Gegenüber zu konzentrieren: einen langen, dürren Burschen namens Kladas, der wie ein riesiges häßliches Nagetier aussah. Der Kerl war Ende Dreißig. Für Beck, der im gleichen Alter war, war er ein Jüngling . . . obendrein ein geistig zurückgebliebener. Beck grinste und störte sich nicht daran, daß ihm der Schweiß in Strömen vom Körper lief und sein zerknittertes Hemd durchnäßte. Der Lappen war ohnehin so exklusiv wie Kölnisch Wasser aus einem Discountladen. Und so roch es jetzt auch.
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Becks Sportjackett sah sogar noch schäbiger aus. Es war ein Polyester-Ding im Stil der Freizeitmode der Lower Hast Side; die Sorte, die mit Vorliebe von fetten, großkotzigen Kerlen in Marina-Del-Rey-Restaurants getragen wird. Den Typen, die den Kellnerinnen beim Kassieren in den Ausschnitt glotzten oder die versuchen, Blondinen anzumachen, die jünger sind als ihre Schuhe. Scheißspiel. Beck richtete den Blick seiner grünen Augen auf das fleischgewordene nervöse Zucken, das ihm gegenübersaß. »Immer mit der Ruhe, Junge. Cool bleiben.« »Was? Immer mit der Ruhe, sagst du? Mann, das ist 'ne Sache, die ... na ja, weißt du ...« Beck rieb sich mit der Rechten über die Augenbrauen. Eine Migräne war im Anmarsch. Eine Armee von Migränen. »Ja, ja, ja. Ich weiß. Eine Sache auf Leben oder Tod.« »Stimmt, stimmt.« Kladas nickte, und sein Kopf ruckte rauf und runter wie bei einer Marionette, bei der ein besoffener Anfänger die Fäden zieht. »Weißt du, in diesem Job spielen Qualität der Auftragserledigung und Zuverlässigkeit die wichtigste Rolle. Und das bestimmt den Preis«, sagte Beck grinsend. »Ein schwarzer Killer kostet dich einen Riesen, ein weißer anderthalb.« Beck versuchte nicht, den Großkotz zu spielen. Er versuchte nur, dem Frettchengesicht die Regeln des Spiels beizubringen. Sein Kunde schien sie ihm nicht abzukaufen. Er riß die Augen auf. »Scheiße auch! Das ist viel Kies, Mann. Warum kostet ein weißer Bursche denn fünfhundert Bucks mehr als ein schwarzer?« Beck zuckte die Achseln. »Weil Weiße den Job normalerweise sauberer und besser erledigen. Sie sind pünktlich, besorgen sich die jeweils passende Waffe mit dem richtigen Kaliber und, und, und. Aber wo liegt denn der Haken? Du hast doch gesagt, deine Alte ist 250 Riesen Lebensversicherung schwer.« »Ja, aber es kann Monate dauern, bis ich an den Schotter rankomme. Ich hab' mir sagen lassen, daß man solche . . . Sachen auch für fünfhundert Bucks erledigen lassen kann.« Beck versuchte ein Lächeln. Schließlich stand Weihnachten
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vor der Tür. »Ja, und dann kannst du dir gleich für 14 Dollar 95 ein kleines Rettungsfloß kaufen. Mann, es ist doch nicht irgendwer, dem du das Licht ausknipsen lassen willst. Es ist deine Mami. Willst du überleben? Dann setz auf Qualitätsarbeit. Schnell, sauber, gründlich. Es liegt an dir, Boß.« Der nervöse Mann namens Kladas fing an mit den Knöcheln zu knacken. Krack. Knirsch. Peng. Knack. Knirsch. Dazu nickte er rhythmisch. »Okay. Okay. Okay. Scheiß drauf.« Beck nickte. »Ein Weißer also?« »Ja, zum Teufel. Die Sache ist zu wichtig, als daß sie versaut werden darf.« »Wie wahr, wie wahr«, sagte Beck grinsend. Er schlug seine schäbige Polyesterjacke auf. Ein dünner Draht kam zum Vorschein. Er war an ein Mini-Mikrofon angeschlossen, das an Becks schreiend roter Krawatte befestigt war. Dem Mann namens Kladas traten die Augen aus den Höhlen. Beck grinste noch breiter und zog seine schäbige Jacke ein Stück weiter auf. An der Brusttasche seines Hemds war eine Erkennungsmarke befestigt: LOS ANGELES SHERIFF'S DEPARTMENT, MORDDEZERNAT, Beck ließ ein Nimm's-nicht-so-tragisch-Grinsen aufblitzen. »April, April, Arschloch«, sagte er. Dem dürren Burschen traten die Augäpfel so weit aus dem Kopf, als würden sie jeden Moment abheben und in eine niedrige Erdumlaufbahn gehen. Beck sah, daß der Bursche sich aus dem Staub machen wollte. Verständlich. Kladas drehte kaum merklich den Kopf zur Tür und behielt dabei Beck im Auge. Die beiden Männer saßen nur etwa fünfzehn Meter von der Tür entfernt. Er, Kladas, würde es schaffen. Jawohl. Seine Beinmuskeln spannten sich. Seine Gedanken rasten — und kamen abrupt zum Stillstand, als sein Blick auf Becks rechte Hand fiel. Er stellte fest, daß er in die Mündung einer 38er Smith & Wesson starrte. Die Waffe lag ganz ruhig in Becks Faust. Er grinste noch immer. Ihm schien das alles ungeheuren Spaß zu machen. Das Frettchengesicht erhob sich trotzdem langsam aus seinem Stuhl. Er kam sich vor wie ein Taucher, der zum ersten
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Mal von der Taucherkrankheit erwischt wird. Er wollte, mußte sich nach oben kämpfen. Die Wasseroberfläche durchstoßen. Den Himmel sehen. Tief die kühle, klare Luft einatmen. Becks Linke schoß hoch. Er zog Kladas am Hemdkragen wieder in die Tiefe, hob die Kanone und richtete sie auf den Kopf des Dürren. »Du möchtest deinen Urlaub doch nicht mit 'nem ziemlich großen Loch in deinem häßlichen Schädel verbringen, oder?« Kladas schüttelte stumm den Kopf. Nein. »Fein«, sagte Beck lächelnd. »Kennst du irgendwelche Weihnachtslieder?« »Ich . .. äh, glaub' schon«, stammelte Kladas verdutzt. »Ich kenn'... Ich sah drei Schiffe.« »Großartig. Dann fang mal an zu singen. Wir gehen jetzt wie zwei alte Freunde zur Tür. Und immer schön lächeln.« Kladas schluckte, nickte. Er begann mit hoher, quiekender Stimme zu singen: »Ich sah drei Schiffe, die segelten ein... in der Heiligen Nacht, in der Heiligen Nacht... drei Schiffe, die mir solch Freude gebracht...« Beck führte Kladas an der gräßlichen Weihnachtsdekoration vorüber, die sinnigerweise eine Südseelandschaft zeigte und von jemandem aufgebaut worden war, der es besser nicht hätte tun sollen. Bunte Lampen an Palmen blinkten in einschläferndmonotonem Rhythmus. An und aus. An und aus. Irgend jemand fütterte die altersschwache Jukebox mit ein paar Münzen, und dann fingen entweder Patsy Kline oder die Los Losbos an zu trällern. Bei diesen Lautsprechern war das verdammt schwer zu unterscheiden. Kladas sang noch schlechter. »Ich saaah dreiii Schiffe, die seeegelten eiiin ...« Beck drückte ihm die Mündung des 38ers ins Kreuz und schob ihn durch die Tür. »Fröhliche Weihnachten, Arschloch.« Draußen vor der Kneipe wartete bereits ein schwarzweißer Streifenwagen. Beck schubste Kladas zwei Officers in die Arme. Dann ging er zu seinem zerbeulten Toyota Celica, Baujahr 77, hinüber, kratzte ein paar Lacksplitter von der Fahrertür ab, öffnete sie und schwang sich hinters Lenkrad.
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Beck beobachtete, wie der Streifenwagen mit seinem selten dämlichen Passagier losfuhr. Durchs geöffnete Seitenfenter seiner Toyota-Rostlaube schlug Beck der heiße Hauch des Santa-Ana-Windes ins Gesicht. Beck schaltete das Radio ein. Statisches Rauschen. Nichts als statisches Rauschen. Er beugte sich zum Handschuhfach hinüber, nahm eine zerknitterte Packung Marlboro heraus und zündete sich eine Zigarette an. Teufel auch ... es war Weihnachten. Jeder brave Junge hatte sich ein Geschenk verdient. Er saß im Wagen und starrte gedankenversunken zur Kneipe hinüber, schnippte hin und wieder die Zigarettenasche auf die Straße. Scheißjob, Scheißstadt. Er tat sich selbst leid. Sogar dieser Trottel namens Kladas tat ihm irgendwie leid. Vielleicht lag es daran, daß es nur noch zwei Tage bis Weihnachten waren. Beck wußte, daß seine Feiertage in diesem Jahr aus einer Reihe von Gründen nicht allzu festlich verlaufen würden. Bei diesem Gedanken griff er wieder ins Handschuhfach und nahm einen fast leeren Flachmann mit Wodka heraus. Er kippte den Rest in sich hinein, ohne den Blick von der Fassade der schäbigen Kneipe abzuwenden. In irgendeiner nahen Seitengasse brannte jemand Knallfrösche ab. Beck konnte das Knattern und Prasseln hören, als es von den Stuckfassaden der umliegenden Häuser zurückgeworfen wurde und durch die Gasse rollte wie Gewitterdonner. Stille Nacht, heilige Nacht. Was Nikolaus wohl" dazu sagen würde. Beck hielt den leeren Flachmann an die Brust gedrückt und starrte hinauf zum zigarettengelben, abbröckelnden PlastikWagenhimmel. Die Lampe der Innenbeleuchtung baumelte an drei Drähten in der heißen Santa- Ana-Brise. Weihnachten in Los Angeles war wie Ostern in Los Angeles, was wie Thanksgiving in Los Angeles war, was wiederum wie Silvester, Halloween, Columbus Day, Saint Patrick's Day und jeder andere Feiertag zur freien Auswahl in Los Angeles war. Wettervorhersage? Sonnig und heiß.
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Stimmungsbarometer? Stark fallend. Beck hockte in seinem Wagen und sehnte sich nach Dingen, die er nie gehabt hatte. Ein Betrunkener torkelte an Becks Rostbeule heran und spähte mit glasigen Augen ins Wageninnere. Beck versuchte, den Kerl einfach zu ignorieren. Der Betrunkene blieb aber stehen und beobachtete Beck beim Rauchen und Vor-sich-hinStarren, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Ein Speicheltropfen, der im Mondlicht glitzerte, fiel von der Unterlippe des Betrunkenen. Der Typ gaffte und gaffte. Schließlich wurde es Beck zuviel. Er drehte sich im Sitz zu dem Mann um. »Hast du was an den Augen?« »Uh - äh?« »Verpiß dich.« Beck zog langsam den 38er aus der Schulterhalfter. Der Betrunkene wich zurück und lallte irgend etwas. Ein Amerikaner war der Schluckspecht nicht. Schon wieder ein Akzent, den Beck noch nie gehört hatte. Beck seufzte und ließ den Motor an. Er fühlte sich großartig. Er hätte die ganze Welt umarmen können. Um ihr sämtliche Knochen zu brechen. Beck lenkte seinen Wagen auf den unkrautüberwucherten Einstellplatz hinter dem Apartmenthaus, in dem er wohnte. Er fluchte lautlos, als ein Jet im Tiefflug vom Burbank Airport dicht über die Häuser hinweg in den Abendhimmel donnerte, tief genug, um Becks Innereien vibrieren zu lassen. »Ich hasse dich, du Scheißding«, fluchte er. Er beugte sich über den Fahrersitz nach hinten und nahm die Taschen mit dem Spielzeug für seine beiden Kinder von der Rückbank des Wagens. Seit einer Woche kutschierte er die Sachen jetzt schon durch die Gegend. Er stopfte eine jungfräuliche Flasche Wodka — sein Abendessen — in eine der Taschen, stieg aus und marschierte in Richtung Eingangstür. Er schloß den Briefkasten auf. Ein paar Rechnungen und ein DIN-A4-Umschlag fielen ihm entgegen. »Na, so was«, murmelte er. »Keine Weihnachtskarte.« Er knallte den Briefkasten zu und bemerkte, daß er beob-
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achtet wurde. Er blickte nach oben. Auf der Treppe saß einsam und verlassen ein schmächtiger Latino-Junge. Die Wortfetzen eines wüsten, in spanischer Sprache geführten Streits ratterten wie fernes Maschinengewehrfeuer aus dem ersten Stock herunter. Beck verstand kein Spanisch, aber er kapierte auch so, was da oben gesprochen wurde. Jesus, ging's da rund. Er hatte so was Ähnliches oft genug gehört, als er selbst noch ein Kind war. Er nickte dem Jungen zu. »He, Juancho, que pasa«? Der Junge zuckten die Achseln, und seine großen braunen Augen füllten sich mit Tränen. »Nicht viel, Mann.« Der Kleine wies mit dem Kopf die Treppe hinauf. »Immer die gleiche Kacke.« »Weißt du schon, wo du heute abend bleiben kannst?« fragte Beck. Der Junge sah zu Boden. Beck kapierte. Er legte den Finger nicht in die Wunde. »Wenn's dir zu den Ohren rauskommt, klopf bei mir an. Ich hab' einen Schlafsack und 'ne Ecke für dich frei.« Juancho lächelte und nickte. »Was is' in den Taschen da?« »Spielzeug für meine Kinder.« Juancho erhob sich langsam, kam die Treppe herunter und ging zur Ausgangstür. »Deine Kinder haben's gut, Mann.« Er ging nach draußen, schwang sich auf sein Fahrrad und verschwand in der Dunkelheit. Beck stellte fest, daß er grinste. »Ja ... die haben's wirklich gut.« Einen Moment verharrte er, dachte an seine Kinder. Er bekam sie so selten zu Gesicht, daß sie ihn mittlerweile mit >Onkel Daddy< anredeten. Beck stieß einen monumentalen Seufzer aus. >Onkel Daddy< war geradezu zärtlich im Vergleich zu den Worten, mit denen die Mutter seiner Kinder ihn belegte. Er stieg zu seiner Wohnung im ersten Stock hinauf, jonglierte mit den Taschen und fummelte dabei den Schlüssel ins Schloß. Dann betrat er das unmöblierte Ein-Bett-Schlafzimmer. Er ließ seinen Blick hinüber ins Wohnzimmer schweifen und über die Kisten, den Fernseher, der auf einem Bierkasten stand, und die wenigen Möbel, die in chaotischer Unordnung im Zimmer standen.
