Ben Silva
Das Phantom der 5. Straße Um das Phantom aus seinem Schlupfwinkel zu bekommen, spielt Jo Walker den Köder Im...
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Ben Silva
Das Phantom der 5. Straße Um das Phantom aus seinem Schlupfwinkel zu bekommen, spielt Jo Walker den Köder Immer wenn Marvon Denver in den Spiegel schaute, packte ihn das Grauen mit eisiger Faust. Denn ein Monster glotzte ihm entgegen. Er fletschte die Zähne, schüttelte sich und konnte sein verbliebenes Auge trotzdem nicht vom eigenen Anblick losreißen, so als faszinierte ihn seine Häßlichkeit auf eine eigentümlich zugreifende Weise. Die linke Gesichtshälfte glich einem Schlachtfeld, auf dem ein nie erklärter Krieg seine Schründe und Krater hinterlassen hatte, die Haut aufgeworfen wie ein Land von explodierten Minen und Granateneinschlägen. Eine verschrumpelte, eingefallene Fleischfalte dort, wo es einst übermütig und unternehmenslustig geblitzt, vor Leben geradezu gesprüht hatte. Eine von schönen Hoffnungen angefüllte Zukunft verweste jetzt wie ein giftiger Kadaver, seine von Zerfall durchsetzten Dünste in die Umgebung ausströmend wie tödliches Gas.
»Wo du wolle? Du sagen ich fahren.« ›el taxista‹ Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Die Hauptpersonen: Jerry March, Ex-Dressman, existiert eigentlich nur noch als Leiche. Teils im East- und teils im Hudson River. Cilya Virgin ist von der »Jungfrau« so entfernt wie der Nord- vom Südpol. George Laramy glaubt fest an seinen nahen eigenen Tod. Marvon Denver verliebt sich in die falsche Frau und teilt somit das Schicksal vieler Leidensgenossen: Er fährt zur Hölle. David Koolridge staunt nicht schlecht über einen gewissen Privatdetektiv als Kühlerfigur seines Mercedes. Jo Walker ist Kommissar X Ja. Marvon Denver tötete, und er würde weitertöten. Er schaute neben sich auf den alten verrosteten Blecheimer hinunter, aus dem ein blondes Haarbüschel herauslugte. Das Zähnefletschen wurde stärker, obszöner. Und das gräßlichste an seinem Spiegelbild war der Kontrast. So als habe der Satan selbst die Linien gezogen über die hohe Stirn, die gerade Nase, den einstmals in seiner Gesamtheit ironisch geschwungenen Mund und ein Kinn, das die Frauen früher machtvoll und männlich empfunden hatten. Die rechte Gesichtshälfte war die eines Engels. Die Erinnerung… * »Action!« rief der Fotograf. Herman Worship wirbelte wie ein angetörnter Hurrikan durchs geräumige Atelier, hoch über der Madison Ave, dem Nabel der USA, was die Werbung in all ihrer Vielgestaltigkeit anbelangte. Hier wurden die Music-Spots gedreht, hier wurden jene Kampagnen ausgetüftelt, die um die Welt gehen sollten, um die Völker vom american way of consume zu überzeugen. Eine Tina Turner und ein Michael Jackson gaben sich die Klinke in die Hand und grüßten Johnny Cash im Vorübergehen. Hier entstanden auch die Titel »Ebony« und »Vogue«, von »Harper’s Bazar« und teilweise sogar vom »Paris Match«. Worship arbeitete gerade eine Fotoserie für ein bekanntes Männermagazin aus, in dem Mailänder Entwürfe, für die Staaten umgestylt, dem modebewußten amerikanischen Leser vorgestellt werden sollten. Halbnackte Mädchen dienten als Staffage. Insgesamt hielt sich wohl um ein Dutzend Personen in der Hellig-
keit der starken Lampen auf. Eisgekühlte Drinks standen bereit, aus starken Lautsprechern dröhnte überlaut ein neuer Pop, zu dessen abgehackten Rhythmen sich Dressmen und Mannequins unter der Regie des Fotografen zu bewegen hatten. Im Hintergrund lud Berny, Worships Assistent, in fieberhafter Eile die Kameras nach. Hektik drang in jede Pore, Hektik dunstete aus jeder Pore zurück und ionisierte die Luft eines jeden Atemzugs zu schöpferischem Knistern. Leiber zuckten bei jedem Posenwechsel wie unter Starkstrom gesetzte Marionetten. Trotzdem fand Marvon Denver manchmal die Zeit, unprofessionell der dunkelhaarigen Cilya Virgin zuzulächeln, die trotz ihres jungfräulichen Künstlernamens natürlich längst keine Jungfrau mehr war. Die Branche gab sich nicht nur promiskuitiv, sie war es auch. Nur betätigten sich die Dressmen bei weitem nicht so homosexuell, wie ihnen das oft von Außenstehenden neidvoll angedichtet wird. Marvon Denver schon gar nicht. Er hatte sich sogar ernsthaft verliebt. Die Lautsprecher schwiegen. »Kleine Pause!« rief Herman Worship, der gefragte Lichtbildner. Schweiß lief ihm in Strömen über das abgelebte Gesicht. Bei jeder Fotosession gab er alles, was er hatte. Er verströmte sich selbst, verlagerte seine Intensionen, ja sein ganzes Ich in das automatische Klicken seiner Nikons, Leicas und Hasselblads. Die Bildredaktionen der größten Magazine rissen sich um seine Zeit. Die Gruppe der Models löste sich aus ihrer lockeren, vom Beruf diktierten Verkrampfheit. Ihre »Cheese« wurde zum Alltagsgrinsen, sie stürmten an die Drinks und an die Tischchen mit kleinen Snacks, um sich zu stärken. Wie zufällig berührten sich Marvon Denvers und Cilya Virgins Arme. Ein flüchtiger Kuß besiegelte ihre Vertrautheit. »Es ist heiß hier«, sagte sie. »Laß uns ein bißchen zur Seite gehen.« Berny hatte die Türen zur Penthouse-Terrasse hinaus geöffnet und die Jalousien hochgezogen. Sie traten auf die Terrasse, jeder einen kleinen Teller mit belegten Brötchen und ein Glas in der Hand. Es war später Nachmittag. Unter ihnen brodelte der Verkehr der Madison und einen Block weiter und noch lauter der von der 5th Avenue. Cilya strebte dem dreiundzwanzigsten Lebensjahr zu, sah zwei Jahre älter aus und war in Marvon Denvers Augen das schönste Mädchen der Welt. Alles an ihr begeisterte ihn. Der grazile Schwung ihrer Hüften, die angebetete Linie zwischen Hals und Brustansatz, wenn sie im Halbprofil stand, die schwarzen Wimpern, die von Natur
aus lang und wie romantische Bögen gestaltet waren, die Ellipse ihrer vollen Lippen. »Ich bin glücklich«, sagte er, während sie sich über das Geländer lehnten und dem Westen entgegensahen, wo der Himmel sein Abendgewand anlegte und golden zu glühen begann. »Hast du heute nacht Zeit?« »Für dich doch immer, Darling«, sagte sie und biß herzhaft in eine Schnitte mit Räucherlachs. Herman Worship behandelte seine Modelle pfleglich, denn sie alle waren mehr oder weniger berühmt, wenn auch anonym in den Zirkeln der Madison Avenue und in den bunten Seiten der Illustrierten. Manch einer hatte recht gute Chancen, wie der Dressman Marvon Denver beispielsweise. Ihm stand ein Vertrag mit der 20th. Century Fox ins Haus. Sein Agent verhandelte nur noch um einige Klauseln aus dem Kleingedruckten. Und näher Erfolg wirkte auf Cilya Virgin wie eine Prise Kokain, mit Hilfe einer 1000-Dollar-Note in die Nase gezogen, um sie im Gehirn wie einen Feuerball explodieren zu lassen. Im Kielwasser von Marvons Aufstieg würde auch sie aus der Unbekanntheit eines austauschbaren Modells in die höheren Sphären des berühmten Publikumslieblings steigen. Sie hatte sich ein paar bereits ausgestrahlte Drehbücher besorgt, studierte Rollen ein und machte natürlich alles besser als die tatsächlich verwendeten Schauspieler. Über die Wiedergabe eines Camcorders suchte sie die Bestätigung ihres Talents und fand sie auch in ihren Augen. Scheinbar verliebt sah sie Marvon Denver an. Bis in die letzte Faser seines Herzens verliebt sah Marvon Denver zurück. Er ahnte nicht, was in diesem geliebten Kopf wirklich vor sich ging, daß er vor allem Gedanken an die eigenen Karriere barg und sie ihn nur als eine Art Sprungbrett in den Zenit der Film- und Fernsehstudios betrachtete. »Ende der Pause!« rief Herman Worship, weit vernehmlich. Die Jalousien rasselten bereits wieder herunter und sperrten den späten Tag aus. Die Tabletts mit den Snacks waren leer. Die Lautsprecher begannen erneut zu brüllen, die Batterien der Kameras waren randvoll mit frischen Filmen geladen. »Action!« Die Aufforderung kam zu früh, denn noch nicht einmal alle Lampen brannten. Ein paar schwere Scheinwerfer waren umgestellt und wohl auch neu verkabelt. »Position von vorher einnehmen.« Den Hintergrund bildete das Riesenposter irgendeines südseeischen Inselstrandes mit geneigten Palmen und türkisfarbenem Meer.
Dabei fotografierte Herman Worship jetzt schon die kommende Winterkollektion. Er dachte sich diesen Widerspruch in sich als besonderen Gag. Denn ein paar Etagen tiefer hatte ein findiger Kopf den Slogan ersonnen: Mit den Mänteln von N.N. auch im Winter im Sommer zu Hause. Marvon Denver kam neben einen hochwattigen Jupiterstrahler zu stehen, die linke Gesichtshälfte der gerillten Streuscheibe zugewandt. Der Strom floß noch nicht durch die Spirale aus Wolframdraht, die dem Scheinwerfer zu seiner künstlichen Sonne verhelfen würde. Ich muß weg hier! schoß es ihm noch durch den Kopf. Alte Position hin oder her. Da schoß das heiße Licht auch schon auf wie eine Explosion. Marvon Denver hatte ihm die linke Kopfhälfte zugedreht und war plötzlich einer Temperatur von mehr als 1000 Grad in der Nähe ausgesetzt, denn das Kühlgebläse wurde erst Sekunden später wirksam. Das Fleisch seiner Wangen, sein Ohr zerfloß ihm brutzelnd und stinkend wie Schmalz auf der Platte eines auf Höchstleistung geschalteten Elektroherds. Er vermochte nicht einmal zu schreien. Ein trüber Eindruck, wie sein Auge mit der Epidermis zu einer einzigen Masse brodelnder Materie zerkochte, die bis jetzt seine linke Gesichtshälfte gewesen war. Engelhaft schön bis zum heutigen Tag. Von den Casting-Leuten der 20th. Century Fox schon fest für eine zukunftsträchtige Serie gebucht. Innerhalb dieser Sekunde dieses halben Sterbens brach Marvon Denvers Welt zusammen, riß die Zukunft mit sich in der Hitze eines Hochofens, ausgesandt von einem unschuldigen Scheinwerfer, der zur Unrechten Zeit aufgeflammt war und seine künstlichen Sonnen verschleudert hatte auf den Dressman. Der Mantel fing Feuer. Kollegen eilten herbei, ihre Schreckensstarre überwindend, und versuchten zu helfen, als alles schon viel zu spät und geschehen war. Cilya Virgin nahm nicht teil an der allgemeinen Aufregung. Jetzt muß ich mich bei einem anderen anhängen, war ihr erster und für eine ganze Zeit auch einziger Gedanke. * Diesen Gedanken kannte das Monster Marvon Denver nicht. Und wenn, hätte er ihn nicht geglaubt. Dieses zweigeteilte gräßliche Antlitz liebte immer noch. Doch gleichzeitig war ihm aus einer inneren Selbstverständlichkeit heraus klar, daß er in diesem Zustand dem geliebten Wesen nicht
mehr gegenübertreten wollte. Solange weiße Verbände sich seiner Mißgestaltung noch gnädig erbarmten, hatte Cilya ihn ein paarmal im Krankenhaus besucht, Blumen gebracht und Orangen, die er nicht essen konnte. Hatte an seinem weißen Bett gesessen im hellgrün getünchten Zimmer und Mitleid geheuchelt. Dann waren ihre Besuche weniger geworden und schließlich ganz ausgeblieben. Der Krüppel Marvon Denver nahm diesen Umstand verzeihend zur Kenntnis. Er liebte dieses Mädchen danach nur noch heißer und inniger, denn er hatte nichts anderes mehr, über das er seine unbeschädigten Gefühle hätten ausgießen können. Gefühle aus einem bodenlosen Füllhorn, von mythischen Liebesgöttinnen stets wieder ergänzt. Marvon Denver hatte sich von seiner einstigen Position als Liebhaber und Verlobter in eine neue Rolle befohlen. In jene des Wächters. Er würde Cilya beschützen wie ein älterer, weiser Bruder, so weit das nur irgend in seiner kleinen Macht stand. Cilya Virgin blieb seine Göttin, seine Vestalin und seine Aphrodite. Das Monster hob den Eimer auf den Tisch in seiner Gruft an der fünften Straße, krallte Finger in das herauslugende blonde Haar. Er hatte den früheren Kollegen Jerry March nicht köpfen wollen. Dazu fehlte ihm – noch! – die Bestialität. Es hatte sich einfach so ergeben, daß er zu dieser schauderhaften Trophäe gelangte. Seine Erinnerungen stiegen erneut hinab in die Tiefen, diesmal eines jüngst Gewesenen, noch nicht einmal drei Stunden Altem. Drüben am Riverside Park war das passiert, gleich nördlich von den Piers der großen Frachtlinien, die in den nachtschwarzen glänzenden Hudson hinausragten wie gestrandete melanesische Langboote aus Beton. Jerry March pflegte an diesem Südende des Parks sein allabendliches Joggingpensum zu erfüllen. Denn in kaum einem anderen Beruf kam es mehr auf Fitneß und auf Durchtrainiertheit an. Und Jerry March war kein Frühaufsteher. Über ihnen brauste der moderne Verkehr auf den Stelzen der achtspurigen Stadtautobahn, warf sein Rumoren herunter, seine flüchtige, vergängliche Geschäftigkeit. Marvon Denver hielt das breite, lange Schlachtmesser fest in der Faust. Wie unverzeihlich dumm von Jerry March, sich ausgerechnet an Cilya heranzumachen. An Cilya, die Unantastbare, an Cilya, die Heilige, Marvon mußte sie vor diesem unheiligen Subjekt beschützen. Atemdampf blies weiß in die Abendkühle, als der Jogger sich näherte, die tüchtige Arme wie Pleuelstangen bewegend. Über dem
Hudson wollte sich ein leichter Nebel bilden. Vereinzelt klang ein Horn, heulte eine Sirene, doch der Park und seine verschwiegenen Kieswege blieben einsam um diese Zeit. Einsam bis auf den Mörder und sein Opfer. Der Krüppel trat hinaus auf den festgestampften Pfad, dem Läufer entgegen, und der verharrte in seinem Schritt. »He da! Zur Seite!« March selbst konnte nicht ausweichen, weil dichte Ligusterhecken bis an den Kies heranwuchsen und eine natürliche Barriere bildeten. Ein Hohlweg mitten im flachsten Land. »Du hast einen Fehler gemacht, Jerry«, krächzte es schaurig durch das Dunkel, denn auch Denvers Stimme war bei diesem Unglück in Mitleidenschaft gezogen worden. Doch sein Gegenüber schien ihn trotzdem zu erkennen. Seine breiten Schultern schienen plötzlich zu schrumpfen. »Marvon…? Gott! Mach keinen Blödsinn!« »Den Blödsinn hast du schon gemacht, Jerry. Wie konntest du es wagen…« Damit sprang er vor, seinen Satz nicht beendend. Die scharfe Klinge durchtrennte den Vorderhals wie ein Schwerthieb. Blut färbte den weißen Kies im Nachtlicht schwarz wie die dunkelsten Tiefen der Hölle. Der Körper brach in sich zusammen. Marvon Denver trat einen Schritt zurück. Sein verbliebenes Ohr lauschte in den Park, sein verbliebenes Auge wieselte flink über die Umgebung. Doch er hatte Ort und Zeitpunkt gut gewählt. Kein Zeuge zeigte sich. Die Nacht blieb still und tot, nur von behäbig vorwärtsstrebenden Motoren beinähe sanft überbrummt. Nach etwa fünf Minuten packte Marvon Denver die Leiche an den Schuhen und schleppte sie den Weg entlang bis dorthin, wo sich eine Lücke auftat zum nachtglänzenden Fluß, auf dessen jenseitigem Ufer sich die Lichter von Union City spiegelten, das schon dem Staate New Jersey angehörte. Die Grenze verlief arithmetisch genau in der Mitte des Stroms. Bruchsteine längst abgerissener Häuser bildeten die Böschung. Aus den Ritzen näherte sich hartnäckiges Unkraut, Beifußgewächse und Brennnesseln in der Hauptsache. Eine immer zur Landschaftszerstörung bereite Mentalität hatte auch hier für Müll gesorgt. Marvon Denver war nicht klar, ob er inneren Gesetzmäßigkeiten gehorchte, und ob es sie überhaupt gab. Jedenfalls hing Jerry Marchs Kopf sehr weit nach hinten, hing nur mehr an einem Faden, wie es immer so heißt. Tatsächlich waren es natürlich die Nackenwirbel, durch Nerven-
stränge und angefaserte Sehnen kaum mehr miteinander verbunden, die Rumpf und Schädel noch lose zusammenhielten. Ein einziger Messerschnitt reichte, ein herumliegender verbeulter Eimer bot sich als Behältnis an für das wächsernbleiche Gesicht, den blonden vollen Schöpf, das erfrorene Entsetzen in diesem Gesicht. Marvon Denver nahm es mit in diesem Eimer, stellte es in den Kofferraum und stellte es jetzt vor sich auf den Tisch an der Wand mit dem Spiegel. »Ach, Jerry«, sagte Marvon Denver, wie zu einem Freund. »Ich hatte dich telefonisch gewarnt, erinnerst du dich? Ich hatte dir gesagt, daß du nicht der Richtige für Cilya bist, hatte dir auch noch sagen wollen, daß du deine geilen Finger von ihr lassen sollst, aber du hast mich nicht mal zu Ende angehört. Hast einfach mittendrin aufgelegt, du Idiot. Und jetzt wunderst du dich? – Nein, du wunderst dich nicht mehr. Es hat sich ausgewundert.« Bald darauf warf Marvon Denver den Schädel mit einem weiten Schleuderschwung in den East River, denn der lag näher zu seinem Kellerloch an der 5th. Avenue. * »Die Gilde hat zusammengelegt«, erklärte George Laramy in Jo Walkers Büro. »Sie sind verdammt teuer.« »Warum gehen Sie nicht zur Polizei? Die ist für alle da und kostet, auf ihre Leistung umgerechnet, allenfalls das Doppelte meines Tarifs.« »Yeah. Man sagte mir schon, daß ich auf einige Zynismen gefaßt sein müsse, wenn ich das Thema Geld bei Ihnen anschneide.« Jo zuckte nur die Schultern. Er hatte nicht viel übrig für Dressmen, teilte seine Vorurteile demokratisch mit der Allgemeinheit und war sich dessen dummerweise auch noch bewußt. Konkurrenzneid tat sich auf, atavistisches Denken brach sich Bahn. Jedes Männchen wollte von seiner Anlage her möglichst viele Weibchen begatten, das lag in seiner Natur. Und diese Natur hatte die Zunft der muskulösen Schönlinge mit dem steten Strahlemannlächeln offenbar über Gebühr begünstigt. Obwohl sich Jo Walker in dieser Hinsicht gewiß nicht hätte zu beklagen brauchen. Jedweder sexueller Notstand war ihm fremd. Und trotzdem… »Was wollen Sie von mir?« »Ihre Hilfe. Was sonst?« »Sie sprachen von einer ›Gilde‹?«
»Ein loser Zusammenschluß von Leuten, die eine Scheißangst haben, Mister Walker. Nichts Organisiertes. Haben Sie jemals den Namen Marvon Denver gehört?« Jo durchkramte sein Gedächtnis im Eilverfahren. »Nein«, sagte er dann. George Laramy nickte versunken und war auf einmal gar nicht mehr so schön. Furchen, die vorher noch nicht dagewesen waren, kerbten plötzlich bitter seine Mundwinkel. »New York ist groß«, sagte er dann. »Dreieinhalb Morde pro Tag laut Statistik. Da muß es ja untergehen, wenn dann und wann auch mal einer von uns hops geht.« Jo spielte mit seinem Kugelschreiber. Das vor ihm liegende Notizblatt war noch leer. »Nun schießen Sie endlich los. Sie sind doch gekommen, um Schutt abzuladen, also tun Sie’s. Und wie Sie ganz richtig erwähnten, bezahlen Sie dafür. Es ist Ihr Geld, das Sie schon die ganze Zeit über mit düsterem Schweigen zu verplempern belieben.« »Nehmen Sie mich bitte nicht auf den Arm, Mister Walker. Und reden Sie auch nicht so gestelzt daher.« »Dann machen Sie’s mir doch einfacher«, schlug Jo vor, »und sitzen Sie nicht länger so in Ihre eigenen Rätsel versunken herum. Wie soll ich Ihnen denn helfen, wenn Sie nicht endlich auspacken?« So erfuhr Jo von jener denkwürdigen Foto-Session in Herman Worships Penthouse-Atelier hoch über der Madison Avenue. Ein volles Jahr war das jetzt her. Ziemlich auf den Tag genau. Sieben Monate hatte Marvon Denver in einem Krankenhaus verbracht. Nicht einmal die berühmtesten Kosmetiker unter den Chirurgen hatten dem ehemaligen Dressman Hoffnung machen können, ihm jemals wieder zu einem einigermaßen menschenwürdigen Aussehen zu verhelfen. »Und dann ist er auf einmal spurlos verschwunden«, endete George Laramy und strich sich gedankenverloren über seinen penibel gestutzten blonden Oberlippenbart. »Und dann begann auch diese mysteriöse Mordserie. Marvon war über beide Ohren verschossen, als ihm dieser Unfall zustieß. In eine sogenannte Cilya Virgin. Brave Mütter würden sie ein böses Mädchen nennen. Sie ist schlecht bis ins Höschen. Aber sie ist auch verteufelt hübsch. Na ja. Sagen wir, sie ist ‘ne Schönheit. Und immer auf der Jagd nach ihrer Karriere.« Er seufzte. »Sie scheint der unumstößlichen Meinung zu sein, daß so eine Karriere nur übers Bett zu machen ist. Andere Wege kennt sie nicht. Vorgestern hätte ein Kollege von uns seinen ersten Drehtag für ein neues Serial gehabt. Er ist nicht erschienen. Von ihm fehlt jede Spur.
