»Aventurien« heißt die phantastische Spielewelt voll kühner Abenteuer, Magie und farbiger Exotik, erschaffen von einem ...
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»Aventurien« heißt die phantastische Spielewelt voll kühner Abenteuer, Magie und farbiger Exotik, erschaffen von einem Spezialistenteam und ausgebaut von Tausenden begeisterter Spieler. Es ist der Schauplatz des heute größten deutschen Fantasy-Rollenspiels »Das Schwarze Auge«. Die Romane der gleichnamigen Serie lassen uns diese Welt noch viel unmittelbarer und plastischer erleben.
Während Dämonenmeister Borbarad seine Truppen zur entscheidenden Endschlacht zusammenzieht, müht sich im Land der Ersten Sonne ein zusammengewürfeltes Grüppchen, jene Waffe zu finden, die den Dämonenmeister vom Quell seiner finsteren Macht abschneidet: den Sphärenschlüssel. Doch sollte es ihnen gelingen, ihn zugunsten der Seite des Guten zu finden – die Welt wird dennoch nie wieder so sein wie zuvor.
Ein vollständiges Verzeichnis aller im HEYNE VERLAG erschienenen Romane aus der aventurischen Spielewelt finden Sie am Schluss des Bandes.
HEIKE KAMARIS JÖRG RADDATZ
SPHÄRENSCHLÜSSEL Aranische Nächte TEIL 1 Einundfünfzigster Roman aus der aventurischen Spielewelt begründet von ULRICH KIESOW Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6051
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Originalausgabe 10/2000 Redaktion: Irene Bonhorst Copyright © 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München, und Fantasy Productions, Erkrath http://www.heyne.de Printed in Germany 2000 Umschlagbild: Oliviero Berni/Agentur Schlück Kartenentwürfe: Ralf Hlawatsch Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-17236-1
Vorspiel
In der Gorischen Wüste, am Abend des 14. Ingerimm 26 Hal
Roter Staub, so weit das Auge reicht, bis zum Horizont ein Meer aus staubfeinem roten Sand. Der niemals nachlassende Wind treibt den Staub vor sich her und lässt die Kämme der roten Dünen wandern wie Wogen auf der See. Wenn es hier Leben gibt, dann allenfalls fremdartiges Leben im Staub selbst; kein Tier und keine Pflanze erheben sich über dem Boden. Inmitten der roten Endlosigkeit gibt es nur wenige Stellen, wo steinerne Nadeln und Pfeiler aus Basalt emporstechen durch die staubige Oberfläche. Rot ist auch der Komplex aus Quadern, der im Herzen der roten Wüste angehäuft ist wie die Reste eines mächtigen Palastes. Die gigantischen Ruinen ragen viele Mannshöhen empor und sind doch nur ein Abglanz der früheren Gestalt, als die mit fremdartigen Glyphen bedeckten Steine noch eine Festung bildeten: die Schwarze Zitadelle des Dämonenmeisters Borbarad, vernichtet in den Magierkriegen durch seinen Bruder Rohal den Weisen. Schwarz sind schließlich auch die niedrigen Zelte, die sich unweit der mächtigen Ruinen neben umgestürzten Felsnadeln, Monolithen und Basaltobelisken
ducken, um ein wenig Schutz vor dem unablässig vom Himmel herab wehenden Wind zu finden, doch sie sind nicht mit magischen Glyphen und Dämonensymbolen bedeckt, sie schmückt ein schlichteres Zeichen: der Rabe und das zerbrochene Rad, die heiligen Zeichen des Boron, des Gottes der Totenruhe. Der rabengestaltige Golgari ist sein todbringender Bote und die Ritter des Golgari sind sein Kriegerorden, entschlossene Streiter wider Grabschändung und unheilige Nekromantie. In den letzten Monaten hatten die Bewohner der Zelte gründlich gelernt, welch kostbare Gabe der ungestörte Schlaf im Grabe ist. Der Fall der Schwarzen Zitadelle hatte viele tapfere Frauen und Männer, die sie zuvor bestürmt hatten, ins Verderben gerissen und ihre Gebein bleichten seit Jahrhunderten friedlos unter der grausamen Sonne, wurden vom gnadenlosen Wind und dem Staub blankpoliert, der jedes Kettenglied durchdrang. Siebzehn Skelette waren auf schwarzen Tüchern inmitten eines freien Platzes aufgebahrt und schwarze Tücher hatten auch die beiden Männer um sich gewickelt, die am Rande des Platzes, vor dem größten der Zelte, schweigend beobachteten, wie einige der jüngeren Golgariten die letzten Gräber vorbereiteten, in denen die sterblichen Überreste ihre Ruhe finden sollten. Als der größere der beiden Beobachter,
ein hochgewachsener Mann mit militärischer Haltung, das Schweigen brechen wollte, musste er sich zur Seite drehen und den Mund nahe zum Ohr des anderen bringen, um das Pfeifen des Winds zu übertönen: »Dies sind nun die Letzten, Euer Gnaden. Sollen nicht alle von ... uns dabei sein?« Sein kurzes Zögern war durch den Wind kaum wahrnehmbar. Der Angesprochene, fast einen Kopf kleiner als sein Begleiter, nickte nur. Selbst wenn Geweihte des Boron kein Gelübde des Schweigens abgelegt hätten, so wäre es doch unter diesen Umständen für jeden eine Torheit gewesen, öfter als unbedingt nötig den Mund zu öffnen. Selbst die schwarzen Schleier, die sie vor Mund und Nase trugen, vermochten den tückischen Staub nicht völlig fernzuhalten. Knapp winkte der Offizier eine der übrigen vermummten Gestalten zu sich. Sie war schmal und zierlich gebaut, das verhüllte ihr schwarzer Überwurf keineswegs, und als sie zu den beiden trat, vor dem Geweihten das Knie beugte und vor dem Offizier salutierte, zeigte sie kurz ihr Gesicht: eine junge Frau, wohl gerade erst Mitte Zwanzig, mit einem hübschen Gesicht, hellwachen Augen und stoppelkurz geschnittenen schwarzen Haaren. Die Ritter des Golgari tragen ihre Häupter gewöhnlich kahlgeschoren, doch diese Pflicht hatte Vater Cylian für seine kriegerischen Begleiter schon vor Wochen gelockert, um hier
in der Wüste Wasser zu sparen. Erst mussten die Lebenden die Toten begraben, ehe sie an sich selbst denken konnten. »Schwester Khalidai, es ist soweit. Hol Etiliane und Girolamo; und auch den Magus! Wenn er so sehr zum Aufbruch drängt, soll er zumindest beim Abschlussgottesdienst anwesend sein!« Die junge Frau salutierte erneut, zog sich wieder den schützenden Schleier vors Gesicht und eilte davon. Die beiden Mitgeschwister in ihrem Ruhezelt waren schnell in Kenntnis gesetzt, der dritte Gesuchte aber lebte in einem Zelt abseits der übrigen, in einem Zelt, das in unmittelbarer Nähe der Ruinen von Borbarads Zitadelle aufgestellt war. Dort war die einst den Hauptturm krönende Kuppel zu einem mächtigen blutroten Gebilde verschmolzen, höher als acht Männer, das aussah wie die aus dem Boden emporragende Faust eines gefallenen Riesen, der selbst als Verschütteter noch Rache gelobt und seine Rückkehr androht. Am Fuß diese Gebildes war ein Zelt aufgeschlagen, das auf grauem Tuch sehr wohl magische Symbole und Abwehrglyphen aufwies: Bannzeichen vor dem einzigen Eingang sollten die nicht lebendigen und nicht toten Geschöpfe der Wüste und der Ruinen fern halten. Die junge Khalidai von Bruchweiden aber konnte ohne Schwierigkeiten die Zeltklappe erreichen und ge-
räuschvoll an der Leinwand kratzen, das übliche Zeichen, um hier im Lager Einlass zu erbitten. Keine Antwort. Und doch konnte der Bewohner nicht weit sein, denn wäre er wieder einmal fort gewesen, um die Ruinen zu durchsuchen, wäre sein Zelt weit gründlicher gesichert gewesen. So konnte Khalidai sogar ein wenig die Zeltklappe anheben, um in das von einer trüben Lampe beleuchtete Innere zu schauen. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie leise in den Vorraum des Zeltes schlüpfte, statt laut vernehmlich zu grüßen und um Einlass zu bitten. Vielleicht war es das leise Singen, das so gar nicht zu der Behausung eines Zauberers passen wollte: Es war kein Beschwörungslied, kein Banngesang, nicht einmal eine Hymne zu Ehren der Göttin Hesinde. Khalidai kannte das Stück, es war ein altes Liebeslied aus dem fernen, vergessenen Güldenland, aus dem die Ahnen der meisten Menschen Aventuriens als kühne Pioniere oder verbannte Verbrecher auf den rauen ›neuen‹ Kontinent gekommen waren.
»Ich wünscht, ich wäre in Bahn Cantara, nur eine Nacht noch im Güldenland. Ich überquerte selbst das Meer der Winde, für eine Nacht nur an seinem Strand.
Doch das Meer ist breit und ich kann's nicht durchschwimmen noch überfliegen mit Schwingenschlag. Könnt ich bloß finden einen tapferen Seemann, der mich hinüberbringt nur für einen Tag. Denn in Cantara ruht meine Liebste, ein schwarzer Marmorstein bedeckt ihr Grab, in das ich selbst mit meiner Habgier nach Gold und Silber sie gezwungen hab. Nun bin ich krank und selten nüchtern, ein einsamer Wanderer von Ort zu Ort. Bald werde ich fortgehen, Golgari wartet, nur ein paar Tage noch, dann muss ich fort.« Khalidai war Ordensritterin einer Kirche, die das Schweigen über alles stellt, aber sie war auch eine junge Frau, und um nichts in der Welt hätte sie den Sänger unterbrechen mögen. Sie mochte das Lied, und als kleines Mädchen hatte sie sich oft gefragt, ob die Liebste des Dichters ob seiner Auswanderung vor Gram gestorben war oder ob es gar von einem verbannten Mörder stammte. Der ›schwarze Marmorstein‹ auf dem Grab der jungen Frau hatte sie jedenfalls schon immer fasziniert. Noch immer um Lautlosigkeit bemüht, trat sie näher und spähte hinter den Vorhang, der den rückwärtigen Teil des Zeltes vor ihren Blicken abschirmte. Fast musste sie lachen, als sie sah, bei welcher Gele-
genheit der Magier sang: Er war nackt und hatte seinen ganzen Leib mit Öl eingerieben – einen höchst ansehnlichen Leib, wie sie erkennen konnte. Gerade war er damit fertig geworden, seine Haut mit rotem Staub zu bedecken, und begann nun, seinen Körper mit einem metallenen Gegenstand zu reinigen, indem er die raue Masse aus Öl und Sand wie mit einer stumpfen Klinge von der Haut strich – und dabei sang er von Liebe und Verlust. Das blauschwarze Haar hatte er hochgebunden, aber Khalidai wusste, dass es, locker herabfallend, den ganzen Rücken bedeckte. So hatte er es die ersten Tage und Wochen getragen, bis ihn der Staubwind eines Besseren belehrt hatte und er es müde geworden war, es jeden Tag stundenlang auszubürsten. Khalidai gefiel es so, denn sonst wären der kupferbraune Rücken und das Gesäß, das die dreistere Etiliane zweifellos als ›knackig‹ bezeichnet hätte, nicht zu sehen gewesen. Khalidai war zurückhaltender, doch auch sie ließ den Anblick für einige Momente auf sich wirken und gab sich entschieden unklösterlichen Gedanken hin, ehe sie den Vorhang zurückgleiten ließ und einige Schritte zurücktrat, um ihre Anwesenheit förmlich bekanntzugeben. Irgendetwas unter ihrem Fuß zerbrach klirrend. Es war ein leises Geräusch, wollte aber so wenig zu allen übrigen Lauten passen, dass das Singen jäh ver-
stummte. Noch bevor sie einen Gruß aussprechen konnte, sah sie, wie der trennende Vorhang auf einmal auf sie zuflog. Schnell trat sie zur Seite, doch es war zu spät, der Vorhang schlang sich fest um ihre schmale Gestalt und zog sie fast zu Boden. Und als ob das nicht reichte, spürte sie im nächsten Augenblick einen schweren Stoß, der sie endgültig umwarf, und hörte das Prasseln eines aufflackernden Feuers. So schnell entflammte keine Kohle, nicht einmal Stoff. Sie hatte ein solches Auflodern schon einige Male gesehen: manchmal, wenn der Magier seinen Zauberstab in eine Fackel verwandelte, um auch in der Nacht oder unter der Erde Licht zu haben, öfter aber noch dann, wenn er seinen Stab in ein Flammenschwert verwandelte, um Untote oder Ghule zu bekämpfen. So, wie es nun prasselte, traf zweifellos die zweite Deutung zu. »Bei Boron, ich bin es!« Der schwere Vorhang und ihr eigener Schleier dämpften die Worte, aber das Prasseln wich zurück. Stattdessen spürte sie, wie kräftige Hände sie emporhoben, in den dicken Stoff eingewickelt, wie sie war, und halb schüttelten, halb drückten. Selbst wenn sie gewollt hätte, ihre Hände hätten den Schwertgriff niemals erreicht. Dann befreite eine kräftige Hand ihren Kopf aus der dicken Stoffhülle. »Khalidai.« Es klang nicht gerade überrascht. »Ich
hätte es mir denken können, aber wer weiß, vielleicht gibt es ja auch Untote mit Eurem anmutigen Körper ...« Der Magier musste irgendwann Zeit gefunden haben, seine Blöße mit einem schmalen Stoffstreifen ansatzweise zu bedecken, doch er machte keine Anstalten, sich weiter anzukleiden, während sie sich aus dem Vorhang befreite. »Was führt einen solch holden Gast in mein Zelt? Seid Ihr, schöne Dame, gekommen, um mich zu erhören? Hat das Flehen meiner liebeskranken Seele doch noch das beharrliche Schweigen Eures rabenschwarzen Herzens überwinden können?« Khalidai erwiderte kühl: »Magister Tarlisin, so frevlerisch sollt Ihr nicht reden, und das wisst Ihr seit langem.« Doch ihr Lächeln nahm den Worten die Schärfe. So ging es seit Monaten zwischen ihnen, ohne dass es jemals ernst geworden wäre. Für sie war es ein kurzweiliges Spiel, seine dreisten Annäherungsversuche anzuhören und zurückzuweisen. Wenn das auch Vater Cylian und Herrn Demestiron nicht recht gefiel, so sahen sie doch über diesen Zeitvertreib hinweg und schwiegen dazu. Andere Teilnehmer der Expedition hatten ihre eigene Wege, sich von dem alltäglichen Entsetzen abzulenken, das aus den Mühen des Tages und den immer heftigeren Alpträumen der Nacht entstand: Wer seit Monaten nur der selbstgestellten Aufgabe folgte, die Gefallenen der Magier-
kriege zu bergen und beizusetzen, die umherwandernden Untoten zur Ruhe zu legen und die leichenfressenden Ghule zu erschlagen, der musste irgendetwas Menschliches tun, um nicht den Verstand zu verlieren, und wenn es eine harmlose Tändelei war. Über die genauen Absichten des Magus war sie sich weit weniger im Klaren: Tarlisin von Borbra hatte einen gewissen Ruf als Herzensbrecher, aber gegenüber den übrigen Frauen der Expedition hatte er sich allenfalls ritterlich gezeigt. Die Dreistigkeiten hob er sich für sie auf, aber die waren schon wieder so übertrieben und plump, dass Khalidai sie ebenso wie seine offenkundige Eitelkeit oder seine Sorglosigkeit für eine Maske hielt, um den Schrecken nicht an sich heran zu lassen. Denn von allen Bewohnern der Zelte stieg Tarlisin am tiefsten in die Ruinen der Zitadelle hinab, erforschte die unteren Höhlen und Hallen, in denen der finstere Borbarad seine unaussprechlichen Zeremonien und Experimente ausgeführt hatte, und suchte nach einer Trophäe, von der er nur Vater Cylian Näheres mitgeteilt hatte. An vielen Tagen hatte er die Knochen und Schädel von Gefallenen mit nach oben gebracht, einige davon auf eine unbeschreibliche Art und Weise miteinander verschmolzen, doch seinem eigentlichen Ziel war er nicht näher gekommen. Die Ringe unter den Augen und die frischen Falten in dem hübschen Gesicht
vermochte er wohl mit seiner tulamidischen Schminkkunst zu verstecken, aber das Grauen spiegelte sich noch in seinen dunklen Augen, in denen jetzt zusätzlich ein gewisser fiebriger Glanz lag. Von einer erlöschenden Kohlenschale drang noch der süßliche Geruch des Ilmenblattes herüber, einer leicht betäubenden Droge, die zu verwenden den Rittern des Golgari im Einsatz streng verboten war. Für den Magus galt dieses Verbot nicht, sodass er sich als der einzige Expeditionsteilnehmer die Nächte mit süßem Rauch angenehmer gestaltete und die allgegenwärtigen bösen Träume auf Abstand hielt. Während er sein Haar hinabgleiten ließ und ausschüttelte, sprach Khalidai ihn an. »Herr Demestiron wünscht Eure Anwesenheit beim heutigen Borondienst. Die letzten Leichname, die wir gefunden haben, werden beigesetzt, und da es nicht zuletzt auf Euren Wunsch hin morgen zurückgeht, wird Vater Cylian eine Große Messe abhalten.« Tarlisin von Borbra zuckte die Schultern. »Wenn es den Vater glücklich macht, werde ich kommen. Etwas Segen kann ich auch gebrauchen, denke ich ...« Solche Reden führte er gern, aber die Arbeit des Tages hatte Khalidai zu sehr erschöpft, um ihm jetzt den Gefallen zu tun und sich zu empören, also begnügte sie sich mit einem knappen: »Göttlicher Beistand kann Euch wirklich nicht schaden!« Währenddessen schlenderte
der Magus zu der Truhe, in der er seine Gewänder aufbewahrte. Die meisten anderen Gepäckstücke waren bereits für die Abreise zusammengepackt, wie Khalidai bemerkte. Kurz hielt er das Gewand des Magierordens der Grauen Stäbe hoch – graue Robe mit rotem Skapulier –, dessen Anchopaler Ordensburg er vorstand, ehe er es beiseite legte. Sie wusste genau: Wenn der ebenso eingebildet wie geckenhaft wirkende Magier nicht Ordensgroßmeister zu Anchopal und damit TitularBaron der ganzen verfluchten Gorischen Wüste gewesen wäre, hätten Vater Cylian und Herr Demestiron niemals zugestimmt, dass er die Expedition begleitete. Allein dass ihm seit einem früheren Kampf mit einem überlegenen magischen Gegner der Schatten fehlte, hatte das Misstrauen der beiden Anführer heftig geschürt, ganz gleich, wie götterfürchtig der Zauberer auch sein mochte. Inzwischen gab es einige unter ihnen, die ohne seine Zauberei nicht mehr gelebt hätten, ebenso wie er ohne die geweihten Waffen der Golgariten und den Segen der begleitenden Borongeweihten keine Woche in den von Untoten verseuchten Ruinen der Schwarzen Zitadelle überstanden hätte. Als er sich schließlich für ein schwarzes Gewand, dem Anlass entsprechend, entschieden hatte, erkundigte sich Khalidai: »Habt Ihr das Ziel Eurer Suche
erreicht? Konntet Ihr Eure Trophäe bergen?« Der Magier zuckte zusammen, als er ihre Worte hörte. »Bitte, meine Liebe, nennt es nicht ›Trophäe‹! Das klingt, als wolle ich es über meinem Kamin an die Wand hängen, um Gäste zu beeindrucken. Nun, ich konnte das ›Desiderat‹, wie ich es lieber nenne, nicht finden. Zumindest bin ich jetzt sicher, dass es bei der Verbannung des Dämonenmeisters nicht in den Überresten seiner Zitadelle zurückblieb.« ›Desiderat‹, das hieß in der alten Gelehrtensprache Bosparans einfach ›das Gesuchte‹ – und ließ nähere Schlüsse über das Objekt der Suche nicht zu. Khalidai schwieg, während Tarlisin sich den Gürtel aus silberdurchwirktem Brokat um den Körper schlang und in plumpe Schuhe aus schwarzem Holz schlüpfte – die Fußbekleidung, die hier alle trugen, da selbst zähestes Leder in einigen Tagen vom roten Sandstaub erst blankpoliert und dann durchgescheuert wurde. Als sie sein Zelt gemeinsam verließen und er einige Schutzzauber auf seine Behausung legte, blickte die junge Frau zum Himmel empor. Die Sonne war fast untergegangen und schon bald würden die Sterne zu sehen sein, scheinbar zum Greifen nahe und doch so fern. Dieselben Sterne hatten vor Jahrhunderten gesehen, wie der Dämonenmeister Borbarad seine Zitadelle errichtete, wie aufrechte Frauen und Männer gegen ihn zogen und alles in Trümmer sank, und sie
ließen sich mit keinem Funkeln anmerken, ob es sie berührt hatte. Die junge Ordensritterin bemerkte erst nach einiger Zeit, dass Tarlisin längst seine Zauber gewirkt hatte, schweigend neben sie getreten war und wie sie den Himmel betrachtete. Hier kam der Wind nahezu unmittelbar von oben, eisig und klar, da er noch keinen Staub aufgewirbelt und angesammelt hatte. Die kalte Luft verursachte ihr ein Frösteln und riss sie aus ihrer Versunkenheit. »So kühl und klar ... Woher mag dieser Eiswind nur kommen?« Tarlisin blickte Khalidai überrascht an. »Aus dem Sphärenriss, der seit Tagen wächst! Woher denn sonst?« Er sagte dies so selbstverständlich wie die bekannte Tatsache, dass das Tageslicht von der Sonne kommt. Dann blinzelte er kurz und schien erst jetzt wirklich wach zu werden. »Verzeiht, aber ich habe nicht nachgedacht. Nun, da wir morgen ohnehin zurückreisen, kann es nicht mehr viel schaden: Als Magierin könntet Ihr den Himmel auf seine astrale Natur hin untersuchen und würdet sehen, dass unmittelbar über der Zitadelle ein Riss im Firmament gähnt, von hier betrachtet wohl einen Spann lang. Seit der Weise Rohal den Finsteren Borbarad hier besiegte und mit seinem mächtigsten Bannspruch in die Nichtwelt schleuderte, die unsere Sphäre umgibt, weht der eisige Hauch eben dieser Nichtwelt herun-
ter. Aber« – er konnte es nicht lassen, eine dramatische Pause einzulegen – »seit drei Tagen verändert sich der Riss. Er wächst, um genau zu sein, nur sehr langsam, aber eindeutig erkennbar. Dazu kommen andere Vorfälle, die ich Euch als Nichtmagierin beim besten Willen nicht erklären kann, für die aber das Wort ›Sphärenbeben‹ keineswegs zu hochtrabend ist. Irgendetwas – irgendjemand – bringt gerade die althergebrachte Ordnung der Sphären auf feinsinnige, aber unmissverständliche Weise zum Schwanken. Die Quelle des Problems liegt nur wenige Meilen südwestlich von hier.« Er schaute Khalidai einen Moment lang prüfend an. »Von allen hier seid Ihr die Einzige, der ich davon so viel erzählen kann – Vater Cylian oder Ritter Demestiron lachen mich aus, und wenn sie hören, dass ich die letzten zwei Tage und Nächte unablässig beobachtet und gerechnet habe, dann nennen sie es die Trugbilder eines übermüdeten Geistes. Aber wenn Ihr es einmal selbst sehen wollt, kann ich Euch etwas vom Elixier des Weißgelben Lotos geben, das ich besitze – eines der letzten verbliebenen Elixiere, nachdem alle Heiltränke und Zaubertränke verbraucht sind. Mit diesen Tropfen könnt Ihr sehen, was sonst nur ein Zauberer zu erblicken vermag.« Khalidai musste einen Augenblick lang mit sich ringen. Die magischen Künste waren nie ihr Ding
gewesen, aber nun war ihre Neugierde erwacht – und wenn es etwas zu sehen gab, könnte sie vielleicht die beiden Anführer der Expedition dazu überreden, es sie einmal versuchen zu lassen. Dann aber erinnerte sie sich an den unmissverständlichen Befehl Ritter Demestirons. »Danke Euch – aber ich habe schon zu lange gezögert, gewiss warten die anderen bereits. Vielleicht finden wir ja später am Abend noch einmal die Zeit.« Mit einem Lächeln, das einem Versprechen näher kam als alles andere in den letzten Monaten, wandte sie sich ab und schritt dem Magier voraus zum Begräbnisplatz. Der Geweihte, Vater Cylian, und Ritter Demestiron von Yaquirblick warteten bereits, als die junge Ritterin und der Magus in der Mitte der Ordenszelte eintrafen und sich zu den anderen stellten. Einst waren es fünfzehn Menschen gewesen, die in die Gorische Wüste aufgebrochen waren: elf Ritter, drei Geweihte und der Magier. Nun lebten noch zwölf von ihnen: Zwei Golgariten und eine Geweihte waren den Kreaturen der Wüste zum Opfer gefallen und ruhten nun in rotem Staub. Das Herausmeißeln von Gräbern aus dem Schwarzen Basalt, ja selbst das Errichten eines Grabhauses aus schwarzen Gesteinsbrocken, was beides als letzte Ruhestätte entschieden angemessener gewesen wäre, hatte sich als viel zu mühselig erwiesen und war ohne die richtigen Werkzeuge nicht zu machen gewesen.
Heute aber sollten nicht ihre Gefährten bestattet werden, sondern die Überreste der Recken, die sie am Morgen in einer Staubverwehung gefunden hatten. Für Gefallene der Magierkriege waren die Toten gut erhalten, mehr von Wind und Sonne gegerbt als verwest. Ihre Waffen lagen an ihrer Seite und so würden sie auch begraben werden. So ernst die Ritter und Geweihten ihre Mission auch nahmen, sie waren doch im Grunde ihres Herzens heilfroh, bald diese entsetzliche Ödnis verlassen zu können. In den zurückliegenden Monaten hatten sie bestimmt mehr als tausend Gefallene gefunden und beigesetzt, auch wenn von manchen nur noch die Bruchstücke einzelner Knochen zu finden gewesen waren, sodass sich ihre genaue Zahl kaum schätzen ließ. »Achtung!« Mit diesem knappen Ruf lenkte Ritter Demestiron die Aufmerksamkeit seiner Gefolgsleute ganz auf sich und den kleineren Geweihten, der nun anhob, die Ansprache zu Ehren des Herrn Boron zu halten sowie zum Gedenken der Gefallenen, die man nun seiner Obhut übergeben wollte. Vater Cylian fasste sich kurz, wie es die Art seiner Kirche war und wie es auch der staubige Wind nicht anders zuließ: Nach einigen Sätzen über die Größe Borons, der die Seelen gemäß ihrer Verdienste und Versäumnisse richtet und in seine Obhut nimmt, folgten einige Wor-
te über den Opfermut der Recken, die aufgebrochen waren, den finsteren Dämonenmeister zu bezwingen. Wie bei den Dutzend Begräbnisfeiern der letzten Wochen zuvor, erwähnte er mit keiner Silbe, dass sie im Gefolge des großen Rohal, des weisesten und gütigsten aller Magier, in den Kampf gezogen waren. Nach dem Ende der Ansprache übernahm Ritter Demestiron erneut das Kommando und befahl den Rittern, die Leichname in die offenen Gräber zu senken und diese zu schließen. Letzteres war einfach – den ganzen Tag über war es weit mühseliger gewesen, die Gruben so abzusichern, dass sie nicht von allein mit Sand und Staub vollliefen. Als alles geschehen war, knieten die Ritter und auch der Magier nieder, während sich Vater Cylian vorbereitete, die Gräber einzusegnen. Doch ehe er dazu kam, den Segen zu sprechen, ereignete sich etwas, das jeden Anwesenden aufschrekken ließ: Von Südwesten klang ein unirdisch hohles Heulen herüber, das ein phantasievoller Troubadour vielleicht als das Kreischen verdammter Seelen beschrieben hätte; die Ritter und Geweihten dachten eher an eine unbekannte Kreatur natürlichen oder unnatürlichen Ursprunges, die sich zur Jagd bereitmachte – denn das Heulen hatte viel von einem Ruf an sich. Fast eine Minute lang hing es in der Luft, ehe es langsam verhallte. Eilig berieten sich Ritter Deme-
stiron und Vater Cylian, ehe sie sich entschlossen, zuerst die Zeremonie zu vollenden und sich erst dann dem Urheber des Geräusches zu stellen. Ob sie dabei einen Fehler begingen, lässt sich kaum sagen. Denn nichts, was die Teilnehmer der Expedition zu diesem Zeitpunkt hätten tun können, hätte das Verhängnis noch aufhalten können. Noch bevor der Borongeweihte seinen Segen vollendet hatte, tauchte etwas am Himmel auf, von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne von hinten beschienen: Es flog und es war größer als jeder Geier, der sich auf der Suche nach Aas über den Tafelberg hätte verirrt haben können. Mit mächtigen Flügelschlägen kam es näher und bald waren der langgestreckte, unverkennbar vierbeinige Körper, der schlanke Hals und die weitgespannten, ledrigen Flügel zu erkennen – ein mächtiger Drache von rötlich schwarzer Farbe näherte sich ihnen. Er flog mehr als fünfzig Schritt über dem Boden und schwebte nun wie ein Geier über dem Zeltlager der Golgariten, lautlos und bedrohlich. Auf seinen weit gefächerten Flügeln klebte ebenso der feine rote Staub der Wüste wie an seinem langen, schlanken Leib, der einige große Risse und Schrunden aufwies, durch die der eisige Wind aus dem Himmelsriss pfiff und brechreizerregend den Moder von Jahrhunderten zu den Menschen herunter trug. Der Drache musste sich geradezu in Leichen gesuhlt haben.
Auf einen knappen Befehl ihres Anführers hin hatten die Golgariten ihre Waffen gezogen und beeilten sich, einen Kreis um Vater Cylian zu bilden. Der Borongeweihte hatte ebenso rasch seine Verblüffung abgeschüttelt und begonnen, ein rituelles Gebet an seinen göttlichen Herrn zu rezitieren, in dem er ihn um Beistand gegen diese Verhöhnung der göttlichen Prinzipien bat. Allein der Magier hatte sich, kaum dass der Drache erschienen war, hinter eines der schwarzen Zelte zurückgezogen. Dort ließ er seinen Zauberstab über dem Kopf kreisen und murmelte die Formel, die ihn mit einem Schutzkreis gegen feindliche Zauber umgeben würde: »GARDIANUM PARADEI!« Dergestalt mit einem ersten Schutz versehen, machte er sich nun daran, die genaue Natur des so plötzlich aufgetauchten untoten Drachen zu erkunden: »OCULUS ASTRALIS!« Dieser Blick durch das Auge der Sphären erlaubte dem Magier, die astrale Beschaffenheit des Geschöpfes zu erkennen, und ließ ihn beinahe aufschreien: Der Drache hatte sich nicht mit Leichen umgeben, er war selbst ein Leichnam, ein untotes Geschöpf, leblos und doch aktiv. Tarlisin hatte schon vieles gesehen, doch selbst das lange zurückliegende Studium an der Dunklen Halle der Geister zu Brabak hatte ihn niemals mit einer Wesenheit von solch monströser nekromantischer Affinität konfrontiert.
Nur eine intensive Verbindung mit Thargunitoth, der erzdämonischen Herrin der Untoten, konnte die Fülle von minderen dämonischen Kräften erklären, die die leblosen Knochen, Schuppen und Flügel des verrottenden Drachenleibes zusammenhielten. Das Erschreckendste aber war zweifellos die einfache Tatsache, dass noch immer das helle astrale Leuchten eines Drachenkarfunkels aus dem weit aufgerissenen Maul drang: Das war kein dämonisch bewegtes Gerippe – er hatte es mit einem untoten und doch seiner Macht und seines Wesens voll bewussten und damit wohl auch unverändert zaubermächtigen Drachen zu tun, einem so einzigartigen Machwerk der Nekromantie, dass es nur von einem stammen konnte – von Borbarad, dem Dämonenmeister, im Schatten dessen zerstörter Zitadelle sie standen. Die Wahl des nächsten Zaubers war einfach. »WIDER HELLSICHT UND BEFEHLE«, begann die Formel, die Tarlisin gegen Trugbilder, Bannsprüche und Beherrschungszauber des Drachen schützen würde. Ohne den astralen Blick aufzugeben, vollendete der erfahrene Magus den Zauber und richtete seine Konzentration dann weiter auf den Drachen. Die Lage war nicht leicht zu beurteilen, da alle nicht magischen Geländemarken unsichtbar geworden waren, aber noch schien der Drache jenseits der Reichweite eines jeden Kampfzaubers. Allein der mächtige und zerstöreri-
sche, aber auch für den Zauberer gefährliche Feuerball mochte ihn erreichen, da jener bis zu sieben mal sieben Schritt weit flog, doch lieber wartete Tarlisin ab und beobachtete den Drachen, hinter dem sich nun immer mehr graue Schwaden sammelten, als er langsam, sehr langsam Schritt um Schritt tiefer glitt, während seine mächtigen Schwingen fast unbewegt in der Luft hingen. Gerade war sich der Magier sicher, dass nunmehr ein Feuerball sein Ziel finden würde, als ihn eine unsichtbare Hand rüde an der Schulter packte und schüttelte. Mit einem Fluch drehte er sich um und packte seinen Stab fester, während sich seine Augen wieder auf die herkömmliche Blickweise einstellten, nun, da der Hellsichtzauber so jäh unterbrochen worden war. Ritter Demestiron von Yaquirblick war es, der sich völlig unmagisch und damit unsichtbar dem Magier genähert hatte, um ihn nun anzuschnauzen: »Wenn Ihr vielleicht einmal Eure Anwesenheit zu Euren Begleitern verlagern könntet, statt Euch hier in den Schatten zu verkriechen wie ein Feigling! Warum habt Ihr uns nicht besser gewarnt!« Nach diesem Ausbruch starrte er den jüngeren Magier zornerfüllt an, während eine Ader auf seiner Stirn fast fingerdick anschwoll. Um eine völlig sinnlose Auseinandersetzung zu vermeiden, schluckte Tarlisin den aufkeimenden Ärger hinunter und verwandelte mit
einem Gedankenbefehl seinen Zauberstab in ein Flammenschwert, das drohend in der Luft zwischen ihnen schwebte. »Das sollte zeigen, dass ich mich nicht verkriechen will. Ich werde kommen – sobald Ihr mich meine Arbeit habt tun lassen!« Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Anführer der Golgariten um und stapfte zu seinen Männern zurück, die aufmerksam bereitstanden, die Waffen erhoben, die Blicke auf den allmählich näher kommenden untoten Drachen gerichtet. Auch Tarlisin schaute wieder zu der unheiligen Kreatur empor. Irgendetwas war da noch außer dem Drachen selbst gewesen, das ihn irritiert und an einen Anblick aus früheren Zeiten erinnert hatte. Seufzend opferte er ein weiteres Stück seiner magischen Kraft, um erneut seinen Augen die Fähigkeit des astralen Sehens zu verleihen. Ja, da war es: Das schattenhafte Wimmeln hinter und neben dem Drachen war deutlicher geworden, und der Beobachter konnte über ein Dutzend Nebelschwaden klar unterscheiden, die sich nun in einem Kreis um den Drachen gruppiert hatten. Gerade erschien ein weiterer, die Zahl stieg damit auf siebzehn, doch statt sich dem Kreis anzuschließen, sank der Nebel direkt auf die kleine Zeltstadt hinunter; die anderen Schwaden folgten ihm. Tarlisin hatte keine Zweifel, was ihr Ziel war. Seine
Stimme gellte zu den Golgariten hinüber und die Botschaft war kurz genug, um nicht von dem Staub, der in seine Kehle drang, erstickt zu werden: »Zerhackt die Leichen! Rasch!« Aber ebenso sicher, wie seine Worte bei den Rittern ankamen, würden sie die Aufforderung nicht befolgen. Doch statt weiter den noch immer halb offenen Gräbern den Rücken zuzuwenden, drehten sich einige der Ordensritter zumindest zu den Leichnamen um, die noch immer keinen Segen Borons empfangen hatten. Zwar konnten sie im Gegensatz zu dem Magus nicht wahrnehmen, wie die unsichtbaren Nephazzim, Dämonen aus der niederhöllischen Domäne des Untodes, in die Leichname fuhren, um sie mit unheiliger Bewegungskraft zu versehen, doch sie sahen, wie die ausgedörrten, ledrigen Männer und Frauen Arme und Beine bewegten, mit starren Händen nach ihren Waffen griffen und sich bemühten, den Befehlen der Dämonen, die von ihnen Besitz ergriffen, und des drachischen Beschwörers nachzukommen. Sogleich fuhren die gesegneten Rabenschnäbel auf die Untoten herab. Die leichten Streithämmer mit den vogelkopfförmigen Spitzen durchbohrten Lederhaut, zerrissen Sehnen und zerschlugen Knochen, als die abgebrühten Ordensritter den Kampf mit den Kreaturen aufnahmen. Doch gegen eine anderthalbfache Übermacht der Gegner, die
buchstäblich in Stück gehauen werden mussten, damit sie keine tödliche Bedrohung mehr darstellten, brauchte es allen Mut und viel Glaubensstärke, und wann immer einer der Ritter angesichts der Schrekken zu zagen begann, fiel er alsbald den Waffen der Untoten zum Opfer. Abseits des Kampfplatzes verwandte der Magier seine Zauberkraft darauf, den Urheber des Ganzen auszuschalten – denn sein astraler Blick hatte ihm gezeigt, dass der schwarze Drache zwar das Geschöpf eines nekromantischen Rituals, aber auch selbst ein Totenbeschwörer war und die unsichtbaren minderen Dämonen gerufen hatte, die nun die Leichname bewegten. Für einige Herzschläge ließ Tarlisin die Formel vor seinem inneren Auge entstehen, hielt die Hände wie eine Schale vor die Brust und sah zu, wie sich dort eine sengende, apfelgroße Kugel aus gleißend weißem Feuer bildete. Als er sie mit einem geistigen Befehl von sich fortschleuderte, auf den langsam herabsinkenden Drachen zu, stieg sie rasch empor und gewann rasch an Größe. Der Magier hatte allerdings die Wendigkeit des Drachen unterschätzt – das Ungeheuer war nicht so träge und starr wie die gerade erweckten Untoten, sondern zeigte die Beweglichkeit einer Schlange oder eher noch eines Raubvogels, als es die Feuerkugel er-
blickte und im letzten Moment unter ihr hinwegtauchte, sodass sie das angestrebte Ziel verfehlte und ein, zwei Schritt über seinem Rücken in einem jäh auflodernden Feuerball explodierte. Tarlisin hatte in Erwartung der Explosion den Blick abgewandt und seine Handflächen untersucht – sie waren versengt und schmerzten, was bei einem Zauber von dieser Gewalt unvermeidlich war. Aber es würde gehen, es musste gehen. Mit schmerzenden Fingern holte er aus einer seiner Taschen eine knapp handtellergroße Kristallkugel hervor, die auf einen kurzen Befehl hin eine silbrig durchscheinende Halbkugel um ihn erscheinen ließ. In einem Umkreis von zwei Schritt in jede Richtung würde sie den Magus zumindest gegen die Annäherung der weniger mächtigen Untoten schützen, ein Zauber, der ihm hier in der Gorischen Wüste schon manches Mal das Leben gerettet hatte. Als er wieder emporschaute, sah er den Drachen herabstürzen, doch nicht wie ein getroffenes Tier, sondern trotz der schwelenden Flügel und der feinen Rauchspur, die er hinter sich herzog, wie ein Falke, der die Beute erspäht hat. Als die Kreatur sich noch zwei Schritt über dem Boden befand, breitete sie die Flügel zur größten Spannweite aus, und obgleich der Wind schrill durch die Risse zwischen den kokelnden Schuppen pfiff, nahm das blankliegende Gerippe des
untoten Drachen nicht den kleinsten Schaden. Halb skelettiert, zwanzig Schritt lang, erhob sich der schwarze Kaiserdrache schlangengleich aus dem roten Sand. Der Lehm des Grabes, dem er unlängst entstiegen sein musste, war durch die Wucht des Feuerballes und den Sturzflug von seinem Körper abgeplatzt und enthüllte nun die schwarzen, rissigen Schuppen der Kreatur. Totenbleich waren die langen Zähne in dem weit aufgerissenen Maul, leer gähnten die Augenhöhlen. Dem Magus, der nur durch einen gewagten Sprung dem landenden Feind entkommen war, blieb keine Zeit, sich an einem weiteren Zauber zu versuchen. Stattdessen lenkte er sein Flammenschwert mit einem knappen Gedankenbefehl gegen die Kreatur, um sie sich möglichst weit vom Leibe zu halten. Immer wenn der schlangenhafte Hals vorzuckte, um den Magus zu treffen, schwirrte auch das Flammenschwert herbei, um die Halswirbel zu durchtrennen, und schnell wand sich der Drache dann wieder aus der Gefahrenzone. Zu nah konnte sich aber auch der Magier nicht an den Gegner heranwagen, wenn er nicht in Reichweite der mächtigen Klauen geraten wollte. Die silbrige Kugel schien das Monstrum überhaupt nicht zu beeindrucken. Einige Zeit belauerten sie sich so, während irgendwo hinter ihnen der Kampf der Golgariten und der Untoten weiterging.
Tarlisin dankte den Göttern, dass der weit aufgerissene Rachen des untoten Drachen noch immer mit Sand, Lehm und Staub vieler Jahrhunderte verklebt und dadurch wenigstens der – mutmaßliche – Feueratem des Feindes blockiert war. Während sich die zwei auf immer neuen Bahnen belauerten, der Mensch vorsichtig und unsicher, der Drache, seiner Haltung nach zu urteilen voll ungebrochener Siegeszuversicht, sprach die untote Kreatur plötzlich mit Tarlisin – oder vielmehr füllte sie seinen Geist mit Bildern und Worten, die Drohungen und Verheißungen ausdrückten: Sie nannte sich Rhazzazor der Schwarze, ältester Diener des Uralten Meisters Borbarad, forderte seine bedingungslose Unterwerfung und versprach ihm Macht jenseits seiner kühnsten Träume. Trotz oder gerade wegen seiner Angst erlaubte sich der Mensch ein grimmiges Lächeln. »Meine Träume sind umfassend und schön, toter Rhazzazor. Wie steht es um die deinen?« Mit einem wütenden Fauchen schwenkte der Drache seinen langen Schwanz herum, sodass sich Tarlisin mit einem Ausfallschritt in Sicherheit bringen musste. Die Replik hatte einen wunden Nerv getroffen. Natürlich, dachte der Magus, Boron war nicht nur der Gott der Totenruhe, sondern auch des Schlafes und der nächtlichen Träume. Falls eine solche
dämonische Kreatur überhaupt träumen konnte, mussten ihre nächtlichen Visionen abscheuliche Strafen des erzürnten Gottes sein. Trotz seines Ärgers fuhr das drachenleibige Ungeheuer fort, ihn zu locken und zu bedrohen, zeigte ihm, wie es schon bei der Rückkehr seines Meisters vor einigen Jahren als Geist erwacht war und seitdem alles beobachtete, was in der Gorischen Wüste geschah. Seitdem die ›Menschlein‹ hier waren – Menschlein! –, hatte der Drache sie belauert und dabei die Erfahrung gemacht, dass er das Desiderat nicht finden konnte, weil es nicht in der Zitadelle geblieben war. Doch der Uralte Meister wollte es haben, also bot sich Rhazzazor Tarlisin als Sklave und Sprecher an, während sie die Spuren des Artefaktes verfolgten. Im Geist sah Tarlisin bildlich vor sich, wie die letzten Getreuen Rohals nach der Schlacht die Ruinen der Zitadelle verließen, verfolgt und gehetzt von Rhazzazor, der sie allesamt tötete, während er selbst an vielen großen und kleinen Wunden zugrunde ging. Ihre Gräber, das wusste Tarlisin, waren Jahrhunderte später vom fanatischen Borbarad-Anbeter Liscom von Fasar geplündert worden. Die gefundenen Artefakte hatte er verhökert, um seinen Traum, die Rückrufung des Borbarad, zu finanzieren. Hier musste man ansetzen, da die Zitadelle sich als leer erwiesen hatte – eine Aufgabe, die der untote Drache kaum
ohne menschliches Sprachrohr erledigen konnte, denn es hieß, Dutzende, wenn nicht Hunderte von Magiern und Sammlern zu überprüfen, eine langwierige, höchst unheroische Beschäftigung. Für den Magier, der gerade wieder einmal einer wenig ernst gemeinten Attacke ausweichen musste, war das Angebot des Drachen ein verlockender Gedanke. Die Wiedererweckung Rhazzazors bewies ihm, wie sehr auch der verbannte und wiedergekehrte Dämonenmeister das Desiderat begehrte. In jüngeren Jahren hätte Tarlisin ohne Zögern seine Treue beteuert, stets darauf bauend, dass er diesen Eid jederzeit würde brechen können, wenn er das gesuchte Artefakt erst einmal in Händen hielte. Doch seitdem hatte er zuviel darüber gelernt, wie die Gefolgsleute des Borbarad ihre Diener im Zaum hielten: Ein Beherrschungsbann, ein Besessenheitsdämon, ein Bluteid, das waren nur einige der Möglichkeiten, von denen man sich niemals würde befreien können. Tarlisin schüttelte bedächtig den Kopf: »Nein, schwarzer Rhazzazor. Ich hatte einmal die Möglichkeit, der Gefolgsmann deines Herrn und Schöpfers, des Dämonenmeisters, zu werden. Da ich ihm selbst dieses Angebot ausgeschlagen habe, wie könnte ich mich dann seiner Kreatur unterwerfen?« Der untote Drache neigte den zwei Schritt langen Schädel zur Seite und antwortete mit einem Bild des
Todes. Mit einer Bewegung, die von keiner verräterischen Muskelzuckung angekündigt wurde, schoss im gleichen Moment seine vordere Tatze vor, um den Kopf des Magiers zu zermalmen. Keine Parade mit dem Flammenschwert konnte den Hieb aufhalten – zwar zersplitterte das spröde Horn der mächtigen Klauen und begann zu brennen, doch der Schlag wurde ungehindert fortgeführt. Nur unwahrscheinliches Glück erlaubte es dem Magier, seinen Körper teilweise noch zur Seite zu werfen, sodass nur sein linker Oberarm von einer der brennenden Klauen getroffen wurde. Die mehrfach gesplitterte Klaue harkte wie eine scharfe Gabel durch den Muskel und legte für einen Herzschlag den Knochen frei, ehe das nachströmende Blut die Wunde schäumend rot füllte und schnell auch die linke Hälfte seiner Kleidung tränkte und verklebte. Der süße Gestank füllte die Nase des Magiers, der wie eine Puppe zur Seite geworfen wurde und im sandigen Staub landete, wo er sich noch mehrmals überschlug und einige Schritt weit rollte, ehe sein schlaffer Körper zum Liegen kam. Der schwer verletzte Tarlisin gewann das Bewusstsein erst zurück, als der Drache die Tatze um seinen geschundenen Leib schloss und ihn emporhob. Bei dem Druck um seine Leibesmitte brachen die untersten Rippen wie sprödes Holz, und dieser zusätzliche
Schmerz rief ihn für einen Augenblick ins Reich der Wachen zurück. Gegen den inneren Drang, sich völlig zu versenken und alles vorbei sein zu lassen, öffnete der Kampfmagier die Augen und blickte auf den untoten Drachen, der ihn beinahe unschlüssig in der Tatze hielt, eine zerbrochene Puppe, mit der weiter zu spielen ihm nun keine Kurzweil mehr bereitete. Während sich der mörderische Druck um seinen Leib noch verstärkte und er die Beine schon nicht mehr spüren konnte, richtete der Magier seine Gedanken auf den Zauberstab aus Eisenholz, der angeblich einstmals vom weisen Rohal selbst geschaffen worden war und den er, Tarlisin, einst in einer Weihezeremonie an sich gebunden hatte, und aktivierte die Kräfte des Siebten Zaubers, der über den Stab verhängt worden war – und an irgendeiner Stelle im Staub erhob sich der zwei Schritt lange Stab und schwebte auf seinen Besitzer zu. Noch im Fluge verwandelte der Magier seine Waffe in ein Flammenschwert und kaum dass jenes seine Fingerspitzen berührt hatte, riss er den rechten Arm hoch und schmetterte die brennende Waffe gegen den Ellbogen des schwarzen Drachen. Die Reaktion kam unverzüglich. Mit einem wütenden Fauchen musste die Kreatur ihren Griff lockern und den Magier zu Boden fallen lassen. Die Schmerzen beim Aufprall nahm der Gestürzte kaum wahr,
so sehr war er damit beschäftigt, sich mit letzter Kraft aus der unmittelbaren Reichweite des Drachen zu schleppen. Nach einigen Schritt stellte er fest, dass er seine Beine kaum noch bewegen und keinesfalls aufstehen konnte. Doch auch der schwarze Rhazzazor war angeschlagen: Er war offenkundig von diesem Angriff überrascht worden und hatte nun einige Schwierigkeiten voranzukommen: Schuppen und Knochen seines Ellenbogengelenks waren klar durchtrennt worden und der ganze Unterlauf mit der Tatze baumelte nur noch an einer einzigen ausgedörrten Sehne. Selbst eine so dämonische Kreatur der Magie war den grundlegenden Gesetzen der Mechanik unterworfen und konnte ihr Gewicht nicht auf dieses Vorderbein verlagern, ohne dass sie mehr wie ein auf dem Bauch kriechenden Alligator als wie ein stolzer Drache wirkte, als sie sich aufmachte, den Feind zu zermalmen. Der mächtige Schädel mit den leeren Augenhöhlen blickte sich wie suchend um. Obgleich es schon fast Nacht war, schien er sich wesentlich besser zurechtzufinden als seine menschliche Beute. Natürlich, das war es: Ohne Augen musste der Geist des Drachen, der noch immer den längst verrottenden Leib beseelte, auf ungewöhnlichere Mittel zurückgreifen, um sich in der Welt zu orientieren. Immerhin gab es eine ganze Reihe von Hellsichtzau-
bern, die dem Anwender das Vorkommen oder die Beschaffenheit von Magie anzeigten, die Anwesenheit von Lebewesen enthüllten, die Sicht in finsterster Nacht erlaubten oder gar den Blick durch fremde Augen ermöglichten. Und es gab einen, genau einen Zauber, der all dies unmöglich machte. Nur ein paar Herzschläge brauchte Tarlisin, um den einzigen Zauber zu wagen, der ihm vielleicht noch helfen konnte: »TRÜBE DIE HELLSICHT!«, stieß er hervor und deutet mit dem Stab auf den Drachen, der bereits gefährlich nahe bei ihm war. Wie sich der graue Nebel aus Zauberei formte, der sich um die übernatürlichen Sinne des Drachen legen und ihn für jede Hellseherei blind machen würde, konnte er selber ohne astralen Blick nicht sehen, doch die Reaktion war unverkennbar. Mitten in der Bewegung hielt der schwarze Rhazzazor inne und schüttelte wütend den mächtigen Schädel, als wolle er einen lästigen Insektenschwarm vertreiben. Dabei geriet der große Kopf direkt über den gefallenen Magier – und der ließ sein Flammenschwert, getragen von magischer Hand, so schwer gegen die Seite des Drachen schlagen, dass einige Fetzen Schuppenhaut fortgeschleudert wurden und trockene Rippen splitterten. Wie erwartet fuhr der geblendete Kopf des Drachen zur verletzten Stelle, um den Angreifer zu packen, der aber ließ das Flammenschwert in seine Hand zurückkehren und
schlug es dann mit aller Wucht auf den dünnen Hals der Kreatur. Wäre der Kopf erst einmal abgetrennt, würde sich auch der Leib besiegen lassen. Doch so sollte es nicht kommen. Der Hieb prallte fast wirkungslos zurück, als er eine Kette aus schweren Eisengliedern traf, die um den Hals des schwarzen Rhazzazor lag. An ihr hing ein Schädel aus Blei, der unter dem Schlag fast zerschmolz und zur Seite geschleudert wurde; der Hals selbst aber blieb so gut wie unverletzt. Tarlisin hingegen spürte, wie eine Eiseskälte von dem getroffenen Halsband ausströmte, die seine Waffe verlöschen und die Finger taub werden ließ. Ohne dieser Wirkung in irgendeiner Weise widerstehen zu können, verlor er das Bewusstsein und sackte im Staub zusammen. So konnte er nicht mehr wahrnehmen, dass auch der Angegriffene auf die Attacke sofort reagierte – wenn auch in einer unerwarteten Weise: Statt sich weiter um seinen Feind zu kümmern, wich er mit einigen weiten Sprüngen zurück und schlug heftig mit den Flügeln. Es gab keine wirksamen Sprüche gegen Gegenzauber wie den von Tarlisin gebrauchten, sodass er jetzt nur noch eines wollte: sich in Sicherheit bringen, bis die Wirkungszeit des Blendzaubers vorüber war. Mit rauschenden Schwingen stieg er auf, während rund um ihn der leichte rote Staub aufwirbelte – und nachdem er einige Augenblicke über dem
Gelände gekreist war, ohne den Feind zu sehen, machte er sich nach Südwesten davon. Als Tarlisin erwachte, war es dunkelste Nacht. Über ihm leuchteten die Sterne unbewegt und teilnahmslos auf das Dasein der Sterblichen und der Untoten herab und um ihn herum herrschte tiefe Stille, die nur von gelegentlichen Windböen aus dem unsichtbaren Riss im Sphärengefüge unterbrochen wurde. Vorsichtig und mit schmerzenden Fingern untersuchte der schwer verletzte Magier seinen Körper. Der Riss in der Schulter war götterlob mit dem Sand der Gorischen Wüste so verklebt und verstopft, dass ein Panzer aus geronnenem Blut und Staub einen weiteren Blutverlust verhindert hatte – dennoch würden seine Wunden sehr bald die gründliche Behandlung durch einen Medicus benötigen, wenn er überleben wollte. Beim Versuch sich aufzurichten, schmerzten die gebrochenen Rippen so sehr, dass er beinahe wieder das Bewusstsein verloren hätte; doch in diesem Augenblick fuhr eine eisige Böe aus dem Sphärenriss und weckte ihn endgültig auf. Aus langjähriger Erfahrung wusste er, welche Falle jetzt auf ihn lauem mochte. Trotz der Schmerzen zwang er sich, die Formel für den astralen Blick zu wiederholen, um die Umgebung zu überprüfen. Doch solange er auch schaute, außer dem weiter angewachsenen Sphärenriss war keine Form von Magie
zu erkennen. Drache wie dämonenbesessene Untote waren fort. Ein wenig beruhigt ließ Tarlisin daraufhin mit einem Heilzauber seine restliche astrale Kraft in die Wunden strömen, um die ärgsten Verletzungen zu schließen – und dabei spürte er, wie durch wundersame Kraft scharf gesplitterte Rippen sich zusammenfügten und zu heilen begannen, wie sich in seinem Arm zerfetzte Adern und Muskelfasern wieder verbanden. Zwar hatte seine Kraft bei weitem nicht ausgereicht, um eine vollständige Heilung zu erreichen, doch die schlimmsten Gefahren waren gebannt. Vom Schicksal der Untoten bekam der Magier ein Bild, als er, auf seinen Stab gestützt, am Kampfplatz ankam. Alle wiederbelebten Leichname lagen reglos am Boden, wo die geweihten Waffen der Golgariten die Besessenheitsdämonen aus ihren Körpern vertrieben hatten. Doch auch von den neun Rittern und den beiden Geweihten regte sich keiner mehr. Ohne Hoffnung machte sich der Magier daran, die Körper der Gefallenen zu bergen und nebeneinander zu betten. Sie wiesen alle Arten von Verletzungen auf, denn die von Dämonen besessenen Untoten hatten mit übermenschlicher Stärke zugeschlagen und auch dann noch mit bloßen Händen weitergekämpft, wenn ihnen die Waffen aus der Faust geschlagen worden waren.
Doch als er den verstümmelten Leib der jungen Golgaritin Khalidai emporhob, spürte er dessen fiebrige Hitze und sah, wie sich ihr verwundeter Brustkorb langsam hob und senkte. Eilig kniete er nieder, um ihren Körper auf den ebenen Sand zu legen und zu untersuchen. Das Ergebnis war erschütternd: Ihr fehlte nicht nur die rechte Hand und eine große Menge Blut, sie hatte auch durch die verwesenden Hände der Leichname eine Vergiftung erlitten, die ihren scheinbar so starken jugendlichen Leib verheerte und innerlich verbrannte. Es gab so gut wie nichts, was ihr noch helfen konnte. Es sei denn, er öffnete die so genannten ›Verbotenen Pforten‹: Jeder Graumagier lernte, diese Form der Zauberei nur im äußersten Notfall zu gebrauchen, wenn sie allein über Leben und Tod entscheiden konnte. Denn es war im höchsten Maße gefährlich, die Quelle der Lebenskraft anzuzapfen und mit der Energie zu zaubern, die den lebendigen Leib durchpulst. Viele Zauberer hatten sich durch unzureichende Disziplin ums Leben gebracht, denn anders als die astrale Kraft ließ sich die Lebenskraft nicht in genau dosierten Mengen einsetzen. Sehr schnell waren die Dämme gebrochen und der Zauberer vergoss in solchen Fällen seine ganze Kraft in einen trotz allem wirkungslosen Spruch, um als verdorrte, innerlich zu Asche verbrannte Hülle zurückzubleiben. Wegen
dieser Gefahren war der Weg der ›Verbotenen Pforten‹ bei der Gilde der Weißmagier sogar streng verboten. Nun aber bestand eine solche Lebensgefahr. Sanft strich er die zerrissene Kleidung beiseite und legte die Hand auf die Brust der jungen Ritterin, direkt über dem Herzen. Nun war es allein eine Frage des Willens, ob ihm die Umwandlung von Lebenskraft in Zauberkraft gelang. Und er wollte dies mit aller Macht. Um seine Überzeugung noch zu stärken, rief er sich die vielen kleinen freundlichen Gesten ins Gedächtnis zurück, die zwischen ihnen ausgetauscht worden waren, die zahlreichen neckischen Worte und ernsthaften Gespräche, die zärtlichen Berührungen, die es nie gegeben hatte, die es aber unter anderen Umständen hätte geben können – dabei richtete er zugleich seinen Willen darauf, das tief in seinem Inneren verborgene Tor aufzustoßen, hinter dem der Quell der Lebenskraft pulsierte, heiß und blutrot. Als sein Blick unvermittelt von blutiger Röte verschleiert wurde, weil die Pforte aufgesprungen war, benötigte er fast jede Unze seiner Willenskraft, um das Tor wieder zu schließen und nur so viel von der heißen Energie herauszulassen, wie für seinen Zauber benötigt würde. Kaum noch konnte er sich auf den Zauber selbst konzentrieren und die Worte der Formel aussprechen: »KLARUM PURUM!«
Erst einige Momente später klärte sich sein Blick und er atmete tief die eisige, klare Luft ein. Es war noch einmal gut gegangen, nicht zum ersten Mal, aber bei jedem Mal war die Erfahrung so übel und schmerzhaft, dass man sich schwor, es nie wieder zu versuchen. Erst nach diesem Augenblick der flüchtigen Freude über die bewahrte Selbstbeherrschung erlaubte er sich einen Blick auf die junge Frau an seiner Seite – denn es gab keine Garantie, dass der Zauber erfolgreich gewesen war. Wenn man mittels der ›Verbotenen Pforten‹ zauberte, konnte fast alles geschehen. Doch die Verletzte wirkte wesentlich ruhiger, und als er ihr die Hand auf die Stirn legte, war auch die Hitze zurückgegangen. Sanft, fast liebevoll, machte er sich daran, ihre Wunden zu verbinden und ihr so viel Heilung zu bescheren, wie ihm möglich war. Während der folgenden Stunden saß er ruhig da, ihren Körper in der eisigen Nachtkälte eng an seinen gedrückt. Als im Osten der rosige Schein der Morgenröte sichtbar wurde, durchlief ein Zittern ihren jungen Leib und sie lächelte schwach, doch sie erwachte nicht und wurde wieder ruhig, als Tarlisin behutsam mit seinen verbrannten Händen ihr Gesicht streichelte. Bald darauf ging die Sonne auf und nun sprach Tarlisin sie sanft an: »Die Nacht ist vorüber, das Licht begrüßt uns!« Die junge Frau reagierte nicht – und als
der Magier erneut ihr Gesicht berührte, stellte er keinen Atem fest. Der prüfende Griff an ihre Halsschlagader bewies es: Die junge Khalidai war tot, gestorben kurz vor Sonnenaufgang. Tarlisin konnte und wollte es nicht wahrhaben, doch es war eindeutig. Ganz offenkundig war der Zauber nicht stark genug geraten, um das Leichengift der Untoten ganz verschwinden zu lassen – stattdessen hatte er es in ein weit milderes Gift von der Art der Lotospollen verwandelt, die tiefen, schmerzfreien Schlaf und einen sanften Tod schenken. Mechanisch, als wäre er selbst ein Untoter, erhob sich nun der Magier und setzte seine Arbeit fort. Er bettete Khalidai auf einen ebenen Basalttisch, legte ihre Waffe an ihre Seite, ordnete ihre Ordenszeichen und das kleine Medaillon, das die Bilder ihrer Eltern zeigte. Auch die übrigen Leichname waren bald zusammengetragen und aus den Bahnen und Stangen der zerstörten Zelte ließ sich ohne weiteres ein großer Scheiterhaufen errichten. Die meisten verbliebenen Elixiere aus seinem eigenen Zelt waren für Notfälle gedacht, die nun niemals mehr eintreten würden, aber immer noch gut, um die Stoffbahnen besser brennen zu lassen. Das Zweite Ritual auf seinem Zauberstab erlaubte es ihm, den Stab ohne Einsatz astraler Kraft in eine Fackel zu verwandeln – und diesen Zauber nutzte er nun, um den Scheiterhaufen zu entzünden.
Er betete zu Boron, Schützer des Todesschlafes, und zu seiner persönlichen Schutzherrin Tsa, Bringerin des neuen Lebens, und starrte in das Feuer, bis er den Geruch der brennenden Leichname nicht mehr ertragen konnte. Dann ging er langsam, gemessenen Schrittes davon. Weit würde er nicht kommen, es gab für ihn keinen Ausweg: Denn er zweifelte nicht daran, dass der Feind, der Dämonenmeister selbst, nicht weit entfernt war und sowohl für die Erweckung des untoten Drachen als auch für das Beben der Sphären verantwortlich war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er selbst käme, um die Ruinen seiner einstigen Festung aufzusuchen. Und selbst wenn Tarlisin sich würde verstecken können: Die nächste Stelle, an der der Tafelberg steil abfiel zu der ihn umgebenden Gorischen Steppe, lag weit über zwanzig Wegstunden entfernt, eine Strecke, die er in seinem verletzten Zustand niemals würde bewältigen können – und selbst wenn die Götter ihm beiständen, wäre immer noch der fast unbezwingbare Abhang zu überwinden, ehe er auch nur die feindselige Halbwüste der Gorischen Steppe erreicht hätte. Er hatte nie vorzeitig verzagt, aber er würde sich auch nicht aberwitzigen Erwartungen hingeben. Tarlisin hatte keine genauen Pläne – zeitweilig spielte er mit dem Gedanken, erneut die Pforten seiner Lebenskraft aufzureißen und sein Leben aus-
strömen zu lassen, vielleicht es auch in einen letzten, glorreichen Zauber zu lenken. Dann wieder hatte er überlegt, wie ein tulamidischer Eremit in meditative Trance zu sinken, bis der Kraftverlust ihn hinfortrief – und manchmal war da der Drang gewesen, aller Vernunft zum Trotze aufzustehen und loszumarschieren in die Richtung, wo er den nächsten Rand der Wüste vermutete, bis ihn die Kräfte doch verlassen würden. Er hatte sogar daran gedacht, sich einem Teleportationszauber anzuvertrauen, doch selbst mit seiner Erfahrung käme er keine zwanzig Meilen weit, und bei dem Versuch würde er höchstwahrscheinlich sterben – denn der TRANSVERSALIS war über größere Distanzen eine der kraftraubendsten Formeln überhaupt. Doch ein eisiger Hauch vom Himmel brachte ihn auf andere Gedanken. Zurück in die Welt der lebenden Menschen, wo seine Frau und seine Kinder auf ihn warteten, konnte er sich selbst mittels der ›Verbotenen Pforten‹ nicht zaubern – aber der Sphärenriss zum Limbus, der Zwischenwelt, befand sich nur wenige Dutzend Schritte über ihm. Wenn er ohnehin sterben musste, konnte er sich vielleicht in das Reich jenseits dieser Sphäre zaubern und dann im Limbus nach einem Ausweg suchen – denn wie er aus früheren Studien wusste, war der Limbus zwar außerordentlich lebensfeindlich, zugleich aber so sehr von
astraler Kraft durchströmt, dass vielleicht – mit der Gnade der Götter – der Rückgewinn an Zaubermacht ausreichte, um sich mittels Heilzauberei am Leben zu halten. Die Wahrscheinlichkeit war gering – aber es war schließlich keine blühende und gesicherte Zukunft, die er aufs Spiel setzte, sondern einfach eine andere Art zu sterben. Langsam, aber entschlossen richtete sich der Magier auf und erforschte den Platz, wo der Riss verlaufen musste. Für einen Hellsichtzauber hatte er nun keine Kraft mehr, und das entsprechende Elixier hatte er in einer letzten Geste Khalidai in die Hände gedrückt, also musste er es so schaffen. Während er nun seine Hände über der Brust verschränkte, sich in sein Innerstes versenkte und sich all die Gründe in den Sinn rief, die für ein Überleben sprachen, riss er die Pforten von Leben und Tod erneut auf und flüsterte die zauberkräftige Formel: »TRANSVERSALIS TELEPORT!« Im nächsten Augenblick war Tarlisin verschwunden und nur einige Flecken des Blutes, das ihm beim Zaubern aus Mund und Nase geschossen waren, blieben von ihm im roten Sand der Gorischen Wüste zurück, schnell vom Staub überdeckt, der von dem unermüdlichen Eiswind herbeigetragen wurde.
