Rainer Erler
Das Blaue Palais Das Medium Roman Originalausgabe
Wilhelm Goldmann Verlag
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Rainer Erler
Das Blaue Palais Das Medium Roman Originalausgabe
Wilhelm Goldmann Verlag
Dieses Buch entstand nach der Fernsehreihe »Das Blaue Palais« von Rainer Erler, die von der Bavaria Atelier GmbH, München, produziert wurde. Die fachliche Beratung hatte Diplompsychologe Eberhard Bauer vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie an der Universität Freiburg im Breisgau. Das Umschlagfoto zeigt Angelika Bender in der Rolle des Mediums Petra Roscak.
Made in Germany • 9/79 • 1. Auflage •1115 © 1979 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Rainer Erler Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Verlagsnummer: 3767 Lektorat: Martin Vosseier • Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-03767-0
Das Blaue Palais Hinter der brüchigen, blauen Fassade des alten Palais, in seinen Nebengebäuden, malerisch über den verwilderten Park verstreut, haben sich junge Wissenschaftler zusammengefunden, um frei und unabhängig neue Aspekte unserer Zukunft zu erforschen. Sie wissen, daß sie dabei ethische und moralische Grenzen überschreiten müssen. Das Medium Petra, achtzehn Jahre alt, sehr hübsch, hat das Interesse von John Kevington geweckt. Dr. Kevington, sechsunddreißig Jahre alt, Quantenphysiker, ist der neue Mann im Institut. Er hat von den medialen Fähigkeiten dieses Mädchens gehört: Sie könne Ereignisse voraussehen und den Zufall beeinflussen. Telepathie war eigentlich das Forschungsgebiet von Louis Palm, dem Leiter des Blauen Palais. Daß ein Kernphysiker mit einem Parapsychologen zusammenarbeitet, erscheint ungewöhnlich. Doch die Jagd nach PSI kann nur durch gemeinsame Versuche zum Erfolg führen – wenn es gelingt, die PSI-Funktion der Quantenmechanik und die PSI-Phänomene der Parapsychologie in Einklang zu bringen. Petra dient beiden als Medium, als Versuchsperson. Aber Petra gerät in eine Krise: Sie will nicht einsehen, daß die Wissenschaft Opfer von ihr verlangt. Ein letztes Mal läßt sich Petra auf ein Experiment ein, das Palm und sie nach Bangkok führt. Palm möchte den thailändischen Kontaktmann, den ›Sender‹, aufspüren, der sich mit Petra medial in Verbindung gesetzt hat und ihr eine doppelte Identität vorspiegelt.
1 »Ist es noch weit?« John Kevington hatte höflich gefragt, aber der Fahrer des Taxis gab keine Antwort. Er zuckte nur andeutungsweise mit seinen breiten, massigen Schultern, die in einem muffigen, verschwitzten grünen Lodenmantel steckten. Kevington sah auf seine Uhr und lehnte sich zurück. Der Fahrer schaltete. Langsam dieselte der alte Wagen eine Anhöhe hinauf. Die schmale Landstraße war mit Schlaglöchern übersät – Frostaufbrüche eines extrem kalten Winters, der gerade zu Ende ging. Kevington spürte jeden Stoß durch die durchgesessene, abgewetzte Kunstlederbank im Fond des alten Wagens. Er fühlte jede einzelne dieser Spiralfedern. Und die Kuhle in der Mitte dieses Rücksitzes ließ keinen Zweifel daran, daß in den letzten zehn Jahren in erster Linie Einzelpassagiere befördert worden waren. »Waren Sie schon öfter dort?« Kevington hatte sich wieder vorgebeugt, lehnte sich über die Trennwand. Die Scheibe war zur Seite geschoben. Dieseldunst kam ihm entgegen und dieser süßlichsaure Mief des alten Lodenmantels. Aber der Fahrer schüttelte den Kopf, fuhr sich mit der rissigen, schwieligen Hand über seinen Stiernacken, lüftete kurz die speckige Ledermütze, zog das Schild wieder einigermaßen gerade über seine Stirn und sagte schließlich: »Nein. Noch nie!« »Ah ja. Aber Sie kennen die Strecke?«
Wieder schüttelte der Mann den Kopf. »Nur die Richtung. Ungefähr. Aber wir kommen an. Verlassen Sie sich drauf!« Kevington lachte. »Sie fahren also mit PSI?« »Womit fahr’ ich?« »Mit PSI. Mit Telepathie…« Es war vermutlich kein besonders guter Scherz. Der Fahrer blickte kurz und irritiert auf diesen seltsamen Fahrgast: ein hagerer Ausländer, Engländer oder Amerikaner mit einem rötlichen Schnauzbart, der seinen Pepitahut stets auf dem Kopf behielt und schließlich, als von seiten des Fahrers keine weitere Reaktion erfolgte, in korrektem Deutsch hinzufügte: »Sie wissen sicher nicht, wovon ich spreche?!« »Doch. Weiß ich!« Wieder fuhr die Hand zum Nacken, zu der Ledermütze mit ihrem abgegriffenen Schild. »Weiß ich. Aber halt’ ich nix von.« Der Scheibenwischer kämpfte gegen den Regen an. Das ganze Land, diese wintergrauen Wiesen und Hügel, diese toten, kahlen Laubwälder, an deren Rändern noch Schneereste lagen, löste sich auf in diesem Regenschleier. Einzelstehende Gehöfte, häßliche niedere Häuser mit verkommenen Nebengebäuden, mit Ställen und Scheunen, duckten sich in dieser kalten Unwirtlichkeit. Hinter den winzigen Fenstern brannte gelbes Licht. Es war mitten am Tag. Auch die wenigen Fahrzeuge, die ihnen entgegenkamen, fuhren mit Licht. Die Scheinwerfer glänzten auf dem nassen Asphalt, blendeten durch die Wasserschlieren auf der Windschutzscheibe. Gischt wirbelte hoch und nahm ihnen die Sicht. Und dann waren sie wieder allein auf der Straße, die sich durch diese abgelegene Landschaft schlängelte. Es war kein Ende abzusehen. Der Taxameter zeigte bereits über einhundert Mark. Der Fahrer hatte ihn immer im Blick. Aber er schien keine rechte Freude an den weiterspringenden Zahlen zu haben. Schließlich nahm er nach einer viel zu langen
Pause den Faden des Gesprächs wieder auf: »Instinkt! Daran glaub’ ich. Alles Instinkt!« Er schaute wieder ganz beiläufig in Kevingtons Richtung, um herauszufinden, wie dieser lästige Ausländer mit seinem englischen Akzent, der immer wieder versucht hatte, mit ihm Konversation zu machen, auf diese Feststellung reagierte. »Und ich fahre auch mit Instinkt!« fügte er abschließend hinzu. »Instinkt! Sehr richtig! Genau davon habe ich gesprochen«, sagte Kevington. »PSI – die Kraft der außersinnlichen Wahrnehmung, die Fähigkeit, Bilder und Gedanken zu erkennen, außerhalb von Raum und Zeit, unabhängig von unseren fünf Sinnen und ohne technische Hilfsmittel – das ist für mich nur erklärbar als eine Art ›Instinkt‹.« Er zupfte an den Spitzen seines rotblonden Schnurrbarts und fuhr fort, ohne seinem eigenen Instinkt zu folgen und die Konversation zu beenden, die diesem alten Fahrer offensichtlich wenig Vergnügen bereitete: »Ich bin Wissenschaftler, müssen Sie wissen, und ich mache mir Gedanken über gewisse Phänomene…« Aber dann verfolgte er den Blick des Fahrers zum Taxameter und brach mitten im Dozieren ab: einhundertsechzehn Komma fünfundachtzig. Ich hätte ein Taxi direkt vom Flughafen nehmen sollen, dachte Kevington, wie man es ihm geschrieben hatte. Wesentlich mehr hätte das auch nicht kosten können. So war er, die langen Halte- und Wartezeiten eingerechnet, über zwei Stunden mit einem Vorortzug unterwegs gewesen – allerdings voller Stolz, so etwas selbst herausgefunden zu haben. Auch die winzige Bahnstation hatte er selbst ausfindig gemacht. Auf der Fotokopie einer Landkarte, die man ihm sicherheitshalber mitgeschickt hatte, beigelegt diesem Einladungsbrief, der ihn jetzt in diese entlegenste Gegend Deutschlands verschlagen hatte, wo die Menschen offenbar alle mufflige grüne
Lodenmäntel trugen, von denen er bisher in seinen britischen Zeitungen nur in Glossen gelesen hatte. Schließlich hatte er ein Taxi entdeckt. Es wirkte sehr antik und deshalb vertrauenswürdig und stand Seite an Seite mit einem Leichenwagen in einer Reparaturwerkstätte für Landmaschinen. Der schweigsame Mechaniker hatte den hageren jungen Mann mit dem Schnauzbart und dem nassen Trenchcoat lange angesehen. »Amerikaner?« hatte er gefragt. »Engländer…« Kevington hatte seinen Pepitahut abgenommen und den schwarzen Samsonite-Koffer auf die Werkbank gestellt. Die Karte war feucht geworden, aber der Mechaniker hatte sowieso nur einen kurzen Blick darauf geworfen, nachdenklich genickt und eine unmißverständliche Geste mit zwei Fingern gemacht. Die Warnung vor einem sicherlich nicht geringen Fahrpreis. Schließlich hatte er Lodenmantel und Ledermütze vom Haken genommen – und jetzt waren sie bereits fünfzig Minuten unterwegs. Einhundertneunzehn Komma fünfzig zeigte der Taxameter. »Glauben Sie eigentlich an Spuk? An Poltergeister? An okkulte Erscheinungen?« Kevington hatte wieder Mut gefaßt. Schließlich war er zahlender Gast. Und er war in dieses Land gekommen, um bestimmte Verhaltensweisen, auch Meinungen, Urteile und Vorurteile zu erfahren. Er ließ sich auch nicht mehr beeindrucken, als der Fahrer abwehrend die Hand hob und den Kopf schüttelte. »Nein? Auch nicht an Wahrträume und Visionen? Und an das zweite Gesicht?« Die Handbewegung des Fahrers war nicht mehr eindeutige Ablehnung, er wiegte den Kopf hin und her. »Sie halten solche Dinge für möglich, ja? Und Hellseher, Gedankenleser, Zukunftsdeuter…?«
»Meistens Betrüger!« Der Fahrer wischte diese Kategorie gewissermaßen vom Tisch. »Meistens Tricks!« ergänzte er noch. »Ja, manchmal«, gab Kevington zu. »Aber manchmal sind die Ergebnisse doch sehr verblüffend. Und wie’s gemacht wird, weiß man nicht so recht. Auch nicht, wie es funktionieren könnte. Das macht mißtrauisch. Und was wir nicht erklären können, was außerhalb unserer fünf Sinne liegt, das macht uns ängstlich, das erschreckt uns und läßt uns zweifeln. Da glauben wir doch lieber an Tricks.« Der Fahrer lachte und schaltete sein Radio ein. Es mußte doch einen Weg geben, diesen Ausländer zum Schweigen zu bringen. Aber Kevington zeigte auf das Radio und dozierte über die laute Musik hinweg: »Sie wissen, wie das funktioniert? Ja, natürlich! Ein klein wenig Elektrizität und eine Antenne auf dem Dach. Und irgendwo ein Sender und elektromagnetische Wellen. Ein ›unfaßbares‹ Wunder. Denn elektromagnetische Wellen sind ja nicht faßbar, greifbar. Sie liegen außerhalb unserer Sinneswahrnehmung. Ähnlich wie die ›außersinnlichen Wahrnehmungen‹ von Hellsehen, Telepathie, Prophetie – Erfahrungen, die die Menschen schon seit Urzeiten machen. Sie zum Beispiel haben die Gabe, ein unbekanntes Ziel nur nach Kenntnis der ungefähren Richtung und mit Instinkt anzusteuern, wie Sie selbst zugeben. Und das ist keineswegs unnatürlich oder übernatürlich. Zugvögel können das auch, bestimmte Fische, Lachse, Aale auf ihren Wegen zu den Laichplätzen. Ich studiere dieses Verhalten. Aber ich muß zugeben, wir wissen noch sehr, sehr wenig darüber. Und wir wissen auch sehr, sehr wenig über uns selbst. Wir haben uns die Erde untenan gemacht, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Wir haben ein winziges Fleckchen Mond erobert und haben daraufhin das Gefühl, wir wüßten einigermaßen
Bescheid über das unendliche Universum, das uns umgibt. Aber bestimmten Fähigkeiten unseres eigenen Gehirns stehen wir etwas fassungslos gegenüber.« Da trat der Fahrer auf die Bremse, hart und unvermittelt, und versuchte den Wagen auf der regenglatten Fahrbahn zum Stehen zu bringen. Kevington war vom Sitz gerutscht und klammerte sich an die aufgeschobene Trennscheibe. »Was ist?« »Sie machen einen völlig meschugge mit Ihrer Quasselei!« sagte der Fahrer und versuchte an Kevington vorbei nach hinten zu blicken. Langsam fuhr er rückwärts bis zur Kreuzung, die er eben überquert hatte. Nachdenklich betrachtete er einen Wegweiser. »Entschuldigen Sie«, sagte Kevington und lehnte sich wieder in den Fond zurück. »Wie können Sie mit Instinkt fahren, wenn ich Sie ablenke… Zu dumm! Ich habe zuviel geredet!« Der Fahrer winkte ab: »Hab’ sowieso nicht zugehört. Geben Sie nochmals die Karte.« Wortlos nahm Kevington den fotokopierten Plan aus seiner Brieftasche und zeigte auf ein blaumarkiertes Kreuz. »Das Palais«, sagte er. Der Fahrer nickte nur und studierte die eingezeichnete Strecke lange und gründlich. Dann wendete er und fuhr kommentarlos den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Der Taxameter zeigte einhundertachtundzwanzig Komma fünfunddreißig.
2 Der Wind hatte den Regen gegen die brüchige Fassade gedrückt. Dunkelblaue Wasserspuren zogen sich vom Dach herunter zu der Fensterreihe des ersten Stocks. Aber keiner achtete darauf. Hinter den erleuchteten Fenstern mit dem kalten Licht der Leuchtstoffröhren arbeiteten die Mitglieder des Blauen Palais in ihren Labors, in Büro und Bibliothek und hatten keinen Sinn für den abziehenden Winter. Nur Kühn, der Hausmeister, stapfte mit Gummistiefeln und Ölzeug über den Hof und versuchte das Wasser abzuleiten, bevor es in den Keller lief. Eine der Traufen war wohl durchgerostet, jetzt strömte ein armdicker Strahl aus dem Rohr und verwandelte den Hof in einen See. Mit Schaufel und Hacke grub Kühn kleine Kanäle in den nahen Park, als das Taxi durch die Einfahrt kam. Das Wasser spritzte zur Seite, und eine Flutwelle rauschte gegen die Sockel der verwitterten Putten neben dem Portal. »Sie wünschen?« fragte Kühn den hageren Menschen mit dem Schnauzbart, der sich nicht entschließen konnte, den Fond des Wagens zu verlassen. »Kevington. Ich werde erwartet.« Vorsichtig versuchte er die Tiefe des schlammigen Sees mit einem seiner Schuhe auszuloten. »Erwartet? Hier? Davon ist mir nichts bekannt.« Kühns Charme hielt sich bei unangemeldeten Besuchern stets in gewissen Grenzen. »Doch, wirklich. Ich habe hier einen Brief…« Aber in der Eile fand Kevington ihn nicht. »Ist Palm im Haus?« fragte er statt dessen.
»Herr Professor Palm. Nein!« Kühn schüttelte bedauernd den Kopf, aber nach einer angemessenen Pause wurde er präziser: »Er ist drüben im Pavillon. Kommen Sie mit.« Er wollte sich quer durch den Hofsee in Bewegung setzen, als der Taxifahrer ihn anrief. Kühn sah sich um und bekam einen Koffer in die Hand gedrückt. Zu Kevington gewandt lüpfte der Fahrer kurz seine Lederkappe: »Vergessen Sie den Taxameter. Machen wir’s rund. Achtzig Mark.« Er reichte Kevington die Hand und zog ihn aus dem Wagen. »Kommen Sie gut nach Hause. Und fahren Sie vorsichtig – mit Ihrem Instinkt!« sagte Kevington. »Danke!« Der Fahrer lachte. »Und tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe. Sonst klappt’s eigentlich immer. Umwege sind selten!« »Ja…« Kevington stand nachdenklich im Regen und hatte vergessen, seinen Pepitahut aufzusetzen. »Das geschieht häufig, wenn sich die Wissenschaft dieser Phänomene annimmt. Dann funktionieren sie nicht.« Damit stapfte er hinter Kühn durch Wasser und Schlamm hinüber zum weißen Holzpavillon, während das Taxi mit einer Bugwelle den Hof wieder verließ. »Das ist ja nicht möglich! Sie sind wirklich gekommen?!« Palm war einen Schritt aus dem Pavillon getreten, um seinen Gast zu begrüßen. »Ja, danke für die Einladung.« Kevington schüttelte die herzlich dargebotene Hand. »Ich schrieb zwar ›im Herbst‹, jetzt ist es fast Frühjahr geworden…« Er sah sich nicht gerade glücklich um, dann betrachtete er seine Schuhe. Sie hatten den Marsch über den Hof nicht sehr gut überstanden.
»Ja, dann scheint das wohl in Ordnung zu sein.« Kühn hatte sich zu Wort gemeldet. Er hatte ein Recht darauf, als erster zu erfahren, wer wann und weshalb hier im Palais eintraf. »Herrn Kühn, unseren guten Geist des Schlosses, kennen Sie ja nun schon…« Palm versuchte das Versäumte nachzuholen. »Doktor John Kevington ist Kernphysiker und wird die nächste Zeit hier bei uns verbringen.« »Wie geht es Ihnen, Herr Kühn?« fragte Kevington in bester britischer Manier, während er Kühn die nasse Hand reichte. »Danke«, antwortete Kühn. »Dann kann ich das Gepäck ja nach oben bringen.« Ohne die Spur eines verbindlichen Lächelns hatte er sich abgewandt und stapfte den schlammigen Weg zurück zum Portal. Er haßte offenbar Unterbrechungen der von ihm selbst gewählten Tätigkeiten. »Ja, ich freu’ mich, daß das nun endlich mal geklappt hat. Kommen Sie herein.« Palm zog Kevington an der Schulter in den hölzernen Bau mit seinen weißlackierten Streben und Schnörkeln, der die letzten hundert Jahre sichtlich gut überstanden hatte und nun als Lagerraum und Aushilfslabor diente. »Hier. Kollege Kevington ist eingetroffen. Mal sehen, wie lange es ihm hier im Blauen Palais gefällt.« Palm begann mit der Vorstellung. Ein junger, romanisch wirkender Typ mit dichter schwarzer Mähne stand auf einem Hocker und beschäftigte sich mit einem bizarren Gebilde, einer Art Drahtskulptur, in die bunte Schaumstoffkugeln eingesetzt wurden. Eine junge Dame in Pelzmantel, Schal und Mütze ging ihm dabei zur Hand. Sie schien trotz ihrer arktischen Ausrüstung zu frieren. Der Raum war zwar nicht geheizt, aber trotzdem wirkte ihr Aufzug etwas übertrieben. Palm stellte sie vor: »Yvonne, mein wandelndes Gedächtnis. Sie stammt aus Lyon.«
»Freu’ mich.« Kevington zeigte sein schönstes Pferdelächeln. »Ich komm’ aus Manchester. Zwölf Jahre Cambridge. Vier Jahre DESY Hamburg. Jetzt bin ich hier«, fügte er hinzu. »Was ist DESY?« wollte Yvonne wissen. »Deutsches Elektronen-Synchotron – oder so ähnlich. Die zerlegen den Atomkern und seine Teilchen in Bausteine«, erklärte Palm. »Ah ja…«, sagte Yvonne und reichte zwei rote Bälle nach oben. Aber der romanische Typ auf dem Hocker hatte ein anderes Problem. Seine »Skulptur« war gefährlich ins Schwingen geraten. »Kollege Polazzo. Enrico Polazzo«, stellte Palm vor. Aber Polazzo winkte ab. »Ich kann jetzt nicht. Augenblick.« Er befestigte zuerst einige Verstrebungen im Zentrum des Gebildes, bevor er von seinem Hocker stieg. »Er baut Modelle von Aminosäuren – nach gemeinsamen Berechnungen von uns«, informierte Palm seinen neuen Gast. »Ja- aber noch nicht ganz stabil!« Polazzo wickelte Heftpflaster um die Drahtstützen. »Ihre Modelle der neuen Transurane waren kompakter, nicht wahr?« »Woher wissen Sie das?« wollte Kevington wissen. »Veröffentlichungen. Fotos.« »Ja, stimmt. Wir haben die Stützen aus Zollrohren geschweißt und Bocciakugeln dazwischengeleimt – oder wie heißen die aus Metall, die Sie in Frankreich…?« »Boule!« erklärte Yvonne stolz. »Richtig. Boule. Und am Schluß wog so ein Modell eine halbe Tonne.« Wieder bleckte Kevington seine langen gelben Zähne unter dem rötlichen Schnurrbart, lächelte das Mädchen an, was Polazzo schwer irritierte. Um von Anfang an keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, griff er nach Yvonnes eiskalten Händen, um sie zu wärmen.
»Gehen wir rüber ins Palais!« Palm holte seinen bunten Schirm aus der Ecke. »Die kommen auch ohne uns zurecht!« Er machte eine Geste zur Tür und ließ seinem Gast den Vortritt hinaus in Regen und Schlamm.
3 Dicht aneinandergedrängt unter dem bunten Schirm stapften die beiden Männer über den Hof, wateten gedankenverloren durch die Pfützen, die Kühns Kanalsystem übriggelassen hatte. »Es ist nicht ganz einfach zu erklären, warum ich mich so schnell und so überraschend entschlossen habe, doch noch hierher zu kommen.« Kevington suchte nach einer plausiblen Begründung. Palm versuchte ihm zu Hilfe zu kommen: »Weil wir hier im Blauen Palais frei und unabhängig forschen, frei von Zielforderungen und Zwängen – vermutlich…?« Aber Kevington wehrte ab: »Das auch, aber das trifft den Punkt bei weitem nicht. Sehen Sie, wir Atomphysiker sind nicht mehr ganz so fest davon überzeugt, daß das Atom nichts weiter ist als ein materielles Ding. Wir entdecken immer mehr rätselhafte, paradoxe, gewissermaßen übernatürliche Erscheinungen. Das Atom verhält sich unter gewissen Umständen sehr eigenwillig, unberechenbar, bisweilen sogar absurd. So läuft zum Beispiel die Zeit entlang der Bahn gewisser Elementarteilchen rückwärts ab. Und scheinbar unumstößliche Naturgesetze werden plötzlich widerlegt, eingeschränkt, werden relativiert…« Er war stehen geblieben und sah Palm erwartungsvoll an. Aber der schien auf weitere Ausführungen zu warten und hielt nur sorgsam den Schirm über seinen Gast. Kevington ließ sich Zeit, schüttelte in Ruhe die Tropfen von seinem Hut und schwieg. »Neulich, bei einer Diskussion«, wandte Palm nun ein, »stellten wir fest: Begriffe wie Ursache und Wirkung, wie Raum und Zeit haben ihre herkömmliche Bedeutung verloren.«
Da ging ein Aufleuchten über Kevingtons hageres Gesicht. »Sehen Sie, wir verstehen uns bereits! Und um das Paradoxe in unserer früher doch so exakten Wissenschaft wenigstens hin und wieder zu vergessen, rettet man sich in Statistik. Man verfolgt nicht mehr die sehr individuellen Bahndaten einzelner Atome und ihrer Teilchen, man betrachtet die große Zahl, und der Computer beweist in der Auswertung, daß alles nur Zufall ist. Aber das glaube ich nicht. Wenn ich nämlich das Verhalten einer großen Zahl von Menschen registriere und auswerte, kann ich durchaus Aussagen machen über das Verhalten von Menschen schlechthin – und doch hatte jeder einzelne jederzeit die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, sich individuell zu benehmen. Und da steckt dann kein Zufall dahinter.« Er blickte plötzlich auf. »Nanu?« Eine weiße Gestalt war im Portal des Palais erschienen, ein flatternder Labormantel, rotblondes, hochgestecktes Haar. Eine junge Frau sprang mit großen Sätzen und weit ausgebreiteten Armen über die Pfützen hinweg hinüber zur alten Remise und verschwand dort hinter dem angelehnten Tor, ohne die beiden Männer beachtet zu haben. »Und das war auch kein Zufall!« lachte Palm. »Sibilla Jacopescu ist Biologin, kommt aus Bukarest, und dort oben sind ihre Labors.« Kevington hatte Sibilla interessiert nachgesehen, jetzt blickte er hinauf zu den erleuchteten kleinen Fenstern im ersten Stock der Remise. »Soll ich Sie gleich vorstellen…«, Palm sah Kevington verschmitzt von der Seite her an, »… oder warten wir damit bis zum Abendessen?« »Ach, ich finde«, antwortete Kevington nach einer scheinbar nachdenklichen Pause, »angenehme Dinge sollte man nie zu lange aufschieben!«
Die Vorstellung fand zwischen den Rattenkäfigen statt. Die Ratten in ihren blankgeputzten weißen Fellen saßen schnuppernd hinter den Gitterstäben und beobachteten mit ihren roten Knopfaugen interessiert das menschliche Ritual des Händegebens und Lächelns. Dann führte Sibilla dem Gast aus England ihren »Mäusezirkus« vor, wie sie ihn nannte, das Verhalten von Überpopulationen unter optimalen Bedingungen. »Nein«, sagte Sibilla, »Kommentare und Auswertungen gibt es erst in drei Wochen!« Kevington sah sich um – diese blitzsauberen Labors in der umgebauten Getreidetenne, die perfekte technische Ausstattung, die charmante Kollegin mit ihrem rollenden rumänischen R. »Ich finde das jedenfalls sehr erfreulich!« sagte er. »Was finden Sie sehr erfreulich, bitte?« wollte sie wissen. »Daß die Forschung in diesem Hause nicht nur in den Händen von Männern liegt!« Er wandte sich zum Ausgang, zu dieser flatternden Schleuse aus Plastikvorhängen. Dort stand ein blonder Hüne und hatte den letzten Satz Kevingtons gerade noch mitbekommen. »Sie sind Physiker«, sagte er. »Wir Biologen und Biochemiker finden das keineswegs erstaunlich.« Er begrüßte Kevington mit mißtrauischer Reserviertheit und stellte sich vor: »De Groot. Jeroen de Groot. Niederländer. Und in gewisser Weise mit der Chefin dieses Zirkusunternehmens hier oben liiert!« »Glückwunsch!« murmelte Kevington im Hinausgehen. Er fand es wirklich vermessen anzunehmen, daß eine Frau dieses Kalibers frei herumlief.
4 »Wir sprachen vom Zufall…« Palm hielt seinem Gast die schwere Eichentür auf, die in die Halle des Palais führte. »Ja«, sagte Kevington. »Wer oder was steuert den Zufall?« Er schlüpfte aus seinem feuchten Mantel und hing ihn über die Haken aus Geweihspitzen, die aus der gekalkten Mauer ragten. Das Palais war früher das Jagdschloß irgendeines unbedeutenden Kurfürsten gewesen. »Beschäftigen Sie sich auch mit Parapsychologie?« wollte er von Palm weiter wissen. »Parapsychologie?« »Die Erforschung der Kraft PSI, die Gedanken und Bilder zu übermitteln und den Zufall zu steuern scheint.« »Nein. Bisher hat sich niemand in diesem Hause…« »Schade!« unterbrach ihn Kevington. »Wir sollten gemeinsam versuchen, ob das Zufällige, scheinbar Unberechenbare nicht doch berechnet werden kann – exakt wie die Bewegung von Planeten. Und wir sollten feststellen, ob die Kraft, die den Zufall zu steuern scheint, erkannt und beeinflußt werden kann.« »Klingt zwar durchaus wissenschaftlich«, wandte Palm ein, »aber ich fürchte…« »Ist es auch. Ist durchaus wissenschaftlich, wenn man von Spökenkiekerei einmal absieht. Aber bevor Sie sich jetzt in Kritik an dieser Idee verrennen – ein Geständnis: Nur wegen dieser Idee bin ich hier! PSI-Forschung. Sie haben doch einen Rechner im Haus, einen Computer, ja?!«
Der Rechner stand im Keller, in einem total umgebauten und vollklimatisierten Weingewölbe, und druckte gerade mit großem Lärm Seite um Seite Polazzos Aminosäuren-Analysen aus. Viel Konversation war nicht möglich. »Herr Büdel stammt aus Bern. Er ist Kybernetiker und Systemanalytiker.« Büdel kam hinter dem Terminal vor. »Von John Kevington haben Sie sicher schon gehört.« »O ja. De Groot hat mich eben angerufen und informiert, daß Sie eingetroffen sind. Übrigens, ich habe damals Ihre Veröffentlichung nachgerechnet, über die Emission von Neutrinos bei Kernreaktionen, Fusion der Wasserstoffkerne im Zentrum der Sonne. Darüber müssen wir mal reden.« »Gerne, natürlich.« Kevington war geschmeichelt. »Aber im Augenblick habe ich eine ganz konkrete Frage an Sie und Ihren Rechner: Wie groß ist die Chance, sechs Richtige im Lotto zu haben?« Büdel lachte schallend. »Sonst haben Sie keine Probleme, nein?« »Nein, nein, im Ernst! Sechs Richtige bei neunundvierzig Zahlen.« Büdel dachte nach, ging an sein Terminal. Zeile um Zeile erschienen die chiffrierten Jobs, die der Schnelldrucker auf seinen endlosen Papierstreifen ausdruckte. »Also – deswegen nehme ich das Programm nicht heraus. Aber ich würde sagen: eins zu dreizehn Millionen etwa.« Kevington nickte: »Ich habe verstanden. Ich muß dreizehn Millionen unterschiedliche Kästchen ausfüllen – eines davon…« Da unterbrach ihn Palm: »Das schaffen Sie nicht. Wenn Sie pro Kästchen nur eine Minute brauchen, sind das…
Augenblick mal… ja, über zweihundertsechzehntausend Stunden.« »Da ist es ja noch einfacher«, warf Büdel ein, »dreizehn Millionen Wochen hintereinander zu spielen. Der Wahrscheinlichkeit nach kommt dann irgendwann der Hauptgewinn. Per Zufall schon beim ersten Spiel. Vielleicht auch erst beim tausendsten. Beim letzten, dem dreizehnmillionsten also, nach zweihundertfünf zigtausend Jahren – wenn man Pech hat, überhaupt nie. Je nach Laune des Zufalls.« Kevington triumphierte: »Laune des Zufalls!« Er suchte in seiner Brieftasche. »Der Zufall hat also Launen!« Er hatte gefunden, was er suchte, und faltete einen Zeitungsausschnitt auseinander. »Hier: eine kleine Meldung – da traf auf ein und denselben Spieler in zwei aufeinanderfolgenden Wochen jedesmal der Hauptgewinn. Sechs Richtige! Ein schöner Zufall, nicht wahr?« Er gab den Ausschnitt an Palm weiter, dem Büdel nun über die Schulter blickte. »Was mich daran interessiert«, fuhr Kevington fort: »Wie hoch weicht nun dieser Zufall von der Wahrscheinlichkeit ab?« Büdel war einen Augenblick ratlos. Er warf einen hilfesuchenden Blick auf seinen Rechner. Aber der war immer noch besetzt und druckte fleißig Aminosäureformeln oder was auch immer eingegeben worden war. »Also – ich kann nur sagen: enorm! Weicht enorm ab von der mittleren Zufallserwartung. Das läßt sich exakt berechnen. Im Augenblick nicht, aber in ein paar Minuten. Binominalformel. Wie viele Spiele wurden insgesamt gespielt, von wie vielen Leuten – wie lange spielte der Gewinner bereits erfolglos – wie viele Kästchen hat er ausgefüllt – und so weiter – und so weiter.«
Kevington hatte lachend abgewunken. »So genau wollte ich das gar nicht wissen. Aber könnte man sagen: Unter Millionen Spielern kommt der Zufall in Millionen Jahren nicht vor…?« »Genau!« Büdel war offenbar einverstanden. »Gut!« sagte Kevington, nahm den Zeitungsausschnitt wieder an sich, legte ihn sorgfältig zusammen und steckte ihn ein. »Also ist der Fall an sich unwahrscheinlich, ja?!« Büdel nickte, Palm pflichtete dem bei, und Kevington fuhr fort: »Deshalb habe ich einen Verdacht: Der Spieler hat den Zufall beeinflußt!« »Betrug?« fragte Palm. »Nein, nicht Betrug! Sechster Sinn. Der Spieler hat die Zahlen einfach gewußt, das Ergebnis vorausgeahnt.« »Ein Prophet?« Büdel traf, wenn man ihm Zeit dazu ließ, immer die exakte Definition. »Ja«, sagte Kevington, »sehr richtig: ein Prophet!«
5 Wissenschaft hat in der Regel immer mit detektivischer Arbeit, mit angewandter Kriminalistik zu tun. Am Anfang steht der Verdacht, stehen Spurensicherung und vage Theorien. Beweise werden zusammengetragen und Fakten. Die Verdächtigen werden beschattet, über Wochen und Monate, wenn man sie anhand ihres Verhaltens überführen will, egal, ob es sich um Molekülgruppen handelt, Bakterien, Viren oder andere Verbrecher, um harmlose Bürger mit seltenen Eigenschaften, um schleichende Gifte im Abwasser einer chemischen Fabrik oder um eine aussterbende Sumpfreiherart. Kevington hatte den Zeitungsartikel auf seiner langen Fahrt in dem Vorortzug entdeckt, ein paar liegengebliebene Seiten in einem Abteil. Ohne auf Datum und Titel zu achten, hatte er den Ausschnitt herausgerissen und den Rest achtlos weggeworfen. Im Frankfurter Bahnhof durchforsteten Büdel und Kevington nun den heimischen Blätterwald und verglichen Papier, Schrifttypen, Spaltenbreite und Aufmachung. Die »Abendpost«! Richtig, Kevington erinnerte sich noch an den roten Balken auf der Frontseite. Im Archiv des Verlages sichteten sie die letzten vierzehn Ausgaben und fanden den Artikel vom 7. März. Unterschrift »ws«. Wilfried Schröder. Die Auskunft erhielten sie in der Redaktion. Aber Schröder war im Metteursaal beim Umbruch. Er war nervös, hatte wohl irgendwelche Probleme, einen bereits gesetzten Artikel auf die zur Verfügung stehende Zeilenzahl zu kürzen. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf den Ausschnitt: »Ja, ja. Ist von mir, der Bericht. Aber doch nicht gerade jetzt. Sie sehen doch selbst…«
Kevington lief hinter Schröder durch den langen Saal, mit wehendem Trenchcoat und den Pepitahut auf dem Kopf, und ließ nicht locker: »Sagen Sie mir den Namen, die Adresse. Ich behandle das vertraulich. Ich habe doch erklärt, worum es geht.« Schröder lachte und griff nach der frisch abgezogenen Fahne einer Seite. »Name, Adresse – was denn sonst noch alles? Glauben Sie, ich hätte das nicht reingeschrieben, wenn ich es gewußt hätte?!« Ein paar Setzer waren aufmerksam geworden, schauten herüber. Ein fülliger Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und geöffneter Krawatte stand hinter der Scheibe seines Büros, klopfte gegen das Glas und winkte Schröder hereinzukommen. Dann wandte er sich ab und telefonierte weiter. »Herrgott, ich muß weg und bin noch nicht durch!« Schröder wurde ungehalten. »Was gibt’s denn noch?« Büdel blieb von dieser Hektik völlig unbeeindruckt: »Sie wissen also gar nicht, wer das war?« »Nein!« schrie Schröder. »Nein, ich weiß es nicht!« Der füllige Mann klopfte wieder gegen die Scheibe und hielt sich anschließend das freie Ohr zu. »Da kam vermutlich irgendeine Meldung rein von einer Agentur, oder was weiß ich. Und die bläst man eben etwas auf, persönlich, menschlich, verstehen Sie?« Schröder sprach entsetzlich schnell. Alle ringsherum schienen entsetzlich schnell zu sprechen. Büdel war fassungslos. »Aber das ist doch alles kein Problem…«, fuhr Schröder fort und warf die Fahne auf den Tisch. »Der, dem das gelungen ist, das muß doch ‘ne runde Million sein, nehme ich an, der hält doch nicht die Schnauze, der quatscht doch rum, das ist doch rauszukriegen über Agentur und so und mit Zeit und Geld…«
»Wir wissen noch nicht einmal, wie lange das her ist, wann das passierte und wo«, gab Büdel zu bedenken. Schröder war bereits auf dem Weg zu dem Glasverschlag, ohne Büdels Einwand abzuwarten. Aber auf dem halben Weg kehrte er wieder um. »Vorschlag: Sie übernehmen die Kosten. Ich bekomme die Geschichte exklusiv. Wir recherchieren gemeinsam. Einverstanden, ja? Gut – setzen Sie sich dort rüber. Halbe Stunde noch, dreiviertel, dann gehen wir das an. Aber jetzt kann ich wirklich nicht…« Er verschwand in dem Glasverschlag. Der füllige Mann nahm ihn allerdings nicht weiter zur Kenntnis, er telefonierte weiter, wandte sich ab von Schröder und raufte sich die Haare. Kevington und Büdel wanderten langsam an den Reihen der Metteurtische vorbei, sahen den Setzern über die Schulter, wichen den Fahrern aus, die die fertig gesetzten Seiten in den bleischweren Kästen auf Rolltischen zu der Maternpresse brachten, und ließen sich, was in diesem Raum sonst nirgends zu finden war – Zeit. Schließlich hockten sie zwischen Papierstapeln auf der Bank unter der großen Normaluhr. Schröder kam kurz mal vorbeigerannt und rief ihnen aufmunternd zu: »Alles kein Problem!« und verschwand für die nächsten zwei Stunden.
