Seewölfe 168 1
Roy Palmer 1.
Im rötlichen, unheilverkündenden Dämmerlicht segelte die „Isabella VIII“ davon, groß, du...
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Seewölfe 168 1
Roy Palmer 1.
Im rötlichen, unheilverkündenden Dämmerlicht segelte die „Isabella VIII“ davon, groß, dunkel, mit prall geblähtem Zeug. Stumm war es an Bord, nichts regte sich. Hoch ragte das verzierte Heck aus den Fluten auf. Das Boot, das immer weiter achteraus des Schiffes zurückblieb, wirkte im Verhältnis zudem Dreimaster klein und jämmerlich. Der Abstand zwischen den so unterschiedlichen Fahrzeugen wuchs von Sekunde zu Sekunde, die „Isabella“ schien dahinzuschweben. Nichts konnte sie aufhalten. Der Seewolf richtete sich in dem Boot auf, aber er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Er knickte in den Knien ein und fiel zwischen die Duchten. Immer wieder versuchte er es, und immer wieder brach er zusammen. Er wollte zur „Isabella“ hinüberwinken, aber seine Arme waren plötzlich von bleierner Schwere. Er wollte rufen und Ben Brighton und die anderen auf sich aufmerksam machen, aber die Stimme versagte ihm den Dienst. Er brachte keinen Laut heraus, nicht einmal ein Keuchen oder Würgen. Von Bord der „Isabella“ blickte niemand zum Boot zurück. Kein Mensch schien sich auf dem Oberdeck der Galeone zu befinden, sie wurde von unsichtbarer Hand gelenkt. Eine gespenstische Erscheinung, die von den Schleiern der Dämmerung zerfasert, zersetzt und dann unsichtbar wurde... Der Seewolf drehte sich zu seinen Söhnen um. Philip und Hasard kauerten nebeneinander auf einer Ducht, ihre Mienen waren verstört. „Gott im Himmel, jetzt sind wir verloren“, sagte der kleine Hasard mit schwacher Stimme. Der Seewolf hörte sich antworten. Ja, er hatte die Sprache wieder gefunden. Aber es war nicht seine Stimme, die er da vernahm, sondern die eines Greises, dessen Dasein
Das zweite Gesicht des Old O’Flynn
von den Schatten des Todes gezeichnet war: „Sag so etwas nicht. Es gibt noch eine Hoffnung.“ „Welche?“ fragte der kleine Philip. „Wir pullen.“ „Wohin?“ „Zum Ufer pullen wir“, murmelte der Seewolf mit Grabesstimme. „Es gibt kein Ufer ...“ „Seht doch!“ rief der siebenjährige Hasard. Er hatte sich umgedreht und wies achteraus. Sein Bruder fuhr gleichfalls herum und ließ einen erstickten, entsetzten Laut vernehmen. Der Seewolf folgte ihrem Blick mit den Augen, und er sah die schwarzen Wogen, die sich hinter dem Bootsheck erhoben. Sie rollten heran. Ein Grollen erfüllte die Luft, die heiß und stickig geworden war. Der Seewolf fühlte, wie sich etwas um seinen Hals zusammenschnürte und ihm den Atem nahm. Seine schweren Arme regten sich mit unglaublicher Trägheit, während Panik in ihm aufstieg. Er wollte zu den Riemen greifen und pullen, nur noch pullen, aber die Riemen waren fort — oder es hatte sie in diesem Boot nie gegeben. Die Duchten saßen fest, sie ließen sich nicht herausreißen und als Behelfsriemen benutzen. Hasard hockte zwischen den Duchten, tauchte die Hände ins Wasser und ruderte verzweifelt. Aber er war viel zu langsam. Die Wogen waren heran und hoben das Boot hoch, eine Jolle mit fünf Duchten, abgefiert, ausgesetzt von der „Isabella“, die verschwunden war. Schwarzes Wasser rüttelte das kleine Boot. Philip und Hasard, die Zwillinge, schrien. Als ihre gellenden Schreie in Weinen umschlugen, gewahrte der Seewolf den Strudel. Er öffnete sich tief unter ihnen in einem Wogental. Ein Loch, ein Krater in der aufgewühlten See, gieriges Kreisen, Schmatzen und Gurgeln und ein kaltes Zyklopenauge in der unendlichen Tiefe, das seinen Blick unablässig und gnadenlos auf sie geheftet hielt.
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Die Jolle taumelte auf einem Wellenkamm, drohte zu kentern, hielt sich aber doch und trat schließlich ihre rauschende Talfahrt an — auf das gähnende, wirbelnde Loch zu. Sie klammerten sich am Dollbord des Bootes fest. Was konnten sie sonst noch tun? Sie, die drei Killigrews, waren ihrem Schicksal ausgeliefert der Hölle, die sie verschlingen wollte. „Bastarde!“ tönte die schaurige Greisenstimme in den Ohren des Seewolfes. „Dies ist euer gerechtes Ende. So sterben alle Bastarde!“ Der Strudel erweiterte sich zu einem gigantischen Tor, das Boot raste durch das Tor und war in der totalen Finsternis angelangt. Die Zwillinge schrien wieder, aber der Seewolf konnte sie nicht mehr sehen, und er hatte auch keine Stimme mehr, um nach ihnen zu rufen, keine Hände mehr, mit denen er nach ihnen tasten konnte. Sie wurden hinuntergeschleudert in die Schlünde der Verdammnis, denen sie hundertmal entwichen waren. Einmal mußte es soweit sein. Nicht mehr gegen den Wind spucken, dachte Philip Hasard Killigrew, dem Teufel kein Ohr mehr absegeln, aus und vorbei! „Bastarde!“ brüllte die Greisenstimme. „Verfluchte Bastarde! Verreckt! Euer Jammern nutzt euch nichts mehr!“ Ein schwerer schwarzer Vorhang schien auf die Jolle gefallen zu sein. Das Tosen des Sturmes war verebbt. Totenstille trat ein. Hitze und Atemnot wurden unerträglich. Der Seewolf krümmte sich und barg sein Gesicht in den Händen. Zeit und Bewegung standen still, die äußere Wahrnehmung schwand, man schien sich in einer raumlosen Sphäre zu befinden. Dann zerriß der Vorhang, und die Flammen .der Hölle fauchten ihnen entgegen. Sie wehrten sich, aber eine unerklärliche Kraft trug sie dem abscheulichen Treiben, den gräßlichen Lauten entgegen, die in dem heißen Wabern waren. Ihr Sträuben nutzte ihnen nichts, alles war Schicksal und unabwendbar, sie waren hilflose Geschöpfe in den Klauen der Dämonen.
Das zweite Gesicht des Old O’Flynn
Auf einem glühenden Podest stand der
Fürst - eine Schreckenskreatur mit
Wolfshaupt, Eselsohren,
Wildschweingebrech, glühenden Augen.
Er schwang eine Peitsche, die aus grünen
Schlangenleibern geflochten war, und
kreischende Schimären, grunzende
Zerberusse und andere Greuelgestalten
umtanzten ihn.
Die Monstren streckten ihre Krallenhände
nach den Zwillingen aus.
„Nein!“ schrie der Seewolf.
„Ja!“ brüllte die Greisenstimme. „Packt sie
und zerreißt sie!“
Die Teufelskreaturen rissen Philip und
Hasard an sich.
„Nein:“ schrie der Seewolf immer wieder.
„Nein, nein!“
* „Nein!“ stieß der alte Donegal Daniel O'Flynn aus. Er hob die Arme, suchte mit den Fingern Halt in der Luft seiner Achterdeckskammer und gestikulierte verzweifelt. Plötzlich warf er sich nach links. Er rollte über den Rand seiner Koje und gab dabei einen gurgelnden Laut von sich. Hart landete er auf den Planken. Das dumpfe Geräusch, das bei seinem Aufprall entstand, tönte durch das Schiff. Der alte O'Flynn drehte sich auf den Rücken und blieb mit ausgebreiteten Armen auf den Planken liegen. Er öffnete ein wenig die Augenlider und blickte zur Decke des dunklen, leicht schwankenden Raumes hoch, ohne etwas erkennen zu können. Er murmelte einen ellenlangen Fluch. In der Kapitänskammer der „Isabella“ fuhr der Seewolf von seinem Lager hoch. Er hatte das dumpfe, polternde Geräusch vernommen und war sicher, es nicht nur geträumt zu haben. Rasch erhob er sich, stieg in seine Langschäfter, zog sich die Lederweste über, griff nach seiner doppelläufigen sächsischen Reiterpistole und verließ die Kammer, um der Ursache des Lautes auf den Grund zu gehen.
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Auf dem Achterdeck der „Isabella“ reckte der Profos Carberry sein klobiges Kinn in den Nachthimmel. Er schien oben im Großmars nach der Erklärung für diesen seltsamen Laut zu suchen, den natürlich auch er gehört hatte, jedenfalls war sein Blick dorthin gerichtet. Dann aber sagte er: „Habt ihr das gehört, ihr Stinte? Das kam aus dem Achterdeck.“ „Sollte im Frachtraum etwas durch die Gegend gerollt sein?“ erwiderte Matt Davies. „Ein Gold- oder Silberbarren vielleicht?“ „Ein Barren rollt nicht“, widersprach Bob Grey grinsend. „Merk dir das.“ „Dann war's eben ein anderes Stück von unserer kostbaren Ladung“, sagte Matt. „Unmöglich“, entgegnete Rudergänger Pete Ballie aus dem Ruderhaus heraus. Carberry, Matt und Bob standen nicht sehr weit von ihm entfernt, er hatte jedes Wort verstehen können. „In Plymouth hat unsere alte Lady doch erst im Dock gelegen.“ „Was hat die Ladung mit dem Aufdocken zu tun?“ fragte Matt. „Na, Ferris hat doch auch alle unsere Schätze in den Frachträumen neu stauen und festzurren lassen, hast du das vergessen?“ „Trotzdem. Es könnte sich was gelockert haben“, beharrte Matt. „Wir sollten nachsehen, was da los ist. „Sicher“, sagte nun Carberry in grimmigem Tonfall. „Aber nicht im Frachtraum, du Barsch. Sondern in den Kammern, die darüber liegen. Putz dir mal ordentlich die Löffel, Davies, am besten mit Salzlake, damit der Mist 'rauskommt.“ Matt war empört. „Wie? Das heißt ...“ „Daß du Bohnen in den Ohren hast und nichts genau orten kannst.“ Der Profos setzte sich in Marsch. „Matt und Bob, folgen“, sagte er. „Der Rest der Wache bleibt an Oberdeck, verstanden?“ „Aye, Sir“, murmelten die Männer. Außer Pete Ballie, Matt Davies und Bob Grey waren auf der Kuhl Stenmark und Luke Morgan sowie auf der Back Blacky und Will Thorne als Mittelwache eingeteilt. Sie standen da und verfolgten mit gemischten Gefühlen, wie sich der Profos und seine
Das zweite Gesicht des Old O’Flynn
beiden Begleiter zum Achterdecksschott begaben. Was, zum Teufel, hatte dieses Poltern zu bedeuten? Vor Überraschungen war man nicht sicher, auch vor Englands Küsten nicht, das hatte sich erst in den letzten Tagen wieder herausgestellt. Die Scilly-Inseln, Plymouth, die Insel Wight — das alles hatte ihnen weitaus weniger Geruhsamkeit gebracht, als sie sich erhofft .hatten. Ganze Banden von Galgenstricken waren hinter den Schätzen der „Isabella“ her. Die Seewölfe hatten es allmählich satt und waren heilfroh, wenn sie Gold, Silber und Juwelen erst dorthin gebracht hatten, wo sie den größten Teil abzuliefern gedachten. „Ratten“, sagte Matt Davies, als sie sich in den mittleren Achterdecksgang schoben. „Vielleicht war es eins von den elenden Biestern und ...“ „Ruhe“, zischte der Profos. „Ich verbitte mir deine blöden Bemerkungen, Davies. Hast du etwas getrunken?“ „Nein, habe ich nicht.“ „Nein, Sir“, korrigierte Carberry. „Ich bin stocknüchtern — Sir“, sagte Matt Davies ärgerlich. Carberry blieb im Gang stehen und drehte sich zu ihm um. „Hauch mich mal an, ja? Ich will's genau wissen, denn wenn ich einen von euch Halunken dabei erwische, daß er auch nur leicht angesäuselt zum Dienst erscheint, dann ...“ Matt hauchte pflichtschuldigst. Der Profos räusperte sich, wandte sich ab und stapfte weiter. „Dein Glück“, brummelte er. „Hölle und Teufel, ich stecke jeden, der mit Schlagseite als Wache antritt, für mindestens zwei Tage in die ...“ „In die Vorpiek“, vollendete Bob Grey, der sich das Lachen kaum verkneifen konnte, den Satz. Carberry war wieder abrupt stehen geblieben. Matt Davies trat ihm beinah auf die Hacken. „Still mal“, raunte der Profos. „Hört auf zu quatschen, da ist was — jemand, wollte ich sagen. Heda!“
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„Ed, ich bin es“, drang eine wohlbekannte Stimme aus der Tiefe des Ganges an ihre Ohren. „Wer?“ wollte Carberry wissen. Ein drohender Unterton schwang in seiner Stimme mit. „Verdammt, erkennst du deinen eigenen Kapitän nicht, Profos?“ Carberry spürte es glutheiß in seinem Schädel aufsteigen, so verlegen wurde er. „Äh, Verzeihung, Sir, aber im Dunkeln weiß man manchmal nicht, woran man ist. Irgendwie klingt deine Stimme so komisch, Sir.“ „Der Klang richtet sich danach, wie viele Pfund Bohnen du in den Ohren stecken hast“, sagte Matt Davies mit allergrößter Gelassenheit. Als der Profos sich mit einem grollenden Laut zu ihm umdrehte, fügte er rasch hinzu: „Kapiert, Bob?“ „Klar“, erwiderte Bob. „Ich habe Bohnen in den Ohren.“ „Habt ihr das Poltern auch gehört?“ wollte der Seewolf wissen. „Ja, Sir“, erwiderte Ed Carberry. „Und ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn das nicht im Achterdeck war.“ „Ich schlage vor, wir sehen mal in der Kammer hier nach“, sagte Matt Davies und legte seine gesunde Hand an die Verschalung der Tür, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand. „Nein, ich glaube, das war in diesem Raum“, entgegnete der Seewolf. Er legte seine Hand auf die Klinke der nächsten, weiter achtern im Gang befindlichen Tür. Langsam drückte er sie nach unten. Die Tür war nicht verschlossen, leicht knarrend bewegte sie sich in ihren Eisenangeln. „Ist das nicht Donegals Kammer?“ fragte Bob Grey. „Das weiß der Henker“, murmelte Matt Davies. „Davies, du hast nicht nur Bohnen in den Ohren, sondern auch Tomaten auf den Augen“, zischte Carberry. „Sieht es nicht ein Blinder mit dem Krückstock, daß dies die Kammer des Alten ist?“ „Aye, Sir.“ „Na bitte. Teufel, was würde aus euch Kakerlaken werden, wenn ihr euren Profos nicht hättet?“
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Eigentlich hätte Matt gern eine passende Antwort darauf gegeben; aber Hasard trat jetzt in die Türöffnung und sagte: „Donegal. He, Donegal, ist was nicht in Ordnung?“ Er erhielt keine Antwort. Stille umfing sie. Kein Schnarchen, kein Stöhnen, nicht die typischen raschelnden Laute, die verrieten, daß der Bewohner der Kammer sich in seiner Koje bewegte — nichts. „Ein Licht her“, befahl der Profos. „Los, wird's bald?“ „Hier hängt eine Öllampe am Haken“, sagte Bob Grey. „Augenblick — Matt, hast du Feuerstein und Feuerstahl dabei?“ „Ja. Warte.“ „Hier, nun zünd schon an“, sagte Bob und hielt Matt die Lampe unter die Nase. Matt hantierte mit dem Feuerstein herum. Carberry wollte aufbrausen, aber dann züngelte das Flämmchen endlich im Docht auf, wuchs etwas höher hinaus und verbreitete dämmriges Licht im Gang. Bob gab die Lampe an Matt weiter, Matt hielt sie in die Kammer des alten O'Flynn. Hasard, der Profos und die beiden anderen Männer sahen den Alten auf den Planken der Kammer liegen. O'Flynn hatte Arme und Beine von sich gestreckt und rührte sich nicht. „Allmächtiger“, sagte Matt Davies. „Mann!“ entfuhr es Carberry. „Das kann doch wohl nicht wahr sein. So schnell kratzt man nicht ab. He, O'Flynn, uns kannst du nicht auf den Arm nehmen, du alte Teerjacke. Laß den Mist und steh auf.“ „Augenblick, Ed“, sagte der Seewolf. „Keine voreiligen Schlüsse ziehen. Bob, ruf den Kutscher.“ „Aye, Sir.“ Bob fuhr auf dem Stiefelabsatz herum und lief aus dem Achterdecksgang auf die Kuhl. Unter den verdutzten Blicken seiner Kameraden von der Mittelwache steuerte er auf das Vordeck zu, um den Kutscher aus dem Logis zu holen. Der Seewolf war neben den reglosen Donegal Daniel O'Flynn senior getreten. „Sir“, sagte der Profos. „Hölle, ich will ja nicht schwarz malen, aber ich hab den verfluchten Eindruck, diesmal hat's den alten Seehund wirklich erwischt!“
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Schritte polterten durch den Gang heran. Bob Grey kehrte mit dem verschlafenen, verwirrt dreinblickenden Kutscher zurück. Hasard beugte sich zu dem alten Mann nieder, und in diesem Augenblick öffnete dieser die Augen. Wütend funkelte Old O'Flynn den Profos an. „Das hättest du wohl gern, Profos“, fing er an zu wettern. „Du kannst es gar nicht erwarten, daß ich abkratze, wie? Aber dir huste ich was, verdammt — dir und allen anderen, die mir keine müde Träne nachheulen würden.“ „Jetzt hör aber auf“, sagte der Profos. „Weißt du was? Ich hätte Lust, dich wirklich ein wenig zum Zappeln an die Großrah zu hängen. Es ist eine Sauerei von dir, dich tot zu stellen.“ „Ich hab mich nicht tot gestellt“, begehrte der Alte auf. „Was dann?“ brüllte Carberry. „Ich habe geschlafen, und du hast mich mit deinem Gebrüll aufgeweckt!“ „Geschlafen?“ wiederholte der Seewolf. „Hör mal, Donegal, dazu ist aber eigentlich die Koje da.“ Der Alte richtete sich unter den verblüfften, ratlosen Blicken der Männer auf, humpelte zu seiner Koje, setzte sich auf den Rand, begegnete ihrem Blick und erwiderte: „Also schön, ich geb's ja zu. Ich bin aus der Koje gefallen und auf den Planken gelandet, aber dann war mir so verflixt schlapp und müde zumute, daß ich gleich hier weitergepennt habe.“ „Warum nicht?“ sagte Matt Davies leichthin. „Wenn es so richtig miefig ist, schlafe ich für mein Leben gern an Oberdeck. Auf den Planken. Die sind das wahre Bett des Seemanns.“ „Hör auf!“ fuhr der Profos ihn an. „Daß hier bloß keiner versucht, mich auf den Arm zu nehmen. Ich will wissen, was los ist, Donegal. Warum, zum Teufel, bist du aus deiner elenden Koje gefallen?“ „Regt euch ab“, sagte jetzt der Seewolf. „Wir brauchen nicht herumzudiskutieren. Ich nehme an, Donegal hat mal wieder einen seiner berüchtigten Alpträume gehabt.“
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„Alpträume?“ Der Alte fixierte seinen Kapitän, und plötzlich wurde seine Miene steinern. „Das war ein Gesicht, Hasard, ich schwöre es dir.“ „Was hast du denn geträumt?“ „Ich mag es nicht erzählen.“ „Nun mal nicht so zimperlich“, sägte Hasard aufmunternd. „Heraus mit der Sprache, was hat dich so aus dem Häuschen gebracht?“ „Es war eine Vision, wie ich sie noch nicht gehabt habe“, erwiderte der Alte. „So lebendig, so scheußlich nah — o Hölle, wenn ich es doch bloß vergessen könnte! Das war die Fratze des Todes, in ihrer ganzen Häßlichkeit.“ „Und wer war diesmal der Betroffene?“ „Jemand von der ,Isabella`.“ „Da haben wir's“, mischte sich der Profos wieder ein. „Verzeihung, Sir, aber das ist doch wirklich die Höhe. Er beschwert sich darüber, daß man ihn für tot hält, wenn er auf den Planken 'herumliegt, aber uns Männer der Crew läßt er reihenweise krepieren.“ Old O'Flynn blickte verkniffen drein. „Es ist doch nicht meine Schuld, wenn ich Gesichte habe.“ „Du hast in letzter Zeit verdammt viele dämliche Gesichte, Donegal, und ich sag's dir ganz ehrlich, du gehst uns mit deiner Spökenkiekerei auf die Nerven“, erklärte Carberry. Zornig schob er sein Rammkinn vor. Das war immer ein schlechtes Zeichen. Eine wuchtige Gestalt schob sich zu ihnen in die Kammer — Big Old Shane. „Ist es wieder soweit?“ erkundigte er sich grimmig. „Phantasiert er wieder herum? Es wird Zeit, daß wir den alten Meckerbeutel irgendwo an Land setzen.“ „Du hast hier noch gefehlt“, erwiderte der Alte giftig. Shane blieb neben dem Seewolf stehen, stemmte die Fäuste in die Seiten und sagte: „Es wäre alles nicht so schlimm, wenn du nicht auch noch dauernd behaupten würdest, du könntest in die Zukunft sehen.“ „Tue ich das?“
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„Ja, und du machst die Leute damit verrückt.“ „Ich habe nur manchmal schlimme Ahnungen“, verteidigte sich der Alte. „Und die haben sich schon oft bewahrheitet. Wollt ihr das abstreiten? Wollt ihr das wirklich leugnen?“ Hasard räusperte sich. „Es gibt Zufälle, oft ein geradezu verblüffendes Zusammentreffen von Dingen. Ich persönlich bezweifle, daß ein Mensch wirklich hellsehen kann. Aber lassen wir das. Donegal, willst du mir jetzt endlich erzählen, was für einen Traum du gehabt hast — und wer darin vorkam?“ „Ja, wenn ihr mich endlich sprechen lassen würdet.“ Old O'Flynns verwittertes Gesicht hatte im Licht der Öllampe große Ähnlichkeit mit einer Maske. „Es ging um dich und die Kinder, Hasard, aber das war nur das Symbol. Man muß die Zeichen zu deuten wissen.“ „Und wie lautet deine Auslegung?“ fragte der Seewolf. „Wir müssen alle dran glauben. Wir sind erledigt, diesmal wirklich. Zuerst gibt es einen Sturm, und dann segeln wir geradewegs in unser Verderben.“ 2. Sie standen in der Kammer und lauschten dem Bericht des Alten. Am Ende sagte Ed Carberry: „So ein Quatsch. Ich habe auch schon hundertmal geträumt, daß wir abgesoffen sind, besonders, wenn ich was Schweres zu Abend gegessen hatte. Einmal, ich glaube, es war in der Biskaya, war mir im Schlaf sogar so, als wären wir mit der ,Isabella' auf den Strand einer Insel gerauscht. Die Kannibalen krabbelten wie die Ameisen an den Bordwänden hoch und packten uns. Sie hatten Zähne wie Haie, und ich hatte tatsächlich das Gefühl, sie würden sie mir in die Beine schlagen.“ „Hör auf“, sagte Shane. „Das ist ja ekelhaft.“ „Es war aber so ...“ „Und dann haben uns die Kannibalen doch nicht erwischt“, erwiderte der ehemalige Schmied und Waffenmeister von
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Arwenack Castle. „Weder auf Kalimantan noch sonst wo — das wolltest du doch sagen, oder?“ „Ja.“ „Ich weiß schon, auf was ihr hinauswollt“,. sagte der Alte finster. „Träume sind Schäume, alles Humbug, nicht wahr? Aber nicht jeder besitzt die Gabe, die Trugbilder zu deuten und eine Vorausschau zu treffen. Du schon gar nicht, Profos.“ „Was willst du damit sagen?“ Carberry reckte sein Kinn noch etwas weiter vor und musterte O'Flynn wie eine Laus, die sich in seine Koje verirrt hat. „Du bist doch auch nicht der Jonas, der hinter den Horizont blicken kann.“ „Hast du vergessen, was nördlich von Formosa war, wie mißtrauisch ich damals war?“ „Ach, Formosa, das ist doch lange vergessen“, sagte Carberry. „Und der Kommandant do Velho?“ „Der auch. Den sind wir los.“ „Du scheinst dich ja sehr sicher in deiner Haut zu fühlen“, zischte der Alte. „Aber sei bloß nicht zu überheblich. Übermut tut selten gut, verstanden, Profos? Vielleicht bist du der erste, der über die Klinge springt.“ „Sir“, ächzte Carberry. „Ich geb's auf. Soll er doch denken, was er will. Ich glaube einfach nicht daran, daß wir noch mehr Ärger kriegen, bevor wir die Themse erreichen. Wir sind doch schon an Brighton und Eastbourne vorbei. Die Straße von Dover ist nicht mehr fern.“ „Schon gut, Ed“, sagte der Seewolf. „Wird schon schief gehen. Ich sehe auch nicht ein, warum wir uns selbst Angst einjagen sollen.“ „Ich auch nicht“, meinte Shane. „Donegal, pack dich wieder in deine Koje und vergiß dein Holzbein nicht. Bis zum Morgengrauen sind noch acht Glasen, wir sollten eine Runde schlafen.“ „Ja, du“, giftete der Alte. „Rede du nur. Du zählst mich ja sowieso zum alten Eisen. Aber du wirst sehen, wie recht ich habe, und dann schütte ich mich aus vor Lachen.“
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„Kutscher“, sagte Matt Davies. „Ich schätze, es liegt wirklich am Essen. Hölle, setze uns keine sauren Nieren mehr vor, so wie heute abend. Die liegen zu schwer im Magen.“ Der Kutscher fühlte sich in seiner Ehre als Koch der „Isabella“ berührt. „Sir, ich stelle hiermit den Antrag, Old O'Flynn untersuchen zu dürfen“, sagte er. „Ich werde den Beweis liefern, daß sein Zustand nichts mit meiner Küche zu tun hat.“ „Wenn Donegal damit einverstanden ist, kannst du von mir aus deines Amtes 'walten“, entgegnete Hasard. Ein Lächeln konnte er sich dabei nicht verkneifen, denn er wusste schon, was jetzt folgte. Old O'Flynn sah den Kutscher näher treten. Abwehrend hob er die Hände. „Zustand? Was für ein Zustand? Mir geht es großartig, mir fehlt nichts. Kutscher, du alter Knochenflicker, tu keinen Schritt weiter, oder ich schnall mein Holzbein ab. Ich schwöre dir, daß ich dich damit vertrimme, wenn du mich auch nur antickst, du elender Quacksalber.“ „Hör mal, Donegal“, sagte Bob Grey, während der Kutscher vorsichtshalber verharrte. „Der Kutscher will dich ja nicht zur Ader lassen oder so. Er will dir auch keine Schröpfköpfe oder Blutegel auf die Haut setzen. Er will dir nur in die Augen sehen, vielleicht auch in den Hals und in die Ohren.“ „In die Ohren?“ fragte Matt Davies. „Wieso, hat er auch Bohnen darin?“ „Maul halten, Matt“, schnauzte der Profos den Mann mit der Eisenhakenprothese an. „Noch so eine Bemerkung, und du verschwindest für vierundzwanzig Stunden im Kabelgatt.“ „Untersuchen!“ wetterte der Alte. „Zustand! Seid ihr verrückt? Ich habe noch nie einen Knochenflicker an mich herangelassen, auch nicht, als ich das Bein verloren hab. Unsereins kuriert so was selber aus. Und außerdem – mir fehlt nichts.“ „Weißt du das?“ fragte Shane. „Es gibt Sachen, die keiner von uns so richtig kapiert. Leiden, die den Geist und die
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Seele betreffen. Du hast ja keine Ahnung, was mit dir los ist.“ „Was? Willst du behaupten, ich sei – besessen?“ „Mindestens“, sagte Shane respektlos. Er kriegte sich mit dem Alten öfter mal in die Wolle, und meistens lag das an Old O'Flynns Schauermärchen und Wahrsagungen. „Nimm das zurück, oder ich fahre aus der Haut!“ schrie Old Donegal. Er traf jetzt ernste Anstalten, sich das Holzbein abzuschnallen. Big Old Shane ließ sich nicht beeindrucken, er war die Ruhe in Person. „Kutscher, wie nennt man das, wenn einer alt und klapprig und nicht mehr ganz richtig im Kopf ist?“ „Nun – er wird senil. Das hat mit der Verdickung im Blut zu tun“, erklärte der Kutscher. Er war sehr stolz darauf, seinem damaligen Brotgeber Doc Freemont immer aufmerksam zugehört zu haben. Shane grinste. „Bei Donegal muß schon statt des Blutes Lehm durch die Adern rieseln, anders kann ich es mir nicht vorstellen. Es wird immer schlimmer mit ihm.“ Draußen auf dem Gang liefen immer mehr Männer zusammen – Ben Brighton, Ferris Tucker, Smoky, Dan O'Flynn junior und einige andere. Sie blieben vor der offenen Kammertür stehen und schauten sich untereinander teils besorgt, teils belustigt an. Gab es wirklich eine Keilerei? Sicherlich wäre Old O'Flynn jetzt mit dem Holzbein auf den Riesen Shane losgegangen, wenn der Seewolf nicht ein Machtwort gesprochen hätte. „Schluß jetzt“, erklärte er. „Seid ihr nicht bei Trost? Ich dulde keinen Streit. Und das, was du eben gesagt hast, geht über den Rahmen eines Scherzes hinaus, Shane.“ Betreten blickten die Männer zu Boden. Big Old Shane fuhr sich mit der rechten Hand durch das graue Bartgestrüpp und schien angestrengt nachzudenken. Schließlich hob er den Kopf und blickte zu Old O'Flynn. „Ja“, meinte er. „Also, um ehrlich zu sein, tut es mir leid. Donegal, ich werde nie
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mehr behaupten, daß du nicht mehr ganz dicht bist.“ Der Alte grinste plötzlich. „Fein, dann sage ich dir natürlich auch nicht, was für ein Hornochse du bist.” Carberry atmete auf. „Damit wäre der Frieden wohl wiederhergestellt, was? Donegal, du hast uns aber wirklich einen schönen Schreck eingejagt. Als ich das Poltern hörte, dachte ich schon, wir hätten einen blinden Passagier an Bord. Bei dem, was uns in der letzten Zeit so passiert ist ...“ „Sollen wir die Frachträume durchsuchen, Sir?“ fragte Matt Davies den Seewolf. „Vorsichtshalber, meine ich.“ „Nicht nötig“, antwortete Ferris Tucker an Hasards Stelle. „Das habe ich eben schon getan. Man kann schließlich nie wissen, was kommt. Wir haben schon Pferde meckern und Ziegen wiehern hören, stimmt's?“ „Richtig, richtig“, entgegnete Ben Brighton. „Nur in einem Punkt bin ich sicher und muß dir leider widersprechen, Donegal. Die See ist ruhig, und der Wind bläst stetig aus Südwesten. Wenn es nicht aufbrist, kriegen wir heute nacht garantiert keinen Sturm.“ „Wenn es nicht aufbrist ...“ „Das ist sehr unwahrscheinlich.“ „Dann stürmt es eben nächste Nacht“, sagte der Alte halsstarrig. „Oder am Tag. Ihr werdet noch die Mäuler und die Augen aufsperren.“ „Schluß der Vorstellung“, sagte Hasard. „Wir haben genug debattiert. Ed, Matt und Bob, ihr kehrt auf eure Posten zurück. Der Rest legt sich aufs Ohr. Ich will am Morgen keinen unausgeschlafenen Haufen an Oberdeck sehen.“ „Aye, aye, Sir“, erwiderten die Männer. Sie verließen die Kammer. Bevor Hasard die Tür schloß, sah er noch, wie sich Old O'Flynn auf seiner Koje ausstreckte. Er murmelte irgendwelche Worte, wahrscheinlich Flüche. Er fluchte für sein Leben gern und kannte fast noch mehr Kraftausdrücke als Carberry. Hasard gab Ben Brighton ein Zeichen. Sie traten auf die Kuhl und unternahmen eine
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Kontrollrunde. Unverändert frisch fiel der Wind aus Südwest ein. Die „Isabella“ lief raumen Kurs und gute Fahrt. Der Seewolf verharrte am Schanzkleid, schaute zunächst außenbords und drehte sich dann zu seinem Bootsmann und ersten Offizier um. „Langsam fange ich an, mich um Old Donegal zu sorgen“, sagte er. „Wegen seiner Träume?“ erwiderte Ben Brighton. „Ich glaube ebenso wenig wie du daran, daß sie sich bewahrheiten.“ „Natürlich. Und der Umstand, daß sich seine Ahnungen hin und wieder bestätigen, ist selbstverständlich darauf zurückzuführen, daß wir uns immer wieder in Gefahr begeben - zwangsläufig. Etwas anderes wäre es, wenn wir hinter dem Deich liegen und einer geruhsamen Tätigkeit nachgehen würden.“ Der Seewolf stützte beide Hände aufs Schanzkleid. „Ich glaube, Donegal sorgt sich um die Zwillinge, wenn er es auch nicht zugeben will.“ „Immerhin ist er ihr leiblicher Großvater.“ „Er hat Angst, daß man sie uns wegnehmen könnte oder ihnen etwas zustößt.“ Ben hob die Augenbrauen. „Hat er denn nicht selbst dafür gesprochen, daß sie an Bord bleiben und zu handfesten Seeleuten erzogen werden?“ „Ja, aber er würde es sich selbst nicht verzeihen, wenn ihnen etwas passierte. Ich weiß, ich weiß, wir können sie nicht in Watte verpacken und gegen jeden Einfluß von außen schützen. Sie müssen sich selbst behaupten und viel lernen, auch wenn sie erst sieben Jahre alt sind.“ „Bald werden sie acht.“ „Und auch wir werden älter — wolltest du das sagen?“ Hasard lächelte. Ben mußte auch grinsen. Er schob die Mütze etwas weiter zurück und antwortete: „Nein. Ich will auf etwas anderes hinaus. Gerade die letzten Ereignisse haben bewiesen, daß Philip und Hasard auch schon ganz gut um sich beißen können. Wenn Donegal irgendwie um sie bangt, kann ich ihn natürlich verstehen, aber seine
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Sorgen sind letzten Endes doch
unbegründet.“
Hasard war wieder ernst geworden.
„Hoffentlich“, sagte er.
* Der Schlaf nahm Old O'Flynn gefangen und entführte ihn sanft, aber wieder waren es keine rosigen, friedlichen Bilder, die vor seinem geistigen Auge Gestalt annahmen. Eine Nußschale im Sturm — nirgends Land, keine kein Schiff, das die Rettung brachte. Verlassen im Tosen des Wetters, einsam, verzweifelt - die Hoffnung war eine weiße Möwe, die über den schäumenden Wogen entschwand, und die Panik hatte ihren freien Lauf. Er war gefesselt und konnte sich nicht bewegen. Es gab kein Messer, das er zu seiner Befreiung benutzen konnte, und wenn er es gehabt hätte, was hätte es ihm letztlich genutzt, die Taue abzustreifen, die in seine Haut schnitten? Keine Pistole, mit der er seinem Leben ein Ende bereiten konnte, ehe der nasse Tod nach ihm griff... Wer war er? Der Seewolf? O'Flynn? Er konnte nicht an sich hinuntersehen, sondern blickte nur über den Bug der Nußschale in das Brodeln der Fluten. „Seewölfe!“ gellte die Greisenstimme in seinen Ohren. „Dies ist euer Ende! Fahrt zur Hölle, Bastarde, ihr habt es nicht anders verdient! Was glaubtet ihr denn? Mehr zu sein als jeder schmutzige Pirat, der euch auf euren Fahrten begegnet ist? Privilegien zu genießen? Wer steht euch bei, wenn ihr in Not seid? Die Königin? Nein! Keiner will euch, keiner hat euch gerufen! Bastarde sind unerwünscht!“ Ein irres Lachen folgte. „Nein“, sagte er selbst. „Lüge! Wir werden es beweisen, daß wir zu etwas taugen und keine grausamen Glücksritter und Abenteurer sind, Schnapphähne, die jedem die Kehle durchschneiden, der ihnen über den Weg läuft. Trotz allem wissen wir noch, was ein Menschenleben wert ist.“ Plötzlich sah er vom gischtenden Kamm einer Woge aus Land. Er begann zu lachen
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und wollte nicht mehr aufhören zu lachen, auch nicht, als das Meer ihn mit Wucht auf dieses Land stieß, als die Nußschale in tausend Stücke zerschellte und er auf dem Sand landete, der rot, nicht gelb oder grau oder weiß war. Der Sand glühte wie Feuer. Er wälzte sich darauf, aber die Fesseln erlaubten ihm nicht, sich aufzurappeln und davonzulaufen. Er wollte schreien, aber er brachte keinen Laut heraus. Was war schlimmer — der nasse oder der heiße Tod? Unvermittelt wurde er von jemandem an den Beinen gepackt und fortgezerrt. Er sah zwei Gestalten, die in Lumpen gehüllt waren und ihre Haare schulterlang trugen, und als sie sich nach ihm umdrehten und kicherten, stellte er fest, daß sie Mädchen waren. Sie schleppten ihn fort von dem heißen Sand, eine Anhöhe hinauf, in einen schattigen Wald, dessen Baumstämme wie marmorne Säulen wirkten. Hier ließen sie ihn vor einer geduckten Hütte aus Reisig liegen. Die Tür der Hütte öffnete sich knarrend, eine dicke Frau trat heraus. Sie trug das Schwert eines Henkers in den Händen und schritt mit verschlossener Miene auf ihn zu. „Es gibt nicht nur einen nassen oder einen heißen Tod“, sagte sie mit Greisenstimme. „Man kann auf vielerlei Art krepieren.“ „Nein“, stieß er hervor. Die Mädchen liefen im Kreis um ihn herum, es waren nicht nur zwei, sondern jetzt viele, so viele, daß er sie nicht zählen konnte. Sie tanzten und kicherten und verhöhnten ihn. „Nein“, keuchte er. „Nicht so. Nicht auf eine so schimpfliche Weise.“ Das dicke Weib lachte und hob mit beiden Händen das Richtschwert. Schrille Laute tönten in seinen Ohren, dann krachten die marmornen Bäume gegeneinander, es brach und splitterte, das Dach der Welt stürzte ein. In seinem Schädel toste und kreiste es. Er fiel in einen Abgrund, aber das Schwert eilte ihm nach und holte ihn ein.
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Old O'Flynn schlug die Augen auf und atmete schwer. Er vermochte kaum mehr zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Taumelnd bewegte sich das Schiff in der See, höher schlugen die Wellen. Er mußte sich mit beiden Händen am Rand der Koje festklammern, um nicht wieder hinauszufallen. Draußen, im Mittelgang des Achterkastells, auf der Kuhl, überall war das Trappeln von Schritten. Die Männer riefen sich etwas zu, das er nicht verstand, und doch wußte er, was geschehen war. Der Sturm war über sie hergefallen, noch in dieser Nacht. 3. Jäh hatte die Windrichtung gewechselt, es blies jetzt aus Süden und drückte die „Isabella VIII.“ auf Legerwall, auf die englische Küste zu. Der Sturm war ein zorniger Koloß, der in der Tiefe des Kanals geschlummert hatte und durch die Galeone gestört worden war — jedenfalls mutete es so an. Er erhob sich, stieg auf, rückte an und ließ nicht mehr von dem Schiff und seiner Mannschaft ab. Gischtende Wogenberge türmten sich auf und trugen den Dreimaster bis zu den Schaumkämmen hoch. Die „Isabella“ ritt die Kämme, lief auf der Flut der Verdammnis mit, bis sie an den Abbruch gelangte und in die schwarzen Schluchten hinuntergestoßen wurde, aus denen es kein Entkommen mehr zu geben schien. Old O'Flynn war aus der Koje heraus und kleidete sich hastig vollständig an. Dann riß er die Tür der Kammer auf, humpelte in den Gang hinaus und hastete zum Hauptdeck. Jäh hatte der Wind gedreht, unheimlich schnell war dieser Wetterumschwung erfolgt, und es blieb kaum noch die nötige Zeit, um die Sturmsegel zu setzen, die Manntaue auf Oberdeck zu spannen, die Luken und Schiffstüren zu verschalken. Carberry brüllte sich die Seele aus dem Leib und trieb die Crew an. Alle waren auf
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den Beinen, an Schlaf war weiß Gott nicht mehr zu denken. Old O'Flynn taumelte auf die Kuhl und hielt sich an einer Nagelbank fest. Er hob den Blick und sah die schwarzen, klumpigen Wolkengebilde, die sich vor den Mond und die Sterne geschoben hatten, hier und da aber wieder auseinanderfaserten und einmal für kurze Zeit auch den blassen Trabanten der Erde freigaben. Er sah Bill, den Moses, der im letzten Moment den Großmars räumte und in den Luvhauptwanten abenterte. „Ich hab's ja geahnt“, murmelte der Alte. „Der verfluchte Traum — alles wird Wirklichkeit.“ Er fühlte, daß der Beinstummel wieder „schmerzte wie so oft, wenn es eine Wetterverschlechterung gab. Er verzichtete jedoch auf die Krücken, die er zu benutzen pflegte, wenn er Schmerzen hatte — er mußte die Hände frei haben. Fluchend hangelte er in den Manntauen voran, gelangte bei den Kameraden an und half mit, die Luke des Hauptfrachtraumes zu verschalken. Keiner verlor ein Wort über O'Flynns Visionen. Sie hatten alle Hände voll zu tun und konnten jetzt nur noch schuften und fluchen. Der Seewolf hatte das Ruderhaus aufgesucht und stand neben Pete Ballie, der mit verbissener Miene das Ruderrad hielt. Hasard blickte zum Hauptdeck und sah den alten Donegal, und plötzlich hatte er das verdammte Gefühl, durch die strikte Ablehnung dessen, was der Alte vorhin gesagt hatte, dieses Unheil mit berufen zu haben. Wieder einer dieser Zufälle, die auf die Visionen des Alten folgten — oder doch kein Zufall? „Sir!“ rief Pete Balle gegen das Sturmheulen an. „Wenn die Windstärke zunimmt, kann ich den Kurs nicht mehr halten. Wir sind zu hoch am Wind, er drückt uns unweigerlich immer näher an die Küste.“ „Versuchen wir, Dover zu erreichen“, erwiderte Hasard.
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„Das schaffen wir nie!“ „Versuchen wir es wenigstens!“ „Sir — ich tue, was in meinen Kräften steht“, antwortete Pete Ballie. Hasard klopfte ihm auf die Schulter, nickte ihm zu und verließ das Ruderhaus. Natürlich hatte Pete allen Grund, so skeptisch zu sein — bis Dover konnten sie den Sturm unmöglich abreiten, sie wurden schon vorher auf Legerwall gedrückt. Eine Tatsache, mit der sie sich abfinden mußten. Mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, konnte Hasard ihre genaue Position jetzt unmöglich ermitteln, aber das brauchte er auch nicht. Die Karte hatte er präzise im Kopf, und er konnte die Strecke, die sie gesegelt waren, seit er am Nachmittag seine letzten Berechnungen aufgestellt hatte, ziemlich exakt nachvollziehen. Demnach befanden sie sich querab der Halbinsel Dungeness, ungefähr auf der Höhe der Grenze zwischen East Sussex und Kent. Der Sturm warf sie, wenn der Wind nicht nachließ oder erneut drehte, geradewegs gegen die Küste von Dungeness. Was tun? Kreuzen konnte er bei diesem Wetter nicht, nur ein Wahnsinniger hätte es versucht. Er arbeitete sich an den Manntauen, die auf dem Achter- und Quarterdeck gespannt worden waren, bis an die vordere Querbalustrade vor, von der aus er zur Kuhl hinunterblicken konnte. Eine Weile verfolgte er das Bestreben der Männer, die Schoten und Brassen so dicht wie möglich zu holen, um das Schiff mit Steuerbordhalsen und über Backbordbug segelnd auf dem östlichen. Kurs zu halten. Dann hatte er das Aussichtslose ihres Unterfangens eingesehen. „Profos!“ schrie er. „Sir?“ „Abfallen! Wir laufen platt vor dem Wind auf die Küste zu.“ „Aye, Sir, abfallen!“ rief Carberry zurück. Hasard wandte sich nach Backbord, sah die Gestalt Ben Brightons in Gischt und Dunkelheit auf sich zustreben und rief
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auch ihm zu: „Ben, wir fallen ab, gib das an Pete weiter!“ „Ja, Sir.“ „Wir suchen nach einer Bucht, in die wir verholen können, verdammt noch mal, alles andere hat ja doch keinen Zweck.“ „In Ordnung“, tönte Ben Brightons Stimme. „Pete, Hartruder Backbord, wir fallen ab und halten genau auf die Küste zu!“ Pete hatte verstanden. Die „Isabella“ drehte auf Nordkurs. Die Männer auf Deck schrickten Brassen und Schoten weg, und allmählich stellten sich die Rahen in Querrichtung zum Schiffsleib. Prall zum Zerplatzen waren die Segel aufgebläht, die „Isabella“ ritt mit jagender Eile vor dem heulenden und orgelnden Sturmwind. Auch die Sturmsegel schienen noch zuviel zu sein für diese Windstärke. Als die Küste nach seiner groben Überschlagsrechnung nicht mehr fern sein konnte, ließ Hasard das Zeug ganz wegnehmen. Die „Isabella“ trieb im Sturm. In den Voroder Großmars konnte man nicht aufentern, selbst der Seewolf wagte es nicht. Von der Back aus konnte Dan O'Flynn jedoch schwach einen düsteren Streifen erkennen, der nördlich von ihnen lag — immer dann, wenn die „Isabella“ auf den Gipfel eines Wellenberges gehoben wurde. „Die Küste!“ schrie er seinem Kapitän zu. Hasard war ebenfalls auf der Back. „Da finde nun mal eine Bucht“, entgegnete er. „So gut kenne ich mich in Sussex und Kent nun auch wieder nicht aus.“ Er wandte sich zu der Crew um und rief: „He, wer weiß am besten in dieser Gegend Bescheid?“ „Ich, Sir!“ rief Luke Morgan zurück. Seine Stimme war durch das Heulen des Windes und das Rauschen der Fluten kaum zu verstehen. „Beweg dich, du triefäugiger, schielender Ziegenbock!“ brüllte Carberry ihn an. „Hättest du dich nicht schon eher melden können?“ „Bin doch nicht gefragt worden!“ „Leg die Ohren an und enter zur Back auf!“ brüllte der Profos. Er riß den Mund
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so weit auf, daß man Angst kriegen mußte, die Zunge würde ihm herausfallen. „Vorwärts, Luke Morgan, die Beine in die Hände nehmen, wir haben das schon schneller gesehen! Feuer werde ich dir unter dem Achtersteven entfachen, wenn du nicht in Trab gerätst!“ Luke lief zum Seewolf und zu Dan O'Flynn und dachte daran, wie schön es doch wäre, wenn der Profos mal die Maulsperre kriegen würde. Vor Hasard zeigte er klar und rief: „Hier habe ich mal im Manöver gelegen, Sir — bevor ich von der englischen Armee desertierte! Eine schöne Zeit war das nicht.“ „Vielleicht wünschst du dir noch, du wärest an Land geblieben“, erwiderte Dan grinsend. „Spätestens in dem Moment, in dem wir irgendwo auflaufen und absaufen.“ „Da irrst du dich aber!“ rief Luke. „Wir haben schon ganz andere Wetter um die Ohren gekriegt, und kein einziges Mal hab ich Heimweh nach dem festen, platten englischen Boden gefühlt. Stimmt's, Sir?“ Ein Brecher donnerte gegen die Bordwand der „Isabella“, stieg wie eine Mauer hoch und schüttete seine Wassermassen über den Decks aus. Hasard, Dan und Luke duckten sich an der vorderen Querbalustrade des Vorkastells und klammerten sich mit aller Kraft fest. Luke Morgan stieß eine Verwünschung aus, denn .um ein Haar wurde er durch die Wucht des Brechers doch von seinem Halt fortgerissen. Pudelnaß richteten sie sich wieder auf. Hasard grinste seinem Decksmann zu. „Na, immer noch der gleichen Ansicht, Luke?“ „Und ob, Sir. Darauf kannst du Gift nehmen.` „Versuche dich zu orientieren. Immer wenn die ,Isabella` hochgehoben wird, kannst du die Küste schwach erkennen.“ Luke gab sich Mühe, aber er hatte nicht die scharfen Augen Dan O'Flynns. Er brauchte einige Zeit, um überhaupt etwas von der Küste zu erspähen. Hasard ließ zwei Segel setzen und brachte die „Isabella“ noch näher an die Region heran, die sich vor ihnen ausdehnte, und riskierte,
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auf eine Untiefe zu laufen oder auf Legerwall geworfen zu werden. Ben Brighton war auf der Back erschienen. Er schaute zu seinem Kapitän, und der erwiderte den ernsten, besorgten Blick. Dann, endlich, stieß Luke Morgan einen Jubellaut aus. „Sir,. ich weiß, wo wir sind! Ein Stück unterhalb von Denge Marsh! Noch eine oder zwei Meilen weiter nach Nordosten hinauf, und wir haben eine Flußmündung und eine ziemlich geschützte Bucht vor der Nase, in die wir verholen können - so wahr ich hier stehe und Luke Morgan heiße!“ Hasard atmete auf. „Ausgezeichnet, Luke. Ich danke dir.“ „Ist doch meine Pflicht, Sir ...“ „Morgan!“ brüllte der Profos von der Kuhl zur Back hinauf. „Wurde aber auch Zeit, daß dir mal was einfällt, du Hering!“ Ein neuer Brecher schnitt ihm die folgenden Worte ab, Ed mußte den Mund schließen, wenn er nicht Salzwasser schlucken wollte, sich ducken und an den Manntauen festklammern. „Anluven!“ schrie der Seewolf. „Acht Strich Steuerbord, wir nehmen Kurs Nordost!“ „Anluven!“ gab Ben Brighton den Befehl nach achtern weiter. „Kurs Nordost!“ brüllte kurz darauf der Profos. Er scheuchte die Männer auf ihre Posten, überschüttete sie mit Flüchen und exotischen Titeln und hörte nicht auf, zu wettern und zu lästern. Old O'Flynn arbeitete mit. Er war immer ein rauher Seemann und Haudegen gewesen und kniff auch jetzt nicht. Nie hatte er sich hinter seinem Handikap, dem Holzbein, verschanzt und vorgegeben, gewisse Tätigkeiten nicht ausüben zu können. Nein, er war ein Mann der Tat, ein harter Seemann und unerschütterlicher Kämpfer. Wenn es darauf ankam, konnte er mit seiner Beinprothese sogar schwimmen. Da waren nur seine Träume und Gesichte, die ihm zusetzten. Er ver- fluchte sie und versuchte sie zu verdrängen, konnte sie letztlich aber doch nicht ignorieren.