Cilya war mit ihm vermauschelt. Das macht sie immer so. Ihr Ehrgeiz frißt sie eines Tages noch auf.« »Name? Den des Kollegen meine ich.« Walker klopfte nach wie vor halb geduldig mit seinem Kuli auf der Schreibtischplatte herum. »Jerry March.« »Wohnhaft?« »Zwoundsiebzigste Straße, Ecke West End Ave«, kam die Antwort. In Jos Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Er drückte einen Knopf seiner Nebensprechanlage, die ihn mit dem Vorzimmer verband, wo April Bondy, seine weizenblonde Assistentin, residierte. »Chefchen?« Walker hörte über die forschfröhliche Anrede hinweg, denn normalerweise nannte sie ihn schlicht einfach Jo. Das Minnesota-Girl mit den himmelblauen Minnesota-Augen war nur wieder mal sauer, weil sie nicht zu dieser Unterredung hinzugezogen worden war und nun den fortgeschrittenen Vormittag unter der Bürde schnöder Büroarbeit verdämmern sollte. Selbstverständlich rührte sie dahingehend keinen Finger. »Okay, okay, Mädchen. Da sitzt ein hübscher Bengel von berühmtem Dressman bei mir, und ich hab dich an deinen Schreibtisch verbannt. Aber wärst du trotzdem so gütig, mir die Pressemeldungen über jene geheimnisvolle Blutlache in Riverside Park South aus dem Archiv zu kramen und gleichzeitig festzustellen, um welche Blutgruppe es sich dabei handelte?« Und mit einem Seitenblick auf seinen zerknitterten Klienten: »War dieser Jerry March jemals bei der Army?« »Nein«, antwortete der Dressman. »Ich seh schon, wo Sie hinwollen. Ich weiß zufällig, daß Jerry vor seiner aktiven Zeit, als er gerade Fuß faßte in New York, regelmäßig Blut spendete. Drüben im Bellevue Hospital. Er hat oft und mit Genuß über seine Hungerjahre erzählt.« »Du hast mitgehört, April? – Jerry March. Blutgruppe.« »Ich bin doch nicht taub. Obendrein hab’ ich verstanden. Es wird ein paar Minuten dauern.« George Laramy war unversehens grau im Teint geworden. Nichts war mehr von seiner Solarium-Bräune geblieben. »Sie glauben….?« »Ich glaube gar nichts«, meinte Walker. »Mein Hobby ist wissen. Erzählen Sie weiter über diesen Marvon Denver. Alles, was Ihnen einfällt. Wenn die Blutgruppe jenes verschwundenen Jerry March mit jener im Riverside Park übereinstimmt, denke ich, übernehme ich
diesen Fall.« George Laramy berichtete stockend, doch Jo quetschte ihn aus wie einen nassen Schwamm, ohne daß sich der Dressman dieser Tatsache bewußt geworden wäre. * Es ging schon auf den Abend zu, als Jo und April sich zusammensetzten und die Ergebnisse ihrer Recherchen vom Nachmittag besprachen. Auf dem Tisch stand Wein für Bondy und Scotch für Walker. Er konnte sich für Soft Drinks nicht erwärmen. Von Musil’s Bar und Grill hatten sie ein paar Sandwiches kommen lassen, die jetzt auf ihren Papptellern vertrockneten. Beide hatten keinen rechten Appetit mehr. »Soviel steht fest«, meinte Jo. »Jerry March ist nicht der erste so plötzlich Vermißte. Und die Lache im Riverside Park hat dieselbe Blutgruppe wie er.« April runzelte die Stirn. Sie stieß sich offenbar an diesem Ausdruck. »Vermißter?« fragte sie. »Du warst doch kurz dort.« Walker nickte. »Ja. In dem Block, in dem er wohnt. Ich hab’ mich auch ein wenig in seinem Appartement umgeschaut. Völlig illegal natürlich, aber niemand hat mich vor der Tür gesehen.« Jo bediente den Dietrich und sein Spezialbesteck wie Rubinstein sein Klavier. »Nichts Auffälliges«, fuhr er fort. »Eine unaufgeräumte Junggesellenbude wie zigtausend andere auch. Jedenfalls sah es nicht danach aus, daß er verreist wäre. Ich fand leere Taschen und Koffer und sogar seine Papiere.« Jo zog seinen Notizblock heraus. »Jerry March ist sein echter Name. Sechsundzwanzig Jahre alt, in Santa Fé, New Mexico, als Sohn einer Susan March geboren. Vater unbekannt. Er hatte eine Art Pressemappe angelegt mit im Druck erschienen Bildern von ihm. Eines borgte ich mir aus. Es liegt drüben auf dem Schreibtisch.« Sie saßen in Jos gemütlicher Besucherecke mit der Ledercouch und zwei bequemen Sesseln. Walker nippte an seinem Whisky, stellte den Tumbler mit dem schweren Boden aus geschliffenem Kristallglas wieder ab, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, ohne die Augen von seinen Notizen zu nehmen. »Viel Korrespondenz gab es nicht. Ein schreibfauler Mensch. Doch ich konnte einen Blick in den Vertrag werfen, von dem Laramy ge-
sprochen hat. Es stimmt. March hätte vor drei Tagen die zweite männliche Hauptrolle in einer Seifenoper übernehmen sollen.« »Ob die Produktionsfirma ihn als vermißt meldet?« warf die Bondy ein. »Kaum anzunehmen. Stellungslose Schauspieler gibt es hier in New York mehr als Makrelen auf dem Fischmarkt. Gerade zum Start einer Serie besetzen sie oft doppelt und dreifach. Dieser Vertrag war noch kein endgültiger. Es war ein Probelauf vereinbart. Nein, der Produzent weint ihm keine Träne nach. Er ist nicht erschienen und damit basta. Her mit dem nächsten Mann, der schon in den Kulissen lauert. Es ist ein hartes Geschäft.« »Und sein Agent?« »Der ist mit Sicherheit heißgelaufen wie ein Lötkolben. Als ich im Appartement war, läutete auch pausenlos das Telefon. Der Hausmeister erzählte mir dann später, daß schon mehr Leute nach Jerry March gefragt hätten. Darunter wohl auch sein Agent. Und eine hypernervöse junge Dame fiel ihm auf. Er bekam einen ausgesprochen lüsternen Blick, als er sie zu schildern versuchte.« April zog eine Schnute. Sie vertrug es nicht, wenn andere junge Frauen in ihrer Gegenwart ob ihres Aussehens gelobt wurden. »Die Geschichte stinkt«, endete Walker. »Und was war bei dir?« Die Bondy brauchte keine Gedächtniskrücke, wie auch Jo keine gebraucht hätte, aber so konzentrierte es sich besser. Sie referierte aus dem Stegreif. »Ich habe alles über diesen Marvon Denver ausgegraben, was nur auszugraben war. Er müßte jetzt dreißig sein, kommt aus dem Bibelgürtel, wo die Leute am frommsten sind und ihr Gott der rachsüchtigste ist. Er stammt aus einer Predigerfamilie, beide Eltern sind tot. Der Unfall bei Herman Worship ereignete sich am 2. Mai vergangenen Jahres. Die Verletzung muß schrecklich gewesen sein. Ein Arzt vom Bellevue konnte sich noch gut an diesen Fall erinnern. Er deutete mir durch die Blume an, daß Denvers Verstand gelitten haben könnte. Nach der Entlassung aus dem Hospital lösen sich seine Spuren in Nichts auf. Niemand hat je wieder etwas von ihm gehört. Sein Bankkonto räumte er bis zum letzten Cent ab. Er hatte rund sechstausend Dollar gespart. Von Worships Haftpflichtversicherung kamen noch mal fünfzigtausend dazu, doch die wurden nie abgeholt. Der Fotograf meinte, Denver hätte bei den Insurance-Leuten auch eine halbe Million locker machen können, doch er bemühte sich einfach nicht darum.« »Hm«, meinte Walker, »dann ist er wirklich verrückt. Aber er kommt auch mit sechs Riesen eine ganze Weile über die Runden. –
Hat er einen Wagen?« »Ich fragte danach, doch niemand konnte sich erinnern. Wir dürfen wohl davon ausgehen. Wer hätte heute keinen. Ich hab ‘ne Akte über ihn angelegt. Da hast du alles und noch ein bißchen mehr, auch schriftlich.« Dann besann sie sich auf einmal, hob energisch das Kinn und musterte Jo. »Wie war das eben?« fragte sie. »Was hast du gesagt? Dieser Jerry March sei nicht der erste Verschwundene?« »Du hast goldrichtig gehört, mein Schatz«, meinte Walker düster. »Laramy machte ein paar Andeutungen. Unterwegs telefonierte ich vom Auto aus ein wenig herum. Unter anderem mit der Zentralen Vermißtenstelle. In den vergangenen vier Monaten haben sich noch zwei weitere Dressmen offenbar in Nichts aufgelöst. Ich bekam sogar Laramy an die Strippe, und er bestätigte mir, daß auch sie gerade dabei waren, einen Schritt auf der Karriereleiter nach oben zu machen. Allerdings drüben an der Westküste. In Los Angeles. Vor allem konnte er mir nicht bestätigen, ob diese beiden ebenfalls mit Cilya Virgin liiert waren. Das Mädchen wechselt die Liebhaber ziemlich häufig.« April zog die Stirn in anmutige Falten, wobei sich ihr reizendes Stupsnäschen ebenfalls noch um eine Idee hob, was ihr einen kindhaft-schnippischen Ausdruck verlieh. »Dann kenne ich natürlich deinen nächsten Weg«, grollte sie mit einer tieferen Stimme als sonst üblich. »Du willst diese männerfressende Bestie noch heute abend aufsuchen!« »Hast du einen besseren Vorschlag?« Da schwieg die Bondy und kaute an ihrer Unterlippe herum. Sie wollte nicht eifersüchtig sein. Vor allem jedoch wollte sie ihre Eifersucht nicht zeigen. »Du kennst deine Kondition besser als ich zur Zeit«, sagte sie schließlich mit einem leisen Unterton des Bedauerns in ihrem Mezzosopran. »Tu, was du tun mußt. Und wenn es wieder eines deiner berüchtigten Horizontalverhöre werden sollte!« fügte sich noch giftig hinzu. * Noch ein anderer rüstete sich zu jener Stunde zum Aufbruch. Marvon Denver wickelte sich sorgfältig in einen Seidenschal und setzte einen schwarzen Schlapphut auf, dessen weite Krempe er so tief in die Stirn zog, daß von seinem zerstörten Gesicht fast nichts mehr zu
sehen war. Ohnehin wagte er sich nur des Nachts auf die Straße. Sein Kellerloch verbarg ihn vor dem Tag. Ein zerkratzter Schminktisch, wie in engen, überfüllten Theatergarderoben üblich, nahm die linke Seite ein. Lämpchen rahmten den Spiegel. Sie bezogen ihren Strom aus einer Lastwagenbatterie, die Denver auf den zahllosen Schlachthöfen ausgedienter Autos rund um New York jeweils bei Bedarf erneuerte. Ihm mangelte es an nichts. Seine körperlichen Bedürfnisse waren auf ein Minimum reduziert. Er lebte nur mehr seiner Fürsorge um Cilya Virgin, der er in gelungenem Selbstbetrug die prächtigste Zukunft wünschte, wobei er in einigen wenigen grüblerischen Stunden wohl einsah, daß er mit seiner neuentdeckten und sorgsam gehegten Bruderliebe dann und wann wohl etwas zu weit ging. Doch diese Stunden vereilten rasch, hätte ein volles Eingeständnis doch bedeutet, daß mit seinem Verstand nicht mehr alles in Ordnung war. Und gerade dagegen wehrte er sich heftig. Deshalb gehörte es zu Marvon Denvers Prinzipien, so wenig wie nur möglich über diese Problematik nachzudenken, ja ihren Gegenstand als Problem vollends zu negieren. Von Mord zu Mord gelang das besser. An der Schmalseite stand das Bett vom Sperrmüll und genügte seinen Ansprüchen vollauf. Darunter, in ausgedienten Kartons, bewahrte er einen weiteren Anzug, Hemden und Leibwäsche auf; Waschwasser sammelte er in Regentonnen. Ein durchaus massiver Tisch und zwei ebensolche Stühle standen in der Mitte des Raums, wobei er sich auf dem zweiten Stuhl immer Cilya sitzend vorstellte, wie sie sich mit ihm unterhielt und ihn mit ihrem Silberlachen entzückte, das immer heller und reiner wurde im verbrämenden Kleid seiner Erinnerungen. Er hatte schlicht vergessen, daß er sie früher manchmal dazu hatte anhalten müssen, nicht so laut und ordinär loszuschmettern. Auf dem Tisch lag aufgeschlagen das Alte Testament. Er las oft und gern darin. Am liebsten Salomons Gesänge an die Liebe und die Schönheit. Auch schöpfte er Kraft und Mut aus den Psalmen. Erhebe dich doch, o Jehova, in deinem Zorn; steh auf bei den Zornausbrüchen derer, die mich befeinden. Und erwache doch für mich, da du für das Gericht selbst Befehl erteilt hast (Ps. 7,6). Das war einer von Marvon Denvers liebsten Sprüchen, doch gab es noch viele, viele andere, die sein Vorgehen scheinbar rechtfertigten. Noch ein letzter prüfenden Blick in die Runde. Dann löschte er das
Licht. Ihm fiel ein, daß er seine Vorräte ergänzen mußte. Er holte sie sich aus einem nahen Automatenrestaurant, das die ganze Nacht über offen hatte, und wo er dank eines zur Verfügung stehenden Mikrowellenherds auch warm speisen konnte, wenn er wollte. Durch einen tintigen, feuchtkalten Korridor ging er vorwärts, setzte sicher Tritt um Tritt. Er kannte jede Fuge, jede Spalte hier. Einst hatte das Stadtpalais eines Millionärs über den Kellern geprunkt, doch seit Jahren schon war das Ruinengrundstück hoch oben an der 5th Avenue nur mehr Objekt der Spekulation. Die ganze Gegend war verwahrlost in der letzten Zeit. Marvon Denver brauchte keine schnelle Vertreibung zu befürchten. Er trat hinaus in den trüben Lichterglanz auf der Höhe der 118. Straße. Schon auf der anderen Seite der Belle of New York war Harlem. Häuserkadaver nahmen jetzt den Platz jener früheren Prachtbauten der Jahrhundertwende ein. Marvon ging auf einen alten Ford zu, der aussah, als hätte er gerade noch das letzte von einem Dutzend Crash-Rennen überlebt. So ein Wagen wurde selbst hier nicht geklaut. Eine Meile weiter südlich gab es die weitaus bessere Auswahl, da parkte Jackie Onassis ihren bescheidenen Jaguar Mark IV, standen die Cadillacs, Rolls-Royces und Bentleys und dazwischen immer wieder die Mittelklassewagen der Dienerschaft. Niemand machte Denver sein Besitztum streitig. Der Motor kam nur mühsam, der Vergaser hätte schon längst neu eingestellt werden müssen. Doch wer sollte das für ihn tun? Der Krüppel hatte keine Freunde. Nur seine verqueren Träume hatte er und die Verwüstung seiner Gedanken. Er fuhr los, hatte auch keine Angst vor Harlem und seinem dunklen Gelichter. Mit einem zähnefletschenden Grinsen, das links sein gesamtes Zahnfleisch bloßlegte, gedachte er eines Abends, es war noch gar nicht so lange her, als ihn ein paar verkommene Jugendliche auf offener Straße zum Anhalten zwangen. Seelenruhig war er der Aufforderung nachgekommen und hatte seinen Schal heruntergedrückt, den Hut zurückgeschoben. Jahwe! Sie waren zurückgeprallt, als habe Denver ihnen die Mündung einer Bazooka an die Brust gesetzt, und waren entsetzt kreischend davongelaufen. Er kannte keine Angst mehr, seit er wußte, daß seine furchtbare Entstellung in dieser oder jener Situation auch ihr Gutes hatte. So steuerte er ungeschoren hinunter nach Greenwich Village, wo Cilya ein zauberhaftes Appartement bewohnte. Günstig lag ein
nachts kaum benutzter Parkplatz dem Block mit der von französischem Flair angehauchten Fassade gegenüber. Er hatte die Gansevoort Street erreicht, an der vorbei 24 Stunden am Tag die Güterzüge hinunter zum Spring Station Terminal donnernd malmten, um dort ihre Frachten aus dem gesamten großen Land, bereit für die Verschiffung nach Übersee, auszuspucken. Fast gleichzeitig mit ihm hielt ein luxuriöser Mercedes-Roadster an. Champagnerfarben metallic. Ein 500 SL. Marvon hob ein nachtschwarzes Teleskop ans Auge. Es vergrößerte fünfundzwanzigmal. So sah er genau, daß der Fremde, der diesem Wagen entstieg, Cilyas Klingel drückte. * Es war einer jener leicht angegammelten Appartementblocks, die gern auf einen Türsteher verzichten. Eher hätte der Eintretende eine französische Conciérge hinter ihrem Schiebefenster erwartet. Allerhand Künstlervolk hauste in Greenwich Village, das sie selbst nur das »Village« nannten. Die Straßen waren von Cafes gesäumt, vor denen man in der warmen Jahreszeit im Freien sitzen konnte, Bäume beschatteten die Bürgersteige. Überall luden Bänke zum Sitzen und Rasten. Hier war das strenge Quadratraster Manhattans gesprengt. Die meist engen Fahrbahnen und Gassen liefen kreuz und quer, kaum ein Haus erreichte die fünfte Etage. Wie in Paris qualmte der Rauch aus schlanken Schloten, die Dächer hatten Giebelform und einen First. Pubs und Kneipen aller Länder koexistierten friedlich nebeneinander. Sangen in der einen Bar Armenier und tanzten dazu den Quadlab in ihrer Landestracht, soffen sich gleich eine Bar weiter irische Barden mit langen, wuscheligen, roten Haaren und wüsten Barten die Kehlen wund. Es war noch gut leben im Village. Es hatte den geometrischen Stadtsanierungsplänen der Verwaltung und der hinter ihr stehenden Lobby der Baulöwen und Maklerhyänen bisher erfolgreich Widerstand geleistet. Jo hatte keinen Knopf gedrückt, war mit dem Finger nur die Klingelleiste entlanggefahren, um sich zu vergewissern, an der richtigen Adresse zu sein. Einen Lift gab es keinen. Cilya Virgin wohnte romantisch in einer Mansarde unterm Dach. Gauben führten hinaus auf die Schräge verrußter Ziegel. Jo pochte an Cilyas Tür.
Pop-Music drang heraus in den engen Flur, wie nicht anders zu erwarten. Mit einer Beethovensonate hatte er auch nicht gerechnet. Simon & Garfunkel trällerten irgendwas Sentimentales. Immerhin: Ein Oldie, also konnte ihr Geschmack noch nicht ganz verdorben sein. Der Cassettenrecorder wurde erst nach dem dritten Klopfen leiser gedreht, Jo konnte im Dunkeln den Klingelknopf nicht finden, und die automatische Treppenbeleuchtung war ausgegangen. Lediglich durch den Glasspion sickerte etwas Helligkeit. »Ja?« »Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Jo Walker.« »Dann verschwinden Sie wieder.« Die dunkle Stimme klang leicht verschleiert. Cilya Virgin hatte einen kleinen gezwitschert. Jo hörte das sofort. »Soll das heißen, daß Sie die letzte Neuigkeiten über Jerry March nicht interessieren?« schoß Kommissar X einen Versuchsballon ab. Dann eine kleine Pause. »Wer, zum Teufel, sind Sie?« »Sagte ich schon. Jo Walker. Privatdetektiv. Ich arbeite im Auftrag von George Laramy.« Das Treppenlicht flammte wieder auf. Sie mußte auch in der Diele einen Schalter haben. Der Türspion dagegen verdunkelte sich. Jo hatte sich umgezogen und einen Kashmere-Blazer gewählt, ein cremefarbenes Hemd und einen Seidenbinder. Er bestand die Gesichtskontrolle. Zwei Riegel wurden zurückgeschoben. Einer über, einen unter dem Schloß, obwohl das Village noch nicht zu den kriminalitätsverseuchten Stadtteilen gehörte. Bei Künstlern gab es meist nicht viel zu holen. Die Kette blieb vorgespannt. »Ach, ein hübscher Mann?« tönte es verraucht durch den Spalt. »Irgendwie hab ich mir immer vorgestellt, Privatschnüffler müßten alle so ‘ne verschobene Visage wie Humphrey Bogart haben. Also kommen Sie rein, wenn Sie schon mal da sind.« Die Kette klinkte aus der Führung, die Tür schwang ganz auf und Walker wehte zarter Mandelduft entgegen. Vermutlich von AmarettoLikör. Und dazu noch ein sehr weibliches Parfüm von der nicht billigen Sorte. Cilya Virgin trat zurück, und Jo fragte sich, ob sie fremde Besucher wohl immer im Bademantel empfing. In einem dünnen, roten Bademantel, der bis weit hinauf zu den Schenkeln und auch am Ausschnitt ausladend auseinanderklaffte. Das dunkelbraune Haar hing ihr in nassen Strähnen über die Schultern. Es duftete außerdem nach Schaumbad, Seife und Shampoo.
