Maja Merling
Das Grab mit den weißen Rosen Irrlicht Band 096
Ich bekam einen fürchterlichen Schlag über den Kopf. Ich...
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Maja Merling
Das Grab mit den weißen Rosen Irrlicht Band 096
Ich bekam einen fürchterlichen Schlag über den Kopf. Ich spürte noch, wie ich gestoßen wurde, ich spürte zwei Hände in meinem Rücken, gegen die ich völlig machtlos war, und dann stürzte ich in den Abgrund…
Es herrschte Nebel, als wir in London landeten. Unser Chefpilot hatte schon befürchten müssen, keine Landeerlaubnis mehr zu bekommen. Aber dann holten die Fluglotsen unsere aus New York kommende Maschine doch noch herunter. Die Sicht reichte gerade noch aus. Eine Viertelstunde später war alles dicht. Die beiden großen Londoner Flughäfen wurden geschlossen. Ich frage mich heute oft, was wohl geschehen wäre, wenn das Flugzeug, in dem ich als Stewardeß Dienst tat, an jenem Tag nicht hätte in London landen können, wenn wir irgendwohin umgeleitet worden wären. Wäre dann überhaupt etwas geschehen? Fast möchte ich es bezweifeln. Es wäre dann ja nicht zu dem geradezu unglaublichen Zufall gekommen, zu dieser Begegnung, die in mir eine Wunde aufriß, die gerade zu heilen begonnen hatte. Es wäre nicht zu einer Begegnung gekommen, die mich innerlich aufwühlte und in mir den Entschluß reifen ließ, doch nicht einfach alles auf sich beruhen zu lassen, sondern Spuren nachzugehen, die mich bis dahin gleichgültig gelassen hatten. Plötzlich erkannte ich, daß meine Gleichgültigkeit ein Fehler war und daß es noch Fragen gab, auf die ich eine Antwort finden mußte. Es handelte sich schließlich um meine Mutter… Meine Mutter war nämlich vor einiger Zeit im fernen Südamerika tödlich verunglückt. Man hatte mir mitgeteilt, daß sie mit einem Auto in eine Schlucht gestürzt war. Der Wagen hatte Feuer gefangen. Es war nicht viel gewesen, was man von der einzigen Insassin hatte bergen können. Fassungslos traurig hatte ich am Grab gestanden. Ich mußte mich mit der bitteren Erkenntnis abfinden, daß es nun
endgültig zu spät war, mich noch um ein besseres Verhältnis zu meiner Mutter zu bemühen. Es hatte leider kein sehr gutes Verhältnis bestanden zwischen mir und meiner Mutter. Doch das ist eine andere Geschichte… An jenem nebligen Tag in London dachte ich auch nicht darüber nach, was ja nun nachträglich doch nicht mehr zu ändern gewesen wäre. Was ich genau dachte, kann ich nicht in Worte fassen. Es wurde etwas in mir aufgewühlt, ich wurde nachdenklich, neugierig und entschloß mich endlich zum Handeln. So kam ich dann dem schaurigen Geheimnis auf die Spur, das mich um ein Haar das Leben gekostet hätte und wodurch die gräßliche Katastrophe ausgelöst wurde. Ich war froh, als wir in Heathrow unseren Flug beendeten und ich, zusammen mit meinen Kollegen, kurz nach den Passagieren die Maschine verlassen konnte. »Kommst du mit, Pamela?« fragte Linda, meine Kollegin, mit der ich ein wenig befreundet war. »Jim hatte Geburtstag, wir wollen nachträglich noch ein wenig feiern.« Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte ich. »An sich würde ich gern mitkommen. Aber ich habe schon etwas anderes vor.« Das stimmte auch. Heute denke ich zwar, daß das Schicksal mir mit Lindas Einladung noch einmal eine Chance gab, aber ich hatte kein Gespür dafür. Ich schlug diese Chance aus. Außerdem freute ich mich auf den Theaterbesuch. Ich hatte von New York aus, wo ich wohne, eine Karte für die Königliche Oper Convent Garden bestellt, und es stand »Don Carlos« auf dem Spielplan. Ich liebe diese Oper von Verdi besonders, und so freute ich mich ehrlich auf den bevorstehenden Kunstgenuß. Im Hotel machte ich mich hübsch für den Abend. Ich hatte in meinem Stewardessen-Gepäck das großblumige Seidenkleid
mitgebracht, das ich noch nie getragen hatte. Sinnend hielt ich das duftige Gebilde in der Hand und trat damit vor den Spiegel. Es waren ziemlich auffallende, wenn auch geschmackvolle Farben, und sie harmonierten gut mit meinem hellen Haar. Ich hätte mir ein solches Kleid sicherlich nicht gekauft, denn ich bevorzugte diskretere Eleganz. Dieses Kleid hatte meine Mutter mir geschickt. Es war ihr letztes Geschenk gewesen. Sie mußte es wohl in Caracas gekauft haben. Dort, in der Hauptstadt Venezuelas, hatte sie zuletzt gelebt, und dort war sie auch tödlich verunglückt. Schauspielerin war meine Mutter gewesen. Keine von den ganz Großen, aber sie war ziemlich viel in der Welt herumgekommen. Zuletzt, glaube ich, hatte der Name Tiffany Kendall allerdings viel von seinem Glanz verloren. Ich wußte nicht einmal, ob Mutter bei ihrem letzten Engagement in Caracas viel Erfolg gehabt hatte. Es hatte mich ganz einfach nicht interessiert. Als ich jetzt dieses Kleid anziehen wollte, verspürte ich so eigenartiges Unbehagen. Ich glaubte meine Mutter plötzlich neben mir zu sehen, wie ich da vor dem Spiegel in meinem Hotelzimmer stand. Schemenhaft zeichnete sich das Bild der schlanken, zierlichen Frau neben meinem eigenen Spiegelbild ab – und sie schien mir schmerzlich zuzulächeln. Unwillkürlich schüttelte ich mich und ich spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam. Im allgemeinen neige ich durchaus nicht dazu, Geister zu sehen oder mich durch unheimliche Erscheinungen verrückt machen zu lassen, aber gegen jenes eigenartige Gefühl konnte ich mich nicht wehren. Am liebsten hätte ich das Kleid, das mit dem Geist meiner Mutter verbunden zu sein schien, überhaupt nicht angezogen. Aber ich hatte nichts anderes mitgenommen, und in meiner
Stewardessen-Uniform wollte ich nun wirklich nicht in die Oper gehen. Also vollendete ich nun meine Toilette. Ich gefiel mir schließlich sogar recht gut in dem bunten Seidenkleid. Rasch aß ich im Hotel-Restaurant noch eine Kleinigkeit, dann machte ich mich auf den Weg zum Royal Opera House. Inzwischen war der Nebel wirklich scheußlich geworden. Grau und feucht lastete er in den Straßen. Das Atmen fiel mir schwer, als ich aus der Underground-Station trat, um das letzte Stück bis zur Oper zu Fuß zu gehen. Wieder empfand ich ein eigenartiges Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte. Es war wie eine Beklemmung oder gar Angst – Angst vor etwas Drohendem, das von irgendwoher auf mich zukam. Ich wußte, wie unsinnig das war, aber ich konnte dieses Gefühl trotzdem nicht abschütteln. Ich führte es auf den Nebel zurück. In New York hatten wir strahlenden Sonnenschein gehabt. Der Wechsel in diese Londoner Waschküche konnte einem schon aufs Gemüt gehen. Im Opernhaus war dann alles sehr schnell vergessen. Die Atmosphäre nahm mich sofort gefangen, und als dann die Musik einsetzte, als der Vorhang sich hob und den Blick freigab auf die weite Bühne, als herrliche Stimmen den Raum erfüllten, da waren all meine trüben Gedanken verflogen. Ich fühlte mich in die zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts an den Hof des spanischen Königs versetzt, litt mit dem jungen Infanten und seiner schönen Stiefmutter, fühlte aber auch mit dem stolzen, einsamen König – kurz, ich genoß den Opernabend uneingeschränkt. Ich war fasziniert und begeistert. Diese Stimmung begleitete mich auch in die Pause. Ich bedauerte es zwar, daß ich allein war, ich hätte gern mit jemandem über die gute Aufführung gesprochen. Immerhin
gastierten internationale Spitzenkräfte an der Londoner Königlichen Oper. Aber es war auch interessant, allein das Treiben im Foyer und dem prächtigen Treppenhaus zu beobachten. An einem der dicht belagerten Büfetts ergatterte ich ein Glas Champagner und trank ihn genüßlich in kleinen Schlucken. Und dabei sah ich sie!
*
Sie war sehr elegant, schlank und zierlich wie immer, das tizianrote Haar war meisterhaft frisiert, das Make-up untadelig, und der hochgewachsene grauhaarige Herr an ihrer Seite bot das vollendete Bild eines englischen Gentleman. »Mutter!« rief ich und drängte mich zu den beiden vor. Sie waren nur etwa zwei Meter von mir entfernt, aber es herrschte ein ziemliches Gedränge im Foyer. »Dann ist das alles nicht wahr gewesen…«, stammelte ich und drängte eine ältere Dame zur Seite, die mir keinen Platz machen wollte. »Ach, Mutter!« Ich war völlig außer mir. Freude darüber, daß sie lebte und alles ein grausiger Irrtum gewesen sein mußte, stritten mit Unglauben, wie so etwas möglich sein konnte. Die Dame in dem silbergrauen Seidenkleid mit der kostbaren Perlenkette zuckte sichtlich zusammen, und sie schien bleich zu werden unter ihrem Make-up. Sie öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, aber ihr Begleiter ergriff sie fest beim Arm, und zu mir sagte er mit gerunzelter Stirn: »Hier dürfte es sich wohl um einen Irrtum handeln, meine Dame. Ich bin Sir Gilroy Owen, und diese Dame ist Lady Medwenna Corwyn-
Owen, meine Frau, also wohl kaum Ihre Mutter. Ich schätze es gar nicht, auf eine so plumpe Art in ein Gespräch verwickelt zu werden. Guten Tag!« Damit wandte er sich ab und führte die Dame, die er immer noch am Ellenbogen hielt, die Treppe hinauf. »Bitte, entschuldigen Sie, ich habe mich geirrt«, sagte ich. Es war schon mehr ein Flüstern, und ich war sicher, daß es niemand hörte, ganz bestimmt nicht Lord Owen und seine Gattin, die sich bereits auf der Treppe befanden. Ich starrte hinter ihnen her und war so verwirrt wie noch nie in meinem Leben. Wie hatte mir so etwas passieren können! Meine Mutter war doch tot! Sie war verunglückt und in ihrem abgestürzten Wagen jämmerlich verbrannt. Gerade heute hatte ich so viel an sie gedacht. Nun begegnete mir hier eine Frau, die eine so unglaubliche Ähnlichkeit mit meiner Mutter hatte, daß ich an ihren Tod nicht mehr glauben konnte. Dabei hatte ich an dem offenen Grab in Caracas gestanden… Ich schüttelte den Kopf, fuhr mir mit der Hand über die Stirn, wie um dort einen Schleier fortzuziehen, der sich aber nicht entfernen ließ, und trank den Rest des Champagners aus, ohne es zu merken. Ich konnte nicht begreifen, was sich da gerade abgespielt hatte. Ich kam zu meinem Platz zurück, aber ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab. An den stürmischen Ovationen am Schluß beteiligte ich mich nicht. Ich verließ meinen Platz gleich, nachdem es im Theater hell geworden war. Ich war die erste an der Garderobe, bekam sofort meinen Mantel ausgehändigt und nahm mir nicht einmal
die Zeit, ihn anzuziehen, sondern eilte zum Hauptausgang, wo ich an der Seite stehenblieb. Ich wollte die Frau noch einmal sehen, die eine so unglaubliche Ähnlichkeit mit meiner verstorbenen Mutter hatte. Ich stand auf einer der zur Straße hinunterführenden Stufen, nicht gerade versteckt, aber auch nicht im Blickfeld. An sich war es ein interessantes Bild, das sich mir bot, wie die Theaterbesucher, zum Teil in großer Abendtoilette, die Oper verließen, angeregt plaudernd oder noch im Bann der beeindruckenden Aufführung. Sehenswert war die Auffahrt der Wagen vor der Treppe – so viele Rolls-Royce sieht man wohl wirklich nur in London… Aber dafür hatte ich jetzt kein Interesse. Ich hielt nur Ausschau nach der zierlichen, eleganten Frau und ihrem Begleiter; nach Lord und Lady Owen. Warum ich das tat, wußte ich selbst nicht. Ich legte mir auch keine Rechenschaft darüber ab. Vielleicht wollte ich mich überzeugen, ob die Ähnlichkeit wirklich so verblüffend war. Vielleicht hoffte ich auch, ich hätte mich getäuscht. Und dann sah ich sie – und wußte gleich, daß ich mich keineswegs getäuscht hatte. Lady Medwenna Corwyn-Owen war nun in einen kostbaren Pelz gehüllt. Sie wurde von ihrem Gatten wieder am Arm geführt, und sie sah so aus, als hätte sie es auch nötig, denn trotz des meisterhaften Make-ups wirkte sie krank, völlig erschöpft. Ich bildete es mir sicher nicht ein, daß ihre schönen, großen Augen unruhig umherschweiften, als suchten sie nach etwas. Oder nach jemandem? Ein grauer Rolls-Royce fuhr vor, ein Chauffeur, ebenfalls in Grau gekleidet, sprang heraus, öffnete den hinteren
Wagenschlag und war seinen Herrschaften beim Einsteigen behilflich. Lady Medwenna schaute sich noch einmal um, ehe ihre zierliche Gestalt in dem teuren Luxusgefährt verschwand, und sie blickte genau in meine Richtung. Erkannte sie mich? Mir war, als zuckte sie auch jetzt wieder zusammen. Aber Sir Gilroy, der der Blickrichtung seiner Gattin gefolgt war, schob diese nun energisch und beinahe grob in den Wagen. Er selbst setzte sich sogleich neben sie, er verdeckte nicht nur seiner Frau das Blickfeld, auch ich konnte die Lady in dem nun abfahrenden Wagen nicht mehr sehen. Ich blieb dann noch eine Weile allein dort oben auf der Treppe stehen, bis sich so ziemlich alle Theaterbesucher verlaufen hatten. Sicher machte ich einen recht merkwürdigen Eindruck, aber das war mir völlig egal. Und als ich mich dann endlich auf den Heimweg zu meinem Hotel machte, hatte ich immer noch das sonderbare Gefühl, das alles nicht wirklich, sondern nur in einem Traum erlebt zu haben.
*
Natürlich hielt diese Stimmung nicht allzu lange an. Schon am nächsten Tag fragte ich mich, wieso ich mich in eine derart absurde Vorstellung hatte hineinsteigern können. Sicher waren meine Müdigkeit und der Londoner Nebel schuld gewesen, daß es überhaupt so weit hatte kommen können. Ich war ja schon reichlich durcheinander gewesen, ehe ich ins Theater
kam, und die Begegnung mit dieser Frau, die meiner Mutter ähnelte, war mir dann fast unheimlich vorgekommen. Ich beschloß, nicht mehr daran zu denken und die Sache möglichst zu vergessen. Das wäre mir wahrscheinlich auch gelungen, wenn ich nicht schon bei einem meiner nächsten Flüge einen Mann kennengelernt hätte, der mir nicht nur auf Anhieb sympathisch war, sondern dessen Name mir auch schlagartig jenen Londoner Abend wieder ins Gedächtnis rief. Es war auf einem Flug von London nach New York. Ich betreute die Passagiere der Ersten Klasse und hatte nicht sehr viel zu tun, denn die Maschine war nicht ausgebucht. Schon beim Einsteigen war mir der hochgewachsene dunkelhaarige Mann mit den leuchtend blauen Augen aufgefallen, und aus der Art, wie er mir zur Begrüßung zunickte, erkannte ich, daß auch er mir eine gewisse Aufmerksamkeit zuwandte, und zwar etwas mehr, als es einer Stewardeß eigentlich zukommt. Zugegeben, das war an sich nichts Besonderes, denn wir Stewardessen haben von Beruf aus gut auszusehen, und da ergibt es sich zwangsläufig, daß die allein reisenden männlichen Passagiere uns Stewardessen gegenüber sehr aufmerksam sind und es auch zu Einladungen kommt, die wir in der Regel freundlich, aber bestimmt ablehnen. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, und manche Kollegin von mir hat unter ihren Passagieren den Lebenspartner gefunden. Doch daran dachte ich natürlich nicht, als mir jener Mann auffiel. Ich fand ihn nur sehr gut aussehend und ungemein sympathisch. Und ich war so neugierig, in der Passagierliste nachzusehen. Glaubte ich vielleicht, da einen bekannten Namen zu finden, vielleicht von Film oder Fernsehen oder aus der Politik? Ich weiß es nicht.
Zunächst sagte mir der Name Brendan Corwyn auch nichts. Ich ging meinen Pflichten an Bord nach, servierte die bestellten Getränke, verteilte internationale Zeitungen und was es eben so zu tun gibt zu Beginn eines Atlantikfluges. Der nette Fluggast, der mein besonderes Interesse erregt hatte, wollte einen Whisky haben. »Bitte schön, Mr. Corwyn«, sagte ich freundlich, als ich das goldbraune Getränk ins Glas goß. »Wohl bekommt’s!« In dem Moment, in dem ich den Namen aussprach, fiel mir ein, daß ich ihn doch schon einmal gehört hatte. Und ich wußte auch sofort, in welchem Zusammenhang, sah die Szene gleichsam wieder vor mir, die Szene in der Königlichen Oper in London. »Ich bin Sir Gilroy Owen«, hatte der Gentleman an der Seite der Dame gesagt, die ich irrtümlich für meine Mutter gehalten hatte, »und diese Dame ist Lady Medwenna Corwyn-Owen, meine Frau, also wohl kaum Ihre Mutter.« Ich hörte die hochmütige Stimme förmlich. Noch im nachhinein wand ich mich vor Verlegenheit. Genauso impulsiv, wie ich im Foyer der Oper auf diese Frau zugegangen war und als meine Mutter angesprochen hatte, sagte ich jetzt, ohne groß nachzudenken: »Ich habe vor einiger Zeit eine Lady Corwyn-Owen kennengelernt. Gibt es da einen Zusammenhang mit Ihrem Namen?« Das war natürlich ziemlich neugierig und eigentlich sogar schon indiskret, aber ich hatte überhaupt nicht nachgedacht. Mein Fluggast schaute mich dann auch etwas überrascht an. Aber vielleicht war das auch, weil es wirklich einen Zusammenhang zwischen ihm und dieser Lady gab. Eine ziemlich nahe Verbindung sogar. »Lady Medwenna?« fragte er und lächelte mich nett an. »Sie haben sie kürzlich getroffen?«
»Nun«, antwortete ich unbestimmt und überlegte, wie ich dieses Zusammentreffen wohl beschreiben könnte, ohne die ganze Geschichte erzählen zu müssen, die für einen Außenstehenden ja ohnehin kaum begreiflich sein würde. Doch Brendan Corwyn erlöste mich aus meiner augenblicklichen Verlegenheit, die er scheinbar kaum bemerkt hatte. »Lady Medwenna ist eine Tante von mir«, erzählte er unbefangen, und er erweckte dabei den Eindruck, daß es ihm gefiel, ein Gesprächsthema zu haben, das über die sonst üblichen Anknüpfungspunkte hinausging. »Geht es Lady Medwenna gut?« fragte er mich. »Ich war nämlich ziemlich lange nicht mehr in Wales, wofür ich mich eigentlich schämen müßte, denn da ich oft in London bin, könnte ich von dort aus ganz gut mal nach Corwyn-House fahren. Aber unsere verwandtschaftlichen Beziehungen sind nicht sehr eng. Ich gehöre einer Nebenlinie der Corwyns an. Besitzerin des Familienvermögens und des in der Tat prächtigen Herrenhauses an der walisischen Küste ist Lady Medwenna.« Er sagte es lächelnd und so, daß es ganz offensichtlich war, daß er die gegebenen Tatsachen nicht bedauerte. Er neidete es seiner Tante wohl nicht, Besitzerin des Familienvermögens und des Herrenhauses zu sein, und er machte auf mich auch ganz den Eindruck, als könne er sein Leben selbst in die Hand nehmen und aus eigener Kraft erfolgreich sein. Aber im Augenblick dachte ich weniger an Brendan Corwyn als an das, was ich gerade durch ihn erfahren hatte. Die Dame, die ich unbegreiflicherweise für meine Mutter gehalten hatte, für meine Mutter, die ja gar nicht mehr lebte, diese Dame war die reiche Besitzerin eines prächtigen Herrenhauses in Wales mit vermutlich dazugehörigen weiten Ländereien.
Und ich hatte sie mit meiner Mutter verwechselt, die sich bis zuletzt ihren Lebensunterhalt hatte verdienen müssen! Als »jugendliche Liebhaberin« war Mutter einmal eine gute Schauspielerin gewesen. Leider hatte sie es nicht geschafft, mit zunehmendem Alter das Rollenfach zu wechseln. Ich glaube, sie hatte es zuletzt recht schwer gehabt, überhaupt noch Engagements zu bekommen. Arme Mutter! Lady Medwenna hatte jedenfalls ein leichteres Leben gehabt. Der Fehler, den ich in der Oper gemacht hatte, störte nicht beträchtlich. Trotzdem hätte Sir Owen nicht so unfreundlich zu reagieren brauchen. Ich hatte mich schließlich nur geirrt, und war weder ihm noch seiner Gattin zu nahe getreten. Sir Owen, dachte ich spöttisch, hatte zwar ausgesehen wie ein typischer englischer Gentleman, doch benommen hatte er sich wenig gentlemanlike. Vielleicht spiegelte sich etwas von dem, was ich dachte, in meinem Gesicht wider, denn Brendan Corwyn fragte mich lächelnd: »Sind Sie länger auf Corwyn-House gewesen? Haben Sie eine nette Zeit dort verbracht?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich war nicht auf Corwyn-House«, erklärte ich, »und ich habe mich wohl auch mißverständlich ausgedrückt, wenn Sie nun annehmen, ich sei mit Lady Corwyn-Owen näher bekannt. Das entspricht durchaus nicht den Tatsachen.« »Ach?« machte mein Fluggast und schaute mich fragend an. Er erwartete eine nähere Erklärung. Oder wollte er nur das Gespräch nicht stocken lassen? Wie dem auch sei, ich war ihm eine Antwort schuldig. »Ich begegnete der Lady und ihrem Gatten in der Londoner Oper«, erklärte ich so beiläufig wie möglich, »und ich verwechselte sie mit – mit jemandem. Das ganze war mir dann ziemlich peinlich.«
»Ach so«, lächelte Brendan Corwyn und ersparte es mir, nähere Einzelheiten erzählen zu müssen. »Sie waren in Convent Garden?« fragte er statt dessen interessiert. »Was haben Sie gesehen? War es eine gute Aufführung?« Damit hatten wir ein neues Gesprächsthema, und diesmal war ich es, die das Thema eifrig aufgriff, denn ich wollte nicht mehr über Lady Medwenna oder über meine Mutter sprechen. Andererseits unterhielt ich mich gern mit Brendan Corwyn. Unsere Unterhaltung während dieses Atlantikfluges vertiefte meine spontane Sympathie noch. Zum Abschied gab Brendan Corwyn mir seine Visitenkarte, denn ich hatte seiner Bitte um ein Wiedersehen nicht gleich zustimmen mögen. Er lächelte mir zu, als er die Maschine verließ, als sei er ziemlich sicher, daß es ein Wiedersehen für uns geben würde. Ich freute mich auf ein paar Tage Urlaub, die ich im Haus meiner Pflegeeltern in der Nähe von New York verbringen wollte. Während ich mit meinem Auto unterwegs war, das während meiner Abwesenheit von New York wie immer am Kennedy Airport abgestellt gewesen war, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Zunächst spielte meine neue Bekanntschaft, also Brendan Corwyn, in meinen Gedanken die Hauptrolle. Allmählich wurde er jedoch durch das verdrängt, was mich seit der seltsamen Begegnung in London so sehr bewegte. Ich dachte wieder über meine Mutter nach, ich dachte daran, daß wir eigentlich nie einen besonders engen Kontakt zueinander gehabt hatten, und ich wunderte mich, daß es mir erst jetzt so richtig bewußt wurde, wie sehr ich das bedauerte. Ich war bei Pflegeeltern aufgewachsen, und das war natürlich der Hauptgrund dafür, daß meine Mutter mir fremd geblieben war. Sicher hatte sie ihrem Kind das unruhige Leben einer von
Engagement zu Engagement ziehenden Schauspielerin ersparen wollen, und tatsächlich hatte ich bei meinen Pflegeeltern eine schöne, glückliche Kindheit verbracht. Trotzdem hatte mir die Mutter gefehlt. Daß es dann auch später, als ich herangewachsen war, zu keinem engeren Kontakt zwischen mir und meiner Mutter gekommen war, war zu einem großen Teil meine Schuld gewesen. Ich liebte meine Mutter nicht sonderlich, verstand sie nicht und wies ihre Annäherungsversuche zurück. Jetzt bedauerte ich das sehr, und ich überlegte, ob Mutter und ich nicht hätten gute Freundinnen sein können… Müßige Gedanken, denn Mutter war ja tot! Wie sie gestorben war, wußte ich. Zumindest in groben Zügen. Plötzlich verspürte ich den Wunsch, mehr zu erfahren. Ich wollte wissen, wie Mutter zuletzt gelebt hatte. Und mit wem. Es hatte da einen Mann gegeben, das hatte sie mir andeutungsweise in einem ihrer letzten Briefe geschrieben, und ich hatte es so verstanden, daß ihr dieser Mann, von dem sie mir allerdings nichts Näheres mitteilte, sehr viel bedeutet haben mußte. Der Mann war übrigens zu Mutters Beerdigung nicht erschienen. Jedenfalls hatte er sich mir nicht zu erkennen gegeben. Es war überhaupt eine sehr traurige Beerdigung gewesen. Nur eine Handvoll Leute waren dem Sarg gefolgt. Mutter war wohl nicht sehr bekannt gewesen in Caracas, wo sie zuletzt gelebt hatte. Warum war Mutters Freund ihr nicht auf ihrem letzten Weg gefolgt? Das war eine Frage, die mich nun nicht mehr losließ.