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„Allmächtiger“, flehte er. „Steh uns bei, daß wir nicht noch mehr Verdruß kriegen. Und beschütze die Zwillinge ...“ Die Zwillinge Philip und Hasard hockten im Achterdeck, wie Hasard es angeordnet hatte. Arwenack, der Schimpanse, leistete ihnen Gesellschaft, ebenso Sir John, der karmesinrote Aracanga, der krächzend und schimpfend in dem Raum auf und ab flatterte. Ein ulkiges Quartett, das sich immer dann hier unten einfand, wenn Sturm und Gewitter auf die „Isabella“ niedergingen. Arwenack hatte am meisten Angst, er jammerte, rollte die Augen und deckte sie mit den haarigen Händen zu. Der schwarze Wolkenvorhang riß wieder einmal auf und gab den Mond frei. Schales Licht fiel auf die Küste, sie war etwas besser zu erkennen. Hasard, Dan, Luke, Bill, der Moses, und ein paar andere Männer hielten von der Back aus angestrengt Ausschau nach der Flußmündung und der Bucht, von der Luke Morgan gesprochen hatte. Wenig später hatten sie sie tatsächlich entdeckt, und die „Isabella VIII.“ manövrierte vor dem Sturmwind darauf zu. * In dem langgestreckten Raum mit der flachen Balkendecke schien alles zu schwanken. Die Stühle, der rote Diwan, die Kissenlager, die flackernden Lampen und die Bilder an den Wänden schienen ein Eigenleben entwickelt zu haben. Sie tanzten aufeinander zu, verbanden sich miteinander, lösten sich wieder. Ein blaues und ein weiß besticktes Kissen drehten sich plötzlich in der Luft und schienen schwerelos geworden zu sein. Carl Winthrop wischte sich mit dem Handrücken über die aufgeworfenen, fast wulstigen Lippen und blinzelte. Die Kissen wirbelten nicht mehr, sie lagen wieder auf ihren Plätzen. Winthrop schüttelte den Kopf, stieß einen tiefen, grunzenden Laut aus und langte wieder nach der bauchigen Flasche aus Ton. Er hob sie an den Mund und trank schmatzend. Dunkles Bier rann seinen
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Rachen hinunter, dunkles englisches Bier, ein wenig bitter und sehr süffig. Winthrop saß auf einem Berg Kissen, mit dem Rücken gegen die Wand des Raumes gelehnt. Er war ein großer, schwerer Mann mit klobigen Händen, einem imposanten Bauch und dem Gemüt eines Fünfzehnjährigen. Als er die Tonflasche nahezu leer getrunken hatte, setzte er sie ab. Er blickte sie fast traurig an, stellte sie neben sich auf den Boden und überlegte, wie er sich den Vorrat besser einteilen konnte, wenn er ständig diesen gewaltigen Durst hatte. Es schwankte gewaltig um ihn herum, und die bunten Kissen schienen wieder selbständig zu werden. Carl Winthrop fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder mit dem Rücken gegen die Wand. Grinsend streckte er die Beine von sich. Die Tür öffnete sich. Das Mädchen, das in den Raum trat, hatte nicht sehr viel auf dem Leib, eigentlich nur einen hauchdünnen Fetzen, der ihre vollendeten Formen mehr entblößte, als daß er sie verhüllte. Carls Blick glitt an dem schlanken Körper auf und ab. „Carl“, sagte sie. „Miß Martha sucht dich.“ „Mich?“ „Dich und die anderen.“ „Ich wüßte nicht, was sie von mir will.“ Das Mädchen warf die langen blonden Haare, die ihr bis über die Schultern fielen, in den Nacken zurück. „Nun sei doch nicht störrisch. Du weißt, was passiert, wenn sie sich aufregt. Warum muß es erst immer soweit kommen?“ „Alana ...“ „Du hast viel Bier getrunken, nicht wahr?“ sagte sie. „Du hast rote Augen und siehst betrunken aus. Mein Gott, kannst du denn nichts anderes tun?“ „Doch.“ „Also, steh jetzt auf!“ sagte sie ungeduldig. „Alana, komm her. Zu mir.“ Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, zu dir nicht, mein lieber Carl. Du bist gewalttätig und gemein, besonders, wenn du besoffen bist. Nein, mit dir nicht.“
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Seine Mundwinkel sanken herab, sein Gesicht nahm einen weinerlichen Ausdruck an. „Du bist gemein, Alana. So darfst du mit mir nicht sprechen, verstanden?“ Ihre Gestalt vibrierte vor seinen Augen und zerfloß. Zwei Alanas schienen plötzlich dazustehen. Dann vereinigten sich die beiden Bilder wieder. Sie streckte die Hand nach ihm aus und nickte ihm zu. „Also schön, ich werde nett zu dir sein. Keine scharfen Worte. Nichts, was dich beleidigen könnte. Aber komm jetzt mit zu Miß Martha. Sie wartet nicht gern. Weder auf dich noch auf mich.“ Winthrop war zu stark angeschlagen, um Respekt vor Miß Martha empfinden zu können. Er kicherte und schob die Flasche beiseite. Wieder versuchte er, sich vom Boden aufzurichten. Beim zweiten Mal klappte es. Er stand auf seinen stämmigen Beinen, in seinem Kopf drehte sich alles, alles schwankte und tanzte, aber er stand. Er tapste auf Alana zu und ergriff ihre immer noch ausgestreckte Hand. Sie lächelte ihm aufmunternd zu, aber als er heftig an ihrem Arm zog und sie an sich riß, verschwand das Lächeln aus ihren Zügen. „Nein, Carl!“ stieß sie entsetzt aus. „So haben wir nicht gewettet. Das ist nicht fair von dir. Hör doch auf.“ Er schlang seine Arme um sie und wollte sie küssen. Sie schrie auf, trat ihm gegen das Knie, strampelte mit den Beinen. Er kicherte und hielt sie mühelos mit einer Hand fest, während er mit der anderen nach ihrem dünnen Kleidchen griff. Schritte polterten heran, Gestalten schoben sich in den Raum, der Blick zweier blauer, harter Augen richtete sich zornig auf Carl Winthrop. Carl war aber viel zu überwältigt und zu vertieft in das, was er zu tun gedachte. Er beugte sich tief über das Mädchen, und die Welt war eine einzige bunte Drehscheibe, auf der die Menschen sich vergnügten. Etwas sauste von hinten auf seinen Schädel nieder. Es dröhnte und klirrte in Carl Winthrops Kopf. Er ließ keuchend von dem Mädchen Alana ab, duckte sich und
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preßte entsetzt die plumpen Hände auf den Hinterkopf. Ein zweiter Schlag traf ihn, und er ging zu Boden. Stöhnend wälzte er sich auf den Kissen. Miß Martha Brown ließ den dünnen Eichenholzstock sinken, mit dem sie so hervorragend zuschlagen konnte. Ihre Stimme peitschte auf den beleibten Mann nieder. „Narr! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Mädchen in Ruhe lassen und meine Befehle befolgen? Was ist in dich gefahren, du Rindvieh?“ Carl gab keine Antwort. Er wimmerte nur und trachtete, sich aus der unmittelbaren Nähe von Miß Martha und ihrem Stock zu bringen. Alana, die sich von dem Schreck erholt hatte, deutete auf die Tonflasche. „Ja“, sagte Miß Martha grimmig. “Getrunken hat er wieder, dieser Mistkerl. Er kann es nicht lassen. Wenn du das Zeug wenigstens vertragen könntest, Bursche. Aber zwei Gallonen Bier genügen dir, und du bist völlig aus dem Häuschen. Umbringen könnte ich dich.” Sie war eine hochgewachsene Frau Mitte der Vierzig, mit etwas zu breiten Schultern und ziemlich männlichem Gebaren. Ihr rüschenverziertes Kleid war schwarz, ihre Augen seeblau. Der sehr junge Mann an ihrer Seite betrachtete zunächst Carl, dann Alana, dann seine gepflegten Finger und sagte: „Es wäre wirklich besser, wenn wir ihn ausbooten würden, Tante Martha. Carl hat doch sicherlich nichts dagegen, einen Spaziergang durch den Sumpf zu unternehmen. Begleiten wir ihn?“ Carl Winthrop drehte sich um und starrte sie an. „Nein!“ stieß er aus. „Nicht in den Sumpf. Es - ist - es tut mir leid.“ „Das sagst du immer“, antwortete Martha seelenruhig. Ihre Wut war jetzt fast verflogen. „Aber meine Anordnungen befolgst du nicht. Hatte ich dir nicht gesagt, mit dem Bier aufzupassen?“ „Ja... „Überhaupt, was hast du in diesem Zimmer verloren?“ „Es ist so schön hier“, sagte Carl. „Schön bunt und weich.“
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„Er ist ein großes Kind“, erklärte der Junge. „Ein Vollidiot. Warum mußtest du ihn auflesen?“ „Weil ich ihn brauche. Ihn und seine Kraft.“ Martha blickte zu Alana. „Hat er dir wehgetan?“ „Ein bißchen, Madam.“ Ihre Züge verfinsterten sich wieder. „Dieser Narr. Ungestüm, wie er ist, hätte er dir glatt die Knochen brechen können.“ „Nein, nein“, stammelte Carl. „Nein.“ Albert - so hieß Marthas Neffe betrachtete den einfältigen Mann mit herablassender, verächtlicher 'Miene. „Sei doch endlich still und hör auf, dich zu rechtfertigen. Du Rohling bist imstande und umarmst jemanden so heftig, daß du ihn dabei glatt erdrückst oder erwürgst. Für Feinheiten hast du überhaupt keinen Sinn.“ Martha Brown tat einen weiteren Schritt auf Carl zu und drohte ihm mit dem Eichenholzstöckchen. Er wich vor ihr zurück und rutschte auf dem Hosenboden durch den Raum. Er hätte sie mit einem einzigen Faustschlag töten können, und doch hatte er Angst vor ihr, ihrem Stock und ihrer Autorität. „Faß sie nie wieder an — weder sie noch Geraldine, Lilias, Cora oder Sidney“, herrschte sie ihn an. „Ich will nicht, daß du sie mir kaputtmachst.“ „Jawohl, Madam.“ „Schämst du dich nicht, Carl?“ „Doch, ich schäme mich.“ „Schwöre, daß du dich besserst.“ „Ich schwör's.“ „Hoffen wir, daß du dich auch immer daran erinnerst“, sagte sie kalt. „Es wäre verdammt schlecht für dich, wenn du dich noch mal so töricht benehmen würdest. Nächstes Mal übe ich keine Nachsicht.“ „Ich tue alles, was Sie befehlen, Madam“, versicherte er devot. „Schön, dann komm jetzt. Die anderen sind schon alle an Oberdeck und warten auf uns.“ Er erhob sich umständlich vom Boden und gab sich Mühe, nicht zu wanken. „Ist was passiert?“ fragte er. Albert erwiderte: „Ein großes Schiff ist in die Bucht eingelaufen. Offenbar hat seine Mannschaft Schutz vor dem Sturm
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gesucht. Wir wollen beratschlagen, wie wir uns am besten verhalten.“ 4. Miß Martha Browns Schiff war eine seltsame Mischung aus Karavelle, Galeone und Karracke — von allem etwas. Es verfügte über zwei Masten, wobei der vordere lateiner- und der achtere rahgetakelt war. Vollends verwirrend wurde die Angelegenheit, wenn man den Rumpf dieses Seglers besah, denn es handelte sich um einen Klinkerbau, das heißt, die Planken der Außenhaut waren übereinanderlappend zusammengezimmert worden. Die Knarrs und Langschiffe der Nordmänner hatten diese Bauweise gehabt, später vielleicht noch einige Karracken, aber seither hatte die günstigere KarweelKonstruktion Oberhand gewonnen. Nein, Miß Martha Browns Schiff, das überdies keinen Namen und keine Flagge führte, paßte in keine gebräuchliche Kategorie. So gesehen, hätte es eigentlich gar nicht existieren dürfen. Aber es war da und ankerte in einem natürlichen Kanal des Sumpfgebietes, das sich um die Flußmündung schmiegte. Schilf und Gras wuchsen hoch hinaus und verdeckten den Rumpf und die Aufbauten völlig. Die beiden kahlen Masten des rätselhaften Schiffes hätte man im Dunkeln gut mit Bäumen verwechseln können. Der Anstrich des Zweimasters fiel auch aus dem Rahmen und war alles andere als seriös. Der Rumpf war dunkelrot, das Vorkastell orangen-farbig, das Achterkastell sogar rosa getüncht. Die Bleiglasfenster der Heckgalerie wurden von spitzenverzierten Gardinen gerahmt. Der Fluß wälzte sich an dem Kanal vorbei und mündete in eine ausgedehnte Bucht, die ihrerseits durch eine Landzunge vom Meer getrennt war. Die Einfahrt der Bucht war etwa fünfzehn Yards breit und tief genug, um auch ein großes Segelschiff passieren zu lassen. Nur im Bereich dieser Einfahrt wogte das Wasser noch heftig, in der eigentlichen Bucht, auf dem Fluß und auf den Kanälen, die den Sumpf
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durchkreuzten, hingegen ging nur eine leichte Dünung. Während draußen auf See der Sturm tobte, wiegte sich hier das Schiff von Miß Martha Brown nur sanft auf den Wellen. Martha, Albert, Carl und das Mädchen Alana traten auf die Kuhl und benutzten dann den Steuerbordniedergang, der zum Achterdeck hinaufführte. Alana hatte sich einen Umhang übergeworfen. Es war zu kalt und zu windig, um nur mit einem Kleidchen an Oberdeck gehen zu können. Die Versammlung fand am Steuerbordschanzkleid statt, denn der Zweimaster lag mit dem Bug nach Osten im Sumpfkanal, und wenn man über die Schilf- und Grasspitzen hinweg auf die Bucht blicken wollte, konnte man es nur von hier aus tun - oder vom Großmars aus. Sie spähten alle angestrengt nach Süden, zu der großen Galeone hinüber, die soeben die Einfahrt passiert hatte - die Mädchen Geraldine, Lilias, Cora und Sidney sowie die fünf Männer: Maddox, Lee Henderson, Jack Holland, Raymond Hopkins und Dead Eye, der Mann mit der Augenklappe. Martha und ihre Begleiter gesellten sich zu ihnen. Maddox, der so etwas wie der erste Offizier, der Bootsmann und der Profos in einer Person war, wandte sich zu Miß Martha um und sagte: „Eine Flagge führt der Bruder nicht, Miß Martha, und auch seine Hecklaterne brennt nicht, so daß man, falls er beidreht, den Namenszug am Heck nur sehr schwer erkennen kann.“ „Die Laterne hat der Sturm ausgeblasen“, meinte Dead Eye grinsend. „Und sie haben meiner Ansicht nach Glück gehabt, daß er ihnen nicht die Segel zerfetzt und die Masten gebrochen hat. Da draußen tobt es ganz schön. Ein Glück, daß wir so schlau waren, schon am Abend in diese Bucht zu verholen.“ „Das war Miß Marthas Idee“, sagte Maddox. „Ich habe ein Gespür für Schlechtwetter“, entgegnete die große Frau. „Ich kriege immer rechtzeitig Kopfschmerzen, aber das weißt du ja, mein lieber Maddox.“
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Maddox war ein muskulöser, sechs Fuß messender Mann mit einer Mütze auf dem Kopf. Er hob diese Mütze an, kratzte sich mit der anderen Hand den kurzhaarigen Schädel und erwiderte: „Ja. Und ich weiß auch, wie schnell wir mit diesem Kahn im Sturm absaufen würden, bei der kleinen Crew, die wir haben. Da ist es gut, immer unter Land zu segeln und rechtzeitig in Deckung zu gehen, wenn das Meer verrückt spielt.“ „Holla, die Galeone dreht bei“, sagte Lee Henderson. „Aber ihren Namen kann man nirgendwo am Rumpf entziffern“, meinte Geraldine, eine berückende Schwarzhaarige mit üppigen Formen. „Warten wir, bis sie vor Anker gehen“, sagte Hopkins. „Madam, soll ich einen Mann in den Großmars 'raufschicken?“ fragte Maddox. „Nein. Ihr Ausguck würde ihn entdecken, trotz der Dunkelheit. So aber werden die Leute auf dem Schiff vorläufig nicht auf uns aufmerksam.“ „Aber früher oder später müssen sie uns sehen. Spätestens bei Morgengrauen.“ Sie hielt ihr Eichenholzstöckchen mit beiden Händen, blickte zu der Galeone mit den drei Masten und überlegte. Carl Winthrop stand bei Dead Eye und Raymond Hopkins und starrte stumpfsinnig auf die Erscheinung des erstaunlich schnittig gebauten, stolzen Schiffes. Er wußte sich keinen Reim auf das Ganze zu bilden. Er dachte an das dunkle Bier, das er nicht ganz hatte austrinken können — und an Alanas Formen, die er unter dem Kleidchen betastet hatte. „Mal sehen“, sagte Miß Martha Brown. „Ein Ausländer kann das wohl schlecht sein, ein Spanier, Portugiese oder Ire auf gar keinen Fall. Bis hierher trauen die Burschen sich nicht, ich glaub's einfach nicht. Und außerdem: Die Schiffe der Dons sehen anders aus, sie sind plumper und verschnörkelter. Und die der Iren? Armselige Kübel, so wenige, daß man sie an den Fingern abzählen kann. Also weiter.
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Ein Holländer? Ein Franzose? Wie sind deren Schiffe konstruiert?“ „Vielleicht so“, erwiderte Albert. „Tante, sieh doch, was für hohe Masten die Galeone führt und wie niedrig die Aufbauten sind. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sie sogar ein richtiges Ruderhaus.“ „Ein Ruderhaus?“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ja, ich kann es jetzt auch erkennen“, erklärte Maddox. „Von so einem Schiff habe ich schon mal was gehört“, murmelte sie. „Los, strengt euch an und denkt nach. Kommt denn keiner darauf? Also, nehmen wir mal an, es handle sich um ein englisches Schiff ...“ Albert lächelte. „In diesem Fall, liebe Tante Martha, kannst du dem Kapitän und der Mannschaft getrost deine Dienste anbieten. Haben wir es nicht immer so gehalten? Was irritiert dich?“ „Warte.“ Sie nahm den Blick nicht von dem fremden Schiff, das jetzt verhielt und den Anker an der Trosse ausrauschen ließ. Plötzlich wandte sie sich den Männern und den Mädchen zu. „Ich hab's. Meine Güte, warum ist mir das nicht gleich eingefallen? Erinnert ihr euch an Plymouth? Dort sind wir vor Wochen gewesen, und dort wurde von einer solchen Galeone gesprochen.“ „Von der ‚Isabella' des Philip Hasard Killigrew“, sagte Maddox überrascht. Martha lachte auf. „Richtig. Ihr Ruf eilt ihr voraus. In Plymouth ging das Gerücht, sie würde bald eintreffen, habe eine Weltumsegelung hinter sich. Jetzt ist sie da, und der Zufall hat sie uns in die Hände gespielt.“ „In die Hände gespielt?“ wiederholte Maddox verblüfft. „Wie ist das zu verstehen?“ „So, wie ich es gesagt habe.“ Albert griff ein. Er hatte wieder seine arrogante, überlegene Miene aufgesetzt und erläuterte wie ein Schulmeister, der vor einer Klasse blutiger Anfänger steht: „Killigrew wird der Seewolf genannt, er ist mit Drake der wohl kühnste Korsar Englands. Seht nur mal, was für einen Tiefgang das Schiff hat, dann wißt ihr
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Bescheid. Glaubt ihr, es hat nur Gewürze oder billigen Tand aus den fernen Ländern geladen, in denen Killigrew und seine Leute gewesen sind? Nein. Sie haben Schätze an Bord, Schätze bis unter die Ladeluken. Und die wollen sie bei der Königin abliefern, stimmt's, Tante?“ „Stimmt haargenau.“ „Gold und Silber“, sagte Jack Rolland, und es klang ehrfürchtig, „Diamanten, Schmuck von unermeßlichem Wert. Warum sind die so idiotisch und werfen es der Lissy in den Rachen?“ „Weil die Lissy sie dann gewähren läßt und ihnen vielleicht sogar noch einen Kaperbrief ausstellt“, entgegnete Miß Martha Brown. „Im Grunde ist es gar nicht so dumm von diesem Killigrew. Aber uns kann es egal sein, was er vorhat und sich erhofft. Hört mir gut zu. Ich bin jetzt fest entschlossen, mir meinen Anteil an diesen Schätzen zu holen.“ Maddox grinste und blickte zu den Mädchen. „Na, dann mal los, ihr Süßen, laßt euren Charme spielen. Ihr wickelt diese rauhen Kerle doch im Handumdrehen um den kleinen Finger und lockt ihnen Gold, Silber, Perlen und Juwelen aus den Taschen.“ „Darauf kannst du dich verlassen“, sagte die brünette Lilias. „Und Gold und Kleinodien sind eine feinere Bezahlung als Münzgeld.“ Miß Martha hob die Hand mit dem Stöckchen. „Einen Moment. Mein Anteil an dem Schatz der ,Isabella` soll hundert Prozent sein. Ich will alles, und ich weiß auch schon, wie wir es anfangen, diese fette Kuh zu schlachten.“ Maddox runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. „Madam, verstehe ich Sie richtig? Wollen Sie die ,Isabella` etwa kapern?“ „Hast du vergessen, wie so etwas gedreht wird?“ „Nein, aber wir sind zu wenige Männer, um es mit denen dort drüben aufzunehmen. Wir sind sieben, und die Seewolf-Crew zählt mindestens zwanzig Mann.“ Sie fixierte ihn höhnisch. „Du taugst eben doch nur noch dazu, diesen elenden Kahn
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an der Küste entlangzusteuern und den Aufpasser für die Mädchen zu spielen. Du wirst wohl alt, was, Maddox?“ „Sie können mich ruhig beleidigen“, erwiderte er. „Aber ich bleibe bei meiner Überzeugung. Mit sieben Mann können wir die Galeone nicht entern. Ganz zu schweigen von einem Gefecht. Zwei Neunpfünder haben wir an Bord, mehr nicht, und soweit ich in Plymouth vernommen habe, ist die ,Isabella` mit sechzehn Siebzehnpfünder-Culverinen und vier Drehbassen gut bestückt. Legen Sie Wert darauf, von Kugeln in Fetzen geschossen zu werden?“ Sie lächelte und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Beruhige dich, Maddox. Du hast mich nicht richtig verstanden. Die Mädchen werden uns dazu dienen, die Männer der ,Isabella' in eine Falle zu locken. Ich habe mir eine Kriegslist ausgedacht. Dazu gehört unter anderem, daß ihr sieben Kerle euch unter Deck versteckt und die Seewölfe nichts über euch erfahren.“ „Sie sollen denken, es gäbe nur Frauen auf diesem Kahn?“ „Ja, Maddox.“ „Ich begreife, aber das Ganze ist immer noch zu riskant. Sie können nicht alle Korsaren gleichzeitig hier herüberlocken, sie werden auf jeden Fall eine starke Deckswache an Bord der Galeone zurücklassen.“ „Wollen wir uns diese einmalige Chance entgehen lassen?“ fragte Miß Martha Brown ihre Truppe. „Lohnt es sich nicht, ein gewisses Risiko einzugehen, um dann ein für allemal ausgesorgt zu haben? Jeder von uns kann sich ein Schiff kaufen, ein Haus, Kleider, und er braucht sich nie mehr abzuplagen, wenn wir den Schatz an uns bringen. Ist das nicht verlockend genug für euch alle?“ „Ja“, sagte das Mädchen Cora. „Ich tue alles, was Sie sagen, Madam, wenn dieser Schatz wirklich in dem Bauch des Schiffes liegt.“ „Davon werden wir uns überzeugen.“ „Mädchen“, wandte sich Albert an die fünf geschminkten Schönen. „Ihr seid unser
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Trumpf in diesem Unternehmen. Wenn die primitiven Kerle von der ,Isabella` euch sehen, verlieren sie glatt den Verstand. Darauf baut Tante Martha ihren Plan auf.“ „Und nun meine Frage“, sagte die große Frau sanft. „Will jemand sich die Sache überlegen, bevor es zu spät ist? Es steht ihm ja frei, von Bord zu gehen und zum Binnenland zu verschwinden. Ich lasse da jedem von euch freie Hand.“ Die Männer und Mädchen blickten sich untereinander an, dann schauten sie wieder zu dem stolzen, großen Schiff, das schwer in der Bucht lag und all das verhieß, von dem sie träumten. Sie flüsterten miteinander, und schließlich sprach Maddox stellvertretend für alle. „Falls sich das, was wir uns erhoffen, in den Frachträumen der ,Isabella` befindet, Madam, dann ist wirklich keiner von uns darauf erpicht auszusteigen.“ „Das heißt?“ „Wir sind alle dabei.“ Sie lächelte breit und zufrieden. „Auf was warten wir dann noch? Fiert das Beiboot ab. Wir wollen den Burschen unsere Aufwartung machen, ehe sie uns sichten und mißtrauisch werden.“ * Carberry scheuchte die Crew die Wanten hinauf und ließ die Sturmsegel bergen. Er ließ die Manntaue lösen und aufschießen, sorgte dafür, daß die Verschalkungen der Luken und Türen entfernt wurden, und gab keine Ruhe, bis nicht tipptopp aufgeklart war. Nach dem hastigen Hin und Her trat allmählich Ruhe ein. Die „Isabella“ wurde zu einer Oase der Beschaulichkeit und des Friedens in der geräumigen Bucht, während draußen auf See weiterhin das Wetter wütete. Es tobte sich aus. Die Wellen in der Bucht waren nicht hoch genug, um die Galeone ins Schlingern zu bringen. Das Schiff vollführte nur träge Auf- und Abwärtsbewegungen mit Bug und Heck und schwojte an der Ankertrosse. Der Wind war auch bei weitem nicht so stark wie auf See, denn
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Bäume und Büsche auf der Landzunge bremsten seine Kraft und verwandelten ihn hier in eine frische Brise. Ferris Tucker hatte seinen Rundgang durchs Schiff beendet und trat aufs Achterdeck, wo sich der Seewolf mit seinen wichtigsten Leuten zusammengefunden hatte. „Keine Schäden, Sir“, meldete Ferris. „Danke, Ferris. Wenn wir den Sturm abgeritten hätten, wären wir nicht so glimpflich davongekommen. Der hat es in sich.“ „Ja“, sagte Big Old Shane. „Wir haben Glück gehabt, daß wir diese Bucht gefunden haben.“ „Ben, sorg dafür, daß die Crew eine Extraration Whisky erhält“, sagte Hasard zu seinem Ersten und Bootsmann. „Die hat sie sich redlich verdient.“ Old O'Flynn blickte seinen Kapitän an. „Ja, laß sie trinken. Aber denk daran, daß es noch nicht vorbei ist. Wir müssen weiterhin auf der Hut sein. Kurz bevor der Sturm begann, habe ich noch so einen verflixten Traum gehabt ...“ „Dad, jetzt hör aber auf“, unterbrach ihn sein Sohn. „Ich finde, du solltest es wirklich nicht übertreiben mit der Gespensterseherei.“ Old O'Flynn blickte seinen Sprößling wütend an. „Fängst du jetzt auch schon an, an dem zu zweifeln, was ich sage?“ „Ich habe nie daran geglaubt, daß du in die Zukunft blicken kannst, Dad.“ „So? Und der Sturm? War der vielleicht Einbildung?“ „Nein, Donegal“, antwortete nun Big Old Shane. „Aber wir hätten ihn genauso gut morgen oder übermorgen oder in einer Woche auf die Mütze kriegen können, und dann hättest du auch behauptet, du hättest es ja vorausgesehen.“ „Auch so ein Zufall also“, giftete der Alte. „Es gibt für alles eine vernunftgemäße Erklärung, wie? Aber ihr könnt von mir aus ruhig denken, ich sei ein wunderlicher alter Knacker. Wer zuletzt lacht, lacht am besten, und wenn ihr alle im Schlamassel steckt, hole ich euch diesmal nicht heraus.“
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Ferris Tuckers Miene verfinsterte sich. „Das ist aber verdammt unkameradschaftlich von dir, Donegal. Nur weil wir an deinen blöden Mummenschanz nicht glauben, stößt du Drohungen aus und sinnst auf Rache.“ Der Alte grinste plötzlich. „Ihr glaubt ja doch alle daran. Ihr wollt es bloß nicht zugeben. Das ist es, was euch wurmt.“ Carberry wollte etwas Barsches darauf entgegnen, aber der Seewolf bremste ihn. Er trat mitten zwischen die Männer und sagte: „Ende der Debatte. Ed, du teilst sechs Mann als Decks- und Ankerwache ein. Der Rest der Crew kriecht in die Kojen und schläft noch eine Runde bis zum Morgen. Das ist ein Befehl.“ „Aye, Sir“, murmelten die Männer. Sie drehten sich um und wollten davon marschieren, aber ein verhaltener Ruf stoppte sie. Der Laut war von oben erfolgt. Sie hoben die Köpfe. Bill, der Moses, war wieder in den Großmars aufgeentert und hatte seiner Aufgabe als Ausguck gemäß eifrig Umschau gehalten. Eine Bewegung am nördlichen Ufer der Bucht hatte ihn stutzig werden lassen. Mit dem Spektiv konnte er im Dunkeln keine Einzelheiten erkennen, aber er kniff die Augen zusammen und erspähte auch so, um was es sich handelte. „Sir!“ rief er auf Deck hinunter. „Was ist, Bill?“ „Boot Backbord achteraus. Es pullt auf uns zu.“ Hasard und die anderen Männer eilten sofort ans Backbordschanzkleid. Die „Isabella“ hatte sich, an der Ankertrosse schwojend, mit dem Bug ganz der Landzunge zugewandt, ihr Heck wies also auf das nördliche Ufer. Achteraus glitt das Boot heran. Es war sehr klein, keine Jolle, eher eine Gig. „Zwei Gestalten sitzen darin“, sagte der Seewolf. „Ja, sie halten wirklich auf uns zu. Nehmt vorsichtshalber die Waffen zur Hand.“ „Hasard“, meldete sich jetzt der junge O'Flynn zu Wort. „Das sind Frauen.“ „Trotzdem halten wir die Musketen und Tromblons schußbereit. Es könnte ein
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Hinterhalt sein, ein fauler Trick, um uns in irgendeine Falle zu locken.” „Eine Gig“, murmelte Old Donegal Daniel O'Flynn. „Ich habe von einer Nuß schale geträumt. Und von Mädchen. Von einer fetten Frau. Wann begreift ihr endlich, daß unser ganzes Unternehmen unter einem Unstern steht?“ „Also, dick sind die Frauen nicht“, sagte sein Sohn. „Soviel kann ich erkennen.“ „Sir!“ rief Bill, der Moses, aus dem Großmars. „Die zwei Bootsinsassen sind Frauen. Die eine pullt, die andere sitzt auf der Heckducht und hält die Ruderpinne.“ „Soweit sind wir auch schon“, knurrte der Profos. „Schließlich haben wir keine Tomaten auf den Augen“, sagte auf der Kuhl ein grinsender Matt Davies. „He, Leute, was haben die Weiber hier verloren?“ „Das weiß der Henker“, meinte Jeff Bowie. „Aber wenn mich nicht alles täuscht, ist die Kleine, die die Riemen bedient, eine hübsche Nixe.“ Carberry stieg die Stufen des Backbordniederganges zur Kuhl hinunter und schnauzte sie an: „Maul halten, ihr Rübenschweine. Wer noch eine dämliche Bemerkung von sich gibt, kriegt es mit mir zu tun. He, Davies und Bowie, ich sehe da ein Fall, das noch nicht klariert ist. Braucht ihr eine Sondereinladung? Oder glaubt ihr, die anderen erledigen das für euch?“ „Immer auf die Einarmigen“, raunte Jeff Bowie aufgebracht. „Aber mit uns kann er's ja tun.“ „Hört auf“, flüsterte Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, ihnen zu. „Profos versteht in diesen Sachen keinen Spaß. Schiebt lieber ab.“ Sie schoben ab und klarierten das Fall. Inzwischen war die Gig näher geglitten, und Ben Brighton rief den Frauen vom Achterdeck aus zu: „Wahrschau! Wer da?“ Die große Frau in dem schwarzen, rüschenbesetzten Kleid erhob sich von der achteren Ducht und winkte zur „Isabella“ hinauf. „Hallo! Wer immer ihr seid, wir brauchen eure Hilfe! Wir bitten euch darum!“
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Ben drehte sich zu seinem Kapitän um. „Können wir es den Ladys verweigern, sie wenigstens anzuhören?“ „Nein“, sagte Hasard. „Wir lassen sie längsseits gehen und an Bord kommen.“ „Das ist unser Verderben“, zischte Old O'Flynn. „Sie sind Hexen, die uns mit ihrem Fluch belegen. Geh ihnen nicht auf den Leim, Hasard. Weise sie zurück. Jag sie fort.“ Der Seewolf fuhr unvermittelt zu ihm herum. „Jetzt reicht's mir aber, Donegal. Ich will diesen Unsinn nicht mehr hören. Außerdem bin ich der Kapitän auf diesem Schiff und lasse mir nicht dauernd in meine Entscheidungen hineinreden. Die Frauen dürfen an Bord und damit basta! Keiner soll mir nachsagen, ich hätte mich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht.“ Old O'Flynn war fahl im Gesicht geworden. Er trat zwei Schritte zurück. „Aye, aye, Sir“, erwiderte er, mehr nicht. Vorläufig waren es die letzten 'Worte, die er sprach. Hasard wandte sich wieder von ihm ab. Er kannte den Alten nur zu gut und wußte, daß er jetzt zutiefst gekränkt war. Aber sollte Old O'Flynn ruhig schmollen, ihm war es egal. Die Gig schor längsseits der „Isabella“. Bob Grey und Luke Morgan brachten auf Carberrys Befehl hin eine Jakobsleiter aus und belegten sie am Schanzkleid. Die Leiter baumelte an der Bordwand. Lächelnd griff die große Frau im Boot nach den Sprossen und enterte als erste auf. Das Mädchen - blonde Haare, die bis auf die Schultern fielen, ein zartes Gesicht, vollendete Formen - folgte ihr, und die Seewölfe hatten nur für sie Augen, als sie beide die Kuhl der Galeone betraten. 5. Alana blieb vor dem Schanzkleid stehen und blickte in die Gesichter der Männer. Schließlich sah sie den großen Kerl mit dem narbigen Gesicht aus der Gruppe aufragen. Sie trat vor ihn hin und fragte
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leise, fast ängstlich: „Sind Sie der
Kapitän?“
Carberrys harte Miene lockerte sich etwas.
„Ich wünschte, ich wär's, mein Kind. Der
Kapitän steht dort oben auf dem Achterdeck.“ „Der mit den schwarzen Haaren?“ „Ja, der.“ Hasard schritt bis an die Schmuckbalustrade, die den Querabschluß des Quarterdecks zur Kuhl hin bildete. „Bitte treten Sie doch näher“, forderte er die Frauen auf. „Was kann ich für Sie tun?“ Martha Brown stieg mit vertrauensvollem Lächeln den Niedergang hinauf. Sie winkte Alana zu, und diese schloß sich ihr sofort an. Martha studierte die Züge des schwarzhaarigen Mannes eingehend und nahm seine Physiognomie in ihren Geist auf: ein hartes Gesicht, jung und doch von tausend Gefahren und Entbehrungen geprägt. Eisblaue Augen. Eine Narbe, die von der Stirn aus schräg über die linke Augenbraue und die linke Wange verlief. Untadelig gewachsene Zähne, die er jetzt entblößte, und ein Lächeln, das jedes Jungfernherz zum Schmelzen brachte - das war also der Seewolf! Bevor Martha ihn begrüßte, schaute sie noch einmal zu der Crew, die sich auf der Kuhl versammelt hatte. Rauhe Burschen, das waren sie bestimmt. Der Narbenmann, bei dessen Anblick man das Fürchten kriegen konnte, schien unten auf der Kuhl das Regime zu führen. Ein bunter Vogel hatte sich auf seiner Schulter niedergelassen - ein Papagei. Unter den anderen Männern fiel besonders der Schwarze auf, ein Goliath von Kerl, weiter die beiden Einarmigen mit den Eisenhakenprothesen, die soeben aus Richtung der Back herübermarschierten. Das Vordecksschott öffnete sich, und zwei siebenoder achtjährige Jungen erschienen, die sich ähnelten wie ein Ei dem arideren. Ihnen folgte eine schwarze Gestalt, die sich als Affe entpuppte. Neugierig blickten alle drei auf die Gäste. Und wer stand außer dem Seewolf auf dem Quarterdeck und dem Achterdeck? Ein
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etwas untersetzter Mann mit derben Fäusten, breitschultrig, dunkelblond. Irgendwie wirkte er bieder in dem Haufen. Weiter ein rothaariger Riese und ein anderer Koloß von Kerl mit einem mächtigen grauen Rauschebart. Neben ihm stand ein junger Mann, der irgendwie dem Alten im Hintergrund ähnlich sah, einem Mann mit verwittertem Gesicht und einer Holzprothese anstelle des einen Beines. Finster blickte dieser Alte her über. Martha musterte ihn, und die Animosität zwischen ihnen war von Anfang an unverhüllt. Eine bunt durcheinandergewürfelte Meute mit drei Krüppeln, einem Buschneger, einem narbigen Monstrum, zwei Jungen, einem Schimpansen und einem Papagei darunter - das waren die berühmten Seewölfe. Keine zwei Dutzend Mann. Die Jungen zählte Miß Martha Brown natürlich nicht mit. Sie blieb vor Hasard stehen und vollführte eine Art Knicks. Alana tat das gleiche, nur sah die Geste bei ihr sehr viel gekonnter aus. „Die Blonde hat Klasse“, raunte Stenmark, der Schwede, auf der Kuhl Sam Roskill zu. „Mit der würde ich mich gern mal unter vier Augen unterhalten.“ „Was glaubst du, was ich gern tun würde?“ wisperte Sam. Sie sprachen aber nicht weiter, weil der Profos schon wieder mit wilden Blicken um sich warf. „Ich heiße Martha Brown“, erklärte die Brown. „Dies ist meine Tochter Alana. Bitte verzeihen Sie uns, daß wir Sie stören, Captain, aber wir haben Ihre Hilfe wirklich nötig.“ „Killigrew ist mein Name“, erwiderte Hasard. Er räusperte sich. „Seien Sie willkommen an Bord der ,Isabella`. Erzählen Sie mir, was Ihnen zugestoßen ist. Was tun zwei Frauen ganz allein in einer Sturmnacht wie dieser hier, in dieser einsamen Gegend?“ Alana war noch einen Schritt näher getreten. „Killigrew? Der Killigrew also?“ „Philip Hasard Killigrew, wenn Sie den meinen, Miß“, antwortete nun Ferris
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Tucker. „Genannt auch der Seewolf. Genügt Ihnen die Auskunft? Dieses Schiff ist die ,Isabella VIII.`, vielleicht haben Sie auch von ihm schon gehört.“ „Und ob ...“ „Alana“, sagte die Brown. „Das genügt. Du hast schon genug aufdringliche Fragen gestellt. Schweig jetzt.“ Innerlich frohlockte sie. Sie hatte also recht gehabt. Dies war also die legendäre „Isabella“, und jetzt brauchte sie nur noch herauszufinden, ob sie wirklich das transportierte, was sie, Martha Brown, in ihren Frachträumen vermutete. „Sir“, wandte sie sich an Hasard. „Wir haben verfolgen können, wie Sie vor dem Sturm in die Bucht verholt haben, und da haben wir uns ganz einfach gedacht - nun, versuchen wir unser Glück. Sicher, das war riskant, ich gebe es zu. Wir hätten uns glatt an Bord eines Piratenschiffes begeben können, und da wäre man wohl nicht sehr galant mit uns umgegangen.“ „Der Seewolf ist ein Ehrenmann“, sagte Alana. Der Blick ihrer großen, ausdrucksstarken Augen war unverwandt auf das Gesicht Hasards gerichtet. „Der tut uns nichts an.“ „Du sollst schweigen“, wiederholte Martha energisch. Hasard fühlte sich fast verlegen. „Ladys“, erwiderte er. „Ich entnehme Ihren Worten, daß Sie hier an der Bucht wohnen oder irgendwie Unterkunft gefunden haben.“ Martha lächelte nach wie vor. „In gewissem Sinne ja, aber nicht so, wie Sie vielleicht denken, Mister Killigrew. Also, wir kommen aus Cardiff und fahren mit unserem Schiff von Hafen zu Hafen - als Marketender sozusagen. Wir wollen nach Saint Mary, das gar nicht weit von hier entfernt liegt, haben aber vorher einen Abstecher nach Rye unternommen einfach den Fluß hinauf, der in diese Bucht mündet, verstehen Sie?“ „Ja. Und was ist in Saint Mary los?“ „In der kleinen Hafenstadt wird jedes Jahr ein Markt abgehalten, eine echte Kirmes mit allem Drum und Dran. Dort findet das, was wir verkaufen, natürlich reißenden
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Absatz, und wir versäumen es nie, mit dabeizusein.“ „Ach …“ „Bei der Rückkehr aus Rye ist uns in der Flußmündung aber ein Mißgeschick passiert“, fuhr die Brown ganz unbekümmert fort. „Die Ruderanlage ging uns kaputt. Wir wurden in einen Seitenarm gedrückt, der quer durch den Sumpf führt. Wir liefen auf Grund und kommen jetzt nicht mehr frei. Und das Steuerruder können wir auch nicht reparieren.“ „Wann ist das passiert?“ wollte Hasard wissen. „Heute nachmittag. Woher sollten wir vor Dunkelwerden noch Hilfe holen? Es gibt weit und breit kein einziges Dorf. Rye ist zwanzig Meilen entfernt.“ „Sie hätten mit der Gig bis dorthin zurückpullen können“, murmelte der alte O'Flynn. „Natürlich hätten sie's schaffen können.“ Er sprach aber so leise, daß ihn niemand verstand. „Sehen Sie unser Schiff, Mister Killigrew?“ fragte Alana. „Es liegt dort drüben.“ Sie gab die Richtung mit dem ausgestreckten Arm an. „Man kann aber nur die Masten sehen, der Rest wird von den Schilf- und Grashalmen des Sumpfes verdeckt.“ „Bill!“ rief Hasard. „Sir?“ „Kannst du die Masten eines Schiffes erkennen — irgendwo am Nordufer der Bucht?“ „Aye, Sir. Zwei Masten, die man auf den ersten Blick glatt für kahle Bäume halten könnte.“ „So, ein Zweimaster“, sagte Hasard nachdenklich. „Madam, wer befindet sich außer Ihnen und Ihrer Tochter noch an Bord? Es ist ja kaum möglich, ein Schiff, sei es auch noch so klein, mit nur zwei Personen ganz von Cardiff aus an der englischen Küste entlangzumanövrieren.“ „Außer Alana habe ich noch eine Tochter“, versetzte die Brown ruhig. „Und zwei Nichten. Die drei Mädchen und eine Freundin von ihnen befinden sich an Bord, sie warten auf uns. Wir sind eine gut eingearbeitete und fest zusammenhaltende
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kleine Gruppe. Wir bieten nicht nur Kleider und Wirkwaren feil, wir schneidern sie auch selbst. Was sagen Sie dazu, Mister Killigrew?“ Es hätte nicht viel gefehlt, und der Seewolf hätte sich wieder geräuspert. Alana nieste jedoch plötzlich, und er nahm die Gelegenheit wahr und sagte: „Kommen Sie in meine Kammer, Madam und Miß Alana, ich werde Ihnen einen Grog servieren lassen. Sie erzählen mir noch ein paar Kleinigkeiten über das Schiff - und was genau an der Ruderanlage kaputt ist. Wir werden versuchen, sie zu reparieren. Ich kann Ihnen nichts garantieren, aber wir tun, was in unseren Kräften steht, um Ihren Segler wieder flottzukriegen.“ „Danke“, erwiderte Martha. „Sie sind ein guter Mann. Das werden wir Ihnen nie vergessen.“ Alana wäre dem Seewolf jetzt gern um den Hals gefallen und hätte ihn geküßt. Sie hatte im stillen befunden, daß er genau ihr Typ war. Martha bedeutete ihr jedoch, daß sie es nicht tun solle. Soviel überschwengliche Dankbarkeit war denn doch nicht angebracht. Ziemlich fassungslos blickten die Männer der „Isabella“ ihrem Kapitän und den Frauen nach, als diese ins Achterkastell hinunterstiegen. Sechs Frauen auf einem Schiff! Fünf davon jung, blutjung! Und die vier, die drüben warteten, waren vielleicht genauso hübsch wie diese Alana! „Das halte ich nicht aus“, sagte Stenmark. „Der Herr steh uns bei, daß wir anständige Menschen bleiben“, stammelte der Kutscher. „Kutscher“, herrschte Carberry ihn an. „Heiz das Feuer unter deinem Kombüsenkessel an. Hast du nicht gehört? Du sollst Grog bereiten. Wird's bald? Das ist ein Befehl.“ „Jawohl.“ „Ed, darf ich den Grog in die Kapitänskammer bringen?“ fragte Sam Roskill. „Der Kutscher braucht einen Helfer, einen Hilfskoch sozusagen. Sei kein Spielverderber, Profos. Sag ja „
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„Nein“, erwiderte Carberry wütend. „Und jetzt hört genau her, ihr krummbeinigen Affenärsche. Daß mir ja keiner auf den Gedanken verfällt, mit der Blonden könne was laufen. Pustekuchen! Und auch drüben auf dem fremden Kahn, den die Frauenzimmer ihr eigen nennen, spielt sich nichts mit Weibern ab. Das dulde ich nicht, und ihr wißt, was euch blüht, wenn ihr meinen Anordnungen zuwiderhandelt.“ „Mister Carberry“, begann Luke Morgan vorsichtig. „Ich ...“ „Quatsch nicht, Luke Morgan“, fuhr Edwin ihn an. „Ich weiß schon, was du mir unterjubeln willst. Ich soll zum Seewolf kriechen und ihn honigsüß darum bitten, euch das kleine Vergnügen zu gestatten. Vielleicht würdet ihr bei diesem Weiberverein gar nicht mal auf Ablehnung stoßen, aber ich stelle diesen Antrag nicht. So groß ist der Notstand nicht. Ihr habt erst in Plymouth euer Vergnügen gehabt.“ „Plymouth liegt schon wieder eine ganze Ecke hinter uns“, gab Matt Davies zu bedenken. „Ed, wir sind keine trüben Geister, sondern - äh - Vollbluthengste.“ Der kleine Philip und der kleine Hasard waren ganz nah herangetreten und hatten aufmerksam zugehört. „Profos!“ rief Philip jetzt. „Was sagt Matt denn da? Er ist doch kein Pferd!“ „Verdammt“, stieß der Profos grollend hervor. „Daß wir den Bengeln aber auch Englisch beibiegen mußten. Sie verstehen jedes Wort - das haben wir jetzt davon.“ „Was meint Onkel Carberry?“ erkundigte sich Hasard junior bei Batuti. „Ich kapiere kein Wort.“ „Ist auch nicht so wichtig, was er sagt“, erwiderte der Mann aus Gambia grinsend. „Aber er schimpft doch, oder?“ „Kleines Hasard, wenn Onkel Ed schimpft und brüllt, ist er gesund. Bellendes Seehund beißt nicht, klar?“ „Klar“, antwortete Hasard strahlend. „Was sagt er?“ wollte Philip wissen. „Daß Onkel Edwin ein Seehund ist ...“ „Profos“, wandte sich der Gambia-Mann an den immer drohender dreinblickenden Carberry. „Jungs verstehen doch nicht jedes Wort.“
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„So? Ich will dir mal was auseinanderpulen, du Stint. Was sie hören sollen, das kriegen sie absichtlich nicht mit. Was nicht für ihre Ohren bestimmt ist, das schnappen sie garantiert auf. So ist das mit diesen Rübenschweinchen.“ „Schau an, schau an“, raunte Matt Davies. „Onkel Edwin weiß ja mächtig gut Bescheid. Woher das wohl kommt? Ob er selbst Kinder hat, hier und da verstreut, in fernen Häfen? Brüllende Säuglinge in den Armen heulender, sitzengelassener Mütter, ich kann's mir richtig vorstellen ...“ „Matt Davies“, sagte der Profos. „Was brummelst du schon wieder?“ „Ich sagte nur, der Kutscher könne sich mit dem Grog ruhig ein wenig beeilen.“ „Ich werde mal nachsehen, wie lange der braucht, um seine dämlichen Holzkohlenfeuer anzuschüren.“ Carberry schritt in Richtung Kombüsenschott davon. Smoky, der Decksälteste, hatte die Zwillinge beiseite genommen und führte sie sanft, aber bestimmt zum Vordeck. „Dad hat gesagt, wir sollen uns alle noch ein wenig aufs Ohr legen. Fangt ihr schon mal an. Ab ins Logis und 'rein in die Kojen mit euch“, sagte er. Kinder vergessen schnell, aber nur das, was sie nicht vergessen sollen. Ein gutes Gedächtnis und eine erstaunliche Portion Hartnäckigkeit indes beweisen sie bei Dingen, die sie nach Meinung der Erwachsenen am besten nicht behalten sollten. „Onkel Smoky“, sagte Philip junior. „Wieso ist Matt Davies ein Pferd?“ Smoky dirigierte ihn und Hasard auf den Niedergang zu und suchte nach einer Antwort. Zum Glück fand er sie, und sie erschien ihm als Erläuterung plausibel genug: „Er ist kein Pferd, er meint nur, daß er wie ein Gaul laufen kann, besonders, wenn der Profos ihn scheucht.“ „Und das bereitet ihm Spaß?“ „Wieso Spaß?“ fragte Smoky verdutzt. „Matt hat doch von Vergnügen gesprochen“, sagte Hasard junior. „Hast du das nicht gehört, Onkel Smoky?“ „Tja — dann muß er wohl ganz versessen darauf sein, durch die Gegend zu rennen“,
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erwiderte Smoky und kam sich ausgesprochen albern dabei vor. „Ist Onkel Edwin ein Seehund?“ erkundigte sich Philip junior. Smoky begleitete die Zwillinge den Niedergang ins Vordeck hinunter und führte sie auf das Mannschaftslogis zu. „So, wir haben genug geredet. Marsch in die Kojen, Leute.“ „Armer Onkel Carberry“, sagte Hasard, der sich genausowenig irritieren ließ wie Philip. „Ich möchte kein Seehund sein.“ „Er ist auch kein Seehund“, entgegnete Hasards Decksältester fast gereizt. „Wer hat denn das behauptet?“ „Batuti.“ „Er wollte nur einen Witz reißen, das ist alles.“ „Einen Witz? Was ist ein Witz?“ fragte Hasard junior mit großen Augen. „Ein Spaß“, erklärte Smoky mit erzwungener Geduld. „Hat euch das noch keiner beigebracht?“ „Nein“, sagte Philip. „Hör mal, Onkel Smoky, ihr Erwachsenen seid heute nacht aber mächtig zum Spaßmachen aufgelegt. Hat das etwa was mit den beiden Tanten zu tun, die eben an Bord gestiegen sind?“ 6. Smoky kehrte mit verdrießlicher Miene ans Oberdeck zurück. Er trat zu Carberry, der im offenen Kombüsenschott lehnte, und sagte: „Die Zwillinge fragen der Kuh das Kalb ab. Man weiß schon gar nicht mehr, was man antworten soll. Ed, findest du nicht auch, daß sie langsam ein bißchen altklug werden?“ Carberry wandte den Kopf und blickte Smoky an. „Wie? Willst du damit andeuten, daß sie schon über Weiber Bescheid wissen?“ „Nicht ganz. Aber sie wollten wissen, was die beiden Tanten an Bord der ,Isabella' wollen. Sie haben sich mit den Ellbogen angestoßen und sich gegenseitig angegrinst.“ Der Kutscher erschien mit einem Holztablett in den Händen, auf dem drei Zinnbecher mit dampfendem Inhalt und ein
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großer Zuckertopf standen. „Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf – es ist nicht richtig, daß die Knaben schon im zarten Alter so verdorben werden.“ „Sprich nicht so geschraubt, du Heringsbändiger“, polterte der Profos. „Hau ab mit deinem Grog, bevor er kalt wird. Hasard Wartet sowieso schon lange genug darauf.“ Der Kutscher marschierte zum Achterkastell. Carberry und Smoky traten zu den Männern auf der Kuhl. Der Profos blieb mit abgespreizten Beinen neben der Gräting stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mal zuhören“, sagte er. „Ich will nicht, daß ihr von Vergnügen und vom Herumhuren redet, wenn die Zwillinge in der Nähe sind. Das ist nichts für Kinderohren, kapiert? Mister Davies, wenn du dir das nicht hinter die Löffel schreibst, trete ich dir in den Achtersteven, daß du durchgehst, du Gaul.“ „Diesmal hat er wirklich recht“, zischte Jeff Bowie. Matt Davies sah es ein und antwortete sehr zackig: „Aye, aye, Sir. Werde mich daran halten.“ Der Kutscher hatte unterdessen das Tablett durch den Achterdecksgang jongliert. Er verharrte vor der Tür zur Kapitänskammer, klopfte an und drückte die Klinke hinunter, als der Seewolf von innen „Herein“ sagte. Der Seewolf hatte hinter seinem Pult Platz genommen. Martha Brown und das Mädchen Alana saßen auf den besten Stühlen, die das Allerheiligste des Kapitäns zu bieten hatte. Der Kutscher schritt um Alana herum, befand im stillen, daß sie wirklich ein bildhübsches Wesen war, und setzte das hölzerne Tablett auf der polierten Platte des Pults ab. „Sonst noch Wünsche, Sir?“ fragte er. „Nein. Danke, du kannst gehen, Kutscher“, sagte Hasard. Der Kutscher zog sich zurück und schloß die Tür. Martha Brown sah ihren Gastgeber in einem Anflug von Überraschung an, während Hasard Zucker in die Zinnbecher schaufelte.
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„Kutscher? Wieso nennen Sie den Mann so, Mister Killigrew?“ „Er hat seinen richtigen Namen nie gesagt, vielleicht kennt er ihn selber nicht. Früher war er Kutscher bei Sir Anthony Abraham Freemont, einem Arzt in Plymouth. Deshalb nennen wir alle ihn den Kutscher, und er hat absolut nichts dagegen. Er ist unser Koch und Feldscher.“ „Feldscher?“ Alana blickte auf .die Narbe in Hasards Gesicht. „Sind Sie oft verletzt worden, Mister Killigrew?“ „Wir segeln nicht als friedliche Kauffahrer über die Meere“, erwiderte Hasard lächelnd. „Aber über unsere Schlachten und Abenteuer zu sprechen, würde sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Leider haben wir die Zeit aber nicht, denn wir wollen Ihr Schiff flottmachen, Ladys, und am Morgen selbst die Bucht verlassen, falls das Wetter es uns erlaubt.“ Er reichte ihnen die Zinnbecher mit dem dampfenden, angenehm riechenden Grog. „Bitte, trinken Sie, er ist jetzt nicht mehr so heiß, daß Sie sich die Zunge verbrennen könnten. Anschließend brechen wir am besten auf.“ Martha Brown trank, lächelte und nickte dem Seewolf dankbar zu. „Vor ein paar Wochen sind wir in Plymouth gewesen“, sagte sie. „Da schienen Sie mit Ihrer ‚Isabella' aber noch nicht eingelaufen zu sein.“ „Wir liefen erst später ein. Ich bedaure, daß wir uns nicht getroffen haben“, erwiderte er höflich. Insgeheim überlegte er, was sie wohl wirklich von ihm und seiner Crew wollten. Den Zweimaster gab es tatsächlich, er war keine Erfindung. Es war ausgefallen, aber immerhin noch glaubhaft; daß sechs Frauen ihn als Küstensegler benutzten. Nur die Schneiderarbeiten und Wirkwaren — die nahm er ihnen weiß Gott nicht ab. Wenn die vier anderen Mädchen, die sich an Bord des Schiffes befinden sollten, auch nur annähernd so hübsch waren wie Alana, dann war es schlechthin unmöglich, daß sie gänzlich unbeschadet von Hafen zu Hafen fuhren.
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Entweder waren Alanas Schwester, die Kusinen und die Freundin erschreckend häßlich und die Brown versteckte Alana, sobald sie einen Hafen erreichten, oder aber die Ladys gingen einem anderen Metier nach. Letzteres erschien dem Seewolf am wahrscheinlichsten. Aber warum verheimlichte die Brown es? Sie mußte doch ein gutes Geschäft mit den Seewölfen wittern. War es doch eine Falle? Er wollte die beiden auf die Probe stellen. „Der Grog ist ausgezeichnet“, sagte Martha Brown. „Geben Sie unser Kompliment bitte an den Kutscher weiter, Sir.“ „Danke, Mylady.“ Hasard hatte seine anfängliche Reserviertheit abgelegt, war jetzt ganz Gentleman und Herr der Lage. Er wollte die Besucherinnen keinesfalls provozieren. Wollte aber wissen, auf was sie lossteuerten. über den Rand seines Bechers hinweg blickte er Alana an, trank, ließ sie nicht aus den Augen und versuchte, aus ihren Zügen abzulesen, wie es um die Aufrichtigkeit der beiden bestellt war. Es gelang ihm nicht. Entweder war sie eine gute Schauspielerin — oder er täuschte sich und unterstellte ihnen etwas, das sich als völlig aus der Luft gegriffen erweisen würde. Hatte Old O'Flynns Mißtrauen ihn schon derart angesteckt? Glaubte er unterbewußt doch daran, daß Martha Brown und ihre Tochter Alana Unheil brachten? „Mister Killigrew“, sagte die Brown. „Wir haben in Plymouth viel über Sie und Ihr Schiff, über die Crew und die zahlreichen Abenteuer der ,Isabella` vernommen. Ist denn das alles wahr?“ Er lächelte sie an und setzte seinen Becher ab. „Was hat man Ihnen erzählt?“ „Daß Sie den Spaniern und Portugiesen in deren Kolonien Gold und Silber abgenommen haben beispielsweise.“ „Ja, wir haben die Dons ein wenig erleichtert.“ Kühnheit siegt, dachte die Brown. „Und Sie haben alle diese Kostbarkeiten nach
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Plymouth gebracht —oder nach Falmouth, wo die Stammfeste der Killigrews steht?“ Unwillkürlich mußte Hasard daran denken, wie dankbar Sir John ihm selbstverständlich gewesen wäre, falls er das getan hätte. Aber lieber hätte er die Schätze im Kanal versenkt, als dem Alten auch nur eine Perle in den Rachen zu werfen. „Nein“, erwiderte er. „Es gibt nur einen Platz in ganz England, an dem unsere Schätze sicher sind. Der Tower in London. Wir wollen der Königin persönlich übergeben, was wir den Spaniern abgejagt haben. Das bedeutet, wir haben das Gold, das Silber, die Juwelen, die Perlen und den ganzen Schmuck noch hier an Bord, auch Elfenbein aus Afrika und Gewürze aus dem fernen Ostindien und China.“ Er fixierte Martha Brown und wartete auf ihre Reaktion. Sie schien sich ausgezeichnet in der Gewalt zu haben. „Ach, deshalb hat Ihr Schiff einen so großen Tiefgang“, sagte sie leichthin. „Jetzt leuchtet mir einiges ein. Siehst du, Alana, und wir haben uns schon gefragt, was sie wohl geladen haben.“ Hasard hatte sich zu einem Entschluß durchgerungen. Er erhob sich und trat neben sein Kapitänspult. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was in unseren Frachträumen liegt, Madam, Miß Alana. Sehen Sie die Kostbarkeiten, die ich in meiner Kammer aufbewahre, die Waffen, die an den Wänden aufgehängt sind?“ „O ja“, sagte Alana. „Und ob. Wie wunderbar das alles ist.“ „Gegen das, was im Bauch der ,Isabella` ruht, ist das gar nichts“, entgegnete er. Er griff nach der Öllampe, die auf seinem Pult stand. „Gehen wir. Es ist mir eine Freude, Ihnen vor Augen führen zu können, welchen Reichtum die Welt offenbart.“ Ja, der Teufel ritt ihn. Allein stieg er mit ihnen in die Frachträume hinunter und führte sie überall herum. Jeder Schatz, in Kisten und Truhen verpackt, säuberlich gestapelt und nach allen Regeln seemännischer Kunst festgezurrt, versinnbildlichte eine Etappe
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der Weltumsegelung, ein Abenteuer. Die Inseln der Südsee, die Manila-Galeone, die sie aufgebracht hatten, China, Formosa, die Philippinen, Kalimantan, Malakka, der Indische Ozean schließlich, Madagaskar, der Süden Afrikas, dem sie um ein Haar nicht mehr entronnen wären. Wenn sie eine Hinterlist-planen, dachte Hasard, dann bietet sich ihnen jetzt die beste Gelegenheit dazu. Sie können versuchen, sich die Taschen vollzustopfen, mir einen Hieb auf den Schädel zu geben, mir die Pistole aus dem Gurt zu reißen. Etwas Derartiges hatte er an der Küste von Portugal erlebt. Aber es geschah nichts von alledem. Martha Brown hatte ihrer „Tochter“ einen Blick zuwerfen können, und Alana war gewarnt. Die Brown ahnte, daß der Seewolf sie auf die Probe stellen wollte. Wenn sie ihn jetzt zu überwältigen versuchten, reagierte er prompt darauf und sie fingen sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein paar Ohrfeigen und einen schimpflichen Abgang von der „Isabella“ ein. Deshalb unternahmen sie nichts. Martha Brown zeigte sich nur überwältigt von all dem glitzernden, massiven Reichtum, und Alana stieß kleine, entzückte Rufe aus. Hasards Argwohn wich allmählich. Am Ende des Rundganges durch das Schiff öffnete er eine der Truhen, entnahm ihr einen goldenen Armreif und einen goldenen Ring - und überreichte sie den beiden „Ladys“ als Geschenk. „Das können wir nicht annehmen“, hauchte die Brown. „Nie und nimmer“, fügte Alana hinzu. „Sie müssen“, versetzte Hasard. „Sonst bin ich zutiefst beleidigt.“ „Gott segne Sie, Mister Killigrew“, sagte Martha Brown. „Kommen Sie mit hinüber auf unser Schiff, dort werden Sie unser Gast sein. Wir bereiten eine Kleinigkeit für Sie zu, das versteht sich doch von selbst.“ Er schüttelte den Kopf. „Leider kann ich nicht dabeisein. Ich werde hier gebraucht. Ich schicke ein paar meiner besten Männer, die sehen sich die Bescherung an und
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überlegen, wie man Ihren Zweimaster am schnellsten wieder flottkriegen kann.“ Alana gab sich große Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Mehr als jedes Geschenk wünschte sie sich, den Seewolf mit auf das bunte Schiff zu locken - und nach allen Regeln ihres Metiers zu verführen. * Besorgt stieg Carberry zum Achterdeck hinauf, blieb vor Ben Brighton stehen und sagte: „Die trinken aber reichlich lange an ihrem Grog, findest du nicht auch? Seit Hasard mit den Weibern im Achterkastell verschwunden ist, ist der Sand im Stundenglas schon fast einmal durchgelaufen.“ „Na und?“ „Da wird doch wohl nichts passiert sein?“ „Mensch, Ed“, erwiderte Ben Brighton. „Du willst doch wohl nicht unterstellen, daß die Frauen Hasard den Kopf verdreht haben, wie? Ich gebe zu, daß die Blonde ganz reizend aussieht, aber ...“ „Ganz reizend? Das ist doch wohl untertrieben.“ „Meinetwegen, dann ist sie eben ein Prachtstück. Klingt das besser?“ „Klingt fabelhaft.“ „Aber Hasard weiß, wie er sich zu verhalten hat. Zweifelst du etwa an der Standhaftigkeit deines Kapitäns?“ „Natürlich nicht“, sagte Carberry grollend. „Aber wenn die beiden Weiber etwas Krummes vorhaben, könnte es gut angehen, daß sie versuchen, Hasard ein Messer zwischen die Rippen zu schieben oder so.“ „Das würden sie nie schaffen.“ „Oder sie hauen ihm was auf den Kopf ...“ „Ed“, sagte Ben ziemlich scharf. „Ich finde, es steht dir als Profos nicht zu, so an der Klugheit und Umsicht deines Kapitäns zu zweifeln.“ Carberry schielte nach der Gestalt Old O'Flynns. Der Alte stand immer noch ganz hinten auf dem Achterdeck und schien nicht daran zu denken, diesen Platz zu räumen.
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„Unter uns“, murmelte Carberry. „Donegal hat mich mit seinen Weissagungen ganz konfus gemacht. Sollten wir nicht doch mal nachsehen, was in der Kapitänskammer los ist? Unter irgendeinem Vorwand vielleicht?“ „Nein“, sagte Ben. „Nicht nötig. Da sind sie ja.“ Er wies mit dem Kopf nach vorn. Hasard, Martha Brown und Alana hatten soeben das Vordeck verlassen. Sie hatten das gesamte Schiff durchschritten und waren bis ins Mannschaftslogis hinaufgestiegen, wo der Seewolf einen prüfenden Blick auf die inzwischen schlafenden Zwillinge geworfen hatte. Jetzt blieb der Seewolf stehen und blickte sich um. „Ferris!“ rief er. „Stenmark, Bob und Sam! Ihr begleitet die Ladys zu ihrem Schiff hinüber und seht euch den Schaden am Ruder an. Ihr müßt eins unserer Beiboote abfieren, denn die Gig ist zu klein für sechs Personen.“ „Aye, Sir“, entgegnete Ferris. Er gab dem Schweden, Bob Grey und Sam Roskill einen Wink, und die drei begannen, die Zurrings des einen Bootes zu lösen. Hasard trat näher an Ferris heran, der jetzt vom Achterdeck hinunterstieg. „Wenn der Zweimaster nicht allzu fest auf Grund sitzt, müßte er mit dem auflaufenden Wasser wieder freikommen, Ferris.“ „Das stellen wir gleich fest, Sir.“ „Seht zu, daß ihr diese Sache so schnell wie möglich abwickelt. Wenn ihr Verstärkung braucht, gebt ihr uns ein Lichtsignal.“ „In Ordnung.“ Hasard nahm seinen Schiffszimmermann beiseite, er wollte nicht, daß die Frauen mithörten, was er jetzt sagte. „Und noch etwas. Wer immer die vier Mädchen sind, wie immer sie aussehen und was immer. sie tun - ihr laßt euch auf keinen Fall mit ihnen ein. Laßt euch nicht umgarnen. Dies ist kein keuscher Haufen von Klosterschülern, ich weiß. Aber ich will nicht, daß die Männer jetzt, da wir Dover so nah sind und bald die Themsemündung erreichen, Weiterröcken nachlaufen.“
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„Falls jemand nicht an sich halten kann, greife ich ein“, versicherte Ferris ernst. Sein Kapitän war freigebig und großzügig, und wenn beim Landgang mal jemand über den Zapfen schlug oder eine Schlägerei vom Zaun brach, drückte er beide Augen zu. Sofern es ging, verwehrte er seiner Crew nichts von dem, was Männer nun mal brauchten, aber wenn er eine Sache für „nicht angebracht“ hielt und in dieser Richtung einen strikten Befehl erteilte, verstand er keinen Spaß. Stenmark, Bob und Sam hievten die Jolle mit Hilfe einiger anderer Männer vom Deck und fierten sie an der Bordwand der „Isabella“ ab. Ferris zeigte klar und setzte sich zum Schanzkleid der Kuhl hin in Bewegung. Hasard verabschiedete sich galant von Martha Brown und Alana. „Wir können es nicht riskieren, mit unserem Schiff bis in die Flußmündung und von dort aus in den Sumpfkanal zu manövrieren“, sagte er zum Abschluß. „Das werden Sie einsehen. Der Tiefgang der ,Isabella` ist zu groß, sie würde wahrscheinlich auflaufen. Andernfalls hätten wir versucht, Ihren Segler freizuschleppen.“ Martha Brown hatte sich den goldenen Armreif über das linke Handgelenk gestreift, betrachtete ihn und schaute dann zu Hasard auf. „Ich bedaure es sehr, daß Sie nicht mitkommen wollen. Aber sicherlich werden Ihre Männer ebenso gut wie Sie die Lösung für das Problem finden, das wir haben.“ „Ja, das denke ich auch.“ Alana hatte sich den goldenen Ring auf den linken Ringfinger gesteckt. „Wunderbar“, murmelte sie, dann blickte sie ihn mit kokettem Augenaufschlag an. „Jetzt kann ich mir einbilden, ich sei mit dem Seewolf verlobt, nicht wahr?“ „Wenn Ihnen dieser Gedanke gefällt ...“ „Ja, sehr.“ „Danke für die Blumen“, erwiderte er lächelnd, mehr nicht. Die Frauen wandten sich ab, kletterten übers Schanzkleid und enterten an der Jakobsleiter nach unten. Matt Davies und ein paar andere sandten Alana zwar schmachtende Blicke nach,
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aber die Blondine schien sie nicht zu bemerken. Ferris, Stenmark, Bob Grey und Sam Roskill waren bereits nach unten gestiegen und warteten in der leicht schwankenden Jolle auf die Frauen. Wenig später legten beide Boote von der Bordwand der „Isabella“ ab. Sie schoben sich auf das Nordufer der Bucht und die Flußmündung zu und waren binnen kurzem in der Dunkelheit verschwunden. Old O'Flynn stand immer noch auf dem Achterdeck der „Isabella“ und verfolgte die Boote mit seinem Blick. Seine Miene war verschlossen, seine Körperhaltung starr. Er fragte sich, ob er Hasard und die Crew zwingen konnte, seine Warnungen ernst zu nehmen. Nein, er konnte es nicht. Der Seewolf war der Kapitän, an seinen Entscheidungen gab es nichts zu rütteln. Hoffentlich passiert da nichts, dächte er nur immer wieder, hoffentlich geht alles gut. Himmel! Träume sind Schäume, was du dir ausmalst, kann ja wirklich völlig aus der Luft gegriffen sein, O'Flynn! 7. Sie hatten die Flußmündung erreicht und pullten gegen die Strömung an. Die Arbeit wurde ihnen noch zusätzlich dadurch erschwert, daß der Ebbstrom gegen die Bewegung der Boote wirkte. Bei auflaufendem Wasser hingegen wäre die Kraft der Strömung erheblich gemindert worden. Ferris Tucker glaubte, er müsse den Frauen in dem Gig Hilfe leisten, aber er hatte sich getäuscht. Erstaunt verfolgte er von der Achterducht der Jolle aus, wie zügig und mit welch routiniertem Schlag Alana gegen den Fluß anpullte. Die Jolle befand sich an Steuerbord der Gig, ungefähr auf gleicher Höhe mit ihr. In diesem Moment jedoch hatte es den Anschein, als müsse sie zurückfallen. „Teufel“, sagte Stenmark verhalten. „Das sieht ja wirklich so aus, als wären wir den Frauenzimmern unterlegen. Geht das noch mit rechten Dingen zu?“
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Bob Grey grinste. „Also, von der Seefahrt scheinen sie ja doch was zu verstehen. Darin brauchen wir ihnen dann wohl keinen Nachhilfeunterricht zu erteilen.“ „Nein, darin nicht“, meinte Sam Roskill, während sie sich energischer in die Riemen der Jolle legten. „Aber in was anderem vielleicht? überlegen wir doch mal ...“ „Ruhe“, raunte Ferris ihnen zu. „Da spielt sich nichts ab, verstanden? Ich habe klare Anweisungen vom Seewolf erhalten, Kerls.“ „Au Backe“, sagte Bob. „Dann müssen wir uns eben in Keuschheit üben. So schwer es auch fällt.“ „He“, entgegnete der Schwede. „Hast du schon mal daran gedacht, daß die kleine Blonde sich vielleicht gar nicht mit uns einlassen will? Vielleicht ist keiner von uns ihr Typ. Wie die Hasard angestarrt hat ...“ „Ich glaube, ich kenne mich mit Frauen ganz gut aus“, sagte Bob. „Bin jedenfalls kein Anfänger. Die Blonde schenkt dir mehr als nur ihr Herz, wenn du ihr auch nur eine kleine weiße Perle gibst.“ „Und die andere?” fragte Stenmark. „Wer, die Mutter? Mann Gottes, hast du nicht gesehen, was für ein Pferdegesicht die hat? Wer würde sich denn in die vergucken?“ Die Gig hatte sich nach Backbord gewandt, glitt jetzt nach Westen und drang in den Kanal ein, dessen Öffnung zum. Fluß die Männer in der Dunkelheit kaum sehen konnten. Ferris drückte die Ruderpinne herum, und die Jolle folgte dem kleinen Boot. Wenig später kam das Schiff in Sicht. Es richtete seinen Bug auf sie, und wegen der Finsternis, die immer noch herrschte, vermochten die Seewölfe nicht zu sehen, um welchen Typ von Segler es sich handelte. Kurz darauf schoren beide Boote längsseits der Bordwand des Zweimasters. Eine Jakobsleiter baumelte herab. Martha Brown, Alana, Ferris, Bob, Sam und Stenmark enterten auf – und dann staunten die Männer nicht schlecht.
