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Das Gambit der Kaiserin Ins Deutsche übertragen von v . Michael Krug BASTEI LÜBBE TAS...
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Scan by Schlaflos
CHRIS WOODING
Das Gambit der Kaiserin Ins Deutsche übertragen von v . Michael Krug BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20516 1. Auflage: Juli 2005 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe Deutsche Erstveröffentlichung Originaltitel: The Skein of Lament © 2004 by Chris Wooding First published in Great Britain in 2004 by Gollancz © für die deutschsprachige Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Martina Sahler/Stefan Bauer Titelillustration: Ciaire Valee/Agentur Schluck Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz Satz: SatzKonzept, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: Maury Imprimeur, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20516-2 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
EINS Die süßliche, stickige Luft des Dschungels surrte vor Insekten. Saran Ycthys Marul lag reglos, ohne auch nur zu blinzeln, auf einem flachen, staubigen Felsen. Ein überhängender Chapapa-Baum schützte ihn vor der erbarmungslosen Sonne. In seinen Händen ruhte eine lange, zierliche Büchse, sein Auge starrte bereits seit Stunden durch das Visier. Vor ihm fiel ein schmales Tal ab, das wie mit einem Messer in die Landschaft geschnitten wirkte. Der Talboden war übersät von weißem Kieselgeröll, Zeugnisse eines Flusses, dessen Lauf längst durch eines der verheerenden Erdbeben umgeleitet war, die den riesigen, unbezähmten Kontinent Okhamba von Zeit zu Zeit heimsuchten. Zu beiden Seiten der Kluft ragten steile Felsflächen empor. Die oberen Ränder lagen unter dem dichten Gewirr von Rankengewächsen, Büschen und Bäumen verborgen, die sich hartnäckig an jede Ritze, jeden schmalen Vorsprung klammerten. Saran lag am höchsten Ende des Tals, wo einst der Fluss seinen Abstieg begonnen hatte. Für das Ungeheuer, das sie seit Wochen hetzte, gab es nur einen Weg, wenn es ihnen weiter folgen wollte. Das Gelände war zu feindselig, um andere Möglichkeiten zu bieten. Früher oder später würde es hier herauf kommen. Und ob es eine Stunde oder eine Woche dauerte, Saran würde es erwarten. Der erste der Entdeckungsreisenden war vor zwei Wochen getötet worden, ein saramyrrischer Fährten5 sucher, den sie in einer Kolonialstadt Quaraals angeworben hatten. Zumindest nahmen sie an, dass er nicht mehr lebte; sie hatten weder einen Leichnam noch Anzeichen von Gewalt gefunden. Der Fährtensucher hatte sein gesamtes Leben als Erwachsener im Dschungel verbracht, jedenfalls hatte er das behauptet. Doch selbst er war nicht auf das vorbereitet gewesen, was sie in der Dunkelheit im Herzen Okhambas entdecken sollten. Nach ihm waren zwei der Eingeborenen verschwunden, Männer vom Volk der Kpeth, zuverlässige Führer, die zugleich die Aufgaben von Packeseln erfüllten. Kpeth waren Albinos, da sie Tausende Jahre in den schier undurchdringlichen Gefilden in der Mitte des Kontinents gelebt hatten, wo die Sonne sich nur selten einen Weg durch den Baldachin bahnte. Irgendwann in vergangenen Zeiten waren sie aus ihrem Heimatgebiet vertrieben worden und an die Küste gewandert, wo sie gezwungen waren, ein nächtliches Dasein abseits der grausamen Hitze der Tage zu fristen. Dennoch hatten sie ihre alte Lebensweise nicht vergessen, und im Zwielicht des tiefsten Dschungels war ihr Wissen von unschätzbarem Wert. Sie waren bereit, ihre Dienste gegen quaraalisches Geld zu verkaufen, das für sie ein vergleichsweise sorgenfreies und angenehmes Leben in dem schwer befestigten Landstrich am Nordwestrand des Kontinents bedeutete, der unter Priesterherrschaft stand. Saran bedauerte nicht, sie verloren zu haben. Er hatte sie ohnehin nicht gemocht. Sie hatten das hehre Leitbild
ihres Volkes vergewaltigt, auf Tausende Jahre Glauben gespuckt, indem sie Geld für ihre Dienste genommen hatten. Als Saran sie fand, lagen sie ausgeweidet übereinander, während ihr Blut in die dunkle Erde ihres Heimatlandes sickerte. 6 Von der Furcht um ihr Leben übermannt, hatten die anderen beiden Kpeth sie im Stich gelassen. Später verwendete die Kreatur sie als Köder für eine Falle. Die gemarterten Unglücklichen wurden mit gebrochenen Beinen im Pfad der Entdeckungsreisenden zurückgelassen, wo sie in der Hitze des Tages siedeten und um Hilfe flehten. Ihre Schreie sollten die anderen anlocken. Doch Saran war dadurch nicht in die Irre zu führen. Er überließ sie ihrem Schicksal und beschrieb einen weiten Bogen um ihren Standort. Mittlerweile waren insgesamt vier weitere getötet worden, allesamt Männer aus Quaraal, allesamt hilflos im Angesicht der erhabenen Grausamkeit des Dschungelkontinents. Zwei waren Opfer der Kreatur, die sie verfolgte. Einer stürzte beim Überqueren einer Schlucht in den Tod. Den letzten hatten sie verloren, als sein Ktaptha umkippte. In seinem fiebergeschwächten Zustand erwies sich das Steuern des flachen Reetbootes als zu viel für ihn, und als es sich wieder aufrichtete, war er nicht mehr darin. Neun Tote in zwei Wochen. Einschließlich Saran waren noch drei Männer übrig. Es war an der Zeit, das grausame Spiel zu beenden. Obwohl sie es aus den schrecklichen Tiefen des Landesinneren Okhambas geschafft hatten, waren sie immer noch einige Tagesmärsche von ihrem Treffpunkt - falls es überhaupt ein Treffen geben würde -entfernt; zudem waren sie in schlechter Verfassung. Weita, der letzte Saramyrrer unter ihnen, kämpfte immer noch gegen das Fieber an, das auch den Mann aus Quaraal das Leben gekostet hatte; er war erschöpft und wandelte im Grenzland seiner geistigen Gesundheit. Tsata hatte sich eine Verletzung an der Schulter zugezogen, die wohl eitern würde, wenn er keine Gelegenheit bekäme, die nötigen Kräuter zu suchen, um sich zu hei7 len. Nur Saran erfreute sich bester Gesundheit. Kein Leid hatte ihn auch nur gestreift, und er zeigte sich unermüdlich. Dennoch zweifelte selbst er inzwischen, ob sie den Treffpunkt erreichen würden, und die Folgen dessen wären weit schlimmer als sein eigener Tod. Tsata und Weita befanden sich irgendwo unten im Tal im ausgetrockneten Flussbett, wo sie sich im Gewirr der moosüberwucherten Salzsteinfelsbrocken verbargen. So wie Saran warteten sie. Und hinter ihnen lauerten ähnlich unsichtbar Tsatas Fallen. Tsata stammte aus Okhamba, jedoch von der Ostseite des Kontinents, wo die Händler Saramyrs segelten. Er war ein Tkiurathi, eine gänzlich andere Rasse als die nachtliebenden Albinos der Kpeth. Außerdem war er der einzige Überlebende der Entdeckungsreisenden, der in der Lage war, sie aus dem Dschungel zu führen. In den letzten drei Stunden hatten sie unter seiner Anleitung Stolperdrähte gespannt, Steinschlagfallen angebracht, Gruben ausgehoben, Giftpfähle aufgestellt und den Rest ihrer Sprengladungen gelegt. Es war praktisch unmöglich, die Schlucht unbemerkt zu erklimmen. Dennoch war Saran nicht beruhigt. Mit endloser Geduld lag er reglos wie ein Toter da. Seine Haut war von Dreck und Schweiß verschmiert, das kinnlange, schwarze Haar klebte ihm in feuchten, schlaffen Strähnen am Hals und an den Wangen. Trotzdem war er sogar in seinem gegenwärtigen Zustand ein atemberaubend gut aussehender Mann. Er besaß die Züge des Adels von Quaraal, einen gewissen Stolz, der aus den dunkelbraunen Augen und der scharf geschnittenen Kurve seiner Nase sprach. Seine übliche Blässe war durch die langen Monate in der sengenden Hitze des Dschungels gedunkelt, dennoch zeigten sich in seinem Gesicht keinerlei Male der Mühen und Plagen, die er erduldet hatte. Ungeachtet allen Unbehagens verboten ihm Eitelkeit und Tradition, die engen, hochgeschlossenen Gewänder seiner Heimat gegen eine für die örtlichen Bedingungen geeignetere Kluft zu tauschen. Er trug eine gestärkte, schwarze, mittlerweile zerknitterte Jacke. Der Saum des hohen Kragens war mit Silberfiligran ziseliert, das sich auch um die Schnallen kräuselte, die vom Hals zur Hüfte an einer Seite der Brust entlang verliefen. Auf der zur Jacke passenden Hose setzte sich das verschlungene Motiv des Silbergeflechts fort. Die Hosenbeine steckten in mit Öl behandelten Lederstiefeln, die eng an seinen Waden anlagen und auf langen Märschen grässlich rieben. An seinem linken Handgelenk - das den Lauf der Büchse stützte - hing ein kleines Symbol aus Platin, eine Spirale mit einem dreieckigen Schild, das Wappenbild der quaraalischen Gottheit Ycthys, der er seinen zweiten Vornamen verdankte. Ohne den Blick vom Visier abzuwenden, ging er in Gedanken die Lage durch. Die schmälste Stelle der Schlucht war voller Fallen, und zu beiden Seiten ragten steile Felswände auf. Die Felsbrocken an deren Füßen, Überreste früheren Steinschlags, türmten sich zwei Meter oder höher und bildeten einen Irrgarten, durch den der Jäger sich den Weg bahnen musste. Es sei denn, er beschlösse, darüber zu klettern. In diesem Fall würde Saran ihn erschießen. Weiter oben am Hang und weniger weit von Saran entfernt weitete sich das einstige Flussbett. Dort wucherten Bäume, ein Aufeinanderprallen verschiedener Arten, die sich dicht an den trockenen Ufern um Platz und Licht drängten. Neben den Bäumen ragten weitere, dunkelgraue und weiß geäderte Steinwände auf. Sarans Plan war seine Beute in der Rinne des Flussbettes zu halten. Sollte das Ungeheuer zwischen die Bäume gelangen ... 9 Am äußersten Rand seines Sichtfelds nahm Saran eine zuckende Bewegung wahr. Trotz der langen Stunden der Untätigkeit handelte er sofort. Er zielte und feuerte.
Geheul ertönte, ein Laut zwischen einem Kreischen und einem Kläffen, der vom Fuß des Hanges herauf hallte. Mit einer flinken, geübten Handbewegung machte Saran die Büchse wieder feuerbereit, indem er den Hahn zurückzog und spannte. In der Zündkammer befand sich eine frische Ladung Schießpulver, die unter gewöhnlichen Bedingungen für etwa sieben Schüsse reichen müsste, angesichts der feuchten Luft vielleicht für fünf. Schießpulver war so verflucht unzuverlässig. Vom widernatürlichen Knall der Schusswaffe erschrocken, war der Dschungel verstummt. Saran hielt Ausschau nach einem weiteren Anzeichen von Bewegung. Nichts. Nach und nach begann es, in den Bäumen wieder zu brummen und zu summen, vermengten sich Tierlaute und Vogelgezwitscher zu einer inhaltsleeren Kakophonie üppigen Lebens. »Hast du es getroffen?«, fragte eine Stimme an seiner Schulter. Es war Tsata, der Saramyrrisch verwendete, die einzige gemeinsame Sprache, die den drei Überlebenden geblieben war. »Vielleicht«, erwiderte Saran, ohne das Auge vom Visier abzuwenden. »Es weiß, dass wir hier sind«, bemerkte Tsata, wenngleich daraus nicht hervorging, ob er meinte, weil Saran geschossen hatte. Tsata war zwar überaus sprachbegabt, aber nicht vertraut genug mit den Feinheiten der saramyrrischen Sprachmelodie, die für jeden, der nicht im Land geboren wurde, praktisch unverständlich war. »Das wusste es bereits«, murmelte Saran, um die Sache klar zu stellen. Bislang hatte der Jäger geradezu unheim10 liehe Vorausschau bewiesen und es mehrere Male geschafft, vor sie zu gelangen, indem er ihren Pfad erahnte und Köder und falsche Fährten missachtete. Nur Tsata hatte ihn bisher überhaupt gesehen, als er ihnen vor zwei Tagen in die Schlucht folgte. Weder Tsata noch Saran gaben sich der trügerischen Vorstellung hin, ihre Fallen könnten das Wesen überraschen. Sie konnten nur hoffen, dass es vielleicht einmal nicht in der Lage sein würde, sie zu umgehen. »Wo steckt Weita?«, wollte Saran wissen, der sich plötzlich fragte, weshalb Tsata hier und nicht unten zwischen den Felsbrocken war, wo er sein sollte. Bisweilen wünschte er, Okhamber besäßen dieselbe, tief verwurzelte Disziplin wie Saramyrrer oder Quaraaler, doch ob ihrer herrschaftslosen Lebensweise waren sie stets unberechenbar. »Rechts«, antwortete Tsata. »Im Schatten der Bäume.« Saran schaute nicht hin. Er wollte gerade eine weitere Frage stellen, als ein dumpfer Knall durch die Schlucht donnerte, die Bäume erzittern und die Felsbrocken erbeben ließ. Aus der Mitte des Flussbetts kräuselte sich träge eine dichte Wolke weißen Staubes in die Luft empor. Der Widerhall der Explosion trieb himmelwärts, und der Dschungel verstummte abermals. Das Fehlen jeglicher Tierlaute fühlte sich gespenstisch an; in den Monaten ihrer Reise war es zu einem ständigen Hintergrundgeräusch geworden, und die plötzliche Stille glich einer schmerzlichen Leere. Eine lange Weile atmete und rührte sich keiner der beiden. Schließlich brach das Scharren von Tsatas Schuh auf dem Steinboden den Bann. Saran wagte einen Blick zurück zu dem Tkiurathi, der neben ihm auf einem Knie kauerte und sich an der glatten 11 Rinde des Chapapa-Baumes verbarg, der sie beide schützte. Es wurden keine Worte gewechselt. Die beiden brauchten keine. Sie warteten einfach, bis der Staub sich gelichtet und gesetzt hatte; dann nahmen sie ihre Wache wieder auf. Unwillkürlich fühlte Saran sich mit seinem Gefährten an der Seite ein wenig behaglicher. Das Erscheinungsbild des Tkiurathi war zwar seltsam und sein Gebaren noch eigenartiger, dennoch vertraute Saran ihm. Und Saran war kein Mann, der sein Vertrauen leichtfertig verschenkte. Tkiurathi waren im Wesentlichen eine Mischrasse, entstanden aus der Vereinigung der Überlebenden des Exodus aus Quaraal vor über tausend Jahren und den Eingeborenen, auf die sie im Osten des Kontinents getroffen waren. Tsata besaß die milchig-goldene Hautfarbe, die sich daraus ergab und durch die er abwechselnd gesund und sonnengebräunt oder blass und gelbsüchtig wirkte, je nach vorherrschendem Licht. Schmutziges orange-blondes Haar war über seinen Schädel zurückgekämmt und mit Saft gefestigt. Er trug eine ärmellose Weste aus gräulichem Hanf und eine Hose aus demselben Stoff, doch wo sein Körper nicht bedeckt war, konnte man die gewaltige Tätowierung sehen, die ihn überzog. Es handelte sich um ein verschlungenes, wirbelndes Muster, das sich grün gegen seine fahlgelbe Haut abzeichnete, am unteren Rücken begann und sich in Ranken über seine Schultern, die Rippen entlang und bis zu den Waden kräuselte, wo es rings um die Knöchel endete. Die Ranken teilten sich, trieben auseinander, verjüngten sich zu Punkten und blieben dabei streng spiegelgleich auf beiden Seiten seines Körpers. Kleinere Ranken erstreckten sich seinen Hals empor und bis 12 unter den Haaransatz oder schlängelten sich seine Wangen entlang und schmiegten sich in die Wölbung seiner Augenhöhlen. Zwei schmale Triebe verliefen unterhalb seines Kinns, verhakten sich ineinander und endeten an
den Lippen. Aus der Maske der Tätowierung, die seine Züge umspannte, suchten zwei Augen in derselben Farbe des Kunstwerks die Schlucht unter ihnen ab. Etwa eine Stunde später gesellte Weita sich zu ihnen. Er sah krank und gebrechlich aus. Sein kurzes, dunkles Haar wirkte stumpf, die Augen glänzten fiebrig. »Was treibt ihr denn bloß?«, zischte er. »Wir warten«, antwortete Saran. »Worauf?« »Ob es sich noch mal bewegt.« Weita stieß einen leisen Fluch aus. »Hast du es denn nicht gesehen? Die Sprengkörper! Falls die es nicht getötet haben, dann gewiss eine der anderen Fallen.« »Das Wagnis können wir nicht eingehen«, entgegnete Saran unerbittlich. »Es könnte auch nur verwundet sein. Oder die Falle absichtlich ausgelöst haben.« »Wie lange hocken wir hier also noch herum?«, verlangte Weita zu erfahren. »So lange es dauert«, gab Saran zurück. »Bis das Licht schwindet«, meldete Tsata sich zu Wort. Saran nahm die Widerrede ohne Groll hin. Insgeheim sorgte er sich, dass die Kreatur sich im Schutz der Felsbrocken bereits die Schlucht herauf geschlichen und es bis zur Baumgrenze geschafft haben könnte, wenngleich er es für unwahrscheinlich hielt. Nach Sonnenuntergang würde es den Vorteil der Schatten auf seiner Seite haben, und selbst Tsatas an Dunkelheit gewöhnte Augen hätten Mühe, es auf eine solche Entfernung zu erspähen. »Bis das Licht schwindet«, berichtigte Saran sich. 13 Doch obwohl die Insekten sie piesackten und die Luft immer feuchter wurde, bis sie sich merklich schwerer atmen ließ, blieb ihre Wache unbelohnt. Es gab kein weiteres Zeichen ihres Verfolgers. Weitas Aufbegehren fiel auf taube Ohren. Saran konnte ewig warten, und Tsata schien damit zufrieden, in dieser Angelegenheit so sicher wie möglich zu sein. So wie immer galt seine Sorge dem Wohl der Gruppe, und er war zu klug, um ihren Verfolger zu unterschätzen. Weita hingegen meckerte und beschwerte sich. Er wollte unbedingt hinunter zwischen die Felsbrocken, um den Leichnam ihres Feindes mit eigenen Augen zu sehen, wollte unbedingt die Furcht vor der Kreatur abschütteln, die bislang nur Tsata zu Gesicht bekommen hatte, jenem unsichtbaren Werkzeug der Rache, das in Weitas Vorstellung zu einem Dämon gewachsen war. Schließlich regte Tsata sich eine Stunde vor Sonnenuntergang am Stamm des Chapapa-Baumes und murmelte: »Wir sollten jetzt aufbrechen.« »Endlich!«, rief Weita. Saran erhob sich von der Stelle, an der er fast den ganzen Tag lang auf der Brust gelegen hatte. In den Anfangstagen der Erkundungsreise hatte Weita die Ausdauer des Mannes noch bewundert; mittlerweile empfand er sie nur noch als ärgerlich. Eigentlich müssten Saran am ganzen Körper Schmerzen plagen, doch stattdessen wirkte er, als käme er gerade von einem Spaziergang. »Weita, wir beide verteilen uns über die Felsbrocken und nähern uns von beiden Seiten. Du weißt, wo die Fallen sind, sei vorsichtig. Die Explosion hat vielleicht nicht alle ausgelöst.« Weita nickte, wenngleich er nur halbherzig zugehört hatte. »Tsata, du bleibst in höheren Gefilden. Klettere über die Felsbrocken. Sollte es versuchen, auf dich zu schießen oder etwas nach dir zu wer14 fen, tauchst du unter und kehrst so schnell wie möglich hierher zurück.« »Nein«, widersprach Tsata. »Es könnte bereits zwischen den Bäumen sein. Dann bin ich ein einfaches Ziel.« »Wenn es aus der Schlucht entwischt ist, sind wir alle einfache Ziele«, hielt Saran dem entgegen. »Und wir brauchen jemanden dort oben, der danach Ausschau hält.« Darüber dachte Tsata kurz nach. »Ich verstehe«, erklärte er schließlich - was Saran so auffasste, dass er dem Plan zustimmte. »Seid ständig auf der Hut«, mahnte Saran beide. »Wir müssen davon ausgehen, dass es noch lebt und gefährlich ist.« Tsata prüfte seine Büchse, lud sie nach und machte sie schussbereit. Saran und Weita versteckten ihre Feuerwaffen im Unterholz. In der Enge des Flussbettes wären Büchsen lediglich ein Hindernis. Stattdessen zogen sie Klingen, Weita ein schmales, gebogenes Schwert, Saran einen langen Dolch. Dann wagten sie sich aus der Deckung hervor. In den engen Durchgängen zwischen den Felsbrocken war die Hitze schlimmer. Die stickige Luft war dazwischen gefangen, kein Lüftchen wälzte sie um. Schräg einfallendes Licht überzog die Gesichter der Entdeckungsreisenden, als sie über die Trennlinie zwischen strahlendem Sonnenschein und heißem Schatten und wieder zurück huschten. Der Boden war von Geröll übersät, obwohl ein Großteil der Kiesel während der Regengüsse fortgeschwemmt worden war, die den Fluss ein paar flüchtige Wochen im Jahr zu einem Abklatsch seiner einstigen Pracht anschwellen ließen. Was zurückblieb, war zu schwer, um durch die Strömung bewegt zu 15 werden: klobige Brocken weißlichen Steins, von Sonne und Wasser gesprungen und geglättet. Saran glitt von Fels zu Fels, durchquerte eine Reihe toter Winkel und verließ sich allein auf seinen Orientierungssinn, um auf dem rechten Weg zu bleiben. Irgendwo über ihnen bahnte sich Tsata, von den Felsblöcken verborgen, seinen Weg, indem er mit der Büchse im Anschlag über die schmalen Klüfte sprang und nach Bewegung Ausschau hielt. Weita hörte er durch das Schlurfen seiner Füße. Der Saramyrrer war unfähig, sich leise zu verhalten; ihm mangelte es an der nötigen Anmut dafür.
»Ihr nähert euch den Fallen«, teilte Tsata ihnen von oben mit. Saran verlangsamte die Schritte und suchte nach den Zeichen, die sie in den Salzstein geritzt hatten, verschlüsselte Symbole, die ihnen anzeigten, wo die Fallen und Gruben sich befanden. Er entdeckte eines, schaute hinab und stieg über den haardünnen Draht, der knapp drei Zentimeter über dem Boden gespannt war. »Kannst du es sehen?«, rief Weita. Saran spürte regelrechte Verzweiflung in sich aufwallen. Weitas Vorstellung von Verstohlenheit war Mitleid erregend. »Noch nicht«, schwebte Tsatas Stimme zu ihnen herab. Er war bereits so bar jeder Deckung, dass er sich nicht mehr darum zu kümmern brauchte, ob er sich durch Reden zusätzlich in Gefahr brachte. Dann lichteten die Felsbrocken sich, und Saran erhaschte einen Blick auf seinen Gefährten, den Tkiurathi, der sich etwas entfernt mit äußerster Sorgfalt über die Felsbrocken bewegte. »In welche Richtung soll ich gehen?«, rief Weita erneut. 16 »Siehst du den Felsbrocken zu deiner Rechten? Der entzweigebrochen ist?«, fragte Tsata. Saran drückte sich gerade an einer verborgenen Grube vorbei, als ihm klar wurde, dass Weita nicht geantwortet hatte. Er erstarrte. »Weita?«, fragte Tsata nach. Stille. Saran spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Er stieg auf sicheren Boden und schloss die Finger um den Griff des Dolches. »Saran«, sagte Tsata. »Ich glaube, es ist hier.« Tsata war schlau genug, keine Antwort zu erwarten. Saran sah noch, wie er außer Sicht glitt und in die Deckung der Felsen zu Boden sprang. Dann war er allein. Erregt wischte er sich das strähnige Haar aus dem Gesicht und spitzte die Ohren für ein Geräusch, einen Schritt: alles, was den Aufenthaltsort der Kreatur preisgeben konnte. Weita war tot, daran bestand für Saran kein Zweifel. Nicht einmal der Saramyrrer wäre so dumm, ihnen in so einem Augenblick einen Streich zu spielen. Was Saran beunruhigte, war der Umstand, wie lautlos er gestorben war. Es schien besser, nicht still zu stehen. In Bewegung mochte Saran zumindest der Vorteil der Überraschung beschieden werden. Er schlich weiter durch das Gewirr der Salzsteinbrocken, presste sich durch eine Spalte, wo zwei aneinander gerollt waren. Das verfluchte Ding hatte einfach länger als sie gewartet, sie hierher gelockt. Flucht kam nun nicht mehr in Frage. Jeder Versuch wäre aussichtslos. Ob seiner wachsenden Beklommenheit übersah er um ein Haar ein verschlüsseltes Zeichen. Er entdeckte es gerade noch rechtzeitig, um das Auslösen einer Stein17 schlagfalle zu vermeiden. Als er nach oben blickte, sah er die Stützen, auf denen über seinem Kopf ein Felsbrocken ruhte. Saran duckte sich unter dem Auslöserdraht in Brusthöhe hindurch und stieg über jenen in Knöchelhöhe hinweg, der sich unmittelbar dahinter befand. Mittlerweile hatte er den Rand des Gerölls erreicht, das die Explosion in die Gegend geschleudert hatte. Es kam einem Wunder gleich, dass die Steinschlagfalle heil geblieben war. Überall auf dem Boden lagen Steine und Staub verstreut. Vorsichtig schlich er weiter. Die Ruhe war Furcht einflößend. Außerhalb der Welt der düsteren, unebenmäßigen Gänge aus Licht und Schatten, durch die er huschte, waren die Geräusche des Dschungels deutlich zu hören, doch darin herrschte vollkommene Stille. Schweiß tropfte ihm vom Kiefer. War Tsata noch am Leben oder hatte das Ding auch ihn erwischt? Ein Kiesel klackerte. Saran bewegte sich schnell, die Kreatur noch einen Hauch schneller. Ihm blieb nicht einmal Zeit, einen Blick darauf zu erhaschen, ehe seine Instinkte ihn den Kopf zurück und zur Seite reißen ließen. Die Klauen sausten verschwommen an ihm vorbei und rissen zwei seichte Furchen seinen Hals hinab. Der Schmerz war noch gar nicht zu ihm durchgedrungen, bevor der Folgehieb kam, doch diesmal hatte Saran die Klinge oben. Das Ding kreischte und sprang zurück, blieb ihm in Lauerstellung kurz vom Leib. Zwei klauenbewehrte Finger fielen zwischen den Gegnern zu Boden, wo sie weißen Staub aufwirbelten, als sie landeten. Saran hatte eine geduckte Haltung eingenommen und verbarg die Klinge hinter dem Führungsarm, um 18 seinen nächsten Angriffswinkel zu verschleiern. Die Wunde an seinem Hals begann zu brennen. Gift. Flüchtig wanderte Sarans Blick über seinen Gegner. Seine Gestalt war menschenähnlich und doch wieder nicht, so als hätte ein wahnsinniger Töpfer die Tonfigur eines Menschen genommen und etwas Grässliches daraus geformt. Die Fratze wirkte, als wäre sie über den gestreckten Schädel zurückgezogen; die Züge waren gespannt, die schwarzen Haifischaugen ruhten in schlitzförmigen Höhlen, die Nase war platt. Das Gebiss bildete eine makellos gerade und ebenmäßige Doppelreihe federkieldicker Nadeln; von frischem Blut befleckt, prangten sie
in einem breiten Maul. An zierlichen Gliedern wölbten sich unter glatter, grauer Haut drahtige Muskeln, und entlang der Unterarme, Oberschenkel und des affenähnlichen Greifschwanzes am Steißbein verliefen verkümmerte Fleischlappen, die an Fischflossen erinnerten. In Saramyr hatte Saran grässlichere Gestalten gesehen, doch sie waren Unfälle der Schöpfung gewesen. Diese Kreatur war so geschaffen worden; bereits im Mutterleib war die Furcht einflößende Erscheinung geschmiedet, waren die Eigenschaften geändert worden, um einen einzigen Zweck zu erfüllen: den vollkommenen Jäger zu gebären. Nun prangte in seiner Hand ein Messer, eine hakenförmige Klinge, aber noch ließ die Kreatur keine Anzeichen erkennen, angreifen zu wollen. Sie wusste, dass sie ihrem Gegner einen Schlag versetzt hatte, und wartete, bis das Gift zu wirken begann. Mit erschlaffender Haltung und schweren Lidern taumelte Saran einen Schritt zurück. Nun griff das Wesen ihn an, zielte mit dem Messer auf seine Kehle. Sarans Kehle aber war nicht dort, wo die Klinge hinstieß; er war 19 bereits ausgewichen und hatte den Dolch in Richtung der schmalen Brust der Kreatur emporsausen lassen. Saran war nicht halb so geschwächt, wie er vorgegaukelt hatte. Sein überraschter Gegner wich kaum aus; die Spitze von Sarans Klinge zog eine lange Furche entlang seiner Rippen. Das Ding hielt keinen Lidschlag lang inne. Es stürzte wieder heran, schneller diesmal, da es weniger überzeugt von der Schwäche seines Opfers war. Saran wehrte den Angriff unter dem schrillen Klirren von Metall ab und zielte auf den Hals der Kreatur. Doch sein Gegner bewegte sich fließend wie Wasser - sein Hieb ging ins Leere und brachte Saran gefährlich aus dem Gleichgewicht. Das Wesen erfasste sein Handgelenk mit ehernem Griff und schleuderte ihn einfach über die Schulter; einen Übelkeit erregenden Augenblick segelte Saran durch die Luft, ehe er auf dem harten Boden landete, wobei ihm der Dolch aus der Hand fiel und über den Stein schlitterte. Er konnte seinen Schwung nicht bremsen und stürzte, bis er ein scharfes Ziehen an zwei Stellen spürte, als er schließlich zum Stillstand kam. Stolperdrähte. Er stieß sich mit den Beinen ab und rollte sich zurück - keinen Lidschlag später krachte der Felsblock an der Stelle zu Boden, an der sich sein Kopf befunden hatte. Mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung war er wieder auf den Beinen, aber sein Gegner setzte schonungslos nach, sprang über den Schutt der Falle, noch bevor der Staub sich gelichtet hatte. Saran blieb kaum Zeit zu begreifen, dass er den Dolch verloren hatte; er ließ die Hand in den Schwung der Klinge der Kreatur emporsausen und fing sie mit dem Handgelenk ab, doch scheinbar aus dem Nichts hieb bereits ein weiteres Messer auf sein Gesicht ein, sein eigenes Messer. Blitzschnell riss er sich 20 los und sah die Schneide um Haaresbreite an seinem Nasenrücken vorbeizucken, aber etwas verfing sich an seinem Knöchel; er taumelte rücklings und verlor das Gleichgewicht. Im Fallen nahm er ein schrilles Zischen und eine Bewegung wahr, sah verschwommen etwas an seinen Augen vorbeiflimmern, dessen Windstoß ihm die Haare zerzauste. Dann ertönte ein dumpfer, feuchter Aufprall. Gleich darauf landete Saran flach auf dem Rücken, war dem letzten Angriff seines Gegners hilflos ausgeliefert. Doch der Todesstoß blieb aus. Er schaute auf. Die Kreatur baumelte leblos vor ihm. Der schlaffe Körper hing an der tödlichen Reihe Holzstacheln, die seine Brust durchbohrt hatten. Saran war buchstäblich über einen Draht gestolpert, und der zurückgebogene junge Baum war an seinem Gesicht vorbeigeschnellt, als Saran fiel, und traf stattdessen die Kreatur. Eine lange Weile lag er ungläubig da, dann begann er zu lachen. Das aus Fleisch geschmiedete Ungeheuer hing gleich einer Marionette mit durchgeschnittenen Fäden da; der Kopf baumelte kraftlos herab, die schwarzen Augen starrten blicklos ins Leere. Als Tsata eintraf, staubte Saran sich gerade ab und lachte noch immer. Das schiere Hochgefühl des Augenblicks hatte ihn regelrecht trunken gemacht. Der Tkiurathi nahm den Anblick, der sich ihm bot, mit verwirrter Miene auf. »Bist du verletzt?«, fragte er. »Ein wenig Gift«, antwortete Saran. »Zu wenig. Ich glaube, ich werde mich eine Weile krank fühlen, mehr nicht. Dieses Ding da hat sich auf das Gift verlassen, um mir den Garaus zu machen.« Abermals lachte er auf. Tsata, dem Sarans bemerkenswerte körperliche Verfassung bekannt war, bohrte nicht weiter nach. Statt21 dessen musterte er die Kreatur, die sich in der Stachelfalle verfangen hatte. »Warum lachst du?«, wollte er wissen. »Bei den Göttern, es war so schnell, Tsata!« Saran grinste. »Sich einem derartigen Geschöpf zu stellen und es zu besiegen... fühlt sich ... berauschend an.« »Ich bin froh«, meinte Tsata. »Trotzdem sollten wir noch nicht feiern.« Sarans Gelächter verebbte zu einem unsicheren Kichern. »Was soll das heißen?«, fragte er. »Es ist tot. Da hast du deinen Jäger.« Tsata schaute zu ihm auf. Der Blick seiner fahlgrünen Augen war düster. »Das ist ein Jäger«, berichtigte er Saran. »Aber es ist nicht der, den ich vor zwei Tagen gesehen habe.«
Kälte umfing Saran. »Da draußen ist noch einer«, erklärte Tsata. 22 ZWEI Eine der Mondschwestern, die zerfurchte Iridima, hing noch tief am nördlichen Firmament, als das Morgengrauen den östlichen Himmel in einen Feuersturm verwandelte. Es begann als düstere, rote Wolke, die immer breiter und wallender wurde, während sie über den Bogen des Horizonts glitt. Das Meer darunter, das während der Nacht im Schimmer Iridimas und des riesigen, fleckigen Anüitzes ihrer Schwester Aurus still und grüblerisch gewirkt hatte, griff die Sonne auf wie ein zaghafter Chor, der eine Melodie anstimmt. Vereinzelte Schimmer stachen aus der Ferne hervor, blitzten im Einklang mit dem Rollen der Wellen. Allmählich steckten sie die Wogen in ihrem Umfeld an, die gleich Kontrapunkten funkelten und einem anderen Takt folgten, da sie von Tiefenströmungen und der Erinnerung an die verworrene Doppelschwerkraft der beiden Monde aufgewühlt wurden. Der Himmel ging von Schwarz in ein tiefes, sattes Blau über, die Sterne verblassten nach und nach. Der Abschluss setzte plötzlich ein. Der ruhige, gemächliche Fortschritt zerfiel in Unordnung, als er sich seinem Crescendo näherte, und der obere Rand von Nukis Auge spähte über den Rand des Planeten, ein strahlender, weißer Bogen, der die gesamte Breite des Ozeans entzündete. Das Licht schwappte über das Meer und die winzigen Punkte der westwärts kreuzenden Dschunken aus Saramyr hinweg und ergoss sich über das Land dahinter: einen gewaltigen, grünen Streifen, der so 23 endlos wirkte wie die See, die an seiner Küste endete. Okhamba. Der Hafen von Kisanth schmiegte sich in die schützende Umarmung einer Lagune, die durch eine hoch aufragende, uralte Felswand vom Meer getrennt war. Die bedrohliche, schwarze Steinmasse behütete die Lagune vor dem Toben der Stürme, die um diese Jahreszeit die Ostküste heimsuchten, während unzählige Kanäle unter Wasser reichlich Fisch aus dem offenen Meer einließen. Einer dieser Kanäle war im Verlauf endloser Jahre derart ausgewaschen worden, dass er den Fels darüber unterhöhlt und einen Teil davon zum Einsturz gebracht hatte, wodurch ein mächtiger Tunnel entstanden war, breit genug, um selbst große Handelsschiffe hindurchzulassen. In eben jene Kluft glitt die Herz von Assantua, die fächerförmigen Segel dicht geschotet. Die Dschunke geriet aus der Hitze des frühen Morgens in den kalten, feuchten Schatten. Von der Decke tropfte und hallte es wider, Laternen versuchten mit schwachem Schein, die Düsternis zu vertreiben, und entlang der Wände spannten sich Seilstege. Das Innere des Tunnels war noch ebenso rau und unebenmäßig wie vor all den Jahren, als er entstanden war - lange bevor die Siedler vor der aufblühenden Priesterherrschaft in Quaraal geflohen waren und festgestellt hatten, in welchen Albtraum sie sich dadurch katapultierten. Scharfe Augen kontrollierten die langsame Fahrt durch das gespenstische Zwielicht. Am Ruder wurden winzige Anpassungen nach gebrüllten Anweisungen vorgenommen. Dutzende Männer standen mit langen Schiebestangen an Deck bereit, um mit vereintem Gewicht den Kurs der wuchtigen Dschunke zu berichtigen, sollte sie zu nahe an die Seiten des Tunnels driften. 24 Ein paar lange Minuten trieben sie durch jene seltsame, in sich geschlossene Welt, die den Hafen und das Meer verband. Dann blieb der Tunnel hinter ihnen zurück, und sie befanden sich wieder unter blauem Himmel. Die Lagune lag noch zu zwei Dritteln im Schatten der Felswand, der westliche Rand aber war wie mit Licht getüncht, und dort warteten Kisanth und das Ende einer langen Reise. Der Hafen erstreckte sich prunkvoll entlang des Randes der Lagune und den steilen Hang des bewaldeten Beckens hinauf, der die Küste umgab. Er präsentierte sich als berauschendes Gewirr hölzerner Landungsbrücken und -stege, bunt bemalter Hütten und Lagerhäuser, Kontore und Freudenhäuser mit abblätternder Farbe. Herbergen und windschiefe Tavernen säumten mit Planken ausgelegte Trampelpfade. Stände boten Gerichte aus Saramyr und Okhamba feil. Kleine Dschunken oder Ktaptha trieben am Nordrand von den Stränden hinaus und schnitten durch das Fahrwasser der größeren Schiffe, die schwerfällig auf die an Spinnenbeine erinnernden Piers der Docks zukreuzten. Zimmermänner hämmerten im Sand an Schiffskörpern. Alles in Kisanth war in schillernde Farben getüncht, und alles war von den sengenden Strahlen der Sonne und dem Toben der Stürme ausgebleicht. Es war eine lebendige Welt voller verzogener Bretter und stetig abblätternder Schilder, die den fortwährenden Verfall zu verschleiern versuchte, indem sie das Auge mit knalligen Farben ablenkte. Für den letzten, gemächlichen Abschnitt über die Lagune setzte die Herz von Assantuaihre kleineren Segel, fand ein freies Pier und dockte daran an. Die Schiebestangen waren mittlerweile verräumt. Stattdessen wurden dicke Taue zu wartenden Dockarbeitern hinab25 geworfen, die diese an mächtigen Pfählen befestigten. Die Dschunke kam zum Stillstand und rollte die Segel ein wie ein aufgeplusterter Pfau sein Gefieder. Die Förmlichkeiten des Ausschiffens nahmen den Großteil des Vormittags in Anspruch. Da Kisanth eine Kolonie Saramyrs war, mussten strenge Überprüfungen durchgeführt werden. In Amtsgewänder gekleidete Behördenvertreter und Schriftführer verbuchten die Fracht, verglichen Fahrgäste mit der Passagierliste,
zeichneten während der Überfahrt Verstorbene oder Vermisste auf, fragten die Reisenden nach dem Zweck ihres Aufenthalts in Kisanth und wo sie wohnen oder wohin sie gehen würden. Wenngleich ihre Fragen dem festgeschriebenen Ablauf entsprachen und für sie alltäglich waren, legten sie dabei einen spürbaren Eifer an den Tag, da sie sich für die Hüter der Ordnung in diesem unbezähmbaren Land hielten, für Bastionen gegen den grausamen Wahnsinn, der außerhalb des Umkreises ihrer Stadt herrschte. Nachdem alles zu ihrer Zufriedenheit geregelt war, kehrten sie zum Hafenmeister zurück, der die Liste abermals prüfen und sie anschließend einem Weber übergeben würde. Am Ende der Woche würde der Weber die Angaben jemandem in Saramyr mitteilen, indem er die Kluft zwischen den beiden Kontinenten mit einem einzigen Gedanken überbrückte. Der Weber auf der Empfängerseite wiederum würde den dortigen Hafenmeister über die Ankunft der Schiffe der jeweiligen Händler in Kenntnis setzen. Es war ein vorzüglich durchdachtes und wirkungsvolles Gefüge - und wahrhaft bezeichnend für Saramyr. Zwei der Fahrgäste, die mit erfundenen Namen und gefälschten Ausweisen reisten, kümmerte all das wenig. Sie durchliefen die Vielzahl der Kontrollen, ohne jeglichen Argwohn zu erregen. 26 Kaiku tu Makaima und Mishani tu Koli wandelten inmitten der Masse ihrer Mitreisenden, verabschiedeten sich und tauschten leere Versprechen, in Verbindung zu bleiben, während die Menge sich am Ende des Piers auflöste und jeder auf den Holzstraßen seines Weges zog. Nach einem Monat an Bord eines Schiffes waren die Beine unstet und die Stimmung gut. Während der Reise von Jinka an der Nordwestküste Saramyrs war ihre Welt auf die Enge der verschwenderisch ausgestatteten Dschunke geschrumpft. Da die Fahrgäste von den geschäftigen Seeleuten kaum beachtet wurden und es sonst wenig zu tun gab, hatte man sich untereinander kennen gelernt. Händler, Auswanderer, Verbannte, Gesandte: Sie alle hatte die Reise zu einer losen Gemeinschaft zusammengeschweißt, die zuvor so kostbar schien, aber bereits zu zerbröckeln begann, als ihre Welt sich wieder ausweitete und man sich der Gründe besann, weshalb man das Meer überquert hatte. Nun hatte sich jeder um eigene Angelegenheiten zu kümmern - Angelegenheiten, die wichtig genug waren, um einen Monat dafür zu reisen -, und kurzfristig geschlossene Freundschaften oder unbesonnene Liebschaften wurden vergessen. »Du bist viel zu gefühlsduselig, Kaiku«, mahnte Mishani ihre Gefährtin, als sie vom Pier fortschlenderten. Kaiku lachte. »Ich hätte mir denken können, dass ich eine solche Schelte von dir hören würde. Ich nehme an, dir tut es nicht Leid, sie alle von dannen ziehen zu sehen.« Mishani schaute zu Kaiku auf, die einige Fingerbreit größer als sie war. »Wir haben sie die gesamte Reise über belogen«, gab sie trocken zu bedenken. »Über unser Leben, unsere Kindheit, unsere Berufe. Hast du ernstlich die Hoffnung gehegt, ihnen jemals wieder zu begegnen?« 27 Kaiku hob eine Schulter, eine Geste, die bei einer ranken, hübschen Frau kurz vor ihrer sechsundzwanzigsten Ernte eigenartig knabenhaft anmutete. »Außerdem sind wir binnen einer Woche von hier verschwunden, wenn alles gut verläuft«, fuhr Mishani fort. »Mach das Beste aus der Zeit.« »Eine Woche ...« Kaiku seufzte. Ihr graute bereits bei der Vorstellung, wieder an Bord eines Schiffes zu gehen und einen weiteren Monat mit der Rückreise über den Ozean zu verbringen. »Ich hoffe, der Spitzel ist es wert, Mishani.« »Das sollte er besser sein«, gab Mishani zurück, wobei überraschend Gefühl in ihrer Stimme mitschwang. Kaiku sog die Eindrücke und Klänge Kisanths wie gebannt auf, während sie sich einen Weg über Stufen und Bohlenpfade bahnten und sich im Bauch der Stadt verloren. Ihre ersten Schritte auf einem fremden Kontinent. Alles um sie herum fühlte sich geringfügig anders und auf unbeschreibliche Weise neu an. Die Luft war feuchter, frischer und rauer als der trockene Sommer, den sie in der Heimat zurückgelassen hatten. Die Laute der Insekten waren träger und trauriger als die rasselnden Chikkikii, die sie kannte. Selbst der Farbton des Himmels schien tiefer und satter zu sein. Und die Stadt selbst glich keinem Ort, den sie je besucht hatte. Sie war sofort als saramyrrisch erkennbar und gleichzeitig unbestreitbar fremdartig. Die heißen Straßen knarrten und knackten, als die Sonne die Planken wärmte, die ausgelegt worden waren, damit die Pfade begehbar blieben, wenn der Regen die Hänge des Beckens in Schlamm verwandelte. Es roch nach Salz, Farbe, feuchter, dampfender Erde und Gewürzen, die Kaiku nicht zu benennen wusste. An einem Stand entlang der Straße hielten sie an und kauften von der runzeligen Greisin dahinter 28 Pnthe, ein okhambisches Gericht aus ausgelösten Weichtieren, Süßreis und Gemüse, das in ein essbares Blatt eingeschlagen war. Ein Stück weiter des Weges setzten sie sich auf eine breite Stufenflucht - nachdem sie beobachtet hatten, dass andere dasselbe taten -, aßen die Pnthe mit den Händen, staunten über die Fremdartigkeit der Erfahrung und fühlten sich wieder wie Kinder. Die beiden gaben ein seltsames Paar ab. Kaiku sprühte vor Leben, besaß ausdrucksstarke Züge; Mishanis Antlitz war stets ernst, stets beherrscht, und keine Regung zeigte sich darauf, wenn sie es nicht wünschte. Kaiku war auf natürliche Weise hübsch, hatte eine zierliche Nase, spitzbübische braune Augen und trug das gelbbraune Haar in einem modischen Schnitt mit einer kunstfertig angeordneten Strähne über einem Auge. Mishani war klein, schlicht, blass und dünn. Eine Masse schwarzen Haares wallte ihr in einem sorgsam angelegten Gefüge aus
dicken Zöpfen und mit dunkelroten Lederriemen verwobenen Zierden bis zu den Knöcheln hinab. Für jeden anderen als eine Adelige war es viel zu unpraktisch, und es vermittelte eine von hoher Geburt zeugende, steife Würde. Kaikus Kleider waren undamenhaft und einfach, Mishanis hingegen elegant und unverkennbar teuer. Die beiden Frauen beendeten ihre Mahlzeit und gingen weiter. Später fanden sie eine Unterkunft und sandten Träger, um ihr Gepäck vom Schiff zu holen. Ihre gemeinsame Zeit in Kisanth würde kurz sein. Kaiku würde am nächsten Tag in die Wildnis aufbrechen, während Mishani zurückblieb, um Vorkehrungen für ihre Rückkehr nach Saramyr zu treffen. Bevor sie sich zum Schlafen legten, trieb Kaiku eine Führerin auf und bereitete ihre morgige Weiterreise vor. 29 Die Botschaft, acht Wochen zuvor im Schoß eingetroffen, war von höchster Wichtigkeit und Geheimhaltung gewesen. Weder Kaiku noch Mishani hatten überhaupt davon erfahren, bevor sie beide zu Zaelis tu Unterlyn gerufen wurden, dem Anführer der Libera Dramach. Bei Zaelis war Cailin tu Moritat, eine Schwester des Roten Ordens und Kaikus Lehrerin, was die Gepflogenheiten und das Wirken der Schwesternschaft anging. Sie war groß, wirkte kalt und kleidete sich stets in die Kluft des Ordens, ein langes, schwarzes Gewand, das eng an ihrem Körper anlag und an den Schultern mit einer Krause aus Rabenfedern verziert war. Ihr Gesicht war bemalt, um ihre Zugehörigkeit zu bezeugen: abwechselnd rote und schwarze Dreiecke auf den Lippen und zwei hellrote Halbmonde, die sich von ihrer Stirn über die Lider auf die Wangen erstreckten. Das schwarze Haar fiel ihr in zwei dicken Pferdeschwänzen über den Rücken und wurde von einem Silberreif auf ihrer Stirn betont, der im Licht bläulich schimmerte. Zaelis und Cailin hatten Kaiku und Mishani über die Botschaft unterrichtet. Es handelte sich um eine Reihe verschlüsselter Anweisungen, die durch zahlreiche Hände von der Nordwestspitze Okhambas über das Meer nach Saramyr und weiter in den Xarana-Bruch und den Schoß gelangt war. »Sie stammt von einem unserer besten Spitzel«, erklärte Cailin, deren Stimme an eine in Samt gehüllte Klinge erinnerte. »Er braucht unsere Hilfe.« »Was können wir tun?«, hatte Mishani sich erkundigt. »Wir müssen ihn aus Okhamba fortschaffen.« Kaiku hatte eine fragende Miene aufgesetzt. »Warum kann er nicht selbst dort weg?« 30 »Die verheerenden Ausfuhrsteuern des Kaisers haben den Handel zwischen Saramyr und Okhamba praktisch zum Erliegen gebracht«, erklärte Mishani. »Nachdem er sie eingeführt hatte, antwortete die Kolonialhändlergenossenschaft mit einem Ausfuhrverbot auf alle Waren nach Saramyr.« Kaiku gab einen unverbindlichen Laut von sich. Politik kümmerte sie wenig, und dies war neu für sie. »Der Kern der Sache ist, dass unser Spitzel nicht über das Meer zurück nach Saramyr gelangen kann«, führte Cailin weiter aus. »Da die Knappheit von Gütern aus Saramyr die Preise so hoch getrieben hat, dass in Okhamba nur ein winziger Markt dafür überleben konnte, gibt es zwar nach wie vor in geringem Maße Handel von Saramyr nach Okhamba; in die andere Richtung aber kreuzen so gut wie keine Schiffe mehr. Die Händler reisen von dort überwiegend weiter nach Quaraal oder Yttryx. Solange der Handelskrieg tobt, suchen sie ihr Heil in fremden Landen, wo das Geld noch fließt.« Mishani, wie üblich die Schnellere, hatte Cailin und Zaelis bereits durchschaut. »Ihr habt eine Überfahrmöglichkeit nach Okhamba«, erklärte sie. »Aber ihr habt kein Schiff zurück. Und dafür braucht ihr mich.« »So ist es«, bestätigte Cailin, beobachtete eingehend, ob Mishani eine Regung zeigte, und fand keine. Kaiku schaute von der einen zur anderen, dann zu Zaelis, der sich nachdenklich mit den Fingerknöcheln über den kurz gestutzten, weißen Bart fuhr. »Soll das heißen, Mishani müsste an die Küste? Um ihr Gesicht in einem Hafen zu zeigen?«, fragte sie mit Sorge in der Stimme. »So einfach ist es nicht«, klärte Mishani sie mit einem matten Lächeln auf. »Es von dieser Seite der Welt aus ein31 zufädeln wäre nahezu unmöglich. Ich müsste schon nach Okhamba reisen.« »Nein!«, rief Kaiku unwillkürlich und warf einen finsteren Blick auf Cailin. »Beim Blut des Herzens! Sie ist die Tochter einer der bekanntesten Seehandelsfamilien in Saramyr! Jemand anders kann gehen.« »Das ist genau der Grund, weshalb sie gehen muss«, widersprach Cailin. »Der Name vom Geblüt Koli hat großes Ansehen bei den Händlern. Und sie verfügt nach wie vor über zahlreiche Verbindungen.« »Das ist genau der Grund, warum sie nicht gehen darf«, schoss Kaiku zurück. »Man würde sie erkennen.« Sie wandte sich an ihre Freundin. »Was ist mit deinem Vater, Mishani?« »Ich habe mich ihm die letzten fünf Jahre entzogen, Kaiku«, erwiderte Mishani. »Ich bin bereit, mein Glück zu versuchen.« »Ich kann die Wichtigkeit dieses Spitzels gar nicht genug betonen«, meldete Zaelis sich mit ruhiger Stimme zu Wort und straffte die Schultern. »Oder des Wissens, das er besitzt. Nur so viel sei gesagt: Allein der Umstand, dass er uns überhaupt um Unterstützung bittet, lässt den Schluss zu, dass er keine andere Möglichkeit mehr hatte.« »Keine andere Möglichkeit?«, rief Kaiku aus. »Wenn dieser Spitzel so gut ist, wie ihr zu glauben scheint, warum
ist er dann nicht in der Lage, es selbst zurück zu schaffen? Es muss doch irgendwelche Schiffe geben, selbst wenn sie nur Fahrgäste befördern. Oder warum weicht er nicht über Quaraal aus? Das würde zwar ein paar Monate länger dauern, aber -« »Das wissen wir nicht«, fiel Zaelis ihr ins Wort und hob die Hand. »Wir haben nur die Botschaft. Der Spitzel braucht unsere Hilfe.« 32 Mishani legte Kaiku eine Hand auf den Arm. »Ich bin die Einzige, der es gelingen kann«, erklärte sie leise. Trotzig warf Kaiku das Haar zurück und funkelte Cailin an. »Dann gehe ich mit ihr.« Der Ansatz eines Lächelns spielte um die Lippen der groß gewachsenen Frau. »Das hatte ich mir schon gedacht.« 33 DREI Das Zwielicht vor Sonnenaufgang war in Okhamba eine ruhige Zeit, eine Stille im Rhythmus des Dschungels, in der die Geschöpfe der Nacht verstummten und sich davonschlichen, um sich vor dem Dämmern des Tages zu verstecken. Die Luft war blutwarm und reglos. In der Ferne hingen Nebelschwaden, trieben träge den Boden entlang oder kräuselten sich zwischen den rankenumschlungenen Stämmen der Bäume. Mondblumen, die sich nachts gedreht hatten, um dem Schimmer der hellen Iridima zu folgen, rollten sich nun zusammen, um ihre empfindlichen Zellen vor dem strahlenden Glaren des Auges Nukis zu schützen. Der ohrenbetäubende Lärm der dunklen Stunden wich ins Nichts zurück, und die Stille mutete fast schmerzlich an. In jener Stunde schlummerte das Land, hielt den Atem an in bebender Erwartung des neuen Tages. In diesem Zustand übernatürlichen Friedens verließ Kaiku Kisanth und folgte ihrer Führerin. Am Rand des Beckens, in dem die Lagune sich befand, war die Stadt von einer mächtigen Palisadenmauer umgeben, die über ein einziges, mit einem Gegengewicht betriebenes Tor verfügte, um Reisende hinein, und hinauszulassen. Dahinter erstreckte sich eine weitläufige Lichtung. Die Bäume dort waren gerodet worden, um für bessere Sicht zu sorgen. Ein Trampelpfad schlängelte sich entlang der Küste nach Norden, ein schmalerer nach Nordwesten. Durch das auf sie einwuchernde Unterholz wirkten die Ränder wie zerfranst. Inmitten der Lichtung stand ein 34 Gebetstor, das Zanya gewidmet war, der saramyrrischen Göttin der Reisenden und Bettler. Es bestand aus einem Paar geschnitzter Pfähle ohne Querbalken, auf deren Oberfläche die verschiedenen Taten Zanyas im Goldenen Reich und in Saramyr abgebildet waren. Die meisten erkannte Kaiku auf den ersten Blick: der freundliche Mann, der seine letzte Brotkruste einem anderen Bettler gab und danach feststellte, dass es sich um die Göttin in Verkleidung handelte, die ihn reich belohnte; Zanya beim Bestrafen der niederträchtigen Händler, die Landstreicher auspeitschen ließen, als diese sich auf den Markt wagten; die Schiffe der Ahnen beim Aufbruch aus Quaraal mit Zanya, die mit einer Laterne voraussegelte, um ihnen den Weg zu leuchten. Das Tor war zu verwittert, um Details erkennen zu können, aber die Symbole waren Kaiku vertraut. Sie bot der Göttin ein kurzes Mantra dar und nahm die weibliche Form der stehenden Gebetshaltung ein: geneigtes Haupt, die gefalteten Hände vor ihr, die linke Hand mit der Handfläche nach unten über der rechten, die rechte mit der Handfläche nach oben, als hielte sie einen unsichtbaren Ball. Die Führerin - eine ledrige alte Tkiurathi - stand in der Nähe und beobachtete sie teilnahmslos. Dann brachen sie in den Dschungel auf. Zum Treffpunkt war es nur ein Tagesmarsch, eine Stelle, die - wie Kaiku vermutete - ausgewählt worden war, weil sie sich von drei Städten fast gleich weit entfernt befand. Eine davon war Kisanth, während die beiden anderen entlang eines Flusses lagen, der kurz darauf zu einem weiteren Hafen führte. Der Spitzel hatte diesen Ort bewusst gewählt, um Unsicherheit darüber zu schaffen, von wo sie in See stechen wollten - für den Fall, dass jemand die Gesamtheit oder einen Teil der Botschaft entschlüsselt hatte, die in den Schoß gesandt worden 35 war. Unwillkürlich dachte Kaiku über den Menschen nach, den sie treffen sollte. Sie kannte weder seinen Namen, noch ob er weiblich oder männlich war oder überhaupt aus Saramyr stammte. Als sie sich bei Zaelis und Cailin darüber beschwert hatte, derart im Dunkeln gelassen zu werden, hatten die beiden nur erwidert, es gäbe »Gründe« dafür und sich geweigert, weiter darüber zu sprechen. Kaiku war nicht daran gewöhnt, dass ihre Neugier nicht befriedigt wurde. Es schürte sie nur zusätzlich. Sobald sie den Umkreis der Herrschaft der Menschheit verließen, wurde das Land wild. Die Straßen - die zu anderen Siedlungen und zu den riesigen Kornfeldern im Gebirge führten - verliefen in gegengesetzter Richtung zu Kaikus Ziel; folglich waren sie gezwungen, sich zu Fuß durch den dichten Busch zu kämpfen. Der Weg war beschwerlich, und es gab keine nennenswerten Pfade. Das durch jüngste Regenfälle feuchte Gelände erwies sich als tückisch. Kaikus Büchse verfing sich mit ärgerlicher Regelmäßigkeit in Ranken. Alsbald begann sie zu bedauern, sie überhaupt mitgenommen zu haben. Sie mussten schlammige Böschungen entlangklettern, Felshänge erklimmen, über die Wasser herabrann, und sich einen Weg durch verknotete Kriechgewächse hauen, wofür sie Knaga verwendeten, eine sichelähnliche, okhambische Klinge für Reisen im Dschungel. Trotz alledem fand Kaiku den Dschungel in der Stille vor dem Sonnenaufgang atemberaubend schön, und sie fühlte sich wie ein Störenfried, als sie hackend durch die schaurige Unterwelt des Gezweigs und Geästs stapfte. Im Verlauf des Marsches erwärmte sich das Land rings um sie. Mit der Wärme setzte ein anschwellender Chor von Tierlauten ein, ausgestoßen von Wesen, die einan-
36 der vom verwachsenen Baldachin der Baumwipfel über ihnen zuriefen. Vögel begannen, an ihren unsichtbaren Hockplätzen sowohl wunderschöne als auch komisch anmutende Weisen zu trällern. Frösche rülpsten und quakten; das Unterholz raschelte; flinke Geschöpfe huschten zwischen den Baumstämmen hin und her, manchmal vor den Füßen der beiden Reisenden. Da Kaiku all die Eindrücke rings um sich aufnehmen wollte, verfiel sie unbewusst in einen Bummelschritt, bis die Führerin ihr etwas scharf auf Okhambisch zuzischte und sie hastig zu ihr aufschloss. Ursprünglich hatte Kaiku Skepsis gegenüber der Führerin gehegt, die sie gefunden hatte, doch die alte Frau erwies sich als wesentlich kräftiger, als sie aussah. Als Kaikus Muskeln längst schmerzten, stapfte die Tkiurathi noch unermüdlich weiter. Sie war in der Tat zäh, obwohl Kaiku vermutete, dass sie bereits mehr als fünfzig Ernten auf dem Buckel haben musste. Okhamber zählten weder Jahre, noch maßen sie ihr Alter. Unterhaltungen waren auf Grunzlaute und Gesten beschränkt. Die Frau sprach kaum Saramyrrisch, gerade genug, um einzuwilligen, Kaiku zu der Stelle zu führen, zu der sie wollte. Kaiku wiederum sprach so gut wie kein Okhambisch. Lediglich ein paar Wörter und Redewendungen hatte sie auf See gelernt. Im Vergleich zur übertriebenen Verschlungenheit des Saramyrrischen war Okhambisch unglaublich einfach, da es nur über ein Lautalphabet und eine Sprechweise, jedoch keine Zeiten oder ähnliche grammatische Feinheiten verfügte. Leider entzog es sich Kaiku jedoch eben deshalb, weil es so einfach war. Je nach Zusammenhang konnte ein Wort sechs oder sieben bestimmte Bedeutungen annehmen, und der Mangel an Personalpronomen gestaltete es entsetzlich schwer für jemanden, der mit einer Sprache mit 37 unfehlbar genauer Ausdrucksweise aufgewachsen war. Okhamber besaßen seit jeher keine Vorstellung von Besitztum, und ihre eigene Persönlichkeit nahm stets den zweiten Rang hinter ihrem Pash ein, was sich grob als »die Gruppe« übersetzen ließ. Doch das war eine höchst ungenaue Bedeutung, denn das Wort konnte im Zusammenhang mit der Rasse, Familie oder Freunden verwendet werden, ebenso für Anwesende, Angesprochene, Liebende, Gefährten und ein Dutzend weiterer Verbindungen. Als die Hitze zunahm und Stechmücken auftauchten, begann Kaiku in ihrer Kluft zu schmoren. Ihre widerstandsfähigen und unvorteilhaften Kleider - eine weite, beige Hose und ein dazu passendes, langärmliges Hemd mit Zugbandkragen - wurden vor Schweiß kratzig und unangenehm schwer. Die beiden Reisenden hielten inne, um zu rasten. Dabei bestand die Führerin darauf, dass Kaiku viel Wasser trank. Sie holte ein in Blätter gewickeltes Bündel hervor, bei dem es sich um kaltes Krabbenfleisch und eine würzige, seetangähnliche Pflanze zu handeln schien, und teilte die Mahlzeit unaufgefordert mit Kaiku. Letztere holte ihren eigenen Proviant hervor, den sie ihrerseits mit der Führerin teilte. Während sie kaute, warf Kaiku verstohlene Seitenblicke auf die Frau neben ihr. Sie betrachtete die blassgrünen Tätowierungen, die sich über ihre Wangen kräuselten und aus ihrem Hemdkragen hervorlugten, und fragte sich, welche Gedanken durch den Kopf der alten Tkiurathi gingen. Die Frau hatte keine Bezahlung für ihre Dienste als Führerin gewollt; es stellte eine Beleidigung dar, Geld anzubieten. Da die Führerin in Kisanth lebte, wie Mishani ihr erklärt hatte, betrachtete sie die Stadt in einer bestimmten Weise als ihren Pash und würde ihre Dienste daher bereitwillig jedem zur Ver38 fügung stellen, der sich in jener Stadt aufhielt und sie benötigte. Umgekehrt erwartete sie lediglich dieselbe Höflichkeit. Kaiku war ermahnt worden, sehr vorsichtig damit zu sein, Okhamber um etwas zu bitten, da sie jeder Bitte nahezu ausnahmslos nachkommen würden, doch sie konnten nachtragend sein, wenn man ihr Wesen ausnutzte. Okhamber baten nur um etwas, wenn sie selbst dazu nicht in der Lage waren. Kaiku konnte zwar nicht behaupten, ihre Gebräuche zu verstehen, dennoch hielt sie dies für einen eigenartig gesitteten und selbstlosen Lebensstil eines Volkes, das man in Saramyr gemeinhin als Wilde betrachtete. Die Dunkelheit der Nacht war gerade vollständig hereingebrochen, als sie am Aith Pthakath ankamen. Sie näherten sich dem Ort von unten, indem sie einem schmalen Bachbett folgten, bis die Bäume jäh zurückwichen und die niedrige Hügelkuppe offenbarten, die im Dschungel ringsum verborgen lag. Auf dem Hügel befanden sich die Monumente des uralten Okhamba, errichtet von einem ausgestorbenen Stamm, lange bevor das erste Volk begonnen hatte, seine Geschichte aufzuzeichnen. Kaiku hielt den Atem an. Aurus und Iridima teilten sich den Himmel die dritte Nacht hintereinander, überzogen die Umgebung mit einem mattweißen Schimmer. Aurus, fahl, aber mit dunkleren Flecken, prangte riesig und nah im Norden. Die kleinere und wesendlich hellere Iridima mit der von bläulichen Rissen zerfurchten Haut hatte im Westen Stellung bezogen, oberhalb und hinter den Denkmälern. Es waren insgesamt sechs, die sich als wuchtige Schemen abzeichneten. Das größte ragte über neun Meter hoch auf, das kleinste etwas mehr als viereinhalb. Sie waren aus schwarzem, schimmerndem Stein von obsidianähnlicher 39 Beschaffenheit geformt und nach außen gewandt in einem Kreis um den Kamm des Hügels angeordnet. Das größte kauerte in der Mitte und schaute über Kaikus Kopf hinweg gen Osten. Die Führerin grunzte und bedeutete Kaiku weiterzugehen. Also trat sie aus den Bäumen hervor auf die Lichtung und hielt auf die Monumente zu. Die wilden Klänge des Dschungels hatten keinen Deut nachgelassen, dennoch
fühlte Kaiku sich plötzlich alleine in der Gegenwart dieser Ehrfurcht einflößenden Altertümer; an diesem Ort, den ein Volk geweiht hatte, das längst ausgestorben war. Die erste Statue, der sie sich näherte, stellte eine hockende, aus einem großen Pfeiler gehauene Gestalt dar. Die Züge waren mit einem vorstehenden Mund und riesigen, halb geschlossenen Augen grotesk überzeichnet, die Hände ruhten auf den Knien. Obwohl der Regen vieler Jahrhunderte darauf eingeprasselt und die Linien geglättet hatte, so dass sie nun verschwommen wirkten, und obwohl eine Hand abgebrochen war und neben den Füßen lag, war das Denkmal erstaunlich gut erhalten; der ausdruckslose, frostige Blick hatte nichts von seiner Ehrfurcht gebietenden Wirkung eingebüßt. Kaiku fühlte sich unter dem Starren dieses vergessenen Gottes winzig und unbedeutend. Die anderen Statuen waren ebenso einschüchternd. Mit geschwollenen Bäuchen und seltsamen Antlitzen saßen oder kauerten sie. Einige muteten wie Tiere an, die Kaiku noch nie gesehen hatte, andere ähnelten bestürzenden Zerrbildern menschlicher Züge. Kurz zögerte Kaiku, dann lege sie die Hand auf das Knie eines der Götzen. Der Stein war kalt und schien zu brüten. Welche Macht an diesem Ort dereinst auch geherrscht haben mochte, sie war nicht gänzlich verflogen. Gleich dem Widerhall einer fernen Erinnerung 40 strahlte er Heiligkeit aus. Keine Bäume waren hierher vorgedrungen, auch hatten in den Nischen der Statuen keinerlei Tiere genistet. Kaiku fragte sich, ob hier Geister weilten, so wie in den tieferen Wäldern und an den vergessenen Orten ihrer Heimat. Nach den Berichten der Reisenden, mit denen sie an Bord der Herz von Assantua gesprochen hatte, schienen die Tkiurathi überhaupt nicht fromm zu sein. Und doch prangte vor ihr der Beweis, dass in diesem Land einst Göttern gehuldigt worden war. Das Gewicht der Ewigkeit senkte sich wie ein Leichentuch auf sie herab. Sie bemerkte, dass die Führerin sich ihr angeschlossen hatte, und nahm die Hand von dem Götzen. Kaiku hatte vorübergehend ganz vergessen, weshalb sie überhaupt hierher gekommen war. Als sie sich umsah, wurde offensichtlich, dass der Spitzel noch nicht hier war. Nun, sie war ein wenig zu früh dran. Das Treffen war erst für Mitternacht vorgesehen. Während der Überfahrt war es äußerst knapp geworden, da ungünstige Mondgezeiten sie aufgrund der falschen Umlaufbahnberechnungen eines unfähigen Navigators aufgehalten hatten, aber wenigstens war sie nun hier. »Vielleicht sollten wir uns auf der anderen Seite des Hügels umsehen«, schlug sie vor, mehr an sich selbst denn an ihre Führerin gewandt, die sie ohnehin nicht verstehen konnte. Um es ihr zu veranschaulichen, vollführte Kaiku eine Armbewegung, und die Führerin reckte das Kinn vor, was in Okhamba einem Nicken entsprach. In jenem Augenblick durchbohrte ein dicker Pfeil ihre ungeschützte Kehle und schleuderte sie unter einer Blutfontäne seitwärts, ehe sie auf den Boden zusammenbrach. Ein paar lange Lidschläge war Kaiku mit halb geöffne41 tem Mund wie gelähmt, konnte nicht recht begreifen, was geschehen war. Blutstropfen zitterten auf ihrer Wange und Schulter. Erst der zweite Pfeil brach den Bann. Sie spürte ihn herannahen, fühlte, wie er durch die Luft schoss; von rechts aus den Bäumen, geradewegs auf ihre Brust zu. Jäh erwachte ihr Kana in ihr zum Leben. Die Welt verwandelte sich in ein schimmerndes Geflecht goldener Fäden, ein Schaubild ineinander verwobener Umrisse; jede Ranke, jedes Blatt glich einer Stickerei aus blendenden Fasern. Das pochende Gewirr der Götzen des Aith Pthakath beobachtete sie mit düsterer und machtloser Aufmerksamkeit, bewusst und lebendig in der Welt des Gewebs. Kaiku riss die Hand hoch; die Luft vor ihr verdichtete sich unsichtbar zu einem Knoten, und der Pfeil zerbrach zwei Handbreit vor ihrem Herzen. Endlich gewann der Verstand die Oberhand über Instinkte und Eingebung, und sie stieß erregt den Atem aus. Adrenalin durchflutete sie. Kaiku besann sich gerade noch rechtzeitig, ihr Kana zu zügeln, ehe es sich gänzlich losriss. Wäre es eine Büchsenkugel statt eines Pfeils gewesen, wäre zuerst auf sie anstatt auf die Führerin gezielt worden - wäre sie schnell genug gewesen, den Angriff abzuwehren? Kaiku rannte. Ein weiterer Pfeil schnellte aus den Bäumen hervor, doch sie spürte, dass er sie weit verfehlte. Sie stolperte auf glitschigem Bogen, rappelte sich fluchend auf die Füße, während sie in Gedanken die Bahn des Pfeils zurückverfolgte. Ihre Netzhäute hatten sich von Braun zu einem verwaschenen Rot verfärbt, blickten in das Geweb, wanderten Fasern entlang zurück, die der Flugdrall des gefiederten Pfeils aufgewirbelt hatte. Dann nachdem sie den ungefähren Auf42 enthaltsort ihres Angreifers ermittelt hatte - hastete sie wieder in Deckung. Sie huschte hinter einen der Götzen, als ein dritter Pfeil auf sie zuraste, der von der obsidianartigen Haut ihres Beschützers abprallte. Die Entweihung löste eine Flut stummer Empörung von den Statuen aus. Finde ihn. Finde ihn, sagte sie sich vor. Am liebsten hätte sie sich unter der Last des Blickes des Götzen gewunden, denn nun, da sie das Geweb aufgewühlt hatte, galt seine uralte und böswillige Aufmerksamkeit ihr; doch sie zwang sich, ihm keine Beachtung zu schenken. Dies waren alte Wesen, zornig, weil sie von ihren Anbetern verlassen und letztlich zu bloßen Beobachtern verkommen waren, deren Ansinnen und Bedeutung mittlerweile unverständlich war. Jedenfalls konnten sie Kaiku nichts anhaben.
Stattdessen ließ sie ihr Bewusstsein die Ranken des Gewebs entlangrasen, verteilte es über die Bäume, zwischen denen ihr Angreifer hockte, suchte nach dem Einsaugen von Atem, dem Gestrick von Muskeln, dem schweren Pochen eines Herzschlags. Der Feind bewegte sich, umkreiste sie; Kaiku spürte die aufgewirbelte Luft seines Pfades und folgte ihm. Da! Und doch wieder nicht da. Zwar fand sie die Quelle der Pfeile, doch ihr Abbild im Geweb war verschwommen und bedeutungslos, ein verzerrter Faserklecks. Wenn es ihr gelänge, Halt an ihrem Angreifer zu finden, könnte sie beginnen, ihm Schaden zuzufügen, aber irgendetwas wehrte sie ab, eine Art Schutz, dem sie noch nie zuvor begegnet war. Kaiku spürte aufkeimende Panik. Sie war keine Kriegerin; entfernte man ihr Kana aus der Gleichung, war sie kein Gegner für jemanden, der so zielgenau mit einem Bogen zu schießen vermochte. Sie löste die Büchse von der Schulter, machte sie 43 hastig feuerbereit und folgte dem verborgenen Angreifer mit halber Aufmerksamkeit, während er lautlos durch das Unterholz schlich. Lauf weg, riet sie sich. Sieh zu, dass du zwischen die Bäume gelangst. Doch sie wagte es nicht. Auf dem freien Gelände konnte sie vielleicht einen Angriff rechtzeitig bemerken. In den beengten Verhältnissen des Dschungels wäre sie außerstande, gleichzeitig zu laufen, sich zu ducken und ihren Feind im Auge zu behalten. Wer ist dort draußen Sie hob die Büchse an, lehnte sich um den Rand des Götzen und zielte auf den Bereich, an dem sie ihren Angreifer vermutete. Die Büchse knallte, und die Kugel zischte zwischen die Bäume, durchtrennte Gezweig, durchschlug Blätter. Ein weiterer Pfeil sauste aus der Dunkelheit. Ihr Feind hatte ihr bereits den Winkel abgeschnitten. Ihrem Gespür folgend, riss sie den Kopf zurück, als die Spitze nahe ihrem Gesicht in den Götzen prallte und sie rücklings taumeln ließ. Den nächsten Pfeil, der mit schier unglaublicher Geschwindigkeit angelegt und abgeschossen worden war, bemerkte sie einen Lidschlag, bevor er sie in die Rippen traf. Die Wucht des Aufpralls zauberte ihr Funken vor die Augen und raubte ihr um ein Haar das Bewusstsein. Kaiku verlor die Herrschaft über das in ihr aufwallende Kana; angesichts der Angst um ihr Leben waren alle Lehren Cailins vergessen. Es riss sich aus ihr los, stürmte aus ihrem Leib, preschte die Stränge des Gewebs entlang auf den unsichtbaren Häscher zu. Durch den eigenartigen Schutz, den er trug, konnte sie ihn nicht genau erkennen, doch Genauigkeit war nicht erforderlich. Ihrem Gegenschlag haftete keinerlei Fein44 heit an. Ungestüm und verzweifelt hieb sie um sich, und die Macht in ihr gehorchte ihrem Geleit. Ein breiter Dschungelstreifen explodierte, verwandelte sich in Kleinholz, wurde von einer verheerenden Kraft zerrissen und erhellte die Nacht mit Feuer. Die blanke Gewalt des Ausbruchs verwüstete einen großen Landstrich, ließ Erdbrocken gleich rauchenden Meteoriten in die Luft stieben. Die Bäume im Umfeld gingen in Flammen auf, als Blätter, Rinde und Ranken sich entzündeten; Steine barsten; Wasser kochte. Kurz darauf war es vorüber, ihr Kana erschöpft. Der Dschungel zischte und knackte an den Rändern der Verheerung. Holzmehl und Rauch hingen in der Luft, ebenso der leichte Geruch des verkohlten Fleisches der Tiere, die das Pech gehabt hatten, sich dort aufzuhalten. Im Dschungel ringsum herrschte benommene Stille. Die schreckliche Gegenwart der Götzen lastete schwerer denn je zuvor auf ihr; sie hassten Kaiku. Kurz wankte sie, griff sich mit der Hand an die Seite, dann sank sie mit einem Knie zu Boden. Die Büchse hing kraftlos in ihrer anderen Hand. Ihre Netzhäute schillerten mittlerweile in grellem, dämonischem Rot, eine Nebenwirkung ihrer Macht, die erst in Stunden vergehen würde. In vergangenen Zeiten, als sie diese Kraft zum ersten Mal entdeckt hatte, war sie unfähig gewesen, sie überhaupt zu bändigen, und nach jedem Einsatz hatte sie sich hilflos wie ein Neugeborenes gefühlt, konnte kaum gehen. Cailin hatte Kaiku beigebracht, den Strom rechtzeitig abzubrechen, ehe er sie zu einem solchen Zustand der Erschöpfung auslaugte, dennoch würde es einige Zeit dauern, bis ihr Kana sich so weit erholt hatte, dass sie das Geweb wieder zu beeinflussen vermochte. So unbesonnen hatte sie es seit Jahren nicht mehr entfesselt; aber schließlich hatte sie sich auch seit 45 Jahren keiner so unmittelbaren Gefahr mehr gegenübergesehen. Keuchend kniete Kaiku auf dem Boden und suchte die Stätte der Verheerung nach Anzeichen von Bewegung ab. Abgesehen vom gemächlichen Treiben zu Pulver zerstoßener Trümmer in der Luft entdeckte sie nichts. Wer immer auf sie gezielt haben mochte, hatte sich mitten in diesem Gebiet befunden. Kaiku hätte zu wetten gewagt, dass nicht mehr viel von ihm übrig war. Dann eine Bewegung, unten am Hügel an der Baumgrenze. Jäh sprang sie auf die Beine, riss die Büchse hoch, spannte den Hahn und hob die Waffe ans Auge. Zwei Gestalten brachen auf die Lichtung hervor. Kaiku zielte und feuerte. »Nein!«, brüllte eine der Gestalten und hechtete aus dem Weg. Offenbar hatte der Schuss sein Ziel verfehlt. Kaiku achtete nicht auf den Schmerz und die heimtückische Feuchtigkeit, die sich entlang ihrer Seite ausbreiteten, und machte die Büchse wieder feuerbereit. »Nein! Libera Dramach! Nicht schießen!« Kaiku hielt inne. Die Büchse zielte auf den Sprecher. »Erwartet die Schläferin!«, rief er. Es war der Satz, durch den der Spitzel sich zu erkennen geben sollte.
»Wer ist die Schläferin?«, gab Kaiku zurück, was der vereinbarten Abfolge entsprach. »Die einstige Thronerbin Lucia tu Erinima«, lautete die Antwort. »Die du selbst aus der Kaiserlichen Feste gerettet hast, Kaiku.« Vor Überraschung, erkannt worden zu sein, zögerte Kaiku noch kurz, dann senkte sie die Büchse. Die beiden Gestalten hielten den Hügel herauf auf sie zu. »Woher weißt du, wer ich bin?«, fragte sie, doch die Worte drangen seltsam kraftlos aus ihrem Mund. Ein 46 Schwächegefühl ergriff allmählich von ihr Besitz, und ihre Sicht war immer noch von Funken erfüllt. »Ich wäre wohl kein sonderlich guter Spitzel, wenn ich es nicht wüsste«, entgegnete derjenige, der gesprochen hatte, und eilte auf sie zu. Der andere folgte ihm und ließ den Blick dabei prüfend über die Bäume wandern: ein Tkiurathi mit denselben sonderbaren Tätowierungen wie Kaikus Führerin, wenngleich sie ein anderes Muster aufwiesen. »Du bist verletzt«, stellte der Spitzel leidenschaftslos fest. »Wer bist du?«, fragte Kaiku. »Saran Ycthys Marul«, lautete die Antwort. »Und das ist Tsata.« Prüfend schaute er zur Baumgrenze, ehe er die Aufmerksamkeit wieder Kaiku zuwandte. »Dein Schauspiel hat bestimmt jeden im Umkreis von zwanzig Meilen wachgerüttelt, der uns jagt. Wir müssen weg. Kannst du laufen?« »Natürlich kann ich laufen«, antwortete sie, ganz und gar nicht davon überzeugt, ob dem tatsächlich so war. Der Pfeil hatte ihr Hemd durchdrungen, und sie blutete zweifellos; aber er war nicht in ihr stecken geblieben, und sie konnte unbeeinträchtigt atmen; folglich hatte er die Lunge verfehlt. Am liebsten hätte sie sich an Ort und Stelle verbunden, da ihr der feuchte Fleck Angst einjagte, der sich entlang des Stoffes unter ihrem Arm schleichend ausbreitete; doch stattdessen setzte die Befehlsgewalt in Sarans Stimme sie in Bewegung. Die drei eilten in den Wald und wurden von den Schatten verschluckt. Zurück blieben die grimmigen Hüter des Aith Pthakath, der Leichnam von Kaikus Führerin und das glimmende Knistern der Bäume. 47 »Was war es?«, wollte Kaiku wissen. »Was war da draußen?« »Halt still«, forderte Saran sie auf, der im Schein des Feuers neben ihr kauerte. Er hatte einen Ärmel ihres Hemdes ausgezogen, um ihre verletzte Seite freizulegen. Ihre Rippen präsentierten sich unter dem schweißfleckigen Streifen der Unterwäsche als feuchte, schwarzrote Wunde. Unbewusst hatte sie sich die andere Hälfte des Hemdes an die Brust gedrückt. Die meisten Saramyrrer störte Nacktheit nicht sonderlich, doch etwas an diesem Mann verursachte ihr das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden. Sie zischte und zuckte, als er die Wunde mit einem Tuch und heißem Wasser abtupfte. »Halt still!«, wiederholte er verärgert. Kaiku biss die Zähne zusammen und ließ seine Fürsorge über sich ergehen. »Ist es schlimm?«, zwang sie sich zu fragen. Eine kurze Stille folgte; Furcht wallte in ihr auf, während sie auf seine Antwort wartete. »Nein«, gab er schließlich zurück. Zittrig stieß Kaiku den Atem aus. »Der Pfeil hat sich ordentlich reingebohrt, trotzdem ist es eigentlich nur ein Kratzer. Es sieht schlimmer aus, als es ist.« In der schmalen Höhle hallte das Geflüster ihrer Stimmen leise wider. Tsata war nirgends zu sehen und wohl unterwegs, um etwas zu erledigen. Der Tkiurathi hatte dieses Versteck für sie gefunden, einen engen Tunnel, den ein uralter Wasserlauf in den Fuß eines eindrucksvollen Felsens gegraben hatte. Die Höhle lag hinter Bäumen verborgen und wies im Inneren eine leichte Biegung auf, wodurch sie ein Feuer anzünden konnten, ohne fürchten zu müssen, dass es jemand von draußen sehen würde. Die feuchte Zuflucht war zwar ungemüt48 lieh, aber sie verhieß Ruhe und Sicherheit, zumindest für ein Weilchen. Saran begann, einen Breiumschlag aus zerstoßenen Blättern, einem gefalteten Stoffstreifen und dem Wasser anzufertigen, das in einem Eisentopf brodelte. Kaiku zog das Hemd dicht an sich und beobachtete ihn schweigend. Ihr Blick glitt über die ebenmäßigen Züge seines Gesichts. Plötzlich ertappte er sie dabei, und sie schaute weg ins Feuer. »Es war ein Maghkriin«, sagte Saran mit leiser fester Stimme. »Das Ding, das versucht hat, dich zu töten. Es traf vor uns dort ein. Du kannst dich glücklich wähnen, noch am Leben zu sein.« »Maghkriin?«, wiederholte Kaiku, um das fremdartige Wort auszuprobieren. »Geschaffen von den Fleischwerkern im dunklen Herzen Okhambas. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Welt dort ist, Kaiku. Ein Ort, an dem nie die Sonne scheint, an den weder dein noch mein Volk sich in größerer Zahl wagt. In den über tausend Jahren, seit die ersten Siedler eintrafen, haben wir in diesem Land lediglich an den Küsten Sicherheit gefunden, wo das Leben weniger wild ist. Sie hingegen waren schon hier, bevor wir kamen. So alte Stämme, dass es sie schon vor der Geburtsstunde Quaraals gegeben haben könnte. Verborgen im undurchdringlichen Landesinneren dieses Kontinents, in Tausenden und Abertausenden Quadratmeilen so feindseligen Landes, dass eine gesittete Gesellschaft wie die unseren dort nicht bestehen kann.« »Von dort kommst du?«, fragte Kaiku. Für jemanden, der nicht in Saramyr geboren worden war, beherrschte er die Sprache ausgezeichnet, wenngleich sein Akzent gelegentlich in den etwas kantigeren Tonfall Quaraals abglitt.
49 Im unsteten Schein des Feuers spielte ein seltsames Lächeln um Sarans Lippen. »Ja«, antwortete er. »Obwohl wir es nur mit Mühe und Not geschafft haben. Zwölf von uns haben sich hineingewagt; wir beide sind die Einzigen, die wieder herauskamen, und ich wähne uns erst in Sicherheit, wenn wir diesen Kontinent ganz verlassen haben.« Er schaute zu ihr auf, während er die Blätter zu einem Brei zerrieb. »Sind die Vorkehrungen getroffen?« »Wenn alles gut verläuft«, gab Kaiku unverbindlich zurück. »Meine Freundin ist in Kisanth. Sie hat vor, bis zu unserer Rückkehr die Überfahrt nach Saramyr zu sichern.« »Gut«, murmelte Saran. »Wir dürfen uns nicht länger als nötig in Städten aufhalten. Dort werden sie uns finden.« »Die Maghkriin?« »Sie oder diejenigen, die sie geschickt haben. Deshalb brauchte ich jemanden, der eine rasche Abreise aus Okhamba vorbereitet. Ich ging nie davon aus, dass es mir gelingen könnte, das zu nehmen, was ich nahm, ohne danach verfolgt zu werden.« Und was hast du genommen ? dachte Kaiku, behielt die Frage aber für sich. Er fügte dem Blätterbrei ein wenig Wasser hinzu und beugte sich wieder zu Kaiku herüber. Behutsam schälte er ihr triefnasses Hemd von der Wunde. »Das wird wehtun«, warnte er sie. »Ich habe das von Tsata gelernt, und in Okhamba gibt es so gut wie keine sanften Arzneien.« Damit drückte er das Tuch mit dem Brei gegen ihre Wunde. »Halt es fest.« Kaiku tat, wie ihr geheißen. Das Brennen und Jucken setzte fast unverzüglich ein, wurde stärker und breitete sich über ihre Rippen aus. Abermals biss sie die Zähne 50 zusammen. Nach einer Welle schwelte der Schmerz an der Grenze des Erträglichen. »Es wirkt schnell«, erklärte Saran. »Du brauchst es nur eine Stunde draufzudrücken. Sobald du es wegnimmst, lässt der Schmerz nach.« Kaiku nickte. Die Anstrengung, das Unbehagen zu verinnerlichen, trieb Schweißperlen auf ihre Stirn. »Erzähl mir von den Fleischwerkern«, forderte sie Saran auf. »Ich muss meine Gedanken von dieser Tortur ablenken.« Saran kauerte sich wieder hin. Seine dunklen Augen musterten Kaiku. Während sie ihn ansah, fiel ihr ein, dass ihre Augen immer noch rot sein mussten. In Saramyr wäre sie dadurch als Ausgeburt gebrandmarkt; die meisten Menschen würden ihr mit Hass und Abscheu begegnen. Doch weder Saran noch Tsata schienen sich daran zu stören. Vielleicht wussten sie bereits, was Kaiku war. Jedenfalls schien Saran sie erkannt zu haben; dabei war der Umstand, dass sie beim Roten Orden ausgebildet worden war - und somit eine Ausgeburt verkörperte keineswegs weithin bekannt. Selbst im Schoß, wo Ausgeburten herzlich willkommen waren, hielt man Ausgebürtigkeit am besten geheim. »Es ist unmöglich zu erahnen, welche Wesen in der tiefsten Dunkelheit Okhambas hausen«, begann Saran. »Es gibt dort Männer und Frauen, die unbekannte Fertigkeiten und Künste beherrschen. Schon dein und mein Volk, Kaiku, sind grundverschieden; diese Geschöpfe aber sind uns völlig fremd. Die Fleischwerker können ein ungeborenes Kind im Mutterleib nach ihren Wünschen formen. Sie nehmen schwangere Frauen feindlicher Stämme gefangen und verwandeln die Ungeborenen in Ungeheuer, die ihnen dienen.« »Wie Ausgeburten«, murmelte Kaiku. »Wie die 51 Weber«, fügte sie hinzu, wobei sich Gift und Galle in ihre Stimme schlichen. »Nein«, widersprach Saran mit überraschender Überzeugung. »Nicht wie die Weber.« Kaiku runzelte die Stirn. »Du verteidigst sie«, stellte sie fest. »Keineswegs«, widersprach er abermals. »Aber ganz gleich, wie abscheulich ihre Verfahren sind, die Kunst der Fleischwerker basiert auf natürlichen Dingen. Kräuterkunde, Zauber, Geistbeschwörungen ... Sie verseuchen das Land nicht wie die Weber.« »Der Maghkriin... ich konnte ... konnte ihn nicht finden«, sagte Kaiku gedehnt, nachdem sie dies verdaut hatte. »Mein Kana schien von ihm abzuprallen.« Sie beobachtete Saran aufmerksam. Jahre der Vorsicht hatten sie gelehrt, dass sie nicht leichtfertig mit jemandem über ihre Kräfte als Ausgeburt sprechen sollte, doch sie wollte ihn ausloten. »Sie haben Talismane, okkulte Symbole«, erklärte Saran. »Dunkle Künste, die sie in Formen und Mustern bannen. Ich wage nicht, mir auszumalen, welcherlei Kniffe sie sich bedienen, auch kenne ich nicht alles, wozu die Fleischwerker in der Lage sind. Aber ich weiß, dass sie ihre Krieger mit einem Schutz versehen. Einem Schutz, der offenbar selbst gegen dich wirkt.« Er wischte sich den Schopf schmutzigen, schwarzen Haares aus der Stirn und schürte das Feuer. Kaiku beobachtete ihn. Ständig wanderte ihr Blick zurück zu seinem Gesicht. »Bist du müde?«, fragte er. Zwar schaute er nicht auf, doch Kaiku spürte, dass er wusste, dass sie ihn anstarrte. Leicht errötend, zwang sie sich mühevoll, die Augen von ihm zu lösen, stellte aber kurz darauf fest, dass sie sich wieder auf ihn geheftet hatten. 52 »Ein wenig«, log Kaiku. Tatsächlich war sie zu Tode erschöpft.
»Wir müssen weiter.« »Weiter?«, wiederholte sie. »Jetzt?« »Glaubst du, dass du sie getötet hast? Die Kreatur, die dich angegriffen hat?«, wollte er wissen und richtete sich jäh auf. »Ganz bestimmt«, antwortete sie. »Sei dir da nicht so sicher«, riet Saran. »Du weißt noch nicht, womit du es zu tun hast. Und vielleicht gibt es mehr davon. Wenn wir einen forschen Schritt anschlagen, können wir bis Mitte des Nachmittags in Kisanth sein. Bleiben wir hingegen hier und ruhen uns aus, werden sie uns finden.« Kaiku ließ den Kopf hängen. »Bist du stark genug dafür?«, fragte Saran. »So stark, wie es sein muss«, erwiderte Kaiku und rappelte sich auf die Beine. »Geh voraus.« 53 VIER »Fürstin Mishani tu Koli«, sprach der Händler zur Begrüßung, und Mishani wusste auf Anhieb, dass etwas nicht stimmte. Es lag nicht nur an seinem Tonfall, wenngleich allein der ausgereicht hätte. Es war auch das kurze Zögern, als er sie sah, jener flüchtige Lidschlag, in dem ihn seine Züge verrieten, ehe die Fassade der Freundlichkeit sich darauf senkte. Unter der eigenen, ausdruckslosen Maske hegte sie bereits Argwohn gegen diesen Mann; dennoch hatte sie keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen, denn er schien ihre einzige Hoffnung zu verkörpern. Die saramyrrische Dienerin zog sich aus dem Raum zurück und schloss den Faltladen vor dem Eingang, als sie ging. Mishani wartete geduldig. Der Händler, der einen Augenblick leicht benommen und in Gedanken verloren wirkte, schien sich seiner Manieren zu besinnen. »Verzeiht«, sagte er. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Chien os Mumaka. Bitte hier entlang.« Damit deutete er in die Richtung, wo das Arbeitszimmer sich auf einen breiten Balkon öffnete, der die Lagune überblickte. Mishani begleitete ihn hinaus. Draußen waren exotische Bodenmatten aus dicker, weicher, okhambischer Webware ausgelegt. Daneben stand ein niedriger Tisch mit Wein und Obst. Mishani nahm Platz, Chien setzte sich ihr gegenüber. Das Haus des Händlers, ein massives Holzbauwerk auf Eichenpfählen, war hoch am Hang des 54 Beckens errichtet, das Kisanth umgab. Die Aussicht war atemberaubend: Linkerhand ragte der schwarze Fels der Küstenmauer auf, rechts erstreckte sich Kisanth in einem Halbkreis um das türkisblaue Wasser. Schiffe trieben gemächlich von den Docks auf die schmale Kluft in der Wand zu, die ihnen den Weg hinaus aufs offene Meer bahnte, kleinere Kähne glitten an größeren vorbei. Die gesamte Aussicht lag in blendend grellem Sonnenlicht. Mishani wog ihr Gegenüber ab, während sie die üblichen Begrüßungswendungen, Plattheiten und Erkundigungen nach dem Wohlbefinden des jeweils anderen durchgingen, die ein notwendiges Vorspiel darstellten, ehe man sich dem Kern der Unterhaltung näherte. Er war ein kleiner Mann mit kahl geschorenem Haupt und breiten Zügen, die zu dem klobigen Körperbau passten. Seine Kleider waren offenkundig teuer, wenngleich keineswegs prahlerisch. Das einzige Zugeständnis an Eitelkeit war ein dünner, bestickter Umhang, ein höchst quaraalisches Zierstück an einem Saramyrrer, das wohl davon zeugen sollte, wie weltmännisch er war. Doch das äußere Erscheinungsbild war belanglos. Mishani kannte seinen Ruf. Chien os Mumaka. Der Zusatz os vor seinem Familiennamen verhieß, dass er an Kindes statt aufgenommen worden war; er würde seinen eigenen Kindern zwei Generationen lang anhaften und auch sie brandmarken, bis die dritte Generation zum Zusatz tu zurückkehren durfte. Os bedeutete wörtlich »aufgezogen von«, und während tu die Zugehörigkeit zur Familie andeutete, galt dies für os nicht. Dennoch schien nichts von alledem Chien os Mumakas Beitrag zum kometenhaften Aufstieg seiner Familie im Handelsgewerbe beeinträchtigt zu haben. Im Verlauf der letzten zehn Jahre hatte Geblüt Mumaka eine 55 ursprünglich kleine Schifffahrtsgenossenschaft in eine von nur zwei bedeutenden Gesellschaften der Handelsverbindung zwischen Saramyr und Okhamba verwandelt. Ein Großteil dessen war Chiens waghalsigem Wesen zu verdanken: Er war berühmt dafür, Wagnisse einzugehen, die sich zumeist lohnten. Sein Gebaren war alles andere als elegant, und gebildet war er auch nicht. Trotzdem war er zweifellos ein hervorragender Händler. »Es ist fürwahr eine Ehre, dass mich die Tochter eines so ausnehmend edlen Geblüts in Kisanth besucht«, meinte Chien nun. Seine Sprechweise war zwangloser als jene Mishanis oder Kaikus. Mishani ordnete seine Herkunft als irgendwo aus den Südlichen Präfekturen ein. Offenbar hatte er nie eine Ausbildung in der Sprechkunst erhalten, was zahlreiche Kinder hoher Familien als Selbstverständlichkeit betrachteten. Vielleicht war er übergangen worden, weil er nur an Kindes statt aufgenommen worden oder seine Familie damals zu arm dafür gewesen war. »Mein Vater bestellt Euch Grüße«, log sie. Chien wirkte erfreut. »Bitte richtet ihm die meinen aus«, gab er zurück. »Wir haben Eurer Familie einiges zu verdanken, Fürstin Mishani. Wusstet Ihr, dass meine Mutter eine Fischerin in Eures Vaters Flotte in der Mataxa-Bucht war?«
»Tatsächlich?«, fragte Mishani höflich, obschon sie haargenau wusste, dass dem so war. Eigentlich überraschte sie eher, dass er es erwähnte. »Ich hatte gedacht, das wäre bloß ein Gerücht.« »Es stimmt«, bekräftigte Chien. »Eines Tages besuchte ein junger Sohn des Geblüts Mumaka Euren Vater in der Bucht, und durch Shintus oder Riekas Hand lief er der Fischerin über den Weg. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ist das nicht eine romantische Geschichte?« 56 »Wie wundervoll«, meinte Mishani, die insgeheim das Gegenteil dachte. »Ganz wie in einem Gedicht oder Schauspiel.« Die nachfolgende Einheirat einer Gemeinen in das Geblüt Mumaka und die Weigerung der Familie, ihren beschämenden Sohn zu verstoßen, hatte sie politisch schwer geschädigt. Die Familie hatte Jahre gebraucht, um sich ihre Glaubwürdigkeit zurückzuerkämpfen, was ihr überwiegend aufgrund ihres Erfolges in der Schifffahrt gelungen war. Dass Chien überhaupt davon sprach, empfand Mishani als regelrecht haarsträubend. Chiens Mutter war von ihrem an Geblüt Koli geleisteten Eid entbunden und dem liebestrunkenen jungen Adeligen übergeben worden - im Gegenzug für politische Zugeständnisse, für die Geblüt Mumaka immer noch bezahlte. Jene törichte Vermählung war als Gegenleistung für eine ausgesprochen günstige Vereinbarung über Anteile an Geblüt Mumakas künftiges Schifffahrtsgeschäft gewährt worden. Es war ein höchst gewitzter Zug gewesen. Nun, da die Familie eine Großmacht im Handel darstellte, hielt ihr Versprechen aus der Vergangenheit sie eng an Geblüt Koli gebunden, und Koli erzielte daraus satte Gewinne. Mishani konnte sich gut vorstellen, wie sehr dies an Geblüt Mumaka nagen musste; vermutlich lag es allein an jenen Zugeständnissen an Mishanis Familie, dass sie die Handelsverbindung nicht komplett zu beherrschen vermochten. »Mögt Ihr Gedichte?«, erkundigte sich Chien, der ihren beiläufigen Vergleich nützte, um sie in eine andere Richtung zu lenken. »Besonders jene von Xalis«, antwortete sie. »Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass seine gewalttätige Prosa eine so vornehme Dame anzusprechen vermöchte.« Es war reine Schmeichelei, zudem schlecht ausgeführt. 57 »Der Hof in Axekami ist mindestens ebenso gewalttätig wie die Schlachtfelder, über die Xalis schrieb«, entgegnete Mishani. »Nur sind die Wunden, die man sich dort zuzieht, weniger offenkundig und schwären.« Chien lächelte schief und nahm sich ein Stück Obst vom Tisch. Mishani nutzte die Pause, um das Gespräch an sich zu reißen. »Mir kam zu Ohren, Ihr könntet in der Lage sein, mir einen Dienst zu erweisen«, erklärte sie. Chien kaute bedächtig und schluckte, ließ sie warten. Eine warme Brise ließ ihr Kleid wallen. »Fahrt fort«, forderte er sie auf. »Ich brauche eine Überfahrtgelegenheit nach Saramyr«, sagte sie. »Wann?« »So bald wie möglich.« »Fürstin Mishani, Ihr seid doch eben erst eingetroffen. Missfällt Kisanth Euch so sehr?« Mishani zeigte sich leicht überrascht. Trotz all ihrer Bemühungen, unerkannt zu bleiben, wusste er von ihrer Ankunft in Kisanth. Offenbar war er ein Mann mit guten Beziehungen; Mishani konnte nur hoffen, dass seine Verbindungen auf der anderen Seite des Meeres weniger gut waren. »Kisanth ist ein bemerkenswerter Ort«, antwortete sie, um dem Kern der Frage auszuweichen. »Überaus lebendig.« Chien musterte sie eine lange Weile. Ihre Beweggründe weiter zu hinterfragen wäre ungehobelt. Mishanis Gesichtsausdruck blieb unbewegt, während die Stille sich unbehaglich hinzog. Er wog sie ab; soviel konnte sie erahnen. Aber wusste er auch, dass ihr Auftreten ihm gegenüber eine Posse war? Ihre Verbindung zu Geblüt Koli war bestenfalls als 58 fadenscheinig zu bezeichnen. Obwohl sie von Rechts wegen immer noch ein Mitglied der Familie verkörperte, mied man sie nunmehr, da die Schande einer solch eigenwilligen Tochter das Ansehen des Geblüts schwer schädigen würde. Ihr Verrat war sorgsam vertuscht worden, und wenngleich sich unweigerlich Gerüchte verbreiteten, kannten nur wenige die ganze Wahrheit. Man hatte die Geschichte in die Welt gesetzt, Mishani sei im Osten jenseits der Berge unterwegs, um die Belange des Geblüts dort zu fördern. In Wahrheit jagte ihr Vater sie unerbittlich, seit sie ihn verlassen hatte. Sie hegte kaum Zweifel daran, was geschehen würde, sollte er sie zu fassen bekommen. Sie würde eine Gefangene auf den eigenen Ländereien und gezwungen werden, den Schein der Zusammengehörigkeit Geblüt Kolis zu wahren, um die Lüge zu bestätigen, die ersonnen worden war, um die Schande zu verschleiern, die sie über die Familie gebracht hatte. Danach würde man sie wohl still und heimlich töten. Ihre Adelszugehörigkeit war somit eine Heuchelei, eine Hinterlist. Und sie vermutete, dass Chien es wusste. Ursprünglich hatte sie gehofft, ein Händler hätte keinen Zugang zu jenen Auskünften, die sie verraten würden, doch etwas an der Art, wie er sich gab, erschien ihr seltsam, und sie traute ihm nicht über den Weg. Ihr Vater wäre ein mächtiger Freund, und er wäre jedem zu großem Dank verpflichtet, der ihm seine Tochter zurückbrächte. »Wann müsst Ihr aufbrechen?«, fragte Chien schließlich.
»Morgen«, gab sie zurück. In Wahrheit wusste sie nicht genau, wie dringend ihre Abreise tatsächlich war, doch wenn man handelte, trat man am besten entschlossen auf. 59 »Morgen«, wiederholte er ungerührt. »Lässt sich das bewerkstelligen?«, wollte Mishani wissen. »Möglicherweise«, antwortete Chien. Er erkaufte sich Zeit zum Nachdenken. Indes schaute er hinaus über die Lagune, wobei die Sonne Schatten in die Vertiefungen seiner breiten Züge zauberte. Offenbar wog er die Auswirkungen ab. »Es wird mir erhebliche Kosten verursachen«, erklärte er gedehnt. »Beträchtliche Mengen Frachtraum werden ungenützt bleiben. Nein, drei Tage ab heute ist das Aller früheste, um alle Vorbereitungen zu treffen und in See zu stechen.« »Das sollte reichen«, sagte Mishani. »Selbstverständlich werdet Ihr entsprechend entschädigt. Außerdem ist Euch mein tief empfundener Dank gewiss.« Wie praktisch, dass ein solcher Satz, der nahe legte, dass ihm eine mächtige Schifffahrtsfamilie einen Gefallen schulden würde, trotzdem noch der Wahrheit entsprach, wenn er nur buchstäblich das bedeutete, was er besagte. Geld hatte sie tatsächlich - die Libera Dramach würden keine Kosten scheuen, um ihren Spitzel in die Heimat zu schaffen -, doch was Gefallen anging, konnte sie nur auf das zurückgreifen, was sie selbst zu bieten hatte, also herzlich wenig für einen Mann wie Chien. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen dabei, ihn so zu betrügen. »Ich habe einen anderen Vorschlag«, meinte er. »Euer Angebot, mich zu entschädigen, ist zwar freundlich, doch ich muss gestehen, dass ich ohnehin einige Angelegenheiten in der Heimat zu erledigen habe, und um Geld geht es hier nicht. Mir wäre lieber, eine so bedeutende Familie wie die Eure stünde nicht in meiner Schuld. Stattdessen hätte ich eine etwas anmaßende Bitte an Euch.« 60 Mishani wartete. Ihr Herz sank, als sie lauschte, da sie wusste, dass sie sich nicht weigern konnte und ihm alle Trümpfe in die Hände spielte. Später regnete es. Die Wolken waren mit beängstigender Geschwindigkeit herangerollt, als die Luftfeuchtigkeit anstieg, und am frühen Nachmittag öffnete der Himmel sich zu einer wahren Sintflut. Draußen im Dschungel nickten dicke Blätter heftig, als sie von fetten Tropfen gepeitscht wurden; Schlamm verdichtete sich zu Bächen, die sich zwischen den Wurzeln der Bäume hindurch wanden; dünne Wasserfälle stürzten durch die Luft, als der Regen vom Baldachin rann, zur Erde fiel und dabei Geäst und Gestein bespritzte. Das laute Zischen des Gusses übertönte selbst die Laute der Tiere in der Nähe, die in ihren Unterschlüpfen kreischten und heulten. Saran, Tsata und Kaiku stapften nass bis auf die Knochen durch das Unterholz. Sie liefen gebückt unter Gwattha, grünen Umhängen mit Kapuze, die aus einheimischem Material gewoben waren und bei leichtem Regen Schutz boten, doch sie reichten nicht, um sie bei derart heftigem Niederschlag trocken zu halten. Kaiku hatte von ihrer Führerin einen erhalten, bevor sie aufbrachen, und ihn zusammengerollt an ihrem kleinen Bündel befestigt. Ihre beiden Gefährten besaßen eigene. Den Dschungel ohne Gwattha zu betreten kam blanker Dummheit gleich. Der Regen ließ sie nur langsam vorankommen. Kaiku wankte vor sich hin und hatte kaum noch die Kraft, die Füße zu heben. Sie hatten allesamt nicht geschlafen, denn sie waren die Nacht durchmarschiert. Unter 61 gewöhnlichen Umständen hätte Kaiku dies als durchaus erträglich empfunden; doch der lange Monat der Untätigkeit an Bord der Herz von Assantua, die Wunde in ihrer Seite und die Nachwehen des Einsatzes ihres Kanas hatten sich verschworen, um ihre Ausdauer erheblich zu schmälern. Die anderen hatten die Geschwindigkeit ihretwegen gezügelt, jedoch nur wenig. Mühevoll hielt sie mit ihnen Schritt und überließ es Saran und Tsata, nach etwaigen Verfolgern Ausschau zu halten. Aufgrund des Schlafmangels hatte ihr Kana sich noch nicht erholt, und ihre Sinne waren abgestumpft. Also redete sie sich einfach ein, ihre Gefährten wären wachsam genug für sie alle. Auf dem Rückweg nach Kisanth grübelte Kaiku über das Schicksal ihrer Führerin nach. Es stimmte sie traurig, dass die Tkiurathi ihr nie ihren Namen verraten hatte. Gemäß saramyrrischem Ritual mussten die Toten Noctu genannt werden, der Gattin Omechas. Sie verzeichnete die Namen in ihrem Buch und teilte ihrem Gemahl mit, welche großen Taten die Verstorbenen vollbracht hatten - oder auch nicht -, damit er über sie Bescheid wusste, wenn sie in der Hoffnung auf Einlass in das Goldene Reich bei ihm vorstellig wurden. Obwohl die Frau höchstwahrscheinlich gar nicht gläubig gewesen war, bekümmerte es Kaiku. Saran und Tsata beratschlagten häufig mit leisen Stimmen. Dabei ließen sie die Blicke mit den Büchsen im Anschlag prüfend über den Dschungel wandern. Sie hatten die Waffen mit dicken Lumpen und Lederriemen umwickelt, um die Pulverkammern trocken zu halten. Der Regenguss, der jedwede Verfolger behindern würde, indem er ihre Spur verwischte, schien ihre Besorgnis keinen Deut gelindert zu haben. Trotz der Vorbehalte Sarans war Kaiku überzeugt, dass sie den 62 Angreifer am Aith Pthakath verbrannt hatte. Und falls ihnen tatsächlich noch ein Maghkriin auf den Fersen war, schien Saran dessen Fertigkeiten als Fährtenleser für geradezu übernatürlich zu halten. Unwillkürlich fragte sie sich, weshalb dieser Mann so wichtig war und was er wissen mochte, das es wert war,
ihr Leben für ihn aufs Spiel zu setzen. Es ärgerte sie, dass ihre Neugier immer noch nicht befriedigt worden war. Natürlich war er ein Spitzel, folglich hätte sie erwarten müssen, dass er seine Geheimnisse nicht ohne weiteres preisgeben würde; dennoch verdross es sie, dass sie all das durchmachen sollte, ohne den Grund dafür zu kennen. Den ganzen Vormittag lang hatte Kaiku immer wieder versucht, Saran in eine Unterhaltung zu verstricken, aber seine Geistesabwesenheit hatte sie jedes Mal aufgeben lassen. Er war zu sehr darauf bedacht, nach Feinden und Dschungeltieren Ausschau zu halten, die selbst in Küstennähe, wo das Land ein wenig gesitteter war, noch tödlich sein konnten. Er hörte ihr kaum zu. Was Kaiku, wie sie feststellte, aus unerfindlichen Gründen äußerst störte. Als sie endlich anhielten, hatten die Erschöpfung und der Regen sie in eine Schicksals ergebene Gesinnung getrieben. Sollte ein Maghkriin hinter ihnen her sein, sollte er doch kommen. Sie konnten ohnehin nichts dagegen tun. Aber es war keine Rast, wie Kaiku sie sich erhofft hatte. Es war Tsata, der es als Erster sah - ein Stück den Hang zur ihrer Linken hinauf, oberhalb ihres Pfades. Pfeilschnell rannte er zurück und deutete durch die Bäume. Kaiku verengte die Augen, doch sie konnte inmitten des wabernden Regenschleiers nur graue Schemen ausmachen. 63 »Wer ist das?«, fragte Tsata sie. Binnen eines Lidschlags war Saran an ihrer Seite. »Ich kann es nicht erkennen«, gab Kaiku zurück. Die unausgesprochene Frage lautete: Woher sollte ausgerechnet sie es wissen? Saran und Tsata wechselten Blicke. »Bleib hier«, befahl Saran ihr. »Wohin gehst du?« »Bleib einfach hier«, wiederholte er. Damit verschwand er unter aufspritzendem Schlamm im Unterholz. Sie sah ihn noch ein paar Mal flüchtig, als er den Hang hinauf zu der Stelle unterwegs war, auf die Tsata gedeutet hatte, dann verschluckte ihn die Umgebung. Kaiku warf die durchtränkte Strähne zurück und zog sich die Kapuze vom Kopf, da sie sich plötzlich eingeengt davon fühlte. Der warme Regen prasselte auf ihr Haupt und sickerte durch ihr Haar. Als sie sich umsah, war Tsata verschwunden. Der jähe Schreck riss sie grausam aus ihrem Dämmerzustand. Die eben noch vorhandene Schicksalsergebenheit verpuffte. Sie holte Luft, um nach ihren Gefährten zu rufen, doch der Schrei erstarb in ihrer Kehle. Brüllen wäre wohl doch ein wenig töricht. Hastig löste sie die Büchse von ihrem Rücken und nahm sie in die Hände. Die mangelnde Sicht flößte ihr Furcht ein; ihr bliebe keine Zeit, sich einem Angriff zu widersetzen. Selbst im freien Gelände am Aith Pthakath hatte sie nur mit knapper Not überlebt, und nun hatte sie nicht einmal ihr Kana als Schutz; sie war zu erschöpft, um das Geweb zu öffnen. Ob des prasselnden Regens und der steten, misstönenden Laute rinnenden oder tropfenden Wassers waren nur die lautesten Geräusche zu hören. Kaiku blinzelte und wischte sich über die Augen, sah sich aufgeregt um. 64 Sie würden zurückkommen. Jeden Augenblick würden sie zurückkommen, und sie würde zornig sein, weil man sie ohne jede Warnung allein gelassen hatte. Hinter ihr fiel ein Ast zu Boden; erschrocken wirbelte sie herum und verhedderte die Büchse beinahe in einer herabhängenden Ranke. Angespannt starrte sie in den Regenschleier und suchte nach Bewegung. In der Enge ihrer Umgebung wäre ein Schwert eine hilfreichere Waffe, aber Kaiku war nie besonders gut im Umgang mit Klingen gewesen. Ein Großteil ihrer Ausbildung hatte auf ihren natürlichen Begabungen aufgebaut. Gelernt hatte sie überwiegend im Zuge ihres ständigen Wettbewerbs mit ihrem älteren Bruder zu Hause im Wald von Yuna. Die beiden hatten stets danach getrachtet, einander beim Reiten, Schießen und Raufen zu übertreffen, denn Kaiku war schon immer ein Wildfang gewesen; Schwerter jedoch hatten sie beide nicht gemocht, da es zu gefährlich war, sich damit zu messen. Die Büchse war in diesem Umfeld hier zwar unpraktisch, aber dennoch beruhigend. Sie verlagerte den Griff an die Unterseite der Waffe und schaute prüfend über die Bäume. Die Zeit verstrich und zog sich träge hin. Sie kehrten nicht zurück. Kaiku spürte, wie kalte Furcht in ihre Knochen kroch. Die Überwindung, die es kostete, hier völlig ungeschützt - zu warten, war zu viel für sie. Kaiku musste in Erfahrung bringen, was vor sich ging. Abermals hefteten sich ihre Augen auf den grauen Schatten, auf den Tsata gedeutet hatte. Er hatte sich immer noch nicht bewegt. Sie dachte zurück an seine Worte. Wer ist das? Was hatte der Tkiurathi damit bloß gemeint? Jedes Handeln schien besser, als ängstlich geduckt im Regen auszuharren - selbst das Überqueren der kurzen 65 Strecke zu jenem verschwommenen Schemen, um festzustellen, worum es sich handelte. Nach einem letzten Blick über die Schulter begann sie vorsichtig, den Hang zu erklimmen. Ihre Stiefel sanken tief in den Schlamm und lenkten Rinnsale um, die sogleich die von ihr hinterlassenen Löcher füllten. Das um die Pulverkammer ihrer Büchse gewickelte Leder war außen triefnass. Sie hoffte, dass die Feuchtigkeit nicht zum Pulver durchgedrungen war, andernfalls wäre ihre Büchse lediglich ein kostspieliger Prügel. Mit dem Handteller wischte sie sich das Haar aus den Augen und fluchte, als es alsbald zurückfiel. Ihr Herz hämmerte so
heftig, dass sie das Brustbein mit jedem Schlag zucken fühlte. Urplötzlich löste sich der graue Schemen auf; ein Windstoß blies den Regen gleich einem Vorhang beiseite, der sich wie bei einer Schauspielvorführung teilte. Der Anblick offenbarte sich nur einen Lidschlag lang, doch es genügte, um das Bild für immer in Kaikus Erinnerung zu brennen. Nun verstand sie. Wer ist das ? Es war die Führerin, mit Ranken zu einem Bündel verschnürt, als hätte eine Spinne sie in einen Kokon gewickelt. Sie hing von den dicken, unteren Ästen eines riesigen Chapapa-Baumes. Ihr Kopf baumelte schlaff herab, ihre Augen starrten blicklos zu Boden. In ihrer Kehle steckte immer noch der Pfeil. Ihre Arme und Beine waren eng gefesselt, und sie schaukelte im prasselnden Regen. Frische Panik erfüllte Kaiku. Der Maghkriin hatte die Führerin als Botschaft zurückgelassen. Und nicht nur das, er hatte den genauen Weg erahnt, den seine Beute einschlagen würde und hatte sie überholt. Kaiku wankte von dem Bild des Grauens zurück, rutschte dabei ein 66 paar Handbreit über den Schlamm. Alle Sinne brüllten auf sie ein. Ein Maghkriin war hier. Jetzt. Er griff sie von links an und überwand die Entfernung zwischen ihnen in der Zeit, die sie brauchte, um den Kopf zu drehen. Die Welt um Kaiku schien sich zu verlangsamen; die Regentropfen fielen träge, ihr Herzschlag vertiefte sich zu einem widerhallenden Pochen. Kaiku riss die Büchse hoch, doch sie wusste, dass sie die Mündung unmöglich zwischen sich und die Kreatur bringen konnte. Nur für einen Moment erhaschte sie den Eindruck roter und verkohlter Haut, eines blinden Auges und zerfranster Haarbüschel; dann sah sie, wie die hakenförmige Klinge ausholte, um ihr die Kehle herauszuschlagen, und es gab nichts auf der Welt, das sie rechtzeitig dagegen tun konnte. Blut spritzte ihr ins Gesicht, als sie den Aufprall spürte; der Maghkriin stürzte auf sie und riss sie unter grellem Schmerz und blankem Entsetzen zu Boden. Kaiku konnte nicht atmen, konnte nicht atmen ertrank, wie schon zuvor, wie in Abwasserkanälen, ab eine dreckige, verrottete Hand sie unter Wasser drückte weil die Luft nicht in ihre Lungen gelangen konnte, und da war der Geschmack von Blut in ihrem Mund, Blut, das ihr die Sicht raubte, Blut überall bei den Geistern, sie konnte nicht atmen, konnte nicht atmen, weil ihre Kehle offen klaffte, aufgeschlitzt wie die eines geschlachteten Manxthwa, ihre Kehle! Dann war rings um sie Bewegung. Saran und Tsata zerrten das Gewicht von ihrer Brust, hievten den schlaffen Körper ihres Angreifers von ihr. Kaiku sog den Atem ein; süße, wundersame Luft strömte in Schwallen in ihre Lunge. Ihre Hand zuckte an ihre Kehle und fand sie blutverschmiert, aber heil vor. Sie wurde unsanft aus dem 67 Schlamm gezogen. Der Regen wusch ihr das Blut bereits von Haut und Kleidern. »Bist du verletzt?«, rief Saran aufgeregt. »Bist du verletzt?« Zittrig hob Kaiku die Hand, um ihm zu bedeuten, dass er sich einen Augenblick gedulden sollte. Sie war schwer außer Atem. Ihr Blick wanderte zu dem muskelbepackten Ungeheuer, das mit dem- Gesicht nach unten halb versunken in der feuchten Erde lag. »Sieh mich an!«, zischte Saran, umfing ihr Kinn und drehte ihr Gesicht unwirsch herum. »Bist du verletzt"?«, fragte er abermals in heller Aufregung. Plötzlich wütend darüber, derart grob angefasst zu werden, schlug Kaiku seine Hand weg. Sie hatte immer noch nicht genug Atem, um Worte zu formen. Mit der Hand an der Brust beugte sie sich vornüber und wartete, bis die Luft wieder regelmäßig in ihre Lunge strömte. »Sie ist nicht verletzt«, sagte Tsata, doch ob er es anklagend, erleichtert oder nüchtern und sachlich meinte, ging durch seine Unerfahrenheit im Umgang mit der saramyrrischen Sprache verloren. »Ich bin ... nicht verletzt«, keuchte Kaiku zur Bestätigung und funkelte Saran an. Kurz zögerte er, dann wich er vor ihr zurück, scheinbar verärgert über sich selbst. Tsata griff in den Schlamm hinab und drehte den Maghkriin auf den Rücken. Diese Kreatur war menschenähnlicher als die letzte. Ihre Kleider waren zu Fetzen verbrannt, die einen geschmeidigen Körper mit drahtigen Muskeln unter rötlicher, zäher Haut offenbarten. Nur das Gesicht erinnerte an ein Tier: zumindest das, was davon übrig war. Eine Seite war von Feuer verkohlt und mit Blasen überzogen; die andere war durch 68 eine Büchsenkugel zu einem blutigen Brei verkommen. Inmitten der Verheerung prangten krumme, gelbe Zähne und eine platte Nase; die Haare waren gar keine Haare, sondern dünne, fleischige Tentakel, die schlaff von der Kopfhaut hingen. Kaiku wandte den Blick ab. »Das war der, den du verbrannt hast«, meinte Tsata. »Kein Wunder, dass er langsam war.« »Du hast ihn erschossen?«, fragte Kaiku wie benommen und versuchte, aus all den Wirren schlau zu werden. Hatte er tatsächlich gesagt, dass der Maghkriin langsam war? Mittlerweile hatte der Regen ihr Gesicht vom Blut gesäubert, aber aus ihrem triefnassen Haar ergossen sich immer noch rosa Rinnsale. An ihrem Rücken, ihren Armen und Beinen klebte Matsch. Es fiel ihr kaum auf. Tsata reckte das Kinn vor. Es dauerte eine Weile, bis Kaiku sich besann, dass dies ein Nicken bedeutete. »Du hast mich allein gelassen«, stellte sie plötzlich fest. Sie schaute vom einen zum anderen. »Ihr habt mich
beide allein gelassen, und ihr habt gewusst, dass dieses Ding da draußen war!« »Ich habe dich bei Tsata gelassen! «.widersprach Saran und bedachte den Tkiurathi mit einem düsteren Blick. Tsata hielt ihm mit einem kühlen, grünäugigen Starren stand; die tätowierten Züge unter der Kapuze zeigten keine Regung. »Es war sinnvoll«, erklärte Tsata. »Der Maghkriin hätte dich gejagt, Saran, weil du alleine losgegangen bist. Aber wenn wir alle allein wären, würde es die gefährlichste oder die wehrloseste Beute zuerst angreifen. Das war in beider Hinsicht sie.« »Du hast mich als Köder benutzt?«, schrie Kaiku. »Ich war versteckt und habe dich beobachtet. Der 69 Maghkriin hat nicht damit gerechnet, dass wir bereit wären, eine der unseren zu gefährden.« »Du hättest ihn verfehlen können!«, brüllte Kaiku. »Er hätte mich töten können!« »Hat er aber nicht«, hielt Tsata dem entgegen und konnte anscheinend nicht verstehen, weshalb sie so wütend war. Kaiku funkelte zunächst ungläubig Tsata an, dann Saran, der nur die Hände hob, um jede Verantwortung oder Kenntnis des Planes von sich zu weisen. »Ist das eine Art okhambischer Denkweise?«, herrschte sie ihn mit vor Zorn geröteten Zügen an. Sie konnte nicht glauben, dass jemand so salopp mit ihrem Leben gespielt hatte. »Eine von den Geistern verfluchte Sache des Pash? Den Einzelnen zum Wohle der Gruppe zu opfern?« Tsata wirkte überrascht. »Ganz genau«, sagte er. »Du lernst unsere Denkweise schnell.« »Die Götter sollen eure Denkweise verfluchen«, spie sie ihm entgegen und zog sich die Kapuze über den Kopf. »Es kann nicht mehr weit nach Kisanth sein. Wir sollten weiter.« Der Rest der Reise verlief schweigsam. Wenngleich Saran und Tsata ungebrochen wachsam blieben, schien die Gefahr fürs Erste vorüber, zumindest für Kaiku, die ihren Zorn den ganzen Weg nach Kisanth hegte. Als sie wieder aus dem Dschungel hervorbrachen, befanden sie sich vor dem Gebetstor Zanyas. Der Anblick der Pfähle ließ eine Flut der Erleichterung und Erschöpfung über Kaiku hereinbrechen. Langsam trabte sie zu dem Tor hinüber und sprach ihr Dankgebet für die wohlbehaltene Rückkehr, wie es das Ritual vorschrieb. Als sie fertig war, sah sie, dass Saran es ihr gleichtat. »Ich dachte, ihr Quaraaler glaubt nicht an unsere heidnischen Gottheiten«, sagte sie. 70 »Wir brauchen im Augenblick alle Gottheiten, die wir kriegen können«, erwiderte er düster, und Kaiku fragte sich, ob er es ernst meinte oder sich über sie lustig machte. Sie durchschritt das Tor und stapfte weiter auf die Palisadenmauer von Kisanth zu. Saran folgte ihr. 71 FÜNF Axekami, das Herz des Kaiserreichs, buk in der Hitze des Spätsommers. Die große Stadt umspannte den Zusammenfluss zweier Ströme, die zu einem dritten verschmolzen, ein Knoten, über den der Großteil des Handels im nordwestlichen Saramyr umgeschlagen wurde. Die Jabaza und der Kerryn wanden sich ihren Weg über die riesigen, gelbgrünen Ebenen aus dem Norden und Osten, ehe sie in die weitläufige, befestigte Hauptstadt eintraten, die sie sauber in verschiedene Viertel teilten. Sie trafen einander in der Mitte der Stadt, am so genannten Ansturm, wo sie eine sechseckige Plattform aus Stein umspülten, auf die sich über das tosende Wasser drei anmutige, gewölbte und gleich lange Brücken spannten. In der Mitte stand eine gewaltige Statue Isisyas, der Kaiserin der Götter, Göttin des Friedens, der Schönheit und der Weisheit. Die Tradition Saramyrs neigte dazu, Gottheiten mittelbar statt unmittelbar darzustellen - als Votivgegenstände oder tierische Erscheinungsformen -, da man den Versuch, die Gestalt göttlicher Wesen abzubilden, als etwas anmaßend empfand. In diesem Fall aber war die Tradition außer Acht gelassen worden; Isisya präsentierte sich in dunkelblauem Stein als fünfzehn Meter hohe Frau in Prunkgewändern mit allerlei Ziertand im verschlungen gearbeiteten Haar. Sie schaute mit gelassener Miene nach Nordosten in Richtung der Kaiserlichen Feste. Die ineinander verschränkten Hände lagen in den weiten Ärmeln verborgen. Unter ihren 72 Füßen vermischten und vermengten sich im Ansturm die Jabaza und der Kerryn und wurden zum Zan, einem mächtigen Strom, der aus der Stadt floss und sich als langes, funkelndes Band nach Südwesten erstreckte. Als politisches und wirtschaftliches Herz Saramyrs herrschte in Axekami ohne Unterlass reges Treiben. Die Flussufer waren von Docks und Lagern gesäumt und wuselten vor Wandervolk, Händlern, Seeleuten und Arbeitern. Am Südufer des Kerryn, im einer Inselgruppe gleichenden Flussviertel, verkehrten im farbenfrohen, dicht gedrängten Gewirr der Rauchkaten, Freudenhäuser, Läden und Schänken Aufsehen erregend gekleidete Vergnügungssüchtige. Im Norden, wo das Gelände zur Kaiserlichen Feste hin anstieg, schmiegten sich protzige Tempel an würdevolle Bibliotheksgewölbe. Auf öffentlichen Plätzen scharten sich Menschen, während Redner und Volksverführer Passanten ihre Überzeugungen darlegten; auf den verstopften Straßen des Marktviertels bahnten sich Pferde behutsam einen Weg zwischen knarrenden Karren und schwerfällig vor sich hinstapfenden Manxthwa; unter schillernden Markisen boten Händler sämtliche Güter der Nahen Welt feil. Aus dem Schweiß und Staub der Straßen konnte man in einen der zahlreichen öffentlichen Parks flüchten, um ein erholsames
Dampfbad zu genießen oder einen von etwa einem Dutzend Skulpturengärten zu besuchen, von denen einige in die Zeit Torus tu Vinaxis, des zweiten Geblütskaisers von Saramyr, zurückdatierten. Nördlich des Marktviertels erstreckte sich das Kaiserviertel rings um die Steilhänge des Hügels, auf dem die Kaiserliche Feste prangte. Das Viertel glich einer kleinen Stadt in der Stadt. Hier wohnten behütet und geschützt vor dem Gedränge und Tumult der übrigen Stadt die hohen Familien, die Wohlhabenden und die Schirm73 herren der Schönen Künste. Die breiten Alleen wurden von exotischen Bäumen gesäumt und peinlich sauber gehalten, und zwischen mit Mosaiken ausgelegten Plätzen und schattigen Kreuzgängen lagen auf ummauerten Anwesen weitläufige Stadthäuser. Makellos gepflegte Wassergärten und geschützte Lauben boten zahllose abgeschiedene Plätzchen, an denen die Machenschaften des Hofes vor sich gehen konnten. Dann war da noch die Feste selbst auf dem Gipfel des steilen Hügels. Ihre goldenen und bronzenen Außenflächen sandten Schwaden zurückgeworfenen Sonnenlichts über die gesamte Stadt. Das Bauwerk hatte die Form einer stumpfen Pyramide. Mitten auf dem flachen Dach ragte die prächtige Kuppel des Ocha gewidmeten Tempels der Kaiserfamilie auf, was versinnbildlichen sollte, dass kein menschliches Wesen, selbst kein Kaiser, über den Göttern stand. Die vier schräg abfallenden Wände bildeten ein kaum überschaubares Gewirr von Fensterbogen, Baikonen und Skulpturen, waren ein Meisterwerk ineinander verschlungener Statuen und Bauweisen, das alles andere in Axekami übertraf. Geister und Dämonen hetzten um Säulen, schlängelten sich in und aus Darstellungen von Legenden der Gottheiten des Pantheons Saramyrs. An jedem Eckpunkt der Feste stand ein hoher, schmaler Turm. Das gesamte prunkvolle Bauwerk war von einer mächtigen, ebenso fein gearbeiteten, jedoch mit zahlreichen Befestigungen versehenen Mauer umgeben. Unterbrochen war diese von einem einzigen, riesigen Tor unter einem hoch aufragenden Goldbogen, den uralte Segenssprüche zierten. In der Feste betrachtete der Geblütskaiser Saramyrs, Mos tu Batik, mit finsterer Miene sein Abbild in einem Spiegel aus geschmiedetem Silber. Er war ein kräftiger Mann, ein paar Zoll kleiner, als seine Breite erahnen ließ, 74 was ihm ein vierschrötiges und stämmiges Erscheinungsbild verlieh. Die Kiefer unter dem grau melierten Stoppelbart waren in kaum verhohlenem Ärger zusammengepresst. Mit knappen, unwirschen Handgriffen zupfte er seine Staatsgewänder zurecht, fingerte an den Manschetten und rückte den Gürtel gerade. Die Nachmittagssonne fiel schräg durch ein Paar Fensterbogen in die Kammer hinter ihm ein, zwei schmale Schwaden, in denen schillernde Motten tänzelten. Für gewöhnlich war die Wirkung angenehm, an jenem Tag hingegen ließ der Gegensatz den Rest des Raumes düster und voller heißer Schatten erscheinen. »Ihr solltet Euch beruhigen«, krächzte eine Stimme vom hinteren Ende der Kammer. »Eure Erregung ist offenkundig.« »Bei den Geistern, Kakre, natürlich bin ich erregt!«, grollte Mos und verlagerte den Blick in den Spiegel auf eine gebückte Gestalt, die langsam aus der Dunkelheit in der Ecke des Zimmers ins Licht trat. Sie trug Flickengewänder aus Lumpen und Leder, die zum willkürlichen, sinnlosen Hohn eines Musters zusammengenäht waren. Die Nähte überzogen das Werk wie zufällig verstreute Narben. Unter einer ausgefransten Kapuze schimmerte die Sonne grell auf der unteren Hälfte eines Kiefers, der sich nicht bewegte, wenn der Mann sprach. Der Weber das Kaisers, der Webfürst. »Es wäre nicht gut, Euren Schwager in diesem Zustand zu empfangen«, fuhr Kakre fort. »Ihr würdet ihn beleidigen.« Mos stieß verbittertes Gelächter hervor. »Reki? Mir ist einerlei, was dieser kümmerliche, kleine Bücherwurm denkt.« Damit wirbelte er vom Spiegel zum Webfürsten herum. »Ich nehme an, Ihr wisst von den Berichten, die ich erhalten habe?« 75 Kakre hob den Kopf, und der Schein von Nukis Auge fiel auf das Gesicht unter der Kapuze. Die Maske von Webfürst Kakre war das Antlitz eines ausgedorrten Leichnams mit aufgerissenem Mund, eine Fratze mit eingefallenen Wangen aus gegerbter Haut, die sich trocken und aschfahl über seine Züge streckte. Mos hatte bereits Kakres Vorgänger als unangenehm empfunden, doch Kakre selbst war noch schlimmer. Er würde wohl nie in der Lage sein, den Webfürst anzublicken, ohne vor Abscheu zu erschaudern. »Ich kenne die Berichte«, antwortete Kakre mit trocken schnarrender Stimme. »Ja, das dachte ich mir«, meinte Mos mit galligem Unterton. »In der Feste geht sehr wenig vor sich, das Euch entgeht, Kakre; selbst wenn es Euch nichts angeht.« »Alles geht mich etwas an«, entgegnete Kakre. »Tatsächlich? Warum geht es Euch dann nichts an, herauszufinden, weshalb meine Ernten Jahr für Jahr ausfallen? Warum unternehmt Ihr nichts, um das Übel aufzuhalten, das durch die Erde meines Kaiserreichs kriecht? Das Säuglinge als Ausgeburten das Licht der Welt erblicken, Bäume verwuchert wachsen lässt? Das es für meine Männer gefährlich gestaltet, in der Nähe der Berge zu reisen, weil sich dort Ungeheuer herumtreiben?« Mos stapfte zu einem Tisch, auf dem eine Karaffe voll Wein stand, und schenkte sich ein großzügiges Glas ein. »Wir haben bald die Sommerfestwoche! Sofern nicht die Göttin Enyu selbst eingreift und uns beisteht, wird dieses Jahr schlimmer als das letzte. Wir wandeln am Rand einer Hungersnot, Kakre! Einige der entfernteren Provinzen schränken die Verteilung an den Pöbel schon zu lange ein! Ich brauchte diese Ernte, um gegen die verfluchte Händlergenossenschaft in Okhamba bestehen zu können!«
76 »Euer Volk hungert wegen Euch, Mos«, erwiderte Kakre giftig. »Schiebt nicht den Webern die Schuld für Eure Fehler in die Schuhe. Ihr habt den Handelskrieg angezettelt, indem Ihr die Ausfuhrsteuern angehoben habt.« »Was wäre Euch denn lieber gewesen?«, brüllte Mos. »Hätte ich unsere Wirtschaft zusammenbrechen lassen sollen?« »Eure Rechtfertigungen kümmern mich wenig«, meinte Kakre nur. »Es bleibt die Tatsache, dass es Eure Schuld ist.« Der Kaiser leerte das Glas und funkelte den Webfürsten böswillig an. »Wir haben diesen Thron gemeinsam an uns gerissen«, knurrte er. »Es hat mich meinen einzigen Sohn gekostet, aber wir haben ihn erobert. Ich habe meinen Teil des Handels erfüllt. Durch mich wurdet ihr ein Teil des Reiches. Ich gab euch Land, ich gab euch Rechte. Das war meine Hälfte der Vereinbarung. Wo bleibt die Eure?« »Wir haben dafür gesorgt, dass Ihr den Thron behaltet!«, gab Kakre zurück, dessen Stimme vor Zorn anschwoll. »Ohne uns wärt Ihr ob Eurer Unfähigkeit längst abgesetzt. Habt Ihr etwa vergessen, vor wie vielen Unruhen ich Euch gewarnt, wie viele Verschwörungen und Meuchelversuche ich für Euch aufgedeckt habe? Fünf Jahre voller Ernteausfälle, bröckelnder Märkte, politischer Unordnung; das dulden die hohen Familien nicht.« Kakres Stimme senkte sich zu einem leisen Murmeln. »Sie wollen Euch loswerden, Mos. Euch und mich.« »Gerade wegen der Ernteausfälle ist dieses ganze, verdammte Schlamassel entstanden!«, schrie Mos, der an seinem verzweifelten Zorn zu ersticken drohte. »Es ist diese von den Geistern verfluchte Geißel! Wo ist 77 die Quelle? Was ist die Ursache? Warum wisst Ihr es nicht ?« »Die Weber sind nicht allmächtig, mein Kaiser«, krächzte Kakre und wandte sich ab. »Wären wir es, brauchten wir Euch nicht.« »Da ist er ja!«, rief Kaiserin Laranya grinsend, entwand sich den an ihr herumfingernden Zofen und eilte durch die kleine Kammer zu Mos, der soeben eingetreten war. Sie warf sich in die Arme des Kaisers und küsste ihn verspielt, dann zog sie sich zurück und wischte ihm das Haar aus dem Gesicht, suchte mit den Augen die seinen. »Du siehst wütend aus«, stellte sie fest. »Stimmt etwas nicht?« Plötzlich lächelte sie. »Etwas, das ich nicht in Ordnung bringen könnte?« Mos spürte, wie seine üble Laune in den Armen seiner Geliebten verflog, und er beugte sich vor, um sie erneut zu küssen, diesmal voller Inbrunst. »Es gibt nichts, was du mit diesem Lächeln nicht in Ordnung bringen könntest«, murmelte er. »Schmeichler!«, beschuldigte sie ihn und entwand sich kess seinem Griff. »Du bist spät dran. Und deine ungeschickten Pranken haben mein Kleid zerwühlt. Jetzt müssen meine Zofen es wieder in Ordnung bringen. Alles muss perfekt sein, wenn wir meinen Bruder empfangen.« »Verzeiht, Kaiserin«, sprach er und vollführte mit gespielter Aufrichtigkeit eine tiefe Verneigung. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass der heutige Tag ein solch wichtiger für Euch ist.« Laranya seufzte und heuchelte Ungläubigkeit. »Männer sind ja so unkultiviert.« »Nun, wenn ich so beleidigt werde, kann ich ebenso 78 gut in meine Gemächer zurückkehren und Euch aus dem Weg bleiben«, hänselte Mos sie. »Du bleibst hier und bereitest dich mit mir vor!«, widersprach sie. »Das heißt, falls du morgen noch eine Kaiserin haben möchtest.« Wohlwollend fügte sich Mos, nahm seinen Platz an der Seite seiner Gemahlin ein und ließ seine eigenen Zofen ihre Arbeit an seiner Aufmachung tun. Sie begannen, ihn mit Duftölen zu besprühen und allerlei Zubehör anzubringen, das die Tradition für seinen Rang vorschrieb. All das ertrug er mit leichterem Herzen als zuvor. Der Pomp und das Zeremoniell, die zum Dasein als Geblütskaiser gehörten, stellten seine Geduld selbst in besten Zeiten schwer auf die Probe; Mos war ein unverblümter Mann, der von Feinheiten wenig hielt und noch weniger Zeit für Rituale und althergebrachte Tradition hatte. Das Begrüßen eines bedeutenden Gastes zu einem längeren Aufenthalt war ein verworrener Vorgang, der sich je nach dem Verwandtheitsgrad des Gastes mit der Kaiserfamilie über zahlreiche Schichten der Höflichkeit und Förmlichkeit erstreckte. Traf man zu wenige Vorbereitungen, konnte man den Gast beleidigen; übertrieb man sie, mochte man ihn beschämen. Mos überließ derlei Belange klugerweise seinen Beratern und jüngst seiner frisch gebackenen Gemahlin. In der Kammer rings um ihn wimmelte es von Lakaien in feinsten Gewändern, kaiserlichen Wachen in weißer und blauer Rüstung, Dienern, die Wimpel trugen, und eleganten Gesellschaftsdamen, die ihre Musikinstrumente stimmten. Zofen rannten hin und her, und Mos' Kulturberater sandte Laufburschen bald hierhin, bald dorthin, um vergessene Notwendigkeiten zu holen und letzte Anpassungen vorzunehmen. Die Eingangshalle 79 bildete lediglich die glänzende Verpackung des gesamten Aufhebens. Später würde für Schauspiel, Poesie, Musik und Unmengen sonstiger Unterhaltung gesorgt, die ein Mann von Mos' kernigem Geschmack als schier endlos empfand. Einzig das Festmahl, das gleichsam das Ende der Zeremonie einläutete, bot zumindest einen gewissen Reiz für ihn. Doch ungeachtet der Gefühle, die er für ihren Gast hegte, handelte es sich immerhin um Laranyas Bruder, dem sie sehr nahe stand, und was sie glücklich machte, machte auch ihn glücklich. Innerlich stählte er sich und beschloss, sich alle Mühe zu geben.
Während die letzten Handgriffe an seinem Erscheinungsbild vorgenommen wurden, warf er verstohlene Seitenblicke auf Laranya, die vorgab, es nicht zu bemerken. Die Wege der Götter waren wahrhaft sonderbar; just um diese Zeit seines Lebens, als er auf seine fünfundfünfzigste Ernte zuging, hatten sie ihm ein so wunderbares Geschöpf beschert. Gewiss ein Zeichen göttlicher Anerkennung dafür, dass er die Rolle des Geblütskaisers übernommen hatte. Oder, dachte er in einem Anflug seiner früheren, trübseligen Stimmung, es war lediglich ein Ausgleich dafür, dass ihm sein Sohn Durun entrissen worden war. Begonnen hatte es als schlichte politische Angelegenheit. Da Mos' einziger Erbe tot und Geblüt Batik die Kaiserfamilie waren, brauchte Mos ein Kind. Seine erste Gemahlin, Ononi, war über das Alter der Fruchtbarkeit hinaus, daher hob Mos die Ehe mit ihr auf und suchte nach einer jüngeren Braut. Verbitterung herrschte darob auf keiner Seite, denn ihre Beziehung war nie von Leidenschaft geprägt gewesen; es war ein Bund zu beiderseitigem Vorteil gewesen, so wie es unter den hohen Familien Saramyrs auf die meisten Ehen zutraf. Ononi blieb im Norden, um die dortigen Ländereien des 80 Geblüts Batik zu verwalten, während Mos in die Hauptstadt zog und mit der Suche nach Heiratsanwärterinnen begann. Eine solche fand er in Laranya tu Tanatsua, Tochter von Barak Goren aus Jospa, einer Stadt in der Wüste Tchom Rin. Bande mit der Osthälfte Saramyrs zu knüpfen schien ein vernünftiger Zug, insbesondere da das Überqueren der Berge, die den Westen vom Osten teilten, zunehmend tückisch wurde und die einzige Verbindungsmöglichkeit in steigendem Maße die Weber darstellten. Laranya war eine vortreffliche Wahl und ausnehmend schön obendrein - dunkelhaarig und - häutig, kurvenreich und lebenssprühend. Mos hatte sie auf Anhieb gemocht und den zierlichen, gesetzten und unterwürfigen Frauen vorgezogen, die ihm bis dahin angetragen worden waren. Voll beispielloser Dreistigkeit hatte Laranya ihn zu sich kommen, ihn den ganzen Weg nach Jospa reisen lassen, damit er ihre Eignung für die Ehe mit ihm prüfen konnte. Selbst nachdem er die Mühe auf sich genommen hatte, da er ob ihrer schamlosen Kühnheit neugierig geworden war, hatte sie sich gebart, als wählte sie ihn als Freier aus - wenngleich sehr zum Verdruss ihres Vaters. Vermutlich hatte sie dadurch sein Herz erobert. Jedenfalls hatte sie damit seine Aufmerksamkeit erregt. Er nahm sie mit zurück nach Axekami, wo sie unter großem Zeremoniell und prunkvollen Feierlichkeiten vermählt wurden. Das war vor drei Jahren gewesen, und irgendwann in der Zeit seither hatte er sich in sie und sie sich in ihn verliebt. Das war zwar ungewöhnlich, aber keineswegs beispiellos. Es spielte keine Rolle, dass sie zwanzig Ernten jünger war als er. Beide waren stur, leidenschaftlich und daran gewöhnt, ihren Willen durchzusetzen; jeder fand im anderen einen Ebenbürti81 gen. So berüchtigt ihre Zwiste ob deren Heftigkeit bei der Dienerschaft der Feste waren, so unermesslich und offenkundig war auch ihre Zuneigung füreinander. Trotz allen Ungemachs, das jeden seiner Schritte als Geblütskaiser zu begleiten schien, fühlte er sich gesegnet, weil sie bei ihm war. Die vergangenen Jahre hatte über ihrem Bund ein Schatten gehangen, die Ursache der meisten ihrer Streitigkeiten. Obwohl die körperliche Anziehungskraft zwischen ihnen für leidenschaftliche und häufige Tollereien im Schlafgemach sorgte, war daraus noch kein Kind entstanden. Laranya wünschte sich nichts sehnlicher, als ihm einen Sohn zu gebären, doch die Empfängnis wollte sich einfach nicht einstellen, und die Verbitterung und Verzweiflung darob sammelte sich im Verlauf der Zeit wie eine Ölpfütze unter ihren Worten. Mos wusste, dass er im Gegensatz zu seinem Sohn Durun - der mit seiner Gemahlin, der ermordeten Geblütskaiserin Anais tu Erinima, denselben Leidensweg durchschritten hatte - durchaus über zeugungsfähigen Samen verfügte. Andererseits war ihm ebenso bewusst, dass er einen Erben brauchte, und Laranya würde nicht so wohlwollend beiseite treten wie Ononi, um ihn erneut heiraten zu lassen. Selbst wenn Mos es gewollt hätte. Und dann war es wie durch ein Wunder geschehen. Vor zwei Wochen hatte sie ihm die Kunde mitgeteilt. Sie war schwanger. Mos sah es bereits an der Farbe ihrer Wangen, daran, wie sie sich verhielt und heimlich lächelte, wenn sie sich unbeobachtet wähnte. Ihre Welt hatte sich nach innen zu dem Kind in ihrem Leib gekehrt, und sie stellte Mos gleichzeitig vor Rätsel und betörte ihn. Selbst nun, da sich ihr Zustand noch längst nicht zeigte, konnte er beobachten, wie sie unbewusst eine Hand an das Becken legte und ihre Augen in weite 82 Ferne blickten, während die Kammerzofen rings um sie plapperten und werkten. Sein Kind. Der Gedanke zauberte ein inbrünstiges und plötzliches Grinsen in sein Gesicht. Als draußen vor der Feste ein Hörn ertönte, nahm er starre Haltung an. Die Zofen stieben hinfort, ließen den Kaiser und die Kaiserin auf einem niedrigen Podium am Kopf einer Flucht von drei Stufen stehen, von wo aus sie einen Gang makellos herausgeputzter Diener und Wachen hinabblickten. In der Halle war das leise Rascheln der Anwesenden zu hören, die ihre Plätze einnahmen. Die roten und silbernen Banner des Geblüts Batik wallten sanft in der heißen, durch die Fensterbogen wehenden Brise. Reki war eingetroffen. Kurz ergriff Laranya die Hand ihres Gemahls und lächelte zu ihm empor. Dann ließ sie wieder los, um ordnungsgemäße Haltung einzunehmen. Des Geblütskaisers Herz erwärmte sich, bis es gleich einem Verbrennungsofen loderte. Erst dachte er an den grausamen Tag, der ihm bevorstand, dann an das Leben, das im Bauch seiner Gemahlin heranwuchs. Als die Doppeltüren aufschwangen und von draußen grelles Licht einfallen ließen, in dem sich die zierliche
Gestalt von Laranyas Bruder an der Spitze seines Gefolges abzeichnete, ging ihm nur ein Gedanke durch den Kopf: Er würde wieder Vater werden. Dafür war er bereit, alles über sich ergehen zu lassen. Die Kohlen in der Feuergrube in der Mitte von Kakres Häutungskammer tauchten den Raum in blutrotes Licht. Von dem steten Schein geworfene tiefe Schatten lauerten ringsum. Auf Verlangen des Webfürsten waren die Wände bis auf den blanken Stein freigelegt und der 83 schwarze, halb wider scheinende Lach vom Boden gemeißelt worden, auf dass darunter die zerfurchten, rauen Ziegel zum Vorschein kamen. Nach oben hin ragte die achteckige Kammer in einem Geflecht von Holzbalken empor, dessen höchste Stellen sich in Dunkelheit verloren. Von dort hingen aus den Schatten Ketten und Haken bis zum Boden herab, wo sie in der aufsteigenden Wärme bald hierhin, bald dorthin wogten und dabei leise klirrten. Sonderbare Gestalten baumelten zwischen den Balken, halb erspähte Schemen, die sich langsam und stumm drehten. Einige davon hingen dicht genug über dem Feuerschein, um in schwelendem Rot Einzelheiten erkennen zu lassen. Drachen aus Menschen- und Tierhaut, die sich über von grässlichem Einfallsreichtum zeugende Korbgeflechtrahmen spannte. Einige zeichneten sich gnadenvollerweise nur als einfache, geometrische Formen ab, die es schwierig gestalteten, den Spender des Oberflächenmaterials auszumachen. Andere waren grotesker und kunstvoller. Da war ein großer, aus der Haut einer Frau zusammengeflickter Vogel; über dem Kopf und dem Schnabel waren immer noch verzerrte, leere Züge erkennbar, zwischen den ausgebreiteten Schwingen waren hohle Brüste flachgezogen, von der Kopfhaut ragten Überreste schwarzer Haarbüschel. Etwas, das einst ein Mann gewesen war, hing in raubtiergleicher Pose herab; auf dem Rücken prangten gespreizte Fledermausflügel aus Menschenhaut, das Gesicht bestand aus zusammengenähten Schlangenschuppenstreifen. Daneben drehte sich ein Mobile aus kleinen Tieren, jedes vorne links und hinten rechts sorgsam gehäutet, bunte Skulpturen aus Fell und glitzernden Muskelsträngen. In unmittelbarer Nähe prangten an den Wänden Werke, die noch in Arbeit waren oder Kakre mit beson84 derem Stolz erfüllten. Schwarze Löcher, die früher Augenhöhlen gewesen waren, starrten ihn aus Korbgeflechtschädeln blicklos durch die Kammer an. Ganz gleich, wie sehr die Form des einstigen Geschöpfes verändert worden war, es war unmöglich zu vergessen, woher jene trockene, gestreckte Oberfläche geraubt worden war, und die Erinnerung verstärkte das Grauen jedes Mal wie ein Vergrößerungsglas. Nahe der Feuergrube stand ein Eisengestell dämonischer Handwerkskunst, das an jede Körperform und -große angepasst werden konnte. Die Steine darunter waren von tiefem, rötlichem Braun. Kakre, ein zerlumpter Haufen Kleider mit dem Gesicht eines Toten, hockte mit untergeschlagenen Beinen neben der Feuergrube und webte. Er war ein Rochen: ein flacher Schemen mit Schwingen, unendlich klein in einer sanft wogenden Welt der Schwärze. Leicht wabernd hing er in der Finsternis, hielt mit winzigen Schlägen seine Lage, während er die Strömungen auf der Suche nach seinem Pfad abtastete. Über, unter und beiderseits von ihm befanden sich Wirbel und Strudel, die er nur fühlen, aber nicht sehen konnte, ein heftiges, tödliches Tosen, das in der Lage war, ihn zu erfassen und zu zerschmettern. Auch die riesigen und fernen Ungeheuer, jene rätselhaften Bewohner des Gewebs, spürte er am Rand seiner Sinne. Er war blind an diesem sichtlosen Ort, doch das Wasser spülte um ihn und durch ihn, über seine kalte Haut und in seinen Mund, durch seine Kiemen heraus oder seinen Magen hinab, verteilte sich in seinem Blut. In seinem Verstand sah er, wie die Strömungen sich auf eine Weise wanden, kräuselten und strudelten, die für Wasser und Wind unmöglich war; er verfolgte sie alle zurück, bis sie auf andere trafen und Kreuzungen in der Leere bildeten. 85 Binnen eines Lidschlags hatte er einen Pfad schwindelerregender mathematischer Verworrenheit ersonnen, einen dreidimensionalen Tunnel aus Strömungen, die zu seinen Gunsten flössen und ihn mit geringster Mühe und in kürzester Zeit an sein Ziel führten. In der Welt des Gewebs spielten Entfernungen zwar keine Rolle, aber es war eine menschliche Eigenschaft, Unordnung nach Möglichkeit Ordnung aufzuzwingen, und dies war Kakres Behelf, einen Vorgang zu verstehen, der nicht verstanden werden konnte. Ungefiltert war das Geweb mehr, als der menschliche Verstand zu ertragen vermochte, zu verlockend, zu betörend. Ein Teil der Weber-Lehrlinge ging jedes Jahr ob der erschreckenden Verzückung verloren, die sie erfuhren, wenn ihnen das strahlende Geflecht der Schöpfung in all seiner Pracht offenbart wurde. Es war ein Rauschmittel, das alles übertraf, was die organische Welt hervorzubringen vermochte. Nur die Stärksten waren standhaft genug, um nicht von jenem ersten Sog hinfortgerissen zu werden, auf dass sie, im Geweb verloren, als verstandlose Geistgestalten glückselig durch das Fadengerüst des Universums wandelten, während ihre verlassenen Körper zu leeren Hüllen wurden. Webern wurde von Anfang an beigebracht, sich das Geflecht als etwas vorzustellen, mit dem sie zurande kamen. Einige malten es sich als eine endlose Reihe von Spinnennetzen aus; einige als pulsierende Masse verzweigter Lungenbläschen; andere als Bauwerk unmöglicher Abmessungen, in dem jede Tür zu jeder beliebigen anderen führen konnte; wieder andere als Abfolge eines Traumes, in dem der Verlauf vom Anfang zum Ende die Wirkung spiegelte, die zu erzielen sie durch ihr Weben beabsichtigten. Kakre fand es so am angenehmsten. Flüssiger, beweglicher und zugleich ein ständiges Mahnmal, wie gefähr-
86 lieh das Geweb war. Selbst nach all den Jahren, musste er in den hintersten Winkeln seines Verstandes unablässig bannende Mantras abspulen, um die fortwährend auf ihn einstürmenden Gefühle der Verblüffung und der Ehrfurcht vor seiner Umgebung abzuwehren. Er wusste genau, dass solche Empfindungen lediglich einen heimtückischen Pfad zur Sucht darstellten, die unweigerlich einsetzen würde, sollte er seine Selbstbeherrschung lockern - und wäre er erst verloren, gäbe es keine Rettung mehr. Mittlerweile hatte er den Pfad in seinem Bewusstsein verzeichnet; durch ein leichtes Neigen seiner Schwingen stürzte er sich hinab in den Strom. Er wurde von einem atemberaubenden Sog erfasst, schneller als jeder Gedanke, schneller als jeder Instinkt. Dann tauchte er in einen Querstrom, folgte dem Malstrom und wurde mit noch größerer Geschwindigkeit wieder hinausgewirbelt. Abermals wechselte er, nützte weitere Querströme, die dutzendweise so schnell auf ihn zurasten, dass sie praktisch eine fortlaufende Reihe bildeten. Er zuckte umher wie ein Reiz, der sich den Weg durch die Nervenstränge eines menschlichen Gehirns bahnt, erspähte jede Ebbe, jeden Fluss und mied sie oder folgte ihnen mit berauschender Anmut, schneller und schneller bis die Welt sich nach außen kehrte, seine Sicht sich wieder einfand und die ungeschliffenen, menschlichen Sinne die unendlich feineren ersetzten, derer man sich im Geweb bediente. Ein Raum; erbaut mit unebenmäßigen Wänden, von der Hand eines Hohlkopfes zu einem Hohn jeglicher Gleichseitigkeit gemessen. Aus dem Boden ragten wie Stalagmiten dünne Nadeln behauenen Steins, ein Wald seltsamer Obelisken, auf denen unsinnige Schriftzeichen prangten. In Wandhaltern steckten Lampen, einige neu und missmutig brennend, andere 87 erloschen und voller Spinnweben. Die Kammer war dunkel, voller Schatten und in ein uraltes Bewusstsein gehüllt, das aus den Wänden zu dringen schien. Kakre spürte die Regungen der Abscheulichkeiten, die durch die Stollen tief unter dem Raum irrten. Er fühlte den seltsamen Wahn der übrigen Weber. Hier in Adderach, dem Bergkloster, der Feste und dem Geburtsort der Weber, hallte jenes merkwürdige Zielstreben, das alle Träger wahrer Masken einte, stärker wider denn irgendwo sonst. Er präsentierte sich in der Kammer als Geist, der in der Luft hing, ein buckliger, undeutlicher Schemen. Nur die Maske zeichnete sich mit scharfen Umrissen ab; die Kapuze und die Lumpen, die sie umgaben, verschwammen mit zunehmender Entfernung von der Maske zusehends. Vor ihm standen drei andere Weber, ein wahlloses Trio, dem er noch nie zuvor begegnet war. Alle trugen schwere Flickengewänder, deren Mangel an geordneter oder vernunftbegabter Zusammensetzung für ein jeweils einzigartiges Kleidungsstück sorgte. Sie hatten auf seinen Ruf geantwortet und ihn hier erwartet. Nun würden sie ihm zuhören und anschließend beratschlagen - mit der Stimme jener Gemeinschaft, welche die Weber verkörperten, jener lenkenden Wesenheit, die nicht einmal die Weber selbst in ihrem Wahn zu erklären vermochten. Abschließend würden diese drei das Wissen, das Kakre weiterzugeben hatte, über das Netzwerk verteilen. Es war an der Zeit, die Dinge in Bewegung zu setzen. »Webfürst Kakre«, begann einer von ihnen, der eine Maske aus Leder und Knochen trug. »Wir müssen über den Kaiser und sein Handeln Bescheid wissen.« »Dann habe ich euch einiges zu erzählen«, krächzte Kakre, dessen angegriffene Kehle seiner Stimme einen rauen, brüchigen Klang verlieh. 88 »Die Ernte fällt erneut aus«, meldete sich der zweite des Dreiergespanns zu Wort. Sein Antlitz war aus dünnem Eisen in die Form einer knurrenden Dämonenfratze geschmiedet worden. »Eine Hungersnot wird sich ausbreiten. Wo stehen wir?« »Geblütskaiser Mos verliert die Geduld«, antwortete Kakre. »Er ist erzürnt über unsere mangelnden Fortschritte dabei, dem Unheil Einhalt zu gebieten, das die Ernten verdirbt. Aber er hat immer noch keine Ahnung, dass wir es sind, die es verursachen. Ich hatte gehofft, die Ernten würden etwas länger durchhalten, doch anscheinend geht die Veränderung im Land schneller vonstatten, als selbst wir ahnen konnten.« »Dies ist eine ernste Angelegenheit«, meinte der erste Weber dazu. »Wir können es nicht verschleiern«, sagte Kakre. »Der Schaden ist zu deutlich, um daran vorbeizusehen, und zu offenkundig, um ihn zu verbergen. Einige haben das Übel bereits zu seiner Quelle zurückverfolgt; mit jedem verstreichenden Jahr werden es mehr werden. Wir können sie nicht ewig alle zum Schweigen bringen. Es werden Fragen gestellt, noch dazu von Leuten, die wir nicht unter Druck setzen können.« Kakre waberte in der Luft, verschwamm und wurde wieder schärfer. »Würde bekannt, dass die Hungersnot unser Werk ist, wäre das der Grund, uns zu vernichten, auf den ganz Saramyr wartet«, stellte der Weber mit der Eisenmaske fest. »Könnten sie das? Könnten sie uns tatsächlich vernichten?«, fragte der Erste. »Wohl kaum«, krächzte Kakre. »Vor fünf Jahren wären sie vielleicht noch dazu in der Lage gewesen.« »Du scheinst mir übertrieben zuversichtlich«, flüsterte der dritte Weber, der eine erlesene Holzmaske mit einer 89 Miene entsetzlicher Traurigkeit trug. »Was ist mit der Thronerbin? Was mit dem Wesen, vor dem Vyrrch uns gewarnt hat, der Frau, die im Geweb zu wirken vermag? Trotz fünf Jahre währender Suche hast du keine der beiden gefunden.« »Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Thronerbin überhaupt noch lebt«, entgegnete Kakre bedächtig; seine
durch das Geweb reisenden Worte trafen mit volltönendem Widerhall ein. »Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass sie in der Kaiserlichen Feste umkam und verbrannte. Sie könnte auch gestorben sein, nachdem sie geflohen war. Ich gebe mich hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit gewiss keinen falschen Vorstellungen hin, dennoch ist sie nun, da wir ihre Mutter beseitigt haben und sie den Thron nicht mehr erben kann, wesendlich harmloser.« »Aber sie ist immer noch ein Sammelpunkt der Unzufriedenen«, gab der erste Weber zu bedenken. »Und sobald sich die Hungersnot auswirkt, könnte das Volk durchaus geneigt sein, eher eine Ausgeburt als Mos auf dem Thron zu dulden.« »Das würden wir nicht zulassen«, entgegnete Kakre ungerührt. »Die Thronerbin und das Weib, das Webfürst Vyrrch besiegt hat, sind Gefahren, gegen die wir vorläufig nichts unternehmen können. Außerdem sind sie unbekannte Größen. Sie haben sich all unseren Bemühungen entzogen, sie zu finden. Lasst diese Angelegenheit vorerst beiseite. Wir müssen beschließen, was wir jetzt tun.« »Was also schlägst du vor?«, murmelte der dritte Weber. Kakres Geisterscheinung drehte sich dem Sprecher zu. »Wir können es uns nicht leisten, noch länger zu warten. Wir müssen unsere Pläne in die Tat umsetzen. Mos' 90 Unbeliebtheit wird zu einem neuerlichen Bürgerkrieg führen, und wir können nicht an seiner Seite bleiben, ohne unsere Hand in all dem zu offenbaren. Das aber werden wir nicht tun. Er hat seinen Zweck erfüllt; mittlerweile ist er wertlos für uns.« Die Versammelten murmelten zustimmend. »Mos' Zeit als Geblütskaiser neigt sich dem Ende zu«, fuhr Kakre fort. »Geblüt Kerestyn baut gerade seine Streitkräfte wieder auf und schmiedet geheime Bündnisse mit den anderen hohen Familien. Das Volk murrt vor Unzufriedenheit, und Aberglaube kocht über. Einige denken, dass den Webern niemals hätte Macht eingeräumt werden dürfen und dass die Götter deshalb das Land verflucht haben. Vor allem in den ländlichen Gebieten abseits der Städte findet diese Bewegung reichlich Anklang.« Er ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. »Wir müssen uns um unser Leben kümmern.« »Also hast du einen Plan?«, hakte der Träger der Maske aus Knochen und Leder nach. »Oh, und ob ich einen habe«, antwortete Kakre. 91 SECHS Schreie. Lan hätte nicht für möglich gehalten, dass sich etwas so Grauenvolles einer menschlichen Kehle zu entringen vermochte, hätte nie geglaubt, dass ein solches Kreischen tiergleichen Entsetzens von einem vernunftbegabten Wesen ausgestoßen werden konnte. Und selbst in seinen schlimmsten Albträumen hätte er nie vermutet, einen solchen Laut von seiner Mutter zu hören. Es war ein makelloser Tag. Nur ab und an sprenkelte ein loser Tross winziger, aufgequollener Wolken den sonst strahlend blauen Himmel, der am Horizont einen türkisen Farbton annahm. Die Pelaska trieb gemächlich inmitten des Kerryn. Die riesigen Paddelräder zu beiden Seiten waren außer Betrieb, da die Strömung den klobigen Frachtkahn vom Tchamil-Gebirge westwärts Richtung Axekami trug. Sie lagen gut in der Zeit und befanden sich etwa einen halben Tag östlich der Gabelung, wo der Fluss sich teilte und sein südlicher Seitenarm zum Rahn wurde, der in die Wildnis des Xarana-Bruchs floss. Es hatte schon den Anschein gehabt, als würde alles reibungslos verlaufen. Die Reise war von Anspannung geprägt gewesen. Lan hatte seinen Vater anflehen wollen, den Weber und dessen Fracht nicht an Bord zu nehmen, doch er hätte nur seinen Atem verschwendet. Sie hatten keine Wahl. Und nun brüllte seine Mutter wie am Spieß. 92 Sie hatten in der winzigen Stadt Jiji am Fuß der Berge angelegt, um Metalle, Erze und überschüssige Ausrüstung aus den Mienen für die Lieferung nach Axekami zu verladen. Dabei hatten sie das Pech gehabt, dass ihr Frachtkahn der einzige mit ausreichend Laderaum für die Bedürfnisse des Webers gewesen war. Die Weber betrieben ihre eigene Frachtkahnflotte, die auf den Flüssen westlich Axekamis kreuzten und von jedermann mit Argwohn betrachtet wurde. Die Kapitäne waren schweigsame, sonderbare Gesellen mit kaltem Blick; stromaufwärts und stromabwärts entlang der Wasserstraßen kursierten Gerüchte über diese Verfluchten, die für Reichtum und Macht Pakte mit den Webern eingegangen waren. Woher genau der Reichtum und die Macht rührten, war unklar: Die Kähne warfen kaum Gewinne ab und fuhren gerade so viel ein, um die Betriebskosten zu decken. Die restliche Zeit trieben sie unauffällig an den Häfen vorüber, legten selten an und führten stattdessen eigene, geheime Besorgungsfahrten aus. Der Weber hatte den Kahn samt Besatzung in Beschlag genommen, eine Fahrt verlangt und erklärt, dass er eine dringende Lieferung durchzuführen hätte und sich keine der eigenen Frachtkähne der Weber in der Nähe befänden. Lans Vater Pori hatte sein Los mit stoischer Gelassenheit hingenommen. Ihr Kunde würde zwar fuchsteufelswild darüber sein, dass einer seiner Frachtkähne in Beschlag genommen worden war, aber da die Bootsbesatzung zur Bauernklasse zählte, stand es einem Weber frei, über ihr Leben zu verfügen oder es zu nehmen.
Lan erfüllte ihr neuer Fahrgast mit Grauen. Wie die meisten Menschen in Saramyr hatte er an den gelegentlichen Versammlungen teilgenommen, die im Verlauf seiner Kindheit stattfanden, wenn ein Weber zum Predigen in den Ort kam. Der dunkle Zauber, den sie dabei 93 stets ausgestrahlt hatten, verflog nie. Diese seltsamen, Furcht einflößenden, rätselhaften Männer, die sich hinter absonderlichen Masken verbargen und sich in Flickengewänder aus Fellen und Stoffen kleideten, stellten fürwahr einen einprägsamen Anblick dar. Zumeist sprachen sie über Ausgeburten: böse, entstellte Ungeheuer, die danach strebten, die Lebensweise Saramyrs zu unterwandern. Ausgeburten traten iri zahlreichen Verkleidungen auf. Manche wiesen ihre Fehlbildungen äußerlich auf, waren verwachsen oder krumm, gliederlos oder lahm. Andere waren unscheinbarer und daher gefährlicher: jene, die wie gewöhnliche Menschen aussahen, in denen aber merkwürdige und schreckliche Kräfte schlummerten. Die Weber brachten dem Volk bei, wie man den jeweiligen Makel erkannte und was zu tun war, wenn eine Ausgeburt aufgespürt wurde. Das Hinrichten war dabei noch die mildeste Empfehlung, die sie aussprachen. Rottet das Übel aus, predigten die Weber. Lasst euch durch nichts aufhalten. Ausgeburten sind eine Fäulnis der Menschheit. Es war eine Botschaft, die seit Generationen wiederholt wurde und sich so sehr in das Bewusstsein Saramyrs eingebrannt hatte wie die Tugenden der Tradition und Pflichterfüllung, auf denen die Gesellschaft des Reiches beruhte. Doch bei jenen Versammlungen war Lan bloß ein Gesicht in der Menge gewesen, konnte sich in der Masse sicher wähnen und gehen, wann immer er wollte. Zwar erzählte man sich Geschichten über die grauenhaften Gelüste der Weber, aber niemand war sicher, wie viel davon wahr und wie viel erfunden war. Ein Hauch der Gefahr rankte sich um die Weber, mehr nicht. Nun jedoch waren sie gezwungen, mit einem Weber zusammenzuleben, und das mindestens eine Woche, 94 vielleicht sogar länger, denn niemand hatte eine Ahnung, wohin ihr Fahrgast wollte. Mehr als eine Andeutung, dass die Fahrt flussabwärts ginge, wollte er nicht preisgeben. Eine Woche, die sie in ständiger Furcht erdulden mussten, gefangen in der Enge des Frachtkahns, wo man nur versuchen konnte, dem ausdrucklosen Starren jener trockenen Maske aus grauem Robbenfell mit den faltigen Augen und dem zugenähten Mund auszuweichen. Und falls der Weber noch nicht schlimm genug war, blieb noch die Frage der Fracht, die er an Bord bringen würde. Statt in Jiji zu verladen, war ihnen mitgeteilt worden, dass sie unterwegs anhalten würden. Pori hatte sich erkundigt wo und erhielt für den Ärger einen Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht. Sie wurden gezwungen, auf der Stelle aufzubrechen. Glücklicherweise hatten sie den Großteil der eigenen Waren bereits verladen, hauptsächlich Fässer mit überschüssigem Schießpulver aus den Minen, wo es für Sprengungen verwendet wurde. Sie sollten es zurück in die Stadt verkaufen, wo der steigende Bedarf angesichts der Unruhen die Preise für Feuerwaffen und Schießpulver in die Höhe trieb. Vielleicht würde die Reise nicht ganz umsonst sein; wenn der Weber einverstanden wäre, könnten sie in Axekami anhalten, um die Waren zu liefern und ihren Vertrag zu erfüllen. Andererseits hatten sie keine Ahnung, wie viel Platz die geheimnisvolle neue Fracht beanspruchen würde und ob sie einen Teil der eigenen Ladung unterwegs würden über Bord werfen müssen, um sie unterzubringen. Der Weber entschied sich für die Kabine, die Pori und seiner Gemahlin Fuira gehörte. Das war zu erwarten gewesen; schließlich war es die beste. Immerhin war Pori der Kapitän der Pelaska. Ohne zu murren, zogen sie in die Unterkunft der Besatzung um, wo Lan bei den 95 Matrosen und Radtreibern schlief. Lan mochte wohl der Sohn des Kapitäns sein, doch auf dem Fluss war er nur ein Schiffsjunge, der mit den anderen die Decks schrubbte. In der ersten Nacht ihrer Reise ließ der Weber sie an der Backbordseite des Flusses anhalten und am Ufer anlegen. Nur die Bäume des Waldes von Yuna drängten dort auf sie ein, denn der Kerryn hatte sich einen Pfad durch einen ansonsten dichten Wall aus Unterholz und Geäst gegraben. Da nur eine der Mondschwestern am Himmel stand, war die Nacht dunkel, und die Strömung war an dieser Stelle tückisch. In Neryns fahlgrünem Licht gelang es ihnen irgendwie, den Kahn mit Tauen und Ankern am Ufer zu sichern und eine Laufplanke herabzulassen. Als sie fertig waren, blickten sie einander an und fragten sich, was sie wohl als Nächstes erwarten mochte. Lange blieb ihnen dafür nicht Zeit. Der Weber befahl ihnen, sich unter Deck in die Besatzungsunterkunft zu begeben, wo er sie einschloss. Atemlos schweigend lauschte Lan dem Meckern und Maulen der Seeleute, während sein Vater und seine Mutter ruhig neben ihm auf einer Koje saßen. Die Flüche und der Zorn der Männer kamen praktisch Gotteslästerung gleich. Lan konnte kaum glauben, dass sie es wagten, über einen Weber zu schimpfen; ebenso wenig glaubte er, dass es sicher war, selbst wenn das Ziel ihrer Beleidigungen sich außer Hörweite befand. Dennoch verdammten sie die Weber ohne Unterlass, während sie wie Tiere in Käfigen in der engen Unterkunft auf und ab stapften. Das Gesetz mochte sie verpflichten, dem Weber zu gehorchen, aber niemand konnte sie zwingen, es gerne zu tun. Unruhig wand Lan sich hin und her, da er halb erwartete, Vergeltung in ungeahnter Form würde 96 jeden Augenblick auf sie herabsausen; doch alles, was geschah, war, dass sein Vater sich zu ihm herüberbeugte
und leise sagte: »Merk dir das gut, Lan. Vor fünf Jahren hätten Männer wie diese hier nie und nimmer gewagt, solche Dinge auszusprechen. Sieh dir gut an, wie die Wut schlecht behandelter Menschen ihre Angst zu überwinden vermag.« Lan verstand ihn nicht. Bis zu dieser Reise hatte er ausschließlich die bevorstehende Sommerfestwoche im Kopf gehabt, die seine vierzehnte Ernte verhieß. Ihn beschlich das Gefühl, dass sein Vater ihm soeben eine tiefschürfende Weisheit offenbart hatte; jedenfalls ahnte er, dass die Äußerung mehr bedeutete, als es schien. Aber Lan war nur ein Schiffsjunge. Als der Weber sie freiließ, dämmerte bereits der Morgen. Ein Großteil der Matrosen war irgendwann eingeschlafen. Diejenigen, die wach geblieben waren, hatten aus dem Wald seltsame Schreie vernommen, die sie hastige Flüche ausstoßen und Schutzzeichen vor der Brust schlagen ließen. Die Decks waren zu dick, um die Geräusche der Fracht zu hören, die verladen wurde, aber sie mussten annehmen, dass sie aus den Tiefen des Waldes stammte und mehr als nur die Hände des einen Webers am Werk gewesen waren. Doch als das Schloss klickte und die Männer befreit wurden, war nur der Weber an Bord, dessen graue Maske sie im goldenen Licht der soeben aufgegangenen Sonne teilnahmslos anstarrte. Trotz der wütenden Worte der vorigen Nacht zeigten die Männer sich weit weniger streitlustig, als sie ihren Kerker unter dem kalten Blick ihres Fahrgastes verließen. Niemand wagte zu fragen, was in der Nacht vor sich gegangen war oder weshalb die Fracht, die der Bauch des Frachtkahns nun beherbergte, so geheim war, dass sie nicht einmal einen Blick darauf werfen durften. 97 Der Weber nahm Pori beiseite und sprach mit ihm. Danach wandte Pori sich an die Besatzung und teilte den Männern mit, was sie alle erwartet hatten. Niemandem war gestattet, sich hinunter in den Frachtraum zu begeben. Er war versperrt, und den Schlüssel hatte der Weber. Jeder, der es versuchen sollte, würde getötet werden. Danach kehrte der Weber in seine Kabine zurück. Die nächsten paar Tage verstrichen ohne Zwischenfall. Der Weber blieb drinnen und ward nur gesehen, wenn ihm seine Mahlzeiten gebracht oder sein Nachttopf entleert wurden. Die Seeleute lauschten an der Tür des Frachtraums und vernahmen scharrende, raschelnde Geräusche, die von Bewegung zeugten, zudem ein sonderbares Grunzen; aber niemand wagte den Versuch, hineinzugelangen, um nachzusehen, was die Laute verursachte. Sie murrten, machten ihrem Aberglauben Luft und warfen argwöhnische, furchtsame Blicke zu der Kabine, in der sich der Weber verschanzt hatte, doch Pori scheuchte sie alsbald zurück an die Arbeit. Worüber Lan froh war. Beim Deckschrubben musste er nicht immerzu an das unheilvolle Geschöpf im Bett seiner Eltern und an die geheime Fracht unter Deck denken. Er hatte festgestellt, dass er sich einreden konnte, beides wäre nicht hier, wenn er nur nicht daran dachte. Was erstaunlich gut wirkte. Nukis Auge bedachte den Kerryn wohlwollend mit der angenehmen Wärme des Spätsommers. In der Luft versprühten tänzelnde Mücken Leben. Pori schlenderte über den Kahn und vergewisserte sich, dass jeder seine Aufgabe erfüllte. Seine Gemahlin Fuira kochte in der Kombüse und kam ab und an heraus, um ein paar Worte mit ihrem Mann zu wechseln oder Lan einen peinlichen Schmatz auf die Wange zu drücken. Hakenschnäbel kreisten über dem Wasser, segelten auf ihren anmutig geschwungenen Flügeln über den Himmel und suchten 98 im Strom nach dem silbrigen Glitzern von Fischen. Während die Zeit im gemächlichen Kielwasser der Pelaska verstrich, konnte man glauben, dies wäre eine gewöhnliche Reise. Damit war es nun vorbei. Der Weber musste sie gepackt haben, als sie ihm sein Mittagsmahl brachte. Pori hatte sich stets unbehaglich dabei gefühlt, dass seine Gemahlin überhaupt mit dem Weber in Berührung kam; sie hatte noch zu ihm gemeint, das sei doch töricht. Sie verteilte die Mahlzeiten an jeden anderen an Bord des Frachtkahns, weshalb sie es als ihre Pflicht betrachtete, auch den unerwünschten Gast zu versorgen. Vermutlich hatte er gerade eine Websitzung beendet, nachdem er seine geheimen Botschaften übermittelt oder eine andere, unergründliche Aufgabe erfüllt hatte; Lan hatte gehört, dass manche Weber sich nach dem Einsatz ihrer Kräfte überaus gewalttätig und höchst sonderbar gebaren konnten. Er konnte sich vorstellen, wie seine Mutter dort stand und die Messingglocke läutete, um die Erlaubnis zum Eintreten zu erhalten, und der Weber zornentbrannt und fuchsteufelswild jäh vor ihr auftauchte, um sie hineinzuzerren. Der Weber war zwar wie die meisten seiner Bruderschaft klein und bucklig, aber Fuira würde nicht wagen, sich zu wehren - außerdem verfügten die Weber über Wege und Mittel, Menschen ihren Willen aufzuzwingen. Dann begannen die Schreie. Die Kabinentür war geschlossen, und die Matrosen hatten sich voll Furcht und hilfloser Wut darum geschart. Lan stand zitternd bei ihnen, die Augen starr auf das fallen gelassene Tablett mit Essen auf dem Deck geheftet. Er wollte flüchten und über die Reling der Pelaska springen, um ihr Gebrüll im dumpfen Rauschen unter Wasser zu ersticken. Er wollte in die Kabine eilen, 99 um ihr zu helfen. Stattdessen verharrte er wie gelähmt. Niemand konnte einschreiten. Es käme einem Todesurteil gleich. Also lauschte er benommen und losgelöst von der Wirklichkeit des Geschehens dem Leiden seiner Mutter und wagte nicht, daran zu denken, was ihr dort drinnen angetan wurde.
»Nein!«, ertönte die Stimme seines Vaters hinter ihm. Dann brach Bewegung aus, als die Seeleute zu ihm hasteten, um ihn aufzuhalten. »Fuira!« Lan drehte sich um und sah Pori inmitten von vier Männern, die ihm eine Büchse aus den Fingern wanden. Mit von blanker Wut verzerrten Zügen schlug und trat er mit der Kraft eines Besessenen um sich. Die Büchse wurde losgerissen und schlitterte über das Deck; dann war plötzlich ein schabendes Geräusch von Stahl zu hören, und die Matrosen ließen von ihm ab. Einer von ihnen fluchte und umklammerte eine lange, blutende Schnittwunde am Unterarm. »Das ist meine Frau!«, brüllte Pori, dass ihm der Speichel nur so von den Lippen flog. In seiner Hand prangte eine kurze, gebogene Klinge. Mit hochroten Zügen starrte er die Männer an. Dann preschte er durch die Menge und schleuderte die Kabinentür mit einem gellenden Schrei auf. Die Tür fiel hinter ihm zu, wenngleich Lan nie erfahren sollte, ob durch Poris Hand oder eine andere Kraft. Er hörte das rasende Gebrüll seines Vaters, dann prallte etwas Schweres so heftig gegen die Innenseite der Tür, dass sogar das dicke Holz splitterte. Einen Lidschlag lang trat Stille ein. Dann ein neuer Schrei seiner Mutter -lang, anhaltend, schrill an den Rändern. Blut sickerte durch die Ritzen in der Tür, rann langsam hinab und tropfte auf das Deck. 100 Lan verharrte reglos, als der Weber sich wieder seiner Mutter zuwandte. Er beobachte den langsamen, grässlichen Pfad des Blutes. Ungläubigkeit und Grauen benebelten seinen Verstand. Irgendwann drehte er sich um und ging. Keinem der Matrosen fiel auf, dass er von dannen zog. Ebenso wenig bemerkten sie, dass er unterwegs die Büchse seines Vaters aufhob. Lan wusste eigentlich nicht, wohin er wollte. Erfolgte nur einer verschwommenen Eingebung, die sich in keine ihm begreifliche Form fügen wollte. Ihm war kaum bewusst, dass er überhaupt in Bewegung war, bis er sich vor der im Schatten am Fuße einer Holztreppe verborgenen Tür zum Frachtraum wieder fand und nicht mehr weiter konnte. Lan hob die Büchse an, feuerte auf das Schloss und zersprengte es. Dort drinnen war etwas - etwas, wonach er suchte, doch jedes Mal, wenn er es sich vorstellen wollte, sah er nur den schleichenden Pfad des Blutes seines Vaters und das Antlitz seiner Mutter. Sein Vater war tot. Seine Mutter wurde gerade ... geschändet. Lan war aus einem Grund hier, aber aus welchem? Es schien zu schrecklich, um daran zu denken, also ließ Lan das Denken sein. Der Frachtraum war heiß, dunkel und geräumig. Aus dem Gedächtnis wusste er, wie groß der Ort, wie hoch die gerippte Holzdecke war, wie weit entfernt die Bugwand lag. In der Nähe zeichneten sich mit Tauen verzurrte Kisten und Fässer als dunkle Schemen ab. Wo auf dem Deck der Teer abgeblättert war, drangen vereinzelt dünne Sonnenstrahlen durch und sorgten für spärliches Licht, das jedoch nicht ausreichte, um die Umgebung zu erkennen, bis seine Augen sich nach der grellen Helligkeit des Sommertages draußen an die Düsternis anpass101 ten. Abwesend spannte er den Hahn an der Büchse seines Vaters und trat suchend einen Schritt in den Frachtraum. Über ihm waren rennende Füße zu hören. Etwas regte sich. Lans Augen zuckten zur Quelle des Geräusches, und er verengte sie zu Schlitzen, um in der Dunkelheit besser zu sehen. Dann wieder eine Bewegung, ein langsames Beugen, das ihn eine Form erkennen ließ. Alle Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Mit der Büchse schützend vor der Brust, taumelte Lan rücklings. Hier unten waren Dinge. Vor seinen Augen krochen weitere aus den Schatten. Sie gaben leise, gurrende Geräusche von sich, die an einen Taubenschwarm erinnerten, doch ihre raubtiergleiche Haltung ließ sie alles andere als gutmütig wirken. Mit gemächlichen, todbringenden Schritten näherten sie sich ihm. Gebrüll hinter ihm. Vom Knall der Büchse angezogen, rennen Matrosen die Stufen zum Frachtraum herab. Fuira kreischt in der Ferne, ein einsamer Klagelaut voller Verlust, Pein und Furcht. Plötzlich erinnert sich Lan, weshalb er hier ist. Schießpulver. Die Fracht. Ein ordentlicher Fässerstapel an der Heckwand neben der Tür, durch die nun die anderen Seeleute in den Frachtraum drängen. Jäh halten sie inne, teils weil ihnen das Verbot des Webers einfällt, teils wegen der Büchse, die Lan auf sie gerichtet hält. In der Dunkelheit ist kaum etwas zu erkennen. Lan zielt auf die Fässer. Genug, um die Pelaska zu Staub zu zersprengen, so dass kaum etwas von ihnen übrig bleibt. Es ist der einzige Weg, das Leiden seiner Mutter zu beenden. Der einzige Weg. 102 Hinter ihm ertönt das Geräusch Dutzender Kreaturen, die unvermittelt losrennen, und das Gurren schwillt in seinen Ohren zu einem Kreischen an. Er flüstert ein kurzes Gebet an Omecha, drückt den Abzug, und die Welt verwandelt sich in Flammen. 103 SIEBEN Der Xarana-Bruch lag fern im Süden von Saramyrs Hauptstadt Axekami, jenseits einer idyllischen Landschaft
aus Ebenen und sanft rollenden Hügeln. Im krassen Gegensatz zum Weg, der zum Xarana-Bruch führte, präsentierte der Bruch selbst sich als schartiges, zerfurchtes Gewirr von Tälern, Hochebenen, Gestein, tiefen Schluchten und steilwandigen Felsmassen, die an kleine Gebirge erinnerten. Nahezu lotrechte Hänge grenzten an eingesunkene Flüsse; verborgene Lichtungen kauerten zwischen schroffen Gesteinstürmen; der Boden selbst glich einem in alle Winde verstreuten Mosaik, das ohne Ordnung wahllos anstieg und abfiel. Der Bruch bildete eine riesige Narbe in der Landschaft, erstreckte sich von einem Ende zum anderen über zweihundertfünfzig Meilen, maß an seiner breitesten Stelle gut vierzig Meilen und verlief leicht südwärts geneigt von Westen nach Osten. Legenden besagten, es wäre ein verwunschener Ort, und sie enthielten mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Einst war hier Saramyrs erste Stadt Gobinda errichtet worden, ehe sie im Zuge einer großen Zerstörung angeblich die fürchterliche Strafe Ochas für den Hochmut des dritten Geblütskaisers Bizak tu Cho - vom Antlitz der Welt gefegt worden war. Rastlose Wesen besannen sich dieser Zeit und geisterten immer noch durch die Schluchten und Tiefen des Bruchs, um unachtsamen Wanderern aufzulauern. Der Bruch wurde gemieden, anfangs als Sinnbild der Schande Saramyrs, 104 später als Ort, an dem Gesetzlosigkeit herrschte und den zu betreten nur Räuber und jene wagten, die tollkühn genug waren, den gemunkelten Schrecken zu trotzen, die dort weilten. Für einige aber war der Bruch ein Ort der Zuflucht. Obwohl er gefährlich war, gab es Menschen, die bereit waren, sich seinen Gegebenheiten anzupassen und ihn zu ihrer Heimat wählten. Erst diente er nur Verbrechern als Standort, von dem aus sie ihre Raubzüge zur Großen Gewürzstraße im Westen unternahmen; später aber kamen weitere Menschen, die vor der Welt außerhalb des Bruchs flüchteten. Jene, über die man die Todesstrafe verhängt hatte; jene, die ein zu absonderliches Gemüt besaßen, um unter gewöhnlichen Menschen zu leben; jene, die nach den kostbaren, am Grund des Bruchs freigelegten Schätzen trachteten und bereit waren, alles zu wagen, um sie zu erlangen. Siedlungen entstanden, anfangs klein, doch alsbald größer, wenn sie miteinander verschmolzen oder andere eroberten. Ausgeburten - die an jedem rechtschaffenen Ort beim ersten Anblick hingerichtet worden wären - begannen einzutrudeln, suchten nach einem sicheren Hafen vor den Webern, die sie jagten. Eine dieser Gemeinschaften war die Heimat der Libera Dramach. Unter den Bewohnern wurde sie als der Schoß bezeichnet, einerseits, um ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln, andererseits aufgrund der Form des Tals, in dem die Siedlung errichtet worden war. Sie erstreckte sich über eine Reihe überlappender Hochebenen und Felsvorsprünge, die das stumpfe westliche Ende des Tals hinab verliefen und durch Treppen, Holzbrücken und Flaschenzüge miteinander verbunden waren. Die Gebäude des Schoßes bildeten einen kreuz und quer verstreuten Haufen, ein wirres Gemisch von 105 Baustilen aus ganz Saramyr, errichtet von zahlreichen Händen, die nicht alle gleich begabt waren. Es war ein wucherndes Gewächs aus Heimen, die über fünfundzwanzig Jahre ohne übergeordneten Plan angelegt worden waren; vielmehr hatten Neuankömmlinge ihre Häuser dort gebaut, wo sie gerade mehr oder weniger hinpassten. An den Trampelpfaden, die über das unebene Gelände verliefen, standen klapprige Läden, in denen die Händler verkauften, was immer sie bis hierher in den Schoß zu bringen vermochten. Schänken priesen hochgeistiges Nass aus den eigenen Brennereien an, Rauchkaten boten Amaxawurzeln und andere Rauschmittel für jene feil, die sich derlei Zerstreuung leisten konnten. Dunkelhäutige Tchom-Rin-Kinder schlenderten in ihrer traditionellen Wüstenkluft neben Neuländern aus dem fernen Nordosten einher; ein ausgebürtiger Jüngling mit gesprenkelter Haut und gelben, falkengleichen Augen küsste innig ein elegantes Mädchen aus den wohlhabenden Südlichen Präfekturen; ein Priester Omechas kniete in einem kleinen, geschützten Schrein und bot seiner Gottheit Opfergaben dar; ein Soldat lief die Straßen entlang, klopfte vergnügt auf den Knauf seines Schwertes und achtete auf Anzeichen von Arger. Inmitten des unmittelbaren Gewirrs der Häuser befanden sich die Befestigungsanlagen. Wachtürme und Außenposten ragten über das Gedränge auf. Auch Mauern waren errichtet und von der wachsenden Stadt überrannt worden, so dass weiter draußen neue gebaut wurden. Feuerkanonen blickten ostwärts über das Tal. Am Felsrand, der den Schoß vor neugierigen Augen schützte, verbarg sich zwischen den Falten und Senken des Geländes eine mächtige Palisade. Im Xarana-Bruch 106 war Gefahr nie fern, und die Menschen im Schoß hatten gelernt, sich zu verteidigen. Lucia tu Erinima stand auf einer der höchsten Ebenen des Ortes auf dem Balkon des Hauses ihres Vormunds und fütterte kleine, piepsende Vögel mit Krümeln aus ihrer Hand. Auf der Dachrinne des Gebäudes gegenüber hockten zwei Raben und beobachteten sie mit wachsamen Augen. Auch Zaelis und Cailin, die im Haus saßen und heißen, bitteren Tee tranken, beobachteten sie. »Bei den Göttern, was ist sie doch groß geworden«, seufzte Zaelis und wandte sich seiner Gefährtin zu. Cailin lächelte leicht, doch das schwarze und rote Muster gegengleicher Dreiecke auf ihren Lippen verlieh ihr dabei das Aussehen eines grinsenden Raubtiers. »Eine schnippischere Frau als ich könnte fast annehmen, du hättest die Entführung deiner einstigen Schülerin vor all den Jahren nur eingefädelt, um sie selbst an Kindes statt aufzunehmen.«
»Ha!«, stieß er hervor. »Denkst du etwa, darüber hätte ich nicht oft genug nachgegrübelt?« »Und zu welchem Schluss bist du gekommen?« »Dass ich mir wesentlich mehr Sorgen mache, seit ich ihr Ersatzvater wurde, als in all den Jahren, seit ich die Libera Dramach ins Leben gerufen habe.« »Bislang hast du dich um beide bewundernswert gekümmert«, bescheinigte ihm Cailin, ehe sie einen Schluck aus der kleinen, grünen Teeschale in ihrer Hand trank. Zaelis bedachte sie mit einem überraschten Blick. »Das ist ungewöhnlich freundlich von dir, Cailin«, sagte er. »Bisweilen bin ich zu so etwas durchaus fähig.« Zaelis wandte die Aufmerksamkeit wieder dem Balkon zu, auf dem Lucia sich befand. Einst war sie die Erbin 107 des Reiches Saramyr gewesen - nun nur ein Mädchen wenige Wochen vor der vierzehnten Ernte, das in einem schlichten, weißen Kleid in der Sonne stand und Vögel fütterte. Ihr einst langes, blondes Haar war mittlerweile kurz und entblößte den Nacken, von dem aus sich grässliche Narben den Rücken hinab erstreckten. Zaelis wünschte, sie würde die Haare wieder wachsen lassen; die Narben wären so einfach zu verbergen. Doch wenn er sie darauf ansprach, bedachte sie ihn nur mit dem ihr eigenen, entrückten und verträumten Blick und schenkte ihm keine weitere Beachtung. Als Kind war sie hübsch, und nun, während die Knochen ihres Gesichts und Körpers wuchsen, war bereits unschwer zu erkennen, dass sie als Frau eine Schönheit werden würde, gesegnet mit denselben zierlichen und trügerisch blauäugigen Zügen, die ihre Mutter besessen hatte. Aber in jenen fahlblauen Augen hauste eine Sonderbarkeit, durch die sie für ihn, für jeden unergründlich wurde. Er kannte sie länger als jeder andere lebende Mensch, dennoch kannte er sie nicht wirklich. »Auch ich mache mir Sorgen«, gestand Cailin schließlich. »Um Lucia?« »Unter anderem.« »Dann meinst du also ihre ...« Mit leicht angewiderter Miene suchte Zaelis nach einem Wort. »Anhänger.« Cailin schüttelte einmal kurz den Kopf und brachte ihre schwarzen Pferdeschwänze dadurch zum Schwingen. »Ich gebe zu, dass sie ein Problem darstellen. Es ist weit schwieriger, ihr Geheimnis vor jenen zu wahren, die ihr Böses wollen, wenn diejenigen Gerüchte verbreiten, denen eigentlich ihre Sicherheit am Herzen liegt. Trotzdem bereiten sie mir keine allzu großen Sorgen, und 108 letzen Endes könnten sie sich sogar noch als nützlich erweisen.« Zaelis nippte nachdenklich an seinem Tee und spähte flüchtig zu Lucia. Mittlerweile hockten einige der Vögel auf dem Balkongeländer und schauten zu ihr auf wie Kinder, die einer Lehrerin lauschen. »Was bereitet dir dann Sorgen?« Cailin regte und erhob sich. Stehend war sie groß für eine Frau und bot einen bewusst Furcht erregenden Anblick. Zaelis, der mit untergeschlagenen Beinen auf einer Matte neben dem niedrigen Tisch saß, ließ den Blick zu ihr emporwandern. Cailin lief ein paar Schritte durch die Kammer und hielt inne. »Uns läuft die Zeit davon«, erklärte sie. »Weißt du das?«, fragte Zaelis. Kurz zögerte Cailin, dann brummte sie verneinend. »Ich fühle es.« Zaelis runzelte die Stirn. Derart ungewisse Äußerungen passten nicht zu Cailin. Sie war eine praktisch veranlagte Frau, die wenig von gefühlsgesteuerten Eingebungen hielt. Geduldig wartete er, bis sie fortfuhr. »Ich weiß, wie sich das anhört, Zaelis«, meinte sie unwirsch, als hätte er ihr etwas vorgeworfen. »Ich wünschte, ich hätte Beweise, die ich dir zeigen könnte.« Er stand auf und stellte sich neben sie, wobei er das Gewicht auf ein Bein verlagerte. Das andere war schwach; es hatte vor langer Zeit einen schweren Bruch erlitten und war nie ganz verheilt. »Dann sag mir, was du fühlst.« »Die Dinge spitzen sich zu«, antwortete Cailin nach einer kurzen Pause, in der sie ihre Gedanken sammelte. »Die Weber waren die vergangenen Jahre viel zu ruhig. Welche Vorteile haben sie durch den Pakt mit Mos erlangt? Denk nach, Zaelis. Sie hätten unmittelbar nach 109 Mos' Machtergreifung tun können, was für ihre Pläne notwendig gewesen wäre. Es hätte niemanden gegeben, der sich ihnen in den Weg gestellt hätte. Aber was taten sie stattdessen?« »Sie kauften Land. Und Schifffahrtsgesellschaften.« »Rechtschaffene Unternehmungen«, bestätigte Cailin und hob eine zierliche Hand, als wollte sie die Worte hinfortfegen. »Aber keine, die irgendwelche Gewinne abwerfen.« Ihr Ärger war deutlich aus ihrem Tonfall zu hören. Die Libera Dramach hatten rein gar nichts über die Hintergründe der merkwürdigen Käufe der Weber in Erfahrung zu bringen vermocht. Die Weber besaßen Verteidigungseinrichtungen, die gewöhnliche Spitzel nicht durchdringen konnten, und Cailin wagte nicht, eine Schwester des Roten Ordens einzusetzen, da sie fürchtete, ihr geheimer Bund könnte ans Tageslicht gelangen. Eine ertappte Schwester konnte das gesamte Netzwerk in den Untergang reißen. »Das ist doch alles schon lange bekannt, Cailin«, meinte Zaelis. »Wieso bereitet es dir ausgerechnet jetzt Kopfzerbrechen?« »Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Vielleicht, weil ich nicht erkenne, welchem Plan sie folgen. Es gibt zu
viele unbeantwortete Fragen.« »Deine Stimme war die lauteste, die sich in den letzten Jahren für Geheimhaltung ausgesprochen hat«, erinnerte er sie. »Wir sind damit zufrieden gewesen, uns zu festigen, unsere Stärke auszubauen und uns zu verstecken, während Lucia heranwächst. Vielleicht waren wir zu vorsichtig. Vielleicht hätten wir sie jeden Schritt ihres Weges behelligen sollen.« »Ich glaube, du überschätzt uns«, widersprach Cailin. »Wir verstecken uns, weil wir müssen. Uns zu früh zu offenbaren verhieße unser aller Tod.« Sie setzte ab, über110 legte eine Weile und fuhr schließlich fort: »Auch die Weber scheinen sich zu festigen, aber sieh doch mal genauer hin: Sie wussten von Anfang an, dass ihre Zeit der Macht begrenzt sein würde. Sie wussten, dass jenes Übel, das von ihren Hexensteinen ausgeht, die Erde vergiften würde. Ebenso muss ihnen klar gewesen sein, dass man Mos die Schuld dafür geben würde. Mos ist gleichsam ihr Verfechter; ohne ihn würde ihnen nicht nur die Macht entrissen, man würde sie auch für den Versuch bestrafen, das Gefüge des Reichs zu unterwandern. Die Adeligen schmieden bereits Ränke, um Mos loszuwerden.« »Aber wer besitzt die nötige Stärke dafür?«, fragte Zaelis. »Einzig und allein Geblüt Kerestyn könnte mit Unterstützung von Geblüt Koli ein Anwärter sein. Gemeinsam wären sie in der Lage, eine Armee aufzustellen, die dem Geblütskaiser Kummer bereiten könnte. Doch selbst sie wären außerstande, ihn in Axekami und mit den Webern im Rücken zu besiegen. In ein paar Jahren womöglich, aber nicht jetzt. Ganz gleich, welche Gräueltaten Mos begeht, sie würden keinen Angriff wagen. Und da Kakre sein Leben beschützt, welche Erfolgsaussichten hätte da ein Meuchelmörder?« »Aber jetzt herrscht Hungersnot, und die Zeichen für die bevorstehende Ernte stehen schlecht. Das Volk selbst wird sich früher oder später gegen Mos erheben«, hielt Cailin dem entgegen. Mit kühlem Blick drehte sie sich zu Zaelis um. »Verstehst du denn nicht? Die Weber können unmöglich geglaubt haben, ihr Aufstieg an die Macht wäre von Dauer - weil es ihre Geißel ist, die ihrem Gönner die Luft abdrückt. Sie haben nur auf Zeit gespielt.« »Sie hatten Hunderte Jahre Zeit, um das zu tun, was immer du vermutest«, gab Zaelis zu bedenken. In seiner 111 ruhigen Stimme schwang die übliche Überzeugung und Befehlsgewalt mit. »Frei konnten sie sich erst die letzten fünf Jahre bewegen«, schränkte Cailin ein. »Sie lassen das Kaiserreich in den Untergang schlittern, weil ihnen nichts daran liegt, es zu bewahren. Sie führen etwas im Schilde, Zaelis. Und wenn sie ihr Blatt nicht jetzt ausspielen, könnte es zu spät sein.« Zaelis musterte seine Gefährtin. Sie derart besorgt zu erleben war zutiefst beunruhigend. Für gewöhnlich verkörperte sie den Inbegriff kühler Gelassenheit. »Vielleicht bringt unser Spitzel aus Okhamba neue Erkenntnisse«, sagte er, um sie zu beschwichtigen. »Vielleicht«, murmelte Cailin wenig überzeugt. Sie schaute zu Lucia hinüber, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte. »Und in der Zwischenzeit werden die Geister im Bruch immer feindseliger, und wir verlieren mehr Männer und Frauen, als wir es uns leisten können. Sie spüren die Veränderung in der Erde und werden verbittert. Wir werden in die Enge getrieben, Zaelis. Bald werden wir von Feinden umgeben sein und uns weder innerhalb des Bruchs bewegen noch ihn verlassen können.« Damit traf sie Zaelis tief ins Herz. Erst letzte Woche waren zwei seiner besten Männer bei einem Erkundungsgang westwärts entlang des Bruchs verschwunden. Er fragte sich, ob dieser Ort allmählich zu gefährlich wurde, um ihn zu bewohnen, und was sie überhaupt tun könnten, wen dem so wäre. »Sie kann uns helfen«, erklärte Zaelis und folgte Cailins Augen. »Sie kann die Geister besänftigen.« »Kann Sie das tatsächlich?«, entgegnete Cailin düster und nachdenklich. »Ich bin mir da nicht so sicher.« 112 Für Lucia war die Welt von allerlei Flüstern erfüllt. So war es schon, solange sie zurückdenken konnte. Der Wind seufzte in einer geheimen Sprache und erregte bisweilen mit flüchtigen Bedeutungsfetzen ihre Aufmerksamkeit, ganz so, als schnappte sie ihren Namen in der Unterhaltung anderer Leute auf. Der Regen plapperte Kauderwelsch auf sie ein, neckte sie mit Verständnisansätzen, die stets hinfortgespült wurden, ehe Lucia sie zu erfassen vermochte. Felsen dachten Felsgedanken, sogar noch langsamer als die Bäume, deren knorrige Überlegungen manchmal Jahre brauchten, um zur Blüte zu gelangen. Dazwischen huschten die blitzschnellen Gedanken kleiner Tiere, die stets auf der Hut waren und sich nur entspannten, wenn sie in der Sicherheit ihrer Schlupflöcher weilten. Lucia war eine Ausgeburt, ein Fehltritt der Natur, und doch war sie der Natur näher als jeder andere lebende Mensch, denn sie besaß die Gabe, ihre zahlreichen Sprachen zu entschlüsseln. Sie schlenderte einen grasigen, ausgetretenen Pfad entlang, der sich um eine überhängende Felswand zu ihrer Rechten wand. Links fiel das Gelände steil und jäh ab, so dass sie auf eine riesige, mindestens eine halbe Meile breite Schlucht hinabblickte. Auf dem gegenüberliegenden, geneigten Hang ragten große Gesteinsrücken und Felssäulen krumm und staubig rot auf, warfen im Licht der schräg einfallenden Abendsonne dürre Fingerschatten. Die Luft war trocken und heiß und roch nach gebackener Erde. Vor ihr gingen Yugi und ein anderer Krieger der Libera Dramach, hinter ihr Cailin, Zaelis und zwei weitere bewaffnete Männer. Dieser Tage war es kein ungefährliches Unterfangen, sich über die Zunge des Tals hinauszuwagen, das den Schoß beherbergte.
113 Sie folgten dem Pfad bergauf, als er vom Rand der Schlucht abbog und in einen langen Graben führte, dessen Mitte das schmale Band eines Baches durchzog. Über ihnen bildeten Bäume ein dichtes Geflecht. Bienen summten im warmen Schatten und ernteten Nektar aus den seltenen Blumen, die hier blühten. Lucia lauschte ihrem leisen, beruhigenden Treiben und beneidete sie um ihren einfachen Lebensinhalt, ihre bedingungslose Treue gegenüber der Gemeinschaft des Bienenstocks, das schlichte Vergnügen, das es ihnen bereitete, einfach nur ihrer Königin zu dienen. Nach einer Weile gelangten sie zu einer Lichtung, wo der Graben an einer bröckeligen Felswand endete. Hier wichen die Bäume ob des kieseligen Bodens zurück, und Nukis Auge spähte dazwischen hindurch, um ihn zu erhellen. Wasser plätscherte durch eine schmale Spalte im orangefarbenen Gestein und sammelte sich in einem Tümpel, den es überflutete und aus dem es in einen schlammigen Kanal rann. »Du da«, wies Yugi seinen Gefährten an. »Du bleibst hier bei mir. Ihr zwei stellt euch weiter unten im Graben auf. Gebt Bescheid, falls ihr etwas Größeres als eine Katze seht.« Grunzend gehorchten die Männer. Ihre Schritte verhallten in der Ferne, während sie von dannen stapften. Yugi kratzte sich unter dem verschwitzten Lumpen, den er sich um die Stirn gewickelt hatte, um das schmutzige, braunblonde Haar aus den Augen zu halten. Er bedachte die Versammelten mit einem spitzbübischen Grinsen und meinte: »Tja, da sind wir wieder.« Lucia lächelte. Sie mochte Yugi. Zwar sah sie ihn angesichts seiner Pflichten innerhalb der Libera Dramach weniger häufig als Kaiku oder Mishani, aber er gab sich stets als lustiger Geselle. Manchmal allerdings spürte sie, 114 dass er nicht ganz so fröhlich war, wie sein Gebaren nahe legte. Lucia wusste, dass sie ihm größtes Unbehagen verursachen würde, indem sie nachbohrte. Zaelis kniete sich vor ihr nieder und ergriff mit seinen schwieligen Händen behutsam ihre Oberarme. »Bist du bereit, Lucia?« Eine Weile erwiderte Lucia seinen Blick, dann schaute sie zu dem Tümpel. Sanft löste sie seine Finger und ging zum Wasser hinüber. Sie kauerte sich an den Rand und starrte hinein. Es war nur wenige Fingerbreit tief und klar genug, um das ausgewaschene Becken darunter zu erkennen. Während sie hineinsah, glitt ein winziger Fisch durch die Spalte im Fels und plumpste klatschend in den Tümpel. Das kleine Wesen drehte verwirrt ein paar Runden, dann ließ es sich über die schmollende Lippe des Beckens in den Bach spülen, der den Graben entlang verlief - ahnungslos, dass es in wenigen Minuten über den Rand der Schlucht stürzen würde. Lucia beobachtete, wie das Fischlein in der Ferne verschwand. Sie hätte es nicht gewarnt, selbst wenn sie dazu in der Lage gewesen und es auf sie gehört hätte. Sein Pfad war ihm vorbestimmt, so wie Lucia der ihre. Einst hatte sie als Gefangene in einem goldenen Käfig in der Kaiserlichen Feste gelebt. Vor fünf Jahren war sie aus der Enge jener Mauern gerettet und in den Schoß gebracht worden, wo sie jedoch feststellen musste, dass sie lediglich in einem anderen Kerker gelandet war, der sie auf seine Weise ebenso sehr einengte wie der vorherige. Statt von Mauern wurde sie nun von Erwartungen erdrückt. Die Libera Dramach hatten die einst ums Überleben kämpfende Siedlung vor elf Jahren übernommen und sie in einen blühenden, befestigten Ort verwandelt. Die ste115 tig wachsende Bevölkerung nutzten sie, um frisches Blut für ihr geheimes Ziel anzuwerben. Es war ein tadellos geordnetes Gefüge, das wie geschmiert lief. Und alles für sie. »Ich habe erkannt, was geschehen würde«, hatte Zaelis ihr einst verraten. »Als du noch ein kleines Kind warst, kam ich, um dein Lehrer zu werden, und schon damals wussten wir, dass du eine Ausgeburt bist. Schon mit sechs Monaten konntest du sprechen, und nicht nur mit Menschen. Deine Mutter dachte, sie könnte dich verstecken, ich aber wusste, das wäre unmöglich. Damals brachte ich den Stein ins Rollen. Ich bewegte mich in Gelehrtenkreisen und pickte jene heraus, die Ausgeburten wohlgesonnen sein mochten. Wenn ich mir ihrer Einstellung sicher war, erzählte ich ihnen von dir. Es war Verrat, trotzdem habe ich es getan. Dann erkannten sie deine Bedeutung. Wenn du auf den Thron kämst, wenn eine Ausgeburt über das Reich herrschte, wäre alles zum Scheitern verurteilt, wofür die Weber stehen. Wie könnten sie jemals einwilligen, einer ausgebürtigen Geblütskaiserin zu dienen? Doch sich zu weigern hieße, sich gegen die hohen Familien zu stellen, die dir Gefolgstreue schuldig wären. Ihr Würgegriff, in dem wir uns befinden, wäre gebrochen.« Und hier war sie nun. Obwohl sie sich im Tal frei bewegen und spielen durfte, war stets jemand da, der sie im Auge behielt. All ihre Hoffnungen, all ihre Pläne beruhten auf Lucia. Ohne sie als Galionsfigur wären sie nur eine verräterische Bande von Aufwieglern. Lucia war ihr Lebensinhalt. Sie beschützten sie, versteckten sie, hüteten ihre verdrängte Thronerbin, auf dass sie an Macht und Einfluss gewinnen konnte, opferten ihre Zeit für den Tag, an dem sie zurückkehren würde, um Anspruch auf den Thron zu erheben. 116 Niemand hatte sie je gefragt, ob sie diesen überhaupt erheben wollte. In all den Jahren nicht ein einziges Mal. »Ist alles in Ordnung, Lucia?«, fragte Cailin. Lucia schaute flüchtig zu ihr auf; dann senkte sie den Blick wieder auf den Tümpel. »Wahrscheinlich wünschte sie, wir hätten den Schoß näher an einem Fluss errichtet, mit dem sie plaudern kann«, witzelte Yugi. »Ich habe die Bäche in unserem Tal schon wie Soldaten fluchen gehört.«
Das zauberte ein leichtes Lächeln auf Lucias Lippen, und sie schaute dankbar zu ihm auf. Halb hatte er sogar Recht. Es war gefährlich, sich aus dem Tal hinauszuwagen, doch dies war das nächstgelegene Gewässer, das unmittelbar vom Rahn genährt wurde. Zudem war seine Sprache weniger stark vom uralten Gemurmel unterirdischer Felsen und tiefschürfenderer, dunklerer Dinge besudelt. Sie fasste mit den hohlen Händen in den Tümpel und hob das Wasser behutsam an, ohne einen Tropfen zu verschütten. Lauschen. Sie neigte das Haupt, schloss die Augen, und die körperliche Welt verstummte für ihre Ohren. Das Rascheln der Blätter im trägen Wind wurde leiser, die Laute zwitschernder Vögel verblassten zu einem fernen Piepsen. Ihr Herzschlag wurde langsamer, ihre Muskeln lösten und entspannten sich. Mit jedem Atemstoß versank sie tiefer in das Reich der Unwirklichkeit. Sie bündelte die gesamte Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Gefühl des Wassers in ihren Händen, das Beben der Flüssigkeit ob des leichten Zitterns ihrer Finger; all ihr Empfinden galt nur dem Wasser, das in die winzigen Furchen ihrer Haut glitt. Umgekehrt ließ Lucia das Wasser sie spüren, die Wärme ihres Blutes, das Pochen ihres Pulses. 117 Alles Natürliche besaß einen Geist. Flüsse, Bäume, Hügel, Täler, das Meer und die vier Winde. Die meisten waren schlicht, ein bloßes Vorhandensein von Leben, beseelt nur von Gefühlen, vernünftiger Gedanken so unfähig wie ein ungeborenes Kind und doch nicht minder kostbar. Einige aber waren alt und hatten ein Bewusstsein mit gewaltigen und unergründlichen Gedanken. Dieses Wasser entsprang aus dem Bauch des Tchamil-Gebirges und floss Hunderte Meilen den Kerryn entlang, ehe es in den Rahn abbog und südwärts in den Bruch reiste. Die großen Ströme waren uralt, doch unter ihrem unverständlichen Bewusstsein strotzten sie vor zahlreichen einfacheren Geistern. Den Versuch, mit dem Rahn selbst in Verbindung zu treten, hätte Lucia nicht gewagt; er stellte ein Rätsel dar, dessen Ausmaß Lucias Können noch überstieg. Aber hier, an diesem Ort, konnte sie etwas heraussieben, das im Bereich ihrer Fähigkeiten lag. Und nach und nach erlangte sie durch Übungen wie diese jene Herrschaft über ihre Gaben, die es ihr eines Tages vielleicht ermöglichen würden, mit dem wahren Geist des Flusses Verbindung aufzunehmen. Sie ließ das Wasser durch ihre Finger rinnen, ließ es dem Tümpel vermitteln, wie sie sich anfühlte, um sich behutsam anzukündigen. Dann legte sie die Hände sanft auf die Oberfläche und wirbelte durch die Berührung zarte Wellen auf. Etwas kommt. Etwas Kreischend prescht es auf sie zu, eine schwarze Woge blanken Grauens, das in ihre Kehle drängt, in ihre Lunge strömt, sie zu ersticken droht. Tod und Schmerz und Gräuel, die im Wasser flussabwärts treiben. Und mitten darin etwas Kaltes, Fauliges, ein Hohn wider die 118 Natur, ein krallendes Unding, das sie zerreißen will. Schrecken auf dem Fluss, Schrecken auf dem Fluss, und die Geister schreien! Überwältigt von der Gewalt schaltete ihr Verstand ab, und Lucia kippte stumm auf den Kieselboden der Lichtung zurück. 119 ACHT Die Dienerin der See trieb in endloser Schwärze. Die Laternen entlang des Schandecks und am Mast bildeten einsame Lichtkugeln inmitten der tiefen Finsternis. Nur eine, fast volle Mondschwester hielt Wache am Himmel: Iridima, deren helles, weißes Antlitz wie gesprungener Marmor von blauen Rissen überzogen war. Dichte, wirbelnde Wolkenbänke verbargen in regelmäßigen Abständen ihr Gesicht und ließen hinter sich Sterne erlöschen. Ein für die Jahreszeit ungewöhnlich frostiger Wind blies über die Dschunke und brachte die Laternen zum Schaukeln. Kaiku zog die Bluse enger zusammen, während sie auf dem Vordeck Sternbilder betrachtete. Dort, tief im Osten, war der Fang - ein sicheres Zeichen dafür, dass der Herbst unmittelbar bevorstand. Durch den kalten Schleier von Iridimas Schein gerade noch erkennbar, befand sich der Sensenmann unmittelbar über ihr: ein weiteres Omen für das nahende Ende der Ernte. Und dort im Norden prangten die beiden unheilvollen, roten Funken des Lauernden, die gleich einem Augenpaar Seite an Seite gierig auf die Welt herabschauten. Es war spät, und die Fahrgäste schliefen bereits. Die Männer, die dafür sorgten, dass die Dschunke durch die Nacht segelte, tummelten sich mit leisen Stimmen und kaum wahrnehmbar im Hintergrund. Kaiku konnte in jener Nacht nicht schlafen. Die Aussicht, dass sie am nächsten Tag in Hanzean ankommen würden, war zu aufregend. Endlich würde sie den Fuß wieder auf saramyrrischen Boden setzen ... 120 Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Bei den Göttern, sie hätte nie für möglich gehalten, dass sie ihr Heimatland so sehr vermissen könnte, nachdem sie dort derart schlecht behandelt worden war. Doch obwohl ihre Familie tot und sie eine Ausgestoßene war, die aufgrund ihres ausgebürtigen Blutes gemieden wurde, liebte sie die makellose Schönheit der Hügel und Ebenen, der Wälder und Flüsse und Berge. Der Gedanke an die Heimkehr nach zwei Monaten in der Fremde erfüllte sie mit größerer Freude, als sie je gedacht hätte. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zum Antlitz Iridimas, der schönsten und strahlendsten der Mondschwestern,
und sie verspürte zugleich einen Anflug der Ehrfurcht und Angst. Wie immer, wenn sie einen Augenblick wie den diesen für sich alleine hatte, sprach Kaiku ein stummes Gebet an die Göttin und besann sich des Tages, als sie von den Kindern der Mondschwestern berührt, von einem so überwältigenden Sinn des Daseins gestreift worden war, dass sie tiefste Demut empfunden hatte. »Ich dachte mir schon, dass du es sein würdest«, sprach eine Stimme neben ihr. Kaiku spürte, wie sich die Kälte in eine ganz und gar angenehme Wärme verwandelte, die sich in ihr ausbreitete. Sie drehte leicht den Kopf und bedachte ihren neuen Gefährten mit einem abwägenden Blick. »Tatsächlich?«, gab sie zurück, ließ es jedoch weniger wie eine Frage und mehr wie einen Ausdruck beiläufiger Gleichgültigkeit klingen. »Niemand sonst geistert nachts über die Decks«, erklärte Saran. »Außer den Seeleuten, aber die haben schwerere Schritte als du.« Er stand dicht neben ihr, etwas näher, als schicklich war, aber Kaiku unternahm nicht den Versuch, sich weg121 zubeugen. Nach einem Monat, in dem sie einander tagtäglich gesehen hatten, war sie des Versuchs, ihre Hingezogenheit zu ihm zu verbergen, ebenso überdrüssig geworden wie umgekehrt er. Stattdessen hatte sich daraus ein heikles Spiel zwischen ihnen entwickelt: Beide wussten in gewisser Weise um die Gefühle des anderen, doch keiner war bereit nachzugeben und den nächsten Schritt zu wagen. Jeder wartete, bis der andere es tat. Kaiku vermutete, dass die Botschaft, die er bei sich trug, die Ausstrahlung des Geheimnisvollen, die sie ihm verlieh, einen Teil des Reizes ausmachte. Sie war so neugierig, worin seine Mission bestanden hatte, doch er wich ihren tastenden Fragen stets aus, und ihr hilfloser Arger darüber trug nur dazu bei, sie weiter in seinen Bann zu ziehen. »Du denkst an die Heimat?«, mutmaßte er. Kaiku nickte. »Was gibt es dort für dich?«, bohrte er nach. »Einfach ein Zuhause«, antwortete sie. »Vorerst reicht mir das.« Eine Weile schwieg er. Kaiku wurde plötzlich klar, dass sie gefühllos gewesen war, und deutete die Pause falsch. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Verzeih. Ich hatte es vergessen. Dein Akzent hat sich so stark verbessert, dass du mir bisweilen fast wie ein Saramyrrer erscheinst.« Saran schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. Wie üblich war er tadellos gekleidet, und jedes einzelne Haar saß dort, wo es hingehörte. Er mochte wohl eitel sein was Kaiku im Verlauf der vergangenen Wochen festgestellt hatte -, aber er hatte auch allen Grund dazu. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Quaraal ist nicht meine Heimat, jedenfalls nicht mehr. Ich war schon lange nicht mehr dort, trotzdem vermisse ich es nicht. Mein Volk trägt Scheuklappen und ist nicht 122 gewillt, die eigenen Gestade zu verlassen, weil es fürchtet, sich mit anderen Kulturen zu mischen, sei eine Beleidigung der Götter, für die sie der Ketzerei bezichtigt werden könnten. Ich glaube das nicht. Jene Quaraaler, die mit Fremden handeln, halten stets Abstand zu ihnen, ich hingegen finde in jedem Menschen Schönheit. In einigen mehr als in den meisten.« Er sah sie bei diesem letzten Satz weder an, noch betonte er ihn stärker als die vorigen, dennoch spürte Kaiku, wie sie errötete. »Einst dachte ich auch so«, sagte sie leise. »Ich tue es wohl immer noch, aber es ist nicht mehr so einfach. Mishani meint immer, ich brauchte ein härteres Herz, und sie hat Recht. Hält man zu viel von jemandem, wird man nur verletzlich. Früher oder später wird man doch enttäuscht oder verraten.« »Das ist Mishanis Meinung, nicht die deine«, entgegnete Saran. »Und außerdem, was ist mit Mishani selbst? Ihr scheint euch nah wie Schwestern.« »Sogar sie hat mich in der Vergangenheit verletzt, und jener Schmerz ging tiefer als alle davor«, murmelte Kaiku. Wieder schwieg Saran eine Weile. Sie standen beisammen, lauschten dem säuselnden Atem der See und schauten hinaus in die Dunkelheit. Kaiku wollte noch mehr sagen, doch sie hatte das Gefühl, bereits zu viel ausgeplaudert, ihm einen zu großen Teil ihrer selbst offenbart zu haben. Sie wachte stets über ihr Innerstes; so war sie nun mal, und die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es wenig Sinn hatte, etwas daran verändern zu wollen. Wenn sie die Tore öffnete, schien sie es zwanghaft für die falschen Menschen zu tun, und hielt Kaiku sie geschlossen, vertrieb sie damit jeden. Seit sie im Schoß lebte, war sie zwei Beziehungen ein123 gegangen. Beide waren zunächst erfüllend gewesen, hatten sich letztendlich aber als leer erwiesen. Mit einem Mann war sie drei Jahre zusammen, bevor ihr klar wurde, dass sie bei ihm blieb, um die Schuld zu lindern, die sie ob Tanes Tod verspürte - Tane, der ihr aus Liebe in die Kaiserliche Feste gefolgt und dort gestorben war. Mit dem anderen dauerte es sechs Monate, ehe er eine höchst üble Wesensart an den Tag legte, die dadurch verschlimmert wurde, dass er ihr körperlich unterlegen war. Sie sah nicht, wie seine Wut sich auftürmte, bis sie aus ihm herausbrach. Er schlug sie. Kaiku zerschmetterte ihm mit ihrem Kana die Knochen seiner Hand. Leider
war er trotz seiner anderen Unzulänglichkeiten ein begabter Bombenbauer und dadurch eine wichtige Stütze für die Libera Dramach, doch Kaikus Tat hatte dem ein Ende bereitet. Sie bedauerte den Ärger für Zaelis' Vereinigung weit mehr als den Umstand, dass sie ihn verkrüppelt hatte. Doch es gab noch einen Menschen, der vor langer Zeit zu ihrem Herzen vorgedrungen war und sich nicht hinauswerfen ließ, der so hartnäckig verweilte wie das Flüstern der Maske ihres Vaters, die sie manchmal nachts mit ihren heimtückischen Lockrufen weckte. »Ich vermisse Asara«, sprach sie abwesend, mit verschwommenen Augen aus. »Asara tu Amarecha?«, fragte Saran. Kaikus Kopf wirbelte heftig herum, um seinen Blick zu suchen. »Du kennst sie?« »Ich bin ihr begegnet«, antwortete Saran. »Sie trug zwar nicht diesen Namen, aber schließlich bleibt sie nie lang dieselbe.« »Wo? Wo bist du ihr begegnet?« Angesichts des Drängens in Kaikus Stimme zog Saran eine wie aufgemalt wirkende Augenbraue hoch. »In 124 eben jenem Hafen, in dem wir morgen anlegen. Vor mittlerweile vielen Jahren. Sie kannte mich nicht, aber ich kannte sie. Zwar trug sie ein anderes Gesicht, doch ich wusste über ihre Ankunft Bescheid.« Er lächelte und genoss Kaikus Aufmerksamkeit. »Ich habe mich mit ihr in Verbindung gesetzt. Schließlich stehen wir beide auf derselben Seite.« »Asara steht auf niemandes Seite«, widersprach Kaiku. »Sie richtet ihre Treue so aus, wie es ihr in den Kram passt«, berichtigte Saran sie. Dann drehte er sich von ihr weg in den Wind und wischte sich mit einer flinken Handbewegung das Haar aus dem Gesicht. »Aber gerade du solltest wissen, dass sie dem Roten Orden und der Libera Dramach hilft.« »Ja, früher«, entgegnete Kaiku. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit Lucia -«Jäh bremste sie sich, aber dann fiel ihr ein, dass Saran es bereits wusste. Unbewusst ahmte sie ihn nach, indem sie ihre Strähne zurückwischte. »Seit Lucia in den Schoß kam.« »Sie hat in den höchsten Tönen von dir gesprochen«, sagte Saran und ging mit langsamen Schritten über das Vordeck. Er wirkte zu starr, zu aufrecht, und Kaiku empfand seine Bewegungen und seine Redensweise als wichtigtuerisch und gekünstelt. Es ärgerte sie, wenn er sich so verhielt. Nun, da er etwas wusste, das sie erfahren wollte, spielte ersieh plötzlich auf und nutzte seinen Vorteil. Sie hätte ihm den Wind aus den Segeln nehmen und Gleichgültigkeit heucheln sollen, doch dafür war es zu spät. Quaraaler waren bekannt für ihren Hochmut, und Saran bildete keine Ausnahme. Wie die meisten Menschen natürlicher Schönheit empfand er es als überflüssig, die Kanten seiner Persönlichkeit abzuschleifen, da die Frauen ihm auch so zu Füßen lagen. Am meisten aber 125 verdross Kaiku, dass sie es wusste und trotzdem immer wieder auf ihn zuging. Saran wollte unverkennbar, dass sie ihn fragte, was Asara denn über sie gesagt hatte, doch diesmal würde sie ihm die Genugtuung nicht gönnen. Mittlerweile stützte er die Ellbogen auf die Bugreling und musterte sie mit seinen dunklen Augen. »Was wart ihr beide füreinander?«, erkundigte er sich schließlich. Fast glaubte Kaiku, dass sie es ihm nicht sagen könne; doch eine nachdenkliche Stimmung hatte sie erfasst, und es tat ihr gut zu reden. »Ich weiß es nicht«, gab sie zurück. »Ich wusste nie, wer sie war oder was sie war. Ich wusste nur, dass sie... irgendwie ihre Gestalt wandeln konnte. Und ich wusste, dass sie lange Zeit über mich gewacht und darauf gewartet hatte, dass mein Kana sich offenbart. Sie konnte grausam oder freundlich sein. Ich glaube, sie war wohl einsam, aber zu besessen von ihrem Unabhängigkeitsstreben, um es sich einzugestehen.« »Wart ihr Freundinnen?« Kaiku runzelte die Stirn. »Wir waren ... mehr als Freundinnen und gleichzeitig weniger. Ich weiß nicht, was sie wirklich von mir gehalten hat, aber ... es steckt noch immer ein Teil von ihr in mir. Da.« Sie klopfte sich auf das Brustbein. »Sie hat den Atem einer anderen gestohlen und mir eingehaucht. Dabei ist etwas von ihr auf mich übergegangen. Und etwas von mir auf sie.« Als sie bemerkte, dass Saran sie mit kühlem Blick beobachtete, schüttelte sie lächelnd den Kopf. »Ich kann wohl kaum erwarten, dass du das verstehst.« »Ich glaube, ich verstehe genug«, entgegnete Saran. »Tatsächlich? Das bezweifle ich.« »Hast du sie geliebt?« 126 Ungläubig riss Kaiku die Augen auf. »Wie kannst du es wagen, mich so etwas zu fragen?«, herrschte sie ihn an. Unbekümmert zuckte Saran mit den Schultern. »War nur eine Frage. Du hast dich angehört, als ob -« »Ich habe geliebt, was sie mich gelehrt hat«, fiel sie ihm ins Wort. »Sie hat mich dazu gebracht, mich als das zu mögen, was ich bin. Eine Ausgeburt. Sie hat mir dabei geholfen, dass ich mich nicht mehr für mich schämte. Aber ich habe nicht sie geliebt. Nicht so, wie sie war. Falsch, selbstsüchtig, herzlos.« Kaiku zügelte sich, als ihr klar wurde, dass sie lauter geworden war. Zornig errötete sie. »Beantwortet das deine Frage?« »Durch und durch ausreichend«, bestätigte Saran ungerührt. Kaiku stapfte zur gegenüberliegenden Seite des Vordecks, wo sie mit vor der Brust verschränkten Armen stehen
blieb, mürrisch auf die in Mondlicht getauchten Wogen blickte und sich selbst zürnte. Mit Asara war immer noch eine offene Wunde verbunden, die sich weigerte zu heilen. Sie hatte Saran weit mehr mitgeteilt, als sie vorgehabt hatte. Es wäre besser gewesen, die Verluste zu begrenzen und zu verschwinden, dennoch verharrte sie. Nach einer Weile hörte sie, wie er zu ihr herüberkam. Seine Hände berührten ihre Schultern, und sie drehte sich um. Er stand wieder dicht bei ihr. Seine dunklen Augen musterten sie im schattigen Rahmen seines Gesichts eingehend; heftiges Verlangen sprach aus ihnen. Kaiku spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte; salziger Wind blies zwischen ihnen hindurch. Dann beugte er sich herab, um sie zu küssen - und sie wandte den Mund ab. Verletzt und wütend zog er sich zurück. Kaiku wich aus seiner Umarmung, drehte sich wieder um und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie spürte 127 seinen Arger, seine Verwirrung gleich feinen Nadeln im Nacken. Doch sie wehrte sich, indem sie die Schultern straffte, um Kälte und unüberwindliche Entschlossenheit zu vermitteln. Letztlich hörte sie ihn gehen. Kaiku blieb alleine zurück, beobachtete die Sterne und legte einen weiteren Ziegel auf die Mauer um ihr Herz. Früh am Vormittag des nächsten Tages trafen sie in Hanzean ein. Der Hafenort präsentierte sich in rosigem Licht. Fern im Osten tobte der Surananyi, wirbelten heftige Stürme den roten Staub der Tchom-Rin-Wüste auf und tönten damit Nukis Auge. Altem Brauchtum folgend, hielten die Seeleute eine kurze Zeremonie um einen winzigen Schrein ab, den sie von seinem üblichen Platz unter Deck heraufbrachten, um Assantua, der Göttin des Meeres und des Himmels, für die sichere Überfahrt Opfergaben in Form von Weihrauch darzubringen. Alle Saramyrrer nahmen daran teil, abwesend waren allein Saran und Tsata. Hanzean war weniger betriebsam als Jinka im Norden, wo sich der Großteil des Warenumschlags aus Okhamba abspielte, und die Reise dauerte etwas länger, doch dies war der Heimathafen der Flotte Geblüt Mumakas. Es war der malerischste Ort an der Westküste, zudem der älteste: die erste saramyrrische Siedlung auf diesem Kontinent. Neunzig Meilen südwestlich stand der Palexai, ein großer Obelisk, der die Stelle des ersten Landfalls kennzeichnete. Obwohl Hanzean nie zu Saramyrs erster Hauptstadt aufgeblüht war jenen Titel hatte das verfluchte Gobin dafür sich beansprucht-, blieb es doch ein einflussreicher, fest in der eigenen Geschichte verwurzelter Ort. 128 In den Tagen vor ihrem Abfall von ihrer Familie hatte Mishani Hanzean mehrere Male besucht. Sie mochte die stillen Gässchen und alten Plätze; der Ort erinnerte sie an das Kaiserviertel Axekamis, obschon er etwas weniger sorgfältig gepflegt und etwas rauer an den Rändern war, wodurch er irgendwie wirklich erschien. Nun jedoch empfand sie beim Anblick der glatten Steintürme und roten Säume der Zierdachrinnen um die Marktkuppel eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Beklommenheit. Sie hatten sich die Reise um einen Preis erkauft, aber sie vermochte noch nicht zu sagen um welchen. Geld hatte Chien nicht gewollt; stattdessen hatte er ihr ein Versprechen abgerungen, das zu gewähren in einer solchen Lage die Höflichkeit gebot. »Ihr müsst als Gast in meinem Stadthaus in Hanzean bleiben«, hatte er gesagt. Oberflächlich schien das durchaus harmlos; doch so wie Masken neigten Oberflächen dazu, das zu verbergen, was sich darunter befand. Wenngleich kein Zeitraum vereinbart worden war, gebot der Anstand, dass Mishani wenigstens fünf Tage blieb. Und in jenen fünf Tagen konnte praktisch alles geschehen. Die Anwesen von Geblüt Koli in der Mataxa-Bucht lagen viel zu nahe, als dass Mishani sich in Sicherheit wähnen konnte. Sie betrachtete alle Winkel, suchte in allem nach versteckten Bedeutungen. Für Mishani war das zur notwendigen Gewohnheit geworden, und sie war begabt darin. Chien war kein Hohlkopf; er hätte sich als Gegenleistung bedeutende Vorteile aushandeln können. Sie an seiner Stelle hätte es getan. Wenn er tatsächlich von dem Bruch mit ihrer Familie gehört hatte, war ihm klar, dass sie nichts anzubieten hatte, und vermutlich wusste er, dass Barak Avun im Geheimen nach seiner Tochter 129 suchte. Er würde sie wohl einfach ihren Feinden in die Arme spielen. Warum lasse ich es dann zu ?, fragte sie sich stumm, während sie die Worte des Mantras an Assantua murmelte und der Zeremonie der Seeleute nur Bruchstücke ihrer Aufmerksamkeit widmete. Weil sie ein Versprechen gegeben hatte. Zu einer Verstoßenen war sie geworden, weil sie sich geweigert hatte, von ihrer Ehre abzufallen; und sie würde es auch jetzt nicht tun. Chien wusste, dass sie seine Einladung nicht ausschlagen konnte, ohne ihn zu beleidigen, zudem hätte sie dadurch preisgegeben, dass sie ihn verdächtigte. Wahrscheinlich verwirrten ihn ihre Beweggründe ebenso sehr wie sie die seinen. Was hatte sie in Okhamba getrieben? Weshalb setzte sie sich einem solchen Wagnis aus? Sie hatte ihm nichts verraten, obwohl sie sich im Verlauf der Reise oft unterhalten hatten. Seine Ungewissheit war ihr Vorteil, und den musste sie bewahren. Nachdem sie in seinem Stadthaus eingetroffen wären, würde sie sehen, was sie in Hinblick auf ihre Lage unternehmen konnte. Kaiku hatte sie ihre Ängste nicht mitgeteilt. Wenngleich sie anfangs denselben Verdacht wie Mishani gehegt hatte, ließ sie sich durch die Beteuerung beschwichtigen, dass Chien vertrauenswürdig sei. Was natürlich gelogen war, aber Kaiku konnte ohnehin nicht helfen. Sie musste Saran und seinen Tkiurathi-Gefährten in den Schoß bringen, außerdem wären ihre leidenschaftlichen Ausbrüche Mishanis Ränken alles andere als zuträglich. Letzten Endes war Kaiku zufrieden damit, es dabei bewenden zu lassen. Mishani hatte sowieso von Anfang an
vorgehabt, nach der Rückkehr aus Okhamba gen 130 Süden zu reisen, was Kaiku gewusst hatte. Außer wenn Zaelis oder Cailin sie um Rat fragten oder Lucia eine Schwester brauchte, war Mishani im Schoß nahezu nutzlos. Nein, sie hatte anderes zu erledigen - vorausgesetzt, sie war dazu noch in der Lage, wenn Chien mit ihr fertig war. Sie wollte nach Lalyara, um Barak Zahn tu Ikati zu treffen. Lucias wahren Vater. Sie gingen an Chiens eigenem Landungssteg von Bord. Danach bestand er darauf, dass sie ihn in sein Stadthaus begleiteten und mit ihm zu Abend speisten, bevor sie aufbrachen. Für Mishanis geübtes Auge wirkte Saran zögerlich, aber er erhob keine Einwände. Kaiku, der es nur recht war, den Abschied von ihrer Freundin hinauszuzögern, nahm die Einladung glücklich an. Tsata und Chien tauschten ein paar Worte auf Okhambisch was der Händler fließend zu beherrschen schien -, danach willigte auch der Tkiurathi ein. Da er nicht an saramyrrische Anstandsregeln gebunden war, hatte Kaiku befürchtet, er könnte etwas Unhöfliches von sich geben; aber Chien wusste offenbar, wie man Tkiurathi behandelte. Sie wurden am Landungssteg erwartet und mit einer Kutsche durch die ruhigen Straßen Hanzeans befördert. Zierliche Katzen beobachteten sie neugierig von Dächern aus; sonnengebräunte Frauen traten beiseite, um sie vorbeizulassen, ehe sie sich wieder daran machten, mit Reetbesen Staub von ihren Schwellen zu fegen; erschrockene Vögel stoben aus Springbrunnen auf, in denen sie badeten. Kaiku ging ganz in der Umgebung auf, genoss die schlichte Freude, wieder zurück in Saramyr und nicht mehr auf jenem Schiff zu sein. Mishani wünschte, ihr wäre dasselbe Vergnügen vergönnt. Ihr war aufgefallen, dass die Kutsche einen höchst umständlichen Weg zu ihrem Ziel wählte, indem sie schmale, 131 gewundene Durchfahrtsstraßen hinabfuhr und mehrere Male umkehrte. Die anderen hatten es nicht bemerkt, zumindest schien es so; doch für jemanden, der Hanzean kannte, war es offensichtlich. Chiens Stadthaus erwies sich als nicht besonders prunkvoll. Es handelte sich um ein gedrungenes, dreigeschossiges Gebäude, das einer gepressten Pagode ähnelte. Kacheln säumten den Rand, und an jeder Ecke diente die gebildhauerte Figur eines Geistes als Wasserspeier. Inmitten des Anwesens befand sich ein kleiner Garten mit bunten, sorgfältig angelegten Steinplätzen. Das Gelände selbst war klein und ordentlich, stellte lediglich einen Rasen innerhalb der Mauer des Anwesens dar, über den ein paar gepflegte Blumenbeete, Baumgruppen und Steinbänke verstreut waren und über den ein schmaler Bach verlief. Es lag in einem guten Viertel entlang einer Straße mit Anwesen ähnlicher Größe, aus denen es in keiner Weise hervorstach. Dasselbe setzte sich im Inneren fort. Obschon Chien ein zweifellos reicher Mann war, hatte er schlichte Behaglichkeit jeglichem Pomp vorgezogen. Allein die raren und wertvollen okhambischen Steingötzen, die in einigen Räumen auf Sockeln standen, zeugten von seinem Geschick als Händler. Kaiku schauderte bei dem Anblick, da sie dabei an das Furch einflößende Bewusstsein der Götzen auf dem Aith Pthakath denken musste. Das Mahl schmeckte vorzüglich, erst recht nach dem eingemachten Essen, das ihnen an Bord des Schiffes aufgetischt worden war. Gedünsteter Schlitterfisch, gewürzter Salzreis in zarter, in Seetangstreifen gewickelter Kruste, ein Eintopf aus Gemüse und gegrilltem Banathi und - am köstlichsten von allem Jukarabeeren, die nur in den letzten Wochen der Erntezeit gediehen und glei132 chermaßen kostspielig wie schwierig zu züchten waren. Sie aßen, redeten und scherzten, genossen gemeinsam die Erleichterung, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Lachend erinnerten sie sich an die Reise, während sie ihr Mahl schnitten und aufspießten, wofür sie silberne Fingergabeln, die am Mittel- und Ringfinger der linken Hand getragen wurden, und die dazugehörigen Fingermesser an der rechten verwendeten. Gelegentlich bedienten sie sich zierlicher Löffel, die zwischen dem freien Daumen und Zeigefinger gehalten wurden. Weder Saran noch Tsata schienen damit oder mit den Sitten der Tischhöflichkeit Probleme zu haben. Mishani vermutete, dass der stille Tkiurathi wesentlich gebildeter war, als sie ursprünglich angenommen hatte. Schließlich ging das Mahl zu Ende. Wie erwartet, lud Chien Mishanis Gefährten ein zu bleiben, was diese, ebenfalls wie zu erwarten, mit Bedauern ablehnten. Chien bedrängte sie nicht; stattdessen stellte er ihnen eine Kutsche zur Verfügung, die sie aus der Stadt bringen sollte. Gemeinsam gingen sie hinaus auf den kleinen Rasen des Anwesens und schlenderten gemächlich durch die schwüle Hitze des Nachmittags. Die kühlenden Brisen des nahenden Herbstes waren verebbt und hatten die Luft reglos und feucht zurückgelassen. Mishani ging mit Kaiku voraus. »Du wirst mir fehlen, Mishani«, sagte Kaiku. »Es ist ein weiter Weg zu den Südlichen Präfekturen.« »Ich bin ja nicht ewig fort. Einen Monat, höchstens zwei, wenn alles gut verläuft.« Sie bedachte ihre Gefährtin mit einem süßsauren Lächeln. »Ich dachte, nach dieser Reise hättest du mal eine Weile genug von mir.« Kaiku erwiderte das Lächeln. »Natürlich nicht. Wer 133 außer dir sorgt schon dafür, dass ich nicht dauernd in Fettnäpfchen trete?« »Cailin versucht es, aber du lässt sie nicht.« »Cailin will ein zahmes Haustier aus mir machen«, entgegnete Kaiku verächtlich. »Ginge es nach ihr, verbrächte ich jeden Tag mit Lernen und trüge längst die schaurige Schminke und die schwarze Kluft des Roten Ordens.« »Sie setzt viel Vertrauen in dich«, gab Mishani zu bedenken. »Die meisten Lehrer täten sich eine so starrsinnige
Schülerin nicht an.« »Cailin kümmert sich bloß um ihre eigenen Angelegenheiten«, entgegnete Kaiku, schattete die Augen ab und spähte abwesend zur Sonne empor. »Sie hat mir beigebracht, das zu bändigen, was in mir ist - dafür werde ich ihr immer dankbar sein -, aber ich habe nie eingewilligt, den Rest meines Lebens als eine ihrer Schwestern zu fristen. Das will sie nicht verstehen.« Kaiku ließ den Blick sinken. »Außerdem schulde ich einer höheren Macht als ihr einen Eid.« Mishani legte ihr eine Hand auf den Ellbogen. »In den letzten Jahren hast du viel getan, um der Libera Dramach zu helfen. Du hast bei zahlreichen Unterfangen eine bedeutende Rolle eingenommen. Alles, was du für sie tust, schmerzt die Weber, und sei es auch nur in kleinem Maße. Das solltest du nie vergessen.« »Das reicht nicht«, murmelte Kaiku. »Meine Familie ist immer noch nicht gerächt, mein Gelübde an Ocha unerfüllt. Ich habe gewartet und gewartet, aber allmählich verliere ich die Geduld.« »Du kannst die Weber nicht ganz allein besiegen«, erinnerte Mishani sie. »Und ebenso wenig kannst du erwarten, zweieinhalb Jahrhunderte Geschichte binnen eines halben Jahrzehnts rückgängig zu machen.« 134 »Ich weiß«, sagte Kaiku. »Nur hilft das nicht.« Sie verabschiedeten sich voneinander; dann brachen Saran, Tsata und Kaiku in einer Kutsche auf, während Mishani bei Chien zurückblieb. »Wollen wir hineingehen?«, schlug er vor, nachdem sie weg waren. Höflich willigte Mishani ein und folgte ihm, wobei ihr deutlicher denn je zuvor bewusst wurde, dass sie alleine war und höchstwahrscheinlich in eine Falle lief. NEUN Mos saß in der Kammer der Tränen und lauschte dem Regen. Er war noch nie in diesem Raum gewesen. Was keineswegs ungewöhnlich war; viele der oberen Geschosse der Kaiserlichen Feste standen leer. Das Bauwerk war als übertriebene Geste der Huldigung vom vierten Geblütskaiser Saramyrs, Huita tu Lilira, errichtet worden, gleichsam als Wiedergutmachung für die Überheblichkeit seines Vorgängers. Doch nicht einmal die Kaiserfamilie brauchte ein Gebäude von solcher Größe und Verschlungenheit wie die der Feste. Selbst wenn Mos alle seine entfernten Verwandten eingeladen hätte hier zu wohnen - was kaum möglich war, da die Blutlinie über das Land verteilt sein musste, um sich um die verschiedensten Angelegenheiten zu kümmern -, hätten sie Mühe gehabt, sämtlich Räume zu füllen. Und als das große Feuer vor fünf Jahren große Bereiche des Inneren zerstört hatte, waren die Bewohner einfach in neue Abschnitte umgezogen und lebten recht behaglich weiter, während die Instandsetzungsarbeiten durchgeführt wurden. Die obersten Geschosse, in denen Mos die Kammer der Tränen gefunden hatte, waren am schwierigsten zu erreichen, und die Lachgänge boten lediglich hohlen Widerhall. Laranya hatte einst gemeint, hier oben könnten Menschen leben, eine ganze Horde verirrter Wanderer, die seit Jahrhunderten unentdeckt geblieben sein könnten. Mos hatte gelacht und erwidert, dass ihre Vorstellungskraft mit ihr durchginge. Obwohl die Räume 136 verwaist waren, erwiesen sie sich weder als staubig noch als vernachlässigt. Er vermutete, zu den Pflichten eines seiner Berater gehörte, dafür zu sorgen, dass die Bediensteten keinen Teil der Feste verfallen ließen. Das Geräusch plätschernden Wassers hatte ihn hierher geführt, während er mit seiner dritten Flasche Wein auf der Suche nach einem stillen Winkel umhergeirrt war. Es handelte sich um eine breite, runde Kammer mit einem Kuppeldach, in dessen Mitte ein Loch klaffte, durch das der Regen auf den Kachelboden fiel und durch kleine Gitter abrann. Der Boden neigte sich leicht zur Mitte hin, damit das Wasser dorthin floss und man unmittelbar neben dem Tropfenschleier sitzen und trotzdem trocken bleiben konnte. Ein kunstfertig angelegtes Gefüge von Rinnen auf dem Dach leitete Wasser durch verborgene Kanäle zu den Statuen, die in Nischen am Rand der Kammer standen, so dass aus ihren Augen und über ihre Gesichter Tränen rannen, die sich in Steinbecken an ihren Füßen sammelten. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt, und es waren keine Laternen angezündet. In der düsteren Kammer waren die Überreste der Hitze des Tages als drückende Schwüle zurückgeblieben. Der Regen war ungewöhnlich für diese Jahreszeit, aber er entsprach Mos' Stimmung, weswegen er sich davon angezogen fühlte. Er saß auf einem der zahlreichen Stühle, die in der Kammer einen Kreis bildeten, und beobachtete die herabprasselnden Regensäulen, den Teppich winziger Explosionen, die sie beim Eintauchen in die seichte Pfütze in der Mitte der Kammer verursachten. Das einzige Licht stammte vom verblassenden Auge Nukis, das durch das Loch in der Kuppel einfiel und Mos' Stirn, bärtiges Kinn und den Rand der Flasche umriss. Unwirsch trank er einen weiteren Schluck, einen verbitterten und zornigen Zug. 137 »Ihr solltet nicht alleine sein«, krächzte Kakre vom Eingang zur Kammer, und Mos fluchte lauthals. »Bei den Göttern, Ihr seid der Letzte, den ich im Augenblick sehen möchte, Kakre«, sagte er. »Verschwindet.« »Wir müssen uns unterhalten«, beharrte der Webfürst und trat weiter in den Raum. Mos starrte ihn an. »Dann kommt näher. Ich werde mich nicht unterhalten, solange Ihr dort drüben im Schatten lauert.« Kakre gehorchte und schlurfte ins Licht. Mos sah ihn nicht an, beobachtete weiter den Regen. Der Moder von Verfall und Tierfell, der an den Geruch eines kranken Hundes erinnerte, drang sogar durch den Weindunst zu
ihm durch. »Worüber müssen wir uns unterhalten«, knurrte er. »Ihr seid betrunken«, stellte Kakre fest. »Ich bin nie betunken. War es das, was Ihr mir sagen wolltet? Ich habe eine Frau, um mich zu rügen, Kakre; dafür brauche ich Euch nicht.« Mühevoll zügelte Kakre sich und sandte eine Woge des Zornes aus, die Mos die Nackenhaare aufrichtete. »Bisweilen seid Ihr zu unverschämt, mein Kaiser«, warnte Kakre, wobei er Mos' Titel mit unverhohlener Verachtung betonte. »Ich bin keiner Eurer Diener, die Ihr entlassen oder verhöhnen könnt, wie es Euch beliebt.« »Nein, das seid Ihr tatsächlich nicht«, pflichtete Mos ihm bei und nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. »Meine Diener sind mir treu ergeben und tun, was von ihnen erwartet wird. Ihr nicht. Manchmal frage ich mich, weshalb ich Euch überhaupt in meiner Nähe behalte.« Darauf erwiderte Kakre nichts, sondern musterte Mos nur böswillig schweigend. 138 »Was also habt Ihr mir zu sagen?«, herrschte Mos den Webfürsten an und schleuderte ihm einen verärgerten Blick zu. »Ich habe Neuigkeiten aus dem Süden. In Zila tobt ein Aufstand.« Abgesehen davon, dass er die Stirn tiefer in Falten legte und seine Miene sich verfinsterte, zeigte Mos keine Regung. »Ein Aufstand«, wiederholte er langsam. »Der Statthalter wurde getötet. Es war eine aufgebrachte Menge, überwiegend Bauern und Stadtbewohner. Sie haben den Verwaltungsplatz gestürmt. Einer meiner Weber sandte mir die Kunde, bevor auch er getötet wurde.« »Sie haben einen Weber getötet?«, rief Mos ungläubig aus. Kakre sah keine Notwendigkeit, etwas darauf zu erwidern. Das Platschen des Regens füllte die Pause in der Unterhaltung, während Mos nachdachte. »Wer ist dafür verantwortlich?«, wollte der Kaiser schließlich wissen. »Es ist noch zu früh, um das zu sagen«, schnarrte der Webfürst. »Aber die Bauern waren keine planlose Rotte. Und meine Spitzel in Zila hatten schon zuvor von der steigenden Beliebtheit jenes recht hartnäckigen Kultes berichtet, der uns die letzten Jahre immer wieder beschäftigt hat.« »Die Ais Maraxa? Sie waren es?«, brüllte Mos voll plötzlich aufflammendem Zorn und schleuderte die Flasche quer durch den Raum. Sie zerschellte an einer der weinenden Statuen, wodurch sich roter Wein in das Regenwasser im Becken an ihren Füßen mischte. »Vielleicht. Ich habe Euch oft genug gewarnt, dass ihnen letzten Endes etwas in der Art gelingen könnte.« 139 »Ihr solltet verhindern, dass etwas in der Art geschehen kann!« Jäh stand der Kaiser auf und stieß dabei den Stuhl hinter sich um. »Ihr habt über die Ernten Bescheid gewusst«, erinnerte ihn Kakre. Obwohl er körperlich im Vergleich zu dem größeren Mann geradezu zwergenhaft anmutete, zeigte er sich keineswegs eingeschüchtert. »Hier im Nordwesten können wir den Schaden ein wenig verschleiern, aber Zila liegt am Rand der Südlichen Präfekturen. Dort unten sehen die Menschen, wie die Geißel ihre Felder vor ihren Augen zerstört; außerdem gelangen alle schlechten Neuigkeiten auf dem Weg an die Westküste durch Zila. Die Weber sind mächtig, mein Kaiser, und uns stehen zahlreiche feine Mittel zur Verfügung; dennoch können wir nicht alle Pläne aufdecken, nicht wenn das Land selbst sich gegen uns wendet. Ihr hättet mir gestatten sollen, mich um die Ais Maraxa zu kümmern, als wir zum ersten Mal von ihnen hörten.« »Redet Euch bloß nicht heraus, Kakre!«, tobte Mos. »Dies ist Eure Schuld!« Unsanft packte er den Weber am Flickengewand. »Eure Schuld!« »Rührt mich nicht an!«, zischte Kakre, und Mos spürte, wie etwas von seinem Körper Besitz ergriff, wie eine eherne Hand seine Brust zuschnürte. Alle Kraft wich aus ihm, wurde verdrängt von plötzlichem Entsetzen. Mit einem Zucken öffneten sich seine Hände und ließen den Webfürsten los; mit gurgelnder Kehle und nach Atem ringend, taumelte Mos rückwärts. Kakre schien anzuschwellen, wurde in seinem Verstand riesig und Furcht erregend: eine bucklige Gestalt mit abgezehrten, bleichen und zu Klauen verkrampften Fingern, die wie die Hände eines Puppenspielers über ihm schwebten. Im Zurückweichen rutschte Mos aus, stolperte in den Regenschleier und fiel platschend in die Pfütze, wo er wimmernd liegen 140 blieb. Kakre schien die Kammer mit seiner in Schatten gehüllten, leichenblassen Maske auszufüllen, und die Luft selbst schien Mos zu Boden zu drücken. »Ihr überschreitet Eure Grenzen«, verkündete der Webfürst mit düsterer, grabeskalter Stimme. »Ich werde Euch lehren, wo Euer Platz ist!« Von Kakres Macht entkräftet, schrie Mos vor Angst auf; der heimtückische Überfall auf seinen Körper und Verstand hatte seinen von den Göttern gegebenen Mut gestürzt. Der Regen prasselte auf ihn herab, durchtränkte ihn, troff aus seinem Bart und klatschte ihm das Haar an den Kopf. »Ihr braucht mich, Mos«, lies Kakre ihn wissen. »Und bedauerlicherweise brauche ich Euch. Aber vergesst trotzdem nie, was ich mit Euch anstellen kann. Vergesst niemals, dass ich in jedem Augenblick die Macht über
Euer Leben oder Euren Tod besitze. Mit einem einzigen Gedanken kann ich Euer Herz stillstehen oder in der Brust zerspringen lassen. Ich bin in der Lage, Euch innere Blutungen zu verursachen, die selbst die besten Arzte für natürlichen Ursprungs halten würden. Ich kann Euch schneller in den Wahnsinn stürzen, als Ihr Euer Schwert zu ziehen vermögt. Rührt mich nie wieder an, sonst blüht Euch nächstes Mal womöglich ein dauerhafter Schaden.« Dann schien Kakre nach und nach zu schrumpfen, und das entsetzliche Knistern in der Luft verebbte. Mos gelangte keuchend wieder zu Atem. Die Kammer wurde wieder, was sie gewesen war, düster, geräumig und widerhallend, und Kakre war wieder eine kleinwüchsige, krumme Gestalt mit buckligem Rücken unter armselig zusammengeflickten Lumpen und Fellfetzen. »Ihr kümmert Euch um den Aufstand in Zila. Ich nehme mich seiner Ursachen an«, schnarrte er. Damit 141 ging er und ließ Mos allein zurück, der im schwindenden Licht der Abenddämmerung im Regen lag, wütend, furchtsam und geschlagen. Nass und atemlos vor Lachen stürzten Kaiserin Laranya und ihr jüngerer Bruder Reki durch den elliptischen Eingang. Eszel zog geziert eine Augenbraue hoch, als sie in den Pavillon polterten, und meinte süßsauer zu Reki: »Man könnte meinen, du hättest noch nie Regen gesehen.« Fröhlich lachte Reki erneut. Die Aussage war gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Der Pavillon befand sich in der Mitte eines großen Teichs und war über eine schmale Brücke mit dem Rest der Dachgärten der Kaiserlichen Feste verbunden. Die Seiten bestanden aus geschnitztem Holz, einem dünnen, hohlen Geflecht aus Blattformen und Symbolen, durch das man von drinnen hinaus über das Wasser schauen konnte. Von den Tropfenziegeln auf dem geneigten Dach hingen Blumenkörbe, und an jeder Ecke standen statdiche, korallenrot bemalte Steinsäulen. Eszel hatte die Laternen angezündet, die an den Innenseiten der Säulen angebracht waren, denn draußen war die Nacht hereingebrochen. Der Pavillon war zwar klein, aber doch groß genug, um acht Leuten auf den Bänken bequem Platz zu bieten, und da sie nur zu dritt waren, blieb reichlich Platz. Reki ließ sich auf eine Bank plumpsen und blickte staunend durch das Holzmuster hinaus. Laranya drückte ihm einen liebevollen Schmatz auf die Wange und setzte sich neben ihn. »Wo wir herkommen, ist Regen alles andere als alltäglich«, erklärte sie Eszel. 142 »Das dachte ich mir schon«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen. »Bei den Geistern!«, rief Reki aus, während sein Blick über die dunkle, aufgewühlte Oberfläche des regengepeitschten Teichs zuckte. »Jetzt weiß ich, was Ziazthan Ri empfand, als er Die Perle des Wassergottes schrieb.« Mit frisch erwachter Neugier musterte Eszel den jüngeren Mann. »Du hast das gelesen?« Plötzlich wurde Reki schüchtern, als ihm klar wurde, dass er geprahlt hatte. Ziazthan Ris uralter Text - dessen Inhalt gemeinhin als eine der großartigsten naturalistischen Schriften des Reiches galt - war außerordentlich rar und wertvoll. »Nun ... das heißt...«, stammelte er. »Du glückseliges Wesen! Du musst mir unbedingt davon erzählen!«, kam Eszel ihm überschwänglich zu Hilfe. »Ich habe zwar abgeschriebene Auszüge gesehen, aber nie die ganze Geschichte erfahren.« »Ich kann sie auswendig«, sagte Reki und versuchte dabei, sich so bescheiden wie möglich anzuhören. »Sie gehört zu meinen Lieblingswerken.« Eszel kreischte beinahe vor Aufregung. »Du kannst sie auswendig} Ich würde sterben, um sie vom Anfang bis zum Ende zu hören.« Reki strahlte, und das Lächeln hellte seine Züge auf. »Es wäre mir eine Ehre«, erwiderte er. »Ich bin noch nie jemandem begegnet, der überhaupt von Ziazthan Ri gehört hat.« »Dann hast du noch nicht die richtigen Leute getroffen«, meinte Eszel augenzwinkernd. »Ich werde dich ihnen vorstellen.« »Jetzt aber mal halblang«, mischte Laranya sich ins Gespräch, sprang von Rekis Seite auf und setzte sich neben Eszel. Besitzergreifend erfasste sie seinen Arm 143 und tropfte ihn dabei voll. »Eszel gehört mir! Ich lasse nicht zu, dass du ihn mir mit deinen staubtrockenen Büchergeschichten und Unterhaltungen über tote Greise stiehlst.« Eszel lachte. »Die Kaiserin ist eifersüchtig!«, spöttelte er. Laranya schaute von ihrem Bruder zu Eszel und wieder zurück. Sie mochte beide sehn Die zwei konnten kaum verschiedener sein, dennoch schienen sie besser miteinander auszukommen, als Laranya zu hoffen gewagt hatte. Reki war grauäugig und leidenschaftlich. Eine auffällige Narbe, die vom Rand seines linken Auges zur Spitze seines Wangenknochens verlief, betonte seine Züge auf merkwürdige Weise. Sein kinnlanges Haar war pechschwarz, nur an der linken Seite durchzog es eine weiße Strähne, die von einem Sturz herrührte, der in seiner Kindheit sein Gesicht gebrandmarkt hatte. Er war still, klug und wirkte unbeholfen, schien nie recht in die Kleider zu passen, die er trug, oder sich in seiner Haut wohl zu fühlen. Eszel hingegen war schillernd und lebhaft, sehr gut aussehend, aber auch sehr geziert. Mit der knalligen Augenschminke und dem purpurn, rot und grün gefärbten Haar, in das zudem Zierwerk und Perlen eingeflochten
waren, schien er eher in das Flussviertel denn in die Kaiserliche Feste zu gehören. »Vielleicht ein bisschen«, räumte sie schalkhaft ein. »Ich will euch beide für mich allein!« »Der Rang gebietet Vorrechte«, meinte Eszel, erhob sich und verneigte sich übertrieben. »Verfügt über mich, meine Kaiserin.« »Dann verlange ich, dass du uns ein Gedicht über Regen vorträgst!«, sprach sie. Rekis Augen leuchteten. »Zufällig habe ich eines, in dem der Regen eine ent144 scheidende Rolle spielt«, erklärte er. »Möchtet Ihr es hören?« »Und ob!«, rief Reki aus. Er hegte so etwas wie Ehrfurcht vor Eszel, den Laranya ihm als überragenden Dichter beschrieben hatte. Er war auf Empfehlung von Mos' Kulturberater ein Mitglied des Kaiserlichen Hofes. Dieser war der Ansicht, dass Eszel nach ein paar Jahren unter Schirmherrschaft Gedichte hervorbringen würde, die gut genug wären, um sich in Axekami einen Namen zu machen und zu einer angesehenen Persönlichkeit zu werden, die man mit der Kaiserfamilie in Verbindung bringen würde. Eszel zupfte sich im Laternenschein übertrieben zurecht, bezog in der Mitte des Pavillons Stellung und räusperte sich. Für einen Moment waren das Zischen und Plätschern des Regens die einzigen Geräusche, und er aalte sich in der gebannten Aufmerksamkeit seiner Zuhörerschaft. Dann begann er zu sprechen, und die Worte flössen wie geschmolzenes Silber von seiner Zunge. Hoch-Saramyrrisch war eine wundervoll vielschichtige Sprache und eignete sich hervorragend für Poesie. Es konnte weich und zischend oder schrill und scharf sein, überladen mit Bedeutungen, die im Mund eines Wortschmieds so verschoben und bearbeitet werden konnten, dass sie zugleich einen Ohrenschmaus und ein kluges Rätsel bildeten, das es zu lösen galt. Eszel war außerordentlich begabt, und er wusste es; die reine Schönheit seiner Sätze zog die Zuhörer in ihren Bann. Das Gedicht handelte nur am Rande von Regen und erzählte vielmehr die Geschichte eines Mannes, dessen Gemahlin von einem Achicita besessen war, einem dämonischen Dampf, der durch ihre Nase in sie eingedrungen war, während sie schlief, und ihren Verstand von innen her zerfraß. Ob des Kummers wurde der 145 Mann wahnsinnig, und in seinem Wahn besuchte ihn Shintu, der unberechenbare Gott des Glücks, der ihn überredete, seine Frau aus dem Haus zu tragen und drei Tage lang auf die Straße zu legen. Nach Ablauf der Zeit wollte Shintu den Dämon austreiben. Dann bat Shintu seinen Vetter Panazu, drei Tage lang für Regen zu sorgen, um den Glauben des Mannes auf die Probe zu stellen, denn seine Gemahlin war bereits geschwächt und würde drei Tage in triefnassem Zustand wohl nicht überleben. Nachdem der Mann einen Tag neben seiner Frau im Regen gehockt hatte, hielten die Dorfbewohner ihn für verrückt, sperrten ihn ein und brachten seine Gemahlin zurück ins Bett, wo sie weiter krankte. Da Shintus Streich aufgegangen war, dachte er, es wäre vorüber, wandte sich alsbald anderen Belangen zu und vergaß die Angelegenheit. Doch da wurde Narisa darauf aufmerksam, die Göttin der vergessenen Dinge, und sie sah, wie schrecklich und ungerecht es war, dass dieses Paar so leiden sollte. Da auch Panazu eine Rolle dabei gespielt hatte, wandte sie sich an ihn, um die Dinge ins rechte Lot zu rücken. Panazu, der Narisa liebte - und dessen Liebe später Shintus Aufmerksamkeit erregen und zur Geburt des unehelichen Kindes Suran durch Panazus eigene Schwester Aspinis führen sollte -, konnte ihr nichts abschlagen, und so befreite er die Frau von dem Achicita und sandte einen Blitz, der die Kerkerzelle des Mannes aufsprengte. In Freiheit und vereinigt wurden die beiden für geheilt erklärt und lebten glücklich weiter. Eszel näherte sich gerade dem Ende der Geschichte und bemerkte zufrieden, dass Reki Tränen in den Augen standen, als plötzlich Mos aus dem Regen hereinstapfte. Beim Anblick des Geblütskaisers, dessen Miene einer Donnerwolke glich, versagte dem Dichter die Stimme 146 den Dienst. Tropfend stand Mos da und ließ den Blick über das Schauspiel vor sich schweifen. Eszel verstummte. »Ihr scheint ja mächtig Spaß zu haben«, knurrte er. Sogar Eszel erkannte, dass er Streit suchte, und schwieg wohlweislich. Der Geblütskaiser mochte ihn nicht, was er in keiner Weise zu verhehlen versuchte. Eszels etwas weibisches Getue und sein schillerndes Äußeres waren für einen Mann seines derben Wesens geradezu eine Beleidigung. Zudem war offenkundig, dass Mos die Freundschaft zwischen Eszel und Laranya widerstrebte, denn sie suchte ihn häufig auf, wenn Mos zu beschäftigt mit Hofangelegenheiten war, um sich ihr zu widmen. »Komm und gesell dich zu uns«, lud Laranya ihn ein, stand auf und streckte Mos die Hände entgegen. »Du siehst aus, als könntest du ein wenig Vergnügen gebrauchen.« Er schenkte ihren Händen keine Beachtung und funkelte sie stattdessen zornig an. »Ich habe dich gesucht, Laranya, weil ich dachte, dass ich nach dem Schlag, den ich erlitten habe, vielleicht ein wenig Trost bei meiner Gemahlin finden könnte. Stattdessen treffe ich dich hier an ... wo du triefnass kindische Spiele im Regen treibst!« »Welchen Schlag? Wovon redest du?«, fragte Laranya, doch zwischen der Sorge in ihrer Stimme war bereits der Funke des Ärgers zu hören, den der Tonfall des Kaisers entfacht hatte. Eszel setzte sich unauffällig neben Reki. »Lass gut sein«, herrschte er sie an. »Woran liegt es nur, dass ich dich jedes Mal mit diesem abscheulichen Pfau von einem Mann antreffe, wenn ich nach dir suchen muss?« Mit wegwerfender Geste deutete er auf Eszel, der die Beleidigung demütig hinnahm. Etwas
147 anderes konnte er kaum tun. Reki schaute voll Entsetzen von Mos zu Eszel. »Lass deine Wut nicht an deinen Untertanen aus, die sich dagegen nicht wehren können!«, schrie sie den Kaiser mit errötenden Wangen an. »Wenn dein Groll mir gilt, dann sag es! Ich bin nicht dein Schoßhündchen, das im Schlafgemach wartet, bis dir in den Sinn kommt, dass du Trost brauchst.« Sie verdrehte die Worte, um ihn zu verhöhnen, ihn bedürftig und lächerlich erscheinen zu lassen. »Bei den Göttern!«, brüllte er. »Begegnet mir denn von allen Seiten nur Feindseligkeit? Gibt es nicht einen einzigen Menschen, mit dem ich ein freundliches Wort wechseln kann?« »Was bist du doch arm und bemitleidenswert!«, schoss sie spöttisch zurück. »Besonders wenn du hier hereinplatzt wie ein Banathi, meinen Freund beleidigst und mich vor meinem Bruder in Verlegenheit bringst!« »Dann komm mit!«, knurrte Mos und ergriff ihr Handgelenk. »Unterhalten wir uns abseits von ihnen unter vier Augen.« Sie riss den Arm los. »Eszel war gerade dabei, ein Gedicht vorzutragen«, sagte sie mit knisternder Stimme. »Und ich bleibe hier, um es mir zu Ende anzuhören.« Mos starrte den Dichter hasserfüllt an und bebte regelrecht vor Wut. Reki glaubt zu spüren, wie Eszels Herz sank. Seine Schwester meinte es zwar gut, aber wenn sie in Fahrt war, erwies sie sich als nicht gerade feinfühlig. Indem sie einen Grund angab, um sich Mos zu widersetzen, hatte sie seinen Zorn zurück auf ihren wehrlosen Freund gelenkt. »Und wie fändest du es, wenn dein hochgeschätzter Dichter plötzlich ohne Schirmherr dastünde?«, knurrte er. 148 »Dann stünde mein hochgeschätzter Gemahl plötzlich ohne Gemahlin da!«, feuerte Laranya zurück. Hatte sie sich erst auf die Beine gestellt, gab es für sie kein Zurückweichen mehr. »So viel also bedeutet er dir?«, höhnte Mos. »Dieser Halbmann?« »Dieser Halbmann ist mehr Mann als du, denn er ist in der Lage, seine Launen zu bändigen, was ein Adeliger wie du eigentlich auch können sollte!« Damit überschritt sie eine Grenze. Jäh erhob Mos die Hand, eine Geste blanker Wut, in der er ausholte, um sie zu schlagen. Unvermittelt schlug ihre Hitze in Eiseskälte um, schleuderte ihre Leidenschaft sie über bloßen Zorn hinaus in eine stählerne Ruhe. »Wag es bloß nicht«, zischte sie; ihre Stimme hörte sich an wie über rostiges Metall kratzende Fingernägel. Ihr plötzlicher Wandel ließ ihn innehalten. Noch nie hatte er die Hand gegen sie erhoben, derart die Beherrschung verloren. Zitternd schaute er ihr in die Augen und dachte, wie schmerzlich wunderschön sie im Streit war und wie sehr er sie gleichzeitig liebte und hasste. Dann schleuderte er einen letzten, funkelnden Blick unverhohlener Böswilligkeit auf Eszel, stürmte hinaus auf die Brücke und verschwand in der Regennacht. Reki stieß den Atem aus, den er unbewusst angehalten hatte. Eszel glich einem Häufchen Elend. Laranyas Kinn war hochmütig vorgereckt, ihre Brust hob und senkte sich heftig, und sie schien von einem wilden Hochgefühl erfasst, weil sie ihrem Gemahl erfolgreich die Stirn geboten hatte. Die Stimmung war nun allerdings am Boden, und in stummem Einverständnis begaben sie sich in ihre jeweiligen Gemächer. Später sollte Laranya Mos aufsuchen, 149 und sie sollten streiten, sich versöhnen und sich in der Glut ihres Zornes leidenschaftlich lieben, nicht wissend, dass Kakre sie, so wie jetzt, vom Geweb aus beobachtete. 150 ZEHN Kaiku, Saran und Tsata trafen nach flottem Ritt aus Hanzean am frühen Morgen im Schoß ein. Im Schutz der Dunkelheit hatten sie sich den Weg entlang geheimer Pfade in den Xarana-Bruch gebahnt und waren ins Herz des aufgerissenen Landes vorgedrungen, ohne die Aufmerksamkeit feindseliger Bewohner der Gegend zu erregen. Von denjenigen, die von Kaikus Auftrag wussten und ahnten, wer ihr Gefährte war, wurde ihre Rückkehr mit allerlei geschäftigem Treiben begrüßt. Bereits um die Mittagszeit hatte sich eine Versammlung der oberen Riegen der Libera Dramach und des Roten Ordens eingefunden, um zu hören, was der Spitzel zu berichten hatte. Auf Sarans und Cailins Drängen wurde auch Kaiku eingeladen, worüber sie eine gewisse Erleichterung empfand. Nachdem sie zwei Monate ihres Lebens geopfert - und es beinahe verloren - hatte, um diesen Mann zurückzubringen, schien der Gedanke unerträglich grausam, Sarans Wissen könnte zu geheim sein, um sie einzuweihen. Das Treffen fand im obersten Stockwerk eines halbrunden Gebäudes statt, das insgeheim als Schaltwerk der Libera Dramach galt. Es stand auf einer der höchsten Ebenen des Schoßes und überblickte die Stadt und das Tal darunter. Das oberste Stockwerk war offen, um eben jene Aussicht zu ermöglichen. Lediglich ein hüfthohes Geländer erstreckte sich zwischen Säulen, die das flache Dach stützten. Das gesamte Geschoss bildete einen einzigen Raum, der für Versammlungen, gelegent151 liehe Schauspielaufführungen oder Vorträge genutzt wurde. Wie die meisten Gebäude im Schoß war auch dieses eher zweckmäßig als elegant. An den beigefarbenen Wänden prangten billige Behänge, auf dem Boden lagen
Korbgeflechtmatten. Ansonsten hatte der Raum wenig zu bieten - abgesehen von einem Gebetsrad in einer Ecke und ein paar Windglocken, die leise in der unbeständigen Brise klirrten und böse Geister fern halten sollten. Eigentlich entsprangen sie einem drolligen und uralten Aberglauben, der jedoch hier im Xarana-Bruch weit weniger komisch anmutete. Das Treffen war nicht von Förmlichkeiten geprägt, doch die Gastfreundschaft gebot, dass zumindest Erfrischungen aufgetragen wurden. Die üblichen niedrigen Tische aus schwarzem Holz waren mit kleinen Tellern übersät. Dazwischen standen Metallbecher mit verschiedensten Weinen sowie geistigen und heißen Getränken. Kaiku saß bei Cailin und zwei ähnlich gekleideten Mitgliedern des Roten Ordens, denen sie noch nie begegnet war; die Schwesternschaft schien ständig zu wechseln. Cailin war regelrecht besessen davon, die Zahl der Mitglieder des Roten Ordens zu verheimlichen, und sorgte dafür, dass die Schwestern stets in alle Winde verstreut waren, damit sie durch eine etwaige Katastrophe nicht alle gleichzeitig ausgelöscht werden konnten. Ganz in der Nähe hockten Zaelis und Yugi, der praktisch seine rechte Hand verkörperte. Yugi bemerkte ihren Blick und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln; verlegen erwiderte sie es. Tsata saß abseits der Tische am Rand des Raumes für sich allein. Kaiku beobachtete ihn eine Weile und fragte sich, was der Tkiurathi überhaupt hier wollte. Warum hatte er Saran so weit begleitet? Was für eine Beziehung bestand zwischen ihnen? Obwohl ihr Zorn darüber, wie rück152 sichtslos er ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, inzwischen abgeklungen war, hatte sie wenig über ihn erfahren. Saran schien seltsam widerwillig, ihr Einzelheiten anzuvertrauen, und bediente sich des Vorwands, es wäre Tsatas Angelegenheit; es läge an ihm, ihr etwas über sich zu erzählen, wenn er dazu bereit war. Kaiku war unschlüssig, ob Saran sich aus Achtung vor den fremdartigen Überzeugungen seines Gefährten so geschickt herauswand, oder ob er sich einfach dumm stellte, um sie zu ärgern. Kaikus Gedanken wanderten von Saran zu Lucia. Sie wünschte, sie hätte Zeit gehabt, die einstige Thronerbin vor der Versammlung zu besuchen; vielleicht hatte sie später dazu noch Gelegenheit. Dennoch nagte diesbezüglich etwas an ihr. Als Kaiku sich bei Zaelis nach Lucias Befinden erkundigte, hatte er mit einer nichts sagenden Äußerung reagiert und das Gespräch in eine andere Richtung gelenkt; eigentlich hatte er ihre Fragen nie beantwortet. Wäre sie Mishani gewesen, wäre ihr dies wohl verdächtig vorgekommen; aber da sie nur Kaiku war, nahm sie an, sie wäre selbst schuld, weil sie nicht nachgebohrt hatte. Dann trat Stille ein, und Saran stellte sich mit dem Rücken zum Geländer auf. Das ferne Ende des Tals bildete den Hintergrund, und die Sonne zeichnete die Umrisse seiner Gestalt. Es war Zeit zu erfahren, wofür sie - Kaiku - ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, und zu beschließen, ob es die Gefahr wert gewesen war. »Nur wenige von euch kennen mich«, begann er mit klarer und von quaraalischem Einschlag freier Stimme. In seiner engen Kluft wirkte er wie ein General, der sich an seine Truppen wandte, und sein Tonfall vermittelte eine ähnliche Befehlsgewalt. »Daher möchte ich mich zunächst vorstellen. Mein Name ist Saran Ycthys Marul. 153 Ich bin seit mittlerweile einigen Jahren ein Spitzel für die Libera Dramach und mit einem einzigen Ziel vor Augen in weite Ferne gereist: so viel wie möglich über die Weber in Erfahrung zu bringen. Mein Auftrag hat mich in die vier Länder der Nahen Welt geführt. Saramyr, Okhamba, Quaraal und sogar ins abgelegene Yttryx. Wenn ihr gestattet, will ich euch nun berichten, was ich herausgefunden habe.« Er legte eine spannungssteigernde Pause ein, stolzierte von links nach rechts und ließ den Blick über die Versammelten wandern. Innerlich zuckte Kaiku ob seines Auftritts zusammen. Da kam ihr der Gedanke, dass er sein künftiges Wirken gefährdete, indem er die Botschaft persönlich so vielen Leuten überbrachte. Je mehr Menschen wussten, dass er ein Spitzel war, desto größer war die Gefahr, dass er entdeckt wurde. Sie fragte sich, was ihn zu solchem Leichtsinn bewogen haben mochte; gewiss war er nicht so eingebildet, dass er bereit war, dieses Wagnis für einen Augenblick des Ruhmes einzugehen, oder doch? »Saramyr hat seine Geschichte vergessen«, setzte er an. »Ihr wart dermaßen stolz darauf, diesen großen Kontinent zu besiedeln, dass ihr keinen Gedanken daran verschwendet habt, was dadurch beiseite gefegt wurde. Indem ihr die Ugati gejagt habt, bis sie ausgerottet waren, habt ihr die Tafel gleichsam gelöscht, Tausende und Abertausende Jahre des Gedächtnisses dieses Landes verloren. In anderen Ländern jedoch gibt es die Erinnerung noch. In Okhamba leben Stämme seit Jahrhunderten unberührt von außen stehenden Kulturen. Auch in Quaraal waren die Unterdrückung der Lehren und die Neuschreibung der Geschichte durch die Priesterherrschaft nicht gründlich genug, und man findet immer noch Zeugnisse aus den dunkelsten Tiefen der 154 Vergangenheit, wenn man weiß, wo man danach suchen muss. Und in Yttryx, wo die Macht aufgrund ständiger innerer Kriege häufig gewechselt hat, sind Dokumente so weit verstreut, dass es unmöglich ist, sie alle zu finden, und gleichermaßen unmöglich, sie alle zu vernichten. Die Geschichte ist hartnäckig. Sogar hier. Und es scheint, wir täten gut daran, sie nicht zu vergessen, denn wir wissen nie, wann die Ereignisse der Vergangenheit ans Tageslicht treten, um die Gegenwart zu verändern.« Einige der Anwesenden regten sich unbehaglich ob der Unverfrorenheit dieses Quaraalers, ihnen ihren Umgang mit ihrer Geschichte vorzuwerfen, zumal es Quaraal gewesen war, das sie überhaupt erst nach Saramyr getrieben hatte; aber Kaiku fiel auf, dass um Cailins bemalte Lippen ein leichtes Lächeln spielte. »Ich werde mich kurz fassen und mit den guten Neuigkeiten beginnen«, fuhr Saran fort, strich sich das Haar
zurück und heftete den Blick hochmütig auf Zaelis. »Ich bin sicher, später besteht die Möglichkeit einer umfassenderen Schilderung für diejenigen, die sie hören möchten.« Er vollführte eine ausholende Geste mit dem Arm, um alle Versammelten in seinen Bericht mit einzuschließen. »Auf all meinen Reisen durch die Nahe Welt habe ich nach drei Dingen gesucht: erstens nach Anzeichen der Fäulnis, die sich in eurem Land ausbreitet und die wir mittlerweile für eine Nebenwirkung der Hexensteine der Weber halten; zweitens nach den Webern selbst oder ihnen ähnlichen Wesen; und letztlich nach Hexensteinen, da sie die Quelle der Macht der Weber darstellen.« Er begann, auf und ab zu schreiten, wobei sich sein Profil im Sonnenlicht von draußen abzeichnete. »Ich bin froh, berichten zu können, dass ich in zweierlei Hinsicht nichts gefunden habe. Ich bin nirgends auf eine Geißel 155 gestoßen, die sich nicht durch eine Insektenplage oder sonstige natürliche Ursachen erklären ließe, auch auf keine, der dieselbe heimtückische Beharrlichkeit wie jener in Saramyr anhaftet. Und ich habe nirgends etwas gefunden, das man als Weber beschreiben könnte, abgesehen von den wenigen, die in fernen Kolonien auf anderen Kontinenten leben. Gewiss gibt es Menschen, die ungewöhnliche Fähigkeiten' besitzen; unsere eigenen Priester sind ein Beispiel dafür, denn sie haben gelernt, mit den Geistern unseres Landes in Verbindung zu treten. Die ehrenwerte Kaiku tu Makaima, die hier anwesend ist, wurde Zeugin des Könnens der Fleischwerker Okhambas; und in der verborgenen Welt der Tiefen des Dschungels hausen noch weit schlimmere Geschöpfe als Fleischwerker. In Quaraal gibt es die Oblaten, in Yttryx die Muhd-Taal. Doch wie auch immer diese Begabungen erworben werden, es geschieht entweder auf natürlichem oder geistigem Wege. Sogar die Ausgeburten, die aus der von den Webern geschaffenen Fäulnis geboren werden, beteiligen sich nicht selbst an ihrer Verbreitung.« Er setzte ab und fuhr sich mit einem Finger über den Wangenknochen. »Außerhalb unserer Gestade bin ich auf keine Ausgeburten gestoßen. Natürlich bin ich Entstellten, Lahmen und Krüppeln begegnet, aber das waren keine Ausgeburten, sondern lediglich Launen der Natur. In diesem Land machen die meisten Menschen in dieser Hinsicht keinen Unterschied mehr; wenngleich ich hinzufügen möchte, dass die hier Versammelten die Ausnahme dieser Regel darstellen, wozu ich sie beglückwünsche.« Während Kaiku beobachtete, wie er Hof hielt, trieben ihre Gedanken zu dem drahtigen Körper ab, den sie sich unter der gestrengen, schwarzen Quaraal-Kluft vorstellte. Warum hatte sie ihn bloß zurückgewiesen? 156 Schließlich musste es nicht gleich etwas bedeuten, eine Nacht das Bett mit ihm zu teilen. Warum ließ sie sich von ihrem Misstrauen gegenüber den eigenen Gefühlen das Vergnügen rauben? Sie bemerkte, dass ihre Gedanken abschweiften, riss sich zusammen und wandte die Aufmerksamkeit wieder der gegenwärtigen Angelegenheit zu. »Daraus können wir schließen, dass die Geißel für Ausgebürtigkeit verantwortlich ist«, hörte sie Saran sagen. »Vermutet hatten wir dies bereits, nun aber halte ich es für unzweifelhaft erwiesen. Außerhalb Saramyrs gibt es keine solche Geißel und daher auch keine Ausgeburten. Hingegen gibt es sehr wohl Hexensteine.« Die letzte Äußerung sorgte unter den Versammelten für allgemeine Aufregung. Kaiku aß einen gewürzten Kloß und schwieg, ließ den Blick über die plötzlich lebhafte Zuhörerschaft wandern. »Er versteht es vortrefflich, die Menge in seinen Bann zu ziehen«, flüsterte Cailin, die sich zu ihr herüberbeugte. »Ich glaube, er weidet sich an der Aufmerksamkeit«, murmelte Kaiku. »Sie schmeichelt seiner Eitelkeit.« Cailin stieß ein überraschtes Lachen aus und zügelte sich mit einem bedeutungsschwangeren Blick auf ihre Schülerin. Kaiku schenkte ihm keine Beachtung. »Aber wenn die Hexensteine die Fäulnis in unserem Land bewirken, wie kann es dann sein, dass es in der Fremde zwar Hexensteine, aber keine Geißel gibt?«, rief jemand. »Weil sie noch nicht gefunden wurden«, antwortete Saran und hob einen Finger. Die Versammelten verstummten. »Sie liegen tief in der Erde begraben. Schlummernd. Wartend. Sie warten darauf, geweckt zu werden 157 »Und was weckt sie?«, wollte derselbe Mann wissen. »Blut«, sprach Kaiku. Eigentlich wollte sie es nur für sich sagen, aber es rutschte ihr lauter als beabsichtigt heraus, so dass die Anwesenden es hörten. »Blut. Ganz recht«, bestätigte Saran und warf ihr den entwaffnenden Ansatz eines Lächelns zu. »Von uns allen hier hat allein Kaiku je einen Hexenstein zu Gesicht bekommen. Sie hat das Menschenopfer bezeugt, das die Steine nährt. Sie hat das Herz gesehen.« Plötzlich fühlte Kaiku sich verlegen. Unter den Libera Dramach wurde ihr Bericht darüber, wie sie sich in das Weberkloster in den Lakmar-Bergen eingeschlichen hatte, mit einigem Argwohn betrachtet. Viele meinten, durchaus begründet, was sie in der Kammer mit dem Hexenstein gesehen hatte, könnte eine Sinnestäuschung gewesen sein. Schließlich war sie schwach vor Erschöpfung und Hunger gewesen und hatte seit Tagen die Maske eines Webers getragen, was für die geistige Gesundheit jedes Menschen gefährlich war. Doch trotz allem wusste Kaiku, was sie bezeugt hatte und blieb dabei. Sie hatte die großen Verästelungen gesehen, die sich von der Hauptmasse des Hexensteins aus zu belebt in die Wände der Höhle erstreckten, um durch Druck oder eine andere geologische Kraft geformt worden zu sein. Sie hatte in den Hexenstein geschaut, als dieser sich nährte, hatte die gleißenden, durch den Felsblock verlaufenden Venen, den pochenden Kern in der Mitte gesehen. Was
immer die Hexensteine sein mochten, sie waren auf jeden Fall mehr als bloß leblose Masse. Sie waren lebendig, so wie Bäume. Und sie wuchsen. »Woher weißt du, dass es Hexensteine gibt, wenn sie noch nicht gefunden wurden?«, wollte Yugi von Saran wissen. »Zumindest einer wurde gefunden, und zwar in Quaraal 158 vor fünfhundert Jahren oder mehr«, erklärte Saran. »Er wird in Texten erwähnt, die ich aus den Gewölben des Librums von Aquirra gestohlen und unter großer Gefahr hierher mitgebracht habe. Diese Texte berichten von einem Vorfall in einem ländlichen Gebiet, wo in einem kleinen Bergbaudorf plötzlich gewalttätiges Verhalten auftrat. Als Soldaten hingeschickt wurden, um die Unruhen zu beenden, wurden sie überwältigt. Überlebende erzählten von seltsamen Wahnanfällen und gottlosen Fähigkeiten der Dorfbewohner, zum Beispiel dass sie Gegenstände bewegen konnten, ohne sie zu berühren, oder in der Lage waren, Menschen aus der Ferne zu töten, ohne eine Waffe zu verwenden. Die Priesterherrscher sandten eine wesentlich größere Streitkraft, um die Ketzer auszulöschen, und behielten diesmal die Oberhand, wenngleich mit schweren Verlusten. In der Mine unterhalb des Dorfes fanden sie einen Altar, auf dem offenkundig Blutopfer dargebracht worden waren. Die Soldaten meinten später, sie seien von dem Altar durch böse Verlockungen und Versprechen angezogen worden, aber ihr Glaube sei stark genug gewesen, um ihnen zu widerstehen. Sie zerstörten den Altar mit Sprengkörpern und versiegelten die Mine.« Saran warf das schwarze Haar zurück und schaute in die Runde. »Ich bin überzeugt davon, dass ihr Fund ein Hexenstein war.« »Also können sie zerstört werden?«, fragte Zaelis. »Wenn man dem Bericht Glauben schenken darf, ja«, antwortete Saran. »Du hast gesagt, mindestens einer wurde gefunden«, meldete sich ein anderes Mitglied der Versammelten zu Wort. »Willst du damit andeuten, es könnte noch andere geben?« »Denkt mal über Folgendes nach«, riet Saran. »Wir 159 wissen von vier Hexensteinen in Saramyr, und auf allen haben die Weber Klöster errichtet. Zwei im TchamilGebirge: einer unter Adderach, der andere unter Igarach am Rand der Tchom-Rin-Wüste. Ein weiterer in den Lakmar-Bergen auf der Insel Fo. Der letzte in den Bergen nahe dem Xemit-See. Von diesen Hexensteinen wissen wir dank der Bemühungen Kaikus und ihres Vaters Ruito, denn sie bilden den Mittelpunkt der Fäulnis rings um sie. Das macht vier allein in Saramyr. Warum sollte es sie nur auf unserem Kontinent geben?« »Warum nicht?«, gab Yugi zurück. »Wenn man nicht weiß, was sie sind und woher sie stammen, wie soll man dann wissen, wie sie über die Länder verteilt sind?« »Aber eben das weiß ich«, erwiderte Saran. Kurz wandte er seiner Zuhörerschaft den Rücken zu, ging zum Geländer hinüber und schaute hinab auf das Gewirr der Dächer des Schoßes, die schmalen Straßen, die Brücken, Flaschenzüge und Treppen. »Dies könnte für euch schwer zu verdauen sein.« Kaiku setzte sich aufrechter; ein leichter Schauder durchlief sie. Gedämpftes Gemurmel wogte durch den Raum. Saran drehte sich um und blieb an das Geländer gelehnt stehen. »Ich fand Aufzeichnungen über ein Feuer aus dem Himmel«, sprach er, die hübschen Züge ernst. »Vor vielen Tausenden Jahren in Quaraal, damals, als unsere Sprache noch jung war. Eine Verheerung aus flammenden Steinen, die ganze Siedlungen auslöschte, Seen zum Kochen brachte, die Erde aufriss. Wir glaubten, es wäre eine Strafe von unseren Göttern.« Er legte den Kopf leicht schief, wodurch das Sonnenlicht seine Wangenknochen neu betonte. »In Okhamba fand ich Bruchstücke desselben Ereignisses, wenngleich es dort 160 keine schriftlich erfasste Geschichte, sondern nur Überlieferungen gibt. Berichte von Zerstörung und Feuer. Ebenso in Yttryx; dort in Form umfassender Dokumente, denn in Yttryx entstand das erste Alphabet. Es gibt sogar Gerüchte über einfache Malereien irgendwo in den Neuländern Saramyrs, wo die Ugati die Katastrophe auf ihre Weise aufgezeichnet haben. Jede alte Kultur der Nahen Welt scheint über eine Fassung des Ereignisses zu verfügen, und sie stimmen alle überein.« Sein Blick verdüsterte sich. »Dann kehrte ich auf Anraten eines Mannes, dem ich in Yttryx begegnete, nach Okhamba zurück und reiste tief ins Herz des Kontinents, wo ich das hier fand.« Flotten Schrittes ging er zu einem Tisch und ergriff eine Rolle, die nach einem Pergament aussah. Er kniete sich auf die Korbgeflechtmatte in der Mitte des Raumes und entfaltete sie. Die Versammelten reckten die Hälse vor, um besser sehen zu können. »Vorsichtig«, mahnte er. »Dieses Schriftstück ist über zweitausend Jahre alt und wurde von einem noch älteren Dokument abgeschrieben.« Das entlockte der Zuhörerschaft ein Keuchen. Was anfangs wie Pergament gewirkt hatte, erwies sich tatsächlich als die Haut eines Tieres, die mit einem längst in Vergessenheit geratenen Verfahren gegerbt worden und in Anbetracht des unglaublichen Alters bemerkenswert gut erhalten war. »Selbstverständlich werde ich es unseren Verbündeten vom Roten Orden übergeben, damit sie die Echtheit bestätigen«, fuhr Saran fort. »Ich selbst aber bin davon überzeugt. Die Fleischwerker des Stammes, von dem ich es gestohlen habe, waren es auf jeden Fall. Es hat zehn Menschen das Leben gekostet, euch dieses Schriftstück zu bringen.« Er tauschte einen Blick mit Tsata, der ihn
161 mit ausdrucksloser Miene beobachtete. Die fahlgrünen Augen verrieten keinerlei Regung. Kaiku wechselte den Platz, um einen besseren Blick darauf zu erhaschen. Die Abbildung allein reichte, um ihr Unbehagen zu verursachen. Die Hauptwesen waren so gut wie unkenntlich, grob umrissene und gezackte Schreckensgestalten, die tanzende Menschen oder brunftende Tiere darstellen mochten. Im Vordergrund in der Mitte war ein Feuer, die Flammen von der Zeit ausgebleicht, aber dennoch sichtbar. Kaiku staunte über das Haltbarkeitsverfahren, mittels welchem das Dokument diese schier unglaubliche Zeit überdauert hatte. Hätte Saran nicht versprochen, es vom Roten Orden überprüfen zu lassen - was den Schwestern keine Mühe bereitete, zumindest was die Bestimmung des Alters anging -, hätte Kaiku nicht geglaubt, dass es so alt sein könnte. Sie blickte die Ränder entlang, die seltsame Muster zierten, und suchte nach dem Hinweis, den Saran die Versammelten finden lassen wollte. Oben in der Mitte prangte die lodernde untere Hälfte der Sonne, darunter waren in Sichelform die Monde abgebildet. Die Monde! »Da sind vier Monde«, stellte Yugi fest, bevor es jemand anders aussprechen konnte. Kaiku spürte, wie etwas tief in ihr sich verschob, eine unangenehme Regung, die ihr leichte Übelkeit verursachte. Er hatte Recht. Da war Aurus, die größte von allen; Iridima mit ihrer zerfurchten Haut; Neryn, die kleine grüne Mondschwester; und ein vierter Mond derselben Größe wie Neryn, kohlrabenschwarz und mit dunkelroten Linien, die wie Kratzmale anmuteten. Kaiku bekam eine Gänsehaut. Verwirrt über das eigene Empfinden, runzelte sie die Stirn; dann bemerkte sie, dass 162 Cailin sie fragend ansah, als wäre auch ihr Kaikus Unbehagen aufgefallen. Saran verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. »Es gab Hinweise. In Yttryx fand ich mehrere Verweise auf ein Wesen namens Aricarat, in Quaraal einen auf Ariquaraa. Ich nahm gleich an, dass es sich um verschiedene Schreibweisen desselben Stammwortes handelte, nur konnte ich mir nicht vorstellen, worauf sie sich bezogen. Obwohl sie fast immer in Zusammenhang mit Geschichten über die Mondschwestern auftauchten, kam ich nicht darauf. Schließlich wurde der Begriff stets in männlicher Form verwendet. Dann stieß ich auf einen alten yttryxischen Schöpfungsmythos, in dem beschrieben wurde, dass Aricarat aus demselben Stoff wie die anderen Monde geboren wurde, und plötzlich ergab es einen Sinn.« Saran neigte das Haupt. »Aricarat war der vierte Mond. Er verschwand vor Tausenden Jahren. Anscheinend hatten die Mondschwestern einen Bruder.« Falls Saran einen Aufschrei der Empörung und des Widerspruchs erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Das Pantheon Saramyrs hatte seit jeher nur drei Monde umfasst, und die Ahnentafel der Götter wurde allen Kindern bereits sehr früh beigebracht. Sarans Behauptungen für bare Münze zu nehmen, hieße, tausend Jahre Glauben über Bord zu werfen. Doch die Versammelten wirkten nur wie benommen. Ein paar streitlustigere Andersdenkende sprachen laut aus, dies sei lächerlich, aber sie verstummten alsbald, da sie wenig Unterstützung fanden. Kaiku hatte sich mittlerweile gesetzt; eine schreckliche, schleichende Furcht hatte sie plötzlich überwältigt, und sie fühlte sich schwindlig und schwach. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Cailin. 163 »Ich weiß es nicht«, antwortete Kaiku. »Etwas ... etwas an Sarans Bericht beunruhigt mich.« »Du denkst, er irrt sich?« »Nein, ich denke, er hat Recht. Ich bin sogar davon überzeugt. Aber ich weiß nicht, weshalb ich so sicher bin.« Zaelis erhob sich. »Ich glaube, ich verstehe«, sprach er und sicherte sich mit seiner volltönenden Stimme die Aufmerksamkeit der Anwesenden. »Du denkst, der vierte Mond ... Aricarat?« Saran neigte den Kopf zu einem Nicken. »Du denkst, dass Aricarat damals, als die Welt noch jung war, irgendwie zerstört wurde und in mehreren Teilen auf die Erde stürzte. Und diese Teile sind die Hexensteine.« »Ganz genau«, bestätigte Saran. »Das ist eine recht wilde Vermutung, Saran.« »Ich habe Beweise, die sie belegen«, entgegnete der Mann aus Quaraal ungerührt. »Aber die bedürfen eingehender Betrachtung, und das erfordert Zeit. Ich habe Bücher und Pergamente, die aus toten Sprachen Übersetzt werden müssen.« »Wirst du mir gestatten, diese Beweise zu sehen?« »Selbstverständlich. Ich bin von ihrer Echtheit überzeugt. Jeder, der möchte, kann sie überprüfen.« Die Stirn in Falten, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, humpelte Zaelis langsam um Saran herum. Die Windglocken bimmelten leise in die Stille hinein. »Dann will ich mir mein Urteil vorbehalten, bis ich genau das getan habe; und ich rate allen anderen, es ebenso zu halten.« Letzteres war an die Allgemeinheit gerichtet. Schließlich wandte er die Aufmerksamkeit wieder Saran zu, hielt inne und legte einen gekrümmten Finger an das weißbärtige Kinn. »Eines aber verwirrt mich trotzdem.« 164 »Nur zu«, lud Saran ihn ein, seine Frage zu stellen. »Wenn Teile des Mondes vor all der Zeit über die gesamte Nahe Welt herabgeprasselt sind, warum findet man sie dann nur in den Bergen? Warum nicht in Wüsten und auf Ebenen?« Saran lächelte. Damit hatte er gerechnet. »Sie sind auch in den Wüsten und Ebenen«, erklärte er. »Du betrachtest
die Sache aus dem falschen Winkel. Zunächst sollten wir uns fragen, woher wir überhaupt wissen, wo die Hexensteine sich befinden. Doch nur durch die Weber. Wie finden die Weber sie? Das vermag ich nicht zu sagen. Aber bis vor fünf Jahren durften die Weber in Saramyr kein Land besitzen; die einzigen Orte, die sie bewohnen konnten, waren die Berge, wo die Landgesetze nicht gelten, da es dort keine Ernten zu erzielen gibt. Es ist nicht einfach für sie, etwas so tief unter der Erde auszugraben und es geheim zu halten; aber in den Bergen, hinter ihren Schilden der Irreführung, die unsere Spitzel nicht zu durchdringen vermögen, können sie unbehelligt daran arbeiten. Der Grund, warum die einzigen uns bekannten Hexensteine sich in Gebirgen befinden, ist, dass die Weber nur an diese heran konnten.« »Was jetzt nicht mehr gilt«, beendete Zaelis den Gedankengang für ihn. »So ist es«, pflichtete Saran ihm bei. »Mittlerweile haben die Weber in ganz Saramyr emsig Land erworben und bewachen es eifersüchtig. Auf diesen Landstrichen errichten sie seltsame Bauwerke, und nicht einmal die hohen Familien wissen, was sie darin treiben. Aber ich glaube, dass ich es weiß. Sie graben nach Hexensteinen.« Verkniffene Aufmerksamkeit umgab ihn. Es war für die Versammelten keine neue Vorstellung, doch in Verbindung mit dem, was Saran über den Ursprung der 165 Hexensteine herausgefunden zu haben glaubte, passte alles auf höchst bedrückende Weise zusammen. »Aber warum nach neuen Hexensteinen suchen?«, fragte Zaelis. »Sie scheinen reichlich zu haben, damit die Randväter Masken herstellen können.« »Ich will gar nicht erst so tun, als wüsste ich es«, gab Saran zurück. »Dennoch bin ich überzeugt davon, dass sie danach suchen. Und das ist noch nicht das Schlimmste.« Melodramatisch wirbelte er von Zaelis wieder zu seiner Zuhörerschaft herum. »Betrachtet es mal von diesem Blickwinkel aus: Seit ihrem ersten Auftauchen haben die Weber die Gesellschaft unterwandert und sich unabkömmlich gemacht. Ihr bezahlt einen schrecklichen Preis für ihre Macht, dennoch könnt ihr sie nicht loswerden. Nun, da sie Teil des Reiches selbst sind, ist es noch schwieriger geworden, sie zu vertreiben. Wir alle wissen, dass die Weber beseitigt werden müssen; wir alle wissen, dass sie selbst nach Macht streben. Aber ich frage euch, was wäre, wenn das einzige Ziel der Weber darin bestünde, diese Hexensteine zu finden? Was, wenn sie so mächtig werden, dass sie über ganz Saramyr herrschen? Selbst wenn sie irgendwie euren gesamten Kontinent in ihre Gewalt brächten, säßen sie fest. Kein anderes Land würde Weber in größerer Zahl an seine Gestade lassen; gemeinhin hegt man ein gesundes und durchaus begründetes Misstrauen gegen sie. Was also wäre dann?« »Sie würden erobern«, sagte Cailin und stand auf. Alle Blicke richteten sich auf sie. Langsam schritt sie in die Mitte des Raumes und stellte sich neben Zaelis, ein dunkler Turm vor der Mittagssonne. »Vielleicht schlägst du mit deinen Schlussfolgerungen über die Stränge, Saran Ycthys Marul.« »Vielleicht«, räumte er ein. »Vielleicht aber auch 166 nicht. Abgesehen von dem, was die Geschichte uns gezeigt hat, wissen wir nichts über die Beweggründe der Weber. Und darin haben sie sich als so angriffslustig und raffgierig erwiesen, wie es ihnen möglich war, als sie noch der Gnade der hohen Familien ausgeliefert waren. Aber ich glaube, bald werden die hohen Familien der Gnade der Weber ausgeliefert sein, und dann gäbe es nichts mehr, das sie aufhalten könnte. Ebenso wäre eine einfallende Armee mit Webern in ihren Rängen unaufhaltsam. Kein anderes Land besitzt etwas, um sich dagegen zu verteidigen.« Wieder schaute er zu Tsata; Kaiku bemerkte den kurzen Blick. »Dies ist nicht nur eine Bedrohung für Saramyr; es ist ein Schatten, der sich über die gesamte Nahe Welt herabsenken könnte. Ich wollte nur, dass euch das bewusst ist.« Nachdem er seinen Bericht damit abgeschlossen hatte, ging Saran zu dem tätowierten Tkiurathi hinüber und setzte sich neben ihn. Die Zuhörerschaft hatte einen deftigen, zudem unangenehmen Brocken zu verdauen. Saran sah, wie einige seine Erkenntnisse bereits als lächerliche Mutmaßungen abtaten: Wie konnte er mit dem wenigen, was über die Weber bekannt war, solche Vermutungen anstellen? Doch genau das waren die Stimmen, die den Untergang der Libera Dramach herbeiführen würden, sollten sie die Oberhand erhalten. Saran jedenfalls wusste, dass man den Webern keinen Fingerbreit Spielraum geben durfte. »Sarans Bericht wirft ein unheilvolles Licht auf eine weitere Neuigkeit, die ich heute Vormittag erhalten habe«, ergriff Zaelis das Wort. »Nomoru, bitte steh auf.« Es war eine etwa zwanzig Ernten alte Frau, die der Aufforderung nachkam. Sie war drahtig, dürr und wenig attraktiv; ihre Miene war sauertöpfisch, das kurze blond167 braune Haar ein zottiges, stacheliges Gewirr. Ihre Kleidung war eine schlichte Bauernkluft, ihre Arme waren nach Art des Gossenvolks und der Bettler mit Bildern tätowiert. »Nomoru ist eine unserer besten Kundschafterinnen«, erklärte Zaelis. »Sie ist eben erst vom wesüichen Ende des Bruchs zurückgekehrt, wo der Zan ihn schneidet. Erzähl, was du gesehen hast.« »Es geht um das, was ich nicht gesehen habe«, berichtigte Nomoru. Ihr Dialekt war abgehackt, verdrießlich und mit den heiseren Selbstlauten des Nieder-Saramyrrischen gespickt. Jeder im Raum ordnete ihre Herkunft sofort dem Armenviertel Axekamis zu und rückte seine Vorurteile entsprechend zurecht. »Ich kenne dieses Gebiet. Kenne es gut. Ist nicht einfach, den Bruch der Länge nach zu durchqueren, nicht bei allem, was zwischen hier und dort lauert. War 'ne lange Zeit nicht dort. Jahre. Zu schwierig, dort hinzugelangen.«
Sie schien sich unbehaglich dabei zu fühlen, vor so vielen Leuten zu sprechen; es war an ihrer Haltung unzweifelhaft abzulesen. Um ihre Verlegenheit zu verbergen, behalf sie sich mit einem wütenden Tonfall, wusste aber offenbar nicht, gegen wen sie die Wut richten sollte. »Es gab dort 'ne Überschwemmungsebene. An der hab ich früher immer die Richtung bestimmt. Aber diesmal ... diesmal konnte ich sie nicht finden.« Sie schaute zu Zaelis, der ihr bedeutete fortzufahren. »Ich wusste, dass sie da sein musste, aber ich konnte einfach nicht hinfinden. Bin andauernd im Kreis gelaufen. Und das sieht mir nun gar nicht ähnlich. Ich kenne die Gegend gut.« Plötzlich begriff Kaiku, was unweigerlich kommen musste. Ihr Herz rutschte nach unten. 168 »Dann isses mir eingefallen. Hab schon mal davon gehört. Ein Ort, der da sein sollte, an den man aber nicht gelangen kann. Ist ihr auch passiert.« Mit einem beleidigend anklagenden Finger zeigte sie auf Kaiku. »Irreführung. So was bauen sie um Orte auf, die nicht gefunden werden sollen.« Mit loderndem Blick schaute sie in die Runde. »Die Weber sind im Bruch.« 169 ELF Die Baraks Grigi tu Kerestyn und Avun tu Koli schlenderten Seite an Seite den Trampelpfad zwischen den hohen Kamako-Rohrreihen entlang. Von oben blickte wohlwollend Nukis Auge herab, während winzige, schwebende Reetspechte umherhuschten und nach geeigneten Pflanzen suchten, die sie mit ihren spitzen Schnäbeln bearbeiten konnten. Der Himmel war klar, die Luft trocken, die Hitze erträglich: ein weiterer Tag vollkommenen Wetters. Und doch herrschte in Grigis Gedanken alles andere als Sonnenschein. Er streckte die kräftige Hand aus und brach ein Rohr ab; an der Bruchstelle stob Pulver auf. »Seht nur«, meinte er und hielt es Avun hin. Sein Gefährte ergriff es und drehte es langsam unter schläfrigem Blick. An der Außenfläche waren schwarze Verfärbungsstriemen zu erkennen, wenngleich Avun keine solchen Hinweise gebraucht hätte, um zu wissen, dass es von der Geißel befallen war. Für den Gerüstbau war selbst gutes Kamako-Rohr schwierig zu verwenden; dieses war brüchig und wertlos. »Die gesamte Ernte?«, fragte Avun. »Ein Teil kann gerettet werden«, brummte Grigi gedankenverloren, watschelte mit seinem gewaltigen Umfang zur anderen Seite des Trampelpfads und brach zur Probe ein weiteres Rohr ab. »Das hier ist in Ordnung, aber wenn die Kunde sich verbreitet, dass der Rest der Ernte befallen ist... Naja, ich nehme an, ich könnte es über einen Zwischenhändler verkaufen, aber der Preis 170 wird nur halb so gut ausfallen, wie er sein könnte. Es ist eine götterverfluchte Katastrophe.« Avun musterte den anderen Mann. »Ihr könnt doch wohl kaum etwas anderes erwartet haben.« »Wie wahr, wie wahr«, bestätigte Grigi. »Tatsächlich hatte ich fast auf etwas in der Art gehofft. Wäre die Ernte dieses Jahr besser ausgefallen, hätten einige unserer Verbündeten womöglich noch Zweifel daran gehegt, ob sie die richtige Seite gewählt haben. In der Politik entstehen aus Verzweiflung höchst wackelige Verbindungen, und sie stürzen schnell ein, wenn die Zeiten sich ändern.« Angewidert warf er das Rohr beiseite. »Trotzdem widerstrebt es mir, mit ansehen zu müssen, wie Tausende Shirets an Ware zu Abfall verkommen. Besonders wenn es meine Ware ist!« »Es kann unsere Lage nur stärken«, meinte Avun. »Immerhin sind wir für einen solchen Fall gewappnet. Andere sind nicht so glücklich. Sie werden einsehen, dass die einzige Rettung vor dem Hungertod darin besteht, Mos zu entmachten und jemanden auf den Thron zu hieven, der weiß, wie man die Geschicke des Reiches lenkt.« Grigi warf ihm einen wissenden Blick zu. Es gab noch etwas, das sie aber nicht aussprachen, worüber sie kein Wort verloren, wenn es nicht unbedingt sein musste. Grigi auf den Thron zu bringen war nur ein Teil des Planes; der andere bestand darin, die Weber zu verscheuchen. Zwar hegte keiner der beiden einen besonderen Groll gegen die Weber - zumindest nicht mehr als die anderen hohen Familien, denen der Zwang widerstrebte, Weber zu unterhalten -, aber sie spürten die allgemeine Stimmung und wussten, was das gemeine Volk empfand. Der Pöbel war der Ansicht, dass die Weber für die schlechten Zeiten verantwortlich wären, die das Reich heimsuchten, dass ihre 171 Erhebung in denselben Rang wie die hohen Familien eine Beleidigung der Tradition und der Götter wäre. Avun wusste nicht, ob dem tatsächlich so war, doch es spielte eigentlich keine Rolle. War Grigi erst Geblütskaiser, musste er die Weber zurechtstutzen, andernfalls drohte ihm dasselbe Schicksal wie nun Mos. Aber es war ein gefährliches Spiel, vor der Nase der Weber Ränke gegen sie zu schmieden. Denn so wie in allen hohen Familien, lebten auch in Grigis und Avuns Haushalt Weber, und wer vermochte zu sagen, wie viel sie wussten? Sie schlenderten noch ein Stück weiter, bis der Trampelpfad aus dem Kamako-Rohrfeld hervorbrach und nach links abzweigte, wo er entlang eines niedrigen Hügels weiter verlief. Unter ihnen erstreckten sich Grigis Pflanzungen wie Segeltuch, unebenmäßige, braune Vielecke, in die sich mosaikgleich grüne Felder fügten, wo das Rohr noch nicht geerntet war. Dazwischen befanden sich lang gezogene, niedrige Schuppen und Höfe, wo die Ernteausrüstung verwahrt wurde. Männer und Frauen, deren Geschlecht unter den breiten Korbgeflechthüten,
die sie vor der Sonne schützten, nicht zu unterscheiden war, bewegten sich langsam zwischen den Reihen und schnitten, stutzten oder brachten Netze über den unbeeinträchtigten Bereichen an, um die hartnäckigen Reetspechte fern zu halten. Von oben gesehen wirkte alles wie üblich und sogar idyllisch. Einem Betrachter mit ungeschultem Auge käme nie in den Sinn, dass die Erde vergiftet war. Bedauernd seufzte Grigi. Er nahm seinen Verlust zwar gelassen hin, dennoch stimmte er ihn traurig. Grigi missbilligte jede Art der Verschwendung, wovon sein wohlgenährter Leib zeugte. In der höheren Gesellschaft Saramyr war es üblich, mehr Essen vorzubereiten, als 172 nötig war, damit die Speisenden auswählen konnten, was sie wollten; die Menschen aßen, so viel ihnen beliebte, und ließen den Rest übrig. In Grigi hatte diese Sitte nie richtig gefruchtet, und durch seine Vorliebe für erlesene Mahle und sein Widerstreben, etwas auf dem Tisch zu lassen, war er fett geworden. Er trug weite Gewänder und ein purpurnes Scheitelkäppchen, unter dem das schwarze Haar zu einem Zopf verknotet war. An seinem Kinn prangte ein dünnes Bärtchen, das den fleischigen Zügen Ausdruck verleihen sollte. Sein Äußeres ließ jedenfalls nicht darauf schließen, dass er einen in höchstem Maße fähigen Barak verkörperte, zudem den vermutlich einzigen Anwärter auf den Thron, seit er die Streitkräfte von Geblüt Amacha ausgelöscht hatte. Vielmehr wirkte er wie ein verhätschelter Adeliger, den Prunk und Überfluss verweichlicht hatten. Auch seine hohe, mädchenhafte Stimme und seine Leidenschaft für Poesie und Geschichte trugen zu diesem falschen Eindruck bei. Sein einzig wahres Laster aber war die Völlerei. Im Gegensatz zu vielen anderen Baraks gab er sich keinen Rauschmitteln, Jagdausflügen, Kokotten oder anderen Vorrechten seines Ranges hin. Ähnlich wie sein Gefährte Avun, unter dessen trägem, traumseligem Gebaren sich ein Verstand so scharf und unerbittlich wie eine Klinge verbarg, wurde auch er häufig von Menschen unterschätzt, die vermuteten, jene Schwäche seines Wesens, die zu einem solch fülligen Leib führte, ließe auf einen schwachen Geist schließen. Sofern er einen wirklichen Fehler hatte, war es jener, den seine gesamte Familie teilte: Er war verbittert über die Schicksalswendung, die vor über einem Jahrzehnt dazu geführt hatte, dass sein Vater vom Thron gestoßen wurde und Geblüt Erinima an die Macht kam. Sonst 173 stünde Kerestyn wohl immer noch an der Spitze des Reiches. Eben jene Verbitterung ließ ihn während des letzten Umsturzes einen unklugen Sturmangriff auf Axekami unternehmen; unklug deshalb, weil er, obwohl er sich Geblüt Amachas durchaus gerissen entledigt hatte, nicht damit gerechnet hatte, dass die Bevölkerung der Stadt sich zusammenrotten könnte, um seine einfallende Streitmacht abzuwehren. Dadurch war er so lange aufgehalten worden, dass Geblüt Batik am Osttor in die Stadt gelangen und den Thron selbst an sich reißen konnte. Mittlerweile wünschte das Volk Axekamis wohl, es hätte ihn damals eingelassen, dachte er düster. Aber wenn es das Schicksal gewesen war, das Geblüt Kerestyn aus der Kaiserlichen Feste geschleudert hatte, dann würde es auch das Schicksal sein, das es dorthin zurückführte. Sein Vater war mittlerweile tot, und seine beiden älteren Brüder waren von Krähenblattern dahingerafft worden - die so hießen, weil sie nie jemand überlebte und sich rings um die Betroffenen rechtzeitig zum Mahl die Krähen einfanden. So war das Zepter also an ihn übergegangen, und nun wandelten die Dinge sich wieder zu seinen Gunsten. Adelige und Armeen scharten sich um sein Banner, um Geblütskaiser Mos zu entmachten. Diesmal, gelobte er, würde er nicht versagen. Eine Weile wanderten sie gemächlich in der Sonne dahin, schlenderten am Hügel entlang zum Anfang des Pfades und folgten ihm zurück durch die Kamako-Rohrfelder in Richtung des Anwesens von Geblüt Kerestyn. Es war eines von mehreren im Besitz der Familie, und gemeinsam mit Avun hatte er es als Standort für Verhandlungen mit den Hochgeborenen der Südlichen Präfekturen gewählt. Die Präfekten gehörten mittler174 weile der Vergangenheit an, da sie durch die Weber überflüssig geworden waren. Es ergab keinen Sinn, überwiegend unabhängige Statthalter für ferne Ländereien zu ernennen, wenn es möglich war, sie durch unmittelbaren Nachrichtenaustausch von der Hauptstadt aus zu verwalten und somit die Macht innerhalb der Kaiserfamilie zu halten. Die wohlhabenden Sprösslinge der Präfekten hingegen gab es sehr wohl noch, und sie waren entsetzt darüber, mit ansehen zu müssen, wie ihr geliebtes Land durch die Geißel verödete. Nur allzu bereitwillig verpflichteten sie sich Grigi, wenn er in der Lage wäre, den Verfall des Landes aufzuhalten. Natürlich hatte er keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, doch bis sie das herausfänden, würde es zu spät sein. »Gibt es Neuigkeiten über Eure Tochter, Avun?«, fragte er schließlich, da er wusste, der andere Barak würde den ganzen Weg zurück zum Anwesen schweigen, wenn Grigi nicht das Wort ergriff. »Ihr Schiff sollte vor einigen Tagen eingetroffen sein«, antwortete er beiläufig. »Ich gehe davon aus, schon sehr bald über ihre Gefangennahme unterrichtet zu werden.« »Ich könnte mir vorstellen, dass das eine Erleichterung für Euch sein wird«, meinte Grigi. Er kannte die ganze Wahrheit hinter Avuns Bruch mit seiner Tochter; tatsächlich hatte er sogar wesentlich zur Verbreitung der Gerüchte beigetragen, mittels welcher Geblüt Koli das Gesicht wahrte. »Ich meine, sie zurückzuhaben.« Avun kräuselte die Lippen. »Ich habe vor zu gewährleisten, dass sie ihre Familie nie wieder derart bloßstellt. Sobald ich in die Mataxa-Bucht zurückkehre, werde ich mich um sie kümmern.« »Also seid Ihr so zuversichtlich, sie bis dahin zu haben?«
175 »Seit ihrer Ankunft in Okhamba ist mir jeder ihrer Schritte bekannt«, gab Avun zurück. »Und mein Gewährsmann ist äußerst zuverlässig. Ich sehe keinerlei Schwierigkeiten voraus. Sie wird in sehr fähigen Händen sein.« Als Kaiku in Zaelis' Arbeitszimmer eintraf, war Cailin bereits dort. Es war ein kleiner, enger Raum mit dicken Holzwänden, die Geräusche aus dem Haus dämpfen sollten. An einer Wand türmten sich Verwaltungsbücher, auf einem Tisch in einer Ecke lagen mehrere Pinsel und eine halb beschriebene, teilweise geöffnete Schriftrolle. Die offenen Läden ließen die Nachmittagssonne ein, die Luft war heiß und unbewegt. Zaelis und Cailin standen in der Nähe der Fenster und zeichneten sich vor dem grellen Licht von draußen als dunkle Umrisse ab. Vögel piepsten und zwitscherten auf den tiefer gelegenen Giebeln und Dächern. »Wieso bloß hätte ich zu wetten gewagt, dass du deine Dienste als Erste anbieten würdest?«, meinte Cailin süßsauer. Kaiku überging die Bemerkung. »Zaelis«, setzte sie an, doch er hob eine runzlige Hand. »Ich weiß, und ja, du darfst«, kam er ihr zuvor. Damit erwischte er Kaiku auf dem falschen Fuß. »Mir scheint, ich bin in letzter Zeit ein wenig berechenbar geworden«, stellte sie fest. Unerwartet lachte Zaelis. »Verzeih, Kaiku. Zweifle bloß nicht daran, dass ich dir dankbar für die hervorragende Arbeit bin, die du für uns in den vergangenen Jahren geleistet hast; ich bin froh, dass du immer noch dieselbe Begeisterung besitzt.« »Ich wünschte nur, sie wäre beim Lernen ebenso eif176 rig«, meldete Cailin sich mit streng hochgezogener Augenbraue zu Wort. »Das hier ist wichtiger«, hielt Kaiku dem entgegen. »Und ich muss gehen. Ich bin die Einzige, die es kann. Nur ich kann die Maske verwenden.« Bestätigend neigte Cailin das Haupt. »Diesmal stimme ich dir ausnahmsweise zu.« Damit hatte Kaiku nicht gerechnet. Sie war auf einen Streit vorbereitet gewesen. Tatsächlich wollte sie fast, dass sie mit ihr streiten, ihr verbieten würden zu gehen. Bei den Göttern, schon der Gedanke daran erfüllte sie mit Furcht. Allein das Durchqueren des Bruchs war ob der Grauen erregenden Geister, der blutlüsternen Sippen und des feindseligen Geländes schlimm genug; aber am anderen Ende warteten obendrein die Weber, die tödlichsten Feinde von allen. Dennoch hatte sie keine andere Wahl, nicht in den Augen Ochas, dem sie einen Vergeltungseid geschworen hatte. Sie wollte sich keineswegs auf diese Weise in Gefahr begeben. Sie musste. Zaelis trat vom Fenster weg und aus dem grellen Licht. »Dies könnte wichtiger sein, als du dir vorstellst, Kaiku«, murmelte er. Kaiku beschlich der Eindruck, dass sie nach einer ernsten Unterhaltung der beiden eingetroffen war, und sie wusste nicht, was sie verpasst hatte. »Der Xarana-Bruch ist seit jeher unsere Zuflucht gewesen«, fuhr er fort. »Seit vielen Jahren dient er uns als Versteck und Schutz vor den Webern ...« Seine Stimme verlor sich, dann schaute er zu ihr auf. Der Blick unter den weißen Augenbrauen war düster. »Falls der Schoß entdeckt worden ist, könnte alles verloren sein. Wir müssen in Erfahrung bringen, was sie vorhaben, und zwar auf der Stelle. Geh mit Yugi und Nomoru; findet heraus, was die Weber am anderen Ende des Bruchs verbergen.« 177 Kaiku gab einen zustimmenden Laut von sich, dann schaute sie erwartungsvoll zu Cailin. »Ich werde nicht versuchen, es dir auszureden«, sagte Cailin. »Du bist zu starrsinnig. Eines Tages wirst du erkennen, welche Macht in dir schlummert und wie du sie durch deine Nachlässigkeit vergeudest. Dann wirst du zu mir zurückkehren, und ich werde dir beibringen, wie du nutzen kannst, was du besitzt. Aber bis dahin, Kaiku, wirst du deinen eigenen Weg gehen.« Kaiku runzelte leicht die Stirn; es erfüllte sie mit Argwohn, wie einfach Cailin aufgab. Doch bevor sie der Sache auf den Grund gehen konnte, ergriff wieder Zaelis das Wort. »Irgendwie hängt alles zusammen, Kaiku«, sprach er. »Die Weber im Bruch, die seltsamen Bauwerke, die sie in ganz Saramyr errichtet haben, die Erkenntnisse, die Saran uns vermittelt hat, das, was Lucia widerfahren ist ... Wir müssen handeln, Kaiku, aber ich weiß nicht, in welche Richtung wir zuschlagen sollen.« Er schaute zu Cailin. »Manchmal denke ich, wir haben uns zu lange versteckt, während draußen unsere Feinde erstarkt sind.« Doch Kaiku hatte in seiner Erläuterung etwas aufgeschnappt, das sie frösteln ließ. »Was ist Lucia denn widerfahren?« »Ah«, brummte Zaelis. »Vielleicht solltest du dich besser setzen.« Mishani lag wach im Gästezimmer von Chien os Mumakas Stadthaus und lauschte in die Nacht. Die Kammer war schlicht und geräumig, so wie Mishani es mochte. Auf hohen, schmalen Tischen standen ein paar mit Bedacht angeordnete Töpfe mit 178 winzigen Bäumen oder Blumen. Von der Decke hingen Gebetsperlen, die im warmen Luftzug leise aneinander klimperten. Eigentlich sollten die Schiebewände aus Papier offen stehen, um den Blick auf den umzäunten Garten dahinter freizugeben, doch Mishani hatte sie geschlossen. Ihre Aufmerksamkeit galt nicht den äußeren
Geräuschen Hanzeans, dem fernen Ruf einer Eule, dem allgegenwärtigen Zirpen von Chikkikii, dem gelegentlichen Widerhall von Gelächter oder dem Knarren eines Karrens. Sie horchte auf Laute innerhalb des Hauses: auf Schritte, auf das leise Zischen einer Trennwand, die aufgezogen wurde, auf einen aus der Scheide gezogenen Dolch. Dies war die letzte Nacht, die sie als Chiens Gast verbringen würde. So oder so. Die vergangenen vier Tage hatte sie wenig und nur leicht geschlafen. Wenn Nukis Auge am Himmel stand, war Mishani fast in der Lage, die Gefahr zu vergessen, in der sie schwebte. Chien war ein hervorragender Gastgeber, und sie hatte trotz allem begonnen, seine Gesellschaft zu genießen. Sie aßen zusammen, ließen Musikanten für sich auftreten, spazierten über das Gelände oder saßen im Garten und unterhielten sich. Aber wenn die Sonne unterging und sie alleine war, schlich die Furcht nahe genug herbei, um ihr Innerstes zu berühren. Dann sickerte ihr die Wirklichkeit ihrer Lage ins Bewusstsein, und plötzlich schien die Luft erfüllt von getuschelten Zweifeln. Zu vieles passte nicht zusammen. Warum hatte er ihr die Überfahrt aus Okhamba so verdächtig großzügig angeboten? Wozu der verschlungene Umweg in der Kutsche vom Landungssteg zum Stadthaus? Und warum waren sie in den gesamten fünf Tagen kein einziges Mal außerhalb der Mauern seines Grundstücks gewesen? In Hanzean gab es Schauspiel, Kunst und allerlei 179 Sehenswürdigkeiten, die seinem Gast zu zeigen ein Gastgeber praktisch verpflichtet war; doch Chien hatte sie zu nichts dergleichen eingeladen. Andererseits war Mishani durchaus froh darüber, nicht in einer belebten Hafenstadt umherstolzieren zu müssen, denn jedes Auftreten in der Öffentlichkeit war gefährlich; dennoch schien der Umstand, dass Chien dies offenbar wusste, nichts Gutes für sie zu verheißen. Falls Chien sein Spiel zu machen gedachte, musste es in dieser Nacht geschehen. Am Abend hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie am nächsten Morgen aufbrechen würde. Es mochte vielleicht ein wenig unschicklich anmuten, solche Eile erkennen zu lassen, doch ihre Nerven waren derart angegriffen, dass es sie wenig kümmerte. Und sollte sie dieser Falle tatsächlich entrinnen, würde sie Chien wohl ohnedies nie wieder über den Weg laufen. Als sie ihre Abreise ankündigte, schien er in keiner Weise beleidigt; andererseits fand sie es immer noch ärgerlich schwierig, ihn zu deuten. In dieser Nacht, beschloss sie, würde sie überhaupt nicht schlafen. Sie hatte eines der Dienstmädchen gebeten, ihr einen Trank aus Xatamchi zuzubereiten, einem schmerzstillenden Mittel mit stark anregender Nebenwirkung, das für gewöhnlich morgens zur Linderung von Regelbeschwerden eingenommen wurde. Das Dienstmädchen hatte sie davor gewarnt, dass sie die ganze Nacht wach sein würde, wenn sie es so spät am Abend zu sich nähme, aber Mishani hatte erwidert, sie sei bereit, das Wagnis einzugehen, und nur Xatamchi könne ihr helfen. Das Dienstmädchen hatte keineswegs übertrieben. Mishani hatte noch nie Xatamchi eingenommen, aber nun begriff sie, weshalb ihr davon abgeraten worden war. Sie konnte sich kaum vorstellen, weiter von Schlaf ent180 fernt zu sein als in diesem Moment, und sie fühlte sich trotz der späten Stunde wunderbar scharfsinnig. Tatsächlich machte ihr eher die Untätigkeit zu schaffen. Sie sehnte sich danach, hinauszugehen und einen nächtlichen Spaziergang durch den Garten zu unternehmen. Sie trug sich gerade mit dem Gedanken, eben dies zu verwirklichen, als sie durch die Papiertrennwände am fernen Ende der Kammer ein leises, dumpfes Geräusch vernahm. Mit einem Anflug von Furcht erkannte sie, dass jemand anders im Garten war; und sie wusste mit jäher Gewissheit, dass ihre Feinde letztlich gekommen waren, um über sie herzufallen. Sie spitzte die Ohren, während sie reglos dalag, lauschte auf ein weiteres Geräusch. Ihr Herz hörte sich mit einem Mal entsetzlich laut in ihren Ohren an; an den Schläfen spürte sie den Druck ihres Pulses. Eine flüsternde Stimme: ein kurzer, barscher Befehl von einer Gestalt zu einer anderen, zu leise, um ihn zu verstehen. Also bestanden keine Zweifel mehr. Nun konnte sie nur noch warten, bis sie das grässliche Geräusch der zurückgleitenden Papiertrennwände vernahm, und zu den Göttern beten, sie mögen an ihr vorübergehen, es sich aus unerfindlichen Gründen anders überlegen, sie einfach links liegen lassen. Ihre Augen waren geschlossen und sie gab vor zu schlafen, als es geschah. Das leise Raspeln von Holz auf Holz, langsam und behutsam, um sie nicht zu wecken. Ein sanfter Luftstoß von draußen, in dem der frische, gesunde Duft der Bäume im Garten mitschwang. Und ein weiterer Geruch, der leicht metallische Moder von Schweiß. Dann der überwältigende Gestank von Matchoula-Öl, das einen Menschen nach nur wenigen Atemzügen in Bewusstlosigkeit versinken ließ. 181 Das Knarren von Leder, als einer der Eindringlinge neben ihrer Matte niederkauerte. Mishani schrie aus Leibeskräften auf, warf die Decke mit einer heftigen Bewegung beiseite und schleuderte das rote Pulver, das sie in der Hand gehalten hatte. Der überraschte Eindringling zuckte erschrocken zurück, und der Staub traf ihn unmittelbar ins Gesicht: scheuernde Badesalze, die sie ins Schlafzimmer geschmuggelt hatte. Er schrie vor Schmerz auf, als die kratzigen Kristalle in seine Augen gelangten und auf seiner Zunge, seinen Lippen ob der Feuchtigkeit zu blubbern begannen. Der zweite Schemen in der Kammer stürzte auf sie zu, doch sie hatte sich bereits von der Matte gerollt und war auf den Beinen. Statt der Nachtgewänder trug sie normale Kleidung, und ihr gewundener Dolch schimmerte im bleichen Mondlicht. »Bestellt eurem Meister Chien, dass ich kein so leichtes Opfer bin!«, zischte sie und überraschte sich durch die
Kraft ihrer Stimme selbst; dann brüllte sie, so laut sie konnte: »Eindringlinge! Eindringlinge!« Allein die Götter wussten, wozu es gut sein mochte - sie bezweifelte, dass Hilfe herbeieilen würde, zumal der Herr des Hauses diese Männer geschickt hatte -, aber sie hatte nicht vor, in die Nacht hinaus zu fliehen, ohne so viele Menschen wie möglich darauf aufmerksam zu machen. Derjenige, den sie nicht geblendet hatte, rannte auf sie zu, ohne auf die Schreie seines Gefährten zu achten. Er schwang einen Stofffetzen, der nach Matchoula-Öl stank. Also wollte man sie lebendig, dachte sie durch das kalte Grauen, das sie erfasste. Das verschaffte ihr einen Vorteil. Als er sich ihr näherte, wich sie zurück und schwang wild mit der Klinge um sich. Doch sie war keine Kriegerin: Abgesehen von einem gelegentlichen Klaps von 182 ihrem Vater, war sie selten zuvor in ihrem Leben von echter körperlicher Gewalt bedroht gewesen und wusste daher nicht, wie sie sich dagegen wehren sollte. Der Eindringling fluchte, als der Dolch in das Fleisch seines Unterarms drang, dann schlug er ihre Hand beiseite; die betäubende Wucht des Hiebs schleuderte ihre Klinge klirrend auf den Boden. Obwohl er von schlanker Gestalt schien, war er wesentlich größer und stärker als sie, und sie hegte keine Hoffnung, ihn überwältigen zu können. Stattdessen versuchte sie zu flüchten, doch er griff nach ihr, erwischte ihr Handgelenk halb, aber nicht richtig; sie wurde herumgerissen, stolperte über den Saum ihrer Gewänder, stürzte mit wehenden Haaren und wallenden Kleidern durch die Papiertrennwände und polterte die zwei Holzstufen zum Garten hinab. Mishani landete auf dem Pfad am Rand des Hauses, die Papiertrennwände fielen neben sie. Die Wucht des Aufpralls trieb ihr Tränen in die Augen. Sie wand sich, um sich aus den leichten Holzrahmen der Trennwände zu befreien. Ihr knöchellanges Haar war zerzaust und hatte sich überall verfangen, zudem kniete sie darauf, und es zerrte grässlich an ihrer Kopfhaut. Dann wurden die Trennwände von ihr fortgerissen, und ihr Angreifer ragte über ihr auf. In der warmen, mondhellen Nacht konnte sie ihn besser erkennen. Er trug Räuberkluft, hatte ungekämmtes Haar, und sein Gesicht war dunkel und zornig. Während ein weiterer Schrei in ihr aufstieg, um den Haushalt zu wecken, entwand sie sich seinem Griff. Sie schaffte nur ein paar Schritte durch den Garten, ehe er sie einholte und den Fuß unter den ihren hakte, so dass sie neuerlich stolperte, in ein Blumenbeet rollte und sich das Handgelenk an einem Stein anschlug. Dann war er über ihr und 183 drückte ihre Hände mit einem Arm nieder, während sie ungestüm um sich schlug und trat. »Runter von mir!«, kreischte sie zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor. Dann spürte sie, wie einer ihrer Tritte sein Ziel fand, und hörte, wie der Mann grunzte. Einen Lidschlag lang dachte sie, er würde sie loslassen, doch stattdessen stemmte er ein Bein qualvoll heftig in ihren Magen, presste den Atem aus ihr, knüllte das in Matchoula-Öl getränkte Tuch zusammen und drückte es auf ihr Gesicht. Sie bekam keine Luft, und seine Hand folgte unerbittlich ihrem hin und her geschleuderten Kopf, ließ sich nicht abschütteln. Der beißende Gestank war in ihrer Nase, auf ihren Lippen, und ihre Lungen brannten, lechzten nach Sauerstoff. Von blankem Grauen getrieben, bäumte sie sich auf und wand sich, aber sie war klein und zierlich und besaß nicht die Kraft, um ihn abzuwerfen. Plötzlich ertönte irgendwo im Haus ein spitzer Schrei, und Füße rannten polternd über den Rasen. Jäh wurde das Tuch weggerissen; auch das Knie verschwand, und Mishani sog japsend, mit weit aufgerissenen Augen die Luft ein. Aber der Mann, der sie festhielt, hatte das Tuch nur fallen gelassen, um ein Messer zu ziehen, das bereits auf ihre Kehle zusauste. Etwas, das tiefer saß und schneller war als jeder Gedanke, ließ sie die Schultern raffen und die Knie hochziehen, wofür sie nun genügend Freiraum hatte. Dadurch brachte sie ihn so ins Wanken, dass er unwillkürlich die Arme ausstreckte und den Messerhieb abbrach, um das Gleichgewicht zu halten. Gleich darauf schnellte ein Pfeil durch sein Auge; die Wucht des Geschosses schleuderte ihn von ihr und polternd in einen seichten Tümpel am Fuße einer Steinansammlung. 184 Noch bevor er zum Liegen kam, rappelte Mishani sich auf die Beine, hob das Messer auf, das er fallen gelassen hatte, und zückte es, als sie sich zu den Neuankömmlingen umdrehte, die durch den Garten auf sie zurannten. Ihr Atem ging heftig, ihre Kleidung war zerknittert, die Masse ihres schwarzen Haares ein dreckverschmiertes Gewirr, während sie mit der Klinge im Anschlag die auf sie zupreschenden Schemen anfunkelte. »Fürstin Mishani!«, rief Chien, der die Gruppe anführte. Ihm folgten drei Wachmänner, einer mit einem Bogen. Beim Klang ihres Namens hob sie den Dolch auf Halshöhe an, gleichsam als Warnung, sich ihr zu nähern. Die Hände beschwichtigend vor sich ausgestreckt, blieb er stockend stehen. »Fürstin Mishani, ich bin es, Chien.« »Ich weiß, wer Ihr seid«, gab sie zurück, wobei ihre Stimme vom Schrecken des Angriffs unbarmherzig zitterte. »Bleibt zurück.« Chien wirkte verwirrt. »Ich bin es doch«, wiederholte er. »Eure Männer haben versagt, Chien«, spie sie ihm entgegen. »Wenn Ihr mich töten wollt, werdet Ihr es schon selbst tun müssen.« »Euch töten ? Ich ...« setzte Chien an, doch dann fehlten ihm die Worte. Hinter ihm hörte sie eine Wache rufen. Chien schaute über die Schulter zurück. »Sind noch mehr Angreifer da?«, fragte er sie.
»Wie viele habt Ihr denn angeworben?«, gab sie zurück. Der zweite Angreifer wurde hinter ihr in den Garten herausgeschleift. Sein Körper war schlaff und leblos. Gift, vermutete Mishani. Gewiss wollte sein Auftraggeber keine Zeugen hinterlassen. »Fürstin Mishani...«, sagte er und hörte sich dabei 185 schrecklich verletzt an. »Wie könnt Ihr so etwas von mir denken?« »Ach, hört doch auf, Chien«, erwiderte sie. »Ihr wärt nicht dort, wo Ihr seid, würdet Ihr nicht stets alle Perspektiven bedenken. Ebenso wie ich.« »Dann habt Ihr in diesem Fall bislang wohl die falschen bedacht«, meinte Chien. Er wirkte bei dem Versuch, sie zu überzeugen, geradezu verzweifelt, ja fast flehentlich. »Ich hatte hiermit nichts zu tun!« Mishani sah sich um. An Flucht war nicht mehr zu denken; mittlerweile wimmelte es überall vor Wachen. Sich einen Weg nach draußen zu erkämpfen war unmöglich. Wollte man sie tot, könnte man sie einfach erschießen. »Warum sollte ich Euch glauben, Chien«, fragte sie. »Nehmt das Messer weg, dann sage ich Euch weshalb«, schlug er vor. »Aber nicht hier. Das ist eine Angelegenheit, die nur uns beide angeht.« Plötzlich verspürte Mishani unbändige Müdigkeit. Mit einer beleidigend beiläufigen Geste warf sie den Dolch beiseite und bedachte den Händler mit einem vernichtenden Blick. »Geht voraus.« »Können wir die Masken nun abnehmen?«, wollte Mishani wissen, als sie unter sich waren. Sie standen in Chiens Buchhaltungszimmer, einer düsteren Kammer mit dunklem Holz und schwerer Einrichtung. Schriftrollen stapelten sich auf Regalen und lagen über den Schreibtisch verstreut, an dem der Händler für gewöhnlich arbeitete, türmten sich unordentlich neben ledergebundenen Verwaltungsbüchern. An einer Wand hing das Emblem des Geblüts Mumaka, ein gewundenes Symbol in goldgesäumter Schönschrift auf grauem Hintergrund. Chien hatte die Laternen in den 186 Halterungen angezündet, die den Raum nun in weiches, warmes Licht tauchten. »Ich trage keine Maske, Fürstin Mishani«, antwortete Chien, blies den Wachsstock in seiner Hand aus und steckte ihn zurück in den Topf, aus dem er ihn genommen hatte. Er drehte sich zu ihr um, und plötzlich war seine Stimme von neuer Kraft erfüllt. »Wenn ich Euch töten wollte, hätte ich viele Male dazu Gelegenheit gehabt - mit wesentlich unauffälligeren Mitteln. Und wollte ich Euch Eurem Vater ausliefern, hätte ich auch das tun können.« »Warum treibt Ihr immer noch dieses Spiel?«, fragte Mishani leise. Sie mochte verdreckt und zerzaust sein, doch ihre Haltung und Würde waren zurückgekehrt, wodurch sie für eine so zierliche Frau überaus erhaben wirkte. »Eure Worte strafen Euch Lügen. Ihr wisst, wie es um die Beziehung zwischen mir und meinem Vater bestellt ist. Ihr habt es von Anfang an gewusst. Wenn Ihr mir tatsächlich nichts Böses wollt, warum habt Ihr dann darauf bestanden, dass ich bleibe und mich Eurer Gnade ausliefere? Euch sind die Unsicherheit und Zweifel, die ich die letzten Tage durchlitten habe, keineswegs entgangen. Bereitet es Euch Vergnügen, mich zu quälen? Ihr solltet Euch für Eure Boshaftigkeit schämen! Macht mit mir, was Ihr wollt, da Ihr im Augenblick ohnehin alle Trümpfe in der Hand zu haben scheint; aber lasst diese Heuchelei, Chien, denn allmählich wird sie ermüdend.« »Ihr vergesst, wer ich bin und wer Ihr seid, sonst würdet Ihr wohl kaum so leichtfertig mit Beleidigungen um Euch werfen!«, herrschte Chien sie an, dessen Zorn entflammt war. »Hört mir lieber erst zu, bevor Ihr einen weiteren Atemzug damit verschwendet, mich ehrlos zu nennen. Ich wusste tatsächlich, dass Ihr Eurem Vater enrfrem187 det seid und er Euch zurück will. Ich wusste auch, dass Eure Ankunft in Okhamba von Händlern im Sold von Barak Avun bemerkt worden war. Eure Abreise aus Saramyr ist seinen Leuten entgangen, wenngleich allein die Götter wissen, was für Glück Euch dafür beschieden gewesen sein muss; aber in dem Augenblick, als Ihr in Kisanth eingetroffen seid, wurdet Ihr gesichtet. Man wollte Eure Rückkehr nach Saramyr abwarten, beobachten, auf welchem Schiff Ihr reisen würdet, und jemanden schicken, um Euch beim Aussteigen in Empfang zu nehmen. Das waren Männer Eures Vaters. Dazu zähle ich nicht. Vielmehr bin ich um Euretwillen ein beträchtliches Wagnis eingegangen, so dass er mich nun höchstwahrscheinlich als einen seiner Feinde betrachtet!« Es freute Mishani, dass es ihr gelungen war, ihn aus der Fassung zu bringen. Irgendwie schien es ihr gegeben, seinen Gleichmut zu durchdringen; zumindest das hatte sie in der Zeit festgestellt, die sie zusammen verbracht hatten. »Fahrt fort«, forderte sie ihn auf. Allmählich wurde sie neugierig. Chien holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und stapfte zur gegenüberliegenden Seite der Kammer. »Ich ließ eine Kutsche an den Docks auf uns warten und brachte Euch und Eure Freunde hierher, bevor die Männer Eures Vaters an Euch herankonnten. Für den Fall, dass wir verfolgt wurden, war es notwendig, Umwege durch Hanzean zu fahren; ich vermute, das ist Euch aufgefallen. Es ist nicht allgemein bekannt, wo mein Stadthaus sich befindet.« Mit wegwerfender Geste tat er die letzte Äußerung ab. »Eure Freunde brachte ich in Sicherheit, aber mir war klar, dass Ihr nicht sicher sein würdet. Ihr wolltet nach Süden. Das konnte ich nicht zulassen. Nicht bevor ich herausgefunden hatte, wen Euer Vater angeworben hatte und was diejenigen wussten. Sie hätten Euch erwischt, ehe Ihr auf der Großen Gewürzstraße
auch nur zehn Meilen zurückgelegt hättet.« Mit ernster Miene musterte er sie. »Deshalb habe ich Euch die vergangenen Tage hier unter meinem Schutz behalten, während meine Männer herauszufinden versuchten, wie tief Ihr in Schwierigkeiten steckt.« »Das war Euer Schutz?«, fragte Mishani mit leiser Stimme. »Ich wäre um ein Haar getötet worden, Chien. Ihr müsst schon verzeihen, wenn mein Vertrauen in Euch ein wenig erschüttert ist.« Chien wirkte schmerzlich berührt. »Das gereicht mir fürwahr zur Schande. Es ist keineswegs so, wie Ihr dachtet, Fürstin Mishani. Ich habe Euch weder gequält noch verraten. Ich habe versucht, Euch zu beschützen, und ich habe versagt.« Mishani betrachtete ihn mit kühlem Blick. Seine Erklärung hatte zumindest Hand und Fuß, dennoch schien sie ihr höchst unwahrscheinlich. Andererseits fiel ihr kein Grund ein, weshalb er sich die Mühe machen sollte, sie zu erfinden; oder weshalb er ihr noch keinen Schaden zugefügt hatte, wenn es das war, was er wollte. Wieso sollte er seine eigenen Männer töten? Sie nahm an, es könnte sich um eine Hinterlist handeln - um ihr Vertrauen eben dadurch zu erringen, dass er die Angreifer getötet hatte. In ihrer Zeit am Hof hatte sich schon gewitztere Schlichen miterlebt - doch welchen Vorteil brächte es ihm? Mishani spielte mit dem Gedanken, ihn zu fragen, weshalb er sie überhaupt beschütze, überlegte es sich jedoch anders. Jede Antwort wäre vermutlich eine Lüge. Was dachte er nur, das sie für ihn tun könnte, welchen Sinn hatte es, Ihre Gunst zu erlangen? Schließlich wusste er, dass sie politisch über keinerlei Macht verfügte. 189 »Ich wollte es Euch nicht eher sagen«, fuhr Chien fort. »Hättet Ihr erkannt, dass ich über das Verhältnis zwischen Euch und Eurem Vater Bescheid wusste, hättet Ihr versucht, so rasch wie möglich von mir fortzukommen. Dadurch wärt Ihr nur noch schneller erwischt worden.« Das hatte Mishani bereits vermutet, ebenso wie sie ahnte, weshalb die Eindringlinge zunächst versucht hatten, sie zu entführen, und dann, sie zu töten. Ihre Befehle waren einfach gewesen: lebendig wenn möglich, tot wenn nötig. Die Skrupellosigkeit ihres Vaters überraschte sie nicht im Geringsten. Chien schaute sie mit ehrlichem Blick an. Aus den klobigen Zügen sprach Offenheit. Eine Seite seines geschorenen Schädels schimmerte im Laternenlicht. »Fürstin Mishani, ob Ihr mir glaubt oder nicht, ich wollte Euch all das morgen früh erzählen, um Euch von der Abreise abzubringen. Wie es scheint, habe ich zu lange gewartet. Die Männer Eures Vaters haben Euch gefunden und hätten Euch beinahe das Leben geraubt.« Er ging zu ihr hinüber. »Wenn ich etwas tun kann, um mein Versagen wieder gutzumachen, braucht Ihr es nur auszusprechen.« Mishani musterte ihn eine lange Weile. Sie glaubte ihm tatsächlich, doch das bedeutete keineswegs, dass sie ihm auch vertraute. Ob er nun mit ihrem Vater unter einer Decke steckte oder nicht, irgendetwas wollte er von ihr, etwas, von dem sie nicht einmal wusste, dass sie es geben konnte. Durch Chiens Versuch einer Erklärung wirkte sein Verhalten rätselhafter denn je zuvor. War dies eine aufwändig gestrickte Falle oder etwas, das sie überhaupt nicht erwartete? Sprach er die Wahrheit, was die Männer ihres Vaters anging? Es spielte keine Rolle. Nun schuldete er ihr etwas, und sie brauchte ihn. »Bringt mich nach Süden«, sagte sie. 190 ZWÖLF Der Schoß strotzte vor Leben. Unzählige Feiernde verstopften in der Hitze des späten Nachmittags die Pfade zwischen den Häusern. Die vormittäglichen Rituale waren vorüber, das mittägliche Festmahl war zubereitet und verspeist, und nun hatten die Leute sich satt, fröhlich und betrunken auf die Straßen begeben. In den Städten würde es bei Einbruch der Nacht Feuerwerke geben, hier im Bruch jedoch war das zu gefährlich. Dennoch würden Freudenfeuer entzündet und ein weiteres, gemeinschaftlicheres Festmahl vorbereitet werden, und die Feierlichkeiten würden bis in den nächsten Tag hinein andauern. Die Sommerfestwoche hatte begonnen. Es war das bedeutendste Ereignis im Kalender Saramyrs: der Abschied vom Sommer, das Fest der Ernte. Da die Menschen ihr Alter statt nach dem Tag ihrer Geburt nach der Anzahl der Ernten maßen, die sie durchlebt hatten, wurde nun jeder ein Jahr älter. Am letzten Tag der Sommerfestwoche würde die Jahreszeit mit einem großen Ritual verabschiedet, und beim nächsten Tagesanbruch würde der Herbst beginnen. Am Vormittag war auf dem Talboden von drei Priestern verschiedener Orden eine Zeremonie für den gesamten Ort abgehalten worden. Die Glaubensangehörigkeit spielte ohnehin keine Rolle, da in der Sommerfestwoche sowohl den Göttern als auch den Geistern gedankt wurde. Der Großteil der Zeremonie war ein Ausdruck der Dankbarkeit für die Schönheit der Natur. Das 191 Volk von Saramyr hatte ein besonders nahes Verhältnis zu seinem Land, und es hatte nie das Bewusstsein dafür verloren, wie herrlich der Kontinent war. Jeder nahm daran Teil, denn obschon die meisten Saramyrrer ihre Göttertreue je nach Bedarf wählten und nur dann beteten oder Tempel besuchten, wenn ihr Gewissen es verlangte, gab es bestimmte Tage, an denen selbst die Ungläubigsten nicht fernzubleiben wagten. Und wenngleich es ein wenig wie bitterer Spott anmutete, die Ernte in diesem bestimmten Jahr zu bejubeln, tat dies der freudigen Erregung keinen Abbruch. Das Mittagsfestmahl galt ebenso als Tradition wie die vormittäglichen Rituale, doch die Gerichte unterschieden
sich je nach Gebiet sehr. Die unternehmensfreudigen Händler, die den Schoß versorgten, waren schwer gefordert gewesen, um die zahlreichen und mannigfaltigen Bestellungen der vergangenen Wochen zu erfüllen -und verlangten entsprechende Preise. Gazelechsen aus der Tchom-Rin-Wüste, Lapinth aus den Neuländern, Wendelfisch aus dem Xemit-See, Schattenbeeren, Kokomach und Sonnenwurz, Weine, Schnäpse und exotische Getränke: Eine Mahlzeit im Jahr musste für jeden vollkommen sein, und das war sie. Die meisten Menschen fanden sich in Gruppen mit der Familie und Freunden ein, wobei das Vorrecht der Zubereitung des Mahls an den jeweils besten Koch ging. Danach wurden kleine Geschenke ausgetauscht, Gelübde zwischen Paaren erneuert, Versprechen zwischen Familien abgegeben. Nun war der Talboden ein Gewirr regen Treibens, als Tische, Zelte und Matten für das gewaltige Fest aufgestellt und ausgelegt wurden, das nach Einbruch der Dunkelheit stattfinden würde. Freudenfeuer wurden vorbereitet, Wimpel aufgehängt und eine Bühne errichtet. Doch entlang des Talrands waren die Wachen verdop192 pelt worden, die nach draußen über den Bruch schauten, denn die Menschen im Schoß wussten, dass sie selbst jetzt auf der Hut bleiben mussten. Kaiku spazierte mit Lucia durch die betriebsamen, trockenen Trampelpfade entlang eines der höher gelegenen Felsvorsprünge, auf denen der Ort erbaut war. Hier oben war es ein wenig stiller, und die Straßen waren nicht so verstopft, dass man sich kaum bewegen konnte. An einigen vorübergehend aufgestellten Ständen wurden Andenken und Bänder oder heiße Nüsse angeboten, und gelegentlich umlagerten sie Gruppen singender Feiernder; aber die meisten Menschen, denen Kaiku und Lucia begegneten, kamen entweder vom großen Gedränge auf den unteren Ebenen des Talhangs herauf oder begaben sich hinab. Die beiden schlenderten müßig vor sich hin und hingen der Erinnerung an das vortreffliche Mahl nach, das ihnen von Zaelis aufgetischt worden war, der sich als erstaunlich fähiger Koch entpuppt hatte. Sie hatten gemeinsam mit Yugi und einem Dutzend anderer gefeiert. Cailin war weit und breit nicht zu finden gewesen, auch Saran und Tsata trieben sich andernorts herum und waren seit dem Tag ihrer Ankunft nicht mehr gesehen worden. Man vermisste sie nicht sonderlich, wenngleich Kaiku sich ab und an dabei ertappte, dass sie in der Erwartung zur Tür spähte, den großen, ernsten Mann aus Quaraal dort zu sehen. Sie vermutete, dass er und sein Tkiurathi-Gefährte die Sommerfestwoche nicht feierten. Beim Festmahl hatte Herzlichkeit geherrscht, und alle Sorgen waren in der unbeschwerten Heiterkeit vergessen worden. Kaiku wollte sich dieses Gefühl bewahren; deshalb hatte sie sich mit Lucia davongestohlen, bevor die Unterhaltung sich schwerwiegenderen Belangen zuwenden konnte. Später würde Lucia zweifellos zu 193 gleichaltrigen Freunden und Freundinnen stoßen -trotz ihres stillen Wesens besaß sie eine Anziehungskraft, ob der sie bei den anderen jungen Schoßbewohnern überaus beliebt war; vorerst aber gab sie eine wunderbare Gesellschaft für Kaiku ab, die nachdenklicher und höchst gefühlsbetonter Stimmung war. Ein so kostbares junges Mädchen. Kaiku konnte sich gar nicht vorstellen, was sie getan hätte, wenn ... wenn ... Lucia wurde ihres liebevollen Blickes gewahr und lächelte. »Hör auf, dir Sorgen zu machen«, mahnte sie. »Ich bin bloß ohnmächtig geworden.« »Du warst zwei Tage lang ohnmächtig«, gab Kaiku zurück. »Beim Blut des Herzens, zwei Tage!« Als Kaiku von Lucias sonderbarem Erlebnis mit den Flussgeistern erfahren hatte, war sie außer sich vor Sorge gewesen. Sie hatte sich nur beruhigt, weil Lucia mittlerweile vollständig genesen schien. Kaiku wagte nicht, sich auszumalen, welche schlimmeren Folgen Lucias Vordringen in unbekannte Gefilde hätte bewirken können. Sie dankte den Göttern, dass sie nun offenbar wieder in Ordnung war. »Es war nur etwas Schlimmes«, meinte Lucia, ohne das geringste Licht darauf zu werfen, was sie durchlitten hatte. »Etwas ist auf dem Fluss geschehen. Die Geister mochten es nicht. Sie haben mich erschreckt.« »Ich möchte nur, dass du vorsichtig bist«, erklärte Kaiku. »Du bist noch jung. Du hast noch reichlich Zeit zu lernen, was du kannst und was nicht.« »Ich werde heute vierzehn Ernten alt!«, begehrte Lucia spielerisch auf. »So jung bin ich gar nicht mehr.« Sie gelangten an eine Holzbrücke, die sich zwischen zwei Felsvorsprüngen und über die Dächer auf der Ebene darunter spannte. Dort hielten sie inne, stützten die Arme auf die Brüstung und schauten in das Tal hinab. Das gesamte planlose Gewirr des Schoßes breitete 194 sich unter ihnen aus, und die ausgelassenen Klänge des Frohsinns trieben zu ihnen empor. Ein paar Feiernde auf den Dächern sahen sie und winkten. Auf all das blickte Nukis Auge aus einem wolkenlosen Himmel herab, der keinerlei Anzeichen auf ein Ende des Sommers erkennen ließ. »Du machst dir immer noch Sorgen«, stellte Lucia fest und bedachte ihre Freundin mit einem Seitenblick. Sie war geradezu gespenstisch feinfühlig, weshalb es keinen Sinn hatte, die Wahrheit vor ihr zu verbergen. »Was Zaelis gesagt hat, bereitet mir Sorgen«, erklärte Kaiku. Lucias Frohsinn schien ein wenig zu verblassen. Sie wussten beide, worauf Kaiku anspielte. Beim Festmahl hatte Zaelis einen Trinkspruch auf Lucias Genesung ausgebracht und sie gefragt, wann sie bereit wäre, wieder Verbindung mit den Geistern aufzunehmen. Statt Lucia hatte ein wenig verärgert Kaiku geantwortet und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass Lucia kein Werkzeug sei, das man schärfe, bis es nützlich sei, um gegen einen Feind eingesetzt zu werden. Sie hatte bereits eine unbekannte, seelische Erschütterung erlitten, die nicht einmal
sie selbst verstand; Kaiku hatte Zaelis dafür gescholten, auch nur daran zu denken, sie noch weiter zu treiben. Der Vorfall hatte einen vorübergehenden Schatten auf die Mittagsgesellschaft geworfen; doch dann hatte Yugi die Lage mit einer wohl überlegten, unbeschwerten Äußerung entschärft, und sowohl Kaiku als auch Zaelis hatten es dabei bewenden lassen. Im Nachhinein betrachtet, fand Kaiku, dass sie sich überfürsorglich verhalten hatte, nicht zuletzt ob ihrer Verärgerung darüber, dass sie erst nach der Versammlung von Lucias Qualen erfahren hatte. Dennoch nagte die Erinnerung unablässig an ihr. 195 »Hör nicht auf ihn«, riet sie Lucia. »Ich weiß, dass er wie ein Vater für dich ist, aber du allein kennst deine Fähigkeiten, Lucia. Und nur du weißt, was du bereit bist zu wagen.« Lucias fahlblaue Augen blickten in weite Ferne. Mittlerweile war sie nicht mehr viel kleiner als Kaiku. Als Kaikus Blick über die Brandnarben an ihrem Nacken wanderte, verspürte sie den vertrauten Anflug von Schuldgefühlen. Brandnarben, die Kaiku ihr beschert hatte. Sie wünschte, Lucia trüge sie weniger offen zur Schau. »Wir müssen es wissen«, meinte Lucia leise. »Wir müssen erfahren, was auf dem Fluss geschehen ist.« »Das ist nicht wahr«, widersprach Kaiku in scharfem Tonfall. »Beim Blut des Herzens, Lucia! Du weißt so gut wie jeder andere, dass mit den Geistern nicht zu spaßen ist. Nichts ist es wert, deine Gesundheit so aufs Spiel zu setzen. Fang mit kleinen Schritten an, wenn es schon sein muss. Arbeite dich langsam vor.« Kurz setzte sie ab, dann fügte sie hinzu: »Zaelis entsendet Spitzel, um Nachforschungen anzustellen. Lass sie einfach ihre Arbeit tun.« »Vielleicht haben wir dafür nicht mehr genug Zeit«, meinte Lucia schlicht. »Sind das Zaelis' Worte oder deine?« Lucia schwieg. Kaiku spürte zwar, wie ihre Laune sich etwas verdüsterte, dennoch wollte sie es nicht dabei bewenden lassen. Um dem Geist des festlichen Anlasses gerecht zu werden, versuchte sie zumindest, die Strenge aus ihrer Stimme zu verbannen. »Lucia«, begann sie leise. »Ich weiß, welche Verantwortung auf dir lastet. Aber selbst der stärkste Rücken beugt sich unter dem Gewicht von Erwartungen. Lass dich von niemandem drängen. Nicht einmal von Zaelis.« 196 Mit verträumter Miene drehte Lucia sich zu Kaiku um. Obwohl sie geistesabwesend wirkte, hatte sie es gehört. Ein Teil von ihr lauschte stets dem Wind und den Raben, die sie von den Dächern aus beobachteten. »Erinnerst du dich daran, wie Mishani dich in den Dachgärten der Kaiserlichen Feste besuchen kam und jenes Nachtgewand für dich dabei hatte?«, fragte Kaiku. Lucia nickte. »Was hast du damals gedacht? Als sie es dir anbot?« »Ich dachte, es würde mich töten«, erwiderte Lucia unverhohlen. »Hättest du es angenommen?«, wollte Kaiku wissen. »Hättest du es getragen, obwohl du gewusst hast, was es war?« Langsam wandte Lucia sich ab und schaute wieder auf den Ort hinab. Eine Horde Betrunkener wankte geräuschvoll über die Brücke hinter ihnen und grölte zweideutige Lieder. Kaiku zuckte verärgert zusammen. Schweigen breitete sich zwischen den beiden aus. »Lucia, du bist niemandes Opfer«, ergriff Kaiku mit nunmehr sanfter Stimme das Wort. »Du bist zu selbstlos, zu duldsam. Du bist in diesem Spiel kein Bauer, begreifst du das nicht? Wenn du das jetzt nicht lernst, was wird dann aus dir in den bevorstehenden Jahren, wenn die Menschen mit noch größerer Hoffnung in den Augen zu dir aufschauen?« Kaiku seufzte, legte einen Arm um Lucias zierliche Schultern und drückte sie liebevoll an sich. »Du bist für mich wie eine Schwester. Also ist es meine Pflicht, mir Sorgen um dich zu machen.« Ein Grinsen schlich sich in Lucias Mundwinkel, und sie erwiderte die Umarmung inniglich. »Ich will's versuchen«, meinte sie. »Mehr wie du zu sein.« Das Grinsen 197 breitete sich zu voller Blüte aus. »Ein großer, dickköpfiger Nimmerstill.« Kaikujapste vor geheuchelter Ungläubigkeit und löste sich aus der Umarmung. »Kleines Ungeheuer!«, rief sie, und Lucia flüchtete lachend, während Kaiku sie über die Brücke und die Straße hinaufjagte. Die Nacht brach über den Xarana-Bruch herein. Feuer waren entfacht, Laternen angezündet worden und bildeten warme Lichtgebilde. Im Umkreis der Feierlichkeiten herrschte drückend schwüle Finsternis, innerhalb des Lichterscheins hingegen fröhliche Ausgelassenheit. Das gemeinschaftliche Festmahl war in vollem Gange. Viele Leute hatten den Tisch bereits verlassen, um Platz für andere zu schaffen und sich die Schauspieler auf der Bühne anzusehen oder zu den Klängen der bunt zusammengewürfelten Kapelle zu tanzen, die alte Volksweisen zum Besten gab. Das unterschiedliche Können der sechs Musikanten sorgte für einen etwas derben Gesamteindruck, denn sie spielten laut, ungeschliffen und aus dem Bauch heraus. Das tiefe, summende Dröhnen der dreisaitigen Miriki stand in krassem Gegensatz zum klaren, hellen Klimpern der Reetharfe und der doppelläufigen Klagetöne der beiden Tauhörner. Den Takt gab ein dunkelhäutiger Mann mit seiner Tierfelltrommel vor. Über allem stach das Spiel der Begabtesten der Gruppe heraus, einer Frau, die vor dem letzten Umsturz eine Gesellschaftsdame bei der Kaiserlichen Familie gewesen war. Sie spielte die Irira, ein siebensaitiges Instrument aus Leder, Knochen und Holz, das schwingende, zarte Laute der Sehnsucht
hervorbrachte, und ihre leidenschaftlich süße Berührung der Saiten brachte die Luft regelrecht zum Flimmern. 198 Kaiku tanzte mit von Wein, Hitze und Gelächter geröteten Wangen einen Bauerntanz mit den jungen Männern und Frauen des Schoßes. Er war zwar wesentlich ungestümer und weniger elegant als höfische Tänze, dafür bereitete er viel mehr Spaß. Sie drehte sich und wirbelte von den Armen eines Mannes in die des nächsten, dann sah sie sich plötzlich einem ausgebürtigen Jungen gegenüber, dessen Haut feuchtkalt wie toter Fisch war und dessen vorquellende Augen sie blind anstarrten. Nach einem Lidschlag der Überraschung führte sie ihn durch die wilden Bewegungen, bis jemand anders seine Hand ergriff und sie getrennt wurden. Fröhlich und betrunken ließ sie sich von der Musik mitreißen, und ihre Sorgen gerieten im Wogen und Wirbeln des Tanzes vorübergehend in Vergessenheit. Das Lied endete unvermittelt, als sie gerade von einem Tänzer zum nächsten weitergereicht wurde. Überrascht sah sie Yugi vor sich, als die Feiernden in der erwartungsvollen Stille zwischen den Weisen verschnauften. Beide atmeten ob des Herumhopsens heftig und tauschten ein bedauerndes Grinsen. »Ich komme mal wieder gerade richtig«, meinte er. Seine Augen leuchteten, seine Pupillen waren riesig. »Erweist du mir die Ehre?« Damit streckte er die Hand aus und lud sie ein, mit ihm den nächsten Tanz zu bestreiten. Aber Kaiku hatte eine Gestalt erspäht, die sie vom Rand des Laternenscheins aus beobachtete und an einem der Holzpfähle lehnte, an denen Banner angebracht waren. »Entschuldige, Yugi«, sagte sie und küsste ihn auf die bartstoppelige Wange. »Ich muss mich mit jemandem unterhalten.« Damit ließ sie ihn zurück. Hinter ihr setzte die Musik 199 wieder ein, und er wurde von einem hübschen Neuländer-Mädchen gepackt, mit dem er sich in den Tanz stürzte. Kaiku entfernte sich von dem Lärm und der Wärme und begab sich in die lauernde Düsternis, wo Saran wartete. »Tanzt du?«, fragte sie und drehte sich dabei einladend. »Bedauerlicherweise nicht«, antwortete er. »Ich glaube, wir Quaraaler haben keine so lockeren Gelenke wie ihr.« Kaiku brauchte kurz, um zu begreifen, dass es ein Witz war, zumal er ihn in staubtrockenem Tonfall dargebracht hatte. »Wo bist du gewesen?«, wollte sie wissen. Kaiku wankte leicht, aber die Röte ihrer Wangen und ihr einladendes Gebaren steigerte ihre Verlockung für ihn nur. »Dies ist nicht mein Fest«, antwortete er. Seine Züge lagen in der Finsternis der mondlosen Nacht verborgen. »Nein, ich meine: Wo bist du gewesen?«, beharrte sie. »Die Versammlung liegt Tage zurück. Hast du mich so schnell vergessen? Konntest du dich nicht einmal verabschieden? Bei den Geistern, ich breche übermorgen zu einem Marsch quer durch den Bruch auf!« »Ich weiß«, sagte er. »Tsata kommt mit euch.« »Tatsächlich?«, fragte Kaiku. Das war ihr neu. »Und was ist mit dir?« »Ich habe mich noch nicht entschieden.« Eine lange Weile schwieg er. »Ich dachte, die Dinge zwischen uns wären irgendwie schwierig«, erklärte er schließlich. »Deshalb habe ich mich fern gehalten.« Kaiku betrachtete ihn kurz, dann streckte sie die Hand aus. »Spazier ein Stück mit mir«, forderte sie ihn auf. Saran zögerte und musterte sie eingehend; dann 200 ergriff er die Hand. Sanft zog Kaiku ihn von dem Pfahl weg, an dem er gelehnt hatte. Sie bahnten sich einen Weg um die Feiernden herum und hielten auf den Ort zu. Zu ihrer Linken glich das Tal einer dunklen Leere; der hellere Nachthimmel, der es umgab, kennzeichnete nur die Ränder. Rechts herrschten Feuerschein, Gelächter und ausgelassenes Feiern. Die beiden schlenderten durch das Niemandsland dazwischen, wo eine Seite auf die andere traf und mit ihr verschmolz, jedoch keine die Vorherrschaft erringen konnte. »Ein Teil von mir ...«, setzte Kaiku an, hielt inne, und begann erneut. »Ein Teil von mir ist froh, dass ich aufbreche. Ich glaube, ich war zu lange untätig. Zwar habe ich der Libera Dramach auf meine bescheidene Weise im Lauf der Jahre immer wieder geholfen, aber diese winzigen, kaum spürbaren Fortschritte befriedigen mich nicht.« Sie schaute zu Saran auf. »Und ebenso wenig befriedigen sie Ocha.« »Die Götter sind geduldig, Kaiku«, meinte Saran. »Begeh nicht den Fehler, die Weber zu unterschätzen. Du hattest schon einmal großes Glück. Die meisten Menschen erhalten keine zweite Gelegenheit.« »Höre ich da Sorge in deiner Stimme?«, neckte Kaiku ihn. Saran ließ ihre Hand los und zuckte mit den Schultern. »Wieso sollte dir etwas daran liegen, ob ich mir Sorgen mache?« Kaikus vergnügte Miene verdüsterte sich ein wenig. »Tut mir Leid. Ich wollte mich nicht über dich lustig machen.« Sie hatte vergessen, wie empfindlich sein Stolz war. Sie spazierten ein Stück weiter. »Es ist die Maske, die ich fürchte«, offenbarte sie. »Es ist fünf Jahre her, seit ich sie zuletzt getragen habe, aber sie ruft mich noch immer.« Plötzlich schauderte Kaiku. 201 »Wenn wir durch die Irreführungsschranke der Weber gelangen wollen, muss ich sie wieder aufsetzen.« »Dir ist kalt«, meinte Saran, nahm seinen Umhang ab und schlang ihn ihr um die Schultern. Es stimmte zwar
nicht, trotzdem ließ Kaiku es zu, und als er die Schnalle unter ihrer Kehle schloss, legte sie die Hand auf die seine. Kurz hielt er inne, ließ die Berührung andauern, ehe er sich wieder zurückzog. »Warum lasst ihr die Schranke nicht von einer Schwester aufheben?«, fragte er. »Warum brauchen sie dich dafür?« »Cailin will das Wagnis nicht eingehen, dass eine vollwertige Schwester entdeckt werden könnte«, erklärte Kaiku. »Und es wäre gefährlich, jemand anderen die Maske verwenden zu lassen. Die Weber wissen nichts vom Roten Orden, und Cailin möchte, dass es so bleibt. Die Maske ist ein Werkzeug der Weber, deshalb sollte sie keine Fallen auslösen, wenn sie die Schranke durchschreitet.« »Aber ihr habt keine Ahnung, ob die Maske diesmal überhaupt wirken wird«, gab Saran zu bedenken. »Vielleicht wurde sie so geschaffen, dass sie sich nur für das Kloster auf Fo eignet.« Kaiku setzte eine schicksalsergebene Miene auf. »Ich muss es versuchen«, meinte sie. Saran schob das seidige, schwarze Haar hinters Ohr zurück. Kaiku beobachtete ihn mit einem Seitenblick, betrachtete die Formen seiner Gestalt unter dem strengen Schnitt seiner Kleider. Eine Stimme der Vorsicht warnte sie vor dem, was sie vorhatte, doch sie schenkte ihr keine Beachtung. Die angenehme Schwere des Weins, den sie getrunken hatte, verankerte ihre Gedanken entschlossen in der Gegenwart. Saran ertappte sie, und Kaikus Hast, den Blick abzuwenden, war ein wenig zu offensichtlich. 202 »Warum begleitet uns Tsata?«, fragte sie, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen. Als ihr klar wurde, dass sie es tatsächlich wissen wollte, fügte sie hinzu: »Was ist er für dich?« Eine Weile schwieg Saran nachdenklich. Kaiku wusste nie so recht, ob er in diesen Pausen lediglich seine Worte abwog oder ob er sie bewusst setzte, um eine dramatische oder würdevolle Wirkung zu erzielen. Bei Saran konnte man das nie so genau sagen, und bisweilen fand Kaiku sein Gebaren reichlich gekünstelt. »Gar nichts«, antwortete Saran schließlich. »Nicht mehr als ein Gefährte. Ich habe ihn in Okhamba kennen gelernt, und er hat mich aus seinen eigenen Gründen ins Herz des Kontinents begleitet. Ich weiß nicht, weshalb er darum ersucht hat, mit euch durch den Bruch zu marschieren, aber ich kann mich für seine Ehrenhaftigkeit verbürgen. Von all den Menschen, die auf meinen Reisen durch die Nahe Welt an meiner Seite waren, würde ich keinem bereitwilliger mein Leben anvertrauen.« Mittlerweile hatten sie den Rand des Dorfes erreicht, wo es auf den Talboden herabreichte. Die untersten Stufen bildeten einen natürlichen Schutzwall, in den Aufzüge eingebaut und vergitterte Treppen gehauen worden waren. In Kriegszeiten wurden die Tore verriegelt und die Aufzüge hochgezogen, damit keine Feinde hineingelangen konnten. Sie bahnten sich den Weg empor über die weniger häufig genutzten Pfade. Laternen zauberten Lichtinseln in die Dunkelheit. Unterwegs kamen sie an küssenden, singenden oder raufenden Bewohnern des Schoßes vorbei, und einmal liefen sie beinahe in eine Parade hinein, der sich Hunderte Menschen angeschlossen hatten. Irgendwann ergriff Kaiku wieder Sarans Hand. Sie ver203 meinte, ein leichtes Zittern seinerseits zu spüren und lächelte bei sich. »Hast du Zweifel?«, fragte sie. »Über das, was du herausgefunden hast?« »Über den vierten Mond? Nein«, gab Saran zurück. »Und nachdem ich die Beweise mittlerweile vorgelegt und die Schwestern sie geprüft haben, ist auch Zaelis überzeugt. Anfangs dachte ich, die Vorstellung könnte womöglich zu fremdartig anmuten, als dass die Menschen hier sich damit abfinden würden; schließlich seid ihr das einzige Volk der Nahen Welt, das immer noch den Mondschwestern huldigt.« Auf sonderbar damenhafte Weise wischte er sich eine Strähne aus der Stirn. »Aber wie es scheint, habe ich mich geirrt. Allein in den letzten tausend Jahren wurden andere Götter vergessen und verloren sich im Altertum; da ist es nur allzu verständlich, dass ihr nichts von einem Gott wusstet, der gestorben ist, bevor Eure Kultur überhaupt begründet wurde.« »Vielleicht ist er nicht gestorben«, murmelte Kaiku. »Vielleicht besteht eben darin das Problem.« Saran brummte fragend. »Es ist nichts«, sagte Kaiku. »Es ist nur... Ich habe bei all dem ein ungutes Gefühl. Ich wurde von einem der Kinder der Mondschwestern berührt; hast du das gewusst? Jedenfalls mittelbar. Eigentlich haben sie Lucia geholfen.« »Ich weiß«, meinte Saran. »Diese Sache mit Aricarat, bereitet mir ... Unbehagen.« Sie konnte es nicht besser in Worte fassen, doch so oft sie an den Namen dachte, empfand sie eine leichte Übelkeit, eine Beklommenheit gleich dem warnenden Grollen der Erde vor einem Beben. Würde sie es auch spüren, wenn sie nicht einst von der unergründlichen 204 Erhabenheit jener Geister berührt worden wäre? Sie war nicht sicher. »Aber es ist mehr als das«, fuhr sie fort. »Mein Freund Tane starb bei dem Versuch, jenes Leben zu führen, das seine Göttin Enyu ihm seiner Ansicht nach vorherbestimmt hatte. Das gleiche Schicksal hätte mich um Ochas Willen beinahe selbst ereilt, und bald breche ich auf, um wieder dasselbe zu wagen. Für Lucia haben die Kinder der Mondschwestern höchstpersönlich eingegriffen. Und jetzt kommst du und erzählst uns, dass die Quelle der Macht der Weber, der wahre Grund für das Elend des Landes die Überreste eines weiteren, vergessenen Mondes ist?« Bevor sie fortfuhr, schlug sie unbewusst das Zeichen gegen Gotteslästerung. »Allmählich beginne ich zu
glauben, dass ich in ein Spiel der Götter gestolpert bin; dass wir Teil eines Streites sind, den wir nicht sehen können. Und dass wir in den Augen des Goldenen Reiches alle entbehrlich sind.« Darüber dachte Saran eine Weile nach. »Ich glaube, du schreibst deinen Göttern zu viel zu, Kaiku«, meinte er schließlich. »Manche Menschen verwechseln den eigenen Mut mit dem Willen ihrer Gottheiten, andere ziehen ihren Glauben als Entschuldigung dafür heran, Böses zu tun. Sei vorsichtig, Kaiku. Was dein Herz dir rät und was deine Götter dir sagen, könnte eines Tages in Widerspruch zueinander stehen.« Kaiku zeigte sich unverhohlen überrascht, solche Worte von einem Quaraaler zu hören, denn im Allgemeinen waren Quaraaler durch die Erziehung unter der Priesterherrschaft von strengster Frömmigkeit. Sie wollte etwas darauf erwidern, aber dann stellte sie plötzlich fest, dass sie sich vor der Tür des Hauses befanden, das sie gemeinsam mit Mishani bewohnte. Es stand auf einer der mittleren Ebenen des Schoßes, ein kleines und 205 unscheinbares Heim. Rankengewächse und ein paar Topfpflanzen verbargen die etwas rauen Ränder der Bauweise. Da es inmitten des planlosen Gewirrs ringsum schier unmöglich war, die elegante Schlichtheit der Gebäude nachzuahmen, in denen sie aufgewachsen waren, hatten sie beschlossen, es zu verzieren, so gut es ging. Außen wie innen war alles Mishanis Werk, denn Kaiku war ein hoffnungsloser Fall, was die Kunst des Schmückens anging; es war eine höchst weibliche Kunst, und Kaiku war in ihrer Jugend zu beschäftigt damit gewesen, sich mit ihrem Bruder zu messen, um sie zu erlernen. Ein Augenblick gemeinsamen Verlangens entstand, als Kaiku und Saran einander ansahen und keiner wirklich erwog, sich vom anderen zu verabschieden; als beide fürchteten, eine Annäherung könnte abgewiesen werden, wenngleich all ihre Sinne ihnen das Gegenteil einredeten. Dann öffnete Kaiku die Tür, und sie gingen beide hinein. Die Schwelle, die sie überquerten, war nicht nur jene der Tür. Kaiku hatte sie kaum hinter sich geschlossen, als Saran sie bereits küsste, und sie mit gleicher Leidenschaft antwortete. Ihre Hände waren auf seinen Wangen, in seinem Haar, und als ihre Zungen sich berührten und einander umspielten, durchströmte eine wollüstige Wärme ihren Körper. Er drückte sie gegen die Wand, ihre Lippen pressten sich immer wieder aufeinander, und die heißen Atemstöße dazwischen waren die einzigen Laute der beiden. Kaiku schmiegte die Lenden an ihn und spürte mit lüsternem Vergnügen die Ausbuchtung an den seinen. Mittlerweile war die Stimme der Vorsicht in den hintersten Winkel ihres Verstands verdrängt, und was geschehen würde, war nicht mehr aufzuhalten. Ihre Hände machten sich bereits an seiner eng anliegenden Jacke zu schaffen, kämpften mit den quaraa206 lischen Schnallen. Sie lachte über die eigene Ungeschicktheit; bei den letzten paar Verschlüssen musste er ihr helfen, ehe er die Jacke abstreifte und den nackten Oberkörper darunter entblößte. Kaiku schob ihn ein Stück zurück, um zu sehen, was sie freigelegt hatte. Er war drahtig und muskelbepackt wie ein Athlet. Sie ließ die Hände über die Hügellandschaft seiner Bauchmuskeln wandern; er schauderte vor Wollust. Kaiku lächelte und schmiegte sich an ihn, um seinen Nacken und seine Schulter mit feuchten, zärtlichen Küssen zu bedecken. Er vergrub die Lippen in ihren Haaren, kaute an ihrem Ohrläppchen. Kaiku steuerte sie zu einem langen Sofa, ließ sich darauf fallen und zog ihn auf sich. Die Nacht war undurchdringlich und voller Schatten, denn im Raum waren keine Laternen angezündet. Die Läden waren geschlossen und dämpften den Lärm der Feiernden draußen. Abermals küssten sie sich, schmiegten sich aneinander, und ihre Hände strichen über die Wirbel seines Rückens hinab. Mit geübter Handbewegung streifte er ihr die Bluse ab, warf sie zerknüllt beiseite; dann befreite er sie ohne Pause von ihrem Unterhemd, was Kaiku ein wenig enttäuschte. In seiner Leidenschaft wurde er überhastig, und sie mochte das Liebesspiel langsam und sinnlich. Da sie ihn nicht unterbrechen wollte - denn seine Hände wanderten bereits auf ihre Hüfte zu -, kippte sie ihn behutsam vom Sofa auf den Boden und rollte hinterher, so dass sie oben zu liegen kam. Rittlings auf ihm kauernd, küsste sie seine Wangen und seine Stirn, während er sich hochbeugte, ihre Brust in eine Hand nahm und die Lippen um den Nippel schloss. Die heiße, feuchte Berührung seiner Zunge sandte zarte Schauder der Verzückung durch sie hindurch. Kaiku 207 fasste hinter sich und begann, mit dem Handballen durch den Stoff seiner Hose die Wölbung darunter zu massieren. Sein Atem ging flach und heftig, und wenngleich sie es einerseits schmeichelhaft fand, dass sie einen so ruhigen und gefassten Mann in einen derartigen Sinnestaumel zu versetzen vermochte, fürchtete sie andererseits, sie könnte ihn zu Übereifer anspornen. Geräuschvoll sog sie durch die Zähne den Atem ein, als er sie so heftig in den Nippel biss, dass es schmerzte. Plötzlich verlagerte er das Gewicht und drehte sie herum, so dass er oben war, und sie sah, dass seine Züge gerötet, angespannt und hässlich geworden waren. Ihre Leidenschaft kühlte ab, wurde von etwas Unangenehmen erstickt, das sie in seinen Augen sah, einem tiergleichen Verlangen, das über die Vereinigung von Mann und Frau hinausging. »Saran...«, setzte sie an, ohne zu wissen, was sie eigentlich sagen wollte. Sollte sie es in der Hoffnung erdulden, dass es sich nur um einen flüchtigen Augenblick handelte, oder sollte sie ihn enttäuschen und es beenden? Sie fürchtete sich davor, wie er sich in letzterem Fall verhalten würde. Kaiku wollte ihn nicht verletzen, aber sie würde es tun, wenn es sein musste.
Er brachte sie mit einem heftigen, ungestümen Kuss zum Schweigen, der ob seiner Wildheit auf den Lippen schmerzte; und unvermittelt wandelte der Kuss sich von Leidenschaft zu etwas anderem. Fressen. Ihr Kana entfaltete sich gleich einem Nest aufgescheuchter Schlangen, brach aus ihren Lenden, ihrem Leib hervor und schnellte durch sie hindurch, bevor sie so recht mitbekam, was geschah. Kurz spürte sie, wie etwas in ihr sich zu lösen versuchte, so als würden ihre Organe aus ihren Verankerungen gerissen und durch 208 ihren Mund in jenen Sarans gezerrt; dann gleißte ein weißer Blitz auf, und Saran wurde quer durch den Raum geschleudert, krachte an die gegenüberliegende Wand und sank zu einem schlaffen Haufen zusammen. Es war genau wie beim letzten Mal. Sie hatte diesen Hunger schon einmal gespürt. »Nein ...«, murmelte sie mit Tränen in den Augen, als sie aufstand. Sie hatte die Bluse aufgehoben und hielt sie nun schützend vor ihre Brüste. Die Strähne fiel ihr ins Gesicht. »Nein, nein, nein.« Sie wimmerte die Worte wie ein Mantra, als könnte sie das Ausmaß des Verrats, den sie empfand, dadurch verleugnen. Mit schmerzverzerrten Zügen rappelte Saran sich auf die Beine. »Kaiku ...«, setzte er an. »Nein, nein, NEIN!«, brüllte sie, und nun rollten die Tränen über ihre Wangen. Ihre Unterlippe zitterte. »Bist du es? Bist du es tatsächlich?« Saran schwieg. Stattdessen schüttelte er leicht den Kopf, nicht um zu verneinen, sondern gleichsam als flehentliche Bitte, die Frage nicht zu stellen. »Asara?«, flüsterte sie. Seine Miene zog sich qualvoll zusammen. Mehr brauchte Kaiku als Antwort nicht. Mit aufgelösten Zügen sank sie auf die Knie und begann bitterlich zu weinen. »Wie konntest du nur?«, schluchzte sie. Dann flammte unvermittelt Zorn in ihr auf, und sie kreischte: » Wie konntest du nur?« Sein Blick wirkte gekränkt, aber es waren Asaras Augen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ihm fehlten die Worte. Er hob die Jacke auf, ging hinaus in die warme Nacht und ließ Kaiku weinend auf dem Boden im Zimmer zurück. 209 DREIZEHN Das Morgengrauen hielt Einzug im Xarana-Bruch, ein trostloses, mattes Licht, das eine Wolkendecke dämpfte, die den östlichen Horizont heimsuchte. In den Schluchten des Schoßes kräuselte sich Nebel; schleichend kroch er durch die Furchen und Gruben des Tals. Im Dorf herrschte gespenstische Stille, und keine Menschenseele wandelte über die krummen Straßen, abgesehen von einem Wachmann in knarrender Lederrüstung. In der Nacht war ausgelassen gefeiert worden, nun schliefen und erholten die Menschen sich und würden noch eine ganze Weile in den Betten bleiben. Aber es gab einige, deren Aufgabe selbst in der Sommerfestwoche keinen Aufschub duldete. Sie hatten sich auf der obersten Ebene des Ortes versammelt, wo am westlichen Ende des Tals eine steile Felswand aufragte. Darin befanden sich Höhlen, die von denselben längst ausgetrockneten Wasserläufen geschaffen worden waren, durch die auch die Ebenen und Felsvorsprünge unter ihnen entstanden waren. Rings um die Höhleneingänge waren Segenssprüche und Zeichen eingeritzt worden, und an mehreren Stellen gab es kleine Nischen, die als Schreine dienten. Sogar jetzt noch erreichte sie schwach der Moschusduft von glimmenden Kamanüssen und Weihrauch, den Überresten der Opfergaben des Vortags. Kleine, aufgehängte Talismane klimperten und klirrten. Kaiku saß mit blassen Zügen und dunklen Ringen unter den Augen von der schlaflosen Nacht im Gras und 210 schaute mit verkniffener Miene über das Tal Richtung Osten. Ihre drei Gefährten hinter ihr nahm sie nur am Rande wahr. Sie zurrten die Gurte ihrer Rucksäcke fest, luden ihre Büchsen und murmelten dabei leise, als wollten sie die Stille des Morgengrauens nicht stören: Tsata, Yugi und Nomoru, die sauertöpfische Kundschafterin, deren Bericht den Anstoß für diese Erkundungsreise gegeben hatte. Heute brachen sie auf, um den Bruch der Länge nach zum westlichen Ende zu durchqueren, wo der Zan ihn durchschnitt. Dort sollten sie die Ungewöhnlichkeit in Augenschein nehmen, die Nomoru entdeckt hatte, und wieder nach den Webern suchen. Eigentlich hätte Kaiku mehr empfinden müssen. Nachdem sie so lange vor Ungeduld gebrannt hatte, sollte die Aussicht darauf, den Webern zu begegnen - den Mördern ihrer Familie, die zu bekämpfen sie einen Eid geschworen hatte -, etwas in ihr entfachen. Wenn schon keine Erregung, dann zumindest Furcht oder Beklommenheit. Doch stattdessen fühlte ihr Herz sich tot in der Brust an wie der Ascheklumpen eines erloschenen Feuers. Sie brachte nicht einmal so viel Elan auf, sich daran zu stören. Wie hatte sie bei Saran so blind gewesen sein können? Weshalb hatte sie den Quell ihrer Hingezogenheit zu ihm nicht erkannt? Bei den Göttern, sie hatte dort am Bug von Chiens Schiff gestanden und ihm erzählt, wie Asara sie aus dem Grenzreich des Todes zurückgeholt hatte, wie jene Tat unsichtbare und tief reichende Bande zwischen ihnen geflochten hatte, und die ganze Zeit waren es eben jene Bande gewesen, durch die sie sich zueinander hingezogen fühlten. Die ganze Zeit war es Asara gewesen, mit der sie gesprochen hatte. Bei den Geistern, Kaiku hasste sie. Sie hasste ihre Falschheit, ihre Hinterlist, ihre unerträgliche Selbst-
211 sucht. Sie hasste sie, weil sie Kaiku in dem Glauben gelassen hatte, sie wäre Saran; weil sie Kaiku dazu gebracht hatte, über Asara zu reden, während Asara selbst sie hinter jenen dunklen, quaraalischen Augen beobachtete; und am meisten, weil sie zugelassen hatte, dass Kaiku ihn verführte, ihn in dem Glauben lieben wollte, er wäre ein echter Mensch und nicht bloß eine verfluchte Fälschung. Es spielte keine Rolle, dass sie den Akt nicht vollendet hatten. Der Verrat lag in der Absicht, nicht im Ergebnis, und er war überwältigend. Mittlerweile wusste Kaiku, dass ihre Entscheidung, mit ihm zu schlafen, nicht nur auf purer Lust und dem Verlangen, ihn zu genießen, beruht hatte. Damit hatte sie sich lediglich selbst getäuscht. Sie hatte sich ihm geöffnet, und für sie wäre der Vollzug des Aktes nicht bloß ein Liebesspiel gewesen, sondern die Bestätigung des Gefühls, das sie zwischen ihnen vermutet hatte. Und das sie sich natürlich nicht eingestanden hatte. Sie war nie eine gerechte Richterin der eigenen Empfindungen gewesen. Erst durch die Pein ihres Kummers war ihr klar geworden, wie viel ihr Saran bedeutet hatte, und da war es bereits zu spät. Sie hatte zugelassen, dass sie verwundbar wurde, und wieder war sie dafür in Stücke gehackt worden. Während sie mit grimmiger Miene in die Ferne starrte, gelobte sie sich, dass so etwas nie wieder geschehen würde. »Es ist soweit, Kaiku«, sagte Yugi und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Langsam schaute sie zu ihm auf, schien ihn jedoch kaum wahrzunehmen; dann rappelte sie sich schwerfällig auf die Beine, ergriff ihr Bündel und ihre Büchse und schulterte beides. »Ich bin bereit«, antwortete sie. 212 Sie marschierten durch die Befestigungsanlagen am Rand des Schoßes und brachen Richtung Westen auf. Nukis Auge stieg über die finsteren Wolken auf, um die Schluchten und Täler des Xarana-Bruchs zu wärmen. Eine lange Weile sprach niemand. Nomoru führte sie in enge Klüfte, die verwinkelt in tiefere Gefilde hinab verliefen, wo sie unbeobachtet durch die wilde Landschaft rings um sie gelangen konnten. Den gezackten, schartigen Horizont beherrschten hohe Wände voller Felsgeröll, die vor ihnen, hinter ihnen und zu beiden Seiten aufragten. Sie gerieten außer Nukis Sicht und in die kühlen Schatten. Die Westseite des Schoßes schützte ein Irrgarten aus Hohlwegen und Tunneln, der als >der Knoten< bekannt war. Dieselben Quellen, die von der Zunge des Tals ostwärts geflossen waren und das Gelände, auf dem das Dorf errichtet war, geformt hatten, waren hier vor etlichen Zeitaltern auch westwärts geströmt und hatten sich durch den uralten Fels genagt. Im Verlauf der Zeit unterspülte das Wasser immer wieder wichtige Stützen, oder die Erde wurde von den Beben erschüttert, die den Bruch ab und an heimsuchten, und der Fels darüber stürzte ein und verteilte die Gräben andernorts. Mittlerweile war das Wasser verschwunden, die Pfade aber waren geblieben, ein Gewirr verzweigter Sackgassen, die sich abwärts schlängelten. Es war möglich und wesentlich schneller, oberhalb des Knotens zu marschieren, wo ein kahler Buckel glatten Steins gleich einem Hufeisen um den Westrand des Schoßes verlief; jedoch gab es dort droben keinerlei Deckung, und jeder, der diesen Weg einschlug, war meilenweit zu sehen. Im Bruch setzte man besser auf Verstohlenheit. Als sie aus dem Knoten traten, war die Dämmerung zu einem strahlenden Morgen erblüht. Sie kletterten aus 213 einer engen Spalte auf die Sohle einer Klamm, die sich sanft ansteigend vor ihnen erstreckte. Kaiku hielt den Atem an, als sie den Anblick erfasste, und trotz der Bürde des Elends, die sie mit sich herumschleppte, erfüllte sie unwillkürlich Ehrfurcht. Die Wände der Klamm ragten nahezu lotrecht mehr als dreißig Meter über ihre Köpfe auf, eine verwitterte Masse aus Klüften und Felsvorsprüngen, auf der schmale Gebüschstreifen wuchsen, wo immer sie Halt fanden. Die Sohle glich einem wilden Garten aus Bäumen und Blumen, in dem sich tiefes Rot und Purpur unter das satte Grün mischten. Eine Quelle nährte eine Reihe kleiner Tümpel. Die Sonne gleißte in flachem Winkel über den Rand, warf ihr Licht an das ferne Ende der Klamm und ließ das andere im Schatten. Bunte Vögel nisteten hoch droben und stoben gelegentlich auf, um zwitschernd Kreise zu ziehen und im Sturzflug herabzusausen. Der reglosen, diesigen Luft haftete ein traumgleicher Schimmer an. Sie hatten ein verborgenes Paradies betreten. »Das ist die Grenze unseres Herrschaftsgebietes«, verkündete Nomoru. Es war die erste Wortmeldung, seit sie aufgebrochen waren; ihre rauen und hässlichen niedersaramyrrischen Selbstlaute schlugen Kaiku aufs Gemüt. »Von hier an ist's nicht mehr so sicher.« Der Xarana-Bruch stellte ein sich ständig wandelndes Gewirr unbestätigter Grenzen, neutralen Bodens und umkämpfter Gebiete dar. Die politische Geografie des Ortes war ebenso unstet wie der Bruch selbst. Jede Gemeinschaft wachte eifersüchtig über ihr Hoheitsgebiet, dennoch wurden von einem Monat zum nächsten ganze Siedlungen geplündert oder aus dem Weg geräumt, oder die Bewohner liefen zu einem mächtigeren Anführer über. Der Schoß musste ständig darum 214 kämpfen, die Pfade zur Außenwelt offen zu halten, weil immer wieder Wegelagerer den Lieferanten auflauerten, die sich zur Versorgung der Libera Dramach einschlichen. Andere Gruppen hatten andere Pläne: Einige trachteten beharrlich danach, ihre Macht auszuweiten, und verfolgten das hoffnungslose Ziel, den gesamten Bruch zu beherrschen oder zu vereinen; andere wollten lediglich in Ruhe gelassen werden und bündelten ihre Bemühungen auf Verteidigung statt auf Angriff; wieder andere versteckten sich einfach. Für Zaelis und die Libera Dramach war es ein immer währender Verlust von Zeit und Mitteln, in Erfahrung zu bringen, was ihre
Nachbarn im Schilde führen, doch in der gnadenlosen Welt, in der sie sich niedergelassen hatten, war es unabdinglich. Mit erhöhter Wachsamkeit marschierten sie weiter. Das Gelände erwies sich als unwirtlich, und Nomoru schien zumeist schwierige Pfade zu wählen, da die unzugänglichsten Wege oft die sichersten darstellten. Nach einigen Stunden hatte Kaiku jeden Richtungssinn verloren. Trotzig funkelte sie die drahtige Gestalt an, die sie führte, gab ihr die Schuld für ihr Leiden; dann besann sie sich und erkannte, wie ungerecht das war. Wäre Asara nicht gewesen, Kaiku hätte sich gefreut, an dieser Erkundungsreise teilzunehmen. Mangels Unterhaltung ertappte sie sich immer wieder dabei, dass sie in düstere Grübeleien verfiel. Yugi zeigte sich ungewöhnlich schweigsam, und Tsata sprach nur dann, wenn es wert war, etwas zu sagen; er begnügte sich damit, mit fremdartig anmutender und etwas beunruhigender Neugier zu beobachten und zu lauschen. Hatte er es gewusst? Hatte er gewusst, dass Saran nicht war, wer er zu sein schien? Und was war mit Zaelis und Cailin - sie mussten es doch gewusst haben, oder? Cailin auf jeden 215 Fall: Sie vermochte, Ausgeburten zu spüren, indem sie nur einen Blick auf sie warf. Alle Schwestern konnten das. In den Nachwehen ihrer Entdeckung, in der Wut, die dem Gram folgte, wollte sie Cailin und Zaelis zur Rede stellen und von ihnen wissen, weshalb sie es ihr nicht gesagt hatten. Doch es wäre nutzlos gewesen; Kaiku kannte ihre Begründungen bereits. Asara war ein Spitzel, und es stand ihnen nicht zu, sie aufzudecken. Außer mit Mishani hatte Kaiku zudem mit kaum jemandem über Asara gesprochen, und dass sie sich zu Asara hingezogen fühlte, hatte sie überhaupt niemandem verraten. Warum also hätten sie einschreiten sollen? Darüber hinaus hätte sie Cailin nur wieder Zündstoff für ihr Drängen geliefert, Kaiku möge sich den Lehren des Roten Ordens widmen. Hätte sie sich um ihren Unterricht gekümmert, statt rastlos durchs Land zu ziehen, wäre sie selbst in der Lage gewesen, Asaras wahres Ich zu spüren. Aber sie hatte keinerlei Verdacht gehegt. Wie auch? Kaiku hatte keine Vorstellung vom Ausmaß der ausgebürtigen Fähigkeiten Asaras. Zwar hatte sie bezeugt, wie sie ihre Züge, den Farbton ihres Haars leicht verändert hatte und sogar beobachtet, wie eine Tätowierung auf ihrem Arm verblasst war; sie hatte gesehen, dass sie grässliche Brandnarben in ihrem Gesicht vollständig verschwinden lassen konnte. Aber dass sie nicht nur die Form ihres Körpers, sondern auch das Geschlecht zu wandeln vermochte ... das hätte selbst Kaiku für schlicht unmöglich gehalten. Was für ein Geschöpf war dazu in der Lage? Was für ein Ding? Und was für ein Ding kann die Fäden der Wirklichkeit verzerren, um Feuer zu entfachen oder in einen Verstand einzubrechen ?, fragte sie sich unbarmherzig. Sie ist nicht unmögli216 cher als du selbst. Die Welt verändert sich schneller, als du dir vorstellen kannst. Die Hexensteine gestalten Saramyr neu, und alles, was einst war, ist nunmehr ungewiss. »Du brütest vor dich hin, Kaiku«, sagte Yugi hinter ihr. »Ich kann es sogar von hier aus spüren.« Zaghaft lächelte sie ihn an, und ihr wurde ein wenig wärmer ums Herz. »Plaudere mit mir, Yugi. Das wird eine lange Reise, und ich glaube, wenn nicht bald jemand etwas unternimmt, um die Stimmung zu heben, überstehe ich nicht einmal den ersten Tag.« »Tut mir Leid. Ich hab' meine Pflicht als Stimmungskanone wohl etwas vernachlässigt«, meinte er grinsend. »Ich habe anfangs noch ein wenig unter den Nachwehen der letzten Nacht gelitten, aber inzwischen ist mein Kopf durch den Spaziergang wieder klar.« »Hast es wohl etwas übertrieben, wie?«, zwinkerte Kaiku ihm zu. »Kaum. Ich habe nichts angerührt. Kein Wunder, dass ich mich so schrecklich fühle.« Leise lachte Kaiku. Nomoru, die vor ihnen ging, schaute mit ärgerlicher Miene zu ihnen zurück. »Du hast Kummer«, stellte Yugi mit nunmehr ernsterer Stimme fest. »Liegt es an der Maske?« »Nicht an der Maske«, gab sie zurück, und es stimmte: Bis jetzt hatte sie das Ding völlig vergessen, da sie so sehr mit dem Schmerz beschäftigt gewesen war, den Asara ihr zugefügt hatte. Sie war eingewickelt in ihrem Bündel verstaut - die Maske, die ihr Vater gestohlen hatte, wegen der er gestorben war. Plötzlich spürte Kaiku sie, konnte fühlen, wie die Maske sie verhöhnte. Fünf Jahre lang hatte sie in einer Truhe versteckt in ihrem Haus gelegen, und sie hatte sie nie wieder aufgesetzt, denn Kaiku wusste nur zu gut, wie wahre Masken wirkten; wie sie den Träger berauschten, süchtig nach der Verzückung des Gewebs 217 machten, große Macht verliehen, im Gegenzug jedoch die Vernunft raubten und Wahnsinn bescherten. Dennoch war das heimtückische Verlangen unvermindert vorhanden, jenes Kribbeln in ihrem Hinterkopf, so oft sie an das Ding dachte. Die Maske rief sie. Irgendwann am Nachmittag rasteten sie und aßen auf einer grasigen Böschung unter einem Überhang. Mittlerweile hatten sie die Klamm hinter sich gelassen und umgingen eine abgesunkene, ringsum von hohen Wänden gesäumte Ebene voller Felsbrocken. Einige Felsen waren in wahlloser Anordnung aus dem Untergrund hervorgestoßen und glichen wilden Steinblumen, deren Blüten aus Quarz, Kalkstein und Malachit bestanden. Andere waren von den riesigen Gipfeln herabgefallen, die gefährlich in den Himmel ragten. Seit einer Stunde waren die Reisenden von Deckung zu Deckung gehuscht, und wenngleich sie schneller vorankamen als in der Klamm, wurden ihre Nerven stärker beansprucht. Sie waren zu ungeschützt, um sich sicher zu fühlen.
»Warum haben wir diesen Weg gewählt? So eilig haben wir es ja nun auch wieder nicht«, meinte Yugi gesellig zu Nomoru, während er ein kaltes Wasservogelbein aß. Nomorus schmale Züge versteinerten; offenbar nahm sie an der Bemerkung Anstoß. »Ich bin die Führerin«, keifte sie. »Ich kenne diese Gegend.« Yugi zeigte sich ungerührt. »Dann klär mich doch bitte auf. Ich kenne sie auch, obwohl vermutlich nicht so gut wie du. Im Süden gibt es einen hohen Pass, wo wir-« »Da können wir nicht lang«, fiel Nomoru ihm abschätzig ins Wort. 218 »Warum nicht?«, fragte Tsata. Kaiku schaute ihn etwas überrascht an. Es war das Erste, was er an diesem Tag gesprochen hatte. »Das spielt keine Rolle«, gab Nomoru zurück und ließ ihrer Sturheit freien Lauf. Kaiku war regelrecht erstaunt über ihr rüdes Benehmen. Tsata musterte die Kundschafterin eine Weile. Wie er dort im Schatten hockte, mit den blassgrünen Tätowierungen, die sich über seine Arme und sein Gesicht rankten, wirkte er auf seltsame Weise hier im Bruch heimisch. Seine Haut, die im Licht des Morgengrauens fahlgelb gewesen war, schimmerte in der Nachmittagssonne golden, wodurch er gesünder erschien. »Du besitzt Wissen um diese Gegend, also musst du es teilen. Es für sich zu behalten verletzt den Pash.« »Den Pash ?«, höhnte Nomoru verständnislos. »Die Gruppe«, klärte Kaiku sie auf. »Wir vier reisen nun zusammen, daher sind wir ein Pash. Stimmt's?«, fragte sie an Tsata gewandt. »Eine Art von Pash«, berichtigte Tsata sie. »Nicht die einzige Art. Aber ja, das habe ich gemeint.« Verzweifelt und verärgert warf Nomoru die Arme hoch. Als dabei die Ärmel zurückrutschten, fielen Kaiku die Tätowierungen an den Armen der Kundschafterin auf: verschlungene, gezackte Formen und Wirbel wanden sich durch Embleme und Symbole, die für geschuldete und erfüllte Treuegelübde oder Verbindlichkeiten standen. Es galt als Tradition der Bettler, Diebe und ähnlichem Volk des Armenviertels von Axekami, sich ihre Geschichte auf die Haut malen zu lassen. Auf diese Weise konnten geleistete Versprechen nicht gebrochen werden. Ob der Armut waren sie gezwungen, anderen Gefallen zu tun; es war eine aus Notwendigkeit geborene Gemeinschaft. Zumeist waren sie durch ihr Wort gebun219 den. Manchmal aber, wenn es um wichtigere Dinge ging, war etwas Bedeutsameres erforderlich: eine Tätowierung, die das jeweilige Unterfangen versinnbildlichte. Für gewöhnlich wurde es zunächst halb gezeichnet und erst vervollständigt, wenn die Aufgabe erledigt war. Die Tätowierer des Armenviertels kannten alle Gesichter und alle Schulden, und sie stellten eine Tätowierung erst fertig, wenn ihnen zu Ohren gekommen war, dass die Verbindlichkeit eingelöst worden war. Wer sein Wort brach, konnte es nicht allzu lange verbergen, und solche Menschen überlebten nur kurz, zumal ihnen andere jede Hilfe verweigerten. Wie seltsam, dachte Kaiku, dass die Ehre umso wichtiger wurde, je weniger Geld und Habseligkeiten man besaß. Sie fragte sich, ob Nomoru eine Wortbrecherin gewesen war; aber die Bedeutung der Tätowierungen war ihr schleierhaft, und die wenigen, geschriebenen Worte, die sie erkannte, waren ein niedersaramyrrischer Unterweltdialekt, den sie nicht verstand. »Hoheitsgebiete ändern sich«, sagte Nomoru, die schließlich widerwillig nachgab. »Aber es werden keine Grenzen gezogen. Zwischen den Hoheitsgebieten herrscht Ungewissheit. Kundschafter, manchmal Krieger, aber keine richtigen Wachen, keine Befestigungsanlagen. Deshalb führe ich euch zwischen den Hoheitsgebieten hindurch. Da ist's nicht so gut bewacht und einfacher durchzuschlüpfen.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der geröllübersäten Ebene. »Dieser Ort ist ein Schlachtfeld. Seht euch das Gelände an. Es gehört niemandem. Zu viele Geister hier.« »Geister?«, fragte Kaiku. »Sie kommen nachts«, erklärte Nomoru. »Wird viel getötet hier. Orte erinnern sich. Drum kommen wir bei Tag. Solang wir in Deckung bleiben, sind wir sicher.« 220 Sie kratzte sich das Knie durch die Hose und schaute zu Yugi. »Der hohe Pass wurde vor einem Monat erobert. Gab 'nen Kampf; jemand hat verloren, jemand gewonnen.« Nomoru zuckte mit den Schultern. »Früher war er sicher. Jetzt würde man getötet, bevor man den Fuß drauf setzt.« Mit hochgezogener Augenbraue blickte sie zu Tsata. »Zufrieden?«, fragte sie herausfordernd. Er reckte ihr das Kinn entgegen. Verwirrt setzte Nomoru eine finstere Miene auf, da sie nicht wusste, dass dies die okhambische Art zu nicken war. Kaiku klärte sie nicht auf. Sie hatte bereits beschlossen, dass sie die Kundschafterin mit den zottigen Haaren nicht mochte. Der Himmel war von stumpfem, dunklem Purpurrot, durchsetzt mit tiefblauen Streifen und Fetzen durchscheinender Wolken. Neryn und Aurus wanderten in jener Nacht gemeinsam und hingen bereits tief am westlichen Himmel, eine schmale, grüne Sichel, die hinter dem riesigen Antlitz ihrer größeren Schwester hervorlugte. Nomoru führte sie einen hohen Grat im Gelände entlang, der aus der meilenweiten Umgebung der schmalen Klüfte und Schluchten aufragte. Der Boden war in ein Mosaik grasbewachsender Felssimse zersplittert, die so unvorhersehbar anstiegen oder abfielen, dass sie oftmals dunkle Abgründe umklettern oder
Hänge erklimmen mussten, die zu beiden Seiten von schrecklichen Steilhalden gesäumt waren. So unwirtlich die Gefilde auch waren, sie boten einen Vorteil: Die Reisenden waren derart gut in den Nischen verborgen, dass wohl niemand sie zu sehen vermochte, es sei denn, sie liefen ihnen unmittelbar über den Weg. Sie hatten beinahe das ferne Ende des Grats erreicht, wo das Land sie wieder finster erwartete, als Nomoru 221 plötzlich mit gekrümmten Fingern die Hand hob, was der saramyrrischen Geste für »Still!« entsprach. Jedes Kind lernte sie, im Allgemeinen von den Eltern. Tsata schien entweder zu wissen oder zu ahnen, was sie bedeutete, andererseits bewegte er sich ohnehin stets so gut wie lautlos. Kaiku spitzte die Ohren, um etwas zu hören, aber sie vernahm nur die fernen Rufe von Tieren und den anschwellenden Chor der nächtlichen Insekten. Bislang waren sie durch Zufall oder Nomorus Geschick auf keinerlei Anzeichen von menschlichem Leben gestoßen, und nur der gelegentliche Anblick eines großen Raubtiers in der Ferne hatte dafür gesorgt, dass sie auf der Hut geblieben waren. Nun versteifte sie sich ob der Gegenwart von Gefahr; kaltes Adrenalin flutete durch ihren Körper und fegte ihre trübsinnigen Gedanken hinfort. Nomoru schaute zu ihnen zurück und bedeutete ihnen zu bleiben. Gleich darauf war sie über die Felswand vor ihnen gehuscht und über die obere Kante verschwunden. Yugi schlich gebückt und mit schussbereiter Büchse in den Händen neben Kaiku. »Spürst du etwas?«, flüsterte er. »Ich habe es nicht versucht«, antwortete sie. »Ich traue mich noch nicht. Falls es ein Weber ist, könnte er mich bemerken.« Ihre tiefer sitzende Furcht in dieser Hinsicht behielt sie für sich: Sie hatte noch nie einem Weber auf dem Schlachtfeld des Gewebs gegenübergestanden; keine Schwester außer Cailin hatte das, und Kaiku fürchtete sich entsetzlich vor dem Augenblick, in dem sie es tun musste. Dann fiel ihr plötzlich auf, dass Tsata verschwunden war. 222 Der Tkiurathi huschte geduckt dicht an der Steinmasse entlang, die zu seiner Linken aufragte. Auf eine so verinnerlichte Weise, dass es keiner bewussten Gedanken bedurfte, war ihm gewahr, aus welchen Blickwinkeln er zu sehen und aus welchen er in Deckung war. Der dornige Adlerfarn zu seiner Rechten schützte seine Flanke, außerdem würde er jeden hören, der sich durch das Gebüsch näherte, aber hoch droben auf einem schmalen Felsfinger dahinter befanden sich in Schatten gehüllte Plätze, die ein Versteck für einen Büchsen- oder Bogenschützen bieten konnten. Er hatte sich an der Steinerhebung, die Nomoru nach links umgangen war, rechts gehalten, da er hoffte, sie umkreisen und ihr auf der anderen Seite begegnen zu können. Sollte ihm der Weg versperrt sein, wollte er darüber klettern. Für ihn war das schlichte Vernunft, geboren aus einer Denkweise, die Tausende Jahre Dschungelleben geformt hatten. Ein Kundschafter konnte von einer Schlange gebissen werden, in eine Falle tappen, sich ein Bein brechen oder gefangen werden und wäre somit außerstande, den Rest des Pash zu warnen, wenn Feinde die Spur zurückverfolgten. Zwei Kundschafter, die unterschiedliche Pfade wählten, einander aber dennoch im Auge behielten, waren wesentlich schwieriger zu überraschen, und sollte dem einen ein Ungemach widerfahren, konnte der andere ihn retten oder Hilfe holen. Und vor allem war es sicherer für die Gruppe. Tsata verwirrten die unverständlichen Gedankengänge von Fremden immer wieder, und dabei war es einerlei, ob es sich um Quaraaler oder Saramyrrer handelte. Ihre Beweggründe gaben ihm Rätsel auf. In fremden Gesellschaften wurde so vieles nicht ausgesprochen. Stattdessen strotzten sie vor Andeutungen und Fingerzeigen, die auf stummes Verständnis abzielten. Zum 223 Beispiel ihr Liebeswerben: Tsata hatte beobachtet, wie Saran und Kaiku einander an Bord von Chiens Schiff wochenlang umtänzelt hatten. Wieso schien es ungebührlich zu sein, etwas auszusprechen, das beide wussten, nämlich dass sie einander begehrten, wenn es gleichzeitig in Ordnung war, es genauso deutlich auf mittelbare Weise auszudrücken? Beide waren solche Geheimniskrämer, so in sich selbst abgekapselt, dass sie keinen Teil ihrer selbst mit jemandem teilen wollten. Sie horteten ihre Stärke, statt sie zu verteilen, bereicherten sich selbst durch Worte und Taten, statt das, was sie erlangt hatten, zum Vorteil ihres Pash einzusetzen. Und deshalb besaßen sie statt einer Gemeinschaft diese höchst unausgewogene Kultur zahlreicher Gesellschaftsschichten, in der man durch Geburt, mangels Besitztümer oder durch die Taten seines Vaters in der untersten landen konnte. Es war so unaussprechlich lächerlich, dass Tsata es nicht in Worte zu kleiden vermochte. Er empfand eine gewisse Seelenverwandtschaft zu Saran, denn Saran war bereit gewesen, jeden einzelnen zu opfern, der ihn in den Dschungel Okhambas begleitet hatte, um ihn selbst lebendig wieder zu verlassen. Zumindest das konnte Tsata nachvollziehen, denn Saran arbeitete für das Wohl eines größeren Pash, nämlich das der Libera Dramach und des Volkes von Saramyr. Den anderen Teilnehmern der Erkundungsreise war es lediglich um Geld oder Ruhm gegangen. Allein Sarans Beweggründe hatten selbstlos geschienen. Aber sogar Saran hielt seine Absichten wie alle anderen so eifersüchtig geheim und versuchte oft, Tsata zu befehlen, wohin er gehen und was er tun sollte. Er hatte sich als >Anführer< der Gruppe betrachtet, obwohl Tsata keine Bezahlung verlangt und sich ihm aus freien Stücken angeschlossen hatte. 224 Das alles war zu viel für ihn. Er verdrängte es aus dem Kopf. Später würde er noch reichlich Zeit haben, über
diesen rätselhaften Menschenschlag nachzudenken. Die Steinmasse zu seiner Linken erschien unendlich, also beschloss er, das Wagnis einzugehen, darüber zu klettern. Zwar würde er dabei ein paar Augenblicke gefährlich ungeschützt sein, doch das ließ sich nicht ändern. In einem einzigen, geschmeidigen Bewegungsablauf erhob er sich aus der gebückten Haltung und sprang hoch, um sich an der rauen Felswand festzuklammern. Er nutzte seinen Schwung und die Kraft seiner drahtigen Muskeln, um sich emporzuziehen. Dann fand er mit dem Fuß Halt, schob sich hoch und schnellte auf den Gipfel, wo er sich flach auf den klumpigen Boden warf. Im Dschungel seiner Heimat dienten seine gelbliche Haut, sein orangeblondes Haar und die grünen Tätowierungen als Tarnung; hier hingegen fühlte er sich unbehaglich sichtbar. Flink kroch er über den Fels auf die andere Seite, wobei er sich dicht neben spärlichen Pflanzen hielt, die dort oben wuchsen. Die zunehmenden Monde schimmerten auf ihn herab, während das Licht langsam vom Himmel schwand und durch einen fahlen, grünstichigen Schimmer ersetzt wurde. Tsata befand sich auf einem langen, schmalen Grat. Links und etwas unterhalb verlief ein Vorsprung, der dem Verlauf des Grats folgte, bis er jäh zu einer Lichtung hin abfiel, die auf drei Seiten vom umliegenden Geländer gesäumt war. Noch bevor er sie sah, hörte und roch er die Männer, die sich den Vorsprung entlang in die Richtung bewegten, in der Kaiku und Yugi warteten. Es waren zwei. Sie trugen eine merkwürdige Kluft aus weiten, schwarzen Kleidern und dunkler Lederrüstung, und ihre Gesichter waren unnatürlich weiß gepudert, 225 mit blauer Farbe um die Augen. Kleider, Haar und Haut waren dreckig und mit einer Art dunkelblauer Kriegsbemalung versehen. Die Männer waren ungekämmt und stanken nach einem Weihrauch, den Tsata als Ritasi erkannte, eine Blume mit fünf Blüten, die, wie Tsata erfahren hatte, in Saramyr oft bei Begräbnissen verbrannt wurde. Sie hatten alte und unzuverlässige Büchsen dabei, schwere und rußgeschwärzte Dinger, und an ihren Hüften hingen Krummschwerter. Tsata schob die eigene Büchse beiseite, die er an einem Riemen über den Rücken trug, und löste seine Kntha vom Gürtel. Kntha waren okhambische Waffen, die für den Nahkampf im Dschungel gebaut wurden, wo längere Waffen unhandlich waren und sich in Rankengewächsen verfangen konnten. Kntha bestanden aus einem ledergebundenen Griff mit einem Knöchelschutz aus Stahl und zwei je dreißig Zentimeter langen, gekrümmten Klingen, die oben und unten aus dem Griff ragten und sich in entgegengesetzter Richtung zu einer tödlichen Spitze verjüngten. Kntha wurden in Paaren verwendet. Mit einer Waffe wehrte man Hiebe ab, mit der anderen stieß man zu, wodurch man einen Gegner mit insgesamt vier Klingen angriff. Um wirksam eingesetzt zu werden, bedurften sie eines besonders unbarmherzigen Kampfstils. Das Volk von Saramyr hatte einen Namen für sie, der einfacher als die okhambische Bezeichnung war: Metzgerhaken. Katzengleich sprang er auf den Vorsprung hinab und landete geräuschlos. Tkiurathi mieden jeglichen Schmuck, der Laute verursachte, denn ihr Geschick beruhte auf Verstohlenheit. Die beiden Männer waren so sehr mit dem eigenen, linkischen Versuch beschäftigt, sich anzupirschen, dass sie ihn nicht von hinten kommen hörten. Sie waren einfache Beute. 226 Tsata überraschte sie völlig, indem er auf den Hals des rechten Burschen zielte und genug Gewicht dahinter legte, um ihn sauber zu köpfen. Seine linke Hand schnellte auf den anderen Mann zu, der sich in den Hieb drehte; die Klinge traf ihn mitten in die Kehle, zwar nicht heftig genug, um ihm den Kopf abzuschlagen, aber doch so kräftig, dass sie Muskelstränge durchdrang und in der Wirbelsäule stecken blieb. Während der erste Gegner noch fiel, stemmte Tsata die Ledersohle in die Brust des zweiten, um seinen Metzgerhaken herauszuwinden. Er löste sich unter einer Gischt dampfenden Blutes, gefolgt von einem noch dickeren Schwall aus der Wunde, der sich über die Brust des Opfers ergoss. Tsata trat zurück und beobachtete, wie der Mann auf den Boden zusammenbrach. Sein Körper schien noch gar nicht begriffen zu haben, dass er tot war, denn das Herz pumpte zuckend weiter, während er fiel. Nachdem er somit gewährleistet hatte, dass der größere Teil seines Pash in Sicherheit war, wandten seine Gedanken sich sofort Nomoru zu. Er wischte das Blut von den Klingen und seiner ärmellosen Hanfweste, um Feinde nicht durch den Geruch zu warnen. Dann machte er sich den Vorsprung entlang in die Richtung auf, aus der die Männer gekommen waren. Tsata fand Nomoru in der Lichtung am Ende des Vorsprungs. Sie stand mit dem Gesicht zu ihm an eine Felswand gedrängt. Bei ihr waren zwei weitere Männer. Einer drückte ihr ein Messer unter das Kinn, der andere hielt eine Büchse im Anschlag und spähte prüfend das Gelände ab. Im letzten Tageslicht war Tsata so gut wie unsichtbar, während er sie aus den Schatten des steinigen Grats heraus beobachtete. Rasch sah er sich nach Anzeichen weiterer Gegner um, fand jedoch weit und breit keine, nicht einmal Wachen auf den höheren 227 Stellen rings um die Lichtung. So großspurig diese Männer auch auftreten mochten, dies waren keine Krieger. Seine vorrangige Aufmerksamkeit galt dem Mann mit dem Messer an Nomorus Kehle. Tsata hätte lieber versucht, ihn still und heimlich auszuschalten, doch das Wagnis war zu groß. Stattdessen wartete er, bis keiner der beiden in seine Richtung schaute, dann zielte er mit der Büchse. Er wog gerade die Möglichkeit ab, den Mann zu beseitigen, ohne dass dieser auf Nomoru einstach, als die Kundschafterin ihn erspähte und kaum
wahrnehmbar blinzelte. Gleich darauf schaute sie wieder zu ihm, diesmal eingehender. Bewusst. Der Mann bei ihr runzelte die Stirn, als er es bemerkte. Nomoru starrte unverhohlen auf Tsata, drängte ihn mit ihren Augen. Tsata harrte mit dem Finger am Abzug aus. Gerissen. Sie versuchte, die Aufmerksamkeit ihres Feindes von sich abzulenken. »Hör auf, mich für dumm zu verkaufen, du Närrin«, zischte der Mann. »Ich bin kein Trottel. Du wirst mich nicht dazu bringen wegzuschauen.« Damit schlug er sie. Doch dafür musste er das Messer ein paar Fingerbreit wegnehmen, und in jenem Moment schoss ihm Tsata das Gehirn aus dem Schädel. Der letzte Gegner wirbelte mit einem Aufschrei herum und hob die Büchse an; aber Tsata sprang bereits auf ihn herab und hieb ihm den Kolben seiner Waffe ins Gesicht. Im Fallen feuerte die Büchse seines Feindes ziellos in die Gegend. Mit einem zweiten Stoß des Kolbens schlug Tsata ihm den Schädel ein. Der Widerhall der Schüsse scholl durch den Xarana-Bruch in die hereinbrechende Nacht. Eine kurze Pause entstand, als Nomoru und Tsata einander im Zwielicht musterten, dann wandte Nomoru 228 sich ab und hob ihre Büchse und ihren Dolch auf, die man ihr abgenommen hatte. »Sie werden kommen«, sagte sie, ohne ihn anzublicken. »Mehr von ihnen. Wir müssen weg.« 229 VIERZEHN Nach ihrer Rückkehr mit Tsata hatte Nomoru sie von dem Grat, dem sie gefolgt waren, weggeführt und einen nordwestlich verlaufenden Pfad eingeschlagen, der steil bergab führte. Vom Rutschen über Schieferhänge waren sie zerschunden und zerkratzt, und die Anstrengung hatte sie ausgelaugt, denn seit über einer Stunde legte Nomoru eine unbarmherzige Geschwindigkeit vor. Sie schien aus irgendeinem Grund fuchsteufelswild und trieb die Reisenden an ihre Grenzen, geleitete sie hinab in die Tiefen des Bruchs, bis rings um sie dunkles Land aufragte. Schließlich hielt sie auf einer runden, grasbewachsenen Lichtung inne, die aus dem Nichts inmitten der leblosen Steinlandschaft auftauchte. Trotz der Wärme der Nacht kräuselte sich in Bodennähe ein feuchter Nebelschleier, der im Licht der zunehmenden Monde matt und fahlgrün schimmerte. Yugi und Kaiku ließen sich ins Gras plumpsen. Tsata hockte sich in der Nähe hin. Nomoru stakste rastlos hin und her. »Bei den Göttern, ich könnte auf der Stelle einschlafen«, tat Yugi kund. »Hier können wir nicht bleiben. Wir ruhen uns nur kurz aus«, fauchte Nomoru. »Ich wollte nicht hier lang.« »Wir gehen weiter?«, fragte Kaiku ungläubig. »Aber wir sind seit dem Morgengrauen auf den Beinen !« 230 »Warum sollen wir uns so abschuften? Wir haben's nicht eilig«, erinnerte Yugi sie erneut. »Sie verfolgen uns«, meldete Tsata sich zu Wort. Als Yugi und Kaiku zu ihm schauten, deutete er mit dem Kopf in die Richtung hinauf, aus der sie gekommen waren. »Sie rufen einander zu. Und sie holen auf.« Yugi kratzte sich am Hinterkopf. »Hartnäckig. Das ist richtig lästig. Wer sind sie?« Nomoru lehnte mit verschränkten Armen an einem Felsblock. »Ich kenne ihren Namen nicht. Es ist ein OmechaKult. Nicht so wie in den Städten. Die hier sind wie besessen. Sie glauben, der Tod sei der Sinn des Lebens.« Sie vollführte eine abschätzige Handbewegung. »Blutopfer, Verstümmelungsrituale, Votivselbstmord. Sie freuen sich auf den eigenen Tod.« »Dann muss Tsata ja eine angenehme Überraschung für sie gewesen sein«, witzelte Yugi und grinste den Tkiurathi an. Tsata lachte auf, wodurch er sie alle erschreckte. Keiner von ihnen hatte ihn je zuvor lachen gehört; bislang hatte er völlig humorlos gewirkt. Nun hörte es sich auf unerklärliche Weise seltsam an. Irgendwie hatten sie erwartet, sein Ausdruck von Belustigung müsste anders als ein saramyrrisches Lachen klingen. Nomoru fand die Äußerung keineswegs unterhaltsam. Sie war bereits wütend auf sich selbst, weil sie sich gefangen nehmen ließ, und widersinnigerweise war sie auch auf Tsata wütend, weil er sie gerettet hatte. »Die hätten eigentlich gar nicht hier sein sollen«, knurrte sie mürrisch. »Vor einer Woche waren noch andere da. An denen wären wir vorbeigekommen. Die haben nicht besonders auf andere geachtet.« »Vielleicht wurden sie ja gerade deshalb vertrieben«, mutmaßte Yugi. 231 Nomoru funkelte ihn finster an. »Ich wollte nicht hier lang«, wiederholte sie. Kaiku, die gerade ein Stäbchen Salzbrot aus ihrem Bündel aß, um wieder zu Kräften zu gelangen, schaute zu ihr auf. »Warum eigentlich nicht?«, fragte sie mit vollem Mund. Nomoru schien etwas sagen zu wollen, doch dann schlich sich ein gehetzter Ausdruck in ihre Züge und sie verkniff es sich. »Keine Ahnung«, antwortete sie stattdessen. »Aber ich weiß, dass man hier nicht langgehen sollte.« »Nomoru, wenn du etwas über diesen Ort gehört hast, dann sag es uns!«, forderte Kaiku sie auf. Nomorus Zurückhaltung war beängstigender, als wenn sie es ausgesprochen hätte. »Keine Ahnung!«, keifte sie erneut. »Der Bruch ist voller Geschichten. Ich hab sie alle gehört. Aber über den Ort, an den wir gehen, gibt es schlimme Gerüchte.« » Was für Gerüchte?«, beharrte Kaiku, wischte sich ihre Strähne aus dem Gesicht und bedachte Nomoru mit einem durchdringenden Blick.
»Schlimme Gerüchte«, gab die Kundschafterin stur zurück. »Werden sie uns dorthin folgen?«, wollte Yugi wissen, um es aus einem anderen Winkel zu versuchen. »Nicht, wenn sie noch bei Trost sind«, antwortete Nomoru. Dann wurde sie der Fragerei überdrüssig und befahl ihnen aufzustehen. »Wir müssen weiter. Sie kommen näher.« Yugi schaute zu Tsata, der Nomorus Behauptung bestätigte, indem er mit ernster Miene das Kinn vorreckte. Mühsam rappelte Yugi sich auf die Beine und bot Kaiku eine Hand an, um ihr aufzuhelfen. Schmerzen pochten in ihren Beinen, doch das waren nur Vorboten 232 des Muskelkaters, der ihnen am nächsten Tag bevorstand. »Wir müssen sofort weiter!«, fauchte Nomoru ungeduldig. Damit steuerte sie den schmalen, grasbewachsenen Hang hinab auf die ungewissen Gefilde dahinter zu. Der Hang ging sanft verlaufend in einen breiten, ebenen Sumpf über; eine lang gezogene, gewundene Gasse, die zwischen schwarzen Granitwänden verlief, aus denen Tausende winzige Wasserläufe tröpfelten und plätscherten. Die Luft war unerklärlich frostig; die Reisenden spürten, wie sie während des Abstiegs Gänsehaut bekamen. Grasbüschel und vereinzelte Dickichte ragten wie Inseln aus dem gespenstischen Friedhofsnebel. Seltsame Flechten und Farne sprenkelten die dunklen Felswände oder wucherten aus dem Morast, Schwaden von dunklem Grün, Rot und Purpur. Unter dem unheimlichen Schimmer von Aurus und Neryn herrschte bedrückende Stille, die nur vom gelegentlichen Rufen oder Krächzen eines unsichtbaren Geschöpfes durchbrochen wurde. Der Boden unter ihren Füßen wurde zunehmend feuchter, und in den Spuren ihrer Stiefel sammelte sich Wasser. Als der Hang ganz in das Flachland des Sumpfes übergegangen war, äußerte Yugi Bedenken, ob sie ihn überhaupt durchqueren konnten. Nomoru schenkte ihm keine Beachtung. Die Laute ihrer Verfolger, die einander einen Unheil verkündenden, heiligen Sprechgesang zuriefen, waren eine deutlichere Antwort als jede, die sie geben konnte. Obwohl die Luft, die sie umgab, Geräusche zu dämpfen und jeden Widerhall aufzunehmen schien, war offenkundig, dass die Anhänger des Kults ihnen dicht auf den Fersen waren. Sie stapften weiter in den Sumpf, und der aufgewirbelte Nebel umhüllte ihre Beine, kräuselte sich zu ihren 233 Knien empor. Das Wasser hatte bereits Wege in ihre Stiefel gefunden, und ihre Füße schmatzten bei jedem Schritt. Sie gingen im Gänsemarsch einher, während der Morast ihnen unablässig das Schuhwerk von den Beinen zu zerren versuchte. Tsata bildete die Nachhut und spähte regelmäßig mit der Büchse in den Händen zurück zum Hang, der zur Lichtung führte, da er jeden Augenblick damit rechnete, dass dort weitere der dreckigen Gestalten auftauchen würden. »Wir sind hier zu ungeschützt«, meinte er. »Darum haben wir's ja so eilig«, gab Nomoru knapp zurück, dann stolperte sie und fluchte. »Wenn wir ihnen weit genug vorausbleiben, treffen sie uns nie und nimmer.« Es war zu spät, um diesen Plan noch anzufechten; also mühten sie sich durch den trostlosen Sumpf und folgten Nomoru. Sie bewegte sich mit sicheren Schritten, und wenngleich die anderen ob eines Fehltritts regelmäßig im wässrigen Schlamm beiderseits des von ihr gewählten Pfades landeten, fanden sie vergleichsweise festen Boden vor, solange sie in ihre Fußstapfen traten. Plötzlich schnalzte Tsata mit der Zunge. Das Geräusch war so laut, dass Kaiku zusammenzuckte. »Sie sind da«, verkündete er. Nomoru schaute zurück. Auf der Kuppe des Hanges: vier Männer und eine Frau, zwei von ihnen mit Büchsen. Sie riefen Gefährten zu, die noch nicht zu sehen waren. Während Nomoru sie beobachtete, zielte eine der Gestalten mit einer Büchse und feuerte. Der scharfe Knall wurde von der dichten Sumpfluft regelrecht verschluckt. Kaiku und Yugi duckten sich unwillkürlich, aber die Kugel verfehlte sie um Längen. Nomoru drängte sich die Reihe zurück zu Tsata und löste die eigene Büchse vom Rücken. Zum ersten Mal fiel 234 Kaiku auf, wie unvereinbar die Waffe mit der Frau schien, die sie trug. Während Nomoru dürr, ungepflegt und ungehobelt wirkte, war die Büchse ein Ding wahrer Schönheit. Kolben und Schaft schimmerten schwarz glänzend und waren mit winzigen, goldenen Symbolen verziert; den Lauf entlang schlängelte sich ein erlesenes Silberrelief in Form von Wirbeln. »Hört auf, euch Sorgen zu machen«, brummte sie zu Kaiku und Yugi, als ein weiterer Kultanhänger feuerte und sie zusammenzuckten. »Die treffen uns nicht. Wir sind außerhalb ihrer Reichweite.« »Und was soll das dann werden?«, wollte Yugi wissen. Reglos in offenem Gelände zu stehen, während jemand auf sie schoss, war ein höchst beunruhigendes Gefühl, ganz gleich, wie weit die Schützen entfernt sein mochten; dennoch wagte er nicht, ohne Nomorus Führung weiterzugehen, denn er hatte bereits eine gesunde Achtung vor den Gefahren des Sumpfes entwickelt. Nomoru legte die Büchse an der Schulter an, zielte und drückte den Abzug. Sogleich brach einer der Kultanhänger mit einem Loch in der Stirn zusammen. »Sie sind nicht außerhalb meiner Reichweite«, antwortete sie. Die Kundschafterin spannte den Hahn, um die Waffe wieder feuerbereit zu machen, schwang den Lauf eine Spur nach links und schoss erneut. Ein weiterer Kultanhänger ging zu Boden. »Beim Blut des Herzens ...«, murmelte Yugi verblüfft.
Mittlerweile zogen die verbleibenden Kultanhänger sich hastig auf die Lichtung und außer Sicht zurück. »Das sollte ihnen zu denken geben«, meinte Nomoru, während sie die Büchse schulterte. »Gehen wir.« Sie bahnte sich den Weg zurück an die Spitze und marschierte weiter. Die anderen folgten ihr, so gut sie konnten. 235 Es dauerte nicht lange, bis Kaiku eine Veränderung zu spüren begann. Zunächst war das Gefühl zu zart, um es einordnen zu können, lediglich leichtes Unbehagen. Doch allmählich wuchs es, bis die feinen Härchen an ihren Armen sich aufrichteten. Sie spähte zu den anderen, um festzustellen, ob jemand ihre Empfindung teilte, aber niemand ließ ein Anzeichen darauf erkennen. Plötzlich beschlich sie das unwirklich anmutende Gefühl, von ihren Gefährten abgekapselt zu sein, so als wandle sie auf einer anderen Daseinsstufe gleich einem Geist, den sie nicht sehen oder berühren konnten. Ihr Kana regte sich in ihr. Das Gefühl ging vom Sumpf aus, vom Boden selbst, auf dem sie liefen. Es war ein Gefühl eines anschwellenden Bewusstseins, so als erwachte das Land rings um sie langsam. Und in jenem Bewusstsein schwang Böswilligkeit mit. »Wartet«, sagte sie, und die Gruppe hielt an. Sie befanden sich mitten auf dem Weg durch den Morast, fernab jeder sicheren Zuflucht, und immer noch verstärkte sich die Empfindung, jenes gewaltige, modrige Böse, das aus der Luft zu quellen schien. »Bei den Göttern, wartet. Der Sumpf ... irgendetwas ist in dem Sumpf...« Ihre Stimme hörte sich brüchig, schwach und wie benommen an, ihre Augen wirkten verschwommen. Als wäre ihre Warnung ein Stichwort gewesen, stob eine jähe Bö übel riechenden Windes den Nebel zu ihren Füßen hoch über ihre Köpfe auf. Der Wind erstarb so plötzlich, wie er aufgekeimt war, aber die Dämpfe blieben dort oben hängen, ein weißer, diesiger Schleier, der die Welt rings um sie in graue Schatten hüllte. Hatten sie zuvor den gesamten Sumpf überblicken können, war ihre Sicht mit einem Mal gehörig eingeschränkt, und das Gefühl, eingeschlossen zu sein, war besorgniserregend. 236 »Was hast du über diesen Ort gehört, Nomoru?«, verlangte Tsata plötzlich zu erfahren. »Es war der einzige Weg, den wir einschlagen konnten«, fauchte sie rechtfertigend. »Es waren nur Gerüchte. Ich wusste ja nicht, dass sie -« » Was hast du gehört ?« Die Stimme des stillen Tkiurathi wurde selten laut, aber sein Arger über Nomoru wurde allmählich zu viel. Sie war eine völlige Einzelgängerin, die einfach so verschwand, ohne jemandem zu sagen warum, die wertvolles Wissen hortete, statt es zu teilen, damit sie die Herrschaft über die Gruppe behielt. Tsata war derlei Verhalten ein Gräuel. Nun gefährdeten ihre Ausflüchte den Pash, und das war unerträglich. Wenn nötig, würde er ihr drohen, um zu erfahren, was sie wusste. Eine Weile herrschte Stille, während ein Willenskrieg zwischen den beiden tobte. Schließlich war es Nomoru, die nachgab. »Dämonen«, knurrte sie mürrisch. »Rukushai.« Ein fernes Rasseln schnitt durch den Nebel, ein Laut, der sich wie hohle, aneinander klopfende Stöcke anhörte, zu einem Höhepunkt anschwoll und dann verstummte. Yugi stieß den Atem aus und sandte einen wüsten Fluch hinterher. »Es war der einzige Weg, den wir gehen konnten«, wiederholte Nomoru, diesmal leiser. »Ich habe den Gerüchten nicht geglaubt.« Zornig fuhr Yugi sich mit der Hand durch die Haare, rückte das um die Stirn gebundene Tuch zurecht und schleuderte ihr einen angewiderten Blick zu. »Schaff uns einfach hier raus«, gab er zurück. »Ich weiß nicht, in welche Richtung es raus geht!«, rief sie und deutete mit ausholender Handbewegung auf den dichten Nebel rings um sie. 237 »Dann rate!«, schrie Yugi sie an. »Da lang«, meldete Tsata sich mit ruhiger Stimme zu Wort. Er wusste die Richtung noch, denn er hatte sich weder umgedreht noch bewegt, seit der Nebel aufgewallt war. »Sie kommen!«, rief Kaiku und sah sich furchterfüllt um. Ihre Netzhäute hatten sich von Braun in einen tieferen, satteren Rotton verdunkelt. Sie verschwendeten keine Zeit mehr. Nomoru übernahm die Führung, folgte Tsatas Anweisung und marschierte über den Sumpf, so schnell sie es wagte. Der Nebel gestaltete alles, was sich mehr als zwanzig Schritte weit weg befand, zu formlosen Schemen. Mit langen Schritten, wachsamen Augen und gespitzten Ohren wateten sie durch den Morast. Mittlerweile ertönte das Rasseln überall um sie herum, ein klickendes Geräusch, das von langsam und bedrohlich zu schnell und angriffslustig wechselte. Sie liefen mit den Waffen im Anschlag und wussten, dass das Eisen in einer Büchsenkugel die einzige Waffe war, die sie gegen Dämonen besaßen. Doch sie wussten auch, dass es sie höchstens kurz aufhalten, nicht aber zu bezwingen vermochte. »Kaiku«, sagte Yugi hinter ihr. Sie schien ihn nicht zu hören; ihr Blick weilte auf etwas jenseits jener Gefilde, die sie sehen konnten. »Kaiku!«, wiederholte er und legte ihr die Hand auf die Schulter. Plötzlich schaute sie zu ihm auf, als wäre sie aus einem Traum hochgeschreckt. Ihre Augen wirkten wirr, und sie zitterte. Kaiku erinnerte sich an andere Dämonen und das Grauen, das sie durch sie erleben musste. »Kaiku, wir brauchen dich«, sagte Yugi und starrte sie eindringlich an. Sie schien ihn nicht zu verstehen.
Unvermittelt und unerwartet lächelte er und strich ihr das Haar zurück, das über eine Seite ihres Gesichts 238 gefallen war. »Wir brauchen dich, um uns zu beschützen. Kannst du das tun?« Für einen Moment suchte sie seine Züge ab, dann nickte sie hastig. Sein Lächeln wurde breiter, um sie zu ermutigen, und er klopfte ihr freundschaftlich auf den Oberarm. »Braves Mädel«, meinte er, wobei er eine liebevolle Verniedlichungsform verwendete, die Kaiku in jeder anderen Lage als beleidigend empfunden hätte. Nun jedoch fand sie seine Wortwahl auf seltsame Weise beruhigend. »Kommt weiter!«, zischte Nomoru, und sie beeilten sich, um zu ihr aufzuschließen. Kaiku wandelte in einer anderen Welt als der Rest der Gruppe. Sie war in das Geweb geschlüpft und weilte auf einer Stufe mitten zwischen dem Reich der üblichen Sinne und dem überirdischen Geflecht jenseits menschlicher Sicht. Doch durch ihre erhöhte Wahrnehmung war sie auch offen für andere Empfindungen als die schlichte Angst, mit der ihre Gefährten zu kämpfen hatten. Sie streifte die Gewaltigkeit des Dämonenverstandes, die unbegrenzten Pfade ihrer Gedanken, und das Gefühl drohte, sie zu zermalmen. Kaiku versuchte, es auszusperren, um nicht von jenem haaresbreiten Grat in die gähnende Leere zu stürzen, die sie erwartete, sollte sie versuchen, diese Wesen zu verstehen. Diese Empfindung unterschied sich komplett von jener, als sie in die Welt der Kinder der Mondschwestern gespäht hatte. Damals war Kaiku überwältigt von der eigenen Bedeutungslosigkeit gewesen, hatte tiefe Demut darüber verspürt, wie unwichtig sie für jenes unbegreifliche Bewusstsein war. Die Rukushai kamen der Macht jener schrecklichen Geister nicht einmal nahe, aber sie hassten, und die schiere Gewalt ihres Hasses ließ Kaiku verzagen. Mittlerweile richtete ihre Aufmerksamkeit sich auf sie. 239 Die Legenden Saramyrs besagten, Dämonen wären unreine Seelen, die für ihre abscheulichen Verbrechen gegen die Götter zu Lebzeiten zu einem Dasein in körperlicher Form verflucht worden waren; weder lebendig noch tot, sondern zu den Qualen der Vorhölle verdammt. Aber in jenem Augenblick erkannte Kaiku, dass dies nicht stimmte, dass ihr Volk die Ursprünge der Dämonen nie herausfinden würde, denn sie waren so fern jeder Menschlichkeit, dass man unmöglich glauben konnte, sie hätten je auf Erden gewandelt und geliebt, getrauert, gelächelt und geweint wie Kaiku. Sie konnte durch den Nebel sehen, durch die träge wogenden Fäden aus glitzerndem Gold; und dort beobachtete sie, wie die Dämonen sich aus dem Morast hievten und ihre Gestalten sich als schwarzes, verknotetes Gewirr gegen die Reinheit des Gewebs abzeichneten. Einzelheiten konnte sie zwar nicht erkennen, die Umrisse hingegen deutlich. Ihre Körper waren gewunden und schlangenähnlich und endeten in spitzen, taugleichen Schwänzen. Aus den Unterseiten der Bäuche ragten sechs dürre Beine, die zunächst nach oben und außen verliefen und dann an einem kantigen Kniegelenk abwärts knickten. Langsam krochen sie vorwärts, wählten die Schritte übertrieben sorgsam, setzten die Beine mit den zwei Zehen behutsam zu Boden. Und die ganze Zeit war die Luft von jenem grauenhaften Rasseln erfüllt, da sie die Knochen in ihrer Kehle aneinander klickten und sich in ihrer schauerlichen Sprache verständigten. »Es sind drei«, erklärte sie, dann stolperte sie und stürzte hüfthoch in eine brackige Pfütze. Bevor sie weiter fallen konnte, fing Tsata ihren Arm ab und zog sie heraus, als wöge sie nicht mehr als ein Staubkorn. »Es sind drei«, wiederholte sie atemlos. 240 »Wo?«, wollte Tsata wissen und stieß sie wieder in Bewegung. »Links von uns.« Unwillkürlich schaute Yugi in die Richtung, aber da war nur der graue Schleier. Nomoru lief unbeirrt weiter, war bereits so weit voraus, dass die anderen sie kaum noch sehen konnten. »Nomoru, warte!«, rief Yugi. Zur Antwort ertönte von vorne ein deftiger Fluch. Als die anderen sie einholten, war sie wutentbrannt; doch mittlerweile war offensichtlich, dass ihr Zorn lediglich ein dünner Deckel war, mit dem sie die blanke Angst im Zaum zu halten versuchte. Sobald ihre drei Gefährten nah genug waren, lief sie weiter und legte eine unbarmherzige Geschwindigkeit vor. »Wie weit ist es noch bis zum Rand des Sumpfes?«, wollte Yugi von Kaiku wissen. »Zu weit«, antwortete Kaiku. Sie spürte, wie die Dämonen sich ihnen ohne Eile näherten. Wie Hunde, die Antilopen jagten, begnügten sie sich damit zu warten, bis ihre Beute erschöpft war. Die Reisenden waren seit dem Morgengrauen auf den Beinen, was sich an ihren müden Schritten und ihrem häufigen Stolpern zeigte. Die Ruku-shai brauchten sich nur in Geduld zu üben und den richtigen Augenblick zu wählen. Bei dieser Erkenntnis hielt Kaiku inne. In der Vergangenheit war sie vor anderen Dämonen geflüchtet, den unerbittlichen Shin-shin. Sie hatte Tage und Nächte damit verbracht, sich kriechend und kauernd vor Ausgeburten in den Lakmar-Bergen auf Fo zu verstecken. Sie war in ständiger Angst vor Entdeckung durch die Gänge eines Klosters der Weber geschlichen. Immer war sie gerannt, hatte sich verborgen oder getarnt, um nicht von Wesen bemerkt zu werden, die mächtiger waren als sie. 241 Aber das war in den Tagen gewesen, bevor Cailin ihr beigebracht hatte, ihr Kana einzusetzen - bevor es durch Unterricht eine nützliche Waffe statt eines unbändigen Dings der Zerstörung geworden war. So schutzlos wie einst war sie nicht mehr. »Was ist denn jetzt schon wieder?«, rief Nomoru.
Kaiku schenkte ihr keine Beachtung, sondern wandte das Antlitz dem kahlen Nebel und den Dämonen darin zu, die sich mit trägen, trippelnden Schritten näherten. Ihre Netzhäute wurden blutrot. Ein jäh aufkeimender Wind zerzauste ihr Haar, fuhr ihr durch die Kleider und wehte den düsteren Dunstschleier vorübergehend zurück. »Ich werde nicht wegrennen«, erklärte sie, von plötzlichem Wagemut berauscht. »Wir müssen uns wehren.« Dann brach ihr Kana aus ihr heraus. Unzählige fasrige Ranken schnellten in das goldene Schaubild des Gewebs, unsichtbar für die Augen ihrer Gefährten. Der Ansturm prallte in den vordersten Ruku-shai, gefolgt von Kaikus Bewusstsein. Es war, als tauchte sie in bitterkalten, modrigen Teer. Den Bruchteil einer Sekunde - obwohl es sich in der Welt des Gewebs wie Minuten anfühlte - drohte sie zu ersticken, hemmte die überwältigende Fauligkeit des Dämons ihre Sinne, ließ die fremdartige Gewalt der Empfindung sie hilflos zappeln. Dann übernahmen ihre Instinkte die Zügel, und sie fand sich allmählich zurecht. Der Dämon war genauso verwirrt und auf den Angriff unvorbereitet gewesen wie Kaiku, doch nun war der Vorteil dahin, und die beiden stellten sich einander auf gleicher Stufe. Keinerlei Schulung durch die Schwestern hätte sie auf diesen Augenblick vorzubereiten vermocht. Kein Kräftemessen war dem beängstigenden Gefühl auch nur nahe gekommen, einem anderen Wesen im Geweb zum 242 Kampf gegenüberzustehen. Ein Teil von ihr hatte gedacht, sie könnte den Dämon einfach in Stücke reißen, seine Fasern in Flammen aufgehen lassen, wie sie es den paar Unglückseligen angetan hatte, die ihr in den Tagen nach dem Erwachen ihrer Kraft in die Quere gekommen waren. Doch Dämonen und Geister ließen sich nicht so einfach abfertigen. Sie begegneten einander in einem dichten Geflecht von Fäden, stoben auseinander und kreisten hintereinander her wie Schlangen, die den Schwanz der jeweils anderen jagen. Der Dämon bemühte sich, die Stränge zu ihrem Körper zurückzuverfolgen, wo er echten Schaden anrichten konnte; Kaiku versuchte, ihn abzuwehren und gleichzeitig dasselbe zu erreichen. Plötzlich war sie überall, verteilte ihren Verstand auf Tausende winzige Auseinandersetzungen, verknotete hier einen Faden, um die daran herbeisausende Schwärze aufzuhalten, sprang dort zwischen Fasern hin und her und tastete nach Schwächen in der Verteidigung des Dämons. Sie verwendete Kniffe, die Cailin ihr beigebracht hatte, und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie ihr so selbstverständlich von der Hand gingen, als hätte sie schon ihr ganzes Leben damit gearbeitet. Sie durchbrach und verschmolz Stränge, um Schleifen zu bilden, die den Vormarsch des Ruku-shai wendeten; sie schuf verstreute Risse im Gespinst ihres Schlachtfelds, die zu umgehen ihr Feind gezwungen war, während sie Pfeile ihres Kanas auf seine innere Abwehr feuerte. Sie täuschte und stocherte; bald zog sie all ihre Fäden in ein Knäuel zusammen, bald versprengte sie alle und beschäftigte den Dämon dadurch an unzähligen Fronten zugleich. Bei jeder Berührung spürte sie den heißen, dunklen Gestank ihres Feindes, die Furcht erregende Eigenartigkeit seines Hasses. Immer wieder war sie 243 gezwungen, sich zurückzuziehen, um eine Lücke zu vernähen, die der Ruku-shai geöffnet hatte, und seine flinken Vorstöße zu bannen, bevor er sie erreichen und mit der grauenhaften Energie berühren konnte, aus der er bestand. Sie stob davor zurück, sammelte sich und drängte ihn ihrerseits zurück, bevor sie ob der schieren Gewalt der Gegenwart des Wesens wieder kehrtmachen musste. Es verwendete gänzlich andere Kniffe als jene, die ihr von den Schwestern beigebracht worden waren, Muster dämonischer Gedankengänge, die Kaiku nie in den Sinn gekommen wären. Und dennoch waren sie einander ebenbürtig. Der Kampf wogte bald in die eine, bald in die andere Richtung, aber im Grunde befanden sie sich in einer Pattstellung. Und allmählich gewöhnte Kaiku sich an das Ringen. Ihre Bewegungen wurden selbstsicherer. Sie musste sich weniger quälen und bekam zunehmend das Gefühl, Herrin der Lage zu sein. Hätte der Dämon von Anfang an seine gesamte Kraft ins Gefecht geschleudert, wäre sie wohl verloren gewesen; doch nun lernte sie nach und nach seine Vorgehensweise, denn er verfügte über nur wenige Listen, die er häufig wiederholte. Voll wilder Freude stellte sie fest, dass sie in der Lage war, die Kniffe des Dämons zu erahnen und sie zu unterbinden. Die Häufigkeit der Vorstöße des Ruku-shai in ihre Verteidigung nahm ab. Kaiku erkannte, dass sie zwar ungeübter, trotzdem aber flinker und wendiger war als ihr Gegner, der sie allein aufgrund ihrer Unerfahrenheit so lange auf Abstand zu halten vermocht hatte. Sie konnte gewinnen. Kaiku sammelte alle Fäden unter ihrer Herrschaft zu einem Band, schraubte sich himmelwärts und zog ihren Feind gleich dem Schweif eines Kometen hinter sich her. Sie zerrte den Dämon Schwindel erregend hoch und 244 schnell empor, hielt ihn dabei mit Haken und Ösen gefangen. Das Wesen war verwirrt über diesen seltsamen Angriff und zauderte. Indem sie es mit flinken Vorstößen heimsuchte, lenkte sie seine Aufmerksamkeit fernab des Kerns seines Bewusstseins; dann schnitt sie es los und tauchte hinab, sprang zwischen verschiedenen Strängen hin und her, raste auf den Körper des Dämons zu und umging das eigentliche Schlachtfeld völlig. Der Ruku-shai erkannte, dass er von dem Ort weggelockt worden war, den er verteidigen sollte, und folgte ihr, so schnell er konnte. Aber mittlerweile sauste Kaiku mit aller Geschwindigkeit dahin, und ihr Gegner war zu langsam. Gleich einer Flutwelle prallte sie gegen seine innere Verteidigung, feuerte die gesamte Kraft ihres Kanas darauf ab, und die Schranke brach zusammen. Dann war sie in ihm, raste durch die Fasern des irdischen
Leibs des Ruku-shai, sengte durch seine Muskeln und Venen, durchdrang jeden Teil des fremdartigen Körpers. Sie hatte keine Zeit mehr für Feinheiten. Kaiku verankerte sich einfach darin und zerriss den schwarzen Knoten seines Daseins. Der Kehle des Dämons entrang sich ein unmenschliches Klappern, als er von innen zerfetzt wurde. Eine Feuerwolke quoll aus seinem Maul, seine Glieder und sein Bauch blähten sich, und dann explodierte er in lodernde Brocken aus Sehnen und Knorpel. Kaiku spürte, wie die Wut und der Schmerz seines Dahinscheidens über sie hinwegspülte, als sie ihr Kana zurückzog, ein Nachbeben im Geweb, das sie ob seiner Heftigkeit taumeln ließ. Ihr Kana kehrte in die Tiefen ihres Körpers zurück, und sie selbst huschte flugs aus dem Geweb in die Wirklichkeit, um vor den Nachwehen des Ablebens des Dämons zu flüchten. Kaiku blinzelte, und unvermittelt sah sie nicht mehr 245 das Geweb, sondern den grauen Nebel - und ihre Gefährten, die auf den stummen Flammenball starrten, der auf einer Seite aufgelodert war. Für sie war, wenn überhaupt, vielleicht eine Sekunde verstrichen; Kaiku hingegen hatte das Gefühl, eigenhändig eine Schlacht geschlagen zu haben. Kaikus Hochgefühl über den Sieg verflog, als sie das klappernde Herannahen der übrigen Dämonen hörte. Einen hatte sie bezwungen, doch nun waren seine Gefährten außer sich vor Zorn und begnügten sich nicht mehr damit, abzuwarten und zu lauern. Das Rasseln wurde schriller, bis es in den Ohren schmerzte. Der diesige Dunstschleier verdichtete sich zu zwei grässlichen Schatten. Kaiku blieb keine Zeit, ihr Kana zu sammeln, ehe die Ruku-shai sie erreicht hatten. Ihre sechs Beine ließen sie in einem seltsamen, gelenkigen Lauf aus dem düsteren Nebel hervorbrechen. Von den tödlich anmutenden Hufzehen bis zum wirbeligen Grat ihres Rückens ragten sie über zwei Meter hoch auf, von vorne bis hinten maßen sie gar über drei Meter. Ihre grüngrauen Rümpfe glichen einer Masse von Winkeln, da knochige Panzerplatten die Flanken und den Rücken überzogen. Sie wuchsen mit scharfen Höckern und Stacheln, so dass sie wie ein Dornenmantel wirkten, der von stinkendem Schlamm verschmiert war und an dem sich Sumpfgrasreste verfangen hatten. Die Köpfe waren rings um die eingesunkenen, gelben Augen ähnlich gepanzert, und wenn sie die Mäuler öffneten, spannte sich ein leichenblasser Hautfilm über die Innenseite der Kiefer. Sie fegten mitten hinein in die Gruppe, die sie durch ihre unerwartete Geschwindigkeit völlig überraschten. Kaiku hechtete beiseite, als einer der Dämonen an ihr vorbeidonnerte und mit dem Schwanz nach ihrem Kopf 246 hieb. Sie fiel unbeholfen, verhedderte sich in einem Klumpen langen Grases und landete auf einem modrigen Teppich schmatzenden Schlamms. Ihr Angreifer bremste jäh, richtete sich auf die vier Hinterbeine auf, warf die vorderen wie eine Gottesanbeterin hoch und durchbohrte Kaiku mit einem tödlichen Blick. Dann knallte eine Büchse, und die Kugel prallte vom Panzer an der Wange des Ruku-shai ab. Der Dämon wich zurück, und Kaiku spürte Yugis Arm, der sie zurück auf die Beine hievte. Sie fand gerade rechtzeitig das Gleichgewicht, um den anderen Ruku-shai über Yugis Schulter zu erspähen. Auch er hatte sich wie eine Gottesanbeterin aufgerichtet, und Kaiku musste von Grauen erfüllt mit ansehen, wie er Tsata angriff. Im Bruchteil einer Sekunde hieb der Dämon mit einem hufbewehrten Vorderbein auf den Tkiurathi ein, der mit einem Blutschweif im Gefolge durch die Luft segelte, an einem Morasthügel landete und zusammensank. Dann wandte sich das Ungeheuer ihnen zu. »Yugi! Hinter uns!«, schrie sie, doch es war bereits zu spät. Der kordelähnliche Schwanz des Dämons erfasste Yugi quer über die Rippen, als er sich umdrehte. Kraftlos seufzte er und fiel vornüber auf Kaiku, als all seine Muskeln gleichzeitig erschlafften. Unwillkürlich fing sie ihn auf; dann vernahm sie einen weiteren Büchsenschuss und das zornige, rasselnde Knurren eines Dämons. Sie ließ Yugis Gewicht zu Boden sinken und bemerkte, dass der Dämon, der ihn gestochen hatte, unter Qualen auf eine Wunde an seinem Hals eindrosch, wo Nomorus Büchse den Panzer durchdrungen hatte. Aber nun ragte der Ruku-shai, der sie zuerst angegriffen hatte, mit erhobenen Vorderbeinen und aufgerissenem Maul über ihr auf. Darin blitzten krumme und 247 abgebrochene Fänge, zwischen denen sich gelbe Speichelfäden spannten, als er die Kiefer streckte. Tief aus der Kehle drang ein Unheil verkündendes Rasseln. Sie hatte nur einen Augenblick, um zu handeln, doch das genügte. Mit verzweifelter Willensanstrengung bündelte sie all ihr Kana, schleuderte dem Dämon eine Hand entgegen und warf sich in einen wütenden Angriff. Jäh erwachte das Geweb rings um sie zum Leben, als sie all ihre Kraft in einen schmalen Strahl legte, nichts zurückließ, um sich zu schützen, und die Verteidigung des Ruku-shai wie eine Nadel durchbohrte. Von der selbstmörderischen Tollkühnheit des Vorstoßes überrascht, holte der Dämon viel zu langsam zu einem Gegenschlag aus; binnen eines Blinzeins schnellte Kaiku ins Herz des Ungeheuers und zerfetzte es. Die Gewalt der Explosion, die das Ende des Dämons verhieß, versengte ihr das schlammverschmierte Gesicht. Irgendwo hinter ihr fluchte Nomoru, schleuderte dem letzten Ruku-shai wüste Schimpfworte entgegen, während sie unablässig auf ihn feuerte, zwischen jedem Schuss den Hahn spannte und Kugel um Kugel in die Kreatur pumpte. Ohne sich um Yugi zu kümmern, wandte Kaiku sich von den lodernden Überresten ihres Opfers ab und rannte der Kundschafterin stolpernd zu Hilfe.
Nomoru stand über dem ausgestreckt daliegenden Tsata auf dem Morasthügel und hielt sich und dem Tkiu-rathi den Ruku-shai vom Leib. Jedes Mal, wenn sich eine Kugel brennend in sein Fleisch bohrte, krümmte sich der Dämon vor Schmerzen; trotzdem griff er immer wieder an, und Nomorus Munition konnte nicht ewig währen. Kaiku stieß einen gellenden, herausfordernden Schlachtruf aus. Entschlossen, mit tiefroten Augen und 248 grimmiger Miene stapfte sie durch den Morast auf die Kreatur zu. Ihr Anblick raubte dem Dämon den restlichen Mut; mit einem letzten Rasseln stob er in den Nebel davon. Nomoru drückte den Abzug, um ihm eine Lebewohlkugel auf den Weg mitzugeben, doch die Büchse klickte nur. Das Schießpulver war verbraucht. Mit ausdrucksloser Miene, die keinerlei Regung verriet, schaute sie zu Kaiku; dann kauerte sie sich neben Tsata und rollte ihn herum. »Hol den anderen«, sagte sie zu Kaiku, ohne aufzublicken. Kaiku tat, wie ihr geheißen. Die Luft wirkte plötzlich weniger drückend, das Böse löste sich auf wie ausgestoßener Atem, und der Nebel rings um sie lichtete sich. Sie fühlte sich wie betäubt. Die Dämonen waren zwar fort, aber sie war zu Tode erschöpft, und der jähe Abfluss des Adrenalins aus ihrem Körper ließ sie zitternd zurück. Yugi lag mit dem Gesicht zu Boden und alle viere von sich gestreckt da. Wo der Ruku-shai ihn getroffen hatte, war das Hemd aufgerissen. Blut quoll darunter hervor. Mit sinkendem Mut kniete Kaiku neben ihm nieder. Sie nahm ihm den Rucksack ab, dann drehte sie ihn um und schüttelte ihn. Als dies keine Reaktion bewirkte, schüttelte sie ihn erneut, aber sein Kopf baumelte dabei nur kraftlos vor und zurück. Verwirrung schlug in blankes Entsetzen um. So schwer war er nicht getroffen worden. Was stimmte bloß nicht mit ihm? Kaiku war weder in Kräuterkunde noch in der Heilkunst ausgebildet; sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die dämpfenden Kissen der Erschöpfung reichten nicht, um das neue Grauen zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Yugi war ihr Freund. Warum wachte er nicht auf? 249 Omecha, stummer Erntevater, hast du mir noch nicht genug genommen ?, betete sie verbittert. Lass ihn leben! »Gift«, sprach eine Stimme an ihrer Schulter. Als sie sich umschaute, kauerte Tsata neben ihr. In seinem blutigen Gesicht klaffte eine tiefe Schnittwunde, und sein rechtes Auge war zugeschwollen. Seine Lippen verursachten beim Reden ein schmatzendes Geräusch. »Gift?«, wiederholte Kaiku. »Dämonengift«, bestätigte Nomoru, die über ihnen stand. »Die Ruku-shai haben Stacheln an den Schwänzen.« Kaiku starrte wie gebannt in das Antlitz des gefallenen Mannes. Sie konnte zusehen, wie es sich purpurn verfärbte. »Kannst du ihm helfen?«, fragte Kaiku mit kläglicher Stimme. Tsata legte die Finger an Yugis Kehle, tastete nach einem Puls. »Er stirbt. Es ist zu spät, um das Gift noch zu entfernen.« Mittlerweile war der Nebel fast wieder auf den Boden gesunken, und am Rande ihres Verstandes erkannte Kaiku, dass sie drei Viertel des Weges durch den Sumpf zurückgelegt hatten. Die Kultanhänger auf der anderen Seite waren verschwunden. »Hol es raus«, sagte Nomoru. Kaiku brauchte kurz, um zu begreifen, dass sie mit ihr gesprochen hatte. »Ich weiß nicht wie«, flüsterte sie. So weit traute sie der Macht in ihr nicht über den Weg. Plötzlich verspürte sie niederschmetternde Reue für all die Jahre, in denen sie Cailins Rat, zu lernen, um ihr Kana zu beherrschen, in den Wind geschlagen hatte. Es als Waffe zu führen war eine Sache - es einzusetzen, um zu heilen, eine ganz andere. Einmal hätte sie um ein Haar Asara damit getötet, später beinahe Lucia - alles nur aufgrund ihres man250 gelnden Könnens. Sie wollte nicht, dass Yugis Tod auf ihrem Rücken lastete, wollte nicht dafür verantwortlich sein. »Du bist doch Lehrling«, beharrte Nomoru. »Lehrling im Roten Orden.« »Ich weiß nicht wie!«, wiederholte Kaiku hilflos. Tsata packte sie am Kragen, zerrte sie dicht zu sich und funkelte sie mit seinem heilen Auge an. »Versuches!« Kaiku versuchte es. Bevor die Furcht sie neuerlich überwältigen konnte, tauchte sie in Yugi ein, indem sie ihm die Hände auf die Brust legte und die Augen schloss. Die dünne Schicht ihrer Lider war nutzlos, um den Anblick des Gewebs auszusperren, als die Welt wieder in goldenen Tönen erstrahlte. Sie hechtete in die fließenden Fasern seines Körpers, zwängte sich zwischen den Muskelsträngen hindurch und gelangte in den schwächer werdenden Strom, der ihn am Leben erhielt. Sie konnte das Gift spüren, konnte sehen, wie es die goldenen Fasern seines Fleisches schwärzte. Der langsame Donner seines Herzens pochte durch sie hindurch. Sie wusste weder, womit sie beginnen, noch was sie tun sollte. Kaiku besaß kaum Kenntnisse in Naturkunde, und über Gifte und deren Wirkungen wusste sie erst recht nichts. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das Gift unschädlich machen sollte, ohne es und dadurch auch Yugi zu zerstören. Unentschlossenheit lähmte sie. Ihr Bewusstsein schwebte im Schaubild von Yugis Körper.
Lerne von deiner Umgebung. Verschmilz mit ihr. Es waren Cailins Worte. Etwas, das sie ihr vor langer Zeit beigebracht hatte. Schlägt alles andere fehl, so lass alles los und gestatte dem Fluss des Gewebes, dir den Weg zu weisen. 251 Yugis Körper war ein Gefüge, das seit mittlerweile dreißig Jahren wirkungsvoll gelaufen war. Es wusste, was es tat. Kaiku brauchte nur zu lauschen. Sie begann ein Mantra, eine Meditation, die ihr helfen sollte, sich zu entspannen. Allen Widrigkeiten zum Trotz half es tatsächlich, und die starre Form ihres Bewusstseins lockerte sich, zerschmolz wie Eis zu Wasser. Kaiku war regelrecht erschrocken darüber, wie mühelos ihr Kana ihrem Befehl gehorchte. Sie ließ sich von Yugis Körper aufnehmen und die Natur ihre Instinkte lehren. Alles ergab vollkommenen Sinn: der Kreislauf des Blutes, die Funken zwischen den Zellen in seinem Gehirn, das kaum wahrnehmbare Pulsieren seiner Nervenstränge. Indem sie eins damit wurde, fand sie seinen Körper so vertraut wie den eigenen. Sie stellte fest, dass sie unterbewusst eine Vorstellung davon hatte, was zu tun war, also ließ sie sich von ihrem Kana führen. Das Gift breitete sich wie ein Geschwür aus. Selbst aus den winzigsten Teilchen sprossen grässliche Fäden der Fäulnis, wenn sie nicht bekämpft wurden. Kaiku war gezwungen, sich mit der Genauigkeit eines Feinschmieds durch die Fasern in Yugis Körper zu bewegen, um die dunklen Windungen inmitten der leuchtenden Röhren seiner Venen und Adern aufzuspüren, sein Herz vor dem heimtückischen Vormarsch des Übels zu schützen und gleichzeitig das befallene Blut zu reinigen, das mit jedem schwächer werdenden Schlag hindurchgepumpt wurde. Die geistige Anstrengung, Yugi am Leben zu erhalten und zugleich das Gift zu beseitigen, war gewaltig, umso mehr, da sie keine Ahnung hatte, was sie eigentlich tat. Aber sie stellte fest, dass sie allmählich Oberhand erlangte, wobei ihr Kana mit einem eigenen Verstand arbeitete und nur scheinbar von ihr gelenkt wurde. 252 Kaiku jagte das Gift. Sie verknotete und verzurrte es, um seinen Vormarsch aufzuhalten. Behutsam entfernte sie faulige Fäden und schleuderte sie fort, hinaus in den Sumpf, wo sie keinen Schaden anrichten konnten. Sie errichtete geschwürartige Schranken, an denen es nicht vorbei konnte, und löste sie wieder auf, sobald die Gefahr gebannt war. Zwei Mal dachte sie bereits, sie hätte es besiegt, musste aber feststellen, dass sie eine winzige Giftfaser übersehen hatte, die wieder auf das Herz zukroch. Erschöpfung drohte, sie zu überwältigen, aber ihr Wille hielt ehern stand. Sie würde ihn nicht sterben lassen. Dann, völlig unerwartet, war es vollbracht. Jäh schlug sie die blutroten Augen auf und war wieder im Sumpf. Tsata musterte sie mit ehrfürchtigem Blick; sogar von Nomoru schien eine Art widerwilliger Anerkennung auszugehen. Yugi atmete regelmäßig, die zuvor blassen Züge hatten ihre gesunde Farbe wieder. Er schlief tief und fest. Kaiku fühlte sich verwirrt; es dauerte eine kurze Weile, ehe sie begriff, wo sie sich befand und was geschehen war. Bei den Göttern, dachte sie zutiefst ungläubig bei sich. Ich wusste es nicht. Mir war nicht klar, was ich mit der Kraft in mir alles bewirken kann. Warum nur habe ich mich von Cailin nicht unterrichten lassen ? Ein Hochgefühl so tief und befriedigend, wie sie es noch nie empfunden hatte, beseelte Kaiku. Sie hatte Yugis Leben gerettet. Nicht indem sie ihn aus einem Gefahrenbereich gezerrt oder ihn in einer Schlacht beschützt, sondern indem sie seinen Körper vom Rand des Todes zurückgeholt hatte. Sie kannte die gefährliche Verzückung des Gewebs nur allzu gut, doch dies war eine andere Art von Ekstase, die sich irgendwie reiner anfühlte. Sie hatte ihre Macht eingesetzt, um zu 253 heilen, statt zu zerstören; und darüber hinaus hatte sie es getan, ohne dass es ihr je jemand beigebracht hatte. Ein Lächeln breitete sich über ihre Züge aus, und sie begann vor Erleichterung und Freude zu lachen. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass sie gleichzeitig weinte. 254 FÜNFZEHN Geblütskaiser Mos erwachte mit einem Schrei auf den Lippen aus einem Traum. Mit wildem Blick schaute er sich um, während seine klobigen Hände die goldenen Bettlaken umklammerten; dann, als er erkannte, dass er wach war, kehrte die Vernunft zu ihm zurück. Die Nachwehen des Traumes aber verharrten: die Demütigung, der Kummer, die Wut. Es war zu heiß. Nach Mittag, vermutete er, und im kaiserlichen Schlafgemach war es trotz der offenen Läden stickig. Das Zimmer war geräumig und luftig gebaut, besaß einen schwarzen Lackboden und einen Durchgang, der auf einen Balkon an der nordöstlichen Seite der Kaiserlichen Feste führte. Neben dem Durchgang waren kleinere, ovale Fenster angeordnet, durch die schmerzlich grelles Licht einfiel. Mos lag auf dem Bett, das gleichsam das Herzstück der Kammer bildete. Der Großteil der übrigen Einrichtung diente Laranya - Frisierkommoden, Spiegel, ein elegantes Sofa -, dies aber gehörte ihm, ein Geschenk von einem Gesandten aus Yttryx, den er zu Beginn seiner Herrschaft empfangen hatte. An jeder Ecke des Bettes bildeten die Elfenbeinhörner eines riesigen yttryxischen Tieres die Bettpfosten. Sie waren über anderthalb Meter hoch und gleichförmig nach außen gewunden, mit Goldreifen verziert und mit kostbaren Edelsteinen besetzt. Im Raum roch es nach den säuerlichen Ausdünstungen geistiger Getränke, und im Mund schmeckte er scha255
len Wein. Unter den durch sein nächtliches Hin- und Herwälzen verworrenen Laken war er nackt. Seine Gemahlin, die Kaiserin, war nicht bei ihm im Bett, und da er auch ihren Geruch nicht wahrnahm, wusste er, dass sie die vergangene Nacht nicht hier geschlafen hatte. Stockend kehrte sein Gedächtnis zurück. Die Sommerfestwoche war noch jung. Er erinnerte sich an ein Fest, Musikanten ... und Wein, jede Menge Wein. Verschwommene Bilder von Gesichtern und Gelächter huschten durch seinen Verstand. Sein Schädel pochte. Ein Streit. Natürlich, sie hatten gestritten; was sie in letzter Zeit immer öfter zu tun schienen. Wenn zwei Heißsporne aufeinander prallten, flogen Funken. Aber er war in versöhnlicher Stimmung gewesen, weil er immer noch leichte Reste von Schuld für jenen Augenblick im Pavillon verspürte, als er sie beinahe geschlagen hätte. Irgendwie hatte er sich mit ihr versöhnt, und sie hatten die Nacht durchgefeiert. Da er gespürt hatte, wie zerbrechlich ihr vorübergehender Friede war, hatte er sogar die grässliche Gesellschaft geduldet, die von ihr angezogen wurde wie Motten von Licht, hatte für die widerwärtig schillernden und gekünstelten Freunde seiner Gemahlin auf das Beisammensein mit seinen bodenständigeren und geselligeren Gefährten verzichtet. Selbstverständlich war Eszel dort gewesen, und ihr Bruder Reki. Der Bücherwurm fühlte sich bei Laranyas Pack offenbar wie zu Hause. Mos besann sich, dass er betrunken vor sich hingebrütet hatte, ohne viel zu sagen, während sie Unsinn über belangloses Zeug geschwafelt hatten, das eigens dafür gedacht schien, ihn von der Unterhaltung auszuschließen. Was wusste er schon über uralte Denker? Was kümmerten ihn klassische vinaxi256 sehe Skulpturen? Abgesehen von Laranyas gelegentlichen Versuchen, ihn wie einen verhungernden Hund, dem man einen Brocken hinwarf, in das Gespräch einzubinden, hatte er rein gar nichts beizusteuern gehabt. Mos runzelte die Stirn, als Einzelheiten sich zusammenfügten. Ein Gefühl des Grolls darüber, dass sie ihm, ihrem Geblütskaiser, keine Beachtung schenkten. Ein Gefühl der Zufriedenheit darüber, dass seine Gegenwart sowohl Reki als auch Eszel Unbehagen bereitete. Und ein Gefühl der Lust... daran konnte er sich sehr deutlich erinnern. Er wusste noch, dass er Laranya gewollt hatte, sich in ihm ein tiefes Verlangen geregt hatte, das nach Befriedigung schrie. Aber er wollte seine eigene Gemahlin nicht bitten, mit ihm ins Bett zu kommen, nicht vor all den Pfauen, mit denen sie sich umgab. Das beleidigte seine Vorstellung von Männlichkeit. Sie sollte mit ihm gehen, wenn er sie dazu aufforderte; er wollte nicht betteln. Beim Blut des Herzens, er war der Kaiser! Doch er hatte eine peinliche Zurückweisung gefürchtet, hätte er es ihr befohlen, und sie war zu starrsinnig, um sich ihrer Zustimmung sicher zu sein. Er wollte gehen und dass sie ihn begleitete. Er wollte sie nicht dort zurücklassen. Irgendwann im Verlauf der Nacht, in einem Augenblick trunkener Klarheit, erkannte er, dass er sie nicht bei Eszel lassen wollte. Ihm missfiel die Vorstellung, was sie treiben mochten, nachdem er gegangen wäre. Das Morgengrauen war das Letzte, woran er sich erinnerte. Da er unter dem erstickenden Schleier, den der Wein über seine Sinne ausgebreitet hatte, nicht mehr länger wach bleiben konnte, kündigte er lauthals und linkisch an, dass er zu Bett zu gehen gedenke, wobei er Laranya viel sagend anstarrte. Die Lackaffen verabschiedeten sich allesamt mit den üblichen hochgestochenen 257 Floskeln von ihm, und Laranya küsste ihn flüchtig auf die Lippen und meinte, sie käme bald nach. Aber sie war nicht gekommen. Und Mos' Träume waren in jener Nacht schlimm gewesen - zudem außergewöhnlich lebhaft. Obwohl er sich nur an einen richtig erinnern konnte, war er außerstande, die Gefühle abzuschütteln, die er heraufbeschworen hatte. In dem Traum hatte er eine heiße, leidenschaftliche Vereinigung gesehen und sich selbst, wie er unsichtbar einen Raum betrat, in dem er seine Gemahlin vorfand, die ihre Finger in den Rücken des Mannes grub, der zwischen ihre Schenkel stieß, während sie keuchte und stöhnte, wie sie es tat, wenn sie mit Mos zusammen war. Und in seinem Traum war er machtlos gewesen, konnte weder einschreiten, noch das Gesicht des Mannes sehen, mit dem sie ihm Hörner aufsetzte. Schwach und wie gelähmt hatte er sich gefühlt. So wie in dem Augenblick, als Kakre über ihm aufgeragt und ihn verängstigt hatte wie ein kleines Kind. Mit grimmig verkniffenen Zügen legte er sich ins Bett zurück. Erst der Webfürst und nun sein eigenes Eheweib? Hatten sie sich verschworen, um ihn zu demütigen? Die Vernunft legte nahe, dass Laranya sich vermutlich noch aufhielt, wo er sie zurückgelassen hatte und nach wie vor mit der unersättlichen Lebenslust feierte, die zu den Eigenschaften zählte, für die Mos sie so liebte. Aber er würde nie erfahren, was sich in den verlorenen Stunden seit dem Morgengrauen tatsächlich zugetragen hatte, und sein Traum quälte ihn weiter, während er zornig auf ihre Rückkehr wartete. Die Bewohner von Ashiki hatten gelernt, den Einbruch der Nacht zu fürchten. 258 Die Sommerfestwoche hatte sich als Zeit der Verdammnis für sie erwiesen. Mittlerweile gab es keine Feierlichkeiten mehr. Sie waren nur eine winzige Gemeinschaft, zudem neu im Xarana-Bruch. Überwiegend Gelehrte und deren Familien, wenngleich ihre persönlichen Besitztümer dafür aufgegangen waren, Soldaten als Wachleute anzuwerben. In den vergangenen Jahren schienen immer mehr Menschen vor dem Gefühl langsam anschwellender Spannung von den Städten in den Xarana-Bruch zu fliehen. Außer an diesem Ort waren die Augen der Weber überall, und die Gelehrten und Denker, die Ashiki gründeten, hatten die Unterdrückung mehr gefürchtet als die Geschichten, die man sich über den Bruch erzählte.
Offenbar hatten sie die falschen Geschichten gehört. Ihre Ankunft im Bruch war von Glück gesegnet gewesen. Von Zanya, Shintu oder beiden gelenkt, waren sie zufällig über ein abgeschiedenes Tal am Fuß der großen Wasserfälle gestolpert. Anfangs schien es ihnen ein böses Zeichen, da der Ort einem Beinhaus voller Leichen geglichen und sie mit Grauen erfüllt hatte; aber sie waren ein praktisch veranlagter Menschenschlag und nicht abergläubisch. Als sie begriffen, was hier vorgefallen sein musste, wurde ihnen klar, dass dies der vollkommene Ort für eine Siedlung war. Zwei verfeindete Gruppen mussten hier bei einem Kampf um das Gebiet aufeinander geprallt sein und einander gegenseitig ausgelöscht haben. Die Überlebenden hatten sich vermutlich in alle Winde verstreut. Das Land war herrenlos, und so beanspruchten die Gelehrten es für sich. Um das Ausmaß ihres Glückes wussten sie gar nicht. Die meisten Neuankömmlinge im Bruch hielten sich keine Woche, ehe eine andere, bereits eingesessene Macht sie verschlang. Doch die große Schlacht hatte das 259 Land im Umkreis von einer Meile geleert, so dass sie ungestört und unbemerkt eine kleine Gemeinschaft aufbauen konnten, die sich in dem malerischen Tal verbarg. Dies sollte ihre erste Sommerfestwoche im Bruch werden, und ungeachtet aller Entbehrungen fühlten sie sich wie Entdeckungsreisende an einer neuen Grenze und waren glücklich. Dann, in der zweiten Nacht der Sommerfestwoche, begannen Menschen zu verschwinden. Eingelullt von der vermeintlichen Sicherheit, hatten die Bewohner von Ashiki ihre Wachsamkeit inmitten der Feierlichkeiten vernachlässigt. Am nächsten Morgen waren vier Menschen unauffindbar. Zunächst wurde ihr Fehlen kaum bemerkt; als man es schließlich feststellte, nahm man an, sie wären irgendwo betrunken eingeschlafen. Bei Einbruch der nächsten Nacht waren zwar ihre Familien und Freunde besorgt, der Rest des Ortes jedoch nicht genug, um ihr Feiern durch ein paar Vermisste einzuschränken. Höchstwahrscheinlich waren sie bloß losgezogen, um sich am Spiel der Liebe zu erfreuen oder ein Weilchen Abstand von der Gemeinschaft insgesamt zu gewinnen. Beides war keineswegs unbekannt. In jener Nacht verschwanden sechs Menschen. Einige davon aus den Betten. Diesmal erregte es die Aufmerksamkeit der Siedlung. Man sandte Suchmannschaften aus, um die umliegende Umgebung zu durchkämmen. Als sie zurückkehrten, fehlten zwei weitere Männer. Nun, als die Nacht den vierten Tag der Sommerfestwoche verdrängte, schlief niemand. Die stillen Dämonen und Geister, die Menschen aus ihrer Mitte stahlen, hatten sie mit Todesangst erfüllt, und so scharten sie sich in den Häusern oder versteckten sich hinter den Palisaden und fürchteten, was die Dunkelheit bringen mochte. Sie 260 wussten nicht, dass ihr Dämon sein Werk vollbracht hatte und von dannen gezogen war. Er hatte alle Opfer, die er brauchte. Das Geschöpf, das Kaiku als Asara kannte, kauerte brütend und immer noch in der Gestalt von Saran Ycthys Marul in einer Höhle. Dennoch hätte Kaiku ihn nicht mehr erkannt. Sein Leib war geschwollen und aufgedunsen, die Haut ein Spinnennetz vortretender roter Adern, das in losen Falten herabhing, als wäre jegliche Geschmeidigkeit daraus entwichen. Die gestrengen Quaraal-Kleider lagen abgelegt an seiner Seite neben einer neuen Kluft, die er für seine neue Erscheinung gestohlen hatte. Der einst muskelbepackte Körper glich nur noch einem Zerrbild seiner früheren Form und ergoss sich schlaff über die angewinkelten Knie. Die Augen waren von einem weißen Schleier überzogen und mit dunklen Netzhautbrocken gesprenkelt, die frei in den kurzsichtigen Augäpfeln umhertrieben. Sein Körper zerlegte sich in seine Bestandteile, ordnete sie in einem genetischen Tanz unglaublicher Genauigkeit neu an, änderte ein Teil nach dem anderen, um zu gewährleisten, dass er lebensfähig blieb, während das Wunder der Gestaltenwandlung sich vollzog. Er veränderte seinen gesamten Aufbau, wurde in der eigenen Haut neu geboren. Die Höhle war feucht, stockfinster und gut versteckt. Im Schein eines Feuers hätte sie sich als kleine, hübsche Grotte entpuppt, die von einem seichten, von Stalagmiten umgebenen Tümpel beherrscht wurde und in deren Wänden grüne und gelbe Minerale glitzerten. Aber er hatte kein Feuer angezündet, denn er brauchte keine Wärme. Er hatte die Höhle aufgrund ihrer Unzugäng261 lichkeit gewählt und sich vergewissert, dass sie fernab der nächsten Siedlung im Bruch lag. Sie war vom durchdringenden Moschusgestank eines Tieres erfüllt. Der frühere Bewohner war von Saran vor ein paar Tagen getötet und hinausbefördert worden, doch der Moder würde andere Tiere fern halten. Zur Sicherheit hatte er darüber hinaus den Eingang mit Steinen versiegelt. In den Tagen, während sich die Veränderung vollzog, war er verwundbar. Seine Muskeln waren bereits so sehr geschwunden, dass er sich kaum bewegen konnte. Er war praktisch blind und taub. Während er mutterseelenallein in der Dunkelheit kauerte, leisteten ihm nur seine allmählich verflachenden Gedankengänge Gesellschaft, die sich verlangsamten, bis er in eine Art Winterschlaf verfiel, in der er den Großteil der Verwandlung überdauern würde. Die letzten Gedankenreste, die noch durch seinen Kopf wirbelten, waren bitter. Asara war in gänzlich argloser Absicht in die Gestalt von Saran Ycthys Marul geschlüpft. Es war eine notwendige Tarnung gewesen, um ihr Unterfangen in Quaraal zu ermöglichen. Unter der strengen Priesterherrschaft war es Frauen nur mit besonderer Genehmigung gestattet, innerhalb des Landes zu reisen, und
Frauen aus der Fremde durften das Reich nicht einmal betreten. Die Form eines männlichen Quaraalers anzunehmen war die einzige Möglichkeit gewesen, dort Nachforschungen anzustellen. Es hatte ihr zwar widerstrebt, war jedoch nicht ganz unangenehm gewesen. Während ihrer Zeit der Wanderung und Suche nach ihrem wahren Ich, das sich ihr stets entzogen hatte, war sie schon einmal ein paar Jahre lang ein Mann gewesen. Diesmal war es ihr leichter gefallen, sich daran zu gewöhnen, und sie hatte sich in der eigenen Haut wohler gefühlt als damals. Den262 noch beschlich sie manchmal das Gefühl, dass sie so handelte, wie sie es für einen Mann richtig hielt, statt sich natürlich so zu geben. Solche Augenblicke fanden Ausdruck in Gesten übertriebener Würde oder Gestelztheit, die irgendwie gekünstelt und lächerlich anmuteten. Sie hatte diese Tarnung für ihren letzten Besuch in Okhamba behalten. Teils, weil sie sich daran gewöhnt hatte, aber auch, weil es einfacher war, Männer für eine gefährliche Reise um sich zu scharen, wenn sie selbst als Mann auftrat. Dadurch blieben ihr Rangeleien der Geschlechter während der Vorbereitungen und des Marsches selbst erspart. Männer empfanden für eine Frau, die sich einem solchen Wagnis auszusetzen gedachte, entweder Verachtung - weil sie hochmütig meinten, sie versuchte dadurch, sich mit einem Mann zu messen - oder ein Schutzbedürfnis, was noch schlimmer war. Sie waren vorhersehbar wie Nacht und Tag. Doch es gab noch einen anderen, triftigeren Grund. Um einen Wandel ihres gesamten Körpers zu vollziehen, war sie gezwungen, den Atem und das Wesen anderer zu stehlen, bis sie zu platzen drohte. Die Schmiede der Veränderung, jenes Organ, das sie zwischen dem Magen und dem Rückgrat spürte - und das sie sich wie eine Spirale vorstellte, wenngleich es in der Körperkunde nichts gab, womit es sich vergleichen ließ -, musste mit ausreichend Brennstoff versorgt sein, um die Verwandlung hindurch lodern zu können. Was das Leben vieler Männer und Frauen erforderte. Es war keineswegs so, dass Saran sich schuldig gefühlte hätte zu nehmen, was er brauchte. Er hatte vor langer Zeit festgestellt, dass er bestenfalls ein flüchtiges Bedauern zu empfinden vermochte, wenn er tötete, nicht mehr als ein Fleischer, der einen Banathi schlachtete. Doch er hatte deshalb sechsundachtzig Ernten über263 dauert, weil er stets vorsichtig war, und ein Dutzend Tote in rascher Folge sorgen bei den Überlebenden immer für Schrecken und Argwohn. Manchmal hielten sie es für eine geheimnisvolle Seuche, den Schlafenden Tod, denn die Opfer wurden leblos, aber ohne äußerliche Male aufgefunden, ganz so, als hätten sie einfach zu atmen aufgehört; andere Male hingegen suchten sie einen Sündenbock, und fänden sie Ihn mitten in der Verwandlung, rissen sie ihn in Stücke. Für gewöhnlich änderte er den gesamten Körper nur, wenn es unbedingt nötig war. Dies Mal hingegen stellte eine Ausnahme dar. Heftige Abscheu hatte ihn erfüllt. Diese Gestalt, diese Haut war nunmehr besudelt. Saran Ycthys Marul würde abgestreift, und mit ihm vielleicht der Rest der Erinnerungen, die an ihm hafteten. Woher hätte er wissen sollen, dass sie Kaiku schicken würden, um ihn zu treffen? Warum ausgerechnet sie? Obwohl sie fünf Jahre voneinander getrennt gewesen waren, herrschte diese verfluchte Anziehungskraft zwischen ihnen noch immer, ganz gleich, welche Form er annahm, und nun war sie zudem durch den Umstand verstärkt worden, dass sie zwischen Mann und Frau bestand. Mittlerweile wünschte er, Kaikus Leben nie gerettet zu haben. Für jemanden, der sich seiner uneingeschränkten Unabhängigkeit so sehr rühmte, hatte er einen stolzen Preis dafür bezahlt. Dennoch hatte er eine Zeitlang geglaubt, das Blatt hätte sich zu seinen Gunsten gewendet. Warum es ihr sagen ?, hatte er gedacht. Er schuldete es ihr nicht. Es war sein Vorrecht, sich nach Belieben zu verwandeln, und er hatte nicht das Gefühl, ihr Vertrauen zu missbrauchen, indem er über seine Vergangenheit log. Nachdem Kaiku ihm offenbart hatte, was sie von Asara hielt, hatte seine 264 Entscheidung endgültig festgestanden. Es schien besser, noch einmal von vorne zu beginnen. Kaiku musste es nie erfahren. Und dann kam der Augenblick der Vereinigung, in dem ihn sein Körper ebenso verraten hatte wie einst jener Asaras. Die Begierde, sie sich zu nehmen, in ihr Innerstes zu dringen, war stärker gewesen, als der schlichte Akt des Liebesspiels zu befriedigen vermochte. Ein ureigener Trieb in ihm wollte sie verschlingen, den verlorenen Teil seines Selbst zurückfordern und sich dabei gleich ihr Wesen einverleiben. Wieder hatte er die Beherrschung über sich verloren. Nun hatte er alles zerstört. Er kannte Kaiku zu gut: Sie war in ihrem Zorn ebenso unnachgiebig wie in allem anderen. Sie würde ihm niemals vergeben, niemals. Sein Betrug, der ihm zuvor so gerechtfertigt erschien, war jetzt, durch Kaikus Augen betrachtet, unaussprechlich abscheulich. Was war er doch für ein bemitleidenswerter Wurm, dass er Gestalten annahm, um sich selbst völlig neu zu erschaffen, um Fehler der Vergangenheit durch neue Gesichter auszulöschen. Ein Geschöpf ohne Wurzeln, ohne Kern, das sein Wesen von anderen stahl und dennoch seelenlos blieb. Er war zu Cailin gegangen, und sie hatten sich über eine neue Aufgabe für ihn unterhalten, die allerdings erforderte, dass er eine andere Gestalt annahm. Er hatte nur allzu bereitwillig zugesagt. Saran konnte sich nicht mehr ertragen. Es war an der Zeit, sich zu verwandeln.
Zaelis fand Lucia mit einem jungen Burschen ihres Alters im Windschatten eines Felsvorsprungs, der aus der Seite des Tals ragte. Es war Mittag, und Nukis Auge stand 265 in voller Kraft am Himmel, tauchte die Welt in gleißendes Licht. Lucia und der Junge lagen im spärlichen Schatten, den der Felsen bot, er auf dem Rücken, sie auf dem Bauch, wobei sie las und die Beine leicht hin und her bewegte. Mehrere kleine Tiere wuselten in der Nähe umher, gingen seltsam gelassen ihren Geschäften nach: zwei Eichhörnchen buddelten nach Nüssen, huschten bald hierhin, bald dorthin, aber nie weit weg; ein Rabe stolzierte auf dem Felsvorsprung wie ein Wächter auf und ab; ein schwarzer Fuchs hockte im Gras, putzte seinen buschigen Schwanz und spähte gelegentlich zu den4 beiden Halbwüchsigen zurück, die unter seinem Schutz herumlümmelten. Zaelis blieb eine Weile stehen und beobachtete sie. Der Anblick wärmte ihm das Herz. Er glich einem Gemälde, einem Idyll der Kindheit. Lucias Pose und Gebaren waren mädchenhafter, als er sie je gesehen hatte. Während er dies dachte, wandte sie sich dem Burschen zu und sagte etwas über das Buch, in dem sie schmökerte, woraufhin er in jähes Gelächter ausbrach und die Eichhörnchen erschreckte. Im Gegenzug grinste sie ihn an: ein unbekümmertes, echtes Lächeln. Zaelis fühlte sich zunächst glücklich, dann traurig. Lucia erlebte solche Augenblicke viel zu selten, und nun kam er, um auch diesen zu zerstören. An dieser Stelle wäre er beinahe umgekehrt und hätte sich vorgenommen, später mit ihr zu reden; dann aber besann er sich, dass mittlerweile mehr als nur seine Gefühle für sie auf dem Spiel standen. Schweren Herzens humpelte er den Hügel zu ihnen hinauf. Als er sich den beiden näherte, erkannte er den Jungen. Sein Name war Flen; der Sohn eines der wenigen Berufssoldaten aus dem Schoß. Sein Vater war ein Mitglied der Libera Dramach. Zaelis erinnerte sich, ihm ein 266 oder zwei Mal begegnet zu sein. Von allen, mit denen Lucia ihre Zeit verbrachte, war Flen ihr Lieblingsgefährte; zumindest berichteten ihm das seine Spitzel. Die Vorsicht hatte ihn veranlasst, das Treiben der Thronerbin im Auge zu behalten, während sie heranwuchs. Zaelis stellte bereits fest, dass er den Jungen nicht mochte. Er hatte Lucia davor gewarnt, ihre Fähigkeiten offen zur Schau zu stellen, weil er fürchtete, sie könnte sich dadurch enthüllen. Obwohl kaum jemand wusste, dass die Thronerbin des Geblüts Erinima überhaupt noch lebte und ihre Seelenverwandtschaft mit der Natur noch viel weniger bekannt war, erschien ihm das Wagnis zu groß. In Flens Gegenwart verbarg sie ihre Gabe nicht. Nur in Flens Gegenwart. Weshalb war von all ihren Freunden gerade er so besonders? Vorsicht, Zaelis, dachte er bei sich. Sie ist mittlerweile vierzehn Ernten alt. Kein kleines Mädchen mehr. Ganz gleich, was du gerne glauben möchtest. Da bemerkte ihn Flen, wenngleich die Tiere - und somit auch Lucia - ihn schon längst gesichtet hatten. Sie stoben jedoch nicht davon, wie es Tiere für gewöhnlich taten, sondern blieben auffällig keck, wo sie waren. »Meister Zaelis«, begrüßte Flen ihn, rappelte sich auf die Beine und verneigte sich hastig nach Art männlicher Kinder mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. »Flen«, antwortete er mit einem bloßen Kopfnicken. »Ob ich mich wohl kurz unter vier Augen mit Lucia unterhalten kann?« Flen schaute zu Lucia, als suchte er ihre Zustimmung; was Zaelis unerklärlicherweise ärgerte. Sie aber las unbeirrt ihr Buch, als wären sie beide nicht da. »Selbstverständlich«, gab Flen zurück. Er schien sich noch von Lucia verabschieden zu wollen, überlegte es 267 sich dann aber anders. Stattdessen ging er mit zögerlichen Schritten los, unsicher, ob er in der Nähe bleiben oder aufbrechen sollte. Dann gelangte er zu einer Entscheidung und marschierte in Richtung der Siedlung davon. »Gruß zum Tag, Zaelis«, sprach Lucia, ohne aufzuschauen. Es war das erste Mal, dass sie einander an diesem Tag begegneten, denn sie hatte das Haus verlassen, bevor er erwachte. Er setzte sich neben sie und streckte das Versehrte Bein vor sich aus. Wenn es sein musste, brachte er die übliche Pose mit untergeschlagenen Beinen ebenfalls zustande, doch sie verursachte seinem Knie Schmerzen. Sein Blick wanderte über die unebenmäßige, zerfurchte Haut an ihrem Nacken, über die grässlichen Brandnarben, die ihr kurzes Haar offenbarte. Sie schaute über die Schulter zu ihm auf, verengte die Augen gegen das Gleißen der Sonne zu Schlitzen und schwieg erwartungsvoll. Zaelis seufzte. Mit ihr zu reden war niemals einfach. Es kam so wenig zurück. »Wie fühlst du dich?«, fragte er. »Mir geht's gut«, antwortete sie beschwingt. »Und dir?« »Lucia, mittlerweile solltest du dich wirklich einer etwas förmlicheren Ausdrucksweise befleißigen«, mahnte er sie. Ihre Sprachform hatte sich nach und nach zu einer Mischung aus mädchenhaft-kindlicher und damenhafter entwickelt, was für Halbwüchsige keineswegs ungewöhnlich war; aber der Dialekt, den sie aus der Unzahl der Einflüsse durch die Bewohner des Schoßes aufgeschnappt hatte, schien einfach nicht angemessen für das Kind einer Kaiserin. »Ich bin durchaus in der Lage, mich einer erheblich 268 eleganteren Wortwahl zu bedienen«, entgegnete sie in knappen, frostigen Silben. Sie hörte sich fast so
gespenstisch wie Cailin an. »Aber nur, wenn's sein muss«, schloss sie ab und kehrte zu ihrem üblichen Stil zurück. Zaelis gab diese Richtung des Gesprächs auf. »Wie ich sehe, hast du dich wieder mal mit der Tierwelt des Tals unterhalten«, stellte er fest und deutete auf den Fuchs, der ihn feindselig anstarrte. »Sie kommen zu mir, ganz gleich, ob ich mit ihnen rede oder nicht«, erwiderte sie. »Bedeutet das, du hast dich von dem Zwischenfall mit den Flussgeistern erholt?«, fragte er und fuhr sich abwesend mit den Knöcheln über den kurz gestutzten, weißen Bart. »Hab' ich dir doch gesagt«, antwortete sie. Zaelis schaute über das Tal, während er sich geistig den nächsten Satz zurechtlegte; überraschenderweise ergriff Lucia zuerst das Wort. »Du willst, dass ich es erneut versuche«, sagte sie. Es war eine unzweifelhafte Feststellung. Zaelis wandte sich ihr zu. Es hatte keinen Sinn, ihr auszuweichen; dafür war sie viel zu scharfsinnig. Lucia rappelte sich auf, schlug die Beine unter und glättete das Kleid über die Knie. Unvermittelt erschien sie Zaelis so groß und zierlich zugleich. Wo war das kleine Mädchen abgeblieben? Das kleine Mädchen, um das er eine geheime Armee aufgebaut hatte? »Es wird nichts bringen«, meinte sie. »Was auf dem Fluss geschah, ist inzwischen vergessen, zumindest für jegliche Geister, zu denen ich Verbindung aufnehmen kann.« »Das weiß ich«, sagte Zaelis, wenngleich er nicht sicher gewesen war, bis Lucia es aussprach. »Aber etwas ist dort geschehen, Lucia. Ich habe nach deinem Missgeschick 269 Spitzel ausgesandt. In den Orten entlang des Flusses redet man von nichts anderem.« Lucia musterte ihn mit ihren entrückten, blauen Augen, forderte ihn durch ihr Schweigen auf fortzufahren. »Auf dem Kerryn wurde ein Frachtkahn zerstört«, erklärte er und verlagerte unbeholfen das Gewicht. »Anscheinend beförderte er Sprengstoff, der in die Luft gegangen sein muss und das Boot in Stücke riss. Aber es wurden ...« Er zögerte, überlegte, ob er ihr diesen Teil anvertrauen sollte. »Es wurden Brocken angeschwemmt, Brocken der Menschen, die an Bord gewesen waren. Das und Brocken anderer Dinge. Dieser Frachtkahn hat etwas befördert, als er explodierte, und es war nichts Menschliches.« Immer noch schwieg Lucia und wartete, dass er auf den Punkt kam. »Cailin denkt, dass die Dinge sich zuspitzen. Die ausfallenden Ernten, die Armeen von Geblüt Kerestyn, Sarans Bericht, das Ding, das du im Fluss gespürt hast, die Weber im Bruch. Allmählich bin ich geneigt, ihr zu glauben. Uns bleibt nur noch wenig Zeit.« Den Aufstand in Zila ließ er bewusst aus, obwohl er bereits vor geraumer Zeit davon erfahren hatte. Er versuchte, das Treiben der Ais Maraxa so weit wie möglich von Lucias Ohren fern zu halten. Zaelis legte seiner an Kindes statt aufgenommenen Tochter eine Hand aufs Knie. »Ich habe erkannt, dass wir eigentlich keine klare Vorstellung davon besitzen, gegen wen und was wir uns stellen, und diese Unwissenheit kann unser aller Tod verheißen. Wir müssen jetzt erfahren, was vor sich geht«, erklärte er. »Wir müssen wissen, womit wir es zu tun haben. Was die Quelle all dessen ist.« 270 Lucias Herz sank, als sie die Unvermeidlichkeit dessen spürte, was folgen musste. »Lucia, wir brauchen dich, um es für uns herauszufinden. Um nach Alskain Mar zu gehen und mit einem der großen Geister Verbindung aufzunehmen. Wir müssen uns über die Hexensteine Gewissheit verschaffen.« Die Worte schienen ihn zu schmerzen. »Wirst du es tun?« Du bist in diesem Spiel kein Bauer. Kaikus Worte, die sie am ersten Tag der Sommerfestwoche an Lucia gerichtet hatte, kamen ihr in den Sinn. Aber sie wirkten unter dem Gewicht der Notwenigkeit hohl und brüchig. Tief in ihrem Herzen wusste Lucia, dass sie nicht fähig zu einem Gedankenaustausch mit einem Geist war, wie er in Alskain Mar weilte, dass sie sich durch den Versuch in ernste Gefahr begäbe; und dennoch, wie konnte sie sich weigern? Sie verdankte ihr Leben Zaelis, und sie liebte ihn innig. Wäre es nicht von äußerster Wichtigkeit, hätte er sie nicht darum gebeten. »Ja«, sagte sie, und plötzlich schien der Tag ein wenig dunkler. 271 SECHZEHN Die Sommerfestwoche war verstrichen, doch für Mishani hatte es in diesem Jahr keine Feierlichkeiten gegeben. Seit mittlerweile sieben Tagen ritt sie durch die Landschaft Saramyrs, was jemanden, der lange Reisen auf dem Rücken eines Pferdes nicht gewöhnt war, auf eine harte Probe stellte. Aber trotz ihres wunden Hinterteils und der allgegenwärtigen Erschöpfung beklagte sie sich kein einziges Mal. Obwohl sie von Männern umgeben war, denen sie misstraute, obwohl sie südwärts einem ungewissen Ziel entgegensteuerte, obwohl ihr eigener Vater versuchte, sie töten zu lassen, blieb sie ruhig und gelassen. So war sie nun mal. Sie hatten Hanzean kurz nach dem versuchten Anschlag auf Mishanis Leben verlassen und den Zeitpunkt der Abreise so gewählt, dass er mit dem Beginn der Feierlichkeiten zum Herbstanfang zusammenfiel, um den Vorteil der Verwirrung zu nutzen und unbemerkt zu entwischen. Chien hatte darauf bestanden, persönlich als Begleitschutz mitzukommen, gleichsam als Wiedergutmachung für die Schande, nicht verhindert zu haben, dass Meuchelmörder das Leben seines Gastes bedrohten. Mishani hatte nichts anderes erwartet. Was für Pläne Chien
mit ihr auch haben mochte, sie war davon überzeugt, dass er dabei sein wollte, um für ihre Durchführung zu sorgen. Dennoch war die Reise ungeachtet der acht Wachmänner in ihrem Gefolge alles andere als sicher; der Händler setzte sich einem beträchtlichen Wagnis aus, 272 indem er sie begleitete. Eine Überfahrt auf dem Seeweg kam nicht in Frage, da sämtliche Schiffe und Boote von Barak Avuns Männern beobachtet wurden und ihre Ankunft am Bestimmungshafen verzeichnet würde. Somit blieb nur der Landweg, der zwar wesentlich gefahrenreicher war, auf dem es aber ungleich einfacher schien, sich dem Zugriff ihres Vaters zu entziehen. Jeder, der von Hanzean aus nach ihnen suchte, hätte keine Ahnung, wohin sie aufgebrochen waren, da allein Mishani ihr Ziel kannte. Doch die notwendige Verstohlenheit barg auch Nachteile. Mishani war gewohnt, in Kutschen zu reisen; aber sie waren gezwungen, sich von den Straßen fern zu halten, was Reiten und Lagern unter freiem Himmel bedeutete. Chien bemühte sich zwar nach Kräften, es ihr gemütlich zu machen, indem er sie mit Laken und einem eleganten Zelt versorgte, das die mürrischen Wachen jeden Abend aufstellen mussten, dennoch war es für das Kind eines Baraks ein Ärgernis. Mishani mochte ihre kleinen Annehmlichkeiten, und es fiel ihr nicht so leicht wie Kaiku, darauf zu verzichten. Wenigstens hatte sie ihr Gepäck von der Fahrt nach Okhamba dabei, so dass sie über Kleider, Düfte und allerlei Zerstreuung verfügte. Von Hanzean aus hatten sie mehrere Tage südwärts gehalten, ehe sie nach Südosten schwenkten, um unterhalb von Barask auf die Große Gewürzstraße zu stoßen, die sich über fast genau tausend Meilen von Axekami nach Suwana in den Südlichen Präfekturen erstreckte. Die Han-Barask-Straße, eine von nur zwei bedeutenden Strecken aus dem Hafenort, wagten sie nicht zu verwenden, und selbst, als sie die Große Gewürzstraße fanden, hielten sie sich ein gutes Stück westlich davon, bis der Nordrand des Waldes von Xu sich zu ihrer Linken abzu273 zeichnen begann und sie gezwungen waren, sich auf die Straße zu begeben, um über die Pirika-Brücke über den Zan zu gelangen. Dort warnte man sie vor dem Aufstand in Zila und riet ihnen, umzukehren und sich einen anderen Weg zu ihrem Ziel zu suchen. Die meisten schlugen den Rat in den Wind: Es gab keinen anderen Weg. Der riesige und Furcht erregende Wald von Xu, uralt und von Geistern bevölkert, bedrängte sie im Osten, während im Westen die Küste war. Bis zurück hinauf nach Hanzean gab es keine Häfen, an denen fahrgasttaugliche Schiffe anlegen konnten, und den Wald zu umgehen erforderte einen Umweg von etwa neunhundert Meilen, was blankem Wahnsinn gleichkam. Die meisten Reisenden begaben sich stattdessen abseits der Straße, hielten sich am Wald, so dicht sie es wagten, und stahlen sich östlich an Zila vorbei. Da Mishani und ihrem Gefolge keine andere Wahl blieb, schlugen auch sie jenen Pfad ein. Bei Einbruch der Nacht am siebten Tag der Reise lagerten sie fünfundzwanzig Meilen südöstlich der aufgewiegelten Stadt in der Nähe eines niedrigen Halbkreises schwarzer Felsen, die aus den ansonsten flachen Ebenen ragten. Es war der letzte Tag des Sommers, und in Axekami würde das Abschlussritual der Sommerfestwoche seinem Höhepunkt entgegengehen, um den Herbst zu begrüßen. Sich zu verstecken war schier unmöglich, es sei denn, man wagte sich in den Wald, der sich etwa eine Meile östlich düster abzeichnete. Aber ihr Lager ging in den zahlreichen anderen unter, die sich über die Ebenen verstreuten: weitere Reisende, so wie sie auf dem Weg nach Süden und gezwungen, den Engpass zu überwinden, den Zila beherrschte. Mishani saß mit untergeschlagenen Beinen auf einer Matte neben dem Feuer. Mit dem Rücken zu den Felsen 274 beobachtete sie die Wachen beim Errichten ihres kleinen Zeltes. Auf dem Boden neben ihr lag geschlossen ein dünnes Büchlein. Eines ihrer Mutter. Es war ein Geschenk von Chien: Der jüngste Band von Muraki tu Kolis fortlaufender Erzählreihe über einen schneidigen, romantischen Helden namens Nida-jan und seine Abenteuer an den Höfen. Murakis Schöpfung hatte ihr unter den hohen Familien bescheidenen Ruhm beschert, und auch in der Klasse der Dienerschaft und Bauern hatten ihre Geschichten sich von Mund zu Mund verbreitet. Kammerzofen pflegten ihre Herren und Herrinnen regelrecht anzuflehen, ihnen die Erlebnisse von Nida-jan vorzulesen, die in Hoch-Saramyrrisch gedruckt wurden, einer Schriftsprache, die Hochwohlgeborenen, Priestern und Gelehrten beigebracht wurde, für die unteren Schichten jedoch unverständlich war. Danach reichten sie die Geschichten beflissen an ihre Freunde und Freundinnen weiter, schmückten sie hier und da ein wenig aus, und ihre Freunde und Freundinnen taten dasselbe für deren Freunde. Nida-jan verkörperte alles, was Mishanis Mutter nicht war: wagemutig, abenteuerlustig, in der Liebe ungehemmt und dreist genug, um sich aus jeder Lage herauszureden oder herauszukämpfen, wenn Worte fehlschlugen. Mishanis Mutter war still, schüchtern, klug und besaß ein ausgeprägtes Gespür für Moral. Sie lebte ihr Leben in ihren Büchern, denn darin konnte sie die Welt so formen, wie sie es für richtig hielt; die Realität war oft zu grausam und verletzend für eine so empfindsame Frau. Mishani hatte ihr Äußeres von ihrer Mutter geerbt, ihr Gemüt hingegen vom Vater. Muraki war eine einsame Frau, zu verschlossen, um auf die Menschen in ihrem Umfeld zuzugehen, und wenngleich man sie als durch275 aus angenehme Gesellschaft bezeichnen konnte, vergaß man doch leicht, dass sie überhaupt da war. Als Avun begann, Mishani in die Machenschaften am Hof einzuführen, zog sich Muraki fast gänzlich zurück. Während
Mishani ihre Zeit ausschließlich in Axekami bei ihrem Vater verbrachte, blieb Muraki auf dem Familienanwesen in der Mataxa-Bucht und schrieb. Als Mishani in die Verbannung in den Xarana-Bruch floh, hatte sie die Gefühle ihrer Mutter überhaupt nicht bedacht. Muraki zeigte sie so selten, dass Mishani einfach nicht in den Sinn gekommen war, sie könnte sie verletzt haben. Nun hatte Mishani das Buch zu Ende gelesen und war von tiefem Kummer erfüllt. Die Geschichten waren nicht die übliche Kost, die man von Nida-jan kannte; stattdessen waren sie wehmütig und tragisch, eine ungewöhnliche Wende für den unerschütterlichen Helden. Sie handelten von Nida-jans Entdeckung, dass einer seiner höfischen Liebschaften ein Sohn entsprungen war, der vor ihm versteckt worden war und von dem er erst erfuhr, als die Mutter es ihm am Totenbett gestand. Doch der Knabe war nach Osten gereist und dort vor einigen Monaten verschwunden. Nida-jans Herz war vor Liebe zu seinem unbekannten Sohn zerrissen, und er brach auf, um ihn zu finden, ließ seine Suche in Besessenheit ausarten und hörte nicht auf seine Freunde, die meinten, es wäre hoffnungslos. Er stürzte sich in tollkühne Abenteuer, um Hinweise auf den Verbleib des Knaben aufzuspüren. Schließlich sah er sich einem Dämon mit hundert Augen gegenüber, und er blendete seinen Feind mit Spiegeln und metzelte ihn nieder. Aber im Sterben verfluchte der Dämon ihn dazu, rastlos durch die Welt zu wandern, bis er seinen Sohn fand und dieser ihn >Vater< nannte und es auch meinte. Und so endete das Buch mit Nida-jan als Verdamm276 tem, dessen Seele von Pein zerfressen und dessen Suche noch immer unerfüllt war. Verlust quoll aus jeder Zeile. Unmittelbar oder mittelbar hatte jede Geschichte vom elterlichen Sehnen nach dem Kind gehandelt. Mishanis Mutter mochte verschlossen sein, doch sie war keineswegs gefühlskalt. Sie ergoss ihre Qualen auf die Seiten, und es bereitete Mishani Gram, sie zu lesen. Sie vermisste ihre Mutter so sehr, dass es sich fast wie ein körperlicher Schmerz im Bauch anfühlte. Auch ihren Vater vermisste sie, zumindest so, wie er gewesen war, bevor sie sich ihn zum Feind gemacht hatte. Verzweifelt wünschte sie, sie könnte die Jahre der Trennung hinfortfegen und in jene Zeit zurückkehren, als sie noch der Stolz ihres Vaters gewesen war, um ihre Mutter zu umarmen und ihr zu sagen, wie Leid es ihr tat, dass sie einander nie näher gestanden hatten; um ihr zu sagen, dass ihr erst jetzt klar geworden war, was Muraki empfand. All die Jahre des Versteckens, des Lebens in Furcht davor, erkannt zu werden, in Angst vor der eigenen Familie, machten ihr zu schaffen. Wäre sie alleine gewesen, hätte sie geweint. Mishani schaute zum mondlosen Himmel empor, als Chien sich neben sie setzte. Die Luft war zwar warm, fühlte sich in jener Nacht aber widernatürlich klar und knisternd an, und das Licht der Sterne war grell und kalt. »Ihr denkt an Eure Mutter, nicht wahr?«, fragte Chien nach einer Weile. Mishani nahm an, er vermutete es aufgrund des Buches, das neben ihr lag. Sie hatte keine Lust, ihm zu antworten, deshalb wich sie der Frage aus. »Der Graue Falter ist heute Nacht zu sehen«, sagte sie und deutete empor. Chien blickte hin. »Ich sehe ihn nicht«, meinte er. 277 »Er ist nur ganz schwach. In den meisten Nächten kann man ihn gar nicht erkennen.« »Ich sehe nur den Tauchvogel«, erklärte der Händler und zählte die neun Sterne des Sternbilds mit einem fleischigen Finger ab. Mishani senkte das Haupt, wodurch ihr das Haar über die Schulter nach vorne fiel. »Er ist da«, beharrte sie. »Für manche verborgen, für andere sichtbar. Das ist ein Teil seines Geheimnisses.« Chien versuchte immer noch, ihn zu finden, weil er an der Erfahrung unbedingt teilhaben wollte. »Denkt Ihr, das ist ein Omen?« »Ich glaube nicht an Omen«, erwiderte Mishani. »Ich finde nur, er passt zu meiner Stimmung.« »Wieso?« Mishani schaute zu ihm auf. »Bestimmt wisst Ihr das. Erinnert Ihr Euch nicht an die Geschichte, wie die Götter unsere Welt erschaffen haben?« Chien blickte sie verständnislos an. »Fürstin Mishani, ich wurde an Kindes statt aufgenommen. Solchen Kindern werden die Feinheiten der Religion nicht beigebracht, und beim Führen des Schifffahrtbetriebs meiner Familie spielte höheres Lernen keine große Rolle. Ich weiß von dem Bildteppich, aber nichts über Falter.« Mishani musterte ihn im seitlichen Schein des Lagerfeuers. Er wirkte zwar aufrichtig, dennoch vermutete sie fast, er heuchelte seine Unwissenheit nur, um sie weiter ins Gespräch zu vertiefen. Bisweilen erwies er sich als anstrengende Gesellschaft, weil es ihm an der Gemütsruhe mangelte, die es manchen Menschen ermöglichte, behaglich schweigend nebeneinander zu sitzen. Er musste immer reden, wenn er bei ihr war, musste immer etwas zu sagen haben. Sie spürte förmlich, wie er sich unruhig hin und her wand, wenn er es nicht tat. 278 »Die Geschichte besagt, den Göttern sei langweilig gewesen, und Yoru habe vorgeschlagen, sie sollten zur Unterhaltung einen Bildteppich weben«, begann Mishani. »Dies war in der Zeit vor seiner unfreiwilligen Wache an den Toren zum Goldenen Reich; bevor Ocha seiner Liebschaft mit Isisya auf die Schliche kam und ihn dorthin verbannte.« »Den Teil kenne ich«, tat Chien mit einem schiefen Lächeln kund. »Jeder Gott und jede Göttin sollte ein eigenes Stück nähen«, fuhr Mishani fort. »Doch sie hatten nichts, womit
sie arbeiten konnten, also ging Misamcha in ihren Garten und sammelte Raupen. Die Raupen machten auf ihre Berührung hin Seide, die sie zu Fäden spann und den Göttern gab, damit sie ihren Bildteppich weben konnten. Nachdem das Werk vollbracht war, waren sich alle einig, dass es der prächtigste Bildteppich sei, den sie je gesehen hatten. Da er ihnen so sehr gefiel, beschloss Ocha, ihm Leben einzuhauchen, damit sie beobachten konnten, wie er wuchs. Jeder Gott und jede Göttin wurde in ihrer Lieblingserscheinungsform abgebildet. Einige bevorzugten körperliche Dinge: das Meer, die Sonne, die Bäume, Feuer und Eis. Andere wollten lieber weniger greifbare Dinge: Liebe, Tod, Vergeltung, Ehre. Und so wurde die Welt erschaffen.« »Bislang habt Ihr mir von Raupen erzählt«, stellte Chien fest. »Aber nichts von Faltern.« Mishani schaute in den nächtlichen Himmel empor, wo der Graue Falter hing, sieben matte Sterne, umgeben von undurchdringlicher Schwärze. »Die Götter wollten einen vollkommenen Bildteppich. Doch nachdem er genäht und die Welt erschaffen war, verwandelten die Raupen sich in wunderschöne, bunte Falter. Alle bis auf eine, die grau und kränklich war. Denn nichts ist wahr279 haft vollkommen, nicht einmal, was die Götter selbst erschaffen, nicht einmal die Götter selbst.« Sie wandte den Blick zum Feuer, das sich tänzelnd in ihren Augen spiegelte. »Der graue Falter hatte schlechte Seide hervorgebracht, einen Faden, den die Götter zusammen mit den anderen für den Bildteppich verwoben hatten. Und in dieser Seide steckte alles Böse der Welt, all die Eifersucht, der Has's und das Übel, all die Traurigkeit, der Kummer, der Hunger und der Schmerz. Als die Götter sahen, was geschehen war, zeigten sie sich entsetzt; aber es war zu spät, um ihr Werk rückgängig zu machen. Danach liebten sie die Welt ein bisschen weniger.« Eine Weile schwieg sie nachdenklich. Dann fuhr sie fort: »Sie nannten die Seide jener Raupe den Faden des Kummers und hingen das Bildnis des Grauen Falters als Mahnmal an den Nachthimmel.« »Als Mahnmal? Wofür?«, wollte Chien wissen. »Als Mahnmal dafür, dass wir stets auf der Hut sein müssen. Dass selbst die Götter nichts Vollkommenes schaffen konnten, und die Menschheit ist wesentlich fehlbarer als sie. Wenn wir nicht stets wachsam bleiben, schleicht das Böse sich in unser Leben, höhlt uns aus und bringt uns zu Fall.« Sie begegnete Chiens Blick, ließ ihre Augen ihre Müdigkeit zeigen, sogar ein wenig ihrer Wehmut. »Ich glaube, in letzter Zeit waren wir nicht wachsam genug.« Chien betrachtete sie ein paar Augenblicke mit verständnisloser Miene. Mishani war nicht danach zumute, es ihm näher zu erklären. Alsbald begann Chien, am Saum seines Umhangs zu fingern, ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich unbehaglich fühlte. Sie ließ ihn leiden, bis er wieder das Wort ergriff. »Wir sind an Zila vorbei«, meinte er, »und der Weg nach Süden wird wieder breiter. Vielleicht ist es an der 280 Zeit, dass Ihr uns sagt, wohin wir reisen. Wir müssen entscheiden, ob wir irgendwo anhalten und uns Vorräte besorgen und welchen Pfad wir wählen.« Mishani willigte mit einem kaum merklichen Nicken ein; schließlich konnte Chien nun nichts mehr unternehmen, selbst wenn er sie irgendwie verraten wollte. »Ich bin unterwegs nach Lalyara«, verkündete sie. »Dort könnt Ihr mich verlassen, und ich werde Eure Verpflichtung als ehrenvoll erfüllt betrachten.« »Erst wenn ich Euch wohlbehalten an Euer endgültiges Ziel gebracht habe, Fürstin Mishani«, beharrte Chien. »In die Obhut von jemandem, der die Verantwortung für Euer Wohlergehen übernimmt.« Mishani lachte. »Ihr seid wahrhaft freundlich, Chien os Mumaka; aber es gibt in Lalyara niemanden, der das tun wird. Meine Angelegenheiten gehen nur mich etwas an, und ich bin durch andere Versprechen gebunden, Euch nicht einzuweihen.« Chien lächelte verständnisvoll. Mishani hatte erwartet, er würde sich niedergeschlagen zeigen. »Dann will ich die letzten Tage in Ehren halten, die wir gemeinsam verbringen«, meinte er. »Ich ebenso«, erwiderte Mishani, wenngleich eher, weil es erwartet wurde, denn weil sie es wirklich meinte. In Wahrheit und entgegen ihrer besseren Einsicht mochte sie Chien. Es war alles andere als weise, Zuneigung für einen möglichen Gegner zu empfinden, aber eben jene Spannung war der Teil ihrer Beziehung, den sie am aufregendsten fand, und sie musste zugeben, dass er ihr ans Herz gewachsen war. Er besaß einen wachen und scharfen Verstand, und was er erreicht hatte, rang Mishani unwillkürlich Achtung ab: Durch sein verschlagenes Geschick als Händler war es ihm gelungen, den Makel zu überwinden, in eine in Ungnade gefallene 281 Familie aufgenommen worden zu sein, und Geblüt Mumaka zurück an die Macht zu führen. Trotz allem würde es eine gehörige Erleichterung sein, ihn los zu werden. Mishani fand keine Ruhe, da sie stets darauf wartete, dass sein geheimer Plan sich offenbarte. Doch würde es an ihrem Bestimmungsort besser sein? Er entschuldigte sich, stand auf und zog von dannen, um mit seinen Männern zu reden, überließ Mishani ihren Gedanken. Sie stellte fest, dass sie bereits überlegte, was sie zu tun hatte, nachdem Chien weg war. Sie sollte Barak Zahn tu Ikati treffen, Lucias wahren Vater. Und falls alles gut verlief, sollte sie ihm offenbaren, dass seine Tochter noch lebte - und Mishani wusste, wo sie sich aufhielt. Es war ein heikles Unterfangen, und ihr Unterredungsgeschick würde auf eine härtere Probe denn je zuvor gestellt werden. Das Wagnis war gewaltig, die Verantwortung in ihren Händen noch größer. Mishani wagte nicht
preiszugeben, dass sie überhaupt etwas über Lucia wusste, bis sie davon überzeugt war, dass der Barak sich so verhalten würde, wie er sollte. Spielte sie ihre Karten falsch aus, konnte sie als Geisel enden, würde verhört werden und wäre der Gnade von Zahns Weber ausgeliefert. Zahn konnte auch verlangen, dass man seine Tochter zu ihm brächte, oder er konnte mit seinen Truppen den Schoß stürmen, was verheerend wäre. Sofern man den Berichten glauben durfte, war seine Gemütsverfassung in den letzten paar Jahren von zunehmender Teilnahmslosigkeit und Schwermut geprägt gewesen. Er hatte die Angelegenheiten seiner Familie schleifen lassen und sich auf eines seiner Anwesen nördlich von Lalyara zurückgezogen. Einem verbreiteten 282 Gerücht zufolge betrauerte er den Tod seiner heimlichen Geliebten, der einstigen Geblütskaiserin Anais tu Erinima. Zaelis war Zeuge des Augenblicks geworden, als Zahn Lucia zum ersten Mal in den Dachgärten der Kaiserlichen Feste begegnet war, und sowohl Vater als auch Tochter hatten in jenem Lidschlag gewusst, was Anais all die Jahre geheim gehalten hatte. Doch falls Zahn je erwogen hatte, Anspruch auf seine Tochter zu erheben, verpasste er seine Gelegenheit. Die Geblütskaiserin wurde ermordet, und inmitten all der Wirren verschwand die kleine Thronerbin. Obwohl ihr Leichnam nie gefunden wurde, nahm man gemeinhin an, sie wäre in den Feuersbrünsten und Explosionen umgekommen, die an jenem Tag durch die Feste wüteten und ihren Körper wohl bis zur Unkenntlichkeit verkohlt hatten. In Wahrheit war sie von der Libera Dramach geraubt worden, doch das wusste nicht einmal Zahn. Zaelis hatte Mishani die Entscheidung überlassen, ob sie es ihm sagen wollte oder nicht. Es war eine schwere Bürde. Andererseits konnten sie Lucia nicht ewig verbergen, und wenn es ihnen gelänge, Zahn auf ihre Seite zu ziehen, hätten sie einen mächtigen Verbündeten. Es würde Zeit erfordern, den Augenblick vorzubereiten, an dem Lucia aus den Schatten treten würde, Jahre der Planung; und alles begann hier bei Mishani. Nach Zahn würde sie an Geblüt Erinima herantreten, denn der Familie konnte es auch nicht einerlei sein; schließlich war Lucia das lebende, tot geglaubte Kind einer der ihren, und Blutsbande waren die stärksten von allen. Aber zuerst Barak Zahn. Eins nach dem anderen. Aufregung im Lager riss sie aus ihren Grübeleien. Ein paar der Wachen waren hastig rings ums Feuer aufge283 Sprüngen und spähten in die Dunkelheit über den niedrigen Halbkreis der schwarzen Felsen. Mishani spürte ein Beben des Bodens, und kurz darauf drang das Geräusch an ihre Ohren. Hufe, die über die Ebene donnerten. Und sich schnell näherten. Die erste Salve mähte vier der acht Männer um, die Chien mitgebracht hatte, um sie zu beschützen. Die Nachtsicht der Verteidiger war durch das Feuer beeinträchtigt, und die Angreifer feuerten von draußen herein, wodurch Chiens Leute einfache Ziele darstellten, wohingegen die Neuankömmlinge unmöglich zu sehen waren. Mishani huschte gerade rechtzeitig in den Schutz der Felsen, ehe sechs Pferde darüber sprangen. Eines landete wenige Fingerbreit von der Stelle entfernt, an der sie kauerte, und trampelte über die Matte, auf der sie gesessen hatte. Die Angreifer ritten in das Lager, zogen klirrend die Schwerter und brachten einen weiteren der Wachmänner um. Dann galoppierten sie durch Mishanis Zelt und wieder fort in die Finsternis. »Löscht das Feuer!«, brüllte Chien. Er zertrat es zu brennenden Holzbrocken und stapfte darauf. Einer der Wachmänner goss eine Pfanne Wasser über die Glut und durchtränkte dabei Chiens Stiefel, während die anderen beiden die Büchsen in Anschlag brachten. Irgendwo jenseits ihres Sichtbereichs machten die Angreifer ihre Waffen wieder feuerbereit. Als das Feuer gelöscht wurde, versiegte das Licht jäh, und das Lager wurde in Dunkelheit getaucht. »Fürstin Mishani! Seid Ihr verletzt?«, rief der Händler, aber Mishani antwortete nicht. Sie war bereits über die niedrigen Felsen auf die andere Seite geklettert, um sie zwischen sich und den mutmaßlichen Aufenthaltsort der Angreifer zu bringen, auf dass sie vom Lager aus nicht zu 284 sehen wäre. Ihr Herz hämmerte in der Brust mit derselben grässlichen Furcht, die sie erfasst hatte, als die Meuchelmörder in Chiens Stadthaus über sie herfielen. Waren diese von derselben Sorte? Sie musste davon ausgehen. »Mishani!«, rief Chien erneut mit Verzweiflung in der Stimme; doch sie wollte nicht, dass er und seine Männer sie fanden. Im Augenblick hielten sie sich in offenem Gelände auf und bildeten die Zielscheiben, auf die diese neuen Mörder es absehen würden. Was ihr eine Gelegenheit eröffnete. Sie hörte ein ängstliches Schnauben und erinnerte sich plötzlich an die Pferde. Sie waren an einem Pfosten in der Nähe des Lagers angezurrt. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie die Tiere als gespenstische blaue Schemen ausmachen, die sich aufgeschreckt aneinander drängten. Durch Shintus Glück trugen sie noch Sattel und Zaumzeug; Chien hatte den Wachen aufgetragen, jede Nacht Mishanis Zelt aufzustellen, bevor sie sich um die Pferde kümmerten. Ihr Unwille, ungemütlich zu schlafen, mochte ihr nun das Leben retten. »Mishani!«, rief Chien wieder. Sie ließ ihn weiterbrüllen. Dadurch lenkte er die Aufmerksamkeit auf sich. Durch eine Lücke in den Felsen sah sie, dass Chien und die verbleibenden Wachen mittlerweile Verteidigungsstellung eingenommen hatten, sich hinter spärlicher Deckung verbargen und die Waffen im Anschlag hatten. Aber die Reiter griffen noch nicht an. Durch das Löschen des Feuers war es für die Meuchelmörder ungleich schwieriger
geworden, Ziele zu erkennen. Mishani dankte den Mondschwestern, dass sie sich in jener Nacht nicht am Himmel zeigten; dann kroch sie zu den Pferden. Die zwanzig Schritte, die sie zu bewältigen hatte, fühl285 ten sich wie eine Meile an, zudem erfüllte sie die grauenvolle Ahnung, sie würde im nächsten Augenblick den gewaltvollen Aufprall einer Büchsenkugel und dann nichts mehr spüren. Doch zu ihrem Erstaunen blieb der Augenblick aus. Sie löste die Fußfesseln der Pferde von dem Pfosten und schwang sich so lautlos in den Sattel, dass sie sich selbst überraschte. Da begann der zweite Angriff. Diesmal stürmten sie in Paaren von drei Seiten heran. Je ein Angreifer hatte eine Büchse im Anschlag, der andere ein Schwert. Im Herangaloppieren feuerten sie, und Chiens Männer schössen gleichzeitig zurück. Keiner der Verteidiger wurde getroffen, dafür gelang es ihnen, eines der auf sie zupreschenden Pferde zu töten. Sie erwischten das Tier unmittelbar zwischen den Augen, so dass es zu Boden stürzte und seinen Reiter unter knackenden Knochen überrollte. Dann kamen die Schwerter zum Einsatz, prallten klirrend gegen Büchsenläufe oder die hastig gezogenen Klingen der Wachen. Die Nacht war erfüllt von den Schreien der verbissen miteinander ringenden Männer. Mishani, die seit Beginn des Angriffs reglos verharrt hatte, da sie fürchtete, entdeckt zu werden, gab ihrem Ross die Sporen. Sogleich preschte es los, und die Beschleunigung raubte ihr den Atem. Der kühle Wind erfasste ihr unglaublich langes Haar und blies es gleich einem Wimpel hinter ihr her, während sie in die schützende Dunkelheit tauchte. Dann waren scheinbar aus dem Nichts - ihre Augen versuchten immer noch, sich der Nacht anzupassen -andere Pferde neben ihr, die ihr den Weg abschnitten. Eine Hand ergriff die Zügel, die Mishani hielt, und brachte das Pferd zum Stillstand. Ringsum ertönte das Poltern von ruckartig zum Stehen kommenden Hufen, 286 und Büchsen wurden auf sie gerichtet. Weitere Männer rasten in Richtung des Lagers, wo Chien und seine Wachen eine aussichtslose Schlacht fochten. Ein großer, breitschultriger Mann - derjenige, der ihr Pferd angehalten hatte - musterte sie. Sie konnte sein Gesicht zwar nicht erkennen, dennoch funkelte sie ihn trotzig an. »Fürstin Mishani tu Koli«, brummte er mit tiefer Neuländer-Stimme. Dann kicherte er. »Na, so ein Zufall!«! 287 SIEBZEHN Die Stadt Zila lag grimmig und trostlos am Südufer des Zan. Sie war an der Mündung des großen Flusses errichtet worden, wo das Wasser, das seine sechshundert Meilen lange Reise im Tchamil-Gebirge antrat, in das Meer überging. Zila war alles andere als ein malerischer Ort, denn sein ursprünglicher Zweck war militärischer Natur gewesen. Er hatte als Bollwerk gegen das Volk der Ugati gedient, die dieses Land besetzt hatten, lange bevor die Saramyrrer es an sich rissen. Zila hatte den Engpass zwischen der Küste und dem Wald von Xu bewacht, während die frühen Siedler im Norden die Stadt Barask anlegten. Mittlerweile bestand Zila seit über tausend Jahren, und obwohl die Mauern verfallen und neu gebaut worden waren, obwohl es kaum noch ein Gebäude oder eine Straße aus der damaligen Zeit gab, strahlte der Ort immer noch dieselbe brütende Bedrohlichkeit aus, die er von Anfang an besessen hatte. Kalt und wachsam. Die Stadt war so angelegt, dass sie einen steilen Hügel nutzte, der von Süden aus anstieg und zum Flussufer hin jäh abfiel. Eine hohe Mauer aus schwarzem Stein umgab den Ort, wand und bog sich entsprechend dem Gelände. Über der Mauer verliefen die geneigten Dächer mit roten Ziegeln und rotem Schiefer nach hinten zur kleinen Feste in der Stadtmitte. Die Feste bildete die Nabe der Stadt; tatsächlich war ganz Zila wie ein missglücktes Rad errichtet, mit kreisförmig von innen nach außen verlaufenden Gassen, die von der Feste ausgehende Straßen 288 wie Speichen durchbrachen. Alles war aus dem dichten, düsteren Stein der Umgebung gebaut, was in krassem Gegensatz zur üblichen saramyrrischen Vorliebe für hellen Stein oder Holz stand. In der Stadtmauer gab es zwei Tore, doch beide waren geschlossen; und auf den Hügeln vor der stummen Stadt herrschte zwar Treiben, aber nur wenig und mit großen Abständen dazwischen. Die meisten Menschen hatten sich in den Schutz des Stadtgebiets zurückgezogen und trafen Vorbereitungen gegen den bevorstehenden Sturm. Zila wartete trotzig. Die Truppen des Kaisers nahten. Es war früher Morgen, und ein sanfter, warmer Regen begleitete die Ankunft Mishanis und ihrer Häscher. Sie ritten entlang des Flussufers zum Fuß des abschüssigen Hanges zwischen den Mauern Zilas und dem Zan. Dort waren Docks angelegt worden und steile Treppen, um sie mit der Stadt selbst zu verbinden. Aber an den Docks waren keine Boote vertäut; man hatte sie versenkt oder ihre Halteleinen durchgeschnitten, um sie aufs offene Meer hinaustreiben zu lassen, damit der Feind sie nicht beschlagnahmen konnte. Die Reiter stiegen ab, und ein Mann löste sich aus dem guten Dutzend, das dort herumwuselte. Er kam ihnen entgegen. »Bakkara!«, rief der Mann und vollführte die Grußgeste zwischen Erwachsenen des annähernd gleichen gesellschaftlichen Ranges: ein leichtes Vorwärts- und Seitwärtsneigen des Kopfes. »Ich hab' mich schon gefragt, ob du wohl rechtzeitig zurück sein würdest. Zu Mittag schließen wir das letzte Tor.«
Der Mann, den er angesprochen hatte - derjenige, der Mishanis Pferd festgehalten hatte, der Anführer der Gruppe - klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Dachtest du etwa, ich würde mich aussperren lassen 289 und den Spaß verpassen?«, rief er. »Außerdem ist da drin wahrscheinlich mehr Essen als im Rest von Saramyr, mein Freund. Und ein Soldat kämpft nur mit vollem Magen gut.« »Hätte mir denken können, dass du dort sein würdest, wo die Mahlzeiten sind«, entgegnete der andere grinsend. Dann, als er Mishani erspähte, fügte er hinzu: »Wie ich sehe, bringst du uns mehr als bloß Vorräte mit.« Er schaute zu Chien, der geschunden und blutig im Sattel saß. »Der da hat auch schon bessere Zeiten erlebt.« »Wenn wir nicht rechtzeitig eingetroffen wären, würde er gar keine mehr erleben«, gab Bakkara mit einem Blick auf den Händler zurück. »Banditen. Die beiden da sind die einzigen Überlebenden.« »Tja, ich hoffe, sie zeigen sich angemessen dankbar«, meinte der Mann; dann sah er Mishani bedeutungsvoll an und zwinkerte Bakkara zu. »Zumindest eine der beiden.« Mishani starrte ihn frostig an, bis die Belustigung aus seinen Zügen wich. Bakkara stimmte grölendes Lachen an. »Sie ist schon furchteinflößend, nicht wahr?«, prustete er. »Ist besser, sich nicht über sie lustig zu machen. Das sind waschechte Adelige, die wir da haben.« Verdrossen funkelte der Mann Mishani an. »Dann geht mal rein«, meinte er zu der Gruppe im Allgemeinen. »Ich kümmere mich um eure Pferde.« Mishani und Chien wurden gezwungen, die Stufen vom Dock zur Stadt zu erklimmen. Chien hatte dabei aufgrund seiner Verletzungen Mühe. Ihre Häscher nahmen auf ihn Rücksicht, weshalb sie nur langsam vorankamen. Mishani schaute zu den über ihnen aufragenden Mauern empor. Sie wurden in eine aufständische Stadt 290 gebracht und waren dazu verdammt, dem Sturm der Armeen des Reiches mit ihr zu trotzen. Mishani wusste nicht recht, ob sie dem Gott des Glückes danken oder ihn verfluchen sollte. Die Männer, die sie angegriffen hatten, waren zweifellos von ihrem Vater gedungen gewesen, wenngleich sie dies Bakkara natürlich nicht gesagt hatte. Jedenfalls glaubte sie kaum, dass Banditen eine Gruppe bewaffneter Wachen den Dutzenden anderen, unbewaffneten Reisenden vorziehen würden, die vergangene Nacht über die Ebene verstreut gelagert hatten. Außerdem waren sie zu zielstrebig vorgegangen und zu wenige Männer gewesen. Räuber würden niemals einen Feind angreifen, der ihnen zahlenmäßig überlegen war. Sie hatte keine Ahnung, wie es den Männern gelungen war, sie so weit zu verfolgen, aber es hatte sie zutiefst erschüttert, dass sie es abermals geschafft hatten, ihr so nahe zu kommen. Was, wenn sie im Zelt gewesen wäre, als die Pferde darüber hinwegtrampelten? Nun war offenkundig, dass es ihren Vater nicht kümmerte, ob sie tot oder lebendig zu ihm zurückkehrte. Bei dem Gedanken spürte sie, wie eine scharfe Klinge der Traurigkeit in ihre Eingeweide glitt. Es war schrecklich, sich dies einzugestehen. Dann waren Bakkara und seine Reiter aufgetaucht. Vielleicht wäre sie in der Lage gewesen zu entkommen, hätten sie nicht eingegriffen, doch nun spielte es keine Rolle mehr. Sie hatten Avuns Mörder durch ihre bloße Überzahl hingemetzelt, gerade noch rechtzeitig, um das Leben Chiens zu retten, nicht aber das seiner Wachen. Und dann hatten sie Mishani und Chien aufgefordert, sie zu begleiten, anstatt sie ihrer Wege ziehen zu lassen. Zwar wurde es als Ersuchen ausgedrückt, dennoch bestand kein Zweifel daran, dass sie Gefangene waren. 291 Außerdem, so meinten sie, brauchte Chien ärztliche Versorgung, die in Zila zur Verfügung stünde. Mishani hatte eingewilligt, um sich die Demütigung zu ersparen, gefesselt mitgeschleift zu werden. Trotz ihrer Absicht behandelten sie Mishani keineswegs wie eine Gefangene. Sie erwiesen sich als durchaus redselig, und sie erfuhr während der Reise und des kurzen Lagers, das sie unterwegs aufschlugen, eine Menge von ihnen. Die meisten waren Einwohner Zilas, Bauern oder Handwerker. Sie waren ausgesandt worden, um von den Reisenden, die entlang des Engpasses nach Süden zogen, Vorräte zu erbeuten - ohne jemanden zu verletzen, wie sie tunlichst betonten -, um diese zurückzubringen und die Vorräte in der Stadt für die bevorstehende Belagerung aufzustocken. Ihre Kundschafter hatten berichtet, dass mehrere Armeen am nächsten Abend eintreffen würden, um den Aufstand niederzuschlagen, und die Aussicht darauf erfüllte sie abwechselnd mit Furcht und Erregung. Etwas hatte einen ungewöhnlichen Eifer in ihnen entfacht, doch Mishani vermochte nicht zu ergründen was. Sie wirkten eher wie Menschen mit einem Plan denn wie Verzweifelte, die um Nahrung kämpften. Die meiste Zeit der Reise aber verbrachte Mishani mit Bakkara. Ein tief in ihr verwurzeltes Gespür für politische Zweckmäßigkeit gebot, dass sie keine Zeit mit Fußsoldaten vergeuden sollte, wenn sie Bande zum Anführer knüpfen konnte; und der redete augenscheinlich genauso gerne wie seine Untergebenen. Er war ein großer Mann: dunkel, mit kleinen, ebenso dunklen Augen, einem stoppeligen, kantigen Kinn und einer platten Nase. Das schwarze Haar war mit bunten Kordeln zu Zöpfen gebunden, die von der flachen Stirn nach hinten über seinen Nacken hinabhingen. Obwohl er auf seine 292 fünfzigste Ernte zugehen musste, konnte er es ob seines bärengleichen Körperbaus ohne weiteres mit den meisten halb so alten Männern aufnehmen. Aus seiner Stimme und seinen Augen sprach eine begeisterungslose Befehlsgewalt; er war ein Soldat, der alles schon viele Male erlebt und sich damit abgefunden hatte, es erneut zu
erleben. Durch Bakkara erfuhr Mishani, woher sie gewusst hatten, wer sie war und weshalb seine Männer ihrem nahenden Los so zuversichtlich entgegenblickten. »Ist keine Gewohnheit von mir, adelige Damen zu retten«, hatte er mit einem stoppeligen Grinsen auf ihre Frage geantwortet. Sie waren durch die frühen Stunden der Nacht geritten, in der die Umgebung sich unwirklich und zusammenhanglos angefühlt hatte, so als wäre ihre Gruppe allein in einer verwaisten Welt. »Was also hat Euch dazu veranlasst, mit der Tradition zu brechen und mich zu entführen?«, hatte sie weitergebohrt. »Wohl kaum entführt, Fürstin«, widersprach er. Er verwendete zwar den geziemenden Titel, doch die Art und Weise, wie er ihn aussprach, war alles andere als unterwürfig. »Es sei denn, Ihr wollt, dass Euer Mann dort hinten den Rest des Weges zu Eurem Ziel in diesem Zustand reist.« Mishani legte den Kopfschief, wodurch das matte Sternenlicht sich auf den ebenmäßigen Zügen ihrer Wange fing. »Wir wissen doch beide, dass ihr mich nicht fortreiten lassen würdet«, meinte sie. »Was Chien angeht, der kümmert mich herzlich wenig. Und er ist ganz bestimmt nicht mein Mann.« Bakkara kicherte. »Ich will ehrlich mit Euch sein«, sagte er. »Jeden anderen hätten wir seines Weges geschickt. Aber nicht Euch. Zum einen bewahre Ocha, 293 dass Euch etwas zustößt; und weiter nach Süden würde ich Euch keinesfalls allein reiten lassen. Dort unten werden die Dinge schlimmer.« Seine Miene zerfurchte sich zu einem Ausdruck des Bedauerns. »Zum anderen verkörpert Ihr ein zu kostbares Gut, um es ziehen zu lassen, und Xejen würde mir den Hals umdrehen, wenn ich es täte. Wir könnten Euch in Zila brauchen. Deshalb fürchte ich, Ihr werdet genau dorthin gehen.« Mishani hatte sich ihre Lage bereits zusammengereimt, bevor er Xejens Namen erwähnte und ihre Vermutung bestätigte. »Ihr gehört zur Ais Maraxa«, stellte sie fest. Er grunzte bejahend. »Seid Ihr nicht ein Glückskind?«, fragte er süßsauer. Mishani lachte. »Wie Ihr sicher wisst, geltet Ihr in der Ais Maraxa als so etwas wie eine Legende«, fuhr Bakkara in leicht spöttischem Tonfall fort. »Ihr wart eine jener, die unsere kleine Erlöserin aus den Klauen des Todes gerettet haben.« »Verzeiht, wenn ich das sage, aber Ihr klingt nicht wie der blindwütige Eiferer, den ich als Mann in Eurem Rang erwartet hätte«, sagte Mishani und entlockte dem Soldaten damit belustigtes Gelächter. »Wartet, bis Ihr Xejen kennen lernt«, gab er zurück. »Er sollte Eure Erwartungen eher erfüllen als ich.« Sein Gelächter verebbte ein wenig, und er bedachte Mishani mit einem seltsamen Blick. »Ich glaube an Lucia«, erklärte er schließlich. »Nur weil ich die Lehrmeinung der Ais Maraxa nicht unablässig predigte, ist meine Überzeugung keineswegs geringer.« »Aber Ihr müsst verstehen, dass es für mich recht schwierig ist, den Standpunkt zu begreifen, den Eure Vereinigung vertritt«, erklärte Mishani. »Für Euch mag 294 sie eine Abgöttin verkörpern, und ich finde, Götzen sind wirksamer, wenn ihnen aus der Ferne gehuldigt wird. Für mich hingegen ist sie wie eine jüngere Schwester.« »Huldigung ist ein etwas starkes Wort«, meinte Bakkara unbehaglich. »Sie ist keine Göttin.« »Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Mishani. Sie fand Bakkara merkwürdig. Er schien sich mit seiner eingestandenen Zugehörigkeit nicht ganz wohl zu fühlen, was sie verwirrte. »Dennoch ist sie mehr als menschlich«, fuhr der Soldat fort. »Davon bin ich überzeugt.« Mishani riss die Gedanken zurück in die Gegenwart, zu den bedrohlichen Mauern Zilas, die über ihr aufragten, während sie die Stufen erklommen und sie den verwundeten Händler dabei stützte. Sie rief sich alles ins Gedächtnis, was sie über die Ais Maraxa wusste, besann sich alter Unterhaltungen mit Zaelis und Cailin, trug das Wissen wie Edelsteine aus einer Mine der Vergangenheit ab. Es war zu lange her, seit sie den Ais Maraxa zuletzt Beachtung geschenkt hatte; sie hatte sie nie für so wichtig erachtet. Nun war sie seit über zwei Monaten unterwegs und ohne Verbindung zum Schoß, und in ihrer Abwesenheit schienen die Ais Maraxa sich letztlich der Allgemeinheit offenbart zu haben. Mishani hätte nie geglaubt, dass sie dazu in der Lage wären. Genau das hatten alle gefürchtet, die Lucia nahe standen. Begonnen hatten sie lediglich als besonders umstürzlerischer und begeisterter Arm der damals noch jungen Libera Dramach. Unter der Bauernschaft kursierten Geschichten über einen Retter vor der Seuche bereits lange, bevor der Name Lucia tu Erinima fiel. Es war eine natürliche Gegenwehr gegen etwas, das sie nicht verstehen konnten: die Krankheit in ihrer Erde, gegen die sie machtlos waren. Obwohl die Libera Dramach insgesamt 295 nach Geheimhaltung trachteten, gab es einige unter ihnen, die redeten, und so verbreiteten sich Gerüchte. Die Kunde von einer eingekerkerten Thronerbin vermischte sich mit dem bereits vorhandenen Geflecht aus ungewissen Prophezeiungen, Hoffnungen und Aberglauben und fügte sich hervorragend dazu. In den Augen des gemeinen Volkes konnte es kein Zufall sein, dass jenes Erscheinen einer verborgenen Thronerbin, die mit den Geistern sprechen konnte, mit der Verbreitung der Seuche zusammenfiel. Es ergab durchaus Sinn, dass sie von
den Göttern nach Saramyr entsandt worden war, um das Übel im Land zu bekämpfen. Gewiss konnte es keinen anderen Grund geben, weshalb Enyu, die Göttin der Natur, eine Ausgeburt innerhalb der Kaiserlichen Familie zur Welt kommen ließ. Plötzlich redeten die Bauern nicht mehr von einem Gott oder Helden, der sie erlösen würde, sondern von einem kleinen Mädchen. Dennoch blieb die Vereinigung, aus der die Ais Maraxa entstehen sollte, vorerst lediglich eine etwas übereifrige Splittergruppe der Libera Dramach. Bis die Thronerbin gerettet wurde. Die Gegenwart ihrer Galionsfigur im Schoß war der Ansporn, den sie benötigten. Lucias übernatürliche Ausstrahlung und ihr scheinbar wundersames Entrinnen aus den Klauen des Todes überzeugten sie, dass die verheißene Erlöserin, von der sie geträumt hatten, endlich eingetroffen war. Von da an äußerten sie ihre Unzufriedenheit lauter und vertraten den Standpunkt, dass Geheimhaltung die falsche Antwort wäre; vielmehr sollte die Kunde, dass Lucia lebte, im ganzen Land verbreitet werden, um Unterstützung für den Tag zu sammeln, an dem die Thronerbin sie anführen würde. Der Glaube eines Großteils der Bauernschaft war schwer erschüttert worden, als die Kaiserliche Feste fiel, und die Nachricht 296 von der Flucht des Kindes würde ihre Freude nur verdoppeln. Zaelis hatte es unmissverständlich verboten, und letztlich war die unzufriedene Gruppe verstummt. Wenige Monate später verließen sie den Schoß ohne Vorwarnung und nahmen einige der bedeutendsten Mitglieder der Libera Dramach mit. Schon bald trafen Berichte über eine Vereinigung ein, die sich die Ais Maraxa nannte wörtlich die >Anhänger des reinen Kindes< in einer ehrfürchtigen Ausdrucksform des Hoch-Saramyrrischen und nah und fern beklemmend zutreffende Gerüchte verbreitete. Zaelis hatte sich gesorgt und geflucht, und Cailin sandte ihre Schwestern aus, um das Ausmaß der Gefahr zu ergründen, das die Ais Maraxa darstellten; doch es schien, dass zumindest ihre schlimmsten Befürchtungen nicht eingetreten waren. Die wenigen, die sich von den Libera Dramach abgespalten hatten, um die Ais Maraxa zu gründen, hatten den Aufenthaltsort der Thronerbin geheim gehalten. Nur einem höchst erlesenen Kreis war bekannt, wo Lucia sich befand. Der Rest der Vereinigung wusste nur, dass sie versteckt war, und gab dieses Wissen an andere weiter. Das trug zwar wenig dazu bei, Zaelis zu beschwichtigen, der sie als unbesonnen und verantwortungslos erachtete; aber jahrelang schienen sie damit zufrieden, ihre Botschaft zu verbreiten, und letzten Endes beurteilte Mishani sie als harmlos. Nun prangten vor ihr die Tore Zilas, und an Bakkaras Seite betrat sie eine Stadt, die sich bald gegen eine Belagerung abschotten würde. Sie wünschte, sie hätte Lucias übereifrigen Anhängern mehr Beachtung geschenkt; diese Unachtsamkeit konnte sie teuer zu stehen kommen. 297 Das Anwesen von Geblüt Koli lag an der Westseite der Mataxa-Bucht auf einem Kliff, das über das weite blaue Wasser hinausblickte. Tief darunter befanden sich weiße Strände und Buchten, unberührte Sandstreifen, die das Auge blendeten. Mehrere kleine Holzweiler aus Hütten, Stegen und auf Stelzen errichteten Pfaden erstreckten sich vom Fuß des Kliffs in die Bucht hinaus, wo winzige Boote und Dschunken an ihren Vertäuungen wogten. In der Ferne ragten mehrere massige Schemen aus dem Meer, große mit Moos und Gebüsch überzogene Kalksteingebilde, deren Unterteil derart unterspült war, dass sie oben breiter als unten waren und wie umgedrehte Kiefernzapfen anmuteten. Die Fischer umkreuzten sie mit Paddelstaken und warfen in ihren Schatten die Netze aus. Das Familienhaus der Kolis war nah am Rand an der höchsten Stelle des Kliffs errichtet. Es war ein korallenfarbenes Gebäude, das um einen runden Mittelabschnitt herum angelegt war und das eine abgeflachte, gerippte Kuppel zierte. Die Gleichförmigkeit der Außenfläche im Erdgeschoss wurde von einer rechteckigen Eingangshalle durchbrochen, die wie eine stumpfe Schnauze der Bucht abgewandt hervorragte. Entlang des Kliffrands verliefen zwei schmale Flügel, in denen Stallungen und die Bedienstetenunterkünfte untergebracht waren. In das Kliff selbst waren drei Stufen gehauen, die einen riesigen Garten beherbergten. Die unterste Stufe war mit einem Balkon versehen und ragte über den Abgrund zum Strand darunter. Allerlei Bäume und Pflanzen wuchsen darin sorgsam gehegt, und an klug gewählten Stellen hatte man behauene Felssäulen zurückgelassen, um die Anmut der Mischung aus Stein und Grün zu erhöhen. Auf der obersten Stufe war ein kleiner Wintergarten errichtet, ein Gerüst hoher Bogen und geschnitzter Säulen. Darin pflegte Mishanis Mutter zu schreiben. 298 Barak Avun vermutete, dass sie sich dort aufhielt, obwohl er sie von der untersten Stufe aus nicht sehen konnte, auf der er es sich mit Barak Grigi tu Kerestyn gemütlich gemacht hatte. Zweifellos ersann sie wieder Geschichten, dachte er angewidert. Um die Probleme der Familie dem ganzen Kaiserreich mitzuteilen. Sie gehorchte ihm in jeder Hinsicht, außer in dieser. Als ihm der Inhalt ihres neuesten Buches zu Ohren kam, war er wutentbrannt gewesen; es nährte Klatschmäuler im ganzen Land. Auch ohne ihr Zutun kursierten bereits genug Gerüchte über ihre abgängige Tochter. Doch sie schrieb, was sie schreiben wollte, und ließ sich dabei nicht von ihm bevormunden. Trotzdem konnte der Schaden noch eingedämmt werden. Wenn alles gut ginge, würde er seine Tochter bald auf die eine oder andere Weise zurück haben, und dann könnte er sich eine Vertuschung ausdenken, die all der
Schande ein Ende bereiten würde. Wenn alles gut ginge ... »Bei den Göttern, gar nicht so schlecht, was?«, meinte Grigi, der auf einem Sofa lag und über den Balkon auf die Bucht hinausblickte. »Hier oben kann man die Sorgen der Weltvergessen, sogar die Seuche. Nukis Auge scheint immer noch auf uns herab, das Meer wogt nach wie vor. Aus dieser Höhe betrachtet, wirken unsere Probleme winzig.« Avun musterte ihn mit leichter Verachtung. Der fettleibige Barak war betrunken. Zwischen ihnen stand ein Tisch, der mit den Resten des Essens, das Grigi verschlungen hatte, und leeren Weinkrügen übersät war. Avun war ein maßvoller Mensch, Grigi hingegen ein Nimmersatt, und er hatte sich den ganzen Nachmittag lang voll gestopft. »Mir scheinen sie keineswegs klein«, widersprach 299 Avun frostig. »Das Meer mag wohl noch wogen, aber die Fische werden immer entstellter; und mit diesen Fischen wird das Essen bezahlt, das Ihr verspeist habt. Meine Fischer zweigen neuerdings einen Teil des Fangs für die eigenen Familien ab. Um sie vor der Hungersnot zu bewahren. Sie bestehlen mich.« Seine stets schläfrig wirkenden Augen blickten zur Ostseite der Bucht, wo die fernen Klippen sich als niedrige, schartige und tiefblaue Linie abzeichneten. »Es ist einfach, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Aber es ist auch töricht.« »Seid doch nicht so trübselig, Avun«, meinte Grigi ein wenig enttäuscht darüber, dass sein Verbündeter seine erhabene Stimmung nicht teilte. »Beim Blut des Herzens, Ihr wisst wirklich, wie man einem Mann die Laune verdirbt.« »Ich sehe bloß nichts, worüber ich mich freuen sollte.« »Dann überseht Ihr die Gelegenheit, die uns diese Hungersnot eröffnet«, gab Grigi zurück. »Es gibt keinen wackereren Krieger als einen Mann, der um das eigene Leben und das seiner Familie kämpft. Es bedarf nur jemandes, der sie eint. Und das werde ich sein!« Linkisch hob er seinen Kelch an und verschüttete dabei etwas Wein auf die Steinplatten des Balkons. »Da zieht die Barakin hin«, sagte Avun und deutete lustlos auf eine farbenfrohe Dschunke, die aus dem Hafen tief unter ihnen glitt und sich einen Weg zwischen dem Gewirr der Fischerboote hindurch bahnte. Grigi schattete die Augen gegen die Sonne ab und schaute hinab. »Vertraut Ihr der Frau?« Bedächtig nickte Avun. »Sie wird bereit stehen, wenn die Zeit reif dafür ist.« Die Arbeit des Nachmittags war zufrieden stellend verlaufen. Emira, die junge Barakin des Geblüts Ziris, hatte 300 sie auf eigenes Ersuchen beehrt. Sie hatte sich mit ihnen über mannigfaltige Dinge unterhalten: die drohende Hungersnot, den Geblütskaiser, die Not ihrer eigenen Leute. Und auf ihre gerissene, umwundene Weise hatte sie sich erkundigt, ob Geblüt Kerestyn den Thron zu erringen gedenke und ob Geblüt Ziris Unterstützung benötigt werden könnte, wenn es so weit war. So verlief es immer, das Spiel der Kaiserlichen Höfe. Familien verbündeten sich miteinander in der Hoffnung, die von ihnen unterstützte würde an die Macht gelangen, und jene Familie förderte im Gegenzug diejenigen, die ihr dorthin verholfen hatten. Da Mos' Unfähigkeit zunehmend deutlich wurde und Geblüt Kerestyn den einzig gangbaren Ausweg bot, scharten die hohen Familien sich um Grigis Banner, ohne dass er sie dazu auffordern musste. Mit Geblüt Koli gleichsam als rechte Hand verkörperte er eine mächtige Galionsfigur, und die Kräfte des Reichs versammelten sich um ihn. Aber da war stets das Problem der zahlenmäßigen Überlegenheit des Kaisers gewesen. Mit den Webern an der Seite und den Kaiserlichen Wachen unter seinem Befehl stellte er einen nahezu unbezwingbaren Gegner dar. Während die Streitkräfte Kerestyns im Zuge des letzten Umsturzes ausgelöscht worden waren, konnte Geblüt Batik unbehelligt in die Stadt marschieren und hatte seine Stärke seither vermehrt. Grigi war klar, dass es selbst mit überwältigender Unterstützung seitens der hohen Familien eine äußerst knappe Angelegenheit wäre. Er war schon einmal an den Mauern Axekamis zerschellt; ehe er sie erneut zu stürmen versuchte, musste er sich seiner Sache überaus sicher sein. Avun hatte ihm an diesem Tag die Lösung für jenes Problem gebracht. »Ich habe einen neuen Freund«, hatte er verkündet, 301 während sie am Vormittag durch die Gemächer des Familienhauses schlenderten. »Einen, der dem Kaiser sehr nahe ist. Erst vor kurzem wurde Verbindung zu mir aufgenommen.« »Einen neuen Freund?«, hatte Grigi gefragt und eine Augenbraue hochgezogen. »Er hat mir anvertraut, dass etwas geschehen wird, und zwar schon sehr bald. Wir müssen bereit sein.« »Bereit?« »Wir müssen unsere Unterstützung zusammentrommeln, damit wir binnen eines Tages auf Axekami marschieren können.« »Ein Tag! Lächerlich! Wir müssten es all den Familien lange vorher mitteilen und ihre Streitkräfte hier versammeln.« »Dann werden wir das zum richtigen Zeitpunkt tun. Es wird ein Zeichen geben. Und sobald es erfolgt, müssen wir rasch handeln, und unsere Verbündeten müssen ebenfalls bereit sein.« Grigi hatte das purpurne Scheitelkäppchen auf dem Kopf zurechtgerückt. »Das scheint mir fast ein bisschen zu
viel, um es einfach so zu glauben, Avun. Sagt, wer ist Euer neuer Freund?« »Kakre. Der Weber des Kaisers.« 302 ACHTZEHN »Es ist Zeit, Kaiku«, sagte Yugi Die Dunkelheit hielt Einzug. Im Osten schimmerte der Himmel in sanftem Purpur, Vorbote der nahenden Nacht. Iridima hing halb voll alleine inmitten eines dichten Gewirrs matt schimmernder Sterne, im Zwielicht fahl und gespenstisch anzusehen. Die Hitze des Frühherbsttages ging in einen warmen Abend über, und eine sanfte Brise zerstäubte die drückende Schwüle der vorigen Stunden. Sie hatten die Schranke der Weber gefunden, den Rand des Geheimnisses, das sie aufdecken wollten. Nomoru hatte angekündigt, dass sie sich der Stelle näherten, an der sie sich bei ihrem letzten Besuch verirrt hatte, und eine Stunde später kehrten sie an dieselbe Stelle zurück, obwohl sie unbeirrt nach Westen marschiert waren. Und falls das nicht als Beweis reichte, hatten auch Kaikus Sinne zu knistern begonnen; sie war sicher, genau zu wissen, wo die Schranke über die Landschaft verlief und wann sie zur Umkehr getrieben worden waren. Als sie hineingerieten, hatte sie ihr Kana sorgsam gezügelt. Sie wollte nicht versuchen, die Schranke ohne die Hilfe der Maske ihres Vaters in Angriff zu nehmen. Danach ruhten die vier Reisenden sich ein paar Stunden in einer geschützten Senke aus, um den Mantel der Nacht abzuwarten. Kaiku verbrachte die Zeit an einen Baum gelehnt, wo sie die höhnisch grinsende, rote und schwarze Fratze vor sich hielt und in die leeren Augen starrte. Als Yugi sie ansprach, hörte sie ihn kaum. Er 303 musste sie am Arm schütteln, ehe sie jäh und verärgert zu ihm aufschaute; dann entspannten sich ihre Züge, und sie lächelte ihn dankbar an. Kurz war aus Yugis Augen Unsicherheit abzulesen, dann zog er sich zurück. Ihr Verstand sauste zurück, huschte über die Tage der beschwerlichen Reise, bis sie schließlich bei jenem düsteren, trostlosen Sumpf innehielten, wo Yugi im Sterben gelegen hatte. Die Schlacht mit dem Dämonengift war fest in Kaikus Gedächtnis eingebrannt; jede tastende Faser, jede Schlaufe, jeder Knoten war in ihrem Bewusstsein in schillernden Linien verzeichnet. Unwillkürlich spielte ein flüchtiges Lächeln um ihre Lippen, und ihre Stimmung hob sich. Dann aber fiel ihr Blick auf Yugi, der sein Bündel schulterte, und ihr Grinsen stumpfte ein wenig ab. Seit Yugi erwacht war, verhielt er sich irgendwie anders. Als sie in ihm gewesen war, hatte sie etwas gespürt, einen leichten Sog seines Verstandes, der auf etwas Dunkles und unaussprechlich Grässliches hindeutete. Sie konnte nicht ergründen, worum es sich handelte. Kaiku wusste nur, dass es tief verborgen gelegen hatte, und das Unterbewusstsein hatte es offenbar von seinen Fesseln befreit. Nachdenklich beobachtete sie ihn. Yugi versuchte, es nicht zu bemerken, aber er konnte ihre Augen im Rücken förmlich spüren. Sein Aufeinandertreffen mit den Dämonen hatte ihn ernüchtert, das stand fest. Die unmittelbare Nähe des Todes hatte ihm ein früheres Leben in Erinnerung gerufen, ein Leben vor seinem Beitritt zur Libera Dramach. Tage des Blutes, des Schwertes, der Verheerung. Er verdrängte die Gedanken, als die Reisenden sich auf die Beine rappelten und sich zum Durchbrechen der Schranke der Weber vorbereiteten. Die Unmittelbarkeit der Lage lenkte ihn von seinen Grübeleien ab. Der 304 Marsch durch den Bruch war alles andere als einfach gewesen, doch von hier an würde es noch schlimmer werden. »Wird das klappen?«, fragte Nomoru zweifelnd und deutete auf die Maske in Kaikus Hand. »Das werden wir gleich erfahren«, meinte Kaiku und setzte sie auf. Schrecklicherweise fühlte es sich wie eine Rückkehr nach Hause an. Die Maske erwärmte sich an ihrer Haut, und Kaiku vermeinte zu spüren, wie das Ding sich den winzigen Veränderungen anpasste, die sich in ihrem Gesicht vollzogen hatten, seit sie die Maske das letzte Mal getragen hatte. Wohlige Zufriedenheit und Behaglichkeit breiteten sich in ihr aus, die sie sehnsüchtig daran zurückdenken ließen, wie sie als kleines Mädchen auf dem Schoß ihres Vaters geschlafen hatte. Sie konnte das beruhigende Flüstern von Ruitos Stimme hören, ein Trugbild seiner Erinnerung, das sie streifte und ihr Tränen in die Augen trieb. Kaiku blinzelte es fort. Die Maske fühlte sich deshalb wie ihr Vater an, weil sie ihm einige seiner Gedanken und einen Teil seines Wesens geraubt hatte, als er sie trug. Er war für dieses Stück Holz getötet worden. Wahre Masken waren grausame Herren, die für die Macht, die sie verliehen, unablässig nahmen und die süchtig nach ihnen machten, bis man nicht mehr ohne sie leben konnte. Bis man ein Weber wurde. Kaiku würde sich nicht gestatten, dies je zu vergessen. Bei den Geistern, was wohl geschehen mochte, wenn eine Schwester des Roten Ordens zu einem Weber wurde ? »Du siehst lächerlich aus«, stellte Nomoru nüchtern fest. »Was soll'n das bringen?« Kaiku strafte sie mit einem verächtlichen Blick. Seltsamerweise fühlte sie sich nicht im Geringsten lächerlich, 305 wenn sie diese Maske mit ihrem wissenden, höhnischen Grinsen trug. Vielmehr fand sie, dass sie ihr wie angegossen passte und sie eindrucksvoller erscheinen ließ. »Diese Maske wird uns durch die Schranke bringen. Was dir nicht gelungen ist«, erwiderte Kaiku schnippisch. »Lasst uns schnell machen. Ich will dieses Ding keinen Augenblick länger als nötig tragen.«
Als sie aufbrachen, dachte sie, dass die Worte sich seltsam hohl anfühlten. Sie hatte sie eher gesprochen, weil sie dachte, es wurde von ihr erwartet. Nicht, weil sie es tatsächlich so meinte. Bis sie an der Schranke angelangten, war das letzte Licht vom Himmel geflohen. Als sie eine sanfte Erhebung des Geländes zwischen den Gipfeln zweier wuchtiger Felsklötze erklommen, spürte Kaiku, wie die Maske an ihren Wangen heiß aufloderte. »Hier ist sie«, erklärte sie. »Bindet euch an mir fest.« Tsata holte ein Seil hervor, und sie taten, wie ihnen geheißen. Es war schwierig zu deuten, ob der Tkiurathi tatsächlich für nötig hielt, was sie taten, doch er beugte sich dem Willen der Gruppe ohne einen Ton der Widerrede. Behutsam tastete Kaiku sich mit ausgestreckter Hand vor. Die Maske wurde noch heißer, bis Kaiku fürchtete, sie könnte ihr das Gesicht verbrennen. Dann streiften ihre Finger die Schranke, und sie offenbarte sich ihren Augen. Sie konnte ein ehrfürchtiges Japsen nicht unterdrücken. Das glitzernde, im Geweb gestrickte Geflecht erstreckte sich zu beiden Seiten von ihr weg; sechs Meter hoch und sechs tief wand und krümmte es sich über die 306 scharfen Umrisse des Xarana-Bruchs. Es war ein Gewusel goldener Spiralen und Wirbel, die sich langsam drehten und kräuselten, einander umgarnten und neue Formen bildeten, sich in einem Tanz unmöglicher Wirren streckten und beugten. Dieser Ort glich einem Strudel in den Gewässern der Wirklichkeit, der die Wahrnehmung umdrehte und auf einen neuen Pfad sandte. Abermals staunte Kaiku ob der schieren Verschlungenheit der Schöpfung der Weber. »Was ist?«, fragte Yugi. »Ist es die Schranke?« Am Klang seiner Stimme erkannte Kaiku, dass er wissen wollte, weshalb sie angehalten hatten, nicht was das Ding vor ihnen war. Für alle außer ihr war es unsichtbar. Kurz verspürte sie selbstgefällige Freude darüber, die Einzige zu sein, der dieses Wunder zuteil wurde; dann wunderte sie sich über sich selbst und drängte die Empfindung beiseite. »Haltet euch an den Händen«, forderte sie ihre Gefährten auf und reichte die eigene Hand Yugi. Die anderen taten es ihr gleich. Sie betrat die Schranke und wurde in das Geweb gesogen. Als dies das erste Mal geschah, damals auf Fo, war sie versucht gewesen, sich in die unaussprechliche Schönheit der goldenen Welt um sie herum fortreißen zu lassen. Diesmal war sie darauf vorbereitet, und ihr Herz war gegen die Verlockung gestählt. Mit ein paar Schritten durchquerte sie die Schranke und zog Yugi hinter sich her; aber es war eine schmerzliche Erfahrung, und bei der Rückkehr in die Wirklichkeit schien im Vergleich zum Geweb alles grau und öd. Yugi wankte rücklings hinterher und stolperte dabei, weil er plötzlich herumgedreht wurde. Dadurch ließ er Nomoru los, die nächste in der Reihe, und als er zu Boden fiel, spannte sich das Seil um seine Hüfte. 307 Nomoru zog in die entgegengesetzte Richtung und war im Niemandsland gefangen, versuchte angestrengt und mit verdutzter Miene, sich in die Richtung zu schleppen, aus der sie gekommen waren. Sie schien nicht zu verstehen, weshalb es ihr nicht gelang. Tsata, der sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand, war in einem ähnlichen Zustand; sein Gesicht glich einem Abbild kindlicher Verwirrung. »Fass mit an«, forderte Kaiku Yugi auf, und obwohl er immer noch nicht recht wusste, wo er war, tat er, was sie verlangte. Gemeinsam zogen sie ihre Gefährten durch die Schranke auf die andere Seite. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zusammenhängend zu denken vermochten. Mittlerweile hatte Kaiku die Maske abgenommen und in ihrem Bündel verstaut. Verblüfft beobachtete sie, wie ihre Gefährten einander mit glasigen Augen wie Kleinkinder anstarrten oder ihre Umgebung betrachteten, als könnten sie einfach nicht verarbeiten, wo sie sich befanden. Kein Wunder, dass ohne eine Maske niemand die Schranke zu durchdringen vermochte. Sie war ein wahres Meisterstück der Webkunst. Auch nachdem sie wieder bei Sinnen waren, konnte Nomoru sich an diese Gegend nicht erinnern, obwohl sie behauptet hatte, sie zu kennen. Daher übernahm Kaiku die Führung. Nomorus Richtungssinn schien immer noch beeinträchtigt, weshalb sie als Führerin nun ungeeignet war. »Wir müssen von hier weg«, meinte Kaiku. »Trotz der Maske bin ich nicht davon überzeugt, dass es sicher ist, die Schranke zu durchqueren. Unter Umständen sind diejenigen auf uns aufmerksam geworden, die sie geschaffen haben.« Damit brachen sie in die zerklüftete Landschaft zu 308 ihrer Rechten auf und liefen die Innenseite der Schranke entlang. Kaiku vertraute ihren Sinnen, um der unsichtbaren Grenze nicht zu nahe zu kommen, und mit diesem Geleit drangen sie in die dunklen Furchen und Falten des Xarana-Bruchs. Iridima beobachtete sie mit halbem Antlitz. Als sie sich fernab der Stelle befanden, an der sie das Hoheitsgebiet der Weber betreten hatten, ließ Nomoru sie anhalten. »So isses hoffnungslos«, meinte sie. »Im Finstern finden wir nie und nimmer was.« Erschöpft pflichteten die anderen ihr bei. Eine Weile schienen sie tatsächlich voranzukommen; doch dann waren Wolken am nächtlichen Himmel aufgezogen, hatten den Schimmer der Sterne und der einsamen Mondschwester verhüllt, und nun konnten sie kaum die Hand vor Augen sehen. Seit einiger Zeit waren sie einen Abschnitt mit
unebenmäßigen Rinnen und allerlei Strauchwerk entlang marschiert, hatten sich an den dornigen Büschen wundgekratzt und liefen wahrscheinlich im Kreis. Vervielfacht wurde ihre Enttäuschung durch den Umstand, dass sie keine Ahnung hatten, wonach genau sie eigentlich Ausschau hielten. Das Suchen nach Anzeichen von Machenschaften der Weber war ein breites und dehnbares Ziel, zumal sie das Ausmaß der Fähigkeiten ihrer Feinde nicht kannten und nicht wussten, in welcher Form sich solche Anzeichen äußern mochten. Nun stapften sie einen Graben getrockneten Schlamms mit steilen Böschungen entlang; der unkrautüberwucherte Lauf eines alten, längst versiegten Flusses. »Wir sollten rasten«, schlug Yugi vor. »Wir können wei309 tergehen, wenn der Himmel aufklart oder das Morgengrauen einsetzt.« »Ich bin nicht müde«, tat Kaiku kund, die sich tatsächlich von seltsamer Kraft beseelt fühlte. »Ich halte Wache.« »Ich leiste dir Gesellschaft«, meldete Tsata sich unerwartet zu Wort. . Sie ließen ihre Bündel einfach auf den Boden des Grabens fallen; Nomoru und Yugi rollten Matten auf und schliefen binnen weniger Augenblicke ein. Kaiku setzte sich mit dem Rücken gegen die Böschung und schlang die Hände um die Knie. Tsata hockte sich stumm ihr gegenüber. Es war gespenstisch still; selbst das wilde Summen nächtlicher Insekten fehlte. Aus der Ferne vernahm Kaiku das unangenehme Krächzen eines Vogels, den sie nicht einzuordnen vermochte. »Sollte einer von uns raufklettern, um Ausschau zu halten nach ...« Sie ließ den Satz unvollendet verklingen, als ihr klar wurde, dass sie keine Ahnung hatte, was sich heranpirschen konnte. »Nein«, antwortete der Tkiurathi. »Wir können nicht weit sehen, aber es könnte Wesen geben, die uns in der tiefen Dunkelheit erkennen. Es ist besser, versteckt zu bleiben.« Kaiku nickte leicht. Sie wollte ohnehin nicht wirklich dort hinauf, denn hier unten fühlte es sich geschützt an. »Ich wünsche zu reden«, tat Tsata plötzlich kund. »Über Weber.« Kaiku schob sich die Strähne aus dem Gesicht und klemmte sie hinter ein Ohr. »Na schön.« »Ich habe von Saran über sie gehört, aber ich weiß immer noch nicht, warum dein Volk sie duldet«, erklärte er. 310 Bei der Erwähnung von Sarans Namen verengte Kaiku die Augen zu Schlitzen. Das war etwas, das die Begegnung mit den Anhängern des Omecha-Kultes und den Ruku-shai gänzlich aus ihrem Kopf verdrängt hatte. »Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was du fragen willst«, gab Kaiku zurück. »Lass mich dir sagen, wie ich es sehe, und du kannst mich danach berichtigen. Ist das annehmbar?« Kaiku reckte das Kinn vor, ehe sie verlegen feststellte, dass sie eine okhambische Geste statt einer saramyrrischen verwendet hatte, um ihre Einwilligung zu bekunden. »Einst hatte eure Kultur sich großer Kunst und Wissenschaft verschrieben, um wundervolle Bauwerke, lange Straßen und unglaubliche Siedlungen zu errichten«, begann Tsata. »Ich habe eure Geschichte gelesen. Und obwohl ich eure Vorliebe für Steinstädte oder die Art nicht teile, wie ihr euch zu so großen Gruppen zusammenfindet, dass der Pash bedeutungslos wird, ist mir bewusst, dass nicht jede Lebensweise wie meine ist, und damit kann ich mich abfinden. Ich kann mich sogar mit der schrecklichen Kluft zwischen den Klassen der Adeligen und des Pöbels abfinden und wie die eine Gruppe ihr Wissen hortet, damit die andere unwissendes Arbeitervolk bleibt. Dennoch finde ich es grundlegend böse, denn es widerspricht so sehr dem Wesen meines Volkes; aber wenn ich davon zu reden anfange, sitzen wir noch viel länger hier, und es sind die Weber, über die ich sprechen will.« Kaiku war etwas erstaunt, sowohl über seine Unverblümtheit - die an Unhöflichkeit grenzte - als auch über seine Wortgewandtheit. Bislang hatte sie Tsata selten mehr als ein paar Sätze am Stück sagen gehört; doch offenbar lag ihm diese Angelegenheit so sehr am Her311 zen, dass er seine übliche Verschwiegenheit zu brechen bereit war. »Als die Weber kamen, haben deine Ahnen sie aufgenommen«, fuhr er fort, während seine grünen Augen unbeirrt in die Dunkelheit starrten. »Sie waren geblendet von der Macht, über die sie mit einem Weber an der Seite verfügen würden. Eure Adeligen waren seit so langer Zeit daran gewöhnt, geringere Menschen wie Werkzeuge zu behandeln, dass sie dachten, sie könnten die Weber ebenso benutzen - ohne zu wissen, welch gefährliche Werkzeuge sie waren. Die Weber in eurer Welt zu dulden kam einem Pakt gleich; einem Pakt, den deine Ahnen in vollem Wissen um die Bedingungen schlössen.« Traurig ließ er den Kopf hängen. »Die Gier war ihr Verderben. Vielleicht hegten sie anfangs hehre Ziele; vielleicht dachten sie, mit den Webern an ihrer Seite könnten sie das Reich ausweiten und es noch größer und i unbesiegbarer gestalten. Aber manchmal ist der Preis zu hoch, ganz gleich, wie die Belohnung aussieht.« Kaiku fiel auf, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte und die gelbliche Haut sich um die Knöchel spannte. »Ihr habt die Weber in eure Heime eingeladen und mit euren Kindern gefüttert.« Diese Aussage bestürzte Kaiku. Doch obwohl sie Luft holte, um zu widersprechen, stellte sie fest, dass sie es nicht konnte. Schließlich hatte er Recht. Es war die Pflicht einer Adelsfamilie, ihren Weber mit allem zu versorgen, wonach er in seinem Wahn nach einer Sitzung im Geweb verlangte. Und sie wusste nur allzu gut um die abscheulichen Abartigkeiten, zu denen diese Kreaturen fähig waren. Wenn die Nachwehen der Verwendung ihrer Masken einsetzten, besaßen sie im Angesicht ihrer irrsinnigen, urtümlichen Gelüste und Bedürfnisse kei-
312 nerlei Gewissen. Für die Weber gab es nichts, was zu verderblich war. Vergewaltigung, Mord, Folter ... dies waren nur einige der Wünsche, deren Befriedigung die Weber verlangten. Kaiku kannte noch andere. Geblüt Kerestyns Weber war dem Vernehmen nach ein Menschenfresser. Geblüt Nira hatte einen, der menschliche und tierische Ausscheidungen aß. Der derzeitige Webfürst hegte offenbar die Vorliebe, seine Opfer bei lebendigem Leib zu häuten und Skulpturen aus ihnen zu formen. Zwar verhieß nicht jedes Webers Wahn Unheil für andere manche begnügten sich mit so harmlosen Dingen wie Malerei oder stundenlangem Wandeln in einer Welt der Sinnestäuschungen -, die meisten jedoch sehr wohl, und obschon ihre Gelüste nicht nach jeder Websitzung befriedigt werden mussten, zeichneten die meisten Weber für Dutzende Leben verantwortlich. Und je wahnsinniger und süchtiger und zerfressener von Krankheiten sie wurden, desto mehr brauchten sie. Plötzlich fühlte sie sich beschämt, als sie sich der schlichten Freude besann, die sie in Hanzean über die Rückkehr in ihre Heimat aus Okhamba empfunden hatte. Saramyr war ein Ort der Schönheit und der Harmonie, an dem zu leben sie sich glücklich schätzte, und dabei war das Reich auf den Gebeinen so vieler Menschen errichtet. Vor den Webern hatte die planvolle Ausrottung des Urvolks der Ugati stattgefunden, deren Blutzoll in die Millionen reichen musste. All das war keineswegs neu für Kaiku - und dennoch wirkte es für sie so fern und losgelöst, dass sie keinen wirklichen Bezug dazu herstellen konnte. Aber es so unverblümt ausgesprochen zu hören erinnerte sie daran, was für eine dünne Fassade die Zivilisation doch war, eine Kruste, auf der die anmutigen Füße der Hochwohlgebo313 renen wandelten, während unter ihren Sohlen ein Meer der Wirren und Gewalt brodelte. Doch Tsata war noch nicht fertig. »Du bist zwar nicht schuld an den Verbrechen deiner Ahnen«, meinte er, »aber mir scheint, eure Gesellschaft bestraft oft die Kinder für die Fehler ihrer Eltern. Und nun verderben die Weber sogar das Land selbst, auf dem ihr lebt. Das ist der letzte Witz. Dein Volk ist so von ihnen abhängig geworden, dass es sich nicht dazu durchringen kann, sie loszuwerden, obwohl sie all die Schönheit auslöschen werden, die ihr einst geliebt habt. Ihr habt so viel in das Unterfangen gesteckt, euer Reich größer und besser zu machen, dass ihr nun die Grundfesten zerstört, auf denen es errichtet ist. Ihr habt einen so hohen Turm gebaut, dass ihr begonnen habt, von unten Ziegel zu entnehmen, um oben weiterbauen zu können.« Tsata beugte sich dichter zu Kaiku. »Ihr tötet die Erde mit eurer Selbstsucht.« »Ich wäß das, Tsata«, sagte Kaiku. Allmählich wurde sie wütend; es kam ihr ein wenig zu sehr wie ein persönlicher Angriff auf sie vor. Natürlich war ihr klar, dass Tsata sich nicht an die ausweichenden Umschreibungen und Gebote der Höflichkeit ihrer Gesellschaft hielt, dennoch empfand sie seine Art zu reden als zu anklagend. »Was meinst du wohl, was wir hier tun? Ich versuche, sie zu bekämpfen.« »Ja«, pflichtete er ihr bei. »Aber bekämpfst du sie aus den richtigen Gründen? Du kämpfst aus Rache. Das hat Saran mir erzählt. Nun erhebt sich das Volk deines Landes, weil die Nahrung knapp wird; aber bis dahin war es zufrieden damit, das Übel schleichend voranschreiten zu lassen, und dachte, jemand anders würde sich schon darum kümmern. Keiner von euch kämpft für das Wohl der Allgemeinheit. Ihr beschließt erst, euch zu wehren, wenn es eure persönlichen Belange berührt.« 314 »So sind die Menschen eben«, fauchte Kaiku. »Mein Volk ist nicht so«, gab Tsata zurück. »Vielleicht lebt ihr deshalb immer noch im Dschungel, wo eure Kinder von wilden Tieren gefressen werden«, entgegnete sie. »Vielleicht beruht ja Zivilisation auf Selbstsucht.« Der Tkiurathi wirkte keineswegs gekränkt durch die Beleidigung. »Vielleicht«, räumte er ein. »Aber ich will meine Kultur nicht mit der deinen vergleichen, um ihre Errungenschaften gegeneinander abzuwägen.« »Genau das scheinst du aber zu tun«, stellte Kaiku mürrisch fest. »Ich sage dir nur, wie dein Land durch meine Augen aussieht«, meinte er schlicht. »Bereitet dir Ehrlichkeit denn solches Unbehagen?« »Du brauchst mich nicht auf die Unzulänglichkeiten meines Volkes hinzuweisen. Meine Gründe mögen nicht selbstlos genug für deinen Geschmack sein, dennoch bleibt die Tatsache, das sich etwas gegen die Weber unternehme. Ich ziehe es vor, die Dinge nicht einfach so hinzunehmen wie sie sind, denn ich weiß, dass sie falsch sind. Also belehr mich gefälligst nicht über Moral.« Tsata beobachtete sie stumm. Allmählich beruhigte sie sich ein wenig und scharrte mit der Ferse im Dreck. »Ich kann dir über die Weber nichts beibringen«, gestand sie schließlich. »Dein Verständnis der Lage trifft uneingeschränkt zu.« »Also ist es ein Ergebnis eurer Kultur?«, fragte Tsata. »Weil jeder von euch nach persönlichem Vorteil statt jenem der Gruppe strebt, handelt ihr erst gegen eine Bedrohung, wenn sie euch alle betrifft?« »Möglich«, antwortete Kaiku. »Ich weiß es nicht. Hingegen weiß ich sehr wohl, dass wir die Weber überwiegend aus Unwissenheit dulden. Hätten die hohen 315 Familien handfeste Beweise dafür, dass die Weber für den Verfall des Landes verantwortlich sind, würden sie sich erheben und sie vernichten. Davon bin ich überzeugt.« »Aber es stimmt nicht, Kaiku«, sagte Yugi. Sie schauten zu ihm hinüber und sahen, wie er sich aufsetzte. Er
rückte das Tuch um seine Stirn zurecht und bedachte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Ist schwierig zu schlafen, während ihr beide die Welt ins rechte Lot rückt«, erklärte er. »Was soll das heißen, es stimmt nicht?«, wollte Kaiku wissen. »Wahrscheinlich sollte ich dir das nicht sagen, aber es spielt wohl keine Rolle«, meinte er, während er sich auf die Beine rappelte und sich streckte. »In den oberen Rängen der Libera Dramach geht allerlei vor sich, von dem wir niemandem erzählen. Zum Beispiel haben wir die Ansichten deines Vaters überprüft, was die Hexensteine angeht. Als wir sicher waren, dass er im Recht war, haben wir ... na ja, wir haben es einigen Adeligen gesteckt. Unauffällig. Hie und da ein Hinweis, und wenn das nicht reichte, haben wir ihnen die Beweise als Herausforderung hingelegt, es selbst zu überprüfen.« Er kratzte sich im Nacken. »Natürlich geschah das alles durch Mittelsmänner. Die Libera Dramach selbst sind nie in Erscheinung getreten.« Kaiku bedeutete ihm mit einer Geste, zum Kern der Sache zu kommen. »Und wie ist es ausgegangen?« Er stapfte zu ihnen herüber und schaute auf sie herab. »Niemand hat etwas unternommen. Die wenigsten haben die Tatsachen überhaupt geprüft, die wir ihnen gaben.« Er lachte verbittert. »Alles, was die Weber die ganze Zeit im Zaum gehalten hat, war die Furcht davor, was geschehen würde, wenn die hohen Familien sich 316 gegen sie wendeten. Nun, wir haben versucht, genau das zu veranlassen, und sie haben uns einfach keine Beachtung geschenkt.« Kaiku zeigte sich erschüttert. »Wie kann das sein? Obwohl sie sehen können, was die Weber tun?« Yugi legte eine Hand auf Tsatas nackte Schulter. »Unser Freund aus der Fremde hat Recht«, antwortete er. »Es ist nicht zu ihrem Vorteil. Handelte eine oder sogar ein Dutzend Familien aufgrund dieses Wissens, verlören sie ihre Weber, und die anderen Familien, die noch Weber hätten, würden sie zermalmen. Es gibt zu viele Feindseligkeiten, zu viele unverheilte Wunden. Es wird immer jemand versuchen, die Oberhand zu erlangen, immer jemanden geben, der nur kurzfristig denkt und jede Gelegenheit beim Schopf packt, die sich bietet. Weil die Menschen nun mal selbstsüchtig sind. Etwas Grundlegendes kann sich nur ändern, wenn jeder beschließt, die Änderung zur selben Zeit herbeizuführen.« Er zuckte die Schultern. »Und das geschieht nur, wenn eine Katastrophe eintritt.« »So ist es. Ihr werdet warten müssen, bis dieses Land so zerstört ist, dass kaum noch jemand darauf leben kann, ehe es zu jedermanns Vorteil ist zu handeln«, meldete Tsata sich zu Wort. »Und dann könnte es längst zu spät sein.« »Dann ist das also der Lauf der Dinge?«, fragte Kaiku. »Dass Menschen sterben müssen, bevor sich etwas ändert? « Yugi und Tsata schauten sie nur an, doch das war Antwort genug. Kurz vor dem Morgengrauen lichteten sich die Wolken, und sie brachen wieder auf, um Iridimas Schein zu nut317 zen. Mittlerweile schien sich Nomorus Richtungssinn wieder eingestellt zu haben, und indem sie die Krümmung der Schranke abschätzte, ermittelte sie einen Pfad nach innen, der sie zur Mitte des Gebiets führen sollte, das die Weber von der Außenwelt abgeschnitten hatten. Sie waren erst kurz marschiert, als das Gelände vor ihnen abfiel, und sie schauten eine geröllübersäte Böschung hinab auf die dunkel glitzernde Schneise des Zan. Das plätschernde Gurgeln des Flusses drang durch die Stille zu ihnen empor. »Befinden wir uns immer noch stromaufwärts der Wasserfälle?«, wollte Yugi wissen. Nomoru gab einen bejahenden Laut von sich. »Da lang«, sagte sie und deutete gen Süden. Kaiku bezweifelte, dass die Kundschafterin mehr Ahnung als sie selbst hatte, wohin sie sich wenden sollten, aber da sie ohnehin allesamt hoffnungslos in der Irre tappten, war ein Weg so gut wie der andere. Der Himmel wurde allmählich heller, als Yugi sie unvermittelt anhalten ließ. Sie hatten aufmerksam auf jegliche Anzeichen von Leben geachtet, bislang jedoch noch keine entdeckt. Tatsächlich war es gespenstisch still. Sogar die Tiere schienen diesen Ort verlassen zu haben. »Was ist?«, flüsterte Kaiku. »Schaut«, sagte Yugi. »Schaut zu dem Baum.« Sie taten, wie ihnen geheißen. Auf einer felsigen Anhöhe über ihnen zeichneten sich die Umrisse eines krummen Baumes ab, dessen Aste kahl und verbogen waren und dessen Gezweig sich spiralförmig in seltsamen Winkeln wand. Er stand dort gleich einem unheil verkündenden Wegweiser, einer Warnung vor den Dingen, auf die sie stoßen würden, wenn sie weitergingen. 318 »Er ist von der Geißel befallen«, verkündete Yugi überflüssigerweise. »Sie haben einen weiteren Hexenstein gefunden«, meinte Kaiku. »Und sie haben ihn aufgeweckt.« »Aufgeweckt?«, höhnte Nomoru. »Es ist ein Stein, Kaiku.« »Ist er wirklich nicht mehr?«, gab Kaiku süßsauer zurück. »Warum verstecken die Weber ihn dann?« Nomoru schnaubte nur verächtlich und stapfte weiter flussabwärts. Die anderen folgten. Es war kurz nach Sonnenaufgang, als sie fanden, wonach sie gesucht hatten; und es war viel, viel schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatten. Der Geländerücken, dem sie gefolgt waren, wandte sich vom Zan darunter ab; zwischen dem Ostufer des Flusses
und den höheren Gefilden erstreckte sich ein breiter Streifen Flachland, eine grasbewachsene und fruchtbare Überschwemmungsebene. Zunächst konnten sie die Ebene nicht sehen, denn sie waren gezwungen gewesen, vom Rand der Böschung zurückzuweichen, weil sie plötzlich auf unwirtliches Gelände aus Felsbrocken stießen, aber Nomoru fand einen Pfad, der sie zurück zum Rand führte, von wo aus sie das Land westlich hervorragend überblicken konnten. Und dort sahen sie, was die Weber die ganze Zeit über versteckt hatten. Die Böschung war noch steiler geworden und hatte sich zu einer hohen, schwarzen Klippe entwickelt, die auf die Ebene hinabblickte, und als Nomoru den Abgrund erreichte, duckte sie sich plötzlich und bedeutete den anderen, es ihr gleichzutun. Das Tageslicht war noch matt und kraftlos, nicht in der Lage, der Welt Farbe zu verleihen. Der Himmel über ihnen präsentierte sich in tristem Grau, und die einsame Mondschwester verschwand allmählich hinter den schartigen Zähnen des 319 Xarana-Bruchs in der Versenkung. Auf den Bäuchen robbten sie zu Nomoru vor und spähten über den Klippenrand. Kaiku stieß einen leisen Fluch aus. Auf der gegenüberliegenden Seite der Überschwemmungsebene stand in der Nähe des Flussufers ein großes Bauwerk, ein glatter Höcker, der an den Rückenpanzer eins gewaltigen Käfers erinnerte. Er war von einem stumpfen, rostroten Bronzefarbton und bestand aus riesigen Streifen Bandmetalls. Ringsum waren kleinere Gebäude verstreut, die wie neugeborene Tiere wirkten, die sich um die Zitzen der Mutter rangelten. Dort drehten sich langsam merkwürdige metallische Zahnräder, rasselten Ketten an Flaschenzügen, die aus schmalen Schächten in der Erde ragten, und aus kurzen Schloten quoll öliger, schwarzer Rauch. Aus den Gebäuden drangen leise klappernde und klirrende Geräusche. Wie versteinert starrten die Beobachter das Bauwerk an. Es wirkte so fremdartig, dass es nicht in diese Welt zu gehören schien. Ein dreckiges, brodelndes Grauen, das die Augen schmerzte. Doch das war nicht alles. Sie sahen auch eine unmittelbarere und erkennbarere Gefahr. Die Ebene wimmelte von Ausgeburten. Die genaue Anzahl der Kreaturen, die sich dort unten herumtrieben, war unmöglich abzuschätzen, denn sie waren in keinerlei Ordnung oder Formation, und es war schwierig, auszumachen, wo eine Gruppe endete und die nächste begann. Erschwerend kam die Vielfalt der Formen und Gestalten hinzu: ein riesiges Truggebilde hässlicher Geschöpfe, die samt und sonders der Vorstellungskraft eines Wahnsinnigen entsprungen schienen. Vermutlich Tausende; vielleicht sogar Zehntausende. Die Horde übersäte das Gelände vom Fuß der Klippe bis 320 zum Ufer des Zan, teils in Gruppen geschart, teils in riesige, metallische Pferche eingesperrt. Manche liefen rastlos den Fluss entlang auf und ab, manche schliefen auf dem Boden, manche zankten sich und kratzten einander. Kaiku spürte ein Klopfen auf der Schulter, und als sie sich umschaute, sah sie, dass Nomoru ihr ein Handfernrohr hinhielt. Es war ein schlichtes, tragbares Ding- zwei Glaslinsen in einer kegelförmigen Röhre aus steifem Leder -, aber es reichte. Mit einem unsicheren Lächeln der Dankbarkeit nahm sie es an. Es war vermutlich das erste Mal, dass Nomoru von sich aus einem Mitglied der Gruppe eine Gefälligkeit anbot. Kaiku hielt sich das Handfernrohr an ein Auge, wodurch das Schauspiel unter ihr sich mit beängstigenden Einzelheiten füllte. Wohin sie auch blickte, waren die Formen der Natur völlig entstellt. Dunkle, trottende Wesen gleich länglichen Dschungelkatzen knurrten beim Umherstreifen, die Gesichter eigenartige Mischungen aus Hund und Echse; dämonische Kreaturen, die von kleinen Affen abstammen mochten, hingen von den Gittern ihrer Käfige und entblößten unter den zurückgezogenen Lippen gefährliche Reihen vergilbter Fänge; bucklige, keilerähnliche Geschöpfe, gedrungene Muskelberge mit wilden Fratzen und großen, gekrümmten Stoßzähnen wühlten im Dreck. Kaiku verspürte einen unangenehmen Schauder des Wieder erkennens, als sie das Fernrohr auf einen Käfig richtete, in dem große Vögel mit hornigen Schnäbeln und geknickten, zottigen Schwingen von über anderthalb Metern auf Sitzstangen hockten: Knorpelkrähen, die sie zuletzt vor einigen Jahren auf der Insel Fo gesehen hatte. Und doch war inmitten all der Unordnung ein Muster. Die Anwesenheit der Knorpelkrähen hatte sie darauf 321 gestoßen, und als sie den Blick nun erneut prüfend über die Ebene wandern ließ, erkannte sie, dass keine Ausgeburt einzigartig war. Es waren wohl ein paar Dutzend verschiedene Gestalten, aber sie wiederholten sich immer wieder. Dieselben Merkmale, dieselben Formen. Dies waren eigenständige Arten. Obwohl sie grässlich anzusehen waren, besaßen sie keine überflüssigen Merkmale, keinerlei Auswüchse, die sie beeinträchtigten. Keine Missbildungen. »Nicht da«, raunte Nomoru ungeduldig. Sie ergriff das Ende des Fernrohrs und drehte es herum. »Dort drüben.« Kaiku nahm sich die Zeit, ihr einen verärgerten Blick zuzuwerfen, bevor sie wieder hindurch sah. Als sie es tat, gerann ihr das Blut in den Adern. Durch die Horde ging gemächlich eine Gestalt, die den Raubtieren rings um sie keinerlei Beachtung zu schenken schien. Zunächst dachte sie, es müsste sich um einen Weber handeln; doch wenn dem so war, glich die Gestalt keinem Weber, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. Dieses Wesen war mindestens zwei Meter groß und spindeldürr. Es lief aufrecht anstatt gebückt wie die Weber, wenn ihre Körper nach und nach von Fäulnis
zerfressen wurden. Seine Kluft war nicht das Flickenwerk eines Webers, sondern ein schlichtes, schwarzes Gewand mit einer schweren Kapuze. Und obschon es eine Maske trug, war sie eirund, völlig weiß und abgesehen von zwei Augenlöchern makellos glatt. »Eine neue Art Weber?«, flüsterte sie. »Keine Ahnung«, gab Nomoru zurück. Yugi ergriff das Fernrohr und schaute hindurch. »Was ist das, was ich da sehe?«, fragte er, während er das Fernrohr langsam über die Horde schwenkte. »Was tun die bloß?« 322 »So etwas wie eine Tierschau?«, schlug Kaiku vor. »Eine Sammlung ausgebürtiger Raubtierarten?« Nomoru lachte verbittert. »Glaubst du das wirklich?« Tsatas Züge waren verkniffen. »Das ist keine Tierschau, Kaiku«, klärte er sie auf. »Das ist eine Armee.« 323 NEUNZEHN Zur selben Zeit, als Kaiku und ihre Gefährten auf die Horde der Ausgeburten hinabstarrten, trafen Lucia und ihr Gefolge in Alskain Mar ein. Alskain Mar lag fast hundertfünfzig Meilen östlich. Einst, in den Tagen vor der Verheerung, bei der die Erde vor über tausend Jahren aufbrach und Gobinda verschluckte, war Alskain Mar ein prunkvoller unterirdischer Schrein gewesen. Dann stürzten seine Eingänge und das Dach ein, und unzählige Seelen wurden bei dem Erdbeben begraben. Nun war es ein verwunschener Platz, der Hort einer uralten, zeitlosen Wesenheit, und selbst die wildesten Gruppierungen im Bruch hielten sich davon fern. Ein großer Geist herrschte in Alskain Mar, und die Geister hüteten ihr Hoheitsgebiet eifersüchtig und unbarmherzig. Lucia aber sollte jenen Ort aufsuchen. Allein. Ihre Begleitung auf der Reise aus dem Schoß waren eine kleine Gruppe der vertrauenswürdigsten Krieger der Libera Dramach sowie Zaelis und Cailin. Der Anführer der Libera Dramach, die Anführerin des Roten Ordens und das Mädchen, auf dem all ihre Hoffnungen beruhten. Es war gefährlich für sie, sich zusammen aus dem Schoß zu wagen, aber Cailin hatte darauf bestanden mitzukommen, und Zaelis konnte seine Tochter nicht ohne seine Unterstützung an diesem Unterfangen teilnehmen lassen. Schuldgefühle lasteten schwer auf seinem Herzen, und das Mindeste, was er tun konnte, war, sie so weit wie möglich zu begleiten. 324 Cailin war außer sich vor Zorn gewesen, als Zaelis ihr erzählte, worum er Lucia gebeten hatte. Obwohl er Lucia vorgegaukelt hatte, Cailin und er hätten einstimmig beschlossen, sie darum zu ersuchen, war es tatsächlich ganz allein sein Plan gewesen. Cailin widerstrebte das zutiefst, und sie hatte keine Hemmungen, es ihm deutlich mitzuteilen. Sie hatte ihn in seinem Haus im stillen, behaglichen Umfeld seines Arbeitszimmers zur Rede gestellt. »Das ist eine Eselei, Zaelis!«, hatte sie gleich einem Turm schwarzen Zorns gebrüllt. »Du weißt, was ihr letztes Mal widerfahren ist! Und jetzt schickst du sie zu einem ungeahnt stärkeren Geist! Was ist nur in dich gefahren?« »Denkst du etwa, ich hätte mir die Entscheidung leicht gemacht?«, gab Zaelis zurück. »Glaubst du, mir gefällt die Vorstellung, meine Tochter in den Hort dieses Dings zu entsenden? Die pure Notwendigkeit zwingt mich dazu, Cailin!« »Es gibt nichts, das so notwendig wäre, um dafür das Leben dieses Mädchens aufs Spiel zu setzen. Sie ist der Kern all dessen, wonach wir streben.« »Wir werden alles verlieren, wonach wir gestrebt haben, wenn die Weber den Schoß entdecken«, entgegnete Zaelis, während er aufgeregt durch die Kammer stapfte. »Für dich ist es einfach, über mich zu urteilen: Du hast den Roten Orden. Binnen eines Tages kannst du untertauchen und all das hier hinter dir lassen. Ich hingegen trage eine Verantwortung für das, was ich begonnen habe! Jeder Mann und jede Frau in diesem Dorf ist wegen dem hier, was ich erschaffen habe; selbst diejenigen, die nicht zur Libera Dramach gehören, sind wegen der Werte hier, für die wir eintreten.« Er senkte den Blick. »Und sie betrachten mich als ihren Anführer.« 325 »Der Tag wird kommen, an dem sie Lucia als ihre Anführerin betrachten, Zaelis«, sagte Cailin. »War das nicht der Plan? Wie also kannst du sie einer solchen Gefahr aussetzen?« Kurz setzte sie ab, dann hieb sie mit einem dornigen Stachel nach. »Ganz abgesehen davon, dass sie dir, wie du selbst behauptest, wie eine Tochter ist.« Zaelis bärtige Kiefer verkrampften sich vor Pein. »Ich setze sie der Gefahr aus, weil ich muss«, antwortete er leise. »Warte, bis die Kundschafter zurückkehren«, riet ihm Cailin. »Womöglich machst du dir unnötige Sorgen.« »Das reicht nicht«, widersprach er. »Egal, was sie herausfinden, es bleibt die Tatsache, dass die Weber im Bruch sind. Sie könnten bereits seit Jahren hier sein, verstehst du denn nicht? Nur weil Nomoru eine so gute Kundschafterin ist, hat sie die Schranke der Weber überhaupt bemerkt. Wie viele unserer anderen Späher sind dort vorbeigekommen und haben nicht einmal mitbekommen, dass sie in die Irre geleitet wurden?« Anklagend schaute er zu Cailin auf. »Du warst es, die mir verraten hat, wie diese Schranken wirken.« Cailin neigte das Haupt. Die Rabenfedern an ihrer Krause zitterten leicht. »Du hast Recht. Die Schranken sind so fein gesponnen, dass sie die meisten Menschen glauben lassen, sie hätten sich selbst verirrt.«
»Welche Schlichen mögen die Weber dann wohl noch unmittelbar vor unseren Nasen angebracht haben?«, fragte Zaelis. »Auf diese sind wir durch reines Glück gestoßen.« Verzweifelt warf er die schwieligen Hände empor. »Mir wurde plötzlich und unerwartet die erschreckende Tatsache ins Gesicht geschleudert, dass wir so gut wie schutzlos gegen ebenjene Feinde sind, gegen die wir 326 seit geraumer Zeit kämpfen. Wir haben darauf gesetzt, uns vor ihnen zu verstecken. Und jetzt muss ich erkennen, dass sie uns früher oder später finden werden, ob durch Zufall oder gewollt. Vielleicht haben sie uns sogar schon entdeckt. Wir müssen in Erfahrung bringen, womit wir es zu tun haben; und das können uns allein die Geister verraten.« »Bist du sicher, Zaelis?«, fragte Cailin. »Was weißt du von Geistern?« »Ich weiß das, was Lucia mir erzählt«, antwortete er. »Und sie meint, dass es den Versuch wert ist.« Cailin bedachte ihn mit einem unverwandten Blick. »Natürlich tut sie das. Sie würde alles tun, worum du sie bittest. Selbst wenn es sie umbringt.« »Bei den Göttern, Cailin, mach es für mich nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist!«, schrie er. »Ich habe meine Entscheidung getroffen. Wir gehen nach Alskain Mar.« »Was war zu Beginn noch mal der Zweck all dessen? Wofür hast du all das aufgebaut? Du hast die Libera Dramach aus dem Nichts erschaffen. Ein einziger Mann hat all das in die Wege geleitet. Aber wer hat dich dazu angespornt?« Zaelis schwieg. Er wusste, wohin die Frage führen sollte, aber er wollte sich nicht dorthin führen lassen. »Was ist dir jetzt wichtiger?«, hatte Cailin leise gefragt. »Das Mädchen oder die geheime Armee, die du anführst? Lucia oder die Libera Dramach?« Die Erinnerung hallte bitter in Zaelis Gedanken wider, während die Gruppe sich den Weg durch den erwachenden Morgen in Richtung des verfallenen Schreins bahnte. Um möglichst unbemerkt zu bleiben, waren sie während der Nacht marschiert. Da sie gezwungen waren, auf Zaelis' Hinken Rücksicht zu nehmen, kamen sie nur 327 langsam voran, außerdem ermüdete Lucia rasch; nie zuvor in ihrem Leben musste sie eine Strecke von mehr als ein paar Meilen am Stück bewältigen. Die Wolken, die Kaiku in weiter Ferne Kummer bereiteten, reichten nicht so weit nach Osten, und sie hatten das Licht Iridimas zur Verfügung, das sie durch die zerklüften Gefilde des Xarana-Bruchs geleitete. Als die ersten Anzeichen des Tages nahten, hatten sie eine breite, ringförmige Senke im Gelände mit einem Durchmesser von etwas über einer Meile erreicht. Sie lag auf einer langen, flachen Hügelkuppe, auf der taufeuchtes Gras, allerlei Gebüsch und kleine, zierliche Bäume wuchsen. An der Ostseite lag der Abstieg zu den Ufern des Rahn. In der Mitte der Senke klaffte ein tiefes, unebenmäßiges Loch, ein gezackter Schaft in der riesigen Höhle darunter, wo sich Alskain Mar befand. Am Rand der Senke hielten sie an. Im Kreis entlang des äußeren Bereichs waren Seelenhäscher mit mittlerweile verwitterter Oberfläche und verblassender Farbe aufgestellt. Sie gaben ein lautes Klappern von sich, wenn der Wind über sie strich, alte Knochentalismane und Steine aus durchsichtigem Harz, die gegen den Felsblock polterten. Einige der Blöcke waren gesprungen, und in den Ritzen war Moos gewuchert. Einer war entzweigebrochen, und der obere Teil lag neben dem Stumpf. Cailin ließ einen abschätzigen Blick über die Seelenhäscher wandern. Es waren abergläubische Artefakte, denen die Ugati gefrönt hatten: schmale, elliptische Steine, beschmiert mit allerlei Segenssprüchen und Flüchen, behangen mit lärmendem und schlichtem Schmuck. Es hieß, wenn ein Geist sich einem Seelenhäscher näherte, würden ihn der Klang der Talismane 328 erschrecken, die Segenssprüche abwehren und die Flüche anwidern, so dass er dorthin fliehen würde, woher er gekommen war. Allerdings wirkten sie nicht, und die Saramyrrer taten sie seit Hunderten Jahren als drollige, volkstümliche Überreste ab. Dennoch waren diese Seelenhäscher erst höchstens fünfzig Jahre alt. Wer konnte ahnen, von wem sie hier aufgestellt worden waren und was man damit zu erreichen hoffte? Vielleicht hatte man gedacht, man könnte einen uralten Geist mit einem uralten Brauchtum bannen. Im Xarana-Bruch galten die üblichen Regeln der Zivilisation nicht. Während die Sonne den Himmel erklomm, rasteten sie außerhalb der Senke. Lucia rollte sich auf einer Matte zusammen und schlief. Der nächtliche Marsch hatte ihr einiges abverlangt. Wenngleich sie vor Kraft zu strotzen schien, war sie doch zerbrechlich, da sie ihre ganze Kindheit hindurch stets behütet und umsorgt worden war. Die Krieger taten sich unruhig an kaltem Essen gütlich und ließen die Blicke dabei wachsam über die stille Hügelkuppe schweifen. Vor jeder menschlichen Gefahr waren sie hier recht sicher, denn in der unmittelbaren Umgebung von Alskain Mar gab es keine Siedlungen; aber die Gegenwart des Geistes konnten selbst die Unempfindsamsten spüren, und sie verursachte ihnen Gänsehaut. Selbst die Hitze und das Licht des Tages vermochten nicht, das schaurige Frösteln zu vertreiben. Immerzu erspähten sie aus den Augenwinkeln flüchtige Bewegungen zwischen den Büschen; doch wenn sie genauer hinschauten, war dort nichts. Zaelis und Cailin saßen beisammen. Zaelis betrachtete seine schlafende Tochter mit sorgenvoller Miene; Cailin musterte stumm das Loch in der Mitte der Senke.
»Wir können immer noch umkehren, Zaelis«, gab die Schwester vom Roten Orden zu bedenken. 329 »Hör auf damit«, sagte er. »Die Entscheidung ist getroffen.« »Entscheidungen können aufgehoben werden«, gab Cailin zurück. Zaelis' Stirn lag in tiefen Falten, und aus seinen Augen sprach Schmerz, während er beobachtete, wie Lucias zierlicher Rücken sich sanft hob und senkte. »Diese nicht«, antwortete er. Darauf erwiderte Cailin nichts, doch sie wünschte, Kaiku oder Mishani wären bei ihnen. Vielleicht hätten sie vermocht, Zaelis umzustimmen. Plötzlich kam ihr der verwegene Gedanke, das Geweb zu benutzen, um ihn kaum merklich zu bearbeiten; doch Lucia würde es bemerken, selbst wenn es Zaelis entging, und es wäre ein grausamer Verrat an ihrem Vertrauen. Und so konnte sie nur tatenlos mit ansehen, wie Zaelis all ihre Hoffnungen nach Alskain Mar entsandte, und abwarten, ob sie wieder herauskämen. »Was ist mit Asara?«, fragte Zaelis schließlich, wodurch er das Gespräch unvermittelt in eine andere Richtung lenkte. »Hast du von ihr gehört? Unter Umständen brauchen wir sie schon sehr bald wieder.« »Sie ist weg«, antwortete Cailin. Beide nannten sie immer noch Asara, obwohl sie Asara in der kurzen Zeit, die sie im Schoß verbracht hatte, als Saran gekannt hatten. Ihnen war immer bekannt gewesen, wer der Spitzel war, den sie aussandten, um die Nahe Welt nach Anzeichen der Weber zu durchstöbern, aber sie hatten nicht gewusst, in welche Verkleidung Asara schlüpfen würde. »Sie ist unmittelbar vor Kaikus Aufbruch gegangen. Ich vermute, die beiden hatten eine Art Meinungsverschiedenheit.« Zaelis zog eine Augenbraue hoch. »Ich behalte meine rebellische Schülerin sehr sorg330 fältig im Auge«, erklärte sie. Dann schaute sie nach Osten an den herbstlichen Morgenhimmel. »Aber ich glaube, Saran Ycthys Marul sehen wir nie wieder. Sie verändert sich.« »Also hast du mit ihr gesprochen? Was weißt du?« Cailins schwarz und rot bemalte Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Sie erledigt einen kleinen Auftrag für mich. Es ist mir gelungen, sie davon zu überzeugen, dass es ... von Vorteil für sie wäre.« »Einen Auftrag?«, wiederholte Zaelis argwöhnisch. »Was für einen Auftrag, Cailin?« Cailin warf ihm einen Seitenblick zu. »Das ist unsere Angelegenheit«, antwortete sie. »Beim Blut des Herzens! Du hast gerade meinen besten Spitzel fortgeschickt und willst mir nicht einmal sagen weshalb? Was führst du im Schilde?« »Sie ist keineswegs dein Spitzel«, erinnerte Cailin ihn. »Sofern sie überhaupt zu jemandem gehört, dann zu mir. Und im Augenblick ist sie in Angelegenheiten des Roten Ordens unterwegs.« »Ich dachte, die Libera Dramach und der Rote Orden sollten zusammenarbeiten«, stellte Zaelis fest. »Was für eine Zusammenarbeit ist das?« Cailin lachte leise. »Würden wir wahrhaftig zusammenarbeiten, Zaelis, brächten wir Lucia gewiss nicht einmal in die Nähe von Alskain Mar. Besäße ich die Macht dazu, würde ich Einspruch dagegen erheben. Nein, im Schoß herrschen die Libera Dramach, und das weißt du genau. Wir schulden euch gar nichts. Wir mögen euch wohl helfen, aber wir sind euch keineswegs verpflichtet. Und bevor all das vorüber ist, muss ich mich noch um andere Dinge kümmern.« 331 Lucia erwachte am Nachmittag, aß ein wenig und bereitete sich darauf vor zu tun, was getan werden musste. Sie sprach mit niemandem. Nach einer Weile ging sie durch den Ring der Seelenhäscher zum Rand des Loches in der Mitte der Senke. Die Nachmittagssonne wärmte sie von hinten, doch im Nacken und am oberen Rücken - wo sich die Narben befanden - spürten die abgestorbenen Nerven nichts. Ihr Blick weilte in weiter Ferne, ruhte auf den winzigen Wolkenfetzen am östlichen Himmel, wo das tiefe Blau in Purpurtöne überging. Sie entspannte sich und lauschte. Der Wind tuschelte ihr säuselnd Unsinn zu, und die trägen, bewegten Gedanken des Hügels brüteten so langsam vor sich hin, dass sie unverständlich waren. Tiere waren keine zugegen: Sie waren von einer Eingebung vertrieben worden, die sie vor der am Grund des Loches lauernden Wesenheit warnten. Auch Lucia spürte es überall um sie herum, am stärksten jedoch unter der Erde; es fühlte sich an wie das ferne Seufzen eines gewaltigen Tieres, das zwar schlummerte, sie aber dennoch wahrnahm. Die Luft schien vor Spannung zu knistern und täuschte die Sinne mit halb erspähten Bewegungen. Zaelis tauchte mit Cailin neben ihr auf und schenkte ihr ein alles andere als überzeugendes Lächeln der Ermutigung. Die Schwester vom Roten Orden ließ sich zu einer Geste überraschender Zärtlichkeit hinreißen und streichelte das Haar seitlich an ihrem Kopf. »Denk daran, Lucia«, erinnerte die groß gewachsene Frau sie. »Niemand zwingt dich, das zu tun.« Lucia erwiderte nichts, und nach einer Weile bekundete Cailin mit einem leichten Nicken, dass sie verstanden hatte, und zog sich zurück. »Ich bin bereit«, verkündete sie, obwohl es gelogen war. 332 Einige der Krieger, die mit ihnen gereist waren, hatten die Bauteile für eine Art Krippe mitgebracht, die sie
gezimmert hatten, während Lucia schlief. Es war wenig mehr als ein leichter Stuhl aus ineinander gefügten Kamako-Rohren und einem Seilgeflecht, mit dem Lucia einerseits in dem Stuhl gesichert und andererseits in die Höhle hinabgelassen werden sollte. Sie stellten sich höchst unbeholfen an, als sie Lucia darin festbanden, denn sie verehrten sie und wollten sie nicht verletzen, andererseits wagten sie aber auch nicht, die Knoten zu locker zu knüpfen, damit sie sich nicht lösten. Nachdem es vollbracht war, hoben zwei der Krieger sie hoch, während die anderen das freie Ende des langen Seils ergriffen und es an einem der standfester wirkenden Seelenhäscher befestigten. Die zwei Männer, die sie trugen, ließen sie behutsam über den Rand der Grube hinab, damit ihre Gefährten ihr Gewicht allmählich übernehmen konnten. Sie hatten dabei keine Mühe; Lucia war so zierlich, dass jeder von ihnen sie ohne weiteres alleine zu tragen vermocht hätte. Schließlich hing sie über dem Schacht, wobei der Rücken des Stuhls an einer Wand ruhte. Zaelis schaute zu ihr hinab; hinter seinen Augen tobte ein letztes Gefecht der Unentschlossenheit. Dann kauerte er sich hin. »Komm wohlbehalten zurück.« Sie sah ihn nur mit jenem seltsam losgelösten Blick an und schwieg. Die ersten paar Meter gestalteten sich schwierig. Die Männer am Rand des Loches mussten sich hinausbeugen, so weit sie es wagten, um das Seil zu senken, und Lucia musste sich des schwarzen, feuchten Steins des Schachts erwehren, damit sie nicht daran entlang schabte. Es dauerte nur eine Minute, doch danach waren Lucias Hände und Beine über und über zerkratzt und zerschunden. 333 Dann verbreiterte sich der Schacht, und sie hing inmitten einer Leere über Alskain Mar, eine winzige Gestalt in einer Wiege, die in der riesigen unterirdischen Höhle in der Luft baumelte. Da erfasste sie die Wirklichkeit ihrer Lage, das schiere Grauen ihres Unterfangens; und schlimmer noch, die Ungläubigkeit, dass ihr Vater es geschehen ließ. Erst in jenem, Augenblick erkannte sie, dass ein Teil von ihr gehofft hatte, Zaelis würde seine Meinung ändern und ihr sagen, dass sie es nicht zu tun brauchte, er ihr keine Vorwürfe machen würde, wenn sie davor zurückscheute. Aber das hatte er nicht getan. Er hatte ihr nicht einmal die Gelegenheit eingeräumt, es sich anders zu überlegen. Wie konnte er ihr das nur antun? Wie konnte er nur? Das einzige Licht stammte von Nukis Auge, ein gleißender Strahl, der sich von oben über Lucia ergoss, ihr blondes Haar gold schimmern ließ, ihren Rücken in blendende Helligkeit und ihr Gesicht in tiefe Schatten tauchte. Unter ihr befand sich Wasser, ein See, der grell funkelte, wo die Sonne auf ihn schien, so vollkommen klar, dass der Schutt zu erkennen war, der den Grund übersäte. Da waren Überreste uralten Mauerwerks und Brocken geborstener, verwitterter Felsen, auf denen Flechten und Wasserpflanzen wucherten. Über den See waren Inseln verstreut, fahle Stumpen, die aus dem Wasser ragten und einst Bogen oder die Flanken mächtiger Säulen gewesen waren. Lucia konnte eine Wand der Höhle erkennen, aber ihre raue, gekrümmte Fläche erstreckte sich zu beiden Seiten in die Finsternis, wodurch der Rest der Höhle ein unabschätzbarer Hohlraum blieb. Von der Mündung des Schachts hingen Ranken und Grünwuchs herab, wanden sich nach unten, als strebten sie nach dem See. Es war kalt und feucht, und die einzigen Geräusche bildeten das widerhallende 334 Tropfen von Wasser und das gelegentliche Plätschern eines Fisches. Selbst tausend Jahre, nachdem die Erde darauf gestürzt war, stand ein Großteil des Aufbaus des Schreines noch. Er erhob sich in all seiner wehmütigen Pracht rings um Lucia: gewaltige Steinrippen, die aus dem See ragten und sich die gekrümmten Seiten der Höhle entlang zu abgebrochenen Spitzen hin erstreckten. In die Rippen waren riesige Schriftzeichen einer Sprache geritzt, die zu alt für Lucia war, um sie zu erkennen, ein Dialekt, der im Zuge der Weiterentwicklung der Gesellschaft in Vergessenheit geraten war; dennoch vermittelten die Formen der Symbole ihr den Eindruck von Würde und Ernst, von Überzeugung und Weisheit. Auch andere Bereiche des Schreins waren erhalten geblieben. Unter ihr befanden sich die Gebeine einer Kuppelkammer, deren Boden erhöht war, so dass zwar Wasser dagegen schwappte, ihn jedoch nicht überschwemmte. Bruchstücke anderer Räume ließen den Grundriss des Bauwerks vor dessen Zerstörung erahnen. An der Wand vor ihr befand sich ein Teil des ursprünglichen Daches des Schreins. Verwinkelte Muster überzogen die Oberfläche, ein winziger Hinweis auf die Erhabenheit, die dieser Ort besessen haben musste, als er noch heil war. Am Rand des Lichtbereichs erspähte sie weitere Gebilde, die sie zwar nicht ganz ausmachen konnte, ihr jedoch atemberaubende Größe vermittelten. Plötzlich fühlte Lucia sich schrecklich klein und verlassen. Ganz allein, abgesehen von dem Wesen, das in Alskain Mar hauste. Die Männer ließen sie in Richtung der Überreste der Kuppelkammer hinab, und ihr knarrender Stuhl senkte 335 sich in behutsamen Schüben mit kurzen Pausen dazwischen. Zum Glück hatte sie keine Höhenangst, dafür erfüllte sie die grässliche Furcht, der Stuhl könnte auseinander fallen oder das Seil könnte reißen, obwohl ihr versichert worden war, es wären alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden und der Stuhl hielte selbst jemandem mit dem Sechsfachen ihres Gewichtes stand. Lucia lauschte dem Pochen ihres Herzens und übte sich in Duldsamkeit, während sie sich langsam dem Boden der Höhle näherte. Dann, endlich, gelangte sie durch die gekrümmten, abgebrochenen Finger der zerschmetterten Kuppel, und ihre Wiege landete mit dumpfem Aufprall am Steinboden. Hastig knotete sie sich los und flüchtete eilends daraus, als wollte man sie jeden Augenblick wieder hinauf in die gähnende Leere hieven.
»Lucia?«, rief Zaelis oben vom Schacht herab, wo die Köpfe der Herabblickenden sich als dunkle Flecken gegen das grelle Sonnenlicht abzeichneten. »Alles in Ordnung?« Der Klang seiner Stimme mutete in der gespenstischen Stille der Höhle wie Gotteslästerung an, und die Luft schien sich jäh zu verfinstern, sich mit so überwältigender und zorniger und greifbarer Missbilligung zu verdichten, dass Lucia erschrak und wimmerte. Auch die anderen spürten es, denn sie hörte die Krieger furchtsame Flüche ausstoßen, und Cailin zischte Zaelis etwas zu, wonach er verstummte und nicht mehr herabbrüllte. Allmählich schwoll das Licht im Raum wieder an, und die Spannung verebbte. Lucia atmete weiter, aber ihre Hände zitterten immer noch leicht. Sie schaute zurück zu dem winzigen, zerbrechlichen Stuhl, ihrem einzigen Ausweg aus diesem Ort, und erkannte, wie fernab jeder 336 Hilfe sie tatsächlich war. Im schräg einfallendem Sonnenlicht stand nur ein gertenschlankes, vierzehn Ernten altes Mädchen in einer abgewetzten, schmutzigen Hose und einer weißen Bluse. Lucia, du bist niemandes Opfer. Kaikus Worte, die sie am ersten Tag der Sommerfestwoche an sie gerichtet hatte. Und dennoch war sie hier im Hort einer unabwägbaren Wesenheit, gleich einer Jungfrau, die vom eigenen Vater einem sagenumwobenen Dämon geopfert wurde. Es kostete sie einige Willenskraft, sich wieder zu entspannen. Die Stimmen der anderen Geister, die sie tagtäglich hörte - der Tiere, der Erde, der Luft - schwiegen hier. Was sie beunruhigte. Sie hatten sie bislang stets begleitet, und ihre Abwesenheit verstärkte das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit. Der Bewohner des Schreins schenkte ihr nun ebenso wenig Aufmerksamkeit wie zuvor. Teilnahmslos schlummerte er vor sich hin. Wenn sie ihn wecken musste, würde sie dabei äußerst behutsam vorgehen müssen. Die Zeit war gekommen. Sie konnte es nicht mehr länger hinauszögern. Lucia ging zum Rand der Plattform auf die Dunkelheit zu und kniete sich auf den kalten Steinboden. Sie legte die Hände flach auf die Oberfläche und neigte das Haupt. Und sie lauschte. Aus eigenem Antrieb mit einem Geist Verbindung aufzunehmen war ein wesentlich schwierigerer Vorgang als schlichte Sprache. Tiere waren für Lucia einfach, aber die meisten Geister wussten wenig über die Welt, die Menschen sahen und spürten. Da Menschen und Geister nicht dieselben Sinne besaßen, gab es auch keinen gemeinsamen Wortschatz, über den sie sich verständigen konnten. Stattdessen mussten sie auf einer Ebene unterhalb der Vernunft in Verbindung miteinander treten; es glich einem urtümlichen Verschmelzen, das nur 337 erreichbar war, indem man eins wurde mit dem Wesen des anderen. Es musste eine zaghafte, schwache Vereinigung gebildet werden, die jener eines Ungeborenen mit. seiner Mutter ähnelte. Nun ließ Lucia sich des Steins unter ihren Handflächen gewahr werden und ließ im Gegenzug den Stein ihr eigenes Wesen spüren. Zunächst waren die Empfindungen rein körperlich: die kalte Berührung an ihrer Haut, der Druck ihres Fleisches gegen die Oberfläche. Während sie tiefer in ihren Dämmerzustand glitt, wurden sie schärfer und tiefschürfender, so dass sie die unendlichen Poren und Pullen in der Haut ihrer Hände und die winzigen Ritzen und Risse in jener des Steins fühlen konnte, auf dem sie kniete. Mittlerweile war sie vollkommen ruhig; ihr Atem hatte sich zu einem trägen Seufzen verlangsamt, ihr Herz pochte dumpf und gemächlich. Als Nächstes ließ sie das gemeinsame Empfinden über die Berührungsstellen hinauswandern, weitete ihr Bewusstsein auf ihren gesamten Körper aus: das stoßweiße Strömen ihres Blutes, das Geflecht ihrer Haare, das knorrige und tote Gewebe ihrer Narben, das Gespinst der Muskeln in ihrem Rücken. Sie eröffnete dem Stein ihr gesamtes Wissen um die stetig wachsenden Möglichkeiten ihrer Weiblichkeit und ihres Mutterleibs, die sich demnächst regen würden; um die nach und nach wachsenden Knochen ihrer Glieder; um all die Vorgänge des Lebens und Gedeihens. Und damit ließ sie sich gleichzeitig tiefer in das Wesen des Steins versinken, streifte sein uraltes, mahlendes Gedächtnis. Sie spürte seine Beschaffenheit, seine winzigen Makel; sie fühlte seine Herkunft, wo er gewachsen und wo er gehauen worden war; sie erfuhr sein hartes, bewusstloses Dasein. Ein Stein, der von seinem Berg 338 getrennt, von der größeren Wesenheit des Landes abgeschnitten war, in dem er gebildet wurde, besaß kein echtes Leben; aber trotzdem waren noch Eindrücke von Dingen vorhanden, die sich hier zugetragen hatten -Eindrücke, die der Persönlichkeit des Ortes von der Zeit wie ein Stempel aufgedrückt worden waren. Dann, urplötzlich, erwachte der Schrein rings um sie. Um ein Haar wurde sie aus ihrem Dämmerzustand gerissen, als ihre Wahrnehmung sich jäh und gewaltig ausweitete; mit einem Mal spürte sie nicht bloß den Stein, sondern das gesamte Gefüge des Schreins, wurden ihr Jahrtausende des Daseins gleich einem einzigen Donnerschlag offenbart. Sie fühlte den Stolz und die Macht dieses Ortes in seiner Jugend, seine Verbitterung darüber, dass er aufgegeben worden war. Dies war einst eine bedeutende Kultstätte gewesen, und die Tage waren nicht vergessen, in denen Männer und Frauen in ihren Hallen beteten und auf ihren Altären Opfergaben verbrannten. Danach erfuhr Lucia von einer langen Leere und dem Einzug eines neuen Bewohners, wodurch der Schrein wieder zu einem Ort der Macht wurde, wenngleich nur zu einem matten, fahlen Schatten seines früheren Selbst. Behutsam begann sie, sich vorzutasten, streckte die Fühler nach diesem neuen Bewohner aus, um ihn auf sich
aufmerksam zu machen. Trotz ihres Dämmerzustands beschlich sie wieder Furcht. Selbst die mittelbaren Eindrücke, die sie über den hier hausenden Geist empfangen hatte, waren überwältigend und entmutigend gewesen, so als wäre sie eine Mücke, die auf der Flanke eines riesigen Tieres gelandet war. Langsam erwachte der Geist von Alskain Mar. Lucia spürte die Veränderung in der Luft ringsum mit ihren erlesen geschärften Sinnen. Die Höhle verfins339 terte sich; eine Schwärze gleich einer Tintenwolke wallte in das Licht und verdrängte das Schimmern von Nukis Auge. Aus weiter Ferne hörte sie Zaelis' Ausruf des Entsetzens, als ihr Anblick verdunkelt wurde. Das bisschen Wärme, das der Sonnenstrahl gespendet hatte, verflog, und es wurde schlagartig kälter. Lucia begann zu schaudern. Ihr Atem verließ sie in trägen Wölkchen. Das Unbehagen bewirkte, dass sie erneut aus dem Dämmerzustand glitt, und sie zog sich von dem Geist zurück, um die Herrschaft über sich zurückzuerlangen und sich zu entspannen. Aber der Geist verfolgte sie. Ihre Berührung hatte ihn wachgerüttelt, und er würde sie nicht ziehen lassen, ohne etwas über das Wesen des Eindringlings zu erfahren. Lucia verspürte einen Augenblick blanken Grauens ob seines plötzlichen Angriffs, bevor er ihren Verstand verschlang, sich gleich einer gnadenlosen, übermächtigen Flut gewaltsam mit ihr vereinte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie sich jäh einer mit menschlichen Gedankengängen unmöglich zu ergründenden Allgewalt gegenüber. Dann starb sie vor Schreck. Und lebte weiter. Blinzelnd schlug sie die Augen auf. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden der verfallenen Kammer. Ihre Wange und ihre Brüste, auf die sie gestürzt war, schmerzten heftig. Ein fahlblaues, überirdisches Licht erfüllte den Raum. Sie stützte sich auf die Arme. Das Licht kam von unten aus dem See und erhellte ihr Gesicht gespenstisch. Die gesamte Höhle war davon durchglüht. Sie war größer, als Lucias erste Eindrücke 340 erahnen ließen. Das Wasser zauberte wogende Schimmer an die Wände und die Überreste des Schreins. Die Dunkelheit darüber war undurchdringlich, und der Schacht, durch den sie nach Alskain Mar gelangt war, nicht mehr zu sehen. Als ihr Bewusstsein sich wieder einfand, stellte sie fest, dass der Geist des Schreins immer noch mit ihr verschmolzen war. Sie konnte ihn spüren, wenngleich er sich nun wesentlich behutsamer regte. Er sandte ihr eine Flut von Wissen, eine Zusammenfassung und etwas, das sie als Entschuldigung auffasste. Der Geist hatte sie versehentlich getötet, jedoch nur für wenige Augenblicke. So lange hatte es gedauert, um das Wesen des Mädchens aufzunehmen, ihren Körper wieder in Gang zu setzen und den Schaden an ihrer geistigen Gesundheit zu beheben. Obwohl sie gestorben war, hatte ihr Herz nur ein paar Schläge ausgesetzt; ihr Blut hatte kaum Zeit gehabt, sich zu verlangsamen. Erstaunt begriff Lucia, dass sie sich mit dem Geist verständigte. Oder besser gesagt, der Geist verständigte sich mit ihr. Sie hatte gewusst, dass es ihre Fähigkeiten hoffnungslos überstieg, sich einem so fremdartigen Wesen verständlich zu machen, doch sie hatte nie in Erwägung gezogen, dass der Geist in der Lage sein könnte, sich zu vereinfachen, um sich auf ihre Ebene herabzubegeben. Doch indem er ihr Wesen aufnahm, hatte er Kenntnis von ihren Grenzen und Fähigkeiten erlangt, und so wurde eine Verbindung erschaffen und gewahrt. Angetrieben von einer halb wahrgenommenen Eingebung, kroch sie kraftlos zum Rand der Plattform und kniete sich hin. Dann schaute sie ins Wasser hinab und sah es. Der See hatte keinen Grund mehr. Obwohl er immer noch kristallklar war, reichte er in eine endlose Tiefe 341 hinab, aus der jenes seltsame Leuchten stammte. Und dort unten, in unergründlicher Ferne, erwiderte der Geist ihren Blick. Er besaß keine eigentliche Gestalt. Vielmehr glich er einer Unebenmäßigkeit im Wasser, die am Rand von Lucias Blickfeld schwebte, war eher der Eindruck einer Form denn ein körperliches Wesen. Irgendwo darin beobachteten sie zwei eiförmige Gebilde, die Augen ähnelten, mit beängstigender Eindringlichkeit. Die Erscheinung flackerte mit der unsichtbaren Strömung des Sees, sprang bald an einen anderen Ort, kehrte dann an seine ursprüngliche Stelle zurück, huschte gleichzeitig jäh umher und blieb doch vollkommen reglos. Für Lucias Augen wirkte sie zugleich klein und riesengroß. Sie konnte ihrer Wahrnehmung nicht trauen; es war, als könnte sie ins Wasser greifen und das Wesen berühren, doch es schien weiter entfernt als die Monde. Obwohl es sich alle Mühe gab, eine Erscheinungsform anzunehmen, die sie zu erfassen vermochte, verwirrte allein der Anblick ihre Sinne zutiefst. Dennoch blickte sie weiter hin, denn Lucia wusste, dass der Geist es so wollte. Ehrfurcht, Freude und blankes Grauen prallten in ihr aufeinander. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass ihr eine Verbindung zu einem Geist solchen Ausmaßes gelingen könnte; nun aber war es geschehen, und sie war jener Verbindung verpflichtet, obwohl niemand zu sagen vermochte, mit welcher Kraft sie es zu tun hatte. Der Geist konnte ihren Verstand aus einer plötzlichen Laune heraus einfach auslöschen; oder sie in alle Ewigkeit als Gefährtin gefangen halten; oder Dinge jenseits ihrer Vorstellungskraft mit ihr anstellen. Sie fühlte sich immer noch betäubt und entkräftet von der Wucht der ersten Berührung des Geistes, von ihrem kurzen Schlit-
342 tern über das Antlitz des Todes; Lucia wusste nicht, ob sie stark genug für das sein würde, was folgen sollte. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Sie hatte Fragen zu stellen. Langsam breitete sie die Hände aus und legte sie auf die kalte Oberfläche des Sees. Sie blies einen langen, zittrigen Atemstoß aus; eine Dampfwolke stieg rings um sie auf. Dann begann sie. 343 ZWANZIG »Ich gehe nicht zurück!«, verkündete Kaiku, während sie in der felsgesäumten Vertiefung auf und ab stapfte, in der die Reisenden sich versteckten. »Noch nicht. Nicht, solange wir nichts über diese Kreaturen dort unten wissen.« »Gerade weil wir nichts über sie wissen, müssen wir zurück«, hielt Yugi dem entgegen. Er schaute zu Tsata empor, der an einem flachen Stein kauerte und sich als Späher betätigte. »Wir haben keine Ahnung, wie ihre Verteidigungsmöglichkeiten aussehen. Und wir sind gewiss nicht für den Versuch ausgestattet, uns dort hineinzuschmuggeln. Was genau willst du denn tun, Kaiku?« »Es ist zu wenig, mit Neuigkeiten über eine Armee von Ausgeburten, die sich im Bruch versteckt, in den Schoß zurückzukehren«, sagte Kaiku. »Warum ist sie hier? Auf wen soll sie losgelassen werden? Auf die Libera Dramach oder jemand anders? Wir brauchen Antworten, keinen Bericht, der nur noch mehr Fragen aufwirft.« »Bleibt gefälligst leise«, schalt Nomoru die beiden frostig. Sie hatten die Ausgeburten und die eigenartigen, weberähnlichen Neuankömmlinge mehrere Stunden lang beobachtet, bevor sie sich zurückzogen. Da sie das Licht des anbrechenden Tages fürchteten, hatten sie das Weite gesucht und sich an einen geschützteren Ort begeben, wo sie ihre Möglichkeiten durchgehen konnten. Nomoru hatte für sie einen kieseligen Graben zwischen 344 einer Reihe hoher, einander zugeneigter Felsen gefunden, die den Großteil des Himmels verbargen. Obwohl sie vergleichsweise mühelos so weit in den geschützten Bereich der Weber vorgedrungen waren, wurden sie alle zunehmend unruhig. Das Fehlen jeglicher Wachen ließ sich noch durch die Schranke erklären, die sie durchbrochen hatten: So wie beim Kloster auf Fo, in das Kaiku sich in der Vergangenheit eingeschlichen hatte, hielten die Weber ihre Schranke auch hier für unfehlbar und kümmerten sich daher nicht weiter um Sicherheitsbelange. Dennoch beschlich die Gruppe das Gefühl, dass ihr Glück sich allmählich dem Ende zuneigte. Es musste etwas geschehen. »Wenn wir bleiben und versuchen, mehr in Erfahrung zu bringen, besteht die Gefahr, dass wir gefangen oder getötet werden«, gab Yugi zu bedenken und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, und seine bartstoppeligen Wangen ließen ihn ausgezehrt und erschöpft wirken; dennoch war er hier der Anführer, und er sprach mit Befehlsgewalt in der Stimme. »Dann kriegt niemand irgendwelche Antworten und keinerlei Warnung davor, was die Weber planen.« »Und was planen sie?«, fragte Kaiku aufgebracht. »Was wissen wir denn schon?« »Wir wissen, dass sie eine Horde mehrerer Arten von Ausgeburten haben«, antwortete Yugi. »Allesamt raubtierartig oder mit Merkmalen für einen ganz bestimmten Zweck ausgestattet. Und sie sind reinblütig; keine Missgeburten. «Yugi zuckte mit den Schultern. »Das bedeutet, die Weber haben sie entweder sorgfältig aus ihren natürlichen Lebensräumen ausgewählt oder so gezüchtet. Das muss die geheime Fracht auf ihren Kähnen gewesen sein. Das muss Lucia auf dem Fluss gespürt haben.« 345 »Jemand hat sie in der Gewalt«, sagte Nomoru. Sie hockte auf der Böschung des Grabens. Die Schatten der Felsen über ihr warfen Streifen über ihr Gesicht, während sie ihre erlesene Büchse putzte. »Die sollten einander bekämpfen. Tun sie aber nicht. Also hat sie jemand in der Gewalt.« »Ist das denn möglich?«, wollte Yugi von Kaiku wissen. »Kann ein Weber so viele Kreaturen einfach so beeinflussen?« »Nein«, antwortete Kaiku. »Nicht einmal eine Schwester vom Roten Orden wäre in der Lage, so viele Gedanken gleichzeitig im Griff zu behalten. Nicht einmal hundert Schwestern, und sie sind wesentlich ... geschichter \va Geweb als Männer.« »Vielleicht irrst du dich«, meinte Nomoru. »Vielleicht können die Weber es ja doch.« »Ich irre mich nicht«, widersprach Kaiku. »Außerdem hätte ich es gespürt. Was immer dort unten vor sich ging, es war zu fein geartet, als dass es Weber sein konnten, die diese Kreaturen beherrschen.« »Und was ist mit den schwarz gekleideten Gestalten?«, schlug Yugi vor. Sie hatten Dutzende gesehen, die zwischen den gefährlichen Massen der ausgebürtigen Geschöpfe umherwanderten. »Sind sie die Wärter dieses Tiergartens?« »Vielleicht«, sagte Kaiku. »Vielleicht auch nicht.« »Könntest du es herausfinden?« »Nicht auf die Weise, die dir vorschwebt. Ich habe keine Ahnung, was mir blühen könnte«, erklärte sie. »Wenn Sie mich erwischen, während ich mein Kana einsetze, könnten die Folgen verheerend sein. Für uns alle.« »Was ist mit dem Gebäude?«, warf Nomoru ein, während sie mit einem zugekniffenen Auge prüfend den
346 Lauf ihrer Büchse entlangspähte. »Kann mir gar kein Reim drauf machen. Müsste näher ran.« »Es ist eine Mine«, meinte Yugi. »Ist das nicht offensichtlich? Der Umstand, dass die Geißel hier vorhanden ist, bedeutet, dass sie dort unten einen Hexenstein haben. Und er bedeutet auch, dass der Stein schon lange genug wach ist, um das Land zu beeinträchtigen.« »Ich finde, allein das Gebäude weist darauf hin, dass sie schon eine ganze Weile hier sind«, merkte Kaiku an. »Und dennoch haben sie noch keinen Versuch unternommen, den Schoß anzugreifen. Also können wir davon ausgehen, dass -« »Es ist eine Überschwemmungsebene«, unterbrach Nomoru sie und führte ihren ursprünglichen Gedankengangfort. »Wie buddelt man auf einer Überschwemmungsebene eine Mine? Sie würde geflutet.« Tsata hatte der Unterhaltung geduldig gelauscht. Für ihn war von Anfang an offenkundig gewesen, was zu tun war, doch er wusste, dass die Vernunft eines schlichten Überlebenswillens für Saramyrrer nicht galt; sie bestanden darauf, einfache Dinge schwierig erscheinen zu lassen. Da sie mittlerweile hinlänglich um den eigentlichen Kern der Sache herumgeredet hatten, beschloss er, dass es an der Zeit war, sich einzumischen. »Ich habe eine Lösung«, verkündete er. Die anderen schauten zu ihm hinauf. Er kauerte immer noch auf dem Stein und blickte flink über die zerklüfteten Felsen, die sie umgaben. »Zwei von uns bleiben hier und gehen der Sache auf den Grund«, schlug er vor. »Zwei von uns marschieren zurück.« »Nur Nomoru kennt den Rückweg«, gab Yugi zu bedenken. »Ich kenne ihn auch«, berichtigte ihn Tsata. Da er sich 347 ein Leben lang Wege durch dichte Dschungel gebahnt hatte, war es für ihn einfach, sich das vergleichsweise offene Gelände des Xarana-Bruchs einzuprägen. Er konnte ihren Pfad mühelos zurückverfolgen und dabei den Gefahren ausweichen, denen sie auf der Reise hierher begegnet waren. »Niemand bleibt hier«, sagte Yugi. »Ich schon«, schoss Kaiku zurück'. »Du bist die Einzige, die uns durch diese Schranke bringen kann«, begründete Yugi seine Entscheidung. »Dann begleite ich euch auf die andere Seite und kehre dann um«, erwiderte Kaiku hartnäckig. »Ich bleibe bei ihr«, meldete Tsata sich zu Wort. »Ich wäre hier nützlicher.« »Ihr habt es ja beide ganz schön eilig, getötet zu werden«, raunte Nomoru mit einem hässlichen Lächeln auf den Lippen. »Mir ist's gleich. Ich geh mit dem da.« Sie deutete mit dem Daumen auf Yugi. »Ist sicherer.« »Wir marschieren alle zusammen zurück«, beharrte Yugi. »Wir hätten es zu viert fast nicht hierher geschafft. Und zwei -« Kaiku schnitt ihm das Wort ab. »Du hättest es fast nicht hierher geschafft«, sagte sie. »Muss ich dich wirklich daran erinnern, wem du es zu verdanken hast, dass du überhaupt hier bist?« Yugi seufzte. »Kaiku, ich werde nicht zulassen, dass du das tust. Und ganz bestimmt nicht aus Dankbarkeit, weil du mir das Leben gerettet hast.« Kaiku strich die Haarsträhne zurück. Sie war schon immer eine sture Seele gewesen, und nun war sie erst recht fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen. »Das hast du gar nicht zu entscheiden«, warf sie ihm an den Kopf. »Ich bin als Vertreterin des Roten Ordens 348 hier; du bist mir nicht überstellt. Und Tsata untersteht sowieso niemandem.« »Du bist nicht mal im Roten Orden! Du bist immer noch Lehrling! Bei den Göttern, Kaiku, siehst du denn die Gefahr nicht?«, brüllte Yugi. »Was, wenn du geschnappt wirst? Du weißt genau, wie besessen Cailin von der Angst ist, eine ihrer Mitstreiterinnen könnte auffliegen; was denkst du wohl, würde geschehen, wenn ein Weber dich in die Finger bekäme? Du gefährdest die gesamte Schwesternschaft! Und außerdem«, kam er zum Schluss, wobei er die Stimme senkte, da Nomoru ihm unwirsch bedeutete, leiser zu sein, »wisst ihr beide, wo der Schoß liegt.« Kaiku war immer noch nicht überzeugt. »Jemand muss hier bleiben und alle warnen, wenn diese Armee sich in Bewegung setzt. Und das kann allein ich; nur ich vermag, sofort eine Warnung in den Schoß zu senden, wenn die Weber marschieren.« »Sag mir ruhig, wenn ich mich irre, aber hat Cailin die Fernverständigung zwischen Schwestern des Ordens nicht verboten?«, fragte Yugi spitz. »Sie hat es keineswegs verboten«, berichtigte Kaiku ihn. »Sie hat lediglich unmissverständlich klar gemacht, dass nur dann darauf zurückzugreifen ist, wenn gar keine andere Möglichkeit mehr besteht. So wie jetzt.« »Und du denkst, du bist in der Lage, das zu entscheiden? Du glaubst also, es wäre ihr recht, dass ein Lehrling eine solche Verantwortung übernimmt?« »Mir ist einerlei, was ihr recht ist und was nicht«, fegte Kaiku seinen Einwand beiseite. »Ich bin nicht ihre Dienerin.« Kurz setzte sie ab, ehe sie fortfuhr. »Was glaubst du wohl, warum sie mich mit Mishani nach Okhamba reisen ließ? Sie brauchte jemanden, der sich im Geweb bewegen konnte. Falls wir den Spitzel nicht außer Lan-
349 des schaffen konnten, sollte ich ihr sein Wissen senden. Als so wichtig hat sie es erachtet. Und ich erachte das hier als so wichtig. Es ist unsere einzige Gelegenheit herauszufinden, was die Weber im Schilde führen.« In einer Geste der Enttäuschung und Verzweiflung warf sie die Arme hoch. »Wir sind die ganze Zeit zu vorsichtig gewesen. Cailin ist zu vorsichtig gewesen. Und nun sieh dir das Ergebnis an. Die Weber haben eine Armee unmittelbar vor unserer Nase! Der Rote Orden hätte danach Ausschau halten müssen, aber Cailin fürchtet viel zu sehr, eine der Schwestern könnte erwischt werden. Wenn wir nicht jetzt herausfinden, was vor sich geht, wird es zu spät sein!« Mit bitterernster Miene begegnete sie Yugis Blick. » Wir sind hier, sie aber nicht, und wenn ich in den Schoß zurückkehre, lässt Cailin mich niemals wieder nah genug ran, um etwas zu unternehmen.« Damit war es ausgesprochen. Das war die schlichte Wahrheit. Wenn sie sich nun zurückzögen, würde Cailin ihr nicht gestatten, sich nochmals dem Wagnis auszusetzen, und damit wäre eine möglicherweise entscheidende Gelegenheit verpasst, die Pläne der Weber aufzudecken. Sie konnte sich nicht einfach davon abwenden, erst recht nicht, zumal immer noch ihr Eid an Ocha ihr Gewissen trübte und der Tod ihrer Familie ungesühnt war. Ocha hat mich einmal beschützt, dachte sie eingedenk ihres frostigen Marsches durch die Lakmar-Berge vor vielen Jahren. Er wird es wieder tun. »Unternehmen wirst du bestimmt etwas, daran hege ich keine Zweifel«, brummte Yugi, der sich jedoch geschlagen anhörte, und Kaiku wusste, dass er nicht weiter mit ihr streiten würde. »Ob es zu einem Sieg oder zu einer Katastrophe führt, wird die Zeit weisen.« Er zuckte wieder mit den Schultern. »Ich kann dich nicht aufhalten, Kaiku. Weder mit Gewalt noch durch Vernunft. 350 Ich will nur, dass dir klar ist, mit wie vielen Leben du spielst.« »Wir fürchten uns schon viel zu lange vor den Webern«, gab Kaiku zurück. »Wir haben uns nie getraut, ein Wagnis einzugehen. Aber wir können uns nicht ewig verstecken«. Versöhnlich legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich werde vorsichtig sein.« »Das solltest du besser«, meinte Yugi, ehe er ein unerwartetes Grinsen aufblitzen ließ. »Schließlich musst du wohlbehalten in den Schoß zurückkehren. Damit ich dich dafür umbringen kann, dass du mir solche Sorgen bereitest.« Die gute Laune wirkte gezwungen, und niemand stimmte darin ein. »Seid ihr jetzt fertig?«, fragte Nomoru trocken. »Können wir endlich gehen?« Kaiku schleuderte ihr einen giftigen Blick zu, dann beugte sie sich dicht zu Yugis Ohr und flüsterte: »Ich beneide dich wahrlich nicht um deine Gesellschaft auf dem Rückweg.« Yugi stöhnte nur. Reki tu Tanatsua, der jüngere Bruder der Kaiserin von Saramyr, bedauerte allmählich, seine Schwester überhaupt besucht zu haben. Er saß auf dem breiten Steinsims eines Fensterbogens in seinen Gemächern, die Schuhsohlen an einem Ende, den Rücken am anderen. Reki schaute gen Norden über die mächtigen Mauern Axekamis und die Ebenen dahinter. Das funkelnde Band der jabaza verlief gewunden von der linken Seite seiner Aussicht in Richtung des Horizonts und der Berge. Es war ein heißer und schwüler Tag gewesen, und das Land selbst schien im gleißenden Licht 351 zu faulenzen, während Nukis Auge allmählich im Westen versank. Zerfranste Wolkenfetzen hingen verträumt in Schwindel erregenden Höhen und bewegten sich kaum. Rekis Kopf ruhte am Fensterbogen in seinem Rücken, die Arme hatte er verschränkt; der Inbegriff einer Denkerpose, umhüllt von sanftem Feuerschein und warmen Schatten. Als er erfahren hatte, dass seinem Ersuchen, in die Kaiserstadt zu reisen, stattgegeben worden war, hatte seine Freude an Verzückung gegrenzt. Nicht nur, weil es seine erste Gelegenheit sein sollte, Axekami ohne seine Familie zu besuchen - damals war er siebzehn Ernten gewesen, seit Beginn des Herbstes zählte er achtzehn; auch nicht allein deshalb, weil er seine Schwester innig liebte und sie vermisst hatte, seit sie nach Axekami gezogen war. Nein, der Großteil seines Hochgefühls rührte daher, dass er endlich seinem Vater, Barak Goren, entrinnen konnte, dessen ständige Enttäuschung über Reki dem Jungen zunehmend zu schaffen machte. Der Altersunterschied zwischen Reki und Laranya, die immerhin schon dreiunddreißig Ernten zählte, war auf die Zerbrechlichkeit ihrer Mutter zurückzuführen. Sie war zwar mit bemerkenswerter Willenskraft gesegnet gewesen, im Gegenzug jedoch mit einem schwachen Körperbau geschlagen. Laranyas Geburt hätte sie um ein Haar das Leben gekostet, und Goren, der sie aufrichtig liebte, hatte sie nie gebeten, es mit einem weiteren Kind zu versuchen. Doch obwohl sie sah, wie stolz er auf seine Tochter war, wusste sie, dass er sich einen Sohn wünschte. Nicht aus Erbfolgegründen, denn Laranya war vorzüglich geeignet, Barakin zu werden, und in Saramyr ging ein Titel unabhängig vom Geschlecht auf den ältesten Spross über. Vielmehr lag es daran, dass er jene Art Mann war, die seine Männlichkeit durch seine Nach352 kommenschaft beweisen musste, und ein starker Sohn hätte ihn auf eine besondere Weise mit Stolz erfüllt. Nach vielen Jahren konnte sie es nicht länger ertragen; sie setzte die Kräutergebräue ab, die ihre Empfängnis verhüteten, und schenkte ihm Reki. Und diesmal kostete es sie das Leben.
Goren war zwar nicht so ungerecht, Reki die Schuld am Tod seiner Gemahlin zu geben; aber als Reki heranwuchs, wurde bald deutlich, dass es andere Gründe gab, weswegen Goren ihm grollte. Während Laranya den kräftigen Körperbau ihres Vaters besaß, hatte Reki die Zerbrechlichkeit seiner Mutter geerbt, und die Unbilden des Heranwachsens endeten stets damit, dass er sich verletzte. Er wurde scheu und verschlossen, liebte Bücher und Bildung. Sein Vater hatte dafür wenig Zeit. Die weiße Strähne in Rekis Haar und die Narbe, die sich von seinem linken Auge zur Spitze des Wangenknochens erstreckte, stammten aus der Kindheit; er war von einem Felsen gestürzt und hatte sich den Kopf und das Gesicht angeschlagen. Schon damals wusste er, dass es besser war, nicht bei seinem Vater Trost zu suchen. Stattdessen verkroch er sich und erduldete sein Elend, bis der Schmerz und die Gehirnerschütterung vergingen. Seine Beziehung zu seinem Vater hatte sich nie gebessert, und Reki hatte den Versuch längst aufgegeben, ihn zu erfreuen. Die Gelegenheit, aus dem fernen jospa hierher zu reisen, war für alle Beteiligten eine Erleichterung gewesen. Aber die Freude welkte rasch, und allmählich fragte Reki sich, ob er zu Hause in der Wüste nicht besser dran wäre. Und ob es nicht auch für Laranya besser wäre. Der Geblütskaiser verhielt sich in zunehmendem 353 Maße unausgeglichen. Kaum ein Tag verstrich ohne einen heftigen Streit zwischen Mos und Laranya. Natürlich waren Zwistigkeiten für die beiden nichts Neues; aber jüngst haftete ihnen eine bislang ungekannte Wildheit an. Und seit Reki jenen Augenblick im Pavillon erlebt hatte, als Mos seine schwangere Gemahlin beinahe geschlagen hätte, fürchtete er um sie. Reki war in derlei Belangen Laranyas Vertrauter, und sie verriet ihm jede Einzelheit. Was er nach und nach erfuhr, vertiefte seine Sorge mehr und mehr. Der Geblütskaiser litt an seltsamen Träumen, von denen er wie besessen redete und die er gar als Beschuldigungen gegen sein Eheweib heranzog. Mehrere Male hatte er Laranya gefragt, ob sie ihm untreu sei. Einmal wollte er von ihr erfahren, wessen Kind sie im Leibe trüge; denn sie hatten so lange versucht, eines zu zeugen, und in Mos' Augen konnte es kein Zufall sein, dass sie just um die Zeit, als die wundersame Empfängnis erfolgt war, so gut Freund mit Eszel geworden war. Was Laranya nicht wusste, Reki hingegen sehr wohl, war, dass Mos im Suff Eszel bereits bedroht hatte, als der Dichter das Pech hatte, während einer seiner Tobsuchtsanfälle zugegen zu sein. Eszel hatte Reki seine Furcht um sein Leben gestanden; Reki aber hatte es Laranya nicht weitererzählt. Dafür kannte er seine Schwester zu gut. Sie würde es als Zündstoff verwenden, um Mos zur Rede zu stellen, wodurch sie Eszel nur noch tiefer in Schwierigkeiten brächte. Reki hatte zu Eszel gesagt, es wäre wohl am Besten, sich vorübergehend rar zu machen, und Eszel hatte seinen Rat beherzigt. Er hatte sich auf eine ausgedehnte Reise begeben, um sich Anregungen für seine Gedichte zu holen, und klugerweise hatte er keine Anschrift hinterlassen, unter der er zu erreichen war. Reki war nicht 354 sicher, ob Mos davon erfahren hatte. Laranya jedenfalls schon, und sie fühlte sich ob seiner Fahnenflucht zutiefst verletzt. Doch nicht nur das persönliche Leben des Geblütskaisers zerfiel in Scherben. Seine Berater wagten kaum noch, ihn anzusprechen, andererseits wagten sie ebenso wenig, ohne seine Zustimmung zu handeln. Und so wurde nichts gegen die sich zuspitzende Lage und die Berichte über Hungersnöte in den fernen Siedlungen des Reiches unternommen. Die Rufe der hohen Familien verhallten ungehört. Reki wollte die Stadt verlassen, und zwar mit Laranya. Hier war es weder für sie noch für das Kind sicher und gut. Aber sie würde ihn nicht begleiten; sie würde den Mann nicht verlassen, den sie liebte. Und sie bettelte Reki förmlich an zu bleiben, denn sie hatte sonst niemanden, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Wie konnte er sich weigern? Schließlich war sie seine Schwester, zudem der einzige Mensch, der ihn sein ganzes Leben lang bedingungslos geliebt hatte. Es gab niemanden, der ihm teurer war. Seine trübsinnigen Gedanken wurden durch ein Klingeln vor dem bevorhangten Eingang unterbrochen. Er stieß einen leisen Fluch aus und sah sich nach der kleinen Glocke um, die er läuten sollte, um seine Erlaubnis einzutreten zu bekunden. In der Wüste gab es diesen Brauch nicht, und er fand ihn lästig. Schließlich entschied er, sich weder an Förmlichkeiten zu halten, noch sich von dem Fenstersims zu erheben, auf dem er hockte. »Herein«, rief er stattdessen. Die junge Frau, die den Vorhang beiseite schob, war schlichtweg atemberaubend. Sie war in jeder Hinsicht wunderschön: ihre Züge waren zierlich und makellos, 355 ihre Figur vollkommen, ihre Anmut unvergleichlich. Die dunkle Haut und das pechschwarze Haar - das durch ein verworrenes Geflecht juwelenbesetzter Nadeln und allerlei Ziertand streng über den Kopf nach hinten verlief, ehe es sich in drei Zöpfen ihren Rücken hinabwand -verrieten, dass sie, so wie Reki, aus Tchom Rin stammte. Rings um die mandelförmigen Augen war hauchzart grüne und blaue Schminke aufgetragen, und die Lippen zierte ein feiner Glanz. An ihrem Schlüsselbein ruhte eine Kette aus geschnitztem Elfenbein. Sie war nach Tradition der Wüste in ein elegantes, weißes Gewand gekleidet, das eine runde, grüne Brosche an einer Schulter zusammenhielt. Die andere Schulter war nackt. »Störe ich?«, fragte sie mit nektarsüßer Stimme. »Nein«, antwortete Reki und wurde sich plötzlich überaus gewahr, wie ungebührlich er auf dem Fenstersims lungerte.
Linkisch glitt er von seinem Sitzplatz. »Ganz und gar nicht.« Sie betrat das Gemach und ließ den Vorhang hinter sich zufallen. »Wobei habe ich dich gerade nicht gestört?«, erkundigte sie sich. Reki zog in Erwägung, etwas Großspuriges zu erfinden, doch der Mut ließ ihn ihm Stich. »Beim Nachdenken«, sagte er nur und errötete. »Ja, Eszel hat auch gemeint, du wärst ein Denker«, lächelte sie, wodurch sie ihn vollends entwaffnete. »Ich bewundere das. Dieser Tage scheint es so wenige solcher Männer zu geben.« »Du kennst Eszel?«, fragte Reki und strich sich unbewusst mit der Hand das Haar zurück. Dann besann er sich seiner Manieren. »Möchtest du dich setzen? Ich kann uns Erfrischungen kommen lassen.« Sie schaute zu den Sofas und dem Tisch hinüber, auf die er gedeutet hatte. Dort standen auf einem Silber356 tablett ein Lachkrug und mehrere Becher aus Silber und Glas, verziert mit eingeritzten Wirbelmustern. Um den Krug war eine Auswahl kleiner Kuchen verteilt. »Du hast bereits Wein hier«, stellte sie fest. »Ob wir ihn wohl teilen könnten?« Abermals spürte Reki, wie ihm Hitze ins Gesicht schoss. Auf seinem Tisch standen immer Erfrischungen; es war eine Annehmlichkeit, die ihm als bedeutendem Gast zuteil wurde. Obwohl Reki ihn nie anrührte, ersetzten die Bediensteten den Krug regelmäßig, damit der Wein stets kühl war. Reki empfand dies, gelinde ausgedrückt, als lästig, andererseits wäre es unhöflich gewesen, sie zu ersuchen, keinen mehr zu bringen. Jedenfalls hatte er sich an ihre unauffälligen Besuche mittlerweile so gewöhnt, dass er den Wein ganz vergessen hatte. »Selbstverständlich«, antwortete er. Sie machte es sich auf dem Sofa gemütlich, indem sie sich seitlich mit angewinkelten Beinen hinlegte. Reki nahm verlegen auf einem anderen Sofa Platz. Die schiere Gegenwart dieser Frau betörte ihn auf geradezu unerträgliche Weise. »Soll ich einschenken?«, fragte sie. Er bedeutete ihr, es zu tun; auf seine Zunge wollte er sich lieber nicht verlassen. Sie ließ ein weiteres Lächeln aufblitzen und ergriff den Krug. Die Augen auf den Wein gerichtet, während sie ihn in einen Becher goss, meinte sie: »Du scheinst mir etwas unruhig, Reki.« »Ist es so offensichtlich?«, brachte er mühsam hervor. »O ja«, erwiderte sie. Sie hielt ihm ein Glas hin. »Aber darum hat uns Yoru Wein geschenkt. Um die Kanten eines Augenblicks zu glätten.« »Dann solltest du mir vielleicht besser den Krug rei357 chen«, meinte Reki, und zu seinem Entzücken lachte sie. Der Klang erfüllte seine Brust mit wohliger Wärme. »Ein Glas nach dem anderen«, schlug sie vor. Dann nippte sie an dem ihrem und betrachtete ihn verführerisch. Reki erschien die kurze Pause wie eine endlose Sülle, und er bemühte sich verzweifelt, sie zu füllen. »Du hast gesagt, dass du Eszel kennst...«, gab er ihr als Stichwort. Sie lehnte sich wieder entspannt auf das Sofa zurück. »Ein wenig. Ich kenne eine Menge Leute.« Sie gestaltete es wirklich nicht einfach für ihn. Tatsächlich schien sie sein Unbehagen zu genießen. Allein durch die Nähe zu ihr regte sich etwas zwischen seinen Lenden, und er musste die Beine übereinander schlagen, um es zu verbergen. »Warum hast du mich aufgesucht?«, wollte er wissen und zuckte sogleich innerlich zusammen, als ihm klar wurde, wie plump es sich anhörte. Hastig trank er einen Schluck Wein, um die Peinlichkeit zu überspielen. Aber sie wirkte keineswegs gekränkt. »Ziazthan Ri. Die Perle des Wassergottes.« Reki zeigte sich verwirrt. »Ich verstehe nicht recht.« »Eszel hat mir erzählt, du hättest es gelesen und ihm die Geschichte begnadet vorgetragen.« Mit leuchtenden Augen beugte sie sich ein wenig vor. »Ist das wahr?« »Ich kann sie auswendig«, antwortete Reki. »Sie ist nur sehr kurz. Begnadet war der Verfasser, nicht ich.« »Oh, aber es ist die Leidenschaft des Vortragenden, das Verständnis um Vers und Melodie, das eine laut vorgelesene Geschichte zum Leben erwecken kann.« Mit gelinder Verwunderung musterte sie ihn. »Kannst du sie wirklich auswendig? Ich vermute, sie ist keineswegs so 358 kurz, wie du behauptest. Du musst ein wahrhaft außergewöhnliches Gedächtnis haben.« »Nur für Worte«, schränkte Reki ein, den das Gefühl beschlich, dass er unangenehm nahe daran war zu prahlen. »Ich würde die Geschichte wirklich allzu gerne hören«, gurrte sie. »Wenn du mir sie vortrügest, wäre ich dir sehr dankbar.« Der Tonfall ihrer Stimme zwang Reki abermals, die Lage zu wechseln, um seine wachsende Erregung zu verdecken. Er errötete heftig und wusste plötzlich rein gar nichts zu erwidern. »Lass es mich dir erklären«, kam sie ihm zu Hilfe. »Ich habe mich dem Leitsatz Huikas verschrieben: dass man zur Vervollständigung des Wesens alles einmal erfahren sollte. Ich habe mittlere Vermögen für kurze Blicke auf seltenste Gemälde ausgegeben; ich bin um die halbe Welt gereist, um die Wunder der Nahen Welt zu sehen; ich habe zahlreiche Künste kennen gelernt, von denen kaum jemand überhaupt weiß.« »Aber du bist schrecklich jung, um so viel unternommen zu haben...«, stammelte Reki. Es stimmte; sie konnte
kaum mehr als zwanzig Ernten zählen, wenig mehr als er selbst. »So jung auch wieder nicht«, entgegnete sie, hörte sich jedoch erfreut an. »Wie ich schon sagte, ich bin Eszel begegnet, bevor er die Kaiserliche Feste verließ, und er hat mir von dir erzählt.« Sie beugte sich zu ihm, streckte die Hand aus, streichelte ihm zärtlich über das Gesicht und hauchte: »Ziazthan Ris Meisterwerk in deinem Kopf.« Dann ließ sie von ihm ab, und Reki erkannte, dass er den Atem angehalten hatte. »Es gibt so wenig erhaltene Abschriften, so wenige unverfälschte Ausgaben der Geschichte. Ich würde so gut wie alles tun, um etwas so Seltenes zu erfahren.« 359 »Mein Vater besitzt eine Ausgabe«, murmelte Reki, da er das Bedürfnis verspürte, etwas zu sagen. »In seiner Bibliothek.« »Wirst du mir das Werk vortragen?«, fragte sie, glitt vom Sofa und erhob sich. »Selbstver ... selbstverständlich«, stammelte er und versuchte verzweifelt, sich die Worte in Erinnerung zu rufen. Sein Gedächtnis schien gänzlich durcheinander geraten zu sein. »Jetzt gleich?« »Danach«, gab sie zurück. Dann streckte sie ihm die Hände entgegen und zog ihn auf die Beine. »Danach?«, wiederholte er zittrig. Zärtlich schmiegte sie sich an ihn und fuhr mit einem Finger die Narbe unter seinem Auge nach. Die Geschmeidigkeit ihrer Brüste und ihres Körpers ließ die Erregung zwischen seinen Beinen schmerzlich anschwellen. Er fühlte sich trunken, doch es hatte nichts mit dem Wein zu tun. »Ich glaube an gerechten Handel«, erklärte sie. Ihre Lippen waren den seinen so nah, dass er schwere Mühe hatte, ihrer schier unwiderstehlichen Anziehungskraft zu widerstehen. Ihr Atem duftete wie Oasenblumen. »Eine Erfahrung für eine Erfahrung.« Damit wanderte ihre Hand zu der Brosche an ihrer Schulter und drehte sie. Das Gewand sank schleiergleich zu Boden. »Eine Erfahrung, wie sie dir noch nie zuvor beschieden wurde.« Rekis Herz drohte ihm die Brust zu zersprengen. Eine innere Stimme mahnte ihn zur Vorsicht, doch sie verpuffte unbeachtet. »Ich kenne nicht einmal deinen Namen«, flüsterte er. Sie verriet ihn Reki, bevor ihr Mund sich auf den seinen senkte. »Asara.« 360 Der Mann brüllte gellend, als das Messer unter die warme Haut seiner Wange glitt und durch die dünne Fettschicht zum Muskelfleisch darunter vordrang. Webfürst Kakre begegnete den Auswirkungen des Schreis fachmännisch, drehte die Klinge nach, um die Verzerrung der Züge seines Opfers auszugleichen. Er schnitt nach oben bis zur Höhe der Augenhöhle, dann weiter durch das weiche Gewebe in Richtung Hinterkopf, bis er einen blutigen, dreieckigen Lappen herausgeschält hatte. Der Anblick bescherte ihm einen tiefen Frieden, eine Erfüllung, deren Kraft nie zu versiegen schien, ganz gleich, wie oft er seinen Drang befriedigte. Der Wahn nach einer Websitzung hatte ihn in seinen Klauen, und er häutete wieder. Seine Häutungskammer war fensterlos, heiß und düster. Nur die Kohlen der Feuergrube in der Mitte des Raumes erhellten sie ein wenig. Von unten in den roten Schein getaucht, hingen seine anderen Schöpfungen an den Wänden oder von oben herab: Drachen und Hautskulpturen, die ihn mit leeren Augen anstarrten, ihn bei seiner Kunst beobachteten. Sein jüngstes Opfer war auf das lotrecht geneigte Eisengestell gespreizt, das ihm als Leinwand diente. An diesem bestimmten Stück schnitzte er seit dem Morgengrauen, und nun glich es einem Flickenwerk, einem Rahmen aus Muskeln mit einem Hautmosaik, in dem die Hälfte der Teile fehlte. Kakre fühlte sich an jenem Tage angeregt. Er wusste nicht, ob aus diesem Werk ein Drache entstehen würde oder ob es nur eine Kur für seinen Wahn war, doch das Schneiden bereitete ihm solches Vergnügen, dass es belanglos war. Er hatte seiner Kunst schon zu lange gefrönt, viel zu lange; doch in letzter Zeit hatten die Beschwernisse seines Webens zugenommen - und damit auch sein Verlangen. 361 Ihm wurde bewusst, dass er den abgeschälten Hautlappen eine Weile bewundert hatte und der Mann inzwischen wieder in Ohnmacht gefallen war. Jäher Arger regte sich in Kakre. Für gewöhnlich war er hervorragend darin, seine Opfer wach zu halten - mit Kräutern, Breiumschlägen und Aufgüssen. Auch seine Arbeit mit dem Messer war unsauber, wie ihm plötzlich auffiel. Zornig starrte er seine welke, bleiche Hand an. Die Gelenke bereiteten ihm ständig Schmerzen. Konnte das dazu beitragen? War er dabei, sein Geschick im Umgang mit der Klinge einzubüßen? Es war eine zu grässliche Vorstellung, um darüber nachzudenken. Obwohl er in einem fernen Winkel der Reste seiner Vernunft wusste, dass die Maske ihn von innen her auffraß, so wie bereits ihre vorigen Besitzer, waren ihm die tatsächlichen Auswirkungen nie in den Sinn gekommen. Wie seltsam, dass einem so scharfen Verstand wie dem seinen etwas so Offensichtliches entgehen konnte. Gleich darauf hatte er es wieder vergessen. Lustlos legte er das blutige Messer auf ein Tablett mit seinen übrigen Werkzeugen und ging zum Rand der Feuergrube, bevor er sich hinhockte. Wie immer schmiedete er Pläne. Die Figuren wurden bereits in Stellung gebracht. Geblüt Kerestyn und Geblüt Koli brachten eine ansehnliche Armee zustande, jedoch war sie noch nicht ansehnlich genug, um die Macht Axekamis herauszufordern. Vielleicht in ein paar Jahren. Aber in diesen Jahren konnte die Quelle des Übels von der Bevölkerung entdeckt werden. Kakre waren Gerüchte zu Ohren gekommen, höchst zutreffende Gerüchte, die an den Höfen der hohen
Familien gemunkelt wurden. Sie bereiteten ihm Sorge. Bald würde die Hungersnot das Land zur 362 absoluten Verzweiflung treiben, und jene Gerüchte mochten genügen, um den Zorn der hohen Familien von Mos auf die Weber zu lenken. Er hatte keine Zeit zu warten. Deshalb hatte Kakre vor, Mos' Feinde näher zu locken. Sein Angebot an Avun war wohl durchdacht gewesen; aber Avun war eine verräterische Schlange, die ihren Beschwörer ebenso gut beißen konnte wie denjenigen, auf den sie angesetzt wurde. Hatte Avun ihm geglaubt? Und würde es ihm gelingen, auch Grigi tu Kerestyn zu überzeugen? Du musst zuschlagen, wenn ich es sage!, dachte er. Sonst ist all das vergebens. Noch beunruhigender aber war eine Nachricht, die über einen Boten aus der Kaiserlichen Feste gesandt worden war und die er verabsäumt hatte abzufangen. Er war nicht sicher, von wem sie stammte, doch er wusste, dass Avun sie erhalten hatte. Was mochte sie enthalten? Ein weiteres Doppelspiel? Aber wer konnte hinter seinem Rücken Pakte schmieden? Selbst während Kakre sich am Verstand des Geblütskaisers zu schaffen machte, beschäftigte ihn die Frage. Nachts, wenn Mos in trunkenen Schlaf versank, wob Kakre Träume für ihn. Träume von Untreue und Zorn, Träume von Ohnmacht und Wut. Träume, die ihn dorthin lenken sollten, wo Kakre ihn brauchte. Es war ein grauenvolles Wagnis, denn geriete er in Mos' Verdacht, wäre alles verloren. Selbst die besten Weber konnten sich linkisch anstellen - er dachte an seine schmerzenden Glieder und überlegte, ob sein Geschick im Geweb ebenso gelitten hatte; man konnte Spuren hinterlassen, die schwelten, bis das Opfer schließlich erkannte, was ihm angetan worden war. Wäre Mos nicht der Trunksucht verfallen und bereits von Sorgen geplagt gewesen, 363 hätte Kakre es wohl nicht gewagt; aber der Gemütszustand des Geblütskaisers war schon lange aus dem Gleichgewicht geraten, bevor sein Webfürst begonnen hatte, an seinem Verstand zu werkeln. Lügen, Täuschung, Verrat. Und nur die Weber zählen. In seinen Lumpengewändern aus armselig zusammengenähten Häuten und Fellen und kleinen Knochenteilen hockte er da und ließ die Worte durch seinen Kopf gleiten. Nur die Weber zählten. Nur das Fortführen ihrer Arbeit. Und es war Kakres Aufgabe - nein, seine Berufung-, diese bedrohliche Lage so zu meistern, dass ihr Überleben gesichert war. Er sah einen einzigen Ausweg, doch der bedurfte eines Spiels, das so geschickt, so feinfühlig gespielt werden musste, dass die geringste Fehleinschätzung zu einer Katastrophe führen konnte. Die Figuren waren an Ort und Stelle. Aber das Spielbrett hatte noch niemand in der Hand. 364 EINUNDZWANZIG Grimmig und kalt lag die belagerte Stadt Zila gleich einer Krone auf einem schiefen Hügel im Zwielicht. Hinter den schmalen Fenstern der Gebäude brannten Hunderte gelber Lichter. Im Norden, wo der Hügel steil abfiel, verlief der Zan als schwarzer, rastloser Strom, auf dessen Oberfläche matte Wellenschuppen funkelten. Neryn hatte an jenem Abend früh am Himmel Stellung bezogen, noch bevor die ersten Sterne sich zeigten; sie beherrschte die Welt ganz alleine und tauchte sie in düsteres Grün. Die Soldaten hatten die Stadt außerhalb der Reichweite von Bogen und Feuerkanonen umzingelt. Insgesamt siebentausend Mann von vier der hohen Familien. Zelte wurden errichtet, Mörser zusammengesetzt. Lagerfeuer sprenkelten den dunklen Streifen der Belagerungslinie wie glitzernde Juwelen. Um jeglichen Fluchtversuch flussaufwärts oder - abwärts zu unterbinden, hatte man eigene Feuerkanonen auf beiden Ufern des Zan aufgestellt, wo der Ring ihn kreuzte. Niemand würde die Stadt verlassen. Mishani schaute aus einem Fenster der Feste und wog die gegen die Stadt vereinten Streitkräfte ab. »Es sind weniger, als ich erwartet hätte«, meinte sie schließlich. »Kein besonders beeindruckender Aufmarsch.« »Es sind mehr als reichlich, um diese Stadt einzunehmen«, entgegnete Chien mürrisch. »Trotzdem«, sagte sie und wandte sich vom Fenster ab. 365 »Die hohen Familien haben nur einen Bruchteil ihrer Armeen erübrigt. Ihre wahren Streitkräfte halten sie zurück, um das eigene Vermögen gegen die bevorstehenden Unruhen zu schützen. Und kaiserliche Wachen oder Truppen des Geblüts Batik sind weit und breit nicht zu sehen. Wo ist der Geblütskaiser, wenn eine seiner Städte sich gegen ihn auflehnt?« Die Kammer, die sie sich teilten, wirkte ob der dunklen Wände und des Bodens aus Stein ein wenig trostlos, dennoch fand Mishani, dass sie es wesentlich schlimmer hätten treffen können. Sie hatten zwei Schlafmatten, einen rauen Läufer und billige, schwere Wandbehänge mit schlichten Mustern zur Verfügung. Außerdem war da ein Tisch mit kleineren Matten zum Sitzen. Und das Essen, das sie während der letzten Tage erhalten hatten, schmeckte zwar fade, war aber durchaus genießbar. Die dicke Holztür war verriegelt, doch draußen warteten zwei Wächter, die sie zu den entsprechenden Räumlichkeiten begleiteten, wenn sie ihre Notdurft verrichten mussten oder sich umziehen wollten. Abgesehen davon, dass ihre Bewegungsfreiheit sich auf diese Kammer beschränkte, wurden sie keineswegs schlecht behandelt. Dennoch war Mishani auch zu einigen Ausflügen gekommen. Bakkara hatte sie mehrmals besucht und sie zwei Mal in der Feste herumgeführt. Dabei gab er sich wenig Mühe, seinen Beweggrund zu verhehlen: Er wollte mehr über Lucia erfahren, und Mishani vermutete, dass er unter dem zähen Äußeren eine gewisse Ehrfurcht ob der
Gegenwart von jemandem empfand, der das Mädchen persönlich kannte. Mishani sagte nichts, was die ruhmreiche Vorstellung getrübt hätte, die er von ihr hegte. Schließlich gelangte sie dadurch aus der Kammer; und außerdem musste sie sich eingestehen, dass sie sich 366 seltsam hingezogen zu Bakkara fühlte. Seine schiere, überwältigende Männlichkeit, die eine spöttischere Seite von ihr leicht belustigend fand, war gleichzeitig das, was ihn so anziehend erscheinen ließ: sein Mangel an gesellschaftlichen Manieren; seine weltmüde Haltung, die nahe legte, dass er darüber erhaben war, irgend jemandem gefallen zu wollen; sein beeindruckender Körperbau. Es war ein Widerspruch, den sie nicht einmal zu lösen versuchte, denn sie wusste nur allzu gut, dass Herz und Verstand sich gerne unabhängig voneinander entfalteten. Chien hatte sich noch nicht ausreichend erholt, um die Kammer längere Zeit zu verlassen. Seine Verletzungen waren zwar behandelt worden, dafür hatte sich ein schlimmes Fieber entwickelt, vermutlich aufgrund des nächtlichen Rittes nach Zila. Benommen von schmerzlindernden Arzneien und fiebersenkenden Mitteln, verbrachte er den Großteil der Tage auf der Schlafmatte liegend. Nur gelegentlich rappelte er sich auf, um sich darüber zu beschweren, dass man sie unzulänglich auf dem Laufenden hielte oder um im Namen Mishanis darauf hinzuweisen, dass einer adeligen Dame ein eigener Raum zustünde. Mishani wünschte, dem wäre so. Allmählich empfand sie Chien als unangenehm. Untätigkeit behagte ihm nicht. Die Belagerung hatte sich stockend gebildet. Die Truppen trafen zu verschiedenen Zeiten ein, und es dauerte eine Weile, sie alle wirkungsvoll zu ordnen. Drei Tage lag es zurück, seit die ersten Streitkräfte unter dem Banner von Geblüt Vinaxis eingetroffen waren. Vinaxis war die erste Familie auf dem kaiserlichen Thron gewesen, inzwischen aber war sie stark geschwunden und geschwächt. Die Ländereien des Geblüts lagen inmitten der von der Geißel verseuchten Südlichen Präfekturen, 367 und ein Großteil seines Einkommens stammte von den Ernten, die auf dem Weg nach Axekami durch Zila gelangten. Eine beträchtliche Menge dieser Ernten war innerhalb der Mauern der Stadt gehortet. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass Barak Moshito tu Vinaxis als Erster auftauchte, um sie sich zurückzuholen. Mishani hatte von Bakkara erfahren, dass der Statthalter von Zila angesichts der drohenden Hungersnot beachtliche Vorräte angehäuft hatte, indem er Teile von den Handelskarawanen beschlagnahmte, die über die Pirika-Brücke zogen. Er hatte vorgehabt, gerade genug für die Stadtwache und die Verwaltungsmitglieder Zilas zu behalten und den Überschuss zu Wucherpreisen an die hohen Familien zu verkaufen, sobald der Hunger sich schmerzlich bemerkbar machte. Die Stadtbevölkerung wollte er sich selbst überlassen. Es war das Aufdecken dieses Plans durch Xejen, den Anführer der Ais Maraxa gewesen, der den Aufstand ausgelöst hatte; und nun hockten die Menschen der Stadt auf einem Vorratslager, das sie bei sorgfältiger Einteilung über den Winter bringen und bis lange darüber hinaus reichen würde. Solange die Mauern standen und den Feind draußen hielten, würden sie eine schwer zu knackende Nuss sein. Nach Geblüt Vinaxis war Geblüt Zechen aufgetaucht, wenngleich Barakin Alita Generäle an ihrer statt geschickt hatte. Danach war eine symbolische Streitkraft von Geblüt Lilira eingetroffen, das erheblich mehr zu senden vermocht hätte und dessen Barakin Juun ebenso durch Abwesenheit glänzte. Als Letzter war Barak Zahn von seinem Anwesen nördlich Lalyaras eingetroffen und hatte tausend berittene Krieger des Geblüts Ikati und weitere tausend Fußsoldaten angeführt. Die grünen und grauen Standarten seiner 368 Familie hatten träge im sanften Wind gewallt, als sie herannahten. Mishani entging der Hohn des Schicksals keineswegs. Es war Zahn gewesen, den sie hatte treffen wollen, und er war der Grund, weshalb sie in Gefangenschaft geriet; und nun kam er zu ihr, aber sie fanden sich auf gegnerischen Seiten eines Aufstands wieder. Die Wege der Götter waren bisweilen nicht nur unergründlich, sondern regelrecht gemein. Es pochte ein paar Mal dumpf an die Tür, dann öffnete Bakkara sie, ohne auf eine Aufforderung zum Eintreten zu warten. Mishani würde sich nie an die Türen in dieser Feste gewöhnen; sie schienen ein solches Hindernis. Vermutlich sollten sie der Verteidigung dienen, aber sie verhinderten auch, dass Brisen durch die Räume wehen und die Schwüle der heißen Tag auflockern konnten. Zum Glück glichen die zugigen Steinmauern dies aus. Mishani stand immer noch am Fenster, als der alte Soldat eintrat. Chien saß aufrecht auf seiner Schlafmatte. Sein Gesicht war vor Beulen angeschwollen und glänzte vor Fieber. Böse funkelte er Bakkara an. Der Händler schien den Krieger ganz und gar nicht zu mögen, vermutlich wegen der derben Zunge des älteren Mannes. »Man verlangt nach Euch, Fürstin Mishani«, sagte Bakkara. »Ach ja?«, erwiderte sie trocken in einem herrischen Tonfall, der erahnen ließ, dass sie sich von niemandem irgendwohin befehlen lassen würde. Bakkara verdrehte die Augen und seufzte. »Na schön: Ich bin hier, um Eure Teilnahme an einer Unterredung mit Xejen tu Imotu zu erbitten, Anführer der Ais Maraxa, führender Kopf des Aufstands von Zila und geifernder, wahnsinniger Eiferer. Besser so?« 369 Unwillkürlich musste Mishani lachen. »Es reicht«; gestand sie ihm zu. »Und wie geht's Euch?«, fragte er Chien. »Ganz gut«, gab Chien barsch zurück. »Lasst Ihr uns nun hier raus?«
»Das liegt ganz bei Xejen«, antwortete Bakkara und kratzte sich den Nacken. »Obwohl ich Eure Eile nicht recht begreife. Selbst wenn Ihr hier raus dürft, sitzt Ihr immer noch in Zila fest. Über diese Mauern wird noch eine ganze Weile keine Seele gelangen, weder in die eine Richtung noch in die andere.« Chien stieß einen leisen Fluch aus und wandte sich ab, womit die Unterhaltung für ihn beendet war. »Kommt Ihr nun?«, wollte Bakkara von Mishani wissen. »Selbstverständlich«, erwiderte sie. »Ich warte seit geraumer Zeit darauf, mit Xejen zu sprechen.« »Er war sehr beschäftigt«, erklärte Bakkara. »Wie Ihr vielleicht bemerkt habt, tut sich vor Zila etwas, das uns allen ein wenig Sorge bereitet.« Sie überließen Chien sich selbst; mürrisch verabschiedete er sich von ihnen, als sie gingen. Bakkara führte Mishani eine Strecke entlang, die sie zuvor nie gegangen waren, doch die Umgebung unterschied sich kaum von jedem anderen Teil der Feste. Sie war düster und zweckdienlich, mit schmalen Gängen aus dunklem Stein und ohne jegliches Zierwerk oder Gespür für den natürlichen Fluss der Elemente. Bakkara erklärte ihr, dass die Feste den ursprünglichen, vor über tausend Jahren entworfenen Plänen entsprach, was den traurigen Mangel jeglicher Seele erklärte. Es war ein militärisches Gebäude, errichtet in einer Zeit, als das frisch angesiedelte Volk Saramyrs noch quaraalische Bauweisen verwendete, und in Quaraal war 370 das Wetter rauer, so dass Zweckdienlichkeit wichtiger war als nebensächliche, schöngeistige Überlegungen. Als Saramyr im Lauf der Zeit eine eigene Persönlichkeit entwickelte, begannen die Menschen, die Freiheit der Religion, der Gedanken und der Kunst zu erforschen, die in Quaraal seit dem Aufstieg der Priesterherrschaft unterdrückt waren, was die ersten Siedler Saramyrs überhaupt erst dazu bewogen hatte, in der Fremde ihr Glück zu suchen. Durch die heißen Sommer und warmen Winter war das Leben in den stickigen und beengten quaraalischen Behausungen höchst unbehaglich, und so erfanden sie neue Häuserarten, die sich ihrer Umwelt anpassten, statt sie auszusperren. In vielen alten Siedlungen waren an einigen Stellen noch Spuren quaraalischen Einflusses erkennbar, die meisten Reste aus jener Zeit aber waren abgetragen und durch zeitgemäßere Gebäude ersetzt worden, sobald sie zu verfallen begannen. Von Ruinen hielt das Volk Saramyrs herzlich wenig. Xejen tu Imotu, Anführer der Ais Maraxa, lief in seiner Kammer auf und ab, als sie eintrafen. Er war ein dünner, unscheinbarer Mann von dreiunddreißig Ernten, der vor rastlosem Tatendrang strotzte. Die schwarzen Haare fielen wuschelig um seinen Kopf, und er besaß scharf geschnittene Wangenknochen und eine lang gezogene Kieferpartie, die sein Gesicht schmaler wirken ließ, als es tatsächlich war. Er trug schlichte, schwarze Kleider am drahtigen Leib und huschte ihnen flinken Schrittes durch den Raum entgegen, als Bakkara klopfte und eintrat. »Fürstin Mishani tu Koli«, begrüßte er sie in gehetztem Tonfall. »Was für eine Ehre, Euch hier zu haben.« »Wie hätte ich einer so liebenswürdigen Einladung widerstehen können?«, gab sie mit einem Blick zu Bakkara zurück. 371 Xejen wusste nicht so recht, wie er dies auffassen sollte. »Ich hoffe, Euer Aufenthalt ist nicht allzu schrecklich gewesen. Bitte verzeiht mir; ich hätte mich schon früher mit Euch unterhalten, aber es frisst all meine Zeit, Zila in eine Streitkraft zu ordnen, die in der Lage ist, sich zu verteidigen.« Er begann wieder, im Raum auf und ab zu laufen, hob Dinge auf und stellte sie wieder ab, rückte Papiere auf seinem Schreibtisch zurecht, die nicht zurechtgerückt werden mussten. Die Kammer war ebenso karg ausgestattet wie der Rest der Feste: ein paar Matten, ein Tisch, ein Schreibtisch und ein kleines Sofa. Von Haken an der Decke hingen schimmernde Laternen, und das Zwielicht draußen vor dem einzigen Fenster verdichtete sich zu Dunkelheit. Mishani beschloss, unverblümt vorzugehen. »Warum wurde ich hergebracht?«, wollte sie wissen. »In meine Gemächer?« »Nach Zila.« »Ah!« Er schnippte mit den Fingern. »Teils aus Nächstenliebe, teils aufgrund eines Missverständnisses. Bakkara, warum erklärst nicht du es?« Mit geduldiger Miene drehte Mishani sich zu dem Soldaten um, als wollte sie sagen: ja, warum eigentlich nicht ? Dies zählte zu den wenigen Dingen, über die er sich zu reden geweigert hatte. Anscheinend hatte er auf Xejens Erlaubnis gewartet. »Naja, zunächst war da Euer Freund Chien«, begann er und kratzte sich am Kinn. »Selbst wenn Ihr nicht dabei gewesen wärt, hätten wir ihn nicht in dem Zustand zurücklassen können, in dem er war. Und dann -« »Das war der Teil mit der Nächstenliebe«, fiel Xejen ihm ins Wort. »Und was Euch angeht, nun, Bakkara unterlief der durchaus verständliche Fehler anzuneh372 men, Ihr hättet immer noch gute Beziehungen zu den hohen Familien, und Ihr könntet uns nützlich sein, um Geblüt Koli auf unsere Seite zu ziehen und das Ansehen unseres verzweifelten Unterfangens zu heben.« Bakkara wirkte verlegen und zuckte entschuldigend mit den Schultern, aber Mishani störte sich wenig daran. Sie nahm es nicht persönlich. »Als ich von Euch erfuhr, waren die Tore so gut wie geschlossen, und ich konnte Euch nicht mehr hinauslassen«, plapperte Xejen weiter. »Natürlich erkannte ich sofort, dass Ihr - verzeiht meine unverhohlene Ausdrucksweise - nicht den Wert besitzt, den Bakkara sich eingebildet hatte; ich wusste, dass Ihr und Euer Vater
zutiefst entzweit seid. Und da Ihr schließlich so etwas wie eine Heldin für die Ais Maraxa seid, würde ich Euch wohl kaum als Trumpf im Ärmel verwenden und an ihn ausliefern.« »Ich bin erleichtert, das zu hören«, sagte Mishani. »Heißt das also, dass meine Beziehung zu meinem Vater der Ais Maraxa bekannt ist?« »Nur mir und ein paar anderen«, antwortete Xejen. »Bedenkt, viele von uns gehörten zur oberen Riege der Libera Dramach; und wir waren noch da, als Ihr in den Schoß gekommen seid. Aber Euer Geheimnis ist gut aufgehoben. Wie ich höre, habt Ihr Euch der Libera Dramach als große Hilfe erwiesen, indem Ihr so getan habt, als wärt Ihr immer noch ein Mitglied des Geblüts Koli.« »Soweit ich weiß, bin ich das auch«, gab Mishani zurück. »Zumindest rechtlich gesehen. Noch hat mein Vater mich nicht enterbt.« Obwohl er zwei Mal versucht hatte, sie töten zu lassen, fügte sie in Gedanken hinzu. »Ich könnte mir denken, das letzte Buch Eurer Mutter 373 war der Angelegenheit in Eurem Fall wenig zuträglich«, meinte Xejen. »Das bleibt abzuwarten«, sagte Mishani. Sie hatte tatsächlich noch nicht einmal begonnen, die Auswirkungen zu erwägen, die Muraki tu Kolis jüngste Sammlung der Geschichten Nidajans haben mochte. Xejen räusperte sich und trippelte rastlos zum gegenüberliegenden Ende der Kammer. Mishani machte seine ständige Ruhelosigkeit nervös. »Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, Fürstin Mishani«, erklärte er. »Ihr wärt für unser Anliegen sehr wertvoll. Eine der Retter und Retterinnen Lucias. Jemand, der sie aus nächster Nähe kennt.« Eindringlich schaute er zu ihr auf. »Ihr könntet Wunder für die Moral der Stadtbevölkerung wirken und die Glaubwürdigkeit der Ais Maraxa erheblich fördern.« »Was genau wollt Ihr von mir?«, verlangte sie zu erfahren. Einen Moment hielt Xejen inne. »Unterstützt uns. Öffentlich.« Mishani ließ es sich durch den Kopf gehen. »Zuerst möchte ich einige Dinge wissen«, entgegnete sie. »Ah«, brummte Xejen. »Dann will ich mich nach Kräften bemühen, all Eure Fragen zu beantworten.« »Was tut Ihr hier in Zila?«, fragte Mishani, deren durchdringende Augen ihn zwischen der wallenden, schwarzen Masse ihres Haares musterten. »Welchen Zweck erfüllt es für die Ais Maraxa?« »Aufmerksamkeit«, lautete die Antwort. »Wir wissen seit Jahren um die Erhabenheit von Thronerbin Lucia, auch ist es bereits einige Zeit her, seit wir uns von den Libera Dramach abgespalten haben, deren ...« er fuchtelte mit der Hand, während er nach dem passenden 374 Ausdruck suchte, »weltlichere Einstellung sie mit Scheuklappen für das große Ganze geschlagen hat. Seither haben die Ais Maraxa versucht, die Kunde zu verbreiten, dass es jemanden gibt, der uns vom Übel der Weber befreien, der Unterdrückung des gemeinen Volks ein Ende bereiten und die Geißel vertreiben wird, die unser Land verheert.« Mishani beobachtete ihn eingehend, während sein Redefluss immer hitziger wurde. Natürlich wusste sie, dass Bakkaras Äußerung, Xejen sei ein Eiferer, als Witz gemeint gewesen war, doch ihr war auch klar, dass die Worte des Soldaten ein Körnchen Wahrheit enthielten, und nun, da sie Xejen kennen gelernt hatte, vermutete sie, dass Bakkara sein Anführer ein wenig unheimlich war. »Aber es reicht nicht, die Kunde nur zu verbreiten«, fuhr Xejen fort und wedelte mit einem Finger durch die Luft. »Die Thronerbin ist ein Gerücht, ein geflüsterter Hoffnungsschimmer, doch es bedarf mehr als bloßer Gerüchte, um das Volk anzuspornen. Wir müssen zu einer Bedrohung werden, die ernst genommen wird. Die hohen Familien müssen über uns reden, damit ihre Bediensteten mitbekommen, dass sie sich Sorgen machen ... damit sie sehen, dass selbst die Adeligsten und Mächtigsten die Anhänger Lucias fürchten. Dann werden sie Glauben schöpfen und ihrem Ruf folgen, wenn sie ruhmreich zurückkehrt, um den Thron zu erobern.« Nun starrte er durch das Fenster in die Nacht hinaus. Mishani wechselte einen Blick mit Bakkara. Mit gespielter Verzweiflung richtete er die Augen himmelwärts, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem verstohlenen Lächeln. »Aber trotz all unserer Anstrengungen ist es uns nicht 375 gelungen, das Reich wachzurütteln und auf uns aufmerksam zu machen«, führte Xejen weiter aus. »Bis jetzt. Wir bearbeiten Zila seit geraumer Zeit, und der Ausbruch der Hungersnot hat uns genau das Umfeld beschert, das wir brauchten, um in Erscheinung zu treten. Der Umstand, dass der Statthalter all die Vorräte für uns gehamstert hat... nun, das ist, als hätte Ocha höchstpersönlich uns seinen Segen erteilt. Wir können gut ein Jahr hinter diesen Mauern ausharren. Bis dahin wird jeder im Reich von den Ais Maraxa und unseren Zielen erfahren haben.« »Sorgt Ihr Euch denn gar nicht um Lucia?«, wollte Mishani wissen. »Wenn ihr Name so berüchtigt wird, ist schließlich davon auszugehen, dass die Weber angestrengter denn je nach ihr suchen werden. Nur weil sie für tot gehalten wird und ihre Fähigkeiten nicht allgemein bekannt sind, konnten wir uns so lange verstecken.« »Die Weber werden sie trotzdem für tot halten«, tat Xejen ihren Einwand ab. »Sie werden denken, wir verschwenden bloß Zeit damit, Gerüchte in die Welt zu setzen. Außerdem werden sie Lucia niemals finden. Aber welche Vorbereitungen treffen die Libera Dramach für die Zeit, wenn sie erwachsen wird? Gar keine! Wir
bauen eine Armee für sie auf, eine Armee des gemeinen Volkes, und wenn sie letztlich an die Öffentlichkeit tritt, werden sich die Menschen hoffnungsvoll um ihr Banner scharen.« Mishani wollte dem entgegenhalten: welches Banner? Wenn es bei all dem darum ging, eine Armee für Lucia aufzubauen, dann gab er sich der höchst gewagten Annahme hin, dass Lucia überhaupt eine wollte. Mishani fragte sich, ob er ebenso reden würde, wenn er Lucia so wie sie kannte. Doch sie gab sich nicht der falschen Hoff376 nung hin, sie könnte Xejens Ansichten ändern, und sie wollte sich seine Gunst bewahren, deshalb hütete sie die Zunge. »Aber was ist mit der Belagerung?«, hakte sie nach. »Wie wollt Ihr damit umgehen? Irgendwann werden Euch die Vorräte ausgehen.« »Ihr wisst, was in Axekami vor sich geht, Fürstin Mishani«, sagte er, wobei er in seinem Drang zu reden das Ende ihres Satzes abschnitt. »Im bevorstehenden Jahr werden die hohen Familien andere Sorgen als uns haben. Ihr könnt Euch mit eigenen Augen davon überzeugen, wie wenig Begeisterung sie für eine Schlacht aufbringen. Seht Euch nur diese Armee da draußen an!« Mit ausholender Geste deutete er auf das Fenster. »Wir haben Wege und Mittel, uns mit unseren Mitstreitern außerhalb Zilas zu verständigen. Sie reden bereits über unsere Notlage und wofür wir eintreten. Die Kunde wird sich verbreiten. In einem Jahr kann sich viel verändern, aber was auch immer kommen mag, bevor wir am Ende sind, wird jeder den Namen Lucia tu Erinima kennen.« Xejen durchquerte die Kammer, um sich vor Mishani und Bakkara aufzustellen. Seine schmalen Züge wirkten im Schein der Laternen bleich. In seinen Augen loderte nun Inbrunst, ein Feuer, das sein Wortschwall entfacht hatte. Mishani hegte keinen Zweifel, dass er vor einer Menschenmenge ein hervorragender Redner war. Die Überzeugung in seinen Worten war unbestreitbar. »Werdet Ihr uns helfen, Fürstin Mishani?« »Ich werde darüber nachdenken«, antwortete sie. »Aber ich habe eine Bedingung.« »Ja, Ihr möchtet Euch frei bewegen können«, stellte Xejen sie für Mishani. »Gewährt. Ein Zeichen meines Vertrauens. Ich hätte es schon früher gesetzt, aber ich 377 war zu beschäftigt mit anderen Dingen. Ich will Euch nicht als Gefangene, ich will Euch als Verbündete.« »Habt meinen Dank«, sagte Mishani. »Und ich werde mir Euer Angebot durch den Kopf gehen lassen.« »Ist vermutlich unnötig zu erwähnen, dass Eure Bewegungsfreiheit sich auf Zila beschränkt«, fügte Xejen hinzu. »Solltet Ihr versuchen, die Stadt zu verlassen, werdet Ihr bedauerlicherweise erschossen. Ich bin sicher, etwas so Törichtes liegt Euch fern.« »Euer Rat ist zur Kenntnis genommen«, erklärte Mishani. Danach leierte sie die üblichen Höflichkeitsfloskeln herunter und ging, wobei sie Bakkara mitteilte, sie fände selbst zurück. Als sie in ihrer Kammer eintraf, schlief Chien und zuckte in den Klauen eines Traums. Leise schloss sie hinter sich die Tür und hockte sich auf eine Matte, um nachzudenken. Ein Plan nahm in ihrem Kopf Gestalt an. Es war wie in den alten Tagen am Hof. Die Schlüsselfiguren waren vorgestellt worden; nun musste sie ersinnen, wie sie ihr von Nutzen sein konnten. Aber diesen Mann verstand sie immer noch nicht. Hier fehlte ein Stück des Mosaiks, und zwar von Anfang an. Bis sie wusste, ob Chien Freund oder Feind war, wagte sie nicht zu handeln. Sie musterte ihn eingehend, versuchte in den breiten Zügen seines Gesichts eine Antwort zu finden. Er murmelte etwas und drehte sich von ihr weg, rollte sich auf der Matte herum und wickelte sich enger in die Laken. Trotz der Wärme der Nacht bibberte er. »Was ist dein Geheimnis, Chien?«, murmelte sie. »Warum bist du hier?« Nach einer Weile stand sie auf, löschte die Laterne, entkleidete sich im Mondlicht und schlüpfte unter die 378 eigene Decke. Sie döste gerade ein, als Chien zu singen begann. Mishani spürte, wie ein Lächeln um ihre Mundwinkel spielte. Er träumte, und seine Stimme war ein eintöniges Summen, zu leise, um die Worte verständlich wiederzugeben. Sie lauschte und lauschte, und plötzlich setzte sie sich auf der Schlafmatte auf, starrte durch die dunkle Kammer zu ihm. Ihrer ungewahr summte er weiter, sang sein fiebriges Lied. Mishanis Atem ging zitternd. Ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an; langsam sank sie zurück auf das Kissen und drehte sich der Wand zu, erstickte ihr Schluchzen mit der Decke. Tränen wallten auf und ließen sich nicht zurückdrängen, kullerten über ihren Nasenrücken und in den Stoff des Lakens. Sie kannte dieses Lied, und nun ergab alles einen Sinn. 379 ZWEIUNDZWANZIG Geblütskaiser Mos tu Batik stürmte wutentbrannt durch die Marmorgänge der Kaiserlichen Feste. Sein einst sauber gestutzter Bart war ungepflegt gewachsen, wodurch die grauen Schlieren darin deutlicher zur Geltung kamen. Sein Haar war zerzaust, hing ihm in schweißfeuchten Strähnen in die Augen. Auf seinem Hemd waren Weinflecken, seine Kleider zerknittert. Wahnsinn funkelte in seinen Augen.
Tage und Nächte waren zu einem endlosen, vom Suff benebelten Dämmerzustand verschmolzen. Schlaf bescherte ihm keine Erholung, nur grässliche Träume, in denen sein Eheweib sich mit gesichtslosen Fremden paarte. Seine wachen Stunden verbrachte er in ständiger Argwohn, durchbrochen von unregelmäßigen Wutausbrüchen, die sich entweder gegen ihn selbst oder irgend jemanden in seiner Nähe richteten. Langsam und unaufhaltsam strudelte er in den Irrsinn, und nur die Trunkenheit bot eine vorübergehende Flucht vor seinen Qualen, wenngleich er sich danach umso verbitterter fühlte. Er hatte genug. Nun wollte er es ein für allemal klären. Er würde nicht tatenlos zusehen, wie ihm die Hörner aufgesetzt wurden. Die Zeit der Abrechnung war gekommen. Es hatte lange vor dem aufgeplusterten Wortverdreher Eszel begonnen. In den langen Nächten, die er alleine verbrachte, während Hass an seiner Seele nagte, war ihm das klar geworden. Er erinnerte sich an andere Zeiten, 380 als Laranya ihren Belangen nachgehen wollte und er den seinen, und wie er jedem ihrer Wünsche nachgekommen war. Zeiten, zu denen er enttäuscht gewesen war, als sie nicht auf ihn wartete, wenn er von einem besonders grauenhaften Tag in der Ratskammer zurückkehrte. Zeiten, als sie mit anderen Männern gewitzelt und gelacht hatte. Zwischen den Wahnvorstellungen und boshaften Verleumdungen, die zu glauben er sich in jenen einsamen Stunden überzeugt hatte, war er auf Brocken der Wahrheit gestoßen. Er hatte erkannt, dass er Laranya als zwei verschiedene Menschen wollte, und sie konnte nicht beides sein. Zum einen war da die feurige, sture und ungehorsame Frau, in die er sich verliebt hatte; zum anderen die pflichtbewusste Gemahlin, die da sein würde, wenn er es wollte, und abwesend, wenn er es nicht wollte, die ihm das Gefühl geben würde, ein Mann zu sein, denn ein Mann sollte in der Lage sein, sein Weib zu beherrschen. Einer der Gründe, warum er sich in sie verliebt hatte - und sie immer noch liebte -, war, dass sie sich seinem Willen nicht beugte, sich nie sanftmütig und unterwürfig zeigte; eben weil sie ihm trotzte, empfand er sie als Herausforderung, die nie ihren Reiz verlor. Seine erste Gemahlin Ononi war das Musterbeispiel dessen gewesen, wie eine Frau sein sollte, aber er hatte sie nicht geliebt. Laranya war unmöglich, würde sich nie zähmen lassen, egal wie sehr er es versuchte; sie hatte sein Herz gestohlen und es vergiftet. Es war das Kind, durch das sich alles verschlechtert hatte. Jahrelang hatte Mos die flüchtigen Augenblicke des Argwohns und der Enttäuschung verdrängt, sie aus dem Gedächtnis gewischt, sobald er Laranyas Antlitz wieder erblickte. Nun aber grub er sie alle wieder aus, um 381 wie ein Geier an einem Leichnam daran zu picken. So lange Zeit und kein Kind; und jetzt, ganz plötzlich, trug sie eines im Leib. Genau wie bei Durun. Genau wie bei meinem Sohn und seiner falschzüngigen Schlampe von einem Eheweib, die ihn ein Kind großziehen ließ, das nicht von ihm war. Die Geschichte wiederholte sich. Aber diesmal war Mos dem Spiel einen Zug voraus. Es war spät, als er auf die kaiserlichen Gemächer zustapfte. Sein Schlafmuster war unregelmäßig, unabhängig von Tag oder Nacht. Zudem fürchtete er die Albträume inzwischen so sehr, dass er alles getan hätte, um sie von sich fern zu halten. Er war seit mittlerweile über vierzig Stunden wach, hatte sich mit Kräutergebräuen aufgeputscht, um die einschläfernde Wirkung des Weines aufzuheben; und seine Gedanken hatten immer engere Schleifen gezogen, bis nur noch ein weiß glühender Ball blanker Wut übrig war, die nach Befreiung verlangte. Oh, sie war zu ihm gekommen, hatte es bald flehend, bald herrisch, bald brüllend versucht, mit verschiedensten Ansätzen, die alle dasselbe Ziel verfolgten: Sie wollte wissen, was in ihn gefahren sei, weshalb er sich so gebarte. Als ob sie es nicht wüsste. Auch andere schwirrten durch seine weindunstigen Gedanken. Kakre tauchte ab und an in seinem Gedächtnis auf, krächzte Berichte und belanglose Beobachtungen. Berater kamen und gingen. Auf eine trübe Weise hatte er die übrigen Staatsangelegenheiten, um die er sich kümmern sollte, durchaus wahrgenommen, doch im Vergleich zu der übermächtigen Sache mit Laranya waren sie bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Bis dies bereinigt war, konnte er sich keinen anderen Belangen widmen. Vernunft hatte versagt. Die 382 Spitzel, die seine Frau beschatten sollten, hatten versagt. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit; der einzige Ausweg, den er noch hatte. Er schleuderte den Vorhang beiseite und stürmte in das kaiserliche Schlafgemach. Die Gewalt seines Eintretens schreckte Laranya aus dem Schlaf. Mit einem Schrei setzte sie sich auf und zog in der warmen Dunkelheit der Herbstnacht die Laken an die Brust. Am Bogen, der zum Balkon führte, regte sich etwas im fahlgrünen Mondschein: ein verschwommener Schemen, der binnen eines Lidschlags verschwunden war. Brüllend vor Zorn stürzte Mos quer durch den Raum hinterher. »Was ist denn? Mos, was ist bloß los?«, rief Laranya. Die Hände des Geblütskaisers umklammerten die Steinbalustrade; wütend starrte er die nordöstliche Seite der Kaiserlichen Feste hinab, die in einem Gewirr ineinander übergreifender Skulpturen und Muster steil abfiel. Er sah sich um, erst nach oben, dann nach links und nach rechts, schließlich beugte er sich weit vor, als könnte er unter den Balkon blicken. Es half alles nichts. Das Zierwerk ringsum bot zu viele Nischen, in denen der
Eindringling sich verstecken konnte. Bei den Göttern, er war so flink gewesen! Mos hatte ihn kaum richtig erspäht. Mittlerweile war Laranya in ihrem Nachtgewand an seinem Ellbogen aufgetaucht, berührte furchtsam seinen Arm. »Was ist denn?«, fragte sie abermals. »Ich habe ihn gesehen, du Dirne!«, brüllte Mos sie an und stieß ihren Arm weg. »Du kannst mir nichts mehr vorgaukeln! Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen!« Laranya wich in die Kammer zurück. Sie war von 383 einem Gefühl erfasst, das am Scheideweg zwischen Zorn und Furcht stand. Mos strahlte eine bislang ungekannte Wildheit aus, und sie war nicht sicher, wozu er in der Lage wäre. »Wen? Wen hast du gesehen?« »Solltest du das nicht besser wissen? War es dieser weibische Reimling? Oder vergnügt sich in meinem Bett jemand anders, von dem ich wissen sollte?« »Mos, ich habe es dir doch gesagt... Ich kann es dir nicht noch mehr beweisen, als ich es bereits getan habe! Es gibt niemanden!« »Ich habe ihn doch gesehen!«, heulte Mos und wankte mit gehetzten, grässlich verzerrten Zügen auf sie zu. »Er war gerade hier!« »Niemand war hier!«, brüllte Laranya. Nun hatte sie tatsächlich Angst. »Lügnerin!«, beschuldigte Mos sie, kam näher und ragte bedrohlich vor ihr auf. »Nein! Mos, du bist betrunken, und du bist übermüdet! Du brauchst Schlaf! Du siehst Gespenster!« »Lügnerin!« Laranya erreichte die Frisierkommode, prallte dagegen und warf Duftwasserflaschen und Schminkbürsten um. Weiter konnte sie nicht zurückweichen. »Ein Mann kann über kein Kaiserreich herrschen, wenn er nicht einmal über sein Weib herrschen kann!«, knurrte Mos. »Ich werde dich Gehorsam lehren!« Noch bevor er mit der Faust ausholte, sah sie in seinen Augen, was er vorhatte. »Mos! Nein! Unser Kind!«, winselte sie und legte die Hand schützend auf den Bauch. »Sein Kind«, zischte Mos. Laranya blieb keine Zeit zu fragen, wen er meinte, 384 bevor die ersten Schläge auf sie einprasselten. Ebenso wenig fand sie es später heraus, als er sie auf dem Boden des Schlafgemachs zurückließ; ihr ganzer Körper schmerzte, ihr Gesicht war mit Blutergüssen übersät, und zwischen ihren Beinen quoll Blut hervor, als das Kind in ihr starb. Reki wurde von einer Dienstmagd geweckt, die vor dem Vorhang zu seiner Kammer seinen Namen rief. Asara war bereits wach und beobachtete ihn. Sie lag neben ihm im Bett, und als er sie ansah, schien das fahlgrüne Mondlicht sie in einem seltsamen Winkel zu erfassen, der ihre Augen in zwei leuchtende Schlitze verwandelte, die jenen einer Katze glichen. Dann schaute sie zum Vorhang, und der Augenblick verstrich. Sein Blick verweilte noch kurz auf ihrem schattigen Antlitz, konnte sich kaum von dessen Schönheit lösen. Sie hatte ihm fürwahr wie versprochen eine Erfahrung beschert, wie er sie noch nie genossen hatte; doch obwohl er seinen Teil der Abmachung durch eine fehlerlose Wiedergabe von Die Perle des Wassergottes erfüllt hatte, war sie nicht - wie er befürchtet hatte - auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Zu seinem Entzücken hatte sie ihn kaum eine Sekunde allein gelassen, seit sie einander begegnet waren. Zuckersüße Erinnerungen beschaulicher Tage und leidenschaftlicher Nächte strömten durch sein Bewusstsein. Und obwohl es zu schön wirkte, um wahr sein zu können, widerstrebte es ihm, sein zerbrechliches Glück zu zerschmettern, indem er es hinterfragte. »Was ist denn?«, fragte er mit schlaftrunkener Stimme. 385 »Die Kaiserin!«, antwortete die Dienstmagd. »Die Kaiserin!« Ihr Tonfall ließ ihn erschrocken hochschnellen. »Einen Augenblick«, sagte er und huschte nackt aus dem Bett, um sich etwas anzuziehen. Asara tat es ihm gleich. Er war zu besorgt, um auch nur einen Blick für ihren vollendeten Körper zu erübrigen. Obschon sie sein Bett seit mittlerweile mehreren Nächten teilte und er sie bereits anbetete wie eine Göttin, war in jenem Augenblick grauenvoller Vorahnung alles wie fortgeschwemmt. »Herein«, rief er. Eilends trat die Dienstmagd ein und plapperte sogleich drauflos. Es war eine von Laranyas Kammerzofen, ein Mädchen aus dem Haushalt von Geblüt Tanatsua statt aus jenem der Feste. »Die Kaiserin ist verletzt«, überschlug sie sich förmlich. »Ich habe gehört... wir alle haben gehört, wie sie stritten. Nachdem der Kaiser weg war, sind wir reingegangen. Wir-« »Wo ist sie?«, verlangte Reki zu erfahren. »In den kaiserlichen Gemächern«, antwortete die Zofe, doch sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als Reki auch schon an ihr vorbei und aus dem Zimmer fegte. Barfuß lief er die Gänge der Feste entlang. Der Lach-boden fühlte sich kalt an, und es scherte ihn nicht, wie lächerlich er rennenden Schrittes in seinem Nachtgewand aussehen musste. Die Kaiserin ist verletzt. Kaiserliche Wachen in blauer und weißer Rüstung traten für ihn beiseite; Bedienstete eilten ihm aus dem Weg.
»Laranya«, murmelte er atemlos, mit weinerlicher Stimme bei sich. »Bitte Suran, lass sie in Ordnung sein. Ich tue alles dafür.« 386 Doch sofern die Wüstengöttin sein Flehen vernahm, erhörte sie es nicht. Seine Gemächer befanden sich nicht weit vom Schlafzimmer seiner Schwester. Das Leben in der Feste nahm ringsum seinen üblichen Lauf, als wäre nichts geschehen. Putzkräfte polierten Lach und staubten Skulpturen ab, nächtliche Tätigkeiten, die unauffällig verrichtet wurden, wenn die meisten Bewohner schliefen. Als er die Tür zu den kaiserlichen Gemächern erreichte, wusste er, dass all die Bediensteten vernommen haