Red Geller Schlosstrio Band 16
Das Rätsel der schweren Tauben
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Red Geller Schlosstrio Band 16
Das Rätsel der schweren Tauben
scanned by Ginevra corrected by AnyBody Die Taube am Strand von Sylt ist fast tot und viel zu schwer. Das „Schloß-Trio" entdeckt sie auf einem Spaziergang, und Ela will das Tier mitnehmen, um es gesund zu pflegen. Zwei Männer haben etwas dagegen und hindern die Freunde mit Gewalt daran, ihr Vorhaben auszuführen. Das macht die drei mißtrauisch. Sie beginnen, nach dem Rätsel zu forschen, das offensichtlich mit der Taube verbunden ist. Ein altes Haus, ein Friedhof und fünf gefährliche Gangster geben ihnen eine Nuß nach der anderen zu knacken. Das stachelt den Ehrgeiz des „Schloß-Trios" nur noch mehr an. Hilfe bekommt es von einer Frau, die Monika Fahrbach heißt und. wenn sie wütend ist. zum kleinen bösen Jungen wird. Mit ihr zusammen sorgen die drei jugendlichen Amateur-Detektive auf der Insel Sylt mehr als einmal für helle Aufregung... ISBN 3-8144-1716-X © 1990 by Pelikan • D-3000 Hannover l Umschlaggestaltung: strat + kon, Hamburg Innen-Illustrationen: Solveig Ullrich
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt 1. Ein gefährlicher Fund....................................................... 3 2. Der kleine böse Junge..................................................... 18 3. Das unheimliche Haus.................................................... 43 4. Monika Fahrbachs Warnung .......................................... 59 5. Gefährliche Kletterpartie................................................ 68 6. Gefahr am Watt .............................................................. 88 7. Hetzjagd durch die Dünen............................................ 103 8. Entwischt ...................................................................... 116 9. Entscheidung beim Friedhof ........................................ 124
1. Ein gefährlicher Fund Das Skelett lag im Sand! Ela Schröder, von ihrem Freund Randy Ritter Möpschen genannt und einziges Mädchen im Schloß-Trio, blieb erst einmal die Luft weg. Sie fühlte, wie das Blut aus ihrem Gesicht strömte und ihre Haut die bleiche Farbe der Knochen im Sand annahm. Erst im letzten Augenblick hatte sie es gesehen und wäre beinahe noch auf die Knochen getreten. Zur Salzsäule erstarrt blieb sie dicht davor stehen. „He, was ist los? Schläfst du ein?" Randy Ritter hatte sich umgedreht. Er schrie gegen den scharfen Westwind an, der über den Strand von Westerland auf Sylt blies. „Nein, aber hier ist was!" „Und?" Ela winkte mit beiden Händen. Mit ihrem roten Anorak war sie gut zu erkennen. Das dunkle Haar hatte sie hochgesteckt und den obligatorischen Pferdeschwanz gekürzt. „Ich bleibe hier stehen", sagte Turbo, der Dritte im Bunde. Er war Japaner und wohnte bei den Ritters. „Die hat bestimmt wieder eine ihrer komischen Muscheln gefunden, glaub mir." „Kann sein." Randy hatte die Hände in die Taschen seiner hellen Winterjeans gerammt. „Komm doch mal!" Elas Stimme wehte abermals zu ihnen herüber. „Ich gehe." „Und dann?" Randy hob die Schultern. „Werde ich aus den Muscheln einen Brei machen und anschließend eine Suppe kochen. -Wartest du hier?" Turbo, eigentlich hieß er ja Toshikiara, grinste nur. „Wenn es -3-
nicht zu lange dauert. Ich hab nämlich Hunger." „Iß doch Sand." „Der knirscht so zwischen den Zähnen." Randy stampfte los. Sie befanden sich an einem Abschnitt des Strands zwischen Westerland und Wenningstedt, der im Sommer gewöhnlich so überlaufen war, daß man da kaum noch einen freien Fleck finden konnte. Zu dieser Zeit - Ende Oktober - sah es anders aus. Da lud der Strand zu herrlichen Spaziergängen ein; besonders an einem Tag wie diesem, an dem die Sonne schien und mit ihren prächtigen Strahlen das Meer und die anrollenden Wellen der Brandung vergoldete. Der Himmel zeigte sich in einem herrlich weichen Blau. Man konnte die Luft schmecken. Sie war würzig und klar. Umweltverschmutzung schien es nicht zu geben. Am Strand lagen auch jetzt noch einige Urlauber in den Körben und genossen die letzten Sonnenstrahlen, bevor die Herbststürme einsetzen und sie in die Häuser zurücktreiben würden. Ela hatte auf Randy gewartet und beschwerte sich: „Hat aber lange gedauert, mein Junge." „Was ist denn?" „Da, das Skelett." Sie deutete vor ihre Füße. „Schau es dir gut an, Randy." „Na und?" „Wie, na und?" „So was findet man oft hier. Menschliche Knochen sind es nicht, eher von einer Taube oder so." „Möwe, Randy, eine Seemöwe." „Daß es kein Spatz ist, habe ich auch gesehen. Und was soll ich bei dir und den Knochen?" „Ich wollte sie dir nur zeigen." -4-
„Wie schön. Können wir jetzt weitergehen?"
„Eigentlich ja." Ela zog die kleine Nase hoch und schaute hinauf in den blauen Himmel. „Da ist mir noch etwas aufgefallen. Ich wollte dir das nur sagen, Randy." „Meinst du die Sonne?" „Nein, das Tier, die Taube." Randy grinste. „Möwe." „Irrtum, Herr Ritter. Diesmal ist es eine Taube." Ela deutete zum Himmel. „Da ist sie!" „Die Taube?" „Genau." Die Sonne blendete, und Randy war gezwungen, seine dunkle Brille aufzusetzen, um etwas zu erkennen. Ela hatte sich nicht geirrt. Was da durch die Luft segelte, war keine Möwe, sondern eine besonders dicke Taube. „Ich habe immer gedacht, die wären in Venedig", murmelte Randy, „und nicht hier." „Tauben findest du überall." -5-
„Und was fällt dir daran auf?" „Daß sie so komisch fliegt." „Ohne Flügel, wie?" Randy grinste. „Idiot!" zischte Ela. „Nein, die ist echt ungewöhnlich, total irre. Die fliegt immer so komische Kreise, manchmal taumelt sie auch, als wäre sie betrunken." „Dann hat sie Nordseewasser getrunken. Es soll ja nicht gerade die beste Qualität haben." Ela verdrehte die Augen. „Daß man mit dir auch nicht einmal vernünftig reden kann. Ich habe die Taube schon länger beobachtet und sage dir, daß mit der etwas nicht stimmt. Du kannst mich für blöd oder was weiß ich noch alles halten, aber ich lasse mich davon nicht abbringen. Die hat was." „Und was haben wir damit zu tun?" „Wir könnten sie doch verfolgen." Randy wischte mit der Hand vor seinem Gesicht hin und her. „Sonst hast du keine Schmerzen, wie?" „Wenn wir hier weitergehen, behalten wir die Taube im Auge. Sie kann ja krank sein. Ich möchte sie dann in eine Klinik bringen, wenn sie nicht mehr fliegen kann. Jedes Tier ist wichtig. Und noch wichtiger ist, wenn wir ein Tier retten." „Ist gut." Beide setzten ihren Weg fort. Turbo winkte ihnen entgegen. Dabei sprang er wie ein Hampelmann auf und nieder. „Probleme?" fragte Ela. „Kaum. Mir ist nur kalt geworden. Hast du deine Muschel gefunden, Ela?" „Ich habe nach keiner Muschel gesucht, Turbo." „Ehrlich nicht?" „Es ging um ein Skelett", erklärte Randy. „Ein schönes, sehr bleiches Möwen-Skelett." „Toll!" staunte Turbo. „Hat es noch gelebt? War es ein -6-
Knochen-Zombie oder so?" „Du bist stinkig!" schimpfte Ela. Randy verdrehte die Augen. „Er hat eben kein Mitleid mit Skeletten. Ja, ja, die Jugend von heute..." Ela knuffte Randy. „Hör auf, sonst liegst du gleich im Sand. Ich habe wieder ein paar neue Würfe gelernt." „Ach ja? Bei wem?" Ela erwiderte nichts. Sie gingen in Richtung Wenningstedt, wo sie sich in einer Ferienwohnung einquartiert hatten. Das Haus stand dicht am Strand, vom Meer nur durch Dünen getrennt. Sie wollten eine Woche auf Sylt bleiben, so lange dauerten die Herbstferien. An Düsseldorf und das Schloß am Rhein, in dem die Familie Ritter lebte, dachte längst keiner mehr. Obwohl sie erst den zweiten Tag auf Sylt waren, hatte diese Insel sie regelrecht gefangengenommen. Vielleicht lag es auch an dem herrlichen Sonnenwetter und dem ewigen Wind, der die Wellen der Nordsee gegen den Strand rollen ließ. Das Meer lag links von ihnen. Es wirkte wie eine unendlich weite, glitzernde Fläche aus Aluminium, die von den Strahlen der Sonne leicht vergoldet wurde. Natürlich waren die Inseln ein Paradies für Vögel. Aber Ela und Randy hatten jetzt nur Augen für die Taube, die tiefer als die Seemöwen flog und auch weiterhin so durch die Luft torkelte, als wäre sie betrunken. „Mit der Taube ist was los, da kannst du sagen, was du willst, Randy." „Ich habe doch nichts gesagt." „Worum geht es?" rief Turbo. „Laßt mich mitmachen." „Um die Taube."
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Der junge Japaner lachte. „Welche Taube?" „Da, die!" Ela streckte ihren Arm aus. „Sie fliegt sogar ziemlich tief." „Klar, die sehe ich." „Kommt die dir nicht auch unnormal vor?" „Weiß nicht." Turbo hob die Schultern. „Von Tauben verstehe ich nichts." „Es geht um ihr seltsames Verhalten." Turbo hob die Schultern. „Die kann krank sein, flügellahm oder so. Das denke ich." „Genau!" Ela bekam einen roten Kopf. „Ich weiß, ihr habt kein Mitleid, aber mit der Taube stimmt etwas nicht. Ich lasse mir da nichts einreden. Ich..." Sie sprach nicht mehr weiter, denn der Vogel stieg plötzlich in die Höhe, als hätte er noch einmal richtig Schwung bekommen. Für einen Moment sah es so aus, als würde die Taube vom blauen Himmel verschluckt, dann drehte sie sich hinein in eine spiralenartige Kurve, stoppte jäh und fiel wie ein Stein in die Tiefe. In einer der Mulden am noch feuchten, gelbbraunen Sandstrand blieb die Taube liegen. „Das war's", kommentierte Turbo. Ela verzog die Lippen. „Wie kann man nur so herzlos sein." „Was heißt herzlos? Die Taube ist doch tot." „Willst du nachsehen?" fragte Randy. Ela Schröder rannte bereits los. „So dumme Fragen kannst auch nur du stellen, Randolph." „Ja, Möpschen!" rief er hinter ihr her. Randy haßte es, wenn man ihn mit seinem vollen Vornamen ansprach. Ebensowenig konnte auch Ela ihren Spitznamen ertragen. „Was hat sie denn?" fragte Turbo. -9-
„Wenn ich das wüßte. Die Taube und das Skelett haben sie irgendwie durchdrehen lassen." „Ungewöhnlich ist sie schon geflogen." „Die war krank." Turbo zuckte mit den Schultern. „Kann sein, muß aber nicht. Ich habe das Gefühl, als würde mit ihr einiges nicht stimmen. Nun ja, das ist nicht meine Limonade." „He, kommt doch. Schnell!" Elas Stimme schallte ihnen entgegen. Sie hockte dicht an den auslaufenden Wellen und winkte heftig mit beiden Armen. „Unser Möpschen scheint nervös zu sein", murmelte Turbo. „Laß sie das nur nicht hören." Ela hockte auf den Hacken. Vor ihr lag die Taube. Deren graublaues Gefieder stand seltsam ab und wirkte, als wäre der Vogel von innen aufgeblasen worden. „Die ist viel zu dick!" flüsterte Ela. „Deshalb stürzte sie auch ab." „Hör auf, Turbo. Sie tut mir leid." „Jetzt nicht mehr." Auch die beiden Jungen hockten sich nieder. Über sie strich der Wind hinweg. Nicht weit entfernt schlenderten Spaziergänger vorbei. Die Sonne, das Rauschen des Meeres und der wunderbare Wind: dieser Tag war wie dafür geschaffen, ihn am Strand zu verbringen. Die Freunde nahmen von den Spaziergängern keine Notiz. Sie hörten weder deren Lachen noch die einzelnen Wortfetzen, die der Wind zu ihnen herübertrug. Sie hatten die Umgebung völlig vergessen. Noch traute sich keiner, die Taube zu berühren. Auch Ela nicht, die sich große Sorgen um das Tier gemacht hatte. „Was ist los? Sollen wir hier vor der Taube hocken bleiben? -10-
Willst du sie einbuddeln?" fragte Turbo. Ela schüttelte den Kopf. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit ganz anderen Dingen. „Weshalb, so frage ich euch, ist die Taube so dick? Das ist doch völlig unnatürlich." „Meine ich auch." „Danke, Randy." „Gibt es bei euch gefüllte Tauben?" fragte Turbo. Randy nickte. „In manchen Restaurants schon." „Hör auf!" beschwerte sich Ela. „Mach mal etwas Platz." Turbo drückte Ela zur Seite. Er hatte sich entschlossen, die Taube näher zu untersuchen. Der wie aufgebläht wirkende Körper gefiel ihm in der Tat nicht, da schien jemand Luft in die Taube gepumpt zu haben. Sie lag auf der Seite, und Turbo faßte sie sehr vorsichtig an, um sie auf den Rücken zu drehen. „Stopp mal!" rief Randy. Hastig zog Turbo seine Hand wieder zurück. „Was hast du denn so plötzlich?" „Da ist was!" Randy deutete mit dem Zeigefinger auf den Hals der Taube. Er wurde von einem Lederband umspannt, an dem etwas befestigt war, das plötzlich unter den Sonnenstrahlen hell aufblitzte. „Sieht aus wie Metall!" murmelte Ela. „Ist auch Metall!" flüsterte Randy. Er beugte sich näher, um den Gegenstand genau betrachten zu können. Kopfschüttelnd gab er wenige Sekunden später seinen Kommentar ab. „Ist irgend etwas Technisches, glaube ich. Ja, das ist es." „Dafür bin ich zuständig!" erklärte Turbo. „Ach!" mischte sich Ela ein. „Ich dachte immer, du kennst dich nur bei Computern aus." „Zu denken ist dein größter Fehler." -11-
„Danke, ich habe verstanden", erwiderte Ela spitz. Sie und Randy ließen ihren Freund in Ruhe, der sich die viereckige kleine Metallplatte lange und genau anschaute, dann etwas vor sich hinmurmelte, was keiner verstand, und schließlich den Kopf hob. Dabei nickte er bedächtig und sagte: „Jetzt weiß ich Bescheid." „Sag schon!" Ela fieberte. „Ich habe die kleine Platte mal in einem Prospekt gesehen." Turbo gehörte zu den Jungen, die alles an Prospekten sammelten, was ihnen in die Hände fiel, besonders solche, die mit technischen Neuheiten gespickt waren. „Rede endlich!" „Nicht so eilig, Ela. Du hast schon ganz rote Backen vor Aufregung." „Wangen, bitte." „Meinetwegen. Okay, das kleine Ding hier ist ein Sender. Ein stinknormaler Sender, den jemand an diesem Halsband befestigt hat. Ein winziger, herrlicher Sender." „Mehr nicht?" fragte Ela. „Reicht das nicht?" Randy räusperte sich. „Eine Taube, die man mit einem Sender bestückt hat, die außerdem noch viel zu dick aussieht, als hätte sie sich vollgefressen. Darf ich mal fragen, was ihr dazu meint? Oder seht ihr das als normal an?" „Bestimmt nicht!" antwortete Ela. „Und eine Brieftaube kann es auch nicht sein", meinte Turbo. „Die brauchen keinen Sender." „Dann stehen wir vorläufig auf dem Schlauch." „Nicht ganz." Ela rieb ihre Handflächen gegeneinander. „Im Gegensatz zu euch habe ich nämlich nachgedacht und bin der Meinung, daß die Taube ein bestimmtes Ziel gehabt hat, es aber aus irgendwelchen Gründen nicht schaffte und plötzlich abstürzte. Damit man sie aber auf jeden Fall findet, hat sie einen -12-
Sender. Was aber macht die Taube so wertvoll, frage ich mich. Oder wie seht ihr das?" „Ist was dran, Ela." Randy nickte zustimmend. „Moment mal", sagte Turbo. Er machte jetzt Nägel mit Köpfen und hob die abgestürzte Taube an. „Die ist ziemlich schwer, finde ich. Wollt ihr mal probieren?" Randy verzog den Mund. „Ich habe nicht so oft tote Tauben in der Hand und kann nicht mitreden." Turbo legte das Tier wieder hin. „Ich weiß nicht, ob man sie vielleicht ge..." Er sprach nicht mehr weiter. Ebenso wie den beiden anderen waren ihm plötzlich die Schatten aufgefallen, die sich auf einmal in ihrer Nähe auf dem Sand abzeichneten. „Es war auch euer Glück, daß ihr das Tier wieder hingelegt habt. Und jetzt verzieht euch, ihr kleinen Stinker!" Sie verzogen sich nicht; sie blieben hocken, als wären sie am Boden festgewurzelt. Sie schauten auch nicht hoch, schielten sich unter halbgesenkten Lidern an und wagten kaum zu atmen. „Seid ihr schwerhörig?" Einer der Schatten bewegte sich. Randy spürte eine Berührung an der Schulter, danach einen Druck, dann kippte er um und fiel rücklings in den feuchten Sand. Die Männer kamen ihm riesig vor; ihre Gesichter - leicht gerötet waren zu einem Grinsen verzogen. Vertrauenserweckend wirkten sie deshalb nicht. Ela regte sich auf. Sie schoß hoch wie ein Sektkorken aus der Flaschenöffnung. „Ihr seid wohl von der Sonne gestochen, was? Blöde im Hirn? Was soll das?" Der Kerl mit den hellblonden, streichholzlang geschnittenen Haaren und dem eckigen Friesenkopf holte aus. Sein Schlag kam hart, trocken, präzise - und fegte ins Leere, denn Ela hatte -13-
sich blitzschnell gebückt. Der Blonde taumelte nach vorn. Turbo trat ihm noch aus der Hocke in die Kniekehle. Einen Moment später küßte der Kurzhaarige den Sand. Doch sein Kumpan streckte Turbo mit einem Boxhieb zu Boden. Reglos blieb der Junge liegen. Als Randy ihm zu Hilfe kommen wollte, spürte er die Sohle eines schweren Stiefels auf seiner Brust. „Bleib besser liegen, Junge!" Der zweite Mann hatte ein sonnengebräuntes Gesicht mit einer sehr scharf hervorspringenden Nase. Seine Lippen glichen dünnen Messerrücken. Auf dem Kinn und an den Wangen schimmerten dunkle Bartschatten. Die Pupillen erinnerten an Kohlestücke. Dieser Kerl sah aus wie ein Pirat. Seine Haare waren fast vollständig unter einer Schirmmütze verschwunden, nur im Nacken hingen einige schwarze Fransen heraus. In seinen Worten lag unverhüllt eine Drohung, die Randy Ritter Warnung genug war. Deshalb hütete sich der Junge vor einer falschen Bewegung. Ela Schröder war zurückgesprungen. Wutentbrannt und mit zu Fäusten geballten Händen stand sie da - und konnte nichts tun. Andere Spaziergänger waren zu weit entfernt. Sie glaubte auch nicht, daß diese eingreifen würfen. Der Blonde hatte sich wieder hochgerappelt. Mit einem bösen Ausdruck im Gesicht kam er auf Ela zu. „Laß es, Hein! Nimm die Taube!" Der blonde Hein stoppte seine Schritte. „Beim nächstenmal stopfe ich dich in den Schlick, du Göre! Aber mit dem Kopf nach unten!" Ela - sonst um keine Antwort verlegen - hielt lieber den Mund. Sie wollte den Blonden nicht noch stärker reizen, der jetzt kehrtmachte und die Taube vorsichtig wie einen zerbrechlichen Gegenstand aufhob. Dann zog er seine gelbe Jacke -Ostfriesennerz genannt - aus und verstaute die Taube in -14-
einer unter der Jacke hängenden und an seinem Gürtel befestigten Tasche. Sein Kumpan nickte zufrieden. Er nahm den Fuß wieder weg. Randy atmete tief durch. Seine Brust schmerzte. Der Mann mit der Mütze senkte den Kopf. „Einen Rat gebe ich euch allen. Laßt in Zukunft die Tauben in Ruhe. Sie werden schon genug gejagt." „Sind Sie Tierschützer?" Randy konnte sich die Frage nicht verkneifen. „So was Ähnliches, Junge." „Sollen wir, Dieter?" Der Schwarzhaarige nickte, machte kehrt und war wenig später zusammen mit Hein auf dem Weg zu den Dünen, hinter denen die Häuser lagen, die um diese Zeit fast alle unbewohnt waren. Ob sich die Kerle wohl dort einquartiert hatten? Randy rappelte sich hoch, während Ela auf Turbo zulief, der nur mühsam auf die Knie kam. Er war etwas blaß im Gesicht und flüsterte: „Das hatte gesessen." Mit beiden Händen rieb er sich den Magen. „Bist du wieder okay?" „So halb und halb." „Das alles wegen einer toten Taube", sagte Randy, der mithalf, Turbo auf die Beine zu kriegen. „Ja." Ela nickte. „Die beiden Naturschützer waren wirklich toll. Übertoll, meine ich." Sie blickte zu den Dünen, hinter denen die Männer verschwunden waren. „Jedenfalls hattest du recht. Mit der Taube hat einiges nicht gestimmt." Randy schaute über das Wasser. „Sie war zu dick, sie hatte einen Sender, sie war schwer. Jetzt braucht ihr mir nur noch zu sagen, was dahintersteckt?" Keiner wußte eine Antwort. Ela meinte nur: „Eine große Schweinerei." -15-
„Finde ich auch." Turbo rieb noch immer seine Magengegend. „Das zahle ich dem Knaben heim." „Wenn wir ihn wiedersehen."
„Glaub mir, Randy, die Typen sind bestimmt noch einige Zeit auf der Insel. Die sahen mir so aus, als hätten sie hier einen Job zu erledigen, der länger dauert." „Kann sein." Randy drehte sich um und schaute Ela an. „Und wem verdanken wir den ganzen Mist? Nur ihr." „Ach wie schön. Jetzt bin ich schuld." „Klar doch. Du hast uns schließlich auf die Insel gelockt. Es ist doch dein Onkel, dem die Wohnung gehört und..." Randy sprach nicht mehr weiter. Er mußte fliehen, denn Ela -16-
hatte sich gebückt und schleuderte ihm den feuchten Sand mit wilden Würfen hinterher. „Da hat man es wieder. Undank ist der Welt Lohn." „Oder anders gesagt", meinte Turbo. „Wie man sich bettet, so schallt es heraus..."
