1
EDGAR TARBOT
DAS MONSTER VON LONDON
Deutscher Taschenbuch-Erstdruck
2
»Mann, o Mann, du bist vielleicht eine Ni...
20 downloads
660 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1
EDGAR TARBOT
DAS MONSTER VON LONDON
Deutscher Taschenbuch-Erstdruck
2
»Mann, o Mann, du bist vielleicht eine Niete!« sagte Carol Sky und schüttelte die lange, flammendrote Mähne. »Was hast du erwartet? Ein Erdbeben?« fragte Jason Bloom bissig. »Für Wunder bin ich nicht zuständig.« Carol stemmte die Fäuste in die Taille. Sie stand splitternackt vor dem breiten französischen Bett, in dem der muskulöse Junge mit den jettschwarzen Haaren hockte. »Du hast wohl einen ausgesprochen miesen Tag«, warf sie ihm vor. Sie war beschwipst wie Jason. Die leere Flasche stand auf dem Nachttisch. In den Gläsern schmolz der letzte Rest des Eises langsam dahin. »Ich bin eben keine Maschine«, knurrte Bloom verärgert. Er griff sich die Marlboro und klemmte sich mit einer weltmännischen Geste das Stäbchen zwischen die wulstigen Lippen. Wütend schnippte er so lange am Feuerzeug herum, bis die Flamme hochsprang. Nach den ersten Zügen fand er sein angekratztes Selbstbewußtsein wieder. »Eine Niete bin ich also«, brummte er, während er den makellosen Körper des Mädchens betrachtete. Am rechten Oberschenkel hatte sie einen herzförmigen Leberfleck. Ansonsten war sie wie alle anderen, die Jason schon in dieses Bett gelegt hatte.
3
Vielleicht war sie ein wenig verrückter, überspannter. Carol war kalt und berechnend. »Jawohl, eine Niete. Und was für eine«, zischte das Mädchen und begann ihre Unterwäsche zu suchen. »Und dein Mann? Ist der auch eine Niete?« »Er ist mein Mann.« »Sonst nichts?« »Ich will in deinem Schlafzimmer nicht über ihn sprechen. « Jason grinste spöttisch. »Was macht das schon aus, wenn du ihn in diesem Schlafzimmer bereits betrogen hast. « »Du bist gemein! « Sie schlüpfte in den rechten Schuh, der neben dem Bett lag, und humpelte ins Wohnzimmer, wo sie den zweiten Schuh zu finden hoffte. Als sie wiederkam, drückte Jason gerade seine Zigarette im Keramikascher aus. Sie hatte den zweiten Schuh gefunden und trug nun auch ihr trägerloses helles Kleid. Ihre Handtasche war weiß und hatte die Form einer Sofarolle. Sie hatte sie unter den rechten Arm geklemmt. Jason Bloom strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Dann wies er auf das Bett und sagte grinsend: »Vielleicht klappt’s beim nächstenmal, Baby.« Carol kniff die Augen zornig zusammen und schob die Unterlippe trotzig vor. »Es wird kein nächstes Mal geben, kleiner Sexprotz. Möglicherweise verletzt das, was ich dir jetzt 4
sage, deine impertinente Eitelkeit. Das macht mir nichts aus. Ich sage es trotzdem: du bildest dir sicherlich einen Haufen darauf ein, mich ins Bett gekriegt zu haben, dabei war es genau umgekehrt. Nicht du hast mich flachgelegt, sondern ich dich. Und willst du wissen, warum? Nicht deiner schönen Augen wegen bin ich mit dir unter die Decke gekrochen. Auch nicht wegen deiner jugendlichen Larve oder wegen deines kleinen Hirns – und schon gar nicht wegen deiner Schweißfüße. Ich habe es aus einem einzigen Grund getan ... « »Um mich zu ärgern, eh?« fiel Jason Bloom dem Mädchen kichernd ins Wort. Carol ließ sich nicht stören. »Ich bin Schauspielerin. Du sitzt im Besetzungsbüro der ›Flint Productions‹. Ich habe kein Engagement. Du könntest mir zu einem verhelfen. Also dachte ich: mach dir den Jungen verpflichtet. Laß ihn dein Parfüm riechen, und wenn er mehr haben will, gib es ihm, schließlich hast du ja auch was davon. Nach dem Geprahle von heute nachmittag habe ich eine kleine Sensation erwartet. Aber ihr Männer seid . . . Ah, schade, es hätte für uns beide verflixt schön sein können.« Carol wandte sich um und ging mit schaukelnden Hüften auf die Schlafzimmertür zu. »Willst du denn keine Rolle mehr haben, Baby?« fragte Jason hinter ihr her. »Unter diesen Umständen werde ich wohl verzichten müssen. « 5
»Soll ich dir ein Taxi rufen?« »Ich glaube, es wird mir guttun, nach dem erlittenen Schock erst mal ein paar belebende Schritte zu machen.« »Mach’s gut, Baby.« »Mach’s besser«, erwiderte Carol spöttisch. Dann ging sie. Sie fuhr mit dem Lift vom fünften Stock ins Erdgeschoß. Augenblicke später trat sie aus dem Haus. Die Straße war menschenleer. Das Zifferblatt ihrer zierlichen Armbanduhr reflektierte das Licht einer Peitschenlampe. Sie neigte die Uhr ein wenig. Die Zeiger standen auf zwölf. »Mitternacht«, sagte Carol Sky und schüttelte wütend den Kopf. Sie schaute zu Blooms Fenstern hoch. »Eine verlorene Nacht«, murmelte sie und ging. Die frische Luft tat ihr gut. Die Wirkung der Drinks ließ nach, und sie dachte daran, daß sie sich Jason gegenüber scheußlich benommen hatte. Eigentlich war er gar nicht so übel. Sie beschloß, ihn am nächsten Morgen anzurufen und sich bei ihm zu entschuldigen. Es war nicht schwer, alles auf den Alkohol zu schieben. Sie hatten ja beide ziemlich viel getrunken. Wahrscheinlich war das der Grund für Jasons Schwäche gewesen. Egal, das war allein sein Problem. Für Carol war nur wichtig, daß er nicht böse auf sie war und ihr doch noch in naher Zukunft zu einem akzeptablen Engagement verhalf.
6
Als sie in die Nähe der Themse kam, schwebten ihr unheimliche Nebelfetzen entgegen. Obwohl es nicht kalt war, fröstelte sie leicht. Die grauen Schwaden sahen wie drohende Gespenster aus, die ihr etwas anhaben wollten. Bizarr geformte Figuren nahmen sie in ihre Mitte und führten um sie herum einen geisterhaften Tanz auf. Ständig zerfließend, zerfasernd, sich wieder neu und zu anderen Schauergestalten formend. Jetzt wäre ein Taxi nicht schlecht gewesen, doch nun war keines zu kriegen. Eine seltsame Angst beschlich das Mädchen. Es wußte nicht, wovor es sich fürchtete. Vielleicht war es die unheimliche Stille. Carol fühlte sich beobachtet. Während sie mit fest unter den Arm geklemmter Handtasche die Straße entlangging, wandte sie sich immer wieder blitzschnell um. Niemand folgte ihr. Und trotzdem wurde sie diese furchterregende Gefühl nicht los, von jemandem unentwegt angestarrt zu werden. Sie spürte die unheimlichen Blicke zwischen ihren Schulterblättern. Sie waren so präsent wie der sanfte Druck von zwei Fingern. Sie ging ein wenig schneller, wollte eine Straße erreichen, auf der sie wenigstens ab und zu jemandem begegnete, um nicht gar so allein zu sein. In einer solchen Straße würde sie auch früher ein Taxi entdecken, das sie anhalten konnte. Da!
7
Carols Herz setzte kurz aus. Sie hatte Schritte vernommen, ganz deutlich. Schwere Schritte. Männerschritte vermutlich. Irgendwo dort hinten in der tückischen Brühe des Nebels. Sofort verdoppelte sich Carols Angst. Sie versuchte sich einzureden, daß absolut kein Grund vorhanden war, sich zu fürchten. Dort hinten ging ein Mann seines Weges. Wahrscheinlich nach Hause, vielleicht auch zur Arbeit. Trotzdem ging sie wesentlich schneller als zuvor. Sie wagte sich nicht mehr umzusehen. Aber sie lauschte angestrengt nach den hämmernden Schritten, und sie bildete sich ein, daß ihr diese Schritte folgten. Zweimal wechselte sie die Richtung. Danach glaubte sie Gewißheit zu haben: sie wurde von jemandem verfolgt. Von diesem Moment an bildeten sich kleine Schweißtröpfchen auf ihrer Stirn. Sie strich das lange Haar mit einer schnellen Bewegung zurück, blickte gehetzt nach hinten, sah die schemenhaften Umrisse einer Gestalt, stieß einen erstickten Schrei aus und begann wie von Furien gehetzt zu laufen. Der Mann lief ebenfalls. Atemlos suchte Carol Sky nach einem Versteck. Ihr Puls raste und drohte die Handgelenke zu sprengen. Ein furchtbares Vibrieren erfaßte ihre Nerven. Die schweren Schritte kamen näher, der Mann holte auf. Carol hatte keine Ahnung, mit welcher Absicht dieser Kerl hinter ihr herrannte. Vielleicht 8
wollte er Geld von ihr. Vielleicht wollte er ihren Körper. Vielleicht aber wollte er ihr Leben. Es passieren gräßliche Dinge in einer Großstadt wie London, tagtäglich. Dinge, die man selbst nie tun würde, von denen man nur in den Zeitungen liest und meint, so etwas würde immer nur den anderen passieren. Und eines Tages passiert es einem selbst. Wie der Autounfall, an den man nie gedacht hat. Gehetzt durchquerte Carol einen kleinen Park. Die Büsche schienen zu leben. Ihr Blattwerk gab ein gespenstisches Flüstern von sich. Der helle Vollmond ließ die breit-kronigen Kastanienbäume weite, finstere Schatten werfen. Das Mädchen eilte unter ihnen durch, hörte die Männerschritte über den Kiesweg knirschen und verließ den Park in größter Hast. Die Angst saß nun in ihrem Hals. Sie war zu einem dicken, würgenden Kloß geworden. In einer Entfernung von zweihundert Yards entdeckte Carol Sky eine Shell-Tankstelle. Da das Firmenzeichen nicht beleuchtet war, nahm Carol an, die Tankstelle wäre geschlossen. Aber das mußte nicht heißen, daß der Pächter nicht anwesend war. Vielleicht schlief er in dem an die Tankstelle angebauten Gebäude. Carol klammerte sich verzweifelt an diese Hoffnung. Ehe der Verfolger den Park durchquert hatte, erreichte Carol die Shell-Station. Der Geruch von Schmieröl und Benzin legte sich auf ihre Lungen.