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Noch nie hatten sie ein so eigentümliches, skurriles Schiff gesehen. Es schien sich um eine Mischung all dessen zu handeln, was je über die europäischen Meere gesegelt war. „Das ist eine Karracke“, raunte Sam. „Nein, eine Hulk“, meinte Bob. „Ich sage, das ist eine umgebaute Kogge“, versetzte Stenmark. „Ist doch egal“, sagte Sam. „Nein, ist es nicht“, erklärte Ferris Tucker. Er deutete eine Verbeugung zu den beiden Ladys hin an, die jetzt auf der Kuhl stehen geblieben waren und ziemlich amüsiert zu ihnen herüberblickten. „Madam“, sagte Ferris zu der Brown. „Darf ich mir dieses Schiff mal ganz genau ansehen? Von den Mastspitzen bis zum Kielschwein?“ „Mister Tucker!“ rief Martha Brown erfreut. Sie hatte sich gemerkt, wie er hieß, und auch die anderen Namen festgehalten, die sie an Bord der „Isabella“ vernommen hatte. „Ich bitte Sie darum! Ich bin hoch erfreut, wenn Sie nicht nur einen Blick auf die defekte Ruderanlage werfen, sondern über alles, über das ganze Schiff Ihr fachmännisches Urteil abgeben.“ „Gern. Ich steige gleich mal ins Achterdeck hinunter“, erwiderte Ferris. „Von außen betrachte ich mir das Ruder anschließend. Stenmark, du begleitest mich. Wo finden wir eine Lampe, Madam?“ „Ich besorge sie. Ich komme mit.“ „Und wir?“ erkundigte sich Sam Roskill. „Sollen wir hier 'rumstehen und Maulaffen feilhalten?“ Ferris warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Unsinn. Peilt mal schön außenbords und versucht festzustellen, wo der Kahn genau aufsitzt. Allein das zu wissen, wäre schon eine Menge wert.“ „Na, ich weiß nicht“, meinte Bob Grey. „Man müßte schon tauchen, um sich ein präzises Bild von der Lage zu verschaffen.“ Hasards rothaariger Schiffszimmermann sah den drahtigen blonden Seemann so freundlich an wie ein hungriger Hai. „Hör mal, du kannst von mir aus gern tauchen,
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Kamerad. Vergiß nicht, eine Öllampe oder ein Talglicht mitzunehmen, damit du unter Wasser bei dieser Dunkelheit besser siehst.“ Damit wandte er sich ab und nickte der Brown zu. „Gehen wir, Madam, ich bin wirklich gespannt darauf, was für eine Ruderanlage dieses Schiff hat – und was damit geschehen ist.“ Martha Brown schritt voraus ins Achterkastell, Ferris folgte ihr, Stenmark schloß sich ihnen an. Die schmale Tür in der Querwand des Achterkastells schluckte ihre Gestalten. Alana stand in der Nähe des Vordecks und sah zu Bob und Sam hinüber. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und kicherte mädchenhaft über das, was Ferris zuletzt gesagt hatte, im übrigen wohl auch über Bob Greys belämmerte Miene. „Mann, allmählich ist mir das Ganze zu blöd“, zischte Bob. „Wir werden hier doch bloß verscheißert, Sam. Täusche ich mich, oder ist das Achterkastell wirklich rosa gestrichen?“ „Das kann ich im Dunkeln nicht so gut erkennen.“ „Aber die Fenster drüben im Vordeck, die siehst du doch, oder?“ „Ja. Sie haben Gardinen.“ „Gewirkte?“ „Wie? Was meinst du?“ „Mann“, raunte Bob. „Die Frauenzimmer haben doch gesagt, sie segeln von Hafen zu Hafen und bieten Kleider und Wirkwaren an.“ „Gentlemen“, sagte Alana. „Warum stehen wir hier an Deck herum? Wollt ihr euch nicht ein wenig aufwärmen?“ Sam dachte an Ferris' Worte. „Nein, danke, Miß. Wir warten hier auf unseren Schiffszimmermann und auf den Schweden. Wir haben so unsere Anweisungen, wissen Sie?” „Aber ich möchte euch was zeigen“, sagte sie sanft und mit verführerischem Augenaufschlag. „Das könnt ihr doch nicht einfach abschlagen. Kommt, es dauert nicht lange.“ „Was will sie uns zeigen?“ ächzte Sam. „Mann, ich werd verrückt. Das hält doch kein normaler Mensch aus.“
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„Denk an Hasards Order“, zischte Bob. „Du“, sagte Alana mit ihrer weichen, einladenden Stimme. „Warum begleitest du mich nicht, Blonder? Dein Freund kann ja auf den Rothaarigen und den Schweden warten.“ „Nun ...“, sagte Bob Grey unglücklich. „Also, da spiele ich nicht mit“, erklärte Sam Roskill. „Entweder bleiben wir beide eisern hier auf der Kuhl stehen, Bob, oder ...“ „Oder?“ Alana kicherte wieder. Sie blickten zu ihr und sahen sie gerade noch im Vordeck verschwinden. Sie drehten sich die Gesichter zu, fixierten sich und kamen sich beide sehr närrisch vor. Dann straffte sich plötzlich Sams Gestalt, und er sagte: „Bob, der Sturm hat sich etwas gelegt, und in der Bucht sind die Wellen immer kleiner geworden. Hier im Kanal schien das Wasser ganz glatt zu sein, als wir eben hereinpullten. Ohne jegliche Dünung.“ „Aber jetzt spüre ich ein wenig Wellengang“, erwiderte Bob Grey verdutzt. „Sag mal, auf was willst du eigentlich hinaus?“ „Was spürst du, Bob?“ „Daß der Kahn schwankt.“ „Junge, denk doch mal nach. Wie kann sich ein Schiff auf den Wellen wiegen, wenn es aufgelaufen ist und hoffnungslos festsitzt?“ Bob Greys Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. Er duckte sich jäh ein wenig und blickte sich nach allen Seiten um. Das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein, wurde in ihm wie in Sam Roskill übermächtig. Bob lief zum Achterkastell und wollte die Tür öffnen, die vorher von innen zugedrückt worden war. Sie war fest verschlossen. Es nutzte nichts, daß er daran rüttelte. Sam lief nach vorn und drang in das Vordeck ein. Bob fuhr herum, hastete über die Kuhl und folgte seinem Kameraden. Im Stockdunkel des Vorschiffs stieß er fast mit Roskill zusammen.
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Sam hatte die Pistole gezückt, Bob konnte hören, wie der Hahn knackte. Bob Grey zog ebenfalls seine SchnapphahnschloßPistole aus dem Waffengurt und spannte den eisernen Hahn. „Fragen wir die Blonde, was es mit diesem Bluff auf sich hat“, wisperte Sam. „Weit kann sie ja nicht sein. Sie muß uns Rede und Antwort stehen.“ „Da unten ist ein Licht“, sagte Bob genauso leise. „Scheint durch die Türritze aus einem Raum zu dringen.“ Sie steuerten auf das Licht zu. Es war ihr entscheidender Fehler. Sie hätten besser daran getan, auf die Kuhl zurückzukehren und ein Lichtsignal zur „Isabella“ hinüberzugeben — oder einfach in die Luft zu schießen, um Hasard und die anderen zu alarmieren. Aber daran dachten sie in diesem Moment nicht. * Ferris Tucker stand mit Stenmark ganz achtern an der Hennegatsöffnung im Heck des Zweimasters und betrachtete im dämmrigen Licht der Öllampe, die Martha Brown aus einem Raum des Achterdecks geholt hatte, den horizontal ausgerichteten Hebelarm des Ruders, der von hier aus ins Freie führte und sich außen mit dem ins Wasser führenden Teil verband. Eine primitive Anlage, grob aus nicht besonders gutem Holz zusammengezimmert, aber in ihrer simplen Konstruktion durchaus funktionsfähig und solide. „Hier kann ich keine Beschädigung feststellen“, murmelte Ferris. „Vielleicht sollten wir uns weiter oben umsehen“, sagte Stenmark. Ferris blickte zu Martha Brown, die die Lampe mit der linken Hand hochhielt. An ihrem Handgelenk war deutlich der goldene Armreif zu sehen. Plötzlich fühlte Ferris, wie ihn die Wut packte. Er begann zu begreifen. „Madam“, sagte er. „Ist Ihnen vielleicht der Kolderstock abgebrochen?“ „Der was?“ „Der Kolderstock. Sie wissen nicht, was das ist?“
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„Nein.“ „Ich denke, Sie führen dieses Schiff und kennen sich in der Seefahrt hervorragend aus?“ Sie hatte den Wandel in seinem Verhalten deutlich genug bemerkt und stellte auch die Veränderung seines Tonfalls fest. „Das habe ich nicht behauptet“, sagte sie langsam. „Madam, bemerken Sie nicht auch, daß Ihr Schiff schaukelt?“ erkundigte sich Ferris — und da ging auch Stenmark ein Licht auf. „Ja, es schaukelt“, sagte die große, grobknochige Frau mit dem schwarzen Kleid, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was ist denn daran so besonders? Schiffe sind nun mal keine Wagen, die sich auf festem Boden bewegen, aber wem sage ich das?“ Plötzlich begriff sie, was es mit Ferris' Bemerkung auf sich hatte, und ließ die Lampe sinken. „Ich hätte jetzt auch mal eine Frage“, sagte Stenmark. „Wo sind eigentlich die anderen Mädchen? Ihre zweite Tochter, die beiden lieben Nichten und die Freundin? Wir haben sie noch nicht gesehen, dabei hätten sie doch längst irgendwo erscheinen müssen, finden Sie nicht auch, Madam?“ „Miß Brown, wenn ich bitten darf“, erwiderte sie und verzog die Lippen zu einem höhnischen Lächeln. „Miß — bei zwei Töchtern?“ sagte der Schwede überrascht. „Hören Sie, für wie dumm halten Sie uns eigentlich?“ Sie antwortete darauf nicht mehr. Natürlich war die Farce an ihrem Ende angelangt, jetzt galt es, konkret zu werden. Sie blies in die Lampe, die Flamme erlosch. Dann trat sie zwei Schritte zurück und stieß — sehr undamenhaft — einen Pfiff aus. „Halt sie fest“, sagte Ferris Tucker. Stenmark wollte die Frau packen, aber in der hereinbrechenden Finsternis hatte er keine Chance mehr, sie zu erreichen. Er stolperte über irgendetwas, fluchte und wollte etwas zu Ferris sagen. Aber in diesem Augenblick waren dumpfe Schritte in dem engen Raum und schoben sich Gestalten heran, er spürte es.
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Er griff zur Pistole, aber sie waren schon neben ihm. Ferris Tucker hatte die Pistole blitzartig gezückt, zögerte aber. Er wollte weder Stenmark gefährden noch wirklich auf die Frau abdrücken, er wollte nur drohen, sie bremsen, festhalten, aber auch er konnte sie nicht mehr sehen. Statt ihrer waren die anderen da. Wer waren sie? Ferris spürte ihre Nähe wie Stenmark, er hob die Pistole und rief: „Stehen bleiben! Wer mir zu nahe tritt, kriegt eine Kugel! Hölle und Teufel, Stenmark, in was für eine Falle sind wir hier bloß ...“ Weiter gelangte er nicht, denn jemand warf sich von der Seite auf ihn. Ferris zögerte immer noch, einfach abzudrücken, denn er hatte Angst, den Schweden zu treffen. Er ging mit seinem Widersacher zu Boden, wälzte sich mit ihm, ließ die Pistole los und hatte nun beide Fäuste gegen den Kerl frei. Plötzlich war jedoch noch ein Kerl da, der brutal auf Ferris einhieb. Ferris wehrte sich nach Leibeskräften, brachte ihnen Hiebe bei, die auch sie bei aller Kampferfahrung, die sie zu haben schienen, erst verdauen mußten. Ferris schüttelte sie für eine Sekunde ab, schwang hoch — und stieß sich den Kopf an der horizontalen Längsstrebe der Ruderanlage. Er fühlte die Schmerzen in seinem Schädel kreisen, immer schneller, suchte nach einem Halt, verfehlte den schweren Balken jedoch mit den Händen und landete bäuchlings auf den Planken. Sie fielen erneut über ihn her und schlugen ihn besinnungslos. Stenmark kämpfte verbissen, aber auch er hatte zwei Angreifer gegen sich. Bald hatten sie ihn unter sich begraben und traktierten ihn mit den Fäusten. „Habt ihr sie?“ fragte Martha Brown. „Ja“, erwiderte Maddox. „Dieser hier hat sich den Schädel am Ruder gestoßen. Jack, wie sieht es bei euch aus?“ „Er ist erledigt“, meldete Rolland. Die Brown zündete die Öllampe wieder an. Zufrieden betrachtete sie ihre beiden
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Opfer, die bewußtlos auf den rohen Planken des engen Raumes lagen. „Sollen wir ihnen gleich den Rest geben?“ fragte Maddox, der über Ferris Tucker kniete. „Nein“, entgegnete sie. „Damit warten wir noch. Es könnte sein, daß ich sie als Geiseln brauche. Fesselt und knebelt sie. Ich hole mir jetzt mein Stöckchen wieder und sehe zu, was aus den beiden anderen Narren geworden ist. Jack und Dead Eye, ihr kommt mit. Maddox und Lee können die zwei hier auch allein verschnüren, sie brauchen unsere Hilfe nicht.“ „Ja, Madam“, erwiderte Maddox. „Sollen wir die Burschen hier einsperren?“ „Das ist wohl das Beste. Beeilt euch und kommt uns gleich nach.“ Sie wandte sich ab, verließ den Raum und stieg, gefolgt von Jack Rolland und Dead Eye, einen Niedergang hoch, der auf den Mittelgang des Achterkastells mündete. Sie suchte ihre Kammer im Achterkastell auf, einen Raum, der mit Tand und Flitter vollgestopft war. Lang hingen die spitzengesäumten Gardinen von den Bleiglasfenstern der Heckwand nieder. Auf einem Tischchen, dessen verschnörkelte Metallbeine am Boden befestigt waren, lag der Stock aus Eichenholz, das Symbol ihrer Macht. Während ihres Abstechers zur „Isabella“ hatte sie lieber darauf verzichtet, denn sie hatte den Seewölfen gegenüber nicht den Eindruck einer resoluten, herrschsüchtigen, despotisch veranlagten Frau erwecken wollen. Jetzt umschlossen ihre harten Finger den Stock, und sie lächelte grausam. Zuschlagen, dachte sie, ohne Erbarmen einen nach dem anderen außer Gefecht setzen. Es klappt, der Sieg ist unser. Wieder sah sie die immensen Schätze der „Isabella“ vor Augen. Das Bild all dessen, was in den Frachträumen der Galeone lag, war plastisch und schien greifbar nah zu sein. Es verlieh ihr den Antrieb, unter dessen Einfluß sie bereit war, zu morden. Sie trat aus ihrer Kammer, winkte Rolland und Dead Eye zu und sagte: „Los, schnell, vielleicht werden wir gebraucht. Ich zweifle zwar nicht daran, daß Alana es
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geschafft hat, die beiden anderen nach unten zu locken. Aber sicher haben auch die längst gemerkt, daß unser Schiff gar nicht aufgelaufen ist, und stellen sich entsprechend bockbeinig an.“ 8. Sam Roskill und Bob Grey hatten einen Niedergang benutzt, der bugwärts in die Tiefe führte, dann waren sie den Gang entlanggeschlichen, der nach achtern auf das durch die Türritzen dringende Licht zuführte. Sam hatte die Tür kurz entschlossen geöffnet, Bob hatte ihm dabei mit der vorgestreckten Pistole Schutz geboten. Was ihnen jetzt bei dem Blick in den hinter der Tür liegenden Raum offenbart wurde, war im wahrsten Sinne des Wortes entwaffnend. Wahrscheinlich war dies früher einmal der Frachtraum des Zweimasters gewesen, in der Decke war deutlich die Luke zu erkennen. Martha Brown und ihre „Crew“ hatten ihn zweckentfremdet und ein richtiges Etablissement daraus gemacht, mit seidenen Vorhängen an den Wänden, mit Kissenlagern, einem roten Diwan, schnörkeligen Gestühlen und vielen Lampen, die warmes, anheimelndes Licht verbreiteten. Der Duft schweren, süßlichen Parfüms hing in dem langgestreckten Raum., Ausgestreckt auf den Kissenlagern und auf dem Diwan lagen die, die Sam und Bob gesucht hatten - die Mädchen.. Ihr Lächeln war einladend, unmißverständlich, und noch eindeutiger war die Kleidung, die sie um ihre schlanken, wohlproportionierten Körper gewunden hatten - seidige Fetzchen, fast transparent. Sie verhüllten nichts und entblößten fast alles. Sam konnte nicht anders, er mußte eintreten. Bob folgte ihm und drückte die Tür ins Schloß. Alana hob die Hand und winkte ihnen zu. „Tretet näher, Freunde. Das hier ist es, was ich euch zeigen wollte. Darf ich euch mit den anderen Mädchen bekannt machen?
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Nur keine falsche Bescheidenheit - setzt euch zu uns.“ „Das ist es also“, murmelte Sam. „Jetzt wissen wir ja endlich, wo wir gelandet sind.“ „Ja. Auf einem schwimmenden Puff“, knurrte Bob bissig. „Hätten die das nicht gleich sagen können? Warum diese Geheimnistuerei?“ Sam trat in die Mitte des Raumes und begegnete Alanas herausforderndem Blick. „Wo stecken unsere Kameraden? Die Tür zum Achterkastell ist verschlossen.“ Alana lachte amüsiert auf. „Himmel, kannst du dir denn nicht vorstellen, was passiert ist? Sie werden wohl auch einen kleinen Zeitvertreib gefunden haben. Himmel, Junge, wann bist du denn geboren?“ Die anderen kicherten. Sam hatte sich gefaßt. Auch eine Hundertschaft von dürftig bekleideten Sirenen konnte ihn nicht in Verlegenheit bringen — warum denn? Er war als ausgesprochener Draufgänger bekannt. Rasch steckte er die Pistole weg. „Täubchen“, entgegnete er. „Für wie beschränkt hältst du mich? Ferris Tucker und Stenmark haben schon viel ausgefressen, aber mit einer abgetakelten Galeone wie deiner lieben Mutter geben sie sich nun doch nicht ab.“ Diesmal hatte er die Lacher auf seiner Seite. Alana hob die Augenbrauen und sagte: „Warum beleidigst du Miß Martha?“ „Miß Martha? Du bist also doch nicht ihre Tochter?“ „Sowenig, wie meine vier Freundinnen hier ihre Töchter beziehungsweise Nichten sind.“ „Aha. Aber die Miß kaufe ich eurer werten Marketenderin nun doch nicht ab“, sagte Sam grinsend. „Dazu sieht sie mir zu hartgesotten aus. Außerdem sind die Zeiten vorbei, in denen man noch richtige Jungfrauen traf.“ „Hört, hört“, sagte das blonde Mädchen spöttisch. „Was so ein mit allen Wassern gewaschener Korsar doch nicht alles weiß.