Zwischenspiel
Angbar, zur achten Abendstunde des 5. Firun 27 Hal
»Bei Rohal, es reicht nun! Was zuviel ist, ist zuviel!« Der alte Mann in seinem hohen Lehnstuhl wirkte, als lauere Golgari bereits auf ihn: Die hageren, eingefallenen Wangen waren fahl gelb und hitzig rot gefleckt, und auf der hohen Stirn und dem bleichen Kahlschädel pochten blaue Adern. Die kleinen, wässrigen Augen waren tief in die dunklen Höhlen zurückgesunken. Alles in allem sah Ordenshochmeister Nostrianus Eisenkober aus, als hätte eine frevelnde Hand einen bunt bemalten Totenkopf auf eine notdürftig ausgestopfte weiße Magierrobe gesetzt, doch der Eindruck äußerster Zerbrechlichkeit verflog, als der Greis jäh aufstand, den Stuhl dabei beinahe umwarf, und rastlos in seinem Studierzimmer auf und ab schritt. Seinen Besucher würdigte er dabei keines Blickes, bis sein erster Zorn verraucht und einer stilleren, kälteren Wut gewichen war. Erst dann schaute er noch einmal zu dem viele Jahre jüngeren Mann hinüber, der bis auf wenige Unterschiede die gleiche Tracht trug wie er – doch Magister Kuniswart vom Reifenwasser war in den besten Jah-
ren und füllte die weiße Robe ganz anders aus, wirkte gesetzter, fülliger und wesentlich satter. In ihm war das kämpferische Feuer zwar nicht ganz erloschen, aber es schwelte mehr, als dass es loderte. Auch im Moment waren es weniger die aufwühlenden Nachrichten, die er überbracht hatte, als die Sorge um die Gesundheit seines Vorgesetzten, die ihn handeln ließ. »Eure Magnifizenz, denkt an Euer Wohlergehen! Ich bitte Euch, beruhigt Euch!« Ruhe, jetzt ausgerechnet Ruhe zu fordern! Der junge Mann war ein Narr, ohne Blick für die Zeichen der Zeit. Ohne Instinkt für das, was getan werden musste. Nostrianus Eisenkober seufzte und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Seine dünnen, skeletthaften Finger nahmen die Bögen auf, die dort lagen, sorgsam gefaltet und verblüffend glatt. Immerhin waren sie gut zweihundert Meilen in der Satteltasche eines Kurierreiters gereist und doch nicht zerknittert. Eisenkober schnaubte. Vermutlich hatte man die Gazette erst eine Stunde lang mit einem heißen Eisen geglättet, um sein Auge nicht zu beleidigen, statt ihm die wichtigen Neuigkeiten sofort zu bringen. Narren, alles Narren um ihn herum. Er richtete den wässrigen Blick, den er für so scharf und bohrend wie in seiner Jugend hielt, auf seinen Stellvertreter. Vom Reifenwasser war auch so ein Trottel, viel zu schwach in seiner Hingabe für die Sa-
che. Aber die Vorsehung hatte ihm die richtige Hilfe erst viel zu spät geschickt. »Werter Kuniswart, es ist weit unter Eurem Rang, derlei zu erledigen, aber würdet Ihr bitte persönlich die Akte ›Tarlisin von Borbra‹ aus dem geheimen Archiv holen und hierher bringen? Sie ist zu wichtig und zu vertraulich, als dass ich sie einem anderen anvertrauen möchte.« Eilfertig erhob sich der stämmige Magister und dankte für den Vertrauensbeweis, ehe er die Kammer hoch im Wehrturm der Ordensburg verließ. Hochmeister Eisenkober blickte noch einen Moment aus dem Fenster – nicht dass es einen guten Ausblick geboten hätte, dafür war es zu zweckmäßig angelegt und mehr einer Schießscharte ähnlich, aber man konnte doch die Umrisse der Burg Thalessa, des fürstlichen Schlosses der Provinz Kosch, sehen, sowie auch einen kleinen Teil des glitzernden Angbarer Sees. Die rauchenden Eisenhütten und geschäftigen Mineneingänge der alten Bergwerksstadt waren zum Glück verdeckt, teils von der Turmwand, teils von selbsterzeugtem Qualm; und das gefiel dem Hochmeister ausnehmend gut. Zwar schätzte er an den Erzzwergen Angbars deren Hass auf jegliche götterfremde Zauberei – eine Einstellung, die sich auch die Wächter Rohals auf ihre Fahnen geschrieben hatten –, doch als gebildeter Weißmagier konnte er dem
stumpfsinnigen Treiben all dieser kurzsichtigen Handwerksleute wenig abgewinnen. Wie gut, dass die Richtigen über sie wachten. Aber was geschähe, wenn die Wächter in ihrer Wachsamkeit nachließen? Dazu durfte es nicht kommen, und dafür war er da. Als er sich wieder vom Fenster abwandte, spürte er beim Drehen den altvertrauten dumpfen Schmerz in der Brust. Die Feinde der Rechtschaffenen ruhten nicht und setzten ihm zu, doch er würde das Schlachtfeld nicht verlassen, solange der Kampf noch nicht gewonnen war. Mochte sein Stellvertreter noch so jammern, er würde die Fackel des Anführers noch nicht ausgehändigt bekommen. Eisenkober warf dem leeren Besucherstuhl einen grimmigen Blick zu und nahm dann wieder in seinem Sessel Platz. Während er abwesend mit der Rechten seine linke Brustseite massierte, hielt er sich die Gazette dicht vor die altersschwachen Augen und las noch einmal die Meldung, die ihn so erzürnt hatte. In der Garether Ausgabe des ›Aventurischen Boten‹, Ausgabe Nr. LXVII, stand zu lesen: Der Schrecken aus der Dämonenbrache Gareth: Aufgrund der tobrischen Ereignisse waren die Magier-Feierlichkeiten zum Fest der Verhüllung Rohals
am 7. Hesinde ohnehin nahezu allesamt abgesagt und die üblichen Zurschaustellungen arkaner Künste durch hingebungsvolle und warnende Ansprachen über die Verlockungen der Schwarzmagie und die Verantwortung der Zaubermächtigen ersetzt worden – doch denjenigen Bürgern der Stadt, die an diesem Datum in Neu-Gareth weilten, bot sich ein ganz besonderer Anblick. Kurz vor der Mittagsstunde kam ein Mann in einer vielfach zerrissenen, blutverschmierten schwarzen Robe geradewegs aus der Dämonenbrache mehr gewankt denn geschritten und schlug den Weg zur neuen Residenz ein. Der ungewöhnliche Aufzug lockte rasch Neugierige an, die alsbald von einem ›wilden Druiden‹ oder ›Hexenmeister‹ murmelten – angesichts der schmutzigen Haut, der langen, verfilzten Haare und des wilden Blicks des Fremden nicht überraschend. Doch niemand kann das Entsetzten beschreiben, als der erste bemerkte, dass trotz hellster Mittagssonne der Seltsame keinen Schatten warf. Eilig zogen sich die Schaulustigen zurück und Rufe nach der Inquisition wurden laut. Zwar hielt der Schattenlose immer wieder an Kreuzungen inne und wollte zum Volk sprechen, doch als einzige Antwort flogen Steine aus der Menge. Kaum auszudenken, wie es ausgegangen wäre, hätte nicht in jenem Moment der von einer Ansprache in Alt-Gareth zurückkehrende Dritte Hofmagus Melwyn Stoerrebrandt den Auflauf bemerkt und beschlossen, der Sache nachzugehen. Nachdem er einige Worte mit dem Fremden gewechselt und dieser heftigst erregt auf ihn eingeredet hatte, ließ er die Menge von seiner Eskorte zerstreuen und den rätselhaften Fremdling in die Stadt des Lichtes führen, die dieser oh-
ne Zögern, ja sogar mit deutlich sichtbarer Erleichterung betrat. Über die Person des Mannes wurde vorerst nichts bekannt gegeben. Ersten Berichten zufolge handelt es sich bei dem Fremden um Tarlisin von Borbra, einen der Großmeister der Grauen Stäbe von Perricum, dessen Schatten ›vom Dämonenmeister geraubt‹ worden sei. Anscheinend hatte der Magus – in Absprache mit dem Raben von Punin und dem Schwert der Schwerter zu Perricum – Mitte vergangenen Jahres die Expedition des Golgaritenordens von Anchopal in die Gorische Wüste begleitet, um dort unter anderem ein auch vom finsteren Borbarad begehrtes Artefakt zu bergen. Dieses ›Desiderat‹, von dem der Großmeister während einer außerordentlichen Gedankenverbindung erfahren haben soll, scheint sich jedoch zur Zeit weder in den Händen des Guten noch des Bösen zu befinden, sondern schlichtweg verschollen zu sein. Tatsächlich, es blieb dabei. Wenn sich der ›Bote‹ nicht einen argen Schnitzer oder einen noch ärgeren Scherz erlaubt hatte – und das Garether Blatt war eigentlich für seine Zuverlässigkeit bekannt –, dann war der siebenmal verfluchte von Borbra am Leben und gerade dabei, sich seine Machtposition wieder zu erschwindeln. Zumindest fehlten die feinen Hinweise, die dem Kundigen gezeigt hätten, dass der Verfluchte die Stadt des Lichtes und die Hallen der Inquisition nie wieder verlassen würde. Also hatte der Blender selbst die Augen der Praios-
geweihten täuschen können, und es lief auf das alte Duell hinaus, das eigentlich seit Jahrhunderten feststand, seitdem die Abweichler in den Randprovinzen die lenkende Hand des Mutterhauses zurückgewiesen und sich als eigener ›Orden der Grauen Stäbe‹ abgespalten hatten. Als Graumagier. Eisenkober schnaubte – die ganze Graue Magie mit ihrem Geschwätz von Freiheit und Eigenverantwortung war nur die wohlgemeinte Leugnung der Allmacht der Götter, so wie die Schwarze Magie die böswillige Leugnung war – aber gefährlichster Unglaube war beides, gerade in einer Zeit, in der die Götterfeinde eine fröhliche Rückkehr zu feiern gedachten. Dafür hatte der Weise Rohal nicht seinen Wächterorden gegründet, dass sie diesem Treiben untätig zusahen, und bei Hesinde, solange er das Ruder in Händen hielt, würden die Wächter Rohals auch nicht schweigen. Eisenkober blickte zu dem verschwommen sichtbaren, aber überaus ehrwürdigen Magierstab, der auf seinem Ehrenplatz an der Wand ruhte. Er brauchte den mit edlen Metallen und hesindegefälligen Onyxsteinen geschmückten, einst von Rohal selbst geschaffenen Zauberstab nicht deutlich zu sehen, um jede seiner Glyphen, jede Facette des Schmuckwerkes gleichsam unter den Fingerspitzen zu fühlen. Wortlos
erneuerte der Träger des Rohalsstabes seinen Schwur: Er würde nicht ruhen, bis die Einheit der Zauberer unter Führung der Weißen Gilde hergestellt und die Abweichler unterworfen oder vernichtet waren. Andere mochten sich um gildenpolitische Ämter balgen, ihm waren Posten wie der des Convocatus Primus der Weißen Gilde gleichgültig. Er wollte allein als getreuer Wachoberst der Weißen Sache die Feinde der Einheit zur Strecke bringen. Und der erste und vornehmste Feind unter denen, die noch nicht offen zum Sphärenschänder und Seelenverderber Borbarad übergelaufen waren, war ohne Zweifel Tarlisin von Borbra. Schon der Name war eine Anmaßung – sich in der angeblichen Geburtsstadt Borbarads im fernen Aranien niederzulassen und sich danach zu benennen! Nur die Götter mochten wissen, welche unheiligen Geheimnisse der vorgebliche Geck dort gefunden hatte. Nostrianus Eisenkober wusste wohl, dass sich zu viele vom Auftreten dieses Herrn von Borbra blenden ließen. Er gab sich als törichter Stutzer, als flatterhafter Lebemann und trug seinen Titel mit einer Leichtigkeit, dass man ihm kaum böse sein konnte: ›Herr der Gorischen Wüste‹ – selbst als Anchopal noch eine loyale Ordensburg der Wächter Rohals gewesen war, hatte ihr dortiger Großmeister diesen nominellen Posten gehabt, um gegen Eindringlinge, Schatzsucher
und Schlimmeres mit aller Härte vorgehen zu können. Doch von Borbra trug ihn wie eine spöttische Reminiszenz an den Dämonenmeister, als sei er dessen Erbe – und nun hatte er eine Truppe götterfürchtiger Ordensleute in ›seine Baronie‹ geführt und zweifellos dem Bösen geopfert. Als Eisenkober vom Aufbruch und dann vom Verschwinden der Expedition gehört hatte, da hatte er auf den Tod dieses Scharlatans gehofft und dessen alsbaldiges Erscheinen in den Reihen der Feinde erwartet – doch dass von Borbra wiederum in Gareth, im Herzen der Rechtschaffenheit erschienen war, zeigte nur, dass er sich einbildete, mit seiner Maskerade überall durchzukommen. Denn eine Maskerade war es, nicht mehr und nicht weniger – Nostrianus Eisenkober war dem Ratssprecher der abtrünnigen ›Grauen Stäbe‹ mehrmals begegnet und hatte jedesmal eine große Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit gespürt, die tief unter der Larve des Lebemanns verborgen lag, eine Entschlossenheit, die nur von der tiefsitzenden Hingabe an die Sache der Verderbnis stammen konnte. Der Hochmeister der Wächter Rohals blickte unwillig auf, als jemand eintrat, ohne anzuklopfen, und ihn aus seinen Gedanken riss. Schon wollte er dem Störenfried einen scharfen Verweis erteilen, als er seinen Stellvertreter erkannte. Nun, er hatte den Töl-
pel mit einem Auftrag fortgeschickt, da mochte es ihm wohl angemessen erscheinen, einfach wieder hereinzukommen. Vermutlich hatte er aber zuvor noch die Akte gebügelt. Der dicke Pergamentdeckel jedoch sah so aus wie immer – ein schmuckloses, hellbraunes Stück Feinleder mit dem Namen des Betroffenen, und darin eine Fülle von allgemein bekanntem wie unbekanntem Belastungsmaterial gegen den Großmeister der Ordensburg Anchopal und derzeitigen Sprecher des Rates der Grauen Stäbe. »Werter Kuniswart, seid so gut und tragt die wichtigsten Punkte vor.« Gehorsam nahm der jüngere Magister die Akte wieder an sich und suchte die ersten Bögen hervor, eher er mit sonorer Stimme vorzutragen begann: »Als Erstes ist anzuführen, dass von Borbra, obgleich von der eigentlichen Ausbildung her ein Graumagier, seine erste Unterweisung in Magie in seiner Geburtsstadt Brabak erhalten hat, und zwar von der heute so berüchtigten Demelioë Terbysios, der nunmehrigen Leiterin der dortigen Dämonologenakademie ...« Gereizt unterbrach der Hochmeister seinen Stellvertreter: »Es ist mir schon bewusst, wer Frau Terbysios ist und wo sie wirkt. Ihr müsst hier keine Novizen unterrichten.«
Mit einem geduldigen Lächeln nahm vom Reifenwasser den Tadel hin und fuhr fort: »Es ist allerdings anzumerken, dass er als etwa fünfjähriger Knabe gar nicht beurteilen konnte, was man ihn da lehrte, besonders wenn man ...« »Genug! Reifenwasser, Reifenwasser, auf wessen Seite steht Ihr eigentlich?« Gebieterisch streckte Eisenkober die Hand aus: »Gebt mir die Akte, ich werde sie durchgehen. Ihr könnt dann ja den Advocatus des von Borbra machen, wenn Euch danach so gelüstet.« Die schwere Pergamentsammlung wechselte erneut den Besitzer, und nach knappem Blättern sprach der Hochmeister weiter, mühsam seinen gerechten Zorn drosselnd: »Dass schon der kleine Knabe mutwillig den Tod eines Vetters verursacht haben soll, hättet Ihr vielleicht gar unterschlagen, was? Aber meinetwegen, als er dann zur Erziehung nach Andergast kam, scheint er sich ganz gut geführt zu haben.« Zumindest Selbstbeherrschung und das Verbergen seiner wahren Natur hatte er sich in den eisigen Gängen der Kampfmagierschule und in den sturmzerzausten Heerlagern der Andergaster Armeehaufen erworben – und eine grundlegende Körpertüchtigkeit, die ihn zu einem viel gefährlicheren Gegner machte als die meisten Schwarzmagier, die in der Regel schmächtige, schwächliche Gelehrte mit mörderischen Ideen waren.
Als sein Stellvertreter nichts einwandte, fuhr Eisenkober fort: »Aber dann: Als fahrender Herumtreiber wurde er mit einigen Gefährten in der Dämonenbrache verhaftet, wo er anhand eines alten Pergamentes nach einem Kultplatz für den Götzendienst gesucht hatte. Sie wurden beim Verlassen der Brache von einem Inquisitionsrat der Praioskirche gestellt und von Borbra – damals noch Tarlisin Bocadilio – wegen seiner Aufsässigkeit ausgepeitscht.« Er ließ die Worte einen Moment nachklingen, dann sprach er, mühsam die Beherrschung wahrend, weiter: »Danach hat er rachedurstig einen Dämonen beschworen und auf den Inquisitor gehetzt. Der fromme Mann konnte die Bedrohung natürlich abwehren, aber noch ehe der Frevler in Acht und Bann getan war, hatte er schon die Flucht nach Brabak angetreten.« Eisenkober seufzte. Brabak, immer wieder Brabak, dieses götterverfluchte Loch am Ende der Welt, jene allzeit bereite Hure, willig, jeden flüchtigen Verbrecher der ganzen Welt aufzunehmen. Hätten nur die Rechtschaffenen dort rechtzeitig aufgeräumt, wie viele Frevler wären nur noch eine schmerzende Erinnerung statt einer allgegenwärtigen Gefahr. Was waren das für Zeiten, wo selbst die Kirche des Praios eher Frevler entweichen ließ, als sie der endgültigen Be-
strafung zuzuführen. Und da fragten manche, warum er nicht in Frieden seinen Lebensabend genösse! Er schluckte den Zorn hinunter und zitierte weiter: »Er ist dann an der dortigen schwarzmagischen Akademie – ›Konvent der verfinsterten Sonnenscheibe‹ nennen sie sich, ha! – aufgenommen worden und hat die Dämonologie studiert, für die er, wie es in diesem Zeugnis heißt, eine ›unnatürliche Begabung‹ hatte. Gut gesagt.« Nun schien es Magister vom Reifenwasser an der Zeit, eine Bemerkung einzuwerfen: »Ich bin so empört wie Ihr, Eure Magnifizenz, aber die Zugehörigkeit zur Schwarzen Gilde ist nun einmal nicht wirklich strafbar.« »Denkt Ihr denn, das wüsste ich nicht? Und wie ist es damit? In Brabak hat er die verfluchte Blutmagie der Borbaradianer erlernt, von niemand anderem als von dem verurteilten Götter- und Reichsfeind G. C. E. Galotta. Und nicht genug, wir haben hier ... und hier ... und hier eindeutige Berichte, dass er in dieser Zeit das Bett mit seinem Lehrmeister geteilt hat, der ihn geradezu herumzeigte auf den Brabaker Gelagen als seinen ›schmucken Favoriten‹. Habt Ihr denn schon vergessen, dass Galotta heute einer der wichtigsten Vasallen des siebenfach verdammten Dämonenmeisters ist?« Ehe der so scharf angesprochene Magister sich äu-
ßern konnte, fuhr ihm sein Vorgesetzter über den Mund: »Hier, seht, damals hat von Borbra nachweislich einen Höllenpakt mit der ›Herzogin des Wimmelnden Chaos‹ geschlossen, um von ihr ewige Jugend und Schönheit zu erhalten. Stellt Euch das einmal vor, diese Eitelkeit, und das mit gerade zwanzig Jahren!« Kopfschüttelnd betrachtete der greise Magier sich in der spiegelnden Karaffe auf seinem Schreibtisch und war geradezu erleichtert, als ihm dort sein vertrautes Antlitz entgegen blickte – ein reifer, aber noch immer gut aussehender Charakterkopf ohne ein Gramm überflüssiges Fett. Magister Kuniswart vom Reifenwasser nutzte die kurze Atempause, um etwas einzuwenden: »Die Akte enthält aber auch eindeutige Beweise, dass er sich schließlich dank der Gnade der Göttin Tsa von den Brabaker Irrlehren gelöst und die Ewigjunge Göttin ihm verziehen hat – und das einem vormaligen Anbeter ihrer Erzdämonischen Widersacherin! Mit allem Respekt, Eure Magnifizenz, aber wenn wir darauf herumreiten, nützt es wenig, immerhin hat ihm daraufhin selbst der Rat der Grauen Gilde Milde entgegengebracht und ihn nur angewiesen, strafweise den abtrünnigen Grauen Stäben beizutreten und seine Schuld als einfacher Gardist abzubüßen. Er wurde im Jahre 16 Hal begnadigt. Ich fürchte,
eine Abschrift dieser Urkunde ist auch bei den Unterlagen.« Eisenkober fuhr auf: »Was kümmert den Rechtschaffenen die Graue Gilde mit ihrer intriganten Mauschelpolitik! Und wenn die Abtrünnigen einem Sträfling gestatten, zum regulären Mitglied und schließlich zum Würdenträger zu werden, ja sogar bis in höchste Ämter aufzusteigen, zeigt das erst recht, wie verkommen ihr Regiment ist, wie weit sie die hehren Ziele des Weisen Rohal verraten haben. Der Weise ist mit Waffen- und Zaubermacht in den Krieg gezogen und hat den Dämonenmeister Borbarad fortgestoßen ins Nichts, aus dem ihn Frevelei der Schwarzen und Duldsamkeit der Grauen Gilde in diesen Tagen zurückgeholt haben – vermutlich genauso wie nun seinen Gefolgsmann Tarlisin.« Seine Stimme klang rau, also goss er sich einen Becher Wasser ein und trank ihn gierig. Nur Wasser, niemals Wein, das war er seinen Kräften schuldig. Kein Fleisch in irgendeiner Weise, nur etwas Wärme für die erschöpften Knochen. Diesmal schwieg vom Reifenwasser, also setzte der Hochmeister fort: »Und wir haben hier zusätzliche Beweise, dass er auch später ein Handlanger des Dämonenmeisters war, den er nachweislich aus seinem Munde hat sprechen lassen und der ihm als Pfand ihres Bündnisses seinen Schatten nahm. Dass ihm die-
ser Sitz der Seele noch immer fehlt, bestätigt uns der ›Aventurische Bote‹ auf das Vortrefflichste.« Er bemerkte den Ausdruck auf Magister vom Reifenwassers Gesicht und schnappte: »Oder habt Ihr da auch Eure eigene Meinung?« Der jüngere Mann wählte seine Worte vorsichtig: »Keinerlei Einwände, nur eine Anmerkung, welche Lügen des Herrn von Borbra zu bekämpfen sein werden: So hat er selbst vor dem Altar beschworen, dass er als unwilliges Werkzeug und nicht als Verbündeter des Dämonenmeisters gehandelt habe, weil dieser gleichsam in seinen Körper gefahren war. Durch die Intensität seiner Gegenwart habe er einige seiner Gedanken erahnt und dadurch gar noch wertvolles Wissen erworben. So habe der Feind erkennen lassen, wie sehr er ein bestimmtes Objekt begehrte, und damit verraten, wie man ihn bekämpfen kann.« Nun war es an der Zeit für Nostrianus Eisenkober, sich ein verhaltenes, aber triumphierendes Lächeln zu gestatten. In Magister Kuniswarts Augen sah es aus, als spanne sich die trockene Haut des Totenschädels und lasse ein vielzahniges Fletschen sichtbar werden: »Ich sehe schon, bester Kuniswart, auf Euch kann ich nicht bauen, wenn wir den Herrn von Borbra, den Herrn der Gorischen Wüste, angreifen und vernichten – wegen all seiner Lügen, mit denen er nun zuletzt die ehrbaren und frommen Ritter Golgaris in
den Untergang gelockt hat, um selber als überlebender Held aus dem Desaster aufzutauchen und gewiss neue Unschuldige um sich zu scharen. Aber er wird nicht mehr lange die Naiven und die Geistesschwachen in die Fänge seines Meister treiben können. Nein, ich werde ihn vernichten, vor genau jenem Gericht, das ihn einst freigesprochen hat, vor einem Gericht seiner eigenen verachtenswerten Grauen Gilde. Aber die Vorsehung war mit mir, denn gerade jetzt, wo Ihr mit Euren Zweifeln und Eurer Kleingläubigkeit nicht mehr seid als ein guter Statthalter dieser Burg, während ich in die Schlacht ziehe ...«, er musste sich unterbrechen, um einen Schluck zu trinken, und hatte danach den Faden des unvollständigen Satzes verloren, »also hat mir die Vorsehung, hat mir der Himmel die Hilfe geschickt, um die ich tagtäglich gebetet habe. Der Himmel hat sie gesandt, und sie wird mir helfen, den Feind zu vernichten. Kommt herein, meine Liebe!« Eisenkobers Augen waren zu schwach, um im Gesicht des Gegenübers viel mehr zu erkennen als ein plötzlich aufklaffendes Loch auf der Höhe des Mundes, als der stämmige Magister die junge Frau aus dem Privatgemach seines Vorgesetzten treten sah.
1. Kapitel
Punin, zur achten Morgenstunde des 23. Ingerimm 27 Hal
Punin ist zu jeder Zeit lebhaft und turbulent, doch dieses Mal herrschte ein ganz besonderer Andrang in den breiten Alleen und engen Gassen, unter den kupfergedeckten Kuppeln und ziegelroten Dächern der Hauptstadt der Provinz Almada: Denn hier, genauer gesagt in der Akademie der Hohen Magie, trafen sich die Magier ganz Aventuriens zu einem außerordentlichen Konvent, um die Umwälzungen der letzten Jahre zu diskutieren und Mittel zur Bekämpfung des Dämonenmeisters zu finden. Einen dieser Pläne hatten die gelehrten Damen und Herren bereits in die Tat umgesetzt: Dank eines von den besten Analytikern Aventuriens zusammengestellten Artefaktes sollte der seit Jahrhunderten entrückte Großmagier Rohal der Weise zurückgerufen werden, um die drei oftmals zerstrittenen Magiergilden zu versöhnen und sie gegen den gemeinsamen Feind Borbarad zu führen. In der erregten Erwartung der Wiederkehr des Weisen, der seinerzeit 123 Jahre auf dem Kaiserthron gesessen hatte, brummte und summte es in der Stadt wie in einem Bienenstock kurz vor dem Schwärmen,
und die zusätzlichen Gardisten und Wachposten vermochten trotz aller Anstrengungen kaum die Ordnung aufrechtzuerhalten. Auch in einem der Zimmer im Puniner Ordensgästehaus der Grauen Stäbe bereitete sich jemand auf die Veranstaltungen des neuen Tages vor. Der Raum war gut, ja beinahe luxuriös eingerichtet; denn da durch die Wirren der letzten Jahre die Gästezimmer im eigentlichen Ordenshaus nahe der Akademie noch immer nicht bezugsfertig waren, hatte der Orden diese früher schon genutzten Räume erneut mit guten Möbeln, Raumschmuck mit Ordenssymbolik und sogar einer kleinen Bibliothek ausgestattet, kurzum mit allem, was sich die hier untergebrachten Ordens- und Großmeister aus fernen Provinzen wünschen mochten. Einer der Gäste war vor allem über den wandhohen Glasspiegel erfreut, der in seinem Zimmer stand: »Meinst du, dass ich dem Anlass entsprechend gekleidet bin?« Großmeister Tarlisin von Borbra betrachtete kritisch sein Spiegelbild. Sein Diener Halef blickte nicht einmal von seiner Lektüre auf. »Ihr seht wie immer hinreißend aus, Effendi.« »Challawalla, Halef! Du könntest mich wenigstens einmal anschauen. Falls es dir entgangen sein sollte: Ich muss gleich vor dem Gildengericht wegen der Kla-
ge dieses Narren Eisenkober erscheinen. Da will ich nicht in erster Linie hinreißend, sondern eindrucksvoll erscheinen. Schließlich will ich Prishya beeindrucken und nicht betören. Obwohl ...«, Tarlisins angespannte Miene verzog sich kurz zu seinem jungenhaften Grinsen, als könne man ihm beim besten Willen nichts übelnehmen, »ich wette, dass ich sie damit vermutlich wirklich überraschen würde. Aber andererseits denke ich, dass selbst ein paar Tage im Kerker angenehmer sind als eine Nacht mit der alten Garlischgrötz.« Der Großmeister schüttelte sich und fegte dabei mit seinen langen Haaren einen Flacon Duftwasser auf den Boden. Das Geräusch des zerberstenden Glases und die aufsteigende Wolke hochkonzentrierter Blütenessenz ernüchterten ihn schlagartig, und er zupfte erneut seine Ärmel glatt. Sein Diener legte das Buch zur Seite und trat neben den Magier. Es war sehr selten, dass sich sein Herr in die vorgeschriebenen Gewänder seines Ordens hüllte. Üblicherweise bevorzugte Tarlisin Kleidung, die seinen drahtigen Körper vorteilhaft zur Schau stellte, auch wenn er damit gegen bestehende Konventionen verstieß. Heute jedoch hatte er die traditionelle graue Robe und das rote Skapulier des Ordens der Grauen Stäbe angelegt, selbst die enganliegende rote Kappe fehlte nicht auf der langen schwarzen Haarpracht – und doch, alles war überaus verwegen geschnitten,
ohne gegen den Wortlaut des Codex und der Ordensregeln zu verstoßen, die weder etwas über fast hüfthohe Schlitze in der Robe aussagten noch darüber, wie hauteng die darunter getragene Hose sein durfte. Auch wenn der Großmeister der Grauen Stäbe äußerlich ruhig wirkte, zeigten kleine, kaum erkennbare Signale, dass er vor der Anhörung vor dem Gildengericht nervös war – doch ob es sich um echte Sorge oder eher um eine Form von Bühnenangst handelte, vermochte auch Halef nicht zu sagen. So oder so legte er beruhigend die Hand auf die Schulter des Magiers: »Seid unbesorgt, Effendi, Ihr seht tadellos aus. Ich denke, Ihr macht Euch unnötige Sorgen. Nach der heutigen Anhörung wird man gewiss die Vorwürfe gegen Euch fallen lassen.« Sein Dienstherr lachte: »Eigentlich bin ich mir da auch sicher. Aber du weißt, was man sagt: Auf hoher See und vor Gericht ist man nur in der Götter Hand. Und dieses Mal steht wirklich einiges auf dem Spiel.« Der Magier schaute seinen Adlatus ernst an: »Dies ist viel mehr als ein gewöhnlicher Gildenkonvent, nicht nur, weil er außer der Reihe stattfindet. Wir waren unlängst Zeugen eines Rituals, das den Weisen Rohal zurückrufen wird. Nach über 400 Jahren kehrt der größte aller Magier zurück, um uns gegen den Feind zu führen.« Tarlisin blickte zu dem Bild, das man ihm in sein
Zimmer gehängt hatte. Es war eine symbolische Interpretation des wehrhaften Rohal und zeigte den Weisen in roter Robe vor einer Zitadelle, wie er dem Übel in Gestalt eines Lindwurms den Garaus machte. Wenn es doch so einfach wäre! Aber Drachen krallten sich zäh an ihre Existenz, das konnte er bezeugen ... Ihm liefen kalte Schauer über den Rücken, als er an den Kampf gegen den untoten Rhazzazor dachte, und seine vernarbte Schulter schmerzte wieder. Eilig sprach er weiter, um sich abzulenken. »Aber er wird mehr tun als das, er wird in seiner Weisheit auch die Streitigkeiten zwischen den Gilden beilegen, die Sterbliche nicht schlichten konnten.« Nun konnte er sich ein Lachen doch nicht verkneifen: »All das Zeug halt, wozu man schon die Unsterblichen und die Halbgötter benötigt, weil wir Menschen es einfach nicht zustande bekommen. Vermutlich wird er auch den Sphärenriss über der Gor schließen, der wieder größer geworden sein soll, dann die Königreiche Andergast und Nostria versöhnen und schließlich alle Orks in duftende Blumen verwandeln.« Dann wurde er wieder ernst und sprach weiter: »Und auch, wenn er gar nicht so halbgöttlich und übermächtig ist, wird er ein und für alle Mal die Frage beantworten, wer wirklich zu Recht in seinem Namen auftritt: Wir vom Orden der Grauen Stäbe oder diese verblendeten abtrünnigen ›Wächter Rohals‹, die seine Ideale an den Adel
und die Fürsten verkauft haben und nun ihren übertünchten Fanatismus predigen.« Für einen Augenblick schien der Großmeister der Grauen Stäbe mit seinen Gedanken bei den 250 Jahren der Ordensspaltung zu sein, aber dann fuhr er mit spöttischem Unterton fort: »Und wir wollen doch dem Weisen Rohal nicht einen Großmeister der Grauen Stäbe präsentieren, der gerade auf eine Klage der Wächter Rohals hin von einem Gericht seiner eigenen Grauen Gilde verurteilt wurde ... Aber ich schätze, Eisenkober hat nichts ausgegraben, das nicht seit Jahren dem Grauen Gildenrat bekannt ist und längst akzeptiert wurde. Ich bin nun einmal kein Unschuldslamm nach dem Geschmack der weißen Herrschaften, und solange ich mir keinerlei Unruhe anmerken lasse, wird's schon schiefgehen.« Halef nickte bestätigend und reichte seinem Herrn eine einfache Ledermappe: »Hier sind die Unterlagen, die Ihr noch mit Magister Balthusius durchsprechen müsst.« Tarlisin zog eine Grimasse: »Ich weiß wirklich nicht, wovor mir mehr graust: der Unterredung mit unserem Justiziar oder der eigentlichen Verhandlung.« Er wandte sich schon zur Tür, als ihn sein Diener noch einmal ansprach: »Effendi?« »Ja bitte, Halef?«
»Soll ich auf Euch warten? Ansonsten würde ich mir gerne mit meinem Vetter ein wenig die Stadt ansehen.« Tarlisin winkte ab: »Geh ruhig, aber versuch dich diesmal ein wenig zurückzuhalten. Als ich euch letztens in Khunchom bei der Stadtwache auslösen musste, hat es zwei Tage gebraucht, bis du wieder nüchtern warst. Ich brauche dich morgen früh mit klarem Kopf, denn gerade vor dem Gildenrat kann ich unmöglich in ungepflegtem Aufzug erscheinen.« »Versprochen, Effendi. Danke sehr!« Halef drückte seinem Herrn eine Kette mit Medaillon in die Hand. »Und vergesst nicht Euren Glücksbringer.« Der Magier nahm ihn mit einer spöttisch angedeuteten Verbeugung entgegen: »Dank auch dir und viel Spaß in der Stadt.« Er öffnete den Anhänger und betrachtete das Bildnis seiner Gemahlin, während seine Finger sanft über die rote Locke strichen. Mara besaß, wie viele Tulamiden, den fast unerschütterlichen Glauben, dass rote Haare Glück brächten, und verteilte ihre Locken freigiebig an alle, die ihr nahestanden. Mochte sie Recht behalten, denn Glück konnte er bei der Zahl seiner Gegner immer gebrauchen.
2. Kapitel
Punin, zur neunten Morgenstunde des 23. Ingerimm 27 Hal
Unten vor dem Ordensgästehaus wartete bereits der Justiziar der Ordensprovinz Anchopal auf dem schmalen Gehsteig, scheinbar unberührt von den Ochsenkarren und Packeseln, Lastträgern und adligen Reitern, die sich auf der turbulenten Eisenstraße zwischen dem Al'Mukturer Tor und dem Theaterplatz vorbeischoben. Der schmächtige Balthusius von Selem blickte bei Tarlisins Erscheinen missmutig auf sein Vinsalter Ei und klappte die Taschenuhr dann demonstrativ zu: »Ich hatte Eure Spektabilität deutlich früher erwartet. Ihr seid beinahe eine Sechstelstunde zu spät.« »Es tut mir leid, Magister Balthusius, aber ich hatte noch wichtige Dinge zu erledigen«, erwiderte der Gescholtene fröhlich und ohne eine Spur von Verlegenheit, als sie sich in Richtung der Akademie auf den Weg machten und am prachtvollen Kontor des Handelsherrn Stoerrebrandt vorbeischlenderten – ein würdiger Nachbar für das Ordensgästehaus, fürwahr. »Man sollte meinen, dass es derzeitig das Wichtigste sein dürfte, Euch auf die bevorstehende Verhandlung vorzubereiten. Wenn Ihr mit einer derartigen
nachlässigen Einstellung an die Anhörung herangeht, wird Euch dies nur schaden. Die Richter sind immerhin anerkannte Wissenschaftler, die schon von ihren Experimenten her präzises Arbeiten und die genaue Einhaltung von Anordnungen gewöhnt sind.« Unverdrossen entgegnete ihm der Großmeister, während sie das mit eisernen Fahnen- und Fackelhaltern und den Wappenschildern der Zünfte und Patrizierhäuser Punins geschmückte Rathaus der Stadt passierten: »Oh, dafür verlasse ich mich ganz auf Euch. Ihr seid schließlich Präzision und Korrektheit in persona.« Sichtlich geschmeichelt, aber nicht besänftigt fuhr der Justiziar fort: »Ich weiß wirklich nicht, wie ich Euch helfen soll, wenn Ihr mir und meiner kostbaren Zeit derartig wenig Aufmerksamkeit widmet. Zur Zeit wird von Ihrer Spektabilität von Werckenfels ein höchst interessanter Vortrag zum Umgang mit magischen Verbrechen gehalten. Wenn ich nur an meine Interessen denken würde, wäre ich gewiss dort. Aber immerhin geht es beim Streitfall um Eure Person um das Ansehen des gesamten Ordens.« Der kleine hagere Graubart musterte den ihn um mehrere Köpfe überragenden Großmeister kritisch: »Wenigstens habt Ihr Euch an die vom Codex Albyricus geforderte Kleiderordnung gehalten. Bis auf diese Kette natürlich« – er wies mit dürrem Finger auf das Medaillon – , »wenn Ihr sie unbedingt tragen wollt, dann verbergt
sie wenigstens unter der Robe. Ansonsten ist nur Eure Amtskette angemessen.« Tarlisin schien diese Bemerkung überhört zu haben und hielt den Justiziar am Ärmel zurück, als dieser geradewegs vor einen Gemüsekarren marschieren wollte, der gemächlich über den Platz heranrumpelte. Meister Balthusius warf dem Fuhrmann einige Bemerkungen über das allgemeine Kaiserliche Wegerecht an den Kopf, die dieser schlichtweg ignorierte. Um seinen Rechtsberater von dem albernen Streit abzulenken, stellte Tarlisin eine Frage, die ihn tatsächlich hin und wieder beschäftigt hatte: »Habt Ihr etwas über die Zusammensetzung des Gerichts in Erfahrung bringen können, Magister?« Balthusius reckte sich stolz. »Ja, das habe ich. Ich habe den gesamten gestrigen Abend dazu genutzt, Erkundigungen einzuholen, und ich kann Euch versichern, dass es ausgesprochen mühselig war. Ich hatte ja eigentlich frei und wollte mich beim Studium des Codex Raulis, in der Fassung aus dem Jahre 571 nach Bosparans Fall, entspannen. Außerdem ist mir der Aufenthalt in Schänken verhasst – nicht nur wegen des Rauchs und Gestanks, sondern auch wegen der allgegenwärtigen Klatscherei. Trotzdem bin ich zum ›Einhorn‹ gegangen, wo sich wirklich außer den Magistern auch allerlei loses Volk herumtrieb ...« Als er den Klagen des Justiziars so lange wie mög-
lich gelauscht hatte, fiel Tarlisin ihm ins Wort: »Ja, und wer ist nun dabei?« Magister Balthusius funkelte ihn über den Rand seiner Brille an: »Wenn Ihr bei der Verhandlung ebenfalls so voreilig seid und andere nicht zu Ende sprechen lasst, wird Euch dies gewiss nicht zur Ehre gereichen. Den Vorsitz führt Ihre Spektabilität, die Convocata Prima.« Bei der Erwähnung der strengen Mitsiebzigerin Prishya von Garlischgrötz zu Grangor nickte Tarlisin, er hatte nichts anderes erwartet. Die gerissene Liebfelderin würde es sich nicht nehmen lassen, selbst die Verhandlung zu leiten. Während sie am Fuße der zwanzig Schritt hohen Caralussäule auf das Vorbeiziehen einer Zehnergruppe bewaffneter Reiter warten mussten – bereits der dritten Patrouille, seit die beiden unterwegs waren –, fuhr Balthusius fort: »Vor der einen Beisitzerin, Ihrer Spektabilität Belizeth Dschelefsunni, solltet Ihr Euch besser in Acht nehmen, sie neigt wie Ihr manchmal zu eigenartigen Auslegungen des Codex.« Der Großmeister gestattete sich allerdings ein breites Lächeln, das den Justiziar nur noch mehr reizte. Aber Belizeth, das war eine gute Neuigkeit: Mit der Leiterin der Rashduler Beschwörerakademie kam er ziemlich gut zurecht, da sie wie er weit eher pragmatisch als paragraphentreu war.
Inzwischen hatten sie den Theaterplatz mit seinem Trubel und den vielen, eifrig durcheinander schwatzenden Menschen hinter sich gelassen und den Weg nach Süden eingeschlagen, der sie bald zur Akademie bringen würde. Balthusius fuhr fort: »Der dritte im Gericht ist hingegen ein echter Glücksfall, an ihn sollten wir uns halten: Magister Magnus Sirdon Kosmaar ist ein gerechter Mann, der seinen Codex auswendig kennt und stets danach lebt.« Bei der Nennung des letzten Namens zuckte Tarlisin wie unter einem Hieb zusammen. Ausgerechnet Magister Kosmaar, der schlimmste Pedant der grauen Gilde! Nein, verbesserte sich Tarlisin nach einem Blick auf Magister Balthusius: einer der zwei schlimmsten Pedanten der Gilde. Sirdon Kosmaar hatte die Kleiderordnung der Gilde verfasst, entsprechend unumstößlich waren seine Vorstellungen davon, was sich ein Magus in der Öffentlichkeit erlauben konnte. Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als sie die Akademie erreichten: Von einer fünfeckigen Mauer umringt, hatte das eigentliche Akademiegebäude den Grundriss eines Fünfsterns und ragte drei Stockwerke hoch empor. Erbaut war es aus dem graugrünen Marmor des nahen Raschtulswalls, in der Mitte des Fünfsterns. Der Elfenbeinturm, das sprichwörtliche Zentrum der akademischen Gelehrsamkeit, bestand jedoch aus gelbweißem Gestein.
Am einzigen Portal in der Nordwand der Schutzmauer hielten zehn Gardisten der Grauen Stäbe Wache: Die ›Polizei‹ der Grauen Gilde versah ihren Dienst höflich und zügig und gleichzeitig gründlich und entschlossen. Auch wenn Tarlisin und Balthusius weit höhere Positionen bekleideten als die Gardisten, mussten sie doch ihre Passierscheine vorweisen – und alle wussten, dass die Torwachen sich einen gründlichen Tadel durch den Großmeister eingehandelt hätten, wären sie bei ihm von ihrer Pflicht abgewichen. Auf dem Gelände der Akademie hatten sich bereits die meisten geladenen Gäste eingefunden, denn obgleich der Konvent schon seit über einer Woche andauerte, würde man noch viele weitere Wochen benötigen, bis alle Vorträge gehalten, Seminare besucht und Gespräche geführt waren. Die meisten Gäste – das bedeutete mehr als fünfhundert Magier – trugen das feierliche Konventsgewand aus roter oder blauer Seide, doch dazwischen waren auch immer wieder einzelne Ordensleute der Grauen Stäbe in Grau und Rot sowie Magier der Pfeile des Lichts in strahlendem Weiß zu sehen. Im fünfsternigen Pentagrammaton fanden bereits die ersten Vorträge statt, doch Tarlisin und sein Begleiter schlugen einen anderen Weg ein – vorbei an eifrig debattierenden Magiern und Adepten nach rechts, wo im Westen der eigentlichen Akademie ein
kaum kleinerer, modernerer Ziegelbau mit allerlei Wohn- und Verwaltungsräumen lag. Hier, im zweiten Stock, sollte ihre Besprechung stattfinden. Tarlisin nahm auf einem Stuhl Platz, und Balthusius tat es ihm gleich, nachdem er seinen dicken Stoß Pergamente auf den Tisch gelegt hatte. Müßig in einem dicken Schriftstück blätternd, fragte der Großmeister: »Gewiss habt Ihr bei Eurem aufopfernden Einsatz auch etwas über die Natur der Anklageschrift herausbekommen können, die Eisenkober vorlegen wird?« An den Justiziar war jegliche Ironie vergeudet. »Gewiss«, antwortete er trocken. »Zunächst gibt es einiges, was zu erwarten war und sich leicht abschmettern lassen wird: So Eure Bestrafung durch die Inquisition, Eure Bannung, Eure Brabaker Zeit als Dämonologe und Gefährte des G. C. E. Galotta, Euer einstiger Pakt mit der Erzdämonin, dann das Fehlen Eures Schatten und Eure Konfrontation mit dem Geist des Dämonenmeisters. Alles wie gehabt.« Dennoch drückte die Miene des Justiziars beinahe körperliche Schmerzen aus, als er so die wahren, wenn auch nachträglich entschuldigten oder gerechtfertigten Episoden aus dem bewegten Leben seines Gegenüber zusammenfasste. »Der erste noch nie zuvor verhandelte Punkt der Anklage ist Eure Teilnahme an der Expedition der Golgariten in die Gorische Wüste und
deren unrühmliches Ende. Magister Eisenkober klagt Euch an, die Golgariten da oben dem Dämonenmeister geopfert zu haben. Ferner wird festgestellt, dass Ihr Euch an dem Tag, da die tobrische Herzogsstadt Ysilia fiel, vor Ort befandet, ohne in den Berichten des herzöglichen Stabes als Verteidiger der Stadt zu erscheinen. Heute wird die Stadt von Eurem Mentor Galotta im Namen des Dämonenmeister regiert, für den Ihr sie auskundschaften solltet.« Tarlisin hatte sich die Anklagepunkte mit einem gespielten Gähnen angehört und winkte nun lässig ab: »Lachhaft. Das meiste ist längst erledigt, und wenn ich irgendwann eine Prägung durch den Dämonenmeister zurückbehalten hätte, so wurde sie gewiss von Magister Olorand in der Exorzistenakademie in Perricum beseitigt. Immerhin auch er ein Mitglied der Weißen Gilde, also kaum jemand, dessen Wort Eisenkober leichtfertig anzweifeln wird.« Der Großmeister zuckte müßig die Achseln. »Was die Expedition in die Gor angeht«, fuhr er fort, »sie fiel dem Angriff des von Borbarad erweckten untoten Drachen Rhazzazor zum Opfer, dem übrigens nicht einmal die Reichsarmee trotzen konnte, als er die Eroberer der Stadt Warunk anführte.« Als er an die rote Wüste erinnert wurde, zitterte seine Stimme fast unmerklich, doch es hätte einen weit aufmerksame-
ren und einfühlsameren Beobachter gebraucht als den pedantischen Justiziar, um diesen leichten Riss in der Rolle zu entdecken. Schnell fuhr Tarlisin mit dem letzten Anklagepunkt fort: »In Ysilia war ich, um den in Tobrien lebenden Magister Taphîrel ar'Ralahan aufzusuchen, der mir von Ihrer Spektabilität Prishyas von Grangor als der größte lebende Sphärenkundler empfohlen worden war. Leider kam ich zu spät und kann nur hoffen, dass Meister Taphîrel rechtzeitig vor dem Feind fliehen konnte. Notfalls könnt Ihr anführen, dass ich wenig später beim zwölfgöttlichen Rat in der tobrischen Flüchtlingshauptstadt Perainefurten zu Gast war. War es das schon?« Balthusius von Selem seufzte auf. »Ja, das war es. Ich denke, ich werde im Fall der gescheiterten Expedition auf die vorrangige Bedeutung Eurer Suche nach dem Desiderat plädieren. Das gefällt mir zwar nicht, aber eine andere Möglichkeit haben wir ja kaum bei Eurer laxen Einstellung zur Gesetzestreue. Immerhin steht mit Euch als Großmeister quasi die ganze Ordensprovinz vor Gericht, da können wir uns keine Niederlage erlauben.« Der Tonfall seiner Stimme verriet, dass auch er an den Moment dachte, an dem Rohal der Weise sein Erbe ordnen würde. Für einen Moment schien Tarlisin zu schwanken, ob es ihn ärgern oder amüsieren sollte, dass er derartig auf seine Bedeutung als Aushängeschild des Or-
dens reduziert wurde, dann lachte er – das hatte er gewusst, als er die Wahl zum Ordenssprecher annahm, und meistens genoss er es, als schillernder Paradiesvogel im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Also stand er auf, verneigte sich und küsste den Siegelring des verblüfften Balthusius. »Tut Euer Bestes, mein Lieber, und helft mir aus dieser kleinen Malaise. Ich werde danach auch ein ganz braver Großmeister sein.« Mit einem fast unhörbaren Seufzer strich er seine Robe glatt und wartete schon an der Zimmertür, während Meister Balthusius noch seine Unterlagen und Notizzettel einsammelte.
3. Kapitel
Punin, zur zehnten Morgenstunde des 23. Ingerimm 27 Hal
Nachdem Tarlisin von Borbra und Balthusius von Selem den kleinen Ratssaal betreten hatten, wurde die Tür geschlossen und sowohl innen als auch außen je zwei Gardisten des Ordens der Grauen Stäbe als Wachposten abgestellt. Als Tarlisin sich umblickte, stellte er mit Erleichterung fest, dass außer den erwarteten Vertretern des Gildenrates nur noch der Ankläger und seine Begleiter anwesend waren: Nostrianus Eisenkober, der Hochmeister des Orden der Wächter Rohals, mit zwei breitschultrigen Laienbrüdern. Wenigstens ersparte man ihm eine öffentliche Verhandlung. Die Stimmung im Raum war ausgesprochen eigenartig: Weit entfernt von Ausgelassenheit, war doch eine gewisse Lockerheit zu spüren – immerhin konnten es nur noch wenige Tage dauern, bis der gerade in der Grauen Gilde verehrte Rohal leibhaftig zurückkehrte und erneut die Führung übernähme. Wie konnte da ein läppischer Prozess über längst bekannte Vorwürfe die Stimmung trüben? Und doch wurde darauf geachtet, dass die Form gewahrt blieb: Auf einem leicht erhöhten Platz saßen die drei Richter, vor sich ein Pult mit dem Siegelzeichen der Grauen Gilde.
In der Mitte saß Prishya von Garlischgrötz und Grangor, die Convocata Prima, eine strenge Siebzigerin mit silbergrauem, sorgfältig gescheiteltem kurzem Haar, deren Gesichtszüge die Falten der Amtslast vieler Jahre zeigten. Zu ihrer rechten Seite, ganz seinem Platz im Meinungsspektrum der Grauen Gilde entsprechend, war Magister Magnus Sirdon Kosmaar platziert, ein dicklicher, kurzsichtiger Mann, dem man seine bäuerliche Herkunft ansah, auch wenn er den grauen Bart lang und wallend im Erzmagierstil trug und seine Gewandung selbstverständlich tadellos war. Linker Hand der Convocata Prima saß Belizeth Dschelefsunni, die Spektabilität der PentagrammAkademie zu Rashdul – die junge Tulamidin war Mitte Dreißig und gepflegt von Kopf bis Fuß. Mit ihren langen, fließenden schwarzen Haaren und den sorgsam gezupften Brauen im sanften Gesicht wirkte sie mehr wie eine Tänzerin denn wie eine Gelehrte. Ihr eleganter, schlanker Körper kam selbst in den wenig vorteilhaften Roben zur Geltung, die sie Kraft ihres Amtes hier tragen musste. Alles war bereit, und die Anhörung konnte beginnen. Doch zuvor mussten einige unvermeidliche Formalitäten erledigt werden, denn als Sprecher der Grauen Stäbe war Tarlisin von Borbra immerhin Mitglied des grauen Gildenrates hier in Punin, auch
wenn er dieses Amt von Anchopal aus selten wahrgenommen hatte und die Teilnahme an den wöchentlichen Sitzungen einer Abgesandten überließ. Die Gerichtsvorsitzende wandte sich nun direkt an ihn: »Collega Tarlisin, ich denke, Ihr werdet verstehen, dass Ihr für die Dauer der Verhandlung Eurer Aufgaben im Gildenrat enthoben seid.« Tarlisin nickte nur, Balthusius von Selem aber trat vor die grauhaarige Magierin und sprach: »Ich möchte darum bitten zu berücksichtigen, dass der Orden Anspruch auf einen Platz im Gildenrat hat und dass daher bei Fragen, die den Ordo Defensores Lecturia betreffen, ein Vertreter des Ordens zugegen sein muss. Ich wäre notfalls bereit, diese Aufgabe zu übernehmen.« Prishya von Garlischgrötz nickte dem Justiziar zu. »Das ist sehr freundlich von Euch, Collega Balthusius. Allerdings ist glücklicherweise die reguläre Vertreterin von Magister Tarlisin, die Magistra Ailîn ni Finnian, auch während des Konventes hier in Punin zugegen. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht ihr gegebenenfalls diese Aufgabe überlassen sollten.« Wortlos verbeugte sich der Justiziar und trat zwei Schritte zurück, während Prishya von Grangor fortfuhr: »Wir wollen nun anfangen. Collega Tarlisin, ich gehe davon aus, dass Euch sowohl die Collega Belizeth wie auch der Collega Sirdon Kosmaar bekannt
sind?« Tarlisin nickte Magister Kosmaar knapp zu und grüßte mit dem Zeichen der Mada, dann aber warf er der gut aussehenden Rashdulerin eine Kusshand zu. Belizeth zwinkerte Tarlisin daraufhin aufmunternd – nein, geradezu herausfordernd – zu, während Sirdon Kosmaar den Angeklagten streng beäugte. »Nun, Collega Tarlisin« – die grauhaarige Prishya musterte den Magier über den Rand einer dicken Brille –, »ich muss sagen, es freut mich, dass Ihr Euch heute gemäß des Codex Albyricus gekleidet habt.« »Oh, es gibt Anlässe, wo die althergebrachte Kleiderordnung durchaus angemessen ist ...« Tarlisins Satz war kaum ausgeklungen, schon hakte der wohlbeleibte Graubart Sirdon sogleich nach: »Aber bei anderen Anlässen ist der Codex nicht ... angemessen?« Er hatte seiner Stimme gerade die richtige Mischung von Vorwurf und Unglauben verliehen. Lässig winkte Tarlisin ab. »Ach je, im Feld zum Beispiel ist die Tracht aus dem Codex meistens so wenig zweckmäßig wie kleidsam.« Der penible Magister Sirdon Kosmaar schien es kaum glauben zu können: »Und Ihr maßt Euch für gewöhnlich an zu entscheiden, wann Ihr dem Codex folgen wollt?« Der Angeklagte grinste dem Fragenden herausfordernd ins Gesicht und erwiderte: »Collega Sirdon, ich
versuche üblicherweise, mit gesundem Menschenverstand zu entscheiden, und wenn die Herren Gesetzgeber das nicht getan haben, ordne ich eben den Codex der Vernunft unter.« Sirdon Kosmaar verstummte empört, doch zugleich ertönte die schrille Stimme des Nostrianus Eisenkober: »Da seht Ihr es selbst, was für ein aufrührerischer Geselle der Herr von Borbra noch immer ist!« Der Rufer war aufgeregt von seinem Platz aufgesprungen. Nun erhob sich auch der Ordensjustiziar Balthusius und warf eilig ein: »Seine Spektabilität will sagen, dass er die Vernunft zur Richtschnur seines Handelns macht, und hat damit nur seine Frömmigkeit der Göttin Hesinde gegenüber betonen wollen!« Tarlisin warf Balthusius ob seiner Wortverdreherei prompt einen spöttischen Blick zu, den dieser jedoch nicht zu bemerken schien. »Silentium, Collegae«, schallte die Stimme der Convocata Prima durch den Raum. »Bitte, wir sind hier doch alle nicht mehr in der Elevenschule! Also wollen uns doch wie gebildete Menschen verhalten und nicht durcheinanderlaufen und -reden. Hochmeister Eisenkober, bitte nehmt wieder Platz, Ihr werdet noch Gelegenheit genug bekommen, Eure Anschuldigungen vorzubringen. Collega Balthusius, seid so gut, Euch ebenfalls hinzusetzen.« Als alle ih-
rem freundlich formulierten Befehl gefolgt waren, fuhr sie fort: »Dann wollen wir beginnen. Eure Magnifizenz, Hochmeister Eisenkober, würdet Ihr uns bitte Eure Vorwürfe gegenüber Magister von Borbra darlegen.« Der Hochmeister des Ordens der Wächter Rohals straffte sich und warf seinem Gegner einen zornigen Blick aus den wässrigen Augen zu: »Nun, als Grundlage meiner Anklage möchte ich darlegen, dass der Herr von Borbra kein akzeptabler Vertreter irgendeiner Magiergilde ist, sondern ein Abtrünniger, bestenfalls irregeleitet, vermutlich aber ein selbstgerechter Lügner und Betrüger, der seine Rolle als Zuträger und Handlanger des Dämonenmeisters hinter wohlkalkulierten Lügenmärchen zu verbergen versucht. Ich sage, dass er ein verfluchter Verräter an der rechtschaffenen Sache ist, wer weiß, vielleicht gar ein Dämonenpaktierer wider die Zwölfe.« Man konnte hören, wie der Hass aus dem knochigen Greis hervorbrach und seine Worte immer keuchender wurden, bis er sie kaum noch unter Kontrolle hatte. Nach seinen letzten Worten zuckte die schmale Rechte empor, als wolle er den Satz noch einfangen, ehe jener die Ohren der Anwesenden erreicht hatte. Doch es war zu spät, die meisten hatten den Fehler bemerkt – und Balthusius von Selem erhob sich ohne Hast, aber mit einem gefährlichen Funkeln in den
Augen. Der grauhaarige Justiziar betrachtete den aufgeregten Ankläger und sprach mit ruhiger Stimme: »Eure Magnifizenz, es ist sehr schwerwiegend, was Ihr da vortragt – ein Dämonenpaktierer soll der Herr von Borbra sein? Ich nehme doch an, dass Ihr eine derart starke Anschuldigung auch beweisen könnt – etwa weil Ihr etwas über das unvermeidliche Dämonenmal an seinem Körper wisst?« Selbstverständlich besaß der Ankläger kein solches Wissen, und das war ihm auch anzusehen. Der Zorn auf den eigenen Eifer stand ihm ins Gesicht geschrieben, denn nun steuerte er direkt auf seine erste peinliche Schlappe zu. Zwischen zusammengebissenen Zähnen quetschte er ein »Nein, das kann ich nicht sagen« hervor. Der Justiziar setzte unbarmherzig nach: »Das hätte uns auch sehr überrascht. Wie Euch gewiss noch bekannt ist, Magnifizenz Eisenkober, wurde ein jeder Besucher des Konventes bei seinem Eintreffen einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Wenn man bei Magister Tarlisin etwas Derartiges festgestellt hätte, stände er heute nicht hier.« Zähneknirschend wollte Eisenkober gerade seinen Fehler eingestehen, um wenigstens den Rest seiner Vorwürfe zu retten, als eine unerwartete Stimme ihn unterbrach: »Möglich ist einiges ...« Die jüngste der drei Richter hatte gesprochen, Belizeth Dschelefsunni
mit ihrer unverwechselbaren rauchigen Stimme: »Immerhin haben die Pfeile des Lichts, die Elitetruppe Eurer eigenen Weißen Gilde, die Untersuchung durchgeführt – und wir wissen doch alle, dass es niemanden in der ganzen Weißen Gilde gibt, der es in der Dämonenkunde mit den Experten der anderen Traditionen aufnehmen kann. Und was die Graue Gilde angeht, so denke ich, sind zwei der besten Dämonologen in diesem Raum anwesend.« Sie schenkte Tarlisin ein warmherziges Lächeln und zog nur für einen Augenblick die volle Oberlippe zurück, um ihre scharfen, perlenweißen Zähne zu zeigen. »Von Borbra ist als gewandter Lügner und Blender bekannt und hätte gewisslich selbst die eifrigsten Prüfer der Weißen Gilde täuschen können, wenn es denn nötig gewesen wäre. Es gibt nämlich Dämonenmale, die nur dem wirklich Kundigen erkennbar sind ...« Nun ergriff Prishya von Grangor das Wort und schüttelte den schmalen Kopf: »Eure Behauptung klingt erschreckend, Collega, aber wenn dem so ist ... Meister Eisenkober, würdet Ihr denn eine neuerliche Untersuchung durch das Gericht als endgültigen Beweis anerkennen?« Der Ankläger zögerte kurz, er witterte die Gefahr, doch sah er offenkundig keinen Weg zurück und straffte die Schultern: »Jawohl.«
»Nun«, auf dem Gesicht der alten Magierin war keine Regung zu erkennen, »Collega Tarlisin, verzeiht die Unannehmlichkeiten, aber Ihr müsst Euch noch ein weiteres Mal überprüfen lassen.« Tarlisin zuckte nur betont lässig die Achseln und erwiderte: »Selbstverständlich, ich habe schließlich nichts zu verbergen.« Die Vorsitzende fuhr fort: »Wenn Ihr Euch also mit Magistra Belizeth in den Nebenraum begeben wollt ...« »Es ist mir ein Vergnügen.« Mit diesen Worten – und einem anzüglichen Lächeln – wandte sich der Angeklagte zum Gehen, doch ein Einwand der Rashdulerin hielt ihn zurück: »Aber, werte Collega Prishya, das würde doch nur weitere Zweifel offenlassen. Wenn schon, dann sollten wir die Untersuchung direkt hier durchführen, dann kann Seine Magnifizenz von den Wächtern Rohals als offizieller Zeuge und Beobachter fungieren, und es bleibt nichts unklar.« Mit einem knappen Nicken stimmte die Vorsitzende ihrer Kollegin zu, und als Balthusius aufspringen wollte, um einen Einspruch zu formulieren, war es Tarlisin selbst, der ihn mit sanftem Druck auf die Schulter wieder niedersitzen ließ. Danach trat der Großmeister der Grauen Stäbe vor, schenkte den beiden Richterinnen ein strahlendes Lächeln – ein sanftes, jungenhaftes für Prishya, ein wil-
deres, herausforderndes für Belizeth –, legte sorgfältig, sogar etwas geziert, seine Amtskette und sämtlichen weiteren Schmuck ab und ordnete ihn sorgfältig der Größe nach auf dem Tisch neben sich an. Dann entledigte er sich des roten Skapulieres, anschließend der grauen Robe sowie der Hose und stand nur noch mit einem schmalen Lendentuch bekleidet vor den Richtern: Ein fast zwei Schritt großer Mann mit kupferbrauner Haut, dessen blauschwarze Haare gewellt bis auf die schlanken, knabenhaften Hüften fielen. Die Schultern hingegen waren kräftiger als bei anderen Vertretern seines Standes üblich, und unter der dunklen Haut waren die Muskeln selbst dann zu sehen, wenn er ganz reglos und entspannt dastand. Während auf der Richterbank Magister Sirdon Kosmaar mit einem gequälten Lächeln in seinen Unterlagen kramte – ein Geschäft, in dem es ihm Balthusius von Selem gleichtat, während der Ankläger Nostrianus Eisenkober reglos dasaß und geistesabwesend seine Brust massierte –, hatte sich die alte Magistra Prishya von Grangor mit unverhohlenem Interesse nach vorne gebeugt und betrachtete den wohlgeformten Leib des Angeklagten versonnen. Man erzählte sich gelegentlich Geschichten aus der Jugend der damals lebenslustigen Liebfelderin, die gar nicht zu ihrer heutigen Wissenschaftlichkeit zu passen schienen, und offensichtlich brachte der Anblick des
Angeklagten alte Saiten zum Klingen. So sehr war sie in Gedanken versunken, dass sie regelrecht hochfuhr, als sich Belizeth Dschelefsunnis leicht spöttische Stimme in ihre Gedankengänge mischte: »Werteste Convocata Prima, ich fürchte, ich kann das Objekt nur aus der Ferne nicht zur allgemeinen Satisfactio examinieren. Ich bitte Euch um die Erlaubnis, als anerkannte Autorität für daimonide Wesen und Werke in diesem Gericht den Angeklagten aus der Nähe untersuchen zu dürfen. Ich werde zu Eurer Beruhigung keine Partie seines Corpus vernachlässigen, in der sich das postulierte Dämonenmal verbergen könnte.« Längst ehe sie den wohlklingenden Satz vollendet hatte, war die tulamidische Beschwörerin schon aufgestanden, hatte, äußerlich ganz unerschüttert, den Richtertisch umrundet und war zu Tarlisin getreten. Nur ihre Augen glitzerten verräterisch, als sie begann, den Leib des vor ihr Stehenden gründlich zu untersuchen und ihre Befunde dem Gerichtssekretär zu diktieren, als erforsche sie ein Fundstück aus dem Grab eines Magiermoguls. Flink glitten die langen, mit glänzenden Farben und blitzenden Edelsteinen geschmückten Fingernägel über die Haut des Gesichtes, um die Ohren, unter dem Kinn entlang und sanft über den Hals. »Gesicht und Hals: Normal, keine Hautunreinheiten, keine Narben, spärlicher bis kein Bartwuchs. Etwas kleine Ohrmuscheln, aber keine
Deformatio vorhanden.« Sie schaute Tarlisin, dessen spöttisch-gleichgültige Haltung unter ihrer scheinbaren Sachlichkeit zu wanken begonnen hatte, direkt in die Augen. »Der Kopf ist damit frei von Malen, es sei denn, sie befänden sich auf der eigentlichen Kopfhaut.« Vorsichtig glitten ihre Finger durch das überraschend weiche, fast seidige Haar und teilten es in einzelne Strähnen, um einen Blick auf die Kopfhaut zuzulassen. »Auch hier scheint kein Mal vorzuliegen. Für völlige Gewissheit ist es jedoch ratsam, das Objectum zu scheren.« Das hatte gesessen, wie sein glühender Blick ihr bewies. Kein Wunder – hätte sie selbst solches Haar besessen, hätte sie jeden getötet, der es anrühren wollte. »Aber das kann zurückgestellt werden ...« Und so ging es weiter. Während sie sich den übrigen Körper des Magiers vornahm, Arme, Beine, Brust und Rücken, zeichnete sie mal hier einen Muskel nach, um die Gestalt zu überprüfen, hauchte mal da auf die Haut, kniff mal dort überraschend mit den Nägeln in eine Brustwarze, um die Reaktion zu studieren, und verkündete jedes Ergebnis mit rauchiger Stimme und einem tulamidischen Akzent, der mit jedem Satz stärker wurde. Der Inhalt blieb jedoch stets der gleiche: Der Körper wies einiges an Kampfnarben auf, aber keinerlei Hinweis auf ein Dämonenmal war zu erkennen.