»Entschuldigen Sie, wie ich aussehe«, sagte sie. »Aber ich habe einen harten Tag hinter mir. Sie sind im denkbar schlechtesten Moment aufgekreuzt. Eben wollte ich mich für eine Stunde oder zwei hinlegen.« Jo folgte ihr in die Diele und ins Wohnschlafzimmer. Sollte das Mannequin eine Schlampe sein, dann hatte sie zumindest eine perfekte Zugehfrau, denn überall herrschte unerwartet peinliche Ordnung. Bis auf den Tisch. Auf dem standen tatsächlich eine Flasche Amaretto, ein Glas und ein überquellender Aschenbecher. »Ist Jerry, dieser Idiot, endlich wieder aufgetaucht?« fragte sie mit schwerer Zunge. Jo setzte sich unaufgefordert und verschränkte die Finger, über den Knien. »Ich fürchte, daß er nie wieder auftauchen wird. So wenig wie Henry Soutain und Mure Trueman.« Das waren die anderen zwei Vermißten. »Sie waren doch auch mit den beiden näher befreundet, nicht wahr?« Ihre schönen Augen verengten sich. Automatisch tasteten sie nach ihrer Packung Zigaretten in der Tasche des Bademantels, und nach einem Feuerzeug. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Auf Marvon Denver, um ehrlich zu sein.« Nun setzte auch sie sich. Sie setzte sich mit einem uneleganten Plumpsen, so als habe die Kraft plötzlich ihre Beine verlassen. Ihre Lippen zitterten und ihre Hände, als sie sich fahrig die Zigarette anzündete und die Spitze dreimal verfehlte. »Sie sprechen in Rätseln«, behauptete sie nach ersten hastigen Zügen. »So? Tue ich das? Ich habe überhaupt nicht diesen Eindruck. Zöge ich Ihnen jetzt den Sessel unterm Podex weg, könnten Sie nicht wieder aufstehen. Andererseits kann ich mir natürlich auch vorstellen, daß es kein schöner Gedanke ist, in die Rolle eines Todesengels gedrängt zu werden. Ihre Liebhaber haben eine erstaunlich geringe Lebenserwartung, will mir scheinen.« Sie drückte die Zigarette aus. Kippen und Asche fielen auf den blankpolierten Tisch. »Abgehauen sind sie alle!« fauchte sie. Gläsern spannte sich die Haut um ihre Wangenknochen. George Laramy hatte recht gehabt. Sie war eine Schönheit. Sie war es sogar jetzt in ihrem unbeholfenen Zorn, der von den unhörbaren Vibrationen einer tieferen Erkenntnis begleitet wurde.
»Warum bestehen Sie darauf, sich selbst eine Komödie vorzuspielen?« fragte Walker sanft. Er war nicht gekommen, um aus der jungen Frau ein seelisches Wrack zu machen. Sie wirkte jetzt schon schwer angeschlagen. Plötzlich heulte sie los. Ihre Schultern zuckten konvulsivisch, der Bademantel klaffte noch ein Stück weiter auseinander, doch die Tränen, die sie vergoß, waren Tränen ohnmächtiger, kreatürlicher Wut, und auf einmal war sie überhaupt nicht mehr schön. »Dieser gottverdammte Bastard!« zischte sie. »Dieser gottverdammte Bastard von einem Krüppel! Er ruiniert mir die ganze Karriere!« Jo schwieg. Er wollte keinen Damm bauen, wo sich die Schleusen gerade endlich öffneten. »Immer wieder ruft er an, dieser Idiot, und salbadert von Liebe, Glück und Zufriedenheit und von einem Gott, an den ich nicht glaube. Daß er mir nur das Beste wünscht, und daß ich ein reines Gefäß sei, das sich aufbewahren soll, bis der Richtige sich findet und all so ‘nen Quatsch!« Sie trommelte mit beiden kleinen Fäusten auf den Tisch. »Ich halte das nicht mehr aus!« schrie sie. »Ich werde allmählich auch noch verrückt!« Jo stand auf, fand auch eine Flasche Rum und eine Flasche Scotch auf einem Sideboard. Automatisch griff er zum Whisky. »Sie brauchen jetzt was Stärkeres«, sagte er und schenkte ein, ohne sich selbst zu vergessen. »Am besten, Sie erzählen mir alles, was Sie plagt.« Er kam sich vor wie der gütige Opa aus einem Walt-Disney-Film, richtig kitschig. Gewissensbisse jedoch blieben aus. Wäre diese bodenlose Egoistin mit ihrem Verdacht und ihrem Wissen schon nach dem ersten Mord zur Polizei gegangen, würden vielleicht zwei der Opfer heute noch leben. Walker lauschte in sich hinein. Doch da war kein Mitleid im Anmarsch. Nicht einmal auf leisesten Sohlen. Cilya Virgin hatte einfach die Augen vor der Wirklichkeit fest verschlossen, war nur der Erfüllung ihrer eigenen Pläne nachgejagt, wohl wissend vermutlich, in welcher Gefahr sie ihre jeweiligen Lovers damit brachte. »Hatten Sie die drei wenigstens gewarnt?« fragte er mit aller wütenden Demut, die ihm zu Verfügung stand. Sie schaute auf. Die Tränen trockneten schnell. Die Röte im Gesicht blieb.
»Was?« meinte sie verständnislos. »Gewarnt? Vor diesem Verrückten? Die hätten mich doch alle fallen lassen wie ‘ne heiße Kartoffel, und wo wäre dann ich geblieben, eh? Es war nämlich gar nicht so einfach, die Burschen an Land zu ziehen, müssen Sie wissen.« Ein Aufblitzen des Triumphs in ihren Augen. »Ich habe sie trotzdem geschafft!« * Marvon Denver beobachtete die beiden hellen Fenster der Mansarde. Cilya zog nie die Vorhänge zu. Wie oft hatte er sie früher deswegen getadelt, doch jetzt war er froh darum, denn dieser Umstand ermöglichte ihm wenigstens einen begrenzten Einblick in ihr Appartement. Im Moment allerdings war nichts zu sehen, doch wußte Denver, wer bei ihr war. Einmal wischte dieser großkotzige Mercedesfahrer kurz am Fenster vorbei, mit einer Flasche in der Hand. Verführung mit Alkohol! hatte es dabei in Marvons Gehirn geschrillt. Und: Bestimmt ein Produzent, mit diesem Schlitten. Erst machen sie die großen Versprechen, genießen die Frucht, die sie pflücken, und verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Das kannte man doch. Marvon Denver griff zum Schrabenschlüssel, der unter dem Sitz neben der Mittelkonsole lag. Noch wußte er nicht, was er tun sollte. Vielleicht benahm sich dieser Kerl im dicken Mercedes ja auch anständig. * Die junge Frau leerte ihr Glas mit einem robusten Zug und zündete sich eine neue Zigarette an. Die Hände hatten aufgehört zu zittern. »Laramy hat Sie engagiert?« fragte sie. »Ist kein Geheimnis, Miß. Er erzählte mir von einer ›Scheißangst‹, die in seinem Kollegenkreis grassiere. Doch bisher hat er zwischen den verschwundenen Dressmen und Ihnen noch nicht die richtige Verbindung hergestellt. Oder sich zumindest sehr vage darüber geäußert. Außerdem mag er Sie offenbar nicht besonders.« »Ich hab ihm vor zwei Jahren mal den Laufpaß gegeben«, meinte die Virgin kühl, den Rauch aus der Nase stoßend. »Der Mann hat kein Fortune. Mit vierzig wird er Strickjacken vorführen.« »Sie teilen Ihre Kollegen und Kolleginnen nur in jene Kategorien ein? Der oder die macht den großen Reibach, die anderen sehen ihm
oder ihr neidisch dabei zu?« »Als ob’s noch etwas anderes gäbe«, sagte sie rauh und abfällig. »Schenken Sie mir noch ‘nen Whisky ein. Das ist tatsächlich besser als dieses süße italienische Zeugs. Heute will ich mich betrinken.« Jo gehorchte nur deshalb, weil Alkohol die Zunge löst. »Was war Marvon für ein Mensch? Was hatte er für Vorlieben? Wo, glauben Sie, könnte er sich jetzt aufhalten? Wenn er anrief, waren da irgendwelche Geräusche im Hintergrund zu hören, die darauf schließen lassen, von wo aus er telefoniert?« »Hey, Mann! Das sind aber ‘ne ganze Menge Fragen auf einmal.« Sie trank auch den zweiten Whisky mit einem kurzen Ruck. Ihr Blick wurde leicht glasig. Scotch vertrug sich wohl nicht besonders gut mit Amaretto. Außerdem war’s keine Marke. Walkers Glas stand noch fast unberührt. »Sie können sie mir der Reihe nach beantworten.« »Jetzt gleich?« fragte sie. »Ich glaube, Sie sind gut in Ihrem Job. Jedenfalls haben Sie was an sich, das Erfolg ausstrahlt. Ich hab ‘n Gefühl dafür. Und schlecht sehen Sie auch nicht aus. – Welchen Wagen fahren Sie?« Jo bekannte törichterweise die Wahrheit. Möglich, daß sie ihn zufällig auch beim Einparken beobachtet hatte, und wenn sie zu ihm Vertrauen fassen sollte, durfte er sowieso nicht lügen. Doch sie faßte viel zuviel Vertrauen, offenbar. Denn jetzt stand sie wankend auf, postierte sich genau vors Fenster und ließ den Bademantel über die Schultern zu Boden gleiten. »Ich liebe erfolgreiche Männer«, lallte sie, sank auf die Schlafcouch hinter ihr zurück und strich sich über die nackten Schenkel. »Glaubst du nicht, es hat noch etwas Zeit, bis ich deine dämlichen Fragen beantworte?« * Jo sah zwar nicht gerade rot. Manchmal war seine Fähigkeit, sich zusammenzureißen, geradezu bewundernswert. Doch der Ärger rumorte grenzenlos in seinen Eingeweiden. Was dachte denn diese Schnalle, wer sie war? Kaum erwähnte man ein teures Auto, schon fiel sie um! Aber Laramy hatte ihn ja vorgewarnt. Und angetrunken war sie auch, doch das nahm Jo nicht als Entschuldigung. Er blieb, wo er war, wie festgefroren, schaute kalt auf den schönen, nackten Körper hinunter, dem man die Ausschweifungen in keiner Weise ansah. Cilya hatte immer noch die jungfräuliche Figur einer
Siebzehnjährigen und somit ihren Künstlername so schlecht gar nicht gewählt. Walker konnte schon verstehen, daß man sich in diese makellose Gestalt so blind verliebte, daß der Charakter vorübergehend in die Bereiche des Unsichtbaren rückte. Beinah tat ihm Marvon Denver leid, aber eben nur beinah. »Lassen Sie die Kindereien«, sagte er. »Zum Doktorspielen bin ich nicht gekommen. Falls Sie es trotz allem noch nicht kapiert haben sollten: Hier geht es um Mord!« Ernüchtert setzte sie sich auf, ein häßliches Funkeln in den Augen. Die Wimpern fielen wie Vorhänge über die blitzenden Pupillen. »Sie sind ein Narr!« stieß sie hervor. Jo zuckte die Schultern. »Ihre Meinung ist mir schnuppe. Ziehen Sie sich was über, oder nicht. Ich werde Ihnen jetzt jedenfalls mal eine Tasse Kaffee brauen.« Er verschwand in eine kleine Kitchenette. Als er mit zwei Tassen wieder ins Zimmer zurückkam, war der Ascher geleert, und Cilya Virgin trug ein züchtig hochgeschlossenes Hauskleid. Die nassen Haare hatte sie zu einem tropfenden Pferdeschwanz gebannt. Er wurde von einem Gummiring gehalten. »Ich hab’s mir überlegt«, empfing sie ihn, aufs neue rauchend. »Sie sind doch kein Trottel. Es tut mir leid, wenn mir ähnliches herausgerutscht sein sollte.« »Schon gut«, wiegelte Walker noch mehr ab, stellte die Tassen auf den Tisch und setzte sich in sicherem Abstand nieder. »Wahrscheinlich haben inzwischen auch Sie Angst vor Marvon Denver. Ihnen sind die Nerven durchgegangen. Da kommt man auf die verrücktesten Gedanken. Das ist alles.« Sie lächelte ihm dankbar zu. Sie glaubte ihm nur zu gern diesen Schrott, denn er ließ ihr unverzeihliches Verhalten nachträglich in einem freundlicheren Licht erscheinen. »Danke«, hauchte sie. Cilya Virgin war tatsächlich keine üble Schauspielerin. Ab sofort mimte sie die vom Schicksal hart getroffene Unschuld vom Lande, die sich nichts sehnlicher wünschte, als wieder unter jenen Bädern hervorgezogen zu werden, unter die sie ohne jede eigene Beteiligung geraten war. »Würden Sie Ihre Fragen bitte wiederholen?« Jo tat es. Sie dachte angestrengt nach. »Was er für ein Mensch war?« wiederholte sie, die langen Beine übereinanderschlagend. Auf Unterwäsche hatte sie verzichtet. Ganz konnte sie die ihr möglicherweise sogar angeborene Koketterie halt
doch nicht lassen. Cilya Virgin starrte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand an. »Ich kann mich kaum mehr an ihn erinnern«, begann sie. »Es ist alles schon so lange her. Er war sehr naiv, würde ich sagen. Einer von jenen Typen, von denen man behauptete, sie seien viel zu gut für diese Welt. Er glaubte jede Lüge. Es ist ein Wunder, daß er sich in unserer Branche überhaupt zurechtfand. Aber er sah eben sehr gut aus und war obendrein von seinem Naturell genau der Typ, den Mütter sich für ihre Töchter wünschen.« »Und er hatte einen Vertrag mit der 20th Century in der Tasche.« Sie nickte geistesabwesend, zündete sich an der alten Zigarette eine neue an. »Einen Traumvertrag«, bestätigte sie. »Ohne Probelauf. Er war für eine Familienserie fest gebucht, in der er einen grenzenlos gütigen Mann von einem anderen Stern spielen sollte, der unsere Welt zuerst gräßlich verdorben findet und doch Hoffnung schöpft, als er mit Kindern zusammenkommt. Über sie lernt er, wieder an die Zukunft der Erde zu glauben. Eine Nebenrolle wäre auch für mich dringewesen, wäre er erst mal fest im Sattel gesessen. Im Juni letzten Jahres wollten wir heiraten.« »Wie war das mit den Anrufen?« Cilya Virgin druckste eine Weile herum, bis sie sich zu einer Antwort gesammelt hatte. »Na ja. Ich hörte auf, ihn im Krankenhaus zu besuchen, er bat sogar selbst darum. Himmel, war ich froh. Er hat mich, wie er es ausdrückte, aus seinem Leben entlassen. Dann fiel ich natürlich aus allen Wolken, als er eines Tages bei mir anrief und mir erklärte, Henry sei nicht der richtige Umgang für mich.« »Henry Soutain?« »Ja.« Der Kaffee war abgekühlt genug. Sie trank davon und schüttelte sich. Jo hatte nicht an Zucker und Sahne gedacht Aber nur so half der Kaffee gegen fortgeschrittenes Gehirnbrummen und unerlaubtes Beinespreizen. »Und was antworteten Sie?« »Ich kam gar nicht dazu. Und versuchte ich, ihn zu unterbrechen, redete er einfach weiter. So, als würde ein Tonband ablaufen. Es hörte sich wie eine aufgesetzte Predigt an. Vielleicht spielte er mir tatsächlich ein Tonband vor. Seinen Heiratsantrag bekam ich auf dieselbe Weise. Mit der Post und auf Cassette.« Die Tasse war leer. Sie griff wieder zu Whisky. Jo hatte nichts da-
gegen, denn die Einladung von vorher würde sich kaum wiederholen. »Und wie ging’s weiter?« »Henry besuchte mich natürlich trotzdem. Lange genug hatte ich schließlich gebraucht, ihn für mich zu interessieren. Er war so ganz anders als Marvon. An jedem Finger zehn, wie man so sagt.« »Und dann stellte er seine Besuche plötzlich ein. – Hm. Hatte Denver in dieser Predigt, wie Sie es nennen, irgendwelche Drohungen ausgesprochen?« »Nicht in dem Sinn, wie Sie’s wahrscheinlich jetzt gern hören möchten«, entgegnete sie gallig. Nächste Zigarette. »Er sagte nur, daß er immer für mich da sei und mich stets beschützen würde. Als Henry plötzlich nicht mehr auftauchte, dachte ich nur, er habe mich sitzenlassen. Ich bin sogar nach Kalifornien geflogen. Doch dort kam er nie an.« »Sie schöpften keinen Verdacht?« »Wie sollte ich? Henry hatte sich, schon früher von reichen Witwen aushalten lassen. Und vor allem war er ohne jeden Ehrgeiz. Ich nahm an, er wäre in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen.« »Das änderte sich, als dann auch noch Mure Trueman, nur wenige Wochen später, ebenfalls von der Bildfläche verschwand? Oder war das auch ein hemmungsloser Casanova?« »Hemmungslos, ja. Schürzenjäger auch. Doch Mure hatte immer ein Ziel vor Augen. Im Gegensatz zu Henry lag ihm was an der Rolle, die ihm versprochen war.« »Und Sie flogen wieder mal nach Los Angeles.« Cilya biß sich die Unterlippe blutig. »Nein«, gestand sie und wurde bleich. Sie zündete sich zu ihrem gerade rauchenden Glimmstengel noch einen zweiten an. »Ich telefonierte gerade mit ihm, es war später Abend, und erzählte ihm von jenem ominösen Anruf Marvons, der auch diesmal nicht ausgeblieben war. Haargenau derselbe Sermon, nur mit vertauschtem Namen. Ich wollte Henry genau in diesem Moment warnen, als…« Ihre Stimme erstickte. Nur mühsam fuhr sie fort. »Plötzlich ein Schrei im Hörer. Poltern. Ein Gurgeln. Und dann wurde aufgelegt. Ich setzte mich sofort ins nächste Taxi, doch Mure wohnte drüben in Queens. Ich brauchte fast eine Stunde. Den Schlüssel hatte ich, und als ich hineinkam, wies nichts, aber auch absolut nichts auf Kampfspuren hin. Sogar das Bad war frisch geputzt. Dafür fehlten zwei Koffer und ein paar seiner Anzüge. Hätte ich daraufhin etwa die Polizei alarmieren sollen?« »Sicher.« »Sie reden sich leicht. So unbekannt bin ich nun auch wieder nicht.