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»Aaah«, seufzte er. »Trautes Heim, Glück allein.« Er wohnte jetzt seit vier Monaten hier. Eines Tages würde er sich Zeit nehmen und gründlich aufräumen. Eines Tages. Heute war er nicht in Putzlaune. Beck schlurfte durchs Wohnzimmer bis in einen Raum, der mit viel Phantasie als Küche zu identifizieren war. Er kippte Chips in eine Schüssel und goß sich ein großes Glas Wodka ein, ging zurück ins Wohnzimmer und fiel über einen der Spielzeugkartons her. Etwas zu hastig. Unzählige, merkwürdig geformte bunte Plastikteile prasselten zu Boden. Beck spähte in den Karton. Ein dicker Packen Papier lag darin: >BAUANLEITUNG FÜR ANTI-TERROR-TRUCK. FÜR VIER- BIS ACHTJÄHRIGE. < Er zog sich eine leere Kiste heran, hockte sich darauf und holte seine Lesebrille hervor. Er setzte das betagte Monstrum auf. Das rechte Glas flog — plop — aus der Fassung. Wütend riß Beck einen Streifen Klebeband von der Kiste, auf der er hockte, hob das Brillenglas auf und klebte es am Rahmen fest. »Ich schwöre bei Gott, eines Tages lege ich mir Kontaktlinsen zu«, murmelte er und versuchte, sein rechtes Auge hinter dem Klebeband in die richtige Stellung zu bringen. Die Bauanleitung für das Spielzeug ragte vor ihm auf, voluminöser als die neueste Auflage der Enzyclopaedia Britannica. Er starrte auf die Plastiktrümmer, die um ihn herum auf dem Boden lagen, und auf den dicken Packen der Montageanleitungen. Dann griff er seufzend nach dem Wodkaglas und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter. »Na, sauber.« Er rülpste. Die grellbunten Plastikteile schienen für einen Moment vor seinen Augen zu verschwimmen. Ach, was soll's, dachte Beck. Er konnte den Krempel später zusammenbauen. Es war ja noch immer reichlich Zeit bis Heiligabend. Er wandte sich der Post zu. Rechnungen. Gas. Strom. Er wühlte sich durch Reklame und Wurfsendungen bis zum irgendwie amtlich aussehenden Umschlag vor, riß ihn auf und zog das Schreiben heraus. Eine Drohung seiner Ex-Gattin Gloria. Juristenkauderwelsch. Ein verzerrtes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Eine
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gerichtliche Verfügung, aha. Ihm wurde in dem Wisch jeglicher Kontakt mit Gloria und seinen Kindern verboten, sofern keine ausdrückliche schriftliche Erlaubnis vorlag. Beck lachte auf. Das Lachen verwandelte sich in ein abgehacktes Kichern. Dann rülpste er noch einmal. »In diesem Sinne — schnuckelige Weihnachten, Beck, altes Haus«, sagte er etwas undeutlich, denn die Wirkung des Wodkas setzte ein. Aber längst nicht in dem Maße, wie er sich das gewünscht hätte. Er nahm die gerichtliche Verfügung, knüllte sie zusammen und warf sie durchs offene Fenster. Der Umschlag flog hinterher. »Verpißt euch«, sagte er undeutlich. Beck schaltete den altersschwachen Fernseher ein, dessen Lautsprecher von Zeit zu Zeit den Geist aufgab. Es wurde ein brennender Weihnachtsscheit gezeigt. Dazu lief eine arg zerkratzte Bing-Crosby-Schallplatte. >I 'm dreaming of a white Christmaaasrchratatat... < Der Lautsprecher. »Yeah, bravo, Bingle«, lallte Beck und schaltete den Apparat wieder aus. Er setzte sich in seinen Lehnstuhl, grapschte nach der Wodkaflasche und stieß sie dabei um. Der Schnaps spritzte über die ellenlange Bauanleitung für den regenbogenfarbenen Anti-Terror-Truck, den er mit in seine Wohnung geschleppt hatte. Er bückte sich nach der Flasche, nahm einen Schluck, holte den Mop und wischte den Fusel auf. Dann setzte er sich, legte sich die klebrigen Blätter auf den Schoß und richtete seine Aufmerksamkeit auf die verstreut zu seinen Füßen liegenden Plastikteile. Dann nahm er den Zusammenbau des Spielzeugs mit grimmiger Entschlossenheit und gedämpfter Begeisterung in Angriff. »Was, zum Teufel, kann heute schon noch schiefgehen?« murmelte er. In ein paar Stunden sollte er's erfahren.
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2 Er hieß Burns, und er hatte eine Tätowierung. Es war nicht das normale, geschmackvolle Design — wie etwa ein Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen darunter. Es war auch kein Herz, keine nackte Frau, kein kreischender Adler. Es war etwas anderes, etwas Besonderes. Ein Kreis. Und in diesem Kreis war ein Kreuz. Durchstoßen von zwei gezackten Blitzen. Burns rieb sich über den Arm, dort, wo die Tätowierung war. Gewohnheitssache. Es erinnerte ihn daran, wer er war. Für was er eintrat und kämpfte. Er überquerte in einem heruntergekommenen Viertel von Los Angeles eine dunkle, wie ausgestorben wirkende Straße und ging zu einem Mini-Markt hinüber. Er liebte solche kleinen Läden. Los Angeles war voll davon. Und voll von scheußlichen Gebilden aus architektonischen Alpträumen. Es gab sie hier an jeder Ecke. Er fühlte sich hier zu Hause. Diese Bauten waren häßlich. Er war häßlich. Es war spät, und es war heiß. Burns konnte spüren, wie seine Füße in den Springerstiefeln schwitzten. Die gesamte Umgebung war düster, wirkte träge und unbeweglich in der stickigen Nachtluft. Die einzige Lichtquelle, das einzige Anzeichen von Aktivität, von Leben, war dieser mickrige Mini-Markt. Burns wurde davon angezogen wie eine Motte vom Licht. Er betrat den Laden, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Mary's. Hier gab's nutzlosen Plunder und ganz normale Haushaltartikel. Nur war hier alles einen schönen Batzen teurer als in normalen Geschäften. Das ist Raub, dachte Burns grinsend. Die Art von Raub, für die man nicht in den Knast wandert. Ein Schwarzer mittleren Alters kauerte hinter dem Ladentisch und versuchte, einen defekten Getränkemixautomaten zu reparieren. Burns beobachtete den schwarzen Mann, wie dieser von Zeit zu Zeit mit der Faust gegen den Automaten schlug. Burns konnte nicht anders, er mußte lächeln. Wenn du
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mit der Technik konfrontiert wirst und nicht klarkommst, gebrauch deine Fäuste. Der Schwarze, Edwin Gates, wandte den Kopf und blickte in Burns' Richtung. Schlagartig wurde er sichtlich nervös. »Wenn Sie eine Colamix möchten, haben Sie Pech«, sagte er lächelnd. Burns lächelte zurück. »Du bist derjenige, der Pech hat. . . Nigger.« Gates blinzelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Was, zum Teufel, sollte das? Kein Mensch redete mehr so zu einem Schwarzen. Niemand. Wir schreiben das Jahr 1989, Junge, dachte Burns. , Er stierte den Fremden an, und jede Faser seines Körpers spannte sich. Ihm brach der Schweiß aus. Der Kerl schien kein bißchen nervös zu sein. Jesus, hier war eine Gegend, in der die Schwarzen und die Latinos das Sagen hatten. Als Weißer mußte man ganz schön auf seinen Arsch aufpassen. Vor allem, wenn man hierherkam und >Nigger< in die Gegend rief. Wenn jemand das mitbekam, konnte man sich verdammt schnell in eine Zielscheibe für eine Schrotladung verwandeln. Aber vielleicht war dieser Bursche lebensmüde oder bescheuert. Oder beides. Oder ein Junkie? Nein. Seine Augen waren zu wachsam, zu flink. In dem Moment, in dem Gates Augenkontakt mit dem Fremden aufgenommen hatte, wußte er auch schon, daß er das besser nicht getan hätte. Er wandte schnell den Blick von dem Mann. Hier lag irgend etwas in der Luft. Irgend etwas, das sehr, sehr böse enden konnte. Der tätowierte Kerl grinste. Er hob langsam eine halbautomatische 9-Millimeter-Browning, die er aus der Tasche gezogen hatte. Für Gates spielten Rassenvorurteile plötzlich keine Rolle mehr, denn der Bursche kam jetzt hinter den Tresen und richtete die Mündung der Kanone genau auf die Schläfe des schwarzen Verkäufers. Der Mann namens Burns lächelte. »Die Registrierkasse. Geh rüber. Mach sie auf.« »Kein Problem«, sagte Gates keuchend, in dessen Magen auf einmal tausend Schmetterlinge zu flattern schienen. Er
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ging mit steifen Schritten zur Kasse hinüber. »Es sind aber gerade mal fünfzig Dollar drin ... es ist spät, und ... na ja, das ist bei uns so üblich.« »Du brichst mir das Herz. Nimm einfach alles raus, was drin ist.« Gates drückte einen Knopf, und die Kasse sprang mit einem hellen Klingeln auf. Er nahm alles an Geldscheinen heraus. Fünfzig Dollar. Vielleicht auch nur vierzig. Seine großen Hände zitterten, als er Burns die Scheine reichte. Der Tätowierte lächelte und stopfte sie in die Taschen seiner Jeans. Die Waffe hielt er starr auf Gates' Schläfe gerichtet. »Ooo-kay«, sagte Burns gedehnt und grinste breit. »So. Wie war's jetzt mit deinen Kohlen, Nigger?« Gates nickte stumm. »Yes, Sir«, sagte er dann. »Tut mir leid, Sir. Die hatte ich ... ganz vergessen.« Er zog langsam seine Geldbörse aus der rechten Gesäßtasche und legte sie auf den gläsernen Ladentisch zwischen Bonbonschachteln und Einwegfeuerzeugen mit dem Aufdruck >I LOVE L.A. < »Jetzt nimm das Geld raus«, sagte Burns leise. »Jawohl.« Gates nahm das Bargeld aus der Geldbörse, legte es auf den Ladentisch. 35 Dollar und 68 Cent. »In Ordnung?« fragte er leise. Burns sagte nichts, lächelte nur. Er fing an zu kichern. Der Schwarze hatte ihm die ganze Zeit nicht ins Gesicht geblickt, hatte nur auf den Boden gestarrt. Nicht schlecht. Der Nigger würde ihn, Burns, also nicht identifizieren können, wenn die Cops später auftauchten. Burns wäre am liebsten in schrilles Gelächter ausgebrochen. Als ob das diesem Blödmann den dämlichen Schädel retten würde! Keine Chance, Nigger. Du hast geglaubt, clever zu sein? Von wegen. Scheißdreck. Burns hätte am liebsten aufgeheult vor Vergnügen. Er raffte das Geld zusammen und umrundete den Tresen, hinter dem Gates zitternd und mit gesenktem Kopf stand. Der Tätowierte baute sich vor dem Ladentisch auf. »Glaubst du an den lieben Gott?« fragte er. »Ja. Ja, das tu ich.« Burns grinste. »Das ist gut. Weil ich hier ein Werkzeug
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habe, mit dem ich jetzt sofort für dein Seelenheil sorgen kann. Möchtest du Jesus kennenlernen? Möchtest du einem Heiligen oder einem Märtyrer deiner Wahl vors Antlitz treten?« Der große Neger starrte in die Mündung der Halbautomatik. »Bitte. Ich habe Sie nicht angesehen . . . Ich kann Sie nicht identifizieren.« Burns fing an zu lachen. Erst war es nur ein leises Kichern, dann steigerte es sich zu einem irren Geheul. »O nein. Nein. Nein«, japste er. »Aber dafür kann ich dich identifizieren. Ist gar nicht schwer. Genau in diesem Augenblick sehe ich nämlich einen beschissenen toten Nigger vor mir liegen.« Burns kreischte irre, als er abdrückte. Die Kugeln schlugen in Gates' Brust. Sein Körper wurde zurückgestoßen, zuckte wild wie in einem makaberen Tanz und verschwand hinter dem Ladentisch des Mini-Markts. Burns trat vor, beugte sich über den Tresen und beobachtete, wie der große Farbige wild um sich drosch und immer größere Blutfontänen aus den Wunden in seinem Oberkörper spritzten. Die zuckenden, krampfartigen Bewegungen erinnerten Burns an Break Dance, und ihm gefiel dieser Vergleich.Disco death dance. Er lächelte wieder, sah den letzten Zuckungen des Mannes zu, die Waffe fest an den rechten Oberschenkel gepreßt. Dann verließ er den kleinen Laden und summte dabei >Jingle Beils Ich liebe Euch. Daddy. < Soviel konnten sie schon lesen. Sie entdeckten seinen Wagen und winkten. »Wir lieben dich auch, Daddy!« riefen die beiden im Chor. Beck winkte zurück und warf Kußhändchen. Und dann kam auch schon die Lehrerin angewalzt. Sie rollte mit der Grazie eines Schützenpanzers auf den Zaun zu.
