Geisterfänger Band 19
Das teuflische Vermächtnis von Mike Burger Sein furchtbarer Plan war ein Spiel mit dem Tod.
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Geisterfänger Band 19
Das teuflische Vermächtnis von Mike Burger Sein furchtbarer Plan war ein Spiel mit dem Tod.
Mrs. Amanda Willock hatte Angst. Angst vor dem Sterben. Sie schlief unruhig, denn wieder, wie in den zurückliegenden Nächten, träumte sie diesen ekelhaften Traum... Jemand rief ihren Namen, wispernd und doch eindringlich und dann spürte sie, wie ihr Herzschlag sich verlangsamte und schließlich ganz aussetzte. Sie merkte, dass sie starb... Verzweifelt verkrampfte sie ihre Hände über der Brust, doch es war sinnlos. Die unsichtbare Kraft war stärker, viel starker. Stöhnend wälzte sich Amanda Willock auf die andere Seite. Ihr hageres Gesicht war verzerrt vor innerer Anspannung und unter schwelliger Furcht. Drückende Stille lastete in dem großen Schlafzimmer der alten Frau. Fahles Mondlicht drang durch die Fenster, weil sie vergessen hatte, die schweren Vorhänge zuzuziehen. Die massiven, altmodischen Möbel des Schlafzimmers warfen bizarre Schatten. Draußen schrie klagend ein Käuzchen. Und plötzlich erwachte A manda Willock. Impulsiv aufstöhnend fuhr sie hoch und starrte mit angstgeweiteten Augen in das Dunkel, auf die Umrisse der Möbel, auf die Schatten... Ihr Blick fiel auf die Leuchtziffern des Weckers, dessen lautes Ti cken das einzige Geräusch war, das in diesem Augenblick zu hören war. Mitternacht. Amanda Willocks schmale Lippen zitterten. Wieder war sie genau um Mitternacht erwacht, wie in den Nächten zuvor. Wa rum? - Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie jetzt nicht mehr einschlafen konnte. Sie würde wach bleiben und sie würde viel zuviel Zeit haben, um nachzudenken. Mit einer müden Geste schlug Amanda Willock die Bettdecke bei seite und setzte sich auf den Rand des Bettes. Sollte sie Barringer ru fen?, überlegte sie sich. Sie war unschlüssig und schließlich schob sie den Gedanken beiseite. Nein, sie würde Barringer nicht benachrichti gen. Er würde nur unangenehme Fragen stellen. Amanda Willock versuchte, nicht an ihren Traum zu denken. Es gelang ihr mühsam. Die Furcht verschwand und mit ihr auch dieser unheimliche Druck, der bis jetzt auf ihrer Brust gelastet hatte. 4
Amanda Willock war zweiundneunzig Jahre alt und wer sie sah, hielt sie für eine gebrechliche alte Dame. Aber dieser Eindruck täusch te. Amanda Willock war alles andere als gebrechlich. Sie war trotz ih res hohen Alters rüstig und zäh. Und sie besaß immer noch jenen ei sernen Willen, den sie sich in ihrem langen Leben angeeignet hatte. Sie war die Inhaberin mehrerer gut gehender Kreditbüros und in die sem Geschäft musste man schließlich hart sein. Sie lächelte boshaft. Ja, sie war hart und deshalb würde sie sich von diesen seltsamen Träumen - so unangenehm sie auch waren nicht mehr länger beeindrucken lassen. Sie sagte sich, dass es unsin nig sei, sich zu fürchten. Niemand konnte ihr etwas anhaben. Im merhin beschäftigte sie fünf tüchtige Leibwächter und zwei überaus zuverlässige Diener. Ihr Haus war eine Festung. Jeder, der es auf ihr Vermögen abgesehen hatte, müsste mit einer kleinen Armee aufmarschieren, um hier gewaltsam eindringen zu kön nen. Die alte Frau merkte, wie sie sich mehr und mehr beruhigte. Sie strich sich über ihr graues Haar, das in dünnen Strähnen auf ihren gebeugten Rücken niederfiel. Da vernahm sie ein Geräusch. Es hörte sich an, als würde Glas von übermächtigen Kräften zerrieben werden. Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken. Ihre hellen Augen versuchten die dunklen Schatten zu durchdringen. Aber sie konnte nichts erkennen. Und dann hörte sie die Stimme und gleichzeitig fühlte sie die Anwesenheit eines Wesens. »Amanda Willock! - Deine Zeit ist nun gekommen. Ich bin hier, um dich zu holen.« Es war eine geisterhafte Stimme, die da erklang. Und Amanda Willock erkannte sie sofort. Es war dieselbe Stimme, die sie auch in ihren Träumen gehört hatte! »Nein!«, hauchte sie mit tonloser Stimme. Ihre schmale Hand tas tete nach dem Lichtschalter. »Es ist zu spät, Amanda Willock, deine Zeit ist um. Es gibt keine Alternative, ich muss dich holen. Es ist wichtig für einen großen Plan. Du musst jetzt stark sein, Amanda Willock und ich denke, dass du stark sein wirst, nachdem du bereits in den vergangenen Nächten er lebtest, was passieren wird.« 5
Amanda Willocks Herz verkrampfte sich. »Ich - ich verstehe nicht«, stammelte sie nervös. »Was für ein großer Plan ist gemeint? Ich - ich weiß doch überhaupt nichts...« »Es ist auch nicht nötig, dass du etwas weißt, Amanda Willock«, erklang wieder diese Stimme, die direkt aus dem Nichts zu kommen schien und jetzt ein bisschen spöttisch klang. Amanda Willock schüttelte den Kopf. »Nein, das - das kann man nicht mit mir machen. Gnade!« Ein belustigtes Lachen ertönte und verhallte wieder. »Du forderst Gnade, Amanda Willock? Hast du jemals Gnade gewährt, wenn einer deiner Kunden dich anflehte, ihm einen geliehenen Betrag noch einige Wochen zu stunden, obwohl er die Rückzahlungsrate momentan nicht aufbringen konnte? Warst du jemals in deinem langen Leben gnädig?« »Ich werde alles wiedergutmachen«, erwiderte Amanda Willock hastig. »Ich werde alles tun, was man von mir verlangt. Alles!« »Ich bin nicht von dieser Welt und daher bin ich auch nicht be stechlich!« Wieder erklang das geisterhafte Lachen. »Ich bin dem, der mich gerufen hat, der mich erweckt hat aus meinem Jahrtausende währenden Schlaf, treu ergeben. Nur ihm... Und deshalb werde ich dafür Sorge tragen, dass der große Plan meines Meisters gelingt.« Amanda Willock wusste, dass sie verloren war. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Das Pochen ihres Herzens wurde unregelmäßig. Wie Hammerschläge dröhnte dieses Pochen in ihrem Kopf. Ein entsetzter Schrei brach von Amanda Willocks Lippen. Aber niemand schien diesen Schrei zu hören. »Wenn - wenn ich schon sterben muss«, keuchte sie mit letzter Kraft, »dann will ich wenigstens wissen, wer dein Meister ist. Bitte, sag es mir!« Amanda Willock spürte eine leichte Bewegung neben sich, aber obwohl sie sofort den Kopf wandte und in diese Richtung starrte, konnte sie nichts sehen. »Ich werde dir diesen Wunsch erfüllen«, raunte die Stimme plötz lich dicht an ihrem Ohr. »So höre!« Der Unheimliche wisperte ihr einen Namen zu. 6
»Schon gut, schon gut!«, versetzte Neal und verdrehte die Augen. »Ich habe verstanden. Ich bin heute an der Reihe mit Kaffee kochen. Stimmt's?« Sie nickte und in ihren Augen war ein kurzes Aufblitzen zu erken nen. »Bitte stark und schwarz«, sagte sie. »Wie bitte?« »Ich meine den Kaffee.« »Ach so. Ja, natürlich. Der Kaffee.« Mit einem mitleiderregenden Stöhnen stieg Neal endgültig aus dem Bett und wankte Richtung Kü che. »Da die Salzsäure aufgebraucht ist, werde ich eben dieses Mal Zyankali verwenden«, murmelte er leise vor sich hin. »Das wäre mir aber zu stark, Liebling«, versetzte Jean trocken und warf ihm das Kissen nach. Gewandt wich Neal dem heimtückischen Geschoß aus. Wenig spä ter rumorte er in der Küche. Als er die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, klingelte es. »Das ist ein Wink des Schicksals!«, kommentierte er und kam wieder aus der Küche. Mit drei großen Schritten war er bei Jean und hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. »Der Kaffee ist gleich fertig«, sagte er gut gelaunt. »Und sämtliche fälligen Rechnungen sind bezahlt. Also kann dieses Klingeln nur etwas Gutes bedeuten.« Er ging zur Tür. Jean blickte ihm seltsam nach. »Ich weiß nicht, ich habe ein ungu tes Gefühl in mir, Neal. Ich kann es nicht rationell erklären, aber es ist da. Sei vorsichtig, höret du!« »Ich sagte dir doch: Sämtliche fälligen Rechnungen sind bezahlt. Wer also sollte da etwas Böses mit mir vorhaben? Du bist ja eine klei ne Pessimistin. Seltsam, diesen Charakterzug habe ich bisher noch gar nicht bei dir feststellen können. So und jetzt sollten wir diese Diskussi on beenden. Zieh dir etwas über! Braucht ja nicht jeder zu sehen, was für ein Goldstück du bist...« Er deutete mit einem jungenhaften Grin sen auf ihren gutgefüllten BH. »Seit wann bist du prüde?«, konterte sie und wartete seine Ent gegnung nicht ab. Sie ging ins Badezimmer. Neal öffnete die Tür - und starrte in zwei verschlossene, ziemlich grimmige Gesichter. 9
»Und sich ein bisschen in meiner Wohnung umsehen. Ohne Durchsuchungsbefehl«, konkretisierte Neal ungehalten. »Hören Sie, ich habe mit dem Tod meiner Tante nichts zu tun. Ich war gestern Nacht zu Hause. Und ich war nicht allein. - Wie also hätte ich es an stellen sollen, dass meine Tante ausgerechnet in dieser Nacht stirbt, einem Herzschlag erliegt? Ich bin kein Zauberer, Mister...« »Aha.« Inspektor Murray nickte. »Es ist natürlich erfreulich, dass Sie einen Zeugen benennen können. Das dürfte Ihnen natürlich viele Unannehmlichkeiten ersparen.« »Sie verdächtigen mich also tatsächlich«, stellte Neal verständnis los fest. »Aber das ist doch Unsinn. Hören Sie, Inspektor, ich habe nichts mit der Sache zu tun. Selbst, wenn meine Tante eines unnatürli chen Todes gestorben wäre - ich hätte daraus keinerlei Vorteil. Meine Tante mochte mich nicht besonders. Sie hat mich schon vor neun Jah ren enterbt.« Inspektor Murray zog eine Augenbraue in die Höhe. »Es - es gibt da noch etwas, das Sie offenbar nicht wissen«, begann er bedächtig. »Ihre Tante... Nun, sie hat Sie - wie wir von ihrem Rechtsanwalt erfuh ren - zum alleinigen Erben ihres gesamten Vermögens ernannt. Weni ge Tage vor ihrem seltsamen Tod.« Neal merkte, dass er gleich umkippen würde, wenn er sich nicht schnellstens setzte. Er schüttelte den Kopf, wie um diese momentane Schwäche zu vertreiben. »Das kann nicht wahr sein«, krächzte er dann mit rauer Stimme. »Tante Amanda hat mir nie verziehen, dass ich ihr damals davongelaufen bin... Nein, es ist unmöglich, dass Sie mich in ihrem Testament bedacht hat.« Er fühlte sich wieder ein bisschen bes ser. Offen sah er die beiden Polizisten an. »Sehen Sie, wir dachten uns auch, dass das alles sehr, sehr selt sam ist. Mr. Barringer spricht davon, dass Mrs. Willock wenige Tage vor ihrem Tod erpresst worden sein könnte. Vom Anwalt der Verstor benen erfahren wir, dass wenige Tage vor ihrem Tod das Testament geändert wurde. Und zwar ausgerechnet zu Ihrem Vorteil, Mr. Hamil ton. Wir wissen, dass Ihre Tante Sie hasste. Und ausgerechnet Ihnen vererbt sie nun alles. Verstehen Sie nun, dass wir mit Ihnen sprechen wollten?« 12
Neal nickte. In diesem Augenblick betrat Jean das Wohnzimmer. Die beiden Polizisten blickten flüchtig auf. In Inspektor Porters Augen war für vier Sekunden ein interessiertes Aufblitzen und Neal konnte den Mann nur zu gut verstehen. Jean war gewiss kein alltägliches Mädchen... Ledig lich Inspektor Murray schien völlig unbeeindruckt. Keine Regung war seinem Gesicht zu entnehmen. Lässig schob der korpulente Mann den Kaugummi auf die andere Seite seines Mundes und stellte dann fest: »Sie sind vermutlich die Dame, die bestätigen kann, dass Mr. Hamilton gestern Nacht nicht allein war?« Jean nickte. »Das kann ich, Inspektor. Und ich werde mich noch sehr lange an die gestrige Nacht erinnern. Sie war sehr, sehr schön. Aber das wird Sie wohl nicht so sehr interessieren, nicht wahr?« »Hm. Äh - nein.« Für einen winzigen Sekundenbruchteil war In spektor Murray unsicher geworden. Aber sofort hatte er sich wieder gefangen. »Nun gut. Ich werde mir Ihren Namen und Ihre Personalien notieren und Ihre Aussage in meinem Bericht erwähnen.« Jean nickte beiläufig. »Das können Sie gern tun, Inspektor. Ich hörte, was Sie Neal vorwerfen. Es ist - wie er bereits sagte - Unsinn. Neal hat seine Tante seit Jahren nicht mehr gesehen. Und das war wohl auch gut so.« Inspektor Murray erwiderte nichts hierauf. Geschäftig notierte er sich in einer steilen, energischen Handschrift etwas in einem kleinen roten Notizbuch. »Mein Name ist Jean Moissant, ich bin 24 Jahre alt und meine Ma ße sind...« »Schon gut. Miss Moissant, wir wollen es ja nicht übertreiben«, wehrte Inspektor Murray mit einem verlegenen Grinsen ah. »Sie woh nen bei Mr. Hamilton?« Jean nickte. »Ich wohne hier und teile sozusagen Tisch und Bett mit ihm.« »Da hören Sie es«, brachte Neal sich in Erinnerung. »Inspektor. Sie haben sich den falschen Schuldigen herausgesucht. Vielleicht gibt es überhaupt keinen Schuldigen. Meine Tante war zweiundneunzig Jahre alt, wenn ich mich nicht irre!« 13
