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Bill; sechzehn Jahre alt, schwarzhaarig, Schiffsjunge auf der „Isabella VIII.“ und im all...
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Roy Palmer 1.
Bill; sechzehn Jahre alt, schwarzhaarig, Schiffsjunge auf der „Isabella VIII.“ und im allgemeinen ziemlich reaktionsschnell, fiel aus allen Wolken: Im ersten Moment glaubte er tatsächlich, bei Sam Roskills Ausruf handele es sich um einen Witz. Es wäre ja auch nicht das erste Mal gewesen, daß die Seewölfe ihn kräftig auf den Arm nahmen. Darum grinste Bill - und reagierte nicht, als Sam auf die beiden soeben hinter der Außenhaut der Galeone hochklimmenden Gestalten sah, eine Hand hochriß und schrie: „Bill, Batuti - in Deckung, das sind Piraten!“ Für Bill war es einfach zu unwahrscheinlich, daß die zwei Männer in den ehrwürdigen Gewändern von LamaMönchen Galgenstricke sein sollten. Hatten sie nicht Gebetsfahnen auf dem Sand des Flußufers ausgebreitet und vom Wind forttragen lassen, hatten sie nicht durch Gesten zu verstehen gegeben, daß sie die „Isabella“ segnen wollten? Und hatte nicht gerade er, Bill, darauf gedrängt, die Männer an Bord zu holen, weil sie sich sonst beleidigt fühlen konnten? Reingefallen - Bill hatte eben doch noch zu wenig Erfahrung und war ein bißchen zu gutgläubig, um das raffinierte Täuschungsmanöver der zwei Kerle auf Anhieb zu durchschauen. Aber was sollte da Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, sagen? Er war den beiden ja auch auf den Leim gegangen. Und das ließ ihn fuchsteufelswild werden. Beinahe wäre es den beiden vermeintlichen buddhistischen Mönchen tatsächlich gelungen, die acht 'Männer der Galeone zu überrumpeln - wenn nicht Sam Roskill aus einem ganz triftigen Grund aufmerksam geworden wäre. Sam hatte auf Hasards Anweisung hin mit Blacky zusammen die Galeone des Seeräubers Vinicio de Romaes geentert, als die „Isabella“ in der entscheidenden Schlacht gegen Khai Wang und seine „Fliegende Schwalbe- gelegen hatte.
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Sam und Blacky hatten Fong-Ch'ang, den Freund der Seewölfe, aus einer tödlichen Situation befreit, de Romaes besiegt und Nakamura in die Flucht geschlagen — und daher erkannte Sam jetzt natürlich sofort das Gesicht von Nakamura, dem Japaner, wieder. Da nutzte auch die Kopfbedeckung nichts, die sich Nakamura wie Tijang, der Uigure, zur zusätzlichen Vermummung übergestülpt hatte. Plötzlich herrschte an Bord der „Isabella“; an der sich kurz zuvor noch ein so beschauliches Leben abgespielt hatte, heller Aufruhr. Im Gegensatz zu Bill reagierte Batuti gedankenschnell. Er wirbelte herum, packte Bill am Arm und riß ihn zu sich heran. Er beförderte den Jungen an sich vorbei, ließ ihn wieder los, und Bill raste wie vom Katapult geschnellt auf den fluchenden Ferris Tucker, auf Gary Andrews und Old Donegal Daniel O'Flynn zu. Will Thorne und Stenmark standen etwas weiter rechts und griffen in diesem Augenblick wie die Kameraden zu den Waffen. Bill sauste zwischen Ferris Tucker und dem alten O'Flynn hindurch, glitt aus und rutschte auf dem Hosenboden über die blitzblank gescheuerten Planken der Kuhl auf das Steuerbordschanzkleid zu. Er hatte die Planken an diesem Morgen selbst geschrubbt, während Ferris Tucker und die anderen sechs Männer mit dem Reparieren des Fockmastes, dem Takeln der neuen Blinde und anderen Ausbesserungsarbeiten beschäftigt gewesen waren. Es war eine Ironie des Schicksals, daß Bill den Erfolg seiner Plackerei im wahrsten Sinne des Wortes körperlich zu spüren kriegte. Er überrollte sich, dann wurde sein Körper vom Schanzkleid gestoppt. Batuti hatte seinen Morgenstern gezückt. Sam Roskill hatte seine Pistole aus dem Gurt gerissen. Er spannte den Hahn, stieß die Miqueletschloß-Waffe vor und brachte sie in Anschlag auf Nakamura. Nakamura und Tijang hatten unter ihre bodenlangen Ischangs gegriffen. Ihre Masken fielen, ihre Züge verzerrten sich,
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plötzlich hielten sie schwere Säbel in den Fäusten. Sie hatten diese Waffen auf dem Gut des Landwirts in den Lushan-Bergen erbeutet. Grausam hatten sie auf dem Anwesen gewütet, und genauso gnadenlos wollten sie nun gegen die Erzfeinde, die Seewölfe, vorgehen. „Hunde!“ schrie Nakamura in seiner Muttersprache. Er war außer sich vor Zorn. „Jetzt lernt ihr, was es heißt, einen Nakamura zu erniedrigen!“ Natürlich verstand ihn keiner der Seewölfe. Selbst Tijang, der Uigure, hatte Schwierigkeiten, den Japaner in diesem Moment zu begreifen, denn er beherrschte die Sprache der Leute von Zipangu nicht — doch das spielte hier weiß Gott keine Rolle mehr. Sam Roskill konnte sich aber auch so in die Gedankenwelt des Japaners versetzen. Sie hatten ihn von Bord seines Schiffes gejagt, und er hatte nicht geruht, bis er eine Gelegenheit gefunden hatte, Rache an den Gegnern zu üben. Erstaunlich, wie Nakamura ein paar Überlebende der Schlacht um sich geschart, wie er sich quer über die Halbinsel Shantung durchgeschlagen hatte und dann wieder auf die Spur der Seewölfe gestoßen war. So gesehen, hatte er eine echte Leistung vollbracht — nur leider heiligte der Zweck keineswegs die Mittel. Nakamura stürmte auf die Feinde los, Tijang war mit heiserem Gebrüll neben ihm. Sam feuerte seine Pistole ab. Dumpf brach der Schuß, eine weiße Qualmwolke puffte hoch — und Nakamura war nicht getroffen, weil er sich durch einen Sprung zur Seite befördert hatte. Sam fluchte und warf die Pistole mit dem Miquelet-Schloß weg. Sie polterte auf die Planken. .Sam zog sein Entermesser und bremste den Angriff des Japaners. Kein anderer Seewolf setzte eine Schußwaffe ein. Sam hatte im ersten Entsetzen die nächstbeste Waffe aus dem Gurt gerissen, die er zu fassen bekam, und die war nun mal seine Pistole gewesen. Aber jetzt — verdammt noch mal, sie hatten doch auch ihren Stolz und wollten
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sich später nicht etwa damit brüsten, zwei zwar zu allem entschlossene, aber nur mit Säbeln und Dolchen bewaffnete Gegner mit gezielten Schüssen niedergestreckt zu haben. Diese Auseinandersetzung verlangte nach Stich- und Hiebwaffen, und entsprechend verhielten sich Philip Hasard Killigrews Männer jetzt. Sie begegneten Nakamura und Tijang mit mehr Fairneß, als diese jemals verdient hätten, aber auch das zählte zu den Prinzipien, die der Seewolf seiner Crew mit Erfolg beigebracht hatte. Tijang entging Batutis nieder zuckendem Morgenstern um ein Haar. Er stürzte sich direkt auf Ferris und wurde von diesem mit einem Säbel in Empfang genommen, der dem des Uiguren in Länge, Stärke und Schärfe kaum nachstand. Sam Roskills Schuß hatte den Affen Arwenack geweckt. Der Schimpanse hatte auf der Back ein Nickerchen gehalten, jetzt fuhr er hoch, schwang sich aufs Schanzkleid und hastete auf die Fockwanten der Backbordseite zu. Im Dahinturnen angelte er sich einen Belegnagel, dann hatte er die Webeleinen erreicht 'und klomm erstaunlich schnell darin empor, um aus der Höhe auf seine Art in den Kampf einzugreifen. Nakamura duellierte sich inzwischen mit Sam Roskill. Nakamura stieß Schreie aus, die jedem Samurai zur Ehre gereicht hätten. Roskill konnte das nicht beeindrucken. Er war ein kampferprobter Mann, ein mit allen Wassern gewaschener ehemaliger Karibikpirat, schlank, frech und draufgängerisch. Glaubte er allerdings, mit dem Japaner leichtes Spiel zu haben, so hatte er sich getäuscht. Nakamura erwies sich als guter Fechter — und er würde sich nicht noch einmal die Waffe aus den Händen schlagen lassen wie auf der Galeone von de Romaes. Er setzte alles daran, Sam mit einem Streich zu fällen. Bill war inzwischen wieder auf den Beinen und schaute zu Batuti, der mit rollenden Augen und erhobenem Morgenstern dem Uiguren nachrückte. Tijang, ein
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muskulöser, stumpfsinniger Mensch, dem das Ausdrücken irgendwelcher Gefühle völlig abging, drosch mit dem Säbel auf den rothaarigen Schiffszimmermann ein, als wäre die Waffe ein Knüppel. Ferris geriet ernsthaft in Bedrängnis. Er fluchte, Wie Carberry es besser nicht gekonnt hätte, wich zurück und hatte Mühe, sich gegen den wuchtigen Kerl zu behaupten. Tijang stieß einen gellenden Triumphschrei aus. Nakamura fühlte sich angestachelt. Noch heftiger als zuvor hieb er auf Sam Roskill ein. Gary Andrews wollte Nakamura in die Seite fallen, aber Sam rief ihm zu: „Laß, Gary, ich will allein mit diesem Bastard fertig werden!“ Batuti wollte Tijang den Morgenstern aufs Haupt schlagen, aber der alte O'Flynn hielt ihn energisch zurück. „Bau keinen Mist, Mann! Ferris würde das nie auf sich sitzenlassen.“ „Gelbmann bringt Ferris um“, grollte der schwarze Goliath. Old O'Flynn spähte mit verkniffener Miene zu den Kämpfenden. „Wart's doch ab.“ Jawohl, er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, Ferris würde es nie und nimmer billigen, daß die anderen in diesen Zweikampf eingriffen. Aber auch der alte Donegal hielt das Entermesser bereit, um es auf den Uiguren zu schleudern, falls dieser den Zimmermann zu töten drohte. Genauso verhielten sich Will Thorne; Stenmark und Bill. Nur auf einen traf diese Absprache, diese oft erprobte Methode, nicht zu: auf den Schimpansen. Der hockte bereits auf der Großsegelrah und zielte mit dem hölzernen Koffeynagel. Nakamura kreuzte immer noch mit Sam Roskill die Klinge. Der Japaner hätte Oberwasser, er glaubte zu siegen, aber wäre alles nach seinem ursprünglichen Plan verlaufen, dann wäre die „Isabella“ weitaus undramatischer in seine Hände gefallen. Auf der Kuhl angelangt, hatten Nakamura und Tijang Bill und Batuti Dolche in den Rücken drücken und sie als Geiseln
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nehmen wollen. Im stillen leuchtete es dem Japaner jetzt ein, daß er einen Fehler begangen hatte. Schon in dem von Batuti und Bill zur „Isabella“ gepullten Beiboot hätte er handeln sollen. Aber er hatte befürchtet, daß einer der beiden Alarm schlug, selbst auf die Gefahr hin, erstochen zu werden. Er, Nakamura, kannte diese weißhäutigen Männer inzwischen zur Genüge: Bei ihnen ging die Tollkühnheit auch so weit, daß sie ihr Leben aufs Spiel setzten, um die Kameraden zu retten. Nakamura hatte das in sein Kalkül einbezogen-- und sich dann doch verrechnet. Aber jetzt sah es so aus, als würden die acht Männer seinem brutalen Angriff unterliegen. Vielleicht waren sie zu überrascht, zu wenig auf eine Attacke vorbereitet, hier, in der Beschaulichkeit des Flusses Jinzhonghe und seiner Umgebung. Arwenack warf den Belegnagel, aber genau in diesem Moment wich Sam Roskill vor einem wuchtigen Hieb des Japaners zurück. Es geschah selten, daß der Affe mit seinen Wurfgeschossen danebenzielte. Er hatte schon oft mitgemischt, wenn ein Handgemenge übers Oberdeck der „Isabella“ tobte, aber Fehler begingen nicht nur die Menschen, sondern auch Affen, und waren sie auch noch so gewitzt. Der Koffeynagel traf Sam. Sam kriegte ihn genau auf den Hinterkopf, und er hatte den Eindruck, seine Schädeldecke platze. Stöhnend hielt er inne, geriet ins Wanken und drohte zu stürzen. Nakamura holte zum Todesstoß aus. War das wahr? Sollten die Seewölfe ausgerechnet jetzt, nachdem sie Khai Wang geschlagen und all ihre Ziele erreicht hatten, eine so schmähliche Niederlage erfahren? * Gary Andrews federte vor. Seine Degenhand zuckte hoch. Die Klinge blitzte im Sonnenlicht und fuhr unter den
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vorschießenden Säbel des Japaners. Bill, der Schiffsjunge, schrie entsetzt auf, weil Garys Einsatz zu spät zu erfolgen schien. Sam wurde unter den dröhnenden Schmerzen seines Schädels ohnmächtig. Er versuchte sich zu bezwingen, schaffe es aber nicht. Er sank in den Knien ein, unfähig, noch etwas zu seiner Verteidigung zu tun. Garys Degenklinge knallte unter den Säbel und brachte ihn aus seiner ursprünglichen Richtung. Nakamura schrie wie ein Besessener, aber das änderte auch nichts — der Säbel' schrammte mit seiner Spitze über Sams rechte Schulter, riß aber keine tiefe Wunde. Gary drückte, stemmte den Degen hoch, war dicht vor Nakamura und zwang ihn von Sam Roskill weg. Für einen Moment standen sie mit gegeneinander gepreßten Waffen, starrten sich in die Gesichter und lieferten sich eine höllische Kraftprobe. Dann riß Nakamura plötzlich den Säbel zur Seite. Die Klingen radierten, Metall fuhr mit schrillem Laut über Metall und war jäh wieder voneinander gelöst. Gary deckte Nakamura mit einem wahren Feuer von Streichen ein, und diesmal rückten nun auch die anderen gegen den Japaner vor: Old O'Flynn, Will Thorne, der Segelmacher, und Stenmark, der große blonde Schwede. Nakamura wich zurück. Ferris Tucker schwitzte aus allen Poren, sein Gesicht glänzte, und er atmete heftig. Aber er hatte inzwischen eine Wende in das Duell gegen den Uiguren bringen können. Das hing damit zusammen, daß er Tijangs Schwäche erkannt hatte. Tijang hatte viel wilden Mut in seine Attacke gelegt und es beinah geschafft, Hasards rothaarigen Schiffszimmermann zu überwältigen. Aber es mangelte ihm an der nötigen Ausdauer. Er hatte weniger davon, als man ihm aufgrund seiner Statur und seines Auftretens zutraute. Tijang ließ nach. Ferris hatte eine gute Verteidigung aufgebaut. Jetzt lieferte der dem Gegner für eine Weile einen hinhaltenden Kampf
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— um frische Energien zu schöpfen und zum entscheidenden Schlag auszuholen. Bill atmete auf. Batuti grinste und suchte mit dem Blick den alten O'Flynn, aber der humpelte inzwischen, einen Cutlass schwingend, mit den anderen auf Nakamura zu. Wie der alte Seebär es fertigbrachte, sich mit Holzbein und Krücken voranzubewegen und trotzdem eine Waffe zu führen, konnte man kaum erklären, man mußte es gesehen haben. Nakamuras Miene hatte sich verändert. Der wilde Triumph war gewichen, ein Ausdruck der Erschütterung und Verzweiflung nahm auf seinen Zügen Gestalt an. Er begriff seinen zweiten Fehler. Statt Sam Roskill töten zu wollen, hätte er ihn sich greifen, ihm den Säbel gegen die Gurgel halten und ihn als Geisel benützen sollen. Aber Nakamura hatte sich von seiner fanatischen Vergeltungssucht verleiten lassen. Jetzt war es zu spät, an den Gegebenheiten etwas zu ändern. Sam Roskill lag in der Nähe der Kuhlgräting, Bill war bei ihm und hatte sich über ihn gebeugt. Zwischen den beiden und Nakamura befanden sich als wütende, wehrhafte Barriere Gary, Will, Stenmark und der alte Donegal Daniel O'Flynn. Niemals konnte Nakamura diese Mauer durchbrechen. Ferris knallte seinen Säbel noch zweimal gegen Tijangs Waffe, dann startete er einen vehementen Ausfall. Die Abwehr des Uiguren zerbrach wie morsches Holz, Ferris hackte auf ihn ein, als habe er seinen Säbel mit der Zimmermannsaxt verwechselt. Dann, ganz unversehens, lösten sich Tijangs Finger vom Griff des Säbels. Er stieß einen Wehlaut aus und ließ ihn fallen. Er hatte keine Zeit, noch irgendetwas anderes zu unternehmen: Ferris' freie Faust raste auf ihn zu und traf seine Wange etwas unterhalb des Jochbeins. Der Uigure stolperte rückwärts, verhedderte sich mit dem Fuß in einer Taurolle und krachte nicht weit vom Backbordniedergang des Vorkastells auf
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die Planken. Er keuchte entsetzt, kroch auf dem Hosenboden in Richtung Back und wurde erst durch das Kombüsenschott aufgehalten. Ferris blickte sich zu den anderen um. Nakamura brüllte wüster als ein Dutzend Samurais und riß den Säbel mit beiden Händen hoch. Als er über ihm bebte, sah es so aus, als wolle sich der Kerl die Klinge selbst in den Leib rammen. Aber Nakamura liebte das Leben viel zu sehr, um einen so heldenhaften Abgang von der Weltbühne zu vollbringen. Nein - er schleuderte die Waffe den anrückenden Seewölfen entgegen. Danach wirbelte er herum, stürzte wie von Furien gehetzt zum Schanzkleid und flankte mit einem Scherenschlag darüber hinweg. Er hielt die Schöße seines Gewandes so gerafft, daß der Stoff ihn nicht behindern konnte. Gary und die anderen hatten sich gedankenschnell geduckt. So entgingen sie dem tödlichen Säbel. Er huschte über sie weg und blieb vibrierend im Großmast stecken. Gary war als erster am Schanzkleid. Er hörte das Klatschen des Wassers unter sich, sah den Japaner aber nicht mehr. „Der Kerl taucht zum Ufer!“ stieß er aus. Old O'Flynn stand schon an einer der schweren Culverinen der Backbordseite. „Brennen wir dem Hurensohn eins auf den Pelz!“ schrie er. „Viel bleibt nicht von ihm übrig, das schwört der alte Donegal!“ „Nein!“ rief Ferris Tucker. „Kommt nicht in Frage! Gary, Stenmark, Will, ihr entert das Beiboot ab und verfolgt den Burschen. Ich will ihn lebend haben. Wir schaffen ihn nach Peking und ...“ Weiter gelangte er nicht. Batuti hatte einen dumpfen Laut ausgestoßen und den Morgenstern geschleudert. Die ganze Zeit über hatte der Mann aus Gambia den entwaffneten, ramponierten Uiguren nicht aus den Augen gelassen. Jetzt, genau im richtigen Augenblick, raste die Waffe auf den Piraten. zu. Tijang hatte nämlich unter dem Backbordniedergang etwas entdeckt, das seinen Kampfgeist jäh wieder aufflackern ließ - ein Tromblon.
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Gary Andrews war mit dem Säubern und Laden dieser Waffe beschäftigt gewesen, als Nakamura und Tijang am Ufer der Bucht erschienen waren und mit ihrem irreführenden Mummenschanz begonnen hatten. Gary hatte das kurzläufige Gewehr mit der trichterförmig erweiterten Mündung kurzerhand unter die Stufen des Niederganges gestellt - und das hatte bedenkliche Folgen. Das Tromblon, auch Blunderbuss oder Blunderbüchse genannt, war fix und fertig geladen. Pulver, Verdämmungspfropfen und Kugel saßen auf dem Grund des Laufes festgerammt, der Flint war zwischen die Lippen des Steinschlosses geschraubt. Tijang hatte die Büchse gehoben und den Hahn gespannt. Er brauchte nur noch abzudrücken. Aber der Morgenstern ereilte ihn vorher. Ferris hatte den Kopf zu ihm hin gewandt und sah, wie er von Batutis verheerender Waffe zurückgeschleudert wurde. Tijang hauchte sein Leben am Kombüsenschott aus, das Tromblon polterte auf die Kuhlplanken, und es war ein Wunder, daß es nicht doch noch losging. Batuti stieß pfeifend die Atemluft aus, erst dann glitt ein Grinsen der Erleichterung über seine Züge. Ferris war bleich geworden und mußte sich gewaltig zusammenreißen, 'um nicht schon wieder wie ein Berserker loszufluchen. Gary, Stenmark und Will waren von Deck verschwunden, sie hangelten außenbords an der Jakobsleiter in die Tiefe. Unter ihnen dümpelte das Beiboot an der Bordwand, in dem Batuti und Bill vorher Nakamura und den Uiguren zur „Isabella“ geholt hatten. Ferris' Wort und Befehl hatten Gewicht, denn er hatte während Hasards Abwesenheit das Kommando auf der Galeone übernommen. Seiner Order hatten sich alle zu fügen, auch der alte O'Flynn, der Nakamura am liebsten den Hintern versengt hätte, sobald er im Wasser der Bucht auftauchte, und das nicht knapp. Bill kniete immer noch neben dem bewußtlosen Sam Roskill. Ferris Tucker, Batuti und Old Donegal liefen ans
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Schanzkleid der Backbordseite und wurden Zeugen, wie Nakamuras Kopf erst kurz vor dem Buchtufer wieder aus den Fluten hochschoß. Gary, Stenmark und Will saßen inzwischen im Boot, stießen sich von der Bordwand ab und begannen zu pullen, als hätten sie den Teufel im Nacken. „Beeilt euch!“ rief der alte O'Flynn ihnen nach. „Hölle, ihr wollt den Hund doch wohl nicht entwischen lassen!“ „Schneller“, stieß Batuti immer wieder hervor. „Verdammich, schneller, Jungs.“ Arwenack hatte sich unterdessen in den Großmars verzogen. Er wimmerte vor sich hin und traute sich nicht mehr an Deck zurück. Was er Sam Roskill eingebrockt hatte, hatte er schließlich deutlich genug gesehen. So ein schlechtes Gewissen hatte der Affe schon lange nicht mehr gehabt. Bill ging es kaum anders, denn er fühlte sich verantwortlich für das, was passiert war. Er hätte sich selbst ohrfeigen können. Warum hatte er nur die idiotische Bemerkung ausgesprochen, die „Mönche“ wollten wohl das Schiff segnen? Oh, was bist du für ein Esel, dachte er wütend. Sam war immer noch nicht zu sich gekommen. Bill schaute verzweifelt auf und suchte nach einem Ratschlag, wie er Sam am besten helfen konnte. Himmel, daß der Kutscher auch nicht an Bord geblieben war! Bills Blick verharrte auf Tijangs zusammengesunkener Gestalt. Es war ein schauriges Bild. Schaudernd wollte der Schiffsjunge sich abwenden, aber da fiel sein Blick auf etwas Längliches, Glitzerndes, das Nakamuras Mitstreiter aus dem Ischang gerutscht war. Ein Dolch. Bill erhob sich, lief zum Kombüsenschott, zwang sich, dabei nicht auf den Toten zu schauen und hob den Dolch von den Planken auf. Dafür, daß Tijang nach Ferris' Fausthieb nicht den Dolch zum Einsatz gebracht hatte, gab es nur eine Erklärung: logischerweise hatte der Uigure sich mehr davon versprochen, das Tromblon an sich zu reißen und auf die Seewölfe abzufeuern.