Ich hatte sogar schon mal ein Innencover im Variety. Aber stellen Sie sich meine Presse vor, wenn ich Gott und die Welt rebellisch gemacht hätte, und plötzlich tauchte er taufrisch wieder auf um zu erklären, er habe mich lediglich sitzenlassen.« »Eine sehr lahme Ausrede«, meinte Walker. »Nur, daß Sie um Ihre eigene Karriere fürchteten, glaube ich Ihnen. Aber lassen wir das. – Wie war’s mit Jerry March?« »Diesmal kam nicht einmal ein Anruf«, sagte sie. »Ich war wie vor den Kopf gestoßen, als ich das von der Blutlache im Riverside Park las.« »Das kann ich mir denken«, knurrte Jo. »Und wieder kein Wort zu den Cops. Ach Gott, Mädchen. Mit Ihrem Gewissen möchte ich nicht herumlaufen. Falls Sie überhaupt eines haben. Mir sind da einige Zweifel gekommen.« Jo zog seine Karte. »Rufen Sie mich sofort an, falls Denver sich wieder bei Ihnen melden sollte. Ich weiß nicht, ob ich es sonst sein werde, der Ihre so heiß angestrebte Karriere schlagartig beendet.« *
Kommissar X hatte gerade die erste Etage erreicht, als mit einem lauten Klacken wieder mal das Licht ausging. Eine sparsame Hausverwaltung. Doch es ging auch so, er war mittlerweile an die Treppe gewöhnt, und von unten fiel etwas Licht durch das Rauhglas des oberen Teils der Eingangstür. Ein kunstvolles Gitter zierte es, und die ganze Nacht unverschlossen, war die Tür, wie Cilya Virgin ihm noch versichert hatte. Immerhin war er nicht ganz umsonst gekommen, den Namen des Mörders wußte er nun mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Ein anderer als Marvon Denver kam gar nicht in Frage, vorausgesetzt, die bislang offiziell nur Vermißten waren tatsächlich seine Opfer gewesen. Bei sich hatte Kommissar X keine Zweifel mehr. Er dachte an die beiden Koffer aus i Mure Truemans Wohnung und schauderte bei Gedanken an ihren eventuellen Inhalt. Leichen konnte man auf die verschiedendste Arten abtransportieren. »Sogar das Bad war frisch geputzt.« In einer Stunde ließ sich vieles erledigen. Auch eine blutige Erzschweinerei. Und dann glaubte Walker gar nicht, daß sich Cilya Virgin sofort auf
den Weg nach Queens gemacht hatte. Schon aus Angst nicht. Auch bei Jerry March war sie erst zwei Tage nach dem Bericht über den roten Fleck im grünen Park beim Hausmeister aufgetaucht. Sie hatte von Anfang an gewußt, wie hier der Hase lief. Und die wollte auch noch mit ihm in die Heia! »Nein, danke«, murmelte Walker, als er mit tastenden Schritten dem hellen Quadrat in der Tür zustrebte, die Klinke aus kunstvoll gedrehtem Schmiedeeisen suchte und nicht sofort fand. Gleich ein paarmal griff er ins Leere. Sonst hätte er vermutlich den rasselnden, aufgeregten Atem jenseits des Türblatts nicht gehört. Vom Glas fehlte unten links ein Stück. Die Scheibe hatte ein kleines Loch. Es war weder Genugtuung noch Angst, die Jo plötzlich durchflutete. Nur kalt war es, eiskalt, was ihn da durchströmte, und trieb ihm trotzdem Hitzewellen durch den Körper. Ich hätte es mir denken müssen! lärmten die Synapsen und brachten Power in die grauen Zellen. Natürlich! Er beobachtet sie! Er hätte sich verfluchen können, weil er die Virgin nicht nach einem Hinterausgang gefragt, weil er sich das Haus nicht näher angesehen hatte, bevor er es betrat. Doch wer dachte vorher schon an diese Möglichkeit! Jo trampelte laut übers Pflaster zurück, bis zu den Stufen aus knarzendem Holz, und dort trat er auf der Stelle, mit jedem Tritt wieder leiser werdend. Der da draußen mußte den Eindruck gewinnen, er würde noch mal umkehren. Dann schlich Walker auf Katzenpfoten zurück. Inzwischen kannte er den Sitz der Klinke. Die Tür öffnete sich nach innen. Den Widerstand einer Schließpneumatik brauchte er nicht zu furchten, denn es gab keine, dafür nur ein Schild, das die Hausbewohner aufforderte, gefälligst hinter sich zuzumachen. Jo riß mit aller Kraft auf, nützte die Schrecksekunde und warf sich hinaus. Er landete auf dem Bürgersteig, rollte über die Schulter ab und stand, die Arme angewinkelt, einen Angriff erwartend. Dort oben war er, wie ein Raubtier geduckt, etwas Schweres, Massives in der Hand. Ein Schemen mit Schlapphut, und das Gesicht verborgen wie eine Mumie. Ein gutturaler Schrei, der Walker durchs Mark ging. Frost jagte ihm über den Rücken. Da hob sich die Hand, und nun erkannte Jo auch den Schraubenschlüssel. Er wurde mit aller Wucht geschleudert, verfehlte den Kopf nur knapp und schlug ihm eine Beule in die Schulter. Knackste da nicht das Schlüsselbein gefährlich? War es noch ganz?
Stahl klirrte auf Asphalt. Jo wankte ein paar Schritte zurück, torkelte gegen den Kotflügel des SL. Der linke Arm hing an ihm herunter wie ein alter Feuerwehrschlauch, zu nichts mehr zu gebrauchen. Das Licht war nur diffus, der Schemen stürzte mit einem gräßlichen, unmenschlichen Laut heran. Die Fingernägel waren lang und spitz wie Adlerkrallen. Der Schal verrutschte, und Jo fühlte sich in einen Horrorfilm versetzt. In Sekundenbruchteilen nahm er auf, was aufzunehmen war. Das Blut gefror ihm in den Adern. Kein Wunder, daß der Arzt vom Bellevue Hospital sich an diesen »Fall« erinnern konnte. Er würde ihn auch nie mehr vergessen. Die Gestalt aus einem Alptraum hetzte auf ihn zu. Ein dunkler Paletot umloderte sie wie eine schwarze Flamme, raste näher, war fast heran. Erst im allerletzten Moment setzten bei Jo die Reflexe wieder ein, vom Überlebenstrieb angestachelt. Die noch intakte Rechte zischte hoch und traf auf etwas Hartes. Marvon Denvers Kinn. Dessen zerstörter Schädel flog ihm in den Nacken, den Hut verlor er nicht. Jo atmete klamme Feuchtigkeit und Grabesmoder. So als wäre dieses scheußliche Phantom gerade erst einer Gruft entstiegen. In den linken Arm wollte kein Gefühl zurückkehren. Trotzdem setzte Walker nach, denn die Gestalt war dürr und abgemagert. Nur mehr Haut und Knochen. Sein Schwinger ging ins Leere. Er wurde blendend abgeduckt. Und damit schien sein gespenstisches Gegenüber auch die Kampflust zu verlassen. Der erste Schlag mußte gut gesessen haben. Jo war viel zu betäubt, vom Entsetzen und seiner wild schmerzenden Schulter, um ihm zu folgen, denn jetzt rannte Marvon Denver davon, überquerte im Hundsgalopp die Straße und ließ sich von der Finsternis verschlucken, aus der er gekommen war. Während sich Walker noch keuchend gegen seinen Wagen lehnte, kam drüben auf der anderen Seite stotternd ein Motor. Schweinwerfer blendeten keine auf. So wurde auch kein Kennzeichen beleuchtet, als ein uraltes, verrostetes Vehikel von einem Ruinengrundstück her auf die Fahrbahn rumpelte und ins Gassengewirr von Greenwich Village tauchte. * Marvon Denver war zurück in seinem Kellerloch. In ihm brodelte ohnmächtige Raserei. Er hatte Mühe, dem Wunsch zu widerstehen,
seinen Schminkspiegel mit der bloßen Faust zu zertrümmern. Diese schmachvolle Niederlage! Er war nicht mehr daran gewöhnt. Bisher hatte allein sein Anblick immer gereicht, einen Gegner vor Grauen erstarren zu lassen. Noch nie hatte sich einer gewehrt oder es gar gewagt, ihn anzugreifen, wie dieser Unbekannte mit dem klotzigen Wagen es getan hatte. Wirklich ein Produzent? Leider standen ihm keinerlei Mittel zur Verfügung, die Identität dieses Mannes herauszufinden, es sei denn, er fragte seine ferngewordene Geliebte danach. Doch ihn plagten stumme Zweifel darüber, daß sie ihm auch die richtige Antwort geben würde. »Sie hat Angst vor mir, das Schäfchen. Wo ich doch nur das Beste für sie will…« Und gleichzeitig stand für ihn fest, daß dieser Fremde für Cilya nie das Beste sein konnte. Alle waren sie zu schlecht für seine Liebe, er spürte das tief in seinem Inneren. Die Raserei verkochte bei dieser Gewißheit seiner Gedanken und machte der gewohnten stillen Anbetung Platz, die er der jungen Frau entgegenbrachte. Für sie allein lebte er noch. Cilya Virgin bedurfte eines starken Geistes, der über sie wachte, und dem Schwert des Scharfrichters, das all jene niederstreckte, die ihr Wohl gefährdeten. Dieser Mann mit dem Mercedes gefährdete ihr Wohl ohne jeden Zweifel. Das war so klar, wie das von IHM inspirierte Wort der Bibel. Und Marvon Denver beugte sich dem WORT. Demutsvoll und opferbereit, so wie Abraham seinen eigenen Sohn Isaak abgeschlachtet hätte, hätte ER in letzter Sekunde nicht all seine Barmherzigkeit über seinen Diener ausgegossen. Einen Abglanz dieser göttlichen Güte spürte Marvon Denver auch in sich kristallisiert wie einen reinen Edelstein. Dieser sandte den Leitstrahl aus, nachdem er handelte, ihm war es bestimmt, dieses zarte Wesen mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft und Macht zu beschützen. Macht! Das war sein Stichwort. Er war solange nicht zu deren vollen Ausübung fähig, solange er sich tagsüber verkriechen mußte wie ein Wurm in der Scholle. Marvon Denver setzte sich an den Schminktisch, barg den Kopf zwischen den Händen der aufgestützten Arme und dachte intensiv nach, sein Spiegelbild, das für ihn auf einmal keinen Schrecken mehr hatte, intensiv betrachtend. Eine Ruhe kam über ihn, wie er sie nicht mehr für möglich gehalten hatte. Der Mensch wächst an seiner Aufgabe, sagte er sich. Auch der äußerlich verkrüppelte Mensch. Nur der klare Verstand, die Vernunft
zählten. Und um einen klaren Verstand mußte er bemüht sein. Er studierte sein zweigeteiltes Gesicht, lächelte sich zu und erkannte stärker denn je die Vorteile, die ihm sein Aussehen bei der Erfüllung seiner Aufgabe bieten konnte. Doch das war eben nur die eine Seite der Medaille, der heutige Abend hatte es gezeigt. Nicht alle Widersacher reagierten so panisch wie jene Negerjungen in Harlem und auch Jerry March oder die anderen beiden Sünder. Vor allem mußte er endlich mobil werden und den Tag nicht länger scheuen. Es verlangte ihn auf einmal danach, die Sonne wiederzusehen, ein Bedürfnis, das er während der letzten Monate tief in sich vergraben hatte. Deshalb studierte er sein Äußeres so intensiv, ja mit dem abschätzenden Blick eines Maskenmeisters. Waren nicht gerade jene es, die aus jedem normalen Menschen mit Hilfe von Mastix, Knetmasse und Farben ein Monster zaubern konnten? Warum sollte dieser Vorgang nicht auch umkehrbar sein? Aus einem Monster einen normalen Menschen machen? Diese Aussicht begeisterte Marvon Denver, schwellte seine abgemagerte Brust fast zur früher athletischen Breite. Das war die Lösung! Und er wußte auch schon, wo er sich dazu notwendigen Utensilien beschaffen konnte. * Jo kam in sein Stadtappartement wie zerschlagen. Die Schulter tat weh, doch offenbar war nichts gebrochen, wie er anfangs befürchtet hatte. Dieses scheußliche Gesicht ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Jo schüttelte den Kopf. Er schüttelte ihn noch, als er bereits unter der Dusche stand. Hinterher dann noch einen Scotch, diesmal aber einen »richtigen«. Anschließend tappte er noch mal ins Büro hinüber, um die von April über Marvon Denver angelegte Akte zu holen. Die von ihr so brav gesammelten Informationen brachten wider Erwarten doch noch etwas Neues, und wenn es scheinbar auch nur eine Kleinigkeit, eine Randnotiz war: In seiner ersten Zeit in New York hatte der junge Phantast aus dem Bibelgürtel Anstalten gemacht, sich missionarisch zu betätigen. Mit null Erfolg, wie es hieß. Und zu einem Job als Dressman war er nur zufällig gekommen. Ein Talentsucher hatte ihn in einer miesen Kneipe hoch oben in der 5th Avenue aufgegabelt und an einen Agenten – gegen Gebühr selbstverständlich – vermittelt.
Und von da an war es Denver gutgegangen. Es begann mit ein paar kleinen Theaterrollen, bald schon jedoch war sein Unschuldshabitus gefragt in der Szene. Sein offenes Lächeln zierte erst nur die Seiten von Versandhauskatalogen, wo es erfolgreich die Qualität der von ihm präsentierten Kleidungsstücke suggerierte, dann aber wurden bald auch die »höheren Etagen« der Reklamefabriken auf ihn aufmerksam. Dann am Schluß auch noch die für das TV produzierenden Filmgesellschaften. Was war aus diesem naiven Unschuldsengel nur geworden! Und für Kommissar X stellte sich die Frage: Wie jagt und stellt man ein Phantom? * Marvon Denver marschierte nicht sofort los. Er hatte alle Zeit dieser Welt. Nichts hetzte ihn mehr, nachdem sein Entschluß, ins öffentliche Leben wiedereinzutauchen, so wie Phoenix einst umgekehrt der Asche entstieg, einmal feststand. Es war noch nicht einmal Mitternacht, und zum Geller Bendel Theatre, wo er sich seine ersten Sporen als Komparse verdient hatte, war es nicht weit. Die Strecke ließ sich leicht zu Fuß bewältigen. Er nahm noch einen kleinen Imbiß zu sich, Ölsardinen, die er ohne Brot verschlang, holte dann ein schwarzes Hemd aus einem seiner Kartons. Dabei dachte er wieder und beständig an jenen Fremden mit dem Mercedes, und wie er seiner habhaft werden könnte. Beim Kramen fiel ihm ein altes, zerschlissenes, hektographiertes Heft in die Hand, einst von aufmüpfigen Black Panthers herausgegeben, jenen schwarzen Militaristen, die das »Joch der weißen Vorherrschaft« mit Gewalt abstreifen wollten. Ihre Schriften ähnelten sehr denen der »Stadt-Guerillas« der RAF und anderer terroristischer Vereinigungen in Europa. Sie enthielten die Anleitung zum Bau einfacher Bomben ebenso wie die Rezepte für einen brisanten Molotow-Cocktail. Marvon Denver vertiefte sich in die Lektüre, es waren nur vier engbeschriebene Blätter mit leicht in der Praxis nachvollziehbaren Konstruktionsskizzen dazwischen. Die meisten Bauteile waren in jedem Metallwarengeschäft und in den Drugstores zu haben, einige wenige auch nur in Apotheken. Erst danach brach er auf, mit neuem Wissen gerüstet. Trostlos wie immer die obere Belle of New York. Ein paar Straßen runter hatten sie einen ganzen Block geschleift. Jetzt starrten von drei Seiten hohläugige Häuserleichen auf den eingezäunten Ziegelacker
und warteten, was da wohl passieren würde. Marvon Denver war gewohnt an diesen Anblick, doch er sah nicht die Parallelen, die er inzwischen mit seiner freigewählten Umgebung eingegangen war. Er erreichte den Frawley Circle, wo die 5th Avenue ihr Glitzerkleid anlegt. Macy’s, das große Warenhaus, hatte hier seine Hauptniederlassung. 80 glänzende Schaufenster stimulierten die Kauflust. Denver trottete achtlos daran vorbei. Er hatte noch gut 1000 Yards zu laufen, den Westrand des Central Park entlang bis hinunter zur Grand Army Plaza, wo er kurz darauf rechts abbog. Eingeklemmt zwischen dem Sabena Building und einem zweiten Wolkenkratzer, lungerte das kleine Theater, das kaum 300 Personen faßte, sonst aber über alles verfügte, was eine Großstadtbühne ausmacht, und seinen Besitzer wie durch ein Wunder sogar ohne Subventionen ernährte. Sogar ein Nachtwächter fand hier sein karges Brot, ein alter Rentner, der sich auf diese Weise ein paar Dollar quasi im Schlaf dazuverdiente, denn er wachte nur selten. Eine schmale Gasse trennte das Gebäude von den 57 Stockwerken des Sabena Buildings, das zur Westseite hin in den unteren Etagen fensterlos aufragte. Nackter Beton auf der einen Seite, bröckelndes, vom Zahn der Zeit zernagtes Mauerwerk auf der anderen. Denver strebte den sogenannten Künstlerausgang an. Der gelbe Lichtstreifen aus einem schmalen Fenster legte sich ihm daneben quer über den Weg. Die Portiersloge. Das Phantom der 5. Straße riskierte einen Blick. Wie nicht anders zu erwarten, schlief der Alte, die Hände über dem feisten Bauch gefaltet. Vor ihm auf dem Tisch die Reste eines Wurstbrots auf Pergamentpapier, daneben eine Thermoskanne und ein Plastikbecher. Die Schnarchtöne drangen bis nach draußen. Bei jedem Ausatmen brubbelte die fleischige Unterlippe wie Wackelpudding. Die Tür war offen, ein Wächter war ja da. Außerdem gab es im Geller Bendel Theatre kaum etwas, was des Klauens wert gewesen wäre. Einzig und allein Marvon Denver dachte anders in diesem Punkt. Er hatte eine Taschenlampe dabei, knipste sie erst am Ende des Korridors an, als er schon zwanzig Schritte am Glaskasten vorbei war und vor einer weiteren Tür stand. Bühneneingang. Zutritt nur für Befugte. Auch hier sperrte kein Riegel sein Fortkommen. Links machte er
das Inspizientenpult aus und den Kasten, über den noch mit altertümlichen Kipphebeln die Schweinwerfer geschaltet wurden. Über die Bühne hin brannte ein blaues Notlicht und hüllte sie in gespenstischen Schein, in den Stricke und Seile und die unteren Rahmen von Kulissen aus dem begehbaren Schnürboden ragten. Die Garderoben befanden sich im Rückteil des Gebäudes, im Souterrain. Eine Holztreppe führte zu ihnen hinunter. Doch sie waren nicht Denvers Ziel, aber auch die Alchimistenküche des Maskenmeisters hatte dort, am Ende des Flurs, ihre Residenz. Hier war die Tür zu. Marvon, um den festen Wächterschlaf des Nachtportiers wissend, stemmte sich gegen das dünne Türblatt. Das Schloß sprang auf, als wäre es nur eine Attrappe. Er machte Licht und fand sich einer wahren Fundgrube gegenüber. Alles, was sein Herz begehrte, stand fein säuberlich aufgereiht vor ihm in einem Regal: Schminkfarben, Perücken in großer Zahl auf Styroporköpfen, falsche Barte, falsche Nasen, Konturstifte, Klebemassen, Brillen aller Art, fertige Glatzen, die nur übergestülpt zu werden brauchten, um das Äußere eines Menschen bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Denver bediente sich freizügig. Im Abfallkorb lag eine leere Einkaufstüte aus Plastik, und in die stopfte er nun alles, was ihm brauchbar und nicht einmal unbedingt notwendig erschien. Auch zwei taubeneigroße Glasaugen und eine schwarze Augenklappe. Er war zufrieden und seinem Gott dankbar, der ihn hierhergeleitet hatte wie einstmals sein geknechtetes Volk aus Ägypten ins Gelobte Land. Noch etwas? Er sah sich um, mußte den Kopf immer dabei drehen, weil sein Gesichtskreis wegen des einen Auges, das er auch nur angestrengt fokusieren konnte, eingeengt war. Nein. Er hatte alles, was er brauchte. Jetzt nur noch einen Drugstore oder besser gleich eine Apotheke. Da fiel ihm ein, daß das Geller Bendel Theatre bei all seiner heruntergekommenen Schäbigkeit auch noch eine pyrotechnische Abteilung unter seinen Dächern barg, denn ab und zu mußte es auf der Bühne krachen, blitzen, stinken und rauchen. Einer der Bühnenarbeiter besorgte diesen Job mit Wonne nebenbei. Sein explosiver Fundus sollte sich in einer oberen Etage neben der Kulissenwerkstatt befinden. Marvon entschloß sich auf der Stelle, das im Leitfaden für Attentäter Gelesene noch frisch im Gedächtnis, diese Werkstatt mit seinem
Besuch zu beehren. Zimmerlicht aus, Taschenlampe wieder an. Vorbei erneut am Inspizientenpult und hin zur Hinterbühne, von der aus eine Treppe sich hinaufschwang zur technischen Abteilung und auch zu den Büros des Regisseurs und des Intendanten, der hier schlicht Manager geheißen wurde und die Funktion eines Werbeleiters und Zahlmeisters erfüllte. Denver drang in die Werkstatt ein. Auch jetzt kein Hindernis. Und in einer ungeschützten Nische schon wieder ein ordentlich aufgeräumtes Regal, nur war es diesmal aus Eisenelementen zusammengesetzt. Schwefelsäure. Salzsäure, 1:10 verdünnt. Bärlappsporen, die, in Flammen gepustet, ein ebenso spektakuläres wie ungefährliches Feuerfauchen garantierten. Aber auch Stückchen weißen Phosphors in Glyzerin und braunen Gläsern gab es. Sie sahen aus wie in Fingerlänge eingelegter Spargel. Gleich daneben dann eine halbe Gallone Reinigungsbenzin, noch fast voll. Nur noch Sauerstoff dazu und dann: Pfff, pfff, pfff. Marvon Denvers Herz lachte. Er fand noch so einiges höchst Brisantes, was er sehr gut gebrauchen konnte. Sämtliche Ingredienzen beispielsweise, die zur Herstellung einer funktionstüchtigen Brandbombe mit Verzögerungszünder nötig waren. Seine Plastiktasche lief schon über. Sie war vollgepackt bis zum obersten Rand, als ihm dieses blöde Mißgeschick passierte. Eine der Phosphorflaschen fiel heraus und zerschellte hart am Boden. Das schützende Glyzerin zerrann, und der Phosphor ging mit dem Sauerstoff der Luft die von den Naturgesetzen vorgeschriebene Ehe ein. Er oxydierte unter immenser Feuer- und Hitzeentwicklung. Denver wich erschrocken vor der lautlosen Stichflamme zurück. Doch die tat noch mehr, als Phantome zu scheuchen. Sie setzte auch den vorgeschriebenen Sprinkler an der Decke in Aktion und löste einen Höllenlärm im Pförtnerzimmer aus. Das Schrillen klang durchs ganze Haus. Und es gab nur einen Fluchtweg. Sie begegneten sich erst beim Inspizientenpult, so schnell hatte Denver das Weite zu suchen versucht. Zu seinem Pech fuchtelte der alte Mann mit einer fast ebenso alten Pistole herum, einer deutschen Mauser anno 1920. Das Phantom sah nur die drohende Mündung. Der Blitz vorher, die Hitzewelle, er drehte durch.