»Ich wollte mich eigentlich nicht verteidigen oder rechtfertigen, Jean«, erklärte er. »Es - es ist nur... Verdammt, jetzt habe ich dieses ungute Gefühl im Magen. Ich komme mir benutzt vor, von irgendje mandem. Wie eine Schachfigur die hin und her geschoben wird und nicht weiß, weshalb. Ich glaube, dass dieser Besuch noch eine Reihe unangenehmer Überraschungen nach sich ziehen wird.« »Das glaube ich nicht. Dieses Mal bist wohl du der Pessimist«, er widerte sie und lächelte. »Du wirst ein reicher Mann sein und in ein paar Wochen wirst du schon nicht mehr an diesen Vorfall denken. Und wahrscheinlich wird spätestens in einem Monat der gute Inspektor Murray sehr freundlich zu dir sein, weil er sich deine Sympathie nicht verscherzen will.« »Du bist wirklich ein Goldstück«, sagte er. Er beugte sich vor und küsste seine Lebensgefährtin auf ihre Lippen. Sie erwiderte seinen Kuss sanft und doch voller Hingabe. Als sie sich voneinander lösten, sagte sie leise: »Weißt du, ich glaube, dass deine Tante eines natürli chen Todes gestorben ist, trotz aller Ungereimtheiten. Und ich glaube, dass sie geahnt hat, dass sie sterben muss. In ihrem Alter muss man einfach damit rechnen. Und dann hat sie ihr Testament geändert, weil sie bereute, ein derart gottloses Leben geführt zu haben. Sie wollte wiedergutmachen, Neal.« Er schüttelte den Kopf, nachdenklich und skeptisch. »Das hört sich mächtig gut an, Jean, aber du kanntest Tante Amanda nicht. Sie war hart, ein Mensch ohne Gefühl, ohne Herz. Sie konnte nicht bereuen. Es war ein Teil ihres Wesens, hart und ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein. Nein, nein, es muss tatsächlich mehr hinter dem kurzfristig geänderten Testament stecken. Aber was? Wer könnte einen Grund haben, mich als Erben des riesigen Vermögens meiner Tante einzusetzen?« Sie musterte ihn aus ihren dunklen Augen. »Neal«, flüsterte sie dann unvermittelt, »ich habe Angst.« Er strich ihr mit einer sanften Geste über ihr zerzaustes schwarzes Haar. »Es wird sich wahrscheinlich ziemlich bald herausstellen, ob die se Angst begründet ist, Jean. Ja, ich glaube, dass wir bald erfahren 16
werden, was das für ein Spiel ist, in das wir - ohne unser Dazutun hineingeschlittert sind.« Er ahnte nicht, wie Recht er hatte. * Der Mann starrte in die helle aufflackernde Flamme der schwarzen Kerze. Gleichzeitig mit dem Aufflackern der Flamme bemerkte er die Präsenz der Wesenheit. Das Gesicht des Mannes verhärtete sich, spannte sich an und verriet die ungeheure Konzentration, die er auf wenden musste, um ruhig und beherrscht zu bleiben. Langsam hob der Mann seinen Blick, starrte in die Dunkelheit, die außerhalb des kleinen Lichtkreises war. Er sah nichts und doch spürte er die Anwesenheit seines treuen Dieners. Hastig murmelte er die magische Formel, die es ihm ermöglichte, Gewalt über den Diener zu erlangen. Gleichzeitig schien es in dem Raum kälter zu werden. Das unerklärlich Fremde, Nichtirdische des Dieners bewirkte dies. »Ich bin wiedergekehrt, Herr«, erklang die Stimme des Geistwe sens. »Ich habe deinen Auftrag zu deiner Zufriedenheit erfüllt. Aman da Willock weilt nicht mehr auf der diesseitigen Welt.« Der Mann nickte und hob seine Hände in einer beschwörenden Geste über die Flamme der schwarzen Kerze. »Ich bin zufrieden mit dir, Ghulgor. Aber ich war in Sorge. Weshalb kehrst du erst jetzt wie der? Ich habe dich viel früher erwartet. Antworte mir, Diener!« »Meine Kräfte, Herr. Sie konnten sich noch nicht vollkommen sta bilisieren. Die Existenz in der diesseitigen Welt zehrt an meinen Kräf ten und neutralisiert sie teilweise sogar, Herr. Ich kann dies nicht ver hindern. Es schwächt mich.« »Gut. Ich will dir glauben, Ghulgor. Enttäusche mein Vertrauen nicht. Es wäre dein Untergang, mich hintergehen zu wollen.« Der Diener lachte schallend. »Dein Vertrauen in mich wird nicht enttäuscht werden, Herr. Ich bin dein Wesen, ich bin dein dankbarer Diener.« 17
»Du wirst es nicht bereuen, Ghulgor. Ich verspreche es dir. Wir werden sehr viel erreichen, wenn wir gemeinsam kämpfen, du für die Sache der Jenseitigen und ich - ich für meine Sache!« Der Mann, der das Geistwesen aus seinem totenähnlichen Schlaf erweckt und beschworen hatte, lächelte schmal. Seine unergründli chen, mitleidlosen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Zieh dich nun zurück, Ghulgor«, befahl er dann. »Sammel alle deine Kräfte, denn schon bald werden wir sie brauchen!« »Ich höre und gehorche, Herr«, erwiderte das körperlose Wesen. Der Mann atmete erleichtert auf und ließ seine Hände niedersin ken. Er lauschte in die Dunkelheit des Raumes, den er tief unter sei nem Haus eingerichtet hatte. Nach einer Weile nickte er. Ghulgor hatte sich - wie befohlen - in die jenseitige Sphäre zurückgezogen, Die Tem peratur im Raum stieg merklich an. Der Mann konzentrierte sich auf eine Bannformel, die bewirkte, dass Ghulgor nicht auf der diesseitigen Welt rematerialisieren konnte. Er war sehr vorsichtig, denn er wusste, dass er mit dem Tod spielte. Er hatte es von Anfang an gewusst, seit jenem Tag vor fünf Jahren, da er von einem geschäftstüchtigen Antiquitätenhändler das Buch mit den magischen Beschwörungen untoter Geister erstanden hatte. Und jetzt, nach jahrelangem Studium dieses Buches, war es ihm gelungen, die Beschwörungen zu entschlüsseln, zu verstehen und anzuwenden. Und er hatte nicht gezögert, seinen furchtbaren Plan zu realisieren. Diesen Plan, den er schon so lange in sich trug. Mit einer brutalen Bewegung drückte er die Flamme der schwar zen Kerze aus, erhob sich und schritt durch die Dunkelheit zur Tür. * Fauchend öffnete sich die Lifttür. Neal Hamilton und Jean Moissant traten in den Flur der vierten Etage. Hier hatte der Rechtsanwalt A manda Willrocks, Dr. Lambert, sein Büro. Gedämpft war der Lärm der Charing Cross Road zu hören. Der Piccadilly war ganz in der Nähe und das machte sich nun einmal per Verkehrslärm bemerkbar. 18
Wie Inspektor Murray vorausgesagt hatte, hatte noch am selben Tag Dr. Lambert angerufen und ihn, Neal, über den plötzlichen Tod seiner Tante informiert. Dr. Lambert hatte ihm einen Termin vorge schlagen, damit die Hinterlassenschaft geregelt werden konnte. Das war vor einer Woche gewesen. Jetzt waren sie hier und Neal war schon mächtig neugierig, Dr. Lambert kennen zu lernen. Am Telefon hatte der Mann einen sympathischen Eindruck gemacht. Jedenfalls schien er nichts von unnötiger Bürokratie zu halten und das allein war bereits ein Pluspunkt. Neal strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und räusperte sich. Aber damit konnte er seine Unsicherheit nicht verjagen. Sie steckte tief in ihm, war jederzeit präsent. Und nicht nur die Unru he. Da war auch noch etwas anderes... Etwas, das er noch nicht hatte analysieren können. Er hatte schlecht geschlafen während der vergan genen sieben Tage. Oft war er mitten in der Nacht aufgewacht, schweißgebadet. Er hatte gefroren und er hatte seltsame, flüsternde Stimmen gehört, ohne verstehen zu können, was sie sagten. Es war unheimlich gewesen und hatte ganz schön an seinen sonst guten Ner ven gezerrt. Er hatte mit Jean über diese Geschehnisse gesprochen und sie hatte versucht, wach zu bleiben. Doch es war ihr nicht gelungen. So war er mit seinen Gedanken allein gewesen. Die Sekretärin Dr. Lamberts kam ihnen entgegen, ein hübsches junges Mädchen mit feuerrotem ungebändigtem Haar. Jean gab Neal einen unsanften Hieb gegen das Schienbein, als sie seinen Blick bemerkte. Er sah sie an. »Du gönnst mir aber auch über haupt keine Entspannung. Da bin ich schon derart, mitgenommen durch diese verflixten Alpträume und du...« »Du kannst dich bei mir entspannen, Liebling«, versetzte sie ho nigsüß. »Oder ist dies zuviel verlangt? Ich meine, wenn du meiner überdrüssig bist, dann brauchst du es mir nur zu sagen, Liebling. Ich werde dann natürlich meine Konsequenzen ziehen. Es gibt hier in Lon don genügend nette Männer... Männer, die mit der Emanzipation nicht so auf dem Kriegsfuß stehen wie du und die außerdem...« 19
»Schon gut, Jean«, unterbrach er sie hastig. »Wenn du derart ei fersüchtig über meine Tugend wachst, dann kann ich ja gar nicht an ders als brav sein.« »Ich eifersüchtig?«, explodierte Jean und starrte Neal entgeistert an. »Sie sind Mr. Hamilton«, sagte in diesem Augenblick die Sekretä rin Dr. Lamberts freundlich und blickte ihn aus grün schillernden Au gen freundlich an. »Ja, der bin ich. Und das ist meine reizende Gefährtin Jean Mois sant«, fügte er hinzu. »Wir sind angemeldet.« »Dr. Lambert erwartet Sie bereits«, erklärte die Sekretärin. Jean warf Neal einen bitterbösen Blick zu. Die Diskussion war also noch nicht beendet. Es würde eine Fortsetzung geben. Neal grinste innerlich. Er liebte Jean, gerade, weil sie so explosiv war. Explosiv und doch anschmiegsam korrigierte er. Sie folgten der Sekretärin in das Büro des Rechtsanwalts. »Ah, da sind Sie ja«, empfing Dr. Lambert sie und erhob sich. Wieselflink kam er hinter einem großen Schreibtisch, auf dem eine ganze Menge Akten, Notizen und Gesetzestexte lagen, hervor. Er drückte Jean und Neal die Hand und bat sie, Platz zu nehmen. Unauffällig musterte Neal den Anwalt. Dr. Lambert war ein gut aussehender Mann, der fast so sympathisch wirkte, wie seine Stimme am Telefon. Er war groß, schlank und doch muskulös. Man sah ihm an, dass er regelmäßig Sport trieb, um fit zu bleiben. Sein Haar war kurz geschnitten, die Augen hinter einer schmucklosen silbernen Brille hell blau und durchdringend. Dr. Lambert setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und schlug eine Akte auf. Neal bemerkte erst in diesem Augenblick die ü berlangen feingliedrigen Finger des Mannes, die überhaupt nicht zu seiner Erscheinung passen wollten. »Beginnen wir also«, sagte Dr. Lambert und lächelte gewinnend. »Sicherlich werden Sie schon ziemlich darauf gespannt sein, welche Überraschungen dieses Testament für Sie bereithält. Und ich kann Ihnen versichern, dass es einige Überraschungen geben wird. Für wahr, Mrs. Willock war eine sehr eigenwillige Frau.« 20
Neal antwortete nicht gleich. Verwirrt registrierte er, dass die Stimme in seinem Kopf verstummt war. Die Schmerzen verebbten so plötzlich, wie sie gekommen waren. Bildete er sich wirklich alles nur ein? Nein!, entschied er. Und das sagte er auch Jean. »Ich weiß, dass ich diese Stimme höre, Jean. Ich bin nicht über geschnappt, wenn du das meinst! Verdammt, du musst mir glauben.« Sie nickte. »Du wirst das Testament akzeptieren?«, erkundigte sie sich über gangslos. Neal zögerte nur kurz. »Ja, ich glaube, dass ich es akzeptieren werde, inklusive dieser geheimnisvollen, unverständlichen Bedingung. Vielleicht komme ich dann auf eine brauchbare Spur.« »Von was für einer Spur sprichst du?« Er lachte bitter. »Von der Spur des Wesens, dem es möglich ist, mit mir zu sprechen, ohne dass du es hörst.« »Na, das hört sich aber ziemlich komisch an«, versetzte Jean und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Lass das nur ja nicht deinen spe ziellen Freund, den Inspektor Murray, hören. Sonst nimmt er dich als gefährlichen Irren sofort in polizeilichen Gewahrsam.« »Meinst du?«, fragte er halbherzig. »Natürlich meine ich das«, antwortete sie todernst. Dann aller dings musste sie lächeln. * Neal Hamilton hatte seinen Entschluss gefasst und jetzt fühlte er sich bedeutend besser. Er war ein Mann der Tat und als solcher hasste er nichts mehr, als herumzusitzen und auf ein oder mehrere Wunder zu warten. Es machte ihn krank. Deshalb hatte er auch einen Beruf ge wählt, der ihn stets auf Trab hielt. Kurz nach acht Uhr rief er Dr. Lambert an. »Morning, Mr. Lam bert«, meldete er sich knapp, als auf der anderen Seite der Anwalt abnahm. 24