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Bill lief mit dem Dolch zu Ferris Tucker, weil ihm ein Verdacht gekommen war. „Mister Tucker!“ rief er. „Sehen Sie mal, was ich gefunden habe - vielleicht hat Nakamura auch so einen Dolch!“ Ferris wandte den Kopf, sah auf die spitze Waffe und drehte sein Gesicht dann wieder dem Ufer zu. Nakamura hatte es irgendwie fertiggebracht, unter Wasser den lästigen Ischang abzustreifen. Er war an Land gelaufen, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, und hetzte geduckt auf das nächste Gebüsch zu. Er schien etwas zwischen den Händen verborgen zu halten - jetzt wußte Ferris, was es war. Gary, Stenmark und Will waren mit dem Boot gelandet. Sie waren ins Flachwasser der Bucht gesprungen und stürmten an Land. „Aufpassen, der Kerl hat noch seinen Dolch!“ brüllte Ferris ihnen nach. Er wußte aber nicht, ob sie ihn verstanden hatten. 2. Gary Andrews hatte 'im Laufen seine Pistole gezückt. Er wollte einen Warnschuß über Nakamuras Kopf jagen, aber der Japaner schlüpfte bereits in dichtes Gestrüpp und entzog sich seinem Blick. Ferris Tucker brüllte irgendetwas, aber der Wind blies von Süden her gegen ihn an und trug seine Worte dem Nordufer zu. Die Verfolgung indes fand am südlichen Ufer des Jinzhonghe statt. „Was will Ferris?“ rief Stenmark im Dahinhetzen. „Keine Ahnung!“ rief Will Thorne keuchend zurück. „Er hat wohl Angst, dieser Schweinehund entwischt uns.“ Das war zwar eine Fehldeutung, aber sie schien durchaus der Wirklichkeit zu entsprechen. Gary gelangte als erster ans Gebüsch und drang ein, aber er konnte den Japaner im Inneren des Dickichts nicht mehr entdecken. „Verflucht und zugenäht“, wetterte er. „Los, schwärmen wir aus und versuchen wir, ihn in die Zange zu nehmen.“
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Ohne auch nur eine Sekunde Zeit zu verlieren, bahnte er sich einen Weg durch das verfilzte, fast undurchdringliche Gesträuch. In den Niederungen der Provinz Hohpeh, die sich in die Große Ebene fügten, wurden nicht nur Reis und Sojabohnen angebaut, hier gedieh jede Art von Pflanzenwuchs üppig. Es gab zwar keinen Dschungel - dazu lag die Gegend in zu nördlichen Breiten -, aber auch in einem ausgedehnten Dickicht wie diesem konnte man sich durchaus verirren und 'steckenbleiben. Gary fluchte leise vor sich hin. Er schaute sich nach allen Seiten um -der Schwede und der Segelmacher waren jetzt auch nicht mehr zu sehen. Rundum erhob sich der Wildwuchs der fremden Pflanzen und Sträucher. Gary arbeitete sich noch ein Stück vor, dann verharrte er und lauschte. Hinter ihm war verhaltenes Rascheln. Das mußten Stenmark und Will Thorne sein. Aber vor ihm- war da auch etwas, oder bewegte sich der japanische Pirat so geräuschlos wie eine Schlange voran? So angestrengt Gary auch lauschte, er vernahm nichts. Nakamura schien vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Es war ausgeschlossen, daß er die Flußniederungen kannte. Aber vielleicht existierten in seiner Heimat, drüben im geheimnisvollen Zipangu, ähnliche ‚Landschaften, und er hatte es gelernt; geschickt darin zu schleichen. ' Auch die Ureinwohner der Neuen Welt und die Bewohner gewisser Inseln, die Gary Andrews während der Fahrten der „Isabella“ kennengelernt hatte, verfügten über ähnliche Fähigkeiten. Gary wurmte es in diesem Augenblick mächtig, daß er nicht als Buschmensch aufgewachsen war. Das .war eben der Nachteil, wenn man zu fest mit den Schiffsplanken verwachsen war! Gary ahnte, daß er dem Japaner kein Schnippchen mehr schlagen konnte. Der Schurke war wie ein Reptil, das ihm aus den Fingern entschlüpfte. Trotzdem gab Gary nicht auf.
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Er drückte Geäst und schlüpfrige Blätter zu den Seiten weg, orientierte sich flüchtig und wandte sich nach Süden. Die Pistole steckte er nicht weg, er hatte beschlossen, dem vertrackten Spiel ein Ende zu bereiten, indem er Nakamura in die Beine feuerte, sobald er ihn sichtete. Zum Teufel mit der Fairneß, dachte Gary wütend. Nakamura war praktisch erledigt gewesen, und doch hatte er Reißaus nehmen können. Damit dies nicht noch einmal geschah, wollte Gary auf den Warnschuß verzichten und gleich auf seine Waden halten, schließlich hatte seine Steinschloßpistole nur den einen Lauf. Bäume ragten plötzlich auf. Sie schienen aus dem Nichts herauszuwachsen. Das Gebüsch blieb so. dicht wie vorher, es rankte an den Stämmen empor, als wolle es die stummen Riesen erdrosseln und vertilgen. Gary fluchte wieder los, als er beinahe in einem Dornengestrüpp hängenblieb. Er riß sich los, schrammte sich gehörig den rechten Arm und verdammte innerlich China, die Zopfmänner und all den Schlamassel, in den sie hier geraten waren. Vor ihm regte sich etwas — ganz unvermittelt. Gary duckte sich und brachte die Steinschloßpistole in Anschlag. „Stehenbleiben!“ rief er, erst auf spanisch, dann auf portugiesisch. „Halt, oder ich schieße!“ Zumindest ein paar Brocken mußte Nakamura verstehen, denn er war. ja auf de Romaes' Piratengaleone gefahren. Wenn der Portugiese auch meistens chinesisch mit seiner Meute gesprochen hatte — einige Worte seiner Muttersprache hatte er ihnen doch sicherlich beigebracht. Ob Nakamura davon etwas behalten hatte, blieb dahingestellt. Für den Bruchteil einer Sekunde war sein Gesicht in einer Buschlücke zu erkennen — eine Fratze des Hasses. Etwas Blinkendes stach von ihm weg. Nakamura warf sich herum, flüchtete und scherte sich den Teufel um Gary Andrews' Warnungen.
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Gary zielte auf den Bereich, in dem sich Nakamuras Beine befinden mußten, aber in diesem Moment erreichte ihn der Dolch. Wie glühendes Eisen fraß er sich in seinen Arm, ausgerechnet in den rechten. Gary stöhnte auf und biß die Zähne zusammen. Er hatte die Geistesgegenwart, die Steinschloßpistole in seine linke Hand zu befördern, dann drückte er ab. Der Schuß raste krachend in den Wald, aber die Kugel grub sich wirkungslos in den weichen Boden. Nakamura setzte seine Flucht unversehrt fort. Vielleicht hatte die Kugel nur zwei, drei Schritte hinter ihm gesessen, aber diese kurze Distanz rettete ihm das Leben. Gary tobte fast vor Wut. Stenmarks Stimme ertönte links hinter ihm, dann meldete sich auch Will Thorne, und zwar von rechts achtern, etwas weiter entfernt als der Schwede. „Hast du ihn?“ „Wo steckt der Bastard, Gary?“ Gary preßte die Zähne so fest zusammen, daß sie. knirschten. Seine Lippen waren ein dünner, blutleerer Strich. Mit äußerster Selbstbeherrschung packte er den Griff des Dolches. Als die Finger seiner linken Hand die im Arm steckende Waffe nur sanft berührten, raste schon eine neue Schmerzwelle durch den Arm. Gary stöhnte und sah wogende Schatten und rote Kreise vor seinen Augen. Er wurde fast ohnmächtig, bezwang sich aber, kämpfte gegen Schmerzen und Übelkeit — und riß sich den Dolch mit einem Ruck aus dem Arm. Er würgte heftig, als er sein Blut fließen sah. Die Knie wurden ihm weich, Hölle, er konnte einfach nichts dagegen tun. Er sank hin. Stenmark war plötzlich neben ihm und stieß einen entsetzten Laut aus. „Allmächtiger, Gary, das ist ja ...“ „Pack den Hund“, sagte Gary mühsam. „Er ist — dorthin ...“ Mit der Linken wies er dem Schweden die Richtung. Stenmark stieß einen schrillen Pfiff aus, indem er zwei Finger in den Mund steckte. Will Thorne antwortete, und Gary hörte
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noch wie aus weiter Ferne, wie Stenmark etwas zurückrief, das mit Nakamuras Fluchtweg zusammenhing. Jemand schien Gary Andrews Korkstopfen in die Ohren getrieben zu haben, und außerdem senkte sich jetzt eine dicke Decke auf seinen Kopf und seine Schultern, so schwer, wie man sie sonst nur einem Gaul überzuwerfen pflegte. Stenmark fing Garys Körper auf. Will Thorne hastete durch das Dickicht des Waldes, so schnell er konnte, er zerriß sich die Kleidung, strauchelte fast über eine tückische Wurzel und fragte sich unter hundert Verwünschungen, ob dieser elende Busch vielleicht bis nach Shanghai 'runterreiche, zum Teufel noch mal. Wenig später fluchte er laut und ohne jegliche Beherrschung, denn die Laute, die er vernahm, waren eindeutig. Ein Pferd entfernte sich. Das Getrappel seiner Hufe klang dumpf. Selbst der größte Schwachkopf, der je zur See gefahren war, hätte in diesem Moment zu erraten vermocht, wer wohl auf dem Rücken des Tieres saß. Will folgte der Richtung, aus der das Trommeln der Hufe tönte. Der Südwind, der über den Wald strich, trug ihm die Laute noch eine Weile zu. Nakamura trieb das Pferd zu einem geradezu wahnwitzigen Galopp an. Will stieß auf eine kleine Lichtung und entdeckte das zweite Pferd. Das, mit dem Tijang, der Uigure, eingetroffen sein mußte. Nakamura hatte darauf verzichtet, auch dieses Tier mitzunehmen. Für ihn stellte es nur eine Behinderung dar. Will stammte aus dem fernen England, und auf der Insel lernte fast jeder Junge, wie man ein Pferd ritt. Er kletterte in den merkwürdigen Sattel, drückte dem Vierbeiner die Stiefelhacken in die Flanken, bewegte die Zügel und schnalzte mit der Zunge. Das war in China nicht anders als daheim in Old England: das Tier setzte sich in Bewegung. Ein Pfad führte aus dem Wald. In der Ebene trieb Will das Pferd in einen schwingenden Galopp, und er stellte fest, daß es sich um ein sehr edles Pferd
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handelte. Will wußte nicht, daß das Tier einem Grundbesitzer in den LushanBergen geraubt worden war und daß dieser Mann und einer seiner Gäste dafür das Leben gelassen hatten, aber eins stand fest: Auf einem so rassigen, schnellen Pferd hatte der Segelmacher der „Isabella“ als Junge nicht gesessen. Will hoffte, den Japaner bald vor sich zu haben. Aber sein inniger Wunsch erfüllte sich nicht. Wälder, die nach einem unergründlichen Muster in der Ebene verteilt standen, versperrten ihm die Sicht. Und schließlich nutzte ihm auch das Pferd nichts mehr, so edel es war. Nakamura hatte einen Trick angewandt. Die Fährte seines Pferdes endete in einem Bachlauf. Der Bach floß in einen breiten Waldstreifen, und kein Jäger, kein Spürhund der Welt konnte jemals den Punkt finden, an dem Nakamura das Gewässer wieder verließ. Verdrossen kehrte Will Thorne um. 3. Dramatischer hätte eine Hinrichtung nicht verlaufen können. Die Piraten Sui, Dschou und Lai waren als Lama-Mönche verkleidet in Peking eingedrungen und hatten sich unter die Menge der Schaulustigen vor dem Tor des himmlischen. Friedens gemischt. Sie hatten Khai Wang und Wu befreien wollen, indem sie den Henker niedermetzelten und' die Minister und Mandarine des Großen Chan als Geiseln nahmen. Aber Hasard, Siri-Tong und die anderen von der „Isabella VIII.“ hatten das Unternehmen vereitelt. Sui, Dschou und Lai waren im erbitterten Kampf gefallen. Khai Wang, die „Geißel des Gelben Meeres“, und sein Steuermann Wu hatten Unter dem Schwert des Henkers ihr gerechtes Ende gefunden. Nur zögernd kehrte der Frieden in die Straßen und Gassen der Hauptstadt zurück. Noch eilten die Männer, Frauen und Kinder aufgeregt auf und ab. Sie
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schnatterten und gestikulierten und mußten das Gesehene erst einmal verarbeiten. . Die Kinder legten rasch geknüpfte Girlanden aus Lotos und anderen Blumen über die Quian-Men Da-jie, die Straße, die die Seewölfe und die. Rote Korsarin zum Tor des himmlischen Friedens hin beschritten. Weitere Ovationen ließen aber die Soldaten nicht zu. Die Grünröcke marschierten vor, neben und hinter den Besuchern und verhinderten, daß ein paar allzu begeisterte Männer und Frauen bis zu Hasard und Siri-Tong vordrangen, um sie mit ihrem Dank und Beifall zu überschütten. So beschränkten sich die Menschen von Peking schließlich darauf, den Kotau zu vollführen. Sie warfen sich vor den .Gästen zu Boden, bis ihre Köpfe mit der Stirn das Straßenpflaster berührten. Noch vor kurzem hatte man die Seewölfe für „Yang kuei tzu“ gehalten, für fremde Teufel, die nur Übles im Schilde führten. Aber dieses Urteil hatten auch die Skeptiker revidieren müssen. Wan Li, der Große Chan, wartete im Kaiserpalast auf den Seewolf und seine Freunde. Das Tor des himmlischen Friedens schloß sich hinter den Korsaren. Sie befanden sich jetzt wieder in dem verbotenen Teil der Stadt. Bis zum Gu-gong, dem Palast des Herrschers, war es nicht mehr weit, nur verlief der Weg jetzt in Windungen und leicht irreführend durch einen Park von berückender Schönheit. „Das ist wie ein Traum“, sagte Ben Brighton. „Du erlebst alles aus nächster Nähe und hast doch den Eindruck, nicht richtig dabei zu sein.“ Hasard blickte an Siri-Tong vorbei zu seinem ersten Offizier. Ben war ein ruhiger, nüchterner, manchmal fast bieder wirkender Mann. Es war schob eine Besonderheit, daß er sich so ausdrückte. „Das mag ja alles sehr hübsch aussehen`“, meinte Smoky, der Decksälteste. „Aber das Paradies auf Erden ist es auch nicht. Das gibt es nicht.“
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„Behauptet ja auch keiner“, erwiderte der Kutscher. „Aber laß uns doch unsere Illusionen.“ „Illusionen? Bist du auch so hingerissen, Kutscher?“ „Du etwa nicht?“ „Na, ich stehe immer fest mit beiden Beinen auf Deck“, sagte Smoky. Er konnte sich der faszinierenden Ausstrahlung, die die Parks und Lotosgärten auf sie ausübten, aber auch nicht entziehen. Einigermaßen verdutzt blickte er jetzt auf einen pagodenartigen Tempel, der sich von einer Teichinsel erhob - ganz aus schneeweißem Marmor gebaut. Carberry hatte sich neben Fong-Ch'ang und Ch'ing-chao Li-Hsia gebracht. Der Kampf, die Hinrichtung der Seeräuber auch für ihn verblaßte die Erinnerung an die furchtbare Szene bereits, denn die Aura des Palastviertels war zu mächtig, zu betörend, um finstere Gedanken zuzulassen. In holprigem Portugiesisch wandte der Profos sich an das Mädchen Ch'ing-chao. Ihm lag eine Frage auf der Zunge, und er mußte sie loswerden. „Hör mal, Flüssiges Licht. Die schönen Teiche mit dem klaren Wasser - kann man darin auch baden?“ Sie schaute ihn erstaunt an. Am liebsten hätte sie gekichert, aber das verbot ihr die Erziehung. Sie gab sich -allergrößte Mühe, nicht amüsiert dreinzublicken, dann erwiderte sie: „Hier nicht, Profos. Dafür gibt es in Peiping die Badehäuser.“ „Badehäuser? Die muß ich sehen.“ Flüssiges Licht räusperte sich verhalten. „Dort treffen sich Männer und Frauen in trautem Einvernehmen.“ Sie lief um eine Nuance dunkler an, als sie das verblüffte Gesicht des wackeren Carberry sah, dann wandte sie sich an Fong-Ch'ang und äußerte etwas in ihrer Muttersprache. Fong, der des Portugiesischen nur in Ansätzen mächtig war, antwortete ebenfalls auf chinesisch. Er lächelte sanft, blickte zu Carberry, und auch das wertete der Profos völlig falsch. Edwin Carberry schluckte heftig und kriegte fast einen Hustenanfall. Er zog sich von Ch'ing-chao Li-Hsia zurück, kratzte
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sich an seinem Rammkinn und fand es zuerst etwas peinlich, daß ausgerechnet das Mädchen ihn auf diese - diese delikate Angelegenheit hingewiesen hatte. Sehr rasch erlangte er aber wieder die nötige Fassung. Lotosgärten hin, Palastviertel her - es gab da plötzlich etwas weitaus Interessanteres. Ed Carberry blieb kurz stehen, nahm dann den Marsch wieder auf und befand sich jetzt in Gesellschaft von Blacky, Pete Ballie, Matt Davies und Jeff Bowie. Zuerst warf er ihnen nur ein paar seiner Meinung nach vielsagende Blicke zu, aber daraus wurden sie einfach nicht schlau. Matt dachte nur: Verdammte Tat, hat er jetzt endgültig einen Schlag weg, oder was ist los? Der Profos grinste, und unter seinem Wams regte sich plötzlich etwas. Das stimmte Matt noch nachdenklicher, aber dann sah er, daß der Urheber der komischen Bewegungen Sir John, der karmesinrote Ara, war. Sir John, nach Arwenack das zweite Maskottchen an Bord der „Isabella“, war es also gelungen, als blinder Passagier mit nach Peking zu reisen. Der Papagei kroch ganz aus dem Profoswams hervor, kletterte auf Carberrys wuchtige Schulter und schüttelte sich den Schlaf aus den Federn. Er trat auf der Stelle, brabbelte zunächst nur Unverständliches und gab dann laut und deutlich einen seiner völlig unpassenden Kommentare ab. „Backbrassen, Männer, Schockschwerenot !“ „Halt doch den Rand, du kurzsichtige Krähe“, sagte Carberry. Er griff mit der prankengleichen Hand nach dem bunten Vogel, und das sah mal wieder so aus, als würde er Sir John jeden Augenblick zwischen seinen stämmigen Fingern zerquetschen. Sir John war aber schneller. Er flatterte hoch, ließ noch einen breiten englischen Fluch los und schwebte dann in eleganter Bahn über die Köpfe der Gruppe weg voraus, direkt auf den Palast des Großen Chans zu.
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Natürlich löste sein Erscheinen bei den Chinesen Erstaunen aus, denn in diesen Regionen des Reiches der Mitte gab es zwar farbenprächtige Fasanen, aber keine Papageien. Und schon gar keine Aracangas. Der Kuan aus Tientsin beispielsweise, ein Mandarin des ersten Grades, legte den Kopf in den Nacken, zog die Augenbrauen hoch und wies mit ausgestrecktem Finger auf den Vogel. Dabei stieß er ein scharfes „S-ss-a-a“ aus, was bei den Bewohnern Chinas ein Ausdruck äußerster Verwunderung war. „Sir John, du Mistbock!“ rief der Profos wütend. „Komm sofort zurück. Hölle, jetzt haben wir den Salat. Das Biest bereitet einem nichts als Ärger.“ Siri-Tong und Ch'ing-chao Li-Hsia waren aber schon dabei, den chinesischen Begleitern auseinanderzusetzen, wem der Vogel gehörte und aus welchem Land er stammte —aus der Grünen Hölle am Amazonas nämlich. Außerdem: Wer nahm denn schon Anstoß an einem harmlosen Papagei? „Reg dich ab, Ed“, sagte Blacky deshalb auch. „Laß Sir John doch fliegen, wohin er will. Was er, plappert, versteht hier ja doch keiner.“ Carberry sah den Schwarzhaarigen an, als wolle er ihn in einem Stück verschlingen. „Hör mal, du Klugscheißer, und was ist, wenn er irgendwo was fallen läßt? Was, wie?“ Matt Davies winkte grinsend ab. „Ach wo, du brauchst dich wirklich nicht zu sorgen, Ed. Sir John weiß, was sich gehört. Er ist ein Kerlchen mit Benimm. Schande macht er uns bestimmt nicht.“ Genau das Gegenteil war der Fall, das wußte Matt Davies genauso gut wie der Zuchtmeister der „Isabella“. Carberry wandte den mächtigen Schädel und musterte Matt freundlich wie ein Hai. „Davies, du einarmiger Karrenbremser, willst du mich auf deinen heilen Arm nehmen, oder was ist los?“ Matt konnte es grundsätzlich nicht leiden, wenn man ihn wegen seines Armes verspottete. Hätte ein ariderer diese Bemerkung geäußert, dann hätte Matt ihm
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bereits zu inniger Bekanntschaft mit seiner Eisenhakenprothese verholfen. Beim Profos war das jedoch anders. Er war ein Vorgesetzter und verkörperte die Disziplin nicht nur auf dem Schiff, sondern auch an Land. Also: Matt durfte nicht aufmucken. Im übrigen wußte er ja, daß Carberry es nie so meinte, wie es sich anhörte. Und außerdem gab es eine Methode, auch Maul zu stopfen. „Mister Carberry, ich wollte durch meine Äußerung nur Ihr seelisches Gleichgewicht aufrechterhalten“, sagte Matt deshalb grimmig. Er hatte diesen Satz beim Kutscher gelernt, der ja einigen Grips im Gehirnkasten hatte. Matt hatte etwas üben müssen, aber inzwischen hatte er den Spruch ganz gut gelernt. Carberry blickte ihn verdutzt an. „He? Wie, was?“ Blacky ergriff das Wort, ehe der Profos tiefschürfende Nachforschungen über Matts Satz anstellen konnte. „Ed, du wolltest doch auf etwas ganz anderes hinaus, oder? Ich sehe es deinem Gesicht an.“ Carberry wandte sich ihm zu. Seine Züge hellten sich merklich auf. „Ja“, erwiderte er gedehnt. „Das möchtet ihr wohl gern wissen, was? Ho, ihr werdet hier noch Stielaugen kriegen, das schwöre ich euch.“ Er wollte dem Rudergänger Pete Ballie kräftig in die Seite boxen, aber der wich gerade noch rechtzeitig aus. Pete hatte wirklich keine Lust, beim Kutscher in die Behandlung zu müssen. Carberrys Miene war wissend bis triumphierend. „Erinnert ihr euch noch, was wir für Züge unternommen haben — beispielsweise in Vigo?“ Das war lange her, aber in der Erinnerung der Männer war doch allerlei von den damaligen Ereignissen haftengeblieben — am meisten natürlich von dem, was sie in Cadiz erlebt hatten. Dort war der Seewolf gefangengenommen und in den Kerker geworfen worden. Er hatte füsiliert werden sollen. Carberry sah es seinen Kameraden. an, daß sie keine Ahnung hatten, auf was er hinauswollte. Er kostete das aus. Sollten
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sie doch ihre Strohköpfe mal richtig anstrengen. „Lassen wir das, Ed“, sagte Blacky schließlich. „Es hat ja doch keinen Zweck. Wir kommen nicht darauf. Meinst du etwa, wir müßten unsere ,Isabella' aufs Trockendock legen wie in Vigo, um sie gründlich überholen zu lassen? Ferris hat doch selbst gesagt, wir brauchten sie nicht mal aufslippen, um ...“ „Ach, Quatsch.“ Carberry winkte ab. „Weit gefehlt.“ Er senkte den Kopf ein bißchen, gleichzeitig drosselte er auch das Stimmvolumen. Trotzdem sprach er immer noch laut genug, daß auch Fong-Ch'ang und „Flüssiges Licht“ zumindest akustisch aufnahmen, was er jetzt äußerte. Allerdings hätten sie Englisch verstehen müssen. „Wohin hat euch euer Profos in Vigo denn geführt, ihr Schnarchhähne?“ fragte er lauernd. Jeff Bowie zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. In die nächste Kneipe vielleicht? Ho, der spanische Rotwein war wirklich besser als der Reis- und GinsengWein, den's hier in China gibt.“ Carberry knurrte unwillig. War es denn die Möglichkeit, daß die Kerle plötzlich so begriffsstutzig waren? „Sagt mal, habt ihr schon vergessen, wie 'ne Frau aussieht und sich anfühlt?“ zischte er. „So 'ne richtig dralle, voll aufgetakelte Hafenhure der ersten Klasse?“ „Ach so“, meinte Matt Davies leichthin. Er tat natürlich absichtlich so gleichgültig. „Du spielst darauf an, wie wir damals das Hurenhaus bei Vigo besucht haben. Das hättest du aber auch gleich sagen können.“ „Ja, finde ich auch“, mischte sich nun wieder Blacky ein. „Spann uns doch nicht auf die Folter, Ed. Herrgott, es war schön in dem spanischen Edelladen, und die Mädchen waren phantastisch, wirklich, das war eine herrliche Nacht damals.“ Carberry rieb sich die Hände. „Die Chinesen scheinen auch keine Kostverächter zu sein. Hört zu, wenn Hasard mir die offizielle Erlaubnis zu einem zünftigen Landgang mit allem Drum und Dran gibt, dann führe ich euch in eins
