Sonderausgabe zum SF-Jubiläum: 500 Bände Science Fiction & Fantasy bei Bastei-Lübbe. Science Fiction-Satire von ROBERT ...
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Sonderausgabe zum SF-Jubiläum: 500 Bände Science Fiction & Fantasy bei Bastei-Lübbe. Science Fiction-Satire von ROBERT SHECKLEY
Buch: Längst ist Robert Sheckley auch außerhalb der Science FictionLeserschaft als Meister der utopischen Satire berühmt. Der amerikanische Weltenbummler versteht es mit beißender Ironie, den Menschen in einer aus den Fugen geratenen Umwelt zu zeigen: in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Dieser Band vereinigt eine Auswahl der besten Geschichten – darunter sein berühmtes »Millionenspiel« und der Kurzroman »Planet der Verbrecher«. »Sheckley ist wie Voltaire mit Soda« Brian W. Aldiss
Bisher sind im BASTEI-LÜBBE Taschenbuchprogramm von ROBERT SHECKLEY nachstehende Bände erschienen: 22035 Mr. Joenes wundersame Reise 22040 1. Preis: Allmächtigkeit 22042 Für Menschen ungeeignet 22046 Lebensgeister GmbH 22062 Fütterungszeiten unbekannt 22071 Der Seelentourist 22077 Das zehnte Opfer 22081 Dramocles 24020 Endstation Zukunft
Das große ROBERT SHECKLEY Buch
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Special Band 24 070 Store of Infinity, © Copyright 1960 by Bantam Books Citizen in Space, © Copyright 1955 by Ballantine Books The Status Civilisation, © Copyright 1960 by Robert Sheckley All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1985 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: Store of Infinity, Citizen in Space, The Status Civilisation Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr, Norbert Wölfl und Charlotte Winheller Titelillustration: Agentur Alfred Vejchar Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Eisnerdruck GmbH, Berlin Printed in Western Germany ebook by Monty & Robert ISBN 3-404-24070-7
Inhalt Das Millionenspiel ............................................................................................. 9 PRICE OF PERIL Utopia mit kleinen Fehlern............................................................................. 31 A TICKET TO TRANAI Pfadfinderspiele................................................................................................ 78 HUNTIG PROBLEM Genau wie auf der Erde….............................................................................. 93 SKULLING PERMIT Besuch in der Zukunft .................................................................................. 126 A THIEF IN TIME Ein Irrtum der Regierung ............................................................................. 156 CITIZEN IN SPACE Der Beantworter ............................................................................................ 170 ASK A FOOLISH QUESTION Die Wunschmaschine.................................................................................... 181 SOMETHING FOR NOTHING Der glücklichste Mann der Welt .................................................................. 197 THE LUCKIEST MAN IN THE WORLD Das tödliche Raumschiff............................................................................... 201 HANDS OFF Ein Beruf mit Zukunft .................................................................................. 229 THE ACCOUNTANT
Der widerspenstige Planet ............................................................................ 240 THE MONTAIN WITHOUT A NAME Die Menschenfalle ......................................................................................... 258 THE PEOPLE TRAP Zutritt verboten ............................................................................................. 281 RESTRICTED AREA Denk nicht so laut.......................................................................................... 302 THE ODOR OF THOUGHT Was man wirklich braucht ............................................................................ 318 THE NECESSARY THING Redferns Labyrinth........................................................................................ 333 REDFERN'S LABYRINTH Der Beweis ..................................................................................................... 339 PROOF OF THE PUDDING Die letzte Waffe ............................................................................................. 350 THE LAST WEAPON Große Fische.................................................................................................. 361 FISHING SEASON Traumwelt....................................................................................................... 379 DREAMWORLD Diplomatische Immunität............................................................................. 392 DIPLOMATIC IMMUNITY Geist V ............................................................................................................ 418 GHOST V
Das Allerhöchste............................................................................................ 439 THE VICTIM FROM SPACE Planet der Verbrecher ................................................................................... 462 THE STATUS CIVILISATION Eric Simon Der optimistische Schwarzseher Ansichten über Robert Sheckley.................................................................. 619
Das Millionenspiel Raeder hob vorsichtig den Kopf über die Fensterbrüstung. Er sah die Feuerleiter und unter ihr eine enge Gasse. Dort unten standen drei Abfalltonnen und ein defekter Kinderwagen. Hinter der letzten Tonne tauchte ein schwarzer Ärmel auf; die Hand umklammerte etwas Schimmerndes. Raeder duckte sich hastig. Eine Kugel pfiff durch das Fenster über seinem Kopf und schlug in der Decke ein. Putz bröselte auf ihn herab. Jetzt wußte er über die Gasse Bescheid. Sie war bewacht, wie die Tür. Er lag ausgestreckt auf dem rissigen Linoleum, starrte zum Einschuß an der Decke hinauf, lauschte den Geräuschen draußen vor der Tür. Er war ein hochgewachsener Mann mit blutunterlaufenen Augen und zwei Tage alten Bartstoppeln. Schmutz und Überanstrengung hatten sein Gesicht gezeichnet, die Angst seine Züge verändert, hier einen Muskel gespannt, dort einen Nerv zum Zucken gebracht. Das Resultat war verblüffend. Sein Gesicht hatte jetzt Charakter, denn es war durch die Erwartung des Todes gereift. In der Gasse hielt sich ein bewaffneter Bandit auf, auf der Treppe waren zwei Gangster. Er saß in der Falle. Er war tot. Gewiß, dachte Raeder, ich bewege mich noch, ich atme noch, aber das liegt nur an der Unfähigkeit des Todes. In ein paar Minuten würde sich der Tod seiner annehmen, Löcher in sein Gesicht und seinen Körper stoßen, seine Kleidung künstlerisch mit Blut färben und seine Glieder in irgendeiner grotesken Variation des Friedhof-Balletts anordnen… Raeder biß sich auf die Unterlippe. Er wollte leben. Es mußte doch einen Weg geben. Er rollte sich auf den Bauch und studierte die schäbige Wohnung, in die ihn die Gangster getrieben hatten. Ein perfekter, kleiner EinzimmerSarg. Er besaß eine Tür, die unter Beobachtung stand, und eine Feuerleiter, die bewacht wurde. Und außerdem gehörte ein winziges, fensterloses Badezimmer zur Wohnung.
Er kroch auf dem Bauch zum Badezimmer und stand auf. In der Decke befand sich ein gezacktes Loch mit einem Durchmesser von nahezu vierzehn Zentimetern. Wenn er es vergrößern und sich in die Wohnung darüber hochziehen könnte… Er hörte einen dumpfen Schlag. Die Mörder wurden ungeduldig. Sie begannen, die Tür aufzubrechen. Er studierte das Loch in der Decke. Sinnlos, überhaupt daran zu denken. Er konnte es niemals rechtzeitig vergrößern. Sie warfen sich gegen die Tür, bei jedem Anprall fluchten sie lauter. Bald würde das Schloß auseinanderbrechen, oder die Scharniere würden sich aus dem verfaulten Holz lösen. Die Tür würde umstürzen, und die beiden Männer mit den ausdruckslosen Gesichtern würden hereinkommen, ihre Jacketts abstauben… Aber irgend jemand würde ihm gewiß helfen! Er nahm den winzigen Fernsehempfänger aus der Tasche. Das Bild war verschwommen; er machte sich nicht die Mühe, es scharf einzustellen. Der Ton kam klar und deutlich aus dem Kleinlautsprecher. Er hörte, wie die sonore Stimme Mike Terrys zur riesigen Zuschauerschaft sprach. »… furchtbare Situation«, sagte Terry gerade. »Jawohl, liebe Zuschauer, Jim Raeder ist in einer wirklich entsetzlichen Lage. Er hatte sich unter einem falschen Namen in einem drittklassigen Hotel am Broadway eingemietet, wie Sie sich entsinnen werden. Das schien Sicherheit genug zu bieten. Aber der Hotelpage erkannte ihn und verriet der Thompsonbande sein Versteck.« Die Tür knarrte unter den heftigen Stößen. Raeder umklammerte das kleine Fernsehgerät und lauschte. »Jim Raeder konnte gerade noch aus dem Hotel entkommen! Hart verfolgt, betrat er das Wohnhaus in der West End Avenue mit der Nummer 156. Er hatte vor, über die Dächer zu fliehen. Und es hätte klappen können, verehrte Zuschauer, es hätte beinahe geklappt. Aber die Tür zum Dach war abgesperrt. Das Ende schien nahe… Aber Raeder
stellte fest, daß Appartement sieben unbewohnt war. Er flüchtete sich in die Wohnung…« Terry machte eine Kunstpause, dann rief er: »– und jetzt sitzt er dort in der Falle, wie eine gefangene Maus! Die Thompsonbande bricht die Tür auf! Die Feuerleiter wird bewacht! Unsere Kameraleute, die von einem Gebäude in der Nähe aus arbeiten, vermitteln Ihnen jetzt Nahaufnahmen. Sehen Sie ihn, liebe Zuschauer? Gibt es keine Hoffnung mehr für Jim Raeder?« ›Gibt es keine Hoffnung mehr?‹ wiederholte Raeder stumm, während ihm der Schweiß aus allen Poren trat, als er in dem dunklen, stickigen Badezimmer stand und den regelmäßigen Stößen gegen die Tür lauschte. »Einen Augenblick!« rief Mike Terry. »Halten Sie aus, Jim Raeder, halten Sie noch ein bißchen aus. Vielleicht besteht noch Hoffnung! Ich erhalte eben einen dringenden Anruf von einem unserer Zuschauer, einen Anruf über die Gute-Samariter-Leitung! Hier ist jemand, der glaubt, Ihnen helfen zu können, Jim! Hören Sie uns, Jim Raeder?« Raeder wartete. Die Scharniere der Wohnungstür brachen aus dem angefaulten Holz. »Sprechen Sie ruhig, Sir«, sagte Mike Terry. »Wie heißen Sie, Sir?« »Äh – Felix Bartholemow.« »Nur keine Nervosität, Mr. Bartholemow. Äußern Sie sich.« »Na ja, okay, Mr. Raeder«, erklärte die zittrige Stimme eines alten Mannes, »ich habe früher in der West End Avenue 156 gewohnt. Sogar in demselben Appartement, wo Sie sich jetzt aufhalten, Mr. Raeder. Hören Sie, das Badezimmer hat ein Fenster, Mr. Raeder. Es ist übermalt worden, aber es ist da –« Raeder steckte den Fernsehapparat in die Tasche, entdeckte die Umrisse des Fensters und stieß mit dem Fuß zu. Glas splitterte, und plötzlich drang Tageslicht ins Badezimmer. Er räumte die gezackten Splitter vom Fensterbrett und schaute hinaus. Es ging weit hinunter auf einen Hof mit Betonboden. Die Scharniere rissen aus dem Holz. Er hörte, wie die Tür zu Boden stürzte. Hastig stieg er durchs Fenster, hing einen Augenblick an den Fingerspitzen und ließ sich fallen.
Der Aufprall nahm ihm die Luft weg. Betäubt erhob er sich. Im Badezimmerfenster erschien ein Gesicht. »Pech«, sagte der Mann, beugte sich hinaus und zielte mit einer stumpfnasigen Pistole. In diesem Augenblick explodierte im Badezimmer eine Rauchbombe. Der Schuß des Gangsters verfehlte sein Ziel gewaltig. Fluchend fuhr er herum. Weitere Rauchbomben detonierten im Hof, und der Nebel hüllte Raeder ein. Er hörte Mike Terrys aufgeregte Stimme aus dem Gerät in seiner Tasche tönen. »Laufen Sie!« schrie Terry. »Laufen Sie um Ihr Leben, Raeder! Fliehen Sie, solange die Gangster noch durch den Rauch behindert werden. Und danken Sie der Guten Samariterin Sarah Winters aus Brocktan, Massachusetts, Edgar Street 341, die fünf Rauchbomben gestiftet hat und einen Mann beauftragte, sie zu werfen!« Mit etwas ruhigerer Stimme fuhr Terry fort: »Sie haben heute einem Menschen das Leben gerettet, Mrs. Winters. Würden Sie unseren Zuschauern sagen, wie es –« Raeder konnte sie nicht mehr hören. Er raste durch den raucherfüllten Hof, vorbei an Wäscheleinen, hinaus auf die offene Straße. Er ging die 63. Straße hinunter, gebückt, um seine Größe ein wenig zu tarnen, taumelnd durch die Erschöpfung, schwindlig aus Mangel an Nahrung und Schlaf. »He, Sie da!« Raeder drehte sich um. Auf den Stufen eines Wohnhauses saß eine ältere Frau und sah ihn mit zusammengekniffenen Brauen an. »Sie sind Raeder? Der, den sie umbringen wollen?« Raeder ging weiter. »Kommen Sie hier herein, Raeder«, sagte die Frau. Vielleicht war es eine Falle. Aber Raeder wußte, daß er auf die Großzügigkeit und Anständigkeit der Leute vertrauen mußte. Er war ihr Repräsentant, eine Verkörperung ihres Wesens, ein einfacher Mann in
Schwierigkeiten. Ohne sie war er verloren. Mit ihnen konnte ihm nichts zustoßen. ›Vertrauen Sie auf die einfachen Leute‹, hatte ihm Mike Terry gesagt. ›Sie lassen Sie niemals im Stich.‹ Er folgte der Frau in ihr Wohnzimmer. Sie bot ihm einen Stuhl an und verließ den Raum. Wenige Augenblicke später kam sie mit einem Teller Eintopf zurück. Sie beobachtete ihn, während er aß, wie man im Zoo einem Affen beim Verschlingen von Erdnüssen zusieht. Zwei Kinder kamen aus der Küche und starrten ihn an. Drei Männer in Arbeitsanzügen verließen das Schlafzimmer und stellten eine Fernsehkamera auf ihn ein. In der Ecke stand ein großer Fernsehempfänger. Während er das Essen hinunterschlang, beobachtete Raeder das Bild Mike Terrys und lauschte der ernsten, besorgt klingenden Stimme. »Hier ist er, verehrte Zuschauer«, erklärte Terry. »Hier ist Jim Raeder, seit zwei Tagen bei seiner ersten richtigen Mahlzeit. Unsere Kameraleute haben sich wirklich angestrengt, um Ihnen das zu zeigen! Danke, Jungs… Liebe Zuschauer, Jim Raeder hat vorübergehend bei Mrs. Velma O’Dell, 63. Straße 343, eine Zuflucht gefunden. Vielen Dank, Gute Samariterin O’Dell! Es ist wirklich großartig, wie Menschen aus allen Kreisen Jim Raeder ins Herz geschlossen haben!« »Sie sollten sich beeilen«, sagte Mrs. O’Dell. »Ja, Mrs. O’Dell«, erwiderte Raeder. »Ich will in meiner Wohnung keine Schießerei.« »Ich bin gleich fertig, Mrs. O’Dell.« Eines der Kinder fragte: »Bringen sie ihn denn nicht um?« »Halt den Mund«, sagte Mrs. O’Dell. »Jawohl, Jim«, leierte Mike Terry, »Sie beeilen sich besser. Ihre Verfolger sind nicht weit zurück. Sie sind keine Dummköpfe, Jim. Bösartig, anomal, verrückt – ja! Aber nicht dumm. Sie folgen einer Spur von Blut – Blut aus Ihrer verletzten Hand, Jim!« Raeder hatte bis jetzt nicht bemerkt, daß er sich beim Durchkriechen des eingeschlagenen Fensters eine Schnittwunde zugezogen hatte.
»Kommen Sie her, ich verbinde Sie«, sagte Mrs. O’Dell. Raeder stand auf und ließ sich verbinden. Dann gab ihm Mrs. O’Dell ein braunes Jackett und einen grauen, breitkrempigen Hut. »Das sind Sachen von meinem Mann«, erklärte sie. »Er hat eine Tarnung, verehrte Zuschauer!« rief Mike Terry entzückt. »Das ist etwas ganz Neues! Eine Verkleidung! Und noch sieben Stunden, bis Jim Raeder in Sicherheit ist!« »Nun verschwinden Sie«, sagte Mrs. O’Dell. »Ich gehe schon«, erwiderte Raeder. »Vielen Dank auch.« »Für mich sind Sie nicht bei Trost«, meinte sie. »Nur ein Verrückter kann sich auf so etwas einlassen.« »Ja, Mrs. O’Dell.« »Die Sache ist doch diesen Einsatz nicht wert.« Raeder bedankte sich und verließ das Haus. Er ging zum Broadway, fuhr mit der Untergrundbahn zur 50. Straße und stieg in einen Pendlerzug zur 86. Straße um. Dort kaufte er eine Zeitung und stieg in die Manhattan-Schnellverkehrsbahn ein. Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch sechseinhalb Stunden. Die U-Bahn raste unter Manhattan dahin. Raeder döste vor sich hin, die bandagierte Hand unter der Zeitung verborgen, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Hatte ihn schon jemand erkannt? War es ihm gelungen, die Thompsonbande abzuschütteln? Oder rief in diesem Augenblick bereits jemand die Gangster an? Schläfrig fragte er sich, ob er dem Tod entronnen war. Oder war er immer noch nur eine künstlich belebte Leiche, die nur dank der Nachlässigkeit des Todes noch herumlief? Raeder riß die Augen auf. Er hatte etwas Unangenehmes geträumt. Was es gewesen war, wußte er nicht mehr. Er schloß die Augen wieder und entsann sich mit leichter Überraschung einer Zeit, in der es keine Schwierigkeiten für ihn gegeben hatte.
Das war vor zwei Jahren gewesen. Er hatte als Lastwagenbeifahrer gearbeitet, ein großer, freundlicher, junger Mann. Er verfügte über keine Talente. Er war zu bescheiden, um sich Träume zu leisten. Der kleine Lastzugchauffeur mit dem schmalen Gesicht träumte für ihn. »Warum versuchst du es nicht bei einer Fernsehschau, Jim?« hatte er gesagt. »Wenn ich dein Aussehen hätte, würde ich es selber probieren. Man will doch nette, durchschnittliche Leute, die nicht allzuviel auf dem Kasten haben, als Bewerber. Für solche Burschen hat jeder etwas übrig. Warum erkundigst du dich nicht einmal?« Er hatte sich also erkundigt. Der Besitzer der TV-Agentur im Ort klärte ihn weiter auf. »Schau, Jim, das Publikum hat die hochtrainierten Athleten mit ihren Trickreflexen und ihrem professionellen Mut satt. Wer kann für solche Kerle Mitgefühl aufbringen? Wer identifiziert sich damit? Die Leute wollen aufregende Dinge sehen, gewiß, aber nicht, wenn irgendein Bursche für fünfzigtausend pro Jahr ein Geschäft daraus macht. Deswegen interessiert sich niemand mehr für die Massensportarten. Deswegen sind die Sensationssendungen so beliebt.« »Aha«, sagte Raeder. »Vor sechs Jahren hat der Kongreß das Gesetz über den freiwilligen Selbstmord erlassen. Die alten Senatoren faselten allerhand Zeug vom freien Willen und von der Selbstbestimmung. Aber das ist alles Käse. Weißt du, was dieses Gesetz wirklich bedeutet? Es läuft darauf hinaus, daß Amateure ihr Leben fürs große Geld riskieren dürfen, nicht bloß Professionelle. Früher mußte man Berufsboxer, -fußballer oder hockeyspieler sein, wenn man das Recht haben wollte, sich für Geld den Schädel einschlagen zu lassen. Aber jetzt steht normalen Menschen, wie du einer bist, Jim, dieser Weg auch offen.« »Aha«, sagte Raeder wieder. »Das ist doch eine wunderbare Gelegenheit. Nehmen wir zum Beispiel gleich dich. Du bist nicht besser als die anderen, Jim. Was du kannst, können alle anderen auch. Du bist Durchschnitt. Ich glaube, daß man dich bei den Sensationsreihen brauchen könnte.«
Raeder erlaubte sich zu träumen. Die Teilnahme an Fernsehsendungen solcher Art schien für einen netten jungen Mann ohne besondere Begabung oder Ausbildung der sichere Weg zum Reichtum. Er schrieb einen Brief an eine Sendung mit dem Namen ›Risiko‹ und fügte eine Photographie bei. ›Risiko‹ war an ihm interessiert. Die Sendegesellschaft JBC überprüfte ihn und stellte fest, daß er von einer Durchschnittlichkeit war, die selbst den mißtrauischsten Zuschauer befriedigen mußte. Man spürte seiner Ahnenreihe nach, prüfte seine Verwandtschaft. Schließlich wurde er nach New York bestellt und von Mr. Moulian ausgequetscht. Moulian war ein dunkelhaariger, energischer Mann, der ständig Kaugummi kaute. »Sie sind brauchbar«, knurrte er. »Aber nicht für ›Risiko‹. Sie treten in ›Bahn frei‹ auf. Das ist eine Halbstundensendung bei Tag auf Kanal drei.« »Mensch!« sagte Raeder. »Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Wenn Sie gewinnen oder Zweiter werden, gibt es tausend Dollar, auf allen anderen Plätzen einen Trostpreis von hundert Dollar. Aber das ist unwichtig.« »Ja, Sir.« »›Bahn frei‹ ist eine kleine Sendung. JBC verwendet sie als Testserie. Sieger und Zweite bei ›Bahn frei‹ kommen weiter zu ›Ernstfall‹. Dort sind die Preise sehr viel höher.« »Ich weiß, Sir.« »Und wenn Sie sich in ›Ernstfall‹ gut schlagen, geht es in die erstklassigen Sensationssendungen, wie ›Risiko‹ und ›Gefahren unter Wasser‹, die im ganzen Land ausgestrahlt werden und phantastische Preise bieten. Schließlich kommt das ganz große Geschäft. Wie weit Sie kommen, hängt von Ihnen ab.« »Ich werde mein Bestes tun, Sir«, sagte Raeder. Moulian hörte einen Augenblick auf zu kauen und sagte beinahe ehrfurchtsvoll: »Sie können es schaffen, Jim. Denken Sie immer daran: Sie sind das Volk, und das Volk kann alles.«
Die Art, wie er das sagte, brachte Raeder dazu, Mitleid für Mr. Moulian zu empfinden, der schwarzes Haar, einen dunklen Teint und hervortretende Augen hatte und offensichtlich nicht das Volk war. Sie schüttelten sich die Hände. Dann unterschrieb Raeder ein Schriftstück, in dem er JBC von jeder Verantwortung entband, falls er während des Wettbewerbs sein Leben, seine Glieder oder den Verstand verlieren sollte. Und er unterschrieb ein Dokument, worin er seine Rechte aufgrund des Gesetzes über den freiwilligen Selbstmord geltend machte. Die Vorschriften verlangten das; es handelte sich um eine bloße Formalität. Drei Wochen später trat er in ›Bahn frei‹ auf. Die Sendung hatte das klassische Rezept der Automobilrennen übernommen. Unausgebildete Fahrer setzten sich in leistungsfähige amerikanische und europäische Rennwagen und rasten über einen mörderischen Zwanzigkilometer-Kurs. Raeder wurde von Angst geschüttelt, als er sich in seinen großen Maserati klemmte, den falschen Gang einlegte und davonbrauste. Das Rennen war ein heulender, reifenversengender Alptraum. Raeder blieb zurück und ließ die an die Spitze vorgerückten Fahrer ihre Wagen in den Haarnadelkurven zertrümmern. Er kroch auf den dritten Platz vor, als ein Jaguar vor ihm einen Alfa-Romeo streifte und die beiden Wagen sich auf einem Acker überschlugen. Raeder versuchte, auf den letzten fünf Kilometern Platz zwei zu erreichen, fand aber keinen Raum zum Überholen. Dann brach beim führenden Wagen auf den letzten hundert Metern die Kurbelwelle, und Jim wurde Zweiter. Er hatte tausend Dollar gewonnen. Er bekam vier Verehrerbriefe; eine Dame aus Oshkosh schickte ihm eine Rennbrille. Man lud ihn ein, in ›Ernstfall‹ zu erscheinen. Im Gegensatz zu anderen Sendungen war ›Ernstfall‹ keine Reihe mit Wettbewerbscharakter. Man legte hier besonders Wert auf persönliche Initiative. Für seinen Auftritt wurde Raeder mit einem gefahrlosen Mittel bewußtlos gemacht. Er erwachte in der Pilotenkanzel eines Sportflugzeugs, das, auf automatische Steuerung eingestellt, in einer Höhe von dreitausend Metern kreiste. Die Treibstoffuhr zeigte an, daß
die Benzintanks fast leer waren. Er besaß keinen Fallschirm. Er sollte das Flugzeug landen. Selbstverständlich hatte er noch nie eine Maschine geflogen. Er experimentierte behutsam mit der Steuerung, nachdem ihm eingefallen war, daß der Kandidat der letzten Sendung in einem U-Boot zu sich gekommen war, das falsche Ventil geöffnet hatte und ertrunken war. Tausende von Zuschauern beobachteten atemlos diesen Durchschnittsmenschen, einen Mann aus ihrer Mitte, der mit diesem Problem rang, wie sie es tun würden. Jim Raeder, das waren sie selbst. Alles, was er fertigbrachte, konnten sie auch. Er war der Repräsentant des Volkes. Raeder schaffte es, das Flugzeug in einer Art Landung zu Boden zu bringen. Die Maschine überschlug sich ein paarmal, aber die Sitzgurte hielten. Und der Motor explodierte entgegen aller Erwartung nicht. Er taumelte mit zwei gebrochenen Rippen, dreitausend Dollar und der Chance, nach Gesundung in ›Torero‹ aufzutreten, ins Freie. Endlich eine erstklassige Sendung! ›Torero‹ brachte zehntausend Dollar. Man brauchte nur einen schwarzen Miurastier mit dem Degen zu töten, wie ein echter Matador. Der Kampf fand in Madrid statt, da Stierkämpfe in den Vereinigten Staaten immer noch nicht zugelassen waren. Sämtliche Fernsehsender übertrugen ihn. Raeder hatte eine gute Mannschaft. Die Männer mochten den großen, schwerfälligen Amerikaner. Die Pikadores strengten sich bei ihren Lanzenstößen wirklich an, sie versuchten, den Stier für Raeder langsamer zu machen. Die Banderillos bemühten sich, das Tier zu ermüden, bevor sie die Banderillas hineintrieben. Und der zweite Matador, ein traurig wirkender Mann aus Algeciras, brach mit seiner raffinierten Cape-Arbeit dem Stier beinahe das Genick. Aber schließlich stand doch Jim Raeder im Sand, eine rote Muleta ungeschickt in der Linken, einen Degen in der Rechten, vor sich einen tonnenschweren, schwarzen, blutüberströmten, breitgehörnten Stier. Jemand schrie: »Such die Lunge, hombre. Sei kein Held, stich ihm in die Lunge!« Aber Jim wußte nur, was ihm der technische Berater in New
York erzählt hatte: mit dem Degen zielen und zwischen den Hörnern den Nacken treffen. Er stach zu. Der Degen glitt am Knochen ab, und der Stier warf Raeder über seinen Rücken durch die Luft. Jim stand auf, wie durch ein Wunder unverletzt, nahm einen anderen Degen und stach wieder zu, mit geschlossenen Augen. Der Schutzengel der Kinder und Narren mußte aufgepaßt haben, denn der Degen glitt wie durch Butter hinein, der Stier machte ein erstauntes Gesicht, starrte Raeder ungläubig an und sackte wie ein angestochener Ballon zusammen. Man bezahlte Jim zehntausend Dollar, und sein gebrochenes Schlüsselbein heilte sehr schnell. Er bekam dreiundzwanzig Verehrerbriefe, darunter die leidenschaftliche Einladung eines Mädchens aus Atlantic City, die er ignorierte. Und man fragte ihn, ob er bei anderen Sendungen auftreten wolle. Er hatte ein wenig von seiner Unschuld verloren. Er sah jetzt deutlich, daß er für ein Taschengeld sein Leben riskiert hatte. Das große Geld wartete. Jetzt wollte er einmal für einen lohnenden Einsatz alles riskieren. Er trat also in ›Gefahren unter Wasser‹ auf, einer von einer Seifenfirma unterstützte Sendung. Mit Sauerstoffmaske, Atemgerät, bleibeschwertem Gürtel, Flossen und Messer tauchte er ins warme Wasser der Karibischen See, gemeinsam mit vier Kandidaten, gefolgt von einem durch einen Käfig geschützten Kamerateam. Man mußte einen am Grund verborgenen Schatz finden und bergen. Tauchsport ist an sich nicht übermäßig gefährlich. Die zahlende Firma hatte sich jedoch ein paar hübsche Dinge ausgedacht. Das Gebiet wurde mit Riesenmuscheln, Muränenaalen, verschiedenen Haiarten, Riesenpolypen, Giftkorallen und anderen unheimlichen Wesen der Meere gespickt. Der Wettbewerb war ungeheuer aufregend. Ein Mann aus Florida fand den Schatz in einem Felsspalt, aber ein Muränenaal fand den Mann. Ein anderer Taucher übernahm den Schatz, und ein Hai erledigte ihn. Das blaugrün schimmernde Wasser bewölkte sich mit Blut, das im Farbfernsehen besonders gut herauskam. Der Schatz sank auf den Meeresgrund, und Raeder tauchte ihm nach, wobei ihm ein Trommelfell
platzte. Er packte die Beute, streifte seinen Bleigürtel ab und schwamm nach oben. Zehn Meter unter der Oberfläche mußte er mit einem anderen um den Schatz kämpfen. Die beiden Männer fintierten mit ihren Messern. Der Gegner stieß zu und traf Raeder an der Brust. Aber Jim ließ mit der Sicherheit eines altgedienten Kandidaten sein Messer fallen und riß dem Mann den Sauerstoffschlauch aus dem Mund. Das genügte. Raeder tauchte auf und reichte den Schatz in das wartende Motorboot. Er entpuppte sich als eine Packung Seife. Dieser Erfolg brachte ihm zweiundzwanzigtausend Dollar in Bargeld und Prämien, dreihundertacht Verehrerbriefe und einen interessanten Vorschlag eines Mädchens in Macon, den er sich ernstlich überlegte. Für den Messerstich und das geplatzte Trommelfell erhielt er kostenlose Krankenhausbehandlung. Aber was das wichtigste war: Man lud ihn ein, in der größten Sensationsschau aufzutreten, im ›Millionenspiel‹. Und damit begannen die Schwierigkeiten. Der U-Bahn-Zug kam zum Stehen und riß ihn aus seiner Versunkenheit. Raeder schob den Hut ins Genick und bemerkte gegenüber einen Mann, der ihn anstarrte und dann seiner dicklichen Nachbarin etwas zuflüsterte. Hatten sie ihn erkannt? Als sich die Türen öffneten, erhob er sich sofort und warf einen Blick auf die Uhr. Fünf Stunden mußte er noch aushalten. Am Manhasset-Bahnhof stieg er in ein Taxi und wies den Fahrer an, ihn nach New Salem zu bringen. »New Salem?« fragte der Chauffeur und starrte ihn durch den Innenspiegel an. »Richtig.« Der Fahrer schaltete sein Funkgerät ein. »Passagier nach New York. Ja, richtig. New Salem.« Sie fuhren los. Raeder runzelte die Stirn und fragte sich, ob das ein Signal gewesen war. Selbstverständlich war es bei Taxifahrern üblich,
sich in der Zentrale abzumelden. Aber irgend etwas in der Stimme dieses Mannes… »Lassen Sie mich hier raus«, sagte Raeder. Er zahlte und ging die schmale Landstraße hinunter, die sich durch lichten Wald schlängelte. Die Bäume waren zu klein und standen zu weit auseinander, um als Versteck dienen zu können. Raeder wanderte weiter und suchte nach einem Unterschlupf. Ein schwerer Lastwagen näherte sich. Jim ging weiter, den Hut tief in die Stirn gezogen. Aber als das Fahrzeug herankam, hörte er eine Stimme aus dem Fernsehempfänger in seiner Tasche rufen: »Vorsicht!« Er sprang in den Graben. Der Lastwagen schleuderte vorbei, Raeder nur knapp verfehlend, und hielt mit kreischenden Bremsen. Der Fahrer schrie: »Da ist er! Schieß, Harry, drück doch endlich ab!« Kugeln fegten das Laub von den Bäumen, als Raeder in den Wald raste. »Wieder ist es passiert!« erklärte Mike Terry aufgeregt seinen Zuschauern. »Ich fürchte, daß sich Jim Raeder in ein irriges Gefühl der Sicherheit verrannt hat. Das geht nicht, Jim! Nicht, wenn Ihr Leben auf dem Spiel steht! Nicht, solange Mörder Sie verfolgen! Nehmen Sie sich in acht, Jim, Sie müssen noch viereinhalb Stunden durchstehen!« Der Lastwagenfahrer sagte: »Claude, Harry, schneidet ihm den Weg mit dem Wagen ab. Er sitzt in der Falle.« »Sie sitzen in der Falle, Jim Raeder!« schrie Mike Terry. »Aber man hat Sie noch nicht! Und Sie können der Guten Samariterin Susy Peters, South Orange, New Jersey, Elmstreet zwölf, für den Warnruf vorhin, als der Lkw herankam, danken. Wir bringen die kleine Susy in wenigen Augenblicken vor die Kamera… Sie sehen, verehrte Zuschauer, unser Hubschrauber ist am Schauplatz angelangt. Jetzt können Sie Jim Raeder auf der Flucht beobachten, während ihm die Mörder den Weg abschneiden, ihn einkreisen…« Raeder rannte durch den Wald und erreichte eine Betonstraße; auch auf der gegenüberliegenden Seite gab es stark gelichteten Wald. Einer der Gangster kam von hinten heran. Der Lastwagen hatte eine Nebenstraße
befahren und war jetzt eineinhalb Kilometer entfernt, brauste aber auf Raeder zu. Von der anderen Seite her näherte sich ein Personenwagen. Raeder rannte auf die Straße hinaus und winkte verzweifelt. Das Auto hielt. »Schnell!« schrie die blonde, junge Frau am Steuer. Raeder hechtete in den Wagen. Die Frau wendete das Fahrzeug. Eine Kugel durchschlug die Windschutzscheibe. Die Blonde trat auf den Gashebel und fuhr beinahe den Gangster über den Haufen, der im Weg stand. Bevor der Lastwagen in Schußweite war, raste die Limousine davon. Raeder lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die junge Frau konzentrierte sich auf die Lenkung des Wagens. »Es hat wieder geklappt!« rief Mike Terry mit ekstatischer Stimme. »Jim Raeder ist wieder den Kiefern des Todes entrissen worden, dank der Hilfe unserer Guten Samariterin Janice Morrow, New York City, Lexington Avenue 433. Haben Sie so etwas schon erlebt, meine Damen und Herren? Wie Miss Morrow durch den Kugelregen raste und Jim Raeder vor dem Untergang rettete! Wir werden uns später mit Miss Morrow unterhalten und uns ihre Erlebnisse mit ihren eigenen Worten schildern lassen. Inzwischen, während Jim Raeder vielleicht der Sicherheit, vielleicht neuen Gefahren entgegenrast, hören Sie eine Mitteilung unseres Sponsors. Bleiben Sie an Ihrem Gerät! Jim muß noch vier Stunden und zehn Minuten überstehen, bevor er in Sicherheit ist. Noch ist alles möglich!« »Okay«, sagte das Mädchen. »Die Übertragung ist vorübergehend unterbrochen. Raeder, was zum Teufel ist mit Ihnen los?« »Wie?« fragte Jim. Das Mädchen war Anfang Zwanzig. Es sah tüchtig, anziehend, unberührbar aus. Raeder stellte fest, daß es ein gutgeschnittenes Gesicht und eine schöne Figur hatte. Und er bemerkte, daß die junge Dame wütend war. »Miss«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll –« »Lassen Sie das Gerede«, erwiderte Janice Morrow. »Ich bin keine Gute Samariterin. Ich arbeite für die Sendegesellschaft JBC.« »Die Sendeleitung hat mich also retten lassen!«
»Sehr klug gefolgert«, meinte sie. »Und warum?« »Hören Sie, die Sendung ist teuer, Raeder. Wir müssen eine gute Schau bringen. Wenn die Zuschauerzahlen geringer werden, sitzen wir alle auf der Straße. Und Sie arbeiten nicht mit!« »Was? Wie?« »Weil Sie furchtbar sind«, sagte Janice bitter. »Sie sind ein Versager, eine Null. Wollen Sie etwa Selbstmord begehen? Haben Sie überhaupt nicht gelernt, wie man sich durchschlägt?« »Ich gebe mein Bestes.« »Die Thompsonbande hätte sie bis jetzt schon ein dutzendmal erledigen können. Wir haben die Leute gebeten, die Sache auszudehnen und langsam vorzugehen. Aber es ist genau so, als müßte jemand auf eine zwei Meter große Tontaube schießen. Die Thompsonleute machen mit, aber sie können auch nur bis zu einem gewissen Punkt schwindeln. Wenn ich nicht gekommen wäre, hätten sie Sie abknallen müssen – Sendezeit hin, Sendezeit her.« Raeder starrte sie an und fragte sich, wie ein hübsches Mädchen so reden konnte. Sie warf ihm einen Blick zu, sah dann schnell wieder auf die Straße. »Schauen Sie mich nicht so an!« sagte sie. »Sie haben sich entschieden, Ihr Leben für Geld zu riskieren, Freundchen. Für sehr viel Geld sogar! Sie wußten, was gespielt wurde. Tun Sie nicht wie ein unschuldiger, kleiner Junkie, der entsetzt erkennt, daß die bösen Gangster hinter ihm her sind. Das ist wieder eine ganz andere Geschichte.« »Ich weiß«, sagte Raeder. »Wenn Sie nicht ordentlich leben können, dann versuchen Sie wenigstens, ordentlich zu sterben.« »Das ist nicht Ihr Ernst«, erwiderte Raeder. »Ich würde mir da nicht so sicher sein… Sie haben noch drei Stunden und vierzig Minuten, bis die Sendung zu Ende ist. Wenn Sie am Leben bleiben können, gut. Das Geld gehört Ihnen. Aber wenn Sie es nicht schaffen, dann strengen Sie sich wenigstens an.«
Raeder nickte, ohne den Blick von ihr zu lassen. »In wenigen Augenblicken geht die Sendung weiter. Ich muß eine Motorpanne vortäuschen und Sie fortschicken. Die Leute Thompsons nehmen jetzt keine Rücksicht mehr. Sie legen Sie um, sobald sie können. Verstanden?« »Ja«, sagte Raeder. »Kann ich Sie später einmal sehen, wenn ich durchkomme?« Sie biß sich zornig auf die Unterlippe. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« »Nein. Ich möchte Sie wiedersehen. Darf ich?« Sie sah ihn forschend an. »Ich weiß nicht. Lassen wir’s. Wir sind beinahe soweit. Ich glaube, Sie verschwinden am besten im Wald auf der rechten Seite. Fertig?« »Ja. Wo kann ich Sie erreichen? Nachher, meine ich.« »Oh, Raeder, Sie hören mir ja nicht zu. Gehen Sie durch den Wald, bis Sie einen ausgewaschenen Hohlweg finden. Viel ist das nicht, aber etwas Deckung bietet er doch.« »Wo kann ich Sie erreichen?« wiederholte Raeder. »Ich stehe im Telefonbuch von Manhattan.« Sie brachte den Wagen zum Stehen. »Okay, Raeder, laufen Sie.« Er öffnete die Tür. »Warten Sie.« Sie beugte sich hinüber und küßte ihn auf den Mund. »Viel Glück, Sie Idiot. Rufen Sie mich an, wenn Sie es schaffen.« Er hetzte in den Wald. Er rannte zwischen Birken und Fichten dahin, kam gelegentlich an einem Haus vorbei, wo sich Gesichter an die großen Fenster preßten. Ein Bewohner eines dieser Häuser mußte die Bande verständigt haben, denn die Gangster waren knapp hinter ihm, als er den kleinen Hohlweg erreichte. Die guten Leute wollten sehen, wie einer starb. Oder vielleicht wollten sie auch nur beobachten, wie er ganz knapp dem Tod entging. Es kam auf dasselbe heraus.
Er sprang in den Hohlweg, kroch in das dichte Unterholz und blieb regungslos liegen. Die Gangster erschienen auf beiden Böschungen, streiften langsam umher, achteten auf die geringste Bewegung. Er hörte einen Revolverschuß. Aber der Gangster hatte nur ein Eichhörnchen abgeknallt. Es wand sich einen Augenblick, dann war es still. Raeder hörte den Hubschrauber des Fernsehens heranbrummen. Er fragte sich, ob Kameras auf ihn gerichtet waren. Möglich. Und wenn man ihn sah, war vielleicht irgendein Guter Samariter bereit, ihm zu helfen. Raeder lag im Unterholz auf dem Rücken. Er machte ein frommes Gesicht, faltete die Hände und begann zu beten. Er betete leise, weil das Publikum für auffällige Religiosität nichts übrig hatte. Aber seine Lippen bewegten sich. Das konnte man keinem Menschen verwehren. Und er betete wirklich. Einmal hatte ein Lippenleser im Publikum einen Flüchtigen dabei ertappt, daß dieser zu beten vorgab, in Wirklichkeit aber Multiplikationen vor sich hin murmelte. Diesem Mann war jede Hilfe versagt geblieben. Raeder beendete sein Gebet. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß er noch zwei Stunden überstehen mußte. Und er wollte doch nicht sterben! Das ganze Geld war das nicht wert, wieviel sie ihm auch bezahlen mochten! Er mußte verrückt gewesen sein, total wahnsinnig, um sich darauf einzulassen… Aber er wußte, daß das nicht stimmte. Und er erinnerte sich genau, wie normal er geistig gewesen war. Vor einer Woche war er im Studio von ›Das Millionenspiel‹ gewesen, hatte in die Scheinwerfer geblinzelt und sich von Mike Terry die Hand schütteln lassen. »Nun, Mr. Raeder«, hatte Terry ernst gefragt, »begreifen Sie die Regeln des Spiels, an dem Sie sich beteiligen wollen?« Raeder nickte. »Wenn Sie annehmen, Jim Raeder, sind Sie eine Woche lang ein gejagter Mann. Mörder werden Ihnen auf der Spur sein, Jim. Ausgebildete Mörder; Männer, die wegen anderer Verbrechen gesucht
werden und für diese eine Tat nach dem Gesetz über freiwilligen Selbstmord Straffreiheit erhalten haben. Sie werden versuchen, Sie umzubringen, Jim – begreifen Sie?« »Ich verstehe«, sagte Raeder. Er verstand auch die Million Dollar, die man ihm aushändigen würde, wenn er die Woche überlebte. »Ich frage Sie noch einmal, Jim Raeder. Wir zwingen keinen Menschen, mit seinem Leben als Einsatz zu spielen.« »Ich will spielen«, sagte Raeder. Mike Terry wandte sich dem Publikum zu. »Meine Damen und Herren, ich habe hier die Durchschrift eines ausführlichen psychologischen Testberichts, den eine unparteiische Institution auf unseren Wunsch über Jim Raeder erstellt hat. Gegen Einsendung von 25 Cents für Portokosten wird jedem Interessenten ein Exemplar übersandt. Der Test zeigt, daß Jim Raeder geistig gesund, völlig im Gleichgewicht und in jeder Hinsicht voll verantwortlich ist.« Er wandte sich Raeder zu. »Wollen Sie immer noch mitmachen, Jim?« »Ja.« »Na prima!« rief Mike Terry. »Jim Raeder, darf ich Ihnen Ihre Gegner vorstellen!« Die Thompsonbande marschierte ins Studio, vom Publikum ausgepfiffen. »Schauen Sie sich diese Männer an, liebe Zuschauer!« sagte Mike Terry mit unverhohlener Verachtung. »Schauen Sie sie sich nur an! Asozial, durch und durch verrottet, völlig amoralisch. Diese Männer kennen kein Gesetz als den abnormen Kodex des Verbrechers, keine Ehre als die Ehre des feige angeworbenen Mörders. Sie sind dem Untergang geweiht, verurteilt von unserer Gesellschaft, die ihr Unwesen nicht lange dulden wird, einem frühen, schäbigen Tod vorherbestimmt.« Das Publikum schrie begeistert auf. »Was haben Sie zu sagen, Claude Thompson?« fragte Terry. Claude, der Sprecher der Thompsons, trat ans Mikrophon, ein magerer, glattrasierter Mann im dunklen Anzug. »Ich sage«, erklärte Claude Thompson mit heiserer Stimme, »ich sage, daß wir nicht schlechter sind als alle anderen. Ich meine, wie Soldaten im
Krieg, sie töten doch auch. Und sehen Sie sich die Korruption in den Behörden und Gewerkschaften an. Jeder bereichert sich auf seine Weise.« Das war Thompsons dürftige Lebensanschauung. Aber mit welcher Geschwindigkeit und Präzision zerstörte Mike Terry die Rechtfertigung des Gangsters! Terrys Fragen bohrten tief in die schmutzige Seele des Anführers. Am Ende des Gesprächs stand Claude Thompson der Schweiß auf der Stirn. Er wischte sich das Gesicht mit einem seidenen Taschentuch und warf seinen Leuten hastige Blicke zu. Mike Terry legte Raeder die Hand auf die Schulter. »Hier ist der Mann, der sich bereit erklärt hat, Ihr Opfer zu sein – wenn Sie ihn fangen können.« »Wir erwischen ihn«, erwiderte Thompson zuversichtlich. »Verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf«, meinte Terry. »Jim Raeder hat mit wilden Stieren gekämpft – jetzt steht er Schakalen gegenüber. Er ist ein Durchschnittsmensch. Er ist das Volk – das schließlich Ihr und Ihrer Leute Untergang sein wird.« »Wir schnappen ihn«, sagte Thompson. »Noch eins«, meinte Terry leise. »Jim Raeder steht nicht allein da. Die Menschen Amerikas sind für ihn. Gute Samariter aus allen Winkeln unserer großen Nation stehen bereit, ihn zu unterstützen. Der unbewaffnete, wehrlose Jim Raeder kann auf die Hilfe und Anständigkeit des Volkes zählen, dessen Repräsentant er ist. Geben Sie sich also nicht zu selbstbewußt, Claude Thompson! Der Mann von der Straße ist für Raeder – und er ist die Mehrheit!« Raeder dachte darüber nach, regungslos im Unterholz liegend. Ja, die Leute hatten ihm geholfen. Aber auch den Banditen. Ein Schauder überlief ihn. Er hatte entschieden, erinnerte er sich. Er allein trug die Verantwortung. Das hatte der psychologische Test bewiesen.
Trotzdem, welche Verantwortung trugen die Psychologen, von denen er getestet worden war? Welche Verantwortung traf Mike Terry, wenn er einem unbegüterten Mann soviel Geld bot? Die Gesellschaft hatte die Schlinge geflochten und sie um seinen Hals gelegt; er erhängte sich selbst damit, und das nannte man ›freier Wille‹. Wessen Fehler war es? »Aha«, rief jemand. Raeder sah nach oben und bemerkte einen dicken Mann in seiner Nähe. Er trug ein auffallendes Tweedjackett. Um seinen Hals hing ein Fernglas, in der Hand hielt er einen Spazierstock. »Mister«, flüsterte Raeder, »bitte verraten Sie mich nicht!« »Hierher!« rief der Dicke und deutete mit dem Spazierstock auf Raeder. »Da ist er!« Ein Verrückter, dachte Raeder. Der verdammte Narr glaubt wohl, wir spielen hier Räuber und Gendarm. »Gleich hier! Schnell!« schrie der Mann. Fluchend sprang Raeder auf und rannte davon. Er ließ den Hohlweg hinter sich und sah in der Ferne ein weißes Gebäude. Er lief darauf zu. Hinter sich konnte er immer noch den Mann rufen hören. »Hierher, diesen Weg. Schaut doch hin, könnt ihr ihn noch nicht sehen?« Die Gangster schossen wieder. Raeder hastete weiter, stolperte auf dem unebenen Boden, raste vorbei an drei Kindern, die in einem Baumhaus spielten. »Da ist er!« schrien die Kinder. »Da ist er!« Raeder stöhnte auf und lief weiter. Er erreichte die Stufen des Gebäudes und sah, daß es eine Kirche war. Als er die Tür aufstemmte, traf ihn eine Kugel in die rechte Kniekehle. Er stürzte, kroch in die Kirche hinein. Das Fernsehgerät in seiner Tasche tönte: »Was für ein Endspurt, meine Damen und Herren, was für ein Endspurt! Raeder ist getroffen! Er ist getroffen, liebe Zuschauer, er kriecht jetzt, er hat Schmerzen, aber er gibt nicht auf! Jim Raeder gibt nicht auf!«
Raeder lag im Mittelgang vor dem Altar. Er hörte die eifrige Stimme eines Kindes sagen: »Er ist dort hineingegangen, Mr. Thompson. Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie ihn noch!« Galt denn eine Kirche nicht als Freistatt? fragte sich Raeder. Dann wurde die Tür aufgerissen, und Raeder mußte einsehen, daß man sich nicht mehr an solche Gewohnheiten hielt. Er riß sich zusammen und kroch am Altar vorbei durch die Hintertür der Kirche hinaus. Er befand sich in einem alten Friedhof. Er kroch vorbei an Kreuzen und Sternen, vorbei an Grabsteinen aus Marmor und Granit, vorbei an Steingrabmälern und groben Holzbrettern. Eine Kugel streifte einen Grabstein, überschüttete ihn mit Steinsplittern. Er kroch vorsichtig zum Rand eines offenen Grabes. Sie hatten ihn angenommen, dachte er. Alle diese netten, durchschnittlichen, normalen Leute. Hatten sie nicht gesagt, daß er ihr Vertreter war? Hatten sie nicht geschworen, ihr Symbol zu beschützen? Aber nein, sie haßten ihn. Warum hatte er das nicht erkannt? Ihr Held war der eiskalte Bursche mit dem Colt in der Hand, Thompson, Al Capone, Billy the Kid, El Cid, der Mann ohne menschliche Regung. Ihn verehrten sie, diesen leblosen, roboterhaften Mörder. Raeder versuchte, sich zu bewegen, und rutschte hilflos in das offene Grab. Er lag auf dem Rücken und starrte zum blauen Himmel empor. Dann ragte eine dunkle Silhouette über ihm auf, löschte den Himmel aus. Metall schimmerte. Langsam begann die Silhouette zu zielen. Und Raeder ließ für immer alle Hoffnung fahren. »Halt, Thompson!« schrie die durch Lautsprecher verstärkte Stimme Mike Terrys. Der Revolver schwankte. »Es ist eine Sekunde nach fünf! Die Woche ist um! Jim Raeder hat gewonnen!« Das Studiopublikum machte sich in einem gellenden Aufschrei Luft. Die um das Grab versammelten Gangster verzogen mürrisch die Gesichter.
»Er hat gewonnen, Freunde, er hat gewonnen!« schrie Mike Terry. »Schaut auf den Bildschirm, seht hin! Die Polizei ist angekommen, man entfernt die Thompsonbande von ihrem Opfer – dem Opfer, das sie nicht töten konnte. Und das verdankt es nur euch, Gute Samariter Amerikas. Sehen Sie, meine Damen und Herren, sanfte Hände heben Jim Raeder aus dem offenen Grab, das seine letzte Zuflucht war. Auch die Gute Samariterin Janice Morrow ist dabei. Ist das der Anfang einer Liebe? Jim scheint das Bewußtsein verloren zu haben, Freunde, man gibt ihm ein Aufputschmittel. Er hat eine Million Dollar gewonnen! Und nun hören wir ein paar Worte von Jim Raeder!« Es blieb kurze Zeit still. »Merkwürdig«, sagte Mike Terry. »Liebe Zuschauer, leider können wir im Augenblick nicht mit Jim sprechen. Die Ärzte untersuchen ihn. Haben Sie kurze Zeit Geduld…« Es wurde still. Mike Terry wischte sich die Stirn und lächelte. »Es ist die Belastung, verehrte Zuschauer, die furchtbare Belastung. Die Ärzte erklären mir… Nun, liebe Zuschauer, Jim Raeder hat vorübergehend seine geistige Gesundheit verloren. Aber nur vorübergehend! JBC wird die besten Psychiater und Psychoanalytiker des Landes beauftragen. Wir werden für diesen mutigen jungen Mann alles Menschenmögliche tun. Und selbstverständlich übernehmen wir sämtliche Kosten.« Mike Terry warf einen Blick auf die Uhr im Studio. »Wir müssen jetzt Schluß machen, liebe Zuschauer. Verfolgen Sie die Ankündigung unserer nächsten großen Sensationsschau. Und keine Angst, ich bin davon überzeugt, daß Jim Raeder bald wieder unter uns sein wird.« Mike Terry lächelte und blinzelte dem Publikum zu. »Er muß ja gesund werden, Freunde. Wir alle stehen ja auf seiner Seite.«
Utopia mit kleinen Fehlern Eines schönen Tages im Juni betrat ein schlanker, ernsthafter junger Mann die Geschäftsräume des Transstellar-Reisebüros. Dem farbenfrohen Plakat über das Herbstfest auf dem Mars schenkte er keinen Blick. Das riesige Fotowandbild der tanzenden Wälder auf Triganium blieb unbeachtet. Er ignorierte das ein wenig zweideutige Gemälde der Dämmerungsriten auf Opiuchus II und trat an den Schalter. »Ich möchte eine Reise nach Tranai buchen«, verkündete der junge Mann. Der Angestellte klappte sein Buch zu und runzelte die Stirn. »Tranai? Tranai? Ist das einer der Monde von Kent IV?« »Nein«, erwiderte der junge Mann. »Tranai ist ein Planet, der um eine Sonne des gleichen Namens rotiert. Ich möchte eine Reise dorthin buchen.« »Nie davon gehört.« Der Angestellte holte einen Sternkatalog und ein Exemplar von ›Stern-Nebenrouten‹ aus dem Regal. »Na bitte«, sagte er schließlich. »Man lernt jeden Tag etwas dazu. Sie wollen eine Reise nach Tranai buchen, Mr. –« »Goodman. Marvin Goodman.« »Goodman. Tja, Tranai scheint so weit von der Erde entfernt zu sein, wie man überhaupt fliegen kann, ohne die Milchstraße zu verlassen. Kein Mensch fährt hin.« »Ich weiß. Können Sie die Reise für mich arrangieren?« fragte Goodman aufgeregt. Der Angestellte schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Nicht einmal die Frachtraketen fliegen so weit.« »Bis wohin könnten Sie vermitteln?« Der Angestellte lächelte gewinnend. »Warum sich soviel Mühe machen? Ich kann Sie auf eine Welt schicken, die alle Vorteile dieses
Tranai bietet, aber leichter zu erreichen ist, günstige Hotels, Ausflüge und billige Preise bietet –« »Ich will nach Tranai«, sagte Goodman grimmig. »Aber es gibt keine Möglichkeit hinzukommen«, erklärte der Angestellte geduldig. »Was erhoffen Sie sich dort eigentlich? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« »Sie können mir helfen, indem Sie mich so weit ver –« »Suchen Sie Abenteuer?« fragte der Angestellte, nachdem er Goodmans wenig athletische Gestalt in Augenschein genommen hatte. »Lassen Sie sich Africanus II empfehlen, eine Frühzeit-Welt voll wilder Stämme, Säbelzahntiger, menschenfressender Farne, Flugsand, aktiver Vulkane, Pterodaktylen und so weiter. Abflug von Expeditionen alle fünf Tage ab New York. Sie verbinden nicht zu überbietende Gefahren mit absoluter Sicherheit. Ein Dinosaurierschädel garantiert, andernfalls bekommen Sie Ihr Geld zurück.« »Tranai«, sagte Goodman. »Hmm.« Der Angestellte betrachtete prüfend Goodmans schmale Lippen und strenge Augen. »Vielleicht sind Sie der puritanischen Beschränkungen unserer Erde überdrüssig? Dann empfehle ich eine Reise nach Almagordo III, der Perle des südlichen Gürtels. Unsere zehntägige Pauschalreise schließt eine Fahrt in die geheimnisvolle Kasba von Almagordo ein, den Besuch von acht Nachtlokalen – wobei der erste Drink stets auf unsere Rechnung geht –, einen Abstecher zu einer Zintal-Fabrik, wo Sie echte Zintal-Gürtel, -Schuhe und -Geldbörsen billig erstehen können, sowie Besichtigungen von zwei Destillerien. Die Mädchen Almagordos sind schön, gefällig und von reizvoller Naivität. Den Touristen sehen sie als das höchststehende und begehrenswerteste menschliche Wesen an. Außerdem –« »Tranai«, wiederholte Goodman eigensinnig. »Wie weit können Sie mich vermitteln?« Mürrisch zog der Angestellte einen langen Streifen Flugkarten aus der Maschine. »Sie können die ›Constellation Queen‹ bis Legis II nehmen und dort in die ›Galactic Splendor‹ umsteigen, die Sie nach Oumé bringt. Dann müssen Sie auf ein einheimisches Fahrzeug überwechseln, mit dem
Sie über die Stationen Machang, Inchang, Pankang, Lekung und Oyster bis Tung-Bradar IV gelangen, wenn es nicht unterwegs auseinanderfällt. Ein Non-Sked wird Sie vorbei am galaktischen Wirbel – wenn es vorbeikommt – nach Aloomsridgia schaffen, und von dort aus transportiert Sie das Postschiff nach Bellismoranti. Ich glaube, daß das Postschiff noch funktioniert. Dann haben Sie etwa die Hälfte des Weges hinter sich. Sie müssen sich von dort aus auf eigene Faust durchschlagen.« »Gut«, sagte Goodman. »Können Sie die Formulare bis heute nachmittag fertigmachen?« Der Angestellte nickte. »Mr. Goodman«, fragte er mit dem Mut der Verzweiflung, »was soll denn dieses Tranai überhaupt sein?« Goodman lächelte strahlend. »Ein Utopia«, sagte er. Marvin Goodman hatte beinahe sein ganzes bisheriges Leben in Seakirk, New Jersey, verbracht: in einer Stadt, die fünfzig Jahre hindurch von dem einen oder anderen Parteiboß kontrolliert worden war. Die meisten Einwohner Seakirks scherten sich wenig um die Korruption in allen Schichten, um die Spielhöllen, die Bandenkriege, den Ausschank von Alkohol an Jugendliche. Sie waren es gewöhnt, ihre Straßen zerfallen, die uralten Wasserleitungen platzen, die E-Werke versagen, die baufälligen alten Häuser einstürzen zu sehen, während die Bosse von Jahr zu Jahr größere Paläste, längere Schwimmbecken und wärmere Stallungen bauten. Die Leute hatten sich daran gewöhnt. Nur Goodman nicht. Als geborener Kreuzzügler schrieb er enthüllende Artikel, die nie veröffentlicht wurden, schrieb Briefe an den Kongreß, die niemand las, setzte sich für ehrenhafte Kandidaten ein, die keiner wählte, und organisierte die Liga für kommunale Verbesserungen, den Bund gegen das Gangsterunwesen, die Bürgerunion für eine unbestechliche Polizei, die Vereinigung gegen das Glücksspiel, das Komitee für die Gleichberechtigung der Frauen bei der Berufswahl, und ein Dutzend ähnlicher Gemeinschaften.
Er erreichte nichts damit. Die Gleichgültigkeit der Menschen war zu groß. Die Politikaster lachten ihn aus, und Goodman konnte es nicht ertragen, ausgelacht zu werden. Zu allem Unglück zog ihm seine Verlobte einen lärmenden jungen Mann in auffälligem Sportsakko vor, einen Menschen, der außer einer Mehrheitsbeteiligung an der großen Baufirma Seakirks keine Vorzüge aufzuweisen hatte. Dieser Schlag traf ihn schwer. Die junge Dame schien von der Tatsache, daß die Baufirma dem von ihr hergestellten Beton unverhältnismäßig viel Sand beimischte und an den Stahlträgern tonnenweise Material einsparte, nicht beeindruckt. »Na und, Marvie? So geht das eben. Man muß realistisch sein«, pflegte sie sich auszudrücken. Goodman hatte nicht die Absicht, realistisch zu sein. Auf der Stelle verfügte er sich in Eddies Moonlight-Bar, wo er zwischen den Drinks die Vorzüge einer Grashütte in der grünen Venus-Hölle einer Prüfung zu unterziehen begann. Ein großer, breitschultriger Mann mit scharfgeschnittenem Gesicht betrat das Lokal. Goodman konnte an seinem Gang, seiner Blässe, seinen Strahlungsnarben und den durchdringenden grauen Augen erkennen, daß er einen Raumfahrer vor sich hatte. »Einen Tranai-Spezial, Sam«, bestellte der alte Raumfahrer bei dem Barmann. »Kommt sofort, Captain Savage, Sir«, sagte der Barmann. »Tranai?« murmelte Goodman unwillkürlich. »Tranai«, sagte der Captain. »Nie was davon gehört, wie?« »Nein, Sir«, gestand Goodman. »Na, Sonny«, meinte Captain Savage, »ich bin heute ziemlich gesprächig, drum will ich Ihnen eine Geschichte vom gesegneten Tranai, draußen jenseits des galaktischen Wirbels, erzählen.« Die Augen des Captains sahen in die Ferne, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Wir waren damals eiserne Männer in stählernen Schiffen. Ich und Johnny Cavanaugh und Frog Larsen hätten für eine Ladung Terganium sogar die Hölle in die Luft gesprengt. Und ob. Damals kam bei der Raumfahrt noch jeder dritte ums Leben, und der Geist von Big Dan
McClintock erschien jedem Schiff. Moll Gann betrieb die Red RoosterBar auf dem Asteroiden 342 AA und verlangte 500 Dollar für ein Glas Bier; sie bekam sie, weil es im Umkreis von zwanzig Milliarden Kilometern kein Lokal gab. Damals trieben noch die Skarbies ihr Unwesen, und die Schiffe nach Podengum mußten einen Riesenumweg machen. Sie können sich also vorstellen, wie ich mir vorkam, als ich eines Tages auf Tranai stieß.« Goodman lauschte hingerissen, als der alte Captain ein Bild der ruhmreichen Tage zeichnete, zerbrechliche Schiffe gegen einen eisernen Himmel, Schiffe, die hinaus, immer weiter hinaus zu den fernen Grenzen der Galaxis flogen. Und dort, am Rande des großen Nichts, war Tranai. Tranai, wo man den richtigen Weg gefunden hatte, wo die Menschen nicht mehr ans Tretrad des Lebens angeschmiedet waren! Tranai, eine friedliche, schöpferische, glückliche Gesellschaft, keine Heiligen und Asketen, keine Intellektuellen, sondern einfache Leute, die Utopia geschaffen hatten. Eine ganze Stunde berichtete Captain Savage von den vielfältigen Wundern Tranais. Dann beklagte er sich über die Trockenheit seiner Kehle. Goodman bestellte ihm einen weiteren Tranai-Spezial und für sich auch einen. Während er das exotische, grünlichgraue Gemisch schlürfte, verlor sich auch Goodman in diesen Traum. Schließlich fragte er leise: »Warum kehren Sie nicht zurück, Captain?« – Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Weltraumgicht. Ich kann nicht mehr fliegen. Wir hatten von moderner Medizin damals keine Ahnung. Jetzt tauge ich nur noch für einen Job am Boden.« »Was für eine Stellung haben Sie denn?« »Ich bin Vorarbeiter bei der Seakirk Bau GmbH«, seufzte der Alte. »Dabei habe ich einmal einen Fünfzig-Kammer-Clipper befehligt. Wie diese Leute hier Beton machen… Trinken wir noch einen Kleinen – zu Ehren Tranais?« Sie tranken mehrere Kleine. Als Goodman das Lokal verließ, war sein Entschluß gefaßt. Irgendwo im Universum hatte man den Modus
vivendi gefunden: den Schlüssel zum alten Traum des Menschen von der Vollkommenheit. Mit weniger konnte er sich nicht zufriedengeben. Am nächsten Tag gab er seine Stellung in der East Coast Roboterfabrik auf und hob seine Ersparnisse ab. Er mußte nach Tranai. Er ging an Bord der ›Constellation Queen‹, flog nach Legis II und nahm von dort aus die ›Galactic Splendor‹ nach Oumé. Über die Stationen Machang, Inchang, Pankang, Lekung und Oyster erreichte er Tung-Bradar IV. Ohne Zwischenfälle kam er am galaktischen Wirbel vorbei und erreichte schließlich Bellismoranti, wo der Einfluß von Terra endete. Gegen riesiges Honorar schaffte ihn eine einheimische Raumfahrtlinie nach Dvasta II. Von dort aus transportierte ihn ein Frachtschiff vorbei an Seves, Olgao und Mi zum Doppelplaneten Mvanti. Dort blieb er drei Monate hängen. Er benützte die freie Zeit dazu, einen hypnovädischen Kurs in der Tranai-Sprache zu nehmen. Schließlich mietete er einen Piloten, der ihn nach Deng brachte. Auf Deng wurde er als higastomeritreischer Spion verhaftet, aber im Frachtraum einer Erzrakete nach g’Moree gelang ihm die Flucht. Auf g’Moree behandelte man seine Erfrierungen, die Wärmevergiftung und oberflächliche Strahlungsverbrennungen. Endlich gelang es ihm, einen Flug nach Tranai zu buchen. Er vermochte es kaum zu glauben, als sein Schiff, an den Monden Doé und Ri vorbeiglitt und zur Landung in Port Tranai ansetzte. Als sich die Luftschleusen geöffnet hatten, stellte Goodman bei sich einen Zustand tiefster Depression fest. Zum Teil beruhte er auf Ernüchterung, bei einer derartigen Reise unvermeidlich. Aber er fürchtete auch, Tranai könnte sich plötzlich als Fata Morgana entpuppen. Er hatte allein auf die Geschichte eines alten Raumfahrers hin die ganze Milchstraße durchquert. Jetzt schien alles viel weniger wahrscheinlich. Eher würde er das wahre Eldorado als ein Tranai finden, wie er es sich vorstellte.
Er stieg aus. Port Tranai machte einen recht angenehmen Eindruck. Die Straßen waren voll von Leuten, in den Geschäften türmte sich die Ware. Die Männer, denen er begegnete, sahen aus wie Menschen anderswo auch. Die Frauen wirkten reizvoll. Aber irgend etwas kam ihm merkwürdig vor, irgend etwas störte, ja, wirkte fremdartig. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er dahinterkam. Dann wurde ihm klar, daß auf jede Frau, die zu sehen war, mindestens zehn Männer kamen. Eigenartiger noch: alle Frauen, die er zu sehen bekam, waren anscheinend unter Achtzehn oder über Fünfunddreißig. Was war mit der Altersgruppe 19 bis 35 geschehen? Gab es ein Tabu, das ihr Erscheinen in der Öffentlichkeit verbot? Hatte eine Seuche sie hinweggerafft? Er mußte zunächst abwarten. Er ging zum Idrig-Gebäude, wo alle Regierungsfunktionen Tranais ausgeübt wurden, und stellte sich im Büro des Ministers für Außerirdische Angelegenheiten ein. Man ließ ihn sofort vor. Das Büro war klein und überladen; an den Tapeten entdeckte Goodman seltsame blaue Flecken. Außerdem fiel ihm sofort ein Gewehr in die Augen, das – komplett mit Schalldämpfer und Zielfernrohr – an einer Wand hing. Es blieb ihm keine Zeit, Spekulationen darüber anzustellen, denn der Minister sprang auf und schüttelte Goodman erfreut die Hand. Der Minister war ein dicker, fröhlicher Mann um die Fünfzig. Um den Hals trug er ein kleines Medaillon mit dem Siegel Tranais – einem Blitz, der eine Ähre spaltete. Goodman nahm zu Recht an, daß es sich um eine Amtskette handelte. »Willkommen auf Tranai«, sagte der Minister mit überströmender Herzlichkeit. Er warf einen Stoß Dokumente von einem Stuhl und bot ihn Goodman an. »Mr. Minister –«, begann Goodman förmlich auf Tranaisch. »Den Melith heiße ich. Nennen Sie mich Den. Wir legen hier auf das Formelle wenig Wert. Legen Sie die Beine auf den Schreibtisch, und machen Sie es sich bequem. Zigarre?« »Nein, vielen Dank«, sagte Goodman etwas verwirrt. »Mister – äh – Den, ich komme von Terra, einem Planeten, von dem Sie vielleicht schon gehört haben?«
»Aber gewiß«, meinte Melith. »Nervöse, unruhige Gegend, nicht wahr? Das ist selbstverständlich nicht böse gemeint.« »Natürlich nicht. Im übrigen entspricht das genau meiner Meinung. Der Grund für mein Erscheinen hier –« Goodman zögerte. Hoffentlich klangen seine Worte nicht zu albern. »Nun, ich habe einiges über Tranai gehört. Wenn ich so darüber nachdenke, kommt es mir lächerlich vor. Aber falls Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie gern fragen –« »Fragen Sie, was Sie wollen«, meinte Melith großzügig. »Sie bekommen offene Antworten.« »Das freut mich. Ich habe gehört, daß es seit vierhundert Jahren hier auf Tranai keinen Krieg mehr gegeben hat.« »Seit sechshundert Jahren«, korrigierte Melith. »Und weit und breit keiner in Sicht.« »Jemand erzählte mir, daß es auf Tranai keine Verbrechen gibt.« »Nicht das geringste.« »Und deshalb auch keine Polizei, keine Gerichte, keine Richter, Sheriffs, Henker oder Ermittlungsbeamte der Regierung. Keine Gefängnisse, Besserungsanstalten oder andere Verwahrungsinstitute.« »Wir brauchen sie nicht«, erklärte Melith, »da wir ja keine Verbrechen haben.« »Ich habe erfahren, daß es auf Tranai keine Armut gibt«, fuhr Goodman fort. »Ich habe noch nie von einem Fall von Armut gehört«, meinte Melith fröhlich. »Wollen Sie nicht doch eine Zigarre?« »Nein, danke.« Goodman beugte sich vor. »Soviel ich höre, haben Sie eine stabile Wirtschaft, ohne zu sozialistischen, kommunistischen, faschistischen oder bürokratischen Maßnahmen greifen zu müssen.« »Gewiß«, sagte Melith. »Bei Ihnen handelt es sich demgemäß um eine Wirtschaft des freien Wettbewerbs, in der die Privatinitiative gedeiht und die Verwaltungsfunktionen auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt werden.«
Melith nickte. »Im großen und ganzen beschäftigt sich die Regierung mit nebensächlichen Ordnungsangelegenheiten, ferner mit der Versorgung der alten Leute und der Verschönerung der Landschaft.« »Trifft es zu, daß Sie eine Methode der Vermögensstreuung entdeckt haben, die ausschließlich auf persönlicher Wahl beruht und jede Einflußnahme der Regierung, ja sogar jede Besteuerung entbehren kann?« »O ja, gewiß.« »Trifft es zu, daß es zu keiner Zeit in der tranaischen Regierung Korruption gegeben hat?« »Voll und ganz«, antwortete Melith. »Das ist wohl auch die Ursache dafür, daß wir nur sehr schwer Leute finden, die ein öffentliches Amt übernehmen wollen.« »Dann hatte Captain Savage also recht!« rief Goodman, der sich nicht länger zu beherrschen vermochte. »Das ist Utopia!« »Uns gefällt es«, meinte Melith. Goodman atmete tief und fragte: »Darf ich hierbleiben?« »Warum denn nicht?« Melith zog ein Formular aus der Schublade. »Wir beschränken die Einwanderung nicht. Welchen Beruf üben Sie aus?« »Auf der Erde war ich Roboter-Konstrukteur.« »Auf diesem Gebiet gibt es viele offene Stellen.« Melith begann das Formular auszufüllen. Sein Federhalter produzierte einen Tintenklecks. Ungerührt warf der Minister den Federhalter an die Wand, wo er zerbrach, einen weiteren blauen Fleck hinterlassend. »Wir füllen das Formular ein andermal aus«, sagte er. »Jetzt bin ich nicht in Stimmung.« Er lehnte sich im Sessel zurück. »Ich möchte Ihnen einen Rat geben. Hier auf Tranai sind wir der Ansicht, daß wir Utopia, wie Sie es nennen, ziemlich nahegekommen sind. Aber unser Staat ist nicht durchorganisiert. Wir haben keine komplizierten Gesetzessammlungen. Wir leben unter Beachtung einer Anzahl ungeschriebener Gesetze oder Gewohnheiten, wie man sie auch nennen könnte. Sie werden entdecken, worum es sich im einzelnen handelt. Es dürfte sich empfehlen, sie zu beachten, wenngleich es Ihnen niemand befehlen wird.«
»Selbstverständlich bin ich dazu bereit«, rief Goodman. »Ich kann Ihnen versichern, Sir, daß ich nicht die Absicht habe, hier als Störenfried zu wirken.« »Oh, ich habe mir eigentlich weniger um uns Sorgen gemacht«, meinte Melith heiter. »Ich dachte an Ihre Sicherheit. Vielleicht kann Ihnen meine Frau weitere Ratschläge geben.« Er drückte auf eine große rote Taste auf seinem Schreibtisch. Augenblicklich bildete sich ein bläulicher Nebel. Der Nebel wurde dichter, und kurz darauf sah Goodman eine schöne junge Frau vor sich stehen. »Guten Morgen, mein Lieber«, sagte sie zu Melith. »Es ist Nachmittag«, teilte ihr Melith mit. »Meine Liebe, dieser junge Mann hier hat den weiten Weg von der Erde bis zu uns zurückgelegt, um auf Tranai zu leben. Ich habe ihm den üblichen Rat gegeben. Können wir sonst noch etwas für ihn tun?« Mrs. Melith überlegte einen Augenblick, dann fragte sie Goodman: »Sind Sie verheiratet?« »Nein«, erwiderte Goodman. »In diesem Fall sollte er ein nettes Mädchen kennenlernen«, erklärte Mrs. Melith ihrem Mann. »Auf Tranai wird das Junggesellentum nicht gerne gesehen, wenn es auch nicht verboten ist. Laß mich mal nachdenken… wie wäre es mit der entzückenden kleinen Driganti?« »Sie ist verlobt.« »Tatsächlich? War ich denn so lange in der Stasis? Mein Lieber, das ist aber nicht sehr rücksichtsvoll von dir.« »Ich hatte zu tun«, entschuldigte sich Melith. »Was meinst du zu Mihna Vensis?« »Nicht sein Typ.« »Janna Vley?« »Ausgezeichnet!« Melith blinzelte Goodman zu. »Eine sehr anziehende junge Dame.« Er fand einen neuen Federhalter in seiner Schublade, kritzelte eine Adresse und reichte Goodman den Zettel. »Meine Frau wird sie anrufen und ihr sagen, daß Sie morgen abend kommen.«
»Und lassen Sie sich doch einmal zum Abendessen bei uns sehen«, sagte Mrs. Melith. »Sehr gern«, erwiderte Goodman, aus seiner Betäubung erwachend. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte Mrs. Melith. Ihr Mann drückte auf die rote Taste. Der blaue Nebel wallte auf, und Mrs. Melith verschwand. »Ich muß jetzt Schluß machen«, sagte Melith und warf einen Blick auf seine Uhr. »Überstunden sind nicht gut – die Leute fangen gleich zu tuscheln an. Kommen Sie irgendwann einmal vorbei, dann füllen wir die Formulare aus. Sie sollten übrigens wirklich den Höchsten Präsidenten Borg im Nationalhaus besuchen. Möglicherweise besucht er Sie. Lassen Sie sich von dem alten Fuchs zu nichts überreden. Und vergessen Sie die Verabredung mit Janna nicht.« Er blinzelte heftig und begleitete Goodman zur Tür. Wenige Augenblicke später stand Goodman allein auf dem Gehsteig. Er hatte Utopia erreicht, sagte er sich, ein echtes, untrügerisches Utopia. Aber manches daran war doch sehr verwirrend. Goodman aß in einem kleinen Restaurant zu Abend und mietete sich in einem nahe gelegenen Hotel ein. Ein fröhlicher Page führte ihn zu seinem Zimmer, wo sich Goodman, der etwas erschöpft war, auf dem Bett ausstreckte. Müde rieb er sich die Augen, während er versuchte, die Eindrücke des Tages zu ordnen. Er hatte so viel erlebt, in diesen wenigen Stunden. Und so vieles beunruhigte ihn. Das Zahlenverhältnis Männer-Frauen zum Beispiel. Er hatte Melith eigentlich danach fragen wollen. Aber Melith war vielleicht nicht der richtige Mann für solche Fragen, denn er hatte doch ein paar merkwürdige Züge. Schleuderte der Minister da Federhalter an die Wand! Ließ sich das bei einem gereiften, verantwortlichen Beamten vertreten? Und Meliths Frau… Goodman wußte, daß Mrs. Melith aus einem Derrsin-Stasis-Feld gekommen war; er hatte den charakteristischen blauen Nebel erkannt. Auch auf Terra benützte man Derrsin. Manchmal gab es gute medizinische Gründe für die Aufhebung aller Aktivität, allen Wachsens,
allen Verfalls. Man brauchte nur an einen Patienten zu denken, der ein bestimmtes Serum benötigte, das nur auf dem Mars zu beschaffen war. Eine solche Person versetzte man in Stasis, bis das Serum eintraf. Aber auf der Erde durfte nur ein approbierter Arzt das Feld verwenden. Auf Mißbrauch standen strenge Strafen. Er hatte nie gehört, daß man seine Frau in ein solches Feld versetzte. Immerhin, wenn alle Frauen auf Tranai in der Stasis gehalten wurden, erklärte das die Abwesenheit der Altersgruppe 19-35 und auch das zahlenmäßige Mißverhältnis zwischen Männern und Frauen in der Öffentlichkeit. Aber welchen Grund gab es für diese Maßnahme? Noch etwas bedrängte Goodman, etwas völlig Nebensächliches, aber trotzdem Beunruhigendes. Dieses Gewehr an der Wand von Meliths Büro. Jagte er damit? Dann mußte es sich um ziemlich großes Wild handeln. Schießübungen? Aber doch nicht mit Teleskop. Wozu der Schalldämpfer? Warum bewahrte er das Gewehr in seinem Büro auf? Aber das waren Nebensächlichkeiten, entschied Goodman, kleine lokale Eigenheiten, die sich aufklären würden, wenn er erst einmal eine Weile auf Tranai lebte. Er konnte auf einem fremden Planeten schließlich nicht von Anfang an alles verstehen. Er begann eben einzudösen, als jemand an seine Tür klopfte. »Herein«, rief Goodman. Ein kleiner, blasser Mann hastete herein und schloß die Tür hinter sich. »Sie sind der Terraner, nicht wahr?« »Allerdings.« »Ich dachte mir schon, daß Sie hierherkommen würden«, meinte der kleine Mann erfreut. »Auf Anhieb richtig geraten. Werden Sie auf Tranai bleiben?« »Für immer.« »Wunderbar«, sagte der andere. »Wie würde es Ihnen gefallen, Höchster Präsident zu werden?« – »Wie bitte?« »Gute Bezahlung, angenehme Arbeitszeit, Amtsdauer nur ein Jahr. Sie scheinen mir Gemeinsinn zu besitzen«, erklärte der Mann fröhlich. »Wie wär’s?«
Goodman wußte nicht, was er sagen sollte. »Soll das heißen, daß Sie das höchste Amt im Land derart beiläufig anzubieten pflegen?« »Was meinen Sie mit beiläufig?« erregte sich der kleine Mann. »Glauben Sie etwa, wir bieten die Höchste Präsidentschaft jedem xBeliebigen an? Es ist eine große Ehre, dieses Amt angetragen zu bekommen.« »Ich wollte Sie nicht –« »Und Sie als Terraner sind hervorragend geeignet dafür.« »Wieso?« »Nun, es ist doch allgemein bekannt, daß die Terraner am Herrschen Vergnügen haben. Wir Tranais nicht. Wir finden es zu anstrengend.« So einfach war das. Goodmans Reformerblut begann sich zu erhitzen. So ideal Tranai auch sein mochte, Raum für Verbesserungen gab es immer. Er sah sich bereits als Herrscher von Utopia, befaßt mit der gigantischen Aufgabe, die Perfektion noch zu vervollkommnen. Aber angeborene Vorsicht hielt ihn davor zurück, sofort zuzustimmen. Vielleicht war sein Besucher ein Verrückter. »Vielen Dank für Ihr Angebot«, sagte Goodman. »Ich muß es mir überlegen. Vielleicht sollte ich mit dem derzeitigen Amtsinhaber sprechen, um einiges über seine Arbeit zu erfahren.« »Was glauben Sie denn, warum ich hier bin?« fragte der andere. »Ich bin der Höchste Präsident Borg.« Erst jetzt bemerkte Goodman das Amtsmedaillon um den Hals seines Besuchers. »Geben Sie mir Bescheid. Ich bin im Nationalhaus zu finden.« Er drückte Goodman die Hand und ging. Goodman wartete fünf Minuten, dann läutete er dem Pagen. »Wer war dieser Mann?« »Das war der Höchste Präsident Borg«, erwiderte der Page. »Haben Sie die Stellung angenommen?« Goodman schüttelte langsam den Kopf. Plötzlich war ihm klargeworden, daß er hier noch eine Menge zu lernen hatte.
Am nächsten Morgen stellte Goodman eine alphabetische Liste aller Roboterfabriken Port Tranais zusammen und machte sich auf Stellungssuche. Zu seinem Erstaunen fand er gleich beim allerersten Werk mühelos einen Posten. Die Abbag-Heimroboter-Fabrik stellte ihn nach oberflächlicher Prüfung seiner Referenzen ein. Sein neuer Arbeitgeber, Mr. Abbag, war ein kleiner Mann mit grimmigem Gesicht, schlohweißem Haar und energischem Auftreten. »Freut mich, einen Terraner hier zu haben«, sagte Abbag. »Wie man hört, seid ihr einfallsreiche Leute, und das können wir hier brauchen. Um ganz offen zu sein, Goodman – ich hoffe, gerade durch Ihren völlig fremden Standpunkt zu profitieren. Wir stecken in einer Sackgasse.« »Handelt es sich um ein Produktionsproblem?« erkundigte sich Goodman. »Kommen Sie mit.« Abbag führte Goodman durch die Fabrik – Stanzsaal, Glühkammer, Röntgenanalyse, Endmontage – bis zum Testraum. Er war wie eine Wohnküche eingerichtet. An einer Wand standen zwölf Roboter. »Probieren Sie einen davon aus«, sagte Abbag. Goodman trat zu einem der Roboter und betrachtete die Steuerung. Sie war einfach genug; man kam ohne Bedienungsanweisung aus. Er ließ die Maschine die üblichen Arbeiten verrichten: Gegenstände aufheben, Pfannen und Töpfe spülen, einen Tisch decken. Der Roboter reagierte richtig, aber mit nervenaufreibender Langsamkeit. Auf der Erde hatte man diese Art von Schwerfälligkeit schon vor hundert Jahren restlos beseitigt. Anscheinend hinkte man hier auf Tranai hinter der Zeit her. »Mir kommt er ziemlich langsam vor«, meinte Goodman vorsichtig. »Da haben Sie recht«, erwiderte Abbag. »Er ist verdammt langsam. Mir persönlich würde er so genügen. Aber die Marktforschung zeigt, daß unsere Kunden größere Langsamkeit wünschen.« »Wie?« »Albern, nicht wahr?« meinte Abbag bedrückt. »Wir zahlen drauf zu, wenn wir weiter verlangsamen. Sehen Sie sich einmal das Innere an.« Goodman öffnete die Tür im Rücken des Roboters und starrte das Gewirr von Drähten erstaunt an.
Nach kurzer Überlegung fand er sich zurecht. Der Roboter war wie die modernen Exemplare auf der Erde mit den üblichen billigen superschnellen Stromkreisen ausgestattet. Zusätzlich hatte man Signalverzögerungsrelais, Impuls-Widerstände und VerzerrungsSchaltungen einbauen müssen. »Jetzt sagen Sie mir bloß, wie wir das Ding noch mehr verlangsamen können, ohne es um ein Drittel zu vergrößern und um das Doppelte zu verteuern?« fragte Abbag wütend. »Ich weiß wirklich nicht mehr, welche Art von Verbesserung man noch verlangen wird.« Goodman bemühte sich, sein Denken an das Konzept der Verschlechterung einer Maschine zu gewöhnen. Auf der Erde lag den Fabriken daran, Roboter mit immer schnellerer, genauerer Reaktionsfähigkeit zu bauen. Er hatte nie Ursache gehabt, am Sinn dieses Bemühens zu zweifeln. Auch jetzt nicht. »Und als ob das noch nicht genug wäre«, beklagte sich Abbag, »scheint der neue, für dieses Modell entwickelte Kunststoff katalysiert zu sein. Passen Sie auf.« Er holte mit dem Bein aus und versetzte dem Roboter einen gewaltigen Tritt. Der Kunststoff verbog sich wie dünnes Blech. Abbag stieß wieder zu. Der Kunststoff bekam eine noch tiefere Einbuchtung, und der Roboter begann pathetisch zu rasseln. Ein dritter Fußtritt zerschmetterte das Gehäuse. Die inneren Bestandteile des Roboters explodierten auf spektakuläre Weise und verstreuten sich rings auf dem Boden. »Reichlich schwach«, meinte Goodman. »Nicht schwach genug. Er muß beim ersten Tritt auseinanderfallen. Unsere Kunden empfinden keine Befriedigung, wenn sie sich den ganzen Tag an so einem Ding die Zehen prellen. Nun sagen Sie mir, wie ich einen Kunststoff produzieren soll, der dem üblichen Verschleiß standhält – wir wollen schließlich nicht daß die Apparate von selbst auseinanderfallen –, der aber sofort nachgibt, sobald ein Kunde das wünscht?«
»Einen Augenblick mal«, protestierte Goodman. »Sie verlangsamen absichtlich diese Roboter, damit sich die Leute so ärgern, daß sie sie zerstören?« Abbag zog die Brauen hoch. »Selbstverständlich.« »Und warum?« »Sie sind wirklich neu hier«, meinte Abbag. »Jedes Kind weiß das doch.« »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es mir erklären würden.« Abbag seufzte. »Nun, Sie wissen doch zweifellos, daß jede mechanische Vorrichtung eine Quelle des Ärgers ist. Der Mensch und die ihm verwandten Wesen sind mit tiefem, unauslöschlichem Mißtrauen gegen Maschinen erfüllt. Die Psychologen nennen das die instinktive Reaktion des Lebens auf das Pseudo-Leben. Gehen Sie darin mit mir einig?« Marvin Goodman entsann sich der Dinge, die er über rebellierende Maschinen, kybernetische Gehirne als Weltmachthaber, Androiden auf dem Vormarsch und so weiter gelesen hatte. Er dachte an humoristische kleine Zeitungsnotizen über Leute, die ihre Fernsehapparate erschossen, Brotröster an die Wand gefeuert, ›Rache‹ an ihren Autos genommen hatten. Er erinnerte sich an die vielen Roboterwitze mit ihrem Unterton echter Feindseligkeit. »Da bin ich Ihrer Meinung«, bestätigte Goodman. »Dann gestatten Sie, daß ich den Satz umformuliere«, sagte Abbag pedantisch. »Jede Maschine ist eine Ärgerquelle. Je besser eine Maschine arbeitet, desto größer der Ärger. Eine fehlerlos arbeitende Maschine ist demnach der Brennpunkt für Verkrampfungen, für den Verlust des Selbstvertrauens, für ungezielten Groll –« »Moment mal!« warf Goodman ein. »So weit kann ich nicht gehen!« »– und schizophrener Phantasien«, fuhr Abbag ungerührt fort. »Eine fortgeschrittene Wirtschaft kann aber ohne Maschinen nicht auskommen. Die beste Lösung im menschlichen Sinne besteht daher – in der Verwendung versagender Maschinen.« »Das kann ich keinesfalls unterschreiben.« »Ergibt sich das nicht von selbst? Auf Terra funktionieren Ihre Apparate nahe den Höchstgrenzen, wobei sie in den Leuten, die damit
umgehen, Minderwertigkeitskomplexe hervorrufen. Unglücklicherweise besteht bei Ihnen ein Tabu gegen die Zerstörung von Maschinen. Ergebnis? Allgemeine Angst in Gegenwart der sakrosankten und unmenschlich tüchtigen Maschine und Suche nach einem Angriffsobjekt; normalerweise ist das die Ehefrau oder ein Freund. Ein sehr unerfreulicher Zustand. Oh, in Roboterstunden-Produktion ausgedrückt, ergibt sich zweifellos eine beachtliche Leistung, aber Gesundheit und Wohlergehen der Leute erleiden dabei schwere Schäden.« »Ich bin nicht überzeugt –« »Der Mensch ist ein Wesen voller Angst. Hier auf Tranai steuern wir die Angst auf dieses eine Ziel und lassen es gleichzeitig als Ventil für andere Verkrampfungen fungieren. Ein Mann hat genug – peng! Er tritt seinen Roboter in Stücke. Sofort geht eine heilende Entlastung vor sich, ein wertvolles und echtes Gefühl der Überlegenheit gegenüber bloßer Maschinerie macht sich geltend, die allgemeine Anspannung läßt nach, der Adrenalin-Spiegel sinkt, und außerdem fördert die Zerstörung des Roboters die Industrieproduktion Tranais, denn der Mann wird einen neuen Roboter kaufen. Und was hat er letzten Endes getan? Er hat seine Frau nicht mißhandelt, keinen Krieg erklärt, nicht Selbstmord begangen, keine neue Waffe erfunden oder sich mit irgendeiner der anderen, gebräuchlicheren Aggressions-Verarbeitungs-Methoden befaßt. Er hat ganz einfach einen billigen Roboter zerschmettert, den er sofort ersetzen kann.« »Ich brauche wahrscheinlich eine Weile, bis ich das begreife«, gab Goodman zu. »Natürlich. Ich bin überzeugt davon, daß Sie hier wertvolle Arbeit leisten können, Goodman. Denken Sie über meine Worte nach, und versuchen Sie eine billige Methode zur Entverbesserung dieser Roboter zu finden.« Goodman überdachte das Problem den ganzen restlichen Tag, aber er konnte sein Denken nicht so schnell auf die Idee der Herstellung einer minderwertigen Maschine ausrichten. Irgendwie kam ihm das wie eine Blasphemie vor. Er beendete die Arbeit um halb sechs Uhr, unzufrieden mit sich selbst, aber entschlossen, Besseres zu leisten – oder Schlechteres, je nach Standpunkt und Ausbildung.
Nach einem kurzen und einsamen Abendessen beschloß Goodman, Janna Vley seine Aufwartung zu machen. Er wollte den Abend nicht allein mit seinen Gedanken verbringen; in diesem komplizierten Utopia mußte doch etwas Angenehmes, Einfaches und Schlichtes zu finden sein. Vielleicht fand er bei Janna die Antwort. Das Haus der Vleys war nicht sehr weit entfernt, und er entschied sich für einen Spaziergang dorthin. Das entscheidende Problem bestand darin, daß er sein eigenes Utopia in sich trug, und es war schlecht mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Er hatte sich eine ländlich-friedliche Szenerie ausgemalt, einen kleinen Planeten, dessen Bewohner in kleinen, altmodischen Dörfern lebten, in wallenden Roben wandelten und sehr weise, sehr sanft und verständnisvoll waren. Kinder, im goldenen Sonnenschein spielend, junge Leute, auf dem Dorfplatz tanzend… Albern! Er hatte sich ein Gemälde erdacht anstelle einer lebendigen Szene, eine Reihe stilisierter Posen anstelle der Ruhelosigkeit des Lebens. Niemals würden Menschen so leben können, selbst wenn man unterstellen wollte, daß sie Lust dazu hätten. Wenn sie es könnten, wären sie keine Menschen mehr. Er erreichte das Haus der Vleys und blieb unentschlossen stehen. Worauf ließ er sich jetzt ein? Welchen fremdartigen – wiewohl utopischen – Gebräuchen würde er begegnen? Er wandte sich beinahe zum Gehen. Aber die Aussicht auf eine lange Nacht allein in seinem Hotelzimmer besiegte seine Bedenken. Er biß die Zähne zusammen und läutete. Ein rothaariger, untersetzter Mann in mittleren Jahren öffnete die Tür. »Ach, Sie sind sicher der junge Mann von Terra. Janna wird gleich kommen. Bitte, treten Sie doch ein, dann stelle ich Sie meiner Frau vor.« Er führte Goodman in ein hübsch eingerichtetes Wohnzimmer und drückte auf einen roten Knopf an der Wand. Goodman ließ sich vom blauen Derrsin-Nebel diesmal nicht überraschen. Schließlich war es Sache der Tranais, wie sie mit ihren Frauen umgingen.
Eine gutaussehende Frau von etwa achtundzwanzig Jahren stand plötzlich vor ihm. »Meine Liebe, das ist der Terraner, Mr. Goodman«, sagte Vley. »Ich freue mich sehr«, sagte Mrs. Vley. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken geben?« Goodman nickte. Vley deutete auf einen bequemen Stuhl. Augenblicke später brachte Mrs. Vley ein Tablett mit eiskalten Drinks und setzte sich. »Sie sind also von Terra?« sagte Mr. Vley. »Nervöse, unruhige Gegend, nicht wahr? Die Leute immer am Drücker?« »Ja, das kann man wohl sagen«, erwiderte Goodman. »Na, hier wird es Ihnen gefallen. Wir verstehen zu leben.« Auf der Treppe hörte man das Rascheln eines Kleides. Goodman erhob sich. »Mr. Goodman, das ist unsere Tochter Janna«, sagte Mrs. Vley. Goodman entdeckte, daß Jannas Haar von der Farbe der Supernova in Circe war, daß ihre Augen das tiefe, unwahrscheinliche Blau des Herbsthimmels über Algo II hatten, ihre Lippen das zarte Rosa eines Scarsclott-Turner-Düsenstroms, ihre Nase… Aber dann gingen ihm die astronomischen Vergleiche, die hier ja sowieso nicht ganz zu passen schienen, aus. Janna war ein schlankes und erstaunlich hübsches, blondes Mädchen, und Goodman freute sich plötzlich sehr darüber, daß er die Milchstraße durchquert hatte und nach Tranai gekommen war. »Amüsiert euch gut, Kinder«, sagte Mrs. Vley. »Komm nicht allzu spät«, ermahnte Mr. Vley seine Tochter. Genau wie auf der Erde. Der Verabredung fehlte alles Exotische. Sie gingen in einen nicht sehr teuren, gemütlichen Nachtklub, tanzten, tranken ein bißchen und sprachen viel. Goodman stellte erstaunt fest, daß sie sich von Anfang an gut verstanden. Janna stimmte ihm in allem zu. Wie erfrischend, einmal bei einem so hübschen Mädchen auch Intelligenz zu finden! Sie zeigte sich von den Gefahren, die er bei der Durchquerung der Milchstraße auf sich genommen hatte, beeindruckt, ja beinahe überwältigt. Sie hatte immer gewußt, daß die Terraner abenteuerlustige, wenn auch nervöse
Typen waren, aber die Risiken, denen sich Goodman ausgesetzt hatte, übertrafen alles bisher Dagewesene. Sie schauderte, als er vom tödlichen Galaxis-Wirbel berichtete, und lauschte mit großen Augen seinen Erzählungen von den blutdürstigen Skarbies. Die Terraner seien eiserne Männer in stählernen Schiffen und erforschten die Grenzen des großen Nichts, erklärte Goodman. Janna wagte nicht zu sprechen, bis Goodman davon erzählte, daß er in Moll Ganns Red Rooster-Bar auf Asteroid 342 AA fünfhundert TerraDollar für ein Glas Bier bezahlt habe. »Sie müssen aber sehr durstig gewesen sein«, meinte sie nachdenklich. »Nicht besonders«, meinte Goodman. »Das Geld hatte dort draußen einfach nichts zu bedeuten.« »Oh. Aber wäre es nicht besser gewesen, das Geld zu sparen? Eines Tages könnten Sie doch Frau und Kinder –« Sie wurde rot. Goodman sagte gelassen: »Dieser Abschnitt meines Lebens ist vorbei. Ich werde hier auf Tranai heiraten und mich niederlassen.« »Wie schön!« rief sie. Der Abend verlief äußerst erfolgreich. Goodman brachte Janna zu vernünftiger Stunde nach Hause und verabredete sich mit ihr für den nächsten Abend. Von seinen eigenen Geschichten zur Kühnheit angestachelt, küßte er sie auf die Wange. Es schien ihr nichts auszumachen, aber Goodman gab sich damit zufrieden. »Bis morgen also«, sagte sie, lächelte ihn an und schloß die Tür. Wohlgemut machte er sich auf den Heimweg. Janna! Janna! War es möglich, daß er sich schon verliebt hatte? Warum nicht! Liebe auf den ersten Blick, das gab es doch, das bestätigten psycho-physiologische Untersuchungen. Liebe in Utopia! Wie wunderbar, daß er hier auf einem perfekten Planeten das perfekte Mädchen gefunden hatte. Ein Mann löste sich aus den Schatten und vertrat ihm den Weg. Goodman sah, daß er eine schwarze Seidenmaske trug, die nur seine Augen freiließ. Er hatte eine große, gefährlich aussehende Strahlenpistole in der Hand, deren Mündung auf Goodmans Magengegend zielte. »Okay, Freundchen«, sagte der Mann, »her mit dem ganzen Geld.«
»Was?« entfuhr es Goodman. »Sie haben doch gehört. Ihr Geld. Her damit.« »Das können Sie nicht tun«, sagte Goodman, der vor Staunen keinen klaren Gedanken fassen konnte. »Auf Tranai gibt es keine Verbrechen!« »Wer hat denn etwas anderes behauptet?« fragte der Mann ruhig. »Ich verlange lediglich Ihr Geld. Geben Sie es freiwillig heraus, oder muß ich Sie niederschlagen?« »Damit kommen Sie nicht durch! Verbrechen lohnt sich nicht!« »Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte der Mann. Er packte die schwere Waffe fester. »Also gut. Nur keine Aufregung.« Goodman holte seine Brieftasche hervor, die alles enthielt, was er besaß, und überreichte dem maskierten Mann den Inhalt. Der Mann zählte nach und schien beeindruckt. »Besser als erwartet. Danke, Freundchen. Nur schön ruhig bleiben jetzt.« Er hastete durch eine dunkle Gasse davon. Goodman sah sich verzweifelt nach einem Polizisten um, bis ihm einfiel, daß es auf Tranai keine Polizei gab. An der Ecke sah er ein kleines Lokal. Die Neonschrift über dem Eingang verkündete, daß sich hier die ›Kitty-Kat-Bar‹ befand. Goodman eilte hinein. Im Lokal hielt sich nur ein Barmixer auf, der mit ernsthafter Miene Gläser polierte. »Ich bin beraubt worden!« schrie Goodman. »Na und?« sagte der Barmann, ohne aufzusehen. »Aber ich dachte, auf Tranai gibt es keine Verbrechen!« »Gibt es auch nicht.« »Aber ich bin überfallen und beraubt worden.« »Sie müssen neu sein hier«, sagte der Barmann und hob endlich den Kopf, um ihn anzusehen. »Ich bin eben erst von Terra gekommen.« »Terra? Nervöse, unruhige Ge –«
»Ja, ja«, sagte Goodman. Diese stereotype Redewendung ging ihm langsam auf die Nerven. »Wie kann es auf Tranai kein Verbrechen geben, wenn ich beraubt worden bin?« »Das ist doch nicht schwer zu verstehen. Auf Tranai ist der Raub kein Verbrechen.« »Aber Raub ist immer ein Verbrechen!« »Welche Farbe hatte seine Maske?« Goodman dachte einen Augenblick nach. »Schwarz. Schwarze Seide.« Der Barmixer nickte. »Dann war er ein Steuereinnehmer der Regierung.« »Das ist aber eine höchst merkwürdige Art, Steuern einzuziehen«, fauchte Goodman. Der Barmixer stellte vor Goodman einen Tranai-Spezial auf die Theke. »Versuchen Sie, das in bezug auf die allgemeine Wohlfahrt zu sehen. Die Regierung muß Geld haben. Indem es auf diese Weise eingehoben wird, können wir auf eine Einkommensteuer mit all ihren komplizierten Anhängseln verzichten. Auch im Hinblick auf die seelische Gesundheit ist es weitaus besser, Geld in einer kurzen, schmerzlosen Operation zu entnehmen, als dem Bürger zu gestatten, daß er sich das ganze Jahr Sorgen machen darf, ob er die Summe bis zu dem festgelegten Datum beisammen hat.« Goodman leerte sein Glas, und der Barmann lieferte einen zweiten Drink. »Aber ich dachte, die Gesellschaft hier sei auf den Begriffen des freien Willens und der Privatinitiative aufgebaut?« meinte Goodman. »Das trifft auch zu«, erwiderte der Barmann. »Die sowieso schon zurückhaltende Regierung hat dann aber doch wohl dasselbe Recht auf freie Willensentfaltung wie jeder private Bürger, nicht wahr?« Goodman kam damit nicht ganz zurecht; er leerte das zweite Glas. »Kann ich noch einen haben? Ich bezahle, sobald ich kann.« »Schon gut«, meinte der Barmann freundlich und stellte zwei Drinks auf die Theke, einen davon für sich. »Sie haben mich gefragt, welche Farbe seine Maske hatte«, meinte Goodman. »Warum das?«
»Schwarz ist die Farbe der Regierungsmasken. Private Bürger tragen weiße Masken.« »Soll das etwa heißen, daß private Bürger auch Raubzüge unternehmen?« »Ja, gewiß doch! Das ist unsere Methode der Vermögensstreuung. Das Geld wird ohne Einwirkung der Regierung, ja, sogar ohne Besteuerung, gleichmäßig verteilt, ausschließlich auf Grund privater Initiative.« Der Barmixer nickte nachdrücklich. »Und es funktioniert großartig.« Goodman leerte das dritte Glas. »Wenn ich Sie recht verstehe, kann also jeder Bürger einen Strahler nehmen, eine Maske umbinden, hinausgehen und rauben?« »Genau«, sagte der Barmixer. »Innerhalb gewisser Beschränkungen natürlich.« Goodman schnaubte. »Wenn das so geht, kann ich ja auch mitmachen. Könnten Sie mir vielleicht eine Maske und eine Pistole borgen?« Der Barmixer kramte in einem Schrank. »Sie müssen sie aber unbedingt zurückbringen. Das sind Familienerbstücke.« »Ich bringe sie wieder«, versprach Goodman. »Und dann bezahle ich meine Zeche.« Er steckte den Strahler in den Gürtel, setzte die Maske auf und verließ das Lokal. Wenn es auf Tranai so zuging, konnte er sich sehr wohl anpassen. Ihn wagte man zu berauben? Na schön, er würde es ihnen schon zeigen! Er fand eine ausreichend dunkle Straßenecke, kauerte im Schatten nieder und wartete. Kurze Zeit später hörte er Schritte; als er um die Ecke lugte, sah er einen dicken, gutgekleideten Tranai die Straße entlanghasten. Goodman trat ihm in den Weg und krächzte: »Halt, Freundchen!« Der Tranai blieb stehen und betrachtete Goodmans Strahler. »Hmm. Sie benützen einen Drog 3 mit Breitblende, wie? Ziemlich altmodisches Ding. Wie sind Sie zufrieden damit?« »Sehr«, sagte Goodman. »Heraus mit Ihrem –«
»Aber die Abzugsreaktion ist ein bißchen langsam«, meinte der Tranai nachdenklich. »Ich persönlich würde Ihnen eine Mils-SleevenNadelpistole empfehlen. Zufällig bin ich Vertreter der Sleevenwerke. Ich könnte Ihnen im Umtausch einen sehr guten Preis –« »Rücken Sie Ihr Geld heraus«, knurrte Goodman. Der dicke Tranai lächelte. »Der entscheidende Defekt Ihres Drog 3 ist, daß er überhaupt nicht funktioniert, wenn man die Sicherung nicht umlegt.« Er schlug Goodman die Waffe aus der Hand. »Sehen Sie? Das hätten Sie niemals verhindern können.« Er begann sich zu entfernen. Goodman hob den Strahler auf, legte die Sicherung um und rannte dem Tranai nach. »Hände hoch!« befahl er verzweifelt. »Nein, nein, mein Guter«, sagte der Tranai, ohne sich umzusehen. »Pro Kunde nur ein Versuch. Das ungeschriebene Gesetz darf nicht verletzt werden, wissen Sie.« Goodman blieb stehen und sah ihm nach, bis er um eine Ecke verschwand. Er überprüfte den Drog 3 sorgfältig und stellte fest, daß alle Sicherungen abgeschaltet waren. Dann begab er sich wieder auf seinen Posten. Nachdem er eine Stunde gewartet hatte, hörte er wieder Schritte. Er packte die Waffe fester. Diesmal würde er einen Raub begehen, und niemand sollte ihn daran hindern. »Okay, Freundchen«, sagte er, »Hände hoch!« Diesmal war ein kleiner, untersetzter Tranai in abgeschabter Arbeitskleidung sein Opfer. Er starrte die Waffe in Goodmans Hand mit weit aufgerissenen Augen an. »Bitte nicht schießen, Mister«, flehte er. Das war schon besser! Goodman fühlte tiefe Befriedigung. »Keine Bewegung!« brummte er. »Ich habe alle Sicherungen abgeschaltet.« »Das sehe ich«, sagte der andere entsetzt. »Vorsicht mit der Kanone, Mister. Ich rühre kein Haar.« »Das möchte ich Ihnen auch nicht raten. Her mit Ihrem Geld!«
»Geld?« »Ja, Ihr Geld, und zwar ein bißchen plötzlich!« »Ich habe kein Geld«, heulte der Mann. »Mister, ich bin ein armer Mann. Ich bin bettelarm.« »Auf Tranai gibt es keine Armut«, erklärte Goodman streng. »Ich weiß – ja. Aber man kann ihr so nahekommen, daß man den Unterschied nicht bemerkt. Geben Sie mir eine Chance, Mister.« »Haben Sie denn keine Initiative?« fragte Goodman. »Warum gehen Sie nicht auf die Straße und rauben wie die anderen auch, wenn Sie schon einmal arm sind?« »Ich habe nicht die geringste Gelegenheit gehabt. Zuerst bekam die Kleine Keuchhusten, und ich mußte jede Nacht bei ihr sitzen. Dann brach der Derrsin-Generator zusammen, und ich konnte mir den ganzen Tag das Geschwätz meiner Frau anhören. Ich sage ja immer, daß in jedem Haus ein zweiter Derrsin stehen müßte! Während der DerrsinGenerator repariert wurde, beschloß sie, das Haus zu durchstöbern, und dabei ging mein Strahler verloren. Sie weiß nicht mehr, wohin sie ihn gesteckt hat. Ich wollte mir also einen von meinem Freund borgen –« »Das genügt«, sagte Goodman. »Hier handelt es sich schließlich um einen Raubüberfall, und irgend etwas muß ich Ihnen abnehmen. Her mit Ihrer Brieftasche!« Der Mann schnupfte weinerlich und reichte Goodman eine abgeschabte Brieftasche. In ihr fand Goodman einen Diglo, das Äquivalent eines Terra-Dollars. »Das ist alles, was ich habe«, jammerte der Mann, »aber Sie sollen es haben. Ich weiß, wie es ist, wenn man die ganze Nacht an einer zugigen Straßenecke steht –« »Behalten Sie’s«, sagte Goodman, gab die Brieftasche zurück und ging davon. »Oh, vielen Dank, Mister!« Goodman erwiderte nichts. Bedrückt kehrte er in die Kitty-Kat-Bar zurück und gab dem Barmixer Strahler und Maske zurück. Nachdem er erklärt hatte, was vorgefallen war, brach der Barmann in schallendes Gelächter aus.
»Kein Geld! Mann, das ist der älteste Trick überhaupt. Jeder trägt eine zweite Brieftasche für Raubüberfälle bei sich – manchmal sogar zwei oder drei. Haben Sie ihn durchsucht?« »Nein«, gestand Goodman. »Na, Sie sind mir aber ein Anfänger!« »Da haben Sie recht. Hören Sie, ich bezahle die Getränke wirklich, sobald ich Geld verdient habe.« »Schon gut«, sagte der Barmixer. »Jetzt gehen Sie am besten nach Hause und schlafen Sie sich aus. Sie haben eine anstrengende Nacht hinter sich.« Goodman sah es ein. Erschöpft kehrte er in sein Hotel zurück und legte sich schlafen. Er meldete sich bei der Abbag-Heimroboter-Fabrik zur Arbeit und versuchte, dem Problem der Verschlechterung von Automaten Herr zu werden. Selbst bei derart unmenschlicher Arbeit begann sich der terranische Einfallsreichtum bald geltend zu machen. Goodman entwickelte einen neuen Kunststoff für das Robotergehäuse, ein Silikon, verwandt dem ›Trickkitt‹, den es vor langer Zeit auf der Erde gegeben hatte. Der Stoff hatte die erforderlichen Eigenschaften – Widerstandsfähigkeit, Verschleißfestigkeit, Zähigkeit. Aber unter einem Fußtritt, der mit einer Wucht von fünfzehn Kilo oder mehr angebracht wurde, zerbrach das Gehäuse sofort. Sein Arbeitgeber lobte ihn sehr, gab ihm eine Prämie, die Goodman wirklich brauchen konnte, und trug ihm auf, weiter an seiner Erfindung zu arbeiten, um die zur Zerstörung nötige Wucht auf 12 Kilo zu senken. Soviel schaffe nämlich der Durchschnittsfußtritt, laut Messungen der Marktforschung. Goodman war so beschäftigt, daß er praktisch keine Zeit zur Erforschung der Sitten und Gebräuche Tranais mehr hatte. Es gelang ihm jedoch, sich die Bürgerzelle anzusehen. Diese einmalige Einrichtung befand sich in einem kleinen Gebäude in einer abgelegenen Seitenstraße. Beim Eintreten stieß er auf eine große Tafel, auf der die Namen aller derzeitigen Beamten Tranais mit ihren Titeln verzeichnet waren. Neben
jedem Namen befand sich ein Knopf. Der Aufseher erklärte Goodman, daß jeder Bürger durch Drücken des jeweiligen Knopfes seine Unzufriedenheit mit den Handlungen des Beamten ausdrücken könne. Das Signal werde im Idrig-Gebäude automatisch registriert und gehe unauslöschlich zu Lasten des betreffenden Amtsinhabers. Selbstverständlich war es Jugendlichen nicht gestattet, irgendwelche Knöpfe zu drücken. Goodman hielt das Ganze für reichlich unwirksam, aber vielleicht galten für die Beamten Tranais nicht dieselben Motive wie für die der Erde, sagte er sich. Er sah Janna fast jeden Abend, und gemeinsam erkundeten sie die vielfältigen kulturellen Aspekte Tranais: die Bars und Filmtheater, Konzertsäle, Kunstausstellungen, wissenschaftliche Museen, Jahrmärkte und Festivals. Goodman trug stets einen Strahler bei sich, und nach mehreren erfolglosen Versuchen vermochte er einem Kaufmann nahezu 500 Diglos zu rauben. Janna war von dieser Leistung begeistert, wie es jedes tranaische Mädchen gewesen wäre, und sie feierten das Ereignis in der Kitty-KatBar. Jannas Eltern gaben zu, daß Goodman ein guter Ernährer zu sein schien. In der folgenden Nacht wurden die 500 Diglos zusammen mit einem Teil von Goodmans Prämiengeld von einem Mann geraubt, der Größe und Statur des Barmixers in der Kitty-Kat-Bar hatte und eine alte Drog3-Strahlenpistole trug. Goodman tröstete sich mit dem Gedanken, daß das Geld frei zirkulierte, wie im System vorgesehen. Dann gelang ihm ein weiterer Triumph. Eines Tages entdeckte er in der Fabrik einen völlig neuartigen Prozeß zur Fertigung von Robotergehäusen. Es handelte sich um einen Spezial-Kunststoff, der selbst schweren Stürzen widerstand. Der Roboter-Eigentümer mußte besondere Schuhe tragen, in deren Spitze ein Katalysator untergebracht war. Sobald der Roboter einen Fußtritt hinnehmen mußte, kam der
Katalysator mit dem Gehäuse in Berührung, das augenblicklich in tausend Splitter zerfiel. Abbag war zunächst ein wenig unsicher; das Ganze schien ihm zu ausgefallen. Die Erfindung fand jedoch reißenden Absatz, und die Fabrik nahm nebenher auch noch die Herstellung der Schuhe auf, wobei zu jedem Roboter mindestens ein Paar verkauft wurde. Diese Entwicklung war den Aktionären der Fabrik äußerst angenehm. Goodman erzielte eine beträchtliche Gehaltserhöhung und bekam eine großzügig bemessene Prämie. Auf der Krone dieser Triumphwelle machte er Janna einen Antrag, der ohne Zögern angenommen wurde. Ihre Eltern befürworteten die Heirat. Es blieb nur noch die amtliche Genehmigung der Regierung einzuholen, da Goodman theoretisch immer noch Ausländer war. Er nahm sich deshalb einen Tag Urlaub und ging zum Idrig-Gebäude, um mit Melith zu sprechen. Es war ein herrlicher Frühlingstag, wie ihn Tranai zehn Monate im Jahr kennt, und Goodman marschierte mit federnden, schwerelosen Schritten dahin. Er war verliebt, ein erfolgreicher Konstrukteur und würde bald Bürger Utopias sein. Natürlich konnte Utopia einige Änderungen ertragen, denn nicht einmal Tranai war vollkommen. Vielleicht sollte er die Höchste Präsidentschaft annehmen, um die nötigen Reformen durchzuführen. Aber das hatte keine Eile… »He, Mister«, sagte eine Stimme, »können Sie mir einen Diglo verehren?« Goodman senkte den Blick und sah auf dem Pflaster einen ungewaschenen, alten Mann sitzen, der zerfetzte Kleidung trug und ihm einen Blechteller unter die Nase hielt. »Was?« fragte Goodman. »Haben Sie einen Diglo für mich übrig?« wiederholte der Mann klagend. »Helfen Sie doch einem armen Mann, damit er sich eine Tasse Oglo kaufen kann. Seit zwei Tagen habe ich nichts mehr gegessen.« »Das ist schändlich! Warum nehmen Sie sich nicht einen Strahler und berauben jemand?« »Ich bin zu alt«, winselte der Mann. »Meine Opfer lachen mich nur aus.«
»Wissen Sie genau, daß Sie nicht einfach zu faul sind?« fragte Goodman streng. »Bestimmt nicht, Sir!« sagte der Bettler. »Sehen Sie nur, wie meine Hände zittern!« Er hob die schmutzigen Hände; sie zitterten. Goodman nahm seine Brieftasche aus dem Jackett und gab dem Alten einen Diglo. »Ich dachte, auf Tranai gibt es keine Armen. Man sagte mir, daß die Regierung für die alten Leute sorgt.« »Das tut die Regierung auch«, erwiderte der alte Mann. »Schauen Sie.« Er zeigte ihm den Blechteller. Am Rand war eingraviert: ›Von der Regierung zugelassener Bettler, Nr. DR-43 241-3.‹ »Wollen Sie damit sagen, daß die Regierung Sie zum Betteln zwingt?« »Die Regierung erlaubt es mir«, erwiderte der Alte. »Betteln ist eine Regierungsaufgabe und als solche für alte und gebrechliche Leute reserviert.« »Aber das ist doch entsetzlich!« »Sie müssen fremd hier sein.« »Ich bin Terraner.« »Aha! Nervöse, unruhige Leute, nicht wahr?« »Unsere Regierung läßt die Leute nicht betteln«, betonte Goodman. »Nein? Was tun dann die Alten? Leben sie von ihren Kindern? Oder sitzen sie in einem Altersheim und warten auf den Tod aus Langeweile? Nicht bei uns, junger Mann. Auf Tranai hat jeder alte Mann Anspruch auf einen Regierungsposten, und zwar auf einen, für den er keine besondere Geschicklichkeit braucht, obwohl sie nützlich sein kann. Manche wollen Arbeit in den Kirchen und Theatern. Andere lieben das Gewimmel auf Jahrmärkten. Mir persönlich gefällt die Arbeit im Freien am besten. Ich bin in der frischen Luft, in der Sonne, ich habe ein bißchen Bewegung, und ich lerne seltsame, interessante Leute kennen.« »Aber betteln!« »Zu welcher Arbeit wäre ich sonst geeignet?« »Ich weiß es nicht – aber – aber sehen Sie sich doch nur an! Schmutzig, ungewaschen, zerlumpt –«
»Das ist mein Arbeitsanzug«, erklärte der Regierungsbettler. »Sie sollten mich am Sonntag sehen!« »Sie haben andere Kleidung?« »Natürlich, und ein hübsches kleines Appartement, eine Loge in der Oper, zwei Heimroboter, und wahrscheinlich mehr Geld auf der Bank, als Sie in Ihrem ganzen Leben gesehen haben. Die Unterhaltung hat mir sehr viel Spaß gemacht, junger Mann«, sagte der Alte, »und vielen Dank für Ihre Spende. Ich muß jetzt wieder an die Arbeit und möchte Ihnen empfehlen, das gleiche zu tun.« Goodman ging davon, warf aber über die Schulter noch einen Blick auf den Regierungsbettler. Er bemerkte, daß der Alte ein glänzendes Geschäft zu machen schien. Aber betteln! Wirklich, solche Dinge mußten aufhören. Wenn er jemals die Präsidentschaft ergreifen sollte – und offensichtlich war dies das Gebot der Stunde –, dann würde er sich mit der Angelegenheit einmal gründlich befassen. Er hatte den Eindruck, daß es eine würdigere Lösung geben mußte. Im Idrig-Gebäude erklärte Goodman Melith seine Heiratspläne. Der Einwanderungsminister war begeistert. »Wunderbar, wirklich wunderbar«, sagte er. »Ich kenne die Vleys seit vielen Jahren. Das sind großartige Leute. Und Janna ist ein Mädchen, auf das viele Männer stolz sein würden.« »Muß ich nicht gewisse Formalitäten beachten?« erkundigte sich Goodman. »Ich meine, als Ausländer und –« »Keinesfalls. Ich habe beschlossen, auf die Einhaltung der Formalitäten zu verzichten. Sie können Bürger Tranais werden, wenn Sie das wollen, indem sie einfach Ihre Absicht mündlich kundtun. Sie dürfen selbstverständlich auch die terranische Bürgerschaft behalten, ohne daß Ihnen das jemand übelnimmt. Oder Sie können beides sein – Bürger Terras und Tranais. Wenn Terra einverstanden ist, wir haben bestimmt nichts dagegen.« »Ich möchte doch lieber Bürger Tranais werden«, sagte Goodman.
»Das ist allein Ihre Sache. Wenn Sie Bedenken wegen der Präsidentschaft haben sollten: Sie können durchaus Ihren Status beibehalten und trotzdem dieses Amt bekleiden. Wir sind in dieser Hinsicht wirklich nicht kleinlich. Einer unserer tüchtigsten Präsidenten war ein eidechsenähnlicher Besucher von Aquarella II.« »Das nenne ich eine vorurteilslose Einstellung!« »Gewiß, ›jedem eine Chance‹, das ist unser Motto. Was Ihre Eheschließung angeht – jeder Regierungsangestellte kann die Zeremonien vornehmen. Der Höchste Präsident Borg würde sich glücklich schätzen, heute nachmittag, wenn es Ihnen recht ist.« Melith blinzelte Goodman zu. »Der alte Knabe hat großen Spaß daran, die Braut zu küssen. Aber Sie sind ihm wirklich ans Herz gewachsen, das darf man sagen.« »Heute nachmittag?« wiederholte Goodman. »Ja, ich möchte sehr gerne heute nachmittag heiraten, wenn Janna nichts dagegen hat.« »Sie wird sicher einverstanden sein«, meinte Melith. »Also weiter. Wo wollen Sie nach den Flitterwochen wohnen? Ein Hotelzimmer ist da doch wohl nicht mehr passend.« Er dachte eine Weile nach. »Passen Sie auf – ich habe am Stadtrand ein kleines Haus. Warum ziehen Sie dort nicht ein, bis Sie etwas Besseres gefunden haben? Sie können es selbstverständlich auch für dauernd beziehen, wenn Sie mögen.« »Hören Sie«, wandte Goodman ein, »das kann ich aber wirklich nicht annehmen –« »Reden wir doch nicht davon. Haben Sie sich schon einmal überlegt, ob Sie nicht der nächste Einwanderungsminister werden wollen? Vielleicht sagt Ihnen die Arbeit zu. Kein Bürokratismus, kurze Arbeitszeit, gute Bezahlung – Nein? Sie denken wohl an die Höchste Präsidentschaft, wie? Kann ich verstehen.« Melith kramte in seiner Hosentasche und holte zwei Schlüssel hervor. »Dieser hier gehört zu der vorderen Eingangstür, der andere für die rückwärtige. Die Adresse finden Sie aufgeprägt. Das Haus ist komplett eingerichtet, auch ein nagelneuer Derrsin-Feldgenerator fehlt nicht.« »Ein Derrsin?«
»Natürlich. Kein Haus auf Tranai ist ohne einen Derrsin-StasisFeldgenerator komplett.« Goodman räusperte sich und sagte vorsichtig: »Ich wollte Sie schon lange fragen – wozu braucht man das Stasisfeld eigentlich?« »Nun, um seine Frau darin zu halten«, erwiderte Melith. »Ich dachte, das wüßten Sie.« »Ich weiß es auch, aber ich frage mich: warum?« meinte Goodman. »Warum?« Melith runzelte die Stirn. Diese Frage hatte er sich offensichtlich noch nie gestellt. »Warum tut man dies oder jenes? Es ist einfach Gewohnheit, das ist alles. Übrigens absolut sinnvoll. Man möchte doch nicht, daß Tag und Nacht jemand an einem herumnörgelt.« Goodman wurde rot, weil er seit dem ersten Zusammentreffen mit Janna immer wieder überlegt hatte, wie schön es sein müßte, sie die ganze Zeit um sich zu haben, Tag und Nacht. »Den Frauen gegenüber scheint das aber gar nicht fair zu sein«, kritisierte Goodman. Melith lachte. »Mein lieber Freund, predigen Sie etwa die Lehre von der Gleichheit der Geschlechter? Hören Sie, diese Theorie ist doch längst widerlegt. Männer und Frauen sind nun einmal nicht gleich. Sie sind verschieden, gleichgültig, was man Ihnen auf Terra erzählt haben mag. Was für die Männer gut ist, muß nicht notwendigeroder auch nur üblicherweise für Frauen gut sein.« »Demzufolge behandeln Sie sie als minderwertige Wesen«, erhitzte sich Goodman. »Keineswegs. Wir behandeln sie anders als die Männer, aber nicht schlechter. Im übrigen beklagen sie sich nicht.« »Das kommt daher, daß man ihnen nicht gestattet hat, etwas Besseres kennenzulernen. Gibt es irgendeine Vorschrift, die es mir zur Pflicht macht, meine Frau im Derrsin-Feld zu halten?« »Natürlich nicht. Damit sie in Form bleibt, ist es aber nötig, daß man sie für eine gewisse Mindestzeit pro Woche aus dem Feld läßt. Man darf die kleine Frau schließlich nicht einsperren, verstehen Sie.« »Natürlich nicht«, sagte Goodman sarkastisch. »Wenigstens zeitweise soll sie leben dürfen.«
»Genau«, bestätigte Melith, ohne den Sarkasmus zu bemerken. »Sie lernen es schon noch.« Goodman erhob sich. »Ist das alles?« »Ich wüßte nichts mehr. Viel Glück – na, Sie wissen schon.« »Danke«, sagte Goodman steif, drehte sich auf dem Absatz um und ging. An diesem Nachmittag vollzog Präsident Borg im Nationalhaus die einfache Eheschließungszeremonie Tranais und küßte anschließend mit großem Eifer die Braut. Die Feier war wunderschön und wurde nur von einer Kleinigkeit getrübt. An einer Wand in Borgs Amtszimmer hing ein Gewehr, komplett mit Zielfernrohr und Schalldämpfer. Ein Gegenstück zu Meliths Waffe und ebenso rätselhaft. Borg nahm Goodman auf die Seite und fragte: »Haben Sie sich das mit der Höchsten Präsidentschaft noch einmal überlegt?« »Ich bin mit mir noch nicht im reinen«, erwiderte Goodman. »Eigentlich möchte ich kein Amt annehmen –« »Dazu hat niemand Lust.« »– aber Tranai braucht dringend gewisse Reformen. Ich glaube, daß es meine Pflicht sein könnte, sie dem Volk zur Kenntnis zu bringen.« »Das ist die richtige Einstellung«, lobte Borg. »Wir haben seit längerer Zeit keinen wirklich unternehmungslustigen Höchsten Präsidenten mehr gehabt. Warum treten Sie das Amt nicht sofort an? Sie könnten Ihre Flitterwochen vollkommen zurückgezogen im Nationalhaus verbringen.« Goodman fühlte sich verlockt, aber er wollte während der Flitterwochen, die im übrigen ja bis ins letzte vorausgeplant waren, nicht von Staatsangelegenheiten behelligt werden. Tranai hatte sich so lange im gegenwärtigen, beinahe-utopischen Zustand gehalten, daß es auf ein paar Wochen nicht mehr ankam. »Ich entscheide mich nach meiner Rückkehr«, sagte Goodman. Borg zuckte die Achseln. »Eine Weile kann ich die Last schon noch tragen. Oh, hier bitte.« Er übergab Goodman einen versiegelten Umschlag. »Was ist das?«
»Nur der übliche Rat«, erwiderte Borg. »Beeilen Sie sich, Ihre Braut wartet!« »Komm, Marvin!« rief Janna. »Wir dürfen das Raumschiff nicht versäumen!« Goodman hastete ihr nach in die Limousine, die sie zum Raumflughafen bringen sollte. »Viel Glück!« riefen Jannas Eltern. »Viel Glück!« schrie Borg. »Viel Glück!« erschallten die Stimmen Meliths, seiner Frau und aller anderen Gäste. Auf dem Weg zum Raumflughafen öffnete Goodman den Umschlag und las das vorgedruckte Schreiben: Ratschlag für einen jungen Ehemann Sie haben eben geheiratet und erwarten ganz natürlich ein Leben voller Eheglück. Das ist sehr angebracht, denn eine glückliche Ehe stellt das Fundament des Staates dar. Aber man muß mehr tun als nur eine gute Ehe wünschen. Sie wird nicht jedem in den Schoß gelegt. Man muß sie erarbeiten! Vergessen Sie nie, daß Ihre Frau ein menschliches Wesen ist. Man sollte ihr ein gewisses Maß an Freiheit als unveräußerliches Recht zubilligen. Wir empfehlen Ihnen, sie wenigstens einmal pro Woche aus dem Stasisfeld zu nehmen. Ein allzulanger Aufenthalt in der Stasis beeinträchtigt ihr Orientierungsvermögen. Zuviel Stasis schadet ihrem Teint, und darunter haben Sie zu leiden und Ihre Frau. Beachten Sie bitte, daß es besonders in den Ferien und an Feiertagen üblich ist, seine Frau einen ganzen Tag oder gar zwei bis drei Tage hintereinander aus der Stasis zu nehmen. Das schadet nichts, und diese Neuheit wird ihren Gemütszustand im besten Sinne beeinflussen. Wenn Sie diese wenigen vernünftigen Regeln befolgen, ist eine glückliche Ehe gesichert. Eheberatungsstelle der Regierung
Goodman zerriß das Blatt in kleine Fetzen und ließ sie auf den Boden des Wagens fallen. Sein Reformergeist war jetzt völlig entflammt. Er hatte doch geahnt, daß Tranai zu schön war, um wahr sein zu können. Jemand mußte für die Vollkommenheit bezahlen. In diesem Fall waren es die Frauen. Er hatte den ersten großen Makel im Paradies entdeckt. »Was war das, Liebster?« fragte Janna, als sie die Papierschnitzel bemerkte. »Das waren äußerst dumme Ratschläge«, erwiderte Goodman. »Liebling, hast du jemals über die Ehegewohnheiten eures Planeten nachgedacht – im Ernst nachgedacht?« »Ich glaube nicht. Sind sie denn nicht in Ordnung?« »Sie sind falsch, völlig falsch. Man behandelt die Frauen wie Spielzeug, wie kleine Puppen, die man wegräumt, wenn man keine Lust zum Spielen mehr hat. Kannst du denn das nicht sehen?« »Ich habe nie darüber nachgedacht.« »Nun, das kannst du jetzt nachholen«, mahnte Goodman, »weil es einige Änderungen geben wird; den Anfang machen wir in unserem eigenen Heim.« »Wie du meinst, Liebling«, sagte Janna gehorsam. Sie drückte seinen Arm. Er küßte sie. Die Limousine erreichte den Flughafen, und die beiden bestiegen das Raumschiff. Ihre Flitterwochen auf Doé glichen einem kurzen Abstecher ins Paradies. Die Wunder von Tranais kleinem Mond waren für Liebende gedacht, und nur für sie. Kein Geschäftsmann verbrachte auf Doé seine Ferien, kein böser Junggeselle strich dort umher. Die Erschöpften, die Illusionslosen, die zweideutig Hoffnungsvollen – sie alle mußten andere Jagdgründe aufsuchen. Die einzige, streng beachtete Vorschrift auf Doé war, daß man zu zweit, fröhlich und verliebt sein mußte. Diesen einen Brauch Tranais gut zu finden, fiel Goodman nicht schwer. Auf dem kleinen Mond gab es große Wiesen mit hohem Gras, tiefe, grüne Wälder zum Spazierengehen, kühle, dunkle Seen mitten unter den
Bäumen und schroffe, großartige Berge, die zum Besteigen einluden. Liebende verirrten sich zu ihrer großen Zufriedenheit häufig in den Wäldern, aber niemand konnte wirklich verlorengehen, da sich der Mond in einem Tag umrunden ließ. Dank der geringen Schwerkraft bestand keine Gefahr, in den schwarzen Seen unterzugehen, und ein Sturz von einem Berggipfel verursachte wohl Schrecken, aber keine Verletzungen. An den schönsten Punkten gab es kleine Hotels mit dämmrigen Bars, wo man von freundlichen, weißhaarigen Barmixern bedient wurde. Man fand düstere Grotten, die tief hinab zu glitzernden Eishöhlen führten, vorbei an träge dahinziehenden Flüssen, in denen große, leuchtende Fische mit glühenden Augen schwammen. Die Eheberatung der Regierung hatte diese simplen Attraktionen für ausreichend gehalten und sich nicht bemüht, einen Golfplatz, Schwimmbecken, Rennbahnen oder Tennisanlagen einzurichten. Man sagte sich, daß für Leute, die solcher Dinge bedurften, die Flitterwochen bereits vorbei wären. Und die Tranaier fanden sich mit dieser Einteilung ab. Goodman und seine Braut verbrachten auf Doé eine herrliche Woche und kehrten dann wieder nach Tranai zurück. Nachdem er seine Frau über die Schwelle ihres neuen Heims getragen hatte, schaltete Goodman als erstes den Derrsin-Generator ab. »Liebste«, sagte er, »bis heute habe ich alle Gebräuche Tranais beachtet, auch wenn sie mir lächerlich erschienen. Aber das hier mache ich nicht mit. Auf Terra war ich der Gründer des Komitees für die Gleichberechtigung der Frauen bei der Berufswahl. Auf Terra behandeln wir unsere Frauen als Partner im Abenteuer des Lebens.« »Eine seltsame Vorstellung«, meinte Janna stirnrunzelnd. »Denk doch einmal nach«, drängte Goodman. »Unser Leben wird viel schöner sein, wenn du nicht im Derrsin-Feld eingesperrt bist. Findest du nicht auch?« »Du bist viel klüger als ich, Liebster. Du hast die ganze Galaxis bereist, während ich aus Port Tranai nie herauskam. Wenn du meinst, daß es so am besten ist, wird es wohl so sein.«
Sie ist ohne Zweifel die vollkommenste aller Frauen, dachte Goodman. Er kehrte an seine Arbeit in der Abbag-Heimroboter-Fabrik zurück und hatte sich bald in ein neues Entverbesserungs-Projekt vertieft. Diesmal kam er auf die raffinierte Idee, die Gelenke der Roboter knirschen und ächzen zu lassen. Diese Geräusche würden den Reizwert des Roboters stark erhöhen und seine Zerstörung um so angenehmer und, psychologisch gesehen, wertvoller machen. Mr. Abbag war außer sich vor Freude, erhöhte Goodmans Gehalt beträchtlich und bat ihn, die Entverbesserung bald serienreif zu gestalten. Goodmans Plan bestand zunächst darin, einige der Schmiergänge zu entfernen. Er mußte aber feststellen, daß die Reibung den wichtigen Teilen allzusehr schadete. Das konnte natürlich nicht geduldet werden. Er begann Pläne für eine eingebaute Knirsch- und Ächz-Anlage zu entwerfen. Die Geräusche durften keinesfalls künstlich wirken, andererseits aber auch keinen echten Verschleiß hervorrufen. Der Zusatzmechanismus mußte billig und außerdem noch klein sein, weil das Roboter-Innere mit Entverbesserungen bereits zum Bersten angefüllt war. Goodman entdeckte jedoch, daß kleine Ächz-Mechanismen künstliche Geräusche produzierten. Größere Geräte waren in der Produktion zu teuer, oder sie ließen sich in den Roboter nicht einfügen. Er machte häufig Überstunden, nahm ab und wurde täglich reizbarer. Janna entwickelte sich zu einer guten, verlässigen Hausfrau, seine Mahlzeiten standen immer pünktlich auf dem Tisch, und Janna hatte abends immer ein fröhliches Wort für ihn. Untertags überwachte sie die Säuberung des Hauses durch die Heimroboter. Diese Arbeit nahm nicht einmal eine ganze Stunde in Anspruch. Danach las sie Bücher, versuchte sich an neuen Torten, strickte oder zerstörte Roboter. Goodman war ein wenig beunruhigt, weil Janna pro Woche drei bis vier Stück demolierte. Immerhin, jeder hatte Anrecht auf ein Steckenpferd. Er konnte es sich leisten, ihren Launen nachzugeben, da er die Maschinen zum Fabrikpreis bezog.
Goodman hatte sich in eine Sackgasse manövriert, als ein anderer Konstrukteur, ein Mann namens Dath Hergo, eine neue Steuerung erfand. Sie beruhte auf dem Konter-Gyroskop-Prinzip und gestattete es einem Roboter, einen Raum mit einer Schlagseite von zehn Grad zu betreten. Das sei die ärgerlichste Schlagseite, die man einem Roboter verleihen könne, stellte die Forschungsabteilung fest. Durch Verwendung des Zufall-Selektions-Prinzips pflegte der Roboter überdies in unregelmäßigen Abständen wie ein Betrunkener zu taumeln – er ließ zwar nichts fallen, aber es sah immer so aus, als müsse seinen Händen alles entgleiten. Diese Erfindung wurde natürlich als entscheidender Fortschritt in der Entverbesserungs-Technik begrüßt. Goodman stellte fest, daß er seinen Knirsch- und Ächz-Mechanismus wunderbar in die Taumel-Steuerung einbauen konnte. In den technischen Zeitschriften wurde sein Name neben dem Dath Hergos erwähnt. Die neue Serie der Abbag-Heimroboter entpuppte sich als Sensation. Zu diesem Zeitpunkt beschloß Goodman, Urlaub zu nehmen und Höchster Präsident von Tranai zu werden. Er fand, daß er den Leuten das schuldig war. Wenn Einfallsreichtum und Können Terras Verbesserungen der Verschlechterungen zustande brachten, mußten sie um so mehr Verbesserungen verbessern können. Tranai war ein Beinahe-Utopia. Sobald die Zügel in seinen Händen lagen, würde man den Rest des Weges zur Vollkommenheit sehr schnell bewältigen. Er fand sich in Meliths Büro ein, um die Angelegenheit zu besprechen. »Für Veränderungen ist wohl immer Raum«, meinte Melith nachdenklich. Der Einwanderungschef saß am Fenster und beobachtete die Vorbeigehenden. »Unser gegenwärtiges System funktioniert freilich seit geraumer Zeit, und das sogar sehr gut. Ich weiß nicht, was Sie verbessern könnten. Es gibt zum Beispiel kein Verbrechen –« »Weil ihr es legalisiert habt«, erklärte Goodman. »Man ist der Entscheidung einfach ausgewichen.« »Wir sehen das anders. Es gibt keine Armut –« »Weil jedermann stiehlt. Und mit den alten Leuten gibt es keinen Ärger, weil die Regierung sie zu Bettlern macht. Wirklich, es gibt allerhand zu ändern und zu verbessern.«
»Na ja, vielleicht«, sagte Melith. »Ich glaube aber –«, er verstummte plötzlich, lief durchs Zimmer und riß das Gewehr von der Wand. »Da ist er!« Goodman sah zum Fenster hinaus. Ein Mann, der sich scheinbar von allen anderen Leuten in nichts unterschied, ging draußen vorbei. Goodman hörte einen dumpfen Knall, sah den Mann taumeln und schließlich aufs Pflaster stürzen. Melith hatte ihn mit dem Schalldämpfer-Gewehr erschossen. »Warum haben Sie das getan?« stöhnte Goodman. »Das war ein potentieller Mörder«, sagte Melith. »Was?« »Natürlich. Wir haben zwar keine eigentlichen Verbrechen hier, aber mit der Möglichkeit müssen wir immer rechnen.« »Was hat er getan, daß er als potentieller Mörder anzusehen ist?« »Fünf Leute umgebracht«, verkündete Melith. »Aber – verdammt noch mal, das ist doch nicht fair! Sie haben ihn nicht verhaftet, nicht vor Gericht gestellt, keinen Anwalt –« »Wie meinen Sie das?« fragte Melith etwas verärgert. »Wir haben keine Polizei, die solche Leute verhaften könnte, und wir verfügen über kein Justizsystem. Du lieber Himmel, Sie werden doch nicht verlangen wollen, daß ich ihn einfach weitermachen lasse, oder? Wir definieren einen Mörder bei zehn Getöteten, und er war auf dem besten Weg dazu, einer zu werden. Ich konnte einfach nicht ruhig dasitzen. Ich habe die Pflicht, das Volk zu beschützen. Ich kann Ihnen versichern, daß ich genaue Erkundigungen eingezogen habe.« »Das ist nicht gerecht!« schrie Goodman. »Wer hat denn das behauptet?« brüllte Melith. »Was hat Gerechtigkeit mit Utopia zu tun?« »Alles!« Goodman beherrschte sich mit Mühe. »Gerechtigkeit ist die Grundlage menschlicher Würde, menschlichen Sehnens –« »Das sind nur Worte«, meinte Melith mit gutmütigem Lächeln. »Versuchen Sie doch, realistisch zu sein. Wir haben Utopia für menschliche Wesen geschaffen, nicht für Heilige, die kein Utopia
brauchen. Wir müssen die Fehler im menschlichen Charakter akzeptieren und dürfen nicht so tun, als gäbe es sie nicht. Polizei und Justizsysteme neigen dazu, eine Atmosphäre zu schaffen, die das Verbrechen und die Anerkennung des Verbrechens erst erzeugt. Glauben Sie mir, es ist besser, die Möglichkeit zum Verbrechen überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die überwältigende Mehrheit des Volkes wird hinter Ihnen stehen.« »Wenn sich aber das Verbrechen zeigt, was unvermeidlich ist –« »Nur die Möglichkeit zeigt sich«, beharrte Melith auf seinem Standpunkt. »Und selbst das kommt viel seltener vor, als Sie glauben. Wenn sie auftritt, werden wir kurz und schmerzlos damit fertig.« »Angenommen, Sie treffen den Falschen?« »Das ist ausgeschlossen.« »Wieso?« »Weil jeder, der von einem Regierungsbeamten beseitigt wird, automatisch und gemäß ungeschriebenem Gesetz ein potentieller Verbrecher ist«, erwiderte Melith. Marvin Goodman schwieg lange Zeit. Dann sagte er: »Ich sehe, daß die Regierung doch viel mehr Macht hat, als ich zunächst annahm.« »Gewiß«, sagte Melith. »Aber längst nicht soviel, wie Sie jetzt wieder glauben.« Goodman lächelte ironisch. »Und ich kann die Höchste Präsidentschaft immer noch antreten, sobald es mir beliebt?« »Selbstverständlich. Ohne jede Verpflichtung. Wollen Sie?« Goodman dachte einen Augenblick angestrengt nach. Wollte er die Präsidentschaft wirklich? Nun, irgend jemand mußte ja regieren. Jemand mußte die Leute beschützen. Jemand mußte in diesem utopischen Irrenhaus ein paar Reformen durchsetzen. »Ja, ich will«, sagte Goodman. Die Tür sprang auf, und Präsident Borg stürzte herein. »Wunderbar! Ausgezeichnet! Sie können heute ins Nationalhaus einziehen. Ich habe schon seit einer Woche gepackt und nur noch darauf gewartet, bis Sie sich entscheiden.«
»Man wird doch sicherlich gewisse Formalitäten –« »Keine Formalitäten«, sagte Borg, dem der Schweiß auf der Stirn stand. »Nichts. Wir übergeben Ihnen lediglich das Präsidentensiegel, und dann streiche ich meinen Namen von der Tafel und setze den Ihren ein.« Goodman sah Melith an. Das Gesicht des Einwanderungsministers war ausdruckslos. »Also gut«, sagte Goodman. Borg griff nach seiner Amtskette und begann sie über den Kopf zu ziehen. Sie explodierte plötzlich und mit lautem Knall. Goodman starrte Borgs blutigen, verwüsteten Schädel entsetzt an. Der Präsident taumelte und stürzte zu Boden. Melith zog sein Jackett aus und breitete es über Borgs Kopf, Goodman wankte zu einem Stuhl und setzte sich schwerfällig. Sein Mund öffnete sich, aber kein Ton kam heraus. »Wirklich bedauerlich«, sagte Melith. »Er war dem Ende seiner Amtszeit so nahe. Ich habe ihn vor der Genehmigung des neuen Raumflughafens gewarnt. Die Bürger werden nicht einverstanden sein, sagte ich. Aber er war überzeugt davon, daß die Leute gerne zwei Raumflughäfen hätten. Nun, er hat sich getäuscht.« »Heißt das – ich meine – wie – was –« »Alle Regierungsbeamten tragen ein Amtssiegel, das eine bestimmte Menge Tessium enthält, einen Sprengstoff, von dem Sie vielleicht schon gehört haben. Die Sprengladung wird von der Bürgerzelle aus funkgesteuert. Jeder Bürger hat Zugang zur Zelle, wo er seinem Mißfallen gegenüber der Regierung Ausdruck verleihen kann.« Melith seufzte. »Das wird das Andenken an den armen Borg schwer belasten.« »Sie lassen die Leute ihr Mißfallen kundtun, indem sie Beamte in die Luft sprengen dürfen?« krächzte Goodman entsetzt. »Das ist die einzige wirklich sinnvolle Art«, meinte Melith. »Gleichgewicht. So, wie die Leute in unseren Händen sind, befinden wir uns auch in den ihrigen.« »Und deswegen sollte ich sein Amt übernehmen. Warum hat mir niemand Bescheid gesagt?«
»Sie haben ja nicht gefragt«, sagte Melith mit der Andeutung eines Lächelns. »Machen Sie kein so entsetztes Gesicht. Attentate gibt es überall, wissen Sie, auf jedem Planeten, unter jeder Regierung. Wir versuchen daraus etwas Konstruktives zu machen. Unter unserem System verlieren die Leute nie den Kontakt zur Regierung, und die Regierung läßt es sich niemals einfallen, diktatorische Macht zu erstreben. Da jedermann weiß, daß er in der Bürgerzelle sein Recht ausüben kann, wird erstaunlich wenig davon Gebrauch gemacht. Natürlich gibt es immer Hitzköpfe –« Goodman stand auf und ging zur Tür, Borgs Leiche mit seinen Blicken meidend. »Wollen Sie die Präsidentschaft nicht mehr?« »Nein!« »Das sieht euch Terranern ähnlich«, bemerkte Melith traurig. »Ihr wollt Verantwortung nur auf euch nehmen, wenn kein Risiko damit verbunden ist. Das ist die falsche Einstellung für Leute, die regieren wollen.« »Sie mögen recht haben«, sagte Goodman. »Ich bin nur froh, daß ich noch rechtzeitig dahintergekommen bin.« Er eilte nach Hause. Sein Denken war in Aufruhr, als er sein Haus betrat. War Tranai nur ein Utopia oder ein Narrenhaus von Planetengröße? Gab es da einen Unterschied? Zum erstenmal in seinem Leben gestattete sich Goodman den Zweifel, ob ein Utopia wünschenswert sei. Schien es da nicht besser zu sein, nach Vollkommenheit zu streben, statt sie zu besitzen? Ideale zu haben, statt ihnen nachzuleben? Wenn die Gerechtigkeit ein Irrtum war, sollte man den Irrtum nicht der Wahrheit vorziehen? Oder umgekehrt? Goodman war völlig verwirrt, als er in sein Haus trat und seine Frau in den Armen eines anderen Mannes fand. Die Szene vor seinen Augen war von furchtbarer Deutlichkeit. Sie spielte sich im Zeitlupentempo ab. Janna schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis sie sich erhoben, ihre Kleidung geordnet hatte und ihn mit offenem Mund anstarrte. Der Mann – ein großer, gutaussehender Bursche, den
Goodman nicht kannte – war so überrascht, daß er kein Wort hervorbrachte. Er machte kleine, hilflose Gesten, stäubte sich sein Jackett ab, zog die Manschetten vor. Dann lächelte er zögernd. »Na!« sagte Goodman. Unter den obwaltenden Umständen war das schwach, aber dennoch wirkungsvoll. Janna begann zu weinen. »Tut mir furchtbar leid«, murmelte der andere. »Habe Sie nicht so früh erwartet. Das muß ein großer Schock für Sie sein. Es tut mir sehr leid.« Das einzige, was Goodman vom Geliebten seiner Frau nicht erwartete und wünschte, war Mitgefühl. Er ignorierte den Mann und starrte die weinende Janna an. »Nun, was hast du erwartet?« schrie ihn Janna plötzlich an. »Ich mußte! Du hast mich nicht geliebt!« »Nicht geliebt! Wie kannst du das sagen?« »Weil du mich so gemein behandelt hast.« »Ich habe dich sehr geliebt, Janna«, sagte er leise. »Das ist nicht wahr!« schrie sie und warf den Kopf zurück. »Denk nur einmal nach, wie du mich behandelt hast. Den ganzen Tag mußte ich dasein und Hausarbeit machen, Marvin, ich konnte fühlen, wie ich alterte. Tag um Tag das gleiche erschöpfende, sinnlose Leben. Und die meiste Zeit warst du zu müde, um mich überhaupt anzusehen. Da war nur von deinen blöden Robotern die Rede! Ich wäre zugrunde gegangen, Marvin!« Goodman kam plötzlich auf die Idee, daß seine Frau den Verstand verloren hatte. Leise und sanft sagte er: »Aber so ist das Leben nun einmal, Janna. Mann und Frau altern miteinander. Man kann nicht immer nur Feste –« »Aber natürlich kann man! Versuch doch zu verstehen, Marvin. Auf Tranai ist das möglich – für eine Frau!« »Ausgeschlossen«, sagte Goodman. »Auf Tranai darf jede Frau mit einem sorgenlosen, vergnügten Leben rechnen. Das ist ihr Recht, wie auch die Männer ihre Rechte haben. Sie erwartet, aus der Stasis geholt zu werden und eine kleine Party
vorbereitet zu finden, einen Spaziergang im Mondschein, einen Ausflug zum Schwimmen, einen Kinobesuch.« Sie begann wieder zu weinen. »Aber du warst ja so klug. Du mußtest das ändern. Ich hätte einem Terraner nicht trauen dürfen.« Der andere Mann seufzte und zündete sich eine Zigarette an. »Ich weiß, daß du nichts dafür kannst, Marvin, du bist eben ein Fremder«, sagte Janna. »Aber du sollst mich verstehen. Liebe ist nicht alles. Eine Frau muß auch praktisch denken. So, wie die Dinge standen, wäre ich eine alte Frau geworden, während alle meine Freundinnen noch jung sind.« »Noch jung?« wiederholte Goodman verständnislos. »Selbstverständlich«, sagte der andere. »Im Derrsin-Feld altert eine Frau nicht.« »Aber das ist ja furchtbar; meine Frau wäre also noch ein junges Mädchen, auch wenn ich ein alter Mann bin.« »Genau dann wüßtest du eine junge Frau zu schätzen.« »Aber wie steht es mit dir?« wollte Goodman wissen. »Würdest du einen alten Mann schätzen?« »Er begreift immer noch nicht«, sagte der Mann. »Marvin, streng dich doch an. Ist es dir nicht klar? Dein ganzes Leben hindurch hättest du eine junge, schöne Frau, deren einziger Wunsch es wäre, dich zu verwöhnen. Und wenn du stirbst – mach kein so entsetztes Gesicht, jeder muß sterben –, wenn du stirbst, wäre ich immer noch jung, und laut Gesetz bekäme ich dein ganzes Geld.« »Ich begreife langsam«, sagte Goodman. »Das ist wohl auch eine der anerkannten Phasen Tranais – die reiche junge Witwe, die ihren Vergnügungen nachgehen kann.« »Natürlich. Auf diese Weise ist allen geholfen. Der Mann hat eine junge Frau, die er nur sieht, wenn es ihm behagt. Er behält seine Freiheit und hat ein schönes Heim dazu. Der Frau bleibt die Langeweile des Alltagslebens erspart, und solange sie etwas davon hat, wird gut für sie gesorgt.« »Das hätte man mir sagen müssen«, beklagte sich Goodman.
»Ich dachte, du wüßtest Bescheid«, sagte Janna, »nachdem du glaubtest, einen besseren Weg gefunden zu haben. Aber ich sehe, daß du nie begriffen hättest, weil du zu naiv bist – obwohl ich zugeben muß, daß das deinen Charme ausmacht.« Sie lächelte wehmütig. »Außerdem wäre ich nie Rondo begegnet, wenn ich es dir gesagt hätte.« Der andere verbeugte sich leicht. »Ich brachte Proben von Greahs Konfekt. Sie können sich meine Überraschung vorstellen, als ich diese wunderbare junge Frau außerhalb der Stasis fand. Ein Märchen war Wirklichkeit geworden. Man rechnet nie mit solchen Dingen, also müssen Sie zugeben, daß die Verlockung besonders groß ist, wenn es doch passiert.« »Liebst du ihn?« fragte Goodman schwerfällig. »Ja«, sagte Janna. »Rondo bedeute ich alles. Er wird mich so lange in der Stasis lassen, daß die verlorene Zeit wettgemacht wird. Das verlangt Opfer von ihm, aber Rondo ist großzügig –« »Wenn das so ist, will ich euch natürlich nicht im Wege sein; ich bin schließlich ein zivilisiertes Wesen. Du kannst die Scheidung haben.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und kam sich sehr edel vor. Aber irgendwie kam ihm zum Bewußtsein, daß seine Entscheidung nicht so sehr auf Edelmut als vielmehr auf einem plötzlichen, heftigen Ekel vor allem Tranaischen beruhte. »Auf Tranai gibt es keine Scheidung«, sagte Rondo. »Nein?« Goodman spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Rondo hatte plötzlich eine Strahlerpistole in der Hand. »Es wäre viel zu anstrengend, ständig die Ehepartner zu tauschen, wissen Sie. Es gibt nur einen Weg, das zu bereinigen.« »Aber das ist doch widerlich!« stieß Goodman hervor und wich zurück. »Das spricht doch aller Anständigkeit hohn!« »Nicht, wenn die Frau es wünscht. Und das ist übrigens auch ein ausgezeichneter Grund, sein Eheweib in der Stasis zu belassen. Habe ich deine Genehmigung, Liebste?« »Verzeih mir, Marvin«, sagte Janna. Sie schloß die Augen. »Ja!« Rondo zielte. Ohne zu zögern, sprang Goodman mit dem Kopf voraus durch das nächste Fenster. Rondos Schuß ging ins Leere.
»Halt!« schrie Rondo. »So zeigen Sie doch etwas Mut, Mann. Sie können doch nicht einfach davonlaufen!« Goodman war mit voller Wucht auf einer Schulter gelandet. Er raffte sich auf, raste davon, und Rondos zweiter Schuß versengte seinen Ärmel. Dann duckte sich Goodman hinter eine Hausecke; er war für den Augenblick in Sicherheit. Zum Nachdenken ließ er sich keine Zeit. Er rannte zum Raumflughafen. Zum Glück war gerade ein Schiff startbereit; es brachte ihn nach G’moree. Von dort aus forderte er telegrafisch von Tranai sein Geld an und buchte einen Flug nach Higastomeritreia, wo ihn die Behörden als Deng-Spion verhafteten. Die Anklage ließ sich nicht halten, da die Dengier Amphibien sind und Goodman beinahe ertrank, als er zu jedermanns Zufriedenheit bewies, daß er nur Luft zu atmen vermochte. Eine Transportrakete schaffte ihn zum Doppelplaneten Mvanti, vorbei an Seves, Olgo und Mi. Er engagierte einen Piloten für den Flug nach Bellismoranti, wo der Einfluß der Erde spürbar zu werden begann. Von dort aus transportierte ihn eine örtliche Raumfluglinie vorbei am galaktischen Wirbel, vorbei an Oyster, Lekung, Pankang, Inchang und Machang nach Tung-Bradar. Sein Geld war inzwischen verbraucht, aber er befand sich, astronomisch gesehen, an der Schwelle zur Erde. Er konnte seinen Flug nach Oumé abarbeiten, und auch den von Oumé nach Legis II. Dort verschaffte ihm die Hilfsorganisation für Interstellar-Reisende eine Kabine, und endlich landete er wieder auf der Erde. Goodman ließ sich in Seakirk, New Jersey, nieder, wo man in Sicherheit ist, solange man seine Steuern bezahlt. Er wurde Chef-Robottechniker der Seakirk-Bau-GmbH und heiratete ein stilles, dunkelhaariges Mädchen, das ihn verehrt, obwohl er es selten aus dem Haus läßt. Er und Captain Savage besuchen häufig Eddies Moonlight-Bar, trinken Tranai-Spezial und reden vom gesegneten Tranai, wo man den richtigen Weg gefunden hat, wo der Mensch nicht mehr ans Tretrad des Lebens gefesselt ist. Bei solchen Gelegenheiten beklagt sich Goodman stets über einen Anflug von Weltraum-Malaria – wegen dieses Leidens kann er nie mehr in den Weltraum, nie mehr nach Tranai zurück.
An diesen Abenden versammelt sich immer eine bewundernde Zuhörerschaft. Goodman hat kürzlich mit Captain Savages Hilfe die Seakirk-Liga zur Beseitigung des Wahlrechts der Frauen gegründet. Die beiden sind die einzigen Mitglieder, aber wann hat diese Tatsache einen Reformer jemals gestört? meint Goodman.
Pfadfinderspiele Man hielt den letzten Appell vor dem großen Pfadfindertreffen ab; alle Gruppen hatten sich versammelt. Gruppe 22 – die Gruppe Steigender Falke – kampierte in einer schattigen Senke und hielt ein Tentakelzerren ab. Die Gruppe Tapferer Büffel, Nummer 31, lagerte an einem kleinen Fluß. Die »Büffel« praktizierten ihre Geschicklichkeit im Trinken von Flüssigkeit und belachten die seltsamen Gefühle, die sie dabei beschlichen. Die Gruppe Stürmender Mirash, Nummer 19, jedoch wartete auf Pfadfinder Drag, der sich, wie üblich, verspätete. Drag raste von der 3000-Meter-Höhe herunter, solidifizierte sich und kroch hastig in den Kreis von Pfadfindern. »Ach«, sagte er, »tut mir leid. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie spät –« Der Pfadfinderanführer starrte ihn grimmig an. »Deine Uniform ist nicht korrekt, Drag.« »Verzeihung, Sir«, sagte Drag und schob eilig einen Tentakel hervor, den er vergessen hatte. Die anderen kicherten. Drag wurde orangerot. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Aber das war jetzt nicht erlaubt. »Ich eröffne den Appell mit dem Pfadfinder-Schwur«, sagte der Pfadfinderanführer. Er räusperte sich. »Wir, die jungen Pfadfinder des Planeten Elbonai, verpflichten uns, den Talenten und Tugenden unserer Vorfahren nachzueifern. Zu diesem Zweck nehmen wir Pfadfinder die Form an, in die unsere Vorfahren hineingeboren wurden, als sie die jungfräuliche Wildnis Elbonais bezwangen. Wir schwören –« Pfadfinder Drag stellte seine Hörwerkzeuge so ein, daß die leise Stimme des Anführers verstärkt zu ihm drang. Der Schwur begeisterte ihn stets von neuem. Man vermochte kaum zu glauben, daß seine
Vorfahren einmal an den Boden gebunden gewesen waren. Heutzutage waren die Elbonais Luftwesen; sie behielten nur ein Minimum an Körper bei, nahmen in 6000 Meter Höhe kosmische Strahlung in sich auf, verfügten über direkte Wahrnehmung und kamen nur aus sentimentalen oder kultischen Gründen nach unten. Seit dem Zeitalter der Pioniertaten hatte man viel erreicht. Die moderne Welt begann mit dem Zeitalter der Submolekular-Kontrolle; sie wurde von der jetzigen Epoche der direkten Steuerung abgelöst. »… Ehrlichkeit und Fairneß«, sagte der Pfadfinderanführer. »Und wir schwören ferner, Flüssigkeiten zu trinken, wie sie es taten, feste Nahrung zu uns zu nehmen und unsere Geschicklichkeit im Umgang mit ihren Werkzeugen und Methoden zu steigern.« Als der Schwur gesprochen war, verteilten sich die Pfadfinder auf der Ebene. Der Pfadfinderanführer trat zu Drag. »Das ist der letzte Appell vor dem Treffen«, erklärte er. »Ich weiß«, sagte Drag. »Und du bist der einzige Pfadfinder zweiter Klasse in der Gruppe Stürmender Mirash. Alle anderen sind Mitglieder der ersten Klasse oder zumindest Junior-Pioniere. Was werden die Leute von unserer Gruppe halten!« Drag wand sich. »Das ist schließlich nicht allein mein Fehler«, meinte er. »Ich weiß, daß ich die Schwimm- und Bomben-Bastel-Prüfungen nicht bestanden habe, aber dazu tauge ich eben nicht. Es ist nicht fair, von mir zu verlangen, daß ich alles können soll. Selbst unter den Vorfahren gab es Spezialisten. Keiner mußte alles –« »Und worin bestehen eigentlich deine Fähigkeiten?« unterbrach ihn der Anführer. »Forst- und Bergkunde«, erwiderte Drag eifrig. »Spurensuchen, jagen.« Der Anführer sah ihn eine Weile an. Schließlich sagte er langsam: »Drag, was würdest du zu einer letzten Chance, die erste Klasse zu erreichen und dazu noch eine Leistungsmedaille zu bekommen, sagen?« »Ich tue alles!« rief Drag. »Na schön«, meinte der Anführer. »Weißt du, wie deine Gruppe heißt?«
»Die Gruppe Stürmender Mirash.« »Und was ist ein Mirash?« »Ein großes, wildes Tier«, erwiderte Drag sofort. »Früher gab es sie an vielen Stellen Elbonais; unsere Vorfahren lieferten ihnen gewaltige Kämpfe. Jetzt sind sie ausgestorben.« »Nicht ganz«, meinte der Anführer. »Ein Pfadfinder durchforschte die Wälder siebenhundert Kilometer von hier, in den Koordinaten S233/482-2W, und er entdeckte drei Mirash männlichen Geschlechts, die also gejagt werden dürfen. Ich möchte, daß du sie aufspürst und verfolgst, wobei du dein Wissen in Forst- und Bergkunde einzusetzen hast. Dann sollst du, unter ausschließlicher Verwendung von Werkzeugen und Methoden unserer Vorfahren, das Fell eines Mirash zurückbringen. Glaubst du, daß du das schaffen kannst?« »Ich weiß es, Sir!« »Dann mach dich sofort auf den Weg«, sagte der Anführer. »Wir befestigen das Fell an unserer Fahnenstange. Beim Pfadfindertreffen erhalten wir dafür sicher eine Auszeichnung.« »Jawohl, Sir!« Drag packte hastig seine Ausrüstung zusammen, füllte seine Feldflasche mit Flüssigkeit, nahm feste Nahrung mit und zog los. Wenige Minuten später hatte er sich in das Gebiet S-233/482-2W versetzt, eine wilde, romantische Landschaft voll schroffer Felsen und verkümmerter Bäume; in den Tälern herrschte dichtes Unterholz vor, die Berggipfel waren schneebedeckt. Drag sah sich besorgt um. Er hatte dem Anführer nicht ganz die Wahrheit gesagt. In Wirklichkeit war er in Forst- und Bergkunde ebensowenig bewandert wie im Spurensuchen und Jagen. Er hatte überhaupt keine besonderen Talente. Am liebsten träumte er unter den Wolken in 1500 Meter Höhe stundenlang vor sich hin. Wenn es ihm nun nicht gelang, einen Mirash zu finden? Was geschah, wenn ihn der Mirash zuerst entdeckte? Aber da bestand keine Gefahr, versicherte er sich. Im Notfall konnte er immer noch gestibulieren. Wer würde schon davon erfahren?