Darüber sprach ich dann auch mit meiner Pflegemutter, die ich zärtlich Mummy nannte und in deren Haus ich mir eine recht hübsche Wohnung eingerichtet hatte. Zur Begrüßung hatte Mummy mir einen Apple-Pie gebacken, und dazu gab es Vanille-Eis und Ahornsirup, eine Leckerei, die ich schon als Kind besonders gern gemocht hatte. »Es ist schön, zu dir nach Hause zu kommen, Mummy«, sagte ich herzlich, während ich mir eine zweite Portion ApplePie auf den Teller häufen ließ. »Ich freue mich auch immer auf dein Kommen, Pamela«, nickte meine Pflegemutter. »Es ist schön, daß du jetzt etwas Zeit hast. Wir wollen uns ein paar wunderschöne Tage machen während deines Urlaubs. Ich möchte dich so richtig verwöhnen nach deinem anstrengenden Dienst.« »Lieb von dir, Mummy«, antwortete ich zögernd. »Eigentlich war es genau das, worauf ich mich gefreut hatte, aber nun…« »Hast du andere Pläne, Pamela?« »Ich weiß nicht so recht, Mummy. Da sind so düstere, quälende Gedanken, die mir einfach nicht aus dem Kopf wollen, und ich habe das Gefühl, als müsse ich ihnen nachgehen.« »Was sind das für Gedanken, Pamela?« »Es geht um Mutters Tod«, sagte ich leise, und ich sprach wie zu mir selbst. »Ich habe ihn seinerzeit einfach so hingenommen. Der Unfall kam wie ein Schock für mich. Aber jetzt… Ich möchte einfach mehr darüber wissen.« »Über das Unglück?« »Ja, das auch. Aber mehr noch über Mutters Leben, über ihre letzten Wochen und Monate. Davon weiß ich praktisch nichts. Mutter schrieb mir zwei oder drei Briefe aus Caracas. Sehr viel stand nicht darin. Es wurde nur dieser Mann erwähnt. Mutter nannte keinen Namen, und sie schrieb auch nichts genaueres,
aber zwischen den Zeilen glaubte ich doch lesen zu können, daß der Mann für sie mehr war als einer ihrer üblichen Freunde. Er scheint ihr sehr viel bedeutet zu haben, und ich bin überzeugt davon, daß sie sogar seinetwegen nach Südamerika gegangen ist.« »Ich dachte, sie hätte ein Engagement in Caracas gehabt.« »Das habe ich damals auch gedacht. Aber ich bin mir jetzt nicht mehr so sicher. Ich glaube eher, Mutter hat nur dieses Mannes wegen in Caracas gelebt. Das möchte ich nun genau wissen, und ich möchte diesen Mann kennenlernen. Kannst du das Verstehen, Mummy?« »Ja, vielleicht«, meinte meine Pflegemutter nachdenklich. »Was mich aber wundert, ist der Umstand, daß du dir erst jetzt derartige Gedanken machst und diese Fragen stellst. Gibt es dafür einen besonderen Grund?« Ich zögerte kurz, aber dann entschloß ich mich, von meinem Londoner Erlebnis zu erzählen. Tatsächlich tat mir das Reden gut, aber befreit fühlte ich mich dadurch keineswegs. Ich wurde vielmehr nur noch in meinem Entschluß bestärkt, Mutters Spuren in Caracas nachzugehen, und dazu riet mir schließlich auch meine Pflegemutter. »Wenn du das Gefühl hast, es tun zu sollen«, meinte sie ruhig, »dann mußt du es auch tun. Ich glaube, das bist du dir selbst schuldig. Allerdings muß ich dich auch warnen, Pamela.« »Warnen? Wovor?« fragte ich verständnislos. Meine Pflegemutter antwortete bedächtig. Sie war zwar nicht mehr die Jüngste. Doch in ihrer schlichten Art war sie eine höchst gescheite Frau. »Es könnte ja sein, ist sogar wahrscheinlich, daß du bei deinen Nachforschungen manches erfährst, was vielleicht nicht schön und auch nicht schmeichelhaft für deine Mutter ist. Das
solltest du genau überlegen, ehe du dich auf den Weg machst, um den letzten Lebensabschnitt deiner Mutter zu erkunden. Du mußt dich dabei auch fragen lassen, ob es nicht vielleicht barmherziger wäre, nichts zu tun. Immerhin ist deine Mutter tot. Solltest du ihr nicht ihre Ruhe gönnen?« Ich überlegte eine ganze Weile schweigend, denn die Worte meiner Pflegemutter hatten mich nachdenklich gemacht. Hatte sie nicht recht? War es nicht vermessen von mir, im Leben meiner Mutter nachforschen zu wollen? Wenn sie mir nichts oder so gut wie nichts von ihrem Leben in Caracas geschrieben hatte, so mußte sie dafür ihre Gründe gehabt haben. Diese Gründe sollte ich eigentlich akzeptieren, auch jetzt noch, nach ihrem Tod. Der eine Teil meines Wesens neigte dazu, alles zu lassen, wie es war. Aber da gab es auch eine andere Seite, und diese erwies sich letztlich als stärker. Hätte es die Begegnung in London nicht gegeben, wäre ich sicherlich nie auf den Gedanken gekommen, noch etwas zu unternehmen. Ich hatte mich mit dem plötzlichen, tragischen Tod meiner Mutter abgefunden. Die Endgültigkeit dieses Abschieds hatte mich sehr betrübt, weil nun keine Möglichkeit mehr für eine Annäherung bestand. Doch die Begegnung im Opernhaus hatte etwas in mir aufgewühlt, von dessen Vorhandensein ich bis dahin nichts gewußt hatte, und ich spürte nun, daß diese andere Seite meines Wesens zum Handeln gezwungen war. Und dabei konnte ich keinerlei Rücksichten nehmen – weder auf mich noch auf meine arme tote Mutter. »Deine Überlegungen sind richtig, Mummy«, sagte ich also nach langem Nachdenken. »Aber ich muß trotzdem tun, wozu ich mich entschlossen habe. Mutter ist tot, das ist zwar richtig, und man soll den Toten ihre Ruhe gönnen. Aber ich lebe,
Mummy, und ich werde niemals wieder Ruhe finden können, wenn ich nicht diesen Weg gehe, den mein Gefühl mir vorschreibt. Ich hoffe, Mutter wird mir verzeihen.« So flog ich also nach Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Ich nahm mir ein Zimmer in einem nicht zu großen MittelklasseHotel in der Innenstadt, wo ich auch seinerzeit bei Mutters Beerdigung gewohnt hatte, und, nachdem ich mich ein wenig frisch gemacht und umgezogen hatte, führte mich mein erster Weg zum Friedhof. Ich hatte einen Gärtner mit der Pflege von Mutters Grab beauftragt, erwartete also, alles in Ordnung vorzufinden. In der Beziehung wurde ich auch nicht enttäuscht. Aber da war etwas, was meine Aufmerksamkeit und auch meine Neugier erregte. Am Fuß der Grabstätte stand eine große, wunderschöne Blumenvase aus Marmor, ein zweifellos ziemlich kostbares Stück, das ich weder gekauft noch bestellt hatte. Die Vase war gefüllt mit einem prächtigen Strauß weißer Rosen, die noch ganz frisch waren, wahrscheinlich erst an diesem Tag hinausgebracht worden. Wer hatte das wohl getan? Mutters Freund? Der Mann, der ihr bis zuletzt so viel bedeutet hatte? Vielleicht würden diese weißen Rosen mich zu jenem Mann führen. Denn um ihn zu finden, war ich ja nach Caracas gekommen. Nachdem ich eine Weile in stillem Gedenken am Grab verweilt hatte, machte ich mich auf den Weg zu der Friedhofsgärtnerei, der ich den Pflegeauftrag erteilt hatte. Hier wie überhaupt in Venezuela hatte ich keine Sprachschwierigkeiten, denn da ich schon einmal für eine spanische Linie geflogen bin, spreche ich ganz gut spanisch, und das ist ja die Landessprache in Venezuela.
Und so erfuhr ich etwas Merkwürdiges. Ich erfuhr, daß ständig weiße Rosen an Mutters Grab standen. Der Gärtner hatte den Auftrag, in regelmäßigen Zeitabständen immer wieder einen neuen Strauß in die schöne, geschwungene Marmorvase zu stellen. »Wer hat diesen Auftrag erteilt?« fragte ich gespannt, denn nun hoffte ich, den Namen des Mannes zu erfahren, den ich so gern kennenlernen wollte. Aber ich wurde enttäuscht. »Es ist eine Dame«, sagte man mir. »Eine Dame? Wie heißt sie?« Doch der Gärtner zuckte die Schultern. »Sie hat ihren Namen nicht genannt. Aber die Rechnungen werden pünktlich bezahlt. Aus England wird das Geld überwiesen.« »Aus England?« fragte ich, denn ich glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. Der Mann nickte. Mir half diese Auskunft wenig. Ich war nur erstaunt, daß Mutter offenbar eine sehr gute Freundin in England gehabt hatte. Eine zweifellos wohlhabende Freundin, denn es mußte einen beträchtlichen finanziellen Aufwand bedeuten, ständig für diese weiße Rosenpracht auf einem Grab in Caracas zu sorgen. Das waren aber eigentlich die einzigen Gedanken, die ich mir über die weißen Rosen und jene mir unbekannte Auftraggeberin in England machte. Ich vergaß die weißen Rosen sogar, weil mir jedes Gespür dafür fehlte, daß sie wichtig sein könnten. Und es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich die Zusammenhänge begriff, aber da war es schon zu spät, um noch in das schreckliche Geschehen eingreifen zu können. Hätte ich sonst etwas ändern können?
Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, ob es gut gewesen wäre. Bereits Geschehenes konnte ja nicht mehr rückgängig gemacht werden, und sonst… Aber ich will der Reihe nach erzählen. Hier in Caracas suchte ich jedenfalls nur nach einer Spur, die mich zu Mutters letztem Freund führen sollte. Diese Spur hoffte ich dort zu finden, wo Mutter bis zu ihrem Tod gewohnt hatte. Anläßlich der Beerdigung war ich schon einmal in der Pension gewesen, wenn auch nur kurz, weil die Zeit so knapp gewesen war. Ich war zwar erschrocken über dieses Quartier, doch der Schock über Mutters plötzlichen tragischen Tod ließ alles unwichtig und nebensächlich erscheinen. Doch jetzt sah ich mit wachen, kritischen Augen, und ich war entsetzt. Hatte Mutter wirklich hier gelebt? Konnte sie sich hier wohl gefühlt haben? Ich stand in dem winzigen Empfangsraum und schaute mich schaudernd um. Die Pension befand sich in einem ziemlich verkommenen Haus in der Altstadt von Caracas. Dieser sogenannte Empfangsraum bestand eigentlich nur aus dem unteren Teil des engen Treppenhauses. So etwas wie eine Theke stand an der Seitenwand, die mit einer scheußlichen geblümten Tapete beklebt war, vorherrschende Farbe war ein ziemlich aufdringliches Violett. Die Theke selbst war leuchtend rot lackiert, genauso wie das neben der steilen Treppe nach oben führende Geländer. Ein neuer Anstrich wäre dringend nötig gewesen, der Lack blätterte bereits überall ab, und es war unschwer zu erkennen, daß Theke und Treppengeländer irgendwann einmal in giftgrüner Farbe geglänzt hatten.
Die Treppenstufen waren mit einem verblichenen, abgetretenen Läufer belegt, und über der Theke baumelte eine Lampe mit rotem Seidenschirm und Perlschnüren an den geschwungenen Kanten. In der Ecke des schmalen Raumes stand ein roter Plüschsessel mit einem schmuddeligen Spitzendeckchen über dem Kopfteil. Ich konnte mir nicht helfen, aber ich mußte unwillkürlich an eine billige Absteige denken. Natürlich war ich selbst noch niemals in einem derartigen Haus gewesen, aber so ungefähr stellte ich mir so etwas vor. Hier hatte Mutter gelebt? War sie zuletzt wirklich so arm gewesen, daß sie sich keine bessere Unterkunft hatte leisten können? Die Wahl eines solchen Quartiers wäre höchstens dann einigermaßen verständlich gewesen, überlegte ich, wenn Mutter die Absicht gehabt hätte, sich zu verstecken, denn in einem solchen Haus würde man eine amerikanische Schauspielerin wohl kaum vermuten. Aber Mutter hatte sich doch nicht verstecken müssen! Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, daß das der Fall gewesen sein könnte. Warum also hatte Mutter hier gewohnt? Señora Rosita Pedro, die Pensionsinhaberin, schritt majestätisch die steile Treppe zu mir herunter. Sie war ziemlich korpulent und trug einen schwarzseidenen fußlangen Rock mit einer breiten Rüsche am Saum, dazu eine abenteuerlich weit ausgeschnittene, ebenfalls rüschenbesetzte rote Bluse. Das Rot der üppigen Lockenpracht war bestimmt nicht echt, es tat meinen Augen fast weh.
Mein Blick wurde dann von einer langen Kette verschieden großer Amethyste angezogen, die Señora Pedro um den schon etwas schwammigen Hals trug, und ich fragte mich unwillkürlich, ob es sich dabei um echte Steine handelte oder nur um billiges gefärbtes Glas. Irgendwie glaubte ich, die Kette auch schon einmal gesehen zu haben, aber derartigen Schmuck gibt es schließlich überall.
*
Señora Pedro erkannte mich nicht gleich, obwohl wir uns ja bereits kurz kennengelernt hatten, aber sie nickte dann freundlich und anscheinend auch erfreut, als ich meinen Namen genannt hatte. »Das ist schön, daß Sie mir einen Besuch machen«, sagte sie mit überraschender Herzlichkeit. »Die Tochter der armen Tiffany Kendall wird mir immer willkommen sein. Führt Sie ein besonderer Grund hierher zu mir, Señorita Kendall?« »Ja und nein«, antwortete ich zögernd. »Ich wollte eigentlich nur noch einmal dorthin kommen, wo Mutter zuletzt gelebt hat.« »Das ist schön von Ihnen, Señorita«, nickte Rosita Pedro lobend, wobei ihr Doppelkinn in beträchtliche Bewegung geriet. »Es ist schön, daß Sie Ihre arme Mutter nicht vergessen haben. Schade nur, daß Sie keine Zeit zu einem Besuch fanden, als sie noch lebte.« Das war ein wohl kaum verhüllter Vorwurf, aber ich ging nicht darauf ein.
»Erzählen Sie mir von meiner Mutter«, bat ich. »Ich möchte gern wissen, wie und mit wem sie zuletzt gelebt hat. Sie hat mir zwar geschrieben – aber was sind schon Briefe.« »Kommen Sie mit in den Salon, Señorita«, sagte die Pensionswirtin. »Dort können wir uns besser unterhalten.« Wir stiegen eine Treppe nach oben, und Señora Pedro führte mich in das, was für sie sicherlich das Prunkzimmer des Hauses war, und das bedeutete Tüllvorhänge vor dem Fenster, Samtportieren, ein Plüschsofa, diverse Plüschsessel, alles in Rot natürlich. Der muffige Staub reizte meine Nasenschleimhäute. »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Señora Pedro mit einer weit ausholenden Armbewegung. »Setzen Sie sich dort in diesen Sessel. Dort hat Ihre Mutter auch oft gesessen, wenn wir zusammen mal ein Gläschen getrunken haben. Wir haben uns immer gut verstanden.« »Hatte Mutter denn viel Zeit?« fragte ich vorsichtig, während ich mich mit einem etwas unbehaglichen Gefühl in den angebotenen Sessel setzte. »Ach ja, Tiffany hatte viel Zeit«, seufzte die Pensionswirtin. »Sie hatte ja keine Arbeit, und sie wartete wohl immer.« »Mutter arbeitete nicht? Hatte sie denn kein Engagement bei einem Theater?« »Engagement?« Die dicke Frau lachte fast mitleidig. »Aber nein, Tiffany hatte kein Engagement. Ich weiß nicht einmal, ob sie sich darum bemüht hatte.« »Und worauf wartete sie?« fragte ich rasch. Rosita Pedro zuckte die Achseln. Sie machte ein Gesicht, als sei sie nachträglich noch beleidigt, während sie in klagendem Ton sagte: »Das weiß ich nicht. Sie hat es mir nicht gesagt. Obschon ich ihr meine Freundschaft angeboten habe, war sie in mancher Beziehung verschlossen wie eine Auster. Sie hat
mir nicht einmal gesagt, warum sie hier in Caracas war. Sie, die Amerikanerin, hatte sich hier in meinem Haus vergraben.« »Aber da gab es doch einen Mann!« warf ich erstaunt ein. »Einen Mann?« fragte die Señora und lachte ein bißchen geringschätzig. »Aber nein, da gab es keinen Mann. Das hätte ich schließlich merken müssen. Tiffany Kendall lebte allein hier in Caracas, sie hat in meinem Haus kein einziges Mal Herrenbesuch empfangen. Nur diese Dame kam manchmal, aber auch nicht oft.« »Eine Dame? Wer war das?« »Das weiß ich nicht, Tiffany hat uns nicht bekannt gemacht.« Señora Pedro schien auch darüber noch nachträglich beleidigt. »Sie war blond, ziemlich hübsch, jünger als Tiffany, elegant und vor allem teuer gekleidet.« »Waren die beiden gut befreundet?« fragte ich, denn ich hatte unwillkürlich an die weißen Rosen auf Mutters Grab gedacht. Doch Señora Pedro schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das waren keine Freundinnen. Die Blonde blieb auch niemals lange. Ich glaube fast, sie hat Tiffany finanziell unterstützt. Denn immer nach ihren Besuchen bezahlte Tiffany ihre Rechnung.« Das gab mir einen Stich. Hatte Mutter sich wirklich in einer so miserablen Situation befunden, daß sie sich finanziell unterstützen lassen mußte? Und von wem? Wer war diese »Blonde«, von der ich hier zum erstenmal gehört hatte. »Sie wissen es wirklich nicht, wer diese Dame war, Señora?« Rosita Pedro sah mich abschätzend an. »Ich schnüffele nicht, und ich schwätze nicht«, sagte sie stolz. »Aber weil Sie es sind, und weil Sie sich so nett benommen haben mir gegenüber, will ich einmal abweichen von meinen Grundsätzen.«
Sie schaute mich beifallheischend an. Ich hatte keine Ahnung, inwiefern ich mich besonders nett benommen haben sollte dieser mir doch völlig fremden und gleichgültigen Frau gegenüber, aber ich machte ein erfreutes, erwartungsvolles Gesicht. »Sie kennen also die Adresse?« »Die Adresse nicht, nur den Namen und die Telefonnummer. Ich habe nämlich einmal in Tiffanys Auftrag mit ihr telefonieren müssen. Und den Zettel, den sie mir dazu gab, habe ich aufgehoben.« »Das ist wundervoll«, sagte ich und freute mich nun wirklich. »Die Adresse werde ich dann schon herausfinden. Vielleicht kann diese Dame mir noch ein bißchen mehr über meine Mutter erzählen. Und«, fügte ich hinzu, »falls Mutter noch Schulden bei ihr haben sollte, so möchte ich diese dann begleichen. Wie ist es bei Ihnen, Señora Pedro? Hatte Mutter bei Ihnen Schulden?« Die Wirtin schien zu überlegen. Spielte sie wohl mit dem Gedanken, hier rasch ein unerwartetes Geschäft zu machen? Doch sie entschloß sich zur Wahrheit. »Tiffany hat alles bezahlt«, sagte sie entschieden. »Einen Tag vor ihrem… vor dem Unglück. Es ist gerade so, als hätte sie es geahnt. Sie hat alles bezahlt und dann auch noch für ein paar Tage im voraus. Nein, bei mir hatte Tiffany keine Schulden mehr. Und daß Sie dann auch noch Tiffanys Versprechen eingelöst haben, Miß Kendall, war wirklich sehr großzügig von Ihnen. Ich habe mich riesig gefreut. Und wie Sie sehen, halte ich Tiffanys Geschenk auch sehr in Ehren.« »Ein Geschenk von meiner Mutter?« fragte ich erstaunt. »Was habe ich damit zu tun?« »Na, Sie waren es doch wohl, die mir die Kette geschickt hat, Miß Kendall«, lächelte Rosita Pedro und drohte mir neckisch mit dem Finger. »Zwar kam das Päckchen anonym bei mir an,
aber nur Sie können es geschickt haben. Schließlich waren Sie Tiffanys Erbin, Sie haben ihre persönlichen Habseligkeiten mitgenommen, und auch Sie nur können von dem Versprechen gewußt haben, welches Tiffany mir so kurz vor ihrem Tod gemacht hat. Hat sie Ihnen davon geschrieben? Oder wie haben Sie es erfahren?« Ich verstand kein Wort. Rosita Pedro spielte mit beiden Händen mit ihrer Kette aus Amethysten – und jetzt verstand ich. Wenigstens einen Teil. Es handelte sich um Mutters Kette! Daher war mir der Schmuck bekannt vorgekommen. Die Kette hatte einmal Mutter gehört. Und ich sollte sie dieser Zimmerwirtin in Caracas geschickt haben? Das stimmte natürlich nicht. Welche Veranlassung hätte ich dazu haben sollen? Ich wußte nichts von Mutters Versprechen, und außerdem hatte sich diese Kette nicht in Mutters bescheidener Hinterlassenschaft befunden. Dessen war ich mir ganz sicher. »Mir hat diese Kette immer so gut gefallen«, erzählte die dicke Wirtin verträumt, »und eines Tages versprach mir Tiffany, daß ich sie einmal bekommen sollte. Ich habe das natürlich nicht ernst genommen, und als Tiffany dann tot war, dachte ich überhaupt nicht mehr daran. Und dann, eines Tages, kam dieses Päckchen, Tiffanys Kette! Ohne ein Wort. Sie wollten wohl keinen Dank, Miß Kendall. Aber ich habe mich wahnsinnig gefreut, das können Sie mir glauben. Und Tiffany hätte sich sicher auch gefreut über die Großzügigkeit ihrer Tochter.« Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte, also schwieg ich und ließ die Señora in dem Glauben, daß ich ihr die Kette geschickt hätte.
Ich konnte mir selbst nicht vorstellen, wer der Zimmerwirtin Mutters Kette geschickt haben könnte, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie diese mir unbekannte Person in den Besitz von Mutters Kette gelangt sein könnte. Ich fand das alles zwar ziemlich merkwürdig, aber im Grunde doch auch nicht allzu wichtig. Mochte der Himmel wissen, wem Mutter die Kette gegeben, wem sie von ihrem Versprechen der Zimmerwirtin gegenüber erzählt hatte. Jedenfalls war es ein ehrlicher Mensch gewesen, denn die Wirtin hatte die Kette nach Mutters Tod bekommen. Ich aber war dieser ehrliche Mensch nicht, mochte Rosita Pedro auch davon überzeugt sein. Ich verabschiedete mich nun, bedankte mich noch einmal für die Telefonnummer, die ich wirklich bekommen hatte, und verließ rasch das reichlich muffige Haus. Draußen atmete ich erst einmal tief, obwohl die Luft hier mitten in der Altstadt von Caracas auch nicht gerade besonders gut war. Immerhin erschien sie mir wie die reinste Bergluft nach der beklemmenden Atmosphäre im Haus der Rosita Pedro. Wie Mutter es da ausgehalten hatte! Und warum hatte sie überhaupt dort gewohnt? Vielleicht könnte die Frau, deren Telefonnummer ich nun in der Tasche hatte, mir darüber etwas erzählen.