6 Es war wirklich kein Problem. Für zwei Packungen »Mon chéri« entlockte Schröder einem der Mädchen von der Nachrichtenagentur die Adresse: eine Reparaturwerkstatt am Frankfurter Osthafen mit der mißverständlichen Aufschrift »Unfallinstandsetzung«:. Kevington hatte wieder ein neues deutsches Wort dazugelernt. Einer der Mechaniker hatte seine Schweißerbrille hochgeschoben, war unter dem aufgebockten Wagen herausgekrochen und hatte nach »Paul« gerufen. Der kam aus einer mit Lackdämpfen eingenebelten Garage, sein Overall glänzte in allen Farben. »Sie sind also der Glückliche!« Schröder hatte die Initiative ergriffen und schlug dem verdutzten Lackierer kräftig auf die Schulter. »Ach, Sie kommen wegen der Lottogeschichte? Da sind Sie bei mir aber an der falschen Adresse!« Sehr glücklich sah der Mann tatsächlich nicht aus. »Aber Sie haben doch gewonnen, oder etwa nicht? Und liegen nicht in der Sonne, auf der faulen Haut. Das finde ich phantastisch!« Schröder begann den Mann für seine Zeitungsgeschichte entsprechend aufzubauen. »Na, soviel war’s auch wieder nicht!« wehrte der ab. »Na, ich danke. Zweimal eine halbe Million!« Schröder stieg voll auf die Sache ein – im Gegensatz zu dem etwas verschüchterten Lackierer. »Das geht doch… ich muß das erklären: Das geht in über zwanzig Teile«, verteidigte er sich. »Da bleibt für den einzelnen…«
»Ach, Sie sind nicht allein?« Schröder war fürs erste enttäuscht. »Nein. Die ganze Blase mit Anhang.« Der Lackierer Paul sah sich hilfesuchend um. Aber da war niemand, der ihm helfen konnte. Der Schweißer hatte sich offenbar verdrückt, und der Hof war leer. »Eine Lottogemeinschaft, ja? Tippgemeinschaft?! Und über zwanzig Mitglieder, sagen Sie?« Schröder schien das Interesse schlagartig zu verlieren. Da überreichte Kevington seine Visitenkarte, die Paul, der Lackierer, unschlüssig entgegennahm und etwas verwirrt studierte. »Ich bin Wissenschaftler«, versuchte Kevington zu erklären. »Und das hier ist ein Kollege.« Er zeigte auf Büdel. »Und wir haben ein paar wichtige Fragen. Wer tippt bei Ihnen? Einer allein? Reihum?« Paul studierte immer noch die Karte, hatte offenbar keine rechte Lust auszupacken, schaute immer wieder in Richtung der Werkstatt, aus der Maschinengeräusche und Schläge auf Blech herüberklangen. Aber niemand erschien, um ihm beizuspringen. »Also, wie ist das?« nahm Kevington den Faden wieder auf. »Wer hat die beiden Kästchen, die gewonnen haben, wer hat die getippt?« »Weiß ich nicht mehr. Zu lange her. Das ergab sich so…« Aber Kevington ließ nicht locker. »So etwas merkt man sich doch, so etwas wird doch hinterher ausführlich diskutiert. Da sagt doch einer: Das waren meine Zahlen, oder? Sie waren es offenbar nicht – oder doch?« »Ich sag’ doch, ich weiß es nicht mehr!« Wieder sah sich der Lackierer um.
Der Schweißer war mit einem jüngeren Kollegen aus der Werkstatt getreten. Beide starrten nun interessiert herüber zu den drei Fremden und Paul. »Ich weiß nur noch«, fuhr Paul schließlich fort, »daß das immer wieder andere von uns waren, jedesmal ein anderer, meine ich, der die Zahlen in den beiden Wochen…« »Also Zufall?!« sagte Büdel und wandte sich ab. Dieses Stichwort griff Paul begierig auf: »Ja, logisch, Zufall. Was denn sonst. Was haben Sie denn gedacht? Haben Sie gedacht, wir haben ‘ne Hexe unter uns, die zaubern kann?! Hellsehen?! Und Karten lesen?« »Ja, genau das habe ich gedacht«, sagte Kevington ganz ruhig und bleckte seine langen gelben Zähne unter dem Schnauzbart. »Joe!« Paul hatte über den Hof gebrüllt. »Joe!« Dann wandte er sich an die beiden Neugierigen, die immer noch in der halboffenen Werkstattür standen. »Wo ist Joe? Ich red’ kein Wort mehr ohne Joe!« »Probefahrt.« Einer von den beiden gab die spärliche Auskunft. Und der andere ergänzte: »Muß gleich wieder da sein – wenn er nicht noch was anderes dabei vorhat.« Er lachte ziemlich dreckig, aber Paul verstand keinen Spaß. Er ging zurück in seine Lackiererei, ohne sich nochmals umzusehen. Joe kam mit einem alten, verrosteten Peugeot nach zwanzig Minuten. Der Schweißer fing ihn am Tor ab und lotste ihn direkt zur Lackiererei. Von dort kam er schließlich in Begleitung von Paul. Joe ging betont langsam, ein kräftiger Typ mit riesigen Händen und einer dunklen Mähne. Seinen ölverschmierten Overall hatte er bis zum Nabel offen. Offenbar war er stolz auf seine schwarzbehaarte Brust, die er mit allerlei Kettchen, Kreuzen und Amuletten geschmückt hatte.
Neben ihm wirkte der Lackierer Paul geradezu schmal und zierlich. Joe studierte die Visitenkarte, die Paul ihm gegeben hatte, und schenkte den drei Fremden, die im Hof herumstanden, keinen Blick. Erst als er dicht vor ihnen stand, schaute er prüfend und feindselig von einem zum andern. »Was gibt’s denn? Ist irgendwas unklar?« Kevington blickte zu Schröder, aber der schwieg vorläufig noch. »Und wer ist der Professor?« wollte Joe wissen. Kevington machte sich bemerkbar. »Es geht um Ihren Lottogewinn!« »Hab’ ich gehört, ja.« Damit gab er Kevington die Karte zurück, die nun Lack- und Ölspuren hatte. »Gibt’s da Probleme? Stimmt damit was nicht?« Da schaltete sich Schröder ein: »Also, ich komme von der Zeitung. Abendpost. Und Sie können sich ja vorstellen, daß sich unsere Leser für so einen Fall ungeheuer interessieren. Jeder will doch mal gewinnen, will den Tip fürs Leben, träumt vom vorzeitigen Ruhestand, ewigen Urlaub. Und was tun die Millionengewinner wirklich? Arbeiten weiter, als sei nichts geschehen. Ich persönlich finde das fabelhaft und gratuliere ganz herzlich!« Er reichte Joe die Hand. Der zögerte, wischte die gröbsten Schmierfettreste an seinem Overall ab und schlug ein. »Viel ist nicht zu erzählen«, begann er nach einer angemessenen Pause, »wenn man lange genug spielt und genügend einsetzt – irgendwann ist man eben dran. Die Mäuse wurden aufgeteilt. Die Hälfte vom Anteil wurde ausbezahlt. Die andere blieb stehen. Konto. Ist angelegt und bringt Geld.« Er brach ab und sah zum Tor. Ein heller Mercedes war in den Hof gefahren, hatte hinter ihnen gehalten. Ein Mann mit Krawatte und weißem Mantel beugte sich aus dem Fenster. »Kunden?« fragte er. »Freunde!« sagte Joe.
»Tut mir leid, aber ich zahl’ meine Leute nicht fürs Rumstehen und Quatschen.« Damit fuhr er weiter bis ans Ende des Hofes, bis zu der Tür mit der Aufschrift »Büro«. »Herrgott noch mal«, rief Joe hinterher, »wenn man gefragt wird!« Schröder winkte ab. »Wir kommen noch mal – nach Feierabend.« »Ja, aber nicht hier«, sagte Joe. »In unsere Stammkneipe. Ziemlich weit draußen, in ‘ner Laubenkolonie Richtung Offenbach. Schlage vor, Sonntag früh um zehn. Haben Sie was zum Malen?« Schröder reichte ihm einen Filzschreiber und eine leere Zigarettenschachtel. Joe riß sie auf und machte eine Skizze. Und die ganze Zeit über stand der Mann im weißen Mantel neben seinem Mercedes und schaute abwartend herüber.
7 Beißender Qualm kam ihnen entgegen, als sie den Wagen bereits an der Einfahrt verließen, und hüllte die ganze Gegend ein. Schröder sah sich um. »Bin nicht so sicher, ob wir heute hier willkommen sind…!« Der Zufahrtsweg zu der »Stammkneipe« der Lottogewinner war mit Feuerwehren verstellt. Ein Dutzend schwerer Maschinen parkte in der Wiese neben dem Weg. Kawasaki, Honda, BMW, Yamaha und eine HarleyDavidson, die etwas aus dem Rahmen fiel. Viel Chrom und blankpolierter Lack. Alles nagelneu. Die Besitzer in makelloses schwarzes Leder gehüllt, wie Todesengel von einem anderen Stern, die Bräute im Partnerlook zur Seite, standen ziemlich belämmert an der Brandstätte herum. Die Stammkneipe, das war nur noch ein Skelett aus rauchenden, verkohlten Balken, die in den grauen Himmel ragten. Es fing an zu schneien, dicke, schwere Flocken kamen einzeln angesegelt und lösten sich auf. Schröder war vorausgegangen, stieg über die schlaffen Schläuche, die bereits eingerollt wurden. Die Show war gelaufen. Zu löschen oder zu retten gab es nichts mehr. Nur einer der Feuerwehrleute sprühte als Brandwache noch einen feinen Wassernebel in die Ruine. »Hallo, Joe. Ja, da wären wir.« Aber Schröder hatte mit seiner jovialen Begrüßung keinen rechten Erfolg. »Hat
gebrannt, ja? Ist ja Pech. Hoffentlich ist der Wirt gut versichert…« Da löste sich die Gruppe der schwarzen Ledermenschen auf. Einer nach dem anderen verdrückte sich. Schröder erntete nur aggressive Blicke. »He, was ist denn los? Ihr habt uns doch extra herbestellt!« »Was los ist, siehst du doch, oder?« Joe war ausgesprochen ungnädig. Er ging langsam zu seiner Harley-Davidson. Die anderen starteten gerade ihre Maschinen, popfarbene Astronautenhelme über den Köpfen. Die Bräute glitten wie Katzen auf den Sozius und klammerten sich an. Über das Donnern hinweg brüllte Joe zum Abschied: »Gequatscht wird ohnehin nicht. Tut mir leid. Mehrheitsbeschluß.« Dann gab er ein Zeichen, und die wilde Jagd verschwand mit Getöse im Qualm und im Schneetreiben, das von Minute zu Minute stärker wurde. Mit kurzen Kommandos verstaute das eingespielte Team der Feuerwehr die zusammengerollten Schläuche, die Stand- und C-Rohre in seinen beiden Wagen, und auch der letzte Mann der Brandwache baute ab. Kevington, Büdel und Schröder warteten unschlüssig inmitten dieser Hektik und wußten nicht so recht, worauf. »Sie sind von der Zeitung, ja?« Ein untersetzter alter Mann mit Indianergesicht war zu ihnen getreten. Er hatte eine gelbe Öljacke an und den Kragen hochgeschlagen. Sein Gesicht war leicht rußgeschwärzt, und die Nässe, die von den Schultern lief, hatte dunkle Spuren über das Plastikgewebe gewaschen. »Zeitung, ja. Abendpost«, sagte Schröder. »Und das war Ihre Kneipe, ja?« »Meine Kneipe. Ja. So was läuft manchmal ganz dumm.« Eine der beiden Feuerwehren setzte sich in Bewegung. Der
Fahrer winkte einen Gruß aus seinem Cockpit. Aber der alte Mann reagierte nicht darauf. »Sie hatten eine Verabredung hier bei mir, ja?« »Stimmt.« Schröder nickte. »Mit den Rockern, fürchte ich…« »Das sind doch keine Rocker. Ich bitte Sie! Motorsportverein Südwest. Meine Stammkunden! Rocker kommen doch bei mir nicht rein!« Er sah seltsam bewegt auf den dampfenden Trümmerhaufen. »Ja«, fing er nach einer Weile wieder an, »jetzt müssen wir uns alle ‘ne neue Bleibe suchen…« Er wischte sich die Schneeflocken aus dem schütteren grauen Haar, betrachtete nachdenklich die rußigen nassen Hände, dann schneuzte er sich mit zwei Fingern, ohne sich abzuwenden. »Wie kam denn das?« wollte Büdel wissen. »War das Brandstiftung?« »Nein, wieso?« Der alte Mann sah ihn entsetzt an. Büdel zuckte nur die Schultern. »Das hat die Polizei natürlich auch sofort gefragt«, fuhr der Wirt fort, »auf die Idee kommt ja jeder ohne nachzudenken. Schwere Maschine und schwarze Lederkluft, und sie trauen dir jede Schandtat zu. Dabei sind das große Kinder, völlig harmlos…« »Sind Sie da ganz sicher?« fragte Schröder. »Ganz sicher – solange man sie nicht provoziert«, schränkte der Wirt ein. »Wissen Sie, die sind nun schon das vierte Jahr hier draußen bei mir, und nur ein einziges Mal gab es Zoff. Einmal in vier Jahren. Dann allerdings richtig.« Er schneuzte sich wieder und wischte anschließend die Finger an dem nassen, rußigen Ölzeug ab. Inzwischen hatte auch die zweite Feuerwehr den Parkplatz vor der Ruine verlassen.
Auch diesmal nahm der Wirt das nicht weiter zur Kenntnis. »Sie kommen wegen der Million und wegen des Mädchens, ist doch richtig, oder?« Er sah die drei frierenden Gäste neugierig an. »Wegen was?« fragte Schröder. »Und welches Mädchen?« Aber der Alte winkte ab. »Vergessen Sie’s! Ich red’ sowieso nichts!« Er winkte den dreien, ihm zu folgen. Langsam ging er auf die Ruine zu. Eine Seite stand noch mit Tür und Fensterhöhlen und einigen Reklameschildern für Bier und Coke an der verkohlten Holzwand. »Wissen Sie, ich war früher mal Steilwandfahrer. Zwanzig Jahre lang. Mit einer Zweihundertfünfziger. Immer rund um die Wand, immer rundherum. Von Rummel zu Rummel. Ich kenn’ die Welt, kann ich Ihnen sagen.« Sein rußiges Gesicht hatte plötzlich seine Fahlheit verloren. Die listigen Greisenaugen fingen direkt an zu leuchten. Er blieb stehen und schlug sich mit den Fäusten auf die Brust. »Keinen Knochen, keinen einzigen Knochen habe ich mehr im Leib, der nicht mindestens zweimal ab war!« Er lachte schallend und sah von einem zum anderen. Die erstarrten, frierenden Gesichter der drei fremden Männer schienen ihn nicht zu beeindrucken. Sie erfüllten für ihn jetzt eine therapeutische Aufgabe, und sie wußten es auch. »Kommen Sie mal mit.« Er ging wieder voraus zu einer Ecke der Ruine. »Da hinten steht sie noch, meine alte Maschine.« Da stand sie wirklich. Ein ausgeglühtes Wrack. Der alte Mann klopfte auf das Blech, wie ein Jockey das Pferd liebkost, das ihn, vor langer, langer Zeit, von Sieg zu Sieg getragen hat und das nun auf den Schlächter wartet. »Meine alte Maschine… mein Gott…« Er schneuzte sich wieder. »Von Maschinen, da verstehe ich nämlich eine ganze Menge, das können Sie mir glauben. Und auf der Basis hatte ich mit denen ganz prima Kontakt.«
Er warf noch einen letzten Blick auf sein altes Vehikel, dann wischte er mit einer Geste die ganze verdammte Vergangenheit zur Seite und ging zu einem winzigen Ziegelbau, der den Brand überstanden hatte. Bierkisten standen darin. Er holte vier Flaschen heraus. »Sie wollen doch sicher…« Er schlug die Kronenkorken an der Türkante ab und reichte die Flaschen, aus denen das Bier herausschäumte, weiter. »Also – wie ist das passiert?« Büdel bestand darauf, es zu erfahren. »Wie soll das schon passiert sein? Uralte Bude. RADBaracke aus dem letzten Krieg, wenn Sie wissen, was das ist. Das Holz brannte wie Zunder. Tja, so was läuft manchmal ganz dumm.« Er ging wieder zum Eingang, starrte auf die Schilder. »Gestern abend gab’s Streit. Ja. Nicht mit mir, untereinander hatten die welchen. Wegen Ihnen…« »Wegen uns?« Kevington war erstaunt. »Ja, wegen Ihnen. Von wegen Zeitung und Professor und aushorchen. Die meisten waren dagegen. Wegen des Mädchens…« Er sah wieder erschrocken auf Schröder, als hätte er zuviel erzählt. »Haben die nie was von dem Mädchen erzählt?« hakte er schließlich nach. Schröder schüttelte den Kopf. »Nicht so richtig. Was war denn?« »Nein, nein!« Der Alte winkte ab. »Von mir erfahren Sie das nicht.« Er ging ein paar Schritte, dann blieb er wieder stehen und senkte die Stimme: »Die haben das Mädchen schwer in die Zange genommen, damit sie dichthält. Und versagt hätte sie auch. Schon zweimal. Die letzten zwei Male. Mit den Lottoscheinen. Und dann fing sie an zu flennen. Hat sich furchtbar aufgeregt – und dann hat es geknallt!« »Geknallt?« Kevington war interessiert näher getreten. »Naja, gefunkt. Der alte Kühlschrank. Irgend etwas war durchgebrannt, Kabel, was weiß ich. Und Else, unsere Hilfe
für Samstagabend, gleich ‘nen ganzen Eimer Wasser drüber. So. Damit wäre Ruhe, dacht’ ich. Alles gelöscht. Fini. Aber denkste: In der Nacht hat’s offenbar wieder angefangen. Keiner hat es gemerkt. Und bis ich da hochkam, war hier vorne schon alles weg. Da war nichts mehr zu machen. Ein Glück, daß ich wenigstens…« Er lachte wieder. »Was soll’s? Bau’ ja wieder auf.« Schröder hatte einen blauen Geldschein aus der Tasche genommen und hielt ihn dem alten Mann verführerisch hin. »Also, wie war das mit dem Mädchen?« Aber der Alte schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Hören Sie mal, mit mir nicht. So nicht!« »Kleiner Beitrag für den Wiederaufbau«, entschuldigte sich Schröder. »Können Sie mit mir nicht machen. Nee, nee! Nicht mit mir.« Aber dann griff der Alte doch nach dem Schein und steckte ihn schnell in die Tasche seiner Ölzeugjacke. »Aber von mir wissen Sie’s nicht. Klar?« Schröder hob die Hand zum Schwur und grinste. »Klar! Ist doch logisch!« Daraufhin sah der Wirt von einem zum andern, immer wieder, senkte seine Stimme noch mehr und verriet: »Sie hat gewußt, daß es brennen wird. Das Mädchen hat es gewußt!« »Gewußt…?« Kevington war ausgesprochen skeptisch, aber nun nahm der Verlauf der Unterhaltung für ihn endlich eine befriedigerende Richtung. »Sie hat es gewußt, jawohl«, bekräftigte der Alte. »Gewußt, daß die Bude hier abbrennt. Letzte Woche schon hat sie gesagt: ›Großes Feuer‹ oder so ähnlich und: ›Alles weg‹, ich soll mich retten, so in der Art. Die hatte immer solche Ahnungen. Sie wissen, was ich meine?!« »Nein!« Schröder stellte sich dumm.
»Na ja, Ahnungen eben! Mit dem Dings da war es genauso, diesem… Herrgott noch mal, wie hieß der denn… dieser… na ja, auch egal… Das war im Herbst. ›Bleib da‹, hat sie gesagt, ›wenn du wegfährst, passiert etwas.‹ Und der fuhr trotzdem. Und zwei Stunden später, da kamen sie alle zurück, bleich wie die Wand, völlig fertig. Der Junge war abgeschmiert auf der Brücke, quer durchs Geländer, sechzig Meter runter. Tot. Was sagen Sie nun?« Keiner sagte etwas. Es hatte aufgehört zu schneien. Auf den obersten Spitzen der verkohlten Balken war der Schnee sogar liegen geblieben. Und immer noch dampfte es aus dem Schutt, ein beißender, scharfer Qualm, der sich wie Nebel über die Gegend legte. »Und die Zahlen für die Lotterie? Die Million?« Kevington nahm sein Thema wieder auf. »Die Zahlen waren von ihr. Klar. Jeder machte ein Kästchen. Jeden Freitag. Aber nur ihre Reihe war richtig! Zwei Wochen hintereinander! Sie hatte eben so Ahnungen. Zufall war das wohl kaum.« »Und jetzt sind sie reich!« Büdel zeigte auf die qualmende Ruine. »Könnten sich ja am Wiederaufbau beteiligen. Finanziell, meine ich.« Da schüttelte der Alte den Kopf. »Ich hoffe, das ist Sache der Versicherung. Und das Geld ist zur Hälfte ja schon weg. Alle neue Maschinen, neue Kluft. Die dachten ja, das geht so weiter. Woche für Woche. Jedesmal eine halbe Million. Ging aber nicht. Hat nur zweimal geklappt. Man kann’s eben nicht zwingen. Und deshalb gab’s Zoff und Krach. Wie immer, wenn’s ums Geld geht… Die dachten, sie will einfach nicht mehr. Vorwürfe, und sie fing an zu flennen, hat sich mordsmäßig aufgeregt, und dann hat’s geknallt. Und jetzt ist die Bude eben weg.« Resignierend breitete er die Arme aus. »Ja, ja, so was läuft manchmal ganz dumm!«
8 »Nein, das ist nicht möglich!« Die Leiterin des Nähsaals, eine runde, mütterliche Frau, war zu keiner Ausnahme bereit. »Nicht während der Arbeitszeit, tut mir leid!« Das Geräusch von über sechzig Nähmaschinen drang durch die Scheibe in das winzige Büro. Draußen saßen die Mädchen in drei langen Reihen. Keine blickte auf, keine schien neugierig zu sein, was der Besuch von drei Männern im Büro der Chefin zu bedeuten hatte. Mit der Emsigkeit von Ameisen nahmen sie die halbfertigen Teile vom Band und nähten sie zu irgendwelchen geschmacklosen Wäschestücken zusammen, Naht um Naht. Immer die gleichen Handgriffe. Nur die Farben wechselten, die Dessins, nach einem System, das ihnen verborgen blieb. Aber vielleicht bemerkten sie das gar nicht mehr. »Welche ist es denn?« Kevington war dicht an die Scheibe getreten, aber von den Gesichtern war kaum etwas zu sehen. Die Mädchen beugten sich tief über ihre Arbeit. Irgendein unsichtbarer Galeerenaufseher schien über ihnen die Peitsche zu schwingen. Die Abteilungsleiterin hatte auf einem Plan nachgesehen. »Roscak, nicht wahr? Petra Roscak?« fragte sie. Schröder nickte und verglich mit seinen Notizen. »Roscak, ja.« »Dritte Reihe, Nummer siebzehn«, sagte die Direktrice und lehnte sich gegen die Platte ihres überladenen Schreibtisches. Büdel fing an zu zählen. »Siebzehn… die mit der blauen Bluse – oder halt, nein…«
»Können wir nicht einfach mal durchgehen, und Sie zeigen uns das Mädchen? Deuten einfach hin und sagen: ›Die dort‹?« »Nein…« Die mütterliche Aufseherin wühlte gedankenlos in irgendwelchen Stoffproben. »Da müßte ich erst Herrn Bräunig fragen. Das ist unser Prokurist.« »Gut, fragen Sie ihn.« Schröder verlor langsam die Geduld. »Ich dachte, Sie sind hier ein moderner Industriebetrieb. Wirkt eher wie eine Strafanstalt. Haben Sie keinen Betriebsrat?« »Der Betriebsrat bin ich«, bekannte die Aufseherin. »Aber ich bitte Sie, Sie müssen das doch verstehen. Die Mädchen arbeiten im Akkord. Und bei jeder Störung kommen sie aus dem Takt. Und dann bekomme ich die Vorwürfe, wenn es Abschläge gibt.« Sie schwieg und schaute hinaus in den Saal. Die Maschinen brummten los – blieben stehen – brummten los. Das addierte sich über sechzigmal zu einem enervierenden, ermüdenden Stakkato. »Da, jetzt schaut sie her zu uns«, sagte die Frau nach einer Pause. »Das ist sie. Roscak.« Es war nicht das Mädchen mit der blauen Bluse, die saß dahinter. Petra Roscak hatte einen grauen Arbeitskittel an, wie die meisten der Näherinnen. Ihr blondes Haar hatte sie hochgesteckt. Jetzt sah sie herüber, aber nicht neugierig, eher verträumt. Sie schien ihre Arbeit völlig vergessen zu haben. Die Hände waren wie erstarrt, hielten irgendein Stoffteil unter die Maschine, aber bewegten sich nicht mehr. Nichts bewegte sich. Eine Puppe mit weit geöffneten, verschatteten Schlafaugen. »Ach, jetzt träumt sie wieder«, sagte die Aufseherin, stand auf und ging hinaus in den Nähsaal. Sie ging die lange Reihe entlang. Keines der Mädchen blickte von seiner Arbeit auf. Nur Petra Roscak starrte immer noch abwesend, wie eine Schlafwandlerin, zu den drei Männern, denen dieser Blick langsam unheimlich wurde.
Dann schrak sie zusammen, wachte auf aus einem fernen Traum: Die Aufseherin hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt, hatte sich hinuntergebeugt zu ihr und leise auf sie eingeredet. Petra hatte sich wieder ihrer Arbeit zugewandt, aber dann sah sie plötzlich dieser Frau erschrocken, fast schon entsetzt ins Gesicht. Sie stand auf, entwand sich dem Griff, stolperte über irgendwelche Kartons mit Stoff abfallen oder Garnspulen, lief davon und verschwand hinter einer weißlackierten Pendeltür am Ende des Saals. Kaum eines der Mädchen hatte den Vorfall zur Kenntnis genommen. Die Aufseherin stand immer noch unschlüssig an dem verlassenen Arbeitsplatz, hatte Petra ratlos nachgesehen; jetzt wandte sie sich um, machte eine hilflose Geste zu den drei Männern und wollte den Platz gerade wieder verlassen – da geschah es: Zuerst schrien zwei der umsitzenden Mädchen auf, dann sahen Kevington, Büdel und Schröder eine kleine Stichflamme. Rauch wolkte auf. Einige Mädchen sprangen auf und rannten zur Seite. Die Aufseherin rief etwas in den Raum. Ein Mann im Arbeitskittel kam durch die gleiche Pendeltür, durch die Petra verschwunden war. Er schleppte einen Feuerlöscher und legte einen der Hauptschalter um, die in regelmäßigen Abständen an der Wand angebracht waren. Inzwischen brannten Stoffreste und Textilstaub und hüllten Petras Arbeitsplatz in dichten, weißen Qualm. Irgendwo, weit entfernt, schrillte eine Glocke. Der Mann mit dem Feuerlöscher hatte alle Mühe, sich durch den Tumult, der ausgebrochen war, durch die in Panik flüchtenden Mädchen zum Brandherd durchzuarbeiten.
Das Feuer zu löschen war kein Problem mehr für ihn. In drei, vier Schüben schoß komprimiertes Halon in den Qualm und erstickte den Brand in wenigen Sekunden. »Passiert so etwas häufig bei Ihnen?« fragte Schröder, als sich die Aufregung gelegt hatte und die Mädchen, mit Ausnahme von Petra, wieder auf ihren Plätzen saßen. »Wo denken Sie hin«, sagte die Aufseherin. »Kurzschluß am Arbeitsplatz, so etwas kann schon mal vorkommen. Obwohl wir fast nur neue Maschinen… und die werden regelmäßig kontrolliert von der Berufsgenossenschaft. Aber ich habe das noch nie so erlebt.« »Und Petra Roscak?« wollte Kevington wissen. »Ich habe sie nach Hause geschickt. Das Mädchen war völlig fertig.« »Schade!« sagte Kevington. »Ich hätte gerne mit ihr gesprochen.« »Sage Ihnen doch, völlig fertig«, verteidigte sich die Aufseherin. »Aber ich gebe Ihnen die Privatadresse. Ist mir auch lieber, Sie reden woanders mit ihr. Nicht gerade hier vor den anderen Mädchen. Sie hat schon genug zu leiden.« »Zu leiden? Worunter?« Kevington war wieder hellhörig geworden. »Sie ist eben anders. Sensibel, labil. Manchmal verträumt. Sie hat Schwierigkeiten mit den Normen, beim Akkord, verstehen Sie. Und jetzt heute wieder die Geschichte. Ich sage zu ihr nur: ›Nicht träumen, Mädchen…‹, da springt sie auf, rennt weg – und verständigt Herrn Kalkschmidt draußen in der Werkstatt und schreit ihm zu: ›Es brennt.‹« »Aber es hat doch gebrannt – oder etwa nicht?!« wandte Schröder ein. »Schon«, sagte die Frau, »aber erst, als Petra längst draußen war.«
9 »Roscak« stand auf dem billigen Metallschild neben dem Briefkasten. Das Reihenhaus lag am Stadtrand, von dem neuerbauten Industrieviertel nur durch die Schnellstraße getrennt. In dem liebevoll gepflegten Vorgarten blühten Krokusse. Die ersten Boten des Frühlings. Eine bürgerliche Mittvierzigerin öffnete in Kittelschürze und entschuldigte sich, als die drei Herren sich vorgestellt hatten, für ihren Aufzug, ihre ungepflegte Frisur, die unaufgeräumte Wohnung, auch dafür, daß der Mann eben erst von der Arbeit gekommen sei. Er saß in der Wohnküche, las Zeitung, trank Bier, begrüßte die Gäste mit festem Händedruck, ließ Kaffee machen und blieb, wie er war, in Strickjacke und Unterhemd, während sich die Frau davonstahl, um sich umzuziehen. »Petra«, sagte er, »kommt erst um sechs. Wenn Sie warten wollen?« Er öffnete die Tür zur guten Stube, zu einem Wohnzimmer von der Stange, selten oder nie benutzt. Also warteten sie, tranken Kaffee, verschwiegen das Thema, um die Eltern als Informanten nicht zu verprellen, schwatzten mit einem Werkmeister des Heizkraftwerks und seiner Gattin, die das Sonntäglich-Geblümte übergezogen hatte, belangloses Zeug. Es wurde sechs, halb sieben, sieben. Die Mutter wurde unruhig. »Sie muß jeden Augenblick kommen.« Aber Petra kam nicht. Das Ehepaar trat an die Tür des Wohnzimmers.
»Sie ist sonst immer pünktlich, ja?« fragte Büdel. Die Mutter nickte. »Und ihre Freunde, die Motorsportgruppe und so?« Büdel spürte, daß das kein erfreuliches Thema für diese Leute war. »Sie kommt immer zuerst hierher, zu uns!« Darauf bestand die Mutter offenbar. »Dann essen wir. Und dann sieht man weiter.« Sie warf ihrem Mann einen Blick zu. Der griff das Thema auf: »Manchmal geht sie noch weg – manchmal bleibt sie auch…« »Sie ist erst achtzehn«, ergänzte die Mutter. »Ihre einzige Tochter?« wollte Kevington wissen. Der Vater schüttelte nur den Kopf. Die Erklärung kam von der Frau: »Die ältere Schwester ist schon verheiratet. In Hanau. Und der Junge lebt nicht mehr. Der wär’ jetzt sechsundzwanzig.« »Arbeitsunfall«, sagte der Vater und ging in die Wohnküche. Die Mutter sah ihm nach und sagte nichts mehr zu dieser Geschichte. Also warteten sie weiter. Aus der Küche hörten sie das Umblättern der Zeitung. »Ich möchte Sie etwas fragen, Frau Roscak«, begann Kevington von neuem mit der Konversation. »Ach, bitte, setzen Sie sich doch hierher.« Er rückte zur Seite. Die Frau kam nun doch in das Zimmer und setzte sich scheu in die äußerste Ecke der Sitzgarnitur. »Ist Ihnen eigentlich schon mal aufgefallen«, fuhr Kevington fort, »daß Ihre Tochter Ereignisse, die erst eintreten werden, also zukünftige Dinge… daß sie die gewissermaßen voraussieht?« Die Frau sah ihn verwirrt und verständnislos an. »Was tut sie?« fragte sie.