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Bist du in der Praxis auch so clever wie in der Theorie, Junge?“ „Halten wir doch keine Reden“, erklärte Bob Grey. „Sag uns lieber, wie die anderen vier Schönen heißen, Alana.“ Sie nickte. „Einverstanden.“ Als erstes wies sie auf die Schwarzhaarige mit den üppigen Formen, die wie hingegossen auf den bunten Kissen lag. „Das ist Geraldine.“ „Willkommen“, sagte Geraldine. „Lilias ist die Brünette, die ihr dort drüben seht“, fuhr Alana fort. „Die Rote heißt Cora, und die mit der blonden Perücke ist Sidney.“ „Hallo“, sagten Lilias, Cora und Sidney. „Fein“, antwortete Sam Roskill. „So segelt ihr also von Hafen zu Hafen, und — wie sagte ‚Miß' Martha Brown doch so treffend? — dort findet das, was ihr anbietet, immer reißenden Absatz.“ „Kleider und Wirkwaren“, sagte Bob Grey. „Wie waren die Geschäfte in Rye?“ „Dort sind wir noch gar nicht gewesen“, erwiderte Alana. „Das hat Miß Martha nur erfunden, um die Story mit dem kaputten Ruder und dem Auflaufen anknüpfen zu können, was ja wohl glaubwürdig genug klang. In Wirklichkeit haben wir am späten Nachmittag von See aus vor dem drohenden Sturm in diese Bucht verholt.“ „Ich begreife nicht, wieso ihr uns was vorschwindelt“, sagte Sam. „Ach“, sagte Alana mit ziemlich unbedarfter Miene. „Miß Martha witterte ein gutes Geschäft, aber sie war nicht sicher, ob euer Kapitän euch die Erlaubnis erteilen würde, ein bißchen mit uns zu feiern. Da hat sie sich diesen Vorwand einfallen lassen, um wenigstens ein paar von euch herüberzulocken.“ Sam blickte Bob an. „Klingt plausibel, was?“ „Und wie. Man könnte fast meinen, es wäre die Wahrheit.“ „Was sagst du da?“ sagte Geraldine, die Üppige. „Zweifelst du etwa an unserer Aufrichtigkeit?“ „Ja.“ Bob nickte. „Ihr habt die ,Isabella` gleich erkannt, als sie in die Bucht einlief, gebt es zu. Ihr seid auf unser Gold und
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Silber scharf, nicht auf uns. Ihr wartet bloß auf eine günstige Gelegenheit, uns einzulullen und uns unser persönliches Hab und Gut aus den Taschen zu ziehen. Aber leider habt ihr euch verrechnet. Mit uns läuft nichts. Der Seewolf hat uns tatsächlich das Herumhuren verboten.“' Alana ging nicht auf seine Worte ein, sie lächelte noch verführerischer. „Ach, hör doch mit deinen törichten Unterstellungen auf“, sagte sie mit rauher, lockender Stimme. „Komm her und trink mit mir, du Großmaul. Du hast mich neugierig gestimmt, ich will wissen, ob du wirklich der tolle Kerl bist, der zu sein du vorgibst.“ „Augenblick“, sagte Bob, der noch immer die Schnapphahnschloß-Pistole in der Hand hielt. „Den Trick kennen wir.“ „So was erleben wir nicht zum erstenmal“, teilte Sam der Blondine kühl mit. „Was hast du vor? Willst du uns einen Schlaftrunk einflößen? Oder willst du uns die Pistolen abnehmen?“ Geraldine und Lilias hatten sich erhoben. Sie traten näher, und Geraldine lächelte dreist. „Nun hört euch diese Helden an“, sagte sie. „Bilden sich ein, daß eine Handvoll Mädchen ihnen was antun könnte. Was seid ihr denn bloß für Schlappschwänze? Euch ist wohl der Schneid verlorengegangen, was?“ „Würdest du wirklich mit deiner Pistole auf mich zielen, Blonder?“ erkundigte sich Lilias bei Bob. Nun gerieten Sam und Bob doch in Verlegenheit. Sie wichen zurück, blieben wieder stehen und wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Die Mädchen nutzten die Chance. Auch Alana, Cora und Sidney waren von ihren Lagern aufgestanden und rückten näher. Geraldine trippelte auf Sam Roskill zu und hängte sich ihm plötzlich an den Hals. Er fühlte ihre großen, warmen Brüste auf sich und wollte sich befreien, aber sie preßte ihren ganzen Körper fest an den seinen und flüsterte: „Du wirst doch wohl die zehn Minuten Zeit haben, Großer. Dein Kapitän erfährt nichts davon, wir brauchen
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es ihm ja nicht gerade auf die Nase zu binden ...“ „Hör auf“, sagte er. „Es hat keinen Zweck. Zwing mich bloß nicht, dir eine Ohrfeige zu geben.“ „Das würdest du tun?“ hauchte sie entsetzt. „Oh, du Rohling!“ Lilias und Cora eilten auf Bob Grey zu, hielten ihn an den Armen fest, und plötzlich hatte Sidney, die nun auch zur Stelle war, Bobs SchnapphahnschloßPistole an sich gerissen. „Was für ein schönes Modell“, stieß sie in gespieltem Entzücken aus. „Wie viele Leute hast du damit getötet, Korsar?“ Die anderen kicherten. Bob riß sich los, trat zu Sidney und streckte die Hand aus. „Gib das Ding sofort wieder her. Paß auf, der Hahn ist gespannt. Die Pistole könnte losgehen.“ Sidney trat etwas zurück, und plötzlich legte sie die Pistole auf ihn an. „Keinen Schritt weiter!“ rief sie. „Ich glaube, sie könnte wirklich losdonnern.“ Bob blieb aber nicht stehen. Hölle, sie waren doch nicht auf diesen rosaroten Kahn gestiegen, um sich von fünf leichten Mädchen hereinlegen zu lassen! Entschlossen schritt er auf Sidney zu, um ihr die Pistole zu entwinden. Sidney schrie auf und wich zurück. „Mich kriegst du nicht! Bleib stehen, du Hund! Ich leg dich um!“ Bob ließ sich nicht beeindrucken. Sam Roskill sah nun auch rot. Wenn ein Flittchen ernsthaft mit der Pistole auf einen Mann anlegte, hörte der Spaß auf. Sam verpaßte Geraldine die Ohrfeige, die er ihr versprochen hatte, und stieß sie von sich fort. Sie kreischte auf. Alana hatte es fertig gebracht, Sam zu umrunden, während Geraldine ihn abgelenkt hatte. Jetzt riß sie ihm mit einem Ruck die Pistole aus dem Waffengurt. Sam hörte den Waffenhahn in seinem Rücken knacken, und es lief ihm eiskalt über den Rücken. Langsam drehte er sich um und sah dem blonden Mädchen in die Augen. Geraldine hatte sich auf den roten Diwan gesetzt, hielt sich die brennende Wange
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und rief: „Knall ihn ab! Na los, auf was wartest du noch?“ Alana zögerte. Zwei Türen hatte der langgestreckte Raum im Bauch des Schiffes, eine vorn und eine achtern. Beide öffneten sich jetzt, und die Männer traten ein: Carl Winthrop und Raymond Hopkins von vorn, Jack Rolland und Dead Eye, die von Martha Brown vorgeschickt worden waren, unter der Führung des Neffen Albert von achtern. Alana lief zu Winthrop und Hopkins, Geraldine und Lilias folgten sofort ihrem Beispiel. Sidney konnte gerade noch dem wütenden Bob Grey entwischen. Sie stürzte mit der rothaarigen Cora zu Albert, Rolland und Dead Eye hinüber. Plötzlich standen Sam und Bob allein da, bedroht von den Männern der Brown, deren Auftauchen für sie völlig überraschend erfolgte. „Ein richtiges Komplott“, sagte Sam. „Die Burschen sind wohl die Beschützer der feinen Damen, wie ich annehme.“ Bob nickte mit grimmiger Miene, zog sein Entermesser aus dem Gurt und rief: „Na, dann zeigt doch mal, wie gut ihr fechten könnt!“ Albert hatte Sidney die Schnapphahnschloß-Pistole abgenommen und richtete sie auf Bob. „Werft eure restlichen Waffen weg. Ihr habt keine Chance. Ihr kommt hier nicht 'raus. Laßt eure Lage nicht noch schlechter werden, als sie jetzt schon „Was ist mit Stenmark und Ferris passiert?“ schrie Sam. „Die schlafen sanft“, erwiderte die Brown, die nun ebenfalls eingetroffen war, von der achteren Tür her. „Und ihr zwei solltet hübsch brav sein, sonst liegt ihr auch gleich auf den Planken.“ Sam warf der Brown Wörter an den Kopf, die selbst sie, die Hartgesottenste von allen, im Gesicht rötlich anlaufen ließen. Bob schaute sich hastig um und suchte nach weiteren Türen oder Fenstern - es gab sie nicht. Bob und Sam blickten sich stumm an, dann handelten sie. Sam lief auf die achtere Tür
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zu, zückte den Säbel und schrie: „Arwenack!“ Bob stürmte zu der nach vorn weisenden Tür und schwang wild das Entermesser. Sie setzten beide alles auf eine Karte und gingen bis zur äußersten Konsequenz. Lieber verrecken als diese Schmach erleiden - das dachten sie in diesem Moment. „Nicht schießen!“ schrie die Brown. „Ich will sie lebend!“ Albert zückte ein dünnes, scharfes Messer, seine Miene verzerrte sich. Seine Tante hielt ihn jedoch an der Schulter zurück. Rolland und Dead Eye rückten mit ihren Säbeln gegen Sam Roskill vor, hielten ihn auf und fochten erbittert gegen ihn. Winthrop und Hopkins drangen auf Bob Grey ein. Dann erschienen auch noch Maddox und Lee Henderson und griffen ebenfalls ein. Gegen sechs Kerle, die leidlich gut zu fechten verstanden, waren auch Sam und Bob machtlos. Nach einigen wilden Ausfällen der Gegner stand Sam plötzlich ohne seinen Säbel da. Dead Eye wollte mit der Waffe zustechen, aber wieder war es die Brown, die die Aktion stoppte. Auch Bob verlor sein Entermesser aus der Hand, er konnte sich beim besten Willen nicht mehr halten. Mit abgespreizten Fingern lehnte er sich gegen die Raumwand, blickte auf seine Gegner und stand da wie ein zur Exekution bereiter Todeskandidat. „Sie sollen leben“, ordnete Martha Brown an. „Wenn sie auch Narren sind - ich brauche sie noch!“ „Tante“, sagte Albert gepreßt. „Du begehst einen Fehler. Die werden uns nur als Leichen nicht mehr gefährlich. Laß mich mit meinem Messer an sie 'ran.“ „Nein, kommt nicht in Frage.“ „Sieh mal an“, sagte Sam Roskill. „Die alte Puffmutter hat ja doch einen richtigen Verwandten hier an Bord.“ „Aber nur einen Neffen“, sagte Bob höhnisch. „Deshalb ist und bleibt sie eine ‚Miß', eine keusche Jungfer. Ist das nicht herrlich?“
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„Und soll ich dir verraten, was sie außer einer züchtigen, frommen Lady sonst noch alles ist, Bob?“ „Ja, Sam.“ „Carl“, sagte die Brown. Carl Winthrop schritt mit baumelnden Armen durch den Raum, seinen Säbel hatte er weggesteckt. Er wußte, daß alle Blicke auf ihm ruhten, auch die von Alana, Geraldine, Lilias, Cora und Sidney. Er wußte genau, was er zu tun hatte, Miß Marthas Wink war eindeutig. Carl genoß den Triumph. Sie sollten sehen, wie stark er war - Alana würde einsehen, was sie verlor, wenn sie nicht ein bißchen nett zu ihm war. Er ging zu Sam Roskill und schoß einen Fausthieb auf dessen Kopf ab. Sam wich aus, aber dann hielten ihn die anderen Kerle plötzlich fest, und Carl schlug noch einmal mit aller Wucht zu. Sam brach zusammen. Reglos blieb er auf dem teppichbedeckten Boden des Etablissements liegen. Bob sprang von der Wand, an der er gelehnt hatte, weg, ehe sich Martha Browns Schergen auf ihn stürzen konnten. Er raste auf Carl Winthrop zu und brachte ihm zwei Schläge bei, die den großen, ungeschlachten Burschen wanken ließen. Dann drehte Carl sich ganz zu Bob um. Er knurrte wütend, ließ Bob Grey auflaufen, hielt ihn fest und preßte ihn an sich. Er nahm ihn in einen richtigen Schwitzkasten. Bob fühlte, wie ihm die Gurgel zugedrückt wurde, er begann zu keuchen, wehrte sich und versuchte, Carl das Knie in den Leib zu rammen, stand aber zu ungünstig. Der Atemmangel raubte ihm die Kraft, fast auch den Verstand. Ihm schwanden die Sinne. „Carl“, sagte die Brown wieder. Carl ließ den drahtigen blonden Mann los. Schlaff sank Bob zu Boden. Auch er rührte sich nicht mehr. Carl hätte ihn nicht losgelassen und ihm weiter die Kehle zugepreßt, wenn Miß Martha Brown sich nicht anders entschieden hätte. „Sie sollen leben“, sagte sie noch einmal. ,,Ihr werdet schon sehen, was für eine schöne Schau wir mit ihnen veranstalten.“
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Old O'Flynn blickte zum Sumpf. „Ich habe einen Ruf gehört“, sagte er plötzlich, verließ seinen Standort auf dem Achterdeck und wandte sich an den Seewolf. „Da hat jemand was gerufen, Hasard“, wiederholte er. „Und diesmal täusche ich mich ganz bestimmt nicht.“ „Sir“, meldete sich nun auch Bill aus dem Großmars. „Drüben, wo das Schiff der Frauen liegt, hat jemand was geschrien, das wie ,Arwenack` klang.“ „Verdammt, was hat das zu bedeuten?“ fragte der Profos. „Vielleicht haben sie den Kahn flottgekriegt“, sagte Shane. „Als Zeichen war unser Kampf- und Siegesruf jedenfalls nicht vereinbart“, sagte der Seewolf. „Warten wir noch ein wenig, dann sehen wir nach, was da los ist.“ Kurze Zeit später rief Bill: „Sir, Zweimaster Backbord achteraus! Ho, er hat den Sumpf verlassen und läuft aus der Mündung des Flusses auf uns zu!“ „Na bitte“, sagte Ben Brighton. „Dann wäre ja alles in bester Ordnung. Ferris, Stenmark, Sam und Bob haben wirklich gute Arbeit geleistet, wie es scheint.“ „Was, in so kurzer Zeit?“ Old O'Flynn schaute nach wie vor höchst skeptisch drein. Seine düstersten Ahnungen waren wieder da und verdichteten sich stärker als zuvor. Das Schiff der Frauen glitt ohne Segel auf die „Isabella“ zu. Es wurde von der Strömung des Flusses und der immer noch andauernden Ebbe auf die Galeone zugetragen. Rasch verringerte sich der Abstand zwischen den beiden Seglern. Der Sturm hatte seit dem Einlaufen der „Isabella“, in die geschützte Bucht nachgelassen. Der immer noch aus Süden einfallende Wind blies die schwarzen Wolken ins Landesinnere, und der bleiche Mond streute wieder sein Licht aus. Die Seewölfe versammelten sich am Schanzkleid der Kuhl und blickten zu dem seltsamen Zweimaster hinüber. Als jener
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beidrehte und seine merkwürdige Bauweise, der knallige Anstrich und die Gardinen an den Fenstern deutlich sichtbar wurden, klappte Carberry glatt der Unterkiefer herunter. „Ja, da setz ich glatt Miesmuscheln an“, sagte er. „Hat die Welt schon so einen Kahn gesehen?“ „Nein“, erwiderte Hasard. „Ich muß gestehen, das ist eine sehr originelle Idee von Martha Brown. Die Ware, die sie feilhält, läßt sich wohl nicht besser anbieten ...“ „Kleider und Wirkwaren?“ sagte der Profos. „Sag mal, willst du uns alle verschaukeln, oder was ist los, Ed?“ fragte Big Old Shane, ohne den Blick von dem bunten Schiff zu nehmen. „Du willst doch wohl nicht im Ernst behaupten, daß du das Märchen immer noch glaubst, was?“ „Ich — das — Hölle, das haut doch dem Faß den Boden aus“, stieß Carberry hervor. „Du meinst wirklich, das Schiff ist ein ... Mann, warum ist mir das nicht gleich eingefallen?“ „Das fragen wir uns auch“, entgegnete Dan O'Flynn. „Smoky!“ brüllte der Profos. „Paß bloß auf, daß die Zwillinge jetzt nicht auf Oberdeck erscheinen.“ „Wenn du weiter so einen Lärm veranstaltest, wachen sie garantiert auf“, sagte der Decksälteste. Hasard beobachtete den Zweimaster. Er war längst auf Rufweite heran und dümpelte jetzt noch näher. Die Jolle der „Isabella“ hing bei dem Schiff im Schlepp, die Gig war an Bord gehievt worden. Was Hasard beunruhigte, war der Umstand, daß sich noch niemand auf Deck zeigte, keine winkenden, lachenden Mädchen, keine grinsenden Seewölfe. „Da ist was faul“, flüsterte Old O'Flynn, und Hasard konnte nicht anders, er mußte seinem Verdacht in diesem Augenblick zustimmen. Der Zweimaster verhielt an Backbord der „Isabella“, keine zehn Yards entfernt. Plötzlich erschien Martha Brown auf der Kuhl. Sie lachte hämisch auf und
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schwenkte ein Stöckchen, das sehr dünn und doch solide wirkte. Ihr ganzes Benehmen hatte sich grundlegend geändert. Sie wirkte sehr männlich. „Mister Killigrew!“ rief sie. „Bereiten Sie sich keine Sorgen um Ihre vier Kameraden — es geht ihnen soweit prächtig. Nur haben sie sich total verausgabt. Sie haben die Mädchen gesehen und dachten sich natürlich sofort, sie könnten mal schnell ...“ „Das ist nicht wahr“, zischte Old O'Flynn. „Das Weib lügt. Nie und nimmer würden sich Ferris, Stenmark, Sam und Bob so was erlauben, wenn du es verboten hast, Hasard.“ „Sie sind versackt“, fuhr die Brown fort, „und können nicht mehr auf dem Zahnfleisch kriechen. So was habe ich noch nicht erlebt. Was für Kannibalen fahren eigentlich unter Ihrer Flagge, Mister Seewolf?“ „Wenn sie so völlig am Boden zerstört sind, wie konnten sie dann Ihr Schiff flottkriegen?“ erkundigte sich Hasard. Die Brown lachte daraufhin und setzte ihm auseinander, wie der wahre Sachverhalt war — soweit es das Schiff betraf. Weitere Einzelheiten gab sie nicht preis. „Madam“, sagte der Seewolf scharf. „Ich kann das nicht billigen. Lassen Sie jetzt meine Leute herüber, und dann unterhalten wir uns noch mal in gebührender Weise.“ Sie klopfte mit dem Eichenholzstock auf die Handleiste des Schanzkleides und rief: „Verehrter Mister Killigrew! Ihre vier Prachtexemplare von Männern müssen Sie schon selbst abholen.“ „Was haben Sie mit ihnen angestellt, Martha Brown?“ „Ich? Nichts ...“ „Wir wollen jetzt Klartext reden!“ rief er zurück, und seine Stimme klang frostig und schneidend. „Lassen Sie mich auf der Stelle meine Männer sehen, oder es gibt Ärger. Gewaltigen Ärger. Ich lasse mich nicht gern an der Nase herumführen. Schon gar nicht von einer Frau Ihres Gewerbes.“ „Sie wollen sie sehen?“ Sie lachte wieder: “Aber gern.” Zweimal klopfte sie mit dem
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Stöckchen aufs Schanzkleid, dann stieß sie - sehr undamenhaft - einen schrillen Pfiff aus. Und sie erschienen. Zuerst die fünf Mädchen, dann Ferris, Stenmark, Sam Roskill und Bob Grey. Die Männer waren gefesselt und geknebelt worden und konnten sich kaum auf den Beinen halten. Die Stricke um ihre Fußknöchel hatte die Brown so weit lockern lassen, daß sie kleine Schritte tun konnten. „Eine Muskete“, sagte Old O'Flynn erbleichend. „Gebt mir eine Muskete, damit ich dieses Frauenzimmer über den Haufen schießen kann. Was ist das für eine Teufelei?“ „Sei still“, raunte Ben Brighton ihm zu. „Die haben uns über den Löffel barbiert wie die grünen Jungs, aber mit Schießen können wir im Augenblick nichts ausrichten. Willst du Ferris oder die drei anderen etwa verletzen?“ „Donegal“, sagte der Seewolf, ohne den Kopf zu wenden. „Du hattest auf unerklärliche Weise recht. Ich muß mich bei dir entschuldigen.“ „Ach wo“, meinte der Alte. „Sag mir lieber, wie wir die Kameraden aus den Klauen der Weiber befreien.“ „Martha Brown!“ rief der Seewolf über das Wasser der Bucht. „Also gut, ich komme und hole meine Männer ab. Verlassen Sie sich darauf, ich hole sie auf die ,Isabella` zurück, und Sie werden noch bereuen, was Sie mit ihnen getan haben.“ „Hölle und Verdammnis“, murmelte der Profos. „Wie haben die das bloß fertiggebracht? Wie haben die vier unserer besten Leute überlisten können? Das will mir nicht in den Kopf.“ „Sie wollen mir drohen?“ entgegnete die Brown schrill. „Daß ich nicht lache! Hören Sie jetzt meine Bedingungen. Sie bringen so viele Truhen und Kisten aus den Frachträumen Ihres Schiffes mit, wie das größte Beiboot fassen kann - randvolle Kisten und Truhen, verstanden? Nach dieser ersten Fahrt werde ich Ihnen einen Ihrer Kerle aushändigen - den Rothaarigen zum Beispiel. Dann pullt ihr zur ,Isabella', und Sie kehren allein zurück, wieder mit
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einer Schatzfuhre. Ich lasse Sie den zweiten Hornochsen mitnehmen, sobald wir das Boot entladen haben, und so weiter und so fort.“ „Sie können mich nicht erpressen!“ schrie er. „Ich kann! Sie werden diese Männer nicht opfern!“ „Darauf lassen wir es ankommen.“ „Nein, mich können Sie nicht täuschen“, rief sie. „Sie würden selbst Ihr Leben für diese Figuren geben, soviel ist mir bekannt. In Plymouth wurden die tollsten Geschichten über euren Zusammenhalt verbreitet.“ „In Plymouth“, sagte der alte O'Flynn verdrossen, „sollte man den Klatschmäulern bei Gelegenheit mal den Hals stopfen.“ „Martha Brown“, sagte Hasard jetzt. „Lassen Sie uns verhandeln. Werden Sie sich mit diesem Lösegeld zufriedengeben?“ „Vier Boote voll Gold, Silber, Juwelen und Elfenbein - ja!“ „Dann werden wir handelseinig.“ „Das ist sehr vernünftig von Ihnen“, lobte sie höhnisch. „Also beeilen Sie sich, fiert das Boot ab.“ „Hasard“, flüsterte Ben Brighton. „Das kann doch nicht dein Ernst sein.“ „Macht das Boot klar“, befahl Hasard, indem er sich umdrehte. „Profos, wird's bald? Ich habe das schon schneller gesehen.“ Leise fügte er hinzu: „Natürlich gehe ich nur zum Schein auf diesen verfluchten Handel ein. Dan, besorg mir eine Flaschenbombe und steck sie mir zu, ohne daß die Frauen es sehen. Haben sie jemanden im Mast sitzen? Ich habe niemanden erkennen können.“ „Nein, da ist kein Ausguck“, erwiderte Ben Brighton mit Verschwörermiene. Er hatte dem Schiff der Frauen nun auch den Rücken zugewandt. „Also“, flüsterte der Seewolf, „die sechs Prachtweiber sind nicht allein auf ihrem Kahn. Sie haben Helfer, die sich unter Deck versteckt halten. Gefechtsklar können wir jetzt nicht machen, unmöglich. Aber wir halten unsere Handfeuerwaffen
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schußbereit und sind auf der Hut. Späht nach allen Seiten, es könnte sein, daß sie irgendwie die ,Isabella` zu entern versuchen, während die Brown uns die Farce mit der Auslieferung der Gefangenen vorspielt.“ Laut gab er die Order: „Die Ladeluken öffnen und zwölf Kisten von der ManilaGaleone ins Boot verfrachten! Soviel kann die Jolle fassen, mehr nicht!“ „Aye, Sir“, sagte der Profos leise. Nein, er brüllte jetzt nicht mehr herum. Und das war bei Carberry ein denkbar schlechtes Zeichen. Sogar Sir John hatte sich in Sicherheit gebracht, vorsichtshalber. Beim Henker, dachte Carberry, während er die Luke öffnen ließ, was werde ich euch Weibern den Arsch versohlen, wenn ich euch in die Finger kriege. Gedämpft sagte der Seewolf zu den in seiner Nähe stehenden Männern: „Eines ist klar. Sobald ich drüben bin, versuchen die Huren, mich zu entwaffnen und festzunehmen. Dann haben sie den größten Trumpf in Händen. Sie werden euch zwingen, die ,Isabella` zu räumen und ihnen das ganze Schiff zu überlassen ...“ „Seewolf!“ schrie die Brown. Ihre Stimme überschlug sich fast. Hasard wandte sich ihr zu. Er erkannte, daß die Frau inzwischen weitere Stöckchen verteilt hatte. Jedes Mädchen hielt so eine Gerte, und Alana ließ die ihre ein paarmal prüfend durch die Luft pfeifen - dicht vor Ferris Tuckers Nase. „Das Maß ist voll“, murmelte Hasard. „Versuchen Sie nicht, mich 'reinzulegen“; warnte ihn die große, grobknochige Frau in dem schwarzen Kleid. „Dann lasse ich Ihre Kerle nämlich Spießruten laufen, einen nach dem anderen. Wir können prächtig zuschlagen, verstanden?“ „Ich bin ja nicht schwerhörig.“ „Dann legen Sie Ihre Waffen ab. Los, weg damit! Entern Sie in das Boot hinunter, und legen Sie mit der ersten Fuhre ab“, befahl sie. „Sofort“, erwiderte Hasard. „Ich spiele fair, Martha Brown. Tun Sie es auch.“ „Sie können sich darauf verlassen“, antwortete sie.
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Ferris, Stenmark, Sam und Bob hätten gern zur „Isabella“ hinübergebrüllt, was die Brown in Wirklichkeit plante und welche Teufelei sie ausgeheckt hatte, aber sie konnten keinen Laut hervorwürgen, die Knebel in ihren Mündern saßen zu fest. Dan O'Flynn hatte sich in einem günstigen Augenblick auf die Planken der Kuhl sinken lassen. Er war zu Al Conroy gekrochen, hatte sich rasch mit ihm verständigt, und Al hatte sich seinerseits wie zufällig bis zu der Segellast bewegt, in der er ein paar Flaschenbomben versteckt hielt - für alle Fälle. Dan robbte ihm nach. Al öffnete vorsichtig den Deckel der Last, Dan griff hinein und holte eine Flasche heraus. Er drückte sie an die Brust und glitt zu seinem Kapitän zurück. Die Brown hätte nur eins der Mädchen in den Hauptmars ihres Kahnes hinaufzuschicken brauchen, und die List des Seewolfs wäre geplatzt. Auf die geringe Distanz konnte ein Ausguck von dem Zweimaster aus leicht hinter das Schanzkleid der „Isabella“ schauen, er brauchte sich dabei nicht einmal den Hals zu verrenken. Aber Martha Brown hielt es nicht für erforderlich, einen Ausguck abzukommandieren. Das war ihr Fehler. So eine Flaschenbombe war eine großartige Angelegenheit, eine Geheimwaffe, die die Seewölfe schon oft entscheidend eingesetzt hatten. Ferris Tucker hatte die Waffe erfunden, Al Conroy hatte sie gewissermaßen perfektioniert. Die Flaschenbomben der Seewölfe wurden auch als Höllenflaschen bezeichnet, denn sie waren Handgranaten im wahrsten Sinne des Wortes. Eine x-beliebige Flasche konnte auf die bewährte Art mit Pulver, Nägeln und Blei gefüllt werden, anschließend wurde sie zugekorkt. Durch den Korken führte eine kurze Lunte. Je nach Länge dieser Zündschnur konnte ziemlich genau berechnet werden, wann sie detonierte. Wenn sich die Glut erst durch den Korken ins Innere der Flasche gearbeitet hatte, ging die Bombe sogar unter Wasser noch los.