*
Ich hatte keine Schwierigkeiten, die Adresse herauszufinden, und machte mich dann in einem Taxi auf den Weg. Der Name »Beverly Seabrook« sagte mir überhaupt nichts, und ich war sicher, ihn noch niemals gehört zu haben. Ob Mutter wirklich
in einer näheren Beziehung zu dieser Frau gestanden hatte? Ich wußte inzwischen auch, daß es sich um eine Engländerin handelte und daß sie eine Angehörige der britischen Botschaft in Caracas war. Das Wohnviertel, in das mich das Taxi brachte, gehörte sicherlich zu den elegantesten von Caracas, und entsprechend waren auch das Haus und die Wohnung von Miß Seabrook. Der Unterschied zur letzten Behausung meiner Mutter wurde mir schmerzlich bewußt. Die Sprechanlage am marmorgetäfelten Hauseingang schien nicht richtig zu funktionieren. Ich hörte nur ein Krächzen, nannte trotzdem meinen Namen, und erstaunlicherweise wurde sofort geöffnet. Miß Seabrook wohnte in einem der oberen Stockwerke. Ich fuhr mit dem Lift nach oben. Auch die Wohnungstür wurde gleich geöffnet. Ich sah eine hochgewachsene schlanke Blondine in einem eleganten schwarzen Hausanzug, die ihrerseits von mir praktisch gar keine Notiz nahm. Sie öffnete lediglich die Tür und ging gleich wieder zurück in das Innere der Wohnung. »Stellen Sie die Kartons in die Diele«, sagte sie dabei, »und dann kommen Sie mit der Rechnung herein. Ich begleiche sie sofort. Sie haben die Rechnung doch mitgebracht? Ich habe es so angeordnet.« Offenbar hatte Miß Seabrook jemand anderen erwartet. »Da liegt ein Irrtum vor«, sagte ich lächelnd und betrat die Diele. »Ich bin kein Lieferant.« Verärgert kam Miß Seabrook zurück. Sie musterte mich kritisch und ziemlich unfreundlich. »Wer sind Sie denn?« fragte sie barsch. »Und was wollen Sie? Ich habe keine Zeit.« »Ich muß mich wohl für mein unangemeldetes Kommen entschuldigen, Miß Seabrook«, antwortete ich höflich. »Aber ich wollte keine Zeit verlieren, denn mir liegt sehr daran, mich
mit Ihnen unterhalten zu dürfen. Ganz kurz nur, ich werde nicht zuviel Ihrer Zeit beanspruchen. Aber, entschuldigen Sie, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Pamela Kendall.« Miß Seabrook, die ein sehr hübsches, sehr gepflegtes Gesicht hatte mit dieser beneidenswerten typisch englischen Porzellanhaut, hatte mich, wie ich schon sagte, verärgert und unfreundlich angesehen, als sich herausstellte, daß ich nicht die erwartete Lieferantin war. Doch jetzt veränderte sich ihr Gesicht in ganz auffälliger Weise. Und zwar wurde es keineswegs freundlicher, sondern ich erkannte ganz deutlich ein heftiges Erschrecken. »Wer sind Sie?« stieß sie beinahe fassungslos hervor. »Pamela Kendall. Ich habe zufällig erfahren, daß Sie in näherer Beziehung zu meiner Mutter, Tiffany Kendall, standen, die, wie Sie ja wissen, auf so tragische Weise verunglückt ist. Ich selbst habe meine Mutter in der letzten Zeit bedauerlicherweise nicht mehr gesehen, und so verzeihen Sie es mir hoffentlich, daß ich unangemeldet und unaufgefordert zu Ihnen gekommen bin. Ich möchte gern möglichst viel darüber erfahren, wie meine Mutter zuletzt gelebt hat, warum sie überhaupt hier in Caracas war, denn ich muß gestehen, daß ich in der Beziehung nicht die geringste Ahnung habe.« Miß Seabrook ließ mich ruhig ausreden, dabei starrte sie mich aber an, als sei ich ein Geist, und ich begann mich bereits zu fragen, was ich denn wohl so Außergewöhnliches an mir hatte. Doch während ich sprach, gewann Beverly Seabrook ihre Fassung zurück. Sie straffte sich sichtlich, Erschrecken und Entsetzen wichen aus ihrem schönen Gesicht. Freundlichkeit ließ sich darin auch jetzt nicht entdecken. Wie Beverley
Seabrook auch nicht im Traum daran zu denken schien, mir einen Platz anzubieten. »Sie irren sich, Miß Kendall«, sagte sie kühl, »wenn Sie glauben, ich hätte eine engere Beziehung zu Ihrer Mutter gehabt. Wieso vermuten Sie überhaupt eine Verbindung?« Aus der Stimme glaubte ich jetzt sogar etwas Lauerndes heraushören zu können, aber das war wohl nur Einbildung, beschwichtigte ich mich selbst. »Ich war in der Pension, wo Mutter bis zuletzt lebte«, erzählte ich bereitwillig und völlig arglos. »Señora Pedro gab mir Ihre Telefonnummer.« »Woher kannte sie die Nummer?« fragte Beverly Seabrook hastig und böse. »Sie hat wohl einmal für Mutter telefoniert«, erwiderte ich erstaunt. »Ach so, ja.« Die Frau strich sich mit einer fahrigen Bewegung das blonde Haar aus der Stirn. »Entschuldigen Sie meine Heftigkeit«, sagte sie dabei widerwillig. »Aber ich habe es nicht gern, von dieser Seite her belästigt zu werden.« Sie verzog ironisch den schönen Mund. »Natürlich richtet sich das nicht gegen Sie persönlich, Miß. Aber ich habe meine Gründe.« »Die ich selbstverständlich respektiere«, antwortete ich ruhig. Ich konnte das Verhalten dieser Frau wirklich nicht verstehen. Sie benahm sich geradezu aufreizend unhöflich. »Mir geht es nur darum, etwas über die letzte Lebensphase meiner Mutter – zu erfahren.« »Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich Ihnen da nicht helfen kann. Ja, ich kannte Ihre Mutter, habe sie auch ein- oder zweimal in ihrem Quartier besucht. Aber dabei handelte es sich mehr oder weniger um eine geschäftliche Angelegenheit. Ich hatte etwas zu überbringen.«
»Was war das?« »Darüber kann ich nicht sprechen. Es ist auch völlig unwichtig. Sie müssen mich jetzt entschuldigen, Miß Kendall. Ich habe wirklich keine Zeit.« Ich reagierte nicht auf diesen Hinauswurf. »Sagen Sie mir doch bitte, was Sie meiner Mutter gebracht haben«, bat ich beharrlich. »War es Geld? Und wenn ja – wofür wurde Mutter bezahlt? Oder handelte es sich um bloße Geldgeschenke?« Beverly Seabrook verzog geringschätzig den Mund, trotzdem glaubte ich bei ihr eine gewisse, nur mühsam unterdrückte Erregung zu bemerken. »Hören Sie auf mit derartigen Nachforschungen, Miß Kendall«, sagte sie betont lässig. »Sie führen zu nichts – oder, besser gesagt, in Ihrem Fall würden vermutlich Illusionen zerstört. Sie können bei mir jedenfalls nichts erfahren, wie wohl überhaupt nicht in Caracas, und ich an Ihrer Stelle würde auch gar nicht nachforschen. Ihre Mutter ist tot, und diese Tatsache muß Ihnen genügen.« Bis zu diesem Zeitpunkt war ich völlig arglos gewesen. Ich hatte nur etwas mehr über Mutters letzte Lebenstage wissen wollen, sonst nichts. Doch nun dämmerte mir, daß es da möglicherweise etwas gab, was das Licht der Öffentlichkeit scheute, etwas, das vor mir verborgen bleiben sollte. Und Miß Seabrook schien darüber mehr, wenn nicht gar alles zu wissen. So wäre auch ihr Erschrecken zu erklären, als sie meinen Namen hörte. Aber, selbst wenn meine Vermutung richtig war, würde ich diese Engländerin bewegen, mir die Wahrheit zu sagen? Mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Beverly Seabrook war eine eiskalte Frau. Bitten konnten so jemand kaum erweichen. Und ich wußte absolut nichts, womit ich sie hätte zwingen können.
Was hatte sie bloß mit dem Satz gemeint: »Ihre Mutter ist tot, und diese Tatsache muß Ihnen genügen?« Normalerweise spricht man doch nicht so über jemanden, der tödlich verunglückt ist. Oder verrannte ich mich jetzt in einen absurden Gedanken? Ich schaute die Engländerin an und bemerkte den lauernden Blick unter halbgeschlossenen Lidern. Vielleicht kann ich sie doch beunruhigen, dachte ich plötzlich. Wenn ich auch nichts Konkretes in der Hand hatte, mußte es doch möglich sein, die Abwehrmauer zu durchbrechen. Also straffte ich mich und machte nun meinerseits ein möglichst hochnäsiges Gesicht. »Ich darf Sie nochmals bitten, mein Kommen zu entschuldigen, Miß Seabrook«, sagte ich kühl. »Selbstverständlich kann ich Sie nicht zwingen, mir alles zu sagen, was Sie wissen. Einiges haben Sie mir übrigens, ohne es zu wollen, doch gesagt. Allerdings genügt mir das nicht, wie Sie sich unschwer denken können. Mit Sicherheit werde ich Ihren Rat nicht befolgen.« Ich merkte, wie sie sich versteifte, als wollte sie sich wappnen. Da fuhr ich noch beherzter fort: »Ich gedenke mich nicht mit der Tatsache abzufinden, daß meine Mutter tot ist. Auch ohne Ihre Hilfe werde ich erfahren, was ich wissen möchte. Tut mir leid, daß Sie sich durch mein Kommen derart unangenehm gestört fühlen. Einen guten Tag wünsche ich.« Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und verließ die Wohnung, die übrigens ziemlich luxuriös, wenn auch reichlich unpersönlich eingerichtet war. Wahrscheinlich handelte es sich um eines jener Appartements, die gegen gutes Geld möbliert vermietet werden.
Meine Mutter freilich hatte sich eine solche Wohnung nicht leisten können. Welche Verbindung hatte es wohl zwischen ihr und der höchst unsympathischen Beverly Seabrook gegeben? Ich war fest entschlossen, das herauszufinden, wenn ich auch nicht die geringste Ahnung hatte, ob diese Frage überhaupt von Bedeutung für mich war. Aber ich hatte so ein merkwürdiges, fast unheimliches Gefühl bekommen, das mich einfach zum Handeln zwang. Zum Handeln? Wo sollte ich anfangen? Daß die Pensionswirtin Rosita Pedro nichts wußte, glaubte ich ihr. Ebenso offenkundig war, daß Beverly Seabrook schweigen würde. Und an wen konnte ich mich sonst wenden hier in Caracas? Unschlüssig zögerte ich auf der Straße vor der Wohnung der Engländerin. Ich ahnte nicht, daß ich allein durch mein Auftauchen etwas ins Rollen gebracht hatte, das mich um ein Haar das Leben kosten sollte – und das nicht nur einmal… Wenn ich nur den geringsten Anhaltspunkt gehabt hätte! Ich zermarterte mir an diesem Abend und in der folgenden Nacht vergeblich den Kopf, aus was mein angekündigtes Handeln bestehen könnte. Der dumpfe Verdacht, daß hier etwas nicht stimmte, genügte nicht, um zur Polizei zu gehen. Auch mit der ungewöhnlich abwehrenden Haltung von Miß Seabrook ließ sich nichts anfangen. Blieb also doch nichts anderes übrig, als nach New York zurückzufliegen? Ich saß am nächsten Morgen beim Frühstück und versuchte, einen Entschluß zu fassen. Da kam der Kellner an meinen Tisch und rief mich zum Telefon. Erstaunt folgte ich ihm zu dem Apparat, der in der Halle stand. Wer konnte mich denn hier anrufen? Außer meiner Pflegemutter wußte niemand, daß
ich nach Caracas hatte fliegen wollen, und ich erinnerte mich nicht, ihr das Hotel genannt zu haben. Es mußte sich um einen Irrtum handeln… Aber als ich den Hörer aufnahm und ans Ohr hielt, begriff ich augenblicklich, daß es sich keineswegs um einen Irrtum handelte. Eine Stimme, die ich nicht erkannte und die anscheinend verstellt war – perfekt übrigens, denn ich vermochte nicht einmal festzustellen, ob es sich um eine männliche oder weibliche Stimme handelte – sagte hastig und ohne Einleitung: »Sie wollen alles über die näheren Umstände vom Tod der Tiffany Kendall erfahren. Nehmen Sie sich einen Wagen – kein Taxi! – und fahren Sie allein über die Straße von Caracas nach Maracay. Parken Sie den Wagen bei Kilometer fünfunddreißig. Dort steigen Sie aus und warten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Man wird Sie ansprechen, und Sie erfahren alles, was Sie wissen wollen. Heute abend um zehn Uhr. Sie müssen allein kommen.« »In Ordnung«, sagte ich und spürte plötzlich, daß ich einen Kloß im Hals hatte. »Wie kann ich Sie erkennen?« Mein unbekannter Gesprächspartner hatte schon aufgelegt. Nachdenklich schaute ich auf den Hörer. Was hatte das wohl zu bedeuten? Wer wollte mir etwas mitteilen – und was? Angst kroch in mir hoch. Nicht etwa, daß ich mich vor diesem Rendezvous fürchtete. Ich war fest entschlossen, es wahrzunehmen und alle Anweisungen zu befolgen. Heute weiß ich, daß ich geradezu unverantwortlich leichtsinnig gehandelt habe. Doch mit dem Gedanken, daß mir etwas zustoßen könnte, spielte ich nicht. Wovor ich mich fürchtete, war etwas ganz anderes. Ich hatte Angst vor dem, was ich nun erfahren sollte. War meine Mutter
in irgend etwas verwickelt gewesen? War ihr Tod vielleicht gar kein Unfall? Was würde ich erfahren? Jedenfalls war die Frage, ob ich abreisen sollte oder nicht, zunächst einmal geklärt. Heute zumindest würde ich noch bleiben, ich würde dort sein, wohin mich der unbekannte Anrufer bestellt hatte. Ich mietete also ein Auto. Bis zum Abend hatte ich noch viel Zeit, so beschloß ich, mir den Treffpunkt schon einmal bei Tageslicht anzusehen. Ich besorgte mir eine Straßenkarte und fand unschwer die angegebene Route von Caracas nach Maracay, eine rund hundert Kilometer von Caracas entfernte Stadt. Ich genoß im Grunde den nicht eingeplanten Ausflug, denn die Straße führte mich durch eine wunderschöne, wildromantische Landschaft. Aber bald war ich dann auch in anderer Hinsicht froh, mir die Gegend schon mal bei Tageslicht angesehen zu haben. Nicht nur, weil ich so die landschaftliche Schönheit bewundern konnte, sondern weil ich mir ein Bild von der Straße machen konnte. Sie war nämlich alles andere als ein Spazierweg. In vielfachen Windungen führte sie ins Gebirge hinauf. Die Steigungen wollten überhaupt kein Ende nehmen. Wie ein schmales Band umflocht die Straße gewissermaßen eine Bergflanke nach der anderen. Es ging an engen Schluchten entlang. Tief unten machte ich einen fast wasserlosen Bergstrom aus, während die Straße immer höher und höher kletterte. Von einem Begrenzungsstein las ich ab, daß ich schon mehr als 1000 Meter hoch war. Es gab dann auch einen Aussichtsplatz, wo ich anhalten konnte.
Das Panorama war wirklich großartig. So weit das Auge reichte: Bergkette hinter Bergkette. Die letzte verschmolz im Gewölk des Horizonts. Zu meinen Füßen aber die tiefe, unergründliche Schlucht, die einen schaudern machen konnte. Menschenleer schien es hier zu sein, wenn man von den Autos absah, die einem hin und wieder auf der Straße begegneten. Ich stieg wieder in den Wagen und fuhr die letzten paar Kilometer bis zu dem angegebenen Treffpunkt. Der Kilometerstein befand sich unmittelbar vor einer sehr engen Kurve, die nach rechts weiter den Berg hinaufführte, während geradeaus der Abgrund gähnte. Es gab eine winzige Ausbuchtung an der Bergseite, wo ich meinen kleinen Wagen gerade parken konnte. Ich stieg aus und ging die paar Schritte zur anderen Straßenseite hinüber. Fast senkrecht stürzte der Fels hier in die Tiefe. War das etwas die Stelle, wo Mutter verunglückt war? Mich überlief es eiskalt bei diesem Gedanken. Denn ich war mir ziemlich sicher, daß meine Vermutung stimmte. Warum sonst hätte der unbekannte Anrufer mir ausgerechnet diese Stelle als Treffpunkt vorschlagen sollen? Der Gedanke, daß das Treffen am Abend bei Dunkelheit stattfinden sollte, flößte mir nun doch etwas Unbehagen ein, und wenn ich eine Möglichkeit gehabt hätte, den Unbekannten zu erreichen, hätte ich wahrscheinlich um einen anderen Termin gebeten. Indessen hatte ich eine solche Möglichkeit ja nicht, und ich wagte andererseits auch nicht, das Treffen einfach platzen zu lassen. Denn ich wollte unbedingt alles über Mutters Tod herausfinden. Und im übrigen – was sollte mir schon geschehen, überlegte ich. Ich kannte die Straße jetzt. Ich wußte, daß ich vorsichtig fahren mußte. Das war kein Problem. Obwohl ich als
Stewardeß sehr viel Zeit in der Luft verbringe, bin ich eine sichere Fahrerin. Daß mir auch von anderer Seite her Gefahr drohen könnte, nicht nur am Steuer des Wagens auf dieser gefährlichen Straße – ein solcher Gedanke kam mir unbegreiflicherweise überhaupt nicht.
*
Ich fuhr also zunächst wieder zurück nach Caracas, nahm in einem netten Gasthof eine kleine Mahlzeit ein, ruhte mich im Hotel noch ein wenig aus und machte mich dann zeitig auf den Weg zum angegebenen Treffpunkt. Ich war froh, die Straße bereits zu kennen. Bei Dunkelheit wirkte sie wesentlich gefährlicher und etwas unheimlich. Ich muß zugeben, daß mir der Gedanke kam, nun doch umzukehren und auf die Begegnung zu verzichten. Das tat ich schließlich doch nicht. Wußte ich denn, ob sich der unbekannte Anrufer noch einmal melden würde? Und er war schließlich im Augenblick meine einzige Hoffnung, etwas über die näheren Umstände beim Tod meiner Mutter zu erfahren. So fuhr ich also in das nachtschwarze Gebirge hinein. Von der Großartigkeit dieser Landschaft sah ich jetzt nichts, dafür brauchte ich allerdings auch nicht in die Abgründe und Schluchten zu schauen. Ich wußte nur, daß sie da waren, und vergaß keine der Gefahrenstellen. Ich kam schon ziemlich früh am Kilometerstein fünfunddreißig an, zwängte den kleinen Wagen wieder in die enge Parklücke und blieb dann noch eine Weile hinter dem Steuer sitzen.
Diese Stille, diese Einsamkeit! Man könnte fast das Gefühl bekommen, ganz allein auf der Welt zu sein. Kein schönes Gefühl, und ich wünschte mir, so schnell wie möglich wieder nach Caracas zurückfahren zu können. Morgen würde ich dann nach New York fliegen, gleichgültig, was ich jetzt auch erfahren sollte. Es reichte mir, ich wollte wieder nach Hause. Nun, das hier mußte erst durchgestanden werden. Ich verließ das Auto und ging über die Straße. Dort unten gähnte der Abgrund, ich wußte es, sehen konnte ich nur undurchdringliche, unergründliche Schwärze. Ich blickte die Straße hinauf und hinunter. Von irgendwoher mußte mein unbekannter Gesprächspartner doch kommen! Aber es war weit und breit nichts zu sehen. Da war nur ein nicht sehr hohes Gebüsch am Straßenrand, dem ich keinerlei Beachtung schenkte. Ich wandte mich wieder um und überlegte, wie lange ich wohl noch warten sollte. Vielleicht hatte sich jemand nur einen üblen Scherz mit mir erlaubt, vielleicht wartete ich hier vergeblich. Da plötzlich hörte ich etwas hinter mir. Ein Rascheln. Es mußte aus dem Gebüsch kommen. Ein Tier? Noch ehe ich weiter nachdenken oder mich umsehen konnte, bekam ich einen fürchterlichen Schlag über den Kopf. Ich spürte dann noch, wie ich gestoßen wurde, ich spürte zwei Hände in meinem Rücken, gegen die ich völlig machtlos war, und dann stürzte ich in den Abgrund. War ich das, die da so unmenschlich schrie in höchster Todesangst? Ich weiß heute nicht mehr, ob ich denken konnte in jenen entsetzlichen Sekunden, die mir im übrigen wie eine Ewigkeit vorkamen, jedenfalls war ich sicher, daß mein Leben zu Ende war, ich war sicher, daß ich in den Tod stürzte.
Und eigentlich hätte es für mich auch keine Rettung gegeben in dieser verzweifelten Situation. Aber ich hatte Glück. Unglaubliches Glück, oder war es das Schicksal, das mich vor diesem Tod bewahrte, das die Rechnung meines Mörders nicht aufgehen ließ? Wer sollte eine solche Frage beantworten? Ich trug an jenem Abend den Ledermantel, den ich mir erst kurz vorher in London gekauft hatte. Es war ein sehr modisches, weit geschnittenes Stück, und genau das war mein Glück. Der Ledermantel, den ich für die Autofahrt nicht zugeknöpft hatte, verfing sich bei meinem Sturz in die Tiefe an einer vorstehenden, mehr als armdicken Baumwurzel, ein Überbleibsel womöglich aus der Zeit, da man für den Straßenbau einige Bäume fällen mußte. Ein Kleidungsstück aus Stoff wäre sicherlich zerrissen wie Papier bei dieser ungeheuerlichen Belastung. Immerhin hing ich ja nicht nur mit meinem ganzen Körpergewicht an der Wurzel. Ich war ja auch mit beträchtlicher Geschwindigkeit darauf zugestürzt. Jedenfalls hing ich mit meinem Ledermantel fest, wie ein Fisch an der Angel. Ich zappelte wohl auch so, aber nur so lange, bis mein Verstand wieder zu arbeiten begann. Als ich meine Situation erkannte, begriff ich sofort, daß ich noch keinesfalls außer Gefahr war. Der Ledermantel hielt mich zwar für den Augenblick, aber ich wagte nicht darüber nachzudenken, wann auch er reißen oder wann die Baumwurzel sich lösen würde aus ihrem steilen, felsigen Bett. Instinktiv wollte ich um Hilfe rufen, doch eine schreckliche Erkenntnis verschloß mir den Mund. Ich war sicher, daß mein Mörder noch oben am Straßenrand stand, und ich war mit Sicherheit endgültig verloren, wenn er merkte, daß sein heimtückischer Anschlag mißlungen war.
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß es mich beinahe übermenschliche Nervenkraft kostete nicht zu schreien und mich bewegungslos zu verhalten, während ich doch jeden Augenblick darauf gefaßt sein mußte, nun endgültig abzustürzen. Über mir, gar nicht so sehr weit entfernt, hörte ich ein erregtes Keuchen, dann, endlich, Schritte im losen Schotter. Der Mörder entfernte sich! Wohin? Ich hörte das Klappern einer Autotür. Ein Motor würde angelassen, ein Fahrzeug setzte sich in Bewegung, wurde offenbar auf der Straße gewendet, dann entfernte sich das Motorengeräusch. War das etwa mein Leihwagen, mit dem der Mörder sich entfernte? Nun, darüber würde ich später nachdenken können. Jetzt mußte ich an meine Rettung denken. Gab es überhaupt noch eine Rettung? Würde ich mich ohne Hilfe aus dieser verzweifelten Lage befreien können? Ich durfte nicht zweifeln, nicht mutlos werden, denn dann war ich verloren. Heute ist es mir fast unbegreiflich, daß ich es tatsächlich schaffte. Ich mußte ungeheure Kräfte und fast akrobatische Fähigkeiten entwickeln, um lediglich die Baumwurzel mit den Händen erreichen zu können. Als ich das geschafft hatte, war dann wohl die unmittelbarste, größte Gefahr gebannt, ich war nicht mehr nur der Reißfestigkeit meines Ledermantels ausgeliefert. So konnte ich ein wenig verschnaufen und neue Kräfte sammeln, die ich sehr nötig hatte für den zweiten Abschnitt meiner Rückreise ins Leben. Wie ein Bergsteiger mußte ich eine fast senkrechte Steilwand hochklettern, um die Straße wieder zu erreichen.
Ich schaffte auch das. Die Todesangst verleiht einem Menschen manchmal ungeahnte Kräfte, anders kann ich meine Leistung nicht erklären. Kaum hatte ich den Straßenrand erreicht, brach ich erschöpft zusammen. Eine gnädige Bewußtlosigkeit umfing mich. Doch sie währte nicht lange. Ich richtete mich wie erschlagen auf und sah mich um. Mein Auto war fort! Der Mörder hatte den Rückweg in meinem Leihwagen angetreten! Tränen der Verzweiflung rannen mir über die Wange. Meine Glieder schmerzten, meine Hände waren zerschunden. Ich glaubte nicht mehr die Kraft zu haben, noch einen einzigen Schritt zu tun. Und doch hatte ich keine Wahl. Anfangs mußte ich mich zu jedem weiteren Schritt zwingen. Dann setzte ich mechanisch die Füße voreinander. Eine dumpfe Entschlossenheit hielt mich aufrecht. Irgendwann kam dann ein Auto, in das ich einsteigen durfte. Ich weiß nicht, wie weit und wie lange ich da schon gelaufen war, ich hatte jedes Zeit- und Ortsgefühl verloren, war kaum noch bei Bewußtsein. In diesem Zustand verspürte ich auch keine Angst mehr, mich fremden Menschen anzuvertrauen. Ich glaube, ich wäre auch willig zu meinem Mörder ins Auto gestiegen. Aber es war ein nettes, freundliches Ehepaar, das mich da buchstäblich vom Straßenrand auflas, daran erinnere ich mich allerdings nur noch sehr verschwommen. Die beiden brachten mich zu einem Krankenhaus in Caracas und lieferten mich dort ab. Ich bekam ein Bett und fiel sofort in einen tiefen, fast todesähnlichen Schlaf.
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Am nächsten Morgen blickte ich mich erstaunt in der fremden Umgebung um, und erst langsam kam die Erinnerung zurück. Oder war es vielleicht ein Alptraum gewesen? Doch dann hätte ich in meinem Bett im Hotel und nicht hier in einem Krankenhaus aufwachen müssen. Ich hatte das Schreckliche, das Unglaubliche also wirklich erlebt. Eine Schwester brachte mir Frühstück und lächelte ein wenig herablassend, als ich sagte, ich sei in der Nacht überfallen worden und wolle nun mit jemandem von der Polizei sprechen. Sie deutete auf die Tasche, die auf dem Nachttisch lag. Ich habe eine Gürteltasche, klein, handlich und ungemein praktisch. Mit einem schicken breiten Ledergürtel binde ich sie mir immer um die Taille, wenn ich unterwegs bin, so habe ich die Hände frei und Papiere und Bargeld doch immer ziemlich sicher verwahrt. Diese Tasche nun hatte ich auch umgeschnallt, als ich mich gestern abend auf den Weg machte, und ich hatte mein ganzes Bargeld darin, das erschien mir sicherer, als es im Hotelzimmer zu lassen. Die Tasche war also noch da und auch meine Papiere und das Geld. Vielleicht war ich darum im Krankenhaus so gut aufgenommen worden. Man wußte nicht nur, daß ich Amerikanerin war, man wußte auch, daß ich bezahlen konnte. Andererseits glaubte man mir den Überfall nicht, denn ich war weder vergewaltigt noch ausgeraubt worden. Bei einem Überfall hätte man mir mein Geld abgenommen. Diese Meinung vertrat man nicht nur im Krankenhaus, sondern auch die Polizisten, die auf mein Drängen hin doch noch gekommen waren, machten aus ihrer Ansicht kein Hehl. Die freundlichen Leute, die mich auf der Bergstraße
aufgelesen hatten, hatten leider versäumt, Angaben über die Stelle zu machen, wo sie mich gefunden hatten. Auch eine Adresse hatten sie nicht hinterlassen. So hielt man mich für eine leichtsinnige, vorwitzige Amerikanerin, die ein nächtliches Abenteuer gesucht hatte und von Glück sagen konnte, noch mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Schließlich gab ich es auf. Wie sollte ich denn beweisen, was mir widerfahren war, und wie sollte ich es erklären? In den USA oder in England hätte ich vielleicht hartnäckiger auf einer polizeilichen Untersuchung der Vorfälle bestanden, aber hier in Südamerika resignierte ich. Ich hatte nichts in der Hand und konnte nichts beweisen. Die Polizisten ermahnten mich, vorsichtiger zu sein, dann lächelten sie mir zu und zogen wieder ab. Ich bezahlte im Krankenhaus meine Rechnung, bedankte mich für die freundliche Aufnahme und ließ mir dann ein Taxi kommen, das mich zum Hotel zurückbringen sollte. Eigentlich hatte ich vor, meine wenigen Sachen zu packen und mit der nächst erreichbaren Maschine nach New York zu fliegen. Dort wollte ich mich noch ein paar Tage von den Aufregungen erholen, ehe ich meinen Dienst wieder antrat. Aber dann überlegte ich es mir doch anders. Es wäre zwar zuviel gesagt, wenn ich behaupten würde, daß ich Beverly Seabrook in Verdacht hatte, etwas mit dem Mordanschlag auf mich zu tun zu haben, aber ein merkwürdiges Gefühl hatte ich doch. Ich wäre dieser Frau jedenfalls gern noch einmal begegnet. Wenn ich ihr nun plötzlich entgegenträte, würde ich an ihrem Gesichtsausdruck unschwer erkennen können, ob sie etwas damit zu tun hatte.