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dieser berühmten Badehäuser.“ Er tat so, als wäre er dort. Stammgast. Matt Davies sah überhaupt nicht begeistert aus. „Kann mich nicht daran erinnern, in Vigo gebadet zu haben.“ „Und es soll verdammt ungesund sein, sich zu lange im Wasser aufzuhalten, im Süßwasser ganz besonders“, fügte Jeff Bowie hinzu. „Ich hau euch noch eine 'runter“, sagte Carberry grollend. Ja, er redete nicht gern um den heißen Brei herum. Der Große Chan hatte zu Hasard gesagt, er habe eine erfrischende Art, die Dinge beim Namen zu nennen. Aber auch der Profos liebte die Offenherzigkeit. „Wenn ihr noch länger so blöd tut, ramme ich euch unangespitzt in den Garten hier, und ihr kommt nicht mit“, drohte er. „Ich habe nicht von Wasser und Seife, sondern von Weibern gesprochen.“ Die anderen hatten längst verstanden. Sie hüteten sich jetzt, den Bogen zu überspannen und lenkten ein. Leise erkundigten sie sich bei ihrem Profos, wie es in den Badehäusern denn wohl zuginge. Dabei blickten sie immer wieder zu SiriTong. Die brauchte nun' ja wahrhaftig nicht zu hören, wie die harten Burschen über Frauenzimmer sprachen. Carberry lieferte einen bildhaften Bericht, was in so einem Badehaus alles passieren konnte. Blacky wollte ihn schließlich fragen, woher er das alles wisse, aber dazu war nun keine Zeit mehr. Sie hatten den großen, mosaikgepflasterten Platz erreicht und steuerten an einigen weniger bedeutenden, aber nicht minder prunkvollen Bauten vorbei auf den Gugong zu. * Die Audienz fand in demselben Saal wie am Vortag statt, Hier stand als Thron des Großen Chans ein golden und rot bemaltes Häuschen, hier wartete der Herrscher bereits in entspannter Haltung auf seine Gäste. Yang Thingh-ho und ChangKuching, die beiden. wichtigsten Minister, flankierten den Thron. Auch heute erschienen Diener mit Weihrauchkesseln,
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nur die Öllampen und Ochsenfettkerzen brauchten nicht angezündet zu werden, weil durch die hohen Fenster des Palastes genügend Sonnenlicht einfiel. Ein Gong wurde dreimal geschlagen, dann wandte der Chan Hasard, der mit Siri-Tong vor ihn hingetreten war, sein angenehmes Gesicht zu. Der Kaiser Wan Li sprach, und diesmal übersetzte Siri-Tong ins Englische. „Ja“, sagte er. „Ich habe bereits vernommen, wie heldenhaft Ihr Euch beim Kampf an der Hinrichtungsstätte verhalten habt. Ohne Euch wären Khai Wang und Wu jetzt vielleicht wieder frei - und viele meiner Leute wären gestorben.“ „Exzellenz“, erwiderte Hasard nach einerleichten Verbeugung. „Ich glaube, diesmal schätzt Ihr uns wirklich zu hoch ein.“ Wan Li lächelte. „Keineswegs. Die Fakten sprechen, das genügt. Mein Urteil ist nur ein Kommentar dessen, was viele hundert Menschen aus nächster Nähe erlebt haben. Und ich glaube nicht, daß meine Informanten in einem Fall wie diesem zu Fehldarstellungen neigen.“ „Das habe ich nicht sagen wollen“, verteidigte sich der Seewolf. In einem Fall wie diesem - er mußte über die Worte des Großen Chan nachdenken. Das bedeutete ja, daß der Herrscher des riesigen Reiches nicht ausschloß, bei anderen Gelegenheiten kräftig angeschwindelt zu werden. Also traute er nicht einmal seinen nächsten Mitarbeitern und Zuträgern. Wan Li hob eine Hand. „Seewolf, Ihr wollt abschwächen, was dort draußen vor dem Tor geschehen ist, und auch das spricht. wieder für Euch und auch für Siri-Tong, denn Bescheidenheit ist eine unschätzbare charakterliche Stärke. Ich bin sonst sparsam mit lobenden Worten, aber heute erkenne ich mich selbst nicht wieder.“ Hasard sah fest in seine dunklen, forschenden Augen. Er war ergriffen. „Ich danke Euch, Exzellenz“, sagte er. „Ich habe Euch zu danken. Die Beweise, daß ich mich in Euch und Euren Freunden von Anfang nicht getäuscht habe, sind
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überwältigend. Und umso bereitwilliger unterstütze ich Euch.“ „Es gibt keine größere Ehre für mich“, entgegnete Hasard - und das war ehrlich und aus ganzem Herzen gesprochen. Carberry hörte nur mit halbem Ohr hin, wie sein Kapitän sich mit dem Großen Chan unterhielt. Immer wieder hielt er nach Sir John Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken. Mistvieh, dachte er, na warte, wenn ich dich erwische! Aber dann sichtete er den gefiederten Kameraden doch. Carberry sank selten das Herz in die Hosentasche, auf See, in seinem Element, eigentlich nie. Aber hier wurde ihm plötzlich mächtig mulmig zumute, und schuld daran war der verdammte Papagei. Der segelte nämlich plötzlich mitten durch den Thronsaal und steuerte mit einer Schleife den Kaiserthron. an. Er breitete die Schwingen aus, streckte die Krallen von sich und landete. Er hockte auf einer geschnitzten und bemalten hölzernen Verzierung - genau über dem Kopf des Großen Chan. „Jetzt wird doch der Hund in der Pfanne verrückt”, flüsterte Big Old Shane. „O Schreck, laß nach“, stammelte Ed Carberry. „Sir John, du Höllenvieh, du Mißgeburt, du Monstrum, willst du das wohl sein lassen?“ Er hätte es am liebsten gebrüllt, traute sich aber nicht. Der Palast war ganz und gar nicht sein Element. Wie empfindlich konnte so ein Chan eigentlich reagieren, wenn plötzlich, aus heiterem Himmel, ein ausgewachsenes Prachtexemplar von einem Profos Ihrer Majestät, der königlichen Lissy, losröhrte? Teufel, die Chinesen hatten eine Menge seltsamer Gesetze. Vielleicht stand auf Brüllen die Todesstrafe. Sir John rührte sich nicht vom Fleck. Und er war dreist genug, es möglicherweise zu wagen, das wußten alle von der „Isabella“. Jawohl, er würde nicht davor zurückschrecken, dem Kaiser von China
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das Gewand zu bekleckern. Und wie empfindlich reagierte ein Chan auf so was? Carberry setzte sich zu Hasard hin in Bewegung, um ganz streng dienstlich um den Befehl zu bitten, den Papagei verscheuchen zu dürfen. Aber der Große Chan hatte den karmesinroten Vogel mit den neckisch gefärbten Flügelfedern inzwischen ebenfalls entdeckt. Er hob den Kopf, lächelte und streckte die Hand nach Sir John aus. Und was tat Sir John? Die Seewölfe hielten den Atem an. Das konnte doch nicht wahr sein - der Himmelhund von einem Papagei hüpfte von der Holzverzierung auf die Finger des Herrschers, gackerte albern und setzte sich zu guter Letzt bei Wan Li auf die Schulter. „Da hört der Spaß aber auf“, sagte der Profos empört. Zornig schaute er auf den Störenfried. Sir John knabberte dem Chan zwar nicht am Ohr herum, wie er es bei Carberry zu tun pflegte, aber er gab brabbelnde, schmeichlerische Laute von sich. Siri-Tong blickte Carberry von der Seite an. „Ed, Sie sind doch wohl nicht etwa eifersüchtig?“ „Ich? Auf wen denn? Wie denn? Was?“ „Na, dann ist es ja gut“, sagte sie amüsiert. „Aber man merkt trotzdem, daß Sie einen richtigen Narren an dem kleinen Kerl gefressen haben.“ „Madame, ich ...“ Er unterbrach sich. Beim Klabautermann und allen Dämonen, sollte er ihr etwa sagen, was er befürchtete? Der Profos hatte vernommen, daß man vor Frauen, von denen man etwas hielt, über bestimmte Sachen nicht redete. Sir Johns Kleckertätigkeit gehörte doch bestimmt dazu, oder? Der Fall wandte sich von selbst zum Guten. Wan Li lächelte den Gästen zu und sagte: „Ein reizendes Tier. Woher stammt es? Etwa aus dem Süden meines Reiches?“ Die Rote Korsarin .dolmetschte wieder. Hasard antwortete: „Nein, aus der Neuen Welt. Wir haben ihn zufällig aufgefangen,
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als wir auf dem Amazonas nach El Dorado, dem Goldland, forschten. Er ist uns zugeflogen, und unser Profos hegt und pflegt ihn.“ Ed Carberry war es gar nicht recht, daß Hasard das sagte. Hegen und Pflegen - war er denn ein Weichling, der Viehzeug verhätschelte? Den Hals umdrehen sollte man allen Papageien! „El Dorado“, wiederholte der Herrscher grüblerisch. „Amazonas. Ein Kontinent, der dort liegt, wo wir die Welt zu Ende glaubten. Hung-wan, der sich von der ersten Aufregung bei Eurer Ankunft schon wieder recht gut erholt hat, hat mir bereits einiges über jenes Land erzählt. Es scheint voller Geheimnisse zu sein. Dort scheinen aber auch große Ungerechtigkeiten stattzufinden.“ „Das kann ich nur bestätigen“, erwiderte Hasard. „Wir Engländer sind ganz gewiß keine Engel, Exzellenz, aber was die Spanier und Portugiesen trieben, geht entschieden zu weit.“ „Das haben auch wir Chinesen erfahren.“ „Ich weiß es. Leider.“ „Für wen schlägt Euer Herz, Seewolf - für England und für China?“ „Für die Gerechtigkeit“, versetzte Hasard. „Ich bin ein Europäer wie die Spanier und Portugiesen, die vorgeben, andere Völker ‚bekehren zu müssen. Und es wurmt mich, daß Menschen meiner Hautfarbe, meiner Herkunft unserem Kontinent den Anstrich der Schlechtigkeit geben. Ich halte es mit den Malteserrittern, die auf der Seite der zu Unrecht Verfolgten und Gequälten stehen.“ „Malterritter?“ „Mein leiblicher Vater gehörte zu diesem Orden“, erklärte - Hasard. „Aber es würde vielleicht zu weit führen, dies alles zu schildern.“ Wan Li erhob sich. Sir John verließ seine Schulter, segelte wieder durch die Halle und kehrte zu seinem „Heger und Pfleger“, dem Profos, zurück. „Im Gegenteil“, sagte Wan Li. „Es interessiert mich brennend. Selten begegnet man Männern, die so gesunde, aufrechte Prinzipien haben und auch befolgen. Seewolf, plaudern wir im Freien
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weiter, wenn es Euch behagt - ich möchte Euch die Zaubergärten zeigen und dabei mehr über Euch erfahren. Auch über Euch, Siri-Tong.“ Sir John hockte inzwischen friedlich auf Carberrys Schulter und knabberte an dessen Ohrläppchen herum. Aber der Profos griff ihn sich und verfrachtete ihn ins Wams. „Mistfink“, murmelte er dabei. „Laß dir bloß nicht wieder einfallen, dich bei wildfremden Leuten beliebt zu machen. Nächstes Mal bleibst du auf der ,Isabella`.“ 4. Der Mandarin aus Tientsin verabschiedete sich, bevor der Große Chan seine Besucher hinausführte - dringende Amtsgeschäfte riefen den Kuan in seine Stadt zurück, unter anderem die Überwachung der Arbeiten, die Tientsin bald zu Pekings Hafen werden lassen sollten. Wan Li entließ den Kuan, dann bedeutete er seiner Dienerschar, vorauszugehen. Während er vom Palast in die Gärten hinunterschritt, waren die beiden Minister in seiner Nähe und lauschten aufmerksam dem, was der Herrscher mit Hasard und Siri-Tong sprach. Ben Brighton und die anderen von der „Isabella“ bildete» den Abschluß der Gruppe. Soldaten waren diesmal nicht dabei. Offenbar war ihnen der Zutritt zu den Zaubergärten nicht gestattet. Die Pracht der Gärten war verschwenderisch und überwältigend. Marmorbrücken in verschiedenen Farben und von ständig wechselnder Konstruktionsweise spannten sich über Weiher, auf deren Wasserflächen- sich die Lotosblüten wiegten. Bambusgebüsche und künstliche Grotten umgaben die Teiche. Die Steine für die Grotten waren aus den Bergen nördlich der Großen Ebene herangeschafft worden wie der Marmor, aus dem die Brücken gehauen worden waren. Pavillons und Pagoden schmiegten sich in den Schatten von Glyzinien und Mimosen, hinter jedem Weiher, jedem
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Gesträuch wartete eine neue architektonische Überraschung. Hasard berichtete dem großen Chan offen über seine bewegte Geschichte. Nein, er verheimlichte nicht, daß er ein „Bastard“ war, er stand dazu, daß Sir John Killigrew nicht sein leiblicher Vater war. Warum so verklemmt sein, etwas vorzutäuschen, das in Wirklichkeit nicht existierte? Wan Li imponierte diese Haltung des Seewolfs. Und als Hasard an der Stelle angelangt war, an der zwangsläufig der Tod seiner Mutter und seines Vaters geschildert werden mußte, blieb der Herrscher mitten auf einer der Brücken stehen, die sie gerade passierten. Er blickte in Hasards eisblaue Augen. „Welche Kraft gehört dazu, solchen Schmerz zu überwinden ...“ „Das ist ein natürlicher Prozeß“, gab Hasard ihm durch Siri-Tong zu verstehen. „Weder das Mitgefühl der anderen noch Selbstmitleid kann einem verzweifelten Mann helfen, er muß seinen Weg in die Zukunft selbst finden. Aber es gibt noch mehr düstere Punkte in meinem Leben. Nur möchte ich nicht darüber sprechen, wenn Ihr gestattet.“ Siri-Tong blickte den Seewolf an. Sie wußte sofort, was er meinte. Da war sie, die größte Tragödie – der Tod seiner jungen Frau Gwendolyn Bernice O'Flynn, der Tochter des alten Donegal – und der Verlust der Zwillinge Philip und Hasard, seiner Söhne. Wan Lis dunkle Augen lasen in Hasards Zügen. „Ich kann nur ahnen, was Euch in diesem Moment bewegt, Seewolf“, entgegnete er leise. „Aber ich weiß, daß es alles andere, was ich bisher aus Eurem Mund vernommen habe, an Schrecken und Grausamkeit bei weitem übertrifft. Nein, ich werde Euch nicht mehr drängen, mir über Euch zu berichten. Verzeiht mir, wenn ich an alte Wunden gerührt habe.“ „Himmel“, sagte Hasard. „Ich hätte Euch ja von Anfang an darauf hinweisen können.“ „Auch das liegt nicht in Eurer Art.“ „Und das nennt Ihr einen starken Charakter, Großer Chan?“
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Wan Li nickte. „O ja.“ Er trat zwischen Hasard, Siri-Tong, Fong-Ch'ang und Ch'ing-chao Li-Hsia. Aufmerksam blickte er von Gesicht zu Gesicht. „Ich stelle Vergleiche an“, sagte er. „Siri-Tongs Lebensgeschichte kenne ich nun. Sie leidet besonders darunter, wie man ihrer Mutter zugesetzt hat.“ „Blumenschatten hinter dem Bambusvorhang” — so hieß Siri-Tongs Mutter. Hasard hatte die alte Frau in Shanghai besucht und in erbärmlichen Verhältnissen vorgefunden. Die Rache der. Verwandten von Féi-Lin, den die Korsarin seinerzeit hatte heiraten sollen, verfolgte auch sie, der Sippenhaß kannte keine Gnade. Hasard hatte „Blumenschatten“ Geld überlassen, aber was half das schon, solange Siri-Tong nicht rehabilitiert war? „Fong-Ch'ang“, sagte Wan Li. Er wandte sich direkt an den hageren Mann, und SiriTong übersetzte seine Worte für die anderen. „Dich hat ebenfalls ein hartes Schicksal getroffen. Die Pest hat deine junge Frau Und deinen kleinen Sohn dahingerafft. Blühendes Leben — einfach ausgelöscht. Ich kann mit dir empfinden, welche Wunden dies in dein Herz geschnitten hat, glaube es mir.“ „Sie sind fast verheilt“, antwortete Fong. „Und nach allem, was mir nach dem Verlassen meines Dorfes zugestoßen ist, hat das Leben für mich jetzt wieder einen Sinn.“ Der Große Chan sah zu dem Mädchen. „Ch'ing-Chao Li-Hsia, man hat dich dem Flußgott Ho Po, dem Graf des Gelben Flusses, opfern wollen. Trotz deiner Rettung durch die Seewölfe hast du den Glauben verloren—in deine Angehörigen, in deine Landsleute, in deine Religion. Ist es so?“ „Ja. Aber ich bemühe mich, das Vertrauen wiederzugewinnen.“ Flüssiges Licht war so aufgeregt, daß sie kaum sprechen konnte. Welchem Mädchen ihres Alters war es denn vergönnt, sich mit dem Großen Chan persönlich zu unterhalten, als wäre er ein guter, verständnisvoller Freund?
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Wan Li drehte sich so, daß er vor Yang Ting-Ho und Chang-Kuching stand. Er verschränkte die Arme unter dem weiten Stoff seines Gewandes. „Ihr alle“, sagte er. „Eure ganze Kraft habt ihr aus der Verzweiflung und Ausweglosigkeit geschöpft —. dennoch seid ihr nicht zu schlechten Menschen, zu Verbrechern wie Khai Wang, geworden. Das ist-außergewöhnlich. Einfacher für euch wäre es gewesen, den absteigenden Weg in die Schluchten der Gesetzlosigkeit zu beschreiten, statt den anderen, nach oben, ans Sonnenlicht führenden Pfad zu wählen.“ Hasard erwiderte: „Ihr seid ein weiser Mann, Exzellenz.“ „Die Philosophie ist der Schlüssel zur Meisterung des Lebens.“ „Aber ihr vergeßt, daß die Spanier und Portugiesen uns als gemeine Seeräuber ansehen. Sie haben ihre Reiche vereint und sich die. Welt angeeignet, und sie werden Leute wie uns hetzen, wo sie können, weil wir ihnen ein wenig von ihrem unerhörten Reichtum wegnehmen.“ „Ein Reichtum, der ihnen allenfalls zu einem Teil zusteht“, sagte der Herrscher. „Ich will mich aber eines Urteils enthalten. Was für mich und meine Landsleute zählt, ist, daß Ihr, Seewolf, Euch so ganz anders verhalten habt als die Portugiesen und Spanier. Ihr wollt den Frieden, aber oft geratet Ihr in Situationen, aus denen es nur einen gewaltsamen Ausweg gibt. Ich glaube, daheim in Eurem Kontinent wird bald ein neuer Krieg ausbrechen. Zwischen England und Spanien.“ „Noch ist England das Armenhaus Europas.“ „Wirklich? Nun, Ihr helft mit, das Armenhaus zu renovieren und seine Insassen auszustaffieren“, entgegnete der Chan fast verschmitzt. „Ich will Euch etwas anvertrauen. Ich bin ein Mann, der seine Gedanken gern zu Papier bringt. In seinen Mußestunden malt und dichtet der gebildete Chinese, und die erhabenste aller Tugenden ist die Geduld. Ich will festhalten, was wir gesprochen haben, und was meine Voraussage betrifft, so werden
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wir in naher Zukunft sehen, ob sie sich bewahrheitet“ Sie gingen weiter. Nicht sehr viel später erkannte Hasard aus einiger Entfernung die Gestalt Hung-wans. Der alte Chronist hatte eine Art Zeremonialtracht angelegt. Langsam und leicht gebückt schritt er voran. Er schien die Gruppe noch nicht bemerkt zu haben. Vor einem schlichten steinernen Haus verharrte er und kniete sich hin. Hasard sah, daß das Haus weder einen Eingang noch Fenster aufwies und in seine Front lackierte hölzerne Tafeln mit Schriftzeichen eingelassen waren. Der Große Chan verhielt und gab eine gedämpfte Erklärung zu Siri-Tong hin ab. Die Korsarin übersetzte wieder: „Das ist ein Ahnenaltar, wo jedes Besatzungsmitglied von ,Eiliger Drache über den Wassern' durch eine Holztafel verewigt ist. Wir tun gut daran, Hung-wan jetzt nicht zu stören. Er will seinen damaligen Kameraden Weihrauch opfern.“ Unter Wan Lis Führung bogen sie nach rechts ab und wählten einen Pfad, der die Kultstätte umrundete. Auch jetzt nahm der alte Chronist keine Notiz von ihnen. „Sehr gut“, sagte der Kutscher. „Wenn er nach seinem Schwächeanfall schon wieder in der Lage ist, allein durch den Zaubergarten zu wandeln, bedeutet das, daß sein Organismus trotz allem noch in ausgezeichneter Verfassung ist und rasch wieder Energien aufbauen kann.“ „Hoffentlich täuschst du dich da nicht“, meinte Ben Brighton skeptisch. „Unfehlbar bin ich auch nicht“, erwiderte der Kutscher. „Aber ich warte jetzt nur noch darauf, daß Hung-wan uns wieder Gedichte zitiert, dann. weiß ich, daß er wirklich wohlauf ist.“ Kurze Zeit darauf begaben sie sich unter das ausladende Dach eines großen, eleganten Pavillons. Der Himmel über der Verbotenen Stadt war offen und von glitzernder Klarheit, und er schien höher zu sein als anderswo. Hier hatte die Sonne auch jetzt, Ende Oktober 1584, noch sehr viel Macht. Die Seewölfe und ihre Gastgeber waren froh, um die
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Mittagsstunde ein bißchen Abkühlung im Schatten des Daches zu finden. „Flüssiges Licht“ entdeckte Hung-wan als erste wieder. Sie wies Fong-Ch'ang darauf hin, und dieser unternahm einen Versuch, in seinem bruchstückhaften Portugiesisch direkt zu Hasard zu reden. „Der Chronist — kommt zu uns. Zwei Könige — bei ihm.“ Zwei Könige? Hasard blickte erstaunt an dem hageren Chinesen vorbei. Tatsächlich, da hielt ein Trio von vornehm gekleideten Männern auf den Pavillon .zu. Hung-wan trug noch die Zeremonialtracht, aber seine Begleiter identifizierte der Seewolf nun als Ärzte. Aha — diese Leute wurden in China „Könige der Medizin“ genannt. Sie genossen ein sehr hohes Ansehen. Hung-wan benötigte keinerlei Hilfe, er trat unter das Pavillondach und blickte zu Hasard und dessen Männern. Hung-wan wirkte jetzt durchaus so frisch und gesund wie alle Menschen in Peking. Er gehörte zu ihrem Schlag, dies war seine Heimat, und allmählich schien er aufzublühen wie der üppige Lotos in den Weihern. Der Kutscher nahm Ch'ing-chao Li-Hsia beiseite und sagte verhalten: „Ich würde mich gern mit den Ärzten unterhalten: Dolmetschst du?“ Sein Portugiesisch war ausgezeichnet, fast akzentfrei. „Natürlich“, erwiderte sie. Hung-wan blieb vor Hasard stehen, lächelte etwas und sah aus der Nähe ein wenig zerstreut aus. Er sprach zu SiriTong. „Er möchte ein Gedicht von Li Taipo vortragen, der vor achthundert Jahren im Reich der Mitte gelebt und gewirkt hat“, sagte sie. „Hung-wan meint, es gebe keinen angemesseneren Platz als die Zaubergärten des Großen Chan, um so wunderbare Verse zu zitieren. „Wir hören gern zu“, sagte Hasard. Der Profos und ein paar andere Männer waren da anderer Meinung. Mit Poesie konnten sie nichts anfangen. Aber selbstverständlich hielten sie den Mund, denn erstens gab es gegen Hasards Zustimmung nichts aufzumucken, und
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zweitens wollten sie am Hof des Großen Chan nicht ins Fettnäpfchen treten. Hung-wan sprach leise und melodisch. Das Gedicht lautete übersetzt: „Der Lotos blüht, und die Sonne lacht. Ich wate hinein in den Teich. Der roten Blumen frischblühende Pracht hat rings um mich her ihre Gluten entfacht. Ich schwinge sie hin, und ich schwinge sie her und tauche sie tief in die Flut. Dann tragen sie Perlen vieltausend und mehr; und ich schwinge sie hin, und ich schwinge sie her, damit ich den Perlen das Rundsein verwehr': Nur die langen gefallen mir gut.“ Carberry staunte nicht schlecht. „Hey, Ben, was ist das für ein Spruch? Lange Perlen — gibt's die hier wirklich? Etwa auch eckige Eier, was?“ Hasards Erster schüttelte den Kopf. „Ach wo. Das hat mit der dichterischen Freiheit zu tun.“ Ed Carberry wurde immer mulmiger zumute. Er wartete nur auf die Gelegenheit, den Seewolf um Erlaubnis zum Betreten der Badehäuser bitten zu können. Und dann nichts wie weg, dachte er. 5. Gary Andrews konnte sich noch daran erinnern, wie sich die verdammten Korkpfropfen in seine Ohren gebohrt hatten. Jemand schien ihm die Dinger jetzt wieder herausgezogen zu haben. Daß sie überhaupt nicht existiert hatten, wurde ihm erst etwas später richtig klar. Nur die elende schwere Pferdedecke, die natürlich auch nicht vorhanden war, lastete noch auf seinen Schultern und seinem Rücken. Und dann war da der verfluchte Schmerz im rechten Arm. Also, Gary war zwar hundeelend zumute und die Schmerzen in dem verletzten Arm nahmen zu, aber er beschloß tapfer, erst mal die Augen zu öffnen.