»Ah, Mr. Hamilton, ich habe Ihren Anruf nicht so früh erwartet. Aber je früher, desto besser. Nun, wie haben Sie sich entschieden?« Deutlich war die Spannung in der Stimme des Rechtsanwalts zu hören und Neal fragte sich insgeheim, warum sich Dr. Lambert derart enga gierte. »Ich werde das Erbe meiner Tante antreten«, erklärte Neal ernst. »Ich werde mich auf Revenge Island begeben, in das Haus meiner Tante und dort werde ich einen vollen Monat leben. Okay, Mr. Lam bert?« »Natürlich«, beeilte sich der sympathische Rechtsanwalt zu sagen. »Ich werde also einen entsprechenden Vermerk in den Akten anbrin gen lassen. Äh - wann werden Sie nach Revenge Island aufbrechen? Ich frage lediglich der Ordnung halber, da ich Sie begleiten muss, als Zeuge, sozusagen.« Neal überlegte nur kurz. »Ich werde so bald wie möglich aufbre chen. Morgen früh, denke ich.« Dr. Lambert antwortete nicht gleich, er schien etwas zu notieren. »Also gut, Mr. Hamilton. Dann schlage ich vor, dass wir uns morgen früh, sechs Uhr, bei den Docks von Newhaven treffen.« »Gut, Mr. Lambert«, willigte Neal ein. »Noch etwas. Sie brauchen sich weder um Verpflegung noch um andere Nebensächlichkeiten kümmern. Es wird für alles gesorgt sein auf Revenge Island. Das Haus Ihrer Tante wird von einem sehr tüchti gen Hausmeisterehepaar verwaltet, das noch heute von mir über un sere Ankunft informiert wird.« »Prima«, kommentierte Neal. »Sonst noch etwas, Mr. Lambert?« »Das wäre alles, vorläufig. Alles Weitere können wir auf dem Weg zur Insel besprechen. Bis morgen, Mr. Hamilton.« »Bis morgen«, erwiderte Neal und legte auf. Ein paar Minuten wartete er und starrte das Telefon an, dann wählte er eine andere Nummer. Es war die Nummer von Eddy Hopper. Es dauerte eine ganze Weile, bis abgenommen wurde. Es meldete sich eine ziemlich griesgrämige Stimme. »Hier ist das Paradies, wer begehrt um diese nachtschlafende Zeit Einlass?« 25
Neal dachte: Na warte! Laut sagte er mit verstellter Stimme: »Guten Morgen, Sir. Ich habe die große Ehre, Ihnen im Namen unserer Gesellschaft gratulieren zu dürfen. Sie haben in unserem Preisaus schreiben 10.000 Pfund gewonnen.« Sekundenlang war es still. Dann kam Eddys Stimme wieder: »Würden Sie das bitte wiederholen, Mister?« »Werde ich nicht, du Hochstapler«, versetzte Neal. »Ach, du bist es nur!« Eddy Hopper fluchte grimmig. »Und ich ha be doch tatsächlich geglaubt, dass dieser Anruf echt ist. Was bin ich für ein unverbesserlicher Narr. Ich werde nie wieder um diese Zeit den Hörer abnehmen.« Er räusperte sich. Und dann fragte er, wesentlich ruhiger: »Was willst du denn von mir, he?« Neal grinste. »Ich will dich einladen«, erwiderte er ruhig. »Einladen?« »Du hast richtig gehört, alter Kampfgefährte«, bestätigte ihm Neal. »Ich habe geerbt.« »Du nimmst, mich doch schon wieder auf den Arm!«, explodierte Eddy. »Aber das kannst du mit mir nicht machen, hörst du! Ich wer de...« »Nun komm zurück auf den Teppich, Mann«, unterbrach ihn Neal sanft. »Ich meine es ernst. Ich habe meine gute Tante Amanda be erbt. Das heißt, ich werde sie beerben, wenn ich zuvor eine Bedingung erfülle.« »Und was ist das für eine Bedingung?«, erkundigte sich Eddy mit lauernder Stimme. »Ich soll einen Monat lang in ihrem Haus auf Revenge Island wohnen, das ist alles. Und damit dieser eine Monat nicht zu langweilig wird, habe ich beschlossen, ein paar liebe Freunde...« »... und Freundinnen doch hoffentlich auch?«, fiel ihm Eddy merk lich nervös ins Wort. Inzwischen schien er Neal tatsachlich zu glauben. Oder er war inzwischen vollends wach geworden und hatte sich seiner Freundin Germaine Stoerenson erinnert. »Freundinnen auch, ja«, erwiderte Neal und lachte. »Also, Freund, bist du dabei?« 26
Neal strich eine Strähne seines blonden Haares zurück. Er erwider te nichts auf die schwärmerischen Worte des Rechtsanwaltes. Jean zeigte hinüber zur Insel. »Da - da ist das Haus... Ein richtiges kleines Geisterschloss«, setzte sie hinzu. Auch Neal blickte wieder hinüber. Er fand, dass Jean gar nicht so Unrecht hatte mit ihrer Bemerkung. Pechschwarz und schroff erhoben sich die Konturen des kastenförmig gebauten, zweistöckigen Hauses in den blauen Himmel. Es gab eine Veranda, einen mächtigen Kamin, der an der äußeren Seitenwand des Hauses in die Höhe strebte und, mehr auf der Rückseite des Hauses, einige Türmchen. »Deine Tante hatte einen ziemlich merkwürdigen Geschmack«, kommentierte Clay Stevens mürrisch. Er war eigentlich immer mür risch, das war einfach der dominierende Teil seiner Persönlichkeit. A ber er war trotzdem ein feiner Kerl und guter Freund. Clay war mittelgroß, er trug sein dunkelbraunes Haar mittellang. Sein Gesicht war schmal, ein bisschen kantig, die Augen lagen tief in den Höhlen und passten so gut zu seinem mürrischen Wesen. Neal pflichtete dem Freund bei. »Sie hatte einen ziemlich merk würdigen Geschmack, ja.« Er lächelte bitter. »Jedenfalls wird es uns hier nicht langweilig werden«, rief Ger maine übermütig. »Die Insel ist toll und ich bin sicher, dass wir eine Menge Spaß haben werden in diesem Monat. Neal, du bist ein Schatz, dass du an uns gedacht und uns eingeladen hast, dein Robinsondasein zu versüßen.« Gutgelaunt umarmte sie ihn von hinten und drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Das Motorboot schlingerte leicht wegen dieser impulsiven Bewe gung und Anika kreischte erschrocken auf. Aber trotzdem war der Bann des Schweigens gebrochen. Germaines Begeisterung übertrug sich auf die anderen. Eddy stieß einen schrillen Pfiff aus und zeigte auf die Möwen, die über ihnen flatterten und nervzerreibend kreischten. »Da ist ja auch bereits das Empfangskomitee, Leute«, sagte er. »Na, wie fühlst du dich, großer Herzensbrecher«, wollte Jean wis sen. Ihr war natürlich aufgefallen, wie schweigsam und nachdenklich er war. Und jetzt wollte sie ihn aufmuntern. Er kannte sie nur zu gut. 33
Er blickte ihr in die Augen. »Ich weiß nicht, wie ich mich fühle«, erwiderte er schließlich langsam. »Irgendwie - leer, ausgebrannt. Un zufrieden. Bedroht.« Er zuckte die Schultern. »Ich fühle eine Bedro hung, die von diesem Haus ausgeht«, fügte er dann düster hinzu. »Du willst uns wohl Angst machen?«, versetzte Anika ein bisschen spöttisch. »Ja, vielleicht«, erwiderte Neal. Dann grinste er Jean an. »Und wie fühlst du dich, Goldstück? Gut, hoffentlich?« »Nun ja, wenn sich Germaine entschließen kann, nicht mehr in fremden Gewässern auf Fischfang zu gehen, dann fühle ich mich schon einigermaßen gut, weißt du. Nur du machst mir ein bisschen Sorgen.« »Ich? Warum? Hör mal, ich bin dir treu ergeben und...« »Nein, im Ernst, Neal. Du hast dich irgendwie verändert in den letzten paar Tagen. Du bist so - so nachdenklich geworden, so in dich gekehrt. Und ich frage mich, ob das alles mit dieser verflixten Erb schaft zusammenhängt. Weißt du, ich glaube, dass so viel Geld einen Menschen nicht immer unbedingt zu seinem Vorteil verändert.« Neal winkte ab. »Du bist fast eine perfekte Philosophin, Jean«, erwiderte er leise, so dass nur sie es hören konnte. »Aber es ist nicht wegen des Geldes. Ich - ich mache mir Gedanken darüber, ob es rich tig war, die anderen und dich mitgenommen zu haben...« »Gemeinsam sind wir stark!«, tönte Eddy Hopper dazwischen. Obwohl Neal und Jean leise gesprochen hatten und der Motor des Bootes übermäßig laut tuckerte, schien er einen Teil ihrer Unterhaltung mitbekommen zu haben. »Ja, wir sind so stark, dass wir es sogar mit Drachen und Dämonen und all dem anderen Ungeziefer, von dem man in einschlägigen Romanen lesen kann, aufnehmen...« »He, he, du gehst ja ran«, rief Germaine lachend. »Wahrscheinlich liest du viel zu viele Spannungsromane. Wer sollte uns auf dieser schönen Insel etwas tun wollen? Es ist wirklich - wie der Herr Rechts anwalt vorhin gesagt hat - ein kleines Paradies. Sieh nur, dort drüben steigt ein ganzer Vogelschwarm auf! Und die herrlichen Farben. Ach, es ist wunderschön! Und du sprichst von Drachen und Dämonen! Du bist unmöglich, Eddy Hopper!« 34
Ja, vielleicht sind wirklich auch alle meine Sorgen umsonst, dachte
Neal im gleichen Moment. Aber dann musste er an Joseph Greenbury denken und der Gedanke an den Freund beunruhigte ihn. Er hätte Jo gern bei diesem ›Unternehmen‹ dabei gehabt. Er hatte sich in den letzten beiden Jahren, in denen er sich sehr intensiv mit der Parapsy chologie beschäftigt hatte, mehr und mehr zu einem Einzelgänger ent wickelt. Vielleicht hätte Joseph sich hier auf Revenge Island ein biss chen von seinem Stress erholen - und gleichzeitig eine Menge dazuler nen können.
Seltsam, dieser Gedanke, überlegte Neal dann. Wieder bemerkte er, dass er dem Frieden und der offensichtlichen Idylle der Insel nicht traute. Vielleicht war alles nur Maskerade, geschickte Tarnung... Viel leicht wartete dort drüben die Hölle auf sie... Und vielleicht hätte Jo seph Greenbury helfen können, dieser Hölle wieder zu entrinnen. Neal hatte ihn zwar angerufen, aber der Freund schien nicht zu Hause ge wesen zu sein. Oder er war einfach in seine Studien vertieft gewesen und hatte das Klingelzeichen des Telefons nicht hören wollen. »Schade«, murmelte Neal. Jean sah ihn seltsam an, sagte aber nichts. Wahrscheinlich wollte sie die anderen nicht zu sehr auf seine miserable Stimmung aufmerk sam machen. Dr. Lambert, der bisher geschwiegen hatte und sich nicht an ihrer Unterhaltung beteiligt hatte, lenkte das Boot geschickt zum Ufer, das nun nur noch wenige Meter entfernt war. Die Wellen hatten das Boot längst erfasst und trugen es sicher zum Strand, nachdem Dr. Lambert den Motor abgestellt hatte. »Wir sind da!«, stellte der Rechtsanwalt überflüssigerweise fest, als er das Boot an Land gezogen hatte. »Ich werde Ihnen nun das Ehepaar Gray vorstellen, das während Ihres Aufenthalts hier auf Re venge Island für Ihr leibliches Wohl sorgen wird. Und dann werde ich ein entsprechendes Protokoll aufsetzen und nach London zurück kehren. Sollte irgendetwas - hm - Ungewöhnliches passieren, so kön nen Sie mich jederzeit telefonisch erreichen. Ja, die gute Mrs. Willock wollte auch hier in der Einsamkeit nicht auf einen gewissen Komfort 35
und die für ihre Geschäfte wichtige Verbindung zur Außenwelt verzich ten.« Belustig lachte er. * Amanda Willocks Haus war auf einer hochgelegenen Ebene errichtet worden, die im Norden steil ins Meer abfiel. Die Landzunge, die sie hatten umfahren müssen, um das Haus schließlich sehen zu können, ragte wie eine riesige behaarte Klaue ins Meer hinein. Mächtige Bäume und dichtes, struppiges Unterholz wucherte dort und hatte sich bereits bis zum Haus herauf ausgebreitet. Es bildete gleichermaßen Hinter grund und Umgebung des Hauses. Eine unschöne Kulisse, wie sich jetzt herausstellte. Nur aus der Ferne hatte dies alles schön gewirkt. Sie waren schweigend den schmalen steinigen Weg hinaufgegan gen, der zum Haus führte. Sicherlich wurden sie bereits von den Grays erwartet. Neal fühlte sich unbehaglich. Und auch die anderen spürten die seltsame Atmosphäre, die auf der Insel herrschte. Außer ihren Schrit ten und ihrem stoßweise gehenden Atem war kein Laut zu vernehmen, nicht einmal Vogelgezwitscher. Drückende Stille lastete ringsum wie eine Mauer. Jegliches Leben auf dieser Insel schien in Erwartung der Geschehnisse den Atem anzuhalten. »Eine miese Stimmung ist das hier.« Eddy Hopper sprach das aus, was sie alle insgeheim dachten. Neal nickte zustimmend. »Hoffen wir, dass sie nicht anhält.« Me chanisch tastete er nach der Luger, die er - obwohl er Waffen allge mein nicht ausstehen konnte - sicherheitshalber mitgenommen hatte. Die Waffe steckte in seinem Hosenbund. Etwa zehn Minuten später erreichten sie die Hochebene und das Haus lag nun greifbar nahe vor ihnen in der schwülen Hitze des Mor gens. Es wirkte leer und tot. Auch hier war kein Laut zu hören. »Möchte nur wissen, wie deine alte Tante diesen Weg begehen konnte«, murmelte Clay nachdenklich. »Immerhin war sie zweiund neunzig.« 36
»Das war sie«, nickte Neal. »Aber sie war ziemlich zäh. Früher war sie eine begeisterte Bergsteigerin. Sie ist durchtrainiert.« »Trotzdem, für eine alte Frau ist dieser Weg einfach zu steil«, be harrte Clay. »Ich glaube nicht, dass sie oft auf dieser verdammten Insel gewesen ist.« Neal zuckte die Schultern. Nachdem er seine Tante Amanda vor neun Jahren bei Nacht und Nebel verlassen hatte, um endlich ihrer Bosheit zu entgehen, hatte er nicht mehr viel von ihr gehört. Und das war ihm auch recht gewesen. Dennoch: Weshalb wollte sie, dass er ausgerechnet auf dieser Insel einen vollen Monat verbrachte? Ausge rechnet auf dieser Insel, auf der sie selbst vermutlich nur ein paar Mal gewesen war, wenn überhaupt... Denn Clay lag mit seiner Vermutung richtig, das wusste Neal plötzlich. Als Neal das raschelnde Geräusch hörte, zuckte er aus seinen Ü berlegungen auf. Sein Kopf ruckte herum und er sah einen untersetz ten, behäbig wirkenden Mann mit deutlichem Bauchansatz. Der Frem de trat vollends aus dem wuchernden Grün des Unterholzes und lä chelte schmal. »Hallo, Leute«, sagte er mit einer unangenehmen Fis telstimme. »Willkommen auf der Toteninsel!« »Machen Sie Scherze, Mister?«, fuhr Neal ihn an. »Scherze? Junger Mann, ich lebe jetzt seit genau dreizehn Jahren auf dieser verdammten Insel und in dieser Zeit habe ich verlernt, dumme Scherze zu machen.« Das aufgedunsene Gesicht des Mannes spannte sich an. »Nun, Sie und Ihre - Gefährten werden einen Monat lang Gelegenheit haben, festzustellen, dass man hier das Scherzen wirklich verlernt.« »Mr. Gray, ich muss Sie doch bitten, eine gewisse Form zu wah ren«, warf Rechtsanwalt Lambert mit scharfer Stimme ein. »Immerhin sind Sie hier lediglich der Verwalter des Hauses. Sie werden in Zukunft von Hamilton bezahlt und...« Mr. Gray hob eine Hand und winkte nachlässig ab. »Lassen wir doch die Floskeln, Herr Rechtsanwalt. Sie können mich nicht beeindru cken. Ich bin so, wie ich bin und wem das nicht passt, der soll es mir sagen, dann...« 37
