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Vollständige Taschenbuchausgabe der im Ehrenwirth Verlag erschienenen Hardcoverausgaben
Bastei Lübbe Stars und Ehre...
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Vollständige Taschenbuchausgabe der im Ehrenwirth Verlag erschienenen Hardcoverausgaben
Bastei Lübbe Stars und Ehrenwirth Verlag sind Imprints der Verlagsgruppe Lübbe Titel der englischen Originalausgaben; SCALPEL sowie COLD STEEL © 1997 und 1998 by Paul Carson Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Einbandgestaltung: Atelier Versen, Bad Aibling Titelbild: Michael Prince / Corbis Satz; hanseatenSatz-bremen, Bremen Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck
Paul Carson
DAS SKALPELL 2
Thriller
Ins Deutsche übertragen von Lore und Hubert Straßl
BASTEI LÜBBE
Prolog
Montag, X Februar 1997, 8.45 Uhr 3
Öffentliche Telefonzelle, Molesworth Street, Dublin
»Hallo?« »Ich möchte mit John sprechen.« Pause. Vernehmliches Atmen am anderen Ende der Leitung. »John hier.« Wachsam. Argwöhnisch. »Hallo, John. Hier ist Bobby.« Bestätigendes Brummeln. »Hallo, Bobby-Boy, wie geht's? « Ölig. Schmierig. Aalglattes Cockney. »Ich komme am Freitag nach London. Am einundzwanzigsten. Elf Uhr fünfzehn.« »Wie schön, Bobby-Boy.« »Ich möchte etwas bestellen und am Freitag abholen. « »Die Gelegenheit ist günstig, Bobby-Boy. Im Augenblick ist vieles billiger zu haben. Soll's das Übliche sein? « »Ja.« »Kein Problem, Bobby-Boy.« »Ich werde Sie anrufen, wie gewohnt. « »Wie gewohnt.« Pause jetzt an diesem Ende. »Können Sie mir ein Mädchen besorgen? « Scharf eingezogener Atem, Zähneklicken, Unmut. »Oh, das wird schwierig, Bobby-Boy. Das letzte Mädchen hat getobt vor Wut. Sie wollte Schmerzensgeld. « Keine Reaktion. »Sie haben ihr übel mitgespielt, Bobby-Boy. Das wissen Sie doch noch, oder? « Pause. 4
Dann noch einmal: »Können Sie mir ein Mädchen besorgen? « Brummen. Neuerliches Zähneklicken. »Ich muss wahrscheinlich eine von außerhalb ranschaffen, Bobby-Boy. Da werden Sie aber tief in die Tasche greifen müssen. « «Wie viel?« »Fünfhundert. Pro Nacht. Aber wenn Sie die auch so zurichten, ist Sense. Dann läuft nie wieder was. Verstehen Sie? Wenn Sie bei dem Mädchen wieder durchdrehen, ist's aus mit unserer Verbindung. Kapiert?« Verärgert. Nicht mehr glatt. »In Ordnung. Hab's begriffen.« Ohne Pause. »Nichts für ungut, Bobby-Boy. Geschäft ist Geschäft.« Kein Zähneklicken mehr. Nur Geschäft. Wie gewohnt. »Sie rufen an wie üblich?« »Ich rufe an. Wie üblich.« »Dann bis bald, Bobby-Boy.« Gemächlich hängte er ein. Sein Atem kondensierte auf dem Apparat und dem Glas der Telefonzelle. Er schlug den Mantelkragen hoch und die Revers übereinander, ehe er hinaus in die kalte Nachtluft trat. Er blickte weder links noch rechts und entfernte sich mit entschlossenen Schritten vom Telefonhäuschen. Während er sich den belebten Straßen zuwandte, streifte er die Gummihandschuhe ab. Den linken schob er in eine Pommestüte von McDonalds, die er in seiner Manteltasche mitgebracht hatte, und warf die Tüte in einen Abfallkorb. Den rechten Handschuh behielt er noch fast zehn Minuten an, ehe er auch ihn in eine McDonald's-Tüte steckte und ebenfalls in einem Abfallkorb am Straßenrand verschwinden ließ. Wie alles in seinem Leben erledigte er auch das gründlich und 5
genau. Mit klinischer Präzision. Bei der Berichterstattung über die amtlichen Ermittlungen zu den im Folgenden geschilderten Ereignissen brachte eine Schlagzeile die öffentliche Stimmung auf einen Nenner:
»11 Tage, die das ganze Land erschütterten!* Es begann am Montag, dem 10. Februar 1997.
Erster Tag 1 Montag, 10. Februar 1997,10.45 Uhr Nordflügel, Zentrale Entbindungsklinik, Dublin
Die Herzfrequenz des Fetus verlangsamte sich erneut. June Morrison, die Stationsschwester der Entbindungsstation 3, runzelte die Stirn, schritt rasch zum Monitor und drückte auf einen Knopf. Die Wiedergabe der derzeitigen fetalen Herzfrequenz verschwand vom Monitor; das vorherige Drei-MinutenDiagramm erschien wieder. Die Frequenz war vollkommen regelmäßig gewesen. Morrison schaltete zum momentanen Dia6
gramm zurück und atmete erleichtert auf. Die Herzfrequenz lag wieder im normalen Bereich. »Ist alles in Ordnung, Schwester?« Morrison drehte sich um und lächelte der jungen Frau im Bett zu. »Ja, Schätzchen, keine Angst. Alles in bester Ordnung. Ihrem Baby geht's gut. Wie fühlen Sie sich?« Sandra O'Brien stützte sich mit den Händen im Bett ab und bemühte sich, eine bequemere Lage zu finden. Sie verzog das Gesicht, als sie mit der Zunge über die Lippen fuhr und den kalkigen Geschmack des eingetrockneten Antazidums spürte. Mit einem tiefen Seufzer legte sie sich zurück auf den Kissenberg und strich mit den Händen über den hochschwangeren Leib. »O Gott, bin ich froh, wenn das alles vorbei ist«, stöhnte sie. June Morrison lachte leise. »So weit ist es noch lange nicht. Sie werden schon noch eine Zeit lang hier hängen müssen.« Sie zog den Cardiotokographie-Gurt um Sandra zurecht, wo er sich gelockert hatte. »Sie müssen ruhig liegen, sonst löst der Gurt sich ganz.« Sandra stöhnte noch kläglicher. »Muss ich das Ding die ganze Zeit umbehalten?« »Ich fürchte ja. Es vermittelt uns ein verlässliches Bild von den Fortschritten O'Brien Juniors und davon, wie er sich auf seinen Eintritt in diese Welt vorbereitet.« Und was für ein Eintritt, dachte Schwester Morrison, als sie den Blick durchs Zimmer schweifen ließ. Gleich drei Fetusscanner gab es hier, einen neben dem anderen, auf einer eigens dafür bestimmten Konsole Harry O'Brien hatte auf den Einsatz von drei Scannern beharrt, für den Fall, dass einer oder vielleicht sogar zwei ausfallen könnten. 7
»Mr. O'Brien«, hatte Schwester Morrison ihm beinahe tadelnd erklärt, nachdem er endlich jenen Entbindungstrakt ausgewählt hatte, in dem sein Baby das Licht der Welt erblicken sollte, »wir mussten noch nie wahrend des Geburtsvorgangs einen Fetusscanner auswechseln. Die Geräte werden regelmäßig gewartet, um sicherzugehen, dass es zu keinem Ausfall kommt.« Sie war der Meinung gewesen, ihren Standpunkt damit unmissverständlich klar gemacht zu haben. Hier ist mein Spielfeld, Mr. Wichtigtuer. Hier gelten meine Regeln. Hier ist nicht der Sitzungssaal der O'Brien Corporation. Harry O'Brien hörte June Morrison höflich zu und registrierte jedes ihrer Worte, wahrend sie ihm das Privatzimmer und den angrenzenden Entbindungstrakt zeigte, wo O'Briens junge Frau liegen würde. Er betrachtete June mit rot geränderten Augen und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich bin sicher, Sie haben Recht, Schwester. Ich glaube Ihnen, dass es hier in Ihrem wundervollen Reich noch nie einen fehlerhaften Scanner gegeben hat. Aber ich will Ihnen etwas sagen, von dem Sie keine Ahnung haben.« June entzog sich seiner zu vertraulichen Geste und drehte sich so, dass sie einander direkt gegenüberstanden O'Briens Augen waren hart und kalt. »Die meisten Geräte, auf die Sie sich in diesem Krankenhaus verlassen, werden von meinem Unternehmen hergestellt, und ich
kenne
sowohl
die
Arbeitsmoral
wie
auch
die
Qualitätskrite-rien in einigen unserer Produktionsstätten Deshalb sage ich Ihnen jetzt: Ich will mindestens zwei Ersatzgeräte und verlange, dass ausschließlich neue Geräte benutzt werden, wenn es um meine Frau geht. Ebenso muss das hier«, abfällig wies er 8
auf eine mechanische Milchpumpe in der Zimmerecke, »und das«, er blickte auf den leicht verbogenen Ständer neben dem Bett, an dem der Infusionstropf hing, »gegen nagelneue Geräte ausgetauscht werden.« June hatte lange und erbittert protestiert, zuerst bei O'Brien selbst und schließlich bei Luke Conway, dem Chefarzt der Entbindungsklinik. Conway und June waren jahrelang enge Freunde gewesen, und sie hatte seinen Werdegang miterlebt. Vom Assistenz- zum Stationsarzt war Conway nach acht Jahren Spezialausbildung in Kanada zu einem der versiertesten Gynäkologen des Landes aufgestiegen. Luke Conway war vielleicht der Einzige in der Klinik, der mehr von Wehen und sicherer Entbindung verstand als June. Im Laufe der Zeit war er zum Chef sowohl des medizinischen wie des verwaltungstechnischen Bereichs der Klinik ernannt worden - eine angemessene Anerkennung seines Könnens und seiner Erfahrung. »Luke«, hatte June sich nach O'Briens Besuch wütend beklagt, »dieser Wichtigtuer führt sich auf, als würde diese Klinik zu seinem Konzern gehören. Er will hier tatsachlich - du lieber Himmel, kannst du dir das vorstellen? -, er will Zimmer drei und den Entbindungstrakt einen Monat ganz für sich allein! Er sagt, er wird das ganze Zimmer neu ausstatten und jedes verdammte Gerät durch ein nagelneues ersetzen!« So beherrscht sie sonst war, konnte sie ihren Zorn jetzt nicht mehr zurückhalten. »Also wirklich, Luke. Das wird keine Entbindung, das wird ein verdammter Medienzirkus!« Luke saß June Morrison an einem Tisch in seinem Büro gegenüber und hörte sich an, wie sie sich immer mehr in Wut redete. Er streifte einen nicht vorhandenen Fussel vom 9
Jackenärmel und zupfte seine Fliege zurecht, als Junes Redefluss endete. Conway war ein hoch gewachsener, eleganter Mann, der Zuversicht und Kraft ausstrahlte - kurzum, ein Mann, der mit sich und seiner Stellung im Leben zufrieden war. Er kleidete sich stets dezent, für gewöhnlich in Nadelstreifenanzug mit gestärktem weißen Hemd und Schleife. Wie die meisten Gynäkologen hatte er früh erkannt, dass die traditionellen langen Schlipse vor allem bei Untersuchungen des Intimbereichs im Weg waren. Nun streckte er den Arm über den Tisch aus, nahm Junes beide Hände in die seinen und hielt sie sanft fest. Eine Zeit lang schwieg er und blickte stumm auf die großen, eigentümlich rauen Hände, die schon so vielen Babys behutsam und fachkundig auf die Welt geholfen hatten. Dann schaute er auf und bemerkte, dass Schwester Morrison ihn verwundert anblickte. »June«, sagte er, ohne ihre Hände loszulassen. »June, jedes deiner Worte entspricht der Wahrheit, und es bedrückt mich, dass ich selbst das Krankenhaus in diese Situation gebracht habe. Aber du kennst den Hintergrund und unsere prekäre finanzielle Situation.« June seufzte und entzog ihm ihre Hände. »Zum Teufel mit dem Hintergrund und unserer ach so kritischen Finanzlage«, murrte sie. »Du hast leicht reden! Aber ich muss mit den tatsächlichen Gegebenheiten fertig werden. Sandra O'Brien wurde nur deshalb schwanger, weil unser neu entwickeltes IVF-Programm erfolgreich war. Harry O'Brien ist überglücklich. Du weißt so gut wie ich, was ihm die Schwangerschaft seiner Frau bedeutet.“ Verstohlen studierte er Junes Gesicht, um festzustellen, wie sie seine 10
Worte aufnahm. Er
wollte
sie
auf
keinen
Fall
kränken.
Der
Krankenhausvorstand hatte June Morrison ausgewählt, Sandra O'Brien wahrend der Schwangerschaft zu betreuen und sie auf die Geburt vorzubereiten. Wenn Harry O'Briens Sprössling gesund und munter entbunden war, würde das Krankenhaus eine großzügige Spende erhalten. Zwei Millionen Pfund, um genau zu sein.
Als bei den O'Briens nach einem Jahr Ehe noch immer kein Nachwuchs in Sicht war, hatte Sandra beschlossen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es stellte sich heraus, dass sie unter einer starken Eierstockentzündung gelitten hatte, als sie um die zwanzig gewesen war. Die Entzündung hatte zu einer Verstopfung beider Eileiter geführt. Trotz mehrerer Versuche, das Problem durch chirurgische Eingriffe zu beheben, blieb die Chance einer Befruchtung auf natürliche Weise gering. Also griff Harry O'Brien auf jene Art und Weise ein, die er am besten beherrschte: mit Geld. »Sorgen Sie dafür, dass meine Frau ein Baby bekommt, und ich versichere Ihnen, dass die O'Brien Corporation es Ihnen danken wird«, sagte er eines Morgens zu Luke Conway, nachdem dieser ihm die Möglichkeiten einer Schwangerschaft durch IVF - in-vi-tra-Fertilisation - erklärt hatte. Auf diese Weise konnten Sandra und Harry ihr Baby nicht im Mutterleib, sondern im Krankenhauslabor zeugen; der Embryo würde dann in Sandras Gebärmutter eingepflanzt werden. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. O'Brien«, erwiderte Conway, der sich fragte, was genau O'Brien damit meinte. »Aber 11
wir wollen nichts überstürzen. Vielleicht sollte Sandra lieber ein paar Monate warten, bevor sie sich entscheidet.« »Was halten Sie von zwei Millionen Pfund? Helfen Sie meiner Frau, ein gesundes Baby auf die Welt zu bringen, und ich sorge dafür, dass das Krankenhaus zwei Millionen Pfund erhält.« Luke Conway hatte nach dem Telefon gegriffen. »Wir fangen so bald wie möglich an.« Nach drei gescheiterten Versuchen entwickelte sich in einer Pe-trischale schließlich ein lebensfähiger Embryo, der erfolgreich in Sandra O'Briens Gebärmutter verpflanzt wurde und sich dort zu einem normalen Fetus entwickelte. Während der gesamten Schwangerschaft befasste sich Luke Conway persönlich mit diesem Fall, um den mächtigen Mann bei Laune zu halten und dafür zu sorgen, dass dem Krankenhaus die großzügige Spende nicht entging. »Es gibt niemanden, der tüchtiger oder erfahrener ist als June Morrison«, hatte er Harry O'Brien eines Tages versichert, als dieser sich nach den Fortschritten und Plänen erkundigte »In den vielen Jahren hier haben wir nie - nie - ein Baby verloren, das June anvertraut war. Und glauben Sie mir, sie hatte einige sehr schwierige Fälle.« Im Beisein seines privaten ärztlichen Beraters hatte O'Brien bedächtig zugehört. »Wenn Schwester Morrison so tüchtig ist, wie Sie sagen, dann sorgen Sie dafür, dass sie ausschließlich für meine Frau da ist. Befreien Sie Morrison von all ihren anderen Pflichten, und sorgen Sie dafür, dass sie ihren Urlaub verschiebt. Ich will nicht, dass Sandras Wehen einsetzen, während Miss Morrison ihren Hintern auf Teneriffa in der Sonne brät.« Conway lachte pflichtschuldig über O'Briens misslungenen 12
Versuch, sich wieder einmal witzig zu geben. »Bezahlen Sie ihr das doppelte Gehalt, und sagen Sie ihr, dass sie zusätzlich eine Prämie von tausend Pfund bekommt, wenn alles glücklich überstanden ist.“ Conway bemühte sich, das alles zu verdauen, ohne eine Miene zu verziehen. «Eine solche Geste ist unnötig, Mr. O'Brien«, entgegnete er scheinbar gleichmütig, während er dem großen Mann ins Gesicht blickte. »Das Personal hier tut sein Bestes, egal, ob es sich um Sozial- oder Privatpatienten handelt. Ich weiß, dass Schwester Morrison sich gut um Sandra kümmern wird.« O'Brien lehnte sich schwer zurück und stützte beide Hände auf die Schreibtischplatte. Seine massige Gestalt füllte den Sessel vollkommen aus. Er seufzte tief. Dann fuhr er durch sein volles, ergrautes Haar. »Dr. Conway, ich möchte nicht bloß, dass Schwester Morrison sich >gut< um meine Frau und mein Kind kümmert.» Abrupt beugte er sich vor. »Ich verlange, dass sie sich hervorragend und mit totaler Hingabe um sie kümmert!« Selbst Conway erschrak über die Heftigkeit, mit der O'Brien diese Worte ausspie. »Wenn die Verantwortlichen Wert darauf legen, dass dieses Krankenhaus wieder eine solide finanzielle Grundlage bekommt und der neue Flügel angebaut wird, dann sorgen Sie dafür, dass meine Frau die beste Betreuung bekommt. Die allerbeste!« Conway redete mit niemandem über die Einzelheiten dieses unerfreulichen Gesprächs, schon gar nicht mit June Morrison. Doch June musste bald feststellen, dass ihr Urlaub ohne Erklärung gestrichen und der Dienstplan so geändert worden war, dass ihr Name nicht mehr darauf erschien. Sie wurde von ihrem 13
Posten als Schwester der Entbindungsstation für Sozialpatienten im Ostflügel abgezogen und hatte rund um die Uhr für die Betreuung von Sandra O'Brien zur Verfügung zu stehen, unter der Oberaufsicht von Dr. Tom Morgan, dem von Sandra ausdrücklich gewünschten Gynäkologen und Geburtshelfer. Als diese Änderungen bekannt gegeben wurden, wusste June Morrison, dass sie den Kampf gegen Harry O'Brien verloren hatte.
»Schwester«, die Stimme klang gequält. »Schwester, können Sie mir bitte hochhelfen? Mein Rücken bringt mich um.« Sandra O'Brien plagte sich unbeholfen im Bett, um ein wenig Erleichterung von den zunehmenden Schmerzen zu finden. Morrison trat hinter sie, legte die Arme unter ihre Achseln und hob sie in eine aufrechtere Lage. »O Gott, was ist los ?« Instinktiv klammerten sich Sandras Hände an den geschwollenen Bauch. »Was geschieht da?« Die Bewegungen in ihrem Schoß waren deutlich zu sehen; der Anblick erinnerte an eine Katze in einem Sack. Es sah aus, als versuchte das Baby verzweifelt herauszukommen. Rasch legte Morrison ihre erfahrenen Hände auf den aufgetriebenen Leib, spürte die Bewegungen, das heftige Schlagen und Treten des Ungeborenen - ein ungewöhnlicher, Unheil verkündender wilder Ausbruch. Rasch wandte sie sich dem Fetusmonitor zu. Fassungslos vor Entsetzen bemerkte sie, dass die Herzfrequenz wieder gefallen war, diesmal auf sechzig Schläge in der Minute. Höchste Gefahr! Doch genauso plötzlich, wie der Ausbruch in Sandra O'Briens Schoß begonnen hatte, endete er wieder. Morrison spürte, wie sich die kleinen Gliedmaßen entspannten und 14
beruhigten. Aber die Herzfrequenz war noch immer bedrohlich niedrig. Morrison ließ den Blick keinen Augenblick vom Monitor und betete stumm, die Herzfrequenz des Ungeborenen möge sich schnellstens normalisieren. Und langsam aber stetig stieg sie wieder: sechzig Schläge, siebzig, achtzig ... wo sie eine qualvolle Minute verharrte. Dann, binnen weniger Sekunden, stieg sie auf hundertdreißig und blieb stabil. June atmete tief durch. Die Krise war überstanden. Sie drehte sich zu Sandra um und sah ihr verstörtes Gesicht. June lächelte ihr so beruhigend zu, wie sie konnte, und strich eine Haarsträhne aus der Stirn der jungen Frau. »Ist... ist alles in Ordnung, Schwester?« „Alles in Ordnung, Sandra«, log June. »Junior bereitet sich auf seinen großen Auftritt vor.« »Wann ist Dr. Morgan zurück?« Sandras Augen verrieten ihre Besorgnis. Schwester Morrison, schrie ihre Miene, ich bin sicher, dass Sie eine gute Schwester sind, aber ich möchte trotzdem Dr. Morgan bei mir haben. Sofort! June Morrison blickte ostentativ auf ihre Armbanduhr. »Er sagte, er würde um zwölf hereinschauen, um zu sehen, wie weit es ist. In den nächsten Stunden rechnen wir eigentlich noch nicht mit der Entbindung. Aber ich werde Dr. Morgan auf jeden Fall anrufen. Er ist irgendwo im Hause. Wahrscheinlich macht er Visite.« Mit seinem jungenhaft guten Aussehen und der gekonnt zur Schau getragenen strahlenden Zuversicht war Dr. Tom Morgan in Irland ein Medienstar - und der Traumgynäkologe jeder Frau. Er hatte seine eigene wöchentliche Fernsehsendung und eine 15
medizinische Fragestunde im Radio; außerdem schrieb er die Sonntagskolumne einer großen Zeitung. Stets waren »Frauenprobleme« das Thema. Es war ein offenes Geheimnis, dass Morgan der Abgott in Weiß jeder irischen Frau zwischen sechzehn und sechzig war. Sogar von den Lesern einer Schwulenillustrierte wurde er zum >Mann, mit dem Mann am liebsten ins Bett steigen würdedaran erfreuen können.« In Tommy Malones Augen machte es diese Idioten noch dümmer. »Das Bild ist doch 'n Vermögen wert! Da ist von Millionen die Rede, von gottverdammten Millionen! Irgend so 'n Idiot im Fernsehen hat gesagt, man kann den Wert gar nicht schätzen. Da sieht man mal, wie beschissen wenig diese Typen wissen." Tommy Malone verstand nicht viel vom Malen - ob es nun dazu diente, Hauswände oder Leinwände zu zieren. Aber eins wusste er: Wenn etwas so wertvoll war, lohnte sich ein genauerer Blick darauf. Und so kam es, dass Tommy Malone sich eines mittwochvormittags im November 1994 im Saal 9 des Nationalmuseums einfand. Malone war aber nicht als kunstsinninger Betrachter gekommen, sondern um die Lage zu peilen, ob und wie man das Gemälde stehlen konnte. 75
Doch es wühlte ihn so sehr auf, dass er den Blick nicht davon nehmen konnte. Da war Christus, fromm und demütig, und wartete darauf, davongezerrt zu werden. Und da war Judas, der Jesus auf die Wange küsste, während zwei schwer gerüstete Soldaten ihn festhielten, einer mit schmutzigen Händen und noch schmutzigeren Fingernägeln. Das ganze Gemälde war düster und erweckte in Malone böse Vorahnungen. Er war zweimal von dem Gemälde weggegangen, einmal bis zum Eingang, war aber jedes Mal zurückgekehrt, um es sich wieder anzuschauen und darüber nachzudenken. Das zweite Mal hatte er sich auf die Bank gleich vor dem Gemälde gesetzt und jede der abgebildeten Personen studiert, ihren Gesichtsausdruck, jede Einzelheit der Kleidung. Das Gesicht des Judas' sah abstoßend aus; seine Stirn war zerfurcht, die Augen weit aufgerissen, die Lippen an Jesus' Wange gepresst. Dieser elende Wichser, hatte Tommy Malone gedacht. Dieser Judas war wirklich ein mieser Scheißkerl. Man hätte ihn umlegen müssen, den Hurensohn. Dann bemerkte Tommy einen Soldaten im Hintergrund. Nein, gleich drei! Drei beschissene Soldaten, um einen einzelnen Mann hops zu nehmen. Und dabei wehrte der Typ sich nicht mal. Malone konnte die Augen nicht von der Figur Christi wenden. Er starrte sie unentwegt an, betrachtete das Gesicht - eine Miene, die eine Mischung aus Erkenntnis des Verrats, Resignation und Trauer ausdrückte. Da war Malone aufgestanden und hatte gelesen, was unter dem Gemälde stand: »Die Gefangennahme Christi«, Caravaggio (1573-1610). Sie nahmen den Jungen also gefangen, diese Schweinebacken, um ihn zu kreuzigen, und er wehrte sich nicht einmal! Malone hatte auf die Hände Jesu geblickt, die unterwürfig gefaltet waren. 76
Dann hatte er in die Augen gestarrt. Sie waren geschlossen, nicht vor Zorn zusammengekniffen, auch nicht vor Schmerz oder Angst. Einfach nur geschlossen. So, als hätte er sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er wusste, was ihm bevorstand, und nahm es hin, ohne sich zu wehren. Ist es da ein Wunder, dass ich nicht an Gott glaube? Tommy hatte sich zum dritten Mal umgedreht, um zu gehen, als es ihn plötzlich wie der Blitz traf. Mit einem Mal wusste er, wieso er dieses Bild nie stehlen würde, und weshalb es ihn so erschütterte. Ungebeten kehrte die Erinnerung wieder. Malone war ungefähr neun Jahre alt gewesen; damals hatten sie in einer der Slumwohnungen im ersten Stock der, Steevens-Streetkomplexes gehaust. Er hörte wieder das Hämmern an der Tür, sah, wie sein Vater sich verzweifelt zu verstecken versuchte. Ganz deutlich sah er das Bild seiner weinenden Mutter vor sich, die sich immer wieder mit einer schmutzigen Halbschürze die Augen wischte. Das Hämmern wurde heftiger, und Tommys Geschwister fingen zu weinen an; dann schrien sie vor Angst. Vor grauenvoller Angst. Das war Tommys deutlichste Erinnerung: diese entsetzliche Angst. Schließlich wurde die Tür aufgebrochen, und sechs mit Knüppeln bewaffnete Gardai stürmten herein. In der kleinen Küche kam es zum Handgemenge. Tommys Vater fluchte und brüllte, während die Gardai ihn festzunehmen versuchten und ihm auf den Kopf droschen, auf die Arme und Schultern schlugen. Sein Vater konnte sich losreißen. Er stürmte zur Tür und hinaus auf den Treppenabsatz. Dabei schrie er: »Ihr kriegt mich nicht, ihr Hurensöhne!« Er schwang sich über das niedrige Geländer und sprang sieben Meter in die Tiefe. Und in den Tod. Er starb, als sein Schädel beim Aufprall wie eine Ko77
kosnuss platzte. Und die ganze Zeit, während die Kinder heulten und schrien und die Nachbarn die Gardai verfluchten, hatte seine Mutter nur dagesessen und geweint und sich die Augen mit der schmutzigen Schürze gewischt. Sie war völlig in ihr Schicksal ergeben, als hätte sie gewusst, dass es eines Tages zu diesem Tod kommen würde. Genau wie Christus. Tommy Malone hatte das Gemälde angestarrt, bis ihn die Augen schmerzten. Immer wieder war sein Bück zu dem verratenen Christus mit den geschlossenen Augen, der gefurchten Stirn, den leicht geöffneten Lippen gewandert. »Warum bist du nicht getürmt?«, hatte er gemurmelt. »Einfach die Augen auf, und ab durch die Mitte. Wie mein Alter.« Er hatte zu Judas' Gesicht hinauf geblickt, dann zum Antlitz Jesu, und schließlich zu den Gesichtern der Soldaten. »Nur, dass du's weißt«, hatte er geflüstert. »Mich werden die Penner nicht kreuzigen. Das kannste mir glauben. Mich nicht! Nie wieder lass ich mich von den verfluchten Schweinepriestern erwischen. Mich kreuzigen die nicht!« Plötzlich hatte er bemerkt, dass jemand ganz in seiner Nähe stand und staunend den Caravaggio betrachtete. Eine sympathische amerikanische Touristin bewunderte das Gemälde, eine ältere Dame mit blau getöntem Haar. »Ist es nicht ein wunderschönes Bild?«, hatte sie mit seltsam gedehnter Stimme zu Tommy gesagt. »Verpiss dich«, hatte Tommy, der neue Kunstkritiker, entgegnet. Betty Nolan kam hereingeplatzt und schüttelte die Tropfen von ihrem Schirm. Mit ihrem gebleichten, hochgesteckten Haar war 78
sie ein Stück größer als Malone. Die Frisur sah aus, als hätte sie sich einen Bienenkorb auf den Kopf gestülpt. In jüngeren Jahren war Betty recht niedlich gewesen, doch seit einiger Zeit ging sie immer mehr in die Breite; jedenfalls drohte das Kleid, das sie unter dem schweren Wintermantel trug, aus den Nähten zu platzen. Sie setzte sich und nahm einen raschen Schluck von Malones Whiskey. »Himmel, ich hätte mir da draußen fast den Arsch abgefroren.« Malone lächelte und bestellte einen Whiskey und Soda bei dem jungen Kellner, der ihnen ins Nebenzimmer gefolgt war. Sobald Malone sicher zu sein glaubte, dass niemand mithören konnte, wandte er sich Betty zu und bedeutete durch Gesten, dass sie leise reden mussten. „Putzt du immer noch hin und wieder in Harry O'Briens Zentrale?« Betty kniff voller Argwohn die Lider zusammen. »Warum willste das wissen?« Malone ignorierte die Frage. »Hängt's dir nicht zum Hals raus, immer putzen zu müssen?« Der junge Kellner brachte den Drink, und Malone ließ Münzen im Wert von fünf Pfund in die ausgestreckte Hand des Mannes fallen. Er wehrte ab, als er ein paar Pence herausbekommen sollte. Sobald sie wieder allein waren, fuhr Malone fort: „Wie würde dir eine Million gefallen? Und ich red' jetzt nicht von 'nem Lottogewinn.« Betty nahm einen Schluck vom Whiskey; dann gab sie einen Schuss Soda hinzu. »Was haste vor, Tommy?« „Sag' ich dir gleich. Also, was ist? Putzt du immer noch in Harry O'Briens Zentrale? Red schon!« 79
„Ja, zweimal die Woche, Donnerstag und Freitag, vor Dienstbeginn. Warum? Was willste über Harry O'Brien wissen?« Sie nippte an ihrem Drink, ohne die Augen von Malone zu lassen. "Würdest du dir gern eine Million verdienen, aus diesem Scheißland rauskommen und zur Abwechslung im sonnigen Süden leben?« Malone kippte den Rest seines Guinness hinunter und wischte sich den Schaum vom Schnurrbart. »Kein Putzen mehr. Richtig reich sein.« Betty schwieg. Sie ließ den Blick immer noch nicht von Malone. Mit einem Schluck leerte sie den Whiskey-Soda und schüttelte sich leicht, als sie ihn im Magen spürte. »Was haste vor, Tommy?« Malone stand auf und öffnete die Tür zum Nebenzimmer, um sich zu vergewissern, dass niemand davor stand und lauschte. Er winkte dem jungen Kellner ab, der zu ihm herüberkommen wollte. »Einen Moment noch, ich ruf Sie gleich.« Beruhigt schloss er die Tür wieder, setzte sich auf seinen Platz zurück und nahm Bettys Rechte in die seine. Betty blickte zu Boden; dann schaute sie ihn an. »Was hast du vor, Tommy?«, flüsterte sie besorgt.
11
20.32 Uhr Dean Lynch fuhr von seiner Wohnung in Ballsbridge zum Parkhaus am Ilac-Zentrum. Von dort waren es nur fünf Gehminuten zur Klinik. Es war ein bitterkalter Abend, und kaum jemand war auf der Straße. Die wenigen Leute, die unterwegs 80
waren, drückten sich in Hauseingänge, um sich vor dem Wind zu schützen, während sie auf den Bus oder ein Taxi warteten. Die Dubliner Zentralentbindungsklinik befand sich am Whitfield Square, einem einst prächtigen Platz, knapp einen halben Kilometer von der O'Connell Street, der breitesten Einkaufsund Geschäftsstraße der Stadt, entfernt. Im Laufe der Zeit war der Platz baulich immer mehr verunstaltet worden. Neue, unpersönliche Bürohochhäuser hatten die alten, vorwiegend georgianischen Gebäude verdrängt. In der Mitte der Platzes befand sich eine eingezäunte, schäbige, von der Stadtverwaltung nachlässig in Stand gehaltene Grünanlage. Von vorn war die Klinik ein beeindruckendes dreistöckiges Gebäude aus grauem Stein. Zu beiden Seiten der massiven hölzernen Eingangstür standen Granitsäulen, und die oberen Etagen
besaßen
je
sechs
große
Fenster.
Der
Krankenhauskomplex war in vier Flügel aufgeteilt: Nord-, Süd-, Ost- und Westflügel. Das hatte wenig mit Geografie, dafür umso mehr mit Zweckmäßigkeit zu tun. Die Flügel waren über die Jahre hinweg angebaut worden und erstreckten sich in alle möglichen Himmelsrichtungen, nur nicht in die, welche man ihrem Namen nach hätte annehmen sollen. Die Klinik war von hohen Mauern umgeben, und in der Regel waren nur zwei Türen nicht verschlossen: der Haupteingang und eine schmale Kellertür an der Rückseite des Gebäudes. Dean Lynch mied den Haupteingang und stahl sich durch ein Nebentor auf den Parkplatz. Von dort hielt er sich dicht an der Hauswand, bis er die Kellertür erreichte, die hauptsächlich von den Putzkolonnen benutzt wurde, um den Müll aus der Klinik zu schaffen. Wie üblich stand die Tür offen; Lynch hatte keine 81
Schwierigkeiten, in den Keller zu gelangen. Er lauschte aufmerksam, ehe er weiter ins Gebäude vordrang, jeder Schritt war ihm vertraut; er hatte diesen Weg schon viele Male benutzt. Er wusste, wie man unbemerkt in die Klinik und wieder hinauskam, und er nahm diesen Weg jedes Mal, wenn er sich aus den Lagerräumen neue Nadeln und Spritzen beschaffte. Vorsichtig drückte er sich an den Rohren und summenden Turbinen des Hauptgenerators vorbei und kam an eine Treppe, die nach oben führte. So gelangte er in die Poliklinik-Etage des Ostflügels, wo sein Sprechzimmer lag. Im Warteraum war es dunkel; die Stühle standen in wirrer Unordnung, und ein paar abgegriffene Zeitschriften lagen auf dem Boden. Lynch schlüpfte aus den Schuhen und stellte sie in sein Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich, ehe er auf Zehenspitzen zum Labor schlich. In keinem der Untersuchungszimmer brannte Licht, in der Bibliothek nur ein Nachtlicht, das einen schwachen Schein in die Dunkelheit vor der Tür warf. Lynch knipste das Nachtlicht aus, schloss die Tür und schlich weiter zum Labor. Nur das weiche Tappen seiner Füße war zu hören. Im Laboratorium arbeitete Laborassistentin Mary Dwyer an den letzten Analysen der Blutuntersuchungen von einer der Gynäkologiestationen. Zum dritten Mal in drei Minuten blickte sie auf die Uhr und schätzte, wann ungefähr sie heute nach Hause kommen würde. Ihren Eltern gefiel es gar nicht, dass Mary so viele Überstunden machen musste. Sie überlegte, ob sie rasch zu Hause anrufen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Ihre Eltern würden sich daran gewöhnen müssen, dass sie jetzt alt genug war, auf sich selbst aufzupassen. Ein Einzelkind zu sein hat auch seine Nachteile, dachte Mary, wahrend sie die Überprüfung des 82
Blutbilds für Station 4 vornahm. Durch die halb offene Tür machte Dean Lynch sich ein rasches Bild von der Lage. Wie erwartet, hielt sich zu dieser Zeit lediglich eine Assistentin für Notfälle im Labor auf. Von dort aus, wo er stand, konnte Lynch nur einen weißen Kittel und einen rotbraunen Schopf sehen. Die Assistentin beugte sich soeben über den Labortisch, an dem sie saß. Lynch trat näher an die Tür und spähte hindurch, um sich zu vergewissern, dass die Frau allein im Labor war. Mary Dwyer erhob sich kurz, um sich Formulare zu holen. Lynch betrachtete die junge Frau. Sie war schlank, aber nicht dünn. Er blickte auf die Uhr: 21.16. Er schlich zu seinem Sprechzimmer zurück, griff nach dem Telefon und wählte. »Verdammt!«, schimpfte Mary Dwyer, als sie den Hörer auflegte. Ein verflixter Aids-Test um diese Zeit! Sie würde mindestens eine Stunde dafür brauchen. Mary war immer noch sichtlich verärgert, als Dean Lynch ins Labor trat und das mit Blut gefüllte Glasröhrchen auf den Tisch vor ihr legte. »Ist dieser Test wirklich noch heute Abend erforderlich, Dr. Lynch? Es dauert mindestens eine Stunde, bis ich das Ergebnis habe. Hat das nicht bis morgen Zeit?« Dean Lynch musste sich sehr zusammenreißen, um der Assistentin nicht ins Gesicht zu schlagen. Dieses Miststück. »Ich brauche die Ergebnisse noch heute Nacht. Es kann nicht bis morgen warten, verstanden? Ich muss noch heute wissen, wie ich die Patientin weiter behandeln kann.» Lynch hatte sich die Blutprobe selbst genommen und den Namen »Joan O'Sullivan« auf
das
Etikett
geschrieben. 83
Außerdem
hatte
er
ein
Klinikformular mit dem Antrag auf einen HIV-Test der Patientin O'Sullivan ausgestellt, mit einer Anschrift in Crumlin. Dabei hatte er darauf geachtet, das Formular in Blockschrift auszufüllen und es nicht zu unterschreiben. Nun starrte er die junge Laborassistentin durchdringend an, und sie wandte den Blick ab. »Rufen Sie mich in einer Stunde an«, murmelte sie und machte sich daran, den Test vorzubereiten. „Sie können sich darauf verlassen.« Abrupt wandte Lynch sich um und verließ das Labor. Mary Dwyer runzelte die Stirn, als sie die Tür zuschlagen hörte. Dean Lynch setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und wartete. Den ganzen Tag hatte er darüber gegrübelt, wie er sich mit dem Aids-Virus infiziert haben konnte. Bestimmt nicht bei seinen Heroin-Injektionen, denn er benutzte für jeden Schuss eine frische Spritze. Eigentlich konnte er sich nur bei einer der vielen Prostituierten angesteckt haben, mit denen er seit Jahren Umgang hatte. Zwar war er immer vorsichtig gewesen, wenn es um sicheren Sex ging — soweit er sich erinnern konnte. Doch ihm war auch klar, dass er sich aus der Realität verabschiedete, wenn er unter Drogen stand. Er war manchmal so high gewesen, dass durchaus die Möglichkeit bestand, dass er sich gemeinsam mit einem der vielen Callgirls in London, Paris, Amsterdam und sogar Bangkok einen Schuss gesetzt hatte. Solchermaßen von panischer Angst wie von beinahe ekstatischer Erwartung erfüllt, erhob er sich, blickte auf die Uhr und traf seine Vorbereitungen. Er hatte bereits beschlossen, was er im Falle eines positiven Testergebnisses tun würde. Niemand durfte erfahren, dass er 84
Aids hatte. Das musste er auf jeden Fall verhindern. Ganz gleich mit welchen Mitteln. Der letzte Untersuchungsraum auf dem dunklen Flur war für kleinere operative Eingriffe reserviert. Er befand sich knapp sechs Meter vom Labor entfernt. In diesem Raum zog Dean Lynch sich Gummihandschuhe über die ausgestreckten Finger und verschränkte die Hände, bis die hauchdünnen Handschuhe wie eine zweite Haut saßen. Dann öffnete er eine Instrumentenschale, aus der er sich einen sterilen Skalpellgriff aussuchte. Auf einem Regal lagen Schachteln mit Skalpellklingen sämtlicher Größen. Lynch betrachtete sie und wählte schließlich eine Klinge der Größe 23 - die breiteste, die vorrätig war. Er riss die Schutzfolie auf, schob die Klinge in den Skalpellgriff und steckte das Ganze in eine Tasche seines weißen Kittels. Die Folie knüllte er zu einem festen Bällchen zusammen und steckte es in eine Hosentasche. Einen Augenblick lehnte er sich an die Wand und sammelte Kräfte, geistig und körperlich. Wieder trat ihm Schweiß auf die Stirn. Er wischte ihn mit dem Ärmel ab. Mary Dwyer, in ihre Arbeit vertieft, saß mit dem Rücken zur Labortür. Nach einem raschen Blick in den unbeleuchteten Flur öffnete Lynch leise die Tür, trat ein und schloss die Tür ebenso lautlos hinter sich. Mary hörte das Klicken, als der Riegel einrastete, und fuhr erschreckt herum. »Sind Sie mit dem Test fertig?« Lynchs Stimme zitterte leicht, und sein Mund war trocken. Sein Herz hämmerte so heftig, dass er das Gefühl hatte, sein ganzer Körper würde beben. Mary Dwyer wandte sich wieder ihren Papieren zu, ohne Lynchs Frage zu beantworten. 85
»Es gibt keine Joan O'Sullivan unter der Adresse, die Sie auf dieses Formular geschrieben haben, Dr. Lynch. Genauer gesagt, der Computer hat keine Joan O'Sullivan unter dieser Anschrift gespeichert, weder als ambulante noch als stationäre Patientin unserer Klinik." Sie wirbelte auf dem Sitz des Drehstuhls herum und blickte Lynch an. »Ich bin die Computerunterlagen der letzten fünf Jahre durchgegangen, habe aber keine Joan O'Sullivan in der Crumlin Crescent 249 gefunden. Könnte es sein, dass die Frau Sie beschwindelt hat, was Name und Adresse betrifft?« Mit aller Kraft unterdrückte Dean Lynch seinen brodelnden Zorn. Dieses kleine Miststück hatte doch tatsächlich seinen Antrag überprüft. Sie hat mich schon in Verdacht! »Es... es wäre natürlich möglich, nehme ich an... Ich meine ... man kann ja nie sicher sein ... Manchmal ist es schwierig festzustellen, ob Patientinnen den richtigen Namen angeben oder nicht.« Er stammelte, und er war ein schlechter Lügner, das war ihm klar. Aber schlimmer noch: Er wusste, dass die Assistentin über alles im Bilde war. Mary Dwyer starrte ihn mit leicht spöttischem Lächeln an. „Wahrscheinlich eine Prostituierte oder Drogensüchtige.« Sie wandte sich um und tippte irgendetwas auf der ComputerTastatur. Das Gerät summte; dann begann der Drucker zu rattern. Dean Lynch beobachtete, wie das Testergebnis ausgedruckt wurde. 86
Zuerst erschienen Name und Adresse: Joan O'Sullivan, Crumlin Crescent, Crumlin, Dublin. Dann das Geburtsdatum: 27.2.76. Als Nächstes der Antrag auf Untersuchung unter dem Kästchen Syphilis und HIV1/HIV2 Serologie-. HIV-Test. Zweimal mit Serodia-HIV untersucht. Der Drucker verstummte für einen Moment, ratterte dann wieder los. Zwei Worte erschienen: Endgültiges Testergebnis. Und dann das alles entscheidende Wort, Positiv. Mit einer Hand riss Mary Dwyer die Seite vom Endlospapier. –„Tja, wer immer die Frau ist, sie wird durch die Hölle gehen.« In diesem Augenblick schrillte das Telefon hinter der Assistentin. Das plötzliche Geräusch erschreckte beide, und für einen Moment starrten sie den Apparat wie hypnotisiert an. In dem Augenblick, als Mary nach dem Hörer griff, traf sie der brutale Schlag einer Faust, die in einem Gummihandschuh steckte. Am anderen Ende der Leitung wartete Schwester Sarah Higgins, dass unten im Labor jemand ans Telefon ging. Endlich wurde der Hörer abgenommen. »Hallo? Hallo ... ist jemand da?« Stille am anderen Ende der Leitung. Den Lärm, der Augenblicke darauf losbrach, beschrieb Sarah Higgins später: »Es hörte sich wie ein Raubtier an.« Das beinahe tierhafte Keuchen, in dem Hass und Wut mitschwangen, ließ Sarah das Blut in den Adern gefrieren, und sie drückte instinktiv die Hand auf ihren Hals. Sie hörte, wie der Hörer irgendwo heftig aufschlug; dann vernahm sie das Klirren von Glas, als wäre irgendetwas umgeworfen worden, dann ein Krachen und Bersten und schließlich das Geräusch einer zuknallenden Tür. Sarah legte 87
den Hörer auf, nahm ihn sofort wieder ab und wählte die Klinikzentrale an. »Hallo? Hier Station vier, Nordflügel. Schwester Sarah Higgins. Ich habe gerade über Telefon etwas sehr Merkwürdiges aus dem Labor gehört. Bitte sagen Sie den Wachleuten, sie sollen dort mal nachschauen. Schnell!« Keine zwanzig Minuten später ließ Dean Lynch seinen Wagen an. Im gleichen Augenblick brachen zwei Wachleute die Labortür auf. Und als Lynch seinen BMW behutsam die Rampen hinunter zum Ausgang fuhr, blickte der Wachmann Pat O'Hara entsetzt auf Mary Dwyers leblose Augen. »Großer Gott!«, keuchte er, während er zurückstolperte. »Großer Gott! Jim, ruf die Polizei! Schnell! Ruf die Bullen!« Für die Zentralentbindungsklinik Dublin hatte der Albtraum begonnen.
Dritter Tag 12
Mittwoch, 12. Februar 1997,1.15 Uhr Bibliothek, Ostflügel Detective Inspector Jack McGrath konnte Krankenhäuser nicht ausstehen. Vielleicht lag es an den Gerüchen, vielleicht an den Geräten, vielleicht aber an den Ärzten. Was immer der Grund sein mochte, McGrath konnte Krankenhäuser nun einmal nicht ausstehen. Deshalb fühlte er sich auch so unbehaglich, als er nun in der Kli88
nikbibliothek beobachtete, wie Schwester Sarah Higgins von der Nachtschwester beruhigt wurde. Rechts von McGrath besprach sich Detective Sergeant Tony Dowling, sein Kollege im Kriminalkommissariat der Garda-Zentrale Store Street, mit Detective Sergeant Kate Hamilton, einer dieser neuen weiblichen Polizisten, die in der Garda Siochana in Ermittlungsmethoden für Gewaltverbrechen ausgebildet wurden. Dowling hörte auf, in ein Notizbuch zu kritzeln, hob den Blick und nickte. „Okay, Sarah«, sagte McGrath, »ich werde das jetzt noch einmal durchgehen. Sie verbessern mich, falls ich nicht alles genauso notiert habe, wie Sie es in Erinnerung haben. Okay? Wenn Sie meinen, Sie hätten irgendwas vergessen, egal was, unterbrechen Sie mich und sagen es mir. In Ordnung?« Sarah Higgins schniefte und nickte. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet; sie zerknüllte ein Taschentuch und wechselte es von einer Hand in die andere. Noch immer stand sie unter dem Schock ihrer Entdeckung. Mit zitternden Fingern tupfte sie sich die Lider ab. „Gegen 22.55 Uhr haben Sie Mary Dwyer im Labor angerufen, um sie zu fragen, ob sie mit dem Blutbild fertig sei, das sie erstellen sollte.« McGrath legte eine kurze Pause ein und blickte Dowling fragend an, ob das so richtig sei. »Als der Hörer schließlich abgenommen wurde, meldete sich ungefähr zwanzig Sekunden niemand. Dann hörten Sie ein Brüllen und Keuchen. Daraufhin haben Sie sofort aufgelegt und den Wachdienst angerufen.« McGrath hielt inne. Den Kopf an den üppigen Busen der Nachtschwester gedrückt, schluchzte Schwester Higgins aufs 89
Neue. Tony Dowling und Kate Hamilton wechselten resignierte Blicke. Jemand klopfte an die Tür. McGrath stand auf und öffnete. Dr. Noel Dunne, der staatliche Gerichtspathologe, stand auf dem Flur. »Detective Inspector McGrath, ich bin jetzt im Labor fertig und möchte die Leiche zur Gerichtsmedizin bringen lassen. Wollen Sie sich noch irgendetwas ansehen, bevor der Raum versiegelt wird?« McGrath strich sich über den Schnurrbart und überlegte. »Einen Augenblick.« Er trat noch einmal in die Bibliothek und flüsterte Dowling irgendetwas ins Ohr; dann winkte er Kate Hamilton und kehrte zu Dunne zurück. Noel Dunne war achtundvierzig, sah aber doppelt so alt aus. Er besaß das verhärmte Gesicht eines Mannes, der jeden Tag Leichen aufschneidet, um festzustellen, was genau den Tod verursacht hat. Dünne war groß, mit dickem Bauch, stahlgrauem Haar und Vollbart, und er war für seinen Galgenhumor bekannt. An diesem frühen Morgen war ihm allerdings nicht nach Scherzen zu Mute. Von Dunnes normalerweise überschäumendem Temperament war nichts zu merken. McGrath spürte die Besorgnis des Mannes. »Niederträchtig, Detective Inspector. Ein zutiefst niederträchtiges Verbrechen!« McGrath strich nachdenklich über seinen Schnurrbart, der so grau und dicht war wie sein Haar, »Irgendwelche Anzeichen einer Vergewaltigung?» »Nichts Offensichtliches. Zerfetzte Kleidung, die Beine leicht gespreizt, aber sonst nichts. Ich werde Abstriche von Mund, Va90
gina und Rektum machen.« Er unterbrach sich und warf einen fragenden Blick in Kate Hamiltons Richtung. „Oh, tut mir Leid«, entschuldigte sich McGrath, »ich hätte Sie bekannt machen müssen. Das ist Detective Sergeant Kate Hamilton.« Dunne warf einen raschen Blick auf die hoch gewachsene, schlanke junge Frau, schnaubte und blickte resigniert zur Decke, sodass Kate Hamilton sein Missfallen spüren musste. Dunne war Kavalier der alten Schule, an männliche Mitarbeiter gewöhnt, und fühlte sich unbehaglich, wenn Frauen anwesend waren, während er arbeitete. Er war so erzogen, dass er alle Frauen als Damen behandelte. Stets erhob er sich, wenn eine Frau ein Zimmer betrat, in dem er sich aufhielt; er bot seinen Platz an, wenn es keinen freien gab, und war stets darauf bedacht, die Gefühle einer Frau vor den Unerfreulichkeiten des Lebens zu schützen. Es bestürzte ihn, dass eine junge Dame bei einer MordUntersuchung dabei war, erst recht zu dieser frühen Stunde. Dunne beschloss, Kate Hamilton einfach zu ignorieren. Nachdem er sein Diktiergerät in seine Jackentasche gesteckt hatte, erkundigte er sich: »Hat irgendwer etwas gesehen?« "Fehlanzeige«, erwiderte McGrath, dessen Gedanken sich überschlugen. »Niemand hat diesen Mistkerl kommen sehen, und niemand sah ihn gehen.« Dunne
runzelte
die
Stirn.
