Das Turnier von Xanten von Ekkehart Reinke scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Das große Turnier von Xa...
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Das Turnier von Xanten von Ekkehart Reinke scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Das große Turnier von Xanten hat begonnen! Die edelsten Ritter des Landes erproben ihre Kräfte in spannenden Zweikämpfen. Begeistertes Volk jubelt ihnen zu. Anerkennend nicken hohe Würdenträger, und schöne Damen lächeln verheißungsvoll. Zu dieser Zeit ist Roland noch ein bartloser Jüngling. Ein unbekannter Anfänger, ein Niemand. Wer sollte auch ahnen, daß die Geschichte ihn einmal als den hervorragendsten Helden seines Zeitalters feiern und ihm den ehrenvollen Beinamen »Der Ritter mit dem Löwenherzen« verleihen wird?
Noch ist Roland nur einer der drei Schildknappen des Ritters Sigurd. Dieser erfahrene Mann ist zu seinen Leuten milde wie ein Vater, doch wild wie ein Tiger im Kampf und feurig wie ein Vulkan in der Liebe! Roland verehrt ihn glühend. Doch vom Kampf versteht er noch wenig und von der Liebe gar nichts. Das wird sich bald ändern ... Als Sigurds Stern in schwindelnde Höhen steigt, um jählings zu erlöschen ... In diesem Augenblick setzt Rolands erstes Abenteuer ein.
Der Tag, an dem Reginhar den Tod fand, begann mit einer freudigen Überraschung. Als er in der Frühe eine aufgewärmte Rindersuppe löffelte, trat der Wirt der Herberge an ihn heran und räusperte sich mehrmals. Reginhar sah auf. Der Wirt verbeugte sich ungelenk. »Hoher Herr, Euer Pferd ist völlig erschöpft. Es braucht mehrere Tage Erholung. Sonst wird es nach wenigen Meilen lahmen!« »Aber ich muß spätestens morgen in Xanten sein.« Der Wirt lächelte und zeigte auf das schmale Fenster. »Wenn Ihr einmal nach draußen schauen wollt...« Draußen führte der Stallbursche einen schwarzen Araberhengst am Zügel. Reginhar beobachtete das Spiel der Muskeln unter der seidigen Haut, sah die schmalen Fesseln, die hohe Kruppe, die klug aufgestellten Ohren, die langen Beine. Der Hengst war ein geborener Renner! »Mit den besten Empfehlungen von...«, sagte der Wirt und nannte den Namen eines Ritters aus der Umgebung. »Wenn Ihr ihn gelegentlich beim König erwähntet...« »Natürlich, das werde ich tun«, sagte Reginhar laut. Oder auch nicht, dachte er. König Artus haßte jede Günstlingswirtschaft. Wozu ihm mit solchen Lappalien kommen? Der Araber hörte auf den Namen »Rih«. Jeder Kreuzritter kannte das Wort. Es hieß - der Wind. Rih war gleichbedeutend mit Schnelligkeit. Den ganzen Tag über - seinem letzten auf dieser Erde - war Reginhar in Hochstimmung. Nach kurzer Zeit der Eingewöhnung erwies sich Rih als Traumpferd. Es trug ihn im fließenden Galopp durch das frühlingsschöne Land, doppelt so schnell wie die Klepper, die er in den ersten zwei Wochen seiner Reise geritten hatte. Gegen Abend stürmten sie, die untergehende Sonne im Rücken, einen lichten, sanft abfallenden Waldpfad entlang, der allmählich zum Hohlweg wurde. Jeden Augenblick mußte die Stadt Xanten vor ihnen auftauchen. Der Hohlweg wurde schmaler und tiefer. Laub vom vergangenen
Jahr raschelte unter den Hufen. Rih schnaubte und ging nur im Schritt. Seine Flanken zitterten. Lange Schatten verdüsterten das Bild. Doch Reginhar spürte keine Bedrohung. Er schwelgte in Vorfreude. Der Turnierfürst würde ihn begeistert empfangen. Er dachte an ein herrliches Festmahl, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Da schob sich von der Seite ein Reiter in den Weg, und eine Lanze stoppte Rihs Schritt. »Gebt den Weg frei, wer Ihr auch seid!« rief Reginhar zornig. »Ich bin ein Herold des Königs!« »Das sehe ich«, entgegnete der düstere Ritter mit der Lanze. »Ihr tragt ja das Heroldshemd und keinerlei ritterliche Waffen. Sagt an: Was für Kunde bringt Ihr von Artus?« »Das werde ich morgen beim Turnier in Xanten bekanntgeben.« »Ach, wirklich?« Blitzschnell vergewisserte sich der fremde Ritter, der einen dunklen Schild ohne Wappen in der Linken hielt, daß der Herold wirklich waffenlos war. »Ich rate Euch gut. Sagt mir Eure Kunde, wenn Euch Euer Leben lieb ist!« Da wußte Reginhar, daß es Ernst wurde, und er spürte die Nähe des Todes. Die Drohung war ungeheuerlich, denn niemand durfte einen Herold antasten. Aber von diesem düsteren Mann ging eine seltsame Spannung aus. Reginhar war wie gelähmt. All sein Mut verließ ihn. Seine sonst so metallische, weithin tragende Heroldsstimme klang brüchig, als er dem Fremden seine Botschaft enthüllte. Sie war kurz, streng gefaßt, bedeutungsvoll für die Ritterschaft und voll Weisheit. Der düstere Mann hob die Lanze und stieß einen Ruf der Überraschung aus. Dann gab er den Weg frei. »Reitet weiter, Herold«, befahl er. »Gebt Eurem Araber die Sporen! Diese Botschaft duldet kein Verweilen. Lebt wohl!« Reginhar seufzte erleichtert und klopfte dem Araber den Hals. Mit einem Schenkeldruck forderte er das edle Tier zum Angaloppieren auf. Rih gehorchte unverzüglich. Als Reginhar an dem düsteren Ritter vorbei war, stieß der ihm die Lanze von hinten in die linke
Brustseite. Der Herold tat keinen Atemzug mehr. * Es war ein neuer Tag, eine neue, frische Sonne auf taufeuchter Wiese, und die Trompeten riefen zur Fortsetzung des Turniers. Tausende von Bürgern lagerten auf den natürlichen Erdwällen rings um das grasbedeckte ebene Turnierfeld, auf dem schnaubende Pferde mit gepanzerten Reitern gegeneinander jagten, Lanzen splitterten, Körper durch die Luft flogen, Wunden aufsprangen, Farben glühten und Manneskräfte Bewunderung forderten. Eine fahnengeschmückte hölzerne Tribüne diente dem Adel und seinen Damen als Beobachtungsplatz. An den Schmalseiten waren die weißen Zelte der teilnehmenden Ritter aufgeschlagen. Dort wurden Pferde gesattelt, Wunden behandelt, Speisen ausgegeben und Kampftaktiken beraten. Roland ging umher wie in einem Traum. Es war sein erstes Turnier, und das Geschehen überwältigte ihn. Er trug die Farben des Ritters Sigurd, dessen jüngster Schildknappe er war: rot und gelb. Wenn Sigurd aufs Turnierfeld ritt, um mit einem Gegner die Kräfte zu messen, schlug Roland das Herz bis in den Hals hinauf. So intensiv war er in Gedanken dabei, daß er sogar Schmerz empfand, wenn Sigurd im Kampf getroffen wurde. Roland empfand körperlich den wuchtigen Lanzenstoß des Ritters vom grünen Helmbusch, den Sigurd mit dem Schild auffing. Wie gelähmt war sein linker Arm, bis sein Herr den Gegner ungestüm aus dem Sattel schleuderte. Der nächste Herausforderer trug einen dreiköpfigen Falken im Wappen. Seine Lanze traf Sigurd hoch an der Schulter. Roland fühlte den Schlag bis in die Rippen. Doch der Krampf löste sich, als er sah, wie der mit dem Falken das Gleichgewicht verlor und seitlich an seinem Pferd in den Rasen sank. Da schrie Roland laut vor Begeisterung. Sein Jubel steckte die
Umgebung an. Wie er mit seinem Herrn litt, so triumphierte er auch mit ihm. Sigurd war für ihn wie ein Vater. Er bewunderte ihn über alle Maßen. Der Ritter aus dem Westerwald war sein Vorbild. Und doch hätte er es nie für möglich gehalten, daß Sigurd sich unter all diesen stolzen, ruhmbedeckten, glänzenden Rittern behaupten konnte. Denn Sigurd war fast einen Kopf kleiner als die meisten anderen Turnierteilnehmer. Wohl war er untersetzt, stämmig und muskulös. Niemand schätzte ihn anfangs hoch ein. Nicht einmal seine Knappen glaubten an Erfolge. Schon sein Aufzug sprach von Armut. Der Schild war zerhackt, der Helmbusch zerfleddert, die Rüstung von vielen empfangenen Streichen zerbeult. Wie zum Trotz eilte er an diesem Tag der strahlenden Sonne von Sieg zu Sieg, und die Zuschauer begannen, auf »den armen Ritter« aufmerksam zu werden. Den Kuno von der Trutzburg fegte er beim ersten Aufeinanderprall meterweit vom Pferd. Dessen Freund Axel wollte die Niederlage rächen und brachte Sigurd auch ins Wanken. Aber beim zweiten Gang verlor er die Steigbügel und plumpste wie ein Sack zu Boden. Seine Knappen schleiften ihn, da er reglos liegenblieb, zum Wundarzt. Der verband ihn. Der nächste Gegner kam aus Burgund, und sein Helmbusch wallte prächtig tief in den Nacken hinunter. Er ritt in verwegenem Tempo an, zersplitterte seine Lanze an Sigurds zerhacktem Schild und wurde, da er waffenlos blieb, vom Marschall zum Verlierer erklärt. »Es lebe der arme Ritter!« schrien die Zuschauer. Und eine Woge des Stolzes überkam Roland. Er war unentwegt in Bewegung, verfolgte jede Bewegung seines Herrn und versorgte ihn zwischen den Kämpfen. Er hob ihn vom Pferd, wenn er zum Zelt zurückgeritten kam, beglückwünschte ihn und fügte oft eine Kritik hinzu, die sein scharfes Auge für ritterliche Kunst bewies: »Ihr hieltet die Lanze eine Kleinigkeit zu tief, Ritter, sonst wäre auch der Burgunder
gepurzelt!« »Gib mir zu trinken«, befahl Sigurd. Er hatte den Helm abgenommen. Sein braungebranntes Gesicht mit den schroffen männlichen Zügen troff von Schweiß. Roland rannte, füllte Wein in ein Horn, setzte eiskaltes Quellwasser dazu und reichte es seinem Herrn. Er holte feuchte Lappen zur Kühlung, bot ein gebratenes Huhn an und rieb das Pferd trocken. Er tat dreimal soviel wie die beiden anderen Knappen zusammen, die doch schon an mehreren Turnieren teilgenommen hatten. Und traf die nächste Herausforderung ein, so konnte Roland seinem Herrn einiges über die Kampfstärke und die besondere Taktik des Gegners ins Ohr flüstern. Denn bei aller Geschäftigkeit behielt er doch immer im Auge, was sich auf dem Turnierfeld tat. Als sich der Tag neigte, hatte Sigurd neun Kämpfe siegreich bestanden und keinen verloren. Er atmete schwer. Schweiß tränkte ihn ganz und gar. Die Glieder schmerzten ihn von den Stößen, die er erhalten hatte. Sein Leib war von blauen Flecken und Prellungen übersät. Aber sein Ruhm hatte sich sichtbar gemehrt. Die Leute merkten auf, wenn er einritt. Sie bejubelten seine Attacken. Sein Name sprach sich herum. Bald wußten es bis zum letzten Lehrjungen alle aus der Stadt, daß der »arme Ritter« Sigurd hieß und von der Schauburg kam. Sie schwenkten die Arme und riefen seinen Namen, wenn er wieder einen Gegner überwältigte. Plötzlich ein lautes Trompetensignal, sechsmal wiederholt. Stille senkte sich über den weiten Platz. Auf den Tribünen erstarb der Klatsch, nur die Fächer der Damen blieben in zitternder Bewegung. Der Turniermarschall erhob seine Stimme. »Achtung, Achtung! Für den Endkampf des Turniers bitte ich jetzt die beiden einzigen unbesiegten Ritter dieses Tages in die Schranken.« Und wieder die Pause, während der Wald die letzten Worte als Echo zurückbranden ließ. »Ritter Sigurd!« Gemessen setzte sich das Pferd des Westerwaldmanns in Bewegung. Im Sattel saß Sigurd wie aus
Bronze gegossen, das Haupt hoch erhoben, noch mit offenem Visier der Helm, den er seit vielen Jahren getragen. »Sir Galahad!« Da wurde der Jubel zum Wirbelsturm. Sir Galahad war ein hochberühmter Ritter, der Abgott der Massen und Liebling der Damen. Ein Gesicht wie ein Adler, der Körper eines Athleten, ein prachtvolles Roß zwischen den Schenkeln - so ritt der Held der Normannen in die Ebene bei Xanten. Nicht weniger Gegner als Sigurds hatte seine Lanze heute das Stürzen gelehrt. Nun verlangte ihn es nach der Krone des Tages. Er gab seinem Schimmel die Sporen. Das Pferd stieg vorn in die Luft, als begrüße es die Menge. Und da war klar, wem die Tausende auf den Wällen, die Höflinge und die schönen Damen auf der Galerie den Triumph gönnten. Sir Galahad war aller Favorit. Und ein junger Bursche in verwegenem Lederanzug, den langer Gebrauch abgewetzt hatte, schwang einen Beutel und rief: »Fünf Dukaten auf Sir Galahad! Ich wette fünf Dukaten auf Sir Galahad! Wer hält dagegen?« Die Umstehenden lachten. Gar zu komisch erschien ihnen der Gedanke, irgend jemand könnte Galahad in den Staub zwingen. Einer rief scherzend: »Keinen Pflaumenkern verwette ich auf den armen Ritter! Er führt seine Lanze ganz nett, aber Galahad wird ihn Stück für Stück auseinandernehmen. Hier ist weit und breit keiner, der Sir Galahad die Stirn bieten kann.« Indessen näherten sich die beiden unbesiegten Ritter der Tribüne des Fürsten und hielten ihre Pferde unter seiner Loge an. Wieder wurde ein Signal geblasen. Erwartungsvolle Stille senkte sich über die Menge. Tief stand die Sonne. Der Fürst hob die Hand. Sigurd grüßte, indem er die Lanze ganz ausstreckte. Galahad reckte sich in den Steigbügeln. Riesenhaft wirkte er neben dem untersetzten Gegner. Mit der freien Hand warf der Liebling der Menge einer braunhaarigen Dame vom Hof ein Blumengebinde zu. Tiefe Röte überzog das Gesicht der hübschen Dame. Der berühmte Ritter hatte sie vor aller Augen geehrt. Für sie würde er kämpfen, ihr würde er den Sieg weihen - ihr, dem Burgfräulein Gerhild! Wie man
sie ringsum beneidete! Gar manche Dame hatte im stillen gehofft, Sir Galahad werde sie erwählen. Wenn Galahad den armen Ritter warf -, und daran bestand wohl kein Zweifel - würde Gerhild die ungekrönte Königin des Turniers sein! Erneutes Trompetengeschmetter! Die beiden Helden drehten ihre Rösser und begaben sich zu den Schmalseiten des Feldes. Sigurd ritt im Schritt. Zögernd sah es aus, als nähme er nur widerwillig das Duell auf. Galahads Schimmel aber wurde übermütig. Wieder und wieder stieg er mit den Vorderhufen in die Luft. Oh, er und sein Reiter boten ein Bild der Schönheit und Kraft, das den Zuschauern viele anerkennende Zurufe entlockte. Schwer wie ein Feldstein lag Roland bei diesem Anblick das Herz in der Brust. Wie allein, wie einsam, wie unrettbar verloren wirkte jetzt Sigurd von der Schauburg! Und doch mußte er seinen ermüdeten, zerschundenen Körper noch einmal zu letzter, zu äußerster Kraftanstrengung zwingen. Wie gern hätte ihm Roland geholfen. Wie verlangte es ihn danach, an seiner Seite zu reiten, ihn mit dem Schild zu decken und vernichtende Schläge für ihn auszuteilen. Der Gedanke, daß Sigurd jetzt unweigerlich unterliegen würde, schien ihm unerträglich. Eine Niederlage in diesem höchsten Augenblick, nur eine Elle vom Triumph entfernt, war bitter wie Gift. Heute morgen noch hatte Roland höchstens auf ein, zwei schnelle Siege gehofft und ein frühes Ausscheiden seines Herrn erwartet. Und jetzt streckte Sigurd die Hand nach dem Lorbeer aus! Roland wußte, daß dies der größte Augenblick seines Lebens war, daß sich hier seine ganze Zukunft entschied ... Aber was konnte er tun? Da begegnete er dem spöttischen Lächeln im Gesicht des jungen Mannes im abgewetzten Leder. Und er hörte wieder den herausfordernden Ruf: »Ich setze fünf Dukaten auf Sir Galahad! Wer hält dagegen?« »Ich!« hörte sich Roland zu seiner eigenen Verwunderung schreien.
Viele Köpfe wandten sich nach ihm um. Gelächter drang an seine Ohren. Halb mitleidig, halb verächtlich sah der junge Mann ihn an. »Bist du nicht der Knappe des armen Ritters? Woher willst du wohl fünf Dukaten nehmen?« »Aber ich habe sie!« rief Roland und griff mit der Hand unter sein Wams. Er fühlte den ledernen Brustbeutel auf der nackten Haut. Schnell fischte er fünf Goldstücke heraus. Es war sein ganzer Besitz auf Erden. Drei hatte er vom Vater - sein Erbe. Einen von dem Einsiedler Klaus, der ihn in Sprache und Naturkunde unterrichtet hatte - ein Geschenk. Und der fünfte - das war sein Lohn für ein Jahr Dienst bei seinem Ritter. Und jetzt wollte er sie aufs Spiel setzen. Nur so, kam es ihm vor, könnte er Unheil von Sigurds Haupt wenden und das Schicksal übertölpeln. Alles gewagt und alles gewonnen - flüsterte ihm eine innere Stimme ins Ohr. Wenn er die Wette gewann - das Glück war nicht auszudenken. Mit zehn Dukaten, die ihm dann gehörten, konnte er sich ein Pferd kaufen, wovon er seit langem schon träumte. Denn der arme Ritter hatte ihm bisher nur einen Maulesel zur Verfügung stellen können und kein Schildknappe, der hochfliegende Zukunftsträume von Heldentaten hegte, ritt gern auf einem häßlichen Maulesel durch die Lande und duldete den Spott der anderen. Erstaunen malte sich in den gebräunten Zügen des fremden Jünglings. Doch rasch griff er nach den Münzen, musterte jede argwöhnisch von beiden Seiten, biß kritisch darauf und ließ sie in hohler Hand gegeneinanderklingen. Nun schien er beruhigt. Die Münzen waren echt. »Die Wette gilt!« rief er und fügte hinzu: »Wer hütet für uns den Einsatz?« Ein kleiner Kerl mit Wieselkopf meldete sich und nahm mit übertriebener Feierlichkeit das Geld entgegen. »Ich will es getreulich für den Sieger aufbewahren«, versprach er mit treuherzigem Blick aus den blauen Augen, in denen kein Falsch zu wohnen schien. Doch da ein Schrei aus vielen tausend Kehlen! Die beiden Ritter
galoppierten aufeinander los, erst langsam, dann immer schneller. Unausweichlich kamen sie einander näher, und die Menge schaute sich die Augen aus und hielt den Atem an. Der Kampf hatte begonnen. Die meisten rechneten damit, daß der riesenhafte Schimmelreiter seinen Gegner in den Boden rammen werde. Auf der Tribüne drückte das Burgfräulein beide Daumen für ihren Ritter, bis die Fingerknöchel weiß wurden. Gib's ihm, Sir Galahad, dachte sie mit entflammter Leidenschaft - gib's dem Barbaren! Und sie sah sich schon am Arm des Siegers in den Bankettsaal des Fürsten schreiten und hörte ringsum im Geist flüsternde Stimmen: Was für ein wunderbares Paar... Wie schön sie ist und wie stattlich ihr Kavalier ... Indessen schöpfte Roland Hoffnung. Denn je ungleicher die Gegner erschienen, um so mehr stiegen Sigurds Chancen. Der Mann aus dem Westerwald kannte natürlich den berühmten Galahad genau, vom Sehen wie vom Hören. Verbreiteten nicht sogar die Sänger in den Burghallen und Wirtsstuben die Kunde über Galahads Taten und seine Lieblingstechniken im Turnier? Dagegen wußte Galahad nur sehr wenig oder fast gar nichts über seinen Widersacher. Bestimmt würde der ihn unterschätzen, dachte Roland. Und darin mochte der Keim eines sensationellen Kampfausgangs liegen. Wie stets ging der Draufgänger Galahad von vornherein aufs Ganze. Er wollte das Turnier im ersten Ansturm beenden. Er stieß dem Schimmel die Sporen in die Weichen, daß er sich willig streckte. Nur wenige Galoppsprünge noch - und die Kämpfer würden sich in der Feldmitte treffen. Wenn Stahl auf Stahl prasselte, würde so glaubten die meisten - Galahads überlegene Kraft, verstärkt durch den Schwung des schnelleren Pferdes, den Widerstand des armen Ritters sogleich brechen. Galahad drückte den Lanzenschaft in die Armbeuge, nahm Maß ... und stutzte. Kaum wollte er seinen Augen trauen. Und doch ... Er irrte sich nicht. Sigurds Kopf war ungedeckt. Er hatte vergessen, sein Helmvisier zu schließen! Noch nie hatte Galahad einen so
grundlegenden Fehler bei einem Turnier erlebt. Nur die Angst konnte Sigurd so verwirrt haben. Mit blitzschnellem Entschluß riß Galahad die Lanzenspitze nach oben. Diese Chance durfte er sich nicht entgehen lassen. Da spürte er auch schon Sigurds Lanze in der Hüfte - ein reißender Schmerz, den er gewohnt war und der so schnell verging, wie er kam. Die eigene Lanze aber glitt ins Leere. Im letzten Augenblick hatte Sigurd den Oberkörper zur Seite gelegt und so den Kopf aus der Gefahrenzone gebracht. Reingefallen! dachte Galahad, wütend über sich selbst. Muß ich als erfahrener Turnierritter auf den Visiertrick eines Hinterwäldlers hereinfallen?! Er lenkte den Schimmel in weitem Bogen herum und jagte erneut auf Sigurd zu, der inzwischen das Visier heruntergeklappt hatte. Jetzt zielte Galahad auf Sigurds Körpermitte. Doch der parierte mit Umsicht. Geschickt hielt er den Schild schräg, so daß die Lanzenspitze gefahrlos abglitt. Im selben Moment erschütterte ein gewaltiger Schlag Sir Galahad bis in die Zehenspitzen. Vor seinen Augen tanzten Sterne in allen Farben des Regenbogens einen irren Reigen. Er hatte das Gefühl, ihm werde der Kopf vom Körper gerissen. Reaktionsschnell straffte er die Nackenmuskeln und fühlte schon, wie er langsam hintenüber sank. Durch die Sehschlitze schaute er jetzt in den rötlichen Abendhimmel. Seine Hand verlor den Zügel. Unglaubliches geschah vor erstaunten Augen! Sir Galahad wurde aus dem Sattel geworfen! Ein Raunen ging durch die Menge. Auf der Tribüne schlug Gerhild die Hände vors Gesicht. An den Schranken riß Roland übermütig die Arme in die Höhe. Sigurd parierte sein Pferd durch und riß es auf der Hinterhand herum. Er hatte getroffen! Seine Spannung löste sich. Schon drängte sich der Triumphschrei auf seine Lippen. Doch da ... Da strauchelte seine braune Stute. Die Wende war zu eng. Zwei verzweifelte Sprünge, dann brachen ihr die Vorderbeine ein, und
auch Sigurd konnte sich nicht mehr im Sattel halten. Fast gleichzeitig rappelten sich die Gegner auf. Quer übers Feld spurtete Roland auf seinen Herrn zu, um ihm sein Schwert zu bringen. Nicht eine Sekunde hatte er versäumt, als er Sigurds Sturz sah. Nun kamen auch von mehreren Seiten Galahads Knappen angerannt. Keiner war so schnellfüßig wie Roland. Doch sie hatten den kürzeren Weg. Gleich darauf standen sich die Ritter mit blanken Schwertern gegenüber. Im nächsten Augenblick würden sie übereinander herfallen. Doch ein mahnendes Trompetensignal zwang sie zum Einhalten. Der Turniermarschall ritt heran und rief befehlend: »Die Schwerter herunter, edle Herren! Die Regeln des Tages verbieten, wie jedermann weiß, den Kampf zu Fuß. Drum laßt es für heute genug sein. Morgen soll der Kampf mit frischen Kräften fortgesetzt werden - bis zur Entscheidung. Wir erwarten Euch und alles Volk auf diesem Platz um zehn Uhr früh!« Nur widerwillig schienen die Ritter sich dem Machtwort zu fügen. Für die Menge sah es so aus, als beschimpften sie sich einander, bevor sie sich trennten und jeder seinem Zelt entgegenschritt. Eine halbe Stunde später stieg Sigurd hinter der weißen Leinwand in einen Zuber mit heißem Wasser. Auf die Fragen seiner Getreuen erklärte er: »Was ich Sir Galahad ins Gesicht geschleudert habe? Daß der Marschall ihn vor der sicheren Niederlage bewahrt hat. Denn eigentlich war er schon besiegt. Er saß mindestens drei Sekunden eher auf der Erde als ich. Doch was soll's? Es war mein eigener Fehler. Merkt's euch, Knappen: Triumphiert nie zu früh. Nur wer warten kann, erringt die Palme.« Just in diesem Augenblick wurde Besuch gemeldet. Vor dem Eingang drängten sich die Knappen der neun Ritter, die von Sigurd im Laufe des Tages besiegt worden waren. Sie brachten das von der Turnierleitung festgesetzte Lösegeld. Es betrug zwanzig Dukaten für jeden. Der arme Ritter konnte sie wahrlich gut gebrauchen.
