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Dan Shocker DAS GRAUEN (Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus)
Der vorliegende Roman ist nicht »irgendein« ...
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Dan Shocker DAS GRAUEN (Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus)
Der vorliegende Roman ist nicht »irgendein« Klassiker. Es ist der Klassiker - der erste in Deutschland erschienene Horror-Heftroman! Dan Shocker schrieb ihn 1968 und gab damit den Startschuß für Tausende von Gruselromanen, die ihm folgten. Die DÄMONEN-LAND-Redaktion ist glücklich und stolz, Ihnen »Das Grauen« noch einmal präsentieren zu können - zumal Shockers Roman ganz und gar nicht »in den Kinderschuhen« steckt, wie viele vermuten mögen. Im Gegenteil - ein außergewöhnlich spannender, vielschichtiger und unheimlicher Horror-Thriller erwartet Sie. Viel Freude und einen Hauch Nostalgie wünscht Ihnen beim Lesen
Dieser Roman erschien erstmals als 4 Silber-Grusel-Krimi Band 747
Er verharrte in der Bewegung. Lauschend hielt er den Atem an, und dann drehte er langsam den Kopf. Marc schluckte. Er war kein furchtsamer Mensch, doch jetzt hatte er Angst. Zehn Kilometer vor Maurs hatte sein Wagen ausgesetzt. Es war Mitternacht, und er konnte nicht damit rechnen, noch Hilfe durch einen anderen Autofahrer zu erhalten. Um diese Zeit war die abgelegene Straße nicht mehr befahren. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Weg nach Maurs zu Fuß fortzusetzen. Langsam ging er weiter, und plötzlich stieg wieder dieses unerklärliche Gefühl der Angst in ihm auf. Etwas beobachtete ihn, näherte sich ihm. Mit fiebrig glänzenden Augen starrte er in den Wald und schien mit seinen Blicken die dunklen Stämme durchbohren zu wollen. Rundum war alles totenstill. In der lauen Sommernacht bewegte kein Lufthauch die Blätter an den Bäumen. Und doch glaubte Marc, Schritte zu hören. Dumpfe, gleichmäßige Schritte. Schweiß trat ihm auf seine Stirn. Seine Nerven spielten ihm schon einen Streich! Er hatte sich vom Gerede der Leute durcheinanderbringen lassen. In der Umgebung von Maurs war seit einiger Zeit ein Gerücht im Umlauf, das nur flüsternd von Mund zu Mund weitergegeben wurde. Diese einfachen Menschen auf dem Lande lebten noch mit ihrem Aberglauben, und sie glaubten noch an Dinge, über die man in den Städten nur lachte … Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß die Schritte, die er gehört hatte, seine eigenen waren. Marc rannte. Sein Blick war wie in Hypnose auf das dunkle, gewundene Band der schmalen Straße gerichtet, die in der Ferne von den dichtstehenden Baumreihen verschluckt zu werden schien. Für einen Augenblick fühlte er sich erleichtert, befreit, die Furcht wich. Aber sie kam sofort wieder, als der Schatten ihn wie in einem Mantel einhüllte. Marc hörte das mächtige Flügelschlagen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, einen furchtbaren Alptraum durchzumachen. Aber es war kein Alptraum – es war Wirklichkeit, und es war eine grausige, erschreckende Wirklichkeit! Der riesige Flügel streifte sein Gesicht. Seine Haut riß auf, als ob eine rasiermesserscharfe Sense sie ritzen würde. Marc schrie. Sein Aufschrei verhallte ungehört in den Tiefen der Wälder. Seine Abwehrbewegung blieb im Ansatz stecken. Er sah die dunkle, schemenhafte Gestalt wie durch einen Blutnebel. Sie war mannsgroß, die mächtigen Flügel spannten sich wie ein Zeltdach über ihm. Und dann bohrten sich zwei spitze Zähne in seine Halsschlagader. Ein letzter Gedanke erfüllte sein Bewußtsein. Das Gerede der Leute – die Vampire, die es geben sollte, und an die er nicht glaubte, nicht glauben konnte. Er war ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, er lebte in einem modernen, fortschrittlichen Land … Ein tiefer, schwarzer Abgrund tat sich vor ihm auf. Krampfartige Schmerzen peitschten seinen Körper, Marc stürzte zu Boden, seine Arme zuckten, dann lag er still. Er merkte nicht mehr, wie der riesige Schatten von ihm zurückwich, und spürte nicht mehr das Blut, das aus der Bißwunde an seinem Hals herablief. Er war tot.