»Können
wir
die
Leiche
fortbringen?« McGrath nickte. »Ich werde mich ein letztes Mal drinnen umsehen, bevor die Spurensicherung das Zimmer auf den Kopf stellt.« 91
Dunne verzog das Gesicht. Jack McGrath war ein guter Polizist, ein fähiger und erfahrener Detective, doch manchmal konnte er einem ganz schön auf den Geist gehen. Wenn die Spurensicherung fertig war, ging McGrath für gewöhnlich noch einmal alles durch - und wehe, wenn er feststellte, dass schlampige Arbeit geleistet worden war. Deshalb war er bei der Spurensicherung nicht sehr beliebt, besaß ansonsten aber einen guten Ruf. Er war berüchtigt für seinen Sarkasmus, doch niemand sprach ihm seinen gesunden Menschenverstand ab. Er vertraute seinem sechsten Sinn und hatte so etwas wie eine Datenbank über die Dubliner Unterwelt in seinem Hirn, an die kein Computer der Gardai heranreichte. Brauchte jemand beispielsweise auf die schnelle eine Kurzbiografie über den mutmaßlichen
Hintermann
eines
Banküberfalls
oder
Informationen über einen Bandenkrieg, wandte der Betreffende sich als Erstes an Jack McGrath. Sein Insiderwissen ließ ihn selten im Stich, und so mancher Ganove aus Dublin verdankte McGraths Instinkt einen unfreiwilligen Urlaub auf Staatskosten. McGrath war Stammkunde eines Fitnesscenters ganz in der Nähe seiner Wohnung; dort hielt er seinen eins dreiundachtzig großen Körper in Topform. Er war sowohl geistig wie körperlich voll auf der Höhe. Die spaltweit offene Labortür wurde von einem uniformierten Garda bewacht. Ein gelbes Band spannte sich vom linken zum rechten Türrahmen, um sämtliche Nicht-Polizisten daran zu hindern, den Tatort zu betreten. Dunne ignorierte den Garda völlig und schob die Tür mit einem Bleistiftende auf, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Er bedeutete McGrath, ins Zimmer zu kommen. In dem Moment, als er die Tür hinter ihnen 92
schließen wollte, schob Kate Hamilton sie heftig auf und drückte sich mit zornigem Gesicht am grinsenden Dunne vorbei. Die Neonröhren im Labor tauchten den Raum in helles, kaltes Licht. Dunne wollte sich auf einen Hocker setzen, hielt dann jedoch inne und bot Kate Hamilton wortlos den Platz an. Sie beachtete seine Geste scheinbar nicht, lehnte sich an einen Untersuchungstisch und behielt McGrath im Auge. Dunne zuckte die Schultern und setzte sich. Drei Mann von der Spurensicherung, die zur gerichtsmedizinischen Abteilung gehörten, waren noch bei der Arbeit. Einer kniete nieder, um mit seiner Kamera einen besseren Schusswinkel zu bekommen. Blende. Belichtung. Entfernung. Blitz! Ein letztes Foto von Mary Dwyer, aber nicht fürs Familienalbum. McGrath inspizierte bedächtig den Tatort; seine Augen nahmen alles auf. Um die Leiche, die noch dort lag, wo sie gefunden
worden
war,
machte
er
einen
Bogen.
Die
Reagenzgläser eines umgekippten Regalbretts lagen zerbrochen auf dem Boden. Das Blut, das aus den Gläsern geströmt war, hatte inzwischen verkrustete Lachen gebildet. Der Geruch nach Blut und Chemikalien reizte McGraths Nase und Hals. Er schob sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und zerbiss es. Ein kleiner PC und ein Drucker lag zertrümmert in einer Ecke; Stücke ihrer grauen Kunststoffgehäuse waren im ganzen Labor verstreut. Das Papier war aus dem Drucker gezogen. Zwei andere Geräte lagen dort, wo sie zu Boden gefallen waren. Auf den Arbeitstischen standen die üblichen Utensilien, die in jedem Krankenhauslabor zu finden waren: Bunsenbrenner, Kühler, 93
Messkolben, Reihen von Reagenzglas-Gestellen, Mikroskope, Petrischalen. Doch nirgends waren chirurgische Instrumente zu sehen. Dunne blickte auf die Uhr. McGrath und er hatten schon bei so vielen Morduntersuchungen zusammengearbeitet, dass jeder die Vorgehensweise des anderen so gut kannte wie die eigene. Dunne schätzte, dass McGrath bestimmt noch eine volle Stunde im Labor bleiben würde, um sich auf intuitiver Ebene ein Bild vom Mord zu machen. Er wusste, dass McGrath des Öfteren an einen Tatort zurückkehrte, nachdem die Spurensicherung abgezogen war, um dann zu versuchen, sich in die letzten schrecklichen Augenblicke des Opfers hin einzufühlen. »Ich sehe hier keine einzige Klinge«, stellte McGrath fest. »Wie haben Sie dieses Ding da genannt, das aus dem Hals der Frau ragt?« Er stand jetzt über die Leiche gebeugt, kaute auf dem zerbissenen
Bonbon
und
nahm
beinahe
gierig
den
Minzgeschmack in sich auf. "Ein Skalpell.« „Ach, ja. Skalpell. Ich sehe hier keine anderen. Sie?« »Nein, obwohl ich ganz genau nachgesehen habe.« Der Detective ging in die Hocke, um das Opfer genauer zu betrachten. Nur sein angestrengter Atem war lauter als das gleichmäßige Summen der Laborgeräte. Das Skalpell steckte so tief in Mary Dwyers Hals, dass nur etwa zweieinhalb Zentimeter vom Klingengriff herausragten. Ihr Gesicht war blau und noch leicht geschwollen. Winzige Rötungen, Petechien, hoben sich unter der Haut ab. Ihre Augen waren glasig und leblos. Bindehautblutungen hatten das Weiße rot gefärbt, und von ihrer Kopfwunde war Blut auf den Boden geströmt und hatte dort eine Pfütze ge94
bildet. Ihr Hals wies starke Hämatome und Kratzspuren auf. Ihr linkes Bein war zur Seite abgewinkelt, das Knie wies in die Höhe, und ihr Rock war hochgerutscht. Sie trug eine Strumpfhose, die vom Knie bis zur Leistengegend zerrissen war. Ein Fingernagel war abgebrochen. Als McGrath sich erhob, fiel ihm ein gelbes Kreidezeichen am Tischrand auf. Ein Mitarbeiter der Spurensuche hatte irgendetwas entdeckt und die Stelle markiert: Ein bisschen Blut und ein kleines Büschel Haare klebten am Holz. »Sie können die Leiche wegbringen lassen. Ich rufe Sie später in der Pathologie an.« McGrath bückte auf die Wanduhr. »Wann sind Sie fertig?« «Gegen zehn, halb elf. Ich werde versuchen, so früh wie möglich anzufangen.« »Gut, dann bis später.« Dunne gähnte und nickte zugleich. »Kate.« McGrath wandte sich Hamilton zu, die in ein kleines schwarzes Notizbuch kritzelte. »Ich möchte, dass Sie allein hier bleiben und sich den Tatort ebenfalls genau anschauen. Die Jungs von der Spurensicherung werden Ihnen sagen, wo es sich nochmal nachzusehen lohnt, was Sie anfassen dürfen und was nicht, und so weiter. Wir werden dann später gemeinsam durchgehen, was Ihnen aufgefallen ist. Kommen Sie zur Bibliothek, wenn Sie fertig sind. Ich bin mit Tony dort.« Nachdem McGrath und Dunne gegangen waren, blieb Kate Hamilton noch etwa zehn Minuten an den Labortisch gelehnt stehen. Sie ließ den Blick nicht von Mary Dwyers Leiche. Es war seltsam still geworden im Labor, denn die Männer der Spurensicherung waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie kaum ein Wort sagten. Schließlich nahm Kate ihre eigene Untersuchung des Tatorts auf. Kate Hamilton 95
war eine von nur drei weiblichen Detectives, die in der Garda Siochana für die Aufklärung von Gewaltverbrechen ausgebildet wurden. Seit nunmehr fast sechs Monaten hatte Jack McGrath sie unter seine Fittiche genommen. Anfangs hatte er Kate nur widerwillig akzeptiert, inzwischen aber bewunderte er sie, nachdem er ihre natürliche Begabung bei der Untersuchung kniffliger Fälle erkannt hatte. »Sie ist schwer auf Draht«, hatte er eines Morgens zu Tony Dowling gesagt. »Und verdammt ehrgeizig. Würde mich nicht wundern, wenn sie bald die ganze Abteilung leitet.« Dowling
hatte
gelacht
und
McGrath
dann
forschend
angeblickt. „Sag mal, Jack, hat deine Frau sie schon mal gesehen?« McGrath grinste. Er war verheiratet und hatte zwei halbwüchsige Söhne. Nein, und das wird sie auch nicht. Ein Blick auf die Kleine, und meine Alte würde dafür sorgen, dass ich zur Verkehrspolizei versetzt werde.« Kate Hamilton hatte nicht nur Köpfchen, sie war auch äußerst attraktiv und sehr selbstbewusst, auch wenn sie fast zehn Zentimeter kleiner war als ihre mindestens eins achtzig großen Kollegin. Ihr dunkles Haar trug sie kurz, meist nach hinten gekämmt und an den Seiten festgesteckt. Sie hatte tiefblaue Augen unter dunklen Brauen und ein hübsches Gesicht. Ein ausgesprochen hübsches Gesicht. So hübsch, dass sie das Pin-up-Girl für viele Beamte in der Garda-Zentrale an der Store Street war, der man sie zugeteilt hatte. Doch die meisten männlichen Gardai wussten, dass sie sich keine Hoffnung auf ihre attraktive Kollegin machen konnten, denn sie war noch in Trauer. Detective Sergeant Kate 96
Hamilton war alleinstehende Mutter mit einem vierjährigen Sohn namens Rory, den sie über alles liebte, wie sie auch Rorys Vater einst über alles geliebt hatte. Doch Rorys Vater war tot. Kurz bevor sie Jack McGrath zugeteilt worden war, hatte dieser sich bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Chief Superintendent Mike Loughry, eingehend nach Kate Hamilton erkundigt. Loughry war Chef der Abteilung für Gewaltverbrechen, und McGrath erstattete ihm Bericht über sämtliche Ermittlungen, die er leitete. »Hamilton ist zweiunddreißig«, las Loughry aus Kates Personalakte vor. »Mit vierundzwanzig, nach ihrem Abschluss in Geschichte und Politik an der Universität Dublin, ist sie als Kadett zur Polizei gegangen. Sie hat ihr Studium summa cum laude abgeschlossen. Erstklassige Beurteilungen wahrend ihrer GardaCollegeausbildung in Templemore. Hat besondere Fähigkeiten bei der Spurensicherung und der Aufdeckung von Drogendelikten gezeigt.« McGrath hatte interessiert zugehört. Er wollte sich keinesfalls mit irgendeiner Tussi befassen müssen, die ihm auf Schritt und Tritt wie ein Schoßhündchen folgte. »Sie
wurde
als
eine
von
fünf
Gardai
für
eine
Spezialausbildung in den Vereinigten Staaten ausgewählt und hat ein Jahr beim Bostoner Drogendezernat verbracht.« Loughry legte eine Pause ein und beugte sich näher zu McGrath vor, als wären sie Verschwörer. »Bedauerlicherweise hat sie sich dort mit einem der Detectives eingelassen.« »Was meinen Sie mit eingelassen?« »Na, was schon. Die zwei hatten etwas miteinander. Und sie 97
wollten heiraten.« »Und? Was ist passiert? Hat er sie abserviert?« »Nein, er wurde getötet.« »O Gott.« »Genau.« »Wie ist es passiert?« »Razzia bei Großdealern. Angeblich waren die Burschen nicht bewaffnet.« »Aber sie waren es.« McGrath seufzte tief. »Die Kerle verfügten über ein regelrechtes Arsenal. Der Mann hatte nicht die geringste Chance.« »Also musste Hamilton zurück nach Irland und sich einen netten irischen Jungen suchen?« McGrath wunderte sich selbst über seinen Zynismus. »Nur dass sie schwanger war.« »O Gott.« »Genau. Offenbar hat man sie ziemlich bedrängt, abtreiben zu lassen. Sie weigerte sich und brachte ihr Baby hier in Dublin zur Welt.« McGrath stützte das Kinn auf die Hände und strich sich mit seinem kleinen Fingern durch den Schnurrbart. »Eine Frau, die offenbar weiß, was sie will.“ „Das kann man wohl sagen. Sie kommt aus einer GardaiFamilie. Schon ihr Vater und der Großvater waren Polizisten. Jedenfalls ist sie eine Frau der neuen Generation, selbstsicher und intelligent, und ganz gewiss stört es sie nicht, eine der wenigen Frauen bei der Kriminalpolizei zu sein.« So wurde Kate Hamilton Mitglied der Dubliner Garda-Kommission zur Bekämpfung von Gewaltverbrechen. Eine Frau mit 98
Vergangenheit, die sie bereits als Frau mit Zukunft auswies. Nach einigem Beschnuppern — und nachdem sie umeinander hergeschlichen waren wie Raubtiere um ihre Beute - kamen Kate und McGrath gut miteinander aus. Schon nach sechs Wochen war es selbstverständlich, dass Kate zur Mannschaft gehörte wie alle anderen auch. Sogar Tony Dowling legte seine Skepsis ab, was Frauen bei der Abteilung für Gewaltverbrechen betraf, und er überschlug sich fast, Kate beizustehen, wenn einige der älteren Kollegen sie dann und wann ihre Macho-Allüren spüren liefen.
Als Kate Hamilton mit ihrer eingehenden Besichtigung des Tatorts fertig war, kniete sie sich neben Mary Dwyers Leiche, um sie noch einmal ganz genau in Augenschein zu nehmen. Sie wappnete sich gegen den Anblick der leblosen Augen und des Skalpells, das noch aus dem Hals ragte. Unwillkürlich schauderte sie. Lieber Gott, lass mich nicht so enden, betete sie. Jedenfalls noch nicht. Noch lange nicht. Ich muss ein Kind großziehen.
Dean Lynch war um ein Uhr dreißig in dieser Nacht mit den Aufräumungsarbeiten fertig. Selbst das kleinste Kleidungsstück, bis hin zu Unterhose und Socken, hatte er in Supermarkt-Plastikbeuteln verpackt. Acht Beutel waren es insgesamt. Die Schuhe hatte er ausgezogen, bevor er in seinen Wagen gestiegen war; nun steckten auch sie bereits, in einzelnen Plastikbeuteln. Lynch fühlte sich eigenartig ruhig, beinahe erleichtert. Müde, ja, aber nicht erschöpft. Schläfrig. Er legte sich aufs Bett, knipste die Nachttischlampe aus und starrte an die Decke. Wie so oft wandten sich seine Gedanken Mrs. Duggan zu, seiner Nemesis, seiner ganz persönlichen Peinigerin. 99
Elizabeth Anne Duggan war eine psychologisch gestörte Außenseiterin gewesen, die man niemals in die Nähe von Kindern hätte lassen dürfen. Sie war eine hoch gewachsene Frau mit pechschwarzem Haar, das sie immer streng zurückgekämmt trug, sodass es ihr spitzes Gesicht und die ungesunde Blässe hervorhob. Die bleiche Haut unter der schwarzen Tracht, dazu die langen weißen Knochenfinger schüchterten viele der Kinder ein und verängstigten sie. Duggan war eine religiöse Eiferin, die es als ihre persönliche Mission betrachtete, ledige Kinder zu Gott zurückzuführen. Elizabeth Anne Duggan war überzeugt, dass in den Seelen dieser Kinder die Sünde eingebrannt war. So zwang sie die kleinen Mädchen und Jungen, die man ihr anvertraut hatte, zu beten und zu büßen, zu allen Tages- und Nachtstunden, und lastete den »Kindern der Sünde« mehr niedrige und schwere Arbeit auf als den anderen. »Das ist Gottesarbeit!«, kreischte sie oft, wenn sie der Meinung war, eines der Kinder würde sich nicht genug Mühe geben. »Jesus hat die Füße der Sünderin gewaschen, und ihr werdet arbeiten, wie er es getan hat. Möge unser Erlöser euer Vorbild sein, und sein Licht euer Leuchtfeuer im Leben.« Insbesondere der kleine Dean Lynch war zur Zielscheibe von Duggans Hass geworden, als sie den Jungen in der Küche entdeckt hatte, wo er sich versteckt hielt, die Taschen voll schimmeligem Brot. Damals hatte Dean zum ersten Mal Duggans Lieblingsstrafe zu spüren bekommen: den lichtlosen Verschlag von knapp einem Drittel Quadratmeter unter der Treppe, in dem Bürsten und Pfannen aufbewahrt wurden. Duggan hatte den siebenjährigen Dean, der schrie und um sich schlug, dorthin gezerrt und stundenlang in völliger Finsternis eingesperrt. Von diesem 100
Tag an verfolgte und quälte Elizabeth Anne Duggan den Jungen, wann immer sie Gelegenheit hatte. Sie zog ihn beim Frühstück aus der Reihe der anderen Kinder und beschuldigte ihn, dass er versucht hätte, davonzulaufen. Wenn der verschüchterte und verstörte Junge diese Beschuldigung nicht schnell genug zurückwies, sperrte Duggan ihn in die »schwarze Kammer“, wie sie es nannte. Von zwei Helfern - denn mindestens zwei waren nötig, wurde Dean zu dem winzigen Verschlag unter die Treppe gezerrt und durch die schmale Türöffnung gezwängt. Mit Händen und Armen und aller Kraft seines kleinen Körpers stemmte Dean sich gegen die Tür, während seine Peiniger von außen damit abmühten, sie zu schließen. »Bitte nicht“, flehte Dean anfangs mit kläglichem Wimmern. Doch sobald er spürte, dass seine Beine nachgaben und die Tür wieder einmal das Licht aus seinem Leben ausschloss, stieg Panik in ihm auf, und sein Flehen wurde zum verzweifelten Kreischen. »Bitte, sperrt mich nicht hier ein!« Und immer, immer hörte er die Stimme dieser Frau, wenn die Tür sich fest schloss und ihn in völlige Finsternis stürzte. „Jetzt kannst du in der Hölle schlafen, Dean Lynch! Du kannst in der Hölle schlafen!« Elizabeth Anne Duggan verstand es, die Daumenschrauben der Angst anzuziehen.
13
8.15 Uhr
Kate Hamilton musste ihren Vater beinahe anflehen, Rory zum Kindergarten zu bringen und anschließend abzuholen. »Versteh 101
doch, Dad, ich war fast die ganze Nacht auf. Wenn ich jetzt in der Zentrale anrufe und mich entschuldige, dass ich an den Ermittlungen in der Klinik nicht teilnehmen kann, weil ich niemanden finde, der sich um meinen Sohn kümmert - was glaubst du, passiert dann? Sie werden mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, und das weißt du.« Ihr Vater hatte zu protestieren versucht, jedoch bald aufgegeben. Er kannte Kates Ehrgeiz. Sie würde Berge versetzen, um ihre Unabhängigkeit, ihr Kind und ihre Karriere zu behalten. Seufzend hatte er gefragt: »Was soll ich ihm zum Frühstück machen?« Kate umarmte ihren Vater. »Im Tiefkühlschrank sind Waffeln. Steck eine in den Toaster, brat ihm ein Ei dazu und leg es drauf. Das mag er gern.« Und schon war sie aus der Tür. Rory hatte zu seinem Großvater aufgeblickt und das Gesicht verzogen. »Ich mag keine Spiegeleier.« Großvater lächelte und brachte den Jungen zurück in sein Zimmer, um ihn für den Kindergarten anzukleiden. Rory reichte ihm bereits bis zur Taille. Er hatte leicht gebräunte Haut, braune Augen und schwarzes Haar, was er der italienischen Abstammung seines Vaters verdankte. Vom Körperbau her war er verhältnismäßig schmächtig, doch seine dünnen Arme und Beine schienen ständig in Bewegung zu sein — auch ein Grund, weshalb sein Großvater am Ende eines gemeinsam mit Rory verbrachten Tages ziemlich erschöpft war. Kate und Rory wohnten in einem roten Backsteincottage in einer ruhigen Sackgasse in Ranelagh, einem südlichen Vorort von Dublin. Die monatlichen Hypothekenzahlungen verschlangen den Hauptteil von Kates Gehalt, und sie baute fest darauf, dass 102
der Vater ihr half, indem er auf Rory aufpasste. Grandad, wie Rory ihn nannte, hing ebenso sehr an dem Jungen wie seine Mutter und war nach Dublin gezogen, als Kate im sechsten Schwangerschaftsmonat von Boston zurückgekommen war. Sie war sein einziges Kind - alles, was er noch an Familie hatte, seit seine Frau vor fast fünf Jahren gestorben war. Er hatte sich eine Dreizimmerwohnung gekauft, nur knappe fünf Gehminuten von Kates und Rorys Cottage entfernt. Der Junge war zum Mittelpunkt seines Lebens geworden. Meist machte Kate ihren Sohn selbst für den Kindergarten fertig und fuhr ihn das kurze Stück zur Wohnung ihres Vaters. Dort spielte er eine
halbe Stunde, während Großvater
frühstückte; anschließend spazierten die beiden Hand in Hand die paar Schritte zum Tor des Kindergartens. Üblicherweise holte der Großvater Rory nachmittags ab und brachte ihn nach Hause zum Cottage. Dort erzählte der Junge ihm dann, was er tagsüber mit den anderen Kindern erlebt hatte, während Großvater ihm Tee und Sandwiches machte und danach ein warmes Abendessen für seine Tochter kochte. Er wartete stets, bis Kate zu Hause war und sich die Zeit genommen hatte, in Ruhe zu essen, bevor er sich auf den Heimweg machte. Oft war ihm das Herz schwer von Sorgen, wenn er aus dem Haus, in dem überall Spielzeug herumlag, zu seiner leeren Wohnung zurückspazierte. Was soll aus den beiden werden?, fragte er sich. Sie gehen so ineinander auf. Kate braucht einen Mann, der ihnen hilft. Sie sollte nach einem Ehemann Ausschau halten. Der Junge braucht einen Vater. Doch ein Ehemann war das Letzte, für das Kate sich 103
interessierte, als sie zur Garda-Zentrale Store Street fuhr. Der Mord in der Klinik war der erste große Fall, an dessen Untersuchung sie von Anfang an beteiligt war. Trotz des Schocks und des Abscheus, die Kate am Tatort angesichts der Grausamkeit des Verbrechens empfunden hatte, konnte sie die Erregung nicht unterdrucken. Und es erfüllte sie mit Stolz, dass man ihr erlaubte, die Vernehmung im Beisein Dowlings und McGraths zu leiten, nachdem Tony Dowling aufgezählt hatte, welche Fragen dem Laborpersonal gestellt werden sollten. "Wo waren Sie letzten Abend zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?« "Können Sie Namen von Personen nennen, die Sie in diesen zwei Stunden gesehen haben?« »Was wissen Sie über Mary Dwyer?* „Können Sie sich einen Grund vorstellen, weshalb irgendjemand ihr etwas antun wollte?« «Wissen Sie, ob Mary Dwyer Männerbekanntschaften hatte? Einen festen Freund?« "Was war ihr Aufgabenbereich?« „An welchen Untersuchungen hat sie gestern Abend gearbeitet?«
»Könnte der Mord irgendetwas mit ihrer Arbeit zu tun haben?« Kate feuerte die Fragen regelrecht ab, doch die Antworten kamen nicht so rasch, wie sie oder das Team es erwartet hatten. Der Schock auf den Gesichtern der Kollegen und Kolleginnen Mary Dwyers war echt. Die meisten weiblichen Mitarbeiter brachen in Tränen aus; viele männliche Kollegen hüllten sich in erschüt104
tertes, benommenes Schweigen. Immer wieder kam es zu ungläubigem Kopfschütteln; Fäuste wurden geballt, Worte der Verständnislosigkeit gemurmelt. Kate blickte Dowling an, dann McGrath. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. Wir kommen nicht weiter.
Dean Lynch beobachtete, wie der Laster der Müllabfuhr von der Brücke hinunter zu den Geschäften an der Lower Baggot Street fuhr. Die Müllmänner rannten neben dem Fahrzeug her, wuchteten schwarze Plastiksäcke, Tonnen und andere Behälter in die Höhe und kippten sie in den Schlund des Müllwagens. Lynch schätzte, dass der Fahrer in Drei-Minuten-Abständen auf einen Hebel drückte und auf diese Weise die riesigen Klauen in Bewegung setzte, welche den Müll zusammenpressten und in den Container zerrten. Lynch fuhr seinen BMW langsam zu einer Stelle, an welcher der Mülllaster vorüberkommen musste, stoppte den Wagen und sprang rasch mit den zehn Kunststoffbeuteln hinaus. Er eilte den Bordstein entlang, beobachtete, wie die Klauen sich quietschend in Bewegung setzten, und begann zu zählen. Nach ungefähr zweieinhalb Minuten trat er vor, ließ die Beutel fallen und wich vom Straßenrand zurück. Genau zu dem Zeitpunkt, den Lynch geschätzt hatte, wurden die Beutel in den Schlund gehoben. Er gestattete sich ein schwaches Lächeln. Gut gemacht, Dean, alter Junge. Nur die Nerven bewahren. Du machst das prima. Trotz des bitterkalten Wetters war er nur leicht gekleidet. Er spürte die Kälte nicht. Lynch befand sich auf einem Rachefeldzug. Er wusste, dass er HIV-positiv war; er wusste, dass er sich in einem fortge105
schrittenen Aids-Stadium befand und der Virus seinen Körper zerstörte. Auch wenn die Krankheit vielleicht nur langsam voranschreiten würde - Lynch war auf das Schlimmste gefasst. Er wusste, dass sein Tod nur noch eine Frage der Zeit war. Er beschloss, nicht allein abzutreten. Es gab da noch ein paar offene Rechnungen. Doch zuerst musste er seine Spuren verwischen.
14 9.05 Uhr Büro des Chefarztes „Hier sind vierundzwanzig Stunden am Tag nahezu fünfhundert Personen beschäftigt.« Luke Conway versuchte, die Logistik bei der Untersuchung des Mordes in der Zentralentbindungsklinik zu klären. »Wir haben zweiundvierzig Ärzte und zweihundertsieben Schwestern«, fuhr er fort. »Die übrigen Beschäftigten sind Physiotherapeuten, Laboranten, Pharmazeuten, Sozialarbeiter, Verwaltungspersonal, Wachleute, Wartungsmonteure und so weiter.« Conway war leichenblass und stand offenbar unter Schock. Zu Anfang hatte er kaum glauben können, was in der Klinik vor sich ging. Doch als der Morgen dämmerte, die Polizei nicht von Stelle wich und die Labortür versiegelt blieb, wurde ihm schließlich auf erschreckende Weise klar, was passiert war. „Ich brauche eine Liste aller männlichen Beschäftigten. Und eine Aufstellung sämtlicher Männer, die regelmäßig in die Klinik kommen. Zum Beispiel Kuriere, Blumenlieferanten, Taxifahrer und dergleichen. Ich möchte, dass Sie sofort eine Liste anfertigen, solange dies alles noch frisch ist. Ich brauche diese Liste bis 106
Mittag.« Jack McGrath war in Bestform. »Und es könnte sein, dass ich mit jedem Beschäftigten unter vier Augen reden muss, falls wir nicht bald eine brauchbare Spur finden.« »Was? Das sind aber sehr viele Leute, die alle sehr viel zu tun haben.« »Ich weiß«, murmelte McGrath müde. Er hatte kaum Schlaf gefunden. Die Erinnerung an das Skalpell, das aus Mary Dwyers Hals ragte, ging ihm nicht aus dem Kopf. »Ein Stück mit tausenden von Mitspielern, so kommt es mir jedenfalls vor. Verdammt nochmal, und einer von diesen tausenden könnte der Mörder sein.« Eine Zeit lang herrschte Schweigen. »Wann kann das Laborpersonal seine Arbeit wieder aufnehmen?«, fragte Conway schließlich. Er war entschlossen, die Normalität beim Arbeitsablauf im Krankenhaus zu wahren, so gut es ging, obwohl er sich darüber im Klaren war, dass die schreckliche Neuigkeit sich wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. »Im Labor sind die Ergebnisse von Tests, die gestern vorgenommen wurden. Das Personal braucht die Werte unbedingt, heute oder morgen. Ich muss es wissen, sonst bleibt mir nichts anderes übrig, als die heutigen Tests an private Labors zu schicken.« McGrath blickte auf die Uhr und stand schwerfällig auf. »Das Labor können Sie für den Rest des Tages vergessen. Meine Leute haben dort jede Menge zu tun. Ich werde Ihnen sofort Bescheid geben, wenn Sie es wieder benutzen können.« McGrath wandte sich bereits zum Gehen, als ihm noch etwas einfiel. »Dürften wir Ihre Bibliothek für unsere Besprechungen verwenden? Sie ist für unsere Zwecke groß genug und erspart uns ein ständiges Hin und 107
Her zur Zentrale in der Store Street. Lässt sich das machen?« Conway zögerte, nickte dann aber, wenngleich ein wenig widerstrebend. Auf dem Flur zur Bibliothek ging McGrath an Dean Lynch vorbei. Keiner der beiden Männer schenkte dem anderen die geringste Beachtung. Lynch schloss die Tür zu seinem Sprechzimmer. Haben sie etwa vor, ihr Basislager in der Bibliothek aufzuschlagen? Das ist doch genau nach deinem Geschmack, Dean, alter Junge. Sie suchen dich, während du sie die ganze Zeit im Auge hast! Nur die Nerven bewahren. Du machst das großartig. Immer genau voraus planen. Lynch plante stets sorgfältig voraus. Das war das Geheimnis seiner Erfolge. So hatte er auch beim ersten Mal süße Rache gekostet. Elizabeth Anne Duggan litt unter Asthma, wie jeder im Waisenhaus wusste. Ihr Husten, Keuchen und das pfeifende Schnaufen waren so laut, dass man sie kommen hörte, lange bevor sie zu sehen war. Oft stand sie ächzend an eine Wand gelehnt und wartete darauf, wieder zu Atem zu kommen, und häufig fingerte sie unter den Schichten ihres schwarzen Kleides nach den Tabletten, die ihr Erleichterung verschafften. Wann immer eines der Kinder zufällig sah, wie sie eine der Tabletten nahm, rannte es sogleich los, um die anderen zu warnen. Denn was auch in diesen Tabletten sein mochte - nach der Einnahme wurde Elizabeth Anne Duggan zur Besessenen. Mit scheinbar 108
neuer Kraft suchte sie die Korridore und Schlafsäle nach den kleinsten Kratzern an den Wänden ab, hielt nach Betten Ausschau, die nicht ordentlich gemacht waren, oder begab sich auf die Suche nach nicht richtig geschlossenen Schubladen. Und mit zitternden, ja manchmal heftig bebenden Händen fand sie jedes Mal ein Opfer, an dem sie ihre Wut auslassen konnte. Und meist war es Dean Lynch, der unter ihrem Zorn leiden musste, einer unberechenbaren Wut, die durch das Stimulans in den Tabletten bis ins Extrem gesteigert wurde, denn das Mittel linderte zwar ihre Asthmaanfälle, raubte ihr aber auch jegliches Augenmaß. Doch schließlich zahlte Dean es ihr heim. Es reichte ihm. Er hielt es nicht mehr aus. Doch er war eher zufällig darüber gestolpert, wie er seinen Qualen ein Ende setzen, wie er mit der seelischen Grausamkeit, den falschen Beschuldigungen und den körperlichen Misshandlungen Schluss machen konnte. Es war ganz einfach. Als er herausfand, auf welche Weise sein Ziel zu erreichen war, staunte er, wie einfach es ging. Dean stahl sechs kleine rosa Pillen, die der Gärtner gegen hohen Blutdruck nehmen musste. Der Junge nahm sie an sich, nachdem er den Aufkleber auf der Pillendose gelesen hatte: Zweimal täglich eine Tablette. Vorsicht: Nicht für Asthmatiker. Dean hatte wochenlang über diese Warnung gegrübelt, bevor er etwas unternahm. Und als er seinen Plan dann in die Tat umsetzte, empfand er zum ersten Mal im Leben prickelnde Erregung, ein elektrisierendes Kribbeln, als sein Verstand seine Unverfrorenheit realisierte und die Vorfreude auf das was geschehen würde. Und es geschah, nachdem er die Tabletten ausgetauscht hatte. 109
Das Gebrüll auf den Fluren machte Dean auf seinen Erfolg aufmerksam. Als er den älteren Kindern und einigen Angestellten des Waisenhauses zur Quelle des Lärms folgte, wurde er vom Anblick der zusammengebrochenen, schweißüberströmten Elizabeth Anne Duggan begrüßt, die mit blau angelaufenem Gesicht am Boden lag, verzweifelt aufzustehen versuchte und keuchend nach Atem rang. Inmitten der unruhigen, aufgeregten Menge, die sich inzwischen eingefunden hatte und nicht wusste, wie sie helfen konnte, beobachtete Dean seine Peinigerin. Und lächelte. Kurz bevor Elizabeth Anne Duggan ihre qualvollen Versuche aufgab, zu Atem zu kommen, blickte sie hoch und sah den zwölfjährigen Dean Lynch, der sie lächelnd anstarrte. Es war ein selbstgefälliges, befriedigtes Lächeln. Er hatte gute Arbeit geleistet.
15
9.55 Uhr Städtisches Leichenschauhaus, Store Street
Das städtische Leichenschauhaus von Dublin befand sich an der Ecke Store und Amiens Street im Norden der Innenstadt. Das Gebäude war alt und Teil eines Komplexes, in dem auch die Gar110
da-Zentrale Store Street untergebracht war sowie das Büro des Coroners und die Leichenhalle. Die Stadtplaner hatten den dramatischen Anstieg der Kriminalitätsrate unmöglich vorhersehen können, der diese Einrichtungen in späteren Jahren völlig überlasten würde. Die Garda-Zentrale Store Street war die meistbeschäftigste der Stadt und konnte jedes Jahr bis zu zehntausend Festnahmen vorweisen. Auch im Leichenschauhaus gab es mehr Arbeit, als die Planer ursprünglich kalkuliert hatten. Viel mehr. Jack McGrath konnte das Leichenschauhaus noch weniger ausstehen als Krankenhäuser. Was immer ihm an Krankenhausgerüchen zuwider war - die Gerüche im Leichenschauhaus übertrafen sie bei weitem; sie hafteten an Kleidung und Haar wie eine dünne, schleimige Schicht. McGrath durchquerte den Innenhof, der das Büro des Coroners vom Eingang der Leichenhalle trennte, und paffte bereits seine fünfte Zigarre an diesem Morgen. Durchs Tor war das Hupen und Motorengedröhn des Berufsverkehrs an den Kais zu hören. McGrath trat den Zigarrenstummel unter dem Absatz aus und betrat das Gebäude. Der große Autopsieraum maß zwanzig mal zehneinhalb Meter und war dermaßen aseptisch, dass einem die Augen schmerzten. Boden, Wände und Decke waren weiß gekachelt, sämtliche Holzteile weiß gestrichen. In der Mitte des Raumes gab es drei Autopsietische aus weißem Marmor, die in jeweils drei Meter Abstand fest montiert waren. Am Kopfende jedes Tisches befand sich ein Wasserhahn mit kurzem Schlauch; an den Fußenden waren an tiefen Waschbecken gut zwanzig Zentimeter lange, schwenkbare Wasserhähne installiert. Die Halle war dank des natürlichen Lichtes, das durch ein drahtverstärktes Milchglas111
dach fiel, gut beleuchtet, wodurch das blendende Weiß des Inneren noch intensiver wurde. Auf dem mittleren Autopsietisch tag die nackte und sezierte Leiche von Mary Dwyer, jetzt mit einem grünen Tuch bedeckt. Zwei der Männer in weißen Overalls studierten eine Reihe von Röntgenaufnahmen. Noel Dunne
stand
mit
Dan
Harrison,
dem
Fotografen
des
gerichtsmedizinischen Instituts, neben dem dritten Autopsietisch. Harrison hielt seine Nikon aufnahmebereit in der Hand. Er duckte sich leicht, richtete den Apparat auf die Tote, und ein Blitz erhellte die Ecke des Raumes. »Ah, Detective Inspector McGrath«, grüßte Dunne, der den Besucher aus dem Augenwinkel bemerkt hatte. »Sie kommen gerade recht.« Seine dröhnende Stimme hallte von den Wänden wider, und die kleine Gruppe drehte sich um. McGrath nickte den Anwesenden zu, und alle erwiderten die Geste. »Wir haben hier sehr hart gearbeitet«, erklärte Dunne, während er zu den beiden Pathologen ging, die noch immer in die Röntgenaufnahmen vertieft waren, »und sind mehr oder weniger fertig. Nicht wahr, meine Herren?« Alle lachten pflichtschuldig. Dunne zeigte sich in bester Laune. Hatte er genügend Zuschauer, zog er eine Show ab. Er strich sich mit der rechten Hand über Bart und Schnauzer, während er darauf wartete, dass McGrath näher kam. Dunne trug einen grünen Schutzkittel, der vom Hals bis zu den Fußknöcheln zugeknöpft war; darüber einen langen grünen, dicken Schurz. Seine
Beine
steckten
in
grünen,
wadenlangen
festen
Gummistiefeln. Er griff nach einem hölzernen Klemmbrett, auf dem ein A4-Blatt mit den skizzierten Umrissen des menschlichen 112
Körpers festgesteckt war. Mit krakeliger Schrift und einigen Bleistiftpfeilen hatte Dunne seine Beobachtungen bei der Leichenöffnung notiert. Er streifte die Gummihandschuhe ab, setzte sich auf einen Hocker und bedeutete McGrath, zu ihm zu kommen. Die beiden bildeten einen ziemlichen Gegensatz: McGrath schlank und körperlich in Bestform; Dunne ziemlich korpulent und nach vorn gebeugt. Die Männer in den weißen Overalls traten zur Seite, als McGrath herankam. „Fangen wir von oben an«, begann Dunne und schob seine Brille auf die Nase. Stirnrunzelnd blinzelte er auf das Klemmbrett. Kann heute Morgen nicht mal meine eigenen Notizen lesen.« Wieder wurden grinsend Blicke gewechselt. »Ah, da haben wir's ja, fangen wir an.« Aus dem Augenwinkel sah McGrath eines der Röntgenbilder. Ganz deutlich waren Skalpellgriff und -klinge im weißgrauen Umriss von Mary Dwyers Hals zu sehen. Die Klingenspitze trat fast hinten aus den Halsmuskeln heraus. „Aktenzeichen 173, Autopsie von Mary Dwyer.« Dunne schallen- seinen Kassettenrecorder ein und sprach ebenso in das Gerät wie zu seinen Zuhörern. „Junge, schlanke Frau Anfang zwanzig«, fuhr er fort. »Kurz geschnittenes rotbraunes Haar. Gewicht achtundfünfzig Kilo. Größe eins siebzig.« Dünne legte eine kurze Pause ein, um eine gekritzelte Eintragung zu entziffern. Die Zuschauer lauschten aufmerksam. Jack McGrath fummelte in einer Tasche nach seinen Pfefferminzbonbons. »An der linken Schläfe befindet sich eine gezackte Wunde. Das Haar an dieser Wunde ist blutverkrustet. Am Tatort befand sich 113
eine Blutlache neben der Toten. Das Blut war aus der Schläfenwunde geströmt.« Dunne legte das Klemmbrett nieder und griff nach einer der Röntgenaufnahmen, die Mary Dwyers Kopf und Nacken zeigte. Er deutete mit einem Finger auf eine dünne, silbergraue Linie an einer Seite. »Unter der Schläfenwunde befindet sich eine haarfeine Fraktur des Schädels. Auf dem Röntgenbild ist sie nur schwer zu erkennen, aber ich habe sie bei der Untersuchung des offenen Schädels entdeckt. Die Frau muss mit ziemlicher Wucht gegen den Tisch geprallt sein.« Flüchtig schienen Dunnes Blicke McGrath zu durchdringen. „Ich
röntge
meine
Kunden
nicht
immer,
Detective
Inspector«,erklärte Dunne. »Gewöhnlich nur, wenn ich nach Projektilen oder dergleichen suche. Aber ich dachte mir, diese Dame wäre gut als Anschauungsobjekt für den Unterricht geeignet.« Er wandte sich wieder seinen Notizen zu und fuhr fort: es haben sich Bindehautblutungen in beiden Augen ergeben sowie multiple Petechien im Gesicht. Von drei Amalgamfüllungen in den Zähnen abgesehen, war der Mundbereich unauffällig.« An McGrath gewandt, fügte er hinzu: »Wie üblich habe ich Abstriche von allem gemacht. Links und rechts der Halsmitte befinden sich Blutergüsse mit linear verlaufenden Kratzspuren. Die Blutergüsse weisen zwei Muster auf. Einige sind scheibenförmig und sechs Millimeter breit, die anderen sind größer und unregelmäßig, was auf eine Bewegung der Finger schließen lässt. Petechien befinden sich am Kehldeckel und der viszeralen Pleura. Haemorrhagien unter der Halshaut und den Halsmuskeln.« Dunne legte eine Pause ein und stellte den Recorder aus; dann rief er: »Dan, machen Sie eine Aufnahme davon. Am besten von diesem Röntgenbild, ja?« Er deutete auf die Röntgenaufnahme 114
mit dem Skalpell in situ. »Dann versuchen Sie eine gute Nahaufnahme vom Hals zu machen. - Das ist wirklich sehr schönes Anschauungsmaterial«, fügte er zu niemandem im Besonderen hinzu. McGrath nutzte die Gelegenheit, sich ein weiteres Pfefferminzbonbon in den Mund zu stecken. Dunne konsultierte wieder seine Notizen. »Rechts der Halsmitte befindet sich eine saubere Stichwunde. Am Tatort wurde kein Blut aus dieser Wunde gefunden. Ein Skalpell ist durch diese Stichwunde in den Hals eingebettet.« Alle Augen folgten Dunne, als er erneut das Röntgenbild mit dem Skalpell in die Höhe hielt. Er strich sich über den Bart. »In die Seite des Skalpellgriffs ist Swann Bindestrich Norton graviert, sowie BS, in Großbuchstaben, 2982. Am unteren Drittel des
Griffs
befinden
sich
konzentrische
Gravuren.
Der
Skalpellgriff weist eine dicke braune Verfärbung auf.« Dunne schaltete den Kassettenrecorder aus. »Ich komme gleich wieder darauf zurück. Diese Verfärbung könnte jedoch bedeutungsvoll sein.« McGrath blickte scharf zu Dunne hinüber, doch der machte bereits weiter. Er knipste den Recorder wieder an. »An der linken Schulter und auf der Brustmitte befinden sich Blutergüsse. Der Nagel des rechten Zeigefingers ist abgerissen und nach hinten gebogen. Ansonsten weist der Körper, von ein paar Blutergüssen an der oberen linken Schulter und einer alten Blinddarmoperationsnarbe , abgesehen, keine weiteren Merkmale auf, die für uns von Bedeutung sind. Es ist zu keinem sexuellen Verkehr gekommen. Das Mädchen ist virgo intaeta.« Ohne den Blick vom Röntgenbild zu nehmen, schaltete er den Recorder erneut aus. «Und was sagt uns das alles?«, fragte McGrath. Er bemerkte, 115
dass sich eine kleine Gruppe hinter und neben Dunne gesammelt hatte. Zu ihr gehörten zwei uniformierte Gardai sowie Pat Relihan, der hoch gewachsene, dunkle Fingerabdruckexperte von Kerry. Sie warteten auf das Untersuchungsergebnis. Dunne seufzte tief, als nähme er alles persönlich. McGrath hatte ihn seit langem nicht so emotional beteiligt erlebt. Normalerweise folgte Dunne einer eher schlichten Philosophie. Vor allem war er Arzt - ein Mediziner, den die Umstände zum forensischen Pathologen gemacht hatten. Und obwohl seine Patienten immer tot waren, betrachtete er es doch als seine Pflicht, sie zu schützen und ihre Todesursache festzustellen. Über Motive und andere Hintergründe der Tat machte er sich selten Gedanken. Das überließ er anderen, wie beispielsweise McGrath. „Was sagt uns das alles? Nun, die erste Verletzung, die das Opfer sich zuzog, war meines Erachtens die am Kopf. Er wurde mit solcher Wucht gegen die Tischkante geschmettert, dass es zum Schädelbruch kam, wodurch ihre Reaktionsfähigkeit wahrscheinlich auf ein Minimum herabgesetzt wurde. Vom abgebrochenen Fingernagel und ein paar Kratzern am Hals abgesehen gibt es kaum Anzeichen dafür, dass sie sich gewehrt hat. Nachdem ihr der Schädelbruch beigebracht wurde, hat man sie gewürgt. Am Hals sind starke Blutergüsse sowie Frakturen an beiden Seiten des oberen Schildknorpelhorns. Das alles deutet auf Strangulierung hin.« Dunne legte eine Pause ein. Die Anwesenden scharrten nervös mit den Füßen. »Kommen wir nun zum bemerkenswertesten Detail.« Aller Augen richteten sich wie gebannt auf Dunne. »Das Skalpell wurde dem Opfer in den Nakken gestoßen, nachdem es bereits tot war.« „Danach?«, entfuhr es McGrath. 116
»Ja, Detective Inspector, danach.« Dunne wandte sich erneut seinen Notizen zu. »Unter anderem hat die Klinge ihre gemeinsame Halsschlagader durchschnitten«, fügte er lakonisch hinzu, um dann zu erklären: »Die gemeinsame Halsschlagader, carotis communis, führt Blut zum Gehirn. Wenn die Klinge sie durchtrennt hätte, solange das Opfer noch lebte - mit anderen Worten, solange das Herz noch schlug -, hätte es eine Menge Blut in der Halsgegend gegeben. Aber dort fand sich keines, von ein wenig gesickertem Blut abgesehen.« Der Bastard, dachte McGrath. »Wie gesagt, ist der Skalpellgriff sehr fleckig.« Dunne langte in eine Seitentasche und brachte ein kurzes Stück dünne Folie zum Vorschein, die er aufriss. »Das hier ist ein normaler Skalpellgriff. Wie Sie sehen, ist er silbergrau. Der, den wir aus dem Hals des Mädchens entfernt haben, war fast völlig braun, eine Art streifiges Dunkelbraun. Ich habe so etwas schon früher gesehen - dieser Skalpellgriff kam aus einem alten Sterilisierungsapparat. Die modernen Sterilisatoren verursachen keine Verfärbung der Instrumente. Aber dieser Griff sieht aus, als wäre er seit langem immer wieder im selben Apparat sterilisiert worden. Finden Sie diesen Sterilisator, und Sie können womöglich feststellen, woher der Skalpellgriff stammt.« McGrath zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und kritzelte irgendetwas hinein. »Sie müssen wissen, Detective Inspector«, Dunne lächelte selbstgefällig, »dass auch ich heute Morgen schon ein bisschen Detektivarbeit geleistet habe, und zwar unterstützt von dem sehr fähigen Garda Phelan.« Er drehte sich ein Stückchen herum und legte eine Hand auf den blau uniformierten Arm eines jungen 117
Garda hinter ihm, der leicht errötete. »Garda Phelan hat in der Frühe ein bisschen herumtelefoniert. Erzählen Sie Detective Inspector McGrath, was Sie erfahren haben.« Garda Phelan räusperte sich nervös. »Nun, Dr. Dünne wollte herausfinden, woher dieser Skalpellgriff stammen könnte. Also rief ich in der Zentralentbindungsklinik an, ließ mich mit dem Ersatzlager für chirurgische Instrumente verbinden und erfuhr, dass sämtliche kleinen Gerätschaften von einem Auslieferungslager in Keils herangeschafft werden. Auf meine telefonische Nachfrage sagte man mir dort, dass man sämtliche städtischen Krankenhäuser in Dublin beliefert. An Swann-Norton-Skalpellgriffe und -klingen ist ziemlich leicht heranzukommen ...» „Wollen Sie mir damit sagen, dass man in Dublin so leicht an Skalpelle herankommt wie an Guinness in einem Pub?«, unterbrach McGrath. „Nur wenn Sie Arzt sind«, entgegnete Dunne. »Das sollten Sie bedenken, Detective Inspector. Ich hätte nicht gedacht, dass das Skalpell, von der Verfärbung abgesehen, ein so entscheidendes Beweisstück sein könnte. Ich bin immer noch der Meinung, dass es den ... Benutzerkreis eingrenzt. Ein besseres Wort fällt mir im Moment nicht ein.« „Und weder auf der Klinge noch auf dem Griff befinden sich Fingerabdrücke«, warf eine Stimme mit weichem Kerry-Akzent ein. Pat Relihan gab seinen Senf dazu. »Und unsere Experten haben am Tatort etwas Interessantes entdeckt«, sagte Dunne und drehte sich zu einem der Männer im weißen Overall um; dann wandte er sich wieder McGrath zu. Gerichtsmediziner leisten großartige Arbeit, Detective Inspector. Wirklich, das muss ich schon sagen.« Er genoss das Ganze außer 118
ordentlich. McGrath grinste ein wenig verlegen. -Da war ein kleines Stück Latex«, sagte der Gerichtsmediziner im weißen Overall, »etwa sechs Millimeter breit und lang. Es lag auf dem Boden, direkt neben der rechten Hand des Opfers, der Hand mit dem gebrochenen Nagel.« „Und?«, fragte McGrath. »Dr. Dunne meint, das Latexstück stamme von einem Handschuh, wie er bei Operationen und ganz allgemein in Krankenhäusern benutzt wird.« In der Halle wurde es plötzlich still. Das einzige Geräusch kam von dem Wasser, das Mary Dwyers Leiche umspülte. „Ja, es sieht tatsächlich wie ein Stück Latex von einem dieser Handschuhe aus. Alles passt zusammen. Keine Nageleindrücke am Hals des Opfers, keine Fingerabdrücke auf dem Skalpellgriff. Wer immer dieses Mädchen ermordet hat, könnte durchaus solche Handschuhe getragen haben. Ich habe mir ihren Hals genau angesehen und Spuren eines feinen Puders entdeckt. Die meisten dieser Handschuhe, die in Krankenhäusern benutzt werden, sind innen gepudert. Wir haben das Latexstück zur chemischen Untersuchung geschickt, weil ich mich vergewissern möchte, ob ich Recht habe. Aber Sie dürfen mir glauben, es passt alles zusammen.« Zum ersten Mal erwiderte Noel Dunne den durchdringenden Blick McGraths. »Was schlagen Sie vor?* »Ich schlage nichts vor, Detective Inspector. Das ist nicht mein Job, das ist Ihr Job. Aber ich möchte auf ein paar Dinge aufmerksam machen.« 119
Dunne legte die Hände mit verschränkten Fingern auf den Schoß, starrte kurz darauf hinunter und begann: „Fassen wir einmal zusammen, was wir bisher haben. Mary Dwyer wurde erwürgt. Innerhalb von Minuten nach Eintritt des Todes wurde ihr ein Skalpell in den Nacken gestoßen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, dass das eine Art... Aussage war, eine persönliche Signatur.« Er hielt kurz inne. »Griff und Klinge des Skalpells gehören zur Standardausrüstung sämtlicher Krankenhäuser. Ich fürchte, das wird zur Aufklärung nicht viel beitragen. Abgesehen von der Verfärbung.« McGrath zog die Brauen hoch. »Überlegen Sie: Ein Mann erscheint in einem Labor. Mit einer frischen Klinge an einem alten Skalpellgriff. Aus unserer Rekonstruktion das Tathergangs - vor allem, wie der Kopf des Opfers auf den Tisch geschlagen wurde -, können wir schließen, dass die Frau den Mann gesehen und gehört hat, ehe er nahe genug bei ihr war, um sie zu packen. Die Tatsache, dass er die Frau am Tisch überfiel, nicht an der Tür, deutet darauf hin, dass sie den Angreifer wahrscheinlich gekannt hat und ihn ins Labor ließ, ohne zu ahnen, dass er es auf sie abgesehen hatte. Ich glaube, dieser Mann kannte Mary Dwyer und sie ihn, und es überraschte sie nicht, ihn zu so später Stunde im Labor zu sehen.« Dunne blickte zu McGrath auf, um festzustellen, wie der Detective die Informationen aufnahm. „Ich bin ganz Ohr.« „Gut. Also, wer kommt kurz vor dreiundzwanzig Uhr ins Labor der Zentralentbindungsklinik, von dem Mary Dwyer sich nicht bedroht fühlt?« Dunne schaute McGrath wieder direkt in die Augen. 120
McGrath erwiderte den Bück. »Sagen Sie es mir.« »Ich sage Ihnen gar nichts, Detective Inspector. Aber mein Instinkt sagt mir, dass Sie nicht zu viel Zeit damit verbringen sollten, außerhalb der Klinik nach Mary Dwyers Mörder zu suchen.« "Sie glauben, er arbeitet in der Klinik?« »Ja.« Schweigen. "Sonst noch etwas, das ich Ihrer Meinung nach wissen oder nach dem ich Ausschau halten sollte? Sie sind Arzt. Sie kennen sich in Krankenhäusern aus.« »Achten Sie auf die Verpackung, in der die Klinge gesteckt hat. Suchen Sie nach einer ähnlichen wie der hier.« Dünne griff wieder in die Tasche und brachte eine Folie zum Vorschein. Er reichte sie McGrath, der sie mehrmals in der Hand drehte und die Aufschrift las: Paragon Sterile Stainless Steel Blade: Sterilised by Gamma Radiation: Sterility Guaranteed if Package is Unbroken: Blade Na. 23: Made in Sheffield England. »Die Klinge war durch eine Folie wie diese geschützt. Sie könnte sich noch im Laboratorium befinden oder sogar in einem der Untersuchungszimmer am Flur, der zum Labor führt. Suchen Sie nach einem Zimmer auf diesem Stockwerk oder vielmehr in jedem Zimmer, in dem sich ein alter Sterilisierungsapparat befindet. Halten Sie auch nach Verpackungen von Gummihandschuhen Ausschau. Sehen Sie in Papierkörben und Abfalleimern und überall dort nach, wo unser Freund leichtsinnig geworden sein könnte und Klingenfolie oder Handschuhverpackung hineingeworfen hat.« McGrath blickte Dunne sichtlich bestürzt an. »ich halt's in Krankenhäusern nicht aus! Ich hatte gehofft, es würde ein einfa121
cher Fall sein. Ein Kerl vielleicht, der sich Drogen beschaffen wollte oder so was. Je mehr Sie mir sagen, desto weniger gefällt mir, was ich höre.« Dunne grinste. Noch nie zuvor hatte McGrath sich so unbehaglich gefühlt; zumindest war es Dunne nicht aufgefallen. Er wusste, dass auch die Gerichtsmediziner jede Sekunde genossen, die dem Detective zu schaffen machte. »Haben Sie noch irgendwas darüber herausgefunden, wie unser Mann in die Klinik hinein- und wieder rausgekommen sein könnte?", erkundigte Dünne sich. »Die Wachleute sagen, er könne nur durch den Keller oder die Stationen hereingekommen sein, auf keinen Fall durch den Haupteingang. Dann nämlich hätte er an den Wachmännern vorbeigemusst. Er könnte sich auf dem Hin- und Rückweg durch die Stationen geschlichen haben. Aber bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet, der etwas gesehen hat.«
Dunne überlegte kurz. »Ich würde sagen, er ist durch den Keller gekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der eine solche Tat begeht, durch die Stationen schlendert, als wäre nichts passiert. Nein, ich tippe auf den Keller.« McGrath strich sich über den Schnurrbart. »Dann muss er die Klinik ziemlich gut kennen. Er muss wissen, wie man unbemerkt hinein- und herauskommt. Das ist beunruhigend.« Dunne nickte nachdenklich. »Detective Inspector, Sie wissen, dass ich nicht der Typ bin, der Mordfälle dramatisiert.« McGrath blickte ihn scharf an. »Und ich möchte nicht, dass es sich jetzt so anhört...« »Aber...«, unterbrach ihn McGrath. »Wirklich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass wir es nicht mit 122
einem gewöhnlichen Mord zu tun haben. Der Mann geht für meinen Geschmack zu methodisch vor. Er hat seine Spuren sorgfältig verwischt. Er könnte leicht wieder zuschlagen.« Totenstille breitete sich aus. Von der Straße hörte man lautes Hupen, und Garda Phelan fuhr heftig zusammen. McGrath schob sich die Folie der Skalpellklinge in die Tasche und streckte die steifen Beine aus. Er schaute auf die mit grünem Tuch bedeckte Leiche auf dem mittleren Autopsietisch. »Ich hoffe, Sie täuschen sich, Dr. Dunne. Ich hoffe sehr, dass Sie sich täuschen. Ich kann Krankenhäuser nicht ausstehen. Ich möchte diesen Fall rasch lösen.« „Heute Nachmittag erhalten Sie meinen vollständigen Befund.« Dunne stand auf und machte sich daran, Instrumente wegzuräumen. McGrath ging langsam an der Leiche auf dem Tisch vorbei. Eine leblose, wächserne Hand ragte unter der grünen Decke hervor. Hoffentlich habe ich nicht bald noch mehr wie dich am Hals, dachte McGrath mit einem Blick auf die Tote, bevor er ging.