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2. Der kleine böse Junge Gleich hinter den Dünen standen die Häuser dicht an dicht. Und die wenigsten paßten in die Landschaft: Reißbrettartige Bauten, weiße Wände, Dächer aus Kunstschiefer und kein Reet. Klotz für Klotz standen sie nebeneinander, nur getrennt durch schmale Stichstraßen, die zunächst zu Parkplätzen und anschließend durch die Dünen in Richtung Strand führten. So jedenfalls sah es in Wenningstedt aus, wo das Schloß-Trio seine Ferientage verbringen wollte. Auch ihr Haus hatte weiße Wände und ein dunkelgraues Dach. Vier Wohnungen verteilten sich auf zwei Etagen. Ela holte den Schlüssel aus der Tasche. Sie ging als erste, folgte dem Plattenweg, der zum Eingang führte. Im Sommer, wenn hier Hochbetrieb herrschte, war jede Wohnung belegt; um diese Zeit aber schien die Insel besonders in den Ferienhaussiedlungen ausgestorben. Immerhin wohnten sie nicht allein im Haus, über ihnen hatte sich ein älteres Ehepaar einquartiert. An der Haustür wartete Ela auf die Jungen. Turbos Gesicht zeigte eine noch käsige Hautfarbe. Der Hieb hatte ihn stärker getroffen, als er zugeben wollte. Ela nahm es mit Besorgnis zur Kenntnis. „Willst du dich nicht lieber etwas hinlegen?" fragte sie. Turbo winkte ab. „Bist du des Wahnsinns fette Beute? Ich und hinlegen? Das hätte auch meine Ur-Urgroßtante sagen können, so einen Schwachsinn." „Ach, die kennst du?" „Klar, die erscheint mir hin und wieder im Traum, wo sie mir Ratschläge gibt." „Stark, echt stark." Ela bückte sich und steckte den Schlüssel -18-
ins Schloß, während Turbo vor sich hinbrummend den Kerlen die Hölle auf Erden versprach. Sie gingen durch den Hausflur, ließen die Treppe rechts liegen und wandten sich am Ende des Flurs nach links. Auch hier schloß Ela auf. „Darf ich den Herren den Vortritt lassen?" „Wie großzügig", meinte Randy lässig. „Bin ich immer, wenn es nichts kostet." Randy betrat die Wohnung als erster. Vom Frühstück stand noch das Geschirr auf der Spüle. Küche und Wohnraum befanden sich in einem Zimmer. Es gab noch zwei Schlafräume, deren Türen von einem kleinen Flur, wo auch die Garderobenhaken hingen, abzweigten. Die Sitzgruppe stand so, daß jeder gegen das Terrassenfenster schauen konnte. Dahinter lag eine Grünfläche. Fluchtartig hoppelte ein Hase über den Rasen und verschwand im dichten Strandhafer auf dem Dünenwall, der sich direkt an die Rasenfläche anschloß. Der Wind fuhr darüber hinweg. Er sauste in den langen Zweigen, als wollte er mit ihnen spielen. Als Randy sich setzen wollte, zerrte ihn Ela zurück. „Du hast wohl 'ne Meise quer. Mit den dreckigen Sachen willst du dich hier hinfläzen? Zieh dich doch erst um." „Ja, Mama." „Wir haben doch eine Putzfrau", maulte Turbo. Ela zog eine Schnute. „Die kommt auch gleich. Und du weißt ja, wie sie ist." „Ja", sagte Randy und gab seiner Stimme dabei einen bibbernden Klang. „Das ist der kleine böse Junge." „Hört auf!" beschwerte sich Ela. „Ihr wißt, daß ich das nicht leiden kann. Sie heißt Monika Fahrbach." „Oder die Sylter Sandkrabbe", schlug Randy vor. -19-
Turbo schnickte mit den Fingern. „Ich weiß noch etwas Besseres. Das ist der kleine böse Junge mit dem spitzen Hut. Was meinst du, wie sie aussieht, wenn sie aus dem Sand krabbelt und noch einen spitzen Hut auf ihrem Kopf hat." „In Form einer Schultüte?" „So ähnlich, Randy." Sekunden später ergriffen beide die Flucht, da Ela schon mit Kissen nach ihnen warf. Mit zwei Betten und einem Schrank war der kleine Schlafraum bald ausgefüllt. Ein Hocker paßte gerade noch hinein. Randy zog sich ebenso wie Turbo bis auf die Unterwäsche aus. Sie öffneten das Fenster und klopften sich die Kleidung aus. „Denkst du auch an die Taube?" fragte Randy, als er den Schrank öffnete und frische Kleidung hervorholte. Eine saubere Jeans und einen dicken Pullover mit dem Aufdruck einer amerikanischen Universität auf der Vorderseite. „Nicht nur daran, auch an die Kerle." Randy saß auf dem Bett und zog die Hose an. Sie war etwas eng, weil sie frisch aus der Reinigung kam. „Ich frage mich nur, Turbo, was die mit der Taube vorgehabt haben." „Ein normales Tier war es nicht. So schwer sind die nicht. Das sage ich dir, auch wenn ich keine Ahnung von Tauben habe." „Ich widerspreche auch nicht." „Was war damit los?" Randy stand auf und zog den Gürtel durch die Schlaufen. Turbo war schon fertig. „Wenn ich das wüßte. Ich glaube, man hat in dieser komischen Taube etwas transportiert." „Bestimmt keine Erbsen, Randy." „Und auch keine Bohnen." Er verstaute die alte Kleidung unter dem Bett und schloß das Fenster. „Was ist es denn -20-
gewesen?" Turbo hob die Schultern. „Es darf nicht zu groß gewesen sein und muß trotzdem ein gewisses Gewicht gehabt haben. Nicht ganz einfach, das herauszubekommen." „Du willst also weitermachen?" Turbo lachte. „Du nicht?" „Und ob ich das will, mein Lieber. Ich haue sogar voll rein, das verspreche ich dir." „Was war es denn nun wirklich?" Randy hob die Schultern. „Keine Ahnung. Ich bin mir sicher, daß wir die beiden noch treffen. Wollten wir nicht heute noch nach Westerland fahren?" „Meinetwegen. Will Ela denn mit?" „Keine Ahnung." Es klopfte, dann hörten sie Elas Stimme. „Kommt essen, ich habe die Pizza aufgewärmt." Turbo riß die Tür auf. „Wie viele?" Ela trat einen Schritt zurück. „Wieso? Eine nur." „Damit sollen wir auskommen." „Hättest du gestern abend nicht wie ein Geisteskranker reingehauen, wären noch mehr dieser Scheiben übriggeblieben. So aber mußt du darben." Sie lachte. Turbo lachte auch und lauter. „Nein, ich werde nicht darben. Wir fahren nämlich nach Westerland. Hast du das vergessen?" „Wer fährt?" „Wir drei." Ela tippte ihre rechte Zeigefingerspitze gegen die Stirn und drehte sie zweimal nach rechts und einmal nach links. „Irrtum, ihr beiden. Ich bleibe hier." „Und warum das?" -21-
„Kann ich euch genau sagen. Ich will es mir gemütlich machen. Ich habe keine Lust, durch eine Großstadt zu laufen." „Westerland ist doch keine Großstadt." „Sie sieht aber so aus." „Laß uns was essen!" Randy schlichtete den Streit, bevor Turbo und Ela aufeinander losgingen. Das Mädchen hatte bereits den Tisch gedeckt. Randy sorgte für Limonade, und Turbo wollte die Pizza aufteilen, als Ela ihm auf die Finger schlug. „Das mache ich." „Traust du mir nicht?" „So ist es." Mit beleidigtem Gesichtsausdruck ließ sich Turbo am Eßtisch nieder, der dem großen Fenster gegenüberlag. Später hatte er dann immer etwas zu nörgeln, und Randy meinte: „Wißt ihr, was meine Mutter immer ruft, wenn es was gibt?" Mit vollem Mund kauend, schüttelte Ela den Kopf. „Kommt meckern, das Essen ist fertig." Zu dritt lachten sie, doch Turbo und Ela fielen gemeinsam über Randy her, denn sie wußten genau, welch eine hervorragende Köchin Marion Ritter war. Randy hatte sein Glas leergetrunken. „Willst du noch eins?" fragte Turbo. „Was soll ich mit zwei leeren Gläsern?" „Uaaahhh!" rief Ela, lehnte sich zurück und schlug gegen ihre Stirn. „Seid ihr doch dämlich. Wie ein Schnitzel, von beiden Seiten flachgeklopft." Das Schellen der Glocke beendete ihre fruchtlose Diskussion. „Das ist der kleine böse Junge!" rief Randy. „Mensch, hör auf!" Ela fegte zur Tür. „Ich verpasse dir gleich eine Mütze aus Pizzateig." „Die hat eben keinen Humor", meinte Randy und schaute Ela -22-
nach, die im Flur verschwand. Monika Fahrbach mußte sich ihre Zeit genau einteilen, da sie mehrere Wohnungen in Ordnung zu halten hatte. Die der Freunde war die letzte auf ihrer Liste. Hier konnte sie sich mehr Zeit lassen.
Ela ließ sie ein. Vom Flur her hörten die beiden Jungen das kräftige Organ der Frau. -23-
„Mahlzeit, die Herrschaften!" „Au!" flüsterte Randy, „der kleine böse Junge steht wieder unter Volldampf." „Sollen wir uns verstecken oder dem Sandfloh mutig entgegentreten?" „Abwarten." Sie kam, und sie hatte ihren Auftritt. Groß war sie ja nicht. Kaum länger als eine Eckfahne. Kurz hinter der Türschwelle blieb sie stehen. Die Beine steckten in blauen Jeans. Das rot und blau karierte Hemd bestand aus dicker Winterbaumwolle. Der oberste Knopf war geöffnet. Sie mußte am gestrigen Tag einen Friseur besucht haben, denn ihre Haare waren sorgfältig gelegt. Monika Fahrbach war vierzig Jahre alt, ziemlich dünn, hatte ein blasses Gesicht mit vorspringenden Wangenknochen, über die sich die Haut dünn spannte. Die Brille besaß ein helles Gestell. Etwas dunkler in der Farbe waren die frisch ondulierten Haare, die ihren Kopf um einiges größer erschienen ließen. Sie warf einen Blick über den gedeckten Tisch. „Aha, Pizza." Dann nickte sie. „Immer das gleiche mit euch jungen Leuten." „Wieso?" fragte Turbo. „Pizza, Fritten, Currywurst. Fehlen nur noch diese komischen Dinger, die den Namen Frikadellen nicht verdienen." „Hamburger!" rief Randy. „Genau." „Es gibt auch Bremer", meinte Turbo. „Willst du mich auf den Arm nehmen?" „Nee, tatsächlich, Frau Fahrbach. Das sind Brötchen mit Fischfrikadellen dazwischen." „Stimmt, jetzt fällt es mir ein." Ela kam mit dem Putzzeug. Sie hatte es aus einem Einbauschrank im Flur geholt. -24-
Frau Fahrbach ging einige Schritte in den Wohnraum hinein. Die Jungen aßen ruhig weiter - bis die Reinmachefrau einen schrillen Schrei ausstieß. „Was ist los?" beschwerte sich Randy. Die Freunde waren heftig zusammengeschreckt. Halbgebückt stand sie da und starrte die Jungen hinter den Gläsern ihrer Brille wütend an. „Die... die sieht fast so aus wie ein kleiner böser Junge", flüsterte Turbo. „Sag ich doch." Das hatte Frau Fahrbach nicht gehört. Sie stieß ihren Kopf vor und gab sich angriffslustig. „Hier hat es geknirscht!" erklärte sie. „Und zwar sehr deutlich." Ela Schröder stand feixend auf der Türschwelle. Sie wartete darauf, wie sich ihre Freunde aus der Affäre ziehen würden. Die schauten sich an, hoben gemeinsam die Schultern und stellten auch gemeinsam die Frage: „Wieso geknirscht?" „Beim Gehen." „Nicht im Kopf?" fragte Randy. „Höchstens bei dir, Junge." Dreimal zuckte der ausgestreckte Finger, und dreimal deutete Frau Fahrbach damit zu Boden. „Ich bin hier entlanggegangen und habe es genau gehört. Diesen Raum hat jemand mit verdammt schmutzigen Schuhen betreten. Sand vom Strand." „Reimt sich sogar", meinte Turbo. „Für Späße habe ich keinen Sinn. Alles raus hier. Los, verschwindet aus dem Zimmer. Ich muß wischen." „Ich helfe Ihnen", sagte Ela. „Das ist nett, danke. Aber die beiden Herren könnten schon mal die Stühle hochstellen und auch den Tisch nach draußen auf die Terrasse stellen. Das ist eine Schweinerei. Hinterher heißt es -25-
wieder, ich hätte nicht richtig geputzt. So etwas kennt man ja leider." „Aber nicht von uns!" rief Randy. „Los, Stühle hoch. Besser, stellt sie auch nach draußen." „Sollen wir auch dortbleiben?" „Wäre am besten." „Wir könnten doch nach Westerland fahren", sagte Turbo, als sie gemeinsam den Tisch hinaustrugen. „Keine schlechte Idee." „Was wollt ihr denn da?" fragte Frau Fahrbach. Neugierde gehörte ebenfalls zu ihren Eigenschaften. „Freunde treffen, die wir am Strand kennengelernt haben und die tote Tauben sammeln." Frau Fahrbach kam näher. An der offene Terrassentür blieb sie stehen. „Was sammeln die?" „Tote Tauben." „Dann habe ich mich doch nicht verhört." „Bestimmt nicht." „Und wir dachten, Sie würden solche Typen kennen, die tote Tauben sammeln", meinte Randy. „Was traut ihr mir denn noch zu? Es gibt hier Tierschützer, die tote Vögel aufsammeln, aber..." Sie hob die Schultern. „Ist auch nicht mein Bier." Sie sah, daß Ela den mit Wasser gefüllten Eimer gebracht hatte. „Danke, Mädchen. Wenn die Herren jetzt noch die Stühle nach draußen tragen würden." „Machen wir doch gern." Kurze Zeit später war die Arbeit erledigt. Von draußen schauten die Jungen in das Zimmer. Randy stieß seinen Freund an. „Los, Turbo, weg, bevor dieser Insel-Troll noch auf dumme Gedanken kommt." „Wohin denn? Nach Westerland?" -26-
„Später. Erst mal vors Haus." Die Jungen konnten um das Gebäude herumgehen. Sie brauchten nur auf dem grauen Steinweg zu bleiben. Die Reihe der Ferienhäuser selbst lag in einer Sackgasse, und sie wohnten fast an deren Ende. Dahinter wuchsen nur mehr die Dünen mit dem Strandhafer in die Höhe. In entgegengesetzter Richtung konnten sie die Hauptstraße von Wenningstedt erreichen. Dort gab es eine Kneipe und einen Kolonialwarenladen, so einen Tante-Emma-Shop, wo man von der Zahnbürste bis zum Krimi alles bekam. Einmal waren sie schon dort gewesen. Geführt wurde der Laden von Oma Petersen, einer älteren Frau, die sich sehr nett mit den jungen Gästen unterhalten und die Besuch von ihrem vierzehnjährigen Enkelkind Julia Schnippke bekommen hatte. Julia kam aus einem kleinen Ort am Rande des Ruhrgebiets, der Olfen hieß. Zum Glück schien die Oktobersonne ziemlich warm, so hatten die Jungen auf die Jacken verzichten können. „Wenn der kleine böse Junge verschwunden ist, können wir Ela noch mal fragen", schlug Turbo vor. „Geht in Ordnung." Die Grundstücke waren auf der Vorderseite durch Hecken eingefriedet, die auch Schutz vor dem Wind bieten sollten. Die Jungen standen hinter einer solchen Hecke, konnten aber darüber hinwegschauen. Da fiel ihnen ein Wagen auf, der von der Hauptstraße in die Sackgasse abbog. Es war ein dunkelblauer Ford Scorpio mit einer Westerländer Nummer. In einer Sackgasse war man freilich gezwungen, langsam zu fahren, nur fuhr dieses Auto für Randys Geschmack zu langsam. Es sah so aus, als würde der Fahrer etwas suchen. Noch war der Ford weit genug entfernt; sicherheitshalber -27-
machte Randy den Vorschlag, in Deckung zu gehen. Turbo und er tauchten hinter die Hecke. Durch die Lücken im Geäst konnten sie auf die Straße schauen, ohne selbst gesehen zu werden. Der Wagen rollte näher. Sie hörten sogar schon das Schmatzen der Reifen. Vor einigen Häusern fuhr der Wagen noch langsamer, stoppte jeweils kurz und rollte dann weiter. Der Fahrer schien die Hausnummern zu kontrollieren. „Das sind zwei", flüsterte Turbo, der den besseren Blickwinkel besaß. Er zuckte plötzlich zusammen. „Ich werde irre, das ist ja der Pirat, Randy!" „Welcher Pirat?" „Der schwarzhaarige Typ vom Strand." „Ehrlich?" „Klar." Randy drängte den Freund zur Seite, um ebenfalls einen Blick auf den Wagen werfen zu können. Er nickte ahnungsvoll. „Ich glaube, die suchen uns." „Kann sein." „Sei mal ruhig." Beide hörten, daß der Wagen abgestoppt wurde. Er stand jetzt direkt am Straßenrand. Nur ahnten die Kerle nicht, wer sich hinter der Hecke verbarg. Die Männer taten nichts. Sie blieben im Wagen hocken und warteten ab. Turbo und Randy spürten eine Gänsehaut auf ihren Rücken. Sie hofften nur, daß Ela nicht ausgerechnet jetzt das Haus verließ. Zum Glück blieb sie in der Wohnung. Der Pirat hatte das Fenster nach unten fahren lassen. An seinen Kumpan gewandt, meldete er: „Zu sehen ist nichts, Hein." „Die können auch woanders wohnen." „Aber ich glaube doch, daß sie hier in Wenningstedt sind." -28-
„Suchen wir eben weiter. Ansonsten werden wir uns mal bei der Meldestelle erkundigen." Der Dunkelhaarige lachte glucksend. „Laß du dich da lieber nicht blicken. Nachher wirst du noch was gefragt." „Fahr weiter, Mann." Sekunden später fuhr der Wagen wieder an. Am Ende der Sackgasse wendete der Fahrer und ließ den Scorpio ebenso langsam wieder zurückrollen. Turbo und Randy peilten jetzt über die Hecke hinweg und wunderten sich, daß der Scorpio vor dem Tante-Emma-Laden der Frau Petersen gestoppt wurde. Die beiden Männer gingen hinein. „Jetzt erkundigen sie sich nach uns!" flüsterte Randy. „Und wir waren da." Turbo verzog die Lippen. „Ich glaube, das sieht nicht gut aus." „Meine ich auch." Schon bald kehrten Hein und der Pirat wieder zurück. Die Jungen behielten sie im Blick. Sie rechneten damit, daß die Männer wenden und wieder zurückfahren würden. Das taten sie nicht. Der Wagen rollte weiter der Hauptstraße entgegen. „Mann", sagte Randy und haute Turbo auf die Schultern. „Da hat Oma Petersen bestimmt dichtgehalten." „Wir werden sie fragen." Randy nickte. „Okay, einverstanden." Er deutete zum Haus. „Der kleine böse Junge wird hoffentlich noch länger zu tun haben." „Dann aber flott", sagte Turbo und lief schon los. Der Geruch von Fisch vermischte sich mit dem von frisch gebackenen Berliner Ballen. Randy und Turbo lief das Wasser -29-
im Mund zusammen; beide bekamen glänzende Augen, und Randy kramte bereits in seiner Tasche nach Geld. Oma Petersen verschwand fast hinter der Theke, die mit Waren aller Art vollgestellt war. Von der selbstgemachten Konfitüre, über Puddingpulver, Dosensuppen, Kaugummi, Schokolade, Gummibärchen, Pralinen bis zu den ersten Nikoläusen war hier alles vorhanden. Die größeren Teile stapelten sich in den Regalen an der Wand. Davor stand die Fischtruhe, und auch die Wurst wurde kühl gelagert. Die Berliner Ballen konnten sie nicht entdecken. Mit einem Tablett dieser frisch gebackenen Köstlichkeiten erschien Oma Petersen aus einem hinteren Raum. Turbo bekam gleich besonders große Augen, worüber Oma Petersen lachen mußte. „Was ist denn los?" „Da muß man ja Hunger bekommen. Bei diesen tollen Sachen. Das ist ja total super." „Sie sind auch gebacken worden, um gegessen zu werden", erklärte Oma Petersen. „Die haben es eben schlechter als wir." Sie stellte das Tablett neben der Theke ab, direkt vor das schmale Regal mit den Zeitschriften. „Wie viele möchtest du denn?" „Erst mal zwei." „Gut." „Und du, mein Junge?" „Mir reicht zunächst einer", erklärte Randy, der den Duft kaum aushalten konnte. „Wir werden auch noch welche mitnehmen, Frau Petersen." „Richtig, mein Junge, ihr seid ja zu dritt. Habt ihr das Mädchen zu Hause gelassen?" „Sie hilft mit putzen." -30-
„Das wird Frau Fahrbach freuen." Oma Petersen kannte eben jeden im Ort. Vom Alter her war sie schwer einzuschätzen. Sie konnte 65 sein, aber auch 70 oder 75. Wer sie nach ihrem Alter fragte, bekam als Antwort nur ein verschmitztes Lächeln. Man hatte sie nie anders als vergnügt gesehen. Jeden Tag band sie sich eine schneeweiße Schürze um. Darunter trug sie ein blaues Kleid, das bis zu den Waden reichte, die von ebenfalls blauen Strümpfen, aber dunkler in der Farbe, bedeckt wurden. Ihr rundes Gesicht zeigte stets einen frischen Ton. Die Wangen besaßen eine natürliche Röte. Da hatte sie nicht mit Puder oder Schminke nachzuhelfen brauchen. Das blonde Haar mit den grauen Strähnen paßte auch zu ihr. Sie kämmte es stets zurück, um es im Nacken zu einem Knoten zusammenzubinden. Unter der hohen Stirn leuchteten die Augen in einem fast strahlenden Blau; sie war eben die gute Seele hier in der Gegend. Ihr Mann war bei einem Schiffsunglück ertrunken. Er hatte zu den Rettern gehört, die aufs Meer gefahren waren, um die Mannschaft von einem havarierten Frachter zu bergen. Seit mehr als zwanzig Jahren lebte Oma Petersen allein; die Kinder waren auf dem Festland verheiratet, eine Tochter im Ruhrgebiet. Turbo aß die Berliner. Er mampfte so, daß es eine Freude war, ihm zuzuschauen. Auch Oma Petersen lachte, als sie sah, wie sehr es dem Jungen schmeckte. „Ja, das ist richtig", sagte sie, als er zum zweiten Berliner griff, und reichte Turbo wie auch Randy einige Servietten, an denen sie sich die Finger abwischen konnten. „Wo steckt denn Julia?" fragte Randy. „Keine Ahnung. Ich nehme an, daß sie in ihrem Zimmer ist." „Dann hat sie nicht mit den beiden Typen gesprochen, die vorhin im Geschäft waren?" -31-
„Typen, sagst du?" „Ja, die beiden Männer. Der Blonde und der Schwarzhaarige." Randy redete, denn Turbo aß bereits den zweiten Berliner. Frau Petersen winkte ab. „Ach je, die meinst du. Ja, ja", sie nickte, „die waren hier." „Kennen Sie die Männer?" „Das ist zuviel gesagt. Ich habe sie schon hier gesehen." „Was wollten die eigentlich?" „Die haben nach euch gefragt." Randy zuckte zusammen. Turbo erstarrte plötzlich und vergaß sogar zu kauen. „Wirklich?" „Ja." Randy holte durch die Nase schniefend Luft. „Und... und was haben Sie den Männern gesagt, Frau Petersen?" „Daß ich euch nicht kenne, denn ich mag keine neugierigen Leute. Außerdem haben mir die Kerle nicht gefallen." „Stammen die denn von hier?" Randy und Turbo waren über die Antwort erleichtert. „Ja und nein. Aber sie sind öfter auf Sylt." „Kennen Sie auch die Namen?" „Der eine heißt Hein, der andere wurde Dieter genannt. Ich... ich mag sie nicht." Die Frau verzog angewidert das Gesicht. „Wißt ihr, die sind mir schon körperlich unbehaglich." „Das kann ich verstehen, Frau Petersen", sagte Turbo. Er schielte bereits nach dem dritten Berliner. „Iß noch einen, Junge. In deinem Alter muß man das." Turbo zeigte auf Randy. „Das sagt seine Mutter auch immer." „Womit sie recht hat." Randy wollte noch mehr wissen. „Haben die vielleicht gesagt, -32-
daß sie wiederkommen werden?"