Einen Augenblick später hatte er eine schwache Spur von MirashGeruch entdeckt. Dann sah er, nahe einem t-förmigen Felsen, eine Bewegung. Sollte es wirklich so einfach sein? Wie schön! Lautlos nahm er eine geeignete Tarnung an und näherte sich der Stelle. Der Bergpfad wurde steiler, die Sonne brannte unbarmherzig hernieder. Paxton schwitzte, trotz seines Overalls mit Klimaanlage. Und er hatte es endgültig satt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Wann verschwinden wir endlich von hier?« fragte er. Herrera schlug ihm jovial auf die Schulter. »Wollen Sie denn nicht reich werden?« »Das sind wir schon«, erwiderte Paxton. »Aber nicht reich genug«, meinte Herrera und grinste breit. Stellman kam herauf. Er keuchte unter dem Gewicht seiner Prüfgeräte. Vorsichtig ließ er sich auf den Boden nieder. »Wie wär’s mit einer kleinen Verschnaufpause, meine Herren?« sagte er. »Warum nicht?« meinte Herrera. »Wir haben ja Zeit.« Er lehnte seinen Rücken an einen t-förmigen Felsen. Stellman zündete sich die Pfeife an, und Herrera fand in der Reißverschlußtasche seines Overalls eine Zigarre. Paxton beobachtete sie eine Weile. Dann fragte er: »Wann fliegen wir jetzt endlich ab? Oder wollen wir hier dauernden Wohnsitz nehmen?« Herrera grinste nur und strich ein Zündholz für seine Zigarre an. »Also, wie steht’s?« schrie Paxton. »Beruhigen Sie sich, Sie sind überstimmt«, meinte Stellman. »Wir haben das Ganze für drei gleichberechtigte Partner aufgezogen.« »Mit meinem Geld«, beschwerte sich Paxton. »Natürlich. Deswegen haben wir Sie ja mit hereingenommen. Herrera besaß die praktischen Schürf-Erfahrungen. Ich hatte das theoretische Wissen und eine Pilotenlizenz. Sie hatten das Geld.«
»Aber wir haben doch schon so viel Zeug an Bord«, wandte Paxton ein. »Die Lager sind voll. Warum können wir nicht eine zivilisierte Gegend aufsuchen und mit dem Geldausgeben anfangen?« »Herrera und ich verfügen nicht über Ihre aristokratische Einstellung zum Reichtum«, erklärte Stellman mit übertriebener Geduld. »Herrera und ich haben den kindischen Wunsch, jeden leeren Winkel mit unseren Schätzen anzufüllen. Goldklumpen in den Treibstofftanks, Smaragde in den Mehlbüchsen, Diamanten knöcheltief auf dem Schiffsboden. Und das hier ist genau die richtige Gegend. Alle Arten von kostbaren Steinen liegen herum und warten darauf, aufgehoben zu werden. Wir möchten ekelerregend, scheußlich reich sein, Paxton.« Paxton hatte nicht zugehört. Er starrte unverwandt auf eine Stelle nahe dem Rand des Pfades. Leise sagte er: »Dieser Baum hat sich eben bewegt.« Herrera brach in Gelächter aus. »Ein Monster, wahrscheinlich«, sagte er verächtlich. »Nur keine Aufregung«, sagte Stellman mit Grabesstimme. »Mein lieber Paxton, ich bin nicht mehr jung, zu dick und leicht zu erschrecken. Glauben Sie etwa, ich würde hierbleiben, wenn nur die geringste Gefahr bestünde?« »Da! Er hat sich wieder bewegt!« »Vor drei Monaten haben wir den Planeten hier überprüft«, sagte Stellman. »Wir fanden keine intelligenten Wesen, keine gefährlichen Tiere, keine giftigen Pflanzen, erinnern Sie sich? Alles, was wir gefunden haben, waren Wälder, Berge, Gold, Seen, Smaragde, Flüsse und Diamanten. Wenn es hier wirklich etwas gäbe, hätte es uns dann nicht längst angegriffen?« »Ich habe gesehen, wie sich der Baum bewegt hat«, erklärte Paxton hartnäckig. Herrera stand auf. »Dieser Baum?« fragte er. »Ja. Schaut hin, er gleicht den anderen nicht einmal. Andere Struktur –« Mit einer einzigen Bewegung zog Herrera eine Strahlerpistole, Modell II, aus dem Halfter und gab drei Schüsse auf den Baum ab. Der Baum
mitsamt dem Unterholz im Umkreis von zehn Metern ging in flammen auf und sank dann in sich zusammen. »Weg«, sagte Herrera. Paxton rieb sich das Kinn. »Ich konnte ihn schreien hören, als Sie schossen.« »Sicher. Aber jetzt ist er tot«, meinte Herrera beruhigend. »Wenn sich wieder irgend etwas bewegt, brauchen Sie es mir nur zu sagen, dann schieße ich es nieder. Aber jetzt sammeln wir noch ein paar kleine Smaragde ein, nicht wahr?« Paxton und Stellman stemmten ihre Lasten hoch und folgten Herrera den Pfad hinunter. Stellman sagte leise und amüsiert: »Ziemlich geradeheraus, was?« Langsam kam Drag zu Bewußtsein. Die Flammenwaffe des Mirash hatte ihn beinahe ungeschützt in seiner Tarnung erwischt. Er konnte immer noch nicht begreifen, wie das geschehen war. Es hatte keinen warnenden Furcht-Geruch, kein Schnauben, kein Gebrüll gegeben. Der Mirash hatte plötzlich angegriffen, ohne sich zu vergewissern, ob ihm Freund oder Feind gegenüberstand. Endlich durchschaute Drag die Natur der Bestie, auf deren Spur er war. Er wartete, bis die Hufschläge der drei Mirash in der Ferne verklungen waren. Dann versuchte er schmerzverzerrt einen Sehempfänger auszuschieben. Nichts rührte sich. Panik überfiel ihn. Wenn sein Zentralnervensystem betroffen war, ging es mit ihm zu Ende. Er versuchte es wieder. Diesmal rutschte ein Felsbrocken ab, und er konnte sich wieder rekonstruieren. Schnell nahm er eine Innen-Betrachtung vor. Erleichtert seufzte er auf. Um Haaresbreite war er davongekommen. Instinktiv hatte er im richtigen Zeitpunkt quondisiert und damit sein Leben gerettet. Er bemühte sich, einen anderen Aktionsplan zu entwerfen, aber der Schock dieses plötzlichen, gemeinen, unprovozierten Angriffs hatte auch den letzten Rest von Jagdkunde aus seinem Gedächtnis vertrieben. Er
stellte fest, daß er nicht im geringsten den Wunsch hatte, dem wilden Mirash noch einmal zu begegnen. Aber durfte er ihm ausweichen? Wenn er nun ohne dieses blöde Fell zurückkam? Er konnte dem Anführer ja erzählen, die Mirash seien alle weiblichen Geschlechts und damit nicht jagdbar. Das Wort eines jungen Pfadfinders wurde akzeptiert, und niemand würde ihm Fragen stellen oder gar nachforschen. Aber das ging nicht an. Wie durfte er so etwas überhaupt nur denken? Tja, sagte er sich bedrückt, er konnte seinen Pfadfinderhut nehmen und der lächerlichen Sache ein für allemal ein Ende machen: den Lagerfeuern, dem Singen, den Spielen, der Kameradschaft ade sagen… Ausgeschlossen, entschied Drag und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Er gebärdete sich so, als seien die Mirash Gegner, die zu planen verstünden. Aber die Mirash waren ja nicht einmal intelligente Wesen. Kein Lebewesen ohne Tentakel hatte je wirkliche Intelligenz entwickelt. Das war Etlibs Gesetz, und es galt unumschränkt. In der Auseinandersetzung zwischen Intelligenz und instinktiver Schlauheit hatte stets die Intelligenz gesiegt. Das mußte so sein. Er brauchte nur nachzudenken. Drag begann die Mirash wieder zu verfolgen, indem er ihrem Geruch nachspürte. Welche Waffe der Vorfahren sollte er verwenden? Eine kleine Atombombe? Nein, darunter würde sicher das Fell leiden. Er blieb plötzlich stehen und lachte. In Wirklichkeit war es ganz einfach, wenn man ein wenig überlegte. Warum sollte er direkten, gefährlichen Kontakt mit den Mirash suchen? Jetzt war die Zeit für den Gebrauch seines Gehirns, für die Anwendung seines Wissens über die Tier-Psychologie gekommen. Statt den Mirash zu folgen, würde er ihr Lager aufsuchen. Und dort gedachte er ihnen eine Falle zu stellen. Ihr Lager befand sich in einer Höhle. Als sie es erreichten, ging die Sonne bereits unter. Jede Felsspitze, jeder Gesteinsbrocken warf scharfe, dunkle Schatten. Das Raumschiff lag acht Kilometer unter ihnen auf dem Talboden; die Metallhaut glitzerte rötlich-silbern. In ihren
Rucksäcken hatten sie ein Dutzend Smaragde, klein, aber von herrlich reiner Farbe. In solchen Stunden dachte Paxton an eine kleine Stadt in Ohio, an Eiskrem, an ein Mädchen mit hellem Haar. Herrera lächelte vor sich hin und bedachte gewisse vergnügliche Arten, eine Million Dollar auszugeben, bevor man sich als Besitzer zahlreicher Ranchen niederließ. Und Stellman formulierte bereits seine Doktorarbeit über außerirdische Minerallager. Sie waren alle bester Stimmung. Paxton hatte sich von seiner früheren Nervosität endgültig erholt. Jetzt wünschte er, daß wirklich ein fremdes Ungeheuer auftauchen möge – am besten ein grünes –, das ein wunderschönes, dürftig bekleidetes Mädchen verfolgte. »Endlich zu Hause«, sagte Stellman, als sie sich dem Eingang der Höhle näherten. »Wie wär’s mit Irish Stew heute?« Er hatte an diesem Abend Küchendienst. »Mit viel Zwiebeln«, sagte Paxton und trat in die Höhle. Wie von der Tarantel gestochen sprang er wieder heraus. »Was ist das?« Einen Meter von der Höhlenöffnung entfernt dampfte ein kleines Roastbeef, daneben lagen vier große Diamanten, und in der Mitte stand eine Flasche Whisky. »Merkwürdig«, sagte Stellman. »Gar nicht gut für die Nerven.« Paxton bückte sich, um einen der Diamanten zu betrachten. Herrera zog ihn weg. »Vielleicht eine Falle.« »Ich sehe keine Drähte«, meinte Paxton. Herrera starrte das Roastbeef, die Diamanten und die Flasche Whisky an. Er machte ein unglückliches Gesicht. »Ich traue der Sache nicht«, sagte er. »Vielleicht gibt es hier doch Eingeborene«, überlegte Stellman. »Sehr schüchterne Eingeborene. Das da könnte ihr Friedensangebot sein.« »Natürlich«, sagte Herrera. »Sie haben extra für uns von der Erde eine Flasche Whisky geholt.« »Was sollen wir tun?« fragte Paxton.
»Wegbleiben«, befahl Herrera. »Zurück mit euch.« Er brach einen langen Ast von einem in der Nähe stehenden Baum und stocherte damit vorsichtig zwischen den Diamanten herum. »Es rührt sich nichts«, sagte Paxton. Das langhalmige Gras, auf dem Herrera stand, schlug peitschend gegen seine Knöchel. Der Boden unter ihm warf sich, löste sich zu einer säuberlich abgetrennten Scheibe von fünf Metern Durchmesser und begann sich in die Luft zu erheben, wobei die Wurzelenden nachschleiften. Herrera versuchte herunterzuspringen, aber das Gras hielt ihn wie mit tausend grünen Zungen fest. »Nicht aufgeben!« schrie Paxton gedankenlos, sprang vor und packte den Rand der emporsteigenden Scheibe. Sie neigte sich stark, kam für einen Augenblick zum Stillstand und begann wieder zu steigen. Inzwischen hatte Herrera das Messer aus dem Gürtel gerissen und hackte damit das Gras um seine Knöchel herum ab. Stellman fuhr aus seiner Erstarrung hoch, als er Paxton an seinem Kopf vorbeigleiten sah. Stellman packte ihn an den Füßen und hielt die Scheibe in ihrem Höhenflug wieder auf. Herrera befreite einen seiner Füße und hechtete über den Scheibenrand. Der andere Knöchel wurde für den Bruchteil einer Sekunde festgehalten, dann gab das feste Gras unter seinem Gewicht nach. Herrera fiel kopfüber auf den Boden, aber im letzten Moment konnte er den Kopf ducken, so daß er auf den Schultern landete. Paxton ließ die Scheibe los und stürzte ab, wobei er Stellman direkt auf den Bauch fiel. Die Scheibe mit ihrer Last aus Roastbeef, Whisky und Diamanten stieg ungehindert empor, bis sie den Blicken der Männer entschwunden war. Die Sonne hatte sich unter den Horizont zurückgezogen. Stumm betraten die drei Männer ihre Höhle, die Strahler im Anschlag. An der Höhlenöffnung entfachten sie ein loderndes Feuer, dann zogen sie sich ins Innere zurück. »Wir halten heute nacht abwechselnd Wache«, sagte Herrera. Paxton und Stellman nickten. »Ich glaube, Sie hatten recht, Paxton«, sagte Herrera. »Wir sind lange genug hier gewesen.«
»Zu lange«, meinte Paxton. »Sobald es hell wird, kehren wir zum Schiff zurück und fliegen los.« »Wenn wir das Schiff noch erreichen«, sagte Stellman. Drag war sehr entmutigt. Bedrückt hatte er die vorzeitige Entdeckung der Falle, den Kampf und das Entkommen der Mirash miterlebt. Dabei war dieser Mirash der größte von den dreien gewesen! Er wußte jetzt, was er falsch gemacht hatte. In seinem Eifer hatte er seine Falle mit zu reichem Köder versehen. Die Minerale hätten genügt, da die Mirash darauf besonders ansprachen. Aber nein, er mußte die Methoden der Vorfahren verbessern, er mußte auch noch Nahrungs-Stimulantia verwenden. Kein Wunder, daß sie Verdacht geschöpft hatten. Jetzt waren sie gereizt, aufmerksam und entschieden gefährlich. Und ein gereizter Mirash bot einen der fürchterlichsten Anblicke in der gesamten Galaxis. Drag kam sich sehr einsam vor, als Elbonais Zwillingsmonde am westlichen Himmel emporstiegen. Er konnte das Lagerfeuer der Mirash in der Höhlenöffnung lodern sehen. Durch direkte Wahrnehmung vermochte er die Mirash bewaffnet im Innern zu erkennen. War ein Mirash-Fell wirklich soviel Mühe wert? Drag dachte, daß er viel lieber in 1500 Meter Höhe schweben, Wolkenformationen bilden und träumen würde. Er wollte Strahlung absorbieren, statt scheußliche feste Nahrung aufzunehmen. Und wozu sollte dieses Jagen und Fallenstellen überhaupt gut sein? Das waren nutzlose Fertigkeiten, über die seine Rasse längst hinausgewachsen war. Einen Augenblick lang hatte er sich beinahe überredet. Dann begriff er in blitzartiger Erkenntnis, worum es ging. Gewiß, die Elbonais waren ihren Konkurrenten über den Kopf gewachsen, sie hatten sich durch ihre rasche Entwicklung jeder Gefahr entzogen. Das Universum jedoch war groß und vieler Überraschungen fähig. Wer vermochte vorauszusehen, welche neuen Gefahren seine Rasse zu bestehen haben würde? Und wie konnte sie ihnen begegnen, wenn der Jagdinstinkt verlorenging?
Nein, die alten Sitten mußten bewahrt werden, um als Stütze zu dienen, als Mahnung, daß friedliches, intelligentes Leben in einem feindseligen Universum nie ruhen durfte. Er würde das Mirashfell beschaffen oder bei seinen Bemühungen umkommen! Das wichtigste war jetzt, sie aus ihrer Höhle zu locken. Sein Jagdwissen kehrte wieder. Schnell und geschickt bildete er eine Mirash-Flöte. »Habt ihr das gehört?« fragte Paxton. »Ich hab’ mir doch gedacht, daß sich da etwas gerührt hat«, sagte Stellman. Die drei Männer lauschten angestrengt. Der Laut kam wieder. Eine Stimme rief: »Oh, Hilfe, helft mir!« »Ein Mädchen!« Paxton sprang auf. »Es klingt so, als ob es ein Mädchen wäre«, meinte Stellman. »Bitte helft mir«, klang die Mädchenstimme verzweifelt, »ich kann mich nicht mehr lange verteidigen. Hilft mir denn niemand?« Paxton schoß das Blut ins Gesicht. Wie durch eine Eingebung sah er sie, klein, wohlgeformt, neben ihrem Sport-Raumschiff-Wrack, umgeben von grünen, schleimigen Ungeheuern. Und dann kam Es, eine ekelerregende, fremdartige Bestie. Paxton nahm einen Strahler an sich. »Ich muß hinaus«, sagte er kühl. »Setzen Sie sich hin, Sie Trottel!« fauchte Herrera. »Aber ihr habt es doch auch gehört, oder nicht?« »Das kann kein Mädchen sein«, meinte Herrera. »Was hätte ein Mädchen auf diesem Planeten zu suchen?« »Ich finde das schon heraus«, verkündete Paxton und fuchtelte mit zwei Strahlern herum. »Vielleicht ist ein Raumlinienschiff abgestürzt, oder sie hat einen Abstecher gemacht und –« »Setzen Sie sich hin!« brüllte Herrera. »Er hat recht«, versuchte Stellman Paxton zu überzeugen. »Selbst wenn draußen wirklich ein Mädchen wäre, was ich bezweifle, könnten wir nichts tun.«
»Oh, Hilfe, Hilfe, es verfolgt mich!« kreischte die Mädchenstimme. »Aus dem Weg!« sagte Paxton leise und gefährlich. »Sie wollen wirklich hinaus?« fragte Herrera ungläubig. »Ja! Wer will mich zurückhalten?« »Nur zu.« Herrera deutete auf den Höhleneingang. »Wir dürfen es nicht zulassen!« rief Stellman. »Warum nicht? Er soll sich doch den Kopf einrennen«, meinte Herrera lässig. »Macht euch um mich keine Sorgen«, sagte Paxton. »Ich bin in fünfzehn Minuten zurück – mit ihr!« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zum Eingang. Herrera beugte sich vor und schlug Paxton mit einem massiven Holzscheit nieder. Stellman fing ihn auf. Sie legten Paxton auf den Boden und setzten ihre Nachtwache fort. Das unglückliche Mädchen stöhnte und flehte die nächsten fünf Stunden hindurch, ohne Unterbrechung. Viel zu lange, wie Paxton zugeben mußte, selbst für eine Fernsehserie. Der düstere, regenverhangene Tagesanbruch fand Drag immer noch hundert Meter vor der Höhle auf dem Posten. Er sah die Mirash in enger Formation aus der Höhle treten, die Waffen im Anschlag, wachsam, auf alles vorbereitet. Warum hatte die Mirash-Flöte versagt? Im Pfadfinder-Handbuch stand, daß damit unweigerlich die männlichen Mirash anzulocken waren. Aber vielleicht war jetzt nicht Brunstzeit… Sie bewegten sich auf ein metallisches Ovoid zu, das Drag als primitives Raumfahrzeug erkannte. Es war einfach konstruiert, aber die Mirash befanden sich in Sicherheit, sobald sie es erreicht hatten. Er konnte sie zwar auf einfache Weise trevestieren, und damit wäre Schluß. Aber human durfte man ein solches Vorgehen nicht nennen. Die alten Elbonais waren vor allem zurückhaltend und anständig gewesen; ein junger Pfadfinder mußte ihnen nacheifern. Außerdem konnte Trevestieren nicht als Verfahren der Vorfahren gelten.
Dann blieb nur Ilitromie. Das galt als urältester Trick, und überdies mußte er nahe heran, um ihn zustande zu bringen. Zu verlieren hatte er allerdings nichts mehr. Zum Glück waren die klimatischen Bedingungen ideal. Es begann als leichter Bodendunst: Als die wäßrig blinkende Sonne am grauen Himmel emporstieg, bildete sich jedoch starker Nebel. Herrera fluchte um so ärger, je dichter der Nebel wurde. »Eng beieinander bleiben. Ausgerechnet jetzt muß uns das passieren!« Kurze Zeit später mußten sie jeder eine Hand auf die Schulter des anderen legen. Sie hielten die Strahler bereit und starrten in den undurchdringlichen Nebel. »Herrera?« »Ja?« . »Sind Sie sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« »Ja. Ich habe vor dem Auftreten des Nebels auf den Kompaß gesehen.« »Und wenn Ihr Kompaß nicht stimmt?« »Denken wir nicht daran.« Sie gingen weiter, sich vorsichtig über den mit Felsbrocken übersäten Boden vorwärtstastend. »Ich sehe das Schiff«, meinte Paxton. »Nein, wir sind noch nicht so weit«, erwiderte Herrera. Stellman stolperte über einen Stein, ließ seinen Strahler fallen, hob ihn auf und tastete nach Herreras Schulter. Er fand sie und marschierte weiter. »Ich glaube, wir sind bald da«, sagte Herrera. »Hoffentlich«, seufzte Paxton. »Ich habe genug.« »Meinen Sie etwa, Ihre Freundin erwartet Sie am Schiff?« »Ich habe ja schon zugegeben, daß ich im Irrtum war.« »Schon gut«, sagte Herrera. »He, Stellman, Sie sollten sich lieber wieder an meiner Schulter festhalten; wir dürfen uns nicht verlieren.«
»Ich halte mich doch an Ihrer Schulter fest«, sagte Stellman. »Das tun Sie nicht.« »Doch, wenn ich es Ihnen sage!« »Hören Sie mal, ich weiß doch noch, ob sich jemand an meiner Schulter festhält oder nicht!« »Ist das Ihre Schulter, Paxton?« »Nein«, sagte Paxton. »Das ist schlecht«, erklärte Stellman, sehr, sehr langsam. »Das ist äußerst schlecht.« »Warum?« »Weil ich mich eindeutig an irgendeiner Schulter festhalte.« Herrera schrie: »Hinlegen, sofort hinlegen, damit ich schießen kann!« Aber es war zu spät. Ein süß-saurer Geruch erfüllte die Luft. Stellman und Paxton atmeten ein und brachen zusammen. Herrera rannte blindlings weiter, mit angehaltenem Atem. Er stolperte und fiel über einen Felsbrocken, versuchte sich wieder aufzuraffen – Es wurde schwarz um ihn. Der Nebel lichtete sich plötzlich, und Drag stand hochaufgerichtet da, mit triumphierendem Lächeln. Er zog ein langes Häutemesser aus dem Gürtel und beugte sich über einen Mirash. Das Raumschiff stürmte mit einer Beschleunigung zur Erde, bei der für kurze Augenblicke den Super-Antrieb zu verglühen drohte. Herrera, der über die Steuerung gebeugt war; gewann endlich seine Selbstbeherrschung wieder und stellte auf Normalgeschwindigkeit um. Sein sonst dunkelgebräuntes Gesicht war aschfarben, seine Hände über den Instrumenten zitterten. Stellman kam von der Kabine herein und ließ sich in den Kopilotensessel fallen. »Wie geht es Paxton?« fragte Herrera. »Ich habe Drona-3 gespritzt«, sagte Stellman. »Er wird bald wieder der alte sein.« »Er ist ein guter Kerl«, meinte Herrera.
»Zum größten Teil liegt es nur am Schock«, erklärte Stellman. »Wenn er wieder bei Bewußtsein ist, lasse ich ihn Diamanten zählen. Das ist die beste Therapie, glauben Sie mir.« Herrera grinste, und sein Gesicht nahm wieder normale Färbung an. »Ich möchte am liebsten selbst Diamanten zählen, nun, da alles gut ausgegangen ist.« Sein Gesicht wurde plötzlich ernst. »Aber ich frage Sie, wer kennt sich da aus? Ich verstehe es immer noch nicht!« Das Pfadfindertreffen bot ein großartiges Schauspiel. Die Gruppe Steigender Falke, Nummer 22, zeigte eine kurze Pantomime, in der die Eroberung von Elbonai dargestellt wurde. Die Tapferen Büffel, Nummer 31, erschienen in voller Pionier-Montur. Und an der Spitze der Gruppe 19, der Stürmenden Mirash, marschierte Drag, jetzt als Pfadfinder erster Klasse, an der Brust eine glitzernde Leistungsmedaille. Er trug die Gruppenfahne – ein hohes Ehrenamt –, und jedermann stieß bei seinem Anblick Hochrufe aus. Denn von der Fahnenstange flatterte stolz im Sonnenschein die feste, feinstrukturierte, charakteristische Haut eines erwachsenen Mirash, komplett mit Reißverschlüssen, Meßinstrumenten, Knöpfen und Halftern.
Genau wie auf der Erde… Tom Fisher hatte keine Ahnung, daß er am Beginn einer Verbrecherlaufbahn stand. Es war Morgen. Die große, rote Sonne trat eben über den Horizont, begleitet von ihrem kleinen, gelben Nebenstern. Das Dorf, winzig und scharf abgezirkelt, ein einsamer weißer Punkt auf der grünen Weite des Planeten, schimmerte im Licht der beiden Mittsommersonnen. Tom wachte in seinem Häuschen auf. Er war ein großer, braungebrannter, junger Mann mit den ovalen Augen seines Vaters und der Lässigkeit seiner Mutter. Er hatte es nicht eilig; bis nach den Herbstregenfällen gab es nichts zu fischen und also auch keine richtige Arbeit für einen Fischer. Bis zum Herbst durfte er dem Müßiggang huldigen; allenfalls konnte er sein Fischereigerät instand setzen. »Sie soll aber doch ein rotes Dach haben!« hörte er Billy Painter draußen brüllen. »Kirchen haben nie rote Dächer!« schrie Ed Weaver dagegen. Tom runzelte die Stirn. Da er nicht damit befaßt war, hatte er die Veränderungen vergessen, die während der letzten beiden Wochen im Dorf vorgegangen waren. Er streifte eine lange Hose über und schlenderte auf den Dorfplatz hinaus. Das erste, was er dort sah, war ein neues, großes Schild mit der Aufschrift ›Zutritt für fremde Wesen im Stadtgebiet verboten‹. Auf dem Planeten New Delaware gab es keine fremden Lebewesen. Nur Wald und dieses eine Dorf. Das Schild stellte lediglich eine politische Willensäußerung dar. Um den Platz gruppierten sich eine Kirche, ein Gefängnis und ein Postamt; alle Bauten waren in den vergangenen hektischen vierzehn Tagen errichtet und dem Markt gegenüber in Reih und Glied aufgestellt worden. Niemand wußte, was man mit diesen Gebäuden anfangen sollte;
das Dorf hatte sich zweihundert Jahre hindurch sehr gut ohne sie beholfen. Aber jetzt hatte man sie natürlich bauen müssen. Ed Weaver stand vor der neuen Kirche und starrte nach oben. Billy Painter balancierte wagemutig auf dem steilen Kirchendach; sein Schnurrbart sträubte sich angriffslustig. Eine kleine Gruppe von Zuschauern hatte sich eingefunden. »Verdammt noch mal«, sagte Billy Painter, »ich wiederhole, daß ich es erst letzte Woche gelesen habe. Weißes Dach, in Ordnung. Rotes Dach, ausgeschlossen.« »Du verwechselst das mit etwas anderem«, meinte Weaver. »Was hältst du davon, Tom?« Tom zuckte die Achseln. Er hatte keine Meinung zu diesem Thema. Sekunden später hastete der Bürgermeister heran. Er schwitzte stark, das Hemd flatterte über seinem großen Bauch. »Komm herunter«, rief er Billy zu. »Ich habe gerade nachgeschlagen. Es heißt ›Kleines rotes Schulhaus‹, nicht ›Kirche‹.« Billy machte ein zorniges Gesicht. Er war meistens schlechter Laune; das fand man bei allen Painters. Seit ihn der Bürgermeister vergangene Woche jedoch zum Polizeichef gemacht hatte, zeigte er sich geradezu aufsässig. »Wir haben keine kleine Schule«, protestierte Billy, auf der Leiter stehend. »Dann müssen wir eben eine bauen«, erklärte der Bürgermeister. »Und zwar möglichst schnell.« Er starrte zum Himmel empor. Unwillkürlich folgten die Zuschauer seinem Beispiel. Aber noch war nichts zu sehen. »Wo sind die Carpenter-Jungen?« fragte der Bürgermeister. »Sid, Sam, Marv – wo seid ihr?« Sid Carpenters Kopf tauchte in der Menge auf. Er benützte immer noch Krücken, seit er letzten Monat bei der Suche nach Vogelnestern von einem Baum heruntergefallen war; zum Klettern taugte kein Carpenter. »Die anderen beiden sind in Ed Beers Gasthof«, sagte Sid. »Du holst sie«, befahl der Bürgermeister. »Sie müssen ein kleines Schulhaus bauen, und zwar schnell. Sag ihnen, daß sie es neben dem
Gefängnis aufstellen sollen.« Er wandte sich an Billy Painter, der jetzt auf dem Boden angelangt war. »Billy, du streichst dieses Schulhaus leuchtendrot, innen und außen, das ist sehr wichtig.« »Wann bekomme ich ein Amtsabzeichen als Polizeichef?« fragte Billy. »Ich habe gelesen, daß alle Polizeichefs Abzeichen tragen.« »Mach dir selbst eines«, erwiderte der Bürgermeister. Er wischte sich die Stirn. »Verdammt heiß. Ich weiß wirklich nicht, warum dieser Inspektor nicht im Winter kommen kann… Tom! Tom Fisher! Für dich habe ich einen wichtigen Auftrag. Komm mit, ich sag dir Bescheid.« Er legte einen Arm um Toms Schultern. Gemeinsam gingen sie zum Häuschen des Bürgermeisters, vorbei am leeren Markt, auf der einzigen gepflasterten Straße des Dorfes. Früher war sie eine staubige Landstraße gewesen. Aber die alte Zeit hatte man vor zwei Wochen zu Grabe getragen, und jetzt war die Straße mit zerstampftem Gestein gepflastert. Das erschwerte das Barfußgehen derart, daß die Dorfbewohner lieber den Weg über die Grundstücke ihrer Nachbarn abkürzten. Der Bürgermeister benützte die Straße jedoch aus Prinzip. »Hör mal, Bürgermeister, ich habe Ferien –« »Jetzt ist keine Zeit für Ferien«, sagte der Bürgermeister. »Wirklich nicht. Er kann jeden Tag kommen.« Er führte Tom in seine Behausung und setzte sich in den großen Lehnsessel, der neben dem InterstellarRadio stand. »Tom«, sagte der Bürgermeister ohne Umschweife. »Wie würde es dir gefallen, ein Verbrecher zu werden?« »Ich weiß nicht«, gab Tom zurück. »Was ist denn das?« Der Bürgermeister rutschte unsicher auf seinem Stuhl hin und her und legte schließlich eine Hand auf das Radio, gleichsam von dort Autorität beziehend. »Paß auf«, sagte er und begann zu erklären. Tom hörte zu, aber je mehr er erfuhr, desto weniger gefiel es ihm. Daran war nur dieses Interstellar-Radio schuld, dachte er. Warum konnte es nicht ganz defekt sein? Niemand hatte angenommen, daß es funktionieren würde. Es hatte im Büro eines Bürgermeisters nach dem anderen Generationen hindurch Staub gesammelt, die letzte stumme Verbindung mit Mutter Erde. Vor
zweihundert Jahren hatte die Erde mit New Delaware gesprochen und mit Ford IV, Alpha Centauri, Nueva Espana und den anderen Kolonien, aus denen die Vereinigten Demokratien der Erde bestanden. Dann hörten plötzlich alle Kontakte auf. Auf der Erde schien ein Krieg stattzufinden. New Delaware mit seinem einzelnen Dorf war zu klein und zu fern, um daran teilzuhaben. Die Leute warteten auf Nachrichten, aber sie blieben aus. Dann kam die Pest und raffte Dreiviertel der Einwohner dahin. Langsam erholte sich das Dorf wieder. Die Bewohner entwickelten ihre eigene Art, mit den Dingen fertig zu werden. Sie vergaßen die Erde. Zweihundert Jahre vergingen. Und dann hatte der uralte Empfänger vor zwei Wochen plötzlich Geräusche von sich gegeben. Stundenlang krächzte und rasselte er, während sich die Dorfbewohner um das Haus des Bürgermeisters versammelten. Schließlich drangen Worte aus dem Lautsprecher: »… hört ihr mich, New Delaware? Hört ihr mich?« »Ja, ja, wir hören Sie«, sagte der Bürgermeister. »Existiert die Kolonie noch?« »Das möchte ich meinen«, erklärte der Bürgermeister stolz. Die Stimme nahm einen strengen, amtlichen Klang an. »Seit geraumer Zeit gab es infolge der ungünstigen Umstände hier keinen Kontakt mit den äußeren Kolonien. Jetzt ist das vorbei, abgesehen von einigen Aufräumarbeiten. Ihr von New Delaware seid immer noch eine Kolonie des Imperiums Erde und seinen Gesetzen unterworfen. Erkennt ihr das an?« Der Bürgermeister zögerte. In allen Büchern stand, daß die Erde eine Gemeinschaft umfaßte, die den Namen ›Vereinigte Demokratien‹ trug. Immerhin, im Laufe von zwei Jahrhunderten mochte sich auch einmal ein Name ändern. »Wir sind der Erde immer noch in Treue verbunden«, verkündete der Bürgermeister würdevoll. »Ausgezeichnet. Das erspart uns die Mühe, Expeditionsstreitkräfte auszusenden. Ein Inspektor wird von der nächstgelegenen Stelle aus auf
den Weg geschickt werden. Er soll sich vergewissern, ob ihr euch an die Gebräuche, Einrichtungen und Traditionen der Erde gehalten habt.« »Was?« fragte der Bürgermeister bestürzt. Die strenge Stimme wurde schriller. »Sie werden natürlich einsehen, daß im Universum nur für eine intelligente Lebensform Platz ist – für den Menschen! Alle anderen müssen unterdrückt, ausgelöscht, vernichtet werden. Wir können es nicht dulden, daß fremde Lebewesen hinter unserem Rücken Verschwörungen ausbrüten. Ich bin sicher, daß Sie sich darüber im klaren sind, General.« »Ich bin kein General, sondern Bürgermeister.« »Sie führen doch den Befehl, nicht wahr?« »Das schon, aber –« »Dann sind Sie ein General. Gestatten Sie, daß ich fortfahre. In dieser Galaxis ist kein Platz für fremde Lebewesen. Auch nicht für ein einziges! Ebensowenig ist Raum für abweichende menschliche Kulturen, die alle schon fremdartig sind. Es ist unmöglich, ein Imperium zu verwalten, wenn jeder tut, was ihm gerade paßt. Es muß Ordnung herrschen, um jeden Preis.« Der Bürgermeister schluckte und starrte das Radio an. »Sorgen Sie dafür, daß Sie eine Erdenkolonie leiten, General, ohne radikale Abweichungen von der Norm, wie zum Beispiel freiem Willen, freier Liebe, freien Wahlen oder allen anderen Dingen, die auf der schwarzen Liste stehen. Diese Dinge sind fremdartig, und mit Fremden gehen wir ziemlich rauh um. Bringen Sie Ihre Kolonie in Ordnung, General. Der Inspektor wird in ungefähr zwei Wochen eintreffen. Das ist alles.« Im Dorf hielt man sofort eine Versammlung ab, um zu entscheiden, wie man dem Auftrag der Erde am besten nachkommen könne. Im Augenblick blieb nichts anderes übrig, als sich eilig nach dem Muster der Erde einzurichten, wie man es in den alten Büchern fand. »Ich verstehe nicht, warum es überhaupt einen Verbrecher geben muß«, wandte Tom ein. »Das ist ein sehr wichtiger Bestandteil der irdischen Gesellschaft«, erklärte ihm der Bürgermeister. »Alle Bücher sind sich darüber einig.
Der Verbrecher ist genauso wichtig wie zum Beispiel der Postbote oder der Polizeichef. Im Gegensatz zu den beiden leistet der Verbrecher Anti-Gesellschaftliches. Er arbeitet gegen die Gesellschaft, Tom. Wenn man keine Leute hat, die gegen die Gesellschaft arbeiten, wie kann man dann welche finden, die sich für sie einsetzen? Sie hätten ja gar nichts zu tun.« Tom schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht mit.« »Sei doch vernünftig, Tom. Wir müssen die Dinge der Erde übernehmen. Gepflasterte Straßen, zum Beispiel. In allen Büchern werden sie erwähnt. Kirchen, Schulhäuser und Gefängnisse. Und in allen Büchern steht etwas über das Verbrechen.« »Ich will nicht«, sagte Tom. »Versetz dich doch einmal in meine Lage«, flehte der Bürgermeister. »Dieser Inspektor kommt und begegnet Billy Painter, unserem Polizeichef. Er will das Gefängnis besichtigen. Dann sagt er: ›Was, keine Gefangenen?‹, ich erwidere: ›Natürlich nicht. Bei uns gibt es keine Verbrechen.‹ ›Keine Verbrechen?‹ fragt er. ›Aber auf Erdenkolonien gibt es immer Verbrechen. Das wissen Sie doch.‹ ›Bei uns nicht‹, erwidere ich. ›Ich habe nicht einmal gewußt, was das ist, bis ich vergangene Woche nachgesehen habe.‹ ›Warum wurde dann ein Gefängnis gebaut?‹ fragt er mich. ›Warum haben Sie einen Polizeichef ernannt?‹« Der Bürgermeister holte tief Luft. »Verstehst du? Das ganze Gebäude stürzt ein. Er sieht sofort, daß wir den Leuten auf der Erde nicht gleichen. Wir spielen ihm etwas vor. Wir sind fremde Lebewesen!« »Hmm«, sagte Tom, wider Willen beeindruckt. »Andererseits könnte ich aber sagen«, fuhr der Bürgermeister eilig fort. »Gewiß doch, wir haben hier Verbrechen, genau wie auf der Erde. Wir verfügen über einen kombinierten Dieb und Mörder. Der arme Kerl hatte eine schlechte Jugend, er ist unzureichend angepaßt. Unser Polizeichef kann sich aber auf einige Hinweise stützen. Wir erwarten binnen vierundzwanzig Stunden eine Verhaftung. Zuerst sperren wir ihn ins Gefängnis, dann rehabilitieren wir ihn.« »Was heißt ›rehabilitieren‹?« erkundigte sich Tom.
»Ich weiß nicht genau. Darüber mache ich mir erst Sorgen, wenn wir soweit sind. Aber du siehst doch jetzt ein, wie notwendig das Verbrechen ist?« »Na ja. Aber warum muß ich das machen?« »Weil sonst niemand Zeit hat. Und du hast eng beieinanderstehende Augen. Das findet man bei allen Verbrechern.« »So eng stehen sie auch wieder nicht beieinander. Jedenfalls nicht enger als Ed Weavers –« »Tom, bitte«, sagte der Bürgermeister. »Wir leisten alle unser Teil. Du willst doch mithelfen, oder nicht?« »Na ja«, murmelte Tom mürrisch. »Prima. Du bist unser Verbrecher. Hier, damit es auch ganz gesetzlich wird.« Er überreichte Tom ein Dokument. Der Text lautete: »SchleichErlaubnis. Hierdurch wird allen kundgetan, daß Tom Fisher ein amtlich genehmigter Dieb und Mörder ist. Er wird hiermit aufgefordert, durch verlassene Gassen zu schleichen, Lokale üblen Rufs aufzusuchen und das Gesetz zu übertreten.« Tom las es zweimal durch, dann fragte er: »Welches Gesetz?« »Das sage ich dir jeweils, sobald ich ein neues entworfen haben werde«, meinte der Bürgermeister. »Alle Kolonien der Erde haben Gesetze.« »Aber was muß ich eigentlich tun?« »Du stiehlst. Und mordest. Das sollte doch einfach genug sein.« Der Bürgermeister ging zu seinem Bücherregal und nahm uralte Exemplare von ›Der Verbrecher und seine Umwelt‹, ›Psychologie des Mörders‹ und ›Studien zur Diebstahls-Motivforschung‹ heraus. »Da findest du alles, was du wissen mußt. Stiehl, soviel du willst. Ein Mord dürfte aber genügen. Es hat keinen Sinn, zu übertreiben.« »In Ordnung«, nickte Tom. »Das lerne ich schon.« Er nahm die Bücher und kehrte in sein Häuschen zurück. Es war sehr heiß, und das Gespräch über Verbrechen hatte ihn verwirrt und ermüdet. Er legte sich aufs Bett und begann in den alten Bänden zu blättern. Es klopfte an seiner Tür.
»Herein«, rief Tom und rieb sich die brennenden Augen. Marv Carpenter, der älteste und größte der rothaarigen Carpentersöhne, kam herein, gefolgt vom alten Jed Farmer. Sie trugen einen kleinen Sack. »Bist du der Ortsverbrecher, Tom?« fragte Marv. »Sieht so aus.« »Dann gehört das dir.« Sie stellten den Sack auf den Boden und entnahmen ihm ein Beil, zwei Messer, einen kurzen Speer, eine Keule sowie einen Gummiknüppel. »Was ist denn das alles?« fragte Tom und setzte sich auf. »Waffen natürlich«, sagte Jed Farmer ungeduldig. »Ohne Waffen kannst du doch kein richtiger Verbrecher sein.« Tom kratzte sich am Kopf. »Wirklich nicht?« »Du mußt dir das selbst eintrichtern«, protestierte Farmer. »Du kannst schließlich nicht verlangen, daß wir alles für dich machen.« Marv Carpenter blinzelte Tom zu. »Jed ist wütend, weil ihn der Bürgermeister zum Postboten gemacht hat.« »Ich trage mein Teil bei«, sagte Jed. »Ich mag nur nicht diese vielen Briefe schreiben.« »So schwer wird das schon nicht sein«, meinte Marv Carpenter grinsend. »Die Postboten auf der Erde tun es auch, und dort gibt es viel mehr Leute. Viel Glück, Tom.« Sie ließen ihn allein. Tom bückte sich und untersuchte die Waffen. Er wußte, worum es sich dabei handelte; die alten Bücher waren voll davon. Aber niemand hatte auf New Delaware jemals eine Waffe verwendet. Die einzigen einheimischen Tiere auf dem Planeten waren kleine, bepelzte Grasfresser. Und eine Waffe gegen einen Nachbarn zu richten – wem konnte so etwas einfallen? Er hob eines der Messer auf. Es war kalt. Er berührte die Spitze. Sie war scharf. Tom begann hin und her zu gehen. Von Zeit zu Zeit starrte er die Waffen an. Sie riefen ein unangenehmes Gefühl in seinem Magen
hervor. Er war zu voreilig gewesen, als er den Auftrag angenommen hatte. Aber es war sinnlos, sich jetzt schon Sorgen zu machen. Er mußte zuerst die Bücher lesen. Dann würde ihm der Sinn des Ganzen vielleicht aufgehen. Er las mehrere Stunden und machte nur Pause, um zu Mittag zu essen. Die Bücher waren leicht verständlich; die verschiedenen Verbrechermethoden wurden eingehend erklärt, manchmal sogar mit Diagrammen. Aber das Ganze war unvernünftig. Wozu sollte das Verbrechen dienen? Wem nützte es? Was hatten die Leute davon? Das erklärten die Bücher nicht. Er blätterte sie durch und betrachtete die Fotografien von Verbrechern. Sie machten ernste, entschlossene Gesichter und schienen sich der Bedeutung ihrer Arbeit für die Gesellschaft durchaus bewußt zu sein. Tom hätte gerne gewußt, worin diese Bedeutung lag. Das hätte die Dinge wesentlich einfacher gemacht. »Tom?« hörte er den Bürgermeister draußen rufen. »Hier, Bürgermeister«, sagte Tom. Die Tür ging auf, und der Bürgermeister steckte den Kopf herein. Hinter ihm standen Jane Farmer, Mary Waterman und Alice Cook. »Wie steht’s, Tom?« erkundigte sich der Bürgermeister. »Wie steht was?« »Wie wär’s, wenn du mit der Arbeit anfangen würdest?« Tom grinste verlegen. »Ich wollte schon anfangen«, meinte er. »Ich habe diese Bücher gelesen und versucht, herauszubekommen –« Die drei älteren Damen starrten ihn böse an, und Tom verstummte. »Du nimmst dir aber sehr viel Zeit fürs Lesen«, sagte Alice Cook. »Alle anderen sind draußen bei der Arbeit«, erklärte Jane Farmer vorwurfsvoll. »Was soll denn am Stehlen so schwer sein?« forderte ihn Mary Waterman heraus.
»Das ist wahr«, meinte der Bürgermeister. »Der Inspektor kann jeden Tag eintreffen, und wir haben nicht ein einziges Verbrechen vorzuweisen.« »Schon gut, schon gut«, sagte Tom. Er steckte ein Messer und den Gummiknüppel in den Gürtel und stakte hinaus. Aber wohin sollte er sich wenden? Es war heller Nachmittag. Der Markt, der sich für einen Raub geradezu anbot, würde noch bis zum Abend verlassen daliegen. Außerdem wollte er bei Tag keinen Raubzug unternehmen. Das erschien ihm amateurhaft. Er schlug einen Moment seine Schleich-Erlaubnis auf und las sie durch. ›Aufgefordert, Lokale üblen Rufs aufzusuchen…‹ Genau! Er würde ein Lokal üblen Rufs besuchen. Dort konnte er Pläne schmieden und sich in die richtige Stimmung versetzen. Leider verfügte das Dorf über keine allzugroße Auswahl. Es gab das ›Tiny Restaurant‹, das von den verwitweten Geschwistern Arnes geführt wurde, Jeff Herns Bar und schließlich Ed Beers Gasthof. Eds Lokal mußte herhalten. Der Gasthof war ein Gebäude wie die anderen Häuser im Dorf auch. Er verfügte über einen großen Raum für die Gäste, eine Küche und die Schlafzimmer für die Familie. Eds Frau kochte und hielt das Haus so sauber, wie es ihr schmerzender Rücken erlaubte. Ed servierte die Getränke. Er war ein blasser Mann mit schläfrigen Augen. »Tag, Tom«, sagte Ed. »Hab’ gehört, daß du unser Verbrecher bist.« »Stimmt«, sagte Tom. »Ich nehme ein Perricola.« Ed Beer brachte ihm das nicht-alkoholische Wurzelbier und blieb mit besorgter Miene vor Toms Tisch stehen. »Wieso bist du nicht draußen beim Stehlen, Tom?« »Ich mache Pläne«, sagte Tom. »Meine Genehmigung verlangt, daß ich Lokale üblen Rufs aufsuche. Deswegen bin ich hier.« »Ist das anständig?« fragte Ed Beer traurig. »Mein Lokal hat keinen üblen Ruf.« »Du bietest das schlechteste Essen im ganzen Ort«, verwies ihn Tom.
»Ich weiß. Meine Frau kann nicht kochen. Aber die Atmosphäre ist sehr angenehm. Den Leuten gefällt es hier.« »Damit ist es vorbei, Ed. Ich mache dein Lokal zu meinem Stammquartier.« Ed Beer ließ die Schultern sinken. »Da versuchst du nun, ein ordentliches Lokal zu führen«, brummelte er. »Und das ist dann der Dank.« Er kehrte an die Theke zurück. Tom begann wieder nachzudenken. Es fiel ihm erstaunlich schwer. Je mehr er sich anstrengte, desto weniger kam dabei heraus. Er ließ sich aber nicht von seiner Aufgabe abbringen. Eine Stunde verging. Richie Farmer, Jeds jüngster Sohn, steckte den Kopf zur Tür herein. »Hast du schon etwas gestohlen, Tom?« »Noch nicht«, erwiderte Tom, der unablässig nachdachte. Der heiße Nachmittag verging langsam. Durch die kleinen, nicht besonders sauberen Fenster der Gaststube konnte man schließlich den Abendhimmel sehen. Draußen begann eine Grille zu zirpen, und der erste Hauch des Nachtwinds regte sich im Wald, der das Dorf umgab. George Waterman und Max Weaver kamen auf ein Glas Glava herein. Sie setzten sich zu Tom. »Wie geht es vorwärts?« erkundigte sich George Waterman. »Nicht besonders«, erwiderte Tom. »Irgendwie komme ich mit dem Stehlen nicht ganz zurecht.« »Das wird schon werden«, meinte Waterman in seiner bedächtigen, ernsthaften Art. »Wenn es jemand lernen kann, dann du.« »Wir haben Vertrauen zu dir, Tom«, versicherte ihm Weaver. Tom dankte ihnen. Sie leerten ihre Gläser und gingen. Er dachte weiterhin nach und starrte in sein leeres Perricola-Glas. Eine Stunde später räusperte sich Ed Beer laut. »Mich geht es ja nichts an, Tom, aber wann willst du denn nun etwas stehlen?« »Jetzt gleich«, sagte Tom. Er stand auf, vergewisserte sich, daß seine Waffen an Ort und Stelle waren, und schritt zur Tür hinaus.
Auf dem Markt hatte der Abendhandel begonnen. Auf Bänken oder Strohmatten waren die Waren aufgehäuft. Es gab keine Währung, keinen Wechselkurs. Zehn handgeschmiedete Nägel waren einen Eimer Milch oder zwei Fische wert, oder auch umgekehrt, je nachdem, was man anzubieten hatte und im Augenblick brauchte. Niemand machte sich die Mühe, Aufzeichnungen zu führen. Das war ein Brauch der Erde, den der Bürgermeister nur unter großen Schwierigkeiten einzuführen vermochte. Als Tom den Dorfplatz entlangging, grüßten ihn alle. »Jetzt geht’s zum Stehlen, was, Tom?« »Nur los, Junge!« »Du schaffst es schon!« Niemand im Dorf hatte jemals einen Diebstahl beobachtet. Man betrachtete das als exotischen Brauch der fernen Erde und wollte sehen, wie es vor sich ging. Die Leute ließen ihre Waren liegen und folgten Tom durch den Markt. Tom entdeckte, daß seine Hände zitterten. Es gefiel ihm nicht, daß so viele Leute beim Stehlen zusahen. Er beschloß, möglichst schnell zu arbeiten, solange er noch den Mut dazu hatte. Abrupt blieb er vor Mrs. Millers mit Obst beladener Bank stehen. »Das sind aber saftige Gefern«, sagte er leichthin. »Sie sind frisch«, erwiderte Mrs. Miller. Sie war eine kleine, alte Frau mit hellen Augen. Tom konnte sich an lange Gespräche erinnern, die sie mit seiner Mutter geführt hatte, als seine Eltern noch lebten. »Sie sehen sehr saftig aus«, sagte er und wünschte sich, an einem anderen Stand stehengeblieben zu sein. »Ja, das sind sie wohl«, meinte Mrs. Miller. »Ich habe sie heute nachmittag erst gepflückt.« »Wird er jetzt stehlen?« flüsterte jemand. »Natürlich. Paß auf!« flüsterte eine andere Stimme zurück. Tom nahm eine große, grüne Gefer und betrachtete sie. Es wurde plötzlich totenstill. »Sehen wirklich sehr saftig aus«, sagte Tom und legte die Gefer sorgfältig an ihren Platz zurück. Die Umstehenden seufzten auf.
Max Weaver, seine Frau und ihre fünf Kinder standen hinter der nächsten Bank. An diesem Abend boten sie zwei Wolldecken und ein Hemd an. Sie lächelten alle scheu, als Tom, gefolgt von der Menge, zu ihnen trat. »Dieses Hemd ist ungefähr deine Größe«, erklärte ihm Weaver. Er wünschte, daß die Leute weggingen und Tom in Ruhe arbeiten ließen. »Hmm«, sagte Tom und nahm das Hemd in die Hand und betrachtete es. Die Menge bewegte sich aufgeregt durcheinander. Ein Mädchen begann hysterisch zu kichern. Tom packte das Hemd und öffnete seinen Beutesack. »Einen Augenblick!« Billy Painter schob sich durch die Menge. Er hatte jetzt ein Abzeichen, eine alte Münze der Erde, die er poliert und an seinem Gürtel befestigt hatte. Er trug unverwechselbar seine Amtsmiene zur Schau. »Was hast du da eben mit dem Hemd gemacht, Tom?« fragte Billy. »I-ich? Wieso… Ich habe es mir nur angesehen.« »Nur angesehen, wie?« Billy wandte sich ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Plötzlich fuhr er herum und zielte mit dem Zeigefinger auf Tom. »Ich glaube nicht, daß du es nur angesehen hast, Tom. Ich glaube, daß du es stehlen wolltest!« Tom blieb stumm. Der verräterische Sack hing schlaff in einer Hand, das Hemd in der anderen. »Als Polizeichef habe ich die Pflicht, diese Leute zu beschützen«, fuhr Billy fort. »Du bist ein verdächtiges Subjekt. Es wird wohl am besten sein, wenn ich dich zur weiteren Vernehmung einsperre.« Tom ließ den Kopf hängen. Das hatte er nicht erwartet. Zu ändern war aber nichts mehr. Wenn er erst einmal im Gefängnis saß, hatte er es hinter sich. Und sobald ihn Billy freiließ, konnte er wieder zum Fischen gehen. Plötzlich kam der Bürgermeister mit flatterndem Hemd angerannt. »Was treibst du denn da, Billy?«
»Ich tue meine Pflicht, Bürgermeister. Tom benimmt sich sehr verdächtig. In den Büchern heißt es –« »Ich weiß selber, was da steht«, sagte der Bürgermeister. »Ich habe sie dir ja gegeben. Du kannst nicht einfach hergehen und Tom verhaften. Jetzt noch nicht.« »Aber im ganzen Dorf gibt es keinen zweiten Verbrecher«, beklagte sich Billy. »Das kann ich nicht ändern«, meinte der Bürgermeister. Billy preßte die Lippen zusammen. »In den Büchern wird von vorbeugender Polizeiarbeit gesprochen. Ich soll Verbrechen verhindern.« Der Bürgermeister hob die Hände und ließ sie erschöpft sinken. »Begreifst du denn nicht, Billy? Dieses Dorf braucht eine Reihe von Straftaten. Du mußt auch dazu beitragen.« Billy zuckte die Achseln. »Meinetwegen, Bürgermeister. Ich wollte nur meine Aufgabe erfüllen.« Er wandte sich zum Gehen. Dann fuhr er blitzschnell herum und herrschte Tom an: »Ich erwische dich schon noch. Vergiß nicht – Verbrechen macht sich nicht bezahlt.« Er stolzierte davon. »Er ist übereifrig, Tom«, erklärte der Bürgermeister. »Vergiß das Ganze. Fang ruhig mit dem Stehlen an. Wir müssen endlich weiterkommen.« Tom begann sich in Richtung des Waldes davonzumachen. »Was ist denn, Tom?« fragte der Bürgermeister besorgt. »Ich bin nicht mehr in Stimmung«, erwiderte Tom. »Vielleicht morgen abend –« »Nein, jetzt auf der Stelle«, sagte der Bürgermeister hartnäckig. »Du kannst es nicht immer wieder aufschieben. Los, wir helfen dir dabei.« »Natürlich«, sagte Max Weaver. »Klau das Hemd, Tom. Es hat sowieso die richtige Größe.« »Wie wär’s mit einem schönen Wasserkrug, Tom?« »Schau dir einmal diese Skigi-Nüsse an.«
Tom ließ seinen Blick von der Bank schweifen. Als er nach Weavers Hemd griff, rutschte ihm das Messer aus dem Gürtel und fiel auf den Boden. Die Zuschauer schnalzten mitfühlend mit der Zunge. Tom steckte es schwitzend wieder an seinen Platz; er merkte wohl, daß er sich tolpatschig anstellte. Er griff zu, packte das Hemd und stopfte es in seinen Beutesack. Die Menge jubelte. Tom lächelte schwach und gewann ein bißchen Selbstvertrauen. »Langsam lerne ich es schon, glaube ich.« »Versteht sich.« »Wir haben ja gewußt, daß du es schaffst.« »Nimm noch etwas.« Tom wanderte durch den Markt und nahm eine Rolle Tau, eine Handvoll Skigi-Nüsse und einen Strohhut an sich. »Das wird wohl genügen«, sagte er zum Bürgermeister. »Für jetzt schon«, bestätigte der Bürgermeister. »Das zählt aber in Wirklichkeit noch nicht, weißt du. Das ist genauso, als würden es dir die Leute schenken. Nur zur Übung, sozusagen.« »So?« meinte Tom enttäuscht. »Aber du weißt wenigstens, wie es geht. Beim nächstenmal wird es genauso einfach sein.« »Wahrscheinlich.« »Und vergiß den Mord nicht.« »Ist der wirklich nötig?« erkundigte sich Tom. »Mir wäre es lieber, wenn wir ihn nicht brauchten«, erwiderte der Bürgermeister. »Unsere Kolonie besteht aber schon seit über zweihundert Jahren, und wir haben noch keinen einzigen Mord erlebt. Nicht einen einzigen! Alle anderen Kolonien können mit Morden aufwarten, nur wir nicht.« »Na ja, dann brauchen wir eben einen«, gab Tom zu. »Ich erledige das schon.« Er machte sich auf den Weg zu seinem Häuschen. Die Menge stieß donnernde Hochrufe aus, bis er nicht mehr zu sehen war.
Zu Hause zündete Tom eine Sturmlampe an und richtete seine Abendmahlzeit an. Nach dem Essen saß er lange Zeit in seinem großen Lehnsessel. Er war unzufrieden mit sich. Den Diebstahl hatte er wirklich nicht besonders geschickt ausgeführt; den ganzen Tag hatte er gezögert und sich Sorgen gemacht. Die Leute. waren praktisch gezwungen gewesen, ihm die Sachen in die Hand zu drücken. Ein schöner Dieb war er! Dafür gab es keine Entschuldigung. Stehlen und Morden gehörte zu den notwendigen Arbeiten. Er durfte nicht versagen, nur weil er sich vorher nie damit befaßt hatte. Er ging zur Tür. Die Nacht war schön und hell erleuchtet von einem Dutzend naher Riesensterne. Der Markt lag wieder verlassen da; die Lichter im Dorf erloschen. Jetzt war die richtige Zeit zum Stehlen! Der Gedanke trieb ihm Schauer über den Leib. Er war stolz auf sich. Genauso planten Verbrecher, und so sollte das Stehlen sein – schleichend, spät nachts. Hastig überprüfte Tom seine Waffen, dann leerte er den Beutesack und verließ das Haus. Die letzten Sturmlampen erloschen. Tom schlich lautlos durch das Dorf. Er erreichte Roger Watermans Haus. Rogers Spaten lehnte an einer Wand. Tom nahm ihn mit. Beim Nachbarn stahl er Mrs. Weavers Wasserkrug, der wie üblich neben der Eingangstür stand. Auf dem Heimweg fand er noch ein kleines Holzpferd, das ein Kind vergessen haben mußte. Er steckte es ein. Als er die gestohlenen Sachen zu Hause in Sicherheit gebracht hatte, freute er sich. Er beschloß, einen weiteren Raubzug zu unternehmen. Diesmal kehrte er mit einer Bronzetafel vom Haus des Bürgermeisters, Marv Carpenters bester Säge und Jed Farmers Sichel zurück. »Nicht übel«, sagte er sich. Er machte wirklich gute Fortschritte. Eine Ladung noch, dann hatte er in dieser Nacht ordentliche Arbeit geleistet. In Ron Stones Schuppen fand er einen Hammer nebst Meißel und vor Alice Cooks Haus einen geflochtenen Korb. Er wollte eben Jeff Herns Rechen entwenden, als er ein Geräusch hörte. Er preßte sich an eine Wand.
Billy Painter kam leise dahergeschlichen; sein Abzeichen glitzerte im Sternenlicht. In der einen Hand trug er einen kurzen, schweren Knüppel, in der anderen selbstgefertigte Handschellen. Im Halbdunkel wirkte sein Gesicht unheimlich. Es war das Gesicht eines Mannes, der sich dem Kampf gegen das Verbrechen verschworen hat, wenn er auch nicht genau wußte, worum es ging. Tom hielt den Atem an, als Billy Painter in einer Entfernung von drei Metern an ihm vorbeikam. Der Beutesack klirrte. »Wer da?« schrie Billy. Als niemand antwortete, beschrieb er langsam einen Kreis und starrte grimmig ins Dunkel. Tom preßte sich fest an die Wand; er war überzeugt davon, daß Billy ihn nicht sehen konnte. Billy hatte von den vielen Farbmischungen schwache Augen bekommen. Alle Maler hatten schwache Augen. Das war einer der Gründe für ihre schlechte Stimmung. »Bist du das, Tom?« fragte Billy freundlich. Tom wollte sich eben melden, als er bemerkte, daß Billy den Knüppel zum Schlag erhoben hatte. Er blieb stumm. »Ich erwische dich schon noch!« brüllte Billy. »Schon recht, gefälligst aber erst morgen!« schrie Jeff Hern von seinem Schlafzimmerfenster herunter. »Ein paar von uns wollen zuerst ausschlafen.« Billy entfernte sich. Als seine Schritte nicht mehr zu hören waren, eilte Tom nach Hause und schüttete seine Beute zu den übrigen Sachen auf den Boden. Stolz betrachtete er das Diebesgut. Es verlieh ihm das Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben. Nach einem kühlen Trunk Glava ging Tom zu Bett und fiel sofort in friedlichen, traumlosen Schlummer. Am nächsten Morgen schlenderte Tom hinaus, um festzustellen, wie der Schulhausbau vorankam. Die Carpenter-Söhne waren schon schwer an der Arbeit, unterstützt von mehreren Dorfbewohnern. »Wie geht’s vorwärts?« rief Tom fröhlich. »Mäßig«, sagte Marv Carpenter. »Es ginge schneller, wenn ich meine Säge hätte.«
»Deine Säge?« wiederholte Tom verständnislos. Dann fiel ihm ein, daß er sie ja in der vergangenen Nacht gestohlen hatte. Zu dieser Zeit schien sie niemandem zu gehören. Die Säge und alles andere waren eben nur Dinge gewesen, die gestohlen werden mußten. Er hatte nie daran gedacht, daß man sie benutzen oder brauchen könnte. Marv Carpenter fragte: »Glaubst du, daß ich mir die Säge eine Weile ausborgen könnte? Nur für eine Stunde oder so?« »Ich weiß nicht recht«, sagte Tom stirnrunzelnd. »Dem Gesetz nach ist sie ja gestohlen, weißt du?« »Selbstverständlich. Ich möchte sie ja nur ausleihen –« »Du mußt sie aber zurückgeben.« »Natürlich gebe ich sie zurück«, erwiderte Marv erzürnt. »Ich behalte doch nichts, was gesetzlich gestohlen ist.« »Sie liegt im Haus bei den anderen Sachen.« Marv bedankte sich und hastete davon. Tom begann durch das Dorf zu schlendern. Er erreichte das Haus des Bürgermeisters. Der Magistrat stand im Freien und starrte zum Himmel empor. »Tom, hast du meine Bronzetafel mitgenommen?« fragte er. »Allerdings«, gab Tom angriffslustig zurück. »Oh. Ich meine nur so.« Der Bürgermeister deutete nach oben. »Siehst du das?« Tom starrte hinauf. »Was?« »Den schwarzen Punkt nahe dem Rand der kleinen Sonne.« »Ja. Was ist das?« »Ich wette, daß es das Schiff des Inspektors ist. Wie klappt es denn bei dir?« »Recht gut«, erwiderte Tom ein wenig verlegen. »Hast du den Mord schon geplant?« »Er macht mir noch ein bißchen Schwierigkeiten«, gestand Tom. »Um ehrlich zu sein, ich habe überhaupt keine Fortschritte damit gemacht.«
»Komm herein, Tom. Ich muß mit dir reden.« Im kühlen, abgedunkelten Wohnzimmer füllte der Bürgermeister zwei Gläser mit Glava und bot Tom einen Stuhl an. »Die Zeit drängt«, sagte er bedrückt. »Der Inspektor kann jede Stunde landen. Und ich habe alle Hände voll zu tun.« Er deutete auf das Interstellar-Radio. »Das Ding hat sich auch wieder gemeldet. Auf Deng IV soll eine Rebellion ausgebrochen sein; alle Erdkolonien müssen sich auf eine Aushebung vorbereiten, was immer das sein mag. Ich hatte zuvor von Deng IV noch nie gehört, aber ich muß mir deswegen, zusätzlich zu allem anderen, den Kopf zerbrechen.« Er sah Tom streng an. »Die Verbrecher auf der Erde begehen jeden Tag Dutzende von Morden, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Dein Dorf verlangt von dir einen kleinen Mord. Ist das zuviel?« Tom breitete nervös die Hände aus. »Halten Sie es denn wirklich für nötig?« »Du weißt es doch«, meinte der Bürgermeister. »Wenn wir uns schon nach der Erde richten, dann in jeder Beziehung. Und das ist das einzige, wo wir noch nachhinken. Alles andere läuft nach Plan.« Billy Painter kam herein; er trug ein neues amtlich-blaues Hemd mit polierten Metallknöpfen. »Hast du schon jemand umgebracht, Tom?« »Er will wissen, ob es nötig ist«, sagte der Bürgermeister. »Natürlich ist es nötig«, erklärte der Polizeichef. »Lies doch die Bücher. Du bist kein richtiger Verbrecher, wenn du keinen Mord begangen hast.« »Wer soll es denn sein?« erkundigte sich der Bürgermeister. Tom rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er rieb nervös die Hände. »Na?« »Oh, ich bringe Jeff Hern um«, entfuhr es Tom. Billy Painter beugte sich vor. »Warum?« wollte er wissen. »Warum? Warum nicht?« »Was hast du für ein Motiv?« »Ich dachte, ihr wollt einfach einen Mord haben«, gab Tom zurück. »Wann war denn von einem Motiv die Rede?«
»Einen falschen Mord können wir nicht brauchen«, setzte ihm der Polizeichef auseinander. »Das muß schon richtig angepackt werden. Du brauchst ein passendes Motiv.« Tom überlegte einen Augenblick. »Na ja, ich kenne Jeff nicht sehr gut. Ist das kein Motiv?« Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. »Nein, Tom, das genügt nicht. Such dir lieber einen anderen aus.« »Moment mal«, sagte Tom. »Wie wär’s mit George Waterman?« »Welches Motiv?« fuhr Billy sofort dazwischen. »Oh… äh… Ich kann Georges Gang nicht leiden. Er hat mir noch nie gefallen. Und manchmal macht er Radau.« Der Bürgermeister nickte anerkennend. »Klingt ganz gut. Was meinst du, Billy?« »Wie soll ich denn ein solches Motiv aufdecken?« fragte Billy wütend. »Nein, das reicht vielleicht für ein Verbrechen aus Leidenschaft. Aber du bist ein gesetzlich anerkannter Verbrecher, Tom. Als solcher bist du kaltblütig, unbarmherzig und raffiniert. Du kannst nicht einfach jemanden umbringen, weil dir sein Gang nicht paßt. Das ist ja albern.« »Ich muß mir das Ganze noch einmal überlegen«, sagte Tom und stand auf. »Nimm dir aber nicht zuviel Zeit«, mahnte der Bürgermeister. »Je früher es getan wird, desto besser.« Tom nickte und ging zur Tür hinaus. »He, Tom!« rief ihm Billy nach. »Vergiß nicht, Spuren zu hinterlassen. Sie sind sehr wichtig.« »Schon gut«, sagte Tom und entfernte sich. Draußen beobachteten die meisten Dorfbewohner den Himmel. Der schwarze Punkt war sehr viel größer geworden. Er füllte fast den größten Teil der kleinen Sonne aus. Tom ging zu seinem Lokal üblen Rufs, um nachzudenken. Ed Beer hatte seine Ansicht über die Brauchbarkeit krimineller Elemente offensichtlich geändert. Der Gasthof war umgestaltet. Ein großes Schild verkündete: »Verbrecher-Unterschlupf«. Im Innern hingen neue,
sorgfältig beschmutzte Vorhänge an den Fenstern, die das Eindringen des Tageslichtes verhinderten. Hastig aus Weichholz hergestellte Waffen hingen an einer Wand. An der anderen zeigte sich ein riesiger roter Fleck, der schreckenerregend aussah, obwohl Tom wußte, daß Ed Beer nur rote Farbe verspritzt hatte. »Komm nur herein, Tom«, sagte Ed Beer und führte ihn in die dunkelste Ecke der Gaststube. Tom bemerkte, daß das Lokal für diese Tageszeit ungewöhnlich voll war. Den Leuten schien es in dieser echten Verbrecherkneipe gut zu gefallen. Tom schlürfte ein Perricola und begann nachzudenken. Er mußte einen Mord begehen. Er zog seine Schleich-Erlaubnis aus der Tasche und studierte sie. Unangenehm, unerfreulich, etwas, das er normalerweise nie tun würde, wozu er jetzt aber gesetzlich verpflichtet war. Tom trank sein Perricola und konzentrierte sich auf Mord. Er sagte sich vor, daß er jemanden umbringen würde. Er mußte »einen umlegen«. Er würde »jemanden beseitigen«. Aber die Ausdrücke blieben ohne Sinn. Sie waren nur Worte. Zur Klärung seiner Gedanken nahm er den großen, rothaarigen Marv Carpenter als Beispiel. Heute arbeitete Marv mit seiner geborgten Säge am Schulhaus. Wenn Tom Marv umbrachte – nun, dann konnte Marv nicht mehr arbeiten. Tom schüttelte ungeduldig den Kopf. Er hatte den Sinn immer noch nicht erfaßt. Also gut, hier war Marv Carpenter, der größte und, nach Meinung vieler, der freundlichste von den Carpenter-Söhnen. Er pflegte die Bretter mit seinen sommersprossigen Händen festzuhalten und den Hobel anzusetzen. Er verstand sein Geschäft. Seine linke Schulter schmerzte ein wenig. Er ließ sie sich von Jan Druggist behandeln. Das war Marv Carpenter. Dann Marv Carpenter auf dem Boden hingestreckt, mit Augen, die ins Leere blickten, erstarrten Gliedern, verzerrtem Mund, ohne Atem, der seinen Brustkorb bewegte, ohne Herzschlag. Nie mehr würde er ein Brett in seinen sommersprossigen Händen halten. Nie mehr würde er
den kleinen, eigentlich unwichtigen Schmerz in der Schulter spüren – den Jan Druggist… Für einen kurzen Moment erkannte Tom, was Mord wirklich war. Die Erkenntnis verblaßte, aber schon die undeutliche Erinnerung daran verursachte ihm Übelkeit. Er konnte mit dem Diebstahl leben. Aber mit einem Mord, selbst im Interesse des Dorfes… Was würden die Leute denken, wenn sie sahen, was er sich eben vorgestellt hatte? Wie konnte er mit ihnen leben? Wie wollte er nachher mit sich selbst leben? Und doch mußte er töten. Jeder im Dorf hatte seine Aufgabe, und dies war die seine. Aber wen konnte er ermorden? Die Aufregung begann später an diesem Tag, als eine zornige Stimme aus dem Interstellar-Radio drang. »Das nennen Sie eine Kolonie? Wo ist die Hauptstadt?« »Hier«, erwiderte der Bürgermeister. »Wo ist Ihr Landeplatz?« »Ich glaube, wir benützen ihn als Weideland«, meinte der Bürgermeister. »Ich könnte aber nachschlagen, wo er sich befindet. Kein Schiff ist seit über –« »Das Mutterschiff bleibt oben. Versammeln Sie Ihre Beamten. Ich komme sofort hinunter.« Die gesamte Dorfbewohnerschaft versammelte sich um eine Wiese, die der Inspektor bezeichnet hatte. Tom gürtete sich mit seinen Waffen und verbarg sich hinter einem Baum. Vom großen Raumschiff löste sich ein kleineres und raste nach unten. Es stürzte auf die Wiese hinab, während die Dorfbewohner den Atem anhielten und ein furchtbares Unglück voraussahen. Im letzten Augenblick fauchten Düsen, Flammen versengten das Gras, und das Schiff landete sanft.
Der Bürgermeister trat langsam vor, gefolgt von Billy Painter. Eine Tür im Schiffsrumpf öffnete sich, und vier Männer kamen heraus. Sie hatten schimmernde Instrumente in den Händen, die Tom als Waffen erkannte. Hinter ihnen erschien ein großer Mann mit gerötetem Gesicht, der schwarze Kleidung trug; an seiner Brust glitzerten vier Orden. Ihm folgte ein kleiner Mann mit runzeligem Gesicht, der ebenfalls schwarz gekleidet war. Vier weitere Uniformierte bildeten den Schluß. »Willkommen auf New Delaware«, sagte der Bürgermeister. »Danke, General«, erwiderte der Große und drückte dem Bürgermeister fest die Hand. »Ich bin Inspektor Delumaine. Das ist Mr. Grent, mein politischer Berater.« Grent nickte dem Bürgermeister zu und übersah die ausgestreckte Hand. Er betrachtete die Dorfbewohner mit einem Ausdruck milden Ekels. »Wir werden das Dorf besichtigen«, sagte der Inspektor und sah Grent aus dem Augenwinkel an. Grent nickte. Die uniformierten Wachen bildeten einen Schutzwall um sie. Tom folgte in sicherem Abstand, in echt verbrecherischer Weise dahinschleichend. Im Dorf verbarg er sich hinter einem Haus, um die Besichtigung zu beobachten. Der Bürgermeister zeigte mit verzeihlichem Stolz das Gefängnis, das Postamt, die Kirche und das kleine rote Schulhaus. Der Inspektor wirkte verwirrt. Mr. Grent lächelte unfreundlich und rieb sich das Kinn. »Wie ich es mir vorgestellt habe«, sagte er zum Inspektor. »Reine Zeitverschwendung. Hier gibt es nichts, was für uns von Wert wäre.« »Da bin ich nicht so sicher«, meinte der Inspektor. Er wandte sich an den Bürgermeister. »Wozu haben Sie sie denn gebaut, General?« »Na ja, um uns an die Erde anzupassen«, sagte der Bürgermeister. »Wir geben unser Bestes, wie Sie sehen.« Mr. Grent flüsterte dem Inspektor etwas ins Ohr. »Sagen Sie«, begann der Inspektor, »wie viele junge Männer gibt es hier im Dorf?« »Wie bitte?« sagte der Bürgermeister höflich. »Junge Männer im Alter zwischen fünfzehn und sechzig«, erklärte Mr. Grent.
»Hören Sie, General, das Imperium Erde befindet sich im Krieg. Die Kolonisten auf Deng IV und einigen anderen Kolonien haben sich wider ihr Geburtsrecht empört. Sie revoltieren gegen die absolute Herrschaft der Mutter Erde.« »Das tut mir aber leid«, sagte der Bürgermeister mitfühlend. »Wir brauchen Männer für die Raumflotte«, fuhr der Inspektor fort. »Gute, gesunde Soldaten. Unsere Reservate lassen zu wünschen –« »Wir wollen allen loyalen Kolonisten eine Chance geben«, fiel ihm Mr. Grent schnell ins Wort, »für das Imperium Erde zu kämpfen. Wir sind überzeugt davon, daß sich niemand weigern wird.« »O nein«, erwiderte der Bürgermeister. »Gewiß nicht. Ich bin sicher, daß unsere jungen Männer erfreut sein – ich meine, sie verstehen ja nicht viel davon, aber sie sind alle sehr aufgeweckt. Sie werden es schon lernen, nehme ich an.« »Sehen Sie?« sagte der Inspektor zu Mr. Grent. »Sechzig, siebzig, vielleicht hundert Rekruten. Von Zeitverschwendung kann also keine Rede sein.« Mr. Grent machte ein zweifelndes Gesicht. Der Inspektor und sein Berater gingen zum Haus des Bürgermeisters, um sich eine Erfrischung zu gönnen. Vier Soldaten begleiteten sie. Die anderen vier wanderten im Dorf herum und nahmen, was sie fanden. Tom versteckte sich im nahen Wald, um über alles nachzudenken. Am frühen Abend kam Mrs. Beer heimlich aus dem Dorf angeschlichen. Sie war eine hagere, grauhaarige Frau, aber ungeachtet ihrer schmerzenden Knie konnte sie sich sehr schnell bewegen. Sie trug einen Korb, der mit einem rotkarierten Tuch zugedeckt war. »Hier ist dein Essen«, sagte sie, als sie Tom gefunden hatte. »Oh… vielen Dank«, murmelte Tom überrascht. »Das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen.« »Doch. Unser Gasthof ist ein übles Lokal, nicht wahr? Wir sind für dein Wohlergehen verantwortlich. Und der Bürgermeister läßt dir etwas ausrichten.« Tom sah auf, mit vollen Backen kauend. »Was denn?«
»Er sagte, du sollst dich mit dem Mord beeilen. Er hat den Inspektor und diesen widerlichen kleinen Grent hingehalten. Sie werden ihn aber fragen. Er ist überzeugt davon.« Tom nickte. »Wann wirst du es denn tun?« fragte Mrs. Beer und neigte den Kopf ein wenig. »Das darf ich nicht sagen«, erwiderte Tom. »Natürlich mußt du es sagen. Ich bin doch eine Komplizin«, flüsterte Mrs. Beer und kam näher heran. »Das ist wahr«, gab Tom zu. »Also gut, ich werde es heute abend tun. Sobald es dunkel ist. Sagen Sie Billy Painter, daß ich so viele Fingerabdrücke wie möglich hinterlassen will.« »Schön, Tom«, sagte Mrs. Beer. »Viel Glück.« Tom erwartete die Dunkelheit; in der Zwischenzeit beobachtete er das Dorf. Er bemerkte, daß fast alle Soldaten getrunken hatten. Sie schwankten durch den Ort, als gebe es die Bewohner nicht. Einer von ihnen schoß in die Luft und erschreckte alle kleinen, bepelzten Grasfresser im Umkreis von mehreren Kilometern. Der Inspektor und Mr. Grent hielten sich immer noch im Haus des Bürgermeisters auf. Es wurde Nacht. Tom schlich ins Dorf und bezog in einem Gäßchen zwischen zwei Häusern Posten. Er zog sein Messer und wartete. Schritte! Er versuchte sich an seine Verbrechermethoden zu erinnern, aber nichts fiel ihm ein. Es war ihm klar, daß er den Mord so schnell wie möglich und nach bestem Vermögen begehen mußte. Aus dem Dunkel näherte sich eine Gestalt. »Oh, du bist’s, Tom.« Es war der Bürgermeister. Er sah das Messer. »Was machst du denn?« »Es sollte doch einen Mord geben, deswegen –« »Ich habe nicht mich gemeint«, sagte der Bürgermeister und wich zurück. »Mich darfst du nicht umbringen!« »Warum nicht?« fragte Tom.
»Nun ja, erstens muß jemand da sein, der mit dem Inspektor redet. Er wartet auf mich. Jemand muß ihm zeigen –« »Das kann Billy Painter machen«, sagte Tom. Er packte den Bürgermeister beim Hemd, hob das Messer und zielte auf die Kehle. »Das ist natürlich nicht persönlich gemeint«, fügte er hinzu. »Warte!« röchelte der Bürgermeister. »Wenn es nichts Persönliches ist, hast du kein Motiv!« Tom ließ das Messer sinken, lockerte aber seinen Griff nicht. »Ich könnte mir schon eines vorstellen. Ich bin schlecht auf Sie zu sprechen, weil Sie mich zum Verbrecher ernannt haben.« »Der Bürgermeister hat das doch getan, nicht wahr?« »Ja, wieso –?« Der Bürgermeister herrschte Tom aus dem Schatten ins helle Sternenlicht. »Schau!« Tom riß die Augen auf. Der Bürgermeister trug eine lange, scharf gebügelte Hose und einen Uniformrock, auf dem zahlreiche Orden glitzerten. Beide Schultern trugen je zehn Sterne. Seine Mütze war mit goldenen Litzen in Form von Kometen reich bestickt. »Siehst du, Tom? Ich bin nicht mehr der Bürgermeister. Ich bin ein General!« »Was hat denn das damit zu tun? Sie sind doch immer noch derselbe Mensch, oder?« »Amtlich nicht. Du hast die Zeremonie heute nachmittag versäumt. Der Inspektor erklärte, daß ich eine Generalsuniform tragen müsse, weil ich offiziell eben General sei. Eine sehr angenehme Zeremonie. Alle Leute von der Erde grinsten mich an und blinzelten mir zu.« Tom hob wieder die Hand mit dem Messer. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte er aufrichtig, »aber Sie waren der Bürgermeister, als Sie mich zum Verbrecher bestimmten, und mein Motiv gilt noch.« »Aber du bringst dann doch nicht den Bürgermeister um, sondern einen General! Und das ist kein Mord!« »So?« sagte Tom. »Was denn dann?« »Wenn man einen General tötet, ist das Meuterei!«
»Oh. –« Tom ließ den Bürgermeister los. »Tut mir leid.« »Macht nichts«, sagte der Bürgermeister. »Ein ganz natürliches Versehen. Ich habe alles darüber gelesen und du nicht – war ja auch nicht nötig.« Er atmete tief ein. »Ich muß mich beeilen. Der Inspektor verlangt eine Liste der wehrfähigen Männer.« Tom rief ihm nach: »Sind Sie sicher, daß dieser Mord nötig ist?« »Ja, absolut«, kam die Antwort. »Nur nicht an mir!« Tom steckte das Messer wieder in den Gürtel. Nicht mich, nicht mich. Das würde natürlich jeder sagen. Aber jemand mußte doch ermordet werden. Wer also? Er konnte sich nicht selbst umbringen. Das galt als Selbstmord und zählte nicht. Es begann ihn zu frösteln; er bemühte sich, nicht an den kurzen Blick auf die Wirklichkeit des Mordes zu denken. Die Arbeit mußte getan werden. Wieder näherte sich jemand. Tom kauerte nieder und spannte seine Muskeln zum Sprung. Es war Mrs. Miller, die mit einer Tasche voll Gemüse heimkehrte. Tom sagte sich, daß es keine Rolle spielte, ob Mrs. Miller oder irgendeine andere Person das Opfer war. Aber er vermochte die Erinnerung an die langen Gespräche mit seiner Mutter nicht zu verbannen. Sie ließen ihn ohne Motiv für einen Mord an Mrs. Miller. Sie ging an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Er wartete eine halbe Stunde. Dann schritt wieder jemand durch die dunkle Gasse zwischen den beiden Häusern. Tom erkannte Max Weaver. Tom hatte ihn immer gut leiden können. Das heißt aber nicht, daß sich kein Motiv finden ließ. Tom grub lediglich die Tatsache aus, daß Max eine Frau und fünf Kinder hatte, die ihn liebten und sehr vermissen würden. Tom wollte sich von Billy Painter nicht sagen lassen, daß das kein Motiv sei. Er zog sich tiefer in die Schatten zurück und ließ Max unbehelligt. Die drei Carpenter-Söhne kamen vorbei. Tom hatte sich mit diesem Problem bereits abgequält. Er ließ sie ziehen. Dann näherte sich Roger Waterman. Er hatte kein echtes Motiv für einen Mord an Roger, aber er war auch nie besonders befreundet mit ihm gewesen. Außerdem war Roger
kinderlos, und seine Frau konnte ihn nicht leiden. Würde das Billy Painter reichen? Er wußte, daß das Gegenteil zutraf… und dasselbe galt für alle anderen Dorfbewohner. Er war mit diesen Leuten aufgewachsen, hatte Nahrung, Arbeit, Freud und Leid mit ihnen geteilt. Woher sollte er ein Motiv nehmen, das es ihm erlauben würde, irgendeinen von ihnen umzubringen? Aber er mußte einen Mord begehen. Seine Schleich-Erlaubnis verlangte es. Er durfte das Dorf nicht im Stich lassen. Andererseits konnte er aber auch nicht die Menschen töten, mit denen er sein ganzes Leben verbunden gewesen war. Warte mal, sagte er sich plötzlich voller Aufregung. Er konnte den Inspektor umbringen! Motiv? Nun, das Verbrechen würde noch grausiger sein als die Tötung des Bürgermeisters – der jetzt natürlich ein General war, so daß man höchstens von Meuterei hätte sprechen dürfen. Aber selbst wenn der Bürgermeister noch ein solcher wäre, dürfte der Inspektor als weitaus bedeutsameres Opfer gelten. Tom konnte des Ruhmes wegen töten. Und damit ließ sich auch der Erde zeigen, wie sehr man sich ihr angepaßt hatte. Dort würde man sagen: ›Auf New Delaware ist das Verbrechen so verbreitet, daß man dort am besten gar nicht landet. Am allerersten Tag seines Aufenthaltes wurde unser Inspektor von einem Verbrecher beseitigt! Eines der größten Ungeheuer, das uns seit langer Zeit begegnet ist.‹ Er konnte kein Verbrechen begehen, das mehr Aufsehen erregen würde. Genauso planten Meisterverbrecher. Zum erstenmal seit langer Zeit von Stolz erfüllt, eilte Tom aus dem Gäßchen zum Haus des Bürgermeisters. Er konnte ein Gespräch belauschen. »… passive Bevölkerung«, sagte Mr. Grent gerade. »Wie Schafe, um genau zu sein.« »Reichlich langweilig«, erwiderte der Inspektor. »Vor allem für die Soldaten.« »Na ja, was haben Sie bei rückständigen Bauern anderes erwartet? Wenigstens holen wir bei dem ganzen Geschäft ein paar Rekruten heraus.« Mr. Grent gähnte hörbar. »Wachen, antreten. Wir kehren zum Schiff zurück.«
Wachen! Tom hatte sie ganz vergessen. Er sah zweifelnd sein Messer an. Selbst wenn er sich auf den Inspektor stürzte, würden ihn die Wachen ergreifen, bevor der Mord begangen war. Gerade auf solche Dinge mußten sie ja trainiert sein. Wenn er jedoch über eine ihrer Waffen verfügte… Er hörte im Innern des Hauses schlurfende Schritte. Tom hastete ins Dorf zurück. In der Nähe des Marktes sah er einen Soldaten auf einer Treppenstufe sitzen, der betrunken vor sich hin lallte. Zwei leere Flaschen lagen neben ihm, seine Waffe hing unordentlich über seiner Schulter. Tom kroch heran, zog seinen Gummiknüppel und zielte. Der Soldat mußte seinen Schatten bemerkt haben. Er sprang auf und wich dem niedersausenden Knüppel aus, stieß mit dem über die Schulter hängenden Gewehr zu, traf Tom in die Lippen, riß die Waffe von der Schulter und zielte. Tom schloß die Augen und schlug mit beiden Füßen aus. Er traf den Soldaten am Knie und riß ihn von den Beinen. Bevor er sich wieder erheben konnte, schlug Tom mit dem Gummiknüppel zu. Er fühlte den Puls des Soldaten – es hatte keinen Sinn, den Falschen umzubringen – und fand ihn. Er nahm dem Mann die Waffe weg, studierte sie, um zu sehen, welchen Knopf er drücken mußte, und hastete dem Inspektor nach. Auf halbem Weg zum Schiff holte er ihn ein. Er trottete lautlos hinterher, bis er Grent und den Inspektor erkannte. Er zielte, sein Finger spannte sich um den Abzug… Aber er wollte Grent nicht töten. Er sollte doch nur einen Mord begehen. Er lief weiter, vorbei an der Gruppe des Inspektors, und trat vor ihnen auf die Straße. Seine Waffe war im Anschlag, als ihn die Männer erreichten. »Was soll das heißen«, fauchte der Inspektor. »Bleiben Sie stehen«, befahl Tom. »Die übrigen lassen ihre Waffen fallen und treten zur Seite.«
Die Soldaten bewegten sich wie Mondsüchtige. Einer nach dem anderen ließ seine Waffe fallen und zog sich ins Unterholz zurück. Grent blieb stehen. »Was machst du da, mein Junge?« fragte er. »Ich bin der Ortsverbrecher«, erklärte Tom stolz. »Ich werde den Inspektor umbringen. Bitte gehen Sie zur Seite.« Grent starrte ihn an. »Verbrecher? Das hat der Bürgermeister also gemeint.« »Ich weiß, daß wir seit zweihundert Jahren hier keinen Mord hatten«, sagte Tom, »aber das wird sich jetzt ändern. Aus dem Weg!« Grent sprang zur Seite. Der Inspektor stand alleine auf der Straße; er schwankte. Tom zielte und versuchte über den Sinn seines Verbrechens nachzudenken. Aber er sah nur den Inspektor auf dem Boden liegen, mit gebrochenen Augen, erstarrten Gliedern, verzerrtem Mund, ohne Atem, der seinen Brustkorb bewegte, ohne Herzschlag. Er versuchte, seinen Finger an den Abzug zu zwingen. Sein Verstand konnte ihm alles mögliche über die Wünschbarkeit des Verbrechens erzählen; seine Hand verstand mehr. »Ich kann nicht!« schrie Tom auf. Er warf die Waffe weg und rannte in den Wald. Der Inspektor wollte Tom ein Suchkommando nachschicken und ihn auf der Stelle aufhängen. Mr. Grent stimmte nicht zu. New Delaware bestand nur aus Wald. Zehntausend Leute hätten einen Flüchtigen dort nicht finden können. Der Bürgermeister und mehrere Dorfbewohner kamen heraus, um den Grund der Unruhe in Erfahrung zu bringen. Die Soldaten bildeten einen Schutzwall um den Inspektor und Mr. Grent. Sie hatten die Gewehre im Anschlag. Und der Bürgermeister erklärte alles. Den unzivilisierten Mangel an Verbrechen. Die Aufgabe Toms. Wie beschämt sie seien, daß er nicht fähig gewesen war, sie auszuführen. »Warum haben Sie gerade diesen Mann bestimmt?« erkundigte sich Mr. Grent.
»Tja«, sagte der Bürgermeister, »ich dachte mir, wenn überhaupt jemand töten kann, dann Tom. Er ist Fischer von Beruf, wissen Sie. Da fließt doch auch Blut.« »Dann wären Sie und Ihre Mitbürger also ebenso unfähig zu töten?« »Wir brächten es nicht einmal so weit wie Tom«, gab der Bürgermeister traurig zu. Mr. Grent und der Inspektor sahen zuerst einander, dann die Soldaten an. Die Soldaten betrachteten die Dorfbewohner voll Staunen und Respekt. Sie begannen untereinander zu flüstern. »Achtung!« schrie der Inspektor. Er wandte sich an Grent und sagte leise: »Wir sollten sofort verschwinden. Männer in unseren Armeen, die nicht töten können…« »Die Auswirkungen«, sagte Mr. Grent. Es lief ihm kalt über den Rücken. »Die Möglichkeit der Ansteckung. Ein Mann in Schlüsselposition gefährdet ein Raumschiff – vielleicht eine ganze Flotte –, weil er nicht abdrücken kann. Das Risiko lohnt sich nicht.« Sie befahlen den Soldaten, zum Schiff zurückzukehren. Die Soldaten schienen langsamer als sonst zu marschieren, und sie wandten immer wieder die Blicke zum Dorf. Sie flüsterten untereinander, obwohl der Inspektor einen Befehl nach dem anderen brüllte. Das kleine Raumschiff zischte davon. Bald danach wurde es von dem großen Schiff verschluckt. Und dann war das große Schiff verschwunden. Der Rand der riesigen roten Sonne stand über dem Horizont. »Du kannst herauskommen«, rief der Bürgermeister. Tom tauchte aus dem Unterholz auf, wo er sich versteckt hatte. »Ich hab’s verpfuscht«, sagte er bedrückt. »Kopf hoch«, meinte Billy Painter. »Das Ganze war unmöglich.« »Ich fürchte auch«, sagte der Bürgermeister, als sie zum Dorf zurückkehrten. »Ich dachte, du könntest es vielleicht schaffen. Aber niemand nimmt es dir übel. Im ganzen Dorf gibt es keinen, der es auch nur halb so gut gemacht hätte wie du.«
»Was machen wir denn mit diesen Gebäuden?« fragte Billy Painter und deutete auf das Gefängnis, auf das Postamt, auf die Kirche und das kleine rote Schulhaus. Der Bürgermeister dachte eine Weile angestrengt nach. »Ich weiß schon«, sagte er. »Wir bauen daraus einen Spielplatz für die Kinder. Mit Schaukeln, Rutschbahnen, Sandkisten und so weiter.« »Noch einen Spielplatz?« fragte Tom. »Natürlich. Warum denn nicht?« Darauf gab es freilich keine Antwort. »Das brauche ich jetzt wohl nicht mehr«, sagte Tom und gab dem Bürgermeister seine Schleich-Erlaubnis zurück. »Nein, bestimmt nicht«, erwiderte der Bürgermeister. Traurig sahen sie zu, wie er das Dokument zerriß. »Na ja, wir haben unser Bestes gegeben. Es hat einfach nicht gereicht.« »Ich hatte die Chance«, murmelte Tom, »und ich hab’ euch alle im Stich gelassen.« Billy Painter legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Dafür kannst du nichts, Tom. Wir können alle nichts dafür. Das kommt einfach daher, daß wir seit zweihundert Jahren nicht mehr zivilisiert sind. Überleg doch nur einmal, wie lange man auf der Erde gebraucht hat, bis man zivilisiert war. Tausende von Jahren. Und wir wollten es in zwei Wochen schaffen.« »Wir müssen uns eben wieder an unser unzivilisiertes Leben gewöhnen«, meinte der Bürgermeister mit gespielter Fröhlichkeit. Tom gähnte, winkte den anderen zu und ging nach Hause, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Bevor er sein Haus betrat, sah er zum Himmel empor. Riesige, aufgedunsene Wolken hatten sich eingefunden, jede einzelne war schwarz gerändert. Die herbstlichen Regenfälle ließen nicht mehr lang auf sich warten. Bald konnte er wieder fischen. Warum hatte er sich eigentlich den Inspektor nicht als Fisch vorstellen können? Er war zu müde, um dieses Motiv unter die Lupe zu nehmen. Es war ja sowieso schon zu spät. Die Erde war ihnen für immer
entschwunden, und die Zivilisation würde ihnen auf zahllose Jahrhunderte hinaus versagt bleiben. Er schlief sehr unruhig in dieser Nacht.
Besuch in der Zukunft Thomas Eldridge saß allein in seinem Zimmer in Butler Hall, als er ein schnarrendes Geräusch hinter sich hörte. Er bemerkte es kaum. Er studierte die Holstead-Gleichungen, die mit ihrer Andeutung eines nicht der Relativität unterliegenden Universums vor Jahren große Aufmerksamkeit erregt hatten. Eine beunruhigende Reihe von Zeichen, wenn auch die daraus gezogenen Schlußfolgerungen sich als falsch erwiesen hatten. Trotzdem schienen sie tatsächlich etwas zu beweisen, wenn man sie vorurteilslos betrachtete. In den Zeitelementen wurde eine seltsame Wechselbeziehung bemerkbar, die zu erstaunlichen Kraftfeldveränderungen führte. Es gab – er hörte das Geräusch wieder und drehte sich um. Hinter ihm stand ein großer Mann; er trug eine purpurrote pludrige Hose, eine kleine grüne Weste und ein poröses Silberhemd. Er hatte ein schwarzes Kästchen mit mehreren Skalen in der Hand und machte ein grimmiges Gesicht. Aber dieser Mann war kein kichernder Student. Er war mindestens fünfzig Jahre alt und von eindeutig feindseliger Gesinnung. »Wie sind Sie hereingekommen?« fuhr ihn Eldridge an. »Und was wollen Sie?« Der Mann zog eine Braue hoch. »Sie wollen es also mit Frechheit versuchen, wie?« »Was soll das heißen?« fragte Eldridge verblüfft. »Sie sprechen mit Viglin«, sagte der Mann. »Viglin. Erinnern Sie sich?« Eldridge versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, ob es in der Nähe von Carvell Nervenheilanstalten gab. Dieser Viglin sah wie ein entsprungener Psychopath aus. »Sie dürften sich in der Adresse geirrt haben«, sagte Eldridge und fragte sich, ob er um Hilfe rufen sollte.
Viglin schüttelte den Kopf. »Sie sind Thomas Monroe Eldridge«, erklärte er. »Geboren am 16. März 1946 in Darien, Connecticut. Sie besuchten die New Yorker Universität und machten Ihr Examen ›summa cum laude‹. Dann gingen Sie voriges Jahr, 1973, nach Carvell. Stimmt das alles?« »Na schön, Sie haben sich aus irgendeinem Grund nach mir erkundigt. Er sollte stichhaltig sein, sonst rufe ich die Polizei.« »Sie sind immer kaltblütig gewesen. Aber mit diesen Tricks kommen Sie nicht durch. Die Polizei werde ich rufen.« Er drückte einen Knopf an seiner Maschine. Augenblicklich tauchten im Zimmer zwei Männer auf. Sie trugen leichte orangefarbene und grüne Uniformen; an den Manschetten waren metallene Abzeichen angebracht. Die beiden Männer trugen gemeinsam eine schwarze Maschine, die dem Gerät Viglins glich, an der Oberseite jedoch mit weißen Schriftzeichen versehen war. »Verbrechen machen sich nicht bezahlt«, sagte Viglin. »Verhaftet den Dieb.« Für einen Augenblick schien sich Eldridges Arbeitszimmer mit seinen Gauguin-Drucken, den Bücherstapeln, der Stereo-Anlage und dem schäbigen kleinen Teppich mit schwindelerregender Geschwindigkeit um ihn zu drehen. Er kniff mehrmals die Augen zu, in der Hoffnung, das ganze Erlebnis sei auf überanstrengte Augen zurückzuführen. Oder, besser noch, vielleicht hatte er nur geträumt… Aber Viglin war immer noch da. Die beiden Polizisten zogen Handschellen aus der Tasche und traten auf Eldridge zu. »Moment!« rief Eldridge, stützte sich auf seinen Schreibtisch und schüttelte den Kopf. »Worum geht es hier überhaupt?« »Ich kann Ihnen auch mit formellen Beschuldigungen dienen, wenn Sie darauf erpicht sind«, sagte Viglin. »Thomas Eldridge, im März 1988 erfanden Sie den Eldridge-Transformator. Dann –« »Halt!« rief Eldridge. »Wir schreiben noch lange nicht 1988, wenn Sie das noch nicht wissen sollten.«
Viglin erwiderte gereizt: »Bitte keine Haarspaltereien. Sie werden den Transformator 1988 erfinden, wenn Sie diese Formulierung vorziehen. Das ist eine Sache des zeitlichen Standpunkts.« Eldridge brauchte eine Weile, bis er das Gehörte verdaut hatte. »Heißt das – daß Sie aus der Zukunft kommen?« stieß er hervor. Die Polizisten stießen einander an. »Der versteht’s!« sagte der eine bewundernd. »Spannender als eine Grugly-Vorführung«, stimmte der andere zu und klirrte mit den Handschellen. »Selbstverständlich sind wir aus der Zukunft«, erklärte Viglin. »Woher denn sonst? 1988 erfinden Sie – oder werden Sie den Eldridge-ZeitTransformator erfinden und damit Zeitreisen ermöglichen. Mit diesem Gerät versetzten Sie sich in den ersten Sektor der Zukunft, wo man Sie mit hohen Ehren empfing. Dann reisten Sie durch die drei Sektoren der Zivilisierten Zeit und hielten Vorträge. Sie waren ein Held, Eldridge, ein Ideal. Kleine Kinder wünschten sich, zu werden wie Sie.« Mit heiserer Stimme fuhr Viglin fort: »Wir wurden getäuscht. Plötzlich stahlen Sie bewußt eine Anzahl wertvoller Dinge. Es war schockierend! Wir hatten niemals verbrecherische Neigungen in Ihnen vermutet. Als wir Sie verhaften wollten, verschwanden Sie.« Viglin machte eine Pause und rieb sich müde die Stirn. »Ich war Ihr Freund, Tom, die erste Person, der Sie im Sektor Eins begegneten. Wir tranken viele Schalen Flox miteinander. Ich arrangierte Ihre Vortragstour. Und Sie bestahlen mich.« Sein Gesicht wurde hart. »Nehmt ihn fest«, sagte er zu den Polizisten. Als die beiden auf ihn zutraten, konnte Eldridge zum erstenmal die schwarze Maschine genau sehen. Wie das Gerät Viglins verfügte sie über mehrere Skalen und eine Reihe von Tasten. Auf der Oberseite war in weißen Buchstaben aufgedruckt: ›Eldridges Zeit-Transformator – Eigentum der Easkill-Polizei.‹ Der Polizist blieb stehen und wandte sich an Viglin. »Haben Sie die Auslieferungspapiere?« Viglin durchsuchte seine Taschen. »Tut mir leid, ich habe sie zufällig nicht bei mir. Aber ihr wißt doch, daß er ein Dieb ist.« »Jeder weiß das«, erwiderte der Polizist. »In einem Vorkontaktsektor können wir aber ohne Auslieferungspapiere nicht vorgehen.«
»Wartet hier«, sagte Viglin. »Ich hole sie.« Er starrte seine Armbanduhr an, murmelte etwas von einer Halbstunden-Lücke und drückte einen Knopf an seinem Transformator. Augenblicklich war der Mann mitsamt seinem Gerät verschwunden. Die beiden Polizisten setzten sich auf Eldridges Sofa und starrten die Gauguin-Drucke an. Eldridge versuchte nachzudenken, zu planen, vorauszusehen. Unmöglich. Er konnte es nicht glauben. Er weigerte sich, es zu glauben. »Komisch, daß ein so berühmter Mann ein Gauner ist«, sagte einer der Polizisten. »Alle Genies sind verrückt«, meinte der andere. »Erinnerst du dich an den Stuggi-Tänzer, der dieses Mädchen umbrachte? Von dem hieß es auch, er sei ein Genie.« »Ja.« Der erste Polizist zündete sich eine Zigarre an und warf das Streichholz auf Eldridges roten Teppich. Also gut, entschied Eldridge, es ist wahr. Unter den gegebenen Umständen mußte er daran glauben. So absurd war es eigentlich auch gar nicht. Er hatte sich immer für ein Genie gehalten. Aber was war geschehen? 1988 würde er eine Zeitmaschine erfinden. Logisch – denn er war ja ein Genie. Und er würde durch die drei Sektoren der Zivilisierten Zeit reisen. Nun ja, gewiß, angenommen, daß ihm eine Zeitmaschine zur Verfügung stand. Wenn es tatsächlich drei Sektoren gab, würde er sie durchforschen. Und nicht nur sie, sondern vielleicht auch die unzivilisierten. Dann wurde er, ohne jede Vorankündigung, zu einem Dieb… Nein! Er konnte alles andere akzeptieren, aber das widersprach seinem innersten Wesen. Eldridge war ein fanatisch ehrlicher, junger Mann, dem sogar kleine Täuschungen verhaßt waren. Als Student hatte er bei den Prüfungen nie geschwindelt. Als Erwachsener bezahlte er bis auf den letzten Penny seine Einkommensteuer.
Aber das Ganze drang tiefer. Eldridge mangelte es an Machttrieb, er verlangte auch nicht nach Besitz. Sein Wunsch war immer gewesen, sich in einem warmen, schläfrigen Land niederzulassen, zufrieden mit seinen Büchern, seiner Musik, angenehmen Nachbarn und der Liebe einer guten Frau. Man beschuldigte ihn also des Diebstahls. Selbst wenn er schuldig war, welches Motiv konnte zu dieser Tat geführt haben? Was war ihm in der Zukunft zugestoßen? »Gehst du zum Skrag-Treffen?« fragte der eine Polizist seinen Begleiter. »Warum nicht? Am Malm-Sonntag, nicht wahr?« Ihnen war alles egal. Sobald Viglin zurückkam, würden sie ihm Handschellen anlegen und ihn in den Sektor Eins der Zukunft verschleppen. Man würde ihn verurteilen und in eine Zelle werfen. All das für ein Verbrechen, das er erst begehen sollte. Er traf blitzschnell eine Entscheidung und handelte danach. »Mir wird schlecht«, sagte er und begann aus seinem Sessel zu kippen. »Vorsicht – vielleicht hat er eine Waffe!« rief einer der Polizisten. Sie hasteten zu ihm und ließen ihre Zeitmaschine auf dem Sofa stehen. Eldridge sprang um den Schreibtisch herum und stürzte sich auf die Maschine. Trotz seiner Hast war ihm klar, daß Sektor Eins nicht gerade die gesündeste Gegend für ihn war. Als die Polizisten durchs Zimmer hechteten, drückte er den Knopf mit der Aufschrift: ›Sektor Zwei‹. Sofort verschlang ihn die Dunkelheit. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, daß er in knöcheltiefem, schmutzigem Wasser stand. Er befand sich auf einem Acker, zehn Meter von einer Straße entfernt. Die Luft war warm und feucht. Die Zeitmaschine hielt er fest an sich gepreßt. Er war im Sektor Zwei der Zukunft, aber er spürte nicht die geringste Aufregung. Er ging zur Straße. Zu beiden Seiten davon waren die Felder in Form von Terrassen angelegt und mit grünen Reispflanzen bestellt.
Reis? Im Staat New York? Eldridge erinnerte sich, daß in seinem eigenen Zeitsektor eine klimatische Verschiebung entdeckt worden war. Man sagte voraus, daß die gemäßigten Zonen eines Tages sehr heiß, vielleicht sogar tropisch werden würden. Diese Zukunft schien jene Theorie zu bestätigen. Er schwitzte schon. Der Boden war feucht, als hätte es eben erst geregnet, und der Himmel zeigte sich von durchdringender wolkenloser Bläue. Aber wo waren die Bauern? Als er zu der im Zenit stehenden Sonne emporblickte, wußte er die Antwort. Sie hielten natürlich Siesta. Er blickte die Straße hinunter und entdeckte in einer Entfernung von etwa einem Kilometer mehrere Gebäude. Er kratzte den Schmutz von seinen Schuhen und machte sich auf den Weg. Aber was sollte er tun, sobald er die Gebäude erreichte? Wie konnte er erfahren, was ihm im Sektor Eins zugestoßen war? Er konnte nicht einfach jemanden ansprechen und sagen: »Entschuldigen Sie, ich bin aus dem Jahr 1974, von dem Sie sicher gehört haben werden. Es hat den Anschein, als ob auf irgendeine Weise –« Nein, das war ausgeschlossen. Etwas anderes mußte er sich einfallen lassen. Eldridge wanderte weiter, während die Sonne unbarmherzig auf ihn niederbrannte. Er nahm die Zeitmaschine unter den Arm, dann betrachtete er sie eingehend. Da er sie nun schon einmal erfinden würde – nein, bereits erfunden hatte –, sollte er wohl einmal nachsehen, wie sie funktionierte. Auf der Oberseite befanden sich die Knöpfe für die drei Sektoren Zivilisierter Zeit. Daneben eine Skala für Reisen über den Sektor Drei hinaus, in die unzivilisierten Sektoren. In einer Ecke befand sich ein Metallschild mit der Aufschrift: ›Achtung: Zwischen Zeitsprüngen mindestens eine halbe Stunde Pause, zur Vermeidung einer Annullierung.‹ Das besagte wenig. Nach den Worten Viglins zu schließen, hatte Eldridge vierzehn Jahre – von 1974 bis 1988 – gebraucht, um die Zeitmaschine zu erfinden. Sie zu verstehen würde ihn mehr als nur ein paar Minuten kosten.
Eldridge erreichte die Gebäude und stellte fest, daß er sich in einer mittelgroßen Stadt befand. Auf der Straße waren wenige Leute, die sich der tropischen Hitze wegen nur langsam bewegten. Sie trugen weiße Kleidung. Er bemerkte erfreut den konservativen Zuschnitt, der seinen Anzug noch als ländliche Variation gelten ließ. Er kam an einem großen aus Adobeziegeln erbauten Haus vorbei. Das Schild an der Fassade trug die Aufschrift: ›Stadtbibliothek‹. Eine Bücherei. Eldridge blieb stehen. In diesem Haus mußten sich Aufzeichnungen über die vergangenen Jahrhunderte befinden. Ein Bericht über sein Verbrechen – wenn es tatsächlich stattgefunden hatte – und die Begleitumstände würden nicht fehlen. Aber war er dort sicher? Hatte man einen Steckbrief gegen ihn erlassen? Gab es Auslieferungsverträge zwischen Sektor Eins und Zwei? Er mußte es riskieren. Eldridge betrat das Gebäude, ging schnell an der hageren, grauhaarigen Bibliothekarin vorbei und erreichte die Regale. Es gab eine große Zeit-Abteilung, aber der ausführlichste Band war ein Buch mit dem Titel ›Ursprünge der Zeitreisen‹ von Ricardo Alfredex. Im ersten Teil wurde geschildert, wie das junge Genie Eldridge eines schicksalhaften Tages im Jahre 1974 den Kern der Idee in den umstrittenen Holstead-Gleichungen gefunden hatte. Die Gleichung war in Wirklichkeit erstaunlich einfach – Alfredex zitierte die mathematischen Funktionen – aber niemand war vor ihm darauf gestoßen. Eldridges Genie hatte vor allem in der Erkenntnis des Offensichtlichen gelegen. Eldridge runzelte die Stirn. Offensichtlich, so? Er begriff es immer noch nicht. Dabei war er der Erfinder. 1988 war die Maschine fertiggestellt worden. Sie funktionierte beim ersten Versuch und katapultierte ihren jungen Erfinder in jene Zeit, die später als Sektor Eins bekannt wurde. Eldridge hob den Kopf und sah ein bebrilltes Mädchen von etwa zehn Jahren am Ende des Regals stehen. Es starrte ihn an, verschwand aber sofort. Er las weiter. Das nächste Kapitel trug den Titel ›Unparadox der Zeit‹. Eldridge überflog es. Der Verfasser begann mit dem klassischen Paradox von
Achilles und der Schildkröte und vernichtete es mit Hilfe der Integralrechnung. Auf dieser Grundlage beschäftigte er sich mit den sogenannten Zeitparadoxen – mit der Tötung des eigenen Urgroßvaters, der Begegnung mit seinem eigenen Ich und ähnlichem. Sie hielten ebensowenig stand wie Zenos uraltes Paradoxon. Alfredex erklärte des weiteren, daß alle Zeitparadoxe Erfindungen von Autoren mit besonderem Talent für Verwirrung der Geister seien. Eldridge begriff die komplizierte Symbol-Logik in diesem Teil des Buches nicht. Das war ihm sehr peinlich, da er als Autorität immer und immer bemüht wurde. Das nächste Kapitel hieß ›Sturz der Mächtigen‹. Es berichtete, wie Eldridge Viglin, dem Eigentümer eines großen Sportartikelgeschäfts im Sektor Eins, begegnet war. Sie wurden Freunde. Der Geschäftsmann nahm das schüchterne junge Genie unter seine Fittiche. Er arrangierte Vortragsreisen für ihn. Dann »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte jemand. Eldridge sah auf. Die grauhaarige Bibliothekarin stand vor ihm, neben ihr das bebrillte Mädchen. »Ja?« sagte Eldridge. »Zeitreisende dürfen die Bibliothek nicht benützen«, sagte die Bibliothekarin streng. Das war begreiflich, dachte Eldridge. Solche Leute konnten sich wertvolle Bücher nehmen und verschwinden. Wahrscheinlich duldete man sie auch in Banken nicht. Das Dumme war nur, daß er dieses Buch nicht mehr herzugeben wagte. Eldridge lächelte, tippte an sein Ohr und las hastig weiter. Der geniale junge Eldridge schien Viglin gestattet zu haben, alle Verträge und Abmachungen für ihn zu erledigen. Eines Tages entdeckte er zu seinem Erstaunen, daß er alle Rechte an der Zeitmaschine Viglin übertragen hatte, gegen Zahlung einer geringfügigen Summe. Eldridge ging zum Gericht. Das Urteil entschied gegen ihn. Er legte Berufung ein. Mittellos und verbittert schlug Eldridge die Verbrecherlaufbahn ein und stahl Viglin…
»Sir!« schrie die Bibliothekarin. »Taub oder nicht, Sie müssen sofort gehen, oder ich rufe die Wache.« Eldridge stellte das Buch zurück, flüsterte dem kleinen Mädchen zu: »Petze« und hastete aus der Bücherei. Jetzt wußte er, warum ihn Viglin unbedingt festnehmen lassen wollte. Solange der Fall noch schwebte, war ein Eldridge hinter Gittern stark benachteiligt. Aber warum hatte er gestohlen? Die Entwendung seiner Zeitmaschine war ein begreifliches Motiv, aber Eldridge fühlte, daß es nicht das richtige war. Viglin zu bestehlen hätte ihn weder befriedigt noch das Unrecht gutgemacht. Seine Reaktion hätte entweder im Widerstand oder im Rückzug aus Ekel bestanden. Alles, nur nicht Diebstahl. Nun, er würde schon dahinterkommen. Er gedachte sich im Sektor Zwei zu verbergen, vielleicht sogar Arbeit anzunehmen. Schritt für Schritt würde er… Zwei Männer packten seine Arme und drehten sie ihm auf den Rücken. Ein dritter nahm ihm die Zeitmaschine weg. Das Ganze ging so schnell, daß Eldridge noch kein Wort herausgebracht hatte, als einer der Männer eine Kennmarke vorzeigte. »Polizei«, sagte er. »Sie müssen mitkommen, Mr. Eldridge.« »Wozu?« fragte Eldridge. »Sie haben in den Sektoren Eins und Zwei Raubüberfälle begangen.« Hier hatte er also auch gestohlen! Man brachte ihn zur Polizeistation und führte ihn in das kleine enge Büro des Polizei-Captains. Der Captain war ein schlanker, freundlicher Mann mit beginnender Glatze. Er schickte seine Untergebenen aus dem Zimmer, bot Eldridge einen Stuhl an und gab ihm eine Zigarette. »Sie sind also Eldridge«, sagte er. Eldridge nickte mürrisch. »Ich habe Bücher über Sie gelesen, seit ich ein kleiner Junge war«, sagte der Captain wehmütig. »Sie sind einer meiner Helden gewesen.«
Eldridge hielt den Captain für gute fünfzehn Jahre älter als sich, aber er stellte keine Fragen, galt er doch als Fachmann für Zeitparadoxe. »Ich war immer der Ansicht, daß man Sie verschaukelt hat«, meinte der Captain und spielte mit einem großen, bronzenen Briefbeschwerer. »Ich konnte aber nie begreifen, daß ein Mann wie Sie stiehlt. Zunächst dachten wir an zeitweilige Geistesverwirrung.« »Traf das zu?« erkundigte sich Eldridge hoffnungsvoll. »Nein. Wir haben Ihre ganze Vergangenheit durchforscht. Diese Möglichkeit ist bei Ihnen einfach ausgeschlossen. Und das erschwert das Ganze für mich. Warum, zum Beispiel, haben Sie diese Dinge gestohlen?« »Welche Dinge?« »Erinnern Sie sich denn nicht mehr?« »Ich – ich habe alles vergessen«, erwiderte Eldridge. »Zeitweiliger Gedächtnisverlust.« »Sehr begreiflich«, meinte der Captain mitfühlend. Er überreichte Eldridge ein Blatt Papier. »Hier ist die Liste.« AUFSTELLUNG DER VON THOMAS MONROE ELDRIDGE ENTWENDETEN GEGENSTÄNDE Gestohlen aus Viglins Sportartikelgeschäft, Sektor Eins: Krediteinheiten 4 Handpistolen mit Megaladung 10000 3 Rettungsgürtel, aufblasbar 100 5 Dosen Ollens Hai-Abwehrpulver 400 Gestohlen aus Alfghans Spezialitätenladen, Sektor Eins: 2 Mikrofilmsammlungen, Weltliteratur 1000 5 Symphonie-Kassettensammlungen 2650 Gestohlen aus Loories Naturproduktenhandlung, Sektor Zwei: 4 Dutzend Kartoffeln, weiße Sorte 5 9 Päckchen Karottensamen 6 Gestohlen aus Manoris Kurzwarenladen, Sektor Zwei:
5 Dutzend Handspiegel, silbern
95 Gesamtwert: 14256
»Was hat denn das zu bedeuten?« fragte der Captain. »Ich könnte verstehen, daß jemand eine Million KE stiehlt, aber warum dieses Zeug?« Eldridge schüttelte den Kopf. Die Liste sagte ihm nichts. Die Pistolen mit Megaladung schienen brauchbar. Aber wozu die Spiegel, Rettungsgürtel, Kartoffeln und all die anderen Dinge, die der Captain als »Zeug« bezeichnet hatte? Das Ganze sah ihm nicht ähnlich. Eldridge begann sich als zwei Personen zu denken. Eldridge I hatte Zeitreisen ermöglicht, war übers Ohr gehauen worden, hatte zahlreiche Dinge gestohlen und war verschwunden. Eldridge II war er selbst, die Person, auf die Viglin gestoßen war. Er hatte keine Erinnerung an den ersten Eldridge, aber er mußte seine Motive entdecken oder für seine Taten büßen. »Was geschah, nachdem ich das alles gestohlen hatte?« erkundigte sich Eldridge. »Das möchten wir eben gerne wissen«, meinte der Captain. »Uns ist nur bekannt, daß Sie mit Ihrer Beute in den Sektor Drei flohen.« »Und dann?« Der Captain zuckte die Achseln. »Als wir um Auslieferung nachsuchten, erklärten die Behörden, Sie befänden sich nicht dort. Im übrigen hätte man Sie sowieso nicht herausgerückt. Die Leute dort sind sehr stolz und unabhängig, wissen Sie. Auf jeden Fall waren Sie verschwunden.« »Verschwunden? Wohin?« »Ich weiß es nicht. Sie könnten sich in die unzivilisierten Sektoren jenseits des Sektors Drei begeben haben.« »Was sind die unzivilisierten Sektoren?« fragte Eldridge. »Wir hofften eigentlich, das von Ihnen zu erfahren«, antwortete der Captain. »Sie sind der einzige Mann, der über den Sektor Drei hinausgestoßen ist.«
Verdammt, dachte Eldridge, man hielt ihn in allen Gebieten, wo er nach Antwort suchte, für die größte Autorität. »Ich sitze jetzt schön in der Patsche«, sagte der Captain und starrte den Briefbeschwerer an. »Warum?« »Nun, Sie sind ein Dieb. Das Gesetz verlangt, daß ich Sie verhafte. Ich sehe aber auch, daß man Ihnen ein Bein gestellt hat. Zufällig weiß ich, daß Sie nur Viglin und seine Filialen in beiden Sektoren bestohlen haben. Darin liegt eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit – die vom Gesetz leider nicht anerkannt wird.« Eldridge nickte düster. »Es ist meine Pflicht, Sie zu verhaften«, seufzte der Captain. »Ich kann nichts dagegen unternehmen, selbst wenn ich wollte. Sie müssen vor Gericht und werden wahrscheinlich eine Strafe von zwanzig Jahren abzusitzen haben.« »Was? Für den Diebstahl von wertlosem Zeug wie Hai-Pulver und Karottensamen?« »Wir bestrafen Zeitdiebstahl sehr schwer«, sagte der Captain. »Straftaten, die im Zusammenhang mit Zeitreisen verübt werden, haben weitreichende Bedeutung.« »Ich verstehe«, murmelte Eldridge. »Wenn Sie natürlich plötzlich bösartig werden sollten«, erklärte der Captain nachdenklich, »wenn Sie mich mit diesem massiven Briefbeschwerer niederschlagen, meine private Zeitmaschine – die ich in der zweiten Schublade dieses Schrankes aufbewahre – entwenden und zu Ihren Freunden im Sektor Drei zurückkehren, könnte ich eigentlich gar nichts dagegen tun.« »Wie?« Der Captain wandte sich dem Fenster zu und ließ den schweren Briefbeschwerer in bequemer Reichweite von Eldridges Händen liegen. »Es ist wirklich entsetzlich«, fuhr der Captain fort, »was man alles für einen Helden seiner Kindheit tut. Aber Sie sind natürlich ein Mann, der die Gesetze achtet. Sie würden so etwas nie tun.« »Danke«, sagte Eldridge. Er hob den Briefbeschwerer auf und schlug ihn dem Captain sanft auf den Kopf. Lächelnd sank der Captain hinter
seinem Schreibtisch zusammen. Eldridge fand die Zeitmaschine im Schrank und stellte sie auf Sektor Drei ein. Er seufzte tief und drückte die Taste. Wieder wurde er von der Dunkelheit übermannt. Als er die Augen öffnete, stand er auf einer weiten Ebene; der Boden war von gelblicher Färbung und völlig ausgetrocknet. Rings um ihn her erstreckte sich baumlose Öde; der Staubwind blies ihm ins Gesicht. In der Ferne entdeckte er mehrere Ziegelgebäude und eine Reihe von Zelten, die neben einem ausgetrockneten Wasserlauf aufgestellt worden waren. Er lenkte seine Schritte dorthin. Diese Zukunft mußte eine weitere klimatische Verschiebung erlebt haben. Die grellheiße Sonne hatte das Land ausgedörrt, Ströme und Flüsse ausgetrocknet. Sollte die Entwicklung so weitergehen, dann konnte man verstehen, daß die nächste Zukunft unzivilisiert war. Vermutlich würde sie auch unbewohnt sein. Er war völlig erschöpft. Den ganzen Tag hatte er nichts gegessen – oder mehrere tausend Jahre lang, je nach Zählmethode. Aber das war ein falsches Paradox, eines, das Alfredex sicherlich mit symbolischer Logik zerfetzt haben würde. Zum Teufel mit der Logik. Zum Teufel mit Wissenschaft, Paradoxen und allem. Er wollte nicht mehr fliehen. In diesem staubigen Land mußte es auch für ihn Platz geben. Die Leute hier – stolz und unabhängig – würden ihn nicht ausliefern. Sie glaubten an Gerechtigkeit, nicht einfach ans Recht. Hier würde er bleiben, arbeiten, alt werden und Eldridge I vergessen. Als er das Dorf erreichte, sah er, daß sich die Bewohner bereits zu seiner Begrüßung versammelt hatten. Sie trugen lange, wallende Roben, die arabischen Burnussen ähnelten und für dieses Klima die einzig geeignete Kleidung waren. Ein bärtiger Patriarch trat vor und nickte Eldridge ernst zu. »Die alten Sprüche sind wahr. Für jeden Anfang gibt es ein Ende.« Eldridge stimmte höflich zu. »Hat jemand einen Schluck Wasser für mich?«
»Es steht geschrieben«, fuhr der Patriarch fort, »daß der Dieb, selbst wenn er ein Universum zu durchwandern hätte, schließlich zum Schauplatz seines Verbrechens zurückkehren wird.« »Verbrechen?« fragte Eldridge, während sich in seinem Magen ein unangenehmes Gefühl bemerkbar machte. »Verbrechen«, wiederholte der Patriarch. Ein Mann in der Menge schrie: »Nur ein dummer Vogel beschmutzt sein eigenes Nest!« Die Leute brüllten vor Lachen, aber Eldridge gefiel das Gelächter nicht. Es klang grausam. »Undankbarkeit erzeugt Verrat«, verkündete der Patriarch. »Das Böse lauert überall. Wir hatten dich in unser Herz geschlossen, Thomas Eldridge. Du kamst mit deiner seltsamen Maschine zu uns, brachtest Beute, und wir erkannten deinen stolzen Geist. Er machte dich zu einem der Unsrigen. Wir schützten dich vor deinen Feinden in den Nassen Welten. Was machte es uns aus, ob du sie geschädigt hast? Hatten sie dich nicht betrogen? Auge um Auge!« Die Menge brummte Zustimmung. »Aber was habe ich denn getan?« fragte Eldridge. Die Menge wälzte sich auf ihn zu, Keulen und Messer schwingend. Eine Reihe von Männern in dunkelblauen Umhängen hielt sie zurück, und Eldridge begriff, daß es sogar hier Polizisten gab. »Sagt mir wenigstens, was ich getan habe«, drängte er, als die Polizisten ihm die Zeitmaschine wegnahmen. »Du bist der Sabotage und des Mordes schuldig«, herrschte ihn der Patriarch an. Eldridge starrte wild um sich. Er war vor einer geringfügigen Beschuldigung im Sektor Eins geflohen, nur um sich im Sektor Zwei angeklagt zu sehen. Er hatte sich in den Sektor Drei zurückgezogen, wo man ihn wegen Mordes und Sabotage suchte. Er lächelte liebenswürdig. »Wissen Sie, eigentlich wünschte ich mir ja immer nur ein warmes, angenehmes Land, Bücher, freundliche Nachbarn und die Liebe einer guten –«
Als er wieder zu sich kam, lag er in einem kleinen, aus Ziegeln erbauten Gefängnis auf dem Lehmboden. Durch ein geschlitztes Fenster konnte er einen winzigen Streifen Sonnenlicht erkennen. Vor der Holztür wimmerte jemand eine Melodie. Er fand eine Schale mit Nahrung neben sich und schlang das unbekannte Zeug hinunter. Nachdem er Wasser aus einer anderen Schale getrunken hatte, lehnte er sich an eine Wand. Durch sein schmales Fenster konnte er die Sonne untergehen sehen. Im Hof errichtete eine Gruppe von Männern einen Galgen. »Wärter!« schrie Eldridge. Wenige Augenblicke später hörte er stampfende Schritte. »Ich brauche einen Anwalt«, sagte er. »Wir haben hier keine Anwälte«, erwiderte der Mann stolz. »Bei uns gibt es Gerechtigkeit.« Er marschierte davon. Eldridge begann seine Vorstellung über Recht ohne Gesetze zu revidieren. Als Idee klang das ja alles sehr gut – aber die Wirklichkeit war furchtbar. Er legte sich auf den Boden und versuchte nachzudenken. Kein Gedanke meldete sich. Er konnte die Arbeiter draußen beim Bau des Galgens lachen und scherzen hören. Sie waren bis spät in die Dämmerung hinein beschäftigt. Am frühen Abend hörte Eldridge, wie der Schlüssel in der Tür umgedreht wurde. Zwei Männer traten ein. Einer war von mittlerem Alter und trug einen kurzen, gepflegten Bart. Der andere hatte etwa das Alter Eldridges, war breitschultrig und braun gebrannt. »Erinnerst du dich an mich?« fragte der Ältere. »Sollte ich das?« »Allerdings. Ich war ihr Vater.« »Und ich war ihr Verlobter«, erklärte der junge Mann. Drohend trat er einen Schritt vorwärts. Der Bärtige hielt ihn zurück. »Ich weiß, was in dir vorgeht, Morgel, aber er wird am Galgen für seine Verbrechen bezahlen.«
»Hängen ist viel zu gut für ihn, Mr. Becker«, protestierte Morgel. »Man sollte ihn vierteilen, verbrennen und die Asche in alle Winde verstreuen.« »Ja, aber wir sind gerechte und mitleidsvolle Menschen«, erklärte Becker. »Wessen Vater?« fragte Eldridge. »Wessen Verlobter?« Die beiden Männer sahen einander an. »Was habe ich getan?« fragte Eldridge. Becker erzählte es ihm. Er war zu ihnen aus dem Sektor Zwei gekommen, beladen mit Beute, berichtete Becker. Die Leute des Sektors Drei hatten ihn akzeptiert. Sie waren einfache Menschen, hitzig und ohne Hinterhältigkeit, die Erben einer vom Krieg verwüsteten Erde. Im Sektor Drei gab es keine Minerale mehr, der Boden hatte seine Fruchtbarkeit verloren. Riesige Landstriche waren radioaktiv verseucht. Und die Sonne brannte unbarmherzig hernieder, die Gletscher schmolzen, und die Ozeane machten sich breit. Die Männer vom Sektor Drei bemühten sich verzweifelt, zur Zivilisation zurückzufinden. Sie verfügten über die Reste eines Produktionssystems und einige wenige Energie-Anlagen. Eldridge hatte die Leistung dieser Stationen gesteigert, ein Beleuchtungssystem geschaffen und die Grundzüge hygienischer Methoden gelehrt. Er setzte seine Forschungsreisen in die unzivilisierten Sektoren fort. Er wurde zu einem Volkshelden, und die Leute des Sektors Drei liebten und beschützten ihn. Eldridge hatte diese Güte vergolten, indem er Beckers Tochter entführte. Diese reizvolle junge Dame war mit Morgel verlobt gewesen. Man traf bereits Vorbereitungen für die Eheschließung. Eldridge kümmerte sich nicht darum und zeigte seine wahre Natur, indem er sie in einer dunklen Nacht entführte und in eine höllische Maschine eigener Erfindung steckte. Als er das Gerät einschaltete, verschwand das Mädchen. Die überbeanspruchten Stromleitungen demolierten im Umkreis von mehreren Kilometern alle Anlagen.
Mord und Sabotage! Der aufgebrachte Mob hatte Eldridge jedoch nicht mehr rechtzeitig erreichen können. Er stopfte einen Teil seiner Beute in einen Sack, packte seine Zeitmaschine und verschwand. »Das alles habe ich getan?« fragte Eldridge entgeistert. »Vor Zeugen«, sagte Becker. »Der Rest deiner Beute befindet sich im Lagerhaus. Wir konnten daraus nicht klug werden.« Beide Männer starrten ihm ins Gesicht; Eldridge senkte den Kopf. Jetzt wußte er, was er im Sektor Drei getan hatte. Die Mordanklage war jedoch vermutlich unbegründet. Anscheinend hatte er eine große Zeitmaschine gebaut und das Mädchen irgendwohin geschickt, ohne daß die Zwischenaufenthalte notwendig geworden waren, die man bei den tragbaren Modellen einzukalkulieren hatte. Aber glauben würde ihm das niemand. »Warum hast du das getan?« fragte Becker. Eldridge hob die Schultern und schüttelte hilflos den Kopf. »Habe ich dich nicht wie meinen eigenen Sohn behandelt? Habe ich nicht die Polizei vom Sektor Drei zurückgeschickt? Habe ich dich nicht ernährt und gekleidet? Warum – warum – warum hast du es getan?« Eldridge konnte nur die Achseln zucken und weiterhin hilflos den Kopf schütteln. »Na schön«, sagte Becker. »Dann erzählst du morgen früh vielleicht dem Henker dein Geheimnis.« Er nahm Morgel beim Arm und zog ihn hinaus. Eldridge hätte sich vielleicht auf der Stelle erschossen, wenn eine Pistole greifbar gewesen wäre. Das gesamte Beweismaterial deutete auf das Vorhandensein böser Kräfte, die er nie in sich vermutet hätte. Die Uhr war für ihn abgelaufen. Morgen früh würde man ihn hängen. Aber das war unfair, alles war unfair. Er war ein unbeteiligter Zuschauer, der ständig mit den Konsequenzen seiner früheren – oder späteren – Taten zusammenprallte. Aber nur Eldridge I kannte die Motive. Selbst wenn die Diebstähle gerechtfertigt wären, warum hatte er Kartoffeln, Rettungsgürtel, Spiegel und ähnliches genommen? Wohin hatte er das Mädchen geschickt?
Was versuchte er zu erreichen? Müde schloß Eldridge die Augen und versank in einen unruhigen Halbschlaf. Er hörte ein leises scharrendes Geräusch und sah auf. Viglin stand vor ihm, eine Zeitmaschine unter dem Arm. Eldridge war zu erschöpft, um noch Überraschung spüren zu können. Er starrte einen Augenblick vor sich hin, dann sagte er: »Sie wollen sich wohl zum letztenmal amüsieren?« »Ich habe das Ganze nicht geplant«, wandte Viglin ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das müssen Sie mir glauben. Ich habe nie gewollt, daß man Sie tötet, Tom.« Eldridge setzte sich auf und sah Viglin scharf an. »Sie haben aber meine Erfindung gestohlen, nicht wahr?« »Ja«, gestand Viglin. »Ich wollte es wiedergutmachen. Ich hätte den Gewinn mit Ihnen geteilt.« »Warum haben Sie sie dann gestohlen?« Viglin machte ein verlegenes Gesicht. »Sie waren überhaupt nicht an Geld interessiert.« »Dann brachten Sie mich also dazu, meine Rechte an Sie zu übertragen?« »Wenn nicht ich, hätte es ein anderer getan, Tom. Ich wollte Sie nur vor Ihrer eigenen Unerfahrenheit retten. Ich hatte vor, Sie am Gewinn zu beteiligen – ich schwöre es Ihnen!« Er wischte sich wieder die Stirn. »Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß es so endet!« »Und dann haben Sie mich fälschlich des Diebstahls all dieser Sachen beschuldigt«, meinte Eldridge. »Was?« Viglin wirkte ehrlich verblüfft. »Nein, Tom. Sie haben diese Sachen wirklich genommen. Es lief wie bestellt für mich – bis jetzt.« »Sie lügen!« »Warum sollte ich hierherkommen, wenn ich lüge? Ich habe den Diebstahl Ihrer Erfindung zugegeben. Warum sollte ich in anderen Punkten lügen?« »Warum habe ich denn gestohlen?«
»Ich glaube, Sie hatten einen verrückten Plan für die unbewohnten Sektoren entworfen, aber genau weiß ich es auch nicht. Es spielt keine Rolle. Hören Sie zu. Es gibt keine Möglichkeit für mich, das Verfahren zur Einstellung zu bringen – es handelt sich um eine Zeitstraftat –, aber ich kann Sie hier herausholen.« »Wohin soll ich?« fragte Eldridge verzweifelt. »Die Polizei sucht mich überall.« »Ich verstecke Sie auf meinem Gut. Im Ernst. Sie können sich verbergen, bis die Sache verjährt ist. Niemand wird auf den Gedanken kommen, Sie bei mir zu suchen.« »Und die Rechte auf meine Erfindung?« »Die behalte ich«, sagte Viglin mit einer Andeutung seines früheren Selbstvertrauens. »Ich kann sie Ihnen nicht zurückgeben, ohne mich selbst der Bestrafung auszusetzen. Aber ich werde sie teilen. Und Sie brauchen wirklich einen Partner.« »Also gut, verschwinden wir«, sagte Eldridge. Viglin hatte eine Reihe von Werkzeugen mitgebracht, die er geschickt handhabte. Binnen weniger Minuten hatten sie die Zelle verlassen und kauerten im dunklen Hof. »Diese Zeitmaschine ist reichlich schwach«, flüsterte Viglin, nachdem er die Batterien seines Geräts überprüft hatte. »Könnten wir vielleicht die Ihrige nehmen?« »Sie könnte im Lagerhaus sein«, sagte Eldridge. Das Lagerhaus war unbewacht, und Viglin hatte das Schloß sehr schnell geknackt. Im Inneren fanden sie die Maschine von Eldridge II neben der lächerlichen, verwirrenden Beute von Eldridge I. »Los«, sagte Viglin. Eldridge schüttelte den Kopf. »Was ist denn?« fragte Viglin gereizt. »Ich gehe nicht mit.« »Hören Sie, Tom, ich weiß, daß es keinen vernünftigen Grund gibt, warum Sie mir trauen sollten. Ich biete Ihnen aber wirklich eine Zuflucht. Ich belüge Sie nicht.«
»Ich glaube Ihnen«, erwiderte Eldridge. »Trotzdem will ich nicht zurück.« »Was haben Sie vor?« Eldridge hatte sich das seit dem Ausbruch aus der Zelle ebenfalls gefragt. Er stand jetzt an der Weggabelung. Er konnte mit Viglin zurückkehren, oder er mußte allein weiterziehen. Jedenfalls galt es, sich zu entscheiden. In Wirklichkeit gab es keine Wahl. Er mußte annehmen, daß er beim erstenmal gewußt hatte, was er tat. Richtig oder falsch – er gedachte, sich selbst treu zu bleiben und jede Verabredung mit der Zukunft einzuhalten. »Ich will in die unbewohnten Sektoren«, sagte Eldridge. Er fand einen Sack und begann, ihn mit Kartoffeln und Karottensamen zu füllen. »Das geht nicht!« protestierte Viglin. »Beim erstenmal landeten Sie im Jahr 1974. Vielleicht haben Sie diesmal nicht soviel Glück. Es könnte sein, daß Sie sich ganz annullieren.« Eldridge hatte alle verfügbaren Kartoffeln und Karottensamenpäckchen eingesteckt. Als nächstes nahm er die Weltliteratur-Mikrofilme, die Rettungsgürtel, die Dosen mit HaiAbwehrpulver und die Spiegel. Obenauf legte er die Handpistolen mit Megaladung. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was Sie mit diesem Zeug anfangen wollen?« »Nicht die geringste«, gab Eldridge zurück und knöpfte die Symphoniebänder in sein Hemd. »Aber irgendwo müssen sie hinpassen.« Viglin seufzte schwer. »Vergessen Sie nicht, Sie müssen eine halbe Stunde zwischen den einzelnen Übergängen Pause machen, sonst annullieren Sie sich. Haben Sie eine Uhr?« »Nein, die liegt noch in meinem Zimmer.« »Nehmen Sie diese.« Viglin befestigte sie an Eldridges Handgelenk. »Viel Glück, Tom. Ich meine es ehrlich.« »Danke.«
Eldridge stellte das Gerät auf den weitestmöglichen Sprung in die Zukunft ein, grinste Viglin an und drückte die Taste. Zuerst kam der übliche Augenblick völliger Dunkelheit, dann ein plötzlicher eisiger Schock. Als Eldridge die Augen öffnete, stellte er fest, daß er sich unter Wasser befand. Er stieß sich gegen den Widerstand des Sackes an die Oberfläche. Als sein Kopf über Wasser war, suchte er nach dem nächstgelegenen Land. Es gab kein Land. Lange, sanfte Wellen glitten vom grenzenlosen Horizont her auf ihn zu und rollten wieder davon, einer verborgenen Küste entgegen. Eldridge kramte in seinem Proviantsack, fand die Rettungsgürtel und blies sie auf. Bald tanzte er mit seiner Unterlage auf der Oberfläche und versuchte herauszufinden, was aus dem Staat New York geworden war. Jeder Sprung in die Zukunft hatte ihn in heißeres Klima gebracht. Hier, zahllose Jahrtausende nach 197,4, mußten alle Gletscher geschmolzen sein. Ein Großteil der Landmassen stand vermutlich unter Wasser. Er hatte große Voraussicht bewiesen, als er die Rettungsgürtel mitnahm. Das verlieh ihm Zuversicht für den Rest der Reise. Er brauchte jetzt nur eine halbe Stunde zu schwimmen, um eine Annullierung zu verhindern. Er lehnte sich zurück, getragen von seinen Rettungsgürteln, und bewunderte die Wolkenbildung am Himmel. Irgend etwas streifte ihn. Eldridge senkte den Kopf und sah etwas Langes, Schwarzes unter seinen Füßen vorbeigleiten. Ein zweites Exemplar folgte, und die beiden Wesen näherten sich ihm hungrig. Haie! Er kramte hastig im Sack, warf in der Eile die Spiegel heraus und fand endlich eine Dose Hai-Abwehrpulver. Er öffnete sie, schüttete das Pulver ins Wasser und sah zu, wie sich ein orangefarbener Fleck auf dem blauschwarzen Wasser auszubreiten begann. Die Haie waren schon zu dritt. Sie schwammen vorsichtig um den sich ausbreitenden Fleck herum. Ein vierter Hai schoß heran, glitt in den Fleck hinein und zog sich hastig in sauberes Wasser zurück.
Eldridge war froh, daß die Zukunft ein Hai-Pulver erfunden hatte, das tatsächlich wirkte. Nach fünf Minuten hatte sich ein Teil des Pulvers verflüchtigt. Er öffnete eine zweite Dose. Die Haie gaben die Hoffnung nicht auf, aber in das verschmutzte Wasser konnten sie nicht schwimmen. Eldridge öffnete alle fünf Minuten eine Dose. Er überprüfte seine Position. Er wußte nicht, wozu die Spiegel und Kartoffeln dienten, oder warum Karottensamen unersetzlich schien. Er mußte eben sehen, was kam. Er drückte die Taste und versank in der schon vertrauten Dunkelheit. Er stand knöcheltief in einem saugenden, stinkenden Sumpf. Die Hitze war drückend. Eine Wolke großer Mücken summte um seinen Kopf herum. Er befreite sich aus dem zähen Schlamm und fand unter einem kleinen Baum festeren Boden. Rings um ihn nichts als grüner Dschungel, durchschossen von grellem Rot und Purpur. Eldridge lehnte sich an den Baum, um die halbe Stunde abzuwarten. In dieser Zukunft hatten sich offensichtlich die Meere zurückgezogen, und an ihrer Stelle war der Dschungel emporgeschossen. Gab es hier überhaupt Menschen? Lebten sie noch auf der Erde? Er war nicht überzeugt davon. Es sah so aus, als beginne die Welt von neuem. Eldridge hörte einen blökenden Laut und sah gegen den hellgrünen Hintergrund des Laubes sich etwas von stumpfem Grün bewegen. Irgend etwas näherte sich ihm. Er sah genau hin. Das Wesen war etwa vier Meter hoch, besaß die runzlige Haut einer Eidechse und breite Füße. Es glich einem kleinen Saurier. Eldridge beobachtete das große Reptil vorsichtig. Die meisten Saurier waren Pflanzenfresser, erinnerte er sich, vor allem, wenn sie in Sümpfen lebten. Es wollte ihn vermutlich nur beriechen, um sich dann wieder seinem Gras zuzuwenden. Der Saurier gähnte und zeigte ein großartiges Gebiß schärfster Zähne. Dann bewegte er sich mit beachtlicher Entschlossenheit auf Eldridge zu.
Eldridge steckte die Hand in den Sack, schob die unwichtigen Dinge beiseite und packte eine Pistole. Hoffentlich klappt es, dachte er und drückte ab. Der Saurier verschwand in einer Rauchwolke. Nur ein paar Fetzen Fleisch und starker Ozongeruch deuteten an, daß es ihn gegeben hatte. Eldridge betrachtete die Mega-Pistole mit neuem Respekt. Jetzt verstand er, warum sie so teuer war. Im Laufe der nächsten halben Stunde interessierte sich eine ganze Reihe von Dschungelbewohnern lebhaft für ihn. Jede Pistole schaffte nur ein paar Schüsse – angesichts der Zerstörungskraft kein Wunder. Die letzte Waffe begann zu versagen; einen Pterodaktylus – einen Flugsaurier – mußte er durch Schläge mit dem Kolben abwehren. Als die halbe Stunde vorbei war, stellte er die Skala wieder ein. Er hätte gerne gewußt, was vor ihm lag. Wieder fragte er sich, wie er neuen Gefahren mit einigen Büchern, Kartoffeln, Karottensamen und Spiegeln begegnen sollte. Vielleicht lagen keine Gefahren mehr vor ihm. Es gab nur eine Möglichkeit, Klarheit zu finden. Er drückte auf den Knopf. Er stand auf einem grasbewachsenen Hügel. Der dichte Dschungel war verschwunden. Jetzt erstreckte sich vor ihm ein windbewegter Tannenwald. Eldridge hatte festen Boden unter den Füßen; am Himmel stand eine milde Sonne. Eldridges Puls wurde bei dem Gedanken, daß er sein Ziel erreicht haben könnte, schneller. Er hatte immer einen atavistischen Trieb in sich vermutet – den Drang, eine von der Zivilisation unberührte Gegend zu finden. Der verbitterte Eldridge I, beraubt und betrogen, mußte das noch weitaus stärker gespürt haben. Es war ein wenig enttäuschend. Immerhin, man mußte noch froh sein, dachte er. Bis auf die Einsamkeit. Wenn es nur Leute gäbe – Ein Mann trat aus dem Wald. Er war eineinhalb Meter groß, untersetzt, hatte Muskeln wie ein Ringer und war mit einem Fellrock bekleidet.
Seine Haut war von mittelgrauer Farbe. Er trug einen klobigen Ast, der primitiv zu einer Keule gestaltet worden war. Zwei Dutzend Männer traten hinter ihm aus’ dem Wald. Sie marschierten schnurstracks auf Eldridge zu. »Guten Tag«, sagte Eldridge freundlich. Der Anführer antwortete mit gutturaler Stimme und machte eine Handbewegung. »Ich bringe für eure Felder Segen«, erklärte Eldridge sofort. »Ich habe genau das, was ihr braucht.« Er griff in den Sack und holte ein Päckchen Karottensamen hervor. »Samen! Ihr könnt tausend Jahre Zivilisation mit einem Schritt –« Der Anführer grunzte zornig, und seine Gefolgschaft begann Eldridge einzukreisen. Die Männer streckten die Hände aus, mit der Innenfläche nach oben, und grunzten aufgeregt. Sie wollten weder den Sack noch die unbrauchbare Pistole. Sie hatten ihn schon beinahe völlig eingekreist. Man wog die Knüppel in den Händen, und er wußte immer noch nicht, was sie wollten. »Kartoffeln?« fragte er verzweifelt. Sie wollten auch keine Kartoffeln. Seine Zeitmaschine brauchte noch zwei Minuten Wartezeit. Er drehte sich um und rannte davon. Die Wilden setzten ihm sofort nach. Eldridge hetzte wie ein Jagdhund in den Wald und schlug zwischen den eng beieinanderstehenden Bäumen Haken. Mehrere Keulen sausten an ihm vorbei. Noch eine Minute. Er stolperte über eine Wurzel, raffte sich auf und lief weiter. Die Wilden waren ihm auf den Fersen. Zehn Sekunden. Fünf Sekunden. Eine Keule streifte seine Schulter. Jetzt! Er näherte seinen Finger der Taste – da erwischte ihn eine Keule am Kopf und schmetterte ihn zu Boden. Als er wieder zu sich kam, standen die Wilden um ihn herum, der Anführer beugte sich mit erhobenem Knüppel über seine Zeitmaschine. »Nicht!« schrie Eldridge auf.
Aber der Anführer grinste breit und ließ die Keule niedersausen. Wenige Sekunden später war die Maschine völlig zertrümmert. Eldridge, der verzweifelt vor sich hin fluchte, wurde in eine Höhle geschleppt. Zwei Wilde bewachten den Eingang. Draußen konnte er eine Gruppe von Männern Holz sammeln sehen. Frauen und Kinder hasteten hin und her, beladen mit Lehmkrügen. Ihrem Gelächter ließ sich entnehmen, daß man einen Festschmaus vorbereitete. Eldridge begriff entsetzt, daß er als Hauptgang vorgesehen war. Im Endeffekt kam das alles auf eins heraus. Sie hatten seine Zeitmaschine zerstört. Kein Viglin würde ihn diesmal retten. Das war das Ende des Weges. Eldridge wollte nicht sterben. Das Schlimmste an seiner Situation schien ihm jedoch, daß er sein Leben verlieren sollte, ohne jemals erfahren zu haben, was Eldridge I vorgehabt hatte. Irgendwie empfand er das alles als höchst unfair. Mehrere Minuten lang fühlte er sich von Selbstmitleid überschwemmt. Dann kroch er tiefer in die Höhle, in der Hoffnung, dort einen Ausgang zu finden. Die Höhle endete plötzlich an einer Granitwand. Aber er fand noch etwas anderes. Einen alten Schuh. Er hob ihn auf und starrte ihn an. Er beunruhigte ihn, obwohl es sich um einen ganz gewöhnlichen braunen Halbschuh handelte, von der Sorte, die er jetzt trug. Plötzlich wurde ihm der Anachronismus bewußt. Was hatte ein fabrikmäßig hergestellter Artikel in dieser Frühzeit zu suchen? Er prüfte die Größe und probierte den Schuh an. Er paßte genau. Es gab nur eine Antwort – er mußte bei seiner ersten Reise hier vorbeigekommen sein. Aber warum hatte er einen Schuh hiergelassen? Er spürte einen Gegenstand im Schuh, zu weich für einen Kiesel, zu hart für ein Stück abgerissenes Futter. Er zog den Schuh aus und fand ein zusammengefaltetes Stück Papier in der Spitze. Er entfaltete es und las in seiner eigenen Handschrift:
»Alberne Geschichte – wie redet man sich selber an? ›Lieber Eldridge‹? Schon gut, lassen wir die Anrede; du wirst das lesen, weil ich es auch getan habe, und natürlich schreibe ich es, weil du es sonst nicht lesen könntest, ebensowenig wie ich… Paß auf, du bist in einer unangenehmen Situation. Mach dir aber keine Sorgen. Du kommst unverletzt hier heraus. Ich hinterlasse dir eine Zeitmaschine, damit du dein nächstes Ziel erreichen kannst. Die Frage ist nur: Wohin gehe ich? Ich stelle die Zeitmaschine absichtlich vor der erforderlichen Halbstundenpause ein, in dem Wissen, daß eine Annullierungswirkung eintreten wird. Das bedeutet, daß die Maschine zu deinem Gebrauch hierbleibt. Aber was wird mit mir? Ich glaube es zu wissen. Trotzdem habe ich Angst – das ist die erste Annullierung, die ich erlebe. Aber es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich weiß, daß es gutgehen muß, weil es keine Zeitparadoxe gibt. Also, dann los. Ich drücke auf den Knopf und annulliere. Dann gehört die Maschine dir. Wünsch mir Glück.« Ihm Glück wünschen! Eldridge zerriß wütend den Zettel und warf die Fetzen weg. Aber Eldridge I hatte absichtlich annulliert und war in die Zukunft zurückgeschleudert worden. Das bedeutete, daß die Zeitmaschine ihn nicht begleitet hatte! Sie mußte noch hier sein. Eldridge begann die Höhle verzweifelt abzusuchen. Wenn er die Maschine fand und den Knopf drückte, konnte er weiterreisen. Sie mußte hier sein! Als ihn die Wärter mehrere Stunden später herauszerrten, hatte er sie immer noch nicht gefunden. Die gesamte Einwohnerschaft des Dorfes hatte sich versammelt; man war bester Stimmung. Die Lehmkrüge wanderten von Hand zu Hand, einige Männer lagen bereits schnarchend auf dem Boden. Aber die Wärter, die Eldridge vor sich herstießen, waren nüchtern. Sie schleppten ihn zu einer großen, nicht sehr tiefen Grube. In der Mitte befand sich ein Aufbau, der einem kultischen Altar glich. Er war
mit wilden Blumen dekoriert, und ringsherum hatte man riesige Mengen dürren Holzes aufgestapelt. Eldridge wurde hineingestoßen, dann begann der Tanz. Mehrere Male versuchte er hinauszuklettern, aber man stieß ihn zurück. Der Tanz dauerte Stunden, bis der letzte Tänzer erschöpft zusammengebrochen war. Ein alter Mann näherte sich dem Rand der Grube; er trug eine lodernde Fackel. Damit beschrieb er einige Kreise, dann warf er sie in die Grube. Eldridge stampfte sie in den Boden. Aber immer mehr Fackeln regneten herein und setzten die zuoberst liegenden Zweige in Brand. Sie loderten hell, und er war gezwungen, sich ins Innere zurückzuziehen. Der flammende Kreis schloß sich und trieb ihn zurück. Mit brennenden Augen und einknickenden Knien brach er schließlich über dem Altar zusammen, als die Flammen nach ihm leckten. Seine Augen waren geschlossen, und er umklammerte die Knöpfe – Knöpfe? Er schlug die Augen auf. Unter der farbenfrohen Dekoration war der Altar, eine Zeitmaschine – die gleiche Maschine zweifellos, die Eldridge I hierhergebracht hatte und für ihn zurückließ. Als Eldridge I verschwand, mußten die Wilden sie als kultisches Objekt verehrt haben. Und sie besaß wirklich magische Fähigkeiten. Das Feuer versengte seine Füße, als er den Regulator einstellte. Mit dem Finger auf der Taste zögerte er. Was würde die Zukunft für ihn bereithalten? An Ausrüstung besaß er nur einen Sack mit Karottensamen, Kartoffeln, Symphonien, Mikrofilmen der Weltliteratur und kleinen Spiegeln. Aber jetzt war er schon soweit gekommen. Das Ende wollte er sehen. Er drückte den Knopf. Eldridge öffnete die Augen und stellte fest, daß er an einem Strand stand. Wasser schlug gegen seine Zehen, und er hörte das Donnern von Brechern.
Der Strand war lang, schmal und von strahlender Weiße. Vor ihm erstreckte sich ein blauer Ozean in die Unendlichkeit. Hinter sich entdeckte er Palmen. Zwischen ihnen wuchs die üppige Vegetation einer tropischen Insel. Er hörte einen Schrei. Eldridge sah sich nach einer Waffe um. Er hatte nichts, überhaupt nichts. Er war wehrlos. Aus dem Dschungel liefen Männer auf ihn zu. Sie riefen seltsame Worte. Er lauschte angestrengt. »Willkommen! Willkommen!« schrien sie. Ein riesiger braunhäutiger Mann umarmte ihn. »Du bist zurückgekommen!« rief er. »Na – ja«, sagte Eldridge. Viele Leute liefen den Strand hinunter. Sie waren schöne Menschen – die Männer groß und braun gebrannt, die Frauen fast alle schlank und hübsch. Sie sahen wie Leute aus, die man sich als Nachbarn wünschte. »Hast du sie mitgebracht?« fragte ein hagerer alter Mann keuchend. »Was mitgebracht?« »Die Karottensamen. Du hast es uns versprochen. Und die Kartoffeln.« Eldridge kramte sie aus seinen Taschen. »Hier sind sie«, sagte er. »Vielen Dank. Glaubst du wirklich, daß sie in diesem Klima gedeihen? Ich nehme an, wir könnten einen –« »Später, später«, unterbrach ihn der Riese. »Du wirst müde sein.« Eldridge dachte zurück an all das, was ihm seit dem letzten Erwachen im Jahre 1974 zugestoßen war. Subjektiv gesehen handelte es sich nur um einen Tag, aber er hatte Tausende von Jahren in sich begriffen und war mit Verhaftungen, Gefahren und Rätseln angefüllt gewesen. »Müde«, sagte er. »Sehr sogar.« »Vielleicht möchtest du in dein eigenes Heim zurückkehren?« »In mein eigenes?«
»Gewiß. Das Haus, das du an der Lagune erbaut hast. Erinnerst du dich nicht?« Eldridge lächelte schwach und schüttelte den Kopf. »Er erinnert sich nicht!« rief der Mann. »Du entsinnst dich nicht an unser Schachspiel?« fragte ein anderer. »An die Fischzüge?« meinte ein Junge. »An die Picknicks und Feste?« »Die Tänze?« »Und die Segelfahrten?« Eldridge schüttelte jedesmal den Kopf. »All das geschah, bevor du in deine eigene Zeit zurückkehrtest«, erklärte der große Mann. »Zurückkehrte?« wiederholte Eldridge. Hier gab es alles, wonach er jemals Sehnsucht verspürt hatte. Frieden, Geborgenheit, warmes Klima, gute Nachbarn. Und Bücher und Musik, fügte er der Liste hinzu. Niemand, der bei Verstand war, würde diesen Ort jemals verlassen! Das brachte ihn auf eine wichtige Frage. »Warum bin ich fortgegangen?« »Daran wirst du dich doch noch erinnern!« sagte der Riese. »Leider nein.« Ein schlankes, hellhaariges Mädchen trat vor. »Du entsinnst dich wirklich nicht mehr, meinetwegen zurückgekehrt zu sein?« Eldridge starrte sie an. »Du mußt Beckers Tochter sein. Das Mädchen, das mit Morgel verlobt war. Ich habe dich entführt.« »Morgel glaubte nur, mit mir verlobt zu sein«, sagte sie. »Und du hast mich nicht entführt. Ich ging freiwillig mit.« »Ach so, ich verstehe«, sagte Eldridge verlegen. »Ich meine – jetzt ist mir alles klar. Das heißt – freut mich sehr, dich kennenzulernen«, schloß er schafsköpfig. »Du brauchst nicht so formell zu sein«, meinte sie. »Schließlich sind wir ja verheiratet. Und du hast mir einen Spiegel mitgebracht, nicht wahr?«
Jetzt stimmte alles. Eldridge grinste, holte einen Spiegel hervor, gab ihn ihr und reichte dem Riesen den Sack. Begeistert tat sie an Augen und Haar all das, was Frauen zu tun pflegen, wenn sie ihr Spiegelbild sehen. »Gehen wir nach Hause, Liebster«, sagte sie. Er kannte ihren Namen nicht, aber sie gefiel ihm sehr. Er liebte sie. Aber das war nur natürlich. »Ich fürchte, ich kann jetzt noch nicht«, erwiderte er und sah auf die Uhr. Die halbe Stunde war beinahe vergangen. »Ich muß zuerst noch etwas tun. Aber ich werde bald zurück sein.« Sie lächelte liebevoll. »Ich mache mir keine Sorgen. Du hast gesagt, daß du wiederkommst, und du bist da. Du hast die Spiegel und Kartoffeln mitgebracht, wie wir es dir aufgetragen haben.« Sie küßte ihn. Er schüttelte allen die Hände. In gewisser Weise war das ein Symbol für den vollendeten Kreis, den Alfredex zur Zerstörung des albernen Begriffs von Zeitparadoxen verwendet hatte. Die vertraute Dunkelheit verschluckte Eldridge, als er den Knopf der Zeitmaschine drückte. Er hörte auf, Eldridge II zu sein. Von diesem Augenblick an war er Eldridge I, und er wußte genau, wohin er wollte, was er tun würde, welche Dinge er dazu brauchte. Sie alle führten ihn zu seinem Ziel und zu dieser Frau, denn es gab keine Frage, daß er hierher zurückkommen und sein Leben mit ihr, den guten Nachbarn, mit Büchern und Musik, in Frieden und Geborgenheit verbringen würde. Wunderbar zu wissen, daß alles so sein würde, wie er es immer erträumt hatte. Sogar für Viglin und Alfredex empfand er eine Art Wohlwollen.
Ein Irrtum der Regierung Jetzt sitze ich wirklich in der Tinte, und es ist schlimmer, als ich es je für möglich hielt. Eine Erklärung läßt sich nicht leicht geben, deshalb fange ich am besten ganz von vorne an. Seit ich 2091 das Examen der Technikerschule machte, hatte ich bei der Produktion des Starling-Raumschiffs einen guten Posten als Monteur von Sphinx-Röhren. Ich bewunderte diese großen Schiffe, die bis zum Cygnus, zum Alpha Centauri und anderen bekannten Sternen flogen. Ich war ein junger Mann mit Zukunft, hatte Freunde, ja, ich kannte sogar ein paar sehr nette Mädchen. Aber das alles nützte nichts. Die Stellung war gut, aber ich konnte bei den verborgenen Kameras, die meine Hände unablässig beobachteten, keine ordentliche Arbeit leisten. Die Kameras selbst störten mich nicht einmal; es lag an ihrem surrenden Geräusch. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Ich beschwerte mich beim Inneren Sicherheitsdienst. Ich sagte, hört mal, warum kann ich nicht neue, lautlose Kameras haben, wie alle anderen Leute auch? Aber man war zu sehr beschäftigt, um sich damit abzugeben. Dann begannen mich viele Kleinigkeiten zu stören. Zum Beispiel das Tonbandgerät in meinem Fernsehapparat. Das FBI hatte es nicht richtig justiert, und es summte die ganze Nacht. Ich ließ mindestens hundert Beschwerden los. Ich sagte, hört mal, kein Mensch außer mir hat ein Tonbandgerät, das so gräßlich summt. Warum das meine? Aber man hielt mir immer wieder dieselbe Rede: Es sei notwendig, den kalten Krieg zu gewinnen; im übrigen könne man es nicht jedem recht machen. Solche Dinge erzeugen Minderwertigkeitskomplexe. Ich argwöhnte schließlich, daß sich der Staat für mich gar nicht interessierte. Ein gutes Beispiel dafür ist mein Spion. Ich war ein Verdächtiger der Klasse 18 D – in dieselbe Klasse gehörte der Vizepräsident –, und das
berechtigte mich zu zeitweiliger Überwachung. Mein Spion mußte sich aber für einen Filmschauspieler halten, weil er immer einen schmutzigen Trenchcoat und einen tief in die Stirn gezogenen Schlapphut trug. Er war ein hagerer, nervöser Bursche und stieg mir praktisch die ganze Zeit auf die Fersen, nur um mich nicht aus den Augen zu verlieren. Na ja, immerhin versuchte er, sein Bestes zu geben. Spionage ist ein konkurrenzreiches Geschäft, und irgendwie tat er mir auch leid, so unbeholfen benahm er sich. Aber es war doch peinlich mit ihm. Meine Freunde lachten sich krank, sobald ich irgendwo auftauchte und er mir buchstäblich ins Genick hustete. »Bill«, sagten sie, »etwas Besseres kannst du dir nicht leisten?« Und meinen Freundinnen kam er unheimlich vor. Natürlich ging ich zum Untersuchungsausschuß des Senats und sagte: »Hört mal, warum kann ich denn keinen ausgebildeten Spion bekommen, wie ihn jeder hat?« Man wollte sich darum kümmern, aber ich hatte keine Beziehungen, alles blieb beim alten. Diese Kleinigkeiten machten mich nervös; jeder Psychologe kann einem aber sagen, daß man keine massiven Schocks braucht, um überzuschnappen. Ich hatte es satt, ignoriert und vernachlässigt zu werden. Um diese Zeit begann ich an die Tiefen des Weltraums zu denken. Dort draußen gab es Milliarden Quadratkilometer Leere, durchsetzt mit zu vielen Sternen, als daß sie zu zählen gewesen wären. Es gab genug Planeten vom Typ Erde für jeden Mann, jede Frau, jedes Kind. Auch für mich würde irgendwo Platz sein. Ich kaufte mir eine Sternliste des Universums und einen beinahe neuen Galaxisführer. Ich las den Band über Schwerkraftgezeiten und studierte die Interstellar-Pilotenkarten. Schließlich kam ich zu der Ansicht, daß ich soviel wußte, wie ich jemals in meinen Kopf hineinbringen würde. Meine ganzen Ersparnisse wurden für einen alten Chrysler-Sternclipper ausgegeben. Bei diesem Exemplar drang der Sauerstoff zu den Nähten heraus. Mit dem Atommeiler durfte man nicht spaßen, und der Raumverzerrungsantrieb war fähig, das Schiff in eine x-beliebige Gegend zu versetzen. Die Gefahr war groß, aber ich riskierte schließlich nur mein eigenes Leben. Das dachte ich damals jedenfalls.
Ich besorgte meinen Paß, Freigabe blau, Freigabe rot, Ziffernbeschleunigung, und ließ mich gegen Raumkrankheit impfen. In meiner Firma kassierte ich das letzte Gehalt und winkte den Kameras zu. In meiner Wohnung packte ich meine Sachen und sagte den Tonbandgeräten Lebewohl. Auf der Straße drückte ich meinem armen Spion die Hand und wünschte ihm viel Glück. Ich hatte alle Brücken hinter mir abgebrochen. Nun brauchte ich nur noch die endgültige Freigabe; ich eilte zum Büro für endgültige Freigaben. Ein Angestellter mit weißen Händen und Höhensonnenbräune sah mich zweifelnd an. »Wohin wollen Sie?« fragte er mich. »In den Weltraum«, gab ich zurück. »Natürlich. Aber wohin im Weltraum?« »Ich weiß es noch nicht«, sagte ich. »Einfach in den Weltraum. In die Tiefen des Raums. In den freien Weltraum.« Der Angestellte seufzte müde. »Sie müssen sich schon genauer erklären, wenn Sie eine Freigabe wünschen. Haben Sie vor, sich auf einem Planeten im amerikanischen Weltraum niederzulassen? Oder wollen Sie in den britischen Weltraum auswandern? In den holländischen vielleicht? Oder in den französischen?« »Ich wußte nicht, daß jemand den Weltraum besitzen kann«, meinte ich. »Dann sind Sie nicht auf der Höhe der Zeit«, erklärte er mit überlegenem Lächeln. »Die Vereinigten Staaten haben den gesamten Weltraum zwischen den Koordinaten 2XA und D2B bis auf ein kleines, verhältnismäßig unwichtiges Segment, das Mexiko gehört, in Besitz genommen. Die Sowjetunion besitzt die Koordinaten 3DB bis LO2 – eine trostlose Gegend, kann ich Ihnen sagen. Und dann gibt es noch den belgischen Besitz, den chinesischen Besitz, den ceylonesischen Besitz, den nigerischen Besitz –« Ich hob die Hand. »Und wo ist der freie Weltraum?« »Den gibt es nicht.« »Überhaupt nirgends? Wie weit reichen die Grenzen?«
»Bis in die Unendlichkeit«, erklärte er stolz. Einen Augenblick lang war ich wie erschlagen. Ich hatte die Möglichkeit, daß jeder Quadratzentimeter des unendlichen Weltraums schon vergeben sein könnte, nicht einmal ins Auge gefaßt. Aber es war nur natürlich. Jemandem mußte der Weltraum schließlich gehören. »Ich möchte in den amerikanischen Weltraum«, sagte ich. Damals schien es keine Rolle zu spielen, obwohl sich dann etwas ganz anderes zeigte. Der Angestellte nickte mürrisch. Er überprüfte meine Unterlagen bis zum zarten Kindesalter von fünf Jahren und erteilte mir dann die endgültige Freigabe. Der Raumflughafen hatte mein Schiff startklar gemacht, und ich flog ab, ohne größere Defekte hervorzurufen. Erst als die Erde zu Stecknadelkopfgröße zusammengeschrumpft und dann hinter mir verschwunden war, begriff ich, daß ich allein war. Fünfzig Stunden nach dem Start besichtigte ich meine Vorräte; ich entdeckte, daß einer meiner Gemüsesäcke eine von allen anderen Proviantsäcken abweichende Form hatte. Als ich ihn öffnete, fand ich anstelle der fünfzig Kilo Kartoffeln ein Mädchen. Ein blinder Passagier. Ich starrte die junge Dame mit offenem Mund an. »Na«, sagte sie, »wollen Sie mir nicht heraushelfen? Oder gedenken Sie den Sack wieder zuzumachen und das Ganze zu vergessen?« Ich half ihr heraus. »Ihre Kartoffeln sind aber knollig«, sagte sie. Ähnliches hätte man vielleicht von ihr sagen können, obwohl es dann natürlich als Kompliment gemeint war. Sie war gut gewachsen, hatte rotblondes Haar, ein hübsches, durch den Aufenthalt in dem Gemüsesack ein bißchen verschmutztes Gesicht und nachdenkliche blaue Augen. Auf der Erde wäre ich gerne zwanzig Kilometer gelaufen, um sie zu treffen. Hier im Weltraum war ich nicht ganz derselben Stimmung. »Könnten Sie mir etwas zu essen geben?« fragte sie. »Seit dem Start habe ich nur von rohen Karotten gelebt.«
Ich bereitete ihr ein belegtes Brot. Während sie aß, fragte ich: »Was tun Sie hier?« »Das würden Sie nicht begreifen«, meinte sie mit vollem Mund. »Doch, doch.« Sie ging zu einem Bullauge und betrachtete die – zumeist amerikanischen – in der Leere des amerikanischen Weltraums glühenden Sterne. »Ich wollte frei sein«, sagte sie. »Was?« Sie sank müde auf meine Koje. »Sie werden mich wohl für eine Romantikerin halten«, meinte sie leise. »Ich gehöre zu den albernen Menschen, die mitten in der Nacht Gedichte vortragen und vor irgendeiner absurden kleinen Statue in Tränen ausbrechen. Gelbes Herbstlaub bringt mich zum Zittern, und der Tau auf einer grünen Wiese erscheint mir als der Tränenflor der Erde. Meine Psychiater sagten mir, daß ich mich an meine Umwelt nicht anzupassen vermag.« Sie schloß die Augen mit einer Müdigkeit, die ich verstehen konnte. Fünfzig Stunden in einem Kartoffelsack zu stecken, ist schließlich kein Vergnügen. »Die Erde bedrückte mich«, fuhr sie fort. »Ich konnte es nicht mehr ertragen – diese Reglementierung, Disziplin, kalter Krieg, heißer Krieg, alles. Ich wollte in freier Luft lachen, durch grüne Felder laufen, unbelästigt durch düstere Wälder schweifen, singen –« »Aber warum haben Sie sich gerade mich ausgesucht?« »Sie waren unterwegs in die Freiheit«, sagte sie. »Ich kann aber wieder verschwinden, wenn Sie das wollen.« Alberne Idee, draußen im Weltraum. Und ich konnte mir den Brennstoff nicht leisten, den eine Umkehr verschlingen würde. »Sie können bleiben«, sagte ich. »Danke«, flüsterte sie. »Sie verstehen mich also doch.« »Natürlich«, meinte ich. »Aber wir müssen gleich zu Anfang einiges klarstellen. Zuallererst –« Aber sie war auf meinem Bett eingeschlafen, ein vertrauensvolles Lächeln auf den Lippen.