»Ach, es ist nichts, nichts Besonderes…« Kevington versuchte vorsichtig vorzugehen. »Es ist nur eine Vermutung von uns.« Schröder, der Journalist, liebte solche zeitraubenden Umwege gar nicht. Er hatte lange genug nervös und unproduktiv hier herumgesessen. »Verstehen Sie denn nicht, was wir meinen?« Er wandte sich direkt an den Vater, der plötzlich wieder in der Tür auf getaucht war. »Hellsehen! Blick in die Zukunft?! Irgend so etwas!« Der Vater reagierte nicht, er blieb ernst und hielt sich an seiner aufgefalteten Zeitung und an seinem Bierglas fest. Er lehnte sich nur schwer gegen den Pfosten der Tür. Die Mutter allerdings lachte verlegen und gekünstelt. »Nein, da sind Sie bei uns falsch. Petra? Ich bitte Sie, das muß eine Verwechslung sein. Und warum interessiert Sie das? Ich denke, Sie kommen von der Fortbildungsberatung, oder wie das heißt, wegen der Umschulung?!« Sie wurden jeder weiteren Erklärung enthoben. »Sie kommt!« Der Vater wandte sich zur Haustür, er hatte die Schritte im Vorgarten oder das Schlüsselgeräusch zuerst gehört. Die Mutter stand auf und ging der Tochter entgegen, fing sie an der Tür ab: »Drin warten drei Herren auf dich – schon über eine Stunde. Ich hab’ schon Angst gehabt, es ist etwas passiert.« Sie hatte geflüstert, aber im Wohnzimmer war jedes Wort zu verstehen. »Was soll passiert sein?« hörten sie Petra sagen. Aber nicht sie tauchte in der Tür zum Wohnzimmer auf, sondern ihr Freund, Paul, der Lackierer. »Ach, sieh dir das an«, sagte er. »Die schnüffeln immer noch hinter dir her. War doch prima, daß wir die Schnauze gehalten haben.« Damit wandte er sich an die drei Herren. »Es ging also doch um das Mädchen, um Petra, oder vielleicht nicht?«
Sie war hinter ihm aufgetaucht, schaute neugierig zwischen Freund und Vater ins Zimmer. »Und wie sie es wieder gerochen hat«, fuhr Paul fort. »Ich geh’ nicht nach Hause, hat sie gesagt. Du mußt mitkommen. Da ist irgendwas…!« Schröder war langsam aufgestanden, zur Tür getreten und hatte sich gegen den Pfosten gelehnt und Paul nur ruhig angesehen. »Sind Sie endlich fertig? Ja? Wenn Sie erlauben, würden wir jetzt gerne mit Ihrer Freundin sprechen!« »Ich bin aber nicht fertig!« konterte Paul. »Und ich erlaube es auch nicht!« »Ihre Freundin ist alt genug, das allein zu entscheiden.« Schröder war bereit, sich mit dem Burschen anzulegen. »Außerdem haben wir das Einverständnis der Eltern!« Da stellte sich Paul quer in die Tür. Er wirkte keineswegs mehr schmal oder zierlich, wie neulich noch neben diesem Joe. Er hatte die Hände aus den Taschen seiner schwarzen Lederjacke genommen und mit der rechten Faust in die offene linke Hand geschlagen. Er war offenbar zu allem entschlossen, senkte die Stimme und zischte Schröder zu: »Petra redet nicht. Kein Wort. Ist das klar?« Schröder war das klar, auch Kevington und Büdel, die sich in der Zwischenzeit aus der guten Sitzgarnitur erhoben hatten. »Ich würde sogar vorschlagen«, fuhr Paul schließlich fort, »daß Sie jetzt gehen. Und zwar sofort!« Mit großen erschreckten Augen sah Petra den drei Fremden nach.
10 Der abgebrannte Wirt hatte den heißen Tip gegeben. Gegen Bargeld. Als Kevington, Büdel und der Journalist Schröder auf dem Parkplatz der Pferderennbahn eintrafen, standen die schweren neuen Maschinen bereits in Reih und Glied: Kawasaki, Honda, Harley-Davidson & Co. Zuschauer strömten durch die Sperre, zerstreuten sich zwischen den weißgestrichenen Holzpavillons, zwischen den altmodischen Tribünen, den Schaltern der Totalisatoren. Es war ein höchst gemischtes Publikum, Profis und elegante Welt, Pferdenarren, Pferdehändler, Rentner, die nur gekommen waren, um zu wetten, die nur die Quote interessierte, dieser kleine Profit des Zufalls. Oder war es mehr als Zufall? An diesem Sonntag vor acht Tagen, als die Stammkneipe abgebrannt und die Rennsaison im Schneetreiben eröffnet worden war, erschienen auf der Galopprennbahn etwa zwanzig Gestalten in schwarzem Leder, setzten zweimal auf Platz und dreimal auf Sieg und gewannen jedes Rennen. Zufall? Der Vorfall hatte Aufsehen erregt, diese Besucher waren auch zu atypisch für eine Pferderennbahn gewesen und hatten Zuschauer und Aufsichtspersonal in sanften Schrecken versetzt. Aber nichts weiter war geschehen: Die schwarzen Gestalten hatten ihren Gewinn kassiert, wieder ihre Maschinen gestartet und waren abgebraust. Zufall! Und jetzt, eine Woche später, waren sie wieder aufgetaucht, waren lässig und souverän zum Führring geschlendert und
hatten sich dort aufgebaut. Die Männer waren unter sich – bis auf eine Ausnahme: Joe hatte ein schmächtiges blondes Mädchen mit verschatteten Augen nach vorne geschoben, dicht an das Geländer, hatte auf die Pferde gezeigt, die von ihren Jockeys im Kreis herumgeführt wurden, und hatte ihr zugezischt: »Los, mach mal! Guck dir alle an. In Ruhe! Und denk nach!« Die normalen bürgerlichen Besucher waren respektvoll zurückgewichen, in einer Mischung aus Mißtrauen und Angst. Und in dieser Zuschauergruppe hielten sich nun Schröder, Kevington und Büdel verborgen. Ringsherum wurden die Chancen der Pferde diskutiert und taxiert, die Wetter trafen ihre Entscheidungen, machten sich Notizen in den Programmen. Mit Ausnahme der schwarzen Gestalten von Joe und seinen Freunden gab es diesseits der Barriere nur Sachverständige. »Sind das die vom nächsten Rennen?« rief Paul, der Lackierer, einem der Jockeys zu. Der nickte nur verblüfft über diese unprofessionelle Frage und murmelte: »Logisch!« Petra betrachtete die Pferde, die Jockeys in ihren bunten Blusen. Sie wirkte unsicher, ja verstört und schrak zusammen, als Joe ihr grob auf die Schulter schlug: »Na und? Was ist?« Sie fuhr sich über die Augen und schwieg. »Stell dich nicht so an!« Joe wurde ungeduldig. »Das letzte Mal hat’s auch geklappt. Denk nicht so lang. Red!« »Ich weiß doch nicht…«, flüsterte sie und sah ihn an. Er drückte sie hart gegen die Barriere, drehte ihr Gesicht wieder in Richtung der Pferde und raunte ihr drohend zu: »Mach keine Zicken, hörst du! Schau dir die Gäule an und red! Also – wer siegt?« Aber sie nagte nur verzweifelt an der Unterlippe und schwieg.
Da kam ihr Paul zu Hilfe: »Wenn sie’s doch nicht weiß… Herrgott noch mal…!« Joe schlug ihm mit der Faust unsanft gegen die Brust. »Halt die Schnauze, ja?!« Aber Paul ließ sich nicht einschüchtern. »Laß sie in Ruhe! Wenn du sie zwingst, geht’s nicht!« Joe schob Paul zur Seite. »Die soll sich nicht zieren, sondern nachdenken. Zickig werden mag ich nicht!« Das Mädchen blieb ernst, blickte eingeschüchtert auf die vorüberziehenden Pferde und versuchte sich offenbar zu konzentrieren. Ohne Erfolg. Sie schüttelte schließlich den Kopf, wandte sich ab. »Los, gehn wir rüber und schauen zu«, versuchte Paul abzulenken. »Du siehst, es hat keinen Zweck. Ist doch schade ums Geld.« Da setzte der Lautsprecher ein, eine knarrende Stimme, vielfältig zurückgeworfen von den Gebäuden: »… das nächste Rennen ist das Prinz-Heinrich-Gedächtnis-Rennen… ein Ausgleich zwo über sechzehnhundert Meter. In diesem Rennen wird die Dreierwette durchgeführt…« Joe resignierte und gab ein Zeichen. Die ganze Gruppe setzte sich in Bewegung hinüber zur Bahn. Keiner von ihnen achtete auf Petra, die plötzlich zögerte, sich abwendete und langsam zurückging zum Führring. »Wo ist Petra?« Paul war stehen geblieben und sah sich suchend um. »He, Joe. Wart mal!« Aber dann sah er sie: Sie verschwand gerade in der Menschenmenge, die ihr entgegenströmte, denn die Vorführung am Ring war beendet. Die Pferde wurden eines nach dem anderen hinausgeführt und für das Rennen fertig gemacht. Joe rannte als erster los, dann folgte Paul mit den anderen. Kevington, Büdel und Schröder hatten Mühe, unerkannt
unterzutauchen, als Joe und seine Kameraden vorüberrannten. Die drängten sich brutal durch die Menge, um ihren »Goldesel« wieder einzufangen. Petra stand mit halbgeöffnetem Mund an der Barriere, sah den Pferden nach und wirkte wie in Trance. »Das dort…!« sagte sie nur und zeigte auf eines der Pferde, als Joe schließlich neben ihr stand. »Na endlich…« Aber dann kamen ihm Zweifel. »Welches? Die Nummer zwei?« Sie nickte nur. »Hörst du… Nummer zwei. Ist das richtig…?« Wieder nickte sie, aber sie wirkte unsicher, irritiert. Doch für Joe war der Fall gelaufen. »Nummer zwo! Windsbraut!« verkündete er und verteilte unter seiner Gefolgschaft großzügig ganze Bündel mit blauen HundertMark-Scheinen. »Nummer zwo auf Sieg! Jeder tausend Mäuse auf Sieg. Alles klar?!« Hände reckten sich ihm entgegen. Immer weitere Geldscheinbündel brachte er aus der Innentasche seiner schwarzen Lederjacke zum Vorschein. Da riß Petra ihn aufgeregt am Arm. »Nein!« Sie hatte den Blick immer noch auf das Pferd Nummer zwei gerichtet, das gerade den Führring verließ. »Irgend etwas stimmt nicht«, keuchte sie. »Irgend etwas stimmt dabei nicht.« »Was soll nicht stimmen?« Joe hatte Petra brutal am Kinn gepackt und schaute sie zornig an. »Wird der Gaul erster oder nicht?« Sie nickte. »Schon. Aber er siegt nicht!« Joe ließ sie los und lachte. »Der erste siegt immer! Merk dir das! Immer!« Er lachte noch, als er die restlichen Geldbündel verteilt hatte. »Los, ab!« Er ging voraus zum nächstbesten Schalter. Alle folgten ihm, drängten sich um ihn, verteilten sich schließlich über die ganze Reihe der Wettschalter und tauschten ihre
blauen Bündel in Wettscheine um: »Je tausend auf Nummer zwo!« Ein Insider versuchte sich einzumischen: »Windsbraut? Die Nummer zwo ist ein Außenseitertip. Wenn Sie so hoch rangehen, gibt das keine vernünftige Quote für Sie!« Aber er hatte mit seiner Belehrung kein Glück. Achselzuckend ging er mit seinem Begleiter davon. Petra war die ganze Zeit über abseits stehen geblieben und hatte sich suchend umgesehen – und dabei nun tatsächlich Kevington und seine beiden Begleiter entdeckt. Sekundenlang begegneten sich die Blicke. Aber keiner reagierte letzten Endes auf den anderen. Petra wandte sich ab und behielt offenbar für sich, was sie gesehen hatte. Und Kevington, Büdel und Schröder ließen sich vom Besucherstrom weitertreiben, an den Wettschaltern, den Getränke- und Würstchenbuden vorbei bis zu der altehrwürdigen Tribüne mit ihren großen, blinden Seitenfenstern und dem weißgekalkten Balkenwerk mit seinen Ornamenten aus dem letzten Jahrhundert. Von der obersten Reihe konnten sie das Gelände vor der Bahn, aber auch die Wettschalter gut überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Die Glocke ertönte, das Netz ging hoch – fliegender Start. Die Pferde rissen den feuchten Boden auf. Erde und Grasbüschel flogen den Jockeys im zweiten Glied um die Ohren. Und schon am Ende der ersten Geraden steigerte sich das Geraune der Zuschauer zu einem seltsamen, erregenden Brausen. Der Lautsprecher kommentierte das Rennen, vervielfältigt kam das Echo zurück: »… vor der Tribüne liegt ›Römerschanze‹ in Front, gefolgt von ›Kalinka‹, ›Rosamunde‹ und ›Windsbraut‹…«
Irgendwo brandete Beifall auf, Pfiffe folgten. Dann steigerte sich die Reaktion der Zuschauer zu einem neuen Höhepunkt. »… jetzt übernimmt ›Kalinka‹ die Führung!… ›Römerschanze‹ und ›Rosamunde‹ auf Platz zwei und drei…« Die Menge hatte sich wieder beruhigt. Die Zuschauer auf der Tribüne standen vor den Bänken, um besser sehen zu können. Auf dem noch dürren Rasen wirkten die einzelnen Gruppen, die eben noch in steter Bewegung gewesen waren, plötzlich wie erstarrt. Ferngläser waren auf das dichte Feld gerichtet, das in der Gegengerade vorüberzog. »… ›Römerschanze‹ fällt weiter zurück. ›Windsbraut‹ verbessert ihre Position und setzt sich an die dritte Stelle…« Die Motorradsportler, in ihrer auffälligen schwarzen Montur, hatten sich durch Gruppen und Grüppchen bis zur vordersten Barriere hindurchgedrängt. Sie waren am wenigsten aufgeregt von allen diesen Besuchern. Vielleicht, weil das ganze Spektakel ihnen fremd war, und vielleicht auch, weil seine gutbürgerliche Atmosphäre sie insgeheim anwiderte. Andererseits waren sie ihrer Sache offenbar sicher. Kein Jubel, als die Nummer zwei, »Windsbraut«, langsam nach vorne zog und »Rosamunde« überrundete. »… in der Zielgeraden greift ›Windsbraut‹ in Höhe von ›Kalinka‹ an… der Abstand wird immer geringer… ›Windsbraut‹ zieht vorbei… geht als erste durchs Ziel…!« Die Aufregung der letzten dreißig Sekunden war hochgebrandet, aber nun wurden Pfiffe laut, Gejohle, Geschrei. Die eingefrorenen Zuschauergrüppchen kamen wieder in Bewegung. Auf der Tribüne erklang der Protest von allen Seiten. Rufe wie »disqualifizieren!«, »Schiebung!«, »hat gerempelt« kamen den Vollprofis bei diesem Außenseitersieg leicht von den Lippen.
Joe und seine Kameraden waren längst auf dem Weg zu den Wettschaltern, um ihren Gewinn abzuholen, als über die Lautsprecher die Meldung kam: »Achtung! Dem Protest bei diesem Rennen wurde stattgegeben. Disqualifiziert wurde die Nummer zwei, ›Windsbraut‹. Der vorläufige Einlauf heißt somit: ›Kalinka‹ vor ›Rosamunde‹ und ›Römerschanze‹.« »Haben Sie gehört?« Schröder wandte sich an Kevington, als die drei die ausgetretenen Holzstufen hinunterstiegen. »Disqualifiziert!« »Ja«, sagte Büdel. »Was wirklich vorgefallen ist, weiß ich nicht. Aber zumindest: Der erste ist also nicht der Sieger!« »Hochinteressant!« bemerkte Kevington dazu. »Es wird vermutlich Ärger geben. Kommen Sie!« Natürlich gab es Ärger. »Ich hab’ ihn selbst gesehen, den Gaul. Nummer zwei!« schrie Joe durch den schmalen Fensterspalt in den Wettschalter hinein und präsentierte seinen Schein. »Ich sag’ Ihnen doch«, brüllte der Kassierer zurück, »Nummer zwei wurde disqualifiziert. Tut mir leid!« Joe schien kapiert zu haben. Seine Freunde standen verdutzt hinter ihm, als er sich zornig umdrehte und die Schuldige suchte. »Idiotenweib!« Er schlug Petra, die am Rande der Gruppe stand, rechts und links ins Gesicht. »Weißt du, was das kostet? Das zahlst du von deinem Anteil!« Er warf sie gegen das eiserne Geländer vor den Wettschaltern, hob sie, als sie zusammenklappte, wieder hoch. Da trat Paul dazwischen, der schmächtige, zierliche Paul. Er ging Joe an die Gurgel, drängte ihn zurück, ließ nicht los, bis Petra frei war. »Du bist ja wahnsinnig«, schrie er. »Hat sie dir vielleicht garantiert? Sie hat dich sogar gewarnt…« Joe schüttelte den Angreifer ab und trat ihm brutal gegen die Brust. Aber dann richtete er die aufgestauten Aggressionen
seiner Gefährten gegen einen neuen Feind. »Alles Schiebung hier!« schrie er in die Menge. »Los! Die zerlegen wir!« Und das taten sie dann auch: Einer sprang hoch zur Lampe, die über dem Wettschalter hing, und ließ sich gegen das Schalterfenster pendeln. Mit zwei kurzen Tritten waren die Scheiben zersplittert. Stühle flogen durch die Luft. Die neugierige Menge wich zurück. Irgendwo hörte man Trillerpfeifen, eine Sirene heulte auf. Immer noch splitterten die Scheiben der Wettannahme, Schalter um Schalter wurde verwüstet, Barrieren umgerissen, Anzeigetafeln heruntergefetzt… Da traf das erste Polizeikommando ein. Die Gegner waren sich ebenbürtig, hatten keine Hemmungen voreinander. Am Rand des Tumults stand Petra und sah der Verwüstung, der Schlägerei, der Brutalität verwundert und verständnislos zu. Sie schien irgendwie entrückt, schien nicht weiter betroffen von diesem Vorfall, als sei er irreal, nur geträumt. Da packten vier Hände zu, zogen sie weg, zurück aus dem Kreis der Gefahr, schleppten sie in den Schatten der Tribüne, durch die Menschenmenge hindurch, die sich dort versammelt hatte, schleppten sie weiter über den Hof, am Führring vorbei, an den verwaisten Imbißbuden, an den Ställen – und sie wehrte sich nicht. Kevington und Schröder hatten kein Wort gesagt, kein Wort der Entschuldigung oder der Erklärung. Büdel war hinterhergelaufen, atemlos und ängstlich, und hatte sich immer wieder zu dem Kampfplatz umgesehen. Aber außer einer Menschenmauer war nichts zu sehen, und nichts war zu hören außer einer näherkommenden Polizeisirene.
Die breiten Tore wurden gerade für zwei Mannschaftswagen aufgerissen, die als Verstärkung angefordert worden waren. Es stand jetzt vermutlich sechs zu eins für die Ordnungsmacht. Aber das interessierte nun nicht mehr. Kevington und Schröder schleppten das Mädchen durch das geöffnete Tor und hinüber zum Parkplatz, dort wurde sie schließlich auf den Rücksitz von Büdels altem VW geschoben. Verwundert blickte sie von einem zum andern. Die Gesichter kannte sie ja bereits – aus der Firma, aus ihrer Wohnung. Aber sie sagte kein Wort, fragte nichts, protestierte nicht, schaute nur ernst und verschüchtert aus ihren dunkel verschatteten Augen. Büdel fuhr los, verließ den Parkplatz. Zwei weitere Mannschaftswagen trafen ein. Jetzt mußte es wohl eins zu zwölf stehen. »Keine Sorge«, sagte Büdel, als er in die Schnellstraße einbog und sich in die Fahrzeugkolonnen einreihte, »jetzt sind Sie in Sicherheit!« »Vor wem?« fragte sie und sah ihn an. »Vor den Bullen, vor Ihren Freunden…« Aber sie reagierte nicht darauf, sah hinaus in die triste Vorfrühlingslandschaft, die zersiedelt war, kaputt gemacht durch Rohrleitungen, Industrie, Leitungsmasten, Kanäle, zuasphaltiert von einem Horizont zum andern. Es dauerte über eine Stunde, bis die Natur, durch die sie fuhren, diesen Namen wieder verdiente, bis das Krebsgeschwür Stadt mit seinen Metastasen hinter ihnen lag. Und diese ganze Stunde über hatte keiner von ihnen ein Wort gesprochen. Erst als sie durch die unendlichen, kahlen Wälder fuhren, durch dieses hügelige Land mit seinen weit verstreuten Gehöften, fing Kevington an, dem Mädchen seltsame, unwahrscheinliche Geschichten zu erzählen.
11 »Auf Menschenraub steht Zuchthaus!« Palm stand am Fenster seines Arbeitszimmers und schaute irritiert hinunter auf den Hof. Dort parkte Büdels VW mit offenen Türen, die Lehnen der beiden vorderen Sitze waren vorgeklappt. Und hinten saß ein Mädchen und rührte sich nicht. Der Journalist Schröder stand neben dem Wagen, gewissermaßen als Wache, rauchte und blickte nach oben. Er schien ebenso nervös wie Büdel und Kevington, die Palm eben Bericht erstattet hatten. »Mitgebracht… hierher!?« Palm schüttelte den Kopf. »Für so etwas habe ich leider kein Verständnis. Was versprechen Sie sich davon?« Aber Kevington und Büdel hatten bereits alle ihre Argumente vorgebracht. »Gut«, sagte Palm abschließend, »sehen wir zu, was da noch zu retten ist…« Er ging voraus, hinunter in die Halle, durch das Portal, quer über den Hof. Schröder kam ihm entgegen, reichte ihm die Hand. »Schröder, Abendpost.« Palm nickte nur, schaute auf das Mädchen hinten im Wagen. Sie hatte die Knie hochgezogen, hielt sie umklammert und nahm ihre Umwelt nicht weiter zur Kenntnis. »Sie sind der Chef von dem Laden hier, ja?« fragte Schröder. Palm fühlte sich zuerst gar nicht angesprochen. Er hatte andere Probleme. Aber dann wandte er sich zu Schröder um: »Nein, nein. Ach so. Mein Name ist Palm. Verzeihen Sie. Ich
bin hier nur gewählt von den Kollegen, um die Geschäfte zu führen. Einer muß es ja tun. Und Sie sind der Journalist, ja?« »Ja, und ich garantiere Ihnen eine erstklassige Story, nach all dem, was ich bis jetzt schon mitbekommen habe.« »Und ich garantiere Ihnen ziemlichen Ärger«, konterte Palm, »wenn diese Story mit der Entführung publik wird. Wie heißt sie denn?« »Petra. Petra Roscak«, verriet Büdel, der zusammen mit Kevington nachgekommen war. Palm zögerte immer noch. »Na los«, ermunterte ihn Schröder, »versuchen Sie doch mal Ihr Glück.« Palm ging zum Wagen und beugte sich hinein. »Hallo. Guten Tag!« Er lächelte das Mädchen an, mit dem ganzen väterlichen Charme, zu dem er fähig war. Aber Petra schaute an ihm vorbei, nahm ihn nicht weiter zur Kenntnis. »Mein Name ist Palm, Louis Palm. Ich leite hier gewissermaßen dieses Institut. Ein wissenschaftliches Institut.« Er setzte sich auf den Beifahrersitz, ohne das Mädchen aus dem Blick zu lassen. »Sie sind sicher mit Recht erstaunt über das Interesse, das wir Ihnen entgegenbringen, ja?« Er lächelte, aber von Petra kam nichts zurück, keine Reaktion, keine Antwort, kein Blick. »Kommen Sie herein in das Haus«, fuhr er fort, »wir unterhalten uns in Ruhe über alles, was nun geschehen soll.« Er machte eine Pause. Vor dem Wagen standen Schröder, Büdel und Kevington und beobachteten schweigend diese ungewöhnliche Situation. »Wir werden Ihren Eltern natürlich sofort mitteilen, wo Sie sich befinden.« Das Mädchen sah Palm kurz und durchdringend an, aber er konnte diese Reaktion nicht deuten.
»Glauben Sie mir…«, er machte eine Pause und lehnte sich zurück, »das Beste wäre es, Sie bleiben ein paar Tage hier, bis der Vorfall von heute mittag vergessen ist, der Krawall auf dem Rennplatz. So etwas hat ja Folgen, nicht wahr? Ihre Freunde sind vermutlich vorübergehend in Haft. Wir sollten gemeinsam versuchen, Sie aus dieser Sache herauszuhalten. Hier sind Sie in Sicherheit.« Das Mädchen schwieg immer noch, schaute hinaus in den Hof. Ein paar Elstern, die auf den noch winterlich kahlen Beeten um das Springbrunnenrondell herumhüpften, hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. »Wir werden Sie hier gut unterbringen«, fuhr Palm schließlich fort. »Es sind nur nette Leute hier im Palais, dafür verbürge ich mich. Und Sie sind selbstverständlich absolut frei.« Da schaute sie ihn wieder an, diesmal jedoch sehr lange, sehr überlegen. »Sie reden zuviel!« sagte sie. »Was wollen Sie von mir?« Palm beugte sich vor, winkte Kevington heran: »Haben Sie ihr nicht erklärt, worum es geht?« »Doch«, antwortete Kevington leise. »Ich habe es versucht. Die ganze letzte halbe Stunde der Fahrt über habe ich es versucht.« Da mischte sich Schröder ein, der ebenfalls näher gekommen war. Er beugte sich in den Wagen, wandte sich an das Mädchen: »Nun stell dich doch nicht so an. Du hast doch kapiert, was los ist. Die wollen dich hier testen. Das ist alles. Klarer Fall: Testen!« »Ich will aber nicht getestet werden…!« sagte Petra mit Nachdruck. »Fahren Sie mich heim, bitte! Oder ich laufe.« Palm quälte sich aus dem Wagen heraus und ging einige Schritte zur Seite. Kevington, Büdel und Schröder hatten seinen Wink verstanden und folgten ihm.
»Holen Sie Sibilla herunter. Sie ist in ihrem Labor«, wandte sich Palm an Büdel. »Vielleicht kann sie uns helfen«, ergänzte er. Büdel nickte und ging rasch über den Hof auf die alte Remise zu. Im gesamten ersten Stock brannte Licht, aber hinter den Fenstern war niemand zu sehen. »Wie denken Sie sich das eigentlich?« Palm sah Kevington nachdenklich an. »Tests unter Zwang führen doch zu keinem Ergebnis.« Und als Kevington daraufhin schwieg, fuhr er fort: »Und außerdem – so neugierig ich als Wissenschaftler auch sein mag – die Freiheit des Menschen ist unantastbar…!« Schröder lachte diskret: »Sehr schön gesagt. Darauf komme ich bei Gelegenheit zurück.« Da erschien Sibilla auf dem Hof, gefolgt von Büdel, der hektisch auf sie einredete. Sie hatte ihr Haar wieder hochgesteckt, der Mantel wehte – wie damals, bei der ersten Begegnung mit Kevington auf dem Hof. Palm ging ihr einige Schritte entgegen. »Hab’ schon gehört!« sagte sie und lächelte. »Die Herren wissen nicht mehr recht weiter, ja?« Palm nickte und lächelte ebenfalls. »Aus rein psychologischen Gründen, so nehme ich wenigstens an, haben Sie als Frau da mehr Chancen.« Sibilla zögerte, sondierte gewissermaßen das Terrain, warf einen mißbilligenden Blick auf Kevington und nahm Schröder erst mal nicht weiter zur Kenntnis. »Sehen Sie zu, was Sie erreichen…« Palm hatte seine Stimme gesenkt und war neben Sibilla zum Wagen getreten. »Wenn sie freiwillig aussteigt und auch nur eine Stunde bleibt – entfällt das Delikt der Entführung…«
Sibilla sah ihn an. »Danke – für den Schwarzen Peter!« Dann beugte sie sich in den Wagen. »Kommen Sie!« sagte Palm zu Kevington, Schröder und Büdel und ging voraus zum Portal des Palais. Die drei Männer folgten ihm. Oben auf der Treppe sahen sie sich alle nochmals um. Sibilla saß nun auf einem der Vordersitze und sprach offenbar auf Petra ein. »Unterschriften!« Yvonne kam Palm geschäftig entgegen, als er in Begleitung der drei Männer die Halle betrat. Er nahm die Mappe schweigend in Empfang. »Nein!« protestierte sie. »Sofort. Es ist wichtig und sehr eilig. Es geht um die Etatzuweisung für nächstes Jahr. Das Kuratorium…« Palm nickte, setzte sich auf die abgetretenen Marmorstufen und begann zu unterschreiben. Seine drei Begleiter standen auf dem Treppenabsatz und sahen durch das runde Fenster hinaus auf den Hof. »Daß ich über die Anwesenheit eines Journalisten in dieser Situation nicht besonders entzückt bin, können Sie sich denken…« rief Palm nach oben, während er die Mappe an Yvonne zurückgab. »Danke!« antwortete Schröder. »Sie zeigen es ziemlich deutlich!« Er kam einige Stufen herunter und setzte sich in Palms Nähe auf die Treppe. »Aber zweierlei muß ich klarstellen: Ohne mich kein Versuchsobjekt, das Mädchen war meine Fährte. Und es ist doch wohl klar, daß ich mir diese Story samt Brand und Kurzschluß, Rockerbraut, Rennplatzschlägerei und Entführung durch die Wissenschaft nicht entgehen lassen kann. Ich hätte sonst meinen Beruf verfehlt…« »Aber wir könnten uns abstimmen«, versuchte Palm einzulenken. »Sie stellen diese Geschichte zurück, bis wir alle wirklich wissen, welchem Phänomen wir auf der Spur sind –
dafür spielen wir mit offenen Karten. Sie erhalten alle Informationen über die Tests, berichten aber erst darüber, wenn wir wirklich durch sind.« Schröder lachte. »Wann sind Sie durch? Und welche Tests? Noch haben Sie Ihr Kaninchen gar nicht im Käfig!« »Doch!« rief Büdel ihnen zu. »Die Falle schnappt gerade zu!« Palm und Schröder erhoben sich rasch, eilten die wenigen Stufen zum Treppenabsatz hinauf und schauten nach draußen. Petra verließ gerade den Wagen, Sibilla klappte die Sitze wieder zurück und schlug die Wagentüren zu. Dann gingen die beiden Frauen wie selbstverständlich nebeneinander her, wechselten einige Worte, überquerten den Hof und verschwanden schließlich hinter dem alten Holztor der Remise. »Wie hat sie das geschafft?« fragte Kevington. »Oh«, antwortete Büdel, »Sibilla überredet auch ihre Ratten manchmal, Dinge zu tun, die Ratten – von Natur aus – gar nicht tun wollen.«
12 »Glückliche Mäuse?« fragte Petra. »Ja«, sagte Sibilla, »aber das ist, glaube ich inzwischen, nicht ganz wörtlich zu verstehen. Schau sie dir an. Sehr glücklich wirken sie nicht…« Petra ging langsam um den großen, hohen Käfig herum. Auf zahlreichen Etagen drängten sich die Mäuse, saßen in Klumpen und Knäueln da, bissen sich, quiekten, wirkten aggressiv und keineswegs »glücklich«. »Verstehe ich nicht. Warum sind es so viele?« wollte Petra wissen. »Weil es ihnen zu gut geht…« Sibillas Erklärung war vieldeutig. »Sie treten sich ja tot!« Petra war dicht an das Gitter getreten. »Das ist ja Tierquälerei!« »Ein wenig schon, ja«, gab Sibilla zu, »aber das genau ist unser Experiment. Wir testen hier ›Wohlstand‹. Die Mäuse haben nie Mangel, kennen keine Entbehrungen. Sie haben immer genügend Futter und Wärme. Sie müßten doch glücklich sein. Und sie waren es auch. Mit sieben Pärchen fing das Experiment an. Auf jeder Etage hauste eines. Dann fingen sie an sich zu vermehren. Überdurchschnittlich. Es gab ja alles im Überfluß. Und auch heute noch haben sie genügend zu fressen. Nur Platz haben sie keinen mehr. Den haben sie sich selbst genommen.« Petra war langsam von dem Käfig zurückgewichen. »Sie vermehren sich immer noch?« »Nein. Das ist vorbei…«, erklärte Sibilla. »Die Männchen haben längst ihre Liebesmüh eingestellt, auch ihr Dominanzverhalten. Sie sind ängstlich geworden, träge, lassen
sich von den Weibchen verjagen und verbeißen. Die geben jetzt den Ton an mit männlicher Angeberei und mit permanenter Aggression. Die Brutpflege haben sie längst eingestellt, unsere Mäusedamen. Nachwuchs stellt sich sowieso keiner mehr ein. Noch zwei, drei Monate, und der ganze Stamm stirbt aus… Vermutlich«, fügte sie hinzu. »Wieso ›vermutlich‹?« wollte Petra wissen. »Vielleicht ändern sie ihr Verhalten wieder, wenn die drangvolle Enge nachläßt. Das werden wir sehen. Wir greifen nicht ein. Wir sorgen nur dafür, daß kein Mangel herrscht an Wärme und Nahrung. Wo wohnst du eigentlich? In der Stadt?« Petra sah Sibilla merkwürdig an. »Neubausiedlung. Warum?« »Nur so. Wir wollen ja nicht nur erfahren, wie sich Mäuse verhalten, wenn es ihnen zu eng wird. Wir dürfen nie vergessen, daß wir ein Teil dieser Natur sind und daß die Vergangenheit, unsere Herkunft in uns weiterlebt, trotz aller Vernunft.« Sibilla trat zu einem anderen Käfig, der weiter hinten im Raum im Dämmerlicht stand. »Das sind die ›Genügsamen‹, das heißt, wir halten sie auf dem Existenzminimum, nicht im Überfluß.« »Und die haben sich auch so entsetzlich vermehrt?« Petra betrachtete angewidert die aufeinandergetürmten Mäuseberge auf den Etagen. »Die vermehren sich immer noch. Leiden schwer unter dem Mangel und vermehren sich Tag um Tag. Es wird eine Katastrophe geben. Wir wissen noch nicht, welche. Aber irgend etwas wird passieren. Nur: Sie verbeißen sich nicht oder nur ganz wenig, die Paare kopulieren den ganzen Tag, die ganze Nacht. Hier: In allen Ecken kannst du Mäusebabys sehen, die die Mütter rührend pflegen.« »Ich versteh’ das nicht…« Petra sah verwirrt zu dem Käfig mit der Überflußgesellschaft.
»Wir verstehen es auch nicht. Noch nicht. Vielleicht auch nie. Aber wir arbeiten daran, erstellen Theorien, verwerfen sie wieder – doch es gibt da gewisse Parallelen, die uns bei diesem Experiment faszinieren.« »Und die dort?« In einem Käfig drehte sich eine Lauftrommel quietschend um ihre Achse. Drei Mäuse rannten darin um die Wette. »Die haben alles im Überfluß. Nahrung, Wärme und Platz. Wir sorgen dafür, daß es nie zu viele werden. Die sind friedlich und völlig verspielt.« »Werden die nicht langsam verrückt in der Trommel?« »Sport, Gymnastik. Die machen das gern!« antwortete Sibilla. »Gern?« Petra war näher gekommen. »Weil es der einzige Spaß ist, den sie haben. Immer rund. Akkord am Fließband…« »Keiner zwingt sie dazu. Das ist doch ein Unterschied. Oder?« wollte Sibilla wissen. Aber Petra reagierte nicht darauf. Sie ging weiter. In einem schmalen Seitenraum standen die Käfige bis unter die Decke. »Was ist denn das?« Petra stellte sich auf die Fußspitzen, um in die Käfige zu sehen. »Albinoratten.« Sibilla war hinter ihr in der Tür stehen geblieben. »Ratten… weiße?« Aus roten Knopfaugen blickten die Ratten Petra durch die Gitterstäbe neugierig entgegen. »Ja, die züchten wir selber. Sind ganz kluge Tiere. Lernen alles, begreifen alles. Man kann sie dressieren.« »Kluge Tiere lassen sich nicht dressieren!« Petra wandte sich ab und ging an Sibilla vorbei wieder hinaus in den großen Laborraum. »Der Professor, der mich eingefangen hat…«, fing sie nach einer Pause an, während sie aus einem der kleinen Fenster hinunterschaute in den Hof.