„Nein. Das hätte ich auch nicht für besonders gut gefunden, wenn ihr versteht." „Jetzt allerdings, Frau Petersen. Und wenn Julia uns besuchen will, sie soll ruhig vorbeikommen." „Werde ich ihr ausrichten." „Ich glaube, daß Ela in der Wohnung bleiben will. Wir beide aber wollen nach Westerland fahren." „Tut das mal. So, nun sagt mir noch, wie viele Berliner ich einpacken soll?" „Fünf!" rief Turbo. „Wie kommst du auf die Zahl?" Turbo wischte seine Lippen ab und blickte zu Randy. „Für Ela zwei, für den kleinen bösen Jungen auch, und einer ist für -33-
mich." „Und ich?" „Ach so, du willst auch einen. Dann packen Sie sechs Berliner ein, Frau Petersen." „Gern. Ihr braucht aber nur vier zu bezahlen, zwei davon schenke ich euch." „Oh, danke." „Das heißt, es kommen noch die hinzu, die ihr hier gegessen habt, mein Junge." „Versteht sich, Frau Petersen." Randy zahlte. Das Tragen der Tüte allerdings ließ Turbo sich nicht nehmen. Winkend verließen sie den Laden. Frau Petersen schaute ihnen lächelnd nach. Als Turbo seine Nase schnüffelnd in die Tüte steckte, nahm sie ihm Randy weg. „Gib mal her, sonst kommt die Tüte leer an." „Du traust mir auch überhaupt nicht." „So ist es." Da sie ihre Schlüssel vergessen hatten, klingelten sie. Ela öffnete. Aus der Wohnung hörten sie Frau Fahrbachs Stimme. Die klang nicht eben freundlich. „Habt euch ja lange nicht blicken lassen, ihr Herren der Schöpfung. Wir haben alles allein gemacht, auch wieder eingeräumt. Tretet euch jetzt wenigstens die Schuhe ab." „Klar, Frau Fahrbach", rief Turbo, der als erster die Wohnung betrat. „Wir hatten auch zu tun." „Was denn?" „Wir mußten einkaufen." Er ging in den Wohnraum. Die Tüte hatte er sich schon wieder geschnappt und sie gleich geöffnet. „Berliner Ballen, frisch von Oma Petersen gebacken. Da hat der -34-
Magen Weihnachten. Für Sie haben wir auch welche mitgebracht, Frau Fahrbach." Die wurde plötzlich verlegen. „Wirklich? Habt ihr an mich gedacht, Jungs?" Ihre Stimme klang ganz anders. „Wir denken immer an Sie, Frau Fahrbach", sagte Randy und kassierte dafür von Ela einen Tritt. „Hol mal lieber einen großen Teller." „Wo steht der denn?" „Im Schrank, du Hirnie, nicht auf dem Klo." Randy stellte den Teller auf den Tisch. Ela nahm Turbo die Tüte ab. Vorsichtig legte sie die Berliner auf das Porzellan. „Die sind ja noch warm", sagte Frau Fahrbach. Der Kaffee lief durch die Maschine. „Da kommen die gerade richtig. Wartet einen Moment." Sie schenkte eine Tasse voll. „Ich habe Tee gekocht", sagte Ela. „Es ist noch ein Rest da. Für euch wird er reichen." „Dann trinkst du Kaffee, Ela?" „Ja, Frau Fahrbach." Wenig später sprach niemand mehr; still ließen sich alle die Berliner Ballen schmecken. Turbo lehnte sich als erster zurück. „Oh", sagte er, „jetzt kann ich nichts mehr essen." Ela stieß Randy an. „Wie viele hat er denn schon verputzt?" „So einige." „Stimmt nicht, nur drei." „Und jetzt wieder..." Sie verdrehte die Augen. „Das darf doch nicht wahr sein." „Es war eben zuwenig Pizza da." Randy wechselte das Thema. „Übrigens, wir haben unsere beiden Freunde wiedergesehen." -35-
„Wo?" fragte Ela. „Vor diesem Haus." Ihre Hand sank nach unten. Klirrend stellte sie die Tasse ab. „Das darf nicht wahr sein." „Paß auf, ich erzähle es dir." Frau Fahrbach, die dabeisaß, hatte bald auch das Kauen vergessen und staunte nur. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie bestimmt mit den Ohren gewackelt; statt dessen riß sie nur die Augen auf, während Randy und Turbo abwechselnd berichteten, was sie entdeckt und erlebt hatten. Elas Gesicht verlor etwas von seiner frischen Farbe, und Frau Fahrbach wunderte sich nun laut: „Wenn ich mich mal da einmischen darf, Kinder, von welch krummen Typen redet ihr da eigentlich?" Turbo lachte. „Krumm ist gut." Randy gab eine genaue Auskunft und nannte der Staubsaugerpilotin die beiden Vornamen. Frau Fahrbachs Augenbrauen schnellten in die Höhe. Dann legte sie die Stirn in Falten und sagte mit einem langsamen Nicken: „Ich glaube schon, daß ich Bescheid weiß." „Wieso?" staunte Turbo. „Frag nicht so dumm, Junge, gib mir lieber eine Beschreibung der Kerle. Aber flott." Da ließ sich Turbo nicht lange bitten, und auch die anderen nicht; plötzlich redeten die drei Freunde alle gleichzeitig. Frau Fahrbach war es schließlich leid. Sie hielt sich die Ohren zu. „Wir können wohl gemeinsam singen, aber nicht gemeinsam reden. Bitte der Reihe nach." „Wer denn jetzt?" „Ela, mach du's", entschied Randy, weil er und Turbo sich nicht einigen konnten. -36-
„Okay, okay, immer ich." Ela überlegte eine Weile, dann hatte sie lange genug in der Gedächtnisschublade herumgekramt und konnte eine recht genaue Beschreibung liefern. Monika Fahrbachs Augen hatten einen starren Blick bekommen. Einige Male nickte sie, dann schlug sie schließlich mit der flachen Hand auf den Tisch. „Genau, das sind sie." „Wer ist das?" schnappte Randy. „Na, die beiden Typen, die mir auch schon aufgefallen sind. Stört es euch, wenn ich rauche?" Als die drei Freunde mit den Köpfen schüttelten, holte Frau Fahrbach Zigaretten und ein Feuerzeug aus ihrer Hemdtasche. Nachdem sie die ersten blaugrauen Wolken gegen die Decke gepafft hatte, erklärte sie. „Ihr wißt doch, daß ich hier auf Sylt viel herumkomme. Nicht nur in Wenningstedt, ich arbeite auch in Orten wie Keitum, List oder Hörnum. Wenn man soviel unterwegs ist wie ich, sieht man viele Menschen, das ist klar. Dann fällt es einem plötzlich auf, wenn man gewisse Leute zwei- oder dreimal sieht. Man merkt sich die Gesichter, nicht wahr?" Sie schaute das Schloß-Trio dabei so durchdringend an, als wollte sie sich deren Anblick für ewig und alle Zeiten einprägen. „Und die Kerle sind Ihnen aufgefallen, Frau Fahrbach?" wollte Randy wissen. Die Reinmachefrau rauchte drei bis vier Wolken und nickte dabei. „Das habe ich doch gesagt, die sind mir aufgefallen. Besonders deshalb, weil sie eben so unterschiedlich sind. Die sind doch wie Schwarz und Weiß oder Feuer und Wasser." „Kann sein." „Geheuer waren die mir nicht." „Sind das denn Verbrecher?" fragte Ela. Frau Fahrbach lehnte sich zurück. Mit einer sehr langsamen Bewegung hob sie die Schultern. „Das kann ich euch beim -37-
besten Willen nicht sagen, Freunde. Schon möglich." Plötzlich heftig, winkte sie ab. „Ich will keinen falschen Verdacht in die Welt setzen, sonst heißt es wieder, die Fahrbach, die quatscht nur dummes Zeug." „Sie haben ja nichts gesagt", meinte Ela und schaute zu, wie die Staubsaugerpilotin den Stummel ausdrückte. „Sie sind mir jedenfalls über den Weg gelaufen", wiederholte Frau Fahrbach. „Und haben keine Tauben gesucht?" fragte Randy. „Nein, das nicht. Eure kleine Freundin hat mir davon erzählt. Finde ich mehr als komisch." „Laufen denn hier öfter welche herum, die tote Vögel suchen?" „Schon, wenn..." sie schlug ein Kreuzzeichen, „eine Ölpest droht. Von diesen widerlichen Tankern, aber im Normalfall..." jetzt schüttelte sie den Kopf, „nein, das nicht." „Die Taube war auch schwerer", gab Ela zu bedenken. Turbo sagte nichts. Er saß stumm daneben und sah leidend aus. Wahrscheinlich waren es doch einige Berliner zuviel gewesen. „Wißt ihr, wo ich sie auch mal gesehen habe?" sagte Frau Fahrbach plötzlich. „Nein!" Gespannt sahen die Freunde auf. „Auf der großen Wiese bei Keitum." „Was haben sie denn da getan? Hase gespielt?" „Dir fehlt die sittliche Reife, Randy Ritter. Nein, die große Wiese dient hin und wieder als Startplatz für Ballonfahrer. Habt ihr jetzt begriffen?" „So halb", gab Randy zu. „Sie meinen also, daß die Männer zu den Ballonfahrern gehören?" „Kann ich nicht sagen. Ist aber möglich." Sie schaute auf ihre -38-
Uhr. „Für mich wird es Zeit." „Wo gehen Sie denn jetzt hin?" rief Turbo und bekam wegen seiner neugierigen Frage von Ela einen Tritt gegen das Schienbein. „Nach Hause. Ich habe mein Fahrrad mitgebracht. Aber eines sage ich euch..." Während sie sprach, leerte sie den Aschenbecher. „Ich werde die Augen nicht verschließen und besonders nach diesen beiden Kerlen Ausschau halten." „Geben Sie uns dann Bescheid?" „Klar doch, Ela." „Danke, Frau Fahrbach." Auch die Freunde erhoben sich. Gemeinsam brachten sie Frau Fahrbach bis an die Haustür. Dort blieben sie stehen und winkten ihr nach, bis sie hinter der Hecke verschwand. „Ist gar nicht so übel, der kleine böse Junge", meinte Randy grinsend. „Wenn du das noch einmal sagst", zischelte Ela, „kippe ich dir Sand in dein Bett! Und das machst du dann sauber." „Streitet euch nicht, da kommt jemand." Ela bekam einen langen Hals, als sie über die Hecke hinwegschaute. „Das ist ja Julia Schnippke." Auch sie war mit dem Rad da. Es war ein leichtes Alurad, gerade richtig für die Insel. Sie stieg ab und lehnte ihren Drahtesel gegen die Hauswand. „Hallo", sagte sie etwas schüchtern. Julia Schnippke paßte nach Sylt, zumindest ihrem Äußeren nach. Ihr Haar war strohblond. Sie trug es als etwas längeren Igel und brauchte sich niemals zu kämmen. Ihr Gesicht war rund, etwas knubbelig, und die Mundwinkel waren ständig zu einem etwas kasperhaften Lächeln verzogen. -39-
Ela ging ihr entgegen. „Toll, daß du da bist." „Die Jungen haben meiner Großmutter gesagt, daß ich kommen soll. War das ernst gemeint?" „Wir machen nie Witze!" rief Randy. „Außerdem soll Ela Gesellschaft haben, wenn wir nach Westerland fahren", erklärte Turbo. Ela verzog den Mund. „Ach, ihr wollt wirklich hin?" „Klar doch." „Und was habt ihr da vor?" „Den Strand besuchen und mal nachschauen, ob uns nicht zwei bestimmte Leute begegnen." „Der Blonde und der Schwarze, wie?" -40-
„Klar doch." Randy schaute auf die Uhr. „Was ist, kommt ihr auch mit?" Ela wandte sich an Julia. „Willst du?" Die zog eine Schnute. „Och, eigentlich kenne ich alles schon. Nur wenn es nötig ist..." „Ich bleibe auch lieber hier", sagte Ela. „Vielleicht gehen wir kurz zum Strand." „Wie ihr wollt." Julia Schnippke schloß das Rad ab. „Man kann nie wissen", sagte sie und kam auf die beiden Männer zu sprechen. „Der Blonde und der Schwarze. Waren das die Kerle, die auch im Geschäft meiner Großmutter nach euch gefragt haben?" „Sicher." Randy kam näher. „Kennst du sie?" Julia lachte. „Kennen ist eigentlich zuviel gesagt. Ich weiß nur, daß sie in einem alten Haus wohnen. Etwas außerhalb der Stadt. Die haben sich da eingemietet." „Woher weißt du das?" „Ich fuhr zufällig vorbei, als da Kisten hineingetragen wurden. Der Weg dort ist ideal für Radtouren." „Kisten", flüsterte Randy und schaute Turbo an. „Sieh mal an. Was hältst du denn davon?" „Einiges." „Die müßten wir uns anschauen." „Seid ihr verrückt?" Ela regte sich auf. „Was ist denn, wenn sie euch erwischen. Dann wissen die doch gleich, daß ihr herumschnüffeln wollt." „Da werden wir schon eine Lösung finden", sagte Randy und grinste breit. „Wir gehören ja zu den Durchblickern." „Darf ich lachen? Manchmal habe ich den Eindruck, als würdet ihr danebenblicken." „Du gönnst uns auch gar nichts." -41-
Ela winkte ab. „Denkt daran, wie sauer die reagiert haben, als sie uns am Strand sahen und uns die Taube wegnahmen." „Tauben haben die auch!" erklärte Julia. „Wo?" fragte Turbo nur. „In diesem alten Haus. Glaubt ihr mir nicht? Ich habe sie selbst anfliegen gesehen." „Dann sind wir erst recht richtig dort", meinte Randy. „Wenn du uns noch eine Beschreibung geben würdest, wären wir dir sehr verbunden, liebe Julia." „Keine komischen Freundlichkeiten", meckerte Ela, „sonst bekommt Julia noch einen falschen Eindruck von dir." „Ich bin eben ein netter Mensch." „Nicht einmal nachts." Julia Schnippke zeichnete den Weg sicherheitshalber auf, nachdem sie ins Haus gegangen waren. Randy und Turbo gaben genau acht und steckten den Zettel dann ein. „Herzlichen Dank", sagte Randy. „Er wird dir immer nachlaufen und dich nie erreichen", gab Turbo seinen Senf hinzu, bevor er den Anorak überstreifte. „Wann seid ihr denn wieder zurück?" wollte Ela wissen. „Kommt darauf an, was es zu essen gibt." „Dicken Reis werde ich kochen und ihn für dich mit Katzenhaaren würzen." Turbo schüttelte sich. „Irre, ein wahnsinniger Geschmack. Aber laß vorher den kleinen bösen Jungen davon probieren." „Wer ist denn das?" fragte Julia verwundert. Elas Antwort bekamen die Jungen nicht mehr mit. Da hatten sie sich bereits auf ihre Drahtesel geschwungen und radelten los...
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3. Das unheimliche Haus Die Beschreibung von Julia Schnippke war ausgezeichnet gewesen. Randy und Turbo hatten keine Schwierigkeiten gehabt, aus Westerland herauszufinden und die Straße entlangzufahren, an der auch das von ihnen gesuchte Haus liegen mußte. Es war mehr ein Radweg, der durch die Dünen führte. Für motorisierte Fahrzeuge nicht befahrbar. Ein Stück Paradies für Radfahrer und Fußgänger, denen sie auch des öfteren begegneten, denn bei diesem herrlichen Wetter blieben nur die wenigsten Urlauber im Haus. Der Westerländer Trubel und der Verkehr im Zentrum lagen hinter ihnen. Wind strich vom Meer her über die Dünen, die sich besonders an der rechten Seite des Wegs wie erstarrte Wellenberge und -täler hinzogen und mit Strandhafer bewachsen waren, der sich gegen den Wind anstemmte und ihm die Stirn bot. Das Haus sollte einsam stehen und nicht zu den Bauten gehören, die sich wohlhabende Leute vom Festland in die oder hinter die Dünen gesetzt hatten. Die neuen Bauten waren sehr schnell zu erkennen; an manchen Stellen standen sie kompakt zusammen, andere wieder lagen verstreut im Gelände. Der Pfad folgte zwar dem Meer in Richtung Süden, er führte jedoch bald vom Strand weg in Richtung Inselmitte. Die Dünen verschwanden allmählich und machten brettebenen Gras- und Heideflächen Platz. Die Häuser waren hier zum größten Teil mit Steinmauern rings um die Grundstücke geschützt, denn Wind, Regen und Schnee sorgten manchmal für eine sehr rauhe Witterung. Ein Supermarkt lag in der Nähe, sogar ein Möbelgeschäft. -43-
Aber noch immer waren die Freunde weit von den Asphaltstraßen entfernt. Schließlich fiel ihnen auf, daß der Weg wieder eine andere Richtung einschlug. „Wir geraten näher an den Strand!" rief Turbo, der neben Randy radelte. „Wieso? Stört es dich?" „Mitneffen." „Wie bitte?" „Mitnichten, meine ich." Randy winkte ab. Der Witz war älter als er. Turbo hatte in letzter Zeit zuviel dumme Sprüche drauf. Eine Phase, die bestimmt irgendwann vergehen würde. Die Einsamkeit nahm zu. Hier und da tauchte ein Bauernhof auf. Über ihnen wölbte sich ein herrlicher graublauer Himmel, fast wolkenlos; nur fern im Norden schwebten ein paar Wattetupfer. Man konnte sich kaum vorstellen, daß oft genug auch wilde Orkane über die Insel brausten. An einer schmalen Kreuzung hielt Randy an und schaute auf dem Zettel nach. Turbo hatte sein Rad ein paar Schritte weiter gestoppt. „Haben wir uns verfahren?" rief er. „Nein, ich will nur mal nachschauen." „Frag doch den Bauern da!" Der Junge deutete über das Feld, auf dem ein Mann wie eine einsame Vogelscheuche stand und zu ihnen herüberschaute. „Werde ich auch." Randy bockte seinen Drahtesel auf und stampfte über die weiche Erde. „Morjn!" sagte der Bauer. Dieser Gruß gehörte zur Insel wie der Strand. Er galt zu jeder Tageszeit. Randy grüßte zurück und erkundigte sich nach dem einsam stehenden alten Haus, das hier in der Nähe sein sollte. -44-
Der Bauer schob seine Schirmmütze zurück und kratzte sich am Kopf. Er sagte etwas, das Randy nicht verstand, deshalb nachfragte und endlich eine Antwort bekam.
„Da wohnen die Taubenleute." „Ach ja?" Der Bauer nickte. „Brieftauben, glaube ich. Sie probieren da was aus, Junge." -45-
„Was denn?" „Weiß ich nicht." Die Insulaner gehörten nicht gerade zu den gesprächigsten Menschen, das merkte Randy sehr bald. „Kennen Sie die Leute?" „Nee." „Wie viele sind es denn?" „Kann ich dir nicht sagen." „Da ist so ein Schwarzhaariger und Blonder..." „Kann sein." „Fahren die auch einen blauen Ford Scorpio?" Jetzt dachte der Bauer nach. „Ja", meinte er nach einer Weile, „Blau ist der Wagen schon." „Weit ist es auch nicht mehr?" „Mit dem Rad nicht. Einen Kilometer höchstens. Ihr müßt euch mehr zum Wasser hin halten." „Danke - und tschüß." „Ja, morjn, morjn..." „Na, Erfolg gehabt?" fragte Turbo. „Ich doch immer." „Hat auch lange genug gedauert." „Der Bauer mußte erst nachdenken, aber ich weiß jetzt, wo das Haus ungefähr steht. Einen Kilometer von hier." „Das ist ja zu schaffen." Turbo schwang sich wieder auf den breiten Sattel. Randy übernahm die Führung. Bald merkte er, daß der Bauer alles richtig beschrieben hatte. Der schmale, durch die Felder führende Pfad schlug tatsächlich einen Bogen und näherte sich wieder den wellenförmigen Dünen. Wenn sie durch Querrillen oder über Mulden hinwegfuhren, -46-
wurden sie jedesmal kräftig durchgeschüttelt, doch sie hielten durch. Randy sah als erster den geometrisch anmutenden Schatten, der bald hinter einem Dünenkamm auftauchte. Er drehte sich um. „Das muß das Haus sein. Ich sehe das Dach bereits." „Hoffentlich gehören da auch Mauern dazu." Sie traten beide stärker in die Pedale. Schon bald konnten sie das gesamte Haus sehen. Es paßte in der Tat nicht zu den neuen Gebäuden. Aus alten braunen Steinen war es errichtet worden, mehr hoch als breit; es besaß an der Vorderseite zwei Dachgauben und an den Ecken zwei kleine Türmchen, von deren Spitzen aus sich dünne Fahnenstangen in die Höhe reckten. „Erst mal vorbeifahren!" rief Randy. „Geht klar." Der Weg bildete die Grenze zu den Dünen. Dahinter lag das weite Meer, das man von hier aus nicht sehen konnte. Die Jungen hörten aber die Wellen an den Strand schlagen, denn allmählich kehrte die Flut zurück. Zum Haus gehörte ein Vorgarten mit einigen Bäumen. Als Schutz diente statt einer Mauer ein grün gestrichener Lattenzaun, von dem die Farbe abblätterte. Auch Tauben sahen sie. Einige Vögel hockten still auf dem Dachfirst und sahen aus, als wären sie künstlich. Da die vorgebauten Dachgauben kein Fensterglas verschloß, konnten die Freunde davon ausgehen, daß die Brieftauben hier in ihren Schlag zurückkehrten. Der Scorpio stand auf dem Grundstück, schräg versetzt vor einem Schuppen. Ein zweites Auto war nicht zu sehen, aber vielleicht stand ein Wagen im Schuppen. Außer Sichtweite stoppten sie. Sie suchten sich erst einmal -47-
einen Platz zwischen zwei welligen Dünenhügeln und wollten beraten. „Die Räder lassen wir hier", schlug Randy vor. „Auf jeden Fall." Turbo zog die Nase hoch. „Dann können wir über die Dünen abhauen, wenn es nötig wird." „Stimmt genau." Randy schaute auf seine Uhr. „Wir sollten uns jetzt mal umschauen." „Noch eine Frage. Was sagen wir, wenn uns die beiden Knacker erwischen?" „Daß wir uns verlaufen haben." „Etwas Besseres fällt dir nicht ein." „Dir denn?" „Hätte ich dich sonst gefragt." Randy winkte ab. „Wir dürfen uns eben nicht erwischen lassen. Das ist alles." „Meinen Segen hast du." Im Schutz eines Hanges liefen die Jungen geduckt los und schlugen gleichzeitig einen weiten Bogen, um die Rückseite des Hauses zu erreichen. Sich von hinten zu nähern, schien ihnen unauffälliger. Es klappte besser, als sie es sich vorgestellt hatten. Schon bald hatten sie das Haus umrundet. Es lag etwas tiefer, eingebettet in eine sehr flache, tellerförmige Mulde. Die Rückseite war schlicht gebaut. Da gab es keine Gauben auf dem Dach, keine kleinen Türme, nur eben die glatte Fassade und die viereckigen Ausschnitte zweier Fenster. Hinter einem kahlen Busch kauerten sich die beiden nieder. „Mal 'ne Frage, Randy, siehst du eine Hintertür?" „Nein." „Ich auch nicht. Nächste Frage: Die Fenster sind zu hoch, da -48-
können wir nicht ran, um reinzuschauen?" Randy fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sein Blick glitt zum Schuppen, der dicht neben dem Haus stand. Zwischen beiden Gebäuden klaffte eine Lücke. „Ob es da eine Seitentür gibt, die nicht verschlossen ist?" flüsterte Randy. Turbo hob die Schultern. „Bleibt uns nur der Taubenschlag." „An der Wand hoch, wie?" „Ja, mit einer Leiter. Mach mal den Hals lang und schau auf das Schuppendach." Als Randy hochsah, stieß er einen leisen Pfiff aus. „Tatsächlich, die kommt uns wie gerufen. Aber solange die Männer da sind, hat es eh keinen Zweck." Er dachte an den Scorpio vor dem Haus und wollte sich schon abwenden. Doch Turbo war bereits weiter nach rechts gehuscht und winkte aufgeregt mit beiden Händen. Randy kroch zu ihm. „Was ist denn?" „Ein offenes Fenster in der ersten Etage. Da, an der Seite. Da müßte die Leiter passen." „Klasse. Und die Kerle halten uns die Leiter, was?" „Ach so. Na ja, weißt du, wir..." Turbo sprach nicht mehr weiter; beide zuckten zusammen, als sie plötzlich Stimmen hörten. Die Männer standen offenbar auf der Vorderseite, aber sie redeten so laut, daß man sie noch auf der Rückseite verstand, wo die beiden Jungen versteckt waren. „Wenn ich gewußt hätte, daß ich zum Telefonieren nach Westerland fahren muß, hätte ich die Bruchbude nie gemietet!" „Das ist der Blonde," wisperte Randy. „Dafür hat das Haus auch einen Taubenschlag." „Mist, verdammter." Der blonde Hein erschien im Blickfeld der Jungen. Er ging auf den Wagen zu und schloß ihn auf. Sein piratenhaft aussehender Kumpan begleitete ihn. Seine rechte -49-
Hand hielt den Griff einer Aktentasche umklammert. Beide stiegen ein. Turbo rieb sich die Hände. „Was willst du mehr? Die hauen tatsächlich ab. Das gibt es doch nicht." „Toll ist das." Der Wagen schoß davon. Für einen Moment blieben die Freunde unbeweglich hocken. Sie schauten dem Fahrzeug nach, wie es durch das offene Lattenzauntor fuhr und in Richtung Westerland abbog. „Bis die telefoniert haben, kennen wir die Bude in- und auswendig", sagte Randy. Er lief bereits um den Zaun herum und jagte durch den Eingang auf das Grundstück. Turbo war ihm dicht auf den Fersen. Vor dem Schuppen blieben sie atemlos stehen. „Willst du klettern, oder soll ich aufs Dach?" „Geh du, ich mache dann die Leiter." Randy faltete die Hände zusammen, in die Turbo den rechten Fuß stemmte. Er bekam von seinem Freund noch den nötigen Schwung, dann hatte er den Rand des Schuppendachs umklammert. Randy drückte nach, Turbo kletterte auf das Dach, wo er zunächst flach liegenblieb, um abzuwarten, ob etwas passierte. Am Haus tat sich nichts. Es kamen nur drei weitere Tauben, die auf dem Dach landeten. „Alles klar, Randy. Ich schiebe dir jetzt die Leiter über die Kante. Sie ist lang genug." „Mach schon." Turbo drehte die Leiter auf dem Dach, schob sie über die Kante hinweg und schaffte es auch, sie zu kippen. Randy faßte die unteren Sprossen mit beiden Händen und zog die Leiter weiter herunter. Er hielt sie in der Waagerechten, und Turbo sprang zu Boden. „Das hätten wir", sagte er und klopfte seine Kleidung aus, auf -50-
der grauer Schmutz klebte. „Los, zur Hauswand." Beide trugen die Leiter und suchten eine Stelle am Boden, die nicht zu uneben war. Vorsichtig lehnten sie die Leiter gegen die Seitenwand des Hauses, unterhalb des offenen Fensters, und vertrauten auf ihr Glück. Das hatten sie auch, denn die Leiter war gerade lang genug, daß man sich über die Fensterbank ins Haus ziehen konnte. „Diesmal gehe ich zuerst", sagte Randy. „Halte das Ding noch mal gut fest." „Mal sehen." „Was heißt das denn?" „Wenn ich dich loswerden will..." Randy zeigte ihm die Faust. „Du weißt ja, die Rechte ist tödlich." „Und die Linke?" „Unerforscht." Turbo grinste. „Los, du komischer Einbrecher, steig das Ding schon mal hoch." „Gern, der Herr." Die Leiter wackelte zwar, als Randy sie mit seinem Gewicht belastete, aber im Prinzip stand sie fest. Außerdem umklammerte Turbo sie mit beiden Händen in Höhe der vierten Sprosse. Randy kletterte höher. An der Fassade klebte Staub in einem feuchten Schmier. Moos wuchs in den Ritzen, und überall hingen alte Spinnweben dazwischen. Mit zurückgelegtem Kopf schielte er zum offenen Fenster, dessen rechter Flügel sich im Wind hin und her bewegte und dabei knarrende Geräusche abgab. -51-
„Kommst du voran?" rief Turbo leise. „Das siehst du doch." „Na ja." Turbo sah, daß Randy stehengeblieben war. Der junge Ritter befand sich mit dem Kopf in einer Höhe zur Fensterbank und konnte nun in das dahinterliegende Zimmer schauen. „Was siehst du?" „Nicht viel." „Aber keinen Menschen?" „Nein, hier ist niemand. Das Zimmer scheint leer zu sein." „Soll ich auch hochkommen?" Randy wartete mit der Antwort. Er durchsuchte jede Ecke des Raumes. Ein alter Tisch, zwei Stühle, ein Schrank, mehr Einrichtung war nicht vorhanden. Nicht einmal ein Teppich lag auf dem alten, ausgebeulten Holzfußboden. „Was ist denn?" Randy schaute nach unten. „Erst wenn ich im Zimmer bin, kannst du mir folgen." „Dann sieh auch zu." „Ja, ja, keine Sorge." Randy stieg die letzten Sprossen hoch und schwang sich, ohne daß die Leiter wackelte, über die Fensterbank in den düsteren Raum. Es gefiel ihm nicht, daß er mit dem rechten Fuß zu laut aufkam, war aber nicht zu ändern. Randy drehte sich herum, hielt die Leiter jetzt oben fest und mußte sich dabei aus dem Fenster beugen. Turbo kletterte schnell und geschmeidig hoch. „Sollen wir das Ding stehenlassen oder wegkippen." „Laß es. Wenn die Leiter zufällig auf das Schuppendach fällt, ist der Krach groß. Du weißt noch immer nicht, ob dieses komische Haus tatsächlich leer ist." -52-
„Das werden wir bald sehen." Turbo klopfte seine Hose ab, die ein wenig gelitten hatte. Die Tür war geschlossen. Bevor Randy sie öffnete, schaute er im Schrank nach. „Leer, nicht?" „Ja." Er schloß den Schrank, zog die Nase hoch und fragte leise: „Fällt dir nichts auf?" „Hier riecht es so komisch." Turbo runzelte die Stirn, schnüffelte und nickte seinem Freund zu. „Tatsächlich, du hast recht. Das riecht wirklich komisch. Wonach nur? So streng..." Randy überlegte, dann lachte er und sagte: „Ich hab's. Das riecht nach Taubenmist." „Ehrlich?" „Verlaß dich darauf." „Okay, du kennst dich aus." Turbo schob ein im Weg liegendes Stück Holz zur Seite. „Tauben, immer nur Tauben. Zuerst am Strand, jetzt hier. Bin gespannt, wie das endet." Randy stand bereits an der Tür. Sehr vorsichtig zog er sie auf und peilte zunächst durch den Spalt in einen Flur, in dem kein Licht brannte, es nach Taubenkot und Staub roch und in dem schwach die Umrisse einer Holztreppe auszumachen waren, die sowohl nach oben als auch nach unten führte. „Wohin willst du?" fragte Turbo. „Nach oben." „Weshalb?" „Da sind die Taubenschläge. Ich habe das Gefühl, daß wir sie uns mal ansehen sollten." „Meinetwegen, aber schnell. Die Typen werden wohl nicht zu lange telefonieren." Geheuer war den beiden das alte Haus nicht. Aus Stein -53-
gebaut, bestand es im Innern ganz und gar aus altem Holz: die Treppe, das Geländer, die Decke zwischen den Etagen. Und das Holz knarrte und ächzte, wenn es belastet wurde. Die Geräusche gefielen ihnen überhaupt nicht, wurden aber zum Glück von anderen überdeckt, die aus der Höhe an ihre Ohren drangen. Da flatterte und gurrte es. Turbo, der sich eine Bemerkung nicht verkneifen konnte, meinte: „Da oben geht es zu wie in einem Taubenschlag. Oder nicht?" „Wahnsinn, deine Treffsicherheit." „Ich bin eben der geborene Horcher." Sie hielten sich nahe der schmutzigen Wand, als sie die Holztreppe hochkletterten. Je länger sie im Haus waren, um so sicherer fühlten sie sich. Bald schon hatten sie das Dachgeschoß erreicht, wo sie zunächst auf einen Flur trafen, von dem aus eine Tür in das eigentliche Dachgeschoß führte. Die Geräusche der Tauben waren hier oben viel deutlicher zu hören. Randy starrte auf die Metallklinke der Tür, legte seine Hand um das kühle Eisen und drückte die Klinke vorsichtig nach unten. Er öffnete noch nicht, drehte den Kopf zu Turbo hin und fragte flüsternd: „Hast du Angst vor Tauben?" „Nee, mehr vor Löwen." „Die können aber nicht fliegen." Randy duckte sich leicht, als er der Tür mit dem Knie einen leichten Stoß versetzte, so daß sie aufschwang. Etwas komisch war den beiden schon zumute. Ihrer Meinung nach veranstalteten die Tauben einen Höllenlärm. Zugluft war entstanden und fegte durch die Dachkammer. „Schnell, Turbo!" Randy drückte sich in den Raum und überließ Turbo das Schließen der Tür. „Guck dir das an!" flüsterte der Junge aus Japan. „Das... das darf doch nicht wahr sein." Randy hob die Schultern. „Hast du noch nie einen -54-
Taubenschlag gesehen?" „Nein, du denn?" „Ja, heute." Die Schläge sahen aus wie ein großes Regal, das bis zum niederen Dachfirst reichte. Es war in einzelne Fächer oder Schläge unterteilt, die mit Draht bespannte Türen besaßen. Sie alle standen offen, so daß die Tauben hinein- und hinausfliegen konnten. Der scharfe Geruch brachte sie fast um. Tauben machen eben überall hin. Der Boden war von weißgrauen Flecken übersät. „Weißt du, was das Graue mitten in der Taubenkacke ist?" fragte Randy leise. „Nein." „Auch Taubenkacke." Turbo ballte die Faust und ließ Randy stehen, um ans hintere Ende des Speichers zu gehen. Er hatte dort die Umrisse einer Kommode oder eines Tisches entdeckt; so genau war es auf die Entfernung und im Gegenlicht nicht festzustellen. Es war ein Tisch - und darauf lagen mehrere Vögel, wohlgeordnet und nebeneinander. „Komm... komm mal her, Randy!" rief Turbo mit bebender Stimme. „Was ist denn?" „Schau dir das mal an!" Am Klang der Stimme hatte Randy herausgehört, daß Turbo etwas Ungewöhnliches gefunden haben mußte. Schnell war er bei ihm, blieb ungläubig neben ihm stehen und wurde ebenfalls bleich. Vor ihnen lagen sechs tote Tauben auf dem Tisch! Plötzlich kam ihnen das Haus noch unheimlicher vor, Randy spürte eine harte Faust, die sich langsam, aber sicher in seinen -55-
Magen grub und ihm die Luft nehmen wollte. „Na?" fragte Turbo nur. „Das kann doch nicht wahr sein!" antwortete Randy mit belegter Stimme. „Ist es aber." Die Tauben lagen auf dem Rücken. Das weiße Bauchgefieder war zu sehen, aber auch der schwarze Strich, der sich wie eine senkrecht verlaufende Naht vom Kröpf her in Richtung Schwanz zog. Randy beugte sich tiefer. Ihm war etwas aufgefallen. Vorsichtig betastete er die Taube - und die Hand zuckte zurück. „Turbo, die... die sind nicht tot. Die leben noch. Ich habe es gespürt." „Moment." Auch Turbo überzeugte sich davon. Langsam, bedächtig fast nickte er. „Bewußtlos, Randy. Die sind tatsächlich nur bewußtlos." „Jetzt heb mal eine an." Turbo zierte sich zunächst, gab sich dann schließlich einen Ruck. Er hob die Taube so vorsichtig in die Höhe, als wäre sie etwas ungemein Kostbares. Dann wog er sie abschätzend auf der Handfläche. „Was sagst du?" „Die ist ziemlich schwer." „Wie die am Strand, nicht?" „Richtig." „Schau dir die Narben an, Turbo. Mir scheint es, als hätte man sie aufgeschnitten, etwas hineingetan und die Wunde dann wieder vernäht. Was anderes kann ich mir nicht vorstellen." „Und was haben sie hineingetan?" „Wenn ich das wüßte." Randy runzelte die Stirn. „Ist ganz schön blöd, das alles." -56-
„Außerdem fehlt der Sender." „Den werden sie bestimmt noch anbringen." Turbo trat an das Dachfenster, mußte einen langen Hals machen und schaute ins Freie. Möwen umschwirrten das Dach ebenfalls, nicht nur Tauben. „Ich kann mir vorstellen, daß da ein Verbrechen dahintersteckt", sagte er und nickte Randy zu. „Dann müßten wir der Polizei Bescheid geben." „Ohne Beweise?" Randy deutete auf die bewegungslos daliegenden Tiere. „Wir könnten eine Taube mitnehmen." „Wäre nicht schlecht." Sie hatten laut sprechen müssen, denn einige Tauben kehrten in ihre Schläge zurück. Manche flogen nicht sofort hinein, sondern drehten erst noch ihre Runden auf dem Dachboden und wischten dicht über die Köpfe der Jungen hinweg. Ein Tier ließ noch etwas fallen. Der grauweiße Dreck erwischte Randy an der Schulter. „Mist!" schimpfte er. „Das Zeug geht so schlecht raus." Turbo mußte lachen. „Jetzt siehst du ganz schön bekackt aus." Randy kümmerte sich nicht um die Bemerkung. Er suchte nach einem Behälter, in den er eine Taube stecken konnte, um sie besser transportieren zu können, fand aber nichts Rechtes. Turbo ging schon zur Tür, öffnete sie - und zuckte zurück, als hätte die Klinke unter Strom gestanden. „Verflixt, was ist denn?" schimpfte Randy, als Turbo ihn an der Schulter herumzerrte. „Da kommt jemand." „Ach du..." Randy schluckte. „Wer denn?" „Habe ich nicht gesehen. Hört sich aber an, als wäre es nur einer. Und der steigt ausgerechnet die Treppe hoch. Ich schätze, daß er in wenigen Sekunden hier sein wird." -57-
„Wohin jetzt?" Turbo hatte eine Idee. Es war ihre einzige Chance. Er deutete auf das offene Fenster der Dachgaube...