Sofort durchsuchte ich ihre Handtasche. Ich fand fünf Lippenstifte, eine Puderdose, ein Fläschchen Venus V-Parfüm, einen Gedichtband, kartoniert, und eine Plakette mit der Aufschrift ›SonderErmittlungsbeamter, FBI‹. Ich hatte es natürlich gleich vermutet. Kein Mädchen spricht wie mein blinder Passagier, aber Spione tun es immer. Ein angenehmes Gefühl zu wissen, daß sich meine Regierung immer noch um mich kümmerte. Man fühlte sich sofort nicht mehr so einsam. Das Raumschiff drang in die Tiefen des amerikanischen Weltraums vor. Ich arbeitete fünfzehn von vierundzwanzig Stunden, wodurch es mir gelang, meinen Raumverzerrungsantrieb beieinander, meine Atommeiler kühl und die Schweißnähte geschlossen zu halten. Mavis O’Day – wie meine Spionin hieß – kochte, hielt die Kabine sauber und versteckte eine Anzahl kleiner Kameras im Schiff. Sie summten gräßlich, aber ich tat so, als bemerkte ich nichts. Unter den gegebenen Umständen waren meine Beziehungen zu Miss O’Day jedoch überaus korrekt. Der Flug ging normal vonstatten – bis plötzlich etwas geschah. Ich döste an der Steuerung vor mich hin. Schlagartig zuckte ein grelles Licht an der Steuerbordseite auf. Ich sprang zurück und stieß Mavis um, die gerade einen neuen Filmstreifen in ihre Kamera drei einlegte. »Verzeihung«, sagte ich. »Ich stehe jederzeit zur Verfügung«, gab sie zurück. Ich half ihr auf die Beine. Ihre Nähe war gefährlich angenehm, und der verlockende Duft von Venus V kitzelte in meiner Nase. »Sie können mich jetzt loslassen«, sagte sie. »Ich weiß«, sagte ich und hielt sie fest. Entflammt von ihrer Nähe hörte ich mich sagen: »Mavis – wir kennen uns noch nicht sehr lange, aber –« »Ja, Bill?«
Im Wahnsinn dieses Augenblicks hatte ich unsere Beziehung als Verdächtiger und Spionin vergessen. Ich weiß nicht, was mir vielleicht noch entschlüpft wäre. Aber in diesem Augenblick flammte draußen wieder grelles Licht auf. Ich ließ Mavis los und hastete zur Steuerung. Unter erheblichen Schwierigkeiten drosselte ich den alten Sternclipper auf Leerlauf und schaute mich um. Draußen, im endlosen Vakuum des Weltraums, schwebte ein einsamer Gesteinsbrocken. Darauf kauerte ein Kind in einem Raumanzug, das eine Schachtel mit Leuchtkugeln in der einen und einen winzigen, mit einem Raumanzug bekleideten Hund an der anderen Hand hielt. Hastig holten wir die beiden herein und zogen dem Jungen den Raumanzug aus. »Mein Hund –«, sagte er. »Es ist ihm nichts passiert, mein Junge«, sagte ich. »Tut mir furchtbar leid, daß ich Sie auf diese Weise belästigen muß«, sagte der Knabe. »Macht nichts«, erwiderte ich. »Was hast du denn da draußen gemacht?« »Sir«, begann er im Diskant, »ich muß ganz von vorne anfangen. Mein Vater war ein Raumschiff-Testpilot, und er starb tapfer bei dem Versuch, die Lichtmauer zu durchbrechen. Mutter hat sich wieder verheiratet. Ihr jetziger Mann ist ein großer, schwarzhaariger Mann mit eng beieinanderstehenden, stechenden Augen und schmalen Lippen. Bis vor kurzer Zeit war er in einem großen Kaufhaus als Band-Angestellter beschäftigt. Er konnte mich von Anfang an nicht leiden. Ich erinnerte ihn wohl an meinen toten Vater, mit meinen blonden Locken, großen, ovalen Augen und meiner fröhlichen Natur. Unser Verhältnis wurde immer gespannter. Dann starb sein Onkel – unter verdächtigen Umständen –, und er erbte Besitz im britischen Weltraum. Wir machten uns also mit unserem Raumschiff auf den Weg. Sobald wir diese verlassene Gegend hier erreicht hatten, sagte er zu Mutter: ›Ruth, er ist alt genug, um sich selbst durchzuschlagen.‹ Meine Mutter entgegnete: ›Dirk, er ist doch noch so jung!‹ Aber meine weichherzige
Mutter war kein Gegner für den unbeugsamen Willen dieses Mannes, den ich nie Vater nennen wollte. Er steckte mich in meinen Raumanzug, reichte mir eine Schachtel mit Signalraketen, steckte Rex in seinen kleinen Anzug und sagte: ›Heutzutage kann es auch ein junger Mann im Weltraum zu etwas bringen.‹ ›Sir‹, sagte ich, ›im Umkreis von zweihundert Lichtjahren gibt es keinen Planeten.‹ ›Du schaffst es schon‹, sagte er grinsend und setzte mich auf diesem Gesteinsbrocken ab.« Der Junge schöpfte Atem, und sein Hund sah mich mit feuchten, ovalen Augen an. Ich gab dem eine Schüssel voll Milch und Brot und sah zu, wie der Junge ein Brot mit Erdnußbutter und Gelee verzehrte. Mavis trug ihn in die Kabine und brachte ihn zu Bett. Ich kehrte zur Steuerung zurück, startete das Schiff wieder und schaltete die Bordsprechanlage ein. »Wach auf, du kleiner Idiot!« hörte ich Mavis’ Stimme aus dem Lautsprecher. »Laß mich schlafen«, erwiderte der Junge. »Wach auf! Wieso schickt dich der Geheimdienst hierher? Sehen die Leute denn nicht, daß es sich um einen Fall für das FBI handelt?« »Er ist als Verdächtiger der Klasse 10-F neu eingestuft worden«, meinte der Knabe. »Das verlangt eine Überwachung.« »Ja, aber ich bin doch schon da«, rief Mavis. »Bei Ihrem letzten Fall haben Sie nicht so sehr geglänzt«, meinte der Junge. »Tut mir leid, aber zuerst kommt der Geheimdienst.« »Und dann schicken sie dich«, schluchzte Mavis. »Ein zwölfjähriges Kind –« »In sieben Monaten bin ich dreizehn.« »Ein zwölfjähriges Kind! Und ich habe mich so angestrengt! Ich habe studiert, Bücher gelesen, Abendkurse und Vorträge besucht –« »Sehr dumm«, sagte der Junge mitfühlend. »Ich persönlich möchte ja Raumfahrt-Testpilot werden. In meinem Alter kann ich nur auf diese Weise Flugstunden zusammenbekommen. Glauben Sie, daß er mich das Schiff fliegen läßt?«
Ich schaltete ab. Eigentlich hätte ich mich sehr geehrt fühlen müssen. Zwei Berufsspione beschatteten mich. Das bedeutete, daß ich wirklich eine Persönlichkeit war, daß man mich beobachten mußte. Aber dummerweise waren meine Spione ein Mädchen und ein zwölfjähriger Junge. Man mußte schon sehr verzweifelt gewesen sein, als man diese beiden ausgeschickt hatte. Meine Regierung ignorierte mich also immer noch, auf ihre Weise. Der Rest des Fluges verlief wie am Schnürchen, Roy, wie der Knabe hieß, übernahm die Steuerung des Schiffes, und sein Hund saß wachsam im Ko-Piloten-Sessel. Mavis kümmerte sich ums Kochen und um die Hausarbeit. Ich verbrachte die Zeit damit, die Nähte zu flicken. Wir waren eine glückliche Spionage-Familie. Wir entdeckten einen unbewohnten Planeten vom Typ Erde. Mavis fand Gefallen daran, weil er klein und sehr hübsch war, mit den grünen Feldern und düsteren Wäldern, von denen ihr Gedichtband erzählte. Roy freute sich über die klaren Seen und die Berge, die auch einem Kind das Klettern gestatteten. Wir landeten und richteten uns häuslich ein. Roy interessierte sich sofort für die Tiere, die ich aus dem Kühlraum nahm und ins Leben zurückholte. Er ernannte sich zum Wächter der Kühe und Pferde, Beschützer der Enten und Gänse, Verteidiger der Hühner und Schweine. Das nahm ihn derart in Anspruch, daß seine Berichte an den Senat immer spärlicher ausfielen, bis sie schließlich ganz aufhörten. Von einem Spion seines Alters konnte man nichts anderes erwarten. Nachdem ich die Kuppeln errichtet und einige Hektar Land besät hatte, unternahmen Mavis und ich lange Spaziergänge im düsteren Wald und auf den hellgrünen und gelben Feldern. Eines Tages veranstalteten wir ein Picknick und aßen am Rande eines kleinen Wasserfalls. Mavis’ langes Haar hing bis auf die Schultern herab, und ihre blauen Augen zeigten einen verträumten Ausdruck. Im ganzen gesehen, wirkte sie recht harmlos, und ich mußte mir unsere Rollen immer wieder ins Gedächtnis rufen.
»Bill«, sagte sie nach einer Weile. »Ja?« »Nichts.« Sie zerrte an einem Grashalm. Ich kam nicht ganz mit. Aber ihre Hand näherte sich der meinen. Unsere Fingerspitzen berührten einander. Wir schwiegen lange Zeit. Nie war ich so glücklich gewesen. »Bill?« »Ja?« »Lieber Bill, könnten Sie eigentlich jemals –« Was sie sagen wollte und was ich vielleicht erwidert hätte, werde ich nie erfahren. In diesem Augenblick wurde unsere Ruhe vom Düsendonner gestört. Vom Himmel schwebte ein Raumschiff herab. Ed Wallace, der Pilot, war ein weißhaariger, alter Mann mit Schlapphut und schmutzigem Trenchcoat. Er war Vertreter für eine Firma, die sauberes Wasser auf Planetenbasis erzeugte. Da ich seine Dienste nicht benötigte, bedankte er sich und flog ab. Er kam nicht sehr weit. Seine Motoren spuckten einmal und verstummten dann mit furchtbarer Endgültigkeit. Ich besah mir seinen Antrieb und stellte fest, daß eine Sphinxröhre defekt war. Er brauchte mindestens einen Monat zur Herstellung einer neuen. »Das ist mir sehr peinlich«, murmelte er. »Ich werde wohl hierbleiben müssen.« »Vermutlich«, sagte ich. Er sah sein Schiff bedauernd an. »Ich begreife nicht, wie das passieren konnte«, meinte er. »Vielleicht hat Ihre Röhre den Schlag mit dem Beil nicht ausgehalten«, sagte ich und schlenderte davon. Ich hatte nichts übersehen.
Mr. Wallace gab vor, mich nicht gehört zu haben. An diesem Abend belauschte ich seinen Bericht über Interstellar-Funk. Sein Auftraggeber war nicht die Wasser-Firma, sondern die Abwehr. Mr. Wallace erwies sich als guter Gemüsegärtner, obwohl er die meiste Zeit mit Kamera und Notizbuch herumschlich. Seine Anwesenheit trieb Roy zu größeren Anstrengungen an. Mavis und ich unternahmen keine Spaziergänge mehr in den düsteren Wald, und es schien auch nicht an der Zeit, zu den gelben und grünen Feldern zurückzukehren, um Unerledigtes nachzuholen. Aber unsere kleine Siedlung florierte. Wir hatten noch andere Besucher. Ein Ehepaar vom regionalen Geheimdienst gab sich als Erntehilfsarbeiter aus. Dann erschienen zwei junge Fotografinnen, geheime Vertreter des Informationsbüros der Exekutive, außerdem tauchte noch ein junger Reporter auf, der in Wirklichkeit vom Rat für Raummoral in Idaho kam. Jeder von ihnen ließ eine Sphinx-Röhre ausbrennen, als er abfliegen wollte. Ich wußte nicht, ob ich stolz sein oder mich schämen sollte. Ein halbes Dutzend Agenten beschatteten mich – aber jeder einzelne von ihnen war zweite Garnitur. Nach einigen Wochen Aufenthalt auf meinem Planeten beschäftigten sie sich unweigerlich mit der Farmarbeit, während ihre Spionagebemühungen einschliefen. Ich durchlebte bittere Augenblicke. Ich sah mich als Pappkameraden für Anfänger. Ich war der Verdächtige, auf den man Spione ansetzte, die entweder zu alt oder zu jung, ungeschickt, dumm oder einfach unfähig waren. Ich sah mich als eine Art Verdächtiger auf Pensionsbasis. Aber es machte mir nicht allzuviel aus. Ich hatte eine Position, wenn sie auch schwer bestimmbar sein mochte. Ich war glücklicher als je zuvor auf der Erde, und meine Spione, das mußte man zugeben, erwiesen sich als angenehme, willige Leute. Unsere kleine Kolonie war glücklich und zufrieden. Ich dachte, es könnte immer so bleiben. Dann gab es eines Nachts eine große Aufregung. Eine wichtige Nachricht schien einzutreffen; alle Funkgeräte waren eingeschaltet. Ich
mußte ein paar Spione bitten, sich in die Geräte zu teilen, um meine Generatoren nicht zu überlasten. Endlich wurden alle Radios abgedreht, und die Spione hielten Besprechungen ab. Ich hörte sie bis in die frühen Morgenstunden hinein flüstern. Am nächsten Vormittag hatten sie sich alle im Wohnzimmer versammelt; sie machten lange, ernste Gesichter. Mavis, die man zur Sprecherin erwählt hatte, trat vor. »Etwas Schreckliches ist geschehen«, sagte sie mir. »Aber zuerst müssen wir Ihnen ein Geheimnis verraten. Bill, keiner von uns ist, was er scheint. Wir sind alle Spione für die Regierung.« »Was?« staunte ich, um ihre Gefühle nicht zu verletzen. »Es ist wahr«, fuhr sie fort. »Wir haben hinter Ihnen herspioniert, Bill.« »Was?« rief ich. »Sie auch?« »Ich auch«, flüsterte Mavis beklommen. »Und jetzt ist alles vorbei«, sagte Roy. Das erschreckte mich. »Wieso?« fragte ich. Sie starrten einander an. Schließlich sagte Mr. Wallace, seinen Hut hin und her drehend: »Bill, eine Überprüfung hat ergeben, daß dieser Raumsektor nicht den Vereinigten Staaten gehört.« »Welchem Land gehört er dann?« erkundigte ich mich. »Beruhigen Sie sich«, sagte Mavis. »Versuchen Sie zu verstehen. Dieser ganze Sektor wurde bei der internationalen Vermessung übersehen, und kein Land kann jetzt Anspruch darauf erheben. Als erster Siedler auf diesem Planeten gehört er Ihnen, Bill, und die Umgebung auf mehrere Millionen Kilometer dazu.« Ich war so verblüfft, daß ich kein Wort herausbrachte. »Unter diesen Umständen haben wir kein Recht, hier zu sein«, erklärte Mavis. »Wir fliegen sofort ab.« »Aber das geht doch nicht!« rief ich. »Ich habe eure Sphinx-Röhren noch nicht repariert!« »Alle Spione führen Ersatz-Sphinx-Röhren und Beile mit sich«, sagte sie sanft.
Als ich sie in einer langen Reihe zu den Schiffen hinausmarschieren sah, stellte ich mir vor, welche furchtbare Einsamkeit mich erwartete. Ich hatte keine Regierung mehr, die mich beschatten ließ. Nie mehr würde ich nachts Schritte hören, mich umdrehen und das entschlossene Gesicht eines Spions hinter mir erkennen. Nie mehr würde mir das Surren einer alten Kamera die Arbeit erleichtern, nie wieder das Summen eines defekten Tonbandgeräts mich in den Schlaf lullen. Und doch taten sie mir noch mehr leid. Diese armen, ernsthaften, ungeschickten, tolpatschigen Spione kehrten in eine hastende, tüchtige, von Konkurrenz lebende Welt zurück. Wo würden sie jemals wieder einen Verdächtigen wie mich finden oder einen Planeten wie den meinen? »Leb wohl, Bill«, sagte Mavis und reichte mir ihre Hand. Ich sah sie zu Mr. Wallaces Schiff gehen. Erst in diesem Augenblick verstand ich, daß sie nicht mehr meine Spionin war. »Mavis!« schrie ich und rannte ihr nach. Sie eilte auf das Schiff zu. Ich ergriff sie beim Arm. »Warte. Ich wollte im Schiff schon immer etwas sagen. Auch beim Picknick.« Sie versuchte sich loszumachen. Mit höchst unromantischem Krächzen stieß ich hervor: »Mavis, ich liebe dich.« Sie lag in meinen Armen. Wir küßten uns, und ich sagte ihr, daß hier ihr Zuhause sei, auf diesem Planeten mit seinen düsteren Wäldern, seinen gelben und grünen Feldern. Hier bei mir. Sie war zu glücklich, um sprechen zu können. Da Mavis blieb, änderte auch Roy seine Meinung. Mr. Wallaces Gemüse reifte eben heran, und er wollte sich darum kümmern. Auch alle anderen hatten irgendeine Aufgabe, die getan sein wollte. Hier bin ich also – Herrscher, König, Diktator, Präsident, welche Bezeichnung ich mir auch immer zulegen will. Von jedem Land drängen seither die Spione heran – nicht nur aus Amerika. Und alle Untertanen wollen ernährt werden – ich werde bald Nahrungsmittel einführen müssen. Aber die anderen Herrscher weigern sich, mir Unterstützung zu gewähren. Sie glauben, ich hätte ihre Spione abgeworben.
Das trifft nicht zu, ich schwöre es. Sie kommen von selbst. Ich kann nicht zurücktreten, weil mir der Planet gehört. Und ich habe nicht das Herz, sie wegzuschicken. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Da meine gesamte Bevölkerung aus ehemaligen Regierungsspionen besteht, möchte man glauben, daß es mir leichtfiele, eine eigene Regierung auf die Beine zu stellen. Aber nein, sie machen nicht mit. Ich bin der absolute Herrscher eines Planeten von Farmern, Viehzüchtern, Schäfern und Molkereifachleuten; verhungern werden wir also sicher nicht. Aber das ist nicht der springende Punkt. Entscheidend ist: wie soll ich eigentlich regieren? Nicht ein einziger von diesen Leuten will für mich spionieren.
Der Beantworter Der Beantworter war so gebaut, daß er dauerte, solange es nötig war – für ziemlich lange also, nach der Zeitrechnung mancher Rassen, oder für kurze Zeit, nach jener von anderen. Für den Beantworter selbst war es gerade lange genug. Was die Größe betraf, so erschien der Beantworter manchen groß, anderen wieder klein; man konnte ihn als kompliziert ansehen, obgleich ihn manche wiederum für sehr einfach hielten. Der Beantworter wußte, daß er war, wie er sein sollte. Über und vor allem anderen war er der Beantworter. Er wußte. Über die Rasse, die ihn baute, sollte so wenig wie möglich gesagt werden. Auch sie wußte, ohne jemals mitzuteilen, ob sie dieses Wissen erfreulich fand. Sie baute den Beantworter als Hilfsdienst für weniger fortgeschrittene Rassen und verschwand auf einzigartige Weise. Wohin sie zog, weiß nur der Beantworter. Denn er weiß alles. Auf seinem Planeten, seine Sonne umkreisend, saß der Beantworter. Die Zeit dauerte, lange, wie es manchen vorkommen mochte, kurzkurz, wie andere das beurteilten. Aber dem Beantworter war es recht. In ihm waren die Antworten. Er kannte die Natur der Dinge, ihren Grund, ihre Erscheinung, ihren Sinn, er wußte, was alles zu bedeuten hatte. Der Beantworter konnte alles beantworten, vorausgesetzt, die Frage wurde richtig gestellt. Und er wünschte es! Er freute sich darauf! Wie sollte ein Beantworter sonst sein? Was sollte ein Beantworter sonst tun? Er wartete, bis Wesen zu ihm kamen und ihn fragten.
»Wie fühlen Sie sich, Sir?« fragte Morran, über dem alten Mann schwebend. »Besser«, sagte Lingman und versuchte ein Lächeln. Die Schwerelosigkeit erwies sich als ungeheure Erleichterung. Obwohl Morran gewaltige Mengen Treibstoff verbraucht hatte, um unter Minimalbeschleunigung in den Weltraum zu gelangen, war Lingmans schwaches Herz sehr mitgenommen worden. Lingmans Herz hatte gestreikt und ausgesetzt, gezögert und beschleunigt. Eine Weile schien es, als gedenke Lingmans Herz aus bloßer Verärgerung stehenzubleiben. Aber die Schwerelosigkeit brachte Erleichterung, und das schwache Herz schlug wieder. Morran hatte mit solchen Problemen nicht zu kämpfen. Sein Körper ertrug Belastungen. Er würde sie bei diesem Flug nicht hinnehmen müssen, wenn der alte Lingman am Leben bleiben sollte. Soviel war sicher. »Ich werde leben«, murmelte Lingman als Antwort auf die unausgesprochene Frage. »Lange genug, um dahinterzukommen.« Morran betätigte die Steuerung, und das Schiff glitt in den Hyperraum, wie ein Fisch ins Wasser. »Wir werden dahinterkommen«, flüsterte Morran. Er half dem alten Mann, die Gurte zu lösen. »Wir werden den Beantworter finden!« Lingman nickte dem jungen Mann zu. Sie hatten sich seit Jahren immer wieder Mut zugesprochen. Ursprünglich war das Ganze Lingmans Unternehmen gewesen. Dann hatte sich Morran, von der Universität kommend, zu ihm gesellt; gemeinsam spürten sie den Gerüchten durch das Sonnensystem nach. Den Legenden über eine alte, humanoide Rasse, der die Antworten auf alle Dinge bekannt gewesen waren, die den Beantworter gebaut hatte und dann fortgezogen war. »Stellen Sie sich das einmal vor«, meinte Morran. »Die Antwort auf alles!« Als Physiker hatte Morran dem Beantworter viele Fragen zu stellen. Das sich ausdehnende Universum; die Bindungskraft der Atomkerne; Novae und Supernovae; die Entstehung der Planeten; Rotverschiebung, Relativität und tausenderlei anderes.
»Ja«, sagte Lingman. Er zog sich an die Sichtplatte und starrte hinaus auf die Öde des illusorischen Hyperraums. Er war Biologe und ein alter Mann. Er hatte zwei Fragen. Was ist Leben? Was ist Tod? Nach einer besonders langen Periode der Suche nach Purpur versammelten sich Lek und seine Freunde zu einer Besprechung. Purpur war in der Nachbarschaft von Sternhaufen immer sehr rar. Den Grund kannte niemand. Also mußte beraten werden. »Ich bin dafür, diesen Beantworter aufzusuchen«, meinte Lek. Er benützte jetzt Ollgrat, die Sprache unmittelbar bevorstehender Entscheidungen. »Warum?« fragte ihn Ilm. »Warum willst du alles wissen? Genügt dir die Aufgabe, Purpur zu suchen, nicht mehr?« »Nein«, erwiderte Lek. »Sie genügt nicht.« Lek und seine Art hatten den großen Auftrag, Purpur zu sammeln. Sie fanden ihn in vielen Teilen des Raumgefüges eingebettet, winzige Mengen. Langsam errichteten sie einen großen Berg davon. Wozu er diente, wußte niemand. »Du wirst ihn wohl fragen wollen, was Purpur ist?« meinte Ilm, schob einen Stern beiseite und legte sich nieder. »Gewiß«, sagte Lek. »Wir verharren schon zu lange in Unwissenheit. Wir müssen die wahre Natur des Purpurs und seinen Sinn im Weltplan entdecken. Wir müssen erfahren, warum er unser Leben beherrscht.« Für diese Sätze bediente sich Lek des Ilgret, die der Wahrheitssuche dienende Sprache. Ilm und die anderen brachten keine Einwände, nicht einmal in der Sprache der Argumente. Sie wußten, daß Erkenntnis wichtig war. Seit Anbeginn der Zeit hatten Lek, Ilm und die anderen Purpur gesammelt. Jetzt mußten die letzten Antworten auf die Rätsel des Universums gefunden werden – worum es sich beim Purpur handelte, und wozu der Berg diente. Und es gab natürlich den Beantworter, der es ihnen sagen konnte. Jedermann hatte vom Beantworter gehört, der von einer ihnen unähnlichen Rasse gebaut worden war.
»Willst du noch etwas anderes von ihm wissen?« erkundigte sich Ilm bei Lek. »Ich weiß es noch nicht«, gab Lek zurück. »Vielleicht frage ich nach den Sternen. Alles andere ist ja eigentlich unwichtig.« Da Lek und seine Brüder seit dem Anbruch der Zeit lebten, dachten sie nicht an den Tod. Da ihre Zahl immer dieselbe blieb, befaßten sie sich auch nicht mit der Frage nach dem Leben. Aber der Purpur? Und der Berg? »Ich gehe«, rief Lek. »Viel Glück!« riefen ihm seine Brüder nach. Lek machte sich auf den Weg, von Stern zu Stern springend. Der Beantworter saß allein auf seinem Planeten und erwartete die Fragenden. Gelegentlich murmelte er die Antworten vor sich hin. Das war sein Recht. Er wußte. Aber er wartete, und die Zeit war weder zu lang noch zu kurz. Sie waren achtzehn, versammelt an einem Ort. »Ich berufe mich auf die Vorschrift der Achtzehn«, rief einer. Und ein anderer erschien, den es zuvor nie gegeben hatte, geboren durch die Vorschrift der Achtzehn. »Wir müssen zum Beantworter gehen«, schrie einer. »Unser Leben wird von den Achtzehn bestimmt. Wo achtzehn sind, wird es auch neunzehn geben. Warum ist es so?« Niemand vermochte zu antworten. »Wo bin ich?« fragte der neugeborene Neunzehnte. Einer nahm ihn beiseite und klärte ihn auf. Dann blieben siebzehn. Eine stabile Zahl. »Und wir müssen es herausfinden«, rief ein anderer. »Warum alle Orte verschieden sind, obgleich es keine Entfernung gibt.« »Die Sterne sind kalt«, rief einer. »Warum?«
»Wir müssen zum Beantworter.« Denn sie hatten die Legenden gehört, sie kannten die Märchen. »Einst gab es eine Rasse, in vielem der unsrigen gleichend. Sie wußte – und sie sagte es dem Beantworter. Dann zog sie dorthin, wo kein Ort ist, aber viel Entfernung.« »Wie kommen wir hin?« fragte der neugeborene Neunzehnte, erfüllt von Wissen. »Wir gehen.« Und achtzehn von ihnen verschwanden. Einer blieb. Bedrückt starrte er die riesige Weite eines eisigen Sterns an, dann verschwand auch er. »Die alten Legenden sind wahr«, stöhnte Morran auf. »Da ist er.« Sie waren an der von den Legenden bestimmten Stelle aus dem Hyperraum getreten, und vor ihnen befand sich ein Stern, der keinem anderen Stern glich. Morran erfand eine Bezeichnung dafür, aber sie bedeutete nichts. Es gab keinen zweiten Stern dieser Art. Um den Stern schwebte ein Planet, und auch er glich keinem anderen Planeten. Morran erfand Gründe dafür, aber sie bedeuteten nichts. Dieser Planet war der einzige seiner Art. »Schnallen Sie sich an, Sir«, sagte Morran. »Ich lande, so sanft ich kann.« Lek kam zum Beantworter, schnell von Stern zu Stern schreitend. Er hob den Beantworter in seiner Hand und betrachtete ihn. »Du bist es also«, sagte er. »Ja«, erwiderte der Beantworter. »Dann sage mir«, fuhr Lek fort, sich bequem im Raum zwischen zwei Sternen lagernd, »sage mir, was ich bin.« »Ein Teil«, erklärte der Beantworter. »Ein Hinweis.« »Hör mal«, murmelte Lek verletzt, »das wird doch nicht dein letztes Wort sein. Paß auf. Der Zweck meiner Art ist es, Purpur zu sammeln und einen Berg daraus zu errichten. Kannst du mir den wahren Sinn dieses Daseins erklären?«
»Deine Frage ist ohne Sinn«, sagte der Beantworter. Er wußte, was Purpur in Wirklichkeit war und wozu der Berg diente. Aber die Erklärung lag in einer umfassenderen Erklärung beschlossen. Ohne sie war Leks Frage unerklärlich, und Lek hatte die richtige Frage nicht gestellt. Lek stellte andere Fragen, und der Beantworter konnte sie nicht klären. Lek sah die Dinge durch seine auf Spezielles ausgerichteten Augen, entnahm der Wahrheit ein Bruchstück und weigerte sich, mehr zu sehen. Wie kann man einem Blinden erklären, was Grün ist? Der Beantworter versuchte es nicht. Dazu war er nicht da. Lek lachte verächtlich. Eine seiner kleinen Stufen flammte bei diesem Geräusch auf und kehrte dann wieder zu normaler Lichtstärke zurück. Lek ging davon, schnell von Stern zu Stern schreitend. Der Beantworter wußte. Aber man mußte ihm zuerst die richtigen Fragen stellen. Er prüfte diese Einschränkung und betrachtete die Sterne, die weder riesig noch klein, sondern gerade von richtiger Größe waren. Die richtigen Fragen. Die Rasse, die den Beantworter baute, hätte das bedenken müssen, dachte der Beantworter. Sie hätte semantischen Unsinn mit einkalkulieren und ihm erlauben sollen, eine Klärung zu versuchen. Der Beantworter begnügte sich damit, die Antworten vor sich hin zu murmeln. Achtzehn Wesen kamen zum Beantworter, weder gehend noch fliegend, einfach erscheinend. Sie schauderten im kalten Glanz der Sterne und betrachteten den riesigen Beantworter. »Wenn es keine Entfernung gibt, wie können dann Dinge an anderen Orten sein?« fragte einer. Der Beantworter wußte, was Entfernung war und was Orte waren.
Aber er konnte die Frage nicht beantworten. Es gab Entfernung, aber nicht, wie diese Wesen sie sahen. Und es gab Orte, aber auf andere Art, als diese Wesen sie vermuteten. »Formuliert die Frage anders«, sagte der Beantworter erwartungsvoll. »Warum sind wir hier kurz?« fragte einer. »Und dort lang? Warum sind wir hier dick und dort schmal? Warum sind die Sterne kalt?« Der Beantworter wußte alles. Er wußte, warum die Sterne kalt waren, aber er konnte es weder mit dem Begriff der Sterne noch mit jenem der Kälte erklären. »Warum gibt es die Vorschrift der Achtzehn?« fragte ein anderer. »Warum entsteht ein Neunzehnter, wenn achtzehn versammelt sind?« Aber die Antwort war natürlich Teil einer weiteren, umfassenderen Frage, die nicht gestellt war. Die Achtzehn zeugten ein weiteres Wesen, dann verschwanden sie. Der Beantworter murmelte die richtigen Fragen vor sich hin und beantwortete sie. »Wir haben es geschafft«, sagte Morran. »Na bitte.« Er klopfte Lingman auf die Schulter – sanft, um den alten Mann nicht zu verletzen. Der alte Biologe war müde. Sein Gesicht war eingefallen, gelb, runzlig. Schon zeigte sich das Zeichen des Totenschädels an seinen vorstehenden gelben Zähnen, an seiner kleinen, flachen Nase, an seinen die Haut spannenden Backenknochen. »Weiter«, sagte Lingman. Er wollte keine Zeit verschwenden. Er hatte keine Zeit mehr, die verschwendet werden durfte. Behelmt gingen sie den schmalen Pfad entlang. »Nicht so schnell«, murmelte Lingman. »Schon gut«, erwiderte Morran. Sie gingen gemeinsam den dunklen Pfad dieses Planeten entlang, der sich von allen anderen Planeten unterschied, der allein um eine von allen anderen Sonnen verschiedene Sonne kreiste. »Hier oben«, sagte Morran. Die Legenden waren sehr genau. Ein Pfad, der zu Steinstufen führte. Steintreppen zu einem Hof. Und dann – der
Beantworter! Ihnen erschien der Beantworter wie ein weißer, in eine Wand eingelassener Bildschirm. Für ihre Augen war der Beantworter sehr einfach. Lingman verschränkte die zitternden Hände. Dies war der Gipfelpunkt einer Lebensarbeit. »Vergessen Sie nicht«, sagte er zu Morran. »Wir werden schockiert sein. Die Wahrheit wird unseren Erwartungen in keiner Weise entsprechen.« »Ich bin bereit«, sagte Morran. »Gut. Beantworter«, sagte Lingman mit seiner dünnen hohen Stimme. »Was ist das Leben?« Eine Stimme wurde in ihren Köpfen laut. »Die Frage hat keinen Sinn. Bezieht sich der Befrager bei dem Wort ›Leben‹ auf ein Teilphänomen, unerklärlich durch die Begriffe seines Ganzen!« »Wovon ist das Leben ein Teil?« fragte Lingman. »Diese Frage läßt in der gewählten Formulierung keine Antwort zu. Der Fragende betrachtet ›Leben‹ immer noch von seinem persönlichen, voreingenommenen Standpunkt aus.« »Dann beantworte die Frage nach deinen eigenen Begriffen«, sagte Morran. »Der Beantworter kann nur Fragen beantworten.« Schweigen. »Dehnt sich das Universum aus?« fragte Morran zuversichtlich. »›Ausdehnung‹ ist ein Begriff, der sich auf die Situation nicht anwenden läßt. Das Universum, wie es der Fragende sieht, ist eine illusorische Konzeption.« »Kannst du uns überhaupt etwas sagen?« fragte Morran. »Ich kann alle sinnvollen Fragen bezüglich der Natur der Dinge beantworten.« Die beiden Männer sahen einander an. »Ich glaube zu wissen, was er meint«, sagte Lingman traurig. »Unsere Grundauffassungen sind falsch. Alle miteinander.« »Das kann sein«, meinte Morran. »Physik, Biologie –«
»Teilwahrheiten«, sagte Lingman erschöpft. »Wenigstens haben wir das entdeckt. Wir finden, daß alle unsere Schlüsse aus der Beobachtung von Erscheinungen falsch sind.« »Aber die Grundlage der simpelsten Hypothese –« »Ist nur eine Theorie«, sagte Lingman. »Aber Leben – er müßte doch beantworten können, was Leben ist?« »Betrachten Sie es von diesem Standpunkt aus«, sagte Lingman. »Angenommen, Sie würden fragen: ›Warum bin ich unter der Konstellation Skorpion in Konjunktion mit Saturn geboren?‹ Ich wäre nicht in der Lage, Ihre Frage in Begriffen des Zodiakus zu beantworten, weil der Zodiakus nichts damit zu tun hat.« »Ich verstehe«, sagte Morran langsam. »Er kann die Fragen nicht in Begriffen unserer Erkenntnis beantworten.« »Das scheint der Fall zu sein. Und er kann unsere Erkenntnis nicht ändern. Er ist auf sinnvolle Fragen beschränkt – die ein Wissen vorauszusetzen scheinen, das wir nicht haben.« »Wir können nicht eine einzige sinnvolle Frage stellen?« meinte Morran. »Das glaube ich nicht. Wir müssen doch einige Grundlagen entdeckt haben.« Er wandte sich an den Beantworter. »Was ist Tod?« »Ich kann einen Anthropomorphismus nicht erklären.« »Der Tod ist ein Anthropomorphismus!« sagte Morran, und Lingman sah überrascht auf. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher!« »Sind Anthropomorphismen irreal?« fragte er. »Anthropomorphismen lassen sich provisorisch als a) falsche Wahrheiten oder b) Teilwahrheiten, auf Teilsituationen bezogen, einstufen.« »Und was gilt hier?« »Beides.« Näher kamen sie nicht heran. Morran gelang es nicht, dem Beantworter mehr zu entlocken. Stundenlang bemühten sich die beiden Männer, aber die Wahrheit rückte in immer weitere Ferne.
»Es ist zum Wahnsinnigwerden«, sagte Morran nach einiger Zeit. »Dieses Ding besitzt die Antworten auf die Rätsel des Universums, und es kann sie uns nicht mitteilen, wenn wir die richtigen Fragen nicht stellen. Aber woher sollen wir sie kennen?« Lingman setzte sich auf den Boden und lehnte sich an eine Steinmauer. Er schloß die Augen. »Wilde sind wir«, erklärte Morran und ging vor dem Beantworter auf und ab. »Stellen Sie sich einen Buschmann vor, der an einen Physiker herantritt und ihn fragt, warum sein Pfeil nicht in die Sonne schießen kann. Der Wissenschaftler vermag das nur in seinen eigenen Begriffen zu erklären. Was würde geschehen?« »Der Wissenschaftler kann es nicht einmal versuchen«, sagte Lingman mit schwacher Stimme. »Er kennt ja die Grenzen seines Gegenübers.« »Sehr schön«, brauste Morran auf. »Wie erklären Sie einem Buschmann die Rotation der Erde? Oder besser, wie erklären Sie ihm die Relativität – wobei man die ganze Zeit über natürlich seine wissenschaftliche Starrheit beibehalten muß.« Lingman schwieg. »Wir sind Buschmänner. Aber die Kluft hier ist noch viel größer. Wurm und Übermensch, vielleicht würde das eher passen. Der Wurm möchte die Natur des Drecks erkennen und wissen, warum es soviel davon gibt. Oh, verdammt!« »Gehen wir, Sir?« fragte er nach einer Weile. Lingmans Augen blieben geschlossen. Seine knochigen Finger waren verkrampft, seine Wangen noch stärker eingefallen. Der Totenschädel wurde erkennbar. »Sir! Sir!« Und der Beantworter wußte, daß auch das nicht die Antwort war. Die Wahrheit blieb ihnen fern.
Allein auf seinem Planeten, der weder groß noch klein, sondern genau richtig ist, wartet der Beantworter. Er kann den Wesen, die zu ihm kommen, nicht helfen, denn auch er unterliegt Beschränkungen. Er kann nur sinnvolle Fragen beantworten.
Universum? Leben? Tod? Purpur? Achtzehn? Teilwahrheiten, Halbwahrheiten, winzige Bruchstücke der großen Frage. Aber der Beantworter murmelt allein die Fragen vor sich hin, die echten Fragen, die niemand versteht. Wie sollten sie die richtigen Antworten verstehen? Die Fragen werden nie gestellt werden, und der Beantworter erinnert sich an etwas, das seine Erbauer wußten und wieder vergaßen. Um eine Frage stellen zu können, muß man die Antwort zum größten Teil schon kennen.
Die Wunschmaschine Aber hatte er denn tatsächlich eine Stimme gehört? Er wußte es nicht genau. Als er sich darauf besann, wußte Joe Collins, daß er auf seinem Bett gelegen hatte, zu müde, um auch nur die nassen Schuhe auszuziehen. Er hatte die Risse an der schmutzigen Zimmerdecke betrachtet und Wassertropfen herunterfallen sehen. Da mußte es geschehen sein. Collins sah aus dem Augenwinkel Metall neben seinem Bett schimmern. Er setzte sich auf. Auf dem Boden stand eine Maschine. In jenem ersten Augenblick der Überraschung glaubte Collins eine ferne Stimme sagen zu hören: »Da! Das fehlte noch!« Bei der Stimme war er sich nicht ganz sicher. Aber die Maschine stand unzweifelhaft vor ihm. Collins kniete nieder, um sie zu betrachten. Die Maschine hatte einen Inhalt von etwa einem Kubikmeter, und sie summte leise. Die graue Oberfläche war ohne Merkmale, wenn man von einem roten Knopf in einer Ecke und einem Messingschild in der Mitte absah. Auf dem Schild stand: ›Erzeuger, Serie AA-1256432.‹ Darunter konnte man lesen: ›Warnung! Diese Maschine darf nur von Mitgliedern der Klasse A benützt werden!‹ Das war alles. Es gab keine Drehknöpfe, keine Schalter, Skalen oder ähnliche Attribute, die Collins mit Maschinen in Zusammenhang brachte. Nur das Messingschild, den roten Knopf und das Summen. »Wo kommst du denn her?« fragte Collins. Der Erzeuger summte. Collins hatte eine Antwort auch nicht wirklich erwartet. Er saß auf dem Bettrand und starrte den Erzeuger nachdenklich an. Die Frage lautete jetzt – was damit anfangen? Vorsichtig berührte er den roten Knopf; er war sich seiner Unerfahrenheit im Umgang mit Maschinen, die aus dem Nichts
auftauchten, durchaus bewußt. Würde sich der Boden auftun, wenn er den Knopf niederdrückte? Würden kleine grüne Männer von der Decke fallen? Aber er hatte nichts zu verlieren. Er drückte den Knopf nieder. Nichts geschah. »Na los – so mach doch irgend etwas«, sagte Collins enttäuscht. Der Erzeuger summte. Na ja, im Notfall ließ sich der Apparat immer noch ins Leihhaus tragen. Charlie würde ihm für das Metall mindestens einen Dollar geben. Er versuchte den Erzeuger hochzuheben. Es gelang ihm nicht. Er strengte sich noch einmal an, setzte seine ganze Kraft daran: er konnte das Gerät an einer Ecke zwei Zentimeter vom Boden hochstemmen. Keuchend sank er aufs Bett. »Du hättest mir ein paar Leute mitschicken sollen, die mir helfen«, erklärte Collins dem Gerät. Sofort wurde das Summen lauter, die Maschine begann zu vibrieren. Collins paßte genau auf, aber immer noch rührte sich nichts. Er überlegte einen Augenblick, dann drückte er den roten Knopf. Augenblicklich erschienen zwei muskulöse Männer in Arbeitskleidung. Sie sahen den Erzeuger abschätzend an. Einer von den beiden meinte: »Es ist ein kleines Modell. Die großen lassen sich kaum schleppen.« Der andere meinte: »Immer noch besser als der Steinbruch, findest du nicht?« Sie sahen Collins an, der sie entgeistert betrachtete; schließlich brummte der erste Arbeiter: »Na los, Mensch, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Wohin soll der Kasten?« »Wer seid ihr?« krächzte Collins. »Die Möbelpacker. Halten Sie uns vielleicht für Ballettänzerinnen?« »Aber woher kommen Sie denn?« fragte Collins. »Und warum?« »Wir kommen von der Pauha Minneil-Transport-Firma GmbH«, sagte der Mann. »Und wir sind hier, weil Sie Möbelpacker wünschten, das ist der Grund. Also, wohin damit?« »Verschwindet«, sagte Collins. »Ich rufe euch später.«
Die Möbelpacker zuckten die Achseln und verschwanden. Mehrere Minuten lang starrte Collins ins Leere. Dann starrte er den Erzeuger Klasse A an, der wieder leise summte. Erzeuger? Er wußte einen besseren Namen dafür. Eine Wunschmaschine. Collins war nicht übermäßig schockiert. Wenn das Wunderbare geschieht, vermögen es nur stumpfe, phantasielose Gemüter nicht zu akzeptieren. Collins gehörte nicht zu ihnen. Er hatte oft genug bewiesen, daß er alles mögliche zu akzeptieren bereit war. Fast sein ganzes Leben hindurch hatte er gewünscht, gehofft, erfleht, daß ihm etwas Wunderbares zustoßen möge. In der Schule hatte er davon geträumt, eines Morgens mit der Fähigkeit zu erwachen, seinen Lehrstoff zu verstehen, ohne büffeln zu müssen. Beim Wehrdienst hatte er einen Geist oder eine Hexe herbeigewünscht, die ihm die Aufsicht über den Freizeitraum übertragen sollte, statt ihn dem Drill zu überantworten. Nach der Entlassung aus der Armee war Collins der Arbeit, für die er sich psychologisch nicht eignete, ausgewichen. Er hatte sich herumgetrieben und die Hoffnung nicht aufgegeben, irgendein Multimillionär würde sich veranlaßt sehen, sein Testament zu ändern und Collins alles zu hinterlassen. Er hatte eigentlich nie damit gerechnet, daß so etwas passieren würde. Aber er war vorbereitet darauf. »Ich möchte tausend Dollar in kleinen Scheinen«, sagte Collins vorsichtig. Als das Summen lauter wurde, drückte er den Knopf. Vor ihm tauchte ein Berg von benutzten Geldscheinen auf – zu fünf und zehn Dollar. Sie waren nicht steif und frisch, aber unzweifelhaft gültiges Geld. Collins warf eine Handvoll davon in die Luft und sah die Scheine graziös zu Boden sinken. Er legte sich aufs Bett und begann Pläne zu schmieden. Zuerst würde er die Maschine aus New York fortschaffen – aufs Land, wenn möglich: irgendwohin, wo ihn neugierige Nachbarn nicht belästigen konnten. Die Einkommensteuerfrage war bei solchen Dingen
recht verzwickt. Vielleicht sollte er später nach Mittelamerika gehen, oder… Im Zimmer wurden verdächtige Geräusche laut. Collins sprang auf. In der Wand öffnete sich ein Loch, durch das sich jemand zwängte. »He, ich habe ja gar nichts verlangt!« erklärte Collins der Maschine. Das Loch wurde größer, und ein massiver Mann mit gerötetem Gesicht versuchte wütend hindurchzukommen. In diesem Augenblick fiel Collins ein, daß es kaum Maschinen ohne Besitzer gab. Jemand, der eine Wunschmaschine besaß, würde ihr Verschwinden nicht gerade begrüßen. Er mußte vielmehr versuchen, sie um jeden Preis zurückzuholen. Wahrscheinlich ließ er sich auch nicht durch humanitäre Überlegungen abhalten… »Schütze mich!« rief Collins dem Erzeuger zu und drückte den roten Knopf. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann in farbenfrohem Schlafanzug erschien und gähnte schläfrig. »Sanisa Leek, Zeitmauer-Schutzdienst«, sagte er und rieb sich die Augen. »Ich bin Leek. Was kann ich für Sie tun?« »Schaffen Sie ihn weg!« schrie Collins. Der Mann mit dem roten Gesicht wedelte mit den Armen. Er hatte sich beinahe durch das Loch gearbeitet. Leek holte ein Stück schimmernden Metalls aus seiner Tasche. Der Mann mit dem roten Gesicht brüllte: »Warten Sie! Sie irren sich! Dieser Mann –« Leek zielte mit dem Metallstab. Der Mann mit dem roten Gesicht schrie auf und verschwand. Sekundenbruchteile später war auch das Loch nicht mehr zu sehen. »Haben Sie ihn umgebracht?« fragte Collins. »Natürlich nicht«, sagte Leek und steckte den Metallstab ein. »Ich habe ihn nur durch seinen Glommatsch zurückgeschoben. Diese Tour versucht er nie mehr.« »Glauben Sie denn, daß er es auf andere Weise probieren wird?« erkundigte sich Collins.
»Möglich«, meinte Leek. »Er könnte einen Mikro-Übergang oder sogar eine Animation versuchen.« Er sah Collins scharf an. »Das ist doch Ihr Erzeuger, nicht wahr?« »Selbstverständlich«, sagte Collins und begann zu schwitzen. »Und Sie sind in Klasse A eingestuft?« »Gewiß«, erwiderte Collins. »Was würde ich sonst mit einem Erzeuger anfangen?« »Es war nicht bös gemeint«, sagte Leek schläfrig. Er schüttelte langsam den Kopf. »Ihr A-Leute kommt wirklich weit herum! Sie sind wohl hier, um ein Geschichtswerk zu schreiben?« Collins lächelte nur rätselhaft. »Ich muß wieder weg«, meinte Leek gähnend. »Tag und Nacht hat man zu tun. In einem Steinbruch hätte ich es schöner.« Und er verschwand mitten im Gähnen. Immer noch prasselte der Regen gegen die Decke. Von der anderen Seite des Luftschachts drang ungestörtes Schnarchen herüber. Collins war wieder allein mit der Maschine. Und mit tausend Dollar, die auf dem Boden verstreut lagen. Liebevoll tätschelte er den Erzeuger. Diese Leute der Klasse A hatten es wirklich gut. Wünschst du dir etwas? Dann verlange es und drücke einen Knopf. Zweifellos würde der berechtigte Eigentümer das Gerät sehr vermissen. Leek hatte gesagt, daß der Mann versuchen könnte, auf andere Weise hier einzudringen. Auf welche? Was machte das schon aus. Collins sammelte die Scheine ein und pfiff leise vor sich hin. Solange er die Wunschmaschine besaß, konnte er sich schon durchschlagen. Die nächsten Tage brachten große Veränderungen für Collins. Mit Hilfe der Möbelpacker von Pauha Minneil schaffte er den Erzeuger aufs Land. Dort kaufte er in einer verlassenen Gebirgsgegend einen mittelgroßen Berg. Sobald er die Dokumente in der Hand hatte, ging er zum Mittelpunkt seines Besitzes, der von der nächsten Autostraße mehrere Kilometer entfernt lag. Die beiden Packer schleppten schwitzend den
Erzeuger hinterher und fluchten monoton vor sich hin, während sie sich durch das dichte Unterholz vorwärts arbeiteten. »Setzen Sie ihn hier ab und verschwinden Sie«, sagte Collins. Die letzten Tage hatten sein Selbstvertrauen mächtig gesteigert. Die Möbelpacker seufzten und verschwanden. Collins sah sich um. Auf allen Seiten, so weit er sehen konnte, nichts als dichter Tannen- und Fichtenwald. Die Luft war feucht und frisch. In den Wipfeln zwitscherten fröhlich die Vögel, und gelegentlich huschte ein Eichhörnchen vorbei. Natur! Er hatte immer etwas für sie übrig gehabt. Hier war der ideale Ort für die Errichtung eines großen, eindrucksvollen Hauses mit Schwimmbecken, Tennisplätzen und vielleicht einem kleinen Flugplatz. »Und nun möchte ich ein Haus«, erklärte Collins fest und drückte den roten Knopf. Ein Mann im grauen Geschäftsanzug mit Zwicker erschien. »Jawohl, Sir«, sagte er und betrachtete die Bäume mit zusammengekniffenen Augen, »aber Sie müssen sich schon genauer ausdrücken. Wollen Sie etwas Klassisches, wie Bungalow, Ranch-Haus, Gutshaus, Schloß oder Palast? Oder etwas Primitives, wie Iglu oder Hütte? Da Sie zur Klasse A gehören, könnten Sie sich etwas Modernes, wie eine Halbfassade, eine erweiterte neue oder eine versunkene Miniatur machen lassen.« »Was?« sagte Collins. »Ich weiß nicht recht. Was würden Sie vorschlagen?« »Kleine Villa«, sagte der Mann sofort. »Damit fängt man gewöhnlich an.« »Tatsächlich?« »O ja. Später zieht man in ein wärmeres Klima und baut sich einen Palast.« Collins wollte noch weitere Fragen stellen, aber er entschied sich anders. Alles lief bisher glatt. Man hielt ihn für einen Angehörigen der Klasse A, für den echten Besitzer eines Erzeugers. Es hatte keinen Sinn, die Leute zu enttäuschen. »Kümmern Sie sich um das Ganze«, meinte er. »Ja, Sir«, erwiderte der andere. »Das mache ich immer.«
Den Rest des Tages verbrachte Collins auf einem Sofa mit eisgekühlten Getränken, während die Maxima Olph-Baugesellschaft Material erscheinen ließ und sein Haus errichtete. Es war ein niedriges, weitgespanntes Gebäude mit über zwanzig Räumen, das Collins unter den gegebenen Umständen für bescheiden hielt. Es bestand nur aus bestem Material nach einem Plan von Mig aus Degma, Innenarchitektur von Towige, Schwimmbecken von Mula, Garten von Vierten. Am Abend war es fertig; die kleine Armee von Arbeitern packte ihre Geräte zusammen und verschwand. Collins gestattete seinem Chefkoch, ein leichtes Abendessen zuzubereiten. Nachher saß er sehr zufrieden in seinem geräumigen, kühlen Wohnzimmer, um das Ganze zu überdenken. Vor ihm stand, leise summend, der Erzeuger. Collins zündete sich eine Zigarre an und sog das Aroma ein. Zuallererst wies er alle übernatürlichen Erklärungsversuche von sich. Mit dieser Sache hatten weder Dämonen noch Teufel etwas zu tun. Sein Haus war von normalen menschlichen Wesen erbaut, die geflucht, gelacht und geschimpft hatten wie menschliche Wesen. Der Erzeuger war einfach ein wissenschaftliches Gerät, das nach Prinzipien arbeitete, die er nicht begriff und auch nicht zu begreifen wünschte. Konnte er von einem anderen Planeten stammen? Unwahrscheinlich. Nur für Collins würde man nicht eigens Englisch gelernt haben. Der Erzeuger mußte aus der Zukunft der Erde gekommen sein. Aber wie? Collins lehnte sich zurück und paffte an seiner Zigarre. Unfälle sind nicht zu vermeiden, sagte er sich. Warum konnte der Erzeuger nicht einfach in die Vergangenheit gerutscht sein? Schließlich vermochte er doch etwas aus nichts zu schaffen, und das war weitaus komplizierter. Was für eine herrliche Zukunft mußte das sein. Wunschmaschinen! Wie zivilisiert! Man brauchte nichts tun, als an irgend etwas zu denken. Peng! Da stand es schon. Mit der Zeit würde man vielleicht sogar auf
den roten Knopf verzichten können. Dann bedurfte es keiner Handarbeit mehr. Natürlich mußte er vorsichtig sein. Es gab immer noch den Eigentümer – und die übrigen Leute der Klasse A. Sie würden versuchen, ihm den Erzeuger wegzunehmen. Wahrscheinlich war das eine Clique mit Erbrecht… Er sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Er hob den Kopf. Der Erzeuger zitterte wie Espenlaub. Collins machte ein grimmiges Gesicht und ging darauf zu. Dünner Nebel umgab den bebenden Erzeuger. Er schien heiß zu werden. Konnte er ihn überbeansprucht haben? Vielleicht wirkte ein Eimer Wasser… Dann bemerkte er, daß der Erzeuger wesentlich kleiner geworden war. Der Inhalt betrug nur noch neunzig Kubikzentimeter, und das Gerät schrumpfte vor seinen Augen immer mehr zusammen. Der Eigentümer! Oder vielleicht die Leute der Klasse A! Das mußte der Mikroübergang sein, von dem Leek gesprochen hatte. Wenn er nicht schnell etwas unternahm, würde seine Wunschmaschine zu einem Nichts zusammenschrumpfen und verschwinden. »Leek-Schutzdienst«, rief Collins. Er drückte den Knopf und zog die Hand schnell zurück. Die Maschine war sehr heiß. Leek erschien in einer Ecke des Zimmers; diesmal trug er Hose und Sporthemd; in der Hand hielt er einen Golfschläger. »Muß ich denn jedesmal gestört werden, wenn –« »So tun Sie doch etwas!« schrie Collins und deutete auf die Maschine, die rot zu glühen begann und nur noch sechzig Kubikzentimeter umfaßte. »Ich kann nichts tun«, sagte Leek. »Meine Lizenz ist nur für die Zeitmauer gültig. Sie brauchen die Mikro-Kontroll-Leute.« Er packte seinen Golfschläger und verschwand. »Mikrokontrolle«, sagte Collins und streckte die Hand aus. Hastig zog er sie zurück. Der Erzeuger hatte nur noch eine Seitenlänge von drei Zentimetern und glühte hellrot. Er konnte den Knopf, der auf
die Größe einer Stecknadel zusammengeschrumpft war, kaum mehr sehen. Collins fuhr herum, packte ein Kissen und drückte es auf das Gerät. Ein Mädchen mit Hornbrille erschien, Notizbuch und Bleistift in der Hand. »Mit wem sollten Sie eine Besprechung vereinbaren?« fragte es gelassen. »Schaffen Sie mir sofort Hilfe!« donnerte Collins, der seinen kostbaren Erzeuger immer kleiner werden sah. »Mr. Vergon ist beim Mittagessen«, erklärte das Mädchen und nagte nachdenklich an seinem Bleistift. »Er hat sich entzont. Ich kann ihn nicht erreichen.« »Wen können Sie denn erreichen?« Sie blätterte in ihrem Notizbuch. »Mr. Vis ist im Dieg-Kontinuum, und Mr. Elgis befindet sich im paläolithischen Europa. Wenn es wirklich eilig ist, sollten Sie vielleicht die Übergangs-Kontrolle rufen. Das Unternehmen ist zwar kleiner, aber –« »Übergangs-Kontrolle, okay. Verschwinden Sie.« Er wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Erzeuger zu und preßte das versengte Kissen darauf. Nichts rührte sich. Collins begriff, daß das Kissen den beinahe unsichtbaren Knopf nicht mehr niederdrücken konnte. Einen Augenblick lang überlegte Collins, ob er auf den Erzeuger verzichten sollte. Vielleicht war der richtige Zeitpunkt jetzt gekommen. Er konnte das Haus und die Möbel verkaufen und würde immer noch ganz anständig verdienen… Nein! Er hatte seine wichtigsten Wünsche ja noch gar nicht ausgesprochen! Er gedachte den Erzeuger nicht widerstandslos herzugeben. Er zwang sich, die Augen offenzuhalten, als er den weißglühenden Knopf mit steifem Finger drückte. Ein hagerer, schäbig gekleideter alter Mann tauchte auf; er hielt einen Gegenstand in der Hand, der einem farbenfrohen Osterei glich. Er warf es auf den Boden. Das Ei zerbrach; orangefarbener Rauch quoll heraus und wurde augenblicklich in den winzigkleinen Erzeuger gesaugt. Eine riesige Rauchwolke stieg auf und drohte Collins zu ersticken. Dann
begann sich der Erzeuger wieder auszudehnen. Bald hatte er seine normale Größe erreicht; anscheinend war er auch unbeschädigt. Der alte Mann nickte kurz. »Wir sind nicht modern, aber zuverlässig«, meinte er. Er nickte wieder und verschwand. Collins glaubte in der Ferne einen Wutschrei zu hören. Zitternd ließ er sich auf dem Boden vor der Maschine nieder. Sein Finger schmerzte. »Behandle mich«, murmelte er mit trockenen Lippen und drückte den Knopf mit der unverletzten Hand. Der Erzeuger summte einen Augenblick lauter, dann verstummte er. Der Schmerz verschwand aus Collins’ verbranntem Finger, und als er hinsah, entdeckte er, daß keine Spur von einer Verbrennung geblieben war – nicht einmal eine Narbe. Collins schenkte sich ein großes Glas Kognak ein und ging sofort zu Bett. In dieser Nacht träumte er, daß ihn ein riesiger Buchstabe A verfolgte, aber am Morgen konnte er sich nicht daran erinnern. Binnen einer Woche stellte Collins fest, daß es falsch gewesen war, diese Villa im Wald zu bauen. Er mußte zahlreiche Wächter anheuern, um Neugierige fernzuhalten; außerdem bestanden manchmal Jäger darauf, in seinem Garten zu kampieren. Auch das Finanzamt begann sich für ihn zu interessieren. Vor allem aber entdeckte Collins, daß ihm die Natur bei weitem nicht so viel zu sagen vermochte, wie er vermutet hatte. Vögel und Eichhörnchen waren ja sehr nett, aber als Gesprächspartner konnte man sie kaum gebrauchen. Bäume erwiesen sich, so schmuck sie auch sein mochten, als schlechte Trinkgenossen. Collins kam zu der Ansicht, daß er im Grund seiner Seele doch Städter war. Deshalb zog Collins, unterstützt von der Pauha Minneil-Transport GmbH, der Maxima Olph-Baugesellschaft, dem Jagton-SofortreisenBüro und einer Menge Geld, das in die richtigen Hände verteilt werden mußte, in eine kleine mittelamerikanische Republik. Dort baute er einen
großen, luftigen, auffälligen Palast, da das Klima wärmer war und Einkommensteuer kaum verlangt wurde. Das Haus war ausgerüstet mit den üblichen Dingen – Pferden, Hunden, Pfauen, Dienern, Wartepersonal, Wachen, Musikern, Reihen von Tänzerinnen und allem anderen, womit ein Palast versehen sein mußte. Collins verbrachte zwei Wochen nur mit der Erkundung des Gebäudes. Eine Weile lief alles wunderbar. Eines Morgens näherte sich Collins dem Erzeuger, in der verschwommenen Absicht, einen Sportwagen oder vielleicht eine kleine Herde erstklassigen Zuchtviehs zu verlangen. Er beugte sich über die graue Maschine, wollte auf den roten Knopf drücken… Und der Erzeuger wich vor ihm zurück. Einen Augenblick lang glaubte Collins an Halluzinationen; beinahe beschloß er, das Champagnertrinken vor dem Frühstück aufzugeben. Er tat einen Schritt vorwärts und zielte nach dem roten Knopf. Der Erzeuger hüpfte zur Seite und trottete aus dem Zimmer. Collins raste hinterher, den Eigentümer und die Angehörigen der Klasse A verfluchend. Das war wahrscheinlich die Animation, von der Leek gesprochen hatte – irgendwie war es dem Eigentümer gelungen, die Maschine beweglich zu machen. Es spielte keine Rolle. Er brauchte sie nur einzuholen, den Knopf zu drücken und die Leute der AnimationsKontrolle zu rufen. Der Erzeuger flitzte durch die Halle, verfolgt von Collins. Ein Unterbutler, der einen massiv goldenen Türknopf polierte, riß Augen und Mund auf. »Halten Sie ihn auf!« schrie Collins. Der Unterbutler trat dem Erzeuger schwerfällig entgegen. Die Maschine wich ihm geschickt aus und raste zum Eingang. Collins drückte auf eine Taste, und die Tür schloß sich. Der Erzeuger beschleunigte und sauste mitten hindurch. Im Freien stolperte er über einen Gartenschlauch, gewann das Gleichgewicht wieder und setzte seinen Weg ins offene Land fort.
Collins stürmte hinterher. Wenn er nur ein bißchen näher kommen könnte… Der Erzeuger sprang plötzlich in die Höhe. Er hing einen Augenblick lang in der Luft, dann fiel er auf den Boden. Collins stürzte sich auf den Knopf. Der Erzeuger rollte davon, leistete sich einen kurzen Sprint und sprang wieder hoch. Einige Sekunden lang hing er sechs Meter über Collins Kopf – stieg ein wenig, drehte sich wild und fiel wieder herab. Collins befürchtete, daß die Maschine bei einem dritten Sprung nicht mehr auf die Erde zurückkehren würde. Als das Gerät unwillig auf den Boden sank, war er bereit. Er fintierte, dann drückte er den Knopf. Der Erzeuger konnte nicht schnell genug ausweichen. »Animations-Kontrolle!« schrie Collins triumphierend. Es gab eine kleine Explosion, und der Erzeuger blieb brav auf dem Boden stehen. Nicht der geringste Hinweis auf Beweglichkeit war mehr zu erkennen. Collins wischte sich die Stirn. Von Mal zu Mal wurde der Sieg knapper. Er tat gut daran, einmal ein paar größere Wünsche zu äußern, solange er noch die Gelegenheit dazu hatte. In rapider Reihenfolge verlangte er fünf Millionen Dollar, drei reiche Ölquellen, ein Filmstudio, vollkommene Gesundheit, fünfundzwanzig weitere Tänzerinnen, die Unsterblichkeit, einen Sportwagen und eine Herde Zuchtvieh. Er glaubte, jemand kichern zu hören. Er sah sich um. Niemand war in der Nähe. Als er sich umdrehte, war der Erzeuger verschwunden. Er starrte ins Leere. Und einen Augenblick später verschwand auch er. Als er die Augen öffnete, stand er vor einem Schreibtisch. Dort saß der große Mann mit dem roten Gesicht, der zu Anfang versucht hatte, in sein Zimmer einzudringen. Der Mann machte keinen wütenden Eindruck. Eher schien er resigniert, ja melancholisch zu sein. Collins schwieg eine Weile; es tat ihm leid, daß alles so schnell vorbei sein mußte. Der Eigentümer und die Angehörigen der Klasse A hatten
ihn endlich erwischt. Aber es war wunderbar gewesen, solang es gedauert hatte. »Nun«, sagte Collins rundheraus. »Sie haben ja Ihre Maschine wieder. Was wollen Sie noch?« »Meine Maschine?« fragte der Mann mit dem roten Gesicht und sah ihn ungläubig an. »Das ist nicht meine Maschine, Sir. Nicht im geringsten.« Collins starrte ihn an. »Machen Sie bloß keine Witze mit mir, Mister. Ihr A-Leute wollt doch nur euer Monopol bewahren, oder etwa nicht?« Der andere legte ein Blatt Papier auf den Tisch. »Mr. Collins«, sagte er kalt. »Ich heiße Flign. Ich bin Bevollmächtigter für die Bürger-Schutzunion, eine gemeinnützige Vereinigung, deren Ziel es ist, Leute wie Sie vor Fehlern zu bewahren.« »Sie gehören nicht zu den A-Leuten?« »Sie unterliegen einem Irrtum, Sir«, erklärte Flign würdevoll. »Die Einstufung in die Klasse A hat nichts mit gesellschaftlicher Vormachtstellung zu tun, wie Sie anzunehmen scheinen. Es handelt sich dabei lediglich um eine Kredit-Einstufung.« »Eine was?« fragte Collins langsam. »Eine Kredit-Einstufung.« Flign sah auf die Uhr. »Wir haben nicht viel Zeit, also will ich es so kurz wie möglich machen. Wir befinden uns in einem dezentralisierten Zeitalter, Mr. Collins. Unsere Unternehmen, Industrien und Dienstleistungen sind über ein beträchtliches Gebiet von Raum und Zeit verbreitet. Die Erzeuger-Gesellschaft ist ein lebenswichtiges Bindeglied. Sie sorgt für den Übergang von Waren und Dienstleistungen. Verstehen Sie?« Collins nickte. »Kredit ist natürlich ein automatisches Vorrecht. Aber schließlich muß einmal alles bezahlt werden.« Collins gefiel das gar nicht. Bezahlen? Hier war man also doch nicht so zivilisiert, wie er angenommen hatte. Niemals war vom Bezahlen die Rede gewesen. Warum sprach man jetzt davon?
»Warum hat mich denn niemand zurückgehalten?« fragte er verzweifelt. »Man muß doch gewußt haben, daß ich die erforderliche Kreditwürdigkeit nicht besaß.« Flign schüttelte den Kopf. »Die Krediteinstufungen sind Vorschläge, keine Gesetze. In einer zivilisierten Welt hat jeder Mensch das Recht auf freie Entscheidungen. Es tut mir sehr leid, Sir.« Er sah wieder auf die Uhr und reichte Collins das Blatt Papier, das er studiert hatte. »Würden Sie diese Rechnung bitte überfliegen und mir sagen, ob sie in Ordnung ist?« Collins nahm das Blatt und las: Ein Palast mit Zubehör Dienstleistungen Maxima Olph 122 Tänzerinnen Vollkommene Gesundheit
Kr. 450.000.000 111.000 122.000.000 888.234.031
Den Rest der Liste überflog er hastig. Die Gesamtsumme belief sich auf über achtzehn Milliarden Krediteinheiten. »Einen Augenblick!« schrie Collins. »Dafür kann man mich doch nicht haftbar machen! Der Erzeuger fiel ganz zufällig in mein Zimmer!« »Diese Tatsache werde ich erwähnen«, meinte Flign. »Wer weiß? Vielleicht ist man großzügig. Ein Versuch kann nicht schaden.« Collins fühlte, wie sich der Raum um ihn drehte. Fligns Gesicht begann zu zerfließen. »Die Zeit ist um«, sagte Flign. »Viel Glück.« Collins schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand er auf einer weiten Ebene, vor sich eine Reihe von Bergkuppen. Kalter Wind peitschte ihm ins Gesicht; der Himmel war von stahlgrauer Farbe.
Ein zerlumpter Mann stand neben ihm. »Hier«, sagte er und reichte Collins einen Pickel. »Was ist denn das?« »Ein Pickel«, sagte der andere geduldig. »Und dort drüben befindet sich ein Steinbruch, wo Sie und ich und eine Anzahl anderer Leute Marmor brechen werden.« »Marmor?« »Gewiß. Es gibt immer wieder Idioten, die einen Palast verlangen«, meinte der Mann mit müdem Lächeln. »Sie können mich Jang nennen. Wir werden einige Zeit beisammen sein.« Collins sah ihn verständnislos an. »Wie lange?« »Rechnen Sie es sich aus«, sagte Jang. »Festgesetzt sind fünfzig Krediteinheiten pro Monat, bis man seine Schuld abgedient hat.« Collins ließ den Pickel fallen. Das konnte man mit ihm doch nicht machen. Die Erzeuger-Gesellschaft mußte ihren Irrtum inzwischen eingesehen haben! Dort trug man die Schuld, als man die Maschine in die Vergangenheit hatte rutschen lassen. Sah man denn das nicht ein? »Das Ganze ist ein Irrtum!« rief Collins. »Keineswegs«, erwiderte Jang. »Es gibt sehr wenig Arbeitskräfte. Man muß überall Leute suchen. Los. Nach den ersten tausend Jahren wird es Ihnen nichts mehr ausmachen.« Collins begann Jang zum Steinbruch zu folgen. Er blieb plötzlich stehen. »Die ersten tausend Jahre! Solange lebe ich ja gar nicht!« »Doch, doch«, versicherte ihm Jang. »Sie besitzen Unsterblichkeit, nicht wahr?« Ja, das stimmte. Er hatte sie sich gewünscht, kurz bevor man die Maschine zurückholte. Oder hatte man die Maschine weggenommen, nachdem er sie sich gewünscht hatte? Collins fiel etwas ein. Merkwürdig, aber er konnte sich nicht entsinnen, die Unsterblichkeit auf der Rechnung gesehen zu haben, die ihm Flign vorlegte.
»Wieviel hat man mir für die Unsterblichkeit berechnet?« fragte er. Jang sah ihn an und lachte. »Seien Sie doch nicht so naiv.« Er führte Collins zum Steinbruch. »Natürlich bekommt man die Unsterblichkeit als kostenlose Zugabe.«
Der glücklichste Mann der Welt Mir geht es hier unten erstaunlich gut. Aber man darf nicht vergessen, daß ich unverschämt viel Glück hatte. Der reine Zufall verschlug mich nach Patagonien. Ganz ohne Beziehungen, verstehen Sie – andererseits hatte aber auch mein Können nichts damit zu tun. Ich bin kein schlechter Meteorologe, aber man hätte tausend bessere finden können. Ich war eben vom Glück so begünstigt, daß es mich zur rechten Zeit am rechten Ort fand. Es grenzt ans Wunderbare, wenn man bedenkt, daß das Militär meine Wetterstation mit ungefähr allen bekannten technischen Raffinessen ausstattete. Nicht speziell für mich, natürlich. Das Militär hatte ursprünglich vorgehabt, hier einen Stützpunkt zu errichten. Man schaffte alles Nötige heran, und dann mußte man das Unternehmen plötzlich aufgeben. Ich schickte natürlich weiterhin meine Wetterberichte hinaus, solange sie verlangt wurden. Aber die Apparaturen! Mein ganzes Leben lang hat mich alles Wissenschaftliche in Erstaunen gesetzt. Man kann mich wohl auch so eine Art Wissenschaftler nennen, aber das Schöpferische fehlt in unserem Beruf – und darin liegt der Unterschied. Man braucht von einem schöpferischen Wissenschaftler nur das Unmögliche zu verlangen, und er wird es tun. Es ist kaum zu fassen. Wie ich die Sache sehe, muß irgendein General den Wissenschaftlern erklärt haben: »Paßt mal auf, Leute, uns fehlen vor allem Spezialisten, und wir können diese Lücke in keiner Weise ausfüllen. Ihre Pflichten müssen von Männern wahrgenommen werden, die oft völlig ungeschult sind. Das klingt wenig plausibel, aber was soll man tun?« Und die Wissenschaftler begannen sich ernstlich an die Arbeit zu machen. Sie schrieben unfaßbare Bücher, sie erfanden unglaubliche Dinge.
Letzte Woche zum Beispiel hatte ich Zahnschmerzen. Zuerst hielt ich das für eine Folge meiner Erkältung, denn hier unten ist es immer noch ziemlich kühl, obwohl ja die Vulkane ständig in Tätigkeit sind. Aber Zahnschmerzen waren es. Ich holte mir also die Dental-Apparatur, schloß sie an und las die Bedienungsanleitung durch. Ich untersuchte mich und bestimmte den Zahn, den Schmerz, die Höhlung. Dann gab ich mir eine Spritze, kratzte den Zahn aus und machte eine Füllung. Dabei gingen Zahnärzte jahrelang zur Hochschule, um zu lernen, was ich unter Druck in fünf Stunden schaffte. Dann die Ernährung. Ich war ziemlich dick geworden, weil ich nichts zu tun hatte, als Wetterberichte zu senden. Als dann damit Schluß war, begann ich Mahlzeiten zuzubereiten, um die mich die berühmtesten Köche der Welt beneidet hätten. Früher galt das Kochen als eine Kunst, aber die Wissenschaftler machten es zu einer exakten Wissenschaft. Ich könnte seitenlang erzählen. Vieles von dem, was man mir gab, kann ich nicht mehr verwenden, weil ich ja jetzt ganz alleine bin. Aber mit Hilfe der Bücher, die sie verfaßt haben, könnte sich jedermann als fähiger Rechtsanwalt mit ausgedehnter Praxis betätigen. Die Bände verfügen über eine Einteilung, die es jedem Menschen durchschnittlicher Intelligenz ermöglichen würde, die für die erfolgreiche Behandlung eines Falles entscheidenden Abschnitte zu finden und ihre Bedeutung in einfachem Englisch zu erfassen. Niemand hat bisher versucht, mich zu verklagen, weil ich immer Glück hatte. Aber ich hätte die juristischen Bücher schon sehr gerne einmal ausprobiert. Das Bauen ist wieder eine Sache für sich. Als ich hier ankam, mußte ich in einer Wellblechhütte wohnen. Ich stellte dann aber einige von diesen wunderbaren Baumaschinen auf und fand Material, mit dem jeder Laie arbeiten konnte. Ich baute mir ein bombensicheres Haus mit fünf Räumen und einem gefliesten Badezimmer. Echte Fliesen sind das natürlich nicht, aber den Unterschied würde nur ein Fachmann bemerken. Die Teppiche von Wand zu Wand lassen sich ebenso leicht verlegen, wenn man die Instruktionen durchgelesen hat. Was mich aber am meisten überraschte, war die Installation an meinem Haus. Ich hatte sie immer für äußerst kompliziert gehalten, komplizierter
sogar als Medizin oder Zahnbehandlung. Aber sie machte mir nicht die geringsten Schwierigkeiten. Vielleicht war unter fachmännischen Maßstäben nicht alles vollkommen, aber ich bin zufrieden. Die Filteranlagen, Sterilisatoren, Reiniger, Kompressoren und so weiter erzeugen jedenfalls Wasser, in dem selbst die widerstandsfähigsten Erreger fehlen. Und das alles habe ich selbst aufgebaut. Gelegentlich beginne ich mich hier einsam zu fühlen, und daran können auch die Wissenschaftler wenig ändern. Für Geselligkeit gibt es keinen Ersatz. Wenn sich die Wissenschaftler richtig angestrengt hätten, wäre dabei vielleicht aber doch etwas herausgesprungen, was Leuten wie mir die totale Vereinsamung ein wenig erleichtert hätte. Es gibt ja nicht einmal Patagonier, mit denen ich mich unterhalten könnte. Nach den großen Flutwellen zogen sie nach Norden – die wenigen, die es noch gab. Und die Musik hilft auch nicht viel. Ich bin andererseits aber ein Mensch, dem es nicht allzuviel ausmacht, allein zu sein. Vielleicht hat man mich deshalb hierhergeschickt. Aber ein paar Bäume hätte ich doch gerne. Malerei! Ich habe vergessen, vom Malen zu sprechen! Jeder weiß, wie kompliziert dieses Thema ist. Man muß etwas von Perspektive, von Linienführung, Farbe und Komposition verstehen. Praktisch muß man ein Genie sein, bevor man es darin zu etwas bringt. Ich wähle einfach Pinsel aus, stelle meine Staffelei auf und male alles, was mir gerade gefällt. In den Büchern fehlt nicht die geringste Kleinigkeit. Die Ölgemälde über Sonnenuntergänge sind geradezu phantastisch. Sie würden jeder Galerie zur Ehre gereichen. Solche Sonnenuntergänge haben Sie noch nicht gesehen! Flammende Farben, unglaubliche Formen! Das macht der viele Staub in der Atmosphäre. Mit meinen Ohren bin ich auch wieder ganz zufrieden. Sagte ich nicht vorhin, daß ich ein Glückspilz bin? Durch die erste Druckwelle wurden mir beide Trommelfelle zerrissen. Aber das Hörgerät, das ich ständig trage, ist so klein, daß es kaum auffällt, und ich höre besser als je zuvor. Das bringt mich auf das Thema Medizin; nirgendwo hat die Wissenschaft mehr geleistet. In den Büchern findet man etwas gegen alle Krankheiten. Ich habe eine Blinddarmoperation an mir ausgeführt, wie man sie noch vor ein paar Jahren für unmöglich gehalten hätte. Ich
brauchte nur die Symptome nachzuschlagen, mich an die Anweisungen zu halten, und es war geschafft. Ich habe alle möglichen Leiden an mir kuriert, aber gegen die Strahlungskrankheit läßt sich natürlich nichts ausrichten. Das liegt aber nicht an den Büchern. Gegen Strahlungskrankheit kann kein Mensch etwas tun. Selbst wenn ich die ersten Spezialisten der ganzen Welt hier hätte, wären sie machtlos. Wenn es noch Spezialisten gäbe. Das ist natürlich nicht der Fall. Halb so schlimm. Ich weiß, was ich zu tun habe, damit ich keine Schmerzen spüre. Und es ist nicht so, als hätte mich das Glück plötzlich im Stich gelassen. Das Unglück brach eben über alle herein. Nun, wenn ich das Ganze so durchlese, scheint es kein sehr großartiges Bekenntnis zu sein, worauf ich es eigentlich angelegt hatte. Ich muß wohl noch eines der Schriftstellerei-Bücher durcharbeiten. Dann werde ich auch wissen, wie ich mich auszudrücken habe. Über meine Einstellung zur Wissenschaft, über meine große Dankbarkeit. Ich bin 39 Jahre alt. Ich habe länger als jeder andere Mensch überlebt, selbst wenn ich morgen sterben sollte. Aber ich hatte eben Glück, ich war zur rechten Zeit am rechten Ort. Mit dem Schriftstellerei-Buch werde ich mich wohl nicht mehr abgeben, weil es ja keinen mehr gibt, der irgendeinen Text lesen könnte. Was taugt ein Schriftsteller ohne Leser? Da ist das Fotografieren schon interessanter. Außerdem muß ich einige Grabschaufelgeräte auspacken, ein Mausoleum errichten und meinen Grabstein meißeln.
Das tödliche Raumschiff Der Masse-Detektor des Raumschiffs flammte hell-, dann dunkelrot auf. Agee hatte an der Steuerung vor sich hingedöst und darauf gewartet, daß Victor das Essen brachte. Jetzt sah er hastig auf. »Ein Planet«, rief er, das Zischen der entweichenden Luft übertönend. Captain Barnett nickte. Er formte eine Heiß-Abdichtung und knallte sie auf die Rumpfwand der abgenützten ›Endeavor‹. Das Pfeifen der Luft sank zu einem dumpfen Stöhnen herab, ließ sich aber nicht ganz beseitigen. Bei diesem Schiff nicht mehr. Als Barnett zur Steuerung trat, war über dem Rand einer kleinen roten Sonne der Planet gerade sichtbar geworden. Grünlich schimmerte er vor dem nachtdunklen Hintergrund des Weltraums und ließ in beiden Männern den gleichen Gedanken aufzucken. Barnett kleidete den Gedanken in Worte. »Ich frage mich, ob es dort irgend etwas gibt, das mitzunehmen sich lohnt«, meinte er stirnrunzelnd. Agee hob hoffnungsvoll eine weiße Braue. Sie beobachteten die auf den Skalen erscheinenden Meßergebnisse. Diesen Planeten hätten sie niemals entdeckt, wenn die ›Endeavor‹ entlang der südgalaktischen Handelsrouten geflogen worden wäre. Aber die Polizei der Konföderation trat in der dortigen Gegend immer zahlreicher auf; Barnett zog es vor, ihr aus dem Weg zu gehen. Die ›Endeavor‹ war als Handelsraumschiff eingetragen – aber ihre Fracht bestand nur aus Flaschen voll besonders wirksamer Säure zur Öffnung von Safes und aus drei mittelgroßen Atombomben. Die Behörden betrachteten solches Frachtgut mit scheelen Augen; unablässig bemühten sie sich, die Besatzung unter irgendeiner alten Beschuldigung zu verhaften – auf Luna war es Mord, Betrug auf Omega, Einbruchsdiebstahl auf Samia II. Alte, fast vergessene Straftaten, die immer wieder aufzuwärmen sich die Polizei nicht entblödete.
Überdies waren die neuen Polizeikreuzer wesentlich schneller als die ›Endeavor‹. Man hatte also einen selten beflogenen Kurs nach NeuAthen eingeschlagen, wo große Uran-Vorkommen entdeckt worden waren. »Sieht nicht sehr vielversprechend aus«, meinte Agee nach einem kritischen Blick auf die Instrumente. »Am besten lassen wir ihn links liegen«, sagte Barnett. Die Meßergebnisse waren uninteressant. Sie zeigten einen Planeten unter Erdgröße, der in den Sternkarten nicht verzeichnet war und keinen Handelswert außer seiner Sauerstoff-Atmosphäre aufzuweisen hatte. Als sie vorbeiflogen, sprachen die Schwermetall-Detektoren an. »Donnerwetter! Da muß allerhand liegen!« sagte Agee. »Reines Metall. Sehr rein – und an der Oberfläche!« Er sah Barnett an. Der Captain nickte. Das Schiff steuerte den Planeten an. Victor erschien, eine winzige Wollmütze auf seinem riesigen, glattrasierten Schädel. Er sah über Barnetts Schulter, während Agee das Raumschiff in einer engen Spirale auf den Planeten hinabzog. Achthundert Meter über der Oberfläche sahen sie das SchwermetallVorkommen. Es war ein Raumschiff, das in einer natürlichen Lichtung auf dem Heck stand. »Das ist aber mal interessant«, meinte Barnett. Er bedeutete Agee, näher heranzugehen. Agee steuerte das Schiff mit großer Geschicklichkeit hinunter. Er hatte das Pensionierungsalter für Chefpiloten weit überschritten, aber sein Reaktionsvermögen hatte noch nicht nachgelassen. Barnett, der ihn mittellos in einer abgelegenen Gegend entdeckt hatte, heuerte ihn an. Der Captain half gerne anderen Leuten, wenn sich daraus Gewinn ziehen ließ. Die beiden Männer hatten dieselbe Einstellung gegenüber dem Privateigentum und stritten sich höchstens manchmal darüber, wie man sich seiner bemächtigen könne. Agee war für sichere Sachen. Barnett dagegen hatte mehr Draufgängertum in sich, als für das Mitglied einer verhältnismäßig gebrechlichen Lebensform gut sein konnte.
Nahe der Oberfläche des Planeten sahen sie, daß das fremde Raumschiff größer war als die ›Endeavor‹. »Habt ihr schon einmal so etwas gesehen?« fragte Barnett. Agee forschte in seinem Gedächtnis nach. »Sieht mir ein bißchen nach den Cepheiden aus, aber dort wird nicht so plump gebaut. Wir sind ziemlich weit draußen, versteht ihr. Das Schiff braucht nicht einmal aus der Konföderation zu stammen.« Victor starrte das Raumschiff mit offenem Mund an. Er seufzte laut. »So ein Schiff könnten wir wirklich gebrauchen, was, Captain?« Barnett lächelte plötzlich. »Victor«, sagte er, »in Ihrer Einfachheit haben Sie das Kernproblem deutlich erkannt. Wir könnten ein solches Schiff wirklich gebrauchen. Landen wir und sprechen wir mit dem Kapitän.« Bevor sich Victor anschnallte, vergewisserte er sich, daß die Vereisungs-Strahler geladen waren. Auf dem Boden angelangt, schossen sie eine rot-grüne ParlamentärsRakete ab, aber vom fremden Schiff kam keine Antwort. Die Atmosphäre des Planeten erwies sich als atembar; die Temperatur betrug 23 Grad Celsius. Nachdem sie einige Minuten gewartet hatten, stiegen sie aus, die Vereisungs-Strahler unter den Pullovern verborgen. Sie lächelten betont freundlich, während sie die fünfzig Meter zwischen den beiden Schiffen zurücklegten. Aus nächster Nähe wirkte das Schiff grandios. Die schimmernde, silbergraue Hülle war von Meteoren kaum gezeichnet. Die Luftschleuse stand offen, und leises Summen verriet, daß sich die Generatoren wieder aufluden. »Ist jemand hier?« schrie Victor in die Luftschleuse hinein. Seine Stimme hallte hohl durchs Schiff. Keine Antwort – nur das sanfte Summen der Generatoren und das Rascheln der Gräser. »Wohin können sie wohl gegangen sein?« fragte Agee. »Luft schnappen, wahrscheinlich«, meinte Barnett. »Mit Besuchern haben sie nicht gerechnet.«
Victor setzte sich gemütlich auf den Boden. Barnett und Agee strichen um das Schiff herum und bewunderten die großen Antriebskammern. »Glauben Sie, daß Sie es steuern könnten?« fragte Barnett. »Ich wüßte nicht, was dagegen sprechen sollte«, sagte Agee. »Erstens ist das ein konventioneller Antrieb. Die Servo-Anlagen spielen keine Rolle – sauerstoffatmende Wesen verwenden gleichartige Steuerungssysteme. Es ist nur eine Frage der Zeit, sich da zurechtzufinden.« »Jemand kommt«, rief Victor. Sie hasteten zur Luftschleuse zurück. Dreihundert Meter vom Schiff entfernt war Wald. Eine Gestalt trat eben dort heraus und ging auf sie zu. Agee und Victor zogen gleichzeitig ihre Strahler-Pistolen. Barnetts Fernglas machte aus der winzigen Gestalt eine rechteckige Form, etwa sechzig Zentimeter hoch und dreißig Zentimeter breit. Das fremde Lebewesen war nicht ganz fünf Zentimeter dick und besaß keinen Kopf. Barnett zog die Stirn kraus. Er hatte noch nie ein Rechteck über hohem Gras schweben sehen. Er stellte das Fernglas auf größere Schärfe ein und sah, daß das fremde Wesen, grob gesprochen, humanoide Züge zeigte. Das heißt, es verfügte über vier Gliedmaßen. Zwei, vom Gras fast völlig verborgen, dienten zur Fortbewegung, und die anderen beiden reckten steif in die Luft. In der Körpermitte konnte Barnett zwei winzige Augen und einen Mund erkennen. Das Wesen trug weder Raumanzug noch Helm. »Sieht merkwürdig aus«, murmelte Agee und justierte die Strahlungsbreite seiner Waffe. »Vielleicht ist er der einzige hier?« »Hoffentlich«, meinte Barnett und zog seine eigene Waffe aus der Tasche. »Entfernung etwa zweihundert Meter.« Agee zielte, dann hob er den Kopf. »Wollen Sie zuerst mit ihm sprechen, Captain?« »Was gibt es da zu sagen?« fragte Barnett mit schwachem Lächeln. »Könnte ihn aber noch näher herankommen lassen; wir dürfen ihn nicht verfehlen.«
Agee nickte und behielt das fremde Wesen im Fadenkreuz. Kalen hatte auf dieser verlassenen kleinen Welt haltgemacht, in der Hoffnung, ein paar Tonnen Erol aussprengen zu können, ein Mineral, das die Mabogier sehr schätzten. Das Glück war ihm nicht hold gewesen. Die unbenützte Thenit-Bombe steckte immer noch in seinem Körperbeutel, neben einer einsamen Kerla-Nuß. Er würde nach Mabog mit Ballast anstatt mit Ladung zurückkehren müssen. Nun ja, dachte er, als er aus dem Wald trat, vielleicht beim nächsten – Verblüfft sah er neben seinem Raumschiff ein zweites, schmaleres stehen. Er hatte nie damit gerechnet, auf dieser tödlichen kleinen Welt anderen Wesen zu begegnen. Und diese Wesen warteten vor seiner eigenen Luftschleuse! Kalen sah sofort, daß sie, grob gesprochen, von mabogischer Gestalt waren. In der mabogischen Union gab es eine ähnliche Rasse, deren Raumschiffe aber gänzlich anders aussahen. Der Instinkt sagte ihm, daß diese fremden Wesen sehr wohl Vertreter jener großen Zivilisation sein konnten, die man am Rande der Galaxis vermutete. Freudig erregt ging er auf sie zu. Seltsam, die fremden Wesen bewegten sich nicht. Warum kamen sie ihm nicht entgegen, um ihn zu begrüßen? Er wußte, daß sie ihn sahen, weil alle drei auf ihn deuteten. Er ging schneller, als ihm klar wurde, daß er ihre Gewohnheiten überhaupt nicht kannte. Hoffentlich neigten sie nicht zu langatmigen Zeremonien. Schon eine Stunde Aufenthalt auf dieser feindseligen Welt hatte ihn ermüdet. Er war hungrig und brauchte unbedingt eine Dusche… Etwas unglaublich Kaltes schleuderte ihn zurück. Er sah sich ängstlich um. Machte sich der Planet auf diese Weise bemerkbar? Wieder ging er weiter. Ein zweiter Kältestoß traf ihn und vereiste die äußere Schicht seiner Haut. Das war gefährlich. Die Mabogier gehörten zu den zähesten Lebensformen der Galaxis, aber auch das hatte seine Grenzen. Kalen sah sich nach dem Ursprung dieses Übels um.
Die fremden Lebewesen schossen auf ihn! Einen Augenblick lang weigerten sich seine Denkzentren, das Beweismaterial seiner Sinne zu akzeptieren. Kalen wußte, was Mord war. Er hatte bei gewissen degenerierten Tierarten diese Perversität mit Betäubung und Entsetzen beobachtet. Und es gab natürlich auch die Bücher über psychologische Abnormitäten, in denen jeder Fall von bewußt begangenem Mord in der Geschichte Mabogs verzeichnet war. Aber so etwas am eigenen Leib erleben zu müssen! Kalen konnte es nicht fassen. Ein dritter Schuß traf ihn. Kalen blieb stehen und versuchte sich zu überzeugen, daß das hier wirklich geschah. Er konnte nicht begreifen, wie Wesen mit Fähigkeiten, die zur Steuerung eines Raumschiffs unerläßlich waren, des Mordes fähig sein konnten. Außerdem kannten sie ihn ja nicht einmal! Beinahe zu spät fuhr Kalen herum und rannte zum Wald zurück. Die drei fremden Wesen schossen jetzt gleichzeitig, und das Gras unter seinen Füßen knackte. Seine Hautoberfläche war völlig vereist. Auf Kälte war die Konstitution der Mabogier nicht eingerichtet, und sie drang bereits in sein Inneres vor. Aber er konnte es immer noch nicht recht glauben. Kalen erreichte den Wald. Als er hinter einem Baum verschwand, erwischte ihn noch ein Doppelstrahl. Er spürte, wie sein Innensystem verzweifelt arbeitete, um dem Körper die Wärme zurückzugeben. Mit ausgeprägtem Bedauern ließ er sich in die Dunkelheit sinken. »Blödes Wesen«, bemerkte Agee und steckte seine Waffe wieder in den Halfter. »Dumm und zäh«, meinte Barnett. »Soviel hält niemand aus, der Sauerstoff atmet.« Er grinste stolz und klatschte die Hand auf den silbergrauen Schiffsrumpf. »Wir taufen dich ›Endeavor II‹.« »Ein Hoch auf den Captain!« rief Victor begeistert. »Nur mit der Ruhe«, sagte Barnett. »Die brauchen wir noch.« Er hob den Kopf. »Es wird etwa noch vier Stunden hell sein. Victor, tragen Sie Nahrungsmittel, Sauerstoff und Werkzeug von der ›Endeavor I‹ herüber und schalten Sie die Meiler an. Eines Tages kommen wir wieder hierher
und verschrotten das alte Ding. Aber bei Sonnenuntergang möchte ich starten.« Victor eilte davon. Barnett und Agee betraten das fremde Schiff. Die rückwärtige Hälfte der ›Endeavor II‹ war angefüllt mit Generatoren, Maschinen, Umwandlern, Servo-Anlagen, Treibstoff- und Lufttanks. Dahinter befand sich ein riesiger Frachtraum, der beinahe die Hälfte des restlichen Schiffsraums einnahm. Er war mit Nüssen aller Formen und Farben, in der Größe zwischen einem Durchmesser von fünf bis fünfzig Zentimetern angefüllt. Im Bug des Schiffes gab es außerdem nur noch zwei Räume. Der erste mußte für die Besatzung gedacht sein, da nur hier genug Platz war. Aber er enthielt nichts. Keine Liegen, keine Stühle oder Tische – nichts als polierten Metallboden. In den Wänden und in der Decke befanden sich mehrere kleine Öffnungen, aber ihr Zweck war nicht zu erkennen. An diesen Raum schloß sich die Pilotenkanzel an. Sie war sehr klein, kaum groß genug für einen Mann, und die Tafel unter dem Beobachtungsschirm strotzte von Instrumenten. »Das ist für Sie«, sagte Barnett. »Fangen Sie an.« Agee nickte, suchte nach einem Stuhl und kauerte dann vor der Instrumententafel nieder. Er begann sie zu studieren. Im Laufe von zwei Stunden schleppte Victor alle Vorräte in die ›Endeavor II‹ hinüber. Agee hatte noch nichts berührt. Er versuchte herauszufinden, was womit gesteuert wurde, und zwar anhand von Größe, Farbe, Form und Anordnung der Instrumente. Es war nicht leicht, selbst wenn man ähnliche Nervensysteme und Gedankengänge unterstellte. War das Hilfs-Antriebs-System durch eine Linksdrehung einzuschalten? Er mußte sonst umlernen. Bedeutete Rot den Konstrukteuren dieses Schiffes Gefahr? Dann diente der große Schalter dem Ablassen des Brennstoffs. Aber Rot konnte auch ›heißen‹ Brennstoff bedeuten, und in diesem Fall steuerte der Schalter den Energiezufluß. Ebensogut konnte er aber auch eine Überladung der Atommeiler im Falle eines feindlichen Angriffs hervorrufen.
Agee bedachte dies alles, während er die Steuerung studierte. Er machte sich keine allzu großen Sorgen. Einmal waren Raumschiffe von innen aus praktisch unzerstörbar. Zum andern glaubte er sich jetzt auszukennen. Barnett steckte den Kopf herein. Victor folgte ihm auf den Fersen. »Schon fertig?« Agee überblickte die Instrumententafel. »Ich denke schon.« Er berührte eine Taste. »Damit müßte die Luftschleusentür betätigt werden.« Er drückte die Taste nieder. Victor und Barnett warteten. Sie schwitzten, obwohl es in der Kanzel sehr kalt war. Sie hörten das sanfte Gleiten geölten Metalls. Die Luftschleuse hatte sich geschlossen. Agee grinste und blies seine Fingerspitzen an. »Hier ist das Luftkontroll-System.« Er. drehte einen Schalter. Von der Decke begann gelber Rauch herabzuquellen. »Unreinheiten im System«, murmelte Agee und drehte an einem Knopf. Victor begann zu husten. »Schalten Sie ab«, sagte Barnett. Der Rauch kam in Schwaden und erfüllte beinahe augenblicklich die beiden Räume. »Abschalten!« »Ich finde den Schalter nicht!« Agee tastete herum, traf daneben und drückte den Knopf darunter. Sofort begannen die Generatoren ärgerlich zu summen. Blaue Funken tanzten über die Instrumententafel, zuckten an die Wand. Agee taumelte zurück und brach zusammen. Victor war bereits an der Tür zum Frachtraum und versuchte, sich mit der Faust den Weg freizuhämmern. Barnett bedeckte den Mund mit einer Hand und sprang an die Tafel. Er suchte blindlings nach dem Schalter und spürte, wie sich das Schiff um ihn zu drehen begann. Victor fiel zu Boden. Verzweifelt schlug er gegen die Tür. Barnett stieß aufs Geratewohl mit dem Finger zu.
Augenblicklich verstummten die Generatoren. Dann fühlte Barnett kühle Luft auf seinem Gesicht. Er wischte sich die tränenden Augen und sah auf. Ein Glückstreffer hatte die Deckenventile geschlossen und den Gaszustrom unterbrochen. Zufällig hatte er auch die Luftschleuse geöffnet; das im Schiff angesammelte Gas wurde von der kühlen Nachtluft des Planeten ersetzt. Bald konnten die Männer wieder unbehindert atmen. Victor raffte sich mühsam auf, aber Agee blieb bewegungslos liegen. Barnett begann den alten Piloten künstlich zu beatmen. Er fluchte leise vor sich hin. Nach einigen Minuten zuckten Agees Lider, und sein Brustkorb hob und senkte sich. Schließlich setzte er sich auf und schüttelte den Kopf. »Was war denn das?« fragte Victor. »Ich fürchte, daß unser Freund das für eine höchst angenehme Atemluft hält«, meinte Barnett. Agee schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Captain. Er war hier doch auf einer Sauerstoff-Welt und lief ohne Helm herum.« »Vielleicht kann er das einige Zeit aushalten«, erwiderte Barnett. »Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß er eine völlig andere Konstitution hat als wir.« – »Das ist schlecht«, sagte Agee. Die drei Männer sahen einander an. In der Stille hörten sie einen schwachen, unheimlichen Laut. »Was war das?« rief Victor und riß die Waffe aus dem Halfter. »Halt den Mund!« schrie Barnett. Sie lauschten. Barnett lief eine Gänsehaut über den Rücken, während er versuchte, das Geräusch zu identifizieren. Es drang aus einiger Entfernung hierher. Es klang, als schlüge Metall gegen einen nichtmetallischen Gegenstand. Die drei Männer sahen zum Bullauge hinaus. Im letzten Schimmer des Sonnenuntergangs konnten sie erkennen, daß die Luftschleuse der ›Endeavor I‹ offenstand. Das Geräusch kam aus dem Raumschiff. »Unmöglich«, sagte Agee. »Die Vereiser –«
»Haben ihn nicht umgebracht«, ergänzte Barnett. »Schlecht«, brummte Agee. »Sehr schlecht.« Victor hatte seine Waffe immer noch in der Hand. »Captain, wenn ich mich hinüberschleiche –« Barnett schüttelte den Kopf. »Sie kämen nie an die Luftschleuse heran. Nein, wir müssen nachdenken. War etwas an Bord, das er verwenden könnte? Die Meiler?« »Ich habe ein Brennelement entfernt«, sagte Victor. »Gut. Dann hat er also nichts, womit –« »Die Säure«, sagte Agee. »Das Zeug ist sehr wirksam. Aber viel wird er wohl nicht damit anfangen können.« »Überhaupt nichts«, meinte Barnett. »Wir sind in seinem Schiff, und hier bleiben wir. Sehen Sie zu, daß wir hier wegkommen.« Agee betrachtete die Instrumententafel. Noch vor einer halben Stunde hatte er Bescheid gewußt. Jetzt erschien sie ihm als eine ausgeklügelte Falle. Sie war nicht absichtlich gestellt. Aber ein Raumschiff war notwendigerweise ebenso sehr eine Wohn- wie eine Flugmaschine. Die Anlagen würden die Umwelt des fremden Wesens so exakt wie möglich zu kopieren suchen. Das konnte den Tod der drei Männer bedeuten. »Wenn man nur wüßte, von welchem Planeten er stammt«, sagte Agee bedrückt. Wäre die Umwelt des fremden Wesens bekannt, so hätte man ahnen können, was einem hier im Raumschiff bevorstand. Aber bis jetzt wußten sie nur, daß das Wesen giftiges, gelbes Gas atmete. »Wir schaffen es schon«, meinte Barnett. »Machen Sie sich mit dem Antriebsmechanismus vertraut. Alles andere lassen wir in Ruhe.« Agee wandte sich wieder der Instrumententafel zu. Barnett hätte gerne gewußt, was das fremde Wesen plante. Er starrte sein altes Schiff an und lauschte den unbegreiflichen Klopfgeräuschen.
Kalen stellte überrascht fest, daß er noch lebte. Zu Hause gab es ein Sprichwort: ›Ein Mabogier kommt entweder schnell um oder gar nicht.‹ Bis jetzt galt es also noch. Schwankend setzte er sich auf und lehnte sich an einen Baum. Die rote Sonne des Planeten stand tief am Horizont; giftiger Sauerstoff umwallte ihn. Er entdeckte schnell, daß seine Lungen noch fest abgedichtet waren. Die lebenspendende gelbe Luft hielt ihn noch aufrecht, obwohl sie immer schlechter wurde. Aber er schien sich nicht zurechtfinden zu können. Wenige hundert Meter entfernt stand sein Schiff. Düsteres rotes Licht schimmerte auf dem Rumpf, und für einen Augenblick war Kalen davon überzeugt, daß es keine fremden Wesen hier gab. Er hatte sich das Ganze nur eingebildet und konnte jetzt zu seinem Schiff zurückkehren… Er sah eines der Wesen, beladen mit Kisten, sein Schiff betreten. Kurz danach schlossen sich die Schleusentüren. Es stimmte also. Er zwang sich, an die grimmige Wirklichkeit zu denken. Er brauchte dringend Nahrung und Luft. Seine Außenhaut war trocken und rissig; sie bedurfte einer nährenden Säuberung. Aber Nahrung, Luft und Reinigungsmittel gab es nur in seinem Schiff. Er besaß eine einzelne rote Kerla-Nuß, dazu die Thenit-Bombe in seinem Körperbeutel. Wenn es ihm gelang, die Nuß zu knacken und den Kern zu essen, würde er etwas Kraft gewinnen. Aber wie sollte er sie öffnen? Er fand es gräßlich, von Maschinen vollkommen abhängig zu sein? Er mußte jetzt eine Methode finden, die einfachsten, alltäglichsten Dinge zu tun – Dinge, die sein Raumschiff automatisch für ihn erledigt hatte. Kalen bemerkte, daß die fremden Wesen ihr eigenes Schiff offensichtlich aufgegeben hatten. Warum? Es spielte keine Rolle. Im Freien würde er den nächsten Morgen nicht erleben. Er mußte in das Innere ihres Schiffes gelangen. Langsam rutschte er durchs Gras, gelegentlich von Schwindel übermannt. Er versuchte, sein eigenes Schiff im Auge zu behalten. Machten die fremden Wesen jetzt Jagd auf ihn, so war er verloren. Aber
nichts rührte sich. Eine Ewigkeit später erreichte er das andere Schiff und kroch hinein. Die Dämmerung war fortgeschritten. Im Halbdunkel sah er, daß das Raumschiff sehr alt war. Die Wände, an sich schon zu dünn, waren an vielen Stellen repariert. Er konnte verstehen, warum sie sein Schiff gekapert hatten. Sie wußten, was sie taten. Wieder wurde ihm schwindlig. Sein Körper meldete sich gebieterisch zu Wort. Das erste Problem schien die Nahrung zu sein. Er nahm die KerlaNuß aus einem Beutel. Sie war rund, hatte einen Durchmesser von zehn Zentimetern und eine Schale von fünf Zentimetern Dicke. Nüsse dieser Sorte stellten den Hauptbestandteil der Ernährung eines mabogischen Raumfahrers dar. Sie enthielten konzentrierte Energie und waren ungeöffnet praktisch unbegrenzt haltbar. Er preßte die Nuß gegen eine Wand, fand einen Stahlstab und schlug zu. Der Stab klang beim Auftreffen hohl. Die Nuß war unbeschädigt. Kalen fragte sich, ob die fremden Wesen dieses Geräusch hören konnten. Er mußte es riskieren. Er begann loszuhämmern. Fünfzehn Minuten später war er erschöpft; der Stab hatte sich stark verbogen. Die Nuß war unbeschädigt. Er konnte sie ohne Knacker nicht öffnen; dieses Gerät war in jedem Schiff Mabogs eingebaut. Niemand war je auf die Idee gekommen, eine Nuß auf andere Weise öffnen zu wollen. Seine Hilflosigkeit wurde erschreckend deutlich. Er hob den Stab zu einem weiteren Schlag und stellte fest, daß seine Gliedmaßen starr wurden. Er ließ den Metallstab fallen und dachte nach. Seine vereiste Außenhaut behinderte ihn bei jeder Bewegung. Die Haut verstärkte sich langsam zu Horn. Sobald dieser Härtungsprozeß abgeschlossen war, konnte er sich nicht mehr bewegen. Hilflos würde er warten müssen, bis er erstickte. Kalen stemmte sich gegen die heranrückende Verzweiflung und versuchte zu planen. Er mußte sich so schnell wie möglich behandeln. Das war viel wichtiger als Nahrung. An Bord seines eigenen Schiffes hätte er die Haut baden und waschen,
aufweichen und schließlich heilen können. Aber es war sehr zweifelhaft, ob die fremden Wesen über die richtigen Reinigungsmittel verfügten. Das einzige andere Gegenmittel bestand darin, die Außenhaut abzulösen. Die zweite Schicht würde zwar einige Tage lang empfindlich sein, aber er hätte wenigstens seine Bewegungsfreiheit wieder. Er suchte nach einem Trenngerät. Dann wurde ihm klar, daß die fremden Wesen nicht einmal über diesen alltäglichen Apparat verfügten. Er war auf sich selbst angewiesen. Er nahm den Stahlstab, bog ihn zu einem Haken und schob die Spitze unter eine Hautfalte. Mit aller Kraft riß er den Stab nach oben. Seine Haut bewegte sich nicht. Dann zwängte er sich zwischen einen Generator und die Wand und versuchte es von neuem. Aber seine Arme waren nicht lang genug; die ledrige Haut löste sich nicht ab. Er versuchte ein Dutzend anderer Stellungen, immer vergeblich. Ohne mechanische Hilfe konnte er sich nicht starr genug halten. Müde ließ er den Stab fallen. Er konnte nichts tun, gar nichts. Dann fiel ihm die Thenit-Bombe in seinem Beutel ein: Ein primitiver Teil seines Verstandes, dessen Existenz er früher nie vermutet hätte, sagte ihm, daß es einen einfachen Ausweg gab. Er konnte die Bombe unter sein Schiff schieben. Die schwache Ladung würde das Schiff fünf bis zehn Meter in die Luft heben, ohne schwerere Schäden zu verursachen. Die fremden Wesen kämen dabei aber gewiß ums Leben. Kalen war entsetzt. Wie konnte er so etwas auch nur denken? Die Ethik Mabogs, seinem innersten Wesen eingeprägt, verbot das Töten intelligenten Lebens, aus welchem Grund auch immer. »Aber wäre es denn nicht gerechtfertigt?« flüsterte eine Stimme in ihm. »Diese fremden Wesen sind krank. Du tust dem Universum einen Gefallen, wenn du sie beseitigst und dabei zufällig auch noch dir selber hilfst. Halte das bitte nicht für Mord. Das ist einfach Vertilgung.« Er nahm die Bombe aus dem Beutel und sah sie an, dann legte er sie hastig wieder zurück. »Nein!« sagte er sich ohne große Überzeugungskraft. Er weigerte sich weiterzudenken. Auf müden,
beinahe starren Gliedmaßen begann er das fremde Schiff zu durchsuchen, um sein Leben zu retten. Agee kauerte im Pilotenabteil und markierte Schalter und Knöpfe mit Tintenstift. Seine Lungen schmerzten. Er hatte die ganze Nacht gearbeitet. Draußen zeigte sich graue Dämmerung; ein kalter Wind fegte um die ›Endeavor II‹. Das Raumschiff war hell erleuchtet, aber kalt, weil Agee die Temperaturregler nicht zu bedienen wagte. Victor kam in den Aufenthaltsraum, unter dem Gewicht einer schweren Kiste taumelnd. »Barnett?« fragte Agee. »Kommt gleich«, sagte Victor. Der Captain wünschte die gesamte Ausrüstung vorne zu stapeln, wo man sie schnell erreichen konnte. Aber der Raum war klein. Victor sah sich nach einer Stelle um, wo er die Kiste absetzen konnte, und entdeckte eine Tür in der Wand. Er drückte auf die Taste, die Tür glitt in die Decke hinauf und gab den Blick auf eine Kammer von der Größe eines Schrankes frei. Victor freute sich, den idealen Vorratsraum gefunden zu haben. Er schob die Kiste hinein, ohne sich um die zerdrückten, dort am Boden liegenden roten Schalen zu kümmern. Augenblicklich begann sich die Decke der Kammer herabzusenken. Victor stieß einen Schrei aus, der durch das ganze Schiff hallte. Er sprang hoch – und knallte mit dem Kopf gegen die Decke. Betäubt fiel er aufs Gesicht. Agee raste aus der Pilotenkanzel herüber, und auch Barnett hastete herein. Barnett packte Victor an den Beinen und versuchte, ihn herauszuziehen; aber Victor war schwer, und der Captain fand auf dem glatten Metallboden keinen festen Stand. Mit seltener Geistesgegenwart stellte Agee die Kiste hochkant. Die Decke wurde vorübergehend von ihr aufgehalten. Gemeinsam zerrten Agee und Barnett an Victors Beinen. Es gelang ihnen gerade noch rechtzeitig, ihn herauszuziehen. Die schwere Kiste wurde einen Augenblick später wie ein Stück Balsaholz zerdrückt. Die
Decke der Kammer, auf einem Kolben hinabgleitend, quetschte die Kiste auf eine Dicke von fünfzehn Zentimetern zusammen. Dann knarrte die Schaltung, und geräuschlos kehrte die Decke an ihren früheren Platz zurück. Victor setzte sich auf und rieb sich den Schädel. »Captain«, sagte er klagend, »können wir nicht in unser Schiff zurück?« Agee begann ebenfalls, am Sinn dieses Unternehmens zu zweifeln. Er starrte die tödliche Kammer an. »Das Schiff kommt mir tatsächlich wie verhext vor«, sagte er besorgt. »Vielleicht hat Victor recht.« »Ihr wollt aufgeben?« fragte Barnett. Agee wand sich verlegen und nickte. »Das Dumme ist eben«, meinte er, »daß wir nicht wissen, was als nächstes geschehen wird. Ich halte das Risiko einfach für zu groß, Captain.« »Wißt ihr überhaupt, was ihr da aufgeben wollt?« forderte Barnett sie heraus. »Der Rumpf ist ein Vermögen wert. Habt ihr euch die Motoren angesehen? Im ganzen Weltraum gibt es nichts, was dieses Schiff einholen könnte. Wenn es sich durch einen Planeten bohrte, käme es auf der anderen Seite unbeschädigt wieder heraus. Und ihr wollt darauf verzichten!« »Wenn uns das Schiff umbringt, ist es gar nichts wert.« »Jetzt hört mir mal genau zu«, sagte Barnett. »Wir werden dieses Schiff nicht aufgeben. Es ist nicht verhext. Es ist uns fremd und voll von fremden Geräten. Wir brauchen nur die Hände wegzulassen, bis wir ein Dock erreicht haben. Verstanden?« Agee wollte etwas über Kammern sagen, die sich in hydraulische Pressen verwandeln. Ein gutes Zeichen für die Zukunft schien ihm das gerade nicht zu sein. Als er aber Barnetts Gesicht sah, schwieg er. »Haben Sie alle Steuerorgane markiert?« fragte Barnett. »Ich bin gleich so weit«, erwiderte Agee. »Gut. Machen Sie weiter. Nur diese Tasten berühren wir. Wenn wir das übrige in Ruhe lassen, wird uns das Schiff auch nichts tun. Es besteht nicht die geringste Gefahr, solange wir uns an das Motto ›Hände weg!‹ halten.«
Barnett wischte sich den Schweiß von der Stirn, lehnte sich an eine Wand und knöpfte seine Jacke auf. Augenblicklich glitten zwei Metallbänder aus der Wand und umschlossen seinen Leib. Barnett starrte sie sekundenlang an, dann warf er sich mit aller Kraft vorwärts. Die Bänder gaben nicht nach. In der Wand knackte es, dann wurde ein schmales Drahtstück ausgefahren. Es berührte Barnetts Jacke und kehrte in die Wand zurück. Agee und Victor sahen hilflos zu. »Abschalten«, sagte Barnett gepreßt. Agee rannte in die Kanzel. Victor starrte wie gebannt auf Barnett. Aus der Wand glitt ein Metallarm, an dem eine glitzernde Klinge von etwa sechs Zentimeter Länge befestigt war. »Aufhalten!« schrie Barnett. Victor löste sich aus seiner Erstarrung. Er rannte hin und versuchte, den Metallarm aus der Wand zu reißen. Das Gerät bäumte sich einmal auf und schleuderte ihn durch den Raum. Mit der Präzision eines Chirurgen schlitzte das Messer Barnetts Jacke von oben nach unten auf, ohne das Hemd darunter zu berühren. Dann verschwand der Arm. Agee drückte auf alle möglichen Tasten, die Generatoren begannen aufzuheulen, die Türen öffneten und schlossen sich, Stabilisatoren zuckten, die Lampen flackerten. Der Mechanismus, der Barnett gefangenhielt, blieb unbetroffen. Das Drahtstück erschien wieder. Es berührte Barnetts Hemd und verharrte dort einen Augenblick. Der Mechanismus klapperte furchterregend, das Drahtstück berührte Barnetts Hemd wieder, als sei es seiner Sache nicht ganz sicher. Agee schrie von der Kanzel herein: »Ich kann das Ding nicht abstellen!« Das Drahtstück glitt in die Wand zurück. Es verschwand, und der Arm mit dem Messer erschien erneut.
Inzwischen hatte Victor einen schweren Schraubenschlüssel gefunden. Er raste herein, schwang ihn hoch und schmetterte ihn gegen den Metallarm, Barnetts Kopf knapp verfehlend. Der Arm hatte nicht einmal eine Einbeulung. Ruhig schnitt er Barnetts Hemd von seinem Rücken. Jetzt war er nackt bis zu den Hüften. Barnett hatte keine Verletzung, aber seine Augen traten aus ihren Höhlen, als das Drahtstück wieder auftauchte. Victor steckte die Faust in den Mund und wich zurück. Agee schloß in grauenvoller Angst die Augen. Das Drahtstück berührte Barnetts warmes, lebendes Fleisch, surrte zufrieden und glitt in die Wand zurück. Die Bänder öffneten sich. Barnett fiel auf die Knie. Eine Weile schwiegen sie. Es gab nichts zu sagen. Barnett starrte mit düsterer Miene vor sich hin. Victor begann an seinen Fingern zu zerren, bis ihn Agee anstieß. Der alte Pilot versuchte sich auszurechnen, warum der Mechanismus Barnetts Kleidung zerschnitten haben könnte und warum er seine Tätigkeit plötzlich eingestellt hatte. Hatte sich das fremde Wesen auf diese Weise entkleidet? Darin lag kein Sinn. Aber die Pressen-Kammer schien ja auch nicht sinnvoll. In gewisser Hinsicht war er froh über dieses Ereignis. Barnett würde diese Lektion beherzigen. Sie durften das verhexte Schiff endlich verlassen und ihr eigenes zurückerobern. »Ich brauche ein Hemd«, sagte Barnett. Victor kramte hastig ein Hemd hervor. Barnett zog es an, hielt sich aber von den Wänden fern. »Wann können wir abfliegen?« fragte er Agee. »Was?« »Sie hören doch noch gut, oder?« »Haben Sie noch nicht genug?« fragte Agee entsetzt. »Nein. Wann kann es losgehen?« »In ungefähr einer Stunde«, murrte Agee. Was sollte er sagen? Der Captain duldete keinen Widerspruch.
Barnett zog einen Pullover über das Hemd, darüber dann noch eine Jacke. Es war kalt, und er hatte zu zittern angefangen. Kalen lag regungslos auf dem Deck des fremden Schiffes. Unklugerweise hatte er beinahe den ganzen Rest seiner Kraft bei dem Versuch, die erstarrte Außenhaut abzulösen, vergeudet. Aber die Haut wurde von Sekunde zu Sekunde härter. Jede Bewegung schien das letzte zu fordern. Bald träumte er von den Hügeln Mabogs, vom großen Hafen Canthanope, wo die Interstellar-Handelsschiffe mit ihrer seltsamen Fracht niedergingen. Er saß jetzt dort in der Dämmerung und starrte über flache Dächer in die beiden untergehenden Sonnen. Aber warum gingen sie im Süden nieder, die blaue und die gelbe Sonne? Wie konnten sie gemeinsam im Süden untergehen? Eine physikalische Unmöglichkeit… Vielleicht – Er schüttelte die Wahnvorstellung ab und starrte ins Morgenlicht. So durfte ein mabogischer Raumfahrer nicht sterben. Er mußte es noch einmal versuchen. Nach halbstündiger, anstrengender Suche fand er im rückwärtigen Teil des Schiffes eine verschlossene Metallkiste. Die fremden Wesen hatten sie offensichtlich vergessen. Er riß den Deckel ab. Die Kiste enthielt mehrere, sorgfältig verschlossene und weich gelagerte Flaschen. Kalen nahm eine davon heraus und betrachtete sie. Sie zeigte ein großes, weißes Symbol. Es gab keinen Grund, warum er dieses Symbol kennen sollte, aber irgendwie schien es ihm bekannt zu sein. Er forschte in seinem Gedächtnis nach. Dann entsann er sich dunkel. Es war die Darstellung eines humanoiden Schädels. In der mabogischen Union gab es eine einzige humanoide Rasse, und Nachbildungen ihrer Schädel hatte er in irgendeinem Museum gesehen. Warum brachte man derartiges auf einer Flasche an? In Kalen riefen Schädel ein Gefühl der Verehrung hervor. Darauf schienen es die Hersteller wohl auch abgesehen zu haben. Er öffnete die Flasche und roch daran.
Der Geruch erregte sein Interesse. Er erinnerte ihn an – hautreinigende Lösungen! Ohne Zögern schüttete er den Inhalt der ganzen Flasche über seinen Körper. Er wagte kaum zu hoffen, während er wartete. Falls es ihm gelang, seine Haut zu heilen… Ja, die Flüssigkeit in der Flasche mit dem Schädel war ein mildes Reinigungsmittel! Es roch auch angenehm. Er goß sich den Inhalt der nächsten Flasche über die gepanzerte Haut und spürte, wie die nährende Flüssigkeit eindrang. Sein halbverhungerter Körper verlangte nach mehr. Er nahm die nächste Flasche. Lange Zeit blieb Kalen liegen und ließ die lebenspendende Flüssigkeit eindringen. Seine Haut lockerte sich und wurde weich. Er spürte neue Energie in sich erwachen, den neuen Willen, das Leben festzuhalten. Er würde leben! Nach dem Bad besichtigte Kalen die Steuerung des Schiffs, in der Hoffnung, das alte Ding nach Mabog zurückfliegen zu können. Er stieß sofort auf Schwierigkeiten. Aus irgendeinem unklaren Grund waren die Steuerorgane nicht in einem eigenen Raum untergebracht. Er fragte sich nach dem Sinn. Diese seltsamen Wesen konnten doch nicht ihr ganzes Schiff in eine Beschleunigungskammer verwandeln. Unmöglich! Es gab ja nicht genug Behälter für die Flüssigkeit. Eigenartig, aber bei diesen fremden Wesen konnte man sich an gar nichts halten. Als Kalen die Motoren prüfte, sah er, daß den Meilern ein wichtiges Verbindungsglied fehlte. Sie waren nicht gebrauchsfertig. Also blieb nur eine Alternative. Er mußte sein eigenes Schiff zurückgewinnen. Aber auf welche Weise? Ruhelos ging er hin und her. Die Ethik Mabogs verbot die Tötung intelligenten Lebens, und daran gab es nichts zu deuteln. Unter keinen Umständen durfte man töten, auch nicht, um sein eigenes Leben zu retten. Durch strikte Einhaltung dieses Gesetzes hatten die Mabogier dreitausend Jahre hindurch jeden Krieg vermieden und eine hohe Zivilisation errichtet. Selbst die geringste Ausnahme hätte das unmöglich gemacht. Er durfte nicht vom rechten Weg abweichen.
Aber sollte er denn hier wehrlos sterben? Als er nach unten sah, bemerkte Kalen erstaunt, daß eine Pfütze der Reinigungsflüssigkeit ein Loch in den Boden gefressen hatte. Wie zerbrechlich dieses Schiff war – schon eine milde Lösung vermochte ihm zu schaden! Die fremden Wesen selbst mußten ebenfalls sehr schwach sein. Eine Thenit-Bombe würde genügen. Er ging zur Luftschleuse. Niemand schien Wache zu halten. Er vermutete, daß sie mit den Vorbereitungen für den Start beschäftigt waren. Wie einfach wäre es da, durch das Gras zu gleiten, das Schiff zu erreichen… Und auf Mabog brauchte niemand etwas davon zu erfahren. Kalen entdeckte zu seiner Überraschung, daß er beinahe den halben Weg bis zu seinem Schiff zurückgelegt hatte, ohne es zu bemerken. Merkwürdig, daß sein Körper Dinge zu tun vermochte, von denen sein Verstand nichts wußte. Er holte die Bombe heraus und kroch weiter. »Sind Sie noch nicht fertig?« fragte Barnett mittags. »Doch«, erwiderte Agee. Er überblickte noch einmal die Instrumententafel mit den Markierungen. »Mehr ist nicht herauszuholen.« Barnett nickte. »Victor und ich schnallen uns nebenan fest. Starten Sie mit Minimalbeschleunigung.« Barnett kehrte in den anderen Raum zurück. Agee schnallte sich an und rieb nervös die Hände. Eigentlich mußte alles glattgehen. Hoffentlich. Er dachte wieder an die Kammer, an das Messer. Niemand wußte, was dieses irrsinnige Schiff im nächsten Augenblick tun würde. »Fertig«, rief Barnett herüber. »Gut. Ungefähr zehn Sekunden.« Er schloß die Luftschleusentüren und dichtete sie ab. Die Tür zur Kanzel schloß sich automatisch und schnitt ihn vom Nebenraum ab. Mit einer Spur von Platzangst aktivierte Agee die Meiler. Bis jetzt ging alles gut.
Auf dem Boden zeigte sich eine dünne Ölschicht. Agee schrieb sie einer Überlauf-Schmierstelle zu und kümmerte sich nicht darum. Die Geräte funktionierten fabelhaft. Er programmierte einen Kurs in den Elektronenrechner und schaltete die Flugkontrolle ein. Dann klatschte etwas gegen seine Füße. Er sah auf den Boden und entdeckte, daß das zähflüssige, übelriechende Öl bereits sechs Zentimeter hoch stand. Ein unglaubliches Leck. Wie konnten in einem derart vollkommenen Schiff solche Fehler auftreten? Er löste die Gurte und spürte der Ursache nach. Er fand sie schnell. Im Boden gab es vier kleine Öffnungen, durch die Öl hereinströmte. Agee berührte die Taste an seiner Tür und mußte feststellen, daß sie geschlossen blieb. Er unterdrückte die aufsteigende Panik und untersuchte die Tür sorgfältig. Sie mußte sich öffnen. Aber sie tat es nicht. Das Öl reichte bereits bis zu seinen Knien. Er grinste betroffen. Wie dumm von ihm. Die Tür zur Pilotenkanzel wurde natürlich von der Instrumententafel aus bedient. Er drückte den betreffenden Knopf und kehrte zur Tür zurück. Sie blieb geschlossen. Agee zerrte mit aller Kraft daran, aber sie gab keinen Millimeter nach. Er watete zur Instrumententafel. Als sie das Schiff gefunden hatten, war kein Öl vorhanden gewesen. Das hieß also, daß ein Ablauf vorhanden ein mußte. Das Öl hatte Hüfthöhe erreicht, bis er ihn fand. Schnell lief es ab. Dann ließ sich die Tür ohne Schwierigkeiten öffnen. »Was ist los?« fragte Barnett. Agee sagte ihm Bescheid. »So macht er das also«, sagte Barnett ruhig. »Gut, daß wir dahintergekommen sind.« »Wer tut was?« fragte Agee, dem Barnett das Ganze zu leicht zu nehmen schien.
»Auf diese Weise übersteht er den Beschleunigungsdruck. Ich habe mir darüber schon den Kopf zerbrochen. Er hatte kein Bett, keine Liege an Bord. Keinen Sessel, nichts, worin er sich anschnallen könnte. Er schwebt also im Ölbad, das automatisch einläuft, sobald das Schiff startklar wird.« »Aber warum ging die Tür nicht auf?« fragte Agee. »Das ist doch ganz klar«, meinte Barnett geduldig. »Er wollte das Öl nicht im ganzen Schiff herumfließen lassen.« »Wir können nicht starten«, sagte Agee hartnäckig. »Warum nicht?« »Weil ich in Öl nicht besonders gut atme. Es läuft automatisch ein, bald ich das Schiff starte; man kann es nicht abschalten.« »Denken Sie einmal nach«, sagte Barnett. »Sie brauchen nur den Ablauf ständig offenzuhalten. Das Öl wird ebenso schnell verschwinden, wie es herangepumpt wird.« »Ja, daran hatte ich nicht gedacht«, gab Agee bedrückt zu. »Dann los.« »Ich möchte mich zuerst umziehen.« »Nein. Starten sie endlich das verdammte Ding.« »Aber, Captain –« »Los«, befahl Barnett. »Wir können nicht wissen, ob das fremde Wesen nicht etwas gegen uns ausheckt.« Agee zuckte die Achseln, kehrte in die Pilotenkanzel zurück und schnallte sich an. »Fertig?« »Ja.« Er öffnete den Ablauf, und das Öl floß zu und ab, ohne höher als bis zu seinen Knöcheln zu steigen. Ohne weiteren Zwischenfall schaltete er alle anderen Anlagen ein. »Dann los.« Er stellte auf Minimal-Beschleunigung ein und blies auf seine Fingerspitzen. Dann drückte er den Startknopf.
Mit tiefem Bedauern sah Kalen sein Schiff abfliegen. Die Thenit-Bombe hatte er immer noch in der Hand. Er war an seinem Schiff gewesen, hatte sogar einige Sekunden lang unter dem Heck gestanden. Dann hatte er sich zu dem fremden Schiff zurückgeschlichen. Er konnte die Bombe nicht zur Explosion bringen. Kalen fühlte, daß dieser Mord das Schicksal seiner ganzen Rasse beeinflußt hätte. Aber diese Überlegung hob seine Stimmung nicht. Er sah sein Schiff am Himmel zu einem Punkt zusammenschrumpfen. Die fremden Wesen flogen mit lächerlich geringer Geschwindigkeit ab. Er konnte dafür keinen Grund finden, wenn nicht den, daß sie ihn ärgern wollten. Unzweifelhaft zeigten sie eine Neigung zum Sadismus. Kalen kehrte zum fremden Schiff zurück. Sein Lebenswille war stärker als je zuvor. Er hatte nicht die Absicht aufzugeben. Er würde sich bemühen, solange er konnte, auf die eine Chance unter Millionen setzend, daß ein anderes Schiff diesen Planeten anfliegen würde. Er fragte sich, ob aus dem Reinigungsmittel nicht ein Luftersatz herzustellen war. Zwei Tage konnte er vielleicht überstehen. Falls er dann auch die Kerla-Nuß zu öffnen vermochte… Er glaubte draußen ein Geräusch gehört zu haben und hastete hinaus. Der Himmel war leer. Sein Schiff war verschwunden, und er war allein. Er stieg ins Schiff und machte sich an die Arbeit des Überlebens. Als Agee wieder zum Bewußtsein kam, stellte er fest, daß es ihm kurz vor der Ohnmacht gelungen war, die Beschleunigung auf die Hälfte zu drosseln. Das allein hatte ihm das Leben gerettet. Und die Beschleunigung, auf der Skala knapp über Null angezeigt, war immer noch unerträglich hoch! Agee öffnete die Tür und kroch hinaus. Barnetts und Victors Gurte waren beim Start gerissen. Victor kam eben wieder zu sich. Barnett raffte sich aus einem Berg zerschmetterter Kisten auf.
»Sie machen wohl Akrobatik?« beklagte er sich. »Ich habe von Minimal-Beschleunigung gesprochen.« »Ich weiß«, meinte Agee. »Sehen Sie doch selbst nach.« Barnett marschierte in die Kanzel… Er kam schnell wieder heraus. »Das ist schlecht.« »Allerdings.« »Daran hatte ich nicht gedacht«, meinte Barnett nachdenklich. »Er muß von einem großen Planeten kommen – wo man mit hoher Geschwindigkeit zu starten hat, um überhaupt in den Weltraum gelangen zu können.« »Was war denn los?« stöhnte Victor. In den Wänden knackte es. Das Schiff war jetzt in voller Tätigkeit, und die Servo-Anlagen schalteten sich selbsttätig ein. »Es wird reichlich warm hier«, sagte Victor. »Ja, die Luft läßt sich schwer atmen«, ergänzte Agee. »Drucksteigerung.« Er ging in die Kanzel zurück. Barnett und Victor blieben besorgt an der Tür stehen. »Ich kann das nicht abschalten«, sagte Agee und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Druck und Temperatur werden automatisch geregelt. Sobald das Schiff fliegt, stellen sie sich auf den ›Normalpegel‹ ein.« »Sie müssen aber abschalten«, sagte Barnett. »Wir ersticken sonst.« »Es gibt keine Möglichkeit.« »Er muß doch irgendeinen Wärmeregler haben.« »Gewiß – dort!« sagte Agee. »Der Schalter ist bereits auf die niedrigste Stufe eingestellt.« »Welche Temperatur wird für ihn normal sein?« fragte Barnett. »Das möchte ich lieber nicht wissen«, gab Agee zurück. »Dieses Schiff besteht aus Legierungen mit extrem hohem Schmelzpunkt. Es erträgt den zehnfachen Druck eines Schiffs von der Erde. Addieren Sie das…« »Irgendwie muß sich aber das Ding abschalten lassen!« sagte Barnett. Er zog Jackett und Pullover aus. Die Hitze nahm schnell zu, der Boden brannte unter den Sohlen.
»Einen Augenblick mal«, sagte Agee. »Ich habe dieses Schiff nicht gebaut. Woher soll ich denn wissen –« »Schluß!« schrie Victor und schüttelte Agee wie eine Gliederpuppe. »Schluß!« »Loslassen!« Agee zog seine Waffe halb aus dem Halfter. Dann kam ihm blitzschnell die Erleuchtung. Er schaltete den Antrieb ab. Das Knacken in der Wand verstummte. Der Raum begann sich abzukühlen. »Was ist passiert?« fragte Victor. »Temperatur und Druck fallen, sobald der Antrieb ausgeschaltet wird«, sagte Agee. »Wir laufen keine Gefahr – solange wir den Antrieb nicht benützen.« »Wie lange dauert es, bis wir treibend einen Flughafen erreichen?« erkundigte sich Barnett. Agee rechnete nach. »Ungefähr drei Jahre«, sagte er. »Wir sind ziemlich weit draußen.« »Können wir diese Servo-Anlagen nicht irgendwie herausreißen oder die Anschlüsse unterbrechen?« »Wir brauchen eine gutausgerüstete Werkstätte und Fachleute«, erklärte Agee. »Selbst dann wäre es nicht einfach.« Barnett schwieg lange Zeit. Schließlich sagte er. »Na schön.« »Was heißt ›na schön‹?« »Wir sind geschlagen. Wir müssen auf den Planeten und in unser eigenes Schiff zurück.« Agee seufzte erleichtert und programmierte den neuen Kurs. »Glauben Sie, daß er es zurückgibt?« erkundigte sich Victor. »Natürlich«, sagte Barnett, »wenn er nicht schon tot ist. Er wird ja sehr froh sein, wenn er sein eigenes Schiff wiederbekommt. Und er muß unser Schiff verlassen, wenn er mit diesem hier starten möchte.« »Das schon. Sobald er aber einmal wieder hier sitzt…« »Wir verstellen die Steuerung«, meinte Barnett. »Das wird ihn aufhalten.«
»Für kurze Zeit«, gab Agee zu bedenken. »Aber früher oder später wird er starten können und Rache nehmen. Wir entkommen ihm nie.« »Das ist Quatsch«, sagte Barnett. »Wir brauchen nur zuerst zu starten. Er hat ein stabiles Schiff, aber ich glaube nicht, daß es drei Atombombenexplosionen übersteht.« »Daran habe ich nicht gedacht«, sagte Agee mit, schwachem Lächeln. »Es ist das einzig Logische«, meinte Barnett selbstzufrieden. »Die Legierungen sind auch danach noch etwas wert. Gut, bringen Sie uns zurück, ohne daß wir verbraten werden.« Agee schaltete den Antrieb ein. Er zog das Schiff in engem Bogen herum und beschleunigte. Die Servo-Anlagen schalteten sich ein, und die Temperatur stieg rapide an. Als die Kurve durchflogen war, stellte Agee die ›Endeavor II‹ in die gewünschte Richtung und schaltete die Motoren ab. Sie trieben die meiste Zeit dahin, als sie den Planeten erreichten, mußte Agee jedoch den Antrieb benutzen, um landen zu können. Mit knapper Not überstanden sie das Abenteuer. Die Haut eines jeden war mit Brandblasen übersät, die Schuhe waren durchgesengt. Sie hatten keine Zeit mehr, an der Steuerung herumzubasteln. Sie zogen sich in den Wald zurück und warteten. »Vielleicht ist er tot«, sagte Agee hoffnungsvoll. Sie sahen eine kleine Gestalt die ›Endeavor I‹ verlassen. Das fremde Wesen bewegte sich langsam, aber es bewegte sich. Sie sahen ihm nach. »Wenn er nun irgendeine Waffe hat?« meinte Victor. »Wenn er uns nun verfolgt?« »Sei still«, sagte Barnett. Das fremde Wesen ging sofort zu seinem Schiff. Es bestieg die Eingangsleiter und schloß die Schleusentüren. Sie rasten los und hatten binnen weniger Sekunden die offene Luftschleuse der ›Endeavor I‹ erreicht. Kalen war nicht stark genug, sein Schiff sofort zu starten. Er wußte jedoch, daß er endlich in Sicherheit war.
Er öffnete einen der Lufttanks. Sein Schiff füllte sich mit lebenspendender, gelber Luft. Lange Zeit tat Kalen nichts anderes, als sie tief einzuatmen. Dann holte er drei der größten Kerla-Nüsse in die Kombüse und ließ sie vom Nußknacker öffnen. Nach dem Essen fühlte er sich wesentlich besser. Er ließ sich vom Trenngerät die Außenhaut abnehmen. Die zweite Schicht war ebenfalls bereits abgestorben, und der Apparat löste auch sie ab: die dritte, lebendige Schicht blieb ungeschoren. Er war wie umgewandelt, als er in die Pilotenkanzel schlüpfte. Für ihn gab es keine Zweifel mehr. Die fremden Wesen mußten dem Wahnsinn verfallen sein. Eine andere Erklärung dafür, daß sie zurückgekommen waren und ihm sein Schiff wieder überlassen hatten, gab es nicht. Er gedachte daher die für sie zuständigen Behörden aufzusuchen und die Koordinaten dieses Planeten anzugeben. Man mußte sie abholen und heilen, ein für allemal. Kalen war sehr glücklich. Er hatte sich nicht von der Ethik Mabogs abbringen lassen, und das war das Wichtigste. Er hätte ebensogut seine Thenit-Bombe in ihrem Schiff zurücklassen können, mit einem Zeitzünder versehen. Er hätte ihren Antrieb zerstören können. Die Versuchung war groß gewesen. Aber er hatte ihr widerstanden. Er hatte gar nichts unternommen. Kalen schaltete die Steueranlage ein und stellte fest, daß alles wunderbar funktionierte. Als er die Meiler in Betrieb nahm, strömte das Öl in die Kanzel. Victor erreichte als erster die Schleuse und raste ins Schiff. Er prallte zurück. »Was ist passiert?« fragte Barnett. Vorsichtig schauten sie ins Schiff. Sie entdeckten eine Todesfalle. Drähte von den Schiffsbatterien waren kreuz und quer in Serien durch die Schleuse gezogen. Hätte Victor den Schiffsrumpf berührt, so wäre er augenblicklich getötet worden. Sie schlossen die Anlage kurz und betraten das Schiff.
Es sah furchtbar aus. Alles Bewegliche war herausgerissen und am Boden verstreut worden. In einer Ecke lag ein verbogener Stahlstab. Die hochwirksame Säure war auf den Boden geschüttet worden; an mehreren Stellen hatte sie große Löcher in den Stahl geätzt. »Ich hätte nie gedacht, daß er so gemein sein könnte«, sagte Agee. Sie suchten weiter. Im Heck fanden sie eine zweite Falle. Die Tür zum Frachtraum war auf raffinierte Weise an einen kleinen Motor angeschlossen. Sobald jemand die Tür berührte, knallte sie gegen die Wand. Es gab noch andere Apparaturen, deren Sinn sich nicht erkennen ließ. »Können wir den Schaden reparieren?« Agee zuckte die Achseln. »Die meisten Werkzeuge und Geräte befinden sich noch an Bord der ›Endeavor II‹. Im Laufe eines Jahres können wir es vielleicht schaffen. Aber selbst dann weiß ich nicht, ob der Rumpf flugtüchtig ist.« Sie traten ins Freie. Das fremde Schiff schoß davon. »Was für ein Ungeheuer!« sagte Barnett, als er die von der Säure zerfressene Hülle seines Schiffes betrachtete. »Bei einem fremden Lebewesen muß man auf alles gefaßt sein«, erwiderte Agee. »Sie müssen alle umgelegt werden«, sagte Victor. Die ›Endeavor I‹ war jetzt ebenso gefährlich wie die ›Endeavor II‹. Und die ›Endeavor II‹ war verschwunden.
Ein Beruf mit Zukunft Mr. Dee saß im großen Lehnsessel, den Gürtel geöffnet, die Abendzeitungen auf den Knien ausgebreitet. Friedlich rauchte er seine Pfeife und bedachte die Herrlichkeit der Welt. Heute hatte er zwei Amulette und einen Liebestrank verkauft; seine Frau bereitete in der Küche eine köstliche Mahlzeit zu, und die Pfeife zog gut. Mr. Dee gähnte und streckte sich mit zufriedenem Seufzen. Morton, sein neunjähriger Sohn, hastete, mit Büchern beladen, durch das Wohnzimmer. »Wie war es heute in der Schule?« rief Mr. Dee. »Ganz nett«, sagte der Junge. »Was hast du denn da?« fragte Mr. Dee und deutete auf den Bücherstapel. »Nur ein paar Buchhaltungssachen«, sagte Morton, ohne seinen Vater anzusehen. Er lief in sein Zimmer. Mr. Dee schüttelte den Kopf. Irgendwo hatte der Junge die Idee aufgeschnappt, Buchhalter werden zu wollen. Buchhalter! Gewiß, Morton war gut im Rechnen, aber diesen Unsinn mußte er sein lassen. Ihn erwartete Höheres. Es läutete. Mr. Dee machte seinen Gürtel zu, stopfte sein Hemd in die Hose und öffnete die Haustür. Dort stand Miss Greeb, die Lehrerin der vierten Klasse, die sein Sohn besuchte. »Kommen Sie herein, Miss Greeb«, sagte Mr. Dee. »Ich habe keine Zeit«, erklärte Miss Greeb. Sie stand in der Tür, die Arme in die Hüften gestemmt. Mit ihren grauen, wirren Haaren, dem hageren, langnasigen Gesicht und den roten tränenden Augen sah sie genau wie eine Hexe aus. Und das war nur recht und billig, denn bei Miss Greeb handelte es sich tatsächlich um eine Hexe. »Ich muß mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen«, sagte sie.
In diesem Augenblick kam Mrs. Dee aus der Küche. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Hoffentlich hat er nichts angestellt«, meinte Mrs. Dee besorgt. Miss Greeb rümpfte die Nase. »Heute war die Jahresprüfung. Ihr Sohn hat restlos versagt.« »Ach, du meine Güte«, sagte Mrs. Dee. »Es ist Frühling. Vielleicht –« »Der Frühling hat gar nichts damit zu tun«, erwiderte Miss Greeb. »Letzte Woche habe ich die großen Cordus-Bannsprüche, Abteilung eins, aufgegeben. Sie wissen ja, wie leicht die sind. Er hat nicht einen einzigen davon gelernt.« »Hm«, machte Mr. Dee. »In Biologie hat er nicht die geringste Ahnung von den wichtigsten Zauberkräutern. Nicht eine Spur.« »Unfaßbar«, sagte Mr. Dee. Miss Greeb lachte säuerlich. »Außerdem hat er das geheime Alphabet aus der dritten Klasse völlig vergessen. Er hat die Schutzformel vergessen, die Namen der 99 kleineren Teufel des dritten Zirkels, die Geographie der Großhölle. Und was das Schlimmste ist, er will einfach nicht lernen.« Mr. und Mrs. Dee sahen einander stumm an. Das war wirklich sehr ernst. Ein gewisses Maß an jugendlicher Unaufmerksamkeit war erlaubt; man mußte sie sogar fördern; denn sie verriet Temperament. Aber ein Kind mußte die Grundlagen lernen, wenn es jemals Vollzauberer werden wollte. »Ich kann Ihnen gleich sagen«, erklärte Miss Greeb, »daß ich ihn ohne Bedenken durchfallen lassen würde, wenn wir noch die alten Zeiten hätten. Aber wir sind ja nur noch so wenige.« Mr. Dee nickte traurig. Die Hexenkunst war über die Jahrhunderte hinweg immer mehr in Verfall geraten. Die alten Familien starben aus, wurden von dämonischen Kräften entführt oder schlugen die wissenschaftliche Laufbahn ein. Das wankelmütige Publikum bezeigte nicht das geringste Interesse an den Zaubermitteln und Hexereien der alten Zeit. Jetzt bewahrte nur noch eine Handvoll Menschen die
überlieferte Kunde, lehrte sie an Orten wie Miss Greebs Privatschule für die Kinder von Zauberern. Es war ein Vermächtnis, ein heiliges Erbe. »Das liegt nur an diesem Buchhaltungs-Unsinn«, sagte Miss Greeb. »Ich weiß nicht, woher er diese Idee hat.« Sie starrte Dee anklagend an. »Und ich verstehe auch nicht, warum das nicht sofort abgestellt worden ist.« Mr. Dee schoß das Blut ins Gesicht. »Das eine weiß ich aber: Solange Morton sich damit beschäftigt, kann er seine Aufmerksamkeit nicht der Wunderlehre zuwenden.« Mr. Dee wich dem Blick der roten Hexenaugen aus. Es war seine Schuld. Er hätte diese Spielzeug-Addiermaschine nicht mitbringen dürfen. Als er Morton zum erstenmal mit doppelter Buchführung spielen sah, hätte er das Kontobuch verbrennen müssen. Aber woher sollte er wissen, daß sich das zu einer solchen Besessenheit auswachsen würde? Mrs. Dee glättete ihre Schürze und sagte: »Miss Greeb, Sie haben unser vollstes Vertrauen. Man muß Boarbas, den Dämon der Kinder, herbeirufen. Und das liegt natürlich bei Ihnen.« »Oh, ich glaube, so ernst ist die Situation noch nicht«, sagte Mr. Dee hastig. »Boarbas herbeizurufen ist eine sehr ernste Sache.« »Ich habe getan, was ich tun konnte«, meinte Miss Greeb. »Alles andere liegt bei Ihnen. Rufen Sie ihn oder rufen Sie ihn nicht, wie Sie wollen. So, wie die Dinge jetzt stehen, wird aus Ihrem Jungen niemals ein Zauberer.« Sie drehte sich auf dem Absatz um. »Wollen Sie nicht zu einer Tasse Tee bleiben?« fragte Mrs. Dee hastig. »Nein, ich muß zu einem Hexentreffen nach Cincinnati«, erwiderte Miss Greeb und verschwand in einer Wolke orangefarbenen Rauchs. Mr. Dee wedelte den Rauch mit seinen Händen weg und schloß die Tür. »Pfui«, sagte er. »Man möchte ja annehmen, daß sie wenigstens parfümierte Ware benützt.« »Sie ist altmodisch«, murmelte Mrs. Dee. Sie standen schweigend an der Tür. Mr. Dee begann den Schock erst jetzt zu spüren. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß sein Sohn, sein eigen Fleisch und Blut, nicht die Familientradition fortzusetzen wünschte. Das
konnte nicht wahr sein! »Nach dem Essen werde ich von Mann zu Mann mit ihm reden«, sagte Mr. Dee. »Ich bin sicher, daß wir keine Dämonen benötigen.« »Gut«, sagte Mrs. Dee. »Du kannst den Jungen sicher belehren.« Sie lächelte, und Dee erhaschte eine Spur des alten Hexenfunkelns in ihren Augen. »Mein Braten!« rief Mrs. Dee plötzlich, und das Hexenfunkeln erstarb. Sie hastete in die Küche. Das Abendessen war eine stille Angelegenheit. Morton wußte, daß Miss Greeb hiergewesen war, und er aß in schuldbewußtem Schweigen, seinem Vater gelegentlich von der Seite Blicke zuwerfend. Mr. Dee verteilte stirnrunzelnd den Braten. Mrs. Dee verzichtete auf den kleinen Alltagsklatsch. Nachdem der Junge die Nachspeise gegessen hatte, lief er in sein Zimmer zurück. »Jetzt paß gut auf«, sagte Mr. Dee zu seiner Frau. Er trank den letzten Schluck Kaffee, wischte sich den Mund und stand auf. »Ich will vernünftig mit ihm reden. Wo ist mein Überredungs-Amulett?« Mrs. Dee dachte einen Augenblick lang angestrengt nach. Sie ging zum Bücherschrank. »Hier ist es«, sagte sie und entnahm es einem Buch mit farbenfrohem Umschlag. »Ich habe es als Lesezeichen benützt.« Mr. Dee steckte das Amulett in die Tasche, atmete tief ein und betrat das Zimmer seines Sohnes. Morton saß an seinem Schreibpult. Vor ihm lag ein Notizbuch, vollgekritzelt mit Zahlen und winzig kleinen Vermerken. Auf dem Pult lagen sechs scharf gespitzte Bleistifte, ein Radiergummi, ein Rechenbrett und eine Spielzeug-Addiermaschine. Seine Bücher stapelten sich am Rand; da gab es ›Geld‹ von Rimraamer, ›Bankbuchhaltungspraxis‹ von Johnson und Calhoun, ›Buchungstechnik‹ von Ellman und ein Dutzend andere Bände. Mr. Dee schob einen Berg Kleidungsstücke beiseite und setzte sich aufs Bett. »Wie kommst du vorwärts, mein Sohn?« fragte er mit seiner freundlichsten Stimme.
»Sehr gut, Papa«, erwiderte Morton eifrig. »Ich bin schon beim vierten Kapitel der Buchhaltungsgrundzüge, habe alle Fragen beantwortet –« »Morton«, unterbrach ihn Dee sanft, »wie steht es mit deinen Hausaufgaben?« Morton sah zu Boden und scharrte mit den Füßen. »Nicht viele Knaben haben heutzutage die Gelegenheit, Zauberer zu werden, verstehst du?« »Ja, ich weiß.« Morton wandte sich plötzlich ab. Mit hoher, nervöser Stimme sagte er: »Aber ich will doch Buchhalter werden, Papa. Wirklich, Papa.« Mr. Dee schüttelte den Kopf. »Morton, in unserer Familie hat es immer einen Zauberer gegeben. Achtzehnhundert Jahre lang waren die Dees in übernatürlichen Kreisen berühmt.« Morton sah zum Fenster hinaus und scharrte mit den Füßen. »Du wirst mich doch nicht enttäuschen wollen, wie?« Dee lächelte. »Jeder kann Buchhalter werden, weißt du. Aber nur ein paar Auserwählte vermögen die schwarze Kunst zu meistern.« Morton nahm einen Bleistift, betrachtete die Spitze und begann ihn langsam zwischen den Fingern zu drehen. »Nun, mein Sohn? Willst du dich bei Miss Greeb nicht etwas mehr anstrengen?« Morton schüttelte den Kopf. »Ich will Buchhalter werden.« Mr. Dee bezwang mühsam seinen plötzlichen Wutanfall. Was war mit dem Überredungs-Amulett los? Hatte sich der Zauberspruch schon abgenützt? Er hätte ihn erneuern müssen. Trotzdem fuhr er fort. »Morton«, sagte er heiser, »ich bin nur ein Adept dritten Grades, wie du weißt. Meine Eltern waren sehr arm. Sie konnten mich nicht auf die Universität schicken.« »Ich weiß«, flüsterte der Junge. »Ich möchte, daß du wirst, was mir versagt geblieben ist. Morton, du kannst Adept ersten Grades werden.« Er schüttelte wehmütig den Kopf. »Es wird schwer sein. Aber deine Mutter und ich haben einiges gespart, und den Rest kratzen wir schon irgendwie zusammen.«
Morton biß sich auf die Unterlippe und drehte den Bleistift schneller. »Na, Morton? Als Adept ersten Grades brauchst du nicht in einem Laden zu arbeiten, hörst du? Du kannst Vertreter des Schwarzen werden! Was sagst du dazu, mein Junge?« Einen Augenblick lang glaubte Dee, sein Sohn zeige Bewegung. Mortons Lippen hatten sich geöffnet, und seine Augen glitzerten verdächtig. Aber dann starrte der Junge seine Kontobücher, sein kleines Rechenbrett, seine Addiermaschine an. »Ich werde Buchhalter«, sagte er. »Das werden wir sehen!« schrie Mr. Dee, der nun endgültig die Geduld verlor. »Du wirst nicht Buchhalter werden, junger Mann. Du wirst Zauberer. Das war gut genug für deine Familie, und bei allem, was verdammt sein soll, wird es auch für dich gut genug sein. Wir sprechen uns noch, junger Mann!« Und er stürmte aus dem Zimmer. Sofort wandte sich Morton wieder seinen Kontobüchern zu. Mr. und Mrs. Dee saßen gemeinsam und stumm auf dem Sofa. Mrs. Dee strickte, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Mr. Dee starrte bedrückt eine abgeschabte Stelle im Teppich an. Schließlich sagte er: »Ich habe ihn verzogen. Boarbas ist die einzige Lösung.« »Oh«, sagte Mrs. Dee hastig. »Er ist doch noch so jung!« »Willst du, daß dein Sohn Buchhalter wird?« fragte Mr. Dee bitter. »Möchtest du, daß er sein ganzes Leben lang Zahlen kritzelt, statt die wichtige Arbeit des Schwarzen zu tun?« »Natürlich nicht«, erwiderte Mrs. Dee. »Aber Boarbas –« »Ich weiß. Ich komme mir schon wie ein Mörder vor.« Sie dachten nach. Dann meinte Mrs. Dee: »Vielleicht kann sein Großvater etwas ausrichten. Er hatte den Jungen immer sehr gern.« »Möglich«, sagte Mr. Dee nachdenklich. »Aber ich weiß nicht recht, ob wir ihn stören sollen. Schließlich ist der alte Herr jetzt drei Jahre tot.« »Ich weiß«, gab Mrs. Dee zurück. »Aber wir haben nur die Wahl zwischen ihm und Boarbas.«
Mr. Dee stimmte zu. So unangenehm es auch für Mortons Großvater sein mochte, Boarbas war weitaus schlimmer. Sofort traf Mr. Dee Vorbereitungen für die Herbeizitierung seines toten Vaters. Er trug Bilsenkraut, zerstoßenes Horn vom Einhorn, Schierling und ein Körnchen Drachensaat zusammen. Dies alles legte er auf den Teppich. »Wo ist mein Zauberstab?« fragte er seine Frau. »Ich habe ihn zu deinen Schlägern in den Golfschrank gesteckt«, erwiderte sie. Mr. Dee holte seinen Zauberstab und ließ ihn über den Ingredienzien kreisen. Er murmelte die drei Worte der Entflechtung und rief den Namen seines Vaters. Sofort quoll dünner Rauch vom Teppich empor. »Guten Tag, Opa Dee«, sagte Mrs. Dee. »Tut mir leid, daß ich dich stören muß, Vater«, erklärte Mr. Dee. »Aber mein Sohn – dein Enkel – weigert sich, Zauberer zu werden. Er möchte – Buchhalter werden.« Die Rauchspirale zitterte, richtete sich auf und bildete ein Zeichen der Alten Sprache. »Ja«, sagte Mr. Dee. »Wir haben es mit Überredung versucht. Der Junge ist unbelehrbar.« Wieder zitterte der Rauch und formte sich zu einem anderen Zeichen. »Das ist wohl das Beste«, meinte Mr. Dee. »Wenn du ihn ein für allemal zu Tode erschreckst, wird er diesen Buchhaltungsunsinn vergessen. Es ist grausam, aber immer noch besser als Boarbas.« Die Rauchspirale nickte und glitt zum Zimmer des Jungen. Mr. und Mrs. Dee setzten sich wieder aufs Sofa. Die Tür zu Mortons Zimmer wurde wie von einem Windstoß aufgerissen. Morton sah auf, runzelte die Stirn und wandte sich wieder seinen Büchern zu. Der Rauchstreifen verwandelte sich in einen geflügelten Löwen mit dem Schwanz eines Hais. Er brüllte gräßlich, duckte sich, knurrte und sammelte sich zum Sprung.
Morton sah ihn an, hob beide Brauen und fuhr fort, Zahlen zu addieren. Der Löwe verwandelte sich in eine dreiköpfige Echse, von deren Flanken Blut troff. Die Echse stieß Feuerwolken aus dem Maul und stürmte auf den Jungen zu. Morton überprüfte das Additionsergebnis mit Hilfe seines Rechenbretts und sah die Echse an. Mit einem gräßlichen Aufschrei verwandelte sich die Echse in eine riesige, kreischende Fledermaus. Sie flatterte stöhnend und heulend um den Jungen herum. Morton grinste und wandte sich seinen Büchern zu. Mr. Dee konnte es nicht mehr ertragen. »Verdammt«, schrie er, »hast du denn keine Angst?« »Wieso denn?« fragte Morton. »Das ist doch nur Opa.« Daraufhin löste sich die Fledermaus in eine Rauchwolke auf. Sie nickte Mr. Dee zu, verbeugte sich vor Mrs. Dee und verschwand. »Lebwohl, Opa«, rief Morton. Er stand auf und schloß die Tür. »Jetzt ist aber Schluß!« sagte Mr. Dee. »Der Junge wird zu frech. Wir müssen Boarbas rufen.« »Wirklich?« fragte seine Frau. »Was bleibt zu tun?« »Ich weiß es auch nicht mehr«, sagte Mrs. Dee, den Tränen nahe. »Du weißt, was Boarbas mit den Kindern macht. Sie sind nachher völlig verwandelt.« Mr. Dees Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. »Ich weiß. Es läßt sich nicht ändern.« »Er ist so jung!« klagte Mrs. Dee. »Es – es wird ihm schaden!« »Dann versuchen wir ihn eben mit allen Hilfsmitteln moderner Psychologie zu heilen«, meinte Mr. Dee beruhigend. »Er kann die teuersten Psychoanalytiker haben. Aber er muß Zauberer werden!«
»Also gut«, sagte Mrs. Dee weinend. »Aber verlange bitte nicht von mir, daß ich dir dabei helfe.« Diese Frauen, dachte Dee. Im entscheidenden Augenblick versagen sie. Schweren Herzens traf er die Vorbereitungen für die Herbeizitierung Boarbas’, des Dämons der Kinder. Zuerst kam die komplizierte Zeichnung des Pentagons, der zwölfzackige Stern und die endlose Spirale im Innern, dann die Kräuter und Essenzen; teure Ware, aber für die Beschwörung unentbehrlich. Schließlich die Niederschrift der Schutzformel, damit Boarbas nicht ausbrechen und sie alle vernichten konnte. Dann die drei Tropfen Blut von einem geflügelten Roß – »Wo ist mein Flügelroßblut?« fragt Mr. Dee, im Wohnzimmerschrank kramend. »In der Küche, im Hustensaftfläschchen«, sagte Mrs. Dee und wischte sich die Augen. Dee entzündete die schwarzen Kerzen und intonierte den Zauberspruch. Das Zimmer wurde plötzlich sehr warm; nur die Nennung des Namens stand noch aus. »Morton«, sagte Mr. Dee, »komm her!« Morton öffnete die Tür und kam heraus, eines seiner Kontobücher umklammernd; er sah sehr jung und wehrlos aus. »Morton, ich bin dabei, den Dämon der Kinder zu rufen. Zwing mich bitte nicht dazu, Morton.« Der Junge wurde blaß und wich zurück. Aber hartnäckig schüttelte er den Kopf. »Also gut«, sagte Mr. Dee. »Boarbas!« Ein gräßlicher Donnerschlag erschütterte das Haus, eine Hitzewelle schoß durchs Zimmer, und Boarbas erschien, böse lachend; er reichte bis an die Decke. »Ah!« schrie Boarbas mit furchtbarer Stimme. »Ein kleiner Junge!« Morton starrte ihn an. Sein Unterkiefer hing herunter, die Augen traten ihm aus den Höhlen. »Ein unartiger kleiner Junge«, schrie Boarbas und lachte. Der Dämon stapfte vorwärts. Bei jedem Schritt schien das Haus einzustürzen.
»Schick ihn fort!« schrie Mrs. Dee auf. »Ich kann nicht«, sagte Mr. Dee. Seine Stimme zitterte. »Ich kann nichts tun, bis er fertig ist.« Die haarigen Riesenhände des Dämons griffen nach Morton, aber der Junge schlug schnell sein Kontobuch auf und rief: »Hilf mir!« In diesem Augenblick erschien ein großer, entsetzlich hagerer alter Mann, angetan mit Kontoblättern und abgenützten Gänsekielen. Seine Augen waren zwei leere Nullen. »Zico Pico Reel!« heulte Boarbas und wandte sich dem Neuankömmling zu, um ihn zu zerschmettern. Aber der hagere alte Mann lachte und sagte: »Ein Vertrag einer Gesellschaft, der ultra vires geschlossen wird, ist nicht nur aufhebbar, sondern null und nichtig.« Bei diesen Worten wurde Boarbas zurückgeschleudert. Ein Stuhl zerbrach. Boarbas raffte sich auf. Seine Haut war vor Wut rotglühend geworden. Er brüllte den dämonischen Meister-Zauberspruch! »Vrat, hat, ho!« Aber der alte Mann schirmte Morton mit seinem Körper ab und rief die Worte der Auflösung: »Ablauf, Widerruf, Vorfall, Übergabe, Verzicht und Tod!« Boarbas heulte angstvoll auf. Hastig wich er zurück und suchte in der Luft, bis er die Öffnung fand. Er sprang hindurch und war verschwunden. Der hagere alte Mann wandte sich Mr. und Mrs. Dee zu, die in einer Ecke des Wohnzimmers kauerten, und sagte: »Wißt, daß ich Der Buchhalter bin. Und wißt ferner, daß dieses Kind einen Vertrag mit mir abgeschlossen hat, wonach es mein Diener und Adept ist. Und für geleistete Dienste lehre ich, Der Buchhalter, die Verdammung der Seelen, wie sie in ein verfluchtes Gewebe aus Zahlen, Formularen, Quälereien und Repressalien verstrickt werden. Seht, dies ist mein Zeichen!« Der Buchhalter hob Mortons rechte Hand und zeigte den Tintenfleck am Mittelfinger. Er wandte sich Morton zu und sagte in leiserem Ton: »Morgen werden wir einige Aspekte der Einkommensteuerhinterziehung als Weg zur Verdammnis behandeln, mein Sohn.«
»Jawohl, Sir«, sagte Morton eifrig. Und mit einem letzten, scharfen Blick auf die Dees verschwand Der Buchhalter. Lange Zeit blieb es still. Dann wandte sich Dee an seine Frau. »Nun ja«, meinte er, »wenn der Junge unbedingt Buchhalter werden möchte, werde ich ihm doch nicht im Weg sein.«
Der widerspenstige Planet Als Morrison das Zelt verließ, schlief Dengue, der Beobachter, mit offenem Mund. Morrison bemühte sich, ihn nicht zu wecken. Er hatte Sorgen genug. Er mußte eine Abordnung der Eingeborenen empfangen, dieselben Idioten, die auf den Klippen getrommelt hatten. Dann mußte er die Zerstörung des Bergs ohne Namen beaufsichtigen. Sein Assistent, Ed Lerner, befand sich bereits an Ort und Stelle. Aber zuerst mußte er den neuesten Unfall untersuchen. Es war Mittag, als er durch das Lager ging. Die Leute machten Mittagspause: sie lehnten an ihren gigantischen Maschinen, verzehrten ihre Brote und schlürften Kaffee. Das Ganze machte einen durchaus normalen Eindruck, aber Morrison war zu lange in der Planetarkonstruktion tätig, als daß ihm die schlechten Zeichen entgangen wären. Niemand riß Witze, keiner beschwerte sich. Die Männer saßen im Schatten ihrer großen Maschinen auf dem Boden und warteten darauf, daß etwas passierte. Diesmal war ein riesiger Bulldozer beschädigt worden. Er stand mit gebrochener Achse am Ende der Straße. Die beiden Fahrer saßen im Führerhaus und erwarteten ihn. »Wie ist das passiert?« fragte Morrison. »Ich weiß nicht«, sagte der eine Fahrer und wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Ich spürte, wie sich die Straße aufbäumte.« Morrison brummte etwas und versetzte dem gigantischen Frontrad der Maschine einen Fußtritt. Ein Bulldozer dieses Typs konnte sechs Meter tief auf Fels hinabstürzen, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen. Es gab keine stabileren Maschinen. Fünf davon waren jetzt außer Betrieb. »Hier klappt überhaupt nichts«, sagte der Hilfsfahrer, als erkläre das alles.