9
Sie mußte husten, preßte die Hand auf ihren Mund, um das Geräusch zu dämpfen. Neben einer schmalen Eisentür entdeckte sie einen Klingelknopf. Ohne zu überlegen drückte sie ihren Daumen darauf, während sie mit gehetztem Blick über die Schulter zurückschaute. Nervös drückte sie erneut auf den Knopf, doch sie vernahm kein Klingelzeichen. Die Glocke war entweder nachts abgeschaltet, oder sie funktionierte auch bei Tag nicht. Entsetzt stellte Carol fest, daß sich der Verfolger der Tankstelle bereits auf hundert Yards genähert hatte. Schnell hastete sie auf zwei Lastwagen zu. Gleich am ersten turnte sie keuchend hoch. Sie kippte über die Kante der Ladeklappe und preßte sich flach auf den sandigen Boden der Ladefläche. Mit pochendem Herzen hielt sie den Atem an. Es fiel ihr nicht leicht. Der Brustkorb drohte ihr zu zerspringen. Doch die Angst war so groß und so lähmend, daß sie das Kunststück fertigbrachte, eine ganze Weile nicht zu atmen. Der Mann lief nicht mehr. Er suchte sie. Carol lauschte zitternd seinen Schritten. Als sich diese Schritte jenem Laster näherten, auf dem sie sich versteckt hatte, dachte sie, aus lauter Angst verrückt zu werden. Sie sah sich schon tot und geschändet. Sie weinte vor Furcht und versuchte irgendein Gebet, doch sie fand in ihrer namenlosen Aufregung keine Worte. 10
Da hatten die Schritte den Laster beinahe erreicht. Carol stockte der Atem. Sie preßte ihr Gesicht auf den rissigen Boden und drückte die Lider verzweifelt zusammen. Ganz flach atmete sie nur. Kalter Schweiß klebte auf ihrem ganzen Körper. Nackte Angst quälte sie langsam zu Tode. Eine Angst, wie sie sie noch nie in ihrem Leben verspürt hatte. Die Schritte entfernten sich. Durfte sie hoffen? Carol wagte den Kopf nicht zu heben. Sie hörte den Mann fortgehen, hörte seine Schritte allmählich verklingen, fand aber trotzdem nicht den Mut, sich aufzurichten. Erst als das Vibrieren ihrer Nerven an Heftigkeit etwas abnahm, setzte sie sich zögernd auf. Mißtrauisch lugte sie über den Rand der Ladeklappe. Der milchige Nebel hatte an Intensität zugenommen. Träge rollte er die Straße entlang. Aber der Mann, der sie verfolgt hatte, war nicht mehr zu sehen. Carol blickte benommen auf ihre zitternden Hände. War sie gerade dem Tod entronnen? Ausgeschlossen war es nicht. Ganze zehn Minuten brauchte sie, um sich wieder so weit unter Kontrolle zu haben, daß sie den Heimweg fortsetzen konnte. Während sie von dem Lkw kletterte, der ihr – so meinte sie – das Leben gerettet hatte, dachte sie daran, zur Polizei zu ge11
hen und den Vorfall zu melden. Doch sobald sie den Asphalt der Straße unter den Füßen hatte, verwarf sie diesen Gedanken. Man hätte ihr eine Menge Fragen gestellt, die unter Umständen sehr peinlich hätten sein können. Am Ende hätte man Carols Mann in die Sache hineingezogen. Er hätte erfahren, bei wem sie gewesen war. Vielleicht hätte er ihr eine Szene gemacht – und niemand hätte sich ernstlich um den Mann gekümmert, der sie verfolgt hatte. Es war besser, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Schließlich war ja nichts Ernstliches passiert. Carol eilte die Straße entlang. Sie erreichte einen gußeisernen Mast, an dem eine Ampelanlage befestigt war. Da hörte sie plötzlich das Knurren eines Hundes hinter sich. In panischem Schrecken wirbelte sie herum. Und dann sah sie mit schockgeweiteten Augen, wer dieses Knurren ausgestoßen hatte. Kein Hund war es gewesen, sondern ein Mensch. Kein Mensch. Nein, kein gewöhnlicher Mensch hätte ein so grauenerregendes Knurren von sich geben können. Ein scheußliches Monster war es, halb Mensch, halb Wolf. Werwolf nennt man diese mörderischen Bestien, die vom Teufel selbst gelenkt zu werden scheinen. Ein heiseres Fauchen stieg aus der Tiefe des Wolfsrachens. Das silbrige Fell des Monsters sträubte, die Schnauze öffnete sich. Gefährlich blitzte das kräftige Raubtiergebiß. Ein schreckliches Knurren 12
ließ Carol erstarren. Als das Untier mit seinen krallenbewehrten Pranken nach ihr schlug, stieß sie einen grellen Schrei aus, der erst mit ihrem blutigen Tod ein abruptes Ende fand. Uniformierte Polizeibeamte riegelten den Tatort hermetisch ab. Aus dem Kastenwagen der Mordkommission schafften emsige Männer ihre Arbeitsgeräte heran. Scheinwerfer wurden auf Stativen aufgebaut. Der Polizeifotograf schoß mit kaltblütiger Routine seine Bilder von der Leiche, die in einer riesigen Blutlache lag. Natürlich fanden sich selbst um diese späte Stunde einige nimmermüde Neugierige ein, die die Beamten bei ihrer wenig erfreulichen Arbeit beobachten wollten. Nachdem der Polizeiarzt die Tote kurz untersucht hatte, gesellte sich Detektiv-Sergeant Allan Crown zu ihm. Crown war ein Mann, der ein halbes Jahrhundert mit wachen Augen und hellem Verstand durchschritten hatte. Abgeklärt von der Zeit und ihren vielen Übeln, hatte er einen absolut zuverlässigen Riecher für das Wichtige und Wesentliche entwickelt, was ihm den Ruf eines zuverlässigen und cleveren Polizeibeamten eingebracht hatte. Sein ganzer Stolz waren seine Frau und die beiden Söhne, aus denen er ohne wesentliche Mühe zwei tüchtige Rechtsanwälte gemacht hatte, die trotz ih-
13
rer Jugend bereits einen ausgezeichneten Ruf hatten. »Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm«, pflegte Crown zu sagen, wenn das Gespräch auf seine Söhne kam. Trotz seiner fünfzig Jahre hatte der DetektivSergeant von Scotland Yard keinen Gramm Fett am Leib. Er wirkte drahtig, immer ausgeschlafen und bereit, gegen einen bequemen, dicklichen Zwanzigjährigen zum Hürdenlauf anzutreten. »Nun, Doc?« fragte er mit seiner unverkennbaren, glasklaren Stimme. Der Polizeiarzt, ein Mann mit militärischer Haltung und eisengrauen Haaren, schüttelte den Kopf. »Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen können, Sergeant.« »Sieht schlimm aus, das Mädchen«, pflichtete ihm Crown bei. »Möchten Sie eine Zigarette haben?« » Vielen Dank. Ich bin gerade dabei, es mir wieder einmal abzugewöhnen. « »Das wievielte Mal?« »Ich zähle die Anläufe längst nicht mehr. Bestimmt schaffe ich es auch diesmal nicht, aber der Körper freut sich auch über zwei, drei Wochen Pause. Deshalb brauchen Sie sich jedoch nicht einzuschränken.« Crown schüttelte den Kopf. »Ich habe soeben eine weggeworfen. Zum Kettenrauchen reicht mein Gehalt nicht.« Er wies mit dem Daumen auf das Mädchen. »Carol Sky, Schau14
spielerin. Sie war sehr hübsch, bevor ihr das passierte. Ich habe ihren Ausweis gesehen.« »Sie wurde buchstäblich zerfleischt. Was muß das für ein Mensch sein, der zu so etwas fähig ist?« »Wahrscheinlich ein Verrückter«, sagte Allan Crown. »Wie ein Tier hat er sie umgebracht.« »Erinnern Sie sich noch an Anne Melton, Doc? Ich meine die Tote, die wir vor vier Wochen in der Nähe des Regent’s Park gefunden haben. Ebenfalls Schauspielerin, ebenfalls so grauenvoll verstümmelt.« Der Polizeiarzt hob erstaunt die Brauen. »Glauben Sie, daß dieses Mädchen hier demselben Mörder zum Opfer fiel, Sergeant?« »Ich sehe mir zuerst Ihren Obduktionsbericht an, dann sage ich Ihnen, was ich glaube.« Mit brüllenden Düsen setzte der Silber-Jet auf der grauen Landepiste des Heathrow Airport auf. Die mächtige Maschine rollte gemächlich aus. Die Gangway wurde herangefahren. Dann klappte die dicke Tür auf – und England hatte mich wieder. Im Flughafenrestaurant wartete Sergeant Crown auf mich. Er hörte sich bei einem kühlen Bier an, was die angenehme Mädchenstimme mir über Lautsprecher auf seinen Wunsch hin vermittelte. Als ich das gut besuchte Restaurant betrat, riß Crown den Arm hoch, um sich bemerkbar zu machen. Ich schleppte meinen Koffer zu seinem Tisch. 15
»Guten Tag, Allan.« , Er funkelte mich mit strahlenden Augen an. »Detektiv-Inspektor Tom Whittaker! Herzlich willkommen! Scotland Yard lief während deiner Abwesenheit bloß auf drei Zylindern.« Ich setzte mich zu ihm, nachdem ich die Hand fest gedrückt hatte. Auch ich entschied mich für ein gutes englisches Bier. Und wir alberten eine ganze Weile herum. »Wie waren die Mädchen in Spanien?« fragte er grinsend. »Schlimm«, gab ich mit einem schelmischen Augenzwinkern zurück. »Vielen Dank für die Ansichtskarten aus Barcelona. Meine Frau hat sich irrsinnig darüber gefreut.« »Weiß ich doch. Deshalb habe ich sie ja geschickt.« »Unsereins kommt ja nicht aus London raus.« »Wieso? Ihr wart doch im Vorjahr in Venedig.« Allan grinste breit. »Ach ja, in Venedig. Du, die Leute dort haben vielleicht ein Temperament, sage ich dir. Alle Straßen überschwemmt – aber sie singen!« Wir lachten herzlich. Man hätte uns für Vater und Sohn halten können. Daran, daß nicht er der Inspektor und ich der Sergeant war, war meine höhere Schulbildung schuld. Doch wir spielten niemals Vorgesetzter und Untergebener, sondern stets Partner. Wir bildeten gemeinsam den Kopf des Sonderdezernats III, einer Abteilung in Scotland Yard, die für außergewöhnli16
che Kriminalfälle zuständig war. Wenn wir getrennt arbeiten mußten, waren wir nur halb soviel wert wie gemeinsam. Wir ergänzten einander hervorragend, und dieser Umstand kam unserer schwierigen Arbeit zumeist sehr zugute. Wir verließen das Restaurant, nachdem wir ausgetrunken hatten. Allan brachte mich in seinem Privatwagen, einem gut erhaltenen alten Cortina, nach Hause. Ich schloß die Tür auf. Muffiger Geruch schwebte uns entgegen. Es war drei Wochen lang nicht gelüftet worden. So lange hatte ich Urlaub gehabt, und so lange war ich in Spanien gewesen. Es war neun Uhr vormittags. Ich hatte an Bord der Maschine gefrühstückt. Bis zum Mittagessen, zu dem ich Allan zur Feier des Tages einzuladen gedachte, blieben uns noch mindestens drei Stunden Zeit. Der Unterschied zwischen Allan und mir bestand nicht so sehr im Alter als in der Tatsache, daß auf mich niemand wartete, wenn ich nach Hause kam. Ich war fünfunddreißig und Junggeselle. Hin und wieder verhedderte ich mich für eine Weile in den weichen, zarten Armen eines Mädchens, ohne dabei aber zu sehr über die Schnur zu hauen oder gar den Kopf zu verlieren. Zunächst riß ich alle Fenster meiner Vierzimmerwohnung auf. Mit Schwung warf ich den Koffer aufs Bett. Und dann zauberte ich jene Sachen hervor, die ich Allan 17
aus Spanien mitgebracht hatte. Ich hatte im Augenblick keinen anderen Menschen, dem ich eine kleine Freude bereiten hätte können. Deshalb mußten Allan und seine Frau herhalten. »Für mich, Tom?« fragte Allan erstaunt, als ich ihm den Bacardi überreichte. »Mit einer Auflage«, sagte ich schmunzelnd. »Und zwar?« »Daß du ihn nicht ganz allein austrinkst.« Ich legte ein holzgeschnitztes Steuerrad auf den Tisch. In der Mitte des Rades befand sich ein verchromtes rundes Thermometer. »Und das ist für deine Frau«, sagte ich. »Tom, du bist ja verrückt!« protestierte Allan. »War spottbillig. Ich schäme mich beinahe, nicht mehr mitgebracht zu haben.« Wir köpften eine Tequillaflasche. Und dann mußte mir Allan erzählen, was sich während meiner Abwesenheit getan hatte. Wenn man mit Leib und Seele Kriminalist ist, kann man sein Interesse nicht einfach ein- und ausschalten wie eine Glühbirne. Der Sergeant hatte mir wenig Erfreuliches zu erzählen. »Die Welt hat sich inzwischen weitergedreht, Tom«, sagte er mit einem Tonfall, als würde er dies sogar bedauern. Was ich anschließend erfuhr, bewies mir, daß Allans Bedauern begründet war. Keine zehn Pferde
18
hätten mich daran hindern können, die Arbeit noch am selben Tag aufzunehmen. Um zwölf aßen wir in einem netten Restaurant. Allan bestellte sich – wohl aus Sympathie – eine spanische Paella. Ich verdrückte ein saftiges Steak, das eben doch nur zu Hause so herzhaft schmeckt. Nach dem Essen suchten wir jenes Gebäude auf, das zwischen Victoria Street, Broadway und Dacre Street liegt: New Scotland Yard. Ich betrat unser gemeinsames Büro, als hätte ich keinen Tag lang Urlaub gemacht. Per Telefon meldete ich mich bei der Sekretärin des Chefs für einen kurzen Besuch an. Er war nicht im Haus. Sie versprach mir, mich anzurufen, sobald er wieder da wäre. »Und wie war der Urlaub, Inspektor Whittaker?« fragte sie abschließend. Ich lachte trocken. »Welcher Urlaub denn?« Dann legte ich auf. Zwanzig Minuten später schlug der Apparat an. Der Chef war wieder da und freute sich auf meinen Besuch. Allan kam nicht mit. Ein Anruf vom gerichtsmedizinischen Institut hielt ihn zurück. Also fuhr ich allein hoch. Der dickliche ältere Herr mit der hohen Stirnglatze und den rosigen Wangen hieß Sir John Baxter. Das Sonderdezernat III genoß den Vorrang, ausschließlich ihm unterstellt zu sein.
19
Er war schon lange nicht mehr so freundlich zu mir gewesen, und ich konnte mich nicht erinnern, daß er mir jemals eine von seinen dicken Zigarren angeboten hatte. Diesmal tat er es. »Haben Sie sich gut erholt, Tom?« fragte er, als wir rauchten. »O ja, Sir. Ich kann frisch gepflanzte Bäume ausreißen.« »Sie werden viel Kraft brauchen«, sagte der Chef besorgt. »Sergeant Crown hat mich bereits eingeweiht, Sir. Mein Dienst beginnt zwar erst morgen, aber ich möchte meine Arbeit schon heute beginnen. Sie haben doch nichts dagegen?« Sir John lächelte schwach. »Ehrlich gesagt, Tom, ich wollte Sie auch darum bitten.« Ehe ich die Zigarre fertig geraucht hatte, war ich schon wieder auf dem Weg in mein Büro. Die besten Wünsche für einen baldigen Erfolg begleiteten mich. Allan hatte inzwischen alles auf unseren Schreibtischen ausgebreitet, was über den Mord an Anne Melton und jenen an Carol Sky vorhanden war: Protokolle, Aufzeichnungen der Spurensicherung, Fotos, Obduktionsbefunde, Ergebnisse von Recherchen und so weiter und so fort. All die Dinge, die mit dem Tod von Anne Melton zu tun hatten, hatte ich noch gut in Erinnerung. Ich selbst hatte die Ermittlungen vor meinem Urlaub geleitet, lei20
der nur mit spärlichem Erfolg. Und Allan hatte dem während meiner Abwesenheit nichts hinzuzufügen vermocht. Ich betrachtete die Bilder, die unser Fotograf von den beiden toten Mädchen gemacht hatte. »Als wenn ein Metzger durchgedreht hätte und über sie hergefallen wäre, um sie niederzumachen«, sagte ich kopfschüttelnd. »Irgendein Verrückter muß es schon gewesen sein«, sagte Allan. »Gibt es sonst noch einen gemeinsamen Nenner?« »Beide Mädchen waren Schauspielerinnen. Weitgehend unbekannt. Lies dir die Obduktionsbefunde durch, Tom.« Ich las sie und verglich sie miteinander. Kein Zweifel, die beiden Mädchen waren von derselben Person getötet worden. Der Polizeiarzt äußerte in seinem Bericht die Vermutung, die Mädchen könnten von einem scharfen Hund angefallen und tödlich verletzt worden sein. Das würde die furchtbaren Bißwunden erklären, die die Leichen aufwiesen und die von keinem menschlichen Gebiß herrührten. Ich hatte zwar keine plausible Erklärung für diese rätselhaften Bißwunden, aber ich weigerte mich, anzunehmen, daß ein Hund die Mädchen umgebracht hatte. Wir tranken Tee und überlegten unsere nächsten Schritte.
21
Aus den Unterlagen ging hervor, daß Carol Sky verheiratet gewesen war. Ihr Mann war von dem schrecklichen Ereignis bereits informiert worden. Ich beschloß, ihn aufzusuchen. Allan Crown nahm ich mit. Christopher Sky wohnte in einem prachtvollen Backsteinhaus im Norden der Stadt. Die mannshohen Hecken, die das Grundstück umsäumten, waren von einem wahren Gartenkünstler gestutzt worden. Wir gingen an einem Teich vorüber, auf dessen schillerndem Wasser schneeweiße Seerosen schwammen, und erreichten die olivgrüne Eingangstür. Auf mein Läuten öffnete Sky persönlich, wie sich gleich danach herausstellte. Er war so alt wie Sergeant Crown, war aber ein wesentlich modernerer Typ als mein Kollege. Er hatte kein einziges graues Haar auf dem Kopf. Das bewies mir, daß er seine Locken färbte. Ein Hemd bedeckte seinen breiten Brustkorb. Darüber trug er an einem dicken Lederriemen einen emaillierten Anhänger, der irgendwelche chinesische Schriftzeichen zeigte. Die Jeans saßen knapp. Seine nackten Füße steckten in bequemen Sandalen. Nachdem ich Allan und mich kurz vorgestellt hatte, bat er uns ins Haus. Er war sicherlich immens reich, und er schien China zu lieben. Im Wohnzimmer hing ein Ölgemälde an der Wand, das die chinesische Mauer zeigte. Auf einem Tisch
22
stand eine kostbare Vase mit handgemaltem Dekor. »Aus der Sung-Zeit«, bemerkte er beiläufig. »Dieser Buddhakopf stammt aus der Sui-Zeit«, erklärte er weiter und wies auf das betreffende Stück. Viele andere wertvolle Sachen bevölkerten das Wohnzimmer. Auf Skys Bitte nahmen wir in weichen Ledersesseln Platz. Er wollte uns etwas zu trinken anbieten, doch wir lehnten dankend ab. Ich wollte gleich zur Sache kommen. Das war auch in Skys Interesse, wie er uns bestätigte. Es war nicht das Alter allein, das diese dunkelgrauen Ringe unter seinen hellen Augen hervorrief. Es war vor allem der Schmerz über den plötzlichen Verlust der jungen Frau. »Wo waren Sie gestern nacht, Mr. Sky?« fragte ich. »In Hongkong. Ich bin erst heute morgen nach London zurückgekehrt. Man hat mich ins Leichenschauhaus geholt, damit ich Carol identifiziere. Es war mir kaum möglich. Sie wurde so grauenvoll entstellt . . .« Er brach ab und seufzte schwer. »Hatten Sie geschäftlich in Hongkong zu tun?« »Wenn Sie sich hier umsehen, wissen Sie, daß ich begeisterter Antiquitätensammler bin. Ich sammle speziell chinesische Kostbarkeiten. Ein Freund in Hongkong hält für mich die Augen offen. Wenn er etwas entdeckt, das meinem Geschmack entspricht, ruft er mich an, und ich setze mich in das nächste Flugzeug, das nach Hongkong fliegt... «
23
»Wäre es nicht einfacher, wenn Der Freund Ihnen den Gegenstand schicken würde?« »Ich möchte den Kauf selbst abschließen. Schließlich sind diese Dinge nicht gerade billig. Es würde mich ärgern, etwas gekauft zu haben, was ich gar nicht haben möchte. Da nehme ich schon lieber den Flug auf mich und entschließe mich an Ort und Stelle selbst, zu kaufen oder nicht zu kaufen.« »Was war es diesmal, Mr. Sky?« »Diese Dschunke aus Porzellan. Sie stammt aus dem siebzehnten Jahrhundert. « Das kleine Ding hatte sicherlich ein Vermögen gekostet. »Darf man fragen, womit Sie sich das Geld für Ihr kostspieliges Hobby verdienen?« »Ich besitze eine Helikopterfabrik«, erwiderte Christopher Sky. Es war mir klar, daß er mir nicht alles auf die Nase binden würde, was er sonst noch besaß. Aus finanztechnischen Gründen ist bei Leuten seines Schlages ein beträchtlicher Teil des Vermögens so geschickt in anderen Unternehmungen verwoben, daß keiner klar hindurchsehen kann. »Ihre Frau war gestern nacht also allein«, stellte ich fest. »Vermutlich war sie bei Bekannten. Auf dem Heimweg ist es dann passiert. Sie wissen, wo man sie gefunden hat?« »Ja, Inspektor Whittaker.« »Wohnen Bekannte von Ihnen und Ihrer Frau in dieser Gegend?« 24
»Ich kenne niemanden, der da wohnt.« »Sie besaß doch sicher einen Wagen.« »Ja, natürlich. Einen weißen Alfa Romeo.« »Wieso ging sie zu dieser späten Stunde zu Fuß? Wenn sie bei Freunden war – wieso brachten diese sie nicht nach Hause?« Christopher Sky sah zuerst Allan und dann mich ratlos an. »Ich bin nicht in der Lage, Ihre Fragen zu beantworten, Inspektor.« Er holte tief Luft und schlug die Beine übereinander. Während er sein Knie mit beiden Händen festhielt, sagte er mit belegter Stimme: »Ich glaube, ich muß Ihnen einiges über Carol und mich erklären. Sie war Schauspielerin. Kein großes Talent, aber sie bekam doch ab und zu ganz gute Zensuren von den Kritikern. Sie spielte kleine Rollen in mittelmäßigen Filmen, am Theater und im Fernsehen. Sie hätte das nicht zu tun brauchen, denn wir waren niemals auf ihre Gage angewiesen. Aber sie bestand darauf, etwas tun zu wollen, sonst käme sie sich unnütz vor. Deshalb hatte ich nichts dagegen einzuwenden. Zur Zeit war sie ohne Engagement. Sie träumte immer von einer großen Rolle, mit der ihr der Durchbruch gelingen würde. Wenn ich darüber lächelte, wurde sie wütend und machte mir eine Szene, daß es nur so im Gebälk krachte. Es war gewiß dumm von mir, zu glauben, daß eine Ehe mit ihr gutgehen könnte. Bei manchen Menschen spielt der Altersunterschied keine erhebliche Rolle, doch zwischen Carol und 25
mir klaffte der Abgrund einer Generation. Sie war so quirlig, so lebenshungrig, ein Falter, den man nicht halten konnte. Ich habe sie sehr geliebt. Deshalb traf es mich schmerzhaft, als ich erfuhr, daß sie mir nicht treu war. Ich erwähnte mein Wissen mit keinem Wort und versuchte sie vor mir selbst zu entschuldigen. Sie war noch so jung, und ich dachte, sie wäre eben einmal gestolpert. Niemand kann von sich sagen, ihm könne so etwas nicht passieren. Doch Carol stolperte wieder und wieder. Schließlich mußte ich einsehen, daß sie in mir nicht ihren Mann, sondern ihren Vater sah, während sie ihren sexuellen Hunger zumeist bei den jeweiligen Partnern stillte, mit denen sie gerade zu tun hatte. Vor wenigen Wochen faßte ich den Entschluß, sie vor die Wahl zu stellen, von nun an entweder ein anständiges Leben an meiner Seite zu führen oder sich scheiden zu lassen. Doch ich fand nicht den Mut, sie vor diese Entscheidung zu stellen. Ich schob die Unterredung immer wieder hinaus, denn ich fürchtete, daß sie sich gegen mich entscheiden und unser Haus für immer verlassen würde. Nun hat ein anderer gegen uns entschieden. Ich muß gestehen, daß ich in meinem ganzen Leben noch niemals so ratlos und erschüttert war.« Es folgte ein kurzes, betretenes Schweigen. Ich hätte dem leidgeprüften Mann einige tröstende Worte sagen können, doch ich zweifelte daran, daß Chris-
26
topher Sky mit irgendwelchen schönen Worten wirklich zu trösten war. Allan fragte ihn, ob seine Frau Feinde gehabt hätte. Sky behauptete, daß Carol überall beliebt gewesen war. Allan wollte wissen, ob es jemand anders gab, der uns sagen konnte, wo Carol Sky in der vergangenen Nacht gewesen war. Christopher Sky dachte eine Weile schweigend nach. Dann sagte er: »Vielleicht kann Ihnen Judy Brent weiterhelfen. « »Wer ist das?« fragte ich. »Eine Kollegin von Carol. Darüber hinaus waren die beiden sehr eng miteinander befreundet.« »War Ihre Frau vielleicht auch mit der Schauspielerin Anne Melton befreundet?« erkundigte sich Allan schnell. Sky schüttelte den Kopf. »Diesen Namen höre ich heute zum erstenmal, Sergeant Crown. « »Das macht nichts. War ja nur eine Frage, Mr. Sky.« Der Fabrikant und Antiquitätensammler nannte uns Judy Brents Adresse. Da wir im Augenblick keine weiteren Fragen mehr an ihn hatten, empfahlen wir uns. Grelle Blitze zerfetzten die unheimliche Dunkelheit. Ein schauriges Donnergrollen kam von weither. Das zitternde Mädchen preßte sich mit schweißnassem Gesicht gegen die rissige Wand ei27
nes Hauses. Angst und namenloses Entsetzen spiegelten sich in ihrem zuckenden Antlitz. Sie war blutjung, konnte nicht älter als zwanzig sein. Ihr zerzaustes Haar hatte die Farbe polierten Silbers. Sie trug ein hauchzartes Sommerkleid, in dessen tiefem Ausschnitt ein fester Busen bebte. Das Kleid war kurz und ließ erkennen, daß das Mädchen über lange, makellose Beine verfügte. Ein schweres Keuchen kam auf sie zu. Sie drückte die Hand auf den Mund, um ihrer wahnsinnigen Angst nicht mit einem schrillen Schrei Luft zu machen. Starr vor Grauen blickte sie in die Richtung, aus der das furchterregende Keuchen kam. Wieder zuckte ein Blitz auf. Und mit dem nächsten Donner war das Scheusal da. Das Mädchen stieß einen irren Schrei aus. Während es in rasender Verzweiflung den Kopf hin und her warf, schrie es sich die Seele aus dem Leib. Prustend kam das Monster auf sie zu. Der schlimmste Alptraum konnte kein grauenvolleres Wesen gebären. Die Augen des schrecklichen Mörders glühten hellrot. Gelbe Funken umtanzten die Pupillen. Aus dem silbergrauen, zotteligen Fell ragten spitze Ohren. Ein heiseres Geifern und Hecheln kam aus der kurzen, stumpfen Schnauze. Die Bestie fletschte die mörderischen Zähne. Ein hungriges Knurren vervielfachte die Todesangst des bedrohten Mädchens. Es schrie, schrie, schrie.