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Beck rutschte noch tiefer in den Sitz, spähte über den Türrand. Er atmete auf. Sie kam nicht zu ihm rüber. Er wurde buchstäblich von der Pausenklingel gerettet. Die Kinder trotteten ins Schulgebäude zurück. Die Lehrerin warf Beck einen bitterbösen Gorgonen-Blick zu, der ihr Gesicht noch häßlicher machte, als es ohnehin schon war. Sie schnaufte hörbar. Dann stampfte auch sie zurück in die Schule. Kein Zweifel: Glorias Anwalt hatte diesen Drachen schon über die gerichtliche Verfügung informiert. Beck seufzte und machte sich auf den Weg zurück in sein Büro. Auf seinem Schreibtisch lag das Telex aus Sacramento mit der Auflistung der auf Bewährung auf freien Fuß gesetzten Straftäter. Beck warf gerade einen prüfenden Blick auf den Zettel, als ein Kollege, Detective Bilson, zu ihm ins Büro kam. »Na, Beck? Wohnst du noch immer im Heartbreak Hotel?« »Nee. Hab' gestern abend in der Lotterie gewonnen. Ich war gerade kurz weg und hab' mir das Los-Angeles-Hilton gekauft.« »Nicht übel. Hör mal, wir feiern heute abend 'ne kleine Party. Den jährlichen Ball der einsamen Herzen am Heiligen Abend. Ein kleines intimes Zusammentreffen der Junggesellen, Geschiedenen und sonstwie in den Arsch Getretenen. Du hast dich dieses Jahr für unseren Verein qualifiziert.« »Ich fühle mich geehrt.« »Die Sache steigt bei Brubaker. Zu saufen gibt's reichlich. Und ungefähr ein Dutzend Bräute. Wer weiß, vielleicht findest du ein neues Glück.« »Vielleicht lerne ich sogar das Schweben durch Meditation.« »Okay. Dann roll heute abend an.« Beck nickte geistesabwesend. Er blickte wieder auf das Telex aus Sacramento. Nur vier Namen standen auf der Mitteilung. Instinktiv konzentrierte sich Becks Aufmerksamkeit auf einen ganz speziellen Namen: Robert >Bobby< Burns. Männlich. Kaukasier. Alter 29 Jahre. Sein Strafregister reichte zurück bis ins zarte Alter von 16 Jahren. Eine ziemliche Latte: Bewaffneter Raubüberfall. Tätlicher Angriff mit einem Klapp-
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messer. Mordversuch. Hatte gerade ein paar Jährchen in Soledad abgesessen, in illustrer Gesellschft. Die Creme de la Dreck. Von kriminellen Hell's Angels bis hin zu führenden Mitgliedern der neo-faschistischen Aryan-Bruderschaft. Vor vier Wochen auf Bewährung entlassen. Beck notierte sich den Namen von Burns' Bewährungshelfer: Elliot Webly. Er starrte wieder auf den Ausdruck. »Bobby«, sagte er fast andächtig. »Ich muß mich in meinem beschissenen Leben wenigstens um irgendwas kümmern. Nichts hat mehr Sinn für mich. Ich brauch' etwas, was mich auf Trab hält, sonst werd' ich noch bescheuert.« Er unterstrich den Namen Bobby Burns. »Und du wirst mich auf Trab halten, Bobby«, sagte Beck lächelnd. »Du bist derjenige, der mir den Verstand retten kann.« Er faltete den Ausdruck zusammen und schob ihn in seine Jackentasche. »Du glücklicher Hurensohn.« Er lehnte sich im Stuhl zurück, hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. »Verbinden Sie mich mit Elliot Webly.« Er nickte, als er gebeten wurde zu warten. Er fing an, vor sich hin zu summen. By The Time I Get To Phoenix von Jimmy Webb. Den Song hatte er schon immer gehaßt. Endlich. Eine Stimme am anderen Ende der Strippe. »Hallo? Hier Webly.« »Hier Jerry Beck, Morddezernat. Ich möchte gern mit einem Ihrer Anvertrauten reden. Robert Bobby Burns. Und ich brauch' sein Vorstrafenregister.« Webly war nicht gerade begeistert. »Sein Vorstrafenregister? Na, hören Sie mal. Sie machen wohl Witze. Heute ist Heiligabend, Mann.« »Schön. Dann packen Sie's ein und verschnüren Sie's als Geschenkpaket. Ich brauch' das Strafregister. Heute noch.« »Ich bin schon so gut wie aus der Tür, Mr. Beck. Ich muß auf die letzte Minute noch ein paar Einkäufe machen, und ...« »Tut mir leid, das zu hören, aber der gute Bobby wird verdächtigt, einen Verkäufer und einen Kollegen von mir erschossen zu haben, und ich weiß nicht mal, wie dieser Burns überhaupt aussieht, zum Teufel.«
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»Wie kommen Sie auf die Idee, daß Burns Ihr Mann sein könnte?« »Ich habe die Liste der auf Bewährung auf freien Fuß gesetzten schweren Jungs durchgecheckt und bin dabei auf seinen Namen gestoßen. Er ist wegen bewaffneten Überfalls eingelocht worden und erst vor kurzem auf Bewährung freigekommen. Im Umkreis von vier Meilen um seine Wohnung wurden in den letzten Wochen sechs Raubüberfälle verübt. Burns steht an der Spitze meiner privaten Top Ten, darum brauch' ich von Ihnen ...« »Bitte, Mr. Beck«, winselte Webly. »Es ist doch Heiligabend. Ich ... ich hab' Familie. Haben Sie keine Familie?« »Ich hatte mal eine. Jetzt hab' ich keine mehr. Dafür hab' ich einen toten Cop, einen Verkäufer, der aussieht wie ein Schweizer Käse, und schlimme Kopfschmerzen. Ich brauche das Vorstrafenregister!« »Sie verstehen nicht. Sie wollen nicht verstehen. Das muß ich Ihnen wirklich in aller Deutlichkeit sagen, Mr. Beck. Nein, ich werde jetzt einkaufen gehen. Ich geh' jetzt. Ich bin schon aus der Tür. Vor zwei Minuten hab' ich zu meiner Frau gesagt, daß ich schon unterwegs bin. Es ist Heiligabend. Heiligabend.« Beck nickte. »Okay. Ich kann Ihre Sorgen verstehen. Wissen Sie was? Sie machen jetzt Ihre Einkäufe und fahren zu Ihrer Frau, und ich treffe Sie morgen früh in Ihrem Büro.« »Morgen ist der erste Weihnachtstag!« »Kleinen Moment... ja. Könnte hinhauen. Sie haben ein geradezu unheimliches Talent, Kalender zu lesen.« »Aber... meine Familie!« »Man kann nicht alles haben, Webly. Ich seh' Sie dann in Ihrem Büro. Morgen früh, acht Uhr? Wie war's damit?« »Leck mich«, fauchte Webly in den Hörer. »Nicht doch. Also gut, sagen wir, um acht Uhr dreißig. Oh, und noch was, Webly. Nur, weil Weihnachten ist und dieser ganze Stuß . . . Sie brauchen sich nicht extra fein zu machen oder mir was mitzubringen. Natürlich habe ich nichts dagegen, aber...« Beck hörte, wie der Hörer auf die Gabel geknallt wurde. Er
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zuckte die Achseln, summte die Melodie von Jimmy Webb, die er besonders haßte, packte seine Akten zusammen und verließ das Büro.