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4. Monika Fahrbachs Warnung Julia Schnippke hatte es sich bequem gemacht, die Schuhe ausgezogen und sich auf das Bett gelegt. „Weißt du, Ela, am liebsten würde ich immer hier auf Sylt bleiben." „Gefällt es dir so gut?" „Und wie." „Aber du wohnst doch auch toll." Vom Bett her winkte Julia mit der rechten Hand ab. Mit der linken stopfte sie Gummibärchen in den Mund. Eines verfehlte die Öffnung und blieb dicht unter dem Hals auf ihrem rot und weiß gestreiften Pullover liegen. „Klar, bei uns gibt es auch Wald, aber die Luft ist längst nicht so gut. Du wohnst am Rhein, wie?" „Ja, in der Nähe von Düsseldorf." „Und die Jungen?" Ela, die im Sessel mehr lag als saß, streckte die Beine noch weiter aus und bewegte die Zehen. „Turbo lebt bei den Ritters in einem alten Schloß. Ist ein irres Ding, kann ich dir sagen." Julia richtete sich auf. „Mit Geheimgängen?" fragte sie staunend. Ela hob die Schultern. „Keine Ahnung. Kann aber sein, daß es welche gibt." „Toll finde ich das." „Und einen Turm hat das Schloß. Das ist der Arbeitsplatz von Randys Vater." „Was ist er denn?" „Wissenschaftler offiziell. Aber er arbeitet für den Geheimdienst oder so was Ähnliches, glaube ich." Julia war Feuer und Flamme. Sie hatte schon einen roten Kopf bekommen. „Das ist ja echt spannend bei euch." -59-
„Manchmal geht es schön rund." Ela mußte lachen. „Wenn ich dir erzähle, was wir schon alles erlebt haben, da kannst du nur den Kopf schütteln. Wir haben immer das Glück oder das Pech, in eine ziemlich heiße Sache hineinzustolpern." Julia hob die Schultern. „Bei mir passiert nie was. Schule, Hausaufgaben, Konfirmationsunterricht, ansonsten kommst du vor Langeweile fast um. Ab und zu gehen wir zum Griechen bei uns. Der hat Gyros, das ist einfach super." Sie strich durch ihren Borstenschnitt. „Außerdem muß ich mich mit einer Schwester herumärgern. Die heißt Wiebke. Wir nennen sie aber nur Döfchen oder Klopper." „Ist die so stark?" „Klar, die will jeden verdreschen. Acht Jahre, so ein Knubbelgesicht. Ich sage dir, die kann dich vielleicht nerven. Stell dir mal vor, die hätte ich mitgenommen?" Sie schlug sich an die Stirn. „Nicht auszudenken." „Dann hättest du sie in den Sand einbuddeln können." „Kopf nach oben oder nach unten?" Ela schüttelte sich. „Du bist gemein, Julia, so wie du von deiner Schwester sprichst." „Egal. Ich bin jedenfalls froh, daß sie nicht mitgekommen ist. Obwohl ich es jetzt auch etwas lahm finde." „Wir können irgendwohin gehen." „Habe ich auch keinen Bock." „Was hast du denn?" „Weiß nicht." Sie stand auf und wechselte das Thema. Am Fenster stehend, fragte sie: „Habt ihr abends schon was vor?" „Nicht daß ich wüßte." „So eine Inselfahrt bei Dunkelheit kann stark sein. Wir können sogar in einige Teestuben gehen und..." „Erst mal sehen, was aus den Jungen geworden ist. Ohne sie -60-
will ich eigentlich nicht los." „Die sind doch auch allein gefahren." „Das ist was anderes. Da hatte ich keine Lust." Julia grinste hinterlistig. „Mit wem von den beiden gehst du eigentlich, Ela?" „Mit keinem." Julia lachte, weil Ela einen roten Kopf bekommen hatte. „Das glaube ich dir nicht. Ist es Randy - oder...?" „Nein!" Heftig stand auch Ela auf. „Ist doch nicht schlimm, wenn du es zugibst." Es schellte. Ela war froh, daß sie diese Diskussion abbrechen konnte. Sie lief zur Haustür, öffnete und schrak zusammen, als sie in das Gesicht des kleinen bösen Jungen - pardon - von Frau Fahrbach schaute. Tief einatmend ging sie einen Schritt zurück. „Sie haben mich erschreckt, Frau Fahrbach." „Ha, ha", lachte diese meckernd. „Das habe ich so an mir. Du bist nicht die erste. Darf ich reinkommen?" „Sicher." Im Wohnraum blieb Frau Fahrbach stehen und wunderte sich über den neuen Gast. „Du hast Besuch?" „Das ist Julia Schnippke." „Ahhh... ich erinnere mich, dich schon gesehen zu haben." Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Julia. „Wohnst du nicht bei Frau Petersen?" „Das ist meine Großmutter." „Richtig, ja." „Wir haben Julia kennengelernt. Es war ihr allein zu langweilig, deshalb ist sie gekommen." „Und wo sind die Jungen?" „Weg." -61-
Frau Fahrbach setzte sich. „Hört mal, die sind doch nicht etwa wegen dieser beiden Kerle da unterwegs." „Doch." Die Zugehfrau holte tief Luft. „Das darf nicht wahr sein, Kinder. Das macht mich sauer." „Weshalb denn?" „Weil ich nachgeforscht habe. Ich kenne sie vom Sehen, das wißt ihr, nicht wahr?" „Ja, Frau Fahrbach, und weiter?" Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum und schob die Brille gerade. „Mir sind die beiden einfach nicht aus dem Kopf gegangen. Ein Bekannter meines Hauswirts ist bei der hiesigen Polizei, und mit dem habe ich über die Kerle vorhin gesprochen." „Warum das denn?" „Weil sie mir nicht geheuer vorgekommen sind, Ela. Und ich hatte recht gehabt." „Liegt denn gegen die was vor?" Monika Fahrbach hob die Augenbrauen, und ihre Stirn bekam das Aussehen eines Waschbretts. „Nein, es liegt nichts gegen sie vor." „Dann ist doch alles klar." Mit der flachen Hand schlug Frau Fahrbach auf den Tisch. Jetzt verwandelte sie sich wirklich in einen kleinen bösen Jungen. „Nichts ist klar, alles ist unklar. Gegen die lag was vor. Die haben beide im Knast gesessen." Sie hob die rechte Hand, hielt sie vor ihr Gesicht und spreizte dabei die Finger. „Der Polizist war mal für zwei Jahre nach Hamburg versetzt worden. Da hat er sie zum erstenmal erlebt, und jetzt hat er sie hier auf der Insel wiedererkannt." „Das ist schlecht." -62-
„Noch schlechter sogar. Weißt du auch, weshalb man die Kerle eingebuchtet hatte?" „Woher soll ich das wissen?" Monika Fahrbach lachte triumphierend auf. „Wegen Rauschgiftschmuggels, meine Lieben. Ja, man hat die Typen wegen Dealerei in den Knast gesteckt. Jetzt bist du dran, Ela." „Ich... ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll." „Nachdenken." Frau Fahrbach tippte mit dem Zeigefinger dicht unter ihr rechtes Auge. „O ja", sagte Julia mit tonloser Stimme und ziemlich blaß im Gesicht. „Und ich habe den beiden noch gesagt, wo sie die Kerle finden können. Ich weiß nämlich, wo sie wohnen."
„Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?" flüsterte Frau Fahrbach. „Das konnte ich doch nicht wissen." „Ja, da hat sie recht", sagte Ela und stand der neuen Bekannten bei. „Das müssen Sie einsehen, Frau Fahrbach." „Gut, gut, gut!" Sie wedelte verlegen mit beiden Armen. -63-
„Auch ich kann mich mal irren. Ist ja menschlich." Nach einer Pause fuhr sie fort: „Die Jungen sind also dorthin gefahren, wo die beiden Knastbrüder wohnen." „Ehemalige Knastbrüder", berichtigte Ela. „Ja, ja, schon gut." „Da sind sie hingefahren, Frau Fahrbach." Die Putzfrau lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. „Und wo ist das genau?" „Wenn ich das wüßte." Ela schaute zu Julia hin. „Du kannst es ihr erklären." „Dann mach, Kind. Mein rechter großer Zehe fängt an zu jucken. Das deutet auf Ärger hin." Ela wurde gebeten, Papier und einen Kuli zu besorgen, was sie auch tat. Wieder zeichnete Julia. Sie saß neben Frau Fahrbach, die den Kopf schiefgelegt hatte. „Klar, die Gegend kenne ich." Sie legte Julia eine Hand auf den Unterarm. „Du brauchst erst gar nicht weiterzuzeichnen, Mädchen. Das Haus ist mir bekannt." „Wer wohnt denn da? Wirklich die beiden Männer?" „Nee!" erwiderte Frau Fahrbach im Brustton der Überzeugung. „Das auf keinen Fall." „Wer dann?" fragte Ela. „Leer!" rief Frau Fahrbach laut. „Die komische Bude steht leer. Wenn die da wohnen, dann zu Unrecht." „Aber irgend jemandem muß das Haus doch gehören." „Richtig, Ela." „Und wer ist das?" „Das weiß ich auch nicht genau, könnte mich aber erkundigen." Sie nickte den Mädchen zu. „Aber dieses alte Haus hat keinen guten Ruf. Man will es auch nicht abreißen, weil es mehr als hundert Jahre alt ist. Versteht ihr?" -64-
„Das letzte schon. Nicht das mit dem Ruf." Frau Fahrbach lachte wieder meckernd, bevor sie antwortete: „Man hat immer davon gesprochen, daß es in diesem komischen Haus angeblich spuken soll. Das ist es gewesen." „Und Sie glauben daran?" staunte Ela. „Komische Geräusche wurden schon immer gehört." „Das waren bestimmt die Tauben oder andere Vögel", sagte Julia. „Aber keine Geister." Frau Fahrbach klatschte in die Hände. „Wie dem auch sei, Kinder, gut ist es nicht, daß eure Freunde dorthin gefahren sind." Ela hob die Schultern. „Können Sie uns denn sagen, was wir machen sollen?" „Das ist eine gute Frage, auf die ich auch keine Antwort weiß." „Hinfahren!" schlug Julia Schnippke vor. Der kleine böse Junge schüttelte den Kopf. „Das hat keinen Sinn, dann kriegen sie euch auch." Mit dieser Bemerkung war Ela ganz und gar nicht einverstanden. „Sie reden ja gerade so, als hätten die unsere Jungen schon gekidnappt und eingesperrt." Frau Fahrbachs Gesicht bekam einen bitteren Zug. Sie zog die Augenbrauen zusammen und stemmte die Ellbogen auf den Tisch. Jetzt sah sie aus wie ein Nußknacker. „Es ist ein Problem, Mädels, mit dem wir uns herumschlagen müssen. Hatte gleich so ein komisches Gefühl, als ihr die Wohnung bezogen habt." „Wieso das denn?" „Na, ihr habt keinen Erwachsenen dabei, seid allein. Das ist mehr als ungewöhnlich." „Man vertraut uns eben." Ela war recht stolz auf ihre Antwort. Gleichzeitig wußte sie aber, daß sie aufrecht schwankendem -65-
Boden stand. Wenn ihre und Randys Eltern gewußt hätten, in was sie da wieder hineinschlidderten, hätten sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. „Ihr habt demnach auch keine Lösung?" erkundigte sich Frau Fahrbach. „Nein!" Julia und Ela antworteten wie aus einem Munde. „Aber ich!" Frau Fahrbach - von der körperlichen Größe her nicht gerade gesegnet - wuchs um einige Zentimeter, als sie sich aufrichtete. „Ich habe die Lösung, Kinder, und die werde ich auch voll durchziehen, darauf könnt ihr euch verlassen." „Was wollen Sie denn tun?" „Selbst hinfahren, Ela. Ich schwinge mich auf mein Rad und fahre zum Haus." Die Mädchen schauten sich an. Begeisterung lag nicht gerade in ihren Blicken. „Ist das nicht gefährlich, Frau Fahrbach." „Unsinn, Michaela!" Heftig winkte sie ab. Julia Schnippke hob nur die Schultern. „Was wollen Sie denn da?" „Nachschauen." „Kennen die Männer Sie?" „Ach wo." Frau Fahrbach winkte ab. „Hör mal, ich habe einen Vorteil, ich bin eine Person, die man leicht übersieht und auch schnell wieder vergißt, meistens. Aber ich habe gute Augen, ich habe ein gutes Gedächtnis. Ich sehe viel, sehr viel. Mehr jedenfalls, als andere zu Gesicht bekommen." „Aufhalten können wir Sie nicht", meinte Julia. „Das würde ich euch auch nicht raten." Frau Fahrbach stand auf. Hinter den Gläsern der Brille blitzten ihre Augen. Die Unterlippe hatte sie vorgeschoben, und sogar ihr Kinn hatte einen Ruck nach vorn mitgemacht. Jetzt sah sie wirklich aus wie ein kleiner böser Junge. „Und fragt mich nicht, was ich tun -66-
werde, wenn ich die beiden entdecke. Ich weiß es nämlich nicht." „Können Sie denn Karate?" „Nein, Julia. Aber ich kenne einen, der kennt wieder einen, dessen Bruder Karate kann." „Das ist ja toll." „Meine ich auch." Sie ging in den Flur und zog ihre dicke Jacke über. „So, ihr hört von mir. Entweder durch einen Anruf, oder ich komme persönlich vorbei." „Passen Sie aber auf!" rief Ela, als sich Frau Fahrbach schon auf den Drahtesel geschwungen hatte. „Und ob, Kinder. Den Kerlen werde ich schon zeigen, wo es langgeht." Sie legte sich derart stark in die Pedale, als gelte es, einen neuen Inselrekord aufzustellen. Julia schüttelte den Kopf. „So klein die ist, aber der traue ich alles zu." „Frag mich mal", sagte Ela und zog sich wieder in das warme Haus zurück.