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Vorsichtig versuchte er es. Es gelang. Über ihm waren der helle Tag und das dämliche, verbiesterte Gesicht von Old Donegal Daniel O'Flynn, der im Moment gar nicht auf' Gary, sondern irgendwo in die Weltgeschichte starrte. „Fahr zur Hölle, Donegal“, krächzte Gary. Old O'Flynns Gesicht nahm daraufhin einen anderen Ausdruck an. Seine Augen wanderten nach unten ab, 'sein Blick traf Gary, sein Mund verzog sich zu so etwas wie einem salzigen Grinsen. „Das ist der Tag des Herrn! Hey, Gary, du alter Schnarchsack, ist denn das die Möglichkeit?“ „Was denn?“ fragte Gary gepreßt. „Daß du endlich ins Bewußtsein zurückkehrst.“ „Wie spät, Donegal?“ „Mittag.“ „Hölle, dachtest du etwa, ich kratz ab? Hast dich zu früh gefreut, alter Totenvogel.“ Plötzlich dröhnte es unangenehm in Garys eben erst frei gewordenen Ohren. „Hey!“ schrie O'Flynn nämlich. „Ferris und ihr anderen! Ihr Kanalratten! Habt ihr's nicht gemerkt, daß er die Augen auf hat?“ Gary Andrews verzog den Mund. „Wie sollen sie? Du hast ja selbst gepennt.“ Er stellte- fest, daß er mitten auf der Kuhlgräting lag. Sie hatten Decken und Matten herangeschafft und unter ihm ausgebreitet. Gary versuchte sich aufzusetzen, aber das mißlang kläglich. Eine Glutwelle lief durch seinen Körper und nagelte ihn auf dein Lager fest. Hölle und Teufel, konnte ein verletzter Arm denn so weh tun? Ferris, Batuti, Sam Roskill, Will Thorne, Stenmark und Bill liefen heran. Auch Arwenack wagte es, vom Großmars aus einen Blick auf den Verletzten zu werfen. Er konnte zwar nichts dafür, daß Gary den Dolch in den Arm gekriegt hatte, wirklich nicht, aber sein schlechtes Gewissen sagte ihm, daß er am besten weiter. Oben blieb und sich erst bei Anbruch an Deck hinuntertraute. Der Schimpanse hatte Angst vor Old O'Flynns Krücken und dem Holzbein, vor der Schelte Ferris Tuckers
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und der Wut der anderen, besonders von Sam Roskill natürlich. Schlecht behandelt hatte ihn auf der „Isabella“ bisher noch keiner, aber er hatte ja vorher auch noch nie eine so dicke Suppe eingebrockt. Nein, Arwenack blieb lieber im Großmars. Gary drehte den Kopf hin rund her und registrierte die erleichterten Mienen und das Aufatmen der Kameraden. Sam trug einen Verband um die rechte Schulter und grinste, als erhielte er Goldbarren dafür. Garys Stimme klang immer noch heiser. „Sagt mal, ist irgendwie was nicht in Ordnung?“„Jetzt ist alles wieder klar“, meinte Ferris Tucker. „Du glaubst ja nicht, was für ein Stein uns vom Herzen fällt.“ „Meinetwegen?“ „Erraten, du warst schon immer ein kluger Kopf“, versetzte der alte O'Flynn fröhlich. „Ihr habt sie ja nicht mehr alle“, sagte Gary schroff. „Einen solchen Aufstand zu veranstalten. He, Sam, grins nicht so blöd. Und außerdem, dich haben sie ja auch wieder zusammengeflickt, wieso bereitet ihr euch da um mich so idiotische Sorgen?“ Ferris Tucker hielt. es für richtig, eine Erklärung abzugeben. „Hör zu, du hast eine Menge Mut verloren. Und wir haben den Kutscher nicht an Bord. Wir konnten dich also nur ganz notdürftig verarzten: einiges haben wir dem Kutscher ja abgeguckt.“ „Na bitte. Und wieso habt ihr mich auf die Gräting gepackt?“ „Weil die Blessur in der frischen Luft schneller heilt“, antwortete Will Thorne. „Leuchtet dir das ein?“ „Ja, verdammt. Die Wunde brennt wie Feuer.“ „Bill, hol Whisky“, ordnete Ferris an. „Gary hat einen ordentlichen Schluck verdient. Ja, klar, ihr anderen kriegt auch eure Ration. Aber sauft euch bloß keinen an, verstanden?“ „Kann ich jetzt endlich mal erfahren, was los ist?“ fragte Gary. „Nakamura hat seinen verteufelten Dolch auf mich geschleudert — und dann? Will, hast du
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den Hund gepackt? Sten, hast du ihn erwischt? Wo steckt er? In der Vorpiek?“! „Nun“, erwiderte Will. „Ganz falsch. Aber wir haben jetzt einen Gaul, Gary, und was für ein Prachtvieh. Steht drüben an der Böschung der Bucht und grast.“ Gary wurde wütend. „Willst du mich verulken, Will, oder hat dich 'ne giftige Schlange gebissen und dir den Verstand geraubt?“ Ferris schilderte, was sich zugetragen hatte. „Und während Will die Suche abbrechen mußte, hatte Sten dich schon zum Boot gebracht und zu uns 'rübergepullt. Mann, hatten wir eine Angst, daß dich das Fieber und der Wundstarrkrampf fertigmachen.“ Bill erschien mit der Whiskyflasche. Ferris nahm sie entgegen, entkorkte sie und reichte sie Gary Andrews. Will wollte helfen, aber Gary brummte aufgebracht. Himmel, die Flasche konnte er mit der linken Hand auch allein halten! Nach den ersten Schlucken fühlte sich der hellblonde, zähe Mann bereits wohler. Er schaffte es jetzt auch, sich aufzurichten. Sein Blick verharrte auf Bills Gesicht. „Kleiner, was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus, als hättest du zum Frühstück 'ne Spinne verschluckt.“ „Er sagt, es sei seine Schuld, daß das mit Nakamura und Tijang passiert ist“, erklärte Stenmark. „Er nimmt es sich verdammt zu Herzen. Sag du ihm doch mal, daß wir auf die zwei Kerle genauso hereingefallen sind wie er.“ „Aber ich habe gesagt, sie wollten das Schiff segnen und wir dürften sie nicht beleidigen“, wandte Bill ein. „Wenn das der Seewolf hört.“ Gary forschte mit den Augen nach der Leiche des Uiguren. Aber natürlich — den hatten die Kameraden längst fortgeschafft. Es gab keine Spuren des Kampfes, der hier stattgefunden hatte. „Bill“, sagte er. „Ist etwa jemand von uns krepiert?“ „Nein. Aber es hätte passieren können.“ „Hätte. Hör mal, Bill, du Himmelhund, seit wann sind wir eigentlich so dämlich,
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Befehle von dir entgegenzunehmen und auszuführen?“ Bill war verwirrt. „Befehle? Ich ...“ „Hast du uns nicht befohlen, den Bastard Nakamura und seinen wüsten Freund an Bord zu nehmen?“ „Ich darf so etwas doch gar nicht anordnen, Mister Andrews!“ rief Bill entsetzt. Gary grinste — zum erstenmal, seitdem er zu sich gekommen war. „Na also. Das wollte ich ja nur hören. Wenn wir den Kerlen nicht selbst auf den Leim gegangen wären, hätten wir dir das Maul gestopft und uns einen feuchten Kehricht um die ‚Mönche' geschert. Stimmt's?“ „Stimmt“, erwiderte Bill verblüfft. Die Männer lachten, und 'Batuti rief: „Nakamura is' weg, aber kehrt nicht zurück. Hat bestimmt die Nase voll, der Hundesohn.“ Ferris blickte ihn an. Er wurde sehr schnell wieder ernst. „Da bin ich aber anderer Meinung: Der Japaner ist ein Fanatiker, der nur an seine Rache denkt. Mit dem kriegen wir noch mehr Ärger, Und ich finde, wir sollten entsprechend vorsorgen.“ * Nakamura hatte den Bachlauf, der die Fährte seines Pferdes ausgelöscht hatte, im Wald wieder verlassen und sich in ausdauerndem Galopp nach Süden und später nach Westen gewandt. Als er sicher gewesen war, keinen Verfolger mehr auf den Fersen zu haben, hatte er das Tier in Trab fallen lassen. Nach etwa einer Stunde ununterbrochenen Ritts hatte er nordwestliche Richtung eingeschlagen. Einmal hatte er in der Ferne einen Trupp Soldaten gesichtet. Sofort hatte er sich in einem Hain versteckt. Seine Verkleidung war dahin, er trug nur noch die kurze Hose, eine Waffe hatte er nicht mehr. Bei seinem Anblick mußten die Soldaten stutzig werden. Außerdem war inzwischen gewiß bekannt geworden, wer den Überfall auf das Gut des Landwirts in den LushanBergen verübt und um wen es sich bei den
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fünf Kerlen gehandelt hatte, die das LamaKloster westlich von Tientsin so brutal entweiht hatten. Die Kunde ging längst durch alle Provinzen. Nakamura mußte von nun an höllisch aufpassen, nicht erwischt zu werden. Er ließ die Soldaten in einem Abstand von etwa zweihundert Schritten passieren, wartete noch eine Viertelstunde und setzte dann seinen Weg fort. Bald hatte er den Fluß wieder erreicht. An dieser Stelle des Jinzhonghe, etwa fünf Meilen oberhalb der Bucht, in der die „Isabella VIII.“ ankerte, gab es einen alten Fährmann, der für die. Verbindung zwischen den beiden Ufern sorgte. Nakamura wagte es aber nicht, mit der Fähre überzusetzen. Der Alte war ein Zeuge, der später berichten konnte, ihn, den Japaner, befördert zu haben. Es nutzte auch nichts, ihn am jenseitigen Ufer einfach aus dem Weg zu räumen. Schon bald würde irgendjemand die Leiche entdecken und auch auf die Spur des Pferdes stoßen. Nakamura konnte sich nicht ewig verwischen. Er mied den Fährmann, lenkte das Pferd weiter flußaufwärts und entdeckte schließlich, schon ein beträchtliches Stück weiter im Nordwesten der Großen Ebene, eine Furt. Er lenkte den Vierbeiner hinein und trieb ihn durch Beinarbeit und anfeuernde Rufe an. Das Pferd zeigte jetzt die ersten Spuren der Erschöpfung und wollte nicht mehr so recht voran. Nakamura fluchte, aber er begriff auch, daß es keinen Sinn hatte, das Tier zuschanden zu reiten. Wie sollte er dann weiterkommen? Die Furt brachte das Pferd rasch hinter sich, aber drüben, am Nordufer, hatte Nakamura Bedenken, wieder einen Galopp vorzulegen. Das Tier brauchte Ruhe. Er ließ es weitertraben und schließlich schreiten. Pausenlos hielt er nach einer menschlichen Behausung Ausschau, denn er wollte das Pferd wechseln und sich Kleidung verschaffen. Er ahnte, daß er so nicht mehr lange vorankam.
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Es war wie verhext - die Ebene schien ausgerechnet in diesem Bereich völlig verlassen zu sein. Gab es denn kein Dorf, nicht einmal ein Gehöft? Wie ausgestorben dehnte sich die Landschaft vor Nakamura aus. Hatte er etwa einen Fehler begangen? Wäre es nicht doch besser gewesen, wenn er sich nach Süden gewandt hätte? Aber dort wurde sicher intensiv nach ihm gefahndet, dort war der Boden bereits viel zu heiß für ihn geworden. Er gab sich keinen Illusionen hin. Die berittenen Patrouillen hatten das Gebiet von Tientsin und die gut erschlossenen Teile der Provinz Hohpeh hervorragend unter Kontrolle. Einmal hatte es ihm und seinen Kumpanen gelingen können, die Provinz zu durchqueren Und sich zu nehmen, was sie benötigten - ein zweites Mal würde allein der Versuch den Tod bedeuten. So gesehen, hatte Nakamura sich richtig verhalten. Nur hatte er nicht bedacht, wie einsam die nördliche Flußregion war. Ein zweites Problem stellte sich 'ein. Der Rest Proviant, der dem Uiguren und dem Japaner geblieben war, befand sich in den Packtaschen am Sattel von Tijangs Pferd. Zu spät war es Nakamura eingefallen. Er hatte nicht mehr umkehren können, einer seiner Verfolger hatte das Tier bereits erreicht gehabt. Nakamura hätte sich selbst ohrfeigen können. Halbnackt war er, Nahrung hatte er nicht, und bald würde er auch Durst haben, denn aus dem Jinzhonghe zu trinken wie das Pferd, hatte er sich nicht getraut. Das lehmbraune Wasser konnte für einen Menschen ungenießbar sein. Münzen oder Papiergeld, um sich das Allernötigste kaufen zu können? Nakamura hatte auf der Halbinsel. Shantung eine Patrouille bestechen müssen, um nicht gefangengenommen zu werden. Er besaß nichts mehr. Je länger er darüber nachdachte, desto verzweifelter wurde er. „Seewölfe“, murmelte er in kaltem Haß. „Das habe ich euch zu verdanken. FongCh'ang - du räudiger Hund wirst deines
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Lebens nicht mehr froh, das schwöre ich dir.“ In seiner Verbohrtheit dachte er nicht daran, daß Fong ihm sogar das Leben geschenkt hatte. Nakamura war viel zu sehr auf Vergeltung aus, um auch nur einen Moment einzuräumen, daß Fong und seine Freunde sich edelmütig verhalten hatten. Aber selbst wenn er ihnen ihr Verhalten hoch angerechnet hätte - da waren immer noch die Reichtümer im Rumpf der „Isabella“. Nakamura war ihnen schon so nahe gewesen, und gerade das hinderte ihn, aufzugeben und sich über die Berge nördlich der. Ebene hinweg in eine Gegend zurückzuziehen, in der er ungestört leben konnte. Nein. Nakamura hielt an seinem Plan fest. Er wollte die Seewölfe töten und ihre Schätze an sich reißen. Er hatte ein Gehölz umrundet und ließ von seinen Überlegungen ab, als er zwischen Büschen und Bäumen jenseits der Waldgrenze ein Gebäude entdeckte. Beim Näherreiten stellte der Japaner fest, daß es sich um einen kleinen Hof handelte. Nicht das Haus eines Tuhao oder Liäschen, also eines ehrenwerten und wohlhabenden Bürgers, aber besser als gar nichts. Natürlich brauchte er nicht zu hoffen, ein anderes Pferd zu finden, arme Leute besaßen keine Pferde. Aber wenigstens Nahrung und Kleidung wollte er sich beschaffen. Als er wenig später vor dem Gehöft vom Rücken des Pferdes rutschte, trat ein Mann aus dem Haus. Dieser Mann trug eine geflochtene Tellermütze und einen fadenscheinigen Schilfmattenumhang, der schon mehr eine symbolische als eine wirklich nützliche Bedeutung zu haben schien. Begeistert blickte der Bauer seinen Besucher nicht an. Er zeigte sogar offenes Mißtrauen. Langsam schritt er auf Nakamura zu und sagte: „Wer bist du? Was willst du hier? Sieh zu, daß du verschwindest.“ Eigentlich sprach man so nicht zu einem Mann, der sich den Luxus eines Pferdes leisten konnte. Aber Nakamura sah so
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abgerissen aus, daß der Bauer selbstverständlich sofort annahm, der Vierbeiner sei gestohlen. Womit er ja auch recht hatte. Der Japaner führte das Pferd wortlos auf eine Futterkrippe zu, die zweifellos für die Fütterung von Büffeln bestimmt war. Nakamura sah von Anfang ein, daß es keinen Zweck hatte, dem Bauern etwas vorzugaukeln. Nur in seinen Verkleidungen als Tuhao und als LamaMönch hatte er das tun können. Einem halbnackten, lädierten Mann kaufte auch der Einfältigste keine Märchen ab. Nakamura sagte deshalb: „Hör zu, ich bin nicht erschienen, um dich um Almosen zu bitten. Wenn du mich bewirtest, zahle ich gut dafür.“ Der Bauer horchte auf. „So? Wo hast du denn dein Geld?“ „Komm her, ich zeige es dir“, erwiderte Nakamura. „Ich gebe dir einen Vorschuß, du gieriger Halunke.“ Der Bauer trat näher, und der Japaner wägte blitzschnell seine Möglichkeiten ab. Das Beste wäre gewesen, er hätte das Gehöft ganz gemieden, so wie den Fährmann. Aber die Situation ließ es nicht zu. Und die Dunkelheit abwarten, um heimlich das Notwendige zu stehlen, konnte er auch nicht. Das Risiko mußte er also eingehen. In nicht allzu ferner Zukunft würden Soldaten an dem Gehöft halten und seine Spur aufnehmen. Er hatte keine andere Wahl. Nakamura tat so, als klaube er etwas hinter seinem Gurt hervor. Sobald der Bauer jedoch dicht genug heran war, ballte er die Hand und stieß sie ihm ins Gesicht. Der Bauer prallte zurück. Er stürzte und gab einen wimmernden Schmerzenslaut von sich. Nakamura stand unbeweglich, während das Pferd Reisstroh und Heu zwischen den Zähnen zermalmte. Kalt blickte er auf den Liegenden und sagte: „Du wirst alles tun, was ich dir befehle. Dann geschieht dir nichts. Hüte dich, Dummheiten zu begehen.“ Der Bauer wollte auf diese Ermahnungen nicht eingehen. Er hatte sich bislang noch von keinem Menschen bedrohen lassen,
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ohne sich zu wehren. Plötzlich rappelte er sich auf, stieß einen Fluch aus und lief auf das Haus zu. Nakamura setzte sich ebenfalls in Bewegung. Er war ein guter Läufer —im Gegensatz zu vielen anderen Freibeutern des Gelben Meeres — und hatte den Bauern eingeholt, als dieser gerade die Tür des Hauses erreicht hatte. Sie prallten mit den Schultern zusammen. Die Wucht beförderte den Bauern nach rechts, er geriet mit dem Türrahmen ins Gehege und strauchelte. Nakamura indes stürzte ins Innere des Baus. Im Halbdunkel wirbelte er herum. Sein huschender Blick verharrte auf einem Gegenstand, der mit Hilfe von zwei Nägeln an der Wand befestigt war. Ein Messer — etwas gekrümmt, schartig, mattschimmernd und unbestimmbaren Alters. Nakamura glitt auf die Wand zu, riß das Messer von den Nägeln und war wieder im Freien, bevor der Bauer sich in Sicherheit bringen konnte. „Du Narr“, stieß der Japaner aus. Dann zuckte das Messer nieder. Es war zwar nicht mit Sorgfalt gewetzt, aber immer noch spitz und scharf genug, um dem Dasein des Bauern ein jähes Ende zu bereiten. Ein erstickter Ruf wehte über die Ebene. Die Frau und die Söhne des Bauern arbeiteten auf den Reisfeldern, zu weit entfernt, um den Laut zu vernehmen. Das war ihr Glück, denn Nakamura hätte nicht gezögert, auch sie zu töten, falls sie ihm in die Quere geraten wären. 6. Der Saal, in dem das Festessen zu Ehren der Seewölfe stattfand, war genauso groß wie der Thronsaal des Gu-gong. In dem gesamten Kaiserpalast schien es nicht einen einzigen Raum zu geben, der kleiner war als die doppelte Fläche des ganzen Oberdecks der „Isabella“. Carberry war es immer noch unbehaglich zumute. Er fühlte sich hier total fehl am Platz. Außerdem hatte er den Seewolf immer noch nicht' wegen der Badehäuser
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befragen können. Und jetzt schwebte noch eine Frage geradezu drohend im Raum: Was setzte der Große Chan ihnen vor? Eins war sicher. Mit dem, was der Kutscher in der Kombüse der „Isabella“ zu produzieren pflegte, hatte die chinesische Küche ganz und gar nichts zu tun. Offenbar mit allem anderen, was der Profos während seiner Fahrten verzehrt hatte, auch nicht. Carberry sah nicht glücklich aus. Matt Davies, Bob Grey, Smoky und ein paar andere ebenfalls nicht. Der Rest der Crew verließ sich auf die Versicherungen Hasards und des Kutschers, die Chinesen verstünden sich großartig auf die Zubereitung leckerer Speisen. Siri-Tong, Fong-Ch'ang und Ch'ing-chao Li-Hsia enthielten sich aller vorbereitender Kommentare. Sie wollten ganz einfach die Reaktion der Männer der „Isabella“ sehen. Die Korsarin lächelte, als sie Carberrys verdrossene Miene bemerkte. Der Profos schaute zu ihr hinüber, wurde ein wenig verlegen und räusperte sich. Hölle, er wäre doch besser an Bord der Gallone geblieben. Er beneidete in diesem Augenblick Ferris und die anderen sieben. Die hatten es gut. Aber dann dachte Ed wieder an das, was ihn in den Badehäusern von Peiping erwartete. Er grinste vergnügt. „Na endlich“, sagte der Seewolf über den langen, breiten Tisch hinweg. „Bemüh dich, auch weiterhin eine freundliche Miene zu schneiden, Ed. Du beleidigst unsere Gastgeber sonst.“ „Wer, ich?“ Carberry blickte zu Wan Li, der am Kopf der Tafel saß und allen freundlich zulächelte. Er sah die Minister Yang Tingh-ho und Chang-Küching, die Mandarine und die geistlichen Würdenträger der Reihe nach an und fragte sich, was. wohl hinter ihren permanent wohlwollenden Gesichtern vorging. Hung-wan saß auch mit ihnen an der Festtafel, und zwar dem Profos schräg gegenüber. Carberry fixierte ihn, räusperte sich wieder, weil ihm irgendetwas
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Undefinierbares in der Kehle saß, und sagte: „Noch ein Gedicht auf Lager?“ Hung-wan musterte ihn aufmerksam, aber verständnislos. Siri-Tong lachte silberhell auf, übersetzte Carberrys Worte, und über die Züge des alten Chronisten glitt ein Aufleuchten. Er sprach von nun an fast pausenlos auf den Profos ein. „Jetzt sag noch einer, ich tue nichts für die Verständigung“, brummelte Carberry. Er scherte sich den Teufel um Ben Brightons, Shanes und Smokys belustigte Mienen. Er schaute nur hin und wieder zum Seewolf und sagte sich: Mach gute Miene zu diesem Spiel, und die Sache mit dem Badehaus klappt. Sie saßen auf niedrigen Gestühlen und genossen die Frische, die ein halbes Dutzend Diener ihnen mit Wedeln zufächelte. Diese Fächer waren aus feinstem und doch erstaunlich kräftigen Papier gearbeitet, und man konnte sie zusammenklappen. Andere Diener - mindestens zwei Dutzend, wie Hasard zählte - trugen die Speisen auf. Die ersten Gänge waren Frühlingsrollen und süßsaure Suppen, begleitet von Reiswein und Ginsengwein. Ben Brighton beugte sich etwas vor und schnupperte vorsichtig. „Also, die Düfte lasse ich mir gefallen“, sagte er. „Aber wie ißt man hier? Mit den Fingern?“ „Du mußt die Stäbchen benutzen“, erwiderte Hasard. Er hatte die hölzernen Hilfswerkzeuge neben seinem Gedeck gefunden und hielt sie hoch. „Nur keine falsche Scheu, Männer. Guten Hunger, legt los.“ Das war leichter gesagt als getan. Wan Li und sein Hofstaat nickten zwar höflich und begannen zu essen, um auch die Gäste dazu zu animieren. Aber keiner der Seewölfe, von Ben Brighton über Carberry bis zu Dan O'Flynn junior, brachte es fertig, mit den verdammten Stäbchen von den Frühlingsrollen zu kosten - geschweige denn, auch nur einen Tropfen Suppe in den Mund zu befördern, Schließlich wurden jedoch kleine, längliche, kellenartige Löffel aus Porzellan
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gebracht. Sie trugen blaßblaue Muster und sahen sehr neckisch aus. Carberry löffelte damit seine Suppe. Sie schmeckte ihm eigentlich nicht schlecht. „Na bitte“, sagte er, als das Schälchen leer war. „Damit wäre das Problem gelöst. Ich eß mich an der Suppe satt. Kann ich vielleicht noch einen Schlag davon haben?“ Er sah Siri-Tong an, aber die schüttelte kaum merklich den Kopf. „Unmöglich, Ed. Sie müssen sich schon an die Tradition halten. Viele Gänge, viele kleine Gerichte. Die Suppe war übrigens der zweite Gang. Hier, ich führe Ihnen vor, wie man die Frühlingsrolle verspeist.“ „Mir bitte auch“, sagte Hasard. „Sonst lerne ich's nie.“ Siri-Tong zerlegte die Frühlingsrolle aus dünnem, gesalzenem Teig mit Geschick und befaßte sich dann mit dem Inhalt: Fleischkrümel, junge Bambussprößlinge, Sojabohnenkeime und ähnliches Gemüse, das keiner der Seewölfe kannte. Später gab es Fleisch mit roter Soße auf gebratenem Reis, Reissuppe und Pekingente und unzählige andere Kleinigkeiten. Siri-Tong war. eine geduldige Lehrmeisterin, sie machte immer wieder vor, wie man die Eßstäbchen handhabte. Auch Fong-Ch'ang und Flüssiges Licht beteiligten sich fleißig an der Unterrichtsstunde. Das Mädchen setzte den Männern auf portugiesisch auseinander, was das Geheimnis der dünnen Stäbchen war. „Ihr müßt die Stäbchen so zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand nehmen, daß sie eine Art Pinzette bilden“; sagte sie. „Die Hauptsache ist, daß die vorderen Enden der Stäbchen genau aufeinanderliegen. Am besten stellt ihr sie beim Ergreifen senkrecht auf den Tisch, dann wird es schon gehen.“ „Es funktioniert'', meldete der Kutscher stolz. Mit der Stäbchenpinzette führten auch Matt, Jeff, Bob und Dan die Hühnerfleischstückchen ihres Gerichtes
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tadellos von der Schale in den Mund. Dan verkürzte allerdings den Weg, in dem er sich tief über die Schale beugte. Aber sollte er auch die einzelnen Reiskörnchen so Mühsam zum Mund befördern? Flüssiges Licht lächelte. „Das geht viel einfacher. Sieh her!“ Sie hob ihre Schale mit Reissuppe an den Mund, sog die Suppe ein und schob die Reiskörner mit dem Doppelstäbchen nach. Im Nu war die Schale leer. „So kann ich das auch“, meinte Dan. Und so konnten es alle. Allmählich fanden die Männer Gefallen an dem Festmahl. Kritisch wurde es etwas später, als Froschschenkel auf Reis aufgetragen wurden. Carberry verkniff sich einen Kraftausdruck, Shane ein deftiges „Pfui Teufel“. Sie waren beide froh, noch mit ihrem Hühnerfleisch zu tun zu haben und so keine Bekanntschaft mit den Schenkeln glitschiger Teichhüpfer zu schließen. Siri-Tong hatte erklärt, um was es sich da handele, aber als jetzt ein dampfendes Ragout von den Dienern serviert wurde, sagte sie kein Wort. Carberry blickte zu Hung-Wan hinüber. „Was ist das für ein Zeug, Labskaus etwa? Ach, du verstehst mich ja nicht.“ Er wollte sich an Ch'ing-chao Li-Hsia wenden. Aber Fong hatte dem Profos die Frage vom Gesicht abgelesen. Freimütig sagte er deshalb zu dem Mädchen: „Erkläre dem Zuchtmeister bitte, daß er ein vorzügliches Schlangenragout vor sich hat. Das muß auch in seinem Heimatland eine Delikatesse sein.“ „Wirklich?“ fragte Flüssiges Licht zweifelnd zurück. „Bestimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie eine solche Kost verachten. Im Gegenteil.“ „Sie haben andere Sitten, Fong.“ „Bitte, Ch'ing-chao, sage es ihm. Und weise ihn auch gleich darauf hin, daß als nächstes die gebackenen Schwalbennester und die Hundert-Tage-Eier serviert werden.“
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Das Mädchen übersetzte es. Richtig sicher war sie ihrer Sache nicht, aber sie setzte großes Vertrauen in Fong. Diesmal schien der kluge Mann sich aber tatsächlich getäuscht zu haben. Carberry hatte mit einemmal eine seltsam kalkige Gesichtsfarbe. Er räusperte sich noch einmal, und zwar ziemlich vernehmlich. Er hatte 'plötzlich das Gefühl, ein Frosch und eine Schlange wühlten gemeinsam sein Innenleben, auf. Verzweifelt wandte er sich an Dan. „Hab ich richtig gehört? He, du kannst doch besser portugiesisch als ich.“ „Schlangenragout, Schwalbennester und hundert Tage alte Eier“, erwiderte Dan schleppend. „Und ich glaube nicht, daß Flüssiges Licht beim Dolmetschen einen Fehler begangen hat. Wäre ja das erste Mal.“ „Kapitän“, sagte Carberry. Es klang erstickt. „Sir!“ Hasard sah ihn erstaunt an. Es war schon lange her, daß Carberry ihn so förmlich angesprochen hatte. „Darf man hier mal — austreten? Oder hauen sie einem deswegen den Kopf ab?“ Ein flehender Ausdruck lag in Carberrys Blick, er schien es nicht mehr aushalten zu können. „Geh nur, Ed“, antwortete der Seewolf. „Aber vergiß das Zurückkommen nicht, ja?“ „Aye, Sir.“ Carberry stand auf und verließ mit gezügelter Eile den Saal. Im Nebenraum, der ebenfalls ein Saal war, beschleunigte er seinen Schritt. Endlich trat er auf eine Terrasse hinaus, die in die Zaubergärten hinunterführte, blieb an der niedrigen Umrandung stehen und atmete ein paarmal tief durch. „Schlangen, Schwalbennester und faule Eier“, murmelte er. „Nee, also nee.“ Etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit, und das unangenehm knetende Gefühl in seiner Magengegend ließ sofort nach, obwohl auch diese Entdeckung nicht gerade zu den erbaulichsten gehörte, die der Profos in seinem Leben gemacht hatte.