Als Magistra Belizeth sich schließlich dem letzten noch unerforschten Territorium zuwenden wollte, dem Lendenschurz und dem, was dahinter lag, hielt es die Gerichtsvorsitzende für angebracht, das Spektakel zu beenden: »Dank Euch, Collega Belizeth«, Magistra Prishyas Stimme klang trocken nach den gefühlvollen Erklärungen der Tulamidin, »damit wollen wir es bewenden lassen. Ein Dämonenmal liegt offensichtlich nicht vor.« Doch die Dämonologin räusperte sich keck, fast herausfordernd: »Aber, verzeiht, Collega Prishya« – ein unschuldiger Blick erreichte die grauhaarige Convocata –, »wenn wir nun al-examinatio vorzeitig beenden, wird der Ankläger denken, es sei alles nur ein Spiel gewesen!« Ohne auf die Antwort der Vorsitzenden zu warten, streifte die Tulamidin Tarlisins Lendentuch bis auf die Knie herab und fuhr mit der Untersuchung des Magiers fort, schneller diesmal, erwähnte kurz die völlige Haarlosigkeit, nannte rasch Form, Hautton und erste geschätzte Maßangaben, um sich geschwind mehrmals zu korrigieren, und zog dann eilig die schlanke Hand zurück, um eine Verunreinigung zu vermeiden. Es waren kein Dutzend Herzschläge vergangen, als sie abschließend bemerkte: »Ich stelle fest, es verhält sich mit dem fleischlichen Leib des Collega völlig im herkömmlichen Rahmen. Ein Mal
als Siegel eines Pakts mit den Niederhöllen liegt definitiv nicht vor. Das kann ich bei meiner Standesehre als Dämonologin behaupten.« Wo eben noch Schalk und Lüsternheit in ihren dunklen Augen geglitzert hatten, lag nun fachliche Kühle, als sie den Ankläger anschaute, fast als warte sie auf Widerspruch. Doch Hochmeister Eisenkober war in seinem Sessel zusammengesunken, angewidert von dem, was seine Lippen tonlos als ›widerliches Spektakel, erbärmliche Scharlatanerie‹ bezeichneten. Hätten nicht seine Lippen so gebebt und hätten nicht die blauen und purpurnen Adern auf seiner kalkweißen Stirn so heftig gepocht, man hätte ihn für tot halten können. Nachdem Tarlisin sich wieder angekleidet und Platz genommen hatte, winkte Prishya die Wachen nach vorn und befahl: »Öffnet die Fenster und sorgt für frische Luft: Hochmeister Eisenkober wird sie gebrauchen können. Und säubert den Boden.« Einer der Gardisten, ein sommersprossiger Blondschopf, nickte mit hochrotem Kopf. »Jawohl, Eure Spektabilität.« Dann wandte die Convocata Prima sich mit strenger Miene dem Angeklagten zu: »Ich sollte Euch wegen Missachtung der Würde dieses Gerichtes mit einer schweren Buße belegen. Aber ich kann nicht unterstellen, dass Ihr mutwillig und aus Willkür gehandelt habt.« Daraufhin wandte sie sich Magistra Belizeth zu, die sich mit unschuldiger Miene neben ihr
niedergelassen hatte: »Euch wiederum, Collega Belizeth, kann ich kaum einen Vorwurf machen, dass Ihr so sehr auf die notwendige Gründlichkeit der Untersuchung bestanden habt. Also komme ich zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Vorfall um die Folge einer Verkettung von ... hm ... unglücklichen Umständen handelt, und bitte im Namen der Grauen Gilde den Kläger um Verzeihung.« Magister Eisenkober nickte wortlos und schwieg, während sich der Raum mit frischer Luft füllte und allmählich wieder die angemessene Stimmung zurückkehrte. Da ohnehin die Mittagsstunde nahe war, wurde die Anhörung kurz unterbrochen, und die Convocata ließ nach Puniner Sitte einen leichten Imbiss aus Wein, Obst, Brot und marinierten Zwiebeln auftragen.
4. Kapitel
Punin, zur ersten Nachmittagsstunde des 23. Ingerimm 27 Hal
Nachdem sich alle Anwesenden gesammelt hatten, konnte die eigentliche Anhörung nun endlich fortschreiten, und so gingen die langatmigen Besprechungen ernstlich los. Magister Eisenkober hatten seinen Zorn und Ekel niedergekämpft und brachte nun umso lauter seine übrigen Vorwürfe vor, Anklagen, die denen von Meister Balthusius genannten haarklein entsprachen. So gab es auch keinerlei Überraschungen, als der Hochmeister der Wächter Rohals seine Klagen aussprach, die vom Justiziar der Grauen Stäbe prompt beantwortet und zu einem guten Teil entkräftet wurden. Paragraphen wurden zitiert, Präzedenzfälle genannt und beurkundete Zeugenaussagen vorgelesen, bis der Angeklagte dem Einschlafen nahe war. An diesem Tag, dem ersten der Verhandlung, musste er hauptsächlich nur anwesend sein. Tarlisin hatte sich darum in seinem Sessel zurückgelehnt und sich bemüht, den Eindruck völliger Unaufmerksamkeit zu vermitteln: Er hatte einen Kamm und einen kleinen Spiegel aus seiner Tasche gezogen, um die durch Magistra Belizeths Untersuchung in Unord-
nung geratenen Haare zu richten, und spielte danach müßig mit dem Spiegelchen. Die Anhörung hatte sich gerade irgendwo bei den Feinheiten des letzten Anklagepunktes festgefahren, als der Ankläger wütend auffuhr: »Hohes Gericht, bitte untersagt dem Beklagten unverzüglich, mir mit dem Sonnenlicht lästig zu fallen!« Prishya von Grangor, die mit keiner Regung erkennen ließ, ob sie das Tanzen des Lichtpunktes auf Magister Eisenkobers Nasenspitzen bemerkt hatte oder nicht, hob nun die Augenbrauen: »Wie Ihr wünscht. Collega Tarlisin, da das Licht des Herrn Praios den Kläger in seinen Gedanken stört, ermahne ich Euch, Euren Spiegel beiseite zu legen oder ruhig zu halten. Danke.« Eisenkober nahm wieder Platz, doch innerlich schäumte er vor Zorn. Diese ganze Anhörung war eine Farce, man hatte ihn beleidigt, verspottet, gedemütigt. Die Vorsitzende Richterin gab sich den Anschein von Neutralität, aber sie wusste den Ruf ihrer vermaledeiten Grauen Gilde wohl zu schützen und ließ es ihn, den Weißmagier, spüren, dass er hier unwillkommen war. Aber nicht sie und ihre ganze Gilde von toleranten Dämonenfreunden würde am Ende triumphieren, nicht wenn er seine Karten richtig ausspielte. Er musste nur auf den richtigen Augenblick warten können.
Nach diesem Zwischenspiel ging es mit unveränderter Langsamkeit weiter, bis schließlich – der Tag neigte sich bereits dem Abend zu – der Justiziar der Grauen Stäbe zu seinem Schlusswort ansetzte: »Hohes Gericht, ich denke dargelegt zu haben, dass die in Punkt I enthaltene Klage bezüglich des früheren Dämonenpaktes bereits gründlich von einem regulären Gildengericht behandelt, die dafür verhängte Strafe verbüßt wurde und die Bewährungszeit ohne Tadel verstrichen ist, sodass die nochmalige Verhandlung nicht statthaft und dieser Punkt damit nichtig ist. Zum Punkt II habe ich belegt, dass der Großmeister keineswegs der willentliche und wissentliche Helfer des Dämonenmeisters, sondern sein unfreiwilliges Werkzeug und Opfer war. Dabei gebe ich zu bedenken, dass die Wiederkehr des Dämonenmeisters damals noch lange kein anerkanntes Faktum, sondern allenfalls ein Gerücht war, sodass das Verbot der von ihm ersonnenen Formeln und Zaubertechniken allgemein wenig ernst genommen wurde.« »Ha!« Hochmeister Eisenkober hielt es nicht auf seinem Sitz, er sprang wild gestikulierend auf: »Ha! Meister Balthusius, es erschreckt mich, diese Worte aus Eurem Mund zu hören, schient Ihr mir doch bislang als einer der wenigen Gesetzestreuen in dem verlotterten Haufen, der sich Orden nennt. Ihr wenigstens solltet wissen, dass eben dazu die
Gesetze da sind: dass auch jene sich daran halten, die ihren Sinn nicht erfassen können, anstatt sich in ihrer Beschränktheit alles so zurechtzulegen, wie es die Beschaffenheit ihres Gehirnes oder Gemütes gerade erlaubt!« Eisenkober triumphierte innerlich – auch er konnte eine Blöße ausnutzen, die der Feind sich gab. Der Scharlatan Tarlisin nahm die Beschimpfung gefasst auf, wie zu erwarten gewesen war, aber sein Justiziar war sichtlich getroffen, als man ihm Leichtfertigkeit gegenüber den Gesetzen nachwies: Balthusius von Selem sank totenbleich in seinen Sessel zurück und schnappte nach Luft. Während Magistra Prishya die unumgängliche Ermahnung gegen Eisenkober aussprach, da dieser das heutige Schlusswort der Verteidigung unterbrochen hatte, spürte doch jeder, dass die Wächter Rohals wieder Boden gutgemacht hatten. Balthusius benötigte einige Atemzüge, ehe er fortfahren konnte: »Zu den Punkten III und IV ist schließlich dargelegt worden, dass der Angeklagte tatsächlich mehrere Verstöße gegen das Gildenrecht begangen hat, die er freimütig gesteht und herzlich bedauert« – ein scharfer Blick aus Balthusius' Augen schien Tarlisin förmlich aufzuspießen, der pflichtschuldigst nickte und ein bekümmertes Gesicht machte –, »wenngleich sie jedoch wegen eines höheren Zieles unvermeidlich waren.«
Das war der Moment. Balthusius' vorheriger Ausrutscher war ein unerwartetes Göttergeschenk gewesen, nun aber war es an der Zeit, ernstlich zuzuschlagen: Magister Eisenkober vergewisserte sich, dass der Justiziar geendet hatte, und nahm den Faden sogleich auf, indem er sich direkt an Tarlisin wandte: »Ihr behauptet also, dass alles, was Ihr nach Eurer angeblich unfreiwilligen Übernahme durch Borbarad getan habt, nur dazu diente, das Desiderat aufzuspüren?« Die beiden Kontrahenten starrten sich einen Augenblick wortlos an. Dann antwortete Tarlisin, ohne mit der Wimper zucken: »Ja, denn alles, was für mich zählt, ist das Desiderat. Es war eine Fügung der Götter, die es mir erlaubte, diese Begierde des Finsteren zu erkennen. Wir müssen es um jeden Preis finden, denn dann haben wir den Schlüssel zu einer, vielleicht zu der Schwäche des Feindes in Händen.« Während die beiden sich noch anstarrten, ergriff auf der Richterbank Magistra Belizeth das Wort: »Ich bin mir sicher, dass manche es schon wissen, aber wir sollten alle erfahren, was dieses Desiderat eigentlich ist.« Aus ihrem Revierkampf gerissen, schauten die beiden Ordensmeister zu der gut aussehenden Tulamidin hinüber – dann lehnte sich Eisenkober mit einer einladenden Geste zurück und überließ Tarlisin das Wort.
Dieser sammelte kurz seine Gedanken und begann: »Werte Collega, ich habe es um der Sicherheit willen ›das Desiderat‹ genannt, aber der Name, unter dem es dem Feind geläufig ist und den auch die hier in Punin verbliebenen Notizen Magister Taphîrels nennen, lautet ›Sphärenschlüssel‹. Es ist ein Artefakt, das älter ist als das uns geläufige Gefüge der Sphären. Mit seiner Macht könnte es dem Feind, den wir alle zu Recht auch als den Sphärenschänder kennen, gelingen, die Ordnung der Sphären selbst anzugreifen. Die unvergleichliche Macht dieses Objekts ist keineswegs außerordentlich groß; aber sie ist einzigartig in der ganzen Schöpfung. Denn seit den Tagen der Göttertochter Mada ist die Zitadelle der elementaren Magie geborsten und die Magische Kraft als das siebte Element frei über die ganze Welt verteilt, auf dass alle Begabten sie nutzen können.« Die Anwesenden nickten – diese Mythologie war ihnen allen seit ihrer Kindheit vertraut, auch wenn manche sie mehr für ein Märchen als für reale Historie hielten. Immerhin gab es auf diesem Konvent einige Teilnehmer, die der Theorie anhingen, Rohal und sein Widerpart Borbarad seien die lichte und die dunkle Hälfte des damals gespaltenen Elementarherrn der Magischen Kraft. Tarlisin fuhr fort: »Was den Sphärenschlüssel so einzigartig macht, ist das Wesen, das daran gebunden
ist: Als Mada die Zitadelle der Elementaren Magie und damit deren Elementarherrn mit alle Dschinnen und Elementargeistern der Magie zerstörte, überdauerte ein einziger dieser Dschinnen dieses gewaltsame Ende des dritten Zeitalters, als das bisherige Sphärengefüge mit sieben Elementen verwandelt wurde in die Welt der sechs geordneten Elemente, die wir kennen.« Der Redner zuckte die Schultern, als versuche er, das Gewicht unzähliger Jahrtausende abzuschütteln. »Vielleicht waren es auch mehrere, doch nur einer überstand die Äonen. Fast acht Zeitalter hat der Sphärenschlüssel überdauert, leben wir nun doch im elften.« Tarlisin schaute in die dunklen, weit geöffneten Augen der Belizeth Dschelefsunni, »Collega, Ihr könnt gewiss bestätigen, wie einzigartig die Kräfte eines Dschinns der elementaren Magie sein müssen.« Die Angesprochene nickte geistesabwesend. Von allen Anwesenden schien sie die Möglichkeiten eines solchen Artefaktes am tiefsten zu begreifen – auch wenn der undurchschaubaren Prishya von Grangor wie gewöhnlich nichts anzusehen war. Mit rauchiger Stimme und schwerem Akzent erläuterte die Tulamidin: »Dschinnen können ihr Element weithin wahrnehmen, es verformen und umgestalten. Ein Dschinn der Zauberei könnte mit dem Fluss der magischen Kraft tun, wozu kein anderes Wesen imstande ist. Wenn wir über ihn verfügen könnten, wären Zauber
möglich, die bislang undenkbar waren – nicht wegen des erforderlichen Kraftaufwandes, sondern von ihren ganzen Natur her. Eine Tür zu völlig neuen Welten würde der Gilde aufgestoßen! Ein Sphärenschlüssel, fürwahr ...« Nach einem Augenblick fuhr sie mit leuchtenden Augen fort: »Aber sagt – wie zeigt sich das Desiderat? Hat es wirklich die Form eines Schlüssels?« Während sich Tarlisin noch schnell seine Antwort zurechtlegte, durchbrach Magister Eisenkobers triumphierende Stimme das Schweigen: »Gestattet doch bitte, dass ich dem Angeklagten auf die Sprünge helfe. Das Desiderat, wie er es kennt, ist sehr schwierig zu beschreiben: Die Substanz des Objektes ist unbekannt, von stumpf schwarzer Farbe, die keinerlei Licht reflektiert. Es ist ungefähr so groß wie ein Hühnerei und von höchst eigentümlicher Gestalt, denn es wird von exakt sieben Flächen begrenzt.« Mit lautem Klirren fiel das Spiegelchen zu Boden und zerbrach. Ansonsten versuchte Tarlisin, die Beherrschung zu wahren, und erwiderte mit gezwungen fröhlicher Stimme: »Ich hätte es selbst nicht besser beschreiben können. Ehrlich gesagt, habe ich mich genau derselben Worte bedient, als ich es schon einmal geschildert habe: vor der Convocata Prima, dem Boten des Lichts und anderen höchst ehrenwerten Personen. Aber es überrascht mich nicht, dass ausge-
rechnet Ihr diese Beschreibung irgendwo aus Eurem Gedächtnis hervorgewühlt habt.« Eisenkober lachte verächtlich, diese Replik hatte er vorausgesehen: »Das habe ich keineswegs nötig. Aber ich sollte noch etwas erwähnen, was Ihr bestimmt in keinem Eurer Berichte angeführt habt: Die sieben Flächen des Sphärenschlüssels weisen jeweils die Form eines Siebenecks auf. Eine solche Anordnung ist nach den Gesetzen der Geometrie völlig unmöglich, und es verursacht schwere Kopfschmerzen, das Desiderat konzentriert zu betrachten.« Nun war es um Tarlisins Beherrschung geschehen. Er sprang auf, als wolle er sich auf Eisenkober stürzen, und brüllte: »Verflucht, Mann, habt Ihr meine verdammten Gedanken gelesen?« Einen Augenblick später war ein Ordensgardist an seiner Seite und drückte den zornfunkelnden Großmeister vorsichtig, aber bestimmt zurück in den Sitz, während Magister Eisenkobers höhnische Antwort herüberschallte: »Ach nein, Collega, solch widernatürliche Lektüre würde ich mir nie antun.« An die Vorsitzende Richterin gewandt, fuhr er fort: »Hohes Gericht, Ihr müsst verzeihen, aber bei einem Gegenüber, das so sehr für seinen Jähzorn bekannt ist wie der ›Herr der Gor‹, muss ich mich auch von den Meinen beschützen lassen.« Als die Liebfelderin keinen Einwand äußerte, sandte Eisenkober seine beiden Begleiter hinüber, dem
Angeklagten zur Seite, wo sie sich drohend neben dem wütenden Graumagier aufbauten. »Collega Tarlisin!« Convocata Prishyas Stimme klang scharf: »Mäßigt Euch in Wort und Tat! Wenn Ihr Euch nicht benehmen könnt, zwingt Ihr mich, Euch aus dem Raum führen zu lassen.« Balthusius von Selem warf schnell ein: »Eure Spektabilität Prishya, ich möchte mich ausdrücklich für das Verhalten des Angeklagten entschuldigen. Er ist von dieser seltsamen Wendung überwältigt worden.« Aus der Stimme des Justiziars war seine Ratlosigkeit angesichts dieses Spektakels deutlich herauszuhören. Die Convocata musterte Tarlisin streng. »Habt Ihr Euch beruhigt, sodass wir fortfahren können?« Mit zusammengepressten Lippen nickte der Magier. Also fuhr die Vorsitzende fort: »Für das Protokoll kann ich bestätigen, dass diese Beschreibung durch Magister Eisenkober mit einer mündlichen Schilderung durch den Angeklagten übereinstimmt. Collega Eisenkober, woher habt Ihr dieses Wissen?« Der Angesprochene schien förmlich in die Höhe zu wachsen und von einem inneren Feuer zu glühen: »Nun, während sich der ungeordnete Haufen namens ›Orden der Grauen Stäbe‹ damit amüsierte, zu debattieren und alle erreichbaren Gildengesetze zu brechen, haben die Wächter Rohals entschlossen gehandelt. Hohes Gericht, ich kann an diesem Ort verkün-
den, dass mein Orden im Besitz des so sehr gesuchten Sphärenschlüssels ist.« Das saß – die ganze undisziplinierte Hühnerschar, die sich graue Gilde nannte, begann zu gackern und zu spektakeln, nur der Angeklagte war mit ungläubiger Miene in seinem Stuhl zurückgesunken. Eisenkobers weitere Worte gingen im allgemeinen Stimmengewirr unter, bis Convocata Prishya entschieden von ihrem Stab Gebrauch machte und auf den Boden pochend wieder Ruhe herstellte, sodass Eisenkober fortfahren konnte: »Leider hält das Ding keineswegs, was der Angeklagte vollmundig versprochen hat. Er hat uns ein schönes Märchen von einem Dschinn aus alter Zeit erzählt – als wäre solch ein Elementargeschöpf nicht mit allen übrigen seiner Art vergangen, ob in ein Artefakt gebunden oder nicht! Nein, der Sphärenschlüssel trägt seinen Namen gewiss zu Recht, aber aus einem anderen Grund: Er beherbergt einen Dämonen, der wohl vom Dämonenmeister selbst dort hinein gebannt wurde. Kein Wunder, dass der Feind dieses Gebilde wieder in seinen Besitz bringen will, beinhaltet es doch den gefürchteten Shihayazad, den siebenfach gehörnten Sphärenspalter!« Eisenkober zeichnete nach seinen Worten mit dem rechten Zeigefinger einen Kreis in die Luft, die unheilbannende Praiosscheibe, wie sie nur ein Magier
der Weißen Gilde machen würde. Doch auch einige der anwesenden Graumagier vollführten Schutzgesten – das abwehrende Dämonenhaupt oder das Kleine Pentagramm. Denn der Sphärenspalter war wohl der gefürchtetste aller Dämonen unterhalb jener Zwölfe, die in ihren niederhöllischen Palästen thronten und nur in diese Sphäre kamen, um mit verführten Sterblichen einen Pakt zu schließen. Nur Tarlisin von Borbra reagierte mit unglaublicher Ruhe. Erst schien er noch aufbegehren, dem Kläger widersprechen zu wollen, doch dessen unerschütterliche Selbstsicherheit hatte den Graumagier jeglicher Erwiderungen beraubt. Es gab keinen Zweifel, dass Nostrianus Eisenkober genau wusste, wovon er sprach – auch als er fortfuhr: »Ich denke, das Hohe Gericht ist mit mir einig, dass wir mit einem solch abscheulichen Artefakt nur auf eine einzige Weise verfahren können: Wir müssen es unter strenger Bewachung halten und baldmöglichst dem Weisen Rohal aushändigen, auf dass er uns sagt, wie wir es unschädlich machen können«, fuhr Nostrianus Eisenkober triumphierend fort. »Aber eines muss ich noch hervorheben: Wie abgrundtief verderbt muss der Angeklagte sein, wenn er eine solche dämonische Widernatürlichkeit als Waffe einsetzen will? Oder hat er gar wirklich nicht gewusst, was der Sphärenschlüssel tatsächlich ist?«
Eisenkober legte ein kurze Kunstpause ein, während in den Augen des Justiziars Hoffnung aufschimmerte – bis der Hochmeister der Wächter Rohals weitersprach: »Dann, Hohes Gericht, gibt es dafür nur eine Erklärung: Er hat nicht durch besondere Geisteskräfte von seinem wunderbaren ›Desiderat‹ erfahren, sondern weil der Feind ihn die Mär von einem uralten Dschinnen glauben machen wollte! Selbst falls – und ich sage falls – er nicht ein wissentlicher Handlanger des Dämonenmeisters ist, so stellt er doch zumindest dessen gefügige Marionette dar, nur allzu bereit, die drei Gilden auf die wilde Hatz nach einem Artefakt zu führen, das nicht wir nutzen können, sondern allein der Feind selber. Nein, Hohes Gericht, alles, was wir vernommen haben, war die Notwendigkeit, allerlei Gesetze zu brechen – und Menschen in den Tod zu führen, um den Sphärenschlüssel zu erlangen. Doch all das beruhte auf den lügenhaften Einflüsterungen des Feindes!« Mit diesem fast jubelnden Schlusswort beendete er seine wortreiche Anklage und erhob sich mit einer Verbeugung zur Richterbank hin. Den zusammengesunkenen Angeklagten würdigte er keines Blickes mehr. Dann ergriff die von den jüngsten Enthüllungen sichtlich erschütterte Convocata Prishya von Grangor das Wort: »Magister Eisenkober, habt Ihr gar den Sphärenschlüssel bei Euch?« Bei ihr und den anderen
Richtern, aber auch den Grauen Gardisten konnte man deutliche Zeichen der Wachsamkeit erkennen, bis der Kläger antwortete: »Nein, er befindet sich an einem sicheren Ort, aber ich kann ihn morgen mit den übrigen Beweisen vorlegen.« Die Convocata Prima erhob sich von ihrem Platz. »Ich bitte sogar darum. Damit ist die Verhandlung für heute geschlossen. Wir sehen uns morgen wiederum zur zwölften Stunde.« Man merkte ihr deutlich an, dass sie an der Neuigkeit lange zu kauen haben würde. Auch der Richter Sirdon Kosmaar, obgleich stumm, bot ein Bild der Verwirrung. Nur in den Augen der tulamidischen Schlampe leuchtete ein unheimliches Feuer, als könne sie gar nicht erwarten, das Dämonenartefakt zu sehen und zu untersuchen. Von ihr ging etwas Beunruhigendes aus, und Eisenkober machte sich in Gedanken eine Notiz – um die Rashdulerin, die selbst heutzutage noch unbekümmert Dämonologie lehrte, würde sich der Orden als nächstes kümmern müssen; jetzt, da der unmittelbare Feind besiegt war. Denn dass er Tarlisin von Borbra geschlagen hatte, war unverkennbar: Der mohabraune Kopf war schamrot, die wie bei einem Lustknaben bemalten Lippen zuckten, und die Haltung des ›Großmeisters‹ erinnerte Eisenkober an einen schlaffen Sack Lumpen. Hier war kaum noch etwas zu tun.
Die Richter und der Kläger verließen den Raum, nach ihnen die Gardisten – und nur der Angeklagte und sein Rechtsbeistand blieben zurück. Auch Balthusius wirkte besonders distanziert, als er kopfschüttelnd bemerkte: »Das ist jetzt denkbar schlecht für Eure Sache verlaufen. Wenn wir das zuvor gewusst hätten, dann hättet Ihr mehr auf Reue plädieren können, und selbstverständlich hättet Ihr deutlich zeigen müssen, wie zerknirscht Ihr seid. Aber dieses Spektakel heute – auch wenn es zum Teil dieser liederlichen Dame Belizeth zuzuschreiben ist, vor der, das muss ich betonen, ich Euch ja bereits gewarnt hatte, kann ... äh ... muss ... Wo war ich? Ah, nach diesem Schauspiel heute wird das Gericht ganz gewiss sämtliche Versuche zurückweisen, die Suche nach dem Desiderat als Milderungsgrund anzuerkennen, nachdem Ihr offenkundig das Rennen verloren habt. Nun werden wir uns etwas anderes einfallen lassen müssen ...« Man merkte dem Selemer an, dass er eifrig nach einer neuen Strategie suchte: »Seinen Vorwurf, Ihr habet mit dem Feind paktiert, wird Magister Eisenkober doch nie mit Beweisen untermauern können, also wird es bei den allgemeinen Regelverstößen und Gesetzesbrüchen bleiben. Vielleicht sollte ich vorfühlen, ob ein schneller Amtsverzicht Eurerseits nicht dem Grauen Rat am angenehmsten wäre, um Rufschäden vom Orden der Grauen Stäbe abzuwen-
den; dann ließe sich eventuell eine eher leichte Ordnungsstrafe erwirken ...« Als der Justiziar ihm den Rücktritt nahelegte, fuhr Tarlisin von Borbra mit einem Male auf, packte das penibel gepflegte Skapulier seines Rechtsbeistandes und fauchte: »So ist das also? Schon wollt auch Ihr meine Absetzung! Schon stimmt Ihr mit ein in den Chor der Verdammung! Aber ich werde mich nicht so einfach geschlagen geben. Und auf Eure ›Hilfe‹ kann ich dabei gerne verzichten, was hat mir Euer Geschwätz denn bislang geholfen!« Nach diesem Wutausbruch ließ er seinen empört blickenden Justiziar zurück und eilte aus dem Raum, ohne ihm Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben.
5. Kapitel
Punin, zur vierten Abendstunde des 23. Ingerimm 27 Hal
Tarlisin versuchte, seine umherschweifenden Gedanken zu ordnen, während er ziellos durch das Theaterviertel im Herzens Punins streifte. Die Wachposten seines Ordens hatten dem Großmeister erstaunt nachgeblickt, als er mit wehendem Haar und flatterndem Skapulier das Akademiegelände hinter sich ließ, doch ihre Anweisungen sahen nicht vor, jeden zu untersuchen, der den Konventsort verließ – und der wilde Blick in seinen Augen ließ es zweifelhaft erscheinen, dass er einer außerordentlichen Überprüfung willig zugestimmt hätte. Denn in Tarlisin herrschte kalte Wut, als der erste Schreck abgeklungen war. Er fühlte sich bloßgestellt, übertölpelt, gedemütigt – und seine spontane Antwort darauf bestand in wilden Rachephantasien, in denen er all seinen Peinigern, vor allem aber dem feindlichen Hochmeister Eisenkober, die übelsten Qualen angedeihen ließ. Je ruhiger er wurde, desto boshafter wurden seine Gedanken – innerhalb weniger Augenblicke entwarf er feingesponnene Intrigen und beschwor künstliche Katastrophen herauf, durch die die ganze Graue Gilde merken würde, wie sehr
sie ihn doch brauchte und wie unfähig, ja hilflos der verdammte Eisenkober war, wenn ihm nicht gerade der Zufall einen Vorteil in die Hände spielte. Der Weg des aufgewühlten Magiers führte ihn zurück zum Theaterplatz und vorbei am Rathaus, die Eisenstraße zum Ordensgästehaus mied er jedoch bewusst – wohlmeinenden oder neugierigen Fragen über den Stand der Anhörung fühlte er sich einfach nicht gewachsen. Stattdessen schlug er die Straße nordwärts ein, vorbei am Botenhaus der Beilunker Reiter, hin zum Platz des Schweigens. Dort, im nördlichen Zentrum der Stadt, lagen sich die beiden fundamentalen Gegensätze des Daseins gegenüber: die Hohentempel des Lebens und des Todes. Nördlich des Platzes befand sich der mit grünen Kupferschindeln wie mit einer Eidechsenhaut bedeckte Regenbogentempel der ewig jungen Göttin Tsa. Die Außenmauer war über und über mit bunten Steinen besetzt und leuchtete im Licht der Nachmittagssonne in allen Farben des Regenbogens. Tarlisin hatte gerade das Tempelinnere betreten, als ein durch die Buntglasscheiben getönter Lichtstrahl in seine Augen fiel und ihn innehalten ließ. Nein, er war derzeit nicht bereit, vor seine Göttin zu treten, nicht so aufgewühlt und zornig, wie er gerade war. Nach einer kurzen Verbeugung vor dem noch
weit entfernten Altar am Ende des Tempelschiffs machte er kehrt und verließ das Göttinnenhaus wieder. Vor sich sah er nun jenseits des Platzes die säulenreiche, basaltschwarze Fassade des Zerbrochenen Rades, wo in den allerheiligsten Hallen des Schweigens der Rabe von Punin, das Oberhaupt der nord- und mittelaventurischen Boronkirche, residierte. Hier hatte er vor einigen Monden Seiner Erhabenheit vom unseligen Ausgang der Expedition berichtet und für das Seelenheil der Golgariten gebetet, doch ansonsten mied der Südländer die Häuser des Totengottes lieber. Vor dem Tempel und auf dem Platz selbst, der normalerweise in ehrfürchtigem Schweigen dalag und auf dem sich die Puniner allenfalls ehrerbietig flüsternd zu unterhalten pflegten, war gerade eine Menschenmenge zu sehen, die schon aufgrund ihrer Größe eine ungewohnte Lautstärke verbreitete. Denn in Punin wurde zeitgleich mit dem Magierkonvent auch eine Versammlung der Geweihten Aventuriens abgehalten, um die theologischen Aspekte der Rückkehr des Dämonenmeisters zu erörtern – denn es gab viele, die Borbarad wie seinem Widersacher Rohal halbgöttlichen Rang zuschrieben und ihn für einen Enkel der weisen Hesinde und des gewitzten Phex hielten. Die Kirchen, so hatte der Orden der Grauen Stäbe von seinen Zuträgern erfahren,
wollten beraten, wie man der um sich greifenden Verehrung und Anbetung des verfluchten Dämonenmeisters entgegentreten könne. Die rot-goldenen, grün-goldenen und schwarzweißen Kutten der Geweihten und Ordensleute wiesen sie vor allem als Bewaffnete des Bannstrahl Praios', des Draconiterordens der Hesinde und natürlich der Golgariten der Boronkirche aus, auch wenn fast sämtliche zwölfgöttlichen Kirchen mit einigen Abgesandten hier vertreten waren. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Weder die Golgariten noch die Bannstrahler zählten zu den engeren Freunden des eitlen Magiers, und auch unter den Draconitern gab es einige, deren Auffassung vom rechten Auftreten und Lebenswandel eines Magiers seiner eigenen entschieden widersprach: Ginge es nach ihnen, verbrächte der Magier Tag und Nacht auf Knien, um der Göttin Hesinde, Herrin der Weisheit und Gelehrsamkeit, für die Gabe der Magie zu danken. Als Tarlisin den Platz des Schweigens eilig und so unauffällig wie möglich verließ, bemerkte er nicht, dass sich eine schwarzgewandete Gestalt aus einer Gruppe löste und ihm langsam folgte. Stattdessen nahm er seine unterbrochenen Überlegungen, wie er sich rächen könne, wieder auf. Der Anblick des Borontempels hatte ihn auf düstere Gedanken gebracht,
und so erfreute er sich bald wie ein liebeskranker Jüngling oder ein erstmals gezüchtigter Zauberlehrling an der Vorstellung, wie sehr er doch aller Welt fehlen würde, wenn er auf einmal tot wäre. Ja, wenn er sich hier und jetzt, aufrecht wie ein alter tulamidischer Sultan, in seiner Stunde der Niederlage selbst den Tod geben würde, durch das Schwert, durch einen letzten Zauber oder durch langsames, wohliges Einschlafen in einer Wanne voll warmem Wasser und frischem Magierblut, dann würde es ihnen leid tun! Dann würden sie merken, was sie an seinem Mut hatten, an seinem Einfallsreichtum, an eigentlich allem! Irgendwo kaufte er für ein paar Heller einen Schlauch mit einheimischem Valpowein und trank in großen Schlucken von dem roten Tropfen. Die neu ersonnene Möglichkeit erschien ihm weit besser, als noch einmal die Demütigungen einer weiteren Anhörung über sich ergehen zu lassen. Denn wie könnte er beweisen, dass er wirklich geglaubt hatte, der Sphärenschlüssel würde eine Waffe gegen den Dämonenmeister sein? Wenn Eisenkober den Sphärenschlüssel am morgigen Tag vorlegte, wäre Tarlisins Ruf endgültig ruiniert, mehr als das. Der Magier schüttelte den Kopf. Er hatte die Graue Gilde zu oft und zu gründlich provoziert, um jetzt nicht auf dem Altar der gildenpolitischen Nützlichkeit geopfert zu werden. Im Gegenteil: Sich jetzt zü-
gig von ihm zu trennen, wäre für die Gilde das Allerklügste, denn wenn erst einmal Rohal zurückgekehrt wäre, könnte der Orden unmöglich einen Sprecher und Großmeister vorweisen, der auf der erfolglosen Suche nach einer Waffe gegen den Dämonenmeister für nichts und wieder nichts ungezählte Gesetze verletzt und ein Dutzend Menschen in den Tod geführt hatte. Aber er würde es ihnen zeigen: Durch seinen selbstlosen Tod würde er der Gilde die öffentliche Schande ersparen, ihn verurteilen zu müssen. Dann wäre sein Name wieder der eines vielversprechenden Magus, der durch die gnadenlose Verfolgung der Weißen Gilde in einen allzufrühen Tod getrieben wurde, ehe er der Grauen Gilde alles hatte schenken können. Von so viel Selbstlosigkeit und dem kühlen Wein regelrecht in Hochstimmung versetzt, überlegte sich Tarlisin im Detail, was er wem vermachen sollte – der weltliche Besitz für seine Frau Mara und die Kinder, einen Teil der magischen Bücher für den Orden, einen anderen Teil für seinen Gildenbruder und guten Freund Melwyn Stoerrebrandt, ein kleines Legat für seinen treuen Diener Halef, ein anderes für die Boronkirche, um Messen für die zu lesen, die an seiner Seite gestorben waren. Um seine eigene Seele würde sich zweifellos die Herrin Tsa kümmern und ihr ei-
nen Neubeginn in einem neuen Leib und Leben ermöglichen. Dergestalt in Gedanken versunken, war Tarlisin durch halb Punin gewandert, bis er sich schließlich im Eslampark im südwestlichen Viertel der Stadt wiederfand. Diese üppige exotische Gartenanlage war nur halb so groß wie der Etilienpark mit dem Hesindetempel und derzeit weit weniger turbulent, obgleich hier der Tempel des Rebenblutes lag, die Kultstätte der Heiteren Göttin Rahja. Nun, Rahja war auch die Göttin des Weines und des Rausches, sodass Tarlisin die Gelegenheit nutzte, sich auf einer der Bänke in einem ruhigen Winkel des Gartens auszuruhen, während er weiter seinen Gedanken nachhing und immer wieder vom Wein trank. Der Schlauch war nach kurzer Zeit bereits zu drei Vierteln leer. Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als ihn ein lauter Schrei jäh in die Wirklichkeit zurückriss: »Hier hat es dich hingezogen, Mörder? Um die Nähe eines Zauberers zu suchen, der nicht minder mörderisch und verrucht war als du?« Vor ihm stand ein schwarzhaariger und schwarzbärtiger Mann, gewiss einen Kopf kleiner als der Magier, aber beinahe doppelt so breit – dank seiner muskulösen Schultern, um die der weiße Mantel eines Golgariten lag. Der Rest der Kleidung war rabenschwarz.
Trotz seiner Überraschung folgte Tarlisins Blick der Geste des Fremden, als dieser zu der Statue deutete, neben der sich der Magier niedergelassen hatte – und dabei fiel ihm ein, was man sich über diesen Ort erzählte: Der Erzmagus Robarius von Punin hatte seinerzeit sich selbst und 69 unbeteiligte Bürger ums Leben gebracht, als bei einem Experiment sein Turm in die Luft flog und einen verheerenden Großbrand auslöste. Aber das konnte doch niemals der Grund für den Zorn des Fremden sein, der ihn voller Hass anstarrte und die Worte hervorstieß: »Wenn sonst niemand den Mut hat, dich für den Tod der besten Ritter zu strafen, die diese Stadt je gesehen hat, dann muss ich es tun!« Dies und die schwarze Kleidung, die der Fremde trug, ließen in dem Magier eine vergessene Erinnerung wach werden – das Bild eines Mannes, den er nie selbst gesehen hatte, sondern nur in einem Medaillon, das eine junge Golgaritin trug. Vor ihm stand Khalidais Vater, entschlossen, den vermeintlichen Mörder seiner Tochter und ihrer Gefährten zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Erkenntnis lähmte Tarlisin, raubte ihm jeden Willen, sich zu verteidigen – selbst als ein schmerzhafter Griff um seinen Hals ihm deutlich machte, wie viel Kraft, wie viel Entschlossenheit im gedrungenen Leib des Schwarzbartes steckte. Er wurde scheinbar mühelos hochgerissen und sogleich wieder zu Boden
geschmettert, dass es ihm die Luft aus dem Leib presste und er halb benommen liegen blieb, was den Zorn des Mannes anscheinend nur noch weiter anstachelte. Der Angreifer spuckte ihn an und trat mit ungebremster Wucht zu. Diesem Auftakt folgte eine der gründlichsten Trachten Prügel, die Tarlisin jemals empfangen hatte – und er hatte schon immer vor keiner Rauferei zurückgeschreckt, voller Vertrauen darauf, dass seine Magie schon alle Wunden und Schrammen heilen würde, selbst wenn er unterliegen sollte, was mit zunehmender Übung immer seltener vorkam. Doch diesmal war es anders, denn nun fehlte dem Magier jeder Kampfgeist – benommen von den Schlägen und dem Wein, nahm er die Hiebe wie eine unvermeidliche Bestrafung hin und begnügte sich damit, sein Gesicht zu schützen. Als sie aufhörten, nahm er es kaum wahr. Der Angreifer hatte von seinem Opfer abgelassen, ehe dieses völlig das Bewusstsein verlor – aber das würde nicht lange auf sich warten lassen. Auf! Schütze dich! Die Stimme der jungen Frau hatte so deutlich geklungen, als würde sie direkt neben ihm knien. Mühsam öffnete Tarlisin die Augen und sah nur den Angreifer, dessen Zorn keineswegs nachgelassen hatte und der ihm nun hasserfüllt entgegenspie:
»Denk nicht, Mörder, ich würde dich ob deiner Feigheit schonen. Ich bringe dich vor das Gericht des Herrn!« Mit seinen schweren Händen löste er den Rabenschnabel von seinem Gürtel, der für jemanden in Tarlisins Zustand zweifellos eine tödliche Waffe darstellte. Wehr dich! Aber töte ihn nicht! Mit einer fast unmöglichen Kraftanstrengung rappelte sich der Magier auf. Inzwischen hielt sein Gegner die Waffe in der Hand und holte aus. Um den Befehl der jungen Frauenstimme – an deren Identität der Magus keinen Augenblick zweifelte – zu erfüllen, gab es nur einen Weg: Mit einer Entschlossenheit, wie sie nur die Übung vieler harter Jahre möglich machte, zwang er eine Zauberformel in seinen Geist und schlug mit der zur Faust geballten Rechten in die flache Linke: »PARALÜ PARALEIN!« Als er das nächste Mal blinzelte, war der Angreifer zu einer Statue erstarrt, die Maske des Hasses reglos auf dem Gesicht. In dieser Haltung würde er für anderthalb Stunden verharren müssen, doch ansonsten würde ihm nichts geschehen – dermaßen ›versteinert‹ war er sogar für Waffen und magische Angriffe unverletzlich. Obwohl ihm sein Körper dringend empfahl, nun zurückzusinken und ohnmächtig zu werden, zwang sich der Magier, sich aufzurichten und eine kniende Stellung einzunehmen. »Danke, Herrin!« Schlichte
Worte, aber in ihnen lag alles, was er an Ergebenheit seiner Schutzherrin, der jungen Göttin Tsa, gegenüber ausdrücken konnte. Er setzte gerade zu einem ausführlicheren Gebet an, als die Stimme erneut zu ihm sprach. Lass das! Steh auf! Die Anweisung seiner Herrin war eindeutig – auch wenn er sie nicht unbedingt verstand. Und beende dein Gejammer! Dein Tod nützt keinem etwas, mir am allerwenigsten! Das war nicht misszuverstehen. Mühsam erhob er sich endgültig und hielt sich mehr schlecht als recht auf den Beinen. Zum Glück kamen in diesem Moment zwei junge, hübsche und erstaunlich kräftige Dienerinnen des Rahjatempels herbei, die den zerschlagenen Magus stützten, wobei ihre Mienen Mitleid und Ekel zugleich zeigten. Irgendjemand hatte wohl auch die Stadtgarde verständigt, denn es eilten wenig später zwei Mitglieder der Stadtwache in ihren grünen Wappenröcken zu der kleinen Gruppe. Erleichtert übergaben die Tempeldienerinnen die unschöne und schmutzige Angelegenheit an die Gardisten, die das Geschehen aufnahmen – und auch wenn während des Konvents das eigenmächtige Zaubern in der Stadt eigentlich verboten war, gab es doch untrügliche Beweise, dass es sich um Notwehr gehandelt hatte: die Aussage der
Tempeldienerinnen, die das Ganze aus der Ferne gesehen hatten, die zerrissene, schmutzige Kleidung des Magiers ebenso wie die blauen Flecken, Schrammen, Schürf- und Platzwunden auf seiner Haut, der Schmutz und Staub in seinem langen Haar und die hassverzerrte Mimik und eindeutige Haltung des Angreifers. Nachdem sie seinen Namen und die Adresse seiner Puniner Unterkunft notiert hatten, durfte Tarlisin gehen; um den Golgariten würden sich Mitglieder seiner eigenen Kirche kümmern – vermutlich Ordensbrüder der Noioniten, die den geistig Verwirrten beistanden und ihnen Vergessen schenkten. Wieder einmal hatten die Ränke des Dämonenmeisters eine rechtschaffene Seele ins Unheil gestürzt. Unweit des Eslamsparks lag in einer Seitengasse auf dem Weg zur Eisenstraße das noch junge Zunfthaus der Apotheker und Medici. Auf den Rat der Stadtwachen hin suchte Tarlisin es auf, um seine ärgsten Verletzungen behandeln zu lassen; denn nun war die erste Erregung des Angriffs, des Zauberns und der göttlichen Manifestation abgeklungen, und er fühlte sich zerschlagen und betrunken, sodass er lieber keinen Heilzauber wagen wollte. Bei den Medici kümmerte sich eine mürrische, aber tüchtige Heilerin um seine Wunden, ohne nach deren Ursache zu fragen – nicht dass es nicht auch so deut-
lich gewesen wäre, dass sie aus einer Rauferei stammten. Frisch versorgt mit Salben, Wundauflagen und Verbänden kehrte Tarlisin ins Ordensgästehaus der Grauen Stäbe zurück. So sehr der eitle Magier es üblicherweise genoss, angestarrt zu werden, erschien ihm diesmal der Weg zu seiner Unterkunft wie der reinste Spießrutenlauf – mit seiner beschmutzten Robe, dem zerrissenen Skapulier und den Verbänden sah er aus wie das bemitleidenswerte Opfer eines Raubüberfalls. Seine Wangen brannten und er hatte das Gefühl, dass jeder ihm ansehen konnte, was geschehen war; und gerade vor den Mitgliedern seines Ordens wollte er nicht wie jemand erscheinen, der sich seiner Haut nicht zu wehren wusste.
6. Kapitel
Punin, zur siebten Abendstunde des 23. Ingerimm 27 Hal
Als er nach einer scheinbaren Ewigkeit zum Ordensgästehaus gelangte, eilte Tarlisin die Treppe hinauf. Bereits vor Erreichen seiner Räumlichkeiten rief er nach Halef, der jedoch nicht erschien – natürlich, er war ja ausgegangen. Also suchte sich Tarlisin selbst einige Kleidungsstücke und Pflegemittel zusammen und packte sie in eine Tasche, warf seine zerfetzte Robe und das Skapulier aufs Bett und wusch sich im kleinen Becken Dreck und Blut von der Haut und aus den Haaren. Danach hüllte er sich erst einmal in eine einfache graue Reisekutte, in der er weniger auffallen würde. Wer hätte gedacht, dass er dieses Gewand, das der Codex Albyricus für den reisenden Zauberer vorschrieb, wirklich noch einmal tragen würde. Zurück auf der Eisenstraße wandte sich der Großmeister erst nach Westen, dann nordwärts, vorbei an der Horaskaiserlichen Gesandtschaft, an der groß und farbenprächtig die Adlerbanner des Horasreiches wehten, denn Staatsminister Abelmir von Marvinko, der zweite Mann im Staat nach der Horaskaiserin, weilte in Punin – wenn auch nicht in politi-
schen Geschäften, sondern weil er in seiner Eigenschaft als regionaler Hochgeweihter der Hesindekirche zum Geweihtentreffen angereist war. Direkt daneben lag die Königliche Hofkanzlei, umgeben von einem verspielten Wassergraben, geschmückt mit in sich gewundenen Säulen, dreigeschossigen Arkadengängen und mannigfachigen Erkern und Türmchen. Sechs Elitegardisten in Almadanerblau und Silbergrau mit rotem Rosswappen hielten hier Wache. Das darauffolgende Gebäude war das Ziel des Magus: Die uralten, schon vor 1300 Jahren errichteten Madathermen, ein im tulamidischen Stil von den einstigen Emiren Al'Madas erbautes Badehaus. An diesem Ort der Entspannung und Körperpflege würde er seinen Leib in heißem Wasser aalen, auf dass er nicht von Schlägen und Erschöpfung steif wurde, und dann im heißen Dampf der warmen Quellen den verbliebenen Wein aus den Adern schwitzen. An der Pforte zahlte er für den Eintritt, Tücher, ein kostbares Badeöl und die Dienste eines Badedieners und begab sich dann zu den Becken. Die dampfende, schweflige Luft vertrieb die Müdigkeit, und nach einer knappen Stunde im heißen Wasser und im Schwitzbad fühlte er sich erfrischt und klar im Kopf – und damit waren die Voraussetzungen für den erfolgreichen Gebrauch des ›BALSAMSALABUNDE‹ gegeben. Ohne Mühe brachte Tarlisin die heilende Zau-
berformel zustande und entfernte so die verbliebenen Spuren der Prügelei. Nach dem heißen Schwitzbad brachte er seinen angenehm erschlafften Körper mit dem ›Tanz der Mada‹, einer bei Kampfmagiern verbreiteten Leibesübung, wieder in Schwung, wie er es jeden Tag schon vor dem Morgengrauen zu tun pflegte. Auch jetzt weckten die Exerzitien seinen Kampfgeist. Zorn und Selbstmitleid der vergangenen Stunden waren verflogen und er war zuversichtlich, es mit allem aufnehmen zu können, was auf ihn zukäme. Gut, er hatte der Anhörung zu wenig Beachtung geschenkt, sie als lästige Narretei empfunden, aber nun war er bereit und würde seine Taten und Absichten verteidigen. Alles in allem aber war die Stimmung in den Madathermen eher locker – kein Wunder, denn dem heißen Schwefelwasser wurde heilsame Wirkung gegen siebenerlei Siechen der rahjagefälligen Organe zugeschrieben, und so suchten viele Lebemänner und -damen die Bäder auf. Die vornehmeren unter ihnen hatten sich auf einer Marmorwand verewigt, wo man ihre Schriftzüge sorgfältig nachgemeißelt und mit Golddraht nachgezogen hatte – von der Kaiserinmutter Alara über Herzog Cusimo von Grangor und Graf Mondino von Belhanka bis zu Prinzessin Aillil von Honingen. Müßig fragte Tarlisin sich, wie viele Po-
tentaten früherer Jahrhunderte inzwischen ob ihres Lebenswandels in Verruf geraten waren, sodass man ihre Namenszüge entfernt hatte. Als er seine Übungen beendet hatte, ging er zum temperierten Becken hinüber, ließ sich mit einem wohligen Seufzen in das warme, aber nicht zu heiße Wasser gleiten. Er nahm auf dem breiten Sims Platz, das als bequemer Sitz unter der Wasseroberfläche verlief, und streckte die langen Beine aus. Im gleichen Moment zog eine Stimme mit dem deutlichen Akzent des Südens seine Aufmerksamkeit auf sich: »Da ist ja mein lieber Tarlito! Ich hatte schon befürchtet, dich auf dem ganzen Konvent nicht zu sehen.« Das weiche Brabaci klang lockend und spöttisch zugleich. Gewandt ließ sich die Sprecherin neben ihm nieder und fuhr fort: »Aber sei erst einmal begrüßt.« Die Parfümwolke, die von der älteren Frau ausging, war im wahrsten Sinne atemberaubend. Doch während Tarlisin sich bemühte, nicht zu offensichtlich nach Frischluft zu schnappen, fühlte er bereits die spröden Lippen auf den seinen. Tarlisin versteifte sich und rückte ein wenig zur Seite. Dadurch gelang es ihm, die Frau zu betrachten. Einst, als junge Adeptin der schwarzmagischen Brabaker Beschwörerakademie, war Demelioë Terbysios eine schöne Frau und eine mütterliche Freundin, später eine erfahrene Liebhaberin und Lehrmeisterin
gewesen, doch mit der Dämonenverehrung hatte Tarlisin auch sie verlassen. Heute, als Leiterin der Brabaker Magierschule, versuchte sie immer noch, die längst vergangene Jugend festzuhalten. Ein flüchtiger Betrachter mochte durchaus getäuscht werden, doch aus der Nähe betrachtet erkannte man deutlich die dick aufgetragene Schminke, die ihrem Gesicht einen starren, fast maskenhaften Ausdruck verlieh, und die Falten an ihrem elfenbeinweißen, gepflegten nackten Leib, der sich nun eng an ihn presste, als sie ihm nachrutschte. »Demelioë, Collega, wie schön, Euch zu sehen.« »Collega ..., Ihr ...«, die Stimme der Magierin klang spöttisch, »seit wann sind wir so förmlich zueinander?« Die Hand der Magierin zupfte spielerisch an Tarlisins Haaren. »Du bist noch immer wunderschön, kleiner Tarlito. Wie lange ist es her, dass du fortgegangen bist? Dreizehn Jahre? Du siehst keinen Tag älter aus als damals.« Scheinbar achtlos wanderten die Finger der Magistra weiter über des Magiers Brust, durchdrangen die Wasserlinie. »Demelioë, bitte, was immer auch zwischen uns gewesen ist, es ist vorbei.« Das Gesicht der Frau verzog sich zu einem Lächeln, sodass feine Risse in der dicken Puderschicht sichtbar wurden, die vom warmen Wasserdampf zu glänzen begann. Demelioës Stimme nahm einen eigenartigen Unter-
ton an, während ihre Finger sanft über Tarlisins Bauch strichen. »Vorbei? Es gibt Dinge, die sind nie vorbei, Tarlisin Bocadilio. Weißt du, ich erinnere mich an einen kleinen Bastard einer Patriziertochter, den ich sterbend im Straßengraben fand. Ich habe ihn aufgenommen und sein Leben gerettet. Was soll ich dir sagen, Tarlito, als eben dieser Bursche Jahre später erneut in Not war, habe ich ihn wiederum aufgenommen und sein Leben gerettet.« Die Magierin schaute Tarlisin tief in die Augen: »Sollte dieser Mann wiederum in Bedrängnis sein, so bin ich noch einmal bereit, ihn aufzunehmen und vor seinen Verfolgern zu schützen, obgleich er nichts mehr von mir wissen will. Aber dann verlange ich, dass seine Entscheidung dieses Mal endgültig ist.« Tarlisin fühlte sich hilflos, während die Finger der Magierin ihren Weg unbeirrbar fortsetzten. So gerne er sich aus dem Griff der Maga befreit hätte, wollte er doch nicht unbedingt die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf diese Szene lenken. Demelioë liebkoste ihn unerbittlich weiter, während sie ihn anblickte und zärtlich flüsterte: »Nun verrate mir doch einmal, kleiner Tarlito, warum du überall umherläufst und nach sphärologischen Experten suchst, statt direkt zu mir zu kommen. Hast du gar vergessen, wer dir all dein Wissen beigebracht hat?« Er hatte nicht um ihre Hilfe gebeten, weil niemand
wusste, wie die Brabaker Beschwörerakademie wirklich zu Borbarad stand und ob sie insgeheim schon ein Bündnis vorbereitete – aber das konnte er ihr kaum so unverblümt sagen. Während er noch nach einer unverbindlichen Antwort suchte, zog Demelioë ihre Hand jäh weg, als es gerade angenehm wurde, und fuhr fort: »Vergiss nicht, Tarlito, nun gibt es nichts mehr geschenkt. Ich kann dir noch immer sehr viel geben, aber ich verlange dafür meinen Preis: deinen Gefolgschaftseid.« Demelioë drückte dem Magier einen Kuss auf die Wange, erhob sich mit einem herablassenden Lächeln und verabschiedete sich laut: »Falls ich noch etwas für Euch tun kann, besucht mich einfach im Hotel Yaquirien, Collega ...« Nach diesem Erlebnis hielt es auch Tarlisin nicht länger in den Thermen, sodass er alsbald das Becken verließ, um sich anzukleiden. Die Gewänder, die er mitgenommen hatte, passten so gar nicht zu den Vorschriften des Codex Albyricus, doch er hatte sie mit Bedacht ausgewählt: Der Großmeister trug eine eng anliegende Hose aus silbergrauem Iryanleder, die sein wohlgeformtes Gesäß betonte und deren roter vorspringender Latz von rubinbesetzten Knöpfen gehalten wurde. Das Rüschenhemd aus roter Seide war ebenfalls eng auf den Leib geschnitten, hatte geschlitzte silbergraue Ärmel und
Rubinknöpfe. Ein hüftlanges rotes Cape mit Silberfuchsbesatz und ein rotes Barett vervollständigten die Tracht im modischen Liebfelder Stil. Als er sich selbstzufrieden vor dem großen Wandspiegel drehte, sah er, dass der junge Badediener noch da war und wohl auf sein Trinkgeld wartete. Tarlisin drückte ihm großzügig eine Silbermünze in die Hand und fragte ihn: »Nun, gefalle ich dir?« Der junge Bursche grinste. »Mein Herr, wenn ich eine Dame wäre, wäre ich wohl von Euch hingerissen.« Er blickte herausfordernd. »Oder aber, wenn Ihr eine Dame wäret ...« Der Magier lächelte zufrieden und dankte dem Burschen, indem er ihm einen weiteren Taler gab und ihn entließ: »Na, also. Dann bin ich ja zufrieden.« Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann setzte der Großmeister sein strahlendstes Lächeln auf und verließ wiegenden Schrittes die Thermen. Sollte es Meister Eisenkober gelingen, seine Verurteilung herbeizuführen, so wäre dies sein letzter freier Abend. Selbst wenn Demelioë ihm Asyl in Brabak zugesagt hatte, beabsichtigte der Magier nicht, sich der Grauen Gilde zu entziehen, komme, was da wolle. Den heutigen Abend würde er auf jeden Fall feiern.
7. Kapitel
Punin, Abendstunde des 23. Ingerimm 27 Hal
Für eine ausschweifende Abendgestaltung war Tarlisin bei Olorand von Gareth-Rothenfels an den falschen Begleiter geraten. Der Leiter der Schule der Austreibung zu Perricum hatte ihn auf dem Theaterplatz entdeckt und dessen Einladung, gemeinsam die Taverne ›Zur Löwin und zum Einhorn‹ aufzusuchen, konnte der Großmeister kaum ausschlagen. So saßen sie nun in der gut besuchten Schänke, die wegen ihrer Nähe zur Magierakademie zum Stammlokal der Konventbesucher geworden war, und tranken den leichten Rotwein Almadas, während der rauschebärtige Olorand Anekdoten aus seiner Akademie erzählte. Als Leiter der einzigen Magierschule Aventuriens, die sich auf die Kunst des magischen Exorzismus und die Heilung geistig verwirrter Zauberer spezialisiert hatte, wusste er einiges zu erzählen, und wenn man den gutmütigen, spitznasigen alten Mann so sah, mochte man ihn für einen wohlwollenden, redseligen Dorfgeweihten halten, aber nicht für den Bastardsohn eines Kaisers und Gildenrat der Weißen Gilde. Vor allem aber war er einer der besten weißmagischen Kenner der Dämonen und Geisterwesen und
schon bald hatte sich Tarlisin mit dem alten Seelenheiler in ein eifriges Fachsimpeln über das Beschwören und Verbannen von Dämonen vertieft. Er wusste wohl, dass Olorand, mit dem er seit der Rückkehr aus der Gorischen Wüste kein längeres Gespräch mehr geführt hatte, ihm dabei auf den Zahn fühlte und behutsam seine Reaktionen auf besonders kritische Themen überprüfte. Aber so war der alte Mann nun einmal und da er es mit einem geradezu väterlichen altmodischen Charme tat, ließ Tarlisin es sich gefallen – Olorand war vielleicht der einzige Weißmagier, der frei von jedem Fanatismus war und seine Beobachtungen nicht zurechtbiegen würde, damit sie zu seinem Weltbild passten. Tarlisin seufzte. Der alte Mann bewies, dass Frömmigkeit nicht mit Engstirnigkeit Hand in Hand gehen musste. Warum konnten nicht alle Weißmagier so sein, dann wäre mit den Wächtern Rohals durchaus auszukommen. Nein, korrigierte er sich, wenn alle Weißmagier so wären, dann hätte es diese verdammte Ordensspaltung niemals gegeben. Aber das waren genau die Gedanken, die er sich heute Abend nicht machen wollte. Also wischte er die Grübeleien beiseite und wandte sich wieder mit ganzer Aufmerksamkeit dem Gespräch zu. Gerade sprach Magister Olorand über die Notwendigkeit, auch Verwirrte aus dem Horasreich
schnell und unbürokratisch in die Obhut der Perricumer Schule aufzunehmen, nun, da zahlreiche Untertanen der Horaskaiserin als Freiwillige gegen die Truppen des Dämonenmeisters stritten. Er erwähnte dabei, dass er am nächsten Tage dazu ein Gespräch mit dem horasischen Staatsminister Abelmir von Marvinko führen werde. »Ein bemerkenswerter Mann, Collega. Wusstet Ihr, dass er ursprünglich zu unserem Stande und speziell zu meiner Gilde gehörte?« »Gerüchteweise ist mir so etwas schon zu Ohren gekommen. Er soll seine Kräfte verloren haben – ein furchtbares Schicksal.« Der alte Seelenheiler zog die Augenbrauen hoch: »Meint Ihr, Collega? Seine Eminenz war ein Antimagier wie ich und hat immerhin, so ist zu vernehmen, ein furchterregendes magisches Artefakt aus uralter Zeit unschädlich gemacht und dabei seine ganzen Kräfte und einen Teil seiner Gesundheit geopfert. Er redet nicht gern darüber, sorgt aber als durchtriebener Politiker dafür, dass andere umso mehr davon sprechen und das Lob seines Opfermutes verbreiten.« Tarlisin schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ich halte es für einen Tauschhandel, bei dem er gehörig übers Ohr gehauen wurde. Mag er danach auch Geweihter, ja Hochgeweihter der Hesindekirche und Staatsminister geworden sein, so wiegt das wohl kaum den Verlust der magischen Kraft auf.« Er schau-
derte unwillkürlich und zog sein Cape enger um die Schultern. »Für mich bedeutet die Kraft, Dinge und Gegebenheiten mit meiner Magie zu verändern, alles. Ohne sie würde ich nicht mehr leben wollen.« Der fuchsnasige Exorzist beäugte ihn einen Moment prüfend, mit schräg gelegtem Kopf: »Und das sagt Ihr nun, da Ihr vielleicht alsbald durch Gerichtsbeschluss zwölf Magiern gegenüber steht, die Euer magisches Selbst angreifen und zerschlagen werden? Denn das ist eine der geringeren Strafen für Eure ›Vergehen‹, wenn es nach meinem geschätzten Gildenbruder Nostrianus Eisenkober geht.« Keinem anderen Weißmagier hätte Tarlisin sich so offen anvertraut: »Ihr wisst, was ich von Eisenkober halte: Der Mann ist ein Narr, ein gefährlicher, weil vor lauter Fanatismus blinder Narr!« Olorand vermied eine offene Antwort und wählte die Diplomatie: »Er ist seiner Sache so sehr ergeben, dass er die Wege der kühlen Beobachtung und unvoreingenommenen Beurteilung des Öfteren verlässt, das ist wohl wahr. Er stellt einfache Fragen und gibt einfache Antworten, alles ist ›Ja‹ oder ›Nein‹. Würde ich die Welt derart in Licht und Dunkel scheiden wollen, könnte ich nicht einmal eine gewöhnliche Verwirrung heilen und wäre in meinem Amt völlig unfähig.« Mit einem Mal legte sich sein altes Gesicht in kummervolle Falten und er sprach weiter: »Es be-
kümmert mich aber, dass seine simple Weltsicht gerade in diesen Zeiten seit der Rückkehr des Dämonenmeisters immer mehr Anhänger findet, die wissen wollen, ja zu wissen glauben, was ›Gut‹ und was ›Böse‹ ist und alles in eine dieser beiden Schubladen einordnen. Seht ihr die Frau dort drüben?« Olorand wies verstohlen mit dem Stiel seiner Pfeife auf eine junge Frau in weißer Robe mit grauem Skapulier, die allein an einem Schanktisch saß und einen dünnen Folianten durchblätterte. Der Pokal vor ihr enthielt tiefroten Wein, von dem sie gelegentlich nippte. Ihr Gesicht war herb und reizlos, ihre ganze Haltung drückte Ablehnung aus, sodass Tarlisin sie zwar bemerkt, aber nicht weiter beachtet hatte. »Ich sehe sie, Collega. Müsste ich sie auch erkennen?« Olorand neigte den Kopf: »Ich denke nicht. Und das ist schade. Alvina Viburnian Crassula stammt aus uraltem Adel, vorbosparanisch, aber verarmt. Dafür besitzt sie einen überaus kühlen, scharfen Verstand und war eine meiner besten Schülerinnen. Ich habe sie gleich nach ihrer Ausbildung in Gareth zu mir nach Perricum geholt und ihr so einiges über Exorzismen und Seelenkunde beigebracht, und sie hat es aufgesogen wie ein Schwamm. Ich hoffte schon, sie ganz für die Akademie gewinnen zu können und vielleicht einmal als Stellvertreterin zu haben.« Er seufzte und nahm einem Schluck Wein.