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5. Gefährliche Kletterpartie Gerade noch - wirklich im allerletzten Augenblick hatten es beide Jungen geschafft, zu entkommen. Sie waren durch das offene Dachgaubenfenster geklettert und hatten ihre neuen Horchposten auf dem flachen Gaubendach eingenommen. Hier erwischte sie der Wind! Scharf, zugig und böse fuhr er ihnen entgegen, schien Hunderte von Armen zu besitzen, die an ihren Kleidern zerrten, viele Lücken fanden und die Anoraks weit aufblähten. Den Mann, der die Dachkammer betreten hatte, sahen sie nicht. Sie hatten ihn auch zuvor nicht zu Gesicht bekommen; sie hörten nur die schweren Schritte, als er durch den Taubenschlag ging und dabei mit sich selbst redete. Die Jungen lagen auf dem Bauch und hofften, daß die Gaube ihr Gewicht halten würde und nicht zusammenbrach. Unangenehm waren auch die Tauben. Sie fühlten sich durch die beiden Fremdlinge gestört, umflatterten sie wütend und gaben Laute von sich, die einem gurrenden Glucksen glichen. Randy drehte Turbo das Gesicht zu und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. „Ist schon mies hier oben", flüsterte er. „Sicher. Soll ich mich umschauen?" „Erst mal abwarten. Ich kann mir auch vorstellen, daß der Kerl die Leiter entdeckt hat." „Wie sollte er das?" „Er braucht nur durch das offene Fenster zu schauen." Turbo winkte ab. „Vielleicht ist er blind. Jedenfalls habe ich keine Lust, hier noch eine halbe Stunde flach liegenzubleiben. Wir müssen etwas tun." „Und was?" „Auf die andere Seite des Dachs klettern und dort -68-
hinabrutschen, wo auch die Leiter steht." „Bist du vom Sandfloh gebissen worden?" „Wieso?" „Das ist viel zu gefährlich. Einmal nur abrutschen, dann liegst du unten." „Was ist denn dein Vorschlag?" Randy schielte zu zwei Tauben hoch, die in gefährlicher Nähe ihrer Köpfe flatterten. „Ich habe noch keinen." „Dann halte auch den Mund." „Sei nicht sauer, Turbo. Du kannst gehen, ich halte dich nicht auf. Ich bleibe jedenfalls in den nächsten Minuten hier..." Oder auch nicht, dachte Randy, denn eine Taube hatte es ausgerechnet auf ihn abgesehen. Sie war keine Spur scheu, flatterte ihm entgegen und landete plötzlich auf seinem Kopf. Turbo hatte Mühe, sich ein Lachen zu verbeißen. Randys Gesicht sah zu komisch aus. Es zeigte eine Mischung aus Verzweiflung und stiller Andacht. Die Taube kümmerte sich nicht darum. Sie hatte sich in Randy s Haar festgekrallt, bewegte nickend den Kopf, gab gurrende und glucksende Laute von sich und schien darüber froh zu sein, einen Landeplatz gefunden zu haben. Turbos Grinsen wurde breiter, was Randy verständlicherweise stark ärgerte. „Scheuche die blöde Taube weg!" „Warum? Sie macht sich gut auf deinem Kopf!" „Ich habe das Gefühl, daß sie schon verdaut hat und meine Haare mit ihrem Gel beschmieren will." „Ja, ich verreibe es dann." „Und du willst ein Freund sein!" zischte Randy, hob selbst den rechten Arm an und drehte ihn so, daß er die auf seinem Kopf hockende Taube greifen konnte. Bei der ersten Berührung flatterte sie davon. -69-
„Schade, das hätte ich gern fotografiert", sagte Turbo. „Kann ich mir denken." Randy zuckte zusammen, als er über sich einen wilden Schrei hörte. Es war eine Möwe, die über ihre Köpfe hinwegstrich. Sie hielt irgendein Beutestück im Schnabel, stieg in die Höhe und flog dann in Richtung Strand davon. „Willst du noch liegenbleiben?" fragte Turbo. Er hatte mitbekommen, daß Randy weiter bis zum Rand der vorspringenden Dachgaube vorgerutscht war. „Da passiert noch was." Turbo bewegte sich. Er wollte nicht mehr liegen und setzte sich hin. „Woher..." „Gefühl, Alter." „Ich fühle nur, wie der Wind mir die Knochen einfriert. Ich muß mich bewegen." „Dann mach es, aber..." Plötzlich zuckte Randy zusammen, sagte kein Wort mehr und rutschte wieder zurück in die alte Lage. Er legte einen Finger auf die Lippen, und Turbo verstand das Zeichen. Sie hörten ein Husten. Es klang sehr nahe, obwohl der Mann nicht zu sehen war. Er mußte sich dicht am Fenster der Gaube aufgebaut haben. Wenig später konnten sie auf seinen vorgestreckten Hinterkopf schauen. Der Wind zerwühlte die blonden Haare des Mannes, die im Nacken kurz geschoren waren. In dicken Wülsten quoll das Fleisch darunter vor. Dieser Knabe hatte einen richtigen Stiernacken. Er mußte sich auf den Rand der Fensterbank gestützt und seinen Körper vorgebeugt haben. Die Jungen bekamen mit, wie er den Kopf einmal nach rechts, dann wieder nach links drehte, zwei anfliegende Tauben durch Wedeln abwehrte, sich wieder zurückzog, Sekunden später abermals erschien und seine Arme aus dem Fenster streckte. -70-
Zwischen beiden Händen hielt er etwas fest. Ein graues, zuckendes Etwas, eine Taube. Randy stieß Turbo an. „Das ist eine der dicken Tauben, die vorhin noch leblos waren." „Ich weiß." Aus Angst, gehört zu werden, flüsterten sie nicht mehr weiter und schauten zu, was der Unbekannte vorhatte. Er beugte sich noch stärker vor und produzierte Geräusche, die wohl das Gurren der Tauben imitieren sollten. Dann schleuderte er seine Hände hoch und breitete sie gleichzeitig aus. Die Taube war frei! Eigentlich hätte sie in den Himmel über Sylt stoßen müssen. Das Gegenteil trat ein. Die Taube bekam ihre Schwierigkeiten. Sie sackte zunächst in die Tiefe, als wäre sie ein Stein. Dann flatterte sie hektisch, fiel aber weiter und machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment auf die Erde stürzen. Kurz vor dem Aufprall fing sie sich wieder, breitete die Flügel aus, ihr scharfes Gurren übertönte selbst das der anderen Tiere, dann stieg sie in einem Bogen wieder an. „Na endlich!" hörten die Jungen die Stimme des Mannes. „Du hast es doch geschafft." Die Taube flog nicht weg. Sie drehte noch einmal und flog wieder dem Haus entgegen. Turbo und Randy konnten genau sehen, daß sie dicker war als die normalen Tiere. Und um ihren Hals war ein Band gebunden. In dessen Mitte glänzte eine dünne Metallplatte; das mußte der Sender sein. Die Taube stieg steiler an. Sie flog dem kahlen Geäst eines Baumes entgegen, in dem sie sich jedoch nicht zur Ruhe setzte, wie es zunächst den Anschein hatte, sondern durch Lücken glitt und ihren Kurs beibehielt. Es war für die Jungen schwer, ihren Weg zu verfolgen. Sie konnten aber erkennen, daß die Taube -71-
nicht in Richtung Meer, sondern parallel zum Strand flog. „Und das war die erste!" kommentierte Turbo. „Und da fliegt die zweite." Auch diese Taube hatte zu Beginn Schwierigkeiten. Sie sackte erst ab, dann hatte sie sich gefangen und segelte irgendwie schwerfällig davon. In dieselbe Richtung wie die vorige. Den übrigen Tauben erging es nicht anders. Schließlich waren alle sechs Tauben freigelassen worden. „Jetzt möchte ich auch eine Taube sein", flüsterte Randy, „um zu wissen, wo die hinfliegen." „In einen anderen Schlag." „Und was machen sie da?" „Keine Ahnung." Sie hatten sich sehr leise unterhalten müssen, denn der Unbekannte stand nach wie vor am Fenster. Er wartete so lange, bis auch die sechste Taube seinem Blickfeld entschwunden war. Dann erst zog er sich zurück. Turbo hielt den Daumen hoch. „Jetzt können wir nur darauf hoffen, daß er verschwindet." Randy stützte sich auf. Er war vom langen Liegen und unbequemen Hocken steif geworden. „Ich habe das Gefühl, daß der Macker noch bleibt." „Gut, dann suche ich mir einen anderen Weg über das Dach. Wenn ich unten bin, winke ich." Randy drehte sich auf der Stelle. Begeistert war er vor allen Dingen deshalb nicht, weil ihm das Dach nicht geheuer vorkam. Es war zwar gedeckt - Pfannen lagen nebeneinander und kein Reetgras - aber einige von ihnen sahen aus, als würden sie den nächsten Sturm nicht überstehen. Das sagte er Turbo auch. Der winkte ab. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich werde das schon durchziehen." „Dann viel Spaß." -72-
An ihrem Ende führte die kantige Gaube bis in das Dach hinein. Von dort mußte Turbo hoch zum First klettern. Um die beiden kleinen Türme brauchte er sich nicht zu kümmern. Außerdem waren sie der ideale Landeplatz für Tauben. Auf dem Bauch schob er sich vor. Die Pfannen sahen nicht nur brüchig aus, sie waren überdies noch feucht und an der Wetterseite mit moosgrünen Flechten bewachsen, die aus ihnen Schlidderbahnen machten. Randy hatte seine Bedenken, aber Turbo wollte nicht aufgeben. Der Junge sah aus wie ein großes X, als er seinen Weg fortsetzte und mit gekrümmten Fingern versuchte, in den entsprechenden Ritzen den nötigen Halt zu finden. Von dem Unbekannten hörte und sah Randy nichts. Er hatte das Haus auch nicht verlassen. Randy wurde es auf seinem Warteplatz nun doch zu langweilig. Umschwirrt von drei anfliegenden Tauben rutschte er abermals der Kante entgegen. Diesmal wollte er über sie hinwegschauen und den Kopf dabei so vorbeugen, daß er durch das offene Fenster in den Taubenschlag hineinschielen konnte. Als er die Kante erreicht hatte, holte er tief Luft. Ein leiser Pfiff drang an seine Ohren. Randy drehte den Kopf. Turbo hatte fast den First erreicht und richtete sich jetzt auf. Lässig winkte er seinem Freund zu, der kurz zurückgrüßte. Dann wurde es für ihn Zeit. Randy schob sich abermals um eine Idee vor, neigte den Kopf, hörte das Gurren der Tauben - und gleichzeitig einen Schrei, ein Krachen und lautes Schimpfen. Hinter und über sich. Schlagartig verlor er die Gesichtsfarbe. Auf der Gaube liegend, drehte er sich, um nach Turbo zu schauen. Niemand war zu sehen. Genau da, wo der Junge vorhin noch gehockt hatte, befand -73-
sich ein Loch im Dach. Turbo mußte durch das Dach gebrochen sein. Das war nicht einmal das allerschlimmste. Unter ihm klang der irre, wütende Schrei des Mannes mit dem Stiernacken auf. Randy konnte sich vorstellen, daß es Turbo jetzt an den Kragen ging... Turbo war happy, steckte voller Freude; er würde es schaffen, das Dach zu überqueren. Die Pfannen waren zwar glatt, aber auch rauh genug, um den nötigen Halt zu geben. Der Dachfirst war ebenfalls in greifbare Nähe gerückt. Ihn mußte er noch überwinden, dann hatte er die Strecke bald hinter sich gelassen. Vor dem First legte er eine Pause ein und pfiff und winkte Randy zu. Gerade wollte er weiterkriechen, er belastete sein rechtes Bein, wobei er mit dem Knie einen gewissen Druck ausübte. Zuviel Druck! Eine Pfanne brach weg, wie Papier. Sein Knie stieß ins Leere, Turbo hörte es unter sich poltern, er griff nach, um sich festzuhalten, und faßte genau an eine Stelle, an der das Dach ebenfalls brüchig geworden war. Turbos Gewicht war zuviel. Er schrie vor Schreck auf, als alles unter ihm nachgab und er zusammen mit einigen Pfannen in die Tiefe segelte. Unter ihm lag der zum Taubenschlag umfunktionierte Speicher mit dem mächtigen Gebälk. Turbo wußte, daß er sich die Knochen brach, wenn er falsch aufkam. Vielleicht fiel er auch auf die Taubenschläge, die durch sein Gewicht zusammenbrechen würden. All dies schoß ihm in Sekundenbruchteilen durch den Kopf, doch er hatte Glück im Unglück. Seine wirbelnden Hände klatschten gegen einen Querbalken. Sofort griff er zu. Dieser Instinkt rettete ihm vielleicht das Leben. -74-
Er schaffte es, sich an dem Balken festzuklammern, und hing an ihm wie ein Turner am Reck. Er hielt sich eisern fest, sein Körper schwankte; während links die Taubenschläge lagen, schwebte er selbst über dem leeren Teil des Dachbodens. Dann erreichte ihn der irre Schrei! Der am Balken hängende Turbo hatte das Gefühl, allmählich zu vereisen. Bis jetzt war ihm das Glück hold geblieben, nicht einmal die schweren Pfannen hatten ihn erwischt, doch der Kerl -75-
würde ihn von dem niedrigen Balken pflücken wie eine reife Pflaume. Turbo ließ los! Er kam sicher auf, ging kurz in die Hocke und drehte sich dann herum.
Der Kerl stürmte auf ihn zu. Zum erstenmal sah Turbo ihn von vorn. Nußknackergesicht, einen Plätzchenschnitt, eine -76-
wulstige Nase und böse Augen. Die Cordhose spannte sich in Höhe der Hüften um seinen gewaltigen Bauch, der wegen des farbigen Pullovers aussah wie eine grüne, dicke Kugel. Der Mann spielte Hirsch; er röhrte vor Wut. Turbo wollte auf die Tür zuhuschen, rutschte aber über die Reste einer Dachpfanne aus, verlor kostbare Sekunden, und der Dicke bekam ihn zu packen. Seine Hand erwischte Turbo nicht voll; sie rutschte ab, und der Junge befreite sich. Er lief weiter und sprang in die Höhe, als der Dicke unerwartet schnell plötzlich vor ihm stand und ihm den Weg abschnitt. Turbo sprang hoch. Ein dicker Dachbalken war gerade an der richtigen Stelle. Er konnte ihn mit beiden Händen umklammern, schwang seinen Körper nach hinten, um genügend Schwung zu bekommen. Als der Kerl ihn packen wollte, war Turbo schneller. Seine Schuhspitzen stießen in die grüne Kugel, was ein satt klingendes Geräusch hinterließ, bevor der Typ anfing zu schnaufen und rot anlief. Dann taumelte er zurück.Turbo ließ sofort den Balken los, kam sicher auf und wollte an dem Mann vorbeirennen. Der Dicke schien plötzlich Affenarme zu bekommen. Seiner Pranke konnte Turbo auch durch schnelles Ducken nicht entwischen. An der Schulter wurde er herumgerissen. „Jetzt hab ich dich, du Strandkäfer!" Der Dicke lachte röhrend, wirbelte Turbo im Kreis herum und ließ ihn los, sobald er ihm den richtigen Schwung gegeben hatte. Der Junge spielte plötzlich Rakete, flog durch den Speicher und landete dort, wo er nicht hatte landen wollen. Voll prallte er gegen die Taubenschläge. Als Turbo das Splittern hörte, wußte er, was die Stunde geschlagen hatte. Er kippte nach hinten. Unter ihm krachten immer mehr Schläge zusammen. Aufgeschreckte Tauben flatterten schreiend -77-
und gurrend um ihn herum. Körner spritzten in sein Gesicht, ein Holzbrett klatschte gegen seinen Kopf, ein weiteres Brett brach zusammen; die Tiere spielten verrückt: wie wild schössen sie durch den Speicher, Federn stoben durch die Luft. Turbo hatte ein Drittel des Taubenschlags zerstört. Eines der Drahtgitter war so unglücklich gefallen, daß drei Finger seiner linken Hand in den Lücken klemmten. Er zerrte seine Hand hervor, riß sich an den scharfen Kanten die Haut auf und wollte sich aus den Trümmern befreien. Vor ihm stand eine Wand! So sah der Dicke für Turbo im ersten Augenblick aus. Er hatte seinen Bauch noch weiter vorgeschoben, der Hals war kaum zu sehen, und seine Lippen waren so sehr in die Breite gezogen, daß es dem Kerl nicht schwerfallen würde, eine Banane quer zu kauen. Er lachte. Es war ein dreckiges, ein widerliches Lachen, das Turbo nicht gerade fröhlicher machte. Trotzdem sagte er: „Hi, Meister der Tauben!" Der Dicke zuckte zusammen. „Halt dein vorlautes Maul. Wo kommst du her?" Turbo deutete in die Höhe. „Vom Dach. Sie müssen es mal ausbessern. Das hält bald nicht einmal mehr das Gewicht einer Taube aus." Das überriß der Dicke nicht. „Rede keinen Quatsch, du Flasche. Wer bist du?" „Turbo!" Das Nußknackergesicht bekam Zuckungen. „Wie war das? Turbo? Das ist ein Auto, aber kein Name." „Ich heiße aber so." „Kommst nicht von hier, was?" „Sieht man das?" Blitzschnell beugte sich der Dicke vor und griff zu. Er zerrte Turbo hoch und stellte ihn fast auf die Zehenspitzen, während sich seine Pranke im Pullover des Jungen verkrallt hatte. „Hör -78-
zu, du komischer Vogel. Ich habe mit Tauben zu tun, ich komme wunderbar mit ihnen zurecht, besser als mit Menschen. Wenn ich merke, daß man mich auf den Arm nehmen oder reinlegen will, werde ich zum Adler. Hast du verstanden?" Turbo nickte. „Dann flattern Sie mal weg!" Das hätte er besser nicht sagen sollen, denn der Dicke schlug ihm zweimal mit der linken Hand so hart ins Gesicht, daß die Wangen anfingen zu brennen. Turbo biß die Zähne zusammen. Außerdem dachte er an Randy, der auch gemerkt haben mußte, was geschehen war. „Klar, du kleiner Schnüffler?" „Sicher." „Ist gut. Dann kommen wir zur Sache. Warum bist du auf dem Dach herumgeklettert? Wer hat dich geschickt? Doch nicht die Bullen? Nein, dazu bist du zu mies." „Nur so", antwortete der Junge. Der Taubenkaspar ging nicht darauf ein. „Wie bist du überhaupt auf das Dach gekommen?" „Über eine Leiter." „Die von der Garage?" „Klar." Das Nußknackergesicht nickte. „Und jetzt möchte ich noch wissen, was du hier wolltest?" Turbo hatte scharf überlegt. Ihm war blitzartig eine Idee gekommen. Er hoffte nur, daß der Typ ihm die Antwort auch abnahm. „Hein hat mich geschickt. Der blonde Hein." „Hein Harm?" „Klar - wer sonst. Er ist weggefahren, um zu telefonieren." Der Dicke bekam schmale Augen. Mit dem wulstigen Zeigefinger strich er über seine Oberlippe. „Hat Hein dir gesagt, daß du dich auf das Dach hocken sollst?" -79-
„Nicht direkt. Ich... ich sollte Sie beobachten. Das ist alles. Er hat mir hundert Mark dafür gegeben. Auf dem Dach war eben der beste Platz für mich, das müssen Sie verstehen." „Ich verstehe gar nichts, weil ich das Gefühl habe, daß du mich reinlegen willst." „Sie können Hein ja fragen." „Er ist nicht da." „Warten Sie, bis er wiederkommt." Der Taubenkaspar schüttelte den Kopf. „Ich werde auch warten, Freund. Aber anders als du es dir vorgestellt hast. Ich traue dir nicht, du willst mich reinlegen. Hein und Dieter werden bald zurück sein, dann kann ich sie fragen. Und du wirst dabeisein. Aber verschnürt zu einem Paket, wenn du verstehst." „Sie wollen mich fesseln?" „Klar, und knebeln." Der Dicke lachte. „Es gibt gewisse Dinge, die ich hasse. Dazu gehört es, wenn man mich anlügt." „Woher wollen Sie denn wissen, daß ich Sie angelogen hätte?" fragte Turbo. „Das spüre ich." Für Turbo wurde es kritisch. Er gehört zwar nicht zu den Schwächsten, aber gegen den dicken Taubenkaspar anzutreten, das traute er sich doch nicht. „Wir werden jetzt in den Keller gehen und uns dort weiter unterhalten, Turbo oder wie du heißt. Bist du eigentlich Chinese, oder kommst du aus Vietnam." „Japan." „Ach, ein Japse." „Ich studiere hier Taubenkunde." „Ja, ja, schon gut." Der Kerl grinste derart widerlich, daß Turbo übel werden konnte. Mit einer Hand packte der Mann zu und schob Turbo nach rechts. -80-
So hatte Turbo die Sicht frei. Er konnte in Richtung der Dachgaube schauen, wo das Fenster noch immer weit geöffnet war. Genau dort zeichnete sich eine Gestalt ab. Randy Ritter hatte es tatsächlich geschafft sich dermaßen weit vorzubeugen, daß er durch das offene Rechteck hereinklettern konnte. So lautlos wie eben möglich bewegte er sich, obwohl die Tauben Krach genug machten, während sie aufgeregt vor ihren zertrümmerten Schlägen hin und her flogen. Randy legte einen Finger auf die Lippen, und Turbo verstand das Zeichen. Er würde sich nichts anmerken lassen. Randy ging auf Zehenspitzen. Nach zwei Schritten blieb er -81-
stehen, bückte sich und umfaßte mit beiden Händen ein auf dem Boden liegendes halblanges Holzstück von dem zerbrochenen Taubenschlag. „Können wir das nicht hier erledigen?" fragte Turbo. „Was?" „Das Reden." „Nein." „Aber ich weiß genau, daß es besser wäre. Viel besser für mich, wissen Sie?" „Was redest du da für einen Mist? Bist du von allen guten Geistern verlassen worden?" Der Dicke schüttelte Turbo durch wie einen Sack Kartoffeln. „Für mich wäre es gut. Für Sie nicht!" „Weshalb nicht?" Turbo sah, daß Randy es geschafft hatte. Er stand hinter dem Taubenkaspar und hatte den rechten Arm erhoben; die Holzlatte hielt er dabei fest umklammert. „Wirklich, Meister." „Rede schon!" „Hinter Ihnen steht nämlich einer, der Ihnen gleich ein Stück Holz auf den Hohlschädel schlägt." Der Dicke gab ein Geräusch von sich, das Ähnlichkeit mit dem Brummen eines Bären aufwies. „Den Trick kenne ich, der ist einfach zu alt, als daß ich darauf reinfalle." „Die alten sind oft die besten." „Rede keinen..." Da schlug Randy zu. Es hatte ihn eine ungeheure Überwindung gekostet, aber er sah in diesem Augenblick keine andere Möglichkeit. Es klatschte schrecklich, als das Holz den Schädel des Dicken traf. Zischend wie eine Lok den Dampf, so stieß er die Luft aus. -82-
Seine Augen bekamen einen komischen Schimmer, ein Beben durchlief seinen Körper, und er ließ Turbo los. Dann kippte er nach hinten. Randy wollte ihn nicht am Boden aufschlagen lassen und fing ihn deshalb auf. Das Gewicht des Mannes hätte ihn fast selbst noch von den Beinen gerissen. „Das wurde auch langsam Zeit", beschwerte sich Turbo. „Sei froh, daß ich überhaupt gekommen bin." „Danke, du großer Retter." Der Dicke lag auf dem Rücken. Bewußtlos war er nicht, aber er war so benommen, daß er es aus eigener Kraft nicht schaffen würde, in den nächsten Minuten auf die Füße zu kommen. „Weißt du eigentlich, wie der Kerl heißt?" fragte Randy. „Nein, aber das könnten wir möglicherweise erfahren." Turbo rollte den Mann auf die Seite und klopfte die hinteren Taschen der ausgebeulten grauen Cordhose ab. Er fand so etwas, das aussah wie eine Mischung aus Portemonnaie und Brieftasche. Unter einer Klarsichtfolie lag einer der neuen fälschungssicheren Personalausweise. Turbo lachte und mußte sich erst von Randy anstoßen lassen, bevor er den Namen laut vorlas. „Der heißt Mac Metzel." „Wie?" „Ja, schau selbst nach." Turbo hatte nicht gelogen. Der Kerl hieß tatsächlich mit Vornamen Mac und mit Nachnamen Metzel. „Wenn ich so heißen würde, wäre ich schon längst ausgewandert", sagte Randy. „Was machen wir mit ihm?" Turbo steckte die Brieftasche wieder weg. „Fesseln." „Hast du Stricke?" -83-
Randy grinste. „Das nicht, aber ich habe vorhin Draht in der Ecke liegen sehen. So dünnen Blumendraht." „Der paßt." Randy holte ihn. Turbo half mit, den Draht auseinanderzuwickeln. Anschließend fesselten sie die Hand- und die Fußgelenke des Mannes mit dem Namen Mac Metzel. Er war nicht in der Lage gewesen, etwas dagegen zu tun. Wie ein riesiger Käfer lag er auf dem Rücken und sah aus, als würde er die nächsten Stunden schlafen. Seine Arme hatte Turbo nach vorn gedrückt, die Hände lagen jetzt auf der Bauchkugel. Über den Mann hinweg schauten sich die beiden Freunde an. „Der könnte uns sicherlich so einiges erzählen", murmelte Turbo. „Glaube ich kaum." Randy wollte noch etwas hinzufügen, doch ein Geräusch lenkte ihn ab. Es kam von draußen und hatte sich angehört wie das Zuschlagen einer Autotür. Wie ein Blitz war Randy am Fenster, beugte sich vor und' hatte Glück, daß Hein und Dieter nicht gerade hochsahen. „Der blaue Scorpio, Turbo. Verflixt, die Typen sind zurückgekommen!" Turbo erbleichte, und auch Randy sah in den nächsten Sekunden aus wie der Tod auf Urlaub... „Und jetzt?" fragte Randy, als einige Sekunden verstrichen waren. Turbo befand sich bereits auf dem Weg zur Tür. Er hatte sie behutsam geöffnet und schaute in den Flur. „Sie kommen noch nicht." „Willst du über die Treppe gehen?" „Zumindest bis in das Zimmer und zum Fenster. Da können wir die Leiter nehmen. Hoffentlich haben sie die nicht entdeckt." -84-
Randy stand rasch neben ihm. „Ja, einverstanden." Turbo zog die Tür weiter auf. Von unten hörten sie die Stimmen der Männer. Sie war mißtrauisch geworden, denn Hein sagte soeben: „Es gefällt mir nicht, was da bei den Tauben los ist. Die sind mir viel zu aufgeregt." „Das kann Zufall sein." „Nein, wir müssen..." „Ich brauche erst mal einen Schluck." „Beeil dich aber." Turbo und Randy hatten Glück. Sie huschten leise und so schnell wie möglich die Holztreppe hinab und auf das Fenster zu, unter dem ihre Leiter lehnte. Und sie war noch vorhanden. Diesmal kletterte Turbo zuerst hinaus. Die Leiter fing an zu wackeln, er zitterte mit ihr um die Wette, schaffte es jedoch, sie im Gleichgewicht zu halten. Dann war er verschwunden. Randy wartete noch einige Sekunden und hörte, daß sich Hein beschwerte: „Wir haben es eilig, Dukke. Los." „Ja, ich komme schon." Da stand Randy bereits auf der schmalen Fensterbank und schwang sich auf die Leiter. Turbo hatte sie noch nicht verlassen. Auf der viertletzten Sprosse stand er und schaute zu Randy hoch. „Los, verschwinde!" „Alles klar." Turbo sprang das letzte Stück ab, die Leiter geriet ins Wackeln, er konnte sie wieder ins Gleichgewicht bringen, und Randy kletterte so rasch wie möglich in die Tiefe. Er befand sich noch auf der Leiter, als er die Stimmen der Männer vernahm. Sie kamen ihm sehr laut vor. Er schaute hoch -85-
und sah den Kopf des blonden Hein Harms. „Verflucht!" schrie der Mann. „Das sind die beiden vom Strand. Los, die holen wir uns!" Turbo war schon losgerannt. Sie huschten durch den Vorgarten, ließen das Tor hinter sich, jagten zu dem Versteck ihrer Räder und schwangen sich in die Sättel. Was hinter ihnen passierte, darum kümmerten sie sich nicht. Auf halbem Wege kam ihnen eine Radfahrerin entgegen. Es war Frau Fahrbach! „Drehen Sie um!" schrie Randy. Er hatte sich weit nach vorn gebeugt, um dem Wind so wenig Widerstand zu bieten wie möglich. „Drehen Sie um! Fahren Sie mit uns." „Was ist denn los?" „Die haben uns entdeckt!" Mit der Kapuze auf dem Kopf sah Frau Fahrbach tatsächlich aus wie der kleine böse Junge mit dem spitzen Hut. Sie stellte keine weiteren Fragen, riß ihr Rad herum und beeilte sich, die beiden Jungen einzuholen, die schon an ihr vorbeigefahren waren. Sie schaffte es auch und fragte: „Was ist denn passiert?" „Das erzählen wir Ihnen später. Jedenfalls haben Sie uns entdeckt. Da war auch noch ein dritter Kerl." „Wer?" „Ein Mac Metzel?" „Der Dicke?" rief sie gegen den Wind. „Ja." „Den kenne ich. Der ist hier bekannt wie ein bunter Hund. Aber nicht gerade positiv." „Dafür können wir uns nichts kaufen!" Randy keuchte und trat noch härter in die Pedale. Turbo fuhr zwei Radlängen vor ihnen. Sie blieben auf dem -86-
schmalen Weg, denn in die Dünen oder auf die andere Seite zu fahren, wo die flachen Felder lagen, wäre zu beschwerlich gewesen. Manchmal, wenn der Weg zu uneben wurde, tanzten sie auf den Rädern wie ein Gummiball. Und als Randy sich einmal umdrehte, da sah er die Bescherung. Wie ein Raubtier kam ihnen der Ford Scorpio nach, der die Verfolgung übernommen hatte und schneller sein würde, als sie auf ihren Rädern. Ihm rutschte fast das Herz in die Hose...
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6. Gefahr am Watt Oma Petersen lächelte die beiden Mädchen so nett an, daß die gar nicht ablehnen konnten. „Klar, Frau Petersen, den Gefallen tun wir Ihnen", versicherte Ela noch einmal. „Ach, Kinder, das wäre toll. Wann könnt ihr los?" Ela und Julia schauten sich an. „Eigentlich sofort", sagte Ela. „Und was ist mit deinen Freunden?" fragte Julia. „Denen können wir ja eine Nachricht hinterlassen." „Du mußt es wissen." Frau Petersen nickte. „Ich gehe dann schon vor. Ihr kommt gleich vorbei. Danke." „Ist doch selbstverständlich, Oma." Die Mädchen zogen sich wieder ins Haus zurück. Vor fünf Minuten hatte Julias Großmutter geklingelt, und beide waren eigentlich froh darüber gewesen, denn es hatte sie doch so etwas wie Langeweile überkommen. Nur in der Wohnung zu hocken, war auch nicht das richtige. Zudem schien an diesem frühen Nachmittag noch immer die Sonne. Es sah nicht so aus, als wollte sich das Wetter verschlechtern. Frau Petersen hatte sie gebeten, nach Keitum zu fahren, um dort selbstgebackenen Streuselkuchen abzuliefern. In einer Gaststätte hatte sich eine Beerdigungsgesellschaft versammelt, und Frau Petersens Kuchen war auf der ganzen Insel berühmt. Sie hätte ihn auch hinfahren oder abholen lassen, aber der Fahrer war dazu nicht mehr in der Lage. Er hatte sich vor einer halben Stunde den Fuß derart verstaucht, daß er ins Krankenhaus hatte eingeliefert werden müssen. Jetzt saß Oma Petersen auf dem Kuchen fest. „Fertig?" fragte Ela. -88-
„Ja." „Dann nichts wie weg." Sie ließ Julia vorgehen, schloß die Türen und fragte, als sie bei den Rädern standen: „Wie lange müssen wir eigentlich fahren?" „Das ist in einer halben Stunde geschafft. Der Rückweg geht dann meist schneller." „Gut. Nach Keitum wollte ich sowieso mal. Das liegt ja auf der anderen Seite der Insel - oder?" „Ja, am Wattenmeer." Vor dem Geschäft hielten sie an. Frau Petersen hatte schon alles vorbereitet. Im Laden duftete es nach Streuselkuchen. Die Frau hatte ihn bereits in handliche Stücke geschnitten und diese in zwei Körbe gelegt, die auf den Gepäckträgern der Räder Platz und Halt finden konnten. „Ich kann euch gar nicht sagen, Kinder, wie toll ich es von euch finde, daß ihr mir diesen Gefallen tun wollt. Wirklich, das ist für mich fast wie Weihnachten." „Ich wollte schon immer Keitum sehen", sagte Ela und klemmte den Henkelgriff des Korbs in ihre Ellbogenbeuge. „Die alte Kirche ist da besonders toll. Und auch der Friedhof. Ich an eurer Stelle würde mir beides anschauen." Ela hob die Schultern. „Friedhof?" „Der ist historisch. Die alten Gräber und Grabplatten sind oft Hunderte von Jahren alt." Julia nickte und bestätigte die Worte ihrer Großmutter, während sie den zweiten Korb an sich nahm. „Dann gute Fahrt, ihr beiden. Und noch eines. Ich werde euch morgen abend alle zu einem tollen Essen einladen." „Was gibt es denn?" „Mein Spezialgericht, Ela. Grünkohl mit Speck, Mettwurst und Räucherfleisch." -89-
„Au, das ist gut." „Ich kenne es." Julia lächelte breit. „Dafür lasse ich sogar ein großes Eis stehen." Frau Petersen schaute ihnen zu, wie sie die Körbe auf den Gepäckträgern festklemmten, und winkte ihnen zum Abschied nach. „Ah, das tut gut!" stöhnte Ela. „Immer im Haus sitzen, ist nichts. Was wohl die Jungen machen?" „Hoffentlich keinen Unsinn." Michaela zog die Nase hoch. „Da sagst du was. Die beiden haben immer Pech und laufen in irgendein Abenteuer. Das haben wir wohl für uns gepachtet, glaube ich." Es dauerte nicht lange, da hatten sie Westerland erreicht. Sie hätten auf der normalen Straße bis Keitum fahren können. Da aber herrschte zuviel Autoverkehr, und dann kannte sich Julia Schnippke auf der Insel auch gut aus; sie war schon öfter bei ihrer Großmutter zu Besuch gewesen. „Wir nehmen eine Abkürzung", schlug sie vor. „Du kennst dich aus." „Und ob." Ein Stück mußten sie noch über die Bundesstraße fahren. Autos zischten an ihnen vorbei, rechts und links aber erstreckte sich die Landschaft flach wie gebügelt. Dunkelgrüne Weideflächen, auf denen hin und wieder wie einsame Inseln Kühe standen und die letzten Reste des Grases abrupften. Hier und da tauchte eines der großen Gehöfte auf, die es noch auf der Insel gab, und sie entdeckten auch die mit Gras, Moos und Pflanzen überwucherten Steinwälle. Sie waren zum Schutz gegen die heftigen Stürme und Orkane errichtet worden. Der Wind pfiff ihnen entgegen. Manchmal, wenn das Land tiefer als das Meer lag, konnten sie das Watt sehen.
