Das Land im Mahlstrom Die Saga von Erik Hellauge, Teil II von Harald Münzer Die Saga von Erik Hellauge Wir schreiben da...
8 downloads
926 Views
606KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Land im Mahlstrom Die Saga von Erik Hellauge, Teil II von Harald Münzer Die Saga von Erik Hellauge Wir schreiben das Jahr 984 nach Christus. Im Gefolge Eriks des Roten sticht das Drachenschiff Hengist in See, um jenseits des Atlantik neue Länder zu erobern und neue Reiche zu gründen. Da geschieht das Unfaßbare: Mitten im Nordatlantik reißt plötzlich ein riesiger Wassertrichter auf und zieht den größten Teil der Flotte in seinen tödlichen Strudel. Wer überlebt, den erwarten gnadenlose, schuppige Seeungeheuer. Nur die Mannschaft des Hengist überlebt das tödliche Chaos doch nur, um noch entsetzlicheren Schrecken entgegenzufahren, die sie in der von giftigem Tang bedeckten Sargasso-See erwarten. Hier ist das Reich des Grauen Magiers, der mit seinem Heer von Untoten eine furchterregende Herrschaft ausübt. Zu den Männern an Bord des Drachenschiffes zählt der junge Krieger Erik Hellauge. Ihm sind während der Höllenfahrt des Hengist die Raben des Gottes Odin erschienen, und seitdem weiß er, daß das Auge des Gottes auf ihm und seinen Gefährten ruht. Außerdem sind da noch Ansgar Blutaxt, der Kapitän und Jarl ihrer Gefolgschaft; Skallagrim Prahlmaul, Eriks geschworener Feind; Gisle, der Krieger ohne Gedächtnis, den sie aus dem Mahlstrom gerettet haben, sowie Euchar, der junge fränkische Missionar, und Xia, ein blauhäutiger Krieger aus dem Land im Mahlstrom. Beide waren Gefangene des Grauen Magiers, doch sie konnten entkommen, und sie erzählen den Wikingern, daß noch manche ihrer Landsleute in den nassen Kerkern des Tangpalastes darben. Tollkühn wagen die Männer des Hengist ein Rettungsunternehmen. Doch ihr Schiff verfängt sich in den lebenden Pflanzen des Sargasso-Meeres. Nur zwei vollbesetzte Boote können der Falle entkommen. Ziellos treiben sie unter fremden Monden über ein unbekanntes Meer. Bleischwer dämmert der Morgen herauf. Und hier beginnt der zweite Teil der Saga von Erik Hellauge. Sie sind Wikinger, harte, zu allem entschlossene Männer, und der junge Krieger Erik Hellauge ist einer von ihnen. Ein unfaßbares Schicksal hat sie vom Antlitz der Erde hinweggerissen und in eine phantastische neue Welt verschlagen. Sie kämpfen um ihr Überleben - gegen eine Macht, die schrecklicher ist als alles, wovon die Sagen des Nordens berichten, und in einem Land, in dem sie ewig Fremdlinge bleiben werden.
»Ein Schiff! Da ist ein Schiff!« Die heisere, aufgeregte Stimme drang durch Erik Hellauges unruhigen Schlaf und weckte ihn auf. Langsam öffnete er die Augen und starrte blind und benommen in den grauen Nebel, der wie ein feuchter Lappen über dem Hengist lag. Rechts und links von ihm regten sich andere Männer; er konnte ihre verschwitzten Körper riechen, ihre Ellbogen und Knie schmerzhaft an seinem Leib spüren. Unter seinem Rücken breitete sich auf dem rauhen Holz eine flache Pfütze aus. Seine Kleider juckten ihm auf der Haut. Und er hatte Hunger. Sein Magen war ein einziger großer Krampf, ein Wühlen und Stechen, das ihm gräßliche Träume beschert hatte. Er hatte geträumt, daß er sich gar nicht mehr an Bord des Hengist befand, sondern auf einem kleinen Boot, ein Boot, welches überladen und halb mit Wasser vollgelaufen durch die Tangwüsten eines fremden Ozeans irrte, auf einer Welt mit zwei Monden, die nicht ihre eigene war. Ein Boot, vollgestopft mit neunzehn Männern, die seit drei Tagen nichts mehr zu essen gesehen hatten und ihren Durst nur mit dem spärlichen Regenwasser stillen konnten, das sie in ihren Kleiderfetzen sammelten, da die Fluten des Tangmeeres bitter und ungenießbar waren, selbst nach der Entsalzung. Und er hatte geträumt… Mit einem Ruck richtete er sich auf. Nein, er hatte das nicht geträumt. Er befand sich tatsächlich nicht mehr an Bord des Hengist, ihres Drachenbootes. Den hatten, vor nunmehr zehn Tagen, die gespenstischen Armeen des Grauen Magiers gekapert, nahe dem geheimnisvollen Tangpalast im Zentrum der Sargassosee. (Siehe FANTASY, Band 19: »Die Höllenfahrt des Hengist« von Harald Münzer) Und seitdem befanden sie sich auf der Flucht. Nicht, daß sie je einen Verfolger zu Gesicht bekommen hätten. Aber trotzdem rechneten sie seit zehn Tagen jeden Augenblick mit einem heimtückischen Angriff der Schergen des Magiers, sei es aus der Nacht heraus oder aus den stumpfgrauen Nebeln, die die Sargassosee übertags in ihrem klammen Würgegriff hielten. Und dieser Angriff konnte jede erdenkliche Form annehmen. Der Mann im Bug - der den Posten des Ausgucks wahrnahm, solange Erik Hellauge schlief - hatte etwas von einem Schiff gesagt. Erst jetzt wurde der junge Wikinger richtig wach. Seine frisch vernarbte Hand, die er sich beim Rudern übel zugerichtet hatte, fuhr zum Knauf seines Schlangenschwertes, des einzigen Erbstücks seines viel zu früh verstorbenen Vaters. Obwohl die Klinge nur schlecht war und viel zu leicht stumpf wurde, glaubte er seit seiner Begegnung mit den Odinsraben Hugin und Munin doch, daß sie einer besonderen Bestimmung
unterlag, die ihm zur rechten Zeit noch offenbart werden würde. Im Augenblick jedoch dachte er nicht daran. Er verspürte nur das Bedürfnis in sich, die Klinge in die verrotteten Leiber der lebenden Toten zu stoßen, die das Schiff bevölkerten, wenn es sich dabei wirklich um ein Fahrzeug aus der Flotte des Grauen Magiers handelte. Er hatte schon einmal gegen diese Untoten gekämpft und sich dabei seine erste Schlachtnarbe geholt, das äußerliche Zeichen seines Mannesmuts und Kriegertums. Auch diesmal würde er wieder in der ersten Reihe der Krieger stehen, wenn es zu kämpfen galt! Eine schwere Hand legte sich auf seinen Unterarm, bevor er die Klinge auch nur halb aus der Scheide gebracht hatte. »Na, na, Welpe«, dröhnte die tiefe Stimme Ansgar Blutaxts, des Jarls ihrer Gefolgschaft, dicht an seinem Ohr. »Nicht so heftig, sonst bringst du noch unser kleines Bötchen zum Kentern, und dann kannst du mit den Fischen auf dem Grund des Ozeans kämpfen.« Beschämt schob Erik die Klinge zurück, löste widerstrebend seine Finger von ihrem verzierten Schlangengriff. Natürlich hatte der kriegserfahrene Jarl recht, aber wenn nun einmal das Kämpferblut so heiß in seinen Adern pochte…! Vorsichtig richtete er sich noch weiter auf, starrte an Ansgars massigem Leib vorbei in das nebelige Grau. Seine Position war kaum schlechter als die des diensttuenden Ausguckmannes, - Grimolf, wie er sich erinnerte. Schließlich war das kleine Boot kaum wenige Schritte lang, und er hatte überdies die besseren Augen; nicht zufällig trug er den Ehrennamen »Hellauge«. Was er sah, ließ ihn den Atem anhalten. Das Schiff, das vor ihnen aus den treibenden Nebelschwaden aufgetaucht war, war riesig! Zumindest wirkte es riesig, auch wenn es nur dreißig Schritt messen mochte, also kaum die Hälfte der Länge des Hengist. Dafür aber hatte es ein viel höheres Bord und mächtige Aufbauten an Bück und Heck - Kastelle, wie man sie auf seiner eigenen Welt bei fränkischen und maurischen Schiffen fand. An einem hohen Mast, der sich nach oben hin im Nebel verlor, flatterten in fremdartiger Weise getakelte Segel. Der junge Wikinger schaute noch einmal hin, weil er seinen Augen nicht traute, doch der Anblick blieb der gleiche. Die Segel bewegten sich wie unter einer steifen Brise - und das, obwohl kein Wind wehte und das unheimliche, pechschwarze Schiff auch keine Fahrt machte… »Dunkle Magie!« flüsterte ein erschrockener Athelstane hinter ihnen. Auch er schien das widernatürliche Verhalten der Segel bemerkt zu haben.
»Na, daran sollten wir doch inzwischen gewöhnt sein«, erwiderte sein Freund Cormac, neben Athelstane der einzige Angelsachse in der Besatzung des Hengist. Aus seinem blonden Schnauzbart, der sein grobes Gesicht auch nicht gerade verschönte, troff Nässe über sein Kinn herab. »Auf dieser Welt sind wir doch bisher auf fast nichts anderes gestoßen«, fuhr er fort. »Ich würde mich über einen redlichen Kampf freuen, der nicht meilenweit nach übler Zauberei stinkt - nur so, mit einer guten Klinge.« Seine Lippen, soweit man sie unter dem buschigen Schnauzbart sehen konnte, verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen. Überall auf dem kleinen Boot - sie hatten ihm keinen Namen gegeben, wie um zu beschwören, daß sie bald wieder auf dem Hengist segeln würden, ihrem eigentlichen Wellenroß - regten sich jetzt schlaftrunkene Männer. Auch auf dem zweiten Boot, das unter dem Kommando von Ansgars Stellvertreter Thormod Graubart ein Stückchen weiter hinten folgte, entstand unruhige Bewegung, wurden kehlige Stimmen laut. Dort hatte man das schwarze Schiff ebenfalls bemerkt. Erik sah, daß Thormod offenbar den Befehl zum Aufschließen gegeben hatte, denn das andere Boot kam nun vorsichtig näher, von vier Männern mit Rudern gepullt. Mindestens vier andere Männer würden jetzt wie die Berserker am Schöpfen sein, um das bei diesem Manöver hereinschlagende Wasser wieder über Bord zu befördern; so beängstigend tief lagen die beiden Boote. Die ganzen zehn Tage hatten sie nicht nur in der Angst vor einem Überfall, sondern auch in der Angst vor einem Sturm oder einfach nur etwas rauherer See gelebt. Wenn eine Woge über diese völlig überladenen Bötchen hereinbrach, waren sie alle verloren. Und jeder an Bord wußte das. Plötzlich begriff Erik, daß das gespenstische schwarze Schiff vor ihnen die Lösung all ihrer Probleme sein mochte. Gelang es ihnen, es zu erobern, konnten sie die beiden Boote aufgeben und waren so gut wie in Sicherheit. Denn mit einem einigermaßen seetüchtigen Schiff würde es ihnen keine Mühe bereiten. Ihr vorläufiges Ziel zu erreichen - die Insel der Schildkrötenkrieger. Dies setzte natürlich voraus, daß sich an Bord auch ausreichend Nahrungsmittel und Frischwasser befanden. Aber das ließ sich ja herausfinden. Auch Ansgar Blutaxt schien auf diese Idee gekommen zu sein. »Seht ihr irgendwen an Bord?« fragte er seine Männer, die Augen begehrlich auf das fremde Schiff gerichtet. »Ich meine, da regt sich doch nichts, oder? Vielleicht liegen ja alle unter Deck und schlafen ihren Rausch aus. Oder es ist ein Geisterschiff, das sich irgendwann vom Anker losgerissen hat und jetzt ohne Besatzung umhertreibt. Am besten, wir schauen mal
selber nach.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich unter den hungrigen, vor Nässe und Enge steifen Männern. Angesichts der neu erwachten Hoffnung schienen sie alle magische Furcht vergessen zu haben, die eben noch in ihren Herzen genistet hatte. Nur Erik Hellauge ließ seinen Blick mißtrauisch hinauf zu den in einem nicht vorhandenen Wind flatternden Segeln schweifen, um die sich immer mehr grauer Nebel ballte - als wolle er sie den aufmerksamen Augen des jungen Wikingerkriegers und Ausguckmannes entziehen. Von der unbändigen Kampfeslust, die ihn unmittelbar nach dem Aufwachen erfüllt hatte, konnte er nichts mehr spüren. Jetzt war da nur noch ein tiefgreifendes Mißtrauen gegenüber diesem so plötzlich aufgetauchten Schiff, dieser geradezu beängstigend günstigen Gelegenheit, ihrer mißlichen Lage ein für allemal zu entrinnen. Wenn sie an Bord dieses Schiffes gingen, das wußte Erik Hellauge, dann liefen sie in eine sorgfältig vorbereitete Falle, aus der es kein Entkommen gab. »Jarl«, sagte er mit belegter Stimme in das Gemurmel der Männer hinein, »ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Wie Athelstane schon sagte, es ist Magie im Spiel. Ich glaube nicht, daß das Heil mit uns sein wird, wenn wir den Angriff wagen.« Ansgar Blutaxt starrte ihn überrascht an. In seinen blutunterlaufenen Augen blitzte es verdächtig auf. »Vorahnungen, Welpe?« bellte er. »Zeig her - wird deine Haut jetzt langsam blau?« Er deutete beiläufig mit dem Daumen auf Xia, den Schildkrötenkrieger, der sich im Heck des Bootes halb auf einen Ellbogen aufgerichtet hatte und die Vorgänge aufmerksam verfolgte. Sein fränkischer Freund Euchar - der einzige, der seine fremdartige Trillersprache beherrschte - hielt ihn mit geflüsterten Worten über das auf dem laufenden, was zwischen den Wikingern gesprochen wurde. Euchar war es auch gewesen, der von den seltsamen hellseherischen Fähigkeiten des blauhäutigen Schildkrötenkriegers berichtet hatte - eine Geschichte, die wie vieles, was er erzählte, von Ansgar und seinen Männern eher belächelt als ernstgenommen wurde. War er doch einer jener verhaßten christlichen Missionare, vor denen die Mannschaft des Hengist seinerzeit aus Norwegen geflohen war, um weiterhin ein wildes, ungebundenes Leben ohne die fremden, vom Norwegerkönig Harald Schönhaar übernommenen Regeln und Gesetze führen zu können! Mit einem Anflug von Röte im Gesicht ließ Erik Hellauge den Blick sinken.
Rings um ihn begannen ein paar Männer leise zu lachen und ihre Waffen zu zücken. Jarl Ansgar nickte den Männern an den Rudern zu: dem bärenstarken Dänen Rollo, den Zwillingsbrüdern Floke und Gunnlaug - und: Gisle, dem Krieger ohne Gedächtnis, den sie aus dem tobenden Mahlstrom zwischen den Welten gerettet hatten und der nun zu den treuesten und mutigsten Gefolgsleuten Ansgars zählte. Riemen tauchten, in die tangverseuchte See. Langsam schoben sie das Boot zwischen den klammernden Tangsträngen der Fahrrinne hindurch auf das reglos wartende schwarze Schiff zu. Ansgar gab Thormod auf dem anderen Boot das Signal, zu folgen. Und mit jedem Riemenschlag wurde das Gefühl drohenden Unheils in Erik stärker. Entschlossen hob er den Kopf. »Wenn du schon meinen Vorahnungen nicht traust, dann frag wenigstens Xia, Jarl. Euchar sagt, daß er bei seinem Stamm ein mächtiger Schamane ist, weil seine Vorahnungen ihn nicht trügen.« Ansgar Blutaxt richtete sich langsam auf. Die Axt blinkte in seiner schwieligen Rechten. Es war nicht jene berühmte Waffe, die ihm seinen Namen gegeben hatte - die ruhte auf dem Grunde des Mahlstroms, unerreichbar für ihren Besitzer. Aber auch mit dieser Waffe würde er von seinen Feinden gefürchtet werden. Dafür garantierten seine langjährige Kampferfahrung und die mächtigen Muskeln, die sich unter seinem Wams spannten. Erik hoffte nur, daß der Jarl nicht eines Tages im Zorn die Axt gegen ihn erhob. Selbst wenn er sich hätte wehren dürfen - was aber die Ehre verbot -, hätte er in einem solchen Fall nicht die geringste Chance gegen den bärenstarken Kriegshäuptling gehabt. Und wie Ansgar ihn nun ansah… Der junge Ausguckmann schluckte. Der abschätzige Blick des Jarl war so durchdringend, daß Erik für einen Augenblick sogar den beißenden Hunger vergaß, der immer noch in seinen Eingeweiden nagte. Aber er schlug die Augen nicht noch einmal nieder. »Na gut«, knurrte Ansgar Blutaxt plötzlich. »Schaden kann es ja nichts. He Euchar, was sagt dein blauhäutiger Freund zu diesem Schiff? Können wir unbesorgt an Bord gehen, oder erwarten uns dort Dinge, denen unsere Äxte und Schwerter nicht gewachsen sind?« »Ich werde ihn fragen, Jarl.« Euchar, dessen Augen in dem bärtigen, von Hunger und Entbehrungen gezeichneten Gesicht wie halb erloschene Kohlen glommen, übersetzte Xia rasch die Frage des Jarl. Dann lauschte er aufmerksam der Antwort. Diese bestand aus einer Folge von hohen Trillerlauten, die eher der Kehle
eines Vogels als der eines menschlichen Wesens zu entstammen schienen. Sie standen in einem seltsamen Widerspruch zu dem prachtvoll entwickelten Körper des Schildkrötenkriegers. Und außer Erik und dem schweigsamen Gisle machten sich auch fast alle Männer darüber lustig, insbesondere Skallagrim Prahlmaul und sein isländischer Freund Skeggi, Eriks Feinde, die sich zum Glück auf dem anderen Boot befanden. Euchar wandte sich wieder an den Jarl. »Er meint, er habe keinerlei Vorahnungen gehabt und könne darum auch nichts über die Gefahren eines Angriffs sagen«, berichtete er mit einem bedauernden Achselzucken. »Aber auch ihm gefällt dieses Schiff nicht. Er hat so eines noch nie gesehen. Keines der Völker, die den Schildkrötenkriegern bekannt sind, benutzt solche Fahrzeuge.« »Auch der Graue Magier nicht?« Ein schnelles Hin- und Herübersetzen, dann bestätigte Euchar: »Auch der Graue Magier nicht. Er sagt, es sei völlig fremdartig.« Ansgar Blutaxts Gesicht hellte sich auf. Langsam drehte er den Kopf, bis er geradewegs Erik ansah. »Da hörst du es«, sagte er. »Es ist kein Schiff des Grauen Magiers. Also können wir unbesorgt an Bord gehen - mit allem anderen werden wir fertig. Bist du jetzt zufrieden?« Der junge Ausguckmann nickte stumm. Aber in seinem Inneren wuchs das Gefühl drohender Gefahr immer mehr an, bis es zu einer schwarzen Woge wurde, die über ihm zusammenzuschlagen drohte. Er mußte sich auf die Lippen beißen, um seine Befürchtungen nicht laut hinauszuschreien. »Ich gehe mit vier Männern«, fuhr der Jarl fort, und sein Blick ließ Eriks Augen nicht los. »Das ist eine gute Gelegenheit für einen jungen Krieger, sich zu bewähren.« Dann wandte Ansgar sich rasch um, daß das Boot ein wenig ins Schwanken geriet und Seewasser über das tiefliegende Bord schwappte, wie um die Krieger daran zu erinnern, wie feindlich ihnen diese Welt gesonnen war, in die sie ohne ihren Willen und ihr Zutun geraten waren. »Gisle, Wölund und Geitir, ihr kommt auch mit. Die anderen halten sich bereit, auf unser Zeichen zu folgen. Aber ich nehme nicht an, daß das nötig sein wird. Wenn sich eine Menschenseele auf diesem Schiff befinden würde, hätte sie sich schon längst gerührt.« Ein Schauer lief Eriks Rücken hinunter. Keine Menschenseele. O ja, damit hatte Ansgar höchstwahrscheinlich recht. Aber das war es ja gerade, was ihn so beunruhigte. Wenn sie auf dem anderen Schiff keine Menschenseele vorfanden - wer
oder was erwartete sie wohl statt dessen dort?