Tarlisin trank ebenfalls, um sein Grinsen mit dem Pokal zu verdecken. Wenn der alte Olorand eine Schwäche hatte, dann war es die für lerneifrige junge Frauen, die er nach Kräften protegierte. Seine derzeitige Vize-Spektabilität Selara Moriani fiel auch in diese Kategorie. »Aber es kam offensichtlich etwas dazwischen, wenn sie nun die Tracht der Wächter Rohals trägt, Collega«, bemerkte er. Olorand nickte. »Als die ersten Dämonensichtungen in Tobrien begannen, habe ich sie gebeten, sich einmal dort umzuschauen. Sie hat wohl die Schlacht bei Eslamsbrück mitgemacht und sich danach in Ysilia dem dortigen Haus der Wächter Rohals angeschlossen. Sie hat Tobrien mit Mühe und Not verlassen können, als alles zusammenfiel. Ihre Briefe danach zeigten, wie verändert sie war, weit radikaler und verständnisloser. Die Subtilitäten der Seelenkunde waren auf einmal gefährlich, weil sie die Unnachgiebigkeit der Dämonenfeinde schwächten. Mich nannte sie zwischen den Zeilen einen feigen Narren, der sich fernab der Heere hinter Büchern verschanzt, statt tapfer zum Kampf anzutreten.« Der Ausdruck des verletzten Stolzes auf dem Gesicht des Magus war beinahe komisch. »Ich konnte nichts machen, sie gehörte ja streng genommen nicht einmal zu meiner Akademie. Heute ist sie die persönliche Scholarin des alten Eisenkobers und folgt seinen
Vorstellung uneingeschränkt. Die beiden sind unzertrennlich und es wundert mich etwas, dass sie überhaupt allein Ausgang hat.« Die Geschichte hatte Olorand melancholisch gestimmt und nachdem sie eine Viertelstunde noch über anderes gesprochen hatten, schob er seinen Pokal zurück und erhob sich: »Ich denke, ich lege mich lieber schlafen – wenn alte Männer betrübt sind, sollen sie sich vom Trunke fern halten.« Sein Lächeln strafte allerdings seine Worte Lügen. »Außerdem habe ich morgen viel zu tun und ich will rechtzeitig dem Herrn Boron huldigen, um morgen Seiner Eminenz nicht mit Ringen unter den Augen gegenüber zu treten.« Er schlug das spitze Dreieck des Fuchskopfes über Tarlisin, ein universeller Glückswunsch: »Collega Tarlisin, möge auch Euch am morgigen Tage Erfolg und eine gerechte Beurteilung beschert sein. Ruht Euch ebenfalls bald aus und seid zuversichtlich.« Als der ältere Magier gegangen war, blieb Tarlisin noch eine Zeit lang an seinem Platz sitzen. Die Nacht war noch jung, gerade hatte erst die zehnte Stunde begonnen und er hatte noch lange nicht vor, ins Bett zu gehen – zumindest nicht in sein eigenes. Eine passende Nachtbekanntschaft würde er hier in der Taverne wohl kaum machen, dafür gab es in Punin andere Orte, etwa die Madathermen, in und an denen
sich um diese Nachtzeit immer allerlei Liebesdienerinnen einfanden. Die Wirtstochter dazu zu bewegen, trotz der vorgerückten Stunde noch einmal die Küche zu öffnen und ihm ein einfaches Nachtmahl zusammenzustellen, kostete ihn buchstäblich nur ein Lächeln, und während er sich für den Rest der Nacht mit Hérissona, einer kalten Gemüsesuppe, und Brot stärkte, schaute er sich müßig in der Taverne um. Dabei bemerkte er, dass die junge Magierin, von der Olorand gesprochen hatte, ihrem Wein recht angeregt zusprach. Je mehr sie getrunken hatte, desto rascher trank sie, denn der Valporanerwein war schwer und süß und machte den ungeübten Trinker erst recht durstig – und die junge Magierin hatte bestimmt weder bei Olorand noch bei Eisenkober das Zechen gelernt. Während sie trank, schaute sie immer wieder zu Tarlisin hinüber und war schon angesäuselt genug, um eine seltsame Mischung aus Abscheu, Faszination und Neugier auf ihrem herben Gesicht erscheinen zu lassen. Als sie bemerkte, dass er sie gleichfalls beobachtete, wandte sie rasch den Blick ab und schien zu erröten, auch wenn man das kaum erkennen konnte. Wohl um ihre Verlegenheit zu überspielen, ließ sie sich einen weiteren Maßkrug bringen und füllte ihren Pokal erneut. In langen Zügen trank sie den süßen Wein und
leckte sich dann mit der Spitze ihrer kleinen korallenroten Zunge die letzten Tropfen von den blassen Lippen. Als sie danach wieder zu Tarlisin herüberschielte, wurde der Magier dieses kindischen Spiels müde. Es überraschte ihn wenig, dass die Anhängerin des alten Eisenkobers ihn belauerte; vielleicht geschah das auf Befehl ihres Meisters. Aber dann hatte sich der alte Verrückte geirrt und die Loyalität seiner Scholarin zu hoch eingeschätzt: Tarlisin musste sich schon sehr täuschen, wenn sie nicht gerade mit sich kämpfte, ob und wie sie es wagen sollte, sich ihm zu nähern. Der Magier empfand nichts für die Frau, allenfalls ein wenig Ärger, weil sie zu diesen abscheulichen ›Wächtern Rohals‹ gehörte. Aber andererseits, wenn sie schon etwas von ihm wollte, konnte er sich wenigstens einen Spaß damit machen und es sich anhören. Ob der alte Eisenkober sie wohl ausgeschickt hatte, um ihn auszuhorchen? Nun, das konnte interessant werden. Man würde sehen, wer wem auf den Leim ging, denn er selbst hatte kaum etwas getrunken und war Herr seiner Sinne. Oder hatte der alte Narr sie in derart schrecklichen Tönen vor den Umtrieben des verruchten Tarlisin von Borbra gewarnt, dass dadurch erst recht die Neugier der jungen Frau erregt worden war? Dann mochte der Abend wirklich noch interessant werden.
Also nahm Tarlisin der offenkundig Zaudernden die Entscheidung ab, hob seinen Pokal und ging schnell zu ihrem Platz hinüber. Er war seit Stunden der erste Tavernengast, der sich ihr so weit genähert hatte – und würde wohl auch an diesem Abend der einzige bleiben. Tatsächlich wirkte die junge Frau überrascht, aber auch aufgeregt, als er ihr sein gewinnendstes Lächeln schenkte und sie ansprach: »Gelehrte Jungfrau, verzeiht, dass ich Euch störe. Mein Name ist Borbra, Tarlisin von Borbra. Dürfte ich mich zu Euch gesellen?« Schon ihre ersten Worte zeigten, wie unsicher sie war: »Nun, ja gewiss, wenn es Euch nicht stört ...« Dabei schaute sie sich suchend um, als müsste sie auf die Erlaubnis der anderen Gäste oder des Tavernenwirtes warten. Aus der Nähe betrachtet, bewies sie, dass Tarlisins erster Eindruck richtig gewesen war: Die Adeptin war wirklich reizlos, mittelgroß und stämmig, mit stumpfem mittelbraunem Haar und braunen Augen und einem so durchschnittlichen Gesicht, dass selbst ein wenig Häßlichkeit ihm mehr Charakter verliehen hätte. Um ihre offensichtliche Verwirrung zu mildern, blickte er sie mit einem verführerischen Augenaufschlag an. »Ich suche doch nur ein wenig Gesellschaft an einem solchen Abend. Seien wir doch einfach zwei
Menschen in einer fremden großen Stadt und vergessen, dass zwischen unseren Orden ein paar Meinungsverschiedenheiten bestehen.« Noch behutsamer und beschönigender konnte er es kaum ausdrücken. Der Dämonenmeister hatte auch gewisse Meinungsverschiedenheiten mit den Kirchen der Götter, dachte Tarlisin bei sich. Alvina lächelte den Magier ihrerseits dankbar an: »Ihr seid zu freundlich, dass Ihr mir etwas von Eurer Zeit opfert. Ich kenne kaum jemanden hier in Punin außer meinen Begleitern und die sind so schrecklich alt.« Für einen Augenblick schien sie über ihre eigene Kühnheit erschrocken zu sein. Tarlisin gewann immer mehr den Eindruck, dass die junge Frau, fast noch ein Mädchen, sich vor allem deshalb den Wächtern Rohals angeschlossen hatte, weil sie in Tobrien eine feste Stütze und Zuflucht gebraucht hatte. Vielleicht war der Kampf um ihre Loyalität noch lange nicht so entschieden, wie der alte Olorand meinte. Tarlisin gestatte sich ein gewinnendes Lächeln. Natürlich war es auch etwas anderes, ob ein junger Draufgänger wie er versuchte, die Adeptin zu gewinnen, oder ob ein zerzauster Graubart wie der betagte Seelenheiler es tat. Die junge Magierin war nicht gerade die hübsche, wortgewandte Begleitung, die ihm eigentlich vorgeschwebt hatte, aber wenn schon – es war zumindest
ein gutes Werk und wie lautete doch das alte Sprichwort: In der Not nimmt der Tobrier Ziegen. Nur mit Mühe konnte Tarlisin ein Kichern unterdrücken – ab jetzt würde er sich noch mehr beim Wein zurückhalten. Seine kurze Geistesabwesenheit erklärte er der jungen Frau mit einem Kompliment für ihre sinnenverwirrende Ausstrahlung. Der abgedroschene Ausspruch ließ sie erröten – anscheinend hatte sie solche Lobesworte bislang nur höchst selten gehört. Also gab er die Vorstellung, die sie ohne Zweifel erwartet hatte – der leidenschaftliche Liebhaber aus dem südlichen Brabak umschmeichelte sie und bedachte sie mit Komplimenten im leicht singenden Tonfall seiner Heimatsprache. Wäre sie nüchterner gewesen, hätte sie die theatralische Natur des Ganzen gewiss durchschaut, so aber lehnte sie sich zurück und genoss seine Aufmerksamkeiten und den mit Fruchtsäften verdünnten Wein, den er ihr bestellt hatte. »Isst eine Spessialität meiner Heimat, Ssenyorinya.« Danach ließ er es bewusst behutsam angehen und sprach mit ihr über allerlei Belanglosigkeiten. Nach einigen weiteren ›kleinen Schlucken‹ Wein hatten sie die ersten Gemeinsamkeiten feststellen können und nach einer halben Stunden waren sie beide beim vertraulichen ›Du‹ angelangt.
Auf seinen Vorschlag hin suchten sie wenig später den ›Silberling‹ auf, ein gepflegtes Hotel mit Spielsalon beim Großen Basar, wo auch zu so später Stunde noch warme Speisen serviert wurden – denn Alvina konnte nach dem Wein eine handfeste Mahlzeit gut gebrauchen, und so lud er sie zum romantischen Nachtmahl ein. Ein vorzügliches Ensemble mit einem elfischen Sänger spielte dezente Musik und an den Tischen sah man noble Damen und Herren aus Patriziat und Adel bei pläsierlichem Mahl, Trunk und Plausch. In die Salons des ›Silberlings‹ eingelassen zu werden, war nur mit hervorragender Empfehlung möglich – doch er wäre nicht Tarlisin von Borbra gewesen, hätte er nicht sogleich bei seiner Ankunft in Punin dafür gesorgt, dass immer ein Tisch für ihn, den Großmeister der grauen Stäbe, reserviert war. Bislang, dachte der Magier sich, lief die Verführung wie im Lehrbuch. Er hatte sich noch nicht entschieden, wie weit er gehen wollte: Eigentlich wäre es eine wunderbare Rache, wenn jeder wüsste, dass Tarlisin von Borbra tolldreist während des Prozesses die Vertraute seines Erzfeindes verführt hatte. Doch tief in ihm schlummerte diese verflixte Ritterlichkeit, die er sich wohl in Aranien angeeignet hatte, und verbot ihm, die leichtgläubige junge Frau derart bloßzustellen. Aber es gab auch noch andere Möglichkeiten ... Die Gelegenheit kam, als sie sich beim Essen mehr
oder minder einig wurden, auch die restliche Nacht miteinander zu verbringen. Denn nun stellte sich das Problem, wo sie dies tun sollten: Im Ordensgästehaus der Grauen Stäbe konnte und wollte Alvina sich nicht blicken lassen, und angesichts von zwei großen Konventen waren in Punin weder hier im ›Silberling‹ noch in einem anderen Hotel Betten frei. Den Rahjatempel erwähnte keiner der beiden – und Tarlisin war das ganz recht so, weil die Heitere Göttin zwar nicht unbedingt tiefe Liebe, wohl aber echtes Begehren bei jenen erwartete, die ihr Haus besuchten. Und außerdem verbanden ihn mit dem hiesigen Haus der Göttin zu schmerzhafte Erinnerungen. Die von Tarlisin gewünschte Lösung wurde dann sogar von Alvina gefunden: Anfangs zögernd, dann immer kühner schlug sie vor, doch einfach das Quartier der Wächter Rohals aufzusuchen, da die übrigen Konventsteilnehmer zweifellos schon seit langem schliefen. Die Villa, die Meister Eisenkober mit seinen Gefolgsleuten bewohnte, war groß genug, um ihr einen unbemerkten Besuch abzustatten, wenn man diskret vorging. Tarlisin musste sich zwingen, nicht zu offensichtlich seine Begeisterung zu zeigen, denn etwas Derartiges hatte ihm vorgeschwebt. Wenn er erst einmal von einer Bewohnerin der Villa ins Gebäude gelassen worden war, würde er schon einen Weg zu Eisenko-
bers Gemächern finden. Dort würde sich das Weitere ergeben: Mit verschwundenen Akten und in einer befleckten oder eilig geliehenen Robe würde der alte Fanatiker am nächsten Morgen einen sehr ungünstigen Eindruck machen. Dass Tarlisin aber gar das Desiderat an sich bringen könnte, war eher unwahrscheinlich – denn wie er Eisenkober kannte, würde es von verschiedenen Sicherungen umgeben sein und außerdem, was sollte es nützen? Schließlich wollte und konnte er es nicht einfach verschwinden lassen und irgendwann, eher früher als später, müsste er es der Magierschaft vorlegen und dem Weisen Rohal aushändigen und dann würde es äußerst peinliche Fragen geben ... Nachdem die Frage, zu wem sie gehen sollten, zur beiderseitigen Zufriedenheit geklärt war, machten sie sich zum Aufbruch bereit. Tarlisin überlegte, ob er eine Droschke für den Weg zur Villa anmieten sollte, entschied sich dann jedoch dagegen: Die ›Wächter Rohals‹ bewohnten für die Dauer des Konvents eine Villa auf dem Goldacker, dem Palastberg Punins, und hier spät in der Nacht mit einer Kutsche vorzufahren, wäre keine kluge Idee. Also lag ein ziemlich langer Fußweg und ein ermüdender Aufstieg vor ihnen – denn der in einer weiten Spirale um den Berg ›Goldakker‹ gewundene Lotosstieg war lang und beschwerlich; und die direkt bergauf strebende Eslamidische
Treppe mit ihren neunhundert Stufen war zwar kürzer, dafür aber noch steiler und unangenehmer. Erst als Alvina noch einmal verschwunden war, um sich ›zu erfrischen‹, wie sie geziert erklärte, und ihr ›heißblütiger Galan‹ gegen die Kühle der Nacht sein pelzgefüttertes Cape anlegen wollte, bemerkte er, dass es fort war. Und dann fiel ihm ein, dass er es schon gar nicht mehr aus der Taverne mitgenommen hatte, als er Alvina zum ›Silberling‹ geführt hatte. Tarlisin hatte herzlich wenig Lust, deshalb noch einmal zum Magiertreffpunkt zurückzukehren. Zum Glück erspähte er, als er sich umschaute, ein bekanntes Gesicht: seinen Sekretär Halef, der in Begleitung eines zweiten jungen Tulamiden und zweier aufreizend gekleideter Damen gerade das Lokal betreten wollte. Als Halef seinen Herrn erblickte, schien er ausweichen zu wollen, doch auf einen leisen Wink Tarlisins hin eilte er herbei: »Kann ich etwas für Euch tun, Effendi?« »Ja, ich habe mein Cape vergessen. Es müsste noch in der Taverne ›Löwin und Einhorn‹ sein. Der Wirt ist ein ehrlicher Mann, er wird es aufbewahrt haben. Wenn du also die Zeit findest, solltest du es abholen.« Tarlisin griff in seinen Geldbeutel und kramte ein Goldstück hervor. »Hier, damit solltest du auch deine Freunde im ›Einhorn‹ bewirten können, auf dass euch der Umweg nicht so schwer fällt.«
Halef lächelte. »Challawalla, Effendi, Ihr müsst mich dafür nicht eigens bezahlen. Habt Ihr sonst noch einen Wunsch?« Tarlisin schüttelte den Kopf: »Nur dass du morgen pünktlich bist. Dann erzähle ich dir auch ein großes Geheimnis.« Er wusste schon, wie er seinen Sekretär zur Pünktlichkeit erzog. Die Augen des jungen Gehilfen leuchteten auf: »Soll ich Euch nicht doch lieber begleiten?« Tarlisin grinste Halef an. »Nein, ich komme schon allein zurecht. Und warum sollte ich meine Dame mit dir teilen, während dein Freund sich an den beiden Schönheiten verausgabt?« Der Magier packte seinen Sekretär an der Schulter und schob ihn mit sanfter Gewalt aus dem Lokal: »Macht euch noch einen schönen Abend, mein Kompliment an die Damen.« Tarlisin warf den beiden Dirnen eine Kusshand zu, als sie feixend in Richtung der Akademie und des ›Einhorn‹ verschwanden.
8. Kapitel
Punin, zur Mitternachtsstunde des 23. Ingerimm 27 Hal
Es war ein angenehmer Spaziergang im Licht des Mondes, der hell und kreisrund am Himmel stand; zugleich wehte aber auch ein kühler Nachtwind aus den Bergen, und Tarlisin fröstelte ein wenig. Nicht dass er die Kälte jemals geschätzt hätte, er liebte das warme, ja heiße Klima Brabaks und hatte es gehasst, als er im provinziellen und vor allem furchtbar kalten und regnerischen Andergast unter der ›liebevollen‹ Obhut seines Stiefvaters leben und lernen musste. Seit der Zeit in der Gorischen Wüste aber jagte ihm kalter Wind stets einen besonderen Schauer über den Rücken, der nicht allein von der Kälte stammte. Zum Glück schien es auch Alvina ziemlich kalt zu sein und so stimmte sie rasch zu, dass sie eng umschlungen daherschlenderten. Die Stadt Punin ist innerhalb der Stadtmauern auch des Nachts recht sicher, wenn man auf den größeren Straßen bleibt, und so gelangten sie vom ›Silberling‹ am Basar bis zu den inzwischen längst geschlossenen Madathermen, ohne irgendwie gestört zu werden. Der Lotosstieg begann hinter den Madathermen und wand sich in einer weiten Spirale um den wohl einhundert Schritt hohen Goldacker. Auf dem Palasthügel er-
hoben sich, hoch über den Dächern Punins, die Paläste und Villen der Adligen und reichen Bürger Almadas. Vom Weg aus sah man die prächtigen Paläste inmitten der grünen Parks und Gärten, in denen die Zikaden ihr Sommerlied zirpten, und hier und da klangen noch die Töne von Lautenspiel aus den Häusern herüber, wo man sich an den Künsten eines Barden erfreute. Als sie etwa die Hälfte der neunhundert Stufen erklommen hatten, hielt Alvina inne. »Hier ist es! Warte hier, mein Schatz, während ich die Tür öffne und schaue, ob alles ruhig ist. Wenn an dem Fenster dort Licht angeht, kannst du nachkommen.« »Alvina, das Madamal sei Zeuge deines Versprechens«, erwiderte Tarlisin theatralisch und schaute der stämmigen Frau nach, als sie zur Villa hinüberging. Auch wenn der Tag alles andere als vielversprechend begonnen hatte, war nun eindeutig die Wende zum Guten eingetreten. Vermutlich hatte Phex, der Gott des Glückes und der List, seine langen Finger im Spiel, und Tarlisin würde ihm ein angemessenes Opfer bringen. Warum hatte er sich überhaupt Sorgen gemacht? Sein Seelentier war schließlich der Aveskater und wie dieser landete er immer wieder auf den Füßen.
9. Kapitel
Punin, zur Mitternachtsstunde des 23. Ingerimm 27 Hal
In seinem Schlafzimmer in der Villa brütete Nostrianus Eisenkober über Diagrammen und Plänen – denn der Schmerz in seiner Brust ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Zwar war der Feind noch nicht endgültig zur Strecke gebracht, doch es war angeraten, sich bereits auf die Zeit nach dem Sturz und der Bestrafung des Herrn von Borbra einzurichten – denn wenn erst einmal der Weise Rohal zurückgekehrt war, wollte der Hochmeister einen fertigen Plan zur Eingliederung der Grauen Stäbe in den wahren Orden vorweisen können. Eisenkober blätterte erneut die Berichte durch. Das Ende dieses Herrn von Borbra würde den Orden praktisch kopflos zurücklassen, denn es gab niemanden, der ihn so einfach als Sprecher hätte ersetzen können: Von den drei anderen Großmeistern der übrigen Burgen war der jüngste, ein gewisser Hagen Gerion in Lowangen, ein unbeschriebenes Blatt, aber es hieß, er habe als fähiger Anführer das Seine im Kampf gegen die Schwarzpelze getan, als diese das Umland überrannten und die Stadt belagerten. Nun gut, Kämpfer waren immer vonnöten, und wenn er
sich als loyal erwies und zur Weißen Sache übertrat, dann mochte er bleiben, wo und was er war. Ähnliches galt für die Großmeisterin der Provinz Vallusa. Llezean von Ilsur mühte sich nach Kräften, den Vormarsch der Schwarzen Horden nicht noch schneller vonstatten gehen zu lassen, auch wenn sie bereits die Ordenshäuser in Ilsur und Ysilia hatte verloren geben müssen. Wenn sie sich läutern ließ ... Anders sah es in Neetha aus: Dort, im reichen und recht ruhigen Horasreich, saß Großmeister Adaon von Garlischgrötz auf seinen fetten Pfründen, ein Spross des Grangorer Herzogshauses und Neffe der Convocata Prima – keine Frage, welchem Umstand er sein Amt verdankte. Er war ein eitler, äffischer Gesell, immer bestrebt, dem Herrn von Borbra in allem nachzueifern, vom Auftreten bis zur Kleidung. Seine Läuterung war nicht zu erwarten, hier würde man durchgreifen und neue Verhältnisse schaffen müssen – zudem würde die verblendete Magistra Prishya auch kaum zulassen, dass ihr Protegé ihre, die Graue Gilde verließ. Ach was, sollte er doch zum Teufel gehen, für Neetha würde sich schon jemand finden lassen. Vielleicht der treudumme Kuniswart vom Reifenwasser, der wäre dann zudem erst einmal aus der Nachfolge im Hochmeisteramt entfernt. Und Anchopal? Nun, die vierte Ordensprovinz brauchte gewiß einen neuen Großmeister. Warum
nicht dieser Balthusius, der schien das Herz auf dem rechten Fleck zu haben. Gleich in den nächsten Tagen würde er einmal vorsichtig nachfassen. Erschöpft warf der Hochmeister die Feder aufs Pergament, nachdem er seine Notizen vollendet hatte. Um die Ordensmeister der einzelnen Häuser der Grauen Stäbe würde er sich in den kommenden Tagen kümmern, aber alles in allem sollte die Übernahme der Grauen Stäbe kein Hindernis darstellen, wenn der Weise Rohal erst einmal gesprochen hatte. Beim Gedanken an den Weisen fing Eisenkobers Brust wieder zu schmerzen an. Der Gedanke an den verhüllten Meister füllte ihn wieder mit zwiespältigen Gefühlen, denn so herrlich dessen Rückkehr war, so peinlich war es, dass ausgerechnet einer der dunkelsten Magietheoretiker der Grauen Gilde das vom Weisen gestellte Rätsel gelöst und damit die Rückkehr eingeleitet hatte: Aleya Ambareth aus Thorwal war ein Frevler, der selbst die allmächtigen Götter den Gesetzen der Magie und der Sphären unterworfen sah, ein gefährlicher Wirrkopf, der einmal im Leben über den richtigen Weg gestolpert war. Er wäre eigentlich der nächste Graumagier gewesen, den sich die Wächter Rohals hätten vornehmen müssen, aber wie die Dinge standen, würde er wohl den Schutz des Weisen genießen, bis er sich wieder in seiner ganzen Verblendung zeigte.
Aber es gab noch jemanden, der die Aufmerksamkeit des Ordens verdiente: diese Hure Belizeth Dschelefsunni. Sie hatte ihren eigenen Vater gestürzt, um Herrin der Akademie zu werden, und ihr Auftreten stand dem des Borbraners in nichts nach. Ein lebender Beweis, wohin die Beschäftigung mit der Dämonologie führte, führen musste – zur Verlotterung und dem schleichenden oder jähen Verfall aller sittlichen Werte. Eisenkober seufzte auf und verstärkte unbewusst die Massage über seinem Herzen. Diese schamlose Fleischlichkeit der Dämonenbuhle, die unreine Frivolität, die ekelhafte Lüsternheit, die sie heute unter Beweis gestellt hatte ... Wenn er da an die junge Alvina dachte, die ihm die Götter gesandt hatten. Seine Schülerin war so rein, so unschuldig, ein lebendiges Beispiel dafür, was gut war in dieser Welt, was es zu bewahren und zu schützen galt. Selbst wenn sie in kalten Nächten – und für einen Mann in seinen Jahren waren alle Nächte kalt – seinen erschöpften Leib wärmte, strahlte sie eine Aura der Reinheit und Unverdorbenheit aus, die kein zweites Mal zu finden war. Als er Geräusche aus der Studierstube hörte, die er sich im Nebenraum eingerichtet hatte, erhob er sich misstrauisch und warf den Morgenmantel über. Was hatte das zu bedeuten?
Kaum eine Viertelstunde später lag Nostrianus Eisenkober, der greise Hochmeister der Wächter Rohals, mit eingeschlagenem Schädel am Boden seines Studierzimmers und starb unter den Schlägen seines Mörders. Sein vorletzter Gedanke war das Bedauern, dass von allen Magiern ausgerechnet er nicht mehr die Rückkehr des Weisen Rohal erleben würde, sein letzter, dass es weder das Alter noch sein unzuverlässiges Herz geschafft hatten, ihn umzubringen.
10. Kapitel
Punin, in der zweiten Morgenstunde des 24. Ingerimm 27 Hal
Die Faustschläge, Stockhiebe und Tritte hörten einfach nicht auf, die wütenden Schreie ebenso wenig: »Bringt diese feige Ratte um!« – »Verdammtes Mörderschwein, macht kurzen Prozess mit ihm!« – »Nein, so einfach wollen wir es ihm nicht machen ...« Tarlisin von Borbra wusste weder wo er war, noch was sich hier abspielte – er wusste nur eines: Die Hiebe hatten ihn aus dem Schlaf oder einer Ohnmacht gerissen und er fürchtete um sein Leben. Sein Körper brannte in einem Feuer aus Schmerzen, die mit jedem Herzschlag schlimmer wurden, während das Geschrei weiterging. Warum machte nicht endlich jemand kurzen Prozess mit dem Mörder, bevor er auch ihn umbrachte. Mühsam versuchte der Magier, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihm kaum. Fausthiebe hatten seine Lider dick anschwellen lassen und auf einem Auge sah er nur graue Schleier mit einzelnen blutigen Klecksen. Um sich herum erkannte er einen Wald von Füßen und einige Stöcke, die unbarmherzig seinen Körper trafen. Er versuchte, sich auf den Bauch zu wälzen, doch irgendjemand schien auf seinem Brust-
korb zu knien, sodass die Hiebe wieder und wieder seinen ungeschützten Leib trafen. Mit letzter Kraft wollte Tarlisin die Arme schützend vor den Unterleib ziehen, doch seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Eine Stiefelspitze traf ihn mitten ins Gesicht und das Jochbein zerbrach mit einem widerlichen Knakken. Ein weiterer Schlag traf seinen Magen. Er musste würgen, doch sein Mund war fest mit einem Knebel verschlossen. Das sollte also sein Ende sein, erstickt am eigenen Erbrochenen. Aber es konnte nicht lange dauern, und dann würden wenigstens die unbarmherzigen Schläge und die Schmerzen aufhören. »Sofort aufhören! So geht das nicht!« Eine laute Frauenstimme donnerte über den Platz und sofort brachen die Schläge ab. Tarlisin rang verzweifelt nach Luft und erregte damit die Aufmerksamkeit der Neuangekommenen: »Nehmt ihm sofort den Knebel ab!« Eine zweite, vage vertraute Frauenstimme widersprach: »Das könnt Ihr doch nicht machen. Gerade die Pfeile des Lichts sollten doch wissen, dass es wichtig ist, einen feindseligen Magier zu knebeln.« Die Antwort der ersten Frau war knapp militärisch und duldete keine Widerrede: »Ja. Gerade die Wächter Rohals sollten doch wissen, dass man auch einen Mörder vor Gericht bringen muss und ihn nicht einfach totschlagen kann.«
Ein Mann in weißer Robe löste den Knoten an Tarlisin Hinterkopf, nahm die Mundbinde ab und entfernte den schmutzigen Lappen, den man dem Magier in den Mund gestopft hatte. Er konnte gerade noch ausweichen, ehe Tarlisin seinen Mageninhalt hervorwürgte und dieser sich auf die kostbaren Bodenplatten ergoß. Durch die Schmerzen war der Magier inzwischen in einem eigenartigen Geisteszustand, fühlte sich beinahe schwebend und an dem ganzen Geschehen unbeteiligt. Müßig betrachtete er sein Erbrochenes und erkannte Blumenkohl, von dem er sich fragte, wo und wann er ihn gegessen hatte. Der Kampfmagier kannte diese Anzeichen von anderen: Es konnte nicht mehr lange dauern und sein Geist würde sich, wie von Traumpulver beschwingt, aufmachen und nach einem aufregenden Flug in Borons Hallen um Einlass bitten. Aber das störte ihn wenig, und es gab ohnehin nichts, was er dagegen tun konnte. Angewidert betrachtete Hauptfrau Lanzelind Heilenhorst das Schauspiel. Man hatte die Kommandantin der Eliteeinheit der ›Pfeile des Lichts‹ ohne nähere Angaben in diese Villa am Puniner Goldacker gerufen, während sie eigentlich gerade die Nachtwachen an der Akademie inspizieren wollte. Nun sah sie sich einem Mordfall gegenüber, und das nicht zuletzt
deshalb, weil die Wächter Rohals zu eitel waren, um den dringend angeratenen und freimütig angebotenen Schutz durch die Eliteeinheit der weißmagischen Kriegsakademie zu Beilunk anzunehmen. Sie wies auf den am Boden liegenden Magier und befahl streng: »Helft ihm hoch und gebt ihm einen Schluck Wasser.« Tarlisin wurde auf die Füße gezerrt und nur der eiserne Griff seiner Bewacher hinderte die Knie daran, unter ihm nachzugeben. Seiner Lebensretterin schenkte er ein versonnenes Lächeln, das selbst anhielt, als ein Pfeil des Lichts ihm grob die Kiefer auseinanderzwang, um den Hals einer Feldflasche zwischen seine Zähne zu schieben. Was der Magier nicht trinken konnte, goss ihm sein Bewacher über den Kopf. Der eilig herbeigerufene Medicus konnte nach kurzer Untersuchung bestätigen: »Es geht ihm schlecht und er wird noch lange üble Schmerzen haben, aber er wird überleben. Was hingegen sein Opfer angeht ... Man hat ihm den Schädel nicht einfach eingeschlagen, sondern regelrecht zertrümmert. Der Mörder hat zweifellos mehrfach zugeschlagen, und zwar mit der kleinen Rohalsbüste aus Marmor, die dort drüben liegt. Sie ist mit Blut bedeckt und weist Spuren von Kopfhaut, Schädelknochen und Gehirnmasse auf.« Die grauhaarige, athletische Hauptfrau betrachtete Tarlisin mit einer Mischung aus Verachtung und Abscheu, dann spie sie vor ihm auf den Boden: »Damit wir
uns nicht falsch verstehen, von Borbra: Ich werde mit Freuden eigenhändig Euren Scheiterhaufen anzünden. Aber alles muss seine Ordnung haben und daher werde ich dafür sorgen, dass die Gilde in korrekter Form über Eure verabscheuungswürdige Tat urteilt.« Ihrem Adjutanten befahl sie: »Packt ihn aufs Pferd!« Tarlisins zerschundener Körper wurde vor das Gebäude geschafft und rau, aber kunstfertig auf dem Pferd verschnürt. Der Adjutant blickte ihm drohend ins Gesicht: »Versucht bloß keine Mätzchen, von Borbra, sonst lege ich Euch den Knebel wieder an, verstanden?« Der Magier nickte vorsichtig, sodass der Pfeil des Lichts fortfuhr: »Praios und Hesinde seien gelobt, dass der Weise Rohal zurückkehrt und den Streit zwischen seinen Anhängern beendet, nachdem sich die Anführer nun schon gegenseitig umbringen.« Danach ließ er das Pferd vom Hof führen, hinüber zum Puniner Gefängnisturm am anderen Ende der Innenstadt. Der kalte Wasserguss zuvor und nun die klare, kühle Nachtluft weckten den bereits dem Dasein entgleitenden Magus wieder auf und erlaubten es Tarlisin, seine Gedanken neu zu ordnen. Langsam kehrte die Erinnerung zurück und er erbrach die letzten Reste seines Mageninhaltes.
11. Kapitel
Punin, zur vierten Morgenstunde des 24. Ingerimm 27 Hal
Die vor Übermüdung, Sorge oder am ehesten noch unterdrückter Wut zitternde Convocata Prima Prishya von Garlischgrötz wirkte genau so, als sei sie noch gar nicht im Bett gewesen, habe sich aber gerade hinlegen wollen, als die Nachricht vom Mord sie erreichte. Das machte die erfahrene Magierin jedoch eher noch gefährlicher. Tarlisin versuchte, sich vorsichtig im Stuhl aufzurichten. Es gab wirklich keine Stelle seines Körpers, die nicht niederhöllisch schmerzte. Er befand sich mittlerweile in einer Kammer des Puniner Hungerturmes. Neben der Convocata Prima wirkte die Hauptfrau der Pfeile des Lichts überraschend frisch, als sie fragte: »So, von Borbra. Wie genau ist das Ganze vor sich gegangen?« Tarlisin versuchte, möglichst deutlich zu reden, angesichts seiner zerschmetterten Wange ein fast aussichtsloses Unterfangen: »Magistra, ich habe Schmerzen, könnt Ihr mir nicht bitte irgendwas dagegen geben?« Lanzelind Heilenhorst blieb ebenso mitleidlos wie Prishya von Grangor. »Seid froh, dass Ihr noch
Schmerzen fühlen könnt, von Borbra. Wollt Ihr gestehen oder soll ich Euch direkt zum Inquisitionsturm schaffen lassen?« Der Turm außerhalb der Stadtmauern von Punin wurde von den Geweihten des Herrn Praios geführt – und die Diener des Götterfürsten waren für ihre Feindseligkeit gegenüber jeglicher Zauberei bekannt. Tarlisin schüttelte den Kopf und zuckte zusammen, als bei dieser Bewegung der ganze Körper schmerzte. Vermutlich hatten die Angreifer ihm einige Rippen gebrochen. Aber das war inzwischen kaum noch von Bedeutung: »Ich war gestern Abend mit Magister Olorand von Gareth im ›Einhorn‹. Danach bin ich eine ganze Weile lang allein durch die Straßen gewandert und fand mich plötzlich auf dem Lotosstieg wieder, vor der Villa der Wächter Rohals. Das erschien mir wie ein Fingerzeig des Schicksals, also ging ich hinein, um etwas zu erledigen.« »Ihr wolltet das Desiderat entwenden?«, ertönte die scharfe Stimme der Hauptfrau. »Nein ... ähm ... ja, doch ... eigentlich schon.« Nun mischte sich auch Prishya zum ersten Mal ein. »Magister Tarlisin, Ihr wolltet ein Beweisstück verschwinden lassen?« Eine steile Zornesfalte erschien auf ihrer Stirn. Der Magier wand sich in seinen Fesseln: »Ja, Collega.«
»Was geschah dann?« »Ich hatte das Arbeitszimmer von Meister Eisenkober gefunden und darin nach kurzer Suche auch das Desiderat entdeckt. Seine Absicherungen waren lachhaft. Dann hörte ich Schritte, irgendetwas musste den Alten doch alarmiert haben. Aber er kam zum Glück allein, und während er mich noch anschrie, mich einen Dieb und Borbaradjünger nannte, habe ich die Rohalsbüste von seinem Schreibtisch genommen und ihn im Zorn über sein Spektakeln und meine eigene Unvorsicht getötet. Dann hörte ich draußen vor dem Raum das Getrappel vieler weiterer Füße, also habe ich eilig ein handgroßes Portal in den Limbus geöffnet und den Sphärenschlüssel dort hineingeschleudert.« »Ihr habt was getan?« Die Frage ertönte zweistimmig. Tarlisins Erwiderung klang mehr als kleinlaut: »Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat, aber in diesem Augenblick schien es mir besser zu sein, wenn es niemand besitzt anstatt der Wächter Rohals.« Während die Convocata Prima der Grauen Gilde, entsetzt über den Verlust dieses gefährlichen Artefaktes, zurücksank und die Augen schloss, fragte die Hauptfrau eisig: »Sehe ich das richtig, von Borbra, dass Magister Eisenkober Euch, einen ertappten Eindringling in seinem Hause, lediglich mit Worten angriff, Ihr ihn hingegen sofort getötet habt?«
Der Magier blickte zu Boden: »Ich fürchte, da muss ich zustimmen.« Lanzelind Heilenhorst fragte weiter: »Was geschah dann?« »Eisenkobers Scholarin betrat den Raum und rief die Wachen zu sich. Irgendjemand hat mich überwältigt und bewusstlos geschlagen. Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, wie Ihr aufgetaucht seid und mich gerettet habt.« Als Tarlisin geendete hatte, blickte Lanzelind Prishya eisig an und wies auf das Wahrheitsamulett in Form einer Sonne, das um ihren Hals hing: »Von Borbra hat bei dieser Befragung nicht gelogen. Ich denke, der Fall ist eindeutig.« Die Convocata Prima war leichenblass geworden: »Ich fürchte, so ist es.« Die Hauptfrau fuhr unerbittlich fort: »Wie Ihr sicher wisst, muss sich die Graue Gilde dafür verantworten, dass Magister Tarlisin trotz der schweren Vorwürfe überhaupt auf freiem Fuß und dadurch in der Lage war, in dieser Nacht diese frevelhafte Tat auszuführen.« Die Vorsitzende der Grauen Gilde nickte wortlos, also fuhr Lanzelind Heilenhorst fort: »Auch wenn es kaum einen Zweifel über das Urteil gibt, hat er doch das Recht auf einen ordentlichen Prozess nach den Gildenregeln.
Die Vorbereitungen dazu werden sich noch eine Weile hinziehen und hier in Punin gibt es keine Möglichkeit, einen Gefangenen wirklich sicher festzusetzen. Stimmt Eure Spektabilität als Vorsitzende seiner Gilde mir zu, dass wir von Borbra bis zu seiner Verhandlung nach Al'Muktur schaffen?« Prishya nickte. »Ich denke, dass wir kaum eine andere Möglichkeit haben.« Al'Muktur, ein Tagesritt westlich von Punin, war einst als Palast der Emire von Almada errichtet worden und diente immer noch als Residenz der Grafen von Yaquirtal, aber bekannt war es in erster Linie als eines der gefürchtetsten Gefängnisse in ganz Aventurien.
12. Kapitel
Punin, zur achten Morgenstunde des 24. Ingerimm 27 Hal
Die wohlgeformte Blondine beugte sich über Halef. Der junge Tulamide wollte gerade nach ihren vollen Brüsten greifen, als er eine Stimme hörte, die seinen Namen rief: »Halef?« Er beschloss, die Stimme fürs Erste zu ignorieren, und spielte weiter mit der Schönen. Dann ertönte die Stimme um einiges lauter und näher: »Herr Halef? Seid Ihr wach?« Der junge Sekretär saß sofort aufrecht im Bett. Es dauerte hingegen einen Moment, bis er begriff, dass er offensichtlich geträumt hatte. Seufzend richtete er sich auf und verließ sein warmes Bett. Vermutlich hatte er doch verschlafen, aber es war auch ein zu schöner Abend gewesen. Mit dem Gold seines Herrn hatten sie den besten Wein fließen lassen und sein Vetter Shafir kannte immer einen lauschigen Platz, wo man ungestört blieb. Dass er wirklich für den ebenso verrufenen wie schillernden Tarlisin von Borbra arbeitete, hatte sein Ansehen bei den beiden Dirnen nur noch gesteigert und so hatte er sich in die Brust geworfen und als der engste Vertraute des Ordensgroßmeisters ausgegeben. Das Cape seines Effendis lässig um die Schulter
geschwungen, hatte er die Schönere der beiden – Ayshabeth nannte sie sich – untergehakt und seinem schmollenden Vetter die Rolle des armen Verwandten übrig gelassen. Genug der Erinnerungen! Der junge Tulamide wusch sich hastig und schlüpfte in seine Kleider. Hoffentlich war sein Effendi nicht allzu böse auf ihn, immerhin wollte er ihn ja in ein großes Geheimnis einweihen. Bevor er aus der Türe huschte, steckte sich Halef noch eine Feige in den Mund; wer wusste, ob das nicht sein ganzes Frühstück bleiben würde, wenn der Effendi schon ungeduldig draußen wartete. Der Flur war allerdings leer, also hastete der Sekretär in die Gemächer seines Herrn, bereit für das bevorstehende Donnerwetter: »Verzeiht Eurem unwürdigen Diener, Effendi, mit Freuden werde ich jede Strafe demütig annehmen ... Effendi?« Halef blickte verunsichert auf. Normalerweise unterbrach ihn sein Herr in derartigen Situationen spätestens nach dem dritten Wort. Ob er ihn diesmal wirklich verärgert hatte? Aber das Bett seines Herrn war unbenutzt, das Konventsgewand hingegen lag zerfetzt und verschmutzt darauf hingeworfen. Aber hatte sein Effendi nicht etwas ganz anders angehabt, die Vinsalter Tracht? Natürlich, sonst hätte er ja auch kein Cape mitgenommen.
Meister Tarlisin war anscheinend heute Nacht nicht zurückgekehrt. Halef erinnerte sich an seine Worte, offensichtlich hatte sein auf Freiersfüßen wandelnder Herr vergessen, dass er heute Morgen einen wichtigen Termin hatte, und war bei seiner Dame geblieben. Der Sekretär überlegte, was er nun tun sollte. Das Beste wäre vermutlich, wenn er selbst auf dem Konvent erscheinen und seinen krank darnieder liegenden Herrn entschuldigen würde. Ein entsprechendes Schreiben war rasch verfasst, Halef setzte noch eilig das persönliche Siegel des Großmeisters darunter und verließ den Raum. Erst auf der Treppe stellte er sich die Frage, wer denn dann überhaupt nach ihm gerufen hatte. Da eilte ihm auch schon Meister Ulfried entgegen, der Vizekammerherr der Puniner Ordensniederlassung, der nun als Leiter des Gästehauses fungierte: »Halef, Halef, was trödelt Ihr so! Und das, während Euer Herr eingesperrt im Hungerturm sitzt!« Halef starrte Ulfried fassungslos an: Es war seit Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen, dass Meister Tarlisin wegen einer Rauferei oder eines Zechgelages eingesperrt worden war. Vielleicht hatte er also einen eifersüchtigen Gemahl verärgert. Der junge Tulamide konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen: »Dann haben wir ja ein kleines Problem, aber wir werden es schon lösen.«
Der ältere Mann blickte Halef zweifelnd an. »Ich würde es schon eher als großes Problem bezeichnen, wenn einer unsere Großmeister den Hochmeister der Wächter Rohals umbringt.« Für einen Augenblick hoffte Halef, dass Ulfried in albernes Gelächter ausbrechen und dann alles richtig stellen würde, voller Spott, weil er auf den Streich hereingefallen war. Stattdessen nickte der blonde Ordensmann eifrig: »Das ist zumindest das, was ein Diener bei den Pfeilen des Lichts gegenüber einem von unseren Bediensteten erzählt hat.« Halef versuchte, ganz ruhig zu bleiben. »Weißt du, wohin man ihn gebracht hat?« »Die Pfeile des Lichts haben ihn in einem erbarmungswürdigen Zustand zum Hungerturm geschleppt, heißt es.« Wenn die Pfeile des Lichts daran beteiligt waren, würde es auch der Graue Gildenrat bereits offiziell wissen, also fand die heutige Anhörung vermutlich nicht statt. Halef zerknüllte das nutzlos gewordene Schreiben: »Dann erkläre mir doch mal, wie ich den Weg zum Hungerturm finde.« Der junge Sekretär hatte keinen Blick für die Schönheiten des Theaterviertels, die Schätze des Basars oder die engen Gassen des Yaquirhafens. Während er noch gestern staunend vor den imposanten oder pit-
toresken Gebäuden stehen geblieben war, drehten sich seine Gedanken nun ausschließlich um die Geschehnisse der letzten Nacht. Schon von weitem konnte er im Yaquirhafen die Umrisse des hochaufragenden Hungerturms erkennen. Der Anblick des düsteren Gemäuers, das sich drohend und abweisend über die Lagerhäuser und Kräne erhob, verursachte ihm beinahe Magengrimmen. Aber es musste eine harmlose Erklärung für alles geben. Vor der Wachstube atmete Halef noch einmal tief durch, dann öffnete er ruhig die Tür. Bei seinem Eintreten erhob sich eine Gardistin von ihrem Schemel und blickte ihn abschätzend an. Der junge Tulamide trug kostbare Kleidung von erlesenem Schnitt und mochte durchaus von Stande sein. Dementsprechend höflich wandte sich die Wache nun an ihn: »Wie kann ich Euch helfen, Herr?« Halef lächelte so gewinnend wie möglich: »Ich glaube, Ihr habt hier einen guten Bekannten von mir in Gewahrsam, mit dem ich gerne reden würde.« Die Gardistin grinste: »Nun, wir bekommen eigentlich jede Nacht ein paar Radaubrüder als Gäste. Da ist es natürlich recht aufwendig festzustellen, wer alles hier ist ...« Während die Frau noch sprach, kramte Halef ein Goldstück aus dem Beutel. Die Augen der Wächterin
glitzerten beim Anblick der Dukatenmünze: Man sah der Gardistin ihre Gewissensnöte deutlich an, aber schließlich gelangte sie zu einer Entscheidung. »Folgt mir« – sie blickte Halef bedeutungsschwer an –, »aber die Sache muss unter uns bleiben.« Der nervöse Tulamide stieg vor der Gardistin die steile Treppe empor. Für zwei Goldstücke hatte sie Tarlisins Namen im Gefangenenbuch gefunden und sich bereit erklärt, den Tulamiden zu ihm zu lassen. Die Luft im Turm war feucht und abgestanden. Im Schein der Fackel waren vereinzelte Türen erkennbar. Doch die Wächterin stieg unbeirrbar höher. Fast entschuldigend wandte sie sich an den um Atem ringenden Halef: »Üblicherweise sind unsere Gäste kleine Gauner oder Raufbolde. Wir hatten seit Jahren keinen gefährlichen Magier mehr zu Gast; ich glaube auch nicht, dass er lange bei uns bleibt.« Die Treppe endete vor einer eisenverstärkten Tür. Die Gardistin zog den Riegel zur Seite: »Hier, nehmt die Fackel und versucht keine faulen Tricks.« Halef hörte, wie hinter ihm die Wächterin ihre Waffe zog. Langsam trat er in den stockfinsteren Raum. Das Licht der Fackel warf tanzende Schatten an die Wände. Halef bewegte sich langsam in die angedeutete
Richtung. Im Feuerschein der Fackel erkannte er eine reglos kauernde Gestalt: »Effendi?« Die Gestalt hob langsam den Kopf. »Halef?« »Oh, Effendi!« Ohne auf die Wächterin zu achten, legte Halef die Fackel zur Seite und umarmte seinen Herrn. Bei der Berührung wimmerte der Magus auf, so dass Halef erschrocken zurückfuhr. Im Fackelschein betrachtete er Tarlisin. Die kostbare Seidenkleidung war zerfetzt und mit Blut und Unrat besudelt. Die langen Haare hingen dem Magier wirr übers Gesicht. Man hatte ihm Hände und Füße zusammengeschnürt, so dass er sich kaum bewegen konnte. Halef fühlte sich den Tränen nahe. Langsam beugte er sich über den Magier und strich die wirren Haare zur Seite. Der Anblick des angeschwollenen, kaum erkennbaren Gesichtes ließ ihn zurückfahren. »So deutlich hättest du auch nicht werden müssen.« Tarlisin bemühte sich um einen spöttischen Tonfall: »Lass mich raten – zurzeit sehe ich nicht gerade hinreißend aus.« Halef blickte voller Überwindung in das verwüstete Gesicht des Magiers: »Macht Euch keine Sorgen, Effendi. Ihr werdet Eure Schönheit zurück erlangen. Ein guter Heiler wird alles wieder in Ordnung bringen.« Tarlisin blickte seinen Gehilfen an. »Es ist absolut unbedeutend, Halef. Jetzt zählt nur noch die Tatsache, dass man mich für meine Tat hinrichten wird.«
Sein Sekretär plapperte einfach drauflos: »Ich bin sicher, dass sich alles aufklären wird. Wenn Ihr den alten Eisenkober tatsächlich umgebracht habt, hattet Ihr dafür gute Gründe.« Er zwang sich zu einem Lächeln: »Hört zu, Effendi, ich habe der Herrin Mara versprochen, dass ich gut auf Euch aufpasse. Sie hat mir angedroht, dass sie mich entmannen würde, wenn ich Euch nicht wohlbehalten zurückbringe. Das wollt Ihr Eurem armen Diener doch wohl nicht antun?« Bei der Erwähnung des rothaarigen Wildfangs stöhnte der Magier leise auf. »Ich habe meinen Talisman gestern im Ordensgästehaus vergessen, bei meinen zerrissenen Sachen.« Halef nickte bekümmert. »Ich werde versuchen, ihn Euch zu bringen, Effendi. Und neue Kleidung, diese ist ja völlig ruiniert.« Er lächelte gezwungen: »Da könnte Ihr ja auch das Cape dazu gar nicht mehr gebrauchen, das ich aus der ›Löwin‹ geholt habe.« Tarlisin bemühte sich, die zugeschwollenen Augen etwas mehr zu öffnen. »Mein Cape?« Halef nickte eifrig: »Ja, Effendi, dachtet Ihr denn, ich würde es vergessen? Natürlich habe ich es abgeholt, wie Ihr mich gestern Abend nach unserem Treffen im ›Silberling‹ gebeten habt. Übrigens soll ich Euch noch von unseren Begleiterinnen und meinem Vetter grüßen, sie bedanken sich ganz herzlich für Eure Gabe.«
Tarlisin blickte Halef verwirrt an: »Ich weiß nicht, was du redest. Ich war gestern weder im ›Silberling‹, noch habe ich dich oder deinen Vetter irgendwo gesehen.« Zwischenzeitlich wurden Stimmen auf der Treppe laut. Die Gardistin raunte Halef zu: »Beeilt Euch!« Der junge Tulamide missachtete die drängende Stimme: »Gibt es etwas, was ich Euch beschaffen soll – Kleidung, Verbandzeug ...« Mittlerweile wurde die Tür erneut geöffnet, und fünf Pfeile des Lichts betraten den Raum. Der Anführer der Pfeile blickte sich um, dann herrschte er die Gardistin an: »Was hat das zu bedeuten? Der Befehl lautete doch ausdrücklich, dass niemand den Gefangenen besuchen sollte?« Halef stellte sich schützend vor seinen Effendi: »Ich bin kein Besucher, sondern der Diener Seiner Spektabilität.« Der Weißmagier betrachtete den Burschen streng: »Gut, dann sag deinem Herrn jetzt Lebewohl.« Der junge Tulamide strich Tarlisin noch einmal über das Haar, bevor dieser von den Pfeilen des Lichts hochgehoben und fortgeschleppt wurde, wo schon ein Fuhrwerk wartete. Das helle Tageslicht zeigte in unbarmherziger Deutlichkeit, in welch erbarmungswürdigem Zustand sich der Großmeister der Grauen Stäbe befand.
Trotzdem stießen die vier weißgewandeten Pfeile ihren Gefangenen grob in einen vergitterten Käfigwagen. Halef hätte sich am liebsten dazwischen geworfen. Der Sekretär wandte sich an den Adjutanten: »Was geschieht nun mit ihm?« Der Weißmagier blickte den jungen Tulamiden an und entschied, offen sein zu können: »Wir haben Befehl, ihn bis zu seiner Verhandlung nach Al'Muktur zu bringen. Die gesamte Angelegenheit ist zwar eigentlich geklärt und er gehört auf den Scheiterhaufen, aber trotzdem wird er einen ordentlichen Prozess bekommen.« Trotz seiner Überraschung und Verwirrung hatte Halef schon damit gerechnet, dass seinem Effendi ein solches Schicksal drohte, wenn ihm niemand half. Der vergitterte Wagen war bereits lange davon gerumpelt, als Halef ihm noch immer regungslos hinterherstarrte.
13. Kapitel
Punin, zur elften Morgenstunde des 24. Ingerimm 27 Hal
Halef saß an einem der Tische im ›Silberling‹, schaute in seine Teetasse und versuchte angestrengt, seine Gedanken zu ordnen. Auf dem Rückweg zum Ordensgästehaus der Grauen Stäbe war er in dem Lokal eingekehrt, um sich eine kurze Atempause zu gönnen. Dabei konnte er auch zugleich nachfragen, ob sein Effendi wirklich dort gewesen war und er die ganze Sache nicht nur geträumt hatte. Dom Galetti, der Wirt, hatte sich als sehr hilfreich erwiesen: Natürlich war der Großmeister, den er von früheren Besuchen kannte, sein Gast gewesen und hatte überbackenen Blumenkohl in Trüffelsauce und Weißwein verzehrt. Er konnte sogar eine grobe Beschreibung der Begleiterin des Magus geben, die Halef verpasst hatte: eine mittelgroße, braunhaarige Frau ohne irgendwelche besonderen Merkmale, gekleidet in eine weiße Robe und einen grauen Überwurf. »Ich hätte ja gedacht, dass Euer Meister mit so jemandem in Magiertracht eher geschäftliche Dinge bespricht und mit den schönen Frauen in knappen Kleidchen turtelt, aber die schien es ihm mächtig angetan zu haben.«
Statt dass er sich aber über die Gedächtnislücke seines Herrn den Kopf zerbrach, ging Halef noch einmal alles zu Erledigende durch: Er hatte den Wirt befragt und außerdem hatte er an Magister Melwyn Stoerrebrandt, einen der besten Freunde seines Dienstherrn, einen Bittbrief geschrieben. Der junge Sekretär überlegte erneut, ob er einen weiteren Brief an die Dame Mara schicken sollte. Dann entschied er sich dagegen. Sein Effendi wäre wohl eher wieder frei, bevor der Brief das ferne Anchopal erreichte, es wäre also völlig unnötig, die Baronin zu beunruhigen. Als Nächstes sollte er wohl mit Meister Balthusius beraten, wie man den Großmeister am schnellsten aus dieser misslichen Lage befreien konnte – ob vielleicht ein großzügiges Pfand helfen würde und dergleichen. Und dann würde er natürlich seinem Effendi einige Sachen vorbeibringen, denn sein Herr konnte ja nicht in diesen zerfetzten Gewändern bleiben, und Halef bezweifelte, dass man ihn im Gefängnis von Al'Muktur heilen oder auch nur anständig versorgen würde. »Ich bedauere wirklich aufrichtig, Meister Okharim.« Der Justiziar Balthusius von Selem bedachte den Tulamiden mit einem süffisanten Lächeln: »Aber ich kann Euch wirklich nicht weiterhelfen. Seine Spekta-
bilität deroselbst hat mir gestern ausdrücklich das Vertrauen entzogen und verlangt, dass ich mich nicht mehr um seine Angelegenheiten kümmern soll. Gegen den ausdrücklichen Befehl meines Großmeisters kann ich natürlich nicht handeln. Ihr werdet verstehen, dass mir in diesem Falle die Hände gebunden sind.« Halef starrte den Justiziar fassungslos an. »Aber das galt doch wohl nicht für diese Lage! Versteht doch, es ist ein Notfall!« Balthusius reckte sich und betrachtete den aufgeregten Sekretär. »Es tut mir leid, aber der diesbezügliche Befehl meines Vorgesetzten war absolut unmissverständlich. Ich werde nicht derjenige sein, der an klaren Regeln herumdeutelt und sie je nach der jeweiligen Situation zu verbiegen versucht.« Der junge Tulamide griff nach der Hand des Justiziars. »Bitte, er braucht Eure Hilfe!« Balthusius entwand sich ihm. »Habt Ihr eine diesbezügliche schriftliche Anweisung Seiner Spektabilität?« Der Sekretär zuckte mit den Schultern: »Nein, natürlich nicht. Er wäre ja gar nicht in der Lage gewesen zu schreiben, so wie man ihn zugerichtet hat.« Der Justiziar hob eine Augenbraue: »Man hat ihn misshandelt? Das ist eigentlich nicht statthaft, sofern es nicht zu seiner Verhaftung nötig war. Das solltet
Ihr seinem Verteidiger mitteilen, aufgrund dieser Tatsache könnte man in der Verhandlung einen Vorteil für Seine Spektabilität aushandeln. Mit etwas Geschick erreicht man vielleicht, dass er gnadenhalber erdrosselt wird, bevor man ihn verbrennt. Aber nun entschuldigt mich bitte, ich habe noch andere wichtige Dinge zu erledigen, die sich auf die Berufung einer Vertretung Seiner Spektabilität im Amt des Ordenssprechers beziehen.« Nach dem Gespräch mit dem Justiziar fühlte sich Halef erneut mutlos. Nun, am besten wäre es wohl, wenn er erst einmal ein paar Dinge für seinen Herrn zusammenstellte und sich um eine Besuchserlaubnis für Al'Muktur bemühte.
14. Kapitel
Bei Al'Muktur, zur fünften Abendstunde des 24. Ingerimm 27 Hal
Die frühsommerliche Sonne strahlte vom wolkenlos blauen Himmel, eine sanfte Brise sorgte für angenehme Kühle und die Vögel trällerten ihre Werbung an die Auserwählte. Es war ein Tag wie geschaffen für eine Reise in einer offenen Kutsche oder um frei wie der Wind auf einem Pferderücken dahin zu galoppieren. Die Fahrt in einem vergitterten Karren passte allerdings überhaupt nicht zu diesem Bild. Das Fahrzeug ähnelte einem stabilen Reisewagen, besaß aber einen an allen Seiten geschlossenen Käfig statt des üblichen Fahrgastraumes. Die einzige Tür war noch in Punin mit einer Kette versperrt worden. Tarlisin hockte vor sich hindämmernd am Boden des Käfigs und glitt immer wieder zwischen Wachen und Ohnmacht hin und her. Wenn er gerade wach war, versuchte er eine Position zu finden, um seine schmerzenden Glieder zu entlasten. In der rumpelnden Käfigkutsche war das aber ein fast hoffnungsloses Unterfangen. Wenigstens hatten sie mittlerweile die Stadt mit den gaffenden und spottenden Passanten hinter sich gelassen. Zwar war der Kopf des kauernden Magiers
bis auf die Knie gesackt, doch trotzdem hatte man ihn wohl erkannt. Denn vielerorts wurde sein Name geraunt, während vorwitzige Hände versuchten, einen Fetzen seiner Kleidung zu erhaschen. Wenn er überhaupt etwas empfand, dann eine gewisse Erleichterung, dass Mara und die Kleinen ihn nicht so sehen mussten. Tarlisin versuchte erneut, sich die Ereignisse des gestrigen Abends in Erinnerung zu rufen. Wie hatte er sich nur zu einer solchen Wahnsinnstat hinreißen lassen? Und warum musste er dann auch noch in einem Anflug von Jähzorn Eisenkober erschlagen? Selbst als ertappter Dieb wäre er noch einigermaßen glimpflich davongekommen – zumindest wäre er nicht zum Tode verurteilt worden. Er fragte sich, ob irgendwie der Dämonenmeister seine Hand im Spiel gehabt und ihm aus der Ferne einen solch mörderischen Befehl gegeben hatte. Doch wann immer er versuchte, sich an seine Gedanken und Überlegungen zu erinnern, standen ihm nur einige wenige Bilder vor Augen. (Das strenge marmorweiße Gesicht des Weisen Rohals und der zerschmetterte Schädel eines alten Mannes, der im Tode aussah, als sei alle Luft aus ihm entwichen. Er wirkte klein, faltig, und unglaublich verletzlich. Sein Schädel war kaum robuster gewesen als die Schale eines Frühstückseis.) Irgendwann verlor Tarlisin durch die Schmerzen
und das Gerumpel wieder das Bewusstsein und kam erst wieder zu sich, als der Karren über Kopfsteinpflaster ratterte. Es war bereits Abend, und sie hatten den Drachenhof im Inneren des prächtigen Almadinpalastes von Al'Muktur erreicht. Hier ragte der furchtsam gemiedene Glockenturm auf, von dem sich der Sage nach der letzte Emir nach der endgültigen Niederlage gegen das Alte Reich zu Tode gestürzt hatte. Mit einer Spur von Neugier betrachtete der Magier die verzierten Kuppeln und Rundtürme des im Tulamidenstil erbauten Palastes. Zu allen Seiten wurde er flankiert von schattenspendenden Arkadengängen, während das Pflaster des Hofes vom gewaltigen Mosaik eines Kaiserdrachen geziert wurde. Für Besucher war dies gewiss ein angenehmer Ort, allerdings zweifelte Tarlisin daran, dass sich die Kerker hinter den luftigen Arkaden befänden. Der Wagen blieb stehen und der begleitende Pfeil des Lichts wechselte einige Worte mit einem Wachposten. Eine Weile später erschien von irgendwoher ein Schmied und sprengte mit Hammer und Schlageisen ein Glied der Kette an der Tür, danach traten zwei Wachen an den Käfig heran und öffneten ihn. Bewaffnet mit seinem Flammenschwert, wachte der Pfeil des Lichts darüber, dass Tarlisin nichts Überraschendes unternahm.
Mühsam stolperte der gefesselte Magier aus dem Wagen, als auch schon einer der beiden Wächter das kalte Metall eines Halseisens um seine Kehle legte. Im ersten Moment fühlte es sich gar nicht so schlimm an, sogar angenehm auf der brennenden Haut. Wie in einem Traum schien es Tarlisin, als man ihn ins Innere des Hauptgebäudes und dort zum Zellentrakt führte, ihn losband und ihm die zerfetzte, beschmutzte Kleidung wegnahm. Auch die anschließende Schur und die grobe Waschung und die Bekleidung mit einer kratzigen Tunika erschienen ihm seltsam irreal. Schließlich wurde der Magier über weite Wege in eine stinkende, muffige Zelle geschleppt. Während er sich widerstandslos an der Wand festketten ließ, hörte er die bittere und spöttische Stimme einer Frau: »He, Argor, was ist denn das für ein unansehnlicher Vogel, den du mir da anschleppst? Ich hatte doch einen knackigen Jüngling bestellt!« Als der Wärter ihn losließ und mit einer launigen Bemerkung die Zelle verließ, sackte Tarlisin ohne Halt zu Boden und verlor das Bewusstsein.
15. Kapitel
Al'Muktur, in der zweiten Morgenstunde des 25. Ingerimm 27 Hal
Das Klingeln einer verbogenen Triangel schreckte Sylvana aus ihrer viel zu kurzen Nachtruhe auf. Sie erhob sich von dem klebrigen Stroh und versuchte, möglichst wenig von dem muffigen Schimmelstaub einzuatmen, der bei jeder Bewegung aufstieg. Sie trat nach einer Riesenamöbe, die aus einem Spalt in der Mauer geglitten war und nun kürbisgroß zu ihren Füßen hockte. Das Ding zog sich träge zurück, und Sylvana warf nun einen Blick auf ihren neuen Zellengenossen, der jetzt wenigstens still war. Seit man ihn gestern Abend eingeliefert hatte, hockte er regungslos am Boden. Sie hatte einen großen Teil der Nacht vergebens versucht, ihn zu einem Gespräch zu bewegen. Doch statt auf ihre Bemühungen einzugehen, hatte er nur gewimmert, unablässig – und an Schlaf war bei dieser ›musikalischen Untermalung‹ wirklich nicht zu denken gewesen. Schließlich hatte sie ihn angeschrien, er solle, verflucht noch mal, schweigen, aber selbst das hatte nichts geholfen – und natürlich waren die Wachen nur erschienen, um ihr mit Schlägen zu drohen, statt den lärmenden Störenfried zum Schweigen zu bringen.