Den Plastikbeutel setzte er noch ab. Dann ein Hieb mit der Linken, der Arm des Alten flog zur Seite, die Waffe noch viel weiter, schlug leise klatschend gegen Kulissenleinwand, doch da hatten sich schon Denvers Klauen um seinen Hals gekrallt und drückten zu. Marvon Denver konnte nicht mehr aufhören. Als hätten seine Hände sich selbständig gemacht, sich losgelöst von seinem Willen. Er ließ erst von dem Alten ab, als der feiste Körper schwer und schlaff wurde in seinem Griff, nur mehr das Weiße aus den Augen ihm fahl entgegenschimmerte und stumpf wurde in seiner Farbe. Mord Numero vier. Als die Feuerwehr mit heulenden Sirenen an ihm vorbeiraste, bog Marvon Denver schon in die 5. Straße, den gefüllten Plastikbeutel in der Hand. * Jo hatte miserabel geschlafen und noch miserabler geträumt. Schon beim ersten Morgenlicht wurde er wach. Ihm war, als würde der Alp ihm nach wie vor tonnenschwer auf der Brust hocken und ihn noch in den beginnenden Tag hinein quälen wollen. Phalanxen von Masken waren an ihm vorbeigewandert. Eine scheußlicher als die andere. Erinnerte die eine an den blutsaufenden Aztekengott Huizipochtiatl, dann die nächste an die blutleere Physiognomie eines Zombies, grau die vormals schwarze Haut und blind der tote Blick. Eine Lorelei mit Totenschädel kämmte langes, blondes Haar, eine zum Skelett entstellte Cilya Virgin bohrte mit Genuß spitze Nadeln in Puppen, die so aussahen wie Jo Walker. Noch vor dem Kaffee schüttete Jo eine doppelte Ladung Scotch in sich hinein, und die Nachtmahre verblaßte zu Nebeln in seinem Gehirn, waren trotzdem noch immanent existend, auf Abruf jederzeit wieder gegenwärtig. Kaltes Wasser aus der Dusche prasselte wie Hagelschauer auf ihn nieder. Dann erst fühlte er sich wohler. Dann erst vertrug er auch Kaffee. Fünf Uhr. Was heute tun? Allmählich bekam die Gegenwart ihn wieder. Er zog sich gerade an, als das Schrillen des Telefons ihn endgültig aus seiner ohnehin endenden Lethargie riß. »Ja?« »Jo?« O Gott! Tom Rowland!
Der Schaufelbagger aus der Centre Street, Leiter des Morddezernats C/II Manhattan South und Walkers intimster Freund und manchmal Feind. Ein Mann, den man nur entweder wertschätzen, ja sogar lieben konnte, oder nur hassen. Die Person Captain Rom Rowlands war für den Überbau von Kompromissen nicht geeignet. Walker liebte ihn. Dann und wann. Aber niemals früh um fünf. »Hast du zur Zeit ein Messer in der Brust?« fragte Walker. »Soll ich Erste Hilfe leisten?« »Idiot!« »Das ist ein Wort. Danke.« »Glaubst du, ich ruf dich zum Spaß an, du Knallidiot? Ich will dir doch nur helfen…« Da allerdings horchte Kommissar X auf, denn Captain Tom hatte noch nie aus Uneigennützigkeit geholfen. Stets versprach er sich nur Hilfe von Walker, wenn er mit irgendeiner Sache nicht ganz zu Rande kam. Er war eben ein »Bulle« durch und durch, und er war es auch noch aus Bestimmung und nie nachlassender Begeisterung. »Bist du noch dran?« »Ungern«, antwortete Jo vorsichtig. »Willst du mir nicht endlich beichten, was mir die Ehre deines frühen Anrufs verschafft?« Rowland schnaubte enttäuscht. »Wie ich höre, hab’ ich dich nicht mal geweckt. Sonst würdest du nicht schon um dieser Zeit so geschraubt daherreden. Und ich rufe deshalb an, weil ich gestern abend ein paar Notizen auf Ron Myers’ Schreibtisch fand. Rein zufällig natürlich. Nicht daß du glaubst, ich schnüffelte meinen eigenen Leuten nach.« »Nichts ist dir heiliger als das Privatleben deiner Männer«, bestätigte Walker in so ernstem Ton, daß sich Toms Schnauben zu einem Räuspern veränderte, das jedoch weit davon entfernt war, verlegen zu klingen. »Wie schon gesagt«, fuhr der Captain mit der Wohlgestalt eines gemästeten Nilpferds fort, »ich fand eine Bemerkung, daß April ihn gestern mal anrief. Sie erkundigte sich nach der Blutlache im Riverside Park und nannte in diesem Zusammenhang auch einen Namen. Jerry March. Sie hat doch bestimmt in deinem Auftrag angerufen?« Eine rhetorische Frage. Tom stellte sie nur der Vollständigkeit halber. »Habt ihr seine Leiche gefunden?« »Nur seinen Kopf«, antwortete Rowland, und Jo war heilfroh, daß er sein Frühstück bereits intus und schon halb verdaut hatte. So ein
Scotch ging eben schnell im Kreislauf unter. Auch ein doppelter. »Sogar das Bad war frisch geputzt«, fiel ihm wieder einmal ein. »Dir hat es doch nicht etwa das freche Mundwerk verschlagen, Jo?« erkundigte sich Captain Tom, vor händereibender Teilnahme triefend. »Wann kannst du im Präsidium sein?« * Jo schaffte es in zwanzig Minuten bis hinunter zur Centre Street, denn es herrschte noch kaum Verkehr. Entsprechend wurde er auch nicht von Parksorgen geplagt. Tom erwartete Kommissar X in der weiträumigen Eingangshalle, in der es dem Architekten gefallen hatte, korinthische Säulen zu installieren, die jetzt ohne Achtung vor jedem Hellenismus mit ordinären Steckbriefen und polizeiinternen Mitteilungen beklebt waren. Wie immer ragte einer seiner gräßlich stinkenden Stumpen zwischen seinen fleischigen Lippen heraus, und er paffte wie eine Kampflokomotive bei 45 Grad Steigung. Die in Fettwulste bequem eingebetteten Äuglein funkelten wach mit dem recht rustikalen Charme eines beamteten Henkers. Er winkte Jo jovial entgegen. Mit Begrüßungsfloskeln hielten sich beide nicht auf, doch Jo war es, der gleich mit der Tür ins Haus fiel. »Wie kommt ihr zu diesem Kopf? Wo habt ihr ihn aufgegabelt? Wer sagt euch, daß es sich um den Schädel Jerry Marchs handelt?« Captain Rowland zog die Brauen, in die sich in letzter Zeit schon ziemlich viel Grau mischte, zu einem buschigen Strich zusammen. »Bist du nur gekommen, um mich zu verhören?« »Als ob das etwas nützte! Du sagst mir doch stets nur, was ich sowieso schon weiß.« Diese Auskunft gefiel Tom offenbar noch weniger als die Fragensalve von vorher, denn jetzt gruben sich auch noch tiefe Falten in seine hohe Stirn, die mittlerweile bis halb über den Kopf reichte und erst an der Grenzlinie, von einem Ohr zum anderen gezogen, einem militärisch kurzen Bürstenhaarschnitt wich. »Als April sich nach diesem Jüngling erkundigt hatte, bewies Myers ausnahmsweise mal Geistesgegenwart, und er schickte einen Cop vom nächstliegenden Revier zur Adresse. Ein Hausmeister erzählte dem dann, daß er kaum eine Stunde vorher von einem überaus neugierigen, speiüblen Burschen über den Dressman ausgequetscht worden sei. Na ja. Deine Beschreibung lieferte er eben, und daraufhin ließ dieser Cop sich das Appartement aufsperren, erfuhr soviel wie du und nahm ein Foto des Kerls mit. So wurde er auch identifiziert. Zu-
frieden?« »Ihr habt wirklich nur den Kopf?« Rowland nickte. »Wurde vergangene, Nacht drüben in Queens bei den Sealand Docks angeschwemmt und kam automatisch zu uns in die Pathologie. Ich hatte Dienst, und weil diese Operation verdammt nach dem Eingriff eines Amateurchirurgen aussah, landete der Bericht auf meinem Schreibtisch. – Was hast du mit der Sache zu schaffen, eh?« Diese Frage mußte ja kommen. Jo war gewappnet. Und nach dem Motto, daß die halben Wahrheiten die besten Lügen waren, erzählte er, daß er im Auftrag Laramys einer Vermißtenmeldung nachginge. Doch was er bisher bereits alles darüber herausgefunden hatte, verschwieg er selbstverständlich. Er wollte Freund Tom nicht zu sehr verwöhnen. Außerdem hatte er ja gegen Marvon Denver keinerlei vor Gericht verwertbare Beweise in der Hand. Bei der Rempelei in der Gansevoort Street stand Aussage gegen Aussage. Rowland sah ihn nur mißtrauisch an. Wie immer, glaubte er Jo vorsichtshalber und auch aus leidvoller Erfahrung vorerst mal kein einziges Wort. »Willst du ihn dir ansehen?« fragte er. »Ich glaube, darauf kann ich verzichten. Es ist ja nicht alles schlecht bei eurem Verein. Der Erkennungsdienst, beispielsweise, funktioniert sogar dann und wann.« Kein Zeichen von Beleidigtsein. Captain Tom legte seinen Vierkantschädel schlau ein bißchen schräg. »Du willst gar nicht wissen, wieso dieser Kopf aus dem East River gefischt und die Blutlache genau auf der anderen Seite Manhattans, im Riverside Park, entdeckt wurde?« Jo ließ sich nicht fangen. »Ist es denn überhaupt sicher, daß die beiden zusammengehören?« meinte er in aller Unschuld und ließ sich die Fragen nicht anmerken, die ihn tatsächlich auf den Nägeln brannten. Rowland gierte förmlich nach Informationen. Er hatte absolut nichts in der Hand, an dem er den Hebel für weitere Nachforschungen ansetzen konnte. Bis auf diesen einen Namen, den Walker ihm so scheinbar achtlos wie einen Hundeknochen hingeworfen hatte. George Laramy. Doch Laramy war schon heute früh um vier nach Memphis abgeflogen, wie Jo von ihm beiläufig erfuhr. Sie machten dort Aufnahmen für ein LP-Cover, das verlogene Hillbilly-Songs verkaufen helfen sollte. Tom würde seine liebe Not haben, den Mann zu erreichen. Deshalb rückte Walker auch bereitwillig die Anschrift und die Tele-
fonnummer seines Klienten heraus, eine Verfahrensweise, die er sonst beharrlich vermied. »Noch irgendwelche Wünsche?« fragte er. »Hast du mich dieser Kleinigkeiten wegen in die Downtown gejagt?« Rowland gab sich den Anschein eines philosphierenden Dobermanns. Auch hingen seine breiten Lefzen hübsch seitlich die vollen, straffen Wangen hinunter. »Du verscheißerst mich, stimmt’s? Mit irgendwas hältst du hinterm Berg. Ich kenne dich!« Der letzte Satz hatte sich wie eine Drohung angehört. Toms Blutdruck kam auf Touren. Jeder reinrassige Indianer mußte ihn um seinen garnelenroten Teint beneiden. »Wie war’s, wenn du mich in euere Kantine einladen würdest?« Der gewiß nicht schlecht verdienende Leiter des 2. Morddezernats zog eine Grimasse. Sein sprichwörtlicher Geiz wurde nur von seinen sprichwörtlichen Temperamentsausbrüchen überboten, jeder einzelne ein Schulbeispiel für jeden Psychiatriestudenten, der die Symptome des Cholerikertums in der Praxis kennenlernen wollte. Schließlich versetzte er dem inneren Schweinehund doch einen Tritt und greinte wie ein Märtyrer, der doch lieber gern an Altersschwäche gestorben wäre. »Komm mit«, grummelte er, »Aber ich sag’s dir gleich, ich hab’ nur zwei Dollar einstecken.« * Weil der Kaffee in der Kantine ebenso ungenießbar war wie das Essen, das sie hier servierten, überwand sich Jo zu einer Portion Tee mit Rum. Allmählich entwickelte er sich noch zum richtigen Vormittagstrinker. Doch vollkommen nüchtern war Tom auch nur schwer zu ertragen. Freundschaft hin oder her. Besonders immer dann, wenn er etwas herausfinden wollte, von dem er annahm, Walker wüßte es bereits. Also? heischte sein Blick. Jetzt hab ich dir Tee mit Rum spendiert, mithin ein kleines Vermögen verschleudert; nun rück schon endlich raus mit dem, was du bisher alles ausgegraben hast! Jo verstand diesen Gesichtsausdruck sehr wohl. Er rührte gelassen in seiner Tasse, spritzte dann umständlich den Saft eine mickrigen halben Scheibe Zitrone dazu und eignete sich auch noch Toms
zwei Zuckerwürfel an. »Henry Soutain und Mure Trueman«, warf er hin, noch bevor ihn Rowland wegen dieses Sakrilegs, dieses der Gotteslästerung nahekommenden Mundraubs, mit seinen Blicken töten konnte. »Jerry March war nicht der einzige Dressman, der in der letzten Zeit spurlos in der Versenkung verschwand. Sie gehörten zu selben Clique wie dein Jerry March.« Walker lehnte sich zurück. »Aber ich hab’ ja jetzt nichts mehr zu tun damit«, sagte er. »Ich hatte lediglich den Auftrag, Jerry March zu finden, und well, ich denke, das ist nun geschehen. Vielen Dank auch.« Rowland riß die Augen auf. Jo bewunderte ihn dafür, daß dieser Mann das immer noch schaffte, bei den schwerhängenden Tränensäcken und den Lidern aus Blei. Der Captain war übernächtigt, abgearbeitet, steckte voller Sorge, und man sah es ihm an. Wenn Kommissar X trotzdem nicht mit all seinen Ermittlungsergebnissen herausrückte, dann lag das einesteils daran, daß in den Staaten zwischen Privatdetektiven und den beamteten Kriminalisten eine schon traditionelle Wettbewerbssituation bestand, die noch aus den Tagen Pinkertons herrührte, und die von beiden Seiten sorgsam gehätschelt wurde, und andernteils an einem vom Beruf diktierten Hickhack unter Freunden. Tom Rowland hielt verdammt viel auf sein Können, seine Intelligenz und sein Gespür. Jo auch. Mehr auf seine eigenen Fähigkeiten, allerdings. Und den Fall Marvon Denver betrachtete er inzwischen als seinen Fall. Niemand durfte ungestraft sein Schlüsselbein mit Schraubenschlüsseln torpedieren oder gar über die höchst unschuldigen Freunde einer süchtig mannbaren jungen Dame eigenwillige Todesurteile verhängen und sie noch eigenwilliger vollstrecken. »Soll das heißen, du klinkst dich aus?« fragte Rowland ungläubig. Walker hob die Schultern, ließ sie wieder fallen. »Mein Klient hat mich nicht mit der Suche nach einem Mörder beauftragt Er wollte lediglich über den Verbleib eines gewissen Jerry March Bescheid wissen. Nun, den kann ich ihm jetzt geben. Ich werde außerdem gnädig mit ihm sein und ihm nur einen Tagessatz berechnen. Niemand soll mir nachsagen können, ich sei geldgierig.« Jetzt riß Captain Tom zu den Augen auch noch den Mund auf. Der Stumpen fiel unbeachtet auf den Boden und brannte ein Loch ins Linoleum. Er schnappte nach Luft wie ein Strandbewohner auf dem Gipfel des Mount Everest.
Jo begann ernsthaft um ihn zu fürchten. Tatsächlich war er auch für seine teilweise astronomischen Honorare bekannt, doch die verlangte er nur von überaus unsympathischen Zeitgenossen, die er lieber nicht bedient hätte, und die sich diese Honorare auch ohne weiteres leisten konnten. Das alte Lied. Captain Tom Rowland platzte wieder mal vor uneingestandenem Neid. Letzten Endes trug ja auch er seine Haut zu Markte, wenn auch bei weitem nicht so oft und so aktionsträchtig wie Kommissar X, für den jeder Tag der letzte sein konnte. Der gestrige Abend hatte das wieder mal gezeigt. »Beruhige dich, mein Freund«, sagte er, salbungsvoll wie ein gütiger Beichtvater. »Immerhin verdankt ihr es meiner Initiative, daß ihr jetzt nicht auf einem unidentifizierbaren Kopf herumhockt. Also brauche ich der paar Kröten wegen auch kein schlechtes Gewissen zu haben. Und die anderen beiden Namen verriet ich dir aus lauter Nächstenliebe.« Rowlands Atemnot wollte und wollte nicht weichen. Sein Garnelenteint verwandelte sich unaufhaltsam hinüber ins Dunkelviolette. »Und noch eines, Kamerad. Wenn Jerry March schon auf diese bestialische Art ermordet wurde, will ich nicht mehr ausschließen, daß auch Soutain und Trueman zwangsverstorben sind. Ihr hier habt die großen Möglichkeiten. Laß eure Computer heißlaufen und zapft die vom FBI an. Check die Speicher durch nach mysteriösen Leichenfunden. Ich sprech’s sehr ungern aus: Aber so, wie March starb, solltest du den Check auch auf Leichenteile ausdehnen. Ein makaberes Geschäft, ich weiß. Und du tust mir auch ehrlich und aufrichtig leid.« Endlich kehrten Rowlands aufgeregte Lungen zu ihrer angestammten Tätigkeit zurück und saugten Luft an. Von Toms zerknittertem Anzug sprang sirrend ein Knopf ab und rollte zwischen die billigen, schmucklosen Tische davon. Jo ließ sich nicht beirren. Er betete auch alles brav herunter, was er und die Bondy über die beiden anderen Dressmen in Erfahrung gebracht hatten, und hier ließ er kein einziges Detail aus. Bis auf die Tatsache eben, daß sich alle drei fleißig um die Stillung von Cilya Virgins leiblichen Gelüsten verdient gemacht hatten. Und kein Wort auch von Marvon Denver. Später vielleicht mal. Wenn er aus eigener Kraft nicht mehr weiterkam. *
Auch Marvon Denver saß schon länger wach und an seinem Schminktisch, vor ihm die Tiegel und Töpfe und Pinsel und Puderquasten, auch ein Beutel mit Watte und eine Packung KleenexTücher. Er hatte die schlimmsten Schrunde in seiner zerstörten Gesichtshälfte mit Nasenkitt geglättet, der nur so heißt, denn diese plastillinartige, fleischfarbene Masse wird in der Maske für alles Mögliche verwendet. Meist jedoch dann, wenn es künstliche Verunstaltungen hervorzurufen galt, doch diesmal erfüllte sie den umgekehrten Zweck. Mit einiger Zufriedenheit musterte der Krüppel schließlich sein Werk. Vor allem diese scheußliche blaurote Farbe war jetzt überdeckt und das schleimgelbe Muster ehemaliger Adern, das blanke, freiliegende, graufahle Gebein des Schädels an manchen Stellen. Die Ärzte hatten sich natürlich an Hauttransplantationen versucht, doch das zerstörte Gewebe weigerte sich, die Transplantate anzunehmen, auch nicht die vom eigenen Körper, die sie ihm schmerzhaft von den Innenseiten der Oberschenkel gelöst hatten. »Gut«, krächzte Denver mit seiner schaurighohlen Stimme. »Guuut. Sehrrr guuut.« Er kam sich schön vor gegenüber bisher, nur gegen die verwachsene Gruft seines kaputten Auges konnte er nichts unternehmen. Da gab es keine Vertiefung mehr, in die er eine der Glasimitationen hätte stecken können. Dafür erfüllte die schwarze Klappe ihren Zweck. Damit fiel er auf keiner Straße für mehr als nur einen flüchtigen Blick noch auf. Mit einer Holzspatel modellierte er Oberlippen, Kinn und Wangenknochen. Unter seinen Händen wuchs ein Ohr, das er mit Mastix an die Seite klebte, und für die ebenfalls zu krankem, verrottetem Brei zerronnene und wiedererstarrte Kopfhaut hatte er den Schlapphut und eine Auswahl von Perücken. Er wählte eine mit halblangem Haar. Danach begann Marvon die Farben zu gebrauchen. Er war sehr bleich geworden in diesem einen Jahr. Auch auf der gesunden Hälfte. Bleich wie der Tod. Deshalb brauchte er vom Weiß am meisten, bis ihm endlich aufging, daß er die Schminke ja genausogut für den erhaltenen Teil seines Gesichts verwenden konnte. Marvon griff nach der Tube mit Siena. »Guuut. Sehrrr guuut…« *
»Captain Rowland! Telefon!« Eine dralle Bedienung mit wasserstoffperoxyderblondetem dünnen Haar hielt den Hörer über die Verkaufsauslage, in der all die ungenießbaren Herrlichkeiten der Kantinenküche zur Schau geboten wurden. »Die Zentrale will Sie sprechen!« Tom erhob sich ächzend, sah auf die elektrische Uhr über dem Eingang. »Was wollen die jetzt noch von mir, verdammt? Eine Viertelstunde vor Dienstschluß!« Er riß der ältlichen Maid den Hörer mit einer wütenden Geste förmlich aus der Hand. Die Unterhaltung mit Jo war vermutlich nicht ganz nach seinen Wünschen verlaufen. Er hatte sich mehr erhofft, als ein paar billige Ratschläge, denn als Tips erkannte er Walkers Informationen ohnehin nicht an. Das verboten ihm seine Eitelkeit und seine Selbstverständnis. In einer günstigeren Stimmungslage mochte er anders darüber denken. Und auch dieser Anruf schien nicht geeignet zu sein, Rowlands Laune zu bessern. Das breite Gesicht wurde ihm unversehens lang. Es war, als bekäme sein Dreifachkinn um einen weiteren Wulst Verstärkung. Jo, im Lippenlesen leidlich bewandert, bekam mit, wie der Freund lästerlich fluchte und die Hölle auf die Centre Street im allgemeinen und das Präsidium und seinen Job im besonderen herabbeschwor. Zwar war das ein Paradoxon, doch darum kümmerte sich Rowland nicht. Wenn der Zorn ihn einmal packte, gab er sich ihm in der Regel willig hin. Sein Kopf glühte erneut, als er zum Tisch zurückstapfte. Der Boden dröhnte unter seinen Tritten. »Mist!« begann er. »Muß noch mal raus. Diese Hurensöhne von der Ablösung sind natürlich noch nicht da. Kommen immer erst in der letzten Sekunde, diese Bastarde. Nur damit unsereinem die Arbeit nie ausgeht. Als ob ich nicht schon genug um die Ohren hätte.« »Etwas Schlimmes?« »Glaubst du, sie brauchen mich bei einer Geburtstagsfeier?« giftete Tom Rowland. »Wir sind sowieso fertig miteinander. Dann kannst du mich auch mitnehmen, hinauf in die 57. Straße. Du wohnst ja gleich um die Ecke.« »Was ist passiert?« »Ein Brand. Im Geller Bendel Theatre. Heute irgendwann in der Nacht. Ein Toter. Der Pförtner oder so was Ähnliches. Zuerst dachten sie, er sei an Rauchvergiftung gestorben, doch dann stellten schon
die Feuerwehrleute fest, daß der Mann vermutlich erwürgt wurde, und die müssen’s schließlich wissen.« »Daß er erwürgt wurde?« »Nein. Daß er nicht am Rauch erstickt ist. Da lassen die Leute normalerweise nicht ihre blau angeschwollenen Zungen bis zum Nabel hängen.« Rowland drückte sich recht drastisch aus. Sein Job härtete eben ab, und es erging ihm dabei ähnlich wie den Medizinern, denen man besser auch nicht zuhört, wenn sie im privaten Kreis untereinander fachsimpeln und sich keine Zurückhaltung auferlegen. Ein längst entfernter Blinddarm könnte einem dabei hochkommen. Jo stand auf, und Tom »vergaß« zu zahlen. Er stapfte voraus, Jo hatte Mühe, ihm zu folgen. Als Rowland sich auf den Beifahrersitz des SL gewuchtet hatte, rammte er sich einen seiner Stinker in den Mund, und Walker drückte flugs auf den Knopf, der das Verdeck automatisch zurücksurren ließ. »Willst du, daß ich erfriere?« blaffte Rowland. »Willst du, daß andere meiner gelegentlichen Fahrgäste meinen neuen Wagen für ein schlechtgelüftetes Krematorium halten?« blaffte Jo zurück. »Ha! Dein neuer Wagen!« tönte da der Choleriker und Neidhammel im Captain gehässig. »Warst immer so stolz darauf, daß du der einzige in New York bist, der so ‘ne Bonzenkutsche in Champagnermetallic steuert. Aber gestern unterhielt ich mich zufällig mit dem Commissioner der Zulassungsstelle. Er bildet sich ein, wir beide seien befreundet. Und da sagte er mir, daß seit ein paar Tagen noch ein zweiter so ‘ne Angeberkarre fährt. Einer aus der Madison Ave. Ein Werbedirektor oder so was. Jedenfalls hat er auch keinen anständigen Beruf.« Für Captain Tom Rowland war kein Beruf, in dem einer mehr als 100.000 Dollar im Jahr versteuerte, ein anständiger Beruf. »Laß das Lästern«, sagte Walker sanft. »Bleib du bei deinen Toten und schnall dich an.« * Marvon Denver betrachtete das Ergebnis seiner unerwarteten Geschicklichkeit im Maskemachen im Spiegel, seinem einzigen »Ansprechpartner« seit Monaten. Drehte den Kopf hin und her und lächelte. Die Lippen aus Kitt fielen ihm ab wie alter Verputz von einem baufälligen Haus.