Als Roland etwas von Dukaten hörte, schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Im Trubel der Ereignisse hatte er ganz seine Wette mit dem fremden Jüngling vergessen. Blitzschnell verschwand er aus dem Zelt und eilte auf die Wiese. Er suchte zwischen Erdwällen, Zeltgassen, auf Wegen und im nahen Wald nach dem Fremden. Hunderte von Zuschauern waren noch unterwegs oder standen diskutierend in Gruppen herum. Den Fremden, den er suchte, fand er nicht. Doch so schnell gab Roland nicht auf. * Noch bevor die Kampfhandlungen begonnen hatten, verließ der kleine, wieselflinke Mann mit dem treuherzigen Blick seinen Platz an den Schranken. Während alle anderen wie gebannt dem Duell auf der Wiese folgten, verdrückte er sich rasch in der Menge. Schnellen Schrittes entfernte er sich vom Turnierplatz und tauchte in dem riesigen Wald westlich von Xanten unter. Bei einer großen Eiche am Rande der ersten Lichtung blieb er stehen und wartete. Seine Geduld wurde auf keine harte Probe gestellt. Nach wenigen Minuten gesellte sich der Jüngling im abgewetzten Wildleder zu ihm. Hastig fragte der Neuankömmling: »Du hast doch das Geld bei dir?« »Natürlich, Louis«, erwiderte der Kleine. »Dann gib es her!« Zögernd folgte der andere der barschen Aufforderung. Er druckste ein wenig herum, bis er mit der Frage herausplatzte: »Wollen wir nicht gleich teilen, Louis?« »Teilen? Selbstverständlich. Wie immer - sobald die ganze Bande versammelt ist!« Das Wiesel zwinkerte nervös. »So meinte ich es eigentlich nicht, Louis. Warum könnten wir beide nicht gleich ... ? Meinetwegen behalte du acht Dukaten, und gib mir vier. Die anderen wissen doch nichts von diesen Moneten!«
»So steht es also mit dir, Alfons?« Louis schüttelte mit finsterer Miene den Kopf. »Willst du die eigenen Kumpane betrügen und ausgerechnet deinen Hauptmann zum Mitschuldigen machen? Heiliger Donner, wie kann ein Räuber nur so unehrlich sein?!« Und gleichsam zur Strafe versetzte er dem Wiesel eine klatschende Ohrfeige. Es dauerte nicht lange, und die übrigen Kumpane stellten sich an der Eiche ein. Es waren meist junge Männer, aber das wilde, gesetzlose Leben, das sie führten, hatte den Gesichtern schon seinen Stempel aufgedrückt. Louis sah in verschlagene Mienen, begegnete stechenden Augenpaaren und erkannte gierige Gelüste. Sie waren eine bunt zusammengewürfelte Horde, zerlumpt, abgerissen und ohne Hemmungen. Nichts war ihnen heilig. Höchstens das Wort ihres Hauptmanns. Vor ihm zitterten sie alle. Während sie miteinander schwatzten, kletterte einer auf den Wink des Hauptmanns katzengleich zum Wipfel der Eiche empor. Louis hatte seine speckige Mütze auf den Waldboden gelegt, und da hinein warfen sie die Münzen, die sie während des Turniers ehrenwerten Bürgern und Handwerkern aus der Tasche gezogen hatten. Es kamen etwa vier Dukaten zusammen. Louis nahm die ganze Summe an sich, ohne daß einer murrte. Nur Alfons berechnete in Gedanken, wieviel Geld der Anführer bereits bei sich trug. »Hört zu, Kumpane!« begann Louis mit seiner ausdruckslosen Stimme, die dennoch jeden immer wieder in Bann schlug. »Die Leute befinden sich jetzt alle auf dem Heimweg. Manch einer ist mutig und dumm genug, einen Abkürzungsweg durch den Wald einzuschlagen. Wir bilden zwei oder drei Gruppen und legen uns auf die Lauer. Keiner soll ungerupft von dannen ziehen, der durch unser Revier kommt. Aber laßt die Messer stecken! Wir sind ehrliche Räuber und vergießen kein Blut! Sobald wir Gewalttaten begehen, wird man uns für vogelfrei erklären. Und dann kann uns jeder erschlagen wie einen tollen Hund und bekommt noch obendrein ein paar Dukaten dafür!« Er hatte eben geendet, da prasselten Äste auf ihn hernieder. Der
Späher kehrte von seinem luftigen Ausguck in der Eiche auf die Erde zurück. »Was gibt's?« fragte Louis. »Von Sonnenuntergang her kommt ein vornehmer Herr geritten«, meldete der Späher aufgeregt. »Er steuert genau auf uns zu und wird in wenigen Minuten hier sein.« »Ist er bewaffnet?« »Ja. Doch trägt er die Lanze nicht im Arm, sondern hat sein Packpferd mit ihr beladen. Über dem Kettenhemd trägt er einen kurzen Dolch.« Diese Worte stachelten die Bande zu hektischer Tätigkeit an. Dies versprach bessere Beute als die heimkehrenden Stadtbewohner. Vier Männer kletterten in die Bäume und verbargen sich im Blattwerk der unteren Äste. Vier andere, darunter das Wiesel, schlugen sich in seitlich wachsende Büsche und waren ebenfalls bald »unsichtbar«. Louis blieb allein auf der Lichtung. Gespannt blickte er in die Richtung des Sonnenuntergangs. Dämmerung fiel zwischen die Stämme. Unter den Bäumen war es fast schon Nacht. Nur auf der Lichtung verharrte noch zögernd der Tag. Gedämpfter Hufschlag klang auf. Der angekündigte Reiter erschien. Von seiner Vornehmheit kündete schon der wertvolle Araberrappe, auf dem er saß. Nie zuvor hatte Louis ein so edles Pferd gesehen. Kein Turnierritter besaß ein wertvolleres Pferd. Unheimlich düster wirkte der Reiter vor dem Hintergrund des nächtlichen Waldes auf den Räuberhauptmann. Als er Louis erblickte, zügelte er den Rappen, legte sich über dessen Kruppe und sprach: »Sag an, guter Mann, wo entlang geht es zum Turnierplatz von Xanten?« »Erlaubt mir die Ehre, Euch dorthin zu geleiten«, entgegnete Louis gewandt. »Dann spute dich«, sagte der Reiter und setzte Reittier und Packpferd wieder in Bewegung. »Mir knurrt der Magen, und ich möchte mich so schnell wie möglich am süßen Wein gütlich tun. Mach deinem Hintern Beine!«
Louis wandte sich um und trabte los. Er wirkte erschrocken. Der Reiter folgte ihm. Louis führte ihn unter die Bäume, auf denen die vier Kumpane hockten. »Auf ihn!« brüllte Louis. Unverzüglich raschelte es rings in den Büschen, und vier verwegen aussehende Kerle standen, wie aus dem Boden gewachsen, vor dem Reiter. Einer fiel dem Rappen in die Zügel, einer packte das Zaumzeug des Packpferdes, und die beiden anderen schwangen drohend ihre dicken Knüppel. »Aus dem Weg ihr Schurken!« schrie der Reiter. »Und verschwindet mir aus den Augen, sonst bringe ich euch alle an den Galgen!« Louis war stehengeblieben. Er faßte den Reiter scharf ins Auge und sprach: »An den Galgen? Uns arme Kinder des Waldes? So gemein könnt Ihr doch nicht sein!« »Du steckst also mit dem Gesindel unter einer Decke, du Lump? Sag ihnen, daß sie sofort die Pferde loslassen!« »Sagt es ihnen doch selber, edler Herr!« Doch dazu kam es nicht mehr. Denn in diesem Augenblick sprangen die Burschen von den Bäumen auf den Reiter herunter und rissen den völlig Überrumpelten vom Pferd. Er stürzte in den weichen Waldboden. Die Räuber packten seine Arme und Beine und preßten sie ins Moos. »Was wollt ihr Strolche von mir?« entrüstete sich der Wehrlose. »Nur Euer Geld, edler Herr«, erklärte Louis in höflichem Ton. »Denn seht, auch uns knurrt der Magen. Doch niemand harrt mit gedeckter Tafel auf uns, damit wir uns gütlich tun.« »Laßt mich los, ihr Teufel! Sofort! Danach können wir immer noch über Geld reden. Wenn du mich sicher zum Zelt des Sir Galahad führst, will ich Gnade vor Recht ergehen lassen. Dann schenke ich dir einen Viertelgulden und lasse dich laufen - obwohl du es gewiß nicht verdient hast!« Die Banditen brachen in lautes Gelächter aus. Indessen nahm der vornehme Herr all seine Kraft zusammen und versuchte, sich
loszureißen. Aber da ließen die beiden, die noch untätig dabeigestanden hatten, ihre Knüppel fallen, knieten neben dem tobenden Mann nieder und forschten in seinen Taschen nach den begehrten Goldmünzen. Und bald ertönte auch ein Jubelschrei: »Ich habe die Geldkatze!« »Her damit!« befahl Louis. Der Räuber beeilte sich, aufzuspringen und das Beutestück seinem Hauptmann zu bringen. Der öffnete den Lederbeutel und fuhr mit der Hand hinein. Es war jetzt so dunkel geworden, daß er den Wert der Münzen nicht mehr erkennen konnte. Er versuchte, ihn durch Befühlen zu erraten. Da traf ein heftiger Schlag mit der verkehrten Seite eines Schwertes seinen Unterarm, und er ließ vor Schreck und Schmerz die Tasche fallen. Roland - denn niemand anderes als er war es - sprang zurück, hob sie auf und schwenkte das Schwert Sigurds, das er beim Verlassen des Zelts mit sich genommen hatte. Er vollführte einige furchteinflößende Hiebe und rief dann in das Dunkel zwischen den Stämmen hinter sich: »Kommt, wackere Kameraden! Ich habe sie gefunden! Vorwärts, hackt sie in Stücke!« Der Schreck fuhr unter die Banditen wie ein Blitzstrahl. Einige glaubten, Büttel aus der Stadt seien gekommen, um sie zu fangen und dem peinlichen Gericht zuzuführen. Andere wähnten sich in abergläubischer Furcht von bösen Geistern verfolgt. Sie ließen von dem überfallenen Reiter ab und jagten Hals über Kopf durchs Unterholz davon. Der eine oder andere zögerte noch und fragte sich, ob hier nicht tapferer Widerstand besser angebracht sei. Aber die allgemeine Panik riß schließlich auch die Beherzteren mit sich. In der Dunkelheit sahen sie in jedem schwarzen Schatten einen neuen Feind und fühlten sich hoffnungslos in der Minderzahl. Nur Louis behauptete seinen Platz. Allerdings hing ihm der rechte Arm wie gelähmt herab. Doch schnell hatte er den kühnen Angreifer erkannt und seinen Bluff durchschaut. »Ah, der Knappe«, sagte er gefaßt. »Tut mir leid, junger Freund,
ich hatte eine Verabredung und konnte nach Schluß der Vorstellung nicht auf dich warten. Deine fünf Dukaten sind bei uns in guter Hut. Du willst doch die Wette bis morgen aufrechterhalten, nicht wahr?« »Ich denke nicht daran. Du bist ein ehrloser Lümmel. Hätte ich nicht den Lärm hier gehört, wärst du schon mit meinem Geld über alle Berge.« »Du wirst beleidigend, Knappe. Aber ich halte es deiner Wut zugute. Hier, nimm deine elenden fünf Kröten. Wie kann man nur so am schäbigen Metall hängen! Leb wohl, junger Freund! Wir sehen uns wieder! Kann leicht sein, daß dann die Karten besser für mich gemischt sind!« Und damit verschwand er lautlos wie ein Spuk im nächtlichen Wald, als wäre er nie dagewesen. Kopfschüttelnd stand Roland da und pries sein Glück. Ein Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Einige Schritte entfernt erhob sich ächzend der Reiter vom Boden. Er fluchte mordsmäßig und beruhigte sich erst, als Roland ihm seine Geldtasche überreichte. »Du hast doch nicht etwa hineingegriffen?« fragte der düstere Reiter mißtrauisch. »Es ist viel zu dunkel, als daß ich jetzt nachzählen könnte.« »So tut es bei Tageslicht«, entgegnete Roland kühl, »und Ihr werdet feststellen, daß nichts fehlt!« »Ich will es hoffen«, brummte der andere. »Wenn ich jetzt nur wüßte, wie ich zum Turnierplatz komme.« Roland wies ihm die Richtung und fügte hinzu, daß er nach wenigen hundert Schritten die ersten Zelte erblicken werde. Der Reiter schwang sich auf den Araber und nahm das Packpferd am Zügel. Da fiel ihm noch etwas ein. »Eh ich's vergesse, junger Springinsfeld, ich danke dir auch für deine Hilfe. Es war aber gar nicht nötig, daß du dich einmischtest. Ich war eben im Begriff, das lästige Kroppzeug abzuschütteln!«
* Sir Galahads Zelt bot im Innern einen angenehmen Aufenthalt. Orientalische Teppiche bedeckten Boden und Wände. Eine lange Tafel bog sich schier unter der Last köstlicher warmer und kalter Gerichte. Große Humpen voll Wein und Met luden zum Zechen ein. Die Freunde des wohlhabenden Ritters hatten sich vollzählig versammelt und ließen sich nicht lange nötigen. Sie langten kräftig zu. Er selber hatte gebadet und sich lange massieren lassen. Allmählich wich die Müdigkeit, die ihn nach dem Kampf überkommen hatte, von ihm. Doch er aß und trank nur wenig. Zerstreut hörte er auf die prahlenden Gespräche der Freunde. Alles drehte sich um Galahads morgigen Endkampf gegen Sigurd. Für die meisten Zecher war der arme Ritter bereits ein geschlagener Mann. Plötzlich wurden draußen am Eingang Stimmen laut, und wenige Augenblicke später wurde die Leinwand zurückgeschlagen. Ein Knappe ließ einen hochgewachsenen, hageren Mann mit pechschwarzem Haar und düsterem Blick ein. Alle wandten sich dem Neuankömmling zu. »Lester!« rief es von allen Seiten. Auch Galahad erhob sich, um Lester zu begrüßen. »Kommst du von Camelot?« fragte er. »Einen Liter Wein für meine ausgedörrte Kehle und einen Hirschschenkel für meinen leeren Magen!« rief der Mann, der Lester hieß. Von allen Seiten wurden ihm Becher gereicht. Er ergriff einen und leerte ihn auf einen Zug. Schon griff er zum nächsten. »Ja, ich komme vom Hof des Königs Artus«, bestätigte er, den Wein in der linken, den Fleischbrocken in der rechten Hand. Er schlug die Zähne hinein und fuhr kauend fort: »Ich war dabei, als der alte Leonardus, ein Ritter der Tafelrunde, starb. Und ich hörte mit eigenen Ohren, wie Artus einen Herold ausschickte, um den Nachfolger des Toten an seinen Hof zu holen.« Ungeheure Erregung bemächtigte sich aller Anwesenden. Ein
neuer Ritter der Tafelrunde! Das war eine Nachricht, die zu jener Zeit jeden Ritter der Welt gespannt aufhorchen ließ. Denn König Artus war schon zu Lebzeiten eine Legende geworden. Das Volk liebte und verehrte ihn. Die Ritterschaft sah in ihm ihr Haupt. Tausende von Anekdoten kreisten um ihn. Fahrende Sänger erzählten von seiner Kraft, schwärmten von seinem unbestechlichen Gerechtigkeitssinn und seiner Großmut. Vor vielen Jahren hatte König Artus die Tafelrunde gegründet. Sie vereinte die zwölf edelsten, kühnsten und würdigsten Ritter - eine wahre Ruhmeshalle der Männlichkeit. Sie trafen sich regelmäßig auf des Königs berühmtem Schloß Camelot, wo sie bei unzähligen Humpen Met wichtige Beratungen abhielten. Hier planten sie Ritterfahrten in ferne Länder und setzten fest, mit welchen Summen die abreisenden Helden ausgestattet wurden. Sie entsandten Expeditionen zu unbekannten Küsten und stellten manchmal kleine Ritterheere zusammen, die gefährliche Aufträge zu erfüllen hatten, um Recht und Gesetz im Lande zu wahren. Jeden der zwölf hatte Artus selber erwählt. Manchmal ließ er einen Zweikampf entscheiden. Und jeder reisige Mann, vom jüngsten Pagen bis zum ergrauten Ritter, träumte ewig davon, in diese erlauchte Runde berufen zu werden. Es war das höchste Ziel, das man auf Erden erreichen konnte. Natürlich bildete Sir Galahad keine Ausnahme. Und tatsächlich berechtigten ihn viele kühn bestandenen Abenteuer zu der Hoffnung, erwählt zu werden. »Wen hat Artus gekürt?« fragte er atemlos. Alle verstummten. Wie gebannt blickten alle auf Lester. Galahads Augen flackerten fiebrig. Sein Blick senkte sich. Wen hat Artus gekürt? wiederholte er stumm. Sag, daß ich der Glückliche bin! Aber noch verriet Lester nicht die große Nachricht. Er machte Galahad ein Zeichen. Die beiden begaben sich in eine abgelegene Ecke des Zeltes. Hier flüsterten sie miteinander, während die anderen
sich in Geduld faßten und mit dem Schmausen fortfuhren. Und Lester raunte Galahad ins Ohr: »In Anbetracht des hohen Ranges, den das Turnier von Xanten seit Jahren einnimmt, hat König Artus beschlossen, den Sieger des Turniers als zwölften Ritter der Tafelrunde zu empfangen!« Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des Gastgebers. »Ich stehe morgen im Endkampf mit Ritter Sigurd ...« »Das höre ich, seitdem ich mich den Zelten näherte. Du wirst ihn doch werfen?« »Ich weiß es nicht. Wir trafen schon heute aufeinander, und ich mußte erkennen, daß er übermenschlich stark ist. Und wenn er nun noch vom Herold des Königs erfährt, welch hoher Preis dem Sieger winkt, so wird das seine Kräfte verdoppeln.« »Mut gefaßt, Galahad«, mahnte Lester in beschwörendem Ton. »Sigurd wird es nicht erfahren. Denn ...«, und nun näherte er den Mund noch mehr dem Ohr des bleichen Zuhörers, »ich habe heute morgen in einem einsamen Hohlweg dem Herold des Königs, der die Nachricht in Xanten verkünden sollte, aufgelauert und ihn mit der Lanze durchbohrt. Erst von ihm, nicht vom König, erfuhr ich die Nachricht. Er liegt verscharrt im Walde.« Galahad packte den Sprecher an beiden Schultern. »Das hast du getan?« »Mit vollem Vorbedacht. Für dich, Galahad. Du siehst, es war eine kluge Tat.« »Ich bin dir zu tiefem Dank verpflichtet, Lester. Was rätst du mir jetzt?« »Schicke alle weg - bis auf ein paar Getreue. Dann laß uns im geheimen beraten, wie du es fertigbringen kannst, Ritter Sigurd in den Staub zu werfen!« * Als Roland das Schwert Sigurds in die abgeteilte Rüstkammer des Zeltes zurückbrachte, winkte ihm eine Hand. Er ging hinaus und traf
einen Kameraden, den Schildknappen Frank. »Eine herrliche Nacht, wie?« schwärmte Frank. »Viel zu schön, um sie zu verschlafen. Der Ritter natürlich - der ist schon lange im Bett. Muß er ja auch. Braucht doch morgen jedes Gran Kraft. Aber du und ich, wir beide - hast du Lust?« Wie sich herausstellte, hatte Frank in Erfahrung gebracht, daß auf der nahegelegenen Burg Wolkenstein ein Fest gefeiert werde. Mit allem, was ein junges Herz begehrte: mit Musik, Met und Mädchen! Der Gedanke an Mädchen weckte in Roland eine unbestimmte, süße Erregung. Da brauchte er nicht lange zu überlegen. Er war sofort dabei. Frank bestieg sein Pony, Roland seinen Maulesel, dem er den zärtlichen Namen »Alter Ziegenbock« verliehen hatte. Frank kannte den Weg. Nebeneinander trabten sie im schwachen Licht der Sterne über den vielfach gewundenen Fahrweg, als sie an einer scharfen Biegung auf eine unerwartete Szene stießen, die von fackeltragenden Pagen erhellt wurde. Mitten auf der Straße lag eine Kutsche halb auf der Seite. Sie war mit den Rädern der rechten Seite in ein tiefes Regenloch geraten. Offenbar waren die Achsen gebrochen. Der Kutscher hatte die Pferde ausgeschirrt und bemühte sich fluchend um sein Fahrzeug. Am Rand der Straße stand die vornehme Dame, die mit der Kutsche gefahren war. Sie war in eine heftige Meinungsverschiedenheit mit einem kräftig gebauten Ritter verwickelt, der eine gewaltige Hakennase hatte. Die beiden Knappen hielten an und beobachteten die Vorgänge. »Wer ist dieser Ritter?« fragte Frank leise. »Kennst du ihn etwa nicht?« wunderte sich Roland. »Er hat doch heute zweimal siegreich gekämpft, ist aber dann nicht mehr angetreten. Man nennt ihn Ritter Iwein.« Frank staunte. »Du bist zum erstenmal bei einem Turnier und kennst schon alle Teilnehmer?« Roland gab keine Antwort. Seine Kenntnisse zu vermehren, wo immer die Möglichkeit sich dafür bot, war für den Jungen
selbstverständlich. Er legte mahnend den Finger auf die Lippen und hörte gespannt dem Streit zwischen der Dame und dem Ritter zu. Offenbar war Iwein ein glühender Verehrer des Fräuleins und wollte es unbedingt dazu bewegen, ihn zu einem Rittermahl bei einem Freund zu begleiten. Er hatte sich in Hitze geredet und versuchte, es zu umarmen und auf sein Roß zu heben. Sein Widerstreben stachelte ihn immer mehr an, und er vergaß alle Zurückhaltung. »Spart Euren Atem, Ritter!« hörte man sie ärgerlich rufen. »Ich reite heim. Wenn Ihr mich wirklich so verehrt, wie Ihr ständig behauptet, so laßt mich von hinnen!« »Rosalynn, ich lasse Euch nicht!« war seine erregte Antwort. Dabei packte er sie an beiden Ellbogen. Sie sträubte sich vergeblich. Roland stieß einen empörten Ruf aus und trieb seinen Maulesel an. Vergebens rief Frank ihm nach, er solle sich um Himmels willen aus dem Streit heraushalten. »Heraushalten?« wiederholte Roland verächtlich. »Hat man uns nicht als höchste Pflicht gelehrt, jederzeit Schwache und Frauen vor Gewalt zu schützen?« Und schon tauchte er neben dem streitenden Paar auf. Überrascht blickten zwei Augenpaare ihn an. »Laßt das Fräulein los, edler Iwein!« forderte Roland mit fester Stimme. Im Schatten des Weges kratzte sich Frank erschrocken an der Nase. Seiner Ansicht nach konnte diese Sache kein gutes Ende nehmen. Und sie wollten doch zum fröhlichen Fest auf Wolkenstein! Während der Ritter Rosalynn mit der Linken weiterhin festhielt, ballte er die Rechte zur Faust, holte mächtig aus und schlug auf Roland ein. Doch zu seinem Erstaunen fand die Faust nie ihr Ziel. Roland fing sie mitten im Schlag auf. Er packte sie hart, preßte sie zusammen wie der Schraubstock das Eisen und ließ nicht los, so sehr der wutentbrannte Ritter auch zerrte und zog. Zuletzt mußte Iwein sogar den Griff um die Dame lösen. Als Roland sah, daß sie frei war, versetzte er Iwein einen Stoß vor die Brust, der den fast vom Pferde beförderte, und wandte sich ab.
Iwein massierte sich stumm den Arm. Nach einigen giftigen Blicken auf den Störenfried ritt er wutschnaubend davon. »Es gibt noch andere Dämchen«, rief er halblaut. Jetzt fiel voller Fackelschein auf Rosalynns Gesicht, und bei diesem Anblick fuhr Roland ein Stich ins Herz, von dem er sich nie mehr erholen sollte. Sie war das Schönste, was er je erblickt hatte. Rosalynns Haut war rein wie frischgefallener Tau und hatte einen ganz leichten Goldton. Ihr volles dunkelbraunes Haar umrahmte ein so liebliches Antlitz, daß Roland den Blick nicht von ihr abwenden konnte. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn, als sie artig das Haupt neigte und mit klarer, anmutiger Stimme zu ihm sprach: »Wer Ihr auch seid, Ihr habt mir einen äußerst lästigen Kavalier vom Halse geschafft, und dafür seid bedankt! Wollt Ihr mich zu meinem Quartier auf Wolkenstein begleiten?« Roland bekam kein Wort heraus. Die Erregung schnürte ihm die Kehle zu. Er konnte nur eifrig nicken, während ihm eine Blutwelle in die Wangen schoß. Verwirrt beobachtete Frank, wie sich alsbald sein Freund auf dem »Alten Ziegenbock« neben der Dame, die inzwischen ein Kutschpferd bestiegen hatte, in Bewegung setzte. Langsam folgte er den beiden. Dieser Roland! Wer hätte dem bescheidenen Jungen, der als Knappe Nr. 3 bei Sigurd diente, so etwas zugetraut! Die schöne Rosalynn, die Rolands Herz im Sturm gewonnen hatte, zählte erst sechzehn Lenze, war also noch zwei Jahre jünger als er. Aber ihre höfische Erziehung hatte sie zu einem selbstsicheren Gesellschaftsmenschen gemacht. Roland, der Sohn einer bitterarmen Köhlersfamilie, fühlte sich in ihrer Gegenwart als ungehobelter, grober Bauernlümmel. Daß er nur auf einem Maulesel saß, erhöhte nicht gerade sein Wohlbefinden. So kam es auf dem kurzen Ritt auch kaum zu einem Gespräch zwischen den beiden. Roland war viel zu befangen, um einen vernünftigen Satz zustande zu bringen. Und Rosalynn bedauerte schon ihre Aufforderung. Wenn die anderen Fräuleins sie in
Begleitung eines Mauleselreiters erblickten, würden sie wahrscheinlich noch wochenlang daran ihre scharfen Zungen wetzen. Kaum also tauchten die ersten Zinnen vor ihnen auf, als Rosalynn sich mit herablassendem Kopfnicken von Roland verabschiedete und ihrem Pferd die Sporen gab. Wenige Minuten später erreichte auch Frank die Burg und gesellte sich zu Roland. Er platzte vor Neugier und wollte alles über die schöne Dame hören. Aber Roland blieb wortkarg. Fast verstört wirkte er. So wandte sich Frank mit einem Achselzucken den Räumen der Dienerschaft zu, wo lauter Lärm anzeigte, daß das Fest bereits in vollem Gange war. Plötzlich wurde es hinter einem der dunklen Fenster in den höher gelegenen Räumen hell. War das Rosalynns Kemenate? fragte sich Roland. Das matte Licht übte unwiderstehlichen Reiz auf den Jüngling aus. Was hätte er darum gegeben, bei dem Fräulein zu sein! Nicht einmal berühren wollte er es. Ihm hätte es genügt, es zu sehen, mit den Augen sein Liebreiz zu trinken. Plötzlich bemerkte er, daß ein Lindenbaum im Burghof mit seiner Krone bis in die Nähe des erleuchteten Fensters reichte. Roland überlegte keine Sekunde. Mit drei Schritten war er bei der Linde und kletterte katzengewandt den Stamm empor. Für den Köhlerssohn, der seine ganze Kindheit im Schatten unermeßlicher Wälder verbracht hatte, war das eine Kleinigkeit. Nach kurzer Zeit hockte er hoch oben in den Ästen, teilte vorsichtig das Blätterwerk und sah Rosalynn! Sie saß vor dem Spiegel und kämmte ihr seidig schimmerndes Haar. Hingerissen schaute Roland ihr zu, und die Zeit verging, ohne daß es ihm bewußt wurde. Er betrachtete die liebliche Linie ihres Nackens und bewunderte die feinen Gesichtszüge, die ihm aus dem blanken Spiegel entgegensahen. Nun erhob sich Rosalynn und schritt im Zimmer auf und ab. Anscheinend wollte sie sich zur Ruhe begeben, denn sie streifte das Obergewand ab. Roland starrte unbeweglich durchs Fenster. Gleich darauf fiel der Reitrock zu Boden. Da überkam etwas wie Scham den heimlichen Späher. Er wendete
das Gesicht ab, verließ den luftigen Sitz und hangelte nach unten. Als seine Füße im Sprung den Boden berührten, schrie eine Frauenstimme leise auf. Denn er war fast auf den Schultern eines Mädchens gelandet, das gerade am Baum vorbeiging. »Wachsen jetzt leibhaftige Kerle auf unseren Bäumen?« fragte sie schnell gefaßt. »Was treibst du dich eigentlich hier draußen herum, statt dich auf dem Fest zu vergnügen? Komm, begleite mich! Ich heiße Kathi und bin eine Zofe der alten Dame von Wolkenstein. Wer bist denn du?« Erleichtert stellte Roland sich vor, und bald fand er sich in dem langgestreckten, niedrigen Gesindesaal wieder, wo bereits ein fröhliches Treiben herrschte. Drei Spielleute fiedelten zum Tanz. Da schwenkte auch schon Frank mit hochrotem Gesicht und glänzenden Augen an ihm vorüber, im Arm eine dralle Viehmagd. Er schien hier wie zu Hause zu sein. Erst jetzt fiel Roland auf, daß er sich in Bauerntracht geworfen hatte. Frank bemerkte ihn gar nicht. Dagegen erregte Rolands Eintritt bei einigen jungen Burschen sofort Aufsehen. Mit nicht eben freundlichen Blicken schoben sie sich näher an ihn heran. »Was für einen fremden Vogel hast du uns denn da ins Haus geschleppt?« wurde Kathi von einem stiernackigen Kraftkerl mit semmelblondem Stoppelhaar gefragt. Kathi wollte antworten. Doch Roland kam ihr zuvor. Er nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Wie du siehst, trage ich die rotgelben Farben des Ritters Sigurd!« »Ah, ein Ritterknecht!« versetzte der Stiernacken verächtlich. »Und so etwas Vornehmes wie du mischt sich freiwillig unter das niedere Volk? Das macht mich stutzig. Bist du etwa gar ein Spitzel?« »Ich bin weder Spitzel noch Knecht«, entgegnete Roland trocken. Die Burschen reagierten mit ärgerlichen Ausrufen. Einige schlugen vor, ihn sofort an die frische Luft zu setzen. Aber Stiernacken sagte mit hinterhältigem Lächeln und falscher Freundlichkeit: »Wir wollen keinen Gast vergraulen, auch wenn er uns fremd ist. Doch wenn er bleiben will, so soll er sich der üblichen Prüfung unterziehen. Daran
können wir ermessen, ob er ein echter Kerl oder ein Arschkriecher ist!« »Ja, die Prüfung! Er soll die Prüfung machen!« riefen die anderen in freudiger Erregung. Die Kunde, daß sich ein Neuling der Prüfung unterziehen werde, lief wie ein Lauffeuer durch den Raum. Nun wurde auch Frank auf Roland aufmerksam. Er gab ihm aufgeregt Zeichen, die Roland jedoch nicht zu deuten wußte. Kathi aber trat mutig vor die Burschen und sprach: »Laßt Roland in Ruhe, und bleibt ihm mit der Prüfung vom Leibe! Heute ist Tanz, und er ist mein Tänzer!« »Nichts da!« rief der Stiernacken. »Wir wollen doch mal sehen, was seine ritterliche Ausbildung taugt.« Dann wandte er sich an Roland: »Du kannst doch mit Pfeil und Bogen umgehen, nicht wahr?« »Für den Hausgebrauch langt's«, sagte der kurz. Er erkannte sofort die Arglist. Denn im Bogenschießen war das einfache Volk den Rittern weit überlegen, weil diese Jagdart an keinem Hofe gepflegt wurde. Die Ritter zogen die Falkenbeiz oder die Hatz mit Hunden und Lanze vor. Dennoch war Roland guten Mutes. Als Kind hatte er mit selbstgefertigtem Bogen manchen Vogel erlegt. »Platz da!« riefen die Burschen. Sofort traten die Tänzer an die Längsseiten des Raums. So entstand eine breite Gasse. An der gegenüberliegenden Wand wurde das Bild eines gemalten Keilers sichtbar. Ein sehniger Bursche tauchte neben Stiernacken auf. Er trug den Köcher über der Schulter und legte unverzüglich einen gefiederten Pfeil auf die Bogensehne. Man sah ihm die langjährige Übung an der kleinsten Bewegung an. Er spannte die Sehne und zielte sorgfältig. Erwartungsvolles Schweigen trat ein. Der Schütze ließ die Sehne vorschnellen, und ein vielstimmiger Jubelruf klang durch die Halle. Mit strahlendem Lächeln ließ sich der sehnige Bursche feiern. Sein Pfeil hatte den gemalten Keiler ins Hinterteil getroffen. Roland wartete, bis der Jubel nachließ. Dann bemerkte er trocken: »Scheint mir nicht gerade ein tödlicher Schuß
zu sein.« »Hoho, mach's erst mal besser, du Prahlhans!« »Ich will's versuchen«, sprach Roland, ließ sich den Bogen reichen und verlangte zwei Pfeile dazu. Wie lange hatte er solch ein Gerät nicht in der Hand gehabt? Er kämpfte seine innere Unruhe nieder, legte den ersten Pfeil auf, hielt den Atem an - und ehe sich einer versah, bohrte sich schon die Spitze ins Blatt des Keilers. Kathi machte vor Freude einen Luftsprung und sah sich dann triumphierend um. Der junge Bursche, der den ersten Schuß getan hatte, rief: »Zufall!« Da hatte Roland schon den zweiten Pfeil auf die Reise geschickt. Und dem Widersacher blieb das Wort gleichsam im Halse stecken. Die Verblüffung der Anwesenden war grenzenlos. Roland hatte mit dem zweiten seinen ersten Pfeil genau in den Schaft getroffen und haarscharf in zwei Hälften zerlegt! Kathi fand als erste die Sprache wieder. »Wenn das kein Meisterschuß ist...«, sagte sie stolz. Und niemand widersprach ihr. Nur Roland selber wandte ein: »Einen Meisterschützen würde ich den nennen, dem meine kleinen Kunststückchen in freier Natur bei einem leibhaftigen fliehenden Keiler gelingen.« Mit ganz anderen Augen wurde Roland nun betrachtet. Aus dem unerwünschten Eindringling war im Handumdrehen ein begehrter und bewunderter Gesellschafter geworden. »Hoch Roland«, rief eine helle Mädchenstimme »Du hast die Prüfung mit Glanz bestanden!« Fast alle gaben ihr recht. Met wurde ihm gereicht. Mädchen drängten heran. Rasch nahm Kathi seinen Arm. Sie mußte befürchten, daß manch hübsches Ding ihr den »Prüfling« streitig machte. Indessen packte der Stiernackige, der Uri hieß, den beschämten Bogenschützen am Ellbogen und raunte ihm zu: »Der würde doch in freier Natur vor jedem Keiler davonrennen. Komm, wir trinken mit ihm!« Dabei kniff er bedeutungsvoll ein Auge zu. Die Spielleute griffen wieder zu den Fiedeln. Die Paare fanden
zueinander. Binnen kurzem war der Tanz im Gange. Kathi hielt Roland fest umschlungen. Sie war ein hübsches Ding mit ansehnlichen Formen. Ihr Kleid war vorn tief ausgeschnitten, und Rolands Blicke verloren sich oft in der Bewunderung ihres runden Busens, der wie vorwitzig herausschaute. Da wurde er abgelenkt. Uri und der sehnige Bursche näherten sich ihm. »Laßt uns Freunde sein«, sagte der Stiernackige. »Komm, Roland, trinken wir auf gute Kameradschaft!« Und er lachte ihn offen an. Roland versah sich keines Bösen, das war nicht seine Natur. Gern nahm er das ihm dargereichte Horn voll Met zur Hand, stieß mit den beiden Burschen an, sagte ihnen ein paar freundliche Worte und nahm einen tiefen Zug. Dann setzte er das Horn ab und schaute auf. In diesem Augenblick schüttete ihm der bullige Uri, der ihn aufmerksam beobachtet hatte, den ganzen Inhalt seines eigenen Horns ins Gesicht. Geblendet schloß Roland die Augen. Der Bogenschütze hatte sich blitzschnell hinter Roland auf den Boden gekauert. Als Uri dem Knappen, der sich mit den Händen die Augen auswischte, einen kräftigen Stoß vor die Brust gab, fiel der über den kauernden Schützen hinweg und knallte rücklings zu Boden. Kathi schrie laut auf. Noch merkten die übrigen Festteilnehmer nichts. Musik und Lärm übertönten Kathis Schrei. Da rückten auch schon die anderen Freunde Uris heran und bildeten einen Kreis um den Gestürzten. Uri hockte ihm auf der Brust und auf den Oberarmen und versetzte ihm eine Ohrfeige, wobei er rief: »Dir werde ich Benehmen beibringen, du schändlicher Ritterknecht!« Die heimtückische Attacke hatte den nichtsahnenden Roland völlig überrascht. Aber so leicht gab er sich nicht geschlagen. Noch hatte er die Beine frei. Mit gewaltigem Schwung riß er sie in die Höhe, brachte Uri ins Wanken und aus dem Gleichgewicht und rollte mit dem schweren Gegner über Kopf und Schultern nach hinten ab. Uri mußte seinen Griff lockern, und Roland befreite sich mit einer jähen
Seitwärtsbewegung vollends. Elastisch sprang er auf die Beine. Nicht eine Sekunde zu früh! Denn jetzt stürmten Uris Freunde gemeinsam auf ihn los. Sie hätten ihn auch mit Leichtigkeit überwältigt, wenn sie sich nicht im übertriebenen Eifer gegenseitig mehr behindert als geholfen hätten. Den vordersten hob Roland mit sicherem Untergriff wie ein Ringer vom Erdboden hoch und warf ihn dann von sich. Den nächsten ließ er die geballte Faust spüren, daß dem der runde Schädel dröhnte und sich vor seinen Augen der ganze Tanzsaal zu drehen begann. Mit der Schulter räumte Roland zwei andere beiseite. Dann bückte er sich, packte den sehnigen Bogner, der ihn mit einem Griff an die Knie neuerlich zu Fall bringen wollte, um die Leibesmitte. Und er warf ihn in die Gruppe seiner Freunde. Die Burschen prallten zurück und kamen den tanzenden Paaren in die Quere. Es gab Rempeleien und böse Worte, Da alle schon viel getrunken hatten, wurden ihnen rasch die Köpfe heiß. Schon schwang man hier und da im Zorn die Fäuste, und alte Eifersüchteleien flammten auf. Mädchen kreischten. Einige aber stürzten sich an der Seite ihrer Tänzer in die Rauferei, die sich jetzt entwickelte. Ungerührt fiedelten die Spielleute weiter, schneller und schneller, aber nun war ein anderer, ein wilderer Tanz im Gange. Schon tropfte Blut aus einigen Nasen. Lippen platzten auf. »Frank!« schrie Roland. Aber der Kamerad war nirgends in dem Gewoge von Gliedmaßen und Köpfen zu erblicken. Kathi zupfte Roland am Ärmel. »Komm«, sagte sie, »es wird Zeit.« Hand in Hand drängten sie zum Ausgang. Draußen unter dem Nachthimmel schlang Kathi die Arme um seinen Hals, drängte sich eng an ihn, hob den Kopf zu ihm auf und preßte ihren heißen geöffneten Mund auf den seinen. Minutenlang standen sie in inniger Umarmung, und Roland vergaß jeden Gedanken an das hochmütige Burgfräulein Rosalynn. Denn zu nah waren ihm Kathis zärtliche Lippen, ihre forschende Zunge und ihr schwellender Busen. Nach langer Zeit ließ sie ihn los.