Der oder die Täter mußten mich ja für tot halten, mein plötzliches Auftauchen müßte dann ganz schön verwirrend sein. In die Wohnung von Miß Seabrook wollte ich nicht noch einmal, außerdem fiel mir ein, daß sie ja Angehörige der Britischen Botschaft sein sollte. Ich würde sie also ganz einfach dort aufsuchen. Dort half mir dann ein unglaublicher Zufall.
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Ich stieg gerade aus dem Taxi und bezahlte den Fahrer, als ich einen erstaunten Ausruf hörte. »Das kann doch nicht wahr sein! Pamela, bist du es wirklich?« Überrascht drehte ich mich um. Da stand eine junge dunkelhaarige Frau mit einem Aktenpaket unter dem Arm und starrte mich an, nur für einen Augenblick, dann liefen wir aufeinander zu und fielen uns um den Hals. »Miriam, wie kommst du denn hierher?« fragte ich verblüfft, und Miriam lachte vergnügt. »Genau das will ich dich fragen, Pamela. Deine Frage ist schnell beantwortet, ich arbeite nämlich hier.« »Hier, in der Britischen Botschaft?« »Ja, ich habe umgesattelt, bin Botschaftssekretärin geworden, und die Arbeit macht mir viel Spaß. Du, ich habe im Nebengebäude etwas zu erledigen. Ist eilig, geht aber ganz schnell. Komm, ich bringe dich in unseren Empfangsraum. Da wartest du auf mich, und dann haben wir Zeit zum Erzählen. Wenn du hier in der Botschaft etwas zu erledigen hast, kann ich dir vielleicht behilflich sein. Willst du?«
»Aber gern«, nickte ich. Miriam hatte sich bereits bei mir untergehakt, führte mich die Treppen zum Botschaftsgebäude hinauf und brachte mich in den pompös ausgestatteten Empfangsraum, vorbei am Portier, dem sie zunickte: »Das geht in Ordnung, die Dame ist mein Gast.« »Warte hier«, sagte Miriam, »ich bin bald wieder da.« Sie nickte mir noch einmal strahlend zu, dann lief sie leichtfüßig hinaus. Immer noch verblüfft schaute ich hinter ihr her. Wir waren einmal Kolleginnen gewesen, Miriam und ich, und wir hatten uns sehr gut verstanden. Miriam war Engländerin, hatte aber eine Zeitlang in New York gelebt und war so Stewardeß bei der amerikanischen Linie geworden, mit der ich auch flog. Aber dann hatte es irgend etwas gegeben, ich glaube, Miriam hatte sich unglücklich in einen unserer Piloten verliebt. Sie kündigte ihren Job, und wir verloren uns aus den Augen. Kaum zu glauben, daß wir uns nun hier wieder begegnet waren. Ich freute mich wirklich, und das nicht nur, weil mir Miriam unter Umständen in der Botschaft behilflich sein konnte. Miriam war immer ein besonders netter Kerl gewesen. Aber natürlich vergaß ich nicht den Grund meines Hierseins. Auf das Gesicht von Miß Seabrook war ich gespannt, wenn sie mich entdeckte… Wie sollte ich mich jedoch verhalten, wenn diese Frau mir durch ihr Erschrecken den Beweis erbrächte, daß sie wirklich etwas von dem wußte, was mir zugedacht gewesen war? Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, ich war ziemlich impulsiv hierher zur Botschaft gefahren. Unruhig und nervös lief ich in dem großen Empfangsraum auf und ab, bis mich das Klappern meiner Absätze auf dem blanken Marmorfußboden selbst störte. Ich beschloß, mir die Fotografien an den Wänden etwas genauer anzusehen. Sie
interessierten mich zwar nicht im geringsten, aber sie konnten mir die Wartezeit verkürzen. Gelangweilt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, schlenderte ich an der Galerie großformatiger Fotos vorbei. Anscheinend hatten hier die Konterfeis all der Persönlichkeiten einen Platz gefunden, die einmal hier in der Botschaft eine Rolle gespielt hatten. Wie in einer Ahnengalerie schauten einen die Männer an – es waren tatsächlich alles Männer. Sehr interessieren konnten mich die Bilder nicht. Ich wandte mich ab, wollte mich in einen der tiefen Ledersessel setzen und in einer der ausgelegten Zeitschriften blättern – da durchfuhr es mich wie ein Schlag. Ich hatte nur flüchtig über die letzten Fotos in der Reihe geschaut, hatte mich bereits abgewandt, aber da blitzte ein Erkennen in mir auf. Ich wandte mich wieder um, machte ein, zwei Schritte zurück, bis ich vor dem Bild stand, das meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ungläubig starrte ich es an. Dabei hatte ich gar nicht bemerkt, daß Miriam zurückgekommen war.
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»Was fasziniert dich denn so an diesem Bild?« fragte sie amüsiert. »Wer ist das?« fragte ich, und meine Stimme klang unwillkürlich ein wenig belegt. »Das? Sir Gilroy Owen. Hat ein paar Jahre hier an der Botschaft gearbeitet, ist jetzt aber wieder in England. Warum fragst du, warum bist du so interessiert? Kennst du Sir Owen?«
»Ja… nein, ich weiß nicht«, antwortete ich und schüttelte den Kopf. Ich war wirklich völlig verwirrt und konnte im Augenblick keinen klaren Gedanken fassen. Ich hatte nur das Gefühl, eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht zu haben. Miriam schaute mich kopfschüttelnd an. »Ist das, was du hier in der Botschaft erledigen wolltest, sehr dringend, oder können wir uns erst mal in die Cafeteria setzen, etwas trinken und ein bißchen plaudern?« fragte sie. Ich nickte. »Das ist eine gute Idee, Miriam. Mein Verhalten ist dir sicher unbegreiflich, entschuldige, aber… Ich muß tatsächlich erst mal wieder zu mir kommen, um dann in Ruhe nachzudenken. Vielleicht kannst du mir auch helfen, Miriam. Ich bin wirklich froh, dich hier getroffen zu haben. Aber nicht nur, weil ich vielleicht Hilfe brauche«, fügte ich rasch und ein wenig schuldbewußt hinzu. »Ich freue mich wirklich über unsere Begegnung, verstehe mich also bitte nicht falsch.« »Aber nein«, lachte Miriam unbekümmert. »Ich freue mich doch selbst ganz schrecklich. Ein Jammer, daß unsere Verbindung abgerissen war. Das soll jetzt anders werden! Wir haben uns doch immer so blendend verstanden.« »Richtig«, nickte ich, »und es wäre schön, wenn es wieder so würde.« Wir machten uns auf den Weg zur Cafeteria. »Das liegt schließlich in unserer Hand«, stellte Miriam sachlich fest. »Aber nun bin ich doch wirklich neugierig, in welcher Verbindung du zu Sir Owen stehst. Sein Foto hier scheint dich ja völlig aus der Fassung gebracht zu haben. Hattest du… standest du einmal in näherer Beziehung zu ihm?« Ich hatte mich noch nicht ganz gefangen und begriff nicht gleich, was Miriam meinte.
Doch dann mußte ich lachen. »Nein, selbstverständlich hatte ich kein Verhältnis mit ihm. Wie kommst du denn auf einen solchen Gedanken?« »Nun, ganz so abwegig wäre eine derartige Möglichkeit nicht. Man sagte Sir Gilroy Owen nämlich nach, daß er ein großer Schürzenjäger sei, und ich bin sicher, es waren nicht bloß Gerüchte. Es hieß dann auch, daß seine Frau sich deswegen von ihm scheiden lassen wollte. Und das wäre wohl schlimm für den Herrn gewesen, denn immerhin besaß seine Gattin das Geld, und Sir Owen ist nicht der Mann, dem es genügt, von seinen eigenen, selbstverdienten Einkünften zu leben. Er braucht die reiche Gemahlin, ist mehr oder weniger von ihr abhängig.« »Du sprichst von Lady Medwenna, nicht wahr?« »Ja. Kennst du sie auch?« »Nur flüchtig«, antwortete ich und wurde allmählich von einer merkwürdigen Erregung gepackt. Da war noch nichts, das sich in Worte oder auch nur in klare Gedanken fassen ließ. Trotzdem spürte ich etwas Ungeheuerliches, das mir bald das Atmen schwer machte. »Erzähle mir mehr von Sir Owen, Miriam«, sagte ich gepreßt. »War er lange hier in Caracas?« »Wie lange genau, weiß ich nicht. Er war jedenfalls schon hier, als ich meine Stellung antrat. Vor kurzem erst wurde er nach London versetzt. Aber warum interessiert dich das so?« »Ich weiß nicht«, antwortete ich und starrte vor mich hin. Sir Owen war also zu der gleichen Zeit hier in Caracas gewesen, als auch meine Mutter hier war. Meine Mutter war hier tödlich verunglückt… aber die Frau, die ich in London an der Seite Sir Owens gesehen hatte, war meiner Mutter so ähnlich, daß ich sie mit meiner Mutter verwechselt hatte. Wirklich verwechselt?
Mir wurde schwindelig, als mir klar wurde, was diese Frage bedeutete. »Möchtest du mir nicht erzählen, was dich so bewegt?« fragte Miriam leise. »Du bist ja ganz blaß geworden. Aber du mußt nichts sagen, wenn du nicht willst«, fügte sie rasch und wie entschuldigend hinzu. »Warum bist du überhaupt hierher zur Britischen Botschaft gekommen? War es Sir Owens wegen?« »Nein, nein«, sagte ich und versuchte angestrengt, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß er überhaupt jemals hier gewesen ist. Ich wollte eine Frau besuchen, die Angehörige der Botschaft sein soll. Beverly Seabrook. Kennst du sie?« Miriam schaute mich verblüfft an. »Sie war Sir Owens Sekretärin. Und man munkelte, daß sie auch mehr für ihn gewesen ist.« Das letzte hatte ich schon kaum noch gehört. »Seine Sekretärin?« Ich schrie es fast, hielt mir dann erschrocken die Hand vor den Mund. Meine Hand zitterte. Miriam schaute mich besorgt an. »Dein Besuch kommt übrigens zu spät«, sagte sie und ließ mich nicht aus den Augen. »Beverly Seabrook ist auch nach Europa zurückgekehrt.« »Wann?« »Ich weiß nicht genau. Ihren Dienst hat sie in der vorigen Woche aufgegeben. Ich glaube aber, sie wollte noch einige Tage bleiben. Möglicherweise ist sie sogar noch in Caracas. Ist es sehr wichtig für dich, daß du sie sprichst?« »Ich habe mit ihr gesprochen«, sagte ich nachdenklich. »Vorgestern. Aber da hatte ich noch keine Ahnung…« »Soll ich in ihrer Wohnung anrufen, ob sie noch hier ist?« fragte Miriam hilfsbereit.
»Ja«, nickte ich. »Das wäre gut. Aber erwähne bitte meinen Namen nicht.« Ich blieb wie benommen zurück, während Miriam zum Telefon ging. Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, schreckliche Gedanken, Gedankenfetzen… »Sie ist heute morgen abgeflogen«, sagte Miriam. Ich hatte gar nicht bemerkt, daß sie schon wieder zurückgekommen war und sich auf ihren Platz mir gegenüber gesetzt hatte. Wir saßen an einem Ecktisch in der gemütlichen Cafeteria, in der um diese Zeit wenig Betrieb war. Wir konnten uns ungestört unterhalten. »Ich habe mit dem Hausmeister gesprochen«, berichtete Miriam weiter. »Beverly Seabrook hatte eigentlich schon gestern fliegen wollen, aber sie hat ihre Abreise dann um einen Tag verschoben. Im Augenblick ist sie unterwegs nach England.« Ich schaute Miriam an und sah sie doch nicht. Hatte Beverly Seabrook ihre Abreise meinetwegen verschoben? Hatte sie hier erst noch etwas erledigen müssen? Hatte sie wirklich etwas mit dem Mordanschlag auf mich zu tun? Aber warum nur, warum? Ich begriff die Zusammenhänge noch nicht.
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Hilflos und wohl auch ziemlich verstört schaute ich meine wiedergefundene Freundin an. »Willst du wirklich zuhören? Aber ich weiß eigentlich selbst nicht, was ich erzählen soll. Es sind alles nur Bruchstücke, die keinen rechten Sinn ergeben wollen.«
»Vielleicht ist es gut, wenn du aussprichst, was dich so bewegt, Pamela«, sagte Miriam ruhig. »Vielleicht kommst du hinter die Zusammenhänge besser, wenn du darüber redest. Ich höre dir gern zu. Vielleicht kann ich auch helfen.« Ja, es würde guttun, mich einmal aussprechen zu können. Da Miriam persönlich unbeteiligt war, war sie gewiß eine gute Zuhörerin, die vielleicht besser als ich beurteilen konnte, ob ich mich da in etwas hineinsteigerte, das an den Haaren herbeigezogen war. Und so begann ich zu erzählen. Ich berichtete von der merkwürdigen Begegnung in der Londoner Oper, von der Frau, die ich für meine Mutter gehalten Latte, und von Sir Owens heftiger, unhöflicher Reaktion. Ich erzählte auch, daß ich wenig später Brendan Corwyn kennengelernt hatte, den Neffen von Lady Medwenna, und daß ich schließlich den Entschluß gefaßt hatte, nach Caracas zu fliegen, nicht nur um Mutters Grab zu besuchen, sondern auch um ihren Spuren nachzugehen. Ich schilderte die beklemmende Atmosphäre in der Pension der Rosita Pedro und daß ich dort erstmals von Beverly Seabrook gehört hatte, und wie ich sie dann besuchte. »Sie schien sehr zu erschrecken, als sie meinen Namen hörte«, sagte ich nachdenklich. »Ich fand das merkwürdig, und konnte mir keinen Reim darauf machen. Aber da wußte ich auch noch nicht, daß es eine Verbindung gibt zwischen Miß Seabrook und diesem Sir Owen.« »Was schließt du denn daraus, Pamela?« fragte Miriam gespannt. Auch sie schien jetzt von einer gewissen Erregung erfaßt. »Ich weiß es nicht. Ich wage es nicht in Worte zu fassen, wage es nicht einmal zu denken. Aber – ich habe dir noch nicht alles erzählt.«
»Hast du Miß Seabrook noch einmal getroffen?« »Nein. Aber jemand wollte mich aus dem Weg schaffen.« »Wie bitte?« »Du hast richtig verstanden. Man wollte mich ermorden. Ich habe unglaubliches Glück – oder einen tüchtigen Schutzengel gehabt. Eigentlich sollte ich jetzt zerschmettert in der Schlucht liegen…« »In welcher Schlucht?« Es fiel mir nicht leicht, über mein entsetzliches Erlebnis zu sprechen. Noch im nachhinein brach mir der Schweiß aus, wenn ich daran dachte, wie ich in den Abgrund gestoßen wurde, wie ich dann hilflos an der Baumwurzel hing und über mir das keuchende Atmen meines Mörders hörte. »Das ist ja entsetzlich«, sagte Miriam erschüttert. »Hast du das der Polizei gemeldet?« »Ja, das schon. Aber man hat mir nicht geglaubt. Im Augenblick ist mir das auch gar nicht so wichtig. Wenn ich nur hinter die genauen Zusammenhänge käme!« »Bist du sicher, daß Miß Seabrook etwas damit zu tun hat? Vielleicht hat dieser versuchte Mord gar nichts mit dem Geheimnis um deine Mutter zu tun.« »Das wäre aber ein merkwürdiger Zufall, nicht? Vergiß nicht, daß man mich ja nur damit auf die gefährliche Bergstraße gelockt hat, indem man mir in Aussicht stellte, daß ich alles über den Tod meiner Mutter erfahren würde.« »Das ist in der Tat ein wichtiges Argument«, nickte Miriam und machte ein sehr ernstes Gesicht. »Was glaubst du also?« »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte ich gequält. »Ich sehe nur immer diese Frau in London vor mir, diese Frau in Begleitung Sir Owens.« »Du hältst es für möglich, daß es wirklich deine Mutter gewesen sein könnte?«
Nun war es ausgesprochen! Das Unglaubliche, Unvorstellbare, das ich bisher kaum zu denken gewagt hatte. Mir lief ein Schauer über den Rücken, und ich wagte nicht, diese Frage zu beantworten. »Kennst du Lady Medwenna?« fragte ich nur leise. »Nicht besonders gut«, antwortete Miriam. »Als Sekretärin hat man keinen engen Kontakt zu den Ehefrauen der Chefs. Aber natürlich habe ich die Lady einige Male gesehen, habe auch mit ihr gesprochen.« »Wie war sie?« »Sehr hübsch, sehr gepflegt, aber auch ein bißchen arrogant.« Hübsch und gepflegt war diese Frau in der Oper auch gewesen, aber arrogant? Mir erschien sie eher verstört. Und außerdem ganz dem Willen ihres Mannes unterworfen. Das erzählte ich Miriam, und sie schüttelte ganz entschieden den Kopf. »Dann müßte die Lady sich aber sehr verändert haben«, meinte sie ungläubig. »Lady Medwenna galt hier als sehr selbstbewußt und energisch, und es wurde erzählt, daß in der Ehe sie es war, die die Hosen anhatte. Ihr Mann mußte gute Miene zum bösen Spiel machen, weil er ja aus besagten finanziellen Gründen keine Scheidung riskieren wollte. Er soll sich reichlich bei anderen Frauen getröstet haben. Zuletzt hieß es aber, daß eine Scheidung wohl unausweichlich sei. Lady Medwenna selbst soll es gesagt haben. Nach ihrer Rückkehr nach England wollte sie dort die Scheidung betreiben.«
*
Miriam schwieg, und auch ich wagte nichts mehr zu sagen. Wir beide schauten uns nur an. »Hast du ein Bild von deiner Mutter bei dir?« fragte Miriam schließlich. »Aber sicher! Daß ich nicht selbst daran gedacht habe!« sagte ich und kramte in meiner Brieftasche. Das Foto, das ich herauszog, war nicht neu. Es war eines jener Künstlerfotos, wie sie jeder Schauspieler besitzt, ziemlich geschönt und meiner Ansicht nach nicht besonders natürlich. Miriam betrachtete es sehr genau. »Eine gewisse Ähnlichkeit ist unverkennbar«, sagte sie zögernd. »Nein, eigentlich ist die Ähnlichkeit sogar recht groß. Lady Medwenna trägt eine andere Frisur, ein anderes Make-up – aber da könnte man schon einiges tun, wenn man es darauf anlegt, einen Doppelgänger-Effekt zu erzielen. Was für eine Figur hatte deine Mutter denn?« »Sie war klein und zierlich.« »Das ist Lady Medwenna auch. Paßt also alles zusammen.« Ich mußte mich räuspern, hatte aber das Gefühl, das, was mir da im Hals saß, niemals wieder entfernen zu können. »Dann wäre es also denkbar«, sagte ich leise und für Miriam sicher kaum verständlich, »daß meine Mutter tatsächlich in die Rolle der Lady Medwenna geschlüpft ist. Diese Vorstellung ist… ist einfach ungeheuerlich.« »Könnte es sein, daß sie gezwungen wurde?« fragte Miriam still. »Läßt sich so etwas denn überhaupt erzwingen?« fragte ich heftig. »Den eigenen Tod vortäuschen, sogar die einzige Tochter glauben zu lassen, man sei tot, und selbst fröhlich und vergnügt weiterleben in der Rolle einer anderen? Nein, dazu kann niemand gezwungen werden!«
»Die Lady Medwenna, die du in London getroffen hast, schien dir weder fröhlich noch vergnügt gewesen zu sein«, warf Miriam ruhig ein. »Stimmt. Aber wenn es sich wirklich so verhält, wie ich es jetzt wohl nicht mehr ausschließen kann, dann muß es für die Dame ein beträchtlicher Schock gewesen sein, plötzlich der Tochter gegenüberzustehen.« »Du hältst es also für denkbar, daß deine Mutter eine Betrügerin ist?« »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.« Da war ein Schluchzen in meiner Stimme, das ich nur mühsam unterdrücken konnte. Miriam schaute mich mitleidig an. »Da gibt es auch noch eine andere Frage«, meinte sie leise. »Wenn diese Frau in London nicht Lady Medwenna ist… wo ist die echte Lady Medwenna denn?« Diese Frage hatte ich mir auch gerade gestellt, aber mein Verstand weigerte sich, nach einer Antwort zu suchen. Eine Antwort, die doch naheliegend war. »Meinst du… meinst du, daß ich die Behörden einschalten muß?« fragte ich nach einer Weile. Miriam merkte, wie unendlich schwer mir diese Frage geworden war. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Das solltest du dir erst sehr gut überlegen«, sagte sie dann. »Du hast ja nichts in der Hand, keinerlei Beweise. Es sind reine Spekulationen. Naheliegende – zugegeben. Aber bedenke auch, Pamela, es geht um deine Mutter, die du möglicherweise in einen falschen, fürchterlichen Verdacht bringst, eine Tote, die sich nicht mehr rechtfertigen kann.« »Du hast recht, Miriam. Und ich bin dir sehr dankbar, daß du das gesagt hast.«
»Ich habe mir nur überlegt, wie ich mich selbst verhalten würde. Wie du dich aber auch entscheidest, Pamela, ich werde nicht über das sprechen, was du mir heute anvertraut hast. Du kannst dich ganz auf mich verlassen.« »Danke, Miriam. Ich glaube, dich hat mir heute der Himmel geschickt. Es war gut, daß ich mit dir reden durfte. Und du hast recht, daß ich jetzt erst in Ruhe nachdenken muß, ehe ich eine Entscheidung treffe. Ich nehme die Abendmaschine nach New York. Ich will keine Minute länger als nötig in Caracas bleiben. Vielleicht finde ich in meiner Wohnung in New York die Ruhe, die ich jetzt brauche.« »Ich wünsche es dir, Pamela. Und wenn du meine Hilfe oder auch meinen Rat brauchst: ich bin immer für dich da.« »Es ist gut, das zu wissen, Miriam. Nochmals: Danke. Ich weiß noch nicht, wann – aber du wirst von mir hören.« »Laß dir Zeit, Pamela, in jeder Hinsicht. Du darfst nichts überstürzen, und sei auch vorsichtig! Vergiß nicht, daß man einen Mordanschlag auf dich verübt hat.« »Wie könnte ich das je vergessen!« lächelte ich bitter. »Wenn du Hilfe brauchen solltest, Pamela… Ich könnte mir notfalls Urlaub nehmen.« »Vielleicht komme ich wirklich auf dieses Angebot zurück, Miriam«, nickte ich. Zunächst einmal ließ Miriam sich für diesen Tag beurlauben. Sie begleitete mich zum Hotel, wo ich mein Gepäck holte. Dann fuhren wir gemeinsam zum Flughafen. Miriam wartete noch mit mir, bis meine Maschine nach New York aufgerufen wurde, und sie begleitete mich bis zum Zoll, wo sie sich dann endgültig verabschieden mußte. Es war gerade so, als hätte sie befürchtet, mir könne in Caracas zuletzt doch noch etwas zustoßen. Ich war auch tatsächlich froh, als ich in der Maschine saß.
Froh, nicht erleichtert! Ich hatte vielmehr das Gefühl, eine ungeheure Last mit mir herumzuschleppen, eine Last, die mir in Caracas aufgebürdet worden war. Wie sollte ich nur je damit fertig werden…
*
Obwohl ich todmüde war, kamen meine Gedanken auch während des Fluges nicht zur Ruhe. Unablässig beschäftigte ich mich mit dieser entsetzlichen Frage, die, je länger ich darüber nachgrübelte, um so furchterregender für mich wurde: Wer war die Frau, der ich in London begegnet war? War es meine Mutter gewesen? Meine Mutter, an deren Grab in Caracas ich gestanden hatte, an einem Grab, das mit weißen Rosen geschmückt war? War es das Grab meiner Mutter gewesen? War es denkbar, daß sie mich verleugnet hatte? Mich, die eigene Tochter? Ich überlegte, wann ich meine Mutter zuletzt gesehen hatte. Es war fast ein Jahr her gewesen. Es hatte ja keinen besonders engen Kontakt zwischen uns gegeben. Und damals war Mutter so gewesen wie immer bei unseren leider nicht sehr häufigen Begegnungen. Aber in einem Jahr kann natürlich viel geschehen. Natürlich fand ich auch zu Hause in meiner New Yorker Wohnung nicht die Ruhe, nach der ich mich so sehnte. Die schrecklichen Gedanken ließen mich einfach nicht los. Ich steigerte mich in die schlimmsten Vorstellungen hinein – und dann wieder meinte ich, das alles sei ja Unsinn, ich dürfe mich
nicht selbst verrückt machen, und das beste sei wohl, wenn ich einfach wieder zur Tagesordnung überginge… Bei der Hinterlassenschaft meiner Mutter hatte es einen Fotoapparat gegeben, und es war ein zum Teil belichteter Film darin gewesen. Natürlich hatte ich diesen Film seinerzeit gleich entwickeln lassen. Es waren Aufnahmen, die kurz vor dem Unglück gemacht worden waren. Das wußte ich sogar sehr genau, denn auf den Fotos war rechts oben in der Ecke das Datum eingeblendet, eine praktische Einrichtung. Ich hatte den japanischen Fotoapparat meiner Mutter inzwischen für mich in Betrieb genommen. Nun betrachtete ich wieder die letzte Aufnahme meiner Mutter. Sie mußte unmittelbar vor Antritt der Todesfahrt aufgenommen worden sein, das ging aus dem eingeblendeten Datum hervor, und außerdem stand Mutter vor dem Unglücksauto. In etwas gekünstelter Pose lehnte sie vorn am Kotflügel, das Kennzeichen des Wagens war genau zu erkennen. Und Mutter schaute den Betrachter des Fotos, im Augenblick also mich, ernst an. Bisher hatte es mir bei der Betrachtung dieses Fotos immer einen inneren Stich gegeben. Ich hatte eine gewisse Tragik darin gesehen, daß diese Aufnahme so kurz vor Mutters Tod gemacht worden war. Doch jetzt drängte sich mir ein anderer böser Gedanke auf. Sollte diese Aufnahme vielleicht so etwas wie ein Alibi sein? Ein Alibi dafür, daß Mutter wirklich mit diesem Auto verunglückt war? Ich mochte diesen Gedanken und die sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht weiterdenken. Schon wollte ich das Foto schnell wieder zur Seite legen.
Da fiel mir etwas auf, das ich bisher nicht beachtet hatte. Eine Nebensächlichkeit nur, an sich bedeutungslos. Doch jetzt stockte mir buchstäblich der Atem. Mutter trug auf dieser Aufnahme ein leichtes helles Kleid, den in Caracas herrschenden sommerlichen Temperaturen angemessen. Und zu diesem hellen Kleid trug sie eine lange Halskette. Da es sich um ein Farbfoto handelte, kam das Violett der Amethyste sehr gut heraus. Mutter trug also bei dem Unfall ihre Kette aus verschieden großen Amethysten. An sich nicht ungewöhnlich, denn ich wußte, daß Mutter diesen Schmuck besonders mochte. Nur trug diesen Schmuck jetzt eine andere Frau! Ich selbst hatte ihn gesehen. Die Pensionswirtin in Caracas, Señora Pedro, trug Mutters Kette um den nicht gerade zarten Hals, und sie hatte sich bei mir dafür bedankt, weil sie der Meinung war, ich hätte ihr den Schmuck zugeschickt, um ein Versprechen meiner Mutter zu erfüllen… Ich ließ das Foto fallen, als sei es plötzlich glühend geworden. Ich konnte auch nicht mehr still sitzen. Wie ein gefangenes Tier lief ich in meinem Wohnzimmer auf und ab, und meine Gedanken überschlugen sich. Das Foto war am Unfalltag aufgenommen worden, und zwar, wie es den Anschein hatte, unmittelbar bevor Mutter in den Wagen stieg, um die Unglücksfahrt anzutreten, die Fahrt, von der sie nicht zurückkehrte. Sie war tödlich verunglückt, so besagten die Akten, und ihr Leichnam war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die Halskette aber, die sie getragen hatte, existierte noch! Wie war das zu erklären? Das Unglücksauto war ausgebrannt, von der Insassin nicht viel übrig geblieben – nur die Kette sollte unversehrt geblieben sein? Und selbst wenn man das Unwahrscheinliche annähme,
dann hätte die Polizei sie finden müssen, und normalerweise hätte ich als die Erbin sie bekommen. Natürlich war es denkbar, daß der Finder seinen Fund auch nicht gemeldet und ihn unterschlagen hätte. Aber hätte er ihn dann ausgerechnet an Señora Pedro geschickt? Nein, das ergab keinen Sinn, eine solche Möglichkeit war ausgeschlossen. Blieb also nur noch die zweite Möglichkeit. Die Halskette aus Amethysten war gar nicht im Unglücksauto gewesen. Meine Mutter also auch nicht? Ich wußte, daß ich nun keine Ruhe mehr finden würde, bis diese Frage beantwortet war… Ich mußte nach England. Mußte die Frau sehen, der ich in der Oper begegnet war. Wer war sie? War sie wirklich Lady Medwenna CorwynOwen? Und wenn sie es war – was ich nicht ausschließen konnte, was ich sogar hoffte – was war dann mit Mutter geschehen? Was war überhaupt geschehen? Das jedenfalls glaubte ich jetzt als sicher annehmen zu können, daß mit diesem Unfall in Caracas etwas nicht seine Richtigkeit hatte. Der Gedanke an ein Verbrechen drängte sich immer beharrlicher auf. Ich gedachte nicht eher zu ruhen, bis ich die Wahrheit herausgefunden hatte. Das glaubte ich mir und meiner Mutter schuldig zu sein…
*
Ich zögerte nun nicht länger, sondern handelte. Als erstes telefonierte ich mit Brendan Corwyn, und ich war nun sehr froh, daß ich die Visitenkarte, die er mir bei unserer ersten Begegnung gegeben hatte, noch in meiner Brieftasche fand. Natürlich hätte ich mir die Anschrift von Sir Owen und seiner Frau auch von Miriam geben lassen können, aber ich hatte mir überlegt, daß es für mich vielleicht von Vorteil wäre, wenn ich mich noch einmal mit Brendan Corwyn unterhielt. Immerhin war er Lady Medwennas Neffe, von ihm würde ich im Gespräch vielleicht manches erfahren können, was mir unter Umständen weiterhelfen könnte. Genaue Vorstellungen darüber hatte ich allerdings nicht. Außerdem wollte ich Brendan Corwyn gern wiedersehen. Ich wunderte mich selbst, daß ich in dieser an sich so problemgeladenen Situation noch derartige Gedanken haben konnte… Wie schön war es, am Klang von Brendan Corwyns Stimme zu hören, daß auch er sich ganz offensichtlich über meinen Anruf freute. Wir verabredeten uns noch für denselben Abend. Brendan hatte ein sehr gemütliches italienisches Restaurant auf der Fifth Avenue vorgeschlagen, das ich noch nicht kannte, und dort erwartete er mich bereits. Ich hatte mich für einen modischen Hosenanzug aus smaragdgrüner Seide entschieden. Ein bißchen gewagt, aber sehr chic, und als Brendan Corwyn mich erkannte, wußte ich sofort, daß ich richtig gewählt hatte. Es blitzte förmlich auf in seinen blauen Augen, und darüber freute ich mich. In diesem Augenblick hatte ich all das Bedrückende vergessen, das mich so quälte, da war ich nur noch jung und
freute mich auf den Abend mit einem netten, interessanten Begleiter. Ich hatte Herzklopfen wie ein junges Mädchen. Es war ein aufregendes, schönes Gefühl, und irgendwie sah man mir wohl an, was sich in mir abspielte. Ich strahlte. »Wie schön, daß Sie gekommen sind, Pamela«, sagte Brendan und streckte mir zur Begrüßung beide Hände entgegen. »Ich darf Sie doch Pamela nennen, nicht wahr? Mein Name ist Brendan, aber das wissen Sie ja.« Natürlich hatte ich nichts gegen diese zwanglose Form der Anrede einzuwenden. »Brendan – ein schöner, aber etwas ungewöhnlicher Name«, sagte ich, während ich in dem bequemen Korbsessel Platz nahm, den Brendan mir zurechtschob. »Ein keltischer Name«, antwortete Brendan lächelnd. »Wir unterhielten uns ja schon bei unserer ersten Begegnung darüber, daß meine Familie aus Wales stammt. Und die Urbevölkerung von Wales ist, wie Sie wohl wissen, keltischer Abstammung.« Ich freute mich, daß unser Gespräch in die Richtung trieb, in die ich es hatte bringen wollen. Ich hatte mir nämlich vorher überlegt, daß ich mit Brendan Corwyn nicht über das sprechen wollte, was mich im Augenblick so sehr bewegte, nicht über meine Befürchtungen und Ängste und auch nicht über das, was ich in Caracas erlebt hatte. Wenn der Mann Brendan Corwyn mir auch überaus sympathisch war, so durfte ich darüber doch nicht vergessen, daß er mir im Grunde fremd war. Zu fremd jedenfalls, um ihn bei einem solchen Problem ins Vertrauen ziehen zu können. Zwar war er unter Umständen selbst davon betroffen, da er mit Lady Medwenna verwandt war, aber ich meinte, erst selbst die Wahrheit herausfinden zu müssen.
Ein verhängnisvoller Fehler? An jenem Abend war ich überzeugt davon, richtig zu handeln. »Sind Sie in Wales aufgewachsen, Brendan?« fragte ich. Brendan Corwyn nickte lächelnd. »Ja, in der Nähe von Cardiff, wo ich auch zur Schule gegangen bin.« »Also nicht auf Corwyn-House?« fragte ich. Brendan schüttelte den Kopf. »Erzählte ich Ihnen nicht, daß ich einer Seitenlinie der Corwyns angehöre? Corwyn-House gehört dem anderen, wesentlich wohlhabenderen Zweig der Familie.« Das war wieder sein nettes, wenn auch etwas ironisches Schmunzeln. Aber ich ließ nicht locker. »Wo liegt Corwyn-House denn? Auch in der Nähe von Cardiff?« »Nun, wie man es nimmt«, meinte Brendan. »Wales im Ganzen ist ja nicht besonders groß, nur eben diese Halbinsel. Trotzdem kann man natürlich nicht sagen, daß Corwyn-House unmittelbar in der Nähe der Hauptstadt Cardiff liegt. Es liegt weiter im Westen, in der Grafschaft Pembroke. Der nächstgrößere Ort ist Fishguard.« »Aber Corwyn-House befindet sich nicht in diesem Ort?« »Nein, nein. Corwyn-House liegt in absoluter Einsamkeit, es wurde direkt über der hohen Küste gebaut, mit weitem grünem Hinterland. Ein wahres Paradies an sonnigen Tagen. Aber es gibt dort auch viel Regen, viel Nebel, und dann wirken die zerklüftete Küste sowie das weite, menschenleere Land düster und unheimlich. Ich glaube, man muß dort geboren sein, um es wirklich lieben zu können.« »Sie lieben dieses Land?« fragte ich neugierig. »Ich bin Waliser«, sagte Brendan schlicht. »Ich werde es immer bleiben, auch wenn ich mich jetzt mehr in London und New York aufhalten muß.«
»Würden Sie, wenn Sie es könnten, lieber auf Corwyn-House leben?« Brendan schaute mich amüsiert an. »Was interessiert Sie denn so sehr an Corwyn-House, Pamela? Irgendwelche romantische Vorstellungen? Aber, um Ihre Frage zu beantworten: Ich erzählte Ihnen ja schon, daß Corwyn-House in der Tat ein wundervoller Besitz ist, ein altes, auch baulich sehr interessantes Herrenhaus, fast schon eine Burg.« Er schwieg sekundenlang nachdenklich. »Ab und zu könnte man sich da schon aufhalten«, fuhr er fort. »Aber ich bin nicht der Typ des Landjunkers, der in einen solchen Rahmen paßt. Meine Welt sind Städte wie London und New York. Ich bin Geschäftsmann. Aber, liebe Pamela, meinen Sie nicht, daß wir uns jetzt lange genug über CorwynHouse unterhalten haben? Wir sind in einem New Yorker Restaurant, ich bin glücklich, mich in Ihrer bezaubernden Gesellschaft zu befinden – ich habe Hunger.« Er schaute mich dabei so nett und auch ein bißchen drollig an, daß ich unwillkürlich lachen mußte. Außerdem hatte er recht. Wir hatten uns lange genug über Corwyn-House unterhalten, und ich hatte eigentlich alles erfahren, was ich wissen wollte. Mit diesem Wissen würde ich mein Ziel unschwer erreichen können. »Entschuldigen Sie meine Neugier, Brendan«, bat ich. »Für eine New Yorkerin ist es tatsächlich romantisch, von alten Herrenhäusern zu hören. Man hat ja eine ganz bestimmte Vorstellung davon. Ich denke an ein schloßartiges Haus inmitten wunderbar grüner Wiesen in lieblicher, hügeliger Landschaft, aber auch an kalten, nassen Nebel, an Fledermäuse und Käuzchen und natürlich Gespenster, die einem einen Schauder über den Rücken jagen können.«
Brendan lachte vergnügt. »Sie haben eine blühende Phantasie, Pamela. Schade, daß ich Sie nicht einmal nach Corwyn-House einladen kann. Wie gesagt, ich habe dort keine Hausherrenrechte. Andererseits habe ich Sie zum Essen eingeladen, und nun sieht es so aus, als müsse ich an Ihrer Seite verhungern, weil Sie sich weigern, einen Blick auf die Speisekarte zu werfen.« »Ich weigere mich ja gar nicht«, protestierte ich lachend und griff nach der Karte. »Im Gegenteil, ich habe auch Hunger. Es wird mir erst bewußt, daß ich heute praktisch noch nichts gegessen habe.« »Wegen der Figur?« fragte Brendan rasch und musterte mich ziemlich ungeniert. Dabei muß ich sagen, daß ich zwar schlank bin, aber doch die nötigen Rundungen an den richtigen Stellen habe. »Das wäre schade«, fuhr Brendan fort und blickte mich voll an. »Nach meiner Meinung dürften Sie sich kein einziges Gramm abhungern, Pamela. Alles ist genauso, wie es sein sollte. Einfach perfekt.« Das war nun zwar kein besonders romantisches, aber doch recht nettes Kompliment, und ich freute mich darüber. »Danke«, antwortete ich. »Nein, ich mache keine Diät. Daß ich heute noch nichts gegessen habe – das hat andere Gründe.« Blitzartig fielen mir meine Probleme wieder ein, und anscheinend spiegelte sich das auf meinem Gesicht wider. »Haben Sie Sorgen, Pamela?« fragte Brendan rasch. »Sorgen? Nein, nein«, wehrte ich ab. »Jedenfalls nichts, das uns den Appetit und den Abend verderben könnte.« Und zum Zeichen, daß ich nicht weiter darüber zu sprechen wünschte, schlug ich die Speisekarte auf. »Was können Sie denn besonders empfehlen, Brendan?«
»Nun, die Kalbsschnitzel mit Schinken sind hier wirklich ein Gedicht«, antwortete Brendan, ohne nachdenken zu müssen. Ein Zeichen, daß er wohl schon öfter hier gegessen hatte. »Als Vorspeise vielleicht eine Minestrone?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich sage gern ja zu den Kalbsschnitzeln mit Schinken. Aber wenn schon italienisch, dann bitte Teigwaren als Vorspeise.« Brendan lächelte mich an. »Das gefällt mir. Also dann Spaghetti mit Thunfisch. Müssen Sie probieren, Pamela. Und zum Abschluß Zabaione?« Ich nickte ohne zu zögern. Diese italienische Weinschaumcreme, zu der man etwas Biskuit ißt, gehört zu meinen bevorzugten Leckereien. Ich beobachtete, wie Brendan Corwyn bei dem italienischen Kellner die Bestellung aufgab, und die Art, wie er mit dem Kellner verhandelte, gefiel mir Brendan Corwyn war überhaupt ein Mann, der mir in jeder Beziehung gefiel. Ich glaube, Brendan dachte in ähnlicher Weise über mich, und so wurde es wirklich ein wunderschöner Abend. Das Essen war in der Tat vorzüglich, wir unterhielten uns angeregt, und später am Abend nahmen wir in einer Bar noch einen Drink. Zum Abschied küßte mich Brendan. Ich hatte damit gerechnet, darauf gehofft, darauf gewartet, und dann war es doch schöner als alles, was ich bisher erlebt hatte. War das die Liebe? Hatte ich mich ernsthaft in Brendan Corwyn verliebt? Und er? Fühlte er wie ich? Ich schlief gut in dieser Nacht. Tief und traumlos, und das war nach meinen vorangegangenen Erlebnissen besonders wohltuend.
*
Am nächsten Tag flog ich nach London, ohne mich von Brendan verabschiedet zu haben. Ich hatte ihm auch nichts von meinen Plänen gesagt. Ich war nur kurz im Büro meiner Fluggesellschaft gewesen und hatte meinen Urlaub verlängern lassen, denn ich wollte genügend Zeit haben. Mit einiger Sehnsucht dachte ich zwar an Brendan und überlegte, wie tröstlich es sein müßte, ihn an meiner Seite zu wissen. Hätte ich ihm nicht doch die Wahrheit sagen sollen? Aber ich war überzeugt davon, allein handeln zu müssen – wenn ich auch dem, was vor mir lag, mit Angst und Unruhe entgegenblickte. Ich übernachtete in London und nahm mir am nächsten Morgen einen Leihwagen, denn ich wollte beweglich sein. Auf der Landkarte hatte ich mir die Strecke ausgesucht. Ich fuhr über Reading, Newbury und Bath. So kam ich zu der berühmten Severn-Brücke nördlich von Bristol, und war wirklich beeindruckt. Ich hatte gelesen, daß diese Hängebrücke insgesamt mehr als drei Kilometer lang ist. Der Blick von hier aus über die Mündung des Flusses Severn und auf das Meer hinaus war überwältigend, zumal der Tag wunderschön und klar war. Einer der letzten schönen Tage in diesem Sommer, von da ab erlebte ich fast nur graue, düstere Nebeltage, die dann auch ganz zu dem paßten, was mir widerfuhr. Aber dieser Reisetag war so schön, daß ich manchmal darüber sogar meine innere Unruhe vergaß. Man hatte mir geraten, möglichst über die Küstenstraßen zu fahren, und so kam ich über Cardiff, Swansea und viele kleine graue
Fischerdörfer in die Grafschaft Pembroke und schließlich auch nach Fishguard, wo ich zunächst einmal Station machte. Wie ich erwartet hatte, konnte ich dort ohne Schwierigkeiten erfahren, wo genau Corwyn-House lag. Und ich erfuhr auch, daß es nicht sehr weit von dem Herrensitz entfernt an einer Wegkreuzung einen alten Gasthof geben sollte. Dieser Gasthof war mein Ziel. Der Abend dämmerte zwar schon, aber ich setzte meine Fahrt trotzdem fort. Ich maß auch dem Umstand, daß das Wetter schlechter geworden war, keine Bedeutung bei. Ich wollte an diesem Tag noch mein Ziel erreichen. Aber es wurde dann sehr schnell dunkel, der Himmel bezog sich mit dicken schwarzen Wolken, und um mich her war plötzlich pechschwarze Nacht. Als es dann auch noch zu regnen begann, bereute ich doch, mit dieser Fahrt nicht bis zum nächsten Morgen gewartet zu haben. Die Scheinwerfer meines Autos vermochten nur eine schmale Schneise aus dem undurchdringlichen Dunkel herauszuschneiden. Die Scheibenwischer wurden kaum mit den Regenfluten fertig, und ich war hier mutterseelenallein auf der Suche nach einem Gasthof, von dem ich nicht einmal genau wußte, wo er lag. Aber da es hier in diesem anscheinend menschenleeren Gebiet nicht viele Straßen und Wege gab, konnte ich mich auch nicht verfahren, und so fand ich schließlich das Hinweisschild am Straßenrand. Jedenfalls dachte ich mir, daß es ein solches Schild sein müsse, die ausgebleichte Schrift auf dem primitiv gemalten Schild war im Vorüberfahren wirklich nicht zu lesen. Ich hielt den Wagen also an, um mich zu überzeugen, ob ich am Ziel sei.
»Cymru-Inn«, las ich ein wenig mühsam und war erleichtert. Das war der Gasthof, den man mir genannt hatte. Ich wußte inzwischen auch, daß »Cymru« in der walisischen Sprache Wales bedeutet, also würde ich in der Herberge von »Wales« logieren. Ich schaute mich um, versuchte in der Finsternis das Haus zu entdecken, denn bisher hatte ich ja nur das Schild gefunden. Ich sah es dann schließlich, etwa hundert Meter abseits der Straße, hingeduckt hinter knorrigen, alten Weiden. Nur ein ganz schwacher Lichtschein drang von der neben der niedrigen Tür baumelnden Laterne bis zu mir vor. Kein sehr einladender Eindruck, fand ich. Ich zögerte sogar, ob ich hier überhaupt bleiben sollte. Aber ich war todmüde, und ich glaubte auch nicht, daß es hier in der Gegend noch einen anderen Gasthof gab. Also lenkte ich den Wagen in die holperige, vom Regen aufgeweichte Einfahrt. Die Dunkelheit war unheimlich. Ich konnte nicht sehen, wohin ich beim Aussteigen trat, und so versank mein nur mit einem leichten, hochhackigen Schuh bekleideter Fuß gleich in einer knöcheltiefen Pfütze. Das fing ja gut an! Ich hatte keinen Regenschirm dabei, und drinnen schien man das Auto bisher noch nicht gehört zu haben, obwohl ich schon gehupt hatte. Also lief ich zur Tür, die verschlossen war, und so etwas wie eine Klingel gab es auch nicht. Ärgerlich klopfte ich und hämmerte bald verzweifelt mit beiden Fäusten gegen das Holz der Tür. Der Regen prasselte wie aus Gießkannen nieder, ich war schon fast völlig durchnäßt, und das Haar hing mir aufgelöst und strähnig in die Stirn. Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit erschien, hörte ich schlurfende Schritte hinter der Tür, die sich dann auch knarrend und quietschend öffnete. Drinnen in dem niedrigen
Flur brannte von der Decke eine einsame Glühbirne. Im Türrahmen erkannte ich die Gestalt eines Mannes, dessen Alter nicht abzuschätzen war. »Was ist los?« fragte er unfreundlich. »Ist das ein Gasthof?« fragte ich zurück. »Ich möchte ein Zimmer.« »Ein Zimmer?« Der Mann, ich sah jetzt, daß er schon älter war, schaute mich mißtrauisch an. Hatte ich mich vielleicht geirrt? »Ist das hier denn kein Gasthof?« fragte ich nun doch eingeschüchtert. »Schon, schon«, nickte der Mann und ließ mich nicht aus den Augen. »Sie sind allein? Sie wollen hier wohnen?« »Ja«, antwortete ich ärgerlich. Ich hatte keine Lust, ihm meine Geschichte zu erzählen. Zudem stand ich immer noch im Regen. »Haben Sie nun eine Unterkunft für mich oder nicht?« »Kommen Sie«, nickte er, machte auf dem Absatz kehrt und ging in den Flur hinein. Ich zögerte nicht, ihm zu folgen. Aber ich sehnte mich verzweifelt danach, jetzt in New York in meiner behaglichen Wohnung zu sein. Worauf hatte ich mich hier bloß eingelassen? Ich mußte eine enge, knarrende und sehr steile Stiege nach oben steigen und wurde in ein Zimmerchen mit schrägen Wänden geführt, in dem es nur ein Bett gab, einen Tisch und einen Stuhl, eine Kommode in der Ecke mit einer Schüssel und einer Wasserkanne und ein paar Haken an der Wand, woran man offenbar die Kleidung aufhängen sollte. So primitiv hatte ich bisher nie gewohnt. Als Stewardeß war ich die Hotels der Luxusklasse gewohnt. Obwohl ich im allgemeinen recht couragiert bin, mußte ich jetzt gegen aufsteigende Tränen ankämpfen.
»Essen können Sie unten«, sagte der Wirt und ließ mich allein. Naß wie ich war, sank ich auf den einzigen Stuhl. Tränen liefen mir übers Gesicht und vermischten sich mit den Tropfen aus meinem nassen Haar. Die Enttäuschung war zu groß. Doch endlich gab ich mir einen Ruck. Immerhin hatte ich mir diese Suppe selbst eingebrockt. Es war mein Entschluß gewesen, hierher zu kommen, also würde ich auch das tun, was ich mir vorgenommen hatte, und mich nicht gleich vom Wetter und von einem uralten Gasthof abschrecken lassen. Aus meiner Reisetasche, die ich mit nach oben genommen hatte, nahm ich mir trockene Sachen heraus. Mit einem Handtuch, das ich neben der Waschschüssel gefunden hatte und das blütenweiß und erstaunlich frisch war, rubbelte ich mich trocken und fühlte mich dann schon bedeutend wohler, als ich mich umgezogen hatte und über die lebensgefährlich steile Treppe vorsichtig nach unten ging. In der winzigen, ebenfalls sehr niedrigen Gaststube war es anheimelnd warm, denn es brannte ein Feuer im Kamin. Die behäbige Wirtin war adrett und freundlich und brachte mir gleich, ohne daß ich sie dazu aufgefordert hatte, eine dicke, dampfende Suppe. Ich war hungrig und aß mit Appetit, obwohl ich beim besten Willen nicht ausmachen konnte, woraus diese Suppe gekocht war. Sie schmeckte jedenfalls köstlich. Der Wirt brachte mir ein altes, abgegriffenes Buch, in das ich meinen Namen eintrug, ich bat noch um einen Krug Bier und stieg dann wieder nach oben in mein Zimmerchen. Jetzt mußte ich erst einmal schlafen.
*
Als ich am nächsten Morgen aufwachte und aus dem Fenster sah, war alles in dicken grauen Nebel gehüllt. Und da war sie dann auch gleich wieder, meine trübe, angstvolle Stimmung. Da waren wieder die bangen Fragen, die Furcht vor schlimmen Erkenntnissen, ja, auch Angst um mich selbst, um mein Leben. Den Mordanschlag in Caracas hatte ich keinesfalls vergessen, und ich fragte mich wieder, ob es tatsächlich eine Verbindung von hier nach Caracas gab. Angst konnte ich mir eigentlich gar nicht leisten. Da ich entschlossen war, Nachforschungen anzustellen, war es müßig, sich Sorgen zu machen. Bisher allerdings hatte ich noch keinen Plan, wie ich vorgehen sollte. Jedenfalls wollte ich mir Zeit nehmen und nichts überstürzen. Keinesfalls gedachte ich die Bewohner von Corwyn-House auf mich aufmerksam zu machen. Die böse Erfahrung in Caracas hatte mich vorsichtig gemacht. Ich hatte am vergangenen Abend erwogen, einen falschen Namen anzugeben. Doch davon war ich gleich darauf abgekommen. Ich nahm nicht an, daß man sich auf CorwynHouse dafür interessierte, welche Personen im Gasthof wohnten. Mir schien das eine reichlich abwegige Möglichkeit. Beim Frühstück bediente mich die Wirtin selbst. Der Wirt war jetzt nicht zu sehen, und vielleicht war die Frau darum nun nicht mehr so schweigsam wie am Abend zuvor. Sie erwies sich sogar als recht neugierig, und ich hatte einige Mühe, ihr zu erklären, daß ich nur hierher gekommen war, um mich zu erholen, weil ich Ruhe und weite, einsame Spaziergänge suchte. Das leuchtete ihr offenbar nicht ein.
»Eine hübsche junge Frau«, sagte sie kopfschüttelnd, »braucht Leben um sich. Es ist nicht richtig, sich in so einsamer Gegend zu vergraben.« »Jeder liebt es auf seine eigene Art, Mrs. Brynam«, sagte ich freundlich und ließ mir noch einmal Tee nachgießen. »Ich liebe nun einmal die Einsamkeit und entdecke dabei immer wieder neue Gegenden. Hier in Pembroke soll es sehr reizvoll sein. Ich freue mich schon auf meine Wanderungen.« Ich nahm einen Schluck Tee und deutete dann zum Fenster hinaus, wo man jetzt außer den grauen Nebelschwaden nichts sah. »Hier in der Gegend soll es auch ein Schloß geben«, sagte ich beiläufig. »Ganz in der Nähe. Stimmt das?« »Nein, nein, kein Schloß«, antwortete Mrs. Brynam eifrig. »Das ist Corwyn-House. Es ist zwar so groß und so schön wie ein Schloß, aber man nennt es eben nur House. Früher einmal hat die ganze Gegend hier zum Besitz der Herren von Corwyn gehört, heute sind wir natürlich frei und unsere eigenen Herren. Was aber nicht bedeutet, daß wir ohne die Herrschaft existieren könnten. Ihr gehören weite Ländereien und ausgedehnte Fischgründe. Die meisten Menschen dieser Gegend arbeiten für die Herrschaft.« »Dann sind die Corwyns wohl sehr reich?« fragte ich wie nebenbei. »O ja«, antwortete meine Wirtin beinahe ehrfürchtig. »Aber man kann nicht mehr von den Corwyns sprechen. Lord Corwyn ist vor einigen Jahren tödlich verunglückt. Er war noch nicht verheiratet und hinterließ keinen Erben. Jetzt gibt es da nur noch seine Schwester, Lady Medwenna. Sie ist die Herrin.« »Aber diese Lady hat doch sicher Erben?« Mrs. Brynam zuckte die Achseln, und sie machte ein bedrücktes Gesicht, als sei sie persönlich betroffen. »Lady
Medwenna ist kinderlos«, erzählte sie, angenehm davon überrascht, daß sie es sein durfte, die eine Fremde in die Familiengeschichte der Corwyns einführte. »Die Lady hat vor Jahren einen Diplomaten aus England geheiratet, einen Sir Gilroy Owen. Mit ihm hat sie dann die Heimat verlassen. Sie ist viel in der Welt herumgekommen, und man sagt, zuletzt sei sie in Südamerika gewesen. Ich glaube, die Familie war nicht einverstanden mit der Heirat. Jedenfalls kam die Lady während all der vielen Jahre niemals zu Besuch zurück nach Wales.« Die Frau schüttelte den Kopf, als könne sie so etwas nicht begreifen. »Möchten Sie noch Toast, Miß Kendall?« fragte sie mich. »Oder soll ich Ihnen noch ein bißchen Speck braten?« Am Abend zuvor hatte ich mich fast vor diesem Haus und seinen Bewohnern gefürchtet. Doch jetzt fand ich das Quartier ganz behaglich. Die Herberge war zwar alt, das niedrige Fachwerkhaus windschief und ziemlich verkommen. Auch die Einsamkeit und der graue Nebel waren nicht unbedingt nach meinem Geschmack. Doch die Wirtsleute waren keineswegs furchterregend, sie waren in ihrer Art sogar freundlich. Nachdem sie ihr Erstaunen über den unerwarteten Gast überwunden hatten, freuten sie sich über die Einnahme. Allzugut schienen die Geschäfte in dieser abgelegenen Gegend nicht zu gehen, und ganz bestimmt nicht um diese Jahreszeit. »Nein, danke, Mrs. Brynam, ich möchte nichts mehr«, beantwortete ich die Frage der Wirtin und fürchtete schon, sie würde nun vom Thema abkommen, das für mich doch so wichtig war. Aber diese Befürchtung war überflüssig. »Können Sie sich das vorstellen, Miß Kendall?« fragte sie beinahe vorwurfsvoll. »Niemals ein Besuch in der Heimat? Dabei sagt man doch
gerade uns Walisern nach, daß wir so sehr heimatverbunden seien. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß ich unser Land jemals verlassen könnte. Lady Medwenna hat es jedenfalls gekonnt.« »Nun ist sie aber doch zurückgekommen, nicht wahr?« hakte ich rasch nach. »Ja, das ist richtig. Als ihr Bruder, Lord Corwyn, verunglückte, wurde sie ja automatisch die Herrin von Corwyn-House und allem, was dazugehört. Da kam sie dann zurück, zusammen mit ihrem Mann, der inzwischen wohl seinen Abschied genommen hat, um sich nur noch den hiesigen Geschäften zu widmen. Na ja.« Wieder zuckte die Frau die Achseln und begann, meinen Frühstückstisch abzuräumen. »Sind Sie denn nicht glücklich über diese Heimkehr?« fragte ich. Mrs. Brynam schien nur darauf gewartet zu haben, daß ich eine solche Frage stellte, denn sie antwortete sofort und setzte dabei die Tasse, die sie auf das Tablett hatte räumen wollen, wieder auf den Tisch zurück. »Glücklich?« fragte sie und zog beide Augenbrauen hoch, so daß die blaßblauen Augen darunter kreisrund wurden. »Sicher, Lady Medwenna war uns allen willkommen. Sie ist ja eine von uns, sie gehört hierher. Aber ihr Mann, dieser Sir Gilroy, er hat hier noch keine Freunde gemacht, und das wird er wohl auch nie tun. Er ist herrisch und hart, er beutet die Leute aus, und man sagt, auch Lady Medwenna sei sehr unglücklich mit ihm.« »Ach, wirklich?« fragte ich und machte ein neugieriges Gesicht, so wie man es wohl macht, wenn man begierig ist, Klatsch und fremde Geheimnisse zu erfahren. Daß ich einen ganz anderen Grund für mein Interesse hatte, ahnte die geschwätzige Wirtin natürlich nicht.
»War es denn keine Liebesheirat gewesen?« fragte ich. »Stand Lady Medwenna von Anfang an unter dem Einfluß ihres Mannes?« Ich dachte daran, daß Miriam in Caracas mir erzählt hatte, Lady Medwenna sei herrisch und arrogant, und so fragte ich jetzt weiter: »Ist Lady Medwenna denn eine so schwache Persönlichkeit, daß sie sich von ihrem Mann beherrschen läßt?« Mrs. Brynam lachte bitter auf. »Da hätten Sie unsere Lady mal in ihren jungen Jahren erleben müssen«, sagte sie so engagiert, als handele es sich um ihre eigene Tochter. »Sie war stark und stolz und konnte jeden Mann um den kleinen Finger wickeln. Diesen Sir Gilroy hat sie sich selbst ausgesucht, sie war wohl ganz verrückt nach ihm. Und sie setzte die Heirat gegen den Willen der Familie durch.« »Dann hat die Ehe sie also verändert?« bohrte ich weiter. »Das kann man wohl sagen. Es heißt, sie sei leidend zurückgekommen. Vielleicht ist ihr das Leben in Südamerika nicht bekommen. Vielleicht hat sie sich von dort auch eine andere Krankheit mitgebracht, man weiß so etwas ja nie. Aber die Lady ist jetzt nicht nur körperlich schwach. Man sagt auch, daß sie überhaupt keinen Willen mehr habe. Alle Anordnungen auf Corwyn-House gehen von Sir Gilroy aus – und es sind nicht immer gute Anordnungen. Lady Medwenna aber, die es eigentlich besser wissen müßte, kümmert sich um nichts. Es ist schlimm. Sehr schlimm.« »Gibt es denn keine Kinder aus dieser Ehe?« fragte ich. »Nein, die Lady hat keinen leiblichen Erben. Keiner weiß, was einmal werden soll, wenn die Lady nicht wieder gesund werden sollte. Wir sind ja alle davon betroffen. Verstehen Sie, Miß Kendall?«
Ich nickte pflichtschuldig, hing dabei aber meinen eigenen Gedanken nach. Jetzt hatte ich wohl alles erfahren, was es auf unverfängliche Weise zu erfahren gab. Was ich jetzt noch wissen wollte, würde ich selbst herausfinden müssen. Ich war tatsächlich ohne Plan hierher nach Wales gekommen. Ich hatte mir nur gesagt, wenn es eine Antwort auf meine Fragen gab, dann mußte sie in Wales zu finden sein. Nun war ich also hier. Wie sollte es weitergehen? Ich hatte einiges erfahren über die Corwyns und ganz besonders auch über Lady Medwenna. Ich wußte, daß sie krank aus Südamerika in die Heimat zurückgekehrt war. Davon hatte Miriam in Caracas mir nichts erzählt. Ich wußte auch, daß auf Corwyn-House Sir Owen das Sagen hatte. Auch das entsprach nicht dem Bild, das Miriam von dem Ehepaar gezeichnet hatte. Allerdings wäre es vielleicht damit zu erklären, daß Lady Medwenna inzwischen leidend war, daß ihr Mann ihr also fürsorglich alle Pflichten abnahm. Hatte Miriam aber nicht auch davon gesprochen, daß Lady Medwenna sich hatte scheiden lassen wollen? Davon schien nun nicht mehr die Rede zu sein. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß das Ehepaar sich inzwischen ausgesöhnt hatte. Bislang deutete nichts darauf hin, daß die auf Corwyn-House lebende Frau nicht die echte Lady Medwenna sein könnte. Immerhin war die Lady hier zu Hause, man kannte sie hier, würde hier einen Betrug also auch am ehesten entdecken. Allerdings konnte man dieser Überlegung entgegensetzen, daß Lady Medwenna viele Jahre fern der Heimat gelebt hatte und nicht einmal besuchsweise zurückgekehrt war. Die Zeit kann einen Menschen stark verändern.
*
Mein erster Weg hatte mich selbstverständlich in die Nähe von Corwyn-House geführt, gleich am ersten Tag. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet, nachdem ich mein Frühstück beendet hatte, und so zog ich feste Schuhe und einen Regenmantel an, band mir ein Tuch um den Kopf und machte mich so auf den Weg. Ich hatte mich bei der Wirtin von »Cymru-Inn« absichtlich nicht danach erkundigt, in welche Richtung ich mich wenden müsse, um Corwyn-House zu finden, denn ich wollte nicht ihre Neugier noch mehr erregen. Ich brauchte auch nicht lange zu suchen. Ich war einfach der schmalen Straße gefolgt, die an der wild zerklüfteten Küste entlangführte, und dann sah ich es schon bald: Corwyn-House. Nach den Schilderungen hatte ich ein imposantes Gebäude erwartet, aber nun war ich doch beeindruckt. Das war ein mächtiges, trutziges Gebäude, aus gewaltigem nahezu schwarzem Granitgestein errichtet wie für die Ewigkeit. Die Fenster zur Landseite hin wirkten klein wie Schießscharten und machten das Gebäude kaum einladender, zur Seeseite hin hatte man sicher schönere Ausblicke. Eine weit geschwungene kiesbestreute Auffahrt führte zum Eingang, neben dem auf Granitsäulen zwei aus Stein gehauene Löwen thronten. Rechts und links der Einfahrt breitete sich kurzgeschorener, wundervoll grüner Rasen aus, unterbrochen nur von einzelnen Gebüschgruppen. Dieser Blick bot sich mir durch das hohe schmiedeeiserne Tor, denn zur Straße hin war das unübersehbare Gelände durch eine massive Mauer aus Granitblöcken begrenzt.
Ein in der Tat beeindruckendes Anwesen. Sinnend stand ich außerhalb des Tores und starrte hinüber. Was spielte sich dort hinter den Fenstern ab? War es wirklich denkbar, daß sich dort meine Mutter aufhielt? Was mir in Caracas und dann auch zu Hause in New York so einleuchtend erschienen war, verlor hier an Ort und Stelle nahezu jegliche Überzeugungskraft. Ich mußte über mich selbst lächeln, wenn ich daran dachte, daß ich einfach nach Corwyn-House hatte fahren wollen, um dort die Herrin des Hauses zu sprechen. Angesichts dieses Gebäudes und Anwesens würde ich eine solche Kühnheit kaum aufbringen, zumal ich ja keine überzeugende Begründung für einen solchen Besuch besaß. Bedrückt wandte ich mich ab, um meinen Spaziergang fortzusetzen. Ich folgte der Straße weiter, immer der hohen grauen Begrenzungsmauer entlang, und ich fragte mich, wie weit der Besitz der Corwyns reichen mochte. Ein süßer, betäubender Duft lag in der Luft. Ich blickte an der Mauer hoch und sah jetzt in dieser herbstlichen Jahreszeit noch in voller Blüte stehende weiße Rosen. Wenige Schritte weiter war ein schmales Tor in die Mauer eingelassen, und von dort konnte ich dann in einen herrlichen, großen Rosengarten hineinschauen, in dem es üppig blühte. Es gab mächtige Rosenbüsche wie jener, der sich bis über die Mauer rankte, und es gab niedrig wachsende Rosensträucher. Veredelte Hochstämmchen, Strauchrosen und Teehybride – und alles ausnahmslos weiß! Ich stand außerhalb dieses Zaubergartens, auf den der Nebel seinen feuchten Schleier gelegt hatte, den eine zaghafte, blasse Sonne nun wegzuziehen begann, und konnte den Blick nicht abwenden. Mir wurde wieder sehr beklommen zumute, denn ich dachte an die weißen Rosen auf Mutters Grab.
Gab es also doch einen Zusammenhang zwischen diesem Herrenhaus in Wales und dem einsamen Grab in Caracas? Wer würde mir jemals diese Frage beantworten, und wem würde ich sie überhaupt stellen können? Ich machte noch viele Spaziergänge in den nächsten Tagen, und alle führten mich in die Nähe von Corwyn-House. Ich weiß selbst nicht genau, was ich dort suchte. Wahrscheinlich hoffte ich, Lady Medwenna zu sehen oder ihr gar auf einem solchen Spaziergang zu begegnen. Natürlich war mir klar, daß das ziemlich unwahrscheinlich war, aber im Grunde war das meine einzige Hoffnung. Ich wußte wirklich nicht, was ich sonst unternehmen könnte. Ein paar Tage ging das so, dann kam ich nach gründlichem Nachdenken zu dem Schluß, daß das alles keinen Zweck habe, daß ich hier nur meine Zeit vergeudete. Ich hatte mich in eine verrückte Idee hineingesteigert, und nun mußte ich einsehen, daß das alles Unsinn war. Meine Mutter war tot und in Caracas begraben. Und daß diese Lady Medwenna eine große Ähnlichkeit mit meiner Mutter besaß, war nichts weiter als eine Laune der Natur, wie sie ja wahrhaftig nicht selten ist. Eigenartig war höchstens, daß ich dieser Frau überhaupt einmal begegnet war. Ich mußte aufhören, weiter über diese Geschichte nachzugrübeln. Das einzig richtige war es, wenn ich zurück nach New York flog und mein normales Leben wieder aufnahm. Und der Mordversuch in Caracas? Ich schüttelte den Kopf. Auch daran wollte ich nicht mehr denken, nicht darüber rätseln. Es passierte so viel in jenen Gegenden. Ich war eben irgendwelchen Verbrechern in die Hände gefallen und hatte noch mal Glück gehabt.
Ich wußte selbst, daß das nicht stimmte und auch unlogisch war, aber ich wollte nicht mehr nachdenken, ich wollte keine Zusammenhänge mehr sehen, ich wollte dieses ganze düstere Kapitel abschließen. In der Frühe des nächsten Tages packte ich meine Reisetasche, bezahlte meine bescheidene Rechnung in der »Herberge von Wales« und trat dann die Rückfahrt an. Am Nachmittag wollte ich in London sein, und in Cardiff machte ich die erste Station. Ich hatte Appetit auf eine Tasse Kaffee und ein Sandwich, außerdem wollte ich mir ein wenig Cardiff ansehen, die Hauptstadt von Wales. Gleich an der Hauptstraße fiel mir ein Restaurant auf. Besonders hübsch fand ich die vielen hohen Grünpflanzen, durch die der Raum in kleine Nischen unterteilt wurde, wo man ungestört und praktisch im Grünen sitzen konnte. Ich nahm also an einem dieser Tische Platz und gab meine Bestellung auf, die dann auch bald gebracht wurde. Der Kaffee war gut und der Sandwich frisch und saftig. Ich war höchst zufrieden. Nach einer solchen Pause konnte ich bald gestärkt die Weiterfahrt nach London antreten. Plötzlich wurde ich auf Stimmen aufmerksam. Ich hatte nicht darauf geachtet, daß am Nebentisch Gäste angekommen waren. Sie saßen dicht neben mir, nur durch die Grünpflanzen von mir getrennt. Obwohl ich sie nicht sah, hörte ich ihre Stimmen. – Vielleicht wäre ich trotzdem nicht aufmerksam geworden, denn ich war ja mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, und außerdem wurde die Unterhaltung neben mir leise geführt. Aber man sprach Spanisch, und das erregte meine Aufmerksamkeit, denn so etwas war zumindest ungewöhnlich in Wales. Mir ist die spanische Sprache geläufig, und unwillkürlich horchte ich.
Als mir bewußt wurde, daß ich lauschte, schalt ich mich selbst und wollte schon aufbrechen. Da wurde ich mit einemmal hellwach. Die Stimme der Frau kannte ich, und auch die Männerstimme glaubte ich schon einmal gehört zu haben. Beide Stimmen hatte ich in keiner guten Erinnerung. »Das alles dauert reichlich lange«, sagte die Frauenstimme. »Du stellst meine Geduld wirklich auf eine harte Probe, mein Lieber.« »Man darf nichts überstürzen«, antwortete der Mann. »Bisher lief doch alles nach Plan, nicht wahr? Das Schlimmste haben wir bereits erledigt, und zwar gut erledigt. Es gibt schließlich nicht den geringsten Verdacht.« So etwas wie Selbstzufriedenheit oder gar unterdrückter Triumph klang in der Stimme mit. Ich saß wie erstarrt. Der da sprach, war Sir Gilroy Owen! Es gab für mich nicht den geringsten Zweifel. Und die Frauenstimme gehörte Beverly Seabrook, der Frau, die in Caracas seine Sekretärin gewesen war. Wieso war sie jetzt hier, wieso trafen die beiden sich in Cardiff, das doch ziemlich weit von Corwyn-House entfernt war? Und Sir Owen sprach vom »Schlimmsten«, das bereits erledigt sei? Was meinte er damit? Ich spürte, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken kroch. Ich wagte kaum zu atmen und hoffte nur, daß die beiden nicht auf mich aufmerksam wurden. Schließlich saß ich kaum um Armeslänge von ihnen entfernt. Aber die beiden waren so in ihre Diskussion vertieft, daß sie praktisch gar nicht auf ihre Umgebung achteten. Sie fühlten sich völlig sicher und unbeobachtet, natürlich auch unbelauscht. »Zugegeben«, antwortete Beverley Seabrook jetzt anscheinend gereizt. »Zugegeben, es ist schon etwas
geschehen. Aber immerhin steht der entscheidende Teil unseres Planes noch aus. Ich bin der Ansicht, daß du dir viel zuviel Zeit läßt.« »Geduld, Geduld«, beschwichtigte der Mann. »Wir wollen doch jetzt nicht noch alles gefährden. Außerdem bin ich ja auch schon ziemlich weit. Das Testament ist praktisch unter Dach und Fach. Es fehlt nur noch eine einzige Unterschrift.« Ein Testament? Ich überlegte fieberhaft. Was konnte das zu bedeuten haben? Noch durchschaute ich das Teuflische nicht, das da im Gange war. Aber das Gespräch am Nebentisch ging weiter, und allmählich dämmerte mir dann auch, was hier gespielt wurde. Das Entsetzen darüber lähmte mich derartig, daß ich das Gefühl hatte, mich nie im Leben wieder bewegen zu können. Die Auskunft über das fast fertige Testament besänftigte Beverly Seabrook etwas. »Na also«, sagte sie zufrieden. »Wenigstens etwas. Aber warum läßt du nicht unterschreiben? Dann kann endlich der – der Trauerfall eintreten, und du bist Herr auf Corwyn-House. Es wird dann ohnehin noch lange genug dauern, bis wir endlich heiraten können. Was meint du, werden sechs Monate ausreichen?« Atemlos hörte ich weiter zu. So war das also. Die kinderlose Lady Medwenna sollte ganz offiziell ein Testament zugunsten ihres Mannes machen, dann sollte sie sterben. Denn nur so war der »Trauerfall« zu verstehen, von dem Beverly Seabrook sprach. Später wollte der rechtmäßige und alleinige Herr von Corwyn-House seine ehemalige Sekretärin heiraten. Ein böser, grausiger Plan. Die beiden planten ohne Zweifel einen heimtückischen Mord. Einen Mord an wem? An Lady Medwenna?
War es wirklich Lady Medwenna, die hinter den grauen Granitmauern von Corwyn-House lebte? Oder war es… Das Gespräch ging weiter, und ich bekam Gewißheit. Beverly Seabrook vergaß in ihrer Ungeduld nämlich jegliche Vorsicht. Zunächst einmal antwortete Sir Owen mit hörbarem Unbehagen: »Sechs Monate, Liebling? Darüber wollen wir reden, wenn es so weit ist. Du kennst die Menschen hier in dieser Gegend nicht. Man liebt mich nicht, man begegnet mir mit Mißtrauen. Wir müssen auch künftig vorsichtig bleiben und jedem Gerede aus dem Weg gehen.« »Du wirst doch wohl nicht noch länger warten wollen, bis du mich endlich heiratest?« fragte die Frau heftig. »Ich warne dich, mein Lieber! Meine Geduld ist nicht endlos. Ich habe schließlich schon lange genug gewartet, erst in Caracas und nun auch hier. Ich will endlich deine rechtmäßige Gattin sein!« »Bitte, Liebling, sprich nicht so laut!« bat Sir Owen ängstlich. »Man könnte aufmerksam werden.« »Ach, was soll’s?« antwortete Beverly Seabrook schnippisch. »Wir sprechen schließlich Spanisch, niemand versteht uns hier. Lenk nicht vom Thema ab.« »Ich lenke doch nicht ab, Liebling! Du weißt, wie verrückt ich nach dir bin und daß ich ohne dich einfach nicht mehr sein kann. Ich wollte dich schon lange ganz für mich haben, das weißt du auch. Aber als mittellosen Mann wolltest du mich nicht. Wir waren uns darum einig, daß ich es auf eine Scheidung von meiner Frau nicht ankommen lassen durfte, weil ich dann von ihrem ganzen Besitz nichts bekommen hätte.« »Ich weiß…«, unterbrach Beverly Seabrook den Redestrom. Doch Gilroy Owen ließ sich nicht bremsen: »Du selbst warst es dann schließlich, die die Schauspielerin in New York für
mich entdeckt hat. Den Plan haben wir dann gemeinsam ausgearbeitet. Ich denke, es ist ein Plan, der wirklich keine Schwachstelle hat, wenn wir ihn ganz genau einhalten. Ganz genau, Liebling, denke immer daran!« Nun war es ganz klar, daß man jetzt von meiner Mutter sprach. Die Schauspielerin, die von Beverley Seabrook entdeckt worden war! Das konnte nur Mutter gewesen sein. »Ich vergesse unseren Plan nicht, niemals!« antwortete die Stimme, die Beverly Seabrook gehörte, verärgert. »Aber manchmal habe ich schon bereut, diesem Teil des Planes zugestimmt zu haben, das kannst du mir glauben. Es hat mir nämlich durchaus nicht gefallen, wie du den leidenschaftlichen Liebhaber gespielt hast. Ich hatte dich oft sogar in Verdacht daß dir diese Rolle ganz gut gefiel. Du warst einfach zu überzeugend.« Die Frau lachte häßlich auf, um dann lauernd fortzufahren: »Gefällt sie dir vielleicht immer noch, diese Rolle? Hast du dich an die ausgewechselte Gemahlin gewöhnt? Möchtest du mich jetzt vielleicht sogar loswerden?« Die ausgewechselte Gemahlin! Das war das entscheidende Wort. Jetzt hatte ich Gewißheit. Jedenfalls glaubte ich Gewißheit zu haben. Was sonst hätte dieses furchtbare Wort bedeuten können? »Wie kannst du so etwas denken, Liebling«, antwortete Sir Owen beschwörend. »Du weißt, daß ich immer nur dich geliebt habe und daß sich daran niemals etwas ändern wird. Du steckst mir viel zu sehr im Blut.« »Na schön«, meinte Beverly zufrieden und ohne eine Spur von Zärtlichkeit. »Dann bringe die Geschichte endlich zu Ende, ehe doch noch etwas eintritt, was wir nicht berechnet haben. Denk nur an die Tochter! Sie war bereits mißtrauisch geworden und hätte uns ernsthafte Schwierigkeiten machen
können. Wer weiß, wo wir heute wären, wenn ich nicht sofort gehandelt hätte.« Mich überlief es eiskalt bei dieser zynischen Feststellung, die doch nicht mehr und nicht weniger als den versuchten Mord an mir umschrieb. Wie ich jetzt erfuhr, war Sir Owen also nicht der Drahtzieher gewesen, aber er mißbilligte Beverlys Tat auch nicht. »Das war sehr unbedacht und gefährlich, Liebling«, sagte er nur. »Du hast dabei sehr viel Glück gehabt, daß alles so reibungslos vonstatten ging.« Beverly Seabrook lachte häßlich. »Ich habe Glück gehabt?« fragte sie. »Nein, mein Lieber, wir beide haben Glück gehabt, denn wir sitzen doch schließlich im selben Boot. Und was ich getan habe, habe ich für uns beide getan. Aber ich habe es sehr gut getan. Die Tochter ist tot, sie wird uns keinen Ärger mehr machen. Und, was das Beste ist, niemand weiß, wo sie ist. Man wird sie niemals finden, weil niemand dort nach ihr suchen wird. Ihren Leihwagen habe ich wieder zurückgebracht, und dann bin ich unter ihrem Namen nach New York geflogen. Du mußt doch zugeben, daß es ein perfekter… Todesfall war.« Vor dem Wort »Mord« schien sogar diese Frau zurückzuschrecken, aber auch Sir Owen fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut. »Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, Liebling«, sagte er hastig. »Und im übrigen wünschte ich selbst, daß alles schon vorbei wäre. Das ist momentan jedenfalls keine angenehme Situation.« »Es liegt in deiner Hand, die Dinge zu beschleunigen«, meinte Beverly ungerührt. »Ich hoffe nur, du vergißt das nicht.« »Ich vergesse es nicht, Liebling. Aber nun Schluß mit diesem Gespräch. Du weißt, ich muß am Abend wieder zurück sein,
und wir beide haben noch gar nichts voneinander gehabt. Gehen wir in dein Hotel?« »Kann das nicht gefährlich werden?« warnte die Frau kühl. »Wir dürfen kein Aufsehen erregen.« »Ich halte es nicht mehr aus ohne dich«, stöhnte der Mann. »Also gut, gehen wir«, sagte da Beverly Seabrook. »Ich habe im Hotel ohnehin gesagt, daß ich meinen Mann erwarte. Und selbstverständlich habe ich einen falschen Namen angegeben.« »Kluges Mädchen«, sagte Sir Owen zärtlich und stolz. Dem Geräusch nach schien er ihr die Hand oder die Stirn zu küssen, dann rief er nach der Bedienung.