28
Das Fell des mordlüsternen Teufels sträubte sich. Gierig leckte die rote Zunge über das Maul. Mit einem wilden Satz sprang der schreckliche Mörder sein wehrloses, kreischendes Opfer an. Seine Pranken sausten auf das Mädchen zu, rissen die helle Haut auf, Blut schoß aus den tiefen Wunden. Das Mädchen steigerte seine wahnsinnigen Schreie ins Unerträgliche. Die geifernde Schnauze des Scheusals fuhr ihr an die Kehle. Die dolchartigen Fangzähne des grausamen Werwolfs fanden den schlanken Hals. Mit kräftigen Kiefern biß die blutgierige Bestie zu. Der Schrei des Mädchens ging in ein markerschütterndes Röcheln über. Mit ekelhaften, schmatzenden Geräuschen trank das Monster das heiße Blut des jungen Opfers. Verzweifelt schlug das Mädchen nach dem muskulösen Körper des furchtbaren Mörders. Schnell ermattete sie. Schlaff fielen die Arme des Mädchens herab. Ihre Knie knickten ein. Sie sank an der Mauer langsam nach unten, starrte mit weit aufgerissenen Augen zum finsteren Nachthimmel hinauf. Der Blitz, der in diesem Moment aufzuckte, verlieh ihrem Gesicht eine teigige Farbe. Er war das letzte, was sie sah. Als sie still lag, vollendete die grausame Bestie ihr blutrünstiges Werk. Als sie sich keuchend aufrichtete, klebte dunkelrotes Blut in ihrem gesträubten Fell. 29
Die schrillen Töne von Polizeipfeifen ließen das Untier jäh herumfahren. Es nahm eine feindselige Haltung ein, so als wollte es den Leichnam verteidigen, doch dann wandte es sich hastig um und rannte mit schweren Schritten davon . . . »Gestorben!« rief jemand. Menschen atmeten erleichtert auf. Die Szene war so beklemmend echt gespielt worden, daß sie alle Umstehenden in ihren Bann geschlagen hatte. Nun witzelte man im Filmstudio, um das lästige Angstgefühl schnell wieder loszuwerden. Scheinwerfer flammten auf und ernüchterten die schaurige Szene. Der Schauspieler, der den Werwolf gespielt hatte, riß sich lachend die erschreckend echt wirkende Maske vom Kopf und fragte grinsend in die Runde: »Na, wie war ich?« Er war ausgezeichnet gewesen. Ich hatte noch keinen Horrorfilm gesehen, in dem es einem Schauspieler gelungen war, so schauderhaft überzeugend zu sein. Wir waren bei Judy Brent zu Hause gewesen und hatten von ihrem Nachbarn erfahren, daß wir sie hier, in den Aufnahmestudios der »Flint Productions«, finden würden. Morton Garner, der Regisseur, schnellte von seinem Klappstuhl hoch und applaudierte begeistert. Er war hager und hatte das Gesicht eines Raubvogels. Sein wenig gewinnendes Äußeres hielt Sybill Rivera jedoch nicht davon ab, ihm schöne Augen 30
zu machen. Das tat dem häßlichen Kerl natürlich sehr gut und nahm ihm wenigstens einen Teil seines aus der Häßlichkeit heraus geborenen Komplexes. »Bravo, Murray!« rief der Regisseur in ehrlicher Begeisterung aus. »Bravo! Das war einmalig. Das war grandios. Das war unüberbietbar!« Murray Collins grinste. »Freut mich, daß es dir gefallen hat, Norton.« »Du warst ein Elementarereignis. Die Leute wird es von den Stühlen reißen.« »Dann haben wir beide erreicht, was wir wollten«, erwiderte Collins mit einem spitzbübischen Augenzwinkern. Collins war Amerikaner, groß gewachsen, schlank, breitschultrig. Sein Gesicht war männlich, obwohl er vor einem Monat erst fünfundzwanzig Jahre alt geworden war. Zudem hatte er ein Gesicht, dessen Ausdruckskraft ungemein stark war und das man sich vom ersten Augenblick an merkte. Zur Zeit feierte dieser sympathische junge Mann auf der Filmleinwand in aller Welt wahre Triumphe. Er schockierte sein Publikum als grauenvolles Monster in einer Neuverfilmung des Frankensteinstoffes. Er war ein eiskalter Graf Dracula gewesen. Als grausamer Hexenjäger nahm er seinem Publikum den Atem. Und nun holte er zu einem neuen, zum bisher größten schauspielerischen Schlag aus, indem er so grauenerregend echt als Werwolf durch das Filmstudio geisterte, daß selbst den ab31
gebrühten Beleuchtern die Gänsehaut über den Rücken lief. In der Branche war man sich einig: Murray Collins war zur Zeit der bei weitem beste Horrordarsteller. Er ließ sogar die eindrucksvollen Leistungen eines Christopher Lee verblassen. Aus diesem Grund hatte ihn sich Norton Garner für seinen Werwolfstreifen aus den Staaten nach England geholt. Und Murray Collins gab wieder einmal mehr als sein Bestes. Nun schlüpfte er aus den handschuhähnlichen Werwolfpranken und schüttelte dem überschwenglichen Regisseur grinsend die Hand. Ein großer Junge war er privat, schelmisch, charmant, mit sprühendem Mutterwitz gesegnet. Eigentlich kein Schauspieler im herkömmlichen Sinn. Hektische Betriebsamkeit drängte uns an den Rand des Studios zurück. Man baute für eine andere Szene um. Kamera, Scheinwerfer, Kulissen wurden nach genauen Plänen an ihre vorbestimmten Plätze gebracht. »Soll ich dir verraten, was ich mir im Augenblick so alles zusammenreime, mein Sohn?« sagte Sergeant Allan Crown neben mir. »Was denn, Daddy?« fragte ich ihn grinsend. »Bitte, halte mich nicht für verrückt, Tom . . .« »Keine Sorge. Sag, was du dir denkst, Allan.« »Mir gehen die Aufnahmen unseres Polizeifotografen nicht aus dem Kopf.« 32
»Und?« »Diese beiden Mädchen . . .« »Ja?« »Verdammt, es fällt mir nicht leicht, so etwas Irrsinniges auszusprechen, Tom . . .« »Nur Mut, Allan«, sagte ich lächelnd. »Zieh endlich den Schuh aus, der dich drückt!« »Was würdest du dazu sagen, wenn ich behaupte, daß sowohl Anne Melton als auch Carol Sky Opfer eines Werwolfs geworden sind, der in unserer Stadt sein Unwesen treibt?« »Was ich dazu sagen würde?« »Hm.« »Daß es keine Werwölfe gibt. Das sind Fabelwesen, Spukgestalten, von den Menschen erfunden, um sich gegenseitig Angst zu machen, Allan.« »Ich bin da nicht so sicher, Tom.« Ich legte ihm mit einem nachsichtigen Lächeln die Hand auf die fleischige Schulter. »Ich kenne deine Einstellung zu diesen Dingen, Allan. Vielleicht bist du der bessere Engländer von uns beiden, denn du glaubst an Geister, Dämonen, Vampire und all dieses Spukgelichter.« »Ich bin zum Glück nicht der einzige, der an so etwas glaubt. « Ich zuckte die Achseln. »Meinetwegen kannst du weiter daran glauben, aber versuche bitte nicht, mich zu überzeugen. In dieser Richtung läuft nämlich bei mir überhaupt nichts.« 33
Ich stieg über armdicke Kabel hinweg. Allan folgte mir. Wir waren einigen Zimmermännern im Weg. Sie fluchten herzhaft und maßen uns mit grimmigen Blicken. »He, Sie da!« rief uns jemand nach. Ich blieb stehen und wandte mich um. Ein mickriger Kerl, dürr wie eine Bohnenstange, mit abstehenden Ohren und vorstehenden Schneidezähnen, kam auf uns zugelaufen. Er trug verwaschene Jeans und schwarze Ringe unter den Augen. Sein himmelblaues Hemd klaffte über einer Brust auf, die wie ein Waschbrett aussah. Sein verschlagener Blick hätte allein schon genügt, um ihn zu fotografieren und in die Verbrecherkartei einzureihen. Vielleicht hätte ich es getan, wenn ich nicht schon eine ganze Weile im Studio gewesen wäre und deshalb wußte, daß er der Regieassistent war. »Wer hat Sie hier reingelassen?« bellte er uns an. »Was geht das Sie an?« gab ich gallig zurück. »Sie stören hier!« »Wen?« »Diese Männer.« »Wobei?« »Bei der Arbeit, verdammt noch mal. Sie können vielleicht dämliche Fragen stellen.« »Das ist mein Job«, gab ich gleichgültig zurück. »Presse?« fragte er lauernd. Ich schüttelte den Kopf. »Schlimmer«, entgegnete ich eisig. »Viel schlimmer: Polizei!« 34
Es amüsierte mich, ihn erschrecken zu sehen. »So«, brummte ich ihn an. » Und jetzt sind Sie mal so nett und sagen mir Ihren Namen. « »Meinen Namen?« fragte er irritiert. »Wieso wollen Sie meinen Namen wissen?« »Vielleicht möchte ich mal zum Film gehen.« »Warren«, erklärte er hustend. »Dean Warren.« »Angenehm, Mr. Warren. Das ist DetektivSergeant Allan Crown, und ich bin Inspektor Tom Whittaker von Scotland Yard. Wir suchen Miß Judy Brent. Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, uns zu ihr zu bringen?« Er musterte uns, als hätte er uns zu fürchten. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und sagte hastig: »Bleiben Sie hier stehen. Ich bringe Ihnen Judy.« Er lief los. Und er brachte uns jenes Mädchen, das der Werwolf so grauenvoll zugerichtet hatte. »Makaber«, bemerkte Allan und schluckte, als uns das »blutbesudelte« Mädchen die Hand reichte. Judy lächelte. »Ist halb so schlimm.« Sie blickte Warren nach. »Der Regieassistent ist der einzige Unheimliche in diesem Studio. « Zitternd wandte sich Dean Warren um. Ihm war kalt, obwohl es kaum jemanden im Studio gab, der nicht schwitzte. Schließlich erzeugten die mächtigen Scheinwerfer enorm große Hitze. Er klapperte mit den Zähnen und krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Es war 35
wieder einmal soweit. Er brauchte schnell einen Schuß, um weitermachen zu können. Hastig wandte er sich um und eilte durch einen schmalen Gang auf die Toilette. In einem Plastiksäckchen, das er in der Wanne der Wasserspülung versteckt hatte, befand sich die vorbereitete Spritze. Gierig griff Warren danach. Seine Zunge huschte aufgeregt über die trockenen Lippen. Er wischte den Ärmel am linken Arm hoch und betrachtete mit flatterndem Blick die zahlreichen Einstiche. Die brennende Gier trieb ihn zur Eile an. Zitternd schob er die schlanke Kanüle in die Vene. Dann drückte er den Kolben mit geschlossenen Augen nieder. An der feuchten Wand lehnend, wartete er auf die Wirkung des Rauschgiftes. Als sie sich einstellte, fühlte er sich unsagbar gut. Ein zufriedenes, erlöstes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er zitterte nicht mehr. Seine Nerven waren völlig ruhig. Und es war ihm auch nicht mehr kalt. Die Wegwerfspritze ließ er in die Muschel fallen. Ein kurzer Druck auf den Knopf der Spülung, gurgelnd schoß das Wasser in den Abfluß und nahm die Spritze mit. Erleichtert verließ er die Toilette. Auf seinem Rückweg kam er an einem Wandtelefon vorbei. Schnell vergewisserte er sich, daß niemand in der Nähe war, der ihn belauschen konnte. Dann nahm
36
er wie ein Dieb den Hörer vom Haken und wählte mit flinken Fingern eine sechsstellige Nummer. Die Verbindung klappte sofort, als hätte der Mann mit der krächzenden Stimme am anderen Ende der Leitung auf Warrens Anruf gewartet. »Ich bin es, Warren!« »Was gibt’s denn, Nachwuchs-Hitchcock?« fragte der Krächzer. »Ich habe soeben das letzte Ding verbraucht.« »Man fühlt sich danach wie neugeboren, was?« »Kann ich wieder was haben?« fragte Warren aufgeregt. »Klar, doch. Jeder kann von mir was haben, Dean, das weißt du doch. Jeder, der bei Lieferung bezahlt.« » Natürlich.« »Wieviel darf’s denn diesmal sein?« »Die gleiche Menge wie immer«, sagte Dean Warren nervös, und er zermarterte sich den Kopf, woher er das Geld für die Lieferung nehmen sollte. Beinahe hätte er den anderen gefragt, ob er ihm diesmal einen kurzfristigen Kredit einräumen würde, doch er verwarf diesen Gedanken sofort. Kredit gibt es im Rauschgiftgeschäft nicht. Warren wußte, daß er bar bezahlen mußte, sonst nahm der Bote das Teufelszeug wieder mit. »Wann kann ich damit rechnen?« fragte Warren. »Morgen, im Laufe des Nachmittags«, erwiderte der Krächzer. Warren hängte ein. 37