Er hörte schlagartig auf zu lächeln, und eine Sintflut abartigster Gedanken durchflutete sein Gehirn. Für kurze Zeit hatte er sich willig in der Illusion gelullt, endlich wieder ein halbwegs akzeptables Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein. Und nun das! Sein eines Auge weinte hilflos graue Tränen und grub weiße Bäche in den künstlichen Siena-Sonnen-Teint. Minutenlang saß er wie in Trance, war versucht, auch den Rest seiner Bemühungen zu zerstören, so wie er alle zerstörte, die seiner Liebe zu nahe traten. Doch dann gewann die Vernunft die Oberhand, er war ja nicht verrückt, und seine Aufgabe erforderte es, daß er sich seine Sinne bewahrte. Er durfte sich nicht gehenlassen wegen dieser Lappalie. Den Schaden konnte er beheben. Nur lächeln durfte er nicht mehr außerhalb seines Kellerlochs und an der hellen warmen Sonne. Er begann von neuem, brauchte ein halbe Stunde, um sich zu reparieren. Doch die Freude über sein neues Aussehen wollte auch danach nicht wiederkommen. Da nahm sich das Phantom der 5. Straße dieses Terroristenflugblatt wieder vor, studierte es ein zweites Mal und diesmal noch konzentrierter. Danach räumte er die Schminkutensilien beiseite und stellte den Rest seiner Beute aus dem Geller Bendel Theatre vor sich auf, reihte Gläser und Flakons und Keramikbecher mit ihrem brisantem Inhalt vor sich auf wie die Symbole der Schlachtordnung einer altertümlichen Armee. Eine Blechdose die Pioniere, Kupferplättchen die Infanterie, ein kleines Glas hochkonzentrierter Schwefelsäure mußte als Kavallerie herhalten. Und dann ein Gefäß, bis zum Rand gefüllt, bildete schließlich die Artillerie; hochoktaniges Reinigungsbenzin und weißer Phosphor, noch in Glyzerin, die Flankendeckung. Marvon Denver machte sich ans Basteln, setzte das Neugelernte um in eine Kleinbombe mit chemischem Zünder und in eine Batterie von Molotow-Cocktails, die ihm beim Gebrauch Handgranaten mehr als ersetzen würden. Der Trick bestand darin, das Benzin von Watte aufsaugen zu lassen, wonach dieser nasse Bausch im Verein mit Sauerstoff und Phosphorstücken sich wie Schießbaumwolle gebärdete. Und der Sauerstoff kam zwangsläufig hinzu, wenn die Flasche am Zielobjekt klirrend brach. Der Krüppel hatte Mühe, sein plötzliches Glücksgefühl nicht seinen Zügen mitzuteilen. Zufrieden mit sich und seiner Welt und seiner neuen Macht war er allemal.
Die Welt dort draußen stand ihm wieder offen. * Als Jo zurück ins Büro kam, war April schon da, hatte die Morgenpost gesichtet und die wichtigsten Briefe davon auf seinem Schreibtisch deponiert. Er wischte sie ungelesen beiseite. Ihn beschäftigte anderes mehr zur Zeit. Als Komparse hatte Marvon Denver in seiner Anfangszeit in New York gearbeitet. Und Walker hatte Tom zum Geller Bendel gebracht, sich anstandshalber auch ein bißchen umgesehen in diesem verkohlten Schutt. Zum Glück war von der Feuerwehr das meiste der baulichen Substanz gerettet worden. Sehr zum Greuel des Besitzers höchstwahrscheinlich, denn die Wohnungsmieten in dieser Ecke New Yorks grassierten ähnlich unverschämt inflationär wie in Miami, Palm Springs oder München. »April!« »Ja, Jo?« »Ich bin ein bißchen gereizt heute. Verzeih. Aber nachdem du dich schon so rührend um die Lebensgeschichte unseres Sorgenbalgs gekümmert hast – würde es dir was ausmachen, herauszufinden, ob er jemals mit dem Geller Bendel Theatre zu tun hatte?« »Gibst du mir eine Minute oder zwei?« »Zehn.« »Zu gütig, Chefchen. – Wie war’s übrigens gestern mit der Virgin? Ist sie wirklich so gut, wie die Umstände vermuten lassen?« »Geh zu deinem Psychotherapeuten und laß dich auf lesbisch trimmen«, knurrte Walker. Manchmal gingen ihm Aprils Eifersüchteleien eben auf den Keks, und dann reagierte er sauer. Seine angekratzte Laune kam hinzu. Die Leiche des erwürgten Pförtners hatte wirklich keinen schönen Anblick geboten. April unterbrach. Eingeschnappt. Noch so ein paar Gefühlsausbrüche, und Kommissar X mußte für seine Telefonapparate neue Gabeln kaufen. Widerwillig schnappte er sich die Zeitungen, überflog nur die Headlines und erfuhr, was er ohnehin schon wußte. Alle Welt wurde vernünftig, nur die fundamentalen Muslims weigerten sich nach wie vor stur gegen alle Eingebungen gesunden Menschenverstands.
»Jo?« »April?« »Ich hab’s. Denver war tatsächlich ein paar Wochen im Geller Bendel beschäftigt. Als Statist.« Die Bondy klang jetzt bedeutend friedlicher. Und gezähmt bewundernd gar noch dazu. »Wie du das immer wieder nur alles kombinierst?« »Das muß an der Muse liegen, obwohl sie mich leider viel zu selten küßt«, beschied ihr Jo galant und reichlich überschwülstig. April liebte das. »Sonst wäre ich schon viel früher draufgekommen. Wenn ich diese ekelhafte Angelegenheit hinter mir habe, sollten wir uns auch privat mal wieder treffen…« Sie hörte offiziell über diese Anspielung hinweg, merkte sie sich jedoch genau, und auf ihr frisches Gesicht trat ein gewisses helles Leuchten. »Du glaubst, Denver hatte auch etwas mit dem Tod dieses Pförtners zu tun?« »Der Brand brach ausgerechnet dort aus, wo die theaterüblichen Explosivstoffe gelagert wurden. Und in der Maske hat jemand tüchtig zugelangt. Der Brand wurde viel zu früh entdeckt, um alle Spuren zu zerstören. Auch die Leiche des Nachtwächters sollte im Sinne des Mörders wohl verkohlen. Doch sie wurde nicht einmal angekohlt. Als ich Tom dort ablieferte, waren die Leute von der Spurensicherung noch am Werk. Wenn sie Prints finden, und die von Denver sind irgendwo registriert, erfährt auch unser lieber Freund aus der Centre Street den Namen unseres Verdächtigen. Auch wenn er ihn nicht sofort mit dem Tod Jerry Marchs in Verbindung bringt. Doch das ist nur eine Frage der Zeit. Tom spielt nur ab und zu den Dummkopf.« »Aber er ist keiner.« »Du sagst es überdeutlich. Und dann ist es vorbei mit meiner ungestörten Ermittlungsarbeit.« Jo seufzte. »Du kennst ihn ja. Er wird mir jeden nur erdenklichen Knüppel zwischen die Beine werfen.« Jo schob auch die Zeitungen beiseite, erzählte dann vom makabren Schädelfund an den Sealand Docks. April schauderte. »Wie sieht dein weiteres Programm aus?« fragte sie. »Ich werde diesen Herman Worship eine Weile von seiner Arbeit abhalten, denke ich. Es müßten doch auch noch ein paar Einzelheiten über Denver auszugraben sein, von denen seine sogenannte Verlobte keine Ahnung hatte. Denn die packte restlos aus.« Jo gefiel der Doppelsinn seiner Worte gar nicht schlecht.
»Adressen von Kollegen oder so?« »Laramy wäre vermutlich die ergiebigere Quelle gewesen. Aber der ist ja bis auf weiteres in Memphis.« »Du irrst, Chefchen. Er kommt heute abend schon wieder zurück. Die Aufnahmen sind auf einen halben Tag erledigt. Ich habe in diesem Punkt noch mal nachgecheckt, da mir einfiel, daß unser verrückter Killer wahrscheinlich manchmal ebenfalls noch recht folgerichtig denken kann, er aufgrund deines auffälligen Wagens vielleicht herausfindet, wer und was vor allem der Besitzer dieses großkotzigen Cabrios ist. Und dann könnte er’s sich eventuell an den fünf Fingern einer Hand abzählen, wer dir zum Auftrag verhalf, diese Katastrophe von einer Jungfrau zu kontaktieren…« Jo schaute die Bondy eine Weile bewundernd an, und diesmal hatte das nichts mit ihren so hervorragenden Äußerlichkeiten zu tun. »Du kombinierst auch nicht schlecht«, meinte er schließlich. »Ich frage mich nur, wo du das gelernt hast…« * Marvon Denver atmete frei durch. Endlich! Endlich wieder auch mal am Tag auf der Straße! Er mußte das Auge mit einer dunklen Brille schützen. Er war an diese grelle Helligkeit eines natürlichen Morgenlichts nicht mehr gewöhnt. Die triste Umgebung der oberen 5. Straße machte ihm dabei nichts aus. Er schlenderte vorüber an einer ehemaligen Imbißstube, von der nur ein gähnendes Loch in der Häuserfront geblieben war. Ein paar Steckdosen baumelten noch an herausgerissenen Leitungen, über einem Boden voller Kleinholz und zerschlagenem Porzellan. Der Laden war von Plünderern auseinandergenommen bis auf die Knochen, weil offenbar nichts vom Vorgefundenen noch etwas getaugt hatte. Marvon Denvers Auto stand, wo er es immer parkte. Er genoß es, zu Fuß zu gehen. Sein abgemagerter Körper war in seinen schwarzen Paletot gehüllt, in dessen Innentasche es jedoch verdächtig klirrte und schepperte bei jedem Schritt. Um ein Haar hätte der Krüppel sich erneut zu einem Lächeln verleiten lassen, als er daran dachte, daß er praktisch als wandelnde Bombe durch die Häuserschluchten lief. Besonders stolz war er auf eine eigene Konstruktion, im Aufbau aus dem so schnell Erlernten zusammengebastelt: Eine alte Bohnen-
konserve war zu zwei Dritteln mit Schwarzpulver, wiederum durchsetzt mit Zellulose -also Wattefäden; aufgefüllt. Darüber hatte er flüssiges Kerzenwachs gegossen und luftdicht erstarren lassen. Und das obere Drittel schließlich nahm die nun schon sattsam bekannte Mischung aus Benzin und Phosphor ein. Darüber noch einmal ein Deckel, auch mit Wachs abgedichtet. Schon geringere Erschütterungen oder auch nur etwas Wärme reichten aus, das starre Paraffin entweder zerbröckeln zu lassen oder aber auch zu schmelzen, wonach die wenigen Zentiliter MolotowCocktail dann als Zünder wirkten. Gegenüber dieses Imbißstuben-Kadavers, an der anderen Ecke, war noch Leben, die Beleuchtung schummerig. Eine kleine Bar hatte bereits offen. Wann war er das letzte Mal in einem öffentlichen Lokal gewesen? Vor einem Jahr? Vor einem Jahrtausend? Der zumindest nach außen hin notdürftig restaurierte Krüppel riskierte es. Er trat ein, ging die drei Stufen hinunter, denn der Fußboden war nicht ebenerdig mit dem Bürgersteig draußen. Er nahm trotzdem ein Tuch vor den Mund beim Sprechen, um dort Heiserkeit vorzutäuschen, wo er keine richtige Stimme mehr hatte. »Ein Whisky-Cola, bitte.« Denver vermied Sätze mit dem Buchstaben R, denn er konnte es nur tief hinten im Rachen bilden, und es klang dann wie das Knurren eines bösartigen, tollwütigen Hundes. Der Neger hinter der Bar schüttete etwas lehmbraune Flüssigkeit ins Glas, zählte vorsichtig ein paar Tropfen Pepsi dazu und nahm ihm sofort einen Dollar dafür ab. Ansonsten scherte er sich nicht um seinen seltsamen Gast in Schlapphut, Cape und Sonnenbrille. Es liefen weitaus irrer ausstaffierte Typen herum in dieser Gegend. Marvon Denver fiel nicht auf. Und nur das hatte er testen wollen. Neben ihm saß einer auf dem Hocker und fuhr sich unendlich langsam mit einem dicken schwarzen Zeigefinger über das rosig entblößte Zahnfleisch. Rieb er sich »Schnee« in die Zähne? Auch er reagierte in keiner Weise auf ihn. Der ungewohnte Alkohol tat Denver wohl. Sofort fühlte er sich noch beschwingter. Er hätte jetzt diese ganze beschissene Welt umarmen können. Bis sie in seinem Griff zerbrach. Beim Frawling Circle bog er ab nach rechts, betrat den Central Park an der Kreuzung Lexington Ave und Cathedral Parkway. Wann hatte er das letzte Mal Vögel zwitschern hören?