Nachdem sie nun seit gut vier Wochen hier im Kerker saß, verspürte Sylvana eine unbändige Sehnsucht nach einem Gesprächspartner, sogar ein Pfaffe der Praioskirche wäre ihr mittlerweile recht gewesen. Vermutlich war der Fremde ihrer Sprache überhaupt nicht mächtig, denn von der Hautfarbe her mochte er durchaus ein wilder Waldmensch sein. Im Vergleich zu ihr war der Mann deutlich stärker gefesselt. Sylvana trug eine eiserne Kette um die Leibesmitte, von der eine zweite Kette zu der Stange an der Wand führte. Diese Konstruktion schränkte zwar ihre Bewegungsfreiheit ein, erlaubte ihr jedoch, ein paar Schritte zu gehen – und außerdem gewährte man ihr jeden zweiten Tag bewachten Hofgang. Dem Fremden jedoch hatte man einen Reif um den Leib geschlagen, und seine Handgelenke waren mit sehr kurzen Ketten am Leibring befestigt; außerdem trug er schwere Fußeisen. Sylvana fragte sich, was ihr Zellengefährte wohl angestellt haben mochte, dass man ihn derartig gut sicherte. So wie er zugerichtet war, hatte er sich bei seiner Festsetzung wohl ordentlich gewehrt. Sie ergriff ihre Notdurftschale und trug sie nach vorne an das Gitter zu der kaum kopfgroßen Öffnung. Kurze Zeit später erschienen auch bereits die Wachposten. Einer stieß eine lange Stange durch das Gitter, mit der die Gefangene an die hintere Zellen-
wand getrieben wurde. Dann wurde die Schale entfernt und ein Napf mit Grütze in die Zelle geschoben. Erst wenn die Wärter sich von der Zelle entfernt hatten, durften die Gefangenen sich nach vorn zum Essen begeben. Wer sich vorzeitig bewegte, wurde mit der Stange zurückgetrieben und manchmal übel zugerichtet. Diesen Fehler machten die meisten Neulinge hier, da die Wärter die Gefangenen keineswegs warnten. Sylvana humpelte zur hinteren Wand und beobachtete den Fremden, der weiterhin sitzen blieb. Bei Phex, hoffentlich wurde sie nicht für ihn mit gestraft. Der Wächter stieß ungeduldig mit der Stange nach dem Waldmenschen, bis jener schließlich in die hinterste Ecke kroch und dort wieder seine starre Haltung einnahm. Als sich die Tür wieder geschlossen hatte, eilte Sylvana zu ihrem Essnapf, den sie gierig leerte. Sie blickte zu dem regungslos in der Ecke kauernden Zellengenossen, der sie und seinen Napf keines Blickes würdigte. In der Nacht hatte er kein einziges Mal seine Notdurftschale benutzt, sondern wohl seine Klamotten besudelt, und offensichtlich hatte er auch nicht die Absicht, das Essen anzurühren. Sylvana erinnerte sich an eine Erzählung, die sie einst über einen Waldmenschen gehört hatte: Jener war lieber in der Gefangenschaft verhungert, als von
Weißhäuten Nahrung anzunehmen. Hier in Al'Muktur war Essen indes zu kostbar, um es zu vergeuden. Sylvana blickte erneut zu ihrem Zellengenossen, deutete auf seine gefüllte Schüssel, dann auf sich. Sie war sich zwar nicht völlig sicher, hielt es aber für möglich, dass der Fremde ihr kurz zunickte. Auf alle Fälle protestierte er nicht, als sie sich über sein Essen hermachte. Nachdem Sylvana auch seinen Napf geleert hatte, war sie zum ersten Mal seit Wochen gesättigt. Zufrieden rollte sie sich auf ihrem Strohlager zusammen und versuchte, noch ein wenig zu schlafen.
16. Kapitel
Al'Muktur, zur sechsten Abendstunde des 25. Ingerimm 27 Hal
Es wurde schon allmählich dunkel, als Halef Okharim vor sich die gewaltigen Mauern von Al'Muktur erblickte. Stolz und feindselig wie eine mächtige Festung ragte die alte Palaststadt zitadellenhaft auf einem granitenen Felsplateau im Herzen des sonnetrunkenen Yaquirtales auf; rechterhand umflossen vom Flüsschen Aquen, linkerhand vom Bach Brandenau. Mochte der Ort zu Zeiten der Emire von Almada auch doppelt so groß gewesen sein, erschien Al'Muktur heute nurmehr als ein hoch umtürmtes und mauergepanzertes Städtchen in einem Meer von sanftgrünen Rebhängen und rosafarbenen Mandelblüten, dessen weißgekalkte Häuser sich eng beisammengedrängt an den Fels klammern – wäre da nicht der Sitz der Grafen von Yaquirtal, der gewaltige und prunkvolle Almadinpalast gewesen, der mit seinen Kuppeln, Spitzzinnen und kolossalen Rundtürmen wie eine mächtige, strahlend weiße Krone hoch über der Stadt thronte. Der junge Tulamide hatte am Vortag allerlei Besorgungen gemacht und war bereits seit den frühen
Morgenstunden nahezu ohne Unterbrechung geritten. Er hatte das Gefühl, als ob sein Rücken zerbrechen wollte. Mit schmerzenden Schenkeln trieb er seine Stute noch einmal an. Die Posten am Aslamstor betrachteten abschätzend das schwer beladene Maultier, das er hinterdrein zog: »Für Händler beträgt der Stadtzoll zwei Silberstücke. Ich nehme an, dass Ihr im Gasthaus ›Zur Pfauenfeder‹ von Meister Murabad nächtigen wollt?« Halef überlegte, ob er widersprechen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Vielleicht würden ihm die Wachposten ansonsten gar den Zugang verwehren. Nachdem er den geforderten Obolus entrichtet hatte, schlug Halef den beschriebenen Weg zur Herberge ein. Er konnte nur mit Mühe seine Ungeduld bezwingen, während Meister Murabad, der Wirt, ihm seelenruhig die angemietete Kammer zeigte. Hastig wusch er sich den Staub von der Haut und war wenige Augenblicke später erneut in der Schankstube. Der Wirt kam eilfertig auf ihn zu: »Der Herr wünscht gewiss zu speisen? Wir haben gestern geschlachtet und ganz vorzüglichen Ziegenbraten. Oder vielleicht möchtet Ihr stattdessen eine Taladura, was unsere gute almadanische Eintopfsuppe ist?« Halef winkte ab. »Später vielleicht, ich möchte vorher noch etwas erledigen.«
Meister Murabad zeigte ein wissendes Lächeln: »Auch da kann ich Euch weiterhelfen! Eine Base von mir hat zwei Mägdelein, die eine blond und die andere, ebenso hübsch, dunkel. Sie kennen beide keine größere Freude, als einem schmucken Reisenden beim Abendmahl und auch später noch eine willige Gesellschaft zu sein.« Er bemerkte die ungeduldige Ablehnung auf Halefs Gesicht und fuhr fort: »Falls es Euch nach anderen Früchten gelüstet, sie hat auch noch einen Burschen, schön wie ein junger Alveraniar und sehr gelehrig ...« Halef unterbrach den Wirt, bevor dieser ihm auch noch das Vieh im Stall anbot: »Ihr seid wirklich sehr freundlich, aber eine einfache Auskunft würde ausreichen, um mich zum glücklichsten Mann unter Eurem Dach zu machen.« Eifrig antwortete der Gastwirt: »So sprecht frei heraus, was begehrt Ihr zu erfahren?« »Wie komme ich in den Kerker?« Schon als er es sagte, bemerkte der junge Tulamide seinen Fehler, aber es war zu spät. Der Wirt setzte sein breitestes Grinsen auf und erwiderte: »Ganz einfach, mein Herr. Begeht ein Verbrechen, dann werdet Ihr verurteilt und hineingeworfen, höhö.« Murabad lachte dröhnend über seinen eigenen Witz. Während er sich noch den Bauch hielt, blickte
er sich in der Schänke um. Offensichtlich interessierten sich die übrigen Gäste nicht für seinen geistreichen Humor. Halef verzog das Gesicht zu einem höflichen Lächeln und wartete, bis der Wirt sich wieder beruhigt hatte. Nun noch einmal für die Dümmsten: »Verzeiht, werter Herr, ich habe mich gewiss missverständlich ausgedrückt. Ich möchte einen Freund besuchen, der unschuldig im Kerker sitzt. Gewiss könnt Ihr mir sagen, an wen ich mich wenden muss?« Der Wirt blickte Halef an. Immer noch liefen ihm die Tränen des Gelächters über die feisten Wangen hinunter zu seinem gewichsten Schnurrbart. »Ja, mein Herr, warum habt Ihr das nicht gleich gesagt. Am besten ist es wohl, Ihr versucht Euer Glück in der Wachstube am Schlangentor.« Als Halef die Wachstube erreichte, stellte er schwer atmend sein Bündel ab. Die beiden Gardistinnen blickten bei seinem Eintreten nur flüchtig auf und spielten ungerührt ihr Brettspiel weiter. Der junge Tulamide wartete einige Augenblicke, dann räusperte er sich geräuschvoll. Die etwas Ältere beendete ruhig ihren Zug und erhob sich langsam. »Was will Er?« Der Sekretär reckte sich: »Ich möchte meinen Effendi besuchen, der aufgrund unglücklicher Umstände zur Zeit hier im Kerker sitzt.«
Die Gardistin grinste ihre Kollegin an: »Schon wieder einer, Irmegunde, der nur wegen unglücklicher Umstände im Kerker hockt. Die Richter sollten sich wirklich mehr in Acht nehmen, sonst haben wir nur Unschuldige hier.« Die jüngere Frau trat nun ebenfalls zu Halef. »Wo ist Euer Besuchsschein?« Halef öffnete den in den letzten Tagen arg geleerten Geldbeutel seines Herrn und legte zwei Dukaten auf den Tisch. »Das wird doch bestimmt für die Schreibgebühr reichen.« Die Gardistin Irmegunde schüttelte den Kopf: »Wir sind keine bestechlichen Dorftrottel! Ihr seid hier in Al'Muktur, der alten Residenz der Herrscher von Almada, und Ihr braucht schon eine offizielle Besuchserlaubnis.« Der junge Tulamide blickte die Gardistin mit einem charmanten Lächeln an und hakte nach: »Wo bekomme ich die?« Die ältere Gardistin nahm die zwei Goldstücke in die Hand: »Erst einmal lege ich Euch wegen versuchter Bestechung eine Buße von zwei Dukaten auf. Was den Besuchsschein angeht: Nehmt Euch ein Zimmer in der Herberge und versucht es morgen früh beim Stadtvogt, aber nicht vor der zehnten Morgenstunde.« Während Halef sich noch zähneknirschend be-
dankte, grübelten die Frauen schon weiter über den nächsten Zug.
17. Kapitel
Al'Muktur, zur zehnten Morgenstunde des 26. Ingerimm 27 Hal
An diesem Morgen erschien Halef bereits sehr zeitig, wie es ihm vorkam, in der Wachstube am Schlangentor, dessen eindrucksvolle Reliefs und Fresken den Kampf der Tulamiden gegen allerlei kaltblütige Schuppengeschöpfe darstellten. Zuvor hatte er vor der Amtsstube des Stadtvogts gewartet, war schließlich vorgelassen worden und nachdem auch hier einige Münzen ihren Besitzer gewechselt hatten, hielt der junge Tulamide jetzt den begehrten Besuchsschein in den Händen. In der Wachstube hatten heute zwei andere Gardisten Dienst und diesmal war auch der Kerkermeister anwesend, ein gedrungener Mann in mittleren Jahren. Seine spärlichen Haare waren sorgsam zu einem Zopf geknüpft, den Anzug aus teurem Tuch zierte ein Spitzenkragen. Mit spitzen Fingern nahm er die Besuchserlaubnis entgegen. Nach einer kurzen Untersuchung des Scheins betrachtete er Halef eingehend: »Ihr wollt zu von Borbra? Na gut, wenn der Stadtvogt es gestattet. Scheint in Ordnung zu sein, aber ...« Nach einem kurzen Blick auf Halefs Bündel fuhr er fort: »Wollt Ihr Euch nicht erst einmal ein Quartier
suchen? Ihr könnt aber Euer Gepäck auch bei uns lassen.« Halef lächelte: »Das wird nicht nötig sein. Dies sind nur ein paar Kleinigkeiten für meinen Effendi. Seine Spektabilität ist es nicht gewohnt in derart ... hm ... karger Umgebung zu logieren.« Der Kerkermeister blickte spöttisch auf das voluminöse Bündel: »Ein paar Kleinigkeiten? Das hätte Euer Herr sich überlegen sollen, bevor er ein Verbrechen beging. Dann lasst mal sehen, was Ihr ihm so bringen wollt.« Nachdem der Inhalt des Bündels auf dem Tisch ausgebreitet war, betrachtete der Kerkermeister jeden einzelnen Gegenstand eingehend. »Ein Federkissen und eine Decke, ein Weinschlauch, Tabak, eine Pfeife, Brot, Käse, Nüsse, Äpfel, ein samtener Anzug, Seife, Rosenwasser, Handtücher, eine Bürste, ein Taschenspiegel, eine Nagelfeile. Wirklich sehr originell. Was glaubt Ihr eigentlich, wo wir hier sind? Dies ist nicht Haus Yaquirien, und von Borbra ist auch kein Gast, sondern ein Verbrecher. Was die Nagelfeile betrifft, sollte ich Euch ebenfalls einsperren.« Halefs Blick fiel auf das winzige vergoldete Instrument. Diese Feile als Ausbruchswerkzeug zu betrachten, war wirklich absurd – aber war sollte er tun? Der Sekretär verkniff sich eine bissige Antwort. »Nun« – die Finger des Wächters glitten über den
edlen Stoff, dann entkorkte er den Wein und schenkte sich etwas ein, brach das Brot und den Käse entzwei. »Ihr könnt Eurem Herrn das Brot und den Käse und das Obst bringen. Offensichtlich enthalten sie keine weiteren Werkzeuge. Der Weinschlauch könnte Zaubertrank enthalten. Er ist daher ebenso wie der Rest beschlagnahmt.« »Aber Herr, ich bitte Euch, gönnt meinem Herrn wenigstens sein Bettzeug, er friert so leicht.« Der Kerkermeister schien einen Augenblick zu überlegen. Dann straffte er sich. »Ich denke, wenn Ihr eine Luxusgebühr von einem Dukaten entrichtet, könnt Ihr ihm noch die Decke mitnehmen.« Halef packte das arg geschrumpfte Bündel zusammen, und nachdem wiederum einige Münzen den Besitzer gewechselt hatten, führte man ihn durch das Schlangentor und quer über den Drachenhof zu den Kerkerzellen im Untergeschoss des Palastes. Die Luft war schwer vom Gestank nach saurem Schweiß und Exkrementen. Halef konnte nur mit Mühe die Übelkeit zurückdrängen, er war jetzt geradezu froh, dass er nicht gefrühstückt hatte. Eilig zog er ein mit Zitronenöl beträufeltes Taschentuch hervor und hielt es sich vor die Nase. Der Wächter grinste ihn spöttisch an: »Bisschen strenger Geruch hier, aber glaubt mir, man gewöhnt sich daran. Und wenn man erst einmal die Düfte der
Folterkammer gerochen hat, ist das hier der reinste Wohlgeruch. So, da wären wir.« Halef blickte den Wärter an: »Würdet Ihr mich bitte in die Zelle hineinlassen?« Der Gardist erwiderte den Blick. »Das ist eigentlich gegen die Vorschriften.« Der junge Tulamide zog seine Börse hervor und sprach: »Nun, das verstehe ich. Sagt, könntet Ihr nicht diese Münze einmal hinten bei der Fackel auf ihre Echtheit überprüfen?« »Ich glaube, das könnte ich tun.« Ein weiteres Goldstück wechselte den Besitzer. Die Zellentür wurde geöffnet und hinter ihm geschlossen. Halef schluckte, als er hinter sich die vergitterte Tür klappern hörte. Der Wachposten ging fort und der junge Diener hoffte nur, dass man ihn hier nicht vergessen würde. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die düstere Zelle, die nur durch eine winzige Schießscharte etwas Tageslicht erhielt. Der Raum mochte etwa zweieinhalb Schritt breit und drei Schritt tief sein. An den Wänden rechts und links verliefen lange Stangen, unter denen etwas Stroh aufgehäuft war. Auf dem linken Lager lag eine schlafende, offensichtlich weibliche Gestalt. Der grobe Kittel war verrutscht und bot einen Blick auf den schmutzigen, mageren Körper. Eine weitere Gestalt hockte zusammengekauert in der hinteren rechten Zellenecke. Ha-
lef stellte sein Bündel ab und näherte sich ihr vorsichtig. Von der Statur her konnte es sich durchaus um Tarlisin handeln. Der Mann war mit einer sehr knappen, seitlich geschlitzten Tunika bekleidet und wandte ihm den Rücken zu, sein kahlgeschorener Kopf war mit Schnitten übersät. Halef wusste nicht, ob er seinen Effendi rufen sollte. Er wollte mit ihm sprechen, aber gleichzeitig hatte er Angst davor, ihn anzuschauen. Der Anblick des zerstörten Gesichts seines Herrn verfolgte ihn seit dem Hungerturm, und diesmal konnte der Magier sich nicht hinter seinen Haaren verstecken. Halef zog nun die Kette mit dem Medaillon unter seinem Hemd hervor. Er beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung, das Schmuckstück selber zu tragen, denn der Kerkermeister hätte es vermutlich als Zauberamulett beschlagnahmt. Statt den Gefangenen anzusprechen, beugte sich der Tulamide über ihn und legte ihm die Kette um den Hals. Der Magier drehte sich um und blickte Halef direkt ins Gesicht. »Schön, dich zu sehen.« Unwillkürlich zuckte der Diener zurück: »Effendi, wartet, ich habe etwas für Euch.« Phex sei Dank, dass er daran gedacht hatte, einen Heiltrank aus dem Vorrat des Effendi mitzunehmen. Vorsichtig, damit der Gardist es nicht mitbekam, ließ er ihn aus seinem Ärmel in die Handfläche gleiten, entfernte das Siegel
und schob dann die entkorkte Phiole seinem Herrn zwischen die geschwollenen Lippen. Für den Wächter musste es aussehen, als streiche er ihm nur über die aufgeplatzte Haut. Dann sah er Tarlisin erwartungsvoll an. Nur ein paar Herzschläge nachdem dieser die Phiole geleert hatte, setzte die erwartete Wirkung ein: Die Schnitte verschorften und wurden nur Augenblicke später von frischer Haut überzogen. Die Schwellungen gingen zurück, die zertrümmerten Knochen fügten sich, wie von der Hand eines geisterhaften Medicus gerichtet, wieder zusammen, bis das Gesicht wieder die alten Konturen hatte. Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis die neue Haut die gleiche Tönung hätte, und auch jetzt noch lagen dunkle Schatten unter Tarlisins Augen; die Verletzungen waren jedoch verschwunden. Der Diener betrachtete seinen Herrn zufrieden. Durch den geschorenen Kopf wirkten die schwarzen, von langen Wimpern umrahmten Augen des Magiers riesig und ließen ihn jung und verletzlich erscheinen. Tarlisin senkte den Kopf und strich sich mühsam mit der festgeketteten Linken über den blauschwarz schimmernden Schädel: »Du hast wohl nicht rein zufällig auch ein Haarwuchsmittel dabei, oder? Ich hatte seit der Elevenschule nicht mehr so wenig Haare.« Halef schüttelte ob des spöttischen Tonfalls lä-
chelnd den Kopf. »Nein, tut mir leid. Ich konnte aber ja auch nicht ahnen, dass Ihr vorhattet, Euch eine neue Frisur zuzulegen. Sie sieht aber gar nicht so übel aus.« »Dann ist es ja gut, vor allen Dingen ist sie natürlich pflegeleichter. Keine Probleme mit Ungeziefer und bei Bedarf einfach abzustauben.« Für einen Augenblick vergaßen beide den Kerker und die Situation, in der sie sich befanden, und blödelten ein wenig. Dann wurde Tarlisin wieder ernst: »Ich bin dir wirklich dankbar, Halef, aber in meiner Lage wäre ein schnell wirkendes Gift vermutlich sinnvoller gewesen.« »Wenn es wirklich nötig sein sollte, besorge ich Euch auch Gift, Effendi, aber ich hoffe, dass wir eine Möglichkeit finden, Euch zu befreien. Erzählt mir doch bitte, was vorgestern genau passiert ist, seitdem wir uns getrennt hatten.« Halef lauschte voller Interesse den Ausführungen Tarlisins über den Verlauf der Anhörung und kommentierte sie nur mit ein paar Ausrufen. Nachdem der Magier sich nun seiner Abendgestaltung zuwandte, hakte er noch einmal nach: »Als Ihr das Ordensgästehaus verlassen habt, seid Ihr wo genau gewesen?« »Nun, zuerst war ich wohl eine Stunde in den Madathermen und habe die Dame Demelioë getroffen –
gegen meinen Willen, das kann ich dir versichern –, danach bin ich auf dem Theaterplatz dem alten Olorand von Gareth über den Weg gelaufen und wir haben einen Krug Wein im ›Einhorn‹ getrunken. Als er so um die zehnte Stunde gegangen ist, habe ich mich ebenfalls aufgemacht und bin einige Stunden einfach so herum gestreift, mal da ein Gläschen, mal dort. So um Mitternacht hatte ich schon einiges an Wein und Bier intus, und irgendwie ist da der ganze Ärger auf den Eisenkober wieder hochgekommen. Je später es wurde, umso sinnvoller erschien es mir, den Wächtern Rohals das Desiderat zu stehlen.« Der Magier warf den Kopf in den Nacken, als wolle er seine langen Haare zurückschleudern, Haare, die längst auf weniger als eine Federkielbreite gekürzt waren. Tarlisin lachte verlegen auf und fuhr dann mit seiner Schilderung fort – wie er in die Villa eingedrungen war, das Arbeitszimmer mit dem Desiderat gefunden hatte, von Magister Eisenkober überrascht wurde und ihn tötete, wie er dann das Desiderat in den Limbus schleuderte und von einer Schar der Wächter Rohals überwältigt wurde. »Dann tauchte Hauptfrau Lanzelind auf, sie hat mir das Leben gerettet. Im Nachhinein muss ich sagen, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn sie etwas später gekommen wäre. Es hat zwar verdammt weh getan, aber ich hatte es fast überstanden.« Tarlisin warf erneut den Kopf in den
Nacken und sprach heiser: »O Halef, ich habe wahnsinnige Angst vor dem Scheiterhaufen.« Sein Sekretär versuchte beruhigend zu klingen: »Nach Auskunft von Meister Balthusius besteht die Hoffnung, dass man Euch vorher erwürgt, wenn es denn wirklich dazu kommen sollte.« Tarlisin schluckte. »Na, besten Dank, das ist bestimmt auch nicht gerade angenehm.« Halef betrachtete den Magier nachdenklich, dann gab er sich sichtlich einen Ruck: »Mit Verlaub, Effendi, es fällt mir wirklich schwer, das Ganze zu verstehen. Selbst wenn Ihr einiges getrunken habt, werdet Ihr fürwahr nicht aggressiv – und ich kenne Euch ja nun auch schon etliche Jahre. Ganz im Gegenteil, wenn Ihr betrunken seid, ist es für Eure Umgebung eher schwierig, Euren rührseligen Liebes- und Freundschaftsbeteuerungen zu entgehen.« Tarlisin nickte zustimmend und versuchte, die Hände unters Kinn zu ziehen. Von den Ketten daran gehindert, stieß er einen kurzen Fluch aus und fuhr fort: »Ich weiß, Halef. Du kannst mir wirklich glauben, dass ich diese Überlegung immer wieder selbst angestellt habe. Ich fürchte fast, dass der Sphärenschänder erneut von mir Besitz ergriffen hatte und mich dadurch zu dieser Handlung getrieben hat.« »Das würde zumindest einiges erklären, aber sagt, Effendi, könnt Ihr mir verraten, um wen es sich bei
der stämmigen Magierin mit den braunen Haaren in der Tracht der Wächter Rohals handelt, mit der Ihr gesehen wurdet?« Der Magier schaute Halef verblüfft an. »Ja, das ist Eisenkobers Scholarin Alvina Viburnian Crassula. Magister Olorand hat sie mir gezeigt, aber ich bin ihr den ganzen Abend nicht näher gekommen als zehn Schritt.« »Höchst interessant.« Halef hatte die Worte nur leise geflüstert, aber Tarlisins scharfem Gehör waren sie nicht entgangen. »Was ist daran höchst interessant?« »Nun, Effendi, ich finde es wirklich bemerkenswert ... wenn Ihr Euch mit dieser Frau im ›Silberling‹ zum Mahl trefft und danach offensichtlich die Nacht mit ihr verbringen wollt.« »Halef! Du solltest wirklich wissen, dass ich einen besseren Geschmack habe.« Für einen Augenblick hatte die Stimme des Magiers ihren unbekümmert spöttischen Unterton von früher angenommen, dann fuhr Tarlisin entschieden ernster fort: »Außerdem war ich nicht im ›Silberling‹, mir war nämlich nicht nach Essen zumute. Ich glaube mich erinnern zu können, dass ich dir das schon vorgestern gesagt habe.« »Seht Ihr, Effendi, und da wird das Ganze äußerst seltsam!«, wandte Halef ein. »Ich habe Euch vor drei Tagen am Abend im ›Silberling‹ getroffen, als Ihr ge-
rade auf ›Eure Dame‹ Viburnian Crassula wartetet. Ihr habt mich dann gebeten, Euer Cape abzuholen, das Ihr im ›Einhorn‹ vergessen hattet, Ihr habt mir sogar einen Dukaten zum Feiern gegeben. Den habe ich dann auch entsprechend verwendet. Der Wirt konnte sich vorgestern Morgen gut an Euch erinnern. Ihr habt wohl ein beeindruckendes Trinkgeld gegeben. Aber noch viel bemerkenswerter ist, dass Ihr Eure Begleiterin anhand der Beschreibung aus zweiter Hand erkannt habt, ich selber wusste nämlich nicht, um wen es sich handelt.« Tarlisin blickte Halef zweifelnd an: »Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, dort gewesen zu sein. Und wenn ich länger mit einer Wächterin Rohals geredet hätte, dann wüsste ich das!« »Ihr wart aber nun mal dort, dafür gibt es Zeugen: den Wirt, meinen Vetter Shafir, zwei reizende Damen und mich selbst. Nicht unbedingt die ehrenhaftesten Zeugen, meinetwegen, aber ...« Tarlisin schüttelte sich wiederum. »Ich muss dir glauben, aber begreifen kann ich es nicht. Irgendwie fehlen mir anscheinend Teile meiner Erinnerung – und das hatte ich nicht einmal damals, als der Dämonenmeister ...« Er stockte. »Halef, bitte, du musst versuchen, Magister Olorand herzuholen. Er versteht sich von allen am besten auf so etwas, und wenn ich unter irgendeiner Beherrschung stehe, ist er der Ein-
zige, der mir helfen kann. Das Ganze stinkt geradezu nach einer Falle, aber vielleicht kann ich meinen Hals doch noch retten!« Halef beobachtete seinen Herrn. Die schwarzen Augen des Magiers glommen wie glühende Kohlen, die Apathie war wie fortgeblasen. Zum ersten Mal schien der Magus seine Ketten bewusst zur Kenntnis zu nehmen, während er ausprobierte, wie viel Freiheit sie ihm ließen. Der Sekretär seufzte erleichtert auf. So gefiel ihm sein Effendi schon deutlich besser. Just in diesem Moment erschien der Wärter erneut an der Zellentür und verkündete barsch: »Die Besuchszeit ist zu Ende.« Halef wandte sich an Tarlisin: »Gibt es sonst noch etwas, das ich für Euch tun kann?« Der Magier wollte schon verneinen, dann fiel ihm etwas Dringliches ein: »Ja! Bitte kratz mich am Rükken, genau zwischen den Schulterblättern. Etwas höher. Ahh!« Nachdem Halef schließlich die Zelle verlassen hatte, grübelte Tarlisin über dessen Worte nach. Das, was ihm der Diener erzählt hatte, wollte viel besser zu seinem üblichen Verhalten passen und wenn der Magier seine Erinnerungen zu ergründen suchte, fielen ihm nun auch einige Ungereimtheiten auf.
Nun, da die ständigen Schmerzen verschwunden waren, erinnerte Tarlisins Magen ihn daran, dass er seit Tagen nichts gegessen hatte. Der Magier wandte sich Halefs Bündel zu und beim Anblick der Äpfel wuchs sein Appetit. Doch kaum hatte er eine Frucht hervorgeangelt und herzhaft in die feste Schale und das weiche Fruchtfleisch darunter gebissen, standen die alten Bilder wieder vor seinem Auge. (Eine Marmorbüste, fleckenlos und rein, vor dem roten Gesicht eines alten Mannes. Schon der erste Schlag hatte ihm den weißen Knochen unter der rötlichen Kopfhaut gezeigt und während der Kopf des lebenden Zauberers immer blutiger wurde, sich Hautfetzen und Hirn in die schlohweißen Haare schmierten, hatte auch das Gesicht Rohals immer mehr die blutrote Farbe angenommen.) Tarlisin war im Begriff, das Obst, vor dem ihm plötzlich ekelte, mit einem Fußtritt in die fernste Ecke der Zelle zu stoßen, da erinnerte er sich an seine Zellengenossin. Wie lange mochte sie wohl kein Obst gegessen haben? Er wandte sich der Gefangenen zu. »Magst du einen Apfel?« Die junge Frau starrte den Magier einen Augenblick erstaunt an. »Wo hast du denn deinen hässlichen Bruder gelassen?« Tarlisin verdrängte die blutigen Bilder aus seinem Kopf und grinste gezwungen, als er sich zu einer fidelen Antwort nötigte: »Psst! Der ist geflohen und
dafür sitze ich jetzt hier. Also, willst du nun einen Apfel oder nicht?« Sylvana aß den Apfel, den er vorsichtig zu ihr hinüberrollte, langsam, fast ehrfürchtig, wie bei einer heiligen Handlung. Tarlisin betrachtete die mit geschlossenen Augen kauende Frau. Im Gegensatz zu ihm konnte sie die Arme frei bewegen und dadurch normal essen. Unter all dem Schmutz schien sie eine recht ansehnliche Person zu sein. Er schätzte sie auf etwa Dreißig, ihre schwarzen Haare waren bereits einen Fingerbreit nachgewachsen, ein Zeichen, dass sie offensichtlich schon geraume Zeit hier festsaß. Sie zu betrachten, lenkte ihn von den Erinnerungen in seinem Geist ab. Nachdem seine Zellengenossin den Apfel mitsamt Kerngehäuse vertilgt hatte, leckte sie sich genießerisch den letzten Tropfen Saft aus den Mundwinkeln, dann öffnete sie die Augen und blickte zu Tarlisin: »Danke, das war der köstlichste Apfel, den ich je gegessen habe. Ich heiße übrigens ...« »Sylvana«, fiel ihr der Magier lächelnd ins Wort. Sie versuchte, Tarlisin die Hand entgegenzustrecken, ein hoffnungsloses Unterfangen, da sie viel zu weit voneinander entfernt waren. Sylvana lachte verlegen auf. »Wir sind schon zwei Königskinder. Wie heißt du denn?« Der Magier zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Tarlisin.«
»Wie der ›von Borbra‹?« Sylvana beobachtete ihr Gegenüber lauernd. Tarlisin schenkte ihr sein unschuldigstes Lächeln: »Genau.«
18. Kapitel
Punin, zur sechsten Abendstunde des 27. Ingerimm 27 Hal
»Eines sage ich dir, Arsinoë, nie wieder! Du, Tochter der Hartrückigkeit, bist ein liebes Geschöpf, aber normalerweise reist mein Effendi in der Kutsche, und er ist ein kluger Mann. Ich Narr aber bin ein gebrochener Krüppel, ich werde bald keinen Schritt mehr gehen können, ohne an die Qualen der Niederhöllen zu denken.« Die braunroten Dächer Punins grüßten bereits den Reisenden, als Halef Okharim so hingebungsvoll fluchte. Ein langer Tagesritt hin nach Al'Muktur und ein zweiter zurück hatten den Sekretär an die Grenze dessen gebracht, was er meinte ertragen zu können. Die geschlossene Bebauung begann bereits eine gute Meile vor der Stadtmauer, denn Punin hatte sich weit über seine alten Grenzen ausgedehnt und dabei auch das Dorf Pendulum verschluckt. Hier lebten Bauern und Viehzüchter, vor allem aber führte der Weg vorbei an der Gladiatorenarena und dem Immanstadion der ›Puniner Skorpione‹. Schon hier fiel dem jungen Sekretär die seltsam verhaltene Stimmung auf: Er musste unwillkürlich an die Redensart von der ›Ruhe vor dem Sturm‹ denken,
als er bemerkte, wie zurückhaltend die Ausrufer blieben, die sonst laut brüllend den Fremden Elfenbeinbillets für die nächste Darbietung verkaufen wollten. Das ganze Volk wirkte bedächtig wie in Erwartung besonders guter oder schlechter Neuigkeiten. Auch die Torwächter am Al'Mukturer Tor wirkten irgendwie verstört. Sie hatten die seltsame Stimmung wohl bemerkt, die von der Innenstadt ausging, doch auch sie kannten die genaue Ursache nicht. Nur ein junger Korporal, der schon einmal mit Halef gewürfelt hatte, wagte einen Vergleich: »Es ist wie damals, als die Nachricht vom Verschwinden unseres Kaisers Hal nach Punin kam. Anfangs wusste ja auch nur der Kronverweser in der Kanzlei davon, dann die Herrschaften in der Akademie und schließlich sickerte es bis zu uns durch, als die Geweihten davon sprachen. Gehört habe ich ja, ein goldener Drache sei mit dem Weisen Rohal auf dem Rücken im Garten der Akademie gelandet.« Die Eisenstraße war jedenfalls herrlich geschmückt. Schon als Halef aufgebrochen war, hatten die vorbereitenden Arbeiten begonnen, und inzwischen waren sie weitgehend abgeschlossen: Ein seidenes Spruchband hing quer über der Straße und verkündete in Kusliker Zeichen und Magierschrift: »Punin grüßt Rohal den Weisen.« Irgendjemand hatte sich daran erinnert, wie sehr der
Weise angeblich Blumen gemocht hatte, und so standen zusätzliche Vasen und Töpfe auf Säulen am Rande der Straße – nicht allzu viele, aber Halef vermutete, dass die Stadt auch die übrigen Straßen geschmückt hatte, schließlich konnte keiner wissen, welchen Weg der halbgöttliche Magier nehmen würde. Das Ordensgästehaus der Grauen Stäbe aber war verschlossen, und selbst auf sein mehrmaliges Klopfen öffnete niemand. Also gut, wenn alle ihren Posten verlassen hatten, um in der Akademie den Weisen Rohal zu bestaunen, dann konnte keiner von ihm verlangen, dass er etwas anderes tat. Die Stallungen hingegen waren zugänglich, sodass Halef ausgiebig fluchte: Ein vorwitziger Dieb hätte alle Pferde und Esel des Ordens stehlen können. Erst nachdem er seine Stute und das Packtier untergebracht, abgesattelt und versorgt hatte, verschloss er den Stall mit einer schweren Kette und dem Schloss, das dafür vorgesehen war, nun aber achtlos an einem Balken hing. Rohal hin oder her, aber wer glaubte, dass die Rückkehr eines Halbgottes die Diebe aus der Stadt verbannen würde, war bemerkenswert naiv. Aber wenigstens hatten sein Effendi und er herausgefunden, dass mit der Erinnerung seines Herrn und damit seinem Geständnis etwas nicht in Ordnung war. Hoffentlich waren die Convocata der Grauen Gilde und all die anderen Zauberer von der Gegenwart des
Weisen so hingerissen, dass sie ihm den Mord an Meister Eisenkober nicht als Allererstes vorlegten. Eigentlich hätte er sich ja nach dem Ritt ein ausgedehntes Bad in den Madathermen gönnen wollen, aber einen Blick auf den Weisen und seine Bewunderer zu werfen, war durchaus eine Verzögerung wert. Und wenn ohnehin alle in der Akademie waren, dann konnte er sich ebenfalls dorthin begeben, dann würde er bestimmt auch den Collega seines Herrn finden. Eigentlich hatte er als Nichtmagier nicht unbedingt das Recht auf den Zugang zur Akademie, aber ihm als Ordensmitglied würde man wohl kaum den Zutritt verwehren – sofern die Wächter noch nicht allzu viel von den angeblichen Übeltaten seines Herrn gehört hatten und ihn darum besonders aufs Korn nahmen. Für Halef selbst stellte die Rückkehr des Weisen Rohal eher eine weitere Schwierigkeit als ein glückliches Ereignis dar: Vor wenigen Tagen hätte er sich noch gefreut und auf den Augenblick gewartet, an dem er als Sekretär seines Herrn dem Weisen vorgestellt werden würde. Der hätte dann ein paar nette Worte in der Art gesagt, wie leutselige Herrscher und Halbgötter es immer tun, und er, Halef, hätte nicht die Hälfte davon verstanden, weil ihm die Kenntnis der fortgeschrittenen Philosophie dazu fehlte. Jetzt aber erschien ihm der Weise eher wie eine sich
zusammenballende Gewitterwolke, wie ein Beil, das darauf wartet, hinabzustürzen. Immerhin waren der gute Rohal und der böse Borbarad Brüder, und welcher Sterblicher konnte wissen, wie Rohal wirklich war. Es war nun einmal die Art der hohen Herren, ihre Pläne zu verfolgen und die dafür nötigen Opfer zu bringen, ob die Opfer es nun wollten oder nicht. Und wenn schon ein gewöhnlicher tulamidischer Potentat bei der Verfolgung seiner Absichten hunderte und tausende seiner Gefolgsleute herum stieß, wie viele würden es dann bei einem leibhaftigen Halbgott sein, weise hin oder her? Halef hoffte inständig, dass Rohal nett genug war, um sich seines Herrn anzunehmen und sein Problem zu lösen, aber nach allen Geschichten, die er so kannte, wollte Rohal eher, dass sich die Sterblichen selbst halfen, wenn es nicht gerade gegen seinen Erzwidersacher Borbarad persönlich ging. Der junge Tulamide betrat den ebenfalls farbenfroh geschmückten Theaterplatz, als er auf Höhe der mit Blumengirlanden umkränzten Caralussäule ein bekanntes Gesicht erblickte: Magister Falke, der Garether Ordensmeister, lief ohne ein Auge für seine Umwelt über den Platz. Halef hatte gar nicht gewusst, dass der sich stets mit dem Nimbus des geheimnisvollen Unbekannten umgebende Mann ebenfalls in Punin weilte, denn zumindest im Ordensgästehaus hatte er kein Zimmer bezogen!
Halef grüßte als Erster, wie es seinem Stand entsprach: »Habe die Ehre, gelehrter Herr. Bereits wieder unterwegs, trotz des Weisen Rohal?« Der andere schien ihn anfangs weder zu erkennen noch überhaupt richtig wahrzunehmen. Erst nach einem Moment des Zögerns antwortete er bedächtig, ja mit einem fast entschuldigenden Tonfall: »Ach, du bist es, Halef Okharim. Ja, ich konnte einfach nicht bei den anderen bleiben, die Neuigkeiten waren zu erschütternd. All unsere Hoffnungen, all unsere Zuversicht ... Wir haben alle damit gerechnet, dass der Weise die Banner der Magiergilden ergreift und uns voran in den Kampf gegen Borbarad schreitet. Bei den Niederhöllen, es hatte sogar schon das übliche kleinliche Gezänk um die Ämter in seinem Stab eingesetzt. Und nun das ...« Während die Stimme des älteren Magiers ausklang, machte sich ein Gefühl der Kälte in Halef breit. Dass der zurückgekehrte Rohal sich einfach weigern würde, die Magierschaft anzuführen, war gar nicht vorstellbar. Oder hatte ihr Großes Experiment keinen Erfolg gehabt? So musste es gewesen sein. Der Sekretär wusste nicht so recht, was er sagen sollte, versuchte aber, eine ermutigende Antwort zu finden: »Ach, wisst Ihr, gelehrter Herr, ich denke, man sollte den Kopf nicht hängen lassen. Wenn es diesmal nicht geklappt hat, wird es beim nächsten
Mal gelingen. Man muss einfach die Konstellationen der Sterne noch besser berechnen und die Mondphasen mit einbeziehen und dergleichen ... Dann wird auch der Weise zurückkehren.« Hohle Augen wandten sich ihm zu: »Wovon redest du? Oder weißt du am Ende gar nichts? Bist du nicht in dieser Welt gewesen?« Mit leidenschaftsloser Stimme fuhr der ältere Magier fort: »Das Experiment war ein voller Erfolg, der Weise ist zurückgerufen worden, wie er es vor vier Jahrhunderten geplant hatte. Aber er hat nicht geahnt, dass auch sein verfluchter Bruder und Feind zur Stelle sein würde. Borbarad war stärker als Rohal und hat ihn erschlagen, und die sterblichen Zeugen hat er zu einem bestimmten Zweck am Leben gelassen – als Augenzeugen seines Triumphes. Nein, Halef, Rohal ist nicht mehr und wird nie mehr zurückkehren, und nichts und niemand kann den Feind jetzt noch aufhalten.«
19. Kapitel
Punin, zur neunten Abendstunde des 28. Ingerimm 27 Hal
Alvina Viburnian Crassula war mit sich und der Welt überaus zufrieden. Zwar hatte sie nicht unbedingt mit der Nachricht von Rohals Auslöschung gerechnet, doch etwas Ähnliches hatte man ihr schon angedeutet – und sie hatte sich darauf vorbereiten können, genauso wie sie auf alle anderen Eventualitäten vorbereitet war. In einem kühnen Manöver hatte sie nach dem plötzlichen, aber keineswegs unerwarteten Hinscheiden des alten Eisenkobers kraft ihrer Stellung als persönliche Vertraute des Ermordeten die Führung der Delegation übernommen. ›Daheim‹ in Angbar wartete zwar noch der Narr Kuniswart und irgendwo mochte sogar der verrückte Magister Honorald Coldrahan herumspuken, ihr früherer Meister in der Ordensfestung Ysilia. Unwillkürlich musste sie bei dem Wort ›herumspuken‹ lächeln – und dieses Lächeln hätte ausgereicht, um kleine Tiere zu töten und Zimmerpflanzen verenden zu lassen. Der Meister war bei der Einnahme Ysilias sehr gründlich gewesen und heute stand dort kaum ein Stein mehr auf dem anderen.
Sie gab sich den Erinnerungen hin – hier und jetzt konnte sie sich das leisten, denn nachdem sie den Tag lang angemessen über die entsetzliche Nachricht geklagt und unter ihr gelitten hatte, war sie schließlich ›zusammengebrochen‹ und hatte sich zurückgezogen. Aber wehe denen, die nun aufmüpfig werden sollten, am nächsten Tag würde sie gefasster denn je wieder erscheinen und die Zügel erneut in die Hand nehmen. Aber eigentlich rechnete sie kaum mit einem solchen Hindernis, zu gebrochen waren die meisten der anwesenden Narren. Wie sie es in den wenigen Augenblicken der Ruhe gerne tat, griff sie zu Papier und Kohlestift, um zu zeichnen. Über das Motiv brauchte sie sich keine Gedanken zu machen, es konnte nur eines geben. Während ihr Stift über das Papier flog und die vertrauten Linien des Geliebten erscheinen ließ, dachte sie daran, wie gut bislang alles verlaufen war. Der Störenfried saß im Kerker von Al'Muktur, angeklagt und bald wohl hingerichtet für einen abscheulichen Mord. Sie kicherte. Er war in seiner Blindheit direkt in die Falle getappt, immer dem Südweiser nach, den Männer zwischen den Beinen trugen. Ein offener Mord an ihm hätte einen Märtyrer geschaffen und die unvermeidlichen Nachahmer auf die Spur seiner letzten großen Queste gesetzt, so aber war alle Gefahr gebannt. Niemand würde seinen wir-
ren Erzählungen von Dschinnen und Sphärenmagie mehr Glauben schenken, ganz wie der Meister es vorausgesehen hatte. Der Meister. Der Geliebte. Er hatte sie gefunden, als sie sich wie viele andere beim Fall Ysilias in den Wäldern verkrochen hatte, überwältigt von allem, was sie gesehen und erlebt hatte. Als die Gongschläge des Praiostempels mit der geborstenen Kuppel verklungen waren, war auch ihr Glaube verschwunden und Er hatte ihr einen neuen geschenkt. Mehr als das, Er hatte sie genommen und endlich aufgeweckt. Seitdem war sie verwandelt, sah sie die Welt mit anderen Augen. Diese Narren mit ihren Kontrollen! Sie hatte von dem unwürdigen Spektakel gehört, das der Anchopaler und die Rashdulerin vollführt hatten, aber ihr konnte keine Kontrolle etwas anhaben. Als ob alle Diener des Meisters sich auch den Dämonen hingaben! Was brauchte sie das, sie hatte Ihn, er war ihr Herr und Gott. Ein herrischer, fordernder Gott, aber der Einzige, den sie wirklich lieben konnte, der Einzige, der sich ihr je im Fleische offenbart hatte. Die Liebe zu Ihm hatte sie stark gemacht für alles, was Er von ihr verlangte. Sie war sehr zufrieden, dass es dazu nicht gekommen war, aber für Ihn hätte sie sich auch einem Tarlisin von Borbra hingegeben. Sie hätte nur die Augen schließen und an den Geliebten denken müssen. Für Ihn hatte sie sogar den ekelerre-
genden Greis an sich geduldet und törichte zärtliche Worte gemurmelt, wenn er seinen kalten, knochigen Leib an ihren warmen presste, zaghaft ihre spitzen Brüste betastete und dabei von ›Reinheit‹ faselte. Die Gedanken an Seine Kraft und Leidenschaft machten alles erträglich. Halb träumend zeichnete sie und stellte schließlich überrascht fest, dass ihre Hände das Werk von selbst vollendet hatten. Sie blickte in das wunderschöne und fesselnde, aber zugleich völlig unmenschliche Gesicht ihres Meisters und Geliebten, sah die langen, schwarzen Haare und die unnatürlich feingliedrige Gestalt eines eleganten Jünglings. Mochten die anderen Ihn als bärtigen Zauberer darstellen, für ihren Meister war derlei längst nicht mehr die Form, die Ihm gefiel. Früher, vor ihrem Erwachen, hätte sie vielleicht das Bild und dessen unheimliche Ähnlichkeit genutzt, um sich im Bett mit hastigen Bewegungen Befriedigung zu verschaffen, ganz so wie sie es vor Ewigkeiten als blutjunge Novizin mit den so verbreiteten Bildern des Schwertkönigs Raidri Conchobair getan hatte. Derlei lag jetzt weit hinter ihr, sie sparte sich für den Tag auf, an dem Er wieder zu ihr käme – und keines Sterblichen Hände, schon gar nicht ihre eigenen, konnten sich mit der Kunstfertigkeit Seiner
zwölf Finger messen, die ihr Innerstes berührt hatten, um die Frau zu befreien, die dort hinter der Maske der rechtschaffenen und einfältigen Weißmagierin geschlummert hatte. Aber noch musste sie diese Maske aufrecht erhalten, weil Er es so wollte. Irgendwann aber würde Er sie zu sich holen und sie würde Ihn nie mehr verlassen, die sterbliche Frau an Seiner Seite, Seine Kaiserin auf dem Thron über die ganze Welt. Natürlich hatte Er noch andere Geliebte, immerhin war Er ein Gott, aber sie war die Einzige, die auch in Seiner göttlichen Seele etwas zum Klingen brachte. Das hatte Er ihr so viele süße Male gestanden, wenn Er sich aus ihr zurückgezogen hatte und sie erschöpft und voller Schmerzen, aber glücklich neben Ihm lag. Mit dem Seufzen einer verliebten Frau betrachte sie noch einmal das Porträt ihres Gebieters, dann entzündete sie es an der Nachtkerze und sah zu, wie es von den gierigen Flammen verschlungen wurde. Die Maskerade musste gewahrt bleiben.
20. Kapitel
Al'Muktur, zur fünften Abendstunde des 15. Rahja 27 Hal
Tarlisin fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Außenwelt ihn vergessen hatte. Es überraschte ihn, doch sein Sekretär Halef hatte offenbar beschlossen, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Nachdem er einige Tage lang bei jedem Klappern, bei jedem Schritt der Wärter erwartet hatte, dass nun endlich der erbetene Besuch des Olorand von Gareth-Rothenfels erfolgte, wäre er inzwischen froh gewesen, überhaupt irgendetwas zu hören. Nicht einmal die Graue Gilde, die Pfeile des Lichts oder die Wächter Rohals schienen noch etwas von ihm zu wollen. Von außen drang keine Nachricht zu ihm. Einmal hatte er versucht, einen der Wärter um Neuigkeiten zu bitten, doch der hatte nur geschnaubt. Sein Kamerad hingegen hatte einen langen Vortrag gehalten, wie gründlich die Kerker von Al'Muktur doch geführt wurden, indem sie die Gefangenen bei den Hofgängen nicht zusammen führten, so dass sie keine Nachrichten, Ausbruchspläne oder Schmuggelgüter austauschen oder Gewalttaten aneinander begehen konnten. Seit drei Wochen war er inzwischen hier, und er
war heilfroh über die geschwätzige Sylvana, seine schwarzhaarige Zellengenossin mit den leicht schiefen Gesichtszügen. Sie war schätzungsweise dreißig Jahre alt und schon deutlich länger hier als er, fast acht Wochen, und sie hungerte nach Neuigkeiten aus der Welt. Die ersten Tage hatten sie damit verbracht, dass er ihr alle Begebenheiten des letzten Monats erzählt hatte, die ihm eingefallen waren – zumindest die harmlosen, unpersönlichen Teile. Als deutlich wurde, dass dieses Thema beim besten Willen nichts mehr hergab, hatte sie von sich erzählt. Eine Geschichtenerzählerin und Bardin war sie, die als Fahrende durch die Lande streifte und schon das eine oder andere Abenteuer erlebt hatte. Sylvana war nach einem unbedachten Spottgedicht über die Händelsucht und Duellvernarrtheit der almadanischen Adligen vom Grafen von Yaquirtal verhaftet und zu einer hohen Buße verurteilt worden. Als sie die nicht bezahlen konnte, hatte man sie hier eingekerkert und anscheinend vergessen, wie sie befürchtete. Für eine Duellforderung war sie den Geschmähten viel zu minderwertig erschienen. Vieles von dem, was sie als eigene Erlebnisse in der weiten Welt ausgab, klang recht bekannt, und zumindest eine Geschichte hatte er zweifelsfrei mit anderen Hauptpersonen auf dem Basar in Anchopal gehört, aber es vertrieb ihnen die Zeit. Solange ihre
plaudernde Stimme erklang, blieb zumindest die blutige Rohalsbüste im Hintergrund seiner Gedanken, statt sich in voller Größe in seine Sinne zu rücken. Heute jedoch hatte Sylvana sich rundheraus geweigert, etwas zu erzählen. Stattdessen hatte sie davon gesprochen, dass gewiss bald jemand kommen und sie auslösen würde. Die Nacht zuvor war sie es gewesen, die leise geweint hatte, und Tarlisin konnte sich gut vorstellen, wie die Angst an ihr nagen musste. Bei den Göttern, wenn er darüber nachdachte, dass sein Fall der Magierschaft vielleicht einfach so peinlich war, dass sie ihn lieber totschwiegen, als ihn dem Weisen Rohal vorzulegen, sank auch sein Mut vollends. Dann konnte er hier sitzen, hilflos und unfähig zu zaubern, bis er schwarz wurde. (Rohal. Der weise Rohal. Der weiße Rohal, marmorweiß, blutigrot. Weiße Knochen, rotgraues Gehirn. Rot und grau, die Farben des Ordens. Die Farben von Eisenkobers Gehirn.) Auch um solche Bilder zu verdrängen, hatte er Sylvanas Forderung nachgegeben, aus seinem Leben zu erzählen. Ihre Begründung hatte gelautet, dass sie es sich nie verzeihen könnte, in ein paar Tagen den Kerker zu verlassen und dann keine echte Lebensbeschreibung aus erster Hand von dem Mann zu besitzen, der als einer der schillerndsten Magier aller drei Gilden galt.
Also hatte er nachgegeben und von seiner Kindheit in Brabak, der Jugend in Andergast und den ersten Schritten als Abenteurer erzählt, während sie ihn immer wieder unterbrochen und nach weiteren Einzelheiten gefragt hatte. Zum Teil hatte er Gleiches mit Gleichem vergolten und manches lieber ausgeschmückt, als die peinliche Wahrheit zu erzählen – doch wenn sie das merkte, so war es ihr anscheinend gleich. Dabei hatte sie erstaunlich viel über ihn gewusst. Anscheinend war er tatsächlich jemand, von dem selbst die Barden und Moritatensänger erzählten. Selten vorteilhaft, aber immerhin. Tarlisin hatte noch nie zuvor darüber nachgedacht, was man außerhalb der kleinen, dichtgeknüpften Gemeinschaft der aventurischen Gildenmagier über ihn wissen oder denken mochte. Wenigstens schien man noch nicht mit seinem Namen ungezogene Kinder ins Bett zu schicken, aber das mochte noch kommen, wenn es doch zu einem großen Gildenprozess käme. (Weiß wie Schnee, polierter Marmor. Kupferbraune Hände. Weißer Schädel, weiß wie ein Hühnerei. Aber das Innere war nach dem Aufklopfen nicht weiß und gelb, sondern rot und grau.) Tarlisin schüttelte sich in seinen scheuernden Ketten und zwang seine Sinne zurück in die Zelle, wo er immer mehr aus seinem bewegten Leben erzählte.
Sie wurden unterbrochen, als die Wächter ihren abendlichen Rundgang machten und bellend Ruhe befahlen, doch danach nahm Tarlisin auf Sylvanas Drängen den Faden wieder auf und erzählte der jungen, durch eiserne Ketten von ihm getrennten Frau die saftigsten Anekdoten aus seiner wilden Zeit: »Also wurde ich beim Erforschen der Dämonenbrache von diesem aufgeblasenen Inquisitionsrat entdeckt und durch seine Neugier bis aufs Blut gereizt. Es gibt ja solche und solche Praiosgeweihte, aber dieser glaubte nun wirklich, dass sich die Sonne um ihn persönlich drehe. Nun ja, heute täte ich das nicht mehr, aber damals schien es mir nur angemessen, ihm einen minderen Dämonen auf den Hals zu hetzen; was zumindest ein dummes Unterfangen war. Als ich zum zweiten Mal nach Brabak kam, diesmal als Flüchtling mit der ganzen Inquisition auf den Fersen, war ich trotz der Dinge, die ich gesehen und getan hatte, noch ziemlich unschuldig. Einige meiner Studienkollegen in Andergast hatten während der Zeit im Tross der Armee regen Umgang mit Dirnen, aber ich selbst habe mich von derartigen Dingen immer fern gehalten.« Als er Sylvanas ungläubiges Lachen hörte, lachte Tarlisin seinerseits trocken auf. »Es mag unglaublich klingen, aber ich hing damals dem Glauben an, dass ein Magier seine magischen Fähigkeiten verliert, wenn er sich der Lust hingibt. Nun, meine neue
Lehrmeisterin Demelioë hat mir diese Flausen recht schnell ausgetrieben. Sie war gerne bereit, mir Unterschlupf vor meinen Häschern zu gewähren und sich meiner Fortbildung anzunehmen; in jeglicher Hinsicht. Sie war eine strenge Lehrmeisterin, die mich eher in ihr Bett befahl als einlud – aber ich kann nicht sagen, dass es mich nicht faszinierte, was sie von mir verlangte. Außerdem hielt sie mich dazu an, mich zu pflegen und auf mein Äußeres zu achten, beides Dinge, die ich bis zu diesem Zeitpunkt als eher unwichtig betrachtet hatte.« Er lachte erneut. »Eines Abends kam ich nach einem ausgiebigen Bad in meine Kammer zurück, doch als ich mich ankleiden wollte, stellte ich fest, dass all meine Sachen verschwunden waren; nicht dass ich damals viele Kleidungsstücke besessen hätte, Demelioë hat mich in der Hinsicht recht kurz gehalten. Stattdessen lag ein Kleid auf meinem Bett, wie es die jungen Frauen der Gesellschaft trugen. Daneben fand ich auch Schminkfarben.« Tarlisin nahm einen Schluck Wasser. »Ich war inzwischen an die ungewöhnlichen Ideen meiner Lehrmeisterin gewöhnt und beschloss, auf das Spiel einzugehen, also verwandelte ich mich in eine ›Tochter aus gutem Hause‹. Immerhin hatte ich sie auch schon manches Mal mit eben solchen Damen schäkern sehen.
Als ich Demelioës Zimmer betrat, wurde ich von meiner Mentorin schon ungeduldig erwartet. Der Esstisch war bereits für ein festliches Mahl gedeckt, und ich wollte mich voller Vorfreude auf meinen üblichen Platz setzten. Doch Magistra Demelioë schüttelte den Kopf und schickte ihre ›Tarlita‹ auf ein Kissenlager unter der großen Tafel: ›Ich erwarte heute Abend wichtigen Besuch, den früheren Garether Hofmagier Gaius Cordovan Eslam Galotta, und ich muss ihm doch ein standesgemäßes Gastgeschenk anbieten.‹« Es dauerte einen kurzen Moment, bis Sylvana begriffen hatte, was er da erzählte, doch dann trat ein wunderlicher Ausdruck auf ihr Gesicht und sie begann zu lächeln. In dieser Nacht fuhr er dreimal schreiend auf, weil er von seiner Mordtat geträumt hatte. Das war immerhin nur halb so oft wie in den vielen Nächten davor.
21. Kapitel
Punin, zur Mittagsstunde des 17. Rahja 27 Hal
Meister Jonas Ebelrieder blieb unnachgiebig: »Werter Meister Okharim, zu meinem großen Bedauern muss ich Euch mitteilen, dass sich Seine Prinzliche Spektabilität derzeit in einer privaten Sitzung befindet und leider nicht gestört werden kann.« Auf dem aalglatten Gesicht des Privatsekretärs von Olorand von Gareth-Rothenfels war kein Hinweis darauf zu erkennen, dass er und Tarlisins Sekretär dieses Spiel jetzt seit nicht weniger als zwanzig Tagen betrieben. Sofort am Tag nach seiner Rückkehr aus Al'Muktur war Halef in das Hotel Yaquirborn geeilt und hatte um eine Unterredung mit dem Leiter der Exorzistenschule gebeten, wie sein Effendi es gewünscht hatte – und für ihn, den Sekretär, war es eine willkommene Abwechslung gewesen, um etwas zu tun zu haben, während in der Stadt Unruhe und Niedergeschlagenheit um sich griffen. Selbst diejenigen, die nichts von der Zurückrufung des Weisen Rohal wussten, bekamen mit, welch stiller Schrecken auf den magischen Gästen ruhte. Die Konventsbesucher waren alle zum Stillschweigen verpflichtet worden, um die Zweifel und die Mutlo-
sigkeit, die in ihren eigenen Reihen herrschten, nicht auch noch hinauszutragen und das einfache Volk zu verschrecken. Denn die Reaktionen der Magierschaft auf die Neuigkeiten waren schon schwerwiegend genug – und ein jeder unvoreingenommene Beobachter musste befinden, dass das Rückgrat der Zauberkundigen Aventuriens gebrochen schien. Vor allem die Graue Gilde, die mitgliederstärkste der drei Gilden, war von dem Tod ihres ureigensten Schutzpatrons wie zerschlagen. Denn Rohal der Weise und seine mystischen Lehren hatten vor allem unter den Graumagiern zahlreiche Anhänger und so war unter ihnen die Überzeugung am stärksten gewesen, dass er, einmal zurückgekehrt, schon alle Probleme beilegen werde – nicht in der trivialen Form eines Großen Zauberspruches, sondern auf die wichtigste Weise überhaupt: indem er ihnen sagte, was sie zu tun hatten. Demgegenüber waren die Anhänger der Schwarzen Magie weit weniger betroffen – nicht unbedingt, weil sie den Tod Rohals begrüßten, auch wenn das unvermeidlicherweise von dem einen oder anderen gemunkelt wurde, der dann klug daran tat, einige Tage sein Hotel nicht zu verlassen. Doch weil sie von ihren Lehrmeistern dazu erzogen wurden, niemandem außer sich selbst die eigene Rettung zuzutrauen,
hatten sie nie derart gewaltige Hoffnungen auf Rohal gesetzt. Die weißen Magier des Rechten Weges schließlich hatten noch immer die Götter, auf die sie vertrauen konnten. Wenn sie Zuspruch suchten, dann bei den Geweihten des Kirchenkongresses, die sie darin bestärkten, dass die Zuversicht den Göttern gegenüber in jedem Falle wichtiger und richtiger war, als alle Hoffnung auf einen letztlich doch sterblichen Erzmagus aus alter Zeit zu richten. Aus diesem Grunde war der sehr gläubige Magister Olorand auch gefasst genug, um seinerseits den zahlreichen Magiern zu helfen, die nun seinen Zuspruch suchten. Dass er nicht stur die Vorteile der Weißen Gilde pries, sondern sich bemühte, einem jedem auf die ihm angemessene Weise zu helfen, machte ihn auch unter Graumagiern zu einem gesuchten Berater in Fragen seelischer Unruhe. Es war daher nicht überraschend, dass sein Sekretär Ebelrieder die Anfragen gewichtete, und ganz offensichtlich wollte er seinen Dienstherrn davor schützen, vom Vertrauten eines geständigen Mörders behelligt zu werden. Halef hatte in den letzten Tagen alles versucht, was ihm eingefallen war: Er hatte formelle Ersuchen gestellt, er hatte gebettelt, er hatte versucht, Gold sprechen zu lassen, er hatte angedeutet, welche Vorteile die
Gunst seines Herrn oder des Ordens einbringen würde (dabei hatte sein Gegenüber nicht einmal geschmunzelt), er hatte auch nicht versäumt, von gefährlichen Bedrohungen zu munkeln, über die er nur Seiner Spektabilität persönlich berichten konnte. Meister Ebelrieder hatte ihm eiskalt empfohlen, seine Mutmaßungen der Hauptfrau der Pfeile des Lichts mitzuteilen. Am Ende seines Bosparano angelangt, versuchte es Halef nun mit Kumpelhaftigkeit: »Hör doch, Freund. Wir sind doch von der gleichen Sorte, wir versuchen, für unsere Herrschaften das Beste herauszuholen und dabei etwas Glanz auf uns selbst fallen zu lassen. Du hast jetzt drei Wochen lang gezeigt, dass du der Stärkere bist, und das erkenne ich ja auch an. Du hast also schon gewonnen, nun denk auch mal daran, was mein Herr von mir erwartet, und gib mir die Möglichkeit, seinen Auftrag zu erfüllen.« Schon während er sprach, erkannte Halef, dass es wieder nichts helfen würde. Aber auf das Gesicht seines Gegenübers war ein seltsamer Ausdruck getreten, und zum ersten Mal erschien Meister Jonas vage interessiert, als er sich ein paar Finger weit vorbeugte und fragte: »Er bedeutet Euch viel, Euer Herr?« Halef zögerte einen Moment mit der Antwort, ehe er erwiderte: »Selbstverständlich. Er ist ein guter Herr, und ich fühle mich verpflichtet, ihm beim Widerlegen der falschen Vorwürfe zu helfen.« Das war
längst nicht alles, was Meister Tarlisin ihm bedeutete – aber mehr würde er seinem arroganten Gegenüber nicht auf die Nase binden. Die seltsame Krümmung auf Meister Jonas' Lippen war höchstwahrscheinlich der Versuch eines gewinnenden Lächelns, auch wenn sich Halef da nicht sicher war: »Wenn es so wichtig ist, könnte ich mich vielleicht bei Seiner Prinzlichen Spektabilität für Euer Anliegen einsetzen. Wir haben schließlich einiges gemeinsam, wie Ihr ... wie du so richtig gesagt hast. Dafür müsstest du mir aber auch etwas ... hm ... entgegenkommen.« Halef fragte sich gerade, warum um der Götter willen der arrogante Privatsekretär so plötzlich auf seinen zuvor missachteten Bestechungsversuch einging, als sein Gegenüber erneut zu lächeln versuchte, seine kalte, klamme Hand auf die des jungen Tulamiden legte und gurrte: »Ich will doch nichts von dir, was du nicht schon oft für deinen Meister getan hast ...« Im nächsten Augenblick war Halef aufgesprungen und rieb seine Hand an der Weste ab, als wäre sie mit Schleim bedeckt. Im übernächsten Augenblick verfluchte er sich für diese Impulsivität, aber was sollte es – seine Vorfahren waren kühne Krieger des Diamantenen Sultans gewesen, die dem fischigen Tobrier seine kalte Flosse mit dem Krummschwert abgehackt hätten. Na ja, seine sehr fernen Vorfahren.
Wenigstens war die Lage zwischen ihnen nun geklärt und das Herumscharwenzeln hatte ein Ende: »Ich weiß nicht, woher Ihr Eure Lügen bezieht, aber so etwas würde mein Effendi nie von mir verlangen!« Dass er zu Beginn seiner Dienstjahre eine derartige Aufforderung allerdings tagtäglich erwartet hatte, musste er ja nicht ausplaudern. Als er ohne ein weiteres Wort die Kammer des Sekretärs verließ, glaubte er ein leicht boshaftes, triumphierendes Grinsen auf dem Gesicht von Meister Jonas zu sehen. Der Mann wirkte mehr wie ein Sieger als wie ein zurückgewiesener Liebhaber – fast schien es, als hätte der verdammte Fisch mit seinem Antrag die immer gleichen Audienzersuchen radikal beenden wollen, was ihm zweifelsohne geglückt war. Noch lange, nachdem er die von Magister Olorand und seinem Gefolge genutzte Suite im Hotel Yaquirborn hinter sich gelassen hatte, verfluchte Halef sich selbst, den vermaledeiten Ebelrieder, dessen greisen Dienstherrn, den törichten Meister Tarlisin und alle übrigen, die ihm einfielen. Da nun diese Tür zugeschlagen war, wusste er nur noch eine Möglichkeit. Und die war unangenehmer als alles, was ihm schlimmstenfalls von Meister Ebelrieder hätte blühen können: Denn dessen Absichten hätten nur ein paar Stunden seiner Zeit in Anspruch
genommen, was er nun tun musste, konnte ihn hingegen sein ganzes Leben kosten.