Er hatte also bis dahin Zeit, sich das Geld zu beschaffen. Und er glaubte auch schon zu wissen, wie er diese Schwierigkeit meistern konnte. Judy Brent hatte sich einen Teil des künstlichen Blutes abgewischt. Wir waren mit ihr in die Kantine gegangen und saßen nun an einem kleinen, kunststoffbeschichteten Tisch. Sie trank Ginger Ale wie wir. Ich bot ihr eine von meinen Zigaretten an, hielt auch Allan die Packung hin, dann rauchten wir zu dritt. »Nein, Inspektor Whittaker«, sagte Judy schließlich kopfschüttelnd, »Carol war gestern abend nicht bei mir.« Ich schmunzelte, um Judys Zuneigung zu gewinnen. »Eigentlich hatte ich gehofft, von Ihnen mehr zu erfahren als das, wo Carol Sky nicht war.« Sie zog sofort wieder an ihrer Zigarette. Ihre Unruhe verriet mir, daß sie irgend etwas wußte, zumindest aber ahnte. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte sie ohne ehrliches Bedauern. »Sie haben Carol sehr gemocht, nicht wahr?« fragte ich. »Ja«, hauchte Judy, während ihr Blick starr auf den Tisch gerichtet war. »Wir waren bei Carols Mann, ehe wir hierherkamen«, erklärte ich. »Er hat uns quasi zu Ihnen geschickt, denn er ist der Meinung, daß Sie uns mehr helfen können als er.« 38
Judy blies mir den Rauch ins Gesicht, ohne es zu wollen. » Zuletzt war Carol ein wenig böse auf mich. « »Weshalb?« »Weil sie die Rolle haben wollte, die ich jetzt spiele.« »Wieso hat Garner Ihnen den Vorzug gegeben?« »Er machte Probeaufnahmen von uns beiden und noch von einigen anderen Mädchen. Carol spielte zu verkrampft und wirkte nervös. Sie wollte die Rolle unbedingt haben. Es hat sie hart getroffen, daß Norton Garner sich gegen sie und noch dazu für ihre Freundin entschieden hat. Sie hat sich von da an nicht mehr bei mir blicken lassen. Sie hat mich auch nicht angerufen. Ich dachte, sie spinnt und würde sich schon irgendwann wieder erholen.« Ich trank mein Ginger Ale. »Tja, wenn das so ist, können Sie uns wirklich nicht weiterhelfen. « Judy Brent drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Vielleicht versuchen Sie Ihr Glück mal bei Jason Bloom. « »Wer ist das?« wollte Allan wissen. »Er arbeitet im Besetzungsbüro der ›Flint Productions‹. Wenn es stimmt, was mir eine Kollegin erzählt hat, dann hat Carol sich mit ihm angefreundet, um demnächst doch noch zu einer Rolle zu kommen.« 39
»Jason Bloom sagten Sie?« fragte Sergeant Crown und schrieb den Namen in sein Notizbuch. »Ganz recht.« »Wissen Sie zufällig, wo er wohnt?« »Ja. Das weiß ich zufällig«, erwiderte das hübsche Mädchen mit einem unergründlichen Lächeln. Sie nannte Blooms Adresse, Allan hielt sie in seinem Notizbuch fest, wir bedankten uns für die Auskunft, verabschiedeten uns und verließen das Gelände der »Flint Productions«. Judy Brent kehrte aus der Kantine ins Filmatelier zurück. Norton Garner hatte das Drehbuch in seinen Händen und redete stürmisch auf Timothy Atlee, den ersten Kameramann, ein. Die beiden konnten sich über irgendein technisches Problem nicht einigen. Ihre Stimmen wurden immer lauter. Schließlich wurden sie so heftig, daß sie sich beleidigende Worte an den Kopf warfen. Garner wußte, daß er dieses Kräftemessen in aller Öffentlichkeit zu seinen Gunsten entscheiden mußte. Deshalb wurde er massiv und drohte mit der Entlassung des Kameramanns,. Daraufhin schob Atlee grimmig zurück und brachte es sogar über sich, sich bei dem Regisseur in aller Form zu entschuldigen. Nun konnte es sich Garner leisten, die Angelegenheit zu bagatellisieren. Er streckte Atlee demonstrativ die Hand entgegen und sagte zu den Umstehenden: »Wir haben nur fachlich diskutiert.« Rosalind Ashley, das farblose Skriptgirl, gesellte sich zu Judy Brent. 40
»Die beiden, mit denen Sie in der Kantine waren, kamen vom Yard, nicht wahr?« Judy musterte das ältliche Mädchen. Ihrer schwachen Augen wegen war die Ashley gezwungen, dicke Brillen zu tragen. Das Glas vergrößerte die Augäpfel und verlieh ihnen einen seltsam starren Ausdruck. Wie Klammern lagen die beiden tiefen Falten um den verkniffenen Mund des beruflich sehr tüchtigen Skriptgirls. »Das waren Inspektor Whittaker und Sergeant Crown«, sagte Judy. »Was wollten sie von Ihnen?« Judy Brent sagte es der neugierigen Person. Es rief einiges Erstaunen bei ihr hervor, als sie bemerkte, daß Rosalind Ashley mit einemmal bleich wurde. »Rosalind, wenn Sie etwas wissen, was die Polizei erfahren muß, dann, haben Sie die Pflicht. . .« Das Skriptgirl spielte nervös mit der bunten Holzperlenkette, die sie um den Hals trug. »Noch kann ich nichts sagen, Judy.« »Haben Sie einen Verdacht?« fragte Judy Brent erschrocken. Rosalind Ashley kniff die riesigen Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. »Ja, Judy, ich habe einen Verdacht.« »Dann kann ich Ihnen nur dringend raten, sich mit Inspektor Whittaker in Verbindung zu setzen.« Das ältliche Mädchen wandte sich furchtsam um. Judy folgte ihrem Blick. Sie schien einen jungen Statisten anzustarren, der in lässiger Haltung am 41
Kamerasockel lehnte. Der blonde Junge mit den veilchenblauen Augen hieß Brian Jones. Im Augenblick unterhielt er sich mit Sybill Rivera, der Hauptdarstellerin des gerade entstehenden Films. Vermutlich versprach er sich einen rascheren beruflichen Aufstieg, wenn er sich bei Sybill anbiederte. Als Jones merkte, daß er beobachtet wurde, hob er den Kopf und schaute zu Judy und Rosalind herüber. Erschrocken wandte sich das Skriptgirl um. »Ein Verdacht allein genügt nicht«, preßte sie aufgeregt hervor. »Ich muß mir erst Gewißheit verschaffen, ehe ich mich an die Beamten von Scotland Yard wende.« Gegen Abend braute sich über London ein furchtbares Unwetter zusammen. Schwere, dunkelgraue Regensäcke beschleunigten das Ersterben des Tageslichts. Die Straßenbeleuchtung mußte früher als sonst eingeschaltet werden. Kurz nach zwanzig Uhr fielen die ersten dicken Regentropfen klatschend auf den hellgrauen Asphalt und färbten ihn dunkelgrau. Ein Mann hastete ruhelos durch die finsteren Straßen. Man hielt ihn für einen Betrunkenen. Niemand ahnte, wie schlimm es in Wirklichkeit um ihn stand. Keuchend floh er in das schützende Dunkel einer Haustornische. Zitternd starrte er auf seine Hände. 42
Alles drehte sich um ihn herum. Er ächzte und preßte die Lider verzweifelt aufeinander. Dann hielt er die zitternden Hände erneut vor die Augen, in denen nun ein unheimliches Feuer flackerte. Er litt unter entsetzlichen Schmerzen. »Nein!« stöhnte er. »Nein! Nicht schon wieder! O Gott, steh mir bei! Nicht schon wieder!« Seine Finger begannen zu wachsen. Und während sie sich zu grauenerregenden Krallen verformten, bedeckten sich die Handrücken mit silbrigem Fell. Schwer atmend preßte der Mann die Arme an den zuckenden Leib. Er riß den Mund weit auf. Die Zunge hing ihm heraus. Er bot in diesem Moment einen stupiden Anblick. Schweiß rann über sein entstelltes Gesicht. Er fuhr sich mit den behaarten Händen darüber, schnaufte, keuchte und stieß ab und zu ein heiseres Knurren aus, das tief aus seiner Kehle stieg. »Nein! Nein! Nein!« ächzte der Mann. Er wehrte sich verzweifelt gegen die schmerzhafte Verwandlung. All seinen Willen bot er auf. Und er schlug mit dem Kopf immer wieder heftig gegen die Wand. »Nein! Nein! Ich will nicht!« Seine Stimme veränderte sich ständig. Mal klang sie wie die eines Menschen, dann wieder hatte sie nichts Menschenähnliches an sich, sondern klang wie ein tierhafter Laut, ausgestoßen von einer mordlüsternen Bestie. Aus dem Mund des Mannes bildete sich eine kurze Wolfsschnauze. Doch er zwang den schrecklichen 43
Wolf noch einmal zurück. Sein Gesicht wurde wieder das eines Menschen. Schreckliche Zuckungen und Krämpfe verzerrten pausenlos seine Züge. Sein Gesicht drückte aus, was für ein fürchterlicher Kampf sich in seinem Innern abspielte. Unter Aufbietung all seiner geistigen Kräfte gelang es ihm schließlich doch, zu verhindern, daß der schreckliche Wolf von seinem Körper Besitz ergriff. Die gefährlichen Krallen wurden stumpf, bildeten sich zurück, nahmen die Formen von Fingern an. Die silbrigen Haare verschwanden. Der Mann war wieder ein Mensch wie jeder andere. Doch er wußte, daß er sich über diesen Teilsieg nicht freuen durfte. Der Wolf hatte sich lediglich zurückgezogen. Er schlummerte irgendwo in seinem Körper, aus dem er nicht zu vertreiben war. Irgendwann würde das Scheusal seinen Willen durchsetzen. Dann wurde dieser harmlos scheinende Mann erneut zum grausamen, blutrünstigen Werwolf. Der Kameramann Timothy Atlee war in der Welt zu Hause. Sein Beruf machte es erforderlich, daß er mal auf den Bahamas lebte und arbeitete, dann wieder in Brasilien, in Kanada oder Australien. Und so hatte sich Atlee angewöhnt, keinen eigentlichen festen Wohnsitz zu haben. Als alleinstehender Mann ohne jegliche familiäre Bindung konnte er sich das leisten. Er wohnte da, wo er gerade arbeitete. 44
Zumeist mietete er ein schickes Haus, in dem er die Zeit zwischen den Dreharbeiten verbrachte. Atlee war gebürtiger Liverpooler, gelernter Fotograf. Er hatte so ziemlich jeden Job ausgeübt, den man sich vorstellen kann. Schließlich hatte ihn ein Mädchen zum Film gebracht, und hier dienerte er sich vom siebzehnten Boten zum ersten Kameramann hinauf. Seine Schwäche: Whisky und Frauen. Beides leistete er sich in ansehnlichen Mengen, wobei er — was die Frauen anbelangt – nicht sehr wählerisch war und sich auch nicht darum kümmerte, wessen Frau er zu verführen versuchte. Diesmal war es Sybill Rivera. Er hatte trotz seiner großen Erfahrung auf diesem Gebiet Hemmungen gehabt, als er ihr den Hof machte. Erstens war Sybill nicht irgendein Mädchen, sondern ein international anerkannter Filmstar – sie hatte schon mit John Wayne, Omar Sharif und Gregory Peck vor der Kamera gestanden -, und zweitens war Sybill im Augenblick mit dem häßlichen Norton Garner liiert. Diese Tatsache war bereits durch die Weltpresse gegangen. Aus diesen beiden Gründen war der schöne Atlee ein wenig befangen gewesen. Doch schon bald hatte er gemerkt, daß Sybill in erster Linie eine Frau war, die ihren Körper als ihr ausschließliches Eigentum betrachtete, das sie nach Wunsch verlieh, aber niemals verschenkte.