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Gegen vier Uhr morgens kehrte ein Arzt aus einer kleinen Ortschaft an dem Gele-Fluß nach Hause zurück. Er war noch vor Mitternacht zu einem Schwerkranken gerufen worden und hatte dort fast vier Stunden bleiben müssen. Auf der Rückfahrt nach Maurs wurde Dr. Faneel zunächst auf den verlassenen Wagen am Straßenrand aufmerksam und wenig später auch auf den reglosen Körper, der etwa drei Kilometer von dem Auto entfernt lag. Dr. Faneel hielt sofort an. Er näherte sich dem reglosen Fremden und erkannte auf den ersten Blick, daß er hier nichts mehr tun konnte. Sein glattes, ein wenig fahles Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, als er zu seinem Wagen zurückkehrte und wenig später in raschem Tempo nach Maurs fuhr. Er benachrichtigte die Polizei, gab seine Wahrnehmungen zu Protokoll. Er hatte eine äußere Verletzung festgestellt. Die Bißwunde am Hals, aber er fand keine Erklärung dafür… Die Polizei war eine Viertelstunde später am Tatort. Spuren wurden gesichert, der Fotograf blitzte zahlreiche Aufnahmen. Der Polizeiarzt machte eine erste Untersuchung, während etwa zehn Polizeibeamte den nahen Wald absuchten, in der Hoffnung, noch andere Spuren zu finden, die die Aufklärung des rätselhaften Verbrechens eventuell erleichterten. Doch es gab keine solchen Spuren. Kommissar Sarget, der unmittelbar nach der Aussage von Dr. Faneel aus dem Bett geholt worden war, hielt sich in diesen Minuten überall auf. Er gab mit ruhiger Stimme seine Anweisungen, nahm Berichte und Ermittlungsergebnisse entgegen, telefonierte von seinem perlgrauen Peugeot aus mit seiner Dienststelle in Maurs und sorgte dafür, daß die Ermittlungsarbeit rasch vonstatten ging, ohne oberflächlich zu sein. Sarget war ein ruhiger besonnener Mann, etwas untersetzt, mit schwarzem, schütterem Haar. Unter dem Jackett trug er noch seinen rot-blau gestreiften Pyjama. Er hatte sich nicht einmal mehr die Zeit genommen, ihn auszuziehen. Wichtig allein war die Aufklärung des Verbrechens. Je früher die Spuren gesichert wurden, desto größer waren die Chancen, es aufzuklären. Mit jeder Minute, die verstrich, wurden die Chancen für die Aufklärung geringer. Sarget verlangte sich stets das Äußerste ab, und auch seine Männer gaben ihr Bestes. Der Polizeiarzt hatte die Untersuchung beendet. Sarget wechselte ein paar Worte mit ihm. »Wie sieht es aus?« Der Arzt zuckte die Achseln. »Es ist noch zu früh, um etwas zu sagen. In spätestens drei Stunden weiß ich mehr. Ich muß die Laboruntersuchung abwarten.« Dr. Pascal preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, und seine nachfolgenden Worte waren kaum zu hören, als er jetzt sagte: »Ein Raubüberfall ist ausgeschlossen, er trägt noch alles bei sich. Wir wissen, wer er ist, seine Personalien weisen ihn aus. Wir wissen auch, daß er nicht erschossen und nicht erstochen wurde. Er wurde auch nicht angefahren. Die Symptome weisen vielmehr in eine ganz andere Richtung: der Biß am Hals! Es scheint, als ob man ihm Blut abgezapft hätte. Er hat auch etwas Blut verloren, aber daran kann er unmöglich gestorben sein. Die verkrampfte Haltung des Toten, sein verzerrtes Gesicht — er muß unter großen Schmerzen umgekommen sein.« »Gift?« Dr. Pascal zuckte abermals die Achseln. »Das glaube ich nicht. Ich habe eine ganz andere Vermutung. Das Bild deckt sich nicht mit dem, was wir die ganze Zeit über von 6
den rätselhaften Bißwunden zu hören kriegten. Die Personen, die zu uns kamen, und behaupteten, Opfer von Vampiren zu sein, klagten über große Mattigkeit morgens nach dem Erwachen. In den umliegenden Ortschaften ist es während der vergangenen sechs Monate angeblich zu zahlreichen rätselhaften Vorfällen gekommen. Vampire!« Der Arzt faßte sich an die Stirn. Er sagte das Wort >Vampire< so leise, daß es wie ein Hauch über seine Lippen kam. »Man sollte es nicht für möglich halten! Ich habe Bilder von den angeblichen Opfern in Zeitschriften gesehen. Ich hielt sie für Montagen, für Fälschungen. Aber jetzt dieser Tote, der Biß an seinem Hals, die ganzen Umstände …« Sarget fühlte, wie es ihm heiß wurde. Er bemühte sich, seine sprichwörtliche Ruhe zu behalten. Er erörterte mit Dr. Pascal einige Details, ohne zu einem wirklichen Ergebnis zu kommen. Die Gerüchte, die im Umlauf waren, gaben ihm zu denken. Jetzt wurde er zum erstenmal mit einem Fall konfrontiert, der deutlich jene Zeichen trug, die er niemals wahrhaben wollte. Kommissar Sarget war noch immer in Gedanken versunken, als er längst in seinem Büro saß, und darauf wartete, daß der Ermittlungsbericht des Labors vorgelegt wurde. Die Arbeit am Tatort war abgeschlossen. Der Tote lag im Leichenschauhaus in Maurs, sein Wagen stand in einem dunklen Hinterhof des Polizeigebäudes. Sarget zündete sich eine Zigarre an und sah flüchtig die Post durch. Doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er sah ständig die Wunde am Hals des Toten vor sich, und er konnte sich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren. Die Wunde stammte nicht von einem Einschuß und nicht von einem Stich. Das stand fest. Sie sah wirklich so aus, als ob sich zwei dolchartige Zähne in die Halsschlagader des unglücklichen Opfers gebohrt hätten … Sarget zuckte zusammen, als die Sprechanlage summte. Das Labor meldete sich. »Ich erwarte den Bericht«, sagte Sarget nur. Er legte seine Zigarre in den Ascher zurück und konnte es kaum erwarten, daß an die Tür geklopft wurde. »Herein.« Dr. Pascals Assistentin, eine hübsche zwanzigjährige Blondine, legte den Laborbericht auf Sargets Schreibtisch. Sarget nickte nur stumm, während er den Umschlag aufriß, und hastig die Zeilen überflog. Der Bericht Dr. Pascals war kurz aber eindeutig. >Die chemischen und serologischen Untersuchungen haben ergeben, daß der Tod bei Monsieur Lepoir durch eine Verklumpung der roten Blutkörperchen eingetreten ist. Monsieur Lepoir war Träger der Blutgruppe A, durch die Bißwunde wurde Blut der Gruppe B in seine Venen übertragen. Weiterhin steht fest, daß ein teilweiser Blutaustausch erfolgte. Etwa fünfhundert Kubikzentimeter Blut der Gruppe A wurden durch fünfhundert Kubikzentimeter der Gruppe B ausgetauscht. Der Austausch ist durch die Bißwunde erfolgt. Der Körper Lepoirs weist keine weiteren Wunden oder Injektionsstiche auf.
Le Petit Jardin< nannte. Dieser Amerikaner wußte bereits mehr als Sarget, als der französische Geheimdienst und als die französische Regierung zusammengenommen. Er hieß Henry Parker. Seine Deckbezeichnung lautete X-RAY-18. Diese Deckbezeichnung war nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten in den Vereinigten Staaten bekannt. Parker war einer der wenigen PSA-Agenten, die es bisher gab. Die Abteilung, in der Henry Parker tätig war, hatte sich auf psychologische Mordfälle spezialisiert. In der psycho-analytischen Spezialabteilung wurden Fälle abgehandelt, die mit den herkömmlichen Methoden nicht zu klären waren. Männer, die in der PSA dienten, sahen die Dinge in einem größeren Zusammenhang, und sie hatten die Erlaubnis, völlig 8
frei zu handeln. Sie waren nur sich und ihrem Gewissen gegenüber verantwortlich. Sie standen mit den höchsten Regierungsstellen in Verbindung, alle Türen standen ihnen offen. Und dies in der ganzen Welt. Zwischen den Regierungen der Erde gab es Geheimverträge, die den Einsatz von PSA-Agenten in allen Staaten erlaubten. Diese Agenten kannten nicht mehr die Grenzen, die Völker voneinander trennten. Jede Regierung konnte einen PSA-Mann anfordern, wenn es um einen Fall ging, der nicht in die herkömmliche Sparte fiel, und dessen Aufklärung besondere Schwierigkeiten bereitete. Parker hielt sich auf Anforderung der französischen Regierung in Maurs auf. Als Tourist war der Agent ins Land gekommen, um den Gerüchten über die Vampire nachzugehen. Nicht einmal der Geheimdienst, der die bisherigen Unterlagen bearbeitet hatte, wußte von der Anwesenheit Henry Parkers. Parker hatte alle Fälle gründlich studiert, bei denen es angeblich zu Begegnungen mit Vampiren gekommen sein sollte. Er hatte sich die Opfer genau angesehen und lange Zeit beobachtet. Schritt für Schritt war er vorangekommen. Ein Fall weckte sein besonderes Interesse. Er stellte fest, daß in der Ortschaft Maurs ein Mann namens Simon Canol lebte, der offensichtlich das Opfer eines Vampirs war. Es gab einige Punkte, die X-RAY-18 aufmerksam gemacht hatten und sein Mißtrauen weckten. Monsieur Canol schien ein besonderes Verhältnis zu den rätselhaften Vampiren zu haben, von denen soviel gesprochen wurde, die aber bis zur Stunde noch kein Mensch gesehen hatte … Parker hatte Canol beschattet, hatte sein Leben und seine Angewohnheiten unter die Lupe genommen und einige erstaunliche Fakten zu Tage befördert. Canol war Biologe. Er bezeichnete sich selbst als Privatgelehrten, und er schien zu dem bekannten Professor Bonnard, einem erfolgreichen Archäologen und Historiker, der die Geschichte Ägyptens wie kein Zweiter kannte, in einem guten, freundschaftlichen Verhältnis zu stehen. Canol lebte und arbeitete in Maurs. Doch woran er eigentlich arbeitete, das vermochte niemand zu sagen. Er lebte sehr zurückgezogen in seinem kleinen Haus, das auf einer Anhöhe am Rande von Maurs lag. Regelmäßig verließ Canol seine Wohnung spät abends, wenn die Stadt in tiefer Dunkelheit lag. Parker hatte herausgefunden, daß Canols Ziel stets das gleiche war, und der Agent hatte sich vorgenommen, Canol an diesem Abend heimlich bis zu seinem Ziel zu begleiten. Er hatte einen bestimmten Verdacht. Jetzt war es an der Zeit, sich Gewißheit zu holen. Er hatte alles bis ins Detail durchdacht und geplant. Es konnte nichts schiefgehen. X-RAY-18 wandte sich vom Fenster ab, an dem er die ganze Zeit über gestanden hatte. Sein schlanker, sehniger Körper streckte sich unter einem tiefen Atemzug. Das Zimmer Parkers lag im Halbdunkel. Er hatte die Vorhänge vorgezogen, und es war angenehm kühl im Raum. Draußen lastete die Hitze eines staubigen, trockenen Sommertages. X-RAY-18 betrachtete eingehend die Skizze, die er sich angefertigt hatte. Schließlich faltete er die schimmernde Folie zusammen und verstaute sie in einem versteckten Fach seines Koffers. Parker trat wieder ans Fenster, blickte durch einen schmalen Spalt des Vorhanges, durch den ein paar Sonnenstrahlen fielen. Das Licht reflektierte auf dem massiven Goldring, der 9