»Sie scheinen ja ziemlich aggressiv zu sein«, stellte Neal belustigt fest. Der Mann fixierte ihn aus schmalen gelblichen Augen. Dann lachte er plötzlich und strich sich mit einer Hand über sein schütteres blondes Haar. »Wenn man immer hier lebt, wird man schon ein bisschen son derlich. Das müssen Sie verstehen, Mister.« »Nun, jetzt sind wir ja hier und wir werden schon Stimmung auf diese - diese Toteninsel bringen. Nicht wahr, Freunde?« »Klar!«, kam es fast wie aus einem Mund zurück. Die gute Laune stieg merklich. Neal lächelte. »Sehen Sie, Mr. Gray? Wir sind mit den allerbesten Vorsätzen auf diese schöne Insel gekommen. Und Märchen beeindru cken uns nicht sehr, wissen Sie.« Neal schüttelte den Kopf und be mühte sich, tatsächlich unbeeindruckt zu wirken. Er wollte seine Freunde nicht noch mehr beunruhigen, als sie es schon durch die selt same Atmosphäre, die wie eine Käseglocke über der Insel lastete, wa ren. »Sie glauben mir also nicht«, stellte Mr. Gray emotionslos fest. »Na schön. Ich will also nichts gesagt haben. Aber wenn etwas pas siert, dann...« »Hören Sie endlich auf!«, verlangte Dr. Lambert. »Wir sind aufge klärte Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Hirngespinste interessieren uns nicht. Ich habe eine Woche auf dieser Insel gelebt und es war eine herrliche Zeit. Toteninsel... pah! Führen Sie uns end lich zu Ihrer Frau.« Mr. Gray nickte. Ein hämisches Lächeln lag um seine Mundwinkel. »Wie Sie wünschen, Herr Rechtsanwalt. Kommen Sie! Folgen Sie mir, bitte! Die Herrschaften natürlich auch.« Er verbeugte sich übereifrig und ging voran. Neal grinste Jean aufmunternd zu und legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern. »Das verspricht ein aufregender Urlaub zu wer den«, sagte er in einem Anflug von Galgenhumor. Jean wollte etwas entgegnen. Aber dazu blieb keine Zeit mehr. In diesem Augenblick ertönte der Schrei. Es war ein gellender Schrei, in dem Schmerz und abgrundtiefer Schrecken vibrierten. 38
*
Die Frau, die Joseph Greenburys Leiche entdeckt und sämtliche Nach barn durch ihr Schreien alarmiert hatte, schrie immer noch, als Inspek tor Murray kam. Er blickte seinen Assistenten unwillig an. »Porter, sor gen Sie gefälligst dafür, dass sich ein Arzt um die Frau kümmert.« Porter nickte und ging zurück in die Wohnung, zu Doc Spencer. Murray schob sich einen frischen Kaugummi in den Mund, bevor er sich durch die schweigende, hin und wieder tuschelnde Mauer aus gaffenden Menschen hindurch in das Zimmer arbeitete, in dem die Leiche lag. Die Männer der Spurensicherung waren bereits fleißig. Der Doc und sein Assistent hatten die Voruntersuchung der Leiche abgeschlos sen. Doc Spencer kümmerte sich um die Frau, die mit ihren Nerven völlig fertig war. »Mord?«, erkundigte sich Murray bei dem Assistenzarzt. Der junge Mann zuckte die Schultern. »Das ist eine seltsame Sa che, Inspektor«, erwiderte er. »Wie seltsam?« »Nun, sehen Sie sich das Gesicht des Mannes an, dann wissen Sie, was ich meine.« Er beugte sich vor und deutete auf die weit auf gerissenen Augen des Toten, in denen noch eine Ahnung vom Grauen seines Sterbens sich widerspiegelte. Inspektor Murray kniff seine Augen zusammen. Verdammt, ge nauso war es auch bei dieser Mrs. Willock gewesen... Auch sie hatte dieses Grauen in ihren starren Augen eingebrannt gehabt! Gab es ei nen Zusammenhang? Murray kaute hastiger. Das tat er immer, wenn er sehr nervös war. »Wie ist er gestorben?«, wandte er sich wieder an den Arzt, wäh rend er sich aufrichtete. Der Mann zuckte die Schultern. Es war eine resignierende Geste. »Herzversagen«, erwiderte er lakonisch. »Eine Verletzung konnte nicht festgestellt werden, noch nicht. Die Autopsie wird vielleicht neue Fak ten bringen. Aber ich bin nicht sehr zuversichtlich.« 39
»Herzversagen«, echote Inspektor Murray nachdenklich. Sein har ter, sezierender Blick glitt über den athletischen Körper des Mannes. Dann schüttelte er den Kopf. Schweigend wandte er sich ab. Erst jetzt bemerkte er den fürchterlichen Gestank, der im Zimmer lag. Er ging zum Fenster und öffnete es. »Hat irgend jemand etwas gesehen oder etwas - hm - Ungewöhn liches bemerkt?«, fragte er die immer noch gaffenden Leute. Aber es kam natürlich keine Reaktion. Niemand hatte etwas gesehen. Niemand hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Es war wie immer. Inspektor Murray vergrub seine mächtigen Hände in den Hosentaschen seiner Gabardinehose und wies einen jungen, eifrigen Polizisten an, die Per sonalien der anwesenden Leute aufzunehmen. »Ich werde mich zu ge gebener Zeit noch einmal mit Ihnen unterhalten«, erklärte Murray und in seiner Stimme lag etwas, das keinen Widerspruch zuließ. Inzwischen hatte Doc Spencer die Frau in ihre Wohnung zurück gebracht und ihr eine Beruhigungsspritze gegeben. Als er die Woh nung Joseph Greenburys wieder betrat, nickte er dem Inspektor zu. »Ich habe ihren Mann benachrichtigt. Er wird bald hier sein.« Inspektor Murray nickte. »Was halten Sie von diesem - Todesfall, Amos?«, fragte er. Amos Spencer blickte ihn offen an. »Der Mann war in einer kör perlich guten Verfassung. Dennoch muss ich auf Herzversagen tip pen.« Doc Spencer grinste. »Aber das hat Ihnen doch sicherlich mein Assistent bereits gesagt!« Murray verzog sein Gesicht zu einem schwachen Lächeln. »Das hat er, Doc.« »Sie sind immer noch, der Alte, Ben«, versetzte Amos Spencer und gab dem Inspektor einen Hieb auf die Schultern. »Sie wollen im mer alles ganz genau wissen. Als ob ich Ihnen etwas verheimlichen würde.« Er schüttelte den Kopf. Murray erwiderte nichts mehr darauf. Er drehte sich um und ging zu John Banning, dem Chef der Spurensicherung. »Etwas entdeckt?« »Nichts, Inspektor. Tut mir leid. Die Wohnzimmertür war von in nen abgeschlossen.« Der Mann strich sich über seine beginnende Glat ze. »Mord - herkömmlicher Mord, fällt also aus.« 40
»Ja«, murmelte Murray. In Gedanken sah er Amanda Willocks Lei che vor sich, ihre entsetzt aufgerissenen Augen... Es gab eine Parallele zu diesem Fall. Aber natürlich sagte das nur sein Instinkt. Kein Gericht der Welt würde etwas auf diese Parallele geben. Auf dieses namenlose Entsetzen, das in den Augen der Toten stand... Und er hatte schon eine Menge toter Menschen gesehen. Er wusste, dass in diesen beiden Fällen etwas Grauenvolles, etwas - Unnatürliches - geschehen sein musste! Murray hob seinen Blick. »Durchsuchen Sie diese Wohnung, Ban ning, stellen Sie alles auf den Kopf! Ich will eine exakte und komplette Liste aller Gegenstände, die in dieser Wohnung sind. Klar?« John Banning kannte Inspektor Murray schon seit Jahren und er wusste, dass Murray eine Fährte witterte. Und deshalb stellte er keine Fragen. Er nickte nur. »Geht klar, Inspektor. Morgen früh haben Sie die Liste.« »Gut.« Murray nickte John Banning freundlich zu, dann ging er zu Roy Porter. »Kommen Sie, Porter, ich glaube, dass wir beide hier nichts mehr tun können.« Sie fuhren mit dem Lift ins Erdgeschoß hinunter und verließen den Wohnsilo. Als sie in den Dienstwagen stiegen, meinte Murray, halb zu sich selbst: »Dieser Neal Hamilton - der hat doch gestern angerufen und mitgeteilt, dass er für einen Monat auf diese Insel Revenge Island fährt. Angeblich, weil das Testament seiner Tante es so bestimmt.« »Stimmt genau, Inspektor«, pflichtete ihm Roy Porter bei. »Neal Hamilton hörte sich seltsam aufgeregt an«, fügte er hinzu. »Aufgeregt. Hm.« Murray versank in grüblerisches Nachdenken und Porter hütete sich, ihn zu stören. Genau das war eine der Eigen schaften, die Murray an seinem Assistenten so schätzte. Er konnte schweigen, wenn es richtig war. Genau wie er selbst. Er räusperte sich. Dann meinte er: »Ich glaube, dass wir unserem Freund auf sei ner Insel mal einen kleinen Besuch abstatten sollten...« * 41
Eine eiserne Klammer schloss sich um sein Herz. Neal Hamilton blieb sekundenlang buchstäblich die Luft weg. Der Schrei hatte sich in sein Bewusstsein gebohrt wie eine materielle Waffe. Aber dann reagierte Neal. Er hetzte los, hinüber zum Haus, aus dem der Schrei gekommen war, ohne sich um die Reaktionen seiner Gefährten zu kümmern. Das Portal des Hauses war nur angelehnt. Neal schmetterte es auf, stürzte in die Halle, die groß genug war, um zwanzig Personen mühelos Stehplatz zu bieten. Boden und Wände waren aus Holz. Ge nau gegenüber führte eine breite Treppe in die anderen Stockwerke hoch. Links und rechts dieser Treppe zweigten Korridore ab, die tief in das Innere dieses Hauses führten. Rechter Hand von Neal war ein rie sengroßer Kamin und linker Hand eine wohl sortierte Bar. Aber das nahm er nur aus den Augenwinkeln wahr, in Sekundenbruchteilen. Es war jetzt unwichtig. Woher war der Schrei gekommen? Neal blickte sich um. Jetzt war wieder alles in eisige Stille ge taucht. »Mrs. Gray?«, rief er. Aber er erhielt keine Antwort. Er presste die Lippen zusammen und wandte sich nach rechts. Seine Augen gewöhn ten sich rasch an das dämmrige Zwielicht, das im Haus herrschte. Plötzlich hörte er das leise Wimmern. Er ging in die Richtung, aus der das Wimmern kam. Eine mächtige Flügeltür versperrte den Weg. Neal zögerte, seine Hand lastete leicht auf der Klinke. Weit hinter sich hörte er Stimmen und Schritte. Die anderen folgten ihm also, sie hat ten sich inzwischen von ihrem Schock erholt. Neal drückte die Klinke nieder und zog die Tür auf. »Nein!«, schrillte ihm ein Schrei entgegen. Neals Reflexe retteten ihm sein Leben. Er hechtete vorwärts, kam nach einer gewandten Schulterrolle wieder auf die Beine und sah sich wild um. Dort, wo er soeben noch gestanden hatte, steckte ein überdimensionales Messer. Das Messer wippte leicht auf und ab. Und dann sah er die Frau. To tenbleich stand sie nur wenige Schritte vor ihm und starrte ihn an, als sei er der Satan persönlich. »Nein, nein«, stammelte sie. »Das - das wollte ich nicht! Ich wollte Sie nicht töten... Ich dachte...« Die Frau schlug beide Hände vor ihr Gesicht. Ihre Schultern zuckten. 42
Neal ging zu ihr. »Was ist geschehen?«, fragte er ruhig. »Ich wollte Sie nicht töten, Mister! Bitte, glauben Sie mir! Bitte... Ich dachte, dass - dass es wieder beginnt... Ich habe Angst! Angst! Mister. Helfen Sie mir!« Flehend klammerte sie sich an ihm fest und blickte ihn an. »Nun beruhigen Sie sich doch, Mrs. Gray. Es ist ja nichts pas siert.« »Nichts passiert?« Ihre Augen wurden noch größer. »Sie haben es nicht gesehen. Deshalb verstehen Sie es nicht. Plötzlich schwebte die ses Messer auf mich zu, wie von unsichtbarer Hand geführt! Und dann sah ich ein Augenpaar, blutrot war es... Direkt aus dem Nichts heraus schienen mich diese furchtbaren Augen anzusehen. Ein höllischer Aus druck war in diesen Augen... Oh, ich werde es nie wieder vergessen können.« Mit einer schwachen Geste wischte sich Mrs. Gray ihre Trä nen aus den Augen. »Ich - ich hörte Stimmen, draußen. Das gab mir Mut und die Kraft, zu schreien. Im gleichen Moment fiel das Messer zu Boden. Ich ergriff es und wollte mich verteidigen. Und als ich dann Ihre Schritte hörte, zögerte ich nicht. Ich war wie von Sinnen.« »Das hätte leicht ins Auge gehen können«, erwiderte Neal und strich der Frau begütigend über ihr zerzaustes Haar. Mrs. Gray war groß und schien ausschließlich aus Knochen zu be stehen. Ihre Beine waren lang und dünn, ihre Brust flach, ein Busen war nicht einmal zu ahnen. Ihr Gesicht war hager, schroff ragten die Backenknochen hervor. Die Augen der verängstigten Frau jedoch wa ren wunderschön, obwohl jetzt Furcht darin lag. »Was ist geschehen?« Mr. Gray stand an der Tür, sein Gesicht war verzerrt. Hinter ihm drängten sich Eddy Hopper, Clay Stevens, Jean, Germaine und Anika. Neal winkte ab. »Der Geist...«, ächzte Mrs. Gray schwach. »Er - er wollte mich tö ten. Er hat mich angegriffen.« Mr. Gray zuckte zusammen. Seine Augen irrlichterten. »Ich sagte es ja. Dieses Haus ist verdammt. Die ganze Insel ist verdammt. Glau ben Sie mir nun?« Er wandte sich an Neal Hamilton und funkelte ihn an. 43