Sie mußten beide erst einmal Atem holen. Verzückt betrachtete er ihr Gesicht, das im matten Schimmer der fernen Sterne seltsam verschwommen und wunderlich anziehend wirkte. Wieder stahl sich ihre Hand in die seine, und wieder sprach sie wie eine Zauberformel das einladende Wörtchen: »Komm ...« Und dann ging alles so schnell, so leicht, so einfach, als verstünde es sich von selbst. Nackt lag der junge Knappe neben dem nackten Mädchen auf der schmalen Lagerstatt ihres engen Gemachs und betrachtete voll Bewunderung ihren herrlichen Körper. Eine ungekannte Erregung nahm von ihm Besitz, als er die rosafarbenen Spitzen ihrer verführerischen Brüste mit den Lippen liebkoste. Kathis Hände waren überall an seinem Körper. Sie begann, leise zu stöhnen, und wand sich wie eine Schlange um ihn. »Nimm mich, Roland!« flüsterte sie ihm heiß ins Ohr. Als Roland mit gewaltiger Jugendkraft sie über sich warf, stieß sie Laute der Wonne aus. Sie schlang die langen Beine um seine Hüften und preßte ihn eng an sich heran. »Ich spüre dich ganz tief in mir, Roland«, stammelte sie hingerissen. Eine Art Raserei ergriff Roland. Immer schneller hob und senkte sich sein Unterkörper, und Kathi kam ihm mit verzehrender Wollust jedesmal entgegen. Die Zeit verging im Fluge, und doch war sie eigentlich gar nicht vorhanden. Sie vergaßen die Zeit, die Freunde und alles und gaben sich ganz ihrer Leidenschaft hin. Als der Höhepunkt kam, meinte Roland, nie Schöneres erlebt zu haben. Ihm war, als verströme er seine ganze Kraft über Kathi. Doch dies war ein Irrtum. Seine Kraft reichte noch für viele Stunden des Glücks. * Lester war es schnell gelungen, Sir Galahads bedrückte Stimmung zu heben. Seine Argumente klangen einleuchtend. »Da zu befürchten ist«, begann der düstere Ritter, »daß dieser
Sigurd den Waffengang mit dir durch rohe Kraft allein zu seinen Gunsten wendet, muß man ihn durch geistige Waffen daran hindern. Schließlich leben wir nicht mehr im Zeitalter der Barbaren. Und glaub mir, mein Freund, ich habe da ein paar unfehlbare Tricks im Sinne ...« »Tricks?« unterbrach Galahad zweifelnd. »Wäre es nicht unfair, Zuflucht in Tricks zu suchen?« »Im Gegenteil. Du würdest unfair handeln, wenn du nicht jeden Vorteil, der sich dir bietet, ausnütztest. Es wäre unfair dir selber gegenüber.« »Was führst du im Schilde, Lester?« Der hagere Ritter deutete auf den Dritten der nächtlichen Beratungsrunde, einen mittelgroßen Mann von freundlichem Aussehen, zu dem seine rosigen Wangen viel beitrugen. »Morgen in aller Frühe wird unser Freund Henry sich ins Zelt des Gegners begeben und ihm in seiner gewinnenden Art auseinandersetzen, wieviel lohnender eine ehrenvolle Niederlage für ihn wäre als ein mit Hauen und Stechen schwer erkämpfter Sieg. Henry wird ihm 500 Dukaten dafür bieten, daß sich Sigurd nach einiger Zeit auf einen Lanzenstich von dir aus dem Sattel fallen läßt. Wir wissen doch alle, wie dringend Sigurd Geld braucht. Seine Burg ist baufällig und muß in diesem Sommer von Grund auf renoviert werden. Nicht umsonst nennt ihn alle Welt den armen Ritter.« »Wenn er aber ablehnt?« fragte Henry lächelnd. »Dann liegt es um so mehr an deinem Geschick«, antwortete Lester. »Spiele den ganzen Charme deiner Persönlichkeit aus! Mit sanfter Stimme, betörendem Lächeln und freundschaftlichem Gehabe hast du doch schon manchen klugen Mann zu einer großen Dummheit verleitet. Wer sollte angesichts deiner sanften Rehaugen und deiner rosafarbenen Bäckchen nicht meinen, daß du nur sein Bestes willst? Henry, dir kann keiner etwas abschlagen!« »Meinst du das wirklich?« fragte der Angesprochene geschmeichelt. »Lester hat recht«, bestätigte Galahad. »Vor deiner
schmeichelnden Zunge versagt die schärfste Logik. Du könntest einen wütenden Feuerdrachen dazu überreden, daß er dir als dienstbarer Geist zur Winterszeit die Burghalle heizt. Du bist imstande, einem Armen das Almosen abzuschmeicheln, das er sich eben sauer erbettelt hat. Im übrigen ermächtige ich dich, notfalls bis auf 1000 Dukaten zu gehen, Henry.« So trennte man sich in dem Gefühl, daß der freundliche Henry mit Hilfe einer geeigneten Summe den grimmigen Sigurd zähmen werde. Weit zuversichtlicher als noch vor einer Stunde begab sich Galahad zur Ruhe. Auch Henry, fast trunken von den vielen Lobesreden, taumelte fröhlich ins Bett. Noch mit geschlossenen Augen führte er in gleichmäßigen Abständen den Becher mit rotem Falerner zum Munde, der seinen Bäckchen jenes friedvolle Rot verliehen hatte. Nur der düstere Lester fand keine Ruhe. Er dachte tiefer, schärfer und rücksichtsloser als seine Freunde. Ein Plan befriedigte ihn erst dann, wenn er alle Möglichkeiten vorausberechnet und für jede einen Gegenschachzug erfunden hatte. So suchte und fand er noch lange nach Mitternacht ein Zelt, dessen Bewohner in ungewöhnlich schlechter Laune war. Mißmutig empfing Iwein den späten Besucher mit den Worten: »Ich könnte diesen Sigurd vergiften! Einer seiner Knappen hat mir auf üble Weise mitgespielt, als ich eben dabei war, die schöne Rosalynn in mein Zelt zu entführen.« Günstiger konnte Lester es gar nicht antreffen. * Erst im Morgengrauen trabte Roland auf seinem Maulesel, der zu dieser frühen Stunde sich besonders störrisch gebärdete, dem Gezelt seines Herrn zu. Seine Augen blitzten mit den ersten Sonnenstrahlen um die Wette. Kathi hatte ihm eine neue Welt erschlossen. Dankbar vergab er ihr, daß sie ihn zuletzt unsanft von ihrem Lager verscheucht hatte.
Roland kam nicht dazu, mit Frank ein Wort zu wechseln. Der war eifrig mit den Waffen Sigurds beschäftigt. Lanze und Schwert sollten an diesem Tage heller funkeln denn je zuvor. Roland schüttelte leicht den Kopf. Er hätte gern gewußt, warum Frank sich bei der Rauferei in der Gesindestube nicht an seine Seite gestellt hatte. Auf die Idee, Frank sei feige geflohen, kam der Knappe gar nicht. Schon zwei Stunden vor dem festgesetzten Kampfbeginn hatte der Ritter seine Morgenmahlzeit beendet. Bot sein Zelt innen und außen auch ein Bild großer Ärmlichkeit, so mangelte es bei ihm doch nie an vortrefflichem Essen. Seinem dicken Grützbrei waren gewaltige Portionen Hirschfleisch zugefügt. Sigurd fing an, sich in Gedanken mit dem bevorstehenden Kampf zu beschäftigen. Er überlegte sich mögliche Taktiken, verwarf einige, erwählte andere und malte sich jede Kampfszene bis ins einzelne aus. Ihn störte bei seinen Gedanken die Ankunft des wohlgerundeten Henry, der nur einmal im Leben ein Turnier bestritten hatte. Dabei war er sofort arg zu Schaden gekommen und hatte sich beide Beine gebrochen, ganz zu schweigen von seinem gebrochenen Mut. Seitdem erlebte er Turniere nur von der Tribüne. Ja, er entwickelte bald einen guten Blick für die Qualitäten der Kämpfer. Theoretisch konnte ihm keiner etwas vormachen, dem Ritter mit den roten Bäckchen. Er schüttelte Sigurd herzlich die Hand, erkundigte sich nach dem Befinden seiner Frau, beklagte den schlechten Zustand von Sigurds Burg und rückte allmählich, ganz allmählich mit Sir Galahads Anerbieten heraus. »500 Dukaten sagt Ihr?« rief Sigurd laut. »Und ich brauche weiter nichts zu tun, als mich vom Pferd fallen zu lassen, wenn Galahads Lanze mich berührt?« »Genauso! Ist das nicht ein herrliches Geschäft?« meinte Henry und rieb sich fröhlich die Hände. »Selbst als Sieger würdet Ihr lange nicht soviel erhalten. Und weil ich Euch gern mag, Sigurd, biete ich Euch noch 100 mehr. Die nehme ich auf meine eigene Kappe, bin aber sicher, daß Galahad diesen meinen Schritt genehmigen wird,
Was sagt Ihr nun?« »Ich bin überwältigt«, rief Sigurd und klatschte scheinbar vor Begeisterung in die Hände. Ein Signal für seine drei Knappen, ins Zelt zu stürmen. Sie hatten die laut geführte Unterhaltung draußen gut verstanden. »Was sagt ihr dazu, meine Knappen?« Frank platzte als erster heraus: »Mit beiden Händen solltet Ihr zugreifen! Soviel Geld, und beinahe für gar nichts! Das ist ja wie im Märchen! Da würden für uns sicherlich neue Wämser abfallen. Die alten sind schon arg zerschlissen. Man wagt sich so kaum noch blicken zu lassen.« Sein Kamerad Gerd wiegte den Kopf, überlegte eine Weile und sagte dann mit listigem Blick: »Wer 600 Dukaten bietet, der zahlt auch mehr. An Eurer Stelle, Herr Ritter, würde ich dreist 800 verlangen. So eine Gelegenheit findet sich so leicht nicht wieder.« Unter herabgezogenen Lidern warf Henry dem schlauen Gerd heimlich einen beifälligen Blick zu. Aber dann wiegte er bedenklich den Kopf. Roland schwieg betroffen. Er hätte am liebsten das Zelt verlassen. Er mochte die Frage nicht gern beantworten. Er wußte, er würde nur allen die Freude verderben. Aber da hörte er Sigurd schon sagen: »Und was meinst du, Roland?« Roland richtete sich kerzengerade auf und sagte, den Blick unverwandt auf seinen verehrten Herrn gerichtet: »Nimmermehr wird mein Ritter dieses schmähliche Spiel gutheißen. Seine Ehre steht hi m allzeit turmhoch über dem Geld. Nie reicht er die Hand zu listigem Betrug.« »Aber bedenk doch«, wandte Sigurd ein, »du würdest ein neues Wams erhalten. Und ein Pferd statt des Maulesels. Ich könnte meiner Gemahlin ein schönes neues Gewand und etwas Schmuck mitbringen - Dinge, nach denen sie sich sehnt und auf die sie verzichten muß. Und wir könnten die Burg wohnlicher gestalten.« »Verzeiht, Herr, aber ehe ich mitansähe, daß Ihr auf diesen Lügenhandel einginget, möchte ich auch meinen Maulesel verkaufen und hinfort zu Fuß hinter Eurem Roß herlaufen, wenn Euch mit dem
Erlös gedient wäre.« Frank und Gerd brachen in höhnisches Gelächter aus. »Dein alter Ziegenbock bringt keine zwei Dukaten ein!« riefen sie. »Soll der Ritter seiner Gemahlin vielleicht Glasperlen als Schmuck mitbringen?« Doch Roland war nicht zu bremsen. »Den Mann, der die Stirn hätte, mir ein solch niederträchtiges Angebot zu machen«, rief er mit blitzenden Augen, »den nähme ich am Kragen und würfe ihn in hohem Bogen aus dem Zelt.« Henry wollte entrüstet auffahren, doch Sigurd legte ihm begütigend die Hand auf den Ärmel. »Das Gastrecht ist mir heilig, seid unbesorgt.« Worauf Henry seine Bäckchen mit breitem Lächeln verzog, den Kopf zur Seite bog und Sigurd ins Ohr raunte: »Was Euer zweiter Knappe sagte, war so übel nicht. Ein Bürschlein mit vielversprechenden Anlagen, scheint mir. Ich biete Euch 800 - aber das, Sigurd, ist mein und Galahads letztes Wort! Überspannt den Bogen nicht! Greift frisch zu, und schlagt ein!« Insgeheim beschloß Henry, Galahad mitzuteilen, Sigurd habe 1000 gefordert und bekommen. Dann würde ihm dieses schnelle Vermittlergeschäft 200 Dukaten einbringen. Leichter ließ sich kaum Geld verdienen! Sigurd erhob sich. Breit wie ein Felsklotz stand er vor Henry, und sein Arm deutete zum Ausgang. »Ich weiß, Henry, wie karg Eure Zeit bemessen ist, und will Euch nicht länger halten. Sicherlich wollt Ihr noch anderen Herren Eure Aufwartung machen. Gehabt Euch wohl.« Verblüfft starrte Henry ihn an. »Aber unser Geschäft... Das nette, für Euch so vorteilhafte Geschäft, von dem wir sprachen ...?« »Ich erinnere mich nicht, je von einem Geschäft gesprochen zu haben. He, Gerd, Frank, haltet keine Maulaffen feil, sondern führt unseren Gast höflich ins Freie!« Nur mit Mühe bewahrte Henry seine Haltung. Ein paar leise Flüche entflohen seinem sonst so freundlichen Mund, als die beiden
Knappen ihn hinausgeleiteten. Drinnen im Zelt aber lachte Sigurd dröhnend und strich Roland übers Haar. »Du hast mir Freude bereitet, Roland. Du hast das Zeug zu einem Ritter. Mir war, als sprächst du meine eigenen Gedanken aus. Und weißt du, was sich hinter diesem schändlichen Angebot verbirgt? Der großmächtige Galahad hat die Hosen voll! Er fürchtet mich! Hohoho, gleich fühle ich mich doppelt so stark. Doch jetzt, Roland, sieh nach meinem Pferd!« Glücklich entfernte sich Roland. Und er schalt sich, daß er einige Minuten lang an seinem Herrn gezweifelt hatte. Im Stall herrschte Unruhe. Sigurds braune Stute schlug mit den Hinterbeinen aus und blieb keinen Augenblick still stehen. Das kannte man sonst von der Stute nicht. »Ruhig, Braune, ruhig, ganz ruhig!« sprach Roland auf das Pferd ein. »Willst schon zum Turnier, ja? Kannst die Zeit nicht abwarten. Ruhig Blut. Bald tönen die Hör ...»Aus den Augenwinkeln sah Roland die hurtige, schleichende Bewegung. Mit zwei Sätzen schnellte er vom Pferd weg und warf sich auf den Fremden, der eben den Stall heimlich verlassen wollte. »Verfluchter Schurke, was treibt Ihr hier in fremden Ställen? Raus mit der Sprache, oder es ergeht Euch schlecht!« Roland erhielt einen derben Stoß vor die Brust und prallte zurück. Erst da erkannte er den fremden Eindringling. Es war Ritter Iwein! Der Ritter trug bereits festliche Kleidung. Er hatte sich völlig in der Gewalt. Nichts in seinem eckigen Gesicht verriet, wie sehr er sich eben noch erschrocken hatte. Schon lachte er Roland an. »Mir scheint, wir kennen uns - ich irre mich doch nicht? Immer zur Stelle, wenn es schöne Damen und Stuten zu beschützen gilt, wie? Höre, mein Junge, gerade dich suche ich. Gestern abend war ich recht unwirsch, als du zwischen mich und das Fräulein tratest. Als ich heute morgen erwachte, dachte ich anders darüber. Kurz und gut, ich bin gekommen, dir zu danken, daß du mich vor einer Unbesonnenheit bewahrt hast. Und ich bitte dich, die leidige Angelegenheit zu vergessen. So, wie ich auch das Fräulein darum
bitten werde. Es ist sonst nicht meine Art, Damen zu belästigen. Aber die Erfolge deines Herrn hatten mich so gefreut, daß ich ein wenig hastig darauf trank. Mit einem Wort: Ich war voll des süßen Weines.« »Wenn es so ist, Herr Ritter, dann verzeiht auch Ihr mir meine Grobheit.« »Schon gut! Die Hand drauf! Du bist ein wackerer Knappe! Wie heißt du gleich?« »Roland, Herr.« »Werd's mir merken. Und schreib dir's hinter die Ohren: Wenn es dich je gelüsten sollte, den Dienst zu wechseln, komm zu mir, du sollst willkommen sein.« Sie schüttelten sich die Hände, und Iwein ging erhobenen Hauptes davon. Roland schaute ihm, zufrieden über diesen Ausgang des Streits, nach. Er hatte Iwein kämpfen und zweimal siegen sehen. Daher hielt er ihn für einen fähigen Ritter und war froh darüber, daß er nicht länger Schlechtes von ihm denken mußte. Seine Erklärung hatte ihm vollauf eingeleuchtet. Eine Viertelstunde später traf Henry bei Galahad ein und erstattete ihm Bericht. Ernst hörte der ihm zu. »Er ist ein unbegreiflicher Dummkopf«, empörte sich Henry. »Wie kann man nur auf so schönes Geld verzichten! Dieser Sigurd ist ein Idiot! Nun wird er aus dem Sattel fallen und bekommt keinen Penny dafür, sondern muß obendrein noch mit Pferd und Rüstung zahlen, wie die Turnierregel es verlangt!« Kurz darauf langte Iwein bei Lester an. Triumphierend zog er ein Schwert unter seinem langen Rittermantel hervor und rief: »Das ist... Nein, das war Sigurds Schwert! Ich stahl es aus seiner Rüstkammer, während er mit Henry verhandelte. Eine gefährliche Waffe, Lester. Die Schneide ist messerscharf. Ich merkte es, als ich seinen Sattelgurt damit zu drei Vierteln einschnitt! Sagt Galahad, er habe nichts mehr zu befürchten!« *
Und wieder riefen die Trompeten schmetternd - zum letzten Tag des großen Turniers. Nur ein Kampf würde noch zu sehen sein. Aber erneut überschwemmten die Bürger aus der Stadt und ihrer Umgebung die Erdwälle rings um den grünenden, jetzt schon an vielen Stellen von den Pferden zerstampften Platz. Der Bericht vom unentschiedenen Kampf des vorigen Tages hatte, vergröbert und ausgeschmückt in vieler Beziehung, abendlich und nächtlich die Runde durch Schenken und Häuser gemacht und die Neugier gewaltig angefacht. Als das sechsmalige Hornsignal und die Stimme des Marschalls die beiden Kämpfer in die Schranken forderten, zeigte es sich, daß Sigurd in der Gunst des Publikums gestiegen war. Nicht länger mehr war Galahad beim Volk der alleinige Favorit. Über Nacht war der arme Ritter zum Liebling vieler Menschen geworden, die selber auf der Schattenseite lebten. Sein Erfolg gab ihnen Mut. Ein Armer war nicht unbedingt verloren und im Nachteil - das sagte ihnen sein Beispiel, und sie trugen den Kopf höher. Dennoch entfachte Galahads Auftreten größeren Jubel. Sein Anblick schmeichelte dem schönheitsuchenden Auge Und er brachte eine Überraschung. Statt des schneeweißen Pferdes ritt er diesmal einen feurigen Araber, dem auch das unkundige Auge die edle Abstammung auf den ersten Blick ansah. Und von jetzt an prasselten die Überraschungen auf die Zeugen dieses denkwürdigen Turniers nur so herab. Weil es ein Entscheidungskampf war, stellte der Marschall die Gegner vor die Wahl, ob sie die höfliche oder die tödliche Form des Duells wählen wollten. Alle bisherigen Kämpfe waren auf höfliche Weise ausgetragen worden. Das hieß, daß jeder Ritter ein dickes Holzbrett auf die Lanzenspitze gesteckt hatte, um den Gegner vor schweren Verletzungen zu bewahren. Auch diesmal erklärte Sigurd ohne Zögern, er wolle höflich kämpfen. Doch als Galahad die Frage gestellt wurde, entschied er sich für die tödliche Form - ohne schützendes Holzbrett. Nach den Regeln
hatte bei unterschiedlicher Wahl die tödliche Form den Vorrang. Ein Raunen ging durch die Menge. Wollüstiges Gruseln bemächtigte sich vieler. Sigurd schüttelte unwillig den Kopf. Roland fühlte, wie seine Hände heiß und feucht wurden. Galahad hatte die Sonne zur Rechten, als die beiden Ritter zum ersten Gang aufeinanderzustürmten. Ohne daß es ihm bewußt wurde, öffnete Roland den Mund und schrie. Er überschrie die tausendfachen Anfeuerungsrufe der Menge mit seinem: »Sigurd, Sigurd!« Eine merkwürdige Wandlung ging in ihm vor. Hatte er bisher zu dem Ritter wie zu einem Vater empor geschaut, so war ihm jetzt zumute wie einer Mutter, die ihr einziges Kind in die Schlacht und in den fast sicheren Tod ziehen sieht. Die schmalen Hufe des edlen Araberhengstes trommelten einen hektischen Wirbel. Sie rissen große Stücke Gras aus dem Boden und schleuderten sie hoch in die Luft. Auch Sigurds braune Stute gab ihr Bestes, ein zuverlässiges, erprobtes Roß. Mit Urgewalt stürmten die Ritter aufeinander zu, die nackten Lanzen auf den Gegner gerichtet. Wer sollte diesen Zusammenprall überleben? Da gerieten sie aneinander. Stahl klirrte auf Stahl. Funken stoben. Menschen schrien. Staub wallte auf. Zwei Lanzen splitterten. Beide hatten gut und mit großer Wucht getroffen. Jetzt waren sie aneinander vorbei, mit zerbrochenen Lanzen. Aber welch ein Unterschied! Sir Galahad saß riesenhaft im Sattel wie eine eherner, unbesiegliche Statue. Sigurd aber hing, ein kläglicher Anblick, weit nach hinten über. Mit letzter Kraft schien er sich festzukrallen und rutschte doch immer weiter ab. Roland schloß entsetzt die Augen. Neben ihm begann sein Kamerad Gerd zu zittern, legte schluchzend die Hände vors Gesicht und rannte dann in wilder Flucht davon, als werde er von einem unsichtbaren, bösen Dämon verfolgt. Roland schlug, aufs Schlimmste gefaßt, die Augen auf.
Und er sah, daß Sigurd sich mit übermenschlicher Anstrengung gehalten hatte. Während die Braune langsam zum Ende des Feldes galoppierte, richtete ihr Reiter sich wieder im Sattel auf. Verständnislos sah Roland dem flüchtenden Gerd nach. Eine schlimme Vorahnung griff mit kalten Fingern nach seinem Herzen. Die Ritter hielten. Neue Lanzen wurden ihnen gereicht. Frank war es, der Sigurd die Waffe übergab. Der Knappe war kreidebleich und flog am ganzen Körper. Er war für die Waffen verantwortlich, und Sigurds Schwert hatte heute morgen gefehlt. Trotz eifrigsten Suchens hatte er es nirgends finden können. Die scharfe Klinge war spurlos verschwunden. Frank hatte es nicht gewagt, dem Ritter die schlechte Nachricht mitzuteilen. Er wappnete ihn mit einem Ersatzschwert aus der Rüstkammer und hoffte inbrünstig, daß alles gutgehen werde. Gerd hatte eine ähnlich schlimme Überraschung erlebt. Als er den Sattelgurt auflegte, bemerkte er, daß er zu drei Vierteln eingerissen war. Es war zu spät, um den Schaden zu beheben. Er meinte, seine Pflicht vernachlässigt zu haben, und traute sich nicht, dem Ritter Meldung zu erstatten. Als er sah, daß beim ersten Kampfgang der Gurt mitten durchriß, rannte er weinend davon. Eine große Verwirrung hielt Sigurd umfangen, als er zum zweiten Male gegen Galahad anritt. Er hatte sich heute morgen so viele Kampfszenen im Geiste vorgespielt, aber keine hatte Ähnlichkeit mit der, die sich nun wirklich ereignet hatte. Sein Sattelgurt war gerissen! Wie konnte das geschehen? Er wußte, daß er einen zweiten Zusammenprall nicht im Sattel überstehen konnte. Schon jetzt hüpfte er bei jedem Galoppsprung wie ein Ball auf und nieder. Er hatte keinen Halt mehr. Und wie das Gericht Gottes brauste der riesige Galahad auf seinem schwarzen Pferd heran. Da faßte Sigurd einen schnellen Entschluß und versuchte den schwierigsten Stoß - den nach des Gegners Helm. Ihn traf Galahads Lanze in der Leibesmitte, schob ihn, fegte ihn förmlich vom Rücken der Braunen und schmetterte ihn in den Sand.