16
14.12 Uhr Tommy Malone saß in einem der vorderen Räume von Hals Billardhalle, wartete auf sein A-Team und blies müßig Rauchringe in die Luft. Hal's Snooker Emporium, wie es sich stolz nannte, war ein beliebter Treffpunkt für viele von Dublins kleinen Ganoven. Es 123
befand sich über zwei Geschäften und einem Büro in einer Nebenstraße des Dubliner Vororts Monkstown. Das erste Geschäft war der Friseursalon einer gewissen Eileen, die in New York gelernt hatte, das zweite eine chemische Reinigung, und das Büro gehörte einem Anwalt, der auf Fälle von Körperverletzung spezialisiert war. Er konnte sich über Mangel an Aufträgen nicht beklagen. Der Eingang zum Emporium war eine stabile Stahltür am Kopf einer Betontreppe an der Gebäudeseite. Unmittelbar hinter der Eingangstür hatte Hal einen vom Sperrmüll organisierten Kunststoffschreibtisch aufgestellt; dahinter saß auf einem Klappstuhl einer seiner Männer, der scheinbar den Mitgliederstatus der Besucher überprüfte, tatsächlich aber auf mögliche Razzien Acht gab. Das Emporium war in einen Hauptraum mit acht Billardtischen und drei kleine Zimmer an der Vorderfront mit Blick auf die Straße aufgeteilt. Die Billardtische waren fast ständig belegt, hauptsächlich von Arbeitslosen und desillusionierten Jugendlichen der näheren und weiteren Umgebung. Die Luft war meist zum Schneiden dick von Zigarettenrauch und roch nach schalem Bier, besonders an Tagen, wenn das Arbeitslosengeld ausgezahlt worden war; außerdem mischte sich dann und wann als kleine Abwechslung der süße Duft von Haschisch in den Tabak-und Biergeruch. Das mittlere der drei Vorderzimmer besaß eine besonders stabile, innen mit dicken Riegeln versehene Tür. In einem kleinen gusseisernen Kamin brannte fast immer ein Feuer, das Hal, ein schmächtiges Männchen mit nikotinverfärbten Zähnen und fettigem Haar, sogar im Hochsommer persönlich am Brennen hielt. In der Zimmermitte stand ein Billardtisch von halber Größe. Hal 124
vermietete dieses Zimmer stundenweise und kassierte dafür Höchstpreise. Die uneinnehmbar wirkende Tür und die starken Riegel verhinderten im Fall einer Razzia ein rasches Eindringen der Polizei, und das brennende Feuer erlaubte die Vernichtung von
belastendem Material.
Tommy
Malone
hatte
Hal's
Emporium schon des Öfteren als Treffpunkt benutzt. Er mochte diesen Schuppen und glaubte fest daran, dass er ihm Glück brachte. Noch keiner der Coups, die er hier geplant hatte, war schief gegangen. Er wärmte seinen Hintern am Feuer und blies weiterhin Rauchringe in die Luft. »Moonface« Martin Mulligan traf als Erster ein. Er war über eins achtzig groß und brachte fünfundneunzig Kilo auf die Waage. Obwohl erst Anfang dreißig, war er fast kahl und hatte sich bedauerlicherweise angewöhnt, die paar dünnen Strähnen, die ihm geblieben waren, über die Glatze zu verteilen. Sein rundes Gesicht trug dazu bei, den abstoßenden Eindruck noch zu verstärken. Moonface war stark wie ein Ochse und von aufbrausenTemperament. So viel bekannt war, hatte bisher noch niemand gewagt, ihm seinen Spitznamen direkt ins Mondgesicht zu nennen. Er trug einen Trainingsanzug der Mannschaft von Manchester United mit einem rotschwarzen Tuch um den Stiernak-. ken. Moonface war ein großer Fußball-Fan. Manchester United war seine englische Lieblingsmannschaft, doch seine ganze Leidenschaft galt der irischen Nationalelf. Als sie bei der Weltmeisterschaft 1994 in den Vereinigten Staaten spielte, hatte Moonface innerhalb von zwei Wochen drei Buchmacher betäubt, um das Geld für die Reise zusammen zu kriegen. Nachdem die irische Mannschaft sogar besser gespielt hatte, als Moonface 125
vorhergesehen hatte, überfiel er eine Apotheke in Orlando, Florida - jenem Ort, an dem die Spiele der Iren stattfanden -, um sich Bargeld zu beschaffen. Moonface würde sein Leben für die irische Nationalelf geben, wenn es sein müsste; aber bisher war das zum Glück nicht notwendig gewesen. Trotz seiner kriminellen Aktivitäten und obwohl er als einer der ganz schweren Jungs der Stadt galt, wohnte Moonface immer noch zu Hause bei seiner Mutter in einem stadteigenen Siedlungshaus in Rathmines, einem Vorort Dublins. Für Mutter Mulligan war Martin noch immer ihr Baby. Sie hielt seine Wäsche in Ordnung, kochte ihm seine Lieblingsspeisen und machte sich Sorgen, wenn er spät nach Hause kam. " Hallo, Tommy. Beschissen kalt draußen«, sagte Baby Mulligan. „Hallo, Martin. Schieb ein paar Kugeln, bis die anderen da sind.« Als Nächster erschien Sam Collins, wie üblich ganz in Schwarz: schwarze Hose, Schuhe und Socken, schwarzer Rollkragenpullover unter einer schwarzen Cordsamtjacke. Sein kohlrabenschwarzes Haar war im Nacken zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Das einzige Nichtschwarze an Collins war ein Silberring, den er in der linken oberen Ohrleiste trug. Er hatte die Angewohnheit, an diesem Ring herumzuzupfen, wenn er nervös oder aufgeregt war. »Wie geht's, Tommy?« Sam Collins stammte aus Newry in Nordirland, und obwohl er bereits seit acht Jahren in Dublin lebte, verriet sein Tonfall auch jetzt noch seine Herkunft. Collins entdeckte Mulligan und deutete mit seiner zusammengerollten Daily Star auf ihn. »Und wie geht's dir, Martin?« »Wie soll's schon gehen « 126
Sam Collins war ein unruhiger, verschlagener Bursche. Er glitt zum Fenster hinüber und spähte hinaus, als würde er damit rechnen, draußen eine Polizeiabsperrung zu erblicken - was nicht einmal so erstaunlich gewesen wäre, denn Collins war einstiger Sprengstoffexperte der IRA und hatte oft genug Hausdurchsuchungen durch die englische Polizei über sich ergehen lassen Er wusste, wie es war, stets auf der Flucht sein zu müssen. Die ständige Bereitschaft, sich im nächsten Augenblick vielleicht aus dem Staub machen zu müssen, war für Collins längst zur Alltäglichkeit geworden. Als die IRA am 31. August 1994 um Mitternacht den Waffenstillstand proklamierte, erkannte er rasch, dass ihm nun nichts anderes übrig blieb, als selbstständig zu arbeiten, um über die Runden zu kommen. Da Collins nichts anderes gelernt hatte, als mit Waffen und Sprengstoff umzugehen, tauchte er schnell in die Dubliner Unterwelt ab, wo er Auftrage übernahm, die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprachen. Als die IRA am 8. Februar 1995 mit einer hochbrisanten Plastikbombe im Londoner Hafen ihre terroristischen Aktivitäten wieder aufnahm, hielt Collins sich von diesen Umtrieben fern und legte für »die gerechte Sache« nur ein symbolisches Lippenbekenntnis ab. Er behielt sein kleines Arsenal an Waffen und Sprengstoff und vermietete es - oder sich selbst und seine Ausrüstung - an den, der am meisten dafür bezahlte. Als der Führungsstab der IRA davon erfuhr, erklärte er Sam Collins zum Verräter an der gerechten Sache und drohte ihn zu eliminieren, falls er seine verbrecherischen Machenschaften nicht aufgab. Collins tauchte unter, da er nicht vor ein IRA-Gericht gestellt werden wollte, das ihn mit ziemlicher Sicherheit zum Tode 127
verurteilen wurde. Wie Tommy Malone hielt Sam Collins ständig Ausschau nach einem »großen Ding«, das viel einbrachte und ihm die Chance gab, das Land zu verlassen. »Setz dich, Sam«, forderte Malone ihn auf. »Es kommt noch einer.« Collins nahm auf einer Holzbank Platz, die an der Wand stand. Er schlug die Zeitung auf und tat so, als würde er darin lesen; in Wahrheit beobachtete er alles, was um ihn herum vorging. Nur das Klacken von Billardkugel an Billardkugel drang durch die Stille. Etwa fünfzehn Minuten später ließ ein leises Klopfen Malone aufspringen. Die Tür wurde gerade so weit geöffnet, dass eine kleine,
plumpe,
in
einen
billigen
Webpelzmantel
mit
Leopardenmuster gekleidete Frau hereinspähen konnte. »Bist du da, Tommy?« Malone öffnete die Tür weiter. »Komm rein, Peggy.« Er schloss die Tür hinter ihr, schob die Riegel vor und stellte obendrein einen Stuhl so gegen die Klinke, dass sie nicht heruntergedruckt werden konnte. Mulligan und Collins blickten einander verwundert an. Collins zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. »Wie geht's Monty?«, erkundigte sich Malone. »Nicht so gut, Tommy. Diesmal gar nicht gut.« »Peggy, das sind Martin Mulligan und Sam Collins. An Sam erinnerst du dich bestimmt. Er war bei dem Job dabei, den wir vor einiger Zeit mit Monty unten in Cork durchgezogen haben.« »Wie geht's, Sam? Eisig da draußen.« Collins nickte. Falls ihm das Wetter zu schaffen machte, ließ er es sich nicht anmerken. »Setz dich, Peggy«, sagte Malone. »Martin, würdest du dich jetzt 128
auch setzen? Ich hab' Hal versprochen, dass wir um vier draußen sind.« Mulligan ließ sich ebenfalls auf der Bank nieder, etwa anderthalb Meter von Collins entfernt. Peggy Ryan setzte sich auf den Stuhl, den Malone für sie zurechtgerückt hatte. »Das ist Peggy Ryan, Montys Frau. Monty muss in Mountjoy zwölf Jahre wegen bewaffneten Raubüberfalls absitzen.« Malone machte die anderen mit Peggy Ryans Vorgeschichte bekannt. Er spürte, dass die beiden jüngeren Männer gar nicht erfreut über Peggys Anwesenheit waren. Peggy blickte in die Runde und sagte: »Diesmal macht Monty der Knast schwer zu schaffen. Er sah gar nicht gut aus, als ich ihn letzte Woche besucht hab'. Gar nicht gut.« Weder Collins noch Mulligan äußerten sich dazu. Malone setzte sich auf den Billardtisch. »Peggy ist sehr wichtig für diesen Job. Wenn ihr nicht gefällt, was ich vorschlagen werde, muss ich die ganze Sache abblasen.« Collins senkte bedächtig die Zeitung. Er blickte die Frau wieder an, diesmal mit größerem Interesse. Im Grunde war Collins ein Einzelgänger und kam nicht besonders gut mit Frauen zurecht. Aber mit Peggy musste er sich offenbar genauer beschäftigen, ob es ihm nun gefiel oder nicht. »Ich werd' als Erstes erklären, worum's geht. Wenn jemand nicht passt, was er hört, soll er's sagen. Ich will nicht, dass einer im letzten Augenblick 'nen Rückzieher macht. Das ist der letzte große Job, den ich für lange Zeit durchziehe. Ich kann nicht zulassen, dass jemand aussteigt, wenn er alles weiß, und es dann herumposaunt.« Niemand sagte etwas. Peggy Ryan blickte Malone fast bewun129
dernd an. »Für jeden von euch gibt's innerhalb von fünf Tagen, nachdem wir losgelegt haben, sechshundert Riesen.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Will jemand aussteigen?« Allgemeines Schweigen. Moonface bohrte in der Nase und begutachtete, was dabei zum Vorschein kam. »Es dreht sich um 'ne Entführung.« Lange Pause. »Will jetzt jemand aussteigen?« Allgemeines Schweigen. Sam Collins rollte seine Daily Star wieder zusammen und hörte aufmerksam zu. Die Sache klang interessant. »Es wird 'ne große Sache, und ich werd' drei Millionen verlangen. Das sind sechshundert Riesen für jeden von euch. Ich krieg' zwölf, weil ich alles geplant und für das ideale Versteck gesorgt hab'.« Malone verlagerte ein wenig sein Gewicht auf dem Billardtisch. »Will jetzt jemand aussteigen?« »Nein, Tommy«, flüsterte Peggy Ryan. Zu sechshundert Riesen konnte man schlecht Nein sagen. Seit Monty wieder saß, musste Peggy verzweifelt an allen Ecken und Enden sparen,. Collins und Mulligan schwiegen noch immer. Jeder versuchte zu verdauen, was Malone von sich gegeben hatte. „Wir werden ein Baby entführen.« Wieder machte er eine Pause, um seine Worte einwirken zu lassen. »Jemand, der jetzt ausstellen will?« Niemand sagte etwas. „Ich muss gleich wissen, ob ihr von vornherein dabei seid! Ich sag keinen Ton mehr, außer ihr macht alle mit. Machst du mit, 130
Martin?« „Klar mach' ich mit! Ich wett' hundert zu eins, die Sache bringt mehr, als 'nen Buchmacher auszurauben.« Moonface lachte über seinen kleinen Witz. Aber sonst niemand. Was is' mit dir, Sam?« „Ich bin auch dabei, Tommy. Hört sich okay an.« Sam Collins' Gedanken überschlugen sich. Das hörte sich tatsächlich genau wie der Coup an, nach dem er seit langem Ausschau hielt. Was ihm an der Sache nicht gefiel, war Tommy Malone. Obwohl Collins bei zwei kleineren Dingern, die auch geglückt waren, mit Malone gemeinsame Sache gemacht hatte, ging es ihm einfach nicht aus dem Kopf, dass Malone den Ruf besaß, ein Verlierer zu sein. Collins beschloss, sich erst einmal anzuhören, was Malone noch zu sagen hatte. Aber er bezweifelte, dass dieser Mann der Richtige für ein so großes Ding war. Was ist mit dir, Peggy? Jetzt, wo du weißt, warum du hier bist?« Peggy Ryan hatte elf Kinder und vier Enkel. Monty Ryan mochte ja die meiste Zeit im Knast zugebracht haben, aber wenn er draußen war, führte er ein sehr aktives Sexualleben. „Na klar, Tommy. Was immer du sagst. Ich könnt' das Geld gut brauchen.« Malone blickte jeden noch einmal eindringlich an; dann fuhr er fort: „Harry O'Brien ist Multimillionär. Der Himmel weiß, wie viele Multimillionen der Knilch hat.« Malone machte sich daran, seinen Plan darzulegen. »Er ist Direktor der O'Brien Corporation. Der Laden ist so viel wert, dass der Bursche die Queen auskaufen könnte. O'Brien hat 131
vor kurzem 'ne Tussi geheiratet, mit der er jetzt Nachwuchs bekommen
hat.
In
der
Zeitung
steht,
dass
er
der
Zentralentbindungsklinik zwei Millionen versprochen hat, wenn seine Alte den Balg gesund zur Welt bringt. Zwei Millionen! Da wird er uns bestimmt drei Millionen hinblättern, um das Baby zurückzukriegen. Wir werden nämlich Harry O'Briens Sohnemann entführen.« Tommy Malones Komplizen hörten scheinbar unbewegt zu. Er hätte ebenso gut über das Wetter reden können. »Wir brauchen nicht mal Masken zu tragen«, fuhr Malone begeistert fort, »damit der Kleine unsere Gesichter nicht sehen kann. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, dass er versuchen könnte, abzuhauen. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, dass er bei 'ner Gegenüberstellung auf uns zeigt. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, wenn wir ihn irgendwo allein lassen, sobald O'Brien das Lösegeld bezahlt hat. Wir können ihn vor irgendeinem Krankenhaus abstellen. Wir brauchen den kleinen Scheißer bloß zu füttern und seine Windeln zu wechseln.« Collins und Mulligan erhoben sofort Protest. Mit einer Entführung würden sie ja klarkommen, sogar mit ein bisschen schwerer Arbeit, wenn es unbedingt sein musste. Aber Windeln wechseln kam überhaupt nicht infrage! »Dafür haben wir Peggy«, unterbrach Malone die beiden. »Peggy kennt sich mit Babys aus. Stimmt's, Peg?« »Natürlich, Tommy, natürlich.« Peggy Ryan war begeistert. »Jesses, die vielen Jahre, die wo ich Kinder großgezogen hab', bringen jetzt vielleicht sogar was.« Nun grinsten alle. »Peggy wird sich um Junior kümmern«, fuhr Malone fort. »Sie wird ihn füttern, trockenlegen und zusehen, dass er gut versorgt 132
ist. Wir anderen müssen ihn bloß entführen und zum Cottage bringen.« »Was für 'n Cottage?«, fragte Collins. Seine ursprünglichen Bedenken schwanden. Mit einem Mal sah er Malone in einem neuen Licht. Die Sache schien doch recht viel versprechend zu sein. „Ich hab' da 'ne kleine Hütte, ein Stück außerhalb von Newbridge. Gehörte mal meinem Onkel, als er dort in der Polaroidklinik gearbeitet hat. Er ist seit ein paar Jahren tot, und seine Kinder sind alle in England. Ich bin der Einzige, der von dem Cottage weiß und schon mal dort hinkommt. Liegt ganz abgelegen, und ringsrum sind nichts als Felder. Führt nur 'n schmaler Weg hin, ungefähr dreihundert Meter lang. Und den Weg kann keiner nehmen, ohne gesehen zu werden. Das nächste Haus ist fast einen Kilometer entfernt. Ich hab' mich oft da versteckt, wenn die Polizei mich suchte. Von Harry O'Briens Villa in Wicklow ist es nur eine Stunde mit dem Auto, aber weit genug weg, dass die Bullen gar nicht dran denken würden, sich da umzuschauen.« Malone legte eine Pause ein und blickte die anderen an. »Ich hab' 'nen ...«, begann er dann, hielt aber kurz inne. »Ich hab' 'nen guten Freund, der in der O'Brien-Zentrale in der Dawson Street arbeitet.« So, wie Malone es sagte, hörte es sich an, als wäre der gute Freund Vorstandsmitglied der O'Brien Corporation. Collins wirkte beeindruckt, und sogar Moonface hörte auf, in der Nase zu bohren. »Wen?«, fragte Collins. „Das kann ich dir nicht sagen, Sam. Ich kann's dir wirklich noch nicht sagen. Wenn die Sache über die Bühne ist, werden die Bullen dort alles auf den Kopf stellen, und ich will nicht, dass außer 133
mir jemand meinen Informanten kennt. Ich weiß, das passt dir nicht, aber du wirst mir schon vertrauen müssen.« Collins blickte Moonface an, der die Schultern zuckte. »Mir macht's nix aus.« Er schlurfte zum Billardtisch und griff sich ein Oueue. Collins war skeptischer. »Tommy, wenn wir dieses Ding durchziehen wollen, müssen wir alle von Anfang an wissen, womit wir's zu tun haben.« In seiner Stimme mit dem nordirischen Akzent lag Misstrauen. »Wie sollen wir wissen, was du hinter unserm Rücken tust, wenn wir nicht mal wissen, mit wem du arbeitest?« Collins gefiel zwar, was er über diese Sache erfahren hatte und dass so wenige daran beteiligt waren, aber er hatte nicht vor, ein Risiko einzugehen. Außerdem war sein Argwohn gegenüber Malone wieder erwacht. »Ich kann's dir nicht sagen, Sam. Ende, aus. Aber glaub mir keiner kann den anderen bescheißen, weil wir nur zusammen an das Geld rankommen.« »Wann greifen wir uns den Balg?«, wollte Moonface wissen. »Sobald die O'Briens ihn in die Villa gebracht haben.« Malone war erleichtert über den Themenwechsel. »In den Zeitungen steht, in den nächsten Tagen ist es so weit. Ich will gleich in der ersten Nacht zuschlagen, bevor die O'Briens irgend 'nen geregelten Ablauf festgelegt haben. Dann würde den Wachleuten zu schnell was Ungewöhnliches auffallen. Ich bin dafür, wir gehen die Sache kurz nach Mitternacht an.« Sie diskutierten eine Zeit lang, wie man am besten ins Haus hinein- und wieder herauskommen konnte, wie es sich vermeiden ließ, dass Alarm ausgelöst wurde, und wie sie sich ungesehen vom Haus entfernen sollten. Sam Collins hatte beschlossen, Ma134
lone vorerst nicht mehr zu bedrängen. Er würde später schon noch herausfinden, welcher Mitarbeiter der O'Brien Corporation bei dieser Sache dabei war. »Ich möchte, dass ihr zwei Wagen klaut«, sagte Malone. »Erstens, einen schnellen Geländewagen, 'nen Range Rover vielleicht, oder einen Jeep. Und dann noch 'nen Viertürer, vielleicht 'nen Volvo 460. Dafür sorgst du, Sam. Und montier neue Nummernschilder dran. Nimm Kildare-Kennzeichen für den Volvo.« Collins nickte. »Martin«, fuhr Malone fort, »du besorgst ein schnelles Motorrad. Nicht zu auffällig oder zu groß. Finde raus, welche Maschinen von den Kurieren benutzt werden, und dann besorg so 'n Gerät. Außerdem 'ne Uniform, wie die Kuriere sie tragen. Wenn wir uns das Baby geschnappt haben, möchte ich, dass du Polaroidfotos von ihm verteilst, damit die Bullen wissen, dass der kleine Scheißer am Leben ist und dass es ihm gut geht.« »Muss ich auch irgendwas tun, Tommy?«, erkundigte sich Peggy Ryan. Zum ersten Mal lächelte Malone. »Ja, Peg.« Er griff in eine Tasche, holte ein Bündel Banknoten heraus und zählte zehn Scheine ab. »Kauf was zum Anziehen fürs Baby. Und Windeln, Fläschchen, Schnuller... alles was du für die fünf Tage brauchst. Und kauf nicht alles im selben Laden, und sorg dafür, dass keiner von der Familie merkt, was du tust. Verstau das Zeug in der Garage, wo man nicht gleich drüber stolpert. Wenn du alles hast, ruf ich an und hol's ab.« Sie nickte und zupfte an einer Strähne ihres struppigen braunen 135
Haares. „Sag deiner Familie, dass du 'ne Zeit lang nicht zu Hause sein wirst.« Peggy überlegte. »Ich werd' sagen, ich fahre zu meiner Schwester nach Liverpool.« Kann man sie telefonisch erreichen? Wenn jemand dich dort anrufen will, könnte deine Schwester sich verplappern.« „Wohl kaum, Tommy. Die kommt so schnell nicht nach Hause. Meine Schwester ist im Knast, weil rausgekommen ist, dass ihre Schecks nicht mal das Papier wert waren.« Alle lachten. „Aber weiß deine Familie denn nicht, dass deine Schwester im Knast sitzt?« „Nein. Ich hab's keinem gesteckt, weil sie die Lieblingstante von allen ist. Ich wollt' sie nicht in schlechten Ruf bringen.« Worüber alle noch lauter lachten. Noch ein paar letzte Kleinigkeiten wurden besprochen; dann beendete Malone den offiziellen Teil des Treffens. Jeder wusste nun genau, was er zu tun hatte. Das Eis war gebrochen, und sie unterhielten sich noch eine Zeit lang angeregt. „Da ist noch was«, sagte Tommy schließlich, »'ne verdammt wichtige Sache.« Die anderen verstummten und wandten sich ihm aufmerksam zu. Von dem Moment an, wo wir uns das Kind gegriffen haben, darf keiner mehr auch nur eine Dose Bier trinken. Ihr müsst bei klarem Verstand bleiben und dürft nicht auffallen. Dem Balg darf nichts passieren. Kein Bier, kein Fusel. Alles klar?« Sie nickten. »Wohin soll das Lösegeld gebracht werden?« Sam Collins wollte 136
alles genau wissen. »Tja, Sam, jetzt kommt der Hammer.« Malone grinste. »Ich wollt's bis zum Schluss aufheben. Ich hab' mir die ganze Nacht den Schädel zerbrochen, bis ich drauf gekommen bin.« Malone konnte ein zufriedenes feixen nicht zurückhalten. »Als Erstes«, erklärte er, »werden wir noch drei Autos organisieren. Dann mieten wir sechs Handys von sechs verschiedenen Firmen. Je ein Telefon kommt in jeden der drei Wagen.« Die Furchen auf Moonface' Stirn wurden immer tiefer, als er versuchte, mit Malones Darlegungen Schritt zu halten, während Peggy es bereits aufgegeben hatte. Doch ihre Heldenverehrung gegenüber Tommy war offensichtlich noch gewachsen. Collins ließ den Blick nicht von Malone. Er analysierte und verarbeitete jedes seiner Worte. »Die Wagen werden vor drei Parkhäusern in der Stadt abgestellt. Wenn das Lösegeld übergeben wird, sagen wir dem Typen, der's bringt, dass er zum ersten Wagen fahren und einsteigen soll. Einer von uns wird von oben im Parkhaus aufpassen, was passiert.« Malone legte eine kurze Pause ein und blickte in die Runde. »Kommt ihr mit?« Alle drei nickten, obwohl zwei nicht die leiseste Ahnung hatten, was Malone von sich gab. »Wenn irgendwelche Bullen folgen oder ein Hubschrauber rumschwirrt oder wenn der erste Wagen verkabelt wird, damit sie ihm folgen können, geben wir ihn auf. Sobald der Kerl in einem unserer Wagen sitzt, können wir ihn übers Handy dahin dirigieren, wo wir ihn haben wollen.« Wahrend Malone seinen Gesamtplan darlegte, zog er auch Sam Collins auf seine Seite. Was Tommy sagte, klang sehr interessant 137
und keineswegs wie der Plan eines Verlierers. Es konnte funktionieren. »Mit unseren Handys schicken wir den Burschen zum zweiten Parkhaus, vor dem der nächste Wagen wartet, und sagen ihm, dass er umsteigen und wegfahren soll. Dann schicken wir ihn wieder zum nächsten Wagen. Jedes Mal, wenn der Knilch umsteigt, fährt einer von uns zum nächsten Parkhaus und beobachtet von 'nem oberen Stockwerk, ob man dem Typen heimlich folgt. Und während der Bursche von einem Wagen zum andern fährt, folgt Martin ihm auf dem Motorrad und passt auf, ob die Bullen nicht unterwegs irgendwelche Tricks versuchen, zum Beispiel, ob sie den Kerl anhalten und einsteigen oder so was.« Malone blickte Moonface ein wenig skeptisch an. „Ist gebongt, Tommy Hab' alles kapiert.« Moonface hatte zwar kein Wort begriffen, dafür aber Sam Collins, der nun knisternde Erregung verspürte, als er die Erfolgschancen des Plans erkannte. „Was passiert nach dem Umsteigen in den letzten Wagen?«, erkundigte sich Collins und spielte mit dem Ring in seiner Ohrleiste. »Es war' nicht so gut, wenn die Bullen 'ne ganze Woche in Dublin rumfahren.“ Malone lächelte über Collins' Bemerkung. »Dazu wollt' ich gerade kommen. Das ist das Schöne.« Er blickte die drei nacheinander an. »Kennt ihr die Hillcourt Mansions im Hafenviertel?« Drei Köpfe nickten gleichzeitig. Ganz Dublin kannte die Hillcourt Mansions, einen Komplex städtischer Mietskasernen, wo wie allgemein bekannt - mit Drogen gehandelt wurde und Gewaltverbrechen an der Tagesordnung waren. Die Gardai hatten die Hillcourt Mansions inoffiziell zur Sperrzone erklärt und betraten den 138
viereckigen Komplex nur selten und wenn, dann nur in größeren Trupps. In der Dubliner Unterwelt galten die Hillcourt Mansions als Zufluchtsort, wo jeder Verbrecher Asyl finden konnte. So mancher Taschendieb oder Handtaschenräuber war dorthin verfolgt worden und hatte sich den Gardai entziehen können, indem er durch einen der vier schmalen Wege geflohen war, die auf der Hinterseite zu verkehrsreichen Straßen führten. Es gab nur eine Straße in dem Komplex, die breit genug für ein Auto oder einen Lieferwagen war. „Der Typ erhält die Anweisung, in die Hillcourt Mansions zu fahren, wo zwei von uns auf ihn warten. Sobald der Wagen im Innenhof ist, muss der Bursche aussteigen, und wir verteilen das Geld in vier große Reisetaschen. Dann verschwinden wir auf zwei Motorrädern durch die schmalen Ausgänge auf der anderen Seite. Was haltet ihr davon?« Moonface riss staunend den Mund auf. »Stark, Tommy. Wirklich, sau stark." »Ja, das ist gut, Tommy«, pflichtete Sam Collins ihm bei. »Das ist wirklich ein Klasse Plan.« Er beschloss, sich keine Gedanken mehr wegen Malones Kontaktperson in der O'Brien Corporation zu machen. Falls nötig, könnte er sich später immer noch damit beschäftigen. Peggy schwieg, strahlte Malone nur an. »Und jetzt verschwindet«, sagte Malone zufrieden. Nachdem er Hal bezahlt hatte und vorsichtig die Betonstufen hinunterstieg, summte er vor sich hin. Er war sehr zufrieden, wie das Treffen verlaufen war und vor allem, dass er Sam Collins für sich hatte gewinnen können. Er war auf Collins angewiesen, denn der Nordire verfügte über Waffen und Sprengstoff. In der 139
Telefonzelle an der Ecke Monkstown Hill steckte Malone eine Zwanzigpencemünze in den Schlitz und wählte. »Betty?« »Bist du das, Tommy?« »Ja.« »Wie isses gelaufen?» »Klasse. Echt gut.« »Dann packst du's an?« »Darauf kannste einen lassen.« »Ich seh' dich also in der Frühe?« «Ja. Fünf Uhr, okay?« »Genau, fünf Uhr. Hintenrum. Die schwarze Tür, wie ich's dir gesagt hab'.« »Ja.« »Bis dann.« »Ja«, sagte Malone. »Bis um fünf.« Er zündete sich eine neue Zigarette an, um sich warm zu halten. Er war wieder im Geschäft. Als Tommy Malone den Hörer einhängte, wurde sein auserkorenes Kidnappingopfer gerade trockengelegt. Sandra O'Brien hielt das winzige Baby in den Armen und sang ihm leise ins Ohr. In der gegenüberhegenden Zimmerecke maß June Morrison soeben die Wassertemperatur für das erste Bad des Neugeborenen. Sie lächelte, als sie Sandra beobachtete und bemerkte, wie unsicher die junge Frau den Säugling hielt. »Stützen Sie seinen Kopf mit der linken Hand, wenn Sie ihn hinten
unterheben«, wies sie Sandra an; dann nahm sie ihr den
Jungen kurz ab, um ihr zu zeigen, wie sie es machen musste. Gordon O'Brien schlug plötzlich mit beiden Ärmchen aus, als er 140
spürte, wie die Hände wechselten, die ihn hielten, und trat mit den Beinen in dem viel zu großen blauen Strampelanzug. Sandra und June lächelten einander an. Trotz der anfänglichen Differenzen mit Harry O'Brien hatte June die junge Mutter inzwischen ins Herz geschlossen und sorgte sich jetzt wie eine Glucke um sie. Das Drama der Geburt geriet allmählich in Vergessenheit, und die Freude Big Harrys, wenn er seine Nase ins Zimmerstreckte, machte ihn June nun ebenfalls sympathisch. June Morrison beschloss, die vergangenen Unannehmlichkeiten zu vergessen und sich darauf zu konzentrieren, Sandra zu helfen, mit ihrem neugeborenen Sohn umzugehen, sich an sein Weinen und Strampeln zu gewöhnen und seine Babysprache zu verstehen.
17
6.25 Uhr Bibliothek, Ostflügel, Zentralentbindungsklinik Jack McGrath war beunruhigt. Weder die Klingenfolie noch die Verpackung der Gummihandschuhe hatten sich in der Klinik auffinden lassen. In Papierkörben, Ausgussbecken und Abflüssen war ebenso sorgfältig gesucht worden wie hinter den Heizkörpern und Schränken. Dann hatte der Chef der Wachmannschaft ihm mitgeteilt, sie seien nun sicher, dass der Mörder zu dieser Nachtstunde nur durch den Keller unbemerkt ins Gebäude hatte herein- und hinausgelangen können. Sämtliche Stationen waren mehrmals überprüft worden. Niemand hatte sie zur ungefähren Tatzeit verlassen oder war dort erschienen. Noel Dunnes Theorie erschien zusehends plausibler. 141
Dann zeigte eine Schwester der Poliklinik McGrath den altmodischen Sterilisator, der für sämtliche Instrumente im Ostflügel benutzt wurde. Sie bestätigte, dass dieses Gerät Verfärbungen auf den Skalpellgriffen verursachte. »Und auch bei verdammt vielen anderen Instrumenten«, fügte die Schwester verärgert hinzu. »Schon seit Monaten suche ich um einen neuen Sterilisierungsapparat für diese Station nach, aber wir sind immer die Letzten, die was Neues kriegen.« McGrath erkundigte sich nach dem Grund. »Weil wir der Flügel für die Sozialpatienten sind. Die neuen Sachen kommen immer zuerst in die Flügel mit den Privatpatienten.« »Fehlen irgendwelche Skalpellgriffe?« »Tut mir Leid, das weiß ich nicht. Wir führen keine Liste der billigeren Instrumente. Sie bekommen zu oft Beine, als dass man sie alle im Auge behalten könnte.« » Bekommen Beine ?« »Ja, bekommen Beine. Sie werden geklaut.«
Das Zimmer wurde für die Spurensicherung versiegelt. Eine halbe Stunde später hatte McGrath eine heftige Auseinandersetzung mit Luke Conway, der darauf drängte, das Labor sofort wieder zu öffnen. »Ich bin mit der Durchsuchung noch nicht fertig«, weigerte sich McGrath. »Ich brauche das Labor, Inspector. Ich brauche es mehr als dringend. Schließlich muss ich ein Krankenhaus leiten!“ »Und ich die Untersuchungen in einem Mordfall!« Die beiden Männer durchbohrten einander mit Blicken. Beide waren wütend 142
bis zur Weißglut. Conway stand unter erheblichem Druck. Der Ruf der Klinik musste unter allen Umständen gewahrt bleiben, auch wenn man sich dafür mit der Polizei anlegen musste. Der Versuch, eine außerplanmäßige
Sitzung
des
Klinikvorstands
einzuberufen,
scheiterte, weil so kurzfristig nur sehr wenige Mitglieder erscheinen konnten. Luke Conway hatte also den Schwarzen Peter und musste nun zusehen, wie er jedweden Schaden am Ruf der Klinik so gering wie möglich halten konnte. Es machte die Sache auch für McGrath nicht gerade einfacher, als Tony Dowling ihm berichtete,
dass
Mary
Dwyers
Privatleben
und
ihre
Vergangenheit blütenrein seien. »Niemand hat irgendeine Erklärung dafür, weshalb sie überfallen wurde.« Dowling studierte noch einmal seine Notizen. »Wir wissen alles, außer dem Namen des Mörders und seinem Motiv«, fügte er nicht gerade hilfreich hinzu. Tony Dowling stand kurz vor seinem siebenundfünfzigsten Geburtstag, an dem er endlich in den wohlverdienten Ruhestand treten würde. Sechs Wochen noch. Er war von mittlerer Statur, besaß einen ausgeprägten Cavan-Akzent, der ihm locker über die Zunge rollte, und trug Kleidung, die Ende der siebziger Jahre modisch gewesen war und, wie es den Anschein hatte, wieder in Mode
zu kommen
drohte.
Dowling
hatte
sein
ganzes
Erwachsenenleben bei den Gardai Siochana verbracht, zuerst in Uniform und dann bei der Kriminalpolizei. Er freute sich darauf, nach Cootehill zurückkehren zu können, wo er in den Seen angeln und auf einsamen Wegen wandern und mit Leuten reden wollte, die ihm freundlich antworteten. Hauptsache, er musste keine jugendlichen Halunken mehr nach Schusswaffen und 143
Messern durchsuchen. Dowling sehnte sich nach dem ruhigen Rentnerdasein. Trotz seiner düsteren Stimmung grinste McGrath. »Kein Zweifel, Tony, du bist ein Genie.« Dowling grinste zurück. Seit nahezu sieben Jahren gehörten sie beide der Abteilung für Gewaltverbrechen an und waren ein gutes Team. Jeder kannte die Arbeitsgewohnheiten des anderen, die Essgewohnheiten und die Familie. »Mich beunruhigt, dass Dunne wahrscheinlich Recht hat«, brummte McGrath. »Alles deutet darauf hin, dass der Kerl die Klinik wie seine Westentasche kennt. Er hat seine Spuren gut verwischt. Also müssen wir uns hier alles gründlich vornehmen und eine verdammt große Zahl von Personen befragen.« »Von denen bestimmt nicht alle begeistert darüber sein werden«, meinte Dowling. »Nein«, pflichtete McGrath ihm bei und strich nachdenklich über seinen Schnurrbart. »Nein. Wir könnten einige Probleme bekommen. Und ich kann diese verdammten Krankenhäuser nicht ausstehen.« „Hör doch endlich damit auf!«
Dean Lynch fühlte sich nicht wohl. Die Mycostatin-Pastillen, die er seit kurzem gegen den Soor einnahm, wirkten sehr langsam; sein Mund und Rachen fühlten sich immer noch wund an. Er stand nackt vor dem wandbreiten Spiegel in seinem Fitnessraum und betrachtete seinen Körper. Er hatte seine übliche Zahl von Liegestützen versucht, doch es hatte ihn zu sehr angestrengt, viel mehr als je zuvor. Er schwitzte, kaum dass er mit den Übungen angefangen hatte. Auf dem Boden standen ungeöffnete Flaschen mit Vitaminpillen und diverse Packungen mit Mineralstoff- und 144
Spurenelement-Präparaten. Lynch spannte die Muskeln; dann drehte er sich zur Seite, um seinen Bauch besser sehen zu können. Du nimmst ab, Dean, alter Junge, du nimmst ganz gewaltig ab. Du schwindest dahin. Schwinde nicht zu schnell dahin, Dean. Nicht zu schnell. Es gibt noch viel zu tun. Lynch hatte endlich Gelegenheit gehabt, sich auszuruhen und wieder ein bisschen zu Kräften zu kommen. Die Eingriffe auf der Terminliste der Poliklinik hatten abgesagt werden müssen, weil das Labor geschlossen war. Und seine Sprechstunde war wegen der
polizeilichen
Untersuchung
im
Ostflügel
ebenfalls
verschoben worden. Patientinnen, die an einem so bitterkalten Tag gekommen waren und die man nun wieder fortschickte, empörten sich lautstark. Lynch hatte seinen Assistenzarzt angewiesen, nach seinen stationären Patientinnen zu sehen, und war früh nach Hause gegangen. Du schwindest dahin, Dean. Du schwindest dahin. Aber du bist der Meute weit voraus, Dean. Halte dich nur bedeckt. Du machst das großartig. Er begann wieder mit Liegestützen, diesmal jedoch viel langsamer. Vergeude deine Kraft nicht. Es gibt noch mehr zu tun.
Vierter Tag 18 145
Donnerstag,
13.
Februar
1997,
9.15
Uhr
Südflügel,
Zentralentbindungsklinik Professor Patrick
Armstrong war ein Spießer.