4 Nat King Cole besang Äpfel, Nuß und Mandelkern, während sich drei junge Detectives dabei abwechselten, in das Waschbecken auf der Toilette von Brubakers Apartment zu kotzen. Später glotzte Jerry Beck sein Spiegelbild im Panoramafenster an, von dem aus man weite Teile der Stadt überblicken konnte. Sein Gesicht war blaß und ausgemergelt. Seine Augen waren so blutunterlaufen, daß man sie als Ampelleuchten hätte verwenden können. Er sah schlecht aus. Er fühlte sich auch schlecht. Er versuchte, sich an den Heiligen Abend vor einem Jahr zu erinnern. Er konnte nicht. Teufel, er konnte sich im Moment nicht mal an das Gesicht seiner Frau erinnern. Das ganze, jetzt fast vergangene Jahr war ein einziger großer Haufen Scheiße gewesen. Rechtsanwaltsbesuche. Schlimme Besäufnisse. Er hörte noch seine Kinder weinen, als er sie verlassen hatte, dieses eine und gleichzeitig letzte Mal. Ein Koffer. Er hatte nur einen Koffer mitgenommen. Hatte Gloria gebeten, den Rest seiner Klamotten aufzubewahren. Sie hatte sie verbrannt, wie er später erfuhr. Er beobachtete das Spiegelbild der feiernden Partygäste auf der Fensterscheibe. Ein wüster Haufen angesäuselter Cops marschierte grölend um einen kleinen Sarg herum, der die Aufschrift >LOS ANGELES SHERIFF'S DEPARTMENT, MORDDEZERNAT< trug und der mit Schnaps gefüllt war. Beck lächelte schmal. Diese Fete heute abend war sowohl ein ziemlich rauher Leichenschmaus für Sergeant Kimble als auch ein Weihnachtsbesäufnis der vom Schicksal in den Hintern Getretenen. Er spitzte die Ohren, um das Gegröle hinter seinem Rücken verstehen zu können. »Jerry wird den Schweinepriester schon erwischen.« »Wenn ich den Mistkerl jemals in die Finger kriege . . . ich
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würde ihm so den Arsch aufreißen, daß er in zwei Teilen vor den Richter gestellt werden muß.« Beck starrte durch das Spiegelbild hindurch und beobachtete schweigend, wie ein dichter brauner Dunstschleier über die Berge gekrochen kam und das glitzernde Lichtermeer der Stadt allmählich verschlang. Nikolaus hatte nur eine Chance, sich heute abend mit heiler Haut durch Los Angeles zu kämpfen: mit Gasmaske und einer Schlägertruppe aus Beamten der Umweltschutzbehörde. Beck hob das Glas an die Lippen und bemerkte plötzlich, daß sein Spiegelbild Gesellschaft bekommen hatte. Er drehte sich um und sah sich einer attraktiven Frau Mitte bis Ende Zwanzig mit kurzgeschnittenen brünetten Haaren gegenüber. »Der erste Heilige Abend ohne traute Familie?« fragte sie. Beck zuckte die Achseln. »Ist wohl nicht zu übersehen, was?« »Nein. Meine Bemerkung war nur ein Zufallstreffer«, sagte die Frau und nippte an ihrem Drink. »Ich heiße Linda.« »Jerry Beck.« »He, wo hab' ich den Namen schon mal gehört?« »Keine Ahnung.« »Ich weiß. Sie sind der Mann, der an diesem Mordfall ar-bei ... an dieser Sache mit dem Sergeant, der erschossen wurde. Wie geht's voran?« Beck runzelte die Stirn. »Es geht voran.« »Das hört sich aber nicht sehr überzeugend an.« »Es gibt 'ne Menge Dinge, von denen ich im Moment nicht überzeugt bin.« Linda zwang sich zu einem Lächeln. »He. Laß Sonnenschein ins Herz hinein. Wir haben Weihnachten.« »Davon bin ich am wenigsten überzeugt.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich wollte nicht so flapsig sein. Tut mir leid, daß ich Sie gestört habe. Fröhliche Weihnachten.« Linda wandte sich um, wollte gehen. Beck hielt sie sanft am Ellbogen fest. »Bleiben Sie. Bitte. Ich geb' Ihnen 'nen Drink oder sonstwas aus, okay?« »Ich dachte, Sie wollten alleine sein.«
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»Das dachte ich auch. Jetzt nicht mehr. Da können Sie mal sehen, wie sehr ich im Moment von der Rolle bin.« Irgend jemand drehte einem Knabenchor die Gurgel ab und legte Phil Spectors Weihnachts-Rock-Album auf den Plattenteller. Sofort kam Leben in die Bude: die angeschlagenen Cops torkelten mehr oder weniger im Rhythmus der Musk durchs Zimmer. »Möchten Sie tanzen?« fragte Linda. »Ich ... äh ... kann nicht so schnell tanzen.« »Dann«, sagte Linda und führte ihn in die Mitte des Zimmers, »tanz ganz einfach langsam.« Beck lächelte. Die Kleine war nett. Nett. Ein Wort, das er schon lange nicht mehr gebraucht hatte. An das er schon gar nicht mehr gewohnt war. »Ich ... ich hab' zu Hause auch 'nen Plattenspieler«, sagte er und führte sie langsam, immer wieder torkelnden Cops ausweichend. »Und was für Musik?« Beck dachte angestrengt nach. »Ich hab' ja nicht gesagt, daß ich Platten habe ... nur 'nen Plattenspieler.« »Hast du auch ein Radio?« »Glaub' schon ...« Sie hakte sich bei ihm ein. »Dann laß uns improvisieren.« Beck führte die junge Frau aus Brubakers Apartment. Sie fuhren in Lindas Wagen zu seiner Wohnung. Beck lächelte, als er die Tür öffnete. Das erste aufrichtige Lächeln dieses Jahres. »Ich hoffe, du stehst auf >neue amerikanische VerwahrlosungHallo< von mir.« Webly fing die Münze auf. Sein kleiner, magerer Körper zitterte vor Wut. Er starrte Beck an, überlegte, ob er eingreifen sollte, und entschied sich dann vorsichtshalber dagegen. »Beck? Ich kann Sie wirklich nicht leiden, Beck.« »Das sagten Sie schon. Ihre Frau wartet. Um die Ecke ist 'ne Telefonzelle. Sie können Sie gar nicht verfehlen. Ich hätte sie vorhin fast vollgekotzt.« Webly zog sich aus der Gasse zurück und murmelte irgend etwas vor sich hin. Wieder beugte Beck sich ganz nahe an Ellis heran. »Da geht er hin, Ellis. Der Mann, der hier die Verantwortung trägt. Nur wir beide sind jetzt noch übrig. Ich brauch' ein paar Antworten, Ellis. Ich hab' Kopfschmerzen, die nicht verschwinden wollen. Ich seh' alles doppelt. Und mir ist schlecht. Wenn ich nicht ein paar vernünftige Antworten kriege, kotz ich dich vielleicht noch mal voll.« Er legte seinen Mund an Ellis' Ohr. »Also, laß es uns noch einmal versuchen. Wo ist Bobby Burns? Wie ich hörte, seid ihr gute alte Kumpels.« Ellis nickte und zuckte zusammen, als ihm der faulige Geruch von Becks Atem in die Nase stieg. »Als ... als Bobby aus dem Knast entlassen wurde, hat er mich angrufen. Wir haben 'n bißchen bei ihm in der Bude rumgehangen. Das ist alles, Mann. Er hat auf irgendwelche Typen gewartet, die bei ihm aufkreuzen wollten. Mehr weiß ich nicht, Mann. Ehrlich.« »Er hat verdammt viel mehr getan als nur auf ein paar Typen zu warten, stimmt's? Er hat ein Ding gedreht.« Ellis warf Beck einen ängstlichen Blick zu. »Ich hab' Ihnen nichts mehr zu sagen. Nur in Anwesenheit eines Bewährungshelfers.« »Der Bursche, der gerade abgehauen ist, ist Bewährungshelfer. Aber er steht jetzt am Telefon und quasselt mit seiner Alten. Willst du warten, bis er wiederkommt?«
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Beck drückte ein Knie vor Ellis' rechte Niere. Ellis schüttelte hastig den Kopf. »Die Burschen, auf die Bobby gewartet hat, sind aufgetaucht. Vor zwei Tagen.« »Wer sind die Knaben?« »Weiß ich nicht. Ehrlich. Hab' ich noch nie gesehen. Die Jungs waren im Knast, das weiß ich. Einer nannte sich Ray, der andere Sleepy.« »Sind die auf Bewährung draußen?« fragte Beck. »D ... das ist alles, was ich weiß«, stammelte Ellis verängstigt. »Ich hab' die Jungs nur einmal kurz gesehen. Da sind sie in 'nem rotbraunen Ford-Kombi losgefahren. Sie haben irgendwas von 'nem Kaff namens Bakersfield gesagt. . . daß sie da noch 'nen Burschen treffen wollten. Aber mehr nicht. Ich weiß nicht, wie der Kerl in Bakersfield heißt. Ich schwor's. Die Jungs haben mir nicht mehr erzählt, und ich hab' nicht weiter gefragt.« Beck studierte das Gesicht des Bärtigen. Dann nickte er und nahm Ellis die Handschellen ab. Er stieß ihn aus der Seitengasse auf den Bürgersteig. »Und was passiert... jetzt?« fragte Ellis. Beck zuckte die Achseln und führte Ellis bis zur Telefonzelle, wo Webly in ein Gespräch vertieft war. »Nein, Schatzi, ehrlich! Ja, das stimmt wirklich. Ich sag' dir, der Mann ist gewalttätig...« Beck packte Ellis mit der Linken im Nacken und hämmerte mit der Rechten an die Telefonzelle. Webly schoß einen halben Meter in die Höhe. »He, Webly. Wollen Sie diesen Heini wegen Verstoßes gegen die Bewährungsvorschriften anklagen?« Webly schob die Tür der Zelle auf. »Ich sicher nicht«, sagte er und bedeckte den Telefonhörer mit der Rechten. Beck blickte Ellis an, ließ ihn los und zuckte die Achseln. »Muß heute dein Glückstag sein, du Stinker. Ve rpiß dich.« Ellis gaffte Beck mit offenem Mund an, warf Webly ein raschen Blick zu, ging dan langsam ein Stück die Straße hinunter und raste plötzlich los. Beck lächelte Webly an. Webly blickte rasch weg, sagte in die Sprechmuschel: »Ich muß jetzt gehen, Mausi. Küßchen«, und hängte den Hörer ein. Beck gluckste, wandte sich um und wollte gerade zu seinem
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Wagen schlendern, als der Pieper, sein akustisches Warngerät, plötzlich zum Leben erwachte. Beck wartete, bis Webly aus der Telefonzelle gestiegen war, ging dann hinein und fütterte den Apparat mit einem Vierteldollar. Webly seufzte und setzte sich auf den Bordstein — fast in den inzwischen eingetrockneten Beckschen Schleim, der beinahe so grün war wie Weblys Jogginganzug. »Versaut«, murmelte er weinerlich und blickte betrübt auf sein Weihnachtsgeschenk, Der Anzug war verschmiert mit Dreck, Öl und Schweiß. »Total versaut.« »He, Webly«, sagte Beck lächelnd, als er wieder aus der Telefonzelle kam. »Wir haben Glück gehabt. Der Bursche, der in diesem Mini-Markt angeschossen wurde, ist operiert worden. Er hat überlebt. Er ist bei Bewußtsein. Na los. Ich fahr' Sie nach Hause.« Webly sprang auf wie ein Kastenteufel und wich rückwärtsgehend vor Beck zurück. »Ooo nein. O nein. Nein. Werden Sie nicht. Nein, Sir. Diesmal nicht. Auf keinen Fall steig' ich noch einmal in Ihren Wagen. Ich gehe nach Hause. Ich gehe nach Hause. Gucken Sie mal, in welche Richtung ich jetzt gehe. Sehen Sie? Sehen Sie das? Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet, ich gehe nach Hause. Nach H —a — u — s —e.« Beck beobachtete, wie der Zwerg rückwärts die Straße hinunterschlich. Er ließ Beck nicht aus den Augen. Er sah aus wie ein leuchtend grünes Krustentier mit häßlichen schwarzen Flecken. »Aber, Webly. Bis nach Hause ist es sehr weit, und ...« »Ich ruf mir ein Taxi.« »Hier draußen kriegen Sie nie ein Taxi.« »Dann werde ich eben trampen!« heulte Webly. Beck schüttelte den Kopf und lachte. Dann wandte er sich um und schlenderte zu seinem Wagen hinüber. Er drehte sich noch ein letztes Mal zu Webly um. »He, Webly!« Der Kleine hielt an, zog den Kopf zwischen die schmalen Schultern. Er erwartete offenbar das Schlimmste. »Was ist los, Beck? Was wollen Sie denn noch?« Beck grinste und winkte ihm zu. »Danke . . . und fröhliche Weihnachten und beste Grüße an Mausi.«
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»Ich scheiß auf Sie, Beck!« kreischte der Kleine. Beck schwang sich achselzuckend hinters Steuer. Junge, Junge, dachte er. Manchen Leuten geht aber auch jede Weihnachtsstimmung ab.