*
Ich saß noch lange wie gelähmt, nachdem die beiden das Lokal längst verlassen hatten. Als das Stühlerücken nebenan mir verriet, daß sie sich erhoben, hatte ich noch die Geistesgegenwart besessen, schnell nach der Speisekarte zu greifen und sie mir vor das Gesicht zu halten, als studiere ich ernsthaft das Angebotene. Aber es war nicht einmal nötig gewesen. Die beiden fühlten sich sicher und unbeobachtet. Sie waren in Gedanken vielleicht auch schon bei dem bevorstehenden Schäferstündchen, daß sie für die unfreiwillige Zuhörerin am Nebentisch überhaupt keinen Blick hatten. Ich aber stand unter einer so unerträglichen Spannung, daß ich vorübergehend fürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Dann arbeiteten meine Gedanken wieder klar. Ich hatte zwar noch Schwierigkeiten, das Ungeheuerliche, das ich da erfahren hatte, zu begreifen, aber schließlich war mir alles ganz klar.
Und damit wußte ich auch, daß ich nun handeln mußte. Ich hatte abreisen wollen, war ja praktisch schon auf dem Weg nach London und von dort aus nach New York. War das wirklich wieder ein Zufall, daß ich nun aufgehalten wurde, daß es hier zu dieser Begegnung gekommen war? Fast konnte ich es nicht glauben. Gab es doch so etwas wie eine Bestimmung, wie Schicksal? Jetzt war nicht die Zeit, über solche Fragen nachzugrübeln. Jetzt mußte ich handeln. Zwei Verbrecher schickten sich an, einen furchtbaren Plan in die Tat umzusetzen… Und ich wußte, daß meine Mutter noch lebte! Mir wurde fast schwindelig bei diesem Gedanken. Aber ich erschrak auch, als ich bemerkte, daß dieses Wissen kein Glücksgefühl in mir auslöste. Meine Mutter ruhte zwar nicht in dem einsamen Grab in Caracas, aber dafür war sie in einen ungeheuren, schändlichen Betrug verwickelt. Wie weit diese Verstrickung ging, war mir unbekannt. Aber völlig unschuldig und unwissend konnte sie nicht sein. Immerhin lebte sie unter falschem Namen, sie war in die Rolle einer anderen geschlüpft, und ich selbst hatte ja erlebt, wie sie mich verleugnete, wie sie sich mir, der eigenen Tochter, nicht zu erkennen gab. Nein, ich konnte nicht glücklich sein über das Wissen, daß Mutter wirklich noch lebte. Aber was sollte ich nun tun? Natürlich war mein erster Gedanke, sofort zur Polizei zu gehen, dort alles zu melden, was ich wußte, und dann das weitere den Behörden zu überlassen. Vielleicht wäre das wirklich das Richtige gewesen, trotzdem ging ich diesen Weg nicht. Ich hatte das Gefühl, zuerst mit Mutter sprechen zu müssen. Von ihr selbst wollte ich hören, was passiert war. Über das, was danach geschehen sollte, konnte und wollte ich jetzt noch nicht nachdenken.
Ich mußte erst Mutter sehen, mußte mit ihr sprechen. Sofort! Ich blickte auf die Uhr. Es war später Vormittag. Zeit genug, um noch nach Pembroke zurückfahren zu können. Das war sogar besonders günstig, denn ich wußte ja nun, daß Sir Owen nicht auf Corwyn-House war. Er war hier in Cardiff und würde wohl auch noch einige Zeit hier bleiben. Ich hoffte nur, daß es zu einem ausgedehnten Schäferstündchen zwischen den beiden kommen würde. Um so größer würde mein Vorsprung sein.
*
Ich zahlte hastig und verließ das Cafe. Während ich zu meinem Wagen lief, den ich in einer Nebenstraße geparkt hatte, kamen mir dann doch Bedenken. War es vernünftig, als die junge Amerikanerin Pamela Kendall auf Corwyn-House zu erscheinen? Zwar wußte ich nicht, wie weit meine Mutter in die bisherigen Verbrechen verwickelt war, aber ich wußte auch nicht, wie sie bei meinem plötzlichen Erscheinen reagieren würde. Gab es vielleicht auch unter dem Personal Eingeweihte, denen der Name Kendall etwas sagte? Ich mußte mit allem rechnen. Ich kam gerade an einem Kaufhaus vorbei und warf zufällig einen Blick in die Auslagen. Dabei kam mir eine Idee. Schnell ging ich in das Kaufhaus hinein. So viel Zeit mußte einfach noch sein. Ohne anzuprobieren kaufte ich ein billiges graues Tweedkostüm, eine hochgeschlossene weiße Bluse und scheußliche schwarze Schnürschuhe mit flachen Absätzen. In einer anderen Abteilung kaufte ich eine Perücke – graues,
glattes Haar, zum Bubi-Kopf zurechtgestutzt. Und eine große, dunkel gerahmte Brille. Ich überlegte, ob ich mich gleich hier in Cardiff umziehen sollte, ließ es dann aber doch. Einen großen Strauß weißer Rosen vergaß ich auch nicht zu kaufen. Ich eilte zu meinem Wagen, warf meine Einkäufe ziemlich achtlos auf den Rücksitz und fuhr dann sofort los – nach Pembroke statt London. Es wurde eine furchtbare Fahrt. Ich konnte meinen Gedanken und Ängsten nicht entfliehen, und zeitweilig hatte ich das Gefühl, als führe ich zu meiner eigenen Hinrichtung. War es richtig, was ich tat? Sollte ich mich vielleicht doch nicht anders entscheiden? Noch war es nicht zu spät. Doch ich nahm den Fuß nicht vom Gaspedal, und ich wendete auch nicht. Etwas in mir zwang mich, den Weg zu verfolgen, den ich eingeschlagen hatte. Ich erreichte ohne Zwischenfall wieder die »Cymru-Inn« und erklärte der erstaunten Wirtin, daß ich es mir anders überlegt habe und mein Zimmer nun doch wieder haben wollte. Ich schleppte mein Gepäck und auch die neuerworbenen Einkaufstüten über die enge steile Treppe nach oben und zog mich dort gleich um. In dem trüben Spiegel über dem Waschtisch konnte ich erkennen, daß meine Einkäufe wirklich so scheußlich waren, wie ich es mir vorgestellt hatte und wie es auch beabsichtigt gewesen war. Der graue Tweedrock war zu weit und viel zu lang, und auch die Kostümjacke hatte nicht den geringsten Chic. Die hochgeschlossene strenge weiße Bluse tat ein übriges, während die schwarzen Schnürschuhe zumindest den Vorzug hatten, bequem zu sein.
Perücke und Brille allerdings verstaute ich zunächst in meiner Handtasche. Schließlich wollte ich bei Mrs. Brynam keine Erklärungen abgeben müssen. Sie schaute mich so schon erstaunt genug an, als ich in meinem Aufzug die Treppe hinunter kam, aber sie fragte nur: »Ich habe Apfelkuchen gebacken. Ganz frisch. Wollen Sie ein Stück?« Ich wollte natürlich ablehnen, aber dann spürte ich, daß ich doch Hunger hatte. Seit dem Sandwich in Cardiff hatte ich ja nichts mehr gegessen, und auf Corwyn-House würde ich jedenfalls hellwach und geistesgegenwärtig sein müssen. Da durfte ich nicht durch Hunger geschwächt sein. Also aß ich von dem Apfelkuchen und trank Tee dazu, war mit meinen Gedanken aber nicht bei der Sache. Dann verließ ich die »Cymru-Inn«, um einen Besuch bei meiner Mutter zu machen – ein wahrhaftig beklemmendes Unterfangen. Ich kletterte schnell noch einmal in meinen > Wagen, den ich wie immer seitlich neben dem niedrigen Haus unter einer herabhängenden Weide geparkt hatte, und streifte mir dort hastig die Perücke über. Es kostete einige Mühe, mein langes blondes Haar unter der Perücke zu verstauen, und ich schaute sehr sorgfältig in den Rückspiegel, ob da nicht noch irgendwo eine verräterische blonde Strähne her vorsah. Dann setzte ich die Brille auf, griff nach dem Rosenstrauß, den ich auf dem Rücksitz liegengelassen hatte, und blickte mich rasch um, ob die Wirtsleute mich auch nicht beobachteten. Sie waren beide nicht zu sehen. Also verließ ich das Auto und machte mich zu Fuß auf den Weg nach Corwyn-House. Mit meinem Leihwagen aus London durfte ich nicht vorfahren. Ich wollte so wenig Aufsehen wie möglich erregen.
Meine Gefühle, als ich über die weite Auffahrt zum Haustor des Herrenhauses marschierte, den Rosenstrauß fast wie eine Waffe umklammernd, kann ich nicht beschreiben. Aber ich wußte, daß ich jetzt stark sein mußte, daß ich mir keine Schwäche leisten durfte. Der Butler, der die schwere Eichentür öffnete, musterte mich mit undurchdringlichem Gesicht. Ich ließ mich nicht einschüchtern und sagte genau das, was ich mir unterwegs sehr sorgfältig überlegt hatte: »Ich bitte, Lady Corwyn-Owen meine Aufwartung machen zu dürfen. Im Auftrag unserer kirchlichen Organisation möchte ich mich mit diesen Blumen persönlich für die großherzige Spende bedanken, die sie uns hat zukommen lassen.« Der Butler zögerte zwar einen Augenblick, und ich fürchtete schon um das Gelingen meines Planes, aber dann nickte er doch. »Bitte mir zu folgen«, sagte er hoheitsvoll und schritt mir voran durch eine hohe Halle, die wohl so etwas wie eine Ahnengalerie war, denn es gab zahlreiche lebensgroße Porträts an den Wänden. Der Butler führte mich in einen kleineren Raum und sagte: »Warten Sie hier«, während er mit der weißbehandschuhten Hand auf ein zierliches Sesselchen mit geschwungenen Beinen deutete. Dann klopfte er kurz an eine hohe dunkle Flügeltür. »Ich werde fragen, ob die Lady sich kräftig genug fühlt, Besuch zu empfangen«, sagte er mit Würde. Ich erschrak. Vielleicht wollte Mutter keinen Besuch empfangen, vielleicht würde ich jetzt noch, so unmittelbar vor dem Ziel, abgewiesen. »Sagen Sie der Lady bitte«, rief ich hastig, »ich brächte auch Grüße von unserer Organisation in New York.«
Das würde Mutter sicherlich stutzig machen, sie würde begreifen, daß sie diesen Besucher empfangen mußte. Jedenfalls hoffte ich es. Mir war in der Eile nichts anderes eingefallen. Der Butler kam zurück, hielt mir die Tür auf und machte eine sparsame Verbeugung. »Bitte sehr«, sagte er. »Die Lady erwartet Sie.«
*
Mutter saß ganz offensichtlich krank in einem Lehnstuhl neben dem brennenden Kaminfeuer. Sie war bleich, die Wangen waren eingefallen, das tizianrote Haar war sichtlich vernachlässigt, und ihre berühmt schönen veilchenblauen Augen wirkten jetzt riesengroß und beinahe gespenstisch. »Mutter«, sagte ich erschüttert, nachdem der Butler hinter mir die Tür geschlossen hatte, »Mutter, bist du es wirklich?« »Das weißt du doch, Pamela«, nickte die Frau müde, die man hier im Haus für Lady Medwenna hielt. »Seit wir uns in London begegnet sind, habe ich auf dich gewartet. Ich wußte, daß du kommen würdest. Es ist gut, daß du noch zur rechten Zeit kommst. Es war mir nicht mehr möglich, dir eine Nachricht zukommen zu lassen. Komm her zu mir. Ich bin glücklich, daß du hier bist. Ich habe dir noch so viel zu sagen, ehe ich sterbe.« »Du bist doch bereits gestorben.« Ich hatte das nicht sagen wollen, aber es kam einfach so aus mir heraus. Bitterkeit und wohl auch Erschütterung über dieses Wiedersehen waren zu stark, es fiel mir schwer, mich zu beherrschen.
Mutter nickte schwach. »Ich habe schwere, unverzeihliche Schuld auf mich geladen. Ich will dich nicht um Verzeihung bitten, Pamela, denn es kann keine Verzeihung geben. Aber ich möchte dir so gern erklären dürfen, wie es dazu kommen konnte. Komm bitte zu mir. Setz dich hier neben mich. Ich kann nicht so laut sprechen, ich bin wirklich krank.« »Oh, Mutter, Mutter!« stöhnte ich auf und lief nun zu der Frau im Lehnstuhl hin, schlang die Arme um ihre schmalen Schultern und schmiegte meine Wange an ihre. »Was auch geschehen ist«, flüsterte ich, »es zählt nicht. Ich bin ja so glücklich, daß du lebst.« Das hatte ich eigentlich gar nicht sagen wollen, und ich hatte ja auch nicht so empfunden, aber nun war ich eben doch von diesem Wiedersehen überwältigt. Sie war ja meine Mutter, die ich für tot gehalten hatte, die ich beweint hatte. Und nun war ich hier bei ihr, ich hielt sie in meinen Armen, und ich erkannte sehr wohl, daß sie krank war, daß mir hier kein Theater vorgemacht wurde. Ich wußte kaum, daß ich weinte, und auch Mutter weinte. Unsere Tränen vermischten sich. Ich glaube, wir waren uns noch nie so nahe gewesen wie in diesem Augenblick. Wir brauchten beide eine Weile, um uns zu fassen, und Mutter war es dann, die die Initiative ergriff. Sie zog mir die scheußliche Perücke vom Kopf und fuhr mir mit der Hand zärtlich durch das Haar. »Du hast dich extra häßlich gemacht für diesen Besuch?« fragte sie mit einem traurigen Lächeln. »Wolltest du nicht erkannt werden? Fürchtest du dich vor Sir Gilroy und mir?« »Dieser Mann ist ein Verbrecher, Mutter«, sagte ich hastig. Meine Mutter nickte und schaute dabei in unbestimmbare Fernen.
»Ja«, sagte sie schlicht. »Ich weiß. Er hat seine Frau umgebracht. Er hat es meinetwegen getan. Ich habe es nicht gewußt und natürlich auch nicht gewollt, aber er hat es meinetwegen getan. Er liebte mich so sehr, daß er nicht mehr ohne mich leben konnte. Er wollte die Scheidung von seiner Frau. Aber Lady Medwenna stimmte nicht zu. Da verfiel Gilroy auf diesen schrecklichen Ausweg. Er betäubte seine Frau, die mir sehr ähnlich sah, setzte sie in mein Auto und ließ dieses brennend die Schlucht hinunterstürzen. Erst als es geschehen war, sagte er mir die Wahrheit, sagte er auch, warum er es getan hatte. Nur aus seiner leidenschaftlichen Liebe zu mir. Ich sollte als seine rechtmäßige Frau, als Lady Medwenna, an seiner Seite weiterleben, während für die Welt Tiffany Kendall mit dem Auto verunglückt und tot war.« »Ein teuflischer Plan«, sagte ich böse. »Du hast recht, Liebling, das weiß ich, und ich leide sehr darunter. Aber das Entsetzliche ist ja nun geschehen. Es ist meinetwegen geschehen. Konnte ich den Mann fallenlassen, der allein meinetwegen so etwas getan hatte? Den Mann, Pamela, den auch ich mit aller Leidenschaft liebte? Ich hätte es wohl tun müssen, Pamela, ich weiß – aber ich konnte es nicht. Ich war überwältigt von der Größe dieser Liebe. So ließ ich mich überreden, die Rolle von Lady Medwenna zu spielen. Ich schlüpfte in das Leben einer toten Frau, weil ich glaubte, meinem Geliebten diesen Dienst schuldig zu sein.« Meine Mutter schaute mich beschwörend an, und als ich etwas sagen wollte, legte sie mir sacht einen Finger auf die Lippen. »Nicht jetzt, Liebling, sag jetzt nichts. Ich bin noch nicht fertig. Ich muß dir nämlich noch sagen, daß ich nicht glücklich geworden bin in dieser schrecklichen Rolle. Ich habe keine einzige ruhige Minute mehr gehabt. Gott ist mein Zeuge, daß ich nichts gewußt habe, daß ich keine Mörderin bin. Aber
ich fühle mich als Mörderin, denn meinetwegen hat ein unschuldiger Mensch sterben müssen. An dieser Schuld sterbe ich, Pamela, ich fühle es, und es wird nicht mehr lange dauern. Ich bin krank, sehr krank, aber ich will keinen Arzt. Vielleicht kann ich im Tod den Frieden finden, den es hier auf der Erde nie mehr für mich gibt.« Ich wollte sie unterbrechen. Doch da sprach sie schon hastig weiter: »Auch Gilroy ist nicht mehr glücklich. Auch er trägt schwer an der Schuld, die er auf sich geladen hat. Seine Liebe zu mir ist daran zerbrochen, er ist herrisch und hart geworden, er ist ein unglücklicher, zerrissener Mensch.« Ich schüttelte den Kopf, richtete mich auf. Bis jetzt hatte ich noch neben Mutters Sessel gekniet. Nun stand ich, blickte auf die zarte, so zerbrechlich wirkende Frau im Sessel herunter, und ich war von tiefem Mitleid erfüllt. Jetzt erst hatte ich begriffen, wie meine Mutter dazu gekommen war, sich an diesem Betrug zu beteiligen. Ich hatte geglaubt, Mutter hatte sich bewußt auf dieses schändliche Tun eingelassen. Jetzt wußte ich, wie schrecklich sie betrogen worden war. Und ich mußte es ihr sagen, ich konnte sie nicht schonen, sie mußte die ganze Wahrheit erfahren, auch wenn ich ihr damit wahrscheinlich den letzten Halt nehmen würde. Für Mitleid war nicht Zeit, denn ich wußte ja, daß Mutter das nächste Mordopfer sein sollte. Ich war nun fest entschlossen, unverzüglich die Polizei einzuschalten. Aber erst sollte Mutter alles wissen. Sie sollte es von mir erfahren, nicht erst durch die Polizei. Vor allem durfte ja auch keine Zeit mehr verloren werden. Dazu war Beverly Seabrook viel zu ungeduldig. Vermutlich hatte sie dem Mann heute noch weiter zugesetzt, vielleicht hatte auch er jetzt die Geduld verloren. Das aber würde höchste Lebensgefahr für Mutter bedeuten.
»Ich muß dir jetzt sehr weh tun, Mutter«, sagte ich leise, »aber es geht nicht anders. Du mußt die Wahrheit wissen. Sir Gilroy ist ein Verbrecher, und er hat dich nur als Werkzeug benutzt.« »Nein, nein, das stimmt nicht! Ich bin ja freiwillig hier!« antwortete Mutter hektisch, doch ich schüttelte den Kopf. »Du glaubst, freiwillig hier zu sein«, sagte ich, »aber er hat dich gezwungen, indem er dir Liebe vortäuschte und dich glauben ließ, er habe seine Frau nur deinetwegen ermordet.« »Wie kannst du so etwas sagen, Pamela!« »Weil ich es weiß, Mutter. Ich habe Sir Gilroy heute zufällig gesehen, Mutter, in Cardiff. Ihn und seine frühere Sekretärin, Beverly Seabrook.« »Miß Seabrook?« fragte Mutter bestürzt. »Ja, Mutter, du kennst sie wohl noch von Caracas her. Sie ist Sir Gilroys wahre Geliebte. Ihretwegen hat er das alles getan, und die beiden haben dich nur benutzt, weil du Lady Medwenna zufällig ähnlich sahst, eine Tatsache, die übrigens diese Miß Seabrook entdeckt zu haben scheint. Und es ist auch nicht wahr, daß Lady Medwenna nicht in die Scheidung eingewilligt hätte. Im Gegenteil, sie war es, die die Scheidung wollte. Aber dann hätte Sir Gilroy auch ihren Reichtum verloren, und das wollten weder er noch die habgierige Miß Seabrook.« Ich sah, wie meine Mutter erbleichte, doch ich konnte ihr das nicht ersparen. »Lady Medwenna hätte nie ein Testament zugunsten ihres Mannes gemacht. Darum suchten die beiden nach einer Doppelgängerin für sie, ehe sie sie ermordeten. Diese Doppelgängerin bist du, Mutter. Und du sollst nur noch so lange leben, bis du als Lady Medwenna das Testament unterschrieben hast. Daß du jetzt krank bist – ich bin sicher,
daß Sir Gilroy auch dafür verantwortlich ist. Vielleicht sollst du langsam vergiftet werden. Wenn du lange krank bist, wird sich hier niemand wundern, wenn du stirbst. Hör auf mich, Mutter, und glaube mir!« beschwor ich die Frau, die da zusammengesunken und völlig vernichtet vor mir im Sessel hockte. »Du darfst als Medwenna Corwyn kein Testament machen! Du darfst nichts mehr unterschreiben! Das würde dein Todesurteil bedeuten!«
*
»Sehr gut kombiniert«, sagte da eine Männerstimme, die mir in dieser Situation einen Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte. Ich fuhr herum, aber noch ehe ich einen Ton hervorstoßen konnte, fühlte ich mich von einem Arm ergriffen wie von einem Schraubstock, während sich mir gleichzeitig eine Hand vor den Mund preßte. »Ich habe ja gleich gewußt, daß Beverly zu laut gesprochen hat«, meinte er höhnisch. »Wie gut nur, daß ich noch rechtzeitig zurückgekommen bin.« Er wandte sich meiner Mutter zu, die leichenblaß in ihrem Sessel lehnte und den Mann, den sie so sehr geliebt hatte und von dem sie so satanisch betrogen worden war, anstarrte wie ein Gespenst. »Ja, meine Liebe«, sagte Sir Gilroy spöttisch und in keiner Weise beunruhigt. »Jetzt weißt du es also. Tut mir leid für dich, ich hatte dich eigentlich in dem Bewußtsein sterben lassen wollen, eine geliebte Frau zu sein. Du hast es deiner
gescheiten Tochter zu verdanken, daß du diese Illusion nun nicht mehr mit ins Grab nehmen kannst. Für mich bedeutet das nichts. Und es ändert sich auch nicht das Geringste an meinen Plänen. Ich brauche nämlich keineswegs zu befürchten, daß das Testament – das in der Tat sehr wichtig für mich ist – nicht unterschrieben wird. Im Gegenteil, da sehe ich jetzt nicht mehr die geringste Schwierigkeit. Du wirst schon morgen unterschreiben, meine Liebe, und zwar vor Zeugen.« Ich starrte ihn fassungslos an. »Mit deiner Tochter habe ich ja nun ein hübsches Druckmittel gegen dich in der Hand«, sagte er. »Sie bleibt nämlich jetzt hier, als meine Gefangene, und ich brauche dir wohl nicht erst zu versichern, daß ich diese reizende junge Dame umbringen werde, wenn du dich meinen Wünschen nicht fügen solltest. Da ihr beide mich ja so erstaunlich gut durchschaut habt, wißt ihr ja wohl auch, wie ernst es mir mit dieser Drohung ist.« Er griff blitzschnell in die Tasche, holte etwas heraus, und ehe ich überhaupt reagieren konnte, spürte ich den Einstich im Arm. Meine Mutter schrie auf, aber das hörte ich nur noch wie aus weiter Ferne, ehe ich das Bewußtsein verlor. Später erfuhr ich, daß Sir Gilroy mich mit einem rasch wirkenden Betäubungsmittel bewußtlos gemacht hatte, das er schon während seiner Tätigkeit im diplomatischen Dienst an sich gebracht hatte. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem engen dunklen Raum. Ich lag auf einem Bett, und meine Zunge fühlte sich pelzig an. Zunächst einmal blieb ich ganz still liegen. Ich wagte mich nicht zu rühren. War ich allein in diesem Verlies? Gab es hier
oder gleich nebenan einen Bewacher? War Mutter vielleicht auch hier eingesperrt? Ich horchte angestrengt. Aber da war nichts. Nicht die leisesten Atemzüge. »Mutter?« fragte ich trotzdem leise. Ich wollte mich vergewissern. Aber ich war offenbar allein. Langsam kroch das Entsetzen in mir hoch. Wie hatte ich nur so unvorsichtig sein, wie mich so überrumpeln lassen können! Ich hätte doch mit Sir Gilroys Heimkehr rechnen und mich irgendwie absichern müssen. Statt dessen war ich förmlich freiwillig in die Falle gegangen. Niemand wußte, wo ich war. Ich war völlig in der Gewalt dieses Mörders. Genau wie meine Mutter… Allerdings: Meine Mutter brauchte er noch. Das Testament war noch nicht unterschrieben. Das bedeutete für Sir Gilroy, daß seine bisherigen Untaten sinnlos gewesen wären, sofern sie nicht durch diese Unterschrift gekrönt wurden. Eine Unterschrift vor Zeugen! Würde Mutter das tun? Sie wußte ja jetzt, wie schändlich sie betrogen worden war, daß man ihr Liebe vorgetäuscht, sie in ein Verbrechen verwickelt und zur Betrügerin gemacht hatte… nur um dieser Unterschrift willen. Würde sie stark genug sein, diese Unterschrift zu verweigern? An ihrem Leben lag ihr jetzt wohl nichts mehr, so daß es in der Beziehung kaum eine wirksame Drohung für sie gab. Aber ich war die Gefangene dieses Verbrechers! Mutter würde um mich Angst haben, in der Beziehung war sie sicherlich erpreßbar. Machte sie sich auch klar, daß nach erfolgter Unterschrift nicht nur sie, sondern auch ich sterben mußte? Sir Gilroy konnte sich doch keine Mitwisser leisten!