Doch im gleichen Augenblick klirrte seine Lanzenspitze gegen Galahads Helm und brachte den langen Mann aus dem Gleichgewicht. Auch Galahad fiel. Beide waren unverletzt. Sie sprangen auf, rissen die Schwerter aus den Scheiden und schwangen sich hoch. Die Pferde, ihrer menschlichen Last entledigt, trotteten nebeneinander fast einträchtig davon. Aus dem Staubwirbel schälte sich als erster in silbrig schimmernder Rüstung der hünenhafte Galahad, und auf der Tribüne schaute Gerhild voll Stolz auf den glänzenden Ritter. Dann tauchte Sigurd auf. Einen Kopf kleiner, aber massig in den Schultern. Ein Mann wie ein Bollwerk. Sigurd griff an! Sigurd führte den ersten Streich! Gewaltige Kraft saß dahinter. Muskeln wie eiserne Stränge, die sich gleichwohl in höchster Geschmeidigkeit dehnten und zusammenzogen. Der Streich war fürchterlich. Roland sah mit Falkenblick, wie trefflich er gezielt war. Und er kannte die Schärfe von Sigurds gutem Schwert, das ein berühmter Schmied geschaffen hatte. Trotz seiner geringen Geldmittel legte Sigurd immer Wert auf erstklassige Ausrüstung, und der Schmied, der dem Ritter wohlgesinnt war, nahm für sein Meisterwerk nur wenig Geld von ihm. An anderen begüterten Kunden hielt er sich dafür schadlos. Der Streich fiel, und Roland meinte, nun müsse Galahads Helm zerspringen und die Schärfe des Schwerts ihm den Kopf zerspalten. Doch der Helm hielt, und die Klinge glitt ab! Schlimmer noch, sie wurde schartig. Verwirrt schlug Sigurd nach, ehe er vollen Schwung holen konnte. Wohl traf er wieder. Aber machtlos klang das Schwert gegen den Helm, als poche jemand zaghaft an eine Tür. Und als Sigurd das Schwert wieder an sich riß, sahen es alle. Es war kürzer geworden! Die Spitze war abgebrochen! Da begann Frank zu weinen. Tränen stürzten über sein schweißbedecktes Gesicht. Unnennbares Grauen packte und schüttelte den Waffenknappen. Er war schuld. Er hatte geschwiegen und seinem Ritter ein schlechteres Schwert gegürtet. Nichts würde
Sigurd mehr retten. Frank konnte das Ende nicht mitansehen. Laut heulend drehte er sich auf den Fersen um und rannte auf den Wald zu, rannte, so schnell ihn seine Füße trugen, Roland konnte sich sein Verhalten nicht erklären. Aber er verschwendete auch wenig Gedanken daran. Denn sein Herr war in Not! Ungestüm drang Galahad auf ihn ein. Den Überraschungsangriff des Schauburgers hatte er unbeschadet überstanden. Jetzt war er an der Reihe. Sein Schwert hatte Überlänge, aber ihm lag es leicht in der mächtigen Hand. Gerhild sprang auf. Sie sah den Sieg ihres Herzensritters vor Augen. Rotglühend rief sie: »Gib es ihm, Gal, gib es ihm!« Die Damen ringsum nahmen ihren Ruf auf. Sie zwitscherten, zirpten, flöteten und sangen: »Gib es ihm, Gal, gib es ihm!« Henry faltete die Hände über dem stattlichen Bauch, gedachte der entgangenen 200 Dukaten und gönnte es dem armen Ritter weidlich. Begeistert stimmte er ein: »Gib es ihm, Gal, gib es ihm!« Lester schwieg. Mit verkniffenem Mund sah er kaltblütig der Vernichtung Sigurds zu. Das war sein Werk! Er hatte jede Möglichkeit erwogen. Seine Taktik triumphierte. Bald würde Galahad dort sitzen, wo er ihn sitzen sehen wollte - an der Tafelrunde des Königs. Iwein wandte sich ab. Er verstand sich selber nicht mehr. War er es, der dem Sigurd das Schwert gestohlen und den Sattelgurt eingeschnitten hatte? Scham befiel ihn. Es tat ihm in der Seele weh mitanzusehen, wie ein tapferer Ritter durch Lug und Trug besiegt wurde und vielleicht sein Leben einbüßte. Iwein fühlte bittere Reue. Galahad schlug nicht überstürzt, sondern mit Bedacht. Seine Erfahrung, sein sicherer Blick lenkten den Schlag der überlangen Klinge. Doch noch gab Sigurd nicht auf. Er wich kaum einen Schritt. Mit dem zerhauenen Schild deckte er den Körper. So fintenreich Galahad das Schwert führte, so geschickt deckte sich Sigurd. Er führte sogar Gegenangriffe. Doch nach jedem Schlag, mit dem er sich Luft verschaffte, wurde sein Schwert, ein ausrangiertes veraltetes Stück, wiederum kürzer.
Plötzlich warf Sigurd das nutzlose Stück Stahl wie ein Messer dem attackierenden Galahad entgegen, der verblüfft innehielt. Dann packte der Schauburger den Schild mit beiden Händen und rannte gegen Galahad an, rammte ihm den Schild mit der federnden Kraft seines muskulösen, untersetzten, gestählten Körpers gegen den Leib. So brachte er den Riesen, dessen Erschöpfung sich jetzt bemerkbar machte, zu Fall. Nun warf Sigurd auch den Schild von sich und entriß mit einem mächtigen Ruck, bei dem er alle Muskelkraft gleichzeitig einsetzte, dem Gefallenen das Schwert. Galahad lag wie betäubt, aus Siegesträumen jäh zurückgerissen, der Länge nach am Boden. Sigurd setzte ihm, schwer atmend nach der gewaltigen Anstrengung, die Spitze des überlangen Schwertes auf den zwischen Visier und Brustpanzer ungeschützten Hals und sprach langsam: »Ergebt Ihr Euch, edler Galahad?« Galahads Augen verdunkelten sich vor ohnmächtiger Wut, vor Todesangst und Verzweiflung. Sein Mund verkrampfte sich. Dumpf stieß er unter dem Visier die Worte hervor: »Nie ergibt sich Galahad. Töte mich, Sigurd! Stich zu! Mach ein Ende!« Drei Sekunden verharrte Sigurd bewegungslos. Die Größe des Augenblicks durchströmte ihn ganz. Es war ein Augenblick von unvergeßlicher Strahlkraft. Ein Augenblick, wie ihn nur selten ein Mensch erlebt, und dann nur einmal im Leben. Ein Augenblick, der schnell vergeht ... Dann ließ der Schauburger von dem Gegner ab, legte dessen Schwert in den Rasen, hob beide Arme, grüßte das jubelnde Volk nach allen Himmelsrichtungen und half dem besiegten Riesen wieder auf die Beine. Die beiden Ritter klappten die Visiere auf und sahen einander streng an. »Warum?« fragte Galahad mit bebenden Lippen, »warum habt Ihr mich nicht getötet?« »Nie«, antwortete Sigurd, »töte ich Wehrlose. Zieh dahin in Frieden!« Da schoß ihm aus Galahads Auge ein Blick flammenden Hasses entgegen, und der Unterlegene knirschte: »Fürchte meine Rache,
Sigurd! Eher fließt der Rhein seiner Quelle zu, eher wird ein Bettler König, als daß Ihr meiner Rache entgeht!« * Als Roland seinen Herrn freudetrunken umarmte, flüsterte Sigurd ihm ins Ohr: »Ich bin todesmatt, mein Sohn. Ich muß mich auf dich stützen. Bring mich schnell ins Zelt!« Erschrocken legte Roland den Arm des Siegers über seine Schulter und führte ihn auf kürzestem Wege vom Feld. Immer wieder wurden sie von Menschen angehalten, die dem Ritter die Hand schütteln oder ihm wenigstens ein Kompliment machen wollten. Für jeden hatte Sigurd ein freundliches Wort übrig. Endlich erreichten sie ihr Zelt. Kaum schloß sich die Leinwand hinter ihnen, als Sigurd einen leisen Seufzer ausstieß und zusammenbrach. Roland fing ihn auf und ließ ihn dann sanft zu Boden gleiten. Gerd und Frank eilten herzu. Beide waren kreidebleich. Sie hatten hier zitternd und zagend das Ende des Kampfes abgewartet. Vorsichtig öffneten sie des Ritters arg verbeulte Rüstung. Als der Brustpanzer abgeschnallt war, sahen sie voll Schrecken, daß Sigurd aus mehreren Wunden blutete. Der Arzt kam nur Sekunden später. Nach genauer Untersuchung verkündete er in heiterem Ton: »Keine Sorge, meine Kinder. Starker Blutverlust, völlige Erschöpfung. Aber nur Fleischwunden. Knochen oder innere Organe sind nicht verletzt. Wenn ich ihn verbunden und mit einem Trunk gestärkt habe, kommt er rasch wieder zu sich. Heute abend ist Sigurd unter Garantie wieder so munter, daß er euch allesamt unter den Tisch trinkt.« Sie atmeten auf und überließen ihren Herrn getrost der Pflege des erprobten Arztes. Roland winkte den beiden Kameraden, ihm in die Rüstkammer zu folgen. Mit stockenden Sätzen berichteten sie ihm von ihren Verfehlungen. »Aber wer kann das Schwert gestohlen haben? Und wer hat den
Sattelgurt halb durchgeschnitten?« Sie zuckten die Achseln. Sie waren offenbar ahnungslos. Plötzlich fiel Roland seine Begegnung mit Iwein ein. Ob dieser zwielichtige Ritter zum Dieb geworden war? Roland erinnerte sich, daß Iwein trotz des milden Wetters einen langen Mantel getragen hatte. Darunter konnte er leicht das Schwert verborgen haben. Der Gedanke, von Iwein so gemein hinters Licht geführt worden zu sein, erfüllte ihn mit Zorn. Aber vielleicht tat er ihm unrecht? Vielleicht steckte ein anderer unbekannter Bösewicht hinter dieser Geschichte von Heimtücke und Hinterlist? Mochte Iwein auch ein Grobian im Umgang mit schönen Damen sein, als einen abgefeimten Schurken konnte Roland ihn sich eigentlich nicht vorstellen. Er mußte es herausbekommen. Es ließ ihm keine Ruhe. Er erhob sich und sagte: »Ihr beide bleibt hier! Erzählt dem Ritter, was vorgefallen ist, sobald er wieder bei Kräften ist. Da alles gut abgelaufen ist, denke ich, er wird euch verzeihen.« Und weg war er. Roland begab sich zum Festplatz. Kaum jemand dort dachte an den Heimweg. Nach dem Ende des offiziellen Turniers hatten harmlosere volkstümliche Wettbewerbe begonnen, an denen sich der Ritteradel nicht beteiligte. Schäfer und Kuhhirten liefen um die Wette. Jäger schossen mit der Armbrust auf Ringscheiben. Kräftig gebaute junge Männer hatten die Oberkörper entblößt und rangen miteinander. Überall hatten sich Gruppen gebildet, die hitzig den unerwarteten Ausgang des spannenden Ritterturniers diskutierten. Das Lob des armen Ritters erscholl in höchsten Tönen. Jedes Wort tat Roland so wohl, als gelte es ihm selber. Von Iwein und Henry war nichts zu sehen. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Keine zehn Schritte vor ihm lehnte die schöne Rosalynn unter einem Baum. Auch sie hatte ihn erblickt. Sie winkte ihm zu. Sie lachte und bedeutete ihm, zu ihr zu kommen. Als er sich ehrerbietig näherte, stellte sie ihn ihren Freunden mit den Worten vor: »Das ist der Knappe des Ritters Sigurd - und mein Kavalier! Er hat mich gestern auf seinem edlen
Zelter« - und hierbei kniff sie schalkhaft ein Auge zu - »sicher nach Hause begleitet.« Die Herren und Damen behandelten Roland nach dieser Einführung mit ausgewählter Freundlichkeit. Nach Sigurds großem Sieg stand unvermittelt jeder, der zu des Ritters Gefolge zählte, in hohem Ansehen. Roland gab auf alle Fragen artig Antwort, und man war allgemein entzückt von dem gutgewachsenen, offenherzigen und höflichen Jüngling. Von Zeit zu Zeit stahl er einen heimlichen Seitenblick auf Rosalynn und errötete, wenn er merkte daß auch ihr Auge wohlgefällig auf ihm ruhte. In dieser Zeit vergaß Roland, was ihn hierhergeführt. Er dachte nicht mehr an Iwein und an die finsteren Ränke, die er hatte aufspüren wollen. Seine Seele war ganz von Rosalynns holdem Wesen ausgefüllt. Wenn er ein berühmter Minnesänger wäre, er würde ihr jedes seiner Lieder widmen. Wenn er ein fahrender Ritter wäre, er würde alle Welt mit dem Schwerte davon überzeugen, daß Rosalynn das schönste weibliche Wesen unter der Sonne sei. Wenn er ... Aber, ach, er war nur ein armer Knappe, von dessen Herrn Ruhm für einen Tag lang ein bescheidener Abglanz auf ihn fiel. Oder lag doch ein Versprechen eigener Art in dem langen Blick, den Rosalynn ihm schenkte? Immer mehr Menschen kamen herzu. An diesem Festtag mischten sich Adel und Volk. Roland sah, wie Uri und sein Freund, der Bogenschütze, in einiger Entfernung vorüberkamen und ihn scheu grüßten. Nie mehr würden sie es wagen, ihn anzugreifen. Eine Welle von Stolz durchwogte ihn. Es war doch etwas Besonderes, der Schildknappe des Sigurd zu sein, der die edelsten Ritter des Landes besiegt hatte. Und Rosalynn erschien ihm nicht mehr so fern und unerreichbar. Nur Mut, Roland - sagte er zu sich selber - vielleicht erwidert sie sogar deine Zuneigung. Da erscholl helles Gelächter hinter ihm. Zwei weiche Mädchenhände legten sich auf seine Augen, und ein Mund küßte ihn auf den Hals.
Er fuhr herum und nahm die Mädchenhände von seinen Augen. Es war Kathi. Kathi im Festtagsstaat. Herausgeputzt, mit Schmuck in den Ohren und um den Hals, strahlend, jung, sauber, hübsch - aber wie fad und nichtssagend, wie unbedeutend im Vergleich zu Rosalynn! »Nun, Roland, mein Schatz«, sagte Kathi, »führ mich herum. Ich bin hungrig und durstig. Du wirst deiner lieben Kathi doch etwas spendieren, nicht wahr, mein geliebter Schatz?« Und sie hängte sich bei ihm ein und tat, als gehörten sie seit langem zusammen. Er warf einen raschen Blick auf Rosalynn. Natürlich hatte sie alles wahrgenommen. Ihre Lippen waren verächtlich gekräuselt, und sie wandte sich mit einer heftigen Bewegung, die ihm das Herz zerriß, von ihm ab und schritt schnell hinweg. Roland verstand kaum noch, welchen Zauber Kathi in der letzten Nacht auf ihn ausgeübt hatte, denn er meinte, ihre Gesellschaft kaum ertragen zu können. Und er war doch vor wenigen Stunden glücklich mit ihr gewesen! So wandelbar ist des jungen Mannes Herz. Mit dem Vorwand, er müsse einen Auftrag seines Ritters erfüllen, entfernte er sich bald von der ihm lästig gewordenen Gefährtin. Kathi war verblüfft. Ihr »geliebter Schatz« erschien ihr gar zu abweisend. Doch machte sie sich wenig Gedanken darüber. Aus Erfahrung wußte sie, daß sie nie lange allein blieb. Es gab viele Burschen, die sich nach ihrer Gunst sehnten. Und sie war nicht sonderlich zurückhaltend. Im Laufe eines Jahres sah mancher junge Mann Kathis Kammer von innen. Sie weinte niemandem eine Träne nach. Bei Rolands Rückkehr erwartete ihn neue Aufregung. In der Zwischenzeit hatten Galahads Knappen das Lösegeld bezahlt, indem sie die silbrig schimmernde Rüstung und den feurigen Araber überbrachten. Schnell empfahlen sie sich wieder. Sie sahen nicht, wie sich Sigurds Zelt mit Freunden und Bekannten füllte. Der Ritter war, wie der Arzt vorausgesagt hatte, wieder auf den Beinen und wirkte stark wie immer. Eine Kanne Wein hatten Galahads Knappen zurückgelassen. Der ungeschickte Schlenker eines Landedelmannes brachte sie zu Fall,
und der Inhalt floß auf die Erde. Sigurds Lieblingshund »Hetzer« schleckte davon. Zwei Minuten später begann er zu winseln, drehte sich wie verrückt im Kreise, bekam Schaum vor den Mund, bellte ein letztesmal wie in höchster Verzweiflung und brach dann tot zusammen. »Gift«, sagte einer totenblaß in die plötzliche Stille. Und das schreckliche Wort nistete sich in die Fröhlichkeit ein. Wer hatte Sigurd vergiften wollen? * Roland war schon auf dem Weg zum Ausgang, als Sigurds Stimme ihn einhalten ließ. »Wohin so eilig?« »Der Überbringer des vergifteten Weins ... Ich will ihn fangen... « »Wozu? Um ihm etwas anzutun? Wer sagt dir, daß er überhaupt von dem Gift wußte? Man hat ihm womöglich die Kanne in die Hand gedrückt, ohne ihm zu verraten, daß er den Tod trug.« Roland fühlte die Blicke aller Anwesenden auf sich gerichtet. Die Gesichter waren ernst. Aber er zögerte nur wenige Sekunden mit der Antwort. Dann sagte er: »Ich hoffe, von dem Boten den Namen des Auftraggebers zu erfahren.« Und wieder wandte er sich zum Gehen. »Halt!« rief Sigurd. Roland erstarrte. »Mit deinem Maulesel wirst du den Boten nie einholen. Nimm die braune Stute! Sie gehört fortan dir. Ich schenke sie dir!« Roland stammelte einen Dank und stob davon wie der Wind. Er legte der Stute seinen alten Sattel auf, tätschelte das aufmerksame Tier ein wenig, sprang auf und galoppierte los. Das war ein anderes Reiten als auf seinem zwar ausdauernden, aber eigenwilligen und viel langsameren alten Ziegenbock. Es kam ihm so vor, als schmelze der Boden unter der Stute Hufen nur so dahin. Weit in der Ferne sah er das hellschimmernde Gewand eines Knappen. Ob es aber Galahads Wappen, das Ahornblatt, auf dem
Rücken hatte, war nicht zu erkennen. Vornüber gebeugt stand Roland in den Steigbügeln und schnalzte mit der Zunge. Willig streckte sich die Braune. Eben verschwand das helle Tuch des Knappen hinter den ersten Bäumen. Wenige Minuten später erreichte Roland die Stelle. Jäh zügelte er sein Roß. Die Stute gehorchte ihm auf den leisesten Wink. Es war, als sei sie seit Jahren unter ihm gegangen. An dieser Stelle waren weder Weg noch Steg zu finden. Dichtes Unterholz erschwerte das Eindringen in den Wald. Mit einem Laut der Überraschung sprang Roland behend aus dem Sattel, band die braune Stute an einen Baumstamm und zwängte sich zu Fuß durchs Gebüsch. Abgerissene Zweige deuteten darauf hin, daß jemand sich vor ihm den Weg durch die Wildnis gebahnt hatte. Von Zeit zu Zeit blieb Roland stehen und lauschte angespannt. Er hörte das Knacken eines Astes. Aber wer konnte entscheiden, ob das Geräusch von Mensch oder Tier verursacht war? Es half nichts. Er mußte weiter. Nach zehn Minuten kam er leichter voran. Das Buschwerk wich zurück. Nur Moos und Wurzeln bedeckten noch den Erdboden. Fichten streckten ihre schlanken Stämme himmelwärts. Stehenbleiben, lauschen. Der Ruf des Pirols. Im Tiefflug strich eine Elster, ein schwarzweißer Blitz, zwischen den Bäumen dahin. Eichkätzchen kletterten rasend schnell die Stämme empor. Ein Fuchs schnürte eilig davon. Aus einiger Entfernung klang das Gezwitscher von Finken. Und wieder hörte er schleichende Schritte und lauschte. Ganz in der Nähe schlug ein Kuckuck an. Und da waren sie schon über ihm! Von allen Seiten stürzten sie, vom Kuckucksruf alarmiert, über ihn her, rissen ihm die Beine unterm Leib weg, warfen ihn der Länge nach zu Boden, knieten sich auf seine Brust, preßten ihm Arme und Beine gegen Moos und Farn, und einer hielt ihm den Mund zu. Wie Irrwische waren die Räuber, mit dem Walde vertraut wie kein anderer, aus ihrer Deckung gesprungen und hatten ihn in einem
Anlauf wehrlos gemacht. Roland strampelte zwar mit aller Macht, mußte aber einsehen, daß er nicht das geringste ausrichten konnte. Die Kerle ließen ihn nicht los. Sehnsüchtig schaute er den Eichhörnchen nach, die sich mit gleitenden Schritten hoch hinauf jedem Verfolger entzogen. Ein bärtiges, ungepflegtes Gesicht erschien in seinem Blickkreis. Er erkannte Louis. Der Räuberhauptmann grinste ihn mit unverschämtem Ausdruck an. »Durchsucht seine Taschen, Leute!« rief er. »Nehmt ihm seinen schändlichen Lohn als Rittersknecht weg! Er schuldet mir noch zehn Dukaten - mit Zinsen und Zinseszinsen zwanzig.« Flinke Finger tasteten seinen Körper ab und durchwühlten jede Tasche. Dann wurden Rufe der Enttäuschung laut. Roland führte keinen Penny bei sich. Auch der Räuberhauptmann verbarg seinen Ärger nicht. Er trat dicht an den liegenden Knappen heran. »Nichtswürdiger Bube«, schnaubte er. »Es zeugt von keineswegs adliger Gesinnung, einen armen Räuber so elend zu prellen.« Roland wollte zornig erwidern, aber immer noch wurde ihm der Mund zugehalten. Wütend biß er in die fremde Hand. Sie wurde hastig zurückgezogen, und der Gebissene fluchte laut. Louis redete sich in Wut. »Was suchst du überhaupt in unserem Wald, wenn du uns nicht mal den schuldigen Zoll entrichten kannst?« schimpfte er. »Ich folgte einem, der ein weißes Gewand trug«, entgegnete Roland trotzig. »Jetzt erst bemerke ich meinen Irrtum. Es war jener da, der wie ein Wiesel aussieht. Eine Verwechslung! Ich wette, noch nie zuvor bedeckte ein so weißes Hemd seinen armseligen Körper.« »Alfons, hörst du, wie er dich beleidigt?« »Kann man einen Dieb beleidigen, wenn man ihn Dieb nennt?« »Du nennst mich einen Dieb?« Alfons war empört. »Es war um die Mittagsstunde, und die Sonne brannte heiß auf dem Turnierplatz, als ein Zuschauer bei den Ringkämpfen sich des Hemdes entledigte und es ins Gras legte. Warum tat er es wohl? Weil er des Hemdes
überdrüssig war und es nicht mehr auf seinem Körper litt. Also tat ich ihm Gutes, da ich es an mich nahm und mich darin hüllte.« Roland verschlug es ob dieser abgefeimten Frechheit für kurze Zeit den Atem. Dann sprach er Louis an und verlangte, freigelassen zu werden. »Zu zehnt seid ihr über mich hergefallen. So feige können wirklich nur Räuber sein! Warum bestimmst du nicht einen von deinen Strolchen, daß er mir im ehrlichen Zweikampf gegenübertritt?« Louis grinste tückisch. »Ich will dir ausnahmsweise den Wunsch erfüllen, erbärmlicher Rittersknecht, damit du siehst, welch edle Gesinnung ein verfemter Räuber besitzt. Laßt ihn los! So. Nun erheb dich! Stell dich dahin! Und ihr anderen, meine lieben Räuber, stellt euch im Kreis! Ben, tritt vor! Zeig diesem großmäuligen Eindringling das Gesetz des Waldes!« Ben trat vor. Er war von dunklem Haar und genauso groß wie Roland, der alle Knappen um Haupteslänge überragte. Aber Ben war viel breiter in den Schultern als Roland. Vierschrötig stand er lauernd da und schwenkte einen hölzernen Morgenstern, eine mächtige Keule aus Eichenholz, die mit eisernen Spitzen bestückt war. Roland sah ihn anerkennend, aber furchtlos an und forderte Louis auf, ihm eine Waffe zu geben. »Bück dich«, gab Louis zurück. »Der Wald ist voller Waffen. Nimm dir eine!« Die Räuber stimmten ein höhnisches Gelächter an. Roland zuckte die Achseln und ergriff einen langen, kräftigen Ast, der bei einem Gewitter abgebrochen sein mochte, aber noch voll im Saft stand. Er war schwer, wenn auch nicht mit Bens Morgenstern zu vergleichen. Ben duckte sich und umkreiste Roland, die Keule stets schlagbereit. Aber ehe er es sich versah, griff Roland mit drei gleitenden Schritten an! Ebenso rasch zog der Knappe sich wieder zurück. Mit dieser Finte hatte er nur die Reaktionsschnelligkeit seines Gegners prüfen wollen. Denn wenn Ben so flink wie stark war, mußte er unter den augenblicklichen Verhältnissen als unüberwindlich gelten. Doch dem
war nicht so, und Roland seufzte erleichtert auf. Als Ben den Täuschungsangriff parieren wollte, war Roland schon wieder auf dem Rückzug. Ben grunzte erstaunt. Er meinte, Roland fürchte sich vor ihm. Mit tapsigen Schritten ging er vorwärts. Zwei Meter vor Roland, der ihn nicht aus den Augen ließ, hielt er inne, hob bedächtig den Morgenstern über die Schultern, über den Kopf, streckte ihn himmelwärts, zögerte sekundenlang, als nehme er gründlich Maß ... ... und ließ dann das furchtbare Instrument mit der ungeheuren Kraft seines stämmigen Körpers niedersausen, genau auf Rolands ungeschützten Schädel zu! Nur daß Roland nicht mehr an der alten Stelle verweilte, sondern gedankenschnell zur Seite gehuscht war. Verblüfft stellte Ben fest, daß das Vorderende seines mörderischen Knüttels sich tief in den Waldboden bohrte, ohne seinem Gegner den geringsten Schaden zu tun. Wieder grunzte er unmutig. Und wollte eben den Morgenstern wieder heben, als ihn Rolands Schlag mit dem mächtigen Ast quer über die Unterarme traf. Er schrie auf und ließ den Morgenstern fallen. Unverzüglich kehrte Roland seinen Ast um und gebrauchte ihn als Stoßwaffe. Dreimal stieß er Ben vor die breite Brust, bis dem die Luft entwich - und mit ihr jegliche Kampfeslust. Er brüllte vor Pein und verlangte, daß der Kampf abgebrochen werde. »Weiter!« rief Louis. Und Roland griff an. Da schlangen sich zwei Arme um seine Beine, und er stürzte vornüber zu Boden. Doch wieder griff Louis ein. »Weg da!« rief er dem Räuber zu, der den Knappen hinterlistig zu Fall gebracht hatte. »Nennt ihr das einen ehrlichen Zweikampf? Bei meiner Räuberehre, ich hätte nicht übel Lust, dich an deinen eigenen Beinen aufzuhängen!« Grollend protestierten die Räuber, während Roland aufsprang und Ben verfolgte. Doch schon nach wenigen Schritten machte der Knappe kehrt. Ben leistete keinen Widerstand mehr. Er heulte vor Angst und bat um Gnade.
Ungeachtet der Warnung ihres Hauptmanns versuchte der eine oder andere Räuber, Roland ans Leder zu gehen. Doch ein paar Streiche mit dem Ast belehrten sie eines Besseren. Und als Roland gar zu dem Morgenstern, Bens Waffe, griff, sah er plötzlich nur noch die Kehrseiten der Räuber. Auch der bärenstarke Ben machte keine Ausnahme. Und jetzt stand er an Schnelligkeit seinen Kumpanen in nichts nach. Roland mußte lachen, als er den schweren Schlagetot über einen Baumstamm springen und dann mit Urgewalt durch dichtes Buschwerk brechen sah. Er wandte sich um und sah Louis nicht weit entfernt mit finsteren Blicken die Flucht seiner Kumpane betrachten. »Sie sind hirnlose Feiglinge!« rief Roland. »Feiglinge, ja«, bestätigte Louis, »aber nicht hirnlos. Ganz im Gegenteil. Sie sind leider viel zu schlau geworden, um noch tapfer zu sein. Das lange, zuchtlose Leben als Verfemte hat sie geprägt. Sie sind mittlerweile so mit allen Wassern gewaschen, gerieben und gesalzen, daß sie nicht mehr zum ehrlichen Räuberdasein taugen.« »Sie taugen zu gar nichts.« »O doch«, widersprach Louis. »Jetzt taugen sie zum Spießbürger. Dem Gesetz des Waldes gehorchen sie nicht mehr. Dem Gesetz der Städte würden sie sich heuchlerisch unterwerfen, die Frau betrügen und den Nachbarn hintergehen - und alles mit scheinheiligem Gesicht und frommen Phrasen. Ich fürchte, ich muß mir eine neue Bande suchen - von Kerlen, die nur mich fürchten und sonst weder Tod noch Teufel. Wärst du nicht durch viele Monate Dienst in der Burg und im Sattel bis in das Innerste deiner Seele verfault, Knappe, ich hätte nicht übel Lust, dich anzuwerben.« Roland schüttelte ernst den Kopf. »Ich habe mit dir und deinesgleichen nichts gemein.« »Hoho, nicht so eingebildet, schändlicher Rittersknecht! Jetzt hast du mir zweimal eine bittere Niederlage bereitet - nun fürchte das Glück, das keinem zum drittenmal lächelt. Wiederum kündige ich dir an: Wir treffen uns wieder - und dann wirst du heulen und mit den Zähnen klappern!«
Sprach's und verschwand im Waldesschatten. * Als Roland ins Lager zurückkehrte, waren die Zelte von Galahad und seinen Freunden abgebaut. Niemand hatte sie wegreiten sehen. Sie waren wohl in großer Eile davongezogen. Auf ihre Burgen, zu anderen Turnieren, zu neuen Abenteuern - wer konnte es sagen? Die Räuber ließen ihren Häuptling Louis im Stich und zerstreuten sich in alle Winde. Nur zwei von ihnen blieben zusammen und beschlossen, gemeinsame Sache zu machen. Sie paßten auch gut zueinander. Einer war abgefeimter und gefährlicher als der andere. Der wieselhafte Alfons sah sich als Kopf des Zweierbundes und den starken Ben als Muskelmann. Ritter Sigurd kehrte mit seinen Knappen zur Schauburg zurück, wo ihn seine Frau Sieglinde mit Sehnsucht erwartete. Die Kunde von seinen erstaunlichen Waffentaten beim Turnier in Xanten eilte dem kleinen Trupp voraus. Überall wurde er unterwegs herzlich begrüßt. Es folgten ein paar fröhliche Tage. Sigurd zahlte jedem seiner Bauern, Pächter und Landsassen zwei und jedem Burgbewohner drei goldene Dukaten aus. Er ließ ein paar Schweine schlachten und lud alle, die Lust hatten zu kommen, zum großen Schmaus ein. Daß er mit dem Turniersieg in Xanten auch den zwölften Sitz an der Tafelrunde des Königs Artus errungen hatte - davon wußten sie alle nichts. Und kein Herold konnte ihm die Nachricht überbringen, die sein Glück vollkommen gemacht hätte. * Auf Schloß Camelot wartete indessen der König vergebens auf den neuen Ritter der Tafelrunde. Er erschien ebensowenig wie der Herold Reginhar, der spurlos verschwunden war. Nach einer Woche begab sich Artus auf eine Fahrt zum Heiligen Gral und ließ Camelot in der Obhut des treuen Burgvogts Bruno
zurück. Seine schöne Gemahlin Ginevra vertrieb sich die Zeit mit Brettspielen. * Nach Abschluß der Festgelage auf der Schauburg wollte Sigurd seinem bewährten Schmied den Auftrag für ein neues Schwert zukommen lassen. Als Boten wählte er Roland. Frohgemut machte sich der tatendurstige Jüngling auf den Weg. Alter Ziegenbock blieb diesmal gleich im Stall. Stolz ritt Roland auf der braunen Stute. Indessen hatte der Schmied bereits durch fahrende Sänger von Sigurds Erfolgen erfahren - und auch von dem verlorengegangenen Schwert. Kurz entschlossen machte er sich daran, ihm ein neues zu schmieden. Es sollte ein Meisterwerk werden - hart wie ein Fels, geschmeidig wie eine Bogensehne und scharf wie ein Rasiermesser. Mit großer Sorgfalt arbeitete er daran und wog das vollendete Werk gerade erfreut in der Hand, als zwei abgerissen aussehende Burschen seine Werkstatt betraten. Der Schmied legte das Schwert auf den Amboß zurück. Das war sein Fehler. Ein zweiter Blick in die Halunkengesichter belehrte ihn, daß von den beiden kaum etwas Gutes zu erwarten war. Rasch wollte er nach dem Schwert greifen. Doch Alfons, das Wiesel, war, schneller und hatte die Klinge vor dem Schmied in der Hand. Noch immer aber taten er und seinen Kumpan Ben, als seien sie harmlose Wanderer auf der Suche nach einem Nachtquartier. Der Schmied trat vorsichtig einige Schritte zurück. Er war ein kräftiger und alles andere als furchtsamer Mann, aber jetzt beschlich ihn ein Gefühl großer Angst. Alfons führte einen Lufthieb mit der Waffe und übergab sie dann Ben. Ihm war sie viel zu schwer. Während der Hüne vorsichtig mit dem Daumennagel die Schärfe der Schneide prüfte, fragte Alfons lauernd: »Wo verbirgst du eigentlich deine Schätze, Schmied?« »Ich bin ein armer Handwerker. Schätze? Davon kann ich nicht
einmal träumen!« »Sei nicht so ekelhaft bescheiden, Schmied. Wir hörten es anders. Du bist ein hochberühmter Künstler und läßt dir deine Waffen teuer bezahlen.« »Ja, wenn es so wäre! Aber die Ritter klagen ständig darüber, daß sie kein Geld hätten, und knausern mit den Dukaten. Oft bekommt man erst jahrelang später ein wenig bezahlt.« »Was?« erregte sich Alfons mit gespieltem Pathos. »Willst du die edle Ritterschaft schmähen?« Da fiel der nach einer Fluchtmöglichkeit suchende Blick des bedrängten Schmieds durch das kleine getrübte Fenster. Von weit her näherte sich seiner Werkstatt ein Reiter! Er erkannte die rotgelben Farben des Ritters Sigurd. Hoffnung zog in sein geängstigtes Gemüt. Dem wachsamen Alfons war der spähende Blick nicht entgangen. Von Natur argwöhnisch, schöpfte er sofort Verdacht. Mit einem Satz sprang er ans Fenster und schaute hinaus. Fluchend zog er den Kopf zurück und packte seinen Kumpan an der Schulter. »Wir müssen weg, Ben!« rief er. »Der Knappe, der uns neulich im Wald so übel mitgespielt, ist auf unserer Spur.« Zu des Schmieds grenzenloser Erleichterung fuhr dieser Ruf auch dem hünenhaften Ben in die Knochen. Ehe der Schmied tief Atem holen konnte, waren die beiden Räuber verschwunden. Aber das neue Schwert nahmen sie mit! Der Schmied stürzte vor die Tür und beobachtete die wilde Flucht der beiden Räuber. Sie verschwanden in einer Gruppe von Bäumen, die längs eines schnell fließenden Baches standen. Wenn sie diesen Bach aufwärts verfolgten, würden sie in einer halben Stunde eine Burg erreichen. Dort lebte einsam mit nur wenigen Bediensteten ein schönes Fräulein. Ihre Mutter war seit langem tot, der Vater ständig unterwegs auf der Suche nach Abenteuern. Soviel der Schmied wußte, war das Fräulein erst vor wenigen Tagen von einem Besuch bei befreundeten Adligen zurückgekehrt. Roland näherte sich schnell. Die braune Stute witterte nämlich den Stall. Deshalb wurde ihr Schritt, ohne angetrieben zu werden, immer
raumgreifender. Schon von weitem rief der Schmied dem Knappen entgegen: »Ich bin überfallen worden! Zwei Räuber waren es! Sie haben das Schwert gestohlen, das ich für Euren Herrn schmiedete!« Aufgeregt sprudelte er mehrmals die gleichen Sätze hervor, und Roland mußte einige Male nachfragen, bis er den ganzen Sachverhalt erfuhr. Ohne noch eine Sekunde länger zu säumen, dankte er dem Schmied und jagte die Braune geradewegs zum Bachufer hin, wo er den Spuren der Räuber aufwärts folgte. Bald kam er zur Burg. Den Burghof fand er leer vor. Roland sprang ab und schaute sich aufmerksam um. Plötzlich hörte er einen markerschütternden Schrei. Es war der Entsetzensschrei einer Frau in Not. Roland stürmte in die Burg. Die Halle war leer. Er fand eine Steintreppe, die er mit großen Schritten hinaufeilte. Im zweiten Stock stand eine Tür auf. Ohne abzustoppen, raste er blindlings über die Schwelle. Und da sah er sich seiner angebeteten Rosalynn gegenüber! Der hünenhafte Räuber Ben trug das Schwert in der Rechten. Mit der linken Hand zerrte er roh das Fräulein vom Fenster weg. Wahrscheinlich hatte es es beim Erscheinen des Bewaffneten geöffnet und gedroht, sich hinauszustürzen. Alfons half seinem Kumpan. Gemeinsam schleppten sie Rosalynn zu einer Liegestatt an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand. »Vorsicht!« rief Alfons schrill, »der Knappe!« Und dabei wich er mit weitgeöffneten Augen vor Roland zurück. Der überschritt gerade keuchend die Schwelle. Ben drehte sich um, ohne das Fräulein loszulassen. Es schrie und strampelte aus Leibeskräften, konnte aber nicht das geringste gegen den bärenstarken Ben ausrichten. »Verschwinde!« rief der Räuber Roland zu. »Kommst du noch einen einzigen Schritt näher, dann schlage ich dieser Frau den Kopf ab!« Und er schwang das Schwert, das hart wie ein Fels war, geschmeidig wie eine Bogensehne und scharf wie ein Rasiermesser -
aber in den falschen Händen! Das Burgfräulein schluchzte herzzerbrechend. Es war wie erstarrt jetzt und wagte keine Bewegung mehr zu machen. Es fürchtete, daß der Bösewicht jeden Augenblick seine furchtbare Drohung ausführen werde. Und auch Roland stand wie angewurzelt. Er war ratlos. Nichts in seinem bisherigen Leben hatte ihn auf eine derartige Situation vorbereitet. Nichts, was er je gesehen, erzählt bekommen oder gelernt hatte. Er regte sich keinen Zoll - und doch bebte er am ganzen Leibe, während tausend Gedanken durch sein Hirn schössen. Wie sollte er wissen, was jetzt zu tun war? Als Kind schon hatte Roland von Grund auf das Köhlerhandwerk gelernt - ohne es je zu mögen. Sein Vater war kein weicher Lehrmeister, aber niemand hatte je seine Mutter bedroht, die ihm Herzensgüte und Freundlichkeit vermittelte. In den unermeßlichen Wäldern seiner Kindheit und Jugend waren ihm bald die meisten Geheimnisse der Tiere und Pflanzen vertraut geworden, und er lernte, mit dem Bogen meisterhaft umzugehen. Jetzt aber stand er zehn Schritte von einer Frau entfernt, die ein Strolch enthaupten wollte. Ihre Angstschreie schnitten ihm in die Seele, aber die zehn Schritte blieben unüberbrückbar, denn schon beim ersten würde der Strauchdieb zuschlagen. Einige Jahre war es her, daß Roland auf die einsame Höhle des Eremiten Klaus gestoßen war. Aus gelegentlichen Besuchen wurde bald eine freundschaftliche Beziehung. Klaus unterrichtete den Jungen in den Fremdsprachen Fränkisch und Angelsächsisch, für die er große Begabung zeigte. Und er lehrte ihn Religion und den geheimnisvollen Lauf der Gestirne. Aber er erklärte ihm nicht, wie man ein schwaches Weib aus den Händen eines gereizten Unholds rettete, ohne ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Als Knappe machte sich Roland mit allen Forderungen des Ritterstandes vertraut. Bald konnte er reiten und Pferde pflegen, tanzen, fechten und Waffen führen. Er erfuhr, daß man sich beim
Essen die Nase nicht mit dem Tischtuch putzt, wie es, seine Eltern noch taten, wenn sie an Feiertagen eins auflegten. Und er hielt es fortan für seine höchste Pflicht, Armen, Schwachen, Frauen und Kindern in der Gefahr beizustehen. Soviel hatte er gelernt, so viele Fertigkeiten beherrschte er nun. Und doch wußte er keinen Weg, Rosalynn aus der wütenden Umarmung des bösartigen Schurken zu befreien! Plötzlich dachte er an Ritter Sigurd, sein strahlendes Vorbild. Und er überlegte: Was würde der Ritter an meiner Stelle tun? Zurückweichen? In keinem Fall! Untätig zögern? Unvorstellbar! Also angreifen! Aber wie? Vor seinem geistigen Auge erschien die Gestalt des Ritters - nicht hochgewachsen, aber breitschultrig und respektheischend in jeder Stunde. Und ihm war, als höre er die kräftige, befehlsgewohnte Stimme in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet, machtvoll sprechen: Leg das Schwert nieder, das dir nicht gebührt, Schurke! Wie Schuppen fiel es Roland von den Augen. Klar wurde ihm, wie sein Herr handeln würde! Das Haupt würde er kurz wenden, um den verzweifelten Räuber zu täuschen, und zur Treppe hinrufen: Kommt alle zu Hilfe, ihr meine getreuen Knappen! Eine Dame wird bedroht! Roland atmete auf. Nun kannte er seinen Weg. In diesem Augenblick brach das Wimmern des Fräuleins ab. Ihre Augen schienen sich einwärts zu kehren. Die Todesangst überwältigte sie. Die Beine versagten ihr den Dienst, und ihre Sinne schwanden. Sie klappte zusammen. Sie rutschte dem Banditen aus dem Arm und fiel zu Boden. Überrascht war der Räuber, doch das Schwert ließ er nicht los, wenn auch die Hand zuckte. Ehe er es sich versah, lag Rosalynn ausgestreckt am Boden. Verwirrt blickte der Räuber auf sie hinunter. Und auch seinen Kumpan, den schlauen Alfons, lenkte die plötzliche
Ohnmacht des Mädchens für ein paar Herzschläge ab. Wie der Blitz war Roland heran. Es war die beste Gelegenheit, und er nutzte sie mit jener unnachahmlichen Raschheit der Bewegung aus, die für ihn typisch war - eine angeborene Fertigkeit. Mit wenigen raubtierhaften Sprüngen überbrückte er den eben noch riesigen Abstand, stieß Alfons heftig beiseite und packte Ben am Kragen. Der war völlig überrumpelt, wußte sich sekundenlang keinen Rat und sah sich hilflos nach dem Kumpan um. Doch von dem Wiesel kam ihm keine Hilfe. Alfons wischte bereits zur Tür hinaus und raste die Treppe hinunter. Vor Angst übersprang er zu viele Stufen auf einmal und verpaßte bald den Aufsprung. Er überschlug sich zweimal, rutschte krachend und holpernd auf dem Rücken bis in die Halle und blieb dort stöhnend mit gebrochenem Bein liegen. Indessen hatte Roland dem verdutzten anderen Räuber das Schwert entrissen. Der entwaffnete Ben prallte zurück. Aller Mut verließ ihn. Entsetzen flackerte in den unsteten Augen. Flucht schien auch ihm der einzige Ausweg. Rückwärts wich er Schritt um Schritt zurück. Roland folgte ihm dichtauf. Er hielt die Waffe stoßbereit am Knauf. Doch hütete er sich, den fliehenden Mann zu verletzen. Und so kam es zum Ende. Ben geriet zu nahe an die nur kniehohe untere Fensterkante. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings und kopfüber in die Tiefe. Das letzte, was Roland von ihm sah, waren die breiten Löcher in den abgetretenen Schuhsohlen des unseligen Mannes. Dann schallte Bens gräßlicher Todesschrei über Berg und Bachtal. Und er starb, als sein Körper auf das Steinpflaster des Burghofs aufschlug. Da aber beugte sich Roland schon voller Besorgnis über das Fräulein. Ihr volles braunes Haar war bei ihrem Verzweiflungskampf völlig aufgelöst und verbarg ihr Gesicht. Behutsam strich Roland es zurück. Da sah er wieder das liebliche Antlitz vor sich, das ihn bei der
ersten Begegnung in der Nacht nach dem Turnier so sehr entzückt hatte. Aber damals war es voller Leben gewesen. Jetzt war es starr und leichenblaß. Eine furchtbare Ahnung stahl sich ihm ins Herz. Sie ist tot, dachte er. Doch da bemerkte er das leise Pochen an ihrem Hals, und er stieß einen Jubelruf aus. Das Mädchen lebte. So erkannte Roland, daß in schlimmen Lebenslagen oft die verehrungsvolle Zuneigung zu einer vorbildlichen Gestalt noch Nutzen bringt, wenn alle Gelehrtheit und alle Erfahrung versagen. * In einem abgelegenen Gasthaus, eine Tagesreise westlich von Xanten, trafen sich zu nächtlicher Stunde heimlich zwei Männer. Der eine war hoch gewachsen und für gewöhnlich von stolzer Haltung. Doch als er jetzt das hintere Gelaß der niedrigen Schankstube betrat, ging er krumm und vornüber gebeugt. Niemand hätte in ihm Sir Galahad vermutet. Eine Perücke aus strähnigem grauem Haar und ein ungepflegter Stoppelbart machten den Ritter völlig unkenntlich. An einem Tisch in dunkler Ecke erwartete ihn ein finsterer Mann, dessen Gesicht neuerdings von einem wildwuchernden Vollbart fast ganz verdeckt wurde. »Willkommen, Gal...« Der Neuankömmling hob warnend einen Finger an die Lippen. »Keine Namen, Freund«, warnte er mit unterdrückter Stimme und schlurfte wie ein hinfälliger Alter an den Tisch. Der Wirt brachte einen großen Krug Wein und zog sich dann diskret zurück. Lester, der andere Mann, goß zwei Becher bis an den Rand voll. Sie tranken. Dann steckten sie die Köpfe zusammen und begannen mit flüsternden Verschwörerstimmen ein langes Gespräch. Obwohl niemand sonst im Raum war und auch der Wirt sich nicht mehr blicken ließ, warfen sie häufig verstohlene Blicke um sich. Nach drei Stunden war der Krug geleert, und die beiden Männer verließen leise den Gasthof, um nach verschiedenen Richtungen
davonzureiten. Klopfenden Herzens schlich der Wirt kurze Zeit später an den Tisch, fand neben dem leeren Krug einen Dukaten und steckte ihn mit gieriger Hast ein. Die Bezahlung war gut, und das genügte ihm. Jede Neugier erlosch beim Anblick des Goldstücks. Zudem konnte bei so heimlichem Tun Neugier nur gefährlich werden. Lester ritt mehrere Tage lang ostwärts. Er vermied bewohnte Gegenden so weit wie möglich. Als er in die Nähe der Schauburg gelangte, vertauschte er im Gehölz sein Obergewand mit dem viereckigen Hemd des Herolds, das er dem erstochenen Reginhar abgenommen hatte. Als vermeintlicher Abgesandter des Königs wurde er auf der Burg herzlich aufgenommen und gebührend bestaunt. Denn für diese Menschen war König Artus fast wie eine ferne Sage und Camelot ein unerreichbares Traumschloß. Nicht einmal Sigurd hatte den König und seine Residenz je zu Gesicht bekommen. Erwartungsvoll versammelten sich alle zum Abendessen in der geräumigen, wenn auch ärmlich ausgestatteten Halle. Große Schüsseln mit Schweinebraten, dicken Würsten und saftigem Hirschfleisch wurden aufgetragen. In den Ecken lagen die Hunde und warteten auf Knochen. Der falsche Herold hatte den Ehrenplatz neben dem Ritter inne. Er langte kräftig zu, hielt sich aber beim Trinken zurück. Nach mittelalterlicher Sitte dauerte der Schmaus mehrere Stunden. Am unteren Ende der Tafel hörte man schon bald leicht trunkene Reden. Indessen beantwortete der Herold viele Fragen des Ritters nach dem schon legendären Hofstaat des Königs. Mit gespitzten Ohren hörten sie ringsum den faszinierenden Erzählungen des weitgereisten Hofmanns zu. Schließlich benutzte der vollbärtige Lester eine kurze Pause in den Gesprächen, um sich zu erheben und die Versammelten mit erhobener Stimme anzureden. »Verehrter Ritter, liebe Anwesende!« begann er. »Nicht ohne gewichtigen Grund schickte mich König Artus in dieses entlegene Grenzland. Ich bin der Überbringer eines
ungemein ehrenvollen Auftrags. Der Ruhm des tapferen Ritters, dessen Gast ich heute sein darf, ist bis an die Ohren der Majestät gedrungen. Insbesondere die Schilderung des heroischen Kampfes beim Turnier von Xanten hat den König gefesselt, und er brannte darauf, weitere Einzelheiten zu erfahren.« Lester machte eine. klug berechnete Pause. Alle Anwesenden hingen mit glänzenden Augen an seinen Lippen. Auch Sigurd war tief beeindruckt. Stille herrschte. Nur das leise Hecheln der Hunde war zu hören. Und der falsche Herold fuhr fort: »Hiermit verkünde ich euch, was König Artus vor dreißig Tagen zu mir sprach.« Allen wurde feierlich ums Herz, als er mit veränderter Stimme anhub: »Reite zum Ritter Sigurd, und schone weder dein Pferd noch dich, und künde ihm, daß ich beschlossen habe, ihn in meine Tafelrunde aufzunehmen! Ich wünsche, daß er sich unverzüglich unter deiner wegkundigen Führung aufmacht, und erwarte ihn auf meinem Schloß!« Als Lester schwieg, blieb es noch wenige Herzschläge lang ruhig. Dann aber brach ein Jubelsturm los, wie ihn diese Halle noch nie erlebt hatte. Die Männer tanzten vor Begeisterung auf Tischen und Stühlen. Die Damen, die wie üblich auf abgeteilter Galerie saßen, klatschten laut. Sigurd befand sich in einem Freudenrausch. Ritter der Tafelrunde! Größeres gab es für keinen Mann der Welt zu erhoffen. Wieder und wieder schüttelte er strahlend die Hände der Gratulanten, die ihn umdrängten. In dieser Nacht wurde es nicht mehr still auf der Schauburg. Das Gesinde feierte die ganze Nacht hindurch. Nur der Ritter, der Herold und die Knappen zogen sich nach Mitternacht zurück. Denn schon am nächsten Morgen sollte ihre Abreise sein. Die Burg schwamm in Glück und Wonne. Nur Sigurds Ehefrau Hildegard spürte nagende Unruhe. Düstere Gedanken suchten sie heim. Sie fand keinen Schlaf. Das große Glück ihres geliebten Mannes machte sie nicht selig, sondern sandte ihr einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken.
Als Sigurd bei Tagesanbruch erfrischt erwachte, fand er sie übernächtigt und in Tränen aufgelöst. Verwirrt fragte er, ob sie krank sei. Da fiel sie ihm um den Hals und flüsterte: »Reite nicht weg von hier, Sigurd! Eine innere Stimme sagt mir, daß du in dein Verderben reitest.« »Aber was soll mir zustoßen?« fragte der Ritter verwundert. »Der König selber beruft mich. Er beschenkt mich mit der höchsten Ehre, die einem Ritter widerfahren kann. Nur elf andere Männer besitzen den mir zugedachten Rang - lauter ruhmreiche, tausendfach erprobte Helden. Und Artus schickte mir eigens einen Herold, der mich sicher auf sein Schloß geleiten soll.« Bei der Erwähnung des Herolds schluchzte Hildegard laut auf. »Ich traue diesem Herold nicht«, gestand sie. Betrübt schüttelte Sigurd den Kopf. »Ich verstehe dich nicht mehr, meine Liebste. Wie kannst du dem Herold des Königs mißtrauen?« »Sein düsteres, ja, finsteres Aussehen ängstigte mich vom ersten Augenblick an. Hast du bemerkt, wie kalt seine dunklen Augen dreinschauen, wie eng sie nebeneinander stehen? Sobald er nur das Wort an mich richtete, fröstelte mich. Von diesem Mann geht nichts Gutes aus - er riecht nach Tod.« Sigurd schwankte zwischen Lachen und Ärger. Weibergeschwätz, dachte er. Laut sagte er: »Was kann der arme Mann dafür, daß er dunkle Augen, schwarze Haare, einen wilden Bart und eine düstere Gesichtsfarbe hat? Deshalb muß doch seine Seele nicht schwarz sein. Des Königs gerechter Sinn ist weithin bekannt. Nie würde er einen arglistigen Schelm zu seinem Herold erheben.« Wie ein Stein lag Hildegard das Herz in der Brust. Sie unternahm einen letzten Versuch. »Warte wenigstens so lange, bis Roland zurückkehrt! Warte auf dein neues Schwert, das deine Kraft vervielfachen wird! Roland hat es nicht verdient, daß du die Reise ohne ihn unternimmst. Er ist dein klügster, tapferster und treuester Knappe.« »Roland hätte schon seit Tagen zurücksein müssen«, versetzte
Sigurd ungeduldig. »Wo bleibt er nur?« »Vielleicht ist der Schmied noch nicht mit dem Werk fertig. Warte doch noch einen Tag, geliebter Mann! Mir wäre so viel ruhiger ums Herz.« »Keinen Tag darf ich säumen! Bestimmt wartet der König nicht gern. Bedenke doch, ich soll einen König warten lassen - eines jungen Knappen und deiner bösen Ahnungen willen? Sobald Roland eintrifft, schick ihn uns hinterher! Wie der Herold mir sagte, geht die Straße die ganze erste Woche schnurgerade in Richtung Sonnenuntergang. Ich habe Roland ein gutes, ausdauerndes Pferd geschenkt. Er wird keine Mühe haben, uns einzuholen.« Da die Burgherrin sah, daß nichts ihren Mann umstimmen konnte, bezwang sie sich und bereitete den Abschied vor. Sie zog ihr schönstes Kleid an, trommelte ihr verkatertes Gesinde zusammen und ließ sie die Wegzehrung für die vier Reisenden bereiten. In der geräumigen Küche stärkten sich dann bald die Männer mit einer heißen Brühe, in der große Fettaugen und saftige Fleischbrocken schwammen. Prüfend betrachtete der Ritter das Gesicht seiner Lebensgefährtin. Aber er sah keine Tränenspur mehr, kein mattes Auge. Keine Sorgenfalten. Hinter ihrer reinen Stirn schienen jetzt wieder heitere Gedanken verborgen. Ihre Lippen lachten, die weißen Zähne blitzten. Als sie ihn beim Abschied umarmt und geküßt hatte, sagte sie mit fester Stimme ihren altvertrauten Spruch: »Bleib fern, solange du mußt - und komm wieder, so schnell du magst!« Dem Ritter wurde leicht ums Herz. Rasch würde er das trübselige Morgengespräch vergessen. Wahrscheinlich, meinte er, hatte Hildegard da noch unter der Nachwirkung irgendeines bösen Alptraums gestanden. Die Sonne sandte die erste Vorhut schüchterner Strahlen über den Horizont, als die vier vom Hof ritten. Hildegard winkte. Sigurd und die Knappen winkten zurück. Der Ritter trug einen Kettenpanzer, und an seiner Lanze flatterte lustig ein rotgelber Wimpel. Knappe Frank hatte des Ritters altes Schwert auf dem Rücken, und Gerd
leitete den Maulesel am Zügel, der die Mundvorräte und Decken trug. Bis auf einen kleinen Dolch unbewaffnet, führte der Herold den Trupp an. Schon verschwanden sie über die Zugbrücke, hinter der der Weg sich senkte. Hildegard wandte sich, erstieg eine Treppe und erklomm die Zinnen. Da stand sie und schaute ihnen mit brennenden Augen nach. Auf dem abschüssigen Weg verfielen die Pferde in einen leichten Galopp, den auch das Maultier nach kurzem Zögern mitmachte. Kleiner und kleiner wurden die vier Gestalten. Schweigend starrte die Burgherrin auf den Rücken des Mannes, dem ihre ganze Liebe gehörte. Und dann entzog eine Hecke an der nächsten Wegbiegung sie ihren Blicken, und ihr war, als habe sie eben jetzt Sigurd zum letztenmal gesehen. Wie eine Riesenwoge schlug dieser unfaßbare Gedanke über ihr zusammen. Die Sonne schwand. Ringsum war nur Schwärze. Und mit einem Schrei, der ihre bittere Verzweiflung in einen einzigen Laut preßte, brach Hildegard auf den Burgzinnen zusammen. * Roland lebte wie im Traum. Eigentlich hatte er sofort zur Schauburg zurückreiten wollen. Ben war begraben, und Alfons wartete im Verlies auf sein Urteil, das nach den Gesetzen jener Zeit nur auf Todesstrafe durch Enthaupten lauten konnte. Dann beschloß Roland, wenigstens noch so lange zu warten, bis Rosalynn, das Opfer des Überfalls, genesen war. Das ging wider Erwarten schnell. Ihre unverbrauchte Jugend und gesunde Natur bewirkten, daß sie bereits zwei Tage danach erholt vom Lager aufstand. Doch Roland verließ ihre Burg weiterhin nicht. Ein einziger Satz aus ihrem schönen Munde ließ ihn bleiben: »Mein Retter bist du, tapferer Roland - wie soll ich dir nur jemals
danken?« Da blieb er. Unvermittelt war sie zum vertrauten Du übergegangen. Täglich sah er sie. Am liebsten wäre er jede Stunde des Tages um sie gewesen. Mit Haut und Haaren verfiel er dem Bann, den sie um ihn legte. Alles an Rosalynn entzückte den Knappen. Der Jüngling schwärmte von ihr, ob sie ihm schöntat, ob sie ihn schalt, ob sie ihn wie einem Diener ständig mit Aufträgen hetzte - Roland war es zufrieden. Ihm war es recht, wenn er nur bei ihr sein durfte. Und er lebte wie im Traum. O ja, das verwöhnte Burgfräulein war launisch. Mal strich es ihm so freundlich um das bartlose Kinn, daß er schon vermeinte, es sei ihm ebenso verfallen wie er es. Dann gurrte es schmeichelndes und zärtliche Worte vernahm er: »Mein Retter - mein Roland - mein lieber Held!« Aber oft umwölkte sich aus nichtigem Anlaß die reizende Stirn. Dann hieß es schroff: »Geht nur, Ihr langweilt mich, Grobian!« Wie boshaft konnte dieser süße Mund sein! Roland erlebte seine erste große Liebe und wurde stündlich zwischen lichten Höhen und tiefen Abgründen des Gefühls hin- und hergeschleudert. Wenn er, selten genug, einschlief, so träumte er nur von ihr, die so nah und doch so unerreichbar war. Vor Tau und Tag war er auf den Beinen und streifte durch die Felder. Keinen Blick verschwendete er an das viele Wild, keinen Gedanken an die geliebte Jagd. Die Schauburg und Ritter Sigurd kamen ihm nie in den Sinn. Er suchte Frühlingsblumen für Rosalynn! Während er so dahinschritt und an die Schöne, Spröde dachte, fielen ihm Worte ein. Kleine, zärtliche Worte. Er sprach sie leise vor sich hin, bis sie sich zu Versen formten. Wenige Stunden später ließ ihn Rosalynn zu sich rufen. Schmollend empfing sie ihn: »Warum vernachlässigt Ihr mich, Knappe? Liebt Ihr mich so wenig? Stundenlang habt Ihr mich allein gelassen. Die Langeweile verzehrte mich.« »Aber habt Ihr denn ganz vergessen, daß Ihr selber mich
fortgeschickt habt, weil meine Gegenwart Euch langweilte?« »Aber, mein lieber Roland, wie kannst du etwas so Dummes behaupten? Ich sollte meinen liebsten Kavalier wegschicken? Sprich nie wieder eine so ungeheuerliche Verleumdung aus, mein Knappe, sonst müßte ich dich ernsthaft verstoßen. Komm, und unterhalte mich! Wo warst du? Was hast du getrieben?« Er reichte ihr den Feldblumenstrauß und gestand ihr, daß er ein Gedicht erdacht hatte. »Oh, du bist unter die Minnesänger gegangen! Wie hübsch! Wäre ich ein Mann, ich setzte alles daran, ein Troubadour zu sein. Jedes schöne Mädchen würde mir lauschen, jedes Herz würde ich betören. Ich bitte dich, sprich mir deine Verse vor!« Ein wenig sträubte sich Roland noch. »Es ist sicherlich nichts Besonderes. Vielleicht lachst du mich aus. Ungewohnt ist mir noch das Reimeschmieden.« »Verschone mich mit Ausreden, wenn du nicht willst, daß ich ungehalten werde! Oder hast du dein Gedicht etwa für eine andere Frau gemacht? Weh dir, wenn du das jemals wagtest...« Beflissen leugnete Roland solche Missetat. Dann setzte er sich ihr zu Füßen auf den Estrich, legte den Kopf zurück, schaute in die haselnußbraunen Augen mit den goldenen Blitzen darin und wiederholte träumend, was er auf den Feldern gedichtet hatte: »Mein Herz ist mir wehe. Einst schlug es so kühn. Jetzt sah ich mit Tränen Die Sonne erglühn ...« »Aber das ist ja hübsch, Roland«, rief Rosalynn entzückt. »Du bist wahrhaftig ein Poet. Ich fühle deutlich, daß du dabei meiner gedacht hast.« Ihre Hand senkte sich und legte sich auf seinen Kopf. Ihre Finger wühlten zärtlich in seinem Haar. »Sprich weiter!« Ein wohliger Schauer durchlief ihn, und er fuhr mit festerer Stimme fort: »Sonst sucht' ich die Ferne, Jetzt nur deine Näh' ...« Er geriet ins Stocken. Die Worte waren ihm entfallen. Er überlegte. Dann platzte er heraus: »Ach, hol mich der Teufel, Wenn ich das versteh'!« Ihre Hand zuckte zurück, als habe sie eine heiße Herdplatte
berührt. »Pfui«, rief sie, »wie abgeschmackt - ja, wie beleidigend! Mich mit dem Teufel in einem Atemzug zu nennen - das ist doch wahrlich der Höhepunkt der Frechheit!« Vergeblich beschwor er sie, daß ihm der Teufel nur so herausgerutscht sei, daß die beiden letzten Zeilen ursprünglich anders geheißen hätten, daß er sich aber nicht mehr an sie erinnern könne... »Macht mir doch nichts weis!« Unsanft trat ihm ein zierlicher Fuß in den Rücken. »Immer wollt Ihr mich nur verspotten. Nun bin ich es endgültig leid. Verlaßt mich ...« »Aber ...«, protestierte er. »Verlaßt mich auf der Stelle, und tretet mir nie wieder unter die Augen! Vergessen will ich Euch für immer. Euer Name sei ausgetilgt aus meinem Herzen. Nun geht doch schon, Ihr grober Klotz, Ihr Flegel, Ihr falscher Mädchenbeschwatzer!« Ihre Stimme wurde schrill. Roland nahm jedes ihrer Worte für bare Münze. Zerknirscht stand er auf und entfernte sich zögernd. Er sah nicht den triumphierenden Blick, den sie ihm nachschickte. Er hörte nicht, wie ihre Lippen, bebend vor unterdrücktem Gelächter, flüsterten: »Süßer Roland, man muß dich wie ein wildes Tier bändigen und zähmen, bevor man dich erhört - sonst ist ein Mädchen verloren!« Betrübt fand er sich im Pferdestall wieder. Er konnte nicht sagen, wie er dorthin gelangt war. Mit freudigem Wiehern begrüßte ihn die Stute. Tagelang hatte er sich nicht um sie gekümmert. Er spürte Gewissensbisse. Er tätschelte dem Tier den Hals, reichte ihm Mohren, die es gern fraß, und stellte mit raschem Blick fest, daß die Knechte es an nichts hatten fehlen lassen. Die Stute stand gut im Futter, und ihr Fell war sauber gestriegelt. Eine Stunde später ritt er mit ihr vom Hof. Hätte ihn jemand gefragt, wohin er wolle, er hätte nichts zu antworten gewußt. Denn zu gewaltig stritten widerstrebende Gefühle in seiner Brust. Er war keines klaren Gedankens fähig. Da klang eine silberhelle fröhliche Stimme aus der Höhe an sein
Ohr. Er verhielt die Stute, schaute nach oben und sah Rosalynns Kopf im schmalen Fensterspalt. »Wer hat dir erlaubt, einfach so davonzureiten?« rief sie klagend. »Bleib, guter Roland, bleib! Du sollst immer an meiner Seite sein. Ohne dich wird mir kalt in diesen Mauern. Du darfst mich nie verlassen! Bleib, süßer Roland, bleib bei mir!« Ein tiefer Seufzer hob Rolands Brust. Er klatschte den Zügel auf den Pferdehals und ritt langsam weiter. Bald kam er an der Werkstatt des Schmieds vorbei. Geistesabwesend nahm er Sigurds neues Schwert entgegen, das er dem Räuber Ben entrungen und dem Meister wiedergegeben hatte. Der Mann hatte in der Zwischenzeit noch mit bewunderungswürdigem Geschick feinste Ziselierungen an Griff und Scheide angebracht. Roland würdigte sie keines Blickes. Er achtete nicht auf die Dankesworte des Meisters, als er ihm gleichgültig den Lohn für die prächtige Waffe ausgehändigt hatte. Was ist nur in ihn gefahren? dachte der Schmied. Der hat sich sehr verändert seit jenem Tag, als er wie ein Donnerkeil über das Räubervolk herfiel, um das Burgfräulein zu retten. Roland überließ es der Braunen, sich den Weg zu suchen. Natürlich schlug sie die Richtung zur Schauburg ein. Auf halbem Wege kamen sie an einer steilen Bergwand vorbei. Verkrümmte Fichten und schroffe Felsklippen bedeckten den Steilhang. Da wachte Roland aus seinem Dämmerzustand auf. Denn diese Bergwand kannte er gut. Und auch den geheimen Weg, der sich in oftmaligem Zickzack zwischen Baum und Fels hinaufschlängelte. Oben auf der Kuppe befand sich die Höhle des Einsiedlers Klaus. Wie oft hatte er als Kind zu seinen Füßen gesessen, um das Wissen der Zeit zu erlernen oder auch nur den weisen Worten des heiligen Mannes stumm zu lauschen! Mit raschem Schenkeldruck lenkte Roland die Braune auf den schwer zu findenden Schlängelpfad. Wie lange hatte er Klaus nicht besucht! So vieles war seitdem geschehen! Es drängte ihn, dem alten Lehrer und Freund sein Herz auszuschütten. Vielleicht wußte er Rat
für den Ratlosen ... Je höher Roland kam, um so mehr packte ihn die Furcht, der Alte sei inzwischen gestorben oder habe sein luftiges und kaltes Heim verlassen. Doch als er um die letzte Biegung ritt, erblickte er den vertrauten grauen Schädel mit der breiten Stirn, den tiefliegenden Augen, der mächtigen Nase und dem wallenden weißen Bart, den Klaus jeden Morgen in der Quelle sorgfältig wusch. Der Eremit war gerade dabei, einen Korb voll Wurzeln, die er im Wald gesammelt hatte, zu putzen. Überrascht erhob er sich langsam. Seine Freude über den unerwarteten Gast, der sich so lange nicht? hatte blicken lassen, war echt und groß. Später saßen sie vor der Höhle, und Roland berichtete ihm alles, was ihm begegnet war. Von dem Augenblick an, als er von daheim ausriß, weil er den Gedanken nicht ertrug, sein Lebtag das öde Köhlerhandwerk auszuüben. Damals war er keck über die Zugbrücke in die Schauburg gegangen. Und Sigurd, den sein frisches Wesen, sein gestählter Körper und sein überraschend reiches Wissen beeindruckte, nahm ihn als Page bei sich auf. Der Eremit wurde nicht müde, Rolands Erzählung zu lauschen. Er sprach vom Ritter und seiner Gattin, von Iwein, dem Turnier, den Räubern und von Rosalynn. Die Nacht war schon lange hereingebrochen, als noch immer die beiden zusammensaßen. Dem Einsiedler wurde klar, daß der junge Mann an einem Kreuzweg seines Lebens angekommen war und nun schwankte, welche Richtung er nehmen sollte. Über allem vergaßen sie Speis und Trank. Die Nacht verbrachten Roland und sein Pferd in einer weichen Mulde nahe der Höhle. Am Morgen bot ihm Klaus kräftiges dunkles Brot und eine würzige Zwiebel. Dazu trank der Knappe Wasser aus der klaren Quelle. Bevor er weiterzog, ergriff der Einsiedler das Wort. »Du stehst an der Schwelle zum Mann«, begann er, »und mir scheint, du bist in tiefem Zweifel über das, was du vom Leben erwartest. Du stehst vor geheimnisvollen Vorhängen und kannst nicht entscheiden, welchen du anheben sollst. Wahr ist, daß dein
Schicksal nicht von den Sternen gelenkt wird, sondern von Gott. Zwar bestimmst du es selber, aber er hat es dir in die Seele gesenkt. Es liegt an dir, es zu erkennen.« Roland seufzte schwer und nickte. »Die meisten Menschen«, fuhr Klaus fort, »die Leute, von denen dreizehn auf ein Dutzend gehen, trotten eine Zeitlang wie Karrengäule über die Erde und verschwinden wieder, ohne eine Spur zu hinterlassen. Doch es gibt Auserwählte, mein Sohn. Und einer davon bist du. Denen wird es schwerer gemacht, aber sie verwehen auch nicht wie der Wind.« Aufmerksam lauschte der Knappe. »Mancherlei Talent schlummert in dir, und du fragst dich: Welches soll mein Leben bestimmen? Bist du ein Weiser, ein Gelehrter, ein heiliger Mann? Nun, gescheit bist du, behältst viel, achtest auf die Dinge und denkst über manches nach. Doch hält es dich an keinem Ort, und kein Thema fesselt dich so, da du Jahre damit zubringen möchtest, es bis auf den Grund zu durchdenken. Oder bist du ein Sänger, ein Poet? Gewiß ist dein Herz voll zarter Empfindung, und du weißt die Sprache gut zu setzen. Doch deine Stimme ist rauh und wahr, nicht süß und sprunghaft wandelbar. Deine Hand ist zu schwer für Laute und Flöte. Nein, Roland, dies alles taugt nicht zu dir.« Hingerissen schaute der Knappe den alten Mann an. Der sprach mit Betonung: »Du bist zum Helden geboren, mein Sohn. Und diesen Weg verfolge, wohin er dich auch führen mag!« Roland hielt den Atem an. Eine lange Pause trat ein. Das Gehölz knackte. Ungeduldig trabte die braune Stute heran. Roland erhob sich und tätschelte ihr den Kopf. »Du weißt doch, was ein Held ist?« fragte der Eremit. »Ja«, sagte Roland stolz. Er war wie von einer Last befreit. »Das weiß ich wohl. Nie sitzt ein Held geduldig am Herd. Die Ferne sucht er, die Gefahr und den Kampf. Er zieht von Ort zu Ort, von Abenteuer zu Abenteuer. Ein Held ist starken Leibes und stählt sich durch tägliche Übung, bis er zuletzt unüberwindlich ist. Ein Held fordert jeden, der ihm Trotz bietet, zum Duell und besiegt ihn und
nimmt ihm das Leben oder schickt ihn dem König oder der Dame seines Herzens als Vasall. Ein Held ist stolz und einsam und hält sich von gewöhnlichem Volk fern, und alle Sänger erzählen von seinen unglaublichen Taten. Doch wenn alle ruhen, ruht der Held nie. Denn er trachtet unablässig danach, alles, was er vollendet hat, durch neue, noch gewaltigere Taten zu überglänzen. Und schließlich eins, und dies ist das Höchste«, sprach Roland und rief die Worte übers Tal hinweg, als wolle er die Welt herausfordern: »Ein Held kennt keine Angst!« So stand er eine Weile selbstvergessen, flammend vor Jugend, Kraft und Sehnsucht. Dann wandte er sich Klaus zu und fragte, nach Bestätigung heischend: »Habe ich recht, weiser Mann?« »Nicht ganz, mein Sohn. Den du beschriebst, das ist ein Abenteurer, ein fahrender Ritter, doch kein Held. Ein Held, mein Sohn, fordert niemanden heraus, schont jedermanns Leben, ist bescheiden und lauscht nicht begierig den Sängern, die seinen Ruhm verkünden. Er pflegt Umgang mit allen und nimmt gern den Segenswunsch des einfachen Volkes entgegen, dem er dient, das er schützt und liebt. Und ein Held kennt auch die Angst, denn sonst besäße er ja ein Herz aus Stein.« »Aber wie soll ich jemanden bezwingen, wenn ich Angst vor ihm habe?« »Indem du dich selbst bezwingst. Das, Roland, ist das Schwerste und Größte.« * Seit Tagen reiten sie westwärts. Über Heide und Wasserläufe, durch Wald und Hügel, bei Sonne und Regen und Wind. Reiten, Essen, Schlafen, Reiten. Ab und zu ein Gespräch. Meist stellt einer der beiden Knappen eine neugierige Frage nach dem Leben auf Camelot. Und der Herold wird nicht müde, sie freundlich zu beantworten. Seine Worte malen anschauliche Bilder. Und die Knappen staunen. Wie prächtig dieses Schloß sein muß!
Und wie glücklich seine Bewohner! Bald werden sie es mit eigenen Augen erblicken. Ihre Vorfreude wächst. Gegen Abend sagt der Ritter: »Jemand folgt uns. Drei Männer mögen es sein.« Gleichmütig zuckt der Herold die Achseln. »Habe sie schon bemerkt. Ich reite selten über Land, ohne daß mir Leute von fern das Geleit geben. Aber ich kümmere mich nie darum.« »Ich tue es immer. In dieser Gegend treibt sich vielerlei Gesindel umher. Es gibt Schurken, die sich nichts dabei denken, einem die Gurgel durchzuschneiden, wenn sie nur darauf hoffen, einen halben Dukaten zu erbeuten.« »Behaltet die Ruhe, Ritter! Mein Heroldsgewand schützt Euch alle.« »Ich wäre schlecht beraten, mich darauf allein zu verlassen. Doch macht auch Ihr Euch keine Sorgen, Herold! Meine Knappen und ich werden Euch zur Nacht bewachen.« »Nun, dann übernehme ich auch eine Wache.« »Wenn Ihr es wünscht, dann sei es so.« Sie würfeln um die Zeiten. Gerd gewinnt die erste Wache. Wenn die anderen sich zur Ruhe legen, bleibt er auf. Dann folgen der Ritter, dann Frank und zuletzt der Herold. Sie essen Hirschfleisch zur Nacht. Für manchen ist es die letzte Mahlzeit. * Roland reitet wie der Teufel. Noch nie ist die braune Stute so gehetzt worden. Schaum bedeckt ihre zitternden Flanken. Oft steht er in den Steigbügeln, um ihr das Rennen zu erleichtern. Und sie streckt sich willig. Sie durchqueren in rasendem Galopp betaute Wiesen, donnern über schmale, ausgetrocknete, beinharte Straßen, tauchen in dunkle, schweigende Wälder und waten durch Flüsse. Vorwärts! spricht die innere Stimme, auf die Roland hört. Pfeilgerade nach Westen! Sigurd
ist in Gefahr ... Eigentlich kann der Knappe es sich nicht vorstellen, daß dem starken Ritter auf dem Wege zu höchster Ehrung ein Leid widerfahren solle. Aber seine Frau Hildegard hat ihn so eindringlich beschworen, daß Roland ihr glauben mußte. Haben Frauen nicht stärkere, bedeutsamere, wahrere Ahnungen? Ein Felsenweg über schrägem, tiefem Absturz soll ihnen zum Verderben werden. Plötzlich ist die Stute nicht mehr voranzubringen. Sie stellt sich bockbeinig, schnaubt verängstigt und drängt zurück. Er preßt ihr die Hacken in die Weichen. Sie wehrt sich. Er gibt nicht nach. Da stellen sich jäh ihre Vorderbeine in die Luft! Roland flucht. Fast ist er abgeworfen worden. Er zieht ihr mit der Gerte eins übers Fell. Er tut es nicht gern - aber was hilft's? Doch es bleibt vergeblich. Sie will nicht weiter. Und da gerät sie ins Rutschen. Der Abhang tut sich auf. Kopfüber schwingt sich Roland nach vorn über den Hals des Pferdes hinweg und gewinnt Boden unter den Füßen. Die Stute wiehert angstvoll, klagend. Doch Roland hat keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Wie ein Baum ragt vor ihm das Untier auf, das die Stute so erschreckt hat. Ein Bär! Das Untier steht auf den Hinterläufen. Die vorderen Tatzen greifen nach Roland. Greifen zur tödlichen Umarmung. Gedankenschnell liegt Roland das Schwert des Schmiedes in der Faust, das Schwert, das er Sigurd nachbringt, das Schwert, das hart wie ein Fels ist, geschmeidig wie eine Bogensehne und scharf wie ein Rasiermesser. Er bohrt es zielsicher dem Bären ins Herz. Das wilde Tier wankt und kippt über den Abgrund. Roland wirbelt herum, packt die Stute am Zügel und reißt sie mit aller Kraft auf den schmalen Saumpfad zurück. Das pelzige Ungetüm entschwindet unter ihren Blicken. Roland tut es leid um die Jagdbeute. Welch einen Schmaus gäbe der Bär her und welche Vorräte! Eine Kappe aus Bärenfell könnte er sich
machen ... Nicht daran denken! Er schwingt sich in den Sattel. Die Stute gewinnt ihre Fassung wieder. Und wieder Galopp! Vorwärts! Pfeilgerade nach Westen! Einmal kommt er an einem Bachlauf auf die verlassene Lagerstätte der vier. Er hält, steigt ab und prüft die verkohlten Äste. Einen halben Tag sind sie noch vor ihm. Weiter. Einen halben Tag! * Lester erhebt sich leise und tritt einige Schritte vom glimmenden Feuer weg, Es ist so finster wie im Höllenschlund. Die Stunde vor Tagesanbruch. Die drei anderen schlafen fest. Lester lauscht. Er hört ihre gleichmäßigen Atemzüge. Und er hört noch etwas. Schleichende Schritte. Oder sind es Hufe? Er muß es wissen. Sein Herz schlägt heftig. Wenn dieser Anschlag nicht gelingt, ist er am Ende. Die Geräusche kommen näher, entfernen sich, scheinen suchend zu wandern. Zu rufen wagt er nicht. Es würde die Schläfer wecken. Er ergreift einen glimmenden Ast, schwenkt ihn hoch, ein Flämmchen züngelt hervor und wird zur leuchtenden Flamme. Nun müssen sie das Zeichen sehen auf der offenen Heide! Unermüdlich läßt er den Ast um den Kopf kreisen. Und es gelingt. Schon sind sie heran, drei dunkle Schatten. Von den Hufen spritzt hochauf Heidesand. Sie halten vor Lester und umdrängen ihn. »Wo?« fragt einer rauh. Er tritt dicht an ihn heran und deutet in die Richtung der Schlafenden. »Dort!« Doch inzwischen ist Sigurd erwacht, und Roland ist nah ... Die beiden Knappen aber erwischen sie noch, wie sie sich mit eckigen Bewegungen aus den Decken schälen. Halb im Schlaf sterben die jungen Leute. Ihre letzten Seufzer aber stacheln Sigurds
Entschlossenheit zu blanker Wut. Im Dunkel entspinnt sich ein furchtbarer Kampf. Mehrmals geraten die drei, die den Überfall wagten, versehentlich aneinander, und Sigurds altes Schwert ritzt jedem von ihnen den Panzer. Er ficht, wie er noch nie im Leben gefochten hat. Nur wenn sich einer der Angreifer sekundenlang vor dem aufkommenden Morgenlicht am östlichen Horizont abhebt, hat er ein genaues Ziel, und seine Streiche fallen schnell und treffen hart. Doch nach drei Seiten hat er sich zu wehren, und seine Gegner sind beritten. Ein furchtbarer Stoß zerreißt wie Spinngewebe den Kettenpanzer. Fast will ihm das Schwert entgleiten. Der Schmerz macht sein Inneres glühend. Doch er rafft sich zusammen. Die schwächer werdenden Hände packen das Schwert mit beiden Händen. Und das zerhackte, schartige Ding tut seine Pflicht. Der Wehschrei eines Reiters beweist es. Dem hat er die Lust zu weiteren Angriffen genommen. Doch die beiden anderen sehen ihn jetzt im langsam aufkommenden ersten Licht deutlicher vor sich. Er bietet einen erbärmlichen Anblick. Ohne Helm, mit verwehtem Haar, von oben bis unten mit hochgespritztem Dreck bestaubt, ein Schwert in den Händen, das kaum noch eine Klinge hat, aus vielen Wunden blutend, müde, ausgelaugt, so schwach, als könne ihn der kleinste Windhauch umwehen ... So sehen sie Sigurd. Aber sie sehen auch das unerschrockene Auge, das so viele Feinde vor sich niedersinken sah, und etwas bannt sie. Furcht schleicht sich in ihre Herzen. Die Reiter in den schwarzen Rüstungen mit heruntergeklapptem Visier drängen sich aneinander und flüstern sich gegenseitig Mut zu, bevor sie zum letzten Ansturm auf den schwankenden Sigurd anreiten. Doch da ist Roland heran! Aus dem wabernden Dunkel der Heide fliegt die braune Stute heran, die den entschlossenen Retter trägt. Und Rolands Waffe, das neue Schwert, beginnt sein Werk. Zwei Reiter weichen. Der dritte wendet sich schon zur Flucht. Nur einen flüchtigen Eindruck nimmt Rolands Auge noch von ihnen auf.
Der eine ist baumlang. Der andere kleiner und feister. Der dritte erscheint ihm merkwürdig bekannt und doch wieder fremd. Der Lange faßt sich zuerst. Während die beiden anderen noch an ein Gespenst glauben, reitet er eine tückische Attacke, deren ein Ritter sich schämen würde. Sein Lanzenstich gilt nicht dem Mann, sondern dem Roß. Tief jagt er die Lanze in den Hals der braunen Stute, die in den Beinen einknickt und kraftlos zur Seite fällt. Halb begräbt ihr Leib Roland unter sich. Nun stechen zwei Lanzen nach dem festgeklemmten Knappen. Doch seine Arme sind frei, und sein Schwert stößt die tödlichen Eisen beiseite. Die Stute zuckt. Im Todeskampf bäumt sie sich noch einmal auf und gibt Roland frei. Er springt auf, und hell klingt sein Schlag gegen eine Rüstung, durchschneidet sie und schlägt eine tiefe Wunde. Dem Getroffenen stürzen Tränen des Schmerzes in die Augen. Er wendet sein Pferd und sprengt davon, sein Leben zu retten. Noch mehrere Male zuckt das Schwert Rolands. Dann haben die Mordgesellen das Feld geräumt. Der Jüngling stürzt zu Sigurd. Der liegt ächzend und aus vielen Wunden blutend auf der Heide. Fassungslos sieht der Jüngling den tiefen Schmerz in dem vertrauten, jetzt verzerrten Gesicht. Er zieht ein Tuch hervor und beginnt, das Blut abzutupfen. »Roland«, stöhnt der Verwundete. Die Stimme, die sonst so machtvoll dröhnte, ist zerbrochen und klingt geisterhaft. »Ich bring' Euch Euer Schwert, Ritter Sigurd!« ruft Roland. »Zu ... spät, wackerer Junge.« Tiefer neigt Roland den Kopf, um die immer schwächer werdenden Laute zu vernehmen. »Sie überfielen uns ... im Schlaf. Gerd und Frank ... Tot... Schrecklich! Der Herold ... hatte die ... Wache ... Wo ist er? Ich sah ... ihn nicht mehr ...« Roland sieht sich um. Nicht weit entfernt liegt das Heroldshemd, blutig, auf der Heide. »Wer war's, der Euch überfiel?« fragt Roland. »Ich ... kann ... nur ... raten...«
»Sagt einen Namen ... Eine Silbe nur, wenn Euch das Sprechen schwerfällt!« Der Mund des Sterbenden verkrampft sich. Er will einen Namen bilden. Doch dann spricht Sigurd mit letzter Kraft ganz anderes aus, was ihn wichtiger dünkt als Überfall und Vergeltung. »Nimm du mein Erbe, Roland«, flüstert er. »Den Araber, den Helm, das Schwert. Reite zu König Artus, und melde ihm, was mir geschehen!« Noch einmal belebt ein fernes Leuchten die schon starr werdenden Züge. Mit starker Stimme spricht Sigurd den schönsten Namen, den er kennt: »Hildegard!« Dann sinkt sein Kopf zurück. Die Augen, brechen. Roland schlägt ergriffen die Hände vors Gesicht. Zur selben Zeit erwacht Hildegard in ihrem Gemach. Eine eisige Kälte umschließt ihr Herz, und sie weiß plötzlich mit unumstößlicher Gewißheit, daß Sigurds Schicksal sich erfüllt hat. Leise beginnt sie zu weinen. Eine Stunde später gibt sie dem Gesinde mit ruhiger Stimme und trockenen Augen Befehle für den Tag. Und von dieser Stunde an hat niemand sie mehr weinen sehen. * Mit verdüstertem Gemüt begrub Roland die Toten, so gut er es vermochte, und er erfüllte die letzten Anweisungen des Ritters. Den Schild legte er ihm aufs Grab. Nach den Pferden mußte er lange suchen. Schließlich fand er den Araberrappen. Er weidete auf einer saftigen Wiese. Von den anderen Pferden sah man keine Schwanzspitze mehr. Der Araber bot einen herrlichen Anblick, aber Roland hatte keinen Blick dafür. Eine Stunde lang plagte er sich damit ab, ihn einzufangen. Das Tier machte sich einen Spaß daraus, ihn bis auf einige Schritte herankommen zu lassen und dann mit ein paar
Galoppsprüngen wieder zu enteilen. Da fiel ihm ein, daß er noch Mohrrüben in der Tasche hatte. Er holte eine hervor und lockte den Araber damit. Zum Glück hatte der dieselbe Vorliebe für Rüben wie die braune Stute. Er kam sofort angetrabt, ließ sich festhalten, satteln und besteigen. War das ein Reiten! Der Araber schien über den Boden hinwegzufliegen. Das Rennen war seine zweite Natur. Aber nicht einmal daran fand Roland Vergnügen. Seine Seele war wie vergiftet. Der Verlust des Ritters und seiner beiden jungen Kameraden machte ihn für alle Schönheit und Verlockungen der Welt unempfänglich. Überall spürte er Verderben und Unheil. In jedem Menschen sah er schwarze Verruchtheit und arglistige Feindschaft. Darum mied er auf dem Wege nach Camelot so weit wie möglich jede Begegnung. Er nächtigte unter freiem Himmel, aß wenig und hatte auch kaum Appetit. Den Durst löschte er, wie es sich gerade traf. Ob klare Quelle oder Pfütze, das war ihm gleich. Manchmal stieß er auf Bauern, die ihre Felder bestellten. Mit abgewandtem Kopf ritt er an ihnen vorbei. Selten fragte er einen in mürrischem Ton nach dem rechten Weg. Seine Gedanken kreisten um die Männer, die ihre Gesichter hinter schwarzen Visieren verborgen hatten. Der eine war baumlang, der andere kleiner und feister, und der dritte war ihm merkwürdig bekannt und doch wieder fremd erschienen. Nach etwa einer Woche näherte er sich eines Vormittags in der welligen Ebene einem weithin sichtbaren Kreuzweg. Zu gleicher Zeit steuerte von links ein anderer Reiter den Punkt an. Sie mußten an der Kreuzung zusammentreffen. Rolands Gesicht verfinsterte sich. Er runzelte die Stirn und biß die Zähne aufeinander. Der Schmerz um die drei Toten und der Haß auf die feigen Mörder beherrschte ihn völlig, beeinflußte alle seine Gedanken und Handlungen. Die ganze Welt schien ihm feindlich gesonnen. Auch in dem fremden Reiter sah er sofort einen Feind. Vielleicht gehörte er sogar zu den drei schwarzen Rittern? Oder sollte er ihm in deren Auftrag hier auflauern?
Roland beschloß, ihm zuvorzukommen. Er spornte sein Roß. Der schwarze Araber galoppierte an. So kam es, daß Roland als erster die Kreuzung erreichte. Er machte Front gegen den gemächlich näher kommenden Reiter, dessen lange, dunkle Locken romantisch ein tiefgebräuntes Gesicht mit blitzenden grünen Augen umrahmten. Sein Schnurrbart war keck aufgezwiebelt. Auf dem Rücken trug er eine Fiedel, die ihn als Spielmann kennzeichnete. Er war sogar ein berühmter Vertreter der Dichtkunst. Nur Rolands Unerfahrenheit war es zuzuschreiben, daß er den kunstbegabten Ritter Volker vom Hohentwiel nicht kannte. In seiner Verblendung rechnete er den Fremden zu jenen finsteren Mächten, die den Tod Sigurds und der beiden Knappen auf dem Gewissen hatten. »Halt!« rief Roland mit zorniger Stimme. Der andere setzte unbekümmert seinen Weg fort. »Halt, wenn Euch Euer Leben lieb ist!« Volker lachte Roland ins Gesicht. Er war nicht im mindesten beeindruckt. Wie zu fröhlichem Gruß schwenkte er die Lanze. Roland zog sein neues Schwert. »Wer Ihr auch seid, legt die Lanze nieder!« forderte er anmaßend. »Ergebt Euch auf Gnade oder Ungnade! Sonst werde ich Euch den Helm spalten!« Volker lachte laut auf. »Meinen Helm spalten? Ich behielte ihn aber lieber in einem Stück!« Doch er zügelte nun sein Pferd. »Was für ein närrischer Vogel zwitschert denn hier?« wunderte er sich laut. Roland drängte den Araber dicht an ihn heran und packte den Spielmann am Lanzenarm. »Laßt die Waffe fallen!« befahl er grob. »Oder Ihr seid des Todes!« Ohne ein Wort drückte Volker ihm die Lanze in die Hand. »Nun steigt ab!« Volker schwang gehorsam das rechte Bein nach hinten, um auf der linken Seite abzuspringen. Dabei packte er unerwartet Roland am Wams. Der Knappe, der in einer Hand das Schwert und in der anderen Volkers Lanze hielt, verlor sofort das Gleichgewicht und fiel
rücklings zu Boden. Er war so völlig überrumpelt, daß ihm beide Waffen aus den Händen rutschten. Im nächsten Augenblick kniete Volker schon auf seiner Brust, zückte einen Dolch und setzte ihm die Spitze an die Kehle. Das alles hatte nicht länger als vier Atemzüge gedauert. Roland sah in den mit weißen Wolken gesprenkelten Himmel und dachte: Das ist mein Ende. So also sieht der Abschied von der Erde aus. Er war ganz ruhig. Er hörte eine Hummel brummen. Es tat ihm nicht leid, die Welt verlassen zu müssen. Eine Welt voll Haß und Heimtücke! Immer noch hörte er die Hummel und dachte, daß ihr Brummen nun das letzte sei, was er je hören würde, und es war immer noch besser, als was er hatte mitansehen müssen. »Stoßt zu!« forderte er ruhig. Volker schüttelte lachend den Kopf, nahm den Dolch von Rolands Kehle und sprang federnd auf. »Wer wird denn so todessüchtig sein?« rief er verwundert. »Ich schenke Euch das Leben, junger Mann! Mit Gevatter Hein habe ich nicht viel im Sinn. Ich wollte Euch nur eine Lehre erteilen, die Euch in Zukunft zur Vorsicht mahnt.« Dabei reichte er ihm die Hand, stellte ihn aufrecht und machte sich bekannt. Dann fuhr er fort: »Ich reite auf des Königs Schloß Camelot! Und wie steht es mit Euch?« »Ich habe das gleiche Ziel. Erlaubt Ihr, daß ich Euch begleite? Denn ich kenne den Weg nicht.« Beschämt suchte er in Volkers freundlichem Gesicht nach Anzeichen des Ärgers. »Mein Name ist Roland. Verzeiht mir meinen Angriff! Ich war in trüber Stimmung und hätte jeden herausgefordert, der mir in die Quere kam.« Volker betrachtete ihn lange. Dann nahm er die Lanze vom Boden auf und sagte ruhig: »Ich habe immer gern einen Gefährten um mich, wenn ich auch einen Bruder Lustig allemal einem Trübsinnbläser vorziehe. Aber welche Laus Euch auch über die Leber gekrochen sein mag, Freund Trauerkloß, früher oder später werdet Ihr doch
wieder lächeln. Und wer weiß - vielleicht erlebe ich es noch. Also schließt Euch mir an!« Er sprang aufs Pferd und übernahm die Führung. Eine Weile ritten sie schweigend. Dann meinte Volker: »Nicht nur, daß Ihr ein Sauertopf seid, Roland, Ihr führt auch seltsame Rüstung. Seid mit einem Schwert gegürtet, das jedem Kenner in die Augen sticht - und tragt dazu einen jämmerlichen Helm, an dem wohl schon mehrere Generationen von Gegnern herumgehackt haben. Im Gegensatz dazu aber habt Ihr wiederum ein Pferd von erlesener Klasse. Sagt an, wie kommt ihr zu dieser ungleichen Zusammenstellung? Steckt vielleicht eine erzählenswerte Geschichte dahinter?« Roland preßte die Lippen aufeinander und sprach kein Wort. Der Spielmann drängte ihn nicht weiter. Er ritt seines Weges, nicht schnell, nicht langsam, bot den Körper wohlig der Sonne, wenn sie durch die Wolkenschichten brach, und zog das Wams enger um den Hals, wenn rauhe Lüfte wehten. Von Zeit zu Zeit aber erhob er seine Stimme und sang. Er besaß einen biegsamen Tenor, den die Zeitgenossen auf vielen Burgen rühmten. Leise begann er und ließ erst allmählich die Stimme voller dahinströmen, daß die Bauern auf den Feldern überrascht innehielten, dem Klang dieses reinen Organs lauschten und sehnsüchtig von Liebe träumten, ehe sie sich seufzend wieder der Arbeit zuwandten. Man sagte damals, Volker vom Hohentwiels Gesang könne das härteste und verstockteste Herz rühren und milde stimmen. Einmal wandte er den Kopf und sah zu Roland hin. Dessen Gesicht war abweisender denn je und wie aus Eis gehauen. * Drei Wochen vergingen. Da meldeten die Wächter auf den Zinnen des hochgemuten Schlosses Camelot am frühen Nachmittag die Ankunft zweier Ritter. Den einen erkannten sie auf der Stelle als den Spielmann vom
Hohentwiel. Sein Begleiter war ihnen fremd. Doch erwähnten sie in ihrer Meldung, daß er einen hochgezüchteten Araber ritt. Volkers Name flog wie ein Lauffeuer durch Camelot. Eilends wurde die Zugbrücke herabgelassen. Und als die Reisenden in den mosaikartig gepflasterten weiten Hof einritten, erwartete sie auf den Marmorstufen der Freitreppe schon eine ansehnliche Menge von Höflingen. Junge Damen in Gewändern von feinstem Zuschnitt und nach letzter Mode nickten Volker mit erwartungsvollem Lächeln zu. Von ihm erhofften sie sich Kurzweil und Kunstgenuß. Manche mochte auch an nähere Beziehungen denken. Volker stand in dem Ruf, auf seinen Reisen manch Frauenherz zu brechen. Von dem Glanz der Kostüme, von Größe und Schönheit der Bauten war Roland wie geblendet. So märchenhaft prachtvoll, so gewaltig hatte sich seine Fantasie das Schloß nicht erdenken können. Er konnte es kaum fassen, daß diese vielen Türme mit den geschmückten Zinnen und kraftvollen Bastionen von Menschenhand erbaut worden waren. In ungläubigem Staunen wanderten seine Augen über die Fassaden der verschiedenen Gebäude bis hinauf in schwindelerregende Höhen. Eine helle Jungenstimme rief ihn in die Wirklichkeit zurück. »Träumt Ihr, Ritter? Wollt Ihr nicht absteigen?« Er löste den Blick von den unbegreiflich kühnen Bauten, wandte den Kopf zur Erde und sah einen etwas pummeligen Pagen, der den schwarzen Araber hielt. Seine runden Knopfaugen waren auf ihn gerichtet. Mit federnder Bewegung sprang Roland auf das Steinmosaik des Hofes. »Bin kein Ritter«, sagte er abweisend. »Bin nur ein Knappe.« »Hast du dich in den Dienst des Hohentwielers begeben?« fragte der Page interessiert. »Da gratuliere ich dir! Bei ihm soll es lustig zugehen, und ein strenger Herr ist er bestimmt nicht.« Roland hörte gar nicht mehr hin. Auf der Freitreppe hatte sich eine breite Gasse gebildet, durch die ein würdiger Mann, ganz und gar in Goldbrokat gewandet und mit einer schweren Amtskette um den
Hals langsam herabstieg. Roland erschauerte, und sein Blick suchte unwillkürlich nach der Krone. Er meinte nichts anderes als daß es König Artus selber sei. Wer sonst konnte so kostbar gekleidet einherwandeln? Aber der vermeintliche König trug statt einer Krone nur ein goldfarbenes Barett. Ratsuchend wandte Roland sich an Pierre: »Wie spricht man den König an?« »Wieso willst du das jetzt wissen?« wunderte sich der pummlige Page. »König Artus ist doch gar nicht im Lande. Er sucht mal wieder nach dem Heiligen Gral. Ich glaube, es ist jetzt zum achtenmal. Ich habe schon eine Wette über fünf Dukaten abgeschlossen, daß er ihn wieder nicht findet.« »Wer ist denn der Herr in Gold, der gerade auf uns zuschreitet?« »Ach, der? Das ist unser Burgvogt. Heißt Bruno. Der hat auf Camelot das Kommando, solange der König auf Reisen ist. Wird immer als Treuhänder eingesetzt. Bruno macht die Sache ganz nett, meine ich. Ist mir bloß manchmal etwas zu pingelig. Kümmert sich um jeden Scheißkram. Mich hat er neulich im Stall erwischt, wie ich ein Nickerchen machte, statt das königliche Lederzeug zu putzen. Er hat aber kein großes Theater drum gemacht, der Bruno. Hat mir ein paar hinter die Löffel gegeben, und damit hatte sich's. Willst du etwas von ihm?« Aber da nahte schon ein Unterherold und bat die Neuankömmlinge zum Burgvogt. Seite an Seite schritten Volker und Roland die Stufen hinauf, während Pierre und ein anderer Page ihre Pferde wegführten. Mit wohlgesetzten Worten empfing Bruno den Sänger und lud ihn ein, solange er wolle, Gast auf Camelot zu sein. Volker erwiderte, er gedenke, etwa vierzehn Tage zu bleiben, hier ein Heldenlied zu dichten und gegen Ende des Besuchs ein Konzert für jedermann zu geben. Erfreut bedankte sich der Burgvogt. Die Ankündigung eines Konzerts rief lebhaften Beifall unter den Damen hervor. Volker wollte sich eben ein Gemach zuweisen lassen, als der Burgvogt ihn leise fragte: »Wer ist Euer Gefährte?«
»Ich traf ihn zufällig vor drei Wochen«, versetzte der Hohentwieler. »Wurde nicht schlau aus ihm. Er macht den Mund nicht auf. Weiß nur, daß er Roland heißt und nach Camelot wollte.« Bruno wandte sich nun Roland zu. Der aber wartete seine Anrede gar nicht ab. Fast einen Monat lang hatte er die Erinnerung an das grausige Geschehen auf der Heide wie einen Alpdruck mit sich herumgetragen. Nun brach sich die innere Erregung Bahn. Hastig, in kurzen, abgerissenen Sätzen berichtete er von Sigurds Tod. Bestürzung wurde bei den Zuhörern sichtbar. Mitleidige, forschende und skeptische Blicke trafen den Fremdling. Auf die meisten machte er einen günstigen Eindruck. Seine Jugend, sein gutes Aussehen, die klare, wenn auch jetzt gehetzte Sprache, die spürbare Bewegung und offenbare Zuneigung zu dem toten Herrn nahmen auf den ersten Blick für ihn ein. Bruno drückte das allgemeine Gefühl aus, als er entgegnete: »Wir sind tief erschüttert über das tragische Ende des tapferen Mannes, den König Artus mit weisem Beschluß zum Ritter der Tafelrunde erwählt hat. Du warst Augenzeuge des Geschehens. Sprich! Hast du die Mörder erkannt?« »Nein. Sie verbargen sich in schwarzen Rüstungen und hinter schwarzen Visieren. Der Morgen dämmerte erst, und ich mußte mich meiner Haut wehren, so daß ich sie mir nicht lange beschauen konnte. Nur ihre Gestalten prägten sich mir ein. Vielleicht würde ich sie daran wiedererkennen ...« »Sprich weiter, Roland! Sprich ohne Scheu!« »Schweig, Bursche!« donnerte in diesem Augenblick eine tiefe Stimme. Halb erschrocken, halb neugierig blickte Roland zu dem Sprecher auf, der ihm den Mund verbot. Irgendwo hatte er die Stimme schon einmal gehört... »Dieser Mann lügt!« fuhr der andere in eindringlichem Ton fort. »Niemals hätte ein Ritter die Mörderhand gegen Sigurd erhoben! Das sage ich, Lester, den Sigurd im Turnier mit einem einzigen Lanzenstoß vom Pferd gefegt hat. Was dieser junge Kerl behauptet,
ist so erbärmlich, daß es eine Meile gegen den Wind stinkt. Mit seinen niederträchtigen Lügen beleidigt er die ganze Ritterschaft!« Roland erschrak bis ins Mark. Er hatte ja keinen Zeugen! Und sein Wort galt nichts gegen das Wort eines Ritters. Was sollte er nur tun? Sein Blick flog zu Volker vom Hohentwiel. Gerade trat der Burgvogt auf den Sänger zu und fragte ihn leise: »Habt Ihr etwas bemerkt, das Lesters Anklage unterstützt? Wie verlief Euer erstes Zusammentreffen mit dem Verdächtigen?« Wieder kam Volker die Szene am Kreuzweg in Erinnerung. Ohne jeden Grund hatte Roland ihn dort angegriffen und gedroht, ihm das Leben zu nehmen. Einen Augenblick lang war Volker bereit, den Vorfall Bruno zu erzählen. Dann aber schwieg er lieber. Aufkommende Zweifel machten ihn unsicher. Denn ihm fiel ein, daß danach Roland drei Wochen lang sein Weggefährte gewesen war. Ein mißmutiger, übelgelaunter, verschlossener Gefährte zwar. Aber er hatte Fleisch und Brot und Salz mit ihm geteilt und keine feindliche Handlung mehr gezeigt. Dabei hätte er oft Gelegenheit gehabt, ihn im Schlaf zu ermorden. Er hatte es nicht getan. Und deshalb schwieg Volker jetzt. Lester erhob schon wieder grollend die Stimme. »Ich beschuldige diesen Mann, der einmal Knappe bei Sigurd war, seinen schlafenden Herrn überfallen und ermordet zu haben, um ihn zu berauben. Er trägt Sigurds Helm und Schwert - ich kenne sie genau! Und er reitet auch sein Pferd!« Diese Worte machten tiefen Eindruck auf die Zuhörer. Eben noch hatten die meisten Schloßbewohner den jungen Fremdling mit wohlwollendem Interesse oder Gleichgültigkeit angesehen. Jetzt wichen sie vor ihm wie vor einem Aussätzigen zurück. Rufe der Empörung wurden laut. Ratlos blickte Roland zu Boden. Wie sollte er sich verteidigen? »Was hast du zu erwidern, Unseliger?« Wie ein Peitschenhieb traf ihn die scharfe Frage des Burgvogts. Roland hob den Blick. Das Blut schoß ihm ins Gesicht. Die Ungeheuerlichkeit der Anklage verschlug ihm die Stimme. Die
Zunge versagte ihren Dienst. Dreimal setzte er an, bis er stammelnd herausbrachte: »Es ist... wie ... wie ich sagte.« »Und der Helm? Das Schwert? Der Araber?« »Sie gehörten Sigurd.« Ringsum ertönten Aufschreie des Zorns. »Aber er hat sie sterbend mir geschenkt.« Hohngelächter überflutete ihn. Niemand glaubte seiner Beteuerung. Wie sollte ihm auch jemand glauben? Nie schenkte jemals ein Ritter seinem Knappen die Rüstung! Was wußten denn diese Leute, wie sehr er Sigurd verehrt und daß Sigurd ihn wie einen Sohn geliebt hatte? Sogar Roland war sich plötzlich nicht mehr sicher. Sprach er denn die volle Wahrheit? Hatte er wirklich alles so erlebt? Oder fantasierte er? Aber nein! Er durfte nicht an sich selber irre werden. Hatte nicht Hildegard ihm aufgetragen, Sigurd nachzureiten und ihn vor dem falschen Herold zu retten? Der falsche Herold! Ihn durchschoß ein furchtbarer Gedanke. Da riß ihn die Stimme des Burgvogts Bruno aus seinen Überlegungen. »Unerhörte Frechheit! Ergreift den Frevler! Werft ihn ins Verlies!« Ein Dutzend starker Hände packte den erstarrten Knappen, entwaffnete ihn und zerrte ihn durch einen schmalen gemauerten Nebeneingang ins Schloß. Kühle Luft empfing ihn. Sie stießen ihn steinerne Stufen hinab. Unbarmherzige Fäuste führten ihn durch lange, muffige Gänge und wieder über zahlreiche abwärts führende glatte Stufen. Tiefer und tiefer hinab ging es. Modriger wurde die Luft, und die Dunkelheit wuchs. Da erwachten seine Lebensgeister. Er begann, sich zu sträuben. Doch die anderen paßten auf, und sie kannten schmerzhafte Griffe. Er schrie vor Schmerz und ließ sich weiterzerren, weiterschleppen. Eisentüren wurden geöffnet und schlössen sich wieder. Zuletzt stießen sie ihn heftig in einen runden Raum, daß er zu Boden fiel. Die Tür wurde hinter ihm zugeworfen.
Er raffte sich auf. Halbdunkel umgab ihn. Glatte, feucht schimmernde Wände. Er rannte zur Tür. Sie war ohne Griff. Mit den Fäusten hämmerte er dagegen. »Laßt mich hinaus!« schrie er, flehte er, schluchzte er. »Ich bin unschuldig!« Nur Schritte antworteten ihm. Schritte, die sich schnell entfernten. Verzweiflung überkam Roland. Schon oft hatte er Gruselgeschichten über Burgverliese mitangehört. Aber ihnen am flackernden Kaminfeuer zu lauschen, ist ein ander Ding, als den Schrecken dieses öden, tief unter der Erde liegenden kahlen Gefängnisses am eigenen Leibe zu erdulden. Eine Stunde wohl blieb Roland wie betäubt liegen. Er war keines Gedankens fähig. Dann fiel ihm Lester wieder ein. Er stellte sich den Mann vor, wie er mit wallendem schwarzem Vollbart aussähe. Genauso, wie Frau Hildegard ihn geschildert hatte. Und nun wußte Roland auch, wo er ihm zum erstenmal begegnet war. Damals im Wald bei Xanten. Und er selber hatte ihn arglos aus den Händen der Räuberbande befreit! Ja, es war dieselbe Stimme, die ihm damals mit so schneidender Kälte »gedankt« hatte. Er stand auf und machte sich daran, das finstere Gemach zu untersuchen. Seine Augen hatten sich inzwischen an das Dunkel gewöhnt. Nur aus der Höhe sickerte durch Risse im Gebälk spärliches Licht herein. Die Wand war kreisrund. Roland ging sie ab. 21 Schritte. Irgendwo lag eine verrottete Strohschütte, die ekelhaften Gestank verbreitete. Roland begriff. Hier mochten die Gefangenen ihre Notdurft verrichten. Soweit es ging, hielt er sich davon entfernt. Vergeblich betastete er die Wand vom Boden bis zu der Höhe, die er, auf Zehenspitzen stehend, mit den Fingern erreichen konnte. Nirgends fand sich eine Öffnung, eine Fuge oder nur eine nachgiebige Stelle. Allerdings war die Wand nicht völlig glatt. Hin und wieder trafen die forschenden Finger auf kleine Vertiefungen einige rund, andere kantig. Aber eine Möglichkeit zur Flucht fand sich nirgends.
Die Decke war so hoch wie sechs aufeinanderstehende Männer. Aber das Auge konnte außer den schmalen Lichtspalten dort oben nichts unterscheiden. Wenn es da einen Ausstieg gab, so war er doch unerreichbar. Nach Stunden wurde eine schmale Klappe in der Eisentür geöffnet. Hoffnungsvoll spähte Roland hinaus. Zu seiner Freude erblickte er das runde Gesicht des Pagen Pierre. »Mann, Mann«, sagte Pierre, »mit dir möchte ich nicht tauschen! Hier kommst du erst wieder raus, wenn es zum Galgen geht!« »Zum Galgen?« wiederholte Roland erbleichend. »Ja, wohin denn sonst? Wenn es nach Bruno und Lester ginge, würdest du morgen früh schon baumeln. Aber da legte sich der Spielmann mächtig für dich ins Zeug - weiß auch nicht, warum. Er forderte, man solle die Rückkehr des Königs abwarten. Artus soll selber das Urteil über dich fällen. Damit mußten sie sich zufriedengeben. Denn schließlich hast du Artus ja persönlich gekränkt, weil Sigurd praktisch schon zu seiner Tafelrunde gehörte. Mann, Mann, war es denn wirklich unbedingt notwendig, deinen Herrn abzumurksen?« »Aber das habe ich doch gar nicht getan!« rief Roland. »Auf den ersten Blick wirktest du so sympathisch auf mich«, fuhr Pierre fort, ohne auf den Einwurf zu achten. »Ich dachte wirklich, daß ich mich mit dir anfreunden könnte. Aber mit einem Mörder möchte ich nichts zu tun haben. Das mußt du verstehen! Außerdem kann es ja nicht mehr lange dauern, bis der König zurückkommt, und dann ... He, was sagtest du eben?« »Das ich unschuldig am Tode Sigurds bin«, sagte Roland tonlos. »Ich habe die drei Mörder gesehen. Es war alles so, wie ich es berichtete. Bin ja selber nur mit knapper Not ihren Streichen entgangen. Ich bitte dich, Pierre, von allen Menschen glaube wenigstens du mir!« Die kugelrunden Augen des Pagen musterten ihn. »Ich weiß nicht, was mir an dir gefällt«, sagte er sinnend. »Du machst mir den Eindruck einer ehrlichen Haut. Sei's drum, was die anderen denken!
Ich will dir vertrauen. Wir Pagen und Knappen müssen ja schließlich zusammenhalten. Ich gab' was drum, wenn ich dich befreien könnte. Natürlich, ohne daß man dahinterkommt, wer es war. Aber es gibt nur einen Schlüssel, der diese schwere Tür öffnet, und den hat unser Bruno. Du weißt ja, wie genau er ist. Es ist jetzt Abend. Man hat beschlossen, daß du morgen vormittag etwas zu essen bekommst. Ich werde versuchen, daß man mich dazu bestimmt, dein Essen zu bringen. Und jetzt muß ich gehen, bevor man mir auf die Sprünge kommt. Versuch, etwas zu schlafen. Wer schläft, fühlt weder Hunger noch Not. Leb wohl!« Die Klappe fiel herab. Kurz darauf überwältigte Roland die gesunde Natur. Übermüdet von dem langen Ritt und den Aufregungen dieses Tages schlief er auf dem harten Steinboden ein. Das letzte Geräusch, das er hörte, waren die tappenden Schritte und das schrille Fiepen von Ratten. Roland schlief sechzehn Stunden lang. Als er erwachte, war er nicht mehr allein. Blinzelnd erblickte er ein schmutziges junges Gesicht mit verschlagenen Augen und einer aufgestülpten breiten Nase. »He«, sagte eine freche Stimme, »bist du von den Toten auferstanden? Dachte schon, du bist hinüber. Habe mir deshalb erlaubt, dein Fressen mitzuverputzen. Willst du dich nicht bedanken? Für ein so verwöhntes Bürschlein wie dich wäre der Fraß sowieso ungenießbar gewesen.« Roland richtete sich langsam auf. Das Halunkengesicht vor ihm sah er nicht zum erstenmal. »Dich kenne ich doch«, sagte er bedächtig. »Allerdings sah ich dich meist nur von hinten. Zweimal ranntest du wie ein Hase vor mir davon.« »O ja, und mir ist, als spürte ich deine Schläge immer noch auf dem Buckel.« »Du bist einer der Räuber«, stellte Roland fest. »Sag lieber: Ich bin ein Räuber gewesen. Deshalb haben sie mich ja auch ins Verlies geworfen. Immerhin habe ich noch Glück gehabt.
Die meisten Kumpane wurden an verschiedenen Orten kurzerhand gehenkt. Nun, meine Räuberlaufbahn ist zu Ende. Ich habe sie mir angenehmer vorgestellt. Bei einem Hauptmann wie Louis mußte man ja parieren wie ein Soldat!« »Was wurde aus Louis?« »Hoffentlich hat man ihn gerädert, den Saukerl. Ich weiß es nicht. Verlor ihn völlig aus den Augen. Und nun kein Wort mehr vom verpfuschten Räuberleben, Kamerad, wenn du dich gut mit mir stellen willst - was ich dir rate. Denn ich werde hier nicht lange als Gefangener schmachten. Eigentlich bin ich zum Schweigen verpflichtet, denn es handelt sich um ein Staatsgeheimnis. Aber du armer Tropf kannst ja nichts mehr verraten. Also, damit du weißt, wie die Wolken ziehen: Ich stehe unter dem Schutz einer hochgestellten Persönlichkeit, die große Dinge mit mir im Sinne hat. In wenigen Tagen beginne ich eine neue Laufbahn in Samt und Seide - als Hofmann!« Roland hielt sich die Ohren zu. Der Kerl prahlte doch nur! Doch der ehemalige Räuber ereiferte sich immer mehr. »Merke dir meinen Namen, Verdammter der Erde! Ich heiße Onno. Ich und die hochgestellte Persönlichkeit, die ich erwähnte, werden dir womöglich einen letzten Wunsch erfüllen, wenn es uns beliebt. Ich könnte vielleicht dafür sorgen, daß du statt am rauhen Hanf mit einer seidengeflochtenen Schnur erhängt wirst, die sich dem Hals sanft anlegt und nicht scheuert.« Als Onno sah, daß Roland ihm nicht mehr zuhörte, zog er sich beleidigt zurück. Von Zeit zu Zeit stieß er eine Reihe kräftiger Flüche aus. »Daß es hier nichts zu trinken gibt«, murrte er verdrießlich, »ist wirklich schlimm. Du kannst gegen Louis vorbringen, was du willst, aber fürs Trinken hat er immer gesorgt. Wenn ich nur eine Kanne Wein hätte! Mann, würde ich mich vollaufen lassen!« Irgendwann im Laufe des Tages öffnete sich die Klappe, und Pierre schob Verpflegung durchs Loch. Für jeden eine dünne Brühsuppe mit Hirse, einen harten Kanten Brot und einen Becher
Wasser. Onno benutzte die Gelegenheit, um Pierre ein Angebot zu machen. »Bring mir Wein, Kamerad, soviel du tragen kannst! Ich verdurste sonst. Tu's - es wird deine Schaden nicht sein.« Pierre wollte ihm antworten, daß dies völlig unmöglich sei, als er einen Blick Rolands auffing. Der gefangene Knappe nickte ganz leicht mit dem Kopf und kniff ein Auge zu. Pierre stutzte. Dann schien er zu begreifen. »Ist gut, Onno, ich will es versuchen. Aber versprechen kann ich nichts. Natürlich ist es streng verboten, euch mit berauschenden Getränken zu versorgen ...« »Das Verbot gilt nicht für mich«, unterbrach Onno großspurig. »Eine hochgestellte Persönlichkeit, deren Name geheimbleiben muß, hält ihre schützende Hand über mich.« »Ich werde sehen, was sich machen läßt.« * Mit einem Seufzer griff Ginevra, die schöne Gemahlin des Königs Artus, zur kostbaren Bürste mit dem reichverzierten Elfenbeingriff. Beim Schein dreier schlanker Wachskerzen saß sie kurz vor Mitternacht in ihrem kostbar ausgestatteten Schlafgemach vor dem venezianischen Spiegel. Sie hatte das wundervolle blonde Haar gelöst, das Volker einmal in einem Lied als »schimmernde goldene Flut« besungen hatte. Und sie begann, es mit langen Strichen zu bürsten. Wieder seufzte sie. Die Sehnsucht nach Artus brannte in ihr. Für ein temperamentvolles junges Weib war eine so lange Abwesenheit des Ehemannes schwer zu ertragen. Sie wünschte nichts sehnlicher, als daß Artus endlich seine anstrengenden Reisen aufgebe und seine ganze Zeit auf Camelot verbrächte. Leise klopfte es an ihre Tür. Ginevra hielt inne und hob erstaunt den Kopf. »Wer ist da?« »Ich bin's, Bruno. Darf ich hereinkommen?« Nur einen Augenblick zögerte Ginevra. Aber dann drehte sie den
Silberknauf der Tür und ließ den späten Besucher ein. Sie mochte den Burgvogt gern, war mit seiner Schloßverwaltung höchlichst zufrieden und zudem für jede Gesellschaft dankbar. Bruno verneigte sich, ergriff ihre zierliche Hand und drückte mehrere brennende Küsse darauf. Dann erhielt er Erlaubnis, sich gegenüber der Königin auf einem Polster niederzulassen. Während er sie mit gierigen Augen verschlang, legte er ihr in mühsam beherrschten Ton wirtschaftliche Einzelheiten des Haushalts dar. Aber das war nur ein Vorwand für ihn. Ginevra seufzte. »Mein guter Bruno, hört doch mit den langweiligen Zahlen auf! Ich weiß auch ohnedies, was für ein treusorgender Burgvogt Ihr seid! Erzählt mir lieber etwas von dem hübschen Knappen, den ihr gestern ins Verlies warft! Ich sah ihn vom Söller aus. Er schien mir wohlgestaltet und imstande, einige unserer Hofdamen zu bezaubern. Ist er denn wirklich ein Mörder?« »Ritter Lester kann es beweisen, Königin. Der Mann soll sogar den verschwundenen Herold Reginhar auf dem Gewissen haben!« Und nun seufzte auch Bruno und warf ihr vielsagende Blicke zu. »Noch keine Nachricht von meinem Gemahl?« »Leider nein, schöne Ginevra«, log er geschmeidig. »Sie fragen ja täglich nach ihm!« »Könnt Ihr Euch nicht vorstellen, wie schwer es einer jungen Frau fällt, auf die Zärtlichkeit ihres geliebten Ehemannes zu verzichten?« »Ich verstehe Sie sehr gut, schönste Ginevra!« Und in Gedanken fügte er hinzu: Aber es braucht ja nur ein Wort von Ihnen, und ich bereite Ihnen solche Wonne, daß Sie Ihren König gar nicht mehr vermissen! Sie wandten einander die Köpfe zu, und ihre Blicke fanden sich. Bruno glaubte, in ihren Augen ein geheimes Einverständnis zu lesen. Seit langem verzehrte er sich in Begierde nach der schönen Gemahlin des Königs. Es war schwül im Gemach. Da fegte seine Leidenschaft alle Bedenken hinweg. Jäh streckte er
die Arme aus, legte sie um ihre Schultern und riß sie an sich. Dabei klopfte sein Herz so stark, daß er meinte, es müsse bis auf den Flur zu hören sein. Die Berührung des herrlichen Körpers ließ ihn alle Vorsicht vergessen. »Ginevra«, stöhnte der Mann, »ich bin verrückt nach dir. Ich muß dich haben!« Eines Herzschlags Länge schien es, als habe er ihr Blut so in Wallung gebracht, daß sie ihm nachgeben würde. Aber dann sprengte sie mit unerwarteter Kraft seine Umarmung, stieß ihn von sich und sprang auf. »Herr Burgvogt Bruno!« rief sie mit zornfunkelnden Augen, »wie konntet Ihr Euch so hinreißen lassen! Sieht so Eure Treue zu Eurem König aus? Und heißt das, die Königin zu verehren, wenn man sich ihr wie einer leichtfertigen Dirne naht?« Aus allen Träumen gerissen, blickte Bruno betroffen zu Boden und bat mit demütiger Stimme um Verzeihung. Doch er tat es so beredt, daß Ginevra schnell versöhnt war. »Laßt es gut sein«, unterbrach sie seinen Redefluß lächelnd. »Niemand soll je von Eurem Fehltritt erfahren. Und nun geht, lieber Bruno, und kühlt Euer heißes Blut bei den jungen Mädchen! Ich bin sicher, niemand wird Euch dort verwehren, was Euch die Königin nimmermehr gewähren darf!« Mit einer tiefen Verbeugung zog er sich zurück, und Ginevra sah nicht ohne Bedauern, wie sich die Tür hinter ihm schloß. Der Burgvogt schien bis ins innerste Mark zerknirscht. Doch kaum stand er draußen auf dem Gang, wo ihn niemand sah, da verwandelte sich seine Demut zu entschlossener Tatkraft. »Du wirst nicht mehr lange die unnahbare Stolze spielen«, flüsterte er leidenschaftlich, um sich dann selber zu beruhigen: »Hab Geduld, bald wird sie sich rückhaltslos in deine Arme werfen und dich mit ihren Küssen um eine Liebesnacht anflehen!« Leise begab sich der Burgvogt in einen anderen Teil des weitläufigen Palasts, wo Lester mit einigen Freunden beim Würfelspiel saß. Der Ritter schickte die anderen weg. Dann blickte er
sich scheu nach allen Seiten um und begann: »In zwei Tagen wird der König hier sein. Wie sind Eure Pläne, Bruno?« »Alles ist aufs Beste vorbereitet. Zweifellos wird Artus noch am Tag seiner Rückkehr die wichtigsten Staatsgeschäfte erledigen. Dazu gehört die Hinrichtung Rolands.« Lester schnalzte mit der Zunge. »Wie ich diesen Augenblick herbeisehne! Schon mehrmals hat mir dieser junge Hüpfer einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich hasse ihn wie die Pest!« »Verlaßt Euch darauf, Lester. Er wird baumeln - vor Euren Augen.« »Das ist nicht mehr als recht und billig. Ich hab' mein Wort dafür verwandt, daß mein Freund Galahad Ritter der Tafelrunde wird. Immer, wenn ich glaubte, es geschafft zu haben, hat Roland es vereitelt.« Der Burgvogt nickte verständnisvoll und schenkte sich und Lester die Gläser voll Wein. »Galahad in der Tafelrunde - ein erstrebenswertes Ziel. Doch vielleicht sollte es nur der Anfang zu weit Höherem sein. Hört mir zu, Lester! Ich weihe Euch jetzt in ein Geheimnis von höchster Tragweite ein. Ihr müßt es den schwarzen Rittern, die in der Nähe von Camelot im verborgenen lagern, weitersagen. Ich zähle auf Euch.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, trank einen Schluck und sagte dann leise und mit kaltem Bedacht: »Es wird einen Staatsstreich geben!« Lester verschluckte sich vor Überraschung fast am Wein. Erstaunt setzte er den Becher ab. »Wie das?« Noch einmal nippte Bruno am Wein. Langsam setzte er das Glas auf den Tisch, faßte den anderen scharf ins Auge und antwortete, wobei er jedes Wort betonte: »Weil Artus die Nacht nicht überleben wird!« Lester zuckte zusammen. »Unmöglich ist das, was Ihr sagt«, widersprach er geduckt. »Ich kenne den König. Zwar wird er nach der anstrengenden Reise bald in einen totenähnlichen Schlaf fallen, aber niemand glaube, ihn überraschen zu können. Er wird wohlbehütet sein. Tag und Nacht wacht die Schar seiner Getreuen
über sein Wohl. Niemand kommt an ihn heran. Ja, Ihr könntet ihn nicht einmal vergiften. Alles was er zu sich nimmt, Speise oder Trank, wird gewissenhaft vorgekostet. Er ist unangreifbar. Ja, selbst wenn es einem gelänge, Artus das Leben zu nehmen, würde er sich seiner Tat nicht lange erfreuen können. Die Wut des Volkes, das diesen König aus tiefstem Herzen verehrt, würde ihn auf der Stelle in Stücke reißen.« »Das alles ist mir bekannt, und ich hab' es bedacht«, gab der Burgvogt zurück. »Hört nun meinen Plan! Es gibt einen geheimen Gang, von dem niemand außer mir weiß. Er führt in des Königs Schlafgemach. Erst vor wenigen Wochen entdeckte ich diesen Gang bei einer meiner Inspektionen. Ich fand einen Schlüssel, der zu keiner der 1000 Türen der Burg paßte. Da schaute ich in den alten Bauplänen nach.« »Und wo beginnt dieser Geheimgang?« »Das soll Eure Sorge nicht sein, Lester«, erwiderte Bruno mit einschüchternder Schärfe. »Euch genüge es zu erfahren, daß ich einen jungen, verworfenen Burschen gedungen habe, der bereit ist, sich zur rechten Zeit in Artus' Gemach zu schleichen und ihn meuchlings mit einem Dolch umzubringen.« Mit angehaltenem Atem hatte Lester gelauscht. »Und was geschieht dann?« »Nach vollbrachter Tat wird der Meuchelmörder die Haupttür des Gemaches von innen öffnen. Wir werden den verfluchten Kerl mit blutbefleckter Waffe bei dem Toten finden und ihn in der ersten Wut niedermetzeln, ohne ihn erst peinlich zu befragen. Schon geselle ich mich dazu, beklage das Schicksal des Königs und setze mich an die Spitze der Männer, die ich sorgsam auswählte.« »Ich begreife Euren weitsichtigen Plan!« »Bedenken muß ich bei allem, daß es in dieser Burg an die dreißig Herren gibt, die mir feindlich gesinnt. Steht mir bei, Lester! Wir holen jeden einzeln aus dem Bett und töten ihn, bevor er ein Wort sagen kann. Dann rechne ich auf die Hilfe der drei schwarzen Ritter.«
»Die schwarzen Ritter - was verlangt, was erwartet Ihr von ihnen?« Auf diese Frage war Burgvogt Bruno seit langem vorbereitet. »Die drei schwarzen Ritter«, sprach er, »sollen mich zum neuen König wählen. Wenn sie es mit gebührendem Nachdruck tun, werden die Getreuen ihnen jubelnd zustimmen.« »Trefflich, Bruno«, rief Lester. »Verlaßt Euch auf mich! Ihr werdet alles so vorbereitet finden, wie Ihr es erwartet.« Bruno neigte zustimmend das Haupt. »Ich habe mich nicht in Euch getäuscht«, schloß er die Unterredung. »Zum Dank verrate ich Euch, was meine erste Handlung als König sein wird. Ich werde Galahad zum Ritter der Tafelrunde machen!« Er sah Lester tief in die Augen. »Und Euch dazu!« Lester dankte ihm. Er war überwältigt. Wenig später trennten sie sich. Lester pochte das Herz. Doch Bruno dachte schon an die zweite Amtshandlung, die er als neuer König vornehmen würde: die schöne Ginevra in sein Bett zu holen. * Endlich lag Schloß Camelot in tiefem Schlaf. Allein die Wächter auf den Zinnen hielten die Augen offen. Sie spähten von ihrem luftigen Standort in die Nacht hinaus, die ein blasser Halbmond und die Sterne nur wenig aufhellten. So aufmerksam waren sie bei ihrem Ehrendienst, daß sich kein Feind der bestbewachten Feste des Landes unbeobachtet hätte nähern können. Wenig ahnten die Späher auf den Zinnen, daß es tief unter ihren Füßen, im tiefsten Schoß der Burg, noch hoch herging. Denn dem Pagen Pierre war es tatsächlich gelungen, Wein ins Verlies zu schmuggeln. Eine Kanne hätte nie durch die schmale Klappe gepaßt, die die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellte. Deshalb reichte er einen Schlauch aus Ziegenhaut hinein, der mit starkem Wein gefüllt war. Beileibe nicht, weil Onno ihn darum gebeten hatte. Nur Rolands
heimlicher Wink hatte ihn dazu getrieben. Unverfroren versprach ihm der ehemalige Räuber Onno: »Es wird dein Schaden nicht sein, Kamerad!« Dann machte er sich, ohne weitere Zeit zu versäumen, energisch ans Saufen, das er über alles liebte. Zunächst füllte Onno sich jeweils einen Becher ab, den er sich ohne Zögern zu Gemüte führte. Das wiederholte er in immer schnellerer Folge. Anstandshalber lud er auch Roland zu dem leckeren Tropfen ein. Zu seiner Erleichterung begnügte der Knappe sich mit dem Inhalt eines einzigen Bechers. Unter dem Einfluß des Weins hob sich Onnos Stimmung beträchtlich. Seine ohnehin lockere Zunge wurde rasch freier. Er schwatzte hemmungslos über Gott und die Welt. Roland hörte ihm aufmerksam zu. Hin und wieder warf er ein belangloses Wort ein. In Wirklichkeit wartete er ja nur darauf, daß Onno auf ein bestimmtes Thema zu sprechen kam. Bald fand Onno das Verfahren des ständigen Umfüllens zu umständlich und zeitraubend. Er legte sich das Wams unter den Kopf und streckte sich auf dem Boden aus. Den Ziegenhautschlauch mit dem Wein hielt er liebevoll im Arm. Sowie er Verlangen spürte, was alle Naselang der Fall war, führte er die Öffnung an den Mund und tat einen tiefen Schluck. Meist hielt Onno die Augen jetzt geschlossen. Zuweilen schlief er sogar für kurze Zeit ein. Die Gegenwart Rolands hatte er bereits völlig vergessen. Zwischen den großen Schlucken aus dem Schlauch führte er nach Art der Betrunkenen ein Selbstgespräch. Und Roland spitzte die Ohren. Und es kam, wie er gehofft hatte. Im Rausch plauderte Onno eine Menge dessen aus, was er als strenges Geheimnis für sich hatte bewahren wollen. So erfuhr Roland, daß es außer der schwerverriegelten Eisentür einen zweiten, verborgenen Ausgang gab, der nur mit einem besonderen Schlüssel zu öffnen war. Dieser Schlüssel werde ihm, Onno, »zur rechten Zeit«, eingebettet in ein Stück Brot, überbracht
werden. »Elf Fuß nach rechts«, murmelte der Berauschte. Heimlich maß Roland die elf Fuß nach rechts ab. Er ging dabei von der Eisentür aus. Und genau in diesem Abstand fand sich eine der kantigen Vertiefungen, die ihm bereits vor Tagen aufgefallen waren. Es war gut vorzustellen, daß hier ein eigens dafür gearbeiteter Schlüssel Wunderdinge vollbringen könnte. Im Rausch eröffnete Onno weitere Geheimnisse. »Durch die Tür«, sagte er mit geschlossenen Augen, »schleiche ich den geheimen Gang entlang. Er führt in ein bestimmtes Gemach. Unterwegs liegt ein scharfgeschliffener Dolch. Ich hebe ihn auf... Heb ihn auf...« Seine Stimme wurde undeutlich. Roland hielt den Atem an. Onno plärrte nur noch. Dann vernahm man wieder einzelne Worte. Dann ganze Sätze. »Ich nehme den Dolch ... be ... betrete das Gema ... mach ... und stoße dem Sch ... schläfer den Do ... dolch ins Herz.« All dies, so erfuhr Roland, sollte im Dienst jener hochgestellten Persönlichkeit geschehen, die Onno dafür eine Laufbahn in Samt und Seide versprochen hatte. Wer diese hochgestellte Persönlichkeit war, das plauderte Onno auch im stärksten Rausch nicht aus. Und die Person, die er töten wollte? Deren Namen konnte er gar nicht nennen, weil er ihn selber nicht kannte. Spät in der Nacht schlief Onno schnarchend ein. Er schlief bis weit in den folgenden Tag. Da wurde er mit einem Ruck wach und wirkte wie schuldbewußt. Argwöhnisch betrachtete er Roland und fragte: »Hab' ich im Rausch gesprochen?« »Viel zuviel«, erwiderte Roland betont gleichgültig. Erschrocken fuhr Onno auf. »Was hab' ich gesagt?« »Langweiliges Zeug, und immer dasselbe ...« »Ja, aber was?« »Daß dir das Räuberleben nicht benagt.« Erleichtert ließ Onno sich zurücksinken. Seine verschlagenen Augen blinzelten zufrieden. »Na, wenn das alles ist - soviel darfst du ruhig wissen.«
* Zwei Tage später wurde Pierre um fünf Dukaten reicher. Er hatte seine Wette gewonnen. König Artus kehrte zurück - und er hatte den Heiligen Gral wieder nicht gefunden. Die Trompeten, die den Helden am heißen Vormittag mit schmetterndem Klang begrüßten, drangen nicht bis in das trostlose Verlies hinab. So schlug Rolands Herz auch nicht schneller, wurde ihm nicht banger, als der König mit mächtiger Richterstimme über sein Schicksal entschied. Gleich nach der Begrüßung, nach dem freudigen Empfang durch 300 Schloßbewohner, hatte Artus nach Ritter Sigurd gefragt. »Ist er endlich eingetroffen? Mich verlangt es danach, den mannhaften Ritter vom Westerwald inmitten meiner Tafelrunde zu begrüßen.« Mit ernstem Gesicht erstattete Bruno Bericht. Als der König erfuhr, daß Sigurd durch Meuchelmord fiel, wurde er totenblaß. Schmerz und Mitleid überwältigten ihn. Lester erschien auf Zuruf und wiederholte seine Zeugenaussage. »An den Galgen mit Roland!« donnerte der König. Selten hatte ihn jemand so voller Zorn gesehen. »Wollen Sie den Mörder noch vorher sehen?« fragte scheinheilig der Burgvogt. »Er soll mir nie unter die Augen treten! Leicht geschähe es, daß ich mich nicht beherrschte und ihn mit eigener Hand erwürgte! Errichtet den Galgen! Bei Sonnenuntergang soll er sterben!« Ein Page wurde ins Verlies geschickt, um Roland zu unterrichten. Es war nicht mehr Pierre. Den hatte man abgelöst. Er schwitzte in der Rüstkammer. Kaum hatte Artus die schrecklichen Worte ausgesprochen, als sich der Himmel verfinsterte. Die dunklen Wolken, die seit Mittag wie sprungbereite Raubtiere am Horizont auf der Lauer gelegen hatten, krochen unaufhaltsam über den ganzen Himmel. Von fern zuckten Blitze, denen in immer kürzerem Abstand rollender Donner folgte.
Schon drei Stunden vor Sonnenuntergang war es rings um das Schloß so dunkel wie sonst in tiefer Nacht. Das Unwetter entlud sich mit voller Kraft. Wie Ozeanbrecher stürzten Wasserfluten vom Himmel auf die Mauern herab. Die Männer, die das Holzgerüst der Hinrichtungsstätte errichteten, mußten in voller Hast fliehen. Sie retteten sich unter den Burgerker. Minuten später wären sie hinweggeschwemmt worden. Von mehreren Seiten zogen die Gewitter heran. Regen prasselte und ließ nicht nach. Ein Unwetter tobte und schien jedes Menschen Feind. Doch es gewährte Roland vierundzwanzig Stunden Frist. * Als Roland erfuhr, daß seine Hinrichtung bevorstand, pochte sein Herz kein bißchen schneller. Eine innere Ruhe hatte ihn erfaßt. Sein Entschluß stand fest. Er würde sich nicht geduldig zum Galgen führen lassen, sondern bis zum letzten Atemzug kämpfen. Vielleicht bot sich für einen zu allem entschlossenen Mann die Gelegenheit zur Flucht. Seine Gedanken gingen zu dem frommen Einsiedler Klaus. Hatte der ihm nicht ein Heldenleben prophezeit? Er glaubte diesem Weisen nur zu gern. Ein Heldenleben aber kann nicht im Alter von achtzehn Jahren durch einen Strick um den Hals beendet werden. Natürlich hatte er keine Ahnung, wie er seine Flucht bewerkstelligen könnte. Er mußte sich vom Einfall des Augenblicks leiten lassen. So lag Roland da und wartete, daß sie ihn holten. Sogar Onno enthielt sich jetzt jeder spöttischen Bemerkung. Der ehemalige Räuber bewahrte Schweigen. Die Zeit verstrich, nichts geschah. Die Kunde von dem Unwetter drang nicht bis in ihr schmutziges Verlies. So vergingen Stunden. Die Lichtstrahlen, die durch Ritzen in der hohen Decke hereinfielen, wurden schwächer und schwächer. Der
Abend brach herein, und Roland erkannte, daß etwas dazwischengekommen sein mußte. Plötzlich gedämpfte Schritte! Rolands Nerven spannten sich. Doch es sind nicht die Henkersknechte, sondern ein Page, der ihnen die magere Abendkost bringt. Er öffnet die Klappe, schiebt Suppe, Brot und Wasser durch und geht ohne ein Wort. Im Halbdunkel greift Roland nach seiner Portion und stößt auf Onnos Hand. »Das ist meins«, zischt der frühere Räuber und reißt dem Knappen einen flachen, runden Brotlaib aus der Hand. Noch nie zuvor hat sich Onno so heißhungrig gezeigt. Da muß ein anderer Grund vorliegen. Wahrscheinlich ist in dem Laib der Schlüssel verborgen, der Onno den Weg aus dem Verlies ermöglichen soll. Ganz genau erinnert sich Roland dessen, was Onno im Rausch ausgeplaudert hat. Während Roland die dünne Suppe löffelt, belauert er heimlich den anderen. Er hört, wie er den Brotlaib auseinanderbricht. Und wie er scharf den Atem einzieht. Da ist ihm klar: Er hat jetzt den Schlüssel! Aber Roland läßt sich nichts anmerken. Ruhig wie sonst ißt und trinkt er. Dann streckt er sich auf dem Boden aus und bemerkt: »Mit der Hinrichtung wird's wohl heute nichts mehr. Dann kann ich auch ebensogut schlafen. Bin müde wie ein Hund. Das macht die verbrauchte Luft hier drin.« Kurze Zeit später hört Onno regelmäßige Atemzüge, die ihn glauben machen, Roland sei eingeschlafen ... In Wirklichkeit ist Roland hellwach. Wohl eine Stunde vergeht, ehe Onno sich bewegt. Der Schützling »einer hochgestellten Persönlichkeit« schleicht mit angehaltenem Atem näher heran. Mit feinem Ohr errät Roland genau seine Richtung und Entfernung. Jetzt hält Onno inne. Noch zwei Körperlängen trennen ihn von Roland. Stille ... Nach einer Weile schabt wieder Stoff über Stein. Onno kriecht
näher heran. Ganz langsam macht er das und ziemlich geschickt. Nun kniet er neben Roland nieder und verharrt so lange Zeit. Sein Mißtrauen ist riesengroß. Doch Roland verrät durch nichts, daß er wach ist. Schließlich ist Onno beruhigt. Er erhebt sich und gleitet davon. Von der Tür mißt er die angegebene Fußzahl ab. Jetzt ist er nicht mehr so ängstlich darauf bedacht, auch das geringste Geräusch zu vermeiden. Roland hört sogar, wie Onno flüsternd zählt: »... acht, neun ...« Bei elf ist Roland hoch und schleicht auf Zehenspitzen näher. Da bleibt Onno stehen. Auch Roland erstarrt in der Bewegung. Er hört, wie Onno mit den Fingern über die Steinmauer fühlt, wie er den Schlüssel probierend in ein, zwei, drei Vertiefungen steckt... Ein unterdrückter Fluch. Ein leiser ärgerlicher Ruf der Ungeduld. Und dann ein überraschtes, freudiges »Ah!« Jetzt dreht Onno den Schlüssel herum - einmal, zweimal. Ein Knirschen verrät, daß die Wand sich auftut. Onno hat die Geheimtür geöffnet und gleitet hinaus in den Gang. Roland folgt ihm in der völligen Finsternis. Er bleibt ihm dicht auf den Fersen. Der Gang ist schmal und glitschig. Auf beiden Seiten stößt man mit den Ellbogen an. Allmählich wird er auch nach oben enger. Schon nach zehn Schritten muß der hochgewachsene Roland sich bücken. Über dem Geräusch der eigenen Tritte überhört Onno die des Verfolgers. Nun macht der Gang mehrere Knicke. Dreimal geht es scharf nach rechts. Danach steigt es steil an. Onno keucht schon. Er ist keine Anstrengungen mehr gewöhnt. Ob er den scharfgeschliffenen Dolch schon gefunden hat? Wahrscheinlich lag er gleich am Anfang des verborgenen Wegs. Die Decke senkt sich mehr und mehr. Die Luft wird stickig. Sie kommen nur noch auf allen vieren kriechend weiter. Roland verhält ein wenig. Er möchte vermeiden, im Dunkeln Onno zu nahe zu kommen und ihn vielleicht zu berühren. Bis jetzt hat der andere ihn nicht bemerkt.
Und wieder geht es rechts um die Ecke. Dahinter schimmert Licht! Der Gang ist zu Ende. Im viereckigen Rahmen einer geöffneten Tür steht Onno. Kerzenlicht beleuchtet seine magere Gestalt. Er hebt die rechte Hand. Im Licht blitzt die Schneide des Dolches. So tritt er ins Zimmer. Mit einem Ruck schnellt Roland empor und jagt hinter Onno her. Als er die Tür erreicht, steht Onno bereits am Kopfende einer prächtig ausgestatteten Schlafstätte. Die Spitze seines Dolchs hängt weniger als eine Elle über dem bärtigen Haupt eines schlafenden Mannes. Ein Blick sagt Roland: Das muß der König selber sein! Welche Würde von ihm ausgeht! Gedankenschnell überwindet Roland die Entfernung zum Bett mit zwei Sätzen, packt Onnos erhobene Hand und entwindet ihm den Dolch. Doch Onno gibt nicht auf. Er wehrt sich heftig. »Du gemeiner Hund!« stößt er hervor. Und tritt mit den Füßen gegen Rolands Schienbeine. Der Lärm reißt Artus aus dem Schlaf. Verwundert sieht er, wie zwei verwahrloste, stoppelbärtige junge Männer neben seinem Bett ringen. Er richtet sich auf. »Was geht hier vor?« In diesem Augenblick hat Roland seinen Gegner mit einem Faustschlag betäubt. Er kniet vor dem König nieder und überreicht ihm die Mordwaffe. In fliegenden Sätzen erklärt er dem erstaunten Artus, was er von dem gescheiterten Mordanschlag weiß. Als er die hochgestellte Persönlichkeit erwähnt, von der Onno faselte, geht ein Zucken des Verständnisses über des Königs ernstes Antlitz. »Ich ahne, wer dieser Verräter sein kann!« ruft er. »Schon lange hatte ich ihn im Verdacht, daß er ein falsches Spiel betreibt.« Der König hat noch nicht ausgesprochen, als wilde Faustschläge gegen den Haupteingang seines Schlafgemachs donnern. Artus wirft Roland einen schnellen Blick zu. »Nun ist alles klar«, sagt er. »Dieser Meuchelmörder sollte mich erstechen, dann den Verrätern die Tür öffnen und sie einlassen. Vermutlich hätten sie ihn schonungslos niedergemetzelt, um vor allem Volk verkünden zu
können, sie hätten ihn auf der Stelle für seine Freveltat büßen lassen. Niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, sie der Urheberschaft am Königsmord zu verdächtigen. Auf, junger Mann, hier ist eine Hellebarde! öffnen wir die Tür, und wehren wir uns unserer Haut. Sie sollen sehen, welche Streiche ein König auszuführen weiß!« Die Tür fliegt auf. Lester erscheint in ihrem Rahmen. Hinter ihm wogt es im Flur von Bewaffneten. Zehn Ritter mögen es sein, die dem Ränkeschmied Lester folgen. Er hat von Bruno die Erlaubnis erwirkt, selber die Männer anzuführen, die er erwählt: Feinde des Königs! Aber es fehlen die drei »schwarzen Ritter«, die sich in der Nähe verborgen hielten. Das Unwetter hat ihnen den Weg zum Schloß verlegt. Auf der Schwelle bleibt Lester wie angewurzelt stehen. Denn sein Blick ist auf Roland geprallt, der ihm mit gefällter Hellebarde ruhig erwartet. Lester reibt sich verwirrt die Augen. Narrt ihn ein Spuk? Wo kommt der Knappe her? Er müßte doch im finsteren Verlies eingeschlossen sein! Und dann dämmert ihm eine Ahnung auf. Er faßt das breite Kurzschwert fester, das er für den Kampf in den Gemächern gewählt hat, und tritt entschlossen auf Roland zu. Da schlägt die helle Stimme des Knappen wie eine Peitsche über die Köpfe der Verschwörer hinweg. »Zurück, ihr Verräter! Keinen Schritt weiter! Eure Sache ist verloren! Der König lebt - und der gedungene Meuchler liegt am Boden!« »Hört nicht auf ihn!« erwidert Lester mit vor Erregung heiserer Stimme. »Nieder mit dem Schurken, der Sigurd tückisch das Leben nahm!« Und nun greift er an! Lester begegnet seinem Schicksal. Hier wird sein Ränkespiel enden, das vor Wochen begann, als er im Wald bei Xanten des Königs Herold Reginhar feige erstach. Mit dem Königsmord will er es enden, will er es krönen. Die böse Leidenschaft läßt ihn jede Vorsicht vergessen.
Blind läuft Lester in Rolands schnell erhobene Hellebarde. Der scharfe Spieß dringt tief durch seine Brust, und Lester bricht vor Rolands Füßen zusammen. Das Schicksal hat ihn ereilt. Doch gleich darauf wird die Lage von König und Knappe beängstigend. Roland kann den ungefügen Spieß zu keinem zweiten Stoß mehr verwenden. Artus begibt sich an seine Seite. Er schwenkt den Dolch, den er Onno entrissen hat. Eine scharfgeschliffene Klinge weist er auf, ist aber im Zweikampf hoffnungslos jedem Schwert unterlegen. Über die Leiche Lesters dringen die ersten der aufrührerischen Ritter in das königliche Schlafgemach. Im Kerzenschein blitzen ihre Schwerter. Doch Artus ist ein geschickter Kämpfer. Auch mit dem Dolch gelingt es ihm, die Schläge der ersten beiden Angreifer zu parieren. Blitzschnell handhabt er die Klinge, die wie eine Schlange züngelt. Denn Artus hat in seiner Jugend bei den besten Waffenlehrern des Landes gelernt und nichts von seinem großen Können eingebüßt. Da kommt ein dritter Mann ins Zimmer, schafft sich Raum und läßt sein Schwert tanzen. Der König gerät in Bedrängnis. Verzweifelt schaut sich Roland nach einer Waffe um, mit der er dem König beistehen kann. Nur die jetzt nutzlose Hellebarde schmückte das Gemach. Da fällt sein Blick auf einen Schachtisch mit kostbarer Marmorplatte. Er packt sie an und muß alle Kraft zusammennehmen, um das schwere Möbelstück vom Boden zu heben. Dann wirft er den anstürmenden Rittern die wuchtige Platte entgegen. Schmerz- und Wutschreie sind die Antwort! Die gewichtige Marmorplatte reißt die Ritter unwiderstehlich zu Boden. Dort verwickeln sie sich in Teppichen, der heruntergefallenen Bettdecke und in ihren eigenen Waffen. Sie behindern sich gegenseitig. Der König sieht seinen Vorteil und zückt drohend den geschliffenen Dolch. Der Lärm des Kampfes ist auch in die anderen Räume des Schlosses gedrungen. Noch schlaftrunken erheben sich die Getreuen
des Königs von ihren Lagern, greifen zu den Waffen und dringen im Morgengrauen über Treppen und Gänge unter Führung des Spielmanns Volker zum Kampfplatz vor. Schon geraten die Aufrührer in Not. Von zwei Seiten werden sie eingekeilt und hart bedrängt. Zwei von ihnen sinken schwerverwundet zu Boden. Die übrigen ergeben sich rasch. Sie werden entwaffnet und mit unsanfter Hand gefesselt. Der König packt einen der unverletzten Rebellen am Wams, stellt ihn mit einem Ruck auf die Beine und fragt mit schneidender Stimme: »Wer hat Euch zum Verrat angestiftet?« Zitternd antwortet der Mann: »Gnade, Herr! Ich glaubte, es ginge um eine gerechte Sache! Der Burgvogt hat uns die Hirne umnebelt!« Der Burgvogt also! Des Königs Verdacht hat sich bestätigt. Aber der Rädelsführer, der sich nach dem Tod des Königs an seine Stelle setzen wollte, hat sich vorsichtigerweise nicht am Angriff beteiligt. Wo mag er sein? »Sucht ihn!« befiehlt Artus. »Sucht Bruno!« Da ertönt von draußen ein neuer Schreckensschrei. Die Herren stürzen hinaus zum Altan. Und wie sie aufsehen, erblicken sie im Grau des frühen Morgens das Grauen. Der Burgvogt ist zu den Zinnen des Schlosses hinaufgeklettert. Dabei hat er Ginevra, die Gemahlin des Königs, mit Gewalt mit sich geschleppt. Die beiden stehen am äußersten Rand der Zinne. Der Mann hält die zitternde, leichtgewandete Frau mit den Händen brutal an den Schultern fest. Und er ruft nach unten: »Ich verlange freies Geleit bis an die Grenzen des Landes - sonst stürze ich Ginevra in die Tiefe!« Tatsächlich würde ein einziger Stoß genügen, um Ginevra wohl achtzig Klafter tief hinab in den Burggraben zu befördern. Von Schreck gebannt, stehen der König und seine Getreuen hilflos. Was tun? Zwei Bogenschützen tauchen wie lautlose Gespenster auf, knien nieder und spannen ihre weithin tragenden Waffen. Doch Volker verwehrt es ihnen. »Seid Ihr des Teufel?«, ruft er. »Hinweg mit den Pfeilen! Ihr könntet die Königin töten!«
Das Wagnis ist im Ungewissen Licht wirklich zu groß. Selbst Roland würde sich hier keinen sicheren Schuß zutrauen. Mit brennenden Augen starrt der König zu der Zinne hinüber. Er hört von fern das leise Schluchzen seiner Frau. Es schneidet ihm tief ins Herz. Er weiß, daß er sofort etwas unternehmen muß. Doch schon hat Volker, der Fiedler, das Kommando übernommen. »Macht keinen Unsinn, Bruno!« ruft er hinüber. »Wenn Ihr Ginevra das mindeste Leid antut, seid Ihr unrettbar verloren! Dann überlassen wir Euch dem Zorn des Volkes, und Ihr sterbt einen schrecklichen Tod!« »Ehe mir jemand nahekommt«, schreit Bruno zurück, »stürze ich mich in mein eigenes Schwert. Aber vorher stirbt Ginevra!« Der Mann ist zum Äußersten entschlossen, das steht außer Zweifel. Entsetzt schüttelt Volker den Kopf. Der König berät flüsternd mit seinen Getreuen. Wer weiß einen Rat? Die meisten sind der Ansicht, man müsse wohl oder übel auf Brunos Forderung eingehen. Soll er jetzt ungeschoren davonkommen! Früher oder später wird das Schicksal den feigen Verräter doch ereilen. »König Artus«, drängt Brunos Stimme. »Hören Sie mich? Entscheiden Sie sich! Ich warte nicht mehr lange!« Unbemerkt von allen hat Roland mit einer waghalsigen Kletterpartie indessen die nächsthöhere Zinne erklommen. Jetzt steht er genau über Bruno. Einige haben ihn entdeckt und recken gespannt die Köpfe. Mit einem mächtigen Sprung schwingt sich Roland aus dem sicheren Stand und läßt sich von oben auf den Burgvogt fallen. Im ersten Schreck lockert der Burgvogt seinen eisernen Griff um die schöne Ginevra. Sie reißt sich geistesgegenwärtig los und flieht zur Seite. Aber schon hat sich Bruno wieder gefaßt. Mit der Kraft eines Bären schlingt er die Arme um den kühnen Angreifer und bringt ihn nach heftiger Gegenwehr zu Fall. Mit dem Oberkörper hängt Roland über dem Abgrund.
»Stirb, du Kröte!« schreit Bruno blaß vor Erregung und will ihm den Todesstoß versetzen. Aber Roland gibt sich nicht verloren. Gewandt wirft er sich nach vorn, vom Abgrund weg, windet sich aus dem Griff des anderen und gewinnt wieder festen Stand. Bruno will nachsetzen. Doch sein eigener Schwung trägt ihn zu weit, da Roland ausweicht. Mit dem Fuß bleibt er am Eckstein der Zinne hängen, verliert das Gleichgewicht, schlägt mit den Armen wild um sich ... ... und stürzt mit einem gräßlichen Schrei achtzig Klafter tief in den Burggraben, wo er mit zerschmetterten Gliedern liegenbleibt. So findet er das Ende, das er Ginevra angedroht hat. * König Artus hält seine Gemahlin im Arm. Sie weint. Die Tränen strömen ihr nur so über das liebliche Antlitz. Aber es sind die Freudentränen der Befreiung. Artus läßt Ginevra los. Einer der Ritter gehorcht seinem gebieterischen Wink und überreicht ihm ein Schwert. Ein neuer Wink des Königs - und Roland tritt vor. Er kniet nieder. Immer noch ist er ungewaschen und so verwahrlost, wie er tagelang im Verlies gelegen hat. Aber Artus will sein Vorhaben jetzt oben auf der Burg im lichten Schein des Morgens vollenden und nicht auf später verschieben. Mit der flachen Seite des Schwertes berührt der König Rolands rechte Schulter. Und er spricht: »Im Angesicht meiner Getreuen und im ersten Licht des neuen reinen Tages nach einer Nacht der Verwirrung und des Verrats schlage ich dich, Roland, hiermit zum Ritter! Böse Mächte haben dich wider besseres Wissen verleumdet und unter falsche Anklage gebracht. Sie haben auch mich zeitweise verblendet. Du aber hast dich vor aller Augen mannhaft gezeigt, dem Unglück tapfer die Stirn geboten, das Leben des Königs und seiner Gemahlin
gerettet. Ich begrüße dich im Kreise der Ritterschaft!« Beifall folgt der Rede des Königs. Und der König fährt fort: »Du wirst noch viele Heldentaten vollbringen und ein würdiger Nachfolger des edlen Sigurd werden. Davon bin ich überzeugt. Und höre mein Wort: Sobald dein Name fünfzigmal ruhmreich an mein Ohr gedrungen ist, nehme ich dich in meiner Tafelrunde auf. Deine erste Aufgabe aber sei: die Mörder Sigurds zu finden und zu bestrafen!«
ENDE
Rolands Ehre ist wiederhergestellt. Wegen seines mutigen Einsatzes für das Leben der Königin wird er sogar zum Ritter geschlagen. König Artus bietet dem jungen Helden auch an, Ritter der Tafelrunde zu werden. Jedoch ist der Weg in diese exklusive Runde weit und mit Hindernissen gepflastert. Fünfzigmal soll Rolands Name ruhmreich an das Ohr des Königs dringen. Keine leichte Aufgabe, aber Roland will versuchen, die höchste Ehrung für einen Mann seines Standes zu erringen. Sein erster Auftrag ist, die Mörder Sigurds zu finden und zu bestrafen. Unterwegs droht Roland Gefahr von allen Seiten. Sir Galahad hat auf den Kopf seines Widersachers eine hohe Prämie ausgesetzt, und es gibt viele im Lande, die sie sich verdienen wollen. - Roland kämpft tapfer. Da locken ihn verkleidete Helfer Galahads in eine Falle.
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