22. Kapitel
Al'Muktur, zur vierten Abendstunde des 19. Rahja 17 Hal
Seufzend fuhr Tarlisin von Borbra mit der Schilderung seines Lebens fort. Seit ein paar Tagen ging das nun schon so: Kaum war er morgens erwacht, hatte Sylvana lauthals die Fortsetzung seiner Geschichten gefordert. Und sie hatte ihm sogar einen Teil ihres Breis als Bezahlung angeboten. Bei der mit einem traviagefälligen Appetit gesegneten Frau wollte das etwas heißen. Also hatte er ihr viele Stunden lang halb reuig, halb prahlend von seinen Brabaker Ausschweifungen und dem törichten, frevelhaften Pakt mit der Erzdämonin erzählt und von seiner Begnadigung durch die Göttin Tsa und die Gilde berichtet, von der Zeit, in der er als einfacher Gardist der Grauen Gilde künftig die Prinzipien zu verteidigen hatte, die er so oft gebrochen hatte, und die Gildenfeinde abwehren musste, die wenige Monate zuvor noch seine Kameraden gewesen waren. Seine Gedanken schweiften ab. (Er hatte das Rot und Grau zu verteidigen gegen alle Feinde. Auch gegen die Wächter Rohals in Grau und Weiß. Aber auch sie hatten rote Roben, wenn man ihnen den Schädel aufschlug mit dem Abbild des Weisen, auf den
sich beide Orden beriefen. Rohal blickte ihn an, streng und missbilligend. Er blieb selbst unbewegt, als er immer mehr mit Blut bespritzt wurde und klebrige Hautfetzen von seinem makellos weißen Gesicht herabhingen. Aber es waren ja auch nicht seine eigenen.) Tarlisin zwang seine Gedanken auf die Geschichte seines Lebens zurück. Das andere würde später kommen, kurz vor Schluss. Danach würde es nicht mehr viel zu erzählen geben. Er kicherte, bis er Sylvanas Blick bemerkte und fortfuhr zu erzählen. »Auf einer Mission wurde ich Zeuge, wie ein Überfall wilder Gebirgsstämme das kleine Dorf Borbra am Mhanadi hatte veröden lassen, also schwor ich, den Ort nicht tot daliegen zu lassen, und half einer Schar rechtgläubiger Fasarer, im Namen Tsas das Dorf neu zu begründen. Ich unterstellte das Dorf dem Schutz und der Herrschaft Araniens und erhielt den aranischen Titel eines Barons von Borbra, und wer weiß, vielleicht begann damit auch mein Aufstieg im Orden.« Für einige Augenblicke unterbrach Tarlisin seinen Bericht, um über diese Jahre nachzudenken, in denen alles so einfach, so erreichbar schien. Er dachte an die verschiedenen Ordensämter, die er in jener Zeit inne gehabt hatte. Archivar im Ordenshaus Khunchom, dann Ordenshausleiter in Fasar, schließlich Archivar im Großkapitel der Ordensburg Anchopal; und das
alles im Laufe weniger Jahren. Vor allem aber dachte er an Mara, die wunderschöne, unzähmbare, leidenschaftliche Mara. Sie beide waren wie Wildkatze und -kater; wenn sie zusammen waren, dann flogen die Fetzen, doch ebenso konnten sie nicht voneinander lassen, wenn etwas sie trennte. Obwohl Mara ebenso wenig von travianischer Treue hielt wie er selbst, hatte sie ihm doch vier Kinder geschenkt, von denen er die jüngste, Yarasha, nur aus den Briefen seiner Frau kannte und die er nun wohl auch niemals kennen lernen würde ... Er räusperte sich, um die Fassung zurückzugewinnen, und fuhr dann schnell mit seiner Erzählung fort: »In den Khorambergen oberhalb Borbras hauste jedoch der Chimärenmeister Abu Terfas, der etwa zwei Jahren zuvor einen Pakt mit der Erzdämonin des Chaos eingegangen war. Seine Gegenleistung für die Kraft, mit ein paar Gesten abscheulichste Chimären und Hybriden zu erschaffen, war die Zerstörung des Tsaheiligtums von Borbra durch diese Chimärenhorden, um den Glauben an die Ewigjunge Göttin zu schwächen.« Er seufzte, die Erinnerung wühlte ihn noch immer auf. Dass er außerdem heftig den Druck seiner Blase verspürte – kein Wunder bei all dem Wasser, das er seiner Stimme zuliebe getrunken hatte –, verdrängte er möglichst. Wenn sich einer von ihnen erleichtern musste, kam es auch nach fast vier
Wochen gemeinsamer Gefangenschaft zu peinlichen, beinahe kindischen Szenen. Also fuhr er rasch fort: »Diese Tat und die Verzweiflung der Dorfbewohner weckten in mir längst überwunden geglaubte Wut und Rachsucht. In dieser Stimmung war ich ein leichtes Opfer für alle Einflüsterungen und begab mich, von seltsamen Träumen geleitet, wie ein Opferlamm an den Ort, wo Abu Terfas mich der Erzdämonin opfern wollte, um den Bruch meines einstigen Paktes mit ihr zu rächen und sich bei ihr Liebkind zu machen. Nun, ein Kind der Dämonen ist er geworden, aber anders, als er gehofft hat. Jedenfalls ging ich in ihre Falle, und während ich noch mit dem Schicksal hadernd auf dem Opfertisch lag, bemerkte ich, wie sich etwas ... jemand meines Körpers bemächtigte. Dann ...« Die Stimme des Magus wurde sehr leise. »... merkte ich, wie eine unbeschreiblich mächtige Präsenz mein Bewusstsein verdrängte. Es war der Dämonenmeister selbst. Als Halbgott konnte er ohne Schwierigkeiten die Teile meines Geistes und Gedächtnisses lesen, die sein Interesse fanden. Unsere Nähe war so groß, dass ich Gedankenfetzen von ihm erkennen, seine deutlichsten Gefühle und Begierden wahrnehmen konnte: Zu allererst wollte er die denkbare Störung seiner Pläne ausschließen, die aus dem Ehrgeiz des Abu
Terfas hätte entstehen können. Dazu benutzte er meinen Körper, vollführte die ihm eigene Magie mit meinen Kräften und tötete den Chimärologen. Ich erlebte alles als Beteiligter und Zuschauer zugleich, eh ich das Bewusstsein verlor. Als ich wieder zu mir kam, hatte der Dämonenmeister meinen Schatten entführt und war in seinen Unterschlupf zurückgekehrt.« Tarlisin hielt inne. Eigentlich hatte er eine wesentlich beschönigte Version des Berichtes geben wollen, in der er deutlich heroischer davonkam, aber irgendetwas zwang ihn, bei der Wahrheit zu bleiben. »Ich muss den Göttern dafür danken, dass er sich offenkundig nicht einmal die Mühe machte, mich mit der Manifestation seiner halbgöttlichen Kräfte zur Unterwerfung unter seinen Willen zu bewegen, denn dem hätte ich nicht widerstehen können. Doch dass er mich nur als Werkzeug benutzte und dann einfach zurückließ, rettete mich. Ich habe lange gebraucht, bis ich meinem Verstand wieder traute. Doch ich hatte erkannt, was er zugleich fürchtete und begehrte, ein Ding, das er einst besessen und dann bei seinem Sturz in den Magierkriegen wieder verloren hatte. Borbarads Begehren nach dem, was ich das Desiderat nenne, hat sich unlöschbar in meinem Kopf eingebrannt.« Nachdem Tarlisin geendet hatte, war es eine Weile völlig still im Raum. Schließlich erhob Sylvana die
Stimme, eifrig und voller Neugier: »Und, was ist es? Eine magische Waffe wie das legendäre Schwert Siebenstreich?« Tarlisin schien überrascht, als er von seinen Erinnerungen wieder so jäh in die Wirklichkeit zurückgerissen wurde. Doch er zwang sich, in lässigem Ton zu versetzen: »Nein, eine Art Wunderkugel mit einem mächtigen Geist oder Dämonen darin. Ich habe sie nach langer Suche schließlich gefunden und als ich sie in Händen hielt, bin ich verrückt geworden, habe ihren rechtmäßigen Besitzer erschlagen und die Kugel in die graue Schattenwelt geworfen, damit sie nicht seinen Erben in die Hände fällt. Dafür bin ich hier in den Kerker gesteckt worden und werde wohl auf den Scheiterhaufen kommen. Und jetzt, meine Liebe, muss ich pissen.« Mühsam erhob er sich und bewegte sich in die Ekke zu seiner Schale. Als er sich erleichtert hatte, taten ihm seine groben Worte bereits leid, doch für den Rest des Tages schwieg die sonst so redselige Bardin beleidigt.
23. Kapitel
Punin, zur Mittagsstunde des 20. Rahja 27 Hal
Halef Okharim stand wartend vor der prächtigen Villa am Lotosstieg und schaute müßig zu dem Palazzo drei Gebäude weiter, in dem die Wächter Rohals hausten. Ihr Hochmeister war längst bestattet, und selbst die Grauen Stäbe hatten üppige Blumengaben gesandt, wie sie überhaupt recht kleinlaut und nachgiebig waren, solange sie daran glaubten, eines ihrer hochrangigen Mitglieder habe den Mord auf dem Gewissen. Seitdem Meister Tarlisin in Al'Muktur gefangen saß, war auch sein Diener und Sekretär in Ungnade gefallen – die jüngst vorgenommene Neuvergabe der Gästezimmer, nach der er sich in einer winzigen Kammer über der Tag und Nacht lauten Eisenstraße und das Gepäck Tarlisins auf dem staubigen Dachboden wiedergefunden hatte, war nur ein äußeres Zeichen dafür. Vor allem aber schlug ihm eine so deutliche Kühle entgegen, dass er inzwischen seine Mahlzeiten lieber in einer Taverne einnahm als im Speisesaal des Ordensgästehauses – zumindest solange seine Finanzen es erlaubten, würde er es so halten.
Es war noch nicht einmal so, dass sein Herr keine Freunde in der Magierschaft hatte, die sich für ihn einsetzen würden. Aber leider waren die so hochgestellt, dass sie nach der Kunde von Rohals Tod eilig abgereist waren, um an ihren jeweiligen Wohnorten von der entsetzlichen Wendung zu berichten: Die Abgesandten der Ordensprovinz Vallusa, normalerweise gute Freunde Tarlisins, waren zurückgereist nach Tobrien, ebenso war der gelehrte und diplomatische Melwyn Stoerrebrandt zur Berichterstattung zurückgerufen worden nach Gareth, wo er im Kaiserpalast das Amt des Dritten Hofmagiers bekleidete. Und damit blieb die ganze Sache wieder an ihm, Halef, hängen. Und vor ihm lag jetzt die schwerste Demütigung, die er sich vorstellen konnte: Im heimatlichen Khunchom waren die Okharim eine uralte, einflussreiche, zaubermächtige Sippe, die schon seit ewigen Generationen die Hochmeister der DracheneiAkademie stellte. Hier in Punin hatte es Khadil Okharim, Oberhaupt der Akademie wie der Sippe, auf geheimnisvolle Weise geschafft, für die Dauer des Konvents eine der Villen am Goldacker anzumieten – eine noch prächtigere, als sie der Orden der Wächter Rohals bezogen hatte. Der Handel mit magischen Artefakten aller Art machte die Akademie unwahrscheinlich reich, und die Sippe nicht minder. Mit diesem Geld konnte sich
Khadil alles kaufen, wonach ihm gelüstete – vor allem aber den unerschütterlichen Gehorsam seiner Verwandten, die als seine getreuen Werkzeuge mit wichtigen und einträglichen Aufgaben in Khunchom und ganz Aventurien bedacht wurden. Nur in einem Fall war ihm das nicht gelungen. Mit diesem tröstlichen Gedanken raffte sich Halef auf und pochte an die Eichenholztür der Villa. Hinter dem trüben Milchglasfenster veränderte sich der Schatten, er wurde beobachtet. Nach wenigen Augenblicken öffnete sich dann die Tür und ein überrascht aussehender Diener forderte Halef auf einzutreten: »Junger Herr, kommt doch herein. Ihr habt eine Verabredung mit dem jungen Herrn Shafir?« Eine unbewusst gebaute goldene Brücke, falls Halef doch der Mut verlassen hätte. Aber dann hätte er gar nicht erst herkommen und die ganzen Stufen hinaufsteigen müssen. Er schüttelte also den Kopf und verfiel ins heimatliche Tulamidya: »Lâ lâ, Assar.« Er kannte den stellvertretenden Haushofmeister seit vielen Jahren. »Nein, nein. Ich würde gern mit meinem Onkel sprechen, falls er da ist.« Nicht einmal dessen hatte er sich vorher vergewissern können. Es würde ebenso peinlich sein, wenn Khadil bei seiner Rückkehr von der Akademie erfahren würde, dass sein Neffe kurz hereingeschaut hatte. Aber Assar nickte verwirrt: »Der Hohe Herr ist im
Hause. Wenn Ihr freundlicherweise im Salon Platz nehmen wollt, junger Herr, damit ich ihn benachrichtigen kann ...« Der Salon erwies sich als schwülstig überladenes Zimmer in einem schlechten tulamidischen Stil. Kaum die Art von Einrichtung, die seinem Oheim gefallen konnte, aber die tulamidischen Wurzeln der Almadaner waren schwach und man musste Abstriche machen, wenn ihre Adligen die alten Ahnen nachahmten. Statt seines Onkels war es allerdings sein Vetter Shafir, der nach einigen Minuten den Raum betrat. Der geringfügig Ältere schaute ihn mit so hoch gezogenen Augenbrauen an, dass sie fast in seinen rabenschwarzen Haaren verschwanden. Jemand, der ihn so gut kannte wie Halef, konnte die leichte Röte auf den dunkelbraunen Wangen erkennen. »Ich habe es ja kaum glauben können, was Assar sagte. Vater ist beim Essen und lädt dich ein, sich zu ihm zu gesellen.« Er ging zu Halef hinüber und packte ihn an den Schultern: »Bist du sicher, dass du weißt, was du tust? Dein Hiersein muss er als Provokation betrachten.« Halef zuckte müde die Schultern und schüttelte so Shafirs Griff ab: »Ich bin nicht aus einer plötzlichen Laune hier, wenn du das meinst. Aber er ist der Einzige, der mir einfällt, um mir jetzt noch helfen zu können.«
Shafir nickte: »Es geht um deinen Effendi von den Grauen Stäben, nicht wahr? Ausgerechnet – jeder andere Anlass wäre unproblematischer gewesen.« »Das kannst du wohl sagen. Aber niemand sonst würde meinem Effendi noch helfen können.« »Mag sein. Aber er wird es nicht tun wollen. Nicht für Tarlisin von Borbra. Er ist immer noch enttäuscht, weißt du.« Halef konnte es sich gut vorstellen. Für den Magierpotentaten musste es ein furchtbares Ärgernis sein, wenn jemand aus der Sippe es verschmähte, in seine Dienste zu treten, und lieber einem anderen Zauberer diente. »Du weißt, dass ich es trotzdem versuchen muss. Mein Dienst bei Meister Tarlisin hat für mich immer die Chance bedeutet, etwas von der Welt zu sehen, von der Magie zu erfahren, etwas zu erleben, ohne als Spielstein der Sippe hin und her geschoben zu werden. Damals war mein Herr für mich der Schlüssel zur Freiheit, jetzt muss ich mich gleichermaßen für ihn einsetzen.« Halef lachte spöttisch auf: »Jetzt rede ich schon so, als wäre ich ein Sklave der Sippe gewesen oder so etwas.« Aber im Grunde wusste er, dass er genau das gewesen war, so wie alle anderen im Hause. Selbst Khadil war in vieler Hinsicht nur ein Sklave der uralten Traditionen und Verpflichtungen der Okharim, wie konnte er es also hinnehmen, wenn einer aus der Herde ausbrach?
Shafir straffte sich: »Wie dem auch sei, wir sollten ihn nicht länger warten lassen. Komm mit!« In diesem Moment betrachtete Halef seinen Vetter und gelegentlichen Zechkumpan beinahe mit Mitleid. Er machte sich inzwischen nichts mehr vor: Ihn selbst, einen unmagischen Neffen, gehenzulassen, war für Khadil nur ein Ärgernis gewesen. Aber für seinen drittältesten Sohn, den Zweitältesten Magiebegabten, konnte es niemals ein Entkommen geben. Weil gerade heutzutage die Gefahren gewaltig waren, würde Shafir noch jahrelang als Reserve für seinen älteren Bruder Rashid bereitgehalten werden und beizeiten eine tulamidische Prinzessin heiraten, die der Sippe die magiebegabten Kinder gebären würde, die bei den Okharim so außergewöhnlich häufig waren. Das Speisezimmer war ebenso überladen wie der Salon – nur war es nicht plüschig, sondern eine erdrückende Anhäufung von Elfenbein, Marmor und geschmacklosen Fresken. Auf dem breiten Speisetisch waren allerlei Köstlichkeiten der tulamidischen Küche aufgebaut: In zwei Schüsseln ragten wahre Berge aus goldgelbem Safranreis auf, um die herum unzählige Schalen und Schälchen mit verschiedensten Sorten Fleisch und Gemüse in unterschiedlich gewürzten Soßen gruppiert waren.
Hinter der ganzen Vielfalt thronte der Mann, den zu sprechen Halef gekommen war. Sein Oheim Khadil war ein korpulenter Mann in den späten Fünfzigern, gekleidet in die kostbaren Gewänder eines reichen Tulamiden. Statt einer Robe trug er ein weites goldgelbes Seidenhemd und eine bestickte Brokatweste, dazu gewiss – wenngleich auch im Moment von dem Tisch verdeckt – eine seiner geliebten weiten Bauschhosen und weiche Pantoffeln. Mit seinem geölten pechschwarzen Haar und einem Oberlippenbärtchen, das affektiert zu nennen niemand in der Villa gewagt hätte, war er eine gepflegte, für mancher Leute Augen gar eine leicht närrische Erscheinung. Zum ersten Mal, seitdem er in seinen Diensten stand, fragte sich Halef, ob sein Effendi vielleicht ausgerechnet dem Oheim den Kniff abgeschaut hatte, sein Gegenüber mit dekadentem Aussehen und Verhalten zu täuschen – auch wenn Tarlisin von Borbra sich dabei eindeutig für die Variante des Brabaker Lüstlings entschieden hatte. Khadil Okharim wies mit seiner gepflegten, dicht an dicht mit schweren Ringen bestückten Rechten – sie war noch immer erstaunlich schlank und rank angesichts seiner Leibesfülle – auf den freien Platz ihm schräg gegenüber. »Halef! Du bist gekommen, meinen alten Augen noch einmal eine Freude zu machen. So nimm doch Platz!«
Gemäß den alten Sitten antwortete Halef formell: »Bedauern füllte die Tage, die ich fern von Eurer Gegenwart verbrachte, mein Oheim.« Er nahm Platz und ließ sich von Khadil aus einer goldenen Kanne starken schwarzen Tee in eine zierliche Tasse aus Unauer Porzellan einschenken. Shafir, der nicht zum Sitzen aufgefordert worden war, räusperte sich. Ohne ihm einen Blick zu schenken, sagte der alte Khadil: »Mein Sohn, Licht meiner Tage, sei doch so gut und schaue nach, ob die Briefe für die Akademie bereits geschrieben worden sind.« »Sehr wohl, mein Vater und Gebieter.« Hinter Halef entfernten sich die Schritte seines Vetters. Nun nippte er an dem dunklen, süßen Tee und sprach: »Möge Eure Tafel stets reichlich gedeckt sein.« Khadil nickte bedächtig, als verberge sich eine geheime Wahrheit hinter der Floskel, während er mit einer weitausholenden Geste seinen Gast einlud, sich einen Teller zu nehmen und sich von den Speisen zu bedienen: »Und mögen die Götter dir allezeit Glück und Wohlergehen schenken.« Nachdem er sich eine angemessene Portion auf den Teller geladen hatte, erwiderte Halef: »Ich habe zu jeder Stunde für Euer Wohlergehen gebetet, mein Oheim.« Je nach der Stimmung des alten Mannes, das wusste Halef noch von früher, konnte dieses Duell
der Segenswünsche noch eine Stunde weitergehen. Und wenn er etwas erreichen wollte, musste er mitspielen. Doch nach so vielen Jahren war auch ein Khadil Okharim nicht ganz Herr seiner Ungeduld – und nach einigen weiteren guten Wünschen begann er mit der nächsten Phase: der des Tadels. »Halef, Halef, habe ich es nicht immer gut mit dir gemeint?« »Geliebter Oheim, wer hätte je daran gezweifelt?« Khadil wischte die Erwiderung mit einer knappen Handbewegung hinweg. Jetzt wollte er keine Höflichkeiten hören, jetzt wollte er seinem Ärger Luft machen. »Ich bin ein alter Mann, Halef, Sohn meines Bruders Murad. Zu meiner Zeit folgten wir noch den einfachen Gesetzen der Vorväter. Treue gegenüber der Sippe wurde an die erste Stelle gesetzt.« Er trank von seinem Tee. »Aber die heutige Jugend folgt ihren eigenen Gesetzen, solange sie jung ist. Wenn sie älter wird, wird sie lernen und zu den alten Wegen zurückkehren. Ihr Götter, ist nicht auch der Sohn meines Bruders zu seiner Sippe zurückgekehrt?« Halef neigte das Haupt. »Mein Oheim, ich bin zu Euch gekommen, um in einer Angelegenheit um Eure Hilfe zu bitten, in der nur Ihr mir helfen könnt.« Es stand außer Frage, dass der korpulente Magier das bereits wusste. Er wäre nicht Khadil Okharim gewesen, wenn er nicht allerorten seine Spitzel ge-
habt hätte, die ihm alle wichtigen Neuigkeiten zutrugen. »Sprich, mein Halef. Lass deinen Oheim hören, was dich so bewegt, dass du in den Schoß der Sippe zurückgekehrt bist.« Das Ganze lief immer mehr in die falsche Richtung. »Werter Oheim, ich danke den Göttern, dass sie Euch eine solch überragende Gastfreundschaft gegeben haben, doch muss ich sehr wohl alsbald zu den Leuten meines Ordens zurückkehren, um das Gastrecht bei Euch nicht weiter zu beanspruchen.« Ehe Khadil gegen diese Richtigstellung protestieren konnte, sprach Halef zügig weiter. »Ich bitte Euch um einen Gefallen, den Ihr als Freund und Gläubiger der meisten Magier hier in Punin gewisslich bewerkstelligen könnt: Ich benötige eine Audienz beim Leiter der Akademie Perricum, Magister Olorand von GarethRothenfels. Sein Sekretär verweigert sie mir, als wäre ich ein gewöhnlicher Fellach, und misst dem Namen Okharim keinerlei Bedeutung bei.« Der Appell an den Sippenstolz fruchtete nichts, schien sogar erst den Ärger des Familienoberhauptes anzufachen: »Wie soll der Mann Deinem Sippennamen Bedeutung beimessen, wenn du ihn selbst nicht ehrst. Dein Anliegen dient der Hilfe für diesen Brabaker Magus, mit dem du uns entlaufen bist.« Es war unüberhörbar, wie erzürnt Khadil war. Andererseits, da er echten Zorn stets zu verbergen
verstand, konnte das nur eines bedeuten: Er hatte beschlossen, den wütenden Ahnherrn zu spielen und sich mühselig besänftigen zu lassen. Das würde den Preis in die Höhe treiben, aber wenigsten würde es einen Preis und damit einen Handel geben – zumindest hoffte Halef das. »Wertester Oheim, es ist für mich eine Sache der Ehre, meinem Effendi zu helfen«, antwortete er. »Wenn Ihr zu Euren Mühen auch noch besondere Auslagen habt, werde ich sie selbstverständlich gerne ersetzen, mehr als das.« Doch der Akademieleiter schüttelte nur betrübt den Kopf, so dass die Quaste seines Fez sanft pendelte: »Halef, Halef, was habe ich dir angetan, dass du mich so kränkst? Hier bin ich, dein Oheim Khadil, der dir stets gewogen war. Du aber bist aus Khunchom fortgelaufen in jungen Jahren, mit einem Magus aus einer anderen Stadt. Du hast seitdem nichts mehr von deiner Sippe wissen wollen. All unsere Zuneigung hast du zurückgewiesen, und hast uns gesagt: ›Vergesst eure Liebe, ich brauche sie nicht. Ich bin jetzt ein Diener der Grauen Stäbe, und die sind alles, was ich an Sippe benötige. Wenn ich etwas brauche, wenn ich Hilfe nötig habe, dann geben sie es mir.‹ Aber wo sind sie nun, deine Grauen Stäbe? Deinem Effendi, der einen Mord gestanden hat, musst du helfen, und der übrige Orden tut gar nichts. Ist das die Treue, die
man von seiner neuen Familie bekommt? Und wenn dann alles nicht hilft, dann kommst du zu deinem Oheim und bietest ihm Geld. Halef, ist Familienliebe denn etwas, was man sich kaufen kann?« Halef seufzte. Das würde schwieriger werden als gedacht. Und vermutlich hatte der erfahrene Mann in einem Recht: Die lange Zeit unter den Mittelländern mit ihrer plumpen, fast offenen Käuflichkeit hatte seinen tulamidischen Sinn für Gefallen und Verpflichtungen abstumpfen lassen. »Niemals wollte ich Euch kränken, mein Oheim, die Götter seien meine Zeugen. Doch mein Effendi ist einer verschlagenen Täuschung zum Opfer gefallen, und um seinen Namen von dieser Schuld zu reinigen, benötige ich die Hilfe des Magisters Olorand. Helft mir in dieser Ehrensache, und ich werde Euch nicht allein dankbar sein, sondern Euch auch selbstverständlich helfen, wie es in meinen Kräften steht.« Khadil schien zufriedener: »Das sind Worte, die einem Okharim geziemen. Darf ich dann, um meine alten Tage ein wenig zu erhellen, darauf hoffen, dass du dich in der langen, gesunden und glückseligen Zukunft, die dir die Götter schenken mögen, auf unsere einstige Vereinbarung besinnen, sie achten und ehren wirst?« Die Feilscherei hatte also gerade erst begonnen – denn die ursprüngliche Abmachung war ihren Na-
men nicht wert gewesen, sondern stellte viel eher einen klaren Auftrag dar: Khadil Okharim hatte den jüngsten Sohn seines Bruders dafür ausgesucht, der Diener des Archivars im Khunchomer Ordenshaus der Grauen Stäbe zu werden, eines noch recht jungen, aber schon ziemlich verrufenen Brabakers, dem die Kenner der Gilde trotz seines schlechten Rufes eine beachtliche Karriere im Orden prophezeiten. Halef hatte den Posten angenommen und war bei seinem neuen Herrn geblieben, der inzwischen nicht mehr so neu war. Er war Tarlisin nach Fasar gefolgt, als jener Ordensmeister des dortigen Hauses wurde, und war ihm auch später gefolgt, als er Großmeister der Ordensburg Anchopal wurde. Und in der ganzen Zeit hatte er entgegen den Erwartungen keinen einzigen Bericht über die geheimen Geschäfte der Grauen Stäbe nach Khunchom gesandt. Halef seufzte erneut, diesmal länger und deutlicher, fast als bedaure er die Verwüstungen, die die langen Jahre im Geist seines Onkels angerichtet hatten: »Allerwertester Oheim, mögen die Götter Euch noch lange das Geschenk klarer Vernunft gewähren, das sie nur so wenigen gönnen. Wenn Ihr den Gefallen betrachtet, um den ich Euch bitte, so sagt selbst, welche Erwiderung angemessener ist: Die Zustimmung, künftig über alles zu berichten, was die Grauen Stäbe verborgen halten wollen, oder aber gegen-
über Euch, dessen Gerechtigkeitssinn selbst die Himmlischen rühmen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und ebenso eine Verabredung zwischen einem meiner Genossen in Rang und Stand und einem Eurer Abgesandten zu vereinbaren, wenn Ihr mich darum bittet. O weisester Bruder meines Vaters, Euer Ruf wäre nicht, was er ist, wenn Ihr nicht deutlich sehen würdet, dass das zweite Angebot das gerechtere, das Euren Mühen angemessener wäre.« Halef lehnte sich zurück. Auf die hohe Forderung seines Onkels hatte er mit einer lächerlich kargen Offerte reagiert. Nun würde das regelrechte Feilschen einsetzen. Denn wenigstens früher lief es bei Khadil Okharim immer auf ein Geschäft hinaus. Die Regierung und Verwaltung Khunchoms lag bei Großfürst Selo Kulibin und seinen Wesiren, aber wenn man wirklich etwas erreichen wollte, etwas brauchte, dann musste man sich an Magister Okharim wenden. Der Akademieleiter hatte Mittel und Verbindungen, die die formelle Obrigkeit nicht einmal kannte. Ein seltsames Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Khadil Okharim. Es mochte Zufriedenheit ausdrücken, weil sie die hohlen Phrasen hinter sich gelassen hatten, es mochte die Vorfreude auf eine ordentliche Schacherei unter Tulamiden sein, vielleicht aber war es – Halef gestattete sich diese zuversichtliche Vermutung – auch nur der Stolz, dass ein Spross
der Sippe Okharim auch abseits der Familie nicht zu einem Trottel herangewachsen war, der sich in der ersten Bedrängnis über den Tisch ziehen ließ. Wie überrascht war er dann jedoch, als sich sein Onkel einfach leicht nach vorn neigte und nachfragte: »Du wirst, wenn ich dich darum bitte, einen von mir beauftragten Abgesandten mit jemandem zusammenbringen, der dann von deinem Stand und deinem Rang ist – in deinem Orden oder anderenorts?« Halef nickte vorsichtig: »Das werde ich einmal tun.« Er brauchte das Wörtchen ›einmal‹ gar nicht zu betonen, um zu zeigen, dass es ihm nicht darum ging, eine dauerhafte Bekanntschaft zu arrangieren. Khadil fasste nach: »Und um Gleiches mit Gleichem zu vergelten, wirst du, der Sohn meines Bruders, nicht danach urteilen, in welchem Ruf mein Abgesandter steht? Denn unter denen, die dich nicht kennen und nichts von der Röte des Blutes in deinen Adern wissen, ist auch dein Ruf der eines unerschütterlich treuen Gefolgsmanns eines Mörders, und damit ist er, ich beklage es sagen zu müssen, nicht gerade gut.« Halef bekräftigte: »Ich werde den von Euch Beauftragten behandeln, als kenne ich seinen Ruf gar nicht.« Khadil lächelte erneut. Als er weitersprach, benutzte er die alte tulamidische Formel zum Abschluss ei-
nes Geschäfts: »Ihr Sterne, hört meine Worte, Mond, sieh herab und erkenne einen guten Handel. Wir haben gesprochen und unsere Gebote abgegeben und wir haben gefunden, dass sie zueinander passen wie der Hengst zur Stute, der Wein zum Kelch, der Dolch zur Scheide.« Nun schaute er wieder seinen Neffen an: »Ich frage dich gar nicht, weshalb du denkst, dass du durch ein Gespräch mit Magister Olorand einen geständigen Mörder vor dem Scheiterhaufen bewahren kannst. Das ist deine Sache. Aber wenn du es so willst, dann soll es geschehen. Kehre in deine Wohnung zurück und erwarte meinen Boten, der dir Ort und Zeit Eures Treffens mitteilt.« Halef raffte all seine Kenntnisse alter Formeln zusammen und bedankte sich überschwänglich. Auch wenn es sich nicht um einen Teil des Geschäfts handelte, würde er sofort ein kleines Geschenk der Anerkennung kaufen, um es dem Boten für seinen Oheim mitzugeben. Es war schon übel genug, dass er in den letzten Wochen so fern von den tulamidischen Sitten gelebt und nicht zuvor an ein Mitbringsel gedacht hatte. Khadil war taktvoll genug, nicht noch Salz in die Wunde zu reiben, indem er ihm jetzt ein Gastgeschenk mitgegeben hätte – er beließ es bei einem huldvollen Winken und machte zugleich deutlich, dass die Audienz damit beendet war.
Halef leerte seine Tasse, erhob sich und verabschiedete sich unter Dankesworten. Rückwärts gehend und sich verneigend, verließ er den Raum. Erst als er wieder draußen auf dem Lotosstieg stand, überlegte er, was sein Oheim wieder mehr wissen mochte als er selbst und auf was er sich mit dieser ungewissen Verabredung für irgendeine zukünftige Stunde eingelassen hatte – doch das würden ihm die Götter rechtzeitig offenbaren, und dann war immer noch Zeit, sich zu sorgen.
24. Kapitel
Al'Muktur, zur zehnten Morgenstunde des 21. Rahja 27 Hal
Sylvana war praktisch unersättlich, was neue Geschichten anging. Nach einer schweigsamen Nacht und einem wortkargen Tag, während dessen ihn die unerwünschten Erinnerungen wieder und wieder quälten, hatte er sich bei ihr entschuldigt und sie hatten sich begierig wieder zusammengerauft, da keiner den Gedanken an ein Ende ihrer Gespräche ertragen mochte. (Doch: Eisenkober. Er lag einfach da, auf dem Boden seines Schreibzimmers, mit zerschmettertem Kopf. Aber Tarlisin hätte schwören können, dass er sein eines unzerstörtes Auge immer dann öffnete, wenn die Gespräche der beiden Kerkerinsassen verebbt waren. Wenn er an der Rohalsbüste vorbeischielte, konnte er alles im Blick behalten, was im Zimmer vor sich ging.) Auf diesem Wege lauerte der Wahnsinn. Tarlisin erzählte also pflichtschuldig von seiner Reise in die Gor – die schreckliche Zeit der Alpträume, der Panikanfälle und der tiefen Niedergeschlagenheit, die der Verlust der Kontrolle über Geist und Körper mit sich brachte, hätte er lieber übersprungen, aber dann erzählte er doch davon. Vermutlich war die Bardin sei-
ne letzte Möglichkeit, irgendetwas für die Nachwelt zu erzählen. Also wollte er wenigstens ihr hier die volle Wahrheit berichten. »Damals erfuhr ich von einer Gruppe der Ritter des Golgari, die zum Tafelberg der Gorischen Wüste ziehen wollten. Da ich es für sehr wohl möglich hielt, dass sich das Desiderat ebenfalls in den Ruinen befinden könnte, habe ich mich dieser Gruppe angeschlossen.« Nach einer kurzen Pause der Besinnung fuhr er fort: »Wir haben die Ruinen untersucht und die Toten bestattet.« (Und dann waren die Toten alle bestattet, also musste er neue anfertigen. Wie bei einem geköpften Frühstücksei. Vielleicht saß ein Küken in Eisenkobers weißem Schädel, tot und matschig wie sein Herrchen. Hihi. Und Rohal schaute ihm dabei zu, wie er ihn hochhob und herabsausen ließ, hochhob und herabsausen ließ, immer wieder, wie ein Kind auf dem Rummelplatz. Ob sich der Weise auch amüsiert hatte?) Fast gewaltsam lenkte er seine Gedanken von diesen irrsinnigen Vorstellungen zurück auf die Erzählung, die im Vergleich dazu regelrecht harmlos erschien. Sylvana hatte sich schon an die gelegentlichen Unterbrechungen gewöhnt, wie es schien. Zumindest zeigte sie keine Anzeichen von Furcht. Aber was sollte er ihr auch tun? Der Rest war schnell berichtet – das schreckliche
Ende der Golgariten und seine tollkühne ›Flucht‹, bei der er nach über einem halben Jahr ausgerechnet in der Garether Dämonenbrache erschien. »Wer weiß, vielleicht hat das Sphärenbeben den Zauber irregeleitet und ich bin in der Brache erschienen, weil dort die Grenze zwischen den Sphären sehr dünn und durchlässig ist.« Man konnte trotz des Halbdunkels an Sylvanas Miene ablesen, dass sie anderer Meinung war: »Vielleicht hat dich der Zauber dorthin zurückgeführt, weil da für dich alles begonnen hatte.« Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Eines habe ich jedenfalls anders gemacht als damals: Ich bin schnurstracks zur Stadt des Lichts gelaufen und habe dort im Praiostempel von meinen Erlebnissen erzählt, damit meine Erfahrungen nicht verloren gingen.« Sylvana grinste: »Und dabei bist du nicht dem Inquisitor begegnet, deinem speziellen Freund von damals?« Tarlisin grinste zurück: »Dann säße ich wohl kaum hier – dann wäre ich wohl als Wiederholungstäter verbrannt worden.« Diese unbeabsichtigte Erinnerung daran, dass ihm eben jenes Schicksal jetzt erneut drohte, wischte ihm schnell das Lachen vom Gesicht und ließ ihn ernst mit der Schilderung der nachfolgenden Ereignisse fortfahren: Während er vom Fall
der Stadt Ysilia und den Greueln des Krieges erzählte, traten ihm gar Tränen in die Augen. Als sich diesmal Bilder von Eisenkobers zerschmettertem Kopf in seinem Geist ausbreiteten, konnte er sie ohne Mühe verscheuchen. In jenen Tagen hatte er Schlimmeres gesehen. Auch nachdem sie wiederum vom abendlichen Rundgang unterbrochen worden waren, blieb er wortkarg, so dass Sylvana leise ein Lied anstimmte, um ihn aufzumuntern. Nach wenigen Minuten fiel Tarlisin in den Gesang mit ein und die hoffnungsvolle Weise gegen Krieg und Unterdrückung hallte laut von der Kerkerwänden wider. Und auch wenn sie sich dessen nicht sicher sein konnten, erschien es ihnen doch, als ob selbst die Gefangenen in den Nachbarzellen in den Gesang mit einstimmten.
25. Kapitel
Punin, kurz vor der Mittagsstunde des 22. Rahja 27 Hal
Die Augen des Jonas Ebelrieder weiteten sich, als er sah, wie Halef unbekümmert in die Stube trat: »Ihr wollt Euer Glück erneut versuchen. Haltet Ihr das für klug?« Kein Wort des Grußes, keine Aufforderung, Platz zu nehmen. Halef ließ sich dennoch auf einen der Stühle nieder und nahm sich eine Ausgabe des ›Salamander‹ zur Hand. Das Mitteilungsblatt der Magiergilden erschien während des Konvents allwöchentlich mit einer Sonderausgabe, doch die wichtigste Nachricht verschwieg es: Die Gilden waren übereingekommen, die Neuigkeit vom Tode Rohals geheimzuhalten, so dass die Gazette mit allerlei an den Haaren herbeigezogenem Klatsch und überholten Spekulationen ihre Seiten füllen musste. Was seine Verabredung mit Magister Olorand anging, war Halef sich seiner Sache ganz sicher. Der Bote seines Onkels hatte von der Mittagsstunde gesprochen, und das würde auch stimmen. Ebelrieder straffte sich: »Es ist wirklich sinnlos, dass Ihr hier wartet. Seine Prinzliche Spektabilität hat keine Zeit für Euch und Euer Anliegen.« Die letzten
Worte seines Satzes wurden vom Schlagen der Mittagsstunde im benachbarten Rondratempel übertönt, wie Donnergrollen klangen die tiefen Töne herüber. Wenige Augenblicke später betrat Seine Spektabilität den Raum und blickt sich suchend um: »Sagt, Jonas, ist Meister Okharim schon eingetroffen?« Als er Halef erblickte, trat er auf ihn zu und schüttelte dem Tulamiden herzlich die Hand, als dieser sich erhoben hatte. »Den Göttern zum Gruße. Schön, Euch kennenzulernen, Meister. Ihr müsst mir unbedingt vom Zustand Eures Dienstherrn berichten.« »Den Göttern zum Gruße, Eure Prinzliche Spektabilität. Auch ich bin sehr erfreut und geehrt, Eure Bekanntschaft zu machen. Als er zuletzt bei Euch in Perricum war, konnte ich meinen Herrn nicht begleiten, aber er hat Euch immer in den höchsten Tönen gelobt.« Als Halef einen Seitenblick auf Jonas Ebelrieder warf, fiel ihm die dunkelrote Gesichtsfarbe des Sekretärs auf, die beim nächsten Blick in ein helles Quarkweiß umgeschlagen war. Olorand sah hingegen eher ... grau aus. Sein Haar konnte kaum grauer werden, aber unter den Augen lagen tiefe Schatten und er hatte die ungesunde Gesichtsfarbe eines Menschen, der entschieden zu wenig geschlafen hatte. Er fuhr unterdessen fort: »Ich werde jetzt ein Mittagsmahl im ›Schwarzen Schwan‹ einnehmen. Begleitet mich doch, junger Mann.« Ehe Ha-
lef antworten konnte, hatte der alte Magister schon weitergesprochen, während er scherzhaft tadelnd den Zeigefinger hob: »Es ist aber ziemlich rücksichtslos von Euch, mich erst jetzt aufzusuchen und das auch noch von Eurem Onkel einleiten zu lassen. Ihr hättet Euch doch denken können, dass ich am Fall Borbra interessiert bin, immerhin habe ich mich mit dem Mann noch wenige Stunden vor seiner Bluttat ausgiebig unterhalten.« Halef warf verstohlen einen prüfenden Blick auf den tobrischen Sekretär, der nun völlig farblos war. Wäre es nicht ein herrliches Gefühl, beiläufig zu erwähnen, dass der arrogante Kerl drei lang Wochen dieses Treffen vereitelt hatte? Aber wenn Halef eins von seinem Oheim Khadil gelernt hatte, dann das, dass man sich für diese Art von Rache nichts kaufen konnte. Also ließ er Ebelrieder nur noch ein wenig schwitzen und erwiderte dann beim Verlassen des Raums: »Verzeiht, Eure Spektabilität, aber angesichts Eurer zahlreichen Verpflichtungen nach der Katastrophe wollte ich Euch nicht zu früh lästig fallen.« Danach folgte er Olorand nach draußen, ohne sich noch einmal umzuschauen. Der Weißmagier hatte sich inzwischen einem anderen Thema zugewandt und während sie zum Oberstädter Tor nördlich des Goldackers und weiter zum ›Schwarzen Schwan‹ schlenderten, sprachen sie über
belanglose Dinge – die voraussichtliche Dauer des Konvents, die bereits abgereisten Teilnehmer, ja sogar darüber, welches Wetter in den kommenden Tagen zu erwarten stand. Erst im ›Schwarzen Schwan‹, bei Lammrücken und geschmorten Kartoffeln, brachte Olorand von Gareth das Gespräch wieder auf Tarlisin. Der erfahrene Magister betonte vor allem eines: »Meiner Meinung nach wäre es unsinnig, zu behaupten, dass irgendjemand unfähig wäre, eine Bluttat zu begehen. Und was Euren Meister angeht, ist er als Kampfmagier erst recht dazu imstande. Aber nach allem, was ich an ihm beobachtet habe, erscheint es mir sehr rätselhaft, dass er so kurz nach unserem Abschied dermaßen töricht und unüberlegt gehandelt haben soll – wenn er nicht gerade unter dem Befehl eines anderen stand.« Nach erstem Zögern erzählte Halef ihm alles über die Widersprüche zwischen der Erinnerung Tarlisins und seinen eigenen Beobachtungen und Nachforschungen. Olorand nickte bestätigend. »Ich stimme Euch völlig zu, wenn Ihr vermutet, dass da irgendetwas im Argen liegt. Aber was das ist, kann ich nur erahnen. Zauber zur Verwirrung der Erinnerung sind jedenfalls im Arsenal unseres Feindes sehr verbreitet. Und Euer Meister mag nicht das einzige Opfer einer solchen Formel sein: Denn seit dem abscheulichen Tod
ihres Mentors besucht mich seine Schülerin, die Begleiterin Eures Herrn, nahezu täglich. Und doch hat sie mit keiner Silbe eine Bekanntschaft mit seinem Mörder erwähnt, obwohl wir sehr offen über all ihre Eindrücke und Gefühle reden.« Der Stolz des alten Mannes darüber war unverkennbar. Halef fragte vorsichtig: »Haltet Ihr es für möglich, dass sie gemeinsam mit meinem Effendi in eine Falle der Borbaradianer geriet, etwa als sie sie beim Mord an Eisenkober ertappten, und dass bei beiden eine falsche Erinnerung erzeugt wurde? Bei ihm als Mörder, bei ihr als Zeugin?« Olorand wiegte den Kopf: »Vielleicht. Es kann aber auch ganz anders sein. Bei Boron, bislang stützen wir uns vor allem auf Eure Meinung, dass irgendetwas mit der Erinnerung Eures Meisters nicht stimmt, vielleicht liegt das aber auch ganz einfach an den schweren Schlägen auf den Kopf, von denen Ihr berichtet habt.« Er hob die Hand, als Halef etwas einwenden wollte: »Ich weiß, dazu kommt noch die Tatsache, dass die Dame Alvina ebenfalls nichts von einem gemeinsamen Abendessen samt nächtlichem Rendezvous berichtet. Aber selbst wenn sie wirklich jene ist, die Euch der Wirt beschrieben hat, mag es geschehen sein, dass sie den Galan in die Villa der Wächter Rohals eingelassen hat und darum nun unfähig ist, sich an diese schuldhafte Verwicklung zu erinnern. Dass jemand die Erinne-
rung an derartige Fehler verdrängt, habe ich in meiner Praxis schon mehrmals beobachten können.« Halef hatte sich schon enttäuscht zurücksinken lassen, als sein Gegenüber fortfuhr: »Aber andererseits kann es auch genauso gewesen sein, wie Ihr vermutet. Bei Boron, es gibt einfach keine Möglichkeit, das hier vom Esstisch aus zu beurteilen. Ich werde mich darum kümmern, dass ich von Borbra persönlich untersuchen kann.« Der junge Tulamide erwiderte hastig: »Ich wäre Euch unendlich dankbar. Bitte glaubt mir, es geht mir vor allem darum, die Wahrheit zu erfahren. Solange dieses auffällige Rätsel nicht gelöst ist, kann ich selbst seinem Geständnis nicht glauben.« Olorand lächelte trocken: »Und wenn ich Euch danach sage, dass er es meiner Meinung wirklich getan hat, dann werdet ihr ihn widerspruchslos seine Strafe erleiden lassen?« Er winkte ab: »Antwortet jetzt nicht. Loyalität ist eine viel zu seltene Tugend.« Für einige Momente wandte er sich wieder seinem Lammfleisch zu, ehe er über die praktische Seite seines Vorhabens sprach: »Ich werde mich heute Nachmittag mit der Hauptfrau der Pfeile des Lichts treffen und sie um eine formelle Genehmigung bitten, den Angeklagten heilkundlich zu untersuchen; das wird sie mir kaum abschlagen können. Den gleichen Schein besorge ich mir sicherheitshalber auch noch in
der Königlichen Hofkanzlei. Ich habe wenig Lust, mich wie Ihr von irgendwelchen Wachposten um gutes Gold erleichtern zu lassen.« Halef bemühte sich, sein Lächeln zu verbergen, und nahm einen tiefen Schluck Obstsaft. Dem alten Magister ging es sicherlich nicht darum, Geld zu sparen. Von seinem Effendi hatte er oft genug gehört, dass Olorands größte Marotte darin bestand, Erlaubnisscheine und Dispense aller Art zu sammeln. Der Exorzist verband großen Wagemut mit einer pedantischen Genauigkeit in formellen Dingen: Vermutlich würde er sogar versuchen, den Namenlosen von dessen zwanghafter Aggressivität zu heilen – wenn er dafür einen Dispens der Zwölfgötterkirchen hätte. Inzwischen sprach Olorand weiter: »Ich kenne mich hier in Almada kaum aus und weiß wirklich nicht, ob und wann eine Postkutsche von hier nach Al'Muktur fährt. Also nehmen wir besser meine eigene Karosse. Ich schicke meinen Kutscher, um Euch morgen früh abzuholen, so etwa zur achten Stunde.« Gerade brachte die Bedienerin die Nachspeisenschale mit Zuckerwaffeln und Apfelküchlein. Halef bedankte sich nachdrücklich bei dem hilfsbereiten Exorzisten und langte dann herzhaft zu. Zum ersten Mal seit Tagen hatte er wieder Appetit.
26. Kapitel
Punin, zur achten Morgenstunde des 23. Rahja 27 Hal
Am nächsten Morgen war Halef schon zur siebten Stunde wach und gestattete sich daher ein ausgiebiges Frühstück. Auf ein Bad musste er zu seinem Bedauern verzichten, da sämtliche Zuber im Ordensgästehaus von weit höherrangigen Ordensleuten benutzt wurden und er nicht riskieren wollte, wegen eines Abstechers zu den Thermen die Kutsche zu verpassen. So stand er auch schon seit gut einer halben Stunde bereit, als die von zwei schwarzen Pferden gezogene Karosse des Akademieleiters in Sicht kam. Für einen Moment überlegte er, ob von ihm erwartet wurde, auf dem Kutschbock Platz zu nehmen, als er Magister Olorand ungeduldig winken sah. Mit einem Gefühl der Erleichterung kletterte er ins Innere und ließ sich auf dem dunklen, weichen Polster nieder. Im Vergleich zu seinem Ritt vor einem knappen Monat erwies sich die Fahrt als erholsam, wenn auch langweilig. Der alte Magister erzählte ein wenig von seinen Schwierigkeiten und den Kniffen, die notwendig gewesen waren, um alle sinnvollen Befugnisscheine zu erhalten, und huldigte dann recht bald und sehr ausgiebig seinem Gott Boron, indem er sich vom sanf-
ten Schaukeln der gut gefederten Karosse in den Schlaf schaukeln ließ und die nächsten Stunden schlafend verbrachte. Sein raues Schnarchen war bald das einzige von Menschen erzeugte Geräusch in der Kutsche. Halef verfluchte sich inzwischen, weil er keinen von Tarlisins Folianten mitgenommen hatte. Er hatte sich dagegen entschieden, weil sie wahrscheinlich vom misstrauischen Wachtmeister als Zauberbücher beschlagnahmt worden wären, jetzt aber wäre er für etwas Lektüre dankbar gewesen. Nun ja, es gab wesentlich eintönigere und uninteressantere Landstriche als Almada. So ließ er die grünen Hügel und Weinberge vor dem offenen Fenster vorüberziehen und zählte gelangweilt die Pferde auf den Weiden. Nur gelegentlich wachte Olorand auf, und schließlich, zur Mittagszeit, ließ er den Kutscher in der Ortschaft Madasee anhalten, wo sie in der Taverne ein leichtes Mahl zu sich nahmen. Der Tulamide nutzte die Gelegenheit, um nach dem Mittagessen dem rothaarigen Kutscher Gesellschaft zu leisten, während der Magister seinen Verdauungsschlaf genoss. Olorands Bediensteter war ein jüngerer Bursche namens Larajan, der sich als ebenso geschwätzig wie umgänglich erwies. Wenn man seinen Geschichten Glauben schenkte, war er als ständiger Begleiter des Magiers die eigentliche treibende Kraft hinter dessen Entscheidungen: »Und so sage ich dann zu ›Seiner Spezialität‹,
dass da eine Brücke her muss. Ich meine, die ›Akamie‹ ist auf einer Insel vor der Küste, und wenn ›Seine Spezialität‹ seine Kutsche nutzen will, muss er sie immer mit der Fähre an Land bringen lassen. Und die Pferde, wer denkt da an die Pferde? Die werden doch ganz rappelig, immer rauf aufs Boot, runter vom Boot. Also sag ich, eine Brücke muss her, und was glaubst du, Halef? Jetzt ist sie gebaut worden, direkt von der Palaststraße rüber zum großen Turm der ›Akamie‹.« Halef dachte sich seinen Teil und ermunterte den Kutscher in den folgenden Stunden, viele weitere Geschichte über seine Herrschaft zu erzählen – denn dadurch stellte Larajan wenigstens keine neugierigen Fragen über den Sinn und Zweck dieser Reise. Von Al'Muktur hatte der Kutscher jedenfalls schon viel gehört: »Das soll ja die Burg der Grafen von Almada sein, die da immer rauschende Feste feiern, mit Wein und Gesang und Duellen. Sind wir auch zu solch einem Fest unterwegs? Dann muss ich mich nämlich noch fein machen, ich habe mir für so etwas eigens auf dem Basar einen Hut gekauft, mit vielen bunten Federn, wie ein Waldmenschenkönig sie hat, und obendrauf ist Obst, wenn man Hunger bekommt.« Das Gesicht des Kutschers wurde traurig: »Aber ich hab ihn im Hotel gelassen. Meinst du, es fällt ›Seiner Spezialität‹ auf, wenn wir schnell noch mal zurückfahren, um meinen Hut zu holen?«
Halef beruhigte ihn, dass sie gar nicht zu einem Fest geladen waren, was dem Fahrer ein trauriges Glucksen entlockte, ehe er zu beschreiben begann, wie er einst im Lieblichen Feld auf einem Turnier gewesen war. Als er auf dem Rücken eines Kutschgauls, einen Wimpelmast unter den Arm geklemmt, aufs Feld geritten war, um auch an dem Spektakel teilzunehmen, »haben sie mir als Preis meine heutige Anstellung bei ›Seiner Spezialität‹ verschafft. Und die ist die beste Herrschaft, die ich je hatte!« Als sie schließlich gegen Abend die Festung von Al'Muktur erreichten, erlebte Halef seine nächste Enttäuschung, als Magister Olorand sich weigerte, überhaupt noch sein Glück zu versuchen. Stattdessen ließ der alte Magier seinen Kutscher Zimmer in Murabads Gästehaus anmieten und verschwand sogleich in seiner Kammer, um sich hier fernab der Anfragen aus Gildenkreisen von den Strapazen der letzten Wochen zu erholen. So fand sich Halef auch am Abend in Gesellschaft des Kutschers wieder. Gemeinsam leerten sie zwei Krüge Wein und tauschten Dienstbotengeschichten über ihre Herrschaft aus, bis der Wirt die Schankstube schloss.
27. Kapitel
Al'Muktur, am 24. Rahja 27 Hal
Der Tag hatte für Tarlisin begonnen wie die übrigen im vergangenen Monat. Ihm war klar geworden, dass es nicht die körperlichen Entbehrungen und Beeinträchtigungen waren, die seiner Seele am meisten zusetzten, sondern das Fehlen jeglicher Privatsphäre. Selbst wenn er mit seinem Sekretär reiste oder sich einer größeren Reisegruppe angeschlossen hatte, legte er erheblichen Wert darauf, immer selbst beeinflussen zu können, ob er mit jemandem das Zimmer und seine Zeit teilte. Hier gab es nichts, was er unbemerkt tun konnte. Selbst als eines Nachts in größter Einsamkeit die Verzweiflung ihn zu übermannen drohte und er um der kurzen Ablenkung und Zerstreuung halber seine Hand unter die Tunika geschoben hatte, war er am nächsten Morgen vom spöttischen Grinsen Sylvanas begrüßt worden. Die Frau trug die Demütigungen der Kerkerhaft weit besser als er, das musste er zugeben. Doch dann änderte sich alles, als unangekündigt am Vormittag eine Doppelstreife von vier Wachposten erschien und Sylvana mit Stangen in die hinterste Ecke drängte, während er selbst mit einer Waffe gestoßen und geschlagen wurde.
»Besuch«, kündigte ein Aufseher an und bedrohte ihn mit der Armbrust, während zugleich zwei andere die Zelle betraten und ihn von der Wand losmachten. Der Mann mit der Armbrust hielt sorgfältig immer zwei Schritte Abstand, während die Wachfrau Tarlisin an den Handketten aus dem Kerker zog. Seine Fragen blieben unbeantwortet, und die Wachen sahen nicht so aus, als würden sie Widersetzlichkeiten dulden. Sylvana hatte ihm in den letzten Tagen Geschichten von ›Aufwieglern‹ erzählt, die kurzerhand umgebracht wurden – das mochte ebenso gut Wahrheit wie Legende sein. Obgleich auch ihr Schweigen befohlen worden war, wagte es die Bardin noch, ihm aus der Ecke ein knappes »Viel Glück!« hinterherzurufen, ehe die Stange sie am Brustkorb traf und nach Luft schnappen ließ. Dann wurde Tarlisin schneller, als er auf seinen durch wochenlange Untätigkeit geschwächten Beinen zu folgen vermochte, in einen anderen Teil der Palastanlage geführt. Vor seinem inneren Auge erschienen Bilder von verborgenen Richtstätten und geheimen Verliesen, in denen Tote und Lebende fernab des Blicks der Menschen wie der Götter verrotteten, um nie wieder vom Tageslicht beschienen zu werden. (Begraben, begraben und vergessen wie Eisenkober.) Doch diesmal meinte es das Schicksal wohl doch
besser mit ihm – denn der lange, mühselige Weg endete in einem Turmzimmer, das zu erreichen ihn schier unmenschliche Mühe gekostet hatte: Während er über die Schwelle gedrängt wurde, hatte er kaum noch die Kraft, nach Luft zu schnappen. Als sich dann auch noch der seit vielen Tagen erwartete Magister Olorand von Gareth-Rothenfels aus einem gepolsterten Sessel erhob, um ihm entgegenzugehen, ließ sich der Gefangene einfach in die Arme des alten Exorzisten sacken, der beinahe unter dem Gewicht des hochgewachsenen Brabakers zu Boden ging. Das Turmzimmer enthielt offenbar auch einen Badezuber, denn in einem ebensolchen, umspült von lauwarmem Wasser mit dem deutlichen Geruch von Kernseife, erwachte Tarlisin, als ihm jemand einen Schluck eines scharfen, aber aromatischen Weinbrands einflößte. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass man Euch derartig misshandeln würde, Collega.« Magister Olorands Stimme klang mitfühlend. Von den üblichen Bedingungen einer Kerkerhaft hatte der Kaisersohn also noch weniger Ahnung als der Patrizierbastard. Vorsichtig bewegte Tarlisin sich und stellte fest, dass jemand die schweren Schellen um seine Handgelenke entfernt hatte. Wo nun die Haut zu Tage trat,
war sie blau und violett gescheuert, und so dünn, dass die Adern durchschimmerten und vielerorts das rohe Fleisch bloßlag. Er schaute Olorand an: »Ich weiß nicht, wie ich Euch danken kann, Collega ...« Der alte Mann wandte den Kopf halb zur Seite und mied seinen Blick. Natürlich, das war eine verständliche Vorsichtsmaßnahme gegen die Macht der Zauberei. Olorand vermied diesmal jegliches höfisches Geplauder und kam sogleich auf den Punkt: »Euer Sekretär hat mich gebeten, Euch zu untersuchen, weil es ... äh ... Unstimmigkeiten geben soll. Würdet Ihr so gut sein zu beschreiben, was in der Nacht geschehen ist, nachdem wir uns zuletzt gesehen haben?« Keine Umschweife, kein ›Collega‹ – das Letzte fiel Tarlisin am meisten auf. Offensichtlich kam der alte Exorzist zwar einer Bitte nach, wollte sich aber auf keine Kameraderie mit einem geständigen Mörder einlassen. Nun, Tarlisin konnte es ihm nicht einmal verdenken. (Noch ein alter Weißmagier, noch ein Grauschopf. Ob sein Schädel auch so papyrusdünn ist? Ob er, wenn man ihn erschlagen hat, auch so zusammengefallen aussieht?) »Collega Olorand, Ihr müsst Euch vorsehen. Ich habe schon einmal wider meine Natur die Beherrschung verloren und kann für nichts bürgen.« Der Exorzist wirkte unbeeindruckt. Tarlisin fragte
sich, wie sich der erfahrene Mann gesichert haben mochte, ehe er sich aus seinem Zuber erhob, einen bereitliegenden Morgenmantel mit dem Monogramm des Kastellans anlegte – der alte Olorand musste trotz allem wirklich seinen Rang ausgespielt haben, um diese Dinge zu bekommen –, in einem bequemen Sessel Platz nahm und zu erzählen begann. Der Bericht dauerte mit allen Einzelheiten mehrere Stunden und Olorand unterbrach ihn nur gelegentlich, um die eine oder andere Einzelheit genauer zu erfahren. Erst als Tarlisin beim eigentlichen Mord angelangt war, spürte er wieder die bekannte Unfähigkeit, seine Sätze zu ordnen. (Blut, Haut, Haar und Hirn, Rot auf Weiß, verklebt bis in jede Falte des Rohalskopfes. Vermutlich hatte der Weise sich in zerstückelten Leichen gesuhlt.) Also unterbrach er seinen Bericht selbst: »Sagt, Collega, was ist eigentlich mit dem Weisen? Zeigt er selber auch Interesse an dem Fall?« Tarlisin wusste nicht, ob er sich davor fürchten oder darüber freuen würde. Olorand schaute angestrengt zu Boden. »Können wir dazu später kommen? Bringt doch erst einmal Euren Bericht zu Ende.« Sein Gegenüber seufzte: »Wie Ihr wünscht. Also ...« Nach einer weiteren Viertelstunde war alles gesagt, was zu sagen war – denn die Ereignisse nach seinem Geständnis vor den Gildenvertretern waren kaum
von Interesse. Inzwischen hatte er sich längst erhoben und war auf und ab geschritten, um seinem schlaffen Körper wenigstens etwas Bewegung zu gönnen, ehe man ihn wieder fortschaffte – denn inzwischen war er sich nicht mehr sicher, ob Olorand ihm überhaupt helfen wollte oder ob er nur gekommen war, um eine Abhandlung über den Geisteszustand des berüchtigten Mörders Tarlisin von B. wenige Wochen nach der Tat verfassen zu können. Als er geendet hatte, ging Olorand zur Tür und klopfte. Kurz darauf öffnete ein Wächter und nahm die Bitte entgegen, den beiden eine Mittagsmahlzeit herbeibringen zu lassen. Der Hunger, den Tarlisin fast vergessen hatte, weil er sich so sehr an das Gefühl gewöhnt hatte, erwachte in seinem Bauch wie eine reißende Bestie, und während sie schweigend auf das Eintreffen der Speisen warteten, ertappte sich Tarlisin bei der Überlegung, ob Olorand ihm wohl mehr zu essen geben würde, wenn er die gewünschten Antworten erhielte. Dann wurde auch schon das Mahl serviert. Kein schimmeliger Brei, kein altes Brot, kein verfaulter Käse. Stattdessen gab es einen Salat aus frischen Gemüsen und eine Platte mit fingerdicken, gegrillten Rinderfilets. Tarlisin, der sonst zu Ehren der Göttin Tsa seinen Fleischgenuss im Zaum hielt, spürte, wie ihm von dem fast vergessenen Duft beinahe schwindlig
wurde. Er erwischte sich dabei, Olorand fast unterwürfig anzuschauen und, als dieser ihm unangenehm berührt zunickte, eines der Fleischstücke mit der bloßen Hand von der Platte zu nehmen. Für einen Moment hielt er es sich genießerisch unter die Nase, zwang sich zu warten und den Duft des Braten bis zur Neige auszukosten. Man hatte das Fleisch mit frisch gemahlenem Pfeffer bestreut und mit einer Paste aus reifen Tomaten bestrichen. Dann biss er herzhaft hinein, spürte, wie der heiße Fleischsaft in seinen Mund spritzte, ließ ihn langsam über die Zunge laufen, ehe er die Kiefer schloss und einen großen Bissen aus dem Fleisch riss. Doch er konnte sich nicht beherrschen und schlang den Brocken ohne zu kauen hinunter. Im Nu war das Bratenstück verschwunden und dem zweiten ging es nicht anders. Erst beim dritten nahm Tarlisin sich wirklich Zeit, zu kauen und auf den Geschmack zu achten. Dabei bemerkte er, dass das Fleisch nach Almadaner Art im Inneren noch fast blutig war und im Augenblick sein Mund und das Kinn zweifellos von Blut verschmiert waren. Verlegen zuckte er die Schultern und grinste Olorand an, um sofort danach mit der Zungenspitze zu ertasten, dass ihm zahlreiche Fleischstückchen zwischen den Zähnen steckten. (Blutiges Fleisch, fast roh. So zart und weich, bestimmt mürbe geklopft – eventuell mit einer Rohalsbüste?) Er schaffte es gerade noch, sich umzudrehen, ehe
sein Magen gegen die Mengen warmen, halbrohen Fleischs revoltierte und er alles in einem abscheulich roten Schwall ausspie. Auf den Diener, der auf Olorands Zuruf gerade den Raum betrat, musste es wirken, als würge ein tödlich Verwundeter seine Eingeweide aus. Tarlisin ließ sich von dem vorsichtigen Lakaien – ein Wächter hielt sich mit gespannter Armbrust direkt hinter ihm auf – ein Mundtuch und danach ein Glas Wasser reichen und saß einfach nur da, von den abklingenden Krämpfen gepeinigt, während der Diener lautlos und diskret die Schweinerei beseitigte, die der Magier angerichtet hatte. Erst als sich Tarlisins Magen nach einiger Zeit beruhigt hatte, nahm der Magier behutsam etwas von dem Salat und ein wenig Weizenbrot zu sich. Ob der Exorzist und Seelenheiler seine blutige Fressgier als Indiz für einen verrohten Geist wertete? Und wenn er damit Recht hatte? Hatten seine Magenkrämpfe körperliche Ursachen, oder hatte er wegen der Schuldgefühle speien müssen? Olorand schien sich jedoch gar nicht mit dieser Frage aufzuhalten, sondern bat ihn, als alles abgeräumt war, sich auch mit magischen Mitteln untersuchen zu lassen. Tarlisin stimmt zu und musste erleben, wie der Ältere ihn nun mittels eines gemurmelten ›OCULUS ASTRALIS‹ genau unter die Lupe nahm.