Es war eine ausweglose Lage, in die ich uns beide gebracht hatte. Was sollte ich tun? Konnte ich überhaupt noch etwas tun? War das alles nicht völlig hoffnungslos? Mühsam erhob ich mich. Ich fühlte mich völlig zerschlagen, begann aber trotzdem, die Wände abzutasten. Dabei merkte ich, daß es ein sehr kleiner Raum war, in dem ich mich befand, ein Raum ohne Fenster, mit einer einzigen Tür. Eine Abstellkammer? Verzweifelt sank ich neben der Tür zu Boden. Hier würde ich rufen und schreien können, niemand würde mich hören. Und niemand würde mich hier finden. Wer hätte mich auch suchen sollen? Es wußte ja niemand, daß ich nach Wales gefahren war! Die Wirtsleute des Gasthofes? Die würden sich höchstens wundern, weil ich nicht zurückkam. Vielleicht waren sie so gewissenhaft, es der Polizei zu melden. Doch die würde mich sicher nicht auf Corwyn-House suchen. Ja, ich hatte mich aufgegeben in dieser Situation. Ich wußte, daß ich in der Hand eines skrupellosen und dabei auch noch intelligenten Mörders war. Ich hatte kein^ Chance. Und Mutter auch nicht mehr. Es war hoffnungslos. Durch meine Schuld. Ich hätte zur Polizei gehen müssen!
*
Ich weiß nicht, wie lange ich so vor mich hindämmerte. Plötzlich hörte ich neben mir an der Tür ein leises Geräusch. Sofort war ich hellwach, die Lethargie fiel von mir ab. Ich war bereit, mich zu wehren. Der Mörder sollte kein allzu leichtes Spiel mit mir haben.
Die Tür öffnete sich langsam und beinahe lautlos. Mit angehaltenem Atem kauerte ich auf dem Boden. Ich hatte vor, dem Mann die Beine wegzuziehen, ihn zu überrumpeln und so vielleicht doch eine Chance zur Flucht haben. Aber es waren keine Beine in Männerhosen, die ich im schwachen, flackernden Schein von drei Kerzen in einem schweren silbernen Leuchter sah, sondern ein helles, duftiges bodenlanges Nachtgewand. »Pamela«, wisperte meine Mutter. »Pamela, bist du hier?« »Ja«, rief ich unterdrückt. »Ja, Mutter.« Die kleine, zerbrechliche Gestalt schlüpfte in den Raum und zog rasch die Tür hinter sich zu. »Gott sei Dank!« seufzte Mutter und lehnte sich erschöpft gegen die Wand. »Ich fürchtete schon, dich überhaupt nicht zu finden, mein Liebling.« Ich hatte mich inzwischen aufgerichtet, nahm Mutter den Kerzenleuchter aus der Hand und führte sie behutsam zur Liege, wo sie sich erschöpft niedersetzte. »Wie hast du das geschafft, Mutter?« fragte ich. »Ich hatte Angst um dich, das gab mir die Kraft«, sagte Mutter. »Gilroy war zu sorglos. Er dachte, ich sei durch das Gift, das er mir seit langem gegeben hat, schon zu schwach, um noch etwas zu tun. Aber ich konnte ihm diesen Kerzenleuchter über den Kopf schlagen, und er, der starke Mann, stürzte zu Boden wie ein gefällter Baum.« »Ist er tot?« fragte ich betroffen. »Ich weiß es nicht. Ich habe mir nicht die Zeit genommen, ihn zu untersuchen. Du mußt fort, Liebling. Ich bringe dich fort von hier. Komm schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren.« »Schaffst du es denn, Mutter? Bist du nicht zu schwach?« »Ich schaffe es«, sagte Mutter mit einer Entschlossenheit, die ich nie zuvor an ihr bemerkt hatte. »Es geht nicht um mich, es
geht um meine Tochter. Das gibt mir Kraft. Komm, Pamela, wir dürfen keine Zeit verlieren.« Mutter erhob sich. Sie nahm mich bei der Hand wie früher manchmal, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war, und zog mich zur Tür. Sie öffnete diese, nahm mir dann den Leuchter aus der Hand, horchte ins Haus hinein und nickte mir zu. Dann schlichen wir uns fort. Wir mußten uns in einem unbewohnten und ungenutzten Teil des Hauses befinden, alles war dunkel, und glücklicherweise wurde niemand auf den Kerzenschein aufmerksam. Ich fragte mich, wieso Mutter sich so gut auskannte. Oder war es nur Instinkt, der sie den richtigen Weg finden ließ? Ein schmalerer Gang führte vom Hauptgang ab. Mutter schlug ihn ohne zu zögern ein. Dabei hielt sie mich ständig fest bei der Hand. Der Gang führte zu einer Art Wendeltreppe. Wir nahmen diesen Weg nach unten und standen dann plötzlich vor einer schmalen Tür. Sie war verschlossen, aber der Schlüssel steckte. Es gab ein häßliches, kreischendes Geräusch, als der Schlüssel im Schloß gedreht wurde. Die Tür war wohl schon lange nicht mehr benutzt worden. Aber sie führte ins Freie. Fast gierig atmete ich die frische Nachtluft ein. Das Betäubungsmittel, das mir eingespritzt worden war, steckte mir noch im Blut. Ich fühlte mich benommen und hatte Mühe, klar zu denken. Ich erlebte alles so, als beträfe es nicht mich, sondern einen anderen. Mutter aber war hellwach, all ihre Sinne waren gespannt. Sie blickte sich hastig um, obwohl kaum viel zu erkennen war in dieser regnerischen Nacht. Ein unangenehmer kalter Wind trieb die Regenwolken vor sich her, nur ab und zu riß die Wolkendecke auf, wie gerade jetzt. Fahles Mondlicht
erleuchtete die Szene, ganz kurz nur, dann hatte die Wolkendecke sich wieder geschlossen. Die Zeit hatte für Mutter genügt, um sich zu orientieren. »Komm«, sagte sie knapp und ergriff wieder meine Hand. Den Kerzenleuchter ließ sie einfach fallen. Wir befanden uns an der Seite von Corwyn-House, und zwar an der Westseite. Ganz in der Nähe hörte ich das Rauschen des Meeres. Wir liefen bis zur Hausecke und kamen zur Vorderfront. »Da steht der Wagen noch!« stieß Mutter hervor, und so etwas wie Triumph klang in ihrer Stimme mit. »Er hat ihn nicht in die Garage gefahren. Vielleicht wollte er dich damit noch fortbringen. Gut für uns.« Es war der Rolls-Royce, in den das Paar seinerzeit vor der Londoner Oper eingestiegen war. Mutter riß die Tür neben dem Fahrersitz auf. Der Schlüssel steckte. »Schnell!« keuchte Mutter. Sie schwang sich hinter das Steuer, ließ bereits den Motor an. »Auf die andere Seite. Die Tür ist offen.« Ich rannte um das Auto herum, wollte neben Mutter auf den Beifahrersitz springen. Ich schaffte es auch noch, die Tür zu öffnen… da wurde ich brutal zurückgerissen, so daß ich auf den Boden stürzte. »Das sollte euch so passen!« schrie Sir Gilroy mit verzerrter Stimme. »Du hast nicht fest genug zugeschlagen, meine Liebe. Ich war nur leicht betäubt.« Damit sprang er selbst in den Wagen, auf den Beifahrersitz, er war wohl sicher, die zarte kranke Frau leicht überwältigen zu können. Aber er war noch nicht ganz im Wagen, er saß kaum, ein Bein und der Oberkörper waren noch draußen – da schoß das Auto mit einem wilden Satz davon. Mutter mußte mit ganzer
Kraft auf das Gaspedal getreten haben. Der Kies stob unter den Rädern nur so zur Seite, und in wahrhaft halsbrecherischer Fahrt raste der Rolls-Royce die Auffahrt hinunter. Er bog mit quietschenden Reifen auf die schmale, im Regen glitschige Landstraße ein und entfernte sich dann in rasender Geschwindigkeit ohne Licht! Ich hatte noch den wütenden, entsetzten Aufschrei des Mannes gehört, ich hörte noch für eine kurze Zeit das sich entfernende Motorengeräusch. Dann nichts mehr…
*
Von den nächsten Stunden weiß ich nicht mehr viel. Ich muß wohl ein Stück hinter dem Wagen hergelaufen sein, dadurch wurde ich dann nicht vom Hauspersonal bemerkt, das natürlich durch die geräuschvolle Abfahrt des Wagens aufmerksam geworden war. Ich stand unter einem Schock. Das Betäubungsmittel und das, was ich gerade erlebt hatte, kamen zusammen, ich war meiner Sinne nicht mehr ganz mächtig. So lief ich durch die Nacht, durch den Regen. Irgendwie und irgendwann kam ich zum »Cymru-Inn«, ich kam in mein Zimmer, riß mir die nassen Sachen vom Körper und fiel buchstäblich ins Bett. Es war die Wirtin, die mich am anderen Morgen weckte. Das hatte sie noch nie getan, aber jetzt war etwas geschehen, das sie mir wohl sofort mitteilen wollte. »Ein Unglück, Miß Kendall«, rief Mrs. Brynam sichtlich erschüttert. »Ein entsetzliches Unglück ist geschehen. Lady Medwenna und ihr Mann! Sie sind beide tot. In ihrem Auto… es ist furchtbar. Lady Medwenna hat am Steuer gesessen, nur
mit einem Schlafrock bekleidet. Niemand kann sich das erklären. Der Wagen kam von der Straße ab, prallte gegen einen Baum, gar nicht weit von hier entfernt. Ein furchtbarer Aufprall, der Wagen muß mit Höchstgeschwindigkeit durch die Nacht gerast sein.« Sie setzte sich unaufgefordert auf den Stuhl. »Lady Medwenna hat sich das Genick gebrochen. Sie war sofort tot. Sir Gilroy war eingeklemmt in den Trümmern. Er muß noch eine Weile bei vollem Bewußtsein gelebt haben, sagte der Arzt. Aber als man das Unglücksauto fand, war auch er tot. Ist das nicht entsetzlich? Ist das nicht grauenhaft?« Zum zweitenmal bekam ich die Todesnachricht, und jetzt wußte ich, daß Mutter tatsächlich tot war. Sie war gestorben bei dem Versuch, mich zu retten. Und den Mörder hatte sie mit in den Tod genommen. Ob sie es ganz bewußt getan hatte? Oder hatte sie nur die Gewalt über das Fahrzeug verloren? War es also wirklich nur ein Unfall? Ich glaubte die Antwort zu kennen. Ich war sogar ziemlich überzeugt davon, daß Mutter mit voller Absicht gehandelt hatte. Tränen stiegen mir in die Augen. Arme, tapfere, entschlossene Mutter! Sie hatte Schuld auf sich geladen, aber nun hatte sie dafür mit ihrem Leben bezahlt. Die Polizei wurde durch diesen Unfall vor unlösbare Rätsel gestellt, wie mir Mrs. Brynam erzählte. Ich hätte die Rätsel lösen können. Man fragte mich natürlich nicht, weil niemand ahnte, daß ich in irgendeiner Verbindung zu Corwyn-House und den Geschehnissen dort stand. Sollte ich von mir aus eine Aussage machen? Ich konnte mich zu nichts entscheiden, ich fühlte mich krank. Und ich fühlte mich so unendlich allein.
*
Erst am nächsten Morgen stand ich wieder auf. Nach einer schlaflosen, durchweinten Nacht kam ich in die Gaststube, um zu frühstücken. Ich wußte zwar immer noch nicht, was ich tun wollte, aber irgendwie hatte ich doch eingesehen, daß das Leben weitergehen mußte. Ich konnte mich nicht einfach in einem Bett verkriechen. Ich wollte zu dem Tisch in der Kaminecke gehen, an dem ich immer meine Mahlzeiten eingenommen hatte, aber der Tisch war nicht frei. Es saß bereits ein Gast dort. Ein Mann saß mit dem Rücken zu mir, ein Mann, der sich umwandte, als ich mich näherte – und der dann möglicherweise noch mehr verblüfft war als ich. »Pamela!« stieß Brendan Corwyn entgeistert hervor. »Pamela, bist du es wirklich?« Ich konnte nur nicken, ich fühlte, wie mir die Knie weich wurden. Vielleicht wäre ich wirklich gestürzt, aber Brendan war bereits aufgesprungen. Er nahm mich in die Arme, küßte mich zärtlich, immer wieder, und sagte zwischendurch: »Wie bin ich froh, daß ich dich endlich wieder habe. Du warst einfach verschwunden, und ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um dich zu finden. Niemand wußte, wo du stecktest. Mein Gott, wie bin ich froh!« Er küßte mich auf den Mund, auf die Augen… aber dann stockte er plötzlich, hielt mich mit beiden Armen von sich, schaute mich aufmerksam an. Er hatte meine Tränen gespürt.
»Was ist los, Pamela?« fragte er eindringlich. »Warum weinst du? Wie siehst du überhaupt aus? Und… wie um Himmels willen kommst du hierher? Ich war so glücklich, dich so unverhofft zu sehen, daß ich noch gar nicht dazu gekommen bin, mich zu wundern.« Ich mußte lächeln. Ich war ja auch so glücklich, daß Brendan hier war. Ich war nicht mehr allein. Ich konnte es noch gar nicht fassen. »Wieso bist du hier, Liebling?« fragte Brendan eindringlich. »Mich hat man benachrichtigt, weil meine Tante tödlich verunglückt ist, zusammen mit ihrem Mann. Aber du, Pamela…was hast du hier zu suchen?« »Meine Mutter«, flüsterte ich, und wieder stieg ein Schluchzen in meiner Kehle auf. »Ich habe meine Mutter gesucht, und ich habe sie gefunden.« Weinend barg ich meinen Kopf an Brendans Schulter. Es tat so unendlich gut, nicht mehr allein zu sein. Ich hatte das Gefühl, nie mehr aufhören zu können mit Weinen. Brendan war sichtlich ratlos. Er schaute die Wirtin an, die neugierig in der Tür stand, und meinte dann: »Komm, Liebes, wir machen einen kleinen Spaziergang. Es regnet nicht, die frische Luft wird dir guttun. Und dann werden wir uns in aller Ruhe aussprechen. Einverstanden?« Ich konnte nur nicken, und so verließen wir die Gaststube. Mrs. Brynam reichte mir schweigend ein warmes Umhängetuch, ich wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, mir aus meinem Zimmer eine Jacke oder einen Mantel zu holen. Brendan selbst hüllte mich fürsorglich ein. Draußen schlugen wir einen schmalen Feldweg ein. Die frische Luft tat wirklich gut, und Brendan ließ mir Zeit, mich zu beruhigen.
Endlich konnte ich sprechen. Ich erzählte alles, frei und ungeschminkt und ohne jemanden zu schonen. Es bedeutete eine ungeheure Erleichterung für mich, nicht mehr allein das alles wissen zu müssen und darüber sprechen zu können. Brendan war natürlich zutiefst betroffen. Ich hatte ihm gegenüber ja niemals eine Andeutung gemacht. Ich hatte nicht einmal von der Ähnlichkeit jener Frau, die ich in der Londoner Oper getroffen hatte, mit meiner Mutter gesprochen. Für Brendan kam mein Bericht völlig unerwartet und unvorbereitet, und natürlich brauchte er auch einige Zeit, um alle Zusammenhänge zu begreifen. Er stellte auch einige Fragen und blieb dann schließlich kopfschüttelnd stehen. »Das ist in der Tat die ungeheuerlichste Geschichte, die ich je gehört habe«, sagte er. »Und du hast grenzenlos leichtsinnig gehandelt, indem du allein hierher gekommen bist. Warum hast du mir nicht schon in New York gesagt, was dich so sehr beschäftigt?« »Ich wußte doch nichts Genaues«, antwortete ich leise. »Und dann… Es ging schließlich um meine Mutter. Und wir beide kannten uns erst so kurze Zeit.« »Das ist zwar richtig, mein Liebes«, antwortete Brendan ernst, »aber, was mich betrifft, so wußte ich sofort, daß du die Frau bist, nach der ich schon lange gesucht habe. Ich hatte gehofft, du hättest etwas Ähnliches gespürt.« »Gespürt schon«, nickte ich, »aber…« Brendan nahm mein immer noch verweintes Gesicht in seine beiden Hände und küßte mich. »So«, sagte er dann lächelnd, »dieser Teil der Angelegenheit wäre geklärt. Wir werden so schnell wie möglich heiraten. Aber zunächst müssen wir uns darüber klar werden, was hier zu geschehen hat.« Er schob seinen Arm unter meinen, und gemeinsam setzten wir den Weg fort. Er hatte mich nicht einmal gefragt, ob ich
seine Frau werden wollte. Aber das war auch nicht nötig. Ganz zaghaft keimte – in mir ein Glücksgefühl. Und ich hatte geglaubt, nach dem, was ich hier erlebt hatte, würde ich nie mehr froh werden können…
*
Brendan war mit seinen Gedanken wieder bei dem, was hier geschehen war. »Die Tote ist also nicht meine Tante«, sagte er ruhig. »Tante Medwenna ist in Caracas begraben. Ich erzählte dir ja wohl schon, daß ich kein besonders enges Verhältnis zu diesem Teil meiner Verwandtschaft hatte, aber trotzdem macht mich dieses Schicksal betroffen. Die Frage ist nun, ob wir es ans Licht der Öffentlichkeit zerren.« »Wie meinst du das?« fragte ich verständnislos. »Ich überlege mir, ob das, was hier geschehen ist und noch geschehen sollte, überhaupt bekannt werden muß, Liebling. Sir Gilroy Owen ist tot, er kann ohnehin nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Deine Mutter hat für das, wozu sie durch Vorspiegelung falscher Tatsachen gebracht worden ist, mit dem Leben bezahlt. Sie starb, als sie dich retten wollte, Pamela. Sollen wir diese Tote also jetzt noch anklagen? Ich finde: Nein! Wir sollten ihr die ewige Ruhe gönnen. Für die Welt ist es unwichtig, wer wirklich in dem Grab in Caracas ruht und wer hier in Wales beigesetzt wird. Ich glaube, es wäre auch ganz im Sinne meiner Tante, wenn wir jetzt schweigen würden.« Ich schaute Brendan fassungslos an. »Ist das dein Ernst?« fragte ich überwältigt. »Aber sicher, Liebling.«
»Ist das denn überhaupt möglich?« »Ich sehe da keine Schwierigkeit. Nur wir beide, du und ich, wissen, was tatsächlich geschehen ist. Wir beide wissen, daß Sir Owen ein skrupelloser Verbrecher war und daß es nicht Lady Medwenna, sondern Tiffany Kendall war, die ihn mit in den Tod nahm. Beide Frauen waren Opfer dieses Mannes. Muß das jeder wissen, jetzt noch, nach ihrem Tod?« Meine Kehle war wie zugeschnürt, ich konnte nur nicken. Aber ich glaube, in meinen Augen las Brendan, was in mir vorging. Ich war ihm unendlich dankbar, und diese Stunde würde ich niemals vergessen. »Kann ich dich jetzt allein lassen?« fragte Brendan schließlich. »Man erwartet mich auf Corwyn-House, weißt du. Ich habe in dem Gasthof Quartier genommen, weil ich nicht auf Corwyn-House wohnen wollte – aber es ist nun einmal so, daß außer mir niemand da ist, der die Zügel in die Hand nimmt. Da Lady Medwenna keinen leiblichen Erben hat, bin ich jetzt der nächste Verwandte. Es gefällt mir nicht, aber ich muß mich um alles kümmern.« »Kann ich etwas helfen?« fragte ich. »Die Tote ist doch meine Mutter.« »Es ist wohl besser, wenn du überhaupt nicht in Erscheinung trittst«, meinte Brendan nach kurzem Zögern. »Wir wollen ja niemanden unnötig aufmerksam machen, nicht wahr? Und für deine Mutter wird alles getan werden, was man jetzt noch für sie tun kann, das verspreche ich dir.« »Weiße Rosen«, sagte ich erstickt. »Auf dem Sarg und dem Grab sollen weiße Rosen sein – wie auf dem Grab in Caracas.« »Weiße Rosen waren die Lieblingsblumen von Lady Medwenna.« »Mutter muß es hier erfahren haben. Sie war es zweifellos, die dafür sorgte, daß das Grab in Caracas immer mit weißen
Rosen geschmückt wurde. Mein Gott, wie muß Mutter gelitten haben unter dem Wissen, daß diese andere Frau für sie gestorben war. Und dabei stimmte das nicht einmal! Mutter ist so fürchterlich betrogen worden.« Erneut stiegen mir Tränen in die Augen, aber ich wollte nicht schon wieder weinen. »Ich glaube, du solltest dich damit trösten, daß sie jetzt ihre Ruhe gefunden hat, Pamela«, sagte Brendan sanft. »Es wäre sicherlich sehr schwer für sie gewesen, mit diesem Wissen weiterleben zu müssen.« Darüber hatte ich natürlich auch schon nachgedacht, und ich wußte, daß Brendan recht hatte.
*
Bei der Beerdigung meiner Mutter und des Mannes, der ihr zum Verhängnis wurde, stand ich unerkannt unter den Trauergästen. Brendan hatte meinen Wunsch erfüllt und Mutters Sarg verschwenderisch mit weißen Rosen schmücken lassen. Er nickte mir heimlich zu, und dieser stumme Gruß machte es mir leichter, dies alles zu ertragen. Auf Brendans Wunsch hin wohnte ich auch während der nächsten Tage noch in der »Cymru-Inn«. Wir sahen uns zwar kaum während dieser Zeit, Brendan war zu sehr beschäftigt, aber er wollte mich in seiner Nähe wissen. Wir planten, dann, wenn Brendan seine Pflichten hier erfüllt hatte, gemeinsam nach New York zurückzufliegen. Als es dann endlich soweit war, kam Brendan gegen Abend in die »Cymru-Inn«, um mich abzuholen. Wir wollten noch
einmal gemeinsam zum Grab gehen, das hatte ich mir gewünscht. Brendan brachte mir eine Londoner Zeitung mit. »Da, lies das einmal«, sagte er und deutete auf einen rot angestrichenen kurzen Artikel. Erstaunt nahm ich die Zeitung entgegen, begann zu lesen und blickte dann Brendan verblüfft an. »Beverly Seabrook?« fragte ich. »Sir Owens Sekretärin? Handelt es sich wirklich um sie?« »Ja«, nickte Brendan. »Ich habe mich erkundigt. Diese Dame hatte wohl gleich zwei Eisen im Feuer, um zu viel Geld zu kommen. Da war nicht nur Sir Owen. Sie arbeitete auch als Spionin, und auf diesem Gebiet scheint sie sogar sehr aktiv und erfolgreich gewesen zu sein. Doch jetzt ist sie aufgeflogen, man hat sie verhaftet. Nach dem, was hier steht, scheint ihr eine hohe Gefängnisstrafe gewiß.« Ich atmete tief. »Es gibt also doch noch Gerechtigkeit«, sagte ich leise. »Diese Beverly Seabrook trug doch eine gehörige Portion Mitschuld an dem, was hier geschehen ist. Außerdem hat sie versucht, mich zu ermorden. Es war ein unbehaglicher Gedanke, daß sie überhaupt nicht zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Aber nun…« »Wir brauchen keinen Gedanken mehr an sie zu verschwenden«, meinte Brendan. »Und sie selbst wird im Gefängnis Zeit genug haben, darüber nachzudenken, daß Verbrechen sich letztlich doch nicht lohnen.« Wir waren inzwischen zu dem kleinen Friedhof gegangen, der, eingerahmt von einer hohen Hecke, inmitten des weiten Geländes lag. »Das ist eigentlich ein schöner Platz«, sagte ich, als wir vor dem Grab standen, auf dem die weißen Rosen schon zu welken begannen. »So still und friedlich. Hier kann man sich ausruhen.«
»Ja«, meinte Brendan, »aber wir beide kehren zurück in das Leben, Liebling. Ich denke mir, daß ich sowohl das Vermögen als auch Haus- und Grundbesitz zu einer Stiftung zusammenfasse, die unschuldigen Verkehrsopfern zugute kommen soll, und Corwyn-House lasse ich zu einem Sanatorium ausbauen. Was hältst du davon?« »Ich finde die Idee großartig«, sagte ich, »aber kannst du das denn entscheiden?« »Ich bin der Erbe«, antwortete Brendan gelassen. »Habe ich dir das nicht gesagt? Aber ich möchte dich als meine künftige Frau fragen, ob du einverstanden bist mit meiner Entscheidung. Oder möchtest du lieber hier leben als Herrin von Corwyn-House?« Ich schüttelte heftig den Kopf, ohne auch nur einen Augenblick nachgedacht zu haben. »Nein, Brendan, hier möchte ich nicht leben. Zwar hat dieses Land seinen Reiz, und ich glaube, man kann es sehr lieben, aber dieses Haus – es würde mir immer nur Grauen einjagen. Und ich möchte auch nichts von dem für mich haben, wofür Mutter und Lady Medwenna und ja auch Sir Owen gestorben sind.« »Ich verstehe deine Gefühle, Liebling«, sagte Brendan zärtlich, »und irgendwie ergeht es mir genauso. Wir beide werden darum dafür sorgen, daß dieser Besitz und das Vermögen künftig nur guten Zwecken dienen werden. Kranken Menschen wird geholfen werden, wieder gesund zu werden.« »Das ist ein schöner, versöhnlicher Gedanke«, nickte ich und schmiegte mich in Brendans Arm, den er liebevoll und beschützend um mich gelegt hatte, und zwischen den weißen Rosen glaubte ich das Gesicht meiner Mutter zu sehen, meiner Mutter, die mir liebevoll und erlöst zulächelte.