»Kevington?« ergänzte Sibilla. »Ja, der ist neu bei uns.« »Ja, gut«, fuhr Petra fort. »Der hat mir zweitausend Mark versprochen, wenn ich hier zwei Wochen mitspiele…« »Und?« »Ein Idiot!« Temperamentvoll drehte sich Petra zu Sibilla um. »Der muß doch wissen, daß meine Freunde genügend Geld haben. Wenn ich nicht mehr will, muß ich auch nicht mehr in die Fabrik!« Sie ging weg von dem Fenster, lief langsam durch den großen, niederen Raum mit seinen technischen Geräten, Labortischen und Käfigen. Vor der »Überflußgesellschaft« blieb sie wieder stehen. »Aber auch für zehn Millionen – lass’ ich mich nicht dressieren…«, sagte sie und vergrub die Hände zornig in den Taschen ihrer Jeans.
13 »Ganz entspannt – ganz ruhig, Petra…« Kevington sprach beschwörend in ein Mikrophon. Er saß, für die Versuchspersonen unsichtbar, hinter einer verspiegelten Glasscheibe in dem neu eingerichteten PSI-Labor im Keller des Palais. Die »Versuchspersonen«, das waren Petra und Sibilla. Sie hatten ihre Plätze in den beiden Kabinen, die Kevington gut übersehen konnte, und waren durch schalldichte Wände voneinander getrennt. »Können wir beginnen, Petra, sind Sie bereit?« fragte Kevington über das Mikrophon. Petra nickte nur. Es fiel ihr schwer. Denn den Kopf zu bewegen, das war ein schwieriges Unterfangen. Rund um den Schädel waren die Elektroden des EEG befestigt, des ElektroEnzephalographen, angeklebt zwischen den Haaren, eingehakt zwischen der Stirn und einem elastischen Band. Ein bunter Kabelstrang führte nach oben zu einer brauseartigen Verteilerplatte. Aber das war nicht die einzige Verdrahtung. Überall schlängelten sich bunte Kabel aus ihrem T-Shirt, meldeten Pulsfrequenz, Atmung, Hautfeuchtigkeit und einige Muskelreflexe zu einem Polygraphen, den Kevington eben in Gang gesetzt hatte. Auf endlosen Papierbändern schrieben sich nun die zahlreichen Kurven der Gehirnaktionspotentiale zusammen mit den übrigen Meßwerten. »Wir beginnen!« Kevington gab das Startsignal für den Versuch.
Sibilla mischte ein Kartenspiel, aber es waren keine Skatoder Bridge-Karten, sondern Karten mit besonderen, einfachen Symbolen, wie man sie für parapsychologische Tests, zum Nachweis der »Außersinnlichen Wahrnehmung« benutzte: Zener-Karten, wie man sie nannte, mit »Kreuz«, »Welle«, »Kreis«, »Stern« und »Viereck«, deutlich, bildfüllend und fett auf weißen Untergrund gedruckt. Sibilla hatte den Kartenstapel verdeckt vor sich hingelegt, deckte die erste Karte auf, drückte auf einen Signalknopf, der bei Petra eine Lampe aufleuchten ließ, und konzentrierte sich auf das Symbol. Petra hatte die fünf Symbole vor sich auf einer Art Schaltbrett montiert. Sie konzentrierte sich ebenfalls, wollte erraten oder ahnen, was der »Sender« Sibilla ihr in diesem Augenblick übermittelte. Dann traf sie ihre Wahl, berührte das Symbol leicht mit dem Finger, ein Sensor meldete das Ergebnis zu Kevington, und das nächste Spiel wurde freigegeben. Sibilla schlug Karte um Karte auf – Signal – Konzentration. Und Petra meldete zurück, was sie glaubte erraten zu haben. Büdel saß im Hintergrund vor dem Terminal seines Rechners, der den Versuch überwachte und das Ergebnis registrierte und auswertete. Da öffnete sich die Tür. Leise schob Palm den Journalisten Schröder in den Raum. Kevington hob die Hand. Die beiden blieben stehen und beobachteten das merkwürdige Experiment. »Ich hoffe, wir stören nicht…«, flüsterte Schröder. »Das kann man nicht wissen«, flüsterte Palm zurück. »Wenn Ihre Gedanken sich mit den Gedanken der beiden Versuchspersonen kreuzen, dann schon. Aber um so etwas nachzuweisen, davon sind wir noch etliche Lichtjahre entfernt.«
Schröder sah sich um. Diese Anhäufung an technischen Apparaten, um etwas wie Gedankenübertragung nachzuweisen, fand er offenbar sehr amüsant. »Unser Computer registriert alle Ergebnisse, speichert aber auch alle Reaktionen des Mädchens, während sie sich konzentriert. Hier« – Kevington zeigte auf die verschiedenen Linien des Schreibers – »die Hirnaktivität. Die ruhigen Linien hier sind Alphawellen, ein Zeichen für kreative Entspannung. Dann kommen sogenannte Artefakte, Störwellen durch Stirnrunzeln, Räuspern – da, die Wellen tiefer Konzentration. Und synchron dazu, also gleichzeitig, die Werte der Atemaktivität, Herzschlag, Schweiß. Das alles verändert sich jedesmal, wenn Petra zu erraten versucht, welche Karte ihre Kontaktperson gerade anblickt. Jetzt zum Beispiel. Achten Sie darauf. Sibilla betrachtet eines der fünf Symbole, das durch Zufall in ihrem Kartenstapel an der Reihe war und aufgedeckt wurde – es ist ein Kreis. Und Petra versucht nun… aha, erraten. Sie drückt ›Kreis‹.« Die beiden übereinstimmenden Symbole leuchteten auf dem Kontrollschirm auf, den Kevington vor sich hatte. Schröder deutete auf ihn. »Und was macht er dabei?« »Er kontrolliert. Nichts weiter. Schiedsrichter. Unparteiischer…« »Unparteiisch?« Schröder sah Palm skeptisch an. »Er will doch, daß es klappt, daß sie funktioniert und errät.« »Er will den Nachweis erbringen, daß Telepathie möglich und meßbar, zumindest registrierbar ist, um später vielleicht zu erfahren, wie, das heißt, auf welchem Wege, sie funktioniert.« Das Spiel ging weiter. Lämpchen leuchteten auf, Symbole. Kurven schrieben sich auf endloses Papier, der Rechner zeigte Ergebnisse und Erfolgsquoten an. »Wieder eine Übereinstimmung: Kreuz-Kreuz. Haben Sie gesehen… und jetzt wieder Kreis-Kreis…«
Schröder nickte. »Wir haben alle mit ihr probiert«, erklärte Palm weiter, »mit Sibilla ergeben sich die meisten Treffer. Sehen Sie: KreisKreis. Von Gehirn zu Gehirn wandern Informationen. Gewissermaßen drahtlos…« Schröder lachte: »Drahtlos ist ja nun etwas übertrieben!« Er senkte seine Stimme, als Kevington wieder die Hand hob. »Alles nur Meßinstrumente.« Palm zeigte auf die Kurven: »Deutlich beschleunigter Puls! Und wieder zwei Übereinstimmungen hintereinander: SternStern, Welle-Welle.« Schröder nickte anerkennend: »Sie errät sehr oft!« »Sehr oft. Ja. Die ersten Tage waren allerdings nicht sehr erfolgreich. Sie wirkte ungeheuer verkrampft, sperrte sich, war eingeschüchtert durch die Umgebung, durch uns, durch die Technik um sie herum. Außerdem entwickelte sie Widerstände…« Auf dem Monitor der Fernsehkamera, die zur Kontrolle in Petras Kabine eingebaut war, sah man groß das Gesicht des Mädchens. Kevington hatte die Kamera von den Symbolen weggeschwenkt und auf das Gesicht gerichtet: verschattete Augen, ein tiefer Ernst, eine fast traurige Ermüdung lag in diesen Zügen. »Und Sie glauben immer noch nicht an Zufall?« fragte Schröder. »Rechnen Sie doch mit: Wir haben Karten mit fünf Symbolen, fünf verschiedene Zeichen. Die Wahrscheinlichkeit, das richtige Zeichen zu erraten, ist also eins zu fünf, ja? Das sind zwanzig Prozent. Zwanzig Prozent, bei einhundert Rateversuchen also zwanzig Treffer, das ist die normale Zufallsrate. Errät sie statt dessen aber zweiunddreißig, ist das zwar sehr gut, regt uns aber nicht besonders auf. Es könnte dann wirklich ein einmaliger Zufall sein.
Bleibt sie aber bei dieser Trefferquote von zweiunddreißig Prozent, dann sind das bei tausend Versuchen dreihundertzwanzig Treffer statt der zweihundert nach der mittleren Zufallserwartung – und dann wird der Fall für uns – höchst interessant!« Schröder schüttelte den Kopf. »Wer spielt denn bei tausend Versuchen mit?« Palm zog Schröder in die abgelegenste Ecke des kleinen Labors. »Um den Zufall wirklich auszuschließen, machen wir auch zehntausend oder mehr Versuche. Bei wenigen Versuchen ist die Streuung zu groß. Die Statistik errechnet dann die Erfolgsquote nach der Binominalformel.« Er sah Schröder abwartend an: »Sie interessieren sich für Mathematik?« »O Gott, nein!« Schröder winkte entsetzt ab. »Keine Angst!« Palm führte Schröder zum Terminal des Rechners, wo Büdel die Ergebnisse kontrollierte. »Der Computer nimmt uns das Rechnen weitgehend ab«, fuhr Palm fort. »Im Augenblick – das sehen Sie hier auf dem Monitor ausgedruckt – beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß das Ergebnis dieser Versuchsreihe nicht auf purem Zufall beruht, über sechzehn Millionen zu eins. Unter sechzehn Millionen gleicher Versuchsreihen wird nur ein einziges Mal ein gleiches überragendes Ergebnis dieser Art aus ›Zufall‹ entstehen. Ein Beweis für Telepathie – daran besteht kein Zweifel!« Sie schwiegen. Schröder schien von dieser Flut theoretischer Erklärungen beeindruckt. Er beobachtete über Kevingtons Schulter hinweg die aufleuchtenden Symbole: Kreuz-Welle, Welle-Kreis, Viereck-Kreis… »Sie läßt nach!« bemerkte er zu Palm. Da mischte sich Kevington in das Gespräch; er hatte bisher von seinen Besuchern kaum Notiz genommen. »Absinkungseffekt!« sagte er. »Nachlassendes Interesse,
Müdigkeit, Erschöpfung.« Er zeigte auf das Gesicht des Mädchens auf dem Fernsehschirm. Sie hatte plötzlich schwere Lider, die Lippen krampften sich schmal zusammen. »Auch ein Beweis«, fuhr Kevington fort, »daß vorher nicht Zufall, sondern eine Kraft im Spiel gewesen sein muß. Eine Kraft, die nun offenbar nachläßt, erlahmt – PSI!« Er lehnte sich zurück und schaltete die Anlage ab.
14 »Stör’ ich?« Petra war unbemerkt durch die Schleuse getreten und stand nun unvermittelt hinter de Groot im biochemischen Labor. »Nein…«, sagte Jeroen de Groot. Er sah nur kurz von seinem Mikroskop auf, und Petra spürte, daß er log. Er mochte sie nicht, das wußte sie. Ihre Anwesenheit störte ihn, nicht nur in seiner Arbeit, auch persönlich. Sie spürte diese Aversion ganz deutlich, jedesmal, wenn sie Sibilla hier oben in ihrem »Zoo«, in ihrem Labor besuchte. »Wo ist Sibilla?« fragte sie. »Weiß nicht…« Er blickte nicht mehr auf. »Ist sie nicht hier oben?« »Nein…« Er manipulierte mit irgendwelchen Objektträgern und gab sich einsilbig. »Kommt sie bald wieder?« Petra ließ sich nicht abwimmeln. Sie fühlte sich einsam, brauchte diese ältere, erfahrene Freundin. Aber Jeroen antwortete erst nach einer längeren Pause. »Möglich…« sagte er nur. Dann schaltete er die Lampe des Mikroskops ab und lehnte sich zurück. Er schloß sekundenlang die Augen, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, dann richtete er sich abrupt auf und machte sich Notizen. Petra lungerte zwischen den Käfigen herum, zwischen der »Wohlstandsgesellschaft« und den »Slums«. Im Gegensatz zu den weißen Ratten, die jeder ihrer Bewegung interessiert folgten, nahmen die Mäuse weder von Petra noch von sonstigen Umweltsignalen irgendeine Notiz.
Jeroen war aufgestanden. »Haben Sie nichts zu tun?« fragte er Petra scheinbar beiläufig und fügte mit leicht sarkastischem Unterton hinzu: »Karten raten? Zukunft deuten?« »Halbe Stunde Pause«, antwortete Petra und trat ans Fenster. Der Hof war säuberlich geharkt worden. Jetzt versuchte Kühn gerade im leeren Springbrunnenbassin Laub und Äste zu verbrennen. Aber die Feuchtigkeit ließ offenbar keine Flamme entstehen, nur dichter Qualm zog hoch und verwirbelte zwischen den alten Gebäuden. »Darf ich Sie etwas fragen?« Jeroen war überraschend zu Petra ans Fenster getreten. »Warum machen Sie diesen Zirkus hier eigentlich mit? Aus Eitelkeit? Weil es so fabelhaft ist, außergewöhnlich zu sein? Übernatürliche Kräfte… zaubern können?« »Es sind wissenschaftliche Versuche«, verteidigte sich Petra, ohne sich zu Jeroen umzuwenden, »und sie sind wichtig, sagen alle…« »Alle?« Jeroen lächelte. »Und ›wissenschaftlich‹?« Er berührte ihre Schulter, zwang sie, ihn anzusehen: »Können Sie diese Fähigkeiten, die andere bei Ihnen vermuten, in Sie hineinprojizieren, können Sie die steuern? Haben Sie die in der Hand? Beherrschen Sie den Trick – ich meine ›zuverlässig‹?« Er wartete offenbar gespannt auf ihre Antwort. Aber sie wußte nicht viel darauf zu sagen: »Manchmal klappt es, manchmal eben nicht, je nachdem…« »Ja, ja, je nachdem…« Jeroen nickte und schien ihr zuzustimmen. »Aber jeder wissenschaftliche Versuch«, fuhr er fort, »muß wiederholbar und sein Ergebnis vorhersagbar sein. Das ist die Definition für exakte Wissenschaft.« »Mein Kopf ist doch keine Maschine!« wehrte sich Petra. »Das sagt Herr Kevington.« »Das sagt er nicht, aber das ist logisch!«
Jeroen schüttelte den Kopf: »Ihr Kopf ist sehr wohl eine Maschine. Ich meine, wenn das zutreffen soll, was Kevington behauptet, und wenn dieser Aberglaube, der wie eine Seuche durch unser Institut zu toben scheint und die klügsten Geister verwirrt, wenn der Realität sein sollte.« Jeroen hatte sich einen der Laborhocker unter dem Tisch hervorgeholt, setzte sich und fixierte das Mädchen aus einer gewissen Entfernung. »Nehmen wir mal an«, begann er von neuem, »Ihr Kopf ist eine Art biologisches Radio. Sie gehen auf Sendung. Sie empfangen Dinge, die andere nicht hören, nicht empfangen können. Gut, meinetwegen. Aber doch nicht das Programm von morgen oder übermorgen. Die Lottozahlen vom nächsten Samstagabend, gezogen im Beisein eines Notars und von zwölf Millionen Fernsehzuschauern. Das Pferd, das erst in einer halben Stunde gewinnen wird…« Sie zuckte nur die Schultern und schaute wieder hinaus in den Hof. Aus dem Laubhaufen schlugen nun die ersten Flammen und verzehrten den Qualm. »Ich weiß ja nicht, wie es funktioniert…«, sagte sie schließlich. »Niemand weiß das!« Jeroen war aufgestanden. »Weil es nicht funktionieren kann. Kausalität, Mädchen: Ursache und Wirkung! Nicht umgekehrt.« Sie schaute ihn verständnislos an. »Du verstehst nicht, was?« fuhr er fort. »Erst muß etwas passieren, dann erst kannst du mit deinem berühmten sechsten Sinn das feststellen. So einfach ist das.« Er ging zur Schleuse und hob den inneren Plastikvorhang an. »Tut mir leid, aber ich habe noch zu tun…« Das war ein deutlicher Wink, ein Hinauswurf, den Petra verstand. »Spielen Sie das Spiel ruhig weiter«, sagte er abschließend, als sie an ihm vorbei durch die wehenden Folien schlüpfte, »aber gebrauchen Sie in diesem Zusammenhang niemals wieder das Wort Wissenschaft!«
15 Das Feuer im Brunnenbassin war heruntergebrannt, als Palm, gefolgt von Kevington, Sibilla und Petra, das Portal des Palais verließ. Die vier gingen auf die andere Seite des Hofes zum alten hölzernen Pavillon hinüber. »Es ist mir unbegreiflich«, setzte Kevington ein begonnenes Gesprächfort, »daß sich ein junger Wissenschaftler, ein Biochemiker, heute noch derart konservativ und in dieser Form äußert.« »Sie wird ihn falsch verstanden haben«, versuchte Sibilla Jeroen zu verteidigen. »Nein«, sagte Petra mit Nachdruck, »falsch verstanden habe ich ihn nicht.« Palm war stehen geblieben, schloß sich der hinter ihm gehenden Gruppe an. »Ein englischer Physiker und Astronom, Sir James Jeans, schrieb bereits vor mehr als dreißig Jahren: ›Das Universum beginnt eher einem großen Gedanken zu gleichen als einer großen Maschine.‹ Wir sitzen demnach nicht in einem gigantischen Uhrwerk. Zwischen Geist und Materie zu unterscheiden ist nicht mehr zeitgemäß. Alles ist eine Einheit, verwoben in Räume und Zeiten – denn ich bin davon überzeugt, es gibt mehr als diese eine Zeit, mehr als diesen einen Raum – Zeitdimensionen…« »Das würde die Erklärung erleichtern«, fuhr Kevington fort, »wie denn ein Blick in die Zukunft überhaupt möglich ist. Künftige Entwicklungen, Veränderungen sind vielleicht heute schon angedeutet, skizziert, vorbereitet. Vom Plan her ist das
fertige Gebäude, das erst entstehen soll, bereits vorstellbar – sofern jemand imstande ist, die Baupläne zu lesen.« Sie waren am Pavillon angekommen. Die Glastür mit ihren gefärbten Scheiben stand offen. Drinnen legte Kühn die letzte Hand an einen merkwürdigen Käfig, der in der Mitte des Raumes stand. Über ein Lattengerüst war ein feinmaschiges Netz aus Kupferdrähten gehängt. Petra sah sich verwundert um. Im Käfig standen nur ein Stuhl und ein kleiner Tisch. »Sie wissen, was ein Faradayscher Käfig ist?« fragte Palm das Mädchen. »Das ist ein durch Metallnetze abgeschirmter Raum, in den kein elektrisches Feld eindringen kann. Im Käfig ist es nicht möglich, Radio zu hören, fernzusehen. Alle Wellen, also alle elektromagnetischen Wellen, werden durch das Gitter abgefangen und abgeleitet. Sie können nicht eindringen. Aber sie dringen, wenn sie im Käfig erzeugt werden sollten, auch nicht heraus.« Kühn hakte einige Drähte auf, öffnete einen Spalt im Gitter und machte zu Petra eine einladende Handbewegung. »Bitte…« »Ich soll da hinein?« Sie sah sich zu Sibilla um. »Wenn deine Fähigkeiten auch in diesem Faradayschen Käfig funktionieren«, erklärte sie, »dann wissen wir eines sicher, was wir auch vermuten: Sie funktionieren nicht mit Hilfe elektromagnetischer Wellen. Die sind ja abgeschirmt. Dann ist dein Kopf eben kein biologisches Radio.« Petra nickte, schlüpfte in den Käfig und setzte sich auf den alten Gartenstuhl. »Mir ist kalt…«, sagte sie. »Laß die Jacke an.« Sibilla stand hinter dem Gitter und lächelte Petra beruhigend zu. Kühn hatte inzwischen den Käfig wieder geschlossen. Kevington trat dicht an das Gitter und erklärte das Experiment, das vorbereitet worden war. Er zeigte den Stapel Zener-Karten, den er in seiner Hand hielt. »Wenn oben an
meinem Fenster eine weiße Flagge erscheint, dann könnt ihr beginnen, dann sind nämlich diese Karten im Automaten fertig gemischt. Ich lege dann das Paket einfach auf den Tisch – ohne die Karten anzusehen. Und Sie versuchen hier unten die Reihenfolge von oben nach unten zu erraten.« Petra sah ihn skeptisch an. »Das ist unmöglich.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie soll ich… ich kann doch nur einfach raten…« »Das ist richtig«, sagte Palm. »Einfach raten. Sagen Sie die Symbole, wie sie Ihnen einfallen, und denken Sie dabei an den gemischten Kartenstapel oben auf dem Tisch. Sibilla wird mitschreiben. Und wenn das Ergebnis über der mittleren Zufallserwartung liegt, dann ist das ein Beweis für Hellsehen. Alles klar?« Petra nickte. Palm und Kevington machten sich auf den Weg, verließen den Pavillon, überquerten den Hof und verschwanden hinter dem Portal des Palais. Jeroen de Groot stand hinter dem Fenster seines biochemischen Labors und sah ihnen nach. Petra hatte die Augen geschlossen, versuchte sich auf das Experiment vorzubereiten. Sibilla stand in der offenen Pavillontür und schaute hinüber zum Palais. Es dauerte lange Minuten. Auch Sibilla fröstelte. Die Kälte des Winters schien noch im Gebälk zu stecken. Durch Ritzen und Fugen drang Zugluft und ließ die alten Spinnweben zittern. Da erschien Kevingtons Hand in einem Fenster des zweiten Stocks. Er winkte. Dann schwenkte er eine weiße Fahne und steckte sie in eine Halterung am Fensterbrett. »Jetzt!« sagte Sibilla, schloß die Tür, setzte sich an den altersschwachen Korbtisch und war bereit, das Protokoll zu schreiben.
Ohne die Augen zu öffnen, begann Petra leise, aber deutlich die Symbole aufzuzählen, wie sie ihr in den Sinn kamen: »Kreis – Kreis – Kreuz – Welle – Kreis – Quadrat – Kreuz – Stern – Quadrat – Welle – « Sibilla malte die Symbole in das Protokoll, füllte Kästchen um Kästchen – über zweihundert »calls«, wie es in der Fachsprache hieß. Im zweiten Stock des Palais standen Palm und Kevington schweigend um den alten Intarsientisch, auf dem ein Stapel mit zweihundert Karten lag. Nur ein Feldbett stand noch in der Ecke, über das nachlässig Kevingtons Kleider geworfen waren. Das Palais bot seinen Gästen keinen Luxus. Palm sah auf seine Uhr, ging zum Fenster, sah hinüber zum Pavillon und wartete auf ein Zeichen. Er mußte nicht allzu lange warten. Sibilla erschien in der Tür, schwenkte das Protokoll und kam herüber. »Sie sind fertig«, sagte Palm und trat zurück in den Raum. Als Sibilla ihr Protokoll auf den Tisch gelegt hatte, wurden die Karten aufgedeckt und die tatsächliche Reihenfolge neben Petras Prognosen eingetragen. Kevington diktierte, Palm kontrollierte, Sibilla ergänzte das Protokoll. »Kreis – Kreis – Kreuz – Stern – Kreis – …« Als alle zweihundert Karten protokolliert worden waren, wertete Kevington die Trefferquote aus, suchte die Übereinstimmungen, markierte sie mit einem farbigen Stift und zählte sie schließlich zusammen. »… dreiundsiebzig, vierundsiebzig, fünfundsiebzig, sechsundsiebzig Treffer bei nur zweihundert Karten. Hier von Zufall zu reden wäre sinnlos.« Er setzte sich befriedigt auf die Kante seines Feldbetts und lehnte sich gegen die brüchige Seidentapete. »Die mittlere Zufallserwartung hatte bei vierzig gelegen. Den
CR-Wert kann Büdel am Computer übernehmen. Wir machen so lange weiter.« »Nochmal?« fragte Petra. Sie war aus dem Käfig geschlüpft und, während oben der Test ausgewertet wurde, ein paar Mal um das Rondell gelaufen, um sich aufzuwärmen. Jetzt stand sie zwischen Palm, Kevington und Sibilla, hatte sich das Ergebnis ohne größere Begeisterung angehört und war nur entsetzt von der Vorstellung, wieder in diesen Käfig gesperrt zu werden. »Wirklich nochmal?« »Ich glaube«, sagte Palm, als er mit Petra langsam wieder zum Pavillon hinüberging, »daß Sie durch Training Ihre Leistung von Tag zu Tag verbessern. Der Zustand von angespannter Entspannung scheint wichtig zu sein. Überkonzentration führt zu nichts. Das haben Sie sicher bemerkt.« Sie waren am Pavillon angekommen, Palm hielt Petra die Tür auf, um sie eintreten zu lassen. Aber sie zögerte. »Es ist so kalt hier drin und ungemütlich…« »Das sind Äußerlichkeiten«, schaltete sich Kevington in die Diskussion ein. »Lassen Sie sich davon nicht beeinflussen.« Er schob Petra in den Pavillon und verschloß das Netz wieder sorgfältig, als sie in den Käfig geschlüpft war. »Wir machen mit dem nächsten Test weiter«, fuhr er fort. »Präkognition – Vorausschau. Sie raten zuerst, Sibilla winkt, wenn Sie fertig sind, dann erst mischen wir die Karten. Sie müssen also erraten, in welcher Reihenfolge der Mischautomat die Karten in der Zukunft mischen wird. Sie haben das verstanden?« Petra nickte und blickte zur Decke hoch. Über den Drahtmaschen des Käfigs waberten die schwarzen Spinnennetze zwischen den Balken, blätterte die weiße Farbe vom Holz. Sie haßte diesen Raum. Sie begann auch diesen
Kevington zu hassen. Sie spürte den Fanatismus hinter seinem wissenschaftlichen Interesse. Mit raschem Gang war er schon wieder unterwegs hinüber zum Palais. Sie konnte ihn durch die offene Tür des Pavillons beobachten, wie er hektisch auf Palm einredete, sogar noch, als beide durch das Portal im Hauptgebäude verschwanden. Sibilla schloß die Tür, setzte sich an ihren Tisch, legte sich das Protokoll zurecht. »Sobald dir danach ist, fang einfach an«, sagte sie und wartete. Sie mußte lange warten.
16 Das Geschrei der Krähen im nahen Park hörte sich nicht wie ein Signal des nahenden Frühjahrs an, es schien Schnee anzukündigen und Novemberkälte, Nebel und Frost. Petra hörte die Vögel näher kommen und wieder abziehen. Ein Windstoß rauschte durch die alten Bäume, erreichte schließlich auch den morschen Pavillon und ließ das Gebälk erzittern und aufstöhnen. Sie hatte Angst-eingesperrt in dieses hölzerne Verlies, in diesen Metallkäfig mit seinen winzigen Drahtmaschen, aufgefordert, etwas zu leisten, von dem sie nicht wußte, nicht einmal ahnte, wie es zu leisten sei. Sie horchte in sich hinein und hörte nichts als ein lautes Nein. Sie wehrte sich dagegen, an dieses Experiment zu denken, an diese beiden Männer, Kevington und Palm, an Karten und Symbole. Sibilla saß stumm, abwartend und geduldig auf der anderen Seite des Netzes, hielt den Stift bereit und vermied es, Petra anzublicken. Das Mädchen in irgendeiner Weise zu bedrängen, das wußte Sibilla, wäre sinnlos, erfolglos gewesen – aber was machten sie eigentlich mit ihr? War das nicht schon Bedrängung genug? Dieser unwirtliche, kalte Raum, diese Isolierung hinter Metallnetzen, dieser Zwang, jetzt zu funktionieren, jetzt, sofort… Hoch über dem Palais zog ein Linienjet seine Bahn. Das ferne Grollen kam von weit her, verstärkte sich, verschwand. Wegfliegen, dachte Petra. Einmal fliegen dürfen, irgendwohin, weit weg, niemals mehr wiederkommen. Ferne Länder, fremde Menschen. Wegtauchen aus diesem Ich,
verschwinden, ein anderer werden, woanders leben. Bunte Bilder stellten sich ein. Ein Gefühl von Freiheit, Unbeschwertheit, Ungebundenheit. Losgelöst von diesem Jetzt, von diesem Körper, den Zwängen, Ideen und Bedürfnissen. Es war eine Flut von Gefühlen, die sie durchströmte, die sie nur ahnen konnte, nicht begreifen, nicht verstehen… »Kreuz«, hörte sie sich sagen. Und noch einmal »Kreuz«. Und nach einer kurzen Pause ein weiteres Mal »Kreuz«. Sibillas Stift huschte über das Protokoll, malte drei flüchtige Kreuze, als es weiterging, rasch und leise und wie in Trance: »Kreis – Stern – Welle – Welle – Stern.« Das dauerte so eine ganze Minute oder noch länger. Zwanzig oder fünfundzwanzig Symbole hatte Sibilla schon eingetragen, als Petra zu erwachen schien. Der Pavillon war wieder ein kaltes, unfreundliches, zugiges Verlies. Der Käfig hielt sie gefangen. Da saß Sibilla, die junge sympathische Frau, und wartete darauf, daß etwas »funktionieren« würde. Sie hatte aufgeblickt und Petra angesehen, als dieser Strom von Bildern und Symbolen plötzlich abgerissen war. Was will sie von mir? dachte Petra. Sie wußte es zwar, aber es fielen ihr keine Symbole mehr ein. Da zählte sie einfach auf, was sie wußte, eines nach dem anderen. Sie war bereit zu liefern, was von ihr verlangt wurde, was man erwartete. Sibillas Stift huschte wieder über das Papier, malte Zeichen und Symbole, füllte die langen Spalten des Protokolls. »Gut, fangen wir an«, sagte Kevington, als Sibilla das ausgefüllte Protokoll auf den Tisch neben den Kartenstapel legte.
Palm gab die Karten in die Mischmaschine und schaltete ein. Mit klapperndem Geräusch wurden die beiden Pakete ineinander verschoben, zweimal, dreimal. Dann nahm sich Kevington den Stapel vor und begann die Karten aufzudecken. »Kreuz – Kreuz – Kreuz -…« Er blickte verdutzt auf. »Hier wird jeder stolpern, auch der Begabteste, wenn die eigene Kritik eine Ahnung als unwahrscheinlich ablehnen muß. Hintereinander dreimal Kreuz.« Palm blickte Sibilla über die Schulter. Sie hatte angefangen, die tatsächliche Reihenfolge der eben gemischten Karten neben Petras Prognose zu schreiben. Und dort stand es bereits: dreimal das Kreuz. Palm gab dazu vorläufig keinen Kommentar. Er ließ Kevington weitermachen, informierte ihn nicht über dieses Ergebnis. Blatt für Blatt wurde der Kartenstapel aufgedeckt, Symbol über Symbol wurde im Protokoll vermerkt. Zweihundert »calls« erhielten ihre reale Beziehung. Dann folgte die Auswertung. »Unglaublich!« sagte Palm, als er an den Käfig trat, in dem Petra immer noch auf ihrem Sessel hockte. Er hielt ihr das Protokoll an das Gitter. »Sehen Sie nur: In den ersten fünfundzwanzig Nennungen nur zwei Fehler. Das ist sensationell.« Aber Kevington, der sich nun einmischte, blieb skeptisch: hundertfünfundsiebzig. »Gut, ja, der Beginn ist phantastisch. Aber die restlichen Calls sind höchstens durchschnittlicher Zufall. Da verläuft der Versuch plötzlich im Sand. Sie lassen nach.« »Ich kann es nicht steuern!« entschuldigte sich Petra. »Es geht um die Bemühung! Warum ist das Ergebnis im zweiten Teil des Versuchs bestenfalls durchschnittlich – nach diesem frappierenden Beginn?«
»Ich weiß es nicht…« Petra zuckte die Schultern, zog die Beine hoch, versuchte sich auf diesem alten Gartenstuhl zu verkriechen. »Entschuldigen Sie… dann versuch’ ich es eben noch mal…«, fuhr sie fort. »Natürlich!« Kevington hatte keinerlei Absicht, die Versuchsreihe abzubrechen. »Aber bleiben Sie bei der Sache, lassen Sie sich nicht ablenken.« »Und wie fühlen Sie sich?« wollte Palm wissen. »Spielt das eine Rolle?« Sie wirkte plötzlich wie ein trotziges Kind. »Ja, ich finde, das ist wichtig.« Palm beobachtete sie nachdenklich. »Professor Kevington meint, das sind Äußerlichkeiten«, entgegnete Petra. Sibilla war an das Netz getreten. »Nimm das nicht so wörtlich…« Petra blickte von einem zum anderen. Sie hielt immer noch die hochgezogenen Knie umklammert, wippte auf dem Stuhl. »Ich habe gewußt, daß die ersten fünfundzwanzig fast alle richtig waren!« sagte sie. »Wieso? Und ›gewußt‹ – wodurch…?« Kevington war hellhörig geworden. Aber Petras Auskunft war nicht besonders informativ: »Weiß nicht – gespürt eben – irgend so ein Gefühl…« »Ein Gefühl von…von Triumph?« wollte Kevington wissen. Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, nur… ich hab’s eben gewußt…« Kevington nickte. »Gut. Aber diesmal: keine Ablenkung. Geben Sie nicht nach. Verdrängen Sie falsche Gedanken. Sie müssen wie in Trance sein. Konzentrieren Sie sich, Petra – denn Sie leisten Überdurchschnittliches. Nur: Sie müssen die ganze Reihe schaffen, nicht nur die ersten fünfundzwanzig. Ich
weiß, Sie können das. Aber Sie müssen auch wollen, dazu bereit sein. Haben Sie verstanden, ja? Wir machen weiter…« Er verließ den Pavillon. Eine seltsame Erregung schien sich seiner bemächtigt zu haben. Palm folgte ihm. Sibilla sah auf das eingeschüchterte Mädchen in seinem Käfig – dann lief sie kurzentschlossen hinter den beiden Männern her auf den Hof hinaus. »Ich halte es für falsch!« Sibilla hatte Kevington eingeholt, der mit raschen Schritten auf das Palais zustrebte. »Was halten Sie für falsch?« fragte er, ohne sein Tempo zu verlangsamen. »Weiterzumachen«, sagte sie, »jetzt weiterzumachen!« Palm blieb stehen und überdachte Sibillas Vorschlag. »Sie hat recht«, entschied er. »Absinkungseffekt. Wir können nichts erzwingen.« Kevington war weitergeeilt. »Sie kann sich zwingen! Sie muß es lernen«, rief er zu den beiden zurück. »Die Energie hängt auch am Willen!« »Daß PSI vom Willen beeinflußt werden kann, ist einfach spekulativ.« Palm erreichte Kevington am Fuß der Treppe, die zum Portal hinaufführte. Kevington blieb stehen, wandte sich zu Palm und Sibilla um und verkündete lapidar: »Was nützt uns die Erkenntnis einer neuen geistigen Kraft, wenn wir sie nicht beherrschen können!« Damit verschwand er im Haus. Palm warf Sibilla nur einen kurzen Blick der Verständigung zu, dann folgte er Kevington. Langsam ging Sibilla zurück zum Pavillon. Oben am Fenster des biochemischen Labors stand wieder Jeroen, der die Szene beobachtet hatte – aber Sibilla bemerkte ihn nicht.
17 »Welle – Kreuz – Kreis…« Der nächste »run« hatte begonnen. Sibillas Stift malte die Symbole in die Kästchen, und Petra hielt die Augen geschlossen, während es leise und stockend von ihren Lippen kam: »Kreis – Kreis – Stern… ich kann nicht…« Sibilla blickte auf. Petras Kopf war nach vorne gesunken, die Augen hielt sie immer noch geschlossen, während sie zögernd weitersprach: »Kreuz -Kreis – Viereck… nein…!« »Was ist?« fragte Sibilla. »Es geht nicht mehr – ich komme nicht durch!« Sie hielt den Kopf immer noch gesenkt, preßte die flachen Hände vor die geschlossenen Augen. »Kreuz – Kreis… nein…!« »Hör auf!« Sibilla legte den Stift aus der Hand. »Etwas steht dazwischen. Ich hab’ Angst!« Petra verbarg den Kopf zwischen den Armen. »Angst? Vor wem? Vor Kevington? Unsinn!« Sibilla war aufgestanden. »Er wirkt besessen, ja. Und es war auch zuviel heute. Wir lassen es. Und es ist hier drinnen wirklich zu kalt.« Sie ging zur Tür. Petra rief ihr nach: »Bleib doch! Wir müssen von vorn anfangen… aber… da ist etwas, zwischen mir… und…« »Schluß für heute!« entschied Sibilla. Sie öffnete die Tür – draußen stand Jeroen.
»Stör ich?« fragte er. »Ja?« Er trat in den Raum. »Hier.« Er hielt Sibilla ein Stück Papier entgegen. »Wenn Petra Lust und Laune hat, kann sie mir diesen Lottoschein ausfüllen.« »Ich weiß nicht«, antwortete Sibilla, »ob das ein guter Witz ist!« »Es soll kein Witz sein. Nein!« Er knöpfte seinen weißen Labormantel zu, den ein Windstoß, der durch die offene Tür wirbelte, wehen ließ. »Wenn das große Geld eintrifft, verschwinde ich hier.« Er lehnte sich an die Wand. Sein Sarkasmus war plötzlich verschwunden. Er wurde ernst: »Seit zwei Wochen hocke ich dort oben allein zwischen deinen Ratten. Unsere gemeinsamen Experimente interessieren nicht mehr, was? Die Präparate landen im Müll. Bevor du ganz Schluß machst mit deinen Versuchen, schließ wenigstens deine Arbeiten für das Kuratorium ab, ja?!« Er sah auf Sibilla, auf Petra und schwieg. Dann zerknüllte er den Lottoschein, warf ihn achtlos zu Boden, wandte sich ab, ging durch die offene Tür hinaus auf den Hof, hinüber zur Remise, verschwand schließlich hinter dem großen Holztor. Die beiden Frauen hatten ihm nachgesehen, sprachen kein Wort miteinander. Sibilla ging zum Tisch, nahm das Protokoll an sich, das unvollständig geblieben war, hakte die Drähte des Käfigs auf. »Komm…«, sagte sie nur. Petra schlüpfte heraus, sah Sibilla an, aber die reagierte nicht. Sie wartete in der offenen Tür, bis Petra herausgetreten war, dann verschloß sie den Pavillon und steckte den Schlüssel in ihre Manteltasche. Langsam gingen beide hinüber zum Palais. Irgendwann legte Sibilla dem Mädchen den Arm um die Schulter, eine Geste der Freundschaft, des Verständnisses, aber auch eine Bitte um Vertrauen.
Kevington und Palm blickten aus dem zweiten Stock herunter und schienen nichts zu begreifen. Sibilla hörte, wie das Fenster über ihr geöffnet wurde, aber sie schaute nicht nach oben.
18 Die »Wohlstandsgesellschaft« war anscheinend ausgestorben. Der Käfig stand verlassen auf seinem angestammten Platz im Labor. Die roten Wärmelampen waren abgeschaltet, die automatischen Futterspender leer. Petra stand lange und nachdenklich vor den Überresten dieser Katastrophe. »Kann ich dir irgendwie helfen?« Sie blickte Sibilla an, die mit ungewohnter Hektik durch die Labors fegte, um Ordnung zu schaffen. »Bin gleich fertig!« rief sie Petra zu, schleppte Futter in Plastiksäcken, wusch Gefäße und Käfige aus. Petra lief immer hinter ihr her. Sie lungerte herum, langweilte sich, suchte einen Menschen, mit dem man reden konnte. »Ich finde das schrecklich, wenn man nichts zu tun hat…« Sie lehnte sich an einen Türpfosten und sah Sibilla bei der Arbeit zu. »Du weißt ja«, fuhr sie fort, »ich habe nichts hingeschmissen, bloß weil plötzlich viel Geld da war. Ich habe weitergemacht, so, als wär’ nichts passiert. Lieber am Fließband als herumgammeln müssen.« »Wieviel war es denn?« wollte Sibilla wissen. »Dein Anteil…?« Petra dachte nach, zuckte die Schultern. »So richtig verteilt wurde das nie. Klubkasse. Für die Männer neue Maschinen, neue Kluft. Für uns Mädchen war eigentlich nichts vorgesehen. Sie sorgen dann schon für uns, haben sie gesagt.« Sibilla war stehen geblieben. »Du hast also eigentlich nichts…?!« »Doch, schon«, sagte Petra. »Wenn ich darauf bestehe…«
Dann wanderte sie wieder zurück, an den Ställen vorbei, an den glänzenden Gefriertrocknern und Zentrifugen, an den Labortischen mit dieser Vielzahl von ordentlich aufgereihten Kolben, Reagenzgläsern, Pipetten, an Batterien brauner Flaschen mit Reagenzien und Lösungsmitteln, an den langen Röhren der Säulenchromatographen, die an der Wand befestigt waren, an den Tischen mit Mikroskopen, mit seltsamen Versuchsanordnungen, an dem Käfig mit den »Slumbewohnern«, die sich noch vervielfacht hatten in den vergangenen zwei Wochen – bis sie wieder vor dem verlassenen, leeren Käfig stand. »Hat er sie alle umgebracht?« fragte Petra. »Ich hab’ dir doch erzählt… Sie sind ausgestorben. Sind krank geworden, haben sich totgebissen, sind eingegangen an ihren Neurosen, an ihren seelischen Leiden und Defekten. Und Junge kamen keine mehr nach. Eine Großstadttragödie unter den oberen Zehntausend – oder Hunderttausend, was weiß ich.« Sie sah sich um, was noch alles zu tun sei. Da schrie Petra plötzlich auf: »Hier! Sieh mal, hier!« Sie hockte sich auf ihre Knie, starrte in den Käfig: »Hier lebt noch eine!« Sibilla reagierte skeptisch, kam nur zögernd näher. Aber dann sah sie es selbst. Eine einsame Maus war schnuppernd aus einem der hölzernen Brutkästen hervorgekrochen, witterte ängstlich nach allen Seiten, wagte sich vorsichtig auf eine der Plattformen, richtete sich auf den Hinterbeinen auf, ein dürres, struppiges Vieh. »Mein Gott, wie süß…« Petra war hingerissen von ihrer Entdeckung. »Wo kommt die her?« wunderte sich Sibilla. »Das ist doch nicht möglich.«
»Sie hat eben überlebt!« Petra versuchte mit ihrem kleinen Finger das Interesse der Maus auf sich zu ziehen. Zögernd hoppelte sie näher und beroch schließlich die Fingerkuppe. »Sie hat Hunger«, sagte Petra. »Und sie ist einsam.« Sie richtete sich auf, öffnete die Klappe im Käfig, faßte hinein und versuchte die Maus zu erreichen. Die ließ sich greifen ohne Scheu, ohne Gegenwehr. Petra nahm sie heraus, streichelte sie, schloß die Hand um das Tier. Nur der Kopf sah noch heraus mit den langen Schnurrhaaren und den listigen Äuglein. »Wie das Herz schlägt«, wunderte sich Petra und betrachtete dieses winzige Wunder an Leben. »Ich will nicht, daß sie auch noch stirbt«, sagte sie und zog sich langsam vom Käfig zurück. Sibilla war ein wenig ratlos geworden. Die sentimentale Situation überstieg etwas die rationale Gefühlswelt der Forscherin. »Ich möchte, daß du sie mir schenkst…« Aber Petra wartete eine Antwort von Sibilla gar nicht erst ab. Sie ging langsam durch die wehenden Plastikbahnen der Luftschleuse, verschwand im Dunkel des Treppenhauses. Irgendwann schlug unten das Tor. Dann ging sie über den Hof, kaum noch zu sehen in der beginnenden Dunkelheit. Sibilla stand am Fenster und sah diesem Mädchen nach. Versuchskaninchen, dachte sie. Licht fiel aus dem Portal, und die schmächtige Gestalt, die in ihren Händen wie einen Schatz die winzige Maus trug, verschwand gegenüber im Palais.
19 Es war der erste warme Frühlingstag – ein Sonntag noch dazu, obwohl die Wochentage im Palais keine großen Unterschiede machten. Der Hof, der Park, alles war erfüllt von Sonne und Wärme und Vogelgezwitscher. Und wer Phantasie besaß, der ahnte bereits im Gebüsch rund um den Pavillon einen ersten, zarten grünen Schimmer. Sibilla und Jeroen hatten sich Stühle und einen Tisch aus dem Pavillon geholt und übertrugen ihre Notizen auf die Programmkarten des Computers, der die Ergebnisse auswerten sollte, im Freien. Büdel hockte auf dem übriggebliebenen Sandsteinsockel einer längst verschwundenen Skulptur und blinzelte in die Sonne. Er wartete auf die Karten, aber eilig hatte er es nicht. Palm diskutierte mit Kühn über notwendige Reparaturen der Regenrinnen, für die kein Geld im Etat eingeplant war. Polazzo sah ihnen dabei zu. Er lehnte im offenen Fenster. Schon beim Frühstück hatte er erklärt, die Frühjahrsmüdigkeit lähme seine wissenschaftliche Kreativität. Und gegen die Kräfte der Natur sei schwerlich anzukommen. Kevington war da anderer Ansicht. Er saß zusammen mit Petra im Keller, im abgedunkelten, abgeschirmten PSI-Labor, und testete eine neue Versuchsanordnung. »Denken Sie an die Vier! An die Vier denken!« hämmerte er dem Mädchen ein. Petra stand neben einer Art Billardtisch, auf den eine schräge Fläche herunterführte. Fünf Würfel wurden auf dieser Schräge
durch eine Klappe festgehalten, die Petra durch den Zug an einer Schnur öffnen konnte. »Jetzt!« befahl Kevington, und Petra betätigte die Klappe. Die Würfel rollten die Schräge hinunter und blieben auf dem Billardtisch liegen. Kevington notierte sich die Augenzahl der Würfel in einem Formular, dann legte er die Würfel wieder auf die Klappe. Petra hatte die hochgezogenen Knie umklammert, wie immer, wenn sie sich bedrängt fühlte und von der Umwelt abschirmen wollte. Über den Ärmel ihrer Jeans-Jacke kroch die kleine weiße Maus, schnupperte in die Gegend, huschte weiter zur Schulter und versteckte sich unter dem Kragen. »Fertig«, sagte Kevington. »Und konzentrieren Sie sich auf die Vier. Auf die Vier!« Er nickte Petra zu, die Würfel rollten aus – wieder waren so ziemlich alle Zahlen vertreten, nur eben keine Vier. »Es interessiert Sie nicht, wie?« fragte Kevington, als er das Ergebnis notierte. »Noch einmal.« Wieder rollten die Würfel, aber eine Vier war nicht darunter. Petra hatte keinen Blick auf das Ergebnis geworfen. Sie streichelte die kleine weiße Maus, zog lustlos und ohne Interesse an der Schnur, wenn der Befehl dazu kam, und versuchte sich immer mehr in ihrem Stuhl zu verkriechen. »Es gibt Beweise dafür, daß es möglich ist, mit Gedankenkraft die Materie zu beeinflussen.« Kevington sprach intensiv und beschwörend auf Petra ein, in der Hoffnung, doch noch ihr Interesse und damit ihre Fähigkeiten zu wecken. »Die Russin Kullagina«, fuhr er fort, »läßt Kompaßnadeln rotieren, bewegt Zündhölzer und andere Gegenstände auf einem Tisch – ohne sie zu berühren. Nur mit psychischen Kräften, mit den Kräften des Geistes. Mit ihren Gedanken. Darüber gibt es Filme sowjetischer Physiker, die auf
internationalen Kongressen gezeigt und diskutiert worden sind.« Er beobachtete Petra, aber die reagierte nicht. »In einer Anwaltskanzlei in Rosenheim«, erzählte er weiter, »einer Stadt in Oberbayern, sind vor einigen Jahren Birnen zerplatzt, Lampen fingen an zu schwingen, ein zentnerschwerer Aktenschrank bewegte sich. Urheber dieses Spuks war ein junges Mädchen. Sie war völlig ahnungslos, daß sie es war, die diese Dinge auslöste.« Zum ersten Mal zeigte sich Petra interessiert. Die Vorstellung, Spukphänomene auszulösen und damit die Erwachsenen und die Wissenschaft zu erschrecken, belustigte sie offensichtlich. »Ja«, Kevington hakte geschickt ein, »Sie sehen, Psychokinese, wie wir das nennen, die Bewegung und Beeinflussung der Materie, von scheinbar toten Dingen nur mit Hilfe der Gedankenkraft, dieses Phänomen existiert. Nur – es scheint äußerst selten zu sein. Die Vermutung liegt aber nahe, daß jemand wie Sie das Zeug dazu hätte, die Fähigkeiten und Voraussetzungen dazu mitbringt, auch auf diesem Gebiet etwas zu leisten. Aber Sie wollen ja nicht.« Er machte eine Pause, dann änderte er seinen Ton. »Noch mal, bitte!« befahl er und legte die Würfel zurück auf die Klappe. »Nein…«, sagte Petra und rührte sich nicht. »Warum nicht?« Kevington wirkte hilflos. Er spielte nervös mit den Spitzen seines Schnurrbarts, griff zur Brille, betrachtete lange dieses störrische Mädchen, um herauszufinden, was in ihr vorging. Er war Physiker, nicht Psychologe. Er hatte eine Theorie über den freien Willen von Elementarteilchen entwickelt. Der freie Wille eines Menschen, der in seinen Aufzeichnungen nur unter dem Kürzel VP – Versuchsperson – auftauchte, verwirrte ihn. Wie sollte man wissenschaftlich arbeiten können, wenn die VP Emotionen
hatte oder Launen, wenn sie fremden, unberechenbaren Einflüssen zugänglich war? »Packen Sie die Maus in die Schachtel und machen Sie weiter!« Aber Kevingtons Befehlston wirkte unsicher, verstärkte Petras Trotzhaltung nur noch mehr. »Die Maus bleibt hier sitzen. Sie stört nicht.« Petra versuchte die Stärke ihrer Position auszuloten. Sie streckte die Beine wieder aus, lehnte sich zurück, streichelte die Maus, die auf ihrem Ärmel saß, und sah Kevington voll ins Gesicht. »Das Tier lenkt Sie doch ab.« Kevington versuchte einzulenken. »Bitte, konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit, Petra.« »Das hier ist nicht meine Arbeit«, antwortete sie ruhig. »Sie sperren sich dagegen, ja, das habe ich begriffen. Aber was Sie hier tun, das ist freiwillig, und das wissen Sie auch. Sie können gehen, wann Sie wollen…« Petra schüttelte den Kopf. »Nein, ich will noch nicht gehen. Aber dieses Spiel hier gefällt mir nicht.« Kevington nickte, stand auf, versuchte Zeit zu gewinnen. »Mit Hunderten von Versuchspersonen ist in den letzten Jahren in zig-tausend Versuchen festgestellt worden, daß es möglich ist, fallende Würfel zu beeinflussen.« »Vielleicht ist es möglich«, antwortete Petra, »ich kann es nicht.« Kevington ging lächelnd auf Petra zu. »O doch! Ich glaube, Sie können es sogar sehr gut! Ich habe Sie aufgefordert, die Vier zu werfen. Sie haben alles geworfen – nur niemals die Vier. Aus Zufall hätte sie ein dutzendmal kommen müssen. Aber sie kam nie. Überhaupt nie! Sie sperren sich dagegen, nicht wahr?! Sie vermeiden absichtlich die Vier!« »Es muß aber doch Zufall sein«, sagte Petra. »Ich kann es nicht, das ist alles!«
»Und ich glaube es Ihnen nicht. Und was nun tatsächlich Zufall sein kann und was nicht, das werden wir berechnen, wenn wir genügend Ergebnisse haben. Und deshalb machen wir weiter.« Er nahm die Würfel nochmals in die Hand, schüttelte sie durcheinander, dann legte er sie zurück in die Klappe. »Ich will nicht!« Petra wirkte fest entschlossen. »Die Vier werfen, ja?« Kevington setzte sich wieder hinter seinen Tisch. »Nein«, sagte sie, »ich will nicht, daß ich das kann. Ich will nicht, daß Dinge plötzlich leben und irgend etwas tun, nur weil ich mir das denke. Ich will es einfach nicht!« Sie zog die Knie wieder hoch, blickte zur Decke, war voller Zorn und Aggression, preßte die Handknöchel gegen den offenen Mund und biß hinein, bis es schmerzte. Die beiden Leuchtstoffröhren, die den kleinen Raum erleuchteten, begannen zu flackern und erloschen dann schlagartig. Der Raum lag im Dunkel. Nur durch die Glasscheibe der Boxen fiel noch spärliches Licht. Da stand Petra auf, schützte mit einer zärtlichen Geste die Maus auf ihrem Ärmel und ging grußlos hinaus.
20 Jeroen de Groot füllte seinen Pappbecher am Kaffeeautomaten, als er spürte, daß jemand hinter ihm stand. Es war Kevington. »Hallo – schön, daß wir uns mal treffen«, sagte dieser, aber de Groot ahnte bereits, daß diese Begegnung kein Zufall war. Er lächelte nur, nickte Kevington beiläufig zu, nippte an seinem Kaffee und wollte sich wieder entfernen, als Kevington ihm nachrief: »Haben Sie zwei Minuten Zeit für mich?« »Ja – warum?« de Groot zögerte. »Ich finde, wir sollten miteinander reden.« Kevington hatte seinen Becher gefüllt und trat nun zu de Groot. »Reden? Weshalb und worüber?« wollte dieser wissen. »Sehen Sie«, lachte Kevington, »jetzt wieder: eine feindselige, aggressive Haltung mir gegenüber…« De Groot wehrte ab: »Ich bitte Sie… das ist doch lächerlich!« »Doch, doch!« Kevington bestand darauf. »Ich möchte nur wissen, gilt das mir persönlich, oder…?« Er brach ab, wartete auf eine Reaktion de Groots, aber der schwieg, trank seinen Kaffee und sah hinaus in den Park. »Sicher«, fuhr Kevington schließlich fort, »es war nicht ganz fair, Ihre Kollegin in mein Versuchsprogramm einzubeziehen.« »Jeder von uns ist völlig frei in der Wahl seiner Programme«, entgegnete de Groot, »auch Sibilla.« Dann wandte er sich Kevington voll zu: »Nur eines begreife ich nicht: Sie sind Physiker – nicht unbekannt – haben in der letzten Zeit, wie man hört, einige sensationelle Veröffentlichungen gemacht…« Er wartete drei, vier Sekunden, bevor er weitersprach: »Was soll das hier? Ich meine, Ihre Beschäftigung mit solchen
Dingen, Telepathie, Psychokinese… Das sind doch Spielereien, Spekulationen!« Kevington trank seinen Kaffee aus, zerknüllte den Becher, warf ihn bedächtig in den dafür bereitstehenden Plastiksack, wischte sich über seinen Schnurrbart, dann sah er de Groot pfiffig an: »Es ist hin und wieder wichtig, finde ich, aus der Befangenheit seines Faches auszubrechen. Die großen Durchbrüche gelingen selten den sogenannten Fachidioten – eher schon den Außenseitern. Freud war Mediziner, Otto Hahn, der die Kernspaltung des Atoms entdeckte, war Chemiker und erhielt den Nobelpreis für Physik.« »Und worauf spekulieren Sie?« fragte de Groot sarkastisch. »Oh, ein Großteil der Parapsychologen kommt aus dem Lager der Physik. Denn neue Türen öffnen sich mitunter nur für den, der außerhalb steht.« Kevington machte wieder eine Pause, stützte sich auf das morsche Fensterbrett, beobachtete das Spiel von Licht und Schatten, das die tiefstehende Sonne durch den kahlen Park auf die brüchige, blaugetünchte Fassade des Seitentraktes zauberte. »Ich will eine neue Tür öffnen. Ich hoffe – ich weiß nicht, ob es je gelingt, aber ich hoffe – PSI in den Griff zu bekommen. Denn PSI ist eine Kraft, und da bin ich als Physiker keineswegs unzuständig.« Er wandte sich um. De Groot lehnte an der Wand und spielte mit einem kleinen Gerät, das auf dem Zeitschriftenregal herumgelegen hatte. Es war die Fernbedienung für das Fernsehgerät, das in der Ecke stand. Durch Knopfdruck wanderte de Groot von Kanal zu Kanal. Sport, ein Western, Testbild, Interviews, Testbild, Sport… »Was tun Sie da?« fragte Kevington und deutete auf das Fernsehgerät. De Groot verstand die Frage nicht, zuckte nur mit den Schultern.
»Sie wissen natürlich, wie das funktioniert«, Kevington nahm ihm das kleine Steuergerät aus der Hand. »Mit Ultraschall…« Er ließ die Programme springen und schaltete schließlich ab. »Mit dem gleichen Ultraschall«, fuhr er fort, »mit dem sich Fledermäuse im Dunkeln orientieren.« Er legte das Gerät wieder auf seinen Platz im Regal. »Und wie finden sich Brieftauben zurecht? Zugvögel? Die Lachse? Wie finden die zu ihren Laichplätzen im Oberlauf ganz bestimmter Flüsse – über Tausende von Meilen? Sie sind doch Biologe…« »Die Rätsel werden gerade gelöst«, antwortete de Groot. »Das sind chemische und physikalische Reize, oft feinstverteilte Moleküle, auf die diese Tiere noch ansprechen…« »Kräfte also«, unterbrach ihn Kevington, »physikalische, chemische. Früher sprach man von Instinkt!« De Groot winkte ab: »Sie verwirren die Begriffe: Instinkt und Verhalten…« Wieder unterbrach ihn Kevington: »Vielleicht handelt es sich bei PSI um verschüttete Instinkte – eine ganz natürliche Sache, nichts Sensationelles.« Er setzte sich auf einen dieser Stapelstühle, die vor dem Fernsehgerät in wildem Durcheinander herumstanden. »Der Neandertaler«, dozierte er weiter, »mit seiner hochentwickelten Kultur, schien über differenzierte Sprechwerkzeuge nicht zu verfügen. Auf Grund seiner Kieferanatomie kam man zu diesem Schluß. Aber wie verständigte er sich? Durch Telepathie? Was meinen Sie?« De Groot lehnte immer noch an der Wand neben dem Fenster. Er betrachtete die Risse im Putz, die Wasserflecken an der Deckenkante, die seltsamen Formen, die die abgeblätterte Farbe gebildet hatte. »Ach ja, es wäre ja so schön…«, sagte er nach einer langen Pause. »Der Übermensch – mit magischen Fähigkeiten – erkennt die Gedanken des anderen – sein Geist verändert und steuert die Materie – er blickt in die Zukunft…
Das alles ist zwischen Mystik und Religion angesiedelt und füllt die Blätter der Illustrierten. Da reist einer durch die Lande und präsentiert seine Fähigkeiten für Geld, verbiegt Löffel und Gabeln, ohne sie zu berühren, setzt Uhren in Gang und wieder außer Funktion, allein mit Geisteskraft, schaut durch geschlossene Kuverts. Das muntert auf. Denn was einer kann, können andere auch. Wir sind gar nicht so arm und hilflos und sterblich. In uns stecken ungeahnte, ungeheuerliche, nahezu ›göttliche‹ Fähigkeiten. Die stehen außerhalb von Zeit und Raum – und außerhalb der Gesetze dieser Welt, der Physik – auch der Logik. Nein, Herr Kollege, bevor ich an Ihre Parapsychologie glaube, glaube ich eher noch an Gespenster!« »Warum nicht?« Kevington nahm das Argument begeistert auf. »Gespenster als Visionen, als ungeheuer starke Vorstellung – Lebender! Warum sollen die Bilder Verstorbener nicht plötzlich sichtbar werden wie Halluzinationen oder Träume – nur eben viel realer? Auch die Jungfrau von Fatima erschien gleichzeitig Tausenden, die allerdings eines verband – sie glaubten daran mit der ganzen Kraft ihrer Seele. Eine Kollektivvision!« »Sehen Sie«, entgegnete skeptisch de Groot, »und ich glaube nicht. Das ist der Unterschied. Und deshalb überzeugen Sie mich auch nicht! Allein schon die Methode, mit der Sie versuchen, ›PSI in den Griff zu bekommen‹, wie Sie es nennen.« Er goß den Rest seines Kaffees, der längst kalt geworden war, in einen Eimer, der unter dem Automaten bereit stand. Dann warf er den Becher in den Abfallbehälter. »Ich experimentiere mit Ratten – und das ist manchmal eine sehr undelikate und in jeder Hinsicht problematische Sache… Die Ehrfurcht vor dem Leben, auch vor dem jeglicher Kreatur – und so weiter…« Er machte eine Pause, dann trat er dicht vor Kevington hin und sah ihm provozierend ins Gesicht.
»Verzeihen Sie, aber haben Sie Ehrfurcht vor dem Menschen, vor seiner Persönlichkeit – auch seiner Zerbrechlichkeit?« Kevington antwortete nicht. »Sie wirken auf mich wie besessen«, fuhr de Groot fort. »Besessen von einer Idee. Sie wollen es wissen! Sie wollen etwas erzwingen! Der Mensch, den Sie testen, ist nur noch ein Objekt Ihrer Forschung. So wirkt das auf mich – auch auf die anderen Kollegen hier im Haus. Wir sind solche Methoden hier nicht gewohnt.« Er wandte sich zum Gehen, aber dann zögerte er noch einmal: »Lassen Sie sich nicht täuschen, wenn alle hier mitspielen. Von Ihrer Idee, das sagte ich schon, und von Ihrer Methode geht eine gewisse Faszination aus. Das ist das Gefährliche daran.« Kevington saß immer noch auf dem Stuhl, zuckte die Schultern und lachte still vor sich hin. »Ich finde das nicht so komisch wie Sie«, sagte de Groot zum Abschied. »Zumindest habe ich den Eindruck, ich gehe mit meinen Ratten etwas ›humaner‹ um – als Sie mit diesem Mädchen… Ja, ich habe zu tun…« Damit verschwand er um die Ecke. Kevington hörte noch seine Schritte auf dem Steinboden, sie hallten durch das kahle Gewölbe, dann schlug eine Tür. Kevington saß noch lange auf dem Platz am Kaffeeautomaten, vor dem toten Auge des abgeschalteten Fernsehgeräts.
21 Die Sonne brannte gegen die Scheiben und gegen die schwarze Pappe, mit der die Fenster vernagelt waren. Kleine Löcher und Risse im Papier strahlten wie grelle Sterne und warfen bunte Kreise auf die getünchte weiße Mauer gegenüber mit ihren Wasserflecken. Die Luft war stickig. Petra atmete schwer. Mit offenen Augen lag sie im Bett und starrte auf die Decke. Die Wasserflecke über dem großen Kronleuchter verschmolzen zu seltsamen Figuren, zu gefährlichen Drachen und Dämonen, die sie unbeweglich anzuglotzen schienen. Der Raum in seinem abgedunkelten Dämmerlicht ängstigte sie. Auch dieses Kabelgewirr, das sie einengte, ihr jede Möglichkeit nahm, sich zu bewegen. Elektroden hatten sich auf ihrer Haut festgesogen, klebten auf Stirn und Lidern, auf Nasenflügeln, Hals und Puls, auf Brust und Armen, meldeten jede Bewegung, jeden Herzschlag nach unten ins PSI-Labor, jedes Zucken des Lides, jeden Atemzug und vielleicht auch jeden ihrer Gedanken. Petra bemühte sich, keine zu haben. Ihre Hände lagen rechts und links am Rand dieses schmalen Bettes, klammerten sich an die dünne Matratze. Sie beobachtete die Lichtpunkte, die unmerklich weiterwanderten, hörte auf das Trippeln der Maus in ihrem Käfig, auf das leise Schnurren des Laufrades. Die Tauben gurrten in den alten Bäumen des Parks, dann kamen sie herbeigeflattert, die Flügel schlugen gegen die Scheiben, Krallen kratzten über das Blech des Fensterbretts.
Sie paarten sich wohl. Denn nach diesem kurzen Flattern und Geschleife und Gegurre stoben sie wieder davon. Irgendwo tickte eine Uhr. Ein altmodischer Wecker, den man ihr hingestellt hatte. Aber sie wagte es nicht, sich nach ihm umzusehen. Sie kannte ihren Auftrag: Sie sollte schlafen. Schlafen auf Befehl. Mitten am Tag in einem stickigen, abgedunkelten Zimmer, während draußen die Frühlingssonne herunterbrannte, die Menschen durch die Wälder liefen, über die Hügel hinter dem Park, das Leben genossen, das überall aufkeimte, die Freiheit, die Wärme… Eine ungeheure Sehnsucht war plötzlich in ihr, schmerzte richtig beim Atemholen, lief wie ein heißes Frösteln über ihre Haut. Nicht hindenken, nicht hinfühlen, sagte sie sich. Aber diese Hitze überfiel sie immer wieder von neuem, breitete sich aus, zog sich zusammen in einen einzigen Punkt. Sie wollte aufstöhnen, wollte beide Hände gleichzeitig in ihren Schoß versenken, diesen Schmerz lindern, nicht mehr einsam sein. Aber sie bewegte sich nicht, spielte weiter die Schlafende, während ihr Herz bis zum Hals pochte und zu rasen schien. Sie wissen alles, dachte sie, sehen alles, registrieren alles. Aber plötzlich war ihr gleich, was sie dachten und registrierten und sahen. Sie bäumte sich auf, stemmte die nackten Füße gegen das kalte Metall dieses Bettes, krallte die Zehen um das glatte Rohr, das das Fußende begrenzte. Immer weiter schoben sich die Füße auseinander. Sie hörte ihren Atem, unregelmäßig und hektisch, hörte ihr Aufstöhnen, als die Schauer sie wieder überfielen, dieses Beben. Die grellen Sterne waren erloschen. Sie fiel in eine dunkle, tiefe Nacht, fiel und fiel, während die Wellen über ihr zusammenschlugen, in denen sie versank, ohne sich zu wehren. Dieser seltsame Schmerz ließ nach, dieses Verbrennen und Pulsieren tief in ihrem Schoß. Der Atem beruhigte sich, die Füße glitten ab von dem kalten, glatten Rohr, näherten sich
wieder einander. Die grellen Sterne tauchten wieder auf, verwischte und verschleierte Lichter in der Nacht, wie durch Tränen. Ihr Körper, eben noch steif und gespannt wie ein Bogen, wurde weich, fiel mit einem letzten Beben schlaff zurück in die Kissen. Nur ihre Hände lagen immer noch rechts und links verstrickt in dieses Kabelgewirr und klammerten sich verkrampft und reglos an den Rand dieser schmalen Matratze. Sie hatte sie die ganze Zeit nicht bewegt. Drei Stockwerke tiefer starrte Büdel verwirrt auf eine Flut seltsamer Kurven, die der Polygraph auf den endlosen Papierstreifen geschrieben hatte. »Schläft sie endlich?« fragte Kevington und ließ die Zeitung sinken. »Sieht nicht so aus!« Büdel suchte nach dem Beginn dieser so merkwürdig schwingenden Linien. Palm war zu ihm getreten, betrachtete die Gehirnstromkurven, schließlich legte auch Kevington seine Zeitung beiseite und stand auf. Drei studierten Männern war es nicht gegeben, Sehnsucht und Erregung eines jungen Mädchens zu deuten, das eingesperrt in einem abgedunkelten Raum, alleingelassen mit sich und seinen Gefühlen, zu einem Objekt der bloßen Betrachtung geworden war. »Ich habe ihr ein leichtes Schlafmittel gegeben«, gestand Kevington, »aber es scheint nicht zu wirken.« »Warten wir es ab«, sagte Palm und setzte sich wieder. »Wir haben ja Zeit.« Kevington griff wieder zu seiner Zeitung und markierte interessante Passagen einer Publikation. Büdel untersuchte
Schaltkreise und justierte die Eingangsspannung des Signal Verstärkers. Allen dreien entging, daß innerhalb weniger Sekunden jede einzelne dieser zahllosen Kurven heftig ausschlug, um dann auf Null zusammenzubrechen. Eine schlanke nackte Gestalt tastete im Dämmerlicht dieser künstlichen Nacht nach ihren Kleidern, schlüpfte schließlich hinaus in das schmerzhaft grelle Licht des Treppenhauses. Petra preßte eine Schachtel an sich, in die zahlreiche Löcher gebohrt waren. Ängstliche, scheue Blicke. Ein erschrecktes Lauschen in die stumpfe Stille dieses alten Gebäudes. Dann schlich sie die abgetretenen Steinstufen hinunter bis zur Halle. Das alte Tor knarrte in seinen Angeln. Warme Luft strömte herein und Blütenduft, sog das Mädchen direkt hinaus in den Tag. Sie rannte über den Hof, verschwand im Gebüsch zwischen Pavillon und Remise. Und Jeroen de Groot stand am Fenster seines Labors und blickte ihr nach.
22 Der Polygraph zog gerade Linien über das Papier. Die kleinen bunten Lämpchen mit ihrem nervösen Flackerlicht waren tot. Büdel kontrollierte die Eingangsspannung, untersuchte die Kabelverbindungen und Kontakte – dann rannte er nach oben. Palm und Kevington folgten ihm, nahmen immer zwei Stufen auf einmal, holten Büdel schließlich vor Petras Zimmer ein. Gemeinsam tasteten sie sich in die Dunkelheit, versuchten möglichst geräuschlos einzutreten, da schaltete Palm die spärliche Deckenbeleuchtung ein… Die drei Männer waren ratlos. Auf die Idee, daß sich das Versuchsobjekt der weiteren Untersuchung und Betrachtung entziehen könnte, kamen sie nicht. »Die Elektroden – einfach heruntergerissen…!« Büdel sammelte die Kabelenden ein, versuchte das Chaos der Leitungen zu entwirren. »Ich verstehe es nicht, wo ist sie?« fragte Kevington. »Fort!« sagte Palm, trat zu einem der Fenster, fetzte die schwarze Pappe herunter und riß es auf. Licht flutete in den Raum, Sonne, die Stimmen der Vögel aus dem Park. Palm schien plötzlich eine Ahnung zu haben, was vorgefallen sein könnte, beugte sich weit aus dem Fenster und rief: »Petra…! Petra…!« Er erkannte, daß es sinnlos war, und wandte sich, ohne auf Antwort zu warten, vom Fenster ab und in den Raum. »Wann haben Sie bemerkt…?« Er blickte auf Büdel, ohne seine Frage zu beenden.
Der zuckte nur die Schultern. »Weit kann sie noch nicht sein.« Dann warf er die verknäulten Kabel auf das Bett zurück und lief wieder hinaus, stürmte die Treppe hinunter und verschwand im PSI-Labor des Kellers. Palm und Kevington fanden ihn zwischen den endlosen Papierstreifen des Polygraphen. Er hatte gerade den entscheidenden Punkt gefunden, an dem alle Kurven, eine nach der anderen, nach einem letzten, heftigen Ausschlag zusammenbrachen. Büdel verglich die aufgedruckten Zeiteinheiten mit seiner Uhr. »Fünfundzwanzig Minuten«, sagte er und warf die Papierstreifen auf den Boden. »Wir werden sie suchen…« Palm verließ den Raum und ging nach oben. Ratlos stand er im Hof, als Sibilla zu ihm trat. Sie liefen beide zur Hofeinfahrt. Die lange Allee, die einzige Zufahrt zum Palais, war von dort bis an ihr Ende zu überblicken. »Sie ist längst weiter«, sagte Palm. Kevington und Büdel hatten die nächste Umgebung mit einem Fernglas abgesucht, aus der oberen Dachluke neben der Turmuhr. Ohne Erfolg. Dann waren sie losgefahren, zu viert in Büdels VW, hatten alle Landstraßen abgefahren, die Forstwege, bis zu fünf Kilometer im Umkreis vom Palais. »Wo sollen wir jetzt noch suchen?« fragte Sibilla, als sie vor der Remise wieder hielten. »Das wissen wir nicht – ohne PSI!« Büdel lachte, als er ausstieg. Jeroen de Groot stand am offenen Fenster seines Labors und blickte interessiert herunter. Keiner fragte ihn, ob er das Mädchen gesehen habe. Aber auch dann wäre es nicht sicher
gewesen, daß er Auskunft gegeben hätte. Denn als Kevington rief: »Vielleicht hat sie sich im Palais versteckt…« und die ratlose Gruppe der Kollegen diese neue Spur sofort verfolgte, hielt er sie nicht zurück. Die Sonne stand tief, blendete Petra zwischen den hohen, kahlen Stämmen hindurch. Ein flackerndes Spiel von Licht und Schatten. Der Wald nahm kein Ende. Er zog sich über sanfte Hügel hin, über scharf eingeschnittene Täler. Petra hastete steile Abhänge hinauf, drängte sich durch Unterholz, das ihr Gesicht und Arme verschrammte, rannte über sumpfige Lichtungen, kreuzte einsame Wege, aber sie behielt unbeirrt ihre Richtung bei. Sie lief in die Sonne. Die fiel durch kahle Kronen, die gerade die ersten Knospen aufgesetzt hatten, durch dichte Tannenwipfel, fiel in die breiten Schneisen, durch die sich Überlandleitungen auf ihren Gittermasten zogen. Petra lief wie in Trance. Eine Marathonläuferin in der letzten Etappe. Sie keuchte nicht mehr, atmete nur hastig und tief mit offenem Mund und ausgetrockneter Kehle. Der Schmerz in der Brust hatte nachgelassen. Die Füße suchten ihren Weg allein, bergauf, bergab, immer im gleichen Rhythmus, im gleichen Tempo. Instinktiv wich sie den Wurzeln aus, den Ästen, umging morastige Löcher und die verstreuten Felsblöcke, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Da nahm das Flackerlicht zu, der Wald wurde lichter, war mit einem Mal zu Ende. Der Abhang, der sich plötzlich vor ihr auftat, war steil und ausgewaschen. Sie rutschte zwischen Geröll und Sand, griff in Zweige und Wurzeln, kam wieder auf die Beine, stürzte in dorniges Gestrüpp und in aufgeschütteten Unrat. Dann kroch sie weiter durch das Gebüsch und stand
schließlich vor einem hohen Damm, der das Tal endgültig zu begrenzen schien. Sie preßte die durchlöcherte Schachtel fester an ihre Brust und kletterte die Böschung hinauf. Dann stand sie unvermittelt auf dem Schienenstrang der Eisenbahn. Atemlos. Ihre Knie zitterten. Als sie stehen blieb, fing ihr ganzer Körper an zu beben. Sie sah sich nicht um. Keiner verfolgte sie mehr nach über einer Stunde Gewaltlauf durch diesen Wald. Sich hinsetzen, hinlegen. Wieder zu Atem kommen. Speiübel wurde ihr mit einem Mal vor Erschöpfung und Angst. Sie wußte nicht mehr, wohin. Also taumelte sie den Schienenstrang entlang, stolperte über die alten Schwellen, neben denen Gras und dürres Unkraut aus dem Schotter wuchsen. Sie hörte das Geräusch viel zu spät. Erst als der warnende Pfiff über das Tal gellte, sprang sie zur Seite auf das Nebengleis. Die Diesellok donnerte vorüber, hatte zahllose Güterwagen im Schlepp, das nahm kein Ende. Aufspringen und mitfahren, irgendwohin. Es war sicher kein Problem, der Zug fuhr nicht zu schnell, und es waren immer wieder Trittbretter, die zu Bremserhäuschen führten. Aber Petra war zu ausgepumpt, hatte keine Kraft mehr, hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Als der Zug endlich vorüber war, sah sie auch das Bahnwärterhaus. Es war keine hundert Meter mehr entfernt. Ein Mann mit Dienstmütze drehte gerade die Schranken wieder hoch, blieb auf der schmalen Landstraße stehen, die den Schienenstrang hier kreuzte, und schien auf sie zu warten. »Müssen Sie auf den Schienen laufen?« rief er Petra entgegen. Sie antwortete nicht, ging langsam Schritt um Schritt, Schwelle um Schwelle auf ihn zu.
Es war kein alter Mann, wie sie vermutet hatte, er schien auch nicht ärgerlich, eher besorgt. Und vielleicht weniger um sie als um den Ärger, den ein Unfall auf seinem Streckenabschnitt mit sich bringen konnte. »Kann ich bei Ihnen telefonieren?« fragte Petra schließlich, als sie vor ihm stand. »Ist was passiert?« wollte er wissen. Sie schüttelte den Kopf, aber es wirkte nicht sehr überzeugend. »Kommen Sie mit!« Er ging voraus ins Haus. Ein schaler Geruch schlug ihr entgegen. Der schmale Gang hing voller Mäntel und Jacken. In der Wohnküche saß eine Frau mit drei Kindern. Zwischen Schulbüchern und Heften standen große Kaffeetassen auf der geblümten Plastikdecke. Eines der Kinder strich Marmelade auf die Brote. Alle starrten sie Petra an, die in der Tür stehen geblieben war. »Dort drüben…« Der Bahnwärter hatte seine Mütze an den Haken gehängt und zeigte auf das Telefon. »Eigentlich ist das nicht gestattet. Dienstapparat. Welche Nummer?« Petra schrieb sie ihm auf einen Zettel. »In Frankfurt?« fragte er. Sie nickte nur, sah sich um. Die Kinder starrten sie immer noch an, während sie mit vollen Backen kauten. Der Mann wählte bedächtig die Nummer, dann reichte er den Hörer an Petra. Schließlich meldete sich der Besitzer der Reparaturwerkstatt. »Unfallinstandsetzung.« Er war ziemlich kurz angebunden. »Keiner mehr da. Feierabend!« rief er ins Telefon. »Rufen Sie morgen früh wieder an…« Damit legte er auf. Petra stand noch lange Sekunden mit dem Hörer am Ohr und schien nachzudenken. Dann legte sie auf und ging wortlos wieder aus dem Raum.
»Wo wollen Sie denn hin?« Der Bahnwärter war ihr bis zur Tür gefolgt. Petra blieb stehen, sah ihn merkwürdig abwesend an. »Ich werde abgeholt…«, sagte sie schließlich und ging weiter. »Wann denn? Und wo? Hier?« Der Bahnwärter folgte ihr immer noch. Er ging durch den kleinen Vorgarten mit den bunten Glaskugeln auf den Stangen. Aus den liebevoll gepflegten Beeten sproß das erste Grün. »Sie haben doch niemand erreicht…!« Er hatte wohl mitgehört und machte sich nun ernsthaft Sorgen. Ein Mädchen, das so fertig war, nichts bei sich hatte außer einem alten Karton mit Löchern drin, mit diesen nervösen und verschatteten Augen, das auf den Schienen lief, um ein Haar unter einen Güterzug geraten war- das alles irritierte den Mann. »Soll ich Sie irgendwohin bringen?« fragte er. »Ich habe einen Wagen…« Aber sie lief, ohne sich umzusehen, zu der schmalen Landstraße, zu dem Bahnübergang. Dort blieb sie stehen, sah sich um. Der Bahnwärter stand immer noch abwartend vor seinem Haus. »Also, was jetzt?« rief er herüber. Hinter den kleinen Scheiben drückten sich die Kinder die Nasen platt. In der offenen Tür erschien die Frau und band sich die Schürze ab. »Es kommt gleich jemand. Danke«, rief Petra nach einer Weile zurück. Und als sie den ungläubigen Ausdruck des Bahnwärters bemerkte, fügte sie hinzu: »Ich weiß das. Er wird gleich hier sein, bestimmt.« Zwei Minuten später sah sie den Wagen kommen. Die Lichter waren in der Dämmerung aufgetaucht. Rasch kam er näher.
»Danke. Und auf Wiedersehen!« rief Petra dem Bahnwärter zu, dann stellte sie sich in die Straßenmitte und stoppte den Wagen. Es war ein alter Peugeot, der neben ihr hielt. Der Fahrer drehte das Fenster herunter. »Hallo, so ein Zufall!« Es war Schröder, der Journalist der »Abendpost«. Petra sagte nichts. Sie war zu erstaunt. Zum ersten Mal hatte sie begriffen, daß in ihr etwas funktionierte, das sie nicht verstand. Sie hatte geahnt, daß jemand kommen würde. Es war eine Art Gewißheit. Aber daß es Schröder sein würde, darauf wäre sie nicht gekommen. »Sie sind das?« sagte sie nur und sah den Mann ungläubig an. »Ja, steigen Sie ein, los!« Er öffnete die Tür zum Beifahrersitz. Es blieb ihr offenbar keine Wahl. »Lange nicht gesehen«, sagte er, als sie losfuhren. »Was machen die Experimente?« »Wieso haben Sie mich gefunden?« fragte Petra. »Sechster Sinn, Radar. Vielleicht haben Sie mich herbestellt, telepathisch…« Schröder lachte. »Was ist denn da drin?« Er zeigte auf den alten Karton. »Ein Vieh?« Petra nickte. »Also – wo fahren wir beide denn hin?« Schröder sah Petra an. »Ins Palais? Bin gerade auf dem Weg dorthin.« »Ich denke, Sie haben mich gesucht. Sind ausgeschickt worden, um mich zurückzubringen…« »Keine Rede davon. Ich habe nur zwei Wochen nichts mehr gehört.« Er hatte Musik eingeschaltet und trommelte im Takt gegen das Lenkrad. »Meine Story ist bereits verkauft. Es wird Zeit, daß ich sie zu Ende bringe…« Sie fuhren wieder durch den unendlichen Wald. Aber es war Nacht geworden. Die schmale Straße schlängelte sich wie ein Wurm über Berge und durch schmale Täler. Die Scheinwerfer erleuchteten immer nur ein kurzes Stück.
»Na, erzählen Sie schon: Was gibt es Neues von PSI?« Schröder wirkte aufgekratzt und heiter und voller Neugier. »Es gibt nichts«, antwortete Petra. »Es gibt nichts Neues.« Sie wandte sich ab und schwieg.
23 Wie Augen waren die Objektive von zwei Fernsehkameras auf Petra gerichtet, verfolgten jede Bewegung. Die eine erfaßte das schmale Bett mit seinen Kabelsträngen und Elektroden, in die das Mädchen eingesponnen schien, die andere zeigte groß das Gesicht. Die Augen waren geschlossen – sie schien zu schlafen. »Sie schläft wirklich!« Kevington kontrollierte die Kurven des EEG. »Sehr tief und ohne Medikamente.« Schröder beugte sich über den Polygraphen. Kleine, ruhige, ausgeglichene Schwingungen zeichneten sich auf das Papier. »Da, jetzt wacht sie auf…« Schröder zeigte auf einen sehr heftigen Ausschlag einer Linie, der sich mehrfach wiederholte. »Nein.« Palm griff nach dem Papierstreifen. »Bewegung der Augenlider«, erklärte er. »Das Ende einer Tiefschlafphase. Sie beginnt zu träumen.« Kevington warf ebenfalls einen Blick auf die zackigen Kurven, dann trat er aufgeregt vor den Fernsehmonitor und betrachtete Petras Gesicht. »Träume«, fuhr Palm fort, »stellen sich regelmäßig ein, vierbis fünfmal pro Nacht. Sie kündigen sich durch rasche Bewegung der Augen an – daher wird dieser Teil des Schlafes auch ›REM-Phase‹ genannt, ›Rapid Eye Movements‹. Es scheint, als würden die Blicke des Schläfers seinen Traumbildern folgen.« Kevington schaltete einen Oszillographen zu. Auf der kleinen runden Mattscheibe zitterte nun ein heller Leuchtpunkt und beschrieb eine unregelmäßige, zackige Kurve: die Bewegung der Augenlider.
»So – es geht los!« Kevington wandte sich an die Anwesenden, die sich im Keller des Palais, im PSI-Labor, zu einem mitternächtlichen Experiment versammelt hatten. »Bitte Ruhe. Bitte nehmen Sie Platz.« Einige Stuhlreihen waren vor einer Leinwand aufgestellt, die eine ganze Wand ausfüllte. »Wir haben jetzt etwa zwölf Minuten Zeit«, erklärte Kevington weiter, als Schröder und Palm, Yvonne und Sibilla auf den Stühlen Platz nahmen. »So lange etwa wird sie träumen.« Neben der Leinwand war Petras Gesicht zu sehen, bildfüllend auf einem Fernsehschirm. Die schwachen Bewegungen der Augenlider waren nicht zu bemerken. Sie schien ruhig zu atmen, lag trotz der zahllosen Elektroden, die an ihr klebten, entspannt und gelöst auf ihren Kissen. »Wenn die Traumphase vorüber ist«, erklärte Kevington weiter, »werden wir sie aufwecken und fragen, was sie geträumt hat.« Er trat zu einem bereitstehenden Filmprojektor. »Wir werden jetzt gemeinsam versuchen, ihren Traum zu beeinflussen. Ich habe hier einen Schmalfilm, den ein Freund auf einer seiner zahlreichen Reisen aufgenommen hat. Niemand von uns hier kennt diese Bilder, auch ich nicht. Wir werden jetzt diesen Film betrachten und gleichzeitig versuchen, die Bilder auf Petra zu übertragen. Bitte, nehmen Sie jetzt alles, was Sie sehen, in sich auf und konzentrieren Sie sich auf Petra…« Er schaltete den Projektor ein und befahl: »Licht aus, bitte!« Yvonne löschte die Lampe am Arbeitstisch, die einzige Beleuchtung des Raumes – da erschien grotesk und furchterregend das Gesicht eines Dämons auf der Leinwand, eines thailändischen Yaks mit runden Kugelaugen und zwei langen Kampfzähnen, die aus dem geöffneten Maul ragten. Den Kopf krönte ein pagodenförmiger Hut.
Diese überlebensgroße, leicht geschwärzte Skulptur aus Kalkstein stand offensichtlich neben dem Eingang zu einem Tempel. Erst als das Bild sich öffnete, war der Maßstab gegeben, die Riesenhaftigkeit dieser bizarren Figur zu erkennen. Eine Gruppe kahlgeschorener Mönche, in ihre safrangelben Gewänder gehüllt, stand auf der Treppe und blickte ernst und feierlich in die Kamera. Es waren Männer in den besten Jahren, aber auch Greise darunter und Kinder. Ein kleiner Mönch, ein Junge von etwa zehn Jahren, stand ein wenig abseits. Er hob plötzlich die Hand – wie zu einem Gruß. Aber dann fiel ihm wohl ein, daß dies für einen Mönch unschicklich sei. Er ließ die Hand wieder sinken und blickte ängstlich zu einem der alten Mönche. Aber der hatte offenbar nichts bemerkt. Da schwenkte die Kamera wieder zurück auf den Yak, und die Menschen zu seinen Füßen erschienen wie Zwerge. Dann wechselte die Szenerie. An der Wand eines langen, dämmrigen Ganges saßen auf Podesten goldglänzende Buddhastatuen. Es war eine unabsehbare Reihe, die sich irgendwo in der Dunkelheit des Raumes verlor. Die Figuren waren absolut identisch. Die gleiche Haltung, aufrecht mit gekreuzten Beinen, die gleiche Geste, eine Hand zur Erde geneigt, die andere flach nach oben geöffnet. Das Gesicht ernst und voller Würde, die Augen halb geöffnet. Eine Kappe bedeckte das Haupt, lief auf dem Scheitel zu einem flammenden Symbol aus. Und der kleine Mönch mit seinem Kindergesicht lief von Statue zu Statue und erklärte – unhörbar – Unterschiede und Herkunft. Auch im nächsten Bild war er zu sehen. Er saß mit seinen Brüdern auf einem langen Sims. Die Hände gefaltet. Offenbar sangen oder beteten sie. Ein weißer Faden lief von Hand zu
Hand, verband sie alle sichtbar zu einer Einheit. Hinter ihnen waren Schirme oder Fächer gegen die Wand gelegt. Das runde Geflecht zeigte Symbole, Sonnenräder und Sterne, Dämonen und Sprüche in einer fremden, krausen Schrift. Und dann wandelten sie durch eine Ruinenlandschaft. Blühende Büsche überwucherten die Reste einer gigantischen Tempelanlage. Die Türme waren noch zu erkennen, die gedrechselten Stupas, die Sockel irgendwelcher Statuen, die verschwunden waren. Alles andere war in Trümmer gesunken. Auf einem schmalen Pfad, der sich durch die Ruinen schlängelte, wanderten die Mönche in ihren leuchtenden Gewändern, einer hinter dem anderen. Voller Ruhe und Gelassenheit strebten sie einem fernen Ziel zu, einem noch intakten neuen Tempel, dessen Giebel und farbige Majolikaziegel über die tief grüne tropische Vegetation ragten, die alles überwuchert hatte. Der kleine Mönch ging am Ende der Reihe und sah sich um. Er blieb kurz stehen und blickte ernst in die Linse der Kamera dieses neugierigen Touristen, der ihn immerzu filmte. Die Linse holte das Kindergesicht mit seinen ernsten, ausdrucksvollen Augen heran. Und dann schlug er die Glocke. Er war eine steile Treppe zu dem freistehenden Glockenturm hinaufgeklettert, hatte den bereitliegenden Holzknüppel ergriffen und dann dreimal gegen die riesige, schwere Bronzeglocke geschlagen. Unhörbar – denn der Film hatte ja keinen Ton. Und trotzdem war Petra – sichtbar für jeden auf dem Fernsehmonitor, der neben der Leinwand montiert war – deutlich zusammengezuckt. Sie konnte den Film ja weder sehen noch hören, lag drei Stockwerke höher schlafend im Bett – und zuckte zusammen, als eine Glocke geschlagen wurde,
die vielleicht bereits vor Wochen oder Monaten geschlagen worden war. Kevington war irritiert. Er blickte zu Sibilla, die seine Gedanken zu erraten schien. Aber sie widersprach ihm bereits, bevor er fragen konnte. »Das war ein Zufall«, sagte sie. »Das hat sicher nichts zu bedeuten.« Aber dann begann Petra offenbar zu sprechen. Auf dem Kontrollmonitor der Fernsehkamera war das deutlich zu sehen. »Mikrophon einschalten«, rief Palm. »Schalten Sie das Mikrophon ein.« Büdel sprang auf. Aus dem Lautsprecher kam nur das hastige Atmen von Petra. Sie schwieg bereits wieder. Palm kontrollierte die Aufzeichnungen des Polygraphen, die Leuchtkurve auf dem Oszillographen. »Atemfrequenz steigt an, Hautfeuchtigkeit. Sie ist irgendwie erregt«, erklärte er. Kevington spulte den kleinen Film zurück. »Noch mal!« rief er. »Bitte Ruhe – und Konzentration.« Wieder blickte der furchterregende Yak auf die Zuschauer, winkte der kleine Mönch, erklärte er die zahllosen Buddhastatuen, betete, wanderte durch die Ruinen, schlug schließlich die Glocke. Diesmal schien Petra wach zu werden. Sie versuchte sich aufzurichten, murmelte leise etwas vor sich hin. Fiel zurück in die Kissen, sprach mit geschlossenen Augen weiter. Büdel drehte den Lautsprecher auf, bis das Rauschen unerträglich wurde. Aber deutlich und klar kamen Petras Worte nun an: »Sisya… sisya… sisya…« Sibilla blickte zu Kevington, der sich vorgebeugt hatte. »Was sagt sie?« fragte Schröder und sah sich um. »Ruhe!« rief Kevington und hob die Hand. Den Projektor hatte er ausgeschaltet. Kein Geräusch störte mehr.
»Sisya… sisya…« Petra warf den Kopf hin und her. »Pulsfrequenz steigt weiter an«, flüsterte Palm. »Sie wacht von selbst auf…« Aber Petra war wie in Trance. Sie begann zu keuchen. Ihre Stimme wurde lauter, undeutlicher. Das Flüstern wurde zum Stammeln. Sie stöhnte, dann griff sie in die Luft und schrie. »Wecken Sie sie auf, los!« zischte Palm. Aber Kevington zögerte. Da griff Palm selbst nach dem Wechselsprechgerät, das auf dem Tisch bereit stand. »Petra!« rief er in das Mikrophon. »Petra… wachen Sie auf!« Aber sie reagierte nicht. »Petra… Petra… Sie träumen. Wachen Sie auf. Petra… Hier ist Palm. Hören Sie mich?« Sie kämpfte mit den Elektroden und Kabelenden, verwickelte sich in den bunten Schnüren, riß Steckerverbindungen auseinander. Aber sie öffnete nicht die Augen, schien Palms Stimme nicht zu hören. »Petra… Wir sehen Sie auf dem Fernsehbild. Wachen Sie auf. Petra…!« Palm war instinktiv näher an das Fernsehbild getreten. Petra richtete sich auf. Sie begann zu schreien. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Sie riß sich die letzten Elektroden vom Kopf, vom Gesicht. »Sie träumen, Petra… Wachen Sie auf. Hier ist Palm. Petra… Beruhigen Sie sich…« Palm schrie in die Gegensprechanlage, vervielfältigt kam seine Stimme über Petras Mikrophon zurück. Sie mußte ihn hören. Aber sie beruhigte sich nicht, schien sich immer mehr in diesen Traum, in diese Trance zu verstricken. Und plötzlich waren ihre Worte, ihr geschrienes Stammeln zu verstehen: »… nicht fort… will nicht fort… nicht fort… nein!«
Da sprang Sibilla als erste auf, rannte aus dem Raum. Palm folgte ihr, schließlich Kevington, der immer noch fasziniert vor dem Monitor stand und unfähig – oder unwillig – war, einzugreifen und das Schauspiel zu beenden. Sibilla war in Petras Zimmer gestürzt, hatte das Mädchen, das völlig aufgelöst und hysterisch schreiend aufrecht im Bett saß, in den Arm genommen, hatte ihr die letzten Saugelektroden von der schweißnassen kalten Haut gerissen und beruhigend auf sie eingeredet. »Es ist alles in Ordnung, Petra. Ich bin da. Es war nur ein Traum…« Da traten Palm und Kevington dazu. »Petra, hören Sie mich…!« Kevington beugte sich über Sibillas Schulter und fuhr Petra über die verwirrten Haare. »Wachen Sie auf. Werden Sie wach… Was haben Sie geträumt? Petra…« Er versuchte das Gesicht des Mädchens in seine Richtung zu drehen. »Was haben Sie geträumt?« Eindringlich, suggestiv versuchte Kevington Petra in die Realität zurückzuholen. Aber was war hier Realität? »Petra… Petra… wachen Sie auf. Was haben Sie geträumt…?« Da schob Sibilla Kevington energisch zur Seite. »Lassen Sie das Mädchen endlich in Ruhe! Gehen Sie weg. Es ist genug!« Sie nahm Petra wieder zärtlich in den Arm, streichelte ihr über das Haar, über die Haut, sprach leise auf sie ein: »Es ist alles gut, Petra. Alles ist gut…« Und nun kam Petra zu sich, langsam, tauchte auf von irgendwoher, erkannte den Raum, die Menschen, Sibilla. Sie ahnte, daß etwas vorgefallen war, daß etwas sie zutiefst bewegt und erschüttert hatte. Sie erkannte es, ohne zu wissen, was es gewesen sein könnte. Sie erkannte die Situation, dieses Ausgeliefertsein: Objekt der Betrachtung, der Untersuchung sein, aufrecht, nackt in einem Bett sitzen, frieren, angestarrt von Menschen, von
Fernsehaugen, untersucht von Apparaten und Instrumenten, verstrickt in ein Knäuel bunter Kabel und Spione… Da begann sie zu zittern, verbarg ihr Gesicht an Sibillas Schulter. Die hörte das verhemmte Schluchzen, spürte den heißen Atem, die Tränen des Mädchens. Die Männer gingen hinaus, einer nach dem anderen. Zuletzt auch Schröder, der Journalist, der als Zaungast seltsamer Ereignisse in der offenen Tür gestanden hatte. Langsam wurde es still in dem Raum. Das Schluchzen verstummte. Und selbst die Maus in ihrem Käfig neben dem Bett verharrte in ihrer Trommel und starrte neugierig heraus.
24 Sie wanderten langsam über den Hof und schwiegen. Sibilla hatte den Arm um Petra gelegt. Die Elstern flatterten auf, verschwanden im Gebüsch, das über Nacht grün geworden war. Oben am Fenster von Kevingtons Zimmer standen drei Männer und blickten hinunter in den Hof. »Abbrechen?« Kevington war entsetzt über den Vorschlag von Palm. »Ich bitte Sie! Wir stehen vermutlich an einer Wende. Eine schöpferische Krise. Das ist alles…« Schröder, der Journalist, ging zurück in den Raum, hockte sich auf einen der Stühle. »Da heißt es immer, wir Reporter wären kalt und brutal, wenn es um Sensationen geht.« Er lachte, bis Palm ihn unterbrach. »Hier geht es um keine Sensationen!« »Um was dann?« fragte Kevington. »Um eine Erfahrung vielleicht«, Palm suchte nach einer Formulierung, »vielleicht auch um neue Erkenntnisse. Aber in erster Linie geht es doch wohl um einen Menschen…« »Der offenbar übermenschliche Fähigkeiten besitzt«, ergänzte Kevington. »Trotzdem…« Palm setzte sich zu Schröder an den Tisch. »Ich finde, das ist kein Grund, der uns erlaubt, fragwürdige Methoden anzuwenden.« »Fragwürdige Methoden?« Kevington wandte sich vom Fenster ab. »Es war ein Experiment, weiter nichts. Es war nicht vorhersehbar, welche Folgen es haben würde. Die Reaktion des Mädchens war in jeder Beziehung überraschend und in jeder Beziehung aufschlußreich für die Existenz von
PSI. Jetzt abzubrechen, aus Sentimentalität und Gefühlsduselei, das wäre Wahnsinn. Ein verschenkter Erfolg. Wissenschaftlich gesehen sträflich und naiv. Mit Güte und gutem Willen allein läßt sich die Natur ihre Geheimnisse nicht entreißen.« Er trat wieder ans Fenster – aber Sibilla und Petra waren verschwunden. Sie stapften durch Laub und Reisig, durchwanderten den Park. Die alten Wege waren zugewachsen, verweht. Die zierlichen Eiben der Rokokozeit waren zu großen Bäumen geworden, die Hecken verwildert, die Statuen, die Brunnen, die Bänke waren verfallen. »Was ist sisya…?« Sibilla blieb stehen und sah Petra an. »Sisya… sisya…«, wiederholte Sibilla. Aber Petra sah sie nur verständnislos an. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, als sie weitergingen. »Doch, du weißt es, denk nach!« Sibilla hatte wieder ihren Arm um das Mädchen gelegt. Sie bückten sich, schlüpften unter den tiefhängenden Zweigen hindurch. »Sisya… sisya… Nie gehört?« fragte sie. Aber Petra schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie meinte es ehrlich. »Gut«, sagte Sibilla, »komm mit!« Sie nahm Petra an der Hand, durchquerte rasch die große Lichtung, die in früheren Jahren ein Rondell mit einem Springbrunnen gewesen war. Dann liefen sie den schmalen Weg zurück, der zum Palais führte. Sibilla zog das Mädchen durch die verwilderten Büsche hinüber zum kleinen Holzpavillon. Die Reste des Faradayschen Käfigs, das Metallnetz, hingen noch von der Decke. Auf dem Tisch war der Videorecorder aufgebaut, daneben ein kleiner Monitor. Das Band war schon eingelegt.
Sibilla schaltete das Gerät ein. Schnee wirbelte über die Mattscheibe, beruhigte sich schließlich, die Konturen stabilisierten sich. Petra erschien auf dem Schirm, schlafend, träumend, angeschlossen an ein Dutzend Elektroden. Man hörte ihr Atmen, ungleichmäßig und hastig. Dann schien sie wach zu werden, versuchte sich aufzurichten, murmelte etwas vor sich hin. Das Gesicht glänzte feucht von Schweiß. Die Lippen bewegten sich. Und deutlich kam durch das Rauschen die Stimme von Petra aus dem Lautsprecher: »Sisya… sisya… sisya…« Petra hatte ihr Bild auf dem Fernsehschirm fasziniert angesehen, jetzt schaute sie verblüfft auf Sibilla. »Das bin ich?« fragte sie. »Gestern abend. Oder besser: heute nacht. Ja.« Sibilla fuhr das Band zurück. »Du kannst es noch mal sehen.« Wieder bewegten sich Petras Lippen: »Sisya… sisya… sisya…« »Schalt nicht ab, laß weiter…« Petra zog Sibillas Hand vom Schalter fort und hielt sie fest. Neugierig und erschreckt verfolgte sie nun ihr eigenes, mühsames, schreckliches Erwachen, die Schreie, die Qual. Sie sah Sibilla bei sich auftauchen, die Tröstung, den Rückzug der Männer, hörte ihr eigenes Weinen und Schluchzen. Der Recorder hatte alles aufgezeichnet. »Also«, fragte Sibilla schließlich, »was heißt sisya?« Aber Petra war ratlos. Ihre Erinnerung gab das Geheimnis nicht preis. »Sisya« und die Bilder, die sie zutiefst erschreckt hatten, waren gelöscht.
25 Der furchterregende Dämon beherrschte die Leinwand. Petra saß im flackernden Licht der Filmprojektion, betrachtete die bunten exotischen Bilder interessiert, aber ohne jedes Verständnis. Es war der gleiche Film wie in der vergangenen Nacht: die Yaks, die Mönche, die Statuen, der Weg durch die Tempelruinen, schließlich die Glocke. Und immer dabei: der kleine Mönch mit dem Kindergesicht. Einmal drehte Petra sich zu Sibilla um, die hinter ihr saß. Aber die legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Und?« Kevington hatte sich vorgebeugt und Petra intensiv beobachtet. Sie sah ihn erstaunt an. »Ich soll dazu etwas sagen?« »Ja.« Palm lächelte das Mädchen an, als hätte es nie einen Streit über die Weiterführung des Experiments gegeben. »Sagen Sie uns, was Ihnen zu diesen Bildern hier einfällt«, fuhr er fort. »So fremd…« Petra schien zu staunen. »Wo ist das?« »Bangkok, Thailand«, erklärte Kevington. »Tempel, Ruinen und buddhistische Mönche.« »Waren Sie dort?« wollte Petra wissen. »Nein. Aufnahmen von einem Freund. Der hat sie vor einigen Wochen gemacht. Und Sie?« Er sah Petra wieder kurz und nachdenklich an. »Waren Sie schon dort?« Petra lachte nur. »Ich war überhaupt noch nie verreist.« Sie sah zu Sibilla. Die lächelte zurück. Der Film war zu Ende.
Kevington spulte ihn zurück. »Denken Sie nach, Petra«, sagte er. »Haben Sie diese Bilder von eben schon irgendwann einmal gesehen?« Petra schüttelte den Kopf. »Kam Ihnen irgend etwas bekannt vor?« Sie verneinte, ohne länger nachzudenken. »Fällt Ihnen irgend etwas dazu ein?« Petra zuckte die Schultern. »Gut«, sagte er, »sehen wir uns den Film noch mal an.« Der drohende Yak erschien, die Gruppe der Mönche. »Sagen Sie mir: Lösen diese Bilder hier angenehme oder unangenehme Gedanken oder Empfindungen bei Ihnen aus? Denken Sie nach, beschreiben Sie Ihre Gefühle…« Petra schwieg. Der kleine Mönch winkte verstohlen zur Kamera, dann schaute er weg. Auch Petra senkte den Blick. Ihre Augen wirkten wieder verschattet. Sie war ernst geworden. Der kleine Mönch zeigte auf die Reihe der goldenen Buddhas, saß in der Reihe der Brüder bei Gesang oder Gebet, wanderte als letzter in der Reihe auf dem schmalen Pfad durch das Ruinenfeld der alten Tempelanlage. Dann blieb er stehen. Die Linse der Kamera holte ihn dicht heran, zeigte groß dieses kindliche Gesicht in seinem tiefen Ernst. Petra hob die Augen wieder. Die Blicke begegneten sich. Sie fuhr mit der Hand zum Mund, formte eine Faust, öffnete den Mund, biß sich in die Knöchel der Hand, das Gesicht schmerzhaft verzerrt. Da flammte das Licht im Projektor gleißend auf. Im Gehäuse splitterte Glas. Der Film blieb stehen. Das Bild auf der Leinwand begann zu schmelzen. Der Blick des kleinen Mönchs löste sich in blasige Schwärze, in Qualm und Flamme
auf. Das Licht verlöschte. Und außen am Projektor hingen die angekohlten Reste des Films. Das dauerte nur Sekunden. Keiner sagte ein Wort, keiner schrie auf oder versuchte einzugreifen. Nur Petra öffnete wieder ihre Hand, sah auf das, was geschehen war, voller Entsetzen, voller Überraschung. Sie hatte plötzlich und endgültig begriffen, wozu sie imstande war, sprang auf und lief hinaus.
26 Es war lange nach Mitternacht, als Schröder die Redaktionsräume verließ. Der erste Teil seiner Story war fertig. Zugegeben, es fehlte die richtige Pointe, aber der Test mit dieser Petra ging ja weiter. Er hatte bereits das Okay für eine sechsteilige Serie. Man wartete nur auf den Startschuß. So wie es jetzt aussah, hatte die Geschichte sich gelohnt. »Ist aber spät geworden, Herr Schröder.« Der Pförtner stand neben seinem Glaskasten und studierte den ersten Andruck der neuen Ausgabe. »Ja, kommt hin und wieder mal vor.« Schröder trug sich mit Uhrzeit in das ausliegende Buch ein. »Gute Nacht, Herr Böhm…« Er schulterte seine Kamera. Über den Hof dröhnten die Rotationsmaschinen, spuckten pro Minute tausend komplette Zeitungen aus. Die Lastwagen parkten bereits an der Rampe, um auch im entlegensten Nest des Landes die »Abendpost« pünktlich auszuliefern. Sie erschien sinnigerweise morgens um fünf. »Machst aber spät Feierabend!« rief jemand über die Straße, als Schröder hinüber zum Parkplatz ging. Ein anderer kam ihm aus der Dunkelheit entgegen: »He, du bist doch der von der Zeitung, ja?« »Ja und?« fragte Schröder und kramte seinen Autoschlüssel aus der Tasche. »‘n Abend!« sagte ein Dritter, der hinter Schröders Wagen aufgetaucht war. »Erinnerst du dich noch an mich?« »Nee, warum?« antwortete Schröder, aber er erinnerte sich genau an diese schwarzen Gestalten in ihren hautengen
Ledermonturen, die nun von allen Seiten auf ihn zuschlenderten. »Das ist schlecht«, sagte Paul, der Lackierer, »daß du so vergeßlich bist. Schlecht für einen von der Zeitung…« Er lehnte sich provozierend gegen die Tür von Schröders Wagen. Der Parkplatz war leer, fast leer. Da standen höchstens noch die Wagen der Techniker, die an der Rotationsmaschine tätig waren, und die von der Expedition. Zumindest war Schröder im Augenblick allein – gegen zwölf oder fünfzehn dieser schwarzen Gesellen. »Zeit gewinnen…«, dachte er, blickte von einem zum andern und spielte freudiges Erkennen: »Ihr seid’s, die Millionäre!« Er lachte. »Wie geht’s denn so immer?« Aber die anderen blieben ernst. »Wo ist Petra?« fragte Paul. »Sie wissen doch, wo sie ist!« Er siezte Schröder wieder, und das nahm dieser als übles Zeichen. »Petra?« fragte er zurück. Aber dann fiel es ihm ein: »Ach so, ja. Das Mädchen mit dem sechsten Sinn… Keine Ahnung! Wo soll sie sein?« »Mach doch kein Theater«, sagte Joe und kam drohend näher. Er überragte Schröder um mehr als einen Kopf. »Und lüg uns nichts vor. Du weißt, wo sie ist! Los, Mann, rede!« Er legte Schröder vertrauensvoll die Hand auf die Schulter. Nicht einschüchtern lassen, sagte sich Schröder, wischte die Hand von seiner Schulter und schob Paul von der Tür weg, um sie aufzuschließen. »Macht keine Witze mit mir, Freunde. Ich habe sechzehn Stunden gearbeitet und noch eine ganze Menge vor. Ich hab’s eilig…« »Eilig?« sagte Paul. »Das ist dumm!« Schröder spürte die Blicke in seinem Nacken und drehte sich um. Da standen sie in einem dichten Halbkreis um ihn herum und grinsten ihn an.
»Wirklich dumm«, wiederholte Paul. »Aber vielleicht können wir Ihnen helfen…« »Ja«, sagte Joe und kam wieder drohend näher, »ein Taxi rufen, zum Beispiel. Aber das dauert zu lang. Besser, wir bringen dich hin, wohin du willst, wenn du’s wirklich eilig hast.« »Sagt mal, was soll denn das?« Schröder schien nicht so recht zu verstehen, obwohl es klar war, was sie wollten. »Dort drüben steht unsere Karre«, erklärte Paul. Die Burschen hatten vorgesorgt. Ein uralter amerikanischer Wagen stand bereit. »Wir fahren Sie gerne nach Hause«, fuhr Paul fort, »denn Ihr eigener Wagen fällt ja nun leider fürs erste aus.« Er zeigte auf den platten Reifen, den Schröder bisher übersehen hatte. »Ja, solche Zufälle gibt’s«, fügte Joe hinzu. »Platt auf allen vieren.« Schröder drängte sich durch den Halbkreis, ging um seinen Wagen herum. Joe hatte nicht gelogen. »Pech, was?!« Paul stellte sich Schröder in den Weg. »Jetzt könnten Sie laut schreiend losrennen, vor zur Straße. Funkstreife alarmieren, ADAC-Pannendienst. Oder Sie bitten uns um Hilfe. Wir sind ja Spezialisten. Reifenwechsel ist kein Problem – wenn man genügend Ersatzreifen hat. Oder Sie nehmen unser Angebot an. Wir fahren Sie, wohin Sie wollen. Ich hoffe, Sie wollen dorthin, wo wir Petra finden…« Sie waren sehr höflich. Paul hielt Schröder den Schlag auf und setzte sich dann neben ihn. Einer der Knaben fuhr den alten Ami-Schlitten. Als sie den Parkplatz verließen, donnerten hinter ihnen zehn starke Maschinen der Marken Honda, Kawasaki, Yamaha, BMW und eine Harley-Davidson. In Zweierreihen folgte der Konvoi dem alten Wagen durch die Stadt. Ein Stück Schnellstraße nach Osten. Dann begann die schmale Straße über das Land, durch die Wälder. Es war
eine Fahrt durch ein ausgestorbenes Stück Erde. Nirgends brannte ein Licht. Häuser und Gehöfte lagen irgendwo in der Finsternis. Auch das Bahnwärterhaus schien unbewohnt. Die Schranken am Übergang standen offen, und der Wagen ächzte in allen Fugen, als er über die Schienen hinwegpolterte. Auch gut, sagte sich Schröder, man muß es nehmen, wie es läuft. Vielleicht komme ich so zu einer Pointe, zum letzten Akt meiner Geschichte.
27 »Sie kommen…!« Petra saß aufrecht im Bett, das Gesicht schweißnaß, die Augen weit aufgerissen, und horchte in die Nacht. Sibilla war aufgeschreckt, kam aus tiefstem Schlaf, taumelte hoch und machte Licht. Sie hatte sich ein primitives Feldbett in Petras Zimmer gestellt. Die Ereignisse der letzten Tage und Nächte hatten gezeigt, daß alles, was mit und um Petra geschah, auf einen entscheidenden Punkt zutrieb, einer dramatischen Wende zusteuerte. So hatte sich Sibilla bereit erklärt, die Nachtwache zu übernehmen. Sie war ausgezogen aus dem Zimmer, das sie mit Jeroen teilte, aus dem großen, breiten Eichenbett. Der Streit mit ihm war beigelegt, der Riß gekittet. Die abendlichen Umarmungen waren von einer Leidenschaft und einer Zärtlichkeit wie selten zuvor. Aber dann hatte sie doch einige wenige Dinge zusammengepackt und war hinüber ins Palais gezogen, zu diesem Mädchen, diesem Versuchsobjekt. Und Jeroen hatte ihr noch die große Scheunentür der Remise aufgehalten, weil sie die Arme voll hatte mit dem ganzen unnötigen Kram, der nun in diesem Zimmer hier verstreut lag – und hatte ihr nachgesehen. Sie hatte lange an ihn gedacht, an diese merkwürdige Beziehung zu ihm, die nicht recht leben und vielleicht auch niemals sterben konnte, mit ihren Höhen und Tiefen. Sie hatte das Atmen dieses Mädchens gehört und nicht gewußt, ob sie nun ebenfalls wach lag oder bereits schlief.
Dann war sie durch ihr Labor geschwebt, vorbei an tausend, zehntausend Käfigen. Und die Tiere hatten geschrien, ein einziger, herzzerreißender Jammer. Und Jeroen hockte in einer Ecke auf dem Boden, hielt sich die Ohren zu und rührte sich nicht. Und aus diesem Traum war sie hochgeschreckt. »Sie kommen…!« »Was ist?« Sibilla fuhr sich über die Augen, wunderte sich, daß sie den Lichtschalter gefunden hatte, versuchte sich in dem fremden Raum zu orientieren. »Was ist denn?« »Sie kommen…!« Sibilla schwankte hinüber zu Petras Bett, setzte sich auf den Rand, nahm das Mädchen an der Schulter. »Du träumst, Petra, wach auf!« »Sie kommen…!« »Niemand kommt…« Sie schloß die Arme um das Mädchen, spürte ihr Herz heftig klopfen. Aber Petra erwiderte diese Umarmung nicht. Sie blieb steif und abwesend, lauschte in irgendeine unbestimmte Richtung und rührte sich nicht. »Die Sonne geht auf. Sie kommen…!« Petra flüsterte nur noch. Sibilla sah sich um. Die Uhr zeigte kurz nach vier. »Die Sonne geht nicht auf, noch nicht. Und niemand kommt! Alle schlafen und…« »Aber ich hör’ sie doch!« unterbrach Petra aufgeregt Sibillas Versuch, sie zu beruhigen. »Ich hör’ sie doch kommen….!« Sibilla war irritiert; sie stand auf, ging zum Fenster, öffnete es und lauschte in die Nacht. Ein erstes Zirpen war aus dem Park zu hören, ein erregendes Duett. Goldammern, dachte Sibilla, und Haubenmeisen. Das waren die ersten morgens. Sie war schließlich Biologin. Über dem Horizont hing ein fahler Schein. »Ich höre nichts. Alles ist ruhig.« Sibilla schloß das Fenster und kam zu Petra zurück. »Schlaf wieder, niemand kommt…«
Aber Petra starrte gebannt zur Decke. Sie hatte die Hand wieder zur Faust geballt und gegen den geöffneten Mund gepreßt. »Was ist? Was tust du?« Als Petra nicht antwortete, folgte Sibilla ihrem Blick zur Decke. Der große, altmodische Lüster mit seinen über hundert Glasprismen schwankte leise hin und her. Die Facetten und Prismen stießen zusammen, erzeugten einen feinen Klang, ein fernes exotisches Klingeln, Tempelglöckchen im Wind… Ja, natürlich, der Wind, dachte Sibilla, der Wind war durch das geöffnete Fenster gekommen. Aber dann fiel es ihr ein: Kein Lufthauch hatte sich dort draußen bewegt. Es gab keinen Wind.
28 Als Sibilla wieder erwachte, war das Bett neben ihr leer. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fielen in den Raum, erfüllten ihn mit rotgoldenem Licht und blendeten sie. Das Konzert der Vögel draußen im Park hatte seinen Höhepunkt fast überschritten. Und selbst den geübten Ohren Sibillas fiel es schwer, die einzelnen Droh- und Lockrufe zu identifizieren. Da tönte von irgendwoher, kaum wahrnehmbar, ein seltsamer, melodiöser Singsang. Es schienen fremde, exotische Laute zu sein, mehrstimmiger Gesang. Er kam von weit, weit her und war doch so unmittelbar und nah, daß Sibilla sich aufrichtete und fröstelte. Sie stand auf, schlüpfte in ihren Bademantel, ging zur Tür und kuschte nach draußen. Der Singsang kam aus dem Treppenhaus, hallte durch die Stockwerke, verschwand, verstummte, begann von neuem, steigerte sich, verebbte, ein merkwürdiges Auf und Ab. Sibilla lief barfuß vor zur Treppe, folgte dem Gesang, trat vor an die marmorne Balustrade – da sah sie Petra sitzen: Sie hockte mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der obersten Treppenstufe, aufrecht, die Augen geschlossen, die Arme leicht angewinkelt, die Fingerspitzen berührten sich fast. Ihr Körper schwang im Takt des Gesangs vor und zurück, in diesem fremdartigen Rhythmus, in diesem stereotypen Auf und Ab schwebender Vokale, die sich melodisch wiederholten, ungewohnte Pentatonik, gutturale Laute, die eigentlich nicht von diesem Mädchen stammen konnten. »Petra…!« rief Sibilla, »Petra…!« Aber die reagierte nicht.
Da tauchte Kevington auf der anderen Seite der Balustrade auf, machte abwehrende Gesten, zischte Sibilla zu, deutete ihr energisch an, auf ihrem Platz zu bleiben, das seltsame Schauspiel nicht zu stören. Kevington hatte ein Mikrophon in der Hand, ein Tonbandgerät stand auf dem Boden, er kniete sich wieder hin, reckte den Arm in Richtung Petra und beobachtete weiter. Einzelne Worte waren klar zu verstehen, wiederholten sich ständig, hoben sich ab aus diesem gutturalen Singsang und blieben Sibilla deutlich im Gedächtnis: »Labhey yahám bhanté… tassá bhagavató… pabajjám… upasámbadám…« Dann verschmolzen die Worte wieder zu einem unidentifizierbaren Brei aus Vokalen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen nun in das Treppenhaus. Helles, gelbes Licht flutete über die weißen, fleckigen Wände mit dem abgebröckelten Stuck, brach sich an den Marmorsäulen, an der Balustrade. Schlagartig verstummte der Singsang. Die Gebetsmühle schien stehen geblieben zu sein. Petra saß plötzlich steif und unbeweglich. Sie schien intensiv auf etwas zu lauschen, war voller Erwartung und Gespanntheit. Da drang von fern das Donnern und Röhren von Motorrädern in diese atemlose Stille. Der Lärm kam näher, erreichte den Hof, vervielfachte sich zwischen den Fassaden der Gebäude. Sibilla und Kevington hatten sich aufgerichtet, schauten zu den beiden hohen Fenstern, die zum Hof führten. Sie hörten Rufe. Die Maschinen wurden abgestellt. Ein Motor erstarb nach dem andern. Fäuste trommelten gegen das Portal, Stiefel traten gegen das Tor. Immer wieder erklang ein Schrei, der nicht zu verstehen war. Und dann war Ruhe. Ganz plötzlich, ganz unvermittelt. Der Spuk schien vorbei, kein Ruf mehr, keine Stimme.
Sibilla lief zum Fenster, schaute in den Hof hinunter. Dort standen die schweren Maschinen kreuz und quer um das Rondell der Fontäne, dazwischen ein uralter amerikanischer Wagen. Kein Mensch war zu sehen. Als sie sich umwandte, war Petra aus ihrer Trance erwacht. Sie stand auf, stützte sich gegen die Säule, lehnte sich auf die Balustrade und sah sich verwirrt um. Dann ging sie hinunter, Stufe um Stufe, barfuß und lautlos auf dem kalten Stein. Sie erreichte die Halle, ging zum Portal und entriegelte das Tor. Ihr dünnes Hemdchen flatterte im Morgenwind, der in die Halle hereinwehte. Die Flügel des Portals hatte Petra weit geöffnet, weit und einladend. Aber niemand stand draußen. Es klang wie splitterndes Glas, dann krachte Holz gegen Stein. Der Lärm schwoll gleichzeitig an, Gejohle und Geschrei. Er kam aus der Bibliothek. Sibilla war Petra gefolgt, jetzt blieb sie stehen, auf halber Höhe des Treppenhauses, und sah sich zu Kevington um. Aber auch Polazzo war erschienen. Das Röhren der Maschinen hatte keiner in diesem Hause überhört. Herr Kühn kam mit Hosenträgern über einem Unterhemd aus seiner Wohnung im Keller. Kevington hatte sein Tonbandgerät umgehängt. So versammelten sie sich in der Halle, lauschten verstört auf die Geräusche des Vandalismusses, auf das Siegesgebrüll nach jedem neuen Schlag, nach jedem Poltern und Krachen, die das Zerstörungswerk, das da drinnen in der Bibliothek vor, sich ging, begleiteten. Palm kam die Treppe herunter. Er warf den anderen in der Halle nur einen kurzen Blick zu. Zielstrebig ging er zur Tür – da erschien Petra überraschend hinter ihm und hinderte ihn
daran. Mit somnambuler Gelassenheit öffnete sie die Tür zur Bibliothek – Palm ließ ihr instinktiv den Vortritt. Schlagartig erstarb der Tumult in diesem Raum. Palm und die anderen waren Petra in die Bibliothek gefolgt, standen dicht gedrängt an der Tür und blickten auf die Verwüstung. Die Glastüren, die hinaus zur Terrasse führten, waren ausnahmslos zertrümmert. Hier waren die schwarzen Gestalten, die nun reglos in diesem Chaos standen und auf Petra starrten, eingedrungen. Nicht ohne Erfolg hatten sie versucht, alles kurz und klein zu schlagen, was ihnen in die Hände kam. Stühle und Leselampen waren zerbrochen, der Boden mit Büchern und Zeitschriften übersät, die alten Spiegelsegmente zwischen den Säulen zerschlagen und zerscherbt. »Was wollt ihr hier…?« Petra stand in der Mitte des Raums, barfuß zwischen zersplittertem Glas und zerfetztem Papier, und sah von einem zum andern. »Seid ihr verrückt geworden? Was habt ihr getan? Warum seid ihr hier?« Die Starre der schwarzen Gestalten begann sich zu lösen. »Dich hier rausholen…«, murmelte Paul, der ihr am nächsten stand. Da trat überraschend der Journalist Schröder nach vorn, der bisher unbemerkt in einer Ecke gestanden hatte. Er brachte seine Kamera in Anschlag und begann zu fotografieren: Petra, das Mädchen mit dem sechsten Sinn… im Flatterhemdchen und barfuß inmitten dieser Verwüstung. Petra schloß die Augen. Über ihr Gesicht liefen Tränen der Wut, des Zorns. »Laßt mich doch endlich in Ruhe – alle!« schrie sie. Sie fuhr mit der Hand durch das zerwühlte Haar, ballte sie zur Faust, öffnete den Mund, biß sich in die Knöchel, das Gesicht schmerzhaft verzerrt…
In der obersten Reihe eines Segments zersprang ein noch intakter Spiegel. Einige Teile fielen herunter, zersplitterten auf dem Boden inmitten der ungebetenen Gäste, die erschrocken zur Seite sprangen. Petra öffnete die Augen, blickte nach oben, sah sich in den Resten des Spiegels, verzerrt, wie durch einen grauen Schleier, armselig inmitten dieses Chaos. Da versagten ihre Beine, sie taumelte, knickte weg, fiel gegen die Säule, vor der sie stand. Kevington fing sie auf, ratlos und linkisch zwischen den beiden Gruppen, unrasiert, das Tonband über der Schulter, das nun nach unten rutschte, einen abgetragenen Morgenmantel über einem ausgewaschenen Pyjama, das Mädchen auf dem Arm. Petra vergrub ihren Kopf an seiner Schulter, eine Geste des Vertrauens, aber auch die eines hilflosen Kindes, das Schutz suchte und Geborgenheit, sich versteckte vor all dem, was um sie herum geschah. Ebenso ratlos wie Kevington standen aber auch die anderen inmitten dieser Verwüstung, Sibilla und Palm, Polazzo, Kühn und Büdel – und die schwarzen Gestalten in ihren Ledermonturen. Kevington sah sich um, dann wankte er zur Tür, schleppte das Mädchen hinaus in die Halle, die Treppe hinauf, langsam, Stufe um Stufe, bis zum zweiten Absatz der Galerie. Sibilla war ihm gefolgt, aber auch die anderen verließen den zertrümmerten Raum, blieben unten in der Halle stehen, sahen Kevington und dem Mädchen nach und ließen Paul, Joe und ihre Freunde allein zurück. Ohne Befehl, ohne Absprache und Signal verließ einer nach dem anderen von ihnen das Trümmerfeld und verschwand durch die zerschlagenen Türen nach draußen. Als Kevington mit dem Mädchen und Sibilla das Zimmer Petras im zweiten Stock erreichte, drang vom Hof das
Aufheulen der schweren Maschinen herein, das dumpfe Röhren, das sich langsam entfernte und schließlich erstarb. Sibilla schloß die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Sie sah, wie Kevington versuchte, das Mädchen auf das Bett zu legen. Aber Petra löste die Umarmung nicht. Sie klammerte sich weiter fest an seinen Nacken, hing an ihm voller Angst und flüsterte: »Geh nicht weg! Bitte, bleib bei mir!« Behutsam versuchte Kevington die Umklammerung zu lösen. Hilfesuchend sah er sich zu Sibilla um – aber die blieb auf ihrem Platz an der Tür und rührte sich nicht. Da löste sich Petras Griff, sie ließ sich fallen, wandte sich ab, vergrub das Gesicht in ihrem Kissen und begann zu schluchzen. Kevington richtete sich auf, ratlos wie bisher, unentschlossen. Er zögerte, dann nahm er das Tonbandgerät hoch, das zu Boden gerutscht war, setzte sich auf die Kante des Bettes und schaltete ein. Nach kurzem Rücklauf tönte der seltsame Singsang durch den Raum. Fremdartiger Rhythmus, stereotypes Auf und Ab, schwebende Vokale. »Labhey yahám bhanté – tassá bhagavató – dhammá vinayé pabbajjám – labheyyám upasámpadám…« Es kam klar und deutlich vom Band, verständlicher als in dem halligen Treppenhaus mit seiner Echoakustik. »Tatiyampahám bhanté – suciráparinibbutampi – tam bhagavantám…« Petras Gesicht war aus dem Kissen aufgetaucht, erstaunt, neugierig. Sie blickte auf Kevington, auf das Gerät. »Was ist das?« fragte sie. »Ja, was ist das?« fragte Kevington dagegen. Sie hörte weiter zu. Die gutturalen Laute, die sich melodisch wiederholten, die ungewohnte Pentatonik… »Wer singt da?« wollte sie wissen.
»Du singst da…« Er drehte den Ton lauter. »Es ist deine Stimme!« »Nein!« Aber nach diesem spontanen Widerspruch hörte sie weiter zu, konzentriert, skeptisch, aber doch fasziniert. Dann schüttelte sie wieder den Kopf. »Nein!« Das schien endgültig. Kevington reagierte nicht, schaltete nicht ab, hielt das Gerät weiter in Petras Richtung, sah sie prüfend an. Sie wich seinem Blick aus, schaute zu Sibilla, die regungslos an der Tür lehnte. Sie fühlte sich eingekreist. »Das ist nicht wahr«, flüsterte sie, »Sie lügen!« Sie ballte wieder die Faust, führte sie zum Mund… »Nein, laß das«, sagte Kevington, griff nach ihrer Hand, preßte sie gegen das Bett. »Bitte, hör zu. Was kann das sein?« »Labhey yahám bhanté…« Aber sie wußte keine Antwort.
29 »Labhey yahám bhanté…« Neun Mönche saßen auf ihrem Sims, kahlgeschoren, in safrangelbe Gewänder gehüllt, Kinder darunter und Greise, und beteten im Chor. Ein stereotypes Auf und Ab schwebender Vokale, ein fremder, schleppender Rhythmus. »Tassá bhagvató – dhammá vinayé pabbajjám…« Die Beine waren gekreuzt, die Fingerspitzen berührten sich, der Faden der »rechten Lehre« lief von Hand zu Hand. Hinter ihnen an der Wand lehnten die runden, buntbemalten Fächer. Vor ihnen, auf den Steinfliesen der kleinen Vorhalle, hockten Besucher, einzelne Männer, Frauen, ganze Familien. Im offenen Tor des Tempels, an der Grenze zwischen der Dämmerung und dem gleißenden Licht einer senkrecht stehenden Sonne stand Kevington mit Petra. Sie verfolgte das Schauspiel mit großen interessierten Augen. »Erkennst du es wieder?« flüsterte Kevington. Sie nickte nur leicht. »Labheyyám upasámpadám… Das Mittagsgebet der Novizen«, sprach er leise weiter. »Es ist zwölf Uhr. Zwölf Uhr hier in Bangkok. In Mitteleuropa ist es sechs Stunden früher. In diesem Augenblick geht zu Hause über dem Blauen Palais die Sonne auf – wie vor drei Tagen, als du diese Verse gesungen hast.« Die Litanei war zu Ende. Eine Besucherin stand auf, ergriff das Ende des Fadens, begann ihn aufzuwickeln. Die Mönche hatten sich erhoben, ordneten ihre Roben, die in vorgeschriebener Weise um den Körper gewickelt waren,
nahmen ihre Fächer zur Hand und verließen den Vorraum des Tempels. Barfuß schlurften sie dicht an Petra und Kevington vorbei ins Freie und verloren sich zwischen Besuchern und Touristen in dem weitläufigen Tempelareal von Wat Poh. Auch Kevington und Petra verließen nun den schützenden Schatten des Tempelraums und traten in die stechende Sonne hinaus, in die schwüle Hitze dieses Tropentages. Sie schlüpften in ihre Schuhe, die sie auf der Treppe abgestellt hatten, und wanderten aus dem europäischamerikanischen Gewimmel der Touristen, die sich am Tempeleingang zwischen Verkaufsständen und Andenkenläden drängten, hinüber in die ruhigen, stillen Höfe des Tempelbezirks, die ein Fremder nur selten betritt. Hühner und kleine schwarze Schweine flüchteten sich zwischen die Skulpturen riesiger Dämonen, verschwanden in Nischen, unter einem Stapel ausgedienter Kisten. Im Schatten aufgespannter Strohmatten und unter alten, knorrigen Bäumen wurde gekocht. Der Duft nach exotischen Gewürzen erfüllte die Nebenhöfe, wo die Familien der Tempeldiener wohnten. Nackte braune Kinder badeten übermütig in einer großen Wassertonne, ein alter Mönch huschte vorbei, beladen mit Opfergaben. Unter dem Vordach eines der kleinen Seitentempel bemalte ein Restaurator liebevoll eine verwitterte Buddhastatue. Seine beiden Gehilfen lagen im Schatten und schliefen. »Woran denkst du? – Was empfindest du hier? – Kommt dir etwas bekannt vor?« Kevington hatte Petra die Führung überlassen. Ziellos waren sie durch die Höfe gewandert, durch diese Stille, diesen Frieden, vorbei an Prangs, reichgeschmückten
Steintürmen, an Stupas, zierlichen Reliquiendenkmälern, die über die weitläufige Anlage verstreut waren. »Hast du das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein?« fragte Kevington weiter. Petra schwieg, sah sich um. »Vielleicht, ich weiß nicht…« Sie zeigte auf die beiden Yaks, die riesigen Dämonen, die das Tor zum Haupthof bewachten. »Die kenne ich vom Film, der dann verbrannt ist.« »Ja«, stimmte Kevington zu. »Der Film entstand hier in Wat Poh, auch noch in anderen Tempeln und Klöstern der Stadt – und draußen in den Ruinen von Ayudhya.« Sie gingen schweigend weiter. Eidechsen huschten über ihren Weg. Einige alte Frauen hockten im Schatten eines Baumes und verkauften Tee und Limonade. Aufmerksam beobachteten sie dieses blonde Mädchen mit den verschatteten Augen, das so still und nachdenklich durch die Höfe ging und ihnen fremd erschien. Kevington übernahm wieder die Führung. Er hatte das Gefühl, daß nun etwas geschehen müsse, aber er war sich nicht klar, wie dieses erhoffte Ereignis stattfinden könnte, auch nicht wann und wo. Er zog wieder seine Schuhe aus, ließ sie zwischen hundert anderen auf den Stufen der Halle stehen, die den liegenden Buddha beherbergte. Die Figur war vergoldet, schimmerte unwirklich in diesem Dämmerlicht und sprengte fast die über fünfzig Meter lange Halle, ragte hoch bis ins Dachgebälk. Räucherwerk brannte in zahllosen Schalen und erfüllte den Raum mit einem süßlichen Duft. Petra ging staunend an der gigantischen Figur entlang, wie jeder andere Besucher auch. Später betraten sie die Galerien, wo die unzähligen goldenen Buddhas auf ihren buntverzierten Sockeln ruhten.
Der kleine Mönch war hier von Skulptur zu Skulptur gegangen und hatte sie erklärt und gedeutet. Auch Petra ging nun den gleichen Weg. »Schön«, sagte sie nur, »wirklich sehr schön. Aber ich weiß wirklich nicht, was ich hier soll.« Nichts war geschehen. Sie waren noch durch ein Dutzend anderer Tempelanlagen gegangen, nicht viel, denn Bangkok zählte über dreihundert, hatten die Pfade von Mönchen und Touristen gekreuzt. Erschöpft saßen sie schließlich am Ufer des Flusses auf der weiten Terrasse des Oriental Hotel und ließen sich von den zierlichen, mandeläugigen Mädchen in ihren leuchtendbunten Seidensarongs exotische Drinks servieren. Der Menam schob seine braunen Wassermassen träge dem Meer entgegen, dem Golf von Siam. Tonnenförmige Lastkähne zogen in langer Reihe lautlos vorbei, schwer beladen bis zur Wasserlinie. Auf den Fähren, die die beiden Stadtteile miteinander verbanden und die große Memorial-Brücke entlasteten, drängten sich Menschen und Fahrräder. Auf der anderen Seite des Flusses, hinter der bizarren Silhouette des Tempels Wat Arun, des »Tempels der Dämmerung«, ging blutrot die Sonne unter. Der Smog, der über dieser Stadt lastete und sich mit der nur schwer erträglichen Schwüle dieser Jahreszeit mischte, leuchtete auf wie rubinfarbener Nebel. Aber nicht nur die Erschöpfung ließ Kevington und Petra schweigen. Es waren erst wenige Stunden vergangen, seit der Jumbo-Jet aus Europa sie in dieser tropischen Hitze ausgespuckt hatte. Sechs Stunden Zeitversetzung, der Klimawechsel, die Aufregung der letzten Tage, der Nachtflug in der übervollen Maschine, die tausend fremden und überwältigenden Eindrücke dieses Tages – Petra hatte ein Recht darauf, müde zu sein.
Die Mitglieder des Blauen Palais hatten viele Stunden beraten und dann den Betrag freigegeben, der für diese Reise notwendig war – gegen die Stimme des Skeptikers Jeroen de Groot. Ein Freund von Polazzo, ein Ethnologe und Indologe, war angereist und hatte den Singsang auf dem Tonband identifiziert. Pali, eine indische Sprache, dem Sanskrit verwandt, in dem alte buddhistische Texte abgefaßt waren, die heute noch in Thailand, Birma und Ceylon in der Liturgie Verwendung fanden. »Esahám bhanté – sucirápariníbbutampí…«: der Initiationsritus bei der Weihe der Novizen. Auch der Film stammte ja aus Thailand, der mit seinen Bildern auf eigenartige und unerklärliche Weise auf Petras Unterbewußtsein eingewirkt zu haben schien und der auf ebenso eigenartige und unerklärliche Weise in Brand geraten war. Kevington hoffte hier an Ort und Stelle weitere Indizien zu entdecken, Andeutungen, vielleicht sogar Antworten zu erhalten auf die vielen offenen Fragen, die die Ereignisse der letzten drei Wochen aufgeworfen hatten. Aber an diesem feuchtwarmen Abend am Ufer des Flusses, im Brodeln der großen Stadt überkam ihn plötzlich die Ahnung, daß er von seinem Ziel weiter entfernt war als je zuvor. Das Mädchen war blockiert durch die zahllosen Eindrücke, die auf sie eingestürmt waren, sie war überstreßt, blickte nach außen in diese phantastische Zauberwelt Asiens, statt nach innen zu horchen. Er lag in der Nacht lange wach. Hörte auf das kehlige Stimmengewirr auf der Straße unter dem Fenster, später, als es ruhig wurde, auf das Klingeln der Tempelglöckchen, die der
Nachtwind am First des alten Klosters bewegte, das im Park gegenüber lag. Er sah den Widerschein von Wetterleuchten an den wehenden Vorhängen. Aber das offene Fenster, der Wind, der in Böen hereinfiel in den Raum, brachte keine Kühlung. Naß vor Schweiß lag er auf dem Bett, malte sich hundert mögliche Lösungen und Ereignisse aus, lauschte auf den fernen Donner, aber das Tropengewitter blieb stumm. Als er matt und zerschlagen erwachte, war es hell, und aus dem nahen Kloster tönte der Singsang der Mönche, der ihn bereits im Schlaf verfolgte seit vielen Nächten. Petra war nicht in ihrem Zimmer. Kevington geriet in Panik, fand sie schließlich vor einem opulenten Frühstück mit duftenden, frischen Früchten auf der Terrasse über dem Fluß, am gleichen Tisch, an dem sie den Abend verbracht hatten. Petra war aufgekratzt und glücklich, hatte prächtig geschlafen, wie sie behauptete, und sah intakter aus als je zuvor. Die verschatteten Augen waren verschwunden, dieses sensible Zögern, dieses Wittern aus Angst und Instinkt. Ein junges Mädchen war dabei, eine Märchenwelt zu erobern. Auch eine Lösung, dachte Kevington: PSI als Indiz für Beschädigung, als Signal für angestaute Aggression, verschwindet im Glück. PSI als Notsignal. PSI als Mittel der Kommunikation in Gefahr. PSI als Zeichen einer Erkrankung. Ein Defekt. Rückschritt in archaische, atavistische Formen. Psychische Unversehrtheit contra PSI. Kevington grübelte vor sich hin und blieb dabei an der Oberfläche. Währenddessen beobachtete Petra entzückt die Flotte kleiner und kleinster Boote, die von allen Seiten zusammenströmten. Frauen saßen darin. Blaue Blusen und Kittel. Breite Hüte aus Reisstroh. Und die zierlichen, schmächtigen Gestalten wurden
fast begraben unter den Bergen von Obst und Gemüse, mit denen diese schmalen Boote angefüllt waren bis zum Rand. Sie strebten alle den Klongs zu, den Kanälen, die auf der anderen Seite des Flusses zu den schwimmenden Märkten führten. Während Petra aufgeregt und begeistert alles kommentierte, was sie zu sehen bekam, trank Kevington schweigend seinen Early-morning-tea – denn zu Hause in Europa war es erst zwei Uhr früh. Hier war die Sonne schon aus dem Dunst getaucht und beleuchtete das andere Ufer mit einem weichen, gelben Licht. Der Turm des Tempels Wat Arun, dessen Fassade mit über zwei Millionen Scherben chinesischen Porzellans geschmückt war, glänzte und glitzerte über das Wasser. Und die Temperatur, eben noch angenehm oder, besser, erträglich, stieg von Minute zu Minute. Das hübsche Sommerkleid, das Sibilla für Petra gekauft hatte auf dem Weg zum Flughafen, sozusagen in letzter Minute, war bereits feucht und verschwitzt. Aber Petra schien das nicht zu stören. Sie bemerkte es einfach nicht. Sie war unternehmungslustig und schlug vor Freude in die Hände, als Kevington im Aufstehen sagte: »Wir fahren nach Norden. In die Ruinen von Ayudhya…«
30 Ein unheimliches, kaltes Licht lag über der Ruinenlandschaft. Von einem milchigweißen Himmel stach die Sonne. Sie stand genau im Zenit. Schattenlos wanderten die Menschen auf den schmalen Pfaden zwischen Türmen und Tempeln, die von einer üppigen tropischen Vegetation überwuchert waren. Ayudhya – vierhundert Jahre lang die glänzende Hauptstadt Siams, der Mittelpunkt Hinterindiens, zerstört von den Burmesen in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Zikaden sägten in den alten Tempelruinen, rotblühende Bäume wuchsen aus zerborstenen Terrassen, und über allem lastete Treibhaushitze und der Duft von Millionen Blüten. Petras Augen wirkten wieder verschattet, aber vielleicht lag das auch an der Sonne, die genau über ihr stand. Sie ging voraus, Kevington hatte ihr wieder die Führung überlassen, suchte sich ihre Wege und Ziele nach Lust und Laune. Ein riesiger Buddha aus Stein lag mitten im Dschungel, geschwärzt vom tropischen Regen, von Moos und Alter. Die Halle, die ihn beherbergte, war seit zweihundert Jahren verschwunden. Pyramidenförmige Prangs ragten aus dem Busch, zweihundert Stufen führten zu den schmalen Galerien hinauf, die in den Ornamenten versteckt waren. Sie standen oben, Petra und Kevington, und blickten weit über das Land, das früher eine reiche Metropole gewesen war. Aber immer noch lagen Klöster an versteckten Wegen. Die pagodenförmigen Dächer leuchteten durch die Wipfel der
Bäume. Dort in der Abgeschiedenheit übten sich Mönche und Novizen in der Meditation. Petra blieb stehen. Eine Reihe Mönche in ihren flatternden safrangelben Roben kam ihnen entgegen. Mit gesenktem Blick, die Arme verschränkt, folgten sie dem gewundenen Pfad, der zu drei typischen Steintürmen führte, die der Dschungel noch nicht überwuchert hatte. Kevington hatte den Weg freigemacht und versuchte, Petra, die den Mönchen seltsam entrückt entgegensah, zum Ausweichen zu bewegen. Aber sie verstand ihn nicht. Er schob sie also zur Seite. Stumm und ohne den Blick zu heben wandelten die Männer vorbei. Petra blickte ihnen lange nach. Da wußte Kevington plötzlich, was ihn an diesem Platz so faszinierte, warum er ihm so vertraut erschien. Aber es war weder PSI, noch war er in einem früheren Leben als Mönch hier gewandelt. Er kannte den Platz aus dem Film. Der gleiche gewundene Pfad, die drei charakteristischen Türme. Der riesige schirmförmige Baum, der jetzt leuchtendrote Blüten trug. Die lange Reihe der Mönche, die langsam über den zugewucherten Berg aus Schutt hinaufstiegen und zwischen den Türmen verschwanden. Damals hatte der kleine Mönch mit dem Kindergesicht sich umgesehen, hatte lange und ernst in die Kamera geblickt – und an dieser Stelle war der Film in Flammen aufgegangen… »Hallo, Petra…!« Kevington, der etliche Schritte weitergegangen war, wandte sich um – da stand Petra immer noch am gleichen Platz und sah den längst entschwundenen Mönchen nach. »Petra – was ist?«
Aber sie rührte sich nicht. Kevington kam zurück, berührte sie an der Schulter. Da schien sie zu sprechen: »Zu spät…« »Was ist zu spät?« flüsterte Kevington zurück. »Drei Tage… zu spät…« Die Antwort kam stockend. Petra blickte immer noch starr in die gleiche Richtung, hielt die Arme verschränkt wie die Mönche, nur steif und verkrampft. »Er ist fort…«, fügte sie leise hinzu. »Wer ist fort, Petra?« Kevington war hinter sie getreten, sprach dicht in ihr Ohr und wiederholte: »Wer ist fort?« »Am Wasser…«, antwortete sie. »Er ist am Wasser…« Die Worte kamen tonlos, fast gehaucht. In dem schrillen Lärm, den die Grillen und Zikaden machten, war Petra schwer zu verstehen. »Ein dürrer Wald…«, sprach sie weiter, »Bäume, kahl… große Vögel… in den Ästen… fliegen darüber hin…« Sie sprach langsam, wie im Traum. »Am Meer?« fragte Kevington. »Ist das am Meer?« »Am Fluß«, antwortete sie nach einer langen Pause. »Großer, breiter Fluß… große Vögel… in kahlen Bäumen…« »Wer ist dort? Petra…« Kevington wartete, aber sie antwortete nicht. »Wer ist am großen, breiten Fluß? Wer ist bei den kahlen Bäumen… bei den riesigen Vögeln?« »Ich bin dort…«, sagte sie schließlich und schien aufzuwachen.
31 Das lehmige Wasser sprühte ihnen ins Gesicht. Um sich davor zu schützen, hätten sie nach bunten Plastikschirmen greifen können, die bereit lagen. Aber sie benutzten sie nicht. In rasender Fahrt, von einem röhrenden Außenbordmotor getrieben, jagte das schmale Boot flußaufwärts, den Menam hinauf, Thailands Lebensader. Behäbige Dschunken kamen ihnen entgegen, hochbeladen mit Reis, mit Holz und Bambus, mit tropischen Früchten. Pfahlbauten ragten weit in den Fluß hinein, bevölkert von Familien mit zahllosen Kindern, die im braunen Wasser zwischen Abfällen planschten und tauchten. An den Mündungen der Nebenflüsse lagen die Pulks der Hausboote vertäut. Tempel säumten das Ufer, zierliche bunte Pagoden, Geisterhäuschen auf ihrem dünnen Sockel, Tankstellen, Märkte, Restaurants und schließlich, nach einer knappen Stunde Fahrt, der dichte tiefgrüne Dschungel mit seinen Mangrovenwurzeln, die in den Fluß wucherten. Geschickt wich der Bootsführer den Schiffen aus, die er in rasender Fahrt überholte, die ihm ebenso rasend begegneten. Vorn im Boot saß ein Mönch. Der Abt hatte ihn losgeschickt, damit er den Fremden den Weg zeige: »Breiter Fluß… kahle Bäume… riesige Vögel…« Der Abt hatte Englisch gesprochen, lebte seit fünfzig Jahren in dem kleinen Kloster inmitten der Ruinen von Ayudhya und hatte sich in Ruhe die ganze Geschichte angehört. Er hatte kein Wort des Erstaunens gesprochen, hatte keinerlei Erklärungen verlangt, war frei gewesen von Skepsis und Argwohn. »Pathumthani«, hatte er gemurmelt, als die Rede auf die
riesigen Vögel, auf Fluß und kahle Bäume kam. »Pathumthani« und »Wat Pailom«. Dann waren sie mit ihrem Führer aufgebrochen und zum Strom gefahren. Sie mußten nicht lange warten. Die Anwesenheit der beiden Fremden und ihres Begleiters hatte sich in der kleinen Ortschaft rasch herumgesprochen. Ein Taxiboot war quer über den Fluß gekommen. Sieben Mönche saßen hintereinander mit aufgespannten Schirmchen in den niederen Sitzen und gingen, als das Boot angelegt hatte, schweigend an Land. Ihr Begleiter hatte kurz mit dem Bootsführer verhandelt und Kevington schließlich den Preis genannt. Und nun waren sie bereits über eine Stunde unterwegs, als plötzlich silbergraue, kahle Bäume das Grün des Ufers überragten. Das Boot verlangsamte seine Fahrt. Ein morscher Anlegesteg ragte in den Fluß. Dahinter leuchteten die rotgelben Ziegel eines Tempeldachs durch das Dickicht. Naß vom Sprühwasser, steif von der langen Fahrt und der ungewohnten Haltung in dem schmalen Boot, taub vom Lärm der Maschine, kletterten Petra und Kevington hinter ihrem Begleiter den Anleger hinauf und folgten dem Führer auf einem schmalen Steg, der hoch über dem sumpfigen Boden des Ufers im Zickzack durch den Wald führte. Eine Lichtung öffnete sich, überragt von den abgestorbenen Bäumen. Der Steg führte auf einen Komplex niedriger Pfahlbauten zu, der aus windschiefen Stämmen und unbehauenen Planken zusammengefügt war. Zum Trocknen auf Leinen gehängt, leuchteten orangefarbene Mönchsgewänder in der Sonne. Kein Mensch war zu sehen, nichts zu hören außer dem gurrenden Ton irgendwelcher Kröten unten im Sumpf.
Der Führer blieb stehen, sah sich um. Er bedeutete Kevington und Petra, hier zu warten, und verschwand zwischen den Gebäuden. Es war nicht die richtige Besuchszeit, vermutlich störten sie die Mönche bei ihrer Meditation. Sie waren aus Neugierde hierhergefahren, auch wenn Kevington darin keinen großen Sinn erblickte, sich kaum Antworten auf seine zahlreichen Fragen versprach. Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn, trocknete den Hals, an dem der verschwitzte Kragen klebte, und betrachtete das Mädchen, das entspannt am Geländer dieses Steges lehnte. Absurd, dachte er. Alles ist absurd. Mit dem Begriff »Zufall« hatte es angefangen. Er war einem Phänomen in die Falle gelaufen, das menschliche Vorstellungskräfte überstieg, hatte Indizien gesammelt gegen jede Vernunft und stand nun hier, am Ende einer langen Reise, mitten im dampfenden Dschungel, litt unsäglich unter der feuchten Hitze und wußte nicht so recht, was er eigentlich noch erwarten konnte. Vermutlich nichts. Das Mädchen würde auch weiterhin Absonderlichkeiten produzieren, deren Erforschung der Wissenschaft versagt bleiben würde. Zugegeben, vor Überraschungen war man nicht sicher, aber PSI entzog sich in diesem Fall jedem empirischen Zugriff. Ein Mädchen empfing über zwölf tausend Kilometer Entfernung Worte einer ihm fremden Sprache und murmelte sie in Trance deutlich vor sich hin. Das war als Idee schon irrsinnig genug. Eine wissenschaftliche Erforschung machte diesen Irrsinn nicht plausibler. Fälle wie diesen gab es in der einschlägigen Literatur ja nun einige. Aber mit diesem Fall und seiner Deutung wissenschaftlich ernst genommen zu werden, dafür gab es im
Augenblick noch keine Chance. Das wußte Kevington nur zu genau. Was wollte er also? Was hatte er vor? War das hier ein Spiel mit Fakten oder mit Phantomen? Mit Abnormitäten? Mit Spekulationen? Er bemerkte, wie Petra aufmerksam zum Himmel sah. Dann hörte er über sich ein rasches, rhythmisches Stöhnen, ein schwingendes Rauschen. Er folgte ihrem Blick – da landete gerade ein riesiger Kranich in einem der kahlen Bäume. Er schüttelte sein Gefieder, stieß seine stöhnenden, gurrenden Laute aus und ließ sich nieder. Ein zweiter Vogel kam angesegelt, zog weite Schleifen über den Dächern und landete ebenfalls. Und dann kamen viele. Von allen Seiten rauschten die Flügel, gurrte und stöhnte es in der Luft. Ein Schwarm fiel ein, vom Fluß, vom Wald und bevölkerte die Äste ringsherum. Da erschien ihr Führer zusammen mit anderen Mönchen im offenen Hof des Klosters. Sie sprachen miteinander, schauten neugierig herüber zu den beiden fremden Besuchern, tuschelten, lachten. Einer winkte aufgeregt in Kevingtons Richtung, der winkte zurück, wollte dieser Aufforderung näherzukommen folgen – da hatte er plötzlich das eigenartige Gefühl, daß dieses Zeichen nicht ihm, sondern jemand anderem gegolten haben könnte. Er wandte sich um. Im Gegenlicht der tiefstehenden Sonne erkannte er eine kleine, zierliche Gestalt, die keine zwanzig Schritte hinter ihnen auf dem Steg stehen geblieben war. Die gelbe Robe wand sich um einen mageren Knabenkörper. Der kleine, runde Kopf war kahlgeschoren. Ernste Augen blickten aus einem alten Bubengesicht.
Er war anscheinend nichtsahnend aus dem Wald getreten und hatte die beiden Fremden gesehen. Aber sein Blick drückte nicht Erstaunen aus – er war blankes Entsetzen. Der Junge starrte auf das blonde Mädchen wie auf eine Traumgestalt, eine Vision. Auch Petra war mehr als überrascht. Sie hatte den kleinen Mönch aus dem Film von Kevingtons Freund sofort erkannt. Sicher – sie hatte Dämonen und Tempel und Ruinen wiedergesehen – warum nicht auch einen Menschen, der vor drei oder vier Wochen gefilmt worden war? Aber das Zusammentreffen hier mitten im Dschungel am großen Fluß, unter den kahlen Bäumen mit den riesigen Vögeln, das war vermutlich weit mehr als nur Zufall. So standen sich die beiden erschrocken und wie gelähmt gegenüber. Über ihnen rauschten die Kraniche heran, es knackte und gurrte und stöhnte in den kahlen Ästen. Kot platschte links und rechts vom Steg auf die Blätter und in den Sumpf. Da warf der kleine Mönch die Früchte weg, die er mitgebracht hatte, und flüchtete zurück in den Wald. Die Mönche aus dem Kloster hatten nur kurz gezögert. Jetzt rannten sie hinterher, an Kevington und Petra vorbei, liefen über den schwankenden, knarrenden Steg und verschwanden ebenfalls im Dickicht. Die Roben leuchteten zwischen den Stämmen. Kevington packte Petra am Arm. Er ahnte mehr, als er begriff, und folgte ihnen. Der Steg endete auf einem festen Pfad, der zu einer zweiten Lichtung führte. Zerbrochene Skulpturen standen verstreut. Der Weg teilte sich. Aber die leuchtenden Farben der Mönchsgewänder wiesen den Weg. Immer wieder blinkten gelbrote Flecken im Sonnenlicht auf, das durch die hohen Kronen fiel.
Am Eingang zu einem winzigen Tempel hatten sich schließlich alle gesammelt. Dach und Fassade waren verwittert. Zerbrochene Statuen lagen auch hier verstreut. Als Kevington zur Tür trat, wandten die Mönche sich zu ihm um. Sie wichen zurück, als er das Mädchen durch den Eingang schob. Der Raum schien dunkel und leer. Eine schwarze Buddhastatue, auf der einzelne Blattgoldreste als Opfergaben leuchteten, ragte bis in das Gebälk des Daches. An der weißen Wand neben dem Buddha lehnte der kleine Mönch, ängstlich, jeder Fluchtmöglichkeit beraubt, und blickte zur Tür. Und in der Tür stand Petra. Wieder sahen die beiden sich an, wie vorher am Steg. Da hob der kleine Mönch abwehrend die Hände, legte die Arme schützend vor das Gesicht und wandte sich ab. »Er war ich – ich war er…«, flüsterte Petra, als hätte sie dieses böse Spiel des Zufalls begriffen.
32 Der Bootsmann war zusammen mit dem Führer nach Ayudhya zurückgefahren. Sie holten den alten Abt aus dem Kloster. Die Sonne war bereits untergegangen, als er eintraf. In der offenen Halle des kleinen Klosters am Fluß versammelten sich die Mönche. Eine Öllampe spendete dürftiges Licht, blakte rußig und warf unruhige Schatten. Tee wurde gereicht, das einzige außer Wasser, was den Mönchen von Mittag bis zum Sonnenaufgang des nächsten Tages gestattet war. In den kahlen Ästen hoch über dem Dach gurrten und stöhnten und schüttelten sich die Kraniche, die in gewaltigen Scharen gegen Abend eingeflogen waren. Und unten im Kreis der Mönche wurde der kleine Novize verhört. Stockend erzählte er seine Erlebnisse, Visionen und Empfindungen dem alten Abt. Es dauerte viele Stunden, bevor der in seinem eigentümlich singenden Englisch versuchte, den überaus merkwürdigen Sachverhalt aufzuklären. Er legte eine Hand auf die Schulter des Knaben, der den Blick daraufhin senkte, wie es die Vorschrift war. »Es ist das alte Ritual«, begann der Abt, »und er mußte es erfüllen. Drei Wochen Fasten, drei Wochen Meditation, drei Wochen Stille um ihn – kein Wort, kein lautes Gebet. In diesen drei Wochen ging seine Seele auf Wanderschaft – war sie weit, weit weg.« Der alte Abt blickte in die Runde. Die Mönche sahen ihn an, hingen an seinen Lippen. Sie hatten keines seiner Worte verstanden und wußten doch sehr genau, was er sagte.
»Er saß in seiner Zelle, im Kloster, in der Stadt«, fuhr der Abt mit Blick auf den kleinen Novizen fort, »hatte das Auge zur Wand gekehrt und wanderte in Gedanken. Und da hat er sie gesehen. Dieses Mädchen dort…« Er zeigte auf Petra. Die hatte als einzige Frau in diesem Kreis ihren Platz außerhalb des erhöhten Gevierts. Sie lehnte an einer Wand aus dicken Bohlen und starrte ins Licht der flackernden Lampe. »Er hat sie gesehen, dieses Mädchen, in seinen Tagträumen. Diese dunklen Augen, dieses helle Haar. Er hielt es für ein Spiel seiner Phantasie, war noch ungeübt in der Meditation, konnte unnütze Gedanken und Bilder noch nicht verscheuchen, bevor sie entstehen. Aber dann hat er sie wiedergesehen, hat sie wiedererkannt. Er hat gefürchtet, daß Geister lebendig werden, so sagt er, die Bilder seines Traums.« Petras Blick wanderte vom Licht der Lampe zum Abt hin, schließlich weiter zu dem kleinen Jungen in seinem Mönchsgewand. So, als spüre er den Blick, hob er den Kopf und sah sie an. »Sie haben sich getroffen in Gedanken, weit, weit von hier…« Der Abt machte eine lange Pause. »Und er hat ihre Seele mitgebracht hierher – so sagt er. Und heute ist der vierte Tag. So lange ist es nun her. Der Mond war voll. Die Zeit war um. Er hat gewartet. Sie kamen zu ihm. Haben ihn geholt. Haben ihn gekleidet mit dem neuen Tuch. Haben mit ihm gesungen und gebetet. Das Mittagsgebet der Novizen. Die Initiation: Labheyyahám bhanté – tassá bhagavató – dhammávinayé pabbajjám – labheyyám upasámpadám…« Wieder legte der greise Abt seine Hand auf die Schulter des Novizen. Und wieder senkte dieser seinen Blick. »Dann haben sie gegessen, getrunken. Dann kam er hierher mit dem Boot. Hier in Wat Pailom wird er bleiben, wird er beten und meditieren, bis das Jahr zu Ende ist. Er ist jetzt ein
›nen‹, ein Novize. Er ist kein Schüler mehr, kein ›sisya‹… kein ›sisya‹…« Der Abt schwieg. Alle schwiegen sie und sahen aneinander vorbei in die Nacht. Nur Petra murmelte leise vor sich hin: »Sisya…«
33 Der Winter war zurückgekehrt. Es war das gleiche entmutigende Spiel, jedes Jahr. Die zartgrünen, blühenden Wiesen waren bedeckt mit Schnee, die Bäume bogen sich unter der Last und brachen. Büdel, der Kevington und Petra vom Flughafen abgeholt hatte, steuerte todesmutig durch die Verwehungen, die ein eisiger Sturm über die schmale Landstraße getürmt hatte. Kühn stand im Hof und versuchte vergeblich, seine blühenden Narzissen aus dem Schnee zu graben. Er nahm Kevington den Koffer und Petra die kleine Reisetasche ab, die Yvonne ihr geliehen hatte, und verständigte Palm. Sibilla kam aus ihrem Labor, Palm erschien zur Begrüßung. Aber Petra war bereits ins Palais geeilt, war verschwunden. In der Halle trafen sie auf Polazzo und Yvonne, und Kevington begann mit seinem Bericht. Da rief Petra aus dem zweiten Stock hinunter in Halle und Treppenhaus: »Sibilla… Sibilla, komm herauf, schnell!« Es war ein Ruf voller Angst und voller Kummer. Als Sibilla Petra auf der zweiten Galerie erreichte, stand diese am Fenster und hatte etwas in ihrer Hand verborgen. Es war die armselige, übriggebliebene kleine Maus. Sie war tot. Der Käfig stand auf dem Boden und war offen. Petra kniete sich hin, legte die Maus zurück in ihr Nest. »Ich bin schuld!« Sie heulte einfach los. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie wischte sie nicht ab, blieb auf dem Boden sitzen, lehnte sich gegen die Säule. »Ich hab’ sie vergessen. Bin einfach abgereist, und sie ist verhungert. Keiner hat sich gekümmert. Ich bin schuld…« Sie wandte sich ab, schaute
durch das Fenster hinaus. Der Schnee auf dem Dach der Remise blendete sie. Aber sie reagierte nicht darauf in ihrem Kummer. »Du bekommst eine neue«, sagte Sibilla, »oder sogar zwei. Ein Pärchen…« Sie setzte sich neben Petra, legte den Arm um ihre Schulter. Aber das schien den Schmerz des Mädchens nicht zu mindern. »Und wenn sie Junge bekommen«, fuhr Sibilla fort, »lieferst du sie mir ins Labor. Ja?« Es war lieb gemeint, aber Petra sah Sibilla entsetzt an. »Nein!« Sie schwieg, malte sich offenbar den Horror aus, den die jungen Mäuse bei Tests und Experimenten zu durchleben hatten. »Nein«, wiederholte sie, »ich wollte sie retten vor euch! Ich will keine mehr.« Sie schaute wieder aus dem Fenster. »Ich will weg von hier. Nach Hause…!« Es klang sehr bestimmt und endgültig. »Zu den Eltern?« fragte Sibilla. »In die Fabrik?« »Zu den anderen«, antwortete Petra. »Zu diesen Schlägern?« Sibilla war entsetzt. Das Chaos, das Petras Freunde hinterlassen hatten, war ihr noch deutlich in Erinnerung. »Paul ist kein Schläger. Ruf ihn an, bitte. Er soll mich holen.« Petra stand auf, nahm den Käfig. »Ich werde mit Palm reden – und mit Kevington«, versprach Sibilla. »Warum?« Petra war auf dem Weg zu ihrem Zimmer stehen geblieben. »Was wollen die noch von mir? Die wissen jetzt doch alles. Die haben alles gesehen, alles ist aufgeklärt…« »Nein«, Sibilla schüttelte den Kopf. »Sie wollen etwas erfahren, was sie noch nicht wissen: Sie wollen erfahren, wie das, was du scheinbar kannst, funktioniert…« Sie hatte es sehr langsam, sehr vorsichtig formuliert.
Aber Petra wischte Sibillas Einwand energisch beiseite: »Ich kann’s ihnen auch nicht sagen!« Sie wandte sich ab und ging zu ihrem Schlafraum, dessen Tür weit offen stand. Sibilla folgte ihr. »Sie wollen das herausfinden«, fuhr sie fort, »und sie werden es herausfinden, ich bin dessen sicher.« Sie schloß die Tür hinter sich. Petra stellte den Käfig auf die Kommode neben dem Bett und beugte sich über dieses winzige leblose Wesen, das armselig zwischen Kot und Sägemehl lag. »Der Raum ist voll von Gedanken und Bildern«, sprach Sibilla weiter und trat ans Fenster. »Warum empfängst du nur die einen – und nicht alle anderen? Wieso bist du mit diesem kleinen buddhistischen Mönch in Kontakt gekommen – und nicht mit irgend jemand sonst? Mit mir? Mit Kevington, mit Palm – mit deinem Paul?« Petra schwieg. Lange. Sibilla wartete ab, setzte sich schließlich auf das Bett. »Es ist noch gar nicht so lange her…« Petra begann zu sprechen, ohne sich Sibilla zuzuwenden. »Ich habe eine Puppe gehabt. Schön war sie nicht. Aber ich habe sie geliebt…« Sie stand immer noch an der Kommode, hatte sich aufgestützt, starrte unverwandt in den Käfig. »Alle Mädchen lieben ihre Puppe«, sagte Sibilla, und sie hoffte, daß Petra irgendwann weitersprechen würde. »Ein Junge wohnte bei uns im Haus«, fuhr diese schließlich fort, »der wollte immer wissen, wie das geht, mit den Augen… Die machte sie immer zu, wenn ich sie hinlegte, verstehst du?« Sibilla nickte stumm. »Und er wollte auch wissen, was drin ist im Kopf, ob Sägemehl oder…« Wieder machte Petra eine lange Pause. »Nichts war drin. Gar nichts!« sagte sie schließlich. »Und hinten an den Augen hing ein Klotz aus Blei.« Sie drehte sich in den Raum um, setzte sich auf die Kommode neben den
Käfig, ließ die Beine baumeln, und dann erzählte sie weiter: »Wir haben sie dann beerdigt. Der Kopf war ja nun kaputt. Und dann habe ich sie wieder ausgegraben – mit Pflaster geflickt. Aber… lieben… das ging nicht mehr – das konnte ich nicht mehr. Ich mußte immer daran denken – daß nichts drin war in ihrem Kopf, und wie das mit den Augen funktioniert, mit diesem Klotz aus Blei.« Sibilla stand auf, hockte sich neben Petra auf die Kommode, lächelte traurig und nahm ihre Hand. »Warum wollt ihr das alles wissen«, fuhr Petra fort, »warum? Was habt ihr davon? Macht alles nur kaputt…« Sibilla wurde ernst. Sie schaute zur Decke. Die Prismen am Kronleuchter drehten sich langsam und spielten in allen Farben des Regenbogens. Warum? Sie war eine junge, erfolgreiche Wissenschaftlerin. Sie war den Geheimnissen und Gesetzen der Natur auf der Spur. Aber als dieses Mädchen sie nun fragte, wußte sie keine Antwort. »Ruf Paul an! Bitte! Er soll mich holen – sofort! Ja?!« Petra kramte einen Zettel aus der Tasche. »Das hier ist seine Nummer. In der Werkstatt. Er soll sich freinehmen und mich holen! Sag ihm das!« Sibilla nahm den Zettel und nickte, stand auf, ging zur Tür. »Ich hab’ Angst…« Petra hatte hinter Sibillas Rücken gesprochen, leise, fast gehaucht. Und Sibilla drehte sich erschrocken um. Petra saß immer noch auf der Kommode, aber plötzlich schien sie weit weg zu sein, entrückt und abwesend. »Alles ist dunkel«, flüsterte sie, »schwarz und dunkel und leer…« Und nach einer Pause: »Es wird schrecklich…« Sibilla ging wieder zur Tür, leise und zögernd. Petra flüsterte nur noch: »Ich hab’ Angst…« Dann löste sich die Steife ihrer Haltung, ihr Blick kehrte zurück. Und Sibilla ging schnell hinaus.
34 Fünf Tage später erwachte Petra aus dem Koma. Sie war immer noch voller Angst. Aber die Schwärze begann sich zu lichten, die Dunkelheit wich einem verschleierten, fasrigen Weiß – nur die Leere blieb. Sie hörte Stimmen, sah verwischte Gestalten. »Kommen Sie, kommen Sie schnell«, rief die Schwester, »sie ist gerade bei Bewußtsein.« Die Schatten kamen näher. Petra erkannte die Gesichter, die sich über sie beugten, die sich zu einem aufmunternden Lächeln durchkämpften, Sibilla war darunter, Palm, Kevington. Aber dann kam Schnee auf sie zu, wirbelte über sie hin, sog sie auf, ließ sie schweben. Ein dumpfer Schmerz schwoll an, übermächtig, unvorstellbar, füllte sie aus. Schwarze Ringe kreisten um sie. Die Schatten dehnten sich, und die Nacht breitete eine geradezu unendliche Dunkelheit über sie hin, daß sie kaum noch zu hoffen wagte, der Tag könne wiederkehren mit seinem Licht. Paul war gekommen, um sie abzuholen, vor fünf Tagen. Wie ein Todesengel war er in seiner schwarzen Montur in den Hof geschwebt, die schwere Maschine drehte durch, wirbelte den Schnee zu Kaskaden. »Fahr mich weg von hier, hörst du?« hatte Petra ihm ins Ohr geschrien, über das Röhren der Maschine hinweg, durch den Helm hindurch, der ihn zu einem fremden anonymen Wesen
machte, einem bedrohlichen Rieseninsekt mit Zyklopenauge. »Und fahr, so schnell du kannst… so schnell du kannst…!« Und er fuhr, so schnell er konnte. Sie schwebten durch den Schnee, folgten den kaum wahrnehmbaren Windungen der vereisten Straße. Wiesen, Berge, Wälder, alles verschmolz im Wirbel der Flocken zu einem einzigen weißen Traum, der nicht enden wollte – und trotzdem: Mitten im Schweben kam diese unheimliche, schmerzvolle Nacht. »Sie hat es vorausgesehen«, sagte Sibilla, als sie mit Palm und Kevington die Intensivstation verließ. »Dunkel, schwarz und leer…« Sie blickte noch einmal zurück in das kalte Dämmerlicht. Sah hinter der Scheibe, zwischen Kabelenden und Schläuchen, dieses Mädchen liegen. Wieder wanderten Leuchtpunkte über Schirme, zeigten den zähen Kampf des Lebens gegen den Zugriff der Nacht. Atemfrequenz, Puls, Blutdruck. Schwestern kontrollierten, wechselten die Flaschen mit der Infusionsflüssigkeit, erhöhten die Zufuhr von Sauerstoff, der durch Tuben direkt in den Körper geleitet wurde. »Dunkel, schwarz und leer… es wird schrecklich… Aber offenbar nutzt es nichts, die Zukunft zu kennen oder zu ahnen«, fuhr Sibilla fort. »Wir können ihr nicht entgehen.« Sie hatte das Bild noch in ihrem Gedächtnis: das schmächtige blonde Mädchen, viel zu dünn gekleidet für die Fahrt auf dem Motorrad durch den verspäteten Winter. Aber sie bestand ja auf dieser übereilten Flucht. Ein letzter Blick, als die Räder der schweren Maschine schon durchdrehten im Schnee, ein schüchternes, beiläufiges Heben der Hand. Die blonden Haare wirbelten. Der viel zu kurze Rock flatterte um die schmalen, blassen Beine. So verschwanden sie im Tor zur Allee.
»Haben Sie ihr schon gesagt… was mit ihrem Freund…?« fragte Kevington die Schwester, die sie hinausbegleitet hatte. Der Arzt, der vor ihnen ging, wandte sich um. »Nein, natürlich nicht. Jede Aufregung wirft sie zurück. Und wann hätte ich es auch tun können? Sie ist kaum bei Bewußtsein.« »Und wie lange rechnen Sie?« wollte Palm wissen. Der Arzt sah ihn verständnislos an. »Wir sind froh, daß wir sie durchbekommen haben. Und Prognosen…? Man muß mit Komplikationen rechnen. Ein paar Monate sicher. Warum fragen Sie?« Ja, warum fragten sie? Kevington hatte sich an die Wand gelehnt und zwirbelte die Spitzen seines Schnurrbarts. »Nur so«, sagte er. »Wir müssen ja entsprechend disponieren…«
35 Es war Sommer geworden. Die Hitze lastete zwischen den Gebäuden des Blauen Palais, lag über dem Hof. Aber hinter den dicken Mauern, in den hohen, kahlen Räumen war es kühl. Auch im Keller, im PSI-Labor. Kevington saß hinter der verspiegelten Scheibe, kontrollierte die Übereinstimmungen gewählter und erratener Symbole, mischte die Karten, verglich Ergebnisse mit der Zufallserwartung. Büdel fütterte den PSI-Recorder. Kurven zeichneten Gehirnstromaktivitäten, Puls, Atemfrequenz, Hautfeuchtigkeit auf. Und Petra spielte mit. Geduldig, ohne Interesse zwar, aber auch ohne Widerstand. Sie drückte Knöpfe, bestimmte Karten und Symbole, ließ Würfel rollen. Aber mehr als den normalen Durchschnitt erreichte sie nicht. Eingesponnen in Drähte und Elektroden, die Beine gelähmt, den Oberkörper in einem Korsett, die Halswirbel gestützt durch einen breiten Ring aus Metall, saß sie täglich viele Stunden in der Testkabine und absolvierte ihr Programm. Die Chancen standen für Petra nicht schlecht, eines Tages weitgehend wiederhergestellt zu sein. Der Bewegungstherapeut kam täglich, und täglich waren auch Fortschritte zu verzeichnen. Nur was die medialen Fähigkeiten betraf, so druckte der Computer selten mehr als den normalen Zufallswert, den jeder erreicht, dem dieses Spiel auf die Dauer nicht zu eintönig wird.
An einem Vormittag hatten sie sich in der Halle versammelt, alle, auch der Skeptiker Jeroen, auch Schröder, der Journalist der »Abendpost«. Kevington berichtete. Es war ein kurzer Bericht. Der Computer-Ausdruck ging von Hand zu Hand. »Merkwürdig«, sagte Palm, »wie so eine Begabung verschwindet.« »Ja.« Kevington sah in die Runde, atmete tief, zuckte die Schultern. »Wo war sie lokalisiert? Das müßte doch jetzt herauszufinden sein, sollte man meinen. Wir kennen die verletzten Teile des Gehirns…« Sibilla lachte, es war ein sarkastisches Lachen. »Reinschauen in den Kopf, ja? Den Sender suchen, die Antenne für PSI! Ich dachte, von diesem rein materialistischen Bild sind wir abgerückt?! Der Mensch als Maschine, sein Kopf ein biologisches Radio, der Organismus ein funktionierendes Räderwerk…« Sie trat zu der Terrassentür, die geschlossen war. Draußen in der Sonne, in einem alten Korbstuhl unter Decken vergraben, lag Petra. Die ersten Herbstblätter wehten von den Bäumen. Sie schien sie einzeln mit ihren Blicken verfolgen zu wollen. Palm trat zu Sibilla. »Ohne weiteren Anlaß haben wir kein Recht, sie festzuhalten. Sie hat Geld – ihre Familie…« »Geld hat sie nicht«, entgegnete Sibilla. »Ich dachte…« Aber Sibilla unterbrach Palm: »Nein. Nichts. Das hing vielleicht mit ihrem Freund zusammen. Das ist weg. Sie hat nichts!« »Nur nicht sentimental werden!« Jeroen mischte sich ein. »Sie erhält immerhin zehntausend Mark aus dem Etat des Blauen Palais. Oder? Versprochen ist doch versprochen…« »Ja, natürlich«, sagte Palm. »Natürlich erhält sie das Geld.«
»Tja«, Schröder, der Journalist, blickte in die Runde, »das war’s doch wohl, oder?« Er ging zur Terrassentür, öffnete sie, wandte sich um: »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an. Die Story geht für nächstes Wochenende in Druck. Inklusive Spendenkonto. Wenn’s was zum Heulen gibt, geht auch was ein für das Mädchen. Da bin ich sicher.« Er nickte, dann trat er hinaus. »So, jetzt geht’s nach Hause!« Er packte Petra aus den Decken, nahm sie vorsichtig hoch, trug sie über die Terrasse, zurück zur Tür, quer durch die Halle, vorbei an allen, die betreten herumstanden, und verschwand, als Kühn das schwere Tor geöffnet hatte, durch das Portal zum Hof. Kevington ging in die Ecke, griff zu Mantel und Koffer. »Ich weiß ja noch nicht, was er schreiben wird«, sagte er, »aber viele werden sagen: ein Spiel des Zufalls, nichts weiter. Ein Irrtum, merkwürdiges Zusammentreffen seltsamer Ereignisse – oder wie?« Er zog seinen Mantel an, einen ausgewaschenen Trench, stülpte sich den alten Pepitahut auf den Kopf. »Ja, nach diesem Ausflug in die Sphäre der Parapsychologie möchte ich mich verabschieden. Ich fliege heute noch nach London. Leeds University. Man hat dort bei der Zertrümmerung des Atomkerns durch kosmische Strahlung geheimnisvolle Partikel entdeckt. Man hat sie ›Mandelas‹ getauft. Vielleicht sind es die langgesuchten Urbausteine der Materie, die sagenhaften Quarks, wer weiß.« Er nahm seinen Koffer hoch, wandte sich zur Tür. »Schröder nimmt mich mit. Ich möchte ihn nicht warten lassen. Machen wir’s kurz. Ich sage auf Wiedersehen…« Er nickte allen zu und verschwand aus dem Haus. Sibilla zögerte, dann lief sie hinterher – aber nicht, um Kevington nochmals zu sprechen. Sie trat zu Schröders Wagen. Die Tür stand offen. Petra lag auf dem Rücksitz und sah Sibilla erwartungsvoll entgegen. »Ich habe gewußt, daß du kommst«, sagte sie und
lächelte. Und dann zog sie Sibilla an sich, umarmte sie. »Dank dir für alles…« Sibilla nickte nur. Nach Reden war ihr nicht zumute. »Und weißt du«, fuhr Petra fort, »eigentlich bin ich froh…« »Froh?« Sibilla richtete sich auf, sah Petra fragend an. »Worüber froh?« »Froh über alles. Daß ich es nicht mehr kann, verstehst du, daß es nicht mehr funktioniert in meinem Kopf, daß das vorbei ist…« Sie schien tatsächlich erleichtert, wirkte frei und erlöst. Schröder hatte dicht dabeigestanden, hatte jedes Wort gehört und sich den Schluß für seine Story gut eingeprägt. Er warf Kevingtons Koffer in den Wagen, stieg ein. Kevington nahm neben ihm Platz, winkte zum Abschied einen kurzen Gruß. Auch Petra winkte, bis der Wagen das Tor verlassen hatte. Alle standen auf den Stufen des Portals, sahen ihr nach. Sibilla wandte sich als erste ab und ging schnell hinein.