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Schon auf der Überfahrt hatte sich Ela darüber gewundert. Es sah für sie aus wie eine gewaltige Teerfläche, in die man hin und wieder hineingestochen und sie an bestimmten Stellen regelrecht aufgewühlt hatte. Die See war ihr lieber. Der Weg war breit genug, um sie nebeneinander fahren zu lassen. Julia hatte sich aufrecht hingesetzt und die Hände vom Lenker genommen; sie fuhr freihändig. Der Wind bürstete ihr struwweliges Haar, die Nase mit dem knubbeligen Ende sah aus wie eine rote Erdbeere. „Wenn es später möglich ist, ziehe ich aus meinem Kaff weg und hier nach Sylt." „Du kannst ja das Geschäft deiner Großmutter übernehmen." „Wäre zu überlegen. Ich würde daraus einen Bio-Laden machen." „Stehst du auf Bio?" „Nicht direkt, aber meine Mutter. Vati paßt das nicht. Er ißt nicht gerne Körner. Nur die Marmelade, die schmeckt ihm, weil sie nicht so süß ist." Julia beugte sich vor und streckte den linken Arm aus. Die rechte Hand legte sie an den Lenker. „Den viereckigen Turm, den du da vorn siehst, der gehört zur berühmten Keitumer Kirche. Die ist mindestens tausend Jahre alt. Romanik." Der Turm schaute über die Häuser hinweg und sah so wuchtig und stabil aus, als wollte er noch die nächsten tausend Jahre überstehen. „Müssen wir denn bis zum Friedhof fahren?" „Nein, Ela. Die Beerdigung ist vorbei. Aber ich kenne das Lokal, wo sie sich zum Reueessen versammeln." „So heißt das?" „Richtig." Schon bald erschien das gelbe Ortsschild mit der schwarzen Aufschrift „Keitum". Viele behaupten, daß Keitum der schönste Ort auf Sylt sei. Wenigstens war es der urwüchsigste, das sahen -92-
die beiden Mädchen schon kurz nach ihrer Ankunft. Schmale, gewundene Straßen durchschnitten Wohnviertel mit alten Häusern, die sich hinter Vorgärten versteckten. Im Sommer leuchteten dort Rosen und andere Blumen, zu dieser Zeit zeigte sich die Natur schon kahl. Auf dem Boden lag das Laub der Bäume. „Wie gefällt es dir hier?" fragte Julia, als sie in eine weit geschwungene Linkskurve hineinradelten. „Gut." „Mir auch. Das ist hier der Ortskern. Am Rand von Keitum sieht es etwas anders aus." Sie zeigte nach rechts. „Das da ist eine alte Teestube." „Sieht toll aus." Sonnenstrahlen fielen auf die blanken Fensterscheiben und ließen sie leuchten wie Spiegel. Bald mußten sie stärker in die Pedale treten, denn es ging zur Kirche hin leicht bergauf weiter. Sie lag auf einem flachen Hügel, umgeben von dem Friedhof mit den alten Grabsteinen. Die Straße führte in einem weiten Bogen auf den Friedhof und die Kirche zu, flankiert wurde sie von neueren Häusern. Viele Hamburger besaßen hier Zweitwohnungen oder Ferienhäuser. Auf halber Höhe der Straße lag die Gastwirtschaft, in der das Reueessen stattfand. Auf einem breiten Parkplatz vor dem Haus standen einige Wagen. Ela und Julia lehnten ihre Räder an einen Birkenstamm, nahmen die Körbe und gingen auf die hellgrün gestrichene Eingangstür zu. Ihre Farbe bildete einen krassen Gegensatz zu den weißen Rahmen der zahlreichen Fenster. Man hatte wohl auf sie gewartet, denn bevor sie eintreten konnten, öffnete sich die Tür. Ein großer Mann im schwarzen Anzug trag heraus. Sein Gesicht war gerötet, er roch nach Korn und begrüßte die beiden Mädchen mit lauter Stimme. Dann drückte er Julia einen Zehn-93-
Mark-Schein in die Hand und bat sie, den zu teilen. „Aber nicht durchschneiden, Kind." „Keine Sorge." „Die Körbe bringe ich deiner Großmutter zurück. Bitte, bestell ihr das." „Ja, ist gut." „Gute Fahrt, ihr beiden." „Danke." Sie schoben ihre Räder bis zur Straße. „Und jetzt?" fragte Ela. „Willst du wieder zurück." Julia hob die Schultern. „Eigentlich nicht. Wir könnten zum Watt gehen. Es sind nur ein paar Schritte, und du wolltest es ja auch sehen, wie du gesagt hast." „Ja." „Dann komm." Erst mußten sie noch ein Stück die Straße wieder hinunterfahren. Zwei große BMWs kamen ihnen entgegen und rollten in Richtung Kirche. Dann fuhr Julia auf die linke Seite, stieg vom Rad und schob es über den Gehsteig auf einen Fußgängerweg zu, der in Richtung Watt führte. Auf diesem Pfad konnte man nicht fahren. Tiefhängende Äste und Zweige hätten leicht in die Gesichter der Mädchen schlagen können. Der Wind brachte einen Geruch mit, der Ela nicht gefiel. Julia lachte. „Was hast du?" „Stinkt irgendwie so komisch." „Das stammt aus dem Watt. Ist alles Natur. Da verfaulen die tierischen und pflanzlichen Reste auf natürliche Art und Weise." Der Pfad führte zu einer alten Holzhütte, die seltsamerweise alle Stürme überstanden hatte. Vor ihnen lag ein kurzer Abhang, nicht einmal zwei Meter -94-
lang. Sie ließen die Räder liegen und rutschten den Hang hinab. Unten versanken ihre Schuhe im Sand. Die nasse Fläche begann erst ein paar Schritte weiter. In unregelmäßigen Abständen waren aus dünnen Baumstämmen bestehende Holzstege in das Watt hineingeschlagen worden. Auf ihnen hatten sich Muscheln und Schlick gesammelt und sie zu Rutschbahnen gemacht. Ela fiel auf, daß sie die gleichen Stege auch auf der anderen Seite der Insel gesehen hatte. Nebeneinander blieben sie stehen. Es war Flut, und viele Priele hatten sich mit Wasser gefüllt. Die Sonne schien auf die großen Pfützen und gab ihnen einen matten Glanz. Ansonsten herrschte die dunkle Farbe des Wattenmeers vor. „Gefällt es dir?" fragte Julia. Ela ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie genoß den leichten Wind und schaute auch den zahlreichen Vögeln nach, die hier eine Heimat gefunden hatten. „Wenn ich ehrlich sein soll, gefällt mir die andere Seite besser." „Kann ich mir denken." „Dir nicht?" Julia hob die Schultern. „Mir eigentlich auch. Am liebsten bin ich in List, ganz im Norden der Insel. Da kannst du bei klarem Wetter bis nach Dänemark schauen, und die Fischbuden da oben sind irre toll. Ich habe da einen Scampi-Spieß gegessen, davon kannst du normalerweise nur träumen. Da müssen wir unbedingt hin." „Bin ich auch für." Ela hatte ihre Hände in den Taschen vergraben. Die rechte zog sie hervor und deutete schräg mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf einige Vögel, die über dem Watt kreisten. „Da ist wieder eine Taube dabei." „Na und?" Ela lachte. „Das sagst du so einfach. Ich habe dir doch erzählt, -95-
daß wir diese seltsame Taube am Strand fanden." „Tauben gibt es viele." „Weiß ich auch. Aber die ist auch wieder ziemlich dick. Sie... sie hat ja Mühe, überhaupt zu fliegen." Julia Schnippke blickte ebenfalls hin. Ihre blonden Augenbrauen zogen sich eng zusammen, als sie die Stirn krauste. „Tatsächlich, du hast recht. Die fliegt wirklich komisch." Die Taube torkelte kraftlos durch die Luft. Sie hielt sich zwar gerade noch in der Schwebe, taumelte aber wie ein Papierflieger, dem der rechte Aufwind fehlt. Plötzlich stürzte die Taube ab. Einfach so, ohne ersichtlichen Grund. Und wieder fiel sie wie ein Stein in die Tiefe. Die Mädchen waren zunächst sprachlos. Schließlich schüttelte Julia den Kopf. „Das ist ein Ding!" flüsterte sie. „Da kann man ja direkt Angst bekommen." Ela kaute auf ihrer Lippe. Sie hatte sich gemerkt, wo das Tier aufgeschlagen war. „Ich glaube, die ist bestimmt tot. Die ist abgestürzt, die wollte sich nicht ausruhen. Sie... sie konnte einfach nicht mehr." „Willst du sie denn holen?" „Ja." „Du beschmierst dich nur." „Das ist mir egal." Ela Schröder war schon losgegangen. Sie peilte einen der Stege an, die in das Watt hineinführten, denn nicht weit davon war die Taube in den Schlick gefallen. Auf dem Steg hatte Ela es schwer, das Gleichgewicht zu halten. Er war doch ziemlich rutschig. Als sie sich auf gleicher Höhe mit der Taube befand, ging sie in die Knie - und rutschte ab. -96-
Sie kam zuerst mit dem rechten Fuß auf und versank bald darauf bis fast zu den Knien im Schlick. Wer hätte gedacht, daß Ela auch lautstark fluchen konnte?!
Nach dem ersten Schreck beugte sie ihren Oberkörper vor und streckte den Arm weit aus. Sie wollte die Taube unbedingt haben. Das Tier gab keinerlei Lebenszeichen von sich; es lag mit -97-
dem Bauch im Schlick. Ela kam nicht heran. Sie winkte Julia, die schon begriffen hatte und nun ebenfalls über den Steg balancierte. In der rechten Hand hielt sie einen Ast. „Ja, das ist gut!" Ela nahm den Ast an sich. Julia blieb auf dem Steg und schaute zu, wie Ela die Taube zu sich heranzog, bis sie das Tier mit der linken Hand packen konnte. „Tot", sagte sie, sich aufrichtend und aus dem Schlick kletternd. „Die ist wirklich tot." „Und jetzt?" Ela hob die Schultern. „Mal sehen. Laß uns erst mal aufs Trockene gehen." Wenig später legte Ela die Taube in den Sand. Beide Mädchen hockten sich um das tote Tier. „Heb sie mal hoch!" forderte Ela die neue Freundin auf. Julia zog die Nase kraus. „Ich soll..." „Klar, oder hast du Angst?" Sie blickte zur Seite. „Komisch ist mir schon dabei, wenn ich ehrlich sein soll." „Ach, das ist nicht weiter tragisch. Ich will nur etwas wissen." „Ist gut." Julia umfaßte das tote Tier mit beiden Händen und hob es in die Höhe. „Na, was sagst du?" „Die Taube ist tot." „Hm!" Ela schüttelte den Kopf. „Das weiß ich selbst, daß sie nicht mehr lebt. Mir geht es um das Gewicht. Hast du nicht auch das Gefühl, daß sie schwerer ist als normal." „Kann sein. Ich kenne mich da nicht aus." „Aber ich." „Dann hat sie eben zuviel gefressen." „Auf keinen Fall." Ela widersprach heftig. „Schau dir mal den Bauch genau an. Da wirst du eine Narbe erkennen. Man muß -98-
das Tier dort aufgeschnitten und wieder vernäht haben." „Meinst du?" „Klar." Julia legte die Taube mit einem angewiderten Gesichtsausdruck wieder zu Boden. „Das ist komisch. Und wenn schon, was willst du jetzt machen?" „Sie aufschneiden!" Julia Schnippkes Augengröße wuchs um das Doppelte. „Hast du sie noch alle? Du kannst die Taube doch nicht aufschneiden, einfach so, meine ich." „Weshalb nicht? Sie ist tot. Gestorben. Vielleicht an einem Herzschlag." „Tja... ich weiß nicht so recht." „Keine Sorge, das mache ich schon." „Und womit?" „Ist auch kein Problem", erklärte die praktisch veranlagte Ela. „Ich werde mir eine Muschel suchen, deren Rand scharf genug ist. Damit müßte es klappen." Sie erhob sich und schlenderte dicht am Watt entlang. Ela wurde fündig. Unter braunem Schlick verborgen fand sie eine große Muschel, die sie zufrieden nicken ließ, als sie mit der Fingerkuppe die Schärfe des Randes geprüft hatte. „Die ist richtig, Julia." Julia wich etwas zurück, als würde ihr der Anblick der toten Taube Angst einflößen. „Das... das willst du wirklich tun?" „Klar!" Ela schaute sie von unten an. „Ich muß endlich wissen, weshalb die Taube so schwer ist." „Überfressen!" „Nein! Das glaube ich einfach nicht. Ich habe zwei Tauben gefunden. Eine lebte noch, weil sie zu kraftlos war, um zu fliegen. Diese hier ist wahrscheinlich an einem Herzschlag -99-
eingegangen. Und die lebende Taube haben uns die Typen aus den Händen gerissen. Da steckt mehr dahinter, als wir ahnen. Jetzt laß mich bitte in Ruhe, damit ich mich konzentrieren kann." „Wie du willst." Ela holte tief Luft. Sie mußte sich ebenfalls überwinden, denn leicht fiel es ihr nicht, das Tier aufzuschneiden. Sie gehörte ja sonst zu den Leuten, die schon ein Brathähnchen wehmütig ansahen. Ela war sehr tierlieb und besonders in ihren Rauhhaardackel, namens Biene, ganz vernarrt. Sie legte die Taube auf die Seite und setzte die scharfe Außenkante der Muschel an. Der Bauch schimmerte in einem blassen Weiß, während das Gefieder eine bläulichgraue Farbe aufwies. Es tat ihr beinahe selbst weh, als sie in den Körper schnitt und damit genau den Weg der Narbe nachzeichnete. Der Widerstand war nur gering. Die Muschelkante schnitt ein. Blut quoll in winzigen roten Perlen an den Rändern hervor und verschmierte die Federn, als Ela das tote Tier bewegte. Sie schnitt noch tiefer ein, drehte die Muschel in der Wunde, damit die beiden Hälften auseinanderklafften und sie in das Innere der toten Taube hineinfassen konnte. Ela drückte den Zeige- und Mittelfinger hinein, tastete nach, spürte das Gedärm, aber das war es nicht, das sie plötzlich so steif sitzenbleiben ließ. Zwischen den Fingerkuppen spürte sie etwas Glattes, Feuchtes. Sie mußte die Wunde noch weiter aufschneiden und aufklappen. Julia Schnippke schaute aus sicherer Entfernung zu. Sie war jetzt noch einen Schritt zurückgetreten, so sehr graute es ihr. Sie wagte kaum zu atmen. Ela zerrte weiter, hielt den glatten Gegenstand fest und zupfte ihn heraus. -100-
Es war eine kleine Plastiktüte! Mit der linken Hand reinigte sie die Außenseiten und starrte den hellen, weißen, pulvrigen Inhalt an. Sie sagte nichts, während ihr zahlreiche Gedanken durch den Kopf zuckten. Wie aus weiter Ferne hörte sie Julias fragende Stimme. „Was ist das denn? Traubenzucker?" Ela schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht." „Was dann?" „Ich... ich brauche gar nicht lange zu raten, Julia. Dieses weiße Pulver, das ist typisch für etwas Bestimmtes, Julia. Rauschgift, meine Liebe. Es ist Rauschgift..." Julia Schnippke zog die Nase hoch. Was sollte sie dazu sagen? Natürlich hatte sie von Rauschgift schon gehört und gelesen. In der Schule wurde auch davor gewarnt, aber das alles war Theorie gewesen. Sie hätte nie gedacht, damit zu tun zu bekommen, und sie konnte es noch immer nicht fassen. „Hast du dich nicht getäuscht, Ela?" „Nein, das glaube ich nicht. Ich bin fest davon überzeugt, daß es Kokain oder Heroin ist. Mein Gott!" Sie strich durch ihr Gesicht. „Was... was machen wir denn jetzt?" „Wir müssen zur Polizei." Ela stand auf. Automatisch steckte sie die Tüte ein. Ihr Blick glitt über das Watt; sie schüttelte sich wie benommen. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Noch immer kreisten dort draußen die Vögel; nach flügellahmen Tauben hielt sie vergeblich Ausschau. „Woran denkst du?" Julias Stimme klang leise. Ela drehte sich um. Wie ein begossener Pudel stand das Mädchen vor ihr. „Ich denke daran, daß bestimmt noch andere Tauben unterwegs sind." „Das kann sein. Ich wollte dir noch etwas sagen, Ela." -101-
„Bitte." Julia druckste herum und trat von einem Fuß auf den anderen. „Vorhin hatte ich ja etwas Angst, die ist jetzt vorbei. Weißt du, ich... ich habe mir die Taube noch einmal angesehen und am Kopf so eine komische silbern schimmernde Platte entdeckt." „Der Sender!" Ela schlug sich an die Stirn. „Himmel, die hat ja einen Sender." „Wie... wie meinst du das?" Sie packte Julia an der Schulter und drückte sie herum. „Komm, wir müssen weg. So schnell wie möglich weg. Die anderen suchen bestimmt die Taube." „Welche anderen?" „Die Dealer oder Rauschgifthändler." Ela zerrte Julia weiter. Mehr rutschend als kletternd schafften sie den relativ steilen Hand und liefen zu ihren Rädern. Sie schauten zur Straße, wo plötzlich ein weißes Auto fast lautlos vorbeifuhr, dann stoppte und langsam zurückrollte, bis es eine bestimmte Stelle erreicht hatte. Es war ein weißer BMW der 7er-Serie. Das Auto war ihnen schon einmal entgegengekommen. Jetzt öffneten sich die Türen. Drei Männer verließen den BMW! „Das sind sie!" keuchte Ela. „Das sind sie bestimmt!" Sie liefen den Weg nicht zurück, sondern schlugen sich nach links in den Wald, die Räder neben sich herschiebend. Beide konnten nur hoffen, daß die Kerle sie nicht entdeckt hatten..