»Ihr seid zu unvorsichtig«, sagte Morrison. »Ihr könnt mit der Maschine nicht umgehen, als befänden wir uns auf der Erde. Wie schnell seid ihr gefahren?« »25 Stundenkilometer«, erwiderte der Fahrer. »Natürlich«, sagte Morrison. »Ehrenwort! Die Straße fiel plötzlich –« »Ja, ja«, sagte Morrison. »Wann begreift ihr endlich, daß ihr hier nicht auf der Autobahn seid? Das kostet euch einen halben Tag Lohn.« Er drehte sich um und ging davon. Jetzt waren sie wütend auf ihn. Damit konnte er zufrieden sein, wenn sie sich nicht dauernd mit dem Planeten beschäftigten. Er machte sich auf den Weg zum Berg ohne Namen, als der Funker aus seiner Hütte herauskam und rief: »Für Sie, Morrie. Die Erde.« Morrison konnte bei voller Verstärkung die Stimme Mr. Shotwells, des Vorstandsvorsitzenden der Transterran Steel, erkennen. »Was ist los?« fragte er. »Allerhand«, erklärte Morrison. »Noch mehr Unfälle?« »Leider, Sir.« Einen Augenblick blieb es still, dann sagte Shotwell: »Aber wieso denn, Morrison? Den Unterlagen zufolge handelt es sich um einen ungefährlichen Planeten, nicht wahr?« »Ja, Sir«, gab Morrison widerwillig zu. »Wir hatten eben eine Pechsträhne. Aber es läuft sicher bald wieder.« »Hoffentlich«, sagte Mr. Shotwell. »Sie sind jetzt beinahe einen ganzen Monat dort, ohne eine einzige Stadt, einen Hafen oder auch nur eine Autostraße gebaut zu haben. Unsere ersten Werbekampagnen laufen an. Wir werden mit Anfragen überschüttet. Es gibt eine Menge Leute, die sich dort niederlassen wollen, Morrison!« »Das weiß ich, Sir.« »Gewiß. Aber sie verlangen einen fertigen Planeten. Wenn wir nicht dafür sorgen, wird es General Construction, Earth-Mars, oder Johnson
und Hearn machen. Planeten gibt es genug. Darüber sind Sie sich doch im klaren, wie?« »Was zum Teufel wollen Sie von mir?« schrie Morrison plötzlich aufgebracht. »Glauben Sie denn, ich bremse? Sie können Ihren verdammten Vertrag nehmen und –« »Na, na«, sagte Mr. Shotwell hastig. »Das war doch nicht persönlich gemeint, Morrison. Wir glauben – wir wissen – daß Sie der beste Mann sind. Aber die Aktionäre –« »Ich gebe mir Mühe«, sagte Morrison und schaltete ab. »Blödsinn«, murrte der Funker. »Vielleicht wollen die Aktionäre mit ihren kleinen Schaufeln mal hierherkommen?« »Schon gut«, sagte Morrison und eilte davon. Lerner erwartete ihn am Kontrollpunkt Able; er starrte bedrückt den Berg an. Er war höher als der Mount Everest auf der Erde, und der Schnee an den oberen Steilhängen schimmerte rötlich in der Nachmittagssonne. Einen Namen hatte der Berg nie bekommen. »Alle Ladungen an Ort und Stelle?« fragte Morrison. »Noch ein paar Stunden.« Lerner zögerte. Abgesehen von seiner Tätigkeit als Morrisons Assistent, war er Amateur-Konservator, ein kleiner, korrekter, grauhaariger Mann. »Der größte Berg auf diesem Planeten«, sagte Lerner. »Könnten wir ihn nicht retten?« »Ausgeschlossen. Das ist die wichtigste Stelle. Wir brauchen genau hier einen Überseehafen.« Lerner nickte und sah den Berg bedauernd an. »Sehr schade. Niemand hat ihn je erklettert.« Morrison fuhr herum und starrte seinen Gehilfen grimmig an. »Hören Sie, Lerner«, sagte er. »Ich weiß, daß diesen Berg noch niemand bestiegen hat. Ich sehe den Symbolismus, der mit der Zerstörung dieses Berges verbunden ist. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, daß er verschwinden muß. Warum also darauf herumreiten?« »Ich bin nicht –«
»Ich habe nicht die Aufgabe, Landschaften zu bewundern. Ich hasse Landschaften. Meine Aufgabe ist es, diesen Planeten den besonderen Anforderungen menschlicher Wesen anzupassen.« »Sie sind reichlich nervös«, meinte Lerner. »Lassen Sie mich nur mit Ihrem blöden Gerede zufrieden.« »In Ordnung.« Morrison wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab. Er lächelte schwach und sagte: »Gehen wir ins Lager zurück und sehen wir nach, was dieser verdammte Dengue vorhat.« Sie gingen zurück. Als sich Lerner umsah, leuchtete der Berg ohne Namen flammend rot. Auch der Planet selbst hatte keinen Namen. Die kleine eingeborene Bevölkerung nannte ihn Umgcha oder Ongja, aber das hatte nichts zu bedeuten. Der Planet würde keinen amtlichen Namen besitzen, bis die Werbeabteilung der Transterran Steel sich etwas RomantischAngenehmes für mehrere Millionen potentieller Siedler von den überbevölkerten inneren Planeten ausgedacht hatte. Inzwischen bezeichnete man ihn einfach als Auftrag 35. Mehrere tausend Mann und Maschinen befanden sich auf dem Planeten; auf Morrisons Befehl hin würden sie Berge sprengen, Ebenen schaffen, ganze Wälder versetzen, Flüsse umleiten, Eiskappen schmelzen, Kontinente formen, neue Meere ausheben, kurz, alles tun, um Auftrag 35 zu einem passenden Heim für die einmalige und anspruchsvolle technische Zivilisation des Homo sapiens zu machen. Dutzende von Planeten waren nach terranischem Maßstab umgemodelt worden. Auftrag 35 hätte keine ungewöhnlichen Probleme stellen dürfen. Es gab weite Wiesen, dichte Wälder, warme Meere und sanftgeschwungene Hügel. Aber irgend etwas stimmte nicht. Unfälle ereigneten sich mit einer Häufigkeit, die allen Wahrscheinlichkeitsberechnungen spottete, und ein nervöses Lager erzeugte in rapider Kettenreaktion immer neues Unheil. Jeder trug dazu bei. Es gab Raufereien zwischen Bulldozer- und Sprengstoffleuten. Ein Koch bekam vor einem riesigen Topf voll Kartoffelbrei einen
hysterischen Anfall, und der Spaniel des Buchhalters biß den Lohnrechner ins Bein. Kleine Dinge führten zu großen. Und dabei hatte die Arbeit – einfache Arbeit auf einem unkomplizierten Planeten – gerade erst begonnen. Im Zelt war Dengue inzwischen wach geworden. Kritisch blinzelte er sein Whiskyglas an. »Na?« sagte er. »Wie läuft die Arbeit?« »Gut«, erwiderte Morrison. »Freut mich«, erklärte Dengue mit Nachdruck. »Ich sehe euch gern zu beim Arbeiten. Tüchtigkeit. Können. Erfahrung.« Morrison hatte weder über den Mann noch über seine Zunge Gewalt. Die Vorschriften der Regierung sahen vor, daß bei allen Projekten Beobachter von anderen Firmen anwesend sein durften. Damit sollte sichergestellt werden, daß man voneinander lernte. Aber in der Praxis suchte der Beobachter nicht nach verbesserten Methoden, sondern nach verborgenen Schwächen, die seine eigene Firma ausnützen konnte. Und wenn es ihm gelang, den Konstruktionschef durch sein Gerede nervös zu machen, um so besser. Dengue war darin Fachmann. »Und was kommt als nächstes?« fragte Dengue. »Wir tragen einen Berg ab«, sagte Lerner. »Gut!« rief Dengue und setzte sich auf. »Den großen? Ausgezeichnet.« Er lehnte sich zurück und starrte träumerisch an die Decke. »Dieser Berg stand schon, als der Mensch im Dreck nach Insekten suchte und vom Säbelzahntiger hinterlassenes Aas verschlang. Mein Gott, er ist sogar noch wesentlich älter!« Dengue lachte zufrieden und schlürfte seinen Whisky. »Dieser Berg überragte das Meer, als der Mensch eine Qualle war, die sich zwischen Land und Wasser zu entscheiden suchte.« »Na«, sagte Morrison, »das genügt wohl.« Dengue sah ihn kalkulierend an. »Aber ich bin stolz auf Sie, Morrison, ich bin auf uns alle stolz. Wir haben seit dieser Zeit allerhand erreicht. Was die Natur in Jahrmillionen errichtete, tragen wir an einem einzigen Tag ab. Wir können diesen lächerlichen Berg auseinanderreißen und ihn durch eine Beton-Stahl-Stadt ersetzen, die garantiert ein Jahrhundert überdauert!«
»Halten Sie den Mund«, sagte Morrison und ging auf Dengue zu. Lerner legte ihm mahnend die Hand auf die Schulter. Wenn man seinen Posten los sein wollte, brauchte man nur einen Beobachter niederzuschlagen. Dengue leerte sein Glas und skandierte mit sonorer Stimme: »Tritt beiseite, Mutter Natur! Zittert, ihr tiefverwurzelten Felsen und Berge, flüstert angstvoll, ihr unsterblichen Meere, hinan bis in die schwärzesten Tiefen, wo furchtbare Ungeheuer in ewigem Schweigen dahingleiten. Denn der große Morrison kommt, das Meer abzulassen und einen friedlichen Teich daraus zu machen, die Hügel einzuebnen und Autostraßen mit zwölf Fahrbahnen auf ihnen zu bauen, komplett mit Rasthäusern statt Bäumen, Picknicktischen statt Büschen, Imbißstuben statt Felswänden, Tankstellen statt Höhlen, Reklametafeln statt Bergbächen und anderen raffinierten Ersatzprodukten des Halbgotts Mensch.« Morrison drehte sich auf dem Absatz um und marschierte hinaus, gefolgt von Lerner. Er hielt es beinahe für sinnvoll, Dengue niederzuschlagen und die ganze Arbeit hinzuschmeißen. Aber er wollte es nicht tun, weil Dengue nur darauf wartete, weil er nur deswegen hier war. Und wäre er wirklich so nervös, wenn in den Worten Dengues nicht ein Körnchen Wahrheit steckte, fragte sich Morrison. »Die Eingeborenen warten«, sagte Lerner, als er Morrison eingeholt hatte. »Ich will sie jetzt nicht sehen«, erwiderte Morrison. Aber in der Ferne hörte er ihre Trommeln und Pfeifen. Auch das zerrte an den Nerven seiner Leute. »Also gut«, sagte er. Drei Eingeborene standen am Nordtor neben dem Dolmetscher. Sie waren von menschlicher Gestalt, muskulöse, nackte Steinzeit-Wilde. »Was wollen sie?« fragte Morrison. Der Dolmetscher erwiderte: »Nun ja, Mr. Morrison, kurz gesagt, sie haben es sich anders überlegt. Sie wollen ihren Planeten zurückhaben, und sie sind bereit, alle unsere Geschenke zurückzugeben.«
Morrison seufzte. Er konnte ihnen nicht gut erklären, daß Auftrag 35 nicht ›ihr‹ Planet war, daß er niemandem gehörte. Land konnte man nicht besitzen – höchstens bewohnen. Hier entschied die Notwendigkeit. Dieser Planet gehörte mit weit mehr Berechtigung den Millionen Siedlern von der Erde als den paar hunderttausend Wilden, die hier ziellos herumliefen. Das war die auf der Erde herrschende Philosophie. »Erklären Sie ihnen noch einmal, was für eine herrliche Reservation wir ihnen bieten«, sagte Morrison. »Wir werden sie ernähren, kleiden, unterrichten –« Dengue kam leise heran. »Wir werden sie mit unserer Güte überraschen«, sagte er. »Jedem Mann eine Armbanduhr, ein Paar Schuhe und einen Versandhauskatalog. Jeder Frau einen Lippenstift, ein Stück Seife und einen echten Wollvorhang. Für jedes Dorf einen Bahnhof, einen Genossenschaftsladen und –« »Jetzt behindern Sie die Arbeit«, sagte Morrison. »Und das vor Zeugen.« Dengue kannte die Vorschriften, »Verzeihung«, sagte er und trat zur Seite. »Sie sagen, sie hätten es sich anders überlegt«, erklärte der Dolmetscher. »Um es in ihrem Stil auszudrücken: sie verlangen, daß wir in unser Dämonenland im Himmel zurückkehren, sonst werden sie uns durch Zauberei vernichten. Die heiligen Trommeln weben den Fluch, und die Geister versammeln sich.« Morrison sah die Wilden mitleidig an. Ähnliches passierte beinahe auf jedem Planeten mit eingeborener Bevölkerung. Bedeutungslose Drohungen unzivilisierter Wesen mit übergroßer Einbildung und mangelndem Verständnis für die Macht der Technologie. Er kannte die Primitiven zu gut. Große Angeber, große Helden, wenn es die örtliche Spezies Kaninchen oder Maus zu töten galt. Gelegentlich überfielen fünfzig von ihnen einen müden Büffel und trieben ihn zur Erschöpfung, bevor sie sich nahe genug heranwagten, um ihn mit ihren stumpfen Speeren zu Tode zu foltern. Aber dann wurde gefeiert! Was für Helden! »Sagen Sie ihnen, daß sie auf der Stelle verschwinden sollen«, sagte Morrison. »Wenn sie sich noch einmal beim Lager blicken lassen, können sie etwas erleben!«
Der Dolmetscher rief ihm nach. »Sie versprechen große Schwierigkeiten in fünf übernatürlichen Kategorien.« »Heben Sie sich das für Ihre Doktorarbeit auf«, sagte Morrison, und der Dolmetscher lachte fröhlich. Am späten Nachmittag sollte der Berg ohne Namen gesprengt werden. Lerner unternahm einen letzten Prüfgang. Dengue, der sich endlich auf seine Aufgabe zu besinnen schien, wanderte von Mann zu Mann und notierte den Sprengplan. Dann zog sich alles zurück. Die Sprengstoffexperten kauerten in ihren Schutzlöchern. Morrison ging zum Kontrollpunkt Able. Der Reihe nach meldeten alle Gruppenleiter das Eintreffen ihrer Leute. Die Meteorologen stellten zum letztenmal Messungen an und meldeten zufriedenstellende Ergebnisse. Der Fotograf nahm die letzten Bilder ›vorher‹ auf. »Achtung«, sagte Morrison über Funk und entfernte die Sicherungen vom Haupt-Sprengkasten. »Sehen Sie sich den Himmel an«, murmelte Lerner. Morrison hob den Kopf. Die Sonne ging unter, schwarze Wolken waren im Westen aufgetaucht, einen ockerfarbenen Himmel verhüllend. Im Lager wurde es still, und selbst die Trommeln auf den nahen Hügeln waren verstummt. »Zehn Sekunden… fünf, vier, drei, zwei, eins – jetzt!« sagte Morrison und drückte den Kolben nach unten. In diesem Augenblick spürte er den Wind auf seinem Gesicht. Kurz bevor der Berg aufbrach, tastete Morrison nach dem Hebel; instinktiv wollte er das Unvermeidliche verhindern. Denn schon ehe die Männer zu schreien begannen, wußte er, daß der Sprengplan falsch, entsetzlich falsch war.
Nachher, in der Stille seines Zelts, als die Verletzten ins Krankenhaus geschafft und die Toten begraben worden waren, versuchte Morrison, den Vorgang zu rekonstruieren. Ein unglücklicher Zufall natürlich: Plötzliche Veränderung der Windrichtung, unerwartete Sprödigkeit des Gesteins unter der obersten Schicht, Versagen der Dämpfer und die verbrecherische Dummheit, zwei Übertragungsladungen dort anzubringen, wo sie den größten Schaden anrichten mußten. Wieder ein Fall in einer langen Reihe statistischer Unwahrscheinlichkeiten, sagte er sich, dann setzte er sich plötzlich auf. Zum erstenmal kam ihm die Idee, daß diese Unfälle absichtlich herbeigeführt worden sein konnten. Absurd! Aber Planetarkonstruktion war schwierige Arbeit. Unfälle waren unvermeidlich. Wenn jemand nachhalf, konnten sie sich zu einer Katastrophe ausweiten. Er stand auf und begann im Zelt hin und her zu gehen. Dengue erregte den stärksten Verdacht. Der Konkurrenzkampf zwischen den Großunternehmen war heftig. Falls man der Transterran Steel Nachlässigkeit vorwerfen konnte, würde sie ihre Lizenz verlieren, zum Vorteil von Dengues Firma und seiner eigenen Person. Aber Dengue – das war zu auffällig. Jeder konnte verantwortlich sein. Selbst der kleine Lerner mochte seine Motive haben. Er durfte keinem trauen. Vielleicht sollte er sogar die Eingeborenen mit ihrer Zauberei berücksichtigen – bei der es sich um unbewußte Psi-Manipulationen handeln mochte. Er ging zum Eingang und schaute auf die Zeltstadt hinaus. Wen traf die Schuld? Von den Hügeln drang das Trommeln der früheren Besitzer dieses Planeten herüber. Und vor ihm stand der schroffe, ruinenhafte Gipfel des Berges ohne Namen immer noch. Morrison schlief schlecht in dieser Nacht. Am nächsten Tag lief die Arbeit wie gewöhnlich. Die großen Lastwagen voll Chemikalien für die Fixierung der nahen Sümpfe stellten sich in
langer Reihe auf. Dengue erschien in heller Hose und rosafarbenem Hemd. »Ich möchte gern mitfahren, wenn niemand was dagegen hat, Chef«, sagte er. »Nicht das geringste«, erwiderte Morrison. »Danke. Ich habe etwas übrig für solche Arbeiten«, sagte Dengue und schwang sich neben dem Kartenspezialisten in den ersten Spurbrecher. »Diese Art von Unternehmen macht mich stolz, ein Mensch zu sein. Wir gewinnen versumpftes Land zurück, Hunderte von Quadratkilometern, und eines Tages werden Weizenfelder sein, wo jetzt nur Binsen gedeihen.« »Haben Sie die Karte?« fragte Morrison Rivera, den Vorarbeiter. »Hier ist sie«, sagte Lerner und reichte sie Rivera. »Ja«, sagte Dengue laut, »Sümpfe in Weizenfelder. Ein Wunder der Wissenschaft. Und wie überrascht werden erst die Bewohner der Sümpfe sein! Man stelle sich die Verblüffung von mehreren hundert Fischarten, Amphibien, Wasservögeln und Kröten vor, wenn sie entdecken, daß ihr wäßriges Paradies sich plötzlich verfestigt hat! Buchstäblich verfestigt; ein hartes Schicksal. Aber natürlich ausgezeichneter Dünger für den Weizen.« »Also los«, rief Morrison. Dengue winkte fröhlich, als sich der Konvoi in Bewegung setzte. Rivera kletterte in einen Lastwagen. Flynn kam in seinem Jeep vorbei. »Moment mal«, rief Morrison. Er ging zum Jeep. »Ich möchte, daß Sie Dengue im Auge behalten.« Flynn sah ihn verständnislos an. »Wieso?« »Ich beschuldige keinen Menschen«, sagte Morrison. »Aber mir passiert hier zuviel. Wenn es jemand darauf abgesehen hätte, uns schlecht aussehen zu lassen –« Flynn grinste grimmig. »Ich paß schon auf, Chef. Machen Sie sich nur keine Sorgen. Vielleicht kann er sich zu den Fischen ins Weizenfeld legen.« »Keine Gewalt«, warnte Morrison.
»Natürlich nicht. Ich habe schon begriffen, Chef.« Flynn stieg in seinen Jeep und raste zur Spitze des Konvois. Die Fahrzeugprozession trieb eine halbe Stunde lang Staubwolken hoch, dann war das letzte Fahrzeug verschwunden. Morrison kehrte in sein Zelt zurück, um Berichte zu schreiben. Aber er ertappte sich dabei, daß er das Funkgerät anstarrte und auf Flynns Meldung wartete. Wenn nur Dengue etwas unternehmen würde! Nichts Schlimmes, nur so viel, daß man Beweise hätte. Dann wäre Morrison berechtigt, ihn auseinanderzunehmen. Es dauerte zwei Stunden, bis das Signal kam. Morrison schlug sich in seiner Hast das Knie an. »Hier Rivera. Wir haben Pech gehabt.« »Was ist passiert?« »Der Spurbrecher muß vom Kurs abgekommen sein. Fragen Sie mich nicht, wie. Ich dachte, der Kartograph wüßte, wohin er fährt. Man zahlt ihm ja genug.« »Reden Sie schon!« »Wir müssen auf einer dünnen Kruste gewesen sein. Als der ganze Konvoi sich auf ihr befand, brach sie. Darunter war Schlamm, gesättigt mit Wasser. Bis auf sechs Lastwagen haben wir alle Fahrzeuge verloren.« »Flynn?« »Wir haben eine Menge Leute mit Pontons herausgebracht, aber Flynn war nicht dabei.« »Verstehe«, sagte Morrison schwerfällig. »Verstehe. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich schicke die Amphibienwagen hinaus. Hören Sie, halten Sie Dengue fest.« »Das wird schwierig sein«, sagte Rivera. »Warum?« »Er war in diesem Spurbrecher, wissen Sie. Er hatte keine Chance.« Die Männer im Lager waren nach den neuen Verlusten sehr bedrückt. Sie suchten ein Opfer. Sie verprügelten einen Bäcker, weil sein Brot merkwürdig schmeckte, und sie lynchten beinahe einen Wasserprüfer,
weil man ihn in der Nähe der großen Pumpen fand, wo er nichts zu suchen hatte. Aber damit waren sie nicht zufrieden. Ihre Blicke richteten sich auf das Eingeborenendorf. Die Steinzeit-Wilden hatten in der Nähe des Lagers eine neue Siedlung errichtet, ein Klippendorf von Sehern und Kriegern, deren Aufgabe es war, die Dämonen des Himmelslandes zu verfluchen. Ihre Trommeln dröhnten Tag und Nacht, und die Männer begannen unruhig zu werden. Morrison trieb sie an. Man baute Straßen, die eine Woche später zerbröckelten. Die Nahrungsmittel verdarben zu schnell, und niemand aß die Naturprodukte dieses Planeten. Während eines Sturmes schlug der Blitz in die Generatoranlage, ohne sich um die Blitzableiter zu kümmern, die Lerner persönlich angebracht hatte. Der Brand fegte über das halbe Lager hinweg, und als die Feuerwehr nach Wasser suchte, stellte man fest, daß die nahen Flüsse auf geheimnisvolle Weise umgeleitet worden waren. Man versuchte ein zweites Mal, den Berg ohne Namen zu sprengen, brachte aber nur ein paar Lawinen ins Rollen. Fünf Männer hatten auf einem Hang eine unerlaubte Bierparty abgehalten, und sie gerieten unter das stürzende Gestein. Danach weigerten sich die Sprengstoffleute, Ladungen am Berg anzubringen. Und wieder rief von der Erde aus die Zentrale an. »Aber woran liegt denn das alles, Morrison?« fragte Mr. Shotwell. »Ich sagte Ihnen doch, daß ich es nicht weiß«, erwiderte Morrison. Nach einer Weile fragte Shotwell leise: »Kommt Sabotage in Betracht?« »Vermutlich«, sagte Morrison. »Das alles ist ja nicht mehr anders zu erklären. Man kann sehr viel Schaden anrichten, wenn man es darauf abgesehen hat – ein Konvoi läßt sich umleiten, Ladungen verstellen, die Blitzableiter unbrauchbar machen –« »Haben Sie einen bestimmten Verdacht?« »Ich habe hier fünftausend Leute«, sagte Morrison langsam. »Das weiß ich. Hören Sie genau zu. Das Direktorium hat sich bereit erklärt, Ihnen außerordentliche Vollmachten zu übertragen. Sie können zur Erledigung des Auftrags tun, was Sie für nötig halten. Sperren Sie die
Hälfte der Leute ein, wenn sich das empfiehlt. Sprengen Sie die Eingeborenen in die Luft, wenn Sie glauben, daß das nützt. Sie haben nichts zu befürchten. Wir sind sogar bereit, eine hohe Prämie zu zahlen. Aber die Arbeit muß getan werden.« »Ich weiß«, sagte Morrison. »Ja, aber Sie wissen nicht, wie wichtig Auftrag 35 ist. Im Vertrauen, wir haben andernorts eine Menge von Rückschlägen hinnehmen müssen, es gab Schadenersatzklagen und Katastrophen durch höhere Gewalt, die unsere Versicherungen nicht decken. Wir haben zuviel in diesen Planeten investiert, um ihn aufgeben zu können. Sie müssen es einfach schaffen.« »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Morrison. Am Nachmittag gab es eine Explosion im Treibstofflager. Vierzigtausend Liter D-12 wurden vernichtet. Ein Mann kam ums Leben. »Sie haben sehr viel Glück gehabt«, sagte Morrison und starrte Lerner an. »Das kann man wohl sagen«, erwiderte Lerner. Sein Gesicht war grau. Er goß sich hastig einen Whisky ein. »Wenn ich zehn Minuten später dort vorbeigekommen wäre, hätte es mich erwischt. Das ist mir ein bißchen zu knapp.« »Reichlich viel Glück«, sagte Morrison nachdenklich. »Hören Sie«, sagte Lerner, »ich glaube, der Boden war warm, als ich an dem Lager vorbeiging. Erst jetzt fällt es mir ein. Könnte unter der Oberfläche irgendeine Vulkantätigkeit stattfinden?« »Nein«, sagte Morrison. »Unsere Geologen haben jeden Quadratzentimeter hier untersucht. Wir stehen auf massivem Granit.« »Hm«, sagte Lerner. »Morrie, ich glaube, Sie sollten die Eingeborenen beseitigen.« – »Warum?« »Sie stellen den einzigen unkontrollierbaren Faktor dar. Jeder im Lager beobachtet den anderen. Die Schuld muß bei den Eingeborenen liegen. Es gibt Psi-Fähigkeiten, wie Sie wissen, und bei Primitiven treten sie besonders häufig auf.«
Morrison nickte. »Dann würden Sie sagen, daß die Explosion von den Wilden verursacht worden ist?« Lerner runzelte die Stirn und sah Morrison an. »Warum nicht? Man sollte immerhin einmal nachforschen.« »Und wenn sie das schaffen«, fuhr Morrison fort, »bringen sie auch alles andere zuwege, nicht wahr? Sie leiten einen Konvoi irre –« »Wenn man die Hypothese anerkennt, dürfte das wohl stimmen.« »Warum zögern sie dann?« fragte Morrison. »Sie könnten uns ja mühelos vom Planeten blasen!« »Vielleicht sind ihre Fähigkeiten begrenzt«, meinte Lerner. »Quatsch. Eine viel zu komplizierte Theorie. Es ist viel einfacher anzunehmen, daß jemand von uns verantwortlich ist. Vielleicht hat ihm eine Konkurrenzfirma eine Million Dollar versprochen. Vielleicht ist er übergeschnappt. Aber es müßte jemand sein, der herumkommt. Jemand, der Sprengpläne überprüft, Kurskarten kontrolliert, Arbeitsgruppen anweist –« »Einen Augenblick mal! Wenn Sie damit sagen wollen –« »Ich will gar nichts sagen«, erklärte Morrison. »Und wenn ich Ihnen unrecht tue, soll es mir leid tun.« Er trat vors Zelt und rief zwei Arbeiter herbei. »Sperrt ihn irgendwo ein und sorgt dafür, daß er nicht herauskann.« »Sie überschreiten Ihre Befugnisse«, sagte Lerner. »Gewiß.« »Sie täuschen sich. Sie täuschen sich in mir, Morrie.« »Dann tut es mir leid.« Er winkte den Leuten. Sie führten Lerner ab. Zwei Tage später begannen die Lawinen. Die Geologen stellten eine Theorie auf, wonach die wiederholten Sprengversuche tiefe Risse verursacht hätten, die sich mit der Zeit immer mehr erweiterten… Morrison bemühte sich, die Arbeit voranzubringen, aber die Männer ließen sich nur ungern dirigieren. Manche sprachen von fliegenden Objekten, von flammenden Händen am Himmel. Sie fanden viele Zuhörer.
Nach Einbruch der Dunkelheit war es riskant, im Lager herumzulaufen. Selbsternannte Wachen schossen auf alles, was sich bewegte. Morrison war nicht besonders überrascht, als er eines Abends das Lager verlassen fand. Er hatte damit gerechnet, daß die Männer etwas unternehmen würden. Er setzte sich in sein Zelt und wartete. Nach einer Weile kam Rivera herein und nahm Platz. »Es wird Ärger geben«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. »Für wen?« »Für die Eingeborenen. Die Leute marschieren zum Dorf.« Morrison nickte. »Wie fing es an?« Rivera lehnte sich zurück und blies Rauch in die Luft. »Sie kennen doch diesen verrückten Charly? Den Kerl, der immer predigt? Nun, er behauptete, er habe einen Eingeborenen neben seinem Zelt stehen sehen. Der Wilde habe gesagt: ›Ihr müßt sterben – ihr müßt alle sterben.‹ Und dann verschwand er.« »In einer Rauchwolke?« fragte Morrison. »Ja«, erwiderte Rivera lachend. »Von einer Rauchwolke war auch die Rede.« »Ziehen die Leute jetzt aus, um Hexen zu vernichten oder Übermenschen mit Psi-Fähigkeiten?« fragte Morrison. Rivera überlegte eine Weile, dann sagte er: »Tja, Mr. Morrison, das spielt eigentlich keine Rolle.« Aus der Feme hörten sie einen lauten Knall. »Haben sie Sprengstoff mitgenommen?« fragte Morrison. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich.« Es ist lächerlich, dachte er. Der Mob herrscht. Dengue würde grinsen und sagen: ›Im Zweifel immer die Schatten töten. Man. weiß nie, was sie vorhaben.‹ Aber Morrison war froh, daß seine Leute Widerstand leisteten. Man konnte nie wissen… Eine halbe Stunde später kamen die ersten zurück, stumm und bedrückt. »Nun«, fragte Morrison, »habt ihr sie erledigt?«
»Nein, Sir«, sagte einer. »Wir sind nicht einmal an sie herangekommen.« »Was war los?« fragte Morrison. Immer mehr Männer kamen zurück. Sie standen herum, ohne einander anzusehen. »Also, was ist geschehen?« schrie Morrison. »Wir sind nicht einmal an sie herangekommen«, wiederholte der Mann. »Auf halbem Weg gab es einen Erdrutsch.« »Habt ihr Verletzte?« »Nein, Sir. Wir waren nicht betroffen. Der Erdrutsch begrub das Dorf unter sich.« »Das ist schlecht«, sagte Morrison leise. »Ja, Sir.« Die Männer sahen ihn an. »Was tun wir jetzt, Sir?« Morrison schloß einen Moment fest die Augen, dann sagte er: »Geht in eure Zelte und wartet.« Sie verschwanden in der Dunkelheit. Rivera sah ihn fragend an. Morrison sagte: »Bringen Sie Lerner hierher.« Als Rivera gegangen war, setzte er sich ans Funkgerät und rief die Außenposten zurück. Der eine halbe Stunde später über das Lager hereinbrechende Orkan traf ihn nicht ganz unvorbereitet. Es gelang ihm, die meisten Männer in die Raumschiffe zu bringen, bevor ihre Zelte fortgeblasen wurden. Lerner betrat Morrisons Befehlsstand im Funkraum des Flaggschiffs. »Was gibt’s?« fragte er. »Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte Morrison. »Eine Reihe toter Vulkane – fünfzehn Kilometer von hier – sind in Tätigkeit getreten. Die Wetterstation meldet eine Flutwelle, die den halben Kontinent überschwemmen wird. Hier dürfte es eigentlich keine Erdbeben geben, aber Sie haben das Zittern ja wohl selbst gespürt. Und das ist erst der Anfang.« »Aber woher kommt das?« fragte Lerner. »Haben Sie immer noch keinen Kontakt mit der Erde?« fragte Morrison den Funker.
»Ich bemühe mich ja dauernd.« Rivera hastete herein. »Nur noch zwei Abteilungen«, sagte er. »Sagen Sie mir Bescheid, sobald alle Leute an Bord eines Schiffes sind.« »Was geht denn hier vor?« schrie Lerner. »Ist das etwa auch meine Schuld?« »Ich habe Ihnen unrecht getan«, sagte Morrison. »Ich höre etwas«, unterbrach der Funker. »Augenblick…« »Morrison«, schrie Lerner. »So reden Sie doch!« »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll«, sagte Morrison. »Für mich ist es zu hoch. Aber Dengue könnte Ihnen Bescheid sagen.« Morrison schloß die Augen, er sah Dengue vor sich stehen. Dengue lächelte verächtlich und erklärte: »Lest hier die Legende der Qualle, die sich für einen Gott hielt. Nachdem sie sich vom Strand erhoben hatte, entschied die Superqualle, die sich Mensch nannte, daß sie ihres gewundenen Gehirns wegen allen Wesen überlegen sei. Und dann tötete die Qualle die Fische im Meer und die Tiere auf den Feldern, die Absichten der Natur mißachtend. Sie bohrte Löcher in die Berge, preßte schwere Städte auf die stöhnende Erde, versteckte das grüne Gras unter einer Betonschürze. Nachdem sie sich unvernünftig vermehrt hatte, zog sie zu anderen Welten; dort zerstörte sie Berge, schuf Ebenen, versetzte ganze Wälder, leitete Flüsse um, schmolz Eiskappen, formte Kontinente, grub neue Meere und verstümmelte auf diese Weise die großen Planeten, neben den Sternen die edelste Schöpfung der Natur. Die Natur ist alt und langsam, aber unbestechlich. Unweigerlich kam daher eine Zeit, als die Natur genug von der eingebildeten Qualle und ihrem Anspruch auf Gottähnlichkeit hatte. Ein großer Planet, dessen Haut sie durchbohrt hatte, spuckte sie aus. Das war der Tag, an dem die Qualle zu ihrem Erstaunen entdeckte, daß sie die ganze Zeit unter Duldung unbegreifbarer Mächte gelebt hatte, auf derselben Stufe wie die Wesen im Sumpf, nicht schlechter als die Blumen, nicht besser als das Unkraut, und daß es dem Universum gleichgültig war, ob sie lebte oder starb, und daß ihre Leistungen nicht mehr waren als die Spur eines Insekts im Sand.« »Morrison!« schrie Lerner.
»Ich glaube, der Planet konnte uns nicht mehr ertragen«, sagte Morrison. »Ich glaube, er hatte genug.« »Da ist die Erde«, rief der Funker. »Sprechen Sie, Morrie.« »Shotwell? Hören Sie, wir können nicht bleiben«, sagte Morrison ins Mikrophon. »Ich ziehe meine Männer hier ab, solange noch Zeit ist. Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären – vielleicht werde ich es nie können –« »Der Planet läßt sich überhaupt nicht verwenden?« fragte Shotwell. »Nein. Ausgeschlossen. Sir, hoffentlich schadet das dem Ansehen der Firma –« »Ach, zum Teufel mit dem Ansehen der Firma«, sagte Mr. Shotwell. »Es ist nur – Sie wissen ja nicht, was hier vorgegangen ist, Morrison. Sie kennen unser Projekt in der Wüste Gobi: Ruiniert, völlig ruiniert. Aber nicht nur wir sind betroffen. Ich finde mich nicht mehr zurecht. Entschuldigen Sie, ich rede wirres Zeug, aber seit Australien versank –« »Was?« »Ja, versank, versank. Vielleicht hätten wir bei den Orkanen aufmerksam werden sollen. Aber als dann die Erdbeben – wir kennen uns nicht mehr aus.« »Aber der Mars? Die Venus? Alpha Centauri?« »Überall dasselbe. Wir können doch noch nicht am Ende sein, Morrison? Ich meine, die Menschheit –« »Hallo, hallo!« rief Morrison. »Was ist los?« fragte er den Funker. »Die Verbindung war plötzlich weg«, erwiderte dieser. »Ich versuche es noch einmal.« »Geben Sie sich keine Mühe«, sagte Morrison. Rivera raste herein. »Auch der letzte Mann ist an Bord«, sagte er. »Wir können abfliegen, Mr. Morrison.« Sie starrten ihn alle an. Morrison sank in seinem Sessel zusammen und grinste hilflos. »Wir können abfliegen«, sagte er. »Aber wohin?«
Die Menschenfalle
1 Es war der Tag des Landrennens – ein Tag voll quälender Hoffnung und jammervoller Tragödie, ein Tag, der typisch war für das unglückliche einundzwanzigste Jahrhundert. Steve Baxter hatte versucht, den Startpunkt ebenso rechtzeitig zu erreichen wie die anderen Teilnehmer, aber er hatte die dafür erforderliche Zeit unterschätzt. Nun hatte er den Ärger. Sein Teilnehmerausweis, die Plakette auf dem Jackettkragen, hatte ihm ohne Zwischenfall den Weg durch den äußeren Zuschauerkreis, die sogenannte ›Exomasse‹, gebahnt. Aber weder eine Plakette noch seine Ellbogen waren ein sicheres Mittel, auch durch den dichten inneren Kern von Menschenleibern, die ›Endomasse‹, hindurchzugelangen. Baxter schätzte die Dichte dieser inneren Menschenmasse auf 8,7 – also war fast der Punkt der Pandemie erreicht. Jeden Augenblick konnte es zu einem Ausbruch kommen, obgleich die Behörden die Endomasse gerade mit einem Beruhigungsmittel übersprüht hatten. Wenn man genügend Zeit zur Verfügung hatte, konnte man die Endomasse umgehen; aber Baxter blieben bis zum Start des Rennens nur noch sechs Minuten. Trotz des Risikos, das er damit einging, drängte er sich mitten durch die Menge hindurch. Sein Gesicht zeigte ein starres Lächeln, das beim Umgang mit einer hochverdichteten Menschenmenge unumgänglich war. Er konnte den Startpunkt schon vor sich sehen – ein erhöhtes Podium im Glebe Park von Jersey City. Die anderen Läufer waren bereits versammelt. Noch zwanzig Meter, dachte Steve. Hoffentlich bricht das wilde Tier in diesen Menschen nicht los!
Er drang tief in die Endomasse ein, aber dann mußte er sich immer noch einen Weg durch den innersten Kern bahnen. Dieser Kern setzte sich aus muskulösen Männern mit herabhängender Kinnlade und unstetem Blick zusammen – eine Zusammenballung von Hysterophilen, wie es in der Fachsprache der Pandemiologen hieß. Diese Männer standen dichtgedrängt wie Sardinen in einer Büchse; sie reagierten wie ein geschlossener Organismus und waren zu keiner anderen Reaktion fähig als zu blindem Widerstand und sinnloser Wut gegen alles und jeden, der ihre Reihen zu durchbrechen suchte. Steve zögerte einen Augenblick. Der Mob dieser Kerntruppe war gefährlicher als die berüchtigten Wasserbüffel der Antike; Gesichter mit geblähten Nüstern starrten ihm böse entgegen, Füße bewegten sich unheildrohend im Staub. Ohne zu überlegen stürzte sich Baxter mitten hinein. Er spürte die Schläge, die auf seinen Rücken und seine Schultern niederprasselten, und er hörte das aufgebrachte Knurren der Endomasse. Gesichtslose Leiber zwängten ihn ein, bis er fast keine Luft mehr bekam. Erbarmungslos drängten sie näher und näher heran. Dann kam ihm die Vorsehung zu Hilfe. Die Behörden schalteten den Muzak ein. Diese uralte, geheimnisvolle Musik, die seit einem Jahrhundert auch die wildesten Berserker beruhigte, verfehlte auch diesmal ihre Wirkung nicht. Die Endomasse wurde vorübergehend gezähmt und bewegungsunfähig gemacht. Es gelang Baxter, sich zur Startlinie hindurchzukämpfen. »Gentlemen!« las der Schiedsrichter vor. »Sie sind hier versammelt, um an einem Rennen teilzunehmen, bei dem es um Land aus dem Besitz der öffentlichen Hand geht. Sie, die fünfzig Glücklichen, wurden durch eine staatliche Lotterie aus der Gesamtheit von fünfzig Millionen Bewerbern im Bezirk Süd-Westchester ermittelt. Das Rennen beginnt an dieser Startlinie und endet an der Ziellinie vor dem Grundbuchamt am Times Square in New York. Die Strecke beträgt im Mittel etwa 5,7 Landmeilen. Die Teilnehmer sind berechtigt, jede beliebige Route zu wählen – auf dem Boden, darunter oder darüber. Es wird nur eine einzige Bedingung gestellt: daß Sie das Rennen persönlich beenden. Ersatzmänner sind unzulässig. Die zehn Ersten des Rennens…«
Totenstille senkte sich auf die Menge herab. »… erhalten je einen Morgen unbelasteten Grundbesitz mitsamt einem Haus und landwirtschaftlichem Gerät. Jedem Sieger wird darüber hinaus vom Staat die kostenlose Übersiedlung zu seinem neuen Eigentum gewährt, und zwar für ihn und für seine nächsten Angehörigen. Und dieser obengenannte Morgen Land soll sein freier und unveräußerbarer Besitz und sein Eigentum sein für alle Zeiten, solange die Sonne scheint und die Wasser fließen, für ihn und seine Erben bis ins dritte Glied.« Bei diesen Worten ging ein Aufseufzen durch die Menge. Nicht einer von ihnen hatte jemals einen ganzen schuldenfreien Morgen Land gesehen, geschweige denn davon geträumt, jemals einen zu besitzen. Ein ganzer Morgen Land, nur für sich allein und die eigene Familie, ein Grundbesitz, den man mit keinem teilen mußte – das überstieg ganz einfach die kühnsten Wunschträume. Der Schiedsrichter fuhr fort: »Es wird ferner darauf hingewiesen, daß die Regierung keinerlei Haftung für eventuelle Todesfälle übernimmt, die sich im Verlauf dieses Rennens ereignen sollten. Ich weise pflichtgemäß darauf hin, daß die durchschnittliche Todesquote bei Landrennen etwa bei 68,9 Prozent liegt. Wer seine Bewerbung jetzt noch rückgängig machen möchte, darf das ungehindert tun.« Der Schiedsrichter wartete. Für einen Augenblick überlegte Steve Baxter, ob er nicht den ganzen selbstmörderischen Plan fallenlassen sollte. Sicher würden er und Adele und die Kinder und Tante Flo und Onkel George auch weiterhin irgendwie in ihrer gemütlichen Einzimmerwohnung im Larchmont-Fred-Allen-GedächtnisMittelstands-Siedlungs-Projekt zurechtkommen. Schließlich war er kein ausgesprochener Mann der Tat, kein muskelstrotzender Draufgänger, kein Streithahn mit Haaren auf den Fäusten. Er war Fachberater für System-Deformierungen, und zwar ein guter. Außerdem war er ein verträglicher, leptosomer Typ mit ungeübten Muskeln und einer ausgesprochenen Neigung zur Kurzatmigkeit. Warum in aller Welt sollte er sich mitten in die Gefahren New Yorks stürzen, mitten hinein in die dunkle Wildnis der berüchtigtsten aller Dschungelstädte?
»Geben Sie’s lieber auf, Steve«, sagte neben ihm eine Stimme, gleichsam ein gespenstisches Echo seiner geheimsten Gedanken. Baxter sah sich um und erkannte Edward Freihoff St. John, seinen wohlhabenden und unangenehmen Nachbarn in Larchmont. St. John war groß und elegant, ein durchtrainierter ehemaliger Wasserballspieler. Er hatte ein undurchdringliches Gesicht, sah auf seine düstere Art recht gut aus und richtete seine Augen mit den schweren Lidern nur allzu häufig auf die liebliche, blonde Adele. »Sie werden’s nie schaffen, mein Lieber«, sagte St. John. »Schon möglich«, antwortete Baxter ruhig. »Aber Sie werden es sicher schaffen, nehme ich an?« St. John blinzelte ihm zu und legte vielsagend den Zeigefinger an die Nase. Seit Wochen machte er schon prahlerische Andeutungen über die speziellen Informationen, die er einem bestechlichen Kontrolleur des Landrennens abgekauft hatte. Diese Informationen bedeuteten angeblich eine unschätzbare Verbesserung seiner Chancen bei der Durchquerung des Stadtteils Manhattan, des dichtesten und gefährlichsten Ballungsraums der ganzen Welt. »Lassen Sie die Finger davon, mein lieber Steve«, sagte St. John mit seiner seltsam knarrenden Stimme. »Verzichten Sie, und ich sorge dafür, daß Sie’s nicht bereuen. Na, mein Lieber – was halten Sie davon?« Baxter schüttelte den Kopf. Er war nicht einmal in seinen eigenen Augen ein besonders mutiger Mann, aber er wollte lieber sterben als von St. John einen Gefallen annehmen. Außerdem konnte es so einfach nicht weitergehen. Nach der Ergänzungsverfügung zum erweiterten FamilienWohnungsgesetz, die vorigen Monat erlassen worden war, sah sich Steve jetzt gesetzlich verpflichtet, auch noch drei unverheiratete Vettern und eine verwitwete Tante bei sich aufzunehmen, deren EinzimmerKellerwohnung im Industrieviertel Lake Placid dem neuen AlbanyMontreal-Tunnel zum Opfer gefallen war. Trotz Antischock-Injektionen waren zehn Personen in einem Raum zu viel! Er mußte ganz einfach ein Stück Land gewinnen! »Ich mache mit«, sagte Baxter gelassen.
»Na schön, Sie Trottel«, sagte St. John. Ein Stirnrunzeln entstellte sein hartes, sarkastisches Gesicht. »Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« Der Oberschiedsrichter rief: »Gentlemen – auf die Plätze!« Die Teilnehmer verstummten. Sie nahmen mit engen Augen und zusammengepreßten Lippen an der Startlinie Aufstellung. »Fertig!« Die Muskeln von hundert Beinen spannten sich, fünfzig zum Letzten entschlossene Männer lehnten sich sprungbereit vor. »Los!« Das Rennen hatte begonnen! Überschallfanfaren lähmten vorübergehend den Mob ringsum. Die Teilnehmer des Landrennens durchquerten die erstarrten Zuschauerreihen und rannten um die in langen Reihen geparkten Autos herum. Dann verteilten sie sich fächerförmig, hielten aber die allgemeine Richtung nach Osten ein. Dort lagen der River und die verrufene Stadt auf dem jenseitigen Ufer, halb verborgen unter ihrem ewigen Schleier von Dunst, Ruß und unverbranntem Kohlenwasserstoff. Nur Steve Baxter hatte nicht die Richtung nach Osten eingeschlagen. Als einziger der Teilnehmer wandte er sich nach Norden, auf die George Washington Bridge und die Bear Mountain City zu. Seine Lippen waren schmal, und er bewegte sich wie in einem bösen Traum. Im fernen Larchmont beobachtete Adele Baxter das Rennen auf dem Fernsehschirm. Unwillkürlich hielt sie die Luft an. Ihr achtjähriger Sohn Tommy rief: »Mami, er läuft nach Norden auf die Brücke zu! Aber die ist doch diesen Monat gesperrt! Dort kommt er nie durch!« »Keine Sorge, mein Liebling«, sagte Adele. »Dein Vater weiß schon, was er tut.« Aber sie fühlte sich längst nicht so sicher, wie sie tat. Als die Gestalt ihres Mannes in der Menge verschwunden war, lehnte sie sich zurück. Nun konnte sie nur noch warten – und beten. Wußte Steve wirklich, was er tat? Oder hatte ihn die nervliche Anspannung durchdrehen lassen?
2 Die verhängnisvolle Saat war bereits im zwanzigsten Jahrhundert ausgestreut worden, doch erst hundert Jahre später hatte die Menschheit die schrecklichen Früchte zu ernten. Nach ungezählten Jahrtausenden langsamen Bevölkerungszuwachses war es plötzlich zu einer Explosion gekommen. Die Weltbevölkerung verdoppelte sich wieder und wieder. Da man die Krankheiten unter Kontrolle gebracht und die Ernährung sichergestellt hatte, sank die Sterblichkeit im gleichen Maße, wie die Geburtenziffern zunahmen. Die Menschheit schwoll rapide an wie ein unkontrollierbar wucherndes Krebsgeschwür. Auch die vier apokalyptischen Reiter, jene Polizei der Antike, vermochten die Ordnung nicht länger aufrechtzuerhalten. Pestilenz und Hunger waren abgeschafft, und Krieg war ein Luxus, den sich diese Ära des Wohlstands nicht mehr leisten konnte. Nur der Tod blieb noch – aber auch er verlor seinen Schrecken und war nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Wissenschaft bemühte sich in großartiger Verantwortungslosigkeit um ein immer längeres Leben für immer mehr Menschen. Und der Mensch befand sich auf dem Vormarsch. Er vermehrte sich, er überfüllte die Erde, er verpestete die Luft und verseuchte das Wasser, er aß Algenaufstrich zwischen Scheiben von Fischmehlbrot und wartete in dumpfer Ergebenheit auf eine Katastrophe, die seine Reihen lichten sollte. Doch er wartete vergebens. Die quantitative Zunahme brachte im menschlichen Leben auch qualitative Veränderungen mit sich. In einem harmloseren Zeitalter waren die großen Weiten Schauplatz von Abenteuer und Gefahren gewesen: die Hochgebirge, die leblosen Wüsten, die dampfenden Dschungel. Doch im einundzwanzigsten Jahrhundert hatte die beschleunigte Suche nach Lebensraum die meisten dieser Gegenden bereits geschluckt. Abenteuer und Gefahren waren nunmehr in den monströsen, nicht mehr zu regierenden Städten zu finden. In den Städten fand man das moderne Gegenstück zu wilden Völkerstämmen, grausigen Ungeheuern und gefürchteten Krankheiten. Eine Expedition nach New York oder Chicago erforderte mehr Können
und Mut als jene heiteren viktorianischen Ausflüge auf den Mount Everest oder zu den Quellen des Nils. In dieser bis zum Platzen überbevölkerten Welt war Land die kostbarste Ware. In dem Tempo, wie es verfügbar gemacht wurde, teilte es die Regierung durch regionale Lotterien zu, die dann in den Landrennen gipfelten. Vorbild dieser Wettbewerbe waren jene Wettläufe um Landbesitz, die nach 1800 bei der Aufschließung des Territoriums Oklahoma und des Cherokee-Streifens veranstaltet wurden. Diese Landrennen wurden als gerecht und interessant empfunden – sportlich und anspornend. Millionen sahen zu, und die beruhigende Wirkung der mächtigen Erregung auf die Massen wurde wohlgefällig vermerkt. Allein das wäre eine ausreichende Rechtfertigung für das Rennen gewesen. Hinzu kam noch die hohe Todesquote unter den Teilnehmern, die ebenfalls als Pluspunkt zu werten war. In absoluten Zahlen ausgedrückt, spielten die paar Toten zwar keine Rolle, aber die erstickende Welt war dankbar für die kleinste Erleichterung. Das Rennen dauerte schon drei Stunden. Steve Baxter schaltete sein kleines Transistorradio ein und hörte sich die allerletzten Berichte an. Er erfuhr, daß die erste Gruppe von Teilnehmern den Holland-Tunnel erreicht hatte und von bewaffneten Polizeieinheiten abgewiesen worden war. Andere, die schlauer waren, hatten die lange südliche Route zu den Auffahrten der Verrazano Bridge gewählt. Nur Freihoff St. John war es nach Vorzeigen seines Ausweises als Stellvertretender Bürgermeister gelungen, die Barrikaden am Lincoln-Tunnel zu passieren. Nun war es Zeit für Steve Baxters riskantes Spiel. Mit grimmiger Miene und ruhiger Entschlossenheit betrat er den berüchtigten Freihafen von Hoboken.
3 Die Dämmerung sank über die Piers von Hoboken. In weitem Halbkreis lagen vor ihm die schlanken, schnellen Schiffe der Schmugglerflotte von Hoboken, ein jedes geschmückt mit dem blanken Abzeichen der Küstenwacht. Einige hatten ihre Ladungen bereits auf Deck verstaut –
Kisten voll Zigaretten aus North Carolina, Schnaps aus Kentucky, Orangen aus Florida, Hanfballen aus Kalifornien, Waffen aus Texas. Jede Kiste trug den amtlichen Stempel ›Konterbande – Steuer bezahlt‹. In dieser harten Zeit war die Regierung gezwungen, selbst gesetzwidrige Unternehmen zu besteuern und ihnen dadurch einen halblegalen Anstrich zu verleihen. Baxter wartete genau den richtigen Augenblick ab, dann sprang er an Bord eines Marihuanaschmugglers und duckte sich zwischen die aromatisch duftenden Ballen. Das Schiff mußte jeden Augenblick die Leinen loswerfen; wenn es ihm gelang, sich für die Dauer der kurzen Überfahrt zu verbergen… »He! Was zum Teufel haben wir denn da?« Ein betrunkener Maschinenmaat kam unerwartet von der Back herauf und erwischte Baxter. Auf seinen Warnruf hin schwärmte die ganze Crew übers Deck: ein rauher, wüster Haufen, wegen seiner gelegentlich ausbrechenden Mordlust berühmt. Es war dieselbe Sorte gottloser Haudegen, wie sie vor einigen Jahren Weehawken geplündert, Fort Lee angezündet und die ganze Küste bis an die Tore von Englewood heran gebrandschatzt hatte. Steve Baxter wußte, daß er von diesen Männern keinen Pardon zu erwarten hatte. Dennoch sagte er mit fester Haltung: »Gentlemen, ich muß dringend über den Hudson hinüber, wenn Sie gestatten.« Der Skipper, ein gewaltiger Mestize mit narbigem Gesicht und schwellenden Muskeln, beugte sich zurück und stieß ein bellendes Lachen aus. »Ne Überfahrt suchste – mit uns?« rief er in breitestem HobokenSlang. »Sin wir de Fähre vonner Christopher Street oder was?« »Ganz und gar nicht, Sir, ich hatte nur gehofft…« »Auf’n Friedhof mit deine Hoffnungen!« Die ganze Mannschaft lachte über die witzige Bemerkung. »Ich bin gern bereit, die Überfahrt zu bezahlen«, erklärte Steve mit Würde.
»Zahlen auch noch?« donnerte der Kapitän. »Aye, kommt vor, daß wir mal einen mitnehmen – genau bis mittenrein und von da senkrecht abwärts!« Die anderen brüllten noch lauter. »Schön, dann soll es eben so sein«, sagte Steve Baxter. »Ich habe nur eine Bitte: daß ich meiner Frau und meinen Kindern noch eine Postkarte schreiben darf.« »Dein Weib un die Bälger?« fragte der Skipper. »Was sagste das nich gleich? Hab ich selber mal gehabt, so was. Bisse alle eingegangen sin.« »Das tut mir aber leid«, sagte Steve in aufrichtigem Mitgefühl. »Aye.« Ein milderer Ausdruck legte sich über die eisenharte Visage des Mannes. »Denk noch oft dran, wie die kleinen Sapperlotter lustig auf'n Rahn springen. Aye – warn alle rosig bis dan dullidum.« »Sie müssen sehr glücklich gewesen sein«, bemerkte Steve. Er konnte kaum verstehen, was der Mann meinte. »Ja, ziemlich!« sagte der Skipper mit Nachdruck. Ein krummbeiniger kleiner Matrose schob sich nach vorn. »He, Skipper, ab mit ihm und dann nix wie los, bevor uns das Kraut auf’m Deck verrottet.« »Was willse kommandiern, du miese Saupampel, du!« wütete der Kapitän. »Beim Heiland, soll das Kraut verrotten, bis ich sag los! Und er da – nee, ich tu’s für meine kleinen Sapperlotts, hol mich dieser un jener!« Er wandte sich an Baxter und sagte: »Kanns mitkommen, mein Junge, un für gar nix!« So hatte Steve Baxter durch einen glücklichen Zufall beim Kapitän bittersüße Erinnerungen wachgerufen und damit eine Galgenfrist gewonnen. Das Marihuanaschiff legte ab, und schon bald schoß das schnittige Fahrzeug durch die trägen, graugrünen Wogen des Hudson. Doch Baxters Galgenfrist war nur kurz bemessen. In der Mitte des Stroms, wo der Freihafen zu Ende war und das Hoheitsgebiet der USA begann, blitzte aus der Abenddämmerung ein mächtiger Scheinwerfer auf, und eine befehlsgewohnte Stimme ordnete an, sie sollten beidrehen. Das Pech hatte ihnen einen Zerstörer der Hudson-Patrouille genau vor den Bug gelenkt.
»Der Teufel sollse holn!« tobte der Skipper. »Steuern un schießen, sonst könnse nix! Aber wir werns denen zeigen! An die Kanonen, Boys!« Blitzschnell zerrten die Männer die Planen von den 50er MGs, und die beiden Diesel heulten wütend auf. Im Zickzack flitzte der Rauschgiftschmuggler auf den schützenden New Yorker Hafen zu. Doch der Zerstörer hatte den Bug vorn. Er schnitt dem kleineren Schiff den Weg ab, und die 50er MGs waren den vierzölligen Bordkanonen nicht gewachsen. Volltreffer ließen die Reling zersplittern, sie krachten in die Hauptkabine und fetzten in die Aufbauten. Ein weiterer Treffer riß die Steuerbordfallen des Mizzenmastes weg. Ergeben oder sterben, eine andere Möglichkeit schien es nicht mehr zu geben. Aber der wetterkundige Skipper hob schnuppernd die Nase in den Wind. »Aushalten, Freunde!« schrie er. »Gleich dreht er auf West!« Es hagelte Kugeln. Dann schob sich plötzlich von Westen eine gewaltige, undurchdringliche Nebelbank heran und deckte alles mit tintenschwarzen Ausläufern zu. Das angeschlagene kleine Boot entkam dem Gegner. Die Mannschaft legte rasch Gasmasken an und dankte von Herzen den qualmenden Müllkippen von Secaucus. Wie der Kapitän bemerkte – es muß schon ein böser Wind sein, der nicht wenigstens etwas Gutes bringt. Eine halbe Stunde später legten sie am Pier der 79. Straße an. Der Kapitän verabschiedete Baxter mit einer freundschaftlichen Umarmung und wünschte ihm alles Gute. Steve Baxter setzte seinen Weg fort. Der breite Hudson lag nun hinter ihm. Vor ihm lagen noch über dreißig von Norden nach Süden verlaufende Avenuen und nicht ganz ein Dutzend quer verlaufende Straßen. Nach den neuesten Nachrichten im Radio hatte er gegenüber den anderen Teilnehmern einen ordentlichen Vorsprung gewonnen. St. John war auf der New Yorker Seite immer noch nicht aus dem Labyrinth des Lincoln-Tunnel aufgetaucht. Alles in allem schien es recht gut zu klappen. Aber Baxters Optimismus war voreilig. New York war nicht so leicht zu bezwingen. Er wußte nicht, daß der gefährlichere Teil seiner Reise noch vor ihm lag.
4 Nach einigen Stunden Schlaf auf dem Rücksitz eines verlassenen Autos arbeitete sich Steve auf der West End Avenue nach Süden vor. Es ging auf die Morgendämmerung zu – in der Stadt eine magische Stunde, zu der man an jeder Kreuzung nur ein paar hundert Frühaufsteher treffen konnte. Hoch über ihm ragten die Zinnentürme Manhattans auf, und über ihnen bildeten die Antennen vor dem trüben, ockerfarbenen Himmel ein dichtes Netz. Bei diesem Anblick konnte sich Baxter vorstellen, wie New York vor hundert Jahren ausgesehen haben mochte, in der guten alten Zeit vor der Bevölkerungsexplosion. Er wurde unsanft aus seinen Betrachtungen aufgeschreckt. Scheinbar aus dem Nichts tauchte plötzlich eine Bande bewaffneter Männer auf und versperrte ihm den Weg. Sie trugen Gesichtsmasken, breitrandige Hüte und Patronengurte. Ihr Anblick war ebenso bedrohlich wie malerisch. Einer von ihnen, anscheinend ihr Anführer, trat vor. Es war ein älterer Mann mit zerfurchtem Gesicht, beginnender Glatze, dickem schwarzem Schnurrbart und rotgeränderten Augen. »Fremder!« rief er. »Zeigen Sie Ihren Paß!« »Ich fürchte, ich habe keinen«, antwortete Baxter. »Verdammt richtig«, sagte der Alte. »Kannst auch keinen haben. Ich bin Pablo Steinmetz und stelle hier die Pässe aus. Kann mich nicht erinnern, dich schon mal gesehen zu haben.« »Ich bin hier fremd«, sagte Baxter. »Ich will ja nur durch.« Die Männer mit den schwarzen Hüten stießen einander grinsend an. Pablo Steinmetz rieb sich das unrasierte Kinn und sagte: »Also, mein Sohn – zufällig willst du hier ohne Genehmigung des Besitzers eine private Mautstraße passieren. Dieser Besitzer bin zufällig ich. Das sieht mir ganz nach unbefugtem Betreten von Privatgrund aus.« »Aber wie kann denn jemand mitten in New York eine private Mautstraße haben?« fragte Baxter. »Sie gehört mir, weil ich erkläre, daß sie mir gehört«, sagte Pablo Steinmetz. Er strich mit dem Finger über die Kerben am Schaft seiner
Winchester 78. »So ist’s nun mal, Fremder. Es wird dir also nichts anderes übrigbleiben, als zahlen oder mitspielen.« Baxter griff nach seiner Brieftasche und stellte fest, daß sie verschwunden war. Anscheinend hatte der Schmugglerkapitän beim Abschied doch noch seinen niederen Instinkten nachgegeben und sie ihm aus der Tasche gefischt. »Ich habe kein Geld«, sagte Baxter mit verlegenem Lachen. »Vielleicht sollte ich lieber umkehren.« Steinmetz schüttelte den Kopf. »Das wäre dasselbe, wie wenn du vorwärts gehst. Die Gebühr ist nach beiden Richtungen zu bezahlen. Du mußt also zahlen oder mitspielen.« »Dann werde ich wohl mitspielen müssen«, sagte Baxter. »Was habe ich da zu tun?« »Du rennst«, erklärte der alte Pablo. »Und wir schießen abwechselnd auf dich. Dabei zielen wir nur auf den oberen Teil deines Kopfes. Wer dich als erster trifft, gewinnt einen Truthahn.« »Das ist niederträchtig!« rief Baxter. »Nun, für dich ist’s ein bißchen hart«, sagte Pablo. »Aber so läuft der Hase nun mal. Spielregeln müssen eingehalten werden, sogar in einer Anarchie. So. Nun sei so freundlich und leg los. Renn um deine Freiheit…« Die Banditen grinsten, stießen einander an, lockerten ihre Revolver in den Halftern und schoben sich die breitrandigen Hüte aus der Stirn. Baxter bereitete sich auf seinen Todeslauf vor, da… »Halt!« rief in diesem Augenblick eine Stimme. Es war eine weibliche Stimme. Baxter sah sich um – ein hochgewachsenes, rothaariges Mädchen schob sich durch die Reihen der Banditen nach vorn. Sie trug enge spanische Hosen, Plastiküberschuhe und ein Hawaiihemd. Die ausgefallene Kleidung unterstrich noch ihre wilde Schönheit. Im Haar hatte sie eine Papierrose stecken, und eine Schnur von Zuchtperlen betonte ihren schlanken Hals. Baxter hatte noch nie zuvor eine strahlendere Schönheit gesehen. Pablo Steinmetz zupfte stirnrunzelnd an seinem Schnurrbart. »Flamme!« brüllte er. »Was zum Teufel soll das?«
»Ich will nur dein kleines Spielchen durchkreuzen, Vater«, sagte sie kühl. »Ich will mit dem Burschen reden.« »Das ist Männersache«, sagte Steinmetz. »Fremder, lauf zu!« »Fremder, rühr dich nicht von der Stelle!« befahl Flamme, und in ihrer Hand lag plötzlich ein kleiner Derringer. »Verdammt, Flamme, das kannst du doch nicht machen«, sagte er. »Selbst für dich gelten die Regeln. Der Mann ist ein unbefugter Eindringling und kann nicht bezahlen, also muß er mitspielen.« »Kein Problem«, sagte sie, griff in die Hosentasche und zog ein funkelndes Silberstück hervor. »Da!« sagte sie und warf es Pablo vor die Füße. »Ich hab’ bezahlt, und vielleicht werde ich auch mit ihm spielen. – Komm, Fremder!« Sie nahm Baxter bei der Hand und führte ihn weg. Die Banditen sahen ihnen grinsend nach und stießen sich bezeichnend in die Rippen, bis Pablo Steinmetz sie der Reihe nach strafend ansah. Dann schüttelte er den Kopf, kratzte sich am Ohr, schneuzte sich und murmelte: »Verdammich, dieses Weibsstück!« Die Worte waren rauh, aber der Ton war unmißverständlich zärtlich.
5 Die Nacht senkte sich auf die Stadt herab, und die Banditen schlugen an der Ecke 69. Straße und West End Avenue ihr Lager auf. Die Männer mit den schwarzen Hüten machten es sich um das Lagerfeuer bequem. Ein saftiges Stück Ochse wurde an einem Spieß gebraten, dann warfen sie einige Pakete Tiefkühlgemüse in einen großen Kessel. Der alte Pablo massierte sein Holzbein, in dem er dauernd Schmerzen zu verspüren meinte. Er trank einen langen Zug aus einer Konservendose mit fertig gemixten Martinis. In der Dunkelheit jenseits des Feuers hörte man einen Hund nach seinem Gefährten heulen. Steve und Flamme saßen etwas abseits von den anderen. Die Nacht, die bis auf das ferne Poltern der Müllabfuhr still war, blieb auf sie nicht ohne Wirkung. Ihre Hände berührten sich, ihre Finger verschränkten sich ineinander.
Nach einer ganzen Weile fragte Flamme: »Steve, du – du magst mich doch, wie?« »Aber natürlich mag ich dich«, antwortete Baxter und legte ihr mit einer brüderlichen Geste, die man unter Umständen auch hätte mißdeuten können, seinen Arm um die Schultern. »Hm – ich habe mir gedacht«, sagte das Banditenmädchen, »ich habe mir gedacht…« Dann packte sie plötzlich die Scheu, und sie hielt inne. »Ach, Steve, warum gibst du dieses selbstmörderische Rennen nicht auf? Bleib doch hier bei mir! Ich besitze auch Land, Steve – richtigen Grund und Boden,’ hundert Quadratmeter auf dem Rangierbahnhof von New York Mitte. Wir könnten es gemeinsam bebauen, Steve, du und ich.« Baxter kam ernstlich in Versuchung – welchem Mann wäre es wohl anders ergangen? Die Gefühle, die das schöne Banditenmädchen ihm gegenüber hegte, waren ihm nicht verborgen geblieben, und er war diesen Gefühlen gegenüber auch nicht ganz unempfänglich. Flamme Steinmetz’ wilde Schönheit und ihr Stolz hätten auch ohne die zusätzliche Anziehungskraft, die ihr Grundbesitz ausübte, so manches Männerherz bewegt. Einen Herzschlag lang schwankte er, und sein Arm umfaßte die schlanken Schultern des Mädchens fester. Doch dann kam die Treue, die in seiner Natur lag, zum Durchbruch. Flamme war die Verkörperung von Romantik, jener ekstatische Blitz, von dem jeder Mann sein Leben lang träumt. Aber Adele war seine Jugendliebe, seine Frau, die Mutter seiner Kinder, seine geduldige Weggefährtin seit vielen gemeinsamen Jahren. Für einen Mann von Steven Baxters Charakter konnte es da nur eine einzige Entscheidung geben. Das stolze Mädchen war eine Zurückweisung nicht gewöhnt. Zornig wie ein aufgebrachter Puma drohte Flamme, ihm das Herz mit bloßen Fingern aus dem Leib zu reißen und es leicht paniert auf mittlerer Flamme zu rösten. Ihre großen, blitzenden Augen und ihr wogender Busen bewiesen, daß es sich hierbei nicht um die Ausgeburt einer verdorbenen Phantasie handelte. Trotzdem blieb Steve Baxter in seiner stillen und standhaften Art seinen Überzeugungen treu. Und Flamme mußte zu ihrem Kummer erkennen, daß sie diesen Mann niemals geliebt hätte, wenn er nicht voll
hehrer Grundsätze gewesen wäre, die ihre geheimsten Wünsche unerfüllbar machten. Deshalb leistete sie auch keinen Widerstand, als der stille Fremde am Morgen auf dem Abschied bestand. Sie beschwichtigte sogar noch ihren aufgebrachten Vater, der Steve einen unverbesserlichen Narren schimpfte, den man schon in seinem ureigensten Interesse zurückhalten müsse. »Es hat keinen Zweck, Vater, siehst du das denn nicht ein?« fragte sie. »Er muß sein eigenes Leben führen, selbst wenn es sein Ende bedeutet.« Murrend gab Steinmetz nach. Und Steve Baxter machte sich wieder auf seine verzweifelte Odyssee.
6 Er kam dem Stadtzentrum immer näher, gestoßen und bedrängt bis an den Rand des Wahnsinns, geblendet vom Schein der Neonlichter auf blitzendem Chrom, betäubt vom nie endenden Lärm der Großstadt. Schließlich erreichte er eine Gegend, wo es von Schildern nur so wimmelte: ›Einbahnstraße‹ ›Kein Zugang‹ ›Mittlere Fahrbahn freihalten‹ ›Sonn- und feiertags gesperrt‹ ›Wochentags gesperrt‹ ›Linksabbieger links einordnen‹ Er richtete sich möglichst weitgehend nach den widersprüchlichen Anordnungen und stolperte unabsichtlich in jenes riesige Elendsviertel, das unter dem Namen Central Park bekannt war. So weit das Auge blicken konnte, war jeder Quadratmeter Boden bedeckt mit ärmlichen Hütten, schlichten Zelten und windschiefen Buden. Es herrschte ein unbeschreiblicher Krach. Sein plötzliches Erscheinen inmitten der heruntergekommenen Parkbewohner erregte Aufsehen. Die Bemerkungen, die an sein Ohr drangen, waren alles andere als beifällig. Sie bildeten sich ein, er sei ein
Inspektor des Gesundheitsamtes, der in der Absicht gekommen war, ihre Malariabrunnen zu schließen, ihre trichinösen Schweine zu schlachten und die widerwärtigen Kinder zu impfen. Rasch versammelte sich um ihn der Mob und drang krückenschwingend und fluchend auf ihn ein. Glücklicherweise führte ein Kurzschluß in einem Toaster irgendwo in Ontario in diesem Augenblick zu einem Stromausfall. In der Panik, die durch die plötzliche Finsternis ausgelöst wurde, konnte Steve entfliehen. Dann gelangte er in ein Viertel, wo die Straßenschilder längst zur Irreführung der Steuereinnehmer abmontiert worden waren. Die Sonne verbarg sich hinter leuchtenden Wolken. Nicht einmal ein Kompaß hätte hier etwas genützt – die gewaltigen Mengen Alteisen, die Überreste des legendären U-Bahnsystems der Stadt, hätten die Nadel abgelenkt. Steve Baxter erkannte, daß er sich vollkommen und hoffnungslos verirrt hatte. Und doch gab er nicht auf. Seine Hartnäckigkeit wurde nur noch von seiner Unwissenheit überboten. Tagelang wanderte er durch namenlose Straßen und an endlosen nackten Ziegelgebäuden, Bergen von Beton und Glas, an Autofriedhöfen und dergleichen vorbei. Die abergläubischen Einwohner weigerten sich, seine Fragen zu beantworten, weil sie ihn für einen verkappten FBI-Mann hielten. So stolperte er weiter, bekam nirgendwo etwas zu essen oder zu trinken und konnte sich nicht einmal ausruhen, weil er fürchten mußte, daß ihn die Menschenmassen niedertrampeln würden. Ein gutherziger Fürsorger hinderte ihn gerade noch daran, aus einem verseuchten Brunnen zu trinken. Der weise, grauhaarige Mann pflegte ihn in seiner Wohnung wieder gesund – in einer nur aus Zeitungspapier errichteten Hütte am Rand der moosbedeckten Ruinen des Lincoln Center. Er riet Baxter, seine Gewalttour aufzugeben und sein Leben der Unterstützung der heruntergekommenen, verrohten und vielköpfigen Menschenmasse zu weihen, die ringsum üppig wucherte. Das war ein edler Gedanke, und Steve wäre beinahe schwankend geworden. Aber dann hörte er in dem altehrwürdigen Radio des Fürsorgers die neuesten Rennberichte. Vielen Teilnehmern war die Großstadt bereits zum Verhängnis geworden. Freihoff St. John war wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet worden. Die Gruppe, die es auf dem Weg über die
Verrazzano Bridge versucht hatte, war in den tiefen Schluchten von Brooklyn Heights verschwunden, und man hatte nie wieder etwas von ihr gehört. Baxter erkannte, daß er immer noch gut im Rennen lag.
7 Mit frischem Mut machte er sich wieder auf den Weg. Doch nun verfiel er einer übertriebenen Zuversicht, die gefährlicher war als die tiefste Niedergeschlagenheit. Rasch drang er nach Süden vor und benutzte eine Verkehrsflaute, um auf ein Expreß-Transportband zu springen. Er tat es leichtsinnig, ohne zuvor an die möglichen Folgen zu denken. Da er nun nicht mehr zurück konnte, stellte er zu seinem Entsetzen fest, daß er auf eine Einbahnstrecke gelangt war, von der jedes Abbiegen verboten war. Das Transportband führte, wie er bald merkte, direkt in die Terra incognita von Jones Beach, Fire Island, Patchogue und East Hampton. Seine Lage erforderte sofortiges Handeln. Links von ihm befand sich eine nackte Betonmauer. Rechts lag eine hüfthohe Trennwand, auf der zu lesen stand: ›Überspringen verboten zwischen 12 Uhr mittags und 12 Uhr Mitternacht, am Dienstag, Donnerstag und Samstag.‹ Heute war Dienstag nachmittag, also war Überspringen verboten. Dennoch schwang sich Steve ohne zu zögern über die Barriere. Die Strafe folgte der Tat auf dem Fuße, und sie war schrecklich. Aus einer der berüchtigten Verkehrsfallen schoß ein getarnter Polizeiwagen hervor. Er raste auf ihn zu, und die Beamten feuerten wie wild in die Menge. – In dieser freudlosen Ära war die Polizei gesetzlich verpflichtet, bei der Verfolgung eines Verdächtigen grundsätzlich in die Menge zu feuern. Baxter flüchtete sich in einen nahen Süßwarenladen. Hier wurde ihm die Aussichtslosigkeit seiner Lage bewußt. Er hätte sich am liebsten ergeben, aber das war wegen der Überfüllung der Gefängnisse unstatthaft. Ein Kugelhagel hielt ihn in Schach, während die Beamten mit harten, unbewegten Gesichtern Mörser und Flammenwerfer in Stellung brachten.
Das Ende schien gekommen zu sein – nicht nur für Steve Baxters Hoffnungen, sondern auch für sein irdisches Dasein. Er lag flach auf dem Boden, zwischen bunten Lutschbonbons und langen Lakritzstangen, empfahl seine arme Seele Gott und bereitete sich darauf vor, seinem Ende mit Würde entgegenzusehen. Doch seine Verzweiflung kam genauso verfrüht wie zuvor sein Optimismus. Er hörte, daß draußen einige Verwirrung entstand, hob den Kopf und bemerkte, daß eine Gruppe Bewaffneter den Polizeiwagen von hinten angriff. Als sich die Männer in den blauen Uniformen der neuen Bedrohung stellten, wurden sie von der Flanke aufgerollt und bis zum letzten Mann niedergemacht. Baxter trat hinaus, seinen Rettern zu danken; an ihrer Spitze fand er Flamme Steinmetz. Das schöne Banditenmädchen hatte den sanftmütigen Fremden nicht vergessen können. Trotz des halbherzigen Widerspruchs ihres betrunkenen Vaters war sie seinem Pfad heimlich gefolgt und nun zu seiner Rettung erschienen. Die Schwarzhüte plünderten lärmend die ganze Umgebung. Flamme und Steve zogen sich in die traute Einsamkeit eines verlassenen alten Restaurants zurück. Hier, unter den Giebeln eines zärtlicheren und höflicheren Zeitalters, kam es zwischen ihnen zu einer herzzerreißenden Liebesszene. Sie war jedoch nicht mehr als ein bittersüßes Intermezzo. Bald stürzte sich Steve Baxter wieder kopfüber hinein in den tosenden Strudel der Großstadt.
8 Er rückte unermüdlich weiter vor, die Augen gegen den beizenden Smogsturm zu engen Schlitzen zusammengekniffen, der Mund eine entschlossene dünne Linie in seinem blassen Gesicht. So schaffte Baxter die 40. Straße und die 8th Avenue. Doch hier veränderte sich schlagartig die Situation, wie das nur in einer Dschungelstadt üblich ist. Beim Überqueren der Straße hörte Baxter ein tiefes, drohendes Dröhnen. Ihm wurde klar, daß die Verkehrsampel umgesprungen war. Im gleichen Augenblick hatten alle Fahrer, bis zum äußersten gereizt durch tagelanges Warten, ohne Rücksicht auf kleinere Hindernisse das
Gaspedal bis zum Boden durchgetreten. Steve Baxter sah die Horde wildgewordener Fahrzeuge genau auf sich zurasen. Selbstverständlich konnte er über den Boulevard weder vorwärts noch rückwärts entkommen. Rasch entschlossen riß er den Deckel einer Einstiegsluke auf und ließ sich in die Unterwelt hinabfallen. Er schaffte es gerade noch in der allerletzten halben Sekunde, dann hörte er über sich das Kreischen gequälten Metalls und das Krachen kollidierender Autos. Durch die Kanalisation strebte er weiter. Das unterirdische Netz von Tunnels war dicht bevölkert, aber etwas sicherer war es hier immer noch als auf der Oberfläche. Steve geriet nur einmal in Gefahr, als auf dem Rand eines Klärbehälters ein aufgebrachter Mechaniker auf ihn losging. Abgehärtet durch die bisherigen Erlebnisse, bezwang Steve den Mann und nahm ihm sein Kanu ab, ohne das er in manchen tiefergelegenen Tunnels ohnehin nicht weitergekommen wäre. Von hier aus paddelte er bis zur 42. Straße und 8th Avenue. Hier trieb ihn eine überraschende Springflut wieder auf die Erdoberfläche hinauf. Nun war endlich das ersehnte Ziel in greifbare Nähe gerückt. Nur einen einzigen Häuserblock galt es noch zu bezwingen. Noch eine Straße weiter, dann würde er vor dem Grundbuchamt am Times Square stehen! Doch da stieß er auf das letzte, das unüberwindliche Hindernis, das all seinen Träumen ein Ende machte.
9 Mitten auf der 42. Straße ragte eine Mauer auf, deren Ende nach Norden und Süden hin nicht abzusehen war. Das Bauwerk von wahrhaft zyklopischen Ausmaßen war, wie es für die eigentümliche Architektur New Yorks üblich ist, über Nacht aus dem Boden gewachsen. Wie Baxter erfuhr, handelte es sich um die eine Begrenzungsmauer eines neuen Siedlungsprojekts für den gehobenen Mittelstand. Für die Dauer der Bauarbeiten wurde jeglicher Verkehr zum Times Square über den Queens-Battery-Tunnel und die Schnellstraße an der 37. Straße umgeleitet.
Steve schätzte, daß er für den Umweg nicht weniger als drei Wochen brauchen würde. Außerdem führte er durch den unerforschten Bezirk der Oberbekleidungsindustrie. Für ihn war das Rennen aus, das war ihm klar. Mut, Zähigkeit und Rechtschaffenheit hatten nichts genützt. Wäre Steve Baxter nicht ein religiöser Mensch gewesen, so wäre ihm jetzt sicher der Gedanke an Selbstmord gekommen. In offenkundiger Verbitterung schaltete er sein kleines Transistorradio ein und lauschte den letzten Berichten. Vier Mitbewerber hatten das Grundbuchamt bereits erreicht. Fünf weitere näherten sich dem Ziel über die offenen südlichen Zugänge; sie waren nur noch wenige hundert Meter entfernt. Und um Baxters Elend vollzumachen, mußte er außerdem erfahren, daß Freihoff St. John vom Gouverneur begnadigt worden war und sich dem Times Square aus östlicher Richtung näherte. In diesem schwärzesten Augenblick seines Lebens spürte Steve, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um und erkannte, daß Flamme wieder bei ihm war. Obgleich das stolze Mädchen geschworen hatte, sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, war es doch weich geworden. Dieser sanftmütige, ausgeglichene Mann bedeutete ihr mehr als ihr Stolz; vielleicht sogar mehr als ihr Leben. Die Mauer? Ein Kinderspiel für die Tochter eines Bandenchefs. Wenn man nicht drum herum, quer durch oder drunterher konnte, nun – dann mußte man eben drüber! Zu diesem Zweck hatte sie Seile, feste Stiefel, Steigeisen, Haken, Hammer und Pickel mitgebracht – eine komplette Bergsteigerausrüstung. Sie war entschlossen, Baxter eine allerletzte Chance zur Erfüllung seines Herzenswunsches zu bieten. Und sie war auch entschlossen, ihn zu begleiten und sich diesmal nicht mit einer Zurückweisung abzufinden. Sie kletterten Seite an Seite die endlose, glatte Häuserwand hinauf. Es gab ungezählte Gefahren: Vögel, Flugzeuge, Scharfschützen, Spaßvögel, all die Risiken einer unberechenbaren Großstadt. Weit unten stand Pablo Steinmetz und sah zu. Sein Gesicht war so starr wie verwitterter Granit. Nach einer Ewigkeit gefahrvollen Kletterns erreichten sie die Mauerkrone und schauten auf der anderen Seite hinunter…
Da glitt Flamme aus! Entsetzt sah Baxter das schlanke Mädchen ins Verderben stürzen, hinunter auf den Times Square. Die nadelscharfe Spitze einer Autoantenne setzte ihrem Leben ein Ende. Baxter kletterte hastig hinunter und kniete neben ihr nieder, fassungslos vor Trauer. Jenseits der Mauer ahnte der alte Pablo, daß sich etwas Unwiderrufliches ereignet haben mußte. Ein Schauder durchlief ihn, seine Lippen verzerrten sich vor Schmerz, und er griff blindlings nach der Flasche. Kräftige Hände halfen Baxter auf die Beine. Verständnislos sah er dem Grundbuchbeamten ins freundlich lächelnde Gesicht. Er konnte es kaum fassen, daß er das Ziel des Landrennens tatsächlich erreicht hatte. Jedes Gefühl in seiner Brust war gleichsam erstorben; er hörte, daß St. John mit seiner Hast und seiner Überheblichkeit im explosiven Burmesenviertel um die 42. Straße Ost einen Aufruhr entfesselt hatte und sich gezwungen sah, in den unübersichtlichen Ruinen der Öffentlichen Bibliothek Zuflucht zu suchen. In diesem Irrgarten befand er sich immer noch. Doch Schadenfreude lag Steve Baxters Charakter fern, selbst in einem Augenblick, wo Schadenfreude die natürlichste Reaktion gewesen wäre. Ihm kam es nur darauf an, daß er gewonnen hatte, daß er gerade noch rechtzeitig am Grundbuchamt angelangt war, um den letzten noch übrigen Morgen Land beanspruchen zu können. Und es hatte ihn nichts weiter gekostet als Mühe und Schmerzen und das Leben eines jungen Mädchens.
10 Die Zeit heilt alle Wunden. Einige Wochen später dachte Steve Baxter schon nicht mehr an die tragischen Ereignisse während des Rennens. Ein Regierungs-Jet hatte ihn mitsamt seiner Familie nach Cormorant in den Bergen der Sierra Nevada gebracht. Von Cormorant aus transportierte sie ein Hubschrauber zu dem errungenen Preis. Ein verwitterter Inspektor des Grundbuchamtes begrüßte sie und zeigte ihnen ihren neuen Besitz.
Dann lag ihr eigener Grund und Boden vor ihnen – oberflächlich eingezäunt, auf einem fast senkrecht abfallenden Berghang. Ringsum erstreckten sich, so weit das Auge blickte, ähnliche, roh eingefriedete Parzellen. Hier war bis vor kurzem Tagebergbau betrieben worden. Noch zogen sich mehrere gigantische Querfurchen über den staubigen, schwarzbraunen Boden. Kein Baum, nicht einmal ein Grashalm war zu sehen. Ein Haus war, wie versprochen, vorhanden. Genauer gesagt, war es eine Hütte. Sie sah aus, als würde sie den nächsten kräftigen Regenguß nicht überstehen. Minutenlang standen die Baxters starr vor Staunen da. Dann sagte Adele: »Ach, Steve!« »Ich weiß«, antwortete Steve. »Das also ist unser neues Land«, sagte Adele. Steve nickte. »Es ist nicht sehr – hübsch«, murmelte er zögernd. »Hübsch? Was kümmert mich das!« rief Adele. »Es gehört uns, ein ganzer Morgen davon! Wir können hier richtig etwas anpflanzen, Steve!« »Nun, vielleicht nicht gleich…« »Ich weiß, ich weiß! Aber wir bringen den Boden wieder in Ordnung, und dann werden wir hier pflanzen und ernten! Wir werden hier leben, Steve! Nicht wahr?« Steve Baxter schwieg und betrachtete sein sauer verdientes Grundstück. Seine Kinder – der kleine Tommy und die blonde Amelia – spielten mit einem Erdklumpen. Der Inspektor räusperte sich und sagte: »Sie wissen doch, daß Sie es sich noch anders überlegen können.« »Wie bitte?« fragte Steve. »Sie können es sich noch anders überlegen und in Ihre Stadtwohnung zurückkehren. Ich meine, manche Leute finden es hier draußen irgendwie primitiv, irgendwie anders, als sie es sich vorgestellt hatten.« »O Steve – nein!« jammerte seine Frau. »Nein, Daddy, nein!« riefen die Kinder. »Zurückkehren?« fragte Baxter. »Ich hab’ doch nicht an Zurückkehren gedacht. Ich hab’ mir nur alles angesehen. Mann, ich hab’ noch nie in meinem ganzen Leben so viel Land auf einem Haufen gesehen!«
»Ich weiß«, sagte der Inspektor weich. »Ich bin jetzt seit zwanzig Jahren hier draußen, aber der Anblick packt mich immer wieder.« Baxter und seine Frau tauschten einen begeisterten Blick. Der Inspektor rieb sich mit dem Finger über die Nase und sagte: »Na, ich denke, jetzt brauchen Sie mich wohl nicht mehr.« Er verzog sich unauffällig. Steve und Adele hatten nur Augen für ihr Grundstück. Dann sagte Adele: »Ach, Steve, Steve! Das alles gehört jetzt uns! Ich kann es noch gar nicht fassen. Und du hast es gewonnen. Für uns. Du ganz allein!« Baxters Lippen wurden schmaler. Sehr ruhig sagte er: »Nein, Liebling, allein hab’ ich das nicht geschafft. Jemand hat mir geholfen.« »Wer denn, Steve? Wer hat dir geholfen?« wollte sie von ihm wissen. »Eines Tages werde ich es dir erzählen«, sagte Baxter. »Aber jetzt gehen wir erst einmal in unser neues Heim.« Hand in Hand betraten sie die Hütte. Hinter ihnen versank die Sonne in der schimmernden Dunstglocke, die über Los Angeles hing. Ein schöneres Happy-End konnte man sich für die zweite Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts gar nicht vorstellen.
Zutritt verboten »Hübsch hier, wie, Captain?« fragte Simmons betont lässig, als er durch das Bullauge hinaussah. »Beinahe ein kleines Paradies.« Er gähnte. »Sie können noch nicht hinaus«, sagte Captain Kilpepper. Der Biologe machte sofort ein enttäuschtes Gesicht. »Aber, Captain…« »Nein!« Kilpepper sah hinaus auf die sanften Wiesenhügel, die mit roten Blumen gesprenkelt waren. Sie sahen genauso lieblich und üppig aus wie bei der Landung vor zwei Tagen. Rechts von der Wiese erstreckte sich ein brauner Wald, und zwischen den Stämmen leuchteten gelbe und orangefarbene Blüten. Links lag eine Hügelkette, bei der blaugrüne Farbtöne vorherrschten. Von einem der Hügel stürzte ein Wasserfall herab. Bäume, Blumen – alles, was dazugehörte. Hier war es zweifellos hübsch, und genau das machte Kilpepper so mißtrauisch. Seine Erfahrungen mit zwei Ehefrauen und fünf neuen Raumschiffen hatten ihn gelehrt, daß sich hinter einer hübschen Fassade alles mögliche verbergen kann. Fünfzehn Jahre Raumfahrt hatten ihm zwar zusätzliche Sorgenfalten und graue Haare eingetragen, aber keinen Grund geliefert, seine Meinung zu ändern. »Hier sind die Berichte, Sir«, meldete der Maat Morena und überreichte ihm ein Bündel Papiere. Morenas breites, derbes Gesicht trug einen verdrossenen Ausdruck. Vor der Tür hörte Kilpepper Füßescharren und vielstimmiges Flüstern. Er wußte, daß sich da draußen seine Mannschaft versammelt hatte, um zu hören, was er diesmal wohl sagen würde. Sie alle wollten hinaus ins Freie, und zwar dringend. Kilpepper überflog die Berichte. Sie waren genauso ausgefallen wie bei den letzten vier Untersuchungen. Luft atembar und frei von gefährlichen Mikroorganismen, Bakterien gleich Null, Radiograph einwandfrei. Einige Formen tierischen Lebens im nahen Wald, jedoch keine Hinweise auf
Energie. Eine größere Metallmasse, vermutlich ein Berg mit hohem Gehalt an Eisenerz, ein paar Meilen südlich von hier. Vorgemerkt für nähere Untersuchung. »Fein«, sagte Kilpepper unglücklich. Die Berichte verärgerten. ihn etwas. Er wußte aus eigener Erfahrung, daß normalerweise an jedem Planeten irgend etwas nicht stimmt. Es lohnte sich, das gleich am Anfang herauszufinden, bevor sich die ersten Verluste einstellten. »Können wir jetzt hinaus, Sir?« fragte Morena. Die Muskeln in seinem zu kurz geratenen Körper spannten sich. Kilpepper spürte förmlich, wie die Männer draußen den Atem anhielten. »Ich weiß nicht«, sagte Kilpepper und kratzte sich am Kopf. Er suchte nach einem plausiblen Grund für eine Ablehnung. Irgendwo mußte doch ein Haken sein. »Na schön«, sagte er schließlich. »Lassen Sie vorerst eine volle Wache aufziehen. Dann dürfen vier Mann hinaus. Keiner entfernt sich weiter als zehn Schritte vom Schiff.« Er mußte sie ins Freie lassen, sonst konnte nach sechzehn Monaten im stickigen, engen Raumschiff leicht eine Meuterei ausbrechen. »Ja, Sir!« rief der Maat und stürzte zur Tür hinaus. »Ich nehme an, nun darf auch die Wissenschaft hinaus«, sagte Simmons, beide Hände tief in den Hosentaschen vergraben. »Klar«, antwortete Kilpepper bekümmert. »Ich komme mit. Schließlich sind wir ja nicht unentbehrlich.« Die Atmosphäre des namenlosen Planeten erschien ihnen nach der verbrauchten, immer wieder gereinigten Luft im Schiff doppelt köstlich. Von den Bergen wehte eine leichte, gleichmäßige und erfrischende Brise. Captain Kilpepper verschränkte die Arme vor der Brust und hob zufrieden schnuppernd die Nase. Die vier Mannschaftsmitglieder gingen hin und her, streckten ihre Beine und atmeten tief die herrliche Luft ein. Die Wissenschaftler standen beisammen und überlegten, wo sie anfangen sollten. Simmons bückte sich und riß einen Grashalm ab. »Sieht seltsam aus«, sagte er und hielt ihn gegen die Sonne. »Warum?« fragte Captain Kilpepper und ging zu ihm hinüber.
»Sehen Sie sich das mal an.« Der hagere Biologe hielt den Grashalm höher. »Vollkommen glatt. Keinerlei Anzeichen für Zellbildung. Wollen mal sehen…« Er beugte sich über eine rote Blüte. »He! Wir bekommen Besuch!« Ein Mannschaftsangehöriger namens Flynn erblickte die Eingeborenen zuerst. Sie kamen aus dem Wald und trotteten gemächlich über die Wiese auf das Schiff zu. Captain Kilpepper sah zum Schiff zurück. Die Bedienungsmannschaft an den Geschützen wartete einsatzbereit. Er legte die Hand zur eigenen Beruhigung an seine Pistolentasche und wartete. »Ach, du liebe Zeit!« murmelte Aramic. Als der Sprachenkundler des Schiffes musterte er die Eingeborenen mit den Augen des interessierten Fachmanns. Die anderen starrten sie an. An der Spitze des kleinen Zuges marschierte ein Wesen mit einem mindestens drei Meter langen Hals, der an eine Giraffe erinnerte. Aber die dicken, plumpen Beine schienen einem Nilpferd zu gehören. Das Geschöpf kam mit vergnügter Miene näher. Es hatte purpurne Haut, mit großen weißen Punkten gesprenkelt. Dahinter folgten fünf kleine Tiere mit reinweißem Fell. Sie hatten etwa die Größe eines Terriers und machten todernste Gesichter. Ein fettes, kleines Ding mit einem mindestens fünf Meter langen grünen Schwanz bildete den Abschluß. Sie blieben vor den Männern stehen und verneigten sich. Es blieb eine ganze Weile mucksmäuschenstill, dann brachen die Männer in schallendes Gelächter aus. Das Lachen schien eine Art von Signal zu sein. Die fünf kleinen Dinger sprangen der Nilpferdgiraffe auf den Rücken. Es gab ein kurzes Gerangel, dann kletterten sie einander auf die Schultern. Sekunden später balancierten sie, fünf Mann hoch, wie ein paar geschickte Akrobaten. Die Männer klatschten begeistert Beifall. Sofort begann das dicke Tier, auf seinem Schwanz zu balancieren. »Bravo!« rief Simmons. Die fünf Pelztiere sprangen vom Rücken der Giraffe herunter und tanzten um das schweineartige Geschöpf herum. »Hurra!« rief Morrison, der Bakteriologe.
Die Nilpferdgiraffe vollführte einen ungeschickten Purzelbaum, fiel dabei aufs Ohr, rappelte sich wieder auf und machte eine Verbeugung. Captain Kilpepper legte die Stirn in Falten und rieb sich nachdenklich die Hände. Er versuchte, hinter den Grund dieses Gehabes zu kommen. Da begannen die Eingeborenen zu singen. Die Melodie klang seltsam, war aber eindeutig als Lied erkennbar. Nach einem sekundenlang ausgehaltenen Schlußakkord verbeugten sie sich und rollten sich im Gras. Die Männer applaudierten immer noch. Aramic hatte sein Notizbuch gezückt und machte sich Anmerkungen über die Lautäußerungen. »Okay«, sagte Kilpepper. »Zurück ins Schiff!« Die vier Besatzungsmitglieder sahen ihn vorwurfsvoll an. »Laßt doch die anderen auch dran«, sagte der Captain. Widerstrebend kletterten die Männer wieder ins Schiff. »Ich nehme an, Sie wollen sie noch näher untersuchen«, sagte Kilpepper zu den Wissenschaftlern. »Aber sicher«, antwortete Simmons. »So etwas hab’ ich noch nie gesehen.« Kilpepper nickte und ging zum Schiff zurück. Vier weitere Besatzungsmitglieder kamen heraus. »Morena!« rief Kilpepper. Der Maat kam auf die Brücke gestolpert. »Suchen Sie diese Metallmasse. Nehmen Sie noch einen Mann mit und halten Sie ständigen Funkkontakt zum Schiff.« »Ja, Sir«, sagte Morena mit breitem Grinsen. »Die sind doch ausgesprochen freundlich, nicht wahr, Sir?« »Ja«, sagte Kilpepper. »Hübsche Ecke«, sagte der Maat. »Ja.« Morena ging seine Ausrüstung holen. Captain Kilpepper setzte sich hin und grübelte darüber nach, was an diesem Planeten nicht stimmte.
Den größten Teil des folgenden Tages verbrachte Kilpepper mit dem Ausfüllen von Berichtsformularen. Am Spätnachmittag legte er seinen Bleistift hin und machte einen Spaziergang. »Haben Sie einen Augenblick Zeit, Captain?« fragte Simmons. »Ich möchte Ihnen im Wald etwas zeigen.« Kilpepper knurrte gewohnheitsmäßig, folgte aber dem Biologen. Auf den Wald war er selbst schon neugierig. Drei Eingeborene begleiteten sie. Diese drei sahen aus wie Hunde, nur die Farbe stimmte nicht. Sie waren rot und weiß wie Pfefferminzbonbons. Als sie im Wald standen, sagte Simmons mit schlecht verhohlenem Eifer: »So. Nun sehen Sie sich mal um. Entdecken Sie etwas, das Ihnen merkwürdig vorkommt?« Kilpepper sah sich um. Die Bäume hatten dicke Stämme und standen in großen Abständen – so weit auseinander, daß man durch die Stämme hindurch bis zur nächsten Lichtung sah. »Hm«, antwortete er. »Hier kann man sich nicht verirren.« »Das meine ich nicht«, sagte Simmons. »Los, sehen Sie sich noch einmal genauer um.« Kilpepper lächelte. Simmons hatte ihn hergeschleppt, weil er für ihn ein besseres Publikum darstellte als einer seiner mit anderen Problemen beschäftigten Kollegen. Hinter ihnen hüpften und spielten die drei Eingeborenen. »Es gibt kein Unterholz«, stellte Kilpepper fest, nachdem er ein paar Schritte weitergegangen war. Schlingpflanzen mit vielfarbigen Blüten rankten sich die Baumstämme empor. Als sich Kilpepper umdrehte, sah er gerade, wie ein Vogel herunterschoß, einem der Pfefferminzhunde um den Kopf flatterte und wieder davonflog. Der Vogel war golden und silbern. »Sehen Sie denn noch nicht, was hier nicht stimmt?« fragte Simmons ungeduldig. »Nur die Farbzusammenstellung«, sagte Kilpepper. »Gibt’s da sonst noch etwas?«
»Sehen Sie sich doch einmal diese Bäume an.« Die Äste waren schwer von Früchten. Sie hingen in dichten Klumpen von den untersten Zweigen der Bäume und waren von einer verwirrenden Vielfalt von Farben, Größen und Formen. Es gab Früchte, die wie Weintrauben aussahen, andere ähnelten Bananen, wieder andere sahen Wassermelonen ähnlich, und so weiter. »Sieht nach vielen verschiedenen Arten aus«, bemerkte Kilpepper vorsichtig, weil er nicht wußte, was ihm eigentlich auffallen sollte. »Verschiedene Arten!« rief Simmons. »Sehen Sie doch hin, Mann! An einem einzigen Ast wachsen bis zu zehn verschiedene Sorten Obst!« Bei genauerem Hinsehen merkte Kilpepper, daß es stimmte. Jeder Baum trug eine erstaunliche Vielfalt von Früchten. »Und so etwas gibt’s einfach nicht«, fuhr Simmons fort. »Natürlich ist das nicht mein Fachgebiet, aber ich kann mit ziemlicher Sicherheit feststellen, daß es sich bei jeder Frucht um eine andere und selbständige Sorte handelt. Die verschiedenen Formen sind nicht etwa verschiedene Entwicklungsstadien ein und derselben Sorte.« »Wie erklären Sie sich das?« fragte Kilpepper. »Ich brauche keine Erklärung dafür zu finden«, antwortete Simmons grinsend. »Aber irgendein armer Biologe wird sich daran die Zähne ausbeißen.« Sie machten kehrt und gingen zum Schiff zurück. Kilpepper fragte: »Was wollten Sie hier eigentlich?« »Ich? Nebenbei einige anthropologische Studien anstellen. Ich wollte herausfinden, wie unsere Freunde leben. Pech. Es gibt keine Pfade, keine Werkzeuge, keine Lichtungen – nichts. Nicht einmal Höhlen.« Kilpepper hielt es nicht für ungewöhnlich, daß ein Biologe nebenbei eine rasche anthropologische Übersicht versucht. Bei einer solchen Expedition konnte man nicht Fachleute aller Wissensgebiete mitnehmen. In erster Linie kam es darauf an, am Leben zu bleiben, daher waren Biologie und Bakteriologie am wichtigsten, zusammen mit der Sprachwissenschaft. Erst in zweiter Linie kamen Botanik, Ökologie, Psychologie, Soziologie und andere Wissenschaften.
Acht oder neun Vögel hatten sich zu den Tieren – oder Eingeborenen – gesellt, die das Schiff umstanden. Auch diese Vögel waren mit bunten Farben geschmückt: lustige Punkte, Streifen, Flecken. Nirgendwo waren triste Farben wie Grau oder Erdbraun zu sehen. Morena und Flynn marschierten durch einen Ausläufer des Waldes. Am Fuße eines kleinen Hügels blieben sie stehen. »Müssen wir da hinaufklettern?« fragte Flynn seufzend. Die mächtige Kamera drückte ihm schwer auf die Schultern. »Nach dem kleinen Zeiger hier bleibt uns nichts anderes übrig.« Morena deutete auf seinen Detektor. Er zeigte an, daß sich die Metallmasse gleich jenseits des Hügels befinden mußte. »In den Raumschiffen sollte man Autos mitnehmen«, sagte Flynn. Er beugte die Schultern vor und begann den sanften Hang zu erklimmen. »Ja – oder Kamele.« Über ihren Köpfen flatterten und schwebten rote und goldene Vögel dahin und zirpten dabei in fröhlichen Tönen. Die schwache Brise flüsterte im hohen Gras und raschelte melodisch im Laub des nahen Waldes. Zwei der Eingeborenen folgten ihnen. Abgesehen von dem grünen Fell mit den weißen Punkten sahen sie wie Pferde aus. »Wie in einem Zirkus«, bemerkte Flynn, als eines der Pferde ihn mit ein paar Kapriolen umtänzelte. »Ja«, murmelte Morena. Sie erreichten den höchsten Punkt und machten sich an den Abstieg. Dann blieb Flynn plötzlich stehen. »Sieh dir das mal an!« Am Fuß des Hügels ragte schlank und kerzengerade eine Metallsäule auf. Sie blickten daran empor. Die Säule war so hoch, daß sich das obere Ende in den Wolken verlor. Rasch liefen sie den Hügel hinunter und untersuchten den Fuß der Säule. Sie wirkte aus der Nähe massiger, als sie gedacht hatten. Morena schätzte den Durchmesser auf über sechs Meter. Nach der blaugrauen Farbe zu urteilen, mußte es sich um eine Stahllegierung handeln. Aber welcher Stahl kann eine Säule von solcher Höhe tragen?
»Was meinst du, wie hoch die Wolken hängen mögen?« fragte Morena. Flynn legte den Kopf in den Nacken. »Verdammt, die müssen eine halbe Meile hoch sein. Vielleicht auch eine ganze.« Vom Schiff aus hatte man die Säule wegen dieser Wolken nicht sehen können, und die blaugraue Farbe ließ sie optisch mit dem Hintergrund verschmelzen. »Ich kann’s nicht fassen«, murmelte Morena. »Welchen Druck mag das Ding wohl aushalten müssen?« Ehrfürchtig betrachteten sie die riesige Säule. »Na ja«, sagte Flynn schließlich. »Will mal lieber ein paar Bilder machen.« Er packte seine Kamera aus und machte aus zehn Schritten Entfernung drei Aufnahmen der Säule, dann eine weitere mit Morena als Maßstab daneben. Die drei nächsten Aufnahmen machte er fast senkrecht nach oben. »Wofür hältst du das?« fragte Morena. »Darüber sollen sich unsere Akademiker die klugen Köpfe zerbrechen«, sagte Flynn. »Ich wette, die werden verrückt dabei.« Er packte seine Kamera wieder ein. »So, nun werden wir wohl den ganzen Weg zurücklaufen müssen.« Er betrachtete die grün-weißen Pferde. »Ob man darauf wohl reiten kann?« »Versuch’s ruhig und brich dir dein Genick!« »Komm, mein Junge, komm mal schön hierher!« lockte Flynn. Eins der Pferde trottete heran und kniete neben ihm nieder. Flynn bestieg es vorsichtig. Als er oben saß, grinste er auf Morena herab. »Mach bloß die Kamera nicht kaputt«, warnte Morena. »Die ist Staatseigentum.« »Brav«, sagte Flynn. »Feiner Junge!« Das Pferd stellte sich auf – und grinste. »Bis später, wir sehen uns dann zu Hause«, rief Flynn und lenkte das Pferd auf den Hügel zu. »Warte doch einen Augenblick!« rief Morena. Er sah Flynn mit finsterem Blick nach und lockte dann das zweite Pferd herbei. »Komm, braver Junge!« Das Pferd kniete nieder, und Morena kletterte ihm auf den Rücken.
Sie ritten ein paar Kreise, um die Tiere zu erproben. Sie ließen sich schon durch einen leisen Druck lenken. Ihre breiten Rücken waren erstaunlich bequem. Einer der rotgoldenen Vögel senkte sich auf Flynns Schulter herab. »Junge, Junge, ist das ein Leben«, sagte Flynn und tätschelte das glänzende Fell seines Reittiers. »Los, Maat, wollen mal sehen, wer zuerst am Schiff ist!« »Auf geht’s!« antwortete Morena. Aber die Pferde blieben bei ihrem gemächlichen Schritt und ließen sich durch nichts antreiben. Beim Schiff saß Kilpepper im weichen Gras und sah Aramic bei der Arbeit zu. Der Sprachenkundler war ein geduldiger Mensch. Seine Kollegen hatten ihn darum bewundert, und seine Studenten waren ihm in den Jahren, die er als Professor zubrachte, dankbar dafür. Nun wurden Fähigkeiten, die seit sechzehn Jahren im verborgenen geschlummert hatten, ans Tageslicht geholt. »Wir versuchen’s noch einmal«, sagte Aramic im ruhigsten Ton. Er blätterte in einem Handbuch mit dem Titel ›Ansprache für Fremdintelligenzen zweiten Grades‹ – einem von ihm selbst verfaßten Text –, bis er das gesuchte Diagramm gefunden hatte. Dann deutete er auf die betreffende Seite. Das Tier neben ihm sah aus wie eine verunglückte Kreuzung zwischen Backenhörnchen und Riesenpanda. Mit einem Auge schielte es auf die Zeichnung, das andere Auge ließ es mit einer lächerlichen Grimasse kreisen. »Planet«, sagte Aramic und zeigte auf das Bild. »Planet.« »Entschuldigung, Chef«, sagte Simmons. »Ich möchte hier gern mein Röntgengerät aufbauen.« »Aber sicher«, sagte Kilpepper und rückte etwas beiseite, damit der Biologe seinen Apparat aufstellen konnte. »Elam vessel holam cram«, sagte das Panda-Backenhörnchen freundlich. Verdammt – sie hatten also eine Sprache. Die Laute, die sie von sich gaben, waren klar und systematisch geordnet. Es kam nur darauf an,
einen Berührungspunkt zu finden. Hatten sie schon einfache Abstraktionen gemeistert? Aramic legte sein Buch beiseite und deutete auf das Panda-Hörnchen. »Tier«, sagte er deutlich und wartete hoffnungsvoll. »Es soll stillhalten!« sagte Simmons und stellte sein Gerät ein. »So ist’s schön. Jetzt noch eine.« »Tier«, wiederholte Aramic geduldig. »Iful biful box«, sagte das Tier. »Hoful toful lox, ramadan, samduran, iful biful box.« Nur Geduld, ermahnte sich Aramic. Immer eine positive Einstellung behalten. Freundlich bleiben. Nicht nervös werden. Er griff nach einem anderen seiner Nachschlagewerke. Es trug den Titel ›Ansprache für Fremdintelligenzen ersten Grades‹. Rasch fand er, wonach er suchte, und legte das Buch wieder weg. Lächelnd hob er einen Finger hoch. »Eins«, sagte er. Das Tier kam näher und schnupperte an seinem Finger. Mit grimmigem Lächeln nahm Aramic einen zweiten Finger dazu. »Zwei.« Einen weiteren. »Drei!« »Hugelex«, sagte das Tier plötzlich. Ein Diphtong? Oder das Wort für ›eins‹? »Eins«, wiederholte er und wackelte mit dem Zeigefinger. »Vereserevef«, antwortete das Tier feixend. Gab es denn mehrere Worte für den Begriff ›eins‹? »Eins!« sagte er noch einmal. Da begann das Tier zu singen. »Sevef hevef ulud cram, aragan, billigan, homus dram…« An dieser Stelle brach es ab und betrachtete erstaunt das Handbuch, das durch die Luft flog, und dann den Rücken des Sprachwissenschaftlers, den nur seine bemerkenswerte Geduld von einem Meuchelmord abhielt.
Nach Morenas und Flynns Rückkehr rätselte Kilpepper an ihrem Bericht herum. Er hatte die Aufnahmen rasch entwickeln lassen und studierte sie eingehend. Die Säule war glatt und rund und ganz offenkundig künstlich hergestellt. Eine Rasse, die so etwas aufstellen konnte, war auch in der Lage, gefährlich zu werden. Sehr sogar. Aber wer hatte diese Säule errichtet? Ganz gewiß nicht die vergnügten, dummen Tiere rings um das Schiff. »Sie sagen, die Spitze ist in den Wolken verborgen?« fragte Kilpepper. »Ja, Sir, das verdammte Ding muß ungefähr eine Meile hoch sein«, antwortete Morena. »Gehen Sie noch einmal hin«, befahl Kilpepper. »Nehmen Sie ein Radarskop und Infrarotausrüstung mit. Besorgen Sie mir eine Aufnahme von der Spitze dieser Säule. Ich will wissen, wie hoch das Ding ist und was sich an seinem oberen Ende befindet. Schnell!« Flynn und Morena verließen die Kommandobrücke. Kilpepper starrte die Fotos mindestens eine Minute lang an, dann legte er sie beiseite. Voll ungewisser Besorgnis schlenderte er hinüber ins Labor des Schiffes. Auf diesem Planeten paßte nichts zusammen, und das störte ihn. Kilpepper hatte durch harte Erfahrung lernen müssen, daß hinter allem ein bestimmtes Schema steckt. Wenn man das nicht rechtzeitig herausfindet, kann es böse enden. Morrison, der Biologe, war ein kleines, ewig trauriges Männchen. Im Augenblick wirkte er wie eine Verlängerung des Mikroskops, durch das er sah. »Schon was gefunden?« fragte Kilpepper. »Ich habe herausgefunden, daß etwas fehlt«, sagte Morrison und hob blinzelnd den Kopf. »Ich habe entdeckt, daß hier sogar verdammt viel fehlt.« »Was denn?«
»Ich habe die Blumen getestet«, erklärte Morrison. »Und ich habe Erdproben und Wasserproben getestet. Die Ergebnisse sind noch nicht endgültig, aber setzen Sie sich schon mal fest hin.« »Ich bin gefaßt. Was gibt’s?« »Auf diesem ganzen Planeten gibt es nicht eine einzige Bakterie!« »Ach?« machte Kilpepper, weil ihm nichts Gescheiteres einfiel. Diese Eröffnung kam ihm nicht sonderlich schockierend vor. Aber der Bakteriologe benahm sich, als hätte er soeben erklärt, der Boden des Planeten bestünde aus hundertprozentig reinem grünen Käse. »Genau das ist es! Das Wasser im Bach ist reiner als Aqua destillata. Der Dreck auf diesem Planeten ist sauberer als ein sterilisiertes Skalpell. Die einzigen Bakterien haben wir eingeschleppt. Und die sind im Begriffe, abgetötet zu werden.« »Wie?« »Die Luft hier enthält drei verschiedene desinfizierende Wirkstoffe, die ich bereits entdeckt habe, und vermutlich noch ein Dutzend weitere, die ich noch nicht gefunden habe. Dasselbe gilt für Schmutz und Wasser. Der Planet ist vollkommen steril!« »Na und?« fragte Kilpepper. Ihm war nicht in vollem Umfang klar, was das bedeutete. Er machte sich mehr Sorgen um die Stahlsäule. »Was hat das zu bedeuten?« »Ich bin froh, daß Sie mir diese Frage stellen«, sagte Morrison. »Ja, wirklich froh, daß Sie mich das fragen. Es bedeutet nämlich schlicht und einfach, daß es diesen Planeten hier nicht gibt.« »Na, na!« »Ich meine es ernst. Es gibt kein Leben ohne Mikroorganismen. Hier fehlt ein ganzer Abschnitt des Lebenszyklus.« »Leider gibt es diesen Planeten aber doch«, widersprach Kilpepper freundlich. »Haben Sie noch andere Theorien?« »Ja, aber zuerst möchte ich meine Tests abschließen. Etwas werde ich Ihnen schon im voraus sagen, und Sie können sich selbst einen Reim darauf machen.« »Reden Sie.«
»Es war mir nicht möglich, auf diesem Planeten auch nur den kleinsten Stein zu entdecken. Natürlich ist das nicht genau mein Fachgebiet – aber in dieser Expedition sind wir ja alle recht vielseitig bewandert. Ich interessiere mich nebenbei auch für Geologie. Nirgendwo liegt ein Stein herum, es gibt kein Stückchen Fels, jedenfalls nicht lose. Das kleinste Steinchen wiegt ungefähr sieben Tonnen, schätze ich.« »Und was bedeutet das wieder?« »Ach – es kommt Ihnen also auch seltsam vor?« Morrison lächelte. »Entschuldigen Sie mich jetzt, ich möchte diese Tests noch vor dem Abendessen abschließen.« Kurz vor Sonnenuntergang waren die Röntgenaufnahmen von den Tieren fertig. Kilpepper erlebte eine neue Überraschung. Morrison hatte ihm erklärt, der Planet könne gar nicht existieren. Nun eröffnete ihm Simmons, daß auch die Tiere nicht existieren könnten. »Sehen Sie sich bloß diese Aufnahmen an«, sagte er zu Kilpepper. »Sehen Sie! Erkennen Sie irgendwelche Organe?« »Ich verstehe nicht viel von Röntgenaufnahmen.« »Sie brauchen ja nur hinzusehen. Da!« Das Röntgenbild zeigte ein paar Knochen und ein oder zwei Organe. Auf einigen Bildern waren auch Andeutungen eines Nervensystems zu erkennen, aber größtenteils waren die Tiere in ihrer Beschaffenheit durch und durch homogen. »Die innere Struktur reicht nicht einmal für einen Regenwurm aus«, sagte Simmons. »Eine solche Vereinfachung ist unmöglich. Es gibt nichts, was Lungen oder einem Herzen entspricht. Kein Blutkreislauf. Kein Gehirn. Verdammt wenig an Nervensystem. Und die vorhandenen Organe lassen sich nicht erklären.« »Und Ihre Schlußfolgerung…« »Diese Tiere existieren nicht«, erklärte Simmons höchst vergnügt. Er berauschte sich an dieser Idee. Er freute sich schon darauf, einen Artikel über nichtexistente Tiere zu veröffentlichen. Aramic kam leise fluchend an ihnen vorbei. »Kein Glück mit der Sprache?« fragte Simmons.
»Nein!« schrie Aramic und wurde dann rot. »Entschuldigung. Ich hab’ sie bis herunter zum Intelligenzgrad C3BB getestet. Zu dieser Klasse zählen die Amöben. Keinerlei Reaktion.« »Vielleicht liegt es nur daran, daß sie vollkommen gehirnlos sind«, meinte Kilpepper. »Nein. Ihre Fähigkeit, gewisse angelernte Tricks auszuführen, weist auf eine bestimmte Intelligenz hin. Sie haben auch eine Art Sprache und ein klar umrissenes System von Reaktionen. Aber sie reagieren einfach nicht normal. Sie fangen bloß zu singen an.« »Ich denke, jetzt brauchen wir erst einmal etwas zu essen«, sagte Kilpepper. »Und danach einen Schluck auf den Schrecken. Oder vielleicht auch zwei.« Das Abendessen gestaltete sich sehr flüssig. Nach der zweiten Flasche ließen sich die Wissenschaftler wenigstens so weit erweichen, daß sie bereit waren, einige Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Sie fügten die bekannten Fakten zusammen. Erstens: Die Eingeborenen – oder Tiere – wiesen keinerlei Anzeichen für innere Organe auf, die der Vermehrung oder der Verdauung dienten. Es schien mindestens drei Dutzend verschiedene Arten von ihnen zu geben, die Vögel nicht mitgezählt. Täglich traten neue Arten auf. Dasselbe galt für die Pflanzen. Zweitens: Der Planet war erstaunlich steril und hielt diese Sterilität von selbst aufrecht. Drittens: Die Eingeborenen verfügten über eine eigene Sprache, waren aber offenbar nicht imstande, sie an andere weiterzugeben. Sie konnten auch keine andere Sprache erlernen. Viertens: Es lagen keine kleineren Felsbrocken oder Steine herum. Fünftens: Es gab eine gewaltige Stahlsäule, die sich zu einer Höhe von mindestens einer halben Meile erhob. Die genaue Höhe mußte nach Fertigstellung der Spezialfotos ermittelt werden. Es gab zwar keine Anzeichen für eine Maschinenkultur, doch diese Säule war offenbar das Erzeugnis einer solchen. Jemand mußte sie gebaut und hier aufgerichtet haben.
»Wenn man das alles zusammenfaßt, was ergibt sich dann daraus?« fragte Kilpepper. »Ich habe eine Theorie«, sagte Morrison. »Es ist eine prächtige Theorie. Will sie jemand hören?« Alle bejahten die Frage, bis auf Aramic, der immer noch darüber grübelte, warum er die fremde Sprache nicht erlernen konnte. »Für meine Begriffe ist dieser Planet künstlich hergestellt. Anders kann es gar nicht sein. Keine Rasse hätte sich ohne Bakterien entwickelt. Er wurde von einer Superrasse gemacht, die auch die stählerne Säule gebaut hat. Sie haben alles für diese Tiere gemacht.« »Und warum?« fragte Kilpepper. »Das ist das Schönste daran«, antwortete Morrison verträumt. »Aus reinem Altruismus. Sehen Sie sich die Eingeborenen an. Sie sind fröhlich und verspielt. Sie neigen nicht zu Gewalttätigkeiten und sie haben keinerlei schlechte Angewohnheiten. Verdienen sie damit nicht eine eigene Welt? Eine Welt, wo sie in ewigem Sommer herumstreifen und spielen können?« »Schön ist das schon«, sagte Kilpepper. Er unterdrückte ein Grinsen und fuhr fort: »Aber…« Morrison fiel ihm ins Wort: »Diese Leute sind als Mahnung hier, als Mahnung an alle zufällig vorbeikommenden Rassen, daß die Menschen in Frieden beisammenleben können.« »Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler«, sagte Simmons. »Diese Tiere hätten sich niemals auf natürliche Weise entwickeln können. Sie haben doch auch die Röntgenbilder gesehen.« »Das stimmt.« Der Träumer focht einen kurzen Kampf mit dem Biologen aus; der Träumer verlor ihn. »Vielleicht sind es Roboter.« »Diese Erklärung sagt mir noch am meisten zu«, erklärte Simmons. »Meiner Ansicht nach hat die Rasse, die diese stählerne Nadel errichtet hat, auch die Tiere gemacht. Sie sind Diener oder Sklaven. Vielleicht halten sie uns sogar für ihre Herren.« »Und wohin sollten ihre eigentlichen Herren verschwunden sein?« fragte Morrison. »Wie zum Teufel soll ich das denn wissen?« knurrte Simmons.
»Und wo könnten diese Herren wohnen?« fragte Kilpepper. »Wir haben nichts entdeckt, das nach einer Behausung aussieht.« »Sie sind so fortschrittlich, daß sie weder Maschinen noch Häuser brauchen. Sie leben in direktem Kontakt zur Natur.« »Wozu brauchen sie dann noch Diener?« fragte Morrison unerbittlich. »Und wozu haben sie die Stahlnadel gebaut?« An diesem Abend wurden die neuen Aufnahmen der Stahlsäule fertig. Die Wissenschaftler untersuchten sie eifrig. Die Spitze der Säule reichte fast eine Meile hoch in die dichten Wolken hinauf. An der obersten Spitze ragte etwas im rechten Winkel etwa dreißig Meter lang von der Säule ab. »Sieht so aus, als könnte es ein Wachturm sein«, meinte Simmons. »Was sollten sie von da oben aus denn beobachten?« fragte Morrison dagegen. »Sie würden ja außer Wolken nichts sehen.« »Vielleicht sehen sie sich gern Wolken an«, meinte Simmons. »Ich geh’ jetzt schlafen«, verkündete Kilpepper gründlich angewidert. Als Kilpepper am nächsten Morgen erwachte, hatte er ein ungutes Gefühl. Irgend etwas stimmte nicht. Er zog sich an und trat ins Freie hinaus. Etwas Unfaßbares schien im Wind zu liegen. Oder waren es vielleicht nur seine Nerven? Kilpepper schüttelte den Kopf. Zu seinen Vorahnungen hatte er Vertrauen. Sie besagten zumeist, daß sein Unterbewußtsein einen logischen Denkprozeß abgeschlossen hatte. Rings um das Schiff schien alles in bester Ordnung zu sein. Die Tiere waren wieder da. Sie liefen faul in der Gegend herum. Kilpepper funkelte sie böse an und ging um das Schiff herum. Auch die Wissenschaftler waren wieder dabei, das Geheimnis des Planeten zu lösen. Aramic gab sich alle Mühe, die Sprache eines grün-silbernen Tiers mit tieftraurigen Augen zu erlernen. Das Biest machte an diesem Morgen einen ungewöhnlich apathischen Eindruck. Es murmelte nur seine komischen Lieder vor sich hin und kümmerte sich kaum um Aramic.
Kilpepper dachte an Circe. Konnten diese Tiere vielleicht Menschen sein, die ein böser Zauberer verwandelt hatte? Er verwarf diesen absurden Gedanken und ging weiter. Der Mannschaft war nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Sie gingen alle miteinander zum Wasserfall baden. Kilpepper beauftragte zwei Mann mit der Durchführung einer mikroskopischen Untersuchung des Stahlmastes. Das machte ihm größere Sorgen als alles andere. Die anderen Wissenschaftler störte es weniger, doch das hielt Kilpepper nur für natürlich. Jeder Schuster bleibt eben bei seinem Leisten. Ein Sprachwissenschaftler interessierte sich in erster Linie für die Sprache dieser Leute, während ein Botaniker in den Vielfruchtbäumen den Schlüssel zum Rätsel des Planeten sehen mußte. Und was glaubte er selbst? Captain Kilpepper ging im Geist seine eigenen Ideen durch. Was ich brauche, ist eine Arbeitstheorie, sagte er sich. Eine Theorie, die alle die seltsamen Erscheinungen unter einen Hut brachte. Mit welcher Theorie war das zu bewerkstelligen? Warum gab es hier keine Bakterien? Warum gab es keine Steine? Warum, warum, warum. Kilpepper war sicher, daß es dafür eine verhältnismäßig simple Erklärung geben mußte. Er konnte sie beinahe mit Händen greifen – aber eben nicht ganz. Er setzte sich in den Schatten, lehnte sich an sein Schiff und versuchte nachzudenken. Gegen Mittag kam Aramic, der Sprachkundler, zu ihm. Er warf seine Bücher – eins nach dem anderen – gegen die Schiffswand. »Ja, das Temperament«, sagte Kilpepper. »Ich geb’s auf«, erklärte Aramic. »Die Biester sind jetzt vollkommen unaufmerksam. Sie reden kaum noch. Und Kunststückchen machen sie auch nicht mehr.« Kilpepper stand auf und ging zu den Tieren hinüber. Tatsächlich – sie wirkten kaum noch lebendig. Sie krochen herum, als befänden sie sich in den letzten Stadien der Unterernährung. Simmons stand neben ihnen und machte sich Notizen.
»Was ist denn mit Ihren kleinen Freunden los?« fragte Kilpepper. »Weiß ich nicht«, antwortete Simmons. »Vielleicht waren sie so aufgeregt, daß sie letzte Nacht nicht schlafen konnten.« Die Nilpferd-Giraffe setzte sich plötzlich hin. Dann kippte sie langsam auf die Seite und blieb liegen. »Seltsam«, sagte Simmons. »Das hab’ ich bisher noch bei keinem der Tiere gesehen.« Er beugte sich über das umgesunkene Tier und suchte nach dem Herzschlag. Nach einigen Sekunden richtete er sich wieder auf. »Keinerlei Lebenszeichen«, sagte er. Zwei der kleineren Tiere mit glänzendschwarzem Fell fielen um. »Großer Gott!« rief Simmons und lief zu ihnen hinüber. »Was ist denn jetzt los?« »Ich fürchte, ich weiß es«, sagte Morrison. Er trat mit aschfahlem Gesicht aus dem Schiff. »Bakterien.« »Wovon reden Sie eigentlich?« »Captain, ich komme mir wie ein Mörder vor. Ich fürchte, wir haben die armen Tiere umgebracht. Erinnern Sie sich noch, daß ich Ihnen sagte, auf dem Planeten gäbe es keinerlei Mikroorganismen? Überlegen Sie nur mal, wie viele davon wir eingeschleppt haben! Die Bakterien strömen von uns in ihre neuen Wirte hinein – in Wirte, die über keinerlei Abwehrstoffe verfügen, wie Sie wissen.« »Haben Sie nicht gesagt, daß es mehrere desinfizierende Stoffe in der Luft gibt?« fragte Kilpepper. »Anscheinend funktionieren die nicht schnell genug.« Morrison beugte sich vor und untersuchte eines der kleinen Tiere. »Ich bin jetzt ganz sicher.« Auch die übrigen Tiere rings um das Schiff herum kippten der Reihe nach um und blieben regungslos liegen. Captain Kilpepper sah sich besorgt um. Einer der Besatzungsangehörigen kam keuchend angerannt. Er war noch naß vom Baden oben am Wasserfall. »Sir!« stieß er hervor. »Drüben beim Wasserfall… die Tiere…«
»Ich weiß«, sagte Kilpepper. »Holen Sie sofort alle anderen zurück.« »Aber das ist noch nicht alles, Sir«, sagte der Mann. »Der Wasserfall – wissen Sie, der Wasserfall…« »So reden Sie schon, Mann!« »Er hat aufgehört, Sir. Er hat zu fließen aufgehört.« »Holen Sie sofort die anderen hierher!« Der Mann sprintete zurück zum Wasserfall. Kilpepper sah sich um und wußte selbst nicht genau, wonach er suchte. Der braune Wald stand still da. Zu still. Er war der Lösung ganz nahe… Kilpepper bemerkte, daß sich die sanfte, gleichmäßige Brise, die seit der Landung ununterbrochen geweht hatte, gelegt hatte. »Was zum Teufel geht hier vor?« fragte Simmons beunruhigt. Sie gingen zum Schiff zurück. »Scheint die Sonne nicht ein wenig schwächer?« flüsterte Morrison. Sie waren ihrer Sache nicht sicher. Es war erst früher Nachmittag, doch die Sonne wirkte weniger strahlend. Die Mannschaftsmitglieder kamen tropfnaß vom Wasserfall zurück. Auf Kilpeppers Befehl kehrten sie eilig ins Schiff zurück. Die Wissenschaftler standen noch da und blickten über das schweigende Land hinweg. »Was hätten wir denn tun sollen?« fragte Aramic und schauderte beim Anblick der umgefallenen Tiere. Da kamen die Männer, die den eisernen Mast untersuchen sollten, den Hügel heruntergerannt. Sie stürmten durch das hohe Gras, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. »Was gibt’s denn schon wieder?« fragte Kilpepper. »Die verdammte Säule, Sir!« stieß Morena hervor. »Sie dreht sich!« Diese Säule, diese meilenhohe Masse unglaublich starken Stahls, wurde bewegt! »Was sollen wir machen?« fragte Simmons.
»Zurück ins Schiff!« befahl Kilpepper. Er fühlte, wie sich in seinem Kopf jetzt die richtige Lösung formte, wie sie Gestalt annahm. Nur eine Kleinigkeit fehlte noch, eine winzige Kleinigkeit… Die Tiere sprangen plötzlich auf! Die roten und silbernen Vögel begannen wieder zu fliegen. Sie schwangen sich hoch hinauf in die Lüfte. Die Nilpferd-Giraffe raffte sich auf, schnaubte und jagte davon. Die übrigen Tiere folgten ihr. Aus dem Wald kamen in dichten Reihen fremde Tiere auf die Wiese hinausgestürmt. Sie jagten in, vollem Lauf nach Westen, weg vom Schiff. »Los, schnell ins Schiff!« schrie Kilpepper plötzlich. Jetzt war alles klar. Er wußte Bescheid, und er konnte nur hoffen, daß er seinen Kahn rechtzeitig wieder in den Raum hinaufbekam. »Los, beeilt euch! Laßt die Maschinen an!« brüllte er die fassungslosen Mannschaftsmitglieder an. »Aber wir haben doch noch überall Sachen herumliegen«, sagte Simmons. »Ich sehe keine Notwendigkeit für…« »Waffen feuerbereit machen!« brüllte der Captain und schob den Wissenschaftler achtlos beiseite. Plötzlich tauchten im Westen lange Schatten auf. »Captain, wir sind mit unseren Untersuchungen noch nicht fertig…« »Sie können von Glück reden, wenn Sie hier überhaupt mit dem Leben davonkommen«, knurrte Kilpepper, als er das Schiff betrat. »Alle Luken dicht! Startklar machen! Haben Sie es sich noch nicht zusammengereimt?« »Sie meinen die Säule, die sich dreht?« fragte Simmons. Er stolperte im Korridor über Morrison. »Nun gut, nehmen wir an, es gäbe eine überlegene Rasse…« »Dieser sich drehende Mast ist ein Schlüssel, der in der Seite des Planeten steckt«, sagte Kilpepper. Er rannte im Laufschritt zur Brücke. »Damit wird die ganze Geschichte aufgezogen. Das gilt für diese ganze Welt hier. Tiere, Flüsse, der Wind – alles läuft einmal ab und muß wieder aufgezogen werden.« Er gab dem Computer die Koordinaten für eine Kreisbahn ein.
»Überlegen Sie doch selbst«, fuhr er fort. »Eine Welt, wo alle möglichen herrlichen Früchte an den Bäumen hängen, an den untersten Zweigen. Wo es keine Bakterien gibt, die einem schaden könnten, keinen einzigen eckigen Stein, an dem man sich die Zehen stoßen kann. Eine Welt voller wunderbarer, lustiger, sanftmütiger Tiere. Ein Planet, auf dem alles darauf abzielt zu amüsieren. – Ein Spielplatz!« Die Wissenschaftler starrten ihn an. »Die Säule ist ein Schlüssel. Während unseres unbefugten Eindringens hier ist alles abgelaufen. Jetzt zieht jemand den Planeten wieder auf.« Draußen vor den Bullaugen erstreckten sich die Schatten tausend Meter weit über die Wiesen. »Anschnallen!« rief Kilpepper und drückte auf den Startknopf. »Im Gegensatz zu den Spielzeugtieren möchte ich nicht mit den Kindern zusammentreffen, die sonst hier spielen. Und schon gar nicht mit ihren Eltern!«
Denk nicht so laut Wirklich ernst wurde es für Leroy Cleevy erst, als er das Postschiff 243 durch den unkolonisierten Sternhaufen Seergon steuerte. Zuvor hatte er immer nur mit den üblichen Schwierigkeiten aller interstellaren Postkuriere zu kämpfen: ein altes Schiff, ausgebrannte Röhren, fehlerhafte Astrogation. Aber als er nun eine Positionsbestimmung vornahm, merkte er, daß es im Schiff ungemütlich warm wurde. Er stieß einen Seufzer aus, schaltete die Kühlung ein und setzte sich mit dem diensthabenden Postmeister seines Stützpunkts in Verbindung. Er hatte die äußerste Grenze des Funkbereichs fast erreicht; die Stimme des Postmeisters war vor lauter Rauschen kaum zu verstehen. »Schon wieder Ärger, Cleevy?« fragte der Postmeister im drohenden Ton eines Mannes, der Flugpläne ausschreibt und an ihre unbedingte Einhaltung glaubt. »Ach, ich weiß nicht recht«, antwortete Cleevy zuversichtlich. »Wenn man von den Röhren, der Astrogation und den Schaltungen absieht, ist eigentlich alles in bester Ordnung, bis auf die Isolierung und die Kühlung.« »Verdammt, es ist doch eine Schande«, sagte der Postmeister plötzlich mitfühlend. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist.« Cleevy schaltete die Kühlung auf volle Leistung, wischte sich den Schweiß von der Stirn und gelangte zu dem Schluß, daß sich der werte Herr Postmeister vermutlich doch nicht ganz vorstellen konnte, wie ihm zumute war. »Hab’ ich nicht immer wieder bei der Regierung neue Schiffe angefordert?« Der Postmeister lachte bedauernd. »Aber man scheint zu glauben, daß ich die Post in jedem beliebigen alten Kasten befördern kann.«
Im Augenblick interessierte sich Cleevy nicht für den Kummer des Postmeisters. Obgleich die Kühlung sich redlich abmühte, wurde es im Schiff immer heißer. »Bleiben Sie einen Augenblick in der Leitung«, sagte er. Er ging nach achtern, wo die Quelle der Überhitzung zu liegen schien, und stellte fest, daß drei seiner Tanks nicht mit Treibstoff, sondern mit einer brodelnden, weißglühenden Brühe gefüllt waren. Im vierten Tank vollzog sich rapide dieselbe Umwandlung. Cleevy riß für ein paar Sekunden verblüfft die Augen auf, dann erschrak er und rannte zum Funkgerät zurück. »Treibstoff ist alle«, meldete er. »Irgendwelche katalytischen Veränderungen, nehme ich an. Ich hab’ Ihnen ja gesagt, daß wir neue Tanks brauchen. Ich gehe auf dem ersten Sauerstoffplaneten, den ich finden kann, herunter.« Er griff nach ›Handbuch für Notfälle‹ und schlug den Sternhaufen Seergon auf. In diesem Bereich gab es zwar keine Kolonien, aber die Planeten mit Sauerstoffatmosphäre waren für alle Fälle erkundet worden. Was sie – außer Sauerstoff – noch enthielten, wußte allerdings niemand. Cleevy durfte hoffen, einen solchen Planeten zu erreichen, falls sein Schiff lange genug durchhielt. »Ich versuche es auf 3-M-22!« rief er, um sich trotz der zunehmenden Störungen verständlich zu machen. »Passen Sie gut auf die Post auf!« brüllte der Postmeister zurück. »Ich schicke sofort ein Schiff los.« Cleevy erzählte ihm, was er mit der Post machen könne, wenn er wolle – mit allen zwanzig Pfund davon, die er an Bord hatte. Doch der Postmeister hatte bereits abgeschaltet. Cleevy legte auf 3-M-22 eine fabelhafte Landung hin – mehr als fabelhaft, wenn man in Betracht zog, daß seine Instrumente inzwischen so heiß waren, daß er sie nicht mehr berühren konnte, daß sich seine Röhren vor Hitze bogen und daß der Postsack auf seinem Rücken ihn bei jeder Bewegung behinderte. Das Postschiff 243 segelte heran wie ein
stolzer Schwan. Sechs Meter über dem Boden des Planeten gab es dann plötzlich seinen Geist auf und sackte durch wie ein Stein. Cleevy klammerte sich an das letzte Restchen Bewußtsein, war aber fest davon überzeugt, sich alle Knochen gebrochen zu haben. Die Schiffswände begannen stumpfrot zu glühen, als er den Postsack auf den Rücken geschnallt – durch den Notausgang ins Freie stolperte. Mit geschlossenen Augen rannte er hundert Schritte vom Schiff weg. Dann explodierte der Kahn, und die Druckwelle warf ihn flach aufs Gesicht. Er rappelte sich auf, machte zwei weitere Schritte und wurde dann endgültig ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, lag er mit dem Gesicht nach unten im Gras auf einem kleinen Hügel. Der Schock verschaffte ihm ein herrliches Gefühl des Schwebens. Sein Geist hatte sich vom Körper gelöst und schwebte frei in der Luft. Alle Sorgen, Gefühle und Ängste waren im Körper zurückgeblieben; er selbst war frei wie ein Vogel. Er sah sich um und bemerkte ein kleines Tier, das in der Nähe vorüberstrich. Es hatte etwa die Größe eines Eichhörnchens, aber ein stumpfgrünes Fell. Als es näher kam, sah er, daß es weder Augen noch Ohren hatte. Das überraschte ihn nicht. Im Gegenteil. Es war völlig in Ordnung. Wozu brauchte ein Eichhörnchen überhaupt Augen oder Ohren? Eichhörnchen sind viel besser dran, wenn sie die Schmerzen und Qualen der Welt nicht sehen müssen, wenn sie nichts von den gepeinigten Schreien… Ein zweites Tier erschien. Es hatte die Größe und Gestalt eines ausgewachsenen Wolfs, aber ebenfalls ein stumpfgrünes Fell. Gleichlaufende Entwicklung? Im Rahmen des großen Schöpfungsplans spielte es doch keine Rolle, sagte er sich. Auch dieses Tier besaß keine Augen und Ohren. Dafür aber ein prächtig entwickeltes Gebiß. Cleevy brachte für die hiesige Fauna nur mäßiges Interesse auf. Was kümmern einen reinen Intellekt schon Eichhörnchen oder Wölfe, ob mit oder ohne Augen? Er stellte fest, daß das Eichhörnchen keine zwei Meter von dem Wolf entfernt erstarrt war. Der Wolf kam langsam näher.
Als er bis auf einen Meter herangekommen war, schien er die Witterung zu verlieren. Er schüttelte ärgerlich den Kopf und beschrieb einen Kreis. Dabei bewegte er sich in die falsche Richtung. Blinde jagen Blinde, sagte sich Cleevy, und es kam ihm wie eine tiefschürfende, ewige Wahrheit vor. Dann begann das Eichhörnchen vor seinen Augen zu zittern. Der Wolf fuhr herum, machte einen Satz und verschlang es mit drei Bissen. Was Wölfe doch für große Zähne haben, dachte Cleevy. Augenblicklich fuhr der augenlose Wolf zu ihm herum. Jetzt wird er mich auffressen, dachte Cleevy. Er fand den Gedanken, als erster Mensch auf diesem Planeten aufgefressen zu werden, ganz amüsant. Als der Wolf dicht vor seinem Gesicht die Zähne bleckte, wurde Cleevy noch einmal ohnmächtig. Es war schon Abend, als er sich langsam erholte. Lange Schatten lagen über dem Land, und die Sonne stand tief am Horizont. Cleevy setzte sich auf und streckte vorsichtig Arme und Beine aus. Nichts war gebrochen. Benommen, aber sonst im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, richtete er sich auf einem Knie halb auf. Was war eigentlich geschehen? An die Bruchlandung erinnerte er sich nur vage, als seien inzwischen tausend Jahre vergangen. Das Schiff hatte Feuer gefangen, er war weggegangen und ohnmächtig geworden. Danach war er einem Wolf und einem Eichhörnchen begegnet. Unsicher raffte er sich auf und sah sich um. Den letzten Teil der Geschichte mußte er wohl geträumt haben. Wäre ein Wolf dagewesen, so hätte er ihn sicherlich getötet. Als er den Blick nach unten richtete, sah er zu seinen Füßen den grünen Schweif des Eichhörnchens und ein Stück daneben den Schädel liegen. Verzweifelt strengte er seinen Gehirnkasten an. Also war doch ein Wolf dagewesen, und noch dazu ein hungriger. Wenn er die Ankunft des Rettungsschiffes noch erleben wollte, mußte er genau herausfinden, was sich abgespielt hatte – und warum.
Keines der beiden Tiere besaß Augen oder Ohren. Wie konnten sie einander nachspüren? Witterung? Aber warum war es dem Wolf dann so schwergefallen, das Eichhörnchen zu finden? Er hörte ein Grollen und drehte sich um. Keine zwanzig Meter entfernt stand etwas, das wie ein Panther aussah. Ein gelbbrauner, augen- und ohrenloser Panther. Verdammte Menagerie, dachte Cleevy und duckte sich ins hohe Gras. Dieser Planet brachte ihn mächtig in Trab. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Wie funktionierten diese Tiere eigentlich? Besaßen sie anstelle des Gesichts einen anderen Ortssinn? Der Panther entfernte sich langsam. Cleevy atmete ein wenig auf. Wenn er sich nicht blicken ließ, würde vielleicht der Panther… Er hatte das Wort ›Panther‹ kaum gedacht, wandte sich das Biest schon wieder ihm zu. Was habe ich jetzt falsch gemacht? überlegte Cleevy und duckte sich noch tiefer ins Gras. Riechen oder sehen oder hören kann er mich nicht. Ich habe doch nur beschlossen, ihm aus dem Weg zu gehen… Mit hocherhobenem Kopf strich der Panther auf ihn zu. Damit war der Fall klar. In Ermangelung von Augen und Ohren blieb nur noch eine Möglichkeit, wie ihn das Vieh entdeckt haben konnte. Es mußte telepathische Fähigkeiten besitzen! Um seine Theorie zu überprüfen, dachte Cleevy das Wort ›Panther‹ und brachte es automatisch mit der äußeren Form des Tieres in Verbindung, das ihn anschlich. Mit wütendem Brüllen rückte das Tier näher heran. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Cleevy eine Menge gelernt. Der Wolf hatte das Eichhörnchen mit Hilfe der Telepathie verfolgt. Das Eichhörnchen war erstarrt – vielleicht hatte es sogar zu denken aufgehört! Damit hatte der Wolf die Witterung verloren – bis das Eichhörnchen seine Gedanken nicht länger im Zaum zu halten vermochte. Aber warum war der Wolf nicht über ihn hergefallen, während er bewußtlos dalag? Vielleicht hatte er auch aufgehört zu denken – oder er
hatte zumindest nicht mehr auf der Wellenlänge Gedanken ausgestrahlt, die der Wolf empfangen konnte. Vermutlich steckte noch mehr dahinter. Im Augenblick hieß sein Problem jedoch ›Panther‹. Wieder brüllte das wilde Tier auf. Es war nur noch zehn Meter entfernt und rückte rasch näher. Cleevy dachte: Jetzt brauche ich nur an etwas anderes zu denken. In diesem Falle wird der – nun, vielleicht verliert er dann die Witterung. Er begann sich an sämtliche Mädchen zu erinnern, die ihm jemals über den Weg gelaufen waren. Bis in die letzte Einzelheit. Der Panther hielt inne und stampfte unsicher auf den Boden. Cleevy spann seine Gedanken weiter. Er dachte an Mädchen, an Raumschiffe, an Planeten, wieder an Mädchen und Schiffe und an alles mögliche, nur nicht an Panther… Der Panther rückte um einen weiteren Meter näher. Verdammt, dachte Cleevy, wie macht man es nur, an etwas Bestimmtes nicht zu denken? Man kann noch so konzentriert an Steine und Felsen und Menschen und Gegenden und alle möglichen Dinge denken, aber die Gedanken kehren eben automatisch doch immer wieder zu… Nein, nicht dran denken. Denk lieber an deine selige Großmutter und deinen besoffenen alten Vater und an die blauen Flecken am rechten Bein. (Zähl sie. Acht. Zähl sie noch einmal. Immer noch acht.) Und dann sieh vorsichtig hin, ganz zufällig nur, ohne den – hm – zu erkennen; jedenfalls kommt er immer noch näher. Cleevy fand heraus, daß Nichtdenken ebenso schwierig ist, wie wenn man eine Lawine mit bloßen Händen aufhalten will. Er mußte erkennen, daß sich der menschliche Geist nicht so direkt und willkürlich ablenken läßt. Das erfordert Zeit und einige Übung. Ihm blieben noch etwa drei Meter Zeit zu lernen, wie man nicht an einen… Nun, es gibt Kartenspiele, an die man denken kann, und Partys, und Hunde, Katzen, Pferde, Mäuse, Schafe, Wölfe (geh weg!), an Beulen, Schlachtschiffe, Höhlen, Bewohner, Gruben, Junge (Vorsicht!), an Äquivalent und Äquator und Ekel und Schekel (noch eineinhalb Meter), an Essen, Feuer, Fuchs, Fell, Schwein, Stein, Stange und St…
Der Panther duckte sich, noch gut einen Meter entfernt, zum Sprung. Cleevy konnte den Gedanken nicht länger zurückhalten. Dann wandelte er ihn in einer plötzlichen Eingebung ab. Pantherin! Der Panther verharrte in geduckter Haltung und wirkte unschlüssig. Cleevy konzentrierte sich auf den Gedanken an eine Pantherin. Er selbst war die Pantherin. Was bildete sich dieser Flegel von einem Panther eigentlich ein, sie so zu ängstigen? Er dachte an seine – verdammt noch mal, ihre – Jungen, an eine warme Höhle, an die vergnügliche Jagd auf Eichhörnchen… Der Panther kam langsam näher und rieb sich purrend an Cleevy. Verzweifelt dachte Cleevy: Was für ein schönes Wetter wir doch haben, und was für ein prächtiger Kerl dieser Panther ist, so stark, so groß, mit so kräftigen Zähnen. Und der Panther schnurrte tatsächlich! Cleevy legte sich hin, wickelte einen eingebildeten Schweif um sich und beschloß zu schlafen. Unschlüssig stand der Panther daneben. Er schien zu spüren, daß etwas nicht stimmte. Ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle, dann wandte er sich ab und schnürte davon. Die Sonne war gerade untergegangen, und die Gegend war tiefblau getönt. Cleevy spürte, daß er am ganzen Körper zitterte und dicht vor einem hysterischen Lachkrampf stand. Wäre der Panther auch nur einen Augenblick länger geblieben… Mit einiger Mühe fand er die Selbstbeherrschung wieder. Es war höchste Zeit, ernsthaft nachzudenken. Anscheinend besaß hier jedes Tier seine charakteristische Gedankenwitterung. Von einem Eichhörnchen ging eine Form aus, von einem Wolf eine andere, von einem Menschen wieder eine andere. Die entscheidende Frage lautete: Konnte er nur aufgespürt werden, wenn er an irgendein Tier dachte? Oder ließen sich seine Gedanken, ähnlich einem Geruch, auch dann aufspüren, wenn er an nichts Besonderes dachte? Offenbar war der Panther nur in der Lage gewesen, ihn zu wittern, wenn er bewußt dachte, insbesondere dann, wenn er an – hm – dachte.
Aber das konnte auch an der Fremdartigkeit liegen. Seine fremdartige Gedankenwitterung mochte den Panther irregeführt haben – diesmal! Ihm blieb nichts anderes übrig als abzuwarten. Der Panther war vermutlich nicht dumm. Es war nur das erstemal, daß ihm jemand diesen Trick spielte. Jeder Trick klappt – aber nur einmal. Cleevy legte sich auf den Rücken und starrte zum Himmel empor. Er war so müde, daß er sich kaum regen konnte, und seine angeschlagenen Knochen schmerzten. Was würde jetzt in der Nacht wohl geschehen? Jagten die wilden Tiere auch nach Einbruch der Dunkelheit? Oder gab es zwischendurch eine Art Schonzeit? Es war ihm vollkommen gleichgültig. Zum Teufel mit allen Eichhörnchen, Wölfen, Panthern, Löwen, Tigern und Rentieren. Er schlief. Am nächsten Morgen stellte er beim Erwachen überrascht fest, daß er noch lebte. Na also! Vielleicht wurde es trotz allem noch ein schöner Tag. Vergnügt ging er zu seinem Raumschiff zurück. Vom schönen Postschiff 243 war nichts weiter übriggeblieben als ein Haufen verbogenes Metall, weit über den versengten Boden verstreut. Cleevy entdeckte eine Stange aus Metall, schwang sie probeweise und steckte sie dann unter den Postsack an seinen Gürtel. Als Waffe taugte sie nicht viel, aber sie verlieh ihm ein wenig Selbstvertrauen. Am Schiff gab es nichts mehr zu bergen. Er wandte ihm den Rücken zu und machte sich auf die Suche nach Eßbarem. In der Umgebung wuchsen mehrere Sorten Sträucher mit Früchten. Mit ungutem Gefühl kostete er einige davon und fand den Geschmack bitter, aber nicht unangenehm. Dann labte er sich an dem Obst und spülte es mit dem Wasser eines nahe gelegenen Baches hinunter. Bisher hatte er keine weiteren Tiere zu Gesicht bekommen. Aber das brauchte nichts zu bedeuten. Es war durchaus möglich, daß sie ihn bereits unsichtbar einkreisten. Er vermied bewußt diesen Gedanken und sah sich nach einem geeigneten Versteck um. Für ihn war es am sichersten, bis zur Ankunft des Rettungsschiffes nicht aufzufallen. Er marschierte über das leicht
hügelige Gelände und hielt Ausschau nach einem Felsen, einem Baum, einer Höhle. Doch die liebliche Landschaft hatte nichts Handfesteres zu bieten als zwei Meter hohe Büsche. Als es Nachmittag wurde, war er müde und gereizt. Besorgt suchte er den Himmel ab. Wo blieb das Schiff nur? Ein schneller Rettungskreuzer durfte nach seiner Schätzung bis hierher höchstens ein oder zwei Tage brauchen. Falls der Postmeister auf dem richtigen Planeten suchte. Am Himmel bewegte sich etwas. Er blickte nach oben, und sein Herz begann wie wild zu klopfen. Etwas kam näher! Es war ein Vogel. Er schwebte langsam auf riesigen Schwingen über ihn hinweg, senkte sich einmal kurz herab und flog weiter. Der Vogel sah einem Geier erstaunlich ähnlich. Cleevy ging weiter. Im nächsten Augenblick stand er plötzlich vier blinden Wölfen gegenüber. Ein Problem war damit gelöst. Er war also tatsächlich auf Grund seiner charakteristischen Gedankenwitterung aufzuspüren. Die wilden Tiere dieses Planeten waren anscheinend zu dem Schluß gelangt, daß er nicht zu fremdartig war, um gefressen zu werden. Die Wölfe schoben sich vorsichtig näher heran. Cleevy versuchte es mit dem Trick, der ihn gestern gerettet hatte. Er zog die Metallstange aus dem Gürtel und bildete sich gleichzeitig ein, eine Wölfin zu sein, die nach ihren Welpen suchte. Ob nicht vielleicht einer der Herren behilflich sein könnte? Noch vor ein paar Minuten waren sie doch hier; eins war grün, eins gefleckt, das dritte… Aber vielleicht hatten diese Wölfe keine gefleckten Jungen. Eins der Biester sprang Cleevy an. Cleevy erwischte den Wolf mitten im Sprung mit der Stange und schleuderte ihn zurück. Schulter an Schulter rückten die vier heran. Verzweifelt versuchte sich Cleevy wegzudenken. Zwecklos. Die Wölfe ließen sich nicht beirren. Cleevy dachte an einen Panther. Er selbst war ein Panther, ein mächtiger Panther, der nach einem saftigen Wolf lechzte.
Das brachte sie zum Stehen. Ihre Ruten zuckten ängstlich, doch sie wichen nicht zurück. Cleevy knurrte, stampfte auf den Boden und rückte vor. Die Wölfe zogen sich zurück, aber einer begann Cleevy zu umgehen. Er wich zur Seite aus und versuchte, sich den Rücken freizuhalten. Anscheinend glaubten sie ihm nicht so recht. Vielleicht gab er keinen guten Panther ab. Sie wichen nicht weiter zurück. Einer befand sich in Cleevys Rücken, die drei anderen behaupteten sich; die Zungen hingen ihnen aus den offenen, geifernden Fängen. Cleevy schwang mit wildem Knurren seine Keule. Ein Wolf fuhr zurück, doch der andere sprang Cleevy von hinten an, landete auf dem Postsack und warf den Mann zu Boden. Als sie über ihn herfielen, kam Cleevy eine neue Idee. Er verwandelte sich in eine Schlange, eine flinke, tödliche Giftschlange, deren Biß einen Wolf in Sekundenschnelle töten konnte. Sie ließen augenblicklich von ihm ab. Cleevy zischte und krümmte seinen Schlangenleib. Die Wölfe heulten zwar wutentbrannt, zeigten aber keine Neigung zu einem Angriff. Dann unterlief Cleevy ein Fehler. Er wußte, daß er standhaft bleiben und den Zweikampf ausfechten mußte. Aber seine Muskeln gehorchten eigenen Gesetzen. Unwillkürlich machte er kehrt und sprintete davon. Die Wölfe setzten ihm nach. Als Cleevy einen Blick nach oben warf, bemerkte er, daß sich die Aasgeier bereits zur Beseitigung seiner Überreste versammelten. Er nahm seine Willenskraft zusammen und wollte sich wieder in eine Schlange verwandeln, aber die Wölfe kamen trotzdem heran. Die Geier gaben ihm eine neue Idee ein. Als Raumfahrer wußte er, wie eine Landschaft von oben aussieht. Cleevy beschloß, ein Vogel zu werden. Er stellte sich vor, wie er sich in die Lüfte emporschwang, einen Aufwind ausnutzte und aus der Höhe auf das grüne, hügelige Land herabblickte. Die Wölfe zeigten sich verwirrt. Sie rannten im Kreise und sprangen hoch. Cleevy stieg immer höher empor und zog sich dabei allmählich zurück.
Endlich hatte er die Wölfe aus den Augen verloren. Es war inzwischen Abend geworden. Er hatte einen weiteren Tag überstanden. Aber seine Tricks funktionierten anscheinend immer nur einmal. Was sollte er morgen machen, falls das Rettungsschiff nicht eintraf? Als es schon dunkel geworden war, lag er noch lange wach und suchte den Himmel ab. Doch außer den Sternen sah er nichts. Was er hörte, war nur das gelegentliche Knurren eines Wolfs und das Brüllen eines Panthers, der wohl vom Frühstück träumte. Nur allzuschnell kam der Morgen herbei. Cleevy war immer noch müde und unausgeschlafen. Er lag auf dem Rücken und wartete ab, was nun geschah. Wo blieb der Rettungskreuzer? Nach seiner Berechnung hätte er längst hier sein müssen. Warum kamen sie nicht? Wenn sie zu lange zögerten, würde der Panther… Das hätte er nicht so laut denken sollen. Als Antwort hörte er rechts von sich ein Brüllen. Er stand auf und entfernte sich von dem Geräusch, weil er dann schon lieber den Wölfen entgegentrat. Auch das hätte er lieber nicht denken sollen. In das Brüllen des Panthers mischte sich jetzt auch noch das Heulen eines ganzen Wolfsrudels. Sie traten gleichzeitig in Erscheinung. Vor ihm trat lauernd ein grüngelber Panther aus dem Unterholz. Auf der anderen Seite konnte er die Umrisse mehrerer Wölfe ausmachen. Im ersten Augenblick glaubte er, sie würden es vielleicht unter sich ausmachen. Wenn die Wölfe auf den Panther losgingen… Aber sie interessierten sich nur für ihn. Dann wurde ihm auch der Grund klar: Warum sollten sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen, wenn er doch da war und in Gedanken seine Angst und seine Hilflosigkeit laut hinausposaunte? Der Panther kam geduckt auf ihn zu. Die Wölfe hielten sich zurück; offenbar wären sie auch mit den Überresten zufrieden gewesen. Cleevy
versuchte es mit dem Vogeltrick, aber nach kurzem Zögern setzte der Panther seinen Vormarsch fort. Cleevy zog sich in Richtung auf die Wölfe zurück und wünschte sich sehnlichst etwas zum Hinaufklettern herbei. Ein Felsen wäre ihm recht gewesen oder wenigstens ein anständiger Baum… Aber Büsche gab es immerhin! Die Verzweiflung trieb ihn zu genialen Leistungen an; er verwandelte sich in einen zwei Meter hohen Busch. Er wußte nicht so recht, wie Büsche zu denken pflegen, doch er gab sein Bestes. Dann begann er zu blühen. Eine seiner Wurzeln fühlte sich ein bißchen locker an – der letzte Sturm war wohl schuld daran. Trotzdem war er alles in allem ein recht anständiger Busch. Von der Ecke seiner Zweige aus sah er, daß die Wölfe innehielten. Der Panther umkreiste ihn schnuppernd und legte dann den Kopf auf die Seite. Na hör mal, dachte Cleevy, du willst doch nicht etwa ein Gebüsch anknabbern? Vielleicht hast du mich erst für etwas ganz anderes gehalten, aber ich bin wirklich ein Strauch – endlich! Und ein Maul voll Blätter, das magst du doch sicher nicht, wie? Außerdem könntest du dir an meinen Ästen leicht einen Zahn ausbeißen. Ein Panther, der Sträucher frißt – hat man so etwas schon einmal gehört? Ich bin wirklich ein Strauch. Frag meine Mutter. Sie war auch schon ein Strauch. Alle meine Vorfahren waren Sträucher und Büsche, bis zurück in die Steinzeit. Der Panther machte keine Anstalten zum Angriff. Aber er dachte auch nicht daran abzuziehen. Cleevy wußte nicht, wie lange er das durchhalten konnte. Was sollte er als nächstes erfinden? Die Schönheiten des Frühlings? Ein Nest mit Rotkehlchen in seinem Haar? Ein kleiner Vogel ließ sich auf seiner Schulter nieder. So ist’s recht, dachte Cleevy. Der hält mich auch schon für ein Gebüsch. Gleich wird er in meinen Zweigen nisten wollen. Wirklich goldig. Die anderen Sträucher werden neidisch werden. Der Vogel hackte mit dem Schnabel zärtlich nach Cleevys Hals. Obacht, dachte Cleevy. Willst doch nicht den Ast absägen, auf dem du sitzt.
Der Vogel pickte noch einmal vorsichtig hin. Dann verankerte er fest seine spitzen Krallen und begann mit der Schnelligkeit eines Preßlufthammers auf Cleevys Hals loszuhacken. Ein verdammter Specht, dachte Cleevy und bemühte sich um die Wahrung seiner Strauchhaltung. Er bemerkte, daß der Panther plötzlich aufmerksam wurde. Nach dem fünfzehnten Schnabelhieb hielt es Cleevy nicht länger aus. Er packte den Vogel und warf damit nach dem Panther. Der Panther schnappte zu, aber einen Augenblick zu spät. Empört umkreiste der Vogel Cleevys Kopf und machte sich dann auf die Suche nach gemütlicheren Sträuchern. Auf der Stelle wurde Cleevy wieder zu einem Busch, doch das Spiel war vorbei. Der Panther schnappte nach ihm. Cleevy wandte sich zur Flucht, stolperte über einen Wolf und fiel hin. Dicht an seinem Ohr hörte er das Grollen des Panthers und wußte, daß er praktisch schon eine Leiche war. Der Panther zögerte. Cleevy wurde bis in die Fingerspitzen zu einer Leiche. Er war tot, schon seit Tagen, seit Wochen. Längst war der letzte Blutstropfen aus seinem Körper gewichen. Sein Fleisch stank. Was von ihm noch übrig war, verrottete und verweste. Kein vernünftiges Raubtier würde ihn anrühren, und sei es noch so hungrig. Der Panther schien diese Auffassung zu teilen. Er zog sich zurück. Die Wölfe heulten hungrig, aber auch sie schnürten davon. Cleevy ließ die Verwesung noch um einige Tage fortschreiten. Er konzentrierte sich darauf, wie ungenießbar er war, absolut unappetitlich. Sein Bemühen wurde von ehrlicher Überzeugung getragen. Er glaubte ganz ehrlich nicht daran, für irgendwen eine anständige Mahlzeit abzugeben. Der Panther entfernte sich weiter, gefolgt von den Wölfen. Gerettet! Notfalls konnte er sich bis an sein Lebensende totstellen… Dann roch es wirklich nach verwesendem Fleisch. Er sah sich um und bemerkte, daß sich neben ihm ein riesiger Vogel niedergelassen hatte. Auf der Erde hätte man das Vieh als Geier bezeichnet.
In diesem Augenblick hätte Cleevy laut aufschreien mögen. Klappte hier denn gar nichts? Der Geier stelzte auf ihn zu. Cleevy versetzte ihm einen Fußtritt und rannte davon. Wenn er schon verspeist werden sollte, dann wenigstens nicht von einem Aasgeier. Wie der Blitz kam der Panther angeschossen. Der Ausdruck seines augenlosen, pelzigen Gesichts schien äußerste Wut zu bedeuten. Cleevy schwang seine Stange und wünschte sich einen Baum herbei, auf den er klettern konnte, ein Gewehr zum Schießen, wenigstens eine Fackel, die er schwingen… Eine Fackel! Er wußte auf der Stelle, daß dies der rettende Einfall war. Er spuckte dem Panther Flammen ins Gesicht, und das Raubtier zuckte jaulend zurück. Rasch begann Cleevy nach allen Richtungen hin zu brennen. Er steckte mit seinen Flammen das trockene Gras, das Buschwerk, in Brand. Panther und Wölfe jagten davon. Jetzt war er an der Reihe! Er hätte gleich daran denken sollen, daß alle Tiere eine tiefverwurzelte, instinktive Angst vor Feuer haben. Bei Gott, er wollte der größte Steppenbrand sein, der jemals diesen Planeten heimgesucht hatte! Eine leichte Brise kam auf und fachte ihn an, trieb ihn dahin über die Hügel und Bodenwellen. Eichhörnchen flohen aus dem Unterholz und hüpften davon. Ganze Vogelschwärme flatterten hoch, Panther, Wölfe und andere Tiere jagten Seite an Seite dahin. Sie dachten nicht mehr an Nahrung, sie wollten nur noch dem Feuer entrinnen – seinem Feuer! Halb unbewußt wurde Cleevy klar, daß er selbst jetzt telepathische Fähigkeiten angenommen hatte. Mit geschlossenen Augen konnte er alles ringsum sehen und spüren, was vorging. Als brüllender Brand rückte er weiter vor und trieb alles andere vor sich her. Und er spürte die Angst in den Gedanken der flüchtenden Tiere. So gehörte es sich auch. War der Mensch nicht immer der Herr gewesen, weil er sich anpassen konnte und eine überlegene Intelligenz besaß? Das erwies sich auch hier. Stolz übersprang er drei Meilen
entfernt einen schmalen Bach, ließ ein Gebüsch in Flammen aufgehen, züngelte, loderte, fauchte… Und dann fiel der erste Wassertropfen. Er brannte weiter, aber aus dem ersten Tropfen wurden fünf, dann fünfzehn, dann fünfhundert. Er wurde durchnäßt, und seine Nahrung, das Gras und die Büsche, waren innerhalb kurzer Zeit klatschnaß. Er wurde gelöscht. Das ist unfair, dachte Cleevy. Von Rechts wegen hätte ich siegen müssen. Ich habe mich an die Spielregeln dieses Planeten gehalten und gewonnen – und dann muß die Natur eingreifen und alles ruinieren. Vorsichtig kehrten all die Tiere zurück. Ein Wolkenbruch fiel vom Himmel. Cleevys letzte Flämmchen verloschen. Er seufzte und wurde ohnmächtig. »War verdammt gute Arbeit. Sie haben Ihren Postsack nicht im Stich gelassen, wie es sich für einen guten Postbeamten gehört. Vielleicht können wir es so einrichten, daß Sie einen Orden bekommen.« Cleevy schlug die Augen auf. Vor ihm stand sein Postmeister und strahlte ihn stolz an. Er selbst lag auf einer Pritsche, und ringsum sah er gewölbte Metallwände. Er befand sich auf dem Rettungsschiff. »Was ist geschehen?« krächzte er. »Wir haben Sie gerade noch rechtzeitig rausgeholt«, sagte der Postmeister. »Bleiben Sie nur ganz still liegen. Um ein Haar wären wir zu spät gekommen.« Cleevy spürte, wie das Schiff abhob, und wußte, daß sie nun den Planeten 3-M-22 verließen. Er stolperte zum Bullauge und blickte auf das grüne Land hinunter. »Es war knapp«, sagte der Postmeister. Er trat neben Cleevy und schaute ebenfalls hinunter. »Wir konnten gerade noch unsere Löschanlage einschalten. Sie standen mitten im wildesten Steppenbrand, den ich jemals gesehen habe.« Beim Anblick des unversehrten Grüns da unten schienen dem Postmeister Zweifel zu kommen. Er schaute
genauer hin, und sein Gesichtsausdruck erinnerte Cleevy an den Panther, den er hereingelegt hatte. »Sagen Sie – warum haben Sie eigentlich keine Brandwunden?«
Was man wirklich braucht Richard Gregor saß an seinem Schreibtisch im staubigen Büro der Interplanetarischen Entseuchungsgesellschaft, und er betrachtete schwermütig eine lange Liste. Sie enthielt 2305 einzelne Posten. Gregor überlegte angestrengt, ob er nicht vielleicht doch noch etwas übersehen hatte. Antistrahlungssalbe? Vakuumfackeln? Wasserreinigungsgerät? Ja, es war alles da. Gähnend sah er auf die Uhr. Arnold, sein Partner, sollte inzwischen längst zurück sein. Arnold war die 2305 Artikel kaufen gegangen und mußte dafür sorgen, daß sie sicher im Raumschiff verstaut wurden. In wenigen Stunden sollte das Schiff zu einem neuen Auftrag starten. Aber hatte er wirklich alles Wichtige aufgeführt? Ein Raumschiff ist wie eine einsame Insel, isoliert und auf sich selbst gestellt. Wenn einem auf Dementia II die Bohnen ausgehen, dann gibt es keinen Eckladen, wo man neue einkaufen kann. Und keine Küstenwacht läuft schleunigst aus, wenn im Hauptantrieb eine Isolierung durchgebrannt ist. Man muß eine Reserveisolierung an Bord haben und dazu das Werkzeug, sie auszuwechseln, und die Handbücher mit der Gebrauchsanweisung. Der Weltraum ist einfach zu groß, um viel an Rettungsbemühungen zuzulassen. Sauerstoff-Extraktor? Genug Zigaretten? Das ist fast wie ein Warenhaus mit Raketen, dachte Gregor. Er schob die Liste beiseite, griff nach einem schmuddeligen Kartenspiel und legte eine hoffnungslose Patience eigener Erfindung, die niemals aufging. Ein paar Minuten später kam Arnold vergnügt hereinspaziert. Gregor betrachtete seinen Geschäftspartner voller Argwohn. Wenn der kleine Chemiker diesen besonderen, elastischen Schritt an sich hatte und wenn sein rundes Gesicht so hell strahlte, dann bedeutete das für
gewöhnlich Ärger für die Entseuchungsgesellschaft. »Hast du alles bekommen?« fragte Gregor. »Mehr noch«, antwortete Arnold stolz. »Wir starten in…« »Und ob wir starten werden!« unterbrach ihn Arnold. Er hockte sich auf die Schreibtischkante. »Ich habe uns soeben eine Menge Geld gespart.« »O nein!« rief Gregor. »Was hast du denn angestellt?« »Überleg dir nur einmal, welche ungeheure Verschwendung bei einer durchschnittlichen Expedition getrieben wird«, sagte Arnold großartig. »Wir schleppen 2305 Artikel mit, nur weil wir vielleicht und unter gewissen Umständen einen davon brauchen könnten. Dadurch wird unsere Nutzlast reduziert, wir können uns kaum noch bewegen, und brauchen können wir das meiste Zeug doch nie.« »Höchstens ein- oder zweimal«, sagte Gregor. »Und dann rettet uns das Zeug das Leben.« »Das habe ich mit in Betracht gezogen«, sagte Arnold. »Ich habe mir das ganze Problem sorgfältig überlegt. Dabei ist es mir gelungen, die Ladeliste erheblich zusammenzustreichen. Mit ein bißchen Glück habe ich gefunden, was man auf einer solchen Expedition wirklich braucht. Den einen wirklich notwendigen Gegenstand.« Gregor erhob sich und funkelte seinen Partner aus seiner überlegenen Höhe herab an. Er sah schon das Chaos vor Augen, aber er beherrschte sich, wenn es ihm auch schwerfiel. »Arnold«, sagte er. »Ich weiß nicht, was du gemacht hast. Aber jetzt schaffst du auf der Stelle die 2305 Artikel an Bord, und zwar dalli!« »Geht nicht«, sagte Arnold mit nervösem Lachen. »Das Geld ist futsch. Aber das Ding wird sich von allein bezahlt machen.« »Was für ein Ding?« – »Das einzige Ding, was man wirklich braucht. Komm mit zum Schiff, ich zeig’s dir.« Gregor brachte kein weiteres Wort mehr aus ihm heraus. Auf der langen Fahrt zum Kennedy-Raumhafen lächelte Arnold geheimnisvoll vor sich hin. Ihr Schiff stand bereits im Startgerüst, bereit zum Abheben in wenigen Stunden.
Mit einer weit ausholenden Geste stieß Arnold die Luke auf und rief: »Da! Was du vor dir siehst, ist das Höchste, was sich eine Expedition nur wünschen kann.« Gregor trat ein. Er sah vor sich eine große, phantastisch aussehende Maschine, die über und über mit Armaturen, Lämpchen und Anzeigegeräten übersät war. »Was soll das denn sein?« fragte Gregor. »Ist das nicht ein tolles Ding?« Arnold tätschelte die Maschine liebevoll. »Joe, der Interstellare Altwarenhändler, hatte das Ding dastehen. Ich hab’s ihm für’n Appel und ‘n Ei abgeluchst.« Für Gregor war die Sache damit klar. Er hatte schon früher mit Joe, dem Interstellaren Trödler, zu tun gehabt und stets hoffnungslos den kürzeren dabei gezogen. Die Apparate, die Joe verkaufte, funktionierten wohl; aber wann, wie oft und auf welche Weise, das stand auf einem ganz anderen Blatt. Gregor erklärte unerbittlich: »Nie wieder nehm’ ich einen Apparat, den Joe geliefert hat, mit in den Raum. Vielleicht können wir das Ding wenigstens noch als Schrott verkaufen.« Er sah sich schon nach einem Brecheisen um. »Warte doch!« flehte Arnold. »Ich will’s dir vorführen. Stell dir vor, wir befinden uns im All. Der Hauptantrieb versagt und fällt schließlich ganz aus. Bei genauerem Nachsehen stellen wir fest, daß sich vom Getriebe Nummer drei eine Hartmetallmutter gelöst hat. Die Mutter ist nicht mehr zu finden. Was tun wir also?« »Wir nehmen eine neue Mutter aus dem Vorrat von 2305 Artikeln, den wir für solche Notfälle an Bord haben«, antwortete Gregor grimmig. »So! Aber viertelzöllige Muttern aus Hartmetall hast du nicht mit aufgeschrieben!« rief Arnold triumphierend. »Ich habe die Liste daraufhin nachgesehen. Was nun?« »Ich weiß nicht. Sag du’s mir.« Arnold trat vor die Maschine und drückte auf einen Knopf. Dann sagte er mit lauter, deutlicher Stimme: »Hartmetallmutter, ein Viertel Zoll Durchmesser.«
Die Maschine surrte und summte. Lichter blitzten auf. Dann glitt ein Deckel zurück, und in einem Fach lag eine blitzende fabrikneue Hartmetallmutter. »So wird’s gemacht!« rief Arnold. »Hm«, machte Gregor, nicht sonderlich beeindruckt. »Das Ding stellt also Muttern her. Was kann es sonst noch?« Arnold drückte wieder auf den Knopf. »Ein Pfund frische Garnelen.« Als er den Deckel beiseite schob, lagen die bestellten Garnelen da. »Ich hätte sie enthäutet bestellen sollen«, entschuldigte sich Arnold. »Aber macht nichts.« Er drückte wieder. »Eine Graphitstange, vier Fuß lang, zwei Zoll Durchmesser.« Diesmal öffnete sich die Klappe weiter, um die Stange herausgleiten zu lassen. »Was kann das Ding sonst noch?« fragte Gregor. »Was möchtest du denn gern haben?« fragte Arnold. »Ein kleines Tigerbaby? Einen Fallstromvergaser Modell A? Eine 25-Watt-Birne oder ein Päckchen Kaugummi?« »Soll das heißen, mit dem Ding kann man alles herstellen?« fragte Gregor. »Alles und jedes. Es ist ein Konfigurator. Probier ihn selbst mal aus.« Gregor versuchte es und stellte rasch nacheinander einen Liter Trinkwasser, eine Armbanduhr und ein Glas Salatsoße her. »Hm«, machte er. »Verstehst du nun, was ich meine? Ist das nicht viel besser, als sich mit 2305 einzelnen Artikeln zu belasten? Ist das nicht viel einfacher und logischer, jeweils das herzustellen, was man gerade braucht?« »Macht einen guten Eindruck«, gab Gregor zu. »Aber…« »Aber was?« Gregor schüttelte den Kopf. Was sollte man dagegen einwenden? Er wußte es selbst nicht. Nur seine Erfahrung sagte ihm, daß kein Gerät so nützlich, so verläßlich und so geeignet ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Er überlegte lang und drückte auf den Knopf. »Ein Transistor, Serie GE 1324E.«
Die Maschine summte, dann glitt die Klappe beiseite. Ein winziger Transistor lag da. »Scheint wirklich recht gut zu sein«, gab Gregor zu. »Was machst du da?« »Garnelen enthäuten«, antwortete Arnold. Nach ihrem köstlichen Krabbencocktail erhielten die beiden Raumfahrer die Startfreigabe vom Turm. Eine Stunde später war ihr Schiff bereits im Raum. Ihr Ziel war Dennett IV, ein Planet von durchschnittlicher Größe im Sternhaufen Sycophax. Dennett war eine feuchtwarme, fruchtbare Welt, die nur einen wesentlichen Nachteil aufzuweisen hatte: zuviel Regen. Gut neun Zehntel der Zeit regnete es auf Dennett, und wenn es nicht regnete, dann drohte es zu regnen. Die Aufgabe war nicht schwierig. Die Grundlagen der Klimabeeinflussung waren seit langem bekannt, weil viele Planeten ähnliche Schwierigkeiten hatten. Die beiden würden nur wenige Tage brauchen, um den bisherigen Klimaablauf zu unterbrechen und eine Änderung herbeizuführen. Nach einer Reise ohne besondere Vorkommnisse kam Dennett in Sicht. Arnold schaltete die automatische Steuerung ab und brachte das Schiff durch die dicken Wolkenbänke hinunter. Sie sanken durch viele Meilen Nieselregen, bis schließlich Berggipfel auftauchten. Sie entdeckten eine tischflache, unfruchtbare Ebene. »Seltsame Farbe für eine Landschaft«, bemerkte Gregor. Arnold nickte. Mit geübtem Auge taxierte er die Entfernung, ging in Spiralen hinunter, ließ das Schiff über der Ebene einschweben und schaltete den Antrieb aus, nachdem das Schiff genau ausbalanciert war. »Warum es hier wohl überhaupt keine Vegetation gibt?« dachte Gregor laut. Im nächsten Augenblick bekamen sie die Antwort auf diese Frage. Das Schiff setzte nicht auf, sondern es blieb eine Sekunde lang in der Luft hängen und krachte dann durch die »Ebene« weitere drei Meter tief auf die Oberfläche des Planeten hinunter.