Es war alles wieder so verdammt neu für ihn, und früher hatte er auch kaum darauf geachtet Jetzt jedoch rührten ihn das machtvolle Auskeimen des Frühlings, die Knospen an den Bäumen, die sich zu ihrem frischen Grün entfalteten, die noch tief stehende weiße Sonne, die die ruhigen Wellen des Harlem Lake aufglänzen ließ wie einen See aus Silber. Dunkel beschatteten Trauerweiden die gepflegten Asphalt- und Kieswege, ein El Dorado für Radfahrer und Jogger. Und wer es immer noch nicht wußte, daß der Mai ausgebrochen war, sah das dann spätestens an den mit einem spitzen Stachel bewaffneten armlangen Stöcken der Gärtner, die neben Papierfetzen, Plastiktüten und Wegwerfpackungen immer wieder auch gebrauchte Kondome in ihre Eimer sammelten. Doch schon am East Drive, auf der Höhe 102. Straße, schlug Marvon Denver wieder die Richtung zur 5th Avenue ein, wie magisch angezogen auch von der Parallelstraße dahinter, der Madison Ave, der Stätte seiner ersten wirklichen kleinen Triumphe und seines endgültigen Scheiterns und Verderbens zugleich. Hatte er erwartet, Wehmut zu empfinden? Sie blieb aus. Sie mußte ausbleiben, weil unweit von ihm ein Mercedes 500 SL parkte. Roadster. Champagnerfarben. * Jo Walker, trotz seines Namens ansonsten gehfaul, wie es sonst nur die Leute an der Westküste waren, entschied sich an diesem herrlichen, lichtvollen Morgen für einen Spaziergang. Von seinem Büro-Tower in der 54th hinüber zu Herman Worships PenthouseAtelier waren es gerade dreizehnhundert Yard. Und außerdem galt es noch, den Geschmack des miserablen Tees und des noch miserableren Rums aus der Polizeikantine wegzuspülen. Kein Wunder, daß bei dieser Ernährungssituation die Lebenserwartungsquote bei den New Yorker Cops jene der Normalbevölkerung bei weitem untertraf. Musil’s Bar & Grill mied er diesmal. Er hatte sowohl die Speise- als auch die Getränkekarte x-mal hinauf und hinunter gegessen, bzw. getrunken. Dafür fand er seine Erfüllung in der winzigen Kneipe eines Türken, eingeklemmt zwischen Carnegie Hall und Carnegie Theatre. Jo orderte und bekam feingeschnipseltes Gyros, dazu eine scharfe
Soße, garantiert ohne Ketchup, und ein heiß dampfendes, von Schmalz gesättigtes Fladenbrot, ähnlich dem griechischen piti. Nur das Bier war amerikanisch, schmeckte auch so. Jo ließ es bei einem ersten Schluck bewenden. So gestärkt, machte er sich an den Weitermarsch, die Siebenundfünfzigste vor zur Grand Army Plaza, an deren Ostrand das General Motors Building ebenso häßlich wie majestätisch aufragt und auf seinem Dach mittels eines zweistöckigen, Tag und Nacht blau leuchtenden, sich drehenden Neonzeichens »GM« die Autofahrer zu anhaltendem hemmungslosen Energieverbrauch auffordert. Nur noch diesen Klotz weiter, und Jo hatte die Madison Ave, die Straße der Werbetreibenden, erreicht, den eigentlichen Motor des heimischen Wirtschaftsgefüges, den Bazar des totalen Ausverkaufs jedweder Resourcen. Lang glitt sein Blick die Straße hinauf. Etwa fünfhundert Schritte. Bis hin zu einem Mercedes 500 SL. Roadster. Champagnerfarben. Eine Gestalt in Schwarz machte sich daran zu schaffen. * »Na dann«, krähte Mr. Koolridge fröhlich. »Bis zur Party am Tag nach Sabbath, am Sonnabend.« Er winkte noch heftig mit seinen kurzen Armen. Aus seinem runden Gesicht strahlte Glückseligkeit. Das Vermitteln eines ZweieinhalbMillionen-Dollar-Budgets für nur ein Vierteljahr Werbespots in einer der Erfolgsserien der NBC machte eben happy. Vor allem, wenn ein Mr. David Koolridge fünf Prozent Gebühr dafür kassierte. Von diversen »Schmierzuwendungen« mal ganz abgesehen. Und ebenso fröhlich und aufgekratzt stieg er in sein neues Auto, seinen ganzen Stolz, auf den nur ein einziger Wermutstropfen fiel – er war diesmal nicht der erste. Bei der Zulassungsstelle hatten sie das erwähnt, nicht ohne ziemlich hämisch-rissiges Grinsen »im Knopfloch«, denn wer gönnte von den Subalternen einem kaum ein Meter sechzig großen Juden schon so ein himmlisches Auto. Keiner. David Koolridge jedoch focht das nicht an; und wenn überhaupt, dann nur ein klitzekleines bißchen. Kaum von der Wiege entwöhnt, wegen seiner Rasse und seines
sogar nicht festen mosaischen Glaubens getrietzt, hatte er sich zu seinem Outsidertum bekannt und es akzeptiert. Seine Lenden waren fruchtbar gewesen, die Frau auch, und er hatte so den Vereinigten Staaten acht Söhne und bislang zweiunddreißig Enkelkinder geschenkt. Schön war das Leben. Der Motor kam auf den kleinsten Hinweis mit dem Zündschlüssel. 326 PS machten sich bereit, summten, ohne Rücksicht auf Rasse und Stammbaum, sanft und neugierig auf den Tritt aufs Gaspedal vor sich hinwartend, und sie ignorierten Marvon Denvers Bombe, die der Krüppel mit Tesakrepp über den vorderen linken Breitstreifen hindurchgreifend am Motorblock befestigt hatte. Paraffin beginnt sehr schnell zu schmelzen. Vor dem nagelneuen Mercedes 500 SL bog eine dieser schrecklichen Gestalten, wie man sie in New York leider nur allzuhäufig antraf, gerade in eine Toreinfahrt und wurde eins mit den schrägen Schatten des noch jungen Tages. »Sind doch alle meschugge, diese Gojs«, murmelte Werbemakler David Koolridge, halb angeekelt, und ließ dann sanft-verliebt die automatische Kupplung kommen. * Jo Walker hatte etwas mehr gesehen als der ahnungslose Besitzer seines Doppelgängerautos. Der Bursche, der sich offenbar an den technischen Eingeweiden des SL zu schaffen gemacht hatte, ähnelte selbst aus dieser Entfernung noch verzweifelt jener aggressiven Figur aus der Gansevoort Street, die so gern mit schweren Schraubenschlüsseln um sich warf. Jo sprintete los, als gelte es, bei der nächsten Weltmeisterschaft den 100-Meter-Lauf mit zehn Meter Vorsprung zum zweiten Sieger zu gewinnen. Schon nach wenigen Schritten schlug er der Länge nach hin und hart aufs Pflaster des Bürgersteigs. Er fing den Sturz nur ab, weil er daran gewöhnt war, dann und wann auch mal auf die Nase zu fallen. Über den instinktiv vorgerissenen linken Unterarm rollte er schulmäßig ab und stand auch schon wieder auf den Beinen, ohne sich mehr als die üblichen Verletzungen an seiner Kleidung und als Dessert noch ein paar Schrammen an Knie und Ellbogen zugezogen zu haben. Danach hastete er weiter, nur mit leicht gebremstem Elan, dabei wild mit den Armen fuchtelnd wie einer der »Eulenmänner«, die frü-
her auf Flughäfen die Düsen-Clipper in ihre Parkplätze wiesen. Es zeigte sich schließlich, daß er schneller war als der übervorsichtige Mister Koolridge, der sein schimmerndes Straßenschlachtschiff wohl eher nach dem Motto bewegte: Wer sein Auto liebt, der schiebt. Zumindest lag ihm offenbar nichts ferner, als mit einem Kavalierstart sportliche Ehren anzustreben. Also holte Jo ihn ein, noch dazu, weil der Mann nicht sofort aus seiner Lücke fand. Das tat er jedoch genau in jenem Moment, in dem Jo ihn erreichte und mit dem ausladenden Heck des langen Schlittens gleichauf war. Eines wunderschönen Wägelchens, das sich freilich neben einer der amerikanischen Staatsschaukeln immer noch erfreulich kompakt ausnahm und deshalb nicht nur auf schnurgeraden Stücken von achtspurigen Interstate Highways gefahren werden konnte. Walker kam deshalb erneut ins Schleudern, krallte sich diesmal aber an jener Versenkung fest, in welcher die Scheibenwischer sich bei Nichtgebrauch verstecken, und starrte plötzlich ins Wageninnere und einem sehr überraschten Mister Koolridge mitten ins aufgeregte Gesicht. Denn inzwischen lag Kommissar X recht unglücklich auf der Motorhaube. Der Mercedes war drinnen zweifellos bequemer als draußen. So unversehens aus seinen angenehmen Gedanken über Profit und Gewinn gerüttelt, holte der Werbemakler nun leider den Kavalierstart nach, achtete auch nicht mehr auf den übrigen Verkehr um in herum, sah vermutlich nur Jos beim lauten Schreien so geisterhaft leise sich bewegenden Mund, denn auch die Schallisolierung dieses Roadster war nicht von schlechten Eltern. Und Walker wurde es plötzlich sehr warm um die Magengrube und auch unterm Pony. Aber das lag nicht daran, daß die acht Zylinder des Roadster so schnell heißgelaufen waren. Doch erstens legte Mister David Koolridge nun ein ziemlich rasantes Tempo an, und zweitens hegte Jo den schlimmen Verdacht, daß da irgendeine Gemeinheit unter der Motorhaube sich anschickte in Kürze lautstark krachend zu explodieren, wobei ihm der Lärm noch am wenigsten ausgemacht hätte. Viel mehr als um seine Trommelfelle fürchtete er um sein Leben. Der schwere Wagen schoß mit gewaltigem Schwung aus der Madison Avenue hinein in die 72nd Street und wieder vor zur Fünften, der Nabelschnur der Reichen und Begüterten in diesem Teil. Jo krallte sich an. Dem Fahrer nutzlose Warnungen zuzubrüllen, hatte er längst aufgegeben. Er brauchte seine Puste anderweitig. Schließlich erreichten sie die Belle of New York, ohne daß Walker
seinen neuesten Job, den einer Kühlerfigur, verloren hätte. Er war heilfroh um die Kraft in seinen Fingern, denn schwächlich bewegte sich diese Karre ja auch nicht gerade. Unter Jo vibrierten immerhin 326 muntere PS. Und bald schon vermutlich, würden sie ihm alle miteinander um die Ohren fliegen. Natürlich erregte Koolridges Fahrstil einiges Aufsehen, um brutal zu untertreiben. Vor allem bei den übrigen Verkehrsteilnehmern, auf deren Spur er ihnen forsch entgegenkam. Jo begann wieder an Wunder zu glauben: Schon rund hundert Yards hatten sie so zurückgelegt und immer noch keinen Crash verursacht. Das sollte sich bald ändern. * Schon unter normalen Umständen herrschte in der 5th ein chaotischer Lärm, wenn auch nicht gar so schlimm wie in den Zentren von Damaskus, Kairo oder Mexiko-City beispielsweise, wo die Hupe an einem Auto wichtiger zu sein scheint als die Räder. Doch die Kakophonie der Töne und Geräusche reicht auch in Manhattan mühelos an die Schmerzschwelle heran und überschreitet sie nur allzuoft, wozu die pausenlos kreischenden Polizeisirenen keinen unerheblichen Beitrag leisten. Wie kämen die Streifencops sonst auch pünktlich zu ihren diversen Bars und Kneipen oder auch nur zum Supermarkt, um für die Mutti daheim rasch noch ein paar Einkäufe zu erledigen? In der Rush-hour sind die Straßen verstopft wie ein Abflußrohr voller Damenbinden. Und diese allmorgendliche Rush-hour, die sich jeden Nachmittag bei Büroschluß getreulich wiederholt, war jetzt angebrochen. Die Türme der Versicherungen, Banken und international verzweigten Multis wollten mit Menschen gefüttert werden. Allein im Empire State Building arbeiteten täglich 20 000 Personen, in der gesamten Downtown mehr als eine Million. Und in dieser idyllischen Verkehrslandschaft fuhr Mr. David Koolridge nun Amok, mit einem sehr ausgefallen gestylten Mercedesstern auf dem Kühlergrill. Jo hielt das nicht länger aus. Er arbeitete sich zur Seite hinüber, zog die Beine an, so gut es ging, und schlug mit der Schuhspitze die Seitenscheibe ein. Das Sicherheitsglas zerfaserte zu einem ungefährlichen Gitterwerk
und sah aus wie ein Topf gefrorener Milch an seiner Oberfläche. Den Rest konnte Jo gefahrlos nach innen drücken. Über Mister Koolridge ergoß sich ein Hagelschauer aus weißen Scherben, doch schob Walker schon sein zweites Bein nach, während er sich noch verzweifelt am oberen Rand der Motorhaube festkrallte. Endlich fanden seine Beine Halt. Entweder am Kopf des Werbemaklers oder an der Nackenstütze. So genau war das in der Eile nicht festzustellen. Er wand sich hinein wie einer jener Schlangenmenschen vom Zirkus, die plötzlich aus einem Würfel von dreißig Zentimeter Kantenlänge steigen und sich dann zur Größe von einem Meter achtzig entfalten. Gerade noch rechtzeitig, denn sonst hätte ihm ein knapp vorbeidonnernder Lastwagen eine Totalrasur bis hinunter zum Knoten seines Binders verpaßt. Der unglückliche David war mittlerweile Gott sei Dank in Ohnmacht gefallen und stellte auch sonst wegen seines kleinen, zarten Körperchens kein Hindernis dar. Gefährlich war der Mann nur am Steuer eines starken Wagens, und dieses Steuer übernahm jetzt Jo. Noch ein paar haarsträubende Ausweichmannöver – eines hätte um ein Haar in einem der Schaufenster von Sack’s geendet -, Passanten spritzten auseinander wie die Wassertropfen von einem sich schüttelnden nassen Hund, und Walker konnte den Wagen endlich in eine Parkbucht lenken, von wildem Fanfarenlärm und fürchterlichen Flüchen umtost. Der Rest blieb Hoffnung. Er packte den kleinen Mister Koolridge am Kragen, zerrte ihn ins Freie und weg von seinem Auto, das Jo als Zeitbombe betrachtete. Die Warnblinkanlage hatte er noch eingeschaltet, versehentlich wohl auch die Diebstahlsicherung ausgelöst, denn der Roadster röhrte los wie ein permanenter Elefantenstoß. Fußgänger wichen noch mehr zurück, Autos blieben abrupt stehen, andere fuhren drauf, als wollten sie ihren Vordermann übers Dach überholen. Es schepperte und krachte nach zerberstendem Blech. Kommissar X konnte das nur recht sein. So blieben die Leute wenigstens aus der unmittelbaren Gefahrenzone und holten sich bei diesem Schleichtempo allenfalls ein paar Dellen an Mensch und Material. Das Glück des Tüchtigen war Jo beschert. Noch keine zwanzig Schritt vom Wagen entfernt, begann es unter dessen Motorhaube auf einmal zu knistern und zu sprühen. Schließlich ein Kanonenschlag à
la schwere Artillerie, und der vordere Teil der 150 000-Dollar-Kutsche platzte auseinander wie eine explodierende Handgranate. Die Haube hatte ihre Aerodynamik samt niedrigem cw-Wert verloren und segelte davon wie ein besoffener Schmetterling mit Beulenpest. Der Kühlergrill folgte ihrem Beispiel, nur in eine andere Richtung, und zerschlug bei der Landung einen italienischen Minikleinwagen zu Schrott. Teile wie Vergaser und Einspritzpumpe, Plastikkästchen mit ausgefeilter Elektronik als Inhalt gingen wortwörtlich hoch in die Luft und zerdepperten Fensterscheiben, wo immer sie nur konnten. Es geht eben stets hoch her auf der Belle of New York. * Den Rest des Vormittags verbrachte Walker zwangsläufig im nächstgelegenen Polizeirevier, bis ihn Captain Tom Rowland endlich von seinen Handschellen und einigen Beamten befreite, die nichts verstehen wollten oder konnten. Währenddessen ruhte Mister David Koolridge sich in einem Krankenhaus der City von seinem Schock aus, denn mehr war ihm nicht passiert, der neue Wagen selbstverständlich vollkaskoversichert. Ein cleveres Männchen wie er überließ nichts dem Zufall, auch nicht dem bösen. »Mecht ja sein, daß gerade fällt ein Sternschnupp auf die Kalesche, wenn ich mecht hoffentlich sein nicht drin.« Doch gemütlicher wurde es für Jo auch im Präsidium nicht. Rowland führte sich minutenlang wie ein in Stampede geratenes Nashorn auf, mit seinem stinkenden Stumpen dabei immer wieder drohend auf Walker weisend. »Du Aas hast mich belogen und betrogen!« wetterte er. Ein ausgewachsener Taifun brachte im Vergleich zu ihm nur ein sanftes Säuseln zustande. »Du wußtest von Anfang an, wer als einziger für den Mord an Jerry March in Frage kam! Und du hast mir diesen Namen unterschlagen!« Es war bezeichnend für Rowland, daß er nicht »verschwiegen« sagte. Jo indes schüttelte sachte den Kopf. Wenn Tom toben wollte, mußte man ihn lassen. Denn erst nach einem total hemmungslosen Ausleben eines Temperamentausbruchs wurde er wieder einigermaßen ansprechbar. Sonst machte Walker nichts. »Und jetzt rückst du plötzlich mit diesem Marvon Denver heraus,
den du zufällig« – beim Wort »zufällig« unterbrach den Captain ein häßliches Meckern wie von einer Herde Ziegenböcke mit Keuchhusten – »den du ›zufällig‹ ertappt haben willst, wie er ‘ne Bombe in dieses Scheißauto pappte!« »Scheißauto?« Rowland blinzelte irritiert. »Ach, du weißt schon, wie’s gemeint ist«, tönte er dann in einem Anfall von Ehrlichkeit. »Um mir so ‘n Ding leisten zu können, müßte ich zehn Jahre lang allein von Brot und Wasser leben.« »Deine Figur hätte bestimmt nichts dagegen.« »Hä?« »Ich habe gar nichts unterschlagen«, fuhr Jo fort, denn lügen und bluffen konnte er ebensogut wie Verbrecher fangen, wenn vielleicht nicht sogar noch besser. »Nach unserem reizenden Intermezzo heute früh fuhr ich in mein Büro, und April schmierte mir diesen Namen praktisch aufs Butterbrot. Sie hatte meinen Klienten, diesen George Laramy, unten in Memphis an die Strippe gekriegt und das nur getan, um ihm über den Fortgang meiner Ermittlungen zu berichten. Dabei fiel dann dieser Name, der dich jetzt so aufregt, und auch die Geschichte mit dem Unfall wurde erwähnt. Also war ich gerade unterwegs zu jenem Ort, an dem dieser Unfall vor einem Jahr passierte. Was soll daran so absonderlich sein?« Rowland grinste wölfisch, was bei einem Mann mit der Statur eines Grizzly natürlich doppelt unvergleichlich »tierisch« aussah. »Weil dieser Marvon Denver, den du ja einwandfrei identifiziert haben willst, ausgerechnet einen champagnermetallicfarbenen 500er SL in die Luft sprengte, einen Wagen, der hier erst vor drei Tagen zugelassen wurde, du Bastard von einem angeblichen Freund…!« Ein paar Sekunden verstrichen. Diesmal hatte Walker nicht genug perfekt geblufft. »Eins zu null für dich«, gestand er schließlich zähneknirschend ein. Und dann packte er mit allem aus, was er bisher wirklich herausgefunden hatte. Na ja. Mit fast allem. * Er habe Glück gehabt, meinte George Laramy, als er noch eine weitere Stunde früher aus der Boeing stieg, als eigentlich geplant. Denn nach der Meinung des Fotografen waren die Aufnahmen für Cover schon nach der ersten Session »gestorben«, also für okay
befunden. Wogegen dieselben Aufnahmen, wären sie mißlungen gewesen, »Leichen« gehießen hätten. Berufsjargon. Da kann man nichts gegen machen, außer an der Sprache verzweifeln. Auch jeder Waidmann beharrt schließlich darauf, daß das Stummelschwänzchen eines Hasen »Blume« zu heißen habe und die Jagdgöttin Diana jedem Frevler an jener Nomenklatur persönlich einen göttlichen Pfeil in den Hintern jage, wenn einer jemals das sagte, was es nun mal ist: Ein Stummelschwänzchen. Und oft genug nicht mal »blumig« duftend, weil auch den Hasen, allen Jägern sei’s halilit, getrommelt und gepfiffen, eine sogenannte menschliche Notdurftverrichtung nicht fremd ist und sie nicht mal Klopapier fürs »Danach« haben. »Früh gestorben«, jubelte George Laramy also fröhlich vor sich hin, als er die laxen Kontrollen des La Guardia Field wacker durchschritt. Draußen vor den Terminals schien noch die Nachmittagssonne. Denn manchmal bis auf die Haut (und stichprobenartig sogar bis auf die »Blume« gefilzt) wurden hier unter anderen Exoten auch die Bürger, die das Pech hatten, in einem der befreundeten NATOPartnerländer geboren zu sein. New York, New York. Und weit und breit kein freies Taxi. George Laramy war trotzdem froh, wieder zu Hause zu sein. Das Leben war schön, und in seinem Appartement wartete der Tod. * »Von der Wiege bis zu Bahre, Formulare, Formulare.« Ein deutscher Dichter, es könnte gut Kurt Tucholsky gewesen sein, hatte das so vor siebzig Jahren mal sehr trefflich »formuliert« und auf den damals noch »deutschen« Bürokratismus gemünzt. Aber die Amis holen eben überall auf, gewinnen gar noch Vorsprung, wie es halt so ist. Jedenfalls kam Jo Walker nicht vor fünf Uhr nachmittags aus dem Präsidium frei, mit einem halben Starrkrampf in den Fingern. Wegen der vielen Unterschriften, die er unter einen Wust von Protokollen hatte setzen müssen. Seine Freundschaft zu Tom Rowland hin oder her. Wo der Amtsschimmel einmal kräftig wieherte, hatte sogar der »american way of life« sein Recht verloren. Ein Taxi setzte ihn vor dem Büro-Tower ab, ein Express-Lift schoß
ihn hoch in den 14. Stock. April Bondy saß noch über ihren eben trocknenden Nagellack gebeugt. Jetzt sah sie auf. »Gefällt dir die Farbe!« fragte sie und reckte Jo ihre gespreizten Finger entgegen. »Trägst du Trauer?« »Wieso!« »Das ist doch schwarz!« »Deine Augen lassen nach«, belehrte ihn die Bondy. »Das ist dunkelmauve. Die Farbe der Saison. – Haben Sie dich im Präsidium sehr durch die Mangel gedreht, du Armer?« Ihre Grammatik ließ in diesem Satzgefüge zwar zu wünschen übrig, doch über die jähe Wendung des Themas wunderte Jo sich nicht mehr. April war ein Sonderfall. Bildhübsch, weiblich-launisch, wie es ihr so herrlich anstand, und dazu auch noch hochintelligent. Nie und nimmer jedenfalls war sie der Prototyp des schönen Dummchens. So oft sie auch mit dieser von Männern den Frauen wegen deren äußerlichen Formatierung angedichteten, wahrscheinlich jedoch »angewünschten« Rolle kokettieren mochte. Ihr Verstand schnitt schärfer als ein Schwert. »Also?« hakte sie nach. Jo nahm auf der Schreibtischkante Platz. »Du hast wieder mal mit Roh Myers telefoniert?« »Natürlich.« »Und?« »Die Mittagsnachrichten brachten den Crash in der Fifth Avenue groß raus. Achtzehn Leichtverletzte, vierundzwanzig zerborstene Fensterscheiben, neun kaputte Autos. Eines davon, ein 500er SL, tödlich getroffen. – Traust du mir zu, daß ich zwei und zwei zusammenzähle? Na also. Konntest nur du in die ganze Sache verwickelt gewesen sein. Und ich zog meine Erkundigungen ein. – Gefällt dir diese neue Modefarbe für Nagellack wirklich nicht? – Du hast recht. Sie ist scheußlich.« April Bondy griff zum Nagellackentferner. »Was steht als nächstes an?« fragte sie. »Du wirst doch nicht etwa schon Feierabend machen wollen, nachdem du dich stundenlang in der Centre Street erholtest.« »Du könntest deine Kündigung schreiben, und ich nehme sie an.« »So sauer auf einmal?« »Du kennst Tom und seinen Erholungswert.«