45
Sie war mit Atlee schon am Abend des dritten’ Drehtages ins Bett gegangen. Der Kameramann fühlte sich durch diesen Umstand sehr geehrt. Nun liefen die Dreharbeiten bereits einen Monat, und jener erste Abend hatte in dieser Zeit zahlreiche Neuauflagen nach sich gezogen. Im verspiegelten Schlafzimmer schimmerte gedämpftes Licht, das die Konturen der beiden nackten Körper weich und leicht verschwimmend zeichnete. Wie flüssiges Gold breitete sich das blonde Haar Sybills über das Kissen. Sie hatte das Gesicht einer großen Puppe. Timothy Atlee, der Kameramann, konnte aus Erfahrung behaupten, daß es kein perfekteres, fotogeneres Gesicht gab als dieses. Er glitt an ihrem geschmeidigen Körper nach unten und küßte die knospende Spitze ihrer linken vollen Brust. » Du bist das schönste Mädchen, das ich je geliebt habe «, flüsterte er zärtlich. Sie strich ihm sanft das Haar aus der Stirn. »Das sagst du bestimmt jeder.« »Vielleicht. Aber es ist nur bei dir wahr.« »Was hast du dir an diesem Abend des dritten Drehtages gedacht, Tim?« »Was soll ich mir schon gedacht haben?« »Bitte, sag’ es mir.« »Ich glaube, ich kam gar nicht zum Denken.« »Ich habe es dir sehr leicht gemacht, mich herumzukriegen. « 46
»Dafür werde ich dir ewig dankbar sein.« »Du dachtest bestimmt: sie ist ein Luder wie alle anderen. »Das habe ich keine Sekunde gedacht!« protestierte Atlee. »Warum müßt ihr Männer immer lügen, hm?« »Ich habe es nicht gedacht, Sybill, wirklich nicht.« »Ehrenwort?« »Ehrenwort.« Sybill schlang ihre nackten Arme schwer seufzend um seinen Nacken, drängte sich ihm entgegen und seufzte: »Bitte, küß mich! Küß mich, Tim, bitte!« Ihre bebenden Lippen fanden sich in triebhafter Eile. Sie wälzten sich mit wilden, ekstatischen Bewegungen im Bett. Da schlug die Hausklingel mit einem Ton an, den Atlee noch nie so häßlich und noch nie so störend wie in diesem Augenblick empfunden hatte. Wütend zuckte er hoch. »Verdammt!« zischte er wütend. »Kümmere dich nicht darum«, riet ihm Sybill. Wieder schlug die Glocke an. »Wer kann das sein?« fragte Sybill. »Keine Ahnung.« »Wie spät ist es?« »Vielleicht zehn.« »Erwartest du jemanden?« »Nein. Natürlich nicht.« »Dann tun wir einfach so, als wäre niemand zu Hause«, schlug Sybill vor. 47
»Man kann doch von unten das Licht sehen«, sagte Timothy Atlee unschlüssig. Er glitt aus dem Bett und warf sich einen weinroten Schlafrock aus chinesischer Seide über die athletische Figur. »Dieses dauernde Klingeln kann einem den Spaß ganz schön verleiden, was?« Er kniff ein Auge zu. »Lauf nicht weg, Baby. Bin gleich wieder da.«’ Sybill fuhr sich plötzlich erschrocken an die Lippen. »Was ist, wenn es Norton ist?« Atlee schüttelte den Kopf. »Der hat doch keine Ahnung, daß wir beide ...» »Wenn er es aber doch ist?« »Dann schicke ich ihn eben wieder nach Hause.« »Und wenn er dich fragt, ob ich hier bin?« »Dann sage ich ihm eiskalt, daß ich dich heute nachmittag zum letztenmal gesehen habe. Er wird es mir glauben müssen. Oder denkst du, ich lasse es zu, daß er dieses Haus auf den Kopf stellt? Sei unbesorgt, Baby.« Timothy Atlee zog den Bindegürtel fester und klappte die Schlafzimmertür auf. Das Klingeln war nun deutlicher zu hören. Es war Atlee in höchstem Maße lästig. Mißmutig verzog er das Gesicht. »Na, das gibt einen Tritt in den Hintern«, murmelte er in seinen imaginären Bart. Dann brüllte er: »Ja, ja! Ich komme ja schon!« und lief die teppichbelegte Treppe hinunter. Atlee hatte kurz geschnittenes schwarzes Haar, rehbraune Augen und die breiten Schultern eines 48
Leistungssportlers. Tagsüber stellte er ein liebenswürdiges Standardlächeln zur Schau. Abends zeigte er dieses Lächeln hin und wieder auf Partys oder in Gesellschaft eines hübschen Mädchens, das er aus dem Kleid zu schälen beabsichtigte. Im Augenblick war nichts Liebenswürdiges in seinen Zügen. Nur Unmut und Ärger über die ganz und gar nicht willkommene nächtliche Störung. Schnaubend riß er die Tür auf. Draußen stand ein schlanker Mann, der nun ins Licht trat. Hinter dem nächtlichen Besucher klatschte der Regen auf den hell schimmernden Kiesweg. »Warren!« stieß Atlee hervor. »Was willst du denn hier? Weißt du, wie spät es ist?« »Es ist zehn, Tim.« »Eben. Sag mal, wie viele Zähne soll ich dir einschlagen? Zwei oder drei? Was fällt dir ein . . .« »Ich muß mit dir reden, Tim! Es ist dringend! « fiel Dean Warren dem Kameramann ins Wort. »Du hast sie wohl nicht alle?« »Bitte, Warren. Es steht für mich sehr viel auf dem Spiel.« »Ich bin nicht allein.« »Das weiß ich.« »Woher . . .?« »Ist doch egal, Tim. Laß mich rein!« Atlee kniff die Augen unwillig zusammen. Am liebsten hätte er dem dürren, mickrigen Kerl die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er trug einen 49
Jeans-Anzug. Die Jacke war vollkommen naß. Er zitterte, weil ihm kalt war. Atlee glaubte zu erkennen, daß Warren auch ziemlich nervös war. »Na schön«, seufzte der Kameramann schließlich. »Komm auf einen Drink rein. Ich gebe dir zehn Minuten Zeit, um mich mit deinem Problem bekanntzumachen, dann fliegst du raus, okay?« »Okay, Tim. Ich werde keine zehn Minuten brauchen.« »Um so besser.« Sie gingen ins Wohnzimmer. Der Spannteppich war hell und dick. Er verschluckte gierig jedes Geräusch. Der Regen prasselte monoton gegen das Panoramafenster, vor dem ein hauchzarter Wolkenstore hing. Die Einrichtung des Raumes vermittelte Gediegenheit. »Behagliche Behausung«, sagte Dean Warren, nachdem er sich einmal um die dürre Achse gedreht hatte. Atlee füllte ein Glas mit Whisky für ihn. Er selbst trank nichts. Warren nahm das Glas in Empfang und setzte sich unaufgefordert auf das breite Sofa. Das Flaschengrün des Samts schlug sich mit dem Blau seines Anzugs. »Erfahre ich jetzt endlich, weshalb du mich mitten in der Nacht aus dem Bett klingelst, verdammt noch mal! « bellte Atlee bissig. »Zwei von den zehn Minuten sind bereits um.«
50
Warren trank zuerst den Whisky aus, dann sagte er: »Ich brauche Geld. Tim.« »Höre ich richtig? Du willst mich anpumpen?« schrie Atlee wütend. »Ich verstehe nicht, weshalb du dich so aufregst, Tim.« »Hör mal, ich dachte, du hättest etwas Wichtiges mit mir zu besprechen.« »Es ist wichtig – für mich, Tim.« »Verdammt, ich hätte dich nicht reingelassen, wenn du mir das an der Tür gesagt hättest. An wieviel hast du denn gedacht?« »Mit fünftausend Pfund wäre mir schon geholfen.« »Fünftausend Pfund? Bißchen viel, wenn man weiß, wie schlecht du zurückzahlst. « »Du kriegst das Geld wieder, Tim, ganz bestimmt.« »Der einfachere Weg ist, es erst gar nicht herzugeben, Dean.« »Du mußt mir das Geld geben, Tim!« »Ich muß gar nichts, hörst du? Gar nichts muß ich.« Warren knetete aufgeregt das Glas. »Verdammt, Tim, es ist mir sehr peinlich, aber ich muß das Geld unbedingt haben. Wenn du die Moneten nicht freiwillig herausrückst, dann ... « »Was, dann?« fragte Atlee fuchsteufelswild. »Du willst wohl, daß ich dir das Kreuz breche, was?« Warren fuhr sich mit den knöchernen Händen zitternd über die flatternden Augen. Er schluckte die Aufregung mühsam hinunter und preßte heiser 51
hervor: »Tim, ich weiß, daß Sybill bei dir ist. Ich weiß, daß du seit Beginn der Dreharbeiten mindestens zehnmal mit ihr geschlafen hast. ..« »Du bist ja verrückt! « schrie Atlee mit schriller Stimme. Warren schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, zu leugnen. Ich habe euch sehr genau beobachtet, Tim. Wenn du mir jetzt die fünftausend Pfund leihst, bleibt das ein Geheimnis zwischen uns dreien.« In Timothy Atlee brodelte ein unbändiger Zorn. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er sich auf den dürren Regieassistenten stürzen und so lange mit seinen Fäusten auf ihn eindreschen, bis kein Leben mehr in dem ausgemergelten Körper war. Mühsam beherrschte sich Atlee. Mit funkelnden Augen und trotzig vorgeschobenem Kinn zischte er: »Und wenn ich dir das Geld trotzdem nicht gebe?« »Dann gehe ich auf der Stelle zu Norton Garner und öffne ihm über euch beide die Augen. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, welche Folgen das für dich haben würde. Garner ist verdammt verknallt in Sybill. Er ist ein aufgeblasener, arroganter, eitler Idiot. Wenn er erfährt, daß du seine Sybill beschläfst, explodiert er wie ’ne Wasserstoffbombe. Ganz klar, daß die Druckwelle dich niederreißt und einen gesellschaftlichen und beruflichen Krüppel aus dir macht. Mit anderen Worten: Gar52
ner dürfte persönlich dafür sorgen, daß du in der ganzen Filmbranche wie ein Leprakranker behandelt würdest.« »Du Schwein!« schrie Atlee außer sich vor Wut. Er stürzte sich auf Warren, fuhr ihm an den Hals und würgte ihn. »Verfluchtes Schwein! Ich bringe dich um!« Mit großer Mühe gelang es Warren, den schmerzenden Würgegriff abzuschütteln. »Fünftausend Pfund! « stieß er japsend hervor. »Und ich sage kein Wort, Tim!« Atlee zitterte am ganzen Körper. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Lippen bebten, seine Wangen zuckten ständig. Aber er hatte sich schon wieder einigermaßen in der Gewalt. »Okay!« zischte er mit gefletschten Zähnen. »Okay, Dean. Du sollst das Geld haben.« Warren versuchte ein versöhnliches Grinsen. »Ich wußte, daß wir uns einigen würden, Tim.« »Wann kriege ich das Geld wieder?« »Bald, Tim, bald.« »Wann ist bei dir bald?« »In spätestens vier Wochen hast du es bis auf den letzten Penny wieder in der Tasche. Ist das ein Wort?« Atlee ballte die Rechte. »Wenn du dich an dieses Wort nicht hältst, schlage ich dir den weichen Schädel ein, verstanden?« »Okay, Tim. Meinetwegen. Gib die Moneten endlich her!« 53
Atlee holte das Geld aus dem Wandsafe, der sich im Nebenraum befand. Dean Warren schob die Banknotenbündel schnell in seine Taschen. Ein freudiges Glitzern erhellte seine tiefliegenden Augen. »Danke, Tim«, sagte er, als er vor der Tür stand. »Danke. Du weißt nicht, wie du mir geholfen hast.« »Ach, scher dich doch zum Teufel!« Warren kicherte und wies zu den Schlafzimmerfenstern hinauf. »Weiterhin noch viel Spaß mit Sybill.« Er wandte sich schnell um und lief in den dichten Regen hinein, der ihn schon bald wie ein dunkelgrauer Vorhang verbarg. Atlee knallte wütend die Tür zu. Der Regen störte Dean Warren nicht. Klatschnaß war sein Gesicht. Er durchlief die schwarze Dunkelheit eines kleinen Parks. Als er etwa die Mitte des Parks erreicht hatte, blieb er japsend stehen. Er hob das Gesicht zum Himmel hinauf. Unaufhörlich prasselten die großen Tropfen auf ihn herab. Er riß den Mund auf, fing keuchend einige Tropfen auf und schluckte sie. Ein greller Blitz zuckte schräg über den Himmel Leichenblaß wirkte Warrens Gesicht in seinem Schein. Der folgende Donner ließ die Erde erzittern. Das Krachen war so ohrenbetäubend laut, daß Warren erschrocken zusammenfuhr.