Er war
Sechsundsechzig, der einzige Nichtgynäkologe der Klinik, und legte das Gebaren eines Mannes an den Tag, der die erstarrten Traditionen der irischen Medizin verkörperte. Er war ernst und distanziert, arrogant und abweisend, kalt und selbstherrlich. Die dunklen, ja düsteren Anzüge, die tristen Krawatten akademischer Verbindungen und die gestärkten weißen Hemden betonten seine asthenische Gestalt. Er besaß ein verschlossenes Raubvogelgesicht mit kleinen dunklen Augen, die unter schwarzen buschigen Brauen hervorblinzelten, als hielten sie nach Beute Ausschau. Als einziger Sohn eines berühmten Vaters und Enkel eines nicht minder berühmten Großvaters, die sich beide einen Namen in irischen Medizinerkreisen gemacht hatten, war Armstrongs Kindheit
von
steifer
Förmlichkeit
und
außerordentlicher
Langeweile geprägt gewesen. Er hatte kaum ein Lächeln zu Gesicht
bekommen,
und
ein
Lachen
war
ihm
völlig
unverständlich. Was, in aller Welt, gab es überhaupt zu lachen? Das Leben war viel zu ernst. Am Morgen des 13. Februar 1997, einem Donnerstag, war Armstrong außer sich vor Empörung. Er hielt die Geschäftskarte in der Linken und spähte über seine Brille darauf. Sein Zorn war unverkennbar. »Er will was?«, fauchte er seine Arzthelferin an, eine zurückhaltende Frau mittleren Alters mit scharf geschnittenen Zügen. »Er möchte Sie über den gestrigen Vorfall im Laboratorium befragen.« 146
Mary Dwyers Tod wurde vom älteren medizinischen Personal der Klinik nicht als Mord bezeichnet, und das würde auch niemals geschehen. Unbewusst bezeichneten die Altgedienten es bloß als »den Vorfall«. Auf diese Weise fühlten sie sich besser. Es war eine Art Verleugnung. »Er will mich befragen?« Fassungslosigkeit lag in der Stimme. „Jawohl, Sir.« Die Schwester nannte ihn stets »Sir«, weil sie wusste, dass er das gern hörte. »Nun, Mary, Sie können Detective Inspector Jack McGrath von der Abteilung für Gewaltverbrechen, Garda-Zentrale Store Street«, Armstrong las von der Karte ab, »mitteilen, dass ich sehr beschäftigt bin. Wenn er mich zu sprechen wünscht, muss er sich einen Termin geben lassen wie jeder andere auch. Wann gibt es während meiner Sprechstunde noch einen Termin, Mary?« Mary blätterte den Terminkalender durch. »In den nächsten vier Wochen ist nichts frei.« Sie verzog das Gesicht. "Sagen Sie ihm das, Mary. Sagen Sie ihm das.« »Jawohl, Sir.« Professor Armstrong griff nach dem Telefon, schaute in einem hausinternen Verzeichnis nach und wählte eine Nummer. "Dean, hier Paddy Armstrong. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so früh am Morgen störe, aber ich werde Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Es geht um diesen Vorfall im Labor.« Lynch erstarrte. „Ich habe soeben die Ankündigung eines gewissen Detective Inspector McGrath erhalten, dass er mich vernehmen will«, fuhr Armstrong fort. »Also, ich muss schon sagen, diese ganze Angelegenheit verstößt gegen sämtliche Regeln des Anstands. Gewiss denken Sie nicht anders darüber, Dean.« 147
Lynch murmelte etwas Unverständliches. »Nun, ich bin der Meinung, dass wir Ärzte uns hier zusammentun sollten. Finden Sie nicht auch, Dean? Es ist schon schlimm genug, dass die Polizei sich überhaupt in der Klinik aufhält. Es schadet unserem Ansehen. Wohin soll es führen, wenn hochgestellte, über jeden Verdacht erhabene Mediziner von der Polizei verhört werden? Das ist völlig absurd. Sind Sie da nicht meiner Meinung?« »Absolut.« In den fünf Jahren, seit er in der Zentralentbindungsklinik tätig war, hatte Professor Armstrong sich nicht ein einziges Mal herabgelassen, Dean Lynch auch nur zuzunicken. Er hatte ihn auf den Korridoren ignoriert, in den Stationen, in der Kantine überall. Und nun plötzlich verhielt er sich betont höflich. Das gefiel Dean. »Nun, Dean, ich finde, wir sollten diese Polizisten in ihre Schranken weisen. Schließlich vergeuden sie ihre und vor allem unsere Zeit. Warum suchen diese Leute den Mörder nicht unter den Drogenschnüfflern und Verbrechern, die dieses Land in den Schmutz ziehen?« »Da kann ich Ihnen nur beipflichten.« »Ausgezeichnet, Dean. Ich hatte gehofft, dass Sie mit mir übereinstimmen. Ich werde noch ein paar Kollegen anrufen und diesem absurden Spiel ein Ende machen, bevor hier alles aus den Fugen gerät. Wenn Sie jemanden unten im Ostflügel sehen, machen Sie die Leute doch bitte ebenfalls darauf aufmerksam.« »Selbstverständlich.« »Guten Morgen, Dean. Entschuldigen Sie noch einmal, dass ich Sie aufgehalten habe. Ich bin sicher, Sie haben viel zu tun, genau 148
wie ich, und keine Zeit zu vergeuden.« „In der Tat.«
Ein Lächeln kräuselte Lynchs Lippen, als er langsam auflegte. Das wird ja immer verrückter. Meine Tat zieht wirklich die seltsamsten Reaktionen nach sich. Eine so schlichte Tat. Mary Dwyer hätte nicht lächeln sollen. Sie hätte bloß nicht lächeln sollen. Hätte sie, wie es sich gehört, einfach nur ihre Arbeit getan, ohne sich einzumischen, hätte ich sie nicht töten müssen. Aber sie hat sich eingemischt. Sie wusste zu viel. Und sie hat gelächelt. Es ist wirklich erstaunlich. Ungemein aufregend. Bald wird es Zeit, es wieder zu tun. Welche andere Schlampe wird mir diesmal in die Quere kommen? McGrath musste bald erkennen, dass man ihm bei jedem Schritt Steine in den Weg legte. Zu viele Krankenhausmitarbeiter hielten eine polizeiliche Befragung für unter ihrer Würde und sahen den guten Ruf der Klinik gefährdet. Wie man sich bei der Untersuchung eines Mordes verhielt, der gewissermaßen in den eigenen vier Wänden begangen worden war, gehörte nicht zu den Fächern, die an der medizinischen Fakultät gelehrt wurden. Ein Alibi beibringen zu müssen war unerhört. Bei den diversen Familienanwälten begannen die Telefone zu läuten. Der Rat war jedes Mal der gleiche: Sagen Sie nur im Beisein Ihres Anwalts etwas. Seien Sie höflich, aber bestehen Sie darauf, dass Ihr Rechtsbeistand zugegen ist. Die Anwälte konnten gar nicht oft genug darauf hinweisen. Schließlich winkten ihnen saftige Honorare. 149
19
10.22 Uhr Laboratorium, Ostflügel »Okay, ich möchte, dass Sie mich herumführen und mir erklären, was hier gemacht wird.« McGrath und Dowling waren wieder im Labor, diesmal in Begleitung von Luke Conway. Kate Hamilton hatte die Anweisung, das Wachpersonal der Klinik noch einmal zu befragen. »Hier ist die Hämatologie und die Biochemie.« »Immer schön langsam. Das mag Ihnen ja etwas sagen, aber ich kann mit dem Fachchinesisch nichts anfangen.» »Hier werden sämtliche Blutuntersuchungen für die Klinik vorgenommen. Blutgruppen- und Blutstatusbestimmungen, wie sie für Operationen erforderlich sind.« Conway bemühte sich, höflich und geduldig zu sein, aber er war auch entschlossen, dafür zu sorgen, dass das Labor so schnell wie möglich wieder benutzt werden konnte. »Außerdem brauchen wir es für die Immunologie. Wir untersuchen das Blut auf HIV und dergleichen.« »An welcher Art von Test hatte Mary Dwyer gearbeitet?«, erkundigte sich McGrath. »Wir haben herausgefunden, dass sie vergangene Nacht zuletzt an einem Blutbild für Station vier im Nordflügel arbeitete.« »Etwas Ungewöhnliches?« »Ganz und gar nicht. Die Patientin ist eine ältere Dame, die sich einer größeren Operation unterziehen muss. Ihr Fall und der Test sind eine ganz normale, unkomplizierte Angelegenheit.« 150
»Ist kein Grund für einen Mord ersichtlich?« Conway zuckte die Schultern. »Ich fürchte, da bin ich keine große Hilfe, Inspector. Ich habe keine Ahnung, was Mary Dwyer gewusst oder getan haben könnte, das Grund für einen Mord gewesen sein mag. Ich bin tief erschüttert und so fassungslos wie alle hier. Ich meine, so etwas geschieht in Krankenhäusern einfach nicht.« McGrath und Dowling wechselten Blicke. »Könnte Mary Dwyer heimlich irgendwelche Untersuchungen vorgenommen haben? Vielleicht aus Gefälligkeit für einen Bekannten? Irgendeinen ungewöhnlichen Test?« Conway spitzte nachdenklich die Lippen. »Möglich. Es würde natürlich gegen sämtliche Krankenhausvorschriften verstoßen, ohne schriftlichen Auftrag der Klinik Tests durchzuführen, aber ich weiß, dass es trotzdem immer wieder getan wird. So etwas lässt sich nur sehr schwer überprüfen.« »Sie könnte also an irgendetwas gearbeitet haben, von dem niemand etwas wusste?« »Möglich wäre es«, erwiderte Conway, »aber ich kann mir nichts vorstellen, das so wichtig wäre, dass jemand sie deshalb umbringen würde.« McGrath beugte sich über den Ständer mit den zerbrochenen Reagenzgläsern, die noch unangetastet auf dem Boden lagen. »Könnte der Täter einen Grund gehabt haben, diese Gläser zu zerschlagen?« Erneut zuckte Conway die Schultern und bemühte sich, seinen Ärger über die immer wieder gleichen Fragen zu verbergen. »Ich bin Gynäkologe, Inspector. Ich möchte nicht, dass Sie mich für unhöflich halten, aber ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung.« 151
»Können Sie feststellen, welche Art von Tests mit diesen Proben gemacht wurden?«, fragte Dowling. »Selbstverständlich. Die einzelnen Gläser sind mit den Namen der Patienten beschriftet, von denen die Proben genommen wurden. Wir bewahren alle Antragsformulare in dreifacher Ausfertigung auf.« »Wo?« »In einem Büro dort hinten.« Conway deutete mit dem Kopf in die ungefähre Richtung. »Okay«, sagte McGrath. »Vergleichen Sie sämtliche Anträge mit den Namen auf den Reagenzgläsern, und beschaffen Sie mir eine Liste der Patienten und der Tests. Ist das innerhalb einer Stunde möglich?« Conway nickte. »Ich habe den PC und den Drucker überprüfen lassen«, fügte McGrath hinzu. »Aber es ist wie verhext. Wir kriegen nichts Brauchbares. Könnten Sie sich hier mal umschauen und nachsehen, ob Sie Papier finden, das aus dem Drucker gerissen wurde? Hier liegt sehr viel Papierkram herum, und wir wissen nicht, was davon Abfall ist. Es könnte ja etwas Wichtiges darunter sein, das dieser Kerl möglicherweise verstecken oder vernichten wollte.« »Das würde ich lieber dem Cheftechniker überlassen, er kennt sich da besser aus als ich. Ist Ihnen das recht?« McGrath überlegte kurz; dann nickte er. Der Cheftechniker war bereits überprüft und als unverdächtig eingestuft worden. »Was ist mit den anderen Geräten, die der Täter zertrümmert hat? Können Sie mir da vielleicht weiterhelfen?« Conway schüttelte verneinend den Kopf. McGrath blickte durch eine Tür, die vom vordersten Labor zu 152
anderen Räumlichkeiten dahinter führte. »Was ist dort?« »Zytologie und Histopathologie. Jede Menge Mikroskope zum Untersuchen von Proben auf Objektträgern. Behälter mit pathologischen Proben.« McGrath zog fragend die Brauen hoch. »Proben von Uter... äh, Gebärmutter, Proben von Brustgewebe, Proben von Eierstöcken, Proben von ...« »Okay, okay, ich versteh' schon.« McGrath schüttelte sich leicht und schob sich rasch ein weiteres Pfefferminzbonbon in den Mund. Dowling grinste. »Sonst noch irgendwelche Räume?« McGraths Stimme klang gereizt. »Drei«, antwortete Conway. »Ganz hinten ist ein Büro, daneben ein kleines Zimmer, in dem der ganze Papierkram aus dem Labor bearbeitet und abgelegt wird.« Er machte eine Pause, als er bemerkte, dass Dowling in sein Notizbuch kritzelte. »Dann ist da noch der Autopsieraum.« »Autopsieraum?« McGrath wäre fast das Pfefferminzbonbon aus dem Mund gefallen. »Das hier ist doch eine Entbindungsklinik! Wofür, zum Teufel, brauchen Sie einen Autopsieraum?« Conway räusperte sich. »Auch hier sterben Menschen, Detective. Manchmal kommen Babys tot zur Welt. Manchmal überleben ihre Mütter die Entbindung nicht. Viele Frauen mit Krebs - Gebärmutterkrebs, Eierstockkrebs - kommen zu uns. Manchmal können wir ihnen nicht mehr helfen. Wenn diese Frauen sterben, müssen Autopsien vorgenommen werden. Außerdem kommt es vor, dass wir untersuchen müssen, weshalb Babys sterben, die wir für lebensfähig hielten. Wir müssen wissen, wie Krankheiten 153
entstehen und verlaufen.« Als er geendet hatte, war es sehr still im Labor. McGrath und Dowling waren sichtlich erschüttert. Sie hatten Entbindungskliniken stets als Orte der Freude und des Lebens betrachtet. Babys wurden geboren, freudestrahlende Väter kamen mit Blumen und Konfekt. Leben - mit großem und mit kleinem L. Zukunft. Nicht Tod. »Sie müssen tote Babys aufschneiden?« McGraths Stimme war kaum zu vernehmen. »Ja, das kommt schon mal vor. Aber es gehört nicht zu meinen speziellen Pflichten. Ein Baby zu sezieren, das nie eine Chance hatte zu leben ... das ist eine Sache, die allen meinen Leuten hier schwer fällt, ohne Ausnahme.« Conway fühlte, dass seine Worte beiden Detectives an die Nieren gegangen waren. Er hielt den richtigen Zeitpunkt für gekommen, ein wenig Druck auszuüben. »Sie dürfen nie vergessen, dass diese Klinik jederzeit bereit sein muss, um Leben zu kämpfen. Viele Außenstehende meinen, wir brauchten nichts weiter zu tun, als Babys zu entbinden. Aber wir beschäftigen uns mit sehr viel mehr. Wir haben eine Gynäkologiestation mit fünfzig Betten, eine Intensivstation mit acht Bettchen für Frühgeburten, und eine Sonderpflegestation mit ebenfalls acht Bettchen für schwächliche, kränkliche Neugeborene. Diesen beiden Stationen gilt unsere besondere Fürsorge. Unsere Erfolgsquote bei der körperlichen Stabilisierung und Pflege dieser Babys, bis wir sie nach Hause entlassen können, ist eine der höchsten der Welt. Wir leisten hier ein großes Pensum hervorragender Arbeit.« Er legte eine Pause ein. Die Mienen der beiden Detectives waren 154
unschwer zu deuten. Sie waren beeindruckt. Beeindruckt und von ihrem hohen Ross geholt. Conway beschloss, den Augenblick zu nutzen. »Deshalb ist dieser Mord auch so ... obszön. Wir kommen hier mit dem Tod zurecht. Wir sind darauf eingestellt. Aber nur, wenn er natürliche Ursachen hat. Ein Krankenhaus ist schon aus Tradition ein ganz besonderer Ort. Und hier einem Menschen so grausam das Leben zu nehmen wie Mary Dwyer, so wider die Natur ... das ist teuflisch, das ist eine Obszönität.« Seine Stimme klang angespannt. »Wir alle hier wollen, dass Sie den Schuldigen finden und seiner gerechten Strafe zuführen. Aber wir müssen auch an die Patienten auf den Stationen denken. An die Mütter und ihre Babys. An die Frauen, die auf ihre Operation warten. An sie alle. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass wieder halbwegs Normalität in diese Klinik einkehrt. Dann aber müssen wir dieses Labor wieder benutzen können.« Nachdem sie das Gebäude verlassen hatten, sagte McGrath zu Dowling: »Einen Augenblick habe ich fast jedes Wort geglaubt.« »Also wirklich, Jack, du bist ein schrecklicher Zyniker.« »In unserem Beruf muss man zynisch sein, Tony. Conway hat seine Sache wirklich gut gemacht, bis er mit seinem Labor anfing. Der Kerl wäre nicht schlecht als Gewerkschaftssprecher.« Inzwischen konnte Detective Inspector Jack McGrath die Ärzte ebenso wenig ausstehen wie Krankenhäuser. Sie waren fast so schlimm wie die Gauner, mit denen er es in seinem Beruf lange Zeit zu tun gehabt hatte. Sie waren verschlagen, schwer zu fassen und nur auf ihren Vorteil bedacht. Er spürte, dass er auf Kollisionskurs war. Und er hatte Recht. Conway, dessen Gedanken sich überschlugen und der in seiner 155
Nervosität seine Umgebung nicht wahrnahm, bemerkte Kate Hamilton nicht, als er in ihre Richtung eilte. Sie blieb stehen und stutzte, als Conway an ihr vorüberkam. Rasch setzte sie sich auf die nächste Bank und versuchte, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Um ihre Nerven zu beruhigen, krallte sie die Finger ins Revers ihrer Jacke und bemühte sich, tief ein- und auszuatmen. Sie blickte der davoneilenden Gestalt nach, die jetzt kurz stehen blieb und mit einem Arzt im weißen Kittel sprach. Mitten im Gespräch drehte Conway sich halb um und blickte über den Korridor zurück, wo Kate saß. Sie konnte sein Gesicht deutlich sehen. Die Züge waren ebenso unverkennbar wie die hoch gewachsene Figur, das glatte rote Haar und die unsteten Augen. Sie erinnerte sich genau an ihn, und diese Erinnerung überwältigte sie. Sie musste sich zusammenreißen, nicht zu ihm zu laufen und ihm eine runterzuhauen. „Finden Sie nicht, dass Sie Ihr Baby zur Adoption freigeben sollten?« Sie hatte schluchzend auf dem Entbindungsbett gelegen, keine dreißig Minuten nach der Geburt. Sie hatte einen gesunden, makellosen, vollkommenen Jungen aus ihrem Körper in die Welt gepresst. Es war keine leichte Geburt gewesen - physisch vielleicht, emotional jedoch ein Albtraum. Immer noch konnte sie den großen Mann im grünen Operationskittel sehen, mit Gesichtsmaske und der Kopfbedeckung, die das Haar verbarg. Er hatte ihr sanft bei den Presswehen beigestanden, hatte ihr gut zugeredet. »Pressen ... nicht pressen ... tief atmen ... entspannen ... pressen ... nicht pressen ... tief atmen. Sie machen das großartig! Noch einmal pressen ... So ist's richtig. Ich kann den Kopf kommen sehen. 156
Nein, jetzt nicht pressen, bis ich es sage ... gutes Mädchen ... so ist's gut. Kopf kommt jetzt. Noch einmal tief atmen, und dann fest und lange pressen... sehr gut. Das war's. Schere bitte, Schwester. Lignocaine. Atmen Sie jetzt tief durch die Maske. Sie werden einen scharfen Schmerz spüren ... ausgezeichnet... der Kopf des Babys ist frei. Versuchen Sie sich zu entspannen. Kommt eine neue Wehe? Okay, tief atmen und pressen.« Plötzlich war alles vorbei. Diese Erleichterung! Dann die Freude, als ihr das winzige, blutverschmierte Baby, in kühles, grünes Krankenhaustuch gewickelt, in den Arm gelegt wurde. Seine Augen rollten, als wäre es benommen von der anstrengenden Reise ins Leben. So rot vor Anstrengung er auch war, es bestand kein Zweifel. Er war seines Vaters Sohn. Nur dass sein Daddy ihn nie sehen würde. Er würde nie wieder irgendjemanden sehen. Nur dieses winzige Geschöpf war der Beweis, dass es ihn gegeben hatte. Als Rory ihr zum Wiegen abgenommen wurde, brach Kate in hilfloses Schluchzen aus. Es gab niemanden, mit dem sie diesen wundervollen Augenblick teilen konnte, keine Familie, zu der sie eilen und der sie ihr neugeborenes Baby zeigen konnte. Ihre Mutter war tot, und ihrem Vater hatte sie strikt untersagt, auch nur in die Nähe der Klinik zu kommen. Aber das Schlimmste war die Gewissheit, dass der Vater ihres kleinen Jungen nicht mit Blumen herbeieilen würde, wie es üblich war; er würde keine Zigarren verteilen und nicht vor Glück mit den Schwestern tanzen. Sie würde eine von vielen allein erziehenden Müttern sein. Allmählich wurde sie sich der Gestalt bewusst, die sich mit heruntergezogener Gesichtsmaske und ohne die Stoffmütze über sie 157
beugte. Dr. Luke Conway hatte Kates Schluchzen falsch gedeutet. Völlig falsch. Demütigend falsch. »Meinen Sie nicht, dass Sie Ihr Baby zur Adoption freigeben sollten?« Kate fing zu schreien an und versuchte, vom Bett zu steigen. »Wo ist mein Baby? Wo ist mein Baby?« Conway hatte befohlen, sie aufs Bett zu drücken, und ihr ein Beruhigungsmittel spritzen lassen, gegen ihren Willen. Seither hatte Kate ihn nicht mehr gesehen. Bis jetzt. Kate Hamilton stand schwerfällig auf, strich ihre Jacke zurecht und tupfte die Tränen aus den Augen. Mit aller Selbstbeherrschung, die sie aufbieten konnte, ging sie in die Bibliothek, wo die übrigen Mitglieder des Untersuchungsteams warteten. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Lass die anderen nicht sehen, wie erregt du bist. Niemand darf wissen, dass dich mit dieser Klinik etwas sehr Persönliches verbindet!
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13.05 Uhr Kurz nach dreizehn Uhr an diesem Nachmittag machte ein Fernsehteam von RTL News TV für die Abendnachrichten Aufnahmen vor der Zentralentbindungsklinik. Der Kommentator schilderte die dramatischen Ereignisse, die sich in der Klinik abgespielt hatten, angefangen mit den Notmaßnahmen für die Ge158
burt von Gordon O'Brien bis hin zur Entdeckung von Mary Dwyers Leiche keine sechsunddreißig Stunden später. Wie sich noch erweisen sollte, würde es nur eine von vielen Nachrichtensendungen sein, bei denen die Zentralentbindungsklinik im Mittelpunkt stand. In der Klinik waren Luke Conway und Professor Patrick Armstrong in ein Gespräch vertieft. Zwar war Conway der Chef der Klinik und für den reibungslosen Arbeitsablauf verantwortlich, doch er konferierte häufig mit Armstrong. Der Ältere gehörte seit nahezu dreiundzwanzig Jahren zum Stamm des Krankenhauses und saß obendrein im Vorstand. Armstrong blieb fast nichts verborgen, was in der Klinik vor sich ging; außerdem verstand er sich sehr geschickt darauf, das Führungspersonal für seine Zwecke einzuspannen. »Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich mit dem Gesundheitsminister unterhalte«, sagte Armstrong. »Er ist ein alter Bekannter von mir. Wir werden diesem Detective Inspector McGrath ein bisschen einheizen.« Er spuckte die Worte regelrecht aus. »Morgen wird das Labor uns wieder uneingeschränkt zur Verfügung stehen!« Luke Conway nickte erleichtert. Vielleicht würden sie dieses Debakel doch noch einigermaßen glimpflich überstehen. Er beobachtete, wie Armstrong die Nummer wählte.
15.45 Uhr Tommy Malone fuhr den gestohlenen Volvo 460 gut drei Kilometer die Newbridge-Umgehungsstraße entlang, bevor er die Abbiegung nach Kilcullen nahm. Peggy Ryan saß auf dem Rücksitz und beobachtete den Verkehr. Sam Collins hatte den 159
Wagen erst vor einigen Stunden vor einem Pub in Donnybrook »organisiert« und die Nummernschilder ausgetauscht. Der Volvo besaß jetzt Kennzeichen aus der Grafschaft Kildare, die Moonface von einem Toyota Corolla abmontiert hatte, der auf dem Flughafen Dublin auf seinen offenbar länger verreisten Eigentümer wartete. Außerdem hatte Moonface Dubliner Kennzeichen von einem BMW besorgt. Er musste sich sehr zusammenreißen, nicht auch noch den Wagen zu klauen, doch Tommy hatte ihn eindringlich ermahnt, nur die Nummernschilder zu organisieren und nicht mehr. »Und das bedeutet, dass du keine noch so verdammte Kleinigkeit vom Rücksitz oder von sonst wo nehmen darfst!« Während er mit Peggy durch den Ort fuhr, deutete Malone auf den nächsten Lebensmittelladen, das Telefonhäuschen und den Pub. Etwa anderthalb Kilometer hinter dem letzten Bungalow am Ortsende fuhr er von der Hauptverkehrsstraße auf eine weniger befahrene Landstraße, von der er schließlich wieder scharf links auf einen Weg zwischen Wiesen abbog. Peggy blinzelte in die zunehmende Dämmerung, konnte jedoch kaum noch den oberen Rand der Hecke sehen, an der sie vorbeikamen. Malone fuhr immer langsamer und lenkte den Volvo behutsam auf einen sehr schmalen, holprigen Feldweg. Schließlich fiel das Licht der Scheinwerfer auf die Vorderseite eines kleinen, weiß getünchten Cottages mit zwei Fenstern und einer schwarzen Haustür. »Wir sind da«, brummte Malone, als er den Motor abstellte. Er stieg aus und riet Peggy, im Wagen zu bleiben, bis er die Haustür geöffnet hatte. »Ist verdammt kalt hier. Warte, bis ich die Tür aufgemacht und ein Licht eingeschaltet hab'.« Peggy klappte den Mantelkragen 160
hoch und wartete. Der von dunklen Wolken fast verborgene Mond minderte die Dunkelheit kaum. Malone plagte sich ab, erst den Schlüssel und dann das Schloss zu finden. Schließlich stieß er die Tür fluchend mit einem Fußtritt auf. Knarrend und ächzend schwang sie nach innen. Peggy beobachtete, wie Malone sich an der Wand entlangtastete, bis auf der Veranda endlich eine schwache Glühbirne aufleuchtete. Als auch Peggy das Cottage betreten hatte, schauten beide sich aufmerksam um. Es gab drei Zimmer, eine Wohnküche und ein Bad mit schmieriger Wanne und Klosett. In der Küche stand ein alter Herd. Die anderen Zimmer konnten nur mit kleinen elektrischen Radiatoren geheizt werden. Es war eiskalt hier drinnen, und ihr Atem kondensierte zu weißen Dampfwölkchen. »Du musst dir was einfallen lassen, Tommy, dass hier ordentlich eingeheizt werden kann. Ein Neugeborenes kann in diesem Eiskeller keine Stunde überleben.« Malone nickte, tief in Gedanken versunken. »Als Erstes machen wir mal Feuer in der Küche«, bestimmte er, »dann schalten wir in den andern Zimmern die Heizgeräte ein. Elektrische Decken werden wir uns auch besorgen.« Peggy gefiel es hier gar nicht. Das Cottage war ein Dreckloch, in dem sich offenbar seit Monaten niemand mehr aufgehalten hatte. Überall roch es modrig, und das Sofa in der Küche fühlte sich klamm an. »Jesses, Tommy, ich hoff bloß, dass wir nicht lange bleiben müssen«, jammerte Peggy. »Wir hol'n uns hier alle den Tod.« Malone achtete nicht auf sie und schleppte die Schachteln und Kisten mit Lebensmitteln, Babynahrung, Feueranzünder, Torfbriketts, Kleinholzbündel und schließlich eine Riesenschachtel 161
Mini-Pampers für den Jungen herein. Bald darauf kräuselte der erste Rauch von brennendem Papier und Kleinholz aus dem Schornstein in die frostige Luft. Noch war der angekündigte Schnee nicht gefallen, doch er würde wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Obwohl es fast windstill war, zogen dunkle Wolken über den Himmel. Vereinzelt lagen noch Flecken des Januarschnees auf den Wiesen um das Haus. Es war ruhig hier, und von ein paar Schafen und Rindern abgesehen, die auf der harten Erde nach gefrorenem Gras suchten, rührte sich kaum etwas. Etwa einen drei viertel Kilometer entfernt machte Brian O'Callaghan sich Sorgen um ein hochträchtiges Schaf. Selbst durch seine vier dicken Pullover und die lange graue Ölhautjacke, die er darüber trug, biss ihn die bittere Kälte. Das Mutterschaf schien das eisige Klima gewohnt zu sein; gleichmütig kaute es an jedem gefrorenen Grasbüschel, das noch nicht abgeweidet war. O'Callaghan war siebzig Jahre alt und sein Leben lang Farmer gewesen; er sah kaum eine Überlebenschance für ein Lamm, das bei dieser Kälte im Freien geboren wurde. Unglücklich beobachtete er, wie das trächtige Schaf weiter zu einem Grasbüschel trottete, das ihm viel versprechend erschien. Als O'Callaghan sich zum Umkehren wandte, bemerkte er den Rauch. Merkwürdig, dachte er. Zu dieser Jahreszeit hält sich normalerweise niemand im Cottage auf.
18.27 Uhr Bibliothek, Ostflügel Zorn und Ratlosigkeit waren beinahe mit Händen zu greifen. »Stellt euch das mal vor!« Einer der Detectives, die an dem Fall arbeiteten, erzählte, was er bei seinem Versuch erlebt hatte, einen 162
der Ärzte zu befragen. »Da rufe ich höflich seine Sprechstundenhilfe an und sag' ihr, wer ich bin und weshalb ich mit dem hohen Herrn sprechen muss. Wisst ihr, was die Frau gesagt hat?« McGraths Team hörte zu. Einige grinsten, doch andere, die ähnliche Erfahrung gemacht hatten, zogen grimmige Gesichter. »Ich werde mal nachsehen, ob er vielleicht nächste Woche noch einen Termin freihat. Nächste Woche!« Er verzog das Gesicht. »Ich ermittle in einem Mordfall, und dann kommt die mir so! Einen verdammten Termin für nächste Woche!« Eine rege Unterhaltung kam in Gang, als auch andere erzählten, dass es ihnen nicht besser ergangen sei. »Okay, okay«, unterbrach McGrath, nachdem endlich auch der letzte Angehörige des Teams eingetroffen war und sich einen Stuhl an den großen Lesetisch in der Mitte des Zimmers gezogen hatte. Kate Hamilton blickte auf die Uhr, während sie ein Stück zur Seite rückte, um Platz zu machen. Sie hatte ihrem Vater versprochen, gegen sieben zu Hause zu sein. Doch wie es jetzt aussah, glaubte sie nicht, dass sie rechtzeitig wegkommen würde. McGrath und Dowling saßen an einem gesonderten Schreibtisch; zu beiden Seiten des Tisches standen hohe Regale mit medizinischen Fachbüchern. »Es hat ganz den Anschein, als wollte man uns mit voller Absicht Steine in den Weg legen.« McGrath schlug ein Notizbuch auf und blickte kurz hinein. »Doch bevor wir uns damit beschäftigen, möchte ich erst durchgehen, was wir bisher in diesem Fall ermitteln konnten.« Die Gruppe machte es sich ein wenig bequemer, und jeder schlug seine eigenen Notizen auf. »Wir wissen, dass Mary Dwyer am späten Dienstagabend zwi163
schen Viertel vor elf und elf Uhr ermordet wurde. Es steht so gut wie fest, dass der Mörder sich in dieser Klinik auskennt wie in seiner Westentasche. Er kam herein und wieder hinaus, ohne jemandem aufzufallen. Kein Fremder wurde im Krankenhaus, auf dem Grundstück, dem Parkplatz oder den Ausgängen zum Whitfield Square bemerkt. Entweder hat der Täter nach dem Mord seine gewohnte Arbeit in der Klinik fortgeführt, als wäre nichts geschehen ...« Protestierendes Murmeln unterbrach McGraths Redefluss. »Oder - oder«, seine Stimme wurde lauter, »was wahrscheinlicher ist, er verschwand auf dem gleichen Weg, auf dem er sich ins Gebäude gestohlen hatte, nämlich durch den Keller und das Seitentor.« Jetzt machte McGrath eine gewollte Pause, als ein paar Anwesende in ihre Notizbücher kritzelten. »Wir wissen auch so gut wie sicher - allerdings nicht mit hundertprozentiger Gewissheit - aus welchem Raum das vom Mörder benutzte Skalpell stammt, nämlich aus dem Zimmer neben dem Raum, den die Ärzte für... äh, kleinere chirurgische Eingriffe benutzen, wie sie es nennen.« Leises Kichern, als jemand sarkastisch bemerkte, dass der kleinere chirurgische Eingriff bei Mary Dwyer ein bisschen aus dem Ruder gelaufen sei. Kate legte die Hand vors Gesicht, um ihr unwillkürliches Grinsen zu verbergen. »Es befinden sich keine Fingerabdrücke am Skalpell«, fuhr McGrath fort, ohne die Unterbrechung zu beachten. »Und die Kollegen von der Spurensicherung sind der Ansicht, die Abdrücke und Puderspuren am Hals des Opfers lassen darauf schließen, dass der Mörder Gummihandschuhe getragen hat. Latexhandschuhe, um genau zu sein.« Wieder legte er eine Pause ein, um seine Worte einwirken zu lassen. 164
»Der Täter hat außerdem eine Anzahl Reagenzgläser mit Blutproben, einen kleinen PC samt Drucker sowie ein paar weitere Geräte zertrümmert. Das Laborpersonal hat die Namen auf den Gläsern mehrmals mit denen auf den Untersuchungsanträgen verglichen, konnte jedoch keinerlei Hinweise auf die Person des Mörders finden. Die Seiten aus dem Drucker sind fortlaufend paginiert, und die acht fraglichen Seiten sind spurlos verschwunden. Wir haben sämtliche Papierkörbe, Müllbehälter, Abflüsse und dergleichen genauestens überprüft. Sogar der Müllcontainer vor der Kellertür wurde ausgeleert und jedes Stück Papier sorgfältig untersucht, aber wir haben weder da noch dort etwas gefunden.« Wieder hielt er inne und blickte die Versammelten an. »Wir haben unsere Suche nicht nur auf das Krankenhausgelände beschränkt. Jeder Papierkorb, jede Abfalltonne, jeder Müllcontainer in einem Umkreis von anderthalb Kilometern wurde durchstöbert. Jedes Taxiunternehmen und jeder Busfahrer wurde befragt. Nichts.« Er blickte Dowling an. Der nickte. »Mary Dwyer ist so sauber wie frisch gefallener Schnee. Sie wohnte bei ihren Eltern, nahm keine Drogen, hatte keine abartigen sexuellen Neigungen, keine verdächtigen Bankkonten. Nichts.« McGrath stand schwerfällig auf, stützte beide Hände auf den Tisch und starrte auf seine Notizen. »Jedenfalls nichts, was bekannt war. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Mary Dwyer irgendetwas wusste. Vielleicht hatte sie irgendeine Information. Etwas so Wichtiges, dass sie deshalb umgebracht werden musste. Möglicherweise wusste sie selbst gar nicht, wie wichtig es war, aber der Mörder konnte kein Risiko eingehen. Mary Dwyer musste zum Schweigen gebracht 165
werden.« Es war totenstill in der Bibliothek. McGrath blickte von seinem Notizbuch auf. »Und jetzt sieht es ganz so aus«, er hatte die Stimme gehoben, »als würden einige Ärzte dieser Klinik uns vorsätzlich Steine in den Weg legen. Sie halten es offenbar für unter ihrer Würde, sich von der Polizei befragen zu lassen.« »Da haben Sie verdammt Recht!«, rief jemand wütend aus. Kate Hamilton schaute den Rufer an. Insgeheim freute sie sich, dass ihre Kollegen sich so über die Einstellung der Ärzte ärgerten. Jetzt wisst ihr Jungs, was wir Mädels uns die ganze Zeit gefallen lassen müssen. McGrath hob die Hand. »Dann werde ich euch mal was sagen, und ich habe nichts dagegen, wenn ihr das anderen gegenüber erwähnt: Wir haben den Joker in unserem Blatt. Nach allem, was ich hörte, werden Operationen verschoben, Patientinnen wieder nach Hause geschickt und sogar Schwangere zur Entbindung ans Rotunda-Hospital überwiesen. Und das alles, weil wir das Labor geschlossen haben.« Beinahe so etwas wie Beifall wurde laut, gefolgt von »Pssst!« und halb unterdrücktem Lachen. »Und das Labor bleibt geschlossen, bis wir die volle Kooperation der Ärzte haben.« Jetzt war der Beifall so laut, dass er auf dem Korridor zu hören war.
Als die Detectives die Bibliothek verließen, beobachtete Dean Lynch sie verstohlen durch die spaltweit offene Tür seines Sprechzimmers, das sich auf diesem Flur befand. Er hatte zwölf Personen ins Zimmer gehen sehen und vergewisserte sich nun, dass ebenso viele herauskamen. Elf Männer und eine sehr inte166
ressant aussehende junge Frau. Lynch hatte sie besonders aufmerksam beobachtet, ihre Körpersprache, ihre Handbewegungen. Ich würde dich gern mal treffen. Allein. Nachdem sich das Gemurmel der Detectives in einiger Entfernung im dunklen, leeren Wartebereich verloren hatte, verließ Lynch sein Sprechzimmer und huschte in die Bibliothek. Er machte sich ein rasches Bild. Alle Stühle standen um den großen Lesetisch in der Mitte des Raumes; nur zwei befanden sich einander gegenüber am nahen Schreibtisch. Lynch ließ rasch den Blick über die Bücherregale schweifen, die sich links und rechts anschlossen; dann maß er mit einem Bandmaß die Breite einiger Buchrücken, bevor er vier Bände aus dem Regal nahm. Die Bücher verließen die Klinik mit ihm. Commissioner Thomas Quinlan, als Polizeichef für die hiesige Garda Siochana verantwortlich, saß in seinem Wohnzimmer vor dem Fernseher, als das Telefon läutete. Auf dem Teppich zu seinen Füßen lagen die beiden Dubliner Abendzeitungen mit den fett gedruckten Schlagzeilen über die Ermittlungen im Mordfall Mary Dwyer. »Commissioner, hier ist Alice Martin.« Quinlan setzte sich kerzengerade auf und schaltete den Fernseher per Fernbedienung aus. »Frau Minister! Was kann ich für Sie tun?« »Ich habe erfahren, dass ein gewisser Detective Inspector Jack McGrath sich in der Zentralentbindungsklinik wie ein Urmensch aufführt und dass die Ärzte sich bitter beschweren.« Quinlan schwieg. Die Erfahrung sagte ihm, dass die Justizministerin sich weniger Gedanken wegen des Mordes, der Ermittlungen und Jack McGrath machte als um schädigende Publicity. Die 167
Regierung bestand aus einer wackeligen Koalition, die von einer Krise zur anderen taumelte und zusehends handlungsunfähiger wurde. Gesetz und Ordnung - oder vielmehr deren Nichtvorhandensein - waren die derzeitigen heißen Kartoffeln. »Haben Sie gehört, Commissioner?« Alice Martins Stimme war wie ein Peitschenhieb. »Selbstverständlich, Frau Minister. Aber ich habe den Eindruck, das ist nicht alles, was Sie mir mitteilen wollten.« Jetzt kau mal ein bisschen daran herum, du eingebildetes Weibsstück! Mit dieser Antwort hatte Alice Martin offenbar nicht gerechnet. »Ich bin der Ansicht, dass Detective Inspector McGrath dieser Fall entzogen werden muss.« Genau das hatte Quinlan von ihr erwartet. „Das könnte sich als Fehler erweisen, Frau Minister, wenn ich so sagen darf. Man würde es wahrscheinlich als Panikreaktion auf negative Schlagzeilen in der Öffentlichkeit auslegen.« „Ich will, dass ihm der Fall entzogen wird.« Es war ein strikter Befehl. »Gestatten Sie, dass ich heute Abend noch ein paar Anrufe tätige, Frau Minister. Morgen Früh gebe ich Ihnen dann unverzüglich Bescheid. Vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten.« »Commissioner Quinlan, ich möchte Sie daran erinnern, dass ich Justizministerin bin und Sie mir unterstellt sind.« »Mit allem Respekt, Frau Minister, wie könnte ich das vergessen? Seit Ihrer Amtsübernahme stoßen Sie mich immer wieder mit der Nase darauf.« »Ich bestehe darauf, dass Detective Inspector McGrath die Untersuchung dieses Falles entzogen wird!« Der Hörer wurde auf 168
die Gabel geschmettert. Quinlan starrte einen Augenblick aufs Telefon. »Luder!«, brummte er und wählte. Dean Lynch schnitt das Innere der vier Sachbücher in der Form aus, die er benötigte. Dann schloss er jedes Buch und begutachtete es. Die Bücher sahen von außen nicht anders aus als zuvor. Geöffnet jedoch war eine säuberlich ausgeschnitzte Höhlung zu sehen, von der ein dünner, enger, ebenfalls ausgeschnitzter Tunnel bis zum Buchrücken verlief. In diese Höhlungen passte Lynch je ein Panasonic-Diktiergerät ein, das sich beim Klang menschlicher Stimmen automatisch einschaltete. An die Diktiergeräte waren Vivano-EM-116-Mikrofone angeschlossen. Von außen war den Büchern nicht anzusehen, dass sich im Inneren Diktiergeräte befanden. Ein dünnes Kabel verlief durch den ausgeschnitzten Tunnel zum Mikrofon, das nur eine Winzigkeit über den Buchrücken hinausragte. Lynch bewunderte seine Arbeit eine Zeit lang, bevor er einen Versuch machte. Er stellte die vier Bücher aufrecht auf Küchenschrankfächer von unterschiedlicher Höhe; dann setzte er sich an den Küchentisch und begann, laut aus der Gebrauchsanleitung für seinen Mikrowellenherd - >Wie lasse ich einen Auflauf in nur acht Minuten garen< - zu lesen. Nach fünf Minuten, als die Zeitschaltuhr klingelte, verstummte Lynch. Er nahm die Bücher vom Schrank und schaute nach den Diktiergeräten. Alle hatten auf seine Stimme reagiert, wie er an den abgespulten Bandstücken erkennen konnte. Lynch spulte die Kassetten zurück und hörte sie sich an. Seine Stimme war klar und deutlich zu vernehmen. Wieder spulte er die Kassetten zurück und stellte die Bücher zurück in die Fächer. Noch einmal las er laut die Anleitung, machte diesmal aber nach jeweils drei Minuten eine ein169
minütige Pause. Dann holte er die Bücher erneut an den Tisch und spielte die Kassetten ab. Perfekt. Das System hatte tadellos funktioniert. Die Diktiergeräte hatten nur aufgenommen, wenn er gesprochen hatte, und angehalten, sobald er verstummt war. Perfekt! Klappt wie am Schnürchen, Dean, alter Junge; könnte nicht besser sein. Stell die Bücher in vier verschiedene Regale, damit dir nichts entgeht. Auf diese Weise kannst du stets erfahren, was in der Bibliothek gesprochen wurde. Du bist ein kleines Genie, da gibt's gar keinen Zweifel. Und um dies zu feiern, gönnte Dean Lynch sich einen Schuss.
Fünfter Tag 22 Freitag, 14. Februar 1997, 6.47 Uhr Cottage bei Kilcullen in der County Kildare Die Scheinwerfer des Jeeps durchdrangen die frühmorgendliche Dunkelheit. Tommy Malone und Sam Collins lieferten schwere Artillerie. Malone machte sich Sorgen wegen der Entwicklungen in der Zentralentbindungsklinik und der Gerüchte, dass Harry O'Brien seine Frau und seinen neugeborenen Sohn früher als beabsichtigt nach Hause holen würde. Er wollte so schnell wie möglich zuschlagen. Malone hatte sich am vergangenen Tag pünktlich um fünf Uhr 170
früh, wie ausgemacht, zur Hintertür der O'Brien-Zentrale in der Dawson Street begeben. Ein dreimaliges Klopfen in 30-Sekunden-Abständen brachte die wartende Betty auf Trab. Wenige Minuten später befand Malone sich im Gebäude. Betty hatte dafür gesorgt, dass der Nachtwächter den ungebetenen Besucher nicht sehen konnte, und ihn zu Big Harrys Privatbüro geführt. Dort, an der Wand hinter einem schweren Drehsessel, hing eine Luftaufnahme von Beechill, dem Familiensitz der O'Briens in Wicklew. Tommy Malone hatte das Foto länger als eine Stunde studiert, hatte sich ein Bild davon gemacht, wo sich das Einfahrtstor befand und die Straße, die zur Einfahrt führte. Vor allem hatte er sich den Verlauf des ungepflasterten Weges eingeprägt, der an einer Seite des Grundstücks entlangführte, sowie die Anlage des Gartens in unmittelbarer Nähe des Hauses, vor allem die Lage der Sträucher und Büsche vor dem Gebäude. Eine ideale Deckung, wie Malone fand. Dann hatte er die Riesenbäume bemerkt, die einzeln und in Gruppen auf dem etwa fünfzigtausend Quadratmeter großen Grundstück standen. Verdammt gut für seine Pläne. Betty hatte zweimal flüchtig ins Zimmer geschaut, um Malone zu sagen, dass alles okay sei und dass man ihn nicht stören würde. Als Malone kurz nach halb sieben das Gebäude verließ, kannte er Beechill wie seine Westentasche. Außerdem wusste er nun die Privatnummern von Big Harry und Theo Dempsey; er hatte sie in einem Notizblock in einer Schreibtischlade entdeckt. Malone hatte Dempsey bereits als Verbindungsmann und Kurier für das Lösegeld auserkoren. Sämtliche Verhandlungen mit Big Harry würden über Dempsey laufen, alle Anrufe nur über Dempseys Nummer gehen. Die Bullen, speku171
lierte Malone, würden zuerst einmal Beechill abhören und sofort an Dempsey denken, wenn sie feststellten, dass die Einzelheiten der
Lösegeldübergabe
nicht
über
Big
Harrys
Telefon
durchgegeben wurden. Auch von Betty erfuhr Malone etwas sehr Interessantes. »Big Harry gibt fast dem ganzen Personal ein paar Tage frei, damit alle die Geburt des Babys feiern können.« Malone traute seinen Ohren nicht. Das war ja wie ein Haupttreffer im Lotto! »Ab wann?« »Ab morgen. Hab' gehört, wie ein Wachmann geflucht hat, weil er erst später ein paar Tage freikriegt.« Tommy Malone umarmte Betty, als hätte sie den Leuten Sonderurlaub gewährt. Später, am Nachmittag, war Sam Collins in einem erst kurz zuvor gestohlenen Jeep Cherokee mit verstärkter vorderer Stoßstange und frisch geklauten falschen Nummernschildern an Beechill vorübergefahren. Dabei hatte Collins das große, schmiedeeiserne Tor in der gut viereinhalb Meter hohen Mauer aus Granitstein gesehen. Diese Mauer führte etwa zweihundert Meter an einer kleinen Nebenstraße entlang, die halbkreisförmig in die Killiskey Road mündete. Nachdem Collins sich vergewissert hatte, dass niemand ihn sah, war er rasch ausgestiegen, hatte sich ein Bild von der Stärke des Tores gemacht und rasch überschlagen, wie viel Semtex er brauchte, um die Torflügel aus den Angeln und damit aus dem Weg zu sprengen. Danach war er mit dem Jeep den ungepflasterten Weg entlanggefahren, auf den Malone ihn aufmerksam gemacht hatte. Dieser Weg führte von einem Ende der vorderen, neueren Mauer vorbei 172
an einer älteren, die sechzig Jahre zuvor errichtet worden war, und endete am Wasserrand des Vartry-Staubeckens. Collins entdeckte, dass der Weg nach der Abbiegung zum Staubecken noch knapp fünfzig Meter weiter führte. Während er langsam zurückschlenderte, fiel ihm auf, dass die Grundstücksmauer zu seiner Linken zwar schon an manchen Stellen bröckelte, im Wesentlichen aber durchaus stabil war. Er gelangte zu einem hölzernen Tor. Es war von den früheren Besitzern Beechills benutzt worden, um auf kürzestem Weg zum Fischen ans Staubecken zu gelangen. In der Dunkelheit betastete Collins die Angeln des Tores mit den Fingerspitzen nach Rost; dann warf er sich mit der linken Schulter dagegen. Er lächelte, als er spürte, dass es leicht nachgab. Auf dem Rückweg nach Dublin nahm er sich vor, einen Holzhammer zu besorgen. Der Holzhammer war der erste Gegenstand, den sie am Cottage vom Jeep luden. Als Nächstes folgte eine abgesägte 12-Millimeter-Schrotflinte, zwei 38er Smith-&-Wesson-Revolver und eine libysche AK47-Maschinenpistole. Collins hatte tief in sein IRAWaffenarsenal gegriffen. Eine leere Kiste Smirnoff-Wodka, in der sich nun Skimützen, vier Paar hautenge Lederhandschuhe und genug Munition für einen kleinen Krieg befanden, lag auf dem Beifahrersitz. Malone beugte sich zur Seite, um die Kiste vorsichtig zur Beifahrertür zu schieben, als er versehentlich auf die Lenkradhupe drückte. Der plötzliche Lärm ließ ihn heftig zusammenfahren und weckte die in ihrem Schlafsack dösende Peggy Ryan, die für die Dauer des Unternehmens ins Cottage gezogen war. Er weckte auch Brian O'Callaghan. Der alte Mann stieg aus dem Bett und spähte in die Morgendäm173
merung. Er sah gerade noch, wie Autoscheinwerfer ausgeschaltet wurden. O'Callaghan kratzte sich am Kopf, dann am Hintern und legte sich wieder ins Bett. Was, zum Teufel, geht da oben vor?, fragte er sich verschlafen, während er sich unter die warme Decke kuschelte.
»Heute Nacht packen wir's an«, bestimmte Tommy Malone bei einer Tasse starkem Tee. »Heute Nacht greifen wir uns den kleinen Scheißer. Ich weiß von meinem Informanten, dass Big Harry den Balg heute nach Hause bringt und dass er dem Personal zwei Tage freigegeben hat, um die Geburt von seinem Stammhalter zu feiern. Er hätt's nicht besser für uns planen können. Also, packen wir's an?« Malone blickte zu Peggy Ryan. Sie nickte. Sie war bereit. »Ich hab' nichts dagegen«, sagte Collins. Er drückte auf den Abzug einer ungeladenen Smith & Wesson und richtete den Lauf in die Ferne. »Is' mir recht. Je früher, desto besser. Ich bin startklar.« In Zimmer 3 des Nordflügels in der Zentralentbindungsklinik Dublin hatte Sandra O'Brien den kleinen Gordon soeben gestillt und wickelte ihn nun. Sie summte vor sich hin und lächelte, als sie sah, wie sich sein Gesichtchen verzog, wie sein Näschen zuckte und seine dünnen Armchen protestierend zappelten. Dann fing er an zu weinen, und Sandra hob ihn hoch und küsste ihn auf die Stirn. Gordons Plärren verstummte, und die Babyaugen schielten zu dem verschwommenen Gesicht über ihm hinauf. Sandra küsste den Kleinen noch einmal und legte ihn auf die Seite in sein Körbchen. 174
Sie beobachtete, wie seine Augen blinzelten und starrten, ehe der Schlaf ihn übermannte und die Lider sich schlossen. Was bist du doch für ein wunder-, wunderschönes Baby. Möge der liebe Gott dich so groß und stark werden lassen wie deinen Papa. Vom Flur hörte Sandra das Weinen eines anderen Neugeborenen, das zu einem weiter entfernten Zimmer gefahren wurde. Während sie lauschte, strich sie Vitamin-E-Öl auf ihre Operationsnaht, damit diese schneller verheilte. Noch nie im Leben hatte Sandra sich so zufrieden und ausgeglichen gefühlt.
Dean Lynch hielt sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in der Klinik auf. Nicht, dass es für Ärzte viel Arbeit gab, solange das Labor noch nicht benutzt werden konnte und keine ambulanten Behandlungen durchgeführt wurden. Frauen, bei denen die Wehen eingesetzt hatten, wobei möglicherweise Komplikationen drohten, wurden zu anderen Kliniken überwiesen; einige brachte man sogar mit Krankenwagen aus der Zentralentbindungsklinik dorthin. Lynch hatte eine Aktentasche dabei, die er so trug, dass sie leichter zu sein schien, als sie war. Ohne irgendjemanden zu beachten, begab er sich zu seinem Sprechzimmer. Die Flure, Untersuchungszimmer und der Warteraum waren menschenleer. Niemand hielt sich in der Bibliothek auf. Lynch hatte bereits entschieden, wohin er die vier Bücher mit den Abhörgeräten stellen würde, und verlor nun keine Zeit, sie dort unterzubringen. Er betrachtete die Regale aus ein paar Schritt Entfernung, um sich zu vergewissern, dass die zweckentfremdeten Bücher nicht irgendwie aus der Reihe fielen und die Mikrofone nicht zu sehen waren. Alles in Ordnung. Dean war sehr zufrieden mit sich. 175
Zurück in seinem Sprechzimmer, drückte er auf das Kombinationsschloss seiner Aktentasche und breitete deren Inhalt auf einer Untersuchungsliege aus. Es waren acht 2-Stunden-Mikrokassetten und sechzehn Panasonic-LR6-Ersatzbatterien. Er wollte gut vorbereitet sein. Die vier Recorder und die Mikrofone hatte Lynch in verschiedenen Läden gekauft, ebenso die Mikrokassetten und Batterien. Von allen Gegenständen hatte er die Fingerabdrücke abgewischt. Bei der Überprüfung der Ersatzbatterien und Mikrokassetten trug er Gummihandschuhe. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Nicht wahr, Dean, alter Junge? Während der letzten zwei Tage hatte er aufmerksam beobachtet, wie der Arbeitsablauf der Detectives aussah, und so wusste er, dass sie sich gegen acht Uhr fünfundvierzig in der Bibliothek getroffen und sich auch über die Mittagszeit dort aufgehalten hatten. Er war sicher, dass sie bei ihrem kleinen Imbiss aus der Krankenhauskantine ihre weitere Strategie durchgegangen waren. Überdies hatten sie sich an beiden Tagen noch einmal gegen achtzehn Uhr in der Bibliothek versammelt, wahrscheinlich um über Fakten zu sprechen, die sie während des Tages gesammelt hatten. Auch zwischendurch hatten sie sich mehrmals kurz in ihren provisorischen Besprechungsraum zurückgezogen. Von nun an würde er jedes Wort hören, das sie sprachen. Lynch ließ seine Sprechzimmertür einen Spalt offen, sodass er beobachten konnte, wann die Detectives kamen und gingen; außerdem konnte er Kassetten und Batterien austauschen, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Wegen des geschlossenen Labors waren die normalerweise belebten Warte- und Untersuchungsräume 176
sowie die Flure, die zum Labor führten, jetzt meist menschenleer. Du kannst bei deiner eigenen kleinen Morduntersuchung Mäuschen spielen, Dean, alter Junge. Was für ein Spaß! Kurz nach acht Uhr dreißig schaltete Harry O'Brien das Radio aus und starrte es einen Moment gedankenversunken an. Auf der Schreibtischplatte vor ihm lag ein aufgeschlagenes Exemplar der Boulevardzeitung Daily Post, die einen Sensationsartikel gebracht hatte, einen »Exklusivbericht«, dem durch ein Bild des gelben Garda-Absperrbands vor der Labortür der Zentralentbindungsklinik ein zusätzlicher dramatischer Anstrich verliehen wurde. Krankenhaus in der Krise!, lautete die Schlagzeile des Revolverblattes. Die Frühnachrichten von Radio RTL, Guten Morgen Irland, brachten die Klinik-Story als Erstes und schoben später noch einen 6-Minuten-Bericht darüber ein. Harry O'Brien hatte genug. Ein paar Minuten nach neun traf sich Garda Commissioner Thomas Quinlan mit Chief Superintendent Michael Loughry im Garda-Hauptquartier im Phoenix Park. Eine ziemlich erregte Diskussion, die über eine Stunde dauerte, endete mit der politisch motivierten Entscheidung, McGrath die Leitung des Mordfalles Mary Dwyer zu entziehen. Es war Loughry, der vorschlug, die Ermittlungen von einer Frau leiten zu lassen.