Neal drückte Jean an sich. »Wird schon alles klargehen, Gold stück«, meinte er. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Stimme rau und fremd klang. Und irgendwie fühlte er sich auch so. Ja, er war sich in den letzten Tagen selbst fremd geworden. Seine Gefühle lagen in stetem Wider streit miteinander. War es falsch gewesen, hierher zu kommen? War es falsch gewesen, seine Freunde mitzubringen? Tausend Fragen ohne Antworten. Vielleicht war das bereits ein Teil der posthum angewandten Bosheit seiner Tante? Die innere Zer rissenheit quälte Neal höllisch. * Als sie von ihrem Rundgang durch das Haus zurückkehrten, war die mächtige Tafel im Speisesalon im ersten Stock bereits gedeckt. Mrs. Gray stand abwartend am Kopfende der Tafel. »Darf ich servieren?«, fragte sie kühl. Neal nickte. »Bitte.« Nachdem Mrs. Gray das Zimmer wortlos verlassen hatte, sagte Eddy: »Weißt du, Neal, das alles kommt mir ein bisschen wie eine schlecht inszenierte Komödie vor. Jetzt fehlt nur noch der liebe Graf Dracula und die Horror-Show wäre komplett.« Er schüttelte den Kopf. »Wird Zeit, dass wir Leben in diese verstaubte Bude bringen!« »Die Zeit wird kommen«, versetzte Clay seltsam tonlos. »Was hast du denn, Clay, Liebling?«, erkundigte sich Anika be sorgt. »Nichts habe ich«, antwortete er unwillig. »Ich, ich fühle mich unwohl. Diese Räume... Ich kann das nicht ausstehen.« Er blickte Neal an. »Sony, Freund, aber irgendetwas sagt mir, dass Mrs. Gray nicht nur lügt...« »Bangemachen gilt nicht!«, sagte Germaine und kicherte. »Ich je denfalls fühle mich hier sehr wohl. Und vor Geistern fürchte ich mich nicht. Wenigstens nicht sehr. Apropos: Wie das wohl ist, wenn man von so einem Wesen berührt wird?« Sie schüttelte sich. »Jaja, sehr angenehm wird das sicherlich nicht sein.« 46
Eddy hob seine zu Klauen geformten Finger. »Du musst dir das etwa so vorstellen«, begann er mit schrecklich verzerrtem Gesicht. »Nachts liegst du einsam in deinem Bett. Plötzlich wird die Tür mit einem Ruck geöffnet. Ein fürchterliches Wesen tritt ein, die Klau enhände erhoben. Und dann...« Eddy brach plötzlich ab. »Nun, den Rest werde ich dir dann heute Nacht zeigen.« Germaine blickte ihn mit großen Augen an. »Heute Nacht jeden falls werde ich allein in meinem Bett liegen. Dieser Punkt deiner Aus führungen war richtig«, sagte sie mit einem boshaften Lächeln. »Wenn ich mir vorstelle, dass du diese Anwandlung wiederbekommen kannst igitt!« Eddy verdrehte die Augen und seufzte. »Wie du meinst«, erwider te er schnippisch und wandte sich ab. Sie setzten sich. Neal ließ seinen Blick schweifen. Der Speisesalon war - wie fast alle Räume dieses Hauses - sehr groß. Die Wände waren mit Zedernholz getäfelt, von schweren Deckenbalken hingen mehrere kristallene Kronleuchter. An den Wänden waren schwere, wuchtig ge rahmte Ölgemälde, deren Farben dunkel waren und zum Teil bereits leicht abblätterten, angebracht. Vorwiegend Szenen ländlicher Jagden waren hier dargestellt. Nur ein Bild war anders. Es zeigte eine Szene, die absolut nicht zu den anderen passen wollte. Eine Frau mit langen blonden Haaren wurde auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Etwas Bedrohliches, Düsteres strahlte von diesem Bild aus. Mrs. Gray servierte den Lunch. Schweigend nahmen die jungen Leute das leichte Essen ein. Später setzte Dr. Lambert das Protokoll auf und ließ es von Neal und den anderen Anwesenden unterzeichnen. »Gut«, sagte er dann. »Vorerst also ist meine Aufgabe erfüllt. So mit kann ich beruhigt nach London zurückkehren. Ich verabschiede mich von Ihnen allen und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufent halt - obwohl die Vorzeichen nicht gerade die besten waren. Genau in einem Monat werde ich wiederkommen und Sie abholen.« Er sah sich in der Runde um, nickte und erhob sich mit einer gleitenden Bewe gung. »Tja, das war's dann wohl gewesen.« Neal schob seinen Stuhl zurück und erhob sich ebenfalls. »Ich werde Sie zum Strand hinunter begleiten, Mr. Lambert«, sagte er. 47
»Oh, das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte der Rechtsan walt. »Ich werde mich nur noch ein bisschen frisch machen, dann können wir gehen. Ich muss mich beeilen. In London wartet bereits sehr viel Arbeit auf mich. Leider.« Bedauernd zuckte er die Schultern. »Ist es nicht gefährlich, dich allein zu lassen?«, erkundigte sich Jean, nachdem Dr. Lambert den Speisesalon verlassen hatte, um eines der Badezimmer aufzusuchen. Er ging nicht auf ihre Frotzelei ein. »Du hast immer noch Angst«, stellte er ruhig fest. Sie nickte. »Wenn ich ganz ehrlich bin, ja. Du solltest nicht allein zum Strand gehen. Weißt du, meine Ahnungen haben sich bis jetzt immer bewahrheitet. Ich - ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Obwohl du so ein unmöglicher Bursche bist.« »Vielleicht ist es dieses Mal anders. Die seltsame Umgebung und all das. Vielleicht irrst du dich wirklich. Jean, wir müssen endlich aufhö ren, unsere Nerven zu strapazieren, sonst - sonst überleben wir diesen Monat ganz bestimmt nicht. Weil wir uns dann nämlich selbst fertig machen.« Ernst sah er sie an. »Ich werde Lambert zum Strand beglei ten. Allein. Es muss sein.« »Ich kann dich nicht hindern«, erwiderte sie einfach. »Okay, viel leicht hast du Recht. Ich wünsche es, Neal.« »Sagt mal, Leute, gibt es hier nichts Ordentliches zu trinken?«, er kundigte sich Eddy lautstark. »Ich meine, einen guten Scotch oder so etwas. Ich bin mächtig durstig.« »Die Bar ist in der Halle«, erklärte Anika eifrig. »Aha. In der Halle. Nun gut, dann werde ich mich in die Halle be geben und uns ein paar Fläschchen reservieren, einverstanden?« Natürlich waren sie einverstanden. Als Dr. Lambert auf der Schwelle des Salons erschien, nickte Neal ihm zu. »Okay, es ist soweit«, sagte er an Jean gewandt. »Achte auf die anderen«, bat er. »Und vor allem auf die Grays. Du weißt schon, warum.« Jean nickte. »Ich werde mein Bestes tun, großer Meister. Pass auf dich auf, hörst du?« 48
»Den Gefallen tue ich dir gern.« Er küsste sie leicht auf die Stirn, dann ging er. Gemeinsam mit dem Rechtsanwalt verließ er das Haus. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. »Sie haben uns doch hoffentlich nichts verschwiegen, was dieses Haus dort oben betrifft«, begann Neal schließlich. »Wie meinen Sie das, Mr. Hamilton?«, fragte der Anwalt und blick te in fragend an. »Nun, alles wirkt irgendwie sonderbar. Sicherlich haben Sie es auch gefühlt. Dieses obskure Testament meiner Tante...« Er schüttelte den Kopf. »Es passte nicht zu ihr, verstehen Sie. Tante Amanda hielt nichts von Phantasie und all dem. Sie war eine eiskalte Praktikerin. Und doch hat sie dieses seltsame Testament verfasst, das bestimmt, dass ich einen Monat auf dieser verdammten Insel lebe. Zusammen mit einem mehr als komischen Ehepaar. Ja und dann die Sache mit dem Geist...« Dr. Lambert lachte. »Sie haben sich also doch beeindrucken las sen«, stellte er fest. »Sie haben es gut vor den anderen verborgen«, fügte er dann hinzu. »Ich will sie nicht allzu sehr beunruhigen. Schließlich habe ich ih nen einen Monat Erholung versprochen...« Neal brach ab. Da war sie wieder, die unausgesprochene Frage: War es richtig gewesen? Hatte er richtig - also verantwortungsbewusst gehandelt? Dr. Lambert blieb stehen. »Sie werden genügend Zeit haben, sich hier zu erholen, glauben Sie es mir. Auch wenn heute alles dagegen spricht, diese Insel ist wunderbar. Sie müssen versuchen, abzuschal ten, Ihre Nerven zu beruhigen. Dann sieht alles anders aus. Eigentlich kann ich sehr gut verstehen, dass Sie - und auch Ihre Freunde - be unruhigt sind. Es gibt meiner Ansicht nach dafür eine ziemlich einfache Erklärung. Sie sind ebenso wie ich Großstadtmenschen. Die wilde Na tur dieser Insel wirkt daher auf Sie beängstigend, abschreckend, be drohlich.« Neal zuckte die Schultern. »Ich bin nicht sehr leicht zu beeindru cken, wissen Sie. Aber es kann natürlich sein, dass Sie dennoch Recht haben. Ich bin kein Psychologe.« Er lachte rau. Sie gingen weiter und wenig später erreichten sie den Strand. 49
Während der Rechtsanwalt das Boot zurück ins Wasser schob, sah Neal aufs Meer hinaus. In der Ferne braute sich ein Gewitter zusam men. Mächtige dunkle Wolkenbänke hingen tief über dem unruhigen Wasser. »Ich darf mich von Ihnen verabschieden, Mr. Hamilton«, rief Dr. Lambert und stapfte durch das niedere Wasser zurück zum Strand. »Bis in einem Monat... Es sei denn, Sie überlegen es sich anders. In diesem Fall bitte ich Sie, mich anzurufen. Ich werde dann veranlassen, dass man Sie und Ihre Freunde bereits zu einem früheren Zeitpunkt abholt.« »Wir werden sehen«, erwiderte Neal einfach. Dann ergriff er die dargebotene Hand des Anwalts und schüttelte sie. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, Mr. Hamil ton«, sagte Dr. Lambert und in seinen Augen funkelte es. »Ich benei de Sie, wenn ich ganz ehrlich bin.« Neal nickte. »Hoffentlich ist das gerechtfertigt.« Er blickte sich skeptisch um. »Nun ja, wir werden sehen, wie gesagt...« Der Anwalt lächelte schwach, dann ging er zum Boot, ließ sich hineingleiten und warf den Motor an. »Bye, Mr. Hamilton«, rief er noch einmal, als er davonfuhr. »Bye«, erwiderte Neal leise. Nachdenklich sah er dem davonfah renden Lambert nach und ein hässlicher Gedanke kam in ihm auf. Wenn die Grays kein Boot besaßen - dann waren sie nun Gefangene von Revenge Island! * »Stopp, Freundchen!«, befahl eine Stimme, die etwa so viel Charme enthielt wie ein elektrischer Rasenmäher, der über Asphalt schrammt. Neal kam dem Befehl nach. Er erstarrte. Gleichzeitig vernahm er das raschelnde Geräusch neben sich, die hastige Bewegung. Dann wurde sein Kopf herumgerissen. Neal starrte in zwei maskierte Gesich ter. »Sieh an, wen wir da an Land gezogen haben«, stieß der Größere der beiden hervor. Er hatte mächtige Schultern und einen Stiernacken. 50
*
Neal brauchte dieses Mal bis zum Haus eine volle Stunde. Die beiden Männer hatten ihr Geschäft verstanden. Sie waren wirklich Profis. Die Schläge, die er hatte einstecken müssen, wirkten präzise, wie ein Zeit zünder. Neal zerbiss einen Fluch auf den Lippen. Aber dann setzte sich sein unverwüstlicher Humor durch. Zumindest hat meine Jean wieder Recht behalten, dachte er. Er stieß das Portal auf und wankte in die Halle - und an die Bar. Dort genehmigte er sich einen doppelten Scotch und fühlte sich schließlich wie neugeboren. »Die anderen sind...«, begann Jean, die lautlos herangekommen war. Aber dann sah sie Neals Gesicht und schwieg. Zehn Herzschläge lang dauerte ihre Schrecksekunde. »Was ist passiert, Neal?«, fragte sie leise. Er erzählte es ihr in knappen Sätzen. Ihre Augen waren seltsam starr, nachdem er geendet hatte und sie ansah. »Ich verstehe das nicht«, flüsterte sie ein bisschen hilflos. »Die beiden Kerle handelten im Auftrag eines potentiellen anderen Erben des Willock-Vermögens«, sagte Neal. »Denk an den entspre chenden Passus in Tante Amandas Testament. Wenn ich den Monat auf dieser Insel nicht durchstehe, dann erben die auf der Anlage ge nannten Personen und Vereinigungen das...« »Du meinst, jemand hat ein paar Gangster darauf angesetzt, um dich und uns von dieser Insel zu bekommen?« Jean konnte es immer noch nicht glauben. Neal nickte nur. »Ja, das meine ich. Es ist die einzige logische Er klärung, findest du nicht auch?« Er strich über ihr erhitztes Gesicht. In ihren Augen leuchtete etwas auf. »Aber wir werden uns nicht verjagen lassen, Mr. Hamilton, - nicht wahr?«, stellte sie dann fest und lächelte schwach. Ihr Kampfgeist schien wieder zu erwachen und Neal merkte, wie es über seinen Rücken prickelte. So liebte er seine Jean. »Wir werden diesen Ganoven eine Falle stellen. Sie werden sich an uns die Zähne ausbeißen!« Sie hatte ihre Finger zu Fäusten geballt. 53