Als Olorand seine Überprüfung beendet hatte, wirkte er seltsam verstört, was durch den ›ANALÜS ARCANSTRUKTUR‹ eher noch verstärkt wurde. Doch ›verstört‹ war vielleicht das falsche Wort. Eher wirkte der Seelenheiler erschüttert, wie jemand, dessen Befürchtung gegen alle Hoffnung bestätigt wurde. Mit flacher Stimme erklärte der Exorzist: »Collega, Eure Vermutung trifft zu. Es liegt eine Beherrschung auf Euch, die Eure Erinnerung beeinträchtigt und Euch falsche Dinge vorgaukelt.« Er hob die Hand und wehrte die unausgesprochene Bitte ab: »Um Eurer selbst Willen kann ich diesen Zauber jetzt nicht aufheben, denn was brächte Euch das? Die vage Möglichkeit, ein gültiges Geständnis zu widerrufen, und die Aussage eines einzelnen Zeugen, der von einem Zauber berichtet, den niemand mehr nachweisen kann. Nein, so leid es mir tut, wenn Ihr gerettet werden wollt, dann muss der Zauber erhalten bleiben, bis Euch auch die Richter untersuchen konnten.« Tarlisin begehrte auf: »Ihr wisst, dass ich selbst gar nichts tun kann. Eine Beherrschung, die auf einem selbst ruht, kann man nun einmal nicht brechen. Aber darf ich ... Wollt Ihr nicht wenigstens wissen, was sich wirklich zugetragen hat?« »Ich wüsste nicht, wie das möglich sein soll, ohne den Zauber zu verwischen, Collega«, antwortete Olorand kurz angebunden. Der Seelenheiler strich sich
mit einem schwarzen Tuch den Schweiß von der zerfurchten Stirn und nun sah man ihm jedes einzelne seiner Jahre deutlich an. (So alt, so zerbrechlich. So ...) Nein. Tarlisin fand zu seinem Erstaunen fast mühelos die Kraft, den finsteren Gedankengang abzubrechen. Inzwischen hatte Olorand sich gefasst und begann, beschwörend auf ihn einzureden: »Collega, ich bin so gut wie überzeugt, dass Ihr unschuldig seid. Denn wenn Euer Geständnis künstlich eingeflößten Erinnerungen entspringt, ist kaum anzunehmen, dass Ihr doch der Mörder seid und nur jemand die Umstände der Tat verändert hat. Euer Verhalten weist zudem viel eher auf den Widerstreit von zwei unterschiedlichen Erinnerungen hin, der vorherrschenden künstlichen und der tief unterdrückten wahren. Nein, Ihr seid selbst das Opfer eines ungeheuerlichen Verbrechens geworden, zumal der fragliche Zauber vor allem an der ›Halle der geistigen Kraft‹ gelehrt wird. Euch brauche ich wohl kaum zu sagen, dass das die Stammakademie des Sphärenschänders war.« Er zögerte für einen Moment, bleich und alt. »Auch deshalb darf ich nichts gegen den Zauber unternehmen, denn es bedarf eines besseren Hellsehers, als ich es bin, um den Urheber dieses Zaubers auszumachen.«
Tarlisin seufzte. »Ihr wollt mir also sagen, dass ich noch einige Zeit mit dieser falschen Erinnerung an Mord und Totschlag leben soll?« Als Olorand nickte, fuhr er fort: »Das wird nicht einfach sein, Collega. Ich sagte Euch schon, dieser Zustand treibt mich jetzt bereits in den Wahnsinn.« Olorand richtete sich brüsk auf und schaute ihm zum ersten Mal direkt in die Augen: »Collega, wir haben alle unsere Last zu tragen. Mir behagt das auch nicht, aber ich kann Euch da nicht helfen. Ihr müsst selbst wissen, ob Ihr ein Verurteilter sein wollt, der um seine Unschuld weiß, oder ob Ihr noch ein, zwei Tage aushaltet, um dann wirklich frei zu sein, nachdem auch die Richter Eure Unschuld erkannt haben. Zumindest was die Sache mit dem Mord an Magister Eisenkober angeht.« Der alte Mann zögerte, ehe er weitersprach: »Collega Tarlisin, wir sind beide mit der Methodik der Beschwörung nicht unvertraut. Einem Scholaren der Hellseherei würde ich nicht mit der Empfehlung kommen: ›Stellt Euch um Mitternacht in einen Kreis und denkt kein einziges Mal an Elefanten, auf dass Ihr nicht gefressen werdet!‹, aber so etwas macht einen Teil der Magica Conjurativa aus, als deren Meister Ihr geltet. Also sollte es Euch doch möglich sein, tatsächlich für drei Tage nicht an die Ereignisse in jener Nacht in Punin zu denken!«
Versöhnlicher fuhr Olorand fort: »Ich kann Euch nämlich nicht jetzt auf der Stelle mitnehmen, so gerne ich es täte, denn eine solche Vollmacht konnte ich ohne irgendeinen Beweis nicht verlangen. Jetzt aber werde ich mich in Punin sogleich an das Gericht wenden und erwirken, dass man Euch von hier fortholt. Wenn alles gut geht, seid Ihr in drei, vier Tagen wieder auf freiem Fuß.« Sogleich stimmte Tarlisin zu. Das übertraf seine kühnsten Erwartungen! Und es kam noch besser, als Olorand weitersprach: »Ich werde mich dafür einsetzen, dass Ihr hier in dieser Kammer bleiben könnt. Das sollte ein wenig angenehmer sein als der Aufenthalt an jenem Ort, von dem Ihr gerade kommt, wo immer das gewesen sein mag. Ihr werdet regelmäßige Mahlzeiten erhalten und die eine oder andere Vergünstigung.« Er wandte den Kopf zur Tür und rief halblaut: »Diener!« Auf Olorands Ruf kam der Dienstbote herein, wieder gefolgt von dem Armbrustträger. Der alte Magier gab ihm die Anweisung, einen bereitstehenden Reiserucksack zu holen, den Tarlisin als den seinen erkannte. »Euer Sekretär hat Euch hier noch einmal allerlei Sachen eingepackt, die ich Euch ja jetzt bedenkenlos geben kann. Bessere Kleidung, will mir scheinen, ein paar Lebensmittel, und dergleichen mehr. Wenn Ihr
schon noch ein paar Tage warten müsst, sollt Ihr es wenigstens einigermaßen gemütlich haben.«
28. Kapitel
Punin, zur neunten Morgenstunde des 25. Rahja 27 Hal
Die Nachricht war eingetroffen, als Alvina Viburnian Crassula gerade die Wehrübungen der Wächter Rohals, die sie neuerdings befehligte, begutachtete. Auf eine Meldung hatte sie seit Tagen gewartet, ob nämlich Magister Kuniswart vom Reifenwasser sich doch entschlossen hatte, von Angbar nach Punin zu kommen, oder ob er ihrem dringlichen Ratschlag gefolgt war, in Angbar die Stellung zu halten und die Ordensburg gegen einen Verzweiflungsangriff der Grauen Stäbe zu rüsten. Es mochte durchaus sein, dass der Gute sich auf ihren Vorschlag einließ, denn im fernen Kosch war er weit genug weg von allen aktuellen Meldungen. Zumindest für die Dauer des Konvents wollte sie sich als Anführerin der Wächter Rohals ungern mit dem törichten Stellvertreter des alten Eisenkobers herumschlagen müssen. Nach dem Konvent war es einerlei, da mochten alle Magierorden im Chaos versinken. Doch mit der Nachricht, die sie nun in den Händen hielt, hatte sie nicht gerechnet. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, führte sie die kleine Truppenschau zu Ende und übergab dann den Befehl an den Weibel.
In ihrer Kammer aber überlegte sie, was zu tun war. Wenn ihr Späher recht hatte und der alte Olorand tatsächlich aufgebrochen war, um den ›geständigen Mörder‹ noch einmal zu examinieren, drohte ihr Plan zu scheitern. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich jemand derart Ranghohes für Tarlisin einsetzen würde. Irgendjemand hatte wohl im Hintergrund an Fäden gezogen, deren Vorhandensein sie nur ahnen konnte. Auch hier war eine offene Mordtat fehl am Platze – zumal ein zweites spektakuläres Verbrechen, diesmal ohne geständigen Täter, unerwünschte Aufmerksamkeit erregt hätte. Aber sie musste nicht nervös werden – der Meister hatte an alles gedacht. Gut verborgen ruhte in ihrem Gepäck eine Essenz aus Fledermausspeichel und dem Blut von Schlafkranken, dazu eine winzige nadelspitze Flaumfeder mit hohlem, metallenem Kiel. Nicht so etwas Bekanntes und Erkennbares wie Schlafgift, nein, eine ganz besondere Waffe, die in ihrem Opfer binnen kurzer Zeit die fast unweigerlich tödliche Schlafkrankheit ausbrechen ließ. Für einige Augenblicke fragte sie sich, ob dieser Mord wirklich nötig war. Aber in dieser Hinsicht konnte es keine Zweifel geben, und sie durfte sich nicht von ihrem alten zaghaften Ich beherrschen lassen. Der Exorzist durfte keine Gelegenheit erhalten,
der Grauen Gilde oder irgendwem sonst Bericht zu erstatten. Wenn dadurch der ausgefeilte Plan scheitern würde, dann wäre Er zorniger, als sie sich auch nur vorzustellen wagte. Außerdem stand es ohnehin außer Frage, dass der alte Weißmagier nicht zu bekehren war – er würde dem Willen des Meisters bis zum Schluss trotzen. Vielleicht war es nur eine angemessene Gegenleistung für die guten Taten, die er ihrem früheren Selbst erwiesen hatte, wenn sie ihn sanft in einen ewigen Schlaf schickte. Milder als das, was ihr siegreicher Geliebter mit seinen Feinden zu tun pflegte, war es allemal. Vielleicht kam der Seelenheiler ja sogar in Borons Paradies im Reich der Götter. Dort wäre er für einige Zeit sicher – zumindest bis zu dem Tage, an dem die Legionen ihres triumphierenden Herrn und Meisters auch an Alverans Tore pochten. Zuversichtlich lachte die junge Magierin und probierte, wie schnell sie, falls ihr Einsatz es erfordern sollte, aus den Kleidern würde schlüpfen können.
29. Kapitel
Punin, zur neunten Abendstunde des 25. Rahja 27 Hal
Halef Okharim war verärgert, nein, er war regelrecht sauer. Nachdem der hochgelehrte Magister Olorand die Angelegenheit in die Hand genommen hatte, war er wieder nur der dumme Sekretär, ein besserer Schreiberling und Laufbursche, dem man natürlich nichts erzählen musste. Als der Perricumer Magier ihn am Vortag wie einen dummen Jungen hatte stehen lassen, während er etwas von ›ungestörter Atmosphäre‹ murmelte, war Halef schon verstört gewesen. Er hatte seinen Effendi nicht einmal kurz sehen oder sprechen können, und nach der Rückkehr hatte der alte Mann nur berichtet, dass es Tarlisin den Umständen entsprechend gut gehe und dass sich bald alles klären werde. Dabei hatte er Halef wortlos die Phiole mit Gift zurückgegeben, die jener seinem Effendi in einem Brotlaib in die Zelle hatte schmuggeln wollen – nur für alle Fälle. Danach hatte sich Olorand brüsk geweigert, mehr als ein paar nichtssagende Floskeln über den Fall zu verlieren, ihm versichert, er habe wichtiges Entlastungsmaterial sammeln können, und sich dann früh auf sein Zimmer zurückgezogen.
Während der Rückfahrt war es den ganzen Tag über kaum anders gewesen. Irgendetwas bewegte den Alten, das war klar. Bei dem Versuch, etwas herauszufinden, war Halef von ihm geradezu auf den Kutschbock verbannt worden. Der alte Magier hatte ganz eindeutig üble Laune. Also ließ es auch Larajan langsam angehen und schloss mit der Kutsche nur zu einer Händlerkarawane auf, statt die vor ihnen fahrenden Wagen zu überholen. Von Gefährt zu Gefährt flogen spöttische Sprüche und gutgelaunte Beleidigungen hin und her, während der Herr Magister drinnen in der Kutsche schmollte. Jetzt, am Abend, waren sie zurück in Punin, und auf eine nochmalige Abfuhr hatte Halef wenig Lust gehabt. Doch erst als er das Hotel des Perricumer Akademieleiters verlassen hatte, war ihm ein Versäumnis eingefallen: Wenn der Alte schon nicht darüber reden wollte, was ihn bedrückte, so konnte er zumindest darüber schreiben. ›Wichtiges Entlastungsmaterial‹ klang nach etwas, das schnell in die Hände des Gerichtes gelangen sollte – und wenn er es aufrichtig meinte, konnte Magister Olorand kaum ablehnen, einen Bericht zu schreiben, ihn zu versiegeln und von Halef zur Akademie der Hohen Magie bringen zu lassen. Der Sekretär würde auch nicht versuchen, hinter den Inhalt zu kommen. Bestimmt nicht. Also war Halef jetzt auf dem Weg zurück zum Ho-
tel Yaquirborn. Er war in den letzten Tagen so oft dort ein und aus gegangen, dass ihn der Begrüßer am Eingang passieren ließ, ohne auch nur nach seinen Absichten zu fragen. Als er die Stufen emporstieg, dachte er kurz daran, wie sehr sich seine Haltung gegenüber dem Perricumer Magier geändert hatte: Vor weniger als einem Monat hatte er nicht gewagt, Meister Olorand ohne feste Verabredung anzusprechen, nun suchte er ihn am Abend uneingeladen in einer Sache auf, über die der Magister ausdrücklich nicht reden wollte. Aber da nun einmal feststand, dass es Entlastungsmaterial gab, sollte dieses, verflucht noch mal, auch so schnell wie möglich dem Gericht vorgelegt werden. Auf die Idee, dass seine Hartnäckigkeit eventuell das Gutachten über seinen Dienstherrn ungünstig beeinflussen könnte, kam der junge Mann gar nicht. Auf dem Flur, an dem die Zimmer Olorands und seiner Begleiter lagen, war das Empfangszimmer des Sekretärs verschlossen. Halef hatte nichts anderes erwartet. Aber er war oft genug mit seinem Herrn in ähnlichen Häusern abgestiegen, um rasch abzuschätzen, hinter welcher Tür das Zimmer des Akademieleiters liegen musste. Wie es sich gehörte, klopfte er und wartete. Kurze Zeit später glaubte er einen Laut hinter der Tür zu hören, also öffnete er sie und trat ein.
Doch er musste sich getäuscht haben, denn zwar war er in der Tat im Arbeitszimmer von Magister Olorand gelandet, der alte Magister jedoch war schlafend auf seinem Schreibtisch zusammengesunken. Halef hatte schon eine Entschuldigung geflüstert und wollte gerade die Tür wieder schließen, als ihm auffiel, dass der Magister beim Einschlafen ein Tintenfass umgestoßen hatte und sich nun selbst und alle Papiere, die auf seinem Tisch lagen, mit schwärzester Tinte besudelte. Es war wohl die Dienstgewöhnung des langjährigen Sekretärs, die den Tulamiden alle Vorsicht vergessen und zum Schreibtisch treten ließ. Schon war das Fass wieder aufgerichtet, als er bemerkte, wie reglos der alte Magier dalag. Ohne nachzudenken, fühlte er nach Olorands Halsschlagader. Nichts. Verzweifelt griff er nach der Schreibfeder – riss dabei das Tintenfass erneut um – und hielt ihr weiches Ende vor die bleichen Lippen des Magisters. Nichts, der Flaum kräuselte sich nicht einmal. Verdammt! Da beschaffte der alte Mann endlich einen Unschuldsbeweis und dann beschloss er, hier und jetzt zu sterben, ehe er irgendetwas aufgezeichnet hatte. Oder hatte er ...? Immerhin saß er am Schreibtisch ... Doch die hastige Suche in den Pergamenten und Papyri auf der Tischplatte erbrachte gar nichts, keine Schrift war jüngeren Datums als ihre Rückkehr aus Al'Muktur.
Es konnte doch nicht sein, dass es keine Hinweise gab! Aufgeregt, beinahe kopflos begann Halef, den ganzen Raum zu durchsuchen, als er auf etwas stieß – oder auf jemand? In jedem Fall war es unsichtbar – irgendetwas stand mitten im Raum, dicht vor der Tür. Ohne nachzudenken, packte Halef zu und spürte nackte, warme Haut und wie das Etwas sich wehrte. Also war es ein Wesen, vermutlich ebenso ein Eindringling wie er selbst, denn als er seinen Griff verstärkte, kannte er einen leisen Wehlaut hören. Fein, ein Dämon war es also nicht. Im nächsten Augenblick wich seine Zuversicht jähem, purpurnem Schmerz, als ihn ein Hieb oder Tritt seines Gegenübers in den Schritt traf. Nach Luft ringend und sich zusammenkrümmend, torkelte Halef zurück und stieß einen Stuhl um – und dennoch schaffte er es, sich an den Haaren des oder der Unsichtbaren festzuhalten. Halef rang noch nach Atem, als nebenan Geräusche laut wurden. Sofort verstärkte er seine Bemühungen, wenigstens einen klar vernehmlichen Hilferuf auszustoßen. Das Ergebnis klang zwar immer noch mehr wie das Röcheln eines verwundeten Kamels, doch es war zumindest laut. Weitere, ungezieltere Schläge, die seinen Körper trafen, ließen ihn ungewollt einige Schmerzensschreie hinzufügen.
Dann bohrte sich etwas mit einem feinen, dünnen Schmerz in seine Hand, mehr wie der Stich einer Biene als wie der Treffer mit einer Waffe. Dennoch konnte er nicht anders, als die Haare in seiner Hand fahren zu lassen und sich von zwei weiteren harten Schlägen auf den Brustkorb zurücktreiben zu lassen. Er war nie ein guter Raufbold gewesen. Über den Flur kamen schnelle Schritte heran. Im nächsten Moment, als er sich schwer atmend am Schreibtisch des Magisters abstützte, sah er, dass die Tür offen stand und jemand in das Zimmer starrte; jemand, der im nächsten Augenblick von unsichtbarer Hand zur Seite gestoßen wurde und ausgiebig fluchte. Halef versuchte, dem Neuankömmling, der ihm irgendwie bekannt vorkam, entgegen zu gehen. Doch woher nur sollte er ihn kennen? Je länger er sich mit dieser Frage beschäftigte, umso belangloser kam sie ihm vor. Er konnte kaum noch die Augen offen halten. Eine übermäßige Müdigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen und er merkte, wie seine Gedanken abschweiften, als glitte er in einen Traum hinüber. Er bemühte sich, irgendetwas zu tun, um ein Einschlummern zu vermeiden, doch es war vergebens. Gerade hatte er sich aufgerappelt, um die paar Schritte zur Tür zu gehen, als er auch schon zu Boden sank und einschlief. In seinem letzten wachen Augenblick
konnte er sich wieder erinnern: Es war der fischige Sekretär, Jonas Ebelrieder, der sich nun über ihn beugte und ihn voller Empörung anstarrte.
30. Kapitel
Punin, zur zweiten Morgenstunde des 26. Rahja 27 Hal
»Der hier wird wach!« Wer immer die Sprecherin war, sie redete offenbar von ihm. Halef schlug gerade die Augen auf und fragte sich, wo er war. Er hatte dieses Zimmer noch nie gesehen, ebenso wenig das Bett, in dem er lag. Dann erkannte er den Stil der Einrichtung und begriff, dass er sich im Hotel Yaquirborn befand. Natürlich, der tote Olorand, der unsichtbare Mörder, das ganze Desaster. Noch ein Weißmagier war auf diesem unseligen Konvent umgebracht worden. Der zweite, nein, der dritte, wenn man den Weisen Rohal mitzählte. Ob man nun ihn dafür einsperren würde? Vermutlich würden sie das Geschehen auf einen rätselhaften Befehl Meister Tarlisins zurückführen, der seine Verbrechen nun von Al'Muktur aus dirigierte. Vielleicht würden sie einen borbaradianischen Vernichtungsfeldzug gegen die Weiße Gilde erfinden. Und vielleicht stimmte das sogar, sofern man es nicht Halefs Effendi in die Schuhe schob. Das Eintreffen eines älteren Mannes riss ihn aus seinen Gedanken. Irgendwoher kannte er das eigen-
tümlich junge bartlose Gesicht inmitten der langen schlohweißen Haare. Der gütige Blick der graugrünen Augen rief es ihm ins Gedächtnis zurück: Erzmagus Elcarna von Hohenstein war einer der berühmtesten Heilkundler der Grauen Gilde. Er war als Leiter der Akademie von Lowangen ein Teilnehmer des Konvents und weilte vermutlich auch als Gast im Hotel Yaquirborn. Der Heilkundige unterzog Halef einer kurzen Untersuchung, dann nickte er ihm zu: »Bleibt bis morgen früh in diesem Bett und schlaft Euch aus. Dann sollte es vorüber sein.« Er verließ das Zimmer wieder und Halef hörte ihn draußen sagen: »Ihr könnt jetzt mit ihm sprechen. Aber strengt ihn nicht zu sehr an.« Daraufhin betrat Hauptfrau Lanzelind Heilenhorst von den Pfeilen des Lichts den Raum. Halef versuchte, sich tief in die Kissen zurücksinken zu lassen und möglichst krank auszusehen. Irgendetwas musste er ja haben, wenn sich ein Erzmagus Elcarna um ihn bemühte. Doch wie es schien, wollte die Hauptfrau nur eine genaue Schilderung seiner Begegnung und des Kampfes mit ›dem Unsichtbaren‹. Also berichtete Halef wahrheitsgemäß, was er in Olorands Arbeitszimmer erlebt hatte – auch wenn er zweifelte, dass man ihm Glauben schenken würde. Als er geendet hatte, knurrte die Hauptfrau jedoch
nur: »Mir passt es nicht, immer wieder von Borbras Sekretär zu treffen, wenn der Meister schon im Kerker sitzt.« Sie schnippte mit den Fingern. »Wie es scheint, kann ich Euch jedoch nichts am Zeug flicken. Aber da wir vielleicht noch Eure Unterstützung benötigen, werdet ihr Euch nicht aus Punin entfernen.« »Heißt das, Ihr wollt mich nicht einsperren?« Halef konnte es kaum fassen. »Weswegen? Wegen des unzulässigen Betretens von Magister Olorands Arbeitszimmer? Vergesst es. Der Rest Eurer Geschichte wird ja von Meister Ebelrieder bestätigt.« Der fischige Sekretär hatte also die Wahrheit ausgesagt, obwohl er Halef leicht hätte in den Kerker bringen können. Vielleicht steckte doch mehr in ihm, als gedacht. Erleichtert ließ Halef sich zurücksinken, während Hauptfrau Lanzelind das Zimmer verließ. Halef war noch nicht wieder eingenickt, als Elcarna ein zweites Mal den Raum betrat. Er hielt eine flache Glasschale in der Linken und tupfte mit der Rechten eine ölige Flüssigkeit auf Halefs Augenlider: »Zur Sicherheit, damit Ihr morgen wirklich wieder aufwacht. Wenn alles gut verläuft, brauchen wir uns gar nicht mehr zu sehen.« Er zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach: »Also will ich Euch besser jetzt gleich meinen Dank für Euer Eingreifen aussprechen. Ohne Eure
schnelle Reaktion wären wir vielleicht nie darauf gekommen, was Seiner Spektabilität fehlt.« Es dauerte eine Weile, bis die Worte in Halefs Kopf einen Sinn ergaben: »Ist Mag ... Ist Seine Spektabilität denn nicht tot?« Mit Verzögerung fiel ihm die korrekte Anrede für Erzmagier ein – immerhin gab es nur neun, nein acht in ganz Aventurien – und er setzte hinzu: »Eure Magnifizenz.« Elcarna schien den Titel wie eine lästige Fliege fortzuwischen. »Seine Spektabilität ist nicht gerade wohlauf, aber wir konnten die Art seiner Krankheit feststellen, nachdem wir Euch untersucht hatten. Seine Spektabilität leidet an der Schlafkrankheit.« Die Schlafkrankheit. Nicht die gefürchtetste Krankheit in Aventurien, aber eine der heimtückischsten. Halef wusste nicht viel darüber, aber sie konnte jeden treffen und versetzte das Opfer in Reglosigkeit. Als Kind hatte er sich angemessen bei der Geschichte von Acham ben Achmead gegruselt, der so lange gegen Boron gefrevelt hatte, bis er schlafkrank als angeblicher Leichnam bestattet wurde. Herzschlag und Atmung der Schlafkranken waren nur zu spüren, wenn man auf die allerfeinsten Spuren achtete. Und nicht nur die Frevler wurden befallen, ein jeder konnte zum Opfer werden, vor allem wenn man sich viel mit Geistern und Gespenstern befasste. Elcarna fuhr fort: »Wenn wir nicht bei Euch nach
den Spuren von Schlafgift oder eines Schlaftrunks gesucht hätten, wären wir weder bei Euch noch bei Seiner Spektabilität auf die richtige Fährte gekommen. Ihr Götter, bei dieser drückenden Hitze, der Anstrengung der letzten Wochen und seiner törichten Vorliebe, die Füße in Eiswasser zu kühlen« – der Heilmagier ließ seine berufsbedingte Abscheu erkennen –, »hätten wir ihn, zusammengesunken am Schreibtisch, leicht für tot erklären können. Dann wäre er bestattet worden, ohne dass wir die ganze Wahrheit jemals herausgefunden hätten.« Die Götter kümmerten sich also doch um die Nöte der Sterblichen. »Dann ist er also gerettet? Wann kann ich zu ihm?« Elcarna wirkte überrascht. »Wisst Ihr nicht, dass ... Nein, vermutlich nicht. Auch wenn wir die Schlafkrankheit diagnostiziert haben, ist der Erkrankte noch nicht geheilt. Das Yaganöl hat Euch gerettet, weil Ihr jünger und robuster seid und weil die Krankheit in Euch weit schwächer war. Im Körper Seiner Spektabilität ist das Siechtum stark und wir können nur beten, dass das Yaganöl ihn wieder aufweckt. Aber die Chancen stehen schlecht, und wenn er es nicht in zehn, zwölf Tagen geschafft hat, zu sich zu kommen, wird er an Entkräftung sterben.«
31. Kapitel
Al'Muktur, zur sechsten Abendstunde am ersten der Namenlosen Tage 27 Hal
Die kleine Pyramide aus Pfirsichkernen erinnerte an die Monumente aus den Schädeln erschlagener Feinde, die die Orks mitunter anlegen. Doch noch war sie eher winzig, gerade mal vierundzwanzig Kerne waren zu einem unregelmäßigen Türmchen angeordnet. Vierundzwanzig Kerne, das hieß acht Tage. Seit acht Tagen war Tarlisin jetzt hier oben alleine im Turmzimmer eingesperrt. Hätte Olorand nicht am Ende ihrer Unterredung darauf bestanden, ihm sicherheitshalber seine magische Energie zu rauben und seine Nahrung künftig mit kraftzerstörendem Bannstaub versetzen zu lassen, hätte er wohl schon vor langem nicht dem Drang widerstehen können, die Tür zu öffnen und sich etwas umzuschauen. Nicht um zu fliehen, einfach um herauszufinden, ob er die Palastbücherei finden und ein paar Bücher ausleihen könnte, oder um mit den Küchenmaiden, die ihm jeden Tag sein Essen zubereiteten, einen Schwatz zu halten. Die Speisen waren frisch, schmackhaft und reichlich, ja sogar abwechslungsreich. Vermutlich hatte Olorand erreicht, dass er wie ein gefangener Adliger, der auf die Entrichtung
seines Lösegelds wartete, von den Speisen der Offiziere bekam. Inzwischen aber schien der alte Magus ihn vergessen zu haben. Von drei, vier Tagen hatte Olorand gesprochen, ein Doppeltes dieser Zeit wartete Tarlisin hier nun schon, und es war keine Veränderung abzusehen. Die Namenlosen Tage waren herangezogen, jene fluchbeladene Zeit zwischen den Jahren, in der nach altem Aberglauben die Dämonen und Unholde ungehindert umherstreifen konnten und in der tatsächlich ... gewisse sphärische Manipulationen besonders einfach waren, wie die Magietheorie belegt hatte. In den Stunden, wenn die Einsamkeit am schlimmsten war, tröstete er sich mit Gedanken an seine wilde, launenhafte Frau Mara mit ihrer hellen Haut, der kupferroten Haarflut, den vollen Brüsten und ihrem schier unerschöpflichen Einfallsreichtum im Schlafgemach. Zu anderen Zeiten waren seine Erinnerungen und Hoffnungen ruhiger, gesetzter: Er dachte an die Tage familiären Glücks, die ihm nunmehr so selten und kostbar erschienen, an Shaykaban, den mit acht Jahren ältesten, an Shalimar und Shalayman, die dreijährigen Zwillinge, und Yarasha, das Nesthäkchen. Es gab so viel, was er noch für sie tun, wie er ihnen noch ein guter Vater sein wollte. Er hatte eigentlich für Shaykaban sein erstes Pferd aussuchen und ihm das Reiten beibringen wollen.
Und nicht allein seine Familie fehlte ihm, auch der schwatzhafte Halef, und er vermisste sogar die aufdringliche, neugierige Bardin. Manchmal sehnte er sich in die andere Zelle zurück, denn die angenehmeren Haftbedingungen ließen die Erinnerung an zuvor ausgestandene Entbehrungen rasch verblassen. Er hatte Olorand gebeten, wenn möglich Sylvanas Schulden zu begleichen und sie auf freien Fuß setzen zu lassen. Vermutlich zog sie längst außerhalb Almadas umher, in Garetien oder im Horasreich, und faszinierte ihre Zuhörer mit einer Lebensgeschichte des berüchtigten Tarlisin. So sehr ihm diese Vorstellung anfangs auch gefallen hatte, jetzt langweilte ihn das alles nur noch. Zu Beginn hatte er sich über die Stille gefreut. Unten im Kerkertrakt hatte immer einer irgendwo geschrien, die Wachen waren mit klackenden Absätzen einhermarschiert, die Ketten hatten gerasselt, an den Wänden war Wasser hinabgeplätschert. Dagegen herrschte hier erhabene Ruhe, und er hatte den ganzen Raum für sich allein. Kaum war Olorand aus der Tür marschiert und Stille eingekehrt, hatte sich Tarlisin auf das Bett geworfen und sich nach Herzenslust geräkelt, sich umhergerollt, all das getan, wozu er wochenlang keine Gelegenheit gehabt hatte. Als er müde wurde, hatte er sich hingelegt und das Liebesspiel mit jemandem betrieben, der ihm sehr viel bedeutete.
All das war jetzt so schal, so gewöhnlich, wenn man nichts anderes tun konnte. Auf mehrmaliges Bitten hin hatte man ihm schließlich eine kindgerechte Tempelschulfassung der ›Annalen des Götteralters‹ gebracht, doch dieses Büchlein mit seinen erbaulichen Legenden hatte er in drei Stunden ausgelesen und seitdem nichts anderes mehr bekommen. Vermutlich sollte er sich immer wieder und wieder mit dieser frommen Schrift befassen, um seine Seele zu läutern. Stattdessen hatte er das Buch in die Ecke geworfen, als es ihn zu langweilen begann. Wie ein Raubtier im Käfig war er ruhelos umhergestreift auf dem geringen Raum, den ihm die Turmkammer bot. Einmal hatte er in einem Wutanfall alle Möbel zur Seite geschleudert, doch als der Dienstbote keinerlei Anstalten machte, sie wieder aufzurichten, hatte er den Tisch, den Hocker und das Schränkchen mürrisch selbst wieder an ihren Platz gestellt und sie künftig in Frieden gelassen. Immer wenn er ein paar Stunden auf und ab marschiert war, schmerzte die wundgescheuerte Haut an seinen Knöcheln, denn Leibring wie auch die Fußketten waren ihm geblieben, so dass er immer nur kurze, trippelnde Schritte machen konnte. Vermutlich sollte er gar nicht umherlaufen, wenn es nach den Herren von Al'Muktur ging. Müßig hatte er über einen Ausbruch nachgedacht.
Selbst ohne Magie sollte ihm das gelingen, doch trotz aller Ungeduld war er nicht verrückt genug dafür. Denn selbst wenn es länger dauerte, irgendwann würde Olorand eintreffen und ihn abholen. Wenn er floh, mochte er seinen Retter um eine halbe Stunde verpassen und als geächteter Mörder alles verlieren, was er besaß. Noch einmal Brabak wollte er sich nicht antun. Er wusste nicht, wie lange diese Entschlossenheit anhalten würde. Er kannte inzwischen jede Fuge im Mauerwerk, jeden Deckenbalken, es gab kein Rechteck in der Wand- oder Deckenfläche, wo er nicht schon Flecken, Muster, irgendetwas gezählt hatte in dem erfolglosen Bestreben, die Zeit zu vertreiben und sich von den Gedanken an Blut und Tod abzulenken, die ihn in der Stille immer eifriger heimsuchten. Es war ein Fehler des alten Olorand gewesen, ihn überhaupt etwas berichten zu lassen. Jetzt kamen die Erinnerungen so stark, dass sie schon fast Visionen glichen, als wollten sie ihn mit aller Kraft zwingen, an ihre Wahrhaftigkeit zu glauben. Die Schweigsamkeit der Dienstboten war da nicht gerade hilfreich. Sie hatten wohl strenge Anweisung, sich auf keine Gespräche mit dem Gefangenen einzulassen, weder die Tablett-Träger noch die Leute mit der Armbrust. Nicht einmal allgemeine Fragen woll-
ten sie beantworten – nach dem Fortgang der Eroberungen Borbarads erkundigte er sich schon gar nicht, um sich nicht noch verdächtiger zu machen, aber es musste doch Berichte und Gerüchte über Rohals Hofhaltung in Punin – oder bereits in der Kaiserstadt Gareth? – geben. Der verdammte Olorand war schon längst aus der Tür gewesen, als Tarlisin begriffen hatte, dass er auf seine Frage, wie denn der Weise zu der ganzen Affäre stünde, noch immer keine Antwort erhalten hatte. Vermutlich ließ sich der Weise gar nicht herab, den Fall zu behandeln, sondern überließ diese ermüdende und blutige Arbeit anderen. Wahrscheinlich hatte er den guten Olorand zurückgepfiffen, als dieser den Gefangenen von Al'Muktur abholen wollte. Dabei hatte Rohal selbst genügend Todesfälle verschuldet. Hatte er nicht 2000 Krieger, Magier und Geweihte in die Gorische Wüste geführt, um die Schwarze Zitadelle zu erstürmen? Und war ein einziger lebend zurückgekommen? Wie konnte man dann ihm, Tarlisin, die nicht einmal 20 Golgariten vorwerfen? War Rohal denn mehr als hundertmal so gut wie er? Nein, der Weise hatte in seiner 123-jährigen Herrschaft eindeutig mehr Blut an den Händen als er. (Und an der Nase, und auf den Lippen, und in den Haaren. Weiße Menschenhaare, mit Blut und Hirn auf weiße Marmorhaare geklebt. Blut überall, Rohal konnte kaum se-
hen vor Blut. Hatte er sich nicht gerade die Lippen geleckt, war nicht die kleine Marmorzunge schlangengleich über den Schnurrbart gefahren und hatte sich die besten Teile von Nostrianus Eisenkober einverleibt? Tarlisin hatte es deutlich gesehen. Der unsterbliche Weise war ein Menschenfresser, ein Vampir. Das Geheimnis seines langen Lebens und seiner Macht war die Opferung seiner Untertanen, der Kampf gegen Borbarad nur eine triviale Rangelei der unsterblichen Bluttrinker um den Besitz von Land und Untertanen. Oder nannten sie sie Vieh? Rohal lebte vom Gehirn und Blut der Sterblichen, wie es die Visionäre prophezeit hatten, Visionäre wie er. Wie die anderen Sehenden hatte man ihn eingesperrt, um seine Erkenntnisse zu verstecken.) Tarlisin sprang auf sein Bett und begann, sich aufgeregt an der Decke umzuschauen. (Irgendwo hier mussten Gucklöcher und Lauschritzen sein, um ihn zu überwachen, um Notizen sofort zu vernichten, um seine Erkenntnisse geheim zu halten. Aber er würde es ihnen nicht leicht machen, wenn er hier schon gefangen war, dann würde er sein Wissen mit Brieftauben fortschicken. Er war ein Zauberer, das hatten sie nicht bedacht, er konnte Menschen in Brieftauben verwandeln, die auf seinen Befehl hin ihre geheime Fracht nach Anchopal bringen würden.) »Ist alles in Ordnung mit Euch?« Der alte Diener zeigte seine Verwunderung deutlich. Er war zum er-
sten Mal hier oben, denn der Küchenbursche Jockei hatte sich wegen einer Liebschaft schon vor Arbeitsende fortgestohlen. Merrion wusste nicht einmal, dass er einen Armbrustschützen des Kastellans hätte mitnehmen sollen. Und nun stand der Gefangene auf seinem Bett und zappelte wild herum. Merrion bereute, sich nicht gedrückt zu haben, damit ein anderer sich mit den vielen Stufen herumgeplagt hätte. Doch wenigstens lächelte der Gefangene nun, kletterte vom Bett und kam auf ihn zu. Trotz seiner kurzen, struppigen Haare und des stoppeligen Bartwuchses war er ein hübscher Mann, wenn man Männer mochte. Merrion tat es nicht, er war verwitwet mit drei erwachsenen Kindern, die trotzdem immer noch ihrem Vater auf der Tasche lagen, weil er doch im Palast arbeitete. Er suchte nach einem Platz, um das schwere Tablett abzustellen. (Ein alter Mann, schwer atmend und rotgesichtig, mit grauweißen Haaren. Waren sie nicht alles alte Männer, rot und weiß, die ihn verraten hatten, Eisenkober, Olorand, Rohal, nun der hier. Einer mehr würde keinen Unterschied machen. Aber sie hatten sich verrechnet, wenn sie dachten, er würde ihren Brei schlucken. Er lächelte und gab sich freundlich, um an den Feind heranzukommen. Ob sein Kopf auch so leicht splittern würde? Das geschähe ihm recht. Hühnerei, Hühnerei, in dir grau und rot der Brei.) Aber das ging nicht, das durfte er nicht.
(Er würde ihn würgen müssen, um keine Blutflecken auf die weiße Schürze zu machen, und die weiße Mütze durfte er auch nicht beschmutzen. Unter ihr ließe sich das Haar verbergen, und die Kleidung musste ordentlich bleiben, auch wenn Ärmel und Rock viel zu kurz für ihn waren. Aber es würde klappen, nun war er wieder bei Verstand und konnte jedem Jäger entwischen. Zeit genug, seine Rache zu planen und die ganze Welt aufzurütteln. Nur ein wenig näher heran noch, so war es gut, der alte Rohal Eisenkober bückte sich und stellte das Tablett ab. Alles vergiftet zweifellos, sie wollten ihn zum Schweigen bringen. Aber seine Hände aßen nichts, er war kultiviert, er aß nicht mit den Fingern, er hatte sich aus einem flachen Holzstück einen Löffel gebastelt. Also waren seine Hände gesund und würden ihm helfen, den Weißmagier zu erwürgen. Er kannte sie seit frühesten Kindheitstagen und vertraute ihnen.) Tarlisin machte den letzten Schritt vorwärts, während Merrion das Tablett abstellte, und hob die Hände hinter dem Rücken des alten Mannes. Lass das! Die Stimme. Tarlisin wich mit einem Aufschrei zurück. Er kannte diese Stimme, sie war nicht seine eigene wie in den Visionen der letzten Tage, sondern die einer jungen Frau. Und sie klang harscher als jede sich aufdrängende ›Schlussfolgerung‹. Während der Diener hochfuhr und sich eher ver-
wundert als verängstigt umschaute, taumelte Tarlisin mehrere Schritte zurück, bis er an sein Bett stieß. Wenn du das tust, geht die fremde Schuld auf dich über. Dann ist alles verloren! Der Magier fiel auf die Knie, ohne sich um die Blikke des Dieners zu kümmern: »Herrin, verzeiht. Diese Bilder, die Erinnerungen, ich halte es nicht aus!« Tränen schossen ihm in die Augen. Er hätte beinahe den verwirrt glotzenden Alten ermordet. Nenn mich nicht Herrin! Ein Magier wird doch wohl Wege kennen, sich gegen Trugbilder zu schützen? Tarlisin senkte den Kopf und betete lautlos zu allen Göttern, die er kannte, während ihm die Tränen der Scham über die Wangen liefen. Die Frauenstimme schwieg. Merrion wich seinerseits zur Tür zurück, vergaß das alte Tablett mit den leeren Schüsseln und warf beim Hinaushasten die schwere Tür hinter sich zu. Man hörte das Knirschen des Riegels und dann das Quietschen des Schlüssels. Oh, er würde es diesem Taugenichts Jockei zeigen, seine Pflichten zu vernachlässigen und seine ›Siebensachen‹ in Dinge zu stekken, die ihn während der Arbeitszeit nichts angingen! Nie wieder!
32. Kapitel
Punin, zur Mittagsstunde des 1. Praios 28 Hal
Auch wenn die Kirchen der Gottheiten Boron, Tsa und Hesinde in Punin erhebliches Ansehen besaßen, war der Herr Praios doch immer noch der Götterfürst, der oberste der Zwölf, und gerade heute gab es einen besonderen Grund, seine Macht zu feiern: Wieder einmal waren die Namenlosen Tage ohne größere Schäden an der Ordnung der Dinge vorübergegangen, und ein neues Jahr war erwacht. Vom ersten Sonnenstrahl des Morgens bis zum höchsten Stand der Sonne dauerten die offiziellen kirchlichen Feiern, und die bronzenen oder vergoldeten Sonnenscheiben im Praiostempel waren unaufhörlich geschlagen worden, so dass ihr klares Hallen die ganze Stadt erfüllte und das Lob des Praios verkündete. Die Hochgeweihten des Tempels hatten die Prozession mit dem goldenen Greifenstandbild angeführt und waren nun zum abschließenden Mittagsgottesdienst in den Tempel zurückgekehrt, während hinter ihnen die Straßen mit güldenem Messingglitter und den gelben Blütenblättern der Sonnenblumen bedeckt zurückblieben. Die wenigen Münzen, aus echtem Gold, die anlässlich des Festes von den Tempeldie-
nern in die Menge geworfen worden waren, hatte man längst aufgeklaubt, und in schattigen Seitengassen lagen die Körper derer, die einen Dukaten erwischt hatten, ohne ihn verteidigen zu können. Am Nachmittag würde sich der Kronverweser als kaiserlicher Statthalter und damit weltlicher Vertreter der Göttlichen Ordnung vom Volk huldigen lassen, wobei es wiederum Gaben für die Flinken und Skrupellosen geben würde; derzeit aber lag der Platz noch verlassen dar, während die Provinzialgardisten die Absperrungen vor der Tribüne aufbauten, auf der ursprünglich der Weise Rohal hätte empfangen werden sollen. Der Außenwelt und dem Volk hatten die drei Gilden erzählt, der Weise meide die Öffentlichkeit und durchdenke im Verborgenen die besten Strategien gegen den Feind. Halef Okharim fragte sich, ob der Weise sich dort hätte huldigen lassen, wäre er am Leben geblieben. Wohl kaum, schließlich hatte er über hundert Jahre in Gareth regiert, ohne sich den Kaisertitel zuzulegen. Als Tulamide war Halef gewohnt, derartige Bescheidenheit als kokettierende Untertreibung und umso deutlicheren Machtbeweis derer zu sehen, die sich ihre Bedeutung nicht einmal mehr mit hochtrabenden Titeln bestätigen lassen mussten. Aber er sollte nicht an ranghohen Magiern zweifeln, nicht heute. Denn zumindest einer hatte ihm an
diesem Feiertag echten Grund zur Freude gegeben: Als am Morgen die Sonne des neuen Jahres durch das Fenster fiel, war Olorand von Gareth-Rothenfels aus seinem tiefen, todesähnlichen Schlaf erwacht. In der Zeit davor, den namenlosen Tagen, hatte es nicht mehr danach ausgesehen, als ob er sich erholen wollte, und Halef, der sich von den Tempeln der magieund schlauheitsfeindlichen Praioskirche eher fern hielt, hatte höchstpersönlich Kerzen und Weihrauch vor dem Altar des Praios geopfert und den Götterfürsten in Gebeten angefleht, den alten Mann nicht in den Tagen außerhalb des Jahres abzuberufen. Am besten gar nicht, jedenfalls nicht ehe er seine Aussage gemacht hatte. Anscheinend hatten die Gebete geholfen: Obgleich zutiefst geschwächt und fast am Ende seiner Kraft, hatte Meister Olorand es sich nicht nehmen lassen, auf Kissen gestützt, sich Feder und Papier bringen zu lassen und seinen Bericht abzufassen. Halef hatte die Nachricht von einem freudestrahlenden Larajan erfahren, der ihn im Ordensgästehaus aufgesucht hatte. Gemeinsam waren sie zum Hotel Yaquirborn geeilt, und es versetzte Halef einen Schub der Schadenfreude zu sehen, wie die geheimnisvolle Alvina Viburnian Crassula warten musste, während er ins Krankenzimmer des alten Magiers vorgelassen wurde. Olorand wurde von einem eher unauffälligen
Pfeil des Lichts bewacht, dessen Gefährte auch ihn, Halef, zur Akademie begleitete, als er dort den Bericht bei Ihrer Spektabilität, der Convocata Prima, persönlich abgab. Dadurch hatte er natürlich auch nicht in den Brief hineinschauen können – doch was sollte es! Olorand hatte sein Zeugnis abgelegt und bald würde sich alles zum Guten wenden. Da er sonst nichts tun konnte, nahm Halef Aufstellung an den Rängen, wo die reichsten Gaben des Kronverwesers zu erhoffen waren, und hielt seinen Dolch gegen Diebe griffbereit. Er hatte, weiß Gott, genug vom Geld seines Herrn in dieser leidigen Angelegenheit ausgeben müssen.
33. Kapitel
Punin, zur fünften Nachmittagsstunde des 2. Praios 28 Hal
Alles, was vor wenigen Wochen noch so gut und sicher erschienen war, stand nun auf Messers Schneide. Eine falsche Bewegung, und sie mochte die Gunst ihres geliebten Herrn verlieren. Aber es galt auch: Eine falsche Bewegung, ein unpassender Strich und ihr neuestes Gemälde wäre ruiniert. Adepta Alvina Viburnian Crassula überlegte, was nun zu tun war. Sie hatte erfahren, dass ihr ›alter Lehrmeister‹ wieder erwacht war, und hatte das Risiko auf sich genommen, enttarnt zu werden. Sie hatte beschlossen, sofort zu ihm zu eilen und sich mit ihm zu freuen – und dabei alles für eine rasche Flucht bereitgehalten. Aber die Augen des alten Exorzisten verrieten mit keinem Blick, dass er sie verdächtigte oder Näheres über ihre Rolle wusste. Heute Abend würde sie ihn erneut aufsuchen und ihm dieses kleine Bild als Präsent mitbringen: Der Medicus hatte schwer duftende Blumen am Krankenbett verboten, und so musste sie etwas anderes schenken. Sehr ruhig war der alte Mann noch gewesen, nur dass man alsbald nach Tarlisin von Borbra schicken möge, um ihn noch einmal gründlich zu untersuchen,
hatte er betont. Als er begriffen hatte, dass bereits das neue Jahr angebrochen war, hatte er seine Aufforderung nur noch dringlicher gestaltet. Gleich am nächsten Morgen würde ein Trupp Reiter der Pfeile des Lichts aufbrechen und den Gefangenen nach Punin schaffen – und das bedeutete, dass sie schneller sein musste. Den Plan hatte sie sich zuvor schon bereitgelegt, und ebenso die nötige Ausrüstung. Es würde so aussehen, als habe sein eigener Orden in einem Anflug von Wahn den geständigen Mörder befreit und fortgeschafft, und ohne Angeklagten gab es niemanden, der die Wahrheit entdekken konnten. Sie aber war gerüstet für den Fortgang der Ereignisse. Mit sicherer Hand brachte sie die nächsten Striche an, vollendete die Darstellung und machte sich daran, die Schatten zu setzen. Schon am Vormittag hatte sie verlauten lassen, es sei ihr gestern, an dem mit dem Sphärenspalter Shihayazad assoziierten ›Namenlosen Tag‹, gelungen, einen Blick durch die geschwächten Trennmauern der Sphären zu werfen, das Desiderat im Limbus aufzuspüren und zu bergen. Nun würde das von ihrem geliebten Meister so aufwendig gestaltete Artefakt doch noch zu Ehren kommen. Ein Blick darauf, und niemand würde je bezweifeln, dass es das einzig Echte und Wahre war; genau das, was Borbarad schon immer hatte haben
wollen und das zu finden er den willensschwachen Tarlisin von Borbra manipuliert hatte. Doch – wenn sie keine Fehler beging, würde ihr Geliebter zufrieden mit ihr sein. Mit dem letzten Schattenfall beendete sie ihre Arbeit – und wie sie ihn kannte, wäre der törichte Exorzist gewiss gerührt über ihre Darstellung einer Kristallvase mit Blüten des Schwarzen Lotos, der wohlriechenden, einschläfernden Lieblingsblume des Totengottes, wie man sagte.
34. Kapitel
Al'Muktur, zur sechsten Morgenstunde des 2. Praios 28 Hal
Tarlisin wurde von einem metallischem Scheppern geweckt. Nichts unterschied diesen Morgen von all den anderen in den letzten Tagen, außer dass es noch früher als üblich war, mitten in der Nacht sogar, wie ein Blick durch das winzige Fenster zeigte. Noch bevor er sich aus dem Bett erheben konnte, war ein Aufseher eingetreten, in seiner Rechten baumelten klirrend zwei Handschellen an einer kurzen Kette. Hinter ihm lauerten zwei Armbrustschützen und einige weitere breitschultrige Leute, von denen einer höhnte: »Mitkommen, Borbra, deine ruhigen Tage sind vorbei.« Der Aufseher warf ihm einen tadelnden Blick zu, während er Tarlisin aufforderte, sich ohne Widerstand die Handfesseln anlegen lassen. Knapp erklärte er: »Die Pfeile des Lichts bringen Euch nach Punin zurück.« Mit einigen Handbewegungen wurden die Schellen um Tarlisins Handgelenke gelegt, verschlossen und dann mit einer weiteren Kette mit seinem Leibring verbunden. Nachdem Tarlisin mehr recht als schlecht die Treppen hinunter gestolpert und zeitweise geschleppt wor-
den war, wurde er fast von der frischen reinen Luft und dem weiten Himmel überwältigt. Der barfüßige Magier fror auf dem taufeuchten Pflaster des Hofes und das Mosaik aus der Zeit der Emire kümmerte ihn wenig – er sah es kaum. Selbst das Licht der Morgendämmerung schmerzte seine Augen, die schon lange keine Sonne mehr erblickt hatten. Bevor er sich jedoch daran gewöhnen konnte, wurde er grob in die Höhe gezerrt und in eine Kutsche gesetzt, auf deren Bock bereits zwei weißgekleidete Pfeile des Lichts warteten. Als sich die Tür mit einem dumpfen Geräusch geschlossen hatte, umgab ihn stickige Dunkelheit. Immerhin war ihm diesmal eine peinliche Käfigkarre wie auf dem Hinweg erspart geblieben. Wenn die strengen Pfeile des Lichts ihm so weit entgegenkamen, hatte sich Olorand bestimmt schwer für ihn ins Zeug gelegt. Er musste sich seiner Beweise sehr sicher sein. Vorsicht, rief sich Tarlisin selbst zur Ordnung. Jetzt durfte er keinesfalls über irgendetwas nachdenken, das mit seinem Fall zu tun hatte. Wenn er jetzt wieder die Beherrschung verlor, vor den Augen der Pfeile des Lichts zu einem mordlustigen Irren wurde, brauchte er sich gar keine Gedanken mehr über irgendwelche Beweise und Prozesse zu machen. Wie er es in den letzten Tagen getan hatte, half er
sich mit der Meditation. Hätte er sich nicht an die alten, vor Jahren erlernten Techniken erinnert und sie mit dem verbunden, was Olorand ihm angeraten hatte, hätte er gerade die Namenlosen Tage gewiss nicht bei klarem Verstand überlebt. In fast jedem wachen Augenblick hatte er sich in Trance versetzt und war dadurch der verhängnisvollen Erinnerung ausgewichen. Auch jetzt mochte es helfen. Indem er bewusst jede Faser seines Körper entspannte und seinen Geist auf die uralten Muster der tulamidischen Astrologie konzentrierte, entfernte er sich innerlich von seiner Umgebung, ja sogar von sich selbst. Er war kein Tarlisin von Borbra mehr, er war überhaupt kein Mensch mehr. Er war nicht einmal mehr ein Lebewesen. Er war ein Stein unter dem endlosen Himmel, reglos und unvergänglich. Jahrtausendelang lag er unbewegt da und betrachtete die allzeit veränderlichen Sterne, sah sie umeinander rotieren, sah neue Sterne erblühen, alte verschwinden, während um ihn herum die Zeitalter verstrichen. Wach auf! Dir droht Gefahr! Tarlisin kehrte in die Gegenwart zurück. Um ihn herum herrschten Halbdunkel und Gerumpel. Natürlich, die Kutsche auf dem Weg nach Punin. Von außen drangen Stimmen in den zugehängten und stickigen Innenraum, als sich zwei Leute auf
dem Kutschbock unterhielten: »He, Iva, wie weit ist es denn noch?« Eine zweite Stimme, dem Akzent nach die einer Südländerin, antwortete in einem noch nörgelnderen Ton als die erste: »Allenfalls zwei, drei Meilen. Ist ja nicht meine Schuld, wenn die uns solche Schindmähren andrehen.« Als ein Peitschenknall ertönte, machte die Kutsche einen Satz nach vorn und schlingerte. »Willst du ein paar aufs Maul, Alrik? Mach das ja nicht noch mal, verdammt, ich hab keine Lust, mir den Hals zu brechen, nur weil du schneller zu den Huren willst.« Die Südländerin brüllte vor Wut. »Ich dachte ja nur ...!«, schnappte Alrik beleidigt. »Fürs Denken wirst du aber nicht bezahlt. Ho, ganz ruhig!« »Könnt ihr da draußen Euch vielleicht auf unseren Auftrag besinnen?« Die dritte Stimme, der man den unterdrückten Zorn deutlich anmerkte, kam von einer Frau in der Kutsche. »Euretwegen hätte ich fast abgedrückt.« Tarlisin blickte aus fast geschlossenen Augen angestrengt in Richtung der Sprecherin und konnte eine Gestalt mit Armbrust erkennen. Die Männerstimme antwortete: »Schon gut, Kôrdula, Iva hat die Gäule wieder unter Kontrolle. Was macht das Täubchen?«
Durch eine geöffnete Klappe fiel Licht in das Innere des Wagens. Tarlisin schloss die Augen, eine vierte Person beugte sich über ihn: »Ist immer noch im Nimbus oder so.« Kôrdula ergänzte trocken: »Erstaunlich bei dem Lärm, den ihr da oben veranstaltet.« Alrik lachte höhnisch. »Das wäre ja eigentlich die Gelegenheit. Warum soll Kôrdula ihm nicht einfach jetzt schon einen Bolzen verpassen? Ich denke, das wäre die sauberste Lösung.« Iva fauchte ihn an: »Schnauze, Alrik, ich hab doch schon mal gesagt, dass du nicht fürs Denken bezahlt wirst. Zum einen gibt das eine eklige Sauerei in der Kutsche. Wir haben nur zwei Plätze hier oben, wer soll dann drinnen weiterfahren?« »Ich nicht!«, ertönte es zweistimmig aus der Kutsche. »Eben, aber was genauso wichtig ist, der Kerl wiegt bestimmt seine hundert Stein. Bis zum Sumpfloch kommen wir aber nicht mit der Kutsche, und ich für meinen Teil will ihn nicht schleppen. Da soll er doch besser selber hinlaufen.« Knurrend stimmte Alrik ihr zu, während sie, bemüht, den Streit nicht auf die Spitze zu treiben, hinzufügte: »Dann schneiden wir ihm das Beweisstück ab, lassen die Kutsche und die Klamotten zurück, nehmen die Pferde und kassieren hundertfünfzig
blitzende Goldstückchen. Nächste Woche sind wir schon in Belhanka.« Die Stimme der Südländerin klang weich und beruhigend und prompt begannen die Schlagetots über ihre Pläne zu reden, wenn sie erst einmal in der Stadt der Liebe angekommen waren. Angesichts ihrer Vorstellungen, was sie dort erwartete, waren sie offenbar noch nie in der kultivierten Metropole der Lebenskunst gewesen. Nur Kôrdula schwieg und gab gelegentlich ein verächtliches Knurren von sich. (Das Beweisstück ... Umbringen und das Beweisstück verschwinden lassen, im Limbus ... Rohals Gesicht, verschmutzt und verklebt mit Blut und Gehirn, nachdem man ihm den Schädel mit einer Borbaradbüste eingeschlagen hatte ...) Tarlisin merkte, wie der Gedanke an seine geplante Ermordung auch andere Assoziationen erweckte. Mit äußerster Willensstärke rief er sich in die Gegenwart zurück, wo seine Mörder lachten und scherzten. Nach einiger Zeit wurde die Kutsche angehalten. Iva erklärte: »Und nun denkt daran, er darf keinen Verdacht schöpfen.« Die Kutschentür wurde geöffnet. Die Frau mit der Armbrust schüttelte Tarlisin. Der Magier schreckte hoch und schlug mit dem Kopf gegen das Kutschendach. Nach einer überzeugenden kurzen Darstellung von Verwirrung fasste er sich und fragte: »Ja, bitte?«
Sein Gegenüber wirkte ehrerbietig, fast unterwürfig: »Verzeiht, Eure Spektabilität, aber wir sind nun gut außer Sichtweite der Festung. Die Grauen Stäbe schicken uns, weil sich herausgestellt hat, dass die Verschwörer, die Euch als Sündenbock benutzen wollten, sogar das Große Gildengericht unterwandert haben.« Sie ließ einen Siegelring mit dem Signet der Grauen Stäbe aufblitzen, vermutlich seinen eigenen, den er bei seiner ›Verhaftung‹ durch die Wächter Rohals verloren hatte. »Euren Freund, Olloran von Gareth, haben sie bereits zum Schweigen gebracht, und wenn Ihr nach Punin gelangt, ist Euer Tod sicher.« Sie lachte nervös: »Also hat man uns geschickt, um dem eigentlichen Abholtrupp knapp zuvorzukommen. Schließlich konnten wir Euch nicht aus Al'Muktur raushauen.« Sie war gut, wirklich gut. Wäre er nicht gewarnt gewesen, hätte er der jungen Frau, die sich im Tageslicht als herbe Schönheit herausstellte, vermutlich vertraut. Wer immer den Trupp geschickt hatte, er kannte Tarlisins Schwächen gut. Inzwischen fuhr Kôrdula fort: »Wenn Ihr nun aussteigen würdet, bringen wir Euch zu einem Köhler, der verschwiegen ist. Dort können wir Euch mit dem richtigen Werkzeug die Ketten abnehmen und Euch als Novadi einkleiden. Die Verschleierten sieht man hier oft, und was man von Eurer Haut sehen kann,
passt auch. Verzeihung, Eure Spektabilität.« Es war schade, dass sie auf gegnerischen Seiten standen. Eine solche Frau hätte er gerne für Sondermissionen in seinen Diensten gehabt. »Ich hoffe, ich kann Euch später angemessen meinen Dank erweisen, edle Dame.« Er lächelte sie verführerisch und – wie er hoffte – etwas naiv an. Von ihr mit festem Griff unterstützt, taumelte er durch die Tür. Mühsam gelang es ihm, aus der Kutsche zu klettern. Die kurze Kette, die seine Fußgelenke verband, drohte sich auf jeder Stufe zu verhaken und ihn zu Fall zu bringen. Der Magier konnte sich nur unter größter Anstrengung auf den Beinen halten. Es war noch immer recht früh, die Mittagsstunde war noch nicht ganz erreicht. Tarlisin blickte zur Kutsche. Kôrdula hatte mittlerweile mit gesenkter Waffe den Wagen verlassen. Auf dem Kutschbock saß ein feister Mann mit Augenklappe, zweifellos Alrik. Eine glatzköpfige Frau, Iva, war damit beschäftigt, den Pferden die Vorderbeine zu fesseln. Was alle gemeinsam hatten, waren die weißen Roben, die Tracht der Pfeile des Lichts. Tarlisin nickte Kôrdula zu: »Verzeiht, edle Dame, dieses unschöne Thema, aber Ihr habt doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich kurz erleichtern gehe?« Die Frau zögerte einen kurzen Augenblick, ehe sie
die Schultern zuckte und antwortete: »Nein, natürlich nicht. Es tut mir leid, dass wir es Euch nicht angenehmer machen konnten, Eure Spektabilität. Aber beim Köhler warten Badewasser, frische Kleidung und eine Mahlzeit auf Euch.« Gegen Ende ihrer Versprechungen hatte sich Tarlisin schon umgedreht und eilte davon. Die kurze Kette zwischen den Füßen erlaubte ihm nur winzige Trippelschritte; die an der Hüfte festgeketteten Handgelenke zwangen seine Arme in eine groteske gebeugte Haltung. Als der Magier nun langsam vorwärts tippelte, erinnerte er an ein flugunfähiges Entenküken. Vom Kutschbock ertönte unterdrücktes Lachen, bis die Armbrustschützin energisch gegen den Wagen pochte. Schritt um Schritt entfernte sich Tarlisin von der Kutsche. Er mochte etwa zehn Schritt weit gekommen sein, als er zu stolpern schien. Im Fallen versuchte er sich so zu drehen, dass sein Gesicht geschützt war, und landete mit einem Klatschen auf dem Hintern. Alrik brach in grölendes Gelächter aus und auch Iva grinste breit. Nur Kôrdula schien besorgt – vermutlich befürchtete sie, ihn doch noch schleppen zu müssen, wenn er sich etwas gebrochen hatte. Tarlisin konzentrierte sich. Dem vermaledeiten Bannstaub war es zu verdanken, dass er keine ausreichende Astralkraft besaß, um sich mit Magie zu ret-
ten – und doch musste er es möglich machen, einen Zauber zu erwirken, denn mit gewöhnlichen Mitteln konnte er sich nicht mehr helfen. Langsam blendete er den stechenden Schmerz auf dem Steißbein aus und verstärkte seine Konzentration, bis seine Umwelt verschwand, bis nur noch er selbst sich im Zentrum des Universums befand. Wiederum war es eine Frage des Willens, ob ihm die Umwandlung von Lebenskraft in Zauberkraft glückte – aber er strebte keinen heilenden Zauber an, er wollte Tod und Vernichtung ausschicken. Langsam, fast widerstrebend ließ er die Bilder der Zerstörung an sich heran, während sich die Schlagetots näherten. (Blut. Blut und Tod. Gebrochene Knochen, zerfetzte Haut, verspritzter Lebenssaft. Er hatte es getan, er hatte seinen alten Feind zum Schweigen gebracht. Und er konnte es wieder tun, er hatte die Macht dazu. Er war der Herr über Leben und Tod, er konnte schützen und strafen. Und wer ihm zu nahe trat, den strafte er, den brachte er zu Fall, den verbrannte er zu Asche. Er wollte es so.) In diesem Zustand fiel es ihm leicht, das Tor in seinem Inneren aufzustoßen und die dahinter pulsierende Lebenskraft anzuzapfen. (Heiß und rot, blutig rot!) Umso schwieriger war es, das Tor wieder zu schließen, als er meinte, ausreichend Energie gesam-
melt zu haben. Fast hätte er es nicht geschafft, und er rief sich verzweifelt in Erinnerung, dass er gar nichts unter Kontrolle hatte und keinerlei Zerstörung ausrichten würde, wenn er hier in Krämpfen starb und seine Lebenskraft sinnlos verfliegen ließ. Mühsam konzentrierte er sich auf den Zauber und zwang seine fest zusammengepressten Lippen, die Worte der Formel auszusprechen: »IGNISPHAERO FEUERBALL!« Über seinen Händen, die er schalenförmig geöffnet vor den Bauch gepresst hielt, bildete sich eine gleißende Feuerkugel. Während die sengende Hitze langsam und unerbittlich Tarlisins Handflächen und Unterleib verbrannte, zwang er sich, die Schmerzen zu missachten und sich darauf zu konzentrieren, den Ball weiter in Richtung der Kutsche zu lenken. Doch er hatte zu viel seiner Lebenskraft verloren, als dass er die Schmerzen lange aushalten konnte, und schließlich waren die Qualen zu stark. Der Magier verlor das Bewusstsein, und im selben Augenblick explodierte der Feuerball.
35. Kapitel
Bei Madasee, zur elften Vormittagsstunde des 2. Praios 28 Hal
Tarlisin erwachte, als die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach fielen, genau den Punkt erreicht hatten, an dem er zusammengebrochen war. Sein ganzer Körper schmerzte, und es dauerte eine Weile, bis er seine Hände überhaupt spüren konnte. Vor allem aber hämmerte es in seinem Kopf, und in seinem Mund war wohl irgendein Kleintier gestorben. Er brauchte unbestimmte Zeit, bis er sich auf die Ellenbogen aufstützen konnte, und als seine Beine schließlich kräftig genug schienen, brauchte er noch einmal viel länger, bis er sich trotz der Ketten aufgerichtet hatte. Um ihn herum war ein Trümmerfeld und es stank nach schwelendem Holz und verschmortem Blut. Wenn er sich je gewünscht hätte, auf dem Schlachtfeld zu sterben, wäre hier der richtige Ort gewesen, doch irgendetwas ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, verbot ihm, sich einfach wieder sacken zu lassen, sich zusammenzurollen und auf die sanften Bisse der Füchse, das zärtliche Picken der Krähen und Elstern zu warten, die seinen Schmerzen ein Ende machen würden.
Ein Dorf. Irgendwo war ein Dorf gewesen. Er wusste kaum, wo er es gesehen hatte und wo er vorher gewesen war, aber er schlug aufs Geratewohl eine Richtung ein und verfolgte sie torkelnd mit den lächerlichen Trippelschritten, die ihm seine Fußketten erlaubten. Als er eine halbe Stunde gehumpelt war, fiel ihm ein, dass er bei den Leichen seiner Entführer nach Werkzeug, nach Proviant, nach irgendetwas Nützlichem hätte suchen können, doch der Gedanke, wieder umzukehren, war unerträglich. Also taumelte er weiter. Als der Regen einsetzte, wurde sein Kopf ein wenig klarer, doch er suchte nicht nach einem Unterschlupf – er humpelte immer weiter nach irgendwo.