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7. Hetzjagd durch die Dünen „Der Wagen!" schrie Randy. „Der Scorpio, er verfolgt uns!" Frau Fahrbach drehte sich kurz um. Sie erkannte den Wagen ebenfalls, und ihr Blick bekam einen harten Glanz. „Jungs, so packen die uns! Da können wir strampeln wie wir wollen!" Sie keuchte laut. Auch Turbo, der an der Spitze fuhr, hatte Randys Ruf gehört. „Gibt es keine Möglichkeit, die abzuhängen?" Monika Fahrbach lachte gegen den Wind. „Doch, die gibt es. Wir müssen nur schlauer und raffinierter sein." „Wie denn?" „Rechts und links in die Dünen." „Links wäre besser!" rief Randy. „Da kommen sie mit ihrem Wagen nicht durch!" Sie schauten zu dritt zurück. Zu hören war der Ford nicht. Der starke Wagen fuhr so gut wie lautlos. Er schwebte schier über die Bodenwellen hinweg; mit seinem furchterregenden Kühler wirkte er auf die drei Fliehenden wie ein Rammbock. Turbo schrie plötzlich auf, als er aus dem Sattel flog. Er war zu hart in ein Schlagloch gefahren. Das Rad kippte, er stürzte jäh, rollte sich aber zusammen und über die linke Schulter ab, sobald er auf dem Boden aufkam. Randy bremste sofort, während Frau Fahrbach bereits nach links in die Dünen fuhr; sie hatte rechtzeitig die breite Lücke zwischen den mit Strandhafer bewachsenen Wellen entdeckt. „Komm hoch, Mensch!" „Ja, verflucht, ja!" Turbo schnellte auf die Füße. Randy hatte bereits das Rad seines Freundes aufgestellt. „Kannst du fahren?" „Wenn die Karre okay ist, ja." -103-
Der Ford kam näher. Vielleicht noch vierzig Meter, mehr waren es nicht mehr. Sie schwangen sich zugleich in die Sättel, hörten Monika Fahrbach schreien und sahen sie winken. Dann jagten sie in die Dünen hinein. Mit dem Auto würden ihnen die Kerle nicht folgen können, aber zu Fuß hätten sie eine Chance. Die Jungen hofften, daß sich die Männer hier nicht auskannten. Auch der hohe Strandhafer würde ihnen gut Deckung geben. Frau Fahrbach wartete bereits auf sie. Wie ein Gnom hockte sie neben ihrem Rad in einer Mulde. „Schnell, schnell, schnell! Ich kenn mich hier aus." „Und wohin?" „Erst mal wieder zurück!" „Was?" rief Randy. „Macht schon." Sie stand auf. „Eure Räder müßtet ihr schieben, sonst kommen wir nicht weiter." „Machen wir." Frau Fahrbach war spitze. Sie führte die Jungen um eine hohe und bewachsene Düne herum. Das Gelände war sehr sandig, so daß sie hier nur schieben konnten. Die Flüchtenden versuchten, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Nichts sollte sie ablenken, sie wollten auf jedes Geräusch achten, vielleicht war doch etwas von einem fahrenden Wagen zu hören. Auf ihrer rechten Seite sahen sie das weite Meer liegen. „Deckung!" zischte Frau Fahrbach. Auch die beiden Jungen ließen ihre Räder fallen und drückten sich dicht an den Dünenhang. Frau Fahrbach hatte genau richtig reagiert, auch sie hörten jetzt die Stimme des Blonden. Die Männer mußten den Wagen -104-
verlassen haben. Der Blonde war wohl ein Stück vorgegangen und stand jetzt auf einem Dünenkamm. „Ich sehe sie nicht!" „Dann sieh mal genau hin!" „Habe ich, verdammt!" „Soll ich auch kommen?" „Ja, ist besser!" Noch fester preßten sich die Verfolgten in den Windschatten des Strandhügels. Für den blonden Hein Harms war der Blickwinkel einfach zu schlecht, er schaute immer über sie hinweg. Dann hörten sie ein Keuchen; der Pirat mußte jetzt neben seinem Kumpan stehen. „Verflucht, die haben doch ihre Räder dabei. Sie können sich nicht in Luft aufgelöst haben." „Auch nicht vergraben." „Wir sollten uns trennen!" schlug Dieter Dukke vor. „Und dann?" „Einer geht nach Norden, der andere nach Süden. Ist ganz einfach, Hein." „Wie lange?" „Weiß nicht. Mehr als eine Viertelstunde können wir ihnen nicht geben. Außerdem haben wir keine Zeit. Denk daran, daß wir in einer Stunde in Keitum am Friedhof sein müssen." Hein Harm war einverstanden. „Und die komische Tante packen wir auch gleich mit ein." „Aber fest." Monika Fahrbach verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse, als sie hörte, wie von ihr gesprochen wurde. „Denen werde ich es zeigen!" versprach sie. „Die sollen nur kommen." „Lieber nicht!" warnte Randy. „Angst habe ich nicht." Sie grinste. „Und gut laufen kann ich -105-
auch!" Sie warteten und lauschten in die Höhe. Die Männer unterhielten sich nicht mehr. Wahrscheinlich hatten sie sich schon getrennt; Randy wollte nachschauen. „Aber laß dich nicht erwischen!" flüsterte Turbo, der seine linke Schulter rieb. Sie hatte beim Sturz vom Rad doch etwas mehr abbekommen. „Keine Sorge!" Randy schaute noch einmal in die Runde, bevor er damit begann, sich am Rand der Düne in die Höhe zu schieben. Bäuchlings kroch er durch den Strandhafer. An einer aus dem Hang herausragenden Kante hielt er sich fest. Er reckte den Kopf. Durch die Lücken im Gras und im Strandhafer, sah er auf die Stelle, wo die beiden Kerle eigentlich hätten stehen müssen. Sie waren nicht da! Randy fiel im ersten Moment ein Stein vom Herzen, obwohl er sich gleichzeitig Sorgen machte, daß er die beiden nicht sehen konnte. Vielleicht hatten die sich nur sehr gut versteckt und lauerten jetzt darauf, urplötzlich aufzutauchen. Randy hörte Turbos fragende Stimme, drehte sich und winkte mit beiden Händen ab. „Ich sehe sie nicht!" „Dann komm wieder her!" „Klar." Der Rückweg war kein Problem. Er schaffte ihn in der Hälfte der Zeit. Zwei Augenpaare schauten ihn fragend an. „Hast du dir einen weiteren Plan überlegt?" „Nein." „Das ist nicht viel", meinte Turbo. Frau Fahrbach mischte sich ein. „Ich finde, daß wir von hier verschwinden sollten. Sollen die Kerle uns in den Dünen ruhig suchen. Wir gehen den gleichen Weg zurück, den wir auch gekommen sind. Da kann uns dann keiner etwas." „Das ist am besten!" stimmte Randy zu. -106-
Monika Fahrbach hatte sich schon gebückt und ihr Rad aufgehoben. Während sie es schob, sprach sie davon, der Polizei Bescheid zu geben. „Das müssen wir einfach tun, Kinder. Wenn Menschen so reagieren, wie diese beiden Männer, haben sie etwas zu verbergen. Da steckt mehr dahinter." „Und alles wegen der zu schweren Tauben." Randy gab seinem Rad einen Stoß und es schoß über eine Bodenwelle hinweg. „Ich bin davon überzeugt, daß die etwas in die Tiere eingenäht haben. Dieser komische Mac Metzel..." „Ha!" rief die Frau ziemlich laut. „Den hatte ich beinahe vergessen. Ja, ich kenne ihn. Er ist so etwas wie ein Wahrzeichen von Keitum. Den hat jeder schon gesehen." „Wer ist das denn?" fragte Turbo. „Ein Mann, der den alten Friedhof in Schuß hält. Mac Metzel ist Friedhofsgärtner." „Kommt gleich hinter dem Totengräber", meinte Randy. „Das macht er auch manchmal. Er hebt die Gräber aus, wenn der Totengräber mal krank ist." „Hatte er denn je etwas mit Tauben zu tun?" erkundigte sich Randy. Er schaute ebenso wie Turbo und Frau Fahrbach immer wieder in die Runde, um nach den Verfolgern Ausschau zu halten, die sich zum Glück nicht blicken ließen. Daß die Männer aufgegeben hatten, daran wollten die Jungen nicht recht glauben. Die Dünenhügel boten jetzt kaum mehr Schutz. Um nicht gesehen zu werden, mußten sich alle drei schon tief ducken. Noch immer schien die Sonne. Ihre blassen Strahlen vergoldeten die Insel. Ein wunderschöner Tag neigte sich allmählich dem Ende entgegen; die drei Radfahrer hatten dafür keinen Blick. Sie standen wie unter Spannung. Eigentlich spürte jeder von ihnen, daß noch etwas passieren würde, nur redeten sie nicht darüber. Sie beschäftigten sich mit ihren eigenen Gedanken. -107-
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Vor ihnen lag der Weg. Schauten sie nach rechts, stand dort der blaue Scorpio. Er wirkte verlassen, und Frau Fahrbach zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, was auch den Jungen auffiel. „Ist was, Frau Fahrbach?" „Ich überlege, wo wir hinfahren sollen." „Zur Polizei, denke ich." Sie schaute Turbo an, wollte etwas sagen, als sie plötzlich eine Stimme hörten: „Das werde ich verhindern!" Er hatte sich hinter dem Wagen versteckt gehalten. Jetzt kam er wütend näher, hatte die Hände zu Fäusten geballt und machte den Eindruck, als wollte er alle drei gleich ungespitzt in den Boden rammen... „Mac Metzel!" keuchte Randy. „Oje, jetzt können wir uns warm anziehen. Der sieht aus, als wollte er uns in den Boden stampfen." „Und dir verdankt er eine Beule." „Einen Gehirnschaden hatte er schon immer!" Turbo schaute Randy an. „Was machen wir?" „Auf jeden Fall werden wir uns von ihm nicht ausziehen lassen, das kann ich dir versprechen." „Gar nichts, werdet ihr, gar nichts!" Frau Fahrbach sprach mit harter Stimme. „Ich nehme das in die Hand!" Die Jungen hatten Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Aber das Gesicht der Frau sprach Bände. Sie sah wieder aus wie der kleine böse Junge, fehlte nur noch der spitze Hut. „Der wird Sie doch..." „Gar nichts wird er, Randy, darauf kannst du dich verlassen. Bleibt ihr hier stehen. Ich werde es auch kurz machen!" Sie ging los, während sie noch sprach, und steuerte Mac Metzel direkt an. -109-
Der blieb sogar stehen. „Was willst du denn, du alte Schachtel?" „Dir die Leviten lesen." Mac Metzel lachte. „Das werde ich mit diesen Burschen da. Darauf kannst du dich verlassen!" Frau Fahrbach legte ihren Kopf zurück und reckte dem wesentlich größeren Mann das Kinn entgegen. „Du wirst gar nichts, Mac. Du drehst dich um und verschwindest." „Nein!" Er trat wütend mit dem Fuß auf.. Frau Fahrbach ging noch einen Schritt auf ihn zu. „Hüte dich, Mac, hüte dich. Du weißt, daß ich deine Mutter sehr gut kannte. Denke daran, daß ich es war, die dafür gesorgt hat, daß du auf dem Friedhof als Gärtner anfangen konntest. Ich habe deiner Mutter kurz vor ihrem Tod versprochen, auf dich..." „Das weiß ich ja, Frau Fahrbach." „Wunderbar, Mac. Dann ist dir auch klar, daß du meine jungen Freunde in Ruhe lassen wirst." Er schüttelte den Kopf und wirkte wie ein trotziges Kind. „Nein, das will ich nicht." „Warum nicht." „Der eine hat mich geschlagen." „Das geschieht dir recht!" fuhr Frau Fahrbach das komische Riesenbaby an. „Was hast du denn mit den Tauben gemacht? Kannst du mir das erklären, Mac!" „Wieso... ich..." „Was hast du mit ihnen getan? Du hast sie... du hast die regelrecht aufgeschnitten. Schämst du dich nicht?" „Da waren sie betäubt." So sehr Randy und Turbo die Unterhaltung interessierte, sie saßen trotzdem wie auf heißen Kohlen, weil jeden Moment die anderen Kerle aufkreuzen konnten. Mit ihnen würde Frau -110-
Fahrbach nicht so umspringen können. „Und was hast du dann getan, Mac?" „Das darf ich nicht sagen." Er knetete seine Finger und schaute zu Boden. Gar zu schlau war dieser etwa 25jährige Mann nicht. Der wurde doch von den Kerlen nur ausgenutzt. Er tat den Jungen schon ein wenig leid. „Aber mir wirst du es sagen!" „Nein, Monika." Sie winkte mit beiden Händen ab. „Das brauchst du auch nicht. Dann erzähle ich dem Pastor von deinem Nebenjob. Was meinst du, wie der sich freuen wird." „Aber das dürfen Sie nicht." „Wieso nicht?" Wieder reckte die Reinmachefrau angriffslustig das Kinn vor. „Das wäre gemein." „Du bist viel gemeiner." „Bin ich nicht!" „Sicher bist du das. Du wirst uns sagen, wie..." Aus den Dünen hörten sie einen Pfiff. Die beiden anderen Männer verständigten sich untereinander. Allen war klar, daß sie bald erscheinen würden. Monika Fahrbach drehte sich um. „Weg!" zischte sie und drohte Mac Metzel noch einmal. „Hör zu, Junge, ich werde mir das alles merken und fahre zum Pastor." „Nein, nicht zur Kirche und zum Friedhof." „Warum denn nicht?" „Ich... ich..." Er lief rot an. Leider war nicht mehr genug Zeit vorhanden, um noch weitere Fragen zu stellen. Randy und Turbo hockten bereits auf den Sätteln. Monika Fahrbach nahm ihr Rad und stieg ebenfalls auf. Dann strampelten sie um die Wette. Zurück blieb ein schreiender Mac -111-
Metzel, der seine Kumpane natürlich warnte. Den Freunden war es inzwischen gelungen, weit voraus zu fahren; und diesen Vorsprung bauten sie noch aus. Das Gelände wurde wieder flacher, und es kreuzten viele kleine, verborgene Wege, die Frau Fahrbach geschickt nutzte. So entkamen sie den Männern tatsächlich. Als sie die Ausläufer von Westerland erreichten, waren sie doch froh. Im Schutz einer Neubausiedlung hielten sie an. Ihr Atem ging schwer und sie schwitzten stark. Turbo wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das war knapp", sagte er. Randy nickte. „Wer ist denn eigentlich dieses Riesenbaby, Frau Fahrbach? Der war verflixt wütend auf uns." Sie winkte ab. „Man muß ihn nur kennen. Mac Metzel ist harmlos. Nicht jeder Mensch kann gleich schlau sein. Er ist wirklich kein schlechter Kerl, nur eben leicht beeinflußbar. Wenn solche Leute dann in schlechte Gesellschaft geraten, und die beiden anderen Typen gehören dazu, ist das für sie natürlich schwer." Frau Fahrbach kam wieder auf die Polizei zu sprechen. „Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn wir uns da melden", sagte Turbo zögernd und sah Randy von der Seite an. „Warum denn nicht?" fragte Frau Fahrbach erstaunt. „Was haben wir denn in der Hand?" antwortete Randy. „Gut, wir können den Polizisten erklären, daß wir übergewichtige Tauben gesehen haben. Aber die würden uns auslachen. Wir haben keine Beweise. Wenn es Beweise gibt, sind die bestimmt weggeschafft worden, wie ich die anderen einschätze." Frau Fahrbach nahm ihre Brille ab und putzte die Gläser. Ihr Gesicht hatte einen sehr nachdenklichen Ausdruck. „Vielleicht habt ihr da recht. Bei meiner Unterhaltung mit Mac habe ich genau aufgepaßt. Erinnert ihr euch, wie komisch er reagiert hat, -112-
als wir auf Keitum und den Friedhof dort zu sprechen kamen? Denkt mal darüber nach." „Ja, der wollte uns nicht dort haben." „Genau." Randy zog die Nase hoch. „Aus welchem Grund nur? Ist der Friedhof unheimlich?" „Überhaupt nicht." Frau Fahrbach lachte. „Der ist völlig in Ordnung und wird auch oft genug von Touristen besucht, die sich die alten Gräber und Grabsteine anschauen. Das ist nicht das Problem, Kinder, bestimmt nicht." „Was dann?" „Ich denke, daß dieser Friedhof noch eine Rolle spielen wird. Eine verflixt große sogar. Sonst wäre Mac Metzel nicht so erschrocken." Randy kam eine Idee. „Ob da vielleicht die Tauben landen?" Frau Fahrbach starrte ihn so durchdringend an, daß Randy unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. „Das, mein Junge, kann die Lösung sein. Vielleicht haben die Kerle auf dem Friedhof so etwas wie ein zweites Hauptquartier. Möglich ist alles." „Klingt direkt unheimlich", meinte Turbo. „Wir fahren auf jeden Fall hin!" entschied Monika Fahrbach. „Da kriegen wir dann sicher unsere Beweise. Ich hab so ein Gefühl, da wartet eine Überraschung auf uns." Randy hatte einen Einwand. „Zuerst werde ich in unserer Wohnung anrufen und Ela Bescheid geben. Die wird sich bestimmt schon Sorgen wegen unserer Rückkehr machen." Nicht weit entfernt stand eine Telefonzelle, zu der Randy hinradelte. Turbo und Frau Fahrbach blieben zurück. „Hätten Sie gedacht, in so etwas hineingerissen zu werden?" „Bestimmt nicht, Junge." Turbo grinste. „Manchmal ist es komisch. Ich habe immer den Eindruck, als würden Ela, Randy und ich so etwas anziehen. Das -113-
ging schon los, als ich zu den Ritters kam. Randy ist früher ein Brieffreund von mir gewesen. Meine Eltern sind verschollen. Ich habe in meiner Heimat keine Verwandten, bei denen ich wohnen könnte. Die Ritters haben mich aufgenommen. Wie gesagt, Frau Fahrbach, als ich ankam, da wurde ich von Gangstern gejagt, die mir mein einziges Erbstück wegnehmen wollten. Ein altes Samurai-Schwert. Die Waffe ist sehr kostbar und befindet sich seit Jahrhunderten in Familienbesitz. Na ja, sie haben es nicht geschafft, doch ich denke immer daran, daß sie es noch einmal versuchen werden." „Hast du keine Angst, Turbo?" „Manchmal schon. Oft denke ich auch daran, daß ich meine Eltern gern wiedersehen würde. Ich glaube nämlich nicht, daß sie gestorben sind. Die werden bestimmt Nachforschungen anstellen und mich irgendwann finden." „Das wünsche ich dir von ganzem Herzen, Turbo." Frau Fahrbach lächelte weich. Turbo lächelte zurück. „Wissen Sie eigentlich, daß ich sie sehr nett finde." Jetzt mußte sie lachen. „Meinst du das ehrlich? Junge, das hört man gern." Randy kehrte zurück, und ihr Gespräch stoppte. Er machte keinen glücklichen Eindruck. „Pech gehabt?" fragte Turbo. „So ist es. Die beiden sind nicht da. Ich habe dreimal angerufen, es hob keiner ab." Frau Fahrbach winkte ab. „Die sind sicherlich spazierengegangen oder mit den Rädern weggefahren." „Kann sein." Sie klatschte in die Hände. „So, Freunde, ab geht es nach Keitum. Der Friedhof und die Kirche dort sind wirklich einmalig, das kann ich euch versichern." -114-
„Wie auch die Tauben", murmelte Randy. Aber das hörte niemand...
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8. Entwischt Die Gefahr war noch längst nicht gebannt. Die drei Männer hatten den Platz erreicht, wo Ela und Julia auf die tote Taube gestoßen waren. Jetzt suchten sie dort herum. Die Mädchen hatten angehalten und sich hinter zähem Gestrüpp versteckt, das in der Nähe des Watts wuchs. Sie hockten dort und wagten kaum, zu atmen. „Die suchen das Rauschgift", flüsterte Julia. „Was sonst." „Sie werden es nicht finden. Was machen die dann?" „Keine Ahnung. Jedenfalls sind sie aufgeregt." Da hatte Ela recht. Die drei Männer liefen nicht nur unruhig hin und her, sie brüllten sich auch Kommentare zu, die sich mehr als wütend anhörten. „Der Vogel kann sich nicht in Luft aufgelöst haben", schrie der eine, der auf dem Kopf einen dunklen Hut trug. „Scheint aber so." „Das glaube ich nicht." „Moment mal, Boß, hier sind Spuren im Schlick, und die sehen verdammt frisch aus." „Wo?" „Hier und überall." Das hatten auch Ela und Julia gehört. Beide Gesichter verloren an Farbe. „Jetzt kann es gefährlich werden!" hauchte Julia. „Verhalte dich nur ruhig, dann geht alles klar, hoffe ich." „Optimistin." „Bin ich immer." Die drei Männer schauten sich gemeinsam die Spuren an. Wie -116-
Detektive umschlichen sie kreisförmig ein bestimmtes Gebiet, die Augen dabei zu Boden gerichtet, manchmal miteinander flüsternd. Der Mann mit dem schwarzen Hut tastete die Abdrücke mit den Fingern ab. Beim Hochkommen sagte er laut: „Der Sender hat nicht versagt, andere waren schneller und haben den Vogel an sich genommen." „Von der Konkurrenz weiß keiner etwas von unseren Experimenten, Chef." „Das habe ich auch nicht gesagt. Wenn ihr euch die Spuren genau anschaut, muß euch etwas auffallen. Ich glaube nicht, daß es Erwachsene waren, die sie hinterlassen haben. Jedenfalls einer der Abdrücke sieht aus, als stammte er von einem sehr kleinen Fuß. Kinder oder Jugendliche, schätze ich." „Die meinen mich!" hauchte Julia. „Dann müssen wir sie suchen. Da die Spuren noch frisch sind, können sie nicht so weit sein." Ela stieß ihre neue Freundin an. „Schätze, daß es für uns Zeit wird, zu verschwinden." Julia nickte. Sie wollte aufstehen, aber Ela zog sie blitzartig wieder herunter. „Nein, noch nicht. Die schauen in unsere Richtung." Die Mädchen preßten sich flach auf den Boden, denn die drei Gangster sahen tatsächlich zu ihnen hin. Sie blieben starr liegen. Die Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten. „Nichts!" rief der Mann mit dem Hut. „Nichts zu sehen." Was er anschließend sagte, war für die Mädchen leider nicht zu verstehen. Sie warteten noch ein paar Minuten ab, bevor sie sich trauten, die Köpfe zu heben. Da hatten die drei Männer bereits den Rückzug angetreten und kletterten den kleinen Hang hoch. Sie gingen den gleichen Weg zurück und bald waren sie nicht mehr zu sehen. Ela stand als erste auf. Sie schüttelte sich. „War ganz schön -117-
kalt auf dem Boden." Dann grinste sie. „Die Taube, die haben wir zum Glück, und dafür wird sich die Polizei interessieren." „Hoffentlich glauben die uns." „Müssen sie, wenn sie das Rauschgift sehen." Ela klopfte auf ihre linke Tasche, in der die tote Taube steckte. „Nur gut, daß wir sie im letzten Moment noch mitgenommen haben." Julia schrak zusammen. „Und der Sender? Ob er noch funkt?" „Nein, den habe ich zerdrückt." „Du bist ja spitzenmäßig." Ela lachte geschmeichelt. „Manchmal schon, kann ich dir sagen. Da bin ich bereit, mir selbst auf die Schultern zu klopfen." Sie hob ihr Fahrrad auf. „So, jetzt nichts wie weg, sonst wachsen wir hier noch an. Weißt du, wo die Polizeiwache ist?" „Wir müssen nach Westerland." Ela Schröder winkte ab. „Schon wieder. Ohne Fahrrad bist du hier echt aufgeschmissen." „Stimmt." Die Mädchen schoben ihre Räder durch das sperrige Gebüsch. An einer freien Stelle erreichten sie die Straße, wo sie auf dem Gehsteig blieben und sich umschauten. Der weiße BMW war nirgends zu sehen. Aus der Ferne grüßte der eckige Turm der alten Kirche. „Ob die zum Friedhof gefahren sind?" fragte Julia. „Wie kommst du darauf?" „Ich hatte das Gefühl, als wären die Männer vom Friedhof gekommen. Sie kamen uns ja auch aus der Richtung entgegen." Das wollte Ela nicht unterschreiben. „Was sollen die denn auf dem Friedhof gemacht haben?" „Weiß ich auch nicht." Ela schwang sich auf den Drahtesel. „Egal, was da passiert ist. -118-
Wir werden jetzt nach Westerland fahren und der Polizei Bescheid geben. Die werden da Augen machen, sage ich dir..." Und sie machten Augen! Es waren zwei Beamte, die Ela und Julia anschauten, als kämen sie vom Mond. „Noch mal", forderten sie die Mädchen auf. „Diese Tüte hat sich im Bauch einer Taube befunden." „Ja." Beide nickten, nur Ela sprach: „Wir haben sie am Wattenmeer entdeckt. Und ich glaube fest daran, daß dieses weiße Pulver Rauschgift ist." „Hast du es denn probiert?" fragte Herr Körber. Er war Polizeihauptmeister und der Chef hier. Sein Kollege hieß Sander, war kleiner und ziemlich knochig. Unter der Nase wuchs ein blasser Bartstreifen. „Nein!" Ela antwortete voller Staunen. „Was meinen Sie denn? Ich... ich würde so etwas nie tun, auch Julia nicht. Wir... wir probieren doch kein Rauschgift." „Ihr seid aber sicher, daß es sich um Heroin oder Kokain handelt?" „Traubenzucker ist es bestimmt nicht." „Dann nehmt mal Platz." Herr Körber deutete auf zwei Stühle vor dem Schreibtisch. Die Fenster der Wache bestanden bis zur Hälfte aus Milchglas, gegen das die Sonnenstrahlen fielen und ihnen ein weiches, wolkiges Aussehen gaben. Herr Körber holte eine Schere. Er war ein schwergewichtiger Mann mit dunklen Haaren und scharfen, stechenden Augen. Mit der Schere schnibbelte er eine Ecke ab, nahm den Beutel und kippte ihn, so daß ein paar Krümel des weißen Pulvers auf seine Handfläche flossen. Sein Kollege Sander saß am zweiten Schreibtisch hinter einer alten mechanischen Schreibmaschine und schaute ihm zu. Mit der Zungenspitze schmeckte Hauptwachtmeister Körber -119-
ab. Er bewegte seinen Mund, schmeckte noch weiter und nickte plötzlich, während sein Gesicht an Farbe verlor.
„Rauschgift", flüsterte er mit tonloser Stimme, wobei er die beiden Mädchen auschaute. Sein Kollege erhob sich wie im Zeitlupentempo vom Stuhl. „Das ist tatsächlich Rauschgift. Himmel, und so etwas auf unserer Insel." Ela deutete auf die tote Taube, die sie auf den Tisch gelegt hatte. „Darin war es versteckt." „Und ihr habt auch die Männer gesehen?" -120-
„Ja, drei. Aber zuvor am Strand waren noch andere da, Hein und Dieter, der Blonde und der Schwarze. Der hat meinen Freund Turbo niedergeschlagen, als wir uns um die Taube kümmerten, die ebenfalls ziemlich schwer war. Bestimmt war auch sie mit Rauschgift gefüllt." Hauptwachtmeister Körber stemmte beide Hände auf die Schreibtischplatte und drückte die Arme durch. „Nun mal langsam, kleines Fräulein. Langsam und ganz von vorn, bitte." „Wir haben nicht soviel Zeit." „Die wird schon reichen." „Außerdem müssen wir Randy und Turbo Bescheid geben." „Das sind eure Freunde?" „Ja, und sie sind den Kerlen bestimmt auf den Fersen." Jetzt mußte sich Hauptwachtmeister Körber setzen. „Die wollen tatsächlich Rauschgiftschmuggler jagen?" fragte er. „Das... das darf doch nicht wahr sein." „Ist es aber." Körber nickte in Elas Richtung. „Fang an, erzähl alles der Reihe nach!" „Gern." Ela Schröder erzählte. Sie konzentrierte sich stark und wollte nur das Wesentliche berichten. Julia Schnippke war still. Sie schaute zu, wie sich der Polizist hin und wieder Notizen machte. Sein Kollege popelte unwillkürlich in der Nase. Als Julia ihn dabei beobachtete, zog er den Finger hastig wieder zurück. Ela redete noch immer. Mit einem tiefen Seufzer beendete sie schließlich ihren Bericht. Noch einen Satz fügte sie hinzu: „So ist es genau gewesen." Hauptwachtmeister Körber sagte zunächst nichts. Er konnte nicht fassen, daß so etwas auf Sylt passierte, auf seiner Insel, wie er wiederholte. „Das will mir nicht in den Kopf." -121-
„Sie müssen die Männer suchen. Die beiden vom Strand und den weißen BMW. Darin saßen drei. Der mit dem großen schwarzen Hut war wohl der Boß." Wachtmeister Sander meldete sich. „Herr Körber, das wächst uns bestimmt über den Kopf." „Wie meinen Sie das?" „Wir sind zu schwach." Körber überlegte. „Das kann schon sein", murmelte er nach einer Weile. „Wir kommen dagegen nicht an. Es gibt nur eine Möglichkeit. Wir müssen Flensburg alarmieren." „Meine ich auch." „Was geschieht dann?" fragte Ela. „Da sitzen Leute, die sich auskennen. Es sind Fahnder, die auf Rauschgiftdelikte spezialisiert sind. Wir müssen ihnen Bescheid geben. Sie kommen dann rüber." „Sofort, nicht?" „Das kannst du glauben, Julia." Hauptwachtmeister Körber telefonierte, nachdem er eine Nummer herausgesucht hatte. Ela und Julia hörten zu. Sie wünschten sich, daß der Polizeibeamte Erfolg haben würde. Er wurde einige Male hinund herverbunden, bis er den richtigen Mann an der Strippe hatte. Und der schien ihm zu glauben. Als Körber auflegte, stand Schweiß auf seiner Stirn. Die Lippen waren allerdings auch zu einem schmalen Lächeln verzogen. „Es klappt", wandte er sich an die Mädchen. „Dann kommen die wirklich?" „Sicher. Sogar mit Hubschraubern." Ela fiel ein Stein vom Herzen. „Wo werden die denn landen?" „Ihr habt vom Watt gesprochen und auch von der Kirche. -122-
Keitum wird das Ziel sein." „Können wir nicht dabei sein?" Hauptwachtmeister Körber legte die Stirn in Falten. „Davon bin ich nicht begeistert. Rauschgifthändler sind verflixt brutale Gangster, die nehmen auf niemand Rücksicht." Ela senkte den Kopf. „Okay, ich habe verstanden. Aber da sind noch die beiden Jungen." „Man kann nur hoffen, Mädchen, daß sie auch vernünftig sind und sich heraushalten." Ela Schröder sagte dazu nichts, denn sie kannte Randy und Turbo einfach zu gut. Wenn die beiden in ein Fettnäpfchen traten, dann aber richtig tief...