»Du bist also fest entschlossen, Goldstück?«, fragte er - scheinbar zögernd. »Du etwa nicht?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre schwarzen Haare flogen. »Du wirst doch nicht etwa kneifen?« »Aber nein!« Er lachte. »Ich meine nur, dass wir vielleicht auch die anderen einweihen müssen. Schließlich haben die Gangster ge droht...« Sie unterbrach ihn tatendurstig. »Natürlich werden sie unserer Meinung sein, Neal. Sie lassen uns nicht im Stich. Du wirst es erle ben.« »Okay. Wir werden mit ihnen sprechen. Später. Jetzt will ich erst mal telefonieren.« Sie blickte ihn an. »Mit Dr. Lamberts Büro?« »Du bist eine Hellseherin, Jean«, antwortete er lächelnd. »Es inte ressiert mich nämlich brennend, zu erfahren, wer die auf der Anlage genannten anderen Erben sind, weißt du. Gegner erkannt - Gefahr gebannt«, setzte er philosophisch hinzu. Sie gingen in das kleine Arbeitszimmer. Dort bestand die einfache Einrichtung lediglich aus einem uralten Schreibtisch, einem unbeque men Ohrensessel und einigen Wandregalen, die voll gestellt waren mit zerfledderten Büchern. Reiseberichte unzähliger guter und schlechter Autoren. Diese kleine Bücherauswahl konnte nicht konkurrieren mit der gigantischen Menge an Büchern in der Bibliothek. Neal setzte sich in den Sessel und griff nach dem Hörer des Tele fons. Und jetzt erwartete ihn eine weitere böse Überraschung. Die Leitung war tot. Die Verbindung zur ›Außenwelt‹, wie Dr. Lambert sich ausgedrückt hatte, existierte nicht mehr. * Drei Tage vergingen, ohne dass etwas geschah. Neal und seine Freunde hatten Kriegsrat abgehalten und einstim mig beschlossen, sich von der Drohung der beiden maskierten Gangs ter nicht allzu sehr beeindrucken zu lassen. Im Gegenteil: man wollte eine Offensive vorbereiten. 54
Sie durchkämmten die ganze Insel, jeden Stein drehten sie um. Aber alles war vergeblich. Von den Gangstern fehlte jede Spur. Entwe der hatten sie die Insel vorerst verlassen, oder sie lauerten in einem sehr guten Versteck. Neal war nervös und das nicht grundlos. Jeden Augenblick konn ten die Gegner zuschlagen... Er kam sich vor wie ein Mann, der auf einem Pulverfass saß, an dem eine brennende Lunte angebracht war. Auch die Erleichterung darüber, dass es sich bei den Gangstern ganz offenbar um sehr menschliche Wesen handelte, konnte an dieser düs teren Stimmung nichts ändern. Doch nichts geschah. Noch nicht. * »Bis jetzt ist doch alles recht friedlich, findest du nicht?«, fragte Eddy und strich sich zufrieden über seinen Bauch. Eddy Hopper war ein Zweizentnermann, 29 Jahre alt und unver wüstlich. Der mächtige rote Vollbart, der sein Gesicht zierte, ließ ihn wesentlich älter und ernster aussehen, als er tatsächlich war. Eddy pflegte zwei Hobbys, Wodka und Jazz. Beide hatte er - da er ein ziemlich konsequenter Mann war - auch beruflich miteinander zu verbinden verstanden. Er war Sänger und Schlagzeuger einer JazzBand, die regelmäßig im Halloween-Inn in der Rockfort-Lane auftrat. Der Wodka gab - wenn man Eddy glauben wollte - seiner Stimme das besondere Etwas. Neal brummte etwas Unverständliches. »Wie bitte?« »Ich sagte, dass du einen sonnigen Humor hast«, wiederholte er und fixierte den Freund. Der tat unbeeindruckt. Er gähnte und erhob sich dann und blickte auf seine Uhr. »Ist unsere Wache nicht bald vorbei?«, erkundigte er sich dann. »Meine Anika wird mich sicher schon mächtig vermissen.« Neal sah zum Himmel und entgegnete nichts. Manchmal fand er den Freund ganz schon unausstehlich. Vor allem dann, wenn er selbst tödliche Situationen nicht ernst nahm. 55
Und dies war eine tödliche Situation. Seit gestern teilten sie Wa chen ein. Sie wollten vorbereitet sein, wenn der Gegner zuschlug. »Na, komm schon, unsere Wache ist wirklich vorbei«, brachte sich Eddy wieder in Erinnerung, nachdrücklicher dieses Mal. Er sprach lau ter. »Okay, okay«, erwiderte Neal und stand ebenfalls auf. Sie gingen den schmalen Weg zurück zum Haus. Der Weg führte nahe am Rand der Klippen vorbei. Man hörte das unablässige Wogen des Meeres, das einige Meter tiefer gegen den Fels klatschte. Die auf gehende Sonne sandte ihre ersten Strahlen tastend zur Erde nieder und tauchte alles in ein seltsames, unwirkliches Licht. Eine ebenso unwirkliche Stimmung hatte von Neal Besitz ergriffen. Unruhe. Ja, ge nau das war es. Nagende Unruhe. Nachdem sie die Insel nicht wie verlangt verlassen hatten - was würde geschehen? »Du, ich glaube, wir bekommen Besuch«, sagte Eddy, ohne seine Stimme sonderlich anzuheben. Neal sah in die von Eddy gedeutete Richtung. Zwei Männer waren dort zu sehen. Sie kamen vom Strand herauf und zweifellos war das Haus ihr Ziel. »Los!«, flüsterte Neal und rannte los. »Trimmtrab nennt man das«, rief Eddy, als er Neal endlich einge holt hatte. »Weißt du, das soll sehr gesund sein. Vor allem, wenn man regelmäßig trabt. Hm - scheint so, als müsse ich in diesem Urlaub eine Fitnesskur absolvieren. Und das einen vollen Monat lang. Puh!« Ange widert verzog er sein Gesicht. Minuten später hatten sie eine Stelle erreicht, von der aus sie ei nen hervorragenden Überblick hatten. Der Pfad, der vom Strand zum Haus hoch führte, führte nur wenige Meter tiefer vorbei. Neal presste sich gegen die vom Morgentau feuchte Erde und spähte hinunter. Schritte waren dort zu hören und Stimmen. »Was tun wir, wenn das die Burschen sind?«, erkundigte sich Ed dy so leise wie möglich. Neal zuckte die Schultern. 56
Er kniff seine Augen zusammen. Die beiden Männer bogen um ei nen mannshohen Strauch und waren nun deutlich zu erkennen. Es waren Inspektor Murray und sein Assistent Porter. »Falscher Alarm«, flüsterte Neal und erhob sich. »Du kennst die Burschen?«, brummte Eddy erstaunt. »Polizei«, erwiderte Neal einsilbig. Er fragte sich, was geschehen war. Warum tauchten die beiden Beamten ausgerechnet jetzt auf Re venge Island auf? »Hallo, Inspektor Murray!«, rief er und stand auf. Der Kopf des Polizisten ruckte hoch. »Ah, sieh an, Mr. Hamilton«, sagte er ohne sich auch nur eine Spur von Überraschung anmerken zu lassen. »Haben Sie uns etwa erwartet?« »Nein, eigentlich nicht«, antwortete Neal so überzeugend wie möglich. »Wir waren auf der Jagd nach einem ansehnlichen Frühstück, wissen Sie. Der Hunger, Sie verstehen, Inspektor.« »Aha. Der Hunger«, versetzte Inspektor Murray. Inzwischen hatte er behände den leichten Abhang erklommen und sich vor Neal und Eddy aufgebaut. »Sie sind ein Freund Mr. Hamiltons?« »Klar, Inspektor«, antwortete Eddy unbeeindruckt von der knap pen Art des Inspektors. Murray nickte. »Ich muss mit Ihnen sprechen, Mr. Hamilton«, sag te er dann. »Stets zu Diensten, Inspektor.« »Kennen Sie einen gewissen Joseph Greenbury?« »Ja. Er ist mein Freund. Warum fragen Sie?« »Weil er Ihr Freund war. Er ist tot.« Neal starrte Inspektor Murray an. »Wie ist er gestorben?«, flüster te er dann mit heiserer Stimme. »Herzversagen.« Murrays Assistent, Porter, hatte dies gesagt. »Herzversagen«, echote Neal tonlos. »Aber das ist unmöglich, hö ren Sie. Jo war kerngesund, er kann nicht an Herzversagen gestorben sein. Er...« 57
Erst Minuten später wich der Bann von ihnen. Neal fluchte. Eddy schüttelte stumm den Kopf. »Das gibt es doch nicht«, presste er dann hervor. »Und das zu allem Übel auch noch auf nüchternen Magen.« »Verdammt, ich glaube an Geister, Eddy! Ja, so langsam glaube ich wirklich daran!« Neal war totenbleich, in seinem gut geschnittenen Gesicht zuckte es. Eddy nickte und hob die mächtigen Schultern. Dann kratzte er sich seinen struppigen Bart. Auch er schien ziemlich verwirrt zu sein, denn er sagte nichts mehr. * In der Höhle war es feucht und kalt. John Flowerty zerbiss einen ker nigen Fluch zwischen den Zähnen und wandte sich an seinen Partner. »Wie lange sollen wir hier eigentlich noch auf unseren großen Auftritt warten, he?«, fragte er ungehalten. John Flowerty, der Mann mit dem Stiernacken, hasste nichts so sehr wie das untätige Warten. Er liebte es, seine Aufträge direkt, ohne hinderliche Umwege auszuführen. Sein Partner, Freddy Coleman wusste, was ihn bewegte. Er zuckte die schmächtigen Schultern. »Du weißt, dass unser Boss angeordnet hat, dass wir diesem feinen Mr. Hamilton ein paar Tage Bedenkzeit geben. Und was der Boss anordnet, das ist für uns nun mal Gesetz. Reg dich nicht auf!« Freddy Colemann verzog sein Pickelgesicht zu einer Maske und wandte sich wieder dem Comic zu, in dem er gelesen hatte. »Verdammt«, knurrte John Flowerty. »Mir gefällt dieser Auftrag nicht sehr. Ich halte es in dieser Höhle nicht mehr aus!« Wild sah er sich um, aber da war nur allgegenwärtige Dunkelheit. Die Höhle, in der sie sich versteckt hielten, führte etwa zwanzig Meter tief in die Klippen auf der Nordseite der Insel. Nirgends war diese Höh le groß genug, um aufrecht stehen zu können. Das Licht, das tagsüber durch den schmalen Eingang, der direkt über dem Meer lag, fiel, war milchig-trübe. Er roch unangenehm und durchdringend nach Tang und salzigem Meerwasser. 60
Freddy Colemann richtete seine Taschenlampe auf ihn. Der feine Lichtstrahl durchschnitt die Dunkelheit. »Nun sei nicht so unruhig, John. Das macht nur deine Nerven kaputt und die brauchen wir bei diesem Unternehmen. Morgen Abend schlagen wir zu. Und dann ver schwinden wir eine Weile von dieser Insel.« »Wird auch Zeit«, murrte John Flowerty. Er kroch zu Freddy und grinste dann. »Wir werden denen mächtig das Fürchten beibringen, was?« Colemann nickte. »Das werden wir, Partner. Na, jetzt beginnt dir die ganze Sache wieder Spaß zu machen.« »Klar, Mann.« »Na siehst du. Und jetzt stör mich nicht mehr. Ich möchte diesen Comic gern in Ruhe zu Ende lesen.« Die Zeit verrann. Das unablässige monotone Rauschen des Meeres war von einschläfernder Wirkung. John Flowerty fielen die Augen zu, nur für ein paar Sekunden jedoch. Dann war er wieder hellwach. War da nicht ein Geräusch gewesen? Er hob seinen Schädel und lauschte angestrengt. Nichts. Kein Laut außer dem Plätschern der Wellen war zu hören. »Hast du nichts gehört?«, erkundigte er sich sicherheitshalber bei seinem Partner Colemann. Der murmelte etwas Unverständliches und hob schließlich unwillig den Kopf. »Was soll ich denn gehört haben, verdammt? Du glaubst doch nicht, dass dieser Hamilton und seine Freunde dieses Höhlenver steck finden? Ausgerechnet mitten in der Nacht?« Flowerty biss die Zähne zusammen. Manchmal ging ihm sein arro ganter Kumpel ganz schön auf die Nerven. Der bildete sich wohl ein, etwas Besseres zu sein! Eine Gänsehaut rann über Flowertys mächtigen Rücken. Er zuckte zusammen. Ein eisiger Lufthauch hatte ihn gestreift. Seine Furcht wuchs. Und dann sah er die Augen. Rote, blutrote Augen waren es... »Da! Freddy! Sieh doch!«, kreischte Flowerty in höchster Angst. Colemann drehte sich behäbig um. »Was ist denn jetzt schon wie der, John? Willst du mich auf den Arm ne...« Das letzte Wort seines 61
John Flowerty warf sich herum. Der Höhleneingang war nur noch knapp vier Meter entfernt. Wenn es ihm gelang, diese Höhle zu verlas sen, dann hatte er sämtliche Chancen auf seiner Seite. Aber in diesem Augenblick stürzte sich Freddy Colemann auf ihn, seine Finger zu Krallen gebogen. Flowerty fluchte unterdrückt, als sich die Finger Freddys um seinen Hals schlossen. Woher schöpfte der dünne Freddy diese unheimliche Kraft? Dieser Gedanke hämmerte in John Flowertys Gehirn, bis es vorbei war. Sekundenlang herrschte tödliche Stille in der feuchten Höhle. Nur Freddy Colemanns hektisches Atmen war zu hören. Als Freddy wieder zu sich kam, als er endlich wieder Herr seiner Sinne und Handlungen war, sah er den leblosen, mächtigen Körper seines Partners. Ungläubig richtete er sich auf. Das Grauen rieselte langsam über seinen Rücken. Was war geschehen? Er erinnerte sich nur an dieses grauenvolle Augenpaar, in das er schließlich hin eingestürzt war... »Du warst mein Werkzeug!«, sagte da eine höhnische Stimme. Di rekt hinter ihm! Colemann wirbelte aufkeuchend herum. Nichts war zu sehen! Er war allein! Allein mit dieser Stimme - und den Augen. Überall sah er sie plötzlich, diese Augen. Sie führten einen wilden Tanz auf. »Es war belustigend, zu sehen, wie du mir - MIR - gehorchtest. Sonst bin ich es, der gehorchen muss.« Schrilles, gellendes Lachen folgte diesen Worten. »Aber genug gescherzt! Auch dich muss ich ver nichten, Sterblicher. Mein Herr wünscht, dass sein großer Plan nicht gestört wird...« »Nein! Nein!«, stammelte Freddy und das Echo dieser Schreie hallte wider und wider von den schroffen Wänden der Höhle. »Nenne mir den Namen deines Auftraggebers!« »Wenn - wenn ich dir seinen Namen sage - kann ich dann ver schwinden? Ich meine - wirst du mich verschonen? Ich verspreche dir, dass ich nie über das, was hier geschehen ist, reden werde - bitte!« 63