* Das schwarze Schiff ragte wie eine Mauer im Nebel über ihnen auf, als ihr kleines Boot mit einem dumpfen Schaben an seinem Rumpf entlangstrich und schließlich sanft dümpelnd zum Halten kam. Vorsichtig, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, beugte sich Ansgar Blutaxt vor und berührte mit prüfenden Fingern die Planken des Kolosses, die ohne deutlich sichtbare Fugen ineinander übergingen. Seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten, und unwillkürlich zog er die Finger beinahe angewidert wieder zurück. Seltsam, wie ölig sich diese Planken anfühlten… beinahe wie eingefettetes Leder! Sie glitzerten auch vor abperlender Nässe. Was war das für ein Holz? Oder hatten die Schiffsbauer es nur auf besondere Art behandelt, um zu verhindern, daß es in dem hier herrschenden feuchtwarmen Klima allzu schnell verrottete? »Ich bin soweit.« Die Stimme Wölunds, eines der Männer, die ihn bei der, Erkundung des fremden Schiffes begleiten sollten, riß den Jarl aus seinen Gedanken. Langsam wandte er sich um. Seine Augen wanderten von Wölunds grinsendem Gesicht hinunter zu den knorrigen Händen des Kriegers, in denen eine Wurfschlinge und das dazugehörige Stück Seil baumelte. In jungen Jahren war Wölund der beste Kletterer im Umkreis von vielen hundert Meilen um seinen Heimathof gewesen. Noch heute trug er den Ehrennamen die Gemse, auch wenn er langsam zu alt für die wirklich hohen Berge geworden war. Aber diese Schiffswand - vier oder fünf Mannslängen hoch - würde er jederzeit selbst im Schlaf bewältigen. »Dann los.« Ansgar nickte dem Alten aufmunternd zu. Schneller, als die Augen des Jarls verfolgen konnten, wirbelte das Seil hoch durch die Luft. Die Schlinge verschwand über der Reling des schwarzen Schiffes und senkte sich dahinter auf das unsichtbare Deck. Wölund wartete einen Moment, dann zog er behutsam am Seil. Es kam zurück, eine Schlange aus Hanf, die sich in weiten Windungen über die Männer im Boot legte. Wölund grinste entschuldigend, sammelte die Windungen ein und rollte das Seil zu einem neuen Wurf locker in der Hand zusammen. Wieder zischte die Schlinge davon, geriet außer Sicht. Diesmal schien sie sich irgendwo festgehakt zu haben; denn als Wölund daran zerrte, geschah nichts. Er zog noch einmal, fester. Dann hängte er sich mit seinem ganzen
Gewicht daran. »Die hält.« Ansgar Blutaxt nickte zufrieden. »Gut. Ich gehe zuerst.« Er nahm Wölund das Seil aus der Hand, schlang es sich einmal um den Leib und machte sich geschickt an den Aufstieg, die Füße in den Fellstiefeln gegen die Bordwand gestemmt. Es war kein angenehmes Klettern. Mehr als einmal wäre der Jarl beinahe auf der glitschigen Wandung ausgerutscht. Aber als er oben war, ging sein Atem nur unmerklich schwerer. Mit einem Blick über die niedrige Reling überzeugte er sich, daß an Deck weit und breit niemand zu sehen war. Dann schwang er sich behende hinüber. Noch bevor er sich das Seil abwickelte und es über die Bordwand zurück nach unten warf, fuhr seine schwielige Hand zur Axt und zog sie aus dem Gürtel. Noch einmal ließ Ansgar Blutaxt seinen Blick über das Deck schweifen. Seltsam nackt und verlassen lag es im allgegenwärtigen Nebel da, eine Fläche von kaum fünfzehn Schritten im Geviert, in deren Mitte der dicke, kahle Mast aufragte. Nichts deutete darauf hin, daß jemals Menschen dieses Deck bevölkert hatten - keine achtlos liegengelassenen Tauenden, keine leergetrunkenen Weinschläuche, keine Messer, die neben angefangenen Schnitzarbeiten aus Treibholz in den Planken staken. Ansgar Blutaxt hatte noch nie in seinem Leben ein so ordentlich aufgeräumtes Deck gesehen, und er war auf vielen Schiffen gefahren. Hatte sich das schwarze Schiff von der Reede losgerissen, bevor es von seiner Mannschaft in Besitz genommen werden konnte? Aber wo waren dann die Spuren der Zimmerleute, die Hämmer, Holznägel und Töpfe zum Kalfatern? Und warum dann die volle Beseglung hoch droben am Mast? Viele Fragen, auf die es jetzt noch keine Antworten gab. Aber vielleicht würden sie sie ja unter Deck finden, im Inneren des mächtigen Rumpfes, der einer riesigen Zahl von Männern, Tieren und Frachtstücken Platz bieten mußte. Trotz seiner geringen Länge, überlegte Ansgar, war das Schiff viel aufnahmefähiger als ein Drachenboot der Wikinger. Aber dafür mußte es sicher mit verringerter Schnelligkeit und Beweglichkeit bezahlen. Und bei ausgedehnten Flauten würde es sich wohl kaum so gut rudern lassen. Nein, für die schnelle, kriegerische Lebensweise eines Wikingers war dieses Schiff gewiß nicht geeignet. Aber es würde ausreichen, um sie zu den Inseln der Schildkrötenkrieger zu tragen. Und vielleicht konnte man es auch dazu verwenden, große Men-
gen von Kämpfern zu transportieren, was beim Angriff auf den Grauen Magier von Nutzen sein mochte. Im Stillen beglückwünschte sich Ansgar noch einmal dazu, daß sie in der endlosen Weite des Tangmeeres durch eine günstige Fügung des Schicksals gerade auf dieses Schiff gestoßen waren - auch wenn es selbst ihm ein bißchen unheimlich vorkam. Dies jedoch würde er seinen Männern gegenüber niemals zeigen. Schließlich war er der Jarl dieser Gefolgschaft und nicht irgendein verängstigter, winselnder Welpe wie dieser Erik Hellauge! Wie von seinen Gedanken gerufen, erschien der junge Ausguckmann just in diesem Augenblick aus den Nebeln über der Reling. Sein jungenhaftes, noch kaum vernarbtes Gesicht war bleich und zuckte vor Nervosität, als seine Fellschuhe das Deck berührten. Aber immerhin schien seine Rechte, die das Schwert aus der Scheide zog, nicht zu zittern. Eine seltsame Wärme stieg in Ansgar Blutaxt auf, als er den kaum fünfzehn Lenze zählenden Burschen musterte. Das Gefühl verärgerte ihn, und er überspielte es mit Barschheit. »Du deckst mir den Rücken, Welpe«, knurrte er Erik an. »Ich will mir die Tür zum Heckkastell ansehen, und während dieser Zeit möchte ich nicht von hinten überrascht werden.« »Ja, Jarl.« Der Junge nickte mannhaft. »Immer noch keine Spur von der Besatzung?« »Nichts.« Mit vorsichtigen, raumgreifenden Schritten legte der graubärtige Kriegshäuptling die kurze Entfernung bis zum Heckkastell zurück. Er war sich sicher, daß Erik seine Aufgabe gewissenhaft erfüllen und ihn gegen jeden plötzlichen Angriff schützen würde. Entschlossen rüttelte er am Knauf der Tür des Kastells. Sie öffnete sich nicht, ja, bewegte sich nicht einmal in ihren Fugen. Jemand mußte sie von innen mit starken Riegeln verschlossen haben. »Sollen wir sie aufsprengen?« Das war Wölund, der als schneller Kletterer das Deck fast unmittelbar hinter Erik Hellauge erreicht hatte und nun zu seinem Jarl trat. »Mit dem Schwert müßte das ohne Schwierigkeiten gehen.« Ansgar rüttelte noch einmal, dann gab er die fruchtlosen Versuche auf. »Erst sollten wir mal die Tür am Bugkastell probieren. Wir erregen noch früh genug unliebsame Aufmerksamkeit, wenn hier doch jemand lebt.« Wölund nickte ergeben und folgte dem Jarl hinüber zum anderen Kastell. Unterwegs schloß sich ihnen noch Gisle an, der vierte Mann ihres kleinen Trupps. Dem Krieger ohne Gedächtnis schien das leere, bis auf ihre im Nebel
seltsam verloren klingenden Stimmen und das Schlurfen ihrer Fellschuhe stumme Deck ebenfalls nicht ganz geheuer zu sein; denn er umklammerte sein Schwert viel fester, als nötig gewesen wäre. »Ebenfalls verriegelt«, berichtete Wölund, der auf einen Wink Ansgars hin versucht hatte, die Tür zu öffnen. »Scheint, daß wir nur mit Gewalt hineinkommen.« »Dann brich sie auf.« Inzwischen hatte auch der fünfte Mann, Geitir Flachnase - seine Nase war vor vielen Jahren bei einem Streit mit einem Knüppel eingeschlagen worden -, das Deck erreicht. Zusammen, so befand Ansgar, würden sie stark genug sein, um einen ersten Ansturm von Kriegern aus dem Bauch des schwarzen Schiffes zu trotzen, bis Verstärkung eintraf. »Ja, Jarl.« Mit einem entschlossenen Ruck trieb Wölund die Spitze seiner Klinge in den Spalt zwischen Tür und Wand. Ansgar sah, daß er verblüfft die Stirn runzelte, als sein Schwert nach anfänglichem Widerstand plötzlich tief in den Spalt eindrang, als hätte er es in einen Klumpen Butter gestoßen. Entlang der beidseitig geschliffenen Klinge begannen klebrige gelbe Tröpfchen zu rinnen, ein steter Strom, der Ansgar trotz seiner Farbe unwillkürlich an Blut erinnerte. Aber das war natürlich unsinnig. Hatte Wölund vielleicht ein Tran- oder Ölfaß angestochen, das direkt hinter der Tür stand? Wölund selbst schien das ebenfalls zu glauben. »Die haben sich mit Fässern verbarrikadiert«, meinte er. »Ich möchte nur wissen…« Ansgar Blutaxt sollte nie mehr erfahren, was Wölund die Gemse gerne gewußte hätte. Denn in diesem Augenblick brach das Unheil über das kleine Kriegerkommando herein! * Es begann beinahe harmlos mit einem leichten Kräuseln des Decks unter ihren Füßen, einer Bewegung wie an der Wasseroberfläche eines Tümpels, in den jemand einen Stein geworfen hatte. Die Erschütterung war nicht heftig genug, um die Männer umzuwerfen, aber sie genügte, um Wölund verstummen zu lassen. Seine Augen weiteten sich in übernatürlichem Schrecken, als er auf das hinunterstarrte, was er eben noch für feste Holzplanken gehalten hatte. Und dann durchschnitt Erik Hellauges Aufschrei die mit einem Mal äußerst bedrohlich gewordene Stille. Ansgar Blutaxts Kopf ruckte hoch. Aus der Takelage über ihm kam etwas
wie ein Seilende herabgepfiffen, peitschte um Haaresbreite an seinem mächtigen Schädel vorbei und wickelte sich mit dem häßlichen Geräusch eines dünnen Lederriemens, der auf nackte Haut trifft, um Wölunds Handgelenk. Der alte Krieger gab einen unterdrückten Laut von sich, mehr vor Überraschung als vor Schmerz. Er ließ das Schwert los, das immer noch bis zum Heft in dem Türspalt stak, und krallte mit den knotigen Fingern der anderen Hand nach der schwarzen, mehrfach um sein Handgelenk geschlungenen Fessel. Aber es war sinnlos - er vermochte sich nicht zu befreien. Die Hand verfärbte sich blau. Blut aus der vom Hieb aufgeplatzten Haut lief über seinen nackten Unterarm. Ohne nachzudenken, sprang Ansgar einen Schritt zurück. Er wußte nicht, warum, aber er hatte das sichere Gefühl, daß er Wölund sofort befreien mußte, ehe Schlimmeres geschah. Er holte mit der Axt zu einem mächtigen Streich aus, um das Seil zu durchtrennen. Doch bevor er die breite, schimmernde Klinge niedersausen lassen konnte, ging Wölunds überraschtes Aufstöhnen in ein verzweifeltes, schmerzerfülltes Kreischen über. Mit einem Ruck zog sich das schwarze Seil zusammen. Wie ein Messer schnitt sie durch Knochen und Sehnen und trennte Wölunds Hand vom Gelenk. Das Blut, das aus Wölunds Armstumpf schoß, besudelte Ansgar Blutaxt von Kopf bis Fuß. Hinter ihm wurden entsetzte Schreie laut - Gisle, Erik und Geitir die von der plötzlichen Entwicklung ebenso überrascht worden waren wie ihr Jarl. Aber Ansgar achtete nicht darauf, was sie riefen. Er ließ die Axt fallen und griff hastig nach dem Handgelenk des wie erstarrt dastehenden Wölund, um durch einen festen Druck der Finger auf die pumpende Schlagader das hervorsprudelnde Blut zu stillen, bis einer seiner Männer so geistesgegenwärtig war, mit Hilfe eines Gürtels eine Adernpresse anzulegen. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen, denn plötzlich öffnete sich die Tür des Bugkastells. Nur, daß sie nicht wie eine richtige, von Menschenhand gefertigte Tür aufschwang… Sie klaffte vielmehr plötzlich einfach auf, ein roter, fleischig pulsierender Schlund mit Reihen rasiermesserscharfer weißer Zähne darin. Unter Wölund hob sich der Boden. Der Krieger taumelte direkt auf das offene Maul zu, und die Zahnreihen schlossen sich hinter ihm mit einem häßlichen Geräusch. Ansgar Blutaxt nahm sich nicht die Zeit, seine Waffe aufzuheben. Es wäre
ohnehin sinnlos gewesen; für diese Bestie konnten Äxte und Schwerter nicht viel mehr sein als lächerliche kleine Zahnstocher. Mit zwei, drei langen Sätzen war der Jarl an der Reling. Geitir war offenbar schon hinübergesprungen, denn er konnte ihn nirgendwo entdecken. Und auch Gisle und Erik setzten gerade dazu an, sich in die Tiefe zu werfen. Genau wie ihr Jarl hatten sie die wirkliche Natur des schwarzen »Schiffes« erkannt und nicht erst lange seinen Befehl abgewartet, bevor sie einen verzweifelten Versuch unternahmen, sich vor dem tobenden Ungeheuer in Sicherheit zu bringen. Der graubärtige Jarl schnellte sich über die Reling hinweg, die mit vielen kleinen Mäulern nach ihm schnappte, ihn aber um Haaresbreite verfehlte. Hinter ihm erfüllte ein Röhren die Luft, wie menschliche Ohren es noch nie vernommen hatten. Die Mäuler der Bestie, die sich als Schiff getarnt hatte, schrien hinter ihrer verlorenen Beute her. Im Vorbeifallen sah Ansgar Blutaxt, daß sich an ihrer Flanke schon wieder neue Münder öffneten. In einem davon zappelte eine winzig wirkende Gestalt, die mit Armen und Beinen um sich schlug und jämmerlich kreischte. Ansgar wußte nicht, ob es Gisle, Erik oder Geitir war. Aber er hätte in diesem Augenblick sein Heil dafür gegeben, seine Männer nicht in diese Falle geführt zu haben. Dann prallte er auf die steinharte Oberfläche des Ozeans, und Schwärze schlug über ihm zusammen. * Das erste, was Erik Hellauge wahrnahm, als er in einem Durcheinander von Armen und Beinen wieder auftauchte, waren die Schreie der Bestie und die Schreie der Männer in den beiden Booten. Hoch über ihm ragte das Ungeheuer auf. Dessen Gestalt war nun nicht länger die eines Schiffes, sondern nur noch ein alptraumhaftes Durcheinander aus Mäulern, Finnen und Tentakeln. Während Erik noch hinsah, schien sich die ganze schwarzledrige Masse in einer unmöglichen Anstrengung noch höher aufzubäumen, als wolle sie sich auf die beiden auf der Wasseroberfläche tanzenden Bötchen zu werfen, in denen entgeisterte Wikinger mit gezogenen Waffen ihrem so plötzlich aufgetauchten Feind entgegenstarrten. Erik fühlte sich unsagbar elend. Seine düstersten Vorahnungen hatten sich bestätigt - aber auf eine so gräßliche Art und Weise, wie selbst er es nicht erwartet hatte. Offenbar war es Odins Wille, daß ihre Reise hier, in-
mitten der Tangmeere einer fremden Welt, zu Ende sein sollte. »Erik! Erik!« Wassertretend drehte er sich um. Seine Faust umkrampfte immer noch den Griff des Schlangenschwertes, das er während seines Sprunges von Deck nicht losgelassen hatte. Neben ihm war der Kopf eines Mannes aus den Fluten aufgetaucht, den Erik nur anhand des durchnäßten Leinenverbandes um seine Stirn als den Gisles erkannte, des Kriegers ohne Gedächtnis, den sie aus dem Mahlstrom zwischen den Welten geborgen hatten. Auch Gisle hatte sein Schwert nicht verloren, und in seinen Augen blitzte eine animalische Wildheit, die Erik verriet, daß dieser Mann trotz ihrer fürchterlichen Lage noch lange nicht aufgegeben hatte. »Gisle!« keuchte er kurzatmig, bemüht, nichts von dem salzigen Bitterwasser zu schlucken, das sie, von Tangstricken durchsetzte, wie eine dicke Brühe umgab. »Was sollen wir tun?« »Ich…« Gisles Antwort ging in der Welle unter, die das Ungeheuer auslöste, als es in sein Element zurücksank. Würgend und spuckend kam Erik ein zweites Mal an die Oberfläche. Blind tastete er mit seiner freien Linken umher, bekam einen Arm zu fassen und klammerte sich daran fest. Es war gut, einen anderen Menschen zu spüren, seine lebendige Nähe… »Erik! Nicht!« Der Warnruf Gisles kam aus einer Entfernung von bestimmt mehreren Metern. Eine entsetzliche Erkenntnis durchzuckte Erik, und er zwang sich, die Augen zu öffnen. Aber da war es beinahe schon zu spät. Das, was er für einen Arm gehalten hatte, krümmte sich ihm in einer unmöglichen Drehung entgegen und versuchte, ihm in den Leib zu beißen. Trotz des Wasserwiderstandes stieß Erik von unten herauf mit dem Schwert zu, trieb es tief hinein in das Maul am Ende des Tentakels, der über das Wasser hinweg nach Opfern getastet hatte. Der Tentakel wich zurück. Aber Erik blieb keine Zeit, sich von dem Schrecken zu erholen. Schon schwappte eine neue Welle heran und tauchte ihn unter Wasser. Als er diesmal wieder hochkam, sah er, daß beide Boote gekentert waren. Kieloben trieben sie im Nebel, umringt von einer Schar schwimmender oder wassertretender Männer. Einige davon - Erik glaubte, unter ihnen die ungleichen Gestalten Athelstanes und Cormacs zu erkennen - versuchten sich auf eines der Boote hinaufzuziehen. Etwas Großes, Schwarzes, entfernt Segelähnliches kam auf sie zugefegt und wischte sie wieder ins Wasser zurück. Dann legte es sich wie eine Schaufel unter den algenbewachsenen Rumpf und hob ihn in einer
müheloser Bewegung an. Erik folgte ihm mit den Blicken, bis er in einem der größten Mäuler verschwand, die der junge Ausguckmann bisher bei der Bestie gesehen hatte. Das Ungeheuer schien nicht viel Unterschied zwischen Fleisch und Holz zu machen, denn knirschend schlossen sich seine Kiefer um das Boot und zermalmten es mit zwei, drei schnellen Bissen. Holzsplitter und ein paar ganze Planken rieselten an der ledrig schwarzen Außenhaut der Bestie hinunter ins Wasser. »Erik! Komm hierher. Hilf mir!« Gisle. Angetrieben von der Dringlichkeit seines Rufes, sah Erik sich suchend um. Dann entdeckte er ein ganzes Stück entfernt zwei wie Korken auf dem Wasser auf- und niederhüpfende Köpfe. Einer davon trug den charakteristischen Stirnverband des Kriegers ohne Gedächtnis. Zwischen sich hatten die Männer etwas Dunkles, das ihnen immer wieder zu entgleiten schien. Obwohl er das Schwert in der Rechten behielt, gelang es Erik, zu ihnen hinüberzuschwimmen. Erst als er unmittelbar bei ihnen war, erkannte er den zweiten Mann als Euchar. Der junge fränkische Missionar war offenbar kein besonders guter Schwimmer, denn er hielt sich mehr durch eine Art Hundepaddeln als durch wirkliche Schwimmbewegungen über Wasser. Darum war er Gisle auch keine große Hilfe bei der gemeinsamen Last. Erik packte zu und krallte seine Linke in vollgesogene Kleidung. Der halb ertrunkene Mann, den er und Gisle nun mit vereinten Kräften vor dem Wegsacken bewahrten, war Ansgar Blutaxt. Der Jarl schien kaum bei Besinnung zu sein. Seine Augen starrten blind und verständnislos in Eriks Gesicht, und sein Mund formte unverständliche Worte. »Wir müssen ihn stützen, bis sein Kopf wieder klar ist«, keuchte Gisle. »Hoffentlich kommt er bald wieder zu sich. Ich möchte nicht allzulange in der Reichweite der Bestie bleiben!« Ein rascher Rundblick zeigte Erik, daß auch die anderen Krieger auf diesen Gedanken gekommen waren. Sie schwammen in alle Richtungen davon. Einige versuchten sich hinter Tangfeldern am Rand der Fahrrinne zu verbergen. Aber Erik war sich sicher, daß die Bestie sie auch dort aufspürt, wenn sie sich erst einmal die Mühe machte. Im Augenblick war sie damit beschäftigt, den Ozean in ihrer Nähe abzuernten. Keine dreißig Schritt von der kleinen Gruppe um den halb ertrunkenen Ansgar Blutaxt entfernt, dümpelte ihr massiger, schwarzer Rumpf im Nebel. Die gellenden Schreie, die aus dieser Richtung kamen, ließen Erik Hellauge
das Blut in den Adern gefrieren. Er fragte sich, wie viele von seinen Gefährten wohl noch am Leben sein mochten. Bevor der Angriff der Bestie begann, waren sie siebenunddreißig gewesen - neununddreißig, wenn man Euchar und Xia hinzurechnete. Bei seinem Rundblick hatte er auf dem Wasser kaum noch ein Dutzend gesehen. Selbst wenn einige von ihnen vom Körper der Bestie und den treibenden Nebeln verdeckt worden waren, mußte der Tod reichliche Ernte unter den Überlebenden des Hengist gehalten haben. Wieder kam ihm sein Gedanke von vorhin in den Sinn, daß ihre Reise hier ihr Ende finden würde. Aber warum, bei allen Asengöttern, hatte Odin sie dann überhaupt von seinen Raben Hugin und Munin durch den Mahlstrom in diese Welt führen lassen? Nur um sie hier einen nach dem anderen abzuschlachten, damit er und seine Gefährten in Walhall ihre Kurzweil hatten? Tränen der Wut und der Verzweiflung ballten sich in Erik Hellauges Kehle. Obwohl er alle Mühe hatte, den immer schwerer werdenden Ansgar Blutaxt zu halten, stieß er das Schwert in seiner Rechten über die Wasseroberfläche hinaus und reckte es dem nebelverhangenen Himmel entgegen, in dem irgendwo die Götter residieren mochten. »Odin!« schrie er. »Hörst du mich? Wenn du uns jetzt nicht deine Hilfe gewährst, wie es dem wahren Jarl aller Krieger geziemt, dann werde ich dich verfluchen. Und ich werde nach Walhall kommen und dich eigenhändig mit diesem Schlangenschwert töten, weil du deine getreuen Gefolgsleute verraten hast. Odin!« Keine Reaktion. Weder spaltete sich der Himmel, um die Krieger von Walhall in die Schlacht zu entlassen noch zuckte ein Blitz herunter, um den Frevler zu zerschmettern. Nicht einmal Rabengekrächze ertönte in den nebligen Fernen. Aber dafür geschah etwas anderes. Wie als hätte sie Eriks Aufschrei vernommen, wälzte sich die schwarze Bestie herum. Augenlos, nur von ihrem Instinkt geleitet, platschte sie näher heran. An ihrer berggroßen, ledrigen Flanke klafften wie riesige Axtwunden die geifernden Mäuler, die Wölund und Geitir und viele andere verschlungen hatten. Tentakel peitschten dicht über die Wasseroberfläche dahin und tasteten in gieriger Vorfreunde nach den vier Männern, die sich nur mühsam über Wasser hielten. Sie hatten sie ausgemacht. Und diesmal würde sie sie nicht wieder entkommen lassen.
* »Laßt… laßt mich los.« Ansgar Blutaxts Stimme war schwach kaum ein heiseres Wispern. »Wir müssen uns… so gut verteidigen… wie es geht.« Unwillkürlich lockerte Erik seinen Griff, aber als er spürte, daß der Jarl abzusacken drohte, packte er sofort wieder fester zu. Auch Gisle befolgte den mühsam hervorgestoßenen Befehl nicht. »Das geht nicht«, keuchte er, die Lippen nur knapp über der Wasseroberfläche. »Wir werden dich nicht ertrinken lassen, Jarl. Erik, kannst du ihn mit einer Hand halten und trotzdem mit der anderen kämpfen?« »Ich will es versuchen.« Erik biß trotzig die Zähne zusammen. Genausowenig wie Gisle war er bereit, sich einfach in sein Schicksal zu ergeben auch wenn ihm seine Anrufung Odins nichts weiter eingebracht hatte als eine heisere Kehle und ein schmerzhaftes Stechen in der überanstrengten Brust. Langsam, unaufhaltsam, kam die Bestie näher. Der erste Tentakel schoß wie eine vorschnellende Reptilienzunge heran und strich knapp an Eriks Kopf vorbei. Er hörte einen entsetzten Aufschrei und das knallende Zusammenschnappen leerer Kiefer. Es war Euchar gewesen, der geschrien hatte. Und er mußte dem gierigen Maul am Ende des Tentakels nur in letzter Sekunde durch ein gewagtes Untertauchen entgangen sein. Ohne nachzuschauen, ob er trotz seiner geringen Schwimmkünste auch wieder an die Oberfläche kam, hackte Erik mit seinem Schlangenschwert nach dem Tentakel. Da er keinen vernünftigen Halt hatte - er konnte sich kaum ein bißchen an Ansgar Blutaxts massigem Körper abstützen -, fehlte seinem Schlag jegliche Wucht. Ohne mehr als einen oberflächlichen Kratzer zu hinterlassen, prallte die Klinge von der ledrigen naßschwarz glänzenden Haut ab. Statt sich zurückzuziehen, schwang der Tentakel zur Seite und prallte gegen Eriks Schulter, legte sich schwer darauf und drohte, ihn unter Wasser zu drücken. Jetzt konnte der junge Krieger es gar nicht mehr vermeiden, seinen Jarl loszulassen. Er hatte selbst alle Mühe, nicht ertränkt zu werden. Während er mit der rechten Hand unbeholfen das Schwert in die Scheide schob, riß er mit der Linken sein Nahkampfmesser aus dem Gürtel. Im nächsten Augenblick hatte er sich an den Tentakel geklammert, sich rittlings hinaufgeschwungen und die Messerklinge bis zum Heft hineingetrieben. Der Tentakel begann zu zucken, und das Maul an seiner Spitze schrie vor
ungläubigem Schmerz auf. Wieder und wieder stieß Erik zu und bearbeitete die ledrige Substanz mit der scharf geschliffenen Klinge. Er achtete kaum darauf, daß der Tentakel sich aufzubäumen begann und sich hoch aus dem Wasser hob. Erst als er schon mehrere Manneslängen über den Wellen schwebte, wurde er sich seiner verhängnisvollen Situation bewußt. Blitzschnell warf er einen Blick über die Schulter zurück - und erstarrte. Der Tentakel trug ihn genau auf eines der gierig auf- und zuschnappenden Mäuler des Hauptkörpers zu! »Spring, Erik!« Euchars Stimme, die von der Wasseroberfläche her zu ihm herauf drang, riß ihn aus seiner Erstarrung. Ohne nachzudenken, wollte er sich seitwärts in die Tiefe werfen. Es ging nicht. Etwas hielt ihn an den Beinen fest. Er drohte von seinem eigenen Schwung abzugleiten, und nur eine rasche Gegenbewegung verhinderte, daß er plötzlich mit dem Kopf nach unten von dem wie wild peitschenden Tentakel baumelte. Ungläubig schaute der junge Krieger an sich herunter. Dort, wo er wenige Augenblicke zuvor die Schiffsbestie mit seinem Messer verwundet hatte, hatten sich neue Mäuler gebildet, die bösartig fauchten und geiferten. Sie waren kleiner als das an der Spitze des Tentakels, aber doch kräftig genug, um sich wie Zangen um seine Knöchel und Schienbeine zu schließen und ihn unverrückbar an seinem Platz festzuhalten. Durch seine zerfetzte Hose hindurch begann er den Druck der winzigen Beißzähne zu spüren, der immer härter wurde, bis sie sich schließlich nadelspitz in sein Fleisch bohrten. Der ätzende Geifer der Bestie brannte wie Feuer in den Wunden. Seine Beine schienen bis zu den Knien hinauf in Flammen zu stehen. Allmählich breitete sich das Brennen immer weiter aus. Schon hatte es seinen Kopf erreicht, umnebelte seinen Verstand, sein klares Denken. Mit fast unnatürlicher Ruhe sah er zu, wie sich seine Hand öffnete und das Messer fallen ließ. Er blickte über die Schulter und lächelte blöde dem doppelt mannsgroßen Maul entgegen, das ihn erwartete, auf das er Meter um Meter von dem Tentakel zugetragen wurde. Seltsamerweise machte es ihm nichts aus. Seine Zunge lag ihm so bleischwer im Mund, daß er nicht einmal schreien konnte. Dann verwirrte sich sein Verstand endgültig, und jede Wahrnehmung der Welt rings um ihn setzte aus. Das einzige, was er noch spürte, waren die
Zähne der kleinen Kätzchen an seinen Waden, die sich spielerisch darin verbissen hatten. Es tat ein bißchen weh, aber was kümmerte ihn das schon? Schließlich war es ein Beweis dafür, daß er zu Hause war, daheim auf dem ärmlichen Hof seines Vaters, und Gunvor Samtpfote hatte wieder einmal geworfen, ein halbes Dutzend Kätzchen auf einen Schlag, und über seine schweißfeuchte Haut strich die sanfte Brise des Sommerwinds, nur daß sie ein bißchen seltsam roch, nach Säure und Verwesung und Tod… aber was machte das schon, was machte das schon? Langsam, wie um ihn nicht aus seinem Traum zu wecken, stülpte sich das Maul der Schiffsbestie Erik Hellauge entgegen… * Als Euchar mit letzter Kraft untertauchte, um dem heranschnellenden Tentakel zu entgehen, hatte er das Gefühl, daß nicht nur das Bitterwasser der Tangsee, sondern auch schwarze Verzweiflung über ihm zusammenschlüge. Obwohl er zum Sterben müde war und sich am liebsten immer tiefer hätte hinabsinken lassen, kämpfte er sich wieder an die Oberfläche und sog tief die neblige, feuchtwarme Luft in seine gepeinigten Lungen. Eine Hand stützte ihn, gab ihm den in diesem Augenblick so nötigen äußeren und inneren Halt. Sie gehörte Ansgar Blutaxt. Der Jarl hatte sich nun wieder so weit erholt, daß er sich aus eigener Kraft über Wasser halten konnte. Er hatte seine Felljacke und die Leinenhose abgestreift, damit sie ihn nicht durch ihr zusätzliches Gewicht in die Tiefe zogen. »Glück gehabt… Missionar«, keuchte er. »Oder hat dir dein Christengott beigestanden und dich noch einmal vor dem Schlimmsten bewahrt?« Euchar antwortete nicht, sondern blinzelte sich das Bitterwasser aus den Augen, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Wenige Meter entfernt wehrte sich Gisle, der hünenhafte Krieger ohne Gedächtnis, in einem Durcheinander von Wasser und blitzendem Stahl gegen zwei schenkeldicke Tentakel, die mit unbeschreiblicher Wildheit aus verschiedenen Richtungen auf ihn eindrangen. Erik hingegen vermochte der junge Missionar nirgendwo zu erkennen. Einen Augenblick lang befürchtete Euchar schon, der junge Wikinger sei ertrunken. Doch dann hörte er Geräusche hoch über sich und legte den Kopf in den Nacken. »Spring, Erik!« Der Schrei entrang sich seiner Kehle, bevor er auch nur Zeit hatte, die
furchtbare Gefahr bewußt wahrzunehmen, in der sich Erik Hellauge befand. Mit vom Bitterwasser tränenden Augen sah er, wie Erik sich auf dem Tentakel, auf dem er rittlings hockte wie auf einem bockenden Pferd, herumdrehte und hinter sich starrte. Dann reagierte der blonde, muskulöse Krieger nicht weniger schnell als Euchar bei seinem instinktiven, aus Verzweiflung geborenen Warnruf. Er versuchte, sich seitlich ins Wasser zu werfen, aber etwas hielt ihn fest und vereitelte seine Bemühungen. Trotz seines Wassertretens schon wieder halb untergetaucht, konnte Euchar nicht erkennen, was genau es war. Im nächsten Moment dachte er nicht mehr darüber nach, denn neben ihm warf Ansgar Blutaxt die Arme in die Höhe, gab einen gurgelnden Schrei von sich und verschwand unter der schäumenden Wasseroberfläche. Dort, wo sich eben noch sein eisgrauer Kopf befunden hatte, zeugten jetzt nur noch ein kleiner Strudel und ein paar Luftblasen von seiner Existenz. Ungläubig starrte Euchar die Stelle an. Er hatte auf seinen Missionsreisen in die nordischen Länder bei stürmischen Überfahrten schon manchen Seemann ertrinken sehen, aber noch nie auf diese Weise. Er setzte an, trotz seiner Erschöpfung hinter dem Jarl herzutauchen, hielt jedoch inne. Denn eine plötzliche Furcht hatte ihn gepackt und ließ ihn frösteln, trotz der fast unangenehmen Wärme der Tangsee. Beinahe war es so gewesen, als hätte etwas den graubärtigen alten Kriegshäuptling der Wikinger gepackt und mit einem kraftvollen Ruck unter Wasser gezogen… Und dann berührte dieses Etwas seinen rechten Knöchel, schlang sich darum. Jetzt schrie auch er. Doch genau wie bei Ansgar Blutaxt erstickte sein Schrei in einem Schwall von Bitterwasser, das ihm in den Mund drang, als er unter die Wellen gezerrt wurde. Wie ein Ertrinkender - was er ja auch in wenigen Augenblicken sein würde - schlug er mit den Armen um sich, kämpfte gegen den stetigen Zug von unten an. Es war ein sinnloses Bemühen, denn er war ohnehin so geschwächt, daß er sich sogar ohne diesen kraftvollen, mörderischen Zug kaum noch hinauf zur Oberfläche hätte arbeiten können. Aber er strampelte sich weiter ab, bis auch sein Handgelenk sich irgendwo verfing und er fast keinen Bewegungsspielraum mehr hatte. Vor seinen Augen sah er dicke Luftblasen aufsteigen und begriff plötzlich, daß es sein eigener Atem war, der da unwiederbringlich entwich. Verzweifelt preßte er die Lippen zusammen, versuchte, so viel kostbare Luft wie möglich in seinen vor Anstrengung schier berstenden Lungen zu halten. Aber er wußte, daß es nicht viel nützen würde. Schon tanzten rote Schleier vor seinen Augen, und durch diese roten
Schleier hindurch… … sah er Tentakel. Einen ganzen Wald von Tentakeln, der sich unter Wasser schlängelte und wand und Männer in die Tiefe zerrte, um sie zu ertränken und so zu einer leichten Beute für die Mäuler der Schiffsbestie zu machen. Ein irres Kichern stieg in Euchar hoch. Warum hatten sie nicht daran gedacht, daß die Bestie auch unter Wasser Tentakelfortsätze besaß? Im Eifer des Gefechts, war niemand auf diesen Gedanken gekommen, weder der erfahrene Ansgar Blutaxt noch Erik oder Gisle oder er selbst. Aber schließlich war die Schiffsbestie ein Wesen, das sich nicht mit menschlichen Maßstäben messen ließ. Und auch nicht mit menschlichen Waffen bekämpfen. Schon halb ertrunken, dachte Euchar an Eriks wütende Anrufung Odins, des Gottes der Nordmänner. Sicher, Erik hatte seinem Gott gedroht und ihn sogar verflucht, aber das alles nur, weil er ihn für launisch und unberechenbar hielt. Seine Macht hingegen hatte der junge Wikinger keinen Augenblick lang angezweifelt. Und da sollte er, ein Christ, verzagen? Mit dem letzten bißchen Atem, das ihm noch blieb, begann der junge Missionar ein Gebet zu seinem eigenen Gott zu murmeln - genau wie mehr als ein Dutzend ertrinkender Nordmänner rings um ihn mit ihrem letzten bißchen Atem zu Odin beteten. Und vielleicht wurde irgendeines dieser Gebete sogar erhört. * Zuerst hielt Euchar es für eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch die nahende Bewußtlosigkeit. Von allen Seiten kamen riesige graue Schatten durch das trübe Wasser herangeschossen. Er glaubte, dicke, aufgewölbte Panzer mit ledrigen Körpern darunter erkennen zu können, plumpe, stummelartige Füße, die mächtig das Wasser aufquirlten, und überraschend klug blickende Augen über hornigen Schnäbeln, mit denen die Schatten nach den klammernden Tentakeln hackten und bissen. Und dann… Ein Ruck, und er war frei. Er war frei! Bevor er in die dämmrige Finsternis absacken konnte, dem endlos weit entfernten Meeresboden entgegen, hatten kräftige Arme ihn auch schon gepackt und hinüber auf eines der schattenhaften grauen Wesen gerissen. Im nächsten Augenblick durchbrachen sie in einem Aufschäumen von Wasser die Oberfläche, die eben noch unerreichbar weit über dem jungen Missionar gelegen hatte.
Luft. Er durfte wieder atmen. Japsend, Wasser spuckend, den Kopf in den Nacken zurückgeworden, begann Euchar die nebelige Luft in seine geschundenen Lungen zu saugen. Obwohl sie lauwarm war und nach den ätzenden, scharfen Ausdünstungen der Schiffsbestie roch, deren Kreischen immer noch weithin über das Meer hallte, belebte sie ihn auf wunderbare Weise. Und ebenso wunderbar war es, sich nicht länger durch krampfhafte Schwimmbewegungen über Wasser halten zu müssen, sondern auf einem festen Untergrund zu sitzen, gestützt von einem freundlichen Arm um die Schultern. Eine beruhigende Stimme redete dicht neben seinem Ohr in hohen Trillern auf ihn ein, der Sprache von Xias Volk. Xias Volk. Sie waren von einem Trupp Schildkrötenkrieger gerettet worden! Rings um ihn dümpelten eine große Zahl graugrün und gelb gemusterter Kampfschildkröten auf dem Wasser. Es waren zwei Mannslängen lange und eine Mannslänge breite Ungetüme, deren Rückenpanzer direkt über der Schulterpartie durch eine Laune der Natur oder jahrtausendelange Zuchtwahl zu Sätteln eingekerbt waren. Auf diesen hockten mit angewinkelten Beinen riesige blauhäutige Krieger. Die Blauhäutigen waren nur in einen Lendenschurz gehüllt und mit Speer, Wurfbeil und einer Art scharfschneidiger runder Wurfscheibe bewaffnet. Im Augenblick trugen die meisten der Kampfschildkröten noch eine zusätzliche Last: halb ertrunkene Nordmänner, die wie Euchar in letzter Sekunde von blauhäutigen Helfern aus dem Zugriff der unterseeischen Tentakel befreit worden waren. Euchar erkannte in seiner unmittelbaren Nähe Jarl Ansgar Blutaxt, Gisle und - sein Herz stockte beinahe - auch Erik Hellauge. Der junge Krieger und Ausguckmann des Hengist lag bewußtlos quer über einem der Sättel. Um seine Beine ringelten sich immer noch mehrere Meter eines sehr lebendigen Tentakels. Dieser war allerdings nun nicht mehr mit dem Hauptkörper der Schilfsbestie verbunden, sondern endete in einem säuberlich von einer Wurfscheibe durchtrennten Stumpf. Beim Anblick der Tentakelmäuler, die mit unverminderter Heftigkeit fauchten und geiferten, wurde Euchar fast übel. Dem Krieger, der sich Eriks angenommen hatte, schien das nicht soviel auszumachen. Mit stoischer Ruhe hackte er die Tentakel los und warf sie achtlos ins Wasser. Jetzt erst fand Euchar Zeit, einen Blick auf seinen eigenen Retter zu werfen. Erwar ein stattlicher, breitschultriger Krieger, kahlköpfig wie alle Angehörigen seiner Rasse und mit einem zernarbten Gesicht, das an eine vom
Krieg verwüstete Landschaft erinnerte. In seltsamem Gegensatz dazu standen die hohen Triller- und Schnalzlaute, die über seine Lippen drangen. Wie bei seinem Freund Xia erinnerten sie Euchar an den Gesang eines Vogels, am ehesten an den einer Nachtigall. Anders jedoch als Xia redete der fremde Krieger so schnell, daß der junge Missionar kaum ein Wort verstehen konnte. Darum unterbrach er ihn mit betonter Langsamkeit: »Du hast mein Leben gerettet, Tapferer. Mein Speer soll für dich kämpfen, in meiner Hütte sollst du wohnen, und meine Schildkröte soll dich tragen, wenn du den letzten Seeritt machst.« Es waren die rituellen Worte, die Xia ihm während ihrer monatelangen Gefangenschaft für einen solchen Fall beigebracht hatte. Euchar gab sich alle Mühe, sie so genau wie möglich auszusprechen, obwohl seine menschliche Kehle für diese Vogelleute einfach nicht geschaffen war. Ein einziges falsches »Wort«, eine einzige falsche Betonung konnten Mißverständnisse auslösen, die vielleicht nie wiedergutzumachen waren. Der blauhäutige Krieger blickte ihn verblüfft an. »Du sprichst und verstehst unsere Sprache?« erkundigte er sich ebenso langsam. Euchar wiegte gemächlich den Kopf im Zeichen des Einverständnisses. »Ja. Euer Bruder Xia hat sie mich gelehrt, als wir in den Kerkern des Grauen Magiers den Bund der Blutsbrüderschaft schlossen. Ich bin Euchar, der Franke.« Sein Ritter stieß einen überraschten Schrei aus und schwenkte in einer Geste, deren Bedeutung Euchar unklar war, den Speer. »Ai! Es geschehen große Wunder. Du bist der Blutsbruder meines Schwesternmannes Xia, Euchar der Franke? Hast du ihm dann beim letzten Seeritt die Ehre gegeben, wie es dem Blutsbruder geziemt?« Euchars Verneinung war heftiger, als notwendig gewesen wäre. »Nein, Tapferer«, sagte er. »Du täuschst dich. Xia hat seinen letzten Seeritt noch nicht angetreten. Es gelang uns, aus dem Kerker zu entfliehen und gemeinsam mit diesen Männern, die wir auf der Flucht trafen, in zwei Booten das Tanglabyrinth zu verlassen. Xia war bei uns, bis…« Plötzlich stockte er und schlug beschämt die Augen nieder. In den schrecklichen Minuten des Kampfes hatte er keinen Augenblick Zeit gefunden, darüber nachzudenken, was aus Xia geworden war. Hatte die Schiffsbestie ihn verschlungen? War er ertrunken? Oder - lebte er vielleicht noch? Der Schildkrötenkrieger schien zu spüren, was in ihm vorging. Mit einer schwieligen Hand, die so groß war wie Euchars beide Hände zusammen,
griff er nach einer großen Seemuschel, die an einer Kette um seinen Hals hing, und führte sie an die Lippen. Als er hineinblies, war es Euchar, als müßte der Nebel über dem Meer allein von diesem hallenden Ton aufreißen. Aus der Ferne ertönte eine Antwort, schwach zwar, aber deutlich verständlich. Der Krieger ließ die Muschel sinken, und ein erleichterter Ausdruck trat auf sein verwüstetes Gesicht. »Gute Nachricht, Euchar der Franke«, sagte er langsam. »Dein Blutsbruder Xia lebt, und er ist unverletzt. Mein Brudersohn Tirx hat ihn auf seine Schildkröte genommen.« Er lächelte. »Mich nennt man Ilir den Narbigen, und meine Schildkröte wird sehr schnell und klug genannt. Blutsbruder meines Schwesternmannes, ich habe dein Leben gerettet, aber deine Schuld ist nicht zu groß, als daß ein tapferer Mann sie abtragen könnte.« Er legte die Hände vor der Muschel auf seiner Brust zusammen, und Euchar tat es ihm gleich. Nun war auch dem zweiten Teil des Rituals Genüge getan, der Erwiderung der Namensnennung und der Annahme des Dankes. Von jetzt an konnte Euchar sich bei Ilir dem Narbigen so sicher fühlen wie bei Xia. Nur ein Verrat seinerseits hätte den zwischen ihnen geschlossenen Freundschaftsbund zu zerstören vermocht. Der kreischende Schrei der Schiffsbestie riß sie aus der fast mystischen Versenkung des Augenblicks. Mit einemmal wurde sich Euchar bewußt, daß er und seine Freunde zwar gerettet waren, der Kampf gegen das Ungeheuer jedoch immer noch andauerte. Ein Stück entfernt, durch den treibenden Nebel nur verschwommen zu erkennen, umkreisten bewaffnete Schildkrötenkrieger auf ihren Reittieren die turmhoch über ihnen aufragende Bestie und schleuderten Beile, Speere und Wurfscheiben nach ihr. Gerade als Euchar hinschaute, sah er, wie ein maulbewehrter Tentakel vorzuckte und einen der Krieger aus dem Sattel seiner Schildkröte riß. Mit einem einzigen gewaltigen Ruck verschwand der Unglückliche in einem der Rachen des Hauptkörpers, bevor er auch nur Zeit zur Gegenwehr gefunden hatte. Seine Schildkröte, halb wahnsinnig über den Verlust ihres Reiters, schoß durch das Wasser auf die Schiffsbestie zu. Aber diese wälzte sich regelrecht über sie, drückte sie unter die schaumigen Wellen und biß ihr mit einem gewaltigen Zuschnappen zahnbewehrter Kiefer den Rückenpanzer entzwei. Euchar, der die ganze Zeit über unwillkürlich den Atem angehalten hatte, gab ein leises Aufstöhnen von sich.
»Was ist das für eine Bestie?« erkundigte er sich verzweifelt. »Xia hat gesagt, daß dergleichen in diesen Meeren noch nie gesichtet worden ist.« »Das ist richtig.« Ilir der Narbige wiegte bestätigend den Kopf. »Ein großer Sturm hat sie und drei oder vier ihrer Artgenossen kurz nach Xias Gefangennahme aus einem fernen Teil der See herangetrieben. Der Graue Magier hat sie zu seinen Wächtern gemacht, die an den Grenzen des Tangmeeres patrouillieren und verhindern, daß irgendwer wieder hinauskommt.« Er grinste schief. »Oder hinein, so wie wir es versuchen.« Jetzt erst begann Euchar die Zusammenhänge zu verstehen. »Darum also hat uns der Graue Magier auf unserem Weg durch das Tanglabyrinth nicht behelligt«, sagte er. »Er hat einfach abgewartet, bis wir in die Falle seines Wächters liefen!« »Er ist von der Klugheit des Bösen.« Ilir machte ein abwehrendes Zeichen, wie um einen Dämon zu bannen. »Aber er wird trotzdem fallen. Als er unseren Stamm unter seine Tyrannei zwang, ist er einen Schritt zu weit gegangen. Wir, die Söhne der Schildkröte, werden ihn niederwerfen, und sein letzter Seeritt soll nicht ehrenvoll sein. Er wird auf dem Rücken einer Qualle in das Chaos, aus dem alles wurde, eingehen und dort von der Großen Schildkröte verschlungen werden!« »Aber wie wollt ihr das bewerkstelligen, Ilir?« fragte Euchar verwirrt. »So wie es jetzt scheint, ist der Weg zum Tangpalast ein für allemal durch die Schiffsbestie versperrt.« »Auch das lebende Schiff ist nicht unbesiegbar«, antwortete Ilir der Narbige beinahe fröhlich, obwohl in diesem Augenblick ein lauter Schrei vom Tod eines weiteren Schildkrötenkriegers in einem der Rachen der Bestie kündete. »Du wirst sehen, Blutsbruder meines Schwesternmannes.« Mit einem leichten Klopfen auf den Rückenpanzer dicht neben dem Sattel veranlaßte der blauhäutige Krieger seine Reitschildkröte dazu, sich in Bewegung zu setzen. Den schuppigen, ledrigen Kopf weit nach vorne gereckt, strebte das Tier mit schwer arbeitenden Schaufeln aus der unmittelbaren Nähe der tobenden Schiffsbestie fort, hinaus auf die offene See, die das Sargassomeer umgab. Andere Schildkröten schlossen sich ihr an, bis eine ganze Armada durch den Nebel kreuzte. Es war eine geplante Absetzbewegung. Aber Euchar hatte den Eindruck, als bewegten sich die Schildkröten viel langsamer, als es ihnen eigentlich möglich gewesen wäre. Fast schien es, als wollten sie die Schiffsbestie dazu verleiten, ihnen zu folgen. Wenn es so war, dann war der Plan erfolgreich. Laute Schreie verrieten, daß auch das Ungeheuer sich in Bewegung gesetzt hatte und versuchte, zu
ihnen aufzuschließen. Euchar hatte ein sehr mulmiges Gefühl, aber er wagte nicht, Ilir dem Narbigen weitere Fragen zu stellen, aus Angst, sich bloßzustellen. Wenn die Schildkrötenkrieger einen Plan hatten, würde er noch früh genug Zeuge seiner Ausführung werden. Ging er allerdings schief, war es vielleicht das letzte, was er jemals in seinem Leben miterlebte… »So«, sagte Ilir. »Wir sind da.« Er deute über Euchars Schulter, der immer noch vor ihm auf dem Sattel saß, nach vorn. Neugierig spähte der junge Missionar in den Nebel. Während die lebende Armada ihre Geschwindigkeit verringerte, machte er eine weitere Gruppe von Schildkrötenkriegern aus, die sich mit ihren Reittieren um einen seltsam gewandeten Mann geschart hatten. Der Mann war uralt, erkannte Euchar. Und er war ein Schamane, ein Walter der Macht, der über magische Kräfte verfügte, die normalen Menschen nicht zugänglich waren. Auf seinem Kopf trug er wie eine Mischung aus Helm und Maske einen unterkieferlosen Schildkrötenschädel, der kaum etwas von seinem runzligen, zerfurchten Gesicht mit den brennenden Augen darin freiließ. Brust und Rücken waren mit jungen, aber schon hart gewordenen Schildkrötenpanzern bedeckt. Darüber strömten in wahren Kaskaden lange, dünne Streifen sorgfältig gegerbten Schildkrötenleders herab. Die Schildkröte, auf der er saß, war - an der Lebensspanne ihrer eigenen Art gemessen - sicherlich nicht weniger alt als ihr Reiter. Davon legte der längst rissig gewordene, an manchen Stellen von Muschelschorf bedeckte Panzer ein beredtes Zeugnis ab. Wie um eine Art Gleichgewicht herzustellen, trug auch die Schildkröte eine Helmmaske über ihrem ledrigen, hornigen Kopf mit den roten, vor Alter entzündeten Augen - eine Helmmaske jedoch, die aus einem riesigen Menschenschädel gefertigt war. Euchar lief es beim Anblick dieses seltsamen, uralten Paares eiskalt den Rücken hinunter. Etwas Böses, Unmenschliches ging von dem Schamanen und seinem Reittier aus. In ihnen lagen eine Weisheit und eine Macht, die ihren Ursprung in denselben Quellen zu haben schienen, aus denen auch der Graue Magier schöpfte… »Xchil und Erhaben weise«, flüsterte Ilir beinahe ehrfürchtig. Der Name kam Euchar seltsam bekannt vor. Xia hatte ihn in den langen Monaten ihrer gemeinsamen Gefangenschaft bestimmt mehr als einmal erwähnt. Aber in welchem Zusammenhang bloß? Dann kehrte die Erinnerung zurück. »Xchil?« keuchte er. »Ist das nicht…?« Ilir der Narbige wiegte zustimmend den Kopf.
»Ja«, antwortete er ruhig. »Der Oberste Häuptling aller Stämme der Schildkrötenkrieger. Xias Großvater.« * »Sie kommt!« Der getrillerte Warnruf, der von der Nachhut ihrer kleinen Armada kam, rief sichtlich Unruhe unter den den Schildkrötenkriegern hervor. Köpfe fuhren herum, und Waffen wurden in instinktiver Drohgebärden gehoben. Euchar beobachtete, wie einige Krieger abgehackte Rhythmen auf den Schulterpanzern ihrer Schildkröten hämmerten, um die Tiere zu veranlassen, ihren Gegner mit dem ledrigen Kopf voraus zu erwarten. Aber die meisten schienen die Anwesenheit des Ungeheuers ohnehin schon gespürt zu haben. Sie zogen nervös den Nacken unter den Panzer und ruderten heftig mit den kurzen, schaufelartigen Füßen, um sich in Verteidigungsposition zu bringen. Ihre Augen glosten trübrot durch den Nebel wie die Laternen verlorener Boote. Obwohl sie die Sprache der Blauhäutigen nicht verstanden, wurden auch die Nordmänner von der allgemeinen Aufregung angesteckt, deuteten und griffen nach ihren Waffen, sofern sie sie nicht beim Kampf gegen das nasse Element verloren hatten oder zu geschwächt waren, eine Hand zu rühren. Tatsächlich war das Schrillen, Schnaufen und Platschen der herannahenden Schiffsbestie, das aus dem Nebel zu ihnen drang, nun nicht mehr länger zu überhören. Euchar warf Ilir einen fragenden Blick zu. Was, so sagte dieser Blick aus, habt ihr einer solchen Bestie entgegenzusetzen? Womit wollt ihr sie abwehren, wenn sie sich wie ein einziges gigantisches Maul auf uns stürzt und uns zu verschlingen versucht? Ilir lächelte nur. Mit ausgestreckter Hand deutete er hinüber zu Xchil und
Erhaben weise.
»Sieh«, meinte er leise. Euchars Augen folgten der von Ilirs Finger gewiesenen Richtung. Der alte Schamane hielt ein Muschelhorn in der Hand, eines, das viele Male größer war als die Ilirs und der anderen Krieger. Mit einer rituellen Gebärde führte er es an den Mund, hielt es sich in einem merkwürdigen Winkel vor die Lippen und begann, scheinbar ohne jede Anstrengung, hineinzublasen. Der Ton, der durch den Nebel schnitt, war unbeschreiblich. Euchar hatte das Gefühl, als wolle Xchil damit die ganze Welt spalten, sie zerspringen lassen wie Glas, damit der Nebel durch die entstandenen Risse
versickerte und nur noch das Nichts übrigließe. Es war ein Ton, vor dem das Kreischen der Schiffsbestie sich wie das Miauen eines kleinen Kätzchens ausnahm. Und als er verstummte, glaubte Euchar für einen Augenblick, nicht Xchil habe aufgehört, die Muschel zu blasen, sondern er selbst sei von dem furchtbaren Geräusch taub geworden. Ilir lächelte immer noch. »Da«, sagte er. »Er kommt.« Aus dem Wasser direkt vor Erhaben weise tauchten zwei mannsgroße Drachenköpfe auf, hornige, schuppige Gebilde, die auf schlangengleichen Hälsen hin und her pendelten. Wie hypnotisiert starrte Euchar die riesigen Mäuler mit den blitzenden Zahnreihen, die glühenden Augen unter den vorspringenden Knochenwülsten und die hörnerbesetzten Schildkämme an. Natürlich hatte er seine neuen Gefährten von dem Seedrachen erzählen hören, dem sie im Mahlstrom zwischen den Welten begegnet waren. Aber er hatte nie geglaubt, daß er selbst jemals einem - oder sogar zwei - dieser Wesen entgegentreten würde. Hier jedoch waren sie, zwei Seedrachen, die aus den Fluten des Bitterwassers auftauchten. Und nach den Ausmaßen ihrer Köpfe zu urteilen, mußten ihre Körper von geradezu unvorstellbarer Größe sein! Jetzt begann Euchar zu begreifen, warum die Schildkrötenkrieger nicht weiter vor der Schiffsbestie geflohen waren, sondern sie hier an diesem Ort erwartet hatten. »Xchil hat ihn mit der Muschel gezähmt«, flüsterte Ilir ihm zu. »Es hat viele Monde gedauert, aber jetzt sind wir bereit, mit ihm den Grauen Magier anzugreifen.« Der junge Missionar runzelte verwirrt die Stirn. »Warum redest du eigentlich immer nur von ihm?« erkundigte er sich verständnislos, während seine Augen noch immer wie gebannt den beiden hin und her pendelnden Köpfen folgten, die inzwischen hoch über Erhaben weise und den alten Xchil, ihren Meister, aufragten. »Es sind doch…« Mitten im Satz brach er ab. Ein weiteres Muschelhornsignal ließ die beiden Köpfe ihre Pendelbewegung einstellen und in der Luft erstarren. Langsam drehten sie sich herum, starrten mit tückisch blinzelnden Augen in den treibenden Nebel, aus dem jetzt ein riesiger schwarzer Schatten herangesegelt kam, die Schiffsbestie. Das Ungeheuer hatte teilweise wieder seine alte Form angenommen, um sich schneller vorwärtsbewegen zu können. Unterhalb der Reling sah es erneut täuschend schiffsähnlich aus, wenn man nicht auf die Augenreihen an den Seiten und die Mäuler achtete, die links und rechts des Bugs geifer-
ten. Wo sich das Bugkastell befunden hatte, ringelte sich nun eine Masse von Tentakeln, und der Mast war ein fleischiger Stamm, an dem sehnige Häute flatterten. Vom Heckkastell war nichts außer einem hohen Buckel unförmigen Gewebes auszumachen. Aus einem langen Riß an seiner Seite rieselte eine gelbe, dicke Flüssigkeit. Vielleicht war es eine Art Tran oder flüssiges Fett, um Hohlräume damit auszufüllen und die Verwandlung in jede gewünschte Gestalt zu ermöglichen. Über das Wasser hinweg starrten die Ungeheuer einander an. Euchar kam es so vor, als schätzten sie sich gegenseitig ab, versuchten festzustellen, wo sie am verwundbarsten waren. Die Seedrachen schienen der Schiffsbestie Angst einzuflößen, denn sie wurde langsamer, zögerte sichtlich. Mit solchen Gegnern hatte sie nicht gerechnet. Doch dann schnellte sie vorwärts. Die Seedrachen stemmten sich gleichsam aus dem Wasser hoch und warfen sich der Schiffsbestie entgegen, ohne daß es dazu eines weiteren Befehls aus Ychils Muschelhorn bedurft hätte. Die Seedrachen? Mit einem Keuchen ließ Euchar die Luft aus seinen Lungen entweichen, die er unwillkürlich angehalten hatte. Nein, bei der heiligen Jungfrau, es war nur ein Seedrache - ein Monstrum mit zwei Köpfen! Die beiden schlangengleichen Reptilienhälse mündeten in ein und denselben mächtigen, mit faustgroßen Schuppen besetzten Brustkasten! Jetzt begriff er, warum Ilir immer nur in der Einzahl gesprochen hatte. Der narbige Krieger schien seine unausgesprochenen Gedanken zu erraten. »Es ist ein Doppelkopfdrache«, flüsterte er heiser, von der Erregung des Kampfes gepackt. »Der einzige seiner Art. Schau, wie er .dem lebenden Schiff den Garaus macht!« Und so war es. Der linke der beiden Köpfe hatte sich schon beim ersten Angriff tief in das Fleisch der Schiffsbestie vergraben und schüttelte sie nun trotz ihrer Größe hin und her wie ein Kind eine Lumpenpuppe. Gleichzeitig stieß der zweite Kopf immer wieder überraschend vor und riß große Stücke aus dem sich aufbäumenden Rumpf. Zwar versuchte die Schiffsbestie, ihrerseits den Brustkorb des Drachen zu zerfleischen. Aber ihre messerscharfen Zähne, mit denen viele der Wikinger so unliebsame Bekanntschaft gemacht hatten, hinterließen kaum oberflächliche Kratzer auf den dicken Hornschuppen und glitten wirkungslos ab. Jetzt schossen auch noch die mächtigen Klauenhände des Drachen vor und packten mehrere der heranzüngelnden Tentakel des »Vorderkastells«
auf einmal, um sie wie nichts auszureißen und fortzuschleudern. Das Kreischen der Schiffsbestie veränderte mit einemmal seine Tonlage und ging in ein panikerfülltes, beinahe klägliches Miauen über. Das lebende Schiff setzte alles daran, sich loszureißen. Aber der Seedrache ließ es nun, nachdem er es einmal sicher gepackt hatte, nicht wieder entkommen, sondern beendete methodisch sein Werk der Zerstörung. Ungläubig sah Euchar zu, wie die Überreste der Schiffsbestie in den Fluten der Bittersee versanken. Das ganze Schauspiel hatte nicht einmal eine Minute gedauert. Der Seedrache schrie markerschütternd. Seine rot und gelb verschmierten Mäuler zuckten herum. Einen Augenblick hingen sie drohend über den Köpfen der Schildkrötenkrieger, die den Kampfplatz umringten. Hastig und mit einer ganz und gar unzeremoniellen Bewegung hob der alte Schamane das Muschelhorn an die Lippen und blies mißtönend hinein. Euchar bemerkte, daß die meisten der blauhäutigen Krieger der Macht des Muschelhorns nicht vollauf zu vertrauen schienen. Ihre Hände fuhren zu den Waffen, obwohl sie genau wußten, daß sie gegen das doppelköpfige Ungeheuer noch weniger eine Chance hatten als gegen die Schiffsbestie. Es war ihr Kriegerinstinkt, der sie so handeln ließ, nicht ihr Verstand. Aber für diesmal schien sich der Seedrache noch einmal dem Muschelhorn zu beugen. Er stieß ein letztes angriffslustiges Zischen aus, dann sank er langsam zurück in die Wellen und war gleich darauf unter der Oberfläche verschwunden. Solange, dachte Euchar, bis Xchil ihn erneut rief, um mit ihm zusammen die Schildkrötenkrieger in den Kampf gegen den Grauen Magier zu führen. »Nun, Euchar der Franke?« erkundigte sich Ilir, der das Wurfbeil, das er herausgerissen hatte, wieder zurück in den Gürtel seines Lendenschurzes steckte. »Was hältst du von unserem Verbündeten?« In seiner Stimme, die stolz klingen sollte, schwang deutlich hörbar unterdrückte Furcht mit. »Er ist sehr mächtig«, sagte Euchar. »Ein großer Zerstörer. Er wird alles vernichten, auf das er losgeht.« Er zögerte, dann fügte er noch hinzu: »Wenn er nicht von überlegener Magie aufgehalten wird.« Und diese überlegene Magie, dachte er bei sich, könnte eher vom Grauen Magier als von Xchil ausgehen, so zaubermächtig der uralte Schamane auch sein mochte. *
Die Insel hatte die Form einer Schildkröte - oval, mit vorgelagerten Felsklippen, die in ihrer Form entfernt an einen schuppigen Kopf und vier ausgestreckte Schaufelfüße erinnerten. Über dem schmalen gelben Strand, dem Rand des Panzers, wölbte sich ein einzelner bewaldeter Buckel, dessen Baumgrün hier und da von gelbbraunen Felsmassiven unterbrochen wurde. Auf einem dieser Felsen, einem beinahe sattelförmigen Vorsprung oberhalb der »Schulter« der Insel, hockte Erik Hellauge, der junge Ausguckmann des Wikingerschiffes Hengist, und starrte hinunter auf das Treiben am Strand und im Wasser unter ihm. Auf dem Strand trugen blau- und weißhäutige Krieger, deren Gesichter er auf diese Entfernung nicht auszumachen vermochte, Holz zusammen und schichteten es zu zahlreichen großen Feuerstellen gegen die Dunkelheit und die Kühle der Nacht auf. Andere, kleinere Feuer brannten bereits. Über ihnen wurden Fische und anderes Seegetier an Spießen gebraten oder in leeren, vom Rauch geschwärzten Schildkrötenpanzern gekocht, um die mehr als dreihundert Krieger zu beköstigen, die sich hier für den Angriff auf den Tangpalast des Grauen Magiers gesammelt hatten. Ein Stück weiter draußen in der Bucht, dümpelten ihre Kampfschildkröten, graugrüngelbe Punkte, von denen ab und zu einer unter Wasser verschwand, um gleich darauf wieder aufzutauchen, nachdem er ein Maulvoll Seegras abgeweidet hatte. Alles in allem war es ein friedliches Bild. Aber Erik wußte, daß es nicht mehr lange so bleiben würde. Der junge Ausguckmann seufzte und rückte die blutdurchtränkten Bandagen zurecht, mit denen seine Waden umwickelt waren. Offenbar waren ein paar der kaum verheilten Wunden wieder aufgeplatzt. Thormod Graubart, der die Verbände angelegt hatte, hatte ihn davor gewarnt, den langen Aufstieg hinauf zum Sattel zu unternehmen. Aber Erik hatte nicht auf ihn gehört, und trotz der Schmerzen und der Schwäche in seinen Gliedern war er froh darüber. Die Kletterpartie den steilen Hangpfad hinauf hatte sein Herz kräftiger schlagen lassen und seinen Körper von den letzten Überresten des Giftes der Schiffsbestie befreit, das bis dahin noch in seinen Adern gekreist hatte. Jetzt war sein Kopf wieder klar, und er konnte in Ruhe über all das nachdenken, was ihn bewegte. Langsam zog er das Schlangenschwert, das er von seinem Vater geerbt hatte, aus der Scheide und legte es sich quer über die Knie. Die Schlangenaugen in dem reich verzierten Griff starrten ihn rot und bösartig an. Obwohl sie nur das Licht der dicht über dem Horizont glosen-
den Sonne auffingen und zurückwarfen, schien es, als leuchteten sie aus sich selbst heraus, mit einer scharfen, wachsamen Klugheit, die die Klugheit des Kampfes und des Todes war. Erik verspürte ein beklommenes Gefühl in der Kehle. Es war das erste Mal, daß er bewußt den Vorabend einer Schlacht erlebte, obwohl er in den letzten Wochen mehr als einmal in Kämpfe verwickelt worden war. Aber es war etwas anderes, von den Ereignissen überrascht zu werden, als bewußt in eine Schlacht auf Leben und Tod zu gehen. Nervös drehte Erik das Schwert auf seinen Knien hin und her und betrachtete die schlechte, stumpfe Klinge. Bis zur Abfahrt des Hengist aus Norwegen hatte er dieses einzige Erbstück seines zu früh verstorbenen Vaters kaum benutzt. Aber nun, in den letzten Wochen, hatte sie ihm ein ums andere Mal das Leben gerettet. Das Heil war mit ihm und der Klinge gewesen, daran konnte kein Zweifel bestehen. Was aber, wenn dieses Heil ihn nun verließ, wenn er dazu bestimmt war, morgen sein gerade erst fünfzehn Lenze währendes Leben zu verlieren? Denn morgen war der Tag der Entscheidung. Morgen würden sie in einem kühnen und womöglich selbstmörderischen Angriff gegen das Zentrum der Macht des Grauen Magiers vorstoßen. Wenn sie scheiterten, starben sie alle. Hatten sie hingegen Erfolg, konnten die Schildkrötenkrieger unter Xchils Führung endlich wieder in ihre Heimat und zu ihren Familien und Sippen zurückkehren, statt als Ausgestoßene auf einer unbewohnten Insel zu hausen, während Statthalter des Grauen Magiers mit eiserner Grausamkeit über ihre Stämme herrschten. Und dann, dachte Erik, würde auch der Hengist in dem großen Triumphzug mitfahren, falls die untoten Krieger ihn nicht inzwischen auf Befehl ihres Herrn abgewrackt oder versenkt hatten. An Bord aber… Mit einem hilflosen Gefühl der Trauer und des Zorns biß Erik die Zähne zusammen. Ohne noch einmal zum Strand hinunterschauen zu müssen, wußte er, daß sich an Bord des Hengist nicht mehr viele von ihnen befinden würden. Die weißhäutigen Gestalten, die sich zwischen den blauen Schildkrötenkriegern bewegten, waren hoffnungslos in der Minderheit. Ihn selbst eingeschlossen, zählten sie gerade zweiundzwanzig Mann. Fünfzehn Nordmänner hatten bei dem Gemetzel in den lauwarmen Fluten der Bittersee ihr Leben verloren. Unter ihnen waren so tapfere Krieger wie Thorgen, der Steuermann des Hengist, Skallagrim Prahlmauls isländischer Waffengefährte Skeggi oder die kampfeslustigen Zwillingsbrüder Floke und Gunnlaug. Mit Ihnen war das Heil nicht gewesen - trotz ihrer Erfahrung und
ihres großen Heldenmutes. Bei dem Gedanken daran wurde Erik sehr unbehaglich zumute. Ihm fiel der Fluch wieder ein, den er im Augenblick höchster Not gegen Odin, den obersten der Asengötter, ausgestoßen hatte. Würde Odin diesen Fluch als das betrachten, was er gewesen war - der Aufschrei eines tapferen jungen Kriegerherzens im Angesicht des unehrenhaften »Wassertodes«? Oder würde er sich unerbittlich zeigen und ihm den Einritt nach Walhalla verwehren, wenn er morgen in der Schlacht sein Leben verlor? Bei einem launischen Gott wie Odin konnte man dergleichen nie wissen. Vielleicht war es das beste, wenn er ihm ein Opfer anbot. Erik straffte sich. Ja, ein Opfer war die einzige Möglichkeit, den Gott zu versöhnen. Aber was sollte er opfern? Es mußte etwas sein, das ihm teuer war, etwas, das zu opfern sich lohnte… Sein Blick fiel auf den verzierten Knauf des Schlangenschwertes, und seine Kehle zog sich zusammen. Die Antwort lag auf der Hand. Wenn er die Schlacht um den Tangpalast überlebte, würde er Odin sein Schlangenschwert darbringen. Langsam stand er auf. Er spürte eine unerklärliche Schwäche in den Beinen, die nicht nur von seinen Verletzungen herrühren konnte. Aber seine Hände zitterten nicht, als sie das Schwert hoben und es gen Norden richteten - dorthin, wo die weite Fläche des Meeres von einer weißen, hoch aufragenden Wand begrenzt wurde. Es war der Nebel, der über dem Rand der Sargassosee hing und wie ein Vorhang den Blick in das Reich des Grauen Magiers verwehrte. Knapp darüber schwebten die beiden bleichen, unregelmäßig gezackten Monde dieser fremden Welt. Wenn die Sonne vollends untergegangen war, würde man sehen können, daß sie schiefrig grau waren, zwei unedle Steine in einer prunkvollen Krone aus Sternen. Im Moment erschienen sie Erik allerdings eher wie zwei Augen, die ihn aufmerksam und ein wenig spöttisch von oben herab beobachteten, um festzustellen, ob er auch zu seinen Worten stand. Grimmig warf er den Kopf in den Nacken zurück und stellte plötzlich fest, daß er Tränen in den Augen hatte. O ja, er würde dazu stehen, auch wenn er sein Gelübde nicht laut ausgesprochen hatte. Wie die Alten lehrten, kam es nicht darauf an, was ein Mann mit seinen Lippen, sondern was er mit seinem Herzen sagte. Immerhin würde selbst der oberste der Asengötter ihn nicht dafür tadeln können, wenn er sich als echter Wikinger rückzuversichern versuchte. Ging es doch um sein kostbarstes Gut überhaupt.
»Nimmst du dieses Opfer an, Odin?« flüsterte er deshalb heiser. »Ich bitte dich, gib mir ein Zeichen, wenn es so ist, damit ich mein Schwert nicht umsonst opfere. Es ist das einzige Besitztum, das von meinem Vater auf mich gekommen ist.« Einen Augenblick lang erfolgte keine Reaktion, genau, wie Erik es erwartet hatte. Doch dann… Ein Ruck durchfuhr das Handgelenk des jungen Kriegers. Die Klinge des Schlangenschwertes begann sichtlich zu beben, wogte wie die Oberfläche eines Meeres bei Sturm. Die Schlangen im Knauf, den Erik immer noch fest umklammert hielt, schienen plötzlich lebendig zu werden. Sie strahlten eine seltsame Wärme aus, und ihre Augen funkelten zwischen Eriks zusammengekrampften Fingern hindurch mit einem roten Licht, das nicht nur vom Widerschein der untergehenden Sonne herrühren konnte. Ungläubig folgte Eriks Blick dem Verlauf der wellig gewordenen Klinge. Die Wellen liefen von der Spitze her zum Knauf, eine nach der anderen. Und die Spitze selbst war in eine Wolke aus Schwärze gehüllt. Erik schluckte. Das, was er dort sah, war unmöglich, ein Trugbild. Er glaubte, wieder das Gift der Schiffsbestie in seinen Adern rasen zu fühlen, aber ein anderer Teil seines Selbst wußte, daß das Fieber längst gebrochen war. Die schwarze Wolke verdichtete sich indessen, zog sich zu einem wirbelartigen Gebilde zusammen, das sich in die Unendlichkeit hinein zu erstrecken schien. Es war, als habe die Spitze seines Schwertes ein Tor in eine andere, weit entfernte Welt aufgestoßen, ein kleineres Gegenstück zu dem Mahlstrom zwischen den Welten, den der Hengist befahren hatte, nur daß dieser Wirbel nicht aus Wasser, sondern aus schwärzlichem Dunst bestand. Am Ende des Wirbeltrichters glaubte Erik, Bewegung wahrzunehmen. Etwas huschte auf ihn zu, schwarz, groß und bedrohlich. Er zuckte zusammen. Dunkler Flügelschlag streifte sein Gesicht, und irgendwo im von der Abendsonne rot verfärbten Himmel über der Insel hörte er das heisere Krächzen eines Raben. Sein Herz machte einen Satz, blieb stehen, begann dann zaghaft wieder zu schlagen. Als er jedoch aufschaute, war die schattenhafte, befiederte Gestalt schon wieder verschwunden. Falls sie überhaupt jemals wirklich gewesen war. »Hugin?« wisperte er. »Munin?« Ein zweites, noch ferneres Krächzen gab ihm Antwort auf seine Frage und schloß jeden weiteren Zweifel aus.
Er senkte den Blick. Die Klinge des Schwertes hatte sich wieder geglättet. Der schwarze Wirbel an seiner Spitze löste sich im Wind auf und verwehte wie der Rauch eines erlöschenden Feuers. Einen Augenblick später war nicht mehr die geringste Spur davon zu erkennen. Auch die Schlangenornamente am Knauf fühlten sich wieder kühl und leblos an. Die rot glühenden Augen waren wieder billige Steine, die ein saxländischer Handwerker vor vielen Jahrzehnten in Haithabu eingesetzt hatte. Nichts deutete darauf hin, daß sie je Spuren von eigenem Leben gezeigt hatten. Zitternd, von einer plötzlichen Schwäche überwältigt, ließ Erik das Schwert sinken. Seine Beine gaben unter ihm nach, und er fiel schwer auf den Felsblock, auf dem er auch zuvor schon gesessen hatte. Er war kaum noch imstande, das Schlangenschwert zurück in die Scheide zu schieben - das Schwert, das er nun nur noch einen Tag lang sein eigen nennen würde. Sein Herz hämmerte wie rasend. Ob Wirklichkeit oder Traum - er hatte sein Zeichen erhalten. Odin hatte ihm geantwortet, indem er ihm einen seiner Raben schickte, wie er es auch bei früheren Gelegenheiten schon getan hatte. Nur wußte er diesmal nicht, ob er sich über diesen Gunstbeweis des Gottes freuen oder ob er ihn bedauern sollte. * Als er viele Stunden später ins Lager zurückkehrte, hatten sich die meisten Krieger, blau- wie weißhäutig, schon schlafen gelegt. Vorsichtig, darauf bedacht, sie nicht zu wecken, stieg Erik über die dunklen Körper hinweg und hockte sich an einem der Feuer nieder. Dort stillte er seinen Hunger mit einem Stück Fisch, welches ihm von einem alten Mann gereicht wurde, der lautlos das halb niedergebrannte Feuer aufschürte und in Gang hielt. Er nickte ihm dankend zu, aber der alte winkte nur ab und trottete weiter zur nächsten Feuerstelle, um auch dort seiner Aufgabe nachzukommen. Auf dieser Insel waren die Nächte empfindlich kalt, das Ergebnis einer eisigen Meeresströmung, die sich durch die Bucht hindurchzog und den Seewind abkühlte. Ein paar Männer stöhnten vor Kälte im Schlaf. Während er den merkwürdig aussehenden Fisch in sich hineinschaufelte wer hatte je schon von einem Fisch mit Augen längs der Seitenlinien gehört - , rückte Erik dichter zum Feuer, um die Schauer von seiner bloßen Haut zu vertreiben.
»Hier bist du«, sagte eine Stimme dicht hinter seinem fröstelnden Rücken. »Ich habe dich schon überall gesucht. Der Jarl will, daß wir zu ihm kommen.« Eriks Kopf ruckte herum. Zuerst vermochte er die schattenhafte Gestalt nicht genauer zu erkennen, aber dann sah er, daß es Gisle war, der Krieger ohne Gedächtnis. Genau wie Erik hatte auch Gisle seine zerfetzte Nordmännerkleidung gegen den einfachen, aber sauberen und vor allen Dingen heilen Lendenschurz der Schildkrötenkrieger eingetauscht. Im flackernden Licht des Feuers glänzten die mächtig gewölbten Muskeln seines nackten Oberkörpers wie eingeölt. »Warum?« erkundigte sich Erik, ohne in seiner Mahlzeit innezuhalten. Gisle zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Er wartet in Xchils Häuptlingszelt auf uns. Und er ist bestimmt schon sehr ungeduldig.« Er blickte prüfend hinauf zu den beiden Monden, die mit fast sichtbarer Hast über den nächtlichen Himmel jagten. »Immerhin erging der Befehl schon vor Sonnenuntergang.« »Ich war oben auf dem Gipfel«, teilte ihm Erik mit. Er wischte sich die fettigen Finger im Sand ab und stand auf, ohne seinen Worten eine nähere Erklärung folgen zu lassen. »Geh du voraus.« Wortlos wandte Gisle sich ab und begann, sich einen Weg zwischen den Schlafenden hindurch zu bahnen. Erik folgte ihm auf dem Fuße, von düsteren Vorahnungen und Ängsten heimgesucht. Wenn der Jarl sie zu dieser Stunde in der Nacht vor der Schlacht zu sich rief, konnte es sich nur um eine Angelegenheit von größter Bedeutung handeln. Und größte Bedeutung war in diesem Falle gleichzusetzen mit Gefahr. Quer durch das Lager führte Gisle ihn, bis vor ihnen die dunkle Masse des Häuptlingszeltes aufragte, der einzigen geschlossenen Behausung auf dem ganzen Strand. Zwei Posten standen vor dem Eingang Wache, hochgewachsene, breitschultrige Krieger mit grimmigen Augen und dem Gesichtsausdruck von Statuen. Als sie die beiden Wikinger erkannten, schlug der eine die Fischlederkappe vor dem Zelteingang zur Seite. Gisle schob sich seitwärts durch den schmalen Schlitz, gefolgt von Erik, dessen geringe Schulterbreite ihm gestattete, ganz normal einzutreten, wenn er sich nur ein wenig bückte. Drinnen schlug ihm Wärme und Rauch wie eine Faust ins Gesicht. Sofort begannen seine Augen zu tränen. Er brauchte eine ganze Weile, bevor er überhaupt etwas erkennen konnte. Aber dann klärte sich das Bild. Außer ihm und Gisle hielten sich noch
sechs weitere Personen in dem niedrigen Innenraum des Zeltes auf Häuptling Xchil, Jarl Ansgar, Euchar und Xia sowie zwei blauhäutige Krieger, in denen er Ilir den Narbigen und seinen Retter Tirx erkannte, der ihm zur Begrüßung freundlich zunickte. Die beherrschende Gestalt jedoch war zweifellos Xchil. Der alte Häuptling hockte wie ein Dämon aus einer anderen Welt in vollem Ornat auf einer Art Matte, vor der ein kleines, sorgfältig gebautes Feuer brannte. In der rechten Hand hielt er ein brennendes Röllchen aus Blättern, aus dem vorne rötliche Flämmchen schlugen. Xchil selbst schien auch in Flammen zu stehen, denn seinem Mund entwichen dichte, übelriechende Qualmwolken, die er den Eintretenden gedankenverloren entgegenblies. Erik zuckte erschrocken zusammen, als die Wolke ihn einhüllte. Aber dann sah er, wie Xchil das brennende Röllchen an den Mund führte und den darin entstandenen Qualm tief in seine Lungen einsog. Er »rauchte«. Es war ein Brauch, von dem Erik schon erzählen gehört hatte und der im allgemeinen den Schamanen vorbehalten blieb, die sich auf diese Weise in Trance versetzten. »Ah, da seid ihr ja endlich«, begrüßte der Jarl die beiden Eintretenden mit der ihm eigenen barschen Art. »Wo habt ihr bloß so lange gesteckt?« Gisle setzte zu einer erklärenden Antwort an, aber Ansgar unterbrach ihn mit einer Handbewegung, die so wirkte, als kappe er ein Tau mit der Axt. »Ist ja auch egal; Hauptsache, ihr seid jetzt hier. Setzt euch, damit wir anfangen können.« Er deutete auf zwei leere Kissen, die zwischen den anderen Anwesenden auf dem Boden lagen, und wandte sich dann zu Xchil um. »Häuptling, wenn du gestattest?« Euchar übersetzte seine Worte, und Xchil nickte großmütig, während er ein ums andere Mal das berauschende Gift aus dem brennenden Röhrchen inhalierte. Mit seinem faltigen Hals und dem runzligen Gesicht sah der alte Schamane selbst wie eine große, nachdenkliche Schildkröte aus, ein Eindruck, der durch seine unnatürlich geröteten Augen noch verstärkt wurde. Erik gefiel der Ausdruck dieser Augen nicht. Er hatte das Gefühl, daß sie bösartig und lauernd waren, eher die Augen eines heimtückischen Gegners als die eines Freundes. Ein eiserner Ring der Beklemmung legte sich um seine Brust. Aber vielleicht lag das auch nur an dem dicken, übelriechenden Rauch, der in langen Schwaden durch das Zeltinnere zog. Während sie sich auf die ihnen zugewiesenen Plätze setzten, versuchte Erik in den Gesichtern seiner Gefährten zu lesen und festzustellen, ob auch
sie sein Mißtrauen teilten. Offenbar nicht, entschied er. Sie waren zwar angespannt - was am Vorabend einer großen Schlacht nicht verwunderlich war -, zeigten jedoch keinen Argwohn. Aber seltsamerweise beruhigte das Erik nicht. Schließlich hatten sich ja auch alle außer ihm getäuscht, als es darum ging, die Gefährlichkeit des schwarzen Schiffes zu beurteilen. »Gut«, sagte Jarl Ansgar. »Euchar, entwickle deinen Plan.« Sofort wandte sich Eriks Aufmerksamkeit dem jungen Missionar zu. Das blasse, bärtige Gesicht des Franken war durch die Anstrengungen der vergangenen Wochen womöglich noch schmaler geworden, und seine dunklen Augen glommen gespenstisch in der flackernden Beleuchtung des Zeltes. Obwohl Euchar gerade jener christlichen Religion anhing, die die Männer des Hengist seinerzeit aus Norwegen vertrieben hatte, hatte Erik - und mit ihm viele seiner Gefährten - ihn als tapferen und redlichen Mann schätzen gelernt. Nur Skallagrim Prahlmaul und ein paar seiner großsprecherischen Kumpane machten kein Hehl daraus, daß sie den Franken am liebsten bei der ersten Gelegenheit in den Fluten der Bittersee ertränkt hätten. Daß er es war, auf dessen Veranlassung hin sie hier zusammengerufen worden waren, überraschte Erik allerdings. Der »Plan«, von dem Ansgar Blutaxt gesprochen hatte, konnte ja wohl nur etwas mit der morgigen Schlacht zu tun haben. Und trotz all seines Mutes war der junge Missionar, wie es seiner Stellung und Religion zukam, eher ein Mann des Friedens. »Danke, Jarl.« Euchar nickte flüchtig und warf einen Blick in die Kunde, wie um sicherzugehen, daß er auch die ungeteilte Aufmerksamkeit aller hatte. »Eigentlich ist es nicht mein Plan, sondern der von Xia und mir.« Sein Dänisch war breit und rollend und hatte einen seltsam altertümlichen Akzent. »Wie ihr wißt«, begann Euchar, »haben Xia und ich viele Monate in der Gefangenschaft des Grauen Magiers verbracht. Bei der Flucht - zu der uns der Graue Magier selbst verhalf, um den Hengist in eine Falle zu locken, was wir natürlich nicht wußten -, ließen wir viele unserer Gefährten, Wikinger wie Schildkrötenkrieger, in den schrecklichen Wasserkerkern des Tangpalastes zurück. Sie zu befreien, ist eine der wichtigsten Aufgaben des morgigen Angriffs. Aber das werden wir nicht bewerkstelligen, wenn wir den Angriff in der geplanten Form durchführen, denn wer sollte den Grauen Magier daran hindern, all seine Gefangenen umzubringen, sobald wir uns dem Tangpalast nähern?« Er wiederholte seine Worte in der Trillersprache der Blauhäutigen, die er als einziger der Nordmänner beherrschte. Erregtes Gemurmel kam auf. Bei den Schildkrötenkriegern waren die Sip-
pen- und Freundschaftsbande nicht weniger festgefügt als bei den Wikingern. Und viele der Gefangene des Grauen Magiers waren auf komplizierten Wegen mit Xchils weitläufiger Sippe verwandt oder in Blutsbrüderschaft verbunden. Euchar wartete ab, bis sich das Gemurmel wieder gelegt hatte, dann fuhr er fort: »Xia und ich sehen nur eine Lösung dieses Problems. Wir brauchen einen Trupp Männer, der vor Beginn des eigentlichen Angriffs in den Tangpalast eindringt und die Gefangenen bewaffnet, damit sie sich ihrer Haut wehren können, wenn der Magier sie niedermetzeln lassen will. Außerdem«, seine Augen flammten auf, »könnte eine solche Streitmacht im Innern des Tangpalastes auch während der Schlacht von großem Nutzen sein.« Erik war wie betäubt. Entgeistert starrte er Euchar an, während dieser auch den zweiten Teil seiner Ansprache in die Trillersprache der Blauhäutigen übersetzte. Es war heller Wahnsinn, was der schmächtige Franke da vorbrachte. Mit einem Stoßtrupp in die ureigenste Festung des Grauen Magiers eindringen allein der Gedanke daran jagte ihm eisige Schauer den Rücken hinunter. Er warf Ansgar Blutaxt und Gisle einen gleichsam hilfesuchenden Blick zu. Aber die beiden wirkten längst nicht so erschrocken wie er. Ihre Betroffenheit zeigte sich nur in der Anspannung ihrer Gesichter und den weiß hervortretenden Knöcheln ihrer zusammengekrampften Hände. Erik biß sich auf die Lippen. Vielleicht hatte Jarl Ansgar ja recht, und er war tatsächlich noch ein Welpe, ein grüner Junge, dem es an der nötigen Gelassenheit und männlichen Ruhe fehlte. Vielleicht aber war es auch nur eine Frage des Temperaments. Die drei außer Xia anwesenden Schildkrötenkrieger jedenfalls reagierten ganz ähnlich wie er. Tirx, der jüngste von ihnen, sprang sogar erregt auf, und Xchil verlor immerhin ein wenig von seinem stoischen Gleichmut, was sich daran zeigte, daß er das brennende Blätterröllchen, das er eben zum Mund hatte führen wollen, wieder sinken ließ, ohne einen Zug daraus getan zu haben. Die heiße Asche, die die Spitze des Röllchens bildete, löste sich und versengte im Fallen beinahe seinen Handrücken. Ilir der Narbige aber war es, der ihrer aller Gedanken in Worte faßte. »Das ist unmöglich, Euchar der Franke!« trillerte er in höchster Erregung. »Es gibt keinen Weg ins Innere des Tangpalastes, der nicht von den Untotenarmeen des Magiers auf das sorgfältigste bewacht würde. Wir haben viele Monde lang darüber nachgedacht, aber keine Lösung gefunden.« Euchar übersetzte für seine Wikingergefährten, dann schüttelte er den Kopf und lächelte. »O doch«, sagte er. »Es gibt eine Möglichkeit. Xia und
ich sind durch Zufall darauf gestoßen, als wir im Kerker des Grauen Magiers nutzlose Fluchtpläne wälzten. Er erzählte mir damals von einem Spiel, das er als Junge oft spielte, während er und schön gemusterter Panzer, seine erste Kampfschildkröte, miteinander zwischen den Riffen schwammen. Er nannte es das ›Tauchspiel‹… ah, ich sehe, du erinnerst dich, Ilir. Ja, genauso werden wir es machen. Wir dringen auf einem Weg in den Palast ein, der mit Sicherheit nicht von den untoten Kriegern bewacht wird - nämlich unter Wasser.« Erik legte die Stirn in verständnislose Falten, und ein rascher Seitenblick zeigte ihm, daß es Ansgar Blutaxt und Gisle nicht anders erging. Den Reaktionen der Schildkrötenkrieger nach zu urteilen, mußte das, was der junge Franke sagte, jedoch Hand und Fuß haben. Die Augen Ilirs des Narbigen leuchteten auf, und auch Tirx zeigte lebhaft Zustimmung. »So kann es gehen!« rief er aus. »Bei der Großen Schildkröte, die alles erschuf - so kann es gehen!« Xchil bedeutete ihm mit einem Wedeln der Hand, zu schweigen. »Fahr fort«, sagte er mit einer krächzenden, vom Rauch wie ausgetrockneten Altmännerstimme zu Euchar. Es war das erste Mal, daß Erik ihn hatte sprechen hören, und seine Stimme trug nicht dazu bei, das unheimliche Gefühl, das er in ihm auslöste, abzumildern. Euchar verneigte sich Richtung des Alten. »Wie du wünschst, Häuptling.« In seinen Augen meinte Erik eine gewisse Befriedigung darüber zu lesen, daß er den unheimlichen, unnahbaren alten Schamanen zu einer solch direkten Äußerung verleitet hatte. »Dies also ist unser Plan…« Als er geendet hatte, legte sich eine tiefe, Stille über das Zelt. »Bei Odin«, sagte Ansgar Blutaxt nach einer Weile. »Das ist ein Wagnis, das die Skalden noch in tausend Jahren besingen werden: - wenn die Erinnerung daran nicht morgen abend mit uns allen auf dem Grund der Bittersee modert.« Er ließ seinen Blick über die Runde schweifen, wobei seine im Dämmerlicht wie halb erloschene Kohlen glimmenden Augen auf jedem von ihnen einen Augenblick lang ruhen blieben. Erik hatte das unbehagliche Gefühl, von diesem Blick versengt zu werden und ein unsichtbares Brandmal zurückzubehalten, als er endlich weiterwanderte. »Aber wer sollen die Männer sein, die es auf sich nehmen?« Der Franke zuckte die Achseln. »Daß Xia und ich gehen, versteht sich von selbst«, erwiderte er gleichmütig. »Schließlich kennen wir als einzige die Anlage des Tangpalastes aus eigener Anschauung. Die anderen«, er legte eine winzige Pause ein und sah Häuptling Xchil und Jarl Ansgar an, »die anderen sind hier versammelt.
Ihr habt sie selbst ausgewählt, als wir euch baten, je zwei eurer tapfersten Krieger zu benennen.« Erik starrte Euchar mit offenem Mund an, dann Ansgar Blutaxt. Das bärtige Gesicht des Jarl war unbewegt, aber um seine Lippen spielte etwas, das man mit viel Phantasie für ein Lächeln halten konnte. »Ilir und Tirx, Gisle und Erik«, sagte Euchar, zu ihnen gewandt, »seid ihr bereit, mit uns zu kommen?« Ilir und Tirx verneigten sich rituell, um ihr Einverständnis anzuzeigen, und Gisle gab ein Brummen von sich, das man sehr wohl als Zustimmung deuten konnte. Erik hingegen war zu aufgewühlt, um zu antworten. Er spürte, wie alle Augen sich auf ihn richteten, aber er brachte kein einziges Wort über die Lippen. Tausend Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf. Daß er nie geahnt hatte, wie sehr er, der »Welpe«, seit dem Kampf mit der Schiffsbestie in der Wertschätzung seines Jarl gestiegen war, war nur einer davon, und nicht einmal der wichtigste. Viel mehr erschütterte ihn die Erkenntnis, wozu diese Wertschätzung führte. Wenn er richtig verstanden hatte, sah Euchars und Xias Plan keineswegs vor, sich unbemerkt wieder aus dem Tangpalast zu entfernen, sobald sie die Gefangenen bewaffnet hatten. Statt dessen sollten sie dem Grauen Magier mit geballter Kraft in den Rücken fallen, im Herzen seiner Festung, an der Stätte seiner ureigensten Magie. Es war ein Unterfangen, das, so ehrenvoll es auch sein mochte, nur mit der vollständigen Vernichtung ihrer kleinen Streitmacht enden konnte, wenn nicht die Götter selbst ihnen zu Hilfe eilten. Und darauf wagte sogar Erik nicht zu hoffen, trotz seiner wiederholten Begegnungen mit Hugin und Munin, den beiden Odinsraben. Also schickte Jarl Ansgar ihn auf eine Mission aus, die den sicheren Heldentod in sich beschloß! Gisle, der die innere Not des jungen Kriegers erkannt hatte, half ihm aus der Verlegenheit, indem er in das peinliche Schweigen hinein sagte: »Es bringt einem jeden Krieger Ruhm, an einem solch kühnen Unternehmen teilnehmen zu dürfen, und genau wie Erik hier finde ich kaum die Worte, euch dafür zu danken. Ich versichere euch aber, und die Götter sind mein Zeuge, daß ich die Wahrheit spreche, daß ihr euch so sicher auf Erik und mich verlassen könnt, als sei es eure eigene Hand, die unsere Klingen führt.« Er hielt inne, um Euchar Zeit zum Übersetzen zu geben. Dann fuhr er unter dem beifälligen Gemurmel der Schildkrötenkrieger fort. »Legt es darum bitte nicht als Feigheit aus, wenn ich frage, wie unsere Chancen stehen. Immerhin«, er deutete auf Xchil und Xia, »sind Männer
unter uns, die in die Zukunft sehen können, und es wäre närrisch, ihr Wissen nicht zu nutzen.« »Wahr gesprochen.« Ansgar Blutaxt blickte die beiden Schildkrötenkrieger - Großvater und Enkel - an, und seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten. »Vermögt ihr uns darüber Auskunft zu geben, wie eure Mission und was das angeht, auch die Schlacht - verlaufen werden?« Xia erwiderte seinen Blick würdevoll, während Euchar für ihn übersetzte. Xchil hingegen schien endgültig in jenen merkwürdigen Dämmerzustand gefallen zu sein, in den ihn der Genuß des Rauchs aus den zusammengerollten Blättchen versetzt hatte. Seine Augen waren so weit nach oben gerollt, daß nur noch das Weiße zu erkennen war. Sie wirkten wie Kugeln aus weißem Marmor oder trübem Glas. Erik fragte sich, was ihr nach innen gerichteter Blick wohl für Welten im Kopf sehen mochte. Es war offensichtlich, daß der Schamane weder die Frage des Jarl gehört hatte noch zu antworten vermochte. Darum sprach Xia an seiner statt, und trotz des fremdartigen Tonfalls glaubte Erik so etwas wie Bedauern aus seiner Stimme herauszuhören. Euchars Übersetzung bestätigte seine Vermutung. »Er sagt, daß der morgige Tag für ihn dunkel ist«, erklärte der junge Franke. »Leider kann er nicht nach Belieben über seine Gabe verfügen, sondern muß warten, bis sie ihn von selbst überfällt. Xchil hingegen…« Als hätte Euchar ihm ein Stichwort gegeben, begann der uralte Schamane sich plötzlich zu regen. In einer beschwörenden Geste hob er die Hände, und mit einemmal flackerte das Feuer vor ihm stärker auf. Xia, der diese Anzeichen zu kennen schien, griff nach einigen Blättern, die in einer Schildpattschale neben dem Feuer lagen, und warf mehrere Handvoll davon in die Flammen. Weißer Qualm wallte auf, verdichtete sich zu nur undeutlich erkennbaren Gebilden in der vibrierenden Luft über der Feuerstelle. Erik hielt den Atem an. Er fühlte sich auf merkwürdige Weise an die Ereignisse weniger Stunden zuvor erinnert, als er versucht hatte, Odin zu beschwören. Aber sofort vergaß er diesen Gedanken wieder und achtete nur noch auf das, was sich vor ihm abspielte. Die Qualmwolken verdichteten sich weiter, formten sich. Einen Augenblick lang meinte der junge Wikinger in ihnen das Haupt einer Schildkröte zu erkennen. Doch dann verwandelte sich der unsichere Umriß mit jäher Plötzlichkeit in das Haupt einer Schlange. Rotglühende Augen starrten ihn an, eher neugierig und besorgt, wie es ihm schien, als bösartig. Aber an den Zähnen, die im vagen roten Schein
des Feuers blitzten, konnte er die Gifttröpfchen schillern sehen. Eriks Kehle wurde trocken, und er fragte sich, was dieses widersprüchliche Omen bedeuten mochte. Er erfuhr es nie. Im nächsten Augenblick schon verpuffte die unheimliche Erscheinung in einem Aufsprühen von Funken. Geblendet und erschrocken fuhr er zurück. Von den anderen Anwesenden hingegen erfolgte keine Reaktion, und als Erik hastig seinen Blick über ihre gebannten Gesichter schweifen ließ, hatte er beinahe den Eindruck, als hätten sie die Erscheinung gar nicht wahrgenommen, sondern nur das gesehen, was sich in der realen Welt dort über dem Feuer befand: weißer, wallender Qualm, der jede Gestalt annehmen und den Geist verwirren und narren konnte. Er wollte schon zu einer überraschten Frage ansetzen, aber da durchfuhr ein heftiger Ruck den zusammengekrümmten Körper Xchils. Der alte Schamane gab einen entsetzlichen Laut von sich, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. Seine milchweißen Augen, die jetzt vom Rauch und der Anstrengung mit Rot durchschossen waren, zuckten blicklos hin und her. Dann plötzlich begann Xchil zu sprechen. Es war ein kurzes, gequältes Trillern, das Erik und die anderen Anwesenden frösteln ließ. Es hervorzustoßen, schien sämtliche Kraft aufzuzehren, über die Xchils faltiger Leib noch verfügte. Denn als es verstummte, sackte das Haupt des Schamanen herab, und sein Körper fiel schlaff nach vorn. Euchar und die beiden anderen Schildkrötenkrieger mußten herbeispringen und ihn auffangen, damit er nicht in die Flammen stürzte. Xias Gesicht zeigte tödliche Bestürzung, während er sich um seinen Großvater bemühte, und auch Euchar war sichtlich zusammengefahren. Sein blasses Antlitz wirkte womöglich noch fahler als zuvor. »Was hat er gesagt?« erkundigte sich Jarl Ansgar heftig, wobei er fast die Würde seines Ranges vergaß. In seiner Erregung hatte er den jungen fränkischen Missionar am Oberarm gepackt und schüttelte ihn hin und her. Euchar blickte ihn düster an. »Nur dies«, sagte er. »Was geschehen wird,
geschieht. Was vorausbestimmt ist, wird sein. Ich sehe euch gehen; aber ich sehe euch nicht zurückkehren.«
In diesem Augenblick schloß Erik Hellauge endgültig mit seinem Leben ab. * Als Xia ihn mit einem Rütteln an der Schulter weckte, hatte Euchar das Gefühl, kaum ein paar Minuten geschlafen zu haben. Mühsam richtete er
sich auf, von Xias brüderlicher Hand gestützt, und räusperte sich die Enge des Schlafes aus der Kehle. »Komm«, sagte der blauhäutige Krieger. »Es ist alles vorbereitet.« Euchar murmelte etwas Unverständliches und taumelte mehr, als daß er ging, an Xias Seite den Strand entlang. Überall auf dem feinen weißen Sand lagen dicht an dicht die Körper der Krieger, die um erlöschende Feuer geschart unruhig der Schlacht entgegendämmerten. Ab und an gab einer einen leisen Seufzer von sich, der beinahe wie das Weinen eines kleinen Kindes klang und ebensogut von einem Alptraum wie von der Kälte herrühren mochte, die den Schlafenden plagte. Der Morgen war kühl und dunstig, und am fernen Horizont tasteten sich bereits die ersten Strahlen der rötlichen Sonne durch den Nebel über dem Meer. Es würde ein schöner Tag werden, dem Wetter nach jedenfalls. Über alles andere wagte Euchar nicht nachzudenken. Knapp oberhalb der Wasserlinie erwarteten sie die drei Schildkröten, die sie in ihr aberwitziges Abenteuer tragen sollten. Eine Gruppe blauhäutiger Krieger war dabei, sie mit den letzten Waffen und Ausrüstungsgegenständen für die Gefangenen des Grauen Magiers zu beladen. Die in Fischleder gewickelten Speere, Beile und Wurfscheiben wurden sorgfältig mit Tauen festgezurrt, an metallenen Ösen, die zu diesem Zweck durch den schmerzunempfindlichen Panzer der Schildkröten getrieben worden waren. Die Schildkröten schien der Aufruhr rings um sie völlig kalt zu lassen. Sie wandten nur hin und wieder den Kopf, um die Männer zu beäugen, die über sie hinwegkletterten und an ihnen herumhantierten. Ansonsten begnügten sie sich damit, gemächlich Mundvoll um Mundvoll von dem Seetang zu verzehren, der in großen Haufen vor ihnen lag. Euchar fragte sich, ob es wohl diese Gemütsruhe war, die es den Tieren ermöglichte, ihr legendär hohes Alter zu erreichen. Er hätte viel darum gegeben, eine ähnliche Ruhe an den Tag legen zu können. Aber selbst die tröstliche Hand Xias auf seinem Unterarm half nicht mit, die bösen Vorahnungen zu vertreiben, die ihn an diesem Morgen erfüllten. Vielleicht so überlegte er, während er die letzten Arbeiten beobachtete, würde ein Gebet etwas nützen. Schließlich war es auch ein Gebet gewesen, das ihm im Augenblick höchster Gefahr Kraft gegeben und ihn aus den Tentakeln der Schiffsbestie befreit hatte - wenn das Kommen der Schildkrötenkrieger nicht nur ein Zufall gewesen war. Aber daran konnte er nicht glauben. Zu vielfältig waren die Beweise der letzten Zeit, daß er in Gottes Hand stand. Er entspannte sich ein wenig, horchte in sich hinein und tastete nach der
verborgenen Quelle in ihm, aus der seine Gebete entsprangen. Aber noch bevor er sich auf die bekannten und tröstlichen Worte einstimmen konnte, riß ihn rauher Gesang aus seiner Meditation.
»Gut haben wir gekämpft: wir stehn auf Gotenleichen, Aufrecht, ob schwertmüde, wie Aare im Gezweig: Heldenruhm gewannen wir, sterben wir heut oder morgen: Niemand sieht den Abend, wenn die Norne sprach.« Es war der Schluß des Alten Hamdirliedes, das er einmal von einem Skalden in Haithabu hatte singen hören, und mit einem Male wurde ihm bewußt, wie sehr die letzte Zeile davon dem Geiste nach jenen Worten ähnelte, die er gerade selber hatte sprechen wollen.
Dein Wille geschehe…
Langsam drehte er sich um. Gisle und Ilir der Narbige kamen Arm in Arm den Strand hinunter, gefolgt von Erik und Tirx. Es waren Gisle und Erik, die sangen, und die Schildkrötenkrieger hörten ihnen mit großer Andacht zu. Alle vier waren in Panzer aus Hornplatten gekleidet, die von geschickten Handwerkern mit geschmeidigen Sehnen miteinander verbunden worden waren. Ihre Häupter krönten Helme aus demselben Schildpatt, und ihre Füße waren mit Fischleder beschuht. Metallene Schienen an ihren Unterarmen reflektierten die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Unmittelbar vor Euchar blieben die vier stehen. Sie sprachen kein Wort, nachdem der Gesang verstummt war, sondern hoben nur den gewappneten Arm zum Gruß. Der Anblick schnürte Euchar die Kehle zusammen. Er nickte langsam und deutete auf die wartenden Schildkröten. »Brechen wir auf«, sagte er. »Und möge das Heil mit uns sein.« »Und möge das Heil mit uns sein«, wiederholten Gisle und Erik dumpf. In den fremdartigen Rüstungen hatten sie nicht viel Ähnlichkeit mit den beiden jungen Männern, die der Franke während ihrer gemeinsamen Tage an Bord, des Hengist, während der Fahrt durch das Tanglabyrinth und im Lager am Strand der Schildkröteninsel kennengelernt hatte. Sie wirkten wie Fremde, Angehörige einer Kaste, zu der er bei allem Mut und aller Kampfbereitschaft niemals Zutritt finden würde. Zum ersten Mal begriff er, warum diese Männer so mit aller Inbrunst ihren alten, kriegerischen Göttern anhingen und sich seinem eigenen Gott verweigerten - dem Gott der Milde und Versöhnung. Abrupt machten die beiden Wikinger und die beiden Schildkrötenkrieger kehrt und stapften hinüber zu ihren Reittieren. Euchar sah ihnen nach und bemerkte, daß Gisle zu Ilir dem Narbigen auf Sehr schnell und klug stieg, während Erik sich mit in den Sattel von Tirx'
Von großer Ausdauer schwang. Es waren Paarungen, die sich ganz von
selbst ergeben hatten, nachdem einmal feststand, daß er selbst mit Xia reiten würde, seinem Blutsbruder. Während er noch hinschaute, setzten sich die beiden riesigen Schildkröten in Bewegung. Auf dem Land nur plump, krochen sie gemächlich der Brandung entgegen, wobei sie eine breite Pflugspur im Sand hinterließen. Die Krieger, die sie beladen hatten, begleiteten sie bis zur Wasserlinie und riefen ihren Reitern Worte der Ermutigung zu, wie es bei den Schildkrötenkriegern Brauch war. Wie der Bug eines vom Stapel laufenden Langbootes tauchten die faltigen Schädel die Schildkröten in die Brandung. Die schaufelartigen Füße trieben die mächtigen Körper mit letzten entschlossenen Rucken vorwärts, daß der nasse Sand nur so spritzte. Und dann hatten die Schildkröten die offene See gewonnen. Sie strebten davon, von Ilir und Tirx durch getrommelte Kommandos angetrieben, und verschwanden im Dunst des Morgens. »Komm«, sagte Xia. »Es ist Zeit, daß wir ihnen folgen.« Er hatte sich inzwischen gleichfalls in die Rüstung der Schildkrötenkrieger gehüllt und bot auch Euchar ein Panzerhemd aus Schildpatt an, das dieser widerwillig überstreifte. Die Schulterriemen schnitten tief ins Fleisch, und er konnte spüren, wie ihm trotz der herrschenden Kühle schon jetzt der Schweiß ausbrach. Es würde ein langer, heißer Tag unter dem Panzerhemd werden. Aber sie konnten es sich nicht leisten, ungewappnet die sicheren Gefilde der Insel zu verlassen. Auf See mochten Sie jederzeit einer Patrouille der Untoten zu Schiff begegnen - und dann würde ihnen keine Zeit mehr bleiben, die Rüstung überzustreifen. »Danke, Bruder.« Euchar stülpte sich den Helm auf den Kopf, den der Blauhäutige ihm reichte, und band ihn mit dem daran befestigten Kinnriemen fest. Xia half ihm, die Langschuhe aus Fischleder über die Knöchel und die Waden hinauf zu schnüren. Als er damit fertig war, waren nur noch Euchars Oberschenkel ungeschützt. Gepanzerte Hosen kannten die Schildkrötenkrieger nicht, und außerdem hätten sie beim breitbeinigen Reiten auf den natürlichen Hornsätteln nur gestört. Zumindest beim Kampf von der Schildkröte aus bot aber der auf gewölbte Vorderrand des Sattels einigen Schutz. Im Kampf Mann gegen Mann auf festem Boden hingegen mußten sich die Krieger ganz auf ihre Geschicklichkeit verlassen, um Verletzungen der Schenkel zu vermeiden. Kein sehr beruhigender Gedanke, wie Euchar fand. Xia hielt ihm die zusammengelegten Hände als Steigbügel hin, und Eu-
char schwang sich in den Sattel vor Trägt schwere Lasten, der Schildkröte, die der alte Stammeshäuptling Xchil selbst seinem Sohnessohn Xia für diesen Tag ausgewählt hatte. Trägt schwere Lasten war noch jung und kampfunerfahren, machte aber ihrem Namen alle Ehre. Auf ihren breiten Panzer hatte man fast ebensoviel Waffen und Geräte geschnallt wie auf die Panzer von Sehr schnell und klug und Von großer Ausdauer zusammen. Ihr Sattel war so ausladend, daß Euchar kaum richtig darauf sitzen konnte. Xia hatte diese Probleme nicht. Mit einem eleganten Schwung, der langjährige Erfahrung verriet, nahm er hinter seinem Blutsbruder Platz und trieb ihr gemeinsames Reittier vorwärts. An Land war die Bewegung von Trägt schwere Lasten so schaukelnd, daß Euchar beinahe übel davon wurde. Aber nachdem die Schildkröte erst einmal das offene Meer erreicht hatte, glitt sie so ruhig und geradlinig dahin, wie ein Boot gleicher Größe es kaum vermocht hätte. Trotz ihrer gewaltigen Masse war sie zudem sehr schnell, so daß sie bald zu den vorausgeeilten Sehr schnell und klug und Von großer Ausdauer aufgeschlossen hatte. Auf Xias Kommando paddelte sie zwischen ihnen hindurch und setzte sich an die Spitze ihrer kleinen Armada. Ilir, Gisle, Erik und Tirx grüßten zu ihnen hinüber. Sie waren seltsam anzusehen in der gleichen Panzerung wie die Tiere, auf denen sie ritten. Xia erwiderte ihren Gruß mit einem langgezogenen Trillern, aus dem die Lust an Kampf und Abenteuer sprach. Euchar begnügte sich damit, mit der Hand zu winken. Die Hochstimmung, in der er sich am Abend zuvor befunden hatte, als er seinen und Xias kühnen Plan im Zelt des Häuptlings entwickelte, war längst verflogen. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an das Blut und den Tod, die vor ihnen lagen. Wie waren doch gleich die Worte des alten Schamanen gewesen? »Ich sehe euch gehen; aber ich sehe euch nicht zurückkehren.« An ihrer Auslegung konnte es keinen Zweifel geben. Sie würden den Tangpalast nicht lebend verlassen. Aber vielleicht, dachte Euchar, gelang es ihnen wenigstens, den Grauen Magier lange genug abzulenken, damit ihre Hauptstreitmacht ungehindert zuschlagen konnte. Entschlossen blickte er nach vorn. Ihnen blieb nur übrig, dieses Kreuz auf sich zu nehmen und ehrenvoll zu sterben, um mit ihrem Tod den anderen den Weg zu ebnen. Denn ein Zurück, das wußte er, gab es jetzt nicht mehr.
* Die Nebelgrenze ragte vor ihnen auf wie eine Mauer aus Eis, kalt, weiß und abweisend, als die Sonne kaum anderthalb Handbreit über dem Horizont stand. Euchar erhob sich im Sattel und blickte sich zu den Gefährten um. Offenbar hatten Gisle und Erik ebensowenig wie er selbst geahnt, wie schnell die Schildkröten sein konnten, auf denen sie ritten; denn ihre Gesichter waren bleich und ihre Augen vor Staunen geweitet. Die rasende Fahrt über die eintönig blaue Fläche des Meeres erschien Euchar wie ein Traum, aus dem er gerade eben erst wieder erwacht war. Zum erstenmal kam es ihm so vor, als ließe sich der von Xia aufgestellte, viel zu knapp wirkende Zeitplan auch tatsächlich einhalten. Wenn alles gutging, würden sie den Tangpalast um die Mittagsstunde erreichen - etwa zu dem Zeitpunkt, da die Hauptstreitmacht ihrer Armee das Untotenheer in eine erste große Schlacht verwickelte. Unwillkürlich versuchte er, die Flotte der über dreihundert Schildkröten in der Ferne auszumachen. Aber natürlich konnte er keine Spur von ihnen entdecken. Selbst die Schildkröteninsel war längst hinter dem Horizont versunken. Mit einem leisen Seufzen hob Euchar die Hand und gab das Zeichen zum Sammeln. Sofort schlossen die anderen Schildkröten bis auf Sprechweite auf. Ihre Bewegungen verrieten keinerlei Anzeichen von Müdigkeit, und der junge Franke hatte das sichere Gefühl, daß sie auch den noch vor ihnen liegenden schwierigeren Teil ihrer Fahrt ohne erkennbare Mühe bewältigen würden. Ob das allerdings für ihre menschlichen Reiter ebenfalls zutraf… nun, das war eine andere Frage! »Von hier an müssen wir tauchen«, rief er Gisle und Erik zu. »Haben die beiden euch gezeigt, was ihr zu tun habt?« Gisle machte eine Geste der Zustimmung. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es funktioniert«, fügte er skeptisch hinzu. Erik Hellauges unter dem Schildpatthelm seltsam bleiches Gesicht zeugte davon, daß es ihm nicht viel anders ging. Xia, dem Euchar die Worte des Kriegers ohne Gedächtnis übersetzt hatte, lachte schallend. »Es wird«, bekräftigte er. »Ich bin damals viele Male stundenlang unter Wasser geblieben. Es ist sogar ganz einfach, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat. Solltet ihr Schwierigkeiten haben, tauchen wir noch einmal auf, bevor wir den Rand des Tangmeeres erreichen.« Er griff nach den beiden kürbisartigen Gebilden, die hinter ihnen auf dem
Rücken von Trägt schwere Lasten festgeschnallt waren, und klopfte beinahe liebkosend darauf. »Aber ich glaube nicht, daß das nötig sein wird.« »Hoffentlich.« Euchar neigte eher dazu, Gisles Skepsis zu teilen, obwohl er selbst daran mitgewirkt hatte, den Plan zu entwickeln. »Und vergeßt nicht: Immer nur durch den Schlauch ein- und ausatmen«, schärfte Xia ihnen nochmals ein. »Die Liripflanze benötigt die ausgeatmete Luft, um frische erzeugen zu können. Wenn ihr zuviel durch die Nase ausatmet, werdet ihr bald ersticken. Ich hätte diesen Fehler als Junge beinahe mit dem Leben bezahlt.« Er umschloß den gelblichen, fingerdicken Schlauch, der von einem der beiden Kürbisse ausging, probeweise mit den Lippen und überreichte Euchar den Luftschlauch des anderen. »Ilir, Tirx, ihr folgt jedem unserer Manöver und geht nicht an die Oberfläche, bevor wir euch nicht signalisiert haben, daß keine Gefahr besteht. Gisle, Erik, habt ihr noch Fragen?« Euchar übersetzte die Worte, und die beiden Wikinger schüttelten den Kopf. »Dann los«, befahl Xia. Seine Finger trommelten einen abgehackten Rhythmus auf dem Schulterpanzer von Trägt schwere -Lasten. Sogleich begannen die mächtigen Schaufelfüße der Schildkröte wieder zu arbeiten. Diesmal jedoch trieben sie sie nicht nur vorwärts, sondern auch schräg hinein in das durchscheinend blaue Wasser. Über Euchars Kopf schlugen die Fluten zusammen. Salzwasser brannte in seinen Augen, und einen Moment lang schnürte Panik ihm die Kehle zu, als er an die endlosen Minuten dachte, die er ertrinkend im Zugriff der Schiffsbestie verbracht hatte. Dann aber begann er vorsichtig, durch den Schlauch zu atmen, und sofort wich die Beklemmung. Die Luft, die er aus dem hohlen Inneren der Liripflanze in seine Lungen sog, schmeckte merkwürdig schwer und süß. Aber das war auch alles, was sie von der gewöhnlichen Luft ein Stück über seinem Kopf unterschied. Trotzdem beneidete Euchar die Schildkröten, die im Gegensatz zu den Menschen solche Atemgeräte nicht benötigten. Ihr natürlicher Lebensraum lag gleichermaßen unter wie über Wasser, und es genügte vollkommen, wenn sie alle halbe Stunde zum Luftholen auftauchten. Dafür sorgten große, wie Polster zwischen dem eigentlichen Körper und dem Panzer eingebettete Luftsäcke, die zugleich auch den Auftrieb regulierten. Xia klopfte ihm fragend auf die Schulter, und er drehte sich halb herum und lächelte ihm zu, so gut es das Schlauchende in seinem Mund zuließ. Zugleich versuchte er, die neue, ungewohnte Szenerie ringsum in sich aufzunehmen. Viel gab es nicht zu sehen. Das Wasser war hier, einige Fuß unter der
Oberfläche, von Sonnenstrahlen durchflutet, die durch die Kräuselung der Wellen ein sich stetig veränderndes Muster bildeten. Was Euchar sofort auffiel, war das fast völlige Fehlen von Fischen und anderen Meerestieren. Nur eine kleine, kränklich aussehende Qualle trieb mit müden Bewegungen ihrer durchscheinenden Fortsätze durch sein Gesichtsfeld. Im Bereich der Schildkröteninsel war das Meer so fischreich gewesen, daß die See an manchen Stellen vor silberschuppigen Leibern geradezu kochte. Euchar begriff, daß sich der verderbliche Einfluß der SargassoMagie bereits hier, ein gutes Stück vom eigentlichen Rand der Tangsee, bemerkbar machte. Etwas Kühles, Glitschiges streifte seine Hand. Der junge Franke zuckte zusammen. Die Berührung war unangenehm gewesen, beinahe widerlich. Rasch senkte er den Blick, um festzustellen, was diese Empfindung ausgelöst, hatte, konnte aber nichts erkennen. Verwirrt hob er die Hand an die Augen. Sie zeigte keinen Ausschlag wie nach dem Kontakt mit einer Qualle. Er runzelte die Stirn. Und da war das Gefühl wieder - diesmal an seiner schildpattgepanzerten rechten Schulter. Ein eisiger Schauer rann Euchar den Rücken hinunter. Es war, als hätte etwas durch seine Rüstung hindurchgegriffen, etwas, von dem auch der festeste Panzer keinen hinreichenden Schutz bot. Und er mußte nicht erst hinsehen, um zu wissen, daß er auch diesmal keine Spur davon entdecken würde. Die Erklärung war ebenso einfach wie erschreckend: Hier war Magie im Spiel! Er schaute voraus und sah einen schwarzen Schattenkegel über den schuppigen Kopf von Trägt schwere Lasten wandern. Die Schildkröte zuckte beinahe unmerklich zusammen, schwamm dann aber stur und unerschütterlich weiter. Der dunkle Kegel wanderte über ihren Schulterpanzer hinauf und traf einen winzigen Augenblick lang voll auf Euchars Gesicht, bevor die Schildkröte unter ihm hinweggetaucht war. Der junge Franke gab einen erstickten Laut von sich und verlor beinahe das Schlauchmundstück. Es war dieselbe kühle, glitschige und widerwärtige Berührung, die er nun schon zweimal verspürt hatte. Schaudernd vor Ekel blickte er auf. Über ihnen sprenkelten Tangfetzen wie grünlicher Schimmelbefall die See. Die Schatten, die sie in den Abgrund der See hinabwarfen, durchflochten die Lichtmuster der Sonnenstrahlen zunehmend mit ihrem undurchdringlichen, alles verschluckenden Schwarz. Ungläubig sah Euchar, daß sich dieses Schwarz ein Stück von ihnen zu einer regelrechten Mauer zusammenballte, einem Vorhang aus Dunkelheit,
der gleichsam die Nebelwand über der Bittersee bis hinab zum Meeresgrund fortsetzte und das Reich des Grauen Magiers von der Außenwelt abschirmte. Und in diesen Vorhang aus Dunkelheit würden sie eindringen müssen, um ihre Mission zu erfüllen! Es war völlig unvorstellbar. Dorthinein konnte kein Mensch gehen, dem sein Verstand lieb war. Tief in seinem Inneren war sich Euchar nicht einmal sicher, ob sie ihre unsterblichen Seelen vor Schaden bewahren konnten, wenn sie sich in diesen Schatten begaben. Er schluckte. So bitter diese Erkenntnis auch sein mochte: Ihr Plan war schon jetzt, noch vor dem eigentlichen Beginn der Reise, gescheitert. Es lag auf der Hand, daß sie umkehren und sich der Hauptstreitmacht unter Jarl Ansgar und Häuptling Xchil würden anschließen müssen. Und niemand würde sie deswegen der Feigheit bezichtigen können. Xia schien seine Befürchtungen zu teilen, denn er klopfte das HaltZeichen auf den Schulterpanzer von Trägt schwere Lasten. Die mächtigen Schaufelfüße quirlten das Wasser auf und brachten die riesige Schildkröte fast auf der Stelle zum Stehen. Sehr schnell und klug und Von großer Ausdauer schlossen auf, bis die Schildkröten mit den Köpfen nach innen einen dreizackigen Stern bildeten und ihre Reiter sich durch Handsignale miteinander verständigen konnten. Aber zu Euchars Überraschung gab Xia keineswegs das vereinbarte Zeichen zur Umkehr. Stattdessen griff er hinter sich und zog aus dem Bündel auf dem Rücken von Trägt schwere Lasten einen langen Stab hervor, an dessen Ende eine andere kürbisartige Pflanze befestigt war. Diese unterschied sich durch ihre geringere Größe, ihre längliche, fast flaschenartige Form und ihre merkwürdig farblose Schale von der Liripflanze. Euchar erinnerte sie ein wenig an eine Lampe, die man bei einer nächtlichen Prozession mitführt. Und nichts anderes schien sie zu sein. Xia hielt sie in einen Schattenkegel, und sie begann zu leuchten. Erst war das Leuchten nur schwach, dann immer stärker, bis es die ganze Umgebung mit ihrem gelblichen, warmen Schimmer erfüllte. Ilir der Narbige und Tirx holten ähnliche Lampen hervor und entzündeten die Kürbisse am Ende der Stäbe, indem sie sie in die Dunkelheit tauchten. Gleich darauf umhüllte der vereinte Schein der drei Leuchtpflanzen die kleine Gruppe mit einer Kugel aus Licht, der die Schatten des Tangs nichts anhaben konnten. Xia signalisierte ein fragendes Weiter?, und von ihren Gefährten auf den beiden anderen Schildkröten kam ein einmütiges Ja.
Auch Euchar hob die Hand zum Zeichen des Einverständnisses. Seine Angst hatte sich gelegt, und er verspürte plötzlich fast Neugier auf den weiteren Verlauf ihres Abenteuers. Gleich darauf schossen die drei Schildkröten wieder vorwärts, der absoluten Schwärze unter der Sargassosee entgegen. * »Sie kommen, Jarl! Die Untoten kommen!« Ansgar Blutaxt richtete sich hoch im Sattel der Schildkröte auf, die er mit einem blauhäutigen Krieger namens Chlch teilte, und spähte dem Rufer entgegen, der diese Nachricht brachte. Es war Bölwerk Gabelbart, und seine Schildkröte bewegte sich mit einer Geschwindigkeit durch den kaum schiffsbreiten Kanal zwischen mannshohen Tangwänden auf Ansgar zu, die selbst einem Drachenboot wie dem Hengist alle Ehre gemacht hätte. Der kleine Mann mit dem zweispitzigen Ziegenbart, der trotz aller Pflege, die Bölwerk ihm mit Knochenkamm und Butterfett angedeihen ließ, meist nur in wirren Fransen von seinem fliehenden Kinn herunterhing, stand beinahe auf dem Sattel seines Reittieres und wedelte mit den Armen wie mit Dreschflegeln. Trotz des ernstes Inhalts der Nachricht konnte Ansgar nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. »Die Untoten, Jarl«, brabbelte Bölwerk weiter, als die Schildkröte, die ihn trug, neben Ansgars Reittier zum Stillstand kam. »Bei Thor, es müssen Zehntausende sein oder vielleicht gar Millionen!« Er unterbrach sich, um Luft zu schöpfen, und sprudelte dann die näheren Einzelheiten hervor. »Ein Stück vor uns ist eine Art See, und sie nähern sich uns auf seiner ganzen Breite. Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Streitmacht gesehen, Jarl.« Der grauhäuptige Wikingerführer nickte langsam. Das, womit sie gerechnet hatten, war eingetreten. Der Graue Magier hatte ihr Vorrücken bemerkt und schickte ihnen nun seine geballte Streitmacht an Untotenkriegern entgegen. Unter ihnen befanden sich wahrscheinlich auch einige gefallene Wikingerkrieger, die früher zu den Besatzungen des Hengist und jenes Drachenbootes gehört hatten, mit dem Euchar, der Franke, in diese Welt gekommen war. Bei dem Gedanken daran erschauerte selbst der kampferfahrene Ansgar Blutaxt. Aber natürlich wußten die lebenden Leichname nicht, daß es ihre eigenen Gefährten waren, gegen die sie auf Geheiß des Grauen Magiers antraten.
In ihnen war kein Funken eigenen Bewußtseins zurückgeblieben. »Benachrichtige Xchil«, befahl der Jarl Bölwerk Gabelbart. »Wenn der Graue Magier wirklich mehrere zehntausend Krieger aufgeboten hat, werden wir seine Hilfe brauchen.« Bölwerk nickte und signalisierte dem Lenker seiner Schildkröte, ihr gemeinsames Reittier wieder anzutreiben. Nordmänner und Schildkrötenkrieger hatten diese Handzeichen mit Hilfe Euchars und Xias ausgearbeitet, da eine Verständigung auf andere Weise nicht möglich war. Euchar war der einzige, der die Sprache der Blauhäutigen beherrschte. Seine Abwesenheit konnte noch zu einem ernsten Hindernis werden, wenn es galt, kompliziertere Botschaften auszutauschen. Aber bisher hatte sich das System hinreichend gut bewährt. Ansgar Blutaxt seufzte. Nicht nur der junge fränkische Missionar fehlte ihnen, sondern auch Gisle und Erik, die Euchar auf seiner gefährlichen Mission begleiteten. Vor allem Gisle hätte er jetzt gern an seiner Seite gesehen. Der Krieger ohne Gedächtnis war ein hervorragender Bogenschütze, und Bogenschützen waren die eine Waffe, mit der sie die bevorstehende Schlacht für sich zu entscheiden hofften. Die andere… »Deine Befehle, Jarl?« Die Stimme Thormod Graubarts, seines Freundes und Stellvertreters, riß ihn aus seinen Gedanken. Der kampferprobte alte Haudegen hatte sich ihm unbemerkt genähert. Offenbar hatten ihn Bölwerk Gabelbarts Rufe alarmiert, der seine schlechten Nachrichten auf dem Wege zu Xchil wie ein Marktschreier in alle Welt hinausposaunte. »Wir rücken vor«, ordnete Ansgar nach einem Augenblick des Überlegens an. »Ich denke, es ist am besten, wir werfen erst einmal einen Blick auf diesen See, von dem Bölwerk sprach. Dann können wir immer noch entscheiden, ob wir uns auf die Wasserfläche hinausbegeben oder von der Mündung des Kanals aus kämpfen.« »Ja, Jarl.« Thormod hob den Arm, und ihre kleine Vorhut, die rund dreißig Schildkröten und die doppelte Anzahl von Männern umfaßte, setzte sich wieder in Bewegung. In einigem Abstand folgte ihr die Hauptstreitmacht unter dem Kommando Häuptling Xchils. Ansgar mußte sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, daß die Flotte sich immer in Sichtweite hielt, damit sie ihm und seinen Männern im Notfall rasch zu Hilfe eilen konnte. Die Schildkrötenkrieger waren Mitstreiter, auf die man sich verlassen konnte. Sie würden sie nicht im Stich lassen, wenn es hart auf hart ging. Fast gemächlich bog die kleine Armada um eine Biegung der schmalen
Wasserstraße, der sie seit fast einer Stunde gefolgt waren, und mit einem Mal strebten die Tangwände rechts und links auseinander und öffneten sich auf einen gewaltigen See. Er war so groß, daß man das gegenüberliegende Ende kaum erkennen konnte, eine schier endlose Fläche schmutziggrauen Wassers, auf der überall Algenstränge schwammen. Der Anblick bereitete Ansgar Blutaxt Unbehagen, und er war sich fast sicher, daß dieses Gewässer vor wenigen Stunden noch nicht vorhanden gewesen war. Bei der Entstehung des Sees, das spürte er, war Magie im Spiel gewesen. Der Graue Magier hatte einen Kampfplatz schaffen wollen, auf dem sich die Entscheidungsschlacht abspielen sollte. »Wir bleiben in Ufernähe«, befahl er Thormod. »Die Bogenschützen sollen in einer Drachenbootlänge Entfernung von der Mündung des Kanals eine Kette bilden, damit Xchils Krieger genügend Raum haben, um sich mit ihren Schildkröten in Schlachtformation aufzustellen.« Während Thormod seine Anweisungen weiterleitete, spähte der Jarl hinaus auf die See. Mitten auf der Wasserfläche näherte sich eine unüberschaubar breite, vielfach in die Tiefe gestaffelte Front schwarzer Punkte - die untoten Krieger in ihren Segel- und Ruderbooten, von denen Bölwerk Gabelbart gesprochen hatte. Und jetzt konnte Ansgar Blutaxt die Aufregung des alten Haudegens verstehen. Denn dieses eine Mal hatte Bölwerk tatsächlich nicht übertrieben. Es waren Zehntausende, die dort gegen sie vorrückten. Einige von ihnen waren schon so dicht herangekommen, daß die scharfen Augen des Jarl ihre widerlichen, halb verfaulten Körper erkennen konnte. Wie Statuen standen sie reglos auf den Decks ihrer bunt zusammengewürfelten Flotte. In den verstümmelten Händen hielten sie rostige Schwerter, Beile und Lanzen, die matt das rötliche Licht der hoch im Mittag stehenden Sonne reflektierten. Es war ein gräßlicher Anblick. Aber noch furchtbarer war die Stille, die über dieser Armee der Untoten lag. Kein gesprochenes Wort drang von den Booten herüber, kein höhnisches Lachen, keine Kriegsrufe. Nur das Schaben von Metall auf Metall hallte gelegentlich über das bleierne Wasser. Ansgar Blutaxt biß sich auf die Lippen. Wer mit diesem Gegner fertig werden wollte, begriff er, mußte zuerst noch einen anderen Feind besiegen - einen Feind, der in ihm selbst lauerte und nur darauf wartete, sein Haupt zu erheben: das Entsetzen. »Beeilt euch!« bellte er seinen wie erstarrt abwartenden Männern zu. »Oder wollt ihr, daß sie hier sind, bevor ihr Aufstellung genommen habt?«
Unter Thormods Führung glitt Schildkröte um Schildkröte an ihm vorbei, und die ersten Krieger strebten hinaus auf den See, um die befohlene Position einzunehmen. Bogenschützen schlugen Feuersteine gegeneinander und fingen die aufsprühenden Funken in mit trockenem Moos gefüllten Schalen auf. Die Lenker ihrer Schildkröten reichten ihnen die wohlgefüllten Köcher mit Brandpfeilen an. Die Spitzen dieser Pfeile waren mit einer harzartigen Substanz bestrichen, so daß sie sofort Feuer fangen würden, sobald die Bogenschützen sie in das glimmende Moos tauchten. Doch dann hörten all diese geordneten Vorbereitungen mit einem Schlag auf. Ein vielstimmiger Schrei erhob sich unter den vorausreitenden Kriegern. Einige der Blauhäutigen brachten ihre Schildkröten übergangslos zum Halten, andere setzten sogar dazu an, zu wenden und umzukehren. Ein paar rissen die Wurfbeile aus dem Gürtel. Nordmänner fluchten lästerlich und griffen zu Schwertern und Äxten. Verwirrt starrte Ansgar Blutaxt zu seinen Männern hinüber. Was, bei Odin, mochte in sie gefahren sein? Er hatte noch nie miterlebt, daß sie sich derart kopflos verhalten hatten. Im nächsten Augenblick sollte er es erfahren. Ohne auf einen besonderen Befehl zu warten, hatte Chlch Narbiger Kopf, ihre gemeinsame Reitschildkröte, ein Stück nach vorn getrieben, mitten hinein in das verwirrende Getümmel. Plötzlich begann rings um sie die Luft zu flimmern, und Ansgar Blutaxt gab einen unterdrückten Schreckenslaut von sich. Es war, als hätten sie einen unsichtbaren Vorhang durchstoßen. Mit einemmal war der Tangpalast unendlich viel näher gekommen. Er ragte vor ihnen auf wie ein riesiger graugrüner Berg, um dessen hoch in den Himmel reichende Spitze sich schmutziggraue Wolkenfetzen gesammelt hatten, die im Wind flatterten wie eine Standarte des Bösen. Vor diesem Berg wirkte die stattliche Armada der Schildkrötenkrieger winzig, ein Nichts, das jeden Augenblick hätte zerquetscht werden können, wenn nur ein kleines Stück der unüberschaubaren Tangmasse abbröckeln und hinunter ins Meer stürzen sollte. Aber das war noch nicht alles. Auch sämtliche anderen Perspektiven hatten sich auf dramatische Weise verkürzt. Die schwarze Front der Untotenflotte war nicht mehr fünfzig, hundert Mannslängen entfernt, sondern kaum noch fünf. Die ersten Boote befanden sich schon in Kampfdistanz zur Vorhut der Schildkrötenkrieger, was man durch finstere Magie vom Rand des magischen »Sees« aus nicht hatte erkennen können.
Ansgar Blutaxt sah Schwerter und Äxte aufblitzen und nach halb verfaulten Leichen hacken, die die Streiche mit fingerlosen Händen abwehrten und mit ihren eigenen rostigen Waffen zum Angriff übergingen. Ein fürchterlicher Ruck durchfuhr Narbiger Kopf. Ansgar spürte, wie er seitlich aus dem Sattel rutschte, einen unendlichen Augenblick lang haltlos über dem Wasser der Bittersee schwebte. Dann packte ihn eine Hand am Schulterriemen seines Brustpanzers und riß ihn in den Sattel zurück. Aber der Jarl fand nicht einmal Zeit, sich bei Chlch für diese Rettung in letzter Sekunde zu bedanken. Kaum hatte sich Narbiger Kopf durch rudernde Bewegungen mit den mächtigen Schaufelfüßen wieder etwas gefangen, war er aus dem Sattel heraus und stand auf dem breiten Rückenpanzer der erfahrenen Kampfschildkröte. Und keine Sekunde zu spät. Das Untotenboot, das Narbiger Kopf seitlich gerammt hatte, war mit gut einem Dutzend der gespenstischen Krieger bemannt. Der erste setzte gerade zu einem Sprung an, um auf die Schildkröte hinüberzukommen. Er schaffte es nicht. Seine mit den vermodernden Überresten von Lederbändern umwickelten Fußstummel rutschten auf dem abgeschrägten glatten Panzerrand aus. Arme, die fast nur noch aus Knochen, ein paar Sehnen und flatternden Hautfetzen bestanden, wedelten hilflos in der Luft umher. Dann stürzte der Untote sich rückwärts überschlagend in das aufgewühlte Wasser zwischen Bootsbug und Schildkröte. Ansgar hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern, ob der erste seiner Gegner wieder aus den Fluten auftauchte. Schon hatte ein zweiter zum Sprung angesetzt und überbrückte mit einem unglaublichen Satz den klaffenden Abgrund. In einer instinktiven Bewegung riß der Jarl die Axt aus dem Gürtel und wehrte den ersten Streich des gegnerischen Schwerts mit ihr ab. Aber er hatte den Schwung unterschätzt, den der tollkühne Satz dem untoten Krieger verliehen hatte. Die halb verfaulte Gestalt krachte in ihn hinein, brachte ihn ins Torkeln. Doch es gelang ihm, auch diesen Untoten von Narbiger Kopfs Rücken zu stoßen. Nur, daß jetzt schon der dritte und vierte heran waren. Gegen sie hätte der Jarl nicht die geringste Chance gehabt, wäre nicht Chlch gewesen. Bevor Ansgar Blutaxt überhaupt auf die neue Bedrohung reagieren konnte, wirbelte schon der erste Kopf davon, von einer Wurfscheibe getroffen. Doch bei dem blitzschnellen Rettungsmanöver verlor Chlch auf dem vom Bitterwasser glitschigen Schildkrötenpanzer den Halt. Mit rudernden Armen stürzte der blauhäutige Krieger in die aufgewühlten Fluten. Er tauchte nicht wieder auf. Ansgar Blutaxt konnte ihm nicht helfen, sondern mußte sich ganz auf den verbleibenden Gegner konzentrieren. Seine
Axt zischte in einem weiten Bogen durch die Luft… … und prallte an einem blitzenden Schwert ab. Ansgar keuchte überrascht auf. Bisher hatten er und seine Krieger stets gegen Untote gekämpft, deren Leiber schon längst verfault und deren Waffen durch und durch verrostet waren. Dieser Gegner aber war anders. An seinem Schwert zeigte sich noch nicht die geringste Spur von Rost oder Schmutz. Und auch die Hand, die das Schwert führte, wirkte noch kaum wie die eines Toten. Ansgar Blutaxt hob den Blick - und erstarrte. Es war eine Frau, gegen die er da kämpfte, eine hochgewachsene, weißhäutige Frau. Ihr langes Blondhaar wehte wie eine Fahne im Wind, und ihre gebrochenen, milchig überhauchten Augen ließen immer noch das unverkennbare Blau von Fjord und Bergsee und nordischem Himmel ahnen. Ihr Gesicht war edel und von vollkommener Schönheit. Das einzige, was unleugbar anzeigte, daß sie tot war, war der Schnitt quer über ihrer Kehle. Eine Wikingerin, durchfuhr es Ansgar Blutaxt. Mein Gegner ist eine Wikingerin. Aber wie, bei Odin, ist es möglich, daß sie vor wenigen Tagen, vielleicht vor wenigen Stunden noch gelebt hat? Fast hätte ihn diese Überlegung selbst das Leben gekostet. Mit einer Mühelosigkeit, die langjährige Kampferfahrung verriet, löste die untote Kriegerin ihre Klinge wieder von Ansgars Axt. Sie machte einen halben Schritt zurück, um sichereren Stand zu gewinnen, und zielte einen heimtückischen Schlag nach den ungeschützten Schenkeln des Jarl. In letzter Sekunde blockte Ansgar den Angriff ab, hakte die Spitze seiner Axt gleichsam hinter die Schwertklinge und versuchte, sie seiner Gegnerin mit einem Ruck aus der Hand zu reißen. Das Manöver mißlang, aber nicht, weil Ansgar zu ungeschickt gewesen wäre. Vielmehr brach die Klinge seiner Axt in der Mitte durch. Ungläubig starrte der Jarl die zersprungene Waffe an. Schneller, als er es hatte wahrnehmen können, war sie während des Kontakts mit der Klinge der Wikingerin verrostet, nicht nur an der Oberfläche, sondern bis in die Tiefe des Metalls hinein! Was war das für ein verfluchtes Zauberschwert, das diese unheimliche Kriegerin führte? Statt einer Antwort auf seine unausgesprochene Frage wurde ihm nur ein erneuter Schwertstreich zuteil, den er mit den kläglichen Überresten seiner geborstenen Axt gerade noch abwehren konnte. Rostiges Metall splitterte in alle Richtungen, und der Griff brach unter der Wucht des Aufpralls in Ansgars Hand.
Im nächsten Augenblick stand er seiner Gegnerin völlig waffenlos gegenüber. Nein, nicht völlig. Mit der Linken riß er den Nahkampfdolch vom Gürtel und schleuderte ihn direkt in das leblos starre Gesicht der untoten Kriegerin. Aber wieder zuckte das verhexte Schwert, das das Metall der gegnerischen Klinge in Rost verwandeln konnte, beinahe widernatürlich schnell hoch und lenkte das Messer wenige Zoll vor dem Gesicht zur Seite, so daß es wirkungslos auf den Panzer der Schildkröte klapperte und ins Meer rutschte. Dann schwang das Schwert herum. Schon glaubte Ansgar Blutaxt die Spitze der unheimlichen Waffe an seiner eigenen Kehle zu spüren. Er machte einen halben Schritt zurück, setzte an, sich rücklings ins Wasser zu werfen, um der Bedrohung zu entgehen, aber sein Fuß rutschte aus, und mit einem Mal lag er lang ausgestreckt auf dem Rücken der Kampfschildkröte, die untote Wikingerkriegerin hoch über sich wie eine rächende Göttin. Und diesmal war kein Chlch zur Stelle, um ihn zu retten… * Wenn sie geglaubt hatten, der Vorhang aus Dunkelheit sei das letzte ernsthafte Hindernis, das noch zwischen ihnen und dem Palast des Grauen Magiers lag, so hatten sie sich getäuscht. Im Inneren der Schwärze wucherte die Tangdecke - und je näher sie dem Zentrum des Tangmeeres kamen, desto dicker wurde sie! Mit einem bangen Gefühl im Herzen beobachtete Erik Hellauge, wie die führende Schildkröte mit Euchar und Xia auf dem Rücken immer tiefer ging. Seit ihrem letzten Zwischenhalt, bei dem sie in einer der nebelverhangenen Fahrrinnen aufgetaucht waren, damit ihre Reittiere Luft holen konnten, war schon wieder annähernd eine halbe Stunde vergangen. Und von einer weiteren Fahrrinne war immer noch keine Spur zu entdecken. Obwohl sie sich so dicht wie möglich unter der Tangdecke hielten, mußten sie inzwischen vielmehr Dutzende von Manneslängen unter Wasser sein. Davon zeugte das Knacken in Eriks Ohren, wann immer er schluckte. Es schien ihm, als müßten seine Trommelfelle im nächsten Augenblick platzen - und wenn nicht dann, so im Augenblick darauf. Unwillkürlich ließ der junge Krieger seinen Blick hinauf zur Unterseite des Tangs schweifen, an der ihre Köpfe beinahe vorbeistreiften. Die dicht ineinander verflochtenen Tangmassen waren von einem kran-
ken, grünlich schimmernden Weiß, und in ihnen eingehüllt hatten sich die Überreste all jener belebten und unbelebten Dinge erhalten, die der Sargassosee jemals zum Opfer gefallen waren. Halb zerdrückte Schiffsrümpfe ragten wie die Ruinen längst verfallener Festungen aus einer seltsam auf den Kopf gestellten Gebirgslandschaft. Leere Rüstungen aus Schildpatt, Leder oder Metall baumelten ebenso wie andere Ausrüstungsgegenstände in langen Tangschlingen wie von Galgen herab. Und hier und da schimmerten die Knochen der unterschiedlichsten Lebensformen durch das unauflöslich verschlungene Gewirr: bleiches Fischbein, weißliche, sauber abgenagte Knochen von Mensch und Tier und Fabelwesen und leere, grinsende Schädel, hinter deren Augenhöhlen grünlich trübe Dämmerung herrschte. Erik wurde das Gefühl nicht los, daß sie schon Zeugen vieler solcher Expeditionen wie der ihren geworden waren. Expeditionen, die in den luftlosen Tiefen dieses Schattenreiches ein gräßliches Ende gefunden hatten, weil Reiter oder Reittiere kläglich erstickten… Nervös wandte er sich zu Tirx um und signalisierte ihm, daß ihnen kaum noch fünf Minuten blieben. Tirx wiegte bestätigend den Kopf und breitete die Hände aus, um anzuzeigen, daß auch er machtlos sei. Zum Umkehren war es längst zu spät. Die einzige Chance, die ihnen noch blieb, lag voraus. Auch die drei Schildkröten schienen das zu wissen. Denn nun begannen sie immer schneller zu schwimmen, ohne von ihren Lenkern dazu angetrieben worden zu sein. Eine unerklärliche innere Uhr sagte ihnen, daß ihr Luftvorrat sich bedrohlich dem Ende zuneigte. Tiefer hinab, immer tiefer hinab. Es war ein Wettlauf nicht nur mit der Zeit, sondern auch mit den Schatten. Sogar die Leuchtpflanzen begannen in diesen Tiefen schwächer zu glühen, und von allen Seiten drängte das verzauberte Dunkel sich dichter an die Krieger heran. Eine Ahnung jener abgründigen, widerwärtigen Kälte legte sich um Eriks Herz und krampfte es zusammen. Er spürte, wie der Takt von Von großer Ausdauers Schaufelfüßen unregelmäßig wurde, als die näher rückenden Schatten auch die Kampfschildkröte streiften. Oder, dachte Erik erschrocken, waren das schon die ersten Anzeichen beginnenden Sauerstoffmangels? Auf einmal hielt Tirx Von großer Ausdauer mit einem jähen Ruck an, und auch die beiden anderen Schildkröten kamen fast übergangslos zum Stehen. Verwirrt starrte Erik voraus in die Schwärze, um zu erkennen, was die drei Lenker ihrer Reittiere zu diesem überraschenden Manöver veranlaßt hatte.
Als er schließlich sah, worin der Grund lag, verlor er vor Schreck beinahe das Mundstück seines Atemschlauchs. Unmittelbar vor ihnen bildete der Tang eine senkrecht nach unten ragende Wand, die sich in unvorstellbaren Tiefen jenseits des Lichtkreises der Leuchtpflanzen verlor. Darunter hinwegzutauchen, begriff Erik, war völlig aussichtslos. Es konnte sein, daß diese Tangmauer nie endete, sondern bis hinab zum viele tausend Mannslängen entfernten Meeresgrund reichte. Sie waren am Ende ihres Weges angekommen! Wie vor den Kopf geschlagen starrte Erik das Hindernis an. Erst langsam breitete sich die Erkenntnis in seinem Geist aus, daß es der Sockel des Tangpalastes war, den sie vor sich hatten, das notwendige Gegengewicht zu der ungeheuren Tangmasse, die sich über der Wasserlinie erhob. Sie hatten den Weg, für den sie mit ihren überladenen kleinen Booten auf der Flucht vor dem Grauen Magier mehrere Tage gebraucht hatten, auf dem Rücken ihrer Schildkröten unter Wasser in kaum sieben oder acht Stunden zurückgelegt. Damit hatten sie ihren Zeitplan perfekt eingehalten. Nur, daß es ihnen nichts mehr nützte. Denn sie waren unter einer undurchdringlichen Tangdecke gefangen. Und in wenigen Augenblicken mußten ihre Reittiere unweigerlich ersticken. * Plötzlich begannen Von großer Ausdauers mächtige Schaufelfüße wieder zu arbeiten, und die Kampfschildkröte schoß wie ein Pfeil vorwärts, dichtauf gefolgt von Trägt schwere Lasten und Sehr schnell und klug. Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, bogen sie nach links ab und jagten mit unglaublicher Geschwindigkeit an dem Tangsockel entlang. Es dauerte eine ganze Weile, bis Erik in seiner Benommenheit begriff, daß Tirx, Ilir und Xia ihnen nicht den Befehl dazu erteilt hatten. Die drei Schildkröten handelten aus eigenem Antrieb, von einem Instinkt gelenkt, der mächtiger war als jeder erlernte Gehorsam. Sie spüren eine freie Wasserfläche in der Nähe, durchzuckte es Erik. Und sie wissen, daß sie sie um jeden Preis erreichen müssen, bevor der Luftvorrat in den Luftsäcken unter dem Panzer endgültig aufgebraucht ist! Er schickte ein lautloses Stoßgebet zu Odin und allen anderen Asengöttern, als er sah, daß die Tangdecke über ihren Köpfen langsam, viel zu langsam zurückwich. Die sie umgebende Schwärze verwandelte sich in ein trübes Unterwassergrau, und dann waren sie endgültig aus den Schatten heraus.
Von großer Ausdauer, Trägt schwere Lasten und Sehr schnell und klug schossen fast senkrecht nach oben, so daß ihre Reiter sich krampfhaft am aufgewölbten Sattelrand festhalten mußten. Im nächsten Augenblick hatten sie die Wasseroberfläche durchbrochen. Aber nur für einen winzigen Moment, der gerade ausreichte, damit die Kampf-Schildkröten Luft holen und ihre Reiter sich umsehen konnten. Dann hatten die drei blauhäutigen Krieger die Kontrolle zurückgewonnen und die Tiere dazu veranlaßt, wieder abzutauchen, um sich der Sicht etwaiger Feinde zu entziehen. Eriks Herz schlug vor Erregung wie rasend. Die kurze Zeit über Wasser hatte ausgereicht, um ihn erkennen zu lassen, wo sie sich befanden: unmittelbar vor dem Tor zum Hafen des Tangpalasts. Günstiger hätten sie es gar nicht treffen können. Und was noch besser war - die Hafeneinfahrt war völlig leer gewesen. Nirgendwo auch nur eine Spur von Untoten oder ihren Schiffen! Wenn sie überhaupt eine Chance hatten, in den Tangpalast einzudringen, dann jetzt! Auch Euchar und Xia schienen zu demselben Schluß gekommen zu sein. Sie übernahmen wieder die Spitze und bedeuteten ihren vier Gefährten zu folgen. Tollkühn schossen die drei Kampfschildkröten dicht unter der Wasseroberfläche in die Hafeneinfahrt hinein. Als sie das nächste Mal wieder die faltigen Schädel aus dem Wasser reckten, geschah es bereits in der Deckung eines der Tangkais. Der Anblick, der Erik sich bot, ließ den jungen Wikingerkrieger beinahe vor Überraschung aufschreien. Kaum zwanzig Schritt weiter dümpelte in der sanften Dünung des Hafenbeckens der vielfach geborstene, aber inzwischen wieder vom Tang befreite Rumpf des Hengist, ihres Wellenrosses, das sie vor gut zwei Wochen an die Armeen des Grauen Magiers verloren hatten. Trotz des gekappten Mastes, der gebrochenen Ruder und der fehlenden Relingschilde machte das riesige Drachenschiff einen stolzen und ungebeugten Eindruck. Erik traten bei seinem Anblick fast die Tränen in die Augen. Hatte er doch das Gefühl, nach einer langen Zeit in der Fremde endlich wieder nach Hause zu kommen. Aber diese Anwandlung währte nicht lange. Mit einem unterdrückten Fluch spuckte er das Mundstück der Liripflanze aus, griff nach dem Schlangenschwert an seiner Seite und stellte sich vorsichtig im Sattel auf. Noch war der Hengist nicht wieder in ihrer Hand, und wenn sich die düstere Prophezeiung des alten Schamanen Xchil erfüllte, würde er auch nicht zu jenen gehören, die ihn nach seiner Rückeroberung wieder bemannten.
Langsam, jeden Augenblick eines Angriffs gewahr, schob er den Kopf über den Rand des Kais. Nichts. Keine untoten Wachtposten, nicht einmal der eine oder andere zufällig vorüberkommende Krieger. Der Hafen lag wie ausgestorben da, und auch hinter den Durchlässen, die tiefer ins Innere des Tangpalastes hineinführten, regte sich keine Spur von Leben. Erik warf Euchar einen unsicheren Blick zu, der genau wie er vom Schildkrötenrücken aus die Lage erkundete. Der fränkische Missionar zögerte noch einen winzigen Augenblick, dann gab er das Zeichen, den Kai zu erklettern. Wenige Sekunden später hatten sich Gisle, Erik und die drei Schildkrötenkrieger um ihn geschart. »Sieht verdammt nach einer Falle aus«, flüsterte Gisle. Jedes seiner Worte war wie ein Hammerschlag in der vollkommenen, nur vom Lecken der Wellen unterbrochenen Stille, die hier herrschte. »Wenn es eine ist, dann müssen wir in sie hineinlaufen«, sagte Euchar fest. Er wies mit der ausgestreckten Linken voraus. »Da vorne ist der Eingang des Tunnels, der zu den Gefangenenverliesen führt. Von dort aus ist es nicht mehr weit. Ladet euch also so viele Waffen auf, wie ihr eben tragen könnt. Den Rest lassen wir auf den Schildkröten zurück.« Er übersetzte seine Anweisungen auch für die drei Schildkrötenkrieger, die sie mit zustimmendem Getriller quittierten. Gleich darauf waren sie wieder von der schwankenden Oberfläche des Kais hinunter auf die Rücken ihrer Reittiere gesprungen und begannen, die Bündel mit den Waffen nach oben zu reichen. »Aber wo sind die Armeen des Grauen Magiers?« erkundigte sich Erik verwirrt bei Euchar, während er gedankenverloren das erste Bündel entgegennahm, das Tirx ihm hochwarf. Das Klirren von Metall gegen Metall im Innern der ölgetränkten Tücher ließ ihm den kalten Schweiß auf die Stirn treten. Euchar lachte humorlos auf. »Irgendwo da draußen«, sagte er, »muß eine gewaltige Schlacht toben. Offenbar hat der Graue Magier fast jeden Untotenkrieger aus dem Palastinneren abgezogen, um seine Flotte zu bemannen. Ich fürchte, Ansgar Blutaxt und Xchil werden sich einer riesigen Übermacht gegenübersehen.« * Er warf einen raschen Blick in Richtung der Hafenausfahrt. »Ich hoffe
nur, die Schlacht dauert noch nicht zu lange. Wir werden jede Minute brauchen, die unsere Hauptstreitmacht überhaupt herausschinden kann, wenn wir mit heiler Haut davonkommen wollen. Der Grau...« »Still!« Mit einer alarmierten Handbewegung unterbrach Gisle den jungen fränkischen Missionar mitten im Wort. »Hört ihr das nicht? Da ist ein Geräusch.« Erik lauschte in die jäh wieder einsetzende Stille hinein. Einen Augenblick lang konnte er nicht erkennen, was der Krieger ohne Gedächtnis meinte, doch dann hörte er es ebenfalls - ein langsames, dumpfes Schaben, das beinahe so klang, als zöge jemand einen schweren Sack über hölzerne Planken. Zugleich aber war das Geräusch so unirdisch, daß es ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. »Was ist das?« wisperte er. Euchar schüttelte hilflos den Kopf und zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Aber es scheint von Bord des Hengist zu kommen.« Er zögerte. »Von hier aus läßt sich nichts erkennen, aber irgendwer oder irgendwas ist da, soviel steht fest. Ich glaube, wir sollten besser nachschauen.« Wie durch Zauberei hatte Gisle plötzlich sein Schwert in der Hand. »Das erledigen Erik und ich«, sagte er rasch. »Ihr anderen macht hier weiter, damit mir nicht zu viel Zeit verlorengeht. Vielleicht ist es ja nur eines von diesen merkwürdigen Gallerttieren, die den Untoten damals geholfen haben, den Hengist zu überfallen. Komm, Erik. Wenn wir an Bord sind, bleibst du hinter mir und gibst mir Rückendeckung.« Überrumpelt folgte Erik dem Krieger ohne Gedächtnis, der geduckt und mit beinahe katzenhaftem Schritt die kurze Entfernung bis zum arg ramponierten Rumpf des Hengist zurücklegte. Eine Laufplanke führte vom Kai hinauf an Deck. Gisle überprüfte sorgfältig ihren Halt, bevor er sich ihr anvertraute. Doch dann bewegte er sich wieder rasch und sicher, das blanke Schwert stoßbereit in der erhobenen Faust. Erik wartete, bis Gisle an Bord war, um nicht vom Wippen der Planke aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Dann hastete er hinter ihm her. Wenige Augenblicke später betrat er zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder das Deck des Hengist. Ganz Aufmerksamkeit und nervöse Erwartung, sah er sich um. Das Licht in dem gewaltigen Tangdom, der die Hafenanlagen des Palastes schützte, war nicht besonders hell. Er konnte nicht viel mehr als die umrißhafte Gestalt Gisles ausmachen, der sich inzwischen bis zum Mittelgang zwischen den schattenhaften Ruderbänken vorgearbeitet hatte. Er stand nun etwa an der Stelle, wo sein Erzfeind Skallagrim Prahlmaul Erik
vor vielleicht zwei Wochen ein Bein gestellt und ihn so schwer zu Fall gebracht hatte, daß er sich übel an den Händen verletzte. Bei Odin, war das wirklich noch nicht länger her? Allein die Unterwasserfahrt auf dem Rücken der Schildkröten schien Monate, wenn nicht gar Jahre gedauert zu haben… Ein gedämpfter Laut der Überraschung, der sich Gisles Kehle entrang, riß ihn aus seinen abschweifenden Gedanken. Mit ein paar schnellen Schritten schloß er zu dem anderen Krieger auf und starrte das merkwürdige Ding an, auf das Gisle wortlos deutete. Es war ungefähr so groß wie ein Mann, eine graue, zusammengerollte Masse, die auf den ersten Blick tatsächlich fast wie ein Sack wirkte - wie ein Sack allerdings, der sich auf einmal zu bewegen, sich langsam aufzurichten begann. Und jetzt erkannte Erik, daß es sich in Wirklichkeit um einen großen grauen Wurm handelte, der das Gesicht eines Menschen hatte. Willkommen in meinem Palast, sagte eine Stimme in Eriks Gehirn. Aber dessen hätte es nicht mehr bedurft, um ihm zu verraten, daß er dem Grauen Magier gegenüberstand. * Einen unendlichen Augenblick lang blickte Jarl Ansgar Blutaxt dem Tod geradewegs ins Angesicht. Das Angesicht des Todes hatte die alptraumhaft schönen Züge einer Wikingerkriegerin, und es hatte die Schmalheit und Schärfe einer blitzenden Klinge, die auf seine Brust zugezuckt kam. In den Ohren des Jarl begann das Blut zu singen. Etwas in seinem Inneren sagte ihm, daß es jetzt an der Zeit war, sich darauf vorzubereiten, vor seine Götter zu treten - allen voran Odin, der ihn richten und die Entscheidung darüber fällen würde, ob er nach Walhall eingehen durfte, jenem Ort, an dem sich die Kriegerhelden versammelten, seit es Menschen und Götter gab. Bisher hatte er nie einen Zweifel daran gehabt, aber jetzt bemächtigte sich eine jähe Unsicherheit seiner. Von einem Untoten besiegt zu werden, und noch dazu von einer Frau… vielleicht genügte diese Schande in den Augen der Götter, alle Heldentaten, die er bisher vollbracht hatte, bedeutungslos zu machen? Er sollte die Antwort nicht erfahren - nicht an diesem Tage. Mit einem Mal veränderte sich das Singen in seinen Ohren, wurde zu einem dünnen Pfeifen und Sirren. Das Schwert machte einen winzigen Ruck zur Seite und bohrte sich kraftlos in die äußerste Schicht von Narbiger
Kopfs Panzer, ein oder zwei Zoll von dem mächtigen grauen Schädel Jarl
Ansgars entfernt. Ungläubig starrte der Wikingerhäuptling hinauf zu der untoten Kriegerin. Aus unerklärlichen Gründen war sie ins Taumeln geraten und vollführte jetzt einen unsicheren Schritt zur Seite. Dann rollte sie wie in einer unsichtbaren Dünung vor und zurück, brach in die Knie. Aus ihrem Rücken und ihren Schultern ragten drei lodernde Brandpfeile, die sie alle fast gleichzeitig getroffen haben mußten. Der brennende Körper taumelte rückwärts. Im nächsten Moment war er mit rudernden Armen von Narbiger Kopfs Panzer gestürzt und in den gischtenden Fluten des aufgewühlten Zaubersees verschwunden. In einem langen, glitzernden Bogen folgte ihm das verzauberte Schwert, das Ansgars eigene Axt beim Zusammentreffen in Rost verwandelt hatte. Als er die Wasseroberfläche zerteilte, blitzte es noch einmal wie triumphierend im Licht der hoch im Mittag stehenden Sonne auf. Dann verschwand es auch und begleitete seine Herrin auf ihrem langen Weg - zum Meeresgrund. Ansgar Blutaxt schüttelte benommen den Kopf. Mit einemmal hatte er das Gefühl, diese ganze seltsame und gefährliche Begegnung nur geträumt zu haben. Wer war diese Frau gewesen, und welches Geheimnis hatte ihr magisches Schwert umgeben, das nun gleich ihr unerreichbar in der Tiefe ruhte? Er wußte nur, daß sie eine Frau aus dem Nordland gewesen war, eine Wikingerin. Aber wie sie hierher gekommen war und wieso sie ein verzaubertes Schwert geführt hatte - oder überhaupt ein Schwert, was das anging; Wikingerfrauen kämpften nur in den seltensten Fällen mit den Waffen, die ihre Männer führten -, war ihm ein völliges Rätsel. Er sollte auch nicht dazu kommen, länger darüber nachzudenken. Denn in diesem Augenblick vollführte Narbiger Kopf eine plötzliche Drehung zur Seite, die den Jarl dazu zwang, sich mit einem Riesensatz in den Sattel zu werfen und dort festzuklammern. Zwei Untotenkrieger, die gerade aus dem immer noch in der Nähe lauernden Boot auf ihren Rücken hatten springen wollen, glitten ab und landeten mit lautem Aufklatschen im Wasser. Aber diesmal verhielt sich Narbiger Kopf nicht so wie bei den Malen zuvor. Die Schildkröte schien auf unerklärliche Weise gemerkt zu haben, daß ihrem Herrn Chlch ein Unheil widerfahren war. In wilder Raserei packte sie mit ihren klauenbewehrten Schaufelfüßen zu und riß die beiden ins Wasser gestürzten Untoten mit zwei, drei beiläufigen Bewegungen in Stücke. Dann machte sie einen gewaltigen Sprung nach vorne. Unwillkürlich schrie Jarl Ansgar auf, als er die Bootswand des gegnerischen Fahrzeugs auf sich zukommen sah. Sein Schrei wurde vom Splittern
und Bersten von Planken übertönt. Im nächsten Moment prasselten ihm Holzstücke um die Ohren, daß ihm Hören und Sehen verging. Bevor der Jarl begriff, was eigentlich vor sich ging, waren sie auch schon mitten durch das Untotenboot hindurchgebrochen und hatten es als Wrack hinter sich zurückgelassen. Aber statt in ihrer Raserei nachzulassen, schien Narbiger Kopf durch den Zusammenprall nur noch wilder zu werden. Mit wahnsinniger Wut steuerte sie das nächste Boot an, rammte es seitlich und brachte es mit einem wilden Ruck zum Kentern. Ansgar Blutaxt gab ein gequältes Stöhnen von sich. Die zweite Attacke der Schildkröte hatte ihn beinahe aus dem Sattel gerissen, und seine Arme schmerzten von der übermenschlichen Anstrengung, sich am Sattelrand festzuklammern. Wenn er das Tier nicht irgendwie zum Stehen brachte, würde der nächste Ruck ihn seinen Halt kosten - und vermutlich auch sein Leben. Denn mit dem schweren Panzer, den er zum Schutz seines Oberkörpers trug, hatte er in den aufgewühlten Wassermassen keine Chance. Langsam, mit unendlicher Vorsicht, zog er sich ein Stückchen weiter nach rechts, dorthin, wo zu Lebzeiten Chlch, der Lenker der Schildkröte, gesessen hatte. Zum Glück hatte der blauhäutige Krieger ihn für genau diesen Notfall damit vertraut gemacht, wie man eine Kampfschildkröte steuern konnte. Nur würde Narbiger Kopf, ihn als ihren neuen Reiter akzeptieren? Mit schmerzenden Fingern, jetzt nur noch von der linken Hand gehalten, trommelte der Jarl den geheimen Gehorsamsbefehl Narbiger Kopfs auf die empfindliche, durch jahrtausendelange Zuchtwahl sensibilisierte Stelle rechts vom Sattel der Schildkröte. Ein Schaudern durchfuhr den mächtigen Leib des Tieres. Aber noch verlangsamte es sein rasendes Voranstürmen nur unwesentlich. In fieberhafter Eile wiederholte Ansgar Blutaxt den Befehl. Es war ein genau festgelegter Rhythmus, den die Schildkrötenmeister des Stammes Narbiger Kopf vom Augenblick ihres Ausschlüpfens an eingeprägt hatten, ein Rhythmus, den immer nur der jeweilige Lenker des riesigen Tieres kannte und benutzte. Zum Glück, dachte Ansgar, war es unter den Schildkrötenkriegern Brauch, das Wissen um den geheimen Gehorsamsbefehl immerhin seinen Blutsbrüdern und Kampfgefährten weiterzugeben. Damit diese in der Schlacht davon Gebrauch machen konnten, wenn der eigentliche Lenker durch Feindeshand starb. Dicht vor ihnen ragte jetzt die Bordwand eines weiteren Untotenbootes auf. Aber plötzlich brachte Narbiger Kopf mit einem wilden Arbeiten ihrer Schaufeln ihre gewaltige Masse zum Halten.
Ansgar stieß einen erleichterten Seufzer aus und zog sich endlich richtig in den Sattel, in dem er bisher mehr gehangen als gesessen hatte. Sein erster Griff galt Chlchs Axt, die immer noch am Sattelknauf hing. Dann lenkte er Narbiger Kopf von dem feindlichen Boot weg und warf einen raschen Blick in die Runde, um sich eine Übersicht über die Lage zu verschaffen. Die Schlacht, das sah er sofort; stand nicht gut für die Wikinger und die mit ihnen verbündeten Schildkrötenkrieger. Die zauberische Tarnung, unter deren Schutz sich die Untotenflotte unbemerkt bis auf Kampfweite genähert hatte, hatte bewirkt, daß die kleine Streitmacht der Invasoren völlig unvorbereitet erwischt worden war. Ohne in nennenswertem Maße die Brandpfeile, ihre erste Geheimwaffe, einsetzen zu können, hatten sich die vorausreitenden Männer um Thormod sofort in den Kampf Mann gegen Mann einlassen müssen. Dabei waren sie natürlich hoffnungslos in der Minderzahl. Der einzige Vorteil, den die erdrückende Übermacht der Untoten für ihre Gegner mit sich brachte, war die Tatsache, daß sie sich ständig gegenseitig behinderten und neue Boote und Truppen kaum nachrücken konnten. Gleiches, erkannte der Jarl, galt aber leider auch für die Hauptstreitmacht der Schildkrötenkrieger. Sie steckte im Ausgang des Kanals fest und schaffte es nicht, wirkungsvoll in den Kampf einzugreifen. Die Bogenschützen in den Nahkampf verwickelt, die für den Nahkampf vorgesehenen Einheiten weitab vom Geschehen… es war eine höchst unangenehme Lage. Zwar waren nach Ansgar Blutaxts flüchtigem Überblicken noch keine nennenswerten Verluste auf Seiten der Wikinger und Schildkrötenkrieger eingetreten. Die Untotenkrieger dagegen fielen unter den Äxten und Schwertern der Angreifer wie reifes Korn vor der Sense des Schnitters. Lange jedoch konnte das nicht mehr gutgehen. Es war hohe Zeit, daß sie ihre zweite Geheimwaffe einsetzten, um sich den Weg aus dem Kanal heraus freizukämpfen und Unruhe in die dicht gestaffelten Reihen der Untoten zu tragen. Rücksichtslos trieb Ansgar Narbiger Kopf vorwärts. Er hatte gar nicht weit entfernt, ziemlich genau an der Mündung des Kanals, Xchil entdeckt. Ihm mußte er versuchen, seine Einschätzung der Lage begreiflich zu machen. Denn nur der alte Schamane war im Besitz der nötigen Fähigkeiten, um ihre zweite Geheimwaffe herbeizurufen… Narbiger Kopf, schaufelte sich durch das Wasser voran, eine lebende Kampfmaschine, die mehr von ihrem Haß auf die Mörder Chlchs angetrieben wurde als von den Befehlen des Wikingers, der auf ihrem Rücken saß. Ansgar Blutaxt war es nur recht. Ihm lag das Waffenhandwerk ohnehin mehr als das Lenken einer Riesenschildkröte, und dieses übte er nun nach
vollen Kräften. Von Axt und Wurfscheibe niedergestreckt, sanken rechts und links seiner Bahn die Untotenkrieger nieder. Der ungestüme Angriff ihres Jarl riß einige der hart bedrängten Wikinger noch einmal mit und gab ihnen die Kraft, sich von ihren Gegnern zu lösen und gemeinsam mit Ansgar Blutaxt eine Gasse bis hinüber zu den Kriegern um Xchil freizukämpfen. Unmittelbar vor Xchil brachte er Narbiger Kopf zum Stehen. Der alte Schamane starrte ihm düster entgegen, eine verkrümmte, seltsam mißgebildete Gestalt, die trotz des weit ausladenden Schamanengewandes mit den Hunderten herabhängender Lederstreifen auf dem gewaltigen Rücken Erhaben weises geradezu winzig wirkte. Ansgar Blutaxt spürte, wie sich ein Kloß in seiner Kehle bildete, als er in die Augen des uralten Zauberwirkers blickte, die wie halb erloschene Kohlen glosten. Von dem Schamanen ging etwas aus, das böse war, etwas, das eher dem Bereich jener Macht anzugehören schien, gegen die sie an diesem Tag angetreten waren. Trotzdem war er ihre einzige Hoffnung, um die Schlacht noch zu wenden. Zögernd, widerwillig fast, hob der Jarl die rechte Hand zum vereinbarten Zeichen.
Ruf den Drachen.
Einen Augenblick lang wirkte es, als hätte Xchil seine Bitte überhaupt nicht wahrgenommen, so mumienhaft reglos saß er auf Erhaben weises Rücken. Doch dann langten seine klauenartigen Finger nach dem Muschelhorn, das an einer Lederschnur um seine eingefallene Brust hing, und führten es an die verschorften Lippen, die Ansgar Blutaxt stets an den Hornschnabel einer Schildkröte erinnerten. Der Ton, der aus dem Muschelhorn brach, schien die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern. Mit einem Aufstöhnen preßte Ansgar sich die Hände auf die Ohren, und die Krieger rings um ihn folgten seinem Beispiel. Nicht, daß es viel nützte. Der klagende Ruf des Muschelhorns, der durch klaftertiefes Wasser reichen mußte, um den Doppelkopfdrachen herbeizurufen, durchdrang auch den kläglichen Schutz vorgelegter Handflächen. So gewaltig war der Laut, daß die gesamte Schlacht einen Moment lang stillzustehen schien. Dann, als er verstummte, brach sie mit einer Wildheit wieder los, die etwas Übernatürliches hatte. Ein eisiger Schauer rann Ansgar Blutaxt den Rücken hinunter. Das, was Xchil hier heraufbeschwor, war eine Macht, die sich ebensogut gegen sie selbst wie gegen den Grauen Magier wenden konnte, das spürte er nur allzu deutlich. Wenn es Xchil nicht gelang, sie unter Kontrolle zu halten, waren sie alle verloren, jeder einzelne von ihnen.
War der Doppelkopfdrache erst einmal losgelassen, konnte ihm niemand mehr Einhalt gebieten. Und da tauchte er auch schon aus den Wogen auf, mit einem gewaltigen Schnauben und Zischen, das Ansgar an den Ausbruch eines Geysirs erinnerte. Zwei riesige, schuppige Köpfe hoben sich aus dem Wasser, pendelten an endlos langen, schlangengleichen Hälsen hin und her, wie um einen Gegner auszumachen, den sie angreifen und vernichten konnten. Fast spielerisch schnappte der linke der Köpfe nach einer Schildkröte, die sich zu dicht an der Stelle aufgehalten hatte, wo er aufgetaucht war. In panischem Schrecken bäumte sich das Tier auf und warf seine beiden Reiter in die kochende See. Männer trillerten und schrien vor Entsetzen. In dem allgemeinen Tumult war Ansgar Blutaxt der einzige, der noch auf das achtete, was Xchil tat. Der alte Schamane hatte das Muschelhorn abgesetzt, nachdem er den Doppelkopfdrachen gerufen hatte. Aber jetzt hob er es wieder an den Mund, um ein neues Signal zu geben, einen Befehl an den Drachen vielleicht, sich zu beruhigen und nicht die eigenen Verbündeten anzugreifen. Bevor der Schamane jedoch dazu kam, verzerrte sich sein Gesicht in jähem Schmerz. Er griff sich mit einer Hand an die Stirn, strich sich nachdenklich darüber, als versuchte er, herauszufinden, was ihm diese gräßliche Pein bereitete. Dann nahm er seine Hand wieder weg und starb. Selbst auf diese Entfernung vermochte der Jarl deutlich zu erkennen, wie die Augen des Schamanen sich verschleierten. Langsam sackte die verhutzelte Gestalt auf Erhaben weises Rücken zusammen. Doch im nächsten Augenblick hatte sich Xchil schon wieder im Sattel aufgerichtet. Um seinen Kopf spielte jetzt ein unheiliges grünes Leuchten - ein Leuchten, wie Ansgar Blutaxt schon früher beobachtet hatte. Bei den untoten Kriegern des Grauen Magiers… Der Wikingerhäuptling war vor Entsetzen wie erstarrt. Unfähig, auch nur eine Hand zu heben, um die Katastrophe abzuwenden, verfolgte er, wie der untote Xchil das Muschelhorn an die Lippen führte und hineinblies. Der Ton, der diesmal aus dem schneckenförmig gedrehten Gebilde kam, war womöglich noch schrecklicher als das Signal, mit dem der Schamane den Doppelkopfdrachen zuerst gerufen hatte. Das Seeungeheuer, das gerade dabei gewesen war, mit einer seiner riesigen Tatzen nach einer weiteren Schildkröte zu schlagen, hielt mitten in der Bewegung inne, legte die Köpfe schief und lauschte. Ansgar Blutaxt schien es, als funkelten seine tückischen roten Augen plötzlich noch grausamer und blutdürstiger als zuvor. Dann stieß der Drache ein markerschütterndes Röhren aus, wirbelte im
Wasser herum… … und schoß genau auf den Jarl zu. Ansgar Blutaxt ahnte die Klaue mehr herankommen, als daß er sie sah. Ein fürchterlicher Druck schloß sich um seine Brust, und er fühlte, wie er hochgehoben wurde, den beiden geifernden, stinkenden Mäulern des Ungeheuers entgegen. Er wollte nach den hornigen Krallen hacken, die ihn umklammert hielten, ohne überhaupt zu bemerken, wie und wann. Vor Übelkeit übermannt, trommelte er mit den bloßen Fäusten auf die schuppige Haut an der Brust der Bestie, während er zugleich wie ein Irrsinniger schrie. Beides schien den Doppelkopfdrachen nicht sonderlich zu beeindrucken. Er hob den Jarl nur noch ein Stückchen höher, um ihn aus allen vier Augen mit der Neugier einer Katze zu mustern, die mit einer Maus spielt. Allein sein stinkender Atem raubte dem Jarl fast die Besinnung. Und jetzt verstärkte sich auch noch der entsetzliche Druck auf seinen Brustkorb, trieb ihm die Luft aus den Lungen, ließ. blutige Schleier vor seinen Augen aufwallen… Es war das Ende, und Ansgar Blutaxt wußte es. Ihr Angriff war gescheitert. Es war alles sinnlos gewesen: der Vorstoß ihrer Armada, das tollkühne Unternehmen, zu dem Euchar und seine Begleiter aufgebrochen waren… Der Graue Magier hatte sie in eine wohlvorbereitete Falle laufen lassen, und jetzt würden weder Wikinger noch Schildkrötenkrieger je wieder in ihre angestammte Heimat zurückkehren. Das war das letzte, was Ansgar Blutaxt dachte, bevor ihn gnädige Bewußtlosigkeit umfing. *
Ja, ich freue mich, daß es euch gelungen ist, bis in meinen Palast vorzudringen, sagte der Graue Magier in Eriks und Gisles Kopf, während sich sein Gesicht zu der häßlichen Parodie eines Lächelns verzerrte. Ich schätze würdige Gegner. Aber hier ist eure Fahrt zu Ende, Odinskrieger. Erik Hellauge reagierte mit einer Schnelligkeit, die er sich selbst niemals zugetraut hätte. Sein Schlangenschwert, das er immer noch blank in der erhobenen Faust trug, kam in einem weiten Bogen herunter und hieb nach dem so abscheulich menschenähnlichen Kopf des grauen Wurms vor seinen Füßen. Jeder menschliche Gegner hätte unter diesem Streich fallen müssen. Nicht so der Graue Magier.
Ungläubig sah Erik, wie die Klinge das Fleisch des Monstrums wie Hauch zerteilte, der sich hinter ihr sofort wieder schloß. Als er das Schwert zurückzog, war keine Spur von Blut daran, und der Graue Magier war völlig unversehrt.
Aber, aber. In Eriks Kopf ertönte ein amüsiertes Lachen. Glaubt ihr wirklich, daß ihr, einfache Sterbliche, gegen einen Begnadeten der Einen Macht antreten könnt wie in einem gewöhnlichen Kaufhandel? Ich wundere mich, wie euer lächerlicher kleiner Gott jemals auf die Idee hat kommen können, euch in diese Welt zu entsenden, um mich - MICH! - zu besiegen.
»Was… was wißt ihr von Odin und unserer Mission?« stotterte Erik. In seinem Gehirn wirbelten die Gedanken. Das, was der Graue Magier da angedeutet hatte, war außer der wiederholten Anwesenheit der beiden Odinsraben der erste Beweis dafür, daß der oberste Asengott tatsächlich für ihren Sturz durch den Mahlstrom zwischen den Welten verantwortlich war. Mehr noch: es zeigte, daß sie auch nicht zufällig in der Sargassosee des Grauen Magiers gelandet waren. Ihr Feldzug gegen ihn war von den Göttern selbst gewollt, eine Schlacht vielleicht nur in einer größeren Auseinandersetzung, die viele verschiedene Welten und Zeiträume umspannte. Der Krieg der Schlangen… das Heraufkommen von Ragnarök… davon hatten ihm die Odinsraben erzählt. Aber das Wissen war zu gewaltig gewesen, als daß er es bei wachem Verstand hätte behalten können. War die Eine Macht, von der der Graue Magier gesprochen hatte, womöglich der Gegner der Asengötter in jenem Krieg der Schlangen, worum es sich dabei auch immer handeln mochte? Und - hatte diese Eine Macht ihr Hauptquartier hier auf dieser Welt, der Welt der Schildkrötenkrieger und des Grauen Magiers, und waren sie darum hierher entführt worden, eine Vorhut im Dienste Odins, die nur bruchstückhaft Einzelheiten über die Natur ihrer Mission erfahren durfte, um erfolgreich handeln zu können? So viele Fragen - und dabei sprach alles, dafür, daß sie die Antworten niemals erfahren würden. Odin hatte ihre Möglichkeiten offensichtlich überschätzt. Hier waren sie, in der Falle des Grauen Magiers, und von hier würde es kein Entrinnen mehr geben - nicht angesichts dieses mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Ungeheuers. Oh, ich denke, mehr als ihr, sagte der Graue Magier, und es dauerte eine ganze Weile, bis Erik begriff, daß er damit auf seine soeben gestellte Frage antwortete. Ich würde euch gerne davon erzählen, aber ich fürchte, eure
Zeit wird knapp, und bevor ihr sterbt, müßt ihr noch einige andere Dinge erfahren, die euch vielleicht interessieren werden. Begleitet mich also in meinen Thronsaal, wo ihr mich in meiner ganzen Macht und Größe sehen
könnt. Oder hattet ihr geglaubt, diese bescheidene Gestalt sei meine einzige Form?
Plötzlich ging eine Welle der Düsternis von dem grauen Wurm aus, der sich zu ihren Füßen wand, und die Umgebung veränderte sich. Erik hielt erschrocken den Atem an. Sie standen immer noch an Deck des Hengist, aber zugleich befanden sie sich nun in einer riesigen Kammer aus grünlich leuchtendem Tang, die für Titanen gebaut zu sein schien. Die Kammer lief oben nicht in einer Kuppel, sondern in einer Spitze aus, und Erik begriff, daß sie sich am höchsten Punkt des Tangpalastes befinden mußten. Die Kammer war völlig leer. Es gab keine Einrichtungsgegenstände, keine untoten Diener und Lakaien, nichts, was den Begriff »Thronsaal« gerechtfertigt hätte. Nur in der Mitte der Kammer erhob sich ein grauer Hügel von merkwürdig vertrauter Gestalt - der Graue Magier selbst. Und gegen ihn hätte sogar das größte jemals gebaute Drachenboot winzig gewirkt. Doch nicht nur das. Auf unerklärliche, gegen alle Naturgesetze verstoßende Weise reichte er zugleich auch in andere Dimensionen hinein, in Schattenreiche, die zu erblicken menschliche Augen nicht geschaffen waren. Mit einem Laut des Abscheus wandte Erik seinen Blick ab. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, daß es Gisle nicht anders ging. Der Krieger ohne Gedächtnis hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und stöhnte entsetzt. Ach, euch gefällt nicht, was ihr seht? spottete der Graue Magier. Dann
werdet ihr das, was ich euch jetzt zu zeigen gedenke, erst recht nicht mögen. Schaut her!
Die letzten beiden Worte hatte er mit einer derart zwingenden Kraft hervorgestoßen, daß Erik und Gisle nicht anders konnten, als die Köpfe wieder zu heben. Unmittelbar vor ihnen schwebte jetzt eine gewaltige Scheibe aus gräulichem Kristall, und in dieser Scheibe formten sich Bilder. Das erste Bild zeigte… … eine Schlachtszene. Wikinger und blauhäutige Krieger, die auf Schildkröten ritten, kämpften gegen eine erdrückende Übermacht von Untoten. Und es war wenig zweifelhaft, daß es nur noch kurze Zeit dauern konnte, bis sie vollständig aufgerieben sein würden. Kaum hatte sich diese Erkenntnis in Eriks Geist festgesetzt, da schwenkte das Auge, das das seltsam bewegungslose Bild aufnahm, ein Stück herum und rückte gleichzeitig dichter an den Ort des Geschehens heran. Im Mittelpunkt des Bildes befand sich nun eine kleinere Gruppe, die Erik auf den
ersten Blick erkannte. Xchil, der uralte Schamane und Häuptling des Schildkrötenstammes, hockte auf dem Rücken Erhaben weises, ein Muschelhorn an den Lippen, um seinen Kopf spielte ein unnatürliches grünes Leuchten. Und dicht neben Erhaben weise erhob sich die gewaltige Masse des Doppelkopfdrachens über die Wasseroberfläche. In ihren Klauen hielt die Bestie eine grauhaarige, hellhäutige Gestalt, einen Wikinger, der offensichtlich bewußtlos war. Jarl Ansgar Blutaxt. Das Böse in Xchil hat lange auf diesen Augenblick gewartet, sagte der Graue Magier höhnisch. Habt ihr seine Ausstrahlung nicht gespürt, als ihr
dem Alten gegenübersaßet? Xchil selbst hat nichts davon gemerkt, dafür trug ich Sorge - bis zuletzt. Hübsch, nicht wahr?
Das Bild in der Kristallscheibe wechselte. Auf dem Lauf gang um ein Wasserbecken standen sechs Gestalten - Erik, Gisle, Euchar und ihre drei blauhäutigen Freunde Xia, Ilir und Tirx. Sie waren damit beschäftigt, blauund weißhäutige Gefangene, die an Tangschlingen in dem Becken aufgehängt waren, aus ihrer schrecklichen Lage zu befreien. Die meisten der Geretteten waren zu schwach und ausgemergelt, um auch nur ohne fremde Hilfe aufrecht zu stehen. Aber einige hatten sich aus dem Vorrat an mitgebrachten Schwertern und Äxten bewaffnet und sicherten die Ausgänge des teuflischen Kerkers. Dann veränderte sich der Blickwinkel, und Erik sah, daß die Gänge und Kammern rings um den Kerker bereits von untoten Kriegern wimmelten eine Übermacht von hundert, von tausend zu eins. Das Auge kehrte in den Kerker zurück, fuhr näher an den Erik und den Gisle heran, die dort gemeinsam mit ihren Freunden die Rettungsaktion durchführten. Dank des unbestechlichen Blicks des Kristallscheibenauges erkannte Erik, das sie nicht ganz stofflich waren, etwas, was zum Beispiel Euchar sicher nicht wahrnehmen konnte. Trugbilder, bestätigte der Graue Magier. Die anderen glauben, ihr hättet
an Bord des Hengist nichts gefunden und wäret unbeschadet zu ihnen zurückgekehrt. Mit einem kleinen Auflachen fügte er dann hinzu: Ja, natürlich lese ich eure Gedanken, Erik Hellauge. Hattest du geglaubt, ihr würdet etwas vor mir verbergen können? Ich bin der absolute Beherrscher dieses Palastes, und nicht lange, dann werde ich auch der absolute Beherrscher dieser ganzen Welt sein, die mir die Eine Macht zum Leben gegeben hat, wenn ich stark genug bin, sie mir zu erobern. Und ich bin stark genug, dessen könnt ihr gewiß sein. Die Sargassosee und die Inseln der Schildkrötenkrieger sind nur der Anfang. Von hier aus werde ich mich ausbreiten und die Reiche auf den Fest-
ländern erobern, Tyrras, Hadon und das Land-das-ist-und-nicht-ist. Nicht einmal der Kentaur wird sich mir in den Weg stellen, und versucht er es doch, so fege ich ihn hinweg. Dies wird meine Welt und die Welt meiner Kinder sein - und ihr werdet die Speise und die Heimstatt meiner Kinder sein. Erik Hellauge und der, der sich Gisle nennt: Bereitet euch darauf vor, zu sterben. Das Bild in der Kristallscheibe erlosch. Erik blickte auf. Ein gewaltiger Schauder überlief den Leib des Grauen Magiers, und er wälzte sich mit einer sichtlichen Anstrengung zur Seite. Aus einer bisher verborgenen Öffnung im Boden ergoß sich ein Knäuel gräulicher, mannsgroßer Geschöpfe, die wie Würmer rasch und zielbewußt auf Gisle und Erik zukrochen. »Sie… sie sind seine Brut!« keuchte Gisle. »Odin, errette uns vor diesen Ungeheuern!« Das Lachen des Grauen Magiers erfüllte den gesamten Tangpalast. O
nein, er wird euch nicht beistehen, meine tapferen Krieger. Denn dies ist mein Reich, das Reich der Einen Macht. Hier sind eure Götter hilflos.
Erik starrte den Geschöpfen entgegen, die sich inzwischen bis auf kaum eine Mannslänge genähert hatten. Ich sehe euch gehen; aber ich sehe euch nicht zurückkehren. Jetzt also schien sich die Prophezeiung des alten Schamanen zu erfüllen. In wenigen Sekunden würden sich die Würmer auf sie stürzen. Und dann würden sie nur zwei weitere untote Krieger in den unüberschaubaren Heerscharen des Grauen Magiers sein, geistlose Sklaven, mit deren Hilfe jene ominöse Eine Macht diese Welt erobern würde - und nach ihr vielleicht noch viele andere.
Ich sehe euch gehen; aber ich sehe euch nicht zurückkehre.
Und dann wurde Erik plötzlich bewußt, daß es auch noch eine andere Auslegung dieses Orakels gab. Es besagte mit keinem Wort, daß sie nicht zurückkehren würden, sonder nur, daß Xchil sie nicht zurückkehren sehen würde. Und diese Prophezeiung hatte sich bereits erfüllt, denn Xchil war tot. Es war, als hätte diese Erkenntnis zugleich auch eine bisher verschüttete Quelle des Wissens in Erik Hellauge freigelegt. Mit einem Mal wußte der junge Wikingerkrieger, was er zu tun hatte. Er wußte es, weil Hugin und Munin, die beiden Odinsraben, es ihm gesagt hatten, in jenem unwirklichen Augenblick, als sein Schlangenschwert beinahe zu leben begonnen hatte, dort oben auf dem Gipfel im Herzen der Schildkröteninsel. Zwischen Erik und Gisle begann die Luft zu knistern. Der Krieger ohne Gedächtnis schrie vor Überraschung auf, aber dann fing er sich wieder. Im
nächsten Augenblick begann er mit rauher, männlicher Kriegerstimme zu singen, ein Lied, das er schon einmal kurz nach seiner Rettung an Deck des Hengist angestimmt hatte.
»Brüder kämpfen und bringen sich den Tod. Brudersöhne brechen das Sippengesetz. Arg ist die Welt, Ehbruch furchtbar. Schwertzeit, Beilzeit, Schilde bersten, Windzeit, Wolfzeit, bis die Welt vergeht.«
Es war eine Stelle aus der Völuspa, dem Eröffnungsgedicht der Edda, deren Verse den Weltuntergang wie mit dumpfen Trommelwirbeln schilderten. Eine magische Kraft ging von ihnen aus, und seltsame Schattengestalten drängten sich von allen Seiten heran, füllten die freie Fläche zwischen den beiden Kriegern und dem Grauen Magier. Wie durch einen wallenden Vorhang aus Schatten hindurch erkannte Erik Männer mit Schlangenköpfen, die Äxte und Schwerter in den Händen trugen. Sie waren riesig, gut zwei Köpfe größer als ein Wikinger oder ein Schildkrötenkrieger, und ihre starren, kalten Augen funkelten in einem unirdischen Licht. Wenn Erik sich selbst gegenüber ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß sie ihm fast ebensoviel Angst machten wie der Graue Magier. Aber auch der Magier schien sich vor ihnen zu fürchten, denn seine Stimme war nicht mehr ganz so fest zuvor, als sie jetzt in Eriks Kopf ertönte.
Oh, Zauberwerk? Aber das wird euch nichts nützen, ihr Menschenpack. In dieser Welt können die Lokisöhne nicht schlüpfen, und das sollte auch euer Gott Odin wissen.
Erik sah sofort, was der graue Wurm meinte. Ein Gebilde aus Schatten umgab die Schlangenkrieger - die Lokisöhne, wie der Magier sie genannt hatte - gleich einer gewaltigen Eihaut. Von dieser Haut prallten sie wieder und wieder zurück, als sie mit wildem Mut versuchten, sich auf ihren Widersacher zu stürzen. Erik schluckte. Sollten sie in letzter Sekunde doch noch unterliegen? Hatten sie trotz der Magie der Asengötter keine Chance gegen diesen abscheulichen Vasallen der Einen Macht? Dann kam die nächste Erinnerung. Ungläubig schaute der junge Wikingerkrieger auf das Schlangenschwert hinunter, das er vor vielen Jahren von seinem Vater geerbt hatte und das er geistesabwesend während des ganzen Gesprächs mit dem Grauen Magier in der Hand gehalten hatte. Nur war es jetzt gar kein Schwert mehr. Es war eine lebendige, sich hin und her windende Schlange. In ihrem weit aufgerissenen Rachen blitzte ein
einzelner Zahn. Mit einem wilden Schrei ließ Erik das Schwert vorzucken, bohrte es in die schattenhafte Eihaut, die die Lokisöhne behinderte. Er spürte fast körperlich, wie die Eihaut riß, vom Zahn der Schlange zerteilt. Und dann stürmten auch schon die ersten Lokisöhne durch die so entstandene Bresche. Ihre Gefährten folgten ihnen in wildem Nachdrängen, und aus den Schatten jenseits der Welt strömten immer mehr herbei. Hunderte, Tausende mußten es sein, die sich wie eine lebende, waffenstarrende Flut über den Grauen Magier und seine Brut ergossen. Die magischen Waffen der Schlangenkrieger bohrten sich in seinen über viele Dimensionen verteilten Körper. Ihr heimtückischen Geschöpfe! kreischte seine lautlose Stimme in Eriks und Gisles Kopf. Ihr habt mich besiegt, aber daran werdet ihr nicht lange
Freude haben. Die Eine Macht hat viel mehr Vasallen, als ihr ahnt, und sie werden mich rächen, das schwöre ich. Oh, ihr werdet ein Schicksal erleiden, das schlimmer ist als der Tod! Seine Worte erstarben in einem Todesschrei, der die beiden Wikinger mit einem Aufstöhnen zu Boden sinken ließ. Eine Hand vor die wie im Fieber brennende Stirn gepreßt, sah Erik zu, wie die Schlangenkrieger stumm und verbissen ihr Werk beendeten. Die ersten hatten sich bereits wieder von ihrem Opfer abgewandt und schauten sich nun züngelnd auf dem Deck des Hengist und in der Kammer des Grauen Magiers - die immer noch beide eins waren - um. Ihre Augen leuchteten womöglich noch unirdischer und böser als zuvor. »Was… Was war das?« keuchte Gisle, über sich selbst erschrocken. »Was haben wir da für eine Magie gewirkt, Erik?« »Schlangenmagie«, sagte Erik Hellauge tonlos. »Lokis Magie. Und das ist sehr, sehr gefährlich. Sing weiter. Wir müssen sie wieder zurücktreiben, bevor sie über uns herfallen!« Er konnte deutlich hören, wie Gisles Stimme bebte, als er einen neuen Skaldengesang anstimmte, diesmal eine Strophe aus dem Lied vom Drachenhort:
»Gleißender Wurm, du hast Grausen geweckt. Und Heldenmut gehegt; Desto mehr Grimm den Männern erwächst, Die gewinnen solche Wehr.«
Die vordersten der Schlangenkrieger zuckten wie unter einem Schlag zusammen. Zögernd zuerst, dann immer schneller wichen sie zurück, als Gisles Stimme an Festigkeit gewann und die Worte den ganzen Raum unter der Tangkuppel erfüllten.
Mühsam rappelte sich Erik auf und stieß ein zweites Mal mit dem Schlangenschwert in die auseinanderklaffende Eihaut hinein. Doch diesmal zertrennte der Zahn der Schlange sie nicht, sondern fügte sie wieder zusammen. - Und dann war der ganze Spuk verschwunden, beinahe so, als wäre er nie wirklich gewesen. Sie standen auf dem Deck des Hengist, und rings um sie begann der Tangpalast zu verfallen. Von dem grauen Wurm und seiner scheußlichen Nachkommenschaft in der Thronkammer war keine Spur mehr zu entdecken. Erik starrte das Schwert in seiner Hand an. Jetzt war es nichts mehr als eine schlechte, vom zu vielen Wetzen schartige Klinge, deren Griff mit ein paar kunstlos ausgeführten Schlangen verziert war. Und doch wohnte ihr, das wußte Erik nun, eine Macht inne, die so gewaltig war, daß er sich mit jeder Faser seines Herzens davor fürchtete. Die Macht Lokis. Die Macht der Schlangenmagie. Allmählich begriff er, daß auch Odin nicht unbedingt gewillt zu sein schien, eine solche Macht länger als nötig in seinen Händen zu belassen. Sicherlich war es kein Zufall gewesen, daß er gelobt hatte, das Schlangenschwert dem Obersten der Asengötter zu opfern, wenn er lebend aus dieser Schlacht hervorging. Was geschehen wird, geschieht. Was vorausbestimmt ist, wird sein. Auch in diesem Punkt hatte der alte Xchil also recht behalten. Und dieser Ort war so gut für ein Opfer wie jeder andere. Mit einer beinahe verächtlichen Bewegung warf er das Schlangenschwert in hohem Bogen über Bord. Er schaute ihm nicht einmal nach, als es in den Fluten des Hafenbeckens versank. Mochte es bis in alle Ewigkeit auf dem Grunde dieses fremden Ozeans ruhen. Er war müde, und er sehnte sich nur noch danach, sich auf den Planken des Hengist auszustrecken und zu schlafen. Die Magie, die Odin durch ihn gewirkt hatte, hatte seine letzten Kräfte aufgezehrt. Nun, es gab ohnehin nichts mehr für ihn zu tun. Wie er zuvor gewußt hatte, was er tun mußte, um Odins Willen zu erfüllen, so wußte er jetzt, daß zusammen mit dem Grauen Magier auch alle seine unheiligen Werke vergangen waren - die Würmer, die lebenden Toten, der Doppelkopfdrache. Auch der Tangpalast würde nicht mehr lange Bestand haben, weil die Magie, die ihn zusammenhielt, ihre Wirkung verloren hatte. Nur die Sargassosee würde bleiben, da sie auf natürliche Weise entstanden war und schon existiert hatte, lange bevor der Graue Magier sich in ihr eingenistet hatte, um von ihr aus im Auftrag der Einen Macht - was immer das auch sein mochte - die Welt zu erobern. Gisle war neben den jungen Krieger getreten und hatte ihm in einer ka-
meradschaftlichen Geste die Hand auf die Schulter gelegt. »Erzählen wir den anderen, was passiert ist?« erkundigte er sich vorsichtig. »Nicht in allen Einzelheiten«, sagte Erik. Die Entschiedenheit in seiner Stimme überraschte ihn selbst. »Es war keine gute Magie, in die wir da verstrickt worden sind. Beinahe hätten wir die Schlangenkrieger auf diese Welt losgelassen, und ich frage mich, ob das so viel besser gewesen wäre als die Herrschaft des Grauen Magiers.« Er zögerte, starrte Gisle an. »Gisle, jetzt frage ich dich das, was du mich vorhin gefragt hast: Was für eine Magie haben wir da gewirkt? Wie kommt es, daß ausgerechnet wir beide…« »Ich weiß es nicht«, unterbrach ihn Gisle. »Aber ich will dir etwas zeigen.« Seine freie Hand fuhr mit einer unsicheren Bewegung zu seiner Stirn, um die er immer noch einen Verband trug. Erik hatte sich in den letzten Tagen schon oft gewundert, wieso die Verletzung, die die Große Schildkröte im Mahlstrom zwischen den Welten dem Krieger ohne Gedächtnis bei seiner Bergung zugefügt hatte, noch immer nicht verheilt war. Aber als Gisle den Verband mit einem Ruck zurückschob, sah er, daß der Heilungsprozeß in Wirklichkeit schon fast abgeschlossen war. Gisle trug den Leinenverband nichts um die Wunde zu schützen, sondern um zu verhindern, daß man die Narbe sah. Denn diese Narbe hatte die Form einer Schlange. »Dieses Mal kann ich nicht so einfach fortwerfen wie du dein Schlangenschwert«, drang Gisles Stimme durch die Benommenheit, die Erik einhüllte. »Das Zeichen der Schlange, Erik Hellauge, ist etwas, das uns zusammenfügt, mehr noch als die Kämpfe, die wir gemeinsam durchgestanden haben. Und darum, Erik Hellauge, frage ich dich: Wollen wir Blutsbrüder sein?« *
Und damit endet der zweite Teil der Saga von Erik Hellauge. ENDE
Sie ist schön, klug, geschickt im Umgang mit Schwert und Dolch und be-
wandert in den Künsten der Weißen Magie. Ihre Welt ist die Welt aus Tausendundeiner Nacht, eine Welt voller Prunk, Glanz und Abenteuer, wo dem Kühnen im Licht des Halbmonds oder in der Glut der südlichen Sonne unermeßlicher Reichtum winkt. Doch der Zweifel nagt an der Seele Morgana Rays, die man die Schwarze Rose nennt. Denn sie weiß nicht, wer ihr Vater ist. Ist es der Dunkle Rushzak, der Tyrann von Tushiran, den sie vom Thron gestürzt hat? Oder ist es der unglückliche König Amalric von Antalon, der vor vielen Jahren Rushzaks tückischem Verrat zum Opfer fiel? Im fernen Antalon hofft sie die Antwort zu finden. Doch in Antalon herrscht die Drachenhexe. Sie erwartet Morgana zu einem Kampf in den Lüften, den die Schwarze Rose nur gewinnen kann, wenn ihr ein seltsamer Verbündeter zur Seite steht.
Morgana und der Zaubervogel Ein Abenteuer aus Tausendundeiner Nacht von Earl Warren