7 Nach einer schnellen Nachhausefahrt, einer noch schnelleren Dusche und einem halben Dutzend Fahnenkiller machte sich Beck auf dem Weg zu einem trostlosen latrinengrünen Gebäude in West Los Angeles: ein Krankenhaus, dessen bloßer Anblick einen krank machen konnte. Das Gebäude war so trostlos, daß es von einem manischdepressiven Architekten entworfen worden sein mußte. Wohl, um den Bau ein bißchen aufzuheitern, hatten die Grün-derväter kleine Flächen mit Grünzeug in den Betonflächen vor und an den Seiten des Krankenhauses verstreut anlegen lassen. Aber die meisten Blumen waren in der grellen Wintersonne verdorrt. Nur die Kakteen und Palmen hielten sich noch wacker. Damals, als man den häßlichen Klotz gebaut hatte, führte auch die Schnellstraße noch nicht in knapp hundert Meter Entfernung vorbei. Aber Lärm und Auspuffgase machten den Patienten, die auf dem Weg der Besserung waren, wohl ebensowenig aus wie denjenigen, die es nicht mehr lange machten. Nachdem Beck am Empfangsschalter seine Erkennungsmarke gezeigt und sich nach Gates erkundigt hatte, wurde ihm der Weg erklärt. Beck ging los, und während er durch die düsteren, tristen Korridore schlenderte, überlegte er, was ihm weniger gefiel: das pißgelbe Licht, das hier alles beleuchtete und jedem, der ihm entgegenkam, ein leicht gelbsüchtiges Aussehen verlieh, oder das leise Gedudel von Supermarktmusik, das aus den Wänden sickerte. Beim Geruch, der hier herrschte, dachte er kurz an seine beiden Kinder, die jetzt, in diesen Weihnachtstagen, von sei-
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ner Ex-Gattin mit Anti-Daddy-Gift vollgestopft wurden. Er erinnerte sich daran, wie gräßlich die Truthahnfüllung seiner Frau immer geschmeckt hatte. Die Kinder würden ihr nicht glauben, wenn Gloria genauso schlecht schwindelte wie sie kochte. Die waren zu clever, darauf reinzufallen. Hoffte er jedenfalls. Er hielt vor Zimmer Sechs in der chirurgischen Abteilung. Ein Sicherheitsposten stand vor der Tür. Beck stellte sich vor und wurde eingelassen. Der Nachtverkäufer des Mini-Markts, Gates, lag eingewikkelt wie eine Mumie in seinem Krankenbett. Er war verkabelt wie eine Apollo V vor dem Start. Beck versuchte, den Schauder zu unterdrücken, der seinen Körper durchrieselte. Das war gar nicht komisch. An einen Anblick wie diesen würde er sich nie gewöhnen können. Gates war nur noch ein einziger großer Verband, aus dem Drähte und Schläuche zu einem mittelgroßen Fuhrpark aus piependen, summenden, klickenden Maschinen führten. »Mr. Gates?« sagte Beck sanft und trat ans Krankenbett. »Mein Name ist Jerry Beck. Ich bin vom Los Angeles Sheriff's Department. Morddezernat.« »Morddezernat? So sollten Sie nicht mit mir reden. Ich bin ja noch nicht tot«, drang es dumpf unter den Verbänden hervor. »Ja. Ein weihnachtliches Wunder«, sagte Beck lächelnd. »Nein. Ein schlechter Schuß«, sagte Gates. »Oh, er wollte mich töten. Er hat's versucht.« Beck setzte sich in einen Stuhl neben dem Bett. Er zog einen kleinen >Sechserpack< aus der Tasche — eine zusammenfaltbare Mappe, in der sich sechs Fotos von möglichen Tätern befanden. Fünf dieser Bilder zeigten nichtssagende Gesichter von Kaukasiern. Sie hätten aus einem High School-Jahrbuch stammen können. Das sechste Foto zeigte Bobby Burns. »Ich möchte, daß Sie sich diese Schnappschüsse sehr sorgfältig ansehen«, flüsterte Beck. »Ich weiß, das ist nicht leicht für Sie. Ich weiß, wie sehr Sie sich wünschen, daß wir diesen Bastard zu fassen kriegen.« »Und ihn in den Arsch treten«, quetschte der weißhaarige
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Mr. Gates zwischen den zusammengepreßten Kiefern hervor. »Und ganz bestimmt in den Arsch treten«, erwiderte Beck. »Also, sehen Sie die Bilder sehr genau an. Sie sind alles, was wir haben, Mr. Gates.« Zwischen den Verbänden, die sein Gesicht fast völlig verdeckten, huschten Gates' Blicke zwischen den Fotos hin und her. »Verdammt.« »Was ist denn?« sagte Beck und beugte sich vor. »Ich bin nicht sicher, ob er einer von diesen Burschen war. Ich habe fast die ganze Zeit auf den Boden geguckt. Das kriegt man beigebracht, wissen Sie? Guck auf den Boden, nicht in ihre Gesichter. Wenn die Kerle ein bißchen Verstand haben, können sie sich denken, daß sie dich dann nicht töten müssen. Das ist uns immer wieder gesagt worden. Das hat man uns eingebleut. Hat sich bezahlt gemacht, was?« »Sie sind davongekommen«, sagte Beck lächelnd. »Nur das ist wichtig. Also, lassen Sie sich Zeit.« Gates starrte die Fotos eine kleine Ewigkeit lang an. »Der da unten«, sagte er dann, und seine Stimme war plötzlich rauh. »Der Bursche unten rechts. Vielleicht.« Beck hielt mühsam seine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle. Gates hatte genau Bobby Burns' Visage herausgepickt. »Vielleicht ist nicht genug, Mr. Gates. Entspannen Sie sich. Lassen Sie das alles noch einmal vor Ihrem geistigen Auge ablaufen.« »Das hab' ich«, flüsterte Gates. »Jede Minute, jede Stunde — seit es passiert ist. Doch ich kann es immer noch nicht mit Sicherheit sagen. Ich kann mich an dieses Gesicht nicht deutlich genug erinnern. Nur an diese Tätowierung erinnere ich mich. Eine komische Tätowierung. Und an seine Schuhe. Ja, über die Schuhe kann ich Ihnen was erzählen. Große Dinger. Wie Soldatenstiefel. Bis oben zugeschnürt. Die Dinger sahen aus wie ...« Beck blinzelte. »Tätowierung? Sie haben eine Tätowierung erwähnt. Er hatte eine Tätowierung?« Gates nickte. Beck zog einen dicken Umschlag aus der Tasche. Bobby Burns' Strafregister. Er blätterte es hastig durch, suchte die Fotos. »Beschreiben Sie bitte diese Tätowierung, Mr. Gates. Können Sie sich genau daran erinnern?«
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»Teufel, ja«, murmelte Gates. »Überhaupt kein Problem. Sie war auf seinem Arm . . . seinem rechten Unterarm. Ein Kreis mit einem Kreuz drin, und zwei gezackten Balken, die durchs Kreuz schnitten. Blitze. Ja, das war's. Zwei große Blitze, wie auf dem Umhang von Flash. Können Sie sich aus Ihrer Kinderzeit noch an die Flash-Comics erinnern? Ich hab' die Dinger immer meinem Sohn gekauft. Er wäre jetzt so etwa in Ihrem Alter, wenn der Vietkong nicht gewesen wäre. Aber diese Tätowierung... sie war wie die von Flash...« »Ja. Ja. Ja«, murmelte Beck und sah die Fotos durch. »Ich persönlich hatte immer eine Schwäche für Batwoman.« »Ist auch 'ne tolle Type.« »Die beste«, sagte Beck. Er grinste und drückte ein Foto in eine von Gates' bandagierten Pranken. »Sah die Tätowierung so ähnlich aus wie diese hier?« fragte er. Gates starrte auf ein Foto, auf dem Bobby Bums' rechter Unterarm abgebildet war. Deutlich war eine Tätowierung zu sehen, die genau Gates' Beschreibung entsprach. Gates kicherte. »Ich glaub', da haben wir 'nen Volltreffer gelandet.« Beck nahm das Foto wieder an sich. »Mr. Gates, Sie machen mich stolz darauf, ein Mensch zu sein.« »Aber der Kerl auf dem Bild da ist ein Tier«, sagte Gates dumpf. »Keine Sorge. Wir werden diesen Mistkerl kriegen, Mr. Gates. Und wenn wir ihn haben, wenn ich ihn habe, werde ich ihn persönlich verhören und dabei ganz speziell an Sie denken. Na, wie hört sich das an?« »Hört sich gut an.« Beck schob seine Akten zusammen und erhob sich. Er legte eine Hand auf den dick bandagierten, von Kugeln zerfetzten rechten Arm des Mannes. »Und jetzt gönnen Sie sich endlich wieder angenehme Träume, Mr. Gates. Werden Sie nur wieder gesund. Sie brauchen sich um nichts mehr Sorgen zu machen.« »Gut zu wissen«, seufzte Gates. »Verdammt, das ist gut zu wissen.« »Und fröhliche Weihnachten, Mr. Gates, sofern das für Sie möglich ist. Sie haben sich's verdient.«
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»Wenn Sie ihn haben, treten Sie dem Kerl in den Arsch, Mr. Morddezernat. Halten Sie ihn fest, und treten Sie ihm ganz fest in den Arsch. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk kann mir niemand machen.« Beck mußte das Wenige, was vom Gesicht des alten Knaben zu sehen war, unwillkürlich anlächeln. Gates, dieser zähe alte Knochen, hatte Mumm, das mußte man ihm lassen. »Das Geschenk teilen wir uns«, sagte Beck. »Okay, Mr. Gates?« »Gern, Mr. Morddezernat. Legen Sie nur los. Holen Sie sich den Dreckskerl.« Beck verließ das Zimmer und eilte den Korridor hinunter. Plötzlich störten ihn das pißgelbe Licht und das nervtötende Gedudel nicht mehr. Zwanzig Minuten später saß Beck wieder vor seinem altersschwachen Computer und spähte durch seine wacklige Klebeband-Lesebrille, während er die komplette Personenbeschreibung von Robert >Bobby < Burns in die Tastatur tippte — diesem Oberarschloch und Cop-Killer. Die Daten wurden an alle Polizeicomputer im gesamten Westen der Vereinigten Staaten weitergeleitet. >Sofortige Festnahme wegen Verstoßes gegen die Bewährungsvorschriften Weißen für ein weißes AmerikasGive Me That Old Time Religion< dudelten. Beck knöpfte seine Jacke zu, während er die krummen Stufen zur Eingangstür hinaufstieg. Von außen sah der triste Bau wie ein Gemälde von Norman Rockwell aus. Einem mit Tranquilizern vollgepumpten Norman Rockwell. Beck öffnete die Tür und betrat das Revier. Er blickte in uninteressierte, aber sehr weiße Gesichter. Wenn die Officers noch ein bißchen weißer gewesen wären, hätte es sich bei ihnen um Absolventen der Fakultät für Vererbungslehre im Dorf der Verdammten handeln können. Beck ging zum diensthabenden Sergeant hinüber und hielt ihm seine Marke hin. »Jerry Beck. Chief Tremmel erwartet mich.« Der Diensthabende machte sich nicht mal die Mühe, zu Beck aufzublicken. »Der Chief hat gesagt, Sie sollen sofort zu ihm reinkommen.« Er wies mit dem Kopf auf eine große Eichentür, auf der in kunstvoller Schablonenschrift das Wort > CHIEF < aufgemalt war. Beck klopfte pflichtschuldig an, bevor er die Tür öffnete und eintrat. Der Polizeichef von Bogan, Elton Tremmel, erhob sich hinter seinem riesigen alten Schreibtisch. Das Ding war fast so gebeugt wie er selbst. Der spindeldürre glatzköpfige Mann sah aus wie ein Ghoul im Polizeidienst - mit eingesunkener Brust, hohlen Wangen, tief in den Höhlen liegenden Augen und einem Gebiß, das aussah, als wäre es ursprünglich für einen viel größeren Mund angefertigt worden. Der Chief fletschte die falschen Zähne, was wohl ein Grinsen sein sollte, und streckte seine knochige Klaue aus. Beck ergriff sie, schüttelte sie und versuchte, zurückzulächeln.