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Ferris Tucker hatte ein Gerät, eine Art Katapult, konstruiert, mit dem man die Flaschen verschießen konnte. Die Seewölfe waren Experten im Umgang mit Höllenflaschen geworden. Dan war bei Hasard angelangt. Der Seewolf zog demonstrativ die Waffen aus dem Gurt - die doppelläufige sächsische Reiterpistole, die er einst einem bretonischen Freibeuter abgenommen hatte, den Degen, das Messer, und ließ sie auf die Planken fallen. „Sir“, zischte Shane. „Drüben auf dem elenden Kahn stehen zwei Geschütze, aller Wahrscheinlichkeit nach Neunpfünder. Es ist anzunehmen, daß die Weibsbilder zum Kampf gerüstet haben. Und sie werden wohl auch mindestens ein Kupferbecken mit Holzkohlenglut bereitgestellt haben, zum Entfachen der Lunten.“ „Damit rechne ich fest“, erwiderte Hasard leise. „Ich kann mir schließlich kein glühendes Holzscheit unter die Weste schieben. Und mit Feuerstein und Feuerstahl dauert es zu lange, die Lunte in Brand zu setzen.“ Dan reichte die Flaschenbombe zu Hasard hinauf. Hasard nahm sie entgegen, steckte sie rasch unter seine Weste, und zwar so, daß sie durch keine verräterische Ausbuchtung auffallen konnte. Er drehte sich um und rief: „Keine Dummheiten, Männer! Laßt die Finger von den Waffen. Das ist ein Befehl. Wir wollen unsere vier Kerls heil zurückhaben, und dafür opfere ich gern einen Teil unseres Schatzes. Es wäre ja nicht das erste Mal, daß wir jemanden freikaufen müssen.“ „Ja, Sir“, antwortete Ben Brighton stellvertretend für alle anderen. Carberry sagte: „Das Boot ist soweit klar, Sir. Wir haben die zwölf Truhen abgefiert und verstaut.“ „Gut, dann gehe ich jetzt“, erwiderte der Seewolf. Er schritt zur Jakobsleiter, kletterte übers Schanzkleid und enterte rasch an der Bordwand ab. Im Boot nickte er Will Thorne und Blacky, die die Kisten zwischen den Duchten verstaut hatten, wortlos zu.
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„Keine Tricks!“ schrie die Brown. „Die Burschen kehren auf das Schiff zurück. Sie erscheinen allein, Killigrew!“ „Selbstverständlich!“ rief er zurück. „Wir spielen fair, Martha Brown. Blacky und Will, ab mit euch.“ Sie kletterten bedrückt an der Jakobsleiter hoch, und er setzte sich mit seinen zwölf Truhen Lösegeld in Bewegung. Schwer wog der Schatz von der Manila-Galeone. Er verlieh der Jolle enormen Tiefgang. Fast drohte sie Wasser zu übernehmen und mit dem Dollbord unterzuschneiden. Martha Brown wartete, bis er die Entfernung von Schiff zu Schiff zu gut zwei Dritteln zurückgelegt hatte. Dann ließ sie ihr Eichenholzstöckchen wie zufällig sinken und pochte damit auf die Planken der Kuhl. Ein Deck tiefer, in dem zu einem Etablissement umfunktionierten großen Raum, blickte Maddox seine fünf Kerle an: Lee Henderson, Jack Rolland, Carl Winthrop, Raymond Hopkins und Dead Eye. „Es geht los“, sagte er. „Los, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.“ Sie hatten sich alle sechs bis auf kurze Hosen entkleidet und trugen Messer und Kurzsäbel bei sich, die sie unter Wasser nötigenfalls auch zwischen die Zähne nehmen konnten. Albert ging mit ihnen, als sie den Raum verließen und zu einer Seitenluke traten, die an Backbord des Zweimasters knapp oberhalb der Wasserlinie ins Freie führte. Es war eine Besonderheit dieses Schiffes. Martha Brown hatte die Seitenluke einsetzen lassen, weil sie das für besonders zweckmäßig hielt. Das schien sich jetzt zu beweisen. Maddox öffnete die Luke. Zu seinen Füßen glitzerte das Wasser, der Mond setzte den Wellen silbrige Lichtkronen auf. „Albert, paß gut auf deine Tante und auf die Mädchen auf“, sagte Maddox noch. „Mit diesem Seewolf ist nicht zu scherzen. Vielleicht hält er doch noch einen Trumpf in der Hand. Seid vorsichtig. Paßt auf.“ „Hör mal, Maddox“, erwiderte Albert mit überheblicher Miene. „Ich bin doch kein
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Säugling mehr. Dem Kerl schleudere ich auch auf einen Abstand von zehn Yards noch ein Messer zwischen die Rippen.“ „Großartig“, sagte Maddox. Damit stieg er als erster in die Fluten. 10. Hasard ging mit der Jolle bei Martha Browns Schiff längsseits. Er vertäute sie, wunderte sich über die altertümliche Klinkerbauweise und zuckte mit den Schultern. Er griff nach den Sprossen der Jakobsleiter, die für ihn ausgebracht worden war, und kletterte hoch. Als er auf der Kuhl anlangte, stellte er als erstes fest, daß die Mädchen - eine war hübscher als die andere - die Schußwaffen von Ferris, Stenmark, Sam und Bob in den Händchen hielten. Nur Sidney hatte darauf verzichten müssen, sie hatte nur das Eichenholzstöckchen, das Madama ihr ausgehändigt hatte, denn es waren ja nur vier Pistolen. Nur! Diese ausgekochten Biester konnten ihn, Hasard, jederzeit über den Haufen schießen! Er blickte zu seinen Männern. Nein, sie sahen nicht beschämt zu Boden, ihre Augen schienen ihm etwas mitteilen zu wollen - aber was? Alle vier hatten sie blaue und rote Male im Gesicht und schienen vor Wut zu kochen. Miß Martha Brown lächelte kalt. „Na?“ Sie stand mit leicht abgespreizten Beinen da und verschränkte die Arme vor der Brust. Zwischen ihren Fingern schaute das Stöckchen hervor, und Hasard konnte auch den goldenen Armreif an ihrem Gelenk erkennen. Du Narr, dachte er, sieh zu, daß du dir den Reif wiederholst! „Ich frage mich, wie ihr die Fracht löschen wollt“, sagte er. „Ihr seid doch viel zu schwach dafür, die Kisten an Bord zu hieven. Ich werde euch wohl dabei helfen müssen. Auch das tue ich noch für euch.“ „Mir kommen gleich die Tränen vor Rührung“, erwiderte sie spöttisch. „Wie wäre es, wenn Sie meine Männer losbinden? Sie könnten mit zupacken.“
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„Sie müssen mich für eine ausgesprochen dumme Gans halten.“ „Richtig, Lady.“ Er hielt nach dem Becken mit der Holzkohle Ausschau, während er sprach, und bemühte sich, dies so unauffällig wie möglich zu tun. Und dann sah er es - es gab nur eins, und es stand auf der Backbordseite der Kuhl, also ziemlich weit von ihm entfernt. Dorthin mußte er im geeigneten Augenblick springen. „Schluß“, sagte die Brown giftig. „Halten wir hier keine großen Reden, Mister. Es ist Ihr ausgesprochenes Pech, daß Sie so einfältig gewesen sind. Glauben Sie an die Fairneß?“ „Ja.“ „Ich nicht. Ich halte mich nie an diese blödsinnige Regel.“ Sie winkte ihren fünf gehorsamen, willigen Mädchen zu. „Fesselt auch ihn. Er kann uns nicht mehr entkommen. Anschließend stelle ich mein Ultimatum an die anderen Blödmänner, und wir werden ja sehen, ob sie endlich alles hergeben - zumal sie gleich von zwei Seiten bedroht werden.“ Also doch, dachte der Seewolf. Er steckte schnell zwei Finger in den Mund und ließ einen grellen Pfiff vernehmen. Das war das Zeichen an die Männer der „Isabella“, daß ein hinterhältiger Angriff auf die „Isabella“ stattfinden sollte, ein Zeichen, das Hasard mit ihnen vereinbart hatte. Sie wußten es zu deuten. „Halt!“ rief Geraldine und zielte mit der Beutepistole auf Hasards Stirn. „Keinen Laut mehr, oder du kriegst die Kugel in die Schulter. Ich kann schießen, glaub es mir. Du wirst zwar nicht sterben, aber höllische Schmerzen haben.“ Er nahm die Finger aus dem Mund, nickte und hob die Hände. „Was bin ich doch für ein Esel gewesen“, sagte er. Die Brown frohlockte. „Sehen Sie es jetzt ein? Ich kriege Ihren ganzen Schatz, Mister, und Sie und Ihre Männer, ihr alle geht leer aus. Sie dürfen Ihr Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, Ihre Kerle.
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Sie müssen den Kahn räumen, etwas anderes bleibt ihnen nicht übrig.“ „Und wenn ich ihnen durch meinen Pfiff befohlen habe, daß sie es nicht tun sollen was ist dann?“ Sie grinste gemein. „Dann haben sie trotzdem das Nachsehen.“ Geraldine, Sidney und Cora rückten näher. Sie wollten Hasard fesseln. Es war eigentlich nicht sein Stil, gegen Vertreterinnen des schwachen Geschlechts vorzugehen, aber diese Frauen hatten den Bogen erheblich überspannt, er durfte keine Rücksichten mehr nehmen. Plötzlich zuckte sein Fuß hoch. Er schwang nach rechts und traf Geraldines und Coras Waffenarme. Sie schrien entsetzt und ließen die Pistolen fallen. Sidney hatte nur das Stöckchen aus Eichenholz, traute sich aber plötzlich nicht mehr, damit zuzuschlagen, denn der Seewolf sah bei diesem wilden Ausfall, mit dieser furchtbar verzerrten Miene, plötzlich zum Grausen aus. Von Sun Lo, dem Mönch von Formosa, hatte Hasard einige Tricks einer ausgefallenen Kampfmethode gelernt, die er hin und wieder anwandte. Der ausholende Fußtritt hatte genügt, die drei Mädchen zu entwaffnen und zu irritieren die Pistolen gingen beim Aufprall auf den Planken zum Glück nicht los. Hasard sprang nach Backbord, ehe Alana oder Lilias auf ihn feuern konnten. Er riß die Flaschenbombe aus der Lederweste hervor, steckte das Luntenende in die Holzkohlenglut und hob die glimmende Granate hoch. „Dies ist eine Höllenbombe!“ schrie er. „Wenn ich die Zündschnur nicht wieder lösche, fliegen wir alle in die Luft. Madam, ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen!“ „Das wagen Sie nicht!“ kreischte sie. „Maddox, angreifen! Erledigt diese Hundesöhne!“ Hasard blickte zu Ferris, Stenmark, Sam und Bob und sah, wie es in deren Augen funkelte. Sie waren bereit. *
Das zweite Gesicht des Old O’Flynn
„Achtung“, zischelte Matt Davies, der ganz gemütlich zum Steuerbordschanzkleid auf der Kuhl der „Isabella“ hinübergeschlendert war. Er hatte einen Blick über die Brüstung geworfen und zwei, drei Köpfe aus dem Wasser auftauchen sehen - achtern, beim Heck. Rasch hatte er sich wieder zurückgezogen. „Achtung`, wiederholte er. „Da rückt wer an. Schätze, die Bastarde sind von dem Zweimaster bis hier herübergetaucht. Zu schaffen ist es.“ „Wie viele sind es?“ fragte Blacky. Er stand Matt am nächsten. „Mindestens drei.“ „Eine Handvoll Hurensöhne will entern“, raunte Blacky dem Gambia-Mann zu. „Weitergeben.“ Ben Brighton, Old O'Flynn und Dan O'Flynn, Shane, Smoky und die meisten anderen blickten noch wie gebannt zu dem Zweimaster hinüber. Hasard hatte soeben die Mädchen von sich gestoßen und war zur anderen Schiffsseite hinübergesprungen. Er hatte die Lunte der Flaschenbombe entfacht und schrie seine Warnung. Miß Martha Brown kreischte wie von Sinnen. „Maddox“, murmelte der Profos in Bens Rücken. „Maddox. Wer ist das denn?“ „Das erfahren wir gleich“, zischte Jeff Bowie. „Eine Meute von Kerlen entert unser Schiff, Profos.“ „Was du nicht sagst ...“ Jeff deutete zum Achterdeck. Carberry nickte, verständigte alle anderen, die es noch nicht wußten — und dann liefen sie quer über die Kuhl zum Achterdeck hinauf und waren zur Stelle, als Maddox und die anderen fünf Spießgesellen der Brown über das Ruder der „Isabella“ am Heck hochkletterten. Nein, die Seewölfe feuerten keine Musketen und Tromblons auf die Burschen ab. Sie verzichteten sogar auf Pistolen und arbeiteten nur mit ihren Entermessern. Schiffshauer, Kurzsäbel — ein wahrer Hagel von Klingen blinkte vor den Piraten auf.
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„Stürmt den Kahn!“ brüllte Maddox. Er war als erster auf dem Achterdeck, dann erschienen Lee Henderson, Jack Rolland und Carl Winthrop. Raymond Hopkins stürzte ab, noch ehe er sich am Schanzkleid hochziehen konnte, denn Ben Brightons Entermesser strich so haarscharf über seinen Kopf weg, daß er beinahe skalpiert wurde. Hopkins verlor seinen Halt, rutschte ab, fiel und stieß einen Schrei aus. Er landete klatschend im Wasser und zog es wenig später vor, ganz zu verschwinden, statt noch einmal zu entern. Das lag an der Entwicklung des Gefechts, die er auch von unten verfolgen konnte. Dead Eye hatte sich mit Big Old Shane auf einen Zweikampf eingelassen. Zweimal gelangte er zum Zug und wollte mit seinem mitgebrachten Entermesser zustechen. Beide Male parierte Shane geschickt. Dann zerhieb er Dead Eyes Deckung, schlug ihm das Messer aus der Hand und knallte ihm den Knauf des Waffenheftes gegen die Schläfe. Dead Eye sank auf die Planken. Shane drehte sich zu Dan O'Flynn um und sagte: „Faß mal mit an. Wir schmeißen ihn in den Teich — dorthin zurück, woher er gekommen ist.“ „Fein“, sagte Dan grinsend. Dead Eyes schlaffe Gestalt flog in hohem Bogen vom Achterkastell der Galeone. Maddox, Henderson, Winthrop und Rolland kämpften weiter, vier triefend nasse Gestalten gegen mehr als ein Dutzend Seewölfe. Carberry griff energisch durch. Er mußte seiner Wut Luft verschaffen. Er hatte sich Carl Winthrop als Gegner ausgesucht, und diesem wuchtigen, einfältigen Kerl trat er jetzt den Cutlass einfach aus der Faust. Wo der Profos hintrat, da wuchs kein Gras mehr — auch bei einem Carl Winthrop nicht. Carl ließ die Waffe jammernd los. Sein Gesicht verzerrte sich, er ging mit bloßen Fäusten auf Carberry los. Carberry ließ ihn heran, schluckte zwei Haken, die Leber und Herz trafen, dann legte er los. Jeder Faustschlag war von einem Fluch begleitet. „Rübenschwein! Hafenratte!
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Dreckiger Sohn einer Hafenhure und eines Ziegenbocks! Du Affenfloh, was hast du dir eingebildet? Daß du uns mit deinen triefäugigen, krummbeinigen Kumpanen überwältigen könntest? Ha, das wäre ja noch schöner ...“ Als Carl nach schwerem Kampf zusammenbrach, fiel auch Lee Henderson bewußtlos hin. Batuti hatte ihn besiegt. Old O'Flynn hatte bewiesen, daß auch er mit dem Cutlass noch hervorragend umzugehen vermochte — er hatte Jack Rolland außer Gefecht gesetzt. Ben Brighton indes hatte Maddox das Entermesser zu einem unbrauchbaren Stummel verkürzt. Ben richtete die Spitze seiner Waffe auf Maddox' Kehle. Maddox wich zum Schanzkleid zurück. „Töte mich nicht“, stammelte er. „Pack aus!“ fuhr Ben ihn an. „Wie viele Kerle befinden sich noch drüben auf dem Schiff?“ „Nur einer — Albert, der Neffe der Brown.“ „Das ist die Wahrheit?“ „Ja. Er hält sich unter Deck versteckt, um eingreifen zu können, falls Not am Mann ist.“ „Ed!“ rief Ben. „Gib das weiter. Hasard muß es unbedingt erfahren!“ „Bill!“ brüllte der Profos zum Großmars hoch. „Hörst du mich, du verlauste Kanalratte? Pennst du?“ Nein, Bill schlief wahrhaftig nicht. Maddox sprudelte hervor, was er sonst noch wußte — wie der Plan, die „Isabella“ auszuplündern, entstanden war, daß er dagegen gewesen sei — alles ... „Spring!“ sagte Ben am Ende. „Und sei froh, daß du mit einem blauen Auge davonkommst.“ Maddox verließ die „Isabella“ auf diese höchst unehrenhafte Weise. Als Carberry, Ben, Shane, Batuti und einige andere auch die reglosen Gestalten von Henderson, Rolland und Winthrop über das Schanzkleid warfen, ging drüben auf dem Zweimaster die Flaschenbombe hoch. *
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„Schießt!“ herrschte die Brown ihre Mädchen an. „Legt wenigstens einen von diesen Hunden um, dann wird Killigrew einsehen, daß er wahnsinnig ist.“ Alana und Lilias zauderten. Cora und Geraldine bückten sich nach den Pistolen, die sie verloren hatten, waren aber auch unschlüssig, weil sie Angst vor der Explosion hatten, die Hasard angekündigt hatte. Die Brown wollte Alana die Pistole aus der Hand reißen und selbst auf Ferris Tucker abdrücken, aber in diesem Augenblick ertönte von Bord der „Isabella“ Geschrei. Nur für einen Moment wandte die Brown den Kopf, um zu sehen, was Maddox und die anderen drüben erreicht hatten. Hasard nutzte die Chance. Er gab Ferris, dem Schweden, Sam und Bob ein Zeichen. Sie humpelten sofort auf ihren Kapitän zu, ließen sich fallen und rollten sich hinter das Backbordgeschütz. Geraldine stieß einen Schrei aus und hob die Pistole gegen den Seewolf. „Nein!“ schrie Alana. „Nicht! Tu's nicht!“ Hasard duckte sich, Geraldine drückte ab. Die Kugel sirrte um zwei, drei Handspannen über Hasards Kopf weg. Auch Lilias traf jetzt Anstalten, zu feuern. Die Lunte war weit heruntergebrannt, Hasard hatte keine Wahl mehr und schleuderte die Flasche auf das Achterkastell des Seglers. Die Ladung ging hoch, die Mädchen und die Frau kreischten um die Wette. Das Achterdeck mit Miß Martha Browns Tand- und Flitterkammer flog samt den hübschen Gardinen in die Luft. Sowohl Martha als auch die Mädchen hatten sich auf die Planken geworfen, aber es passierte ihnen natürlich nichts, weil sie in der Nähe der Back lagen. Albert stürmte aus dem Vordeck hervor und schwang wild sein Messer. „Du Bastard!“ schrie er. „Du hast meine Tante umgebracht!“ Hasard sprang auf und bot sich ihm als Ziel dar. Albert schrie wie von Sinnen und schleuderte das Messer. Der Seewolf ließ
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sich fallen. Nur knapp flog das Messer an ihm vorbei. Sofort war er wieder auf den Beinen und hetzte Albert nach, der jetzt sein Heil in der Flucht suchte. Es bedurfte nicht viel mehr als eines Fußtrittes, um den Knaben in die Fluten der Bucht zu befördern. „Sir!“ schrie Bill von der „Isabella“ herüber. „Da hält sich noch ein Kerl unter Deck versteckt!“ „Danke!“ rief der Seewolf grinsend zurück. „Das habe ich auch schon bemerkt.“ Er bückte sich nach den Pistolen, ehe die Mädchen ihre Benommenheit abgeschüttelt hatten, sammelte die Waffen ein und steckte sie sich in den Gurt. Dann trat er zu Miß Martha Brown und nahm ihr den goldenen Armreif ab. Ferris Tucker war trotz seiner Fesseln quer über die Kuhl auf das zertrümmerte Achterkastell zugerobbt. Er las Alberts Messer auf und säbelte mit akrobatisch verkrümmten Fingern an seinen Fesseln herum. „Werte Miß“, sagte Hasard. „Ich empfehle Ihnen dringend, den Kahn zu verlassen und an Land zu schwimmen. Meine Männer haben immer noch eine Stinkwut im Leib.“ „Los, wir schwimmen zu dem Bordell und hauen den Weibern den Hintern voll!” tönte es von der „Isabella“ herüber. Carberry! Er konnte schon wieder schreien. Martha Brown richtete sich halb auf und sah, wie Mann um Mann von der „Isabella“ ins Wasser sprang. Sie war wachsbleich im Gesicht. „Ich kann nicht schwimmen“, stammelte sie. „Fieren wir rasch die Gig ab“, schlug Hasard vor. „Wenn Sie wollen, können Sie aber auch hier warten, Miß. Übrigens werden wir diesen Kahn versenken. Sie müssen also Ihre Pläne ändern. Nach Saint Mary segelt ihr jedenfalls nicht mehr.“ „Auf nach Rye“, murmelte sie. Wenig später saß sie mit den Mädchen in der Gig. Sechs Personen waren eigentlich etwas zuviel für das kleine Boot, aber sie verteilten ihr Gewicht einigermaßen gut
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und gelangten dank des ruhigen Wassers ohne Zwischenfälle in die Flußmündung. Alana pullte. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie blickte immer wieder auf den goldenen Ring, den der Seewolf ihr gelassen hatte. Sie hatte denn doch nicht auf ihn schießen können und auch nicht gewollt, daß die anderen es taten. Plötzlich tauchte zwischen Schilf und Sumpfgras eine Gestalt auf. Miß Martha Brown blickte nach links und sah sie als erste. Sie hockte auf der achteren Ducht der Gig, hielt die Finger um die Ruderpinne verkrampft und war alles in allem sehr verstört. „Ach, du meine Güte“, stöhnte sie. „Martha!“ schrie die Gestalt. Ihre Stimme war unverkennbar die von Maddox. „Martha Brown! Ich bin hier, und auch die anderen kriechen irgendwo im Sumpf herum. Komm zu uns!“ „Nein“, keuchte sie. „Ich muß dir was sagen!“ brüllte er. „Wir sind noch nicht miteinander fertig.“ „Schneller, Mädchen!“ trieb sie die Mädchen an. „Wir müssen weiter, immer weiter den Fluß hinauf — nach Rye.“ Hasard blickte dem Gig von Bord des Zweimasters nach. Er drehte sich erst wieder um, als Ferris Tucker sich von der Kuhl erhob und auch die drei anderen Männer von ihren Stricken befreite. „Himmel, Ferris“, sagte der Seewolf. „Tut mir leid, euch habe ich in dem ganzen Durcheinander ganz vergessen.“ „Macht nichts“, erwiderte Ferris. „Wir sind ja dämlich genug gewesen. Übrigens — danke für die Rettung, Sir.“ „Schwamm drüber“, sagte Hasard, ging zum Steuerbordschanzkleid hinüber, beugte sich vor und sah zu den Schwimmern, die soeben die Bordwand erreicht hatten. Old O'Flynn befand sich neben Carberry, er hatte mit seinem
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Holzbein mal wieder eine beachtliche Leistung vollbracht. „Den Sturm hast du uns prophezeit, Donegal“, sagte Hasard. „Und diese Geschichte hier auch. Aber war da nicht noch etwas?“ „Wir müssen auf die Zwillinge aufpassen“, sagte der Alte grimmig. „Ja.“ Der Seewolf nickte. „Und ich verspreche dir, daß ich mich daran halten werde.“ „Augenblick“, mischte sich der Profos ein. „Wir tragen auch einen Teil der Verantwortung für die Kerlchen. Gerade du als Opa kannst dich da nicht einfach 'raushalten, Donegal.“ „Das will ich ja auch gar nicht. Willst du mir vielleicht beibringen, wie man mit den Lausejungen umzuspringen hat?“ „Ach wo.“ Carberry hob den Kopf. „Sir, wir wollen den Weibern den Achtersteven versohlen, das haben sie verdient. Gibst du uns die Genehmigung?“ „Da ist leider nichts mehr drin“, erwiderte Hasard. „Die Ladys sind entwischt. Sie haben plötzlich mächtige Angst gehabt.“ „So ein Pech aber auch.“ „Aber es gibt trotzdem genug zu tun“, sagte der Seewolf. „Erstens müssen wir diesen Prachtkahn versenken. Dann schaffen wir die zwölf Truhen und unsere Boote an Bord der ,Isabella` zurück - und dann wird es auch schon Morgen, und wir können wieder ankerauf gehen.“ „Ein Segen“, meinte Shane, der jetzt ebenfalls prustend eintraf. „Donegal, dann kannst du dich wenigstens nicht mehr aufs Ohr hauen und deine elenden Träume verzapfen.“ Old O'Flynn grinste. „Du mußt ja jetzt auch zugeben, daß sie manchmal Hand und Fuß haben - aus purem Zufall natürlich. Wißt ihr was? Ich könnte glatt zum Jahrmarkt von Saint Mary fahren und dort als Wahrsager auftreten ...“
E N D E