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Am Rand der Terrasse stand fast versteckt eine Art großer Blumenvase. Carberry trat darauf zu, aber er blieb stehen, als er die kleinen Tiere sah, die rund um das Gefäß hockten und auf etwas zu warten schienen. „Frösche”, knurrte er. „Du lieber Himmel!“ Frösche schienen in China eine große Bedeutung zu haben. Carberry schüttelte sich schon wieder. Dann stellte er aber fest, daß die Zeitgenossen nicht echt, sondern aus dem gleichen Material, wie die brusthohe Vase gefertigt waren. Ob das nun Ton oder Porzellan, war, Wußte er. aber nicht. Schließlich war .er ein Profos und kein Töpfer. Vase und Frösche - acht an der Zahl waren dunkelbraun bis rötlichbraun gefärbt. Das große Gefäß hatte eine schnörklige Verzierung aus Drachenleibern, die sich von -oben nach unten wanden. Die Schädel dieser Kreaturen waren zu den Fröschen hin ausgerichtet. Die Drachen hielten kleine Kugeln zwischen den Zähnen. Dies und die Tatsache, daß die vermeintliche Vase oben geschlossen und nicht offen war, veranlaßte Edwin Carberry zu einem neuen Ausspruch. „O verdammt!“ Er rieb sich das Rammkinn und sann nach, gelangte aber zu keinem Schluß. Langsam kehrte er in den Eßsaal zurück. Sein Blick tastete die Tafel ab, aber er konnte von den unerfreulichen Speisen nichts mehr entdecken. Nur der Hauch eines gemeinen Geruchs hing noch in der Luft, er mußte von den Hundert-TageEiern stammen. Carberry ließ sich auf einem Platz nieder. Sein Grinsen war schadenfroh. „Na, wie waren die Eier?“ fragte er Dan O'Flynn. „Weiß ich nicht“, erwiderte Dan. „Wir haben sie gar nicht probiert. Der Große Chan hat gesagt, was uns nicht schmeckt, das sollen wir einfach liegen lassen. Er könnte sich schon gut vorstellen, daß man bei uns anders ißt.“
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Der Profos beschloß, darauf nun nicht mehr einzugehen. Er wollte sich nicht lächerlich machen. Nur einige Zeit später, 'bei der Nachspeise - gebackenen Früchten mit Honig -, sprach er das Mädchen Ch'ing-chao Li-Hsia an. Er hatte Mühe, die richtigen portugiesischen Ausdrücke zu finden, aber Flüssiges Licht verstand ihn. „Draußen auf der Terrasse steht ein merkwürdiger Topf“, sagte Ed. „Er hat keine Öffnung und keinen Deckel. Was ist das für ein Ding?“ Das Mädchen mußte erst Fong fragen, aber der hatte euch keine Ahnung, um was es sich handeln konnte. Fong wandte sich deshalb an den Minister Yang Tingh-ho. Dieser antwortete leise und lächelnd, und Flüssiges Licht setzte es dem Profos auseinander. „Es ist weder ein Topf noch eine Vase, sondern ein Melder.“' „Ein was?“ „Ein Melder“, sagte nun auch Dan O'Flynn. „Aber wofür denn?“ stieß Carberry verdutzt aus. Es gelang ihm nicht, es herauszufinden. Immer wieder mußte er an die acht Drachen denken, die sich den „Melder“ herabwanden, und an die acht auf dem Boden der Terrasse hockenden Frösche mit den offenen Mäulern. Was hatte diese eigentümliche Vorrichtung zu bedeuten, was meldete sie, wie funktionierte sie? Der Große Chan hatte ein richtiges Programm für seine Besucher zusammengestellt. Ursprünglich hatte der Seewolf rasch wieder aufbrechen wollen, um Ferris und die anderen nicht zu lange mit der „Isabella“ allein zu lassen., „Aber ich sehe ein, daß wir den Kaiser nicht vor den Kopf stoßen dürfen“, sagte er nach dem Essen zu Siri-Tong. „Wenn ich jetzt zur Eile dränge, nimmt er es mir bestimmt übel.“ „Das wohl nicht gerade, aber ein bißchen gekränkt würde er schon sein“, erwiderte die Korsarin. „Und dann bedenke doch, daß vor dir erst ein einziger Europäer von einem Chan dermaßen geehrt worden ist.“
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„Marco Polo…“ „Hung-wan hat gesagt, diese Tage in Peking würden in die Geschichte eingehen.“ „Übrigens, wie geht es ihm?“ erkundigte sich Hasard, während sie mit den anderen aus dem Palast auf den großen, mosaikgepflasterten Platz traten. Siri-Tong senkte die Stimme. „Anscheinend ausgezeichnet, aber ich weiß. nicht, was die Ärzte bei ihm festgestellt haben.“ „Der Kutscher hat mit ihnen gesprochen. Ich frage ihn nachher“, sagte der Seewolf. Wan Li blieb stehen, drehte sich zu Hasard und seinen Männern um und breitete gönnerhaft die Arme aus. Er gab mit feiner, singender Stimme eine Erklärung ab. Siri-Tong übersetzte. „Wir können uns jetzt entscheiden, ob wir die Verbotene Stadt besichtigen oder, mit ihm einen Ausflug in die nähere Umgebung unternehmen wollen - bis zur Großen Mauer.“ „Die Mauer“, versetzte der Seewolf fasziniert. „Ja, die würde mich brennend interessieren.“ Carberry war neben seinen. Kapitän getreten. „Sir, ich will nicht, ehm, unhöflich sein Und ...“ „'raus mit der Sprache, Ed, was hast du auf dem Herzen?“ „Die Jungs und ich - wir würden die Stadtbesichtigung - ehm, vorziehen.“ „In Ordnung“, entgegnete der Seewolf. „Dann trennen wir uns eben. Bilden wir für den Nachmittag zwei Gruppen. Mal sehen, ob Wan Li damit einverstanden ist.“ Er war es. Und so ergab es sich, daß Hasard, Siri-Tong, Ben Brighton, Big Old Shane, Fong-Ch'an, Ch'ing-chao Li-Hsia, Hung-wan samt dem Herrscher und einiger Gefolgschaft zur nordwestlichen Stadtgrenze hin aufbrachen. Es war eine bequeme Art der Fortbewegung, denn sie wurden alle von Dienern in Sänften getragen. Ein Diener mit einem schwelenden Weihrauchkessel schritt dem Zug voran.
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Die Minister Yang Tingh-ho und ChangKuching betreuten auf Wan Lis Geheiß hin die zweite Gruppe. Carberry, der Kutscher, Smoky, Blacky, Pete Ballie, Matt Davies, Conroy, Dan O'Flynn, Jeff Bowie, Bob Grey und Luke Morgan - sie zogen los, um den vielgepriesenen Zauber des Reichs der Mitte in seiner süßesten Variante kennenzulernen. Das Tor des himmlischen Friedens entließ sie in den nicht verbotenen Teil der Stadt. Für die Paläste und Tempel und die niedrigen Wohnhäuser, an denen sie vorbei schritten, hatte aber höchstens der Kutscher Augen. Die anderen rieben sich vor lauter Vorfreude die Hände und lauschten dem, was der Profos über die berüchtigten Badehäuser zu erzählen hatte. Sie brachten die „Brunnen-der-PrinzlichenResidenzen“-Straße hinter sich, dann führten die Minister sie in das „Schöne und Duftende Badehaus“. Carberry hatte vorher schon erklärt, was er vor allen Dingen besichtigen wolle, aber natürlich hatte er sich weder Siri-Tongs noch des Mädchens als Dolmetscher bedienen können, das war ihm zu peinlich, verdammt noch mal. Wie gut, daß sich mittlerweile ein kleiner Mann zu ihnen gesellt hatte, der Tscha hieß und als Hof gelehrter zu Wan Lis engstem Vertrautenkreis zählte. Tscha beherrschte die portugiesische Sprache ganz gut, und -Donnerwetter - er konnte auch ein paar spanische Brocken. Eine schmale Holztür führte in das Badehaus. Innen herrschte Halbdunkel, und es duftete nach Kräutern, flüssiger Seife und zweifellos wohltuenden Essenzen. Ed Carberry blieb stehen, drehte sich um und blickte zu den anderen. Ihre Mienen waren gleichsam verzückt. Carberry zwinkerte Yang Tingh-ho, Chang-Kuching und Tscha zu, grinste und sagte: „Bueno. Ganz ausgezeichnet, Wo geht's jetzt weiter?“ „Adelante“, erwiderte Tscha lächelnd. „Vorwärts.“ In einem kleinen Raum nahmen zwei Mädchen und zwei junge Männer die
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Ankömmlinge in Empfang. Sie schwenkten Tücher und bedeuteten ihnen, sich zu entblättern. Ein Mädchen schob sich auf den Profos zu, blickte ihn von oben bis unten an und tuschelte etwas, das so ähnlich klang wie: „Kla ta lll, oh he ho häh?“ „In Ordnung, mein Engelchen, dann laß uns mal abschieben“, sagte Ed und betrachtete sie genauso ungeniert. Tscha sagte: „Sie möchten wissen, ob Ihr Eure Badesandalen mitgebracht habt oder ob sie Euch Sandalen, Tücher und Tee vorbereiten soll.“ „Tee?“ Luke Morgan verschluckte sich fast. „Ich hör wohl nicht richtig. Schnaps muß her, oder meinetwegen auch dieser komische Reiswein oder das GinsengZeug. Wir wollen hier doch ein Faß aufreißen, Mann.“ Das verstand Tscha nicht. Er fragte Yang Tingh-ho, ob er die Worte der Gäste zu deuten wisse, aber der gab durch eine hilflose Geste zu verstehen, daß er es auch nicht könne. Chang-Kuching war ebenfalls ratlos, er schaute von Mann zu Mann und dann zu den netten Mädchen und äußerte: „Reich da dlea maia baia a.“ „Moment mal“, sagte Matt Davies unwillig. „Was läuft denn hier? Die beiden Hübschen da, Ed, sind das die einzigen Ladys, die sie hier zu bieten haben? Das .ist aber ein schwaches Bild, finde ich.“ Das zweite Mädchen wies auf seine Hakenhand und wisperte: „Loo! Tsi tse ka!“ „Ed“, sagte Dan ziemlich gepreßt. „Wollen wir jetzt mal einen Blick in das eigentliche Etablissement werfen, ja? Du hast doch gesagt, hier geht alles wild durcheinander, drunter und drüber, Männlein und Weiblein kunterbunt zusammen.“ „Genau“, meinte der Profos, aber so überzeugt klang das jetzt nicht mehr. Tscha schien etwas begriffen zu haben. Er sprach zu den beiden jungen Männern und den Mädchen, und die Seewölfe wurden mit vielen Gesten und Geschnatter in das chinesische Bad geführt. Das war eine saubere Halle mit etwa siebzig Badenden - jawohl, Männer und
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Frauen, alle splitterfasernackt. Carberry wollte schon triumphieren und das eine Mädchen an sich reißen, da zeigte Tscha ihnen Holzpritschen vor den dampfenden Becken, und die Diener trugen Tücher und Sandalen herbei und stellten einen Tisch auf, auf dem sie eine Teekanne und winzige Trinkschälchen zueinander räumten. Verblüfft schauten die Männer sich um. . Die Badegäste schauten sie amüsiert an. Es passierte schließlich nicht alle Tage, daß eine Horde Fremder hier dem Wunsch nachging, sich einer ausgiebigen Säuberung zu unterziehen. Grobe Burschen waren das, die da ziemlich ratlos an den Becken auf und ab wanderten, und zumindest zwei von ihnen schienen Geister zu sein, denn sie hatten geschliffene Haken statt der rechten beziehungsweise linken Hand. Carberry wandte sich an Tscha, seine Stimme klang heiser. „Wohin führen die Flure da drüben?“ „Zu den Räumen fürs Haare schneiden, für die Fußpflege, für die Massage. Während ihr badet und ruht, könnt Ihr in einem anderen Zimmer auch Eure Wäsche waschen.“ „He?“ „Versteht Ihr mich nicht?“ „Doch, ganz gut“, würgte Ed vor. „Es gibt drei Bäder, Ihr könnt Euch eins aussuchen“, fuhr Tscha sichtlich zufrieden fort. „Warm, heiß oder sehr heiß.“ Carberry und die anderen sahen Dampf, viel Dampf, hitzegerötete Körper und Seifenlauge und Schaum: Das alles behagte ihnen plötzlich gar nicht mehr. „Geht nicht in ,Sehr heiß' „, fuhr Tscha fort. „Das ist nur für uns Einheimische verträglich.“ Der Kutscher, der als einziger nicht so enttäuscht wirkte, trat an das sehr heiße Becken und tunkte vorsichtig seine Zehen hinein. Nur eine Sekunde hielt es sein Fuß in dem siedenden Bad aus. Er zog ihn wieder zurück und drehte sich 'zu den Kameraden um. „Stimmt. Versuchen wir es lieber mit dem warmen Becken.“
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„Ich dreh dir gleich den Hals um“, drohte Pete Ballie. Carberry wollte dem Kutscher ankündigen, er werde ihm die Haut in Streifen und so weiter, aber dann besann er sich auf seine Rolle als Wahrer der allgemeinen Disziplin. Einen Rückzieher konnten sie jetzt nicht mehr machen, damit blamierten sie sich nur. Und was der Profos anordnete, das mußte befolgt werden. „Marsch!“ befahl er. „Alle Mann in das warme Becken. Wollt ihr wohl spuren, ihr blinden Kakerlaken? Ihr stinkt ja schon, so lange habt ihr nicht mehr richtig gebadet. Mister Davies, wenn du dich nicht augenblicklich in Trab setzt, schmeiß ich dich eigenhändig in die Brühe 'rein.“ Also stiegen sie unter größter Selbstüberwindung in das Becken. Männer und Frauen umgaben sie, trugen ein Lächeln des Wohlseins und der Zufriedenheit auf den Gesichtern, und es ging alles sehr geordnet und sittsam zu. Allerdings - wenn die Blicke der Kameraden hätten töten können, hätte Edwin Carberry in diesem Augenblick durchlöchert ins Wasser sinken müssen. 7. Vom. Stadtrand aus sahen Hasard und seine Begleiter in einiger Entfernung das T'ai-hang-Gebirge im Westen und das YinGebirge im Norden liegen. Erstaunlich rasch trugen die Diener die Sänften voran, und schon bald erhob sich vor der Gruppe das, was Wan Li seinen Gästen als ein „ländliches Paradies“ erläuterte. Der Sommerpalast des Herrschers und andere Paläste lagen in einem großen Park an den Ufern des K'unming-Sees, und hinter diesem Panorama erhob sich als Kulisse das sanfte Auf und Ab der Hügel, ein Bild vollkommener Harmonie. Wohlgeformte Bogen spannten sich über den See - die „Jadegürtel-Brücke“ und die „Siebzehn-Bogen-Brücke“. Farbige Boote glitten auf dem Wasser zwischen Lotosblüten dahin, und von dem sogenannten „Jadefrühlings-Hügel“ ragte
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eine lange spitze Pagode auf, der „Palast, der in die Wolken sticht“. Hier verließen sie die Sänften und stiegen auf fix und fertig gesattelte Pferde um, die von einer ganzen Schar Dienern und Knechten des Sommerpalastes für die Weiterreise vorbereitet worden waren. SiriTong und Ch'ing-chao Li-Hsia erhielten je einen Zelter. Zum „Berg der Wohlgerüche“ und zum „Tempel des liegenden Buddha“ unternahmen sie nur einen kurzen .Abstecher. Im Verlauf der nächsten Stunden erreichten sie die Heilige Straße, die in das Yin-Gebirge hinaufführte und sie die Gräber der vergangenen Herrscher der Ming-Dynastie passieren ließ. Die Straße selbst wurde von Statuen aus kunst-. voll behauenem Stein gesäumt. Die Standbilder zeigten teils Tiere chinesischer Mythen, teils die Gestalten und Gesichter der Großen, die vor Wan Li die Herrschaft über das gewaltige Reich gehabt hatten. Dies alles war faszinierend, aber richtig überwältigt war Hasard erst, als sie nach einem zügigen Ritt oben in den Bergen die Große Mauer erreichten. Dieses scheinbar unendliche Band, das sich wie ein Lindwurm über die Hänge und Gipfel wand, dieser Wunschtraum jedes Staatsführers, der sein Land gegen Eindringlinge jeder Art und Gesinnung abschirmen wollte - er schien durch Magie errichtet worden zu -sein, denn es war kaum denkbar, daß Menschenhand etwas Derartiges vollbrachte. Als sie aber von den Pferden absaßen und auf den breiten Weg zwischen den Zinnen hinaufstiegen, gewann der Seewolf eine nüchternere Art, das Bauwerk zu sehen. Schließlich wußte er ja seit Siri-Tongs Prozeß in Shanghai, daß Verurteilte nicht selten zum Bau an der Großen Mauer verdonnert wurden. Ihre Fronarbeit glich einer Verbannung. Wan Li schritt an Soldaten vorbei, die sich untertänigst vor ihm auf die Steine warfen. Er geleitete seine Besucher über eine wuchtige Treppe bis auf die Plattform eines Turmes, und auch hier zeigten die
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Wachtposten ihre Achtung und Demut durch den Kotau. Der Turm stand wie ein Riesenklotz in der Landschaft. Von hier aus hatte man einen großartigen Ausblick. Hasard, Siri-Tong und die anderen hätten fast Peking sehen können, wenn die Ebene zu dieser Stunde nicht von einer Art orangefarbenem Teppich überzogen gewesen wäre. Hung-wan wies auf dieses Phänomen und redete ziemlich aufgeregt auf die Rote Korsarin ein. „Von Norden wehen starke Winde“, übersetzte sie ins Englische. „Sie tragen den Staub der Mongolei heran. LößPartikel legen zumeist gegen Abend ihren Schleier über die Stadt und die Ebene, und es sieht so aus, als betrachte man Peiping durch ein gelbes Fernrohr.“ Wan Li war dicht neben den Seewolf getreten und hatte den Worten seines alten Chronisten gelauscht. Jetzt nickte er, hatte dann aber noch einiges hinzuzufügen. „Vierhundert Li liegt. die Innere Mongolei von hier entfernt“, ließ er Siri-Tong an die Seewölfe weitergeben. „Und 1800 die Äußere Mongolei. Die Mauer ist die Grenze zwischen weitem Grasland und bebauten Feldern in der Ebene und der öden Wildnis der Berge. Vor über zweitausend Jahren wurde mit dem Bau begonnen, und bis heute hat das chinesische Volk nicht die Geduld verloren, Stein auf Stein zu setzen. Dies ist das Sinnbild für unsere Wesensart.“ Hasard hörte schweigend zu. Er sah über die steinernen Windungen der Mauer, der Zinnen, die wie Drachenzähne anmuteten. hinweg und dachte: Ja, wirklich, ein Volk, das fast fünftausend Meilen Mauer errichten kann, hat mehr Geduld, als man bei uns zu 1-lause ahnt. Daraus konnte man lernen. * Nakamura hatte das Pferd ausgiebig fressen und ruhen lassen. Er hatte die Kaltblütigkeit aufgebracht, solange auf dem Bauernhof zu bleiben und sich selbst den Magen vollzuschlagen. Daß er den
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Bauern getötet hatte, bereitete ihm nicht die geringsten Gewissensqualen. Dem Japaner bedeutete ein Menschenleben hier so wenig wie auf See, wo immer wieder die blutigsten Schlachten zwischen .Piraten und den Mannschaften von Frachtseglern oder Kriegsschiffen stattfanden. Erst wenn der Tod nach ihm griff, würde es ihn berühren. In grobe Kleidung gehüllt und mit dem Morddolch und einem kurzen Schwert bewaffnet, brach Nakamura wieder auf. Am Abend erreichte er eine kleine Siedlung an der Küste südlich von Bencheng. Er hatte einen großen Bogen geschlagen und war kaum einem Menschen begegnet, vor allen Dingen keinen Soldaten mehr. Verfolger hatte er zur Zeit nicht auf den Fersen, soviel war sicher. Diese Gewißheit verlieh ihm wieder einen Teil der alten Überheblichkeit. Geld hatte Nakamura in dem Haus des Bauern nicht gefunden. Aber in dem Nest an der Küste verkaufte er kurzerhand das Pferd an einen Mann, der es gewohnt war, keine überflüssigen Fragen zu stellen. Anschließend suchte der Japaner eine Kneipe auf, die direkt vor den hölzernen Piers stand, deren erbärmlichem Aussehen die Bewohner des Nests den hochtrabenden Namen „Hafen“ gegeben hatten. Ein paar halblaut mit dem Wirt gewechselte Laute, ein paar ungeprägte Münzen, die den Besitzer wechselten, und Nakamura hatte ein Quartier für die Nacht. Bevor er über eine altersschwache Holztreppe in das obere Stockwerk stieg, ließ er sich jedoch an einem Ecktisch nieder und bestellte zu essen und zu trinken. Die Kneipe war ein Sammelplatz abenteuerlicher und verschlagener Erscheinungen verschiedenster Herkunft. Der niedrige Schankraum füllte sich mit zunehmender Dunkelheit immer mehr, und Nakamura beobachtete unausgesetzt, um ein Bild von der Lage zu gewinnen. Soldaten tauchten zum Glück nicht auf. Nakamura schlang sein Reisfleisch in sich
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hinein, trank Reiswein und überschlug, welche Möglichkeiten sich ihm boten. Natürlich befanden sich unter den Besuchern der Kaschemme Piraten und Strandräuber - sie hatten sich nur entsprechend verkleidet und sich so vortrefflich unter die unbescholtenen Seeleute und Dorfbewohner gemischt, daß sie rein äußerlich von diesen nicht zu unterscheiden waren. Nakamura vermochte sie nur zu entlarven, weil er das eine oder andere Gesicht kannte. Diesen Galgenvögeln war er auf hoher See, auf Zhangzidao oder anderswo begegnet, doch er stellte zu seiner Beruhigung fest, daß sie ihn nicht erkannten. Sein Wissen behielt er vorläufig für sich. Kerle wie diese lungerten oft in den großen und kleinen Häfen der chinesischen Küste herum, um etwas auszukundschaften. Die einen arbeiteten als gewohnheitsmäßige Spitzel, die anderen wurden gezielt eingeschleust, wenn es galt, einem Tip nachzugehen, den Seeräuber irgendwo aufgeschnappt hatten. Nakamura hatte genau darauf spekuliert. Er hatte sich nicht ins Binnenland zurückgezogen, sondern die Nähe des Meeres gesucht, weil er nach wie vor die fanatische Idee verfolgte, den Seewolf zu besiegen. Dazu brauchte er Verbündete. Viele Bundesgenossen. Vier oder fünf Kerle genügten nicht, das hatte er nach der Erfahrung mit Sui, Dschou, Lai und Tijang eingesehen. Bezüglich der drei, die er nach Peking geschickt hatte, gab er sich keinen Illusionen mehr hin. Sie mußten gescheitert sein. Von Anfang an hatte er damit gerechnet. Deshalb hatte er es zugelassen, daß Sui, Dschou und Lai aufgebrochen waren, um Khai Wang und Wu zu befreien, nur deshalb. In der Zwischenzeit hatte er sich die Schätze der „Isabella“ aneignen wollen. Fast hatte es geklappt, und er hätte danach nur mit dem Uiguren teilen zu brauchen -oder er hätte Tijang auch umgebracht.