den Ringfinger seiner linken Hand zierte. Der Ring war ungewöhnlich gearbeitet. Er trug eine erhabene Weltkugel in seiner Fassung. Unter den goldfarbenen Kontinenten der Erde schimmerte das stilisierte Gesicht eines Menschen. In der schmalen Fassung waren die Worte Im Dienste der Menschheit eingraviert. Daneben stand die Bezeichnung X-RAY-18. Dieser Ring wies Parker nicht nur als Spezialagent aus, mit ihm hatte es auch eine besondere Bewandtnis … Henry Parker dachte an die Depesche, die er im Lauf der frühen Nachmittagsstunden erhalten hatte. Vom Nachrichtendienst der französischen Regierung war er vom Ableben Marc Lepoirs unterrichtet worden. Ganz in der Nähe von Maurs war es zu dem rätselhaften Tod des jungen Franzosen gekommen. Gewisse Einzelheiten paßten gut in das Bild, das Parker inzwischen gewonnen hatte, und doch war der Tod Lepoirs alles andere als eine Parallele zu den Fällen, die er bisher studiert hatte. Der geheimnisvolle Gegner begnügte sich nicht mehr damit, seine Opfer auszunutzen, er tötete sie … Zufall oder Absicht? Er würde bald mehr wissen; heute nacht schon hoffte er, den Schleier des Geheimnisses zu lüften. Der PSA-Agent verließ gegen 16 Uhr die kleine Pension. Er trug eine hellgraue Sommerhose und ein zitronengelbes Sporthemd. Auf der bloßen Haut lag die Schulterhalfter, in der eine moderne Smith and Wesson Laser steckte. Waffen dieser Art wurden nur von den Agenten der PSA benutzt. Parkers Gesicht war ernst und verschlossen, während er an den Cafés und Geschäften vorbeischlenderte, hier und da stehenblieb und sich eine Auslage betrachtete. Auf diese Weise erreichte er den Randbezirk der kleinen Stadt. Die Sonne brannte noch immer erbarmungslos. Die Luft war trocken und staubig, kein Lüftchen regte sich. Der einsame Spaziergänger bewegte sich schon wenig später auf der nach Süden führenden Landstraße. Sanft stiegen die Berge hinter den Feldern in die Höhe, die Pappeln am Straßenrand ragten wie dunkle Fackeln in den Himmel. In der Ferne, hinter drei mächtigen Buchen, erkannte X-RAY-18 das Haus Canols. Es lag inmitten eines parkähnlichen Gartens, der von einem schmiedeeisernen Gitter umzäunt war. Ein reicher Franzose hatte sich dieses villenähnliche Gebäude um die Jahrhundertwende bauen lassen. Canol erwarb es vor einigen Jahren und lebte in dem großen Haus ganz allein. Parker hätte seinen Wagen nehmen können, der in der Garage des >Petit Jardin< stand. Doch mit vollem Bewußtsein ging er zu Fuß. Sein Plan war so aufgebaut, daß er nur gelingen konnte, wenn er seinen Wagen in der Garage ließ. Er hatte sich alles genau überlegt. Canols Angewohnheit gab ihm die Möglichkeit, gemeinsam mit ihm zur gleichen Zeit das Ziel zu erreichen, ohne daß Canol Verdacht schöpfte, weil ein fremder Wagen ihm folgte. Parker lief auf der linken Straßenseite. Ein einziges Mal nur begegneten ihm zwei Radfahrer und ein Sportwagen. Die Straße lag wie eine graue, vor Hitze flirrende Schlange vor ihm. Und dann hörte er das Motorengeräusch hinter sich. Ein Wagen näherte sich. Unwillkürlich warf Parker einen Blick zurück. Im gleichen Augenblick schien sein Herz stehenzubleiben. 10
Ein dunkelblauer Citroën fuhr mit rasender Geschwindigkeit auf der linken Straßenseite. Der Wagen näherte sich ihm blitzschnell. Parker sah das fahle, ovale Gesicht und die dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen. Er sah das helle Pflaster, das einen Teil des Halses des Fahrers bedeckte. Er erkannte den Mann hinter dem Steuer. Es war Monsieur Canol. Und er erkannte im gleichen Augenblick die tödliche Gefahr, in der er nun schwebte. Canol wollte ihn umbringen! Wie ein Geschoß flog der Citroën auf ihn zu.
Die vierstrahlige TWA-Maschine rollte langsam aus. Sie kam im Nonstopflug aus New York. An Bord befanden sich einhundertzwanzig Passagiere. Unter den zahlreichen Geschäftsreisenden, zurückkehrenden französischen Touristen und neu eintreffenden amerikanischen Touristen befand sich ein Mann namens Larry Brent. Auch er war Tourist. Im Gegensatz zu den meisten Amerikanern, die nach Frankreich kamen, um Paris kennenzulernen, hatte Brent den Wunsch, die kleinen Städte und die Provinz zu sehen. Von Frankreich aus sollte sein Europatrip nach England, Deutschland und in die Schweiz führen. Brent hatte die Absicht, insgesamt acht Wochen ausgiebig Urlaub zu machen. Er war Agent des FBI. Larry mußte lächeln, wenn er daran dachte, daß die meisten glaubten, FBI-Agenten würden während ihrer Dienstausübung ständig auf Weltreise sein. Seine Arbeit spielte sich hauptsächlich in den Staaten ab. Dienstlich hatte er in Europa überhaupt noch nicht zu tun gehabt. Als Soldat hatte er sich zwei Jahre in Deutschland und während eines NATO-Truppenmanövers drei Wochen in England aufgehalten. Doch nun lernte er die Alte Welt endlich einmal als Tourist kennen. Er hatte diesen Urlaub seit langer Zeit vorbereitet, und er hoffte, daß kein unerwarteter Fall ihn in die Staaten zurückrief. Der Chef des FBI war jedenfalls ständig darüber unterrichtet, wo sich Brent an diesem oder jenem Tag aufhielt. Larry Brent war verpflichtet, jede Ortsveränderung telegrafisch mitzuteilen. Mit federnden Schritten näherte Larry Brent sich der großen Abfertigungshalle. Die Luft war erfüllt vom Dröhnen der auslaufenden Strahltriebwerke. Maschinen starteten, neue kamen an. Die blitzenden Vögel zogen wie Pfeile durch die Luft, stiegen rasch aufwärts und verloren sich in der Ferne des endlos blauen Himmels. Lautsprecherdurchsagen drangen an sein Gehör, ein Durcheinander von Stimmen erfüllte die Luft rundum. Viele Fluggäste besuchten unmittelbar nach der Ankuft das Flughafenrestaurant. Larry aber wollte keine weitere Zeit verlieren. Er wohnte der Zollkontrolle seines Gepäcks bei und verließ dann sofort das Flughafengelände. Die beiden schweren Koffer in der Hand, blickte er sich aufmerksam um. Er sah hinüber zu dem großen Parkplatz. Unmittelbar neben der Südeinfahrt stand ein silbergrau gestrichener Zeitungskiosk. Und neben dem Kiosk parkte ein rotes Cabriolet. 11
Ein kaum merkliches Aufatmen kam über Larrys Lippen. Es hatte alles planmäßig geklappt. Der Wagen, den er telefonisch bei einer großen Pariser Autoverleihfirma bestellt hatte, stand ihm zur Verfügung. Ein junger Bursche, noch keine zwanzig Jahre alt, stand lässig neben dem Cabriolet und rauchte eine Zigarette. Larry überquerte die Straße und ging auf ihn zu. Der Fremde trug einen hellen Arbeitsanzug, auf dessen linker Brusttasche ein rotes, ovales Schild aufgenäht war, das in dunkelblauen Buchstaben den Namen >Dumont< trug. Larry grinste. Sein sympathisches, sonnengebräuntes Gesicht wirkte in diesem Moment noch jugendlicher, als dies an sich schon der Fall war. Mit einer unbewußten Bewegung strich er sich die blonden, ständig in die Stirn fallenden Haare zurück. »Der Kundendienst klappt ja ausgezeichnet«, meinte er. Er stellte die Koffer ab. »Zum festgelegten Zeitpunkt am verabredeten Ort. Was will man mehr?« Der Beauftragte der Firma warf seine Kippe zu Boden und trat mechanisch die Glut aus. »Dumonts Service ist der beste, Monsieur. Wir haben schon mehr als einem amerikanischen Touristen einen Wagen vermietet. Wir haben Erfahrung.« Larry wies sich aus und überreichte dem Bringer des Cabriolets einen ausgefüllten Scheck und ein angemessenes Trinkgeld. Larry wechselte noch ein paar Worte mit dem Burschen und nutzte die Gelegenheit gleich, sein Französisch aufzupolieren. Dann setzte er sich hinter das Steuer des Cabriolets, ließ den Motor an und winkte dem jungen Franzosen lässig zu. »So, die Leihgebühr für vierzehn Tage wäre damit im voraus bezahlt«, sagte Larry, während er den roten Wagen langsam neben dem Franzosen hersteuerte. »In vierzehn Tagen bin ich wieder in Paris. Vielleicht verlängere ich auch meinen Aufenthalt in diesem Land. Es kommt ganz darauf an, wie es mir in der Provinz gefällt.« Der Angesprochene grinste. »Amerikaner haben eine Schwäche für das alte Europa. Sie finden hier all das, was sie in den Staaten vermissen. Es gibt hier Schlösser und Burgen…« Larry lachte und gab etwas mehr Gas. Er wollte seine Zeit nicht mit Geplänkel verbringen. Er hatte die Absicht, noch in dieser Nacht sein Standquartier in Maurs zu beziehen. In einer kleinen Pension, im >Petit JardinLe Petit JardinLe Petit Jardin