54
Er drehte sich um, als hätte er vor irgend etwas Angst. Das monotone Prasseln des Regens legte sich wie ein Schallschleier über alle anderen Geräusche. Ein Zittern durchlief Warrens dürren Körper. Eine unsichtbare Hand griff nach seinem Nacken. Eisige Schauer schüttelten ihn. Er wollte weiterlaufen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Wie angewurzelt stand er da, als wäre er einer von diesen schwarzstämmigen Bäumen, als gehörte er zu ihnen – hierher in diesen Park. Jede Faser, jeder Muskel zuckte in ihm. Schreckliche Krämpfe befielen ihn. Er krümmte sich ächzend zusammen. Blutrot lief sein Gesicht an. Die Zunge drängte sich zwischen den bebenden Lippen hervor. Er hustete bellend. Seine Finger krallten sich in die linke Brust. Der nächste Krampf nahm ihm das Gleichgewicht und warf ihn nieder. Langsam rollte er auf den Rücken. Der Regen stürzte sich förmlich auf ihn, als wollte er ihn aufweichen und vernichten. »O Gott! Diese Schmerzen!« röchelte Dean Warren. »Oh – oh – oh ... « Ein letztes furchtbares Zittern rüttelte ihn heftig durch. Dann lag er still. Er hatte das Bewußtsein verloren. Ich liebe den Regen. Sein sanftes Trommeln versetzt mich in Trance. Das leise Prasseln macht
55
mich ruhig und ermöglicht es mir, völlig abzuschalten. Ich saß beim Fenster und genoß das zuckende Lichtspiel der grellen Blitze. Die Donner überhörte ich. Mit halb geschlossenen Augen saß ich da und dachte an so gut wie gar nichts. Es war ein wundervoller, träger später Abend. Die Eiswürfel in meinem Scotch waren ausreichend geschmolzen, um ihm dieses klare, kalte Aroma zu verleihen, ohne den Geschmack zu verwässern. Jemand läutete an meiner Tür. Ich überhörte es wie den Donner. Doch eine gewisse Beharrlichkeit führt bei mir selbst in einer solchen Beschaulichkeit irgendwann zum Ziel. Damit rechnete die Person vor meiner Tür, und die Rechnung ging auf, als ich mich erhob, das Glas abstellte und in die Diele ging. Ich trug meinen Kaschmirhausrock, bequeme Hosen und Pantoffel an den Füßen. Als ich öffnete sah ich zuerst einen klatschnassen Nylonmantel – gelb. Der triefende Schirm war grün. Als nächstes sah ich die dicken Gläser einer Brille. Kleine Wassertröpfchen hingen daran. Große Altmädchenaugen schauten mich an, als hätten sie mir etwas Wichtiges zu erzählen. Rosalind Ashley stand vor mir. Sie streifte das nasse Kopftuch ab und schüttelte ihre zerzausten Dauerwellen. Die beiden Klammern um ihren verkniffenen Mund formten ein verlegenes Lächeln. 56
»Guten Abend, Inspektor Whittaker«, sagte sie mit belegter Stimme. Sie räusperte sich. Die nächsten Worte kamen klar aus ihrem Mund. »Ich heiße Rosalind Ashley. Ich bin das Skriptgirl. . .« Sie war mir im Atelier zwar aufgefallen, aber ich hatte ihren Namen nicht gewußt. Nun trat ich schnell zur Seite und sagte: »Ja, natürlich. Bitte, treten Sie ein, Mrs. Ashley.« »M i ß Ashley!« korrigierte sie mich. Ich nahm diese für sie wohl kaum erfreuliche Tatsache mit einem leichten Kopfnicken zur Kenntnis. Ohne erst lange zu fragen, was sie um diese Zeit von mir wollte, half ich ihr aus dem gelben Regenmantel. Und steckte den grünen Schirm in den Ständer. Sie trug ein knielanges blaues Kleid, das ihrer wenig gerundeten Figur kaum schmeichelte. Ich bat sie ins Wohnzimmer und ließ sie einen Drink wählen, als ich merkte, daß sie fröstelte. Sie entschied sich für einen Sherry. »Scheußliches Wetter«, sagte sie, als wir uns gegenübersaßen. »Ja, scheußlich«, pflichtete ich ihr bei, obwohl ich eigentlich nicht ihrer Meinung war. Bestimmt hätte ich es aber auch gesagt, wenn ich noch aus dem Haus gemußt hätte. Der Wind wurde heftiger. Er erhob sich zu einem unüberhörbaren Sturm und peitschte den Regen gegen die Fenster, die unter dem Luftdruck laut knackten. 57
»Was führt Sie zu dieser für einen Damenbesuch recht ungewöhnlichen Zeit zu mir, Miß Ashley?« fragte ich und versuchte, nett und freundlich auszusehen. »Ich hatte gehofft, daß Sie Nachtdienst haben, Inspektor Whittaker. Ich rief New Scotland Yard an. Man wollte mich mit jemand anders verbinden. Ich habe nicht gewartet, bis sich dieser andere Inspektor meldete, sondern legte auf. Ich wollte mit Ihnen sprechen, Inspektor Whittaker. Fragen Sie mich bitte nicht, wieso. Ich wollte es eben. Im Telefonbuch fand ich Ihre Nummer. Ich rief Sie an, aber Sie gingen nicht ran.« »Ich kann mich nicht erinnern, daß das Telefon geläutet hat, Miß Ashley«, sagte ich entschuldigend, während ich vorwurfsvoll zum Apparat schielte. »Ich dachte, daß Ihr Telefon möglicherweise gestört ist«, sagte das Skriptgirl. Natürlich, dachte ich brummig. Wenn ein Inspektor von Scotland Yard nicht in seinem Büro ist, muß er zwangsläufig zu Hause sein. Ein Privatleben wird einem solchen Menschen ja nicht zugebilligt. Schließlich ist er Polizist, und als solcher hat er Tag und Nacht für seine Mitmenschen da zu sein. Wie der Arzt, den man mit dem hippokratischen Eid festnagelt. »Es scheint von größter Wichtigkeit zu sein, was Sie mir zu erzählen haben, Miß Ashley«, sagte ich trotzdem höflich. »Allerdings.« 58
»Was ist es?« »Sie sind doch hinter dem Mörder von Anne Melton und Carol Sky her, Inspektor Whittaker.« Ich setzte mich mit einem Ruck gerade. »Ja, Miß Ashley.« »Ich glaube, den Mörder zu kennen«, behauptete das Skriptgirl. Ihre Worte rissen mich buchstäblich vom Stuhl. Es fiel in jener Nacht so reichlich Regen, daß die Erde das Wasser kaum aufzunehmen vermochte. Kleine Seen bildeten sich auf flachen Rasenflächen, während in den Rinnsalen wahre Wildbäche den Gullys entgegengurgelten. Das grelle Licht der zuckenden Blitze spiegelte sich in diesen Seen. Ein Mann durchlief sie mit schmatzenden Schritten. Mit gekrümmtem Rücken huschte er auf das kleine Einfamilienhaus zu, hinter dessen Fenstern kein Licht brannte. Zwischen zwei Nordmanntannen blieb die Gestalt kurz stehen. Dem kurzen Lichtspiel der Blitze folgte jeweils ein infernalisches Donnern, das die Welt bis in die Grundfesten zu erschüttern schien. Aus der Kehle der schemenhaften Gestalt löste sich in diesem Augenblick ein erschreckendes Knurren. Häßliche Pfoten wischten schnell über eine feucht glänzende Schnauze.