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Es war seine Stärke, Kumpane zu überlisten und dann auszubooten. Solange er sie brauchte, spielte er ihnen Kameradschaftsgeist vor, aber die Heuchelei hörte auf, sobald er sein Ziel erreicht hatte. Wie besorgte er sich nun neue Partner? Wie packte er es am besten an? Man konnte nicht einfach zu diesen durchtriebenen Gestalten gehen, ihnen auf die Schultern klopfen und sagen, man wolle bei ihnen anheuern. Sie hätten sich vor Lachen ausgeschüttet. Erkaufen konnte er sich ihr Vertrauen auch nicht. Alles hing von seinem Geschick ab. Er saß zurückgelehnt da, schob die leere Essenschale von sich und schenkte sich das Glas erneut aus einer Karaffe mit Reiswein voll. Dabei dachte er angestrengt nach. An den Piers lagen nur Sampans vertäut, von denen keines eine wertvolle Ladung zu führen schien. Nakamura kannte sich aus. Er hatte vor dem Betreten der Spelunke einen ausgiebigen Rundgang unternommen und sich den sogenannten Hafen angeschaut. Er hatte einen Blick für Schiffe, die sich „lohnten“. Draußen auf der winzigen Reede schwojten zwei mittelgroße Dschunken an ihren Ankerketten - Gemüsedschunken. Der Teufel mochte wissen, warum sie ausgerechnet hier ankerten. Wahrscheinlich waren sie vom nördlich gelegenen Golf von Liaotung nach Tientsin unterwegs. Die Dunkelheit hatte sie überrascht, bevor sie den nächst größeren Hafen hatten anlaufen können. Die Mannschaften hatten Landgang und befanden sich nach Nakamuras Schätzungen zum Großteil in der Kaschemme. Er taxierte sie mit vorsichtigen Blicken und fand sein Urteil bestätigt. Nein. Bei denen gab es nichts zu holen. Dennoch: Die Anwesenheit so vieler Galgenstricke und Wegelagerer ließ in dem Japaner einen Verdacht aufkeimen. Was, in aller Welt, sollte hier laufen? Der Wind war immer noch ablandig und hatte zugenommen. Durch ein Fenster konnte Nakamura im Mondlicht erkennen,
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daß die Dünung zunahm und die See kabbelig wurde. Für einen raschen, von See aus geführten Handstreich war es genau das richtige Wetter. Eine Stunde später war Nakamura nahezu sicher, daß die Piraten etwas planten, das sich auf das Nest und insbesondere auf die Spelunke konzentrierte. Er ließ die Karaffe vom Wirt mit Reiswein auffüllen und begab sich die Treppe hinauf. Er betrat sein Zimmer, zündete kein Licht an und ließ die grobe Holztür spaltbreit offen. Mit der Karaffe in den Händen kauerte er sich auf eine Sitzgelegenheit, nahm hin und wieder einen Schluck Wein direkt aus dem Gefäß und wartete ab. Kurz darauf wußte er, daß er hier im Obergeschoß keineswegs allein war. In einem Nebenraum vergnügte sich ein Mann mit einem Mädchen, das zu der Sorte gehörte, die man für eine Münze und einen Krug Wein kaufen konnte. Und noch jemand hielt sich hier oben auf. Nakamura hatte ihn husten hören. Wer war dieser Mann? Ein massives, tiefes Husten war es gewesen, und es ließ Nakamura so neugierig werden, daß er sich lautlos erhob und auf den dunklen Flur hinausschlich. Schnell hatte er herausgefunden, in welchem Zimmer sich der Fremde aufhielt. Er entdeckte auch einen stockfinsteren Nebenraum, der nur. durch eine dünne Wand 'von dem Zimmer getrennt war. Mühsam tastete sich der Japaner durch den kleinen Nachbarraum. Es war ein Kunststück, kein Geräusch zu verursachen. Schließlich aber stand er vor der Wand und fand nach einigem Suchen einen Schlitz, durch den er spähen konnte. In dem Zimmer — es war durch ein Öllicht in schummrige Helligkeit getaucht— saß ein beleibter Mann in einem einfachen Ischang auf der Kante des Bettes. Ein zweiter, hagerer, mit einem Säbel und einem Dolch bewaffneter Mann hielt sich in der Nähe der Tür auf und öffnete sie hin und wieder, um auf den Flur hinauszuschauen. Nakamura konnte heilfroh sein, von diesem Burschen nicht entdeckt worden zu sein.
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Er lauschte mit angespannter Miene, was die beiden sprachen. Der Übergewichtige hatte den Akzent der Bewohner der südlichen Mandschurei; und er hätte sich auch in Sackleinen hüllen können, Nakamura hätte ihn trotzdem mühelos als Höhergestellten eingestuft. Man hörte das aus seiner Art heraus, sich auszudrücken. „Dieses Haus gefällt mir nicht“, sagte der Dicke. „Dieses lärmende, rücksichtslose Gesindel dort unten...“ „Unsere Mannschaft ist auch dabei, Herr“, sagte der Hagere. „Das ist mir egal. Ich hätte an Bord der Dschunke bleiben sollen.“ „Der Seegang wird immer heftiger. Ihr wäret wieder krank geworden.“ „Warum haben wir es nicht bis Changli geschafft?“ „Das Meer ist unberechenbar“, erwiderte der hochaufgeschossene Beschützer. „Mal reicht der Wind aus, uns in drei Tagen bis nach Tientsin hinunterzublasen, mal schläft er unterwegs ein,“ „Es war Wahnsinn, auf diese Idee zu verfallen“, sagte der Dicke kurzatmig. „Ich hätte in Shenyang bleiben sollen, daheim in meinem Kontor, statt mich zu verkleiden und an Bord einer Gemüsedschunke zu begeben.“ „Wie anders .wolltet Ihr aber Euer' Geld nach Tientsin befördern? Auf dem Landweg? Man hätte Euch überfallen. Einem Boten hättet Ihr es auch nicht anvertrauen können. Eine so hohe Summe stimmt auch einen verläßlichen Burschen wankelmütig. Damit hätte er ja für sein Leben ausgesorgt ...“ „Ich weiß, ich weiß“, unterbrach ihn der Dicke nervös. „Nun schrei .es doch nicht auch noch heraus. Ich trage das Geld auf dem Leib, und es wird mir allmählich lästig. Ich bin froh, wenn ich heil damit in Tientsin angelangt bin, wo ich die Schiffswerft kaufen will, die man mir angeboten hat.“ „Das ist ein gutes Geschäft für Euch, Herr.“ „Ja, das glaube ich auch“, erwiderte der beleibte Kaufmann aus Shenyang.
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Nakamura lächelte hart. Ein feines Gespann hatte er da entdeckt. Den Rest konnte er sich zusammenreimen. Ein Spitzel hatte verraten, dass ein reicher Kerl auf der Gemüsedschunke reiste, dann war die Kunde umgegangen, daß die Dschunke in dem Hafen hier ankern mußte. Und schneller als ein Mann wie der Dicke es für möglich hielt, hatten sich die ersten Schnapphähne unten in der Kneipe versammelt. Nakamura harrte in dem düsteren Nebenraum aus. Er hatte ein Schwert mit nicht besonders langer Klinge und ein Messer, das schartig und schlecht geschärft war, aber das genügte ihm. Nicht lange brauchte er zu warten; dann ging unten im Schankraum der Tumult los. Den Lauten zu urteilen, war das keine der üblichen Schlägereien. Dort, wo er vor kurzem noch gesessen hatte, fielen die Piraten plötzlich über die Schiffsbesatzungen und die Bürger des Nestes her. Sie stachen, hieben und traten nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Das Fluchen und Schreien steigerte sich zu einem infernalischen Geheul. Glas zerbrach klirrend, Männer brüllten in Todesangst und unter Schmerzen, und plötzlich polterten Schritte die Treppe hoch. Der Mann, der dem käuflichen Mädchen Gesellschaft leistete, ließ sich gär nicht erst sehen. Er wußte, daß es tödlich sein konnte. Der hagere -Leibwächter des dicken Kaufmanns aus Shenyang jedoch riß unversehens die Zimmertür auf und stürmte auf den Flur. Das war Nakamuras Chance. Er huschte gedankenschnell aus dem Nebenraum und hatte genauso rasch das Messer gezückt. Eine Armbewegung, ein Ruck, ein Schimmern in der Luft, und der Leibwächter stolperte gurgelnd ein Stück vorwärts. Er hatte das Messer im Rücken stecken und brach zusammen. Mit dem Gesicht auf dem Boden blieb er liegen. Die Angreifer rückten an. Sie staunten nicht schlecht, als sie feststellten, daß .sie
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einen Bundesgenossen hatten. Nakamura vor ihnen an der Zimmertür, drang in das Schlafgemach des dicken Kaufmanns ein und riß das kurze Schwert aus dem Gurt. Der Mann aus Shenyang kreischte vor Wut und Panik, hatte dann aber plötzlich einen Dolch in der Faust. Nakamura sprang auf ihn zu, ließ seinen Kampfruf vernehmen und säbelte den Widerstand des Mannes nieder. Unter seinen fürchterlichen Hieben brach der Dicke zusammen. Ohne eine Miene zu verziehen, trennte der Japaner ihm das Gewand auf und riß das Papiergeld an sich. Es war zu Bündeln gepackt. Nakamura warf sie den Piraten aus dem Schankraum zu. Sie lachten und stießen ihn begeistert an. Wenig später segelte durch die kabbelige, zum Sturm aufbrausende See eine große Dschunke in den Hafen. Sie hatte nicht weit entfernt in einer versteckten Bucht gelegen, und als ein Posten gemeldet hatte, daß einer der Piraten von dem Nest aus ein Blinkzeichen gegeben hatte, war sie Anker aufgegangen. Während die Piraten die Kaschemme verließen und anfingen, in dem ganzen Dorf zu morden und zu plündern, griff die große Dschunke die auf der Reede und an den Piers liegenden Schiffe und Boote an. Die bronzenen Geschütze begannen zu grollen, Feuerblitze stachen durch die Nacht, Rauch glitt in Schwaden aufs Meer hinaus. Nakamura eilte lachend durch die Gassen und beteiligte sich an dem grausamen Beutezug. Er fühlte sich völlig in seinem Element. 8. Es war ein langer, wunderbarer Abend im Licht der Lampen der Zaubergärten geworden, und erst spät waren Hasard und seine Männer ins Bett gegangen. Es hatte viel zu erzählen gegeben. Hasard hatte über die Besichtigung der großen. Mauer und der anderen Sehenswürdigkeiten außerhalb Pekings berichtet. Carberry, der inzwischen den nötigen Abstand zu den Ereignissen gewonnen hatte, hatte dann
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ohne Umschweife zum besten gegeben, was für eine Enttäuschung das Badehaus gewesen war. Natürlich hatte er die Lacher auf seiner Seite gehabt, und die Crew nahm ihm das Ganze längst nicht mehr übel. Am Morgen trafen sich die Seewölfe wieder mit dem Großen Chan, diesmal in einem Pavillon der Zaubergärten. Ohne großes Zeremoniell überreichte Wan Li der Roten Korsarin das Schreiben, das er ihr versprochen hatte. Tscha, der Hofgelehrte, breitete das Dokument auf einem Marmortisch aus, Hung-wan beugte sich darüber. Für den Chronisten war es eine Ehre, den Text zu verlesen. Säuberlich gemalte Schriftzeichen marschierten in langen Kolonnen über das Reispapier. Flüssiges Licht übersetzte leise, was sie aussagten. „Du siehst, du bist nun voll rehabilitiert, Siri-Tong“, sagte der Große Chan schließlich. Das reserviertere „Ihr“ hatte er auf Hasards und Siri-Tongs Wunsch hin aufgegeben. „Und ich habe sogar schriftliches Material zusammentragen können, das deine Aussagen stützt und zum Beweis in meinem Archiv deponiert wurde.“ „Ich bin frei“, erwiderte die Korsarin ergriffen. „Ich danke Euch für Eure Güte, Exzellenz. Aber werde ich mich jemals wieder in Shanghai sehen lassen dürfen? Dort lebt meine Mutter ...“ „Ein Bote ist mit einer entsprechenden Nachricht an den Kuan von Shanghai unterwegs“, sagte der Herrscher. „Die Stadt liegt in einer anderen Provinz und hat eine Anzahl eigener Gesetze. So muß es erst einen Freispruch des Gerichts geben, bevor auch dort deine Unschuld öffentlich verkündet werden kann. Doch das ist eine reine Formalität. Auch ,Eiliger Drache über den Wassern' , dein Schiff, Siri-Tong, darf nicht länger konfisziert werden. Und deine Mannschaft und du, ihr könnt unbehelligt segeln, wohin ihr wollt.“ Er wandte sich an den Seewolf. „Auch für dich habe ich eine Urkunde schreiben lassen.“ Er sah zu Tscha und Hung-wan,
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die die Schriftrolle inzwischen auch ausgebreitet hatten. „Jeder, dem ihr von jetzt an in meinem Reich begegnet, soll wissen, daß ihr die Freunde des Großen Chan seid“, fuhr der Herrscher fort. „Und ihr werdet demgemäß respektiert und bewirtet werden.“ „Exzellenz“, entgegnete Hasard. „Ich danke Euch. Aber laßt mich noch einmal über die Gesetze sprechen, die Ihr verabschieden wolltet. Wie lange wird es dauern, bis sie in Kraft treten?“ „Das ist eine Sache von Tagen. Roter und weißer Mohn sollen in China nicht mehr angebaut werden, und der Opiumgenuß wird ganz verboten. Zum zweiten will ich der Korruption Herr werden und meine Mandarine und anderen Staatsbeamten künftig strenger kontrollieren.“ Er wandte plötzlich den Kopf und sah zu FongCh'ang. „Trotzdem gibt es immer noch Probleme, die nicht nur Dörfer und Städte, sondern manchmal ganze Provinzen in die Knie zwingen. Die Pest beispielsweise, und die anderen Seuchen, die grassieren.“ „Ja, Großer Chan“, flüsterte Fong. „Da wäre Abhilfe bitter nötig, aber wir haben keine Arzneien, die stark genug sind, um die Geißel des Todes zu vernichten.“ „Nun“, erwiderte der Kaiser. „Du scheinst gegen die Pest immun zu sein und auch einige simple, aber sehr wirksame Mittel zu kennen, wenigstens die Ansteckungsgefahr, die Ausbreitung des schwarzen Todes über das ganze Land zu bannen.“ „Häuser, Kleider, alles, an dem der Pesthauch haftet, muß man niederbrennen. Lieber später ganz neu aufbauen, als die Saat noch zu nähren.“ Fong war sehr, sehr ernst geworden. Der Große Chan nickte. „Hör mich an, Fong-Ch'ang. Meine Ärzte werden dich noch eingehend untersuchen. Ich werde dich zu meinem Sonderbeauftragten ernennen und wünsche, daß du von Ort zu Ort und durch alle Provinzen reist, um die Bevölkerung über die Gefahren der Seuchenkrankheiten aufzuklären. Würde das deinen Idealen entsprechen?“
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Fong war zutiefst beeindruckt und konnte kaum etwas antworten. Für kurze Zeit trat ein feuchter Glanz in seine Augen, aber er hatte sich dann doch ausgezeichnet in der Gewalt. „Es gäbe nichts, das ich lieber täte“, sagte er. „Und nun zu dir, Ch’ing-chao Li’Hsia“, wandte der Große Chan sich an das Mädchen. „Ich hoffe, du trägst keine Bitternis mehr im Herzen. Sprich ganz offen, ich möchte, daß du ehrlich zu mir bist.“ Flüssiges Licht holte tief Luft und riß sich mächtig zusammen, um nicht ins Stammeln zu geraten. „Ich habe zu mir selbst zurückgefunden“, eröffnete sie dem Herrscher dann. „Durch Euch, Exzellenz. Und ich weiß heute, daß ich meinen Familienangehörigen und allen anderen Menschen in diesem Land wieder in die Augen sehen kann. Fong hat gesagt, man müsse begreifen und verzeihen lernen, und ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg.“ „Tscha wird dich in der Lehre des Konfuzianismus unterrichten.“ „Das ist mir eine weitere Hilfe.“ Während sie weitersprachen, nahm der Seewolf den Kutscher beiseite. „Alles scheint seinen glücklichen Abschluß zu finden“, raunte er ihm zu. „Aber wie ist es um den alten Chronisten bestellt? Du hast doch mit seinen Ärzten gesprochen.“ „Ja.“ Der Kutscher bemühte sich, keine Besorgnis zu zeigen. „Sie haben bei ihm akute Herzschwäche festgestellt. Er kann theoretisch noch lange leben, darf sich aber nicht aufregen.“ Hasard schwieg. Er wußte genau, daß kein Mann gewisse Emotionen einfach übergehen oder abstreifen konnte. Das galt auch für Hung-wan. Und der Seewolf dachte schon voll Sorge daran, daß am Nachmittag die Mumie des Mandarins feierlich bestattet werden sollte. W an Li legte größten Wert darauf, daß sie alle zugegen waren - und einem Kaiser widersprach man nicht. *
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Nakamura hatte es geschafft. Die Horde, die das Küstennest geplündert und zum Abschluß halb niedergebrannt hatte, hatte ihn mit auf die Dschunke- genommen. Hier war er nach dem begeisterten Bericht der Kerle von dem Piratenführer empfangen worden. Das war ein schwerer muskelbepackter Mongole namens Zhuluke, der auch im Sturm mit nacktem Oberkörper über das Achterdeck seines Dreimasters stapfte. Ein dichter Lippenbart hing ihm über die Mundwinkel, aber auf seinem Kopf hatte er überhaupt keine Haare. Während der ablandige Wind die Dschunke in Nacht und wildes Wetter hinausgestoßen hatte, hatte Zhuluke den Japaner zunächst höchst skeptisch betrachtet. Nakamura hatte ihm aber ohne Vorbehalt erzählt, wer er war und was er erlebt hatte. Endlich war der Mongole überzeugt gewesen. Als dann Nakamura geschildert hatte, welche Schätze sich auf der „Isabella VIII.“ befinden mußten und daß die Galeone immer noch in einer Bucht des Jinzhonghe ankere, war der Bann endgültig gebrochen. „Gut“, sagte Zhuluke am Morgen zu Nakamura. Sie standen sich auf dem Achterdeck der Dschunke gegenüber. Das Schiff wiegte sich rhythmisch in den Wogen, doch der Sturm hatte bereits beträchtlich nachgelassen. Es bestand die Aussicht, daß er bald ganz abflaute und sich auch die letzten Wolken von Himmel verzogen. „Gut“, wiederholte Zhuluke. „Du hast mich überzeugt, Japaner. Wir werden das Schiff .der Engländer überfallen.“ „Willst du das - allein tun?“ „Mit meinem Schiff und dieser Mannschaft“, stieß der Mongole hervor. „Wie denn sonst?“ „Bedenke, daß der Seewolf Khai Wang und Vinicio de Romaes besiegt hat.“ Wut stieg in Zhuluke auf. „Du glaubst also, ich lasse mich überfahren wie diese Narren?“ In völliger Selbstüberschätzung und Fehlbeurteilung des Gegners brüllte er: „Ich werde dir zeigen, wozu ich fähig bin!
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Wage es nicht, mich noch einmal mit dem Schwächling Khai Wang und der Memme de Romaes zu vergleichen, oder ich hänge dich am Hals auf, bis kein Leben mehr in dir ist!“ „Du kannst mich töten“, erwiderte Nakamura unbeirrt. „Ich habe deinen Männern geholfen, den reichen Kaufmann zu berauben, aber das will nicht viel heißen. Ich bin in deiner Hand. Doch wenn du klug bist, hörst du auf meinen Rat.“ Zhuluke stemmte beide Fäuste in die Seiten und musterte den Japaner aus schmalen Augen. Sein Mißtrauen konnte jäh aufsteigen, aber auch genauso schnell wieder schwinden. „Spuck aus, was du zu sagen hast, Nakamura“, erwiderte er drohend. „Es bietet sich an, den Seewolf und sein Pack möglichst noch auf dem Fluß zu überfallen“, entgegnete der Mann von Zipangu. „Aber ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Wir brauchen Verstärkung, bevor wir losschlagen.“ „Um mit anderen Freibeutern zu teilen? Du bist ja verrückt.“ „Ich habe dich gewarnt ...“ „Ich lasse mich nicht warnen und nasse Männer, die mir etwas vorschreiben wollen!“ brüllte Zhuluke wieder los. Er war unberechenbar und von bedenklicher Primitivität. Er wollte zu toben beginnen, aber Nakamura wandte sich von ihm ab und trat ans Schanzkleid. Stumm blickte er auf die Wellen, die von schaumigen Streifen gekrönt waren. Schließlich war es der Mongole, der über das Achterdeck stapfte und die abgebrochene Unterhaltung wiederaufnahm. „Also schön, Nakamura. Es ist nicht ganz ungefährlich, die Inseln anzulaufen, weil die Kriegsdschunken von Chinwangtao und Tientsin, den nächsten größeren Hafen, bald nach uns suchen werden. Aber wir tun, was du vorgeschlagen hast. Wir holen Verstärkung.“ „Von welchen Inseln sprichst du?“ „Shuiutuo und Shaleitiandao. Ich weiß, .daß eine kleine Flotte Piratendschunken dort ankert, nachdem sie Lüshun überfallen
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hat und nach Zhangzidao nicht mehr zurückkehren konnte.“ Nakamura horchte auf. „Zhangzidao? Dort lag auch unser Schlupfwinkel ...“ „Ich würde keinem raten, jetzt Zhangzidao anzulaufen“, stieß der Mongole hervor. „Die Kriegsdschunken werden dort jeden befeuern, der ihnen vor die Rohre gerät.“ Der Japaner hatte auch gar nicht vor, jemals zu der .Insel zurückzukehren. Er sagte sich innerlich nur, daß er sich mit den Seeräubern die hier Schutz gesucht hatten, gut verstehen würde. Vinicio de Romaes und er hatten immer gute Kontakte zu den Piraten von Zhangzidao unter halten. Er sah Zhuluke an. „Denke noch einmal gut darüber nach.“ „Das habe ich.“ „Ich will nicht, daß du gegen mich Vorwürfe erhebst, wenn später etwas schief läuft.“ Zhuluke lachte dröhnend auf. „Nie werde ich das tun, mein Freund, niemals.“ Er wußte genauso gut wie der Japaner, daß es eine himmelschreiende Lüge war, aber keiner von ihnen sprach es offen aus. Wenn etwas danebenging, dann würde sich der Mongole als ersten Nakamura vor das Schwert holen, falls er noch die Möglichkeit dazu hatte. „Je länger wir herumstehen, Maulaffen feilhalten und große Reden führen, wächst auch die Möglichkeit, daß die Seewölfe den Jinzhonghe verlassen“, sagte der Mongole laut. Er fand, daß es eine sehr kluge Bemerkung war, wie er überhaupt der Ansicht war, daß er ein ebenso gerissener wie kluger Anführer sei. Er trat an den Abschluß des Achterdecks zur Kuhl und rief seiner Meute zu: „An die Schoten, an die Brassen, wir luven an! Kurs auf die Insel Shuiutuo, ihr räudigen Schakale, ausruhen könnt ihr euch später!“ Ohne Murren begannen die Piraten mit dem Segelmanöver. Sie fürchteten Zhuluke, der brutaler war als sie alle zusammen. Dies war der Umstand, der seine Macht an Bord aufrechterhielt und festigte. Nakamura respektierte den ungeschlachten Mongolen auch - auf seine Art. Er hatte
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aber auch schon Pläne, deren Hauptfigur Zhuluke war. *
Die Dreimast-Dschunke mußte auf Backbordbug liegend hart am Wind segeln, um den südlichen Kurs halten zu können. Als der Wind auf Südwest drehte, war Zhuluke schließlich gezwungen zu kreuzen, und dies war die zeitraubendste und langsamste Art der Fortbewegung eines Segelschiffes. Shuiutuo würde erst am Abend vor ihnen auftauchen, soviel hatte Nakamura sich ausgerechnet. So nutzte er die Zeit, mit den Piraten auf der Kuhl zu sprechen. Er war ein geborener Intrigant und verstand es, Mann für Mann auf seine Seite zu ziehen. In dem Küstennest hatte er sich außerdem einiges Ansehen verschafft. Wäre er nicht gewesen, hätte der Leibwächter des reichen Kaufmanns aus Shenyang wahrscheinlich den einen oder anderen Angreifer ins Jenseits befördert. Dank. des Japaners hatten die Piraten aber keine Verluste zu verzeichnen gehabt. Nur ein paar Kerle waren bei dem Gemetzel in der Kneipe und im Dorf leicht verwundet worden. Der Japaner imponierte ihnen, und an Bord stieg er immer mehr in ihrer Wertung. Bei den meisten genoß er schließlich ein Ansehen, das sie im stillen nicht einmal Zhuluke gegenüber aufbrachten. Nakamura nutzte das skrupellos aus. Langsam, aber beständig wiegelte er die Seeräuber auf. Er stellte die Schwächen des Mongolen dar, wenn er die Kerle beiseite nahm, und sagte ihnen schließlich klipp und klar, daß der glatzköpfige Bursche sie alle ins Verderben führen werde, weil er den bevorstehenden Kampf gegen den Seewolf nicht richtig anzupacken wisse. Am Nachmittag hatte Nakamura die Stimmung so weit angeheizt, daß das Gros der Dschunkenmannschaft eine gärende Wut gegen den Anführer hatte. Jeden Augenblick konnte der Tiegel überkochen. .
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Die Inseln Shuiutuo und Shaleitiandao waren noch lange nicht in Sicht, und die Dschunke fuhr gerade einen Kreuzschlag nach Südosten, da handelte Nakamura. Er gab seinen Verbündeten auf der Kuhl ein verabredetes Zeichen. Einer von ihnen stieß einen Pfiff aus, und der Rudergänger drückte den Kolderstock so herum, daß der Dreimaster in den Wind drehte. Kurz darauf begannen die Segel zu killen, und Zhuluke brüllte in dem höllischen Geknatter wie der Leibhaftige persönlich. Er stürzte auf den Rudergänger zu, um ihn zu treten und zu schlagen, aber in diesem Moment wandten sich ihm von - allen Seiten die eigenen Kumpane zu. Sie richteten ihre Waffen auf ihn. Er verharrte und starrte sie ungläubig an. „Was ...“ „Gib auf, Zhuluke!“ rief Nakamura vom Backbordniedergang des Achterdecks aus. „Du hast keine Chance gegen uns. Die meisten sind auf meiner Seite. Wir verlangen von dir, daß du uns das Schiff auslieferst. Streich die Flagge, und es passiert dir nichts.“ Die Segel killten immer noch wie verrückt, das ganze Rigg schien in Fetzen gehen zu wollen. Zhuluke senkte das Haupt wie, ein Stier und brüllte gegen das Lärmen an. „Das wolltest du also, .du elender Hund! Eine Meuterei vom Zaun brechen ...“ „Du hast nicht mehr das Recht, dieses Schiff zu führen!“ schrie Nakamura gellend. „Es gehört uns!“ „Euch?“ Zhuluke riß das Schwert aus dem Gurt. „Männer, zu mir! Zeigen wir es diesem ‚Halunken! Bringt ihn um! Tötet ihn!“ Er stürzte sich auf den Piraten, der ihm am nächsten stand. Der Mann riß seine Waffe hoch, ein stark gekrümmtes Entermesser. Er trat dem Glatzkopf entschlössen entgegen, aber es war schon abzusehen, wer als Sieger aus dem Duell hervorgehen würde. Nakamura hatte Pfeil und Bogen in den Händen und brachte sie in Anschlag auf Zhuluke. Surrend verließ der Pfeil die Sehne. Nakamura war ein Könner im
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Umgang mit den meisten Waffen. Der Pfeil traf sein Ziel. Er steckte unter der rechten Achselhöhle in Zhulukes Leib, tief genug, um den Angriff des Mongolen auf den Piraten im Ansatz abzubrechen. Zhuluke blieb wankend stehen. Sein Waffenarm senkte sich. Ein langgezogenes Stöhnen entrang sich seinem Mund. Zwei seiner früheren Getreuen traten auf ihn zu und fällten ihn mit ihren Schwertern, was völlig überflüssig war, denn der Pfeil genügte, um dem Leben des Mongolen ein Ende zu setzen. Nakamura wirbelte auf dem Niedergang herum. „Wer steht jetzt noch auf Zhulukes Seite - jetzt, nachdem der Dreckskerl krepiert ist?“ schrie er. Da wagte keiner vorzutreten. Nie war die Verbundenheit der Meute mit dem Dschunkenführer so groß gewesen, daß es jetzt noch jemand einfiel, sich für ihn einzusetzen. Nakamura hatte wieder ein Schiff. Und wenn er erst die Verstärkung auf seiner Seite hatte - er zweifelte nicht daran, die Piraten von Zhangzidao für seine Idee zu gewinnen -, dann verfügte er über einen starken und schlagkräftigen Verband, gegen den die Seewölfe nicht siegen konnten, selbst- wenn sie mit den Geistern im Bund waren. Nakamura wollte nicht in den Unterlauf des Jinzhonghe eindringen, das hielt er für einen Fehler. Er war dort zu unbeweglich, und wenn zufällig auch noch die Kriegsdschunken auftauchten, die nach dem Überfall auf das Küstennest nach den Zhuluke-Piraten f ahndeten, konnte er eine böse, tödliche Überraschung erleben. Nein. Bis zur entscheidenden Stunde wollte er vor der Küste kreuzen und aufpassen, daß die „Isabella VIII.“ durch ein unvermitteltes Auslaufen in den Golf von Chihli nicht etwa entwischte. Er winkte dem Rudergänger zu; er solle die Stellung des Kolderstocks korrigieren, und gab der Mannschaft den Befehl, die Segel aufzugeien, damit sie nicht zerfetzten. Langsam drehte sich die Dschunke wieder
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an den Wind, und etwas später konnte das Rigg wieder voll gesetzt werden. Nakamura hatte sich nie so mächtig wie heute gefühlt. 9. Offenbar sollte die Mumie des Mandarins nach ihren vielen Irrfahrten nun doch nicht ihre endgültige Ruhe finden. Am Nachmittag hatten sich der Große Chan, sein Hofstaat, eine Gruppe von geistlichen Würdenträgern und Priestern sowie Siri-Tong und die Männer der „Isabella“ in einem Saal des Gu-gong zu einer Prozession formiert. Alle warteten auf das Zeichen zum Aufbruch. Der Zug sollte sich durch die Zaubergärten bewegen und im nördlich gelegenen Teil der ausgedehnten Parkanlage enden. Dort befand sich die Ruhestätte für die höchsten Staatsbeamten der jüngeren Ming-Kaiser. Dort, nicht in den Ahnengräbern außerhalb der Stadt, lag auch die Frau zur ewigen Ruhe gebettet, die vor zwölf Jahren in einem feierlichen Zeremoniell zur Kaisergattin gekrönt worden war und ein Jahr später auf eine Art ums Leben gekommen war, über die niemand sprach. Hasard und seine Männer hatten nur von Tscha, dem Hofgelehrten, erfahren, daß Wan Li seine Frau auf tragische Weise verloren und sie in den Zaubergärten hatte beisetzen lassen, um sie immer in seiner Nähe zu haben. Daher also seine tiefgreifende Philosophie über die Kraft, die man aus der Verzweiflung schöpfen sollte, ohne in Abgründe abzugleiten, aus denen es kein Entrinnen mehr gab. Hasard war erschüttert gewesen, als er es vernommen hatte. Mit dem Großen Chan verband ihn mehr, als er gedacht hatte. Der für die Ewigkeit einbalsamierte Leichnam des Mandarins lag auf einer prunkvoll hergerichteten Bahre inmitten des Saals. Mönche aus dem KonfuziusTempel der Verbotenen Stadt waren erschienen. Sie standen am Kopf- und Fußende der Bahre, um sie zu tragen, sobald der Große Chan das Zeichen dazu
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gab. Hung-wan hatte seinen Platz hinter ihnen. Zwei Ärzte befanden sich in seiner Nähe, und auch der Kutscher hatte ständig ein waches Auge auf den alten Chronisten. Ch'ing-chao Li-Hsia hielt sich mit Tscha und Fong-Ch'ang in einem Pavillon des Zaubergartens auf, wo der Hofgelehrte auf Wan Lis Anweisung hin über die Lehre des Konfuzius, aber auch über den Taoismus und den Buddhismus sprach. Alle drei würden sich in die Prozession einreihen, denn sie führte genau an ihnen vorbei. Ed Carberry stand als letzter Mann in. der langen Reihe. Die Mumie des Mandarins war ihm nie richtig geheuer gewesen, und je mehr Abstand er zu ihr hielt, desto wohler war ihm: Der Profos war sicher, daß sich ein alter Fluch mit dem Leichnam verband 'und die Bestattung nicht ohne Komplikationen ablaufen würde: Das sollte sich auf ungewöhnliche Weise bestätigen. Nein, Carberry war kein Schwarzseher wie der alte Donegal Daniel O'Flynn, aber an diesem Nachmittag wurde er es fast. Der Zug setzte sich in Bewegung. Langsam, fast behutsam, traten seine Teilnehmer auf die Terrasse hinaus und' von dort aus in den Zaubergarten hinunter. Und da war wieder dieser eigenartige hohe Topf, der kein Topf war und den Flüssiges Licht als „Melder“ bezeichnet hatte. Carberry äugte zu dem Monstrum hinüber, auch noch, als er schon fast die Treppe erreicht hatte; die in den Park hinunterführte. So war er es, der den Vorgang registrierte. Plötzlich, aus ihm völlig unerklärlichem Anlaß, rutschten die kleinen Kugeln aus den Drachenmäulern! Und, hol's der Teufel, sie fielen genau in die geöffneten Froschmäuler, alle acht. Das erzeugte ein kaum wahrnehmbares Klicken. Keiner der vor dem Profos Schreitenden hatte es gehört. Carberry konnte nicht an sich halten. Wenn dieser Höllenapparat etwas zu melden hatte, dann konnte es etwas Erfreuliches, aber auch etwas Gefährliches sein. Was hatte die Kügelchen ausgelöst, wie funktionierte das?
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„Sir”, sagte Carberry, „Madame!“ Wenn er etwas sagte, dann war das bei ihm schon der Lautstärke nach gleichbedeutend mit einem mittleren Brüllen. Alle fuhren herum, nicht nur der Seewolf und die Rote Korsarin. Und alle schauten ihn zurechtweisend an, weil man die Stille der Prozession nicht störte. Selbst der Große Chan runzelte die Stirn, und die Minister. und Mandarine zischelten. Carberry war das in diesem Augenblick egal. „Der Melder“, stieß er hervor. „Er hat geklickt. Himmel, was hat denn das bloß ...“ Siri-Tong war so geistesgegenwärtig gewesen, seine Worte sofort ins Chinesische zu übersetzen. Der Große Chan stieß einen Ruf aus und unterbrach den Profos. Wan Li, Yang Tingh-ho, Chang-Kuching, ja, alle Chinesen schrien plötzlich durcheinander, und zwei jüngere Hofbeamte stürmten die Treppe zur Terrasse hoch. Carberry verstand nicht, was sie erregt ausriefen, aber er begriff, als er ihre Gesten sah: Sie bestätigten, was er gesagt hatte. Der Große Chan hatte Mühe, seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. So unkontrolliert, so außer sich vor Hektik hatten ihn die Seewölfe noch nicht gesehen. Er redete hastig auf Siri-Tong ein. Inzwischen hasteten seine Bediensteten los, mieden aber den Palast und nahmen andere Wege, um aus den Zaubergärten in die Stadt zu gelangen. „Ein Erdbeben!“ rief die Rote Korsarin auf englisch. „Der Erdstoßmelder hat es angekündigt. Gleich trifft es die Stadt, und wir sollen uns allen Gebäuden, Brücken und Bäumen fernhalten. Es besteht kein Grund zur Panik, wir sollen uns diszipliniert verhalten.“ Hasard hörte nicht mehr hin. Er lief los. So schnell er konnte, hetzte er durch den Park. Diesmal hatte er keine Augen für die Lotosweiher, für die geschnitzten Holzbrücken und die prächtigen Pagoden auf den Inseln — er dachte nur an Fong, das Mädchen und Tscha.
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Er wußte, wo der Pavillon lag, in dem der Hofgelehrte seine Unterrichtsstunde in religiösen Weisheiten hielt. Dieses große, offene Haus war nicht aus Holz und Matten konstruiert, sondern aus Marmor. Hasard stürmte dahin, bis sein Atem flog. Er raste über eine Brücke, erreichte eine scharfe Wegkurve, verfehlte fast ihren Radius und fing sich mit auf dem Untergrund radierenden Stiefeln. Er stürmte weiter, umrundete dichte, duftende Büsche und sah den Pavillon vor sich liegen. „Fong!“ schrie er. „Flüssiges Licht!“ Sie blickten erstaunt auf und wandten ihm die Gesichter zu. Sie befanden sich im Zentrum des Pavillons. Hasard war entsetzt, als er es feststellte. Tscha richtete sich von seinen Schriftrollen auf. Der Seewolf konnte seine hochgezogenen Augenbrauen sehen, seinen überraschten Blick. „Lauft weg!“ schrie der Seewolf. „'raus aus dem Bau, nichts wie raus!“ Sie schienen nicht verstanden zu haben. Hasard nahm die Stufen zum Pavillon hinauf mit zwei Sätzen, steuerte er auf Ch'ing-chao Li-Hsia zu und packte ziemlich ungestüm ihren Arm. Es kümmerte ihn nicht, daß sie aufschrie, es störte ihn nicht, daß sie möglicherweise Schmerzen empfand. Er stoppte kaum ab und lief zur anderen Seite wieder aus dem Pavillon hinaus. Fong und Tscha stürzten ihm nach, der eine verwirrt, der andere empört Sie hätten alle vier freies Gelände erreicht, da begann das Erdreich unter ihnen zu zittern. Flüssiges Licht schrie wieder auf und klammerte sich in einer panischen Reaktion an Hasard fest. Die Erde rüttelte, daß sie keinen festen Stand mehr hatten. Hasard warf sich mit dem Mädchen hin, und die beiden Männer folgten ihrem Beispiel. Der Marmorpavillon zerbrach wie eine Zuckerbäckerkonstruktion aus dünnem Guß. Donnernd stürzte er in sich zusammen. Dort, wo das Mädchen, Fong und Tscha gestanden hatten, häuften sich die Trümmer. Als der Lärm verklang,
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dauerte das unterschwellige Grollen aus der Ferne noch eine Weile an, aber dann ebbte das Beben ab, bis die Erde ihre Ruhe wiederhatte. Der Seewolf erhob sich als erster. Tscha setzte dem Mädchen etwas auseinander, und Ch'ing-chao wollte Hasard zurückhalten. „Herr!“ rief sie auf portugiesisch. „Vielleicht ist es noch nicht vorbei. Es könnte weitere Stöße geben.“ „Stärkere oder schwächere?“ „Das weiß er nicht ...“ Hasard schritt unbeirrt auf den vernichteten Pavillon zu. Etwas fesselte seine Aufmerksamkeit. Eine unsichtbare Riesenaxt schien in den Untergrund gehauen zu haben. Eine Spalte klaffte darin, in der ein Mensch hätte verschwinden können. Das Zittern kehrte wieder. Hasard blieb stehen. Er hatte den Eindruck, ohne sein Zutun auf einen anderen Platz geräumt zu werden, aber dann war es wieder vorbei. Fong und Tscha rappelten sich nun ebenfalls auf und liefen ihm nach. Flüssiges Licht nahm sich erst ein Herz, als Hasard sich umdrehte und ihr zuwinkte. Sie eilte den Männern nach und spielte wieder die Dolmetscherin, als Tscha sprach. „Es war ein Beben mittlerer Stärke“, erklärte der Hofgelehrte. „Es ist nicht das erste Mal, daß Peiping von einem derartigen Unglück getroffen wird, während der vergangenen Jahrhunderte geschah es mehrfach, daß Häuser und Brücken einstürzten und immer wieder neu aufgebaut werden mußten. Unsere Vorfahren erfanden die Melder, die stärkere Stöße rechtzeitig ankündigen. Feinste Vibrationen, die der Mensch noch nicht wahrnimmt, versetzen den Kügelchen in den Drachenmäulern den Schub, der ausreicht, um sie in die Froschmäuler zu befördern.“ „Ich verstehe“, sagte Hasard. „Und Wan Lis Frau kam bei einem solchen Erdbeben um, nicht wahr?“
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Tscha blickte ihn entgeistert an. „Woher weißt du das? Nur wenige haben es erfahren ...“ „Ich habe es mir gedacht.“ „Eine Ironie des Schicksals“, sagte Tscha leise. „Und beinahe hätte es eine Duplizität der Ereignisse gegeben. Wan Lis schöne, junge Frau wurde unter den Trümmern eines Pavillons begraben, hier, in den Zaubergärten der Verbotenen Stadt. Die Marmorblöcke erschlugen sie und preßten sie in eine Erdspalte, die das Beben gerissen hatte. So fand der Große Chan sie bei den Räumungs- und Bergungsarbeiten: tot, eingeklemmt, entstellt.“ „Furchtbar“, flüsterte das Mädchen. „Sagt ihm nicht, daß wir nur dank des Seewolfs aus dem Pavillon entkommen sind“, sagte Tscha. „Sagt, wir wären schon vorher geflüchtet.“ „Du kannst dich darauf verlassen“, erwiderte der Seewolf. * Das Beben wiederholte sich nicht, weder mit heftigen noch mit schwachen Stößen. Die Panik in der Stadt legte sich wieder. Nur wenige Gebäude waren ramponiert, und es hatte keine Toten, nicht einmal Verletzte gegeben, weil die in allen größeren Häusern und Palästen aufgestellten irdenen Meldeapparate das Unheil frühzeitig angekündigt hatten. Die Hauptader des Bebens war offensichtlich durch die Zaubergärten verlaufen. Wan Li war entsetzt, als er den eingestürzten Pavillon und einige andere halb oder ganz vernichtete Gebäude sah. Hasard gelang es aber, ihn durch ein längeres Gespräch völlig zu beruhigen. Und er erwähnte selbstverständlich nicht, daß er Ch'ing-chao Li-Hsia, Fong-Ch'ang und Tscha das Leben gerettet hatte, Die Mumie des Mandarins war nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Friedlich ruhte sie nach wie vor auf ihrer prunkvollen Bahre. Am Spätnachmittag versammelte sich der Zug wieder im Garten, die Mönche des KonfuziusTempels griffen zu und hoben die Bahre
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hoch, und die Prozession gelangte endlich an ihren Bestimmungsort. Tscha und andere Hofgelehrte hatten nach einigen Untersuchungen verkündet, die, Gefahr eines- neuen Erdbebenstoßes bestünde vorläufig nicht.. Hasard dachte darüber nach und gelangte zu dem Ergebnis, daß sie sich wohl mehr auf Erfahrungswerte als auf echte Messungen beriefen. Der Seewolf blickte immer wieder besorgt zu dem alten Chronisten. Hung-wan hatte während des Unglücks wieder einen Schwächeanfall gehabt und sich allerdings nur hinzusetzen brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen. Er behauptete, wieder wohlauf zu sein und schritt im Zug mit. Die Ärzte hatten bestätigt, daß er durchaus an der Beerdigung der Mumie teilnehmen könne. Der Friedhof im nördlichsten Bereich der Zaubergärten lag etwas erhöht auf einer Art niedrigem Plateau. Als die Prozession sich zu der Anhöhe hinaufschlängelte, nahm Hasard Shane beiseite. „Tscha hat erklärt, das Beben könne bis zum Unterlauf des Jinzhonghe und bis zur Küste verlaufen sein“, sagte er zu dem ehemaligen Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle. „Nach der Beisetzung der Mumie reitest du sofort los. Ich habe dafür gesorgt; daß ein schnelles Pferd für dich bereitgestellt wird. Du reitest die Nacht hindurch und versuchst, die ‚Isabella' am Morgen zu erreichen.“ „Geht in Ordnung.“ Big Old Shane verzog keine Miene. „Ich soll nachsehen, ob auf unserem Schiff alles in Ordnung ist, nicht wahr?“ „Ja. Ich halte es für ziemlich ausgeschlossen, daß die ‚Isabella' irgendwie beschädigt worden ist, im Wasser müßte sie sogar ziemlich sicher liegen. Aber es ist besser, wenn du nach dem Rechten siehst. Du sagst Ferris und den anderen außerdem, daß wir morgen im Laufe des Tages von hier aufbrechen und bei uns alles in Ordnung sei. Die acht haben das Beben ja bestimmt bemerkt und .bereiten sich jetzt Sorgen um uns. Ich will
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nicht, daß Ferris auch noch einen Boten losschickt. Beeil dich also.“ „In Ordnung“, erwiderte Shane. Die Einsargung und Bestattung der Mumie wurde zu einem schlichten, stillen Zeremoniell. Hier zeigte sich, welche Bedeutung die Ahnen in der Religion, Geisteshaltung Und Kultur der Chinesen hatten. Wan Li sprach lange, und die Versammlung lauschte ihm, ohne auch nur ein Füßescharren oder Räuspern vernehmen zu lassen. Nur Siri-Tong und Flüssiges Licht im beginnenden Sommer übersetzten gedämpft den Wortlaut, damit ihn auch die See-Wölfe verstehen konnten. Der Große Chan erläuterte die Macht der Natur und den Einfluß der Seelen der Verstorbenen auf das Dasein ihrer Hinterbliebenen. Er hob die magischen Kräfte des Himmels und der Erde, der Jahreszeiten, der Berge, der Flüsse, der Meere, des Bodens und der Ernte hervor und wies auf die mannigfaltigen Gottheiten des Reiches hin. Schließlich zitierte er mit erhobener Stimme Tien, den Himmelsgott, und Hou-tu, den Gott der Erde, herbei und wandte sich einem Altar unter freiem Himmel zu, um ihnen ein symbolisches Opfer zu bringen. Dies stand, wie Siri-Tong und das Mädchen rasch erläuterten, in einem Zusammenhang wie diesem wirklich nur dem Kaiser zu, dem „Sohn des Himmels“. „Shan-ti, der Allgeist, blickt auf uns nieder“, flüsterte Ch'ing-chao Li-Hsia ehrfürchtig. Wan Li drehte sich von dem Altar zu der Gruppe um und gab Hung-wan einen Wink. Der alte Chronist durfte vortreten. Er, der den Mandarin auf „Eiliger Drache über den Wassern“ begleitet hatte und der einzige Überlebende der außergewöhnlichen Expedition war, erhielt nun die Gelegenheit, ein paar Worte des Abschieds am Grab zu sprechen. Hung-wan atmete ein paarmal tief durch. Sein Gesicht war von seltsamer rötlicher Färbung. Er hatte Mühe, seine große Erregung zu verbergen. „Mein Gott, das hält er nicht durch“, murmelte Hasard. „Muß das sein?“
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„Wie ich gehört habe, hat er selbst darum gebeten“, erwiderte die Korsarin leise. „Und der Große Chan hat ihm den Wunsch nicht abschlagen können.“ Hung-wan hielt mit leicht brüchiger Stimme eine Grabrede, die anfangs etwas verworren klang, deren Sinn dann aber klar wurde. Er wollte noch einmal darauf hinweisen, daß der Geist des Mandarins immer unter ihnen weilen und ihnen überall begegnen würde. Diesmal verwendete der Chronist allerdings keine Gedichte des Poeten Li Tai-po. Er schilderte aus dem Gedächtnis Begebenheiten aus der alten chinesischen Mythologie. „Schanhaidjing, das Buch von Bergen und Meeren“, begann er, „ist ein Werk aus der. Epoche der Streitenden Reiche, und darin wird Kua Fu, ein göttliches Wesen, beschrieben. Kua Fu jagte der Sonne nach. Als er die Sonne einholte, verspürte er Durst und wollte trinken. Er trank aus dem Gelben Fluß und dem We-Fluß. Das Wasser dieser Flüsse reichte nicht aus, und er stürmte nach dem Norden, um sich dort im großen See satt zu trinken. Doch ohne .das Ziel zu erreichen, starb er auf dem Weg vor Durst und Entbehrungen. Sein Stab, den er zurückgelassen hatte, verwandelte sich in den Wald von Deng.“ Am Ende beschrieb Hung-wan „die Pilgerfahrt nach dem Westen“, einen mythologischen Roman, der erst vor einigen Jahren geschrieben worden war und den er nach seiner Rückkehr in das Reich der Mitte soeben gelesen hatte. In diesem Roman schien es tatsächlich Übereinstimmungen mit der Reise des schwarzen Seglers zu geben, wie Hasard und seine Freunde überrascht feststellten. „Sun Wu-kung, der Held des Romans, ist eine göttliche Figur“, sagte Hung-wan. „Er besitzt das Geheimnis von 72 Verwandlungen und kann sich nach Wunsch in verschiedene Arten von Pflanzen und Tieren wie auch in Gegenstände und Menschen verwandeln — selbst nach seinem Tod.“ Die Unsterblichkeit, der nie ruhende Geist des Mandarins, der nach dem Tod des
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Mannes noch das schwarze Schiff geführt und beschützt hatte — die Chinesen glauben fest daran. Selbst die Seewölfe, die ja sonst vorgaben, keine besonders heilige Auffassung von den Dingen dieser Welt zu haben, waren zutiefst beeindruckt. Die Zeremonie näherte sich ihrem Abschluß, Hung-wan schwieg und trat ein Stück zurück. Die Mönche aus dem Konfuzius-Tempel und eine Dienerschar gingen nun an die Arbeit. Sie betteten die Mumie des Mandarins, die eine halbe Weltreise hinter sich hatte, in einen glänzenden gläsernen Sarg. Dann geschah etwas, das sich die Männer der „Isabella“ zuerst nicht zu erklären wußten. In offenbar extra dafür vorgesehene Halter innerhalb des Sarges wurden gedrungene Kerzen gesteckt. Zwei Mönche zündeten diese Kerzen rasch an, danach hievten alle Helfer den Deckel auf das Unterteil des Sarges, sehr behutsam, damit er ja nicht sprang. Zunageln konnte man den Sarg nicht, er wurde an sechs Stellen fest mit Stricken zugebunden, die aus bunten Tüchern gedreht worden waren. Der Minister Yang Tingh-ho hatte SiriTong auf ihre Frage hin die Bedeutung der Kerzen auseinandergesetzt. Sie beugte sich jetzt wieder zu Hasard, Ben und einigen anderen und raunte: „Das Feuer der Kerzen verzehrt die Luft. So wird der Sarg von innen her luftdicht abgeschlossen. Die Flammen ersticken 'von selbst, und die Mumie bleibt für die Ewigkeit in ihrem jetzigen Zustand erhalten.“ „Stimmt“, erwiderte der Seewolf genauso leise. „Ohne Luft ist keine Verwesung möglich.“ Die Mönche hoben den Sarg nun über die rechteckige Grube, und die Diener des Kaiserpalastes hielten die taudicken Stricke, an denen der gläserne Sarg langsam in die Tiefe gelassen werden sollte. Da geschah es.
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Hung-wan tat ein, zwei stolpernde Schritte auf den Sarg und die Grube zu, dann brach er in die Knie. Er stammelte etwas, das Siri-Tong nicht verstehen konnte, hustete und rang nach Luft. Die Ärzte, der Kutscher, der Große Chang, Fong, Flüssiges Licht, Siri-Tong und Hasard stürzten auf den alten Mann zu. Das Mädchen hatte gehört, was Hung-wan ausgestoßen hatte, sie übersetzte es bestürzt ins Portugiesische: „Ich folge dir — dein Weg und mein Weg formen eine breite Straße.“ Der alte Chronist kauerte da und wäre ganz zusammengesunken, wenn der Kutscher und die chinesischen Ärzte ihn nicht gestützt hätten. Aus trübe werdenden Augen blickte Hung-wan auf den gläsernen Sarg. Die ersten Kerzen waren erloschen, und auch die letzten verglommen jetzt mit schwach zuckendem Schein. Ein Schatten überzog den Sarg und ließ die Gestalt der Mumie kaum noch erkennen. Die Dämmerung hatte sich auf Peking und die große Ebene gesenkt. Hung-wan erkannte Siri-Tongs Gesicht dicht vor sich. Er lächelte sie plötzlich an. „Laßt mich“, flüsterte er ihr sanft zu. „Niemand kann mir mehr helfen. Ihr habt auch - genug für mich getan. Wie der - Kuan - den ich gegen alle Unbill verteidigt und gerettet habe, so habe auch ich - nun - endlich - meinen ewigen Frieden - gefunden.“ Er stieß einen tiefen Seufzer aus, lehnte sich ein bißchen vornüber und schloß die Augen. Ch'ing-chao Li-Hsia gab einen erstickten Ruf von sich. Die Ärzte, der Kutscher, alle bemühten sich um den alten Chronisten. Doch sie konnten nur noch seinen Tod feststellen. Die Herzmassage, die der Kutscher mit konzentrierter Miene vornahm, zeitigte auch keinen Erfolg. Die Mönche und Diener verharrten, der gläserne Sarg hing in der Schwebe. Wan Li richtete sich jedoch auf und bedeutete ihnen durch eine Gebärde, in ihrer Tätigkeit fortzufahren. So senkte sich die Mumie in die Grube. Der Große Chan warf den Zweig einer
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Mimose und einen Bund Lotosblüten in die Tiefe. Alle Anwesenden verneigten sich vor der Würde des Todes, danach wurde das Grab zugeschaufelt. Der Große Chan trat vor Hung-wan hin. Der Kutscher, die Ärzte und der Seewolf hatten den Leichnam auf die moosbewachsene Erde gebettet. „Hung-wan“, sagte Wan Li. „Dein Herz war schwach geworden, deine Lebensuhr abgelaufen. Und du hast dieses Ende, hier, jetzt, gewollt, weil es für dich der schönste Abgang von der Bühne der Gegenwart war.“ Carberry sah Dan, Matt und Jeff an, als Siri-Tong zu ihnen zurückkehrte und auch dies übersetzte. Carberry begriff in diesem Augenblick, daß sich ein Europäer in die Mentalität der Chinesen niemals würde hineinversetzen können. 10.
Kurz vor Morgengrauen übernahm Bill, der Schiffsjunge, von Old Donegal Daniel O'Flynn die Deckswache. Während der zwei Glasen, die noch zum Hellwerden verstrichen, gab Bill sich besondere Mühe, die Augen nach allen Seiten hin offenzuhalten. Als die Sonne blaßrot aus dem Golf von Chihli tauchte und mattes Licht über den Fluß und die Ebene sandte, enterte Bill in den Großmars auf, weil er bei Tag von hier aus 'den besseren Überblick hatte. Arwenack hatte im Großmars geschlafen, nicht zuletzt wegen seines immer noch schlechten Gewissens. Schläfrig schaute er den Jungen an, dann stülpte er seine Unterlippe vor und zeigte so etwas wie ein fröhliches Grinsen. Bill, ja, das war noch ein feiner Kerl. Der verstand ihn und trug ihm nichts nach, sie waren richtige Bundesgenossen. Bill hob sein mitgebrachtes Spektiv vors Auge und bemühte sich, so gut Ausschau zu halten wie Dan O'Flynn, der Mann mit den besten Augen an Bord der „Isabella“. Plötzlich hielt er inne. Sein Blick wurde starr und fixierte die grünen Röcke, die sich dort drüben, am nördlichen Ufer des
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Jinzhonghe, gar nicht weit oberhalb der Galeone, am Ufer bewegten. Diese Gewänder kannten die Seewölfe jetzt bereits zur Genüge. Das waren Soldaten! Bill zählte vierzehn Mann und entdeckte auch ihre Pferde, die im Ufersand standen und die Köpfe zum Wasser neigten, um zu saufen. „Donnerschlag“, sagte Bill. Er wollte sich über die Umrandung lehnen und seine Entdeckung nach unten brüllen, beschloß aber, es lieber nicht zu tun. Die Soldaten konnten ihn hören, und er hatte in diesem Moment nicht die geringste Ahnung, ob das gut oder schlecht war. Also enterte er lieber wieder ab. Ferris Tucker war rasch geweckt. Er verließ die vorderste Achterdeckskammer, sah den Jungen alles andere als begeistert an und knurrte: „Heraus mit der Sprache, was ist jetzt wieder los?“ „Soldaten. Vierzehn Mann mit Pferden. Am Nordufer flußaufwärts.“ „Na und?“ „Ich frage mich, ob wir jetzt wieder bewacht werden sollen, Mister Tucker.“ „Ach wo“, erwiderte der rothaarige Zimmermann. „Du siehst ja Gespenster. Ich meine, natürlich sind die Soldaten da, aber es gibt keinen Meinungsumschwung, was uns betrifft. Wahrscheinlich hat das Aufkreuzen der Patrouille mit den Erdstößen zu tun, die wir gestern nachmittag bemerkt haben.“ „Aha.“ „Was soll das heißen, aha?“ „Ich meine- aye, aye, Sir.“ Ferris hustete kräftig, rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen und sagte: „Also, es ist schon richtig, daß du mich geweckt hast, ich hab's dir ja aufgetragen, bei der kleinsten Veränderung zu Wasser oder zu Land gleich zu mir zu kommen.“ „Ja, Sir.“ „Du brauchst dir aber keine Sorgen zu bereiten. Enter jetzt wieder in den Hauptmars auf und übernimm weiter den Ausguck, klar?“ Bill zeigte klar und verschwand. Zwei Minuten später hatte er schon wieder etwas entdeckt und meldete es vom Mars aus,
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weil Ferris ihm ja gesagt hatte; er brauche sich wegen der grünberockten chinesischen Soldaten nicht zu sorgen. „Deck! Das Pferd von Tijang hat geschnaubt! Ein Reiter näherte sich vom Wald am Südufer der Bucht! He, Deck!“ Old O'Flynn stelzte aus dem Achterkastell und schrie: „Bist du verrückt, so einen Krach zu schlagen, du Kröte? Komm 'runter, und ich versohl dir den Hintern!“ Ferris und die anderen, die jetzt auch auf den Beinen waren, waren unterdessen ans Backbordschanzkleid getreten. Sie blickten zum Ufer. Jawohl, das Pferd des Uiguren war noch da, graste aber ganz friedlich an der Böschung. „Kein Reiter zu sehen“, murmelte Ferris Tucker. „Hölle, der Knabe hat wirklich Gespenster im Kopf. Mensch, braucht der 'ne Abreibung?“ Er hatte gerade ausgesprochen, da hob Tijangs Reittier den Kopf, schnaubte und stampfte mit den Vorderläufen. Schließlich bäumte es sich auf, wieherte und wich zurück. Da brach er aus dem Gebüsch: Big Old Shane auf einem hochbeinigen Falben. Er hob den Arm, brüllte: „Arwenack!“ und steuerte direkt aufs Wasser zu. Erst dort hielt er, rutschte aus dem Sattel und traf Anstalten, zur „Isabella“ hinüberzuschwimmen. „Ich geh' kaputt!“ rief Sam Roskill. „Teufel auch, Bill, du Satansbraten, du hast ja doch keine Kartoffeln auf den Augen!“ „Shane!“ schrie Ferris. „Ich schicke dir ein Boot!“ Kurze Zeit später kletterte Shane auf die Kuhl der großen Galeone. Stürmisch wurde er begrüßt. Bei einem deftigen Frühstück hockten sich die Männer am Oberdeck zusammen und tauschten ihre Berichte aus - über das, was in Peking geschehen war, und das, was sich hier, in der Bucht, zugetragen hatte. Shane sah zu Gary und Sam. Die beiden trugen Schulterverbände, und besonders Gary war es anzusehen, daß er einige Schmerzen auszustehen gehabt hatte. „Ja“, meinte der graubärtige Riese breit. „Das hätte mächtig ins Auge gehen
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können. Nakamura und der Uigure, Sui, Dschou und Lai - diese fünf Lumpenhunde haben also zusammengehört.“ „Gut, daß das Erdbeben so glimpflich abgelaufen ist“, sagte Ferris etwas später. „Ich wollte nach den Beobachtungen von gestern spätestens heute mittag wirklich einen Boten losschicken - mit Tijangs Pferd.“ „Die Soldaten hätten ihn nicht durchgelassen“, entgegnete Shane. „Mich haben sie unterwegs nur passieren lassen, weil ich ein Schreiben vom Großen Chan bei mir habe.“ Er zeigte es herum, aber es konnte ja doch keiner lesen, was da mit Tusche und viel Akribie aufs Reispapier gemalt worden war. „Weshalb sind denn die Patrouillen unterwegs?“ fragte Ferris. „Um die Bevölkerung wegen des Erdbebens zu beruhigen und festzustellen, ob es auf dem Land Opfer gibt?“ „Nur einige“, antwortete Shane. „Ich habe mit einem Führer gesprochen, der ein bißchen Portugiesisch konnte, und habe folgendes erfahren: Piraten haben ein Küstendorf überfallen und total ausgeplündert - nicht .diese, sondern vorletzte Nacht. Da sich auch Strandräuber beteiligt haben könnten, sucht man jetzt zu Land und zu Wasser nach den Schuldigen. Im Golf soll es von Kriegsdschunken nur so wimmeln. Die Soldaten in der Ebene haben außerdem die Aufgabe, die Bewohner aller Dörfer vor dem Halunkengesindel zu warnen. Man hat Angst, die Hunde könnten noch mehr aushecken.“ „Verdammt“, sagte Ferris Tucker. „Ich werde den Verdacht nicht los, unser Freund Nakamura könnte da die Finger mit im Spiel haben.“ „Und?“ sagte Old O'Flynn. „Glaubst du, der greift uns wirklich noch einmal an?“ „Wir müssen damit rechnen: Halten wir das Schiff gefechtsklar.“ Ferris war aufgestanden und blickte flußabwärts, als könne dort jeden Augenblick Nakamura mit einer gewaltigen Streitmacht auftauchen.
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Shane sagte: „Ich habe von Hasard die Order, gleich hierzubleiben. Hasard und die anderen brechen sowieso heute früh von der Verbotenen Stadt aus hierher auf warum soll ich also zurückreiten?“ „Fein“, meinte Ferris trocken. „Dann pack mal mit an. Bei der Hälfte der Kanonen haben wir gestern schon Revision gehalten. Jetzt kommt der Rest dran. Bis zum Mittag will ich alle Geschütze tadellos geladen und die Gefechtsstationen tipptopp auf Vordermann haben.“ Mochten die Männer denken, was sie wollten - Ferris Tucker wurde das Gefühl nicht los, daß ein rascher Aufbruch mehr als ratsam sei. *
Nakamura hatte um diese Zeit bereits zwei Erfolge zu verzeichnen. In der Nacht hatte er mit der dreimastigen Dschunke die Insel Shuiutuo angelaufen, war in einer Bucht gelandet, hatte die Besatzung von zwei Piratenschiffen aufgestöbert und erste Kontakte geknüpft.. Es waren Freibeuter von Zhangzidao gewesen, er kannte sie und so war die Übereinkunft zustande gekommen. Bereitwillig hatten sich die Kerle ihm angeschlossen. Der Rest war fast ein Kinderspiel gewesen. Noch im Dunkeln hatten Nakamura und seine neugewonnenen Verbündeten die Nachbarinsel Shaleitiandao aufgesucht — mit der Beutedschunke des Japaners. Dort hatten sie noch zwei Schiffsführer gleicher Herkunft und gleicher Zielsetzung von dem Reichtum überzeugen können, den das Kapern der „Isabella“ für sie alle bedeuten mußte. Zur selben Zeit war ein Verband Kriegsdschunken an den Inseln vorbeigesegelt. Die Kapitäne und der Kommandant hatten die Piratenschiffe jedoch nicht gesichtet. Das war der zweite Erfolg, auf den Nakamura jetzt, am Vormittag, mächtig stolz war. Nach wie vor mußte der Japaner auf Verfolger achten, aber er hatte seinen Verband jetzt vollständig zusammengestellt und rüstete bereits zum
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Kampf. Seine Dreimast-Dschunke tastete sich als Führungsschiff von Insel zu Insel nach Südwesten, auf die Mündung des Jinzhonghe zu. In seinem Kielwasser waren die anderen Segler, zwei große und zwei kleine Dschunken mit einer halben Armee zu allem entschlossener Subjekte an Bord. Ständig war Nakamura bereit, sich mit seinen Mitstreitern in eine Inselbucht, hinter den schützenden Rücken eines Eilandes zurückzuziehen. Vor der Auseinandersetzung mit dem Seewolf wollte er sich auf kein Gefecht einlassen. Den ganzen Vormittag aber zeigte sich keine Kriegsdschunke an der Kimm. Nakamura frohlockte, mehr denn je durfte er hoffen, daß alles klappte und er den Seewolf endlich in eine vernichtende Falle locken konnte. * Hasard hatte sich mit der berechtigten Behauptung, er sei um sein Schiff und seine Männer besorgt, von dem Großen Chan verabschieden können. Das war bereits am frühen. Morgen geschehen. Der Herrscher und der schwarzhaarige, blauäugige Draufgänger hatten Geschenke ausgetauscht, dann hatte Wan Li Hasard ganz europäisch die Hand geschüttelt und gesagt: „Ich bedaure es aus ganzem Herzen, daß ihr schon geht. Aber ich begreife auch, daß es euch auf euer Schiff zurückzieht, daß die See nach euch verlangt. Philip Hasard Killigrew - du hast hier einen aufrichtigen Freund gefunden, der, dich nicht vergißt.“ „Ich bin sicher, daß wir uns wiedersehen“, entgegnete Hasard. „Wann?“ „Eines Tages „Wenn der Krieg zwischen England und Spanien vorüber ist?“ Der Seewolf spürte einen feinen Schauer auf dem Rücken. „Wenn wir allem, was sich uns in den Weg stellt und uns vernichten will, heil entkommen, Großer Chan.“
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Eine halbe Stunde später setzte sich der Bootskonvoi in Fahrt. Die Strömung des Jinzhonghe trug die Sampans und die beiden Beiboote der „Isabella“ rasch nach Südosten, der Bucht entgegen, in der neun Männer der Ankunft ihrer Kameraden entgegenfieberten. Fong-Ch'ang würde zunächst am Hof des Kaisers bleiben und später als Sonderbeauftragter durch die Provinzen reisen, das war beschlossene Sache. Fong begleitete Siri-Tong, Flüssiges Licht und die Seewölfe jedoch noch bis zur Galeone, das ließ er sich nicht nehmen. „Es soll keine große Abschiedsszene werden, wenn wir ankerauf gehen“, sagte Hasard im Boot. „Wir alle würden gern noch ein paar Tage hierbleiben, aber es geht wirklich nicht.“ Fong antwortete: „Ich werde euch Mit einem lachenden und einem weinenden Auge nachschauen. Die Berufung des Großen Chans ist die größte Ehre, die mir zuteil werden konnte, ich bin stolz darauf. Andererseits vergesse ich aber auch nicht, daß du mir das Leben gerettet und mir eine Rückkehr ins Dasein ermöglicht hast, Philip Hasard. Ohne dich wäre ich heute vielleicht ein Baum oder das Wasser des Flusses, auf dem wir fahren.“ Siri-Tong übersetzte das. Hasard erwiderte: „Denk an deinen Auftrag, Fong. Außerdem: Ich schätze, daß sowohl Flüssiges Licht als auch Siri-Tong und ihre Crew im Reich der Mitte bleiben, und wenn du durch die Provinzen reist, triffst du zumindest mit ihnen sehr bald wieder zusammen.“ Ja, das war ein echter Trost für FongCh'ang. Er dachte daran, als sie die. „Isabella VIII.“ erreichten und die Männer in den Booten und auf der Galeone in Jubelrufe und ein großes Hallo ausbrachen. Er hatte die Worte des Seewolfs noch im Sinn, als Tscha, der Hofgelehrte, und er mit der Dienerschaft am Ufer bei den beiden Pferden standen, die die Seewölfe zurückließen. Und er rief sich wieder und wieder ins Gedächtnis zurück, daß es ein Wiedersehen geben würde — vielleicht schon in einem der nächsten Jahre, als die
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große Galeone ankerauf ging, in die Strömung des Flusses drehte und mit geblähten Segeln vor dem Südwestwind davonglitt. Viel. Glück, dachte Fong, ihr habt es verdient. * Arwenack wagte es, den Großmars zu verlassen. Er war Dan O'Flynns Schützling und rechnete sich auch bei einigen anderen Männern gute Chancen aus, bei eventuellen Attacken auf seine Gesundheit in Schutz genommen zu werden. Da war Smoky, der den Schimpansen gut leiden konnte, der Kutscher, der zwar schimpfte, wenn Arwenack heimlich die Kombüse aufsuchte, der aber immer einen Happen Essen zur Hand hatte, wenn das Affengesicht sich in traurige, mitleidheischende Falten legte. Und da war der Seewolf, der es nie zulassen würde, daß man das Bordmaskottchen fluchend über Deck scheuchte. Hasard stand an der Five-Rail und sah Arwenack schnatternd zu Dan O'Flynn eilen. Dem Schimpansen stand das schlechte Gewissen noch in den Augen. Und Hasard mußte lachen, obwohl er soeben Ferris' Bericht vernommen hatte. „Sam!“ rief Hasard. „Kannst du Arwenack noch einmal verzeihen?“ Sam Roskill stand auf der Kuhl, nahe dem Achterabschluß der Gräting, und hob den Kopf. „Klar kann ich das.“ „Dann gib dem Burschen eine Banane und schließ Frieden mit ihm!“ Sam ging zum Kutscher und ließ sich eine Banane aushändigen. Kurze Zeit darauf drückte er dem Affen die Frucht in die Pfoten und sagte: „Hör zu, ich bin nie sauer auf dich gewesen. Das mit dem Belegnagel hast du ja nicht absichtlich getan. Was hat Hasard bloß?“ Arwenack seufzte beruhigt. Etwa anderthalb Stunden später wurde er jäh aus der Beschaulichkeit geschreckt. Er saß wieder neben Dan O'Flynn im Großmars, und der junge Mann schnellte hoch. ;,Deck, Mastspitzen voraus!“
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Die „Isabella“ hatte den Jinzhonghe verlassen, und der Verband, den Dan da gesichtet hatte, lag nach Hasards Berechnungen fünfzehn Meilen östlich der Küste im Golf. „Dschunken“, meldete Dan. „Aber keine Kriegsdschunken des Chan! Es sind fünf Schiffe - drei große, zwei kleine mit nur zwei ziemlich mickrigen Masten!“ Längst war die. „Isabella“ gefechtsklar, längst stand jeder Mann auf seinem Posten. „Ferris“, sagte Hasard auf dem Achterdeck zu seinem rothaarigen Schiffszimmermann. „Du weise Eule scheinst ja wirklich in die Zukunft sehen zu können.“ „Moment mal, wegen dem; was ich über Nakamura gesagt habe? Es, ist doch, gar nicht 'raus, ob der Japaner auf einer der Dschunken auf uns wartet.“ Der Seewolf blickte voraus, seine Züge hatten sich verhärtet. „Bei der Verbissenheit, mit der er uns bislang auf den Fersen war, nehme ich es aber stark an.“ „Hölle“, wetterte Ben Brighton los. „Gerade haben wir den Fockmast repariert und einen neuen Bugspriet gesetzt. Ich werde stinksauer, wenn wir wieder angeknackst werden.“ Siri-Tong lächelte, aber das sah nicht fröhlich, sondern eher verwegen aus. „Mister Brighton, Sie vergessen, daß wir die Luvposition haben.“ „Sicher, aber Sie vergessen, daß der Verband dort aus fünf Schiffen besteht“, gab Hasards Erster schlagfertig zurück. „Ferris, du übernimmst sofort deine Höllenflaschen-Abschußmaschine“, ordnete der Seewolf an. Ferris flitzte los. „Shane und Batuti, ab in den Vor-- und Hauptmars!“ befahl Hasard weiter. „Flüssiges Licht, hau ab unter Deck und laß dich nicht eher sehen, bis alles vorbei ist, sonst versohle ich dir den Hintern, verstanden?“ Er hatte diesen Satz auf portugiesisch gesprochen. Das Mädchen verschwand vom Quarterdeck, wo sie Pete Ballie, dem Rudergänger, zugesehen hatte.
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„Ich probiere die neuen Brandsätze aus, die uns die Feuerwerker des Großen Chan mitgegeben haben“, sagte Siri-Tong. „Falls das nötig wird.“ Es wurde nötig. Hasard tat etwas, das der Gegner kaum erwartet hatte - er hielt auf den Piratenverband zu. Unter prallen Segeln und mit pflügender Fahrt schickte die „Isabella“ sich an, die feindliche Linie zu durchbrechen.. Nakamura begann auf der Führerdschunke wie besessen zu schreien. Er hetzte seine Männer an die Kanonen, manövrierte sein Schiff herum, um. den, Seewolf gebührend zu empfangen, aber Hasard kam ihm zuvor. Ein Brandsatz fauchte von der „Isabella“ herüber und prallte auf ungewöhnlich große Distanz auf das Deck des Piratenseglers. Er war das Neueste, das Tscha und die anderen Gelehrten und Experten am Hof von Wan Li in den letzten Wochen entwickelt hatten. Schnell war die „Isabella“ heran und wagte den Durchbruch. Ihre Culverinen und Drehbassen böllerten los, Ferris Tuckers Höllenflaschen wirbelten, Brandsatz um Brandsatz verließ das bronzene Gestell, das die Rote Korsarin bediente, Brandpfeile prasselten gegen die Feinde an - die „Isabella“ hatte sich in einen echten „Cacafuego“, 'einen Feuerspucker, verwandelt. Da nutzte es nichts, daß die Piraten Breitseiten abfeuerten. Bei aller Entschlossenheit, bei aller Gier nach den Schätzen waren sie zu unentschlossen und stimmten ihre Aktionen nicht genügend aufeinander ab. Hinzu kam die Überraschung über Hasards unglaubliche Tollkühnheit.
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Für kurze Zeit befanden sich die „Isabella“ und Nakamuras Dreimast-Dschunke auf gleicher Höhe. Nakamura stieß seinen Kampfschrei aus und wollte einen Pfeil zum Seewolf hinübersenden, und gleich darauf noch einen, der die Rote Korsarin treffen sollte. Aber Shane hatte auf ihn angelegt. Surrend traf der Pfeil, aus dem Vormars abgegeben, auf der Dschunke ein und grub sich in Nakarnuras Brust. Der Mann; der Zhuluke umgebracht und eine Horde wüster Kerle auf seine Seite gezogen hatte, hatte endlich seinen Bezwinger gefunden. Nakamuras Dschunke begann lichterloh zu brennen. Ferris' Explosionsflaschen, die Brandsätze und die flammenden Pfeile trafen eine zweite große Dschunke und eine der beiden kleineren. Auch diese Schiffe gingen in Feuer auf. Eine vierte, große segelte der davonrauschenden „Isabella“ noch eine Weile nach. Dann aber fiel sie zurück. Ihr Führer hatte eingesehen, daß es vernünftiger war, wenn er mit der fünften Dschunke unverrichteter Dinge, aber heil zu den Inseln zurückkehrte. Hasard blickte zum Fockmast— der stand wie ein Baum. Er sah zur Blinde und zum Bugspriet und stellte fest, daß auch die unversehrt waren. „Ben, Ferris, habe ich euch zuviel versprochen?“ rief er. Hatte er nicht. Und richtig groß war der Jubel, als Carberry die Meldung ausrief, kein Mann hätte auch nur die kleinste Blessur davongetragen. Unbeschadet und unbehelligt verließ die „Isabella“ einige Zeit später den Golf und nahm Kurs auf das Gelbe Meer.
ENDE