36. Kapitel
Bei Madasee, zur zweiten Nachmittagsstunde des 2. Praios 28 Hal
»Also: Wir haben eine verbrannte Kutsche mit einem gleichfalls verbrannten Fahrgast, einen auf einem Ast aufgespießten Mann, eine Frau, der anscheinend von den durchgehenden Pferden der Schädel eingetreten worden ist. Drei Tote, allesamt in Gewändern unserer Einheit, aber mir völlig unbekannt.« Hauptfrau Lanzelind fasste mit nüchterner Stimme ihre Entdeckungen zusammen, als ein Ruf ertönte: »Hier ist noch eine.« Die Anführerin der Pfeile des Lichts trat mit schnellen Schritten an die Seite ihres Untergebenen. An der Lichtung, auf der er stand, hatte die Kutsche anscheinend für einen Moment angehalten. Der von Brandblasen übersäte Körper einer nun nicht mehr in Weiß gekleideten Frau lag auf dem Bauch, doch als Lanzelinds Untergebener sie herumdrehte, war zu erkennen, dass sie noch lebte. In kürzester Zeit war ein Heiltrank herbeigeschafft und der Sterbenden eingeflößt – und als Eliteeinheit der Weißen Gilde waren die ›Pfeile des Lichts‹ mit Tränken ausgestattet, die einen Sterblichen noch aus Golgaris Schnabel klauben konnten, wie es hieß.
Als die Frau zu sich kam und zu reden begann, erwies sich die Weisheit dieser Maßnahme – denn schnell war deutlich, dass sie keineswegs zur Einheit gehörte, nicht einmal Magierin war. »Aufsitzen!«, befahl Lanzelind Heilenhorst knapp den Reitern ihres Kommandos. »Schwärmt aus, und bringt mir von Borbra!«
37. Kapitel
Madasee, zur dritten Nachmittagsstunde des 2. Praios 28 Hal
Tarlisin taumelte schon mehrere Stunden die Landstraße entlang, als er schließlich unweit des Weges ein größeres Dorf, fast schon ein Landstädtchen erblickte. Doch was er nun tun sollte, war ihm unklar, denn ein entlaufener Sträfling wie er würde ohne Zweifel von Hunden gehetzt und zerfleischt werden – die Bauern Almadas waren reich, aber sie waren auch wachsam und misstrauisch, wenige Stundenritte vom Reich der Novadis entfernt. Novadis, Wüstensöhne, Steppenreiter. Hufgetrappel erklang hinter ihm und als er mühsam den Kopf wandte, erschienen ihm die beiden Reiter am Horizont in ihren reinweißen Mänteln wie die Vorhut der Kalifenreiterei. Doch dann begriff er, wen er da sah, und ließ sich mutlos zur Seite fallen, irgendwo ins Strauchwerk neben der Straße. Vielleicht hatten sie ihn noch nicht bemerkt, da er leiser, kleiner und dunkler war als sie selbst. Aber als sie näher kamen, verlangsamten sie ihren Ritt, als wollten sie einer Vermutung nachgehen. Tarlisin versuchte, sich zu straffen. Wenn er schon keine
Chance hatte zu entkommen, so wollte er doch nicht ohne Widerstand untergehen. Verbrennen wie ihre Kumpane konnte er die Weißgekleideten nicht mehr, aber er würde tun, was sein gebrochener Leib vermochte. Plötzlich war da eine Stimme: »He! Hierher!« Mechanisch schaute er in ihre Richtung und erblickte eine schlanke Frauenhand, die ihm aus einer Scheune zuwinkte. Für einen Moment zögerte er, doch die Reiter waren nicht mehr weit entfernt, und wenn sie ihn erst einmal gesehen hatten ... Also trippelte er eilig los und wurde von der Bardin Sylvana die letzten Schritte mehr gezogen als geführt. Als sie die erste Lage des losen Heus über ihn schichtete, übermannten ihn Erleichterung und Erschöpfung und er schlief ein.
38. Kapitel
Madasee, zur zehnten Abendstunde des 2. Praios 28 Hal
Er erwachte in einem richtigen Bett. Die Ketten waren verschwunden, seine wundgescheuerten Handgelenke wie auch die Hände mit nach Kräutern duftenden Leinenstreifen verbunden. Der Magier tastete vorsichtig über seinen Leib und entdeckte weitere Verbände, er hatte jedoch erstaunlicherweise kaum Schmerzen. »Na, Bursche, ausgeschlafen?« Eine brünette Frau mit grimmiger Miene beugte sich über ihn. »Wer seid Ihr und wo bin ich? Wie die Hallen der Inquisition sieht das hier nicht aus.« Die Frau versetzte unwirsch: »Das sollen sie auch nicht sein, bewahre. Mein Name ist Radmone und mein Haus steht nur den Kranken und den Heilenden offen.« Als Tarlisin sich mühsam aufsetzte, sah er einen Moment lang bunte Farben wie vom Regenbogen der Herrin Tsa vor seinen Augen. Rüde fuhr ihn die Heilerin an: »Der Herr will also aufstehen? Tut es nur, Ihr werdet ja sehen, was dann geschieht, ich hebe Euch nicht wieder ins Bett!« Resigniert ließ sich der Magier zurücksinken. Etwas besänftigt fuhr die Heilerin fort: »Ihr habt ver-
mutlich Hunger. Wartet einfach brav im Bett und versucht keine Heldentaten. Dass Ihr lebt, sollte erst mal genug sein.« Gefügig ließ sich der Magier zurücksinken und verharrte reglos, als die Heilerin die Kammer verließ. Er hatte wohl etwas geschlafen und schreckte auf, als die Heilkundige mit einer Schüssel Suppe zurückkehrte. So gern Tarlisin selbst gegessen hätte, war er doch viel zu schwach und ungeschickt, um mit seinen bandagierten, verbrannten Händen auch nur den Löffel zum Mund zu führen, also musste er sich zu seiner Verärgerung von der unwirschen Frau wie ein Kleinkind füttern lassen. Danach verließ sie ihn wieder. Schon in der Tür, rief sie eine Frau herein: »Du kannst ihn jetzt sehen, Kind!« Sylvana war in der Freiheit aufgeblüht. Nie hatte er bemerkt, wie strahlend ihre Augen, wie verführerisch ihre Lippen waren. Sie war, dort in der Scheune, also doch nicht nur ein Traum gewesen. Zwanglos nahm sie am Rande seines Bettes Platz und fragte neckend: »Nun, hast du es also geschafft, aus Al'Muktur zu fliehen? Damit dürftest du der Erste sein.« Er ging mühelos auf den Ton ein und erwiderte: »Ich wollte dich überraschen. Und anscheinend hast du auch sehnsüchtig nach mir Ausschau gehalten.« Die Bardin lachte: »Wenn du es so sehen willst ...
Aber eigentlich bin ich freigelassen worden, weil so ein alter Mann meine Schulden bezahlt hat, mich dann aber wohl vergessen hat.« Sie erzählte knapp, wie sie in Madasee hängengeblieben war, weil der größte Bauer und Winzer am Ort jemanden suchte, der die letzten Tage des Rahjamondes mit heiterer Musik begleiten konnte, und dann war sie eben auch über die Namenlosen Tage hiergeblieben. Nun würde sie bald weiterziehen, in ein paar Tagen oder einer Woche. Ihr heiteres Geplauder erinnerte Tarlisin daran, dass es noch eine andere Welt gab als die der dunklen Kerker und der finsteren Magie, eine Welt, die er sich nicht entgehen lassen wollte. Während sie erzählte, hatte er langsam seine kaum noch schmerzende Hand über ihren Rücken wandern lassen und ihre Schultern gestreichelt. Aber als er sie anlächelte und versuchte, sie zu sich aufs Lager zu ziehen, löste sie sich mit einer raschen Bewegung und stand auf. Ihr Grinsen war entwaffnend: »Ach nein, lieber nicht, mein Bester. Unsere gemeinsame Zeit war doch schön, und ich will nicht, dass du mich vergisst. Und irgendwie vermute ich, dass du länger an die wenigen Frauen denken wirst, die nein gesagt haben ...« Schneller als der verwundete Magier reagieren konnte, trat die Bardin vor und küsste ihn auf die Stirn: »Das ist für alles Gute und die vielen Geschich-
ten. Jetzt solltest du ausruhen, so rät es die Heilerin.« Mit einem letzten Lächeln war sie verschwunden und ließ Tarlisin allein zurück. Allein, um auch seine erste Nacht in wahrer Freiheit einsam zu verbringen. Als er an die Träume dachte, konnte er ein Schluchzen nicht unterdrücken, und schnell wurde ein Tränenstrom daraus.
39. Kapitel
Madasee, zur zehnten Morgenstunde des 3. Praios 28 Hal
Der Brabaker war zornig. Mit der Haltung der Bardin hatte das nichts zu tun, versicherte er sich, nicht einmal mit den Alpträumen der letzten Nacht – aber diese übereifrige Heilerin! Beim Frühstück, nachdem sie seine Verbände überprüft hatte, wollte er ihr ruhig erklären, dass er nun weiter müsse, dass seine Anwesenheit für sie und das ganze Dorf gefährlich sei. Wenn die Schlagetots, die ja wohl zu einer größeren Bande gehörten, zurückkämen, dann mochten sie auch vor Repressalien gegen die Bauern nicht zurückschrecken – und was immer Sylvana der Heilkundigen gesagt hatte, sie konnte nicht wissen, welche Mörder auf seiner Spur waren. Doch die brünette Radmone hatte nur gespottet, auf seine gerade erst versorgten Wunden verwiesen und es kategorisch abgelehnt, ihn auch nur aufstehen zu lassen. Tarlisin überlegte. Was sollte er überhaupt tun? Fortgehen von hier, gewiss, aber dann? Die Söldner hatten gesagt, Olorand sei tot. Das mochte gelogen sein, aber darauf konnte er sich nicht verlassen.
(Tot, tot, tot. War ihm doch jemand zuvorgekommen, ein Weißkopf weniger zu erschlagen ...) Der Wahn war hier, in dieser Umgebung, weniger stark, aber er erinnerte ihn daran, dass längst nicht alles vorüber war. Doch falls Olorand ermordet worden war, dann hatte er vom Gericht wenig zu erhoffen. Wer würde dann noch für ihn eintreten? Einen Augenblick lang dachte er daran, alles hinter sich zu lassen und den Yaquir hinabzuziehen, bis er sich in Kuslik ins ferne Güldenland einschiffen konnte. Doch das würde heißen, Aventurien kampflos dem Feind zu überlassen – und das mochte die Göttin verhüten. Die Göttin. Tsa würde ihm helfen, schließlich hatte sie ihm erst vor kurzem noch beigestanden. Und wenn er von den Gerichten der Sterblichen nichts mehr zu erwarten hatte, würde sie ihm Gerechtigkeit erweisen, Gerechtigkeit nicht nur seinen Taten, sondern auch seiner Seele. Hatte er nicht am Tag des Mordes abgelehnt, mit ihr zu sprechen, hatte er nicht ihr Haus in Punin wieder verlassen, ohne vor sie zu treten? Punin. Die Pfeile des Lichts würden nicht damit rechnen, dass er zurückkehrte in die Höhle des Drachen, sie würden ihn als Flüchtling auf dem Weg ins Liebliche Feld und heimwärts nach Aranien vermu-
ten. Und im Haus der Ewigjungen zu Punin könnte er sich niederwerfen vor dem Altar und das Urteil der Göttin erflehen. Von neuem Schwung erfüllt, stand er auf und suchte seine Kleidung. Er suchte sie vergebens – die verbrannten, blutigen Fetzen waren vermutlich längst verscharrt. Und auch an Heilmitteln war nichts zu finden – die Heilerin trennte ihre Kranken und Vorräte offenbar gründlich voneinander. Die ganze Kammer erhielt nur sein Bett, einen Stuhl und allerlei Blumenschmuck. Sein Medaillon hatte sie ihm gelassen, aber ansonsten trug er nur etliche Verbände und einen einfachen Lendenschurz. Offenbar war es Frau Radmone sinnlos erschienen, ihm auch nur ein Nachthemd über die Wunden zu ziehen. Nun, er würde sie bitten, höflich aber energisch, ihm einen einfachen Rock und einen Mantel zu überlassen – und Schuhwerk. Er würde es ihr vielfach entlohnen. Das Vorhaben scheiterte schon in dem Moment, als sich die Tür der Kammer als verriegelt erwies. Die Heilerin verstand ihren Pflegling offenbar sehr gut. Krach schlagen konnte und wollte er nicht – aber nun, da er sich eingesperrt wusste, erwachte sein Freiheitsdrang erst recht. Das Fenster war groß und nur von zwei hölzernen Läden verdeckt. Hier war ein Entkommen möglich.
Ohne lange an die Schmerzen zu denken, die das verursachen würde, öffnete er die Blenden und schwang sich auf die schmale Fensterbank – wenigstens lag das Zimmer nicht in einem Obergeschoss, sonst wäre seine Flucht hier und jetzt gescheitert. Erst dann kam ihm der Gedanke, besser zumindest die aus bunten Stoff-Flicken zusammengenähte Bettdekke mitzunehmen. Mit einem Aufstöhnen schwang er sich schließlich doch aus dem Fenster und humpelte davon, dem nahen Wäldchen entgegen.
40. Kapitel
Punin, zur achten Morgenstunde des 4. Praios 28 Hal
»Spenden, Spenden, gebt für einen armen Pilger!« Der fromme Mann mochte ein Veteran sein, der in eine Schlacht zu viel gezogen war, so wie er sich hinkend durch das Tor schob. Vermutlich ein Südländer, seiner dunklen Haut nach zu schließen. Das Gesicht war mit Schrunden und Schorf bedeckt und sein Haar stoppelkurz, an vielen Stellen trug der Schädel noch die Spuren einer ungeschickten Schur. Zu welchem Tempel er wollte, stand außer Zweifel, denn er trug über seinen Verbänden nur einen Umhang in allen Regenbogenfarben der Herrin Tsa und hatte sich das Gesicht bunt bemalt, darüber hinaus hatte er sich am ganzen Leib mit Blumen geschmückt. Der graubärtige Gardist warf dem Invaliden eine kleine Münze zu, denn solange seine Tochter guter Hoffnung war, wollte er die Göttin der Geburt keineswegs verärgern. Das hatte er auch so gehalten, als seine Frau schwanger ging, und welch prächtige Kinder hatte es ihm eingebracht: Bald würde seine Älteste ihn zum stolzen Großvater machen. Mit einem versonnenen Lächeln schob er den Gedanken beiseite und schaute erneut nach denen aus, die
an den Stadttoren zur Ergreifung ausgeschrieben waren: der novadische Bandit Al'Charja, die betrügerische Kornhändlerin Pamja Plotzhagen und seit kurzem ein stolzer, adliger Magier namens von Borbra. Er schüttelte sich – welch ein Name. Sicherheitshalber schlug er das Praioszeichen und dankte den Göttern, dass diese Schurken wohl nicht vorbeikommen würden. Kaum hatte er das Al'Mukturer Tor passiert, bemühte sich Tarlisin auch schon, mit der Menge auf der Eisenstraße zu verschmelzen. Pilger und Bettler gab es hier viele, und er hatte sich seinem Pilgerstand gemäß gewandet – wie viel davon Tarnung, wie viel Wahrheit war, konnte er selbst nicht sagen. Gestern hatte er jedenfalls wie so manche Pilger ganz von den Früchten und Beeren gelebt, die die Natur hervorbrachte, und den Saft der Beeren hatte er genommen, um sein Gesicht zu färben. Seinen Blütenschmuck hatte er sich am Wegesrand zusammengepflückt. Gern hätte er einen Stock besessen, um sich beim Gehen zu stützen, doch er hätte ohnehin kein Messer gehabt, um sich einen zurecht zuschnitzen – und wer weiß, vielleicht hätte er mit einem Wanderstab wieder zu sehr wie ein Magier ausgesehen. Also musste er weiterhinken, stets bestrebt, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Als eine Patrouille der Pfeile des Lichts erschien, drückte er sich wie das andere arme Volk in den Schatten, und sie ritten vorbei, ohne
ihn auch nur wahrzunehmen. Zwar waren diese hier wohl echt, aber er wusste schließlich nicht, unter welchen Befehlen sie nach ihm suchten. Den Theaterplatz und das Rathaus mied er diesmal und nahm lieber Seitenstraßen, um zum Platz des Schweigens zu gelangen. Als er den weiten, offenen Platz erreicht hatte, blieb er zögernd stehen. Mitten auf dem Platz hielten die Ritter des Golgari und andere schwarzgewandete Tempelwachen einen Morgenappell ab und ließen niemanden ihre Formationen stören. Als Garde des Raben von Punin konnten sie sich in der Reichsstadt einiges herausnehmen. Eigentlich hatte er nur abwarten wollen, bis der Appell zu Ende war, doch als gehe es darum, einen Kontrapunkt zu all dem Schwarz zu setzen, näherten sich nun von Süden, vom Theaterplatz her, weiße Gestalten – Pfeile des Lichts. Also hieß es auszuweichen. Der kürzere Weg am nördlichen Rand des Platzes entlang war erst recht versperrt, denn da standen städtische Gardisten und schauten dem Treiben aufmerksam zu – also schlug Tarlisin, ohne lange zu warten, den längeren Weg ein, der den Platz im Süden umrandete. Er hatte erst wenige Dutzend Schritt zurückgelegt, als er sich plötzlich beobachtet fühlte. Intuitiv hob er den Kopf und sah über viele Schritt hinweg in die Augen
von Ritter Dorgo von Bruchweiden. Khalidais Vater schüttelte verwirrt den Kopf. Etwas an dem zerrupften Pilger kam ihm irgendwie vertraut vor. Tarlisin senkte den Kopf wieder und bemühte sich um einen möglichst humpelnden Gang, meilenweit entfernt vom forschen Ausschreiten des Großmeisters der Grauen Stäbe. Doch dann klangen Befehle herüber, als der Ritter seine Einheit einem Untergebenen übertrug. Schwere Stiefel näherten sich über das Pflaster. Als er aufschaute, erkannte Tarlisin, dass er direkt vor dem Haus des Boron stand – viele, viele Schritt breit zog es sich zu seiner Rechten hin und bot keine Zuflucht außer dem höchst förmlichen Eingang. So weit war er gekommen, dass er in Sichtweite des Hauses der Ewigjungen von Häschern ergriffen wurde! Sehnsüchtig warf er einen Blick auf die grünen Kupferschindeln des Tempeldaches und die bunten Steine der Außenmauer. Aber er war einmal von dort geflohen, und nun wollte ihn die Göttin auch nicht mehr. Statt des Lebens blieb ihm nur noch der Tod als Wahl. Ehe der rachsüchtige Golgarit ihn hier vor aller Leute Augen erschlug, stieg Tarlisin die Stufen hinauf und betrat den Tempel des Boron.
41. Kapitel
Punin, zur neunten Morgenstunde des 4. Praios 28 Hal
»Verflucht, wo ist er? Um Haaresbreite entwischt!« Hauptfrau Lanzelind konnte ihren Ärger kaum unterdrücken. Dabei hatte sich ihre Eingebung bewährt: Statt die Kräfte ihrer kleinen Einheit in immer weiteren Fahndungskreisen zu verzetteln, hatte sie sich entschieden, nach Punin zurückzukehren. Von Borbra war ein zäher Hund, der würde nicht so einfach fliehen – und den Täter zog es angeblich immer an den Ort der Tat zurück. Doch dann hatte sie sich nicht persönlich darum gekümmert, den Wachen an den Stadttoren eine wirklich aktuelle Beschreibung des Gesuchten zu übermitteln – und als sie den Fehler bemerkt hatte, suchten die Torwächter brav nach einem langhaarigen Magier mit Stab und Robe. Am Al'Mukturer Tor waren sie schließlich fündig geworden: Ein ältlicher Gardist war sich sicher, einen hochgewachsenen, schwer verwundeten Pilger mit kurzen schwarzen Haaren und südländischer Haut hereingelassen zu habe – eine Stunde zuvor! »Zum Tempel der Tsa! Beim Praios, vielleicht erwischen wir ihn noch!«
42. Kapitel
Punin, zur neunten Morgenstunde des 4. Praios 28 Hal
Vor dem über dreißig Schritt breiten Wandgemälde, das sich direkt gegenüber dem Tempeleingang in aller Pracht präsentierte und in dessen Mitte das Zerbrochene Rad als Symbol des Herrn Boron prangte, hatte Tarlisin kurz das Knie gebeugt, doch dann war er ziellos in einen der seitlich fortführenden Gänge gehumpelt. Nur tiefer in die Schatten, und dann einen unverschlossenen, leeren Raum finden. In seiner bunten Gewandung fiel er unter den Geweihten und Trauernden auf wie ein Paradiesvogel unter Raben, und schon warfen ihm die Ersten erstaunte, ja empörte Blicke zu. Und hinter ihm hallten immer lauter die schweren Stiefel das Golgariten. Der würde keine Probleme haben, er war hier sozusagen zu Hause. Tarlisins Beine schmerzten, und er wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Er war den ganzen Vortag gehumpelt und hatte nur ein paar Stunden in der Morgenkälte im Stadtteil Pendulum vor dem Al'Mukturer Tor verbracht. Nun verlangte sein Körper gebieterisch nach einer Rast.
Da erschien wenige Schritt vor ihm eine Türöffnung, nur mit einem schwarzen Vorhang verdeckt. Mochte dahinter sein, was wollte, er warf sich förmlich hindurch und fiel zu Boden, als seine Beine unter ihm nachgaben. Als er sich auf den Rücken drehte, sah er den Golgariten über sich stehen. Ritter Dorgos Miene war ernst, aber nicht feindselig: »Ihr hättet nicht zu fliehen brauchen, Pilger der Göttin. Nun habt Ihr die Tempelruhe für nichts und wieder nichts gestört, denn so wahr Ihr dem Herrn noch Euren Tod schuldet, so wahr werde nicht ich ihn heute einfordern.« Als er Tarlisins erschöpftes, verwirrtes Gesicht betrachtete, setzte er hinzu: »Seine Erhabenheit hat mit mir gesprochen und mir offenbart, was Ihr ihm über die letzten Tage meiner Ordensgeschwister berichtet habt. Wenn er keinen unentschuldbaren Fehl darin fand, ist es nicht an mir, ihn zu suchen. Das wollte ich Euch nur mitteilen.« Tarlisins einzige Antwort war ein Stammeln: »Und ... und ... was nun?« »Nach meinem Ermessen seid Ihr frei zu gehen, wohin Ihr wollt. Doch will ich Euch nicht verhehlen, dass sich derzeit vor dem Tempel die Pfeile des Lichts sammeln. Als sie nach einem Pilger von Eurer Erscheinung fragten, war ich zur Wahrheit verpflichtet.«
Vorbei, also doch alles vorbei. Tarlisin bemühte sich um eine gelassene Stimme, doch sie hüpfte und sprang: »Zwei Bitten habe ich an Euch: Erstens: lasst mich kurz vor dem Altar des Herrn Boron beten, ehe ich den Tempel verlasse. Und zweitens: lasst mich ein Licht für Magister Olorand von Gareth-Rothenfels entzünden, er war mir ein Freund in bitterster Zeit.« Bedächtig nickte der Ritter Golgaris, während er dem gestürzten Pilger auf die Beine half: »Weder darf ich Euch das Gebet verwehren, noch rate ich davon ab, Eures Freundes zu gedenken. Doch wenn Ihr ihn für tot haltet, so kann ich sagen, dass ich ihn heute noch selbst hier im Tempel begrüßt habe, als er sich beim Herrn für seine Genesung von der schweren Schlafkrankheit bedankte. Er wollte zur Akademie, um just in Eurem Falle auszusagen.« Die Söldner hatten gelogen. Es war, als wäre ein schwerer Mantel von Tarlisins Schultern geglitten, und er straffte sich. »Ich danke Euch für diese Nachricht mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt. Nun will ich zum Herrn beten, und danach werde ich die Pfeile des Lichts nicht ungebührlich warten lassen.«
43. Kapitel
Punin, zur zehnten Morgenstunde des 4. Praios 28 Hal
Wiederum war der kleine Gildensaal als Schauplatz der Verhandlung ausersehen, doch diesmal war er von mehr Personen frequentiert, als vom Erbauer gedacht – und es herrschte eine so angespannte, unterdrückt aggressive Stimmung wie nur selten in dem Raum: Denn es waren außer den drei Graumagiern noch vier Vertreter der Weißen und der Schwarzen Gilde anwesend, dazu eine fünfköpfige Garde der grauen Stäbe und eine kleine Abteilung der Pfeile des Lichts. Ein Großes Gildengericht wurde nur selten einberufen und zählte sieben vornehme Richter: Drei aus der Gilde des Angeklagten, je zwei aus den übrigen beiden Gilden. In diesem Fall war das Gericht der Grauen Gilde um zwei weiße und zwei schwarze Magister erweitert worden: Als Richter für den ›Bund des Weißen Pentagrammes‹ waren Jorge Vittelbeck, der Leiter der Beherrscherschule von Elenvina, und Magistra Halike Rattel von der Hellsichtschule zu Rommilys zugegen. Als Vertreter der schwarzmagischen ›Bruderschaft der Wissenden‹ im Gericht waren der Lowanger Beherrschungsmagier und Akademieleiter Oswyn Pu-
schinske sowie der Brabaker Magister Magnus Pôlberra anwesend. Das Zusammentreffen der beiden Meister der Beherrschungsmagie war keineswegs geplant gewesen und löste bei den übrigen Anwesenden je nach Charakter Ärger, Sorge oder Belustigung aus: Der Weiße Vittelbeck war fast neunzig Jahre alt, ein berüchtigter Zuchtmeister, streng und götterfromm, ein enger Vertrauter des nordmärkischen Herzogs und dessen Bruders, des Elenviner Erleuchteten der Praioskirche. Sein schwarzes Gegenstück übertraf ihn noch an Jahren: Oswyn Puschinske war über hundertjährig, kahlköpfig und von den Pocken gezeichnet. Nur der gerüchteumwobene Schuss Elfenblut in seinen Adern hielt ihn noch am Leben und bei Verstand. Als ehrgeiziger, rückgratloser Machtmensch pflegte er seinem Gegenüber erst beizupflichten und ihm dann in den Rücken zu fallen. Die bösen Blicke, die er und Magister Vittelbeck sich zuwarfen, waren nicht geheuchelt. Wie wenig Respekt die Schwarze Gilde der ganzen Anhörung entgegenbrachte, zeigte sich schon in der Person des zweiten schwarzmagischen Richters: Der widerwärtige Pôlberra aus Brabak war ein bleichhäutiger Nekromant mit Fistelstimme, der damit prahlte, schon jedes Gildengesetz gebrochen zu haben. Sein hünenhafter, stummer Leibwächter Markello wich nicht von seiner Seite.
Auf der Zeugenbank unterhielt sich Olorand von Gareth-Rothenfels leise mit Halef Okharim, dem einzigen Nichtmagier im Raum. Der Sekretär versuchte zugleich, unauffällig Magistra Alvina Viburnian Crassula zu beobachten. Eisenkobers Scholarin hatte den Rohalsstab ihres ermordeten Lehrmeisters dabei, offensichtlich fühlte sie sich bereits als dessen Nachfolgerin. Ihr gegenüber saß Meister Balthusius von Selem, der den Orden der Grauen Stäbe vertrat, und würdigte sie keines Blickes. Die Convocata Prima, Prishya von Garlischgrötz zu Grangor, blickte mehrfach ungeduldig zur Tür, als warte sie auf etwas – denn noch war der Angeklagte nicht eingetroffen. Auf dem Tisch vor ihr lag aber bereits, gut bewacht von einem Wächter Rohals, einem Magier der Pfeile des Lichts sowie einer Gardistin der Grauen Stäbe, ein schwarzes, matt schimmerndes Objekt. Auch die Graue Gardistin und der Wächter Rohals starrten sich mit funkelnden Augen an, der Magus der Pfeile des Lichts ließ sich von diesem stummen Zweikampf nicht beeindrucken und blickte ausdruckslos auf das sogenannte Desiderat. Es war von der Größe eher unscheinbar, etwa hühnereigroß, und von einer merkwürdigen Form. Der Pfeil des Lichts bemerkte, dass er beim Betrachten des Objekts starke Kopfschmerzen bekam, und wandte den Blick schließlich doch zur Seite.
Als die Unruhe und Angriffslust im Raum zum Schneiden dick wurden, betrat Hauptfrau Lanzelind von den Pfeilen des Lichts den Gildensaal und wechselte einige leise Worte mit der Vorsitzenden. Beim Anblick der einzelnen Magierin glitt ein leichtes Lächeln über das Gesicht der Klägerin Viburnian Crassula. Nachdem Frau Lanzelind Platz genommen hatte, erhob sich Prishya: »Silentium, Collegae. Wie ich gerade von Hauptfrau Lanzelind erfahren habe, ist der Angeklagte Tarlisin von Borbra in Al'Muktur durch Unbefugte abgeholt worden, die die Tracht der Pfeile des Lichts trugen. Es wurde allerdings ein Siegelring der Grauen Stäbe an einem von ihnen bemerkt. Kann irgendjemand der Anwesenden Licht in diese Angelegenheit bringen?« Ein Raunen ging durch die Zuhörerschaft, das Gericht nicht ausgenommen. Halef erhob sich und wollte sprechen, ehe er von Olorands strengem Blick zurückgehalten wurde. Der alte Mann hatte sich bemerkenswert gut erholt. Währenddessen sprang Meister Balthusius erregt auf: »Eure Spektabilität, hohes Gericht, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Selbstverständlich hätte sich unsere Gemeinschaft niemals angemaßt, den Gefangenen abzuholen.« Die Convocata Prima betrachtete den Justiziar mit
ausdruckslosem Gesicht. »Habt Ihr vielleicht einen Verdacht, wer dahinter stecken könnte?« Ohne die Antwort Balthusius' abzuwarten, stand Adepta Alvina auf und straffte sich, ehe sie mit klarer Stimme das Wort ergriff: »Hohes Gericht, es ist doch nur wahrscheinlich, dass sich irgendjemand bei den Grauen Stäben bemüßigt gesehen hat, den Großmeister in Sicherheit zu bringen. Immerhin steht außer Zweifel, dass die Grauen Stäbe davon profitieren, wenn der Angeklagte nicht vor Gericht erscheint und sich damit der Gerechtigkeit entzieht. Nicht zum ersten Mal, wenn ich daran erinnern dürfte ...« Balthusius fiel ihr erregt ins Wort: »Das steht derzeit nicht zur Debatte, ob Seine Spektabilität ...« Das heftige Pochen von Convocata Prishyas Magierstab beendete den Streit. »Meister Balthusius, Adepta Alvina! Bitte, so kommen wir nicht weiter. Meister Balthusius, ich fasse zusammen: Ihr sagt aus, dass Ihr oder Euer Orden nichts mit dem Abtransport des Gefangenen zu tun habt. Ist das richtig?« Der Justiziar nickte. »Ja, das stimmt.« Prishya wandte sich an die Wächterin Rohals: »Könnt Ihr das Gleiche über Euren Orden sagen? Immerhin wissen wir, dass Ihr den Angeklagten beinahe selber erschlagen hättet.« Alvina konnte ihren Unmut nicht verbergen. »Das ist doch absurd! Er war ein Eindringling in unserem
Haus, da hatten wir jedes Recht, ihn anzugreifen. Und was dieses Befreiungsunternehmen angeht, welchen Nutzen sollte es den Wächtern Rohals bringen? Von uns hat damit niemand etwas zu tun.« Die Convocata nickte dem Schreiber zu: »Nehmt dies bitte zu Protokoll.« An die Hauptfrau der Pfeile des Lichts gewandt, fragte sie: »Ich hoffe, wir können Klarheit in diesen verwirrenden Vorfall bringen. Hauptfrau Lanzelind, Ihr sagtet mir gerade, dass Ihr einen Zeugen zu diesem Vorgang habt?« Die Hauptfrau salutierte knapp: »Jawohl, Eure Spektabilität. Ich habe die Aussage einer gewissen Kôrdula von Belhanka, die sehr interessante Dinge berichtet hat und zwar nicht weiß, wie der Name ihres Auftraggeber lautet, ihn aber zweifellos wiedererkennen würde.« Alvina Viburnian Crassulas überlegenes Lächeln war für einen Moment einer Miene der Verstörung gewichen, ehe sie eine starre Maske über ihre Regungen legte. Was konnten die Anschuldigungen eines Söldners schon ausmachen! Dann aber fuhr die Weißmagierin fort: »Ihr geruhtet allerdings nicht, zu erwähnen, dass wir den Angeklagten schließlich doch gefunden haben.« Auf ein Zeichen der Hauptfrau hin öffneten die Gardisten die Tür und ließen zwei Magier der Pfeile des Lichts eintreten, deren Begleiter Tarlisin von Borbra stützten.
Als der verschwunden geglaubte Magier langsam zu seinem Platz geleitet wurde, ging ein erstauntes Raunen durch den Raum. Wenn die Adepta Alvina zuerst nur verstört gewirkt hatte, zeigte sie nun völlige Fassungslosigkeit. Unruhig blickte sie sich um. Ihre Hände umklammerten den Stab, als wollte sie daran Halt suchen. Ihre Lippen zitterten, offensichtlich murmelte sie ein Gebet an ihre Gottheit. Doch während sich die Vorsitzende nach den Beobachtungen der Pfeile des Lichts erkundigte, wurde Alvinas Gemurmel deutlicher. Nun gab Hauptfrau Lanzelind dem Pfeil des Lichts ein knappes Handzeichen und er setzte sich in Richtung der Adeptin in Bewegung. Doch er kam zu spät: Das Murmeln der Wächterin Rohals endete jäh in einem triumphalen Aufschrei in Zhayad, der verrufenen Beschwörersprache: »Turaimaar Muurdisha Turaizach Caasfarcal!« Das trotzige »SILENTIUM SILENTILLE!« der Hauptfrau kam einen Augenblick zu spät. Die Rufe waren kaum verhallt, als völlige Stille eintrat. Kein Laut war mehr zu hören. Ein schwaches Zittern machte sich auf dem Tisch des Gerichtes bemerkbar, während das Desiderat von einem rötlichen Leuchten umfangen wurde. Die Bewacher reagierten unterschiedlich: Der Wächter Rohals betrachtete es mit ekelerfüllter Faszi-
nation und wich vorsichtig zurück, während die Graue Gardistin ihr Flammenschwert entzündete. Der Pfeil des Lichts wandte der Szene den Rücken zu und fuhr erst nach einer Schrecksekunde herum. Der ›Sphärenschlüssel‹ schien schnell zu wachsen, seine siebeneckigen Seiten öffneten sich wie die Blätter einer erblühenden Knospe. Je weiter sich das Objekt auftat, umso stärker wurde der üble Geruch, der von den ausströmenden Schwaden leuchtenden Nebels ausging. Während sich der Nebel verdichtete, verfestigte, wurde der Geruch zu einem Übelkeit erregenden Gestank. Schon erbrachen sich die ersten Anwesenden, von Krämpfen geschüttelt, als ein grelles Aufblitzen das Ende der Metamorphose ankündigte und sich eine Kreatur aus dem Nebel manifestierte. Alles war ein Werk von der Dauer weniger Herzschläge gewesen. Die Kreatur, die das Artefakt hervorgebracht hatte, war gut drei Schritt hoch und von gedrungener, bulliger Statur, wenn auch ihre genauen Proportionen nur undeutlich erkennbar waren, denn sie schien nur als Schattenriss zu bestehen. Sie war nicht mehr als ein schwarzes Loch im Gewebe der Sphären. Die Rechte des Dämons umklammerte eine Klinge aus Leere, mit der er fast nachlässig drei Schläge austeilte. Der erste köpfte den unvorbereiteten Magier der Pfeile des Lichts, der zweite die Graue Gardistin,
während der dritte den Wächter Rohals nur deshalb verfehlte, weil der Mann schweißüberströmt auf die Knie gefallen war und lautlos betete. Statt lebendes Fleisch zu treffen, wirbelte die Klinge lässig durch die Luft und erzeugte damit einen langen Riss mitten im Raum, durch den graue Limbusschwaden waberten. Währenddessen brach im Gildensaal das Chaos aus: Die Mehrheit der Anwesenden bestand aus geübten Magiern, die jedoch keine Spezialisten der Dämonenbekämpfung waren. Und selbst die, die diese Fähigkeit besaßen, schienen machtlos: Olorand von Gareth Rothenfels, der aufgrund seines Amtes heikle Situationen gewöhnt war, reagierte als Erster. Schneller, als man es dem alten Mann zugetraut hätte, erhob er sich zur vollen Größe und machte sich an die Austreibung des Dämons. Er hatte gerade die ersten Silben der Bannformel hervorgebracht, als die linke Hand des Dämons den Magier wie einen jungen Hund am Nacken packte und gegen die Wand schleuderte, wo dieser seltsam verdreht zusammensackte. Wie eine Lücke im normalen Gefüge der Sphäre hing der Riss in der Luft, unaufhörlich eisige Nebel ausspeiend. Dies war der Zeitpunkt, da Oswyn Puschinske die Arme vor der Brust verschränkte und sich mit dem TRANSVERSALIS in Sicherheit teleportierte.
Die Convocata Prima Prishya suchte vergeblich etwas in ihren Taschen, bevor sie hinter dem Tisch in Deckung ging, wo sie auf Sirdon Kosmaar und Pôlberra traf, die bereits zuvor untergetaucht waren, der letztere geräuschlos fluchend wie ein Meckerdrache. Hier gab es nichts, bei dem ihm seine Nekromantie helfen konnte. Den besten Schutz bildete sein Leibwächter Markello, der schützend über ihm stand und, mit Magie verstärkt, jeden Angriff mit seinem Leib abwehren würde. Pôlberra seufzte, er hatte sich an Markello gewöhnt und würde es bedauern, ihn zu verlieren. Andererseits ging sein eigenes Leben vor, und Markello war nicht der Erste seiner Art. Er hatte schon andere Markellos besessen und würde sich bei Bedarf neue machen, solange er überlebte. Der greise Elenviner war der Einzige von den Magiern des Gerichts, der noch aufrecht stand, als wollte er dem Dämonen mit der Macht seines Trotzes Einhalt gebieten, bis Hauptfrau Lanzelind ihn erblickte und energisch hinter dem Richtertisch zu Boden zwang. Die Kampfmagierin stand mit erhobenem Flammenschwert da, bereit, notfalls sich und das Gericht mit der Waffe zu verteidigen. Langsam trat die Rommilyser Magistra Rattel neben sie, auch sie hatte ihren Stab zum Flammenschwert verwandelt, doch sie hielt es mit zitternden Händen. Die Gardisten der
Grauen Stäbe schlossen sich mit Flammenschwert oder Kampfstab den beiden an und unterstellten sich durch kurze Blicke dem Befehl der Hauptfrau der Pfeile des Lichts, denn von ihrem Großmeister war nichts zu sehen. Gemeinsam bildeten sie einen schützenden Kreis um die hohen Richter, verstärkt durch den von Prishya soeben gewobenen Schutzschild, der sich als Halbkugel über den Magiern erhob und aufgrund der magischen Entladungen im Raum bereits flackerte. Nachdem Prishya ihre gesamte astrale Kraft in diesen Gardianum gelegt hatte, um den Kämpfern Schutz zu bieten, scheuchte sie ihre Gerichtskollegen zu der Tür, die in den Nebenraum führte. Sie war Wissenschaftlerin, keine Kriegerin, und mehr konnte sie hier nicht tun. Adepta Alvina Viburnian Crassula stürmte nach vorn und wäre zweifellos von der Waffe des Dämons niedergestreckt worden, wenn sie sich nicht im letzten Augenblick zur Seite geworfen und in den Riss zum Limbus gestürzt hätte, wo sie ohne ein Wort verschwand. Langsam schritt der Dämon auf die Richterbank zu. Man sagte von Shihayazad, dem Sphärenspalter, dass nichts und niemand ihn aufhalten könne. Er unterstand keinem Erzdämonen, sondern war eine unberechenbare Kraft der Widernatur, von der bekannt
war, dass sie sich jeder Form der Beschwörung widersetzte. Lässige Schläge mit der Schattenklinge schufen weitere Risse im Sphärengewebe und allmählich füllten die Nebel des Limbus den Raum. Balthusius von Selem jammerte lautlos und gelobte die absurdesten Dinge, wenn die Götter ihn verschonen würden. Der junge Halef versuchte, auf dem Bauch liegend, möglichst unauffällig mit dem Boden zu verschmelzen und zum Ausgang zu rutschen. Zu viel war zu viel. Tarlisin hatte sich hinter seinen Stuhl fallen lassen und blickte sich schwer atmend um. Schließlich sah er die Frau, die er suchte: Belizeth Dschelefsunni hockte reglos in einer Ecke des Raumes, nur ihre Lippen bewegten sich. Doch wie er die tulamidische Dämonologin kannte, war sie die Letzte, die in dieser Lage die Götter um Hilfe bitten würde. Tarlisin robbte über den Boden auf sie zu, während sie das Schauspiel mit einer Mischung aus Faszination und Anspannung betrachtete. Der Dämon hatte inzwischen die flackernde Schutzkugel erreicht und bedachte die Magier mit seinen Attacken, die jedoch von dem magischen Schild abgelenkt wurden. Doch obgleich dem Anschein nach nicht mit Augen ausgestattet, beobachtete die Kreatur gut, denn als einer der Grauen Gardi-
sten unachtsam seinen Fuß über den Schild hinausschob, zuckte sofort die Schattenklinge vor und durchtrennte säuberlich Stiefelleder, Haut, Fleisch, Sehnen und Knochen. Der Gardist stürzte mit einem unhörbaren Aufschrei nach vorn und wurde noch im Fallen zerteilt, sodass seine Eingeweide als Erstes auf dem Boden aufschlugen. Wütend führten die Übrigen mit schwebenden Flammenschwertern gleichzeitige Attacken gegen den Dämonen, die dieser jedoch mit lässigen Schwerthieben abwehrte. Als Tarlisin bei Belizeth angekommen war, zog er ihren Kopf zu sich heran und flüsterte ihr zu: »Das ist nicht Shihayazad.« Seine Worte waren unhörbar, doch man konnte von seinen Lippen lesen, und seine Gesten waren unmissverständlich. Die Rashdulerin gab zurück: »Das denke ich auch.« Ein Nicken. »Aber wer oder was?« Hochgezogene Augenbrauen, sorgfältig gepflegt. Die beiden Dämonologen starrten für einen Moment auf die Kreatur, die gerade jetzt ihren letzten Angriff gegen den Schutzschild schlug. Mit hellem Blitzen schien der Zauber zu brechen, und nun standen nur noch ihre Flammenschwerter zwischen den Kampfmagiern und dem Tod. Für einen der Grauen Gardisten war das nicht genug und er wurde zerhackt. Wo gerade noch sein Kopf gewesen war, gähn-
te ein weiterer grauer Riss, aus dem eisige Schwaden quollen. Reif bedeckte die Schultern der Leiche, als sie zu Boden stürzte und den Magier neben sich mitriss. In diesem Augenblick sprachen Belizeth und Tarlisin den gleichen Namen aus, eine undeutliche, mit normalen Schriftzeichen nicht niederzulegende Lautfolge. Der Dämon aber zuckte für einen Moment mit dem Schatten, der sein Kopf zu sein schien, und ermöglichte es so dem gestürzten Magier, sich aus der Bahn seiner Schattenklinge zu rollen. Die beiden Dämonologen hatten erkannt, dass sie das Gleiche dachten. Tarlisin sprach es mit übertriebenen Lippenbewegungen aus: »Er scheint zu reagieren.« Die Tulamidin gab zurück: »Wissen wir nicht. Aber wenn wir beide das Gleiche vermuten ...« Tarlisin zuckte mit den Schultern. Hatten sie überhaupt eine Wahl? Die tulamidische Magierin antwortete nicht, sondern straffte sich und machte einen Schritt auf den Dämonen zu, dessen Schläge die Flammenklinge der Hauptfrau Lanzelind so sehr beanspruchten, dass sie flackerte und zu zerbrechen drohte. Die Frau aus Beilunk wurde Schlag um Schlag zurückgetrieben, direkt auf einen Limbusquell zu. Belizeths schönes dunkles Gesicht zeigte deutlich
die Anspannung, als sie die Formel der Bannung bildete und die Zhayad-Glyphen eines Wahren Namens mit der brennenden Fackel ihres Zauberstabes in die Luft schrieb. Sogleich wandte sich die Kreatur der neuen Gegnerin zu. Als die Magierin den Wahren Namen des Dämons vollendet hatte, fuhr er auf sie zu und es schien, als ob die riesige Schattenkreatur sie umschlingen wollte. Doch die Tulamidin schloss die Augen und setzte mit fester Stimme den Exorzismus fort. Der Dämon wütete, doch mit jeder Geste verlor er mehr von seiner feststofflichen Form, bis er sich schließlich als dünner Nebel mit den wabernden Limbusschwaden vermischte. Belizeth Dschelefsunni sackte erschöpft zusammen, hielt sich aber auf den Beinen. Sie hatte die Wesenheit bannen können und stand noch. Das Lächeln, das sie dem dahingesunkenen Tarlisin schenkte und in das sie nach einem Augenblick auch den leblosen Olorand einschloss, war reiner Triumph. Anders als der Anchopaler – oder gar der Perricumer – hatte sie den Feind stehend zurückgetrieben. Damit sollte die alte Frage geklärt sein, wer von ihnen der beste Dämonologe war ... Nachdem die Verletzten versorgt und die Toten fortgebracht waren, blickte Prishya über das Schlachtfeld, das einmal der Kleine Gildensaal gewesen war: Der
Stillezauber war erloschen, und vom Gang waren entsetzte Gardisten hereingestürmt. »Angesichts der heutigen Tragödie sowie der Umstände, unter denen Magister von Borbra aus Al'Muktur geholt wurde, wird die Klage wegen des Mordes an Meister Eisenkober fallengelassen. Die übrigen Anklagepunkte bleiben jedoch bestehen. Collega Tarlisin, aus diesem Grunde steht Ihr bis zur Sitzung am morgigen Tage unter Arrest auf Ehrenwort – im Ordensgästehaus der Grauen Stäbe.«
44. Kapitel
Punin, zur elften Morgenstunde des 4. Praios 28 Hal
Die Anhörung im Großen Gildensaal hatte etwas von einer Farce an sich, da die Vertreter der Anklage fehlten. Dennoch waren die Zuschauerränge voll, denn obwohl das Gericht die Meldungen über die gestrige Katastrophe geheim gehalten hatte, waren doch Gerüchte durchgesickert und hatten allerlei Schaulustige angelockt – so viele, dass Convocata Prima Prishya zähneknirschend zugestimmt hatte, den Saal für die gildenmagische Öffentlichkeit zu öffnen. Obgleich die Anklage formell abgewiesen war, sah sich das Gericht doch gezwungen, einiges zum Mord an Nostrianus Eisenkober zu sagen. Da Magister Olorand noch mit gebrochenen Knochen das Bett hüten musste, wurde sein schriftlicher Bericht an die Convocata Prima als Zeugenaussage zugelassen – und so erfuhren die Zuhörer, dass Tarlisin von Borbras Geständnis auf dem Zauber MEMORABIA FALSIFIR beruhte, durch den ihm falsche Erinnerungen eingeflößt worden waren. Nur wenige Akademien kannten den Zauber, noch weniger lehrten ihn. Doch Olorand besaß für den seelenheilkundlich hilfreichen Spruch einen Dispens und man durfte ihn
in Perricum anwenden, so dass der alte Exorzist ihn erkannt hatte. Mehr noch, er hatte festgestellt, dass dieser konkrete Spruch ohne Zweifel von seiner gelehrigen Schülerin Alvina Viburnian Crassula gewoben worden war. Die Anwesenheit des Zaubers konnte von Olorands Vize-Spektabilität Selara Moriani bestätigt werden, und ungefragt gab Magister Pôlberra mit öligem Grinsen zu Protokoll, den Zauber ebenfalls wahrgenommen zu haben. Zumindest auf einem Bild erkannte die gefangene Söldnerin Kôrdula von Belhanka die Adepta als ihre Auftraggeberin, die ihr auch Geleitbrief und Siegel der Grauen Stäbe zur Verfügung gestellt hatte. Die Adepta selbst blieb samt dem Rohalsstab verschwunden und sie wurde notgedrungen zur Fahndung ausgeschrieben – auch wenn kaum jemand damit rechnete, die Abtrünnige noch einmal zu sehen. Das nunmehr leere Artefakt war von niemand Geringerem als der Koryphäe, dem Khunchomer Akademieleiter Khadil Okharim, untersucht worden – und ein Satz seines ersten Gutachtens beseitigte viele Fragen: Das vorliegende Objekt war zweifellos erst vor wenigen Monden geschaffen worden und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter Anwendung borbaradianischer Magie. Die Vermutung, der Dämonenmeister selbst habe mit dem gefälschten Sphärenschlüssel die Suche nach
dem Original unterbinden wollen, war kaum zu widerlegen. Einstimmig erging das Verdikt, dass Tarlisin schuldlos am Tod des Hochmeisters der Wächter Rohals war, der vermutlich getötet wurde, um seinen Rivalen als gemeingefährlichen Mörder zu brandmarken. Der Rest der Anklagepunkte wurde leidenschaftslos durchgesprochen, vieles niedergeschlagen, einiges aufrechterhalten, und schließlich fragte Prishya von Grangor: »Möchtet Ihr zum Abschluss noch etwas sagen, Collega Tarlisin?« Der Magier nickte und erhob sich mühsam, gestützt auf seinen Stab. Die bisherige Anhörung hatte er reglos verbracht, verzweifelt den Erinnerungen ausweichend, deren Widerstreit ihn quälte. »Hohes Gericht, vor anderthalb Monaten und tausend Jahren, als meine Welt ganz anders aussah, habe ich für diesen Moment eine lange und mit Bedacht ausgetüftelte Verteidigungsrede geschrieben. Ich habe sie bei mir, wenn Ihr sie hören wollt, soll sie jemand verlesen. Jetzt aber kann ich nur eines sagen: Selbst wenn es einige Anwesende in Zweifel ziehen und viele mir niemals trauen werden, ich stehe auf der Seite des Guten und habe den Irrlehren den Rücken gekehrt. Wäre dem nicht so, so wäre ich längst im Gefolge des Feindes und könnte ihm dort besser dienen, mehr erreichen
und höher aufsteigen als hier, wo mir doch vor allem Misstrauen und Abwehr entgegenschlagen.« Das Gericht brauchte nur eine halbe Stunde, um ein Urteil zu finden – und als es verlesen wurde, herrschte völlige Stille im Saal: »Im Namen der Großen Grauen Gilde ergeht gegen den Angeklagten Tarlisin von Borbra folgender Urteilsspruch: Wenn man den Ausführungen des Angeklagten Glauben schenken darf, dienten alle ihm zur Last gelegten Taten einzig und allein der Beschaffung des so genannten ›Desiderates‹, mit dessen Hilfe er die Untaten des Sphärenschänders bekämpfen will. Wenn der Angeklagte also ein derart erklärter Feind des Dämonenmeisters ist und aufgrund seiner besonderen Verbindung zu diesem als Einziger in der Lage, jenes ›Desiderat‹ aufzufinden, erscheint es der Großen Grauen Gilde als angemessen, dass Magister Tarlisin dieses aufzuspüren und der rechtmäßigen Vertretung der Gildenleitung zur näheren Examinatio zu übergeben hat. Um die Natur dieser Verbindung zum Dämonenmeister zu klären, hat sich der Angeklagte unverzüglich zu einer Untersuchung in die Schule der Austreibung nach Perricum zu begeben, wo sein Geisteszustand nach den Regularien der Akademie auf eventuelle Besessenheiten zu prüfen ist.
Damit der Angeklagte sich dieser Aufgabe mit allem Eifer widmet, verhängen wir seine Disvocatio bis zur vollständigen Erfüllung des Werkes. Sollte sich der Angeklagte weigern, dem Urteil in allen Punkten Folge zu leisten, so sei über ihn die Disliberatio und die Expurgico verhängt. Der Ordo Defensores Lecturia ist hiermit bei Androhung der Irregulatio angehalten, die Disvocatio auch auf alle die gesamte Gildengemeinschaft betreffenden Ordensämter auszudehnen.« Während sich Tarlisin zurücksinken ließ, dachte sein Sekretär Halef ruhig über das Urteil nach. Die Gilde hatte ernst gemacht, wie er befürchtet hatte, und seinem Effendi die zahllosen Provokationen heimgezahlt – und doch ließen sie ihm eine Hintertür offen. Durch die Verbannung aus allen Ehrenämtern trafen sie seinen Stolz und seine Eitelkeit empfindlich, aber der verhängnisvolle Ausschluss aus allen Gildenbibliotheken und die Entziehung seines Magierstandes waren nur angedroht. Eine hohle Drohung, denn sein Effendi wollte ja selbst nichts sehnsüchtiger, als dieses verfluchte Desiderat finden, das schon so vielen den Tod gebracht hatte. Halef argwöhnte, dass die jüngsten Gefallenen nicht die letzten sein würden. Über die erzwungene Untersuchung in Perricum musste der junge Tulamide unwillkürlich grinsen. Es
klang wie eine harte Bestrafung, doch er fragte sich, was die Spitzel der Magistra Prishya berichtet hatten. Wahrlich, sein Effendi hatte diese Untersuchung und eine Behandlung bitter nötig, wenn er wieder zu Verstand kommen wollte. Die letzte Nacht hatte er zitternd und von Alpträumen geplagt verbracht, und sein Zustand konnte bei den Exorzisten nur besser werden.
45. Kapitel
Perricum, zur elften Morgenstunde des 15. Rondra 28 Hal
»Ihr seid jetzt genau einen Monat hier und werdet bald wieder frei sein. Das ist doch ein Gläschen wert.« Magister Olorand reichte seinem Schützling einen Likör, schenkte sich auch einen ein und nahm gegenüber von Tarlisin Platz. Die beiden Magier saßen in gemütlichen Ledersesseln im Wohnraum des Exorzisten, der im Großen Turm der Akademie lag. Meister Olorand hatte ihn im militärisch-herben Stil des lange verstorbenen Kaisers Reto eingerichtet und nannte ihn dementsprechend ironisch sein ›Jagdzimmer‹, doch in einem Anflug von schwarzem Humor hatte er statt der obligatorischen Hirschgeweihe, Wildschweinköpfe und sonstigen Trophäen sorgfältige Kohlezeichnungen seiner bekanntesten Schutzbefohlenen aufgehängt. Er pflegte diese Bilder bei längeren Sitzungen selbst zu zeichnen, um ein Gefühl für den Patienten zu erhalten. Tarlisin fragte sich, wo demnächst sein eigenes Porträt hängen würde, denn auch als nunmehr abgesetzter Ordenssprecher zählte er zu den wichtigeren Gästen der Akademie.
Derzeit hielt der Seelenheiler jedoch die Hände ruhig und begann, aus einem Brief vorzutragen: »Ist heute Mittag eingetroffen. In Punin haben sie eine Art Abschlussbericht in der Sache Viburnian Crassula geliefert, auch wenn natürlich noch allerlei Fragen offen sind und wohl auch bleiben werden. Eisenkobers neuer Nachfolger, Meister Kuniswart vom Reifenwasser, vermisst schmerzlich den Rohalsstab, den ja wohl Alvina zum Dämonenmeister geschleppt hat. Dessen Agentin ist sie vermutlich gewesen, seit sie in Tobrien war.« »Hat man sie inzwischen finden können?«, erkundigte sich Tarlisin. Seinetwegen konnte sie verschollen bleiben, solange sie ihn in Frieden ließ. »Selbstverständlich nicht. Der so genannte Shihayazad hat ihr genügend Zeit zur Flucht gegeben. Übrigens mein Kompliment an Magistra Belizeth und Euch für seine Einordnung. Eine sehr selten beschworene Brut.« Er nahm den Faden wieder auf: »Es steht ja jetzt fest, dass sie Meister Eisenkober selbst erschlagen und Euch ausgeschaltet hat, als Ihr die Leiche entdeckt habt. Das passt gut zu den Erkenntnissen der Puniner. Offensichtlich sollte das Ganze Euch auf den Scheiterhaufen bringen und zugleich als Gewährsmann absolut unglaubwürdig machen. Wesentlich perfider, als wenn man Euch umgebracht hätte, denn dann wäre Euren Aussagen über den Sphären-
schlüssel erst recht Glauben geschenkt worden und Ihr hättet als Märtyrer bestimmt Nachfolger gefunden. Nicht dass Euch das viel geholfen hätte ...« Er nahm einen kleinen Schluck: »Wisst Ihr schon, wie Ihr in Zukunft verfahren wollt?« Tarlisin schüttelte den Kopf: »Ich werde wohl, wie ich es ursprünglich vorhatte, alle ›Geschäftsfreunde‹ des Liscom von Fasar abklappern müssen, denen er das Artefakt verkauft haben mag. Aber das muss noch warten, ich fühle mich einfach noch nicht bereit, mich dem zu stellen.« Die letzten Wochen in der ruhigen Atmosphäre der Akademie hatten ihm sehr geholfen. Er war seine abscheulichen Alpträume losgeworden und wurde so gut wie nie mehr von unerwünschten Erinnerungen überfallen. Davor, dass sein Gedächtnis sich sehr wohl an seine Aussetzer in Al'Muktur erinnern konnte, hatte Olorand ihn ausdrücklich gewarnt. Doch nun schaute ihn dieser mit hochgezogen Augenbrauen an: »Eure Pflicht habt Ihr hier erfüllt. Ich kann Euch bescheinigen, dass Ihr keine Marionette des Feindes seid: Wenn Ihr überhaupt wieder in den Kampf ziehen wollt, ist jetzt ein ebenso guter Zeitpunkt wie nächsten Monat. Aber ich werde Euch nicht verjagen.« Der Brabaker schüttelte sich. Er hatte mehrfach die Stadt Perricum besucht und kannte sich dort inzwi-
schen recht gut aus. Er hatte sogar ohne jede Ermächtigung erste Gespräche geführt, um zu erkunden, ob der Orden hier eventuell eine neue, größere Niederlassung errichten könne. Denn im Norden war die tobrische Front nur wenige Dutzend Meilen entfernt, jenseits der abweisenden Trollzacken, und auch die gleichfalls vom Feind besetzte Insel Maraskan war gut zu erreichen. Das Kaiserreich und die Kirche der Rondra bauten Perricum bereits als vorgeschoben Stützpunkt aus. Doch diese Ausflüge waren das eine gewesen, der völlige Abschied von der Geborgenheit, von der friedlichen Atmosphäre in der Akademie jedoch, das andere und der würde ihm schwer fallen. Doch eines hatten die blutigen Ereignisse der letzten Monde ihm bewiesen: Nirgendwo in ganz Aventurien gab es die heitere Geborgenheit, die er sich erträumt hatte, um vollständig genesen zu können. Statt sich hier hinter Illusionen zu verkriechen, würde er alles tun, um seinen Teil zum Kampf gegen den Dämonenmeister beizutragen. Tarlisin seufzte. Sogar wenn das in seinem Fall bedeutete, für Wochen und Monde einer Queste zu folgen, die die Oberen seiner Gilde statt einer Kerkerstrafe verhängt hatten. Dabei wussten sie sehr wohl, dass er, statt endlich seinen Gefühlen zu folgen und zu seiner Frau, zu seiner Familie nach Aranien zu ei-
len, mit aller Wahrscheinlichkeit in den sicheren Tod zog.
Besondere Fachbegriffe: Al'Muktur: Altes Schloss der Emire von Al'Mada, heute vor allem als Gefängnis bekannt Almada: Reiche Provinz des Mittelreiches mit der Hauptstadt Punin Alveran: Himmlische Wohnstatt der Zwölfgötter, in der Magiertheorie auch die Fünfte Sphäre genannt Anchopal: Oasenstadt im Süden Araniens nahe der Gorischen Wüste, Sitz einer Ordensburg der Grauen Stäbe Andergast: Land in Nordwestaventurien, bekannt für seine Rückständigkeit und die Erbfeindschaft zu Nostria Brabak: Sehr weltoffene Stadt im Süden Aventuriens, bekannte Zuflucht für Schwarzmagier Convocatus Primus: Leiter einer der drei Magiergilden Convocatus: Mitglied eines der drei Gildenräte Dämonenbrache: Vor über 1000 Jahren verfluchtes Ödland nahe der Kaiserstadt Gareth Disvocatio: Gildenjuristischer Fachterminus für den
Ausschluss von allen höheren Gildenämtern Disliberatio: Gildenjuristischer Fachterminus für die Verweigerung der Benutzung aller Bibliotheken Expurgico: Gildenjuristischer Fachterminus für den Ausschluss aus der Magierschaft Golgari: Rabengestaltiger Seelenbegleiter aus dem Gefolge des Boron Golgariten: Kriegerorden innerhalb der Boronkirche Gorische Wüste: Lebensfeindlicher Tafelberg im Süden Araniens, Schauplatz der größten Schlacht der Magierkriege Irregulatio: Gildenjuristischer Fachterminus für die Aberkennung des Ordensranges von Magiergruppen Magnifizenz: Titel für Erzmagier und vergleichbare Positionen Nostria: Land in Nordwestaventurien, bekannt als ›Operettenstaat‹ und Erbfeind Andergasts Rabe von Punin: Höchster Geweihter des nördlichen Ritus der Boronkirche Rashdul: Reiche Handelsstadt am Mhanadi, südlich der Gorischen Wüste Spektabilität: Titel für Akademieleiter und vergleichbare Positionen Thargunitoth: Erzdämonin der Untoten, Widersacherin des Boron Tobrien: Von Borbarads Horden bedrängte Reichsprovinz im Osten
Vom aventurischen Magierwesen In Aventurien gibt es drei anerkannte Traditionen der akademischen Magie, die jeweils eine eigene Magiergilde bilden. Die Weißmagier bilden den ›Bund des Weißen Pentagrammes‹. Sie fühlen sich von den Göttern, besonders von Hesinde, gesegnet und sehen sich als Vertreter der göttlichen Ordnung: Ein jeder soll an dem ihm zugedachten Platz bleiben und die bestehenden Verhältnisse unterstützen. Sie lehnen jegliche Beschwörung und Dämonologie auf das Schärfste ab und misstrauen allen anderen Richtungen der Zauberei. Die Graumagier bilden die ›Große Graue Gilde des Geistes‹. Sie glauben an ein kosmisches Gleichgewicht von Ordnung und steter Neuschöpfung und lehren, dass ein jeder sein persönliches Gleichgewicht zwischen Freiheit und Verantwortung finden soll, wobei gerade der Verantwortung, die sie für jeden Zauberkundigen postulieren, eine große Bedeutung zukommt. Die Graue Gilde umfasst eine Reihe sehr unterschiedlicher Philosophien und Denksysteme und hält Kontakt zu Hexen und Druiden. Die Schwarzmagier bilden die ›Bruderschaft der Wissenden‹. Sie folgen dem Grundsatz ›Wissen ist Macht‹ und sind entweder extreme Individualisten oder skrupellose Forscher oder deren Anhänger. Sie
akzeptieren keine moralische Beschränkung ihrer Forschung. Auch untereinander achten sie ihre Eigenständigkeit, so dass die Schwarze Gilde ein sehr schwacher Verband mit vielen sehr starken Mitgliedern ist. Jede Magiergilde umfasst mehrere Akademien, die von Spektabilitäten geführt werden. In der Regel sind es auch diese, die als Gildenräte die Angelegenheiten ihrer Gilde entscheiden. Der ›Allaventurische Magierkonvent‹ ist das wichtigste Beschlussgremium überhaupt, da es verbindliche Beschlüsse für alle drei Gilden treffen kann. Der ›Orden der Wächter Rohals und Verteidiger der Lehre von den Grauen Stäben zu Perricum‹ war ein von Rohal dem Weisen 400 v. H., während der Magierkriege, gegen den finsteren Borbarad angeregter Orden, der nach den Magierkriegen dafür eintrat, das Wissen um die Zauberei zu bewahren. Bei seiner Gründung bestand die Ordensleitung aus einem Hochmeister in der Zentralprovinz, der Rohals eigenen Magierstab erhielt, und vier Großmeistern der Randprovinzen, die die namensgebenden beseelten ›grauen Stäbe‹ trugen. Zwischen der Garether, später Angbarer Führung, die der Weißen Magie zuneigte, und den Großmeistern, die die vom rohalschen Harmoniegedanken geprägte Graue Magie vertraten, wuchsen die Diffe-
renzen, und im Jahre 225 v. H., nach der Unabhängigkeit vieler Reichsprovinzen, spaltete sich der Orden in einen reichstreuen weißen und einen unabhängigen grauen Zweig, die beide beanspruchten, die wahren Erben des rohalschen Geistes zu sein. Der ›Orden der Grauen Stäbe zu Perricum‹ (abgekürzt ODL für Ordo Defensores Lecturia) dient der Grauen Gilde als Wächter und Verteidiger und nimmt die Aufgaben einer bewaffneten Garde an bedrohten Akademien wahr. Die vier Ordensprovinzen haben inzwischen ihre Hauptburgen in Neetha, Lowangen, Vallusa und Anchopal, höchstes Gremium ist der Rat der vier Großmeister, die einen der Ihren zum Ordenssprecher wählen, nomineller Hochmeister ist laut Satzung Rohal der Weise. Die traditionelle Ordensgewandung besteht aus einer grauen Robe und darüber einem roten Skapulier. Der Orden der Wächter Rohals (OCR für Ordo Custodis Rohalis) ist ein Teil der Weißen Gilde und bekannt für seine Kompromisslosigkeit und seinen zeitweiligen Fanatismus, so dass er keine offiziellen Schutzfunktionen für die Weiße Gilde ausübt (dies wird eher von den Pfeilen des Lichts übernommen). Stattdessen widmet er sich mehr der eigenmächtigen Verfolgung von Schwarzmagiern, Hexen, Druiden und sogar Graumagiern. Die meisten Anhänger dieser Gemeinschaft leben in strenger Askese.
Die Ordensleitung in der Burg Angbar besteht aus dem Hochmeister und dem siebenköpfigen ›Rat der Wachenden‹. Die traditionelle Kleidung besteht aus der weißen Robe und dem grauen Skapulier. Die Pfeile des Lichts: Ein Magierorden, der der Weißen Gilde als auserlesene Schutz- und Trutztruppe dient und für ihre Härte gegen sich und den Feind bekannt ist. Die etwa zwei Dutzend Pfeile des Lichts tragen reinweiße Roben.
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