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9. Entscheidung beim Friedhof Sie waren durch Keitum gefahren und hatten die Augen mehr als offen gehalten. Der blaue Scorpio war ihnen nicht mehr auf den Fersen. Jedenfalls hatten sie ihn nicht zu Gesicht bekommen. Frau Fahrbach hatte die Führung übernommen. Auch in Keitum war sie zu Hause. Sie brauchten nicht die Hauptstraßen zu nehmen, sondern suchten sich Schleichwege, oft so enge Gassen, die selbst für einen Kleinwagen nicht passierbar waren. Sie hielten immer auf die Kirche zu, zumindest auf den Turm. Er war von überall aus zu sehen, das Wahrzeichen von Keitum. Turbo nörgelte. Er hatte Hunger, und nirgends fand sich eine Fischbude, an der er einen Hering verschlingen konnte. „Wenn alles vorbei ist, stopfe ich dir ein halbes Dutzend davon in den Mund", versprach Randy. „Auch mit Köpfen?" „Wenn du willst." Turbo verdrehte die Augen. „Ich liebe die Köpfe von Heringen, besonders die Augen." „Hört doch auf!" schimpfte Frau Fahrbach. „Da kann einem ja der Appetit vergehen." „So ist er immer", beschwerte sich Randy. An einer Kreuzung trat die Frau in den Rücktritt und hielt an. Auch die Jungen rollten aus. Mit einem Bein stützte sich Randy am Boden ab. „Jetzt werden wir mal reden!" sagte Frau Fahrbach. „Schon wieder?" maulte Turbo. „Sei ruhig, Junge. Ich bin hier der Chef." „Ja, Frau Chefin." Monika Fahrbach schaute etwas böse hinter den -124-
Brillengläsern, kam aber schnell zur Sache. „Ihr habt den Turm der Kirche bereits gesehen. Dort ist auch der Friedhof. Es stellt sich die Frage, wie wir hinfahren?" „Mir dem Rad." „Weiß ich auch, Turbo. Aber es gibt nicht nur einen Weg. Es führt eine Straße im Halbkreis hoch. Wir können aber auch von der anderen Seite an das Ziel herankommen, wo nicht die Parkplätze sind, sondern der kleine Eingang mit dem Törchen. Da gibt es auch Hecken und Bäume, hinter denen wir uns gut verstecken könnten. Einverstanden?" „Sie sind die Chefin", erwiderte Randy und Turbo wie aus einem Mund. Frau Fahrbach schwang sich als erste auf den Drahtesel und strampelte los. Als der Weg zur Kirche hin anstieg, mußten sie kräftiger treten, und Turbo beschwerte sich: „Jetzt fahren wir in die Sylter Alpen." Frau Fahrbach drehte den Kopf. „Einer, der so kräftig ist wie du, sollte nicht meckern." „Tu ich doch nicht." „Bei mir hörte sich das anders an." Rechts der Straße standen mächtige Bäume. Pappeln und Platanen wechselten sich ab. Schon bald ragte der Turm der alten Kirche hinter ihnen wie ein viereckiger Finger hoch. Sie schauten sich öfter um als gewöhnlich. Alles blieb ruhig. Kein blauer Scorpio folgte ihnen. Zweimal wurden sie von Lieferwagen überholt. Die Bäume verschwanden jetzt und schufen der graugrünen Friedhofsmauer Platz. Randy reckte sich im Sattel. Hinter der Mauer sah er die ersten Gräber und auch die schmalen, sehr gepflegt wirkenden Wege, die das Gelände durchschnitten. Niemand war unterwegs, auch keine Besucher, die diese historische Stätte besichtigt hätten. Frau Fahrbach schwang sich noch während der Fahrt vom -125-
Rad und schob es zur Mauer, an der sie es abstellte. „Schon Schluß?" fragte Turbo. „Im Gegenteil, jetzt geht es erst los." Zunächst blickten sie noch einmal den Weg zurück. Zwei Motorradfahrer rollten die Straße hoch und an ihnen vorbei. Von denen drohte keine Gefahr. „Einen Plan habe ich auch schon", erklärte Frau Fahrbach. „Und wie sieht der aus?" „Wir verstecken uns auf dem Friedhof. Hinter der Kirche ist der beste Platz." Randy hatte schon die ganze Zeit über etwas nachgedacht: „Ob die Gangster sich wohl in der Kirche treffen?" fragte er. „Das trauen die sich nicht!" flüsterte Frau Fahrbach. „Da wäre ich nicht so sicher." „Hört mal, ich kenne Mac Metzel. Der hat einen zu großen Respekt. Das würde er nicht mitmachen." „Harms und Dukke können ihn leicht unter Druck setzen." „Warten wir es ab, Randy." Frau Fahrbach war nicht so groß, um über die Mauer hinwegschauen zu können. Deshalb hielten Randy und Turbo den Friedhof im Auge. Sie sahen jetzt auch den Parkplatz, konnten allerdings nicht erkennen, ob ein Ford Scorpio dort stand. Dafür entdeckten sie einen großen, weißen BMW. Vor dem Eingangstor, mehr einer kleiner Pforte, blieb Frau Fahrbach stehen, ohne dabei Anstalten zu treffen, die Pforte zu öffnen. Statt dessen hatte sie ihren Blick zum Himmel gerichtet. Sie streckte den Arm hoch und deutete auf etwas. „Schaut mal, die Vögel!" Randy und Turbo bekamen starre Blicke, und der Junge aus Japan stieß ein leises Lachen aus. „Wenn das keine Tauben sind, esse ich eine Schlange ungehäutet." -126-
„Schade", murmelte Randy. „Es sind Tauben." „Die sich sehr seltsam benehmen", meinte Frau Fahrbach und hatte damit ins Schwarze getroffen, denn die Vögel kreisten immer an derselben Stelle. „Als wären sie dressiert", flüsterte Randy. Turbo nickte. „Das sind sie wahrscheinlich auch. Gespickt mit Sendern, schätze ich." „Weshalb landen die nicht?" „Haben noch keine Erlaubnis, Frau Fahrbach." „Richtig, Randy. Irgendwo, da bin ich mir sicher, müssen sich auch die Typen befinden, die auf die Tauben warten. Und ich glaube fest, daß sie schon auf dem Friedhof sind." „Vielleicht sollten wir uns den Parkplatz mal näher anschauen", schlug Turbo vor. „Eine gute Idee. Nur möchte ich dabei um die Mauer von außen her herumlaufen. Wir ändern also unseren Plan." „Machen wir." Sie duckten sich, weil sie auf keinen Fall vom Friedhof aus gesehen werden wollten. Die Mauer zog sich doch länger hin, als sie gedacht hatten. Sie hatten die alte romanische Kirche schon umgangen. Wenn sie jetzt über den Mauerrand peilten, konnten sie die alten Grabsteine sehen. Viele waren von den Gräbern entfernt und neu aufgestellt worden. Sie lehnten in einer Reihe an einem extra für sie aufgeschütteten Grashang. „Manche sind dreihundert Jahre alt", erklärte Frau Fahrbach. „Kaum zu bezahlen, Dokumente der Sylter Geschichte. Sogar die Namen der Toten könnt ihr noch lesen. Die meisten Steine gehören zu den Kapitänsgräbern. Viele sind auf See umgekommen." „Wird der Friedhof heute noch benutzt?" „Sicher, Randy." -127-
Noch einige Schritte, dann blieben sie stehen. Der Wind blies ihnen kalt in den Nacken. Vor dem Friedhofseingang lag eine freie Fläche, die als Parkplatz benutzt wurde. Dort stand noch der weiße BMW. Rechts von ihm parkten zwei Wagen mit offener Ladefläche. Sie gehörten offenbar zur Friedhofsgärtnerei. Keine Spur vom Scorpio. Sekunden später rollte er von der Straße heran und kam auf dem Parkplatz neben dem BMW zum Stehen. Die Türen schwangen auf. Hein Harm verließ das Fahrzeug als erster. Ihm folgte der piratenhafte Dieter Dukke, und den Schluß machte Mac Metzel, dessen Gesicht einen ziemlich traurigen Ausdruck angenommen hatte. Harm blieb vor ihm stehen und sprach ihn an. Dabei redete er so laut, daß ihn auch die drei hinter einem Mauervorsprung versteckten Zuhörer verstehen konnten. „Du weißt, was du zu tun hast?" „Klar." „Die Tauben sind schon da und ziemlich erschöpft. Du wirst sie einsammeln." „Geht in Ordnung, Hein." „Okay, wir gehen dann in die Kirche und holen die anderen." „Wie lange wird es denn dauern?" „Weiß ich noch nicht. Wir verhandeln noch über den Preis. Dann müssen wir ihnen die neue Methode zum Transport des Kokains noch vorführen. Jedenfalls bleibst du hier." „Was ist, wenn jemand kommt?" „Wer sollte denn kommen?" „Die... die Jungen." „Dann leg sie in eines der Gräber, die offen sind!" erklärte -128-
Dukke und ging kopfschüttelnd weg. Harm folgte ihm, zurück blieb Mac Metzel; nur ein Aufpasser also, was Randy, Turbo und Frau Fahrbach natürlich sehr recht war. „Habt ihr alles gehört?" fragte sie. „Und ob. Da geht es ja um Rauschgift." „Genau, Randy." Sie schüttelte den Kopf. „Daß Mac Metzel bei so etwas mitmacht, verstehe ich nicht." „Der hat das bestimmt nicht richtig überrissen", meinte Turbo. „Kann sein." Sie hob den rechten Zeigefinger. „Aus dem Sumpf kann ich ihn leider nicht wieder rausziehen, das werde ich ihm noch erklären müssen. Pech für den armen Kerl." Vorsichtig lugte sie um die Ecke, aber sie brauchten keine Angst vor einer Entdeckung zu haben: Mac Metzel war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Gerade lud er aus dem Kofferraum des Fords einen Taubenschlag aus, der in sechs kleine Schläge unterteilt war. Als Türen dienten Drahtgitter, und Mac Metzel öffnete sie der Reihe nach. Er stellte sich neben den Schlag und schaute zum Turm der Kirche hoch. Noch immer kreisten die Tauben über ihm. Manche konnten wegen ihres Gewichtes kaum mehr fliegen, ab und zu setzten sie sich auf dem Kirchturm zur Ruhe. „Das ist ganz schön raffiniert", flüsterte Turbo. „Eine neue Methode zum Kokain-Transport." Randy hob die Schultern. „Diese Verbrecher werden eben immer raffinierter." Mac Metzel hatte noch etwas aus dem Wagen geholt, einen Gegenstand aus Holz, den er zunächst einmal reinigte. Er war ein Mensch, den nichts erschüttern konnte, der alles nahm, wie es kam. Turbo hatte nachgedacht und sagte: „Die Tauben haben einen Sender, damit die Lumpen wissen, wo sie die komischen Vögel -129-
finden können, wenn eine abstürzt oder sich verfliegt. Auch raffiniert, ehrlich." „Wer sind denn wohl die anderen, mit denen sich Harm und Dukke treffen wollen?" „Weiß ich nicht, Randy. Jedenfalls warten sie bestimmt da in der Kirche. Wir würden sie sonst sehen." „Man sollte lauschen und..." „Ihr bleibt hier!" entschied Monika Fahrbach. „Schließlich habt ihr mich selbst als Chefin eingesetzt, und das nutze ich jetzt aus, kann ich euch sagen." „War ja nur mal laut gedacht", meinte Turbo. „Zu laut." Sie beobachteten zunächst Mac Metzel weiter. Mit dem Rücken lehnte er an der Fahrerseite des Scorpio. Das seltsame Holzinstrument hielt er zwischen beide Handflächen geklemmt und hob es nun an den Mund. Es mußte so etwas ähnliches wie eine Flöte sein. Sie hatten sich nicht geirrt. Und Mac Metzel beherrschte das Instrument meisterhaft. Er blies hinein, und es erklang ein Gurren und Schnattern, das dem von Tauben täuschend ähnlich war. Gespannt warteten die Beobachter darauf, ob die Tiere reagierten. Noch regte sich nichts, aber zwei der fünf Tauben, die sich auf dem Turm niedergelassen hatten, verließen ihre Plätze und flogen schwerfällig auf ihre Artgenossen zu. Mac Metzel gurrte weiter. Er wollte die Tauben herunterlocken und schaffte es tatsächlich. Zwei Vögel drehten plötzlich ab. Erst sah es so aus, als wollten sie in einem schrägen Winkel zu Boden fallen, aber dann fingen sie sich wieder und flatterten in Kopfhöhe auf ihr neues Ziel, den Taubenschlag, zu. Da Mac Metzel ihnen den Rücken zudrehte, konnten die heimlichen Beobachter nun mit gutem Gewissen um die -130-
Mauerecke schauen. Sie paßten genau auf, was dort ablief. Da erreichten die Tauben ihre Schläge. Sie trippelten schwerfällig in die engen Boxen hinein. „Das ist stark", flüsterte Turbo. Die anderen drei Tiere taten es den ersten beiden nach. Sie verschwanden in den Boxen, und Mac Metzel klappte sie zu. „Fünf Tauben", sagte Randy. „Aber haben wir in dem Haus nicht sechs gezählt?" „Ja." Turbo runzelte die Brauen. „Vielleicht ist eine von ihnen abgestürzt." „Das wäre für die Dealer peinlich." „Finde ich auch." Monika Fahrbach stieß die Jungen an. „Los, das ist unsere Chance, Kinder." „Wie meinen Sie das?" „Wir holen uns die Tauben." „Das wird Mac Metzel nie zulassen." „Ha!" sagte sie und lachte. „Ich kenne den besser. Keine Müdigkeit vortäuschen, wir packen es." Vorsichtig schlichen sie um den Mauervorsprung auf den Parkplatz zu. Hinter den Lastwagen der Gärtnerei blieben sie stehen und schauten zum Friedhofseingang. Turbo wollte weitergehen, als er gegen die Ladefläche stieß. Mac Metzel hatte etwas gehört. Trotz seiner Körperfülle drehte er sich blitzschnell um und öffnete vor Staunen seinen Mund. Vielleicht wollte er auch einen Warnschrei ausstoßen. Monika Fahrbach kam ihm zuvor: „Mach dich nur nicht unglücklich, Mac Metzel!" warnte sie... Das Riesenbaby hielt tatsächlich seinen Mund offen stehen, ohne einen Laut von sich zu geben. Mac Metzel konnte nur -131-
staunen, die Überraschung war einfach zu stark und lähmte ihn. Erst als Monika Fahrbach vor ihm stand, brachte er ein Wort hervor: „D... du?" „Ja, ich." „Und die Blödmänner auch, wie?" Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Weißt du eigentlich, Mac, daß du jetzt der Wichtigste hier bist?" „Wie ich?" „Weil es in deiner Hand liegt, ein gewaltiges Verbrechen aufzudecken. Stell dir das mal vor." „Du... du bist verrückt!" Er hatte die Überraschung noch immer nicht verdaut und stotterte leicht. „Vielleicht, Mac. Aber ich bin positiv verrückt. Du wirst alles machen, nur keine Fragen stellen." „Was denn?" „Keine Fragen, habe ich doch gesagt." „Ja, gut." „Du packst jetzt den Schlag und verfrachtest ihn zusammen mit den Tauben in den Kofferraum." „Was soll ich?" „Keine Fragen, Mac!" „Aber das kann ich nicht. Ich... ich muß die Tauben abgeben. Das haben Hein und Dieter mir gesagt." „An wen denn?" „Die... die Männer aus Hamburg. Das sind richtige Gangster. Die haben sogar Waffen." „Um so besser wird es sein, wenn wir von hier verschwinden. Keine Sekunde länger dürfen wir noch warten. Los, Jungs, faßt mal mit an, dann geht es schneller." -132-
„Klar doch!" Randy und Turbo bückten sich gemeinsam. Sie fanden den Plan von Monika Fahrbach irre gut. „Nee, nicht." „Ruhe, Mac!" Das Riesenbaby seufzte. Unter dem Einfluß der Reinmachefrau schmolz er dahin. Sein eigener Wille war wie ausgeschaltet. Während Randy und Turbo gemeinsam den Schlag an den Seiten packten, hörten sie Monikas weitere Worte. „Ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich achtzugeben, und ich hole dich hier raus. Deine einzige Chance ist, uns zu helfen. Alles andere kommt nicht in die Tüte." Sie hatte Mac Metzel so in der Hand, daß dieser den Jungen sogar den Kofferraum öffnete, damit sie den Taubenschlag endlich einladen konnten. Sie mußten ihn auf den Rücken legen, und die Tauben hinter den Drahtgittertüren bekamen Angst. Sie schlugen wild mit den Flügeln und gurrten aufgeregt. „Keine Sorge", sagte Randy mitleidig, „auch ihr werdet bald wieder freikommen. Das schaffen wir schon." Er schlug den Deckel zu. Als sich die Jungen umdrehten, lächelten sie Monika Fahrbach zufrieden an. „Das war einfach super." Die Jungen nickten. Nur Mac Metzel schaute ins Leere. Er dachte so angestrengt nach, daß auf seiner Stirn dicke Schweißperlen standen. „Fahren kann ich aber nicht", sagte er. „Hast du den Wagenschlüssel?" „Ja." „Dann nichts wie weg!" Monika Fahrbach schnappte sich die Schlüssel und setzte sich hinter das Lenkrad. Turbo schob Mac auf den Rücksitz, während Randy die Beifahrertür aufriß. Noch während er einstieg, rollte der blaue Scorpio an. -133-
Knirschend drehten sich die Vorderreifen auf dem Schotter, als Monika Fahrbach zu viel Gas gab. Genau in dem Augenblick hörten sie die wütenden Schreie. Als sich Randy umdrehte, sah er fünf Männer, die aus der Kirche stürmten und wild gestikulierend hinter ihnen herrannten, ohne die Chance zu haben, sie einholen zu können. Nicht zu Fuß, aber mit einem Wagen. Und tatsächlich steuerten sie den schweren BMW an. Das hatte auch Monika Fahrbach mitbekommen. Cool sagte sie: „Jetzt entscheiden die besseren Nerven..." „Haben wir die denn?" fragte Randy. „Bleibt uns was anderes übrig?" Vom Rücksitz meldete sich Mac Metzel. Auch er hatte sich umgedreht. „Die... die kriegen uns immer, kann ich euch sagen. Die sind schnell." „Ja, wir auch." „Das ist doch blöd, ist das." „Halt deinen Mund, Mac!" „Schon gut, Monika, schon gut." Er wurde still. Sein Gesicht zuckte, und er knetete die Finger. Es war klar, daß sie dem deutlich schnelleren BMW kaum entwischen konnten. Monika Fahrbach wollte mit den Kindern im Auto kein Rennen riskieren. Sie wollte nur so weit kommen, bis sie andere Menschen auf sich aufmerksam machen konnte. Nicht nur sie schwitzte. Auch den Jungen stand der Schweiß auf der Stirn. Und Mac Metzel schlotterten die Knie. Vor lauter Angst brabbelte er vor sich hin. Eine enge Kurve lag vor ihnen. Sicher lenkte Frau Fahrbach den Wagen hinein. Während alle nervös waren, fing sie an zu pfeifen, sie jodelte sogar. „Das habe ich in Bayern gelernt." -134-
„Aber bitte nicht zu lange", bat Randy. „Du hast auch keinen Respekt vor der Kunst, Junge." „Doch, aber alles zu seiner Zeit." Er wandte sich um und bekam gerade noch mit, wie die flache, weiße Schnauze des BMW ebenfalls in die Kurve tauchte. „Sag nichts!" flüsterte Monika Fahrbach, die das Fahrzeug im Rückspiegel beobachtet hatte. Randy nickte. Aus dem Fond meldete sich Turbo: „Hört ihr das komische Knattern auch? Ich glaube, die haben Ärger mit dem Motor." „Wir können es ja nicht haben", sagte Monika. Ein Wagen kam ihnen entgegen, fuhr vorbei, dann passierte es. Wie ein gewaltiges Raubtier schob sich der BMW an sie heran. Innerhalb weniger Sekunden war er auf gleicher Höhe mit ihnen. Die Kerle schauten kalt grinsend durch die Fenster und überholten den Wagen. Dann waren sie vorbei! Monika Fahrbach bremste. Es blieb ihr nichts anderes übrig, denn die Männer zogen ihren BMW nach links, um ihnen den Weg abzuschneiden, und einen Zusammenstoß wollte Frau Fahrbach vermeiden. Auch der BMW wurde gestoppt. Er stand jetzt schräg vor dem Scorpio. „Das war's dann wohl!" sagte Monika Fahrbach, stellte den Motor ab und zog sogar noch die Handbremse an. Keiner widersprach, bis auf Mac Metzel. Er sagte so laut, daß er fast schrie: „Jetzt machen sie uns alle..." Sie kamen! Fünf Männer, denen in die Gesichter geschrieben war, daß sie nicht mit sich spaßen ließen. An der Spitze ging einer, der einen schwarzen Hut trug und einen Pelzmantel übergestreift hatte.. -135-
„Ich hasse Pelzmäntel!" flüsterte Monika Fahrbach. „Und ich hasse noch mehr die Menschen, die sie tragen." „Scheint der Boß zu sein!" meinte Randy. Der Mann riß die Beifahrertür auf. Die kalte Luft strömte in das Fahrzeug. „Steigst du freiwillig aus, oder soll ich dich rauszerren?" „Ich komme schon." Hein Harm und Dieter Dukke ließen es sich nicht nehmen, die hinteren Türen zu öffnen, wo Turbo und Mac Metzel saßen. „Hallo, Mac", sagte Hein. „Haben wir dir nicht befohlen, die Typen in den Boden zu stampfen?" „Ja, Hein, ja, das wollte ich doch." „Und warum hast du es nicht getan?" „Weiß ich auch nicht." Harm zerrte Metzel aus dem Fahrzeug und schleuderte ihn wütend zu Boden. Dukke packte bei Turbo zu. „Ich freue mich schon auf dich, Schlitzauge." „Ich weniger." Dukke lachte. Monika Fahrbach stieg ebenfalls aus. Wiederum fiel ihnen das ungewöhnliche Knattergeräusch auf. Als Randy in die Höhe schaute, sah er zum Friedhof. Dicht über dem Geäst der kahlen Bäume erkannte er den unförmigen Körper eines Hubschraubers. Auch die Gangster waren irritiert. Sie schauten ebenfalls hoch und beobachteten, wie der Hubschrauber über den Bäumen schwebte und allmählich näherkam. „Das gilt uns!" sagte Randy. „Wieso?" Der Mann mit dem Hut fuhr herum. „Polizei!" Der Kerl hob den Arm. Sein fleischiges Gesicht unter dem breiten Hutrand wurde zur Grimasse. „Dir werde ich es zeigen, -136-
du kleiner Bastard, du. Wo sind die Tauben?" „Im Kofferraum!" „Hol sie raus, Hein!" „Nein, Mario, nein. Das gilt wirklich uns!" Plötzlich ging alles so schnell, daß die Rauschgifthändler nichts mehr machen konnten. Aus dem offenen Einstieg des Hubschraubers lösten sich bewaffnete Gestalten. An langen Seilen hängend, schwangen sie sich der Straße entgegen. Auf ihren Overalls trugen sie die Abzeichen der Polizei. „Weg hier!" Der Boß wollte fliehen. Er jagte auf den BMW zu, hatte schon die Tür aufgerissen, als sich der Hubschrauber noch tiefer senkte und den Mann zurücktrieb. Seine Kumpane standen da mit erhobenen Händen, in Schach gehalten von den Mündungen zahlreicher Waffen. Randy, Turbo und Frau Fahrbach atmeten erst einmal tief durch, dann lachten sie. Anschließend fühlten sie sich wie Helden, als sie die Tauben präsentierten, die im Kofferraum verstaut waren. „Die sind mit Rauschgift gefüllt!" sagte Randy. Der Einsatzleiter, ein drahtiger Mann mit Igelschnitt, nickte. „Ja, das haben wir uns gedacht." „Wieso?" „Wir bekamen einen Anruf aus Westerland. Der dortige Hauptwachtmeister sprach von zwei Mädchen, die ihm einen Beutel mit Kokain gebracht haben." „Ela!" rief Turbo. „Und Julia!" Randy lachte. „Ihr kennt sie?" „Und ob. Ela gehört zu uns. Wenn wir etwas machen, dann machen wir es auch richtig." -137-
Der Einsatzleiter grinste wissend. „Das scheint mir langsam auch so." Wieder einmal konnten sich die Freunde nur darüber wundern, woher all die Neugierigen so rasch kamen. Urplötzlich waren sie da, bildeten einen Ring und schauten zu, wie die Beamten die Gangster der Reihe nach entwaffneten und festnahmen. Es kam trotzdem jemand durch - Hauptwachtmeister Körber, der zwei Mädchen im Schlepptau hatte. Die beiden jubelten, als sie Randy und Turbo sahen. Monika Fahrbach kümmerte sich um Mac Metzel. Vielleicht gelang es ihr tatsächlich, ihn aus allem herauszuhalten. Und das hatte Mac auch verdient. Körber sprach die Freunde an. „Daß es für euch noch einiges an Papierkram geben wird, damit müßt ihr rechnen." „Wissen wir", sagte Randy. „Na, das hörte sich an, als wärt ihr Profis." Randy, Turbo und Ela lachten los. Waren sie denn nicht das Schloß-Trio, eine verschworene Gemeinschaft?! „Sind wir das denn?" fragte Ela. „Und wie!" antworteten Randy und Turbo gleichzeitig... Zwei Tage später! Es war schon Abend geworden. In der großen Küche von Oma Petersen hockten Julia, Ela, Randy und Turbo zusammen. Letzterer mit glänzenden Augen, er schnüffelte begeistert, denn er konnte den Grünkohl schon riechen. „Das wird bestimmt eine Superschau", sagte er. Damit Oma Petersen nicht zuviel Arbeit hatte, halfen sie mit, den Tisch zu decken und auch den Kohl, die Wurst, das Fleisch und die leckeren Bratkartoffeln zu verteilen. „Jetzt fehlt nur noch Monika Fahrbach", sagte Ela. -138-
„Wo die bleibt, weiß ich auch nicht!" Oma Petersen hob ratlos die Schultern. „Versprochen hatte sie es doch, nicht?" „Sicher, Julia." Turbo meinte: „Vielleicht wird sie noch vernommen. War bei uns auch ein hartes Ding." Da hatte er nicht unrecht. Natürlich hatten die Freunde restlos ausgepackt. Auch die Dealer waren schließlich mit der Sprache herausgerückt. Sie hatten sich eine neue Methode für den Transport von Rauschgift ausgedacht. Brieftauben schienen dafür geeignet. Die hätten auch den Weg bis zum Festland geschafft. Aber schon beim ersten Probeflug hatte ihnen das Schloß-Trio einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Grünkohl schmeckte herrlich. Trubo freute sich wie ein Schneekönig und erklärte, daß er das japanische Essen schon vergessen habe. „Für mich ist unsere Küche sowieso die beste der Welt", sagte Oma Petersen voller Überzeugung. Keiner widersprach. Sie aßen noch, als es klingelte. Frau Petersen schaute auf. „Wer kann das sein?" „Der kleine böse Junge", murmelte Randy und kassierte von Ela einen heftigen Tritt. Julia öffnete. „Ah!" rief sie auf dem Flur. „Frau Fahrbach, wir haben auf Sie gewartet." „Habt ihr schon angefangen?" „Ja." „Macht nichts." Sie betrat das Zimmer, und alle drehten sich um. „Ohhh!" stöhnte Turbo. „Sie sehen ja unwahrscheinlich stark -139-
aus, Frau Fahrbach." „Ja, nicht." Sie drehte sich auf der Stelle und hielt das seltsame Etwas fest, das auf ihrem Kopf thronte. Es war ein großer spitzer Hut, der einer Schultüte für IMännchen glich. Er war außen mit grünem Papier beklebt, ein Gummiband hielt ihn unter dem Kinn fest. Randy stand auf. „Jetzt ist sie wirklich..." „Hör auf!" knurrte Ela. Monika Fahrbach kam näher an den Tisch heran und fragte lächelnd: „Was bin ich?" Randy schnitt auf die schnelle zwei, drei Grimassen. „Das... das darf ich nicht sagen." „Aber ich." „Wieso?" Sie trat einen Schritt zurück. „Ich habe mich entschlossen, nicht mehr ein Sylter Sandfloh oder die Sylter Strandkrabbe zu sein. Ab heute bin ich offiziell der kleine böse Junge!" „Beifall für Monika!" rief Turbo, klatschte als erster in die Hände, und die anderen fielen mit ein. Darüber freute sich Frau Fahrbach so sehr, daß sie auch noch den Salzburger Andachtsjodler anstimmte. Daß Turbo und Randy dabei vor Lachen unter dem Tisch gelegen haben, soll nur ein Gerücht gewesen sein...
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