Die scheinbare Ebene war nichts weiter als Nebel von einer Dichte, wie ihn anscheinend nur Dennett hervorbringen konnte. Hastig schnallten sie sich ab und betasteten prüfend verschiedene Zähne, Knochen und Sehnen. Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß bei ihnen selbst nichts gebrochen war, untersuchten sie ihr Schiff. Der Aufprall hatte dem armen, alten Kasten gar nicht gutgetan. Funkanlage und Radiopilot waren vollkommen kaputt. Zehn Platten am Heck hatten sich eingebeult, aber am schlimmsten war, daß einige empfindliche Teile der Steuerung gebrochen waren. »Trotzdem haben wir noch Glück gehabt«, sagte Arnold. »Ja«, murmelte Gregor und starrte hinaus in den dicken Nebel. »Aber beim nächstenmal machen wir einen Instrumentenanflug.« »Ich bin froh, daß es so gekommen ist«, sagte Arnold. »Jetzt wirst du erleben, wie lebenswichtig der Konfigurator ist. Los, gehen wir an die Arbeit.« Sie stellten eine Liste der beschädigten Teile zusammen. Arnold trat vor den Konfigurator, drückte auf den Knopf und sagte: »Eine Platte für den Antrieb, sechzehn mal sechzehn Zentimeter, einen halben Zoll dick, Stahllegierung 342.« Prompt lieferte sie die Maschine. »Wir brauchen zehn Stück«, erinnerte Gregor. »Ich weiß.« Arnold drückte auf den Knopf. »Noch eine.« Die Maschine rührte sich nicht. »Vermutlich muß ich die ganze Anweisung wiederholen«, sagte Arnold. Er drückte den Knopf wieder ein und sagte: »Platte für den Antrieb, sechzehn mal sechzehn Zentimeter, einen halben Zoll dick, Stahllegierung 342.« Nichts. »Das ist seltsam«, murmelte Arnold. »Ja, wirklich«, sagte Gregor und bekam ein seltsam flaues Gefühl in der Magengegend. Arnold versuchte es noch einmal, wieder erfolglos. Er dachte eine Weile nach, drückte auf den Knopf und sagte: »Eine Plastik-Teetasse.«
Die Maschine lieferte eine Teetasse aus leuchtendblauem Plastikmaterial. »Noch eine«, sagte Arnold. Als sich der Konfigurator nicht rührte, verlangte Arnold eine Wachskreide. Die Maschine gab sie ihm. »Noch eine Wachskreide«, sagte Arnold. Da reagierte die Maschine nicht. »Das ist interessant«, sagte Arnold. »An diese Möglichkeit hätte ich eigentlich denken sollen.« »An welche Möglichkeit?« »Anscheinend liefert der Konfigurator alles – aber nur einmal.« Arnold experimentierte weiter und ließ die Maschine einen Bleistift Nummer Zwei herstellen. Er bekam ihn, aber auch nur einen einzigen. »Na großartig«, sagte Gregor. »Wir brauchen neun weitere Platten, und in der Steuerung fehlen vier genau gleiche Teile. Was machen wir nun?« »Es wird uns schon etwas einfallen«, antwortete Arnold zuversichtlich. »Hoffentlich«, sagte Gregor. Draußen begann es zu regnen. Die beiden Männer setzten sich hin und dachten nach. »Es gibt nur eine einzige Erklärung dafür«, sagte Arnold Stunden später. »Das Lustprinzip.« »Hä?« machte Gregor. Er war eingenickt, eingelullt vom gleichmäßigen Plätschern des Regens gegen die eingedrückte Schiffswand. »Diese Maschine muß irgendeine Form von Intelligenz besitzen«, erklärte Arnold. »Schließlich empfängt sie Reize, übersetzt sie in Befehle und stellt nach einem Erinnerungsbild ein Produkt her.« »Klar, das tut sie. Aber nur einmal.« »Richtig. Aber warum tut sie es nur einmal? Hier ist der Schlüssel zu unserem Problem zu suchen. Nach meiner Meinung muß es sich um eine selbstauferlegte Beschränkung handeln, verbunden mit einem Lustgefühl. Oder vielleicht einem Quasi-Lusttrieb.« »Ich kann dir nicht folgen«, sagte Gregor. »Sieh mal. Die Erbauer werden die Maschine doch nicht mit einer solchen Einschränkung konstruiert haben. Es bleibt also nur eine
Erklärung übrig: Wenn eine so komplexe Maschine gebaut wird, nimmt sie quasi-menschliche Eigenschaften an. Etwas Neues zu produzieren, gibt ihr eine quasi-menschliche Form von Vergnügen. Aber das Ding ist nur beim erstenmal neu. Danach will der Konfigurator etwas anderes herstellen.« Gregor sank in seinen apathischen Halbschlaf zurück. Arnold redete weiter. »Die Ausfüllung des vorhandenen Potentials, das will die Maschine erreichen. Höchster Wunsch des Konfigurators ist es, alles zu schaffen, was geschaffen werden kann. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre jede Wiederholung Zeitverschwendung.« »Das ist die bedenklichste Beweisführung, die mir jemals zu Ohren gekommen ist«, sagte Gregor. »Aber nehmen wir trotzdem einmal an, du hättest recht. Was könnten wir dagegen tun?« »Das weiß ich nicht«, erklärte Arnold. »Hab’ ich mir gleich gedacht.« Zum Abendessen lieferte der Konfigurator ein recht anständiges Roastbeef. Zum Nachtisch bestellten sie sich Apfelkuchen à la machine und danach scharfen Käse. Ihre Stimmung bekam merklichen Auftrieb. »Ersatz«, sagte Gregor später bei einer Zigarre ex machina. »Wir müssen es mit Ersatz versuchen. Die Legierung 342 ist nicht das einzige Material, das sich für die Platten verwenden läßt. Es gibt noch eine Menge anderer Stoffe, die wenigstens die Rückkehr zur Erde aushalten werden.« Der Konfigurator ließ sich keine Eisenplatte und auch keinerlei eisenhaltige Bleche mehr entlocken. Sie verlangten eine Platte aus Bronze und bekamen sie auch. Aber danach sträubte sich die Maschine gegen Kupfer und Zinn. Aluminium wurde genehmigt, ebenso Kadmium, Platin, Gold und Silber. Eine Wolframplatte hatte Seltenheitswert; Arnold hätte zu gern gewußt, wie die Maschine sie geschaffen hatte. Gegen Plutonium legte Gregor sein Veto ein. Allmählich gingen ihnen die geeigneten Metalle aus. Arnold stieß auf extrazähes Keramik, das sich gut verwenden ließ. Die letzte Platte bestand aus reinem Zink. Die Edelmetalle würden in der Hitze des Raums natürlich zum Schmelzen neigen; doch bei entsprechender Kühlung würden sie
vielleicht bis zur Erde halten. Alles in allem hatten sie gute Arbeit geleistet. Die beiden Partner toasteten sich mit einem ausgezeichneten, wenn auch leicht ölig schmeckenden Sherry zu. Am nächsten Tag vernieteten sie die Platten und betrachteten dann ihr Kunstwerk. Der Hinterteil des Raumschiffs sah aus wie ein Flickenteppich. »Ich finde das sehr hübsch«, meinte Arnold. »Hoffentlich hält es«, sagte Gregor. »Und nun zu den Steuerungselementen.« Hier standen sie vor einem ganz anderen Problem. Es fehlten vier genau gleiche Teile – empfindliche, genau abgestimmte Dinger aus Glas und Draht. An Ersatz war hier nicht zu denken. Das erste Ersatzteil lieferte die Maschine ohne zu zögern. Aber dabei blieb es auch. Um die Mittagszeit hatten beide Männer die Nase voll. »Irgendeine Idee?« fragte Gregor… »Im Augenblick nicht. Machen wir erst einmal Mittagspause.« Sie hatten Appetit auf Krebssalat und bestellten ihn bei der Maschine. Der Konfigurator summte eine Weile, lieferte aber nichts. »Was soll das denn nun wieder?« fragte Gregor. »Ich hab’s befürchtet«, murmelte Arnold. »Was befürchtet? Wir haben doch noch keine Krebse gehabt.« »Nein«, sagte Arnold. »Aber Garnelen haben wir bestellt. Beides sind Schalentiere. Ich fürchte, der Konfigurator geht bei seinen Entscheidungen inzwischen schon nach Klassen vor.« »Dann mach lieber ein paar Dosen auf«, sagte Gregor. Arnold lächelte unsicher. »Nun«, sagte er, »nachdem ich den Konfigurator gekauft hatte, dachte ich mir, es sei nicht mehr nötig, ich meine…« »Keine Dosen?« »Nein.« Sie wandten sich wieder an die Maschine und verlangten Lachs, Forelle, Thunfisch – ergebnislos. Dann versuchten sie es mit Koteletts, Lammschlegel und Kalbsbraten. Nichts.
»Der Konfigurator scheint unser Roastbeef von gestern abend als repräsentativ für alle Säugetiere anzusehen«, sagte Arnold. »Das ist interessant. Vielleicht gelingt es uns, eine neue Theorie der Arten…« »Und dabei werden wir verhungern«, sagte Gregor. Er versuchte es mit Brathähnchen, und diesmal reagierte der Konfigurator ohne Zögern. »Heureka!« schrie Arnold. »Verdammt, ich hätte Truthahn verlangen müssen«, sagte Gregor. Auf Dennett regnete es immer weiter, und Nebelschwaden wallten um das buntgeflickte Heck des Raumschiffs. Arnold stellte lange Reihen von Berechnungen mit dem Rechenschieber an. Gregor trank unterdessen den trockenen Sherry aus und versuchte erfolglos, eine Kiste Whisky zu bestellen; dann setzte er sich wieder an seine Patience. Die Überreste des Hähnchens gaben ein frugales Abendessen ab, dann fuhr Arnold mit seinen Berechnungen fort. »Es könnte gehen«, sagte er. »Was könnte gehen?« »Das Lustprinzip.« Er stand auf und begann in der Kabine auf und ab zu marschieren. »Diese Maschine besitzt quasimenschliche Eigenschaften. Gewiß verfügt sie auch über ein gewisses Maß an Lernfähigkeit. Ich glaube, wir können ihr beibringen, daß es Freude macht denselben Gegenstand mehrfach herzustellen – nämlich die Teile für die Steuerung.« »Ein Versuch kann nicht schaden«, sagte Gregor. Bis spät in die Nacht hinein redeten sie mit der Maschine. Arnold hielt ihr einen überzeugenden Vortrag über die Freuden der Wiederholung. Gregor sprach voller Hochachtung über die ästhetischen Werte, die dadurch zum Ausdruck kommen, daß man ein kunstvolles Objekt wie ein Steuerungselement nicht einmal, sondern mehrfach herstellt, wobei jedes Stück dem anderen genau gleichen muß. Daraufhin wurde Arnold lyrisch und erzählte der Maschine etwas über die Freude, die unvergleichliche Freude, immer wieder dieselben Teile machen zu dürfen – immer wieder, ohne Ende. Dasselbe Teil aus demselben Material, hergestellt in gleichmäßigem Tempo – ein absoluter Höhepunkt, ein unvergleichliches Erlebnis! Noch dazu, warf Gregor ein, wo das doch,
philosophisch gesehen, ein so wunderbarer Gedanke sei, und so großartig und vollkommen den besonderen Anlagen und Fähigkeiten einer Maschine gemäß! Als begriffliches System, fuhr er fort, käme die Wiederholung im Gegensatz zur Schöpfung dem Zustand der Entropie nahe, die automatisch die Vollkommenheit verkörpere. Der Konfigurator tat durch Klicken und Flackern kund, daß er zuhörte. Und als die Dämmerung feucht und bleich an Dennetts Horizont heraufkroch, drückte Arnold auf den Knopf und gab ein Element für die Steuerung in Auftrag. Die Maschine zögerte. Unentschlossen flackerten die Lämpchen, Zeiger schlugen aus, Ungewißheit breitete sich aus. Es knackte. Der Schieber glitt zurück. Und da lag ein weiteres Steuerungselement! »Es hat geklappt!« rief Gregor und schlug Arnold die Hand auf die Schulter. Rasch wiederholte er die Anweisung. Aber diesmal gab der Konfigurator einen lauten, leidenschaftlichen Summton von sich. Aber sonst nichts. Gregor versuchte es immer wieder. Aber nun gab es bei der Maschine kein Zögern und keine Ersatzteile mehr. »Was ist denn jetzt wieder schiefgegangen?« fragte Gregor. »Das ist doch ganz klar«, sagte Arnold betrübt. »Sie hat’s mit der Wiederholung versucht, weil sie meinte, vielleicht etwas versäumt zu haben. Aber der Versuch hat den Konfigurator davon überzeugt, daß er an der Wiederholung keinen Spaß hat.« »Eine Maschine hat keinen Spaß an der Wiederholung!« stöhnte Gregor. »Das ist unmenschlich!« »Im Gegenteil«, sagte Arnold unglücklich. »Es ist nur allzu menschlich.« Inzwischen wurde es Zeit zum Essen, und die beiden machten sich auf die Suche nach Nahrungsmitteln, die ihnen der Konfigurator noch zu liefern beliebte. Ein Gemüseteller bot keine Schwierigkeiten, aber er sättigte auch nicht sehr. Dann genehmigte ihnen die Maschine einen Laib Brot, aber keinen Kuchen. Milchprodukte waren aus, da sie am Vortag Käse gehabt hatten. Nach einer Stunde vergeblichen Bemühens
spendierte ihnen die Maschine schließlich ein Pfund Walsteak, weil sie sich offenbar über die biologische Zugehörigkeit im Ungewissen war. Gregor machte sich wieder an die Arbeit und versuchte, die Maschine von den Freuden der Wiederholung zu überzeugen. Ein ständiges Summen und das gelegentliche Aufflackern von Lämpchen zeigten an, daß der Konfigurator immer noch zuhörte. Arnold bewaffnete sich mit verschiedenen Nachschlagewerken und machte sich an die Ausarbeitung einer eigenen Methode. Ein paar Stunden später hob er mit einem triumphierenden Ruf den Kopf. »Ich wußte, daß ich es finden würde!« Gregor hob hoffnungsvoll den Kopf. »Was?« »Einen Ersatz für das Steuerelement!« Er hielt Gregor das Buch unter die Nase. »Sieh mal. Ein Wissenschaftler hat das Ding vor fünfzig Jahren auf Vednier II entwickelt. Für moderne Begriffe ist es unbeholfen, aber funktionieren wird es. Und es läßt sich in unser Schiff einbauen.« »Aber woraus besteht das Element?« fragte Gregor. »Das ist es ja gerade! Es muß klappen – das Element besteht nämlich aus Gummi.« Rasch drückte er auf den Knopf und las der Maschine die Beschreibung des Steuerelements aus dem Buch vor. Nichts passierte. »Du mußt das Vednier-Element liefern!« schrie er die Maschine an. »Wenn du’s nicht tust, ist das gegen deine eigenen Grundsätze!« Er drückte wieder auf den Knopf und las die Beschreibung mit überdeutlicher Aussprache noch einmal vor. Nichts. Plötzlich kam Gregor ein furchtbarer Verdacht. Er ging um den Konfigurator herum, fand das, was er gefürchtet hatte, und machte Arnold darauf aufmerksam. An der Rückseite war ein Schildchen der Herstellerfirma befestigt: ›Konfigurator, Modell 3. Vednier-Labors. Made in Vednier II.‹ »Also haben sie das Ding bereits bestellt«, sagte Arnold. Gregor schwieg. In dieser Situation erübrigte sich jedes weitere Wort.
Im Schiff bildete sich allmählich Schimmel, und die Stahlplatte am Heck zeigte die ersten Roststellen. Die Maschine hörte sich die Lobeshymnen auf die Wiederholung, von den beiden Gestrandeten in verzweifelter Begeisterung vorgetragen, immer noch an, rührte sich aber immer noch nicht. Dann erhob sich erneut das Ernährungsproblem. Obst kam wegen des Apfelkuchens nicht in Frage, und auch alle Sorten Fleisch, Fisch, Milchprodukte und Teigwaren fielen weg. Schließlich bestand ihre klägliche Mahlzeit aus Froschschenkeln, gebackenen Heuschrecken nach altem chinesischem Rezept und Leguanfilet. Da nun auch Kriechtiere, Insekten und Amphibien aufgebraucht waren, wußten sie, daß ihnen die Maschine keine weitere Nahrung mehr liefern würde. Bei den zwei Männern machte sich die Anspannung bemerkbar. Gregors langes Gesicht wirkte noch hagerer als sonst. Arnold entdeckte Spuren von Schimmel in seinem Haar. Draußen regnete es ohne Unterlaß. Das Wasser lief über die Bullaugen hinunter auf den durchweichten Boden. Das Raumschiff begann unter dem eigenen Gewicht einzusinken. Zur nächsten Mahlzeit fiel ihnen nichts mehr ein. Dann kam Gregor auf eine letzte Idee. Er überlegte sorgfältig. Ein weiterer Fehlschlag hätte für ihre hart angeschlagene Moral verheerende Folgen gehabt. Aber so gering auch die Erfolgschancen erschienen, versuchen mußte er es. Langsam näherte er sich dem Konfigurator. Arnold sah zu ihm auf und erschrak, als er das wildentschlossene Leuchten in den Augen seines Partners sah. »Gregor! Was hast du vor?« »Ich werde diesem Ding einen letzten Befehl erteilen«, sagte Gregor heiser. Mit zitternden Fingern drückte er auf den Knopf und flüsterte dem Konfigurator seine Anweisung in den Empfänger. Sekundenlang geschah nichts. Dann schrie Arnold: »Weg da!« Die Maschine zitterte und bebte. Lämpchen flackerten, Zeiger schlugen wild aus. Thermometer und Amperemeter schlugen bis weit in den roten Gefahrenbereich aus.
»Was hast du angefordert?« fragte Arnold. »Was soll das arme Ding produzieren?« »Ich habe nicht gesagt, daß es etwas produzieren soll«, antwortete Gregor. »Ich hab’ ihm gesagt, es soll sich reproduzieren.« Der Konfigurator erbebte krampfhaft und stieß eine schwarze Rauchwolke aus. Die beiden Männer husteten und schnappten halb erstickt nach Luft. Als sich der Qualm verzog, stand der Konfigurator immer noch da, auch wenn der Lack stellenweise abgesprungen und mehrere Zeiger verbogen waren. Daneben stand, mit einem Film glänzend-schwarzem Maschinenöl überzogen, ein zweiter Konfigurator. »Du hast es geschafft!« rief Arnold. »Du hast uns gerettet!« »Ich hab’ noch mehr geschafft«, sagte Gregor erschöpft, aber befriedigt. »Ich hab’ uns ein Vermögen verdient.« Er wandte sich an den neuen Konfigurator, drückte auf den Knopf und befahl: »Reproduzier dich!« Eine Woche später kehrten Arnold, Gregor und die drei Konfiguratoren in den Kennedy-Raumhafen zurück. Ihr Auftrag auf Dennett war erledigt. Gleich nach der Landung verließ Arnold das Schiff und fuhr mit einem Taxi erst zur Canal Street, dann ins Stadtzentrum von New York. Seine Geschäfte waren bald abgewickelt, und ein paar Stunden später war er wieder am Schiff. »Alles in Ordnung!« rief er Gregor zu. »Ich hab’ mich mit mehreren Juwelieren in Verbindung gesetzt. Wir können etwa zwanzig große Steine absetzen, ohne den Markt zu drücken. Danach werden wir die Konfiguratoren eine Zeitlang zur Platinproduktion einsetzen, denke ich, und dann… Ist etwas?« Gregor sah ihn mißmutig an. »Fällt dir nichts auf?« »Was denn?« Arnold sah sich in der Kabine um, dann sah er Gregor an, dann die Konfiguratoren. Da fiel es ihm auf. In der Kabine standen nicht drei, sondern vier Konfiguratoren. »Du hast sie einen weiteren reproduzieren lassen?« fragte Arnold. »Das macht doch nichts. Gib ihnen einfach Anweisung, je einen Diamanten herzustellen…«
»Du hast immer noch nicht begriffen«, sagte Gregor betrübt. »Paß mal auf!« Er drückte auf den Knopf des nächststehenden Konfigurators und sagte: »Einen Diamanten.« Der Konfigurator begann zu zittern. »Du und dein verdammtes Lustprinzip!« sagte Gregor. »Wiederholung! Die verdammten Maschinen sind sexbesessen!« Die Maschine bebte und schüttelte sich und produzierte… Noch einen Konfigurator.
Redferns Labyrinth An einem Morgen, der sich ansonsten durch nichts auszeichnete, fand Charles Angier Redfern in seiner Post zwei eigenartige Briefe. Der eine Brief steckte in einem schlichten, weißen Umschlag, und im ersten Augenblick glaubte Redfern, die Handschrift wiederzuerkennen. Er riß den Umschlag auf und zog einen Brief ohne Anrede und ohne Unterschrift heraus. Nachdem er eine ganze Weile die fremde und doch vertraute Handschrift betrachtet hatte, ging ihm auf, daß es sich um eine Nachahmung seiner eigenen handelte. Mit mäßigem Interesse und der Gewißheit, daß er sich langweilen würde, laß er folgenden Text: »Sehr vielen Behauptungen in Redferns Buch mit dem unpassenden Titel ›Labyrinth‹ wird zweifellos kaum widersprochen werden, da sie den meisten Lesern ohnehin gleichgültig sind. Redferns ›Labyrinth‹ beweist nichts anderes als Redferns eigene Verwirrung und Unfähigkeit. Man spürt, daß es Redfern nicht gelungen ist, eine demütige und sklavische Unterwürfigkeit loszuwerden, seinen grenzenlosen Wunsch, es allen recht zu machen. Wegen dieses eklatanten Mißerfolgs könnte der Leser zunächst das widersprüchliche Gefühl haben, daß er einerseits die bescheidene Kürze des ›Labyrinths‹ bedauert, und sich andererseits sehnlichst wünscht, daß es noch kürzer wäre. Doch dieses Gefühl geht rasch vorbei, und der Leser entdeckt, daß seine vorherrschende Stimmung ein gedämpfter Widerwille gegen jede persönliche Einstellung ist. Dankbar stellt er fest, daß er dem Buch gleichgültig gegenübersteht. Und obwohl sicherlich kein Anlaß dazu besteht, das ›Labyrinth‹ in der Erinnerung zu behalten, ist es dem Leser sogar zum Vergessen zu nichtssagend. So stellt der Leser Redferns Langeweile seine eigene noch viel gähnendere Langeweile entgegen; er ahmt Redferns feindselige
Einstellung nach und übertrifft sie leicht. Er weigert sich sogar, Redferns Vorhandensein zur Kenntnis zu nehmen, und dabei überkommt ihn unwillkürlich das Gefühl, das ›Labyrinth‹ überhaupt nicht kennengelernt zu haben. Damit hat er natürlich recht; auch bei noch so häufigen Begegnungen könnte diese ausgesprochen logische Schlußfolgerung nicht erschüttert werden. Man könnte dieses ›Labyrinth‹, so scheint es, als beispielhaftes Denkmal der Langeweile hinstellen, trüge es nicht den Makel – wie typisch für Redfern! – eines einzigen herausfordernden Gedankens. Dieser Gedanke wird im Vorschlag 113 vorgetragen: Jedermann weiß, daß das ›Labyrinth‹ seine Zufallsopfer mit eisernem Gesetz beherrscht, doch nur wenige Menschen erkennen die logischen Konsequenzen: Nämlich daß das ›Labyrinth‹ selbst eines dieser Opfer sein muß und daß es damit gleichermaßen den Regeln eines lästigen Gesetzes unterworfen bleibt. Über dieses ›Gesetz‹ läßt sich Redfern nicht aus – ein Lapsus, mit dem zu rechnen war. Doch kann man es mühelos aus seinem ansonsten bedeutungslosen Vorschlag 282 ableiten: Die Vorsehung ist entgegen allem äußeren Anschein stets gnädig. Daraus ergibt sich nach Redfern: Das Labyrinth beherrscht die Menschen, aber die Vorsehung beherrscht das Labyrinth. Woher wollen wir das wissen? Das Gesetz sagt es uns, dem das Labyrinth zusammen mit allen anderen Dingen außer der Vorsehung unterworfen ist. Und was für ein Gesetz ist das, das dem Labyrinth aufgetragen ist, sich selbst zur Kenntnis zu bringen? Und welche Beweise haben wir dafür? Die Tatsache, daß Redfern, der miserabelste aller Plagiatoren, es weiß? Doch nun möchten wir gern genau wissen, wie dieses Gesetz aussieht, dem das Labyrinth unterworfen ist. Wie soll sich das Labyrinth zur Kenntnis bringen? Ohne eine nähere Erklärung dieses Punktes ist alles andere nutzlos. Redfern kann uns dabei auch nicht weiterhelfen. Er kann es uns nicht sagen, und selbst wenn er es könnte, würde er es vermutlich nicht tun. Daher bleiben wir, was die Beschreibung des für das Labyrinth zuständigen Gesetzes und seine besondere Form und Wirkungsweise sowie mehrere brauchbare Hinweise zum leichteren Erkennen betrifft, auf den ansonsten unbedeutenden Charles Angier Redfern angewiesen.«
Redfern ließ den Brief sinken. Die verkrampften Andeutungen langweilten ihn. Die spitzfindige und willkürliche Art sowie der ganz allgemein verleumderische Ton des Briefes gaben ihm das seltsam beruhigende Gefühl, daß es gar nichts ausmacht, wenn man als Irrtum erkennt, was man zuvor für die Wahrheit gehalten hat. Er wandte sich dem zweiten Brief zu. Der Umschlag war ungewöhnlich lang und schmal und von fahlblauer Farbe. Er roch schwach, aber unmißverständlich nach Tang. Sein in blassen Blockbuchstaben aufgemalter Name stimmte, aber seine Adresse war falsch: Bruckner Boulevard Nr. 132. Die Adresse war durchgestrichen und daneben die Imitation eines amtlichen Stempels gemalt: zurück an Absender. Eine Absenderadresse stand auf dem Umschlag allerdings nicht. Auch der Stempel war mit Kreide durchgestrichen, und jemand hatte daneben geschrieben: eventuell 137, 12. Straße West. Das war die richtige Adresse. Redfern hielt diese Einzelheiten für überflüssig. Er riß den Umschlag auf und zog den Brief hervor. Er war nachlässig auf ein achtlos abgerissenes Stück braunes Packpapier gekritzelt. Er lautete: »Hallo! Sie wurden als einer der wenigen wahrhaft modernen und einsichtigen Menschen ausgewählt, für die das Neue wichtiger ist als die Angst, und deren Drang nach dem Ungewöhnlichen dem angeborenen guten Geschmack und sicheren Stilgefühl entspricht. Vor allen Dingen halten wir aber gerade Sie für den Typ des großzügigen Menschen ohne falsche Hemmungen, mit dem wir gern befreundet wären. Nehmen Sie deshalb unsere Einladung zur großen Eröffnung unseres Labyrinths wahr! Dieses Labyrinth – einzig in seiner Art an der ganzen Ostküste – ist, wie wir wohl nicht zu betonen brauchen, voller echter Überraschungen. Unsere Kurven haben keine Ecken! Dieses Labyrinth läßt alle Beschreibungen ärmlich erscheinen und alle Sehnsüchte kindisch. Bitte, rufen Sie uns an, damit wir eine Ihnen genehme Zeit für den Eintritt vereinbaren können. Es kostet Sie nichts als nur Leben, Freiheit und persönliches Glück.
Rufen Sie uns bald an. Und – verbindlichen Dank!« Statt einer Unterschrift stand da nur eine Telefonnummer. Ärgerlich spielte Redfern mit dem Brief. Es war offenbar das Werk eines übereifrigen englischen Majors, der gezwungen fröhlich und munter wirken wollte. Der Verfasser des Briefes hatte es offenbar darauf abgesehen, Redfern zu foppen. Deshalb beschloß Redfern, ihn wieder zu foppen, indem er so tat, als nehme er den Brief ernst. Er griff nach dem Telefon und wählte die angegebene Nummer. Es meldete sich eine etwas nörglerische, aber resigniert klingende weibliche Stimme, die einer Frau in mittleren Jahren zu gehören schien: Redfern Verhaltensforschungs-Institut. Redfern runzelte die Stirn, räusperte sich und sagte: »Ich wollte mich nach dem Labyrinth erkundigen.« »Wonach?« fragte die Frau. »Nach dem Labyrinth.« »Welche Nummer haben Sie gewählt?« Redfern sagte es ihr. Die Frau bestätigte ihm, daß es die richtige Nummer des Redfern-Instituts sei. Aber von einem Labyrinth wisse sie nichts. Es sei denn, er beziehe sich auf die wohlbekannte Serie L von Irrgärten, die für Rattentests verwendet würde. Diese Serie L, fuhr sie fort, sei in verschiedenen Modellen und Preislagen, je nach Größe, lieferbar, angefangen vom L-1001, einem einfachen System mit zwei Wahlmöglichkeiten und zwei Quadratmetern Grundfläche, bis hinauf zum L-10023, einem achtzig Quadratmeter großen Modell mit mehrfachen, beliebigen Wahlmöglichkeiten, das sich für Vorträge vor einem größeren Publikum eigne. »Nein«, sagte Redfern, »ich fürchte, wir sprechen da von zwei verschiedenen Dingen.« »Woran hatten Sie gedacht?« fragte die Frau. »Wie Sie aus unserer Anzeige im Branchentelefonbuch ersehen können, bauen wir auch Irrgärten nach persönlichen Wünschen.«
»Aber ich will doch gar nicht, daß Sie für mich einen Irrgarten bauen«, sagte Redfern. »Sehen Sie, nach dem Brief, den ich erhalten habe, muß dieses Labyrinth oder dieser Irrgarten bereits existieren und ziemlich groß sein. Er muß anscheinend für menschliche Wesen konstruiert worden sein.« »Sagen Sie, wovon reden Sie da eigentlich?« fragte die Frau äußerst argwöhnisch. Ein wenig unbeholfen antwortete Redfern: »Es geht um den Brief, den ich bekommen habe. Ich bin zur Eröffnung dieses Labyrinths eingeladen worden, und auf dem Brief steht Ihre Telefonnummer, wo ich weitere Informationen…« »Hören Sie mal«, unterbrach ihn die Frau in verärgertem Ton, »ich weiß nicht, ob Sie ein Spinner sind oder ob Sie sich mit mir einen Spaß erlauben, aber das Redfern-Institut ist eine seit fünfunddreißig Jahren geachtete und angesehene Einrichtung, und wenn Sie mich noch einmal mit diesem Unsinn belästigen, lasse ich feststellen, woher dieser Anruf kommt – und Sie bekommen die ganze Strenge des Gesetzes zu spüren!« Damit legte sie auf. Redfern lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er merkte, daß seine Hände zitterten. Nachdem er den Trick durchschaut hatte, zu dem der Brief wohl bestimmt war, hatte er es mit einem Gegentrick versucht und war dabei einem zweiten Trick der anderen Seite zum Opfer gefallen. Er kam sich lächerlich vor. Dann kam ihm ein bestürzender Gedanke. Er schlug das Telefonbuch von Manhattan auf und sah unter ›Redfern VerhaltensforschungsInstitut‹ nach. Eine solche Firma war nicht verzeichnet. Er rief die Auskunft und erkundigte sich nach den Neueintragungen, dann nach den regulären Eintragungen; doch seine Ahnung trog ihn nicht, es gab kein Redfern-Institut. Schließlich griff er zum Branchentelefonbuch, schaute unter Irrgärten, Labyrinth, Forschung, Verhalten, wissenschaftliche Geräte und Laboreinrichtung nach. Es gab weder eine Firma Redfern noch eine Firma, die sich auf die Herstellung von Irrgärten spezialisiert hatte. Ihm ging auf, daß er bei dem Bemühen,
den zweiten Trick zu durchschauen, unweigerlich ein drittes Mal gefoppt worden war. Und damit war diese Serie noch keineswegs beendet. Doch inzwischen lagen ihm natürlich zu viele Beweise vor, als daß er sich hätte mit dem Gedanken begnügen können, gefoppt worden zu sein. Diese Serie war eigentlich schon Teil des Labyrinths selbst, ein kleiner Bogen, der sofort zum Ausgangspunkt zurückführte. Oder zumindest zu einem Punkt, der dem Ausgangspunkt sehr ähnlich sah. Einer der wichtigsten Aspekte eines jeden Labyrinths ist die Wiederholung. Diese hier war getreulich ausgeführt: nach außen hin durch die Verwendung von Redferns Namen in beiden Briefen und die Nachahmung seiner Handschrift, nach innen durch die wiederholte Widersprüchlichkeit einer jeden Aussage. Die Beschreibung des Gesetzes des Labyrinths – von dem versichert wurde, daß er es wußte und doch nicht wußte – war ganz einfach. Es mochte sich dabei um eine Beschreibung seiner eigenen Gefühle hinsichtlich des Irrgartens handeln: Der erzwungene Doppelsinn hatte ihn gelangweilt. Die spitzfindige, willkürliche Art und der allgemein verleumderische Ton des Briefes hatten ihm das seltsam beruhigende Gefühl verliehen, das man dann bekommt, wenn man etwas als irrig erkennt, was man zuvor für die Wahrheit gehalten hat. Indem er diesen Gedanken nachging, sah er, daß der erste Brief schon eigentlich das Labyrinth war – dieses sklavische, sich immer wiederholende Denkmal der Langeweile, dessen Vollkommenheit nur durch ein bedeutsames Detail gestört wurde: die eigene Existenz. Der zweite Brief war die obligatorische Wiederholung des ersten, womit die Voraussetzungen für ein Labyrinth erfüllt waren. Es kamen noch weitere Gesichtspunkte in Frage, doch an dieser Stelle ging Redfern auf, daß er das alles womöglich schon einmal zuvor gedacht hatte.
Der Beweis Seine Arme waren sehr müde, aber er griff noch einmal nach Hammer und Meißel. Er war fast fertig. Nur noch wenige Buchstaben, und die Inschrift war beendet – unauslöschlich in den harten Granit geschlagen. Er höhlte den letzten Punkt aus und richtete sich auf. Dann ließ er seine Werkzeuge achtlos auf den Boden der Höhle fallen. Stolz wischte er sich den Schweiß von seinem schmutzigen, stoppelbärtigen Gesicht und las, was er geschrieben hatte. ›Ich erhob mich aus dem Schlamm des Planeten. Ich war nackt und wehrlos und machte mir Werkzeuge. Ich baute und zerstörte, schuf und vernichtete. Ich schuf ein Ding, das größer war als ich selbst und das mich zugrunde richtete. Mein Name ist Mensch, und dies ist mein letztes Werk.‹ Er lächelte. Es war gut, was er da geschrieben hatte. Vielleicht nicht sehr literarisch, aber ein Lob auf die menschliche Rasse, verfaßt vom letzten Menschen. Er betrachtete die Werkzeuge zu seinen Füßen. Da er sie nicht mehr brauchte, löste er sie auf und hockte sich mitten im Geröll der Höhle hin. Er war hungrig von der Arbeit und schuf sich ein Essen. Er sah die Gerichte eine Weile an und überlegte, was da wohl noch fehlte. Dann wurde er ein wenig verlegen und schuf Tisch und Stuhl, Bestecke und Teller. Er hatte diese Dinge schon wieder vergessen. Obgleich er es überhaupt nicht eilig hatte, aß er rasch und wurde sich der seltsamen Tatsache bewußt, daß er jedesmal Hackbraten, Kartoffelbrei, Bohnen, Brot und Eiscreme schuf, wenn ihm nichts Besseres einfiel. Sicherlich die Macht der Gewohnheit, dachte er. Als er fertig war, ließ er die Überreste der Mahlzeit verschwinden und gleichzeitig auch Teller, Besteck und den Tisch. Den Stuhl behielt er zurück. Er saß darauf und betrachtete nachdenklich die Inschrift. »Gut
gelungen«, sagte er zu sich. »Aber außer mir wird sie wohl niemals ein Mensch zu lesen bekommen.« Er war ziemlich sicher, daß er der letzte lebende Mensch auf Erden war. Der Krieg hatte ganze Arbeit geleistet. Er wurde so gründlich geführt, wie es nur der Mensch, das pedantischste aller Tiere, fertigbringt. In diesem Krieg hatte es keine Neutralen gegeben, keine Politik der Mitte, der Verständigung. Man stand entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Bakterien, Gas und Strahlungen hatten die Erde wie eine gewaltige Wolke umgeben. In den ersten Tagen dieses Krieges war mit fast eintöniger Regelmäßigkeit eine unüberwindliche Geheimwaffe der anderen gefolgt. Und nachdem das letzte Land auf den letzten Knopf gedrückt hatte, regneten immer noch die automatisch gelenkten und angetriebenen Bomben auf die Erde herab. Die unglückliche Erde war von einem Pol zum anderen ein gewaltiger Trümmerhaufen, ohne Lebewesen, ohne Pflanze, ohne Tier. Einen guten Teil davon hatte er selbst beobachtet. Er hatte abgewartet, bis er ziemlich sicher sein konnte, daß auch die letzte Bombe gefallen war; dann erst war er gelandet. Sehr schlau, dachte er bitter. Er sah aus der Mündung der Höhle hinunter auf die lavabedeckte Ebene, in der sein Schiff niedergegangen war, und auf die zerklüfteten Berge dahinter. Du bist ein Verräter – aber wen kümmert das schon? Er war Captain in der Wehrmacht der westlichen Hemisphäre gewesen. Schon am zweiten Kriegstag war ihm klargeworden, wie das Ende aussehen würde. Er hatte einen Raumkreuzer mit Konserven, Nahrungsmitteln und Wasser beladen und war geflohen. Er wußte, daß man ihn inmitten all der Verwirrung und Vernichtung kaum vermissen würde; wenige Tage später war schon niemand mehr übrig, der ihn hätte vermissen können. Er hatte das große Raumschiff zu der der Erde abgewandten Seite des Mondes gesteuert und dort gewartet. Es war ein Zwölf-Tage-Krieg – er selbst hatte mit vierzehn gerechnet – , aber er mußte fast sechs Monate warten, bis die letzten automatisch gesteuerten Bomben und Raketen vom Himmel gefallen waren. Dann war er zurückgekehrt. Nur um festzustellen, daß er der einzige Überlebende war…
Er hatte erwartet, daß auch andere den Wahnsinn erkennen, Schiffe mit Vorräten beladen und gleich ihm zur Rückseite des Mondes fliehen würden. Aber anscheinend hatte ihnen die Zeit dazu gefehlt, selbst wenn bei einigen der Wunsch vorhanden war. Er hatte geglaubt, er würde auf verstreute Gruppen von Überlebenden stoßen, aber er konnte keine entdecken. Der Krieg war zu total gewesen. Bei der Landung auf der Erde hätte er leicht umkommen können, da selbst die Luft verseucht war. Er hatte sich nicht darum gekümmert – und war am Leben geblieben. Er schien gegenüber den verschiedenen Bakterien und Strahlungsarten immun zu sein, oder vielleicht gehörte das auch mit zu seinen neuerworbenen Kräften. Er war beiden Gefahren in überreichem Maß begegnet, als er in seinem Schiff rings um die Erde reiste, von den Ruinen einer Stadt zur anderen, über verbrannte Täler und Ebenen, über versengte Berge. Er hatte keine Anzeichen von Leben gefunden – aber dafür hatte er etwas anderes entdeckt. Er konnte erschaffen. Diese Fähigkeit entdeckte er am dritten Tag seines Aufenthalts auf der Erde. Sehnsuchtsvoll hatte er sich gewünscht, ein Baum möge inmitten der geschmolzenen Felsen stehen – und ein Baum war erschienen. Den Rest des Tages hatte er mit Versuchen zugebracht und herausgefunden, daß er alles schaffen konnte, was er jemals gesehen oder wovon er gehört hatte. Was er am genauesten kannte, fiel ihm am leichtesten. Dinge, die ihm nur gesprächsweise oder aus Büchern bekannt waren – zum Beispiel Paläste –, fielen manchmal schief und ungenau aus, aber er konnte sie nachträglich vervollkommnen, indem er sich konzentriert mit den Einzelheiten befaßte. Alles, was er schuf, war dreidimensional. Nahrungsmittel schmeckten wie Nahrungsmittel und schienen sogar den normalen Nährwert zu besitzen. Er konnte etwas erschaffen, es vergessen und schlafen, und wenn er erwachte, war es immer noch vorhanden. Er konnte auch Geschaffenes rückgängig machen. Ein einziger, konzentrierter Gedanke – und das Ding, das er geschaffen hatte, verschwand. Je größer das Ding war, um so länger dauerte das Verschwindenlassen.
Auch Dinge, die er nicht gemacht hatte – Täler und Berge – konnte er verschwinden lassen, aber das dauerte sehr lange. Anscheinend war mit Materie leichter umzugehen, wenn er sie schon einmal geformt hatte. Er konnte Vögel und kleine Tiere machen, oder zumindest Dinge, die wie Vögel und kleine Tiere aussahen. Er hatte nie versucht, ein menschliches Wesen zu schaffen. Er war kein Wissenschaftler, sondern gelernter Raumfahrer. Er hatte nur eine vage Vorstellung von der Anatomie und praktisch keine Ahnung von den genetischen Grundregeln. Er hielt es für möglich, daß sich in seinen Mikroorganismen oder in seinem Gehirn oder vielleicht auch überhaupt auf der Erde irgendeine Veränderung vollzogen hatte. Doch das Warum störte ihn nicht. Er nahm es als Tatsache hin. Er sah wieder das Denkmal an. Etwas daran gefiel ihm nicht. Natürlich hätte er es auch mit dem Willen schaffen können, aber er wußte nicht, ob die Dinge, die er auf diese Weise herstellte, ihn selbst überleben würden. Sie machten zwar einen recht stabilen Eindruck, aber es war möglich, daß sie sich mit seiner eigenen Auflösung ebenfalls auflösten. Deshalb ging er einen Kompromiß ein. Er schuf Hammer und Meißel, suchte sich als Unterlage jedoch eine Granitwand aus, die er nicht geschaffen hatte. Er grub die Buchstaben in die Innenwand einer Höhle, damit sie vor den Elementen geschützt waren. So arbeitete er stundenlang ohne Pause, schlief an seinem Arbeitsplatz und nahm vor der Granitwand auch seine Mahlzeiten ein. Von der Mündung der Höhle aus konnte er sein Schiff sehen, das von einem flachen Stück des verbrannten Bodens aufragte. Es drängte ihn nicht, zu dem Schiff zurückzukehren. Nach sechs Tagen war die Inschrift vollendet. Tief und für alle Zeiten in den Fels geschnitten. Endlich kam ihm der Gedanke zum Bewußtsein, der ihn vorhin beim Anblick der Granitwand gestört hatte. Die einzigen Leute, die das jemals lesen würden, konnten nur Besucher von fernen Sternen sein. Wie sollten sie die Inschrift entziffern? Er sah die Buchstaben böse an. Er hätte Symbole schreiben müssen. Aber was für Symbole? Mathematische? Natürlich – aber was konnten diese Symbole über den Menschen aussagen? Und wie kam er überhaupt auf den Gedanken, daß sie jemals die Höhle entdecken würden? Die Inschrift war sinnlos, wo
doch die ganze Geschichte des Menschen im Antlitz des Planeten geschrieben stand. Hineingebrannt in die Erdkruste, wo jedermann es sehen mußte. Er verfluchte seine Dummheit, daß er sechs Tage Arbeit mit dieser nutzlosen Inschrift verschwendet hatte. Er wollte sie gerade verschwinden lassen, da drehte er den Kopf zur Seite. Er hörte Schritte an der Mündung der Höhle. Beim Aufstehen fiel er fast vom Stuhl. Ein Mädchen stand da. Er blinzelte ein paarmal, aber sie war immer noch vorhanden: ein hochgewachsenes, dunkelhaariges Mädchen in einem schmutzigen Overall. »Hallo«, sagte sie und betrat die Höhle. »Ich habe dich vom Tal aus hämmern hören.« Er bot ihr automatisch seinen Stuhl an und schuf sich einen zweiten. Sie probierte ihn vorsichtig, bevor sie sich hinsetzte. »Ich habe gesehen, wie du das machst«, sagte sie. »Aber ich glaub’s trotzdem noch nicht. Spiegel?« »Nein«, murmelte er unsicher. »Ich erschaffe. Das heißt, ich habe die Fähigkeit… Warte einen Augenblick. Wie bist du hierher gekommen?« Während er die Frage stellte, gingen ihm rasend schnell die verschiedensten Möglichkeiten durch den Kopf. In einer Höhle verborgen? Auf einem Berggipfel? Nein, es gab nur eine einzige Möglichkeit… »Ich war in deinem Schiff, mein Freund.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Hände über einem Knie. »Wie du den Kreuzer beladen hast, habe ich mir gleich gedacht, daß du abhauen willst. Ich hatte die Nase voll davon, achtzehn Stunden am Tag Zündungen einzustellen, also versteckte ich mich im Schiff. Lebt sonst noch jemand?« »Nein. Warum habe ich dich dann nicht bemerkt?« Er sah das ebenso mutige wie hübsche Mädchen an, und ein vager Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Er streckte die Hand aus und berührte ihren Arm. Sie zuckte nicht zurück, aber ihr niedliches Gesicht verzog sich ärgerlich.
»Ich bin echt«, sagte sie geradeheraus. »Du mußt mich doch am Startplatz gesehen haben. Erinnerst du dich nicht mehr?« Er versuchte, sich an die Zeit zurückzuerinnern, wo es noch einen Startplatz gegeben hatte – es kam ihm vor, als seien inzwischen Jahrhunderte vergangen. Ja, dort hatte es ein dunkelhaariges Mädchen gegeben, das ihn nie auch nur eines Blickes gewürdigt hatte. »Ich glaube, ich war schon ganz steifgefroren«, sagte sie. »Zumindest fiel ich wenige Stunden nach dem Start des Schiffes in ein Koma. Die Heizung in dem Kahn ist wirklich miserabel.« Sie schüttelte sich bei der Erinnerung. »Ich hätte zuviel Sauerstoff verbraucht«, erklärte er. »Deshalb habe ich nur das Abteil des Piloten geheizt und gelüftet. Wenn ich was aus der Ladeluke brauchte, zog ich einen Raumanzug an.« »Ich bin froh, daß du mich nicht gesehen hast.« Sie lachte. »So ganz mit Frost bedeckt und halbtot muß ich einen furchtbaren Anblick geboten haben. Schneewittchen – tiefgekühlt. Wie gesagt, ich habe schrecklich gefroren. Erst als alle Türen aufgingen, wurde ich wieder wach. Das ist alles. Ich glaube, es hat ein paar Tage gedauert. Wie kommt es, daß du mich nicht bemerkt hast?« »Ich glaube, da hinten habe ich nie nachgesehen«, gab er zu. »Mir war rasch klar, daß ich das Zeug nicht brauchte. Seltsam, ich dachte, ich hätte alle Luken geöffnet, aber ich erinnere mich wirklich nicht…« Sie warf einen Blick auf die Inschrift. »Was ist das?« »Ich wollte eine Art Denkmal hinterlassen.« »Und wer soll das lesen?« fragte sie sehr praktisch. »Wahrscheinlich niemand. Es war nur so eine närrische Idee.« Er konzentrierte sich darauf. Nach wenigen Augenblicken war die Granitwand wieder blank. »Ich begreife nicht, daß du noch am Leben bist«, sagte er verwundert. »Bin ich aber. Und ich begreife nicht, wie du das machst.« Sie deutete auf den Stuhl und auf die Wand. »Aber ich werde mich mit der Tatsache abfinden, daß du es kannst. Warum findest du dich nicht mit der Tatsache ab, daß ich noch lebe?«
»Versteh mich nicht falsch«, sagte er. »Ich sehne mich wirklich sehr nach Gesellschaft, ganz besonders nach weiblicher Gesellschaft. Es ist nur… Dreh dich mal um.« Mit einem fragenden Blick gehorchte sie. Rasch beseitigte er die Stoppeln in seinem Gesicht und erschuf sich eine saubere, frisch gebügelte Hose und ein frisches Hemd. Er stieg aus seiner heruntergekommenen Uniform, zog die neuen Sachen an, vernichtete die Lumpen und schuf nach kurzem Überlegen noch einen Kamm. Damit fuhr er sich durch das wirre, braune Haar. »Gut«, sagte er, »du kannst dich wieder umdrehen.« »Gar nicht übel.« Sie betrachtete ihn lächelnd. »Leih mir doch mal den Kamm. Und würdest du mir bitte ein Kleid machen? Größe zwölf. Aber bitte so, daß es auch richtig sitzt.« Beim dritten Versuch war es endlich richtig. Es war ihm nie klargeworden, wie schwierig und täuschend Damenmode ist. Dann machte er ihr noch ein paar goldene Sandalen mit hohen Absätzen. »Ein bißchen knapp«, sagte sie beim Anprobieren. »Auch nicht sehr praktisch, da es hier keine Bürgersteige gibt. Trotzdem, vielen Dank. Dein Trick löst wirklich das Problem der Weihnachtsgeschenke, wie?« Ihr dunkles Haar leuchtete jetzt in der Mittagssonne, und sie sah sehr lieblich und warm und menschlich aus. »Versuch doch, ob du auch erschaffen kannst«, drängte er sie, weil er seine neue Fähigkeit gern mit ihr geteilt hätte. »Ich hab’s schon versucht«, sagte sie, »geht nicht. Wir leben eben immer noch in einer Männerwelt.« Er runzelte die Stirn. »Und woher soll ich nun ganz genau wissen, ob du wirklich bist?« »Fängst du schon wieder damit an? Kannst du dich denn erinnern, daß du mich erschaffen hast, großer Meister?« fragte sie spöttisch und bückte sich, um das Band an einem der Schuhe zu lockern. »Ich habe viel nachgedacht über Frauen«, sagte er grimmig. »Vielleicht habe ich dich erschaffen, als ich schlief. Warum sollte mein Unterbewußtsein nicht dieselben Kräfte haben wie mein Bewußtsein?
Ich hätte dich mit einem Gedächtnis ausgestattet und dir einen Lebenslauf mitgegeben. Du wärst eine völlig plausible Erscheinung geworden. Wenn dich mein Unterbewußtsein erschaffen hat, dann hätte es schon dafür gesorgt, daß ich mich nicht an dich erinnern kann.« »Das ist doch lächerlich!« Aber er fuhr unerbittlich fort: »Wenn es mir nämlich bewußt gewesen wäre, so hätte ich mich gegen deine Existenz gewehrt. Als Schöpfung meines Unterbewußtseins würde deine ganze Funktion darin bestehen, mir das Wissen darüber vorzuenthalten. Das zu beweisen mit irgendwelchen Mitteln, die dir zur Verfügung stehen, mit irgendeiner Logik, daß du…« »Wenn dein Verstand so großartig funktioniert«, unterbrach sie ihn, »dann versuch doch mal, eine Frau zu erschaffen.« Sie verschränkte die Arme und lehnte sich im Stuhl zurück und nickte ihm nur einmal aufmunternd zu. »Na schön.« Er starrte die Wand der Höhle an, und an der selben Stelle erschien eine Frau. Ihre Gestalt war unmöglich – der eine Arm zu kurz, die Beine zu lang. Er konzentrierte sich noch stärker, und es gelang ihm auch, ihre Proportionen einigermaßen richtig zu treffen. Aber ihre Augen saßen falsch, ihre Schultern und ihr Rücken waren krumm – er hatte eine Hülle ohne Gehirn und ohne Organe erschaffen, einen Automaten. Er befahl seiner Schöpfung zu sprechen, aber aus dem formlosen Mund drangen nur glucksende Laute. Er hatte vergessen, ihr Stimmwerkzeuge mitzugeben. Mit Schaudern vernichtete er diese Gestalt aus einem Alptraum. »Ich bin kein Bildhauer«, sagte er. »Und noch viel weniger bin ich der liebe Gott.« »Wie schön, daß du das endlich einsiehst.« Er fuhr hartnäckig fort: »Das beweist aber immer noch nicht, daß du echt bist. Ich weiß ja nicht, was mein Unterbewußtsein zustande bringt.« »Mach irgend etwas für mich«, sagte sie abrupt. »Ich kann diesen Unsinn einfach nicht mehr hören.«
Ich habe sie verletzt, dachte er. Sie ist das einzige menschliche Wesen auf der Welt außer mir – und ich habe sie verletzt. Er nickte, nahm sie bei der Hand und führte sie aus der Höhle. Auf der Ebene unterhalb des Hügels erschuf er eine Stadt. Er hatte das schon vor einigen Tagen ausprobiert, und es fiel ihm diesmal viel leichter. Die Stadt war nach den Bildern und den Träumen seiner Kindheit von Tausend-und-einer-Nacht gebaut, überragt von schwarzen und weißen und rosaroten Türmen. Die Mauern schimmerten rubinrot, und die Tore bestanden aus silberbeschlagenem Ebenholz. Einige Türme waren aus Rotgold und mit glänzenden Saphiren besetzt. Eine breite Treppe aus milchigem Elfenbein wand sich zum höchsten Minarett aus Opal empor – tausend Stufen aus gemasertem Marmor. Es gab Lagunen mit blauem Wasser, über denen kleine Vögel flatterten, und in deren Tiefen silberne und goldene Fische flitzten. Sie wanderten durch die Stadt, und er schuf Rosen für sie, weiße und gelbe und rote. Und Gärten, voll von fremdartigen Blüten. Zwischen zwei Gebäuden mit Kuppeln und spitzen Türmen erschuf er eine gewaltige Wasserfläche. Auf ihr schwamm eine herrliche Barke mit purpurfarbenem Baldachin, beladen mit allen Arten von Leckerbissen und Getränken, die ihm einfielen. Sie glitten über die Lagune, getrieben von der sanften Brise, die er ebenfalls erschaffen hatte. »Und all das ist falsch«, erinnerte er sie nach einer Weile. Sie lächelte. »Nein, das ist es nicht. Man kann alles berühren. Es ist echt.« »Aber wird es noch hier sein, wenn ich sterbe?« »Wen kümmert das schon? Außerdem kannst du jede Krankheit heilen, wenn du das hier fertigbringst. Vielleicht hast du sogar ein Mittel gegen das Alter und den Tod.« Sie pflückte eine Blüte von einem überhängenden Zweig und hielt sie sich unter die Nase. »Du könntest verhindern, daß all dies verwelkt und stirbt. Dasselbe könntest du vermutlich auch für uns erreichen – worüber machst du dir also Sorgen?«
»Möchtest du gern fortgehen?« fragte er und rauchte eine selbsterschaffene Zigarette. »Möchtest du einen neuen Planeten suchen? Unberührt vom Krieg? Möchtest du ganz von vorn beginnen?« »Von vorn beginnen? Du meinst… Vielleicht später. Im Augenblick möchte ich das Schiff nicht einmal aus der Nähe sehen, es erinnert so an den Krieg.« Sie schwammen noch ein Stückchen weiter in der Barke. »Bist du nun sicher, daß ich echt bin?« fragte sie. »Um ganz ehrlich zu sein: nein«, antwortete er. »Aber ich möchte es gern glauben.« »Dann hör mir gut zu«, sagte sie und lehnte sich an ihn. »Ich bin wirklich echt.« Sie legte beide Arme um seinen Hals. »Ich bin immer echt gewesen, und ich werde immer echt sein. Willst du einen Beweis haben? Nun, ich weiß, daß ich echt bin, und du weißt es auch. Was verlangst du noch mehr?« Er sah sie lange an, spürte ihre warmen Arme um seinen Hals und lauschte ihrem Atem. Er spürte den feinen Duft, der von Haut und ihren Haaren ausging und der etwas ganz Individuelles an sich hatte. Bedächtig sagte er: »Ja, ich glaube dir. Ich liebe dich. Wie – wie heißt du eigentlich?« Sie überlegte eine Weile: »Joan.« »Seltsam«, sagte er. »Ich habe immer von einem Mädchen geträumt, das Joan hieß. Und wie ist dein Familienname?« Sie küßte ihn. Über ihnen kreisten die Schwalben, die er erschaffen hatte – seine Schwalben –, in weiten Bögen über der Lagune. Seine Fische schossen ziellos hin und her, und seine Stadt erstreckte sich stolz und schön bis hin zum Rand der zerklüfteten Lavaberge. »Du hast mir deinen Familiennamen noch nicht gesagt«, erinnerte er sie. »Ach so. Bei einem Mädchen ist der Familienname nicht so wichtig – sie bekommt ja doch den Namen ihres Mannes.« »Du weichst mir aus!«
Sie lächelte. »Na und?«
Die letzte Waffe Edsels Laune war explosiv. Zusammen mit Parke und Faxon hatte er drei Wochen in diesem Teil der Wüste zugebracht und jeden Hügel aufgewühlt, auf den sie gestoßen waren; sie wurden immer wieder enttäuscht und gingen zum nächsten Hügel weiter. Der kurze MarsSommer neigte sich seinem Ende zu. Mit jedem Tag wurde es ein bißchen kälter. Und mit jedem Tag waren Edsels Nerven, die schon in ruhigen Zeiten nicht viel taugten, gereizter geworden. Der kleine Faxon war stets fröhlich. Er träumte von dem vielen Geld, das sie verdienen würden, nachdem die Waffen gefunden waren. Parke trottete schweigend weiter, mit eiserner Miene. Er redete nur, wenn er angesprochen wurde. Doch Edsels Geduld war am Ende. Sie hatten wieder einen neuen Erdhügel aufgewühlt und wiederum nicht das geringste Zeichen von den verlorenen martianischen Waffen gefunden. Die wäßrige Sonne schien ihn höhnisch anzugrinsen, und an dem unglaublich blauen Himmel funkelten Sterne. Die Kälte des Nachmittags drang durch Edsels isolierten Anzug, ließ seine Gelenke steif werden und seine starken Muskeln verkrampfen. Unvermittelt beschloß Edsel, Parke zu töten. Er hatte den schweigsamen Mann schon von dem Tag an nicht gemocht, wo sie auf der Erde die Zusammenarbeit beschlossen hatten. Seine Abneigung ihm gegenüber war noch stärker als seine Verachtung für Faxon. Edsel hielt inne. »Wissen Sie denn überhaupt, wohin wir gehen?« fragte er Parke mit drohend-leiser Stimme. Parke zuckte gleichgültig die schlanken Schultern. Sein blasses, eingefallenes Gesicht verriet nicht die geringste Gefühlsregung. »Wissen Sie es?« fragte Edsel. Parke zuckte noch einmal die Achseln. Eine Kugel in den Kopf, sagte sich Edsel und griff nach seiner Waffe.
»Warten Sie!« bat Faxon und trat dazwischen. »Nicht durchdrehen, Edsel. Denken Sie doch an das viele Geld, das wir verdienen können, wenn wir die Waffen finden.« Bei diesem Gedanken glitzerten die Augen des kleinen Mannes. »Sie müssen hier irgendwo liegen, Edsel. Vielleicht schon im nächsten Hügel.« Edsel zögerte und warf Parke einen bösen Blick zu. Im Augenblick wollte er jemanden umbringen; dieser Wunsch war stärker als irgend etwas anderes. Wenn er damals, als sie sich auf der Erde zusammentaten, gewußt hätte, daß es so werden würde… Damals war ihnen alles ganz einfach erschienen. Er besaß die Plakette, die verriet, wo die Höhle mit den legendären, verlorengegangenen martianischen Waffen zu suchen war. Parke konnte die martianische Schrift lesen, und Faxon besaß das Geld, die Expedition zu finanzieren. Also hatte er sich gesagt: Wir brauchen nichts weiter zu tun als zum Mars zu fliegen und auf den Hügel loszumarschieren, unter dem das Zeug versteckt lag. Edsel hatte die Erde noch nie zuvor verlassen. Er hatte nicht mit wochenlangem Frieren gerechnet; die Nahrungsmittelkonzentrate bewahrten sie knapp vor dem Verhungern, und man war immer ein wenig schwindelig von der dünnen, verbrauchten Luft aus der Lufterneuerungsanlage. Er hatte nicht an die müden, schmerzenden Muskeln gedacht, an die Anstrengung, sich einen Weg durch die dicht bewachsene martianische Trockensteppe zu bahnen. Er hatte nur an eines gedacht: an den Preis, den eine Regierung – irgendeine Regierung – für diese legendären Waffen zahlen würde. »Entschuldigung«, sagte Edsel in plötzlichem Entschluß. »Dieser Planet macht mich fertig. Tut mir leid, Parke, daß ich geplatzt bin. Weiter!« Parke nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Faxon atmete erleichtert auf und folgte Parke. Edsel sagte sich: Ich kann sie ja schließlich jederzeit umbringen. Am Nachmittag, als Edsels Geduld sich gerade wieder bedenklich dem Ende zuneigte, fanden sie den richtigen Hügel. Es war eine seltsame,
massige Kuppe, genau wie es die Inschrift erklärt hatte. Nachdem die Männer ein paar Zentimeter Sand und Erdreich weggekratzt hatten, stießen sie auf Metall. Sie gruben weiter und fanden einen Zugang. »Moment, ich werde die Tür aufsprengen«, sagte Edsel und zog seinen Revolver. Parke schob ihn beiseite, drehte an einem Griff und öffnete die Tür. Sie betraten einen riesigen Saal. Und hier lagen in langen, blitzenden Reihen die legendären, verlorengegangenen martianischen Waffen, die bisher fehlenden Zeugnisse einer Zivilisation auf dem Mars. Die drei Männer standen eine ganze Weile da und konnten nur staunen. Hier lag der Schatz, dessen Auffindung sich der Mensch schon kaum noch erhofft hatte. Seit der Landung des Menschen auf dem Mars waren die Ruinen der mächtigen Städte erforscht worden. Über die Ebenen verstreut fand man zerstörte Fahrzeuge, Kunstgegenstände und Werkzeuge, alles Hinweise auf den Geist einer gewaltigen Zivilisation, die der irdischen um tausend Jahre voraus war. Mit viel Geduld wurden Inschriften entziffert, die von den großen Kriegen kündeten, welche über die Oberfläche des Mars hinweggefegt waren. Aber an einem bestimmten Punkt brachen alle schriftlichen Dokumente ab; keines davon berichtete, was aus den Marsbewohnern geworden war. Seit mehreren tausend Jahren hatte es auf dem Mars kein intelligentes Wesen mehr gegeben. Auf irgendeine Weise war die gesamte Fauna auf dem Planeten vernichtet worden. Und die Marsmenschen hatten ihre Waffen anscheinend mitgenommen. Edsel wußte, daß diese verlorenen Waffen ihr Gewicht mit Radium aufgewogen wert waren. Die Männer gingen tiefer in die Höhle hinein. Edsel hob den erstbesten Gegenstand, den er erreichte, auf. Das Ding sah wie ein 45er Revolver aus, nur größer. Er stellte sich in den Eingang und zielte auf einen Strauch draußen auf der Ebene. »Nicht abdrücken«, sagte Faxon, als Edsel die Waffe hob. »Vielleicht hat das Ding einen Rückstoß oder andere Tücken. Sollen sich doch die Experten der Regierung darum kümmern, nachdem wir alles verkauft haben.«
Edsel drückte ab. Der über dreißig Meter entfernte Strauch ging in grellroten Flammen auf. »Nicht übel«, sagte Edsel und streichelte die Waffe. Er legte sie wieder hin und griff nach einer anderen. »Bitte, Edsel!« rief Faxon und sah ihn aus nervös zusammengekniffenen Augen an. »Wir brauchen sie doch gar nicht auszuprobieren. Vielleicht bringen Sie damit eine Atombombe zur Explosion, oder etwas Ähnliches.« »Halten Sie den Mund!« knurrte Edsel und suchte an der Waffe nach einem Abzugshahn. »Bitte, schießen Sie nicht mehr«, flehte Faxon. Er warf Parke einen hilfesuchenden Blick zu, doch der schweigsame Mann stand nur da und beobachtete Edsel. »Sie wissen doch, daß hier etwas liegen kann, was für die Vernichtung der martianischen Rasse verantwortlich war. Eine solche Waffe wollen Sie doch wohl nicht zünden, wie?« Edsel sah, wie eine Stelle mitten in der Ebene aufglühte, als er die Waffe in diese Richtung abgefeuert hatte. »Gute Ware.« Er hob ein anderes, stangenförmiges Gerät auf. Die Kälte war vergessen. Edsel war jetzt, wo er mit diesen schimmernden Dingen spielen konnte, vollkommen zufrieden. »Los, fangen wir an«, sagte Faxon und tat ein paar Schritte in Richtung auf die Tür. »Anfangen? Womit?« fragte Edsel. Er griff nach einer weiteren mattschimmernden Waffe, die genau in seine Faust paßte. »Zurück zum Hafen«, antwortete Faxon. »Wir müssen zurück und das Zeug verkaufen, wie wir es vorhatten. Ich glaube, wir können dafür jeden beliebigen Preis verlangen. Für solche Waffen wird jede Regierung bereit sein, Milliarden zu bezahlen.« »Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte Edsel. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Parke. Der schlanke Mann ging zwischen den Stapeln von Waffen auf und ab, hatte aber bisher noch nichts berührt. »Nun hören Sie mal!« rief Faxon und funkelte Edsel an. »Ich habe diese Expedition finanziert. Wir haben vereinbart, daß wir das Zeug
verkaufen werden. Ich habe ein Recht darauf… Hm, vielleicht auch nicht.« Die noch nicht erprobte Waffe war genau auf seinen Magen gerichtet. »Zum Teufel mit dem Waffenhandel«, sagte Edsel und lehnte sich an die Wand der Höhle. Von hier aus konnte er auch Parke im Auge behalten. »Ich glaube, ich brauche das Zeug selbst.« Breit grinsend beobachtete er die beiden Männer. »Ich kann ein paar von den Jungen zu Hause damit ausrüsten. Mit diesen Waffen hier können wir leicht die Regierung in einem der kleinen mittelamerikanischen Staaten stürzen. Ich denke, wir könnten uns dort für alle Zeiten behaupten.« »Nun«, sagte Faxon, ohne einen Blick von der Waffe zu lassen, »mit einer solchen Sache will ich jedenfalls nichts zu tun haben. Mit mir brauchen Sie nicht zu rechnen.« »Auch recht«, sagte Edsel. »Sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich reden werde«, sagte Faxon rasch. »Ich werde den Mund halten. Ich will nur nichts mit einer Schießerei und mit Töten zu tun haben. Deshalb gehe ich jetzt lieber zurück.« »Gern«, sagte Edsel. Parke stand etwas abseits und betrachtete interessiert seine Fingernägel. »Sobald Sie Ihr Königreich errichtet haben, komme ich Sie mal besuchen«, sagte Faxon mit dünnem Lächeln. »Vielleicht können Sie mich dann zum Herzog ernennen.« »Ich denke, das wird sich machen lassen.« »Fein. Viel Glück.« Faxon winkte ihm zu und ging weg. Edsel ließ ihn sechs oder sieben Schritte tun, dann zielte er mit der neuen Waffe auf seinen Rücken und drückte ab. Die Waffe gab keinerlei Geräusch von sich. Es gab auch keinen Blitz, und doch wurde Faxons Arm sauber abgetrennt. Rasch drückte Edsel noch einmal auf den Auslöser und bewegte die Waffe dabei von oben nach unten. Der kleine Mann wurde in der Mitte durchgeschnitten, und auch der Boden ringsum wurde noch versengt.
Edsel fuhr herum, weil ihm aufging, daß er Parke den ungedeckten Rücken zuwandte. Der andere brauchte nichts weiter zu tun als nach der nächstbesten Waffe zu greifen und abzudrücken. Doch Parke stand nur mit verschränkten Armen da. »Dieser Strahl durchtrennt vermutlich jedes Material«, sagte Parke. »Sehr nützlich.« Edsel verbrachte eine herrliche halbe Stunde damit, eine Waffe nach der anderen zur Hand zu nehmen und damit zum Eingang der Höhle zu laufen. Parke rührte immer noch nichts an, beobachtete ihn jedoch mit Interesse. Die alten martianischen Waffen waren so gut wie neu. Die jahrtausendelange Lagerung schien ihnen nicht geschadet zu haben. Es gab die verschiedenartigsten Schußwaffen von unterschiedlicher Konstruktion und Vernichtungskraft. Dann Waffen, die mit Hitze oder Strahlung arbeiteten, alle wunderbar handlich gebaut. Es gab Waffen, die das Ziel gefrieren ließen, und andere, die es verbrannten. Wieder andere zerbröckelten, zerschnitten, lähmten oder ließen das Blut gerinnen; für fast jede Methode, Leben auszulöschen, fand Edsel die passende Waffe. »Versuchen wir mal diese hier«, sagte Parke. Edsel, der gerade eine dreiläufige Waffe von interessanter Bauart ausprobieren wollte, hielt inne. »Ich bin beschäftigt«, sagte er knapp. »Hören Sie auf, mit diesem Zeug herumzuspielen. Sehen wir uns lieber einmal die wirklich schweren Brocken an.« Parke stand neben einer gedrungenen schwarzen Maschine auf Rädern. Gemeinsam zogen sie das schwere Ding ins Freie. Parke schaute zu, wie Edsel daran herumdrehte. Tief im Innern der Maschine entstand ein feines Summen. Dann bildete sich ringsum ein bläulicher Dunst. Als Edsel wieder an den Hebeln drehte, breitete sich der Dunstschleier aus, bis er die beiden Männer einhüllte. »Schießen Sie doch einmal darauf«, sagte Parke. Edsel hob eine der Schußwaffen auf und drückte ab. Der blaue Nebel schluckte die Ladung. Rasch nacheinander probierte er drei weitere Waffen aus. Nichts konnte den bläulichen Schleier durchdringen. Parke sagte leise: »Ich denke, das hält auch eine Atombombe aus. Es handelt sich um ein künstliches Kraftfeld.«
»Wissen Sie«, sagte Edsel, »Sie sind eigentlich ein feiner Kerl. Sie sind schon in Ordnung.« »Danke«, sagte Parke. Sie machten kehrt und gingen in die Höhle zurück. Es wurde schon dunkel. Die matte Sonne näherte sich dem Horizont. Parke sah über die langen Reihen von Waffen hinweg. »Sie nehmen mir doch nicht übel, daß ich Faxon erledigt habe?« fragte Edsel. »Er wollte schnurstracks zur Regierung laufen.« »Im Gegenteil. Ich bin damit sehr einverstanden.« »Prima. Wirklich, Sie sind in Ordnung. Sie hätten mich umlegen können, als ich auf Faxon zielte.« Edsel verschwieg, daß er selbst genau das getan hätte. Parke zuckte die Achseln. »Möchten Sie bei der Gründung meines Königreichs mit mir zusammenarbeiten?« fragte Edsel grinsend. »Ich denke, wir beide könnten es schaffen. Wir richten uns irgendwo hübsch ein, besorgen uns jede Menge Mädchen und haben viel Spaß. Was halten Sie davon?« »Einverstanden«, antwortete Parke. »Auf mich können Sie zählen.« Edsel klopfte ihm kräftig auf die Schulter, dann gingen sie gemeinsam zwischen den Waffenregalen hin und her. »Wie diese Dinger funktionieren, ist ziemlich klar«, sagte Parke, als sie das Ende der Höhle erreicht hatten. »Es handelt sich durchweg um Abwandlungen der schon ausprobierten Waffen.« Am Ende des Saals befand sich eine Tür mit einer Inschrift in martianischen Schriftzeichen. »Was heißt das?« fragte Edsel. »Hier steht etwas von ›letzten Waffen‹«, übersetzte Parke und kniff die Augen zusammen, um die feinen Schriftzeichen besser lesen zu können. »Außerdem eine Warnung, den Raum nicht zu betreten.« Er öffnete die Tür. Die beiden wollten schon eintreten, doch dann fuhren sie unwillkürlich zurück. Der Saal, der vor ihnen lag, war mindestens dreimal so groß wie der vordere Raum. So weit sie blicken konnten, standen in dem Saal, dichtgedrängt, Soldaten. Sie trugen prächtige Uniformen, waren bis an die Zähne bewaffnet, standen aber regungslos wie Statuen da. Sie waren leblos.
Neben dem Eingang stand ein Tisch, auf dem drei Gegenstände lagen. Der erste war eine Kugel ungefähr von der Größe einer Männerfaust, mit einem eingeteilten Zifferblatt darauf. Der zweite sah aus wie ein glänzender Helm. Der dritte Gegenstand war ein kleines schwarzes Kästchen mit martianischen Schriftzeichen darauf. »Ist das eine Grabkammer?« fragte Edsel flüsternd und betrachtete voll Ehrfurcht die kraftvollen, fremdartigen Gesichter der Soldaten. Parke stand hinter ihm und gab keine Antwort. Edsel trat an den Tisch und griff nach der Kugel. Vorsichtig drehte er den Zeiger um einen Strich weiter. »Was glauben Sie wohl, wozu das gut ist?« fragte er Parke. »Meinen Sie…« Sie hielten alle beide den Atem an und zogen sich zurück. In die Reihen der Krieger war Bewegung gekommen. Die Männer schwankten ein wenig und nahmen dann stramme Haltung an. Aber es war nicht mehr die Starre des Todes. Die antiken Kämpfer lebten. Einer von ihnen, der eine faszinierende Uniform in Purpur und Silber trug, trat vor und verneigte sich vor Edsel. »Sir, Ihre Truppen stehen bereit.« Edsel war so verblüfft, daß er kein Wort herausbrachte. »Wie kommt es, daß ihr nach Tausenden von Jahren noch am Leben seid?« fragte Parke. »Seid ihr Marsbewohner?« »Wir sind die Diener der Marsianer«, sagte der Soldat. Dabei fiel Parke auf, daß sich seine Lippen nicht bewegt hatten. Der Mann verständigte sich durch Telepathie. »Sir, wir sind künstliche Soldaten.« »Wem gehorcht ihr?« fragte Parke. »Dem Betätiger, Sir.« Der Roboter wandte sich unmittelbar an Edsel und richtete den Blick auf die Kugel in dessen Hand. »Wir benötigen weder Nahrung noch Schlaf, Sir. Unser einziger Wunsch ist es, Ihnen zu dienen und zu kämpfen.« Die in Reih und Glied aufmarschierten Soldaten nickten beifällig. »Führen Sie uns in die Schlacht, Sir!« »Das werde ich auch!« sagte Edsel, der endlich wieder zu sich kam. »Ihr werdet schon noch ein paar Schlachten erleben, darauf könnt ihr euch verlassen.«
Die Soldaten ließen ihn mit ernsten Gesichtern dreimal hochleben. Edsel grinste und wandte sich an Parke. »Was haben diese übrigen Nummern hier wohl zu bedeuten?« fragte Edsel. Der Soldat schwieg. Mit dieser Frage war sein programmiertes Wissen anscheinend überfordert. »Damit werden vielleicht weitere Roboter aktiviert«, sagte Parke. »Es gibt vermutlich noch weitere unterirdische Kammern.« »Junge, Junge!« rief Edsel. »Und ob ich euch in den Kampf führen werde!« Wieder riefen die Soldaten ernst und zackig dreimal »Hurra!« »Legen Sie sie wieder schlafen, dann wollen wir ein paar Pläne schmieden«, sagte Parke. Benommen drehte Edsel den Schalter zurück. Sofort fielen die Soldaten in ihre frühere Starre zurück. »Kommen Sie mit nach draußen.« »In Ordnung.« »Und bringen Sie das Zeug da mit.« Edsel nahm den schimmernden Helm und das schwarze Kästchen und folgte dann Parke nach draußen. Die Sonne war inzwischen fast gesunken, und schwarze Schatten zogen sich über die rote Landschaft. Es war bitter kalt, doch das spürte keiner der beiden Männer. »Haben Sie gehört, was sie sagen, Parke? Haben Sie das gehört? Ich bin ihr Anführer! Mit solchen Männern…« Er warf den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes, triumphierendes Lachen aus. Mit diesen Soldaten und diesen Waffen konnte ihn nichts mehr aufhalten. Er würde sich das schönste Land auf der ganzen Welt erobern, sich mit den schönsten Mädchen umgeben – was für Aussichten! »Ich bin ein General!« rief Edsel und stülpte sich den Helm über den Kopf. »Wie sehe ich aus, Parke? Sehe ich nicht aus wie ein…« Er hielt inne. Eine flüsternde, raunende Stimme drang ihm ans Ohr. Was sagte die Stimme? »Verdammter Idiot, mit seinem kindischen Traum von einem Königreich. Ein solche Macht ist etwas für ein Genie, für einen Mann, der die Geschichte neu schreiben kann. Für mich!«
»Wer redet da? Das sind Sie, Parke, nicht wahr?« Edsel wurde schlagartig klar, daß der Helm es ihm erlaubte, die Gedanken anderer zu hören. Ihm blieb keine Zeit zu überlegen, was für eine unschlagbare Waffe das für einen Herrscher sein würde. Parke schoß ihm aus dem Revolver, den er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, glatt und sauber eine Kugel in den Rücken. »Was für ein Idiot!« sagte Parke zu sich selbst, als er sich den Helm aufsetzte. »Ein Königreich! Er hält alle Macht der Welt in der Hand und träumt von einem kleinen Königreich!« Er sah zurück zu der Höhle. »Mit diesen Truppen, dem Kraftfeld und den Waffen kann ich die ganze Welt erobern!« Er sagte das bestimmt und eiskalt und wußte, daß es stimmte. Er wollte schon in die Höhle zurückkehren und die Roboter zum Leben erwecken, doch zuerst nahm er das kleine Kästchen an sich, das Edsel in der Hand gehalten hatte. In geschwungenen martianischen Schriftzeichen war darauf eingraviert: ›Die Letzte Waffe.‹ Was mag das wohl sein? überlegte Parke. Er hatte Edsel lange genug leben lassen, damit er all die anderen Waffen ausprobierte. Schließlich hatte es keinen Sinn, selbst das Risiko eines Fehlschusses einzugehen. Schade, daß Edsel nicht lange genug gelebt hatte, um auch noch diese Waffe hier zu erproben. Eigentlich brauche ich sie gar nicht, sagte er sich. Ich hab’ auch so schon genug. Aber damit wird vielleicht alles leichter und sicherer. Was es auch sein mag – es muß gut sein. Na schön, sagte er sich, sehen wir einmal, was die Marsianer als ihre letzte Waffe betrachteten. Er öffnete das Kästchen. Dampf drang hervor, schwebte sekundenlang ungewiß hin und her und begann dann, Gestalt anzunehmen. Er breitete sich aus, wuchs und bekam immer deutlichere Umrisse. Nach wenigen Sekunden war der Vorgang beendet, und es schwebte über dem Kästchen. Im letzten schimmernd-weißen Tageslicht sah Parke, das es nur ein gewaltiges Maul war, mit einem Paar starrer Augen darüber. »Hoho!« rief das Maul. »Protoplasma!«
Es schwebte auf Edsels Leiche zu. Parke hob den Revolver und zielte sorgfältig. »Ruhendes Protoplasma«, sagte das Ding und stupste Edsels Leiche an. »Ich mag stilles Protoplasma.« Mit einem einzigen Schluck verschlang es Edsels Leiche. Parke drückte ab. Die Waffe riß ein großes Loch in den Boden. Aus dem Loch schwebte grinsend das gigantische Maul auf. »Es ist schon so lange her«, sagte es. Parke hatte sich eisern in der Gewalt. Ich darf nicht in Panik geraten, sagte er sich. Gelassen schaltete er das Kraftfeld ein. Eine blauschimmernde Dunstglocke aus Energie umgab ihn. Immer noch leise lachend, durchdrang das Ding den Energiemantel. Parke hob die Waffe auf, die Edsel gegen Faxon gebraucht hatte. Sie war gut ausbalanciert und fügte sich angenehm in die Hand. Als das Ding auf ihn zukam, zog er sich an den Rand des Kraftfeldes zurück und schaltete den Strahl ein. Das Ding kam immer näher. »Stirb! So stirb doch!« brüllte Parke. Seine Nerven machten nicht mehr mit. Aber das Ding kam mit breitem Grinsen auf ihn zu. »Ich mag stilles Protoplasma!« sagte das gigantische Maul, als es sich um Parke schloß. »Aber ich mag auch lebendes Protoplasma!« Ein großer Schluck, dann schwebte das Ding aus dem Kraftfeld heraus und erinnerte sich gierig an die Millionen von Brocken aus Protoplasma, die es in der guten alten Zeit hier gegeben hatte.
Große Fische Sie wohnten erst seit einer Woche in dem Vorort, und dies war die erste Einladung, die sie erhalten hatten. Sie kamen um Punkt halb neun. Die Familie Carmichael erwartete sie offenbar schon, denn auf der Veranda brannte das Licht, die Haustür stand ein Stückchen offen, und das Wohnzimmer war taghell erleuchtet. »Wie sehe ich aus?« fragte Phyllis an der Tür. »Kein Saum schief? Frisur in Ordnung?« »Du siehst prächtig aus«, versicherte ihr Mann. »Mach nur den guten Eindruck nicht dadurch zunichte, daß du auf den Busch klopfst.« Sie schnitt ihm eine kleine Grimasse und drückte auf die Klingel. Im Haus ertönte ein melodischer Gong. Mallen rückte sich den Schlips gerade und wartete. Er zupfte das weiße Tuch in der Brusttasche seines Anzugs um einen Millimeter weiter heraus. »Die müssen in den Keller gegangen sein«, sagte er zu seiner Frau. »Soll ich noch einmal klingeln?« »Nein, warte einen Augenblick.« Sie warteten, dann klingelte er noch einmal. Wieder ertönte der Gong. »Das ist aber sehr seltsam«, sagte Phyllis ein paar Minuten später. »Wir waren doch für heute abend eingeladen, nicht wahr?« Ihr Mann nickte. Die Carmichaels hatten bei dem warmen Frühlingswetter die Fenster offengelassen. Durch die Jalousien konnte man sehen, daß der Tisch zum Bridgespielen hergerichtet war, die Stühle bereitstanden, Schalen mit Konfekt auf die Gäste warteten – alles war vorbereitet. Aber es kam niemand an die Tür. »Vielleicht sind sie für einen Sprung weggegangen?« sagte Phyllis Mallen. Ihr Mann ging rasch die wenigen Schritte über den Rasen hinüber zur Einfahrt.
»Der Wagen steht in der Garage.« Er kam zurück und stieß die Haustür auf. »Jimmy, nicht hineingehen.« »Ich geh’ auch nicht hinein.« Er steckte den Kopf durch die Tür. »Hallo, ist jemand zu Hause?« Im Haus herrschte Schweigen. »Hallo!« rief er noch einmal und lauschte aufmerksam. Aus dem Nachbarhaus drangen die üblichen Geräusche des Freitagabends: Leute unterhielten sich und lachten. Ein Wagen fuhr auf der Straße vorbei. Irgendwo in dem verlassenen Haus knackte eine Diele, dann herrschte wieder Stille. »Sie werden doch nicht weggehen und ihr Haus offenstehen lassen«, sagte er zu Phyllis. »Vielleicht ist etwas passiert.« Er betrat das Haus. Sie folgte ihm, blieb aber unsicher im Wohnzimmer stehen, während er in die Küche ging. Sie hörte, wie er die Kellertür öffnete und noch einmal rief: »Hallo, ist jemand zu Hause?« Dann schloß er sie wieder. Er kam ins Wohnzimmer zurück, legte die Stirn in Falten und ging nach oben. Nach kurzer Zeit kam Mallen mit ratlosem Gesicht zurück. »Keiner da.« »Gehen wir«, sagte Phyllis. Das hellerleuchtete, leere Haus machte sie plötzlich nervös. Sie beratschlagten, ob sie eine Notiz hinterlassen sollten, fanden es jedoch nicht richtig und entfernten sich über den Fußweg am Haus. »Sollten wir nicht wenigstens die Haustür schließen?« fragte Jim Mallen und blieb stehen. »Welchen Zweck hat das? Die Fenster stehen ja alle offen.« »Trotzdem…« Er kehrte um und schloß die Tür. Dann gingen sie langsam nach Hause und warfen immer wieder Blicke zurück auf das Haus der Carmichaels. Mallen rechnete fast damit, daß ihnen die Carmichaels nachgelaufen kamen und sie erschrecken wollten. Aber das Haus blieb still.
Sie wohnten gleich im nächsten Häuserblock, in einem Bungalow aus Klinkersteinen, der genauso aussah wie die zweihundert übrigen in der Vorortsiedlung. Mr. Carter saß am Kartentisch und bereitete künstliche Fliegen zum Forellenfangen vor. Er arbeitete langsam und geschickt, und seine gelenkigen Finger führten die farbigen Fäden mit liebevoller Sorgfalt. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß er gar nicht hörte, wie die Mallens nach Hause kamen. »Wir sind wieder zu Hause, Dad«, sagte Phyllis. »Ach«, murmelte Mr. Carter. »Seht euch mal dieses Prachtstück an.« Er hielt die fertige Fliege hoch. Es war die täuschende Nachahmung einer Hornisse. Der Haken war zwischen überhängenden gelben und schwarzen Fäden geschickt versteckt. »Die Carmichaels waren ausgegangen – jedenfalls glauben wir das«, sagte Mallen und hängte sein Jackett auf. »Ich will morgen früh den Old Creek ausprobieren«, sagte Mr. Carter. »Ich habe so eine Ahnung, daß die Forelle, die mir immer wieder entwischt, dort oben steht.« Mallen grinste vor sich hin. Es war nicht einfach, sich mit Phyllis’ Vater zu unterhalten. Fischen war fast sein einziges Gesprächsthema. Der alte Mann hatte sich an seinem siebzigsten Geburtstag nach einem außerordentlich erfolgreichen Leben als Geschäftsmann in den Ruhestand zurückgezogen und beschäftigte sich nur noch mit seinem Lieblingssport. Inzwischen ging Mr. Carter auf die Achtzig zu, aber er sah noch großartig aus. Erstaunlich, dachte Mallen. Seine Haut war rosig, die Augen klar und ruhig, das reinweiße Haar ordentlich zurückgekämmt. Er befand sich auch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte – solange man mit ihm über das Fischen sprach. »Essen wir eine Kleinigkeit«, sagte Phyllis. Voll Bedauern nahm sie den roten Hut ab, strich über den Schleier und legte ihn auf ein Tischchen. Mr. Carter wickelte noch einen Faden um seine Forellenfliege, betrachtete sie aus der Nähe, legte sie dann hin und folgte ihnen in die Küche. Während Phyllis Kaffee kochte, berichtete Mallen dem alten Mann, was geschehen war. Mr. Carters Antwort war typisch.
»Geh lieber morgen fischen, dann vergißt du die ganze Sache. Fischen ist mehr als nur ein Sport, Jim. Fischen ist eine Lebensweisheit und eine Philosophie. Mir macht es Spaß, einen kleinen Teich ausfindig zu machen und ganz still am Ufer zu sitzen. Ich sag’ mir dann, wenn es irgendwo Fische gibt, dann bestimmt auch dort.« Phyllis lächelte, als sie sah, wie Jim unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Wenn ihr Vater erst einmal angefangen hatte, fand er meist kein Ende. Und für ihn führte jedes Thema zum Gespräch über das Fischen. »Stell dir mal einen jungen Geschäftsmann vor«, sagte Mr. Carter. »Etwa einen Mann wie dich, Jim – er rennt einen Flur entlang. Ganz alltäglich, wie? Aber am Ende des letzten langen Korridors fließt ein Forellenbach vorbei. Oder denk an einen Politiker. Du siehst sie sicher oft in Albany. Aktentasche unter dem Arm, voller Sorgen…« »Es ist seltsam«, unterbrach ihn Phyllis mitten im Satz. Sie hielt eine ungeöffnete Milchflasche in der Hand. »Sieh dir das mal an. Die Milch kommt aus der Molkerei Stannerton. Auf dem grünen Etikett der Flasche steht ›Molkerei Stanneron‹. Ohne ›t‹.« »Und sieh mal hier.« Sie zeigte auf die Zeile darunter. Die lautete: ›kontroliert vom Gesundheitsamtt neW yoRK‹. Es sah aus wie die ungeschickte Nachahmung des offiziellen Etiketts. »Wo hast du die her?« fragte Mallen. »Nun, ich nehme an, aus Mr. Elgers Laden. Kann das ein Werbegag sein?« »Ich verachte die Leute, die mit einem Wurm fischen«, erklärte Mr. Carter ernsthaft. »Eine Fliege – eine Fliege ist ein Kunstwerk. Aber ein Mann, der mit einem Wurm fischt, beraubt auch Waisen und brennt Kirchen nieder.« »Trink das nicht«, sagte Mallen. »Komm, wir sehen uns erst einmal die übrigen Lebensmittel an.« Es waren noch drei weitere gefälschte Artikel darunter. Eine Tafel Schokolade, angeblich von der Marke ›Mellow-Bite‹, trug ein orangefarbenes Etikett statt des gewohnten knallroten. Ein Napf mit
›Amerikanischer kÄse‹ war fast ein Drittel größer als die normalen Behälter dieser Marke, und auf einer Flasche stand ›SPRudl-Wassr‹. »Das ist wirklich sehr seltsam«, sagte Mallen und rieb sich das Kinn. »Die Kleinen werfe ich immer wieder ‘rein«, sagte Mr. Carter. »Es ist unsportlich, sie zu behalten, das gehört einfach mit zu den Grundsätzen eines guten Fischers. Laß sie wachsen, laß sie reif werden, laß sie Erfahrung sammeln. Was ich haben will, sind die alten, raffinierten Biester, die unter Balken lauern und beim ersten Anblick eines Anglers davonhuschen. Diese Burschen wehren sich wenigstens anständig.« »Ich werde das Zeug zu Elger zurückbringen«, sagte Mallen und steckte die Sachen in eine Papiertüte. »Solltest du etwas Ähnliches sehen, heb’s auf.« »Der Old Creek ist genau der richtige. Ort«, sagte Mr. Carter. »Dort verstecken sie sich immer.« Der Samstagmorgen war strahlend schön. Mr. Carter frühstückte sehr früh und brach zum Old Creek auf, leichtfüßig wie ein junger Mann, seinen alten, zerdrückten, mit künstlichen Fliegen gespickten Hut flott aufs Ohr gesetzt. Jim Mallen trank seinen Kaffee aus und ging hinüber zum Haus der Carmichaels. Der Wagen stand immer noch in der Garage. Die Fenster waren immer noch offen, der Bridgetisch stand da und alle Lichter brannten – es war alles genauso, wie sie es am Abend zuvor zurückgelassen hatten. Das Haus erinnerte Mallen an eine Geschichte, die er einmal gelesen hatte; es ging um ein Schiff, das mit vollen Segeln dahinfuhr, auf dem alles in bester Ordnung war – nur daß sich keine Menschenseele an Bord befand. »Ob wir wohl jemanden verständigen sollten?« fragte Phyllis, als ihr Mann nach Hause zurückkam. »Ich bin jetzt ganz sicher, daß da etwas nicht stimmt.« »Klar. Aber wen?« Sie waren in dem Vorort noch fremd. Drei oder vier Familien kannten sie flüchtig vom Sehen, aber sie hatten nicht die geringste Ahnung, mit wem die Carmichaels bekannt waren. Das Telefon klingelte und bereinigte dieses Problem.
»Wenn es jemand aus der Gegend hier ist, dann frag sie mal«, sagte Jim, als Phyllis zum Telefon ging. »Hallo?« »Hallo, ich glaube, Sie werden mich nicht kennen. Ich bin Marian Carpenter und wohne ein paar Häuser von Ihnen entfernt. Ich dachte nur… Ist mein Mann zufällig bei Ihnen drüben?« Über das Telefon klang die Stimme ein wenig verzerrt, aber Phyllis hörte doch die Sorge und die Angst heraus. »Aber nein, heute morgen war noch niemand hier.« »Ach so.« Die matte Stimme zögerte. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Phyllis. »Ich verstehe das nicht«, sagte Mrs. Carpenter. »George – das ist mein Mann – hat heute morgen mit mir gefrühstückt. Dann ging er nach oben, sein Jackett holen, seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« »Oh.« »Ich bin sicher, daß er nicht wieder heruntergekommen ist. Ich ging hinauf, um nachzusehen, was er dort machte – wir wollten nämlich wegfahren –, aber er war nicht da. Ich habe das ganze Haus abgesucht. Ich dachte, das sollte vielleicht ein Scherz sein, obgleich George in seinem ganzen Leben nie Witze gemacht hat. Also sah ich unter den Betten und auch in den Schränken nach. Dann war ich im Keller und fragte die nächsten Nachbarn, aber niemand hatte ihn gesehen. Ich dachte, vielleicht hätte er Sie besucht – er hatte etwas davon erwähnt…« Phyllis berichtete ihr, was sie über das Verschwinden der Carmichaels wußte. Sie sprachen noch ein paar Worte miteinander, dann legten sie auf. »Jim«, sagte Phyllis, »es gefällt mir nicht. Du solltest lieber der Polizei über die Carmichaels Bescheid geben.« »Wir machen uns ziemlich lächerlich, wenn sich nachher herausstellt, daß sie nur Freunde in Albany besucht haben.« »Das müssen wir riskieren.« Jim suchte die Nummer heraus und wählte sie, aber der Anschluß war besetzt.
»Ich gehe mal selbst hin.« »Und nimm dieses Zeug mit.« Sie reichte ihm die Papiertüte. Captain Lessner vom Polizeirevier war ein geduldiger Mann mit derbgutmütigem Gesicht, der sich die ganze Nacht und den größten Teil des Vormittags einen endlosen Strom von Klagen und Beschwerden angehört hatte. Seine Streifenbeamten waren müde, seine Sergeanten waren müde, und er war der müdeste von allen. Trotzdem führte er Mr. Mallen in sein Büro und hörte sich seine Geschichte an. »Schreiben Sie mir bitte auf, was Sie mir da erzählt haben«, sagte Lessner, als Mallen geendet hatte. »Gestern am späten Abend rief uns ein Nachbar wegen der Carmichaels an. Wir haben versucht, sie ausfindig zu machen. Wenn man Mrs. Carpenters Ehemann mitrechnet, sind das schon zehn in zwei Tagen.« »Zehn?« »Zehn Leute, die verschwunden sind.« »Großer Gott«, sagte Mallen tonlos. Er nahm die Papiertüte in die andere Hand. »Und alle aus diesem Vorort?« »Alle«, sagte Captain Lessner rauh. »Sie stammen alle aus der Siedlung Vainsville. Genauer gesagt, aus einem Umkreis, der nicht größer ist als vier Häuserblocks.« Er nannte Mallen die betroffenen Straßen. »Ich wohne auch dort«, sagte Mallen. »Ich auch.« »Haben Sie eine Ahnung, wer dieser – dieser Kidnapper sein könnte?« fragte Mallen. »Wir glauben nicht, daß es sich um einen Kidnapper handelt«, sagte Lessner und zündete sich an diesem Morgen schon die zwanzigste Zigarette an. »Es wird kein Lösegeld gefordert. Die Leute werden wahllos herausgegriffen. Viele der vermißten Personen waren für einen Kidnapper keinen Pfifferling wert. Und dann in diesen Mengen – nein, das scheidet aus.« »Also ein Verrückter?«
»Klar, aber wie kommt der an ganze Familien? Oder an erwachsene Männer, groß und kräftig wie Sie? Und wo hat er sie, beziehungsweise ihre Leichen, versteckt?« Lessner drückte die Zigarette wütend aus. »Meine Leute haben jeden Zollbreit der ganzen Umgebung abgesucht. Jeder Polizeibeamte im Umkreis von zwanzig Meilen hält die Augen offen. Die Landpolizei kontrolliert alle Autos. Aber wir haben nicht das geringste gefunden.« »Ach, und hier ist noch etwas.« Mallen zeigte ihm die nachgeahmten Artikel. »Auch hier habe ich keine Ahnung, was es soll«, gab Captain Lessner zu, »ich habe für dieses Zeug noch wenig Zeit gehabt. Es liefen noch weitere Anzeigen ein…« Das Telefon schlug an, aber Lessner ließ es klingeln. »Es sieht fast nach Schwarzmarkt aus. Ich habe ein paar Sachen zur Untersuchung nach Albany geschickt. Ich versuche, den Verteilungsstellen auf die Spur zu kommen. Vielleicht sind die Sachen ausländischen Ursprungs. Übrigens will sich sogar FBI… Der Teufel soll das Telefon holen!« Er riß den Hörer von der Gabel. »Hier Lessner. Ja… ja. Bist du ganz sicher? Natürlich, Mary, ich komme sofort.« Er legte auf. Aus seinem roten Gesicht war plötzlich jeder Blutstropfen gewichen. »Das war meine Schwägerin«, verkündete er. »Meine Frau ist verschwunden!« Mallen fuhr in halsbrecherischem Tempo nach Haus. Er trat auf die Bremsen, rannte mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe, sprang heraus und lief ins Haus. »Phyllis!« schrie er. Wo war sie nur? O Gott, dachte er, wenn sie weg ist… »Ist was passiert?« fragte Phyllis und kam aus der Küche. »Ich dachte nur…« Er packte sie und drückte sie an sich, bis ihr die Luft ausging. »Na, na«, sagte sie lächelnd. »Wir sind doch kein junges Brautpaar mehr. Jetzt sind wir schon eineinhalb Jahre verheiratet…«
Er berichtete, was er bei der Polizei erfahren hatte. Phyllis sah sich im Wohnzimmer um. Noch vor einer Woche war es ihr so warm und fröhlich vorgekommen. Jetzt ängstigte sie der Schatten unter der Couch. Beim Anblick einer halboffenen Schranktür erschauderte sie. Sie wußte, daß es nie wieder so sein würde wie früher. Es klopfte an der Tür. »Geh nicht hin«, bat Phyllis. »Wer ist da?« rief Mallen. »Joe Dutton, ich wohne ein paar Häuser weiter. Sie haben’s wahrscheinlich schon gehört?« »Ja«, sagte Mallen und blieb neben der geschlossenen Tür stehen. »Wir errichten Straßensperren«, sagte Dutton. »Wir werden jeden überprüfen, der herein oder hinaus will. Diese Geschichte muß aufhören, auch wenn es die Polizei nicht schafft. Machen Sie mit?« »Und ob«, sagte Mallen und öffnete die Tür. Der untersetzte, breitschultrige Mann draußen trug eine alte Uniformjacke. In den Fäusten hielt er einen dicken Holzprügel. »Wir werden diese ganzen Häuserblocks wie mit einer Decke zudecken«, sagte Dutton. »Wenn noch jemand geschnappt wird, dann wird es unterirdisch geschehen müssen.« Mallen gab seiner Frau einen Kuß und schloß sich Dutton an. Am Nachmittag fand in der Aula der Schule eine Massenversammlung statt. Alle Leute aus den betroffenen Häuserblocks waren da, und noch viele andere Einwohner der Stadt hatten sich hereingedrängt. Zunächst wurde festgestellt, daß trotz der Straßensperren aus der Siedlung Vainsville drei weitere Personen verschwunden waren. Captain Lessner hielt eine Rede und erklärte ihnen, daß er Albany um Hilfe ersucht habe. Spezialisten seien schon unterwegs, und auch das FBI werde sich einschalten. Er erklärte freimütig, daß er nicht wisse, worauf das Verschwinden dieser Leute zurückzuführen sei und warum sie verschwänden. Er sei nicht einmal dahintergekommen, warum alle Vermißten aus derselben Ecke der Siedlung Vainsville stammten.
Er hatte inzwischen aus Albany Bescheid über die gefälschten Nahrungsmittel erhalten, die über die ganze Siedlung verstreut entdeckt worden waren. Die Chemiker konnten bei der Untersuchung nicht die geringste Spur irgendwelcher Giftstoffe entdecken. Damit brach auch die Theorie zusammen, in die Nahrungsmittel seien Drogen gemischt worden, die die Menschen dazu veranlaßten, einfach von zu Hause wegzugehen und irgendwo unterzutauchen. Lessner warnte jedoch alle vor dem Genuß dieser Nahrungsmittel. Sicher könne man nicht sein. Die Firmen, deren Etiketts nachgeahmt worden waren, hatten erklärt, mit der ganzen Sache nichts zu tun zu haben. Sie bereiteten Gerichtsverfahren gegen jedermann vor, der sich unrechtmäßig ihrer geschützten Warenzeichen bediente. Der Bürgermeister gab ein paar gutgemeinte Allgemeinplätze von sich und riet ihnen, guten Mutes zu sein. Die städtischen Behörden würden die ganze Sache in die Hand nehmen. Aber natürlich wohnte der Bürgermeister nicht in Vainsville. Dann löste sich die Versammlung auf, und die Männer kehrten wieder an ihre Barrikaden zurück. Sie begannen bereits, Brennholz für die Nacht zu suchen, doch das erwies sich als unnötig. Aus Albany traf Hilfe ein: eine ganze vollausgerüstete Streitmacht. Die vier Häuserblocks wurden mit bewaffneten Posten umstellt. Tragbare Scheinwerfer wurden aufgestellt und über die Gegend ab zwanzig Uhr eine Ausgangssperre verhängt. Mr. Carter bekam von der ganzen Aufregung nichts mit. Er war von früh bis spät beim Angeln gewesen. Beim Sonnenuntergang kehrte er zurück, mit leeren Händen, aber glücklich. Die Wachen ließen ihn durch. Er betrat das Haus. »Ein herrlicher Tag zum Fischen heute«, erklärte er. Die Mallens verbrachten eine schreckliche Nacht. In voller Kleidung nickten sie hin und wieder ein bißchen ein, aber immer wieder kreisten die Suchscheinwerfer über die Fenster ihres Hauses, und die Mallens hörten die Schritte der bewaffneten Posten.
Um acht Uhr am Sonntagmorgen wurden zwei weitere Personen vermißt. Sie waren aus einem Bereich von vier Häuserblocks verschwunden, die strenger bewacht wurden als ein Konzentrationslager. Um zehn Uhr setzte sich Mr. Carter über den Widerspruch der Mallens hinweg, schulterte sein Angelgerät und ging. Seit dem 30. April hatte er nicht einen einzigen Tag verpaßt, und er beabsichtigte auch nicht, einen einzigen Tag auszulassen, solange die Angelsaison andauerte. Am Sonntagmittag war eine weitere Person verschwunden. Damit stieg die Gesamtzahl auf sechzehn. Sonntag, dreizehn Uhr: Alle vermißten Kinder wurden wieder aufgefunden! Ein Streifenwagen entdeckte sie auf einer Nebenstraße am Rand der Stadt; alle acht, auch der Junge der Carmichaels, marschierten ein wenig benommen nach Hause. Sie wurden eilig in ein Krankenhaus gebracht. Von den vermißten Erwachsenen wurde jedoch nicht die geringste Spur entdeckt. Durch Mundpropaganda verbreitete sich die Nachricht rascher, als Zeitungen oder Rundfunk es vermocht hätten. Die Kinder waren völlig unverletzt. Bei der Untersuchung durch Psychiater stellte sich heraus, daß sie sich nicht erinnern konnten, wo sie gewesen waren oder wie sie dorthin gelangt waren. Das einzige, was die Psychiater aus den Berichten mühsam rekonstruieren konnten, war ein Gefühl des Fliegens, begleitet von Übelkeit. Die Kinder wurden aus Gründen der Sicherheit unter strenger Bewachung im Krankenhaus gehalten. Doch an diesem Nachmittag verschwand ein weiteres Kind aus Vainsville. Kurz vor Sonnenuntergang kam Mr. Carter nach Hause. In seinem Matchsack brachte er zwei große Regenbogenforellen mit. Er begrüßte die Mallens vergnügt und ging in die Garage, um die Fische zu schuppen. Jim Mallen trat auf den Hinterhof hinaus und folgte ihm stirnrunzelnd in die Garage. Er wollte den alten Mann etwas fragen, worüber dieser vor zwei Tagen gesprochen hatte. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, was es war, aber es erschien ihm wichtig.
Sein nächster Nachbar, dessen Name ihm nicht einfiel, grüßte ihn. »Was?« fragte Mallen. »Mallen«, rief er. »Ich glaube, ich weiß es jetzt.« »Haben Sie sich mal über die Theorien Gedanken gemacht?« fragte der Nachbar. »Natürlich.« Der Nachbar war ein hagerer Bursche in Hemdsärmeln und Weste. Sein kahler Schädel glänzte rötlich beim Sonnenuntergang. »Dann hören Sie zu: Es kann gar kein Kidnapper sein. Es steckt weder Sinn noch Methode dahinter, stimmt’s?« »Ja, ich denke schon.« »Ein Verrückter scheidet ebenfalls aus. Wie sollte der an fünfzehn oder sechzehn Menschen herankommen? Selbst eine Bande von Verrückten würde das nicht schaffen, jedenfalls nicht bei dem Aufgebot von Polizei hier in der Gegend. Stimmt’s?« »Fahren Sie fort.« Aus den Augenwinkeln sah Mallen die dicke Frau des Nachbarn die Stufen herunterkommen. Sie trat zu ihnen und hörte zu. »Dasselbe gilt auch für eine Verbrecherbande. Oder sogar für Marsbewohner. Es ist undurchführbar, und selbst wenn sie es schafften, wäre es sinnlos. Wir müssen also nach etwas Unlogischem suchen – und dabei bleibt nur eine einzige mögliche Antwort.« Mallen wartete und sah dabei die Frau an. Sie ließ keinen Blick von ihm und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er hatte sogar das Gefühl, als funkelte sie ihn böse an. Was habe ich denn nur getan? dachte Mallen. Was kann sie gegen mich haben? »Die einzige mögliche Antwort«, sagte sein Nachbar langsam, »besteht darin, daß es hier irgendwo ein Loch gibt. Ein Loch im Raum-ZeitKontinuum.« »Was?« platzte Mallen heraus. »Das verstehe ich nicht ganz.« »Ein Loch in der Zeit«, erklärte ihm sein kahlköpfiger Nachbar. »Oder ein Loch im Raum oder in beidem. Fragen Sie mich nicht, wie es entstanden ist, es ist einfach da. Nun geschieht folgendes: Jemand tritt in das Loch, und, bums, ist er irgendwo anders. Oder in einer anderen Zeit.
Oder beides. Das Loch kann man natürlich nicht sehen – es ist in der vierten Dimension –, aber es ist vorhanden. Nach meiner Meinung sollte man genau nachprüfen, wo diese Leute gewesen sind. Man würde feststellen, daß jeder einzelne von ihnen eine bestimmte Stelle überquert hat und dabei verschwand.« »Hm«, Mallen überlegte. »Das klingt interessant – aber wir wissen doch, daß eine Menge Leute direkt aus ihren eigenen Wohnungen verschwunden sind.« »Ja«, bestätigte der Nachbar. »Lassen Sie mich überlegen… Ich weiß es! Das Loch im Raum-Zeit-Kontinuum ist nicht stationär, es driftet und bewegt sich. Zuerst ist es in Carpenters Wohnung, dann schwebt es ziellos weiter…« »Und warum verläßt es den Umkreis dieser vier Häuserblocks nicht?« fragte Mallen. Er überlegte, warum ihn die dicke Frau immer noch mit böse zusammengepreßten Lippen anstarrte. »Nun«, antwortete der Nachbar, »es scheint dafür eine gewisse Begrenzung zu geben.« »Und warum wurden die Kinder zurückgegeben?« »Ach, zum Teufel, Mallen, Sie können doch nicht von mir verlangen, daß ich die Sache bis in die letzte Kleinigkeit austüftele. Es ist jedenfalls eine gute Ausgangstheorie. Wir brauchen noch mehr Fakten, bevor wir die Sache ausarbeiten können.« »Hallo«, rief Mr. Carter und trat aus der Garage. Er hielt zwei wunderschöne Forellen hoch, sauber geschuppt und gereinigt. »Die Forelle ist ein sportlicher Kämpfer und schmeckt außerdem noch prächtig. Ein ausgezeichneter Sport und eine ausgezeichnete Mahlzeit!« Er schlenderte gemächlich zum Haus hinüber. »Ich habe eine bessere Theorie«, sagte die Frau des Nachbarn, entfaltete ihre Arme und stützte die Hände auf die ausladenden Hüften. Beide Männer wandten sich ihr zu. »Wer ist der einzige weit und breit, der sich um das, was hier vorgeht, nicht die geringsten Sorgen macht? Wer läuft dauernd mit einem Sack herum, von dem er behauptet, er hätte Fische drin? Wer behauptet, er verbringe seine ganze Zeit mit Angeln?«
»Aber nein«, sagte Mallen, »doch nicht Opa Carter. Er hat eine eigene Philosophie über das Fischen…« »Seine Philosophie ist mir gleichgültig«, schrie die Frau. »Er hält euch zum Narren, aber mich nicht. Ich weiß nur, daß er der einzige Mann weit und breit ist, der sich nicht die geringsten Sorgen macht und jeden Tag frei herumläuft. Es wäre wahrscheinlich noch zu gnädig, wenn man ihn lynchen würde!« Damit drehte sie sich um und watschelte ins Haus zurück. »Hören Sie, Mallen«, sagte der kahle Nachbar. »Tut mir leid, Sie wissen doch, wie die Frauen sind. Sie ist aufgeregt, selbst wenn Danny jetzt sicher im Krankenhaus liegt.« »Schon gut«, sagte Mallen. »Sie versteht die Sache mit dem Raum-Zeit-Kontinuum nicht«, fuhr der Mann ernsthaft fort. »Aber ich werde es ihr heute abend erklären. Morgen früh wird sie sich entschuldigen. Sie werden schon sehen.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände und kehrten in ihre Häuser zurück. Rasch brach die Dunkelheit herein, und Suchscheinwerfer streiften über die Häuser. Lichtstrahlen stachen wie Messer die Straßen entlang, in die Hinterhöfe, wurden von geschlossenen Fenstern reflektiert. Die Einwohner von Vainsville bereiteten sich darauf vor, daß wieder jemand verschwinden würde. Jim Mallen wünschte sich nur, das Ding oder die Person, die dafür verantwortlich war, zwischen die Finger zu bekommen. Nur für eine einzige Sekunde – mehr würde er nicht brauchen. Aber herumsitzen und warten… Er kam sich so hilflos vor. Die Lippen seiner Frau waren blaß und aufgesprungen, und ihre Augen sahen müde aus. Aber Mr. Carter war vergnügt wie immer. Er briet die Forellen auf dem Gasherd und servierte sie ihnen dann. »Ich habe heute einen herrlich stillen Tümpel entdeckt«, erklärte Mr. Carter. »Er liegt in der Nähe der Mündung des Old Creek, ein Stück einen kleinen Zufluß hinauf. Ich habe dort den ganzen Tag gefischt, am grasigen Ufer gelehnt und in die Wolken gesehen. Phantastisch, diese Wolken! Ich gehe morgen wieder hin und werde noch einmal einen Tag dort fischen. Dann suche ich mir eine andere Stelle. Ein kluger Angler
fischt einen Bach nie ganz leer. Mäßigung ist die Devise aller Fischer. Ein bißchen Nehmen, ein bißchen Dalassen. Ich habe oft gedacht…« »Dad, bitte!« schrie Phyllis und brach in Tränen aus. Mr. Carter schüttelte betrübt den Kopf, lächelte verständnisvoll und aß seine Forelle auf. Dann ging er ins Wohnzimmer und begann, an einer neuen Fliege zu arbeiten. Erschöpft gingen die Mallens zu Bett. Mallen wachte plötzlich auf und saß kerzengerade im Bett. Er wandte den Kopf zur Seite und sah seine Frau schlafend neben sich liegen. Das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr zeigte 4.58 Uhr an. Schon fast Morgen, dachte er. Er stand auf, zog einen Bademantel über und ging leise die Treppe hinunter. Die Scheinwerfer waren auf das Wohnzimmerfenster gerichtet, und draußen sah er einen Posten stehen. Ein beruhigender Anblick, dachte er und ging in die Küche. So leise wie möglich richtete er sich ein Glas Milch her. Auf dem Kühlschrank stand frischer Kuchen, von dem er sich eine Scheibe abschnitt. Kidnapper! dachte er. Verrückte! Marsmenschen! Löcher im Raum! Oder ein bißchen von allem! Nein, das stimmte nicht. Wenn er sich nur daran erinnern könnte, was er eigentlich Mr. Carter fragen wollte. Es war sehr wichtig. Er spülte das Glas aus, stellte den Kuchen wieder auf den Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer. Plötzlich wurde er mit einem Ruck zur Seite geschleudert. Etwas hatte ihn gepackt! Er wedelte mit beiden Armen, aber er griff nur ins Leere. Etwas hielt ihn wie mit einer eisernen Faust fest und hob ihm die Beine weg. Er warf sich zur Seite und stemmte die Füße ein. Aber die Füße hoben sich vom Boden ab, und er hing für einen Augenblick strampelnd und zappelnd in der Luft. Die Faust, die seine Rippen umklammert hielt, war so hart, daß er keine Luft bekam und keinen Laut von sich geben konnte. Unerbittlich wurde er hochgehoben. Ein Loch im Raum, dachte er und versuchte zu schreien. Seine wild rudernden Arme schlugen gegen die Sofakante, und er klammerte sich
daran fest. Das Sofa wurde mit ihm hochgehoben. Er gab sich einen Ruck, der Griff ließ für eine Sekunde nach, und er fiel zu Boden. Er robbte über den Fußboden auf die Tür zu. Wieder packte ihn die eiserne Faust, aber er befand sich jetzt in der Nähe eines Heizkörpers. Mit beiden Händen hielt er sich daran fest und widerstand mit aller Kraft dem Zug, der auf ihn ausgeübt wurde. Noch einmal gab er sich einen Ruck und brachte es fertig, erst das eine Bein und dann auch das andere um den Heizkörper zu schlingen. Der Heizkörper knackte, als. sich der Zug verstärkte. Mallen glaubte schon, die unsichtbare Kraft würde ihm das Kreuz brechen, aber er ließ nicht locker, wenn auch alle seine Muskeln bis zum Zerreißen gespannt waren. Plötzlich ließ die eiserne Faust ganz los. Er brach auf dem Boden zusammen. Als er wieder zu sich kam, war es heller Tag. Phyllis spritzte ihm kaltes Wasser ins Gesicht. Sie biß sich auf die Unterlippe. Er blinzelte und wußte im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. »Bin ich noch hier?« fragte er. »Alles in Ordnung?« fragte Phyllis zurück. »Was ist denn geschehen? Ach, Liebling, gehen wir doch weg von hier.« »Wo ist dein Vater?« fragte Mallen benommen und raffte sich auf. »Zum Angeln. Bitte, bleib sitzen. Ich werde einen Arzt rufen.« »Nein, warte.« Mallen ging in die Küche. Auf dem Kühlschrank stand noch der Karton mit dem Kuchen. Die Aufschrift hieß: ›Johnsons Conditorei, Vainsville, New York‹. Ein großes ›K‹ in ›New York‹. Eigentlich nur ein ganz kleiner Fehler. Und Mr. Carter? War hier die Antwort zu suchen? Mallen rannte nach oben und zog sich an. Er knüllte den Karton zusammen und steckte ihn in die Tasche. Dann lief er zur Tür hinaus. »Berühr hier nichts, bis ich zurück bin«, rief er Phyllis zu. Sie sah, wie er in den Wagen stieg und die Straße entlangraste. Den Tränen nahe ging sie in die Küche zurück.
Nach fünfzehn Minuten war Mallen oben am Old Creek. Er parkte den Wagen und ging den Bach hinauf. »Mr. Carter«, rief er. »Mr. Carter.« Eine halbe Stunde lang lief er schreiend an dem Bach entlang und geriet dabei tiefer und tiefer in den Wald hinein. Die Zweige hingen jetzt über den Bachlauf, und er mußte durch das Wasser waten, um rascher voranzukommen. Er beeilte sich, sosehr er konnte, planschte, spritzte, rutschte auf Steinen aus und versuchte trotzdem zu laufen. »Mr. Carter!« »Hallo«, hörte er die Stimme des alten Mannes rufen. Er ging dem Ton nach und watete einen Seitenarm des Baches hinauf. Dort saß Mr. Carter am steilen Ufer eines kleinen Tümpels, die lange Bambusrute in der Hand. Mallen krabbelte zu ihm hinauf. »Langsam, langsam, mein Sohn«, sagte Mr. Carter. »Bin froh, daß du dich nach meinem Rat gerichtet hast, was das Fischen betrifft.« »Nein«, keuchte Mallen. »Ich möchte, daß du mir etwas erklärst, Dad.« »Gern«, sagte der Alte. »Was möchtest du wissen?« »Ein Fischer wird doch einen Tümpel nie ganz leer fischen?« »Nein, aber manche tun das.« »Und der Köder. Benutzt jeder gute Fischer künstliche Köder?« »Ich bin auf meine Fliegen sehr stolz«, sagte Mr. Carter. »Ich bemühe mich, sie so naturgetreu wie möglich zu machen. Hier hast du zum Beispiel eine hübsche Nachahmung einer Hornisse.« Er nahm einen gelben Haken von seinem Hut. »Und da ist ein hübscher Moskito.« Plötzlich straffte sich die Angelleine. Sicher und ruhig holte der alte Mann sie ein. Er fing die nach Luft schnappende Forelle mit der Hand und zeigte sie Mallen. »Ist nur ein kleiner Bursche – werde ihn nicht behalten.« Er löste behutsam den Haken aus den flatternden Kiemen und warf den Fisch ins Wasser zurück. »Wenn du ihn zurückwirfst – glaubst du, er weiß dann Bescheid? Sagt er es den anderen?«
»Aber nein«, antwortete Mr. Carter. »Aus Erfahrung lernt er überhaupt nichts. Ich hab’s schon gehabt, daß derselbe Jungfisch zwei- oder dreimal angebissen hat. Sie müssen schon etwas größer werden, bevor sie Erfahrung sammeln.« »Das habe ich mir gedacht.« Mallen sah den Alten an. Mr. Carter hatte die Welt ringsum vergessen, und auch das Entsetzen, das über Vainsville hereingebrochen war, kümmerte ihn nicht. Angler leben in einer eigenen Welt, dachte Mallen. »Aber du hättest vor einer Stunde hier sein sollen«, sagte Mr. Carter. »Da hatte ich einen Prachtkerl am Haken. Einen großartigen Burschen, mindestens zwei Pfund schwer. Ein echter Gegner für einen alten Angler wie mich. Und der kam davon. Aber es werden schon noch andere anbeißen. He, wo willst du hin?« »Zurück«, rief Mallen und planschte durchs Wasser. Er wußte nun, was er bei Mr. Carter gesucht hatte. Eine Parallele, und nun war alles klar. Der harmlose Mr. Carter brachte seine Forellen ein, genau wie der andere größere Angler seine… »Ich will zurück und die anderen Fische warnen«, rief Mallen über die Schulter und stolperte durch das Bachbett. Hoffentlich hat Phyllis nichts von den Nahrungsmitteln angerührt! Er zog den Kuchenkarton aus der Tasche und warf ihn so weit von sich, wie er nur konnte. »Der verdammte Köder!« Unterdessen warfen die beiden Angler, jeder in seinem eigenen Bereich, lächelnd wieder ihre Leinen aus.
Traumwelt Unendlich viele Welten existieren im Unendlichen eines jeden Zyklus – aetii de placitis reliquae. Lanigan hatte wieder denselben Traum und brachte es fertig, sich selbst mit einem heiseren Schrei zu wecken. Er saß aufrecht im Bett und sah sich mit weit aufgerissenen Augen in der violetten Dunkelheit um. Seine Zähne waren aufeinandergebissen und seine Lippen zu einer krampfhaft lächelnden Grimasse zurückgezogen. Er spürte, wie sich neben ihm Estelle, seine Frau, bewegte und aufsetzte. Lanigan sah sie nicht an. Er war noch in seinem Traum befangen und wartete auf handfeste Beweise der Welt. Ein Stuhl trieb langsam an seinem Blickfeld vorüber und prallte mit dumpfem Schlag gegen die Wand. Lanigans Gesicht entkrampfte sich ein wenig. Dann spürte er Estelies Hand auf seinem Arm – die Berührung sollte beruhigend wirken, aber sie brannte auf seiner Haut wie Feuer. »Hier«, sagte sie, »trink das.« »Nein«, antwortete Lanigan. »Ist schon alles wieder in Ordnung.« »Trink es trotzdem.« »Nein, wirklich nicht, es ist alles in Ordnung.« Denn inzwischen war er den Fängen des Alptraums völlig entronnen. Er war wieder ganz er selbst, und auch die Welt war genauso wie immer. Für Lanigan war das sehr wertvoll. Er wollte diese Eindrücke jetzt nicht fahrenlassen, nicht einmal für die herrliche Befreiung eines Beruhigungsmittels. »War es derselbe Traum?« fragte Estelle. »Ja, genau derselbe… Ich möchte nicht darüber reden.« »Schon gut«, sagte Estelle.
Sie will mich besänftigen, dachte Lanigan. Ich mache ihr Angst. Ich mache mir selbst auch Angst. Sie fragte: »Liebling, wie spät ist es?« Lanigan sah auf die Uhr. »Viertel nach sechs.« Aber er hatte kaum ausgesprochen, da machte der Stundenzeiger einen ruckartigen Sprung nach vorn. »Nein, es ist fünf Minuten vor sieben.« »Kannst du nicht wieder einschlafen?« »Ich glaube nicht«, sagte Lanigan. »Ich werde lieber aufbleiben.« »Fein, mein Schatz«, sagte Estelle. Sie gähnte, schloß die Augen, schlug sie wieder auf und fragte: »Liebling, meinst du nicht, daß es besser wäre, wenn du…« »Ich bin mit ihm für 12.10 Uhr verabredet«, unterbrach sie Lanigan. »Das ist fein«, sagte Estelle. Sie schloß wieder die Augen. Während Lanigan sie beobachtete, überkam sie der Schlaf. Ihr kastanienbraunes Haar bekam einen mattblauen Schimmer, und sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Lanigan stieg aus dem Bett und zog sich an. Er war ein kräftiger Mann, den man nicht so leicht mit einem anderen verwechseln konnte. Seine Gesichtszüge waren stark ausgeprägt. Er hatte einen Hautausschlag am Hals. Ansonsten war nichts Außergewöhnliches an ihm, nur hatte er immer wieder denselben Traum, der ihn allmählich in den Wahnsinn trieb. Die nächsten Stunden verbrachte er auf der Veranda vor seinem Haus, er beobachtete, wie die Sterne im bleich werdenden Morgenhimmel explodierten. Später machte er einen Spaziergang. Der Zufall führte ihm nicht weit von seinem Haus entfernt George Torstein über den Weg. Vor einigen Monaten hatte er Torstein in einem unbedachten Augenblick von seinem Traum erzählt. Torstein hatte eine unverblümte, offenherzige Art. Er glaubte an Selbsthilfe, Disziplin, praktische Geschicklichkeit, gesunden Menschenverstand und andere, noch langweiligere Tugenden. Seine fast brutale Sachlichkeit hatte auf Lanigan im ersten Augenblick erleichternd gewirkt. Aber nun konnte er ihn nicht mehr riechen. Männer wie Torstein waren zweifellos das Salz der Erde und das Rückgrat des Landes, aber für Lanigan, der vergebens gegen
etwas Ungreifbares ankämpfte, war Torstein nicht mehr nur lästig, sondern ein Angsttraum. »Na, Tom, wie geht’s uns denn?« begrüßte ihn Torstein. »Fein«, sagte Lanigan. »Wirklich sehr gut.« Er nickte freundlich und ging unter einem schmelzend grünen Himmel weiter. Aber Torstein entkam er nicht so leicht. »Hören Sie, Tom, ich habe über Ihr Problem nachgedacht«, sagte Torstein. »Sie machen mir wirklich Sorgen.« »Nun, das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Lanigan, »aber Sie sollten sich wirklich nicht weiter darum kümmern…« »Ich möchte es aber«, widersprach Torstein und sagte damit die schlichte, wenn auch beklagenswerte Wahrheit. »Ich interessiere mich eben für Menschen, Tom. Ich habe mich seit meiner Kindheit immer für Menschen interessiert. Und wir beide sind doch schon so lange Zeit Freunde und Nachbarn.« »Ja, das stimmt«, sagte Lanigan dumpf. – Das Schlimmste für einen Menschen, der Hilfe braucht, ist, daß er sie annehmen muß. »Nun, Tom, ich glaube, was Ihnen am meisten helfen würde, das wäre ein kleiner Urlaub.« Torstein hatte für jedes Übel ein einfaches Rezept. Da er ohne amtliche Genehmigung den Seelenarzt spielte, verschrieb er immer nur Mittel, die man frei kaufen konnte. »Ich kann mir diesen Monat wirklich keinen Urlaub leisten«, sagte Lanigan. – Der Himmel war jetzt ockerbraun und rosa. Drei Pinien waren verwittert, eine Eiche hatte sich in einen Kaktus verwandelt. Torstein lachte laut und herzlich. »Junge, Sie können es sich nicht leisten, jetzt keinen Urlaub zu nehmen! Ist Ihnen dieser Gedanke noch nicht gekommen?« »Nein, ich glaube nicht.« »Na, dann überlegen Sie sich das mal. Sie sind müde, abgespannt und richtig überdreht. Sie haben zu schwer gearbeitet.« »Ich feiere schon die ganze Woche krank«, sagte Lanigan. Er sah auf die Uhr. Das goldene Gehäuse hatte sich in Blei verwandelt, aber die
Zeitangabe schien noch zu stimmen. Seit dem Beginn dieser Unterhaltung waren fast zwei Stunden vergangen. »Nein, so geht das nicht«, sagte Torstein. »Sie sind hier in der Stadt geblieben, zu dicht bei Ihrem Arbeitsplatz. Sie müssen mehr mit der Natur in Berührung kommen. Tom, wann waren Sie das letzte Mal beim Camping?« »Camping? Ich glaube nicht, daß ich jemals in einem Zelt übernachtet habe.« »Da haben Sie es. Junge, Junge, Sie müssen zusehen, daß Sie mit den wirklich echten Dingen wieder mehr in Berührung kommen. Keine Straßen, keine Häuser, sondern Berge und Flüsse.« Lanigan sah wieder auf die Uhr und stellte erleichtert fest, daß sie sich in Gold zurückverwandelte. Er war sehr froh. Für das Uhrgehäuse hatte er sechzig Dollar bezahlt. »Bäume und Flüsse«, schwärmte ihm Torstein vor. »Das Gefühl von frischem Gras, das unter den Füßen wächst, der Anblick hoher schwarzer Berge, und vor einem goldenem Himmel…« Lanigan schüttelte den Kopf. »Ich habe schon auf dem Land Ferien gemacht, George, es hilft mir nichts.« Torstein ließ nicht locker. »Sie müssen einmal von allem Künstlichen weg.« »Es kommt mir alles gleich künstlich vor«, sagte Lanigan. »Bäume oder Häuser – wo ist da schon der Unterschied?« »Häuser sind von Menschen gemacht«, erklärte Torstein. »Aber die Bäume macht Gott.« Lanigan hegte hinsichtlich beider Behauptungen gewisse Zweifel, aber die wollte er Torstein nicht auf die Nase binden. »Vielleicht haben Sie da nicht so unrecht, ich will mal darüber nachdenken.« »Tun Sie das«, sagte Torstein. »Ich kenne da zufällig das genau richtige Fleckchen für Sie. Es liegt in Maine, Tom, gleich in der Nähe von diesem kleinen See…« Torstein verstand sich meisterhaft auf nicht endenwollende Beschreibungen. Zum Glück für Lanigan wurde er abgelenkt. Auf der anderen Straßenseite ging ein Haus in Flammen auf.
»He, wem gehört denn das Haus?« fragte Lanigan. »Makelby«, antwortete Torstein. »Bei ihm brennt’s in diesem Monat schon zum zweitenmal.« »Vielleicht sollten wir Feueralarm geben.« »Sie haben recht. Ich werde es gleich selbst tun«, sagte Torstein. »Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen über dieses Fleckchen in Maine gesagt habe, Tom.« Torstein wandte sich zum Gehen, und in diesem Augenblick geschah etwas Urkomisches. Während er über den Zement dahinschritt, verflüssigte sich dieser unter seinem linken Fuß. Torstein war nicht darauf gefaßt und sank bis zum Knöchel ein. Der eigene Schwung ließ ihn nach vorn auf die Straße stürzen. Tom wollte ihm helfen, ehe der Zement wieder hart wurde. »Haben Sie sich verletzt?« fragte er. »Hab’ mir den verdammten Knöchel verrenkt«, murmelte Torstein. »Ist schon wieder gut. Ich kann noch laufen.« Er humpelte davon, um Feueralarm zu geben. Lanigan blieb stehen und sah sich den Brand an. Das Feuer war nach seiner Meinung durch plötzliche Verbrennung entstanden. Wenige Minuten später verlöschte es, wie er erwartet hatte, genauso plötzlich wieder. Man soll nie schadenfroh sein, sagte sich Lanigan. Aber wenn er an Torsteins verrenkten Knöchel dachte, mußte er unwillkürlich lachen. Nicht einmal das plötzliche Auftauchen mächtiger Wasserfluten aus der Mainstreet konnte seine vergnügte Stimmung beeinträchtigen. Dann fiel ihm sein Traum wieder ein, und die Panik setzte erneut ein. Er suchte mit raschen Schritten seinen Arzt auf. Dr. Sampsons Behandlungsraum war in dieser Woche klein und düster. Das alte graue Sofa war verschwunden. Seine Stelle nahmen zwei LouisXV-Stühle und eine Hängematte ein. Der abgetretene Teppich hatte sich von selbst umgewebt, und die braunrote Decke wies ein Brandloch von einer Zigarette auf. Aber das Porträt Andrettis hing an seinem
gewohnten Platz an der Wand, und der große, unregelmäßig geformte Aschenbecher war peinlich sauber. Die Tür zum Privatbüro ging auf, und Dr. Sampson steckte den Kopf heraus. »Hallo«, sagte er. »Bin gleich bei Ihnen.« Dann verschwand sein Kopf wieder. Sampson hielt Wort. Nach Lanigans Uhr war er mit der Arbeit, die er gerade tat, nach genau drei Sekunden fertig. Eine Sekunde später lag Lanigan ausgestreckt auf der Ledercouch und hatte eine frische Papierserviette unter dem Kopf liegen. Dr. Sampson sagte: »Na, Tom, wie war’s denn so in letzter Zeit?« »Immer dasselbe«, sagte Lanigan. »Nur schlimmer.« »Der Traum?« Lanigan nickte. »Gehen wir ihn noch einmal durch.« »Das möchte ich lieber nicht«, sagte Lanigan. »Angst?« »Mehr denn je.« »Selbst jetzt?« »Ja, ganz besonders jetzt.« Es folgten einige Sekunden therapeutischen Schweigens. Danach sagte Dr. Sampson: »Sie haben doch schon früher über Ihre Angst und diesen Traum gesprochen. Sie haben mir nur noch nie erzählt, warum Sie sich so sehr davor fürchten.« »Nun – das klingt so albern.« Sampsons Gesicht wirkte ernst, ruhig und gelassen. Es war das Gesicht eines Mannes, der nichts albern fand, der von seiner ganzen Veranlagung her überhaupt nicht fähig war, etwas albern zu finden. Vielleicht war das nur eine Pose, aber Lanigan beruhigte diese Haltung jedenfalls. »Na schön, ich werd’s Ihnen sagen«, antwortete Lanigan unvermittelt. Dann hielt er inne. »Fahren Sie fort«, ermunterte ihn Dr. Sampson.
»Nun, es liegt daran, daß ich glaube, daß irgendwie, irgendwo – ich verstehe nicht ganz…« »Ja, fahren Sie nur fort«, sagte Sampson. »Nun, ich fürchte, daß meine Traumwelt irgendwie wirklich wird.« Er hielt wieder inne. Dann brach es aus ihm heraus: »Und daß ich eines Tages aufwache und mich in jener anderen Welt wiederfinde. Und daß die Welt dann die echte Welt geworden ist und diese Welt hier dann später der Traum sein wird.« Er wandte den Kopf zur Seite, weil er sehen wollte, welchen Eindruck diese verrückte Eröffnung auf Sampson gemacht hatte. Falls der Arzt wirklich verwirrt war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er zündete sich in aller Ruhe mit der glimmenden Spitze seines linken Zeigefingers seine Pfeife an. Dann blies er den Zeigefinger aus und sagte: »Ja, bitte, fahren Sie fort.« »Fortfahren? Aber das ist doch schon alles!« Auf Sampsons malvenfarbenem Teppich erschien ein Fleck von der Größe eines Vierteldollars. Er wurde dunkler, dicker, größer und wuchs sich zu einem kleinen Obstbaum aus. Sampson pflückte eine der purpurnen Schoten, roch daran und legte sie auf seinen Tisch. Er sah Lanigan streng und betrübt an. »Tom, Sie haben früher schon über Ihre Traumwelt erzählt.« Lanigan nickte. »Wir haben darüber gesprochen, sind den Ursprüngen nachgegangen und haben ermittelt, was das alles für Sie bedeutet. In den vergangenen Monaten haben wir, so glaube ich, entdeckt, warum Sie unter diesem Alptraum leiden müssen.« Lanigan nickte unglücklich. »Und doch wollen Sie es nicht einsehen«, sagte Sampson. »Sie vergessen immer wieder, daß Ihre Traumwelt ein Traum ist, nichts weiter als ein Traum, der nach willkürlichen Formgesetzen abläuft, die Sie selbst erfunden haben, um ihre psychischen Bedürfnisse zu befriedigen.« »Ich wünsche mir selbst, daß ich das glauben könnte«, sagte Lanigan. »Das schlimme ist nur, daß meine Traumwelt so verdammt vernünftig erscheint.«
»Ganz und gar nicht«, widersprach Sampson. »Das liegt nur daran, daß Ihre Illusion hermetisch, in sich geschlossen und selbständig erscheint. Die Handlungen eines Menschen beruhen auf gewissen Vorstellungen von der Wesensart der Welt. Legt man diese Vorstellungen zugrunde, dann ist sein Verhalten vollkommen vernünftig. Aber es ist fast unmöglich, diese Vorstellungen, diese grundsätzlichen Axiome zu ändern. Wie wollen Sie beispielsweise einem Menschen beweisen, daß er nicht in seinen Handlungen durch geheime Radiowellen beeinflußt wird, die nur er hören kann!« »Das leuchtet mir ein«, murmelte Lanigan. »Und – das bin ich?« »Ja, Tom, das ist Ihr eigentliches Problem. Sie wollen, daß ich Ihnen beweise, daß diese Welt wirklich ist und daß die Welt der Toms falsch ist. Sie sind bereit, Ihre Phantasie aufzugeben, wenn ich Ihnen diese erforderlichen Beweise liefere.« »Ja, genau«, rief Lanigan. »Aber sehen Sie, das kann ich nicht«, sagte Sampson. »Die Wesensart der Welt ist offenkundig, aber nicht beweisbar.« Lanigan überlegte eine Weile, dann sagte er: »Sehen Sie, Doktor, ich bin doch nicht so krank wie der Kerl mit dem geheimen Radio, nicht wahr?« »Nein, das sind Sie nicht. Sie sind vernünftiger, rationaler. Sie haben Ihre Zweifel, was die Realität der Welt betrifft, aber glücklicherweise zweifeln Sie auch an der Gültigkeit Ihrer Illusion.« »Dann versuchen Sie es doch«, sagte Lanigan. »Ich verstehe Ihre Schwierigkeiten, aber ich schwöre Ihnen, daß ich alles glauben werde, was mir einigermaßen glaubhaft erscheint.« »Das ist eigentlich nicht mein Gebiet«, sagte Sampson. »Für so etwas ist ein Metaphysiker zuständig. Ich bin wahrscheinlich nicht sehr geschickt bei…« »Versuchen Sie es doch«, bat Lanigan. »Na schön, versuchen wir es.« Sampson legte die Stirn in Falten und konzentrierte sich. Dann sagte er: »Ich habe den Eindruck, daß wir die Welt mit Hilfe unserer Sinne betrachten, und daher müssen wir letzten Endes den Beweis jener Sinne akzeptieren.«
Lanigan nickte und der Arzt fuhr fort. »Wir wissen, daß ein Ding existiert, weil unsere Sinne uns sagen, daß es existiert. Aber wie überprüfen wir die Genauigkeit unserer Beobachtungen? Indem wir sie mit den Sinneseindrücken anderer Menschen vergleichen. Wir wissen, daß unsere Sinne nicht lügen, wenn auch die Sinne anderer Menschen uns die Existenz des fraglichen Dings bestätigen.« Lanigan überlegte eine Weile, dann sagte er: »Die wirkliche Welt ist also ganz einfach das, was die meisten Menschen für die wirkliche Welt halten.« Sampson verzog den Mund und sagte: »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Metaphysik nicht meine Stärke ist. Trotzdem halte ich das für eine ganz annehmbare Theorie.« »Ja, gut. Aber setzen wir einmal voraus, all die anderen Beobachter irren sich, nehmen wir zum Beispiel an, es gibt viele Welten und viele Realitäten, nicht nur eine. Nehmen wir an, was wir um uns haben, ist lediglich eine willkürlich aus unendlich vielen Daseinsformen herausgegriffene Existenz. Oder nehmen wir an, das Wesen der Realität selbst ist eines Wandels fähig, und jemand wie ich ist imstande, diesen Wandel zu erkennen.« Sampson seufzte, entdeckte eine kleine grüne Fledermaus, die in seinem Jackett herumflatterte, und erschlug sie zerstreut mit einem Lineal. »Da haben Sie es«, sagte er. »Ich kann nicht eine einzige Ihrer Behauptungen widerlegen. Ich glaube, Tom, wir sollten lieber den ganzen Traum noch einmal durchgehen.« Lanigan verzog das Gesicht. »Das möchte ich lieber nicht. Ich habe ein Gefühl…« »Das weiß ich«, sagte Sampson mit mattem Lächeln. »Aber damit wäre es doch ein für allemal bewiesen oder nicht bewiesen, stimmt’s?« »Ich glaube schon«, sagte Lanigan. Er nahm – unklugerweise – all seinen Mut zusammen und sagte: »Nun, es fängt damit an… Mein Traum beginnt…«
Schon beim Sprechen packte ihn das Entsetzen. Er fühlte sich schwindlig, krank, verängstigt. Er versuchte, sich von der Couch zu erheben. Das Gesicht des Arztes hing wie ein mächtiger Ballon über ihm. Er sah Metall glitzern und hörte Sampson sagen: »Versuchen Sie, sich zu entspannen – kurzer Anfall –, versuchen Sie, an etwas Angenehmes zu denken.« Dann schwanden Lanigan die Sinne – oder die Welt ging unter. Lanigan und/oder die Welt kehrten wieder zum Bewußtsein zurück. Es war einige Zeit vergangen, oder vielleicht auch nicht. Alles konnte geschehen oder auch nicht geschehen sein. Lanigan setzte sich auf und sah Sampson an. »Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte Sampson. »Ganz gut«, sagte Lanigan. »Was war los?« »Es ging Ihnen nicht gut«, antwortete Sampson. »Ruhen Sie sich noch eine Weile aus.« Lanigan legte sich zurück und versuchte, sich zu beruhigen. Der Arzt saß an seinem Schreibtisch und machte sich Notizen. Lanigan zählte mit geschlossenen Augen bis zwanzig und öffnete sie dann wieder. Sampson schrieb immer noch. Lanigan sah sich in dem Behandlungsraum um, zählte die fünf Bilder an der Wand, zählte sie noch einmal, betrachtete stirnrunzelnd den grünen Teppich und schloß die Augen wieder. Diesmal zählte er bis fünfzig. »Nun, wollen Sie darüber reden?« fragte Sampson und klappte sein Notizbuch zu. »Nein, nicht jetzt gleich«, sagte Lanigan. – Fünf Gemälde, grüner Teppich. »Wie Sie wollen«, antwortete der Arzt. »Ich glaube, die verabredete Zeit ist jetzt so ziemlich abgelaufen. Aber wenn Sie sich im Vorraum noch ein wenig hinlegen wollen…« »Nein, danke, ich gehe nach Hause«, sagte Lanigan. Er stand auf, ging über den grünen Teppich zur Tür und warf dann einen Blick zurück über die fünf Gemälde und den Arzt, der ihn ermutigend anlächelte. Dann trat Lanigan durch die Tür hinaus in den
Vorraum und von da durch eine weitere Tür hinaus in den Korridor. Der Korridor führte zur Treppe, die Treppe nach unten und hinaus auf die Straße. Er ging dahin und betrachtete die Bäume, deren grüne Zweige sich in der schwachen Brise ganz matt und normal bewegten. Der Verkehr lief auf der einen Straßenseite in diese Richtung, aber auf der anderen Straßenseite in die entgegengesetzte. Der Himmel war von einem unveränderten Blau und schien schon seit einer ganzen Weile so gewesen zu sein. Ein Traum? Er kniff sich in den Arm. Spürte er den Schmerz auch im Traum? Er wachte nicht auf. Er schrie. War es ein eingebildeter Schrei? Er wachte nicht auf. Er befand sich wieder auf dem vertrauten Boden seines Alptraums. Aber der dauerte diesmal sehr viel länger als sonst. Daher war es kein Traum mehr. – Ein Traum ist das verkürzte Leben, und das Leben ist der verlängerte Traum. Lanigan hatte den Übergang geschafft. Oder der Übergang hatte Lanigan geschafft. Das Unmögliche war geschehen. Und zwar ganz einfach dadurch, daß es sich ereignet hatte. Der Straßenbelag gab unter seinen Schritten nicht ein einziges Mal nach. Drüben auf der anderen Seite lag die First National City Bank. Sie war gestern dagewesen und würde auch morgen dort stehen. Das Gebäude war auf groteske Weise aller anderen Möglichkeiten entblößt – es konnte niemals ein Grab, ein Flugzeug oder das Skelett eines Vorzeitungeheuers werden. Trist und langweilig würde es bleiben, was es war: ein Gebäude aus Beton und Stahl, stumpfsinnig, verharrend in seiner Unveränderlichkeit, bis Männer mit Werkzeugen kamen und es mühsam niederrissen. Lanigan wanderte durch diese versteinerte Welt unter einem blauen Himmel, der am Horizont mit weißen Rändern lockte, aber damit ein Versprechen gab, das er nie einhalten konnte. Die Autos fuhren rechts, die Leute überquerten die Straße an den Kreuzungen, die Uhren stimmten auf Minuten genau überein. Irgendwo jenseits der Stadt lag das weite Land. Aber Lanigan wußte, daß man das Gras nicht unter den Füßen wachsen spürte. Es lag ganz
einfach da und wuchs auch zweifellos, aber unmerklich – die Sinne hatten nichts davon. Die Berge waren immer noch schwarz und hoch, aber sie waren Giganten, die mitten im Schritt verharrten und nie wieder vor einem goldenen – oder purpurnen oder grünen – Himmel dahinmarschieren würden. Das hier war die erfrorene Welt. Es war die Zeitlupenwelt der Ordnung, der Routine, der Gewohnheit. Es war die Welt, in der die unheimliche Langeweile nicht nur möglich, sondern sogar unvermeidlich war. Es war die Welt, in der der Wandel, dieses quecksilbrige Ding, zu einer zähen, trägen, klebrigen Masse herabgesunken war. Deshalb war der Zauber der phänomenalen Welt nicht mehr möglich. Und ohne diesen Zauber kann man nicht leben. Lanigan schrie auf. Er hörte nicht auf zu schreien, während sich Leute um ihn sammelten und ihn ansahen – aber nichts taten und nichts wurden. Dann kam ein Polizeibeamter, wie es sich gehörte – aber die Sonne veränderte nicht ein einziges Mal ihre Gestalt. Dann raste ein Krankenwagen die unveränderliche Straße entlang – aber ohne Trompeten und auf vier Rädern – statt auf drei oder auf fünfundzwanzig. Und die Sanitäter brachten ihn in ein Gebäude, das sich genau an der Stelle befand, an der sie es vermuteten, und es wurde viel geredet – geredet von Leuten, die unverändert und unveränderlich um ihn herumstanden und die ihm in einem Zimmer mit unerbittlich weißen Wänden unerbittliche Fragen stellen. Sie verschrieben ihm Ruhe, Stille und Beruhigungsmittel. Es war schrecklich: Genau das war das Gift, das Lanigan immer wieder aus seinem Kreislauf zu verdrängen suchte. Natürlich gaben sie ihm eine Überdosis. Er starb nicht. So gut war das Gift auch wieder nicht. Statt dessen wurde er völlig verrückt. Er wurde drei Wochen später entlassen. Ein Musterpatient nach einer Musterkur. Nun läuft er herum und glaubt daß ein Wandel nicht mehr möglich sei. Er ist zu einem Masochisten geworden. Er ergötzt sich an der niederträchtigen Regelmäßigkeit der Dinge. Er ist auch ein Sadist
geworden. Er predigt anderen die unveränderliche, göttliche Ordnung der Dinge. Er hat seine Verrücktheit oder die der Welt völlig assimiliert – bis auf einen einzigen Punkt. Er ist nicht glücklich. Ordnung und Glück sind Gegensätze, die das Universum bisher nicht miteinander in Einklang bringen konnte.
Diplomatische Immunität »Treten Sie doch bitte ein, meine Herren!« Der Botschafter führte sie in die ganz besondere Suite, die das Außenministerium ihm zugewiesen hatte. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Colonel Cercy setzte sich und versuchte, sich ein Bild von dem Individuum zu machen, über das sich ganz Washington graue Haare wachsen ließ. Der Botschafter wirkte gar nicht bedrohlich. Er war mittelgroß und zierlich und trug einen unauffälligen braunen Tweedanzug, den er vom Außenministerium erhalten hatte. Sein Gesicht war intelligent, fein modelliert und unnahbar. Sieht ganz menschlich aus, dachte Cercy und betrachtete den Fremden mit ausdruckslosen, nüchternen Augen. »Womit kann ich Ihnen dienen?« erkundigte sich der Botschafter mit höflichem Lächeln. »Der Präsident hat mir die Leitung Ihres Falles übertragen«, sagte Cercy. »Ich habe Professor Darrigs Berichte studiert.« Er nickte dem Wissenschaftler an seiner Seite zu. »Aber ich möchte das alles selbst gern einmal hören.« »Selbstverständlich«, sagte der Fremde und zündete sich eine Zigarette an. Die Frage schien ihn ehrlich zu erfreuen. Sehr interessant, dachte Cercy. In dieser einen Woche seit seiner Landung hat sich jeder Wissenschaftler von Rang mit ihm beschäftigt. Aber wenn’s hart auf hart geht, wird doch das Militär gerufen, erinnerte sich Cercy. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und vergrub beide Hände tief in den Hosentaschen. Seine rechte Hand umschloß dabei einen entsicherten 45er Revolver. »Ich bin als Sonderbotschafter zu Ihnen gekommen«, sagte der Fremde. »Ich repräsentiere ein Reich, das sich über die halbe Galaxis erstreckt.
Ich möchte Sie im Namen meines Volkes willkommen heißen und Sie einladen, sich unserer Organisation anzuschließen.« »Aha«, sagte Cercy. »Einige der Wissenschaftler gelangten zu dem Eindruck, der Beitritt sollte zwangsweise erfolgen.« »Sie werden sich uns anschließen«, sagte der Botschafter und blies einen Rauchring durch die Nase. Cercy bemerkte, daß sich Darrig auf seinem Stuhl aufrichtete und auf die Lippen biß. Cercy rückte den Revolver so zurecht, daß er ihn rasch ziehen konnte. »Wie haben Sie uns gefunden?« fragte er. »Uns Sonderbotschaftern wird ein unerforschter Sektor des Weltraums zugewiesen«, erklärte der Fremde. »Wir untersuchen jedes Sonnensystem dieses Sektors nach Planeten und diese Planeten nach intelligenten Lebensformen. Sie müssen wissen, daß intelligentes Leben in der Galaxis nicht häufig vorkommt.« Cercy nickte, obgleich ihm diese Tatsache nicht bekannt gewesen war. »Wenn wir einen solchen Planeten finden, landen wir, wie ich es getan habe, und bereiten die Bewohner auf ihre Rolle innerhalb unserer Organisation vor.« »Woher weiß Ihr Volk, daß Sie intelligentes Leben entdeckt haben?« fragte Cercy. »Zu unserer Struktur gehört ein Sendemechanismus«, antwortete der Botschafter. »Er wird ausgelöst, sobald wir einen bewohnten Planeten betreten haben. Dieses Signal wird ununterbrochen in den Raum hinausgestrahlt, und zwar mit einer Reichweite von mehreren tausend Lichtjahren. Horchtrupps streifen ständig an den Grenzen der Reichweiten eines jeden Sonderbotschafters entlang und warten auf solche Signale. Wird eines empfangen, folgt ihm eine Kolonisationsmannschaft zu dem betreffenden Planeten.« Er streifte seine Zigarette behutsam am Rand des Aschenbechers ab. »Diese Methode ist wesentlich vorteilhafter als die Aussendung kombinierter Forschungs- und Kolonisationstrupps. Auf diese Weise brauchen wir nicht größere Einheiten für eine Suche auszurüsten, die unter Umständen Jahrzehnte dauern kann.«
»Klar.« Cercys Miene blieb ausdruckslos. »Würden Sie mir mehr über diese Botschaft erzählen?« »Viel mehr brauchen Sie gar nicht darüber zu wissen. Der Sendestrahl ist mit Ihren Methoden nicht auffindbar und kann deshalb nicht gestört werden. Dieses Signal wird laufend ausgesendet, solange ich am Leben bin.« Darrig hielt den Atem an und warf Cercy einen Blick zu. »Wenn Sie aufhören würden zu senden«, bemerkte Cercy beiläufig, »dann würde unser Planet also niemals aufgefunden werden.« »Jedenfalls erst dann, wenn dieser Raumsektor einer neuen Untersuchung unterzogen wird«, bestätigte ihm der Diplomat. »Sehr gut. Als bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten der Vereinigten Staaten ersuche ich Sie, die Sendung einzustellen. Wir lehnen es ab, Bestandteil Ihres Reichs zu werden.« »Tut mir leid«, sagte der Botschafter mit leichtem Achselzucken. Cercy fragte sich, wie oft er diese Rolle wohl schon auf anderen Planeten gespielt haben mochte. »Aber das liegt wirklich nicht in meiner Macht.« Er stand auf. »Sie wollen also nicht damit aufhören?« »Ich kann nicht. Wenn die Sendung erst einmal eingesetzt hat, habe ich keinen Einfluß mehr darauf.« Der Diplomat wandte sich ab und trat ans Fenster. »Ich habe jedoch für Sie eine entsprechende philosophische Einstellung vorbereitet. Als Botschafter habe ich die Pflicht, den Schock der Umstellung so weitgehend wie nur möglich abzumildern. Meine Philosophie wird Sie sofort erkennen lassen…« Als der Botschafter das Fenster erreichte, hatte Cercy auch schon die Waffe aus der Tasche gezogen. Der Schuß krachte. Sechsmal drückte Cercy kurz hintereinander ab und zielte dabei auf den Rücken und den Kopf des Botschafters. Dann durchlief ihn ein Schauder. Der Botschafter war nicht mehr vorhanden! Cercy und Darrig starrten einander an. Darrig murmelte etwas von Geistern. Dann tauchte der Botschafter ebenso plötzlich, wie er verschwunden war, wieder auf.
»Sie haben doch wohl selbst nicht daran geglaubt, daß es so einfach sein würde, nicht wahr?« fragte er. »Wir Botschafter genießen selbstverständlich eine gewisse diplomatische Immunität.« Er betastete eins der Einschußlöcher in der Wand. »Falls Sie mich nicht verstanden haben sollten, will ich mich klarer ausdrücken. Es liegt nicht in Ihrer Macht, mich zu töten. Sie würden nicht einmal begreifen können, auf welche Art und Weise ich mich schütze.« Er sah sie an, und in diesem Augenblick spürte Cercy, wie vollkommen fremd ihnen der Botschafter war. »Guten Tag, meine Herren«, sagte er. Darrig und Cercy marschierten schweigend zurück zum Kontrollraum. Keiner der beiden hatte ernsthaft damit gerechnet, daß sich der Botschafter so leicht würde umbringen lassen, doch als die Kugeln ins Leere gegangen waren, bedeutete das für sie doch einen Schock. »Ich nehme an, Sie haben alles gesehen, Malley?« fragte Cercy, als sie den Kontrollraum erreicht hatten. Der hagere, kahlköpfige Psychiater nickte betrübt. »Ich hab’s auch gefilmt.« »Ich möchte zu gern wissen, worin seine Philosophie besteht«, murmelte Darrig vor sich hin. »Es war unlogisch, sich davon etwas zu versprechen. Keine Rasse des Universums würde einen Botschafter mit einer solchen Mitteilung losschicken und erwarten, daß er am Leben bleibt. Es sei denn…« »Es sei denn was?« »Es sei denn, er verfügte über einen recht wirksamen Schutz«, schloß der Psychiater traurig. Cercy ging durch den Raum und betrachtete den Fernsehschirm. Die Suite des Botschafters war ganz besonders ausgestattet. Sie war vor zwei Tagen, nachdem er gelandet war und seine Botschaft übermittelt hatte, eiligst konstruiert worden. Die Suite war mit Stahl und Blei gepanzert, mit Fernseh- und Filmkameras ausgerüstet und mit Bandgeräten, Mikrophonen und zahlreichen anderen Geräten bestückt. Sie war das Raffinierteste, was es auf dem Gebiet der Todeszellen gab.
Auf dem Bildschirm sah Cercy, daß der Botschafter an einem Tisch saß. Er tippte auf einer kleinen Reiseschreibmaschine, die ihm von der Regierung zur Verfügung gestellt worden war. »He, Harrison?« rief Cercy. »Wollen mal Plan Zwei anlaufen lassen!« Harrison trat aus dem Nebenraum. Dort hatte er die Leitungen, die in die Suite des Botschafters führten, kontrolliert. Gewissenhaft prüfte er die Druckmesser, stellte die Hebel ein und sah Cercy an. »Gleich?« fragte er. »Jetzt gleich.« Cercy sah auf den Schirm. Der Botschafter tippte immer noch. Harrison legte einen Schalter um, und der Raum war plötzlich in Flammen gehüllt. Feuerstrahlen schossen aus verborgenen Wandöffnungen, aus Decke und Fußboden. Im nächsten Augenblick glich der Raum dem Innern eines Hochofens. Cercy ließ das Feuer zwei Minuten lang wüten, dann gab er Harrison ein Zeichen. Der legte den Schalter wieder um, und gemeinsam sahen sie in den versengten Raum hinein. Sie suchten hoffnungsvoll nach einer verkohlten Leiche. Doch der Botschafter tauchte neben dem Tisch wieder auf und blickte bedauernd auf die ausgeglühte Schreibmaschine herab. Er war vollkommen unversehrt. »Könnten Sie mir bitte eine andere Schreibmaschine besorgen?« fragte er und schaute direkt in die Linse einer der versteckten Aufnahmekameras. »Ich setze für euch undankbares Gesindel eine philosophische Lehre auf.« Er ließ sich auf den Überresten eines Lehnstuhls nieder. Im nächsten Augenblick schien er eingeschlafen zu sein. »Schön, sucht euch jeder einen Platz, es wird Zeit für den großen Kriegsrat«, sagte Cercy. Malley kippte seinen Stuhl zurück. Harrison zündete sich beim Hinsetzen seine Pfeife an und brachte sie paffend in Gang.
»Also«, begann Cercy, »die Regierung hat uns die Sache zugeschoben. Anscheinend bleibt uns nichts anderes übrig, als den Botschafter zu töten. Ich wurde zum Leiter des Unternehmens bestimmt.« Cercy grinste bedauernd. »Vermutlich will kein ranghöherer Offizier die Verantwortung für einen Fehlschlag übernehmen. Und euch drei habe ich als meinen engeren Stab ausgewählt. Wir kriegen alles, was wir haben wollen – jede Unterstützung, jeden erdenklichen Rat. So weit, so gut. Irgendwelche Ideen?« »Wie wär’s mit Plan Drei?« fragte Harrison. »Dazu kommen wir noch«, sagte Cercy. »Aber ich glaube nicht, daß der Plan funktionieren wird.« »Ich auch nicht«, pflichtete ihm Darrig bei. »Wir wissen nicht einmal, auf welche Art er sich schützt.« »Das wäre der erste Punkt unserer Tagesordnung. Malley, nehmen Sie alle bisher vorhandenen Angaben und beauftragen Sie jemanden, den Derichman-Analysator damit zu füttern. Sie wissen ja, was wir wollen. Welche Eigenschaften weist X auf, wenn X das und das machen kann?« »In Ordnung«, sagte Malley. Im Weggehen murmelte er etwas über die Vorherrschaft der Naturwissenschaften in den Bart hinein. »Harrison«, fragte Cercy. »Ist alles für Plan Drei vorbereitet?« »Natürlich.« »Versuchen Sie es damit.« Während Harrison die letzten Einstellungen vornahm, sah Cercy zu Darrig hinüber. Der dicke kleine Physiker starrte gedankenvoll ins Leere und murmelte etwas vor sich hin. Cercy hoffte, daß dabei etwas herauskommen würde. Er hielt große Stücke auf Darrig. Da Cercy wußte, daß er keinen großen Stab einsetzen konnte, hatte er sich seine Mitarbeiter sorgfältig ausgesucht. Was er brauchte, war Qualität. Angesichts dieser Erkenntnis hatte er zuerst Harrison ausgewählt. Der klobige, mürrische Ingenieur war dafür bekannt, daß er so gut wie alles zu bauen verstand, wenn man ihm nur andeutungsweise sagte, wie es nachher funktionieren sollte.
Malley, den Psychiater, hatte Cercy zugezogen, weil er nicht sicher wußte, ob sich die Beseitigung des Botschafters nicht zu einem rein psychologischen Problem entwickeln würde. Darrig war Mathematiker und Physiker, doch sein rastloser, ewig forschender Verstand war auch auf anderen Gebieten auf ein paar interessante Theorien gestoßen. Als einziger der vier Männer interessierte ihn der Botschafter auch als intellektuelles Problem. »Er ist genau wie der Alte Eiserne Mann«, sagte Darrig schließlich. »Wer ist das?« »Haben Sie noch nie die Geschichte vom Alten Eisernen Mann gehört? Nun, er war ein Ungeheuer, ganz mit einer schwarzen Metallrüstung bedeckt. Ihm trat Drachentöter, ein Held der Apachenkultur, entgegen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen konnte Drachentöter den Alten Eisernen Mann töten.« »Wie hat er das gemacht?« »Er hat ihm einen Pfeil in die Achselhöhle geschossen. Dort war er nicht gewappnet.« »Fein.« Cercy grinste. »Bitten Sie unseren Botschafter, daß er die Arme hebt.« »Alles fertig!« rief Harrison. »Prima. Los!« Unsichtbare Strahlenduschen begannen das Zimmer des Botschafters mit tödlicher Strahlung zu verseuchen. Aber kein Botschafter war da, den die Todesstrahlen hätten treffen können. »Das reicht«, sagte Cercy nach einer Weile. »Das hätte längst eine ganze Elefantenherde umgebracht.« Doch der Botschafter blieb fünf Stunden lang unsichtbar, bis die Intensität der Strahlung etwas nachgelassen hatte. Dann trat er wieder in Erscheinung. »Ich warte immer noch auf die Schreibmaschine«, sagte er.
»Hier ist der Bericht des Analysators.« Malley überreichte Cercy einige Papiere. »Das ist die Zusammenfassung der Endauswertung.« Cercy las laut vor: »Der einfachste Schutz gegen jegliche Waffe besteht darin, zu der jeweiligen Waffe zu werden.« »Prächtig«, sagte Harrison. »Und was bedeutet das?« Darrig erklärte: »Das bedeutet, daß sich der Botschafter in Feuer verwandelt, wenn wir ihn mit Feuer angreifen. Schießen wir auf ihn, dann wird er eine Kugel – bis die Gefahr vorüber ist, dann verwandelt er sich wieder zurück.« Er nahm Cercy die Seiten aus der Hand und blätterte sie durch. »Hm. Ob’s dafür wohl in der Geschichte eine Parallele gibt? Ich glaube kaum.« Er hob den Kopf. »Das ist zwar nicht ganz schlüssig, klingt aber recht logisch. Jede andere Form der Verteidigung würde voraussetzen, daß die betreffende Waffe erst erkannt und dann abgeschätzt werden muß, worauf eine Gegenmaßnahme entsprechend den Möglichkeiten der Waffe eingeleitet werden müßte. Der Schutz, den der Botschafter gewählt hat, funktioniert viel rascher und sicherer. Er braucht die Waffe nicht erst zu erkennen. Ich nehme an, sein Körper identifiziert sich irgendwie ganz einfach mit der jeweils anstehenden Gefahr.« »Hat der Analysator etwas über die Möglichkeiten ausgesagt, diesen Schutz zu durchbrechen?« fragte Cercy. »Der Analysator sagt ausdrücklich, daß es keine solche Möglichkeit gibt, falls die genannte Voraussetzung zutrifft«, antwortete Malley düster. »Dieses Urteil können wir außer acht lassen«, sagte Darrig. »Jede Maschine hat ihre Grenzen.« »Aber wir haben immer noch keine Möglichkeit, ihn außer Gefecht zu setzen«, verdeutlichte Malley. »Und er strahlt immer noch dieses Signal aus.« Cercy überlegte eine Weile. »Rufen Sie alle Experten zusammen, die Sie finden können. Wir werden dem Botschafter mit allem, was wir haben, zu Leibe rücken.« Er bemerkte Darrigs zweifelnde Miene und fügte hinzu: »Ich weiß. Aber wir müssen es zumindest versuchen.«
Während der nächsten Tage wurde der Botschafter jeder Kombination und jeder Permutation des Todes ausgesetzt. Er wurde mit allen möglichen Waffen bearbeitet, angefangen von Steinzeitäxten bis zu modernen Karabinern, er wurde mit Handgranaten beworfen, in Säure untergetaucht, mit Giftgas erstickt. Er zuckte immer nur philosophisch die Schultern und arbeitete dann weiter auf seiner neuen Schreibmaschine, die sie ihm gebracht hatten. Bakterien wurden in den Raum geschleust, zuerst die bekannten ansteckenden Krankheiten, dann mutierte Formen. Der Diplomat nieste nicht einmal. Er wurde mit Elektrizität, mit Strahlung, mit hölzernen Waffen, mit eisernen Waffen, mit Waffen aus Kupfer, Messing, Uran bearbeitet – nur um keine einzige Möglichkeit auszulassen. Er selbst trug nicht den geringsten Kratzer davon, nur sein Zimmer sah aus, als sei es der Schauplatz einer fünfzig Jahre dauernden Keilerei unter Betrunkenen gewesen. Malley arbeitete an einer eigenen Idee, ebenso Darrig. Der Physiker unterbrach seine Arbeit für einen Augenblick und rief Cercy den BaldurMythos in Erinnerung. Baldur war mit Waffen aller Art angegriffen worden und unverletzt geblieben, da alle Dinge auf Erden versprochen hatten, ihn zu lieben. Jedes Ding – bis auf die Mistel. Als ein dünner Mistelzweig gegen ihn abgeschossen wurde, starb er. Cercy wandte sich ungeduldig ab, ließ aber doch für alle Fälle eine Ladung Mistelzweige kommen. Sie erwiesen sich als ebenso unwirksam wie die Sprenggranaten oder Pfeil und Bogen. Die Mistelzweige bewirkten nichts weiter, als daß sie dem verwüsteten Raum eine seltsam festliche Note verliehen. Nachdem das so eine Woche lang weitergegangen war, verlegten sie den Botschafter, der keinen Einwand erhob, in eine neue, größere, haltbarere Todeszelle. Wegen der immer noch vorhandenen Strahlung und der Mikroorganismen durften sie sich nicht in seine alte Suite wagen. Der Botschafter setzte sich wieder an seine Schreibmaschine und arbeitete weiter. Seine bisherigen Manuskripte waren ausnahmslos verbrannt, zerrissen oder zersetzt worden.
»Reden wir lieber mit ihm«, empfahl Darrig, nachdem ein weiterer Tag verstrichen war. Cercy war damit einverstanden. Vorläufig waren ihnen die Ideen ausgegangen. »Bitte, treten Sie ein, meine Herren«, sagte der Botschafter so aufgeräumt, daß Cercy übel wurde. »Tut mir leid, daß ich Ihnen nichts anbieten kann. Durch ein Versehen habe ich seit etwa zehn Tagen weder etwas zu essen noch zu trinken bekommen. Das soll natürlich nicht heißen, daß es mir etwas ausmacht.« »Das hört man gern«, sagte Cercy. Der Botschafter sah kaum so aus, als hätte er jede Form der Gewalt über sich ergehen lassen, die es auf der Erde gibt. Im Gegenteil – Cercy und seine Mitarbeiter sahen aus, als hätten sie unter Beschuß gestanden und nicht der Botschafter. »Sie verfügen wirklich über einen tollen Selbstschutz«, sagte Malley im Plauderton. »Freut mich, daß er Ihnen gefällt.« »Würden Sie uns vielleicht einmal erklären, wie das funktioniert?« fragte Darrig harmlos. »Wissen Sie das denn nicht?« »Wir glauben es zu wissen. Sie verwandeln sich in das, was gegen Sie eingesetzt wird. Stimmt’s?« »Gewiß«, sagte der Botschafter. »Wie Sie sehen, habe ich vor Ihnen keine Geheimnisse.« »Gibt es irgend etwas, das wir Ihnen dafür anbieten können, daß Sie dieses Signal abstellen?« fragte Cercy. »Bestechung?« »Klar«, sagte Cercy. »Irgend etwas, das Sie…« »Nichts«, erwiderte der Botschafter. »Seien Sie doch vernünftig«, sagte Harrison. »Sie wollen doch keinen Krieg anzetteln, wie? Die Erde ist jetzt vereint. Wir rüsten uns…« »Womit?« fragte der Botschafter dazwischen.
»Mit Atombomben«, antwortete Malley. »Wasserstoffbomben. Und wir…« »Lassen Sie doch eine auf mich fallen«, sagte der Botschafter. »Sie würde mich nicht töten. Wie kommen Sie auf den Gedanken, Sie könnten solche Bomben wirksam gegen mein Volk einsetzen?« Die vier Männer schwiegen. Daran hatten sie seltsamerweise nicht gedacht. »Die kriegerischen Fähigkeiten eines Volkes sind der Maßstab für den Stand seiner Zivilisation«, stellte der Botschafter fest. »Das erste Stadium ist die Anwendung simpler physikalischer Mittel. Das zweite Stadium ist die Beherrschung des molekularen Bereichs. Sie stehen an der Schwelle zum dritten Stadium, obgleich Sie noch weit davon entfernt sind, die atomaren und subatomaren Kräfte wirklich zu meistern.« Er lächelte gewinnend. »Mein Volk erreicht gerade die letzten Ausläufer des fünften Stadiums.« »Worin würde das bestehen?« fragte Darrig. »Sie werden es schon noch feststellen«, sagte der Botschafter. »Aber Sie werden sich vielleicht gefragt haben, ob meine Fähigkeiten typisch für mein Volk sind. Ich sage Ihnen gern, daß das nicht der Fall ist. Damit ich meine Aufgabe erfüllen kann und nicht mehr, sind mir gewisse Hemmungen mitgegeben worden. Ich bin dadurch nur passiver Handlungen fähig.« »Warum?« fragte Darrig. »Aus einleuchtenden Gründen. Wenn ich in einem Augenblick des Zorns aktiv handeln würde, könnte ich Ihren ganzen Planeten vernichten.« »Und das sollen wir Ihnen glauben?« fragte Cercy. »Warum nicht? Ist das so schwer zu verstehen? Wollen Sie denn nicht begreifen, daß es Kräfte gibt, von denen Sie keine Ahnung haben? Und für meine passive Haltung gibt es noch einen weiteren Grund. Den dürften Sie inzwischen wohl entdeckt haben?« »Sie wollen damit vermutlich unseren Widerstand brechen«, sagte Cercy.
»Genau. Selbst wenn ich es Ihnen sage, wird sich daran nichts ändern. Das Schema ist immer dasselbe. Ein Botschafter landet und überbringt einer draufgängerischen, wilden jungen Rasse wie der Ihren seine Botschaft. Zunächst erhebt sich erbitterter Widerstand gegen ihn; es kommt zu krampfhaften Versuchen, ihn zu töten. Sind all diese Versuche fehlgeschlagen, zeigt sich das betreffende Volk für gewöhnlich sehr bestürzt. Wenn dann die Kolonisationsmannschaft eintrifft, vollzieht sich die Umerziehung um so schneller.« Er hielt inne und sagte dann: »Die meisten Planeten sind allerdings an der Philosophie, die ich ihnen zu bieten habe, stärker interessiert. Ich versichere Ihnen, daß dadurch der Übergang wesentlich erleichtert würde.« Er hielt ihnen ein Bündel maschinegeschriebener Seiten entgegen. »Wollen Sie sich das nicht wenigstens ansehen?« Darrig nahm die Seiten entgegen und schob sie in die Tasche. »Sobald es mir meine Zeit erlaubt.« »Ich würde empfehlen, daß Sie es versuchen«, sagte der Botschafter. »Sie müssen den Krisenpunkt nun fast erreicht haben. Warum geben Sie es nicht auf?« »Noch nicht«, antwortete Cercy tonlos. »Vergessen Sie nicht, meine Philosophie zu lesen«, drängte der Botschafter. Eilig verließen die Männer den Raum. »Hören Sie«, sagte Malley, als sie den Kontrollraum wieder erreicht hatten. »Es gibt noch einige Dinge, die wir nicht ausprobiert haben. Wie wäre es mit angewandter Psychologie?« »Wenden Sie an, was Sie wollen«, sagte Cercy. »Meinetwegen auch Schwarze Magie. Wie dachten Sie sich das?« Malley antwortete: »Wie ich es sehe, hat sich der Botschafter darauf eingestellt, augenblicklich auf jede Drohung zu reagieren. Er muß über einen absoluten Abwehrreflex verfügen. Ich schlage vor, daß wir es zuerst mit etwas versuchen, das diesen Reflex nicht auslöst.« »Was denn zum Beispiel?« fragte Cercy. »Hypnose. Vielleicht finden wir etwas heraus.«
»Klar«, sagte Cercy. »Versuchen Sie es. Sie können alles versuchen.« Cercy, Malley und Darrig versammelten sich um den Kontrollschirm. Eine winzige Menge eines hypnotischen Gases leichter Art wurde ins Zimmer des Botschafters eingeblasen. Gleichzeitig schlug ein Blitz von hoher elektrischer Spannung in den Stuhl ein, auf dem der Botschafter gerade saß. »Das sollte ihn nur ablenken«, erklärte Malley. Der Botschafter war verschwunden, bevor ihn die Hochspannung erreichen konnte. Dann erschien er wieder, bequem in den Lehnstuhl gekuschelt. »Das genügt«, flüsterte Malley und schloß das Ventil. Sie beobachteten aufmerksam den Schirm. Nach einer Weile legte der Botschafter sein Buch beiseite und starrte ins Leere. »Wie seltsam«, sagte er. »Alfern tot. Gute Freunde… Und nur ein abwegiger Unfall! Ist ihm da draußen über den Weg gelaufen. Ihm blieb keine Chance. Aber es kommt nicht oft vor.« »Er denkt laut«, flüsterte Malley, obgleich ihn der Botschafter ohnehin nicht hätte hören können. »Er drückt seine Gedanken in Worten aus. Er muß sich schon seit einer ganzen Weile gedanklich mit seinem Freund beschäftigt haben.« Der Botschafter fuhr fort: »Natürlich mußte Alfern irgendwann einmal sterben. Keiner ist unsterblich – noch nicht. Aber auf diese Weise – wehrlos… Draußen im Raum tauchen sie einfach auf. Sind immer da, im verborgenen, und warten nur auf die Gelegenheit hervorzutreten.« »Sein Körper registriert das Hypnosegas noch nicht als Bedrohung«, flüsterte Cercy. »Nun«, sagte der Botschafter zu sich selbst, »das Ordnungsprinzip hat sich recht gut bewährt. Es unterdrückt alles und glättet die Unregelmäßigkeiten…« Plötzlich sprang er auf. Sein Gesicht wurde für einen Augenblick blaß, als er versuchte, sich zu erinnern, was er alles gesagt hatte. Dann lachte er. »Sehr schlau. Das war das erste und letzte Mal, daß ich auf diesen Trick hereingefallen bin. Aber, meine Herren, es wird Ihnen nichts nützen. Ich
weiß selbst nicht, wie man es anstellen müßte, mich zu töten.« Er lachte die leeren Wände an. »Außerdem muß die Kolonisationsmannschaft inzwischen die Richtung angepeilt haben«, fuhr er fort. »Man wird Sie mit oder ohne meine Hilfe finden.« Lächelnd ließ er sich wieder nieder. »Das war’s!« rief Darrig. »Er ist nicht unverwundbar. Irgendwie ist sein Freund Alfern umgekommen.« »Ihm ist draußen im Raum etwas begegnet«, erinnerte ihn Cercy. »Was mag das nur gewesen sein?« »Wollen mal sehen«, überlegte Darrig laut. »Das Ordnungsprinzip. Das muß ein Naturgesetz sein, von dem wir nichts wissen. Und was meint er mit ›im verborgenen‹?« »Er sagte, die Kolonisationsmannschaft würde uns ohnehin finden«, warf Malley ein. »Immer schön der Reihe nach«, sagte Cercy. »Vielleicht war das nur ein Bluff – aber nein, ich glaube es nicht. Wir müssen trotzdem versuchen, den Botschafter zu beseitigen.« »Ich glaube, ich weiß, was mit ›im verborgenen‹ gemeint ist!« rief Darrig. »Wie großartig! Vielleicht eine vollkommen neue Kosmologie.« »Und was ist es?« fragte Cercy. »Etwas, das wir uns zunutze machen können?« »Ich glaube schon. Aber lassen Sie mich in Ruhe darüber nachdenken. Ich glaube, ich fahre jetzt in mein Hotel zurück. Dort habe ich einige Bücher, die ich konsultieren möchte, und ich möchte auch für die nächsten Stunden nicht gestört werden.« »Na schön«, stimmte Cercy zu. »Aber was…« »Nein, ich könnte mich irren«, unterbrach ihn Darrig. »Ich möchte die Sache erst ausarbeiten.« Er verließ eilig den Kontrollraum. »Worauf will er wohl hinaus?« fragte Malley. »Das ist mir zu hoch.« Cercy zuckte die Achseln. »Kommen Sie, versuchen wir es weiter mit dem psychologischen Kram.«
Zuerst ließen sie eine ordentliche Menge Wasser ins Zimmer des Botschafters einlaufen. Nicht so viel, daß er hätte ertrinken können, aber doch genug, um es ihm ausgesprochen unbequem zu machen. Dann kamen die Lampen hinzu. Acht Stunden lang blitzten die Lichter im Zimmer des Botschafters auf – grelle Lichter, die auch geschlossene Lider durchdrangen, matte Lichter, die ihn verwirren sollten. Als nächstes folgten akustische Signale: Quietschen, Schreie und schrille, knarrende Geräusche; das Geräusch menschlicher Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzen, tausendfach verstärkt, dazu seltsame saugende Geräusche, Rufe und Geflüster. Dann die Gerüche. Ihnen folgte alles andere, das menschliche Gehirne ausdenken konnten, um einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Doch der Botschafter verschlief friedlich die ganze Tortur. »Schluß mit dem Quatsch«, sagte Cercy am folgenden Tag. »Wir müssen endlich beginnen, unseren verdammten Verstand zu gebrauchen.« Seine Stimme klang heiser und rauh. Die psychologische Tortur schien den Botschafter nicht gestört zu haben, dafür zeitigte sie aber Rückwirkungen auf Cercy und seine Männer. »Wo zum Teufel steckt dieser Darrig?« »Er arbeitet immer noch an seiner Idee«, sagte Malley und rieb sich über das Stoppelkinn. »Angeblich steht er dicht vor einer Lösung.« »Wir gehen davon aus, daß er es nicht schafft«, sagte Cercy. »Strengen Sie endlich Ihre Köpfe an. Zum Beispiel die Frage: Wenn sich der Botschafter in alles verwandeln kann, gibt es dann etwas, in das er sich nicht verwandeln kann?« »Eine gute Frage«, knurrte Harrison. »Es ist die große Preisfrage«, sagte Cercy. »Es hat keinen Sinn, einen Speer gegen einen Mann zu schleudern, der sich in einen Speer verwandeln kann.« »Und wie wär’s damit?« fragte Malley. »Wenn wir voraussetzen, daß er sich in alles verwandeln kann – können wir ihn dann nicht in eine Lage bringen, wo er angegriffen wird, nachdem er sich verwandelt hat?«
»Ich höre«, sagte Cercy. »Nehmen wir einmal an, er gerät in Gefahr. Er verwandelt sich in das Ding, das ihn bedroht. Und wenn nun dieses Ding seinerseits bedroht wird? Wenn es wiederum zu einer Drohung gegen etwas anderes eingesetzt würde? Was wird er dann tun?« »Und wie wollen Sie das verwirklichen?« fragte Cercy. »So zum Beispiel.« Malley griff nach dem Telefon. »Hallo? Geben Sie mir den Zoo von Washington. Es ist dringend.« Der Botschafter drehte sich um, als die Tür aufging. Ein widerstrebender, zorniger, hungriger Tiger wurde hereingestoßen. Dann fiel die Tür wieder ins Schloß. Der Tiger sah den Botschafter an und dieser den Tiger. »Sehr geistreich«, sagte der Botschafter. Beim Klang der Stimme kam Bewegung in das Raubtier. Es schnellte hoch, wie von einer Stahlfeder getrieben, und landete dort, wo eben noch der Botschafter gestanden hatte. Wieder ging die Tür auf. Ein zweiter Tiger wurde hereingeschoben. Er fauchte wütend und sprang den ersten Tiger an. Mitten im Sprung krachten sie zusammen. Ein paar Meter daneben tauchte der Botschafter auf und sah den beiden Tieren interessiert zu. Er zog sich zurück, als ein Löwe hereinkam, den mächtigen Schädel witternd erhoben. Der Löwe sprang den Botschafter an und überschlug sich fast, als er ins Leere griff. Da der Löwe keine menschliche Beute erwischte, warf er sich auf einen der Tiger. Der Botschafter tauchte in seinem Sessel wieder auf. Dort blieb er gemütlich rauchend sitzen und sah zu, wie sich die wilden Tiere gegenseitig zerfleischten. Nach zehn Minuten sah es in dem Zimmer aus wie in einer Abdeckerei. Doch inzwischen war der Botschafter des blutigen Schauspiels müde geworden und hatte sich lesend aufs Bett gelegt.
»Ich geb’s auf«, sagte Malley. »Das war mein letzter kluger Einfall.« Cercy starrte zu Boden und gab ihm keine Antwort. Harrison hockte in einer Ecke und betrank sich stillschweigend. Das Telefon läutete. »Ja?« meldete sich Cercy. »Ich hab’s!« schrie Darrigs Stimme aus dem Hörer. »Ich glaube, das ist es wirklich. Hört mal, ich komme sofort mit einem Taxi hin. Sagen Sie Harrison, er soll ein paar Helfer herbeischaffen.« »Worum geht’s denn?« fragte Cercy. »Um das Chaos im verborgenen!« erwiderte Darrig und legte den Hörer auf. Sie liefen erregt auf und ab und warteten auf ihn. Eine halbe Stunde verstrich, dann eine ganze. Schließlich kam Darrig drei Stunden nach seinem Anruf hereinspaziert. »Hallo«, grüßte er beiläufig. »Zum Teufel mit Ihnen!« schrie ihn Cercy an. »Wo sind Sie so lange geblieben?« Darrig antwortete: »Auf dem Weg hierher habe ich die Philosophie des Botschafters gelesen. Ein großartiges Werk!« »Und deshalb hat es so lange gedauert?« »Ja. Ich habe dem Fahrer gesagt, er soll mich ein paarmal um den Park herumfahren, während ich das las.« »Lassen Sie das! Wie steht’s mit…« »Das kann ich nicht lassen«, sagte Darrig mit fremdartig klingender, gepreßter Stimme. »Ich fürchte, wir haben uns geirrt. In den Fremden, meine ich. Es ist völlig in Ordnung, daß sie uns regieren sollen. Ich würde es sogar begrüßen, wenn sie sich beeilten und möglichst bald herkämen.« Aber Darrig schien seiner Sache nicht sicher zu sein. Seine Stimme schwankte, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er rang die Hände wie in höchster Verzweiflung. »Es ist schwer zu erklären«, fuhr er fort. »Alles wurde mir in dem Augenblick klar, wo ich zu lesen begann. Ich erkannte, wie dumm es von
uns war, in diesem eng verflochtenen Universum unabhängig bleiben zu wollen. Ich sah ein… Hören Sie, Cercy, lassen Sie uns doch endlich mit all dem Unsinn aufhören und den Botschafter als unseren Freund akzeptieren.« »Beruhigen Sie sich!« brüllte Cercy den vollkommen ruhigen Physiker an. »Sie wissen ja nicht mehr, was Sie da reden!« »Es ist seltsam«, sagte Darrig. »Ich weiß, wie ich vorher dazu stand, aber das hat sich grundlegend geändert. Jetzt denke ich. Jedenfalls weiß ich, wo Ihre Schwierigkeiten liegen. Sie haben seine philosophischen Grundsätze nicht gelesen. Wenn Sie das erst einmal gelesen haben, werden Sie einsehen, was ich meine.« Er überreichte Cercy das Bündel Schreibmaschinenseiten. Cercy zündete das Papier sofort mit seinem Feuerzeug an. »Das macht nichts«, sagte Darrig. »Ich hab’s auswendig gelernt. Hören Sie mir zu. Grundsatz Nummer eins. Alle Völker…« Cercy schlug ihn mit einem kurzen, trockenen Haken zu Boden. Darrig sank in sich zusammen. »Die Worte müssen auf eine unterschwellige Wirkung abzielen«, sagte Malley. »Sie sind wahrscheinlich so gewählt, daß sie in uns bestimmte Reaktionen hervorrufen. Der Botschafter macht nichts weiter, als seine Philosophie jeweils so abzuändern, daß sie genau auf das Volk paßt, mit dem er es zu tun hat.« »Hören Sie, Malley«, sagte Cercy. »Das ist nun Ihre Aufgabe. Darrig kennt die Lösung, oder er sollte sie zumindest kennen. Sie müssen sie aus ihm herausholen.« »Das wird nicht leicht sein«, sagte Malley. »Wenn er es uns sagte, würde er meinen, alles zu verraten, woran er glaubt.« »Es ist mir gleichgültig, wie Sie es schaffen«, sagte Cercy. »Nur holen Sie es aus ihm heraus.« »Auch wenn es ihn umbringt?« fragte Malley. »Auch dann, wenn es Sie umbringt!« »Dann helfen Sie mir, ihn in mein Labor hinüberzuschaffen«, sagte Malley.
In dieser Nacht bewachten Cercy und Harrison den Botschafter vom Kontrollraum aus. Cercy stellte fest, daß sich seine Gedanken in Kreisen bewegten. Was hat Alfern im Weltraum getötet? Kann man das auf der Erde nachahmen? Worin bestand das Ordnungsprinzip? Was war unter dem ›Chaos im verborgenen‹ zu verstehen? Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? fragte er sich. Aber damit durfte er gar nicht erst anfangen. »Wofür halten Sie den Botschafter überhaupt?« fragte er Harrison. »Ist er ein Mensch?« »Er sieht zumindest wie einer aus«, antwortete Harrison schläfrig. »Aber er benimmt sich nicht wie ein Mensch. Ob das wohl seine wahre Gestalt ist?« Harrison schüttelte den Kopf und zündete sich eine Pfeife an. »Was wissen wir schon von ihm?« fuhr Cercy fort. »Er sieht zwar wie ein Mensch aus, aber er kann sich in alles andere verwandeln. Man kann ihm nichts anhaben, er paßt sich immer an. Er ist wie Wasser, das die Form eines jeden Gefäßes annimmt, in das man es gießt.« »Wasser kann man zum Kochen bringen.« Harrison gähnte. »Klar. Wasser hat keine feste Form, nicht wahr? Oder doch? Wie ist das grundsätzlich?« Mit Mühe gelang es Harrison, sich auf Cercys Worte zu konzentrieren. »Molekulare Anordnung? Genetische Matrix?« »Matrix«, wiederholte Cercy und mußte ebenfalls gähnen. »Ein Muster, eine Anordnung. Etwas Ähnliches muß es wohl sein. Ein solches Muster oder Schema ist abstrakt, nicht wahr?« »Sicher. Allen Dingen kann man ein Schema aufdrücken. Was habe ich vorhin gesagt?« »Warten Sie mal«, sagte Cercy. »Ein Muster. Eine Matrix. Alles an dem Botschafter ist wandlungsfähig. Es muß eine übergeordnete Kraft geben, die seine Persönlichkeit aufrechterhält. Etwas, das sich nicht verändert, gleichgültig, welche Verwandlungen er auch durchmacht.« »Wie ein roter Faden«, murmelte Harrison mit geschlossenen Augen.
»Sicher. Man kann Knoten hineinmachen, ein Seil daraus flechten, ihn sich um den Finger wickeln – es bleibt doch ein Faden.« »Ja.« »Aber wie geht man gegen ein Schema vor?« fragte Cercy. Und warum sollte er selbst nicht endlich ein bißchen Schlaf bekommen? Zum Teufel mit dem Botschafter und seinen Horden von Kolonisatoren. Jetzt wollte er erst einmal für eine Weile die Augen zumachen… »Aufwachen, Colonel!« Cercy öffnete mühsam die Augen und sah Malley vor sich stehen. Neben ihm schnarchte Harrison laut und vernehmlich. »Etwas gefunden?« »Überhaupt nichts«, gab Malley zu. »Diese Philosophie muß ihn tiefgreifend beeinflußt haben. Aber hundertprozentig hat sie nicht gewirkt. Darrig weiß zumindest noch, daß er vorher die Absicht hatte, den Botschafter zu töten, und zwar aus triftigen Gründen. Jetzt ist er zwar anderer Meinung, aber er hat dabei doch das Gefühl, uns zu hintergehen. Einerseits kann er nichts gegen den Botschafter tun; andererseits bringt er es nicht fertig, uns zu schaden.« »Will er Ihnen nichts sagen?« »Ich fürchte, so einfach ist das nicht«, sagte Malley. »Wissen Sie, wenn Sie ein unüberwindliches Hindernis vor sich sehen, das jedoch überwunden werden muß… Außerdem glaube ich, daß diese Philosophie auf seinen Verstand nachteilige Auswirkungen…« »Was wollen Sie damit sagen?« Cercy sprang auf. »Entschuldigung«, murmelte Malley. »Ich konnte absolut nichts machen. Darrig hat den Kampf ganz allein mit sich ausgefochten, und als er nicht länger kämpfen konnte – da zog er sich zurück. Ich fürchte, er ist hoffnungslos geistesgestört.« »Ich will ihn sehen!« Sie gingen den Korridor entlang zu Malleys Labor. Darrig lag entspannt auf einer Couch. Seine glasigen Augen waren starr zur Decke gerichtet.
»Gibt es eine Möglichkeit, ihn zu heilen?« fragte Cercy. »Vielleicht mit Hilfe der Schocktherapie«, antwortete Malley zweifelnd. »Aber das kann sehr lange dauern. Und er wird dann vermutlich alles verdrängen, was mit dieser Geschichte zu tun hatte.« Cercy mußte sich abwenden. Ihm wurde übel. Selbst wenn Darrig gerettet werden konnte, würde es zu spät sein. Die Fremden mußten inzwischen das Signal des Botschafters aufgefangen haben. Sie befanden sich zweifellos schon unterwegs zur Erde. »Was ist das hier?« fragte Cercy und griff nach einem Stück Papier, das neben Darrigs Hand lag. »Ach, er hat darauf herumgekritzelt«, sagte Malley. »Steht denn etwas darauf geschrieben?« Cercy las laut vor: »Bei näherem Überlegen erkenne ich, daß das Chaos und die Gorgonische Medusa in enger Beziehung zueinander stehen.« »Was bedeutet das?« fragte Malley. »Das weiß ich nicht«, sagte Cercy ratlos. »Er hat sich immer schon für Legenden interessiert.« »Klingt schizophren«, sagte der Psychiater. Cercy las den Satz noch einmal: »Bei näherem Überlegen erkenne ich, das das Chaos und die Gorgonische Medusa in enger Beziehung zueinander stehen.« Er starrte die Worte an. Nach einer Weile fragte er Malley: »Wäre es nicht denkbar, daß er versucht hat, uns damit einen Fingerzeig zu geben? Daß er sich selbst überlisten wollte – gleichzeitig etwas sagen und doch nicht sagen?« »Schon möglich«, bestätigte Malley. »Ein erfolgloser Kompromißversuch. Aber was könnte es bedeuten?« »Chaos.« Cercy erinnerte sich, daß Darrig dieses Wort in dem Telefongespräch verwendet hatte. »Das Chaos war der ursprüngliche Zustand des Universums nach der griechischen Sage, nicht wahr? Die Formlosigkeit, aus der sich alles entwickelt hat?« »So ungefähr«, sagte Malley. »Und Medusa war eine der drei Schwestern mit den schrecklichen Gesichtern.«
Cercy stand einen Augenblick da und starrte das Papier an. Chaos. Medusa. Und das Ordnungsprinzip! Selbstverständlich! »Ich glaube…« Damit drehte er sich um und stürzte hinaus. Malley sah ihm nach. Dann zog er eine Spritze auf und folgte ihm. Im Kontrollraum schrie Cercy Harrison an, bis dieser wieder zu sich kam. »Hören Sie«, sagte er. »Sie müssen mir ganz schnell etwas bauen. Verstehen Sie mich?« »Klar.« Harrison setzte sich blinzelnd auf. »Warum plötzlich diese Hast?« »Ich weiß, was uns Darrig klarmachen wollte«, sagte Cercy. »Kommen Sie, ich sage Ihnen, was ich brauche. Malley, legen Sie die Spritze weg. Ich bin nicht plemplem. Besorgen Sie mir sofort ein Buch über griechische Mythologie. Beeilen Sie sich!« Um zwei Uhr morgens ist es nicht einfach, ein Buch über griechische Mythologie ausfindig zu machen. Mit Hilfe von FBI-Beamten warf Malley einen Buchhändler aus dem Bett. Er bekam das gesuchte Buch und machte sich eilig auf den Rückweg. Cercy hatte rotgeränderte Augen. Er war aufgeregt. Harrison und seine Helfer arbeiteten an drei verrückt aussehenden Dingern. Cercy riß Malley das Buch aus der Hand, sah etwas nach und legte es wieder weg. »Prächtige Arbeit«, sagte er. »Jetzt kann’s losgehen. Fertig, Harrison?« »Beinahe.« Harrison und zehn Helfer schraubten gerade die letzten Teile fest. »Wollen Sie mir nicht verraten, was das sein soll?« »Mir auch«, bat Malley. »Ich will nicht geheimnisvoll tun«, sagte Cercy. »Ich hab’s nur einfach eilig. Ich werde es Ihnen unterwegs erklären.« Er stand auf. »Okay, wecken wir den Botschafter auf!« Sie beobachteten den Bildschirm, als ein elektrischer Blitz von der Zimmerdecke zum Bett des Botschafters niederfuhr. Augenblicklich war
der Botschafter verschwunden. »Nun ist er Bestandteil des Elektronenstroms, nicht wahr?« fragte Cercy. »Das hat er uns zumindest gesagt«, antwortete Malley. »Aber sein Schema bleibt auch in dem Strom erhalten«, fuhr Cercy fort. »Es muß erhalten bleiben, sonst könnte er sich nicht wieder in seine frühere Gestalt zurückverwandeln. Nun setzen wir den ersten Unterbrecher ein.« Harrison schloß die Maschine an den Stromkreis an und schickte seine Helfer weg. »Hier haben Sie eine laufende Darstellung des Elektronenstroms«, sagte Cercy. »Sehen Sie den Unterschied?« Die Darstellung bekam Unregelmäßigkeiten, Spitzen und Täler, die sich dauernd verlagerten und wieder ausglichen. »Erinnern Sie sich noch, als Sie den Botschafter hypnotisierten? Er sprach von einem Freund, der im Weltraum umgekommen ist.« »Stimmt.« Malley nickte. »Sein Freund war von etwas getötet worden, das plötzlich da war.« »Er hat noch etwas gesagt«, fuhr Cercy fort. »Er hat uns erzählt, die grundlegende Ordnungskraft des Universums verhindere dergleichen für gewöhnlich. Was sagt Ihnen das?« »Die Ordnungskraft«, wiederholte Malley langsam. »Hat nicht Darrig gesagt, dabei handele es sich um ein Naturgesetz?« »Das hat er gesagt. Aber überlegen Sie einmal die Auswirkungen, wie es Darrig getan hat. Wenn irgendwo ein Ordnungsprinzip wirksam wird, muß es etwas geben, das ihm entgegensteht. Was der Ordnung entgegensteht…« »Das Chaos!« »Das dachte Darrig, und wir hätten es ebenfalls erkennen müssen. Das Chaos ist das Primäre, und aus ihm entwickelte sich das Ordnungsprinzip. Wenn ich es recht verstehe, suchte dieses Prinzip das ursprüngliche Chaos zu unterdrücken und alles in eine Ordnung zu zwingen. Aber das Chaos kommt gelegentlich immer noch zum Durchbruch, wie Alfern feststellen mußte. Vielleicht ist das Ordnungsschema draußen im leeren Raum schwächer. Jedenfalls sind
diese Punkte gefährlich, solange sie nicht dem Ordnungsprinzip unterworfen werden.« Er drehte sich um. »Okay, Harrison, schließen Sie den zweiten Unterbrecher an!« Die Höhen und Tiefen der Linie veränderten sich. Sie ballten sich zu verrückten, sinnlosen Formen zusammen. »Betrachten Sie einmal im Licht dieser Tatsache Darrigs Mitteilung. Wir wissen, das Chaos ist im verborgenen wirksam, das Grundlegende. Alles ist aus ihm entstanden. Die Gorgonische Medusa war etwas, das man nicht ansehen konnte. Wie Sie sich erinnern, ließ sie Menschen versteinern und vernichtete sie. Darrig entdeckte also eine Beziehung zwischen dem Chaos und dem, was man nicht ansehen kann. Natürlich alles mit Bezug auf den Botschafter.« »Der Botschafter kann das Chaos nicht ansehen!« rief Malley. »Das ist es. Der Botschafter ist einer unendlichen Zahl von Veränderungen und Permutationen fähig. Doch etwas kann sich nicht ändern, nämlich die Matrix. Sonst würde nämlich nichts mehr übrigbleiben. Wenn man etwas so Abstraktes wie ein Schema zerstören will, braucht man einen Zustand, in dem kein Schema mehr möglich ist. Den Zustand des Chaos.« Der dritte Unterbrecher wurde eingeschaltet. Die Linie auf dem Spektrographen sah aus, als würde sie von einer betrunkenen Raupe gezeichnet. »Diese Unterbrecher sind Harrisons Idee«, sagte Cercy. »Ich sagte ihm, ich brauche einen elektrischen Strom, der absolut kein zusammenhängendes Schema aufweist. Die Unterbrecher sind eine Weiterentwicklung der Störsender, wie man sie beim Funk verwendet. Der erste verändert die elektrische Frequenz. Er soll einen Zustand der Schemalosigkeit herstellen. Der zweite Unterbrecher versucht, das vom ersten noch übriggelassene Schema zu zerstören. Der dritte Unterbrecher hat die durch die beiden ersten gebildeten Muster zu verwischen. Dann kommt es zu einer Rückkopplung, und jegliches noch verbleibende Schema wird im erneuten Kreislauf vernichtet – hoffe ich.« »Und damit soll der Zustand des Chaos erreicht werden?« fragte Malley und sah auf den Schirm.
Eine Zeitlang hörten sie nichts als das hohe Singen der Maschinen; sie sahen das verrückte Tanzen des Spektrogramms. Dann tauchte plötzlich mitten im Zimmer des Botschafters ein Fleck auf. Er zitterte, schrumpfte zusammen, dehnte sich wieder aus. Was nun geschah, war unbeschreiblich. Sie wußten nur, daß alles, was sich innerhalb dieses Flecks befand, verschwunden war. »Abschalten!« rief Cercy. Harrison legte den Schalter um. Der Fleck wurde immer größer. »Wie kommt es, daß wir es ansehen können?« fragte Malley und starrte auf den Schirm. »Der Schild des Perseus, wissen Sie noch?« erklärte Cercy. »Als er ihn als Spiegel verwendete, konnte er Medusa ins Antlitz sehen.« »Der Fleck wächst immer noch!« schrie Malley. »Ein gewisses Risiko lag natürlich in dem Versuch«, sagte Cercy. »Es besteht immer die Möglichkeit, daß das Chaos unkontrolliert um sich greift. Falls das eintritt, spielt es keine große Rolle mehr, was…« Der Fleck hörte zu wachsen auf. Die Ränder wurden verschwommen, begannen auszufransen, dann schrumpfte er ein. »Das Ordnungsprinzip«, sagte Cercy und sank erschöpft in den nächsten Stuhl. »Irgendein Anzeichen von dem Botschafter?« fragte er einige Minuten später. Der Fleck schwankte und waberte immer noch. Dann war er verschwunden. Augenblicklich ereignete sich eine Explosion. Die stählernen Wände krümmten sich nach innen, hielten aber stand. Die Bildschirme erloschen. »Eine Implosion«, erklärte Cercy. »Der Fleck hat alle Luft aus dem Zimmer entfernt. Auch sämtliche Möbel und den Botschafter.« »Er konnte nicht standhalten«, sagte Malley. »In einem Zustand der Schemalosigkeit kann sich kein Schema halten. Er ist jetzt unterwegs zu Alfern.« Malley begann albern zu lachen. Cercy hätte am liebsten mitgekichert, aber er riß sich zusammen.
»Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Wir haben es noch nicht überstanden.« »Klar haben wir das! Der Botschafter…« »Ist aus dem Weg geräumt. Aber da ist immer noch die Flotte der Fremden, die diesen Sektor des Weltraums ansteuert. Eine Flotte von solcher Macht, daß wir sie mit einer H-Bombe nicht einmal ankratzen könnten. Sie werden uns suchen.« Er erhob sich. »Geht nach Hause und schlaft erst einmal aus. Ich habe das Gefühl, daß wir morgen anfangen müssen, uns eine Methode zu überlegen, wie man einen ganzen Planeten tarnen kann.«
Geist V »Jetzt liest er unser Firmenschild«, sagte Gregor. Er hatte sein langes, knochiges Gesicht dicht an das Guckloch der Bürotür gepreßt. »Laß mal sehen«, bat Arnold. Gregor schob ihn zurück. »Gleich wird er klopfen. Nein – er hat es sich anders überlegt. Er geht.« Arnold kehrte an seinen Schreibtisch zurück und begann eine neue Patience. Gregor hielt weiter am Guckloch Wache. Sie hatten dieses Guckloch drei Monate nach Gründung der Firma und Einzug in dieses Büro aus purer Langeweile konstruiert. Damals hatte die Planetenentseuchungsgesellschaft nichts zu tun, obwohl sie bereits im Telefonbuch eingetragen stand. Planetenentseuchung war ein altes, wohleingeführtes Geschäft, das von zwei mächtigen Monopolgesellschaften beherrscht wurde. Die Lage war für eine kleine, neue Firma, die von zwei jungen Männern mit großartigen Ideen und einer Menge noch unbezahltem Gerät betrieben wurde, ziemlich entmutigend. »Er kommt zurück«, rief Gregor. »Rasch! Tu so, als ob du ein vielbeschäftigter und wichtiger Mann wärst!« Arnold schob die Spielkarten in eine Schublade und hatte gerade seinen Laborkittel fertig zugeknöpft, als es an der Tür klopfte. Ihr Besucher war ein kleiner, kahlköpfiger, müde aussehender Mann. Er betrachtete sie zweifelnd. »Sie entseuchen also Planeten?« »Das ist richtig, Sir«, sagte Gregor, schob einen Stapel Papiere beiseite und schüttelte dem Mann die feuchte Hand. »Ich bin Richard Gregor, das hier ist mein Partner, Dr. Frank Arnold.«
Arnold, der mit seinem weißen Laborkittel und der dunklen Hornbrille sehr bedeutend aussah, nickte geistesabwesend und vertiefte sich wieder in die Untersuchung einer Reihe uralter, verkrusteter Reagenzgläser. »Nehmen Sie doch bitte Platz, Mr…« »Ferngraum.« »… Mr. Ferngraum. Ich glaube, wir können so ziemlich alles übernehmen, was in unserer Branche anfällt«, sagte Gregor herzlich. »Regulierung der Flora oder Fauna, Reinigung der Atmosphäre, Entgiftung des Trinkwassers, Sterilisierung des Bodens, Stabilitätstests, Kontrolle von Vulkanismus und Erdbeben… Wir können alles tun, um einen Planeten für Menschen bewohnbar zu machen.« Ferngraums Zweifel schienen immer noch nicht beseitigt zu sein. »Ich will Ihnen gegenüber ganz ehrlich sein. Ich habe da einen schwierigen Planeten an der Hand.« Gregor nickte zuversichtlich. »Für solche Schwierigkeiten sind wir ja da.« »Ich bin selbständiger Grundstücksmakler«, sagte Ferngraum. »Sie wissen ja, wie das geht – man kauft einen Planeten und verkauft ihn wieder – man muß sich halt so durchschlagen. Normalerweise konzentriere ich mich auf Steppenplaneten und überlasse die Entseuchung den Käufern. Aber vor ein paar Monaten bot sich mir die Möglichkeit, einen wirklich ausgezeichneten Planeten zu kaufen. Ich habe ihn den großen Firmen genau vor der Nase weggeschnappt.« Ferngraum wischte sich unglücklich die Stirn mit dem Taschentuch ab. »Eine wunderbare Welt«, fuhr er ohne jede Begeisterung fort. »Durchschnittstemperatur 22 Grad Celsius. Bergig, aber fruchtbar. Wasserfälle, Regenbogen – alles vorhanden. Aber keinerlei Fauna.« »Klingt ja großartig«, sagte Gregor. »Mikroorganismen?« »Nichts Gefährliches.« »Und was ist dann an dem Planeten faul?« Ferngraum wurde verlegen. »Vielleicht haben Sie schon davon gehört. Er ist unter der Katalognummer RYC-5 registriert. Aber normalerweise nennt man ihn nur ›Geist V‹.«
Gregor hob eine Augenbraue. ›Geist‹ war ein seltsamer Spitzname für einen Planeten, aber er hatte schon ausgefallenere zu hören bekommen. Schließlich muß man dem Kind ja einen Namen geben. Innerhalb der Reichweite von Raumschiffen gab es Tausende von Sonnen mit Planetensystemen, von denen viele bewohnbar oder wenigstens potentiell bewohnbar waren. Und in den zivilisierten Welten gab es wiederum viele Leute, die bereit waren, diese Planeten zu kolonisieren. Religiöse Sekten, politische Minoritäten, philosophische Gruppen – oder ganz einfach Pioniere, die irgendwo neu anfangen wollten. »Ich glaube nicht, daß ich schon davon gehört habe«, sagte Gregor. Ferngraum rutschte ungemütlich auf seinem Stuhl hin und her. »Ich hätte auf meine Frau hören wollen. Aber nein – ich wollte es so machen wie die Großen. Hab’ für ›Geist V‹ zehnmal soviel bezahlt, wie ich sonst zu zahlen pflege, und nun sitze ich darauf fest.« »Aber was ist denn nun faul daran?« fragte Gregor. »Es scheint dort Gespenster zu geben«, sagte Ferngraum verzweifelt. Ferngraum hatte seinen Planeten mit Radar überprüfen lassen und ihn dann an eine landwirtschaftliche Genossenschaft von Dijon IV verpachtet. Die acht Mann starke Vorhut landete und schickte schon am ersten Tag über Funk wirre Berichte über Dämonen, Geister, Vampire, Dinosaurier und andere feindselige Geschöpfe zurück. Als ein Rettungsschiff sie abholen wollte, waren sie alle tot. Nach dem Bericht der Autopsie konnten die Risse, Schnitte und Male an ihren Leichen jede nur erdenkliche Ursache haben und sogar von Dämonen, Geistern, Vampiren und Dinosauriern herrühren, falls es solche gab. Ferngraum wurde wegen unzureichender Entseuchung bestraft. Die Farmer kündigten ihren Pachtvertrag. Es gelang ihm jedoch, den Planeten an eine Gruppe von Sonnenanbetern von OPAL II zu vermieten. Die Sonnenanbeter waren vorsichtige Leute. Sie schickten ihre Geräte auf den Planeten, aber nur eine Vorhut von drei Mann, um die Ursache all des Ärgers auszukundschaften. Die drei Männer schlugen ein Lager auf, packten ihre Sachen aus und erklärten den Planeten zum Paradies. Sie forderten ihre Glaubensgenossen zu Hause auf, sofort nachzukommen – und dann plötzlich ertönte ein wilder Schrei, und der Funkkontakt brach ab.
Ein Patrouillenschiff landete auf ›Geist V‹, beerdigte die drei verstümmelten Leichen und hob innerhalb von fünf Minuten wieder ab. »Damit war ich erledigt«, sagte Ferngraum. »Niemand will den Planeten mehr haben, zu keinem noch so günstigen Preis. Die Mannschaften von Raumschiffen weigern sich, dort zu landen. Und ich weiß immer noch nicht, was eigentlich geschehen ist.« Mit einem tiefen Seufzer sah er Gregor an. »Wenn Sie wollen, können Sie den Auftrag haben.« Gregor und Arnold entschuldigten sich für einen Augenblick und gingen in den Vorraum hinaus. Arnold jubelte sofort: »Wir haben einen Auftrag!« »Jaja«, sagte Gregor, »aber was für einen.« »Wir wollten doch immer die schwierigen Aufträge haben«, erklärte ihm Arnold. »Wenn wir diesen schaffen, ist unser Ruf fest gegründet – ganz zu schweigen von dem Gewinn, den wir bei einer prozentualen Beteiligung herauswirtschaften können.« Gregor entgegnete: »Du scheinst zu vergessen, daß ich derjenige bin, der auf diesem Planeten zu landen hat. Du sitzt nur hier herum und wertest meine Angaben aus.« »So haben wir es vereinbart«, erinnerte ihn Arnold. »Ich bin die Forschungsabteilung – du bist die Feuerwehr. Hast du das vergessen?« Gregor hatte es nicht vergessen. Schon seit ihrer Kindheit hatte er immer den Kopf hingehalten, während Arnold zu Hause blieb und ihm erklärte, warum er den Kopf hinzuhalten hatte. »Mir gefällt das nicht«, sagte er. »Du glaubst doch nicht an Gespenster – oder doch?« »Nein, natürlich nicht.« »Nun, mit allem anderen werden wir schon fertig. Wer nicht wagt, gewinnt nicht.« Gregor zuckte die Achseln. Sie gingen zu Ferngraum hinein. Eine halbe Stunde später hatten sie sich über die Bedingungen geeinigt, im Erfolgsfalle sollten sie von allen zukünftigen Gewinnen eine hohe prozentuale Beteiligung erhalten, im Falle eines Mißlingens verfiel jeder Anspruch auf ein Honorar.
Gregor begleitete Ferngraum an die Tür. »Übrigens, Sir«, sagte er, »wie kommen Sie ausgerechnet auf uns?« »Weil niemand sonst den Auftrag übernehmen will«, sagte Ferngraum und schien mit sich selbst außerordentlich zufrieden zu sein. »Viel Glück.« Drei Tage später war Gregor an Bord eines klapprigen Raumfrachters unterwegs zu ›Geist V‹. Er verbrachte seine Zeit mit dem Studium der Berichte von den beiden Kolonisationsversuchen sowie der Lektüre verschiedener Untersuchungen von übernatürlichen Erscheinungen. Das alles half ihm nicht weiter. Auf ›Geist V‹ hatte man keine Spur von tierischem Leben entdeckt. Und nirgendwo sonst in der ganzen Galaxis hatten sich Beweise für die Existenz übernatürlicher Geschöpfe finden lassen. Darüber dachte Gregor nach. Dann überprüfte er seine Waffen, während der Frachter sich in weiten Spiralen dem Gebiet von ›Geist V‹ näherte. Er führte ein Arsenal mit, das ausreichend war, einen kleinen Krieg anzuzetteln und ihn auch zu gewinnen. Falls er etwas fand, worauf man schießen konnte… Der Kapitän des Frachters brachte sein Schiff bis auf ein paar tausend Meter an den freundlich grünen Planeten heran, aber nicht näher. Gregor warf seine Ausrüstung mit Fallschirmen in der Nähe der beiden früheren Lager ab, drückte dem Kapitän die Hand und sprang dann selbst mit dem Fallschirm hinunter. Er landete sicher und hob den Kopf. Der Frachter brauste wie von Furien gehetzt in den Raum hinaus. Gregor war allein auf ›Geist V‹. Nachdem er seine Ausrüstung auf etwaige Schäden hin untersucht hatte, teilte er Arnold über Funk mit, daß er sicher gelandet sei. Dann kontrollierte er mit schußbereitem Strahler das Lager der Sonnenanbeter. Sie hatten sich am Fuß eines Berges eingerichtet, neben einem kleinen, kristallklaren See. Die Häuser aus vorgefertigten Teilen befanden sich in ausgezeichnetem Zustand.
Kein Sturm hatte die Gebäude beschädigt, da ›Geist V‹ mit einem wunderbar gleichmäßigen Klima gesegnet war. Aber alles wirkte erschreckend einsam. Gregor untersuchte genau eines der Gebäude. Kleidungsstücke lagen ordentlich verpackt in den Schränken, Bilder hingen an der Wand, und vor einem der Fenster gab es sogar einen Vorhang. In einer Ecke des Raums war eine Kiste mit Spielzeug bereits für die Ankunft der Kinder des Haupttrupps geöffnet worden. Eine Wasserpistole, ein Spielzeugkreisel und ein Beutel mit Murmeln waren zu Boden gefallen. Da es inzwischen Abend wurde, schleppte Gregor seine Ausrüstung in das Haus und traf seine Vorbereitungen. Er konstruierte ein Alarmsystem und stellte es so empfindlich ein, daß selbst eine Küchenschabe es ausgelöst hätte. Zur Kontrolle der unmittelbaren Umgebung baute er ein Radarwarnsystem auf. Er packte seine Waffen aus, legte sich die schweren Karabiner griffbereit zurecht, behielt jedoch den Handstrahler im Gürtel. Dann setzte er sich zufrieden zu einem gemütlichen Abendessen nieder. Draußen war es inzwischen Nacht geworden. Dunkelheit legte sich über das warme, verträumt daliegende Land. Eine sanfte Brise kräuselte die Wasserfläche des Sees und rief im hohen Gras ein seidiges Rauschen hervor. Alles war sehr friedlich. Die Siedler müssen hysterisch gewesen sein, sagte er sich. Wahrscheinlich hat sie die Panik gepackt, und sie haben sich gegenseitig umgebracht. Nachdem Gregor sein Alarmsystem ein letztes Mal überprüft hatte, legte er seine Sachen über einen Stuhl, schaltete die Lichter aus und stieg ins Bett. Der Raum wurde vom Schimmer der Sterne matt erhellt. Sie leuchteten heller als der Vollmond auf der Erde. Der Handstrahler lag unter seinem Kopfkissen. Gregor war mit sich und der Welt zufrieden. Er war gerade dabei einzunicken, als ihm bewußt wurde, daß er nicht mehr allein im Zimmer war.
Das war ausgeschlossen. Sein Alarmsystem hatte sich nicht gerührt. Das Radargerät summte immer noch friedlich vor sich hin. Doch alle Nervenfasern seines Körpers sandten einen einzigen schrillen Warnruf aus. Er zog den Strahler unter dem Kopfkissen hervor und sah sich um. Ein Mann stand in der Ecke des Raums. Jetzt war nicht der richtige Augenblick zu überlegen, wie er hereingekommen war. Gregor hob den Strahler und sagte: »Okay, Hände hoch.« Seine Stimme klang ruhig und energisch. Die Gestalt regte sich nicht. Gregors Finger spannte sich um den Abzugshahn, aber ließ dann plötzlich wieder locker. Er erkannte den Mann. Es war seine eigene Kleidung, die er achtlos auf den Stuhl geworfen hatte, verzerrt vom vagen Sternenlicht und seiner Phantasie. Grinsend ließ er den Strahler wieder sinken. Das Kleiderbündel begann, sich etwas zu bewegen. Gregor spürte eine schwache Brise, die vom Fenster herüberwehte, und grinste immer noch. Dann stand das Kleiderbündel auf, streckte sich und kam mit zielstrebigen Schritten auf ihn zu. Gregor lag starr vor Schrecken im Bett und betrachtete die körperlosen Kleider, die ungefähr menschliche Umrisse angenommen hatten und sich ihm näherten. Als das Ding die Hälfte des Zimmers durchquert hatte und den leeren Jackenärmel nach ihm ausstreckte, drückte er ab. Er schoß und schoß, denn die Lumpen und Überreste der Kleidung glitten auf ihn zu, als seien sie mit eigenem Leben erfüllt. Brennende Stoffetzen flatterten ihm ins Gesicht, und ein Gürtel versuchte, sich um seine Beine zu winden. Erst als er alles zu Asche verbrannt hatte, hörte der Angriff auf. Als es vorüber war, schaltete Gregor sämtliche Lichter ein. Er braute sich eine Kanne Kaffee und goß den größten Teil einer Flasche Brandy hinein. Mit einiger Mühe widerstand er der Versuchung, sein nutzloses Alarmsystem vor Wut in Stücke zu schlagen. Statt dessen rief er seinen Partner an.
»Das ist sehr interessant«, sagte Arnold, nachdem er sich Gregors ausführlichen Bericht angehört hatte. »Ein Fall von Belebung. Wirklich sehr interessant.« »Ich habe gehofft, daß es dich amüsieren wird«, antwortete Gregor verbittert. Nach einigen Schlucken Brandy kam er sich allmählich verlassen und verraten vor. »Sonst hat sich nichts ereignet?« »Noch nicht.« »Gut, sei vorsichtig. Ich habe da so meine Theorie, muß aber noch einige Ermittlungen anstellen. Übrigens nimmt ein verrückter Buchmacher Wetten von fünf zu eins gegen dich an.« »Wirklich?« »Ja, ich habe auch gewettet.« »Für mich oder gegen mich?« fragte Gregor besorgt. »Für dich natürlich«, sagte Arnold empört. »Wir sind doch Partner, oder nicht?« Sie brachen das Gespräch ab. Gregor braute sich noch eine Kanne Kaffee. Er hatte ohnehin nicht vor, sich noch einmal zum Schlafen hinzulegen. Der Gedanke, daß Arnold auf ihn gesetzt hatte, war beruhigend. Andererseits war Arnold für sein Pech im Spiel bekannt. Als es hell wurde, bekam Gregor endlich ein paar Stunden unruhigen Schlaf. Am frühen Nachmittag wachte er wieder auf, fand etwas zum Anziehen und begann das Lager der Sonnenanbeter genauer zu untersuchen. Gegen Abend fand er etwas. An die Wand eines der Häuser war hastig das Wort ›Tgasklit‹ hingekritzelt. ›Tgasklit‹ sagte ihm nichts, aber er gab es sofort an Arnold weiter. Dann durchsuchte er sorgfältig sein Haus, schloß noch ein paar zusätzliche Lampen an, überprüfte das Alarmsystem und lud seinen Strahler nach.
Alles schien in Ordnung zu sein. Mit Bedauern sah er die Sonne untergehen und hoffte, wenigstens den nächsten Sonnenaufgang mitzuerleben. Dann ließ er sich in einen bequemen Sessel nieder und versuchte, einigen konstruktiven Gedanken nachzugehen. Hier gab es kein tierisches Leben – auch keine beweglichen Pflanzen, intelligenten Felsen oder gigantischen Gehirne, die im Innern des Planeten ruhten. ›Geist V‹ besaß nicht einmal einen Mond, auf dem sich jemand hätte verstecken können. An Geister oder Dämonen wollte er einfach nicht glauben. Er wußte, daß sich übernatürliche Ereignisse bei genauerer Untersuchung für gewöhnlich als vollkommen natürliche Vorgänge erklären ließen. Die Ereignisse, die sich nicht erklären ließen, hörten einfach auf. Gespenster halten nicht still und lassen sich von Zweiflern überprüfen. Der Schloßgeist hat unweigerlich Urlaub, wenn ein Wissenschaftler mit Kameras und Tonbandgeräten auftaucht. Blieb nur noch eine andere Möglichkeit. Vielleicht wollte jemand anderer den Planeten haben, war aber nicht bereit, Ferngraums Preis zu bezahlen. Könnte es nicht sein, daß dieser Jemand sich hier versteckte, die Siedler verschreckte, sie wenn nötig auch umbrachte – nur um den Preis zu drücken? Das erschien ihm logisch. Auf diese Weise konnte man sogar das Verhalten seiner Kleidung erklären. Statische Elektrizität, richtig angewandt… Vor ihm stand etwas. Wieder hatte sein Alarmsystem überhaupt nicht angesprochen. Langsam hob Gregor den Kopf. Das Ding, das vor ihm stand, war etwa dreieinhalb Meter groß und von ungefähr menschlicher Gestalt, wenn man von dem Krokodilschädel absah. Es war leuchtendrot gefärbt und hatte purpurfarbene Längsstreifen am Körper. In einer Klaue hielt es eine große braune Dose. »Hallo«, sagte das Ding. »Hallo«, würgte Gregor hervor. Sein Strahler lag nur einen halben Meter entfernt auf dem Tisch. Ob das Ding mich wohl angreift, wenn ich die Hand danach ausstrecke?
»Wie heißt du?« fragte Gregor mit der absoluten Ruhe, die nur ein gewaltiger Schock hervorbringt. »Ich bin der Gestreifte Greifer«, sagte das Ding. »Ich packe zu.« »Wie interessant.« Gregors Hand bewegte sich in Richtung auf den Strahler. »Ich packe zum Beispiel etwas, das Richard Gregor heißt«, erklärte der Greifer mit seiner hellen, freundlichen Stimme. »Und für gewöhnlich esse ich sie mit Schokoladensoße.« Er hielt die braune Dose hoch, und Gregor konnte das Etikett lesen: ›Mix-Schokolade, eine ideale Couvertüre für Gregors, Arnolds und Flynns‹. Gregors Finger berührten den Kolben des Strahlers. Er fragte: »Du hast also vor, mich zu essen?« »Aber ja«, antwortete der Greifer. Gregor hielt die Waffe jetzt in der Hand. Er schnippte die Sicherung zur Seite und drückte ab. Der leuchtende Strahl prallte von der Brust des Greifers ab und versengte den Fußboden, die Wände und Gregors Augenbrauen. »Damit kannst du mir nichts anhaben«, erklärte der Greifer. »Ich bin zu groß.« Der Strahler fiel Gregor aus der Hand. Der Greifer beugte sich vor. »Ich werde dich nicht jetzt essen«, sagte der Greifer. »Nein?« würgte Gregor hervor. »Nein, ich kann dich erst morgen, am 1. Mai, essen. So sind nun einmal die Regeln. Ich wollte dich nur um einen Gefallen bitten.« »Um welchen?« Der Greifer lächelte gewinnend. »Würdest du vielleicht so freundlich sein und ein paar Äpfel essen? Das Fleisch bekommt dann einen so herrlichen Geschmack.« Mit diesen Worten verschwand das Gestreifte Ungeheuer. Mit zitternden Händen schaltete Gregor das Funkgerät ein und berichtete Arnold alles, was sich ereignet hatte.
»Hm«, machte Arnold. »Der Gestreifte Greifer, wie? Ich glaube, damit ist die Sache klar. Es paßt alles zusammen.« »Was paßt zusammen?« »Tu zunächst einmal, was ich dir sage. Ich möchte ganz sicher sein.« Gregor richtete sich genau nach Arnolds Anweisungen. Er packte sein tragbares Chemielabor aus und legte sich eine Anzahl Reagenzröhren, Retorten und Chemikalien bereit. Er rührte, mischte, fügte hinzu und nahm wieder weg, wie es ihm gesagt wurde, und erhitzte die ganze Mixtur schließlich auf dem Ofen. »So«, sagte Gregor und trat wieder ans Funkgerät. »Jetzt sag mir endlich, was hier los ist.« »Gewiß. Ich habe das Wort ›Tgasklit‹ nachgeschlagen. Es ist opalianisch und bedeutet ›Vielgezähnter Geist‹. Die Sonnenanbeter stammten von Opal. Was folgerst du daraus?« »Daß sie von einem einheimischen Geist umgebracht wurden«, erwiderte Gregor bissig. »Er muß sich auf ihrem Schiff versteckt haben. Vielleicht gab es da einen Fluch und…« »Beruhige dich«, unterbrach ihn Arnold. »Geister haben damit nichts zu tun. Kocht die Lösung schon?« »Nein.« »Sag mir Bescheid, wenn es soweit ist. Und nun zurück zu deiner belebten Kleidung. Erinnert es dich nicht an etwas?« Gregor überlegte. »Nun, als ich noch ein Kind war… Nein, das ist lächerlich.« »Heraus damit«, verlangte Arnold. »Als ich ein Kind war, ließ ich niemals Kleidungsstücke auf einem Stuhl liegen. Im Dunkeln sahen sie immer wie ein Mensch oder ein Drache oder etwas anderes aus. Ich glaube, diese Erfahrung macht jeder. Aber damit ist doch nicht erklärt…« »Aber sicher erklärt das alles. Erinnerst du dich jetzt an den Gestreiften Greifer?« »Nein, warum sollte ich?«
»Weil du ihn erfunden hast! Weißt du es nicht mehr? Wir waren damals acht oder neun. Du und ich und Jimmy Flynn. Wir erfanden die schrecklichsten Ungeheuer, die man sich vorstellen konnte – der Greifer war unser eigenes, ganz privates Ungeheuer und wollte nur dich oder mich oder Jimmy fressen – mit Schokoladensoße übergossen. Aber nur am Ersten eines jeden Monats, wenn der monatliche Schulbericht fällig war. Du konntest ihn nur loswerden, wenn du ein Zauberwort aussprachst.« Da fiel Gregor alles wieder ein. Wie kann ich das alles nur vergessen haben? fragte er sich. Wieviel Nächte hatte er als Kind in der angstvollen Erwartung des Greifers wachgelegen? Im Vergleich dazu waren ihm selbst schlechte Schulzeugnisse bedeutungslos vorgekommen. »Kocht die Lösung jetzt?« fragte Arnold. – »Ja«, antwortete Gregor und warf gehorsam einen Blick zum Ofen. »Welche Farbe hat sie?« »Eine Art Grünblau. Nein, es ist mehr blau als…« »Richtig, du kannst sie wegschütten. Ich möchte noch ein paar weitere Tests durchführen, aber ich glaube, wir haben das Problem gelöst.« »Was haben wir gelöst? Könntest du mir nicht einiges erklären?« »Es ist doch alles ganz klar. Der Planet besitzt kein tierisches Leben. Es gibt keine Geister oder zumindest keine, die handfest genug wären, um ein paar bewaffnete Männer töten zu können. Die Lösung heißt Halluzination – also suchte ich nach etwas, das eine Halluzination hervorbringt. Ich fand eine ganze Menge. Abgesehen von den irdischen Drogen gibt es im Katalog ›Unbekannte chemische Stoffe‹ etwa ein Dutzend verschiedener Gase, die Halluzinationen hervorrufen. Es gibt Beruhigungsmittel und Aufputschungsmittel, die dir das Gefühl geben, als seist du ein Genie oder ein Regenwurm oder ein Adler. Das Gas, das ich meine, entspricht Longstead 42 im Katalog. Es ist ein schweres, unsichtbares und geruchloses Gas, das keinen physischen Schaden anrichtet. Es wirkt nur anregend auf die Phantasie.« »Du meinst, ich hatte nur Halluzinationen? Ich will dir mal was sagen…«
»So einfach ist das nicht«, unterbrach ihn Arnold. »Longstead 42 übt eine direkte Wirkung auf das Unterbewußtsein aus. Es setzt deine stärksten, unbewußten Ängste frei, all die Schrecken der Kindheit, die du unterdrückt hast. Es ruft sie ins Leben zurück. Und genau das hast du gesehen.« »Dann ist eigentlich gar nichts hier?« fragte Gregor. »Physisch nicht. Aber für den, der sie hat, sind die Halluzinationen wirklich echt.« Gregor griff nach der zweiten Flasche Brandy. Diese Auskunft mußte gefeiert werden. »Es wird nicht schwierig sein, ›Geist V‹ zu entseuchen«, fuhr Arnold zuversichtlich fort. »Wir können Longstead 42 ohne größere Schwierigkeiten ausscheiden. Und dann – dann sind wir reich, mein Freund.« Gregor hatte schon einen Trinkspruch auf der Zunge, aber dann kam ihm ein bestürzender Gedanke. »Wenn es nichts weiter als Halluzinationen sind – was ist dann aus den Siedlern geworden?« Arnold schwieg eine Weile. »Nun«, sagte er schließlich, »vielleicht neigt Longstead 42 dazu, den Mortido anzuregen – den Todesinstinkt. Die Siedler müssen verrückt geworden sein. Sie haben sich gegenseitig umgebracht.« »Und keine Überlebenden?« »Klar, warum nicht? Die letzten Überlebenden begingen Selbstmord oder starben an ihren Verletzungen. Mach dir darum keine Sorgen. Ich chartere sofort ein Schiff und komme nach, um diese Tests durchzuführen. Reg dich nicht auf, in ein oder zwei Tagen hole ich dich ab.« Gregor schaltete das Gerät ab. Er genehmigte sich an diesem Abend den ganzen Rest der Flasche Brandy. Er hatte das Gefühl, den Schnaps verdient zu haben. Das Geheimnis von ›Geist V‹ war gelöst, und ein Vermögen war in Griffnähe gerückt. Bald würde er in der Lage sein, einen Mann einzustellen, der für ihn auf fremden Planeten landen mußte,
während er zu Hause saß und nichts weiter zu tun hatte, als über Funk Anweisungen zu erteilen. Am nächsten Morgen wachte er mit einem Brummschädel auf. Arnolds Schiff war noch nicht angekommen, also packte er seine Sachen ein und wartete. Am Abend war immer noch kein Schiff da. Er saß auf der Schwelle des Fertighauses und beobachtete den wunderbaren Sonnenuntergang. Dann ging er hinein und richtete sich sein Abendessen. Das Problem der Siedler beunruhigte ihn immer noch, aber er war entschlossen, sich deshalb keine grauen Haare wachsen zu lassen. Zweifellos gab es auch dafür eine logische Erklärung. Nach dem Essen streckte er sich auf dem Bett aus. Er hatte kaum die Augen geschlossen, da hörte er neben sich ein leises, entschuldigendes Husten. »Hallo«, sagte der Gestreifte Greifer. Seine ganz private Halluzination war wiedergekommen, um ihn aufzufressen. »Hallo, alter Junge«, antwortete Gregor vergnügt und ohne die geringste Spur von Angst oder Sorge. »Hast du die Äpfel gegessen?« »Tut mir schrecklich leid, das habe ich ganz vergessen.« »Na ja.« Der Greifer bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. »Ich habe die Schokoladensoße mitgebracht.« Er hob die Dose hoch. Gregor lächelte. »Du kannst jetzt wieder gehen«, sagte er. »Ich weiß, daß du nichts weiter bist als eine Ausgeburt meiner eigenen Phantasie. Mir kannst du nichts anhaben.« »Ich will dir auch nichts anhaben«, sagte der Greifer. »Ich will dich nur essen.« Er ging auf Gregor zu. Gregor blieb ruhig sitzen und lächelte, obwohl es ihm lieber gewesen wäre, wenn der Greifer einen weniger handfesten und ganz und gar ungespenstischen Eindruck gemacht hätte. Der Greifer beugte sich vor und biß einmal probierend in seinen Arm.
Gregor fuhr zurück und betrachtete seinen Arm. Die Zähne hatten Eindrücke hinterlassen, aus denen Blut tröpfelte – echtes Blut, sein Blut. Die Kolonisten waren zerbissen, zerrissen und zerfetzt aufgefunden worden. In diesem Augenblick fiel Gregor die Vorführung eines Hypnotiseurs ein, die er einmal miterlebt hatte. Der Hypnotiseur hatte seinem Medium suggeriert, er drücke auf seinem bloßen Arm seine Zigarette aus. Dann hatte er die Stelle mit einem Bleistift berührt. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich am Arm des Mediums eine knallrote Brandblase gebildet, weil es in dem Glauben war, es sei verbrannt worden. Wenn das Unterbewußtsein zu der Auffassung gelangt, daß man tot ist, dann ist man eben tot. Wenn es die Eindrücke von Zähnen befiehlt, dann sind sie auch vorhanden. Er glaubte nicht an den Greifer. Aber sein Unterbewußtsein glaubte daran. Gregor wollte zur Tür rennen. Der Greifer schnitt ihm den Weg ab. Er packte ihn mit seinen Klauen und beugte sich zu seinem Nacken herab. Das Zauberwort! Wie war es doch? Gregor schrie: »Alphoisto?« »Das falsche Wort«, sagte der Greifer. »Bitte, halt jetzt still.« »Renastikio!« »Nein. Hör endlich auf zu zappeln, dann ist alles vorbei, bevor du…« »Vorspellhappilo!« Der Greifer stieß einen Schmerzensschrei aus und ließ ihn los. Er sprang hoch in die Luft und verschwand. Gregor sank auf einen Stuhl. Das war knapp gewesen. Viel zu knapp. Es wäre eine besonders alberne Todesart geworden – an den Todeswünschen des eigenen Unterbewußtseins zu sterben, erschlagen von der eigenen Phantasie, getötet von der eigenen Überzeugung. Wie gut, daß ihm das Wort noch eingefallen war. Wenn sich Arnold nur beeilen würde… Er hörte ein leises, belustigtes Kichern.
Es kam aus der Dunkelheit hinter einer halbgeöffneten Schranktür und rührte an eine fast vergrabene Erinnerung. Er war plötzlich wieder neun Jahre alt, und der Schattenmann – sein Schattenmann – war eine seltsame, hagere, grausige Erscheinung, die sich in dunklen Einfahrten verbarg, die unter Betten schlief und ihn nur im Dunkeln überfiel. »Schalte die Lichter aus«, sagte der Schattenmann. »Kommt nicht in Frage«, erwiderte Gregor und zog den Strahler. Solange das Licht brannte, war er in Sicherheit. »Du solltest es lieber ausschalten.« »Nein!« »Na gut. Egan – Megan – Degan!« Drei kleine Geschöpfe hüpften ins Zimmer. Sie stürzten sich auf die nächste Glühbirne und begannen, sie heißhungrig aufzufressen. Im Zimmer wurde es immer dunkler. Gregor drückte jedesmal seinen Strahler ab, wenn sie sich wieder einer anderen Lampe näherten. Glas splitterte, aber die flinken, kleinen Geschöpfe hüpften immer wieder zur Seite. Dann erkannte Gregor, was er getan hatte. Die Geschöpfe konnten gar kein Licht fressen. Einbildung vermag nichts gegen unbelebte Materie. Er hatte sich nur vorgestellt, daß es im Zimmer dunkler wurde, und… Dabei hatte er die eigenen Lampen ausgeschossen! Sein eigenes zerstörerisches Unterbewußtsein hatte ihm einen Streich gespielt. Nun trat der Schattenmann hervor. Er hüpfte von einem Schatten zum anderen und kam Gregor immer näher. Der Strahler hatte keine Wirkung. Gregor versuchte verzweifelt, sich an das Zauberwort zu erinnern – dann fiel ihm zu seinem Entsetzen ein, daß es keine Zauberformel gab, mit der sich der Schattenmann bannen ließ. Er zog sich zurück, und der Schattenmann rückte vor, bis Gregor mit dem Rücken an einer Kiste stand. Der Schattenmann ragte hoch über ihm auf, und Gregor sank zu Boden. Er schloß die Augen. Seine Hände berührten etwas Kaltes. Er hockte an der Packkiste der Siedler mit dem Kinderspielzeug. In der Hand hielt er die Wasserpistole.
Gregor hob die Pistole. Der Schattenmann zog sich ein Stück zurück und betrachtete angstvoll die Waffe. Rasch lief Gregor zum Spülstein und füllte die Pistole. Und dann richtete er einen tödlichen Wasserstrahl auf das Geschöpf. Der Schattenmann heulte vor Schmerz auf und verschwand. Mit mattem Lächeln schob Gregor die leere Wasserpistole in den Gürtel. Gegen eingebildete Ungeheuer ist eine Wasserpistole eben genau die richtige Waffe. Es dämmerte schon, als das Schiff landete und Arnold ausstieg. Ohne weitere Zeitverschwendung baute er seine Versuche auf. Um die Mittagszeit war er damit fertig. Der wirksame Stoff war ganz einwandfrei Longstead 42. Sofort packten er und Gregor ihre Sachen ein und starteten. Als sie sich wieder im Raum befanden, erzählte Gregor seinem Partner alles, was sich ereignet hatte. »Schlimm für dich«, sagte Arnold leise, aber mit tiefem Mitgefühl. Jetzt, wo Gregor den Planeten ›Geist V‹ hinter sich gelassen hatte, konnte er über seinen Heldenmut bescheiden lächeln. »Hätte noch schlimmer kommen können«, sagte er. »Wie?« »Stell dir einmal vor, Jimmy Flynn wäre hier. Der Junge konnte wirklich Ungeheuer erfinden! Erinnerst du dich noch an den Knurrer?« »Ich weiß nur noch, daß ich deswegen nächtelang nicht schlafen konnte«, sagte Arnold. Sie waren unterwegs nach Hause. Arnold machte sich Notizen zu einem Artikel mit der Überschrift »Der Todesinstinkt auf ›Geist V‹ – Eine Untersuchung der Stimulierung, Hysterie und Massenhalluzination des Unterbewußtseins bei der Hervorrufung physischer Stigmata«. Dann ging er in den Kontrollraum, um den automatischen Piloten einzuschalten.
Gregor warf sich auf eine Couch und war fest entschlossen, zum ersten Mal seit seiner Landung auf ›Geist V‹ wieder einmal anständig zu schlafen. Kaum war er eingenickt, da kam Arnold hereingestürzt, käsebleich vor Schrecken. »Ich glaube, da ist etwas im Kontrollraum«, keuchte er. Gregor richtete sich auf. »Das kann doch nicht sein. Wir sind nicht mehr auf…« Aus dem Kontrollraum ertönte ein langgezogenes tiefes Knurren. »Großer Gott!« stieß Arnold hervor. Ein paar Sekunden lang konzentrierte er sich verzweifelt. »Ich hab’s! Ich habe bei der Landung die Luftschleusen offengelassen. Wir atmen immer noch die Luft von ›Geist V‹!« In der offenen Tür erschien ein gewaltiges graues Geschöpf mit roten Flecken auf der Haut. Es hatte eine erstaunliche Anzahl von Armen, Beinen, Tentakeln, Klauen und Zähnen, dazu noch zwei winzige Schwingen auf dem Rücken. Langsam, murmelnd und ächzend, kam es auf die beiden Männer zu. Sie erkannten beide gleichzeitig den Knurrer. Gregor sprang vor und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. »Hier drin müßten wir eigentlich sicher sein. Die Tür schließt luftdicht«, sagte er. »Aber wie sollen wir das Schiff steuern?« »Gar nicht«, erwiderte Arnold. »Wir verlassen uns ganz auf den automatischen Piloten – es sei denn, es fällt uns etwas ein, wie wir das Ding von Bord bekommen.« Sie bemerkten, daß sich an den luftdicht versiegelten Kanten der Tür grauer Rauch bildete. »Was ist das denn?« fragte Arnold mit einer Stimme, die einen schrillen Unterton der Angst hatte. Gregor runzelte die Stirn. »Weißt du’s denn nicht mehr? Der Knurrer kann in jeden Raum eindringen. Es gibt keine Möglichkeit, ihn auszusperren.« »Ich erinnere mich überhaupt nicht mehr daran«, sagte Arnold verzweifelt. »Frißt er auch Menschen?«
»Nein. Soweit ich mich erinnere, begnügt er sich damit, sie gründlich zu verstümmeln.« Der graue Rauch begann sich zu den Umrissen des gewaltigen Knurrers zu verfestigen. Sie zogen sich ins nächste Abteil zurück und schlossen die Tür hinter sich. Innerhalb weniger Sekunden drang der graue Rauch auch hier ein. »Das ist doch lächerlich!« rief Arnold und biß sich auf die Lippen. »Sich von einem eingebildeten Monstrum peinigen zu lassen – warte mal! Du hast doch noch die Wasserpistole bei dir?« »Ja. Aber…« »Gib sie her!« Arnold lief zum Wassertank und füllte die Spritzpistole. Der Knurrer hatte wieder Gestalt angenommen und drang mit bösartigem Grollen auf die beiden ein. Arnold übergoß ihn mit einem Wasserstrahl. Der Knurrer rückte weiter vor. »Jetzt weiß ich’s wieder«, sagte Gregor. »Mit einer Wasserpistole konnte man den Knurrer nicht aufhalten.« Sie zogen sich in den nächsten Raum zurück und schlugen die Tür hinter sich zu. Hinter ihnen befand sich nur noch ein Schlafraum, und dann kam nichts als das tödliche Vakuum des Weltraums. Gregor fragte: »Kannst du nicht die Luft hier drin ändern?« Arnold schüttelte den Kopf. »Es verflüchtigt sich ohnehin schon. Aber es dauert etwa zwanzig Stunden, bis die Nachwirkungen von Longstead 42 abflauen.« »Hast du kein Gegengift?« »Nein.« Wieder nahm der Knurrer Gestalt an. Es war weder ein sehr erfreulicher Anblick noch ein Ohrenschmaus. »Wie können wir ihn nur umbringen?« fragte Arnold. »Es muß doch eine Möglichkeit geben. Zauberworte? Wie steht’s mit einem Holzschwert?« Gregor schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich jetzt auch wieder ganz genau an den Knurrer«, sagte er betrübt.
»Was tötet ihn?« »Man kann ihn weder mit Wasserpistolen noch mit Knallbonbons, Knallfröschen, Schleudern, Stinkbomben oder anderen Spielzeugwaffen umbringen. Der Knurrer ist unbesiegbar!« »Dieser Flynn mit seiner verdammten Phantasie! Warum mußten wir auch über ihn reden? Wie werden wir den Knurrer dann los?« »Ich hab’s dir doch gesagt. Man kann ihn nicht loswerden. Man muß einfach warten, bis er von allein fortgeht.« Der Knurrer hatte inzwischen seine volle Größe erreicht. Gregor und Arnold zogen sich hastig in ihre winzige Schlafkabine zurück und knallten die letzte Tür zwischen sich und dem Ungeheuer zu. »Denk nach, Gregor!« flehte Arnold. »Kein Kind erfindet ein Ungeheuer, gegen das es nicht irgendein Mittel gibt. Denk nach!« »Den Knurrer kann man nicht umbringen«, wiederholte Gregor. Das rotgefleckte Ungeheuer nahm erneut Gestalt an. Gregor erinnerte sich an alle schlaflos verbrachten Nächte seiner Kindheit. Es mußte doch etwas gegeben haben, womit er als Kind die Macht des Unbekannten neutralisiert hatte. Und dann – fast schon zu spät – fiel es ihm wieder ein. Die automatische Steuerung führte das Schiff, in dem der Knurrer als absoluter Herr und Meister herrschte, zur Erde zurück. Er marschierte die leeren Gänge auf und ab, schwebte durch stählerne Schotte in Kabinen und Abteile, stöhnte, ächzte, knurrte und fluchte, weil er kein Opfer finden konnte. Das Schiff erreichte das Sonnensystem und schwenkte dann automatisch in eine Kreisbahn um den Mond ein. Gregor riskierte vorsichtig einen Blick, bereit, sich notfalls sofort wieder zurückzuziehen. Es gab keine drohenden, schlurfenden Schritte mehr, kein Stöhnen und Knurren, keinen hungrigen Rauch, der durch Ritzen und Wände drang. »Alles klar«, rief er Arnold zu. »Der Knurrer hat sich verzogen.«
Aus der Sicherheit ihrer allerletzten Zuflucht vor den Schrecken der Nacht – bis über den Kopf unter der Bettdecke – krochen sie aus der Schlafkabine hervor. »Ich hab’ dir gleich gesagt, daß die Wasserpistole nichts nützen würde«, sagte Gregor. Arnold lächelte ihn mühsam an und schob die Pistole in den Gürtel zurück. »Ich behalte sie trotzdem. Sollte ich jemals heiraten und einen Sohn haben, so wird das mein erstes Geschenk für ihn sein.« »Für meine Kinder weiß ich etwas Besseres«, sagte Gregor. Er tätschelte liebevoll seine Schlafkoje. »Es gibt keinen besseren Schutz, als wenn man sich eine Decke über die Ohren zieht!«
Das Allerhöchste Hadwell sah gespannt hinunter auf den Planeten, er zitterte vor Erregung, denn es war eine schöne Welt mit grünen Ebenen, roten Bergen und rastlosen, blaugrauen Meeren. Die Instrumente seines Raumschiffs holten rasch die erforderlichen Daten ein und gelangten zu dem Ergebnis, daß sich dieser Planet für menschliches Leben außerordentlich gut eignete. Hadwell drückte auf einen Knopf und schlug eine Verzögerungsbahn ein. Dann klappte er sein Notizbuch auf. Er war Schriftsteller, der Verfasser von ›Weiße Schatten im Plarietoidengürtel‹, ›Die Saga aus dem tiefsten All‹, ›Wanderungen eines Raumvagabunden‹ und ›Terira – Planet der Geheimnisse‹. Er schrieb in sein Notizbuch: ›Unter mir erstreckt sich ein neuer Planet, einladend und geheimnisvoll, ein Anreiz für Phantasie und Neugier. Was werde ich hier wohl vorfinden – ich, der Vagabund von jenseits der Sterne? Welche seltsamen Geheimnisse liegen unter der üppig grünen Decke verborgen? Wird es Gefahren geben? Liebe? Erfüllung?‹ Richard Hadwell war ein großer, schlanker junger Mann mit rotem Haar. Er hatte von seinem Vater ein ansehnliches Vermögen geerbt und sich dafür einen Raumschoner der CC-Klasse gekauft. Mit diesem ein wenig altersschwachen Fahrzeug war er nun seit sechs Jahren durch den Weltraum gestreift und hatte über die Orte, die er gesehen hatte, begeisterte Bücher geschrieben. Die Begeisterung war allerdings zum größten Teil gemogelt, denn fremde Planeten sind zumeist recht trist. Fremde Lebensformen, das hatte Hadwell herausgefunden, waren bemerkenswert dumm und erstaunlich häßlich. Ihre Ernährungsweise war unmöglich, ihre Manieren beklagenswert. Dennoch hatte Hadwell Romanzen erfunden und hoffte immer noch, eines Tages tatsächlich eine zu erleben.
Der Planet unter seinem Schiff trug keine Städte, er war von tropischer Schönheit. Hadwell setzte bereits in der Nähe eines Dorfes aus schilfgedeckten Hütten zur Landung an. »Vielleicht werde ich es hier finden«, sagte sich Hadwell. Schon früh am Morgen gingen Kataga und seine Tochter Mele über die Lianenbrücke hinüber zum Zerklüfteten Berg, um Duftblüten zu sammeln. Nirgendwo in ganz Igathi blühten die Duftpflanzen so üppig wie am Zerklüfteten Berg. Und so gehörte es sich auch, denn der Zerklüftete Berg war Thangookari, dem lächelnden Gott, geweiht. Gegen Mittag gesellte sich noch Brog zu ihnen, ein langweiliger Junge mit ausdruckslosem Gesicht, den niemand wichtig nahm. Mele hatte das Gefühl, daß irgendein sehr bedeutendes Ereignis unmittelbar bevorstand. Sie war groß und schlank und arbeitete wie in Trance, langsam und verträumt. Der Wind spielte mit ihrem langen Haar. Vertraute Gegenstände schienen ihr heute mit einer ungewöhnlichen Klarheit und Bedeutung erfüllt zu sein. Sie sah zum Dorf hinüber, dieser kleinen Ansammlung schlichter Hütten am anderen Ufer des Flusses, dann bestaunte sie den Gipfel, auf dem alle Ehen von Igathi besiegelt wurden; dahinter erstreckte sich in durchsichtigen Pastellfarben das Meer. Sie war das hübscheste Mädchen von ganz Igathi, das gab selbst der alte Priester zu. Und sie sehnte sich nach einem aufregenden Leben. Doch im Dorf vergingen die Tage in dumpfer Gleichförmigkeit, und hier stand sie nun und pflückte unter den beiden heißen Sonnen Duftblüten. Das erschien ihr ungerecht. Ihr Vater arbeitete flott und zielstrebig und summte dabei leise vor sich hin. Er wußte, daß die Blüten bald im Dorfbottich gären würden. Lag, der Priester, würde über dem Gebräu dann die passenden Worte murmeln und vor Thangookaris Bild ein Trankopfer darbringen. Nach Abschluß dieser Zeremonien würde sich das ganze Dorf einschließlich der Hunde herrlich besaufen. Bei diesen Gedanken arbeitete er unwillkürlich noch schneller. Außerdem hatte sich Kataga zur Mehrung seines Ansehens einen ebenso
raffinierten wie gefährlichen Plan zurechtgelegt. Das war ein Thema, mit dem er sich in Gedanken besonders gern beschäftigte. Brog richtete sich auf, wischte sich mit dem Zipfel seines Lendentuchs übers Gesicht und hielt Ausschau nach den Anzeichen für den ersehnten Regen. »He!« rief er. Kataga und Mele hoben die Köpfe. »Da!« schrie Brog. »Da – über uns!« Aus großer Höhe senkte sich ein silbriger Fleck, umzüngelt von roten und grünen Flammen, langsam auf sie herab. Vor ihren Augen wurde er größer und größer, bis er als schimmernde Kugel zu erkennen war. »Die Prophezeiung!« murmelte Kataga andächtig. »Endlich – nach all den vielen Jahrhunderten des Wartens!« »Wir müssen es dem Dorf berichten!« rief Mele. »Warte«, bat Brog. Er wurde feuerrot und bohrte mit der großen Zehe im Sand. »Ihr wißt doch, ich hab’s zuerst gesehen.« »Natürlich hast du das«, erwiderte Mele ungeduldig. Brog fuhr zögernd fort: »Und weil ich’s zuerst gesehen habe, weil ich dem Dorf damit einen wichtigen Dienst erwiesen habe, glaubt ihr nicht – wäre es da nicht angemessen…« Brog wünschte sich dasselbe, was jeder Igathianer ersehnte, wofür man arbeitete und worum man betete – und zu dessen Erlangung kluge Männer wie Kataga gerissene Pläne schmiedeten. Aber es war ungehörig, das Ersehnte beim Namen zu nennen. Doch Mele und ihr Vater verstanden ihn. »Was meinst du dazu?« fragte Kataga. »Ich denke, etwas hat er sich damit verdient«, antwortete Mele. Brog rieb sich die Hände. »Wirklich, Mele? Würdest du es selbst tun?« »Natürlich hängt das alles vom Priester ab«, sagte Mele. »Bitte!« rief Brog. »Lag wird vielleicht meinen, ich sei noch nicht genügend vorbereitet. Bitte, Kataga! Tu’s doch selbst!« Kataga betrachtete die ausdruckslose Miene seiner Tochter und seufzte. »Tut mir leid, Brog, wenn wir allein darüber entscheiden
könnten… Aber Mele ist streng rechtgläubig. Lassen wir den Priester darüber entscheiden.« Brog nickte enttäuscht. Die schimmernde Kugel über ihren Köpfen senkte sich tiefer herab und steuerte die Ebene in der Nähe des Dorfes an: Die drei Igathianer nahmen ihre Säcke mit den gesammelten Blüten auf und machten sich auf den Heimweg. Sie erreichten die Lianenbrücke, die sich über den tosenden Fluß spannte. Kataga schickte zuerst Brog und dann Mele hinüber. Er ging als letzter und zog ein kleines Messer hervor, das er unter seinem Lendentuch verborgen hatte. Wie erwartet, drehten sich Mele und Brog nicht mehr um. Sie hatten genug damit zu tun, auf der gebrechlichen, schwankenden Brücke das Gleichgewicht zu halten. Als Kataga die Mitte erreicht hatte, fuhr er mit dem Finger prüfend unter der Liane entlang, die die Hauptlast trug. Sekunden später spürte er die abgenutzte Stelle, die er schon vor Tagen entdeckt hatte. Rasch sägte er mit dem Messer daran und fühlte, wie die Fasern nachgaben. Noch einen oder zwei schnelle Schnitte, und die Lianen würden unter dem Gewicht eines Mannes nachgeben. Aber das genügte für den Augenblick. Zufrieden mit sich selbst, verbarg Kataga das Messerchen wieder unter dem Lendentuch und eilte Brog und Mele nach. Als sich die Ankunft des Besuchers herumsprach, kam Leben in das Dorf. Für Männer wie auch Frauen gab es nur noch ein Gesprächsthema: das große Ereignis; vor dem Schrein des Werkzeugs begann spontan ein Tanz. Doch er wurde sofort unterbrochen, als der alte Priester aus Thangookaris Tempel gehumpelt kam. Lag, der Priester, war ein großer, ausgemergelter, alter Mann. Nach den vielen Jahren des Dienstes an Thangookari hatte sein Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem wohlwollend lächelnden Antlitz des von ihm verehrten Gottes angenommen. Sein kahles Haupt schmückte die Federkrone der Priesterkaste, und er stützte sich schwer auf die heilige schwarze Keule.
Die Leute versammelten sich vor ihm. Brog stand in der Nähe des Priesters, rieb sich hoffnungsvoll die Hände, fürchtete sich aber davor, auf seinen Lohn zu drängen. »Mein liebes Volk«, sagte Lag. »Die uralte Prophezeiung von Igathi soll nunmehr in Erfüllung gehen. Eine große, leuchtende Kugel ist von den Himmeln herabgestiegen, wie es die alten Legenden voraussagen. In dieser Kugel wird sich ein Wesen befinden, das uns gleicht, und dieses Wesen wird der Abgesandte Thangookaris sein.« Die Leute nickten hingerissen. »Der Abgesandte wird große Taten vollbringen. Er wird Gutes tun, wie es noch kein Mensch jemals erlebt hat. Und wenn er sein Werk vollendet und sich die Ruhe verdient hat, wird er seinen Lohn fordern.« Lags Stimme sank zu einem eindringlichen Flüstern herab. »Es ist der Lohn, den jeder Igathianer ersehnt, von dem er träumt, um den er betet. Er ist das höchste Geschenk, das Igathi denen gewährt, die ihm und dem Dorf wohl gedient haben.« Der Priester wandte sich an Brog. »Du, Brog«, sagte er, »warst der erste Zeuge der Ankunft dieses Abgesandten. Du hast dem Dorf wohl gedient.« Der Priester hob beide Arme. »Freunde! Glaubt ihr, daß Brog den Lohn verdient, nach dem er sich sehnt?« Die meisten der Dorfbewohner waren dieser Meinung. Doch Vassi, ein reicher Kaufmann, trat mit gerunzelter Stirn vor. »Das ist nicht gerecht«, sagte er. »Wir anderen arbeiten jahrelang dafür und machen dem Tempel reiche Geschenke. Brog hat nicht genug getan, um sich auch nur die schlichteste Belohnung zu verdienen. Außerdem ist er von niederer Geburt.« »Der Einwand ist berechtigt«, gab der Priester zu. Brog stöhnte hörbar auf. »Jedoch«, fuhr er fort, »Thangookaris Gaben sind nicht nur für die Hochgeborenen da. Auch der einfachste Bürger hat ein Anrecht darauf. Wenn Brog nicht seinen gebührenden Lohn empfängt – werden da nicht andere enttäuscht sein?« Die Leute brüllten zustimmend, und Brogs Augen wurden feucht vor überquellender Dankbarkeit.
»Knie nieder, Brog«, gebot der Priester, und sein Gesicht strahlte Nachsicht und Liebe aus. Brog kniete nieder. Die Dorfbewohner hielten den Atem an. Lag hob seine schwarze Keule und ließ sie mit aller Kraft auf Brogs Schädel krachen. Es war ein guter Schlag, der genau traf. Brog brach zusammen, zuckte noch einmal und gab seinen Geist auf. Der Ausdruck der Freude auf seinem Gesicht war ein erhebender Anblick. »Wie schön das war«, murmelte Kataga neidisch. Mele packte ihn beim Arm. »Keine Angst, Vater, eines Tages wirst auch du deinen gerechten Lohn erhalten.« »Ich hoffe es«, sagte Kataga. »Aber weiß ich es bestimmt? Sieh dir Rii an. Nie hat es einen freundlicheren, frommeren Mann gegeben. Dieser arme Alte hat sein ganzes Leben lang für einen gewaltsamen Tod gearbeitet und darum gebetet. Er wäre mit jeder Art von gewaltsamem Tod zufrieden gewesen. Und was geschah? Er verschied im Schlaf. Was für ein Tod ist das schon für einen Mann?« »Es gibt immer ein paar Ausnahmen.« »Ich könnte dir noch ein Dutzend anderer nennen.« »Bitte, Vater, du sollst dich darum nicht grämen. Ich weiß, daß du einen schönen Tod haben wirst, wie Brog.« »Ja, schon… Aber wenn man es sich richtig überlegt, hatte Brog doch ein sehr schlichtes Ende.« Sein Auge leuchtete auf. »Ich wünsche mir etwas ganz Großes, etwas Schmerzhaftes und Wunderbares, wie es dem Abgesandten zuteil werden wird.« Mele wandte den Blick ab. »Das ist Hoffart. Du versündigst dich, Vater.« »Stimmt, stimmt. Ach ja. Eines Tages…« Kataga lächelte in sich hinein. Ja – eines Tages! Ein kluger und mutiger Mann nimmt die Sache selbst in die Hand und bereitet seinen gewaltsamen Tod vor, anstatt demütig darauf zu warten, bis der Priester es sich vielleicht überlegt. Möge man es doch Unglaube oder sonstwie nennen. Eine innere Stimme sagte Kataga,
daß jeder Mensch das Recht hat, so schmerzhaft und so gewaltsam zu sterben, wie es ihm beliebt – wenn er damit nur durchkommt. Der Gedanke an die halb durchtrennte Liane erfüllte ihn mit Genugtuung. Welches Glück, daß er nie schwimmen gelernt hatte! »Komm«, sagte Mele. »Wir wollen den Abgesandten willkommen heißen!« Sie folgten den anderen Dorfbewohnern hinaus auf die Ebene, wo das Raumschiff inzwischen gelandet war. Richard Hadwell lehnte sich in seinem gepolsterten Pilotensitz zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die letzten der Eingeborenen hatten soeben sein Schiff verlassen. Er hörte sie draußen singen und lachen. Sie kehrten in der Abenddämmerung in ihr Dorf zurück. Die Pilotenkanzel duftete nach Blumen, nach Honig und Wein, und die grauen Metallwände schienen noch vom Wirbel der Trommeln zu vibrieren. In der Erinnerung lächelte er und griff nach seinem Notizbuch. Er wählte einen passenden Schreiber aus und notierte: ›Ein wahrhaft schöner Anblick ist dieses Igathi, ein Land mit stattlichen Bergen und tosenden Gebirgsströmen, mit Stränden von schwarzem Sand, üppiger Dschungelvegetation und großen, blühenden Bäumen in den Wäldern.‹ Gar nicht übel, sagte sich Hadwell. Er schürzte die Lippen und fuhr fort. ›Die Einwohner sind eine angenehme humanoide Rasse von hellbrauner Hautfarbe, hübsch anzusehen. Sie begrüßten mich mit Blumen und Tänzen und mit allen Anzeichen der Freude und Zuneigung. Es fiel mir nicht schwer, im Hypnoseverfahren ihre Sprache zu ergründen, und schon bald hatte ich das Gefühl, seit jeher hier zu Hause zu sein. Sie sind ein beschwingtes, lachfreudiges Völkchen, freundlich und höflich, und sie leben heiter in ihrem kaum verfremdeten Naturzustand dahin. Was könnte der zivilisierte Mensch hier nicht alles lernen!
Man muß ihnen von Herzen zugetan sein, ihnen und Thangookari, ihrer gütigen Gottheit. Man kann nur hoffen, daß der zivilisierte Mensch mit seinem Genius der Zerstörung und Gewalt niemals bis hierher gelangt, um dieses Volk von seinem Pfad froher Ausgeglichenheit abzubringen.‹ Hadwell wählte einen Schreiber mit einer feineren Spitze und fuhr fort: ›Da ist ein Mädchen namens Mele, das…‹ Er strich die Zeile aus und schrieb: ›Ein schwarzhaariges Mädchen namens Mele, von unvergleichlicher Schönheit, trat dicht vor mich hin und sah mir tief in die Augen…‹ Aber das strich er auch aus. Stirnrunzelnd versuchte er es mit verschiedenen anderen Zeilen: ›Ihre klaren braunen Augen versprachen Freuden jenseits aller…‹ ›Ihr kleiner roter Mund zitterte ein wenig, als ich…‹ ›Auch wenn ihre kleine Hand nur für einen kurzen Augenblick auf meinem Arm ruhte…‹ Er zerknitterte die Seite. Fünf Monate erzwungener Enthaltsamkeit im Raum machen sich jetzt bemerkbar, sagte er sich. Er beschloß, lieber auf die Hauptsache zurückzukommen und sich Mele für später aufzusparen. Er schrieb: ›Ein freundlich gesonnener Beobachter könnte diesem Volk auf verschiedene Art und Weise helfen. Doch man ist versucht, überhaupt nichts zu unternehmen, damit ihre Kultur keinesfalls gestört wird.‹ Hadwell klappte sein Notizbuch zu und sah durch eine Luke hinaus auf das Dorf in der Ferne. Es war jetzt von Fackeln erleuchtet. Er öffnete sein Buch noch einmal. ›Ihre Kultur scheint jedoch stark ausgeprägt und flexibel zu sein. Gewisse Hilfen können diesen Leuten nur zum Vorteil gereichen. Und diese werde ich ihnen bereitwillig zuteil werden lassen.‹ Dann klappte er sein Buch energisch zu und legte die Schreiber beiseite. Am nächsten Tag begann Hadwell mit seinen guten Taten. Er stellte fest, daß viele Igathianer unter Krankheiten litten, die durch Moskitos
übertragen wurden. Durch wohlüberlegten Einsatz von Antibiotika gelang es ihm, die Erkrankungen – bis auf die am weitesten fortgeschrittenen Fälle – unter Kontrolle zu bringen. Dann richtete er sein Augenmerk auf die Trockenlegung jener Wassertümpel, die Brutstätten der Moskitos waren. Auf seinen Samaritergängen begleitete ihn Mele. Die schöne junge Igathianerin lernte rasch die Grundregeln der Krankenpflege. Ihre Hilfe wurde für Hadwell unentbehrlich. Bald war das Dorf frei von ernsthaften Krankheiten. Hadwell verbrachte seine Tage nun hauptsächlich in einem sonnigen Hain nicht weit von Igathi entfernt. Er ruhte sich aus und arbeitete dazwischen an seinem Buch. Sofort berief Lag eine Ältestenversammlung ein, um die neue Lage zu erörtern. »Meine Freunde«, sagte der alte Priester, »unser guter Freund Hadwell hat für unser Dorf Großartiges geleistet. Er hat unsere Kranken geheilt, so daß nun auch sie am Leben bleiben und Thangookaris Gaben teilhaftig werden können. Nun ist Hadwell müde und ruht sich in der Sonne aus. Und nun erwartet Hadwell den Lohn, um den er hergekommen ist.« »Das ist nur gerecht«, sagte der Kaufmann Vassi, »daß der Abgesandte seinen Lohn empfängt. Ich empfehle, daß der Priester seine heilige Keule nimmt und sich zu ihm begibt…« »Warum so geizig?« fragte Juele, ein Priesterschüler, dazwischen. »Hat Thangookaris Botschafter nicht einen schöneren Tod verdient? Hadwell gebührt mehr als nur die Keule! Weitaus mehr!« »Du hast recht«, gab Vassi zögernd zu. »In diesem Falle schlage ich vor, daß wir ihm giftige Legenbeerendornen unter die Fingernägel treiben.« »Das mag vielleicht für einen Kaufmann gut genug sein«, sagte Tgara, der Steinmetz, »aber nicht für Hadwell. Ihm gebührt ein Häuptlingstod! Ich stelle den Antrag, ihn zu fesseln und unter seinen Zehen ein kleines Feuer zu entzünden, das ganz allmählich…«
»Warte!« rief Lag. »Der Abgesandte hat den Tod eines Meisters verdient. Wir wollen ihn daher ebenso liebevoll wie energisch zum nächsten Ameisenhaufen schaffen, ihn bis an den Hals eingraben und den Riesenameisen überlassen.« Es erhoben sich zustimmende Rufe. Tgara sagte: »Und solange er schreit, werden die uralten heiligen Trommeln dröhnen.« »Und es werden zu seiner Ehre Tänze aufgeführt«, sagte Vassi. »Und ein herrliches Gelage wird es geben«, sagte Kataga. Alle waren sich darin einig, daß dies ein wunderschöner Tod sei. Dann wurden die letzten Einzelheiten beschlossen und ein Zeitpunkt festgelegt. Eine Welle religiöser Begeisterung ging durch das ganze Dorf. Alle Hütten wurden mit Blumen geschmückt, bis auf den Schrein des Werkzeugs, der kahl zu bleiben hatte. Die Frauen lachten und sangen bei der Vorbereitung des Totenmahls. Nur Mele war aus unerfindlichen Gründen unglücklich. Gesenkten Hauptes wanderte sie durch das Dorf und stieg langsam den Hügel hinauf zu Hadwell. Hadwell lag mit bloßem Oberkörper unter dem warmen Schein der beiden Sonnen. »Hallo, Mele!« rief er. »Ich habe die Trommeln gehört. Tut sich etwas?« »Wir bereiten ein Fest vor«, antwortete Mele und setzte sich neben ihn. »Wie hübsch. Darf ich mitmachen?« Mele starrte ihn an und nickte langsam. Angesichts solchen Mutes wurde ihr das Herz weich. Der Abgesandte legte damit einen wahrhaftigen Beweis von Anstand ab – die uralten Regeln schrieben vor, daß ein Mann bei der Vorbereitung des eigenen Totenmahls so zu tun hatte, als gehe ihn das persönlich nichts an. Heutzutage brachten es die meisten Männer nicht mehr fertig, eine derartige Haltung aufzubringen. Aber ein Abgesandter Thangookaris mußte die Regeln natürlich genauer befolgen als jeder andere. »Wann geht es los?«
»In einer Stunde«, antwortete Mele. Bisher hatte sie vor ihm nie Geheimnisse gehabt, aber nun war sie bedrückt, und das Herz wurde ihr schwer. Sie wußte selbst nicht, warum. Schüchtern betrachtete sie seine helle, fremdartige Kleidung, sein rotes Haar. »Wird sicher sehr nett werden«, sagte Hadwell. »Ja, ich freue mich schon drauf…« Seine Stimme wurde immer leiser und verklang. Er senkte die Augenlider und sah verstohlen das hübsche Igathianermädchen an; er nahm die reine Linie von Nacken und Schultern in sich auf, ihr glattes schwarzes Haar, ihren Duft. Nervös riß er einen Grashalm ab. »Mele«, sagte er, »ich…« Die Worte blieben ihm im Halse stecken. Zu seiner Überraschung hielt er sie plötzlich in seinen Armen. »Ach, Mele!« »Hadwell!« rief sie und drängte sich dicht an ihn. Dann riß sie sich auf einmal los und sah ihn bekümmert an. »Was ist denn los, Liebling?« fragte Hadwell. »Hadwell, gibt es wirklich nichts mehr, was du für das Dorf tun könnest? Gar nichts? Mein Volk wäre dir so dankbar.« »Sicher gibt’s noch manches«, antwortete er. »Aber ich wollte mich zuerst ausruhen und mir Zeit lassen.« »Nein! Bitte!« flehte sie. »Die Bewässerungsgräben, von denen du gesprochen hast – könntest du nicht gleich damit beginnen?« »Wenn du unbedingt willst«, sagte Hadwell. »Aber…« »Ach, Liebling!« Sie sprang auf. Hadwell streckte die Arme nach ihr aus, aber sie wich zurück. »Wir haben keine Zeit! Ich muß dem Dorf Bescheid sagen.« Sie rannte davon. Hadwell blieb mit seinen Gedanken allein. Wie seltsam diese Fremden doch waren. Und ganz besonders die fremden Frauen. Mele rannte ins Dorf zurück und fand den Priester im Tempel vor. Er betete um Weisheit und Einsicht. Rasch berichtete sie ihm von den neuen Plänen des Abgesandten zur Unterstützung des Dorfes.
Der alte Priester nickte bedächtig. »Dann wird die Zeremonie verschoben. Aber sag mir, meine Tochter – was hast du eigentlich damit zu tun?« Mele wurde rot und konnte nichts darauf antworten. Der alte Priester lächelte. Doch dann wurde sein Gesicht streng. »Ich verstehe. Aber hör mir gut zu, mein Mädchen. Die Liebe darf dich niemals dazu verleiten, von der rechten Verehrung Thangookaris und der Wahrung der alten Bräuche unseres Dorfes abzuweichen.« »Natürlich nicht!« sagte Mele. »Ich war nur der Meinung, daß der Tod eines Meisters für Hadwell einfach nicht gut genug war. Er hat noch mehr verdient! Er verdient – das Allerhöchste!« »Seit sechshundert Jahren ist kein Mensch mehr des Allerhöchsten für würdig befunden worden«, sagte Lag. »Das hat es nicht mehr gegeben, seit der Held und Halbgott V’ktat die igathianische Rasse vor den gefürchteten Huelva-Biestern errettet hat.« »Aber Hadwell hat das Zeug zu einem Helden«, rief Mele. »Laß ihm Zeit, er soll sich bewähren! Dann wird er sich würdig erweisen.« »Schon möglich«, murmelte der Priester. »Für das Dorf wäre es eine große Sache… Aber vergiß nicht, Mele – es mag für Hadwell ein ganzes Leben dauern, ehe er sich würdig erwiesen hat.« »Aber würde sich das Warten nicht lohnen?« fragte sie. Der alte Priester streichelte seine Keule und legte die Stirn in tiefe, nachdenkliche Falten. »Du magst recht haben«, antwortete er schließlich. »Ja, du könntest recht haben.« Plötzlich richtete er sich auf und sah sie durchdringend an. »Aber sag mir die Wahrheit, Mele. Willst du ihn wirklich für den allerhöchsten Tod aufgespart wissen? Oder willst du ihn lediglich für dich selbst haben?« »Er muß den Tod sterben, den er verdient«, antwortete Mele freudig. Sie konnte dem Priester dabei nicht in die Augen sehen. »Ich weiß nicht recht«, sagte der alte Mann. »Ich weiß nicht, was sich in deinem Herzen verbirgt. Ich glaube, Mele, du wandelst gefährlich nahe am Abgrund des Unglaubens. Ausgerechnet du, eine unserer Strenggläubigsten!«
Mele wollte ihm gerade antworten, da kam der Kaufmann Vassi in den Tempel gestürzt. »Komm rasch!« rief er. »Es geht um den Bauern Iglai. Er hat sich dem Tabu entzogen!« Der dicke, fröhliche Bauer war eines schrecklichen Todes gestorben. Er war gerade den gewohnten Weg von seiner Hütte zur Dorfmitte gegangen, vorbei an einem alten Dornenbaum. Da war der Baum unvermittelt auf ihn gestürzt. Die starken Dornen hatten ihn durchbohrt. Augenzeugen berichteten, der Bauer habe über eine Stunde lang stöhnend und zuckend dagelegen, ehe er verschied. Aber er war mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben. Der Priester betrachtete die Menschenmenge, die sich um Iglais Leiche angesammelt hatte. Einige der Dorfbewohner grinsten verstohlen. Lag ging hinüber zu dem Dornenbaum und untersuchte ihn. Er entdeckte die Male von einem Sägeblatt mit Lehm überschmiert. Da wandte sich der Priester der Menge zu. »Hat sich Iglai häufig in der Nähe dieses Baumes aufgehalten?« fragte er. Die anderen grinsten nun offen. Sie waren auf Iglais Leistung stolz. Aufgeregte Bemerkungen wurden ausgetauscht. »Ich hab’ mich auch gefragt, warum er immer hier essen wollte.« »Er wollte stets allein sein. Er sagte, allein schmeckt es ihm besser.« »Haha!« »Er muß dauernd daran herumgesägt haben.« »Vermutlich monatelang. Das Holz ist sehr hart.« »Wie schlau von Iglai!« »Kann man wohl sagen! Er war nur ein Bauer und nicht besonders fromm. Aber er hat für einen verdammt schönen Tod gesorgt.« »Hört mir zu, ihr guten Leute!« rief Lag. »Iglai hat ein Sakrileg begangen. Nur ein Priester kann einen gewaltsamen Tod gewähren!« »Was ein Priester nicht weiß, das macht ihn nicht heiß«, sagte jemand halblaut.
»Und wenn es schon ein Sakrileg war«, sagte ein anderer. »Jedenfalls hat sich Iglai einen wunderschönen Tod bereitet. Darauf kommt’s doch an.« Der alte Priester wandte sich traurig ab. Er konnte nichts tun. Wenn er Iglai rechtzeitig erwischt hätte, wäre ihm eine strenge Bestrafung sicher gewesen. Iglai hätte es dann nie wieder gewagt, sich einen gewaltsamen Tod zu erschwindeln. Vermutlich wäre er hochbetagt friedlich in seinem Bett gestorben. Aber nun war es zu spät. Der Bauer hatte seinen Tod durchgesetzt und war auf dessen Schwingen längst nach Rookechangi entschwebt. Es war nutzlos, den Gott um eine Bestrafung im Jenseits zu bitten, da der Bauer selbst an Ort und Stelle war und sich verteidigen konnte. Lag fragte: »Hat denn einer von euch gesehen, wie er den Baum angesägt hat?« Falls wirklich jemand etwas bemerkt hatte, so gab er es zumindest nicht zu. Lag wußte, daß sie zusammenhielten. Trotz des Religionsunterrichts, den er ihnen seit ihrer frühesten Jugend angedeihen ließ, versuchten sie doch immer wieder, den Priester zu überlisten. Wann würden sie endlich erkennen, daß ein unberechtigter Tod längst nicht so befriedigend war wie ein Tod, den man sich durch harte Arbeit verdiente und der dann mit allem feierlichen Zeremoniell verhängt wurde? Er seufzte. Das Leben war manchmal schon eine rechte Last. Eine Woche später schrieb Hadwell in sein Tagebuch: ›Noch nie hat es eine Rasse gegeben wie diese Igathianer. Ich habe nun unter ihnen gelebt, mit ihnen gegessen und getrunken und ihre Bräuche beobachtet. Ich kenne sie und ich verstehe sie. Und die Wahrheit über sie ist, gelinde gesagt, verblüffend. Es ist tatsächlich so, daß die Igathianer nicht wissen, was Krieg ist! Bedenke das, zivilisierter Mensch! Noch nie in ihrer ganzen schriftlich und mündlich überlieferten Geschichte hat es einen Krieg gegeben. Sie können ihn sich einfach nicht vorstellen. Dafür folgendes Beispiel.
Ich versuchte, Kataga, dem Vater der unvergleichlichen Mele, den Begriff Krieg zu erklären. Der Mann kratzte sich am Kopf und fragte: »Du sagst, dann werden viele Menschen von vielen Menschen getötet? Das ist der Krieg?« »Das ist ein Teil davon«, sagte ich. »Ja, Tausende töten Tausende.« Kataga fragte: »Das heißt also, daß viele gleichzeitig auf dieselbe Art und Weise umkommen?« »Richtig«, sagte ich. Er dachte lange Zeit darüber nach, dann wandte er sich mir zu und sagte: »Es ist nicht gut, wenn viele gleichzeitig auf dieselbe Weise sterben. Das ist unbefriedigend. Jeder Mensch sollte seinen eigenen, individuellen Tod sterben.« Bedenke, zivilisierter Mensch, die unglaubliche Einfalt dieser Antwort. Und bedenke auch, wieviel Wahrheit sich hinter dieser Einfalt verbirgt. Eine Wahrheit, die jedermann beherzigen sollte. Außerdem streiten sich diese Leute nicht untereinander, es gibt keine blutigen Fehden, keine aus Leidenschaft begangenen Verbrechen, keinen Mord. Das bringt mich auf folgenden Schluß: Dieses Volk kennt den gewaltsamen Tod nicht – es sei denn bei einem Unfall. Es ist ein Jammer, daß sich Unfälle hier so häufig ereignen und daß sie so oft tödlich verlaufen. Doch das liegt wohl an der wilden Natur ringsum und an der unbekümmerten, draufgängerischen Art dieses Volkes. Übrigens bleiben auch Unfälle nicht unbemerkt und ungeprüft. Der Priester, zu dem ich ein enges Freundschaftsverhältnis gewonnen habe, beklagt die hohe Unfallquote und erhebt beständig seine warnende Stimme. Er beschwört sein Volk immer wieder, mehr Vorsicht walten zu lassen. Er ist ein guter Mensch. Und nun komme ich zur letzten, hinreißendsten Neuigkeit.‹ An dieser Stelle hatte Hadwell mit heimlichem Lächeln innegehalten, einen Augenblick gezögert und dann wieder nach seinem Notizbuch gegriffen.
›Mele hat sich bereit erklärt, meine Frau zu werden! Sobald ich mit diesem Eintrag fertig bin, soll die Feier beginnen. Das Fest hat bereits angefangen, das Mahl ist bereitet. Ich betrachte mich als den glücklichsten aller Männer, denn Mele ist wirklich eine schöne Frau. Und noch dazu eine höchst ungewöhnliche Frau. Ihr soziales Verantwortungsbewußtsein ist stark entwickelt. Vielleicht etwas zu stark. Sie hat mich unentwegt gedrängt, für das Dorf tätig zu sein. Und ich habe vieles vollbracht. Ich habe ihnen ein vollständiges Bewässerungssystem gebaut, mehrere rasch wachsende Nutzpflanzen eingeführt, sie die Kunst der Metallbearbeitung gelehrt – und vieles andere, das ich gar nicht alles erwähnen kann. Und sie verlangt noch mehr, viel mehr von mir. Doch da bin ich fest geblieben. Auch ich habe ein Recht auf Ruhe. Ich wünsche mir lange und schöne Flitterwochen, und danach werde ich wohl ein Jahr lang nur in der Sonne liegen und mein Buch vollenden. Das kann Mele nur schwer begreifen. Sie versucht mir immer wieder klarzumachen, daß ich meine Arbeit einfach fortsetzen müsse. Und sie spricht von einer Zeremonie, bei der es um das »Allerhöchste« geht – falls meine Übersetzung in diesem Punkt richtig ist. Aber ich habe nun genug gearbeitet. Ich habe mich geweigert, noch mehr zu tun, jedenfalls nicht für die nächsten ein bis zwei Jahre. Diese Zeremonie des »Allerhöchsten« soll unmittelbar nach unserer Hochzeit stattfinden. Ich nehme an, daß es dabei um irgendeine hohe Ehrung geht, die mir dieses schlichte Volk zugedacht hat. Ich habe bereits erkennen lassen, daß ich bereit bin, sie entgegenzunehmen. Das dürfte sehr interessant werden.‹ Zur Feier der Hochzeit begab sich das ganze Dorf, angeführt von dem alten Priester, zu dem heiligen Gipfel, auf dem alle Ehen von Igathi geschlossen wurden. Die Männer trugen zeremoniellen Federschmuck, und die Frauen waren mit Muscheln und glitzernden Steinen herausgeputzt. Vier kräftige Dorfbewohner trugen inmitten der Prozession einen fremdartig wirkenden Apparat. Hadwell bekam ihn nur flüchtig zu Gesicht, aber er wußte, daß er in feierlicher Zeremonie aus
einer schwarz gedeckten Hütte geholt worden war, die eine Art von Schrein oder Heiligtum darzustellen schien. Hintereinander balancierten sie über die schwankende Lianenbrücke. Kataga, der den Abschluß bildete, fuhr wieder heimlich grinsend mit seinem Messer über die beschädigte Stelle. Der Gipfel war ein schmaler, einzeln aufragender schwarzer Felsen dicht am Meer. Hadwell und Mele standen gegenüber dem Priester an seinem äußersten Ende. Die Leute verstummten, als Lag beide Arme hob. »O großer Thangookari!« rief der Priester. »Segne diesen Hadwell, deinen Abgesandten, der in einem schimmernden Fahrzeug aus den Himmeln zu uns gekommen ist, um Igathi zu dienen wie noch kein Mann vor ihm. Und segne deine Tochter Mele. Lehre sie, das Andenken an ihren Ehemann zu lieben und unbeirrt ihrem Stammesglauben anzuhängen.« Bei diesen Worten sah der Priester das Mädchen durchdringend an. Mele hob stolz den Kopf und wich seinem Blick nicht aus. »So erkläre ich euch zu Mann und Weib«, sagte der Priester. Hadwell nahm seine Braut in die Arme und küßte sie. Das Volk jubelte den beiden zu. Kataga grinste verstohlen vor sich hin. »Und nun«, sagte der Priester voller Wärme, »nun habe ich eine gute Nachricht für dich, Hadwell. Eine großartige Neuigkeit!« »So?« fragte Hadwell und ließ widerwillig seine Braut los. »Wir haben unser Urteil über dich abgegeben«, erklärte der Priester. »Und wir haben dich für würdig befunden – würdig des Allerhöchsten!« »Oh, vielen Dank«, sagte Hadwell. Der Priester winkte. Vier Männer schleppten den seltsamen Apparat herbei, den Hadwell schon zuvor erblickt hatte. Jetzt erkannte er, daß es sich um eine Plattform von der Größe eines Doppelbettes handelte, hergestellt aus schwarzem Holz, das uralt wirkte. Am Rahmen waren verschiedenartige Stacheln, Haken, scharfe Muscheln und nadelscharfe Dornen befestigt. Es gab auch tassenförmige Mulden, die noch keine Flüssigkeit enthielten. Den Zweck anderer Dinge von eigentümlicher Form konnte Hadwell nur erraten.
Lag sagte: »Seit sechshundert Jahren wurde dieses Werkzeug nicht mehr dem Schrein des Werkzeugs entnommen, nie wieder seit den Tagen des göttlichen Helden V’ktat, der allein das igathianische Volk vor der Vernichtung errettete. Aber für dich haben wir es hervorgeholt, Hadwell.« »Dessen bin ich eigentlich gar nicht würdig«, bemerkte Hadwell. Angesichts solcher Bescheidenheit erhob sich aus der Menge anerkennendes Raunen. »Glaub mir, du bist würdig«, erklärte Lag ernsthaft. »Nimmst du das Allerhöchste an, Hadwell?« Hadwell sah Mele an. Den Ausdruck ihres schönen Gesichts wußte er nicht zu deuten. Er sah den Priester an. Lags Gesicht war beherrscht. Die Menge verharrte totenstill. Hadwell betrachtete das Werkzeug. Sein Aussehen behagte ihm nicht. Ein leiser Zweifel beschlich ihn. Sollte er dieses Volk falsch eingeschätzt haben? In uralten Zeiten mußte das einmal irgendein Folterwerkzeug gewesen sein. Diese Stacheln und Haken… Aber wofür waren die anderen Dinge bestimmt? Nach angestrengtem Nachdenken erriet Hadwell einige der Anwendungsmöglichkeiten. Er erschauerte. Die Menge drängte sich vor ihm Kopf an Kopf. Hinter ihm war nur die schmale Felskante, die dreihundert Meter tief senkrecht zum Meer abfiel. Hadwell sah wieder Mele an. Der Ausdruck der Liebe und Hingabe auf ihrem Gesicht war unverkennbar. Er betrachtete die Dorfbewohner und spürte ihre Besorgnis. Worüber machte er sich Sorgen? Diese Leute würden nie etwas tun, was ihm schaden konnte, nicht nach allem, was er für sie getan hatte. Das Werkzeug wurde zweifellos symbolisch angewandt. »Ich nehme das Allerhöchste an«, sagte Hadwell zum Priester. Die Dorfbewohner schrien auf. Die Berge warfen den erlösenden Aufschrei aus vielen Kehlen als Echo zurück. Lächelnd umdrängten sie ihn und schüttelten ihm die Hände. »Dann soll die Zeremonie sofort stattfinden«, sagte der Priester. »Im Dorf, vor der Statue Thangookaris.«
Sie machten sich gleich, angeführt vom Priester, auf den Rückweg. Hadwell und seine Braut nahmen sie nun in die Mitte. Mele hatte seit der Verehelichung noch kein einziges Wort gesprochen. Schweigend überquerten sie die schwankende Lianenbrücke. Drüben auf der anderen Seite umdrängten ihn die Dorfbewohner noch dichter, bis er fast Platzangst bekam. Er sagte sich: Wenn sie mich nicht hinreichend von ihrem guten Wesenskern überzeugt hätten, würde ich mich jetzt unsicher fühlen. Vor ihnen lagen das Dorf und der Altar Thangookaris. Der Priester eilte darauf zu. Plötzlich gellte ein Schrei. Alle machten kehrt und rannten zur Brücke zurück. Vom Flußufer aus sah Hadwell, was geschehen war. Kataga, Meles Vater, hatte den Abschluß des feierlichen Zuges gebildet. Als er die Mitte der Brücke erreicht hatte, war die angesägte Liane endlich gerissen. Es war Kataga gelungen, sich an eine dünnere Liane zu klammern, aber nur für einen Augenblick. Vor den Augen der anderen Dorfbewohner erlahmte seine Kraft, er glitt ab und stürzte in den Fluß. Starr vor Entsetzen schaute Hadwell zu. Mit traumhafter Deutlichkeit sah er, wie sich alles abspielte: Kataga stürzte mit einem Lächeln großartigen Mutes auf den Lippen in das weißschäumende Wasser, das um die spitzen Felsen toste. Er stürzte einem sicheren, schrecklichen Tod entgegen. »Kann er schwimmen?« fragte Hadwell seine Braut. »Nein«, antwortete das Mädchen. »Er wollte es nie lernen… Ach, Vater! Wie konntest du nur!« Die weißen Wasserstrudel machten Hadwell mehr Angst als alles, was er zuvor je erlebt hatte, mehr noch als die einsame Leere des Raums. Aber der Vater seiner Frau schwebte in Lebensgefahr. Da muß ein Mann handeln. Er warf sich mit einem Kopfsprung ins eisige Wasser. Kataga war schon beinahe bewußtlos, als ihn Hadwell erreichte. Das war gut so, denn auf diese Weise wehrte sich der Igathianer nicht, als ihn Hadwell beim Schopf packte und mit kraftvollen Zügen auf das
nächstgelegene Ufer zuschwamm. Doch er schaffte es nicht. Die Strömung riß die beiden Männer fort, saugte sie unter und warf sie wieder nach oben. Unter Anspannung aller Kräfte gelang es Hadwell, den ersten Felsen auszuweichen. Aber vor ihm lauerten noch weitere. Die Dorfbewohner rannten am Ufer entlang und schrien ihm etwas zu. Hadwells Kräfte ließen rasch nach. Er strebte dem Ufer zu. Ein Fels unterhalb der Wasserfläche stieß ihm gegen die Rippen, und seine Hand, die Katagas Haar festhielt, erlahmte beinahe. Der Igathianer kam allmählich zu sich und begann sich heftig zu wehren. »Nicht aufgeben, alter Junge!« keuchte Hadwell. Das Ufer schoß vorüber. Hadwell kam bis auf drei Meter heran, dann riß ihn die Strömung erneut davon. Mit dem letzten Aufgebot seiner Kraft klammerte er sich an einem herabhängenden Zweig fest und ließ nicht mehr los, sosehr die Gewalt des Wassers auch an seinem Körper zerrte. Einige Augenblicke später zogen die Dorfbewohner unter Anleitung des Priesters die beiden erschöpften Männer ans rettende Ufer. Sie wurden zum Dorf zurückgetragen. Als Hadwell wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, wandte er den Kopf und lächelte Kataga matt an. »Das war knapp, alter Junge«, sagte er. »Pfuscher!« sagte Kataga. Er spuckte Hadwell an und ging davon. Hadwell starrte ihm nach und kratzte sich am Kopf. »Er muß einen Schlag auf den Kopf bekommen haben«, murmelte er. »So, können wir nun nicht mit dem Allerhöchsten fortfahren?« Die Dorfbewohner kamen mit drohenden Gebärden näher heran. »Ha! Er verlangt das Allerhöchste!« »Ein Kerl wie er!« »Nachdem er den armen Kataga aus dem Fluß gezerrt hat, besitzt er noch die Frechheit…« »Seinem eigenen Schwiegervater rettet er das Leben!« »So ein Mann verdient nicht das Allerhöchste!« Vassi, der Kaufmann, faßte zusammen, was sie alle dachten: »So ein Mann verdient es nicht einmal zu sterben!«
Hadwell fragte sich, ob sie wohl alle vorübergehend verrückt geworden waren. Leicht erschüttert erhob er sich und wandte sich hilfesuchend an den Priester. »Was soll das alles eigentlich bedeuten?« fragte er. Lag sah ihn voll Trauer an und antwortete nicht. Sein Gesicht war bleich, die Lippen eine schmale Linie. »Bekomme ich also die Zeremonie des Allerhöchsten nicht?« fragte Hadwell gekränkt. »Du verdienst sie wohl«, antwortete der Priester. »Wenn je ein Mann das Allerhöchste verdient hat, dann du, Hadwell. Ich bin auch der Ansicht, du solltest es schon aus Gründen der Gerechtigkeit bekommen. Aber es geht eben um mehr als nur um die Gerechtigkeit. Thangookari liegen auch die Grundsätze der Gnade und des Mitleids am Herzen. Und nach diesen Grundsätzen hast du, Hadwell, etwas Schreckliches getan, etwas Unmenschliches, als du den armen Kataga aus dem Fluß rettetest. Ich fürchte, diese Missetat ist unverzeihlich.« Hadwell wußte nicht, was er darauf sagen sollte. Offenbar verbot irgendein Tabu, ins Wasser gefallene Leute zu retten. Aber wie konnten sie von ihm erwarten, daß er darüber Bescheid wußte? Wie konnten sie diese Kleinigkeit höher bewerten als alles, was er für sie getan hatte? »Gibt es denn nicht irgendeine Zeremonie, die ihr mir gewähren könntet?« bettelte er. »Ich mag euch, und ich möchte bei euch leben. Ihr könnt doch sicher etwas für mich tun.« Die alten Augen des Priesters verschleierten sich vor Mitgefühl. Er packte seine heilige Keule, hob sie hoch und wollte sie schwingen. Ein drohender Aufschrei der Menge ließ ihn innehalten. »Ich kann nichts für dich tun«, sagte er. »Geh von uns, du falscher Abgesandter! Verlaß uns, o Hadwell – du verdienst es nicht zu sterben!« »Na schön!« schrie Hadwell zurück. Allmählich riß ihm die Geduld. »Zum Teufel mit euch! Ihr seid nichts weiter als ein Haufen dreckiger Wilder. Ich würde nicht einmal mehr hierbleiben, wenn ihr mich darum bittet. Ich gehe. Kommst du mit mir, Mele?« Das Mädchen blinzelte verzweifelt, sah Hadwell an und dann den Priester. Es entstand ein längeres Schweigen. Dann murmelte der
Priester: »Denk an deinen Vater, Mele. Denk an den Glauben deines Volkes.« Meles stolzes kleines Kinn hob sich. »Ich weiß, was meine Pflicht ist«, sagte sie. »Gehen wir, mein lieber Richard!« »Gut«, sagte Hadwell. Damit marschierte er, gefolgt von seiner Mele, auf das Raumschiff zu. Verzweifelt sah ihnen der alte Priester nach. »Mele!« schrie er einmal mit herzzerreißender Stimme. Doch Mele kehrte nicht um. Er sah, wie sie das Schiff bestieg und wie sich die Luke hinter ihr schloß. Minuten später war die silbrig schimmernde Kugel in rote und blaue Flammen gebadet. Die Kugel hob ab, stieg immer schneller und schneller auf, schrumpfte zu einem Punkt zusammen und war schließlich ganz verschwunden. Der alte Priester sah dem Raumschiff nach, und Tränen rollten ihm über die Backen. Stunden später sagte Hadwell: »Liebling, ich nehme dich mit zur Erde, zu dem Planeten, von dem ich komme. Es wird dir dort gefallen.« »Ich weiß, daß es mir gefallen wird«, murmelte Mele und sah durch das Bullauge hinaus auf die strahlenden Sterne. Irgendwo da draußen zwischen all den Sternen lag ihre für immer verlorene Heimat. Schon jetzt überkam sie das Heimweh. Aber für sie konnte es keine andere Entscheidung geben. Für sie nicht. Eine Frau geht mit dem Mann, den sie liebt. Und eine Frau, die wahrhaft liebt, verliert auch niemals den Glauben an ihren Mann. Mele hatte ihren Glauben an Hadwell nicht verloren. Sie griff verstohlen nach einem winzigen Dolch in einer Scheide, den sie in ihrer Kleidung verborgen hielt. Die Dolchspitze war in ein Gift getaucht, daß unter ganz besonderen Qualen und ganz besonders langsam tötete. Es war ein Erbstück ihrer Familie, das nur benutzt werden sollte, wenn kein Priester erreichbar war, und nur gegenüber dem Menschen, den man am innigsten liebte.
»Ich habe keine Lust mehr, meine Zeit zu vergeuden«, sagte Hadwell. »Mit deiner Hilfe werde ich Großes vollbringen. Du wirst stolz auf mich sein, Liebling.« Mele wußte, daß er es ernst meinte. Sie dachte: Irgendwann hast du die Sünde an meinem Vater gebüßt, Hadwell. Du wirst etwas Großes tun, eine einmalige Tat – vielleicht heute, vielleicht morgen, vielleicht nächstes Jahr. Und dann konnte sie ihm das Kostbarste schenken, was eine Frau einem Mann zu geben vermag. Einen qualvollen, gewaltsamen Tod.
Planet der Verbrecher
1 Seine Rückkehr ins Bewußtsein war ein langwieriger und schmerzhafter Vorgang. Es war eine Reise mit vielen verschiedenen Stationen. Er träumte. Er erwachte aus tiefem Schlaf, aus den imaginären Anfängen aller Dinge. Er hob ein Pseudopodium aus dem Urschlamm, und das Pseudopodium war er selbst. Er wurde eine Amöbe, in der schon alle seine Anlagen enthalten waren, dann ein Fisch – ein Fisch, der sich seiner Identität bewußt war, dann ein Affe, der sich durch einige wesentlichen Dinge von allen anderen Affen unterschied. Und schließlich wurde er ein Mensch. Was für ein Mensch? Verschwommen sah er sich – ohne Gesicht, seine Hand umklammerte eine Strahlenwaffe, zu seinen Füßen lag eine Leiche. So einer war er! Er erwachte, rieb sich die Augen und wartete auf weitere Erinnerungen. Aber die Erinnerungen blieben aus. Nicht einmal sein Name fiel ihm ein. Hastig richtete er sich auf und dachte angestrengt nach. Als auch das nichts half, blickte er sich um, in der Hoffnung, in seiner Umgebung einen Hinweis auf seine Identität zu finden. Er saß auf einem Bett in einem kleinen grauen Zimmer. In der einen Wand befand sich eine geschlossene Tür; an der anderen konnte er hinter einem Vorhang einen winzigen Waschraum erkennen. Eine verborgene Lichtquelle erhellte den Raum, vielleicht leuchtete die Decke sogar selbst. Es gab ein Bett und einen einzigen Stuhl, sonst nichts. Er stützte das Kinn in die Hände und schloß die Augen. Wieder versuchte er, sein Wissen zu ordnen und aus diesem Wissen Schlüsse zu
ziehen. Er wußte, daß er ein Mensch war, ein Homo sapiens, ein Bewohner des Planeten Erde. Er sprach eine Sprache, von der er wußte, daß sie ›Englisch‹ hieß. (Bedeutete das auch, das es noch andere Sprachen gab?) Er kannte übliche Namen für Gegenstände: Zimmer, Licht, Stuhl. Außerdem besaß er eine begrenzte Menge Allgemeinwissens. Er wußte, daß es viele wichtige Dinge gab, die er nicht kannte, die er aber einmal gekannt hatte. Irgend etwas muß mit mir geschehen sein. Dieses Etwas hätte schlimmer sein können. Wenn es nur ein wenig weiter getrieben worden wäre, dann würde er jetzt eine gedankenlose Kreatur sein, ohne die Fähigkeit zu sprechen, ohne das Bewußtsein, ein Mensch zu sein, ein Mann von der Erde. Es war ihm also noch etwas gelassen worden. Aber als er versuchte, über die Alltagstatsachen vorzudringen, stieß er in ein dunkles und schreckerfülltes Gebiet. Halt! Nicht weiter! Die Erforschung seines eigenen Gedächtnisses war so gefährlich wie eine Reise ins – wohin? Er fand keine passende Bezeichnung, obgleich er annahm, daß es viele gab. Ich muß krank gewesen sein. Das war die einzige vernünftige Erklärung. Er war ein Mann mit Resten von Erinnerungen. Einmal mußte er die unbezahlbare Gabe besessen haben, sich an viele Dinge zu erinnern, während er jetzt nur aus den wenigen Fakten, die ihm zur Verfügung standen, Vermutungen ableiten konnte. Früher einmal mußte, er fähig gewesen sein, sich an ganz bestimmte Vögel, Bäume, Freunde zu erinnern, an eine Familie, einen Beruf und vielleicht sogar an eine Frau. Jetzt konnte er nur Theorien darüber aufstellen. Früher einmal hatte er sagen können ›das ist wie‹ oder ›das erinnert mich an‹. Jetzt erinnerte ihn nichts an etwas, und die Dinge waren nichts als sie selbst. Er hatte die Fähigkeit verloren, Dinge zu vergleichen oder gegenüberzustellen. Er konnte die Gegenwart nicht mehr auf Grund von Erfahrungen aus der Vergangenheit analysieren. Dies muß ein Krankenhaus sein. Natürlich. Man kümmerte sich hier um ihn. Freundliche Ärzte bemühten sich, sein Gedächtnis wiederherzustellen und seine Identität,
sein Urteilsvermögen wiederzuerwecken, ihm zu sagen, wer und was er war. Das war sehr nett von ihnen; er fühlte, wie ihm Tränen der Dankbarkeit in die Augen stiegen. Er erhob sich und wanderte langsam in dem kleinen Zimmer umher. Er ging zur Tür und fand sie verschlossen. Diese verriegelte Tür verursachte einen Moment der Panik in ihm, aber er beherrschte sich gleich wieder. Vielleicht war er gewalttätig gewesen. Nun, das würde nicht wieder vorkommen. Sie würden schon sehen. Und dann würde man ihm alle Privilegien eines einsichtigen Patienten einräumen. Er würde mit dem Doktor darüber reden. Er wartete. Nach einer langen Zeit hörte er Schritte auf dem Gang vor seiner Tür näher kommen. Er setzte sich auf die Bettkante und lauschte, während er sich bemühte, seine Erregung zu unterdrücken. Die Schritte hielten bei seiner Tür an. Ein schmaler Schlitz öffnete sich, und ein Gesicht blickte ihn an. »Wie fühlen Sie sich?« fragte der Mann. Er ging zu dem Schlitz und sah, daß der Mann eine braune Uniform trug. An der Hüfte trug er einen Gegenstand, der nach kurzem Nachdenken als eine Waffe identifiziert werden konnte. Dieser Mann war zweifellos ein Wachtposten. Er hatte ein grobes, undeutbares Gesicht. »Würden Sie mir bitte sagen, wie ich heiße?« fragte er die Wache. »Nennen Sie sich 402«, sagte der Posten. »Das ist Ihre Zellennummer.« Es gefiel ihm nicht. Aber immerhin war 402 besser als gar nichts. »Bin ich lange krank gewesen?« fragte er die Wache. »Geht es mir schon besser?« »Ja«, antwortete der Posten teilnahmslos. »Wichtig ist nur, Ruhe zu bewahren. Gehorchen Sie den Vorschriften. Dann geht alles klar.« »Natürlich«, sagte 402. »Aber warum kann ich mich an nichts erinnern?« »So ist das nun mal«, antwortete die Wache. Er machte sich daran, wegzugehen.
402 rief ihm nach: »Halt! Warten Sie! Sie können doch nicht so ohne weiteres weggehen. Sie müssen mir alles erklären! Was ist mit mir geschehen? Warum bin ich in diesem Krankenhaus?« »Krankenhaus?« sagte der Posten. Er sah 402 an und grinste. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Ich nehme es an«, erwiderte 402. »Da nehmen Sie was Falsches an. Dies ist ein Gefängnis.« 402 erinnerte sich an seinen Traum von dem ermordeten Mann. Traum oder Erinnerung? Verzweifelt rief er dem Wachtposten nach: »Was habe ich verbrochen? Was habe ich getan?« »Das werden Sie schon herausfinden«, antwortete die Wache. »Wann?« »Nach der Landung. Aber jetzt machen Sie sich fertig zum Antreten.« Er ging davon. 402 setzte sich wieder aufs Bett und versuchte nachzudenken. Ein paar Dinge hatte er erfahren. Er befand sich in einem Gefängnis, und dieses Gefängnis würde bald landen. Was hatte das zu bedeuten? Wozu brauchte ein Gefängnis zu landen? Und was würde beim Antreten geschehen? 402 begriff nur vage die folgenden Ereignisse. Zuerst verharrte er längere Zeit auf seinem Bett. Er konnte nicht abmessen, wie lange. Immer wieder versuchte er die wenigen Tatsachen, die er über sich selbst wußte, aneinanderzureihen. Dann hatte er den Eindruck von schrillen Klingeln, und gleich darauf schwang die Tür seiner Zelle auf. Was bedeutete das? Was würde nun geschehen? 402 ging zur Tür und blickte in den Gang. Er war voller Erwartung, wollte aber die Sicherheit seiner Zelle nicht aufgeben. Er wartete, und der Wachtposten kam zu ihm. »Alles in Ordnung«, beruhigte dieser ihn. »Niemand wird Ihnen etwas tun. Gehen Sie den Gang entlang – immer geradeaus.« Sanft schob er 402 vor sich her. 402 schritt den Gang entlang. Er sah, wie sich andere Zellentüren öffneten, wie andere Männer in den Gang traten. Und je weiter er ging, um so mehr Männer schlossen sich an. Die
meisten sahen bestürzt aus, niemand sprach. Die einzigen Worte kamen von dem Wachtposten: »Weitergehen – immer geradeaus. Weitergehen, schön brav weitergehen.« Sie kamen in einen großen runden Saal. 402 sah sich um und entdeckte einen Balkon, der an den Wänden entlang verlief. Darauf standen alle paar Meter bewaffnete Posten. Ihre Anwesenheit schien überflüssig; die erschrockenen und willenlosen Männer waren nicht in der Stimmung zu einer Revolte. Anscheinend hatten die grimmig dreinschauenden Wachen eine symbolische Bedeutung. Sie erinnerten die gerade erwachten Männer an die wichtigste Tatsache ihres Lebens: daß sie Gefangene waren. Nach einigen Minuten betrat ein in eine düstere Uniform gekleideter Mann den Balkon. Obgleich die Gefangenen ihn schon schweigend anstarrten, hob er die Hand, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dann hallte seine Stimme laut durch den Saal. »Was ich jetzt sagen werde, dient zu Ihrer Indoktrination«, begann er. »Hören Sie gut zu und versuchen Sie, sich alles gut zu merken. Es wird für Sie lebenswichtig sein.« Die Gefangenen starrten ihn neugierig an, und der Sprecher fuhr fort: »Sie alle sind während der letzten Stunde in Ihren Zellen erwacht. Sie entdeckten, daß Sie sich nicht an Ihr früheres Leben erinnern können – nicht einmal an Ihre Namen. Sie besitzen nichts als eine geringe Menge allgemeinen Wissens; genug, um sich zurechtzufinden. Ich werde diesem Wissen nichts hinzufügen. Sie alle waren auf der Erde gefährliche und sittlich verdorbene Kriminelle. Sie waren Männer der schlimmsten Sorte, die jedes Recht auf Anerkennung durch den Staat selbst verwirkt hatten. In einer weniger aufgeklärten Zeit wären Sie alle hingerichtet worden. In unserem Zeitalter jedoch werden Sie deportiert.« Der Sprecher hob eine Hand, um das Gemurmel, das den Saal durchlief, abklingen zu lassen. »Sie alle sind Verbrecher. Und Sie alle haben etwas gemeinsam: die Unfähigkeit, den grundlegendsten Gesetzen der menschlichen Gesellschaft zu gehorchen. Diese Gesetze sind für das Funktionieren einer Zivilisation unerläßlich. Sie haben sie mißachtet – und so sind Sie zu Verbrechern an der ganzen Menschheit geworden.
Deshalb hat die Menschheit Sie ausgestoßen. Sie waren Sand in den Mühlen der Zivilisation und sind deshalb zu einer Welt transportiert worden, in der Ihre Sorte Mensch regiert. Hier können Sie Ihre eigenen Gesetze aufstellen und daran verrecken. Hier herrscht die Freiheit, nach der Sie verlangt haben; die maßlose und selbstzerstörerische Freiheit einer Krebsgeschwulst.« Der Sprecher wischte sich die Stirn und blickte die Gefangenen ernst an. »Aber vielleicht gelingt auch einigen von Ihnen eine Rehabilitierung. Omega, der Planet, zu dem wir unterwegs sind, gehört Ihnen, er wird ausschließlich von Gefangenen regiert. Auf dieser Welt können Sie ganz von vorn beginnen, ohne alle Vorurteile gegen Sie, ohne Vorstrafenregister! Ihr früheres Leben ist ausgelöscht – vergessen. Versuchen Sie nicht, sich daran zu erinnern. Derartige Erinnerungen wären nur dazu angetan, Ihre kriminellen Neigungen neu zu stimulieren. Betrachten Sie sich als neugeboren, von dem Moment an, in dem Sie in Ihren Zellen aufgewacht sind.« Die langsamen, wohlabgewogenen Worte des Sprechers hatten eine gewisse hypnotische Wirkung. 402 lauschte, die Augen starr auf die blasse Stirn des Sprechers gerichtet. »Eine neue Welt«, fuhr der Sprecher fort. »Sie sind neugeboren – aber mit dem notwendigen Bewußtsein der Sünde. Ohne dies wären Sie nicht imstande, das Böse, das Ihrem Charakter anhaftet, zu bekämpfen. Denken Sie daran. Halten Sie sich immer vor Augen, daß es keine Flucht und keine Rückkehr gibt. Wachschiffe, die mit den modernsten Strahlenwaffen ausgerüstet sind; patrouillieren unaufhörlich an den Himmeln von Omega – Tag und Nacht. Diese Schiffe sind dazu eingerichtet, alles, was sich höher als 150 Meter über die Oberfläche von Omega erhebt, auszutilgen – eine unüberwindbare Barriere, die kein Gefangener bezwingen kann. Gewöhnen Sie sich an diese Tatsachen. Sie begründen die Gesetze, die Ihr Leben von nun an beherrschen werden. Denken Sie über meine Worte nach! Und jetzt halten Sie sich zur Landung bereit.« Der Sprecher verließ den Balkon. Eine Weile starrten die Gefangenen weiter auf die Stelle, an der er gestanden hatte. Dann breitete sich zögernd Gemurmel aus. Nach einer kurzen Zeit erstarb es wieder. Es gab nichts, worüber man hätte sprechen können. Die Gefangenen – ohne Erinnerung an die Vergangenheit – hatten nichts, worauf sie die
Spekulationen der Zukunft aufbauen konnten. Persönliche Daten konnten nicht ausgetauscht werden, denn sie besaßen keine. Schweigend saßen sie da – verschlossene Männer, die zu lange Zeit in absoluter Abgeschiedenheit verbracht hatten. Die Wachen auf dem Balkon standen starr wie Bildsäulen, unnahbar und unpersönlich. Und dann durchfuhr ein leichtes Beben den Boden des Saals. Das Beben wiederholte sich und wurde zu einem heftigen Schütteln. 402 fühlte sich schwerer, als preßten unsichtbare Gewichte Kopf und Schultern nieder. Aus einem Lautsprecher ertönte eine Stimme: »Achtung! Das Schiff setzt zur Landung auf Omega an! Bereiten Sie sich auf die Ausschiffung vor!« Das letzte Zittern erstarb, der Boden unter ihnen kam nach kurzem Schlingern zur Ruhe. Die Gefangenen, noch immer schweigend und verwirrt, mußten sich in einer Reihe aufstellen und marschierten aus dem Saal. Von Wachposten flankiert, schritten sie einen endlos wirkenden Gang entlang. 402 konnte sich ein schwaches Bild von der Größe des Schiffes machen. Weit vorn erkannte er einen Streifen einfallender Sonnenstrahlen, der sich hell gegen die fahle Beleuchtung des Korridors abzeichnete. Die lange Kette der Gefangenen schlurfte weiter, und als 402 die Lichtflut erreicht hatte, erkannte er, daß sie durch eine offene Luke einfiel, durch die der Strom der Gefangenen sich drängte. Dahinter stieg er eine lange Treppe hinab und befand sich auf festem Boden. Er stand in einem offenen Viereck, in das Sonnenstrahlen fielen. Die Wachen hießen die Gefangenen in Reihen antreten; 402 konnte zu beiden Seiten Zuschauer erkennen. Eine Stimme dröhnte aus dem Lautsprecher: »Antworten Sie, wenn Ihre Nummer aufgerufen wird. Wir werden Sie jetzt identifizieren. Antworten Sie prompt, wenn Ihre Nummer genannt wird.« 402 fühlte sich schwach und müde. Selbst seine Identität interessierte ihn in diesem Augenblick kaum. Er wollte nichts als sich niederlegen, schlafen und Gelegenheit haben, über seine Lage nachzudenken. Er blickte sich um
und bemerkte das gewaltige Raumschiff hinter sich, die Wachen und die Zuschauer. Über sich nahm er dunkle Punkte am Himmel wahr. Zuerst glaubte er, es wären Vögel. Dann sah er genauer hin und erkannte, daß es Wachschiffe waren. Aber auch die interessierten ihn nicht sonderlich. »Nummer 1! Antworten Sie!« »Hier«, ertönte eine Stimme. »Nummer 1, Ihr Name ist Wayn Southholder. Alter 34, Blutgruppe AL2, Index AR-431-C. Schuldig des Verrats.« Als die Stimme verklang, ertönten aus der Menge laute Beifallsrufe. Man beklatschte das Verbrechen des Gefangenen und begrüßte ihn auf Omega. Die Namen wurden der Reihe nach verlesen, und 402, von der prallen Sonne benommen, döste im Stehen und lauschte den Verbrechen, die sich von Mord, Betrug, Krediterschleichung bis zu Mutantismus erstreckten. Schließlich wurde seine Nummer aufgerufen. »Nummer 402.« »Hier.« »Nummer 402, Ihr Name ist Will Barrent. Alter 27, Blutgruppe O-L3, Index JX-221-R. Schuldig des Mordes.« Die Menge jubelte, aber 402 hörte sie kaum. Er versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, einen Namen zu haben. Einen wirklichen Namen statt einer Nummer. Will Barrent. Er hoffte, er würde ihn nicht vergessen. Wieder und wieder murmelte er den Namen vor sich hin und verpaßte dabei fast die letzte Ankündigung aus dem Lautsprecher. »Die neuen Männer werden jetzt auf Omega in Freiheit gesetzt. Sie finden eine vorübergehende Behausung in Block A-2. Nehmen Sie sich in acht und seien Sie in Wort und Handlung vorsichtig. Beobachten Sie, hören Sie sich um und lernen Sie! Das Gesetz schreibt vor, Ihnen mitzuteilen, daß die durchschnittliche Lebensdauer auf Omega ungefähr drei Erdjahre zählt.« Es dauerte eine Weile, bis diese letzten Worte in Barrents Bewußtsein eindrangen. Er beschäftigte sich noch immer mit der Neuigkeit, einen Namen zu besitzen. Darüber, daß er ein Mörder auf einem Planeten für Verbrecher war, hatte er sich noch keine Gedanken gemacht.
2 Die neuen Gefangenen wurden zu einer Reihe von Baracken in Block A2 geführt. Es waren fast fünfhundert Männer. In Wirklichkeit waren sie noch keine Männer, sondern Wesen, deren Erinnerung nur eine knappe Stunde zurückreichte. Auf ihren Schlafkojen hockend, betrachteten sie neugierig ihren Körper, ihre Hände und Füße. Sie starrten einander an und erblickten in den Augen der anderen ein Spiegelbild ihrer eigenen Unsicherheit. Sie waren noch keine Männer; aber sie waren auch keine Kinder. Gewisse Begriffe waren ihnen geblieben und schattenhafte Erinnerungen. Die Anpassung vollzog sich rasch, sie stützte sich auf alte Gewohnheiten und persönliche Charakterzüge, die in der zerbrochenen Form ihres früheren Lebens auf der Erde noch enthalten waren. Die Männer klammerten sich an die vagen Vorstellungen von Begriffen, Sitten, Regeln. Innerhalb weniger Stunden begann sich ihre phlegmatische Teilnahmslosigkeit zu legen. Sie wurden wieder zu Männern. Zu Individuen. Aus einer verschwommenen, künstlichen Einheit traten scharfe Gegensätze hervor. Charaktere setzten sich durch, und allmählich begannen die fünfhundert Männer zu entdecken, was sie darstellten. Will Barrent stellte sich an die Schlange an, die an dem Spiegel vorbeischritt, um sich anzuschauen. Als er an der Reihe war, sah er das Bild eines gutaussehenden jungen Mannes mit glattem braunem Haar, schmalen Wangen und gerader Nase. Dieser junge Mann hatte ein selbstsicheres, ehrliches und ganz alltägliches Gesicht, das keinerlei tiefe Leidenschaften kennzeichnete. Enttäuscht wandte sich Barrent ab; es war das Gesicht eines Fremden. Später, als er sich genauer in Augenschein nahm, konnte er keine einzige Narbe oder etwas Ähnliches entdecken, das seinen Körper von tausend anderen unterschieden hätte. Seine Hände waren glatt. Er war eher drahtig als muskulös. Er sann darüber nach, welche Art Arbeit er wohl auf der Erde verrichtet haben mochte. Mord? Er runzelte die Stirn. Als Berufskiller gearbeitet zu haben, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Ein Mann klopfte ihm auf die Schulter. »Wie fühlen Sie sich?« Barrent drehte sich um und sah einen großen, breitschultrigen rothaarigen Mann hinter sich stehen. »Ganz gut«, antwortete Barrent. »Sie haben vor mir gestanden in der Reihe, nicht wahr?« »Stimmt. Nummer 401. Ich heiße Danis Foeren.« Auch Barrent stellte sich vor. »Ihr Verbrechen?« fragte Foeren. »Mord.« Foeren nickte beeindruckt. »Ich bin ein Fälscher. Wenn ich meine Hände betrachte, kann ich es kaum glauben.« Er hielt zwei massige Fäuste in die Höhe, die mit roten Haaren bewachsen waren. »Und trotzdem steckt eine unglaubliche Geschicklichkeit in ihnen. Meine Hände erinnerten sich schon, bevor irgendein anderer Teil meines Körpers zu sich kam. Auf dem Schiff saß ich in meiner Zelle und starrte auf meine Hände. Sie juckten. Sie verlangten danach, umherzutasten und etwas zu tun. Aber ich selbst konnte mich nicht daran erinnern, was das sein könnte.« »Was haben Sie getan?« fragte Barrent. »Ich habe die Augen zugemacht und meinen Händen freien Lauf gelassen«, antwortete Foeren. »Das erste, was ich feststellte, war, daß sie an dem Schloß der Zellentür herumfummelten und es öffneten.« Er hob die Hände wieder hoch und blickte sie bewundernd an. »Verdammt kluge Teufel!« »Das Schloß öffneten?« fragte Barrent. »Aber ich dachte, Sie wären ein Fälscher.« »Na ja, Fälschungen waren meine Spezialität. Aber ein Paar geschickte Hände können alles mögliche tun. Schätze, daß man mich eben gerade bei einer Fälschung erwischt hat. Aber genausogut hätte ich auch ein Geldschrankknacker sein können. Für einen einfachen Fälscher sind meine Hände zu begabt.« »Sie haben mehr über sich herausgefunden als ich«, sagte Barrent. »Ich habe nur einen Traum, auf den ich mich stützen kann.«
»Immerhin etwas«, erwiderte Foeren. »Es muß doch Möglichkeiten geben, mehr herauszufinden. Aber im Moment ist das Wichtigste: Wir sind auf Omega.« »Zugegeben«, stimmte Barrent mit säuerlicher Miene zu. »Was ist daran so übel?« sagte Foeren. »Haben Sie denn nicht gehört, was der Mann sagte? Dieser Planet gehört uns!« »Bei einer durchschnittlichen Überlebensdauer von drei Erdjahren«, erinnerte ihn Barrent. »Das ist wahrscheinlich nur Gerede, um uns einzuschüchtern«, entgegnete Foeren. »Ich glaube es noch lange nicht, erst recht nicht, wenn es ein Wachtposten sagt. Die große Sache ist doch die, daß wir einen eigenen Planeten besitzen. Sie haben doch gehört, was die sagten: Die Erde lehnt uns ab. Zum Teufel mit der Erde! Wer braucht sie schon? Hier haben wir unseren eigenen Planeten. Einen ganzen Planeten für uns allein, Barrent! Wir sind frei!« »Stimmt genau, Kameraden«, mischte sich ein anderer ein. Er war klein, hatte flinke Augen und war fast aufdringlich freundlich. »Ich heiße Joe«, sagte er. »Eigentlich ist mein richtiger Name Joao; aber ich ziehe die Kurzform vor – wegen der Zeitersparnis. Meine Herren, ich hörte zufällig Ihre Unterhaltung mit an, und ich muß gestehen, ich stimme mit unserem rothaarigen Freund völlig überein. Bedenken Sie doch nur einmal die Möglichkeiten! Die Erde hat uns verstoßen? Ausgezeichnet! Ohne sie stehen wir uns weit besser! Hier sind wir alle gleich, freie Männer in einer freien Gesellschaft. Keine Uniformen, keine Wachen, keine Soldaten. Nur reuige frühere Verbrecher, die in Frieden leben wollen.« »Wobei hat man Sie geschnappt?« fragte Barrent. »Ich soll ein Kreditschleicher gewesen sein«, antwortete Joe. »Leider muß ich gestehen, daß ich mir darunter überhaupt nichts vorstellen kann. Aber vielleicht fällt es mir später noch ein.« »Es könnte ja sein, daß die Behörden eine Art System haben, das Gedächtnis wieder aufzufrischen«, bemerkte Foeren. »Behörden?« stieß Joe entrüstet aus. »Was meinen Sie damit – Behörden! Dies ist unser Planet. Hier sind wir alle gleich. Folglich kann
es auch keine Behörden geben. Nein, Freunde, diesen ganzen Humbug haben wir auf der Erde zurückgelassen. Hier –« Er unterbrach sich. Die Barackentür war aufgegangen; ein Mann kam herein. Anscheinend war er schon länger Einwohner von Omega, denn er trug nicht die graue Gefängnisuniform. Er war dick und in grellen gelben und blauen Farben gekleidet. An dem Gürtel, der um seine enorme Taille gebunden war, trug er eine Pistole und ein Messer. Er blieb im Eingang stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrte auf die Neuankömmlinge. »Nun?« sagte er. »Erkennt ihr Neuen etwa keinen Quaestor? Aufstehen!« Keiner der Männer rührte sich. Das Gesicht des Quaestors wurde rot. »Schätze, ich muß euch ein bißchen Respekt beibringen.« Noch bevor er die Waffe aus dem Gurt gezogen hatte, rappelten sich die Männer hoch. Der Quaestor blickte sie fast bedauernd an und stieß die Waffe zurück. »Das erste, worüber ihr euch am besten gleich im klaren seid«, erklärte der Quaestor, »ist der Rang, den ihr auf Omega einnehmt. Ihr seid Peons, und das heißt soviel, als wärt ihr nichts. Nichts! Verstanden?« Er hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Und jetzt aufgepaßt, Peons! Ich werde euch über eure Pflichten aufklären.«
3 »Ihr Neuen müßt euch zuallererst darüber im klaren sein«, begann der Quaestor, »was ihr selbst seid. Das ist äußerst wichtig. Und ich sage euch noch einmal, was ihr seid. Ihr seid Peons. Ihr seid das letzte vom letzten. Ihr habt keine Stellung – keine Rechte. Niedriger als ihr ist niemand – außer den Mutanten, und das sind keine richtigen Menschen. Irgendwelche Fragen?« Der Quaestor wartete. Als niemand etwas sagte, fuhr er fort: »Ich habe klargestellt, was ihr seid. Jetzt will ich kurz aufführen, wie sich die Rangordnung auf Omega fortsetzt. Als erstes möchte ich betonen, daß
jeder auf Omega wichtiger ist als ihr. Aber nicht alle sind gleich viel wichtiger. Direkt über euch steht der Resident, der aber kaum mehr zählt als ihr. Darüber rangiert der freie Bürger. Zum Zeichen seines Ranges trägt er einen grauen Ring am Finger; seine Kleidung ist schwarz. Auch er ist nicht besonders bedeutend. Mit einigem Glück können einige von euch freie Bürger werden. Als nächstes kommen die Privilegklassen, die sich alle durch verschiedene Symbole ihrer Rangordnung unterscheiden, wie etwa durch den goldenen Ohrring, der die Hadji-Klasse kennzeichnet. Mit der Zeit werdet ihr alle von selbst die Zeichen und Vorrechte der verschiedenen Ränge und Stufen kennenlernen. Vielleicht sollte ich noch die Priester erwähnen. Obgleich sie nicht zu den Privilegklassen gehören, sind ihnen gewisse Freiheiten und Rechte eingeräumt. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Zustimmendes Gemurmel erklang in der Baracke. »Und jetzt komme ich darauf, wie sich jeder zu verhalten hat, wenn er jemandem von höherem Rang begegnet. Als Peons seid ihr verpflichtet, einen freien Bürger in respektvoller Form mit vollem Titel zu grüßen. Mit Mitgliedern der Privilegklassen dürft ihr nur sprechen, wenn man euch dazu auffordert, dabei müßt ihr die Augen gesenkt halten und die Hände falten. Ihr dürft euch von einem priviligierten Bürger nicht entfernen, ohne von ihm die Erlaubnis dazu erhalten zu haben. In seiner Gegenwart dürft ihr unter gar keinen Umständen sitzen. Verstanden? Es gibt noch viele andere Dinge zu lernen. Mein Stand als Quaestor beispielsweise gehört zum Rang der freien Bürger, er bezieht aber einige Freiheiten der Privilegklassen mit ein.« Der Quaestor ließ den Blick über die Männer gleiten, um sich zu vergewissern, ob sie ihn verstanden hatten. »Die Baracken dienen euch vorläufig zur Unterkunft. Ich habe einen Plan aufgestellt, der festhält, welche von euch fegen müssen, welche waschen und so weiter. Fragen beantworte ich jederzeit gerne. Dumme oder unverschämte Fragen werden mit Verstümmelung oder Tod bestraft. Vergeßt nie, daß ihr die Niedrigsten der Niedrigen seid. Wer sich das stets vor Augen hält, kann vielleicht am Leben bleiben.«
Einen Augenblick hielt der Quaestor inne, dann fuhr er fort: »Während der nächsten Tage werden euch die verschiedensten Arbeiten zugeteilt werden. Manche werden in die Germanium-Bergwerke geschickt, andere kommen zur Fischerflotte, und andere wieder werden in den verschiedensten Handelszweigen untergebracht werden. In der Zwischenzeit aber steht es euch frei, euch in Tetrahyde umzusehen.« Als ihn die Männer verständnislos anblickten, fügte er erklärend hinzu: »Tetrahyde ist die Stadt, in der ihr euch befindet. Es ist die größte Stadt auf Omega.« Er dachte einen Augenblick nach. »Genauer gesagt, es ist die einzige Stadt auf Omega.« »Was bedeutet der Name Tetrahyde?« fragte Joe. »Woher soll ich das wissen?« antwortete der Quaestor stirnrunzelnd. »Ich nehme an, es ist einer jener alten Namen, die immer wieder auftauchen. Jedenfalls – seht euch vor, wenn ihr ausgeht.« »Warum?« fragte Barrent. Der Quaestor grinste. »Das, Peon, ist etwas, was du selbst schnell genug herausfinden wirst.« Er drehte sich um und verließ die Baracke. Barrent ging zum Fenster. Von hier aus konnte er einen verlassenen Platz überblicken und dahinter einige Straßen von Tetrahyde. »Willst du ausgehen?« fragte Joe. »Natürlich«, antwortete Barrent. »Kommt jemand mit?« Der kleine Betrüger schüttelte den Kopf. »Ich glaube, daß ich hier besser aufgehoben bin.« »Foeren, wie steht’s mit dir?« »Mir ist das auch nicht geheuer«, erwiderte Foeren. »Scheint mir besser, erst mal ein bißchen in der Nähe der Baracken zu bleiben.« »Lächerlich«, sagte Barrent. »Die Stadt gehört jetzt auch uns. Kommt denn niemand mit?« Foeren blickte sich unsicher um und zog die breiten Schultern in die Höhe, während er den Kopf schüttelte. Auch Joe zuckte die Achseln und lehnte sich auf seinem Bett zurück. Die anderen blickten nicht einmal auf.
»Also gut«, sagte Barrent. »Ich werde euch nachher Bericht erstatten.« Er wartete noch einen Augenblick, ob nicht doch noch jemand seine Meinung änderte, dann ging er zur Tür hinaus. Tetrahyde bestand aus einer Ansammlung von Gebäuden auf einer schmalen Halbinsel, die in ein ruhiges graues Meer hinausragte. Gegen das Landinnere zu war die Halbinsel durch eine hohe Steinmauer begrenzt. Darin waren Tore und Schilderhäuschen eingelassen. Das größte Gebäude der Halbinsel war die Arena, die einmal im Jahr für die Spiele verwendet wurde. Daneben standen einige Regierungsgebäude. Barrent schritt durch die schmalen Straßen; er blickte sich neugierig nach allen Seiten um, um sich ein Bild von seiner neuen Heimat zu machen. Die gewundenen, ungepflasterten Straßen und die dunklen, vom Wetter gezeichneten Häuser rührten an irgend etwas Unfaßbares in seiner Erinnerung. Er hatte einen Ort wie diesen schon einmal auf der Erde gesehen, aber er konnte ihn sich nicht genauer vorstellen. Dieser Gedanke verfolgte ihn, aber soviel er sich anstrengte, er konnte sich an nichts Konkretes erinnern. Nachdem er an der Arena vorbei war, kam er in den Hauptgeschäftsteil von Tetrahyde. Voller Interesse las er die Inschriften über den Läden: DOKTOR OHNE LIZENZ – ABTREIBUNGEN WERDEN SOFORT VORGENOMMEN. Und ein Stück weiter: UNBESTELLTER ANWALT. POLITISCHE PROTEKTION! Das alles erschien Barrent seltsam. Er ging weiter und kam an Läden vorbei, die gestohlene Waren anpriesen, und dann zu einem, an dem stand: ACHTUNG! HIER ARBEITEN MUTANTEN! HIER WIRD IHRE VERGANGENHEIT AUF DER ERDE AUFGEDECKT! Barrent war versucht einzutreten. Aber er erinnerte sich daran, daß er kein Geld besaß. Und Omega schien ihm ganz danach auszusehen, als hätte Geld hier einen hohen Wert. Er ging eine Seitenstraße hinunter, an mehreren Restaurants vorbei und gelangte zu einem großen Gebäude. GIFT-INSTITUT, las er: GUTE KONDITIONEN, KUNDENFREUNDLICHE ZAHLUNGSFRISTEN. PROMPTE BEDIENUNG GARANTIERT ODER GELD ZURÜCK. Und auf der nächsten Tür: MÖRDERINNUNG, TELEFON 452.
Wegen der Rede des Uniformierten auf dem Schiff hatte Barrent angenommen, daß das Leben auf Omega dazu bestimmt war, die Kriminellen zu rehabilitieren. Nach den Aufschriften der Läden zu urteilen, war das keineswegs der Fall; oder wenn, dann ging diese Rehabilitierung höchst sonderbare Wege. Tief in Gedanken versunken, ging er weiter. Dann bemerkte er plötzlich, daß die Leute einen großen Bogen um ihn machten. Sie starrten ihn an und duckten sich in Hauseingänge. Eine ältere Frau rannte entsetzt davon. Stimmte etwas nicht mit ihm? Lag es an seiner Gefängnisuniform? Unwahrscheinlich – denn die Leute von Omega hatten viele davon gesehen. Aber was war es denn? Die Straße war jetzt fast ausgestorben. Ein Ladeninhaber in seiner Nähe ließ hastig ein Gitter vor seiner Auslage herab. »Was ist los?« fragte ihn Barrent. »Was geht hier vor?« »Bist du von Sinnen?« antwortete der Mann. »Heute ist doch Landungstag!« »Ich verstehe nicht.« »Landungstag!« wiederholte der Ladeninhaber. »Der Tag, an dem das Schiff mit den Gefangenen landet. Mach, daß du zurück in deine Baracke kommst, du Idiot!« Er ließ das letzte Stahlgitter herab und verschloß es. Barrent fühlte plötzlich Angst in sich aufsteigen. Irgend etwas stimmte nicht. Er mußte so schnell wie möglich zurück in das Lager. Es war dumm von ihm gewesen, nicht mehr über die Gebräuche von Omega zu erfragen, bevor er… Drei Männer kamen auf ihn zu. Sie waren gut gekleidet, jeder trug im linken Ohr den goldenen Ohrring eines Hadjis. Alle drei waren bewaffnet. Barrent wollte in die andere Richtung davongehen, als einer der Männer rief: »Halt, Peon!« Barrent sah, daß die Hand des Mannes in gefährlicher Nähe der Waffe war. Er blieb stehen. »Was ist los?« fragte er.
»Landungstag«, antwortete der Mann. Er sah seine Freunde an. »Wer ist zuerst dran?« »Wir werden es auslosen.« »Hier ist eine Münze.« »Nein, lieber knobeln.« »Fertig? Eins, zwei, drei!« »Er gehört mir«, sagte der Hadji zur Linken. Seine Freunde traten zurück, als er den Revolver zog. »Halt!« schrie Barrent. »Was geht hier vor?« »Ich werde dich erschießen«, erklärte der Hadji. »Aber warum?« Der Mann lächelte. »Weil das ein Vorrecht eines Hadjis ist. Am Landungstag haben wir das Recht, jeden neuen Peon niederzuknallen, der die Baracken verläßt.« »Aber das hat mir niemand gesagt!« »Natürlich nicht«, antwortete der Mann. »Wenn ihr neuen Leute das wüßtet, würde am Landungstag doch keiner mehr die Baracken verlassen. Und das würde den ganzen Spaß verderben.« Er legte an. Barrent reagierte fast automatisch. Er warf sich zu Boden und hörte ein zischendes Geräusch; dicht hinter ihm zeichnete sich auf der Backsteinfront ein verbrannter Fleck ab. »Jetzt bin ich dran«, sagte einer der beiden anderen. »Tut mir leid, mein Lieber. Aber ich glaube, ich komme zuerst.« »Das Alter hat den Vorrang, mein Freund. Mach Platz!« Bevor der nächste richtig zielen konnte, war Barrent auf die Füße gesprungen und rannte davon. Für den Augenblick kam ihm die stark gewundene Straße zu Hilfe, aber er konnte die Schritte seiner Verfolger dicht hinter sich hören. Sie liefen mit ruhiger Gelassenheit, als wären sie ihrer Beute sicher. Barrent beschleunigte seine Schritte und bog in eine Seitengasse ein, bemerkte aber sofort, daß das ein Fehler gewesen war. Er war in eine Sackgasse geraten. Die Hadjis kamen immer näher.
Barrent blickte sich verzweifelt um. Alle Läden und Hauseingänge waren fest verschlossen. Nirgends konnte er sich verstecken oder Deckung suchen. Und dann erspähte er in der Richtung, aus der seine Verfolger kamen, ein paar Häuserblocks weiter einen offenen Hauseingang. Er war direkt daran vorbeigelaufen. Ein Schild über der Tür verkündete: SCHUTZGESELLSCHAFT FÜR OPFER. Genau das Richtige für mich, dachte Barrent. Er rannte darauf zu, fast bis zu den erstaunt dreinblickenden Hadjis. Ein einzelner Schuß zischte knapp vor seinem Füßen vorbei; dann hatte er den Eingang erreicht und stürzte hindurch. Er raffte sich wieder auf. Seine Verfolger waren draußen zurückgeblieben; er konnte ihre Stimmen auf der Straße hören. Leidenschaftlich diskutierten sie weitere Möglichkeiten, ihn zu fangen. Barrent vergegenwärtigte sich, daß er eine Art Zufluchtsstätte betreten hatte. Er befand sich in einem großen, hell erleuchteten Raum. Auf einer Bank dicht neben der Tür saßen mehrere zerlumpte Gestalten. Sie lachten über irgend etwas. In einiger Entfernung von ihnen hockte ein dunkelhaariges Mädchen und beobachtete ihn mit großen ruhigen Blicken. Am anderen Ende des Raums stand ein Tisch, hinter dem ein Mann saß. Er winkte Barrent. Barrent schritt auf den Tisch zu. Der Mann dahinter war klein und trug eine Brille. Er lächelte ermutigend und wartete darauf, daß Barrent etwas sagte. »Ist dies hier die Schutzgesellschaft für Opfer?« fragte Barrent. »Ganz recht, mein Herr«, antwortete der Mann. »Ich bin Rondolp Frendlyer, der Präsident dieser uneigennützigen Organisation. Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Darum möchte ich Sie bitten«, stimmte Barrent zu. »Genaugenommen bin ich ein Opfer.« »Das stellte ich gleich auf den ersten Blick fest«, sagte Frendlyer und lächelte ihm freundlich zu. »Sie haben so was im Blick, eine Mischung von Furcht, Ungewißheit und Wut. Das ist unübersehbar.«
»Sehr interessant«, antwortete Barrent mit einem kurzen Seitenblick zur Tür. Er fragte sich, wie lange man draußen diese Zufluchtsstätte respektieren würde. »Mister Frendlyer, leider bin ich kein Mitglied Ihrer Organisation –« »Das spielt keine Rolle«, beruhigte ihn Frendlyer. »Ein Beitritt in unsere Organisation erfolgt notwendigerweise immer spontan. Man tritt bei, wenn sich gerade die Gelegenheit ergibt. Unsere Absicht ist es, die äußerlichen Rechte aller Opfer zu schützen.« »Jawohl. Also – draußen sind drei Männer, die mich zu töten versuchen.« »Ich verstehe«, sagte Frendlyer. Er öffnete die Schublade des Tischs und holte ein dickes Buch hervor. Er blätterte es flink durch, bis er gefunden hatte, was er suchte. »Sagen Sie, haben Sie den Status dieser drei Männer festgestellt?« »Ich glaube, es waren Hadjis«, antwortete Barrent. »Jeder trug einen goldenen Ohrring im linken Ohr.« »Ganz recht. Und heute ist Landungstag. Sie kamen von dem Schiff, das heute gelandet ist, und wurden als Peon klassifiziert. Habe ich recht?« »Ja.« »Dann freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können, daß alles in bester Ordnung ist. Die Jagdzeit des Landungstages endet bei Sonnenuntergang. Sie können von hier mit der festen Versicherung weggehen, daß alles in Ordnung ist und Ihre Rechte in keiner Weise verletzt worden sind.« »Hier weggehen? Nach Sonnenuntergang, wollten Sie sagen!« Mr. Frendlyer schüttelte den Kopf und lächelte bedauernd. »Leider nicht. Gemäß den Gesetzen müssen Sie uns sofort verlassen.« »Aber die draußen werden mich umbringen!« »Das ist allerdings wahr«, antwortete Frendlyer. »Unglücklicherweise läßt sich daran nichts ändern. Ein Opfer ist seiner Definition nach jemand, der getötet werden soll.« »Ich dachte, dies wäre eine Organisation zu seinem Schutz.«
»Das ist sie auch. Aber wir schützen Rechte, nicht Opfer. Ihre Rechte sind nicht verletzt worden. Die Hadjis haben das Recht, Sie am Landungstag zu töten – und zwar jederzeit vor Sonnenuntergang, wenn Sie sich nicht in den Baracken befinden. Sie dagegen, das könnte ich vielleicht noch hinzufügen, haben das Recht, jeden zu töten, der versucht, Sie umzubringen.« »Aber ich besitze keine Waffe«, wandte Barrent ein. »Opfer haben nie eine Waffe«, erklärte Frendlyer. »Das macht doch den ganzen Unterschied aus, finden Sie nicht? Aber ob Waffe oder nicht, jetzt müssen Sie leider wieder gehen.« Barrent konnte noch immer die trägen Stimmen der Hadjis vor der Tür in der Gasse hören. »Haben Sie hier eine Hintertür?« fragte er. »Tut mir leid.« »Dann werde ich einfach hierbleiben.« Noch immer lächelnd, öffnete Frendlyer eine andere Schublade und holte eine Pistole hervor. Er zielte auf Barrent und sagte: »Sie müssen jetzt wirklich gehen. Sie können Ihr Glück bei den Hadjis versuchen oder aber hier sterben – ohne jede Chance.« »Leihen Sie mir Ihre Waffe«, bat Barrent. »Das ist verboten«, entgegnete Frendlyer. »Man kann schließlich kein Opfer mit einer Waffe frei herumlaufen lassen, verstehen Sie das nicht? Da käme ja alles durcheinander.« Er entsicherte die Waffe. »Wollen Sie jetzt gehen oder nicht?« Barrent rechnete sich seine Chance aus, wenn er auf den Tisch zustürzte, um dem anderen die Pistole zu entreißen, und mußte sich eingestehen, daß ihm das nicht gelingen würde. Er drehte sich um und ging langsam auf die Tür zu. Die zerlumpten Männer lachten noch immer über irgendeinen Witz. Das dunkelhaarige Mädchen hatte sich von der Bank erhoben und stellte sich dicht neben die Tür. Als er sich ihr näherte, sah Barrent, daß sie sehr hübsch war. Verwundert fragte sich Barrent, welches Verbrechen sie begangen haben mochte, um von der Erde deportiert zu werden. Als er an ihr vorbeiging, fühlte er plötzlich etwas Hartes an der Seite. Er griff danach und hielt eine kleine, aber sehr leistungsfähig aussehende Pistole in der Hand.
»Viel Glück«, sagte das Mädchen. »Ich hoffe, Sie wissen, wie man sie handhabt.« Barrent nickte ihr dankbar zu. Er war sich dessen nicht ganz sicher, aber er wollte es gern herausfinden.
4 Außer den drei Hadjis befand sich niemand in der Gasse. Sie standen etwa fünfzehn Meter entfernt und unterhielten sich ruhig. Als Barrent heraustrat, gingen zwei von ihnen ein paar Schritte zurück; der dritte fixierte ihn scharf, die Waffe lässig in der Hand haltend. Als er bemerkte, daß Barrent bewaffnet war, legte er schnell an. Barrent warf sich zu Boden und zog den Abzug der ungewohnten Waffe. Er fühlte, wie sie in seiner Hand erzitterte, und sah, wie der Kopf und die Schultern des Hadjis schwankten und zu zerfallen begannen. Bevor er auf die anderen beiden anlegte, wurde die Waffe mit einem heftigen Ruck seiner Hand entrissen. Der Schuß des sterbenden Hadjis hatte den Lauf gestreift. Verzweifelt stürzte Barrent auf die Pistole zu, er wußte, daß er sie kaum rechtzeitig erreichen würde. Seine Haut juckte in Erwartung des tötenden Schusses. Er rollte auf die Pistole zu, noch immer erstaunlich lebendig, und legte auf den zweiten Hadji an. Gerade noch rechtzeitig konnte er den Schuß zurückhalten. Die Hadjis hatten ihre Pistolen wieder eingesteckt. Einer von ihnen sagte: »Armer alter Draken. Er lernte es einfach nicht, schnell abzufeuern.« »Mangel an Praxis«, antwortete der andere. »Draken hat nie viel Zeit auf dem Übungsstand verbracht.« »Wenn du mich fragst, so war das eine gute Lehre. Man darf nie aus der Übung kommen.« »Und«, fügte der erste hinzu, »man darf selbst einen Peon nicht unterschätzen.« Er blickte Barrent an. »Feiner Schuß, mein Lieber.« »Ja, wirklich ganz nett«, stimmte der andere zu. »Es ist schwierig, aus der Bewegung heraus genau zu treffen.«
Barrent erhob sich zitternd. Er hielt noch immer die Waffe des Mädchens in der Hand, um bei der ersten verdächtigen Bewegung schießen zu können. Aber die Hadjis gaben sich unbefangen. Sie schienen den Vorfall als abgeschlossen zu betrachten. »Und was nun?« fragte Barrent. »Nichts«, antwortete der eine Hadji. »Am Landungstag darf jeder Mann oder jede Jagdgesellschaft nur ein einziges Opfer stellen. Danach scheidet man aus.« »Es ist wirklich kein sehr wichtiger Feiertag«, sagte der andere. »Nicht wie die Spiele oder die Lotterie.« »Alles, was Sie jetzt noch tun können, ist, zum Registrierbüro zu gehen und Ihre Erbschaft anzutreten.« »Meine was?« »Ihre Erbschaft«, erklärte der Hadji geduldig. »Sie haben Anspruch auf das gesamte Vermögen Ihres Opfers. In Drakens Fall allerdings fürchte ich, ist das nicht allzu viel.« »Er ist nie ein guter Geschäftsmann gewesen«, bemerkte der andere mitleidig. »Trotzdem – Sie werden etwas erhalten, das Ihnen den Start erleichtert. Und da Sie einen autorisierten Mord verübt haben – obgleich einen ziemlich ungewöhnlichen –, steigen Sie im Rang auf. Sie werden ein freier Bürger.« Die Straße hatte sich inzwischen wieder belebt. Menschen eilten hin und her, und die Ladenbesitzer zogen die Gitter und Türen auf. Ein Lastwagen mit der Aufschrift, »Leichenabfuhr, EINHEIT 5« kam angefahren, und vier uniformierte Männer luden Drakens Körper auf. Das normale Leben ging weiter. Diese Tatsache bestätigte Barrent mehr als die Versicherung der Hadjis, daß die augenblickliche Gefahr vorbei war. Er steckte die Waffe des Mädchens in die Tasche. »Das Registrierbüro liegt in dieser Richtung«, sagte einer der Hadjis. »Wir werden als Ihre Zeugen auftreten.« Barrent verstand die Situation noch immer nicht völlig, aber da sich die Dinge zu seinen Gunsten zu entwickeln schienen, entschied er, alles
ohne weitere Fragen zu akzeptieren. Später würde er genügend Zeit haben herauszufinden, was sich eigentlich abspielte. In Begleitung der beiden Hadjis ging er zum Registrierbüro am Gunpoint Square. Dort hörte sich ein gelangweilter Angestellter die ganze Geschichte an, überreichte ihm Drakens Geschäftspapiere und schrieb Barrents Namen über den von Draken. Barrent stellte fest, daß schon mehrere andere Namen darunter gestanden hatten. In Tetrahyde schienen die Geschäfte recht schnell von einer Hand in die andere überzugehen. Er stellte fest, daß er jetzt der Besitzer eines Antidotenladens am Blaser Boulevard 3 war. Die Geschäftspapiere erkannten Barrent offiziell als freien Bürger an. Der Beamte überreichte ihm einen Standesring, der aus Kugelblei gefertigt war, und riet ihm, sich so bald als möglich Zivilkleidung anzuziehen, um unangenehme Zwischenfälle zu vermeiden. Wieder draußen, wünschten ihm die Hadjis viel Glück. Barrent entschloß sich, erst einmal sein neues Geschäft anzusehen. Blaser Boulevard war eine kurze Gasse, die zwei Hauptstraßen einander verband. Fast genau in der Mitte befand sich ein Geschäft mit der Aufschrift: ANTIDOTENLADEN. Und darunter stand: ALLE ARTEN VON GEGENGIFT – TIERISCHE, PFLANZLICHE ODER MINERALISCHE. TRAGEN SIE STETS UNSERE PRAKTISCHE ›DO IT YOURSELF‹-BOX BEI SICH! DREIUNDZWANZIG ANTIDOTE IN EINEM HANDLICHEN TASCHENBEHÄLTER! Barrent schloß die Tür auf und trat ein. Hinter einem niedrigen Ladentisch sah er deckenhohe Regale mit beschrifteten Flaschen darauf; Kannen und Kartons und viereckige Glasschalen mit seltsam geformten Blättern, Zweigen und Pilzen. Hinter dem Tisch waren auf einem Brett einige Bücher aufgereiht, mit Titeln wie: Schnelle Diagnosen bei akuten Vergiftungen: Die Arsen-Familie oder Die Abkömmlinge von Henbane. Es war offensichtlich, daß Vergiftungen im täglichen Leben von Omega eine große Rolle spielten. Dies war ein Laden – und folglich gab es auch noch andere –, der sich einzig und allein damit beschäftigte,
Antidote zu verkaufen. Barrent dachte darüber nach und stellte fest, daß er zwar ein seltsames, aber ehrliches Geschäft geerbt hatte. Er würde die Bücher studieren und herauszufinden versuchen, wie solch ein Antidotenladen geführt wurde. Der Laden hatte einen hinteren Teil mit einem Wohnraum, einem Schlafzimmer und einer Küche. In einem der Schränke fand Barrent einen schlechtsitzenden Anzug eines freien Bürgers in Schwarz, den er überzog. Er zog die Waffe des Mädchens aus der Gefängniskleidung, wog sie in der Handfläche und steckte sie dann in die Tasche seines neuen Anzugs. Er verließ den Laden und machte sich auf den Weg zurück zur Schutzgilde der Opfer. Die Tür war noch immer offen, und auch die drei zerlumpten Gestalten hockten noch immer auf der Bank. Jetzt lachten sie nicht mehr. Das lange Warten schien sie ermüdet zu haben. Am anderen Ende des Raumes saß Mr. Frendlyer hinter seinem Schreibtisch und las in einem dicken Stoß Papiere. Von dem Mädchen war nichts zu sehen. Barrent ging auf den Tisch zu, und Frendlyer erhob sich, um ihn zu begrüßen. »Meinen Glückwunsch!« sagte er. »Mein lieber Freund, meinen herzlichsten Glückwunsch! Das war wirklich ein ausgezeichneter Schuß. Und noch dazu in Bewegung!« »Danke«, antwortete Barrent. »Der Grund, weswegen ich hierher zurückkam –« »Ich weiß«, unterbrach ihn Frendlyer. »Sie möchten in Ihren Rechten und Pflichten als freier Bürger unterrichtet werden. Das ist doch ganz natürlich. Wenn Sie auf der Bank da drüben Platz nehmen wollen, werde ich –« »Das ist eigentlich nicht der Grund meines Kommens«, erklärte Barrent. »Natürlich möchte ich mich auch über meine Rechte und Pflichten informieren. Aber im Moment möchte ich das Mädchen finden.« »Ein Mädchen?«
»Sie saß hier auf der Bank, als ich vorhin hier hereinkam. Sie hat mir die Pistole gegeben.« Mr. Frendlyer sah ihn erstaunt an. »Bürger, Sie müssen unter einer Täuschung leiden. In diesem Büro ist den ganzen Tag noch kein Mädchen gewesen.« »Sie hat auf jener Bank dicht bei den drei Männern gesessen. Ein sehr hübsches dunkelhaariges Mädchen. Sie müssen sie gesehen haben.« »Natürlich hätte ich sie bemerkt, wenn sie hiergewesen wäre«, antwortete Frendlyer, mit den Augen zwinkernd. »Aber, wie ich schon vorhin betonte, hat heute noch keine Frau mein Büro betreten.« Barrent starrte ihn an und zog die Pistole aus der Tasche. »Woher habe ich das hier denn sonst?« »Ich habe sie Ihnen geliehen«, antwortete Frendlyer. »Ich bin froh, daß Sie sie erfolgreich gebrauchen konnten, aber jetzt hätte ich sie wirklich gern wieder zurück.« »Sie lügen«, sagte Barrent und umklammerte die Pistole fest. »Fragen wir doch die Männer da.« Er ging zu der Bank, Frendlyer folgte ihm. Er sprach den Mann an, der am dichtesten neben dem Mädchen gesessen hatte. »Wohin ist das Mädchen gegangen?« Der Mann hob das ausdruckslose, unrasierte Gesicht und fragte: »Über welches Mädchen sprechen Sie, Bürger?« »Über das, das hier direkt neben Ihnen gesessen ist.« »Ich habe niemand bemerkt. Rafeel, hast du hier ein Mädchen sitzen sehen?« »Ich nicht«, antwortete Rafeel, »und ich sitze hier schon seit zehn Uhr morgens.« »Ich habe auch niemanden bemerkt«, sagte der dritte Mann. »Und dabei habe ich gute Augen.« Barrent wandte sich wieder an Frendlyer. »Warum lügen Sie mich an?« »Ich habe Ihnen nichts als die Wahrheit gesagt«, antwortete Frendlyer. »Den ganzen Tag ist noch kein Mädchen hiergewesen. Ich habe Ihnen die Pistole geliehen, das ist mein gutes Recht als Präsident der
Schutzinnung der Opfer. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie mir zurückgeben würden.« »Das werde ich nicht tun«, sagte Barrent. »Ich werde die Pistole behalten, bis ich das Mädchen gefunden habe.« »Das wäre nicht klug«, sagte Frendlyer und fügte hastig hinzu: »Diebstahl unter diesen Umständen ist nicht entschuldbar.« »Das Risiko nehme ich auf mich«, antwortete Barrent. Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Schutzgilde der Opfer.
5 Barrent brauchte einige Zeit, um sich von seinem etwas ereignisreichen Eintritt in das Leben auf Omega zu erholen. Vor wenigen Stunden hatte er sich im hilflosen Stadium eines Neugeborenen befunden – und nun hatte er einen Mord begangen und war Besitzer eines Antidotenladens. Von einer vergessenen Vergangenheit auf einem Planeten namens Erde war er in eine zweifelhafte Gegenwart in einer Welt voller Krimineller geworfen worden. Er hatte einen kleinen Einblick in eine komplizierte Klassenstruktur gewonnen und einen Hinweis dafür erhalten, daß er in ein festgelegtes Programm von Verbrechen und Morden geraten war. Er hatte in sich selbst ein gewisses Maß an Selbstvertrauen entdeckt und auch eine außerordentliche Behendigkeit im Umgehen mit einer Pistole. Er wußte, daß es noch eine gewaltige Menge mehr Wissenswertes über Omega, die Erde und ihn selbst herauszufinden galt. Aber alles der Reihe nach. Zuerst mußte er sich einmal seinen Lebensunterhalt verdienen. Und um das tun zu können, mußte er sich über Gifte und Gegengifte informieren. Er bezog die Wohnung im hinteren Teil seines Ladens und begann, die Bücher des verstorbenen Hadji Draken zu studieren. Die Literatur über Gifte war faszinierend. Es gab die Pflanzengifte, wie man sie auf der Erde kannte, Nieswurz, Setzkraut, Nachtschatten und Eibenbaum. Er erfuhr etwas über die Wirkung des Schierlings – den einleitenden Rausch und die nachfolgenden Krämpfe. Es gab Blausäurevergiftungen von Mandeln und vom Fingerhut. Da gab es die
furchtbare Wirksamkeit von Wolfsgift mit seinem tödlichen Gehalt an Eisenhut. Aber die Pflanzengifte stellten trotz ihrer erschreckenden Reichhaltigkeit nur einen Teil seines Studienprogramms dar. Er mußte die Tiere des Landes, der Luft und die aus dem Wasser studieren, die verschiedenen Arten tödlicher Spinnen, die Schlangen, Skorpione und riesigen Wespen. Außerdem gab es eine imponierende Zahl metallischer Gifte, wie Arsen, Quecksilber und Wismut. Da waren die Ätzmittel – Salpetersäure, Hydrochlorid, Phosphor und Schwefelsäure. Und dazu kamen noch die Gifte, die von den verschiedensten Stoffen destilliert oder gewonnen worden waren, unter ihnen Strychnin, Ameisensäure und dergleichen mehr. Für jedes Gift waren ein oder mehrere Antidote verzeichnet; aber diese komplizierten, sorgfältig beschriebenen Stoffe waren häufig nicht wirksam, fürchtete Barrent. Um die Angelegenheit noch schwieriger zu machen, schien die Wirksamkeit eines Gegengiftes von einer korrekten Diagnose eines Giftagenten abzuhängen. Und nur allzuoft wiesen mehrere Gifte die gleichen Symptome auf. Barrent dachte über all diese Probleme nach, während er die Bücher durchstudierte. Zwischendurch bediente er mit einiger Nervosität seine ersten Kunden. Er fand heraus, daß viele seiner Befürchtungen grundlos gewesen waren. Trotz der Dutzende tödlicher Substanzen, die das Giftinstitut anpries, hielten sich die meisten Giftmischer engstirnig an Arsen oder Strychnin. Diese Gifte waren billig, sicher und sehr schmerzhaft. Blausäure hatte einen leicht erkennbaren Geruch, Quecksilber war schwierig zu erhalten, und die Ätzmittel, obgleich außerordentlich spektakulär, waren auch für den, der sie anwendete, nicht ganz ungefährlich. Wolfsgift war natürlich sehr gut; Nachtschatten auch nicht zu verachten, und die Giftpilze besaßen einen eigenen Charme. Aber all dies waren die Gifte einer älteren, besinnlicheren Generation. Die ungeduldigen jüngeren Leute der Gegenwart – vor allem die Frauen, die fast 90 Prozent aller Giftmischer auf Omega ausmachten – gaben sich einfach mit Arsen oder Strychnin zufrieden, wie die Gelegenheit sich gerade anließ.
Die Frauen von Omega waren konservativ. Sie interessierten sich absolut nicht für die nie endenden Verbesserungen der Giftkunst. Die Mittel kümmerten sie nicht; nur das Ende, das so schnell und billig wie möglich erreicht werden sollte. Die Frauen von Omega waren wegen ihres gesunden Menschenverstandes berühmt. Obgleich die eifrigen Theoretiker des Giftinstituts sich bemühten, zweifelhafte Mixturen von Kontaktgiften zu verkaufen, und sich große Mühe gaben, komplizierte Systeme der verschiedensten Stoffe aufzubauen, so fanden sich doch nur sehr wenige weibliche Interessenten dafür. Einfaches Arsen und schnellwirkendes Strychnin bildeten die begehrtesten Artikel in diesem Handelszweig. Dies vereinfachte Barrents Arbeit natürlich erheblich. Seine Gegenmittel – für sofortiges Erbrechen, Säuberung des Magens oder neutralisierende Stoffe – waren leicht herzustellen. Einige Schwierigkeiten hatte er mit Männern, die es strikt ablehnten, daß man sie mit so simplen Stoffen wie Arsen oder Strychnin vergiftet haben sollte. In diesen Fällen verschrieb Barrent ein Gemisch von Wurzeln, Kräutern, Blättern und einem leichten kurz anhaltenden Betäubungsgift. Aber danach ordnete er stets Erbrechungs- und Abführmittel an. Nachdem er sich etwas eingelebt hatte, besuchten ihn Danis Foeren und Joe. Foeren arbeitete vorübergehend in den Docks, wo er Fischerboote ent- und belud. Joe hatte ein nächtliches Pokerspiel für die Regierungsbeamten von Tetrahyde organisiert. Keiner der beiden hatte seinen Rang sonderlich verbessert; keinem war es gelungen, einen Mord zu verüben, so daß sie es nur bis zum Residenten zweiter Klasse gebracht hatten. Es machte sie ein wenig nervös, gesellschaftlichen Verkehr mit einem freien Bürger zu pflegen, aber Barrent half ihnen, diese Verlegenheit zu überbrücken. Sie waren die einzigen Freunde, die er auf Omega besaß, und er hatte nicht die Absicht, sie wegen gesellschaftlicher Vorurteile zu verlieren. Barrent konnte von ihnen nicht viel über die Gesetze und Gebräuche von Tetrahyde lernen. Selbst Joe war es nicht gelungen, Definitives von seinen Freunden in der Regierung zu erfahren. Auf Omega wurden die Gesetze geheimgehalten. Die älteren Einwohner benutzten ihr Wissen
dazu, sich gegenüber den Neuankömmlingen einen Vorteil zu verschaffen. Dieses System behauptete sich auf Grund der Doktrin, daß alle Menschen in Rang und Stellung ungleich wären – das war der Grundstein des ganzen Systems. Durch organisierte Ungleichheit und bewußt gefördertes Unwissen blieben Macht und gesellschaftlicher Rang in den Händen der älteren Einwohner. Natürlich konnte ein gewisser Prozentsatz an Aufsteigern nicht verhindert werden. Aber das Vorwärtskommen ließ sich hinauszögern und außerordentlich gefährlich machen. Die Art, wie man auf Omega Gesetzen und Bräuchen gegenübertreten mußte, war ein riskanter Prozeß von Versuch und Irrtum. Obgleich der Antidotenladen ihn die meiste Zeit in Anspruch nahm, setzte Barrent seine Versuche fort, das Mädchen zu finden. Aber es gelang ihm nicht einmal, nur den geringsten Hinweis zu erhalten, daß sie überhaupt existierte. Er freundete sich mit den Ladenbesitzern an, die neben ihm wohnten. Einer von ihnen, Demond Harrisbourg, war ein forscher junger Mann mit einem Schnurrbart, der ein Lebensmittelgeschäft unterhielt. Es war ein prosaisches und ziemlich albernes Unternehmen, wie sich Harrisbourg auszudrücken pflegte, aber, so fügte er stets hinzu, selbst Verbrecher mußten essen. Und dazu waren nun einmal Bauern, Transporteure, Großhändler und Lebensmittelgeschäfte notwendig. Harrisbourg behauptete, daß sein Beruf in keiner Weise denen nachstand, die sich mit Morden und ähnlichem auf Omega befaßten. Außerdem war der Onkel seiner Frau Minister für öffentliche Arbeit. Durch ihn erhoffte Harrisbourg ein Mord-Zertifikat zu erhalten. Mit diesem überaus wichtigen Dokument konnte er sechs Monate lang morden und sich bis zum Privileg-Bürger hinaufarbeiten. Barrent nickte zustimmend. Aber innerlich zweifelte er nicht daran, daß Harrisbourgs Frau, eine dürre, ruhelose Person, noch vorher versuchen würde, ihn zu vergiften. Sie schien nicht mit ihm zufrieden, und Scheidung war auf Omega verboten. Sein anderer Nachbar, Tem Rend, war ein schmächtiger Mann Anfang Vierzig. Eine Brandnarbe zog sich von seinem linken Ohr bis fast zum Mundwinkel über das Gesicht, ein Andenken, das ihm ein
hoffnungsvoller Anwärter auf eine Verbesserung seines Ranges verabreicht hatte. Aber anscheinend war er an den Falschen geraten. Tem Rend besaß eine Waffenhandlung, übte sich unaufhörlich und trug stets einige seiner Verkaufsgegenstände mit sich herum. Nach den Aussagen der Zeugen hatte er einen perfekten Gegenmord verübt. Tem träumte davon, einmal Mitglied der Mordgilde zu werden. Sein Antrag auf Beitritt in diese alte und strenge Organisation lief schon, und er hatte die berechtigte Hoffnung, innerhalb der nächsten Monate aufgenommen zu werden. Barrent kaufte von ihm eine Handwaffe. Auf Rends Rat hin entschied er sich für eine Jamiason-Tyre-Nadelstrahl-Pistole. Sie war schneller und treffsicherer als jede Projektilwaffe und hatte die gleiche Durchschlagskraft wie eine schwerkalibrige Kugel. Der Sicherheit halber hatte sie nicht die Streubreite wie die Hitzewaffen, die die Hadjis verwendeten und die noch bis zu einer Entfernung von eineinhalb Metern töteten. Aber weitstreuende Strahler waren nicht so genau. Es waren Waffen, die zu sorglosen Charakteren paßten. Jedermann konnte eine Hitzepistole abfeuern, aber um eine Nadelstrahlpistole wirkungsvoll zu gebrauchen, mußte man ständig üben. Und diese Übung machte sich bezahlt. Ein guter Nadelstrahl-Mann konnte leicht mit zwei Gegnern mit weitstreuenden Hitzepistolen fertig werden. Barrent nahm sich diesen Ratschlag zu Herzen, um so mehr, als er von einem Anwärter auf die Mördergilde und gleichzeitig dem Besitzer einer Waffenhandlung kam. Er verbrachte viele Stunden an Rends KellerSchießstand, beschleunigte seine Reaktionen und gewöhnte sich an den Schnellschuß-Halfter. Es gab eine Menge zu tun und zu lernen, nur um überhaupt zu überleben. Barrent scheute keine harte Arbeit, solange sie auf ein erstrebenswertes Ziel hinführte. Er hoffte, daß es für eine Weile ruhig bleiben würde, so daß er sein Wissen so weit wie möglich dem der älteren Bewohner anpassen konnte. Aber auf Omega blieben die Dinge nie lange ruhig. Eines Tages, als er am späten Nachmittag gerade seinen Laden zuschloß, trat ein ungewöhnlich aussehender Besucher zu ihm. Es war ein fünfzigjähriger schwer gebauter Mann mit harten und dunklen
Gesichtszügen. Um die Hüfte trug er einen Gürtel, an dem ein kleines schwarzes Buch und ein Dolch mit schwarzem Griff baumelten. Er machte den Eindruck ungewöhnlicher Stärke und Autorität. Barrent konnte seinen Rang nicht erkennen. »Ich wollte gerade schließen, Sir«, sagte Barrent, »aber wenn Sie irgend etwas kaufen wollen?« »Ich bin nicht gekommen, um etwas zu kaufen«, erwiderte der Besucher. Er erlaubte sich ein schwaches Lächeln. »Ich bin gekommen, um etwas zu verkaufen.« »Verkaufen?« »Ich bin ein Priester«, erklärte der Mann. »Sie sind neu in meinem Distrikt. Ich habe Sie nie beim Gottesdienst bemerkt.« »Ich hatte nicht gewußt –« Der Priester hob die Hand. »Bei dem heiligen Gesetz ist Unwissenheit keine Entschuldigung für die Nichterfüllung einer Pflicht. Im Gegenteil: Unwissenheit kann als ein Akt mutwilliger Vernachlässigung bestraft werden, das stützt sich auf das Gesetz der völligen persönlichen Verantwortlichkeit von 23, ganz zu schweigen vom Kleinen Kodizill.« Wieder lächelte er. »Jedoch ist bis jetzt noch kein Grund zur Züchtigung gegeben.« »Ich bin froh, das zu hören, Sir«, antwortete Barrent. »›Onkel‹ ist die richtige Form der Anrede«, erklärte der Priester. »Ich bin Onkel Ingemar und bin gekommen, um Ihnen von der orthodoxen Religion auf Omega zu erzählen. Das ist die Verehrung des reinen, transzendenten Teufelsgeistes, der unsere Inspiration und unseren Komfort bildet.« »Ich würde mich freuen, mehr über die Religion des Bösen zu erfahren, Onkel. Wollen wir in den Wohnraum gehen?« »Gewiß, Neffe«, sagte der Priester und folgte Barrent in die Wohnung im hinteren Teil des Ladens.
6 »Das Böse«, begann der Priester, nachdem er es sich in Barrents bestem Sessel bequem gemacht hatte, »ist die Kraft in uns, die uns dazu anregt, stark und duldsam zu sein. Die Verehrung des Bösen ist grundsätzlich die Verehrung unseres eigenen Ichs; und deshalb ist es auch die einzige wahre Verehrung. Das Ich, das man anbetet, ist das soziale Wesen; der Mensch begnügt sich mit seiner Stellung in der Gesellschaft, jedoch greift er nach jeder Gelegenheit, sie zu verbessern. Der Mensch, der dem Tod mit Würde begegnet, tötet doch selbst mit dem erniedrigenden Gefühl von Mitleid. Das Böse ist grausam, da es eine echte Widerspiegelung des sorglosen und unvernünftigen Universums ist. Das Böse ist unendlich und unabänderlich, obgleich es in den verschiedensten Lebensformen zu uns kommt.« »Möchten Sie einen Schluck Wein, Onkel?« fragte Barrent. »Danke, das ist sehr aufmerksam«, antwortete Onkel Ingemar. »Wie geht das Geschäft?« »Recht gut. Diese Woche ein wenig zögernd.« »Die Leute hegen nicht mehr das gleiche Interesse für Vergiftungen«, bemerkte der Priester, während er genußvoll an seinem Glas nippte. »Jedenfalls nicht so sehr wie zu meiner Jugend, als ich noch fast als Knabe von der Erde deportiert wurde. Doch ich sprach gerade über das Böse.« »Ja, Onkel.« »Wir verehren das Böse«, fuhr Onkel Ingemar fort. »In der fleischlichen Form des Schwarzen, dem gehörnten und furchtbaren Gespenst unserer Tage und Nächte. In dem Schwarzen finden wir die sieben Hauptsünden, die vierzig Kapitalverbrechen und die einhundertundein Vergehen. Es gibt kein Verbrechen, das der Schwarze noch nicht begangen hat – fehlerfrei, wie es seine Natur befiehlt. Deshalb eifern wir Unvollkommenen seiner Vollkommenheit nach. Und manchmal belohnt uns der Schwarze, indem er in seinem glühenden Fleisch vor uns erscheint. Ja, Neffe, ich selbst genieße den Vorzug, ihn gesehen zu haben. Vor zwei Jahren erschien er beim Abschluß der Spiele, und auch in dem Jahr davor.«
Einen Augenblick lang brütete der Priester über diese anbetungswürdige Erscheinung nach. Dann sagte er: »Da wir im Staat das höchste Potential für das Böse erkennen, verehren wir auch ihn als etwas Übermenschliches, obgleich weniger göttlich, schöpferisch.« Barrent nickte. Es fiel ihm schwer wachzubleiben. Onkel Ingemars monotone Stimme, die einen Vortrag über etwas so Alltägliches wie das Böse hielt, hatte auf ihn die Wirkung eines Schlafmittels. Er mußte dagegen ankämpfen, daß ihm die Augen zufielen. »Man darf sehr wohl fragen«, dröhnte Onkel Ingemars Stimme weiter, »ob das Böse das Höchste ist, was die Natur des Menschen erreichen kann. Warum hat dann der Schwarze die Existenz von irgend etwas Gutem im Universum zugelassen? Das Problem des Guten hat den nicht Erleuchteten generationenlang Kopfzerbrechen bereitet. Ich will es Ihnen erklären.« »Bitte«, ermunterte ihn Barrent und kniff sich heimlich in den Oberschenkel, um nicht völlig einzuschlafen. »Aber zuerst wollen wir uns über die Begriffe im klaren sein«, fuhr Onkel Ingemar fort. »Untersuchen wir doch einmal das Wesen des Guten. Blicken wir unserem großen Opponenten starr und furchtlos ins Gesicht und studieren wir die wahren Züge seines Antlitzes!« »Ja, tun wir das«, murmelte Barrent und fragte sich, ob er nicht lieber ein Fenster öffnen sollte. Seine Augenlider fühlten sich unbeschreiblich schwer an. Er rieb sie kräftig und versuchte aufzupassen. »Das Gute ist eine Illusion«, erklärte Onkel Ingemar mit seiner gleichmäßigen, monotonen Stimme, »das dem Menschen die nichtexistenten Attribute des Altruismus, der Demut und der Frömmigkeit zuschreibt. Wie können wir das Gute als eine Illusion erkennen? Weil es im ganzen Universum nur den Menschen und den Bösen gibt; und den Schwarzen zu verehren, ist der letzte Ausdruck unserer selbst. Da wir also somit bewiesen haben, daß das Gute eine Illusion ist, erkennen wir seine Attribute auch als nichtexistent an. Verstanden?« Barrent antwortete nicht. »Haben Sie das verstanden?« fragte der Priester nun schärfer.
»Wie?« machte Barrent. Er hatte mit offenen Augen gedöst. Er zwang sich aufzuwachen und sagte: »Ja, Onkel, das verstehe ich.« »Ausgezeichnet. Nachdem wir das begriffen haben, fragen wir, warum der Schwarze auch nur der Illusion des Guten in einem Universum des Bösen einen Platz einräumte. Die Antwort finden wir in dem Gesetz der notwendigen Gegensätzlichkeit; denn das Böse könnte nicht als solches erkannt werden, gäbe es keinen Kontrast dazu. Der beste Kontrast ist der Gegensatz. Und der Gegensatz des Bösen ist das Gute.« Der Priester lächelte triumphierend. »Das ist so einfach und klar, nicht wahr?« »Das ist es allerdings«, sagte Barrent. »Möchten Sie noch ein bißchen Wein?« »Nur einen winzigen Schluck«, antwortete der Priester. Er sprach noch weitere zehn Minuten über das natürliche und bewundernswürdige Böse, das den wilden Tieren der Felder und Wälder innewohnte, und riet Barrent, das Benehmen dieser einfachen, geradlinigen Kreaturen nachzuahmen. Schließlich stand er auf, um zu gehen. »Ich bin sehr froh, daß ich diese kleine Unterredung mit Ihnen führen konnte«, sagte er und schüttelte herzlich Barrents Hand. »Kann ich auf Ihr Erscheinen beim Montagsdienst rechnen?« »Montagsdienst?« »Natürlich«, sagte Onkel Ingemar. »Jeden Montagabend – um Mitternacht – halten wir am Wee Coven in der Kirkwood Drive eine Schwarze Messe ab. Nach dem Dienst richten die Hilfstruppen der Damen meistens einen kleinen Imbiß her, und dann wird getanzt und gesungen. Es ist sehr vergnüglich.« Er setzte ein breites Grinsen auf. »Wie Sie sehen, kann die Verehrung des Bösen ein netter Spaß sein.« »Dessen bin ich sicher«, antwortete Barrent. »Ich werde dort sein, Onkel.« Er geleitete den Priester zur Tür. Nachdem er sie wieder verschlossen hatte, dachte er sorgfältig über das nach, was Onkel Ingemar ihm gesagt hatte. Ohne Zweifel war der Besuch der Messe notwendig. Ja, er war geradezu zwingend. Er hoffte nur, daß die Schwarze Messe nicht so
höllisch langweilig war wie Onkel Ingemars Ausführungen über das Böse. Das war am Freitag. Während der nächsten Tage war Barrent ziemlich beschäftigt. Er erhielt eine Ladung homöopathischer Kräuter und Wurzeln von seinem Agenten aus dem Bloddpit-Distrikt. Es kostete ihn fast einen ganzen Tag, sie auszusortieren und einzuordnen, und einen weiteren Tag, sie in Gläser und Behälter zu füllen. Als er am Montag nach dem Essen in seinen Laden zurückkehrte, glaubte Barrent das Mädchen zu sehen. Er eilte ihr nach, verlor sie aber in der Menge aus den Augen. Als er dann später zu seinem Laden kam, fand er dort einen Brief unter der Türschwelle. Es war eine Einladung seines benachbarten Traumladens. Darauf stand: Lieber Bürger, wir ergreifen diese Gelegenheit, um Sie in unserer Nachbarschaft willkommen zu heißen, und weisen Sie auf unsere Dienste als die des besten Traumladens auf Omega hin. Alle Arten und Typen von Träumen stehen Ihnen bei uns zur Verfügung – zu einem erstaunlich niedrigen Preis. Wir sind auf Erinnerungsträume von der Erde spezialisiert. Sie können versichert sein, daß Ihr Ihnen benachbarter Traumladen nur das Beste, dem Leben fast Ähnliche an Träumen anbietet. Als freier Bürger werden Sie sich bald unserer Dienste bedienen wollen. Dürfen wir noch innerhalb der nächsten Wochen auf Ihren Besuch rechnen? Die Besitzer. Barrent legte den Brief aus der Hand. Er hatte keine Ahnung, was ein Traumladen war oder wie die Träume produziert wurden. Er würde es herausfinden müssen. Obgleich die Einladung sehr höflich abgefaßt war, so hatte sie doch einen ziemlich drohenden Unterton. Ganz ohne Zweifel war der Besuch eines Traumladens eine der Pflichten eines freien Bürgers. Natürlich konnte eine Pflicht auch zugleich ein Vergnügen bedeuten. Der Traumladen erschien ihm interessant. Und ein Traum, der eine
Erinnerung, ganz gleich welcher Art, an die Erde heraufbeschwor, war jeden Preis, den die Besitzer fordern mochten, wert. Aber dieser Besuch mußte noch etwas warten. Heute abend war Schwarze Messe, und dort war sein Erscheinen unumgänglich. Barrent verließ seinen Laden gegen elf Uhr nachts. Er wollte noch ein wenig durch die Straßen von Tetrahyde schlendern, bevor er die Messe aufsuchte, die um zwölf Uhr begann. Er begann seinen Spaziergang wohlgelaunt und mit dem Gefühl des Wohlergehens. Aber wegen des irrationalen und kaum kalkulierbaren Lebens von Omega wäre er fast, noch bevor er Wee Coven auf dem Kirkwood Drive erreichte, eine Leiche gewesen.
7 Es war heiß und fast erstickend feucht, als sich Barrent auf den Weg machte. Nicht das kleinste Lüftchen regte sich in den dunklen Straßen. Obgleich er nur ein schwarzes Netzhemd, Shorts, Pistolengürtel und Sandalen trug, fühlte sich Barrent wie in ein dickes Laken gewickelt. Die meisten Einwohner von Tetrahyde, ausgenommen jene, die schon bei den Coven waren, hatten sich in die Kühle ihrer Kellerräume zurückgezogen. Die dunklen Straßen lagen fast verlassen da. Barrent schlenderte langsam dahin. Die wenigen Leute, die ihm begegneten, eilten nach Hause. Ein Gefühl von Panik lag in dieser Eile. Barrent bemühte sich, den Grund dafür herauszufinden, aber niemand hielt an. Ein alter Mann rief ihm über die Schulter zu: »Machen Sie, daß Sie von der Straße verschwinden, Sie Idiot!« »Warum?« fragte Barrent. Der alte Mann brummte etwas Unverständliches und rannte weiter. Barrent ging nervös weiter und nestelte am Lauf seiner Strahlenwaffe. Irgend etwas stimmte nicht, aber er hätte nicht sagen können, was es war. Der nächste Unterschlupf war der Wee Coven, eine halbe Meile von ihm entfernt. Es erschien am klügsten, darauf zuzusteuern, wachsam zu bleiben und abzuwarten.
Nach wenigen Minuten befand sich Barrent allein in einer Stadt mit fest verriegelten Türen und Fenstern. Er bewegte sich in der Mitte der Straße, lockerte die Waffe und bereitete sich auf einen Angriff von jeder Seite vor. Vielleicht war dies eine besondere Art Feiertag wie der Landungstag. Vielleicht waren heute die freien Bürger Freiwild. Alles schien möglich auf Omega. Er glaubte, daß er auf jede Möglichkeit vorbereitet wäre. Aber als der Angriff kam, war es doch überraschend. Eine leichte Brise rührte die schwüle Luft. Sie ließ nach und wiederholte sich, diesmal stärker, und kühlte die heißen Straßen. Ein Wind durchfuhr die Straßen von Tetrahyde; er kam von den Bergen des Landinneren. Barrent fühlte, wie der Schweiß auf seinem Körper antrocknete. Ein paar Minuten lang fühlte er sich bei diesem Klima sehr wohl. Dann begann die Temperatur plötzlich zu fallen. Sie fiel mit rasender Geschwindigkeit. Eisige Luft drang ein. Das ist lächerlich, dachte Barrent, ich mache lieber, daß ich auf dem schnellsten Weg den Coven erreiche. Er beschleunigte seine Schritte, während es immer kälter wurde. Die ersten Anzeichen von Frost machten sich in den Straßen bemerkbar. Kälter kann es ja wohl kaum noch werden, dachte Barrent. Aber er täuschte sich. Ein heftiger Wind fegte durch die Straßen, und die Temperatur sank immer tiefer. Die Feuchtigkeit in der Luft verwandelte sich in Eiskörnchen. Durchgefroren bis auf die Knochen, rannte Barrent durch die leeren Straßen; der Wind, der jetzt mehr einem Sturm glich, zerrte von allen Seiten an ihm. Die Straßen glitzerten von Eis und waren spiegelglatt. Er rutschte aus und fiel hin; er mußte sich langsam vortasten, um nicht auszugleiten. Und die Temperatur fiel noch weiter ab; der Wind heulte und pfiff wie ein wütendes Raubtier. Durch ein fest verschlossenes Fenster fiel ein Lichtschein auf die Straße. Er hielt an und hämmerte dagegen, aber von innen kam keine Antwort. Ihm wurde bewußt, daß die Bewohner von Tetrahyde niemals jemandem halfen. Je mehr starben, um so größer war die Chance, selbst
zu überleben. Barrent stolperte weiter, seine Füße fühlten sich wie Holzklötze an. Der Wind heulte ihm in den Ohren, Hagelkörner, so groß wie eine Faust, prasselten zu Boden. Bald war er zu erschöpft, um zu laufen. Er schleppte sich nur noch mühsam voran – durch eine gefrorene weiße Welt. Seine einzige Hoffnung war der Wee Coven. Ging er stunden- oder jahrelang? An einer Ecke kam er an zwei Gestalten vorbei, die sich an die Mauer kauerten und schon völlig mit Rauhreif überzogen waren. Sie waren nicht weitergelaufen und zu Tode erstarrt. Barrent zwang sich wieder zu schnellerem Tempo. Ein Stechen in der Seite schmerzte ihn wie die Wunde eines Messerstichs; die Kälte kroch immer tiefer in Arme und Beine. Bald würde sie die Brust erreichen, und das würde das Ende bedeuten. Ein Prasseln von Hagelkörnern betäubte sein Gefühl. Er wurde sich bewußt, daß er auf dem Boden lag, die wenige Wärme, die sein Körper noch zu erzeugen vermochte, trug ein heftiger Sturm davon. Am anderen Ende des Häuserblocks konnte er das winzige rote Licht des Covens erkennen. Auf Händen und Knien kroch er darauf zu; er bewegte sich rein mechanisch und erwartete eigentlich nicht mehr, je dort hinzugelangen. Er kroch eine Ewigkeit, aber das rote Licht wurde nicht größer. Trotzdem bewegte er sich weiter und erreichte endlich die Tür des Covens. Er zog sich an ihr hoch und drehte den Türknauf. Die Tür war verriegelt. Schwach klopfte er dagegen. Nach einem Moment glitt ein Spalt auf. Ein Mann starrte ihn an; dann glitt der Spalt wieder zu. Er wartete darauf, daß die Tür sich öffnete. Sie öffnete sich nicht. Minuten vergingen, aber nichts geschah. Worauf warteten sie da drinnen noch? Barrent versuchte noch einmal, gegen die Türfüllung zu klopfen, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Er rutschte ein Stückchen weiter und starrte verzweifelt gegen die verschlossene Tür. Dann verlor er das Bewußtsein.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer Couch. Zwei Männer massierten ihm Arme und Beine, unter sich spürte er die Wärme von heißen Tüchern und Flaschen. Über sich erkannte er das breite dunkle Gesicht von Onkel Ingemar, der ihn ängstlich anstarrte. »Fühlen Sie sich besser?« fragte Onkel Ingemar. »Ich glaube, ja«, antwortete Barrent. »Warum haben Sie so lange gebraucht, um die Tür zu öffnen?« »Fast hätten wir sie überhaupt nicht aufgemacht«, erklärte der Priester. »Es ist gegen das Gesetz, Fremden in Not zu helfen: Da Sie unserer Gemeinschaft noch nicht angehörten, bedeuten Sie für uns einen Fremden.« »Und warum haben Sie mich dann überhaupt hereingelassen?« »Mein Assistent stellte fest, daß eine gerade Anzahl von Anbetern zugegen war. Wir benötigen aber eine ungerade Zahl, vorzugsweise eine, die mit drei endet. Wo die heiligen mit den weltlichen Problemen in Konflikt stehen, müssen die weltlichen nachgeben. Deshalb haben wir Sie trotz des Gesetzes der Regierung eingelassen.« »Eine alberne Bestimmung«, knurrte Barrent. »Eigentlich gar nicht. Wie die meisten Gesetze auf Omega besteht sie, um die Bevölkerungszahl möglichst niedrig zu halten. Omega ist ein äußerst unfruchtbarer Planet, müssen Sie wissen. Das ständige Eintreffen neuer Gefangener läßt die Bevölkerungszahl ständig ansteigen, und zwar zum enormen Nachteil der älteren Einwohner. Es müssen Wege und Mittel gefunden werden, um sich des Überschusses an Neuankömmlingen zu entledigen.« »Das ist nicht gerecht«, meinte Barrent. »Sie werden Ihre Meinung noch ändern, wenn Sie zu den älteren Einwohnern zählen«, sagte Ingemar. »Und bei Ihrer Zähigkeit bin ich überzeugt, daß Sie es so weit bringen werden.« »Vielleicht«, sagte Barrent. »Aber was war eigentlich los? Die Temperatur muß innerhalb von fünfzehn Minuten um etwa dreißig Grad gesunken sein.« »Dreiunddreißig Grad, um genau zu sein«, antwortete Onkel Ingemar. »Das ist ganz einfach. Omega ist ein Planet, der sich exzentrisch um ein
doppeltes Sternensystem dreht. Eine weitere Instabilität, so habe ich mir sagen lassen, kommt von dem seltsamen geologischen Aufbau – dazu die Lage der Berge und Seen. Das Ergebnis ist ein schlechtes Klima, das sich unter anderem in plötzlichen heftigen Temperaturschwankungen ausdrückt.« Der Assistent, ein kleiner, wichtigtuerischer Bursche, erklärte: »Es ist ausgerechnet worden, daß Omega an der äußersten Grenze der Planeten liegt, die menschliches Leben ermöglichen, ohne große künstliche Hilfe zu erfordern. Wenn die Schwankungen von kalt zu heiß und umgekehrt nur noch ein wenig stärker wären, so würden sie jedes menschliche Leben auslöschen.« »Es ist eine perfekte Strafkolonie«, bemerkte Onkel Ingemar voller Stolz. »Erfahrene Einwohner spüren, wenn eine Temperaturschwankung im Anzug ist, und begeben sich in die Häuser.« »Es ist – höllisch«, sagte Barrent, in Ermangelung eines anderen Begriffs. »Das beschreibt es auf das vollkommenste«, antwortete der Priester. »Es ist in der Tat höllisch, und deshalb auch wunderbar geeignet, um den Schwarzen anzubeten. Wenn Sie sich jetzt wohler fühlen, Bürger Barrent, können wir mit der Zeremonie fortfahren.« Außer ein paar Frostbeulen an Zehen und Fingerspitzen fühlte sich Barrent schon wieder munter. Er nickte und folgte dem Priester und den Gläubigen in den Hauptteil des Covens. Nach dem, was er gerade durchgemacht hatte, war die Schwarze Messe eher enttäuschend. Barrent döste in seinem gut gewärmten Kirchenstuhl, während Onkel Ingemar eine Predigt über die Notwendigkeit des Bösen im Alltagsleben hielt. Die Verehrung des Bösen, sagte Onkel Ingemar, sollte nicht nur Montag nachts stattfinden. Im Gegenteil! Das Wissen und Handeln im Bösen sollte das tägliche Leben würzen. Es war nicht jedem gegeben, ein großer Sünder zu sein, aber dadurch sollte sich niemand entmutigen lassen. Auch kleinere schlechte Taten, die sich über ein ganzes Leben erstreckten, setzten sich zu einem sündigen Ganzen zusammen, das den
Schwarzen erfreute. Niemand sollte vergessen, daß einige der größten Sünder, selbst die dämonischen Heiligen, oft bescheiden begannen. Hatte nicht Thrastus als ein einfacher Ladenbesitzer angefangen, der seine Kunden um eine Portion Reis betrog? Wer hätte erwartet, daß sich dieser einfache Mann einmal zu dem roten Totschläger von Thorndyke Lane entwickeln würde? Und wer hätte geahnt, daß Dr. Louen, der Sohn eines Hafenarbeiters, eines Tages die größte Autorität der Welt in der praktischen Anwendung von Foltern werden würde? Ausdauer und Frömmigkeit hatten es diesen Männern erlaubt, sich über ihre natürlichen Beschränkungen zu erheben – zu einer hervorragenden Position zur Rechten des Schwarzen. Und es bewies auch, daß das Böse für die Armen genauso da war wie für die Reichen, versicherte Onkel Ingemar. So endete die Predigt. Barrent erwachte sofort, als die geheiligten Symbole herausgebracht und der ehrfurchtsvollen Gemeinde dargereicht wurden – ein Dolch mit einem roten Griff und der Gipsabdruck einer Kröte. Während des langsamen Beschreibens des magischen Fünfecks schlief er wieder ein. Schließlich näherte sich die Zeremonie ihrem Ende. Die Namen der bösen Dämonen wurden verlesen – Bael, Forcas, Buer, Marchocias, Astaroth und Behemoth. Ein Gebet wurde aufgesagt, um die Wirkung des Guten zu verscheuchen. Und Onkel Ingemar entschuldigte sich dafür, daß er keine Jungfrau zur Verfügung hatte, um sie auf dem roten Altar zu opfern. »Unsere Fonds reichen nicht aus«, sagte er, »um eine von der Regierung bestätigte Peon-Jungfrau zu erwerben. Ich bin jedoch sicher, daß wir die volle Zeremonie am nächsten Montag nachholen können. Mein Assistent wird jetzt zu Ihnen kommen…« Der Assistent reichte den schwarzumränderten Sammelteller herum. Wie die anderen Anwesenden spendete Barrent großzügig. Es schien klug, das zu tun. Onkel Ingemar war offensichtlich sehr verärgert, daß er keine Jungfrau zum Opfern hatte. Wenn sich sein Zorn noch verstärkte, könnte er es sich in den Kopf setzen, irgend jemanden aus der Gemeinde zu opfern, ganz gleich, ob Jungfrau oder nicht…
Barrent blieb nicht zum Chorsingen und zum Gemeinschaftstanz. Als der offizielle Gebetsteil des Abends vorüber war, steckte er vorsichtig den Kopf durch den Türspalt nach draußen. Die Temperatur war wieder stark gestiegen, das Eis war inzwischen schon getaut. Barrent schüttelte dem Priester die Hand und eilte heimwärts.
8 Barrent hatte fürs erste genug von den Schrecken und Überraschungen, die Omega zu bieten hatte. Er entfernte sich kaum von seinem Laden, arbeitete im Geschäft und hielt die Augen offen. Allmählich gewann er den für Omega typischen Blick: ein schmales, argwöhnisches Blinzeln, eine Hand stets nahe dem Abzug, die Füße bereit zum Sprinten. Wie die älteren Bewohner entwickelte er einen sechsten Sinn für Gefahren. Des Nachts, wenn alle Türen und Fenster fest verschlossen waren, lag er auf seinem Bett und versuchte sich an die Erde zu erinnern. Er erforschte die entlegensten Winkel seines Gedächtnisses und fand dort quälende Hinweise und Andeutungen, Teile von Bildern. Er sah eine breite Straße, die im Licht der Sonne lag; Teile einer ungeheuer großen, vielstöckigen Stadt; die genaue Ansicht des Rumpfes von einem Raumschiff. Aber diese Bilder waren nicht stabil. Sie tauchten für Bruchteile von Sekunden auf und verschwanden wieder. Den Samstagabend verbrachte Barrent mit Joe, Danis Foeren und seinem Nachbarn Tem Rend. Joes Pokerspiel hatte Erfolg gehabt, und er war zu einem freien Bürger aufgerückt. Foeren war zu gerade und zu plump dazu; er war noch nicht aufgestiegen. Aber Tem Rend versprach, den grobschlächtigen Fälscher als Assistenten anzustellen, sobald die Mordgilde seinen Antrag annahm. Der Abend begann sehr gemütlich, aber er endete, wie gewöhnlich, mit einer Diskussion über die Erde. »Wir alle wissen, wie die Erde aussieht«, begann Joe. »Sie setzt sich aus vielen gigantischen schwimmenden Städten zusammen. Sie sind auf künstliche Inseln gebaut, in den verschiedensten Meeren –« »Nein, die Städte befinden sich auf dem Land«, wandte Barrent ein.
»Auf dem Wasser«, widersprach Joe. »Die Menschen der Erde sind ins Meer zurückgekehrt. Jeder trägt besondere Sauerstoffmasken, um im Salzwasser atmen zu können. Die Landgebiete werden überhaupt nicht mehr benutzt. Die See stellt alles zur Verfügung, was –« »Das kann nicht stimmen«, unterbrach ihn Barrent. »Ich erinnere mich an gewaltige Städte, aber sie waren alle auf dem Festland.« »Ihr habt beide nicht recht«, mischte sich Foeren ein. »Was sollte die Erde schon mit Städten anfangen? Sie hat sie schon vor vielen Jahrhunderten aufgegeben. Die Erde ist heute wie ein großer Park. Jeder besitzt sein Haus mit einigen Morgen Land ringsherum. Die Wälder und Dschungel dürfen sich wieder frei entwickeln. Die Menschen leben mit der Natur, anstatt sie zu erobern. Stimmt das etwa nicht, Tem?« »Fast, aber doch nicht ganz«, antwortete Tem Rend. »Es gibt zwar noch Städte, aber sie befinden sich unter der Oberfläche. Es sind gewaltige unterirdische Fabriken und Industriegebiete.« »Es gibt überhaupt keine Fabriken mehr«, sagte Foeren hartnäckig. »Man braucht sie nicht mehr. Alle Güter, die der Mensch benötigt, können durch Gedankenkontrolle produziert werden.« »Und ich sage euch, daß ich mich gut an die schwimmenden Städte erinnere«, begann Joe wieder von vorne. »Ich habe im Nimui-Gebiet gelebt, auf der Insel Pasephae.« »Soll das etwa ein Beweis sein?« fragte Rend. »Ich erinnere mich, daß ich im achtzehnten Stockwerk unter der Erde gearbeitet habe – in Nueva Chicaga. Meine Arbeitsquote war zwanzig Tage im Jahr. Die übrige Zeit verbrachte ich draußen, in den Wäldern –« »Aber das kann nicht stimmen, Tem«, setzte sich Foeren wieder ein. »Es gibt keine unterirdischen Stockwerke. Ich bin ganz sicher, daß mein Vater ein Kontrolleur war – dritter Klasse. Meine Familie zog in einem Jahr mehrere hundert Meilen durchs Land. Wenn wir irgend etwas brauchten, dachte es mein Vater einfach herbei, und schon war es da. Er versprach mir, es mir auch beizubringen, aber anscheinend ist es nie dazu gekommen.« »Jedenfalls scheinen einige von uns völlig falsche Erinnerungen und Vorstellungen zu haben«, sagte Barrent.
»Das ganz gewiß«, stimmte Joe zu. »Fragt sich nur, wer recht hat.« »Das werden wir nie herauskriegen«, bemerkte Rend. »Es sei denn, wir kämen zurück zur Erde.« Das machte der Diskussion ein Ende. Gegen Ende der Woche erhielt Barrent eine weitere Einladung des Traumladens, diesmal noch bestimmter abgefaßt als das erstemal. Er entschloß sich, noch am gleichen Abend dieser Pflicht Genüge zu tun. Er prüfte die Temperatur und stellte fest, daß sie stark gestiegen war. Klüger geworden, packte er einen kleinen Beutel voll Kaltwetterkleidung ein und machte sich auf den Weg. Der Traumladen lag im exklusiven Tod-Viertel. Barrent ging hinein und betrat einen kleinen, prächtig ausgestatteten Raum. Ein schlanker junger Mann hinter einem polierten Schreibtisch lächelte ihm gekünstelt zu. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte er Barrent. »Ich heiße Nomis J. Arkdragen und bin der Assistent des Managers für Nachtträume.« »Ich möchte gern einiges erfahren«, sagte Barrent, »wie man Träume bekommt, welche Art von Träumen und all diese Dinge.« »Natürlich«, antwortete Arkdragen. »Unsere Tätigkeit kann leicht erklärt werden, Bürger –« »Barrent. Will Barrent.« Arkdragen nickte und hakte einen Namen auf der Liste vor ihm an. Er blickte wieder auf und fuhr fort: »Unsere Träume werden durch die Wirkung einer Droge auf das Gehirn und die zentralen Nervenzellen produziert. Es gibt viele Drogen, die den gewünschten Erfolg tätigen. Die nützlichsten sind Heroin, Morphium, Opium, Coca, Hanf und dergleichen. All dies sind Produkte der Erde. Aber es gibt auch eine andere Gruppe, die nur auf Omega produziert wird. Alle bewirken jedoch Träume.« »Ich verstehe«, sagte Barrent. »Dann verkaufen Sie also Drogen.« »Ganz und gar nicht!« rief Arkdragen aus. »Nicht etwas so Einfaches, etwas so Gewöhnliches! In alten Zeiten pflegten sich manche Menschen auf der Erde selbst Drogen zuzuführen. Die sich daraus ergebenden Träume waren willkürlich. Man konnte nie voraussagen, worüber man
träumen würde oder wie lange. Man wußte nie, ob es ein Traum oder ein Alptraum sein würde, ob man Schrecken oder Entzücken erfahren würde. Der moderne Traumladen hat diese Ungewißheit ausgeschaltet. Heutzutage sind unsere Drogen sorgfältig abgewogen, gemischt und auf jeden Verbraucher genauestens abgestimmt. Die Traumerzeugung ist eine absolut exakte Wissenschaft, sie ist präzise und reicht von der nirvanaartigen Ruhe des Schwarzen Schlüpfers über die vielfarbigen Halluzinationen des Tri-Narkotikums bis zu den sexuellen Phantasien, die durch Morphium hervorgerufen werden; und natürlich gibt es auch die Erinnerungen hervorrufende Gruppe der Carmoide.« »An den Erinnerungsträumen bin ich sehr interessiert«, sagte Barrent. Arkdragen runzelte die Stirn. »Für das erstemal würde ich gerade das nicht empfehlen.« »Warum nicht?« »Träume über die Erde sind naturgemäß aufregender als jede andere imaginäre Produktion. Es ist für gewöhnlich ratsam, erst allmählich etwas aufzubauen. Ich würde Ihnen eine nette kleine sexuelle Spielerei für den ersten Besuch empfehlen. Gerade diese Woche haben wir noch dazu Sonderpreise für Sexualträume.« Barrent schüttelte den Kopf. »Ich ziehe die echten Dinge vor.« »Das würden Sie nicht mehr sagen, nachdem Sie unsere Produkte gesehen haben«, erwiderte Arkdragen mit einem wissenden Lächeln. »Glauben Sie mir, wenn man sich erst mal an diese gespielten Erlebnisse gewöhnt hat, erscheint einem das persönliche Erlebnis nur noch höchst fad und blaß beim Vergleich.« »Kein Interesse«, sagte Barrent. »Ich will einen Traum über die Erde.« »Aber Sie haben ja noch gar keine Erfahrung, Sie haben sich noch nie dem Rausch hingegeben!« rief Arkdragen. »Ist die Gewöhnung daran denn eine Voraussetzung?« »Sie ist wichtig!« erklärte ihm der Assistent. »Alle unsere Drogen sind gewohnheitsfördernd, wie es das Gesetz vorschreibt. Sehen Sie, um eine Droge wirklich zu schätzen, muß man ein Bedürfnis danach heranziehen. Das erhöht das Vergnügen enorm. Deshalb schlage ich vor, daß Sie mit –«
»Ich möchte einen Traum über die Erde«, beharrte Barrent. »Na, schön«, lenkte der Assistent widerwillig ein. »Aber wir sind nicht für ein Trauma, das daraus erwachsen könnte, verantwortlich.« Er führte Barrent in einen langen Gang. An den Seiten befanden sich dicht nebeneinander Türen, und Barrent konnte dumpfe Ausrufe und Seufzer des Entzückens und Vergnügens vernehmen. »Tester«, erklärte Arkdragen, ohne weiter darauf einzugehen. Er geleitete Barrent zu einem offenen Raum am Ende des Korridors. Darin saß ein freundlicher Mann mit einem Bart und einem weißen Kittel und las. »Guten Abend, Doktor Wayn«, sagte Arkdragen. »Das ist Bürger Barrent. Erster Besuch. Er besteht auf einem Traum über die Erde.« Arkdragen drehte sich um und verließ den Raum. »Nun«, bemerkte der Doktor, »das läßt sich, glaube ich, schon einrichten.« Er legte das Buch beiseite. »Strecken Sie sich da drüben aus, Bürger Barrent.« In der Mitte des Zimmers stand ein langer, verstellbarer Tisch. Darüber hing ein kompliziert aussehendes Instrument. Am Ende des Raums befanden sich Fächer aus Glas, in denen viereckige Behälter standen. Sie erinnerten Barrent an seine Antidote. Er legte sich nieder. Doktor Wayn nahm an ihm eine allgemeine Untersuchung vor. Dann prüfte er seine Anpassungsfähigkeit, seinen hypnotischen Index, seine Reaktionen auf die elf grundsätzlichen Drogengruppen und seine Empfindlichkeit für epileptische Anfälle. Er notierte die Ergebnisse auf einem Block, überprüfte die Werte, ging zu den Fächern und begann verschiedene Pulver und Drogen zu mixen. »Könnte es gefährlich sein?« fragte Barrent. »Eigentlich nicht«, sagte der Doktor. »Sie scheinen ziemlich gesund. Man könnte sagen, sehr gesund sogar, mit einer starken Willenskraft. Selbstverständlich kommen epileptische Anfälle immer mal vor, wahrscheinlich wegen der sich steigernden allergischen Reaktionen. Dagegen kann man nichts machen. Und dann gibt es natürlich noch die Traumen, die manchmal in Wahnsinn oder Tod enden. Sie sind für Studienzwecke äußerst interessant. Es kommt auch vor, daß sich einer an
die Träume klammert und sich nicht mehr losreißen kann. Ich schätze, dies könnte man auch als eine Art Wahnsinn bezeichnen, obgleich es das eigentlich nicht ist.« Der Doktor war mit dem Mischen fertig. Er füllte das Produkt in eine Spritze. Barrent waren inzwischen ernsthafte Zweifel an dem ganzen Unternehmen gekommen. »Vielleicht sollte ich meinen Besuch doch noch etwas hinausschieben«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, ob ich –« »Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte ihn der Doktor. »Dies hier ist der beste Traumladen auf Omega. Entspannen Sie sich. Verkrampfte Muskeln können zu ernsthaften Schäden führen.« »Ich glaube, Mister Arkdragen hatte recht«, versuchte es Barrent von neuem. »Vielleicht sollte ich wirklich nicht gleich beim erstenmal einen Traum über die Erde wählen. Er meinte, es sei gefährlich.« »Na, und wenn schon«, antwortete der Doktor, »was wäre das Leben ohne ein kleines Risiko? Übrigens sind die am häufigsten auftretenden Schäden Gehirnverletzungen und geplatzte Blutgefäße. Und wir sind bestens darauf eingerichtet, mit diesen Dingen fertig zu werden.« Er führte die Spritze an Barrents linken Arm. »Ich habe meine Meinung geändert«, sagte Barrent und machte sich daran aufzustehen. Doktor Wayn stieß die Nadel tief in Barrents Arm. »Man ändert seine Meinung nicht in einem Traumladen«, erklärte er Barrent. »Versuchen Sie sich zu entspannen…« Barrent entspannte sich. Er lehnte sich im Bett zurück und hörte in seinen Ohren ein schrilles Singen. Er versuchte, seinen Blick fest auf das Gesicht des Doktors zu richten. Aber das Gesicht hatte sich verändert. Das Gesicht war alt, rund und fleischig. An Kinn und Hals hingen Fettsäcke. Das Gesicht schwitzte, freundlich, besorgt. Es war das Gesicht von Barrents Berater des fünften Semesters. »Du mußt vorsichtig sein, Will«, sagte der Berater. »Du mußt lernen, dich zu beherrschen. Du mußt, Will!« »Ich weiß, Sir«, antwortete Barrent. »Es ist nur, weil ich so eine Wut auf –«
»Will!« »Schon gut«, sagte Barrent. »Ich werde auf mich aufpassen.« Er verließ das Büro der Universität und ging in die Stadt. Es war eine phantastische Stadt mit Wolkenkratzern und vielstöckigen Straßen, eine schillernde Stadt aus silbernen und glitzernden Farben, eine betriebsame Stadt, die ein weitverbreitetes Netz von Nationen und Planeten verwaltete. Barrent ging den dritten Fußgängerweg entlang. Er war noch immer wütend. Er dachte an Andrew Therkaler. Wegen Therkaler und seiner lächerlichen Eifersucht war Barrents Bewerbung für das Raumforschungsteam abgelehnt worden. Sein Berater konnte nichts für ihn tun; Therkaler hatte zu großen Einfluß auf die Ernennungsbehörde. Es würden drei volle Jahre vergehen, bis Barrent sich wieder bewerben konnte. Inzwischen aber war er dazu verdammt, auf der Erde zu bleiben – und noch dazu ohne Beschäftigung. Sein ganzes Studium hatte der extraterrestrischen Forschung gegolten. Auf der Erde war kein Platz für ihn, und jetzt war ihm der Weg in den Raum versperrt. Therkaler! Barrent verließ den Fußweg und nahm die Hochgeschwindigkeitsrampe zum Sante-Distrikt. Dabei umfaßte er die kleine Waffe in seiner Tasche. Handwaffen waren auf der Erde verboten. Er hatte diese durch nicht nachprüfbare Quellen bekommen. Er war entschlossen, Therkaler zu töten. Dann tauchte ein verschwommenes Durcheinander von grotesken Gesichtern auf. Der Traum verzerrte sich. Als er wieder klarer sehen konnte, sah sich Barrent einem dünnen, schielenden Burschen gegenüber, auf den er mit der Waffe zielte und dessen entsetzter Schrei nach Erbarmen plötzlich abbrach. Ein Spitzel beobachtete das Verbrechen mit ausdrucksloser und teilnahmsloser Miene und informierte die Polizei. Die Polizei, in grauen Uniformen, nahm ihn fest und brachte ihn vor den Richter. Der Richter hatte ein zerknittertes Pergamentgesicht. Er verurteilte ihn zu lebenslänglicher Verbannung auf dem Planeten Omega und erließ das
obligatorische Dekret, daß Barrent seiner Erinnerung beraubt würde. Dann verwandelte sich der Traum in ein Kaleidoskop des Schreckens. Barrent kletterte an einer glitschigen Stange empor, über eine glatte Bergwand, entlang einer ebenen Fläche. Hinter ihm folgte Therkalers Leiche mit aufgerissener Brust, zu beiden Seiten von dem ausdruckslos blickenden Spitzel und dem pergamentgesichtigen Richter gestützt. Barrent rannte einen Hügel hinunter, eine Straße entlang, auf ein Dach. Seine Verfolger waren dicht hinter ihm. Er betrat einen schwach erleuchteten gelben Raum, verriegelte die Tür hinter sich. Als er sich umdrehte, stellte er fest, daß er sich zusammen mit Therkalers Leiche eingeschlossen hatte. In der offenen Brustwunde wucherten Schwämme; an dem narbigen Kopf glänzte roter und purpurner Schimmel. Die Leiche näherte sich ihm, griff nach ihm, und Barrent stürzte mit einem Kopfsprung durchs Fenster. »Machen Sie Schluß, Barrent. Sie übertreiben es. Wachen Sie auf!« Barrent hatte keine Zeit, um zuzuhören. Das Fenster verwandelte sich in eine Gleitbahn, und er rutschte an ihren glatten Wänden entlang in ein Amphitheater. Dort kroch die Leiche auf Stümpfen, die von Armen und Beinen gehalten waren, über grauen Sand auf ihn zu. Der gewaltige Rundbau war leer, bis auf den Richter und den Spitzel, die an einer Seite saßen und ihn beobachteten. »Er steckt fest!« »Ich habe ihn ja gewarnt…« »Reißen Sie sich von dem Traum los, Barrent. Ich bin Doktor Wayn. Sie befinden sich auf Omega, im Traumladen. Wachen Sie auf! Noch ist es Zeit! Aber reißen Sie sich sofort los!« Omega? Traum? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Barrent schwamm in einem dunklen, übelriechenden See. Der Richter und der Spitzel schwammen dicht hinter ihm, in ihrer Mitte die Leiche, deren Haut sich allmählich auflöste. »Barrent!« Und jetzt verwandelte sich der See in ein dickflüssiges Gelee, das an seinen Armen hängenblieb und sich in seinem Mund ausbreitete, während der Richter und der Spitzel »Barrent!«
Barrent öffnete die Augen und merkte, daß er auf dem verstellbaren Bett in dem Traumladen lag. Doktor Wayn beugte sich über ihn; er sah etwas mitgenommen aus. Dicht neben ihm stand eine Krankenschwester mit einem Tablett Spritzen und einer Sauerstoffmaske. Hinter ihr war Arkdragen, der sich gerade den Schweiß von der Stirn wischte. »Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie es schaffen würden«, sagte der Doktor. »Ganz bestimmt nicht.« »Er hat sich gerade noch im letzten Moment losgerissen«, sagte die Schwester. »Ich habe ihn gewarnt«, bemerkte Arkdragen und verließ den Raum. Barrent setzte sich auf. »Was ist passiert?« fragte er. Doktor Wayn zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Vielleicht neigen Sie zu Kurzschlußreaktionen; und manchmal sind die Drogen auch nicht ganz rein. Aber diese Dinge passieren meistens nur einmal. Glauben Sie mir, Bürger Barrent, die Wirkung unserer Drogen ist sonst immer sehr, sehr angenehm. Ich bin sicher, daß Sie es das nächstemal genießen werden.« Noch unter dem Einfluß des soeben Erlebten war Barrent fest davon überzeugt, daß es für ihn kein zweitesmal geben würde. Was immer es ihn auch kosten mochte, er würde es nicht wagen, diesen Alptraum noch einmal heraufzubeschwören. »Bin ich jetzt süchtig?« fragte er. »O nein«, antwortete der Doktor. »Die Sucht tritt erst nach dem dritten- oder viertenmal ein.« Barrent dankte ihm und ging. Er kam an Arkdragens Tisch vorbei und fragte ihn, wieviel er schuldig wäre. »Nichts«, antwortete Arkdragen. »Der erste Besuch geht immer auf Kosten des Hauses.« Er zeigte Barrent ein wissendes Lächeln. Barrent verließ den Traumladen und eilte nach Haus. Er hatte eine Menge nachzudenken. Jetzt hatte er zum erstenmal den Beweis dafür, daß er einen vorsätzlichen und wohlüberlegten Mord begangen hatte.
9 Eines Mordes beschuldigt zu sein, an den man sich nicht erinnern kann, ist eine Sache für sich; sich eines Mordes zu erinnern, wegen dem man verurteilt worden ist, ist etwas völlig anderes. Einen solchen Beweis kann man schwer widerlegen. Barrent bemühte sich, sich über seine Gefühle in dieser Angelegenheit klarzuwerden. Vor seinem Besuch des Traumladens hatte er sich nie als Mörder gefühlt, ganz gleich, welcher Tat ihn auch die Behörden der Erde beschuldigt hatten. Schlimmstenfalls hatte er sich noch eingestanden, daß er vielleicht jemanden in einem Anfall unkontrollierbarer Wut getötet hatte. Aber einen Mord zu planen und ihn kaltblütig zu begehen… Warum hatte er das getan? War sein Drang nach Rache so stark gewesen, daß er alle Bande, die die Zivilisation ihm auferlegte, abgeworfen hatte! Anscheinend war es so gewesen. Er hatte gemordet, und jemand hatte ihn angezeigt, und dann war er von einem Richter zur Deportation nach Omega verurteilt worden. Er war ein Mörder auf einem Verbrecherplaneten. Um hier erfolgreich zu leben, brauchte er nur seiner natürlichen Neigung zum Mord zu folgen. Trotzdem fand Barrent dies äußerst schwierig. Er hatte erstaunlich geringen Geschmack am Blutvergießen. Am Tag der freien Bürger ging er zwar mit seiner Nadelstrahlwaffe hinaus auf die Straße, konnte sich aber nicht überwinden, einen Angehörigen der niedrigeren Klassen zu erledigen. Er wollte nicht töten, was ein geradezu lächerliches Vorurteil war, wenn man bedachte, wo und wer er war. Aber so lagen die Dinge nun einmal. Ganz gleich, wie oft Tem Rend oder Joe ihn auch über die Pflichten eines Bürgers aufklärten, Barrent betrachtete Mord doch als eine recht verabscheuungswürdige Tat. Er suchte einen Psychiater auf, der ihm sagte, daß seine Abneigung gegen Mord in einer unglücklichen Kindheit wurzelte. Diese krankhafte Angst war noch durch seine Erfahrung in dem Traumladen kompliziert worden. Aus diesem Grund hatte er gegen Mord, das höchste soziale Gut, eine innere Abneigung entwickelt. Diese Neurose des Antimordens in einem Mann, der außerordentlich gut zum Töten geschaffen war,
sagte der Psychiater, würde unvermeidlich zu Barrents Zerstörung führen. Die einzige Lösung wäre, diese Neurose zu beseitigen. Der Psychiater empfahl sofortige Behandlung in einem Sanatorium für verbrecherische Nichtmörder. Barrent besuchte ein Sanatorium und hörte die wahnsinnigen Insassen über das Gute, über faires Verhalten, über die Heiligkeit des Lebens und über andere Obszönitäten plärren. Er hatte nicht die Absicht, sich ihnen anzuschließen. Vielleicht war er wirklich krank, aber so krank war er noch nicht! Seine Freunde warnten ihn, daß seine wenig kooperative Einstellung ihn noch in ernstliche Schwierigkeiten bringen würde. Barrent mußte ihnen zustimmen; aber er hoffte, daß er auch der Aufmerksamkeit der höchsten Stellen, die die Gesetze schufen, entgehen würde, wenn er nur tötete, wenn es unbedingt erforderlich war. Einige Wochen lang schien alles gut zu verlaufen. Er ignorierte die in ständig schärferem Ton gehaltenen Mitteilungen des Traumladens und besuchte auch die Messen im Wee Coven nicht mehr. Das Geschäft blühte, und Barrent verbrachte seine Freizeit mit dem Studium der selteneren Gifte und übte fleißig den Gebrauch seiner Nadelstrahlwaffe. Oft mußte er an das Mädchen denken. Er besaß noch immer die Pistole, die sie ihm geliehen hatte. Er fragte sich allmählich, ob er sie je wiedersehen würde. Und er dachte viel an die Erde. Seit seinem Besuch im Traumladen kamen ihm zuweilen kurze Erinnerungsblitze, unzusammenhängende Bilder von einem verwitterten Steinhaus, eine Gruppe von Eichen, die Biegung eines Flusses, die durch Weidenzweige hindurchschimmerte. Diese verschwommenen Erinnerungsbilder von der Erde erfüllten ihn mit fast unerträglicher Sehnsucht. Wie bei den meisten Bewohnern von Omega bestand sein einziger wirklicher Wunsch darin, nach Hause zurückzukehren. Und gerade das war unmöglich. Die Tage vergingen, und wenn sich Schwierigkeiten auftaten, dann immer völlig unerwartet. Eines Nachts erklang lautes Pochen an seiner Tür. Vom Schlaf noch ganz benommen, öffnete Barrent. Vier Männer in Uniform stießen die Tür weit auf und erklärten ihn für verhaftet.
»Aus welchem Grund?« fragte Barrent. »Nichtanpassung an Drogen«, antwortete einer der Männer. »Sie haben drei Minuten Zeit, sich anzukleiden.« »Was ist die Strafe dafür?« »Das werden Sie vor Gericht erfahren«, erklärte der Mann. Er winkte den beiden anderen und fügte hinzu: »Die einzige Art, einen Nichtsüchtigen zu heilen, ist Mord. Was?« Barrent zog sich an. Man führte ihn in einen Raum der weitläufigen Justizbehörde. Der Raum trug den Namen Känguruh-Gericht, zu Ehren alter angelsächsischer Rechtsabwicklung. Auf der gegenüberliegenden Seite der Halle befand sich die Sternenkammer. Gleich dahinter war das Gericht zur letzten Berufung. Der Känguruh-Hof war durch eine hohe Holzwand in zwei Teile geteilt, denn auf Omega durfte der Angeklagte weder seinen Richter noch die Zeugen gegen ihn sehen. »Der Angeklagte soll sich erheben«, ertönte eine Stimme hinter der Wand. Die Stimme war dünn, gleichmäßig und ausdruckslos und kam aus einem kleinen Lautsprecher. Barrent konnte die Worte kaum verstehen. Ton und Ausdruck waren ausgeschaltet – auch das war bewußt geschehen. Selbst in der Sprache sollte der Richter anonym bleiben. »Will Barrent«, sagte der Richter, »Sie sind wegen eines Hauptvergehens, der Nichtanpassung an Rauschdrogen, und eines kleineren Vergehens, der religiösen Vernachlässigung, vor dies Gericht gestellt. Für das kleinere Vergehen haben wir die beschworene Zeugenaussage eines Priesters, für das Hauptvergehen die Zeugenaussage des Traumladens. Können Sie eine der beiden oder beide Anschuldigungen widerlegen?« Barrent dachte einen Moment nach und sagte dann: »Nein, Sir, das kann ich nicht.« »Im Moment«, fuhr der Richter fort, »kann Ihnen die Strafe für die religiöse Vernachlässigung erlassen werden, da es die erste Anklage
dieser Art ist. Aber die Nichtsucht ist eines der Hauptvergehen gegen den Staat Omega. Die ununterbrochene Benutzung von Rauschgift ist ein obligatorisches Vorrecht jedes freien Bürgers. Es ist allgemein bekannt, daß Vorrechte ausgenutzt werden müssen, sonst gehen sie verloren. Unsere Privilegien zu verlieren wäre gleichbedeutend mit dem Verlust des Grundsteins unserer Freiheit. Deshalb kommt die Vernachlässigung oder die Nichtinanspruchnahme eines Privilegs hohem Verrat gleich.« Es entstand eine Pause. Die Wachen scharrten unruhig mit den Füßen. Barrent, der seine Situation als hoffnungslos betrachtete, stand aufrecht da und wartete. »Drogen dienen vielen Zwecken«, fuhr der unsichtbare Richter erklärend fort. »Ich brauche wohl nicht ihre erstrebenswerten Qualitäten für den Benutzer aufzuzählen. Aber vom Gesichtspunkt des Staates aus betrachtet, will ich hervorheben, daß eine süchtige Bevölkerung eine loyale ist. Außerdem sind Drogen eine Haupteinnahmequelle der Steuern; sie veranschaulichen im Grunde unsere gesamte Lebensart. Hinzu kommt, daß Nichtsüchtige sich ohne Ausnahme als feindlich gegenüber den Institutionen auf Omega gezeigt haben. Ich gebe diese lange Erklärung ab, damit Sie die Strafe, die Ihnen auferlegt wird, besser verstehen können, Will Barrent.« »Sir«, sagte Barrent, »ich habe falsch gehandelt, als ich die Drogen mied. Ich möchte mich nicht mit Unkenntnis der Lage entschuldigen, denn ich weiß, daß das Gesetz diese Entschuldigung nicht anerkennt. Aber ich bitte Sie ergebenst um eine weitere Chance. Ich bitte Sie zu bedenken, daß für mich noch immer die Möglichkeit besteht, süchtig zu werden und mich zu rehabilitieren.« »Das Gericht erkennt das an«, antwortete der Richter. »Aus diesem Grund freut es sich, rechtliche Gnade im vollsten Ausmaß walten zu lassen. Anstatt totaler Hinrichtung dürfen Sie zwischen zwei geringeren Strafarten wählen. Die erste besagt, daß Sie wegen Ihres Verbrechens gegen den Staat die rechte Hand und das linke Bein verlieren sollen, aber nicht das Leben.« Barrent schluckte und fragte: »Und die zweite Art, Sir?«
»Die zweite ist keine Strafe. Sie können sich einer Prüfung der höheren Mächte unterziehen. Und wenn Sie diese Prüfung überleben, werden Sie in der Gesellschaft wieder mit angemessenem Rang und geeigneter Stellung aufgenommen werden.« »Ich unterziehe mich dieser Prüfung«, sagte Barrent. »Sehr gut«, antwortete der Richter. »Der Fall läuft also weiter.« Barrent wurde aus dem Raum geführt. Hinter sich hörte er ein rasch wieder unterdrücktes Lachen eines der Wachtposten. Hatte er falsch gewählt? Konnte eine solche Prüfung schlimmer sein als eine direkte Verstümmelung?
10 Auf Omega, so erzählte man sich wenigstens, konnte man zwischen ein Gerichtsverfahren und die Ausführung des Urteils nicht einmal die Klinge eines Messers schieben. Barrent wurde sofort in einen großen, runden, mit Steinen ausgemauerten Saal geführt. An der hohen, gebogenen Decke hingen weiße Lampen. Darunter befand sich eine Öffnung in der Wand, die eine Tribüne für Zuschauer enthielt. Die Tribüne war fast voll, als Barrent in den Raum trat. Ausgaben des gerichtlichen Tageskalenders wurden verkauft. Einen kurzen Augenblick stand Barrent allein auf dem Steinboden. Dann glitt eine Öffnung in der Steinwand zurück, und eine kleine Maschine rollte herein. Ein Lautsprecher nahe der Zuschauerrampe ertönte: »Meine Damen und Herren, Ihre Aufmerksamkeit, bitte! Sie erleben jetzt den Ausscheidungskampf 642-BG223 zwischen Bürger Will Barrent und GME 213. Nehmen Sie Ihre Plätze ein! Der Kampf beginnt in wenigen Minuten.« Barrent betrachtete seinen Gegner. Es war eine glitzernde schwarze Maschine von der Form einer Halbkugel, die fast eineinhalb Meter hoch war. Unruhig rollte sie auf kleinen Rädern vor und zurück. Ein Muster von roten, grünen und bernsteinfarbenen Lichtern aus vertieften Glasbirnen flackerte über ihre glatte Metalloberfläche. In Barrent weckte sie die Erinnerung an ein Meereswesen von der Erde.
»Für jene, die unsere Galerie zum erstenmal besuchen«, fuhr der Lautsprecher fort, »geben wir eine kurze Erklärung ab. Der Gefangene Will Barrent hat diese Prüfung aus freien Stücken gewählt. Das Instrument der Gerechtigkeit, in diesem Fall GME 213, ist ein Beispiel bester schöpferischer Ingenieurkunst, die Omega hervorgebracht hat. Die Maschine – oder Max, wie viele ihrer Freunde und Bewunderer sie nennen – ist eine Mordwaffe von exemplarischer Tüchtigkeit; sie ist fähig, nicht weniger als dreiundzwanzig verschiedene Mordarten auszuüben, viele davon sind äußerst schmerzhaft. Zum Zwecke eines Ausscheidungskampfes ist sie darauf eingestellt, nach zufälligen Prinzipien zu operieren. Das bedeutet, daß Max keine Wahl über die Methode des Tötens hat. Die Formen sind ausgewählt und nach einem Randomgesetz von dreiundzwanzig verschiedenen Zahlen eingebaut, das an eine Random-Zeiteinheit von einer bis zu sechs Sekunden angeschlossen ist.« Max bewegte sich plötzlich auf die Mitte des Raumes zu; Barrent wich zurück. »Es liegt in der Macht des Gefangenen, die Maschine außer Funktion zu setzen; in diesem Fall gewinnt der Gefangene den Kampf und erlangt die vollen Rechte seines Ranges und seiner Stellung zurück. Die Methode, die Maschine außer Funktion zu setzen, ändert sich von Typ zu Typ. Theoretisch ist es für einen Gefangenen immer möglich zu gewinnen. Die Praxis zeigt, daß es einem Durchschnitt von 3,5 Prozent gelingt.« Barrent blickte hinauf zu den Zuschauern. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, gehörten sie alle höheren Rängen an, vorwiegend den oberen Privilegierten. Dann erkannte er plötzlich in der ersten Reihe ganz vorne das Mädchen, das ihm an seinem ersten Tag auf Omega ihre Pistole gegeben hatte. Sie war genauso hübsch, wie er sie in Erinnerung hatte; aber auf ihrem blassen, ovalen Gesicht zeigte sich keine Gefühlsregung. Sie starrte ihn mit dem unverhohlenen und offenen Interesse an, das man für einen Käfer in einem Glasgefäß aufbringt. »Der Wettkampf beginnt!« kündigte der Lautsprecher an.
Barrent hatte keine Zeit, an das Mädchen zu denken, denn die Maschine kam auf ihn zugerollt. Wachsam wich er ihr aus. Max brachte einen einzelnen schmalen Fangarm zum Vorschein, an dessen Ende ein weißes Licht aufflackerte. Die Maschine rollte auf Barrent zu und drängte ihn gegen eine Wand. Dann blieb sie stehen. Barrent hörte das Klicken eines Getriebes. Der Fangarm wurde eingezogen, an seiner Stelle erschien ein Metallarm aus mehreren ineinandergreifenden Gliedern, der in eine Messerklinge auslief. Mit etwas schnelleren Bewegungen trieb die Maschine ihn jetzt auf die Wand zu. Der Arm schoß vor, aber Barrent konnte sich darunter hindurch ducken. Die Messerkante kratzte an der Wand entlang. Als der Arm einfuhr, hatte Barrent Gelegenheit, sich wieder zur Mitte des Raumes zu bewegen. Er erkannte, daß seine einzige Chance, die Maschine außer Gefecht zu setzen, in den kurzen Pausen, während der sie von einer Mordwaffe zur anderen überwechselte, lag. Aber wie zerstörte man eine Maschine mit einer glatten Oberfläche und einem Rücken wie eine Schildkröte? Wieder rollte Max auf ihn zu, diesmal glitzerte seine Metalloberfläche von einer grünen Substanz, die Barrent augenblicklich als ein Kontaktgift erkannte. Er setzte zu einem Sprung an und lief durch den Raum, wobei er versuchte, der tödlichen Berührung zu entgehen. Die Maschine hielt inne. Neutralisierer spülten das Gift fort. Wieder steuerte sie auf ihn los, diesmal ohne sichtbare Zeichen einer Waffe. Anscheinend wollte sie ihn rammen. Barrent befand sich in einer ungünstigen Lage. Er wich zur Seite aus, die Maschine folgte seiner Bewegung. Hilflos stand er vor der Wand, während die Maschine immer schneller auf ihn zukam. Wenige Zentimeter vor ihm hielt sie an. Die Schaltung klickte. Max streckte eine Art Schläger aus. Dies war eine ausgesprochen sadistische Prüfung, dachte Barrent. Wenn es noch lange währte, würde die Maschine ihn einfach überrennen und ihn bequem töten. Was immer er zu unternehmen gedachte, er mußte sich damit beeilen, solange er noch die Kraft dazu besaß.
Noch während er diesen Gedanken faßte, schwang die Maschine einen knüppelartigen Metallarm heraus. Barrent konnte den Schlag nicht völlig verhindern. Der Knüppel traf seine linke Schulter; er fühlte, wie sein ganzer Arm gefühllos wurde. Max wechselte seine Waffe. Barrent warf sich auf den glatten, gerundeten Rücken. Ganz oben bemerkte er zwei winzige Löcher. Er betete inbrünstig, daß es Rezeptoröffnungen waren, und bohrte mit den Fingern darin. Die Maschine blieb wie tot stehen, die Zuschauer jubelten. Barrent klammerte sich mit seinem steifen Arm an den Rücken und versuchte die Finger in den Öffnungen zu lassen. Die Lichtmuster auf der Oberfläche von Max wechselten von Grün über Bernstein zu Rot. Das tiefkehlige Summen verstärkte sich. Und dann streckte die Maschine schmale Röhren aus, als Ersatz für die Rezeptoren. Barrent bemühte sich angestrengt, sie mit seinem Körper zu bedecken. Aber die Maschine brach plötzlich in neues Leben aus, sie schaukelte schnell hin und her und warf Barrent ab. Er überschlug sich ein paarmal, raffte sich auf und stolperte in die Mitte der Arena. Der Kampf dauerte noch nicht länger als fünf Minuten, aber bereits jetzt war Barrent erschöpft. Er zwang sich, vor der Maschine zurückzuweichen, die jetzt mit einem breiten, glänzenden Beil auf ihn losging. Als der Beilarm ausholte, warf sich Barrent mit aller Kraft darauf, anstatt ihm zu entgehen. Mit beiden Händen umklammerte er ihn und bog ihn zurück. Metall knirschte, und Barrent glaubte schon, das Glied würde langsam abbrechen. Wenn es ihm gelang, den Metallarm abzureißen, gelang es ihm vielleicht auch, die Maschine außer Funktion zu setzen; im schlimmsten Fall aber konnte ihm der Arm als Waffe dienen… Max rollte plötzlich zurück. Barrent vermochte nicht länger, den Arm festzuhalten. Er fiel auf das Gesicht. Das Beil schwang herum und traf ihn an der Schulter.
Barrent rollte auf die Seite und schaute zur Galerie hinauf. Er war am Ende. Das beste war, den nächsten Angriff der Maschine einfach abzuwarten, um alles möglichst schnell zu überstehen. Die Zuschauer klatschten und beobachteten, wie sich die Maschine zum nächsten Stoß vorbereitete. Und das Mädchen machte ihm deutliche Zeichen. Barrent starrte sie an, versuchte die Zeichen zu deuten. Sie deutete ihm an, etwas umzudrehen und zu zerstören. Er hatte keine Zeit mehr, auf sie zu achten. Benommen von dem Blutverlust, taumelte er hoch und beobachtete die Maschine. Er kümmerte sich nicht mehr darum, was für eine Art Waffe sie diesmal anwendete; seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ihre kleinen Räder. Als sie auf ihn zukam, warf sich Barrent unter die Räder. Sie versuchte anzuhalten und auszubiegen, aber es gelang ihr nicht rechtzeitig. Die Räder rollten über Barrents Körper, wodurch die Maschine schräg nach oben gehoben wurde. Barrent keuchte unter der Last. Mit dem Rücken unter der Maschine, legte er seine letzte Kraft in den Versuch aufzustehen. Einen Augenblick schwankte die Maschine hin und her, ihre Räder drehten sich rasend in der Luft. Dann kippte sie um und fiel auf den Rücken. Barrent brach dicht neben ihr zusammen. Als er wieder klar zu sehen vermochte, lag die Maschine noch immer auf dem Rücken. Sie streckte ein paar Arme aus, um sich mit ihrer Hilfe wieder umzudrehen. Barrent warf sich über das flache Unterteil der Maschine und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Nichts geschah. Er zerrte an einem Rad, es half nichts. Max stützte sich hoch und war dabei, sich herumzurollen und den Kampf fortzusetzen. Eine Bewegung des Mädchens zog Barrents Aufmerksamkeit auf sich. Sie machte eine zerrende, reißende Bewegung mit den Händen, wieder und wieder.
Erst jetzt bemerkte Barrent eine kleine Sicherungskiste nahe dem einen Rad. Er schlug den Deckel mit einem Ruck herunter, wobei er sich den einen Fingernagel völlig abbrach, und riß Sicherungen aus dem Inneren. Die Maschine zuckte noch einmal und blieb dann unbeweglich liegen. Barrent brach ohnmächtig zusammen.
11 Auf Omega herrscht das Gesetz. Versteckt und offen, geheiligt und weltlich – das Gesetz regiert die Handlungen aller Bürger, von den Niedrigsten der Niedrigen bis zu den Obersten der Oberen. Ohne das Gesetz gäbe es keine Privilegien für jene, die das Gesetz geschaffen hatten; deshalb war das Gesetz absolut notwendig. Ohne das Gesetz und seinen harten Zwang würde auf Omega ein unvorstellbares Chaos herrschen, in dem die Rechte eines einzelnen sich nur so weit erstreckten, wie er sie selbst erzwingen konnte. Diese Anarchie würde das Ende der Gesellschaft auf Omega bedeuten; und im besonderen würde es das Ende jener älteren Einwohner der regierenden Klasse mit sich bringen, die die höchsten Posten einnahmen, deren Fertigkeit mit der Pistole aber lange ihren Höhepunkt überschritten hatte. Deshalb war das Gesetz unbedingt erforderlich. Aber Omega war auch eine verbrecherische Gesellschaft, die sich einzig und allein aus Individuen zusammensetzte, die auf der Erde die dort herrschenden Gesetze gebrochen hatten. Es war eine Gesellschaft, die, wenn man sie bis ins letzte analysierte, die Leistung des einzelnen anspornte und stärkte. Es war eine Gesellschaft, in der ein Gesetzesbrecher ein Held war; eine Gesellschaft, die Verbrechen nicht nur entschuldigte, sondern auch bewunderte und sogar belohnte; eine Gesellschaft, in der die Mißachtung der festen Regeln allein am Grad ihres Erfolges gemessen wurde. All das resultierte aus dem Paradoxon einer kriminellen Gesellschaftsordnung mit absoluten Gesetzen, die dazu da waren, gebrochen zu werden. Noch immer hinter der Wand versteckt, erklärte der Richter all dies Barrent. Seit der Beendigung des Wettkampfes waren mehrere Stunden verstrichen, Barrent war in ein Krankenzimmer geschafft worden, wo
man seine Wunden verbunden hatte. Sie waren im großen und ganzen unbedeutend; zwei angebrochene Rippen, eine tiefe Fleischwunde in der linken Schulter und etliche Schnitte und Schrammen. »Demgemäß muß das Gesetz gleichzeitig gebrochen und eingehalten werden«, fuhr der Richter fort. »Wer nie ein Gesetz bricht, kann im Rang auch nicht höher steigen. Er wird gewöhnlich auf die eine oder andere Art getötet, da ihm die notwendige Initiative fehlt, um sich zu behaupten. Für jene wie Sie, die das Gesetz mißachten, verhält sich die Sache etwas anders. Das Gesetz straft sie mit aller Härte – es sei denn, es gelingt ihnen, sich aus der Schlinge zu ziehen.« Der Richter machte eine Pause. Dann fuhr er mit nachdenklicher Stimme fort: »Auf Omega steht derjenige am höchsten, der das Gesetz versteht, seine Notwendigkeit anerkennt, sich der Strafen für eine Übertretung bewußt ist, sie dann begeht – und darin erfolgreich bleibt! Das, mein Herr, ist der ideale Verbrecher und der ideale Einwohner von Omega. Und genau als das haben Sie sich erwiesen, Will Barrent, indem Sie den Wettkampf gewannen.« »Ich danke Ihnen«, sagte Barrent. »Ich möchte, daß Sie mich recht verstehen«, bemerkte der Richter weiter. »Das Gesetz einmal mit Erfolg überschritten zu haben, heißt noch lange nicht, daß es beim zweitenmal auch gelingt. Die Chancen sprechen dagegen – je öfter man es versucht, um so härter werden die Strafen, aber um so höher ist auch die Auszeichnung, die beim Gelingen verliehen wird. Deshalb warne ich Sie auch, Ihr neu errungenes Wissen überstürzt anzuwenden.« »Ich werde mich vorsehen«, antwortete Barrent. »Sehr gut. Hiermit werden Sie in den Stand eines Privileg-Bürgers erhoben – mit allen Rechten und Pflichten, die das mit sich bringt. Sie dürfen Ihr Geschäft wie bisher weiterführen. Außerdem erhalten Sie eine Woche Ferien in der Wolkensee-Region. Sie dürfen diese Ferien mit einer Frau nach Ihrer eigenen Wahl verleben.« »Wie bitte?« fragte Barrent. »Was war das letzte?« »Eine Woche Ferien«, wiederholte der Richter, »mit einer Frau, die Sie selbst wählen dürfen. Das ist eine hohe Belohnung, da es auf Omega
sechsmal so viel Männer wie Frauen gibt. Sie dürfen sich irgendeine unverheiratete Frau aussuchen, ob sie mag oder nicht. Ich gebe Ihnen drei Tage, Ihre Wahl zu treffen.« »Das ist nicht nötig«, sagte Barrent. »Ich möchte das Mädchen, das in der ersten Reihe auf der Zuschauertribüne gesessen hat. Das Mädchen mit schwarzem Haar und grünen Augen. Wissen Sie, wen ich meine?« »Ja«, antwortete der Richter langsam. »Ich weiß, wen Sie meinen. Sie heißt Moera Ermais. Ich schlage vor, Sie wählen jemand anders.« »Besteht dazu ein Grund?« »Nein. Aber Sie wären besser beraten, wenn Sie jemand anders aussuchten. Mein Assistent wird Ihnen gern eine Liste geeigneter junger Damen vorlegen. Alle haben den Vorzug, gut auszusehen. Manche haben eine Prüfung am Fraueninstitut abgelegt, das, wie Sie vielleicht wissen, einen umfassenden Kursus über die Kunst und Wissenschaft der Geishas abhält. Ich persönlich kann Ihnen ganz besonders –« »Ich möchte Moera«, unterbrach ihn Barrent. »Junger Mann, Sie machen einen Fehler.« »Das muß ich riskieren.« »Also gut«, gab der Richter nach, »Ihre Ferien beginnen morgen früh um neun Uhr. Ich wünsche Ihnen von Herzen viel Glück.« Wachen geleiteten ihn aus dem Gerichtssaal und zurück zu seinem Laden. Seine Freunde, die bereits seine Todesanzeige erwartet hatten, kamen, um ihn zu begrüßen. Sie waren begierig, alle Einzelheiten des Wettkampfs zu erfahren. Aber Barrent hatte inzwischen gelernt, daß geheimes Wissen der Weg zum Erfolg war. Er schilderte ihnen nur den Vorgang im großen. Es gab an diesem Abend noch einen weiteren Grund zum Feiern. Tem Rends Bewerbung war endlich doch von der Mördergilde angenommen worden. Und wie er es versprochen hatte, engagierte er Foeren sogleich als seinen Assistenten. Am darauffolgenden Morgen, als Barrent aufstand, war ein Fahrzeug vor der Tür. Die Justizbehörde hatte es ihm für die Ferien zur Verfügung
gestellt. Auf dem Hintersitz lehnte wunderhübsch und leicht verärgert Moera. »Sind Sie von Sinnen, Barrent?« begrüßte sie ihn. »Glauben Sie denn, ich hätte für derartige Dinge Zeit? Warum haben Sie gerade mich ausgewählt?« »Sie haben mir das Leben gerettet«, antwortete Barrent. »Und jetzt glauben Sie wohl, ich wäre an Ihnen interessiert? Sie irren sich – das bin ich nicht im geringsten. Wenn Sie nur ein Fünkchen Dankbarkeit besitzen, dann sagen Sie jetzt sofort dem Fahrer, Sie hätten Ihre Meinung geändert. Sie können noch immer ein anderes Mädchen wählen.« Barrent schüttelte den Kopf. »Sie sind das einzige Mädchen, an dem mir etwas liegt.« »Dann werden Sie es sich also nicht noch einmal überlegen?« »Ganz bestimmt nicht.« Moera seufzte und lehnte sich im Sitz zurück. »Haben Sie denn wirkliches Interesse an mir?« »Weitaus mehr als nur Interesse«, antwortete Barrent. »Also, dann«, seufzte Moera, »wenn Sie unbedingt nicht anders wollen, muß ich mich wohl mit Ihnen abfinden.« Sie wandte sich zur Seite, aber Barrent vermeinte ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen zu erkennen.
12 Der Wolkensee war Omegas schönster Erholungsort. Beim Betreten mußten alle Waffen am Haupteingang abgegeben werden. Zweikämpfe waren unter gar keinen Umständen erlaubt. Streite wurden vom nächsten Barmixer ganz willkürlich geschlichtet, und ein Mord wurde durch den sofortigen Verlust von Rang und Stellung bestraft. Am Wolkensee gab es jede Art von Vergnügungen. Es fanden Fechtduelle statt, Stierkämpfe und Bärenringen. Man konnte Sportarten wie Schwimmen, Klettern und Skilaufen nachgehen. Am Abend gab es Tanzveranstaltungen im großen mit mehrfachen Glaswänden umschlossenen Saal, die die einfachen Ränge von den Bürgern und diese
wieder von der Elite trennten. Es waren gutausgerüstete Rauschgiftbars vorhanden, die alles führten, was sich ein Süchtiger nur wünschen konnte, wie auch einige neue Errungenschaften auf diesem Gebiet. Für gesellige Typen fand jeden Mittwoch- und Samstagabend in der Satyrengrotte eine Orgie statt. Für die Scheuen arrangierten die Veranstalter maskierte Stelldicheins in den dämmrigen Wandelgängen vor dem Hotel. Aber das Schönste waren die sanften Hänge und schattigen Wälder zum Spazierengehen – frei von der Anspannung des täglichen Existenzkampfes von Tetrahyde. Barrent und Moera bewohnten zwei aneinandergrenzende Zimmer, deren Zwischentür unverschlossen war. Während der ersten Nacht allerdings benutzte Barrent diese Tür nicht. Moera hatte ihm kein Zeichen gegeben, daß sie das wünschte; und auf einem Planeten, auf dem Frauen leichten Zugang zu allen möglichen Giften hätten, mußte ein Mann zweimal überlegen, bevor er einer Frau seine Gesellschaft aufzwang, die sie vielleicht gar nicht schätzte. Selbst der Inhaber eines Antidotenladens mußte mit der Möglichkeit rechnen, die Symptome an sich selbst nicht rechtzeitig zu erkennen. Am zweiten Tag kletterten sie in den Bergen herum. Sie nahmen an einem mit weichen Gräsern bewachsenen Hügel ein mitgebrachtes Picknick ein und schauten hinunter auf den grauen See. Nach dem Essen fragte Barrent Moera, warum sie sein Leben gerettet hatte. »Die Antwort wird Ihnen sicher nicht gefallen«, antwortete sie. »Ich hätte sie doch gern gewußt.« »Nun, Sie sahen so lächerlich schutzlos aus, damals bei der Gilde der Opfer. Ich hätte jedem geholfen, der so aussah.« Barrent nickte etwas verlegen. »Und beim zweitenmal?« »Da hatte ich bereits ein Interesse an Ihnen. Kein romantisches Interesse – verstehen Sie mich nicht falsch! Ich bin nicht im geringsten romantisch veranlagt.« »Was für ein Interesse war es dann?« fragte Barrent. »Ich dachte mir, Sie würden gutes Rekrutierungsmaterial abgeben.« »Darüber hätte ich gern mehr gehört.«
Moera schwieg eine Weile und sah ihn mit ihren grünen Augen gerade an. »Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich gehöre einer Organisation an. Wir sind ständig auf der Suche nach geeigneten Leuten. Gewöhnlich holen wir sie uns direkt von den Gefangenenschiffen. Außerdem sehen sich die Anwerber, zu denen auch ich gehöre, nach allem um, was brauchbar scheint.« »Nach was für einer Art Menschen suchen Sie?« »Nicht nach Ihrem Typ, Will. Tut mir leid.« »Und warum nicht?« »Zuerst habe ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Sie anzuwerben«, sagte Moera. »Sie schienen mir genau die Art von Mensch zu sein, die wir benötigen. Dann aber habe ich Ihre Vergangenheit überprüft.« »Und?« »Wir nehmen keine Mörder. Manchmal engagieren wir sie für spezielle Aufgaben, aber wir nehmen sie nicht in unsere Organisation auf. Höchstens akzeptieren wir gelegentlich mildernde Umstände. Aber davon abgesehen haben wir das Gefühl, daß jemand, der auf der Erde einen vorsätzlichen Mord verübt hat, nicht der richtige Mann für uns ist.« »Ich verstehe«, brummte Barrent. »Würde es etwas nützen, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht die Einstellung zum Morden habe, wie sie auf Omega üblich ist?« »Das weiß ich«, antwortete Moera. »Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie auch aufnehmen. Aber darüber habe ich nicht zu bestimmen… Will, sind Sie sicher, daß Sie einen Mord begangen haben?« »Ich glaube, ja«, sagte Barrent. »Wahrscheinlich ist es so.« »Schade. Trotzdem – die Organisation benötigt Leute, die eine hohe Überlebensfähigkeit besitzen, ganz gleich, was sie auf der Erde begangen haben. Ich will sehen, was ich tun kann. Aber es würde viel helfen, wenn Sie herausfinden könnten, warum Sie einen Mord begangen haben. Vielleicht gibt es doch mildernde Umstände.« »Vielleicht«, stimmte Barrent zu, ohne seine Zweifel zu unterdrücken. »Ich will mich bemühen, es herauszufinden.«
Kurz bevor er an diesem Abend einschlief, öffnete Moera die Verbindungstür und trat in sein Zimmer. Schlank und warm schlüpfte sie zu ihm unter die Decke. Als er etwas sagen wollte, legte sie ihm eine Hand auf den Mund. Und Barrent hatte gelernt, Pech und Glück ohne Fragen hinzunehmen. Die Ferien vergingen viel zu schnell. Das Thema Organisation wurde nicht mehr berührt, aber dafür blieb, vielleicht als Ausgleich, die Verbindungstür stets offen. Spätabends am siebenten Tag kehrten Barrent und Moera nach Tetrahyde zurück. »Wann werde ich dich wiedersehen?« fragte Barrent. »Ich werde von mir hören lassen.« »Das ist keine sehr befriedigende Vereinbarung.« »Mehr kann ich nicht versprechen«, antwortete Moera. »Es tut mir leid, Will. Ich will sehen, was sich wegen der Organisation machen läßt.« Barrent mußte sich damit zufriedengeben. Als ihn das Fahrzeug vor seinem Laden absetzte, wußte er immer noch nicht, wo sie wohnte oder welcher Art von Organisation sie angehörte. In seiner Wohnung dachte er noch einmal eingehend über die Einzelheiten seines Traums nach. Es war alles da: seine Wut auf Therkaler, die unerlaubte Waffe, die Begegnung, die Leiche und danach der Spitzel und der Richter. Nur ein Stück fehlte. Er konnte sich nicht an den Augenblick des eigentlichen Mordes entsinnen, und auch nicht an das Anlegen der Waffe und an den Schuß. Der Traum brach in dem Moment ab, in dem er Therkaler gegenüberstand, und setzte erst nach dessen Tod wieder ein. Vielleicht hatte er diesen Moment des Mordens aus seinem Gedächtnis verbannt. So konnte er noch hoffen, daß es irgendeinen verständlichen Grund für seine Tat gegeben hatte – vielleicht war er angegriffen worden. Er mußte es herausfinden. Es bestanden nur zwei Möglichkeiten, Informationen über die Erde zu erlangen. Die eine lag in den schreckerfüllten Visionen des Traumladens, und er war entschlossen, diesen nie wieder aufzusuchen. Die andere Möglichkeit lag im Besuch eines wahrsagenden Mutanten. Barrent hegte die allgemeine Abneigung gegen Mutanten. Sie waren eine völlig andere Rasse, und ihr Status der Unantastbarkeit war kein
einfaches Vorurteil. Es war wohlbekannt, daß Mutanten häufig fremdartige und unheilbare Krankheiten hatten. Sie wurden gemieden und hatten sich auch selbst nach außen abgekapselt. Sie lebten in dem Mutantenviertel, das eine eigene Welt innerhalb von Tetrahyde bildete. Vernünftige Bürger blieben diesem Viertel fern, vor allem des Nachts; jedermann wußte, daß Mutanten rachsüchtig sein konnten – manchmal an der ganzen Menschheit. Aber nur Mutanten besaßen die Fähigkeit, die Vergangenheit zu erforschen. Ihre verunstalteten Körper bargen ungewöhnliche Kräfte und Talente, seltsame und abnorme Fähigkeiten, die der normale Mensch verabscheute, manchmal aber doch ganz gut gebrauchen konnte. Man sagte den Mutanten nach, daß sie bei dem Schwarzen in besonderer Gunst standen. Manche Leute glaubten, daß die große Kunst der Schwarzen Magie, mit der die Priester prahlten, nur von einem Mutanten ausgeübt werden konnte; aber das erwähnte man natürlich nie in Gegenwart eines Priesters. Die Mutanten standen wegen ihrer seltenen Talente in dem Ruf, mehr über die Erde zu wissen als jeder normale Mensch. Sie konnten sich nicht nur an die Erde im allgemeinen erinnern, sondern sie waren auch fähig, das Leben eines einzelnen durch Raum und Zeit zurückzuverfolgen, die Mauer des Vergessens zu durchbrechen und ihm zu sagen, was wirklich mit ihm geschehen war. Andere wieder waren der Meinung, daß Mutanten überhaupt keine besonderen Fähigkeiten besaßen. Sie betrachteten sie als schlaue Betrüger, die von der Leichtgläubigkeit der anderen lebten. Barrent entschloß sich, das selbst herauszufinden. Eines Abends machte er sich, eingehüllt in einen weiten Umhang und gut bewaffnet, auf den Weg zum Mutantenviertel.
13 Die eine Hand stets an der Waffe, schritt Barrent durch die schmalen, gewundenen Gassen des Viertels. Er kam an Lahmen und Blinden vorbei, an Idioten, die brüllend, mit Schaum vor dem Mund, durch die Straßen liefen oder auch an den Ecken kauerten und vor sich
hinwimmerten. Er traf einen Jongleur, der mit einer dritten Hand, die aus seiner Brust wuchs, zwölf brennende Fackeln hochwarf und wieder auffing. Da waren Händler, die Kleider, Tand und billigen Schmuck anboten, Karren mit unsauber aussehenden Lebensmitteln: Er geriet in die Bordellgasse mit ihren buntbemalten Fassaden. In den Fenstern drängten sich Mädchen und kreischten hinter ihm her; ein Mann mit vier Armen und sechs Beinen erklärte ihm, er käme gerade zu den DelphinRiten zurecht. Barrent wandte sich von ihm ab und wäre fast an eine unheimlich fette Frau gerannt, die ihre Bluse aufriß und acht schlaffe Brüste zum Vorschein brachte. Er machte einen Bogen um sie und eilte an einem siamesischen Vierling vorbei, der ihn mit sehr vielen großen, traurigen Augen anstarrte. Barrent bog um eine Ecke und blieb stehen. Ein hochgewachsener, zerlumpter alter Mann mit einem weißen Stock blockierte den Weg. Er war fast blind; über der Stelle, an der einmal sein linkes Auge gesessen hatte, wuchs weiche, haarlose Haut. Sein rechtes Auge jedoch blickte starr und böse. »Wünschen Sie die Dienste eines ehrlichen Wahrsagers?« fragte der Alte. Barrent nickte. »Folgen Sie mir!« forderte ihn der Einäugige auf. Er bog in eine schmale Gasse ein. Barrent folgte ihm und umklammerte fest den Lauf seiner Nadelstrahlpistole. Mutanten durften dem Gesetz nach keine Waffen tragen; aber dieser hatte, wie viele von ihnen, einen Stock mit einer Eisenspitze. In engen Gassen konnte dies eine sehr gefährliche Waffe abgeben. Der Alte öffnete eine Tür und winkte Barrent herein. Barrent zögerte und dachte an die Geschichten von leichtgläubigen Bürgern, die in die Hände der Mutanten gefallen waren. Dann zog er die Waffe hervor und folgte dem Alten ins Innere. Am Ende eines langen Ganges öffnete dieser eine weitere Tür und ließ Barrent in einen kleinen, schwach erleuchteten Raum treten. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Barrent die Umrisse von zwei Frauen erkennen, die vor einem einfachen Holztisch saßen. Auf dem Tisch stand ein Topf mit Wasser, und darin befand sich ein faustgroßes Stück Glas, in das viele Facetten geschnitten waren.
Eine der Frauen war sehr alt und hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. Die andere war jung und erstaunlich hübsch. Als Barrent näher an den Tisch trat, stellte er entsetzt fest, daß ihre Beine von den Knien an zusammengewachsen waren, eine schuppige Haut umgab sie, nach unten zu liefen sie in eine Art Fischschwanz aus. »Was wünschen Sie zu erfahren, Bürger Barrent?« fragte die junge Mutantin. »Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte Barrent. Als er keine Antwort erhielt, sagte er: »Schön. Ich möchte Genaues über einen Mord wissen, den ich auf der Erde verübt habe.« »Warum möchten Sie das?« fragte die junge Frau. »Wollen die Behörden Ihnen den Mord nicht zugestehen?« »O doch, sie erkennen ihn an. Aber ich möchte gern wissen, warum ich ihn verübt habe. Es könnte ja sein, daß mildernde Umstände eine Rolle spielten. Vielleicht habe ich es nur zur Selbstverteidigung getan.« »Ist das wirklich so wichtig?« fragte die junge Frau. »Ja!« antwortete Barrent mit Nachdruck. Er zögerte einen Moment und wagte dann den Sprung: »Tatsache ist, daß ich ein neurotisches Vorurteil gegen das Morden hege. Mir wäre es lieber, nicht töten zu müssen. Deshalb möchte ich gern wissen, warum ich auf der Erde einen Mord verübt habe.« Die Mutanten blickten einander an. Dann grinste der alte Mann und sagte: »Bürger, wir werden Ihnen nach besten Kräften helfen. Auch wir Mutanten sind gegen den Mord, wohl deshalb, weil meistens wir es sind, die getötet werden. Wir mögen Bürger, die gleich uns fühlen.« »Dann werden Sie also meine Vergangenheit erforschen?« »So leicht ist das nicht«, erklärte die junge Frau. »Diese Fähigkeit gehört zu den Psi-Talenten und ist äußerst schwierig. Nicht immer gelingt es. Und manchmal deckt es auch Dinge auf, die gar nicht aufgedeckt werden sollten.« »Ich dachte, alle Mutanten könnten die Vergangenheit lesen, wann es ihnen beliebt«, sagte Barrent. »Nein«, widersprach der alte Mann. »Das stimmt nicht. Erstens einmal sind nicht alle, die als Mutanten klassifiziert sind, echte Mutanten. Fast
jede Deformierung oder Abnormität wird heutzutage Mutantismus genannt. Das ist eine bequeme Bezeichnung für alle, die den terrestrischen Vorstellungen der äußeren Erscheinung nicht entsprechen.« »Aber es gibt doch echte Mutanten?« »Gewiß. Aber selbst da gibt es Unterschiede. Manche weisen nur Verunstaltungen durch Strahleneinwirkung auf – Gigantismus, Mikrocephalie und dergleichen. Nur ganz wenige besitzen geringe Spuren von Psi-Talenten – obgleich alle Mutanten Anspruch darauf erheben.« »Und Sie – können Sie es?« fragte Barrent. »Nein. Aber Myla«, antwortete er und deutete auf die junge Frau. »Manchmal ist sie dazu fähig.« Die junge Frau starrte in den Wassertopf auf das Facettenglas. Ihre blassen Augen waren weit geöffnet, die Pupillen hatten sich stark vergrößert; ihr Körper mit dem Fischschwanz war steil aufgerichtet; die Alte stützte sie. »Sie beginnt etwas zu sehen«, sagte der Mann. »Das Wasser und die Kristallkugel sind nur Einrichtungen, um ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu konzentrieren. Myla ist sehr gut, obzwar sie manchmal die Vergangenheit mit der Zukunft vermengt. Das kann unangenehm sein und bringt das Talent in schlechten Ruf. Aber man kann nichts dagegen tun. Ab und zu taucht eben die Zukunft mit auf, und Myla muß sagen, was sie sieht. Letzte Woche sagte sie einem Hadji, daß er in vier Tagen sterben würde.« Der Alte kicherte. »Sie hätten seinen Gesichtsausdruck sehen sollen.« »Hat sie auch gesehen, wie er sterben würde?« fragte Barrent. »Ja. Durch einen Messerstich. Der Ärmste wagte sich die ganzen vier Tage nicht aus dem Haus.« »Und wurde er getötet?« »Natürlich. Seine Frau tötete ihn. Sie ist eine zielbewußte Dame, habe ich mir sagen lassen.« Barrent hoffte, daß Myla ihm seine Zukunft nicht verraten würde. Das Leben war schwierig genug ohne die Voraussagungen eines Mutanten.
Sie blickte von dem Glas auf und schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann Ihnen nur sehr wenig sagen. Es ist mir nicht gelungen, den Mord selbst zu erkennen. Aber ich habe einen Friedhof gesehen und darin das Grabmal Ihrer Eltern. Da war ein alter Grabstein, vielleicht zwanzig Jahre alt. Der Friedhof befand sich in den Außenbezirken eines Ortes auf der Erde, der den Namen Youngerstun trägt.« Barrent dachte angestrengt nach, aber der Name bedeutete ihm nichts. »Außerdem habe ich einen Mann gefunden«, fuhr Myla fort, »der etwas über den Mord weiß. Er kann Ihnen darüber berichten, wenn er will.« »Hat dieser Mann den Mord beobachtet?« »Ja.« »Ist er derjenige, der mich angezeigt hat?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Myla. »Ich habe die Leiche gesehen. Sein Name war Therkaler. Dicht neben ihm stand ein Mann. Dessen Name ist Illiardi.« »Befindet er sich hier auf Omega?« »Ja. Sie können ihn in diesem Augenblick in dem Euphoriatorium in der Little Axe Street finden. Wissen Sie, wo das ist?« »Ich werde es finden«, sagte Barrent. Er dankte der jungen Frau und bot ihr einen Lohn an, den sie aber ablehnte. Sie sah sehr unglücklich aus. Als Barrent gehen wollte, rief sie: »Seien Sie vorsichtig!« Barrent blieb an der Tür stehen und fühlte einen eisigen Schauer den Rücken entlangrinnen. »Haben Sie meine Zukunft gelesen?« fragte er. »Nur ein wenig«, antwortete Myla. »Nur, was in wenigen Monaten geschieht.« »Was haben Sie gesehen?« »Ich kann es nicht erklären. Was ich gesehen habe, ist unmöglich.« »Sagen Sie mir, was es war.« »Ich sah Sie tot. Und trotzdem waren Sie wieder nicht tot. Sie blickten auf eine Leiche, die in viele kleine Teile zersplittert war. Und die Leiche waren Sie selbst.« »Was hat das zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Myla. Das Euphoriatorium war ein großes, grell gestrichenes Gebäude, in dem es speziell gemischte Drogen und Betäubungsmittel gab. Seine hauptsächlichsten Kunden waren Peons und einfache Bürger. Barrent fühlte sich etwas unbehaglich, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte und den Kellner fragte, wo er einen Mann namens Illiardi finden könnte. Der Kellner deutete in eine Eckloge. Barrent sah einen glatzköpfigen, breitschultrigen Mann, der sich über ein winziges Glas Thanapiquita beugte. Barrent trat auf ihn zu und stellte sich vor. »Angenehm«, antwortete Illiardi und trug den obligatorischen Respekt eines Residenten zweiter Klasse gegenüber einem Privileg-Bürger zur Schau. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« »Ich möchte Ihnen gern ein paar Fragen über die Erde stellen«, begann Barrent. »Kann mich nicht mehr an viel erinnern«, antwortete Illiardi. »Aber soweit ich Ihnen zu Diensten sein kann…« »Erinnern Sie sich an einen Mann mit Namen Therkaler?« »Ganz gewiß«, antwortete Illiardi. »Dünner Bursche. Schielte. Eine miese Type!« »Waren Sie dabei, als er ermordet wurde?« »Jawohl. Es war das erste, an das ich mich erinnerte, als ich das Schiff verließ.« »Haben Sie gesehen, wer ihn getötet hat?« Illiardi starrte ihn erstaunt an. »Das brauchte ich nicht zu sehen. Ich selbst habe ihn getötet.« Barrent zwang sich, in ruhigem Ton zu sprechen. »Sind Sie da ganz sicher? Wissen Sie das genau, meine ich?« »Selbstverständlich weiß ich das genau«, antwortete Illiardi. »Und ich bringe jeden um, der mir diesen Mord abstreiten will. Ich habe Therkaler getötet, und er hat noch Schlimmeres als das verdient.«
»Als Sie ihn getötet haben – haben Sie mich da zufällig in der Nähe gesehen?« fragte Barrent. Illiardi musterte ihn aufmerksam von oben bis unten, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß ich Sie dabei gesehen habe. Aber genau kann ich das natürlich nicht sagen. Direkt nachdem ich Therkaler getötet habe, verwischt sich alles irgendwie.« »Ich danke Ihnen«, sagte Barrent. Er verließ das Euphoriatorium.
14 Barrent hatte viel Stoff zum Nachdenken. Aber je mehr er grübelte, um so konfuser wurde alles. Wenn Illiardi Therkaler getötet hatte, warum war er, Barrent, dann nach Omega deportiert worden? Wenn jedoch ein Irrtum unterlaufen war, warum hatte man ihn dann nicht freigelassen, nachdem der wahre Mörder gefaßt war? Warum hatte ihn auf der Erde jemand eines Mordes angeklagt, den er gar nicht begangen hatte? Und warum hatte man ihm eine falsche Erinnerung an dieses Verbrechen eingegeben? Barrent fand auf alle diese Fragen keine Antwort. Aber er wußte, daß er sich niemals wie ein Mörder gefühlt hatte. Jetzt hatte er einen Beweis dafür, daß er kein Mörder war. Dieses Gefühl der Unschuld änderte alles. Er brachte jetzt für die Gebräuche von Omega weniger Verständnis auf, hatte überhaupt kein Interesse mehr daran, der verbrecherischen Lebensart zu folgen. Das einzige, wonach er trachtete, war, von Omega zu fliehen und sein rechtmäßiges Erbe auf der Erde anzutreten. Aber das war unmöglich. Tag und Nacht kreisten die Wachschiffe am Himmel. Selbst wenn es einen Weg gäbe, diese Sperre zu umgehen, wäre eine Flucht immer noch unmöglich. Die Technologie auf Omega war noch nicht weiter fortgeschritten als bis zur Verbrennungsmaschine. Die einzigen Raumschiffe waren in den Händen der Erdbehörden. Barrent arbeitete weiterhin in seinem Antidotenladen, aber sein Mangel an öffentlichem und sozialem Geist war offensichtlich und wuchs ständig. Die Einladungen des Traumladens ignorierte er einfach, und auch die regelmäßigen öffentlichen Exekutionen, beliebte Schauspiele für
die Bewohner von Omega, besuchte er nicht. Wenn sich ein Haufen Pöbel zusammenrottete, um im Mutantenviertel sein grausames Spiel zu treiben, schützte Barrent Kopfschmerzen vor. Er beteiligte sich auch nie an den Jagden des Landungstages, und einen akkreditierten Vertreter vom Torturenklub beleidigte er sogar. Selbst die Besuche von Onkel Ingemar konnten ihn nicht dazu bringen, seine wenig religiöse Lebensweise zu ändern. Er wußte, daß er Unannehmlichkeiten heraufbeschwor. Er erwartete sie, und das Wissen darum stimmte ihn seltsamerweise heiter. Letzten Endes war auf Omega nichts dabei, die Gesetze zu brechen – solange man damit durchkam. Nach einem Monat hatte er Gelegenheit, seine Entscheidung zu prüfen. Als er eines Tages zu seinem Laden zurückging, stieß ihn in der Menge ein Mann an. Barrent wich ihm aus, aber der Mann packte ihn bei der Schulter und zog ihn dichter zu sich heran. »Wie können Sie sich erlauben, mich anzurempeln?« fragte der Mann. Er war klein und untersetzt. Seine Kleidung kennzeichnete ihn als einen Privileg-Bürger. Fünf Silbersterne an seinem Patronengürtel zeigten die Zahl seiner autorisierten Morde an. »Ich habe Sie nicht angerempelt«, antwortete Barrent. »Du lügst – Mutanten-Liebhaber!« Entsetztes Schweigen breitete sich ringsherum bei dieser tödlichen Beleidigung aus. Barrent trat abwartend einen Schritt zurück. Mit einer schnellen, geschickten Bewegung griff der Mann nach seiner Waffe. Aber Barrent hatte seine Nadelstrahlwaffe schon eine gute halbe Sekunde hervorgerissen, bevor der andere seine Pistole aus dem Gürtel gezogen hatte. Sein Schuß traf den Mann genau zwischen die Augen; dann spürte er hinter sich eine Bewegung und schnellte herum. Zwei Privileg-Bürger zogen ihre Waffen. Barrent feuerte, ganz automatisch zielend, und warf sich hinter einen Mauervorsprung. Die Männer sackten zusammen. Die Wand hinter Barrent zerkrümelte unter
dem Aufprall der Geschosse. Barrent bemerkte einen vierten Mann, der auf ihn schoß. Mit zwei weiteren Schüssen brachte er auch ihn zu Fall. Damit war es geschehen. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er vier Männer getötet. Obgleich er nicht glaubte, die Mentalität eines Mörders zu besitzen, war Barrent doch irgendwie zufrieden und angenehm erregt. Er hatte nur seiner Selbstverteidigung wegen geschossen. Er hatte diesen Rangjägern etwas zum Nachdenken gegeben; das nächstemal würde man ihn nicht so leichtsinnig angreifen. Möglicherweise würden sie sich auf leichtere Ziele konzentrieren und ihn in Ruhe lassen. Als er seinen Laden erreichte, wartete dort Joe auf ihn. Der kleine Betrüger blickte unbehaglich drein. »Ich habe die hübsche kleine Schießerei heute mit angesehen. Ganz nett.« »Vielen Dank.« »Glaubst du etwa, das wird dir viel nützen? Glaubst du, du könntest einfach immer so weitermachen und die Gesetze brechen?« »Ich komme damit durch«, antwortete Barrent. »Gewiß. Aber wie lange noch?« »Solange es nötig ist.« »Du hast überhaupt keine Chance«, sagte Joe. »Niemandem gelingt es auf die Dauer, das Gesetz zu brechen und davonzukommen. Das glauben nur völlige Trottel.« »Dann soll man mir das nächstemal wenigstens bessere Männer auf den Hals schicken«, sagte Barrent und lud seine Waffe frisch auf. »So wird es nicht kommen«, erklärte Joe. »Glaub mir, Will, man kann nie voraussagen, auf welche Weise sie einen fertigmachen. Wenn das Gesetz einmal beschlossen hat, etwas zu unternehmen, kannst du nichts, aber auch absolut gar nichts dagegen tun. Und erwarte bloß nicht wieder Hilfe von deiner Freundin.« »Kennst du sie?« fragte Barrent. »Ich kenne jeden«, antwortete Joe verdrossen. Eindringlich fuhr er fort: »Ich habe Freunde in der Regierung. Ich weiß, daß man von dir allmählich die Nase voll hat. Hör mir zu, Will. Willst du denn unbedingt als Leiche enden?«
Barrent schüttelte den Kopf. »Kannst du Moera besuchen? Weißt du, wie man sie erreichen kann, Joe?« »Vielleicht. Aber wozu?« »Ich möchte, daß du ihr etwas von mir bestellst, Joe. Sag ihr, daß ich den Mord nicht begangen habe, dessentwegen ich angeklagt wurde – damals auf der Erde.« Joe starrte ihn entgeistert an. »Hast du denn ganz und gar den Verstand verloren?« »Nein, aber ich habe den Mann gefunden, der den Mord tatsächlich begangen hat. Es ist ein Zweiter-Klasse-Resident: IIliardi heißt er.« »Aber warum willst du das unbedingt unter die Leute bringen?« fragte Joe. »Es hat doch gar keinen Sinn, den Gutpunkt für den Mord zu verlieren.« »Ich habe den Mann nicht ermordet«, beharrte Barrent. »Und ich will, daß du es Morea erzählst. Wirst du es tun?« »Also gut, ich werde es ihr sagen«, stimmte Joe zu, »wenn ich sie finde. Aber es wäre besser, du würdest meine Warnung ernst nehmen. Vielleicht hast du noch Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Geh zur Schwarzen Messe oder unternimm sonst etwas. Vielleicht hilft dir das noch.« »Mal sehen«, antwortete Barrent. »Wirst du es ihr auch sicher mitteilen?« »Ja, ich werde es ihr bestimmt sagen«, versicherte Joe und verließ, traurig den Kopf schüttelnd, den Antidotenladen.
15 Drei Tage danach erhielt Barrent den Besuch eines großen, würdigen alten Mannes, der sich so aufrecht und steif hielt, als hätte er das zeremonielle Schwert, das er an seiner Hüfte trug, verschluckt. Er trug einen Umhang mit einem hochstehenden steifen Kragen. An seiner Kleidung erkannte ihn Barrent als einen hohen Regierungsbeamten. »Die Regierung von Omega überbringt Ihnen ihre Grüße«, begann der Beamte. »Ich bin Norins Jay, stellvertretender Minister für Spiele. Durch
das Gesetz bin ich beauftragt, Sie von Ihrem großen Glück zu unterrichten.« Barrent nickte bedachtsam und bat den alten Mann näherzutreten. Aber Jay, aufrecht und korrekt, zog es vor, im Laden zu bleiben. – »Gestern abend fand die alljährliche Lotterieziehung statt«, sagte Jay. »Sie, Bürger Barrent, sind einer der Gewinner. Ich gratuliere Ihnen.« »Was ist der Preis?« fragte Barrent. Er hatte schon von der jährlichen Lotterie gehört, besaß aber nur eine vage Vorstellung von ihrer Bedeutung. »Der Preis«, verkündete Jay, »ist Ehre und Ruhm. Ihnen werden die bürgerlichen Ehrenrechte zuerkannt. Ihre Morde werden schriftlich beglaubigt und der Nachwelt erhalten bleiben. Konkret gesprochen: Sie erhalten eine neue Nadelstrahlwaffe von der Regierung, und hinterher werden Sie mit dem silbernen Sonnenkreuz ausgezeichnet werden.« »Hinterher?« »Natürlich. Das silberne Sonnenkreuz wird immer erst nach dem Tode verliehen. Die Ehre ist deshalb nicht geringer.« »Natürlich nicht«, antwortete Barrent. »Gibt es sonst noch etwas?« »Nur noch das eine«, antwortete Jay. »Als Lotteriegewinner werden Sie an der symbolischen Zeremonie der Jagd teilnehmen, die den Beginn der jährlichen Spiele verkündet. Die Jagd, wie Sie wohl wissen, verkörpert unsere Lebensart von Omega. In der Jagd erkennen wir all die komplizierten Faktoren des dramatischen Aufstiegs und Abfalls von der Gnade, kombiniert mit dem erregenden Erlebnis des Duells und der Spannung der Treibjagd. Selbst Peons ist es gestattet, an der Jagd teilzunehmen; denn dies ist der einzige Feiertag, der für alle in gleicher Weise gilt, und auch der Feiertag, an dem der gewöhnliche Mann Gelegenheit hat, sich über die ihm durch seinen Rang auferlegten Schranken zu erheben.« »Wenn ich es richtig verstanden habe«, sagte Barrent, »so bin ich einer der Männer, die gejagt werden sollen.« »Jawohl«, bestätigte Jay. »Aber Sie erwähnten, daß die Zeremonie symbolisch sei. Bedeutet das nicht, daß niemand getötet wird?«
»Aber ganz und gar nicht!« rief Jay aus. »Auf Omega ist das Symbol und das, was symbolisiert wird, ein und dasselbe. Wenn wir von einer Jagd sprechen, dann meinen wir auch eine echte Jagd. Sonst wäre das Ganze ja nur Theater.« Barrent dachte einen Augenblick über die Situation nach. Sie erschien ihm nicht vergnüglich. In einem Kampf von Mann zu Mann hatte er eine ausgezeichnete Chance. Die jährliche Jagd aber, an der sich die gesamte Bevölkerung von Tetrahyde beteiligte, ließ ihm nicht die geringste Möglichkeit zu überleben. Auf eine derartige Sache hätte er sich vorbereiten müssen. »Auf welche Weise wurde ich ausgewählt?« fragte er. »Durch eine öffentliche Ziehung«, antwortete Norins Jay. »Das ist die einzig faire Methode gegenüber den Gejagten, die ihr Leben für den Ruhm Omegas hergeben.« »Ich kann nicht glauben, daß ausgerechnet ich rein zufällig ausgewählt wurde.« »Die Wahl blieb dem Zufall überlassen«, wiederholte Jay. »Natürlich beschränkte sie sich auf einige geeignete Kandidaten. Nicht jeder eignet sich als Jagdbeute. Man muß schon ein gehöriges Maß an Zähigkeit und Begabung bewiesen haben, bevor das Komitee der Spiele daran denkt, ihn in Betracht zu ziehen. Gejagt zu werden, ist eine Ehre. Diese Gunst wird nicht leicht jemandem zuteil.« »Ich kann es nicht glauben«, sagte Barrent. »Ihr in der Regierung habt schon lange darauf gewartet, mich fertigzumachen. Jetzt scheint es euch gelungen zu sein. So einfach ist das also.« »Aber nicht doch! Ich kann Ihnen versichern, daß Ihnen niemand von uns in der Regierung auch nur das geringste Böse wünscht. Vielleicht sind Ihnen lächerliche Geschichten von bösartigen Beamten zu Ohren gekommen – aber sie sind nicht wahr. Zwar haben Sie das Gesetz gebrochen, aber das geht die Regierung nichts an. Es ist eine Angelegenheit zwischen Ihnen und dem Gesetz.« Jays eisige blaue Augen blitzten auf, als er vom Gesetz sprach. Sein Rücken versteifte sich, und seine Lippen zogen sich zu schmalen Strichen zusammen.
»Das Gesetz«, fuhr er in fanatischem Tonfall fort, »steht über dem Verbrecher und dem Richter, es regiert beide. Dem Gesetz kann niemand entrinnen, denn eine Handlung ist entweder gesetzlich oder ungesetzlich. Das Gesetz, so könnte man wohl sagen, hat ein eigenes unbegrenztes Leben, eine Existenz, die sich von dem beschränkten Dasein der Wesen, die es verwalten, ganz erheblich unterscheidet. Das Gesetz regiert jeden Aspekt des menschlichen Benehmens: deshalb ist das Gesetz im gleichen Ausmaß, in dem die Menschen gesetzliche Wesen sind, selbst menschlich. Und durch diese Menschlichkeit wiederum ist das Gesetz besonders empfindlich – genau wie der Mensch. Für jeden Bürger, die dem Gesetz gehorchen, ist es schwer zu finden. Für jene aber, die es verletzen und mißachten, erhebt es sich aus seiner muffigen Grabstätte und greift nach ihnen.« »Deshalb hat man mich für die Jagd ausgewählt?« fragte Barrent. »Gewiß«, antwortete Jay. »Wenn man Sie nicht auf diese Weise ergriffen hätte, so hätte das eifrige und stets wachsame Gesetz andere Mittel und Wege gefunden, hätte alle ihm zur Verfügung stehenden Instrumente benutzt.« »Nett, daß Sie mir das sagen«, antwortete Barrent. »Wieviel Zeit habe ich?« »Bis zur Morgendämmerung. Dann beginnt die Jagd, und sie endet beim Sonnenaufgang des folgenden Tages.« »Was geschieht, wenn ich die Jagd lebend überstehe?« Norins lächelte. »Das geschieht nicht oft, Bürger Barrent. Ich bin sicher, daß Sie sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen brauchen.« »Aber es kommt doch gelegentlich vor, oder?« »Ja. Diejenigen, die die Jagd überleben, nehmen automatisch an den Spielen teil.« »Und wenn ich die Spiele überlebe?« »Lassen wir das doch!« sagte Jay in freundlichem Ton. »Aber wenn es mir nun doch gelingt?« »Glauben Sie mir, Bürger Barrent, das ist äußerst unwahrscheinlich.« »Ich möchte es aber trotzdem gern wissen.«
»Diejenigen, die die Spiele überleben, stehen außerhalb der Reichweite des Gesetzes.« »Hört sich vielversprechend an«, bemerkte Barrent. »Das ist es aber nicht. Das Gesetz, wenn es auch noch so hart erscheint, bewacht Sie. Ihre Rechte mögen wenige sein, doch das Gesetz achtet darauf, daß sie eingehalten werden. Das Gesetz verbietet mir, Sie schon in diesem Augenblick zu töten.« Jay öffnete seine geballte Faust, darin lag eine winzige Einschußwaffe. »Das Gesetz setzt Grenzen und wirkt ausgleichend auf das Verhalten der Gesetzesbrecher und derjenigen, die es befolgen. Um sicher zu sein, ordnet das Gesetz jetzt an, daß Sie sterben müssen. Aber alle Menschen müssen sterben. Aber das Gesetz ist ernsthaft und wägt seine Entscheidungen wohl ab; deshalb läßt es Ihnen einen ganzen Tag Zeit, bis Sie sterben müssen. Ihnen bleibt wenigstens ein Tag – ohne das Gesetz bliebe Ihnen keine einzige Minute.« »Was geschieht«, begann Barrent von neuem, »wenn ich die Spiele überlebe und dem Gesetz nicht mehr unterstehe?« »Dann bleibt nur eines«, antwortete Jay nachdenklich, »und das ist der Schwarze in eigener Person. Wer vom Gesetz befreit ist, gehört ihm. Aber es wäre besser, tausendmal zu sterben, als in die Hände des Schwarzen zu geraten.« Schon lange hatte Barrent die Religion des Schwarzen als abergläubischen Unsinn abgetan. Jetzt aber, bei dem ernsten Ton von Jays Stimme, begann er zu zweifeln. Vielleicht bestand zwischen der allgemein üblichen Anbetung des Bösen und seiner tatsächlichen Existenz doch ein Unterschied. »Aber wenn Sie ein bißchen Glück haben«, versuchte Jay ihn zu beruhigen, »werden Sie möglichst bald getötet. Jetzt will ich die Unterredung mit einigen letzten Instruktionen beenden.« Noch immer die winzige Waffe in der Hand haltend, griff er mit der anderen in die Tasche und zog einen roten Stift hervor. Mit einer schnellen, geübten Bewegung fuhr er mit dem Stift über Barrents Wangen und Stirn. Er war fertig, noch bevor Barrent zurückweichen konnte.
»Das kennzeichnet Sie als einen Gejagten«, sagte Jay. »Die Jagdmerkmale sind unauslöschlich. Und hier ist Ihre Nadelstrahlwaffe, die Ihnen die Regierung zur Verfügung stellt.« Er zog eine Waffe aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Die Jagd beginnt, wie ich vorhin schon erwähnte, beim ersten Schimmer der Dämmerung. Jeder kann Sie dann töten, nur die anderen Gejagten dürfen es nicht. Sie können auch jeden töten. Aber ich rate Ihnen, das nur mit äußerster Vorsicht zu tun. Das Geräusch und das Aufblitzen der Waffe haben schon viele Gejagte verraten. Wenn Sie ein Versteck aufsuchen, dann achten Sie darauf, daß Sie einen Hinterausgang haben. Vergessen Sie nicht, daß die anderen Tetrahyde weitaus besser kennen als Sie. Geübte Jäger haben im Laufe der vergangenen Jahre alle möglichen Verstecke entdeckt; viele der Gejagten werden schon während der ersten Stunden des Feiertages gefangen. Viel Glück, Bürger Barrent.« Jay ging zur Tür. Er öffnete sie und drehte sich noch einmal zu Barrent um. »Ich könnte hinzufügen, daß es eine ganz geringe Chance gibt, Leben und Freiheit während der Jagd zu bewahren. Aber da es verboten ist, kann ich Ihnen nicht verraten, was das ist.« Norins Jay verbeugte sich und ging hinaus. Nach mehreren Versuchen mußte Barrent feststellen, daß die roten Jagdzeichen wirklich unauslöschlich waren. Er verbrachte den Abend damit, die Nadelstrahlwaffe der Regierung auseinanderzunehmen und zu untersuchen. Wie vorauszusehen, war die Waffe beschädigt. Er zog es vor, seine eigene zu benutzen. Dann traf er seine Vorbereitungen für die Jagd. Er packte einige Lebensmittel, eine Flasche Wasser, ein Seil, ein Messer, Ersatzmunition und eine zweite Nadelstrahlwaffe in einen kleinen Rucksack. Dann wartete er; gegen jede Vernunft hoffte er, daß Moera und ihre Organisation ihm eine letzte Gnadenfrist gewähren würden. Aber er wartete vergebens. Eine Stunde vor der Dämmerung schulterte er seinen Rucksack und verließ den Antidotenladen. Er hatte keine Ahnung, was die anderen Gejagten taten; aber ihm war ein Ort eingefallen, wo er vor den Jägern sicher sein könnte.
16 Die Autoritäten von Omega geben zu, daß sich im Charakter eines Gejagten ein Wandel vollzieht. Wenn es ihm gelingt, die Jagd als ein abstraktes Problem anzusehen, kann er vielleicht einen mehr oder weniger aussichtsreichen Plan entwerfen. Der typische Gejagte aber kann seine Gefühle nicht einfach unterdrücken, ganz gleich, wie intelligent er ist. Schließlich ist er der Gejagte. Panik überfällt ihn. Die Sicherheit liegt für ihn in Entfernungen und Verstecken. Er flieht so weit als möglich von seiner Wohnung; er steigt in die Abflußkanäle und unterirdischen Flußläufe. Er wählt die Dunkelheit statt des Lichts, zieht sich in verlassene Gegenden zurück. Dieses Vorgehen ist den erfahrenen Jägern wohlbekannt. Und so ist es nur natürlich, daß sie zuerst die dunklen, entlegenen Orte absuchen, die unterirdischen Gänge, verlassenen Läden und Gebäude. Hier finden und erledigen sie die Gejagten mit unausweichlicher Präzision. Barrent hatte das wohl bedacht. Er hatte seinen ersten instinktiven Wunsch, sich im verzweigten Abwässersystem von Tetrahyde zu verkriechen, beiseite geschoben. Statt dessen ging er eine Stunde vor Sonnenaufgang direkt zu den großen, hellerleuchteten Gebäuden, in denen sich das Ministerium für Spiele befand. Da die Gänge noch leer zu sein schienen, betrat er das Gebäude schnell, las die Tafeln mit den Anweisungen und ging die Treppe zum dritten Stockwerk hinauf. Er kam an mehreren Büros vorbei und blieb endlich vor einer Tür mit der Aufschrift: Norins Jay, stellvertretender Minister für Spiele, stehen. Einen Augenblick lauschte er, öffnete dann die Tür und trat ein. Der alte Mann entdeckte sofort die roten Merkmale auf seinem Gesicht. Er zog eine Schublade auf und griff hinein. Barrent wollte den alten Mann nicht töten. Er legte mit der defekten Waffe der Regierung an und zielte auf die Stirn des Beamten. Jay taumelte gegen die Wand und knickte dann auf dem Boden in sich zusammen. Barrent beugte sich über ihn und fühlte seinen Puls, der noch schlug. Er steckte dem Minister einen Knebel in den Mund und fesselte ihn, dann schob er ihn unter den Schreibtisch. Nun durchsuchte er die
Schubladen und fand ein Schild: SITZUNG! BITTE NICHT STÖREN. Dieses hängte er draußen an die Tür, die er hierauf verschloß. Schließlich zog er die eigene Nadelstrahlwaffe und setzte sich hinter den Tisch, um abzuwarten. Es dämmerte, eine wäßrige Sonne ging über Omega auf. Vom Fenster aus konnte Barrent sehen, wie sich die Straßen füllten. In der Stadt herrschte eine karnevalartige Stimmung, zuweilen wurde sie durch das Zischen oder die Explosion einer Waffe noch erhöht. Gegen Mittag war Barrent noch immer nicht entdeckt worden. Er blickte aus dem Fenster und stellte fest, daß er schlimmstenfalls über die Dächer entkommen konnte. Er war froh über diese Möglichkeit – er mußte an Jays Warnung denken. Am Nachmittag hatte Jay sein Bewußtsein wiedererlangt. Nach einigen Versuchen, die Fesseln abzustreifen, blieb er ruhig liegen. Gegen Abend klopfte jemand an die Tür. »Minister Jay, darf ich eintreten?« »Nicht jetzt«, sagte Barrent und hoffte, Jays Stimme einigermaßen glaubwürdig imitiert zu haben. »Ich dachte, Sie wären an den Statistiken der Jagd interessiert«, sagte der Mann. »Bis jetzt haben die Bürger dreiundsiebzig Gejagte getötet. Das läßt nur noch achtzehn übrig. Eine beachtliche Verbesserung gegenüber dem letzten Jahr.« »Allerdings«, antwortete Barrent. »Die Anzahl derjenigen, die sich in den Kanalsystemen versteckte, war diesmal höher. Einige versuchten zu bluffen und blieben einfach zu Hause. Die Restlichen suchen wir jetzt an den üblichen Orten.« »Ausgezeichnet«, antwortete Barrent. »Keiner hat bis jetzt einen Ausbruch versucht«, fuhr der Mann fort. »Komisch, daß die Gejagten so selten daran denken. Aber so brauchen wir wenigstens nicht die Maschinen einzusetzen.« Barrent wußte nicht, wovon der Mann sprach. Den Ausbruch? Wohin konnte man ausbrechen? Und wie wurden die Maschinen eingesetzt? »Wir wählen schon jetzt Kandidaten für die Spiele aus«, fügte der Mann hinzu. »Ich hätte gern Ihre Zustimmung zur Liste.«
»Machen Sie das selbst«, sagte Barrent. »Jawohl, Sir«, antwortete der Mann. Kurz darauf hörte er, wie sich die Schritte entfernten. Er schloß daraus, daß der Mann mißtrauisch geworden war. Die Unterhaltung hatte zu lange gedauert, er hätte sie schon früher abbrechen sollen. Vielleicht war es besser, ein anderes Büro aufzusuchen. Noch bevor er etwas unternehmen konnte, erfolgte ein lautes Klopfen an der Tür. »Ja?« »Bürgerliche Suchtruppe«, dröhnte eine tiefe Stimme. »Öffnen Sie, bitte! Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich in Ihrem Büro ein Gejagter aufhält.« »Unsinn«, erwiderte Barrent. »Sie dürfen den Raum nicht betreten. Dies ist ein Regierungsbüro.« »Wir dürfen«, ertönte wieder die tiefe Stimme. »Am Jagdtag ist kein Raum, kein Büro oder Gebäude verschlossen. Öffnen Sie also oder nicht?« Barrent hatte sich bereits auf das Fenster zubewegt. Er riß es auf und hörte hinter sich das Hämmern an der Tür. Zweimal feuerte er gegen die Tür, um die Eindringlinge vorsichtiger zu machen; dann kletterte er aus dem Fenster. Barrent stellte sofort fest, daß die Dächer von Tetrahyde wie das perfekte Versteck für einen Gejagten aussahen; deshalb war dies auch der letzte Platz, den ein Gejagter aufsuchen sollte. Das Labyrinth eng miteinander verbundener Dächer, Schornsteine, Vorbauten schien für eine Jagd wie geschaffen; aber es befanden sich auch hier schon Männer. Sie schrien laut auf, als sie seiner ansichtig wurden. Barrent begann zu laufen, die Jäger folgten ihm, und bald kamen von allen Seiten noch mehr herbeigeströmt. Er sprang über einen vier Meter breiten Spalt zwischen zwei Gebäuden. Es gelang ihm, sich an dem gegenüberliegenden, mit rauhen Ziegeln belegten Dach festzuklammern und die Balance zu halten. Die Angst spornte ihn zu schnellerem Lauf an. Er gewann einen größeren Vorsprung. Wenn er dieses Tempo noch
zehn Minuten beibehalten könnte, wäre er vorläufig in Sicherheit. Dann könnte er vielleicht die Dächer verlassen und ein sicheres Versteck suchen. Wieder tat sich vor ihm ein breiter Spalt auf. Barrent sprang ohne Zögern. Er kam gut auf. Aber sein rechter Fuß brach durch die morschen Schindeln bis zur Hüfte ein. Er holte tief Atem und versuchte, sein Bein herauszuziehen, aber an dem schrägen Dach fand er keinen Halt. »Da ist er!« Barrent stemmte sich mit allen Kräften hoch. Die Jäger waren schon fast wieder in Reichweite der Nadelstrahlwaffen. Bis er das Bein befreit haben würde, würde er ein leichtes Ziel für seine Verfolger bieten. Als die Jäger auf dem nächsten Gebäude auftauchten, hatte er ein großes Loch ins Dach gerissen. Barrent zog das Bein heraus, und da er keine andere Wahl hatte, sprang er durch die Öffnung nach unten. Eine Sekunde lang schwebte er in der Luft, dann landete er auf einem Tisch, der unter ihm zusammenbrach. Er raffte sich hoch und sah, daß er im Wohnzimmer eines Hadjis war. Keine zwei Meter von ihm entfernt saß eine alte Frau in einem Schaukelstuhl. Entsetzt blickte sie ihn an und rührte sich nicht. Ganz automatisch schaukelte sie weiter, gleichmäßig vor und zurück. Barrent hörte die Verfolger auf dem Dach über sich. Er lief zur Küche und durch die Hintertür unter einer Leine mit Wäsche hindurch an einer Hecke entlang. Jemand schoß aus dem zweiten Stockwerk auf ihn. Er blickte hinauf und bemerkte einen kleinen Jungen, der sich bemühte, eine schwere Hitzewaffe auf ihn zu richten. Anscheinend hatte sein Vater ihm verboten, mit auf die Straße zu gehen. Barrent wandte sich zur Straße und rannte, so schnell er konnte, bis er eine kleine Seitengasse erreichte. Sie kam ihm bekannt vor. Er stellte fest, daß er sich im Mutantenviertel befand, nicht weit von Mylas Haus entfernt. Er konnte die Schreie der Jäger hinter sich hören. Er stürzte auf die Tür zu Mylas Wohnung zu. Die Tür war nicht verschlossen.
Sie saßen alle beisammen – der einäugige Mann, die glatzköpfige alte Frau und Myla. Sie zeigten bei seinem Eintritt kein Erstaunen. »Also haben sie Sie in der Lotterie ausgewählt«, sagte der alte Mann. »Na ja, wir hatten es nicht anders erwartet.« »Hat Myla es denn vorhergesehen?« fragte Barrent. »Das war gar nicht nötig«, antwortete der Alte. »Es war ganz klar voraussehbar, wenn man bedachte, was für ein Mensch Sie sind. Kühn, aber nicht unbarmherzig. Das ist Ihr Fehler, Barrent.« Der alte Mann hatte die obligatorische Anredeform für einen PrivilegBürger fallen lassen, was Barrent unter den Umständen ganz natürlich fand. »Ich habe es die ganzen Jahre über immer wieder beobachtet«, sagte der alte Mann. »Sie wären überrascht, wie viele vielversprechende junge Männer in diesem Zimmer enden, außer Atem, mit einer Waffe in der Faust, drei Minuten hinter ihnen folgen die Jäger. Sie erwarten unsere Hilfe, aber wir Mutanten gehen Unannehmlichkeiten gern aus dem Weg.« »Sei still, Dem«, mischte sich die alte Frau ein. »Schätze, wir werden Ihnen helfen müssen«, sagte Dem. »Myla hat sich aus unergründlichen Erwägungen heraus dazu entschlossen.« Er lächelte ironisch. »Ihre Mutter und ich haben ihr gesagt, daß sie sich irrt, aber sie besteht darauf. Und da sie die einzige von uns ist, die die Vergangenheit erforschen kann, müssen wir sie gewähren lassen.« »Selbst wenn wir Ihnen helfen, besteht nicht viel Hoffnung für Sie, die Jagd zu überleben«, sagte Myla. »Wie soll Ihre Voraussage zutreffen, wenn ich getötet werde?« fragte Barrent. »Erinnern Sie sich noch, Sie sahen mich, wie ich auf meine eigene Leiche niederblickte, und diese war in einzelne Teile zerspalten.« »Ich erinnere mich«, antwortete Myla. »Aber Ihr Tod hat keinen Einfluß auf die Voraussage. Wenn sie sich nicht zu Ihren Lebzeiten erfüllt, dann eben in einem neuen Leben.« Barrent war nicht befriedigt. »Was soll ich tun?«
Der alte Mann gab ihm ein paar alte Lumpen. »Ziehen Sie das hier an. Ich werde mich Ihres Gesichtes annehmen. Sie werden sich in einen Mutanten verwandeln, mein Freund.« Schon nach kurzer Zeit war Barrent wieder auf der Straße. Lumpen hüllten ihn ein. Darunter hielt er seine Nadelstrahlwaffe in der einen Hand, mit der anderen umklammerte er einen Betteltopf. Der alte Mann hatte verschwenderisch mit rosagelblichem Plastikmaterial gearbeitet. Barrents Gesicht wies jetzt an der Stirn eine ungeheure Schwellung auf, seine Nase war flach und reichte fast bis zu den Backenknochen. Die Form des ganzen Gesichts war verändert, so daß die Jagdzeichen versteckt waren. Eine Gruppe Jäger eilte an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Barrent fühlte Hoffnung in sich aufsteigen. Er hatte kostbare Zeit gewonnen. Die letzten Strahlen von Omegas wäßriger Sonne verschwanden hinter dem Horizont. Die Nacht würde ihm zusätzliche Sicherheit geben, und mit einigem Glück würde er den Jägern vielleicht bis zur Morgendämmerung entgehen. Natürlich standen ihm dann noch die Spiele bevor; aber Barrent beabsichtigte nicht, sich an ihnen zu beteiligen. Wenn seine Verkleidung gut genug war, ihn vor einer ganzen jagenden Stadt zu schützen, sah er keinen Grund, warum er für die Spiele gefangen werden sollte. Wenn der Feiertag vorüber war, konnte er vielleicht sogar wieder in der Gesellschaft von Omega auftauchen. Es war auch möglich, daß man ihn besonders belohnen und auszeichnen würde, wenn es ihm gelang, der Jagd und den Spielen zu entgehen. Solch ein vermessenes und erfolgreiches Brechen des Gesetzes mußte einfach ausgezeichnet werden… Er sah eine neue Gruppe Jäger auf sich zukommen. Es waren fünf, und unter ihnen befand sich Tem Rend, der in seiner neuen Uniform der Mördergilde düster und stolz wirkte. »He, du!« rief ihm einer der Jäger zu, »hast du eine Jagdbeute in dieser Gegend gesehen?« »Nein, Bürger«, antwortete Barrent und senkte respektvoll den Kopf, die Waffe griffbereit unter den Lumpen.
»Glaub ihm nicht«, sagte ein anderer. »Diese verdammten Mutanten verraten doch nie etwas.« »Kommt, wir werden ihn schon finden«, schlug ein anderer vor. Sie gingen weiter, nur Tem Rend blieb etwas zurück. »Bist du sicher, daß du keinen Gejagten gesehen hast?« fragte er. »Ganz sicher, Bürger«, antwortete Barrent. Er war sich nicht im klaren, ob Rend ihn erkannt hatte. Er wollte ihn nicht töten; besser gesagt, er wußte nicht, ob er das überhaupt konnte, denn Rends Reaktionen waren unheimlich schnell. Im Augenblick hing Rends Waffe locker in seiner Hand, während Barrent seine schon angelegt hielt. Der Vorteil dieses Bruchteils einer Sekunde würde Rends größere Schnelligkeit und Genauigkeit vielleicht ausgleichen. Aber wenn es hart auf hart ging, dachte Barrent, würden sie sich beide wahrscheinlich gegenseitig töten. »Nun«, sagte Rend leise, »wenn du aber nun doch noch zufällig einen der Gejagten sehen solltest, so rate ihm davon ab, sich als Mutant zu verkleiden.« »Warum?« »Dieser Trick bewährt sich nie lange«, antwortete Rend ruhig. »Vielleicht eine Stunde. Dann entdecken ihn die Spitzel. Wenn ich zum Beispiel gejagt werden sollte, würde ich mich vielleicht auch als Mutant verkleiden. Aber ich würde nicht einfach auf einem Rinnstein sitzenbleiben. Ich würde versuchen, aus Tetrahyde auszubrechen.« »Tatsächlich?« »Ganz gewiß. Jedes Jahr flüchten ein paar Gejagte in die Berge. Die Behörden sprechen nicht offen darüber – das ist ja verständlich. Und die meisten Bürger wissen folglich auch nichts davon. Aber die Mördergilde hat eine Beschreibung aller je angewandten Tricks, Verkleidungen und Schliche. Das gehört zu unserem Geschäft.« »Sehr interessant«, sagte Barrent. Er wußte, daß Rend ihn erkannt hatte. Tem benahm sich wie ein guter Nachbar – allerdings auch wie ein schlechter Mörder. »Natürlich ist es nicht leicht, aus der Stadt zu fliehen«, erklärte Rend. »Und wenn man erst mal draußen ist, heißt das noch lange nicht, daß
man außer Gefahr ist. Auch dort gibt es Jagdgruppen, die die Gegend durchstreifen, aber was noch schlimmer ist –« Rend unterbrach sich abrupt. Eine andere Jagdtruppe kam auf sie zu. Rend nickte ihm freundlich zu und ging davon. Nachdem die Jäger vorüber waren, stand Barrent auf und schritt die Straße entlang. Rend hatte ihm einen guten Rat gegeben. Natürlich flüchteten manche aus der Stadt. Zwar würde das Leben in den kahlen Bergen von Omega äußerst schwierig sein, aber jede Schwierigkeit war besser als der Tod. Wenn es ihm gelang, an den Stadttoren vorbeizukommen, mußte er auf die Jagdpatrouillen aufpassen. Und Tem hatte etwas noch Furchtbareres erwähnt. Barrent überlegte, was das sein könnte. Vielleicht besonders geschulte Bergjäger? Das unstete Wetter Omegas? Tödliche Flora oder Fauna? Er wünschte, Rend hätte seinen Satz beenden können. Die Nacht brach herein, als er das Südtor erreichte. Tief nach vorn gebeugt, humpelte er auf das Wachhaus zu, das ihm den Weg nach draußen versperrte.
17 Die Wachen machten keine Schwierigkeiten. Ganze Mutantenfamilien strömten aus der Stadt, um vor der Wildheit und den Ausschweifungen der Jagd in den Bergen Schutz zu suchen. Barrent schloß sich einer Gruppe an und befand sich bald eine Meile von Tetrahyde entfernt in den flachen Hügeln, die die Stadt in einem Halbkreis umgaben. Hier hielten die Mutanten an und richteten sich ein Lager. Barrent marschierte weiter. Gegen Mitternacht kletterte er einen steilen Pfad zu einem der höchsten Berge hinauf. Er verspürte Hunger und fühlte sich matt, aber die kühle, klare Luft belebte ihn. Allmählich begann er daran zu glauben, daß er die Jagd tatsächlich überleben würde. Aus der Ferne hörte er eine geräuschvolle Jagdgruppe, die die Hügel absuchte. Es gelang ihm leicht, ihr in der Dunkelheit auszuweichen, und er kletterte immer höher. Bald war kein Laut mehr zu vernehmen, außer dem gleichmäßigen Rauschen des Windes an den Klippen. Es war gegen zwei Uhr morgens. Nur noch drei Stunden bis zum Sonnenaufgang!
Es begann zu regnen, zuerst leicht, dann immer stärker. Das war ein typisches Wetter für Omega. Ebenso typisch waren die Gewitterwolken über den Bergspitzen, der Donner und die gelben Blitze. Barrent fand in einer kleinen Höhle Schutz und betrachtete es als ein Glück, daß die Temperatur noch nicht gesunken war. Fast wäre er eingenickt. Er saß in der Höhle – die Überreste seines Make-ups flossen an seinem Gesicht entlang und über die Steine vor der Höhle. Plötzlich bemerkte er in dem grellen Aufleuchten eines Blitzes etwas über den Abhang herankriechen und direkt auf die Höhle zukommen. Die Waffe schußbereit in der Hand, erhob er sich und wartete auf einen weiteren Blitz. Als er aufzuckte, sah er das kalte, nasse Glitzern von Metall, das Flackern von rotem und grünem Licht, ein paar Metalltentakel, die sich über Felsen und kleine Büsche hinwegtasteten. Es war eine Maschine, ähnlich der, gegen die Barrent in dem Saal des Justizministeriums gekämpft hatte. Jetzt wußte er, wovor ihn Rend hatte warnen wollen. Und er konnte auch verstehen, warum wenige der Gejagten zu entfliehen vermochten, selbst wenn sie die Stadt verlassen hatten. Diesmal würde Max nicht nach Zufallsstatistiken vorgehen, um einen gleichwertigen Kampf zu bieten. Und es würde auch keine Batterie an seiner Unterseite offen daliegen. Als Max in Schußweite kam, feuerte Barrent. Der Treffer prallte harmlos an der Maschine ab. Barrent verließ den Schutz seiner Höhle und kletterte weiter aufwärts. Die Maschine folgte ihm mit gleichmäßigen Bewegungen über den schlüpfrigen, nassen Gebirgspfad. Barrent versuchte ihn auf dem mit dicken Felsblöcken übersäten Plateau abzuhängen, aber Max ließ sich nicht abschütteln. Barrent wurde sich bewußt, daß die Maschine irgendeiner chemischen Spur folgen mußte; wahrscheinlich dem Geruch, der den unauslöschlichen Merkmalen auf seinem Gesicht anhaftete. Nun versuchte Barrent es auf andere Weise. Von der Höhe einer steilen Felswand rollte er Felsbrocken auf die Maschine und hoffte, dadurch eine Lawine ins Rollen zu bringen. Den meisten Blöcken wich Max aus, die restlichen polterten ohne sichtliche Wirkung auf ihn und wieder von ihm herab.
Endlich wurde Barrent in eine enge, steilabfallende Felsnische gedrängt. Er vermochte nicht höher zu klettern. Er wartete. Als sich die Maschine über ihn schwang, hob er die Nadelstrahlwaffe gegen die Metalloberfläche und feuerte. Max erzitterte einen Moment von dem Stoß. Dann stieß die Maschine Barrent die Waffe aus der Hand und legte ihm einen Fangarm um den Hals. Die Klammer verstärkte sich und wurde enger. Barrent fühlte, wie er das Bewußtsein verlor. Es blieb ihm gerade noch Zeit zu überlegen, ob die Klammer ihn erwürgen oder sein Genick brechen würde. Plötzlich ließ der Druck nach. Die Maschine war ein Stück zurückgefahren. Hinter ihr sah Barrent die ersten grauen Strahlen der Morgendämmerung aufsteigen. Er hatte die Jagd überlebt. Die Maschine hatte die Anweisung, die Jagdzeit einzuhalten. Aber sie ließ ihn nicht gehen. Sie hielt ihn auf dem schmalen Felsgrad gefangen, bis die Jäger kamen. Diese ließen nicht lange auf sich warten. Sie brachten Barrent zurück nach Tetrahyde, wo ihm eine brodelnde Menschenmenge einen jubelnden Empfang bereitete, wie einem Helden. Nach zweistündigem Umzug brachte man Barrent und vier weitere Überlebende in das Büro des Auszeichnungskomitees. Der Vorsitzende hielt eine kurze, aber bewegte Rede über die Geschicklichkeit und den Mut, die sie durch das Überleben der Jagd bewiesen hatten. Er verlieh allen den Rang eines Hadjis. Jeder bekam den kleinen goldenen Ohrring, der ihn als solchen auswies. Am Schluß der Zeremonien wünschte er den neuen Hadjis einen leichten Tod während der Spiele.
18 Wachen führten Barrent aus dem Büro des Auszeichnungs-Komitees. Sie brachten ihn in das Gefängnis unter der Arena und sperrten ihn in eine Zelle. Höflich forderten sie ihn auf, Geduld zu haben; die Spiele hatten bereits begonnen, und bald würde auch er an der Reihe sein. Neun Männer drängten sich in der kleinen Zelle, die dazu geschaffen war, höchstens drei zu beherbergen. Die meisten hockten in völliger
Apathie auf dem Boden und hatten sich bereits mit ihrem Tod abgefunden. Einer von ihnen schien allerdings nicht ein bißchen resigniert. Er drängte sich zum Eingang vor, als Barrent eintrat. »Joe!« Der kleine Betrüger grinste. »Kein angenehmer Ort für ein Wiedersehen, Will.« »Was ist mit dir passiert?« »Politik«, antwortete Joe. »Politik ist eine gefährliche Beschäftigung auf Omega, besonders während der Spiele. Ich fühlte mich sicher. Aber…« Er zuckte die Achseln. »Heute morgen hat man mich für die Spiele ausgewählt.« »Besteht noch irgendeine Chance davonzukommen?« »Eine Chance besteht noch«, antwortete Joe. »Ich habe deinem Mädchen von dir berichtet, vielleicht können ihre Freunde etwas für dich tun. Was mich anbetrifft, so erwarte ich noch eine Begnadigung.« »Gibt es so etwas?« fragte Barrent. »Es ist alles möglich hier. Trotzdem ist es besser, sich nicht allzu große Hoffnungen zu machen.« »Wie gehen diese Spiele eigentlich vor sich?« fragte Barrent. »Sie sind genau das, was man sich darunter vorstellt«, erklärte Joe. »Kämpfe von Mann zu Mann oder gegen die verschiedensten Typen der Flora und Fauna von Omega, Nadelstrahl- und Hitzewaffen-Duelle. Sie sind nach dem Vorbild der alten Gladiatorenkämpfe auf der Erde aufgezogen, habe ich mir sagen lassen.« »Und wenn jemand mit dem Leben davonkommt, steht er außerhalb des Gesetzes.« »Das ist richtig.« »Aber was heißt das, außerhalb des Gesetzes zu stehen?« »Ich weiß nicht«, antwortete Joe. »Niemand scheint viel darüber zu wissen. Alles, was ich herausfinden konnte, war, daß die Überlebenden der Spiele von dem Schwarzen geholt werden. Das soll auch nicht gerade angenehm sein.« »Das glaube ich gern. Sehr wenige Dinge auf Omega sind angenehm.«
»Ach, so schlecht ist es hier gar nicht«, sagte Joe. »Du besitzt eben nicht den rechten Geist der –« Die Ankunft einer Wachtruppe unterbrach ihn. Es war an der Zeit, daß die Männer in Barrents Zelle in die Arena geführt wurden. »Keine Begnadigung«, bemerkte Barrent. »Na ja, da kann man eben nichts machen.« Joe zuckte die Achseln. Unter starker Bewachung wurden sie zu der eisernen Tür geführt, die den Zellengang von der Arena trennte. Gerade als der Kapitän der Wache die Tür aufstoßen wollte, kam ein dicker, gutgekleideter Mann aus einem Seitengang herbeigeeilt. Er schwenkte ein paar Blätter Papier. »Was soll das?« fragte der Kapitän. »Ein richterlicher Erlaß«, antwortete der Dicke und reichte dem Kapitän die Papiere. »Auf der anderen Seite finden Sie eine AufhebeVerfügung.« Er zog noch mehr Papiere aus der Tasche. »Und hier habe ich noch die Bestätigung für eine Bankrott-Übertragung, eine ErbgutVerpfändung, einen Erlaß des Habeas corpus und eine Gehaltsbestätigung.« Der Kapitän stieß seinen Kopfhelm zurück und kratzte sich die niedere Stirn. »Ich werde nie verstehen, was ihr Rechtsanwälte immer daherredet. Was soll das Ganze bedeuten?« »Er ist frei«, erklärte der Dicke und zeigte mit dem Daumen auf Joe. Der Kapitän nahm die Papiere, warf einen erstaunten Blick darauf und reichte sie dann einem Gehilfen. »Also gut«, brummte er. »Nehmen Sie ihn mit. Aber in den guten alten Tagen gab’s so was nicht! Nichts unterbrach den geordneten Ablauf der Spiele.« Mit einem triumphierenden Grinsen trat Joe an den Wachen vorbei auf den dicken Rechtsanwalt zu. »Haben Sie irgendwelche Papiere für Will Barrent?« fragte er. »Nein«, antwortete der Rechtsanwalt. »Sein Fall liegt in anderen Händen. Ich fürchte, er wird noch nicht fertig aufgerollt sein, bis die Spiele vorüber sind.« »Aber dann werde ich höchstwahrscheinlich schon tot sein«, sagte Barrent.
»Diese Tatsache – das kann ich Ihnen versichern – wird bestimmt nicht die ordnungsgemäße Abwicklung und Handhabung Ihrer Papiere beeinflussen«, erklärte der dicke Rechtsanwalt voller Stolz. »Tot oder lebendig – Sie werden alle Rechte zugesprochen bekommen.« »In Ordnung! Weitergehen!« befahl der Kapitän der Wache. »Viel Glück«, rief Joe. Und dann marschierten die Gefangenen hintereinander durch die Eisentür in das blendende Licht der Arena. Barrent überstand die Mann-gegen-Mann-Kämpfe, in denen ein Viertel der Gefangenen getötet wurde. Danach rüstete man die Männer mit Schwertern aus, um sie gegen die tödliche Fauna von Omega kämpfen zu lassen. Die Bestien, die ihnen gegenüberstanden, hatten riesige Mäuler und dicke Panzer; sie lebten in der Wüstenregion im Süden von Tetrahyde. Nach einem Verlust von fünfzehn Männern waren auch diese Monster bewältigt. Barrent wurde einem Saunus gegenübergestellt, einem schwarzen fliegenden Reptil aus den westlichen Bergen. Eine Weile bedrängte ihn diese häßliche Kreatur mit ihren Giftzähnen hart. Aber dann hatte er einen Einfall. Er gab den Versuch, in die Flanke der Bestie zu stoßen, auf und konzentrierte sich darauf, ihre breiten, fächerartigen Schwanzfedern abzutrennen. Als ihm das gelungen war, verlor der Saunus die Balance und krachte gegen die hohe Wand, die die Kämpfenden von den Zuschauern trennte. Danach war es ein leichtes, das einzige große Auge des Saunus zu durchbohren. Die erregte Zuschauermenge applaudierte begeistert. Barrent ging zurück in den umgitterten Teil der Arena und beobachtete die anderen Männer, die sich gegen die Trichometreds zu wehren versuchten, unglaublich flinke kleine Tiere von der Größe einer Ratte und der Behendigkeit eines Wolfes. Dieser Kampf kostete fünf Teams Gefangener das Leben. Nach einer kurzen Zwischenpause mit Duellen wurde die Arena gesäubert. Jetzt hoppelten amphibienartige Wesen mit harten Schalen herein. Sie waren in ihren Bewegungen unbeholfen, aber von einer mehrere Zentimeter dicken Panzerschale geschützt. Ihre schmalen peitschenden Schwänze dienten ihnen zugleich als Fühler und waren äußerst gefährlich für den, den sie trafen. Barrent mußte gegen eine dieser Kreaturen
kämpfen, nachdem sie vier seiner Leidensgenossen außer Gefecht gesetzt hatte. Er hatte die früheren Kämpfe sorgfältig beobachtet und die einzige Stelle entdeckt, die der Fühler nicht erreichen konnte. Barrent wartete auf eine Gelegenheit und sprang dann mitten auf den breiten Rücken der Bestie. Als der Rücken sich zu einem gewaltigen Schlund öffnete – denn das war die Art und Weise, wie die Amphibie fraß –, rammte Barrent sein Schwert in die Öffnung. Die Bestie brach sofort zusammen, und die Zuschauermenge drückte ihren Beifall aus, indem sie Kissen in die Arena schleuderte. Dieser Sieg ließ Barrent allein mitten in der blutgetränkten Arena zurück. Die restlichen Gefangenen waren entweder tot oder zu stark verletzt, um weiterzukämpfen. Barrent wartete gespannt darauf, was für eine Bestie ihm das Komitee der Spiele als nächstes präsentieren würde. Eine einzelne Ranke streckte sich aus dem Sand, dann eine weitere. Innerhalb von wenigen Sekunden wuchs inmitten der Arena ein dicker Stamm in die Höhe, aus dem sich immer mehr Ranken und Wurzeln schlängelten, die alles Fleisch, lebend oder tot, in kleine Mäuler steckten, die den Baum umgaben. Dies war der Aasbaum, der in den Sümpfen im Nordosten beheimatet war und nur mit äußerster Schwierigkeit eingeführt werden konnte. Es hieß, daß er gegen Feuer äußerst empfindlich war; aber Barrent hatte keins zur Verfügung. Das Schwert mit beiden Händen umfassend, hieb Barrent Äste und Zweige ab; doch an ihrer Stelle wuchsen neue. Er arbeitete mit wahnsinniger Schnelligkeit, damit die Ranken ihn nicht umzingelten. Seine Arme wurden müde, und der Baum regenerierte rascher, als er ihn niederschlagen konnte. Es schien keine Möglichkeit zu geben, ihn zu zerstören. Seine einzige Hoffnung lag in den langsamen Bewegungen des Baums. Diese waren zwar schnell – für eine Pflanze, aber nicht im Vergleich mit der menschlichen Muskulatur. Barrent sprang aus einer Ecke hervor, in der ihn die sich schlängelnden Ranken einzufangen drohten. Fast zwanzig Meter von ihm entfernt, halb im Sand verborgen, lag ein zweites
Schwert. Barrent lief darauf zu und hörte zugleich warnende Rufe aus den Zuschauerreihen. Schon fühlte er eine Ranke um den Knöchel. Er hackte sie ab, aber andere rankten sich um seine Hüfte. Er stemmte sich fest gegen den Boden und schlug die beiden Schwerter gegeneinander, in der Hoffnung, auf diese Weise einen Funken erzeugen zu können. Beim ersten Versuch brach das Schwert in seiner rechten Hand in zwei Hälften. Barrent hob sie auf und versuchte es immer wieder, während die Ranken ihn unentwegt dichter an die Mäuler heranzogen. Da sprühte ein Regen von Funken vom aneinanderschlagenden Stahl auf. Einer berührte eine Ranke. Mit unglaublicher Plötzlichkeit brach die Ranke in Flammen aus. Das Feuer raste an den Zweigen entlang auf den Baumstamm zu. Die Münder stöhnten auf, als es sie erreichte. Wenn man den Vorgängen ihren Lauf gelassen hätte, wäre Barrent bei lebendigem Leibe verbrannt, denn die Arena hatte sich rasch mit den feuerempfindlichen Zweigen und Ranken gefüllt. Aber die Flammen gefährdeten auch die hölzernen Wände der Arena, und die Wachen löschten sie gerade noch rechtzeitig, um Barrent und auch die Zuschauer davor zu retten. Vor Erschöpfung zitternd stand Barrent in der Mitte der Arena und wartete auf den nächsten Gegner. Aber nichts geschah. Nach einer Weile gab der Präsident ein Zeichen, und die Menge brach in Beifallsstürme aus. Die Spiele waren vorüber. Barrent hatte sie überlebt. Aber niemand verließ seinen Platz. Die Zuschauer warteten darauf, der endgültigen Disposition Barrents beizuwohnen – denn Barrent stand jetzt außerhalb des Gesetzes. Er hörte ein leises, ehrfürchtiges Raunen aus der Menge. Barrent drehte sich um und sah einen feurigen Lichtfleck in der Luft. Er schwoll an, sandte Lichtstrahlen aus und fing sie wieder ein. Er wuchs schnell an und wurde so strahlend, daß Barrent geblendet war. Er mußte an Onkel Ingemars Worte denken: »Manchmal belohnt uns der Schwarze, indem er in der furchtbaren Schönheit seines feurigen Fleisches vor uns
erscheint. Ja, Neffe, ich selbst hatte die Gnade, ihn zu sehen. Vor zwei Jahren erschien er bei den Spielen, und auch in dem Jahr davor…« Der Fleck wuchs zu einem roten und gelben Globus mit einem Durchmesser von sechs Metern an, seine untere Kante berührte fast den Boden. Er wuchs noch weiter in die Höhe. Das Zentrum des Globus wurde dünner; eine Taille zeichnete sich ab, und darüber erschien der Globus undurchdringlich schwarz. Jetzt waren es zwei Kugeln, eine leuchtende, eine schwarze, die durch die enge Taille miteinander verbunden waren. Während Barrent darauf starrte, zog sich der dunkle Teil in die Länge und formte sich zu der unvergeßlichen Gestalt des gehörnten Schwarzen. Barrent versuchte davonzulaufen, aber die gewaltige schwarzköpfige Gestalt fegte nach vorn und hüllte ihn ein. Er war in einem blendenden Wirbel von Strahlen gefangen, über der Dunkelheit lag. Das Licht bohrte sich tief in seinen Kopf; er wollte schreien. Dann wurde er bewußtlos.
19 Barrent kam in einem dämmrigen, hohen Raum wieder zu sich. Er lag auf einem Bett. Dicht daneben standen zwei Menschen. Sie schienen sich zu streiten. »Wir haben einfach keine Zeit mehr zu warten«, sagte ein Mann. »Du scheinst die Dringlichkeit der Situation nicht ganz zu erkennen.« »Der Arzt sagt, er braucht wenigstens noch drei Tage Ruhe.« Es war die Stimme einer Frau. Nach einem Augenblick wurde Barrent gewahr, daß es Moeras Stimme war. »Drei Tage kann er noch haben.« »Und dann braucht er Zeit für die Schulung.« »Du hast mir bestätigt, daß er intelligent ist. Die Schulung sollte also nicht lange dauern.« »Vielleicht ein paar Wochen.« »Unmöglich. Das Schiff landet in sechs Tagen.«
»Eylan«, sagte Moera, »du gehst zu schnell vor. Wir können es diesmal noch nicht tun. Beim nächsten Landungstag werden wir viel besser vorbereitet sein.« »Inzwischen werden uns die Dinge über den Kopf wachsen«, antwortete der Mann. »Es tut mir leid, Moera; entweder wir benutzen Barrent sofort oder überhaupt nicht.« »Benutzen? Wofür? Wo bin ich? Wer sind Sie?« fragte Barrent. Der Mann wandte sich dem Bett zu. In dem schwachen Licht erkannte Barrent einen sehr großen, schlanken, leicht gebückten alten Mann mit einem buschigen Bart. »Ich bin froh, daß Sie endlich aufgewacht sind«, sagte er. »Ich heiße Swen Eylan und bin der Leiter von Gruppe Zwei.« »Gruppe Zwei? Was ist das?« fragte Barrent. »Wie haben Sie mich aus der Arena geschafft? Sind Sie Agenten des Schwarzen?« Eylan grinste. »Nicht gerade Agenten. Wir werden Ihnen in Kürze alles erklären. Zuerst halte ich es für besser, wenn Sie etwas essen und trinken.« Eine Krankenschwester brachte ein Tablett herein. Während Will aß, zog sich Eylan einen Stuhl neben das Bett und erzählte ihm vom Schwarzen. »Unsere Gruppe kann sich nicht gerade rühmen, die Religion des Bösen ins Leben gerufen zu haben«, begann er. »Die scheint sich auf Omega ganz von selbst herangebildet zu haben. Aber da sie nun schon mal existierte, haben wir uns ihrer gelegentlich bedient. Die Priester haben dabei erstaunlich gut mit uns zusammengearbeitet. Schließlich ist die Verehrung des Bösen für die Korruption von großem Vorteil. Deshalb ist in den Augen der Priester auch das Erscheinen eines falschen Schwarzen keine Lästerung. Ganz im Gegenteil – in der orthodoxen Verehrung des Bösen wird eine besondere Betonung auf falsche Vorstellungen gelegt –, besonders wenn diese groß, feurig und eindrucksvoll sind, wie die, die Sie aus der Arena gerettet hat.« »Wie haben Sie diese Erscheinung denn produziert?« fragte Barrent. »Es hat etwas mit Reibungsoberfläche zu tun und mit Kraftfeldern«, erklärte Eylan. »Nach Einzelheiten müssen Sie sich bei unseren Ingenieuren erkundigen.«
»Und warum haben Sie mich gerettet?« fragte Barrent. Eylan warf einen fragenden Blick zu Moera, die die Schultern hob. Etwas verlegen sagte er: »Wir möchten Sie für einen wichtigen Job verwenden. Aber bevor ich Sie genau darüber unterrichte, sollten Sie etwas mehr über unsere Organisation wissen. Sicherlich sind Sie schon neugierig darauf.« »Sehr sogar«, stimmte Barrent zu. »Sind Sie eine Art Verbrecher-Elite?« »Wir stellen eine Elite dar«, antwortete Eylan. »Aber wir betrachten uns nicht als Verbrecher. Zwei völlig verschiedene Menschentypen sind nach Omega deportiert worden. Da sind einmal die wahren Verbrecher, die Mord, Totschlag, bewaffnete Überfälle und dergleichen begangen haben. Das sind die Sorte Menschen, unter denen Sie gelebt haben. Und dann gibt es die Menschen, die sich Verbrechen ganz anderer Art schuldig gemacht haben, wie etwa politische Gleichgültigkeit, wissenschaftlich unorthodoxe Einstellung und antireligiöse Einstellung. Diese Leute gehören unserer Organisation an, die sich zum Zweck der Unterscheidung Gruppe Zwei nennt. Soweit wir uns erinnern oder auch rekonstruieren können, bestanden unsere Verbrechen einzig und allein darin, andere Meinungen zu vertreten, als auf der Erde verbreitet und üblich waren. Wir waren Nonkonformisten. Wahrscheinlich stellten wir ein labiles Element dar und waren eine Bedrohung für die bestehenden Kräfte. Aus diesem Grund deportierte man uns nach Omega.« »Und Sie trennten sich dann von den übrigen Deportierten«, sagte Barrent. »Ja. Das war notwendig. Erstens einmal, weil die wahren Verbrecher von Gruppe Eins nicht bereit sind, sich kontrollieren und leiten zu lassen. Wir könnten sie nicht führen, noch wollen wir uns von ihnen beherrschen lassen. Aber was noch schwerwiegender ist: Wir hatten eine Arbeit zu vollbringen, die nur im geheimen getan werden konnte. Wir hatten keine Ahnung, wie die Spähschiffe, die am Himmel von Omega patrouillieren, gebaut sind. Um unsere Sache geheimzuhalten, arbeiten wir im Untergrund weiter, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Raum hier befindet sich etwa sechzig Meter unter der Erdoberfläche. Wir zeigen uns oben nicht, außer einigen Agenten wie
Moera, die die politischen und sozialen Gefangenen von den wahren Kriminellen trennt.« »Aber mich haben Sie nicht ausgesucht«, sagte Barrent. »Natürlich nicht. Sie hatten angeblich einen Mord verübt, wodurch Sie automatisch zu Gruppe Eins gehörten. Da Sie uns aber irgendwie nützlich erschienen, halfen wir Ihnen ab und zu. Aber bevor wir Sie in unsere Gruppe aufnehmen konnten, mußten wir uns über Sie erst völlig im klaren sein. Ihre Abneigung gegen das Morden sprach sehr für Sie. Wir sprachen auch mit Illiardi, nachdem Sie uns auf seine Spur geführt hatten. Es schien kein Zweifel, daß er den Mord verübt hatte, dessentwegen Sie verurteilt wurden. Noch mehr aber sprach für Sie Ihre hohe Überlebensfähigkeit, die ihre letzte Bestätigung in der Jagd und bei den Spielen fand. Wir brauchten notwendig einen Mann mit Ihren Qualitäten.« »Und was habe ich zu tun?« fragte Barrent. »Was wollen Sie erreichen?« »Wir wollen zurück zur Erde«, sagte Eylan. »Aber das ist doch unmöglich!« »Wir glauben nicht daran«, antwortete Eylan. »Wir haben uns mit dieser Frage eingehend beschäftigt. Trotz der Spähschiffe glauben wir eine Möglichkeit gefunden zu haben, zur Erde zurückzukehren. In sechs Tagen werden wir erfahren, ob wir recht hatten. Dann werden wir nämlich den Ausbruch wagen.« »Es wäre besser, noch sechs Monate zu warten«, mischte sich Moera ein. »Unmöglich! Eine Verzögerung von sechs Monaten würde den ganzen Plan zunichte machen. Jede Gesellschaft hat ihren Zweck. Die verbrecherische Bevölkerung von Omega ist auf ihre Selbstvernichtung versessen. Sie scheinen erstaunt, Barrent. Konnten Sie sich denn etwas Derartiges nicht denken?« »Darüber habe ich nie nachgedacht«, gab Barrent zögernd zurück. »Schließlich gehörte ich ja auch dazu.« »Dabei ist das ganz offensichtlich«, meinte Eylan. »Betrachten Sie doch einmal die Institutionen – alle konzentrieren sich auf legalen Mord. Selbst das Gesetz, das die Rate der Morde überwacht und beeinflußt,
beginnt schon zusammenzubrechen. Die Bevölkerung lebt nahe am Abgrund des Chaos. Sicherheit gibt es keine mehr. Die einzige Möglichkeit, zu überleben, ist Mord. Die einzige Art, seinen Rang zu verbessern, ist Mord. Die einzige sichere Sache ist Mord; Morden – mehr und mehr, und immer schneller.« »Du übertreibst«, wandte Moera ein. »Ich glaube nicht. Ich stelle wohl fest, daß die Institutionen von Omega eine gewisse Beständigkeit aufzuweisen scheinen, eine gewisse Zurückhaltung selbst gegenüber dem Morden. Aber das ist eine Illusion. Ich zweifle nicht daran, daß alle Institutionen, die zum Untergang verdammt sind, die Illusion der Beständigkeit bis zum Ende vortäuschen – auch sich selbst gegenüber. Und das Ende der Gesellschaft von Omega nähert sich mit steigender Geschwindigkeit.« »Wie schnell?« fragte Barrent. »In etwa vier Monaten wird es zum Zusammenbruch kommen«, erwiderte Eylan. »Die einzige Möglichkeit, das zu ändern, wäre, der Bevölkerung eine neue Richtung zu geben, ein anderes Ziel.« »Die Erde«, sagte Barrent. »Genau. Deshalb muß der Versuch sofort unternommen werden.« »Nun – ich verstehe zwar nicht viel davon«, sagte Barrent. »Aber ich mache mit. Ich stelle mich gern als Teilnehmer einer Expedition zur Verfügung.« Wieder blickte Eylan etwas verlegen um sich. »Ich glaube, ich habe mich nicht klar ausgedrückt«, sagte er. »Sie werden diese Expedition sein, Barrent. Sie und nur Sie allein… Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe.«
20 Nach Eylans Aussagen besaß Gruppe Zwei wenigstens einen ernsthaften Nachteil: die Männer, die ihr angehörten, hatten zumeist schon ihr bestes Alter überschritten. Natürlich gab es auch einige jüngere; aber sie hatten wenig Kontakt mit Gewalt gehabt und nur wenig Gelegenheit, auf sich selbst angewiesen zu sein. Sie hatten unter der Erde in Sicherheit gelebt,
und manche hatten noch nie eine Waffe im Zorn gebraucht, hatten es nie nötig gehabt, um ihr Leben zu laufen, hatten keine Erfahrung darin, mit Situationen fertig zu werden, wie es bei Barrent der Fall gewesen war. Sie waren mutig, aber nicht geübt. Gern hätten sie die Expedition zur Erde unternommen; aber ihre Erfolgschancen waren sehr gering. »Und glauben Sie denn, daß es mir gelingen könnte?« fragte Barrent. »Ich glaube, ja. Sie sind jung und stark, einigermaßen intelligent und außerordentlich erfindungsreich. Ihre Fähigkeit, sich in den unmöglichsten Lebenslagen zu behaupten, ist bemerkenswert groß. Wenn ein Mensch dieses Unternehmen bestehen kann, dann Sie!« »Warum nur einer?« »Weil es keinen Sinn hat, mehrere zu schicken. Das Risiko, entdeckt zu werden, wäre größer. Indem wir einen einzelnen aussenden, erreichen wir ein Maximum an Sicherheit und Aussicht auf Erfolg. Wenn Sie Erfolg haben, erhalten wir wertvolle Informationen über die Beschaffenheit des Feindes. Wenn Sie keinen Erfolg haben, wird man Ihren Versuch als die Tat eines einzelnen betrachten, nicht als die einer ganzen Gruppe. Dann bleibt uns immer noch die Möglichkeit, einen Ausbruch im großen zu planen.« »Wie soll ich auf die Erde gelangen?« fragte Barrent. »Haben Sie irgendwo ein Raumschiff versteckt?« »Leider nein. Wir haben vor, Sie auf dem nächsten Gefangenenschiff zur Erde zu transportieren.« »Das ist unmöglich.« »Nein. Wir haben die Landungen studiert. Sie erfolgen gemäß festen vorgeschriebenen Regeln. Die Gefangenen werden herausgeführt, begleitet von den Wächtern. Während sie sich alle auf dem großen viereckigen Platz versammeln, bleibt das Schiff selbst ungeschützt, außer durch einige wenige Wachtposten. Um Sie an Bord zu bringen, werden wir eine allgemeine Störung hervorrufen. Dieser Aufruhr soll die Aufmerksamkeit der Wachen so lange in Anspruch nehmen, bis Sie sicher an Bord gelangt sind.« »Aber selbst wenn mir das gelingt, werde ich gefangengenommen werden, sobald die Wachen zurück ins Schiff kommen.«
»Das muß nicht sein«, antwortete Eylan. »Das Schiff ist ein ungeheuer komplexer Bau mit vielen Verstecken für einen blinden Passagier. Und das Element der Überraschung haben Sie für sich. Dies könnte der erste Fall in der Geschichte von Omega sein, daß ein Fluchtversuch unternommen wird.« »Und was geschieht, wenn das Schiff auf der Erde landet?« »Sie werden als Mitglied des Schiffspersonals verkleidet sein. Die unvermeidlichen Mängel einer gewaltigen Bürokratie werden Ihnen zugute kommen.« »Hoffentlich«, antwortete Barrent. »Angenommen, ich gelange sicher zur Erde und erhalte die Informationen, die Sie haben wollen – wie kann ich sie Ihnen übermitteln?« »Sie schicken sie mit dem nächsten Gefangenenschiff«, sagte Eylan. »Wir haben vor, es zu kapern.« Barrent kratzte sich nachdenklich die Stirn. »Was veranlaßt Sie zu der Annahme, daß all dies – meine Expedition und Ihre Rebellion – gegen eine so mächtige Organisation wie die der Erde Erfolg haben könnte?« »Wir müssen die Chance ergreifen. Entweder es gelingt, oder aber wir gehen, gemeinsam mit den anderen, in dem blutigen Schlachthaus von Omega unter. Ich gebe zu, daß unsere Chance nicht gerade groß ist, aber es bleibt uns keine andere Wahl. Entweder wir machen den Versuch oder wir sterben, ohne irgend etwas unternommen zu haben.« Moera nickte zu diesen Worten. »Es gibt vielleicht noch andere Möglichkeiten. Die Regierung der Erde scheint diktatorischen Charakter zu haben. Das läßt die Annahme zu, daß es auf der Erde selbst Untergrundbewegungen gibt. Vielleicht können Sie sich mit solchen in Verbindung setzen. Eine Revolution hier und auf der Erde zugleich könnte die Regierung viel eher zum Nachdenken veranlassen.« »Vielleicht.« »Wir müssen das Beste hoffen«, sagte Eylan. »Machen Sie also mit?« »Selbstverständlich«, antwortete Barrent. »Ich will lieber auf der Erde sterben als auf Omega.« »Das Gefangenenschiff landet in sechs Tagen«, erklärte Eylan.
»Bis dahin werden wir Ihnen alles, was wir über die Erde wissen, mitteilen. Vieles davon haben wir aus Erinnerungsfetzen rekonstruiert, manches haben uns die Mutanten verschafft, alles übrige ist logische Folgerung. Das ist alles, was wir Ihnen bieten können, aber ich glaube, es ergibt ein einigermaßen korrektes Bild der augenblicklichen Lage auf der Erde.« »Wann beginnen wir?« fragte Barrent. »Sofort«, antwortete Eylan. Barrent erhielt einen kurzen allgemeinen Unterricht über den physikalischen Aufbau der Erde, ihr Klima und ihre hauptsächlichsten Bevölkerungszentren. Dann schickte man ihn zu Colonel Bray, der früher dem Raumforschungsteam der Erde angehört hatte. Bray sprach mit ihm über die wahrscheinliche militärische Macht der Erde, wie sie durch die Anzahl der Spähschiffe um Omega abgeleitet werden konnte, und über den vermutlichen Stand der wissenschaftlichen Entwicklung. Er schätzte die Streitkräfte der Erde, ihre wahrscheinliche Aufteilung in Land-, See- und Raumtruppen und ihre angenommene Leistungsfähigkeit. Captain Carell unterrichtete ihn über Spezialwaffen, ihre möglichen Typen und Reichweiten und inwieweit sie der Bevölkerung der Erde zugänglich waren. Ein anderer Gehilfe des Colonels, Leutnant Daoud, klärte ihn über Suchvorrichtungen auf, ihre wahrscheinliche Örtlichkeit, und wie man sie meiden konnte. Dann schickte man Barrent wieder zu Eylan zur politischen Information. Von ihm erfuhr er, daß die Erde höchstwahrscheinlich eine Diktatur war. Man erklärte ihm die Methoden einer Diktatur, ihre besonderen Stärken und Schwächen, die Rolle der Geheimpolizei, die Anwendung von Terror, das Problem der Spitzel. Danach erklärte ihm ein kleiner Mann mit scharfen Augen das System, das die Erde zum Verlöschen der Erinnerung anwandte. In der Annahme, daß die Erinnerungszerstörung regelmäßig angewandt wurde, um die Opposition unschädlich zu machen, malte der Mann die wahrscheinliche Art einer Untergrundbewegung aus, die unter diesen Umständen arbeiten mußte. Und er riet Barrent, wie man mit ihr in Verbindung treten könnte und wie die Stärken und Schwächen einer
solchen Organisation aussehen würden. Schließlich lernte Barrent noch die vollen Einzelheiten des Planes von Gruppe Zwei kennen, mit dem sie ihn auf das Schiff bringen wollten. Als der Landungstag nahte, fühlte Barrent eine gewisse Erleichterung. Er hatte es satt, sich Tag und Nacht mit Informationen vollzustopfen. Jede Art von Tätigkeit kam ihm gelegen.
21 Barrent beobachtete, wie das riesige Schiff langsam und geräuschlos zu Boden schwebte. Matt glänzte es in der Nachmittagssonne, ein sichtbarer Beweis für die technische Macht der Erde. Eine Luke schwang auf, eine Treppe glitt aus ihr herab. Flankiert von Wachen kletterten die Gefangenen heraus und stellten sich auf dem Platz vor dem Schiff auf. Wie gewöhnlich hatte sich die Bevölkerung von Tetrahyde eingefunden und bejubelte die Landungszeremonien. Barrent drängte sich durch die Menge und blieb dicht bei den Gefangenen und den Wachen stehen. Er befühlte seine Tasche, um sicher zu sein, daß sich die Nadelstrahlwaffe noch darin befand. Ingenieure von Gruppe Zwei hatten sie eigens für ihn angefertigt. Sie bestand aus Plastikmaterial, so daß Metallsucher sie nicht wahrnehmen konnten. Den Rest der Tasche füllten andere Ausrüstungsgegenstände. Er hoffte, die Waffe nicht benutzen zu müssen. Der Lautsprecher verlas die Namen und Zahlen der Gefangenen, genauso wie damals, als Barrent selbst angekommen war. Mit leicht gebeugten Knien lauschte er und wartete auf den Beginn des Störmanövers. Die Verlesung des Lautsprechers näherte sich dem Ende der Liste. Nur noch zehn Gefangene waren übrig. Barrent bewegte sich noch mehr nach vorn. Vier, drei… Als der Name des letzten Gefangenen verlesen wurde, begann es. Eine schwarze Rauchwolke verdunkelte den blassen Himmel, Barrent wußte, daß Gruppe Zwei die leeren Baracken von Block A-2 in Brand gesetzt hatte. Er wartete.
Dann geschah es. Eine gewaltige Explosion erfolgte, zwei Reihen leerer Gebäude flog in die Luft. Die Schockwelle war enorm und ließ alles ringsum erbeben. Noch bevor der Schutt niederzuprasseln begann, lief Barrent auf das Schiff zu. Die zweite und dritte Explosion folgten, als er sich schon im Schatten des Schiffs befand. Hastig warf er die Kleidung von Omega ab. Darunter trug er eine getreue Nachbildung der Uniform der Wachen. Jetzt rannte er auf die Landetreppe zu. Die Stimme aus dem Lautsprecher befahl, Ruhe zu bewahren. Die Wachen wimmelten aufgeschreckt durcheinander. Die vierte Explosion warf Barrent zu Boden. Aber sofort sprang er wieder auf und sprintete die Treppe hinauf. Er befand sich im Schiffsinneren. Von draußen hörte er die lauten Befehle des Captains. Die Wachen stellten sich in Reihen auf, die Waffen schußbereit auf die unruhige Menge gerichtet. Langsam zogen sie sich gegen das Schiff zurück. Barrent hatte keine Zeit mehr zum Lauschen. Er befand sich in einem langen schmalen Gang. Er wandte sich nach rechts und raste auf den Bug des Schiffes zu. Weit hinter sich hörte er die schweren Tritte der Wachen. Jetzt mußte die Beschreibung des Schiffes, die er erhalten hatte, genau stimmen, sonst war die Expedition beendet, noch bevor sie richtig begonnen hatte! Er lief an langen Reihen leerer Zellen vorbei und kam zu einer Tür mit der Aufschrift AUFENTHALTSRAUM DER WACHEN. Eine erleuchtete grüne Birne über der Tür deutete an, daß die Sauerstoffversorgung in Gang war. Dahinter befand sich eine andere Tür. Barrent drückte auf die Klinke – sie war nicht verschlossen. Dahinter war ein Raum, angefüllt mit Ersatzteilen für die Maschinen. Er trat ein und schloß die Tür hinter sich. Die Wachen kamen den Korridor heraufgepoltert. Barrent hörte ihre Stimmen, als die Männer den Aufenthaltsraum betraten. »Woher, glaubst du, rührten die Explosionen?« »Wer weiß? Diese Verbrecher haben eben einen Tick.«
»Die würden den ganzen Planeten in die Luft jagen, wenn sie könnten.« »Dann wären wir sie endlich los!« »Na, ja, jedenfalls hat es keinen sichtbaren Schaden angerichtet. Vor fünfzehn Jahren gab es schon mal ähnliche Explosionen. Erinnert ihr euch?« »Da war ich noch nicht hier.« »Damals waren sie noch stärker. Zwei Wachen kamen dabei ums Leben und etwa einhundert Gefangene.« »Was war die Ursache?« »Keine Ahnung. Diesen Omeganern macht es Spaß, Dinge einfach so in die Luft zu jagen.« »Könnten Sie nicht einmal unser Raumschiff angreifen?« »Keine Gefahr. Denk an die Spähschiffe, die oben patrouillieren!« »Glaubst du? Ich bin froh, wenn wir erst wieder sicher an der Kontrollstation angelangt sind.« »Ganz meine Meinung. Das Schönste wäre ein anderer Job! Heraus aus diesem Schiff und das Leben mal wieder ein bißchen genießen!« »Das Leben am Kontrollpunkt ist gar nicht so schlecht. Trotzdem möchte ich lieber wieder zurück zur Erde.« »Na, ja, man kann eben nicht alles haben.« Die letzte Wache betrat den Aufenthaltsraum und schlug die Tür hinter sich zu. Barrent wartete. Nach einer Weile begann das Schiff zu beben. Es begann seinen Flug. Barrent hatte ein paar wertvolle Informationen erhalten. Anscheinend verließen alle oder jedenfalls die meisten Wachen das Schiff am Kontrollpunkt. Hieß das, daß eine andere Wachmannschaft sie ablöste? Wahrscheinlich. Aber ein Kontrollpunkt brachte die Gefahr mit sich, daß das Schiff nach entflohenen Gefangenen durchsucht wurde. Wahrscheinlich wurde es nur eine oberflächliche Durchsuchung sein, da in der Geschichte von Omega noch nie ein Gefangener entflohen war. Trotzdem würde er sich ein gutes Versteck suchen müssen.
Doch alles zu seiner Zeit! Jetzt spürte er das Nachlassen der Vibration und wußte, daß das Schiff die Oberfläche von Omega verlassen hatte. Er befand sich an Bord, noch immer unentdeckt, und das Schiff war auf dem Weg zur Erde. Bis jetzt war alles planmäßig abgelaufen. Während der nächsten Stunden harrte Barrent im Vorratsraum aus. Er fühlte sich sehr müde, seine Muskeln schmerzten. Die Luft in dem kleinen Raum hatte einen sauren, schlechten Geruch. Barrent mußte sich zwingen, aufzustehen und zum Ventilator zu gehen. Er hielt die Hand darüber. Nichts regte sich. Es kam keine frische Luft herein. Barrent zog ein Meßgerät aus der Tasche. Der Sauerstoffgehalt der Luft fiel schnell ab. Vorsichtig öffnete er die Tür zum Gang und blickte hinaus. Obgleich er in eine perfekt nachgeahmte Uniform gekleidet war, war er sich wohl bewußt, daß er unter Männern, die einander gut kannten, nicht lange unentdeckt bleiben würde. Er mußte sich versteckt halten. Aber er brauchte Luft! Die Gänge lagen verlassen da. Er schlich an dem Aufenthaltsraum der Wachen vorbei und hörte leises Gemurmel. Über der Tür leuchtete hell die grüne Lampe. Barrent hastete weiter, er spürte bereits ein leichtes Schwindelgefühl. Sein kleines Meßgerät zeigte ihm, daß auch der Sauerstoffgehalt in den Gängen stark nachließ. Die Gruppe Zwei hatte angenommen, daß das Durchlüftungssystem im gesamten Schiff funktionieren würde. Jetzt mußte Barrent einsehen, daß es nicht erforderlich war, das ganze Schiff mit Sauerstoff zu versorgen, da nur die Wachen und das Schiffspersonal an Bord waren. Nur in den Wohnräumen der Besatzung und im Aufenthaltsraum der Wachen würde es frische Luft geben. Barrent lief die schwach erleuchteten, ausgestorbenen Gänge entlang; er keuchte vor Erschöpfung. Die Luft wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter. Vielleicht wurde der Sauerstoff in dem Aufenthaltsraum verwendet, bevor die Hauptversorgungsleitung des Schiffes angezapft wurde. Er kam an vielen unverschlossenen Türen vorbei, aber nirgends glühte die grüne Lampe darüber auf. Sein Kopf dröhnte, und seine Beine
fühlten sich an, als würden sie zu Pudding. Krampfhaft überlegte er, was er tun sollte. Die Räume der Besatzungsmitglieder schienen ihm die größte Chance zu bieten. Vielleicht waren diese nicht bewaffnet. Und selbst wenn das der Fall war, so würden sie ihre Waffen hoffentlich nicht so flink bei der Hand haben wie die Wachen. Vielleicht konnte er einen der Offiziere mit der Waffe in Schach halten; vielleicht konnte er sogar den Befehl über das Schiff übernehmen. Der Versuch lohnte sich. Er mußte ihn wagen. Am Ende des Ganges erreichte er eine Treppe. Er stieg an mehreren völlig verlassenen Stockwerken vorbei und kam endlich zu einer großen Aufschrift an der Wand. KONTROLLABTEILUNG, las er. Daneben war ein langer Pfeil aufgemalt, der die Richtung angab. Barrent zog die Nadelstrahlwaffe aus der Tasche und taumelte den Korridor entlang. Allmählich verlor er das Bewußtsein. Schwarze Schatten tanzten vor seinen Augen. Verzerrte Gestalten, Halluzinationen, Schreckgespenster tauchten vor ihm auf. Er kroch auf Händen und Füßen weiter, auf eine Tür zu. Mit letzter Anstrengung zog er sich etwas hoch und las: KONTROLLRAUM – EINTRITT VERBOTEN! NUR FÜR SCHIFFSOFFIZIERE! Der Korridor schien sich mit einem grauen Nebel zu füllen. Dann hellte er sich wieder auf. Barrent stellte fest, daß er die Augen nicht mehr auf einen Punkt zu konzentrieren vermochte. Er zog sich noch weiter hoch und zerrte am Türgriff. Langsam öffnete sich die Tür. Er umklammerte seine Waffe noch fester und versuchte sich auf eine Handlung vorzubereiten. Aber sobald er die Tür geöffnet hatte, hüllte ihn eine undurchdringliche Schwärze ein. Er glaubte erschrockene Gesichter zu sehen, das Rufen von Stimmen zu hören: »Vorsicht! Er ist bewaffnet!« Und dann stürzte er kopfüber in die Schwärze und fiel endlos lange, immer tiefer und tiefer.
22 Barrents Rückkehr ins Bewußtsein ging ganz plötzlich vor sich. Er setzte sich auf und stellte fest, daß er in den Kontrollraum gestürzt war. Die Metalltür hatte sich wieder hinter ihm geschlossen. Er atmete ohne Schwierigkeiten. Von den Mannschaften war nichts zu sehen. Sie mußten gegangen sein, um die Wachen zu holen, in der Annahme, daß er noch länger bewußtlos bleiben würde. Er stand auf, instinktiv nahm er seine Waffe vom Boden. Er untersuchte sie genau, runzelte die Stirn und steckte sie wieder ein. Warum, so fragte er sich, sollte die Besatzung ihn allein in der Steuerzentrale zurücklassen, dem wichtigsten Teil des Schiffes? Warum hatten sie ihm seine Waffe gelassen? Er versuchte sich an die Gesichter zu erinnern, die er gesehen hatte, kurz bevor er ohnmächtig geworden war. Es waren ungenaue Vorstellungen, vage und verschwommene Gestalten mit hohlen, traumhaften Stimmen. Waren wirklich Menschen hier gewesen? Je mehr er darüber nachdachte, um so mehr wurde es ihm zur Gewißheit, daß diese Leute nur Sinnestäuschungen seines schwindenden Bewußtseins gewesen waren. Niemand war hier gewesen. Er befand sich ganz allein im Nervenzentrum des Schiffes. Noch immer mißtrauisch, näherte er sich der Hauptkontrolltafel. Sie war in zehn Sektoren aufgeteilt. Jeder Sektor hatte eine eigene Reihe von Schaltern und Knöpfen, unter denen kurze Bezeichnungen vermerkt waren. Langsam musterte Barrent die verschiedenen Abschnitte des Schaltpults und beobachtete das Lichtmuster, das über die unzähligen Lämpchen huschte. Der letzte Abschnitt schien einer übergeordneten Kontrolle zu dienen. Auf einer kleinen Sichtscheibe stand: KOORDINATION, HANDBEDIENUNG/AUTOMATIK. Der Teil für AUTOMATIK war beleuchtet. Es gab noch ähnliche Schalteinheiten – für Navigation, für die Sicherung vor Zusammenstößen, für den Übergang in den Hyperraum, für den Eintritt in die Atmosphäre und für die Landung. Alle waren auf automatische Schaltung gestellt. Weiter hinten fand er die Programmierungstafel, die vorgesehenen Daten waren aus der Schalterstellung ersichtlich. Der Zeitabstand bis zum
Kontrollpunkt betrug jetzt 29 Stunden, 4 Minuten, 51 Sekunden. Die vorgesehene Aufenthaltszeit drei Stunden. Die Zeit vom Kontrollpunkt bis zur Erde: 480 Stunden. Die Steueranlage flackerte und summte ruhig und selbstsicher. Barrent konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß die Anwesenheit eines Menschen in dieser Maschinerie einer Tempelschändung gleichkam. Er überprüfte die Luftklappen. Sie waren auf automatische Speisung eingestellt und gaben gerade genug Sauerstoff ab, um für die Anwesenheit eines menschlichen Wesens in der Zentrale zu genügen. Aber wo war die Besatzung? Barrent verstand die Notwendigkeit, ein Raumschiff im großen und ganzen mit automatischer Schaltung funktionieren zu lassen. Ein System, das so groß und kompliziert war wie dieses, mußte sich selbst steuern können. Aber der Mensch hatte es gebaut, und der Mensch hatte es auch programmiert. Warum also waren keine Menschen zugegen, um die Schalttafeln zu überwachen, das Programm zu verändern, falls sich dies als notwendig erwies? Angenommen, die Wachen wären länger auf Omega aufgehalten worden? Angenommen, es würde sich als notwendig erweisen, am Kontrollpunkt vorbeizufahren und die Erde direkt anzusteuern? Angenommen, es ergab sich eine Zwangslage, aus der heraus der gesamte Bestimmungsort geändert werden mußte? Wer stellte die neue Programmierung ein, wer gab dem Schiff Befehle, wer besaß die leitende Intelligenz, die die gesamte Operation zu führen vermochte? Barrent blickte sich im Kontrollraum um. Er fand einige Notausrüstungen mit Sauerstoffbehältern und Masken. Eine davon legte er an und ging hinaus in den Korridor. Nach geraumer Zeit erreichte er eine Tür mit der Aufschrift BESATZUNGSUNTERKÜNFTE. Er ging hinein. Alles war ordentlich und sauber, aber leer. Die Betten standen gerade ausgerichtet nebeneinander, ohne Decken und Laken. In den Schränken hingen keine Kleidungsstücke, lagen keine persönlichen Habseligkeiten irgendwelcher Art. Barrent ging in die Offizierskajüten und in die Kabine des Kapitäns. Er fand kein Zeichen dafür, daß sie noch kürzlich bewohnt worden waren.
Er ging zum Kontrollraum zurück. Es war ganz offensichtlich, daß das Schiff keine Besatzung besaß. Vielleicht waren die Autoritäten auf der Erde so überzeugt von der Unfehlbarkeit ihrer Pläne und der Verläßlichkeit ihrer Schiffe, daß sie eine Besatzung für überflüssig hielten. Vielleicht… Aber eine derartige Einstellung erschien Barrent äußerst leichtsinnig. Es war höchst seltsam, daß die Erde ihre Raumschiffe ohne menschliche Oberaufsicht operieren ließ! Er entschloß sich, nicht weiter zu überlegen, bevor er mehr Tatsachen gesammelt hatte. Im Augenblick mußte er sich seinem eigenen Problem widmen: zu überleben. In seinen Taschen befand sich eine genügende Menge konzentrierter Nahrung, aber Wasser hatte er nicht mit sich führen können. Ob das besatzungslose Schiff Wasservorräte besaß? Er mußte an die Wachtruppe unten im Aufenthaltsraum denken. Und er überlegte auf Grund seiner neuen Informationen, was im Kontrollpunkt geschehen würde und wie er sich zu verhalten hätte. Barrent stellte fest, daß er nicht auf seinen eigenen Nahrungsvorrat angewiesen war. In der Offiziersmesse spuckten diverse Maschinen auf einen Knopfdruck hin Essen und Getränke aus. Er konnte nicht unterscheiden, ob es natürliche oder chemisch aufgebaute Nahrung war. Sie schmeckte gut und schien ihn zu ernähren – daher kümmerte er sich nicht weiter um diese Frage. Er erforschte die oberen Teile des Schiffes. Aber nachdem er sich mehrmals verlaufen hatte, entschloß er sich, keine weiteren unnötigen Risiken einzugehen. Das Lebenszentrum des Schiffes war sein Kontrollraum, und Barrent verbrachte die meiste Zeit darin. Er bemerkte eine Aussichtsluke. Durch Drehen des Schalters, der die Gitter öffnete, konnte er hinaus in die Weiten des Raumes blicken, mit den glühenden Sternen in der undurchdringlichen Dunkelheit. Ein Meer von Sternen erstreckte sich über den ganzen Horizont – prächtiger, als seine Phantasie es je ausgemalt hatte. Beim Anblick dieses Wunders durchdrang ihn ein bisher nie gefühlter Stolz. Hierher gehörte er, und jene unbekannten Sterne waren sein Erbe.
Die Zeit bis zum Erreichen des Kontrollpunkts schrumpfte auf sechs Stunden zusammen. Barrent sah neue Teile des Schaltpults zum Leben erwachen; sie prüften und änderten die Kräfte, die das Schiff beherrschten, bereiteten auf die Landung vor. Er wunderte sich, wie schnell er sich in diesen technischen Dingen zurechtfand – wahrscheinlich halfen ihm unbewußte Erinnerungen. Drei und eine halbe Stunde vor der Landung machte Barrent eine interessante Feststellung. Er entdeckte das zentrale Kommunikationssystem für das gesamte Schiff. Als er den Empfänger einschaltete, konnte er die Unterhaltung im Aufenthaltsraum der Wachen abhören. Er erfuhr nicht viel, was für ihn von Nutzen gewesen wäre. Entweder aus Vorsicht oder aus Mangel an Interesse sprachen die Männer nicht über Politik. Sie lebten in der Kontrollstation – gelegentlich machten sie Fahrten mit dem Gefangenenschiff. Manche der Dinge, die sie diskutierten, waren für Barrent unverständlich. Aber er lauschte doch weiter, interessiert an allem, was diese Menschen von der Erde zu sagen hatten. »Baden in Florida – das ist das Schönste, was ich mir vorstellen kann.« »Ich habe Salzwasser nie gemocht.« »Im Jahr, bevor ich zu den Wachen abkommandiert wurde, gewann ich den dritten Preis beim Orchideenfest in Dayton…« »Nach meiner Pensionierung kaufe ich mir eine Villa in Antarktika.« »Wieviel Dienstjahre hast du noch vor dir?« »Achtzehn Jahre.« »Gerade uns haben sie eingezogen!« »Jemand muß es ja tun.« »Aber warum gerade ich? Und warum kriegen wir keine Ferien auf der Erde?« »Du hast doch die Unterrichtsfilme gesehen und weißt genau, warum. Verbrechen ist eine Krankheit. Es ist ansteckend.« »Na und?« »Wenn du mit Verbrechern zu tun hast, läufst du Gefahr, selbst angesteckt zu werden. Du könntest jemanden auf der Erde vergiften.«
»Es ist nicht gerecht.« »Das läßt sich nicht ändern. Die Wissenschaftler wissen schon, wovon sie reden. Außerdem ist es auf dem Kontrollpunkt auch nicht so schlecht.« »Wenn du künstliche Dinge magst. Luft, Blumen, Nahrung…« »Du kannst nicht alles haben. Ist deine Familie dort?« »Meine Frau will zurück zur Erde.« »Nach fünf Jahren Leben im Kontrollpunkt hältst du es auf der Erde nicht mehr aus, habe ich gehört. Die Schwerkraft packt dich zu stark.« »Ich halte die Schwerkraft schon aus. Immer…« Aus diesen Unterhaltungen ersah Barrent, daß die grimmig aussehenden Wachen menschliche Wesen waren, genauso wie die Gefangenen auf Omega. Die meisten der Posten schienen die Arbeit, die sie verrichten mußten, nicht zu mögen. Wie die Leute von Omega sehnten auch sie sich zurück zur Erde. Die Zeit verging. Das Schiff befand sich schon in unmittelbarer Nähe des Kontrollpunkts, die gigantischen Schalttafeln flammten auf und surrten heftig; sie trafen die letzten Anordnungen für die schwierige Landung. Schließlich war das Manöver durchgeführt, die Maschinen setzten aus. Durch die Höranlage erfuhr Barrent, daß die Wachen den Aufenthaltsraum verließen. Er folgte ihnen den Gang entlang bis zur Landungsrampe. Er hörte den letzten, der das Schiff verließ, sagen: »Da ist ja auch schon der Suchtrupp. Na, was sagt ihr, Jungs?« Keine Antwort. Die Wachen waren fort, und nun erscholl ein neues Geräusch in den Gängen: die schweren Tritte jener, die die Wachen die Suchtrupps nannten. Es schienen viele Menschen zu sein. Sie durchsuchten zuerst die Maschinenräume und bewegten sich systematisch nach oben. Den Geräuschen nach zu urteilen, schienen sie jede Tür zu öffnen und jedes Zimmer und jeden Schrank zu durchstöbern. Barrent hielt die Nadelstrahlwaffe in der schwitzenden Hand und fragte sich verzweifelt, wo er sich verstecken sollte. Er mußte damit rechnen, daß sie überall nachsehen würden. In diesem Fall lag die beste
Chance, ihnen aus dem Weg zu gehen, darin, sich in einem Teil des Schiffs zurückzuziehen, den sie bereits durchsucht hatten. Er stülpte sich eine Sauerstoffmaske über den Kopf und betrat den Korridor.
23 Eine halbe Stunde später hatte Barrent noch immer keine Möglichkeit gefunden, an der Suchtruppe vorbeizugelangen. Sie hatten die tieferen Teile des Schiffes inspiziert und bewegten sich jetzt auf den Kontrollraum zu. Barrent konnte sie die Gänge heraufkommen hören. Fast hundert Meter vor ihnen eilte er davon, verzweifelt nach einem Versteck spähend. Am Ende dieses Korridors müßte eine Treppe sein. Auf ihr konnte er vielleicht hinuntersteigen, zu einem Teil des Schiffes, der schon durchsucht worden war. Er hastete weiter und hoffte nur, daß sich seine Hoffnung erfüllte. Noch immer hatte er nur eine vage Vorstellung der Raumverteilung des Schiffes. Wenn er sich irrte, hätte er sich selbst in eine Falle manövriert. Er erreichte das Ende des Ganges, und die Treppe war tatsächlich vorhanden. Die Schritte hinter ihm kamen näher. Er rannte die Stufen hinunter; gelegentlich blickte er über die Schulter nach hinten. Und dabei rannte er mit dem Kopf direkt gegen einen gewaltigen Brustkasten. Barrent taumelte zurück und legte die Waffe auf die enorme Gestalt an. Aber er feuerte nicht ab. Das Wesen vor ihm war kein Mensch. Es war über einen Meter groß und trug eine schwarze Uniform, auf der vorn SUCHTRUPP – ANDROID B 212 eingeprägt war. Das Gesicht war den menschlichen Zügen nachgebildet, säuberlich geformt aus kalkfarbenem Plastikmaterial. Die Augen glühten tief rot. Es schaukelte auf zwei Beinen, sorgfältig darauf bedacht, die Balance zu wahren. Es sah Barrent starr an und bewegte sich auf ihn zu. Barrent wich ihm aus. Er wußte nicht, ob seine Nadelstrahlwaffe den Androiden aufhalten konnte.
Er hatte keine Gelegenheit, es auszuprobieren, denn der Android ging an ihm vorbei und weiter die Treppe hinauf. Auf seinem Rücken standen die Worte SUCHABTEILUNG FÜR NAGETIERE. Dieser Android war lediglich darauf spezialisiert, nach Ratten und Mäusen zu fahnden. Die Gegenwart eines blinden Passagiers hatte auf ihn überhaupt keinen Eindruck gemacht. Folglich waren die anderen Androiden des Suchtrupps ähnlich spezialisiert. Barrent wartete in einer Vorratskammer im unteren Teil des Schiffes, bis er die schweren Tritte der Androiden sich entfernen und das Schiff verlassen hörte. Dann lief er eilig zurück zur Steuerzentrale. Wachen kamen nicht an Bord. Genau nach Zeitplan verließ das Schiff den Kontrollpunkt. Endziel: Erde. Die übrige Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Barrent schlief und aß und beobachtete das endlose Schauspiel der Sterne durch die Sichtluke, bis das Schiff in die untere Atmosphäre eintauchte. Er versuchte, sich den Planeten, auf den er zusteuerte, vorzustellen, aber es gelang ihm nicht, ein einigermaßen klares Bild zu entwerfen. Was waren das für Menschen, die Raumschiffe bauten, sie aber nicht mit einer Besatzung ausstatteten? Warum sandten sie Suchtrupps aus, deren Aufgaben auf unerklärliche Weise eingeschränkt waren? Warum mußten sie eine ansehnliche Zahl ihrer Bevölkerung deportieren – und warum kümmerten sie sich dann nicht darum, unter welchen Bedingungen diese Deportierten lebten und starben? Warum hielten sie es für notwendig, alle Erinnerungen der Gefangenen an die Erde auszulöschen? Barrent fand keine Antwort auf all diese Fragen. Die Zeitmesser im Kontrollraum rückten ständig voran, zählten die Stunden, Minuten und Sekunden der Fahrt ab. Das Schiff tauchte in die Atmosphäre, bog in die Kreisbahn um eine blau und grün gesprenkelte Welt, die Barrent mit gemischten Gefühlen betrachtete. Es fiel ihm schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, am Ziel seiner Sehnsucht zu sein.
24 Das Raumschiff landete an einem sonnendurchfluteten Tag irgendwo auf dem nordamerikanischen Kontinent der Erde. Barrent hatte vorgehabt, das Schiff erst im Schutz der Dunkelheit zu verlassen; aber auf den Schalttafeln des Kontrollraums flackerte ein altes und ironisch anmutendes Warnsignal auf: Alle Passagiere sowie die Besatzungsmitglieder müssen das Schiff sofort verlassen! Das Schiff wird einer gründlichen Entgiftung unterzogen. Sie haben zwanzig Minuten Zeit! Er hatte keine Ahnung, was eine gründliche Entgiftung war. Aber da auch die Besatzung nachdrücklich aufgefordert wurde auszusteigen, würde vielleicht selbst eine Gasmaske keine völlige Sicherheit gewähren. Von den beiden Gefahren schien die, das Schiff zu verlassen, die geringere. Die Mitglieder von Gruppe Zwei hatten sich lange mit der Frage beschäftigt, welche Kleidung Barrent beim Betreten der Erde tragen sollte. Die ersten Minuten auf der Erde konnten für das ganze Unternehmen von entscheidender Bedeutung sein. Keine List konnte ihm helfen, wenn seine äußere Erscheinung offensichtlich fremdartig anmutete. Typische Erdkleidung war am besten, aber die Gruppe war sich nicht im klaren, was man derzeit auf der Erde trug. Ein Teil der Gruppe wollte, daß Barrent einen Anzug anlegte, der ihren Vorstellungen von den gebräuchlichen Kleidungsstücken auf der Erde am ehesten entsprach. Eine andere Meinung war die, daß er in der Uniform der Wachen am sichersten war. Barrent selbst hatte eine dritte Möglichkeit am besten zugesagt: Er glaubte, daß ein einteiliger Overall, wie die Mechaniker trugen, auf einem Raumflughafen am wenigsten auffallen würde. In den größeren Orten und Städten würde ihm diese Verkleidung wahrscheinlich zum Nachteil gereichen, aber er mußte eben das kleinere Übel wählen. Schnell legte er die Uniform ab. Darunter trug er bereits den Overall. Mit gezückter, in der Tasche verborgener Waffe und einer Schachtel mit Lebensmitteln in der Hand, schritt Barrent den Gang entlang auf die Ausstiegsrampe zu. Einen Augenblick zögerte er und überlegte, ob er die Waffe besser im Schiff zurückließe. Er beschloß, sich nicht von ihr zu trennen. Eine Durchsuchung würde ihn sowieso entlarven; mit der
Waffe jedoch hätte er vielleicht eine Chance, aus dem Gewahrsam auszubrechen. Er holte tief Luft und kletterte aus dem Schiff auf die Rampe. Es waren keine Wachen da, keine Suchtrupps, keine Polizei, keine Militäreinheiten, keine Zollbeamten. Es war überhaupt niemand zu sehen. Weit entfernt, auf der anderen Seite des Feldes sah er eine Reihe Raumschiffe in der Sonne glitzern. Direkt vor ihm befand sich ein Zaun mit einem offenen Tor. Barrent ging über das Feld, schnell, aber ohne sichtliche Hast. Er konnte nicht begreifen, warum alles so einfach vonstatten ging. Vielleicht besaß die Geheimpolizei der Erde heimtückische und wirksame Mittel, die Passagiere eines Raumschiffs zu überprüfen. Er erreichte das Tor. Niemand war zu sehen, außer einem Mann mittleren Alters mit einer Glatze und einem etwa zehnjährigen Jungen. Sie schienen auf ihn zu warten. Barrent konnte kaum glauben, daß es Regierungsbeauftragte waren; aber wer kannte sich schon in den Gepflogenheiten der Erde aus? Er durchschritt das Tor. Der kahle Mann hatte den Jungen an der Hand gefaßt und kam auf Barrent zu. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann. »Ja?« »Ich sah Sie aus dem Raumschiff kommen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?« »Nicht im geringsten«, antwortete Barrent, die Hand dicht am Reißverschluß der Tasche, in der die Waffe steckte. Er war jetzt ganz sicher, daß der glatzköpfige Mann ein Polizeiagent war. Das einzige, was ihm nicht verständlich war, war die Anwesenheit des Kindes. Vielleicht aber war auch der Junge ein Agent, der gerade geschult wurde. »Die Sache ist nämlich die«, sagte der Mann, »mein Sohn Ronny hier schreibt gerade an einer Dissertation für seinen Doktor zehnten Grades. Über Raumschiffe.« »Deshalb wollte ich gern eins sehen«, fügte Ronny hinzu. Er war klein, mit einem ausdrucksvollen, intelligenten Gesicht.
»Er wollte unbedingt eins sehen«, wiederholte der Mann. »Ich habe ihm gesagt, daß es nicht nötig wäre, da alle Tatsachen und Bilder in der Enzyklopädie stehen. Aber er ließ sich nicht davon abbringen.« »Es gäbe mir die Möglichkeit, eine gute Einleitung zu schreiben«, sagte Ronny. »Natürlich«, antwortete Barrent, ernsthaft nickend. Er wunderte sich jetzt wieder über den Mann. Wenn er ein Mitglied der Polizei war, ging er wirklich einen höchst seltsamen Weg. »Arbeiten Sie auf dem Schiff?« fragte Ronny. »Ja.« »Wie groß ist seine Geschwindigkeit?« »Im richtigen oder im Hyperraum?« fragte Barrent. Diese Frage schien Ronny zu verwirren. Er schob die Unterlippe vor und sagte: »Herrje! Ich wußte ja gar nicht, daß sie in den Hyperraum vordringen!« Einen Moment überlegte er. »Um die Wahrheit zu sagen: Ich weiß nicht einmal, was der Hyperraum ist.« Barrent und der Vater des Jungen lächelten sich verständnisvoll an. »Und wie schnell fliegen sie im normalen Raum?« fragte Ronny. »Hunderttausend Meilen in der Stunde«, antwortete Barrent. Er gab die erste Zahl, die ihm in den Sinn kam, an. Der Junge nickte, und auch sein Vater nickte. »Sehr schnell«, bemerkte der Vater. »Und im Hyperraum geht’s natürlich noch viel schneller«, sagte Barrent. »Natürlich«, stimmte der Mann zu. »Raumschiffe sind wirklich ungeheuerlich schnell. Das müssen sie ja auch. Bei den Entfernungen! Habe ich nicht recht, Sir?« »Sehr, sehr große Entfernungen«, bestätigte Barrent. »Wie wird ein Schiff angetrieben?« fragte Ronny. »Auf die normale Art«, antwortete Barrent. »Letztes Jahr bauten wir Triplexkurbeln ein, aber die sind eigentlich mehr als Aushilfskraft gedacht.«
»Ich habe von diesen Triplexkurbeln schon gehört«, sagte der Mann. »Enorme Dinger.« »Ihrer Aufgabe entsprechend«, bemerkte Barrent klug. Er war jetzt gewiß, daß der Mann wirklich das war, wofür er sich ausgab: Ein Bürger mit keiner speziellen Kenntnis über Raumschiffe, der nur seinen Sohn zum Raumhafen geleitet hatte. »Woher bekommen Sie im Schiff genug Luft?« fragte Ronny. »Wir nehmen sie in Form von Preßluft mit«, erklärte Barrent. »Aber die Luft ist kein großes Problem. Wasser – das ist schon schwieriger. Wasser läßt sich nämlich nicht zusammendrücken, wissen Sie. Es läßt sich schwer in großen Mengen aufbewahren. Und dann ist da noch das Navigationsproblem, wenn das Schiff aus dem Hyperraum taucht.« »Was ist denn der Hyperraum?« fragte Ronny. »In Wirklichkeit ist es einfach ein andersartiger Teil des normalen Raums. Aber das kannst du ja alles in deiner Enzyklopädie nachlesen.« »Das ist völlig richtig, Ronny«, stimmte der Vater zu. »Wir dürfen jetzt den Piloten nicht noch länger aufhalten. Sicherlich hat er viele wichtige Dinge zu erledigen.« »Ich habe es ziemlich eilig«, sagte Barrent. »Sehen Sie sich nur alles in Ruhe an. Viel Glück für deine Dissertation, Ronny.« Barrent ging hundert Meter mit einem kitzligen Gefühl im Rücken, jeden Moment erwartete er den Schuß einer Nadelstrahlwaffe oder das Zischen eines Gewehrs. Aber als er sich dann umdrehte, wandten ihm die beiden den Rücken zu und musterten voller Interesse das Raumschiff. Barrent zögerte einen Moment; er machte sich Sorgen. Bis jetzt war alles viel zu glatt verlaufen. Verdächtig glatt. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Die Straße führte vom Raumhafen weg an einer Reihe von Lagerschuppen vorbei auf einen Wald zu. Barrent ging weiter, bis er außer Sichtweite der beiden war. Dann verließ er die Straße und schlug sich seitwärts in den Wald. Für seinen ersten Tag auf der Erde hatte er genug Kontakt mit Menschen gehabt. Er wollte sein Glück nicht herausfordern. Er wollte sich die Dinge erst einmal in aller Ruhe durch
den Kopf gehen lassen, die Nacht im Wald schlafen und am nächsten Morgen eine Stadt aufsuchen. Er zwängte sich durch dichtes Unterholz. Bald aber lichteten sich die Büsche, und er konnte unter den kühlen Schatten mächtiger Eichen bequem dahinschreiten. Um ihn herum zirpten und zwitscherten unsichtbare Vögel und Insekten. Ein Stückchen vor ihm war ein großes weißes Schild an einen Baum genagelt. Als Barrent näher kam, las er: WALDTALER NATIONALPARK. PICKNICKEN UND CAMPING GESTATTET! Barrent war ein bißchen enttäuscht, obgleich er sich darüber im klaren war, daß er so nahe einem Raumhafen keine unberührte Wildnis erwarten durfte. Außerdem gab es auf einem Planeten, der alt und weit entwickelt war wie die Erde, wahrscheinlich überhaupt kein unberührtes Land mehr, außer den Nationalparks. Die Sonne stand schon tief am Horizont, und am Boden breitete sich die abendliche Kühle aus. Barrent fand ein bequemes Fleckchen unter einer gigantischen Eiche, rückte sich ein paar Stauden zurecht und legte sich darauf nieder. Er hatte eine Menge nachzudenken. Warum, beispielsweise, hatte man an dem wichtigsten Kontaktpunkt der Erde, einem interstellaren Raumhafen, keine Wachtposten aufgestellt? Begannen die Sicherheitsmaßnahmen erst später, in den Ortschaften und Städten? Oder unterlag er bereits einer Art Überwachung, einem unmerklichen, heimtückischen Geheimsystem, das jede seiner Bewegungen wahrnahm und nur auf einen geeigneten Augenblick wartete, ihn festzunehmen? Oder war das zu phantastisch gedacht? Könnte es sein, daß –? »Guten Abend«, ertönte eine Stimme, direkt neben seinem rechten Ohr. Mit einer entsetzten Bewegung sprang Barrent zur Seite, seine Hand zuckte zur Waffe. »Und einen sehr angenehmen Abend noch dazu«, fuhr die Stimme fort, »den Sie hier im Waldtaler Nationalpark erleben. Die Temperatur beträgt 78,2 Grad Fahrenheit, Feuchtigkeit 23 Prozent, Barometerstand beständig auf neunundzwanzig Punkt neun. Alte Campierer erkennen mich sicher an der Stimme. Den neuen Naturfreunden unter Ihnen will ich mich aber vorstellen. Ich bin Eichi, Ihr Freund, der Eichbaum. Ich
begrüße Sie alle aufs herzlichste, alt und jung, und heiße Sie in Ihrem Nationalpark willkommen.« Aufrecht sitzend, starrte Barrent in die zunehmende Dunkelheit. Er fragte sich, was für ein Streich ihm hier gespielt wurde. Die Stimme schien wahrhaftig aus der großen Eiche zu kommen. »Die Freude der Natur«, fuhr Eichi fort, »ist nun jedem leicht und bequem zugänglich. Sie können sich völliger Abgeschlossenheit erfreuen und sind doch nicht weiter als zehn Minuten zu Fuß von den öffentlichen Verkehrsmitteln entfernt. Für diejenigen, die nicht allein sein wollen, haben wir Exkursionen zu geringen Preisen arrangiert, die durch die alten Täler führen. Vergessen Sie nicht, Ihren Freunden von Ihrem Nationalpark zu erzählen. Alle Möglichkeiten dieses Parks warten auf die Freunde der herrlichen Naturschönheiten.« Ein Spalt tat sich am Baum auf. Heraus glitten ein Schlafsack, eine Thermosflasche und ein Tablett mit Abendessen. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend«, sagte Eichi. »Genießen Sie die Pracht der Naturwunder. Und jetzt spielt Ihnen das nationale Symphonie-Orchester unter der Leitung von Otter Krug ›Die Bergtäler‹ von Ernesto Nestrichalam, aufgenommen von der nordamerikanischen Rundfunkgesellschaft. Ihr ergebener Eichbaum wünscht Ihnen eine gute Nacht.« Aus mehreren versteckten Lautsprechern ertönte Musik. Barrent kratzte sich am Kopf; dann entschloß er sich, die Dinge hinzunehmen, wie sie sich ihm darboten, und aß die Speisen, trank den Kaffee aus der Thermosflasche, rollte den Schlafsack auseinander und legte sich bequem darin zurecht. Schlaftrunken sann er über den Sinn eines Waldes nach, der mit Drähten ausgestattet war, um Musik erklingen zu lassen, der Nahrung und Getränke verabreichte – und das alles nicht weiter als zehn Minuten von dem nächsten öffentlichen Verkehrsmittel entfernt. Die Erde hatte ihren Bewohnern wirklich allerhand zu bieten. Vermutlich gefielen ihnen diese Dinge. Oder vielleicht doch nicht? Könnte dies eine tückische Falle sein, die ihm die Behörden gelegt hatten? Unruhig wälzte er sich eine Zeitlang von einer Seite auf die andere und versuchte, sich an die Musik zu gewöhnen. Bald verschmolz sie mit dem Rascheln der Blätter und dem Knacken der Zweige. Barrent schlief fest ein.
25 Am nächsten Morgen servierte ihm die freundliche Eiche das Frühstück und einen Rasierapparat. Barrent aß, wusch und rasierte sich. Danach machte er sich auf den Weg zur nächsten Stadt. Er hatte einen festen Plan gefaßt, nach dem er vorgehen wollte. Zuerst mußte er sich eine narrensichere Verkleidung schaffen und dann mit einer Widerstandsbewegung Kontakt aufzunehmen versuchen. Wenn das gelungen war, mußte er so viel wie möglich über die Geheimpolizei der Erde herausfinden, über die Militärkräfte und dergleichen. Gruppe Zwei hatte ihm genaue Anweisungen dafür gegeben. Als Barrent die Außenbezirke der Stadt erreicht hatte, wünschte er noch einmal inbrünstig, daß die Methode von Gruppe Zwei funktionieren möge. Bis jetzt hatte die Erde wenig Ähnlichkeit mit dem gezeigt, was die Gruppe Zwei rekonstruiert hatte. Er wanderte endlos lange Straßen entlang, zu deren Seiten kleine weiße Häuser standen. Zuerst glaubte er, alle Häuser sähen gleich aus. Dann aber bemerkte er, daß jedes geringfügige architektonische Abweichungen aufwies. Aber anstatt den Häusern eine individuelle Note zu geben, hatten diese kleinen Unterschiede höchstens den Effekt, die monotone Gleichheit der Häuser noch zu unterstreichen. Da waren Hunderte dieser Häuser, sie erstreckten sich so weit vor ihm, wie er sehen konnte. Ihre Einheitlichkeit deprimierte ihn. Ganz unerwartet vermißte er den lächerlichen, groben Wirrwarr der Gebäude auf Omega. Er gelangte zu einem Geschäftszentrum. Auch die Läden waren einander ähnlich, genau wie die Häuser. Sie waren niedrig, unauffällig und alle von gleicher Bauart. Erst bei näherer Besichtigung der Schaufenster konnte man Unterschiede zwischen Lebensmittel-, Bekleidungs- und Sportgeschäften erkennen. Er kam an einem kleinen Gebäude vorbei, das die Aufschrift trug: ROBOTER-BEICHTSTUHL, 24 STUNDEN TÄGLICH GEÖFFNET. Es schien eine Art Kirche zu sein. Die Methode, die Gruppe Zwei für Barrent ausgearbeitet hatte, eine Untergrundbewegung zu finden, war einfach und direkt. Revolutionäre, so hatten sie argumentiert, findet man in großen Mengen in den
unterdrücktesten und niedrigsten Ständen einer Zivilisation. Armut zeugt Unzufriedenheit; die nichts haben, wollen etwas vom Besitz der Begüterten. Deshalb ist es logisch, in den Slums nach ihnen zu suchen. Die Theorie war zweifellos richtig. Der Haken war nur, daß Barrent keine Slums fand. Er ging stundenlang immer weiter, vorbei an sauberen Läden und freundlichen kleinen Häusern, an Spielplätzen und Parkanlagen, peinlich sauber gehaltenen Bauernhöfen, und immer wieder an Häusern und Läden. Nichts sah besser oder schlechter aus als das andere. Gegen Abend war er müde, die Füße schmerzten ihn. Soweit er es beurteilen konnte, hatte er nichts von Bedeutung wahrgenommen. Bevor er mehr über die Struktur der Gesellschaft auf der Erde aussagen konnte, mußte er mit einigen Bewohnern gesprochen haben. Das war ein gefährliches Unterfangen, ließ sich aber nicht vermeiden. Er stand in der Nähe eines Bekleidungsgeschäfts und entschied sich dafür, etwas zu unternehmen. Er würde sich für einen Ausländer ausgeben, für jemanden, der erst kürzlich von Europa oder Asien nach Nordamerika gekommen war. Auf diese Weise würde er mit einer gewissen Berechtigung Fragen stellen können. Ein Mann kam ihm entgegen, ein untersetzter, normal aussehender Bursche in einem braunen Straßenanzug. Barrent hielt ihn an. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Ich bin hier fremd, komme gerade aus Rom.« »Wirklich?« machte der Mann. »Ja. Leider kenne ich mich hier überhaupt nicht aus«, fuhr Barrent mit einem kleinen entschuldigenden Lächeln fort. »Ich finde einfach kein billiges kleines Hotel. Könnten Sie nur vielleicht –« »Bürger, fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte der Mann, seine Miene hatte sich verhärtet. »Wie ich schon sagte: Ich bin Ausländer und suche –« »Nun hören Sie mal gut zu«, unterbrach ihn der Mann. »Sie wissen doch so gut wie ich, daß es keine Ausländer mehr gibt.« »Nicht?«
»Natürlich nicht. Ich bin selbst in Rom gewesen. Dort sieht es genauso aus wie hier in Wilmington. Die gleiche Art Häuser und Läden. Niemand ist ein Ausländer.« Barrent wußte nicht, was er sagen sollte. Er lächelte nervös. »Außerdem gibt es auf der ganzen Erde keine billigen Unterkünfte mehr. Wozu auch. Wer würde wohl darin wohnen wollen?« »Ja, wer wohl?« antwortete Barrent unbehaglich. »Ich schätze, ich habe ein bißchen zuviel getrunken.« »Niemand trinkt heutzutage noch«, sagte der Mann. »Ich verstehe nicht, was Sie mit mir für ein Spiel treiben.« »Was glauben Sie wohl?« fragte Barrent, in eine Technik verfallend, die die Gruppe ihm empfohlen hatte. Stirnrunzelnd blickte der Mann ihn an. »Ich glaube, ich hab’s«, sagte er. »Sie müssen ein Meinungsforscher sein.« »Mm«, machte Barrent unverbindlich. »Das wird es sein«, rief der Mann aus. »Sie sind einer der Bürger, die herumgehen und die Leute nach ihren Meinungen ausfragen. Eine Umfrage oder so etwas Ähnliches. Stimmt’s?« »Sie haben’s erraten«, antwortete Barrent. »Na ja, es war ja nicht schwer. Immer und überall findet man die Meinungsforscher, die die Einstellung der Leute zu bestimmten Dingen herausfinden wollen. Ich hätte Sie auch gleich erkannt, wenn Sie die Uniform der Meinungsforscher getragen hätten.« Wieder runzelte er die Stirn. »Wieso sind Sie eigentlich nicht wie ein Meinungsforscher gekleidet?« »Ich habe gerade erst meine Prüfung abgelegt«, erklärte Barrent. »Bin noch nicht dazu gekommen, mir die Kleidung zu besorgen.« – »Oh! Das sollten Sie aber möglichst bald nachholen«, riet der Mann lebhaft. »Woher soll man denn sonst erkennen, was Sie sind?« »Das war nur ein Test«, sagte Barrent. »Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit, Sir. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit für mich, Sie in Zukunft wieder einmal zu interviewen.«
»Wann Sie wollen«, antwortete der Mann. Er nickte Barrent höflich zu und ging davon. Barrent dachte über den Vorfall nach und kam zu dem Schluß, daß ein Meinungsforscher die ideale Verkleidung für ihn wäre. Das würde ihm das überaus wichtige Recht geben, Fragen zu stellen, Leuten zu begegnen, herauszufinden, wie man auf der Erde lebte. Natürlich mußte er sorgfältig darauf bedacht sein, seine Ignoranz zu verbergen. Aber mit Hilfe einer gewissen Umsicht würde er in einigen Tagen viel gelernt haben. Als erstes aber mußte er sich wie ein Meinungsforscher kleiden. Das schien das wichtigste. Ärgerlich war nur, daß er kein Geld besaß. Die Gruppe hatte sich nicht in der Lage gesehen, auf der Erde gebräuchliches Geld herzustellen: niemand konnte sich daran erinnern, wie es aussah. Aber statt dessen hatten sie ihm einige andere wertvolle Dinge mitgegeben. Barrent ging auf das nächste Bekleidungsgeschäft zu. Der Inhaber war ein kleiner Mann mit porzellanblauen Augen und dem routinemäßigen Lächeln eines Verkäufers. Er begrüßte Barrent und fragte ihn nach seinen Wünschen. »Ich benötige die Kleidung eines Meinungsforschers«, sagte Barrent. »Ich habe gerade meine Ausbildung abgeschlossen.« »Selbstverständlich, mein Herr. Da sind Sie bei mir gerade richtig. Die meisten kleinen Geschäfte führen nur die mehr – eh – einfacheren Berufskleidungen. Aber hier bei uns finden Sie Fertigware für alle fünfhundertundzwanzig Hauptberufe, die der Zivile Almanach aufführt. Ich bin Jules Wonderson.« »Es ist mir ein Vergnügen«, antwortete Barrent. »Haben Sie einen Maßanzug von meiner Größe?« »Sicherlich«, antwortete Wonderson: »Möchten Sie die normale Ausführung oder die spezielle?« »Die normale genügt mir fürs erste.« »Die meisten neuen Meinungsforscher ziehen allerdings die Spezialausführung vor«, wandte Wonderson ein. »Die kleinen, extra angebrachten, wie mit der Hand gearbeiteten Details erhöhen den Respekt der Leute.«
»In diesem Fall nehme ich die Sonderausführung.« »Jawohl. Wenn Sie aber noch ein, zwei Tage warten wollten, dann bekommen wir nämlich ein neues Fabrikat herein. Ein Gewebe, das wie Handarbeit aussieht, mit natürlichen Webfehlern darin. Zur besonderen Unterscheidung des Ranges. Ein wirklicher Prestigeartikel.« »Vielleicht komme ich deswegen später noch mal wieder«, sagte Barrent. »Im Augenblick benötige ich einen fertigen Anzug.« »Natürlich«, antwortete Wonderson etwas enttäuscht, was er aber zu verbergen suchte. »Wenn Sie einen ganz kleinen Moment warten wollen…« Nach mehreren Anproben steckte Barrent in einem schwarzen Anzug, dessen Rockaufschläge mit einem schmalen weißen Saum eingefaßt waren. Für ihn sah dieser Anzug nicht ein bißchen anders aus als die vielen anderen, die Wonderson noch auf Lager hatte, die für Bankiers, Börsenmakler, Kontoristen, Gemüsehändler und so weiter. Aber für Wonderson, der angeregt über den Saum eines Bankiers sprach und über den Faltenwurf beim Versicherungsagenten, traten die Unterschiede so klar zutage wie für einen Einwohner von Omega die verschiedenen Symbole der Rangstufen. Barrent vermutete, daß es eine Folge des langen Trainings war. »Hier, mein Herr!« sagte Wonderson. »Eine perfekte Ausstattung, mit einer lebenslänglichen Garantie. Alles zusammen für neununddreißigfünfundneunzig.« – »Ausgezeichnet!« antwortete Barrent. »Was das Geld anbetrifft –« »Ja?« Barrent wagte das Risiko. »Ich besitze keins.« »Nicht? Aber das ist höchst ungewöhnlich.« »Ja, in der Tat«, stimmte Barrent zu. »Aber ich habe einige Gegenstände von gewissem Wert.« Er zog einen Ring mit drei Diamanten, den ihm Gruppe Zwei mitgegeben hatte. »Das sind echte Diamanten, die jeder Juwelier gern annehmen wird. Wenn Sie einen nehmen wollen, bis ich das Geld zur Bezahlung –« »Aber, mein Herr«, unterbrach ihn Wonderson. »Diamanten besitzen keinen Wert mehr! Nicht mehr seit dem Jahr 23, als Von Blon seine entscheidende Arbeit schrieb, die die Illusion des Mangelwerts zerstörte.«
»Ach, ja«, antwortete Barrent, da ihm nichts anderes einfiel. Wonderson blickte auf die Ringe. »Ich nehme an, daß diese hier vielleicht einen sentimentalen Wert besitzen.« »Das stimmt. Seit Generationen sind sie in unserem Familienbesitz.« »Aber dann will ich sie Ihnen wirklich nicht abnehmen«, wehrte Wonderson ab. »Bitte, keine Argumente! Gefühle sind die kostbarsten aller Besitztümer. Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich nur eines dieser Familienerbstücke von Ihnen annehmen würde.« »Aber wie soll ich denn sonst bezahlen?« »Zahlen Sie, wann es Ihnen beliebt.« »Sie wollen sagen, Sie vertrauen mir, obgleich Sie mich gar nicht kennen?« »Aber ganz gewiß doch«, antwortete Wonderson. Er lächelte schelmisch. »Sie probieren wohl eine Ihrer Interview-Methoden aus, was? Nun, selbst ein Kind weiß doch, daß sich unsere Zivilisation auf Vertrauen aufbaut. Es ist ein Grundsatz, jedem Fremden zu vertrauen, bis er unmißverständlich bewiesen hat, daß er dieses Vertrauen nicht verdient.« »Sind Sie denn noch nie betrogen worden?« »Natürlich nicht. Heutzutage ist das Verbrechen nicht existent.« »Und wie erklären Sie sich dann Omega?« fragte Barrent. »Was meinen Sie?« »Omega, den Gefangenenplanet. Sie haben sicher davon gehört.« »Ich glaube, ja«, antwortete Wonderson vorsichtig. »Vielleicht hätte ich besser sagen sollen, daß es fast keine Verbrecher mehr gibt. Ich schätze, ein paar Typen, die von Geburt an verbrecherisch veranlagt sind, gibt es immer. Aber die kann man leicht als solche erkennen. Im übrigen sollen es nicht mehr als zehn oder zwölf im Jahr sein – bei einer Bevölkerung von beinahe zwei Milliarden.« Er setzte ein breites Grinsen auf. »Meine Chance, einem zu begegnen, ist außerordentlich gering.« Barrent mußte an das Gefangenenschiff denken, das beständig zwischen Omega und der Erde hin- und herfuhr, seine menschliche Fracht auslud und unermüdlich neue herbeischaffte. Er fragte sich,
woher Wonderson seine Statistiken bezog. Und noch mehr wunderte er sich darüber, wo die Polizei steckte. Seit er das Raumschiff verlassen hatte, war ihm keine einzige Militäruniform begegnet. Er hätte gern danach gefragt, aber es schien ihm klüger, dieses Thema abzubrechen. »Vielen Dank für den Kredit«, sagte er statt dessen. »Ich werde so bald als möglich mit dem Geld wiederkommen.« »Natürlich«, antwortete Wonderson und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Aber lassen Sie sich ruhig Zeit. Es eilt ja nicht.« Barrent dankte ihm noch einmal und verließ den Laden. Jetzt hatte er einen Beruf. Und wenn die anderen Leute genauso dachten wie Wonderson, hatte er auch unbegrenzten Kredit. Er befand sich auf einem Planeten, der dem ersten Eindruck nach eine Utopie zu sein schien. Allerdings wies diese Utopie auch gewisse Widersprüche auf. Er hoffte, in den nächsten Tagen mehr darüber zu erfahren. Einen Häuserblock weiter entfernt fand er ein Hotel. Er mietete sich ein Zimmer für eine Woche – auf Kredit.
26 Am Morgen darauf fragte sich Barrent zu der nächstgelegenen Zweigstelle der öffentlichen Bibliothek durch. Er brauchte historische Informationen. Wenn er die Entwicklung der Zivilisation auf der Erde kannte, konnte er sich bessere Vorstellungen davon machen, was ihn erwartete und worauf er achtgeben mußte. Die Kleidung eines Meinungsforschers, die er jetzt trug, gewährte ihm Zutritt zu den sonst nicht zugänglichen Büchergestellen; wo die Geschichtsbücher aufbewahrt wurden. Aber die Bücher selbst enttäuschten ihn. Die meisten behandelten die alte Geschichte, von den urzeitlichen Anfängen bis zum Aufkommen der Atomkraft. Flüchtig blätterte er sie durch. Während des Lesens erinnerte er sich an verschiedene Dinge, die er früher einmal gewußt haben mußte, und daher konnte er schnell von den alten Griechen über das Römische Reich, Karl den Großen, das Mittelalter, die Normannenkriege bis zum Dreißigjährigen Krieg überwechseln; danach überflog er kurz die Napoleonische Ära. Sorgfältiger studierte er die Weltkriege. Das Buch
endete mit der Explosion der ersten Atombombe. Die anderen Bücher auf dem Regal enthielten nur ergänzende Bemerkungen zu den verschiedenen Stadien, die er schon kennengelernt hatte. Nach längerem Suchen fand Barrent ein dünnes Werk mit dem Titel ›Das Nachkriegs-Dilemma, Teil 1‹ von Arthur Whittler. Es begann dort, wo die Geschichtsbücher aufgehört hatten, mit den Explosionen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Barrent setzte sich und begann mit einem sorgfältigen Studium. Er erfuhr von dem Kalten Krieg der Jahre um 1950, in denen mehrere Nationen im Besitz von Wasserstoffbomben waren. Schon damals, so schrieb der Autor, existierten die Ursprünge einer massiven und lächerlichen Übereinstimmung in den Nationen der Welt. In Amerika herrschte eine wahnwitzige Furcht vor dem Kommunismus. In Rußland und China wiederum herrschte eine wahnwitzige Furcht vor dem Kapitalismus. Eine neutrale Nation nach der anderen wurde entweder ins eine oder ins andere Lager gezogen. Zum Zweck der inneren Sicherheit bedienten sich alle Länder raffinierter Propagandamethoden. Jedes Land glaubte, eine starre Anlehnung an bereits erprobte Doktrinen beibehalten zu müssen, um überleben zu können. Der Druck auf das Individuum, sich der Norm anzupassen, wurde härter und tückischer. Die Gefahren des Krieges waren vorüber. Die vielen Gesellschaften der Erde begannen allmählich in einen einzigen Superstaat zusammenzufließen. Aber der Zwang zur Anpassung wurde immer größer, anstatt nachzulassen. Diese Notwendigkeit hatte ihren Ursprung in der ständig anwachsenden Bevölkerungszahl und in den vielen Problemen der Vereinheitlichung über nationale und ethnische Grenzen hinweg. Unterschiedliche Meinungen konnten äußerst gefährlich sein; zu viele Gruppen hatten jetzt schon Zugang zu den tödlichen Wasserstoffbomben. Unter diesen Umständen konnte ein abweichendes Benehmen nicht geduldet werden. Endlich erreichte man den großen Zusammenschluß. Die Eroberung des Weltraums ging weiter, von der Mondrakete über den Planetenraumer zum Sternenschiff. Aber die Institutionen der Erde erstarrten immer mehr. Eine Zivilisation, die noch unbeweglicher war als die des europäischen Mittelalters, bestrafte jede Opposition gegen
bestehende Gebräuche, Traditionen und Glaubensregeln. Die Verletzung der sozialen Grundregeln wurde als großes Verbrechen betrachtet, genauso schwer wie Mord oder Totschlag. Und genauso wurde es auch bestraft. Dazu wurden konsequent sämtliche antiquierten Einrichtungen wie Geheimpolizei, Staatspolizei, Spitzel und dergleichen benutzt. Jedes mögliche Mittel wurde für das an Wichtigkeit alles übertreffende Ziel der Vereinheitlichung angewandt. Für die Nonkonformisten gab es Omega. Die Todesstrafe war schon lange vorher abgeschafft, aber man besaß weder genug Platz noch Mittel, um mit der ständig anwachsenden Verbrecherzahl fertig zu werden, die die Gefängnisse überall überforderte. Endlich entschlossen sich die Führer der Welt dazu, die Verbrecher auf eine abgeschiedene Gefangenenwelt zu deportieren, eine Methode, die die Franzosen in Guayana und Neu-Kaledonien und die Engländer in Australien und noch früher auch in Nordamerika angewandt hatten. Da es ganz unmöglich schien, Omega von der Erde aus zu regieren, machten die Behörden gar nicht erst den Versuch. Sie vergewisserten sich nur, daß keiner der Gefangenen entfliehen konnte. Das war das Ende von Band 1. Eine Notiz am Schluß kündigte an, daß der zweite Band eine Studie über die zeitgenössische Erde enthalten würde. Er sollte den Titel »Der Zustand der Zivilisation« tragen. Dieser zweite Band befand sich nicht im Regal. Barrent fragte den Bibliothekar danach und erhielt die Auskunft, daß er im Interesse der öffentlichen Sicherheit vernichtet worden war. Barrent verließ die Bibliothek und ging in den kleinen Park. Er ließ sich auf einer Bank nieder, starrte vor sich hin und dachte angestrengt nach. Er hatte erwartet, eine Erde zu finden, wie sie in dem Buch von Whittler beschrieben war. Er war auf einen Polizeistaat vorbereitet gewesen, auf strenge Sicherheitsmaßnahmen, eine unterdrückte Bevölkerung und eine ständig wachsende Atmosphäre von Unruhe. Aber das gehörte anscheinend der Vergangenheit an. Bis jetzt hatte er noch nicht einen einzigen Polizisten gesehen. Keine Sicherheitsmaßnahmen schienen getroffen zu sein, und die Menschen, denen er begegnet war, sahen nicht im mindesten bedrückt aus. Ganz im Gegenteil. Dies schien eine völlig andere Welt… Außer daß Jahr für Jahr die Raumschiffe nach Omega flogen, mit ihren Ladungen Gefangener, denen man die Erinnerung geraubt hatte. Wer
verhaftete sie? Wer verurteilte sie? Was für eine Gesellschaft brachte sie hervor? Die Antworten auf diese Fragen mußte er selbst herausfinden.
27 Früh am nächsten Morgen begann Barrent mit seinen Nachforschungen. Seine Methode war einfach. Er klingelte an Haustüren und stellte Fragen. Er warnte alle seine Opfer davor, daß seine Fragen mit Tricks oder Unsinn durchsetzt sein könnten, dessen Zweck es war, die allgemeine Bewußtseinsbasis zu testen. Auf diese Weise, fand Barrent, konnte er überhaupt alles über die Erde erfragen, konnte widerstreitende Meinungen vernehmen, und das alles, ohne sich selbst eine Blöße zu geben. Allerdings bestand noch immer die Gefahr, daß irgendein Beamter seine Ausweise zu sehen wünschte oder daß letzten Endes doch noch die Polizei auftauchte, wenn er sie am wenigsten erwartete. Aber dieses Risiko mußte er eingehen. Von der Orange Esplanade ausgehend, bewegte sich Barrent nordwärts und machte bei jedem Haus halt. Die Ergebnisse waren recht unterschiedlich, wie ein ausgewähltes Beispiel seiner Arbeit zeigt: (Bürgerin A. L. Gotthreid, Alter 55, Beruf: Haushälterin. Eine starke Frau, die sich sehr aufrecht hielt, höflich, ohne viel Humor.) »Sie möchten meine Meinung über Klassen und Stände hören? Habe ich Sie richtig verstanden?« »Jawohl.« »Ihr Meinungsforscher wollt immer alles mögliche über Klassen und Stände wissen. Man sollte meinen, daß ihr inzwischen schon alles erfahren habt, was es darüber zu erfahren gibt. Aber meinetwegen. Heutzutage gibt es nur noch eine Klasse, da alle gleich sind. Nämlich die Mittelklasse. Dann bleibt also nur noch die eine Frage, zu welchem Teil der Mittelklasse man gehört. Zu dem oberen, dem mittleren oder dem unteren.«
»Und wonach richtet sich das?« »Nach allen möglichen Dingen. Nach der Art, wie jemand ißt, spricht, sich kleidet, wie man sich in der Öffentlichkeit benimmt. Nach dem Auftreten. Nach der Kleidung. Man kann einen Angehörigen der oberen Mittelklasse immer an seiner Kleidung erkennen. Ein Irrtum ist da ausgeschlossen.« »Ich verstehe. Und die untere Mittelklasse?« »Erstens einmal fehlt denen, die ihr angehören, eine gewisse schöpferische Energie. Zum Beispiel tragen sie Fertigkleidung, ohne sich die Mühe zu machen, diese auf irgendeine Weise zu verschönern. Das gleiche trifft bei ihren Häusern zu. Einfache, phantasielose Verzierungen tun’s eben nicht, das möchte ich hier sagen. Solche Leute empfängt man nicht bei sich zu Hause.« »Vielen Dank, Bürgerin Gotthreid. Und in welche Rangstufe würden Sie sich einreihen?« (Mit einem ganz geringen Zögern:) »Oh! Darüber habe ich mir eigentlich noch nie Gedanken gemacht – obere Mittelklasse, glaube ich.« (Bürger Dreister, Alter 43, Beruf: Schuhverkäufer. Ein schlanker, ruhiger Mann, für sein Alter jung aussehend.) »Ja, Sir. Myra und ich haben drei schulpflichtige Kinder. Alles Jungen.« »Können Sie mir in etwa sagen, worin ihre Schulausbildung besteht?« »Sie lernen lesen und schreiben und gute Bürger zu werden. Schon jetzt bereiten sie sich auf einen Beruf vor. Der Älteste übernimmt einmal mein Geschäft – die Schuhe. Die andern beiden gehen bei einem Gemüsehändler und in einem Kurzwarengeschäft in die Lehre. Aus dieser Branche stammt die Familie meiner Frau. Sie lernen auch ihren Stand zu bewahren und die allgemeinen Methoden, um sich im Gesellschaftssystem nach oben zu arbeiten. Das ist das wichtigste, was sie in den öffentlich zugänglichen Schulklassen lernen.« »Und gibt es denn auch andere Klassen, die nicht öffentlich sind?« »Ja, natürlich gibt es noch die geheimen Klassen. Jedes Kind nimmt daran teil.«
»Und was lernen sie in den geheimen Unterrichtsstunden?« »Das weiß ich nicht. Sie sind geheim, wie ich schon sagte.« »Sprechen denn die Kinder nie darüber?« »Nein, sie reden über alles mögliche, aber nicht darüber.« »Haben Sie denn gar keine Ahnung, was in den geheimen Klassen vor sich geht?« »Tut mir leid. Aber das weiß ich wirklich nicht. Wenn ich es erraten sollte – aber das ist wirklich nur eine ganz persönliche Meinung –, dann würde ich sagen, es ist etwas Religiöses. Aber da müssen Sie schon einen Lehrer fragen.« »Vielen Dank. Und in welche Rangstufe würden Sie sich selbst einreihen?« »Mittlere Mittelklasse. Daran besteht gar kein Zweifel.« (Bürgerin Maryjane Morgan, Alter 51, Beruf: Lehrerin. Eine große, knochige Frau.) »Ja, Sir. Ich glaube, das ist so im großen und ganzen unser Lehrplan an der Little-Beige-Schule.« »Außer den geheimen Klassen.« »Wie bitte?« »Die geheimen Klassen. Von denen haben Sie noch gar nichts erwähnt.« »Das kann ich leider auch nicht.« »Und warum nicht, Bürgerin Morgan?« »Ist das eine Fangfrage? Jeder weiß doch nur zu gut, daß an den geheimen Klassen keine Lehrer teilnehmen dürfen.« »Wer darf dann an ihnen teilnehmen?« »Die Kinder natürlich!« »Aber wer unterrichtet sie?« »Darüber führt die Regierung Aufsicht.« »Natürlich. Aber wer unterrichtet denn in den geheimen Klassen?«
»Ich habe keine Ahnung. Und es geht mich auch nichts an. Die geheimen Klassen sind eine uralte und angesehene Institution. Was in ihnen vorgeht, hat höchstwahrscheinlich religiösen Charakter. Aber das ist nur eine Annahme von mir. Was immer es auch sein mag, mich geht es nichts an. Und Sie auch nicht, junger Mann, ganz gleich, ob Sie Meinungsforscher sind oder nicht.« »Vielen Dank, Bürgerin Morgan.« (Bürger Edgar Nief, Alter 107, Beruf: Pensionierter Offizier. Ein großer, leicht gebückter Mann mit scharfen, eiskalten blauen Augen, die vom Alter noch nicht getrübt sind.) »Ein bißchen lauter, bitte. Wie war die Frage?« »Über die militärischen Streitkräfte. Im besonderen fragte ich –« »Ich erinnere mich wieder. Ja, junger Mann, ich war Oberst im 21. nordamerikanischen Raumfahrt-Kommando. Das war eine reguläre Einheit der Verteidigungs-Corps der Erde.« »Und haben Sie sich dann vom Dienst zurückgezogen?« »Nein, der Dienst hat sich von mir zurückgezogen.« »Wie bitte?« »Sie haben mich richtig verstanden, junger Mann. Das war vor dreiundsechzig Jahren. Die Streitkräfte der Erde wurden demobilisiert, ausgenommen die Polizei, die ich aber nicht mitrechnen kann. Aber alle regulären Truppen wurden aufgelöst.« »Und warum hat man das getan, Sir?« »Es gab niemanden, gegen den man hätte kämpfen können. Es gab noch nicht einmal jemand, vor dem man sich hätte hüten müssen, wie man mir sagte. Verdammte Narrheit, das ist meine Meinung.« »Könnten die Streitkräfte denn nicht wieder gebildet werden?« »Selbstverständlich. Aber die gegenwärtige Generation eignet sich nicht zum Dienst unter den Waffen. Es gibt keine Führerpersönlichkeiten mehr, vielleicht noch einige wenige nutzlose alte Knaben wie mich. Das würde Jahre dauern, bis sich wieder eine wirksame, gut geführte Streitkraft gebildet hätte.«
»Und bis dahin ist die Erde völlig schutzlos gegenüber einer eventuellen Invasion von außen her?« »Ja, die gesamte Schutzpflicht obliegt den Polizeieinheiten. Und deren Fähigkeit unter Feuerschuß bezweifle ich, offen gestanden.« »Könnten Sie mir Näheres über die Polizei erzählen?« »Ich weiß nichts darüber. Ich habe mich nie in meinem Leben um nicht-militärische Angelegenheiten gekümmert.« »Aber es wäre doch denkbar, daß die Polizei jetzt die Funktion einer Armee übernommen hat, nicht wahr?« »Das ist schon möglich. Alles ist möglich.« (Bürger Moertin Honners, Alter 31, Beruf: Wortformer. Ein schlanker, schwächlicher Mann mit ernstem, jungenhaftem Gesicht und weichem strohgelbem Haar.) »Sie sind ein Wortformer, Bürger Honners?« »Ja, Sir. Allerdings trifft ›Autor‹ wohl besser zu, wenn Sie nichts dagegen haben.« – »Aber selbstverständlich nicht. Bürger Honners, schreiben Sie zur Zeit für irgendeine der Zeitschriften, die in den Verkaufsständen ausliegen?« »Aber nein! Die werden von diesen phantasielosen Schreiberlingen für die zweifelhaften Schriften verfaßt, wie sie die untere Mittelklasse bevorzugt. Die Stories, falls Sie das nicht wissen sollten, werden Zeile um Zeile aus den Werken der verschiedensten bekannten Schriftsteller des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts zusammengebastelt. Die Leute, die diese Arbeit verrichten, setzen lediglich Adjektive und Adverbien ein. Gelegentlich soll sich ein mutiger Schreiberling sogar daran wagen, ein Verb oder ein Substantiv auszuwechseln, habe ich gehört. Aber das kommt nicht oft vor.« »Und Sie selbst beschäftigen sich nicht mit diesen Dingen?« »Ganz und gar nicht! Meine Arbeit dient nicht kommerziellen Zwecken. Ich bin ein schöpferischer Conrad-Spezialist.« »Können Sie mir bitte erklären, was das ist, Bürger Honners?«
»Gern. Meine besonderen Bemühungen befassen sich mit der Neuschöpfung der Arbeiten von Joseph Conrad, einem Autor, der in der voratomaren Zeit lebte.« »Und wie gestalten Sie diese Neuschöpfung der Werke?« »Nun, im Augenblick beschäftige ich mich mit der fünften Neufassung von Lord Jim. Um das zu tun, vertiefe ich mich so sorgfältig als möglich in die Originalarbeit. Dann mache ich mich daran, sie so umzudichten, wie Conrad es getan hätte, wenn er heute noch lebte. Es ist eine Beschäftigung, die viel Fleiß und ein höchstes Maß an künstlerischem Einfühlungsvermögen verlangt. Ein einziger Fehler kann die ganze Neufassung verderben. Wie Sie sich vorstellen können, bedarf das einer meisterhaften Beherrschung von Conrads Vokabular, Themenstellung, Aufbau, Charakteren, Ausdruck und so weiter. All dies wird mit verarbeitet, und doch darf das Buch nicht einer sklavischen Wiederholung gleichen. Es muß etwas Neues aussagen, gerade so, wie Conrad es ausgesagt haben würde.« »Und haben Sie damit Erfolg gehabt?« »Die Kritiker haben sich sehr wohlwollend ausgedrückt, und mein Verleger ermutigt mich stets von neuem.« »Wenn Sie Ihre fünfte Neuschöpfung von Lord Jim fertig verfaßt haben – was beabsichtigen Sie dann zu tun?« »Zuerst werde ich mich einmal gut erholen und lange Ferien machen. Dann werde ich eines von Conrads weniger großen Werken neuschöpfen. Der Pflanzer von Malata vielleicht.« »Aha. Ist die Neuschöpfung bei allen Kunstarten üblich?« »Es ist das Ziel eines jeden ehrgeizigen Künstlers, ganz gleich, welches Medium er verwendet. Die Kunst ist eine grausame Geliebte, fürchte ich.« (Bürger Willis Ouerka, Alter 8, Beruf: Schüler. Ein fröhlicher sonnengebräunter Junge mit schwarzem Haar.) »Es tut mir leid, Herr Meinungsforscher, aber meine Eltern sind gerade nicht zu Hause.«
»Das macht nichts, Willis. Macht es dir was aus, wenn ich dir ein paar Fragen stelle?« »Nein. Was haben Sie da unter der Jacke, Mister? Sie beult sich ja aus.« »Ich werde hier die Fragen stellen, Willis, ja?… Nun, als erstes, gehst du gern in die Schule?« »Man muß eben.« »Welche Fächer hast du?« »Lesen, schreiben und Klassenbewußtsein. Und dann noch Stunden in Musik, Kunst, Architektur, Literatur, Ballett- und Theaterwissenschaft. Das übliche Zeug.« »Ich verstehe. Das sind die offenen Klassen, nicht wahr?« »Ja.« »Besuchst du auch die geheimen Klassen?« »Natürlich. Jeden Tag.« »Würdest du mir auch darüber etwas erzählen?« »Gern. Ist diese Ausbeulung eine Pistole? Ich kenne sie. Vor ein paar Tagen haben ein paar von den großen Jungens beim Mittagessen Bilder von Pistolen herumgereicht, da habe ich sie mir genau angesehen. Ist das eine Pistole?« »Nein. Mein Anzug sitzt nicht gut, weiter nichts. Aber würdest du erzählen, was in den geheimen Klassen vor sich geht?« »Gern.« »Na – was geschieht da?« »Ich kann mich nicht erinnern.« »Na, na, Willis.« »Wirklich, ich weiß es nicht. Wir gehen alle in die Klassenzimmer, und nach einer Stunde kommen wir wieder heraus und haben Pause. Das ist alles. An mehr erinnere ich mich nicht. Ich habe mit den anderen Jungens darüber gesprochen. Niemand weiß, was wirklich los ist.« »Seltsam…« »Nein, das finde ich nicht. Wenn wir uns daran erinnern sollten, dann wäre es doch nicht geheim.«
»Vielleicht hast du recht. Kannst du mir wenigstens sagen, wie das Klassenzimmer aussieht oder wer euer Lehrer in den geheimen Klassen ist?« »Nein. Ich erinnere mich wirklich an gar nichts.« »Ich danke dir, Willis.« (Bürger Cuchulain Dent, Alter 37, Beruf: Erfinder. Ein früh gealterter Mann mit einer Glatze und ironisch blickenden, mit schweren Lidern verhangenen Augen.) »Jawohl, stimmt genau. Ich bin ein Erfinder von Spielen. Ich habe zum Beispiel das ›Triangulieren‹ herausgebracht und ›Was noch‹! Das war im letzten Jahr. Es ist ziemlich beliebt. Haben Sie es schon gesehen?« »Leider nicht.« »Eine nette Sache! Man simuliert Verirrtsein im Raum. Die Spieler erhalten unvollständige Daten für ihre Miniatur-Automaten, und wenn sie gewinnen, zusätzliche Informationen. Raumhazard als Strafe. Eine Menge Blitze und dergleichen. Ein wirklicher Verkaufsschlager.« »Erfinden Sie auch noch andere Dinge, Bürger Dent?« »Als Kind habe ich einmal eine verbesserte Sä- und Ernte-Maschine gebaut. Sie war so konstruiert, daß sie ungefähr dreimal so gut arbeitete wie das gegenwärtige Modell. Und denken Sie sich nur – ich glaubte wirklich, sie verkaufen zu können!« »Und – haben Sie sie verkauft?« »Natürlich nicht. Damals wußte ich noch nicht, daß das Patentamt auf immer geschlossen war – außer jenes der Spielabteilung.« »Haben Sie sich darüber geärgert?« »Ein bißchen schon – im ersten Moment. Aber bald kam ich darauf, daß die Modelle, die wir zur Zeit benutzen, ausreichen. Es besteht kein Bedarf an noch leistungsstärkeren und besseren Erfindungen. Die Leute begnügen sich heutzutage mit dem, was sie haben. Außerdem würden neue Erfindungen der Menschheit keinen großen Dienst erweisen. Die Geburten- und Sterbequote der Erde ist stabil, und für jeden ist gesorgt. Um eine neue Erfindung zu produzieren, müßte man eine völlig neue Industrie aufziehen. Das ist beinahe unmöglich, da heute alle Fabriken
automatisch arbeiten und sich selbst reparieren. Aus diesem Grund sind Erfindungen überflüssig, außer auf dem ewig jungen Gebiet der Spiele.« »Und was denken Sie darüber?« »Was sollte ich schon darüber denken? So liegen die Dinge nun einmal.« »Würden Sie es gern sehen, wenn das anders wäre?« »Vielleicht. Aber wegen meines Berufs als Erfinder klassifiziert man mich sowieso schon als einen potentiell labilen Charakter.« (Bürger Barn Threnten, Alter 41, Beruf: Atomwissenschaftler, speziell für Raumfahrzeuge. Ein nervöser, intelligent aussehender Mann mit traurigen braunen Augen.) »Sie wollen wissen, was ich arbeite? Diese Frage beantworte ich nicht gern, Bürger, denn ich beschäftige mich mit nichts anderem, als in der Fabrik herumzulaufen. Die Union schreibt für jeden Roboter oder jede automatisierte Operation die Gegenwart eines Menschen vor. Der bin ich. Ich stehe daneben und schaue zu.« – »Sie scheinen unzufrieden zu sein, Bürger Threnten.« »Das bin ich auch. Ich wollte Atomingenieur werden. Ich habe mich darin ausgebildet. Dann, als ich meine Prüfungen abgelegt hatte, stellte ich fest, daß mein Wissen um fünfzig Jahre veraltet war. Völlig überholt. Und selbst wenn ich jetzt erneut lernen wollte, um zu verstehen, was sich gegenwärtig abspielt, so könnte ich mein Wissen doch nirgends anwenden.« »Warum nicht?« »Weil in den Atomwissenschaften alles automatisiert ist. Ich weiß nicht, ob das viele Leute wissen, aber es ist wahr. Vom Rohmaterial bis zum Endprodukt ist alles völlig automatisiert. Das einzige, was der Mensch dazu beiträgt, ist die Mengenkontrolle in Form von Bevölkerungsziffern. Aber selbst das ist ganz minimal.« »Was passiert, wenn ein Teil der automatischen Fabrik zusammenbricht?« »Robot-Reparatureinheiten setzen ihn wieder in Funktion.«
»Und wenn die nicht mehr funktionieren?« »Diese verdammten Dinger reparieren sich selbst. Ich brauche nur daneben zu stehen und zuzusehen und den Bericht zu schreiben. Das ist eine lächerliche Position für einen Mann, der sich als Ingenieur betrachtet.« »Warum wenden Sie sich nicht einem anderen Zweig zu?« »Das hat gar keinen Sinn. Ich habe mich erkundigt: Alle anderen Ingenieure sind in der gleichen Lage wie ich. Sie stehen da und schauen Dingen zu, die sie nicht verstehen. Ganz egal, ob das nun Nahrungsmittelherstellung, Autoproduktion oder sonst etwas ist. Entweder ein Ingenieur, der zuschaut, oder gar keiner.« »Trifft das auch beim Raumflug zu?« »Natürlich. Kein einziges Mitglied der Raumpiloten-Union hat die Erde in den letzten fünfzig Jahren verlassen. Sie wüßten nicht einmal, wie man ein Schiff bedient.« »Ich verstehe. Alle Schiffe sind auf automatische Steuerung umgestellt.« »Genau. Endgültig und fehlerlos automatisch.« »Was geschieht, wenn diese Schiffe in unvorhergesehene Situationen geraten?« »Das ist schwer zu sagen. Die Schiffe können nicht denken, wissen Sie. Sie folgen einfach vorherberechneten Programmen. Wahrscheinlich würden sie paralysiert werden – jedenfalls vorübergehend. Ich glaube, sie besitzen einen Optimum-Wahl-Ausleser, der strukturlose Situationen regeln soll; aber das ist nie getestet worden. Bestenfalls würden sie träge reagieren; schlimmstenfalls überhaupt nicht. Und das käme mir gerade recht.« »Meinen Sie das wirklich ernst?« »Absolut ernst. Ich habe es satt, herumzustehen und Tag für Tag eine Maschine das gleiche tun zu sehen. Die meisten Professionellen, die ich kenne, fühlen wie ich. Wir wollen etwas tun. Irgend etwas – ganz gleich, was. Wußten Sie, daß noch vor hundert Jahren Raumschiffe mit menschlichen Piloten die Planeten in anderen Solarsystemen erforschten?«
»Ja.« »Nun, das sollten wir heute auch tun. Uns nach außen hin bewegen, forschen, weiterentwickeln. Das brauchen wir.« »Da stimme ich Ihnen zu. Aber glauben Sie nicht, daß Sie ziemlich gefährliche Dinge aussprechen?« »Dessen bin ich mir bewußt. Aber offen gestanden, ich kümmere mich nicht mehr darum. Sollen sie mich doch nach Omega verfrachten, wenn sie wollen. Hier tauge ich doch zu nichts.« »Dann haben Sie also von Omega gehört?« »Jeder, der mit Raumschiffen zu tun hat, weiß über Omega Bescheid. Rundflüge zwischen Omega und der Erde, das ist das einzige, was unsere Schiffe heute noch tun. Es ist eine schreckliche Welt. Ich persönlich gebe dem Klerus die Schuld dafür.« »Dem Klerus?« »Absolut richtig. Diese scheinheiligen Idioten mit ihrem endlosen Gefasel über die Kirche des Geistes der zu Fleisch gewordenen Menschheit. Das genügt schon, in einem den Wunsch nach etwas Bösem aufkommen zu lassen…« (Bürger Pater Boeren, Alter 51, Beruf: Geistlicher. Ein stattlicher, dicker Mann in einem safrangelben Talar, mit weißen Sandalen.) »Ganz recht, mein Sohn, ich bin der Abt der örtlichen Niederlassung der Kirche des Geistes der zu Fleisch gewordenen Menschheit. Unsere Kirche stellt den offiziellen und einzigen religiösen Ausdruck der Regierung der Erde dar. Unsere Religion spricht für alle Menschen der Erde. Sie ist eine Komposition der Weisheiten aller früheren Religionen, der großen und kleinen, zusammengefaßt in einem allesumfassenden Glauben.« »Bürger Abt, muß es nicht unter den verschiedenen Religionen, aus denen sich Ihr Glauben zusammensetzt, Gegensätze in dogmatischen Fragen geben?« »Früher einmal, mein Sohn. Aber die Gründer unserer gegenwärtigen Kirche haben alle Gegensätze ausgemerzt. Wir wollten Übereinstimmung, nicht Uneinigkeit. Wir haben nur farbenprächtige
Facetten jener alten Religionen beibehalten; Facetten, mit denen sich die Leute identifizieren können. In unserer Religion hat es nie eine Spaltung gegeben, denn wir akzeptieren alles. Man darf glauben, was man will, solange dies den heiligen Geist der zu Fleisch gewordenen Menschheit erhält. Denn unsere Verehrung, müssen Sie wissen, ist die wahre Verehrung des Menschen. Und der Geist, den wir erkennen, ist der Geist des göttlichen und heiligen Guten.« »Würden Sie das Gute, bitte, für mich definieren, Bürger Abt?« »Gewiß. Das Gute ist die Macht in uns, die den Menschen dazu anhält, in Gleichheit und Gehorsam zu leben und zu handeln. Die Verehrung des Guten ist somit grundsätzlich die Verehrung des eigenen Ich, und deshalb auch die einzige wahre Verehrung. Das Ich, das man verehrt, ist das ideale soziale Wesen: der Mensch, der mit seinem Platz in der Gesellschaft zufrieden ist und doch bereit, durch schöpferisches Handeln seinen Rang zu verbessern. Das Gute ist mild, da es eine echte Widerspiegelung des liebenden und mitleidigen Universums ist. Das Gute wechselt ständig seine Erscheinung, obgleich es zu uns kommt in… Sie schauen mich so seltsam an, junger Mann.« »Entschuldigen Sie, Bürger Abt. Ich glaube, ich habe diese Predigt schon gehört, oder jedenfalls eine, die ganz ähnlich war.« »Sie ist wahr, wo immer man sie auch hören mag.« »Natürlich. Aber noch eine andere Frage: Könnten Sie mir etwas über die religiöse Schulung von Kindern sagen?« »Diese Pflicht erfüllen die Robot-Beichtstühle.« – »Ja?« »Diese Einrichtung entspringt dem altverwurzelten Glauben des ›Transzendentalen Freudianismus‹. Der Robot-Beichtstuhl instruiert Kinder und Erwachsene. Er hört ihre Probleme an. Er ist ihr ständiger Freund, ihr sozialer Begleiter und Leiter, ihr religiöser Aufklärer. Da sie Roboter sind, können die Beichtväter auf alle Fragen exakte und stets gleiche Antworten geben. Das unterstützt das große Werk der Einheitlichkeit enorm.« »Das sehe ich ein. Und was tun die menschlichen Priester?« »Sie überwachen die Robot-Beichtväter.«
»Und sind diese Robot-Beichtväter beim geheimen Unterricht in den Schulen zugegen?« »Ich bin nicht kompetent dafür, diese Frage zu beantworten.« »Sie sind dabei, nicht wahr?« »Ich weiß es wirklich nicht. Die geheimen Klassen sind für die Äbte genausowenig zugänglich wie für andere Erwachsene.« »Auf wessen Verordnung hin?« »Auf Verordnung des Chefs der Geheimpolizei.« »Ich verstehe… Vielen Dank, Bürger Abt Boeren.« (Bürger Enyen Dravivian, Alter 43, Beruf: Regierungsangestellter. Ein hohlwangiger Mann mit schmalen Augen, über seine Jahre hinaus gealtert und müde.) »Guten Tag. Sie sagten, Sie sind bei der Regierung angestellt?« »Stimmt.« »Ist das die Staats- oder die Bundesregierung?« »Beides.« »Ach so. Und nehmen Sie diese Stellung schon lange ein?« »Genau achtzehn Jahre.« »Aha. Würden Sie so gut sein und mir sagen, was Ihre Aufgabe im besonderen ist?« »Aber gern. Ich bin der Chef der Geheimpolizei.« »Sie sind… Das ist sehr interessant. Ich –« »Lassen Sie die Finger von Ihrer Nadelstrahlwaffe, Ex-Bürger Barrent. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie in der ionisierten Luft in der Nähe dieses Hauses nicht funktionieren wird. Wenn Sie es aber trotzdem versuchen wollen, dann werden Sie sich verletzen.« »Wie denn?« »Ich habe meine eigenen Mittel zum persönlichen Schutz.« »Woher kennen Sie meinen Namen?« »Ich weiß über Sie Bescheid, fast direkt von dem Moment an, da Sie den Fuß auf die Erde setzten. Wir sind nicht völlig unwissend, müssen
Sie wissen. Aber das können wir ja alles drinnen besprechen. Möchten Sie nicht eintreten?« – »Lieber nicht.« »Ich fürchte, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Kommen Sie, Barrent, ich werde Sie schon nicht beißen.« »Bin ich verhaftet?« »Natürlich nicht. Wir werden uns nur ein wenig unterhalten.«
28 Dravivian führte ihn in einen großen, mit Walnußholz getäfelten Raum. Die Möbel waren aus schwerem schwarzem Holz geschnitzt, reich verziert und mit Firnis überzogen. Der Tisch, hoch und glatt, schien ein antikes Stück zu sein. Ein schwerer Wandteppich bedeckte die eine Wand. In verblichenen Farben zeigte er eine Jagdszene aus dem Mittelalter. »Gefällt er Ihnen?« fragte Dravivian. »Wir haben alles selbst gemacht. Meine Frau kopierte den Wandteppich von einem Original im MetropolMuseum. Meine beiden Söhne arbeiteten an den Möbeln. Sie wollten etwas Altes mit einem spanischen Anstrich, aber doch bequemer, als es die antiken Sachen sonst sind. Eine gewisse Vereinfachung der Linie erreicht das. Mein eigener kultureller Beitrag kommt nicht so gut zur Geltung. Meine Spezialität ist die barocke Musik.« »Neben der Polizeiarbeit«, sagte Barrent. »Ja«, antwortete Dravivian. Er wandte sich ab und musterte nachdenklich den Wandteppich. »Davon werden wir später sprechen. Sagen Sie mir zuerst, was Sie von diesem Zimmer halten?« »Es ist sehr schön«, sagte Barrent. »Ja. Und?« »Nun – ich bin kein Richter.« »Bitte urteilen Sie«, drängte er Barrent. »In diesem Zimmer können Sie die Zivilisation der Erde en miniature wiedererkennen. Sagen Sie mir, was Sie davon halten.«
»Es wirkt leblos«, sagte Barrent. Dravivian wandte sich wieder zu Barrent und lächelte. »Ja, das ist eine gute Bezeichnung dafür. Ich-bezogen wäre vielleicht noch treffender. Dies ist das Zimmer eines hohen Ranginhabers. Ein großer Teil des Schöpferischen widmet sich der künstlerischen Verbesserung alter Archetypen. Meine Familie hat ein bißchen von der spanischen Vergangenheit neu geschaffen, so wie andere sich der Vergangenheit der Maya, der Frühzeit Amerikas, der ozeanischen Kultur gewidmet haben. Und trotzdem tritt die grundsätzliche Leere deutlich zutage. Jahraus, jahrein produzieren die automatischen Fabriken die gleichen Güter für uns. Da jeder diese Güter erhält, wird es notwendig, sie zu verändern, zu verbessern, zu verschönern, uns durch sie auszudrücken, uns durch sie einzustufen. So ist die Erde heute, Barrent. Unsere Energie und unsere Fähigkeit sind auf dekadente Arbeiten und Beschäftigungen gerichtet. Wir schnitzen alte Möbelstücke nach, sorgen uns um Rang und Stellung, und in der Zwischenzeit bleiben die entfernten Planeten und Räume unerforscht und unbesiegt. Schon seit langem haben wir aufgehört, uns auszudehnen. Die Stabilität brachte auch die Gefahren der Stagnierung mit sich, der wir nun unterliegen. Wir wurden so stark sozialisiert, daß die Individualität auf die harmloseste aller Beschäftigungen abgelenkt werden mußte, nach innen gekehrt und von jedem bedeutungsvollen Ausdruck abgehalten wurde. Ich glaube, Sie haben ziemlich viel davon während Ihres Aufenthalts auf der Erde gesehen?« »Ja. Aber ich hätte nie erwartet, daß mir der Chef der Geheimpolizei diese Dinge sagen würde.« »Ich bin ein ungewöhnlicher Mann«, erklärte Dravivian mit spöttischem Lächeln. »Und die Geheimpolizei ist eine ungewöhnliche Institution.« »Sie muß sehr gut funktionieren. Auf welche Weise haben Sie mich entdeckt?« »Das war wirklich höchst einfach. Die meisten Leute auf der Erde sind von Kindheit an in Dingen der Sicherheit wohl ausgebildet. Das ist ein Teil unserer Erbschaft. Fast alle Menschen, mit denen Sie sprachen, konnten feststellen, daß mit Ihnen irgend etwas nicht stimmte. Sie waren
so offensichtlich fehl am Platz wie ein Wolf zwischen einer Schafherde. Die Leute bemerkten das und erstatteten mir sofort Bericht.« »Na, schön«, sagte Barrent. »Und nun?« »Zuerst möchte ich Sie bitten, mir von Omega zu erzählen.« Barrent berichtete dem Polizeichef über sein Leben auf dem Verbrecherplaneten. Dravivian nickte mit einem schwachen Lächeln. »Ja, das ist fast genauso, wie ich es erwartet hatte«, sagte er. »Das gleiche, was auf Omega passiert ist, geschah auch im alten Nordamerika und Australien. Natürlich gab es einige Unterschiede; vor allem sind sie völlig vom Mutterland abgeschnitten gewesen. Aber dahinter steckt die gleiche wilde Energie und der starke Zwang – und die gleiche Unbarmherzigkeit.« »Was werden Sie unternehmen?« fragte Barrent. Dravivian zuckte mit den Schultern. »Das spielt sowieso keine Rolle. Ich schätze, ich könnte Sie töten. Aber das würde Ihre Gruppe auf Omega nicht daran hindern, andere Spione zu schicken oder eines der Gefangenenschiffe zu kapern. Sobald die Bewohner von Omega mit Gewalt vorgehen, werden sie die Wahrheit von selbst entdecken.« »Welche Wahrheit?« »Das muß Ihnen doch schon klargeworden sein«, antwortete Dravivian. »Seit fast achthundert Jahren hat die Erde keinen Krieg mehr geführt. Wir wüßten nicht einmal mehr, wie wir uns wehren sollten. Die Organisation der Spähschiffe um Omega ist reine Fassade. Die Schiffe sind voll automatisiert und Bedingungen angepaßt, die vor mehreren hundert Jahren einmal herrschten. Jeder zielbewußte Angriff würde ein Schiff leicht überwältigen; und wenn sie erst einmal eins haben, ergeben sich die anderen ganz von selbst. Danach wird nichts die Omeganer daran hindern, zurück zur Erde zu kommen; und auf der Erde gibt es nichts, mit dem man sie zurückschlagen könnte. Das, müssen Sie wissen, ist der Hauptgrund dafür, daß allen Gefangenen, die die Erde verlassen, die Erinnerung geraubt wird. Denn wenn sie sich erinnern könnten, würde ihnen die Verwundbarkeit der Erde schmerzhaft klar vor Augen stehen.«
»Wenn Ihnen all dies bekannt ist – warum tun Ihre Führer dann nichts, um die Situation zu ändern?« fragte Barrent. »Ursprünglich hatten wir das auch vor. Aber es steckte kein richtiger Druck dahinter. Wir zogen es vor, nicht daran zu denken. Wir redeten uns ein, der Status quo würde endlos andauern. Wir wollten nicht an den Tag denken, an dem die Gefangenen von Omega zurückkehren könnten.« »Und was werden Sie und Ihre Polizei jetzt unternehmen?« fragte Barrent. »Ich bin auch nur ein Strohmann«, erklärte Dravivian. »Ich habe keine Polizei. Der Titel eines Chefs ist eine reine Ehrensache. Fast ein Jahrhundert lang hat man auf der Erde keine Polizeimacht mehr benötigt.« »Sie werden eine benötigen, wenn die Leute von Omega zurückkommen«, sagte Barrent. »Ja. Dann wird es wieder Verbrechen geben und ernsthafte Schwierigkeiten. Aber ich bin davon überzeugt, daß die letzliche Verschmelzung erfolgreich verlaufen wird. Die Leute von Omega haben den Drang und den Ehrgeiz, die Sterne zu erobern. Und ich glaube, sie brauchen dazu eine gewisse Stabilität und schöpferische Kraft, die die Erde bereitstellt. Wie die Ergebnisse auch immer sein mögen – die Vereinigung ist unvermeidbar. Wir haben hier zu lange in einem Traum gelebt. Nur gewaltsame Mittel können uns aus diesem Traum aufwecken.« Dravivian erhob sich. »Und jetzt«, fügte er hinzu, »da das Schicksal der Erde und das von Omega entschieden scheinen, darf ich Ihnen sicher eine Erfrischung anbieten?«
29 Mit Hilfe des Polizeichefs sandte Barrent eine Nachricht mit dem nächsten Schiff, das nach Omega abging. Die Nachricht enthielt Informationen über die Verhältnisse auf der Erde und riet zu sofortigem Handeln. Als das getan war, konnte Barrent an seine letzte Aufgabe gehen – den Richter zu suchen, der ihn für ein Verbrechen verurteilt
hatte, das er nicht begangen hatte, und den unehrlichen Spitzel, der ihn dem Richter ausgeliefert hatte. Wenn er diese beiden fand, würde es ihm gelingen, die noch dunklen Teile seiner Vergangenheit aufzudecken und sich wieder an alles zu erinnern. Er nahm den Nachtexpreßzug nach Youngerstun. Sein Verdacht, geschärft von dem Leben auf Omega, gönnte ihm keine Ruhe. Irgendwo mußte diese wunderbare Einfachheit einen Haken haben. Vielleicht fand er ihn in Youngerstun. Früh am Morgen erreichte er sein Ziel. Bei oberflächlicher Betrachtung ähnelten die säuberlichen Reihenhäuser denen anderer Städte. Aber für Barrent wirkten sie anders und schmerzhaft vertraut. Er erinnerte sich an diese Stadt, und die monotonen Häuser besaßen Individualitäten und Bedeutung für ihn. In dieser Stadt war er geboren und aufgewachsen. Da war der Laden von Grothmeir, und gegenüber wohnte Havening, der Kunstpreisträger für Innendekorationen. Und dort – das war das Haus von Billy Havelock. Billy war sein bester Freund gewesen. Sie hatten gehofft, einmal zusammen den Raum zu erforschen, und waren auch nach der Schule gute Freunde geblieben – bis Barrent nach Omega deportiert worden war. Und da war auch das Haus von Andrew Therkaler. Und einen Straßenzug davon entfernt die Schule, die er besucht hatte. Er konnte sich noch gut an die Klassenzimmer erinnern. Und er wußte auch noch, wie er jeden Tag durch die Tür in die geheime Klasse gegangen war. Aber er konnte sich immer noch nicht darauf besinnen, was er dort gelernt hatte. Direkt hier, neben zwei riesigen Ulmen, hatte der Mord stattgefunden. Barrent ging zu der Stelle und erinnerte sich genau, wie es geschehen war. Er hatte sich auf dem Nachhauseweg befunden. Von irgendwoher in der Straße hatte er einen Schrei gehört. Er hatte sich umgedreht; ein Mann – Illiardi – war die Straße entlanggerannt und hatte ihm etwas zugeworfen. Barrent hatte es automatisch aufgefangen – es war eine illegale Pistole. Ein paar Schritt von ihm entfernt lag Therkaler, sein Gesicht war im Tode verzerrt. Und was war dann geschehen? Verwirrung. Panik. Das Gefühl, daß ihn jemand beobachtete, wie er, mit der Waffe in der Hand, auf die Leiche
starrte. Dort, am Ende der Straße, war die Zuflucht, die er aufgesucht hatte. Er ging darauf zu und erkannte, daß es eine Robot-Beichtzelle war. Barrent betrat die Zelle. Sie war klein, ein schwacher Weihrauchgeruch lag in der Luft. Der Raum enthielt einen einzelnen Stuhl. Direkt gegenüber dem Stuhl war eine reich ornamentierte, hell erleuchtete Wandtafel. »Guten Morgen, Will«, sagte die Wandtafel. Barrent überkam ein Gefühl von Hilflosigkeit, als er diese weiche, mechanische Stimme hörte. Jetzt erinnerte er sich deutlich. Diese leidenschaftslose Stimme wußte alles, verstand alles und verzieh nichts. Die künstlerisch gestaltete Stimme hatte zu ihm gesprochen, hatte gelauscht und danach geurteilt. In seinen Träumen hatte er dem RobotBeichtstuhl die Gestalt eines menschlichen Richters gegeben. »Erinnerst du dich an mich?« fragte Barrent. »Natürlich«, antwortete der Robot. »Du warst eines meiner Beichtkinder, bevor du nach Omega gingst.« »Du hast mich dort hingeschickt.« »Wegen einem Mord, den du begangen hast.« »Aber ich war ja gar nicht der Mörder!« rief Barrent. »Ich habe es nicht getan – das mußt du doch gewußt haben!« »Natürlich habe ich das gewußt«, sagte der Beichtvater. »Aber meine Macht und meine Pflichten sind scharf begrenzt. Ich verurteile gemäß dem Beweis, nicht nach Intuition. Dem Gesetz nach dürfen die RobotBeichtväter nur das konkrete Beweismaterial wägen, das ihnen vorgelegt wird. Auch im Zweifelsfall müssen sie das Urteil aussprechen. In der Tat muß der Besuch eines Mannes bei mir, der des Mordes angeklagt ist, als ein starker Beweis seiner Schuld angesehen werden.« »Hat es Zeugen gegen mich gegeben?« »Ja.« »Wer war es?« »Ich darf seinen Namen nicht sagen.«
»Du mußt!« drängte Barrent. Er zog die Nadelstrahlwaffe aus der Tasche und ging auf die Wandtafel zu. »Eine Maschine kann man nicht gewaltsam zwingen«, erklärte der Robot-Beichtvater. »Sag mir den Namen!« brüllte Barrent. »Zu deinem eigenen Besten sollte ich es nicht tun. Die Gefahr wäre zu groß. Glaub mir, Will…« »Den Namen!« »Also schön. Du wirst denjenigen, der dich angezeigt hat, in der Maple Street 35 finden. Aber ich gebe dir den ernsthaften Rat, nicht dorthin zu gehen. Du wirst getötet werden. Du weißt nicht –« Barrent drückte ab, und der schmale Strahl zischte durch die Wandtafel. Lichter flackerten auf und erloschen, als er die komplizierten Drähte durchschnitt. Schließlich waren alle Lampen erloschen, nur ein schwacher grauer Rauch stieg aus der Wandtafel. Barrent verließ die Zelle. Er steckte die Waffe wieder in die Tasche und ging in die Maple Street. Er war einmal hier gewesen. Er kannte diese Straße, die über einen Hügel führte, und unter Eichen und Ahornbäumen sanft anstieg. Diese Straßenlaternen waren ihm vertraut, jede Unregelmäßigkeit auf dem Pflaster ein altes Erkennungszeichen. Alle Häuser waren wohlvertraut. Erwartungsvoll schienen sie sich ihm zuzuneigen, wie Zuschauer, die dem letzten Akt eines fast vergessenen Dramas zuschauen. Jetzt stand er vor dem Haus mit der Nummer 35. Die Stille, die dieses einfache Gebäude mit den weißen Rolläden umgab, mutete ihn unheimlich an. Er zog die Nadelstrahlwaffe aus der Tasche und blickte sich nach etwas Beruhigendem um, wußte jedoch, daß er nichts Derartiges finden würde. Dann schritt er über den sauberen Fliesenweg und drückte auf die Türklinke. Die Tür ging auf. Er trat ins Innere. Er nahm die schwachen Umrisse von Lampen und Möbelstücken wahr, die dunklen Schatten eines Gemäldes an der Wand, eine Statue auf einem Ebenholzsockel. Die Waffe im Anschlag, betrat er das nächste Zimmer. Vor ihm stand der Spitzel.
Barrent starrte ihm ins Gesicht – und erinnerte sich wieder. In einer übermächtigen Flut von auf ihn einstürzenden Gedanken sah er sich als kleinen Jungen das geheime Klassenzimmer betreten. Er hörte wieder das beruhigende Summen der Maschine, beobachtete die hübschen Lichter aufflackern und blinken, hörte die einschmeichelnde Stimme der Maschine in seinem Ohr. Zuerst erfüllte ihn die Stimme mit Schrecken; was sie vorschlug, war undenkbar. Dann, allmählich, gewöhnte er sich daran – daran und an all die seltsamen Dinge, die in der geheimen Klasse vor sich gingen. Er lernte. Die Maschinen lehrten auf tiefverborgenen, unterbewußten Ebenen. Die Maschinen verflochten ihren Unterricht mit den grundlegendsten Wünschen, webten ein Muster aus erlerntem Verhalten und dem ursprünglichen Lebensinstinkt. Sie lehrten; dann blockierten sie bewußtes Wissen, sperrten es aus, versiegelten es – und verschmolzen es. Was hatte man ihn gelehrt? Zum Nutzen der sozialen Gemeinschaft mußt du dein eigener Polizist und dein eigener Zeuge sein. Du mußt die Verantwortung für jedes Verbrechen übernehmen, das du selbst begangen haben könntest. Das Gesicht des Spitzels starrte ihn teilnahmslos an. Es war Barrents eigenes Gesicht, reflektiert von einem Wandspiegel. Er hatte sich selbst angezeigt. Als er an jenem Tag mit der Waffe in der Hand dagestanden und auf den Ermordeten hinuntergestarrt hatte, hatten sich angelernte unbewußte Vorgänge in ihm abgewickelt. Die mutmaßliche Schuld war zu groß gewesen, um ihr widerstehen zu können, die formale Wahrscheinlichkeit der Schuld hatte sich in einen Schuldkomplex verwandelt. Er war zu dem Robot-Beichtvater gegangen, und dort hatte er vollständiges und verdammenswertes Beweismaterial gegen sich selbst niedergelegt, hatte sich auf der Basis der Wahrscheinlichkeit selbst angezeigt. Der Robot-Beichtvater hatte das obligatorische Urteil gefällt, und Barrent hatte die Zelle wieder verlassen. Wohltrainiert in den geheimen Unterrichtsstunden, hatte er sich selbst festgenommen, war zum nächsten Gedanken-Kontroll-Zentrum in Trenton geeilt. Schon jetzt war eine teilweise Amnesie eingetreten, begründet und ausgelöst durch den Unterricht der geheimen Klassen.
Die geübten Androiden-Techniker im Gedanken-Kontroll-Zentrum hatten saubere Arbeit geleistet, um diese Amnesie zu vervollständigen, alle Überbleibsel der Erinnerung auszulöschen. Zur Sicherung gegen jede mögliche Wiederkehr des Gedächtnisses hatten sie ihm eine logische Struktur seines Verbrechens eingegeben. Und diese Struktur enthielt – wie es das Gesetz vorschrieb – einen Hinweis auf die weitreichende Macht der Erde. Nachdem das geschehen war, hatte ein automatisch reagierender Barrent das Zentrum verlassen und einen Spezialzug zum Depot des Gefangenenschiffs bestiegen, das Schiff betreten, dann die Zelle, hatte die Tür fest zugemacht und die Erde weit hinter sich zurückgelassen. Dann war er in tiefen Schlaf gesunken, aus dem ihn die im Kontrollpunkt zugestiegenen Wachen zur Landung auf Omega geweckt hatten… Und jetzt, während er sich noch immer im Spiegel anstarrte, fielen ihm wieder die letzten der unterbewußten Lektionen in der geheimen Klasse ein: Die Lektionen der geheimen Klassen dürfen einzeln nie ins Bewußtsein dringen. Wenn das geschieht, muß sich der menschliche Organismus sofort selbst zerstören. Jetzt erkannte er, warum ihm die Eroberung der Erde so leichtgefallen war: weil er nichts erobert hatte. Die Erde bedurfte keiner Sicherheitskräfte, denn der Polizist und der Vollstrecker waren beide im Gedächtnis jedes Menschen eingepflanzt. Unter der Oberfläche der milden und angenehmen Kultur der Erde herrschte eine sich selbst verewigende Robot-Zivilisation. Das Erkennen dieser Zivilisation wurde mit dem Tode bestraft. Und hier, in diesem Augenblick, begann der wahre Kampf um die Erde. Erlernte Verhaltensformen, verschmolzen mit grundsätzlichen Lebenstrieben, zwangen Barrent die Nadelstrahlwaffe zu heben und gegen seinen eigenen Kopf zu richten. Davor hatte der RobotBeichtvater ihn also warnen wollen, und das war es auch gewesen, was das Mutantenmädchen vorausgesehen hatte. Der jüngere Barrent, der auf absolute und gedankenlose Übereinstimmung gedrillt war, mußte sich töten.
Der ältere Barrent, der einige Zeit auf Omega gelebt hatte, kämpfte dieses wilde Verlangen nieder. Ein schizophrener Barrent kämpfte mit sich selbst. Die beiden Teile in ihm rangen um den Besitz der Waffe, um die Kontrolle über den Körper, um die Herrschaft über den Geist. Die Waffe hielt wenige Zentimeter vor seiner Stirn inne. Der Lauf zitterte. Dann, ganz langsam, zwang der neue Barrent von Omega, Barrent 2, die Waffe wieder vom Kopf weg. Sein Sieg währte nur kurz. Denn jetzt setzte das in den geheimen Klassen erlernte Wissen ein und zwang Barrent 2 zu einem Kampf auf Leben und Tod mit dem unerbittlichen und todsuchenden Barrent 1.
30 Die beiden kämpfenden Barrent wurden auf einer subjektiven Zeitskala zurückgeschleudert, zu jenen angespannten Momenten in der Vergangenheit, in denen der Tod nahe gewesen war, in denen das zeitliche Lebensgebäude geschwächt gewesen, in denen die Empfänglichkeit für den Tod schon festgelegt war. Barrent 2 mußte alle diese Momente noch einmal durchleben. In diesem Augenblick aber wurde die Gefahr noch durch die volle Kraft der böswilligen Hälfte seiner Persönlichkeit gesteigert – durch den mörderischen Verräter Barrent 1. Barrent 2 stand unter den blendenden Lampen in dem blutdurchtränkten Sand der Arena, in der Hand ein Schwert. Es war die Zeit der Spiele auf Omega. Auf ihn zu kam Saunus, ein dickgepanzertes Reptil mit dem pfiffigen Gesicht von Barrent 1. Barrent 2 hieb den Schwanz der Kreatur ab, aber diese verwandelte sich in drei Trichometreds von der Größe von Ratten, mit einem Gesicht, wie Barrent 1 es besaß, und mit der wilden Tollheit von Wölfen. Er tötete zwei, die dritte Bestie grinste und zerbiß seine linke Hand bis auf den Knochen. Er tötete sie und starrte auf das Blut von Barrent 1, das in dem feuchten Sand versickerte… Drei zerlumpte Männer saßen auf einer Bank, und ein Mädchen reichte ihm einen kleinen Revolver. »Glück«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie wissen,
wie man damit umgeht.« Barrent 2 nickte dankend. Erst dann bemerkte er, daß das Mädchen nicht Moera war; es war die Mutantin, die seinen Tod vorausgesagt hatte. Trotzdem trat er hinaus auf die Straße und stellte sich vor die drei Hadjis. Zwei der Männer waren gutmütig aussehende Fremde. Der dritte, Barrent 1, machte einen Schritt nach vorn und riß die Waffe hoch. Barrent 2 ließ sich auf den Boden fallen und drückte den Abzug seiner ungewohnten Waffe durch. Er fühlte den Rückstoß und sah Hadji Barrents Kopf und Schulter schwarz werden und zerkrümeln. Bevor er noch einmal zielen konnte, wurde ihm die Pistole mit einem heftigen Schlag aus der Hand gerissen. Der Schuß des sterbenden Barrent 1 hatte den Lauf weggefegt. Verzweifelt stürzte er sich auf die Waffe, und als er darauf zurollte, sah er den zweiten Mann, der jetzt das Gesicht von Barrent 1 hatte, auf ihn anlegen. Barrent 2 fühlte, wie ein heftiger Schmerz durch seinen Arm zuckte, der schon von den Zähnen des Trichometreds zerfetzt war. Es gelang ihm abzudrücken; aber durch einen Nebel nahm er den dritten Mann wahr, jetzt ebenfalls Barrent 1. Sein Arm wurde immer steifer, aber er zwang sich, zu feuern… Du spielst ihr Spiel, hämmerte sich Barrent 2 ein. Die Gewöhnung an den Todesgedanken wird dich fertigmachen, dich töten. Du mußt dich davon losreißen, es abschütteln. Dies alles geschieht ja gar nicht in Wirklichkeit, du bildest es dir nur ein… Aber er hatte keine Zeit zum Nachdenken. Er befand sich in einem großen, runden hohen Raum aus Steinen im Keller der Justizbehörden. Er mußte sich einer Prüfung unterziehen. Über den Boden kam eine glitzernde schwarze Maschine von der Form einer Halbkugel, fast eineinhalb Meter hoch, auf ihn zugerollt. Sie kam immer näher, und in dem Muster von roten, grünen und bernsteinfarbenen Lichtern erkannte er das verhaßte Gesicht von Barrent 1. Jetzt hatte sein Feind seine eigentliche Gestalt angenommen: das unveränderliche Robot-Bewußtsein, so falsch und stilisiert wie die Träume von der Erde. Die Maschine Barrent 1 streckte einen einzelnen schlanken Tentakel mit einem weißen Licht am Ende aus.
Beim Näherkommen zog sie den Tentakel wieder ein, und an seiner Stelle erschien ein Metallarm, der in eine Messerklinge auslief. Barrent 2 sprang zur Seite; das Messer kratzte gegen Stein. Es ist gar nicht so, wie du glaubst, versuchte sich Barrent 2 einzuschärfen. Es ist keine Maschine, und du bist auch nicht zurückgekehrt nach Omega. Dies ist nur dein Doppelgänger, gegen den du kämpfst; das alles ist nichts als eine tödliche Illusion. Aber er konnte es nicht glauben. Die Maschine Barrent 1 kam wieder auf ihn zu, ihre Metalloberfläche glitzerte von einer fauligen grünen Substanz, die Barrent 2 sofort als Kontaktgift erkannte. Er setzte zu einem Sprung an, um der tödlichen Berührung zu entgehen. Es ist nicht tödlich, sagte er sich. Neutralisierer spülten das Gift von der metallenen Oberfläche. Die Maschine versuchte ihn zu rammen. Barrent wollte sie mit einer trägen Bewegung zur Seite drücken. Mit atemberaubender Kraft stieß sie krachend gegen ihn: er konnte seine Rippen bersten hören. Es ist nicht wirklich! Du läßt dich von einem anerzogenen Reflex in den Tod reden! Du bist nicht auf Omega! Du bist auf der Erde, in deinem eigenen Haus, und starrst in den Spiegel! Aber der Schmerz war Wirklichkeit, und auch der knüppelartige Metallarm fühlte sich echt an, als er gegen seine Schulter schlug. Barrent taumelte zur Seite. Entsetzen packte ihn, nicht weil er sterben mußte, sondern daß er zu früh sterben würde, zu früh, um die Menschen von Omega vor der eigentlichen und größten Gefahr zu warnen, die tief in ihr Gehirn gepflanzt war. Niemand anders konnte sie vor der Katastrophe bewahren, die jeden Mann befallen würde, sobald er seine Erinnerung an die Erde wiedererlangen würde. Soviel er wußte, hatte dies bis jetzt niemand durchgemacht und danach weitergelebt. Wenn es ihm gelang, es durchzustehen, gab es vielleicht noch eine Rettung. Er richtete sich auf. Von Kindheit an auf soziale Verantwortlichkeit gedrillt, mußte er auch jetzt daran denken. Er durfte nicht zulassen, daß er starb, jetzt, da sein Wissen für Omega lebenswichtig war. Dies ist keine wirkliche Maschine.
Immer wieder wiederholte er sich diese Worte, während die Maschine Barrent 1 auf Touren kam, an Geschwindigkeit zunahm und auf ihn zugeschossen kam. Er zwang sich, an der Maschine vorbeizusehen, hin zu den geduldig und gleichmäßig summenden Stunden in der geheimen Klasse, die dieses Ungeheuer in ihm geschaffen hatten. Dies ist keine wirkliche Maschine. Er glaubte es… Und schmetterte die Faust in das verhaßte Gesicht, das sich im Metall widerspiegelte. Einen Moment lang durchzuckte ihn ein wahnsinniger Schmerz, dann verlor er das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, befand er sich allein in seinem Haus auf der Erde. Arm und Schulter schmerzten ihn, und mehrere seiner Rippen schienen gebrochen. Seine linke Hand trug die Narbe, die ihm die Wolfsbestie durch ihren Biß zugefügt hatte. Aber mit der zerschnittenen und blutenden rechten Hand hatte er den Spiegel zerschlagen. Er hatte ihn und Barrent 1 endgültig und für alle Zeiten vernichtet.
Erik Simon
Der optimistische Schwarzseher Ansichten über Robert Sheckley
1 Ich entdeckte die Science-fiction an der High School und las sie begierig, dachte aber nie ernsthaft daran, selbst welche zu schreiben. Robert Sheckley Robert Sheckley wurde 1928 in New York geboren, wuchs aber in der Kleinstadt Maplewood, New Jersey, auf. Schon in der Schule begann er zu schreiben und beschloß, später Berufsschriftsteller zu werden, doch versuchte er sich vorerst als Lyriker und Stückeschreiber. Nach dem Abschluß der High School trampte er nach Kalifornien, dort arbeitete er ein paar Monate lang in allerlei Gelegenheitsjobs, u. a. als Landschaftsgärtner, Brezelverkäufer, Milchfahrer, Barmann, Lagerarbeiter oder einfach als Mädchen für alles, bis er schließlich wiederum per Anhalter nach New Jersey zurückkehrte und seinen Militärdienst antrat. Bei der Armee wurde er schon bald Redakteur einer Truppenzeitung, später Zahlmeister, und er beendete seine Dienstzeit als Gitarrist in einer Militär-Tanzband. Anschließend studierte er an der New-Yorker Universität Englisch, Psychologie und Philosophie; nebenbei besuchte er offene SchriftstellerKurse und begann Kurzgeschichten zu schreiben. Die erste davon verkaufte er 1952, als er die Universität bereits als Bachelor of Arts verlassen und eine Stelle als Metallurgie-Assistenzingenieur in einem Flugzeugwerk angenommen hatte. Nach dem Verkauf einer weiteren Kurzgeschichte gab er seine Anstellung auf und wurde freischaffender
Schriftsteller. Er hat auch als Autor von Kriminal- und Abenteuerliteratur und fürs Fernsehen gearbeitet, den Schwerpunkt seines Werkes macht aber mit über zweihundert Kurzgeschichten und acht Romanen die Science-fiction aus. Die Kurzgeschichten sind zum Teil in Sheckleys neun Erzählungsbänden gesammelt worden, deren erster, »Untouched by Human Hands«, 1954 erschien; »Shards of Space«, 1962 veröffentlicht, war bereits der sechste. In den sechziger Jahren hat Sheckley die meisten seiner SF-Romane herausgebracht. 1970 zog er nach Ibiza, wo er sieben Jahre blieb, anschließend übersiedelte er nach London und war Herausgeber des Literaturteils bei der Zeitschrift »Omni«. 1980 kehrte er in die USA zurück, um einen neuen Roman zu schreiben und an Universitäten Vorlesungen über SF zu halten. Seit Beginn der siebziger Jahre ist es um ihn als SF-Autor etwas stiller geworden; zwar erschienen noch vier Bücher von ihm, doch ist das wenig gegen die frühere Flut von Geschichten. Es waren die fünfziger und die frühen sechziger Jahre, in denen Sheckley das Gesicht der englischsprachigen Science-fiction maßgeblich mitbestimmte. Aus jener Zeit stammen die in unserer Auswahl versammelten Erzählungen.
2 … Robert Sheckley, Störenfried Nr. 1 der Science-fiction…
Kingsley Amis
Also gehören die angeführten Texte… Sheckleys… zu ein und derselben Klasse: zu den monoinversen mehrzügigen Spielen in der Art von Endspielen beim Schach… Gemeinsam mit diesen »Mehrzügern« eine rein negative Eigenschaft, nämlich das Fehlen eines ästhetischen oder erkenntnisbezogenen Zusammenhangs von Bedeutungen. Stanislaw Lem Er ist wahrscheinlich der verfeinertste Autor… Von einem Dutzend Wegen wählt er immer den originellsten. Alfred Bester
Die meisten SF-Kurzgeschichten Sheckleys sind ursprünglich für Zeitschriften geschrieben worden, und besonders von einem dieser Magazine ist Sheckleys rascher Aufstieg nicht zu trennen: von dem 1950 gegründeten »Galaxys«, das in den fünfziger und sechziger Jahren eine, oft sogar die führende Stellung unter den amerikanischen SF-Periodikas innehatte und dessen Starautor Sheckley wurde. Sein erster Herausgeber, Horace L. Gold, betonte im Gegensatz zur bis dahin dominierenden technizistischen und Action-SF solche Geschichten, die ihre Ideen eher aus den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften bezogen und die sozialen und psychologischen Implikationen untersuchten. Auch die Umkehr gewohnter Vorstellungen war auf der Tagesordnung, das Paradoxon en vogue, wenn auch vielfach nur als äußerliche Mode. Sheckleys Geschichten entsprechen dem nicht nur theoretisch – wovon noch die Rede sein wird –, sondern auch in ihrer Machart. Von den typischen Techniken der Science-fiction wie Gedankenexperiment, Extrapolation, Transformation und Inversion benutzt er, ohne auf die anderen zu verzichten, vor allem die letztere. Eine Tatsache oder eine landläufige Ansicht wird in ihr Gegenteil verkehrt, wobei die Umkehrung nicht a priori gesetzt wird, sondern sich als Pointe aus einer phantastischen, die Tatsache oder Ansicht aber scheinbar nicht berührenden Prämisse logisch ergibt. Beispiele dafür sind etwa »Der Laxianische Schlüssel«, wo sich etwas nach dem »gesunden Menschenverstand« ungeheuer Wertvolles nicht nur als nutzlos, sondern sogar als Bürde erweist, »Für Menschen verboten« und vor allem »Ein Ticket zum Tranai«, wo die Inversion des Ganzen – die Utopie nämlich – per Umkehrung der einzelnen Elemente durchgeführt wird. Auch in anderen Beiträgen dieser Auswahl findet man Inversionen, freilich weniger auffällige oder mit anderen Techniken kombinierte (auch »Der Laxianische Schlüssel« ist ja die Transformation eines weltbekannten Märchenmotivs in die SF). Lems negative Wirkung dieser Art Geschichten bezieht sich hauptsächlich auf in unserem Band nicht enthaltene Texte Sheckleys, aber auch auf die Erzählung »Für Menschen verboten«, darin zwei Menschen in ein fremdes Warenlager geraten und nach schmerzlichen Erfahrungen lernen, daß bei den Außerirdischen alles genau umgekehrt ist – ihre Nahrung ist für Menschen Gift, aber ihre Treibstoffe erweisen
sich als eßbar, usw. Als besonders ausgeprägtes Beispiel nennt Lem die Geschichte um den Weltenbauer Carienomen, »The Impacted Man« (deutsch »Mann unter Einfluß«), wo sich das Weltall, das wir für unzweifelhaft natürlich halten, als künstliches Produkt erweist. (Übrigens ist hierbei weniger die Inversion maßgeblich als vielmehr die Übertragung von Erscheinungen des Alltags – eine schlampig arbeitende Baufirma, ein säumig zahlender Auftraggeber – auf den Maßstab des Universums.) Wesentliches über die Erzählungen Sheckleys vermag Lem kaum festzustellen, denn die Kritik der Schreibtechnik unter formalstrukturellen Gesichtspunkten kann als Maßstab eben nur kompliziertere, vielschichtigere formale Strukturen setzen; über Inhalt und Wirkung des Textes sagt sie nichts. Die komplizierteren Strukturen beherrscht Sheckley durchaus, wie einige seiner verwickelten, mit logischen Paradoxen gespickten Romane beweisen, etwa »Mindswap« (1965) und »Dimension of Miracles« (1968) mit ihrem verrückten Universum, dessen Wahnsinn freilich Methode hat und an den Nonsens eines Lewis Carroll erinnert. Auch unter den neueren Erzählungen Sheckleys findet man recht vielschichtig gebaute, doch ihnen fehlt die Frische und Kraft der älteren Arbeiten. Jene bestachen gerade durch eine geradlinige Anlage, durch die Art, wie sich aus einer einzigen Prämisse immer neue, unerwartete Wendungen zwingend oder zumindest plausibel ergeben. Entscheidend ist aber letzten Endes, um bei Lems Terminologie zu bleiben, nicht die Zahl der Variablen und Züge, sondern wie und wozu das alles erzählt wird. Gewiß, viele Geschichten Sheckleys sind zuallererst eine unterhaltsame Lektüre, und wenn manche sich darauf beschränken, so ist das Lesevergnügen ein mehr als hinreichender Grund für ihre Beliebtheit. Auch Sam Lundwall konstatiert Sheckleys gelegentliche Neigung zu reiner Ideenakrobatik, weist aber darauf hin, daß diese Ideen dennoch oft tiefere Bedeutung transportieren. Sheckley gilt ja nicht nur als Humorist, sondern als einer der wichtigsten Satiriker in der Sciencefiction. Darüber, daß er etwas zu sagen hat, sind sich die meisten Kritiker einig; weniger Einmütigkeit besteht indes darüber, was Sheckley eigentlich sagen will und was er dann tatsächlich sagt.
Robert Sheckley ein… Verfasser von Antiutopien? Donald A. Wollheim … in wunderlichen und unglaublichen Sujets verkörpert er die brennendsten Probleme der amerikanischen Gesellschaft… L. Mitrochin Es ist […] falsch, Sheckley als gesellschaftskritischen Autor zu bezeichnen. Er ist ein Vertreter des schwarzen Humors… John-Henri Holmberg Sheckley in Höchstform ist eine Art »Voltaire mit Soda«. Sein Nihilismus perlt wie Champagner… Brian W. Aldiss Der Begriff »Satiriker« ist heutzutage durch vielfachen Mißbrauch völlig verwaschen, man bezeichnet damit gleichermaßen die Kritiker gesellschaftlicher Mißstände, auch wenn ihr Werk keine Spur von Witz und Ironie enthält, wie Humoristen, die über allgemein-menschliche Schwächen harmlose Späße machen. Witzig, humorvoll und – wenngleich auf eine nicht immer sehr tiefe Art – geistreich ist Sheckley allemal, und nach der Lektüre von »Pilgerfahrt zur Erde«, »Der Tod spielt mit« oder »Ein Ticket zum Tranai« könnte man wohl auf den Gedanken kommen, er sei ein bitterer Satiriker, wenn nicht gar ein Antiutopist. Versteht man aber wie üblich unter seiner Antiutopie eine Dystopie, also eine negative Utopie, die eine düstere Zukunft prophezeit oder ihr Schreckensbild zum Zweck der Warnung heraufbeschwört, so ist Sheckley nicht betroffen; der Begriff »Antiutopie« hat indes noch eine zweite Bedeutung als Gegen-Utopie, in der eine Utopie parodiert oder durch logisches Weiterdenken ad absurdum geführt wird. »Ein Ticket zum Tranai« ist eine solche GegenUtopie reinsten Wassers, die nicht nur die liberale Utopie des Laisserfaire und der Selbstregulation verspottet, sondern darüber hinaus das allen typischen Utopien eigene Streben nach Patentlösungen. Das Utopia auf Tranai besteht aus lauter solchen Patentlösungen, und was das schlimmste ist: sie funktionieren.
Einzelne gegen-utopische Elemente dieser Art findet man auch in anderen Geschichten Sheckleys; viele davon basieren auf einer ironischen Darstellung der in einer Welt der Superkonzerne anachronistisch gewordenen Utopie vom Unternehmertum der freien Konkurrenz, das jedem Tüchtigen seine Chance bietet (z. B. »Routinesache«), andere extrapolieren die Konsum-Utopie bis zu ihrem Umschlag ins Negative. Ihr verwandt ist das Utopia, in dem buchstäblich jeder Wunsch erfüllbar ist, doch »Pilgerfahrt zur Erde« enthält mehr als die Demontage einer utopischen Idee: nämlich die Frage, was dann die Erfüllung der Wünsche noch für Wert hat, und insbesondere das philosophisch und moralisch hochinteressante Problem der subjektiven und objektiven Echtheit künstlich erzeugter Gefühle, das auch Lem des öfteren behandelt. Ein Meisterstück des schwarzen Humors ist die Kurzgeschichte »Fütterungszeit«, zumal sie in der Manier etwa eines John Collier oder Roald Dahl den zum Verhängnis führenden Zusammenhang gar nicht benennt, sondern nur andeutet; auch »Wenn der Wind weht«, technisch gesehen ein Musterbeispiel für die SF-Technik der Extrapolation, erinnert an Collier, indem Sheckley die eigentliche Katastrophe nicht mehr vorführt, aber in Aussicht stellt und so eine tiefe Beunruhigung hinterläßt. Eine kritische Absicht verfolgt freilich keine dieser beiden Erzählungen. Satiren sind sie nicht. »Pilgerfahrt zur Erde« ist eine, ebenso wie »Der Tod spielt mit«: beide Texte enthalten recht makabre Szenen, beide aber, das sei nicht vergessen, siedeln diese Szenen in einer Gesellschaft an, in der für Geld alles zu haben ist und jedermann die Freiheit hat, sich auf jede nur mögliche Art zu verkaufen. Das Happy-End von »Der Tod spielt mit« ist ein Musterbeispiel bitterer Ironie, läßt doch die Art, wie es zustande gekommen ist, über die soziale Umwelt solcher Happy-Ends keine Illusion heil, und der Zynismus des Schlußsatzes enthält mehr treffende Sozialkritik als so manche larmoyante Dystopie. Und dennoch ist J.-H. Holmbergs oben zitierte Einschätzung nicht aus der Luft gegriffen, wie wohl auch Brian Aldiss recht hat, wenn er schreibt: »Sheckley scheint keine moralischen, religiösen oder politischen Überzeugungen zu haben, die ihn dazu drängen könnten, in seinen Erzählungen einen klaren Standpunkt einzunehmen; da ist nichts, was
den Künstler in Sheckley an die Kandare nehmen könnte – ein Dilemma, unter dem viele SF-Autoren zeit ihres Lebens zu leiden haben.« In der Tat, Sheckleys Gesamtwerk bestätigt diesen Eindruck. Aber er schreibt ja nicht allen Ernstes über die Zukunft und über ferne Planeten (kein SFAutor tut das), sondern worüber er Bescheid weiß: wenn also in seinem Kosmos nahezu alles möglich und restlos alles käuflich ist, so heißt das nicht notwendig, der Autor halte das für den tatsächlichen oder den erstrebenswerten künftigen Stand der Dinge – der interessiert ihn auch gar nicht, wohl aber die gegenwärtige, dem er seine Ideen, seine Stoffe entnimmt. Und wenn es Sheckley dann schwerfällt, keine Satiren zu schreiben, so liegt das schließlich nicht allein an ihm. … der archetypische Sheckleysche Held, der stille, zurückhaltende jedermann, der wünschte, das Universum wäre ein einfacherer Ort, als es ist. Stephen Goldin Sheckley ist wohl der traditionell-amerikanischste von allen zeitgenössischen und amerikanischen SF-Autoren. Juli Kagarlizki Sheckley benutzt die alte Philosophie des »Sense of Wonder« mit all ihren traditionellen Kunstgriffen. Sam J. Lundwall So undeutlich auch nach Brian W. Aldiss Sheckleys Überzeugungen sein mögen, außer Zweifel steht, welchem Typ des literarischen Helden seine Sympathie gehört: es sind Durchschnittsmenschen, »kleine Leute«, oft wie der Autor selbst in Kleinstädten aufgewachsen, Angestellte in untergeordneter Position, die gewissenhaft ihre Arbeit tun, ohne darin die Erfüllung zu finden, oder kleine Gewerbetreibende, die sich recht und schlecht über Wasser halten. Sie alle (Ausnahmen wie in der »Wunschmaschine« bestätigen die Regel) tragen in sich die Vorstellung von einer Welt, in der es ordentlich, anständig und fair zugeht; die Ereignisse, die ihnen dann in den Geschichten widerfahren, sind wenig geeignet, diese Vorstellung zu bestätigen. Wenn die Helden, die aus einer vertrackten Situation in die andere geraten, schließlich doch mit Mühe
und Not – selten reicher, aber oft klüger geworden – die Fährnisse überwinden, so ist das weniger ihrer Umwelt zu danken als ihrer eigenen, für sie selbst unerwarteten Tüchtigkeit und einer gehörigen Portion Glück. Juli Kagarlizki weist darauf hin, daß dies im Grunde dieselben Helden sind, die wir von Mark Twain, Bret Harte und O. Henry kennen. Sheckley schildert sie mit unverhohlener Zuneigung, was ihn nicht hindert, sich über ihre Schwächen lustig zu machen. Ihre Haltung ist die des bürgerlich-liberalen Individualismus, der in der modernen amerikanischen Gesellschaft anachronistisch anmutet, dessen Werte aber auch ein traditioneller und kräftiger Rückhalt für eine progressive Kritik an dieser Gesellschaft sind. Der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts entstammen viele Grundkonstellationen in den Geschichten Sheckleys, etwa das Motiv des Helden, der, auf sich allein gestellt, in einer bedrohlichen Umwelt bestehen muß. Die Verwandtschaft mit dem exotischen Abenteuerroman und dem Western, die ebenfalls jene Struktur verwenden, ist unverkennbar. Sheckley variiert das Muster durch Verlagerung in eine zukünftige, außerirdische oder sogar jenseitige Welt, in der buchstäblich alles passieren kann, in der sich alles erfinden, entdecken oder herstellen läßt. Er bemüht sich in erster Linie um den interessanten, überraschenden und dabei doch auf eine paradoxe Weise schlüssigen Ablauf seiner Geschichte und erfindet zu diesem Zweck ebenso unbekümmert Requisiten und Randbedingungen, wie es die amerikanische SF in ihren Anfängen tat. Indem er die überkommenen Gadgets und Standardsituationen der Science-fiction benutzt und auf überraschende Weise abwandelt, oft Handlungsklischees in ihr Gegenteil verkehrt, trifft seine Satire auch das literarische Phänomen SF selbst und wird zur Parodie, doch ist diese bei ihm eher ein Nebenprodukt der Erzählung. Denn vor allem ist Robert Sheckley ein Geschichtenerzähler. Seine Geschichten sind manchmal lustig, manchmal makaber, selten nur eine Spur pathetisch, viel öfter ironisch, doch nie kalt-distanziert; sie sind bald von bitterem Sarkasmus, immer aber von einer menschlich-mitfühlenden Haltung des Autors.
Es macht mir besonders viel Spaß, auf dem Gebiet der Fantasy und der Sciencefiction zu arbeiten. Keine andere Richtung vermag dem Schriftsteller so viel Spielraum zu gewähren. Das Gebiet hat Platz für alles, vom wildromantischen Abenteuer bis hin zur Satire und zu soziale Fragen beleuchtenden Techniken und Ansätzen. Diese Freiheit von einer starren Formel gehört zum Besten an der Science-fiction. Ich hoffe, es bleibt so. Robert Sheckley Quelle: Robert Sheckley, Pilgerfahrt zur Erde, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1984.