12.37 Uhr Vortragssaal, Zentralentbindungsklinik Jack McGrath beschloss, seine Trumpfkarte auszuspielen. Er hatte genug davon, sich über die Ärzte zu ärgern. Außerdem machte es ihm zu schaffen, dass es in diesem Fall nicht voran177
ging. Je mehr er darüber nachdachte, desto stärker wurde sein Verdacht, dass der Mörder zum Mitarbeiterstab der Klinik gehörte. Und je intensiver er diesen Gedanken verfolgte, umso größer wurden seine Sorgen. »Der Hurensohn könnte noch einmal zuschlagen«, sagte er zu Dowling. »Er könnte durch die Klinik spazieren und sich kranklachen über unsere jämmerlichen Versuche, ihn zu erwischen. Höchste Zeit, die Glaceehandschuhe auszuziehen und diesen Pennern von Ärzten zu zeigen, wo der Hase läuft. Es mag zwar ihre Klinik sein, aber es ist meine Morduntersuchung! Wenn die Herrschaften nicht spuren, müssen wir sie eben in den Arsch treten.« Die Ärzte kamen in kleinen Gruppen. Sie unterhielten sich gedämpft und warfen heimlich nervöse Blicke auf die hier völlig deplatzierten Detectives, die jedes Gesicht scharf musterten. McGrath hatte seine Leute an strategischen Punkten postiert, sodass jeder einen guten Blick auf die Sitzreihen hatte, die vom Podium aus, das vorn in der Mitte stand, in Stufen nach hinten verliefen wie in einem Hörsaal. Kate Hamilton stand ungefähr in halber Höhe des Saales an die Wand gelehnt und tat ihr Bestes, einschüchternd zu wirken. Luke Conway schloss sich wortlos McGrath am Rednerpult an, als die letzten beiden Ankömmlinge sich in die hinterste Reihe drängten. Dean Lynch saß in der dritten Reihe von hinten. Er achtete auf jede Bewegung und auf den leisesten Gesprächsfetzen. Plötzlich bemerkte er Kate Hamilton, und ein Lächeln huschte über seine Züge. Er drehte sich so, dass er Kate im Auge behalten konnte. Conway redete als Erster. »Ich möchte Ihnen Detective Inspector Jack McGrath von der 178
Mordkommission der Garda-Zentrale Store Street vorstellen. Inspector McGrath und sein Team untersuchen den Vorfall im Laboratorium in der Nacht zum letzten Dienstag.« Vorfall!, dachte McGrath. Vorfall! Das Mädchen wurde ermordet! Er spürte, wie Zorn in ihm aufloderte. »Wie Sie wissen«, fuhr Conway fort, »gehen unsere Meinungen darüber auseinander, wie die Ermittlungen in der Klinik vorgenommen werden sollten. Verständlicherweise möchte der Inspector ...«, Conway machte eine Pause und blickte McGrath gönnerhaft an, »den Schuldigen so rasch wie möglich finden. Wir Ärzte dagegen müssen den Betrieb in der Klinik aufrechterhalten, und zwar rund um die Uhr, wie Sie alle wissen. Krankheiten brechen nicht nur während der Arbeitszeit aus, und nach meiner langjährigen Erfahrung, die viele von Ihnen sicherlich ebenfalls machen konnten, haben Babys die seltsame Angewohnheit, zu den unpassendsten Nachtstunden auf die Welt kommen zu wollen.« Ein höfliches Lachen füllte den Vortragssaal, Köpfe nickten bestätigend. Conway erlaubte sich den Anflug eines Lächelns. »Ohne ein uneingeschränkt funktionsfähiges Labor können wir unseren ärztlichen Pflichten allerdings nicht nachkommen. Inspector McGrath dagegen hält es für angebracht, das Labor geschlossen zu halten, aus welchen Gründen auch immer. Aber er hat mich immerhin wissen lassen, dass die Möglichkeit besteht, die Versiegelung nach unserem kleinen Gespräch hier aufzuheben. Dann können wir alle unsere Arbeit wieder aufnehmen.« Gedämpfter Applaus setzte ein. »Eines steht fest. In dieser Klinik muss so schnell wie möglich wieder der gewohnte Arbeitsablauf einkehren«, fügte Conway 179
rasch hinzu. »Und noch etwas. Die negative Publicity, die aus dem unglückseligen Vorfall resultierte, war nicht eben dazu angetan, das Vertrauen der Patientinnen zu fördern. Von der Auswirkung auf die Arbeitsmoral des Personals wollen wir gar nicht erst reden.« Conway legte eine bedeutungsvolle Pause ein und wandte sich halb zu McGrath um. »Erst heute Morgen bekam ich einen Anruf vom Gesundheitsminister. Er wollte wissen, was hier vor sich geht und weshalb wir nicht wie gewohnt arbeiten. Ich musste dem Herrn Minister berichten, dass die polizeilichen Untersuchungen unsere Bemühungen verzögern, den reibungslosen Klinikbetrieb wiederherzustellen.« Er drehte sich nun ganz zu McGrath um. »Ich übergebe das Wort nun an den Detective Inspector, der Ihnen etwas mitteilen möchte.« Conway setzte sich in die vorderste Reihe und wartete. Die Unterbrechung war sorgfältig kalkuliert. Eine Seitentür des Vortragssaals wurde besonders lautstark geöffnet. Alle Blicke huschten dorthin. Die Versammelten sahen Professor Patrick Armstrong in den Saal schreiten, gefolgt von einem kleineren, fassbäuchigen Mann in maßgeschneidertem Nadelstreifenanzug. In seiner Rechten hielt er eine ziemlich abgegriffene braune Aktentasche. Die beiden Herren schritten entschlossen vor das Podest und drängten sich auf der gegenüberliegenden Seite in die zweite Bankreihe. Andere rückten zusammen, um ihnen Platz zu machen. Armstrong richtete sich hoch auf. »Ich bedauere zutiefst, dass wir nicht pünktlich erscheinen konnten, aber der Verkehr hat uns aufgehalten. Ich bin Professor Patrick Armstrong, und dieser Herr«, er legte eine Hand auf die Schulter des Kleineren, »ist Peter Harrington von Harrington und Partner, den Anwälten der Klinik.« 180
Armstrong setzte sich. Harrington öffnete laut klickend die Schlösser seiner Aktentasche und kramte darin herum. Köpfe wandten sich ihm zu. Er brachte ein Diktiergerät zum Vorschein, schloss theatralisch ein Mikrofon daran an und richtete es nach vorn. Dann langte er flüchtig in seine Brusttasche, doch diese Bewegung diente lediglich dazu, eine Zeitschaltuhr zu aktivieren. Harrington und Partner verlangten hundert Pfund Honorar die Stunde. Und Harrington musste schließlich wissen, wie viel er am Schluss dieses kleinen Zwischenauftrags berechnen konnte. Da kommt einiges zusammen, dachte er zufrieden, während er sich zurücklehnte, um zu lauschen. McGrath begann. »Danke, Dr. Conway. Ich habe nicht die Absicht, die Einzelheiten dieser Ermittlung aufzuzählen. Die dürften Ihnen allen inzwischen bekannt sein. Aber dass ich mich zum ersten Mal in den vielen Jahren, die ich in der Abteilung für Gewaltverbrechen arbeite, einer solch ungewöhnlichen Mauer des Schweigens gegenübersehe, werde ich nicht stumm hinnehmen! Die freundlichen Bitten meiner Leute, einige von Ihnen befragen zu dürfen, wurden mit eisigem Schweigen beantwortet. Anrufe wurden nicht erwidert, Antworten verweigert, Informationen vorenthalten. Ich habe aus den Zeitungen mehr erfahren als von Ihnen.« Protest aus den Sitzreihen wurde laut. Ehe irgendjemand McGrath unterbrechen konnte, spielte dieser seinen Trumpf aus. »Wenn Sie möchten, kann ich den Rest des Jahres damit verbringen, jeden Zentimeter des Labors nach möglichen Spuren abzusuchen. Und es bleibt geschlossen, bis ich anders entscheide.« Der Protest aus den Reihen wuchs. Dean Lynch, der weit hinten saß, lächelte gelassen. Er schaute zu Kate Hamilton hinüber, 181
wandte jedoch rasch den Blick ab, als er bemerkte, dass sie in seine Richtung sah. McGrath hob Schweigen gebietend die Hand, doch das protestierende Murmeln hielt noch einige Minuten an. Den nächsten Zug hatte McGrath stundenlang überdacht. Es war ein Wagnis, doch es war an der Zeit für ein Vabanquespiel. Er griff in seine Jackentasche und holte einen länglichen braunen Umschlag heraus, aus dem er theatralisch ein gefaltetes Blatt Papier zog. Aller Augen ruhten nun auf ihm. McGrath öffnete das Papier, legte es auf das Pult und strich es glatt. »Vergangene Nacht erhielten wir eine ganz bestimmte Information.« Er hielt kurz inne. Nie hatte er ein aufmerksameres Publikum gehabt. »Während wir jetzt hier versammelt sind, wird diese Information überprüft. Sollte sie sich als richtig erweisen, können wir wahrscheinlich schon bald eine Verhaftung vornehmen.« Leise, erstaunte Ausrufe waren zu hören. Dean Lynch lächelte immer noch. Er hatte sich bereits den ersten Satz Kassetten geholt und wusste, was am Morgen in der Bibliothek besprochen worden war. McGrath bluffte. Er hatte absolut nichts in der Hand. McGrath fuhr rasch fort, entschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen. »Wir können jedoch nicht auf der Grundlage dieser Information vorgehen, ehe wir nicht jeden einzelnen männlichen Angehörigen der Belegschaft überprüft haben. Sie brauchen nur Ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zu beweisen, und ich lasse Ihr Labor wieder öffnen.« Er schob das Papier in den braunen Umschlag zurück und steckte beides wieder in die Jackentasche. Als der Saal sich leerte, zog Dowling McGrath zur Seite. »Was ist denn das für eine 182
Information, die du letzte Nacht bekommen hast?« »Gar keine. Das Einzige, was auf diesem Papier steht, ist die Essensbestellung von gestern.« Dowling ächzte. Um fünfzehn Uhr wurde das Labor freigegeben. Noch an diesem Nachmittag, um siebzehn Uhr dreißig, fand in der beeindruckenden Eingangshalle der Klinik eine hastig einberufene Pressekonferenz statt. Ein Fernsehteam von RTE, Radioreporter sowie Journalisten und Fotografen von Zeitungen und mehreren teuren Hochglanzillustrierten waren erschienen. Sogar das Hello-Magazin hatte einen Fotografen geschickt. Luke Conway betrat das Foyer als Erster und las von einem vorbereiteten Skript. »Meine Damen und Herren, ich möchte mich bedanken, dass Sie auf eine so knappe Ankündigung und trotz des bitterkalten Wetters gekommen sind. Doch wir möchten Ihnen nun die versprochene Gelegenheit bieten, das glückliche Paar... Verzeihung, die glückliche Familie zu sehen, ehe sie die Klinik verlässt.« Kameras surrten oder klickten, Blitzlichter flammten. Ein glückstrahlender Harry O'Brien erschien, der seine junge Frau in einem Rollstuhl schob. Sandras persönliche Schönheitsberaterin und ihr Hairstylist hatten sich fast den ganzen Vormittag mit ihr beschäftigt, und sie sah bildschön aus, wenngleich ein wenig angespannt. Ihr langes Haar war zurückgekämmt, was ihre hohen Wangenknochen, die vollen Lippen und das bezaubernde Lächeln hervorhob. Hier war Irlands berühmtestes Model, dessen Schönheit von der Schwangerschaft und der dramatischen Geburt nicht im Geringsten beeinträchtigt war. Ihnen folgte June Morrison mit Gordon O'Brien, der mitsamt seinen Kissen in einen breiten Schal aus Klöppelspitze gewickelt war. Sein 183
Gesichtchen und ein paar dünne Strähnen weichen blonden Haars schauten gerade noch heraus. June reichte das Baby seiner Mutter, und diese drehte sich den Kameras zu. Wieder zuckten Blitze, surrten und klickten Kameras. Dann stellte Harry O'Brien sich für das Familienporträt hinter den Rollstuhl. Die Fotografen vom Hello-Magazin legten neue Filme ein und verschossen weitere Rollen. Und dann begann das Fragen-Bombardement. Mit Humor und einem Lächeln beantwortete Harry O'Brien so viele Fragen, wie er nur konnte. Er war eine beeindruckende Gestalt und machte in seinem anthrazitgrauen Nadelstreifenanzug und der Krawatte mit weißen Punkten eine ausgezeichnete Figur. Sein krauses Haar war fast gebändigt, und aus seiner Brusttasche spitzte ein dunkelpinkfarbenes Seidentuch. Man sah Big Harry an, dass er alles unter Kontrolle hatte. Beim Sprechen behielt er beide Hände auf der Rückenlehne des Rollstuhls. Nein, Sandra und Gordon verließen die Klinik nicht wegen der polizeilichen Ermittlungen schon jetzt. Der Wetterbericht sei nicht sehr erfreulich, und er wolle seine Frau und seinen Sohn zu Hause haben, falls und bevor es schneite. Nein, er habe sich nicht deshalb dazu entschlossen, seine Familie jetzt schon nach Hause zu holen, weil er um ihre Sicherheit besorgt sei. Ja, er habe volles Vertrauen in das Personal der Zentralentbindungsklinik. Nahm er nicht zur Entlastung Sandras eine Schwester mit nach Wicklew, die ihr helfen solle, sich um den kleinen Gordon zu kümmern? Er zog June Morrison zu sich heran, und wieder erhellten Blitze das Foyer. June lächelte für die Kameras. Ja, er sei überglücklich, wieder Vater zu sein. Vor Freude, wieder 184
eine Familie zu haben, könne er die ganze Welt umarmen. Er lächelte Sandra strahlend an, und das Lächeln, mit dem sie Big Harry bedachte, war umwerfend. Die Fotografen drängten einander zur Seite, um sich nur ja nichts entgehen zu lassen. Ja, er sei zutiefst dankbar für alles, was in der Zentralentbindungsklinik für ihn und Sandra und jetzt auch für den kleinen Gordon getan worden sei. Vor allem würde er nie vergessen, wie rasch das Personal die rettenden Entscheidungen getroffen und blitzschnell gehandelt habe, als Gordon in Schwierigkeiten geraten sei. Big Harry bedankte sich ganz besonders bei Dr. Tom Morgan, der Sandra während ihrer Schwangerschaft so aufopferungsvoll betreut habe. Morgan erschien hinter einer kleinen Gruppe Zuschauer und schüttelte O'Briens Prankenhand. Wieder flackerten Blitzlichter. Tom Morgan sah so gut aus, dass er Sandra O'Brien beinahe die Schau stahl. Dr. Dean Lynch wurde nicht erwähnt. Und Harry wollte auch dem pädiatrischen Team danken, das eine so wichtige Rolle bei der Geburt seines Sohnes gespielt hatte. Der hoch gewachsene Paddy Holland schloss sich kurz der Gruppe an, damit die Fotografen eine Aufnahme schießen konnten. Er strich durch sein kurzes dunkles Haar und rückte seine Brille zurecht, um ein bisschen ansehnlicher auszuschauen. Der ganze Rummel schien Holland verlegen zu machen, und so schnell er konnte, zog er sich wieder in den Hintergrund zurück. Mit einer abschließenden Dankesbezeugung an alle Anwesenden, einem Winken und nachdem er noch für ein paar Bilder posiert hatte, schob Harry O'Brien seine Frau und ihr vier Tage altes Baby durch die Korridore und hinaus zum wartenden Mercedes. June Morrison würde im Range Rover folgen, den Theo 185
Dempsey fuhr. Dempsey empfand während der einstündigen Fahrt von Dublin nach Wicklow, hinter dem Wagen seines Chefs, unsägliche Erleichterung. Er hatte sich große Sorgen um Sandras Schutz in der Klinik gemacht, nachdem er von dem Mord an der Schwester gehört hatte. In Wicklow war es viel sicherer.
Es war die letzte Besprechung des Tages. Inzwischen war jeder männliche Angehörige der Klinikbelegschaft vernommen worden. Acht hatten keine Alibis für den Abend des Dienstag, den 11. Februar 1997, darunter fünf Ärzte und drei Mitarbeiter des Dienstpersonals. Zwei der Ärzte waren Dr. Dean Lynch und Dr. Tom Morgan. Der Detective, der Morgans Aussage überprüft hatte, war nicht gerade glücklich darüber. »Er ist ein verschlagener Bursche. Hat versucht, unseren Fragen auszuweichen. Drückte sich um die Antworten herum. Behauptete, im Kino gewesen zu sein. >Allein?RisikomanagementOperation Sturm auf die Barrikaden< gegeben«, erklärte er triumphierend. Nolan verbrachte den Rest der Nacht zusammengekauert in einem engen Lieferwagen in der Nähe der Mansions. Er hatte drei Kameras bei sich, zwei mit 639
Teleobjektiven, und genügend Film, um einen kleinen Krieg zu dokumentieren. Kurz zuvor hatte er mit dem Boston Globe bereits
ein
fettes
Honorar
für
eine
Exklusivreportage
ausgehandelt. Joan Armstrong lag hellwach in ihrem Zimmer im Dubliner Vorort Sandymount. Die Einstichspuren an ihren Armen waren schwerer zu verbergen, als sie dachte. Sie hatte das Telefon nicht benutzen können, ohne dass jemand sie gehört hätte. Am Abend hatte Tony Molloy angerufen. Seine abschließenden Worte machten ihr sehr zu schaffen. »Vielleicht ist da etwas, das Sie vergessen haben, Joan? Ich werde morgen noch einmal vorbeikommen. Könnte ja sein, dass Sie sich bis dahin erinnern, egal, wie unwichtig es Ihnen erscheinen mag. Okay?« Sie hatte ihren durchgeschwitzten Schlafanzug bereits zweimal gewechselt, dabei war die Nacht zur Abwechslung mal wieder ziemlich kühl. Micko Kelly schlief in seinem von Ungeziefer wimmelnden Zimmer in Hillcourt Mansions. Ungewöhnliche und beunruhigende Träume störten seinen Schlaf. Er warf sich auf seiner Matratze hin und her. Im Drogenrausch verfolgten ihn Feuer speiende Ungeheuer, die versuchten, seine Arme und Beine zu erwischen. Er schrie um Hilfe. Seine blutbefleckten Joggingschuhe und das noch blutigere ehemals weiße T-Shirt lagen unberührt in einer Ecke. Wenn Hillcourt Mansions in Flammen aufgegangen wäre, hätte es Micko gar nicht gleichgültiger sein können. Der Drache hatte Micko fest im Griff.
In New York, der Stadt, die nie schläft, stiegen nach dem unerwarteten Großeinstieg eines unbekannten europäischen Käufers 640
die Aktien von Cynx Pharmaceuticals von 17,22 auf 19,04 USDollar.
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Donnerstag, 14. Mai 5.30 Uhr »Operation Sturm auf die Barrikaden« »Vergesst nicht, die Junkies werden euch mit Injektionsspritzen attackieren. Diese Schutzhandschuhe wurden entwickelt, um Verletzungen an den Händen zu vermeiden. Ein unentbehrlicher Teil der Ausrüstung.« Tony Molloy sprach auf dem kleinen Hof des Polizeihauptquartiers zu den sechsundzwanzig Männern des Einsatzkommandos. Das düstere Licht des Morgengrauens verbreitete sich allmählich über die aus der georgianischen Zeit stammenden Häuser. Lieferwagen waren schon mit den noch druckfeuchten Morgenzeitungen unterwegs. Der Geruch von geröstetem Malz aus der Guinness-Brauerei hing in der stillen, kalten Morgenluft. Entfernte Alarmanlagen und bellende Hunde übertrafen sich darin, die noch Schlafenden aufzuwecken. »Wir haben auch nadelsichere Jacken und Leggings. Sie jucken, aber ihr müsst sie ja nicht lange anbehalten.« Molloy betrachtete seine Leute. Sie sehen wirklich beeindruckend aus, fast ein wenig Furcht einflößend, dachte er. Die meisten waren stämmig und trugen einen Bürstenhaarschnitt. Ihre Mienen waren einschüchternd. Alle waren über eins achtzig, darauf hatte er geachtet. Zehn kamen vom Elite-Rangers-Kommando und waren im Antiterroreinsatz und in der Bekämpfung von Straßenunruhen ausgebildet. Diese zehn würden sich in zwei Fünfergruppen auf641
teilen. Die ersten fünf sollten Hillcourt Mansions betreten, um sich Micko Kelly zu holen, die übrigen fünf würden den Wohnungskomplex von außen bewachen. Die anderen Männer des Einsatzkommandos sollten sich auf strategische Punkte in den Treppenhäusern verteilen und niemanden vorbeilassen. Molloy wollte kein Handgemenge, bei dem seine Männer mit jeder nur vorstellbaren Waffe angegriffen werden konnten. „Sobald wir den Innenhof betreten, befinden wir uns auf Feindgebiet, das dürft ihr mir glauben. Ich will keine Rambo-Touren, keine Einschüchterungsversuche, keine Provokationen, legt euch mit keinem der Typen dort an. Unser Job ist, Kelly zu schnappen, nichts weiter.« Sein Blick wanderte über die unbewegten Gesichter der Männer. Er wusste genau, dass einige sich den menschlichen Abschaum nur zu gern vornehmen würden. Sie befanden sich in einem solchen Erregungszustand, dass sie jede feindliche Kaserne gestürmt hätten, nur um ihrer aufgestauten Aggression Luft zu machen. »Kelly darf nicht verwundet werden. Ich möchte einen Mann tür jeden Arm und jedes Bein und einen für seinen Kopf. Seht zu, dass er nicht beißt. Wenn der Kerl in die Enge getrieben wird, reagiert er wie ein tollwütiger Hund. Tragt ihn mit dem Gesicht nach unten. Stopft ihm nichts in den Mund, um zu verhindern, dass er wie ein Verrückter schreit. Er wird umgehend in Verwahrung genommen und dann pausenlos verhört.« Die kalte Luft legte sich beim Reden auf seine Lippen. Ihm entging der beschleunigte Atem seiner Männer nicht. Je mehr er redete, desto unruhiger schienen sie. Ihm wurde klar, dass sie direkt darauf brannten, ihren Job zu erledigen. »Ich sage es noch einmal, es ist sehr wichtig, dass er unverletzt 642
bleibt.« Niemand sprach. »Er wird den Medien vorgeführt werden, es dürfen also nicht die geringsten Spuren von Gewaltanwendung an ihm erkennbar sein.« Der Trupp hörte schweigend zu. »Sobald er draußen ist, werden Männer der Spurensicherung das Haus betreten und alle Beweismittel sicherstellen. Wir brauchen Beweise, verstanden? Auch das scheinbar unbedeutendste Indiz kann entscheidend sein.« Die Männer nickten stumm. »Okay«, fuhr Molloy fort. »Schlüpft in die Schutzkleidung. Wir brechen um Punkt sechs hier auf.« Er blickte auf seine Uhr und bedeutete den Männern, dasselbe zu tun. Im dämmernden Morgenlicht wurden siebenundzwanzig Armbanduhren einheitlich auf fünf Uhr achtundvierzig gestellt. Sechsundzwanzig Männer begaben sich in eine Übungshalle und machten sich daran, die Schutzkleidung überzuziehen. Nicht ein Wort wurde gewechselt, keiner blickte den anderen an. Die Stille war fast Furcht erregend. Molloy murmelte in ein Walkie-Talkie, und nur wenige Minuten später rollten vier schwarze Kleinbusse heran, deren Fenster mit Maschendraht verstärkt waren. Die weiße Markierung »POLICE« hob sich grell von beiden Seiten und dem Dach ab. Vier Fahrer sprangen wie auf Kommando vom Fahrersitz und öffneten die seitlichen Schiebetüren, die so gut geölt waren, dass es absolut geräuschlos vonstatten ging. »Okay, gehen wirs an«, befahl Molloy, und die Gruppe teilte sich auf. Die Visiere der schwarzen Schutzhelme waren einstweilen noch hochgeklappt. Alle trugen kugelsichere Westen sowie Jacken und Leggings, die aus einem besonderen Material hergestellt waren, das Schutz gegen als Waffen eingesetzte Injek643
tionsspritzen bot. In die schwarzen Spezialhandschuhe würden sie erst beim Aussteigen schlüpfen.
6.00 Uhr Die Türen schlossen sich, und die vier Kleinbusse fuhren hinaus auf die Harcourt Street, wo Jim Clarke auf dem Rücksitz seines neutralen Streifenwagens saß. Die Beifahrertür stand weit offen. Tony Molloy kam herbeigerannt und schwang sich auf den Sitz neben Kavanagh, der den Wagen hinter die Kolonne lenkte. »Sie sind bereit«, erklärte er grimmig, »und können es kaum erwarten, zuzuschlagen.« Clarke beugte sich vor, sein Bein hatte er seitwärts gestreckt, was momentan etwas bequemer war. »Sie haben sie doch gewarnt, nicht handgreiflich zu werden?« Molloy drehte sich nicht um, sein Blick ruhte auf dem schwarzen Kleinbus, der vor ihnen fuhr. »Keine Angst, das habe ich. Sie wissen genau, was sie tun müssen. Wir werden das Ganze in zehn Minuten hinter uns bringen«, versprach er. »Zehn Minuten.« Die kleine Kolonne raste durch die verlassenen Straßen, am St. Stephen's Green entlang und die Dawson Street hinunter, vorbei am Mansion House. Tauben und Elstern, die sich vor offenen Mülltonnen um Essensabfälle stritten, flatterten erschrocken auf. Clarke hatte seit Jahren keinen solchen Adrenalinkick verspürt und umklammerte den Türgriff. Im Rückspiegel konnte er Molloys besorgtes Stirnrunzeln sehen. Er wandte sich der Straße zu. An geschlossenen Ladenfronten vorbei bog die Kolonne in die Nassau Street, wo sich ihnen der schwarze Wagen mit dem 644
Team des Gerichtsmedizinischen Instituts anschloss, und beschleunigte in Richtung Hillcourt Mansions das Tempo.
6.15 Uhr Da zu dieser Morgenstunde nur wenig Verkehr herrschte, erreichten sie die Einfahrt der Hillcourt Mansions ohne Verzögerung. Die Motoren wurden abgeschaltet, und die Kolonne rollte lautlos in den menschenleeren Innenhof. Unrat lag herum, weggeworfene Pizzaschachteln, leere Getränkedosen und Flaschen. Folien, Papierbeutel und leere Drogenpackungen flatterten im Luftzug herum. Der Hof war an drei Seiten von verwahrlosten Mietshäusern umgeben, deren Wände mit Graffiti verschmiert waren. Die Treppenaufgänge befanden sich an beiden Enden. Nichts rührte sich entlang der Korridore, die Junkies schliefen entweder oder waren stoned.
6.18 Uhr Die Bustüren glitten auf, und das Einsatzkommando sprang heraus. Clarke beobachtete die Aktion aus der Sicherheit seines Wagens, der quer in der Einfahrt geparkt war, um mögliche Fluchtversuche zu verhindern. Rasch ließ er das Fenster herunter, damit durch seinen Atem nicht die
Scheibe beschlug.
Sechsundzwanzig schwarz gekleidete Gestalten rasten über den Betonboden zu den ihnen zugeteilten Positionen. Die RangersKommando-Einheit befand sich an der Spitze, und die vorderen fünf hatten bereits den Treppenabsatz im zweiten Stock erreicht. Im Laufen lasen sie jede Türnummer. Einer blieb plötzlich stehen und winkte seine Kameraden herbei. Sie hatten ihr Einsatzziel 645
erreicht. Am Abend hatte jemand Micko Kellys Aufenthaltsort verraten - für zwanzig Pfund, weniger, als er durchschnittlich für einen Schuss ausgab. Als die Tür aus ihren Angeln flog, begann der erste Mülldeckelalarm. 6.23 Uhr Kelly war schon wach. Er saß halb aufgerichtet auf seiner Matratze und fummelte nach einem Fix. Die ganze Nacht hindurch hatte er in seinen Wachträumen gegen Dämonen gekämpft und verloren. In seinem Gehirn herrschte Aufruhr. Er war zittrig und aufgeputscht. Seine Augen schienen nicht im Stande zu sein, den herumliegenden Unrat wahrzunehmen. Er fühlte sich unsichtbar. Schwerfällig hob er eine Hand und bewegte sie vor seinen Augen. Er konnte sie nicht sehen. Scheiße. Ich bin unsichtbar. Er hörte den plötzlichen Lärm, als die Wohnungstür nach innen krachte. Wie aus weiter Ferne vernahm er fast gleichzeitig das schrille Gekreische des Drogenbabys und die Verwünschungen der Junkiemutter, als sie versuchte, die Wohnungstür mit ihrem ausgemergelten Körper zu versperren. Micko kramte nach einem Messer, konnte jedoch keines finden. Die Dämonen waren zurück, gewaltiger denn je. Sie befanden sich im Zimmer und kamen auf ihn zu. In einer Mischung aus hilflosem Grauen und angsterfüllter Faszination beobachtete er, wie die dunkel gekleideten Gestalten näher kamen. Er starrte auf die schwarz uniformierten Arme und schwarz verhüllten Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Aber Kelly fühlte sich unsichtbar. Sie können mich nicht sehen, sie können mich nicht packen, ich bin unsichtbar! Er fing zu grinsen an. Es war das dumme Grinsen eines Mannes, der sich nicht sicher ist, was als Nächstes geschieht, und der glaubt, dass es nicht ihm passieren kann. Der 646
es hofft. Die erste Hand, die sich um seinen Arm legte, erschreckte ihn bis ins Innerste. Er fing zu brüllen an.
6.25 Uhr »Packt den Bastard!« Zwei Mann des Ranger-Kommandos zogen seinen Kopf an den langen, fettigen Haaren brutal nach hinten. Zwei Augenpaare spähten durch geschlossene Visiere. »Maul halten, oder du kriegst eins über den Schädel.« Während seine Schreie die Junkies in den Nachbarwohnungen und im tiefer liegenden Stockwerk weckten, spürte Kelly, wie sein Körper mit Gewalt herumgedreht wurde, bis sein Gesicht auf dem Boden lag. Über die eingetretene Wohnungstür hinweg schleppte man ihn hinaus auf den äußeren Korridor. Die Junkiemutter wurde umgeworfen, und schwere Stiefel trampelten über sie drüber. Eine grobe Hand beendete ihre schrillen Verwünschungen. Einer stieß sie in eine Toilette und verschloss die Tür. Während man Kelly in die Morgendämmerung trug, schoben sich die Männer der Spurensicherung mit Säcken für Beweismittel an dem Trupp vorbei ins Innere. Die zweite Hälfte des Ranger-Kommandos schloss sich zu ihrem Schutz an.
6.37 Uhr Als die Bewohner des Hauses sich auf die Korridore wagten, rissen sie die Augen auf. Sie konnten nicht begreifen, was hier vor sich ging. Es war, als würden zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinander treffen. Auf der einen Seite die riesenhaften, stämmigen Polizisten des Sondereinsatzkommandos, die mit ihrer dunklen Schutzkleidung, den geschlossenen Helmvisieren 647
und den Schlagstöcken in den Händen an Furcht erregende Wesen von einem anderen Planeten erinnerten. Auf der anderen Seite sie, die verwahrlosten Junkies mit ihren ausgemergelten Gesichtern, der verwahrlosten Kleidung und den verwirrten Mienen. Dann endlich begriffen sie, was gerade vor sich ging. Das war eine Razzia! Köpfe beugten sich über das Geländer und beobachteten, wie Micko Kelly durch den Hof geschleppt wurde. Sechs schwarz gekleidete Männer des Einsatzkommandos boten Geleitschutz. Ihre Bewegungen wirkten ruckartig. Inzwischen war eine kleine Schar von Bewohnern auf den Hof gestürzt. Sie stießen Verwünschungen hervor, Steine flogen, und der Krach des Mülldeckelalarms trieb die Menge an. Zum ersten Zwischenfall war es bereits gekommen, als einer der Mutigeren sich an den Trupp heranmachte, der zum Schutz des Spurensicherungsteams abgestellt war. Ein Schlagstock traf seinen Kopf. Blut floss, und Flüche hallten durch das Geviert. Das Geheul lockte weitere Junkies auf den Hof, und innerhalb kürzester Zeit kam es zum Handgemenge. Mit den Beweismitteln in Plastiksäcken eilten die Männer von der Spurensicherung zum Treppenabsatz und ihren Kameraden zu Hilfe. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg die Treppe hinunter und wichen Steinen und Flaschen aus, mit denen sie bombardiert wurden. Mehrmals gingen Türen auf, und Hände stachen mit schmutzigen Injektionsspritzen zu. Nichts drang auf die Haut durch. Auch wenn die Schutzanzüge von Klingen aufgeschlitzt wurden und man an ihnen zerrte, hielt doch der Nadelschutz darunter allen Angriffen stand. Rasch erreichten sie den Hof und duckten sich für den letzten Sprint über den Albtraum aus Beton. 648
»Los!«, drängte Molloy durch ein Megafon. »Alle zurück in die Busse!« Mit Hilfe der Schlagstöcke zogen die schwarz Gekleideten sich vor dem tobenden Mob zurück. Aufruhr herrschte ringsum, das Blut kochte. Die Mülltonnendeckel klapperten weiterhin im Dschungelrhythmus, immer mehr Steine und Flaschen flogen durch die Luft. Der Hof war zum Schlachtfeld geworden. Das Einsatzkommando sah wütende Blicke aus blutunterlaufenen Augen auf sich gerichtet. Tödliche Klingen und Injektionsspritzen bedrohten sie. Als plötzlich die Hupen der Einsatzfahrzeuge ertönten, kehrte für einen kurzen Augenblick so etwas wie Ruhe ein, und die Polizisten konnten sich in den Bussen in Sicherheit bringen.
Sechsunddreißig
Minuten,
nachdem
die
Türen
aufgeglitten waren, schlossen sie sich wieder, und die kleine Kolonne setzte sich durch die Ausfahrt in Bewegung, weg von der brüllenden Meute.
6.54 Uhr Micko Kelly wurde über seine Rechte belehrt und offiziell verhaftet. Er verstand nicht ein Wort von dem, was gesagt wurde. Die Kolonne brauste mit Sirenengeheul durch den Frühmorgenverkehr und verursachte in der City ein beträchtliches Verkehrschaos. Einer der Männer hielt eine volle, noch ungeöffnete Dose Bier in der Hand. »Himmel«, er schüttelte den Kopf, »wenn sie mit vollen Dosen gegen uns
vorgegangen sind, waren sie wirklich total
ausgerastet.« Die anderen grinsten. An einem vorher vereinbarten Punkt lösten sich ein Bus und ein Wagen aus der Kolonne und fuhren zur 649
Haftanstalt. Im Bus lag der völlig benommene, verängstigte und am ganzen Körper zitternde Micko Kelly mit dem Gesicht auf dem Boden und fragte sich: Wie zum Teufel konnten sie mich erwischen, ich bin doch unsichtbar? Grobe, kräftige Hände hielten seine Füße, seine Arme und seinen Kopf fest. Nicht ein einziges Mal stieß er sich auf der mit Schlaglöchern übersäten Straße die Stirn an, das verhinderte der schraubstockgleiche Griff um seinen Nacken. Scheiße, was geht hier vor? Kurz nach acht Uhr am Donnerstagmorgen, 14. Mai, während strahlender Sonnenschein die Laune in der Stadt verbesserte, wurde Kelly grob in eine Einzelzelle im zweiten Stock des Bridewell Gefängnisses gestoßen. Die Zelle war zuvor ausgeräumt worden, und nicht einmal eine Decke oder ein Kissen hatte man zurückgelassen. Nachdem die Tür zugeschlagen worden war, kroch Kelly in eine Ecke und sackte auf seinen Hintern. Er zog die Knie an und stützte sein Kinn darauf. Die Arme verschränkte er mühsam über dem Kopf und zog sie fest herunter. Er zitterte und war übernervös. Schweiß klebte überall an seinem Körper. Er konnte seinen eigenen Geruch nicht mehr ertragen. Seine Zähne klapperten. Entzugserscheinungen stellten sich ein. Schmerz nagte an seinen Eingeweiden. Jimmy, wo bist du? Ich brauch Stoff, ganz schnell! Halt mich nicht hin, Jimmy. Scheiße. Ich brauch unbedingt einen Schuss! Hast du Scag? Aber da war kein Jimmy. Da waren nur die Stille der Zelle und die Qual seines drogenzerfressenen Hirns. Micko Kelly war in gewaltigen Schwierigkeiten. Wieder einmal.
»Ich möchte mit Arnie Leeson sprechen.« Jim Clarke stand am Empfang des Instituts für Rechtsmedizin im Dubliner Phoenix 650
Park. Er war den Jungs von der Spurensicherung wie ein Bluthund gefolgt und hatte sie nicht aus den Augen gelassen. »Sie sind aber früh auf«, stellte Arnold Leeson fest, der Gerichtsmediziner und Direktor des Instituts, ein hoch gewachsener, schlanker Mann in weißem Kittel, dessen Brusttasche mit Zetteln und Kugelschreibern voll gestopft war. Sein sich lichtendes Haar war gleichmäßig grau. Er blickte zu den erregten Männern und sagte sich, dass jetzt nicht die richtige Zeit für Höflichkeitsfloskeln war. »Was ist los?« Seine zuvor fast heitere Stimme wurde brummig. »Was ist in den Säcken?« Die Laboratorien des Instituts für Rechtsmedizin beanspruchten eine Etage in einem neuen Bürogebäude neben alten viktorianischen Häusern. Helles Tageslicht fiel durch die Fenster, durch die man auf Kinderspielplätze
schaute.
Jede
Abteilung
hatte
eigene
Funktionen. Eine war für Drogen zuständig, eine andere für Schusswaffen, wieder andere, um anhand von Fasern, Blut- und Gewebespuren Anhaltspunkte zu finden und auszuwerten. Als Clarke dem Team den Korridor entlang folgte, sah er an vielen Stellen Säcke und andere Behälter herumstehen, die Beweismittel enthielten. Schließlich erreichten sie eine verschlossene Tür, die rasch aufgesperrt wurde. Dahinter befand sich ein kleines, gut beleuchtetes Zimmer mit mehreren Labortischen. Auf einem war Jennifer Marks' Kleidung ausgebreitet und mit Anhängern versehen, auf denen die Fallnummer stand. Auf der rechten Seite hatte man ein wenig Platz gelassen, um Notizen machen zu können. Dort stand auch ein Diktafon. Eine geöffnete Schachtel mit Latexhandschuhen stand in einer Ecke. Ein Handschuhfinger ragte heraus und schien herausfordernd auf irgendetwas zu 651
deuten. Clarke sah rasch die Kleidung durch, dann verließ er das Zimmer und verschloss es wieder. Ein Stück weiter wartete ein einstweilen noch unbenutztes Zimmer auf Kellys Sachen. Dort hinein wurden die Beweismittelsäcke geschafft, dann wurde ihre Versiegelung aufgebrochen. „Ich möchte die Kleidung einschließlich der Schuhe sehen«, forderte Clarke. Ein blutbeflecktes T-Shirt wurde auf einen Labortisch gelegt, ihm folgten die Hose eines Jogginganzugs und schließlich zwei Paar Joggingschuhe. Auf dem einen Paar waren unverkennbar Blutflecken. »Wann kann ich das DNS-Profil haben?« »In einer Woche, vielleicht einen Tag früher, wenn ich diese Untersuchung vorziehe«, antwortete Leeson. »Ziehen Sie sie vor!« Clarke blickte auf drei Beweismittelzylinder aus Pappe. »Öffnen Sie diese Dinger da.« Die Siegel an den Zylindern wurden gebrochen, und drei Klingen glitten auf den Labortisch. Bei einer handelte es sich um ein langes Bowiemesser mit breiter Klinge, bei der zweiten um ein schmaleres Stilett, bei der dritten um ein Schnappmesser mit Perlmuttgriff. An dem Stilett klebte altes Blut. »Ah, ein Connaisseur«, brummte Leeson. »Was hat er denn angestellt?« Clarke antwortete nicht. Er betrachtete eingehend die Kleidung, vor allem die Schuhe, und stellte sich vor, wie sie einige Monate später im Gerichtssaal als Beweismittel vorgelegt würden. Leeson ließ nicht locker. »Was hat er denn angestellt?« »Mord«, murmelte Clarke schließlich. »Wir haben ihn wegen des Mordes an dem Marks-Mädchen festgenommen.« Leesons Brauen schossen hoch. »Der Chirurgentochter?« Clarke 652
nickte. »Dafür wird er lebenslänglich brummen!« Nun hatte die allgemeine Aufregung auch Leeson erfasst. »Wenn es nach John Regan ginge, würde er hängen.« Clarke schürzte nachdenklich die Lippen. »Wir müssen ganz sichergehen, dass wir auch wirklich den Richtigen haben, Arnie.« Leeson deutete mit einem Kugelschreiber auf das blutbefleckte T-Shirt und die Schuhe. »Es ist alles da. Wenn die DNS stimmt, haben Sie ihn.« Clarke runzelte die Stirn. »Könnten Sie schon heute damit anfangen?« Leeson protestierte. »Es wartet schon eine Unmenge Arbeit auf mich.« »Ich weiß«, versuchte Clarke ihn zu beruhigen. »Aber nichts, was solche Wellen schlagen wird.« »Wie ist es gegangen, Chef?« Moss Kavanagh wartete neben dem Lift. »Fein«, log Clarke. »Wir brauchen nur das DNS-Ergebnis.« Er wandte, von Zweifeln gequält, den Blick ab. Er hatte keine Spinnweben an Micko Kellys Jogginghose haften sehen. Er hoffte, im Labor würde man welche finden.
15
8.33 Uhr Dr. Frank Clancy war wütend, seit er sich auf dem Schreibtisch in seinem Sprechzimmer im dritten Stock des Mercy Hospitals umgesehen hatte. »Was soll das heißen, dass Sie sie nicht finden können?«, bellte 653
er das Mädchen vom Archiv übers Telefon an, nachdem er die Notiz vor sich gelesen hatte: KRANKENAKTEN DER PATIENTEN MARY HYLAND (115CD346) UND JAMES MURPHY (224CD579) SIND NICHT AUFZUFINDEN. »Es tut mir sehr Leid, Dr. Clancy«, antwortete eine Mädchenstimme verlegen. »Wir haben überall gesucht. Sie sind nicht, wo sie sein müssten.« Clancy holte tief Luft. Reiß dich zusammen, mit Brüllen erreichst du gar nichts, ermahnte er sich. »Haben Sie denn auch wirklich dort nachgesehen, wo die Krankenakten der hier Verstorbenen abgelegt sind?«, fragte er, diesmal in ruhigerem Ton. »Sie wissen, dass beide Patienten tot sind?« »O ja. Ich war den ganzen Morgen im Archiv«, versicherte ihm die verlegene Stimme. »Seit ich zur Frühschicht kam.« »Nun«, meinte Clancy betont ruhig, »vielleicht wurden sie nie dorthin gebracht. Vielleicht befinden sie sich noch zwischen den Krankenblättern unserer derzeitigen Patienten?« »Dort habe ich nachgesehen, Dr. Clancy. Da sind sie aber auch nicht.« Die Stimme klang jetzt fester. »Die Computersuche ergab, dass sie ohne Zweifel unter VERSTORBEN eingetragen und abgelegt wurden. Aber die Krankenakten sind weder in der einen noch in der anderen Abteilung.« Clancy dachte darüber nach. »Möglicherweise aus Versehen irgendwo anders abgelegt?«, fragte er, noch mit einer Spur Hoffnung. »Wir suchen überall, Dr. Clancy, das dürfen Sie mir glauben. So etwas ist noch nie vorgekommen.« Die Stimme klang ehrlich besorgt. »Es ist sehr merkwürdig.« Clancy versuchte es mit einer letzten verzweifelten Überlegung. 654
»Vielleicht hat jemand sich die Akten geholt?« »Das nehmen wir auch an. Aber die Ausleihbestimmungen sind außerordentlich streng geregelt.« »Ja«, brummte Clancy, »das weiß ich.« Wie jedes medizinische Institut hatte das Mercy Hospital narrensichere Bestimmungen, was den Einblick in Patientenakten oder gar ihre Entnahme betraf. Wegen möglicher Schadensersatzprozesse wurden solche Unterlagen nie vernichtet. Die über zehn Jahre alten Akten oder solche ohne zusätzliche Eintragungen während dieser Zeitspanne sowie die von verstorbenen ehemaligen Patienten wurden in einem extra konstruierten Anbau an der Rückseite des Krankenhauses aufbewahrt. Die Lufttemperatur in dieser Abteilung wurde elektronisch überwacht, um Feuchtigkeit und Zerfall zu verhindern. Es war vorgekommen, dass Anwälte, die sich mit früheren medizinischen Kunstfehlern befassten, bis zu zwanzig Jahre alte Unterlagen angefordert hatten. Es machte vor Gericht keinen guten Eindruck, wenn man eine Akte gar nicht vorlegen konnte oder nur eine, die auf Grund ihres Zustands so gut wie unbrauchbar war. Alle Akten wurden gewissenhaft gelagert. Zugang zu alten Unterlagen und vor allem zu den Akten Verstorbener gab es nur mit einem genehmigten Antrag. Der Ausleiher musste dafür unterschreiben, und die Akte wurde bei Rückgabe gewissenhaft überprüft. Alle Seiten wurden nummeriert und mit einem Stempel versehen. Daher war es so gut wie unmöglich, Änderungen vorzunehmen, um vielleicht wegen eines befürchteten Prozesses ein besseres Licht auf die Behandlung oder den Operationsvorgang zu werfen. Clancy wusste,
dass
außerhalb
der üblichen
Dienststunden
nur
Stationsleiter Zugang zu den Schlüsseln für den Anbau hatten. 655
»Suchen Sie weiter«, befahl er und legte auf. Bald darauf kam weiterer Ärger auf ihn zu. »Ich verstehe es einfach nicht, Herr Doktor. Ich bin ganz sicher, dass ich Harrys sämtliche Tabletten im Apothekenschränkchen eingeschlossen hatte.« Harold Morells tüchtige Frau stand an der Tür und versuchte den Verlust zu erklären. Clancy hörte ihr mit wachsender Bestürzung zu. »Ich weiß, dass ich bis zu seinem nächsten Besuch in der Klinik genügend Tabletten vorrätig hatte, ich weiß es ganz genau!« »Wann wäre er fällig gewesen?«, erkundigte sich Clancy. Mrs. Morell brachte ein schwarzes Notizbüchlein zum Vorschein und blickte auf eine der eselsohrigen Seiten. »Nächsten Monat, am Freitag, dem zwölften Juni, um zehn Uhr«, las sie laut. »In der Kardiologischen Ambulanz von Frau Dr. Speer. Sie gibt die Pillen selbst aus.« Clancy merkte auf. »Sie gibt die Tabletten selbst aus?« Seine Stimme hob sich. Er wusste, dass die Medikamente, die man sich im Krankenhaus abholen konnte, nur aus der hauseigenen Apotheke im Erdgeschoss kamen. »O ja. Für die rosa-blauen Anginakapseln gibt sie uns immer ein Rezept, und wir holen sie uns bei unserem Apotheker, aber die kleinen blauen Tabletten bekommen wir hier von ihr. Immer nur genug für zwei Wochen. Alle vierzehn Tage gehe ich selber zu ihr und hole mir die Ration für die nächsten zwei Wochen.« Clancy saß hoch aufgerichtet und hörte aufmerksam zu. Außer ihm und Mrs. Morell befand sich niemand in seinem Sprechzimmer. »Und«, vergewisserte er sich so gleichmütig, wie er nur vortäuschen konnte, »von wem erhalten Sie dann die Tabletten?« „Von Dr. Speer höchstpersönlich. Sie ist eine so nette Dame, 656
nicht wahr? Nicht wie so manche andere Ärzte hier.« Mrs. Morell schaute sich verschwörerisch um und flüsterte: »Manche bilden sich ein, sie seien der liebe Herrgott selber. Aber nicht Dr. Speer, nein, sie ist eine echte Dame!« »Ja«, murmelte Clancy mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Wahrhaftig eine echte Dame.« »Deshalb geht es mir ja einfach nicht in den Kopf, Herr Doktor«, klagte Mrs. Morell. »Ich weiß genau, dass ich genügend vorrätig gehabt habe. Aber als ich nachgeschaut habe, waren sie nicht mehr da!« »Sie könnten sie nicht versehentlich woanders aufbewahrt haben?« Clancy fragte nur vorsichtshalber, obwohl er es selbst nicht glaubte. »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich tue sie nie woanders hin!« Die Frau drückte besorgt ihre Handtasche an sich. Nachdem Mrs. Morell gegangen war, wandte Clarke sich seinem Bildschirm zu und begann auf der Tastatur zu tippen. Er holte sich die Datei über Mary Hyland und sah als Erstes, dass sie tatsächlich als verstorben eingetragen war. Danach suchte er nach ihre persönlichen Daten und notierte sich ihre letzte Adresse, Telefonnummer und ihren nächsten Angehörigen. Er rollte die Datei auf dem Schirm herunter und las, dass sie schon vor vierunddreißig
Jahren
mit
neunundzwanzig
wegen
eines
Ausschlags zum ersten Mal in eines der jetzt dem Mercy Hospital angeschlossenen Krankenhäuser gekommen war. In ihren Fünfzigern war sie wegen einer Gallenblaseninfektion wieder dort gewesen. Man hatte ihr mit Antibiotika helfen können und sie nicht operieren müssen. Zwölf Jahre später kam sie wegen Schmerzen in der Brust, »besonders bei Anstrengungen«, dies657
mal ins neue Mercy Hospital. Das sollte ihr vorletzter Krankenhausbesuch werden. Sie wurde in die neu eröffnete Herzstation überwiesen und von Dr. Linda Speer behandelt. Was von da an geschah, konnte Clancy am Schirm nicht näher feststellen. Nur grundsätzliche Details waren von der üblicherweise handgeschriebenen Krankenakte ins Datensystem übertragen worden: Diagnosen, wesentliche medikamentöse und/oder operative Behandlungen, Therapien, Kontraindikationen etc. Die täglichen Werte, wie die von Blutdruck, Temperatur, Puls usw., waren jedoch nur in der Krankenakte aufgelistet. In der verschwundenen Krankenakte. Trotzdem konnte Clancy sich zumindest Einblick in Medikation und Behandlungsmethode verschaffen. Belastungs-EKG, Koronarangiogramm, empfohlene Bypassopemtion. Er rollte die Datei weiter herunter. Crescendogeräusch verbunden mit leicht erhöhten Herzenzymen. Dringende Bypass-Operation: Chirurg Dan Marks. Clancy suchte nach dem Namen des assistierenden Arztes. Wieder erschien Linda Speers Name. Was zum Teufel hatte sie als Assistent bei Operationen zu suchen? Er las die kardiologischen Anmerkungen. Wieder ein Patient beziehungsweise eine Patientin mit voroperativer Mangeldurchblutung, die einen Bypass erforderlich machte. Clancy lehnte sich in seinem Sessel zurück und verlor sich in Gedanken darüber, ob die Reihenfolge der Behandlung in diesem Fall vielleicht von Bedeutung war. Wie abwesend starrte er auf seine Frau und seine zwei Kinder, die ihn von einem Foto auf dem voll bepackten Schreibtisch anlächelten. Er kam diesmal nicht wie sonst auf den Gedanken, ihnen einen Kuss zu schicken. Obwohl ihm bewusst war, dass er sich für seine Morgenvisite und die Unterweisung der Medizinstudenten noch mehr als üblich 658
verspäten würde, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Computermonitor zu und studierte die Medikation von Mary Hyland. Er rollte die Datei an den ersten Medikationen vorbei und wandte sich ihrer letzten zu: Capoten 12,5 Milli gramm und D/N Aspirin 300 Milligramm täglich waren die einzigen verschriebenen Medikamente. Capoten war ein übliches Mittel gegen Bluthochdruck. D/N Aspirin scheint Speers Lieblingstablette zu sein, dachte er, während er sich notierte, wann Hyland sie zum ersten Mal hatte nehmen müssen. Ihm fiel auf, dass zwischen ihrer Herzoperation und ihrer Neueinweisung wegen Agranulozytose nur sechs Wochen vergangen waren. Dann schloss er die Mary-Hyland-Datei und gab die von JAMES MURPHY, Aktenzeichen 224CD579, ein. Während er darauf wartete und die Festplatte surrte, betrachtete er seine Fingernägel. Plötzlich blinkte ein rotes Warnzeichen, und auf dem Bildschirm erschien: DATEI 224CD579 WIRD GERADE BENUTZT. Clancy starrte fast drei Minuten lang auf den Schirm, ehe er es noch einmal versuchte. Das gleiche Ergebnis. Rotes Warnzeichen und DATEI 224CD579 WIRD GERADE BENUTZT. Wieder wartete er eine Zeit lang und ließ dabei den Blick nicht vom Monitor. Jetzt gab er verschiedene Kombinationen des gleichen Namens, der Adresse und des Geburtsdatums des Patienten ein, um Zugang zur Datei zu bekommen. Doch immer erschienen das blinkende
rote Warnzeichen und die
Nachricht DATEI
224CD579 WIRD GERADE BENUTZT. Wer zum Teufel studierte zu dieser Zeit die Datei? Und warum? Er senkte den Kopf, sein Herz raste, und er bemühte sich, das ganze vernünftig und logisch anzugehen. Was ist hier los? Die beiden Patientenordner, die ich suche, sind plötzlich auf geheimnisvolle Weise 659
verschwunden, jetzt wird eine der Computerdateien von jemand anderem im Krankenhaus benutzt. Dabei handelt es sich um einen toten Patienten! Alarmglocken schrillten in seinem Kopf. Fieberhaft klickte er zur Datei von Mary Ryland zurück und tippte, so rasch seine Finger es vermochten. Plötzlich erschien das blinkende rote Warnzeichen, gefolgt von der Nachricht DATEI 115CD346 WIRD GERADE BENUTZT. »Großer Gott!«, entfuhr es ihm. Schweißtropfen rannen von seiner Stirn. Er wollte sie gerade mit dem Ärmel seines weißen Kittels wegwischen, als das Telefon läutete. „Dr. Clancy, wir haben die Akten gefunden.« Diese Mitteilung verblüffte ihn so sehr, dass er keinen Ton herausbrachte. »Hallo? Hallo, ist dort Dr. Clancy?« Es war die gleiche Mädchenstimme wie vorhin. „Ja, ja. Entschuldigen Sie bitte, es tut mir Leid«, murmelte Clancy, während sein Verstand auf Hochtouren lief. »Ich habe gerade an einigen Tests gearbeitet«, log er. »Verzeihen Sie, dass ich Sie gestört habe, ich dachte nur, weil Sie diese Akten so dringend haben wollten, dass ich Ihnen sofort Bescheid gebe.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich bin sehr froh über Ihren Anruf. Wo in aller Welt waren sie denn?« Eine Verlegenheitspause entstand. »Im Anbau, die ganze Zeit. Jemand hat sie so weit nach hinten geschoben, dass ich sie ewig nicht sehen konnte. Erst als wir ein ganzes Regal zur Seite rückten, entdeckte ich sie.« »Aber warum«, wunderte Clancy sich laut und bereute seine Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte, »waren das die einzigen Akten, die man versteckt hat?« 660
Die Mädchenstimme antwortete nicht sofort. Dann sagte sie: »Ich weiß es wirklich nicht, Dr. Clancy. Ich dachte nur, Sie wären froh, dass wir sie überhaupt gefunden haben.« Sie klang so bedrückt, dass Clancy sich sofort für seine Unhöflichkeit entschuldigte. »Hören Sie, es tut mir schrecklich Leid. Natürlich freue ich mich. Danke, dass Sie sich so viel Mühe gegeben haben.« »Soll ich sie Ihnen hinaufbringen?« Clancy blickte auf seine Uhr und stöhnte. Er hatte sich bereits um eine ganze Stunde verspätet. »Nein. Haben Sie einen sicheren Platz, wo Sie sie einstweilen aufbewahren können?« »Ja.« »Dann geben Sie sie bitte dorthin, bis ich später selbst komme. Lassen Sie niemanden an sie heran, okay?« »Nein, natürlich nicht, Dr. Clancy«, versprach die Mädchenstimme. Clancy stand auf, blickte durch die Glasscheibe, die sein Sprechzimmer von der Station trennte, und zupfte seine Krawatte zurecht. Dann griff er nach einem Stoß Unterlagen und machte sich zu seiner Visite auf. Als er ging, verschwand das rote Warnzeichen auf seinem Computerschirm.
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»Sieh mich an, Michael!« Die Stimme erschien ihm wie Sirenengesang. Die Zelle, in der Micko Kelly kauerte, war drei mal zwei Meter groß. An der Wand stand eine harte Pritsche, doch sonst befand sich nichts darin, keine Schlafdecke, kein Kopfkissen, kein Fädchen auf dem gesprenkelten Marmorboden, nicht einmal ein 661
Kübel für die Notdurft. Die Wände waren drei Meter hoch, und in eine war fast unmittelbar unter der Decke ein kleines quadratisches Fenster mit festen Gitterstäben eingelassen. Die Scheibe war aus dickem unzerbrechlichen Glas. Die nur ein schwaches Licht verbreitende Deckenbeleuchtung war so gesichert, dass kein Insasse an sie herankam, denn früher war es des Öfteren passiert, dass Häftlinge sich durch elektrischen Strom getötet hatten. Die neue Installation machte solche Versuche fast unmöglich. Eine zwei Meter fünfzig hohe Stahltür war die einzige Öffnung zum Korridor, an ihrer Innenseite gab es weder eine Klinke noch sonst einen Griff. Ein Spion war in Augenhöhe positioniert, damit die Wärter sich vergewissern konnten, dass der Häftling keine Selbstmordversuche unternahm. Die Zellenwände waren mit Graffiti verschmiert, den Namen früherer Sträflinge und der Zeitspanne ihres Einsitzens sowie Bemerkungen über einzelne Wärter und das Gefängnis, auch über die Gesellschaft allgemein. Kaum ein Wort war richtig geschrieben, das meiste waren Flüche. Alles war Scheiße, und alles wurde einem Scheiß Soundso zugeschrieben. In den Himmel gehoben wurden alle Arten von Drogen: Ecstasy, Crack, Kokain, Scag sowie Uppers und Downers. In den Zellen hatten schon die meisten Drogendealer logiert, die in und um Dublin ihr Unwesen trieben. Einem Gekritzel war zu entnehmen, dass sogar ein Jamaikaner wegen Heroinschmuggels hier gesessen hatte. An der Tür, etwa fünfundzwanzig Zentimeter unterhalb des Spions, hatte jemand ein kunstvolles Bildnis von Jesus Christus erschaffen. Da alle Sträflinge
gründlich
Gegenstände,
durchsucht
einschließlich
und
ihnen
Schreibstifte,
alle
spitzen
weggenommen
wurden, war nicht nur die künstlerische Qualität des Bildes 662
erstaunlich, sondern dass es überhaupt an diesem Ort existierte. Es war das übliche Motiv: Jesus mit schulterlangem Haar, unterwürfigem Blick und sanften Augen, mit denen er nach rechts unten schaute. Er hatte einen dichten Bart und Schnurrbart. Seine Lippen waren verhältnismäßig schmal, die Brauen buschig. Eine Dornenkrone stak auf seinem Kopf, und Blutstropfen sickerten aus der Haut. Eine Hand, die rechte, versuchte eine Geste der Vergebung, und auf der linken Brust hatte der Künstler liebevoll ein Herz mit einem Kreuz darauf gezeichnet. Auch dieses Kreuz umgab eine Dornenkrone, und es war deutlich erkennbar, dass das Herz ebenfalls blutete. Das Gesicht schließlich, obwohl zerkratzt, etwas unsicher und da und dort übertrieben, war trotz allem eine bemerkenswerte Darstellung - wahrhaftig das eines leidenden und doch vergebenden Jesus. Die Schrift UNSER ERLOESER war verkratzt. Diese gesamte Darstellung war nicht größer als sechsundvierzig mal sechsundvierzig Zentimeter und teilweise über ältere Graffiti gemalt worden, deren Gekritzel kaum noch sichtbar war. Das Abbild des leidenden Jesus zu verunstalten hatte offenbar keiner der späteren Insassen gewagt. »Michael, sieh mich an! Ich habe eine Botschaft für dich!« Die Stimme klang eher wie die einer Frau als die eines Mannes, sie war weich, beschwörend, sanft und verführerisch. »Seht alle paar Minuten nach diesem Bastard!«, hatte der Diensthabende Sergeant befohlen, nachdem die Stahltür hinter Kelly zugeschlagen war. »Ihm darf nichts passieren, verstanden?« Die drei für den zweiten Stock des Gefängnisses zuständigen Wärter nickten. Sie waren nicht sicher, wer genau der Bursche in der Zelle war oder was er ausgefressen hatte, aber der Tumult bei seiner Einlieferung 663
verriet ihnen, dass es sich um einen großen Fang handelte. Sie beschlossen, alle drei Minuten in die Zelle zu sehen. Häftlinge hatten manchmal sehr einfallsreiche Methoden, zwischen den Fünfminutenüberprüfungen Selbstmord zu begehen. »Was macht er?«, fragte der Sergeant nach dem ersten Blick durch das Spionloch. »Nicht viel. Er hockt bloß zusammengekauert in der Ecke und rührt sich kaum.« »Aber er lebt noch?« Die Frage klang erschrocken. »Ganz bestimmt. Ich habe gesehen, wie er mit den Fingern durch sein Haar gefahren ist.« Der Sergeant stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und trug die exakte Zeit und die Beobachtungen in eine große Kladde ein. Er nahm die Eintragung mit einem Füllfederhalter und verschnörkelter Schrift vor. Drei Minuten später: »Er gähnt und niest und kauert immer noch in derselben Ecke.« Drei Minuten später: »Er zupft an seinen Klamotten, als würde er Fusseln entfernen.« »Hat er sich abgesehen davon gerührt?« »Nee, er hockt immer noch in derselben Ecke.« Drei Minuten später: »Er muss ziemlich erkältet sein oder so was, er niest dauernd, und seine Augen tränen.« Das beeindruckte den Dienst habenden Sergeanten nicht sonderlich. »Scheiße!« »Sieh mich an, Michael. Dies ist dein Herr und Gottjesus Christus. Ich habe eine Botschaft für dich.« Micko Kellys erstes Anzeichen des durch Drogenmissbrauch verursachten Wahnsinns war diese Stimme, die zu ihm sprach. Er schüttelte den Kopf, versuchte die Stimme loszuwerden und hatte 664
Angst aufzublicken. Das an die Tür gezeichnete Abbild von Jesus war ihm sofort aufgefallen, nachdem er in die Zelle gestoßen worden war, aber seither hatte er nicht mehr dorthin geblickt. Er zog die Beine enger an seine Brust und presste die Hände fester an die Ohren. Fuck off, fuck off! »Er schlurft in der Zelle herum und faselt irgendwas.« Der Dienst habende Sergeant vergewisserte sich vorsichtshalber noch einmal. »Er hat doch nicht etwa Schnürsenkel oder dergleichen?« »Er hat nichts, womit er sich aufhängen könnte«, beruhigte ihn der Wärter. »In seinem Zustand denkt er bestimmt nicht daran. Er hat bloß blöd gegrinst, wie ich nachgeschaut habe.« Darüber ärgerte sich der Dienst habende Sergeant außerordentlich, denn er wusste, weshalb der Häftling angeklagt werden würde. »Der Bastard!«, knurrte er, als er mit seiner verschnörkelten Eintragung fertig war. »Michael, der Teufel kommt. Er steht vor diesem Zimmer. Du darfst dich nicht von ihm fassen lassen!« Kelly starrte fasziniert auf das Abbild des leidenden Christus. Er konnte das Blut wirklich sehen, leuchtend rot tropfte es von der bohrenden Dornenkrone auf dem Kopf und am Herzen. Er konnte wirklich sehen, wie sich die schmalen Lippen von Jesus Christus bewegten, wie die buschigen Augenbrauen sich hoben und senkten. Er konnte die Sirenenstimme wahrhaftig hören, sie klang wie die einer Frau, und die Worte waren beschwörend, flehend, verführerisch. Und er konnte ganz klar und unverkennbar sehen, wie sich der durchdringende Blick des leidenden Christus hob, sich ihm zuwandte und ihn bannte. Micko Kelly hatte eine 665
Erfahrung. Die schlimmste Erfahrung eines Junkies: Halluzinationen. »Der Teufel kommt, um dich in die Hölle zu holen. Du wirst rösten, und niemand wird dich hören. Ich kann seine Schritte hören. Ich kann ihn riechen. Lass dich nicht von ihm holen, Michael!« »Lass ich auch nicht. Scheiße!«, kreischte Kelly, während er schweißgebadet und vor Angst am ganzen Körper zitternd wild auf die Zellentür starrte. Er hörte, wie die Klappe des Gucklochs aufgeschoben wurde, und sah, wie ein Auge ihn anblinzelte. Es war das Auge des Teufels! Der Teufel war gekommen, ihn zu holen. Der Teufel studierte ihn, überlegte, wie er am besten an ihn rankam. »Du wirst mich nicht kriegen, du Scheißkerl!« Seine schrillen Schreie drangen durch die Zellentür, und der ihn beobachtende Wärter bekam es mit der Angst zu tun. Er kehrte zum Diensthabenden Beamten zurück und erstattete Bericht. »Wenn der Teufel kommt, musst du ihn töten!« Die Lippen bewegten sich schneller, die Blutstropfen fielen jetzt wie dichter liegen, der Blick des leidenden Christus durchbohrte ihn. Das Abbild verließ die Zellentür und trat in den freien Raum zwischen der Tür und der Ecke, in der Kelly schwitzend und bebend lag. Die vergebende Hand zitterte heftig und drohte. In der Zelle wurde es so heiß wie im Höllenfeuer. „Wenn der Teufel kommt, musst du ihn töten!« »Das werd ich!«, wisperte Kelly. Eine furchtbare Vorahnung ergriff wie ein Dämon Besitz von ihm. »Ich bring ihn um, bevor er mich holen kann!« Er zitterte am ganzen Körper, noch mehr als zuvor, und Schweiß ergoss sich von seiner Stirn über das ganze Gesicht und den Körper. Das Herz hämmerte in seiner Brust. 666
Seine Nase war verstopft, und er nieste immer wieder. Seine Augen tränten. »Es ist das Beste, wenn Sie die Zelle aufschließen und zu dritt nach ihm sehen. Sorgen Sie aber dafür, dass er Sie nicht beißen kann, er steht unter Drogen.« Die Wärter wechselten müde, resignierte Blicke. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, beschwerte sich einer verärgert. Sie zogen Schutzhandschuhe an und marschierten den Korridor entlang. Aus den Zellen kamen Verwünschungen und Gebrüll, doch das war nichts, verglichen mit dem Heulen aus Kellys Zelle. Es hörte sich an wie das eines verwundeten Tiers, dessen Bein in einer scharfzahnigen Falle steckt und das erwartet, jeden Moment vom Jäger erschlagen zu werden. Oder wie das eines unglückseligen Tiers, das sein eigenes Bein abbeißt, um sich aus der Falle zu befreien. Die Wärter blieben stehen und lauschten. »Hört sich an wie ein tollwütiger Hund«, brummte einer. »Der Teufel kommt. Töte ihn!« Das Klingeln des Schlüsselbundes alarmierte Kelly, und er bereitete sich auf den Kampf vor. Er kauerte sich in der hintersten Ecke 569 zusammen, bereit, den Ersten, der die Zelle betrat, anzufallen. Mit der Linken stützte er sich auf die Pritsche. Kampflos würde er sich dem Teufel und seinen Helfershelfern nicht ergeben. »Steh auf, räudiger Hund!«, befahl der Wärter, der nun mitten in der Zelle stand. Er machte zwei Schritte, und seine Kollegen folgten ihm dichtauf. Er bemerkte Schaum um Kellys Mund, den irren Ausdruck seiner Augen, den Wahnsinn. Was Kelly sah, war 667
ein Teufel mit schwarzer Fratze, Ziegenbockfüßen und Hörnern vorn am Schädel. Feuer sprühte aus seinen Augen, und die Zunge war eine lodernde Flamme. Der Teufel lachte, als er die runzligen Hühnerhautpranken
mit
den
spitzen
Krallen
nach
ihm
ausstreckte. »Steh auf, du Hundesohn!«, befahl der Wärter. »Er ist der Teufel. Töte ihn!« Kelly stürzte sich wie ein Leopard auf seine Beute. Seine langen Fingernägel zogen sich tief über das Gesicht des Mannes, und seine Zähne verbissen sich in den nackten Hautfalten am offenen Hemdkragen. »Aaagghh!«, schrie der Wärter und schlug wild auf den Angreifer ein. »Aaagghh!«, heulte er aufs Neue, als er spürte, wie Nägel sein Gesicht zerfleischten und Zähne sich in seinen Hals gruben. Er fühlte die Wärme seines eigenen Blutes, das vom Hals herunterströmte, und sackte auf den Marmorboden. »Lass los, du Bastard!«, brüllte der zweite Wärter, während er versuchte, Kellys Kiefer auseinander zu reißen. Aber Kelly hatte fest zugebissen. Er hielt den Teufel in seinem Mund, konnte fühlen, wie das Feuer zwischen seinen Zähnen erlosch, und verspürte Erleichterung, als die Kraft des Teufels in seinem Griff erlahmte. Die Schlange in seinen Zähnen zuckte. Als Schlagstockhiebe auf seinen Kopf und die Schultern eindroschen, starrte der irrsinnige Micko Kelly zu seinen Folterern auf. Der blutige Schaum um seinen Mund, der Ausdruck der wild starrenden, glasigen, gelb verfärbten Augen erinnerten an ein Tier, das den langsamen Todeskampf seiner Beute zwischen den Zähnen genoss. Kelly lockerte seine Kiefer nur kurz, um ein Lachen auszustoßen, das wie das hysterische Heulen eines Tiers den Korridor entlang widerhallte und auch die abgebrühtesten Gefangenen in ihren 668
Zellen verstummen ließ. „Großer Gott!“ Der Dienst habende Sergeant glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Großalarm war gegeben worden, und aus allen Winkeln des Gefängnisses hasteten Wärter in den zweiten Stock. Das Erste, was sie sahen, war ein bewusstloser, blutüberströmter und immer noch blutender Uniformierter, der weggeschleppt wurde. »Barmherziger Jesus!«
Zwei Wärter
standen
über dem
zusammengekauerten Kelly, die Schlagstöcke zu neuen Hieben bereit. Der Wahnsinnige war zurück in eine Ecke gekrochen. Seine Lippen und das ganze Gesicht waren blutig, und blutiger Schaum quoll aus seinem Mund. An seinen Nägeln hafteten Hautfetzen und Blut. Er lachte und heulte abwechselnd, fuhr mit den Händen seine Arme und Beine auf und ab, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch an seinem Körper waren. Er kicherte nervös, dann wurde sein Gesicht hart, als er den Diensthabenden Sergeant bemerkte. Eine weitere Schlange hatte das Zimmer betreten. »Der Teufel ist zurück!« Die Zeit reichte gerade noch, um die Stahltür zuzuschmettern.
11.17 Uhr »Ich glaube es nicht.« Die Stimme am anderen Ende der Handyleitung schrie vor Erregung. »Langsam, langsam! Beruhigen Sie sich um Himmels willen!«, bat Moss Kavanagh. Der Streifenwagen steckte im Vormittagsstau entlang der Dubliner Kais fest. Jim Clarke hörte auf seinem Rücksitz offensichtlich nichts von dem Gespräch. Tony Molloy starrte auf das Heck eines Bäckereilieferwagens. Er hatte das Gespräch nur unvoll669
ständig mitbekommen. »Was ist los?« Kavanagh hielt den Wagen mit der rechten Hand in einer verhältnismäßig geraden Spur und bedeutete mit der linken, ihn nicht zu unterbrechen. Molloy wandte den Blick stirnrunzelnd von dem Bäckereilieferwagen ab. »Wer spricht denn?«, fragte Kavanagh ungehalten. Weitere erregte Schreie waren zu hören. »Ich glaube es nicht.« Die Stimme am anderen Ende meinte, es sei an der Zeit, dass er was unternahm. »Wohin bringen sie ihn?« Weitere Schreie. Kavanagh knallte das Blaulicht aufs Dach und scherte aus, um die vor ihm im Stau steckenden Wagen zu überholen. Im letzten Moment konnte er noch einem offenen Kanaldeckel
ausweichen
und
hätte
dabei
fast
einen
Straßenarbeiter umgefahren. Unbeeindruckt ignorierte er die drohenden Fäuste und heftigen Verwünschungen. Jetzt erst schien Jim Clarke aus seinen Gedanken zu erwachen. »Was ist denn los, Mossy?«, fragte er besorgt. Kavanagh blickte in den Rückspiegel. »Es wird Ihnen nicht gefallen, Chef.« Der Gefängnisarzt erschrak, als er die erregte Gruppe vor Micko Kellys Zelle erreichte. Die ersten beiden Wärter gingen nervös hin und her und umklammerten ihre blutigen Schlagstöcke einmal fester, einmal lockerer. Vier weitere Wärter standen nicht weniger erregt einsatzbereit. Alle hatten in der Wärme des engen Raums die Jacken ausgezogen, die Krawatten und Kragen geöffnet. Sie warteten an der offen stehenden Tür. Im Innern der Zelle befand sich der Diensthabende Sergeant, ein stämmiger Mann mit prallem Bauch. Immer wieder wischte er sich die Stirn ab, während er sanft und langsam sprach. Kelly saß auf der Pritsche. 670
Seine Fußgelenke waren eng aneinander gefesselt und seine Hände steckten in einem dicken Ledergurt, der um seinen Bauch zusammengezogen und hinter dem Rücken an einem Ring in der Wand befestigt war. Über sein Gesicht hatte man eine aus geflochtenen Bändern bestehende Ledermaske gezogen, die so fixiert war, dass er den Kopf nicht zu bewegen vermochte. Nur seine wild starrenden Augen waren zu sehen. »Wozu braucht er den Maulkorb?«, erkundigte sich der Arzt ungehalten. Bei diesem plötzlichen Tonwechsel von leise und beruhigend zu laut und zornig begann Kelly plötzlich zu zittern. Er schaukelte mit dem Kopf, schüttelte die Beine und versuchte aufzustehen, er stöhnte. Der Bauchgurt hielt ihn noch weiter zurück, und so stieß er einen rasselnden, schnaubenden Laut aus, der den Anwesenden einen Schauder über den Rücken jagte. Der Sergeant drängte den Arzt hinaus, und die beiden sprachen verärgert aufeinander ein, bemühten sich jedoch, ihre Stimmen zu dämpfen. Als der Arzt erfuhr, was geschehen war, wechselte seine Haltung von wütend zu gelähmt, von gelähmt zu professionell, von professionell zu mitleidig. Er kehrte vorsichtig in die Zelle zurück und machte sich daran, den Maulkorb zu öffnen und über Kellys zerzaustes Haar zu ziehen. Der Sergeant sah dem Arzt besorgt zu und war bereit, ihn, falls nötig, aus der Gefahrenzone zu zerren. »Mr. Kelly, ich bin Dr. Hamilton, der Gefängnisarzt.« Die Stimme war nun beruhigend, ohne jede Spur von Drohung oder Rüffel. »Ich muss mit Ihnen reden, verstehen Sie? Ich werde Sie beim Vornamen nennen, ist Ihnen das recht, Michael?« Kelly starrte ihn an, aber er verstand nichts. Der Arzt sprach 671
Dubliner Akzent, doch es war ein Dublin, das Lichtjahre von Kellys Revier entfernt war. Hier der kultivierte Intellektuelle, da der unterprivilegierte Junkie. Hamilton bemerkte den leeren Blick und den gelben Schimmer in den Augen des anderen. »Michael, wissen Sie, wo Sie sind?« Pause. Die Augen zuckten, die schaumbefleckten Lippen zitterten. »Michael, wissen Sie, warum Sie hier sind?« Der Blick richtete sich auf einen Punkt schräg hinter dem Arzt. Auch das bemerkte Hamilton. Er blickte nach unten, und erst jetzt fiel ihm das Blut auf dem Boden auf. »Michael«, sagte er, »wissen Sie, welchen Tag wir haben, weshalb Sie hier sind? Wissen Sie, warum diese Männer hinter mir stehen?« Er deutete auf den Dienst habenden Sergeanten und die Wärter. »Satan hat diesen Mann gesandt. Töte ihn!« »Wissen Sie, wer Sie ... aaaagghh!« Hamilton entging den zuschnappenden Zähnen nur um Zentimeter. Er spürte die Hitze von Kellys Atem und den Schaum, als er über sein Gesicht strich, fühlte den Wahnsinn, der ihn töten wollte, beinahe körperlich. »Er ist irrsinnig«, knurrte der professionelle Dr. Hamilton, als er sich Kellys Geifer von den Lippen wischte. »Schnallen Sie ihn wieder fest.« Der Maulkorb wurde erneut über den widerstrebenden Kopf gezogen.
13.45 Uhr An diesem Nachmittag, während die Menschen sich an dem wärmenden Sonnenschein erfreuten, Hemd- und Blusenkragen 672
öffneten, wurde der in seiner Gesichtsmaske und den Fesseln bewegungsunfähige Michael Leo Kelly durch den Korridor des zweiten Stockwerks im Bridewell Gefängnis geschleppt. Vier Wärter hatte seine Arme und Beine gefasst, ein Fünfter seinen Kopf, und einer überwachte vorsichtshalber das Ganze. Kellys Speichel tropfte auf den Boden. Er trug dieselbe Kleidung wie bei seiner Verhaftung: Bluejeans, schwarzes T-Shirt und schwarze Joggingschuhe. Es war viele Jahre her, seit er an einem Tag gleich zweimal in einem Fahrzeug transportiert worden war. Kurz vor vierzehn Uhr am Donnerstag, dem 14. Mai, befand er sich wieder in einem Wagen und wurde ins Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte überführt.
17
14.53 Uhr »Dan, Sie sollen der Erste sein, der erfährt, dass die Polizei den Mann verhaftet hat, den wir aus berechtigten Gründen für Jennifers Mörder halten.« John Regan saß im vorderen Wohnzimmer des Marks-Hauses, neben ihm auf dem Sofa Flanagan, sein persönlicher Berater und Arzt im Gesundheitsministerium, ein schlaksiger junger Mann. Ihnen gegenüber hatte Dan Marks Platz genommen. Er war unrasiert und trug ein am Hals offenes kariertes Hemd und Jeans. Er wirkte gefasst und aufmerksam und hatte die Hände verschränkt. Sein Blick war auf das aus Rosenholz gefertigte Beistelltischchen zwischen den Besuchern gerichtet. 673
»Er wurde früh am heutigen Morgen verhaftet.« Regan wusste nichts von den späteren Ereignissen, hatte keine Ahnung, dass der Mann, den sie »aus berechtigten Gründen für Jennifers Mörder hielten«, im Norden der Stadt, auf dem Weg zur Anstalt für kriminelle Geistesgestörte, in einem Stau feststeckte. »Ehe ich das Ministerium verließ, sprach ich mit dem Justizminister, und er versicherte mir, dass der Commissioner ständig in Verbindung mit der Sonderkommission steht und sehr zufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Untersuchung ist. Sie sind überzeugt, dass der Verhaftete mit dem Verbrechen etwas zu tun hat.« Regan hatte vor vierzig Minuten das Ministerium mit heulenden Sirenen in einer Kolonne aus drei Wagen verlassen. Er hatte grimmig dreingeschaut, als er sich auf den Rücksitz seines Mercedes mit den dunklen Fenstern setzte. Die vor dem Ministerium wartenden Fotografen und Kameraleute sollten seine Stimmung genau dokumentieren. Auch vor Marks' viktorianischem Haus hatten die Medien, auf einen Tipp Flanagans hin, ihre Leute postiert. Regan war unbeirrt zur Haustür geschritten, kommentarlos, nachdem Flanagan ihm erklärt hatte, welche Journalisten der hiesigen Medien möglicherweise wichtig waren und welche von den internationalen unerlässlich. »Die Regierung behandelt dieses furchtbare Ereignis mit allem Nachdruck. Wir sind immer noch geschockt. Betäubt.« Er legte eine Pause ein, um sich wie ein Schauspieler zu vergewissern, dass seine Darbietung auch ankam. Dan Marks hob schwerfällig den Kopf. Seine Augen waren rot gerändert, und Regan spürte das tiefe Leid hinter der professionellen Fassade. 674
»Danke, John, ich weiß Ihren persönlichen Einsatz zu schätzen.« Marks' Stimme hatte ihre übliche Kraft verloren. Er klang müde, fast geschlagen. »Wie kommt Annie damit zurecht?« Regan fühlte sich unwohl in der Wärme des Zimmers und in dem überwältigenden Gefühl des Leids. Marks schüttelte bedrückt den Kopf und senkte wieder den Blick. »Gar nicht gut, John. Ich musste ihr ein Beruhigungsmittel injizieren, es hat sie so mitgenommen. Offenbar hat es sich auf ihre Multiple Sklerose ausgewirkt, ihre Hand- und Beinbewegungen waren heute Morgen ungemein starr. Ich habe ihr etwas Starkes gespritzt. Sie schläft jetzt oben.« Regan nutzte die Gelegenheit, sich hilfsbereit zu geben. »Möchten Sie, dass ich Ihnen für die nächsten paar Tage eine Schwester zur Aushilfe schicke?« Marks wehrte sofort heftig ab. »Nein, auf keinen Fall, das wird nicht nötig sein. Wir trauern lieber, ohne dabei von Außenstehenden beobachtet zu werden. Aber trotzdem vielen Dank.« Flanagan warf rasch ein: »Aber vielleicht könnten wir für ein paar Stunden am Tag eine Aushilfe zum Kochen und Saubermachen schicken?« Gequält schüttelte Marks den Kopf. »Nein, nein, nein. Das ist nicht nötig. Wir kommen viel besser allein zurecht, jedes fremde Gesicht im Haus würde Annie nur noch mehr verstören. Sie ist psychisch äußerst labil und schon erregt genug.« Plötzlich hatte Marks' Stimme ihre übliche Kraft zurück, er wirkte sehr entschlossen. »Ich bin sicher, es ist für uns besser, wenn man uns in Ruhe lässt.« Vor dem Haus, ehe sie zum Mercedes zurückgingen, flüsterte 675
Flanagan Regan schnell zu: »Sagen Sie nichts weiter, als dass die Untersuchung gut vorankommt. Sie haben Dr. Marks besucht, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Sprechen Sie leise und ruhig, und richten Sie den Blick jeweils nur auf den Fragesteller.« Er nickte einem wartenden Reporter zu. »Lassen Sie Ihre Bewegungen von den Kameras verfolgen, und tun Sie, als ignorierten Sie sie. Und lassen Sie sich auf keinen Fall von den gestellten Fragen ablenken. Die Medien aus den USA haben bereits ihr großes Interesse an dem Fall bewiesen, also wählen Sie Ihre Worte sorgfältig.« Regan blickte zu Boden, sodass es aussah, als bewundere er Flanagans auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe. »Das könnte hier so großes Aufsehen erregen wie der Louise-WoodwardProzess in Boston.« Flanagan bürstete unauffällig ein Fussel von Regans Jackettrücken ab. »Versichern Sie ihnen, dass wir der Marks-Familie jede nur erdenkliche Unterstützung angeboten haben.« Er unterbrach sich. »Nein, sagen Sie lieber Dan und Annie Marks, das ist besser als Marks-Familie. Okay?« Regan nickte. »Erwähnen Sie nicht, dass er Ihr Entgegenkommen abgelehnt hat.« Flanagan hielt wieder inne und blickte zu den Fotografen und Reportern vor dem Gartenzaun. »Warum, glauben Sie, weigerte er sich mit einer solch verdammten Heftigkeit, Hilfspersonal ins Haus kommen zu lassen?« Regan setzte sich in Bewegung und schritt über den Kiesweg seiner nächsten Gelegenheit entgegen, sich in Szene zu setzen. »Ich weiß es nicht. Auf keinen Fall will er jemanden im Haus, der 676
nicht zur Familie gehört.« Er bemühte sich um ein ernstes, mitfühlendes Gesicht, dessen er sich bei schwierigen Anlässen und Beerdigungen bediente. »Guten Tag, meine Damen und Herren, ich bin bereit, Ihnen ein paar Fragen zu beantworten.«
15.42 Uhr Frank Clancy drückte die Ordner, die Mary Hylands und James Murphys Krankenakten enthielten, an seine Brust. Mit einigen lahmen Ausreden gegenüber seinem Personal und der Stationsschwester zog er sich in sein Sprechzimmer im dritten Stock des Mercy Hospitals zurück und verschloss die Tür. Schwer atmend und mit leicht zitternden Händen setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. Er legte die Ordner vor sich hin und starrte sie an. Ihm war klar, dass der Inhalt sich als beunruhigend, ja erschütternd erweisen mochte, trotzdem dachte er nicht daran, ihn rasch zu überfliegen. Es war, als wolle er den Augenblick, die Wahrheit zu finden, noch ein wenig hinauszögern. Er dachte an die Ereignisse vor ein paar Tagen, an seine Entdeckung des dritten Falls von Agranulozytose, an seine Konfrontation mit Linda Speer und seine Besorgnis, dass jemand sich an den Patientenunterlagen zu schaffen machte. Clancy befürchtete, dass eine neue Art von Behandlungsmethode die Ursache des Blutproblems seiner drei Patienten gewesen sein konnte. Aber er wusste auch, dass die verschriebenen Medikamente gebräuchlich waren. Außer dem D/N Aspirin. Aber auch das schien in den Staaten durchaus üblich zu sein. Nur die ungewöhnliche Art und Weise, wie die Patienten diese Tabletten bekamen, gab ihm zu denken. Die »kleinen blauen Tabletten«, wie Mrs. Morell sie beschrieben 677
hatte, wurden ausschließlich von der behandelnden Kardiologin ausgegeben. Sehr ungewöhnlich, dachte Clancy, während er seine Hände auf den ersten Ordner legte. Er wollte sich nicht selbst zum Narren machen, indem er die falschen Schlüsse zog und den Zorn des Dreamteams heraufbeschwor. Er war auch nicht bereit, sich mit dem Gesundheitsminister John Regan anzulegen. Er wusste, wie viel Steuergelder, Zeit und Mühe Regan in die Gründung der Herzstiftung gesteckt hatte. Er musste absolut sicher sein, ehe er möglicherweise die ganze Einrichtung in Misskredit brachte und als Nestbeschmutzer dastand. Er sah ein wahres Minenfeld vor sich: Anklagen und Gegenanklagen, den Verlust seiner Stellung, gerichtliche Schritte gegen ihn, das Krankenhaus
in
Kampfbereitschaft.
Nein,
beschloss
er
entschieden, ich brauche harte Fakten und dann einen tüchtigen Rechtsbeistand. Er öffnete den ersten Ordner, den der verstorbenen Mary Hy land, Aktenzeichen 115CD346, und begann zu lesen. Der Ordner selbst bestand aus zwei Blatt bräunlicher Pappe mit Klemmheftung, die eine Menge eselsohriger Seiten zusammenhielt. Auf dem Deckblatt standen der Name der Patientin, ihre Adresse, ihre Versicherungsnummer, außerdem waren die Mittel aufgelistet, die bei ihr möglicherweise Allergien auslösten. Er drehte den Ordner
um und
las
auf dem bräunlichen Karton die
Klinikstationen, auf denen die Patientin behandelt worden war: DERMATOLOGIE, ALLGEMEINE CHIRURGIE, HERZ CHIRURGIE, schließlich HÄMATOLOGIE. Unwillkürlich verspürte er ein schlechtes Gewissen, denn seine Station war die letzte gewesen, auf der Mary Hyland Hilfe gesucht hatte, und er war nicht im Stande gewesen, ihr Leben zu retten. Langsam 678
blätterte er durch die Seiten, ohne auf die Eintragungen der Dermatologie und der Allgemeinen Chirurgie zu achten. Erst bei den Seiten der Herzchirurgie hielt er an. Er erkannte Linda Speers gestochene Handschrift sofort und studierte aufmerksam jeden ihrer Schritte in der Behandlung der Patientin. Symptome, Untersuchungen, präoperativer
stationäre
Zustand,
Beobachtungen,
plötzliche
Resultate,
Verschlechterung
und
vorgezogene koronare Bypass-Operation. Alles schien absolut unkompliziert zu sein. Er blätterte zu der rosafarbenen Seite weiter, auf der die verschriebenen Medikamente eingetragen waren. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, und er stand auf, um sich seine Brille zu holen. Er setzte sie auf, dabei zitterten seine Hände. Sein Mund war plötzlich trocken. Die Eintragung war unverkennbar: Capoten 12,5 mg. Nichts weiter. Kein D/N Aspirin. Er kramte in seinen Kitteltaschen und brachte ein Stück zerknittertes Papier zum Vorschein, auf dem er die im Computer eingetragenen Daten abgeschrieben hatte. Da war es, genau wie er es auf dem Monitor gelesen hatte: Capoten 12,5 mg täglich und 300 mg D/N Aspirin. Noch einmal blickte er auf die rosafarbene Seite. Die Medikation stimmte nicht damit überein. Schnell blätterte Clancy durch die restlichen Seiten, bis er zu den Operationseintragungen kam. Sie waren in einer anderen Schrift geschrieben, wahrscheinlich in der von Dan Marks, vermutete er. Unter den angegebenen Assistenten fand er wieder Linda Speers Namen. Fast gegen seinen Willen griff er zum Telefon und wählte die Nummer des Operationssaals. »Schwester«, sagte er ruhig, um nicht den leisesten Verdacht aufkommen zu lassen. »Hier spricht Dr. Clancy von der Hämato679
logie. Könnten Sie mir vielleicht bei ein paar Fragen behilflich sein?« Die Operationsschwester am anderen Ende der Leitung warnte ihn, dass ihre Zeit sehr knapp sei. »Wir sind gerade mit579 ten in einer schwierigen Herzoperation«, erklärte sie scharf. Aus dem Hintergrund hörte Clancy das Klirren von Instrumenten auf den Edelstahltischen, das Klappern der Clogs, die im Operationssaal üblicherweise getragen wurden, und ein paar laute Anweisungen. Im Operationssaal schien man wirklich sehr beschäftigt zu sein. »Ich werde nur einen Augenblick brauchen«, besänftigte er die Schwester, nur damit die Verbindung nicht unterbrochen wurde, »ich wollte nur fragen, ob Frau Dr. Speer — Sie wissen doch, wen ich meine, die Kardiologin?« »Ja, ich weiß, wen Sie meinen.« »Ob sie bei allen Herzoperationen assistiert?« Eine kurze Pause trat ein. »Nein«, antwortete die Operationsschwester nachdenklich. »Jetzt, wo Sie es erwähnen. Soweit ich mich erinnere, bietet sie nur bei Koronararterien-Bypässen an zu assistieren.« »Nie bei Herzklappeneingriffen? Aneurysmaresektionen? Oder dergleichen?« Die Worte kamen scheinbar gleichmütig, die Frage klang fast uninteressiert. Wieder eine kurze Pause. »Nein, ganz sicher nicht.« Dann fügte die Schwester ungefragt hinzu: »Sie möchte, dass wir sie immer gleich benachrichtigen, wenn ein Patient auf der Bypass-Warteliste Schwierigkeiten bekommt und eine Notoperation vorgenommen werden muss. Das sind die einzigen Fälle, bei denen sie 680
assistiert. Gibt es ein Problem, Dr. Clancy? Irgendetwas, das mit uns hier zu tun hat und dessentwegen Sie sich Sorgen machen? Ich hab ihr zugesehen, und sie ist wirklich sehr tüchtig.« Clancy beeilte sich, ihr zu versichern, dass es keine Probleme gebe. Absolut keine. »Sie arbeitet bei diesen Fällen Hand in Hand mit Dr. Stone Colman«, fügte die Schwester hilfsbereit hinzu. »Er führt vor, während und nach jeder Operation eine Blutuntersuchung durch und alle vier Stunden während des Aufenthalts auf der Intensivstation.« Clancy blätterte rasch zu der Seite in Mary Hylands Ordner, wo die kardiologischen Blutwerte aufgezeichnet waren. Ihm fiel sofort auf, dass keine von Stone Colman beauftragte Blutuntersuchung aufgeführt war. »Haben Sie eine Ahnung, welche Analysen vorgenommen werden?« »Tut mir Leid, Dr. Clancy, da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich meine, auf dieser Station ist man ständig mit Forschungsprojekten beschäftigt. Vielleicht hat es damit zu tun.« Durch das Telefon hörte Clancy irgendwelche Rufe und neuerliches Klacken von Clogs. »Ich muss gehen und helfen. Wenn Sie weitere Informationen brauchen, dann hinterlassen Sie doch eine Nachricht, und ich rufe zurück, sobald ich mehr Zeit habe, okay?« Sie legte auf, und Clancy starrte auf den Hörer, kein bisschen klüger als zuvor. Er überlegte, ob er einige der anderen Schwestern des Herzoperationsteams anrufen sollte, entschied sich aber dagegen, denn dann würde Speer wahrscheinlich Wind von seiner Fragerei bekommen. Vorsicht, ermahnte er sich, geh ganz
vorsichtig
vor!
Durch
die
Rollläden
seines
Sprechzimmerfensters blickte er auf die Station hinaus, wo Ärzte 681
und Pflegepersonal ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Patienten wurden
untersucht,
Krankenblätter
studiert,
Blutproben
genommen, Beobachtungen aufgezeichnet. Er dachte daran, die Sache aufzugeben und das Ganze zu vergessen. Du siehst ja schon Gespenster, wo alles völlig in Ordnung ist, rügte er sich. Mach Schluss, bevor du unnötige Probleme schaffst! Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war jetzt fast sechzehn Uhr dreißig, und er schätzte, dass er mit seiner Routinearbeit schon neunzig Minuten im Verzug war. Er musste eine Vorlesung vorbereiten, weitere Bluttests auswerten und sich um drei neue Patienten kümmern. Er sagte sich, dass er sich erst einmal Zeit nehmen müsse, um über das Ganze gründlich nachzudenken.
16.37 Uhr »Rockdale?« Jim Clarkes Gesicht wurde weiß vor Wut. »Wann?« Er war im Bridewell Gefängnis, um nach Michael Leo Kelly zu sehen. Der Diensthabende Sergeant hatte ihm zuvor kurz erklärt, was vorgefallen war. Noch jetzt liefen ihm Schauer über den Rücken. »Gegen vierzehn Uhr. Der Gefängnisarzt hat die Überweisung befohlen.« Dann berichtete er ausführlich und blickte zur Bestätigung immer wieder in seine Kladde. Tony Molloy überprüfte die Eintragungen, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Hätten Sie denn nicht warten können, bis ich hier bin?« Der Sergeant zog seine Uniformhose am Gürtel hoch und strich mit einer Hand über den schweißnassen Kragen seines Hemdes. »Sie verstehen nicht, er ist irrsinnig. Er hat einen meiner Männer 682
fast umgebracht. Wir hätten ihn nicht hier behalten können. Er war eine Gefahr für sich selbst und alle anderen.« Seine Stimme hob sich unwillkürlich. »Er war wie ein tollwütiger Hund. Der Arzt konnte es nicht erwarten, ihn von hier wegschaffen zu lassen.« Clarke schrie wütend: »Hätte er ihn denn nicht ruhig stellen können?« Durch die bohrenden Schmerzen in seinem Bein war er noch griesgrämiger als sonst. »Fragen Sie ihn selbst«, entgegnete der Sergeant verärgert. »Hamilton ließ ihn so schnell hinausschaffen, dass ich kaum Zeit für den Papierkram hatte.« Clarke drehte sich auf dem Absatz um und humpelte fluchend zu einer Bank. »Verdammter Hamilton!« Molloy und Kavanagh wechselten Blicke. »Mossy«, presste Clarke durch seine zusammengebissenen Zähne, »rufen Sie in der Rechtsmedizin an, und fragen Sie, ob schon Neues über die Kleidung und die Tasche des Mädchens bekannt ist.« Kavanagh begab sich mit seinem Handy in eine ruhigere Ecke. »Nichts, Chef«, meldete er kurz darauf. »Tony«, Clarke stand unbeholfen auf, »fahren Sie zu Joan Armstrong, und setzen Sie sie ein wenig unter Druck. Wir müssen Jennifers Schultasche finden!« Dann hinkte er zu der Treppe, die zum Eingang führte, und winkte Kavanagh herbei. »Mossy, Sie und ich werden eine Fahrt aufs Land machen.«
18
16.17 Uhr »Waren Sie schon einmal hier?«, fragte Moss Kavanagh nervös. 683
Er fuhr die drei Kilometer lange, von Fichten gesäumte Einfahrt zum Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte im County Meath entlang. County Meath lag nördlich von Dublin und das Krankenhaus etwa eine Stunde Fahrt mit dem Auto von der Stadtmitte entfernt. Das Thermometer war im Freien auf sechsundzwanzig Grad gestiegen, und im Auto waren es über dreißig. Clarke und Kavanagh schwitzten stark. Sie hatten ihre Jacken längst ausgezogen, so waren die ausgedehnten Schweißflecken auf ihrem Hemd nicht zu übersehen. Clarkes schweißnasses Haar klebte am Kopf. Alle Fenster waren heruntergelassen, um einen Durchzug zu ermöglichen, und er blickte ohne großes Interesse auf die vorbeirollende grüne Landschaft. Der April war ein nasser Monat gewesen, die zweite Maihälfte war warm und sonnig, was für ein rasches Wachstum in der Natur gesorgt hatte. »Dort sind noch zwei Irre, die ich verhaftet habe«, antwortete Clarke jetzt. »Was
haben
sie
angestellt?«
Kavanagh
versuchte
fast
verzweifelt, das Gespräch in Gang zu halten. Clarke grinste, als er das Unbehagen des Jüngeren spürte. »Mord. Beide wurden vor Gericht gestellt, aber beide waren unzurechnungsfähig.« Kavanagh blieb fast stehen, als er den Wagen durch ein überdimensionales Schlagloch lenken musste. »Wen haben sie ermordet?« Er spritzte Reiniger auf die Frontscheibe und schaltete die Scheibenwischer an, um die angesammelten Insekten zu entfernen. »Merkwürdigerweise«, Clarkes Interesse wuchs, als er die Mauern der Anstalt in der Ferne auftauchen sah, »waren nur Familienangehörige die Opfer. Der eine Kerl hatte seinem Vater die 684
Kehle durchgeschnitten, weil es ihm jemand im Radio befohlen hatte, wie er behauptete.« Kavanagh schluckte und riss das Lenkrad scharf herum, um einem Schaf auszuweichen, das stur in der Mitte der Einfahrt stehen geblieben war. Erst als er auf die Hupe drückte, sprang es in das lange Gras am Straßenrand. »Und der andere?« Die Granitmauern der Hauptgebäude kamen näher. Clarke beugte sich über den Beifahrersitz nach vorn und stützte das Kinn auf die verschränkten Arme. »Ich bin sicher, Sie wollen gar nicht wirklich Näheres über sie wissen, Mossy, es würde Ihre gute Meinung über Frauen für immer zerstören.« Kavanagh fuhr fast in den Graben, als er sich zu Clarke umdrehte. »Eine Frau?«, fragte er ungläubig. »Gewissermaßen.« Clarke grinste. »Sie hat ihre vier Kinder mitten in der Nacht erdrosselt, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Mann es mit irgendeinem jungen Ding trieb.« Kavanagh hielt den Wagen mit laufendem Motor an. »Das ist doch nicht einer Ihrer schlechten Witze, oder?« Clarke schüttelte den Kopf. Er starrte auf die letzten Meter der Einfahrt vor ihnen. »Nein, leider nicht, Mossy. Als ihr Mann heimkam, zerschmetterte sie seinen Schädel mit einem Hammer, dann blieb sie drei Tage allein im Haus, umgeben von Leichen.« Kavanagh legte den ersten Gang ein und ließ den Wagen vorwärts rollen. »Großer Gott!« Er schirmte die Augen vor der Sonne ab. »Was für eine Art, einen schönen Nachmittag zu verbringen.« Vor dem riesigen Stahlgittertor bremste er. »Wie kommen wir hinein?« Das Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte stand auf 685
einem Grundstück von sechs Hektar Größe, begrenzt von fruchtbarem Ackerland. Die Anstalt war von einer zehn Meter hohen und zwei Meter dicken Betonmauer umgeben. Das sechs Meter hohe und zehn Meter breite Stahlgittertor bot den einzigen Zugang. Zwei Männer, die es von einem kleinen Steinanbau aus bewachten, der von außen kaum zu sehen war, waren für seine Bedienung zuständig. Der ursprüngliche Bau war in den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts ein Armenhaus gewesen, dann ein »Asyl für Schwachsinnige«. Die Regierung hatte 1906 das Gebäude sowie zusätzliche vier Hektar erstanden, um eine sichere Anstalt für kriminelle Geistesgestörte zu errichten. 1956 wurde der Komplex modernisiert, 1983 wurde ihm eine Sportanlage hinzugefügt. Trotzdem blieb Rockdale mehr oder weniger das Irrenhaus, das es schon Anfang des Jahrhunderts gewesen war. Der größte Teil des steinernen Baus stammte noch aus der viktorianischen Zeit, und die Einstellung der Einheimischen in der sieben Kilometer entfernten Ortschaft anscheinend ebenfalls. Der »Rock«, wie sie den
Komplex
nannten,
würde
immer
die
»gefährliche
Klapsmühle« bleiben. Kavanagh hupte, und gleich darauf erschien ein stämmiger Sicherheitsmann. Er blieb hinter dem Gittertor stehen und studierte den Wagen sowie die beiden Männer. Dann verlangte er, dass sie sich identifizierten, bevor er ins Wachthaus zurückkehrte. Clarke und Kavanagh warteten schwitzend. Fernes Muhen und Blöken brach die gespenstische Stille, und um sich abzulenken, beobachteten sie, wie Bienen emsig von einer Wildblume zur anderen schwirrten, um Pollen zu sammeln. Der Wächter kam zurück und machte sich daran, das Tor zu öffnen. Scheinbar leicht schwangen die zwei Flügel so 686
weit auseinander, dass der Wagen hindurchfahren konnte. Der Wächter ließ ihn anhalten und studierte Clarkes und Kava-naghs Ausweise. Kavanagh schaute sich um. »Sicherheit wird hier offenbar ganz groß geschrieben«, stellte er fest. Die Begrenzungsmauer war, so weit das Auge reichte, an den oberen drei Metern mit messerscharfen eisernen Spitzen versehen, auf denen die Sonne glitzerte. Nach zehn Metern Niemandsland umgab ein zweiter Zaun aus Stahl und Stacheldraht die Anlage. In regelmäßigen Abständen von ebenfalls zehn Metern waren Flutlichter und Überwachungskameras auf den Komplex gerichtet. »Sobald sich das elektronische Tor ganz geöffnet hat«, der Wächter deutete auf ein Tor im inneren Zaun, »können Sie durch. Fahren Sie zu der blauen Eingangstür des grauen Gebäudes da drüben links.« Er lehnte sich durchs Beifahrerfenster und musterte die beiden Männer aus nächster Nähe. »Ich hab Sie auch schon angemeldet.« Kavanagh murmelte ein Danke und fuhr los. »Warten Sie lieber noch einen Moment«, warnte der Sicherheitsmann, der nebenher rannte. »Fahren Sie erst durch, wenn es ganz offen ist.« Als Kavanagh wieder angehalten hatte, lehnte er sich noch einmal in den Wagen. Er grinste breit. »Sie wollen doch keinen Alarm auslösen, oder? Wir haben schon genug Spaß mit Jack the Ripper gehabt.« Er lachte über seinen Witz und sah dem Wagen nach, der auf die neu geteerte Straße fuhr. Die Hitze war stickig in der stillen Luft, und Mückenschwärme sammelten sich um die offenen Wagenfenster. Durch den Rückspiegel beobachtete Kavanagh, wie das äußere 687
und innere Tor sich schlossen. Er legte den zweiten Gang ein. Die neu geteerte Straße war nach etwa zehn Metern zu Ende. Schilder
-
EINLIEFERUNG
...
UNTERKÜNFTE
...
SPORTHALLE ... BIBLIOTHEK ... HOSPITAL - deuteten auf Abzweigungen. »Können Sie sich vorstellen, dass es hier einen Swimmingpool, eine modernst eingerichtete Fitnesshalle und eine wirklich gute Bibliothek gibt?« Clarke staunte selbst, dass er sich so gut daran erinnerte. »Tatsächlich?«, murmelte Kavanagh. Clarke spürte, dass sein Partner sich immer noch unbehaglich fühlte. »Ja, und nach allem, was ich gehört habe, werden sie kaum je benutzt«, fuhr er fort. »Wie ich von den Ärzten weiß, starren die Insassen den ganzen Tag nur auf die Fernseher, egal, was läuft, Die Simpsons, Sesamstraße, Nachrichten, Eishockey. Wenn sich was auf dem Schirm bewegt und man es hören kann, stieren sie drauf.« Das graue Hauptgebäude kam in Sicht, und sie stellten den Wagen auf einem mit »Personal« markierten Parkplatz ab. »Gehen wir.« Clarke stieg vorsichtig aus, ihre Jacken ließen sie im Wagen. Aus der Entfernung sah die blaue Eingangstür ganz gewöhnlich aus, bis sie die tiefen Kratzer um ein überraschend großes Schlüsselloch bemerkten. Ehe sie sie erreichten, bewunderten sie die viktorianische Pracht. Das Gebäude hatte graue Granitwände, schmale Fenster, einen hohen Giebel und war mit Schiefer gedeckt. Kavanagh entdeckte den altmodischen Klingelknopf und drückte. Nichts tat sich. Sie wischten sich den Schweiß vom Gesicht und schlugen nach den lästigen Fliegen. Kavanagh wollte gerade 688
noch einmal drücken, als die Tür von einem hübschen jungen Mädchen geöffnet wurde. »Sind Sie die Kriminalbeamten?« Sie nickten. »Treten Sie bitte ein. Dr. Dillon wird gleich Zeit für Sie haben.« Sie drehte einen Schlüssel in dem riesigen Schloss, um das auch an der Innenseite der Tür tiefe Kratzer zu sehen waren. In der Eingangshalle bot sie den beiden Männern Platz auf einer Holzbank an, ehe sie ohne ein weiteres Wort in ein durch eine Glaswand abgetrenntes Büro ging und nach einem Telefon griff. Clarke bemerkte, dass Kavanagh grinste. »Na, da können Sie Ihrer Frau ja etwas erzählen«, meinte er. Kavanaghs Blick wanderte über den kühlen, weiß gefliesten Boden. »Nicht in ihrem Zustand«, brummte er. »Unser Baby kommt bald. Ich möchte nicht, dass die Wehen vor Schreck womöglich früher einsetzen.« Die dunkle Eingangshalle mit ihren schmalen vergitterten Fenstern betonte die düstere, bedrückende Atmosphäre. Das Klicken von Schlüsseln in einem Schloss war zu hören. Eine Tür wurde geöffnet. Der Kriminalpsychologe Patrick Dillon kam heraus. Er trug eine dunkelblaue Hose und ein kurzärmeliges weißes Hemd mit offenem Kragen. Eine Brille ragte aus der Brusttasche. Er verschloss die Tür hinter sich. Sein Lächeln lockerte die Stimmung ein wenig auf. »Tut mir Leid, dass ich Sie so lange warten lassen musste, aber es dauert seine Zeit, durch die Stationen herunterzukommen und jede Tür auf- und zuzusperren.« In seiner Rechten hielt er einen überdimensionalen Schlüsselring. Die drei gaben einander die Hand. »Sie wollen Ihren Mr. Kelly besuchen?« 689
»Ich bin hier, um ihn wieder mitzunehmen«, entgegnete Clarke. »Das könnte sich als schwierig erweisen.« Dillon klang, als erkläre er ein mechanisches Problem. »Wieso?« »Es könnte den ganzen Tag dauern, wenn ich versuchte, Ihnen die medizinischen Befunde zu erklären«, warnte Dillon. »Das Beste ist, Sie sehen ihn sich selbst an.« Er ging zu dem Glasbüro und ließ sich von dem Mädchen Unterlagen geben, die sie gemeinsam durchblätterten. Schließlich kehrte er in die Halle zurück. »Bevor wir nach oben gehen, möchte ich einiges klarstellen.« Dillon war etwas kleiner als Kavanagh und unterstrich seine Worte mit einem permanenten Kopfnicken. »Das hier«, erklärte er, »ist ein Klinikum, kein Gefängnis. Mein vorrangiger Job ist, meinen Patienten zu helfen, ihre geistige Gesundheit wiederzugewinnen oder das Elend ihres Wahnsinns zu lindern.« Kavanagh blickte Clarke flüchtig an, doch der ignorierte ihn. »Die Zimmer hier mögen wie Zellen aussehen, aber die Türen sind meistens offen, damit die Patienten auf den Korridoren herumspazieren können, wenn sie möchten.« Kavanaghs Kinn fiel herab. »In gewissen Grenzen, selbstverständlich«, fügte Dillon hastig hinzu. »Die Insassen freuen sich schon über die kleinste Abwechslung in ihrer täglichen Routine, und es könnte sein, dass sie sich sehr für Sie interessieren werden.« Er schloss die erste Tür auf. Die drei gingen schweigend einen schmalen Flur entlang zu einer weiteren Tür mit großem Schloss und Kratzern rundum. »Besucher sind meistens beunruhigt wegen der starrenden Blicke 690
und der ausdruckslosen Gesichter der Insassen.« Aufsperren, zusperren. Eine weitere Tür. Aufsperren, zusperren. »Die Patienten sehen Sie an, aber Sie werden das komische Gefühl haben, dass sie etwa fünfzehn Zentimeter an ihnen vorbeischauen. Wenn sie reden, können ihre Gedanken meilenweit entfernt sein. Das mag an ihrem Geisteszustand liegen oder den Medikamenten, die wir ihnen geben.« Erneut blieben sie vor einer Tm stehen. Dillon wählte einen großen Schlüssel aus. »Irgendwelche Fragen?« Clarke lehnte sich mit dem Rücken an die Korridorwand. Kavanagh schüttelte den Kopf. »Das hier ist eine sehr ruhige Anstalt«, fuhr Dillon fort. »Es kommt nur sehr selten vor, dass ein Patienten durchdreht. Wir benutzen keine Schlagstöcke, Zwangsjacken oder dergleichen. Unser Personal ist ausgebildet, unangenehmen Vorfällen mit einem Mindestmaß an Gewalt zu begegnen.« »Dem Himmel sei Dank«, murmelte Kavanagh und beobachtete, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Dillon grinste. »Ich fürchte, bei Kelly musste eine Ausnahme gemacht werden.« Die Tür schwang auf, und sie standen vor einer schweren Stahlgittertür. Dillon wartete, bis sich nach vier Minuten ein Sicherheitsschloss öffnete. Eine kleine Überwachungskamera war auf sie gerichtet. »Das hier ist der Hochsicherheitstrakt.« Das Erste, was Clarke auffiel, waren die abgekratzten Stellen an den Wänden. Die Korridore, durch die sie bisher geführt worden waren, hatten einen sauberen, ordentlichen Eindruck gemacht, die Farbe war unversehrt gewesen, und das Tageslicht, das durch die vergitterten Fenster fiel, hatte sie auch freundlich erscheinen 691
lassen. Hier im Hochsicherheitstrakt waren die Wände von ähnlicher Beschaffenheit und Farbe, aber etwa in Taillenhöhe war da und dort die Farbe abgekratzt. Dillon entgingen Clarkes prüfende Blicke nicht. »Kellys Werk«, erklärte er. »Und wir haben alles erst vor kurzem frisch streichen lassen«, fügte er düster hinzu. Auf ihre Stimmen hin spitzte ein Kopf aus einer Reihe offener Türen auf den Korridor. Dem Kopf folgte der Körper eines kleinen, rothaarigen Mannes. »Dr. Dillon?« Die Stimme klang schrill. Der Mann watschelte herbei. »Werden Sie mich in die Sonne hinauslassen? Ich möchte hinaus.« Er wandte sich Clarke und Kavanagh zu. »Sind Sie hier, um mit mir zu reden?«, bellte er. »Sind Sie von der Zeitung?« Sein Tipperary-Dialekt war durch die gedehnte Sprechweise schwer zu verstehen. Dillon nahm sich seines Patienten an und führte ihn den Gang zurück zum Stationszimmer. Er vertraute ihn einem weiß bekitlelten Pfleger an, der ihn mit freundlichen Worten überredete, zu seinem Zimmer zurückzukehren. Dort legte er sich auf sein Bett und starrte blicklos zur Decke. »Hat seine Schwester, seine Mutter und den Hund der Familie erwürgt«, erzählte Dillon. Moss Kavanagh warf im Vorbeigehen einen Blick in die einzelnen Zellen. Die meisten Patienten saßen oder lagen herum und starrten Wände oder Decke an. Manche murmelten vor sich hin. Die Zimmer waren sauber und verhältnismäßig geräumig. Viele Insassen hatten Zeitschriftenbilder von Pin-up-Girls an die Wände geheftet, andere von irgendwelchen Sportskanonen. In einer Zelle war die Wand fast lückenlos mit religiösen Postern 692
bepflastert, und auf dem Fenstersims standen kleine Heiligenstatuen. Vom Ende des Korridors erschallte ein markerschütterndes Heulen. Über einer geschlossenen Tür glomm ein grellgrünes Licht. Zwei Pfleger hatten dort Posten bezogen. Die abgekratzten Stellen an den Wänden befanden sich in Kopfhöhe, und Scherben von Sicherheitsglas lagen auf dem Boden. Dillon stieß mit der Fußspitze nach einer Scherbe. »Schauen Sie zum Monitor hinauf«, forderte er die beiden Besucher auf. An der Wand war ein FünfundvierzigzentimeterMonitor angebracht. Als Clarke hinaufsah, verzog sich sein Gesicht. Dillon änderte die Perspektive mit einer Fernbedienung. In einer Ecke des kleinen Zimmers kauerte ein Mann, der wie ein Tier wimmerte. »Dieses Häufchen Elend ist der von Ihnen verhaftete Verdächtige«, sagte Dillon. Das Wimmern verstummte, und urplötzlich sprang Micko Kelly mit ausgestreckten Armen in die Luft. »Er versucht, die Glühbirne in der Deckenmitte zu ergreifen«, erklärte der Psychiater. »Das hier ist die einzige Gummizelle im Hospital. Es ist ein drei mal zweifünfzig großer Raum, vierzwanzig hoch. Die Polsterung ist mit flaschengrünem Drillich überzogen, der ein Hochklettern schwer macht. In der Decke befindet sich eine einzelne grüne Glühbirne. Die Überwachungskamera ist gut versteckt.« Dillon drückte auf einen anderen Knopf. Kelly war bis auf die Unterhose ausgezogen, und man konnte seine nackten Beine sehen. Die Kamera begleitete ihn, während er versuchte, an die Lichtquelle heranzukommen. Dieser Anblick und die tierischen Laute trieben den Polizisten kalte Schauer über den Rücken, trotz der Wärme im Korridor. Aufs Neue drückte Dillon auf einen 693
Knopf und zoomte mit einem Joystick auf eine Matratze, auf der eine Decke zur Seite gezogen war. »Er hat sich wieder benässt«, murmelte er. »Wir gehen hinein und stellen ihn ruhig, dann ab mit ihm in die Sicherheitszelle.« Die postierten Pfleger nickten müde. Dillon wandte sich an Clarke. »Die vorherrschende Farbe in dieser Gummizelle ist flaschengrün. Nach Meinung zuständiger Psychologen ist das eine beruhigende Farbe.« Er grinste. »Einmal habe ich mich darin einschließen lassen, aber mich hat es gar nicht beruhigt.« Clarke zwang sich zu einem schwachen Lächeln. Dillon schnippte mit dem Joystick. »Patienten werden hierher gebracht, wenn sie zur Gefahr für sich selber oder für andere werden.« Das Bild auf dem Monitor änderte sich. »Für Kelly traf beides in höchstem Maße zu.« Die Gruppe beobachtete den Monitor. In der Gummizelle versuchte Kelly wieder in Richtung Glühbirne zu hüpfen. Flüchtig wanderte die Kamera über sein vom Wahnsinn verzerrtes Gesicht, den Schaum auf seinem Mund, den irren Blick. Clarke beobachtete das Bild mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. Dann drehte er sich wütend auf einem Absatz um und humpelte über den Korridor zurück. Frustration und Wut drohten überzukochen. »Ich habe ihn noch nicht komplett untersucht«, erklärte Dillon in der angenehm kühlen Eingangshalle. Die drei hatten auf einer der hölzernen Bänke Platz genommen. Dillon hielt einen gelben Ordner, auf den in einer Ecke mit Filzstift der Name MICHAEL LEO KELLY geschrieben stand. »Er wurde gefesselt und mit Beißkorb eingeliefert. Meine Leute 694
glaubten, sie hätten ihn ruhig gestellt. Sie waren gerade dabei, ihm die Fußfesseln zu entfernen, als er durchdrehte. Sechs Pflegern gelang es schließlich, ihn trotz seines Tobens festzuhalten. Die Pfleger sind ausgebildet, sanften Zwang anzuwenden, aber damit erreichten sie nichts, sie konnten ihn nur mit
Gewalt
niederzwingen.«
Clarke
nestelte
an
einem
Hemdenknopf. »Er war außerordentlich psychotisch«, fügte Dillon hinzu. Clarke zog die Brauen hoch. »Was heißt das?« Der Psychiater las eine Eintragung im Ordner. »Er hatte eine Vision und war sehr aggressiv. Seine Schreie machten den anderen Patienten zu schaffen.« Clarke stand auf und stützte sich an der Wand ab. »Was halten Sie von dem Ganzen?« »Es dürfte einige Zeit dauern, bis sein Zustand sich bessert«, antwortete Dillon. »Und ehe ich nicht überzeugt bin, dass er zumindest teilweise zurechnungsfähig ist, wird niemand ihn vernehmen.« Er ignorierte Clarkes noch finsterer werdende Miene. »Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.« Er klemmte sich den Ordner unter den Arm und stand ebenfalls auf. »Sie können ihn nicht vor Gericht bringen, ehe er nicht versteht, worum es geht.«
19
17.37 Uhr Als Joan von der Schule nach Hause kam, empfing ihre Mutter sie mit sorgenvoller Miene an der Haustür ihres zweistöckigen Ziegelhauses in Sandymount, einem Vorort im Süden von Dub695
lin. »Joan, geh gleich ins Arbeitszimmer. Dein Vater wartet.« Das Mädchen hatte bereits dessen schwarzen Lexus in der Einfahrt geparkt gesehen. Das konnte nichts Gutes bedeuten, denn üblicherweise kam er selten vor neunzehn Uhr heim. »Der Polizist, der gestern mit dir gesprochen hat, ist wieder da. Du hast doch nichts angestellt, oder?« Mrs. Armstrong, eine kleine, dickliche Dame mit sich lichtendem Haar, tupfte mit eine m Spitzentaschentuch eine nicht vorhandene Träne aus dem Auge. „Nein, Mum, nichts“, stieß ihre Tochter hervor. »Ich weiß nicht, was er will.« Ihre Hände zitterten, als sie die Jacke ihrer Schuluniform auszog und in den engen Dielenschrank hängte. Ihre Mutter beobachtete sie sorgenvoll, dann winkte sie ihr stumm zu, ins Arbeitszimmer zu gehen. Harold Armstrong war der perfekte Bankfilialleiter. Sein Aussehen - hoch gewachsen, grauhaarig, gediegen gekleidet - war ein Spiegelbild seiner Persönlichkeit: konservativ, ruhig und langweilig. Joan war sein drittes Kind und, wie Schwester Concepta so scharfsinnig bemerkt hatte, ein Fehler in jeder Beziehung. Sie war zu einem Zeitpunkt geboren worden, als er ein Kind am wenigsten gewollt hatte und er keineswegs darauf vorbereitet gewesen war, noch einmal Vater zu werden. Sie hatte nichts als Schwierigkeiten mit sich gebracht, sie war rebellisch, unverschämt, anmaßend und eine notorische Lügnerin. Als Teenager war ihr Benehmen immer schlimmer geworden, je älter sie wurde. »Wo hat sie das Geld her?«, hatte Armstrong während eines der vielen Streitgespräche über seine aus der Art geschlagene 696
Tochter erbost gefragt, nachdem er sie wieder einmal, gelinde gesagt, beschwipst ertappt hatte. »Ich bin zu alt für so was«, hatte er geklagt. »Ich habe keine Beziehung mehr zu ihrer Generation.« Am schlimmsten war der Anruf von Schwester Concepta gewesen, als sie ihn auf Joans Verbindung zur Drogenszene aufmerksam gemacht hatte. Wahrend er ihr zuhörte, hatte sich sein Magen verkrampft. »Sie ist gerade erst achtzehn geworden und bildet sich ein, sie weiß alles besser«, hatte die Nonne abfällig gesagt. »Sie weiß gar nichts über das Leben.« Armstrong hatte ihr beigepflichtet. »Vielen Dank, Schwester.« Joan
erhielt
einen
Monat
lang
Hausarrest
und
wurde
hochnotpeinlich befragt, wie sie zu dem Geld gelangte, mit dem sie ihren Drogenkonsum finanzierte. Es kam nichts Neues ans Licht. Keine zwei Monate später war die Leiche von Jennifer Marks im Sandymount Park aufgefunden worden. Harold Armstrong war zutiefst erschüttert. Gerüchte, wie und warum sie getötet worden war, verbreiteten sich rasch, und alle hatten etwas mit seiner Tochter zu tun. Als Tony Molloy anrief, weil er noch einmal mit Joan sprechen wollte, beschloss Armstrong, sich nicht einzumischen. Er hoffte, es würde seiner Tochter eine Lehre sein und sie endlich auf den rechten Weg bringen. Nachdenklich saß er an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer und kaute an einer Magentablette. »Hi, Dad«, grüßte Joan nervös und setzte sich in den noch freien Sessel, der strategisch so platziert worden war, dass beide Männer sie direkt im Blickfeld hatten. Armstrong ignorierte den Gruß und kam sofort zur Sache. 697
»Joan, Sergeant Molloy möchte dir noch einige Fragen stellen.« Er ließ die Worte wirken, ehe er fortfuhr: »Ich will, dass du absolut ehrlich zu ihm bist. Du kannst allein mit ihm sprechen, weder deine Mutter noch ich werden mithören.« Er stand auf, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Molloy musterte das Mädchen, das ihm mit gesenktem Blick gegenübersaß und beide Armlehnen umklammerte, damit ihre Hände nicht zitterten. Sie wirkte so verwundbar, gar nicht mehr überheblich. Er sah sich im Arbeitszimmer um, betrachtete rasch die silbergerahmten Familienbilder,
darunter
auch
eines
von
Joan
bei der
Erstkommunion in weißem Spitzenkleidchen, die Hände zum Gebet gefaltet. Dann wanderte sein Blick zu der achtzehnjährigen Schülerin zurück. »Ich habe nicht vor, Stunden mit Ihnen zu vergeuden.« Seine Stimme klang streng, sein Blick suchte den seines Gegenübers. »Sie haben mir bei der ersten Befragung Lügen aufgetischt, und das weiß ich jetzt.« Joan Armstrong blickte auf, und Molloy spürte sofort ihre Angst. »Sie sind nicht an der Sydney Parade Haltestelle ausgestiegen, sondern mit Jennifer Marks weiter zur nächsten, Ringsend, gefahren.« Joan nickte verlegen. »Vielleicht möchten Sie mir ja jetzt erzählen, was wirklich passiert ist? Ich habe Aussagen von mehreren Zeugen, einschließlich Ihrer Mitschülerinnen, also versuchen Sie gar nicht erst, mir etwas verheimlichen zu wollen. Wir wissen jetzt alles, und ich bin nur an Ihrer Bestätigung interessiert. Okay?« Er schaltete sein Mikrokassetten-Diktiergerät ein. »Fangen Sie da an, als Sie beide in Kingsend ausstiegen.« 698
Mit zitternden Händen löste Joan die Haarspange und schüttelte ihre pechschwarzen Zöpfe, dann ordnete sie sie und steckte sie wieder fest. „Wir gingen zum Balfe's Pub, um Stoff zu besorgen. Jenny war schon ziemlich abhängig, und ich begleitete sie oft, Sie wissen schon, um ihr Gesellschaft zu leisten.« Die Stimme klang resigniert und nicht überzeugend. „Versuchen Sie gar nicht erst, mir was vorzumachen, Joan. Sie können vielleicht Ihre Eltern für dumm verkaufen, mich nicht! Es ist mir verdammt egal, ob Sie Gras rauchen oder nicht, aber beleidigen Sie meine Intelligenz nicht mit Ihrem Geschwafel, >dass Sie ihr bloß Gesellschaft leisten< wollten.« Das Mädchen geriet jetzt völlig aus der Fassung. Sie zitterte am ganzen Körper, als die Worte hinaussprudelten: »Wir gingen in Balfe's Pub und warteten auf Jennys Kontakt. Sie hatte diesen Kerl, der sie mit allem versorgte, was sie wollte, und sie trafen sich immer dort.« Sie kann es nicht erwarten, sich alles von der Seele zu reden, dachte Molloy. „Da war dieser große Junkie mit der Tätowierung auf der Stirn, der sich auch erbot, ihr was zu besorgen, und sie hat angefangen, sich mit ihm abzugeben.« Molloy unterbrach sie. »Was meinen Sie damit?« »Sie hat aus seinem Glas getrunken, an seiner Zigarette gezogen und dergleichen.« Molloy drehte das Diktiergerät mehr in ihre Richtung. »Wie hat er ausgesehen?« Es folgte eine perfekte Beschreibung von Micko Kelly. »Ich ging gegen achtzehn Uhr. Ich war bereits spät dran und musste mich beeilen. Jenny blieb und trank mit dem Junkie.« 699
„Hat sie Stoff bekommen?“ „Nicht von ihrem üblichen Kontakt, der ist nicht aufgetaucht, aber der Junkie hat ihr was abgetreten. Was das für Stoff war, weiß ich nicht. Ich sagte ihr, dass ich jetzt heimgehen würde. Sie wollte noch bleiben und dann später allein nach Hause gehen.« »Und sie ist bei diesem großen Junkie mit der Tätowierung auf der Stirn geblieben?« »Ja. Ehrlich.« Joan Armstrong bestätigte, dass Balfe's Pub ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche sei, die Stoff wollten. Dealer aus der Innenstadt hatten sich in den vornehmeren Vororten breit gemacht, wo sie mehr für ihre Ware bekamen und weniger Ärger mit der Polizei hatten. Das Balfe's war Jennifers Lieblingspub gewesen. Sie waren oft nach der Schule und am Wochenende dort gewesen. »Wo haben Sie geraucht oder getrunken? Oder haben Sie nur in dem Pub gesessen?« Molloy nahm ihre Antworten nicht nur mit dem Diktiergerät auf, sondern notierte sie sich zusätzlich. »Nein, wir sind gewöhnlich in den Park gegangen.« Molloy riss den Kopf hoch. »Welchen Park?« »Sandymount.« Molloy hörte zu kritzeln auf und blickte Joan Armstrong in die Augen. Er bemerkte, dass ihre Angst und Unsicherheit verschwunden waren, weil sie sich jetzt endlich die Wahrheit von der Seele reden konnte. »Haben Sie sich oft in diesem Park aufgehalten?« »Ja, an den meisten Wochenenden und manchmal nach der Schule. Es gibt dort einen alten hölzernen Schuppen, der war schon wie ein zweites Zuhause.« Die Stimme war jetzt fester. 700
Molloy überflog seine Notizen und drehte die Kassette um, dann schaltete er das Gerät wieder ein. »Als Jennifer Marks' Leiche gefunden wurde, trug sie nicht ihre Schuluniform.« Joan Armstrong wartete nicht auf die Frage. »Sie zog sich auf der Toilette des Pubs um. Das haben wir immer getan,
um nicht aufzufallen. Sie wissen schon, kleine
Klosterschülerinnen in einem Pub voller Junkies.« »Was hat sie mit ihrer Uniform gemacht?« »Was wir immer getan haben, sie in die Schultasche gestopft.« Molloy registrierte, dass sie »wir« gesagt hatte, nicht »sie«. »Aber wir haben ihre Tasche im Park nicht gefunden.« »Ich weiß.« Molloy starrte sie überrascht an. »Was heißt, Sie wissen es ? Wo ist sie denn?« »Ich werde Sie dort hinführen müssen. Ich bin sicher, dass das Zeug noch dort ist, wo wir es immer verstecken.« »Führen Sie mich hin.« Joan Armstrongs Eltern atmeten erleichtert auf, als sie sahen, wie sie in den Fond von Molloys Wagen stieg, und noch erleichterter, weil er nicht als Polizeiwagen erkennbar war. »Ich bringe sie in einer halben Stunde zurück«, versprach Molloy. Ausnahmsweise hatte einmal ein Grinsen seine sorgenvolle Miene verdrängt. »Wir kommen großartig voran.« Harold Armstrong brachte als Entgegnung sogar ein schwaches Lächeln zu Stande.
17.54 Uhr Dr. Frank Clancy säuberte seine Brille an einem Zipfel seines weißen Kittels. Er hauchte die Gläser an, wischte sie erneut tro701
cken, und setzte die Brille wieder auf. Ohne große Begeisterung blätterte er in den eselsohrigen Seiten der Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er hatte die Angaben studiert, während er sich das Blutbild einer akuten Leukämie im Labor vornahm. Wie ein Anwalt vor Gericht hatte er sich das Für und Wider einer Verschwörungstheorie durch den Kopf gehen lassen. Dann, um ein wenig der verlorenen Zeit zurückzugewinnen, hatte er seinen Assistenten beauftragt, die Vorlesung zu halten. Egal, wie aggressiv er das Für vortrug, sein Instinkt plädierte für »nicht schuldig«. Die Angst vor den Konsequenzen, falls er sich täuschte, machte ihm sehr zu schaffen. Das ist ein rechtliches Minenfeld, sagte er sich. Du kannst nicht erwarten, dass dir nichts passiert, wenn du auf eine Mine trittst. Wieder blätterte er den Mary-Hyland-Ordner durch und hielt bei den rosafarbenen Medikationsseiten an. Nervös spielte er mit dem Rand, während er auf die einzige Eintragung starrte: Capoten 12,5 mg. Er wollte gerade weiterblättern, als ihm der Unterschied zwischen dieser Seite und den übrigen im Ordner auffiel. Sie sah neu aus, ganz im Gegensatz zu den abgegriffenen anderen. Das beunruhigte ihn sehr. Mit größter Behutsamkeit zog er die anschließenden Blätter so weit es ging aus der Klemmbefestigung heraus. Da sah er, dass ein winziges Stück rosafarbenes Papier an den Klemmen haften geblieben war. Jemand hatte in aller Eile die Originalseite entfernt. Irgendwer hatte sich am Mary-Hyland-Ordner zu schaffen gemacht. Frank Clancy fuhr sich mit dem Ärmel seines Kittels über die Stirn. Jemand versucht etwas zu vertuschen. Als er sich nach einem kurzen Blick durch die Jalousie zum Flur vergewissert hatte, dass ihn niemand stören würde, zupfte Clancy das Stückchen 702
rosa Papier aus der Klemmheftung und gab es in einen Briefumschlag, dann kehrte er zu den Seiten zurück, auf denen die postoperativen Maßnahmen verzeichnet waren. Die Handschrift wechselte, je nachdem, wer vom Team der Herzchirurgie die Untersuchung durchgeführt und die Eintragungen vorgenommen hatte. Manches war gut lesbar, anderes kaum zu entziffern. Da und dort konnte er Linda Speers gestochene Schrift erkennen. Aber die Eintragung, die er suchte, der eine Hinweis, den er benötigte, um die Puzzlestücke im Kopf zusammenfügen zu können, war nicht zu finden. Bis ihm die unverkennbare TippEx-Ausbesserung endlich auffiel. Auf einem der weißen Blätter mit den laufenden handschriftlichen Eintragungen, nachdem Mary Hyland von der Intensivstation in ein Krankenzimmer verlegt worden war, stand außer ihren Blutdruckwerten, der Temperatur etc.: Behandlung mit einmal täglich Capoten 12,5 mg fortsetzen. Danach folgte ein durch die Verwendung von Tipp-Ex entstandener freier Platz. Als er mit seiner Schreibtischlampe durch die Rückseite des Blattes blickte, konnte er mit viel Mühe die vorherige Eintragung erkennen:... und D/N Aspirin 300 mg. Ohne den Ordner zuzuschlagen, öffnete Clancy den zweiten, den des Patienten James Murphy, und blätterte rasch bis zu den letzten Eintragungen auf der rosafarbenen Medikationsseite, die ebenfalls nagelneu aussah. Auch hier steckten winzige Überreste der ursprünglichen Seite in der Klemmheftung. Laut den hinzugefügten Aufzeichnungen hatte auch James Murphy kein D/N Aspirin erhalten. Aber genau wie bei Mary Hyland wusste Clancy, dass er auf dem Computerschirm einmal täglich 300 mg des
Medikaments
gelesen
hatte.
Jemand
hatte
die
Medikationseintragungen geändert, aber in einer solchen Eile, 703
dass er unverwechselbare Beweise zurückgelassen hatte. Er kehrte zu seinem Computer zurück und rief die Dateien beider Patienten auf. Diesmal kam keine Warnung, dass momentan jemand anderer sie benutzte. Seine Befürchtung bewahrheitete sich: Irgendwer hatte die Eintragungen über das D/N Aspirin gelöscht! Clancy lehnte sich schwer in seinem Sessel zurück und starrte auf den Bildschirm. Sein Herz raste, und er schwitzte stark. Er spürte, wie unnatürlich rasch seine Brust sich hob und senkte. Was geht da vor? Er blickte auf seine Uhr, es war achtzehn Uhr zehn. Er rechnete nach. Achtzehn Uhr zehn in Irland war gegen Mittag in Chicago. Er hatte in einem dortigen Krankenhaus eine einjährige Ausbildung absolviert und wusste, dass es für dringende Auskünfte einen Medikamentennotruf gab. Das ermöglichte es behandelnden Ärzten und Notärzten, sofortige Informationen über jegliches Medikament zu erhalten. Diese Form der Kommunikation konnte, wenn es zur Einnahme einer Überdosis gekommen war, zwischen Leben und Tod entscheiden. Oder wenn ein stationärer Patient plötzlich ein ungewöhnliches medizinisches Problem entwickelte, das die Folge eines eingenommenen Medikaments sein mochte. Ein Anruf genügte, und innerhalb weniger Minuten erfuhr man über die Datenbank des Krankenhauses alles über legale und illegale, vom Arzt verschriebene oder rezeptlos besorgte Mittel. Clancy sah in seinem Notizbuch nach, griff nach dem Hörer und wählte. »Medikamentennotdienst.« Der freundliche Mittwesternakzent hob sofort seine Stimmung, fast wünschte er sich, er wäre wieder in Chicago. 704
»Hi«, begann er und wusste nicht, ob er sagen sollte, von wo aus er anrief. Die Verbindung war so gut, als befände er sich nur zwei Blocks entfernt. »Ich bin Dr. Frank Clancy und rufe aus Dublin in Irland an.« Er hatte sich für Halbwahrheiten entschieden. »Hi, Dr. Clancy. Was können wir hier in Chicago für Sie tun?« Die Stimme klang hilfsbereit. »Nun, eigentlich ist es ein simples Problem. Ich behandle einen Patienten aus den USA, der ein Medikament einnehmen soll, das es jedoch bei uns nicht gibt.« Er erfand eine Geschichte, während er sprach, das war einfacher, als irgendwelche Verschwörungstheorien erklären zu müssen. »Ich möchte eigentlich nur wissen, ob Ihnen dieses Mittel bekannt ist und welche Nebenwirkungen es haben kann.« »Kein Problem, Dr. Clancy. Sagen Sie mir nur, was Sie wissen, und ich sehe sofort nach.« »Es handelt sich um D/N Aspirin. Könnten Sie mir bitte sein Anwendungsgebiet auflisten und seine Nebenwirkungen?« »Einen Moment bitte.« Sogar über die Transatlantikverbindung konnte Clancy das Tippen auf der Tastatur hören. »Ah, hier ist es«, sagte die Schwester des Telefonnotdienstes nach zwei Minuten. »D/N Aspirin gibt es nur in einer Dosierung, dreihundert Milligramm. Es wird von Cynx Pharmaceuticals in Boston hergestellt und ist ein einmal täglich einzunehmendes Depotpräparat.« »Haben Sie eine Beschreibung davon? Ich meine, wissen Sie, wie es aussieht?« Tip-tip auf der fernen Tastatur. »Ja, Sir. Es ist eine ovale gelbe Tablette mit einem beidseitigen Teilspalt in der Mitte. Die Buchstaben CP stehen nur auf einer Seite.« 705
Eine Stimme echote plötzlich in Clancys Kopf. Harold Morells gewissenhafte, tüchtige Frau hatte gesagt: »Die rosa-blaue Tablette für seine Angina.« Clancy wusste, dass es sich dabei um das Capoten 12,5 mg handelte. Aber die zweite Tablette, »die kleine blaue« war ein Rätsel. Das D/N Aspirin, das Linda Speer höchstpersönlich ausgab, passte nicht zu der Beschreibung im US National Pharmaceutical Formulary. »Entschuldigen Sie«, Clancy klang so verwirrt, wie er sich fühlte, »könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?« Er hielt seinen Füllfederhalter in der Hand, um mitzuschreiben. »Aber sicher, Sir. Es ist eine ovale gelbe Tablette mit einem beidseitigen Teilspalt in der Mitte. Die Buchstaben CP stehen nur auf einer Seite.« »Sind Sie ganz sicher?« Die freundliche Stimme wurde hart. »Dr. Clancy, es ist mein Job, sicher zu sein. Wenn jemand hier anruft, will er Informationen und erwartet, dass sie stimmen.« »O Gott, es tut mir Leid«, entschuldigte sich Clancy. »Es ist nur, dass Ihre Beschreibung nicht auf die Tablette zutrifft, die ich hier habe.« »Dann kann es nicht D/N Aspirin sein.« Clancy starrte sprachlos auf den Hörer. »Sind Sie noch da, Dr. Clancy?« »Ja«, murmelte der Hämatologe verwirrt. »Möchten Sie noch die Angaben über die Nebenwirkungen?« Clancy starrte auf die Beschreibung von D/N Aspirin, die er mitgekritzelt hatte. »Nein, danke, nicht notwendig. Ich glaube, Sie haben Recht. Was vor mir liegt, ist kein D/N Aspirin.« »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, und grüßen 706
Sie Dublin von mir.«
18.10 Uhr »Biegen Sie hier links ab und dann bei der zweiten Seitenstraße noch einmal.« Joan Armstrong hatte sich auf dem Rücksitz geduckt, damit niemand sie sehen und erkennen konnte. Den Kopf hob sie nur so weit, dass sie Molloy den Weg zu beschreiben vermochte. »Nehmen Sie jetzt diese Straße bis zur Kreuzung, und fahren Sie dort nach rechts.« Molloy fuhr vorbei an roten Ziegelreihenhäusern, Wohnanlagen, Kricketplätzen und einer Reihe von Läden, in denen es alles zu kaufen gab, von Videogeräten bis zu chinesischem Fast Food. Die Straßen führten vorbei an den stilvollen Villen der Reichen und den protzigen Häusern der Neureichen. »Sehen Sie das nicht mehr benutzte Trafohäuschen weiter unten an der Straße?« Joan Armstrong hatte sich nun aufgesetzt und bemühte sich, an Molloy vorbeizusehen. Der Kriminalbeamte fuhr jetzt ganz langsam und ließ einen Motorradkurier auf der falschen Seite vorbeirasen. »Wo?« Dann entdeckte er es. Er fuhr auf die andere Straßenseite und parkte direkt daneben, dann sah er sich um. Es herrschte nicht der geringste Verkehr. Ein mit Graffiti verunziertes Schild verriet, dass dies hier die Mercers Road war. Unter dem Schild lag Unrat aus einem geplatzten Müllsack. Ein Hund schnüffelte an einem leeren Päckchen Crisps. »Ziemlich ruhig hier, nicht wahr?«, bemerkte Molloy. »Deshalb sind wir ja hergekommen.« Molloy drehte sich um und grinste. »Wo ist die Schultasche?«, fragte er rasch, damit sein unwillkürliches Grinsen nicht zu sehr 707
den Ernst der Situation milderte. »Drinnen.« »In dem Trafohäuschen?« »Ja, sehen Sie nach, ich wette, sie ist dort, wo sie sie hingestopft hat. Dort verstecken wir gewöhnlich unsere Beutel.« Joan Armstrong blieb im Wagen sitzen. Molloy stocherte mit der Kugelschreiberspitze am rostigen Schloss des Trafohäuschens, und die Tür ging mühelos auf. Die Schultasche stand in einer Ecke. Sie sah nicht so aus, als hätte sich jemand an ihr zu schaffen gemacht. Eine Spinne hatte ihr Netz über die Verschlusslasche gewoben. Er streifte sich Gummihandschuhe über und holte einen Plastiksack aus dem Kofferraum. Darin verstaute er die Schultasche. Dann sah er sich gründlich in dem Trafohäuschen um und betrachtete es auch eingehend von außen. Absolut nichts. Wieder schaute Molloy die Straße auf und ab. Auch jetzt war sie menschenleer, und niemand stand an einem Fenster der nahen Häuser. Niemand, der das Drama mit angesehen hatte, das sich in der warmen Abendsonne an der stillen Nebenstraße in Sandymount abgespielt hatte. Nur die Spinne, deren Netz er hatte zerreißen müssen. »Warum hier? Wo ist der Sandymount Park?« Molloy konnte sich nicht erinnern, je hier gewesen zu sein, und er wusste nicht, wo sie sich jetzt befanden. Er setzte sich auf den Fahrersitz. Die Tür hatte er offen gelassen, damit Luft hereinkam. Joan Armstrong hatte sich auf dem Rücksitz wieder geduckt, denn ein Lieferwagen fuhr vorbei, viel zu schnell für diese Nebenstraße, aber Molloy ignorierte ihn. »An der oberen Seite des Parks ist ein schmaler Durchgang, den Junkies benutzen. Sie können ihn von hier aus erreichen.« Ein Finger deutete an Molloys linkem Ohr vorbei. 708
»Fahren Sie bis zum Ende dieser Straße und biegen dann nach rechts ab. Dort sieht man drei große Granitsteine mit den Namen der Mietshäuser dort. Sie können sich an den Steinen vorbeizwängen, dann sind Sie an einem schmalen Pfad, der am Park entlang führt. Es sind nur ein paar Minuten von hier.« Der Finger wechselte die Richtung und Molloy drehte den Kopf, um ihm zu folgen. Er wusste immer noch nicht, wo sie sich befanden, aber er ließ den Motor wieder an und das Auto zum Ende der Straße rollen. Rechts, in einer Sackgasse, stand ein zweistöckiges Apartmenthaus. Die Straße endete nach etwa hundert Metern. Die Granitsteine sahen aus wie Meteoriten. »THE PALMS« war in einen gemeißelt. Molloy betrachtete blinzelnd die Häuser und dachte, dass ihm kaum ein weniger passender Name eingefallen wäre. Er stieg aus dem Wagen, zwängte sich zwischen zweien der Steine hindurch und entdeckte den schmalen Pfad. Vergeblich versuchte er, mit den Händen den Staub und Schmutz von der Kleidung zu entfernen, und kehrte dann zum Wagen zurück. »Woher hatte sie das Geld für die Drogen?« »Von ihren Eltern.« Joan Armstrongs Stimme wechselte wieder von überzeugt zu unsicher. »Die schwimmen im Geld«, fügte sie der Glaubwürdigkeit halber hinzu. »Wissen Sie, die haben ihr alles gegeben, was sie wollte.« Molloy fragte sich, was wohl in der Schultasche sein mochte. Er war so sehr damit beschäftigt, dass er kaum auf ihre Worte achtete. Er blickte das Mädchen durch den Rückspiegel an. Sie hatte den Kopf mit den pechschwarzen Haaren gesenkt und kaute an den vollen Lippen. Das Make-up konnte ihre Angst nicht verbergen. Er fand, dass sie genug für diesen Tag hatte. 709
»Braves Mädchen«, lobte er, als er sie zu Haus absetzte. »Sie hat mir sehr geholfen.« Die Armstrongs zwangen sich zu einem schwachen Lächeln, als sie ihre Tochter ins Haus ließen.
19.35 Uhr IST PSYCHO-JUNKIE JENNYS MÖRDER? Jim Clarke überflog die Schlagzeilen der Evening Post und las rasch Barry Nolans reißerischen Bericht. Vier Seiten waren der Morgenrazzia in
Hillcourt
Mansions
gewidmet
(»Dublins
berüchtigtes
Drogennest, wo Junkies sich verkriechen«) und der Verhaftung eines namentlich nicht genannten Mannes »in den Dreißigern, ein alter
Kunde
der
Polizei«.
Nolan
beschrieb,
wie
»der
Verdächtige« zuerst zum Bridewell Gefängnis gebracht worden war und dann zum Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte. Der Bericht war mit Bildern der Wagenkolonne aufgelockert, als sie von Hillcourt Mansions wegraste, und einer älteren Pressefotografie von Rockdale. Es folgte eine Auflistung der bekannteren Insassen des Hospitals und ihrer Schandtaten. Clarke steckte die Zeitung unordentlich zusammengefaltet in eine Jackentasche und blickte hinaus auf den schleppenden Verkehr entlang der O'Connell Street, Dublins Hauptverkehrsstraße. »Sie bringen mich besser heim, Mossy, mein Bein bringt mich um.« Moss Kavanagh blickte rasch durch den Rückspiegel auf das schmerzverzogene Gesicht und stieg aufs Gas. »Dein Vater ist wie ein Bär, sag um Himmels willen nichts, was ihn verärgern könnte.« Clarkes Frau war dabei, in der Küche eine Fleischpastete aufzuwärmen. Sie schenkte ein Glas Weißwein 710
ein. »Bring ihm das, und unterhalt dich mit ihm, bis ich ihm sein Dinner bringen kann.« Katy nahm heimlich einen Schluck und trug den Rest zu ihrem Vater. Clarke lag auf der Couch und blickte abwechselnd zum Fernseher und zu einer Blase an seinem kaputten Bein, die er eben erst entdeckt hatte. Die Frühabendnachrichten begannen mit der Verhaftung des namentlich noch nicht erwähnten Micko Kelly, der verdächtigt wurde, etwas mit dem Mord an Jennifer Marks zu tun zu haben. Ein rasches Zappen durch die Sender bestätigte, dass die meisten diese Story übernommen hatten. Clarke nahm wortlos das Glas und schüttete den Wein hinunter. Katy verzog das Gesicht und kehrte in die Küche zurück, um nachzuschenken. »Sein Bein sieht heute ganz schlimm aus, Mum«, flüsterte sie, während sie die Flasche aus dem Kühlschrank holte. „Psst“, ermahnte ihre Mutter sie leise. »Ich weiß, aber erwähn es ihm gegenüber nicht, es würde ihm nur noch mehr zu schaffen machen.« Katy goss das Glas voll und nahm wieder einen Schluck. Ohne sich umzudrehen, schimpfte ihre Mutter: »Trink ihm ja keinen weiteren Tropfen weg. Das ist alles, was ich zu Hause habe, und bei seiner Laune ist es vielleicht besser, wenn er ein wenig mehr trinkt als sonst.« Katy grinste, nahm einen größeren Schluck, füllte das Glas erneut bis an den Rand und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück. Die Atmosphäre war unerträglich. Sie stahl sich auf ihr Zimmer und griff nach einem Buch. Clarke aß sein Dinner schweigend, trank fast drei Viertel der Flasche leer und schleppte sich stöhnend zu Bett. Er sprach we711
der mit seiner Frau noch mit seiner Tochter und gönnte ihnen auch keinen Blick. In seinem Zimmer betrachtete er die Blase. Sie war größer geworden, hatte jetzt fast zweieinhalb Zentimeter Durchmesser und war mit dunklem Blut gefüllt. Das Bein schmerzte unerträglich, und er schluckte zwei Tabletten mehr, als er sollte, trotz der Warnung, dass sie nicht mit Alkohol eingenommen werden dürften. Dann sackte er ins Bett und schlief sofort ein.
20
21.45 Uhr »Ich finde, Sie sollten jetzt herauskommen.« Dr. Patrick Dillon stand vor der einzigen Gummizelle des Rockdale Hospitals für kriminelle Geistesgestörte. Neben ihm im Korridor warteten drei Wärter und zwei Medizinstudentinnen. Dillon hatte leise aufgeschlossen und die Tür geöffnet. Es war später, als ihm lieb war, aber Micko Kellys Zustand hatte es nicht früher zugelassen. Schließlich hatte Dillon ihn mit einer intramuskulären Injektion ruhig gestellt. »Es ist ein rasch wirkender Tranquilizer, dessen Wirkung bereits einsetzen müsste.« Die Studentinnen hörten ihm aufmerksam zu und machten sich Notizen. »Er kauert seit etwa vierzig Minuten in dieser Ecke. Ich bin dafür, dass wir ihm jetzt gut zureden.« Dillons Stimme war leise und ruhig, denn Kelly war der gestörteste Patient, den er seit langem gesehen hatte. Man wusste hier inzwischen alles über seinen Anfall in Bridewell. Niemand wollte ein Risiko eingehen. Es war sogar eine extra Zelle für ihn eingerichtet worden. 712
»Ich finde, Sie sollten jetzt herauskommen. Ihnen ist bestimmt kalt, und es ist auch schon spät.« Kelly hob den Kopf, als er nach der Stimme suchte. Fast fünf Minuten lang rührte er sich nicht, und niemand näherte sich ihm. Seine Augen wirkten glasig und sahen aus, als blickte er in weite Ferne. Hin und wieder blinzelte er langsam, wie um einen Fremdkörper zu entfernen. Die Wartenden waren gewarnt worden, sich völlig still zu verhalten. »Ich komme jetzt hinein«, murmelte Dillon und machte ein paar vorsichtige Schritte. Die Wärter folgten ihm. Die beiden Medizinstudentinnen beobachteten sie aufmerksam, sie hatten ihre Kladden eingesteckt und notierten alles im Kopf. Das hier war ein menschliches Drama in Reinkultur, nichts, was man aus Lehrbüchern erfahren konnte. Kellys Haar war schweißverklebt. Er hob eine Hand, als wolle er die sich nähernde Gestalt abwehren. „Ist schon gut, Michael, Sie sind jetzt in Sicherheit.“ Wieder hob sich die Hand, diesmal wie zum Verjagen von Fliegen, und Kelly starrte Dillon an. Seine Augen bewegten sich langsam, als registrierte sein Gehirn kaum, was er sah. Dillon kniete sich nieder. Kelly zuckte heftig zurück. »Fuck off.« Das klang halbherzig. Dillon griff sacht nach Kellys Hand und hielt sie fest. »Versuchen Sie aufzustehen. Sie frieren.« Die dicken Mauern der Anstalt hielten die Korridore und Zimmer immer warm, doch in die Gummizelle drang keine Wärme. Dillon legte nun die andere Hand fest um Kellys Ellbogen und zog ihn auf die Füße. Er stand unsicher, rollte die Augen, öffnete und schloss den Mund, während er an einer Seite seiner Zunge 713
kaute. Dillon führte ihn auf den Korridor. Kelly fröstelte und schirmte die Augen vor der plötzlichen Helligkeit ab. Mit einer Hand stützte er sich an die Wand. Die kleine Gruppe Wartender wich zurück. Kelly sah unterernährt aus, die Rippen ragten durch das Fleisch, und die Hüften schienen nur mit Haut überzogen zu sein. Seine Beine waren dünn und seine langen, verklebten Haare zerzaust. Seine Augen wirkten leer, und seine Hände bewegten sich wie in Zeitlupe. Dillon führte seinen Patienten am Ellbogen durch den Korridor, hielt an, wenn Kelly anhielt, und gestattete ihm sich umzusehen. Sein starrer Blick drückte Erstaunen, Verwirrung, Verständnislosigkeit aus. Zweimal versuchte er die stützende Hand abzuschütteln. »Ich möchte, dass Sie in dieses Zimmer gehen.« Dillon lenkte ihn in die für ihn hergerichtete Zelle. Kelly blieb an der Tür stehen und blinzelte auf das Bett in der Mitte des Raums. Seitlich davon befanden sich ein kleines Waschbecken und ein Klosett. Die Wände waren sauber und nicht zerkratzt. Nur die Gitterstäbe am Fenster wiesen darauf hin, dass es eine Zelle war. Kelly gestattete, dass Dillon ihn hineinführte und ihm half, sich schwerfällig auf dem Bett auszustrecken. Er blieb auf dem Rücken liegen und starrte zur Decke. Auch die Wärter und Studentinnen betraten den Raum. Kelly kaute weiterhin langsam an einer Seite seiner Zunge, gähnte hin und wieder und öffnete dabei den Mund so weit, dass der schlechte Zustand seiner Zähne zu erkennen war. »Angela«, Dillon wandte sich an die hübsche Studentin, die ihr blondes Haar zu einem Knoten zusammengesteckt hatte. »Ich werde ihn jetzt untersuchen. Wir müssen physische Gründe für 714
diese Psychose ausschließen. Würden Sie bitte meine Beobachtungen aufzeichnen?« Ein Wärter händigte ihr Micko Kellys Krankenblatt aus, und Angela zückte ihren Kugelschreiber. Dillon schlüpfte in Latexhandschuhe, je zwei übereinander. »Das Kopfhaar und der Bart sind von Läusen befallen.« Er hielt inne. »Wir werden Ihnen wohl einen Haarschnitt und eine Rasur verpassen müssen.« Kelly rollte die Augen und murmelte eine Antwort, die nicht zu verstehen war. Einer der Wärter trat ans Kopfende des Bettes und nahm eine Schere zur Hand. Minuten später lag das Haar mit Läusen und Nissen in einer kleinen Pappschachtel. »Verbrennen Sie das«, befahl Dillon und fuhr fort zu diktieren. »Die Nase weist eine Schwellung der Schleimhaut auf, und es besteht konjunktive Hyperämie mit ikterischen Veränderungen.« Dillon wies die Studentin auf die Verfärbung von Kellys Augen hin, die auf Gelbsucht schließen ließen. »Öffnen Sie den Mund.« Kelly gehorchte und rollte die Augen, während er den Arzt beobachtete. Dillon achtete darauf, dem Mund mit den Fingern nicht zu nahe zu kommen. »Sehr mangelhafte Zahnpflege.« Die Finger glitten jetzt Kellys Hals entlang. »Drüsen sind nicht vergrößert.« Die Finger strichen über Schultern und Arme. »Injektionsspuren an beiden Armen mit Venenthrombose. Die Fingernägel sind zu lang.« Der Wärter schnitt sie. »Setzen Sie ihn auf.« Er drückte ein Stethoskop auf Kellys Brust. »Lungenflügel in Ordnung, Herzgeräusche normal. Sie können ihn wieder hinlegen.« Der Blutdruck wurde gemessen. »Sein Körper weist unverkennbare Gynäkomastien auf.« Dillon erklärte 715
diese Beobachtung. »Sehen Sie die fast weibliche Verteilung von Fett auf der Brust?« Köpfe beugten sich interessiert vor. »Das deutet auf einen bereits lange bestehenden Leberschaden hin.« Dillons Finger betasteten nun Kellys Bauch. »Die Leber ist vergrößert und reicht fünf Querfinger unter den rechten Rippenbogen. Der Rand ist hart und unregelmäßig. An der Hautoberfläche von Rumpf und Abdomen befinden sich Lebersternchen.« Seine Hände untersuchten jetzt Kellys Leisten unter der Unterhose. »Es besteht eine Hodenatrophie.« Dillon vergewisserte sich noch einmal. »Ja, sie ist sogar sehr ausgeprägt.« Die klinischen Befunde und Vorschläge für die Behandlung von Patient 1142, Michael Leo Kelly, wurden auf dem Korridor diskutiert. »Er zeigt aggressive, paranoide Psychose«, begann Dillon. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Wärter in die Zelle gingen und wieder herauskamen. »Dass er schon lange Drogen nimmt, ist bekannt. Das deutet darauf hin, dass es sich dabei um einen durch diese Sucht hervorgerufenen Anfall handelt. Es gibt auch Anzeichen von chronischem Leberversagen. Seiner Gefängnisakte nach hat er Hepatitis B und C.« »Könnte das seine Psychose erklären?«, fragte die Studentin mit dem blonden Haarknoten. »Vielleicht ist das eine toxische Reaktion auf Grund seiner geschädigten Leber?« Dillon dachte darüber nach. »Es wäre eine Möglichkeit. Wir werden eine komplette Analyse seines Blutes vornehmen, mit Leber- und Nierenfunktionstests,
sowie
toxikologische
Drogenmissbrauchuntersuchungen.
Und
Alkohol-
seinen
und
infektiösen
Hepatitis-Status werden wir auch noch überprüfen.« Er warf 716
einen Blick in die Zelle. Kelly lag so, wie er ihn verlassen hatte. Er starrte mit glasigen Augen zur Decke, dabei gähnte er mit weit aufgerissenem Mund und kaute weiterhin an seiner Zungenseite. Dillon wandte sich wieder den Studentinnen zu. »Er ist jetzt viel ruhiger und, zumindest für seine Verhältnisse, umgänglicher geworden. Wir werden ihn behutsam behandeln müssen, ihn aufpäppeln, damit er wieder Fleisch auf die Rippen bekommt, und ihn körperlich und geistig gesund pflegen.« Er erinnerte sich an sein Gespräch mit Jim Clarke. »Dann wird er ans Kreuz geschlagen.«
21
23.17 Uhr »Dr. Clancy, wie geht es Ihnen?« Der Mann an der Tür in Blanchardstown, dem Westdubliner Vorort, blickte Frank Clancy im gelblichen Schein der lichtschwachen Eingangslampe an. »Großer Gott, Sie sehen aber müde aus! Möchten Sie nicht auf eine Tasse Tee hereinkommen? Es ist schon spät, Sie müssen ja völlig erschöpft sein.« Clancy dankte, sagte aber, er sei in Eile. Nachdem er die vorsätzlichen Änderungen, Fälschungen, wenn man es richtig ausdrücken wollte, in den handschriftlichen Krankenakten und in den Computerdateien sowohl von Mary Hyland als auch von James Murphy entdeckt hatte, war er sich sicher, dass im Mercy Hospital manches nicht mit rechten Dingen zuging. Sein Gespräch mit Chicago hatte ihn zutiefst erschreckt. Er war überzeugt, dass es gar nicht D/N Aspirin war, was die Patienten bekommen hatten. Aber was dann? Was waren diese »kleinen blauen« Ta717
bletten, die jeder der drei Patienten eingenommen hatte und die vermutlich zu dieser Agranulozytose geführt hatten? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden: Er musste an eine diese Tabletten herankommen! Deshalb stand er jetzt vor der Haustür von Ned Hylands kleinem Cottage in Blanchardstown. Er hatte zuvor angerufen und erklärt, wer er war. Er war überzeugt, dass sich der Mann der verstorbenen Mary Hyland nur zu gut an ihn erinnerte. »Ah, Dr. Clancy«, hatte ihn Ned Hyland am Telefon begrüßt. »Ich freue mich, wieder von Ihnen zu hören. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen für alles bin, was Sie für Mary versucht haben. Aber gegen Gottes Willen sind wir eben alle machtlos.« Clancy hatte höflich zugehört und das Gespräch allgemein und simpel gehalten. Dann hatte er ein paar Fragen über Mary Hylands Medikation gestellt, bevor sie zum letzten Mal ins Mercy Hospital eingeliefert worden war. »Die >kleinen blauen< Tabletten, erinnern Sie sich an sie, Ned?« »Und ob ich mich erinnere. Dr. Speer hat sie selber ausgegeben, jeden Donnerstag. Ich musste sie persönlich abholen.« Das war alles, was Clancy wissen wollte. »Es sind nicht zufällig welche übrig geblieben?«, fragte er scheinbar gleichmütig. »Die meisten Leute entsorgen sie, aber vielleicht haben Sie welche aufgehoben?« »Die kleinen blauen?« „Ja, die kleinen blauen.« »Sie werden es nicht glauben, Dr. Clancy.« Ned Hyland war einer dieser Leute aus der Provinz, die die Gewohnheit haben, jeden Satz wie eine wichtige Aussage klingen zu lassen. »Ich werfe 718
nie was weg. Medikamente sind zu verdammt teuer, um sie einfach wegzuwerfen. Ich habe eigentlich vorgehabt, sie für irgendeinen armen Teufel, der nicht dafür zahlen kann, ins Krankenhaus zurückzubringen. Bin bloß noch nicht dazu gekommen.« „Sie haben sie also noch?«, vergewisserte Clancy sich. „In einer kleinen Schachtel oben in der Rumpelkammer.« “Dürfte ich zu Ihnen kommen und sie abholen?“ „Ah, die Mühe müssen Sie sich nicht machen. Sie haben bestimmt hundert und mehr wichtigere Dinge zu tun. Ich bringe sie Ihnen morgen ins Krankenhaus.« „Nicht notwendig. Ich bin später sowieso in Ihrer Gegend«, log Clancy. »Ich komme auf einen Sprung bei Ihnen vorbei.« „Ist gut, Dr. Clancy. Ich freue mich, Sie wiederzusehen.« Was offenbar stimmte. Er hatte die Schachtel mit den »kleinen blauen« Tabletten auf das Dielentischchen gleich hinter der Haustür gelegt. Mit bedeutungsvoller Geste nahm er den Deckel ab. »Da sind sie. Tut mir Leid, dass bloß fünf übrig geblieben sind.« Clancy hob eine vorsichtig hoch und drehte sie um. Ohne seine Brille und in dem schlechten Licht konnte er die Buchstaben darauf nur schlecht erkennen, aber schließlich machte er sie doch aus: CYN. Auf der Rückseite stand XR »Perfekt«, murmelte er. Sein Herz raste vor Aufregung. Flüchtig sah er vor seinem inneren Auge das schadenfrohe Gesicht von Linda Speer. »Haben Sie allerbesten Dank.« Ned Hyland strahlte in der Düsternis. Er freute sich sehr, dass er einem so wichtigen Mann helfen konnte. »Es müssen arg teure Tabletten sein.« Clancy, der gerade hatte gehen wollen, drehte sich um. »Wieso sagen Sie das?« 719
»Na ja, so ungefähr eine Stunde, nachdem Sie mich angerufen haben, hat irgend so ein Kerl auch angerufen und mich nach diesen Tabletten gefragt.« »Haben Sie ihm etwas gesagt?« Clancy gelang es nicht, seine Besorgnis zu verbergen. »Nur dass Sie kommen und sie abholen, sonst nichts. Ich habe ihm gesagt, dass Sie ihm vielleicht eine abtreten könnten.« Hyland hielt inne, denn er merkte, wie erregt Clancy plötzlich war. »Habe ich was falsch gemacht, Dr. Clancy? Hätte ich das nicht sagen sollen?« Clancy zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln und schüttelte Hylands Hand. »Nein, Sie haben nichts falsch gemacht, Ned. Bestimmt nicht. War vermutlich einer der anderen Ärzte, der mich bei meinen Forschungsarbeiten überholen möchte.« Ned Hyland seufzte erleichtert. »Sie werden Ihren Konkurrenten bestimmt davonrasen, Dr. Clancy. Zeigen Sie es den anderen Bastarden, bevor die auch bloß aus ihren Startlöchern kommen! Clancy lächelte, als er zu seinem Wagen zurückkehrte. Die kleine Schachtel hielt er fest in der Rechten. »Das werde ich, Ned«, rief er über die Schulter. »Ich werde meinen Gewinn schon abholen, wenn die anderen noch gar nicht am Ziel sind.« Hyland schloss die Tür und amüsierte sich über diesen Vergleich mit den Pferderennen. Wenige Augenblicke später hörte er, wie ein zweiter Wagen startete und mit hohem Tempo davonfuhr. »Elende Hurensöhne«, murmelte er. »Verdammte Wichtigtuer.« Er wandte sich dem Fernseher zu, um die Spätnachrichten anzuschauen.
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22
Freitag, 15. Mai, 7.46 Uhr Das Wetter änderte sich über Nacht. Vom Atlantik breitete sich eine Schlechtwetterfront über die Täler und Höhen von Kerry und Westcork aus. Schwarze Wolken überzogen das Land und brachten Sturm mit sich. Als wollte der Wettermacher seine Wut austoben, ließ er den Sturm an den Fensterläden rattern und jagte den Haustieren solche Angst ein, dass sie sich unter Betten und in Nischen verkrochen. Blitze erhellten Himmel und Felder, wie um vor dem kommenden Wolkenbruch zu warnen. Der einsetzende Regen ergoss sich sintflutartig über stille Landstraßen, Feldwege, grüne Wiesen und dunkle Moore. Er bohrte sich in die Erde und wusch tausende von Grabsteinen im Land. Gegen fünf Uhr erreichte das Unwetter Dublin. Der Sturm fegte wie ein Tornado zwischen den Häusern und verstreute den Müll der Reichen zwischen dem Unrat der Armen. Der Regen füllte Gullys und Fallrohre und spülte die Blutflecken ab, die immer noch an den Grashalmen im Sandymount Park geklebt hatten. Gegen sechs Uhr waren dort alle Spuren des Mordes an Jennifer Marks weggewaschen. In dem Moment, als das Unwetter die irische Hauptstadt erreichte, platzte die blutgefüllte Blase an Jim Clarkes Bein. »Wach auf, Jim, dein Bein blutet.« Die sanfte Hand seiner Frau rüttelte ihn behutsam. Er hatte zum ersten Mal seit Wochen durchgeschlafen und seine Rückenlage während der Nacht nicht ein einziges Mal verändert. Dann wurde ihm bewusst, dass seine Tochter Katy neben ihm lag. Erschrocken über die Schmerzen ihres Vaters war sie vor dem Schlafengehen noch zu einem Gute721
nachtkuss zu ihm gekommen. Da er bereits schlief, hatte sie sich vorsichtig, mit einem Arm um seine Taille, an ihn gekuschelt und war ebenfalls eingeschlafen. So hatten sie die ganze Nacht über gelegen. Maeve hatte nach ihnen gesehen, ehe sie selbst zu Bett ging, sie jedoch nicht gestört. »Jim, wach auf!« Clarke hob benommen den Kopf und blickte zum Fußende des Bettes. Er versuchte sein Bein zu heben, was ihm erstaunlicherweise ohne Schmerzen gelang, aber das Blut war nicht zu übersehen. »O Gott!«, entfuhr es ihm. »Beweg dich nicht«, ermahnte ihn Maeve, während sie sich bemühte, die Decke behutsam vom Betttuch zu entfernen. Katy schlief weiter, jetzt mit einem Arm auf der Brust ihres Vaters. Clarke beugte sich zu ihr hinüber und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe im Krankenhaus angerufen. Du sollst vor neun Uhr dort sein. Dr. Kelleher wird dich persönlich behandeln.« Clarke duschte mit einem Plastikbeutel um sein Bein, dann frühstückte er stumm, während er darauf wartete, dass Moss Kavanagh ihn abholte. Er brauchte nur fünf Minuten in der Notaufnahme zu warten, ehe er das verwuschelte graue Haar seines behandelnden Arztes sah, der auf ihn zukam. »Wieder mal überanstrengt?«, fragte ihn Kelleher. »Ich habe einen Job zu erledigen, Declan. Wir stehen wegen des Mordes am Marks-Mädchen unter großem Druck.« Kelleher nahm das beschädigte Bein gründlich in Augenschein. »Das ist auch eine schreckliche Sache.« Er wartete noch einen Moment, bis das Bein endlich aufhörte zu bluten. »Denken Sie irgendwann einmal auch an sich selbst?« Clarke ignorierte die Frage. »Sie werden besser auf Ihr Bein Acht geben müssen, es bildet sich ein Geschwür.« 722
Ein eisiges Schweigen war Clarkes einzige Reaktion. Kelleher rief eine Schwester und gab ihr Anweisungen für die Behandlung. Ehe er das Zimmer verließ, beugte er sich hinunter und flüsterte Clarke ins Ohr: »John Regan ist auf dem Kriegspfad. Er hat alle im obersten Stockwerk zu einer Pressekonferenz befohlen.« Er grinste schadenfroh. »Gott helfe jedem, der heute mit einem Herzanfall eingeliefert wird.«
10.00 Uhr »Guten Morgen, meine Damen und Herren. Danke, dass Sie so kurzfristig erschienen sind.« Gesundheitsminister Regan befand sich in demselben großen Saal, in dem er vor acht Monaten seine viel bejubelte Pressekonferenz abgehalten und sein Dreamteam präsentiert hatte. Auf dem Podium hinter Regan saßen Dan Marks, Linda Speer und Stone Colman, alle schwarz gekleidet und mit ernstem Gesicht. Kein Vergleich zu dem Glanz und der gehobenen Stimmung ihres damaligen Auftritts. Auch die Transparente und Plakate mit den Werbeslogans der Regierung fehlten jetzt. Regan hatte sich ebenfalls dem Anlass entsprechend gekleidet. Er trug einen anthrazitgrauen Einreiher und statt eines seiner üblichen farbenfrohen Binder eine schwarze Leinenkrawatte. »Ich will nicht wieder auf die Schreckenstat vom Dienstag eingehen.« Er drehte sich um und blickte zu Dan Marks. »Außer um Ihnen allen zu versichern, dass wir den Mörder von Jennifer Marks vor Gericht bringen werden. Wir haben einen Verdächtigen verhaftet. Er befindet sich in Sicherheitsverwahrung. Er wird die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.« Seine Stimme war laut und Aufmerksamkeit gebietend, seine Haltung verriet mühsam beherrschten Zorn. »Wir sprechen Dan und 723
Annie Marks nochmals unser tiefes Beileid für ihren tragischen Verlust aus.« Dan Marks blickte auf und nickte dankend. »Wir sind uns des Leides und der Trauer bewusst, die nicht nur alle in diesem Saal mit ihnen teilen, sondern auch die Menschen im ganzen Land.« Er schaute ins Publikum. Der Saal war voller Medienvertreter, von denen eine beachtliche Anzahl von der Ostküste der USA gekommen war. Die übrigen waren Kardiologiepersonal des Mercy Hospitals und Regierungsleute, die von ihren Schreibtischen hierher befohlen worden waren. »Diese Regierung ist entschlossen, die Arbeit der Herz-Stiftung fortzuführen.« Er machte eine Pause, und seine Hände umklammerten das Stehpult so fest, dass seine Fingerknöchel sich weiß unter der Haut abhoben. »Ich möchte betonen, dass das Spezialistenteam hinter mir entschlossen ist zu bleiben und die Arbeit, die es begonnen hat, zu Ende zu führen.« Regans Berater Flanagan klatschte Beifall. Kurz darauf war der ganze Saal von begeistertem Applaus erfüllt, während die Fernsehkameras sich auf die ernsten, entschlossenen Gesichter der drei Ärzte des Dreamteams richteten. »Wir werden weitermachen!« Regan musste brüllen, um über den tosenden Applaus gehört werden zu können. »Wir lassen uns nicht unterkriegen.« Dr. Clancy hörte in einer hinteren Ecke des Saals zu. Er hatte sich zu Beginn der Pressekonferenz hineingestohlen und sich hinter einer Fernsehcrew versteckt. Während Regans gesamter Ansprache hielt er den Kopf gesenkt und das Kinn gegen die Brust gedrückt. Sobald der Applaus aufbrandete, verließ er den Saal unauffällig wieder. »Diese Regierung ist entschlossen, die 724
Arbeit der Herz-Stiftung fortzuführen.« John Regans entschiedenes Versprechen beunruhigte ihn. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Regierung das Projekt mit allen Mitteln unterstützen würde.
Der
Mord
an
Jennifer
Marks
schien
Regans
Entschlossenheit noch verstärkt zu haben. Als Clancy auf dem regennassen Bürgersteig stand und sich bemühte, ein Taxi herbeizuwinken, machte er sich wieder Sorgen wegen seiner Verschwörungstheorie. Vorsichtig, Frank, ermahnte er sich. Der Schuss könnte nach hinten losgehen. Du brauchst weitere Fakten und Zeit, dir deine Strategie neu zu überlegen. Ein Taxi fuhr heran, und er stieg ein. Die dunkle Gestalt, die ihn beobachtete, bemerkte er nur aus den Augenwinkeln.
23
11.17 Uhr »Wir haben schon fast alles untersucht, was Sie uns gebracht haben.« Arnold Leeson, der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin, spürte Jim Clarkes Ungeduld, und er beschloss, möglichen Bitten oder Vorwürfen vorzubeugen. »Wir wissen vor Arbeit nicht, wo uns der Kopf steht«, erklärte er, während er ein Formular unterschrieb, das ihm einer seiner Assistenten mit Latexhandschuhen vorlegte. »Ich bin nicht hier, um Druck auszuüben«, log Clarke. Leeson kritzelte
eine
weitere
Unterschrift,
die
er
mit
einem
schwungvollen Schnörkel beendete. »Gott sei Dank. Sowohl der Justiz- als auch der Gesundheitsminister haben einen vorläufigen Bericht
über
Kelly
angefordert.«
Er
bemerkte
Clarkes
Erschrecken. »Keine Angst, ich habe ihnen keinerlei Auskunft 725
erteilt. Vor dem Wochenende werden wir sowieso kaum etwas haben. Bis Montag werden Sie doch wohl noch warten können?«, fügte er hinzu. Kavanagh, der hinter Clarke stand, schüttelte den Kopf. »Was ist mit dem Sack, den wir gestern gebracht haben? Dürfen wir uns den Inhalt ansehen?«, bat Clarke. Leeson öffnete die schwere Sicherheitstür zwischen Empfang und Arbeitsräumen. Mit einem Stupsen seiner Krückenspitze deutete Clarke an, dass Kavanagh vorausgehen sollte. »Molloy wartet schon seit neun Uhr auf Sie«, sagte Leeson jetzt. Er ließ die Tür hinter ihnen zufallen. Sie gingen in das kleine Zimmer, das für das Beweismaterial im Fall Jennifer Marks bereitgestellt worden war. Es war so eng, dass Kavanagh auf dem Korridor stehen bleiben musste. Er spähte über die Schultern der Männer ins Innere. Tony Molloy saß mit gerunzelter Stirn auf einem hohen Hocker, der einzigen Sitzgelegenheit, Arnold Leeson zwängte sich in die Ecke und klemmte sich ein Mikrofon in die bleistiftgefüllte Brusttasche seines weißen Kittels, das Mikrokassetten-Diktiergerät steckte in einer Seitentasche. Er nahm ein Klemmbrett und legte eine neue DIN-A4-Seite ein. Molloy bot Clarke den Hocker an, und beide tauschten Platz. »Okay, erst Gummihandschuhe anziehen, ehe Sie irgendetwas anrühren«, ermahnte Leeson sie. Das Siegel an dem Beweissack wurde gebrochen und Jennifer Marks' Schultasche auf den Arbeitstisch gelegt. Alle Augen ruhten auf dem prallen grünen Segeltuchbeutel mit den Lederriemen. Die Umschlagklappe war vorne mit einem Schnappschloss gesichert. Der Name JENNIFER MARKS stand, mit dickem schwarzen Filzstift geschrieben, auf dem Segeltuch. Den äußeren 726
Rand eines jeden Buchstabens hatte jemand mit rotem Filzstift nachgezogen. RADIOHEAD stand, ebenfalls mit schwarzem Filzstift geschrieben, entlang einer Seitenklappe. Es gab zwei Seitentaschen, deren Verschlüsse eingerastet waren. Spinnwebfäden klebten an den Lederriemen und vorne an dem grünen Segeltuch. Clarke hob die Tasche und betrachtete sie von allen Seiten. »Sie ist sehr leicht.« Er blickte Leeson an. »Ich werde sie jetzt öffnen.« Die Schnallenverschlüsse knackten beim Offnen, und die Umschlagklappe wurde nach hinten gezogen. Auf der Innenseite war weiteres Gekritzel mit schwarzen Filzstiften zu sehen, ein Herz und der Name eines Popstars, Jon Bon Jovi. Nach dem Öffnen der Seitentaschen listete man ihren Inhalt auf. In der linken steckten eine geöffnete Packung Tampons, mehrere Kugelschreiber und ein Bleistift. Die rechte Tasche enthielt Kleingeld, eine angebrochene Schachtel Benson & Hedges, einen Lippenstift, einen Lidschattenstift und eine Kompaktpuderdose. Clarke blickte in die Zigarettenschachtel. Sie war etwa halb voll. Leeson führte alles auf seinem Klemmbrett an. »Okay«, schlug er vor, »Sie sprechen deutlich, was Sie gefunden haben, und ich nehme es auf meinem Recorder auf. Fangen Sie mit der linken Seitentasche an.« Gummibehandschuhte Finger drehten das Tamponpäckchen um. Wäre der Boden nicht voller Tinte gewesen, hätte es nicht anders ausgesehen als jedes andere Tamponpäckchen auch. »Es enthält fünf Tampons, davon sind vier noch in ihrer Zellophanschutzhülle«, begann Clarke. »Alle sehen sauber aus.« Er leerte das Päckchen auf den Tisch. Die vier unberührten Tampons und ein unverpackter Pappzylinder mit 727
gepresstem Wattetampon lagen auf der Tischplatte. Der Zylinder war elfeinhalb Zentimeter lang und hatte einen Durchmesser von etwa eineinviertel Zentimetern, bei der Öffnung war ein Stück der Rückholschnur zu sehen. Clarke blinzelte hinein. »Sieht okay aus.« Leeson schürzte die Lippen. »Öffnen Sie ihn.« Clarke drehte
die
Papphülle
von
dem
inneren
Zylinder.
Ein
Selbstklebeband war fest um weißes Pulver gewickelt, das Ganze in die Papphülle gestopft und ein abgeschnittener Wattetampon darauf geschoben worden. »Sehen Sie, was ich meine?«, fragte Leeson. »Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie einfallsreich Jugendliche sind, wenn es darum geht, Stoff zu verstecken.« Molloys Stirnrunzeln vertiefte sich. Er zeigte mit der Spitze eines Kugelschreibers auf das Päckchen. »Sieht aus wie Heroin.« Leeson beugte sich vor und betrachtete es. »Ich werde es übers Wochenende analysieren lassen.« Kavanagh beschwerte sich kopfschüttelnd. »Übers Wochenende? Ihr Burschen hier arbeitet wohl überhaupt nicht. Wie wärs, wenn Sie sich das Zeug über Nacht vornehmen?« Leeson funkelte ihn finster an, dann wandte er sich wieder an Clarke. »Nehmen Sie sich die Zigaretten vor.« Behandschuhte Finger holten behutsam zwölf Zigaretten aus der Schachtel. Sie hatten Standardgröße. Das untere Ende von drei Zigaretten war fast unmerklich manipuliert worden, es enthielt die unverkennbare Mischung von Tabak und Haschisch. Leeson reichte ihm einen Umschlag. »Stecken Sie sie da hinein.« »Ein viel versprechender Anfang«, stellte Molloy fest. Leeson verzog keine Miene. Er kratzte sich die Nase mit der Kante seines Klemmbretts. »Für eine Klosterschülerin aus bestem Haus, 728
ja. Für übliche achtzehnjährige Drogenabhängige wahrscheinlich weniger, als ich erwartet hätte. Was wir finden und wo es versteckt war, verrät enormen Einfallsreichtum. Wenn dieselbe Meute ihr Geschick und ihre Kreativität für wichtigere Dinge einsetzen würde, wäre das nicht nur besser für die Kids, sondern auch für uns.« Molloy grinste. »Dann wären Sie ja arbeitslos, Arnie, nicht wahr?« Leeson ignorierte ihn. »Machen Sie weiter. Schauen wir mal, was wir noch alles finden werden.« Die pralle grüne Segeltuchtasche war oben mit einem durch Ösen gefädelten, an den Enden verknoteten Lederband zusammengezogen, ließ sich jedoch mühelos öffnen. Obenauf in der Tasche lag eine dunkelblaue Jacke. Darunter fanden sich eine weiße Bluse, eine dunkelblaue Strumpfhose und ein Paar »vernünftige« schwarze Schuhe. Alles wurde herausgehoben und betrachtet, die Taschen umgedreht, die Säume betastet, aber nichts gefunden, ehe man es einstweilen in einer Ecke ablegte. Clarke langte noch einmal in die Tasche und brachte einen dunkelblauen Schal, dunkelblauen Rock und ein einsames Schulheft zum Vorschein. »Eine fleißige Schülerin, nicht wahr?«, bemerkte Kavanagh vor der Tür. Alle Aufmerksamkeit richtete sich nun auf den Rock. Molloy wies darauf. »Der Augenblick der Wahrheit.« Leeson schob sich vorwärts und ermöglichte es Kavanagh dadurch, sich ins Zimmer zu zwängen. In dem winzigen Raum war es nun unangenehm warm, und man lockerte die Binder. Clarke breitete den Rock auf dem Labortisch aus. »Übernehmen Sie.« Molloy inspizierte die äußere Seite. Sie sah sauber und frisch aus. Der Bund war 729
dreimal eingerollt worden, um die Rocklänge zu kürzen. Ein Knopf war am Bundschlitz abgerissen, und eine Sicherheitsnadel hielt die beiden Teile zusammen. Jetzt wendete er den Rock und strich mit den Fingern über den unteren Saum. »Da ist etwas!«, rief er mit aufgeregter Stimme. »Da ist etwas.« Der Saum war in einer Länge von etwa fünfundzwanzig Zentimetern aufgetrennt und unbeholfen mit einem andersfarbigen Faden wieder zugenäht worden. Leeson zog eine kleine Schere mit scharfen Spitzen aus einer Kitteltasche und gab sie ihm. Mit zwei Schnitten war die amateurhafte Naht aufgetrennt. Mit dem kleinen Finger zog Molloy ein aus Selbstklebefolie gefertigtes Beutelchen hervor. »Was ist drin?« Leeson bemühte sich, über Clarkes Schulter zu sehen. Molloy versuchte die Folie zu öffnen. »Weiß noch nicht.« Schließlich gelang es ihm, eine Ecke aufzumachen. Vier kleine, eckige blaue Tabletten lösten sich und fielen nacheinander auf die Tischplatte. Zwei landeten auf der Unterseite, dadurch war die obere Einprägung gut zu erkennen: D117C. Die beiden anderen lagen umgekehrt. Ihre Einkerbung lautete: CYN. »Haben Sie eine Ahnung, was das ist, Arnie?«, fragte Clarke. Leeson hob eine Tablette hoch und betrachtete sie, zuerst ohne, dann mit Brille. »Hab diese Sorte noch nie gesehen. Ich lasse eine analysieren. Wir werden das Ergebnis aber nicht...« »... vor dem Wochenende haben«, unterbrach ihn Molloy und beendete den Satz für ihn. »Ich gebe Ihnen Montag Bescheid.« Leeson drehte sich zu Molloy um. »Wissen Sie, wenn Sie nicht ein so großer Bastard wären, würde ich Ihnen in die Eier treten.« Molloy blickte vom Labortisch auf. »Treten Sie ruhig, Arnie. Dann erleben Sie ausnahmsweise mal was.« Das kleine 730
Geplänkel lockerte die angespannte Atmosphäre und man beschloss, eine Pause einzulegen. Sie wollten gerade das Zimmer verlassen, als Molloy die Schultasche auf den Kopf stellte. Ein Päckchen Zigarettenpapier fiel heraus. Die Worte EE-NIEMEENIE-MO waren darauf gekritzelt. Um das MO herum war ein Herz gezeichnet, durch das ein Pfeil ragte. Der Pfeil war ein nicht sehr gelungener Versuch, einen erigierten Penis darzustellen. »Geben Sie es zu den anderen Beweisstücken«, wies Leeson ihn an. »Es könnte etwas bedeuten, vielleicht ist es aber auch nur eine witzig gemeinte Kritzelei.« Clarke blätterte durch das Schulheft. Es war Jennifer Marks' Französisch-Hausaufgabenheft. Offensichtlich war sie nicht gerade ein Sprachtalent gewesen. Die blaue Tinte ihrer Eintragungen war von roten Korrekturen übersät. Auf jeder zweiten Seite fing eine neue Hausaufgabe an. Des Öfteren stand am Ende: »Kommen Sie nach der Schule zu mir ins Lehrerzimmer.« Nachdem Leeson die Tür verschlossen hatte, gingen die Männer, in ein Gespräch vertieft, den Korridor entlang. Clarke hatte zwei der geheimnisvollen blauen Tabletten in seine Jackentasche gesteckt. »Wir arbeiten an Teilen ihrer Kleidung.« An einer verschlossenen Tür wurden sie aufgehalten. Leeson wies sich aus. »Kommen Sie mit.« Die Biologische Abteilung des Gerichtsmedizinischen Instituts bestand aus vier Räumen an der Westseite des Hauptgebäudes, von denen man einen Blick auf die Sportplätze hatte. Auf den Labortischen standen Mikroskope und ein Absaugschrank. Papiere lagen verstreut herum. In einer Ecke hing über einem 731
großen, trichterförmigen Behälter aus rostfreiem Stahl ein Kleiderbügel, über den ein blutiges Kleid drapiert war. Ein weiß bekittelter Chemiker bürstete es sorgfältig aus und beobachtete, wie Staub und Fusseln sich lösten und in den Behälter fielen. »Hierher«, wies Leeson seine Begleiter an, und Clarke humpelte zu einem breiten Labortisch. Dahinter arbeitete ein junges und sehr hübsches dunkelhaariges Mädchen. »Wir werden uns den schwarzen Rock vornehmen«, erklärte Leeson mit einem Blick auf das Mädchen. Jennifer Marks' schwarzer Rock wurde auf dem Tisch ausgebreitet und der Saum behutsam aufgeschnitten, um die gesamte Länge untersuchen zu können. Das hübsche Mädchen legte ein riesiges Blatt Löschpapier darauf, das sie mit einer Sprühpistole befeuchtete. Sie strich über das Papier, um sich zu vergewissern, dass es auch überall richtig auflag. »Okay«, sie strich das Haar aus dem Gesicht, »es dauert etwa dreißig Sekunden.« Sie legte das Löschpapier in einen Absaugschrank und sprühte eine Chemikalie darüber. Dann schloss sie den Schrank und zog einen Hebel. Das Mädchen wartete, eine Hand hatte es auf den Tisch gestützt. „ Es zeichnet sich etwas ab!« Sie öffnete den Schrank und nahm das weiße Löschpapier heraus. Auf einem unregelmäßigen Fleck von etwa fünfzehn Zentimetern Durchmesser waren purpurrote Spritzer erkennbar. »Sehen Sie diese winzigen Flecken?« Das Mädchen deutete mit behandschuhten Fingern. »Da ist noch einer, ungefähr zweieinhalb Zentimeter höher. Das sind Spermaflecken.« Clarke wandte sich an Leeson. »Was geschieht jetzt?« »Sie wird diese Stelle mit einem Mittel besprühen, damit sich 732
Zellen und Spermatozoen abheben. Davon wird eine Probe zur Erstellung eines DNS-Profils genommen. Wir werden uns der ICR, der Polymerase-Kettenreaktion bedienen. Dadurch erhalten wir ein rasches Ergebnis. Ich werde alle anderen Arbeiten hintanstellen und mich jetzt nur noch dieser Sache annehmen. Am Montag kann ich Ihnen sagen, was wir herausgefunden haben.«
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16.58 Uhr Als Frank Clancy selbst noch Medizin studierte, hatte er sich vor dem Examen zum Pauken immer die schwierigsten der zu erwartenden Prüfungsthemen herausgesucht. Später, wenn er für Konferenzen Forschungsunterlagen vorbereitete, hatte er sich der gleichen Technik bedient, um gegen inquisitorische Fragen gewappnet zu sein. Clancy blieb gern Herr jeder Situation und mochte es gar nicht, wenn etwas seiner Kontrolle entglitt. Er hatte einen scharfen, analytischen Verstand und verbrachte oft Stunden auf dem Dachboden seines Hauses, wo er sich mit neuen Theorien über die verschiedenen Stadien von Erkrankungen beschäftigte. Er hatte es sich angewöhnt, alles in einen PC einzugeben, es danach auszudrucken, tagsüber durchzulesen und sich dann nachts damit zu befassen. Er besprach sich gern mit Krankenhauskollegen
unterschiedlicher
Fachrichtungen
und
ersuchte sie um ihre Ansicht über Behandlungsmethoden und die Wahrscheinlichkeiten progressiver pathologischer Prozesse. Er hörte sich zwar alle Vorschläge und Anregungen an, aber letztendlich traf er allein seine Entscheidungen. Frank Clancy 733
war ein sich seines Wertes sicherer autarker Mann. Am Nachmittag des 15. Mai empfand Clancy jedoch zum ersten Mal seit vielen Jahren Unsicherheit. Er saß an seinem Schreibtisch im Mercy Hospital, und sein gesenkter Kopf spiegelte sich im Glas der Trennscheibe zum Korridor. Er war völlig in Gedanken versunken, während seine Finger auf der Tastatur tippten. Er hatte eine Datei angelegt, die ihm helfen sollte, sein Bild über die Todesfälle durch Agranulozytose zu vervollständigen. Der Datei gab er den Namen GRANNY. Er hatte zwei Todesfälle eingegeben, die von James Murphy und Mary Hyland, und ihre mögliche Verbindung zum Herzzentrum im obersten Stockwerk. Danach hatte er die neuesten Einzelheiten über seinen Patienten Harold Morell eingetragen. Anschließend führte er sechs kurze Telefongespräche. »Hi, Gerry«, begrüßte er Gerald Hanson, den Oberarzt der Hämatologie im Bartons Hospital in Norddublin. »Ich untersuche einen Fall von Agranulozytose. Könnten Sie mir vielleicht ein paar Fragen beantworten?« »Schießen Sie los.« »Ist Ihnen in letzter Zeit eine ungewöhnliche Häufung von Agranulozytosefällen untergekommen? Patienten, die mit diesem Krankheitsbild im Hospital eingeliefert wurden?« Hanson brauchte nicht erst nachzusehen, er antwortete sofort. »Nein, wir hatten hier in den letzten zwölf Monaten nicht einen einzigen Fall.« Eine ähnliche Antwort erhielt Clancy aus den Krankenhäusern von Cork im Süden, Galway im Westen und Belfast im Norden. Um sicherzugehen, rief er auch in den Hämatologiezentren in London und Edinburg an. Auch da hatte es keine Anhäufung von 734
Fällen mit dieser ungewöhnlichen Blutkrankheit gegeben. Er tippte diese Information fein säuberlich in GRANNY ein. Um siebzehn Uhr dreißig musste Clancy seine Stationsschwester besänftigen, die auf seine Entscheidungen für die Behandlung der stationären Patienten übers Wochenende gewartet hatte. Er bat seinen Assistenten, sich um diese Patienten zu kümmern, dann rief er zu Hause an, um seiner Frau Bescheid zu sagen, dass er noch später als üblich heimkommen würde. Er legte rasch auf, um ihre Gardinenpredigt zu verhindern. Zum Schluss führte er wieder ein Auslandsgespräch. »Medikamentennotdienst.« Es war dieselbe Stimme, die ihm bereits einmal Auskunft erteilt hatte. »Hi«, grüßte Clancy. »Ich bins noch einmal, Dr. Frank Clancy aus Dublin in Irland.« Er klang leicht verlegen. »Oh, hallo, Dr. Clancy. Sie werden ja fast zum Stammkunden. Was kann ich diesmal für Sie tun?« Die Stimme war genauso freundlich wie beim ersten Mal, und Clancy entspannte sich ein wenig. »Sie werden es nicht glauben«, begann er, »aber bei diesem Patienten, von dem ich gesprochen habe, ist noch eine weitere Tablette aufgetaucht, die wir nicht identifizieren können. Ich wollte fragen, ob Sie für mich nachsehen könnten.« »Kein Problem, Dr. Clancy. Sagen Sie mir so viel, wie Sie darüber wissen.« »Nun, es ist leider nicht viel«, entschuldigte er sich. »Erklären Sie mir ganz einfach, was Sie haben. Wir können nur unser Möglichstes tun.« »Okay.« Clancy holte tief Luft. »Es ist eine kleine, viereckige blaue Tablette. Die Einprägung ist auf beiden Seiten in Großbuchstaben.« 735
»Einen Moment«, unterbrach ihn die Schwester. »Nicht ganz so schnell. Ich gebe die Information ein, während ich zuhöre.« »Auf einer Seite stehen ein C, Y und N. Die Buchstaben auf der anderen Seite sind ein wenig kleiner.« Während er redete, betrachtete Clancy eine der Tabletten, die Ned Hyland ihm vergangene Nacht überlassen hatte. »Und was sind das für Buchstaben?«, erkundigte sich die Schwester vom Medikamentennotdienst in Chicago. »X und P.« »Sonst noch etwas?« »Nein, mehr habe ich leider nicht.« »Einen Augenblick bitte.« Wieder war das Tippen auf der Tastatur über die Leitung zu hören. Pause. »Nichts unter dieser Farbbeschreibung. Ich versuche es jetzt mit den Buchstaben.« »Danke.« Clancy fing an, an seinen Daumennägeln zu kauen, eine Angewohnheit, die er sich als Halbwüchsiger eigentlich abgewöhnt hatte. Pause. »Auch nichts unter den Buchstaben. He, da haben Sie mir wirklich was zum Zähneausbeißen gegeben, Dr. Clancy. Lassen Sie mich noch etwas anderes versuchen.« Tippen auf der Tastatur. Pause. »Nicht zu glauben, aber ich habe gar nichts über dieses Produkt. Sind Sie sicher, dass es aus den USA kommt?« »Ganz sicher«, entgegnete Clancy. »Es ist ohne Zweifel kein pharmazeutisches Produkt, das vom Gesundheitsministerium zur Benutzung zugelassen ist.« Clancy wartete mit gezücktem Füller und leerem Notizblock, bereit, jede Auskunft einzutragen. »Sind Sie noch da, Dr. Clancy?« 736
»Ja. Ich überlege nur.« Pause. »Warten Sie, ich werde noch bei den Logos der pharmazeutischen Firmen nachsehen«, erbot sich die Diensthabende Schwester. »Vielleicht ist es ein Testprodukt, das noch nicht zugelassen ist.« Es klickte in Clancys Kopf. »Ja, das muss es sein!«, rief er aufgeregt. »Ja, anders kann ich es mir nicht vorstellen. Bitte sehen Sie nach«, flehte er regelrecht. »Okay«, die Schwester lachte. »Einen Moment.« Pause. »Es tut sich etwas.« Die Feder von Clancys Füller drückte auf die immer noch leere Notizblockseite. »Nichts über das gesuchte Produkt, nur die Herstellerfirma.« »Geben Sie mir bitte, was Sie haben.« »Die in blaue Tabletten geprägten Großbuchstaben CYN werden lediglich von einer Firma benutzt. Sie sind ihr Markenzeichen. Sie benutzen auch nur diese eine Farbe.« »Welche Firma ist es?« »Cynx Pharmaceuticals.« »Kennen Sie die Firma?« »Nur ihren Standort sowie ihre Telefon- und Faxnummer und die E-Mail-Adresse. Sie hat eine Servicenummer für alle Fragen, die ihre Produkte betreffen.« »Wo produziert Cynx?«, erkundigte sich Clancy. »In Boston. Möchten Sie die Adresse?« Boston! Clancy lehnte sich in seinem Schreibtischsessel so weit zurück, dass er fast umkippte. Rasch kam er wieder nach vorn, um die Einzelheiten zu notieren, die durch die Leitung kamen. »Möchten Sie, dass ich mich bei Cynx nach diesen Tabletten er737
kundige?«, erbot sich die Schwester. Clancy erschrak heftig. »Nein, nein, nein. Wirklich nicht!« Er konnte sich kaum noch beherrschen. »Ich werde selbst dort anrufen«, log er. »Vielen Dank für Ihre freundliche Hilfe. Sie sind ein Schatz.« »Wir versuchen nur zu helfen, Dr. Clancy. Dafür sind wir hier.« Die Verbindung wurde beendet, und Frank Clancy starrte auf den Hörer. Er war wie gelähmt. Schließlich tippte er die Information aus Chicago in GRANNY ein. Dann sicherte er alles auf einer Diskette und druckte die Datei aus. Erst als er die zwei DIN-A4-Seiten zusammengefaltet in seine Kitteltasche gesteckt hatte, löschte er GRANNY. Er wollte keine unnötigen Risiken eingehen. Es war jetzt bereits kurz nach achtzehn Uhr. Nur noch wenig Zeit, um nach ein paar Patienten zu sehen, ehe er sich auf den Heimweg machte. Er griff nach den Krankenblättern und trat auf den Korridor. Während er einen jungen Mann in der Mitte einer Bettreihe untersuchte, hörte er unverkennbar John Regans Stimme. Er drehte sich abrupt um und stellte erleichtert fest, dass sie aus einem Fernsehgerät kam. Er trat näher heran, um zuzuhören. Es war eine Medienübertragung der heutigen Pressekonferenz. Regans Anblick beunruhigte Clancy. Er kehrte zu seinem Patienten zurück, um den Politiker nicht mehr sehen zu müssen. Im Gegensatz zu ihm war Jim Clarke beeindruckt. Er saß in seinem Sessel zu Hause, nippte hin und wieder an einem Glas Wein und schob sich dazwischen eine Gabel voll Lasagne in den Mund. Er zappte mit der Fernbedienung durch die Kanäle, und da war Regan wieder - in den BBC-Nachrichten und im Sky-Bericht. Die Sender sprachen von dem internationalen Interesse an 738
den Geschehnissen in Dublin. Maeve kam aus der Küche und schenkte sein Glas nach. »Unser Dr. Regan ist ja ziemlich heftig heute Abend.« Maeve war kein großer Freund der Regierung. »Ich finde, er sieht super aus, so richtig zum Verlieben«, stellte Katy fest, die zu Füßen ihres Vaters auf dem Boden hockte. »Alle Mädchen in unserer Klasse finden ihn echt geil.« Clarke betrachtete Regan eingehender und sah ihn zum ersten Mal mit anderen Augen. »Was meinst du, Maeve? Findest du auch, dass er echt geil ist?« Maeve blieb auf dem Weg zurück zur Küche stehen und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie blickte nachdenklich auf den Schirm, wo die Pressekonferenz sich ihrem Ende näherte. »Ich habe das Gefühl, er würde einen verschlingen und fein zerkaut ausspucken, wenn man ihm in die Quere käme. Und junge Mädchen würde er zum Frühstück vernaschen.« Clarke zwinkerte Katy zu, als er bemerkte, wie sich ihr Gesicht verdunkelt hatte. »Ich glaube, du hast Recht, Maeve.« Katy stand auf. »Du bist bloß neidisch. Er hat noch Haare, und du hast schon bald eine Glatze! Nah-ne-nah-ne-nah-nah!« Sie schaffte es gerade noch, seiner Krückenspitze auszuweichen.
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Samstag, 16. Mai, 10.26 Uhr »Da kommt etwas rein. Könnte wichtig, könnte aber auch bedeutungslos sein.« Der Magen machte Tony Molloy nach einem etwas zu üppigen Frühstück zu schaffen, und er kaute ein Ant739
azidum. Clarke, Molloy und Kavanagh befanden sich auf dem Polizeirevier von Sandymount. An eine Wand waren drei Reihen von je zehn DIN-A4-Fotografien geheftet. Es waren Aufnahmen von Neugierigen, die an jenem Morgen gemacht wurden, als man Jennifer Marks' Leiche gefunden hatte. Clarke ging näher heran und betrachtete eingehend jedes Bild. »Einer aus dieser Gruppe hat einen falschen Namen angegeben«, erklärte Molloy, der eben einen weiteren Satz auf dem Schreibtisch vor sich studierte. »Und geht es damit voran?«, erkundigte sich Clarke. »Ja. Alle Streifenpolizisten sind mit Abzügen unterwegs und ermitteln die fehlenden Namen.« Clarke setzte sich. »Schon irgendwas Neues über Kelly?«, fragte er hoffnungsvoll. »Nichts.« Molloy verzog das Gesicht, als es in seinem Magen plötzlich heftig rumorte. »Ich habe gleich in der Früh mit Dillon gesprochen, und er hat gesagt, dass Kelly noch in den Wolken schwebt.« »Hat er diese Worte benutzt?«, wunderte sich Clarke. »Vielleicht nicht genau«, gab Molloy zu, »aber der Sinn war derselbe.« Moss Kavanagh grinste. Er lehnte an der hinteren Wand. »Und von der Familie Marks?« »Nichts.« Molloy steckte sich eine weitere Magentablette in den Mund. »Ich habe mehrmals im Haus und im Hospital angerufen. Niemand hat abgehoben oder meine Nachricht auf dem Anrufbeantworter beachtet. Dr. Marks operiert, wie mir eine Schwester erklärte. Sie haben angeblich viel Zeit verloren, weil er sich nach Jennifers Tod nicht mehr im Krankenhaus blicken ließ. Und sie müssen vor der Pressekonferenz unbedingt fertig sein.« 740
»Welcher Pressekonferenz?«, fragte Clarke. »Wenn der EUZuschuss übergeben wird. Das ist nächsten Mittwoch. Falls die Ergebnisse seiner Herz-Stiftung gut aussehen, wird John Regan einen Scheck über zwanzig Millionen Pfund erhalten.« Clarke stand vorsichtig auf. »Dann ist es an der Zeit, sie mal zu besuchen.« Er griff nach den zwei Faxen vom toxikologischen Laboratorium, die Jennifer Marks betrafen. »Gehen wir.« Die Fahrt zum Mercy Hospital auf der verkehrsreichen Straße entlang Dublins Kais dauerte knapp eine Stunde. Die meiste Zeit ärgerte Moss Kavanagh sich über die Dieselabgase eines Lastwagens, der Computerteile transportierte. Kurz vor Mittag stiegen Clarke und Molloy die Freitreppe zum Haupteingang hinauf, während Kavanagh im Wagen sitzen bleiben und die vorbeieilenden Schwestern
bewundern
durfte.
Überall
um
den
Kran-
kenhauskomplex herum herrschte reges Treiben. Rettungswagen brausten mit heulenden Sirenen herbei und warteten vor der Notaufnahme, bis grün bekittelte Pfleger eine Bahre herbeirollten. Weiß bekitteltes Laborpersonal und Krankenschwestern in blauer Kleidung eilten durch die antiseptisch sauberen Korridore, einige trugen Blut- und andere Proben. Besorgte Freunde und Verwandte von Patienten saßen einzeln oder in Grüppchen auf denselben Korridoren und warteten darauf, dass ein Arzt ein paar Worte mit ihnen wechselte. Der Geruch von Desinfektionsmitteln war allgegenwärtig. Patienten in Schlafanzügen schauten kurz einmal aus ihren Zimmern, blickten ihren Korridor auf und ab, dann zogen sie sich resigniert und deprimiert in ihr Bett zurück. Hin und wieder brach das Schreien eines Kindes, das genug vom Warten hatte, die gedrückte Atmosphäre. Während Clarke zu den Lifts humpelte, bemühte er sich, die Erinnerung an seinen 741
eigenen Aufenthalt hier im Mercy Hospital vor zwei Jahren und die besorgten Blicke, die damals ihm gegolten hatten, zu verdrängen. »Ich hasse Krankenhäuser!« Molloy grinste und drückte auf den Knopf. Lichtzeichen verkündeten, dass der Fahrstuhl auf dem Weg zum Erdgeschoss war. Nach dem Einsteigen fiel Clarke sofort auf, dass der Knopf zur Etage der Herz-Stiftung größer als die anderen und als einziger goldfarben war. Ein älterer Mann schlurfte herein und stellte sich zu ihnen. Er trug einen Morgenrock, der einmal bessere Tage gesehen hatte. Sein Gesicht war bleich, und die Haut spannte sich über den Wangenknochen. Er führte ein Selbstgespräch. Clarke hatte das Gefühl, dass er das Mercy Hospital besser kannte, als ihm lieb war, und doch staunte er, als die Fahrstuhltür zum obersten Geschoss aufglitt. Ihm war, als empfinge sie der Luxus eines Fünfsternehotels. Die Korridore waren hier geräumiger und heller, den Boden bedeckte ein nagelneuer bunter Linoleumbelag, und die Wände schmückte eine goldgelbe Tapete mit breiten dunkelblauen Streifen. Statt des üblichen Blau trugen die Schwestern hier eng anliegende weiße Kittel, die vorne mit roten Knöpfen geschlossen waren. Clarke hatte keinen Zweifel, dass sie nicht nur wegen ihrer fachlichen Qualifikation ausgesucht worden waren, sondern auch nach ihrem Aussehen. Image war alles. Auf ihre Frage wurden sie zu einem langen Korridor gewiesen, an dessen Ende die Bostoner Spezialisten ihre Sprechzimmer hatten. Sie gingen an einer Reihe von offenen Drei- und Vierbettzimmern vorbei, in denen Patienten an EKG-Monitoren angeschlossen waren. Manche hingen am IV-Tropf, andere an 742
Kathetern. Bei ihrem Anblick zuckte Clarke zusammen und wandte schnell den Blick ab. Wenige Augenblicke später befanden sie sich vor dem neuen Laboratorium neben dem Operationssaal und der Intensivstation. Die Wände hier waren aus dickem klaren Glas mit Jalousien, die zwar zugezogen waren, aber doch einen Blick in den Raum gestatteten. Clarke spähte hindurch und konnte Mikroskope, Petrischalen und Reihen von vollen Reagenzglashaltern sehen. Fast drei Viertel eines Labortischs war mit Papieren belegt, und Drucker surrten und stoppten und surrten erneut, wenn sie Ergebnisse ausspuckten. Er zählte sieben weiß bekittelte Labortechniker. Auf einem Schild gleich hinter dem Labor wurde um Ruhe gebeten, da hier die Wachstation begann. Molloy kaute ein weiteres Antazidum. Genau wie Clarke wunderte er sich, wie laut es hier zuging. Über die Pieptöne der EKG-Monitore hinweg wurden Anweisungen erteilt. Nach einer kaum merklichen Biegung gelangten sie zur Intensivstation mit ihren vier Betten. Alle waren belegt. Die Patienten waren an den neuesten medizinischen Errungenschaften angeschlossen, wurden von ihnen versorgt und überwacht. Trotzdem wurden die Patienten auch noch von vier Schwestern umsorgt, die aufblickten, als sie bemerkten, dass die Detectives hereinstarrten. Eine forderte sie durch eine Geste auf weiterzugehen. Verlegen gehorchten sie, bis sie die Sprechzimmer des Dreamteams erreichten. Auch hier waren die Wände zum Korridor aus dickem klaren Glas, geschützt durch nicht völlig zugezogene Jalousien. An jeder der drei Buchentüren war ein Messingschild angebracht: Dr. Stone Colman, Dr. Linda Speer, Dr. Dan Marks. Clarke spähte durch die mittlere Jalousie und sah, dass die Zim743
mer innen durch Zwischentüren miteinander verbunden waren. Molloy ergriff die Initative und klopfte. »Herein.« Die Stimme hatte einen unverkennbaren New-England-Akzent. Clarke fand, dass Dan Marks größer war, als er auf den FernsehBildern gewirkt hatte. Auch seine Schultern erschienen ihm breiter, und er sah, dass er große Hände mit langen, schlanken Fingern hatte. Er trug noch seinen blauen Operationskittel mit der dazugehörenden Kappe, die Gesichtsmaske war noch am Nacken gebunden, aber er hatte sie nach unten gezogen. Er nahm gerade eine Eintragung vor, stand jedoch auf, als die beiden Männer sein Sprechzimmer betraten. »Ja? Was kann ich für Sie tun?« »Dan Marks?«, begann Clarke. »Wer sind Sie?« »Ich bin Superintendent Clarke und das ist Sergeant Molloy. Wir ermitteln im Mordfall Ihrer Tochter.« Marks sackte zurück in seinen Sessel. Seine Körpersprache verriet, dass er keineswegs erfreut über die Störung war. »Was wollen Sie?« Clarke rückte einen Sessel näher an den Schreibtisch heran und setzte sich. Molloy zog es vor, sich an die Wand zu lehnen. »Wir haben vergebens versucht, Sie zu erreichen«, erklärte Clarke, »und unsere Anrufe wurden nicht erwidert.« Dan Marks löste die Operationsmaske und stützte sich schwer auf seinen Schreibtisch. Er nahm auch die Kappe ab und fuhr mit einer Hand durch das leicht gekrauste graue Haar. »Was wollen Sie von mir oder Annie?«, fragte er ruhig und beherrscht. »Wir haben genug gelitten. Man hat mir versichert, dass der Mörder verhaftet wurde.« Seine Stimme hob sich leicht. »Ein notorischer 744
und gefährlicher Verbrecher, wie ich hörte.« Er blickte Clarke direkt an. »Wie könnten wir Ihnen denn jetzt noch von Nutzen sein? Wir brauchen unsere Ruhe, wollen mit unserer Trauer allein gelassen werden.« Drei Krankenblätter rutschten über die Schreibtischkante. Niemand machte Anstalten, sie aufzuheben. »Dr. Marks«, sagte Clarke. »Der toxikologische Befund hat ergeben, dass Ihre Tochter Heroin und Haschisch nahm.« Er hielt ein Fax mit den Einzelheiten hoch. »Wissen Sie, wo sie sich dieses Zeug besorgte?« Er wartete, erhielt jedoch keine Antwort. »Haben Sie eine Ahnung, woher sie das Geld hatte, um die Drogendealer zu bezahlen?« Falls Dan Marks diese Fragen überrascht hatten, ließ er es sich nicht anmerken. Er stützte das Kinn auf die Hände und blickte von Molloy zu Clarke. »Bedaure, ich weiß es wirklich nicht. Selbst wenn ich klar denken könnte, wozu ich jedoch seit ihrer Ermordung offenbar nicht mehr fähig bin, wäre es mir schleierhaft.« Clarke blätterte durch ein Notizbuch. »Ein Zeuge meinte, dass Jennifer das Geld von ihrer Familie bekam, also von Ihnen und Mrs. Marks, nehme ich an. Die Frage lautete: >Woher hatte sie das Geld für die Drogen ?< Und die Antwort: >Von ihren Eltern. Die schwimmen in Geld. Wissen Sie, die haben ihr alles gegeben, was sie wollte.ja, Dad