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Alles, was er zustande brachte, war ein leises Zähneklappern. »Wie geht's denn so, Sergeant?« fragte der Chief grinsend. »Gut, Chief, gut«, sagte Beck und ließ seinen Blick durchs Büro schweifen. Die Wände waren pißgelb und pellten sich. Die Büromöbel waren konsequent im David-Crockett-Stil gehalten. An jeder Wand hingen ausgestopfte Tierköpfe und ließen gerade noch genug Platz für einige wenige Gewehrständer und eine große Holztafel mit der Aufschrift: WENN DU NICHT IN DIESER STADT WOHNST, NIGGER, DANN SEI NACH SONNENUNTERGANG VERSCHWUNDEN. Beck ließ sich in einen Stuhl fallen, der so klapprig war wie der Chief. »Prima Schild«, sagte Beck und wies mit dem Kopf darauf. »O ja.« Tremmel nickte eifrig und ließ seine gebückte Gestalt in einen winzigen Stuhl sinken. »Es war die beschis sene ACLU, diese kommunistischen jüdischen Bastarde, die dafür gesorgt haben, daß es vom Eingang abmontiert werden mußte. Dabei si t es eine gottverdammte Tradition in dieser Gegend! Teufel noch mal.« Der häßliche Schädel grinste. »Aber macht nichts. In dieser Stadt treiben sich nach Sonnenuntergang trotzdem keine fremden Nigger rum.« Beck lächelte ausdruckslos. Im Vergleich zu diesem Blödmann wirkte sogar Chief Hillard wie ein Harvard-Absolvent. Tremmel nahm einen dünnen Stapel Papiere in seine schwielige rechte Kralle. »Ich hab' meine Jungs schon eingewiesen. Bis jetzt keine Spur von einem rotbraunen FordKombi. — He, Sie sind ja ganz blau im Gesicht. Frieren Sie?« Beck nickte. »Ja. Sieht man das?« »Ihre Lippen sehen aus wie Himbeereis. Gottverdammich.« Der Chief grinste und zog eine Schublade in der ungefähren Größe des Grand Canyon auf. Er nahm einen Parka heraus und warf ihn Beck zu. »Hier. Den werden Sie brauchen.« »Danke.« »Ihr kalifornischen Jungs seid verweichlicht. Ihr habt's zu
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leicht«, kicherte Tremmel. »Ich hab' mir sagen lassen, der Sonnenschein und die Bikini-Muschis machen das Blut dünn und die Birne weich.« Beck schnappte den Parka auf. »Tja, so ist das nun mal. Das Land, wo Milch und Honig fließen.« Er ließ sich tiefer in den Stuhl rutschen. »Tägliche Dienstbesprechung am Strand. Anschließend eine Stunde Sonnenbad. Dann Volleyball. Und ab und zu killt irgendein Arschloch 'nen Cop, und jeder von uns ist stinksauer. Kein Strand mehr, keine Sonne mehr und keine Muschis mehr, bis der Trottel gefaßt ist. Wir ziehen dann immer Strohhalme aus unseren BananaDaiquiris, wer den Lümmel fangen darf. Darum bin ich hier, Chief. Ich hab' diesmal den kürzesten Strohhalm erwischt.« Das Lächeln auf Tremmels Geiergesicht verschwand schlagartig. Seine welken Lippen konnten das Versandhausgebiß so gerade eben noch bedecken. Seine Kiefermuskeln arbeiteten. Beck erkannte, daß der Mann im Austeilen besser war als im Einstecken. Er ließ die flotten Sprüche beiseite und wurde ernst. »Kennen Sie einen Mann namens Gebhardt?« Tremmel zuckte die Achseln. »Warum?« Beck zupfte geistesabwesend am Parka herum. »Na ja, ich weiß nicht. Ich bin nun mal hier in der Gegend und hab' mir gedacht, ich fahr' mal auf 'nen Sprung bei ihm vorbei. Ich hab' Grund zu der Annahme, daß er mit einem Schwein namens Bobby Burns Kontakt hatte und vielleicht noch hat.« Tremmels Gesicht war jetzt wie versteinert. »Sie müssen die Namen irgendwie ducheinandergeworfen haben.« Beck grinste breit. Er roch Scheiße. Und der Chief steckte mittendrin. »Nein. Glaub' ich nicht. Wissen Sie, Gebhardts Name, seine Adresse und seine Telefonnummer stehen in Burns' Adreßbuch. Warum sollte Burns das alles eintragen, wenn er diesen Gebhardt nicht kennt?« Tremmel versuchte, seinen Zorn zu verbergen. Beck bemerkte, daß der knorrige Provinzcop mit der rechten Hand vorsichtig eine Ecke seines Dienstbuchs zerriß. »Vielleicht haben die beiden nur gemeinsame Interessen. Sie wissen schon. Entenjagd, zum Beispiel.«
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»Ich glaube, die beiden haben mehr gemeinsame Interessen als die Entenjagd, Chief.« »Zum Beispiel?« Beck rollte übertrieben mit den Augen. »Mann! Ich weiß nicht. Vielleicht geht's um weiße rassistische Extremistengruppen. Ich weiß, daß ihr hier in der Gegend wahrscheinlich nicht viel darüber wißt, aber . . .« Er lehnte sich verschwörerisch vor, » . . . ist Ihnen schon aufgefallen, daß es in diesem unserem Lande eine Reihe von Organisationen gibt, die jeden hassen, der nicht wie sie selbst ist? Juden und Schwarze, zum Beispiel.« Tremmel kicherte, nahm die Hand vom Dienstbuch und schwang seine dürren Beine auf die Schreibtischplatte. »Gebhardts Farm ist eine halbe Autostunde von hier entfernt. Ich muß mich noch um ein paar dienstliche Angelegenheiten kümmern. Ich ruf Sie irgendwann heute nachmittag an. Wir können dann gemeinsam zu ihm rausfahren.« »Ich hab' seine Adresse, und ich hab' einen Wagen. Ich kann also allein rausfahren, Chief. Was halten Sie davon?« Beck behielt sein Grinsen bei. Aber jetzt war es Tremmel, der noch breiter grinste. »Ohne mich oder einen Hausdurchsuchungsbefehl werden Sie Ihren Fuß nicht auf Gebhardts Grundstück setzen, Freundchen. Ich nehme an, daß Sie keinen Durchsuchungsbefehl bei sich haben, oder?« Beck fixierte den Chief mit hartem Blick. »Ich muß ihn in meinem Koffer gelassen haben.« »Den mit den warmen Klamotten drin?« Beck nickte. »Den mit den warmen Klamotten.« »Den Sie nicht gepackt haben.« »Den ich irgendwo verloren haben muß. Wir Jungs aus Kalifornien sind so richtige Jet-setter.« »Da haben Sie aber Pech gehabt«, sagte Tremmel grinsend. Die beiden Männer starrten sich eine Weile schweigend an und warteten darauf, daß der andere nachgab. Beck mußte nicht lange warten. Die Tür flog auf, und ein Officer mit einem käsigen Pickelgesicht kam ins Büro gestürmt. Tremmel stierte ihn überrascht an. »Da draußen ist ein Bursche vom FBI, Chief«, sagte der
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Mann. »Er sagt, er möchte zu Ihnen reinkommen.« Tremmels tief in den Höhlen liegende Augen quollen weit daraus hervor. »Das FBI? Scheißdreck. Na gut. Also gut. Schick ihn rein. Sofort. Auf der Stelle.« Tremmel rappelte sich auf, als die kleine, stämmige Gestalt Kresslers ins Büro marschiert kam. Beck lächelte. Howdy Doody trug heute einen anderen Anzug. Wieder vom Feinsten. Und der Bursche hielt sich wieder so aufrecht, als hätte er sich ein Brett in den Rücken geklemmt. Seine Frisur war perfekt. Kressler ignorierte Beck und richtete den Blick auf den Chief. »Arthur Kressler, Spezialagent des FBI. Abgestellt zu Sonderermittlungen im Mordfall Kimble.« Kressler streckte seine Hand nicht zur Begrüßung aus. Tremmel auch nicht. Er war anscheinend zu nervös und verwirrt dazu. »Chief Elton Tremmel. Zu Ihren Diensten, Sir. Was kann ich für Sie ...« »Eldon?« »Elton.« »Wie der Popsänger?« fragte Beck. »Nein, Sir! Wie mein Großvater!« »Puh«, sagte Beck, scheinbar erleichtert. »Das ist gut. Ich hab' über diesen anderen Elton schon reichlich komische Sachen gehört.« Tremmels Gesicht war plötzlich von kleinen roten Flecken übersät. Kressler schoß einen strengen Blick in Becks Richtung ab. »Mir ist zu Ohren gekommen, daß Sie bestimmte Hinweise haben, die uns vielleicht weiterführen könnten, Beck. Wie läuft's überhaupt so?« Beck hob die Hände und zuckte übertrieben die Achseln. »Um die Wahrheit zu sagen, läuft's mir ein bißchen zu langsam. Ich will damit natürlich nicht andeuten, daß der Chief hier schuld daran ist. Er hat im Moment nur so furchtbar viel zu tun. Stimmt's, Chief?« Tremmels Blicke zuckten zwischen den beiden Männern hin und her, als wisse er nicht, wen er zuerst ansehen sollte. »Sie haben mir nicht gesagt, daß das FBI in diesen Fall eingeschaltet worden ist«, quetschte er, an Beck gewandt, zwischen den zusammengepreßten Zähnen seines Gebisses hervor.
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Beck schlug sich an die Stirn. »Hab' ich das nicht? Oh! Oh. Dann ist das alles mein Fehler, fürchte ich. Wissen Sie, Chief, ich betrachte Artie nämlich nicht als FBI-Agenten.« Kresslers Augen wurden rund wie Untertassen. Beck erhob sich und legte dem babygesichtigen Mann den Arm um die Schulter. »Ich betrachte Artie als meinen Freund. Wir treiben uns oft zusammen am Strand rum. Spielen Volleyball. Wir machen überhaupt 'ne Menge typisch kalifornische Sachen. Worüber Sie vorhin geredet haben, zum Beispiel, Chief. Und Artie ist wild drauf, Gebhardt einen Besuch abzustatten.« Tremmel ließ sich schwer auf seinen altersschwachen Stuhl fallen und umkrampfte mit beiden Händen die Schreibtischkante. »Gut. Also gut. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Aber ich bin, zum Teufel noch mal, nicht so beschäftigt, als daß ich dem FBI nicht mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, helfen könnte. Lassen Sie mich nur schnell noch ein paar Sachen erledigen, und dann treffen wir uns draußen im Dienstzimmer, ja? Dann fahren wir gemeinsam zu den Gebhardts rüber.« »Danke, Chief«, sagte Beck, streckte ihm die Hand hin und schüttelte Tremmels schwielige Klaue. »Sie sind wirklich zu freundlich.« Beck nahm Kressler beim Arm und schob den Kleinen zur Tür. »Wer ist denn dieser Gebhardt?« zischte Kressler. »Ich werde Ihnen alles erklären, sobald wir drüben im Dienstzimmer sind«, flüsterte Beck und lächelte dem dumpf vor sich hin brütenden Tremmel über die Schulter zu. »Nochmals ganz herzlichen Dank, Chief. Mein Freund Artie wird dem FBI über Ihre vorbildliche Dienstauffassung Mitteilung machen.« Tremmel schluckte und nickte. »Ja«, sagte er. »Gut.« Er beobachtete, wie die beiden Männer sein Büro verließen. Er wartete, bis sie die Tür zum Dienstzimmer hinter sich geschlossen hatten. Dann griff er hastig zum Telefon. Er wählte eine ihm sehr vertraute Nummer. Als am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde, begann Tremmel mit sehr, sehr gedämpfter Stimme zu sprechen, und dabei behielt er nervös die Tür im Auge.
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14 Die Gebhardt-Ranch war ein blühendes Paradies in einer riesigen öden Wildnis. Sie ähnelte mehr einem Landsitz als einer Western-Ranch, jedenfalls, wie sie in Becks Vorstellung aussah. Es gab keine Cowboys. Keine Corrals. Keinen Sagebrush, nur eine scheinbar Zurschaustellung von Reichtum und Überfluß. Hunderte von Acres eingezäunten Weidelandes, in dessen Mittelpunkt etwa ein Dutzend blendend weißer Gebäude standen, die ein großes, einzeln stehendes Haus umringten. Dieses sah aus wie eine protzige Südstaaten-Villa. Von weitem sah die Ranch fast wie ein mittelgroßes Dorf aus, das der liebe Gott hier inmitten dieser öden Abgeschiedenheit achtlos hatte zu Boden fallen lassen. Es gab sogar eine altertümliche Kirche auf dem >Dorfplatz Augen links! < zu Tremmel herum. »Der Mann übertreibt nicht, Chief. Ich habe diese Farm gesehen.« »Ich zweifle nicht an Ihren Worten, Sir«, sagte Tremmel und betonte dabei das Wort >IhrenGebhardt-Farmausweiden< oder >Haut abziehen< rausgerutscht, noch öfter das Wort >lynchenneuen heiligen BundKirche< eingerichtet war. Der Innenraum war lang und rechteckig. Auf einer erhöhten Plattform befand sich eine Kanzel. Am entfernten Ende des Kircheninnern stand ein äußerst seltsamer Altar, über dem anstelle eines Kreuzes der Beck nun sattsam bekannte Kreis mit dem von zwei Blitzen durchschnittenen Kreuz in seinem Innern hing. Rechts und links davon hingen eine große Naziflagge und die Fahne der Aryan-Bruderschaft. Ein Dutzend Männer waren um einen langen Konferenztisch aus Mahagoni versammelt. Sie waren mitten in ihren Bewegungen erstarrt, als Beck und Dixon mit den Waffen im Anschlag hereingestürmt waren. Beck bemerkte, wie sich ein junger Bursche aus einer Seitentür davonschleichen wollte. Mit drei, vier schnellen Schritten war Beck bei ihm und schlug ihm den Lauf des automatischen Gewehres auf den Schädel. »Tut mir leid, Junior«, sagte er. »Aber die Messe ist noch nicht zu Ende.« Der Junge schlug wie ein Sack Kartoffeln zu Boden. Beck zog einen Vorhang unterhalb der Kanzel zur Seite. Ein mittelgroßes Waffen- und Munitionslager kam zum Vorschein.