59
Der Werwolf bleckte die tödlichen Zähne, während seine glühenden Augen auf das schmale, weiße Haus gerichtet waren. Mit kräftigen, federnden Schritten setzte er seinen Weg fort. Er wandte sich um, ließ seinen Blick über das rasenbewachsene Grundstück schweifen und hastete weiter, als er sicher war, daß ihn niemand beobachtete. Keuchend erreichte das Monster die weiße Front des Fertigteilhauses. Vor dem Eingang war ein prächtiges Alpinum aufgebaut. In einem kleinen Kunstteich schillerten während des Blitzens die kleinen Leiber von Goldfischen. Der Werwolf trat unter ein schmales Vordach. Er schüttelte sich kurz, um das Wasser aus seinem silbrigen Fell zu schleudern. Dann näherte er sich hechelnd der Tür. Seine Krallen drückten die schwere Messingklinke nach unten. Es war abgeschlossen. Wütend wandte sich das Scheusal um. Blitze und Donner wechselten einander nun wesentlich schneller ab. Allmählich erreichte das gewaltige Gewitter seinen absoluten Höhepunkt. Mächtige Wassermassen stürzten aus den Himmelsschleusen herab. Mit triefnassen Kleidern tänzelte das Untier zornig vor der Tür herum. Geifernd leckte es sich über die Schnauze. Die spitzen, scharfen Zähne klappten hart aufeinander. Das Monstrum war hierhergekommen, um ein neues Opfer zu finden, um wieder 60
zu töten, um seine kräftigen Fangzähne wieder in das weiche, warme Fleisch eines jungen Menschen zu schlagen. Es machte ihn rasend, nicht ins Haus zu können. Knurrend warf er sich mehrmals gegen die schwere Eichentür. Sie knackte zwar, aber gab nicht nach. Zornig sprang das Scheusal wieder in den prasselnden Regen hinaus. Ein Blitz zuckte vom tintigen Himmel und schlug ganz in der Nähe mit einem ohrenbetäubenden Krachen ein. Fauchend wirbelte der Werwolf herum. Der Sturm wühlte in seinem nassen, zotteligen Fell. Wieder wischte er sich mit den Pranken hastig das Wasser von der Schnauze. Nun näherte er sich einem hohen, schmalen Fenster. Er hob die gewaltigen Krallen. Über ihm fing sich der Sturm zwischen Dach und Regenrinne. Das hatte ein unheimliches, gespenstisches Heulen zur Folge. Ungeduldig trat das mordgierige Monster an das Fenster. Ein genetzter Blick zurück, dann schnellten die Krallen auf das Glas zu. Die Scheibe zerplatzte. Klirrend flogen die großen Scherben ins Haus. Das Knurren des furchterregenden Wesens drückte Zufriedenheit aus. Die Pranke schoß durch die zerbrochene Scheibe. In fliegender Eile fand sie den Riegel und ließ ihn hochschnappen. Sofort bemächtigte sich der heulende Sturm des Fensterflügels. Er riß ihn zur Seite und knallte ihn 61
gegen die Wand. Ein Klirren, Klappern und Scheppern war zu hören. Doch das störte den Werwolf nicht im geringsten. Er bemühte sich kaum, leise zu sein. Das Opfer war ihm sicher. Es war ihm egal, ob er es nun im Schlaf überraschte oder in wachem Zustand. Mit einem kraftvollen Sprung federte das Ungeheuer hoch. Es flog über das Fensterbrett hinweg und landete auf einem dicken Perserteppich. Das Wasser lief von ihm ab und sickerte zwischen die Fasern des Teppichs. Nichts konnte den grausamen Mörder jetzt noch davon abhalten, seinen Weg fortzusetzen. Das bedauernswerte, ahnungslose Opfer war bereits in dieser Minute rettungslos verloren. Das schwere Unwetter gestattete wohl niemandem einen ruhigen, tiefen Schlaf in jener Nacht. Das Tor der Hölle schien aufgebrochen zu sein. Teufel und Dämonen fegten lärmend durch die Stadt und quälten die Menschen mit ihrem furchtbaren Gezischel und Geheule. Judy Brent schlief besonders unruhig. Selbst im Schlaf hatte sich ihr Gesicht nicht entspannt. Eine tiefe Falte stand vertikal über der Nasenwurzel, als hätte sie große Sorgen. Sie warf sich ruhelos im breiten Bett hin und her und sprach hin und wieder wirre Worte. Mehrmals rief sie auch mit ängstlicher Stimme Carols Namen, so als wollte sie die Freundin vor etwas Schrecklichem warnen. 62
Die Blitze erhellten das Schlafzimmerfenster, als läge ein strahlender Sonnentag davor. Doch gleich darauf preßte sich die rabenschwarze Nacht wieder an die Scheiben. Jeder Donner ließ das Haus vom Dach bis zum Fundament erbeben. Als irgendwo unten im Erdgeschoß Glas klirrte, schreckte das Mädchen mit einem kurzen Seufzer hoch. Mit starrem Blick saß es im Bett. Das Licht des nächsten Blitzes beleuchtete das kreideweiße Antlitz. Gespenstisch heulte der Wind um das Haus. Ein unheimliches Knistern und Knacken erfüllte die Luft. Eine unangenehme Kälte schwebte durch die Fensterritzen auf das Bett zu und ließ die ängstliche Schauspielerin frösteln. Das Nachthemdchen, das sie trug, war hauchzart und so undurchsichtig wie Libellenflügel. Die Spitzen ihrer festen Brüste drückten sich durch das feine Gewebe. Judy lauschte angestrengt, und während sie dies tat, wagte sie kaum zu atmen. Eine prickelnde Angst hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie versuchte zu ergründen, weshalb sie hochgeschreckt war. Hatte sie nicht ein verräterisches Klirren vernommen? Das Klirren von Glas! War eine Fensterscheibe kaputtgegangen? Das würde dieses ständige Klappern erklären, das sie nun hörte. Der Sturm hatte mit seinen kräftigen Fingern ein schlecht geschlossenes Fenster gepackt und aufge63
rissen. Vermutlich hatte er es gegen die Wand geschmettert. Dadurch war die Scheibe zerbrochen. Judy legte sich auf den Rücken. Sie zog das bunt bedruckte Oberbett bis ans Kinn, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte zur Zimmerdecke. Das Klappern machte sie nervös. Doch sie wollte nicht aufstehen und hinuntergehen, um den Fensterflügel festzumachen. Sie hoffte, daß sie sich an das Geräusch gewöhnen würde. Wer jemals in einer ähnlichen Lage wie dieses Mädchen gewesen ist, weiß, daß es unmöglich ist, sich an solche Geräusche zu gewöhnen. Man erschrickt, ängstigt sich und wartet mit hellwachem Geist auf das nächste Geräusch, wodurch es unmöglich wird, abzuschalten und einzuschlafen. Judy Brent mußte bald einsehen, daß es auch ihr nicht möglich war, sich an das peinigende Klappern zu gewöhnen. Zuerst versuchte sie, den ersehnten Schlaf mit allen möglichen Tricks zu überlisten. Sie rollte sich im warmen Bett zusammen, preßte die Hände auf die Ohren, und als das nichts half, legte sie sich ein Kopfkissen über den Kopf. Nun kamen die Geräusche zwar gedämpfter, aber sie waren damit nicht auszuschalten. Außerdem war es heiß und stickig unter dem Kissen. Schließlich fegte es Judy mit einem ärgerlichen Ruck vom Gesicht und atmete mehrmals erholsam durch. Klapp! Klapp! Klapp! 64
Klapp! Klapp! Klapp! Es war zum Verrücktwerden. Judy machte Licht. Nervös griff sie nach den Camels. Sie brannte sich ein Stäbchen mit zitternden Händen an. Neben der Nachttischlampe stand eine geschliffene Karaffe, in der sich Whisky befand. Es kam ab und zu vor, daß Judy schlecht einschlafen konnte. Wenn das der Fall war, kippte sie ein Glas davon. Zumeist rief der Alkohol schon nach ganz kurzer Zeit die gewünschte Wirkung hervor. Mit einer fahrigen Bewegung öffnete sie die Karaffe und goß Whisky in das danebenstehende Glas. Nach mehreren Zügen an der Zigarette, die sie kaum zu beruhigen vermochten, setzte sie das Glas an die Lippen und trank den Whisky aus, ohne ein einziges Mal abzusetzen. Sie stellte das Glas an seinen Platz zurück, hoffte, daß es ihr nun schon bald nervlich bessergehen würde. Sie rauchte die Zigarette zu Ende und legte sich wieder hin. Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Plötzlich war es ihr unerträglich, noch eine Sekunde länger im Bett zu bleiben. Blitzschnell warf sie die Decke zurück. Sie glitt an den Rand des Bettes, suchte tappend nach den flauschigen Pantoffeln und erhob sich, als sie diese gefunden hatte. Das Licht der Nachttischlampe verzauberte ihr kurzes Nachthemdchen in eine milchige Aureole. 65
Fröstelnd warf sich Judy einen cremfarbenen Schlafrock über. Weich, zart und sanft umschmeichelte er ihren makellosen Körper. Zögernd näherte sie sich der Schlafzimmertür. Sie öffnete sie, trat aber nicht sogleich hinaus. Nun war das Klappern deutlicher zu hören. Trotz des Schlafrocks hatte das ängstliche Mädchen das Gefühl, erbärmlich zu frieren. Es kostete Judy einige Mühe, zu verhindern, daß die Zähne aufeinanderschlugen. Eine hochgradige Nervosität trieb Judy schließlich aus dem Schlafzimmer. Ein greller Blitz schleuderte sein gespenstisches Licht zum Fenster herein, und Judy Brent erschrak im selben Augenblick vor ihrem eigenen Schatten, der tiefschwarz über die Wand wischte. Das nervenzerfetzende Gebrüll des Donners ließ Judys Atem ganz kurz stocken. Sie vibrierte innerlich. Äußerlich zitterten die Kniescheiben, während die Beingelenke mehrmals hintereinander einknicken wollten. Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Klapp! Judy wollte diesen lästigen Geräuschen schnellstens ein Ende bereiten, ihnen im wahrsten Sinne des Wortes einen Riegel vorschieben und dann so rasch wie möglich in ihr Bett zurückkehren. Mit unsicheren Schritten lief sie die Treppe hinunter.
66
In der Halle umfing sie eine undurchdringliche Dunkelheit. Fröstelnd lief sie auf die Tür zu, hinter der sie das zerbrochene Fenster vermutete. Als sie die Tür erreichte, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Kalter Angstschweiß brach ihr aus den Poren. Hatte sie nicht einen grauenvollen Seufzer vernommen? Hinter dieser Tür, vor der sie nun wie angewurzelt stand! Das Klappern des Fensters zermürbte sie und ließ sie keinen klaren Gedanken fassen. Furchtsam, fröstelnd und unschlüssig stand sie da. Eine Sekunde dachte sie daran, umzukehren. Doch sie verwarf diesen Gedanken sogleich wieder. Sie wußte, daß sie für den Rest der Nacht kein Auge zugetan hätte, und gerade ihr Job verlangte – zumindest während der Dreharbeiten – ein Gesicht, in das nicht von einer unangenehmen Nachtwache graue Spuren gezeichnet waren. Sie tat das vernommene Seufzen als Einbildung, als Hirngespinst ab. Entschlossen griff sie nach der Klinke und warf die Tür auf. Unheimlich laut drang nun das Klappern auf sie ein. Der kalte Sturm fauchte zum Fenster herein, jagte ihr entgegen und ließ den dünnen Schlafrock hinter ihr flattern, während er das zarte Gewebe an ihre Konturen preßte. Judy Brent machte Licht und lief zu dem Fenster. Sie trat auf die Glasscherben. Knirschend brachen sie unter der Last ihres Körpers. 67
Seltsamerweise kam dem ahnungslosen Mädchen nicht in den Sinn, daß die Scherben eigentlich vor dem Haus liegen müßten, wenn der Sturm das Fenster zerschlagen hatte. Sie fing den klappernden Flügel ab und schob den Riegel hoch. Die folgende Stille tat ihr gut und entlockte ihr ein zufriedenes Seufzen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht allein im Raum zu sein. Es war die Bibliothek. An den Wänden standen gefüllte Bücherregale, die bis zur Decke hinauf reichten. Judy hatte die Bücher mit dem Haus gemietet. Nur einige wenige gehörten zu ihrem Besitz. Ein Hecheln jagte ihr dicke Hagelkörner über den Rücken. Das darauffolgende Knurren raubte ihr beinahe den Verstand. Sie kreiselte mit einem spitzen Schrei herum. Ihre schreckgeweiteten Augen erblickten das grauenerregende Monster. Sie wankte mit bleichen Wangen und flatternden Lidern, und sie fühlte, wie nahe sie einer lähmenden Ohnmacht war. Eine halbe Stunde nachdem Miß Rosalind Ashley klatschnaß vor meiner Tür gestanden hatte, verließ sie meine Wohnung wieder. Was sie mir erzählt hatte, versetzte mich in Unruhe. Allan und ich hatten versucht, Jason Bloom aufzustöbern, als wir von Judy Brent erfahren hatten, daß Carol Sky sich mit ihm angefreundet hatte. 68
Doch Bloom war weder zu Hause noch in seinem Büro anzutreffen gewesen. ›Mr. Bloom suchen Sie?‹ hatte uns seine hübsche, schwarzhaarige Sekretärin gefragt. Mir war an ihr aufgefallen, daß sie zwar so gut wie keinen Busen, dafür aber ein recht appetitliches Hinterteil hatte. >Mr. Bloom ist heute morgen nicht hier erschienen. Er hat sich telefonisch krank gemeldet ›Wer hat die Krankmeldung entgegengenommen?‹ hatte sich Allan erkundigt. ›Ich‹, hatte das Mädchen geantwortet. ›Was hatten Sie für einen Eindruck?‹ ›Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Sergeant Crown.‹ ›Hat er tatsächlich krank gewirkt?‹ ›Ich habe ihn nicht gesehen.‹ >Seine Stimme. Hatten Sie den Eindruck, er möchte sich nur einen freien Tag verschaffen, oder klang seine Stimme irgendwie kränklich?« ›Sie verlangen ein bißchen viel, Sergeant.‹ »Warum weichen Sie meiner Frage aus?< ›Sie nehmen doch nicht im Ernst an, daß ich irgend etwas über Jason Bloom sage, das ihn in Schwierigkeiten bringen könnte, Sergeant? Das können Sie von mir nicht verlangen. Schließlich bin ich seine Sekretärin. Sie können sich nicht vorstellen, wie ekelhaft er sein kann, wenn er jemanden nicht mag.‹ Allan Crown hatte daraufhin gegrinst.
69
›Vielen Dank, Miß. Hiermit haben Sie uns gesagt, daß Sie nicht den Eindruck gehabt haben, er wäre krank.‹ ›Das ist doch . . . Mit keiner Silbe habe ich so etwas gesagt!‹ »Ich kann zum Glück auch zwischen den Silben hören