»Tut mir leid, Chefchen. So war es nicht gemeint.« »Und ob es so gemeint war!« knirschte Walker. »Wann wird Laramy zurück sein?« »Nicht vor Sonnenuntergang«, behauptete die blonde Bondy nach einem Blick auf die Armbanduhr. * Doch leider, leider hatte sie dieses eine Mal nur teilweise recht. Wie hätte sie auch wissen sollen, daß die Fotos in Memphis so schnell und so präzise »gestorben« waren? In puncto Marvon Denver, dessen Denk- und Kombinationsfähigkeit betreffend, war sie allerdings verdammt richtig gelegen. Und der Besuch einer öffentlichen Bibliothek, in der auch Zeitungen gehortet wurden, brachte das Phantom auf den Namen Walkers. Jo war im Laufe der Jahre als »Kommissar X« in den Schlagzeilen heimisch geworden wie das Ungeheuer von Loch Ness in der SaureGurken-Zeit, und alles andere als glücklich darüber. Er bezahlte einen hohen Preis für seinen Bekanntheitsgrad, und seine jeweiligen Klienten bezahlten jene Prominenz auf Heller und Pfennig zurück. Das war nur recht und billig, zumal sich der Fiskus mit einer stets offenen Hand aggressiv an seinen Einkünften beteiligte. George Laramy hatte ein ungeheures Schwein gehabt in diesem Zusammenhang: Er mußte Jo lediglich den Tagessatz bezahlen, und so, wie sich die Dinge entwickelten, war er nicht einmal dazu noch fähig, denn Marvon Denver hatte sich entschlossen, dem Mann eine nachhaltige tödliche Lektion zu erteilen. Es ging ja auch nicht an, daß sich plötzlich Fremde in seine ureigensten Angelegenheiten mischten. Cilya Virgin gehörte ihm! Er schützte sie, er bewahrte sie! Zuerst klingelte er, doch da rührte sich nichts. Das Schloß von Laramys Appartementtür setzte ihm danach keinen nennenswerten Widerstand entgegen, denn es war in der berühmten amerikanischen Leichtbauweise hergestellt, ein »Wegwerfschloß« sozusagen. Ein langer Daumennagel reichte aus, um die Halterungen zu lösen, und über den verfügte Marvon Denver. Seine Hände glichen Geierkrallen. Das Phantom sah sich um. Auf die »Maskerade« hatte es verzichtet. Die Schminke war abgebröckelt im Lauf der Stunden wie die Verputzreste von der Ruine, unter der er hauste, und er hatte sich wieder in seinen schwarzen
Schal gewunden. Er kam deshalb erneut wie der Leibhaftige daher in seinem Kostüm, und er fühlte sich auch ähnlich. In seinen Eingeweiden nistete eine mörderische Wut. Es war gar nicht so schwer gewesen, auf George Laramy als den Übeltäter zu kommen. Dieser Kerl mischte sich in alles ein, was die Belange der Dressmen betraf, fühlte sich wohl als eine Art »primus inter pares«, als der selbsternannte Vorstand einer Zunft, für die es noch keine Gewerkschaft gab. Marvon Denver hatte diesen elenden Wichtigtuer noch nie leiden können. Es würde ihm ein Vergnügen sein, ihn zu seinen räudigen Vorfahren zu schicken. Richtig. Da lag auf dem Couchtisch die aufgeschlagene Seite einer jener Nummern vom »Daily Mirror«, die er vor kurzem erst selbst in der Hand gehabt hatte, und Jo Walkers Foto sprang ihm daraus entgegen. »Also doch«, knurrte er bei sich und wurde auch auf einem in eine Anbauwand aus dem Warenhaus integrierten Schreibtisch fündig. George Laramy war kein ausgesucht ordentlicher Mensch. April hatte ihm beim Verlassen von Walkers Büro selbstverständlich eine bescheidene Anzahlung abgeknöpft, und die Quittung lag noch offen herum. Angewidert verzog Marvon Denver sein Gesicht zu einer noch weitaus widerlicheren Grimasse. In der zerstörten Hälfte fletschten die Zähne wie das Gebiß eines hungrigen Raubtiers. Blutrosa glänzte das bloßliegende Mundfleisch auf. Die Lippenfetzen zuckten, das erhaltene Lippenpaar wuchs zu einem schmalen Strich zusammen, wie von einer harten Feder auf weiches Papier gegraben. Diese Indizien reichten ihm vollauf, um Laramy mit Genuß zur Hölle zu schicken. Marvon Denver traf seine Vorbereitungen. * Unterwegs fiel Walker ein, daß ein kleiner Abendimbiß nicht zu verachten sei. Die vielen Stunden mit Captain Tom Rowland waren voll auf seine Appetit durchgeschlagen. Noch nicht mal ein Sandwich hatte er hinuntergebracht in der Centre Street. Sein Magen hätte es ihm in Anbetracht der Qualität der Präsidiums Kantine eigentlich danken müssen; nur jetzt rührte er sich eben mit
Macht. Diese paar Gyros-Schnipsel hielten schließlich nicht ewig vor. Der Dressman wohnte drüben in Queens, in jenem Stadtteil New Yorks, in dem die meisten Friedhöfe dieser großen Stadt angesiedelt sind und mehr als ein Drittel aller zur Verfügung stehenden Grünanlagen ausmachen. Trotzdem war die Gegend östlich des Cedar Grove Cemenetry nicht die schlechteste Adresse. Jo mied die Aussicht auf endlose Grabreihen dennoch und bog schon im Park Circle vom Long Island Expressway herunter, weil er am Meadow Lake ein paar Aussichtsrestaurants kannte, in denen garantiert keine Hamburger verkauft wurden. Und keine hundert Yard hinter ihm fuhr ein Yellow Cab. Der Driver war ein Schwarzer mit Schirmmütze und sein Fahrgast ein leicht angeheiterter Weißer, denn der hatte die Flughafenbar auf ein paar Drinks heimgesucht. »Lassen Sie mich in der Hood Jewel Ave aussteigen«, sagte George Laramy. * Marvon Denver saß höchst gelassen da. Er hatte alle Zeit dieser Welt. Wenn es nötig sein sollte, wartete er hier auch ein paar Tage. Irgendwann mußte Laramy ja zurückkommen. Ab und zu fixierte er das Telefon. Er gierte förmlich danach, Cilya anzurufen, doch er beherrschte sich. Auch dieser sogenannte Kommissar X würde noch an die Reihe kommen. Welch ein grandioses Pech heute früh in der 5. Straße! Der Krüppel schmunzelte scheußlich. So was kam eben mal vor im Eifer des Gefechtes. Er hatte sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lassen, und sein Mißerfolg war nur die gerechte Rache des Schicksals gewesen. Wie hieß es doch so tröstlich im Buch Hiob, Kapitel 14, Vers 15? Versiegelt in einem Beutel ist meine Auflehnung. Und DU gehst über mein Versagen hinweg… »ER hat es eben so bestimmt«, murmelte Marvon Denver. »Ich hätte mich vorher besser umtun sollen.« Nun, das zumindest hatte er mittlerweile erledigt. Dieser Jo Walker lief ihm nicht mehr davon. Dessen Stunde würde schon noch schlagen und Jahwes Gesetz siegen über die menschliche Sündhaftigkeit. Da war der Krüppel vollkommen sicher. Er betrachtete seine »Konstruktion« drüben auf dem Fensterbrett, und siehe da, sein Werk war gut getan. In diesem Moment sperrte
der Schlüssel im Schloß. Das Phantom huschte hoch aus seinem Sessel. Mit ein paar Schritten war es hinter der Tür, die Diele und Wohnraum trennte. Seine Konzentration hatte trotz der gewaltigen Gedanken, die er zum Zeitvertreib wälzte, keine Sekunde nachgelassen gehabt. George Laramy pfiff eine Melodie aus dem Plattenalbum vor sich hin, das er mit seinem Konterfei illustrieren würde. Die Songs waren gut. Die LP hatte das Zeug zu einem Longseller, und das wiederum war gut für George Laramy. Vielleicht wurden dann endlich die Fernsehfritzen doch noch aufmerksam auf ihn. Andererseits kam er auch so ganz gut zurecht. Freilich nur bis zu diesem Augenblick. * Rindfleischsalat mit Gurken, Zwiebeln und Paprika, Schinkenrahmsuppe, Gekochter Aal in Dillsauce, Petersilienkartoffeln, mit Käse überbackenes Nackensteak »Danziger Art« mit Bordeaux-Sauerkraut und Mousselinkartoffeln, Gemischter Salat. Jo Walker lief das Wasser schon beim Bestellen im Mund zusammen. Gar so klein würde der »Imbiß« wohl nun doch nicht ausfallen. Ein weißbefrackter Oberkellner verbeugte sich beflissen, denn Jo hatte bei der Zusammenstellung seines Menüs Geschmack und einen Sinn für die richtige Kombination erlesener Genüsse bewiesen. Im Lande des »Junk-Food« beileibe keine Selbstverständlichkeit. Auch Jo war mit seiner Wahl zufrieden; mit der Wahl des Lokals nämlich. Die Lampen brannten nicht zu hell und nicht zu dunkel. Der Meadow Lake lag still und schwarz vor den Panoramafenstern, spiegelte nur lautlos den Verkehrsstrom drüben vom Van Wyck Expressway wieder. Die Autofahrer hatten inzwischen die Scheinwerfer ihrer Wagen eingeschaltet. Aus verborgenen Lautsprechern klang angenehm anheimelnde Musik, nicht zu kitschig. Draußen beugten Topfpalmen ihre verwedelten Köpfe in einer frischen Brise, doch hier herinnen war es warm, und Walker dachte kurz daran, daß sein Beruf und sein so gefährlich erworbenes Einkommen dann und wann nicht nur Schattenseiten hatten. So wartete er bei Kerzenschein und einem herb-roten Cläre aus Kalifornien auf sein Essen, verzichtete sogar auf eine Zigarette, um sich den Gaumen nicht zu verderben. Es reichte ihm vollauf, daß er sich heute auch noch mit Laramy unterhalten mußte. Denn Herman Worship, den Fotografen, auch noch
zu interviewen, davon war er wieder abgekommen. Er hatte Marvon Denver bestimmt schon kurz nach dem Unfall aus seiner Adressenkartei getilgt, denn Horror-Pictures waren nicht sein Metier. Jo hörte den Kellner hinter ihm erst nach dem zweiten oder dritten dezenten Räuspern. Er wandte sich langsam um und ahnte bereits den Trouble, der sich hier anbahnte. »Ja?« »Dieser Mercedes 500 SL, Sir. Das ist doch Ihrer?« Walker nickte nur ungern. »Sie haben dort ein Telefon mit einem sehr schrillen Läutwerk eingebaut, Sir. Es klingt bis in die Küche.« Der Ober sagte das in einem Ton, als habe Jo anstelle dieses ausgewogenen Menüs Wiener Würstchen bestellt. »Dann muß ich ja wohl, nicht wahr?« »Sie kommen doch zurück, Sir? Die Vorspeise wird bereits angerichtet.« »Natürlich.« Jo sagte nur nicht, wann. Und wenn schon. Sein Rindfleischsalat mit Gurken, Zwiebeln und Paprika würde schon nicht heiß werden in der Zwischenzeit. Er hatte schon befürchtet, daß es April war, die nach ihm verlangte, und daß das nicht aus einem plötzlichen Anfall unstillbarer sexueller Sehnsucht geschah. »Na endlich!« begrüßte sie ihn brummig, als Jo saß und abgehoben hatte. »Ich befürchtete schon, ich müßte einen Trupp Bluthunde nach dir hetzen.« »Kannst du nicht Klartext reden, Herzchen? Du rufst mich doch nicht an, weil du plötzlich ein Kind Von mir haben willst« »Du…. du…!« »Ich bin verärgert«, schnitt Jo ihr das Wort ab. »Also, was gibt’s?« »Und ungerecht bist du auch!« schnappte die Bondy giftig zurück. »Ich hätte plötzlich ein komisches Gefühl und rief in Memphis an. Laramy war früher fertig und reiste auch früher ab. Daraufhin versuchte ich ihn zu Hause zu erreichen, um ihn auf deinen Besuch vorzubereiten. Könnte ja sein, daß er abends etwas anderes vorhatte, als mit dir über alte Zeiten zu klönen.« Jo fühlte, wie sein Magen sich zu einem harten Klumpen zusammenballte. Good bye, liebes Nackensteak, good bye, schöner Aal in Dillrahmsauce.
»Und?« fragte er mit trockener Kehle. »Es wurde abgehoben, jedoch nichts gesagt. Ich hörte nur einen gespenstisch rasselnden Atem. Soll ich Tom Rowland alarmieren?« »Nein«, brummte Jo. »Ganz abgesehen davon, daß mich das meine Lizenz kosten könnte, bin ich gleich um die Ecke. Ich wäre auf jeden Fall schneller dort als jeder Cop. – Gesegnete Mahlzeit, übrigens.« »Wie bitte?« »Vergiß es.« Jo startete, ließ ein paar Pfund Gummi auf dem Asphalt und ein herrliches Menü verbrutzeln. * George Laramy war nicht nur gefesselt, sondern wie ein Paket verschnürt, als er wieder zu sich kam. An seinem Hinterkopf hatte er eine dicke Beule. Nur mühsam schlug er die Augen auf und bereute das in derselben Sekunde. Marvon Denver grinste ihn an. Der kurze Anruf von vorher war schon wieder halb vergessen. Irgendeine Schnalle des Dressmans vermutlich. Nun, sie würde sich einen anderen Partner für die Sünde suchen müssen. Sie und ihr Seelenheil gingen ihn nichts an. Er hatte Schlapphut und Schal abgenommen und präsentierte sich in all seiner Gräßlichkeit. »Du zuckst zusammen, mein Freund?« krächzte er. »Nur weil du einen alten Kollegen wiedertriffst?« »Mein Gott!« stöhnte Laramy. Er war aschgrau geworden. Trotzdem perlte plötzlich kalter Schweiß auf seiner Stirn. »Marvon…?« »Sehr richtig, mein Freund. Es war ein dummer Fehler von dir, Jahwes Pläne durchkreuzen zu wollen.« Er lachte scheppernd auf, und es hörte sich an wie aneinanderreibendes Blech. »Als ob das überhaupt möglich wäre! Aber so ist das nun mal mit euch Ungläubigen: Ihr wandelt auf falschen Pfaden. Und deshalb werdet ihr auch weggerichtet vom Angesicht der Erde und des Himmels.« »Du bist verrückt! Binde mich sofort los!« »Verrückt!« meinte Denver. »Ich war noch nie so normal. Dieser Unfall hat mich meine wahre Bestimmung erkennen lassen. Denn siehe, auch ich wurde bereits bedroht von der Anbetung falscher Götter.« »O Lord!« George Laramy zerrte an seinen Stricken. Sie schnitten nur noch
tiefer ins Fleisch. Die Haare standen ihm wirr vom Kopf, und er sah kaum mehr besser aus als sein krankes Gegenüber. Das Entsetzen hatte seine Züge bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Marvon Denver stand. Er sah auf ihn hinunter mit seinem einen Auge, und die heile Hälfte seines Gesichts lächelte milde, oder versuchte es zumindest. Die Diskrepanz zur anderen wurde dadurch nur noch schauerlicher. »Bemühe dich nicht, George. Was mußtest du dich in Angelegenheiten mischen, die dich nichts angehen. Aber so warst du ja schon immer. Immer vorneweg vor den anderen, und den Helden gespielt. Den großen Macher. Eitler Wahn war das, mein lieber George. Und dafür wirst du jetzt bestraft.« »Du gehörst ins Irrenhaus!« Laramys Stimme war laut und gellend übergeschnappt. Marvon Denver reagierte sofort. Er hatte den Knebel die ganze Zeit über schon bereitgehalten, nun stopfte er ihn dem Dressman in den weit geöffneten Rachen. Der Schrei wurde zu einem dumpfen Würgen. Dazu hatte das Phantom vorsorglich die Stereoanlage aufgedreht, während sein Opfer noch bewußtlos gewesen war vom Schlag. Es hatte früher wohl mal Eishockey gespielt. »In spätestens zehn Minuten hast du’s hinter dir«, erklärte Denver ruhig, während sich Laramy wie in Krämpfen wand. »Viel wird man auch von dir nicht mehr finden, denke ich. Und du hältst nicht soviel aus wie ein Mercedes.« Er wies auf seine Konstruktion. In einem Goldfischglas lagen Eiswürfel bis oben zum Rand, und aus diesen Eiswürfeln ragte einer der Molotow-Cocktails, auf deren oberem Verschluß auf einer einfachen Lage Karton eine brennende Kerze stand. »Doppelt genäht hält besser«, meinte Marvon Denver dazu. »Sollte die Kerze aus irgendwelchen Gründen am Karton verlöschen, reicht die Hitze ihrer Flamme immer noch aus, das Glas zu zersprengen. Und falls es dich tröstet; auch Sodom und Gomorrha sind im Feuer verglüht…« * Jo sah die Rostbeule von Auto, und gleichzeitig sah er diese gottverdammte schwarze Fledermaus mit ihrem wehenden Cape aus dem Haus kommen und sofort einsteigen, als er noch rund hundert Yard entfernt war.
George Laramy! Lebte er noch? Sollte er hinauflaufen ins Haus an der Hood Jewel Ave und vielleicht zu retten versuchen, was noch zu retten war? Wenn überhaupt noch was zu retten war? Bislang hatte der verrückte Killer von der 5. Straße immer noch ganze Arbeit geleistet. Walkers Zögern kostete ihn wertvolle Sekunden. Vor ihm rauschte die alte Kiste los. Auch Denver mußte ihn inzwischen bemerkt haben. Jos auffälliges Auto wirkte wie eine Signalrakete. Denver! schoß es KX durch den Kopf. Ich muß Denver haben! Jetzt oder nie. Der Bursche ist wahnsinnig! Da jagte die Karre auch schon auf den nächsten Expressway, während Jo noch bei gebremstem Tempo mit fiebrigen Fingern die Nummer des Polizeinotrufs anwählte. »Mord!« rief er in den Hörer. »Kommen Sie sofort!« Dann gab er Laramys Adresse durch und wiederholte sie zweimal zur Sicherheit. Und als er nach seinem eigenen Namen gefragt wurde, legte er bescheiden auf. Er fand Denvers Kiste erst wieder, als der schon fast die Queensboro Bridge erreicht hatte. Um ein Haar wäre Walker abgehängt worden, denn der Verkehr war nach wie vor einigermaßen chaotisch. Inzwischen hatten sich die Theaterbesucher aus den östlichen Stadtteilen zur City auf den Weg gemacht und verstopften die Straßen erneut und mit sehr viel Erfolg. Weil es zu den Pikanterien dieser Millionenstadt gehörte, daß es südlich des Central Park zwar rund vierhundert täglich bespielte Bühnen gibt, in den übrigen Bezirken zusammen jedoch keine zwanzig. Nach der Brückenabfahrt, die bei der Second Ave nahtlos in die 14. Straße abgeht, hatte Walker aufgeholt. Sein Roadster klebte beinahe an der hinteren Stoßstange des Uraltschlittens. Sollte er ihn einfach rammen? Schon allein der Gedanke daran trieb Walker Schmerztränen in die Augen. Dieser schöne, noch so gut wie nagelneue Wagen! Denver preschte mit donnernden Fehlzündungen über den Union Square und danach in die Fifth Avenue hinauf nach Norden. Dieser Bastard legte ein Affentempo vor, übertrat jede Verkehrsregel, die je erfunden worden war, und Kommissar X noch ein paar mehr. Beim Platz vor dem Empire State Building hatte er ihn. Er radierte die Karre halb an die Säulen neben dem Haupteingang. Immer noch herrschte ein reges Kommen und Gehen. Es war noch nicht spät genug, sämtliche Restaurants und vor allem die Aussichtsplattform voll in Betrieb.
Klar gibt es auch in New York inzwischen höhere Gebäude. Aber welches beleuchtet schon seine Spitze nächtlich mit 500 000 Watt, grün und rot zu Weihnachten, gelb und weiß in der Osterwoche und blau und weiß zum Sieg des Yankee-Baseball-Teams? Jo konnte nicht verhindern, daß Marvon Denver aus seiner Quetsche wischte, und schießen konnte er ebenfalls nicht. Die zahlreichen japanischen Touristen waren vom Anblick des Phantoms so erschrocken, daß sie vergaßen, ihre Kameras vor die Augen zu reißen. Da hatte Denver schon die Lifts erreicht. Die schnellsten jagten einen im Stück hoch bis in den 80. Stock. Endlich hatte Walker es geschafft, auch mal diesen Killer in Panik zu versetzen. Jo hetzte im zweiten Wolkenkratzerexpress hinterher, und als er ihn verließ, rannte Marvon Denver gerade in den Lift zur Plattform in die 102. Etage. Jetzt hatte er ihn! Jetzt gab es kein Entrinnen mehr für das Phantom. Dort oben war Endstation. Dort rasten nur mehr tausend kleine Planeten um die strahlende Spitze und wieder zurück in die Nacht, Falter, weiß und groß und hart wie Tennisbälle, angelockt vom Licht. Kommissar X hatte seine Waffe entsichert. Kreischend waren die nur noch wenigen Besucher schon vorher auseinandergestoben: King Kong persönlich hätte keinen gewaltigeren Eindruck auf sie machen können als Marvon Denver, der fanatische Beschützer einer nicht vorhandenen Unschuld, ein armer Hund, wenn Jo es genau betrachtete. Ein armer, tollwütiger, lebensgefährlicher Hund. Walker legte die 38er Automatik an, hielt sie in Combat-Stellung mit beiden ausgestreckten Armen. »Gib auf!« brüllte jemand. War er es selbst, dessen Stimme nun so schrill klang? »Du hast keine Chance mehr!« Nie würde Kommissar X dieses Lachen vergessen, das Marvon Denver ihm aus seinem zerrissenen Gesicht entgegenschleuderte, während er gleichzeitig in die Taschen seines Umhangs griff. Diesmal zögerte Jo nicht mehr. Er zielte auf den Arm. Wie hätte er auch ahnen sollen, daß seine Kugel dabei einen Molotow-Cocktail zerschmetterte. Ein noch hellerer Lichtblitz flammte auf. Die Explosion trieb Marvon Denvers Körper durch das stählerne Absperrgitter. Es war nicht mehr viel, was unten noch auf die 5th Avenue klatschte; eine Ewigkeit von Sekunden später.
ENDE
Bereits nächste Woche erscheint KOMMISSAR X Band 1630: Archie Lennox
Die Jahrhundertstory Deutscher Erstdruck
Es soll die Hochzeit des Jahres werden: Robert Glaton, der Zeitungszar, und die atemberaubende Schöne ohne Vergangenheit. Jedenfalls gibt sich das Paar alle Mühe, Jeans letzte Jahre vor der neugierigen Öffentlichkeit zu verbergen. Denn vor Robert Glaton war Jean Miß Planetta, und als solche die Frau eines der bekanntesten Gewaltverbrecher der USA. Und wie der Zufall es will, buchst Cesare Planetta dann auch just an dem Tag aus dem Sing Sing aus, an dem die Trauung stattfinden soll. Zu dieser bringt er zwei Kollegen aus alten Zeiten mit – und reichlich viel Blei. Mit der Entführung Jean Glatons vom Altar weg beginnt eine wilde Jagd auf die Gangster, und Jo Walker kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Denn was er unter Lebensgefahr herauskriegt, ist mehr, als sich selbst seine Begleiterin in diesem Fall vorstellen kann – die bestimmt nicht phantasielose Sensationsreporterin Geraldine Brooks. Zusammen mit Kommissar X erlebt sie die aufregendsten Stunden in ihrem jungen Leben, und die sollten Sie sich dann auch nicht entgehen lassen. Den Nervenkitzel gibt es beim Zeitschriftenhändler oder am Kiosk, Sie werden auf Ihre Kosten kommen. Das verspricht Ihre Krimi-Redaktion KOMMISSAR X erscheint wöchentlich in der Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG, 7550 Rastatt, Telefon (07222) 13-1. Druck und Vertrieb: Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG. Anzeigenleitung: Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig, 7550 Rastatt. Anzeigenleiter und verantwortlich: Rolf Meibeicker. Zur Zeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 15. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg Gesellschaft m. b. H. Niederalm 300, A-5081 Anif. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlages. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich! Printed in Germany. Mai 1990