Schweigen. Tödlich lastete dieses Schweigen in der Höhle. Freddy Colemann wusste, was es zu bedeuten hatte. Der Unheimliche ließ nicht mit sich handeln. Er war verloren! »Ich will den Namen deines Auftraggebers wissen!« »Nick Carpenter ist es«, flüsterte Freddy Colemann tonlos. »Er will Hamiltons Vermögen erben, deshalb hat er uns engagiert, dafür zu sorgen, dass Hamilton die Bedingungen des Testaments seiner Tante nicht erfüllen kann. Carpenter ist mein Boss.« Freddy Colemann sank in sich zusammen. Er fühlte, sich leer und verraten. Und dann registrierte er mit erschreckender Deutlichkeit, dass sich sein Herzschlag verlangsamte... * Heftiger Regen peitschte prasselnd gegen die Fensterscheiben des Hauses. Irgendwo schlug ein Fensterladen wummernd gegen die Mau er. Neal stocherte lustlos in seinem Essen. Schon seit Tagen hatte er keinen richtigen Appetit mehr. »Wenn du weiterhin so wenig isst, fällst du wohl vollends vom Fleisch, mein Bester«, sagte Jean und warf einen bezeichnenden Blick auf seinen Teller. »Schließlich musst du nicht nur stark sein für den Fall, dass dieser komische Geist doch noch auftaucht, um uns alle zu vernichten, sondern auch für... Nun ja, du weißt schon.« Eddy winkte ab. »Wer wird denn immer daran denken, Jean. Nun gönn deinem Neal eben auch mal ein bisschen Ruhe!« Er zwinkerte Jean verschwörerisch zu. »Außerdem: Ich schätze, dass der Geist, von dem du gesprochen hast, nicht mehr erscheint. Immerhin sind wir jetzt seit drei Wochen auf dieser Insel und nichts ist passiert. Nicht mal die beiden Burschen, die Neal so übel mitgespielt haben, sind mehr aufgetaucht. Ich schätze, dass das ein gutes Omen ist.« »Es war jedenfalls ein sehr interessanter Urlaub«, warf Anika lä chelnd ein. »Ohne Farbfernseher und Rushhour - und doch mit einem Höchstmaß an nervlicher Zerfaserung.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch einmal möchte ich das nicht miterleben. Wirklich nicht« 64
Germaine hatte an diesem Abend darauf verzichtet, das Fenster offen zu lassen. Der heftige Regen und die heulenden Geräusche, die der Wind verursachte, wenn er um die Ecken des Hauses orgelte, hat ten ihr ein bisschen Angst gemacht. Jetzt lastete eine schwüle Hitze in dem dunklen Zimmer im ersten Stock des Hauses. Germaine wurde plötzlich unruhig. Sie wälzte sich auf die andere Seite, ein leises Stöh nen brach von ihren Lippen. Und plötzlich war sie hellwach. Sie hob ihre Lider, ohne sich zu bewegen. Vollkommen regungslos starrte sie in das Dunkel. Sie hatte etwas gehört. Schritte. Leise, vorsichtige Schritte... Oder hatte sie es geträumt? Germaine atmete schneller. Es fiel ihr immer noch ein bisschen schwer, klar zu denken, die notwendige Beziehung zur Realität zu finden. Sie hörte die Schritte wieder. Ein hässliches, schlurfendes Geräusch, das sich monoton wiederholte. Germaine richtete sich auf. Sie merkte, wie sich auf ihrer Stirn ein leichter Schweißfilm bildete. Sie streckte ihre Hand aus und schüttelte Eddy heftig. Aber Eddy ließ sich dadurch nicht stören, er wachte nicht auf. Er schlief den Schlaf des Gerechten. Der Scotch hielt ihn wie mit stählernen Klauen im Reich der Träume. Germaine spürte die Verzweiflung und die Angst in sich hoch pul sieren. Sie zitterte. Ihre Gedanken jagten sich. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? - Licht, ich muss das Licht anknipsen!, entschied sie gleichzeitig. Mit fahrigen Fingern tastete sie durch die Dunkelheit nach dem Lichtschalter. Sie fand ihn nicht! »Mein Gott, Eddy!«, hauchte sie. »Eddy!« Aber Eddy Hopper bewegte sich nicht. Germaine begriff, dass sie in diesen grässlichen Sekunden ganz allein auf sich gestellt war. Sie wagte nicht daran zu denken, wer in diesem Augenblick durch die Kor ridore des Hauses der Amanda Willock schlich... Sie verzog ihren hübsch geformten Mund. Ihre Lider flatterten. Sie fröstelte. Mühsam nur beherrschte sie sich. Mit einer nervösen Bewegung glitt sie aus dem Bett. Leise tapsend kamen ihre nackten Füße auf dem mit hölzernen Bohlen ausgelegten Fußboden auf. Mit ausgestreckten Armen ging Germaine durch das 68
Zimmer in die Richtung, in der sie die Tür wusste. Als sie die Klinke umfasste, atmete sie auf. Sie öffnete die Tür so leise wie möglich. Ein leises, durchdringen des Quietschen, ließ sich nicht vermeiden. Germaine hielt ihren Atem an. Dann quetschte sie sich durch den schmalen Spalt. Dunkel und drohend lag der Korridor vor ihr. Kein Laut war in die sem Augenblick zu vernehmen. Wieder fragte sich Germaine, ob sie nicht doch alles nur geträumt hatte. Dennoch. Es würde besser sein, Neal darauf aufmerksam zu ma chen. Nur zu gut erinnerte sich Germaine an seine warnenden Worte, an die Unruhe, die in seinen Augen gewesen war. Sie kannte Neal schon beinahe so lange wie Eddy. Sie wusste, dass er sich um ihrer aller Wohle sorgte. Sie machte ein paar Schritte. Und dann fühlte sie sich plötzlich von einer Titanenkraft hochgehoben. Gleichzeitig war da etwas Raues, das sich um ihren Hals legte... * Angst nagte in ihm, hässliche, immer gegenwärtige Angst. Und diese Angst ließ ihn arbeiten, nachdenken, grübeln, nach einem Ausweg suchen. Neal Hamilton wischte sich über seine brennenden Augen, dann konzentrierte er sich wieder auf den Text des vor ihm liegenden Bu ches. Er hatte sich in die mächtige Bibliothek seiner Tante zurückgezo gen. Das, was er eigentlich gesucht hatte, hatte er natürlich nicht ge funden - Bücher über Okkultismus, Parapsychologie, Geister bekämpfung. Aber da war ein anderes, sehr interessantes Buch - eine handgeschriebene Bibel. Die Bibel einer Vereinigung, die sich ›Die Bruderschaft der Schwarzen Rose‹ nannte. Neal hatte noch nie von dieser geheimnisvol len Bruderschaft gehört, um so mehr wunderte er sich, dass ausge rechnet seine Tante Amanda, die nichts so sehr verachtet hatte wie Nachgiebigkeit und Abstraktes, diese Bibel in ihrer Bibliothek aufbe wahrte. 69
Obwohl sich ihm keine Lösung seines Problems anbot, hatte er begonnen, in dem Buch zu lesen. Es war später geworden. Aber er hatte das gar nicht registriert. Er saß an dem wuchtigen Schreibtisch, der nahe dem großen Fenster stand und der Lichtkreis der hübschen Tiffanylampe war die einzige Lichtquelle in dem Raum. Plötzlich glaubte Neal einen dumpfen Aufschrei zu hören. Sein Kopf ruckte hoch. Mit angespannten Muskeln saß Neal, bereit, aufzu springen und zu handeln. Aber der Schrei - oder was immer er gehört hatte - wiederholte sich nicht. Meine Nerven spielen mir einen Streich, sagte er sich und entspannte sich. Minuten vergingen quälend langsam. Dann hörte er Schritte! Has tig, laut hallend, kamen sie näher. Neal erhob sich und hetzte zur Tür. Er spürte plötzlich, dass etwas Grauenvolles passiert war... Die Tür wurde von außen aufgerissen, Eddy taumelte herein. Das Gesicht des Zweizentnermannes war aschgrau. Der Mann war völlig außer sich. »Eddy! Was ist passiert!« Neal packte den Freund bei den Schul tern und schüttelte ihn. Eddy holte Atem. »Ich - ich habe keine Ahnung. Neal, Germaine ist verschwunden... Sie ist weg! Verdammt, ich bin aufgewacht und das Bett neben mir war leer. Sie muss schon länger aufgestanden sein, denn das Laken ist bereits kalt.« »Himmel! Und du hast nicht bemerkt, dass sie aufgestanden ist?«, fragte Neal knapp. Eddy schüttelte stumm den Kopf. Er machte sich Vorwürfe, das war nur zu offensichtlich. »Wir müssen sie suchen«, presste er ver zweifelt hervor. »Hoffentlich ist es nicht schon zu spät!« »Hoffentlich«, echote Neal. »Mann, wo sollen wir suchen. Dieses Haus ist riesengroß.« Fahrig strich er sich sein zerzaustes Haar zurück und schüttelte den Kopf. »Der Keller!«, stieß Eddy hervor. »Dieser Rechtsanwalt hat doch gesagt, dass es außer dem üblichen Keller auch noch Gewölbe und Grabkammern dort unten gebe. Vielleicht hat man meine Germaine dorthin geschleppt...« 70
Inspektor Murray stoppte seinen Dienstwagen vor dem Headquarter. Er schaltete den Motor ab, dann lehnte er sich in dem unbequemen Sitz zurück und fuhr sich über die Augen. Er fühlte sich hundemüde, gleichzeitig aber wusste er, dass er wieder kein Auge zubekommen würde in dieser Nacht. Er litt seit ein paar Tagen an Schlafstörungen und was er auch dagegen unternommen hatte - es war vergeblich ge wesen. Ben Murray zündete sich eine Zigarette an - die erste seit zwei Jahren. Tief zog er den Dunst in seine Lungen. Es schmeckte wider lich. Er quälte sich aus dem Wagen, schlug die Tür zu, verschloss sie und wollte losgehen. Da bemerkte er den Schatten, der sich aus einem Hauseingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite löste und direkt auf ihn zukam. Murray reagierte so, wie er es in langen Dienstjahren gelernt hat te. Er griff nach seiner Waffe und ließ sich nichts anmerken. Obwohl in seinem Kopf eine ganze Maschinerie auf Hochtouren arbeitete. Wer wollte zu dieser Zeit noch etwas von ihm? Wollte der ›Schatten‹ über haupt etwas von ihm? Sah er gar schon Gespenster? »Äh - sind Sie Mr. Murray?«, fragte in diesem Moment der ›Schat ten‹. Murray drehte sich langsam um und lockerte den Griff um seine Pistole ein bisschen. Der Mann, der ihm nun gegenüber stand, sah harmlos aus. Mittelgroß, schmales, gut geschnittenes Gesicht, kurze Haare. Der Mann schien Sorgen zu haben, denn seine Lippen bebten und in den dunklen Augen flackerte Angst. Ja, nackte Angst. Ben Murray zog eine Augenbraue hoch, dann nickte er. »Der bin ich. Was wollen Sie von mir, Mister?« »Ich bin Nick Carpenter«, stellte sich der andere leise sprechend vor. »Ich - ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie um diese Zeit noch behellige, Inspektor - aber...« Er blickte sich gehetzt um, bevor er weiter sprach. »Ich - ich werde verfolgt.« »Von wem?« Nick Carpenter räusperte sich. »Können wir nicht von hier ver schwinden. Ich meine, wir könnten doch vielleicht in Ihr Büro gehen.« 73
»Meinetwegen. Kommen Sie mit!« Murray seufzte innerlich. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor ein Uhr mor gens. Aber dann dachte er an seine Schlafstörungen. Auch gut, dachte er. Mit dem Paternoster fuhren sie in den dritten Stock hoch. Das Bü ro Murrays lag am Ende eines scheinbar endlosen Korridors. Sie traten ein. Und Murray warf mit einer routinierten Bewegung seinen zer knautschten Hut über den mittelalterlichen Hutständer. Als er sich schließlich hinter seinem Schreibtisch niedergelassen hatte, fixierte er Nick Carpenter. »Also, weshalb haben Sie da unten auf mich gewartet, obwohl Sie verfolgt werden?« »Ich wusste, dass Sie den Fall Amanda Willock bearbeiten, In spektor Murray«, begann der Mann zögernd. Murray horchte auf. »Woher wissen Sie das?« »Nun, ich bin einer der Erbberechtigten. Ich meine, wenn Mr. Hamilton das Erbe seiner Tante abgelehnt hätte, dann wäre ich einer der Erbberechtigten gewesen.« »Aber Mr. Hamilton hat das Erbe angenommen. Gut. Weiter!« »Inspektor, Sie - Sie werden mich vielleicht für verrückt erklären, wenn ich Ihnen erzähle, was mir heute Abend passiert ist.« »Lassen Sie es darauf ankommen, Mann. Erzählen Sie endlich! Sie können mir glauben, dass ich hier nicht zu meinem Vergnügen sitze! Klar? - Also, was haben Sie mir zu sagen...« Nervös lockerte Nick Carpenter seine Krawatte. Dann nickte er und schien sich einen Ruck zu geben. »Als ich vor etwa fünf Stunden nach Hause kam, passierte es. Ich - ich wollte das Licht andrehen, aber das klappte nicht. Und dann - dann sah ich plötzlich vor mir in der Finsternis, zwei blutrote Augen... Sie kamen immer näher...« Nick Carpenter räusperte sich. »Geben Sie mir wohl ein Glas Wasser, In spektor? Ich...« Murray erhob sich und ging in den angrenzenden, winzigen Raum. Mit einem Glas Wasser in der Hand kehrte er gleich darauf zurück. »Hier.« »Danke.« Nick Carpenter leerte das Glas. »Sie müssen mir glau ben, Inspektor!« 74
»Was geschah weiter, Mr. Carpenter?«, versetzte Murray und be mühte sich, ruhig und beherrscht zu bleiben. »Nun, ich spürte, wie eine unheimliche Kälte mir entgegenschlug und dann - dann erklang diese Stimme. Inspektor, das war keine menschliche Stimme! Ich müsse sterben, sagte sie. Eine Hand, eine unsichtbare Hand, Inspektor, legte sich um meine Brust. Ich schrie und wollte mich aus diesem Zugriff befreien, aber da...« Nick Car penter unterbrach sich abrupt. Seine Augen quollen plötzlich aus den Höhlen. »Da! - Inspektor! Spüren Sie es denn nicht?«, flüsterte er. Murray schüttelte verwundert den Kopf. »Nein, was soll ich denn spüren?« »Diese Kälte«, hauchte der Mann tonlos. »Diese unheimliche Käl te.« »Mr. Carpenter, ist Ihnen nicht gut? - Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte Murray, ernsthaft besorgt. Aus einem unerfindlichen Grund be zweifelte er plötzlich, dass der Mann nüchtern war... Und doch... Schlagartig erlosch das Licht. Murray reagierte nur eine hunderts tel Sekunde später. Mit einer Gewandtheit, die ihm keiner seiner jün geren Kollegen mehr zugetraut hätte, glitt er aus dem Sessel zu Bo den. Nur die hektischen Atemzüge dieses seltsamen Mr. Carpenter waren zu hören. »Mr. Carpenter - ist mit Ihnen alles okay?«, fragte Murray flüs ternd. Hölle, dachte er gleichsam. Warum rede ich nicht normal? Hat
mich der Bursche mit seinem Geschwätz doch beeindrucken können?