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»Oha. Anscheinend habt ihr Burschen noch nie davon gehört, daß den Sanftmütigen die Welt gehört«, sagte er. Dixon hielt die Waffe auf die Männer am Tisch gerichtet, während Beck nun grinsend zum Altar hinüberging. Unter der Naziflagge ragten zwei Beine hervor. »Kuckuck!« rief Beck. »Halleluja!« Reverend Gebhardt kam hinter der Flagge hervor. Er fuhr sich mit der Rechten verlegen durch sein graues Haar und strich sich den Schnäuzer glatt. Dann lächelte er Beck an wie ein Vater seinen verloren geglaubten und auf wundersame Weise wieder heimgekehrten Sohn. »Ich hab' nicht erwartet, Sie hier zu treffen, Reverend«, sagte Beck. »Nun, mit Ihnen habe ich auch nicht gerechnet«, erwiderte Gebhardt im Plauderton. »Gentlemen«, sagte Dixon höflich und wies mit der Mündung seiner Automatik zur Wand. »Darf ich Sie alle bitten, dort Aufstellung zu nehmen?« Der Reverend und das Dutzend Männer gehorchten zähneknirschend und lehnten sich an die Wand, die Arme ausgestreckt. Beck hielt die Meute in Schach, während Dixon einen nach dem anderen nach Waffen filzte. »So sauber, wie man nur sein kann — was Waffen betrifft«, sagte Dixon, als er fertig war. Beck blickte den Reverend an. »Na, schön brav das Evangelium verbreitet?« Gebhardt lächelte gewinnend. »In gewisser Weise.« Eine Gestalt kam aus dem Küchenbereich rechts vom Altar in die Kirche. Beck hob die Waffe. Es war Mrs. Gebhardt. Er ließ den Lauf der Automatik wieder sinken und grinste sie an. »Und Sie haben wohl wieder Ihre preisgekrönten Apfeltaschen gebacken, was?« »Sie sind ein böser und dummer Mensch, Mr. Beck«, sagte die alternde Barbie-Puppe. »Verglichen mit den Ausdrücken, mit denen man mich kürzlich erst belegt hat, is t das fast ein Kompliment, Mrs. Gebhardt«, erwiderte Beck. Er betrat die rustikal eingerichtete kleine Küche. Nichts Besonderes. An der entfernten Wand befand sich eine große
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Tür. Beck ging hinüber und öffnete sie. Es war kein Wandschrank, wie er erwartet hatte. Hinter der Tür führten Stufen in eine kleine Vorratskammer hinunter, die an die Luftschutzkeller erinnerte, die man in den 50er Jahren gebaut hatte. Er knipste das Licht an, ging die sechs Stufen in diesen Minikeller hinunter und ließ seinen Blick über die Regale schweifen. Es war eine Art Speisekammer; die Regale waren vollgestopft mit Lebensmitteln und Getränken. Genug, um eine kleine Armee damit abzufüttern. Beck verließ die Speisekammer, durchquerte die Küche und kehrte in die Kirche zurück. »Erinnert mich an zu Hause«, sagte er lächelnd zu Mrs. Gebhardt. Dixon winkte Beck zu. »Da draußen«, sagte er. Beck spähte durch ein Seitenfenster. Ein weiteres Dutzend bis an die Zähne bewaffneter Männer marschierte in Richtung Tor. Beck trat auf den Reverend zu. Die Mündung seines Gewehrs zeigte genau auf den Magen des Mannes. »Pfeifen Sie Ihre Braunhemden da draußen zurück«, sagte Beck. »Warum sollte ich?« erwiderte Gebhardt. Beck trat hinter Gebhardt und drückte ihm die Gewehrmündung in den Rücken. »Los, gehen Sie zur Tür.« Gebhardt gehorchte. Im Türeingang der Kirche befahl Beck ihm stehenzubleiben. »Ich möchte Ihnen mal was über Wunden erzählen, die Kugeln schlagen, Reverend«, murmelte er. »Über Einschußlöcher und Ausschußlöcher. Nehmen wir zum Beispiel die Kugeln, die in meinem Gewehr stecken. Wenn ich Ihnen eine in den Balg jage, dann ist das Einschußloch klitzeklein. Etwa in der Größe eines Zehncentstücks. Vielleicht auch wie ein Vierteldollar, kommt ja nicht mehr drauf an. Aber das Ausschußloch. Mannomann! Groß wie ein Baseball. Wie ein Basketball sogar.« »Sie würden einem Mann nicht in den Rücken schießen. Das läßt sich mit den ethischen Grundsätzen eines Weißen nicht vereinbaren«, sagte Gebhardt überzeugt. »Bobby Burns ist sehr weiß«, erwiderte Beck lächelnd. »Soll ich Ihnen mal erzählen, auf welche Körperteile er mit Vorliebe schießt? Bei alten Männern, zum Beispiel? Harmlosen Frauen?«
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Er spürte wie der Reverend erschauerte. »Seine Opfer gehörten nicht unserer Rasse an«, sagte Gebhardt. »Einer schon«, flüsterte Beck. »Ein Cop.« »Ich bin sicher, daß der Mann es dann nicht anders verdient hatte. Wahrscheinlich hat er uns bei unserer Arbeit behindert.« »Ja, wir Cops haben einen Hang dazu«, sagte Beck schwer atmend. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. »Ich will Ihnen mal was sagen, Sie sogenannter Reverend. Über meine Eltern, sie waren weiß. Und deren Eltern ebenfalls. Aber meine Urgroßeltern? Schändlich. Wissen Sie, meine Urgroßmutter hatte Negerblut in den Adern. Ich schwor's bei Gott. Sie hat auf der Plantage meines Urgroßvaters gearbeitet. Nach dem Bürgerkrieg und der Aufhebung der Sklaverei hat sich Urgroßpapa entschlossen, sie zu heiraten . . . aber Himmel, was tu ich eigentlich? Geb' Ihnen ein langgehütetes Familiengeheimnis preis! Na ja, ich wette, es liegt daran, daß Sie Priester sind und das alles. Ich mußte mir das bloß mal von der Seele reden, glaub' ich.« Er verstärkte den Druck der Waffenmündung. »Aber was ist nun mit der Theorie, daß ein Weißer einem anderen Weißen nicht in den Rücken schießt? Ich fürchte, ich bin nicht blütenweiß. Mehr von der beigefarbenen Sorte. Wenn ich also abdrücke und Ihre beschissenen Eingeweide über den Schnee verspritze, dann werden Sie mir vergeben. Ja, Vater?« Der Reverend stieß ein leises, ächzendes Geräusch aus. »Also«, sagte Beck. »Sagen Sie Ihren Jungs, sie sollen ihre Ballermänner fallenlassen und sich einem Haftbefehl des FBI gegen Bobby Burns und Konsorten fügen.« Gebhardt holte tief Luft. »Männer!« rief er dann seiner am Tor versammelten Meute zu. »Es ist schon in Ordnung. Es ist nichts. Sie sind harmlos. Laßt eure Waffen fallen, und macht das Tor auf.« Die Wachtposten zögerten. »Ich kann euch versichern«, rief Gebhardt, »daß alles in Ordnung ist. Das hier hat gar nichts zu bedeuten. Legt die Waffen ab, und laßt diesen FBI-Mann aufs Grundstück.« Die Wachtposten ließen die Waffen in den Schnee fallen.
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»Sagen Sie ihnen, sie sollen die Kanonen so weit wegtreten, daß sie nicht mehr drankommen.« »Tretet die Waffen in meine Richtung, Männer, und verhaltet euch ruhig. Bleibt stehen, wo ihr seid«, rief Gebherdt. Die Wachtposten murrten, gehorchten aber. »Sehr gut, Reverend«, sagte Beck. »Sie sind ein sehr wortgewaltiger Verkünder des Glaubens. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Chief Dixon und ich haben noch was zu erledigen. — Chief?« Dixon wandte sich an die wutschnaubenden Weißen, die in der Kirche versammelt waren. »Ihr seid hübsch artig, okay?« sagte er grinsend und ging zu Beck und dem Reverend hinüber. »Dafür werden Sie in der Hölle schmoren«, flüsterte Gebhardt Beck zu. »So scharf bin ich nun auch nicht darauf, Sie wiederzusehen«, sagte Beck. »Ich werde für 'ne Menge Dummheiten in der Hölle schmoren. Aber das hier bringt mir ein paar Hilfspunkte für Herzensgüte und Anständigkeit ein.« Er ließ den Reverend stehen, verließ die Kirche und ging zum Tor hinüber. Dixon folgte ihm. Sie erreichten das Tor, als gerade drei Jeeps auf das Grundstück fuhren. Kressler, die drei Officers und die vier Scharfschützen sprangen aus dem Wagen. Beck wandte sich an die drei Cops und zeigte auf die versammelte Wachmannschaft. »Jungs, ihr haltet ein wachsames Auge auf die christliche Miliz hier. — Franklin!« rief er dann über die Schulter. »Ich bin hier drin!« drang eine Stimme aus dem Hauptgebäude. »Alles okay.« »So weit, so gut«, sagte Beck zu Dixon. Kressler gefiel es nicht, daß Beck die Befehle erteilte. Er zeigte es auch. Sein Gesicht war fast so rot wie sein Haar, als er sich vor Beck aufbaute. »Nun? Wo ist er?« Er blickte sich um, als würde er damit rechnen, daß Bobby Burns jeden Moment irgendwo aus dem Boden wuchs. »Ich hoffe für Sie, daß er hier ist, Beck.« »Wenn nicht«, sagte Kressler höhnisch und vergaß offenbar seinen Hang zur kultivierten Sprache, »sind Sie gewaltig in den Arsch gekniffen.«
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Er wandte sich an die Scharfschützen. »Also gut, Männer. Sie werden gemeinsam mit Chief Dixon das Grundstück absuchen. Beck? Ich möchte, daß Sie mir zeigen, was Sie gefunden haben.« Kressler wandte sich um und marschierte los. Auf der Mitte des Platzes blieb er stehen und wartete darauf, daß Beck ihm folgte. Die Scharfschützen warfen Beck rasche, verstohlene Blicke zu. Beck zuckte die Achseln und gab ihnen durch Kopfnicken zu verstehen, daß sie Kresslers Anweisungen Folge leisten und das Grundstück absuchen sollten. »Liegt's an mir?« sagte er dann zu Dixon. »Oder leidet der Bursche unter Persönlichkeitskonflikten?« »Er ist im Recht«, meinte Dixon. »Ich weiß, ich weiß«, murmelte Beck, durch dessen Magen plötzlich wieder ein schmerzhafter Krampf zuckte. Fast hätte er sich übergeben müssen. Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Dixon. »Doch, doch. Nur mein Magen nicht.« Dixon griff in die Tasche und holte eine weiße Tablette hervor. »Hier. Nehmen Sie das. Ich hab' auch Probleme mit dem Magen. Magengeschwür. Ein Mistding.« Beck schob sich die Tablette in den Mund. Sie schmeckte wie Kreide, aber er fühlte sich fast augenblicklich ein wenig besser. »Also los, Chief«, sagte er, »gehen Sie mit Ihren Leuten. Ich gehe mit der Schießbudenfigur da drüben. Schnappen wir uns diese Geisteskranken.« Dixon zog mit seinen Männern los. Er schickte eine Gruppe ins Haupthaus, eine andere zu den Baracken. Beck ging zur Kirche hinüber — und achtlos am ungeduldig wartenden Kressler vorbei. »Kommen Sie jetzt mit, oder was ist?« fragte Beck über die Schulter. Kressler schnaufte wütend und folgte Beck in die Kirche, wo der Reverend und Mrs. Gebhardt inmitten ihrer zwölf mürrisch dreinblickenden Jünger saßen. Beck grinste, als er sah, wie dem FBI-Mann die Augen aus den Höhlen traten, als er die Gebhards unter den Anwesenden erkannte. »Agent Kressler«, sagte Beck, »Sie erinnern sich gewiß noch an Mr. und Mrs. Gebhardt.«
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»Natürlich!« Kressler nickte den beiden übertrieben höflich zu. »Äh ... freut mich, Sie zu sehen.« Wären die Gebhardts ein mythologisches Duo gewesen, hätten ihre Blicke den kleinen FBI-Mann in Stein verwandelt. Kressler warf einen raschen Blick auf die zwölf gutgekleideten Männer. »Wer sind die anderen?« fragte er Beck. »Na, in Anbetracht dessen, daß dies hier Camelot ist«, erwiderte Beck und führte Kressler zum Tisch, »können das eigentlich nur die Ritter der Tafelrunde sein.« Kressler bedachte ihn mit einem >Lassen-Sie-diese-abfälligen-BemerkungenSieg Heilneuen heiligen Bund< zu schließen. Und diese Farm war auf der Karte markiert! Das hier ist es. Das ist das weiße Camelot. Der Ort, an dem alle Straßen zusammenführen. Die Ranch ist für die Pläne dieser Spinner wie geschaffen. Sie ist riesig. Sie ist stark befestigt und gesichert. Sie ist nicht weit von einer Großstadt entfernt, aber abgelegen genug, um ungestört zu sein. Das muß der Ort sein.« »Ja, gut, aber ...« »Die sogenannten Ritter sind hier, das Heer ist hier, die Führer sind hier. Nur Bobby und seine Busenfreunde fehlen, verdammt. Warum?« Er verstummte. Die Stille, die hier oben, an diesem einsamen Punkt, über der Landschaft lag, wäre überwältigend gewesen — hätte Becks Magen nicht so laut geknurrt. Und dann hörte Beck plötzlich das leise Geräusch irgendwo ganz in der Nähe. Drip, Drip, Drip. »Ich sag's nicht gern, Beck, aber ...«, begann Dixon. »Pssst!« »Wissen Sie, ich stehe voll auf Ihrer Seite, nur ...« »Seien Sie mal ruhig, Chief! Hören Sie?« Drip. Drip. Drip. Beck drehte den Kopf nach rechts und links und lauschte angestrengt, um festzustellen, aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Plötzlich lächelte er und ging etwa fünf Meter nach rechts zu einer Tanne hinüber. Das Eis, das sich in der Nacht unten am Stamm des Baumes gebildet hatte, war fast weggeschmolzen. Im gleichmäßigen Rhythmus tröpfelte das Schmelzwasser in eine kleine Pfütze. Beck starrte auf den Boden. Das Gras und die Sträucher, die zum Vorschein kamen, waren braun und verdorrt — bis auf einen kleinen, grünen, knospenden Strauch.
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Ein kleiner, grünender Strauch, der aus einer feuchten Bodenschicht wuchs, wo ringsum alles bretthart gefroren war. Beck legte die Hand dicht neben dem Strauch auf den Boden. Er spürte die Wärme, die aus der Tiefe aufstieg. Er winkte den Chief zu sich und schob mit der Schuhspitze das feuchte Erdreich zur Seite. In der hellen, klaren Wintersonne erschien eine glänzende Metalloberfläche. »Was ist das denn?« fragte Dixon. »Ein Belüftungsrohr«, erwiderte Beck. Dixon blickte zuerst stirnrunzelnd auf das schimmernde Stück Rohrleitung, dann zur etwa hundert Meter entfernten Gebäudeansammlung der Ranch hinüber. »Was zum Teufel, hat ein Belüftungsrohr so weit von den Gebäuden entfernt zu suchen?« Beck grinste. »Ich glaube, wir haben unseren Mann gefunden, Chief.« »Heiliger Strohsack«, sagte Dixon. »Los, kommen Sie, Chief. Versüßen wir den Gebhardts diesen Tag noch mehr«, sagte Beck und rannte den Hang hinunter zur Kirche. Dixon folgte ihm, leise lachend und kopfschüttelnd zugleich. Unten angekommen, winkte Dixon zwei seiner Officers heran, Franklin und Parks. Sie sollten vor der Kirche warten. Die Gebhardts saßen immer noch in der Küche und starrten Kressler an wie zwei Schlangen die Maus, als Beck und Dixon hereinkamen. »Sind sie jetzt endlich fertig?« keifte Kressler mit hochrotem Kopf. »Der Reverend und seine Gattin haben weiß Gott Besseres zu tun, als untätig herumzusitzen!« Beck sah die Zahnlücke des Kleinen und fragte sich ernsthaft, ob sie sich bis zur Schädeldecke erstreckte. Er nickte höflich. »Wir sind gleich soweit. Ein paar Minuten noch, und wir haben die Sache erledigt.« Gebhardt sprang auf und war mit einem Satz am Wandtelefon. Mit fliegenden Fingern wählte er eine Nummer. »Das ist ein Skandal! Das ist eine eklatante Verletzung meiner verfassungsmäßig garantierten Rechte. Ich werde jetzt meinen Anwalt anrufen. Ich warne Sie, auch nur einen weiteren Schritt zu unternehmen! Entweder verlassen Sie auf der Stelle
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mein Grundstück, oder Sie werden sich einer Schadensersatzklage in Millionenhöhe gegenübersehen!« Beck ging gelassen zum Telefon hinüber und riß es aus der Wand. Putz flog durch die Küche. Beck warf dem entsetzten Gebhardt den Apparat vor die Brust. »Okay, jetzt verklagen Sie mich«, sagte er. »Ich bin sowieso pleite.« Gebhardt starrte Kressler an. »Ist das FBI auch pleite, Mr. Kressler?« Kressler schluckte und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, schwieg aber. Dixon grinste nur, holte Franklin und Parks herein und ging dann mit Beck zu der Tür, die in die unterirdische Vorratskammer führte. Die beiden Officers nahmen den Gebhardts gegenüber am Tisch Platz. Der Reverend und seine Gemahlin starrten in die beiden grinsenden, kohlenschwarzen Gesichter. »Hübsch haben Sie's hier«, sagte Franklin unschuldig. Parks nickte. »Ja. in so 'nem stinkfeinen Schuppen kann sich's sogar ein Nigger richtig gemütlich machen.« »He, he«, sagte Franklin. »Wie kannst du denn bloß Nigger sagen? Du bringst ja unseren Gottesmann hier in Verlegenheit.« Die Gebhardts schluckten synchron. Beck grinste. »Wir geben euch Bescheid, wenn wir euch brauchen«, sagte er zu den beiden Officers. Dann öffnete er die Tür, knipste das Licht an und stieg langsam und vorsichtig die Treppe zum Vorratsraum hinunter. Dixon folgte ihm. »Ich hoffe in Ihrem Interesse, Sie sind hier unten an der richtigen Adresse«, sagte er. »Sonst können Sie einpacken.« »Mann, das war ein Belüftungsrohr! Es hat Wärme abgestrahlt. Und Wärme steigt bekanntlich nach oben, oder?« Kresslers Stimme hallte plötzlich zu den beiden Männern herunter. »Beck? Sie sind erledigt! Haben Sie gehört? Sie sind am Ende! Sie werden nicht mal mehr eine Stelle als Nachtwächter kriegen, wenn ich mit Ihnen fertig bin.« Beck fing an, die Wände des unterirdischen Vorratslagers nach Hohlräumen abzuklopfen. »Ignorieren Sie ihn einfach«, sagte er zu Dixon. »Der beruhigt sich schon wieder. Sein Pro-
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blem ist, glaub' ich, daß er seine Schuhriemen zu fest schnürt. Schneidet bei ihm wahrscheinlich langsam die Sauerstoffzufuhr zum Hirn ab. Wenn er überhaupt eins hat. Ein trauriger Fall. Ein sehr, sehr trauriger Fall.« Dixon und Beck klopften weiter die Wände ab. Ergebnislos. Massive, dick verputzte Ziegelmauern. »Jesus«, sagte Dixon. »Die Wände sind ja dicker als bei den meisten Atombunkern.« »Irgendwo hier unten muß 'ne blinde Tür sein«, sagte Beck. Er zuckte die Achseln und fegte mit dem ausgestreckten Arm Blechdosen, Flaschen und Eingemachtes aus den Regalen. Kressler tauchte wie aus dem Nichts hinter ihm auf. Er lächelte die Art von Lächeln, das Gewichtheber bei einem plötzlichen Leistenbruch zeigen. »Haben Sie mich nicht gehört?« »Doch. Treten Sie zur Seite.« Kressler zeigte alle Anzeichen totaler Verblüffung. Beck rief Dixon zu: Ich glaube, ich hab's gefunden. Vielleicht.« Er suchte die Kammer nach einem geeigneten Werkzeug ab und fand eins: einen Vorschlaghammer. Er packte ihn, trat einen Schritt zurück und drosch ihn wuchtig gegen die Regalwand. Holz- und Glassplitter, Putz und Eingemachtes flogen durch die Vorratskammer. Das Regal brach nach zwei weiteren Schlägen zusammen. Kressler war entgeistert. Er sprang vor und wollte Beck den Hammer aus der Hand reißen. »Nett von Ihnen, aber ich mach' das lieber selbst, Agent Kressler«, sagte Beck grinsend und stieß den Kleinen zurück. Der FBI-Mann ging unsanft zu Boden, sprang auf und wollte sich auf Beck stürzen, wurde aber von den starken schwarzen Armen Dixons zurückgehalten. »He, he!« sagte Dixon und drückte Kressler die Luft ab. »Ihr seid vielleicht ein Gespann. Schluß jetzt, Kressler. Na!« Er ließ den Kleinen los. Kressler stand keuchend da und zitterte am ganzen Körper vor Wut. »Sie . . . Sie sind von Ihren Pflichten entbunden!« sagte er schweratmend zu Beck. »Hören Sie? Entbunden!« Beck nahm den Hammerstiel in die Fäuste und lächelte freundlich. »Schön wär's, he, Arschgesicht?« »Wie haben Sie mich genannt?«
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»Äh .. . kleinen Moment. Hab' ich Schweinebacke gesagt? Nein. Kotzbrocken? Nein. Drecksack?« Beck schnippte mit den Fingern. »Ah, ja. Ich glaub', ich hab's. Ich hab Arschgesicht gesagt.« Kressler stürmte los, als wolle er Beck an die Kehle gehen. Dixon trat zwischen die beiden und breitete die Arme aus. »Gottverdammt noch mal, aufhören! Beide! Was immer zwischen euch ist, tragt es woanders aus. Das ist jetzt nicht die richtige Zeit und der richtige Ort.« Er blickte Beck über die Schultern an. »Sie halten jetzt den Mund, ja? Halten Sie für eine einzige, winzige Minute mal die Klappe, Beck! Und Sie«, sagte er zu Kressler, »versuchen sich mal so profihaft zu verhalten, wie Sie immer tun, okay?« Beck und Kressler schienen sich zu beruhigen. Dixon betrachtete das als persönlichen Sieg. »Also dann«, sagte er fröhlich, »machen wir weiter.« »Hier gibt's nichts mehr weiterzumachen!« geiferte Kressler. »Ab sofort ist dieser Fall abgeschlossen. Daß das FBI so blöd war, sich überhaupt auf diese Sache einzulassen! Das sind nichts weiter als Hirngespinste eines versoffenen Cops.« »Bevor Sie das schriftlich niederlegen«, sagte Dixon nach einem ängstlichen Seitenblick auf Beck, »werfen Sie vielleicht mal einen Blick hier drauf.« Dixon ging zu der Stelle hinüber, wo die Trümmer des Regals lagen. Hinter dem Loch in der Wand waren kleine dunkle Höhlen zu erkennen. Eine stetige leichte Brise warmer Luft strömte daraus hervor. Kressler trat vor. Er schluckte und fing an zu blinzeln, als ihm der warme Hauch ins Gesicht wehte. »Es muß ein Weg da rein führen«, sagte Beck und warf dem staunenden Kressler den schweren Hammer absichtlich nur ein paar Zentimeter vor die Füße. Der schien es nicht einmal zu merken. Beck und Dixon suchten hinter den Regalen nach versteckten Schaltern oder Hebeln, mit denen sich die blinde Tür öffnen ließ. Während Beck auf der Suche nach diesem versteckten Schalter auf der linken Seite weiter Blechdosen, Einmachgläser und Flaschen aus den Regalen räumte, entdeckte Dixon
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auf der rechten Seite plötzlich einen seltsamen Kleiderhaken. Er ließ sich hin und her bewegen. »Bingo«, flüsterte der Chief. Es war ein Türriegel. Beck lächelte, als Dixon den Riegel zur Seite schob und die Tür/Wand öffnete. Hinter der Wand kam ein niedriger, kurzer Gang zum Vorschein, in dessen Zentrum sich ein Loch von etwa zwei Meter Durchmesser befand. Eine stabile stählerne Leiter ragte daraus hervor und führte in die Tiefe. Die drei Männer beugten sich vor und spähten ins Loch hinunter. Tief unter ihnen konnten sie Licht sehen — und den Eingang zu einer Art Stollen. Die warme Luft, die aus dem Schacht stieg und in den Vorratskeller wehte, strich über ihre verschwitzten Gesichter. Da unten mußte es mehr als nur einen mickrigen Stollen geben. Eine Art Tunnelsystem mit Klimaanlage vielleicht. Beck lächelte Dixon an. »Holen Sie Ihre Leute hier runter«, flüsterte er, als er sich an Bobby Burns' Vortrag während ihrer gemeinsamen Spritztour durch Oklahoma City erinnerte. »Wir werden jetzt die Katakomben erforschen.«
26 Franklin und Parks führten die wutschnaubenden Gebhardts mit vorgehaltenen Waffen aus der Küche hinüber zu ihrer kleinen Armee der >Arischen Nationalkirche ChristiFeuer und WasserFeuer und Wasse