»Inspektor«, keuchte Nick Carpenter jämmerlich. »Die Augen... Sehen Sie doch nur... Die Augen...« Murray kam hoch, angestrengt starrte er in die Dunkelheit. Er sah nichts. Keine Augen - nichts. Vorsichtig ging er zur Tür hinüber. Er erreichte die Tür, seine Hand fand den Lichtschalter. Er drehte ihn um, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass es dunkel blieb. Murray fluchte stumm. Eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken. Das war ihm noch nie passiert... »Carpenter!«, rief Murray. Es kam keine Antwort. Totenstill war es in dem Büroraum. 75
Murray stieß den Atem aus und riss die Tür auf. Im Korridor knips te er Licht an, dann eilte er in sein Büro zurück. Er registrierte einen widerlichen Geruch... Dann sah er Nick Car penter. Bewegungslos lag er auf dem Boden, die Arme ausgestreckt. Das gibt es doch nicht!, zuckte es durch Ben Murrays Gehirn, wäh rend er niederkniete und Carpenters Puls fühlte. Der Mann war tot. Inspektor Murray richtete sich wieder auf. Auf seinen Schultern schienen Zentnergewichte zu liegen. Mit mü den Schritten ging er zum Telefon, hob ab und wählte die Nummer von Doc Spencer. Als auf der anderen Seite endlich abgehoben wurde, meldete sich Ben Murray knapp. »Amos, ich brauche dich«, sagte er dann. »So fort.« »Was ist denn los?« Amos Spencers Stimme klang verschlafen. »Erkläre ich dir, wenn du hier bist. Beeil dich, bitte! Hier liegt ein Toter in meinem Büro.« »Ich komme«, erklärte Doc Spencer nur und legte auf. * »Ich habe Sie gewarnt. Aber Sie haben mir nicht geglaubt!« Mrs. Gray kicherte hysterisch. »Jetzt sehen Sie, was passiert, wenn man mir nicht glaubt... Sie ist tot! Tot!« Mit ihren langen, knochigen Fingern deutete sie auf Germaine. »Hören Sie auf!«, explodierte Eddy. Tränen standen in seinen Au gen und seine mächtige Stimme vibrierte. Neal klopfte ihm beruhigend auf die Schultern. Jean, Anika, Clay standen schweigend bei ihnen. Das Grauen stand ihnen allen im Gesicht geschrieben. Neal konnte sich nur zu gut denken, was sie jetzt bewegte. Nur ein Gedanke: Wer von uns wird
der Nächste sein?
Er wandte sich an Mrs. Gray, die nach ihren Worten in stumpfes Nachdenken verfallen war. »Warum sind Sie vor uns hier gewesen, Mrs. Gray? Haben Sie ein Geräusch gehört, oder...« 76
»Ich habe gespürt, dass es passiert«, unterbrach sie ihn. »Ich wusste, dass es geschieht. Deshalb bin ich aufgestanden und in die Halle gegangen. Und dann sah ich, wie Miss Germaine dort hing... Ich habe geschrieen.« Mrs. Gray hob ruckartig ihren Kopf und blickte ihn nun direkt an. »Sie glauben mir doch, Mr. Hamilton? Nicht wahr, Sie glauben mir?« Er nickte. »Das sagte ich bereits. Mrs. Gray, wo ist Ihr Mann?« »Ich weiß es nicht.« Trotzig hörte sich das an. »Wir haben uns gestritten. Daraufhin hat er das Haus verlassen.« Wieder lachte sie völlig grundlos. Dann sagte sie: »Und ich werde jetzt auch gehen. Ich werde verschwinden... Ich will nicht mehr in diesem Geisterhaus woh nen!« Sie drehte sich um und rannte hinaus. »Mrs. Gray! Mrs. Gray, so warten Sie doch!« Neal hatte sich als erster gefasst und rannte ihr nach. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen. Ein kalter, heftiger Wind war aufgekommen. Als Neal die Stufen der Veranda hinunterlief, war Mrs. Gray bereits verschwunden. Die Dunkelheit schien sie verschluckt zu haben. »Mrs. Gray!«, rief er noch einmal, aber er erhielt keine Antwort. Fröstelnd zog er die Schultern hoch. Dann ging er zurück zu seinen Freunden. Eddy und Clay hatten Germaine in eines der Zimmer im Erdgeschoß gebracht und dort auf eines der Gästebetten gelegt. Anika und Jean standen dabei. Ihre Ge sichter waren bleich. Als Neal den Raum betrat, blickte Clay ihn scharf an. »Du hast sie nicht einholen können«, stellte er scheinbar gelassen fest. »Ich dachte es mir.« »Glaubt ihr denn, dass sie - oder ihr Mann - etwas mit Germaines Tod zu tun haben?«, fragte Anika leise. »Möglich ist schließlich alles«, erwiderte Jean. »Auf jeden Fall ist es ziemlich seltsam, dass Mr. Gray verschwunden ist.« »Hört auf!«, rief Eddy unerwartet laut. »Meine Germaine ist tot. Keine Spekulation macht sie wieder lebendig... Lasst mich allein. Bit te!« 77
»Eddy, es - es tut mir leid«, sagte Neal leise. Er wusste, wie trivial sich diese Worte anhörten, aber ihm fielen in diesem Moment keine anderen, besseren ein. »Schon gut«, erwiderte Eddy tonlos. »Geht jetzt!« Sie verließen den Raum. Behutsam schloss Jean die Tür hinter sich. »Und jetzt?«, fragte sie und blickte Neal an. »Was geschieht jetzt? Neal, wir müssen etwas unternehmen! Wir können doch nicht einfach warten, bis sich unser Gegner sein nächstes Opfer ausgesucht hat!« »Wir warten, bis es hell ist«, antwortete Neal ruhig. »Dann suchen wir Mrs. und Mr. Gray. Und dann versuchen wir, die Insel zu verlas sen.« »Du willst also aufgeben?«, fragte Clay Steven ungläubig. Neal nickte. »Vorerst, ja. Wenn ich euch in Sicherheit weiß, werde ich auf die Insel zurückkehren. Allein.« »Unsinn. Ich lasse dich nicht allein, das weißt du ganz genau!« Jeans Stimme war fest und entschlossen. »Ich - ich habe keine Angst. Nicht sehr, wenigstens.« »Hoffentlich erleben wir den Morgen noch«, flüsterte Anika plötz lich. »Unser Gegner hat sein Opfer geschlagen«, sagte Clay. »Warum sollte er sich - für heute - damit nicht begnügen? Ich glaube übrigens nicht, dass wir die Insel verlassen können.« Neal gab darauf keine Antwort. Natürlich ahnte er, dass Clay ihre Situation richtig einschätzte. - Aber er konnte und wollte nicht akzep tieren, dass sie verloren waren. Es musste einen Ausweg, eine Rettung geben! »Wir bleiben ab jetzt zusammen. Niemand unternimmt etwas al lein oder auf eigene Faust«, ordnete Neal an. »Vielleicht gelingt es uns doch, unserem unheimlichen Gegner ein Schnippchen zu schlagen!« * Der Morgen graute. Endlich. 78
Fahles Licht dämmerte am Horizont herauf, ergoss sich über die sanft bewegten Wogen des Meeres und die Insel. Neal wandte sich vom Fenster ab. Keiner von ihnen hatte in dieser Nacht mehr ein Auge zugetan. Sie alle hatten an Germaine und ihr schreckliches Ende den ken müssen. Und an Eddy, der nun bei ihr war und sich Vorwürfe machte. »Zeit, etwas zu unternehmen«, murmelte Neal. Er legte das be legte Brötchen, das ihm Anika vor wenigen Minuten gereicht hatte, beiseite. Er hatte keinen Hunger. Sie gingen hinüber zu Eddy. Dumpf brütete er vor sich hin. Seine rechte Hand hielt Germaines Hand umschlossen. »Eddy«, sagte Neal sanft. Eddy blickte auf. Seine Augen schienen zu brennen. Grenzenlose Trauer stand darin geschrieben. Schweigend starrte er Neal an. »Wir werden jetzt die Grays suchen - und dann die Insel verlas sen. Komm mit!« Eddy schüttelte langsam den Kopf. »Ich werde nicht mit euch kommen, Freunde. Mein Platz ist hier, bei Germaine. Sie - sie musste sterben, weil ich geschlafen habe...« »Selbstvorwürfe machen sie nicht mehr lebendig«, versetzte Jean hart. »Du wirst auch sterben, wenn du allein hier zurückbleibst. Komm mit uns! Hilf uns, den Tod Germaines zu rächen!« »Rächen...«, echote Eddy tonlos. »An wem wollt ihr euch denn rä chen, he?« »Spiel jetzt nicht verrückt, Eddy, bitte!«, sagte Neal. »Wir leben noch und - wir brauchen dich!« Eddy drehte seinen Kopf und sah in Germaines bleiches Gesicht. Schließlich nickte er langsam. »Okay, Neal. Vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist mein Platz v4438 0 1 0 10.98 181.31 TT/T5344sn.10.1 Tf1
und doch voller unterschwelliger Furcht. »Ich habe versagt, Herr! Ich werde schwächer... Meine Präsenz in der diesseitigen Sphäre ist ge fährdet... Herr, hilf mir!« Ein Stromstoß schien durch Lamberts Körper zu fahren. Er richtete sich auf, hob beide Hände über die Flamme der schwarzen Kerze. »Ich werde dir helfen, Ghulgor - ein letztes Mal. Solltest du wieder versa gen, dann...« Lambert ließ seine Drohung unausgesprochen. Langsam erhob er sich und umrundete den Tisch. Murray kniff seine Augen zusammen. Lambert kam mit einem ziemlich dicken Buch zurück. Er blätterte. Unnatürlich laut klang das Rascheln des Pergaments in Murrays Ohren. Noch zögerte der Inspek tor. Hatte er eine Chance, gegen den unheimlichen Unsichtbaren zu bestehen? Er musste es darauf ankommen lassen! »Na, Sie scheinen sich ja prächtig erholt zu haben, Mr. Lambert«, sagte Murray laut und löste den Sicherungsbügel seiner Pistole. Laut knackte es. Lambert fuhr herum. Sein Gesicht war vor Schreck und Hass verzerrt. »Sie...«, stieß er ungläubig hervor. »Ja, ich«, nickte Murray betont lässig. Er hob die Pistole. »Eine Bewegung und ich bin gezwungen, zu schießen. Dass ich das nur sehr ungern tue, wissen Sie sicherlich.« »Inspektor, ich - ich kann Ihnen alles erklären«, versuchte Lam bert Ben Murray hinzuhalten. »Vernichten Sie Ihr Ungeheuer!«, verlangte Murray unbeein druckt. Ghulgor knurrte, die roten Augen flackerten, schienen größer zu werden. Murray spürte, wie Kälte in seinen Körper eindrang. »Tun Sie, was ich Ihnen sage!«, presste er heraus. »Niemals!«, geiferte Lambert und ließ sich fallen. Murray reagierte gleichzeitig. Ein Schuss bellte auf und das Echo hallte höhnisch von den kahlen Wänden wider. Aber Murray hatte Lambert verfehlt. Wieselflink kam der sportlich trainierte Mann hoch und stürzte sich auf Murray. Dessen Pistole schepperte zu Boden. Lambert kickte sie weg. 95
Porters Augen wurden rund und groß wie Pingpong-Bälle. »Aber, Chef, das ist doch...«, brachte er hervor. »Genau das ist er!«, versetzte Murray und grinste jungenhaft. »Verständigen Sie das Headquarter. Sie sollen jemanden schicken, der Sie und diesen feinen Herrn hier abholt.« »Ja, sofort. Aber...« Es war das erste Mal, dass Porter eine unnötige Frage stellen woll te. Inspektor Murray registrierte dies mit einem verwunderten Hoch ziehen seiner rechten Augenbraue. »Nun stellen Sie mir keine Fragen, Porter«, donnerte er. »Ich habe es eilig. Ach ja - ein Helikopter soll mich im Hyde-Park aufnehmen. Unser Freund Hamilton ist in Lebens gefahr.« Porter rief die Zentrale und gab alles durch. Dann stieg er aus dem Dienstwagen. »Hamilton ist tatsächlich in Lebensgefahr?«, fragte er dann. »Hören Sie neuerdings schlecht?«, fauchte Murray. »Nein, Inspektor. Aber - ich meine - der da hat doch sicherlich nicht geplaudert. Woher wissen Sie also, dass Hamilton...« »Von einem guten Geist weiß ich es«, erwiderte Ben Murray und quetschte sich hinter das Lenkrad. Dann fuhr er mit heftig radierenden Rädern an. Porter zuckte die Schultern, dann besann er sich seiner Aufgabe. Er wandte sich Lambert zu. * Was war passiert? Jean versuchte, ihre Lider zu heben. Es fiel ihr un sagbar schwer. Zentnergewichte schienen daran befestigt zu sein. Und dann, plötzlich, kam die Erinnerung: Die unbarmherzige, eiskalte, wis pernde Stimme, die ihren Willen und ihr Handeln unter Kontrolle ge nommen hatte... Diese Stimme, gegen deren Befehle es keinen Wider stand gegeben hatte. Jean öffnete ihre Augen. Mit einer Hand stützte sie sich vom Bo den auf, dann sah sie sich um. Eddy lag direkt neben ihr. Er atmete schwer. Anika und Clay lagen ein paar Meter abseits. Und Neal? Wo 98
war er? Eisiger Schrecken fuhr in ihre Glieder. Sie rappelte sich auf, strich sich ihre schweißverklebten Haare aus dem Gesicht und versuch te sich an das, was geschehen war, zu erinnern. Es gelang ihr nicht. Aber sie ahnte, dass es schrecklich gewesen war... Torkelnd stand Jean auf. Sie humpelte ein paar Schritte, suchend blickte sie sich um. Aber Neal war verschwunden. Für Sekunden über kam sie das Gefühl, unsagbar allein zu sein. Ihr Herzschlag schien aus setzen zu wollen. Das war der Augenblick, in dem Eddy sich mit einem gewaltigen Aufschnaufen erhob. Er massierte seinen Bart. »Oh, mein Schädel«, murmelte er und schüttelte den Kopf. Auch Anika und Clay kamen jetzt zu sich. Verständnislos starrten sie sich an. »Neal ist verschwunden!«, flüsterte Jean. »Ich glaube, ich weiß warum«, versetzte Clay und seine Stimme war heiser und leise. »Es ist unserem Gegner offensichtlich gelungen, uns zu trennen. Neal ist - oder war sein nächstes Opfer...« »Verflixt! Dann müssen wir doch etwas tun!«, rief Eddy impulsiv. »Ich will nicht, dass wir ihn auch so finden, wie Germaine...« Schmerz überflog sein Gesicht. »Wir müssen ihn suchen!«, warf Anika schwach ein. Sie blickte Clay an. »Nicht wahr?« »Aber wo sollen wir ihn suchen?«, murmelte Clay, halb zu sich selbst. »Und außerdem: Wo sind wir hier? Ich erinnere mich, dass wir bei den Klippen Blutspuren gefunden haben und dann...« Er zuckte die Schultern. »Der Geist«, flüsterte Anika bedrückt. »Er - er hat uns gegen Neal ausgespielt. Ich erinnere mich ganz schwach. Wir - wir wollten Neal töten und er flüchtete vor uns.« »Mein Gott!«, entfuhr es Jean. »Wenn er zum Haus zurück ge rannt ist...« Sie presste die Zähne zusammen. Mit einer fahrigen Be wegung fuhr sie sich über die nasse Stirn. Dann hatte sie sich wieder einigermaßen in der Gewalt. »Wir müssen zum Haus zurück«, erklärte sie. »Weißt du, was du da von uns verlangst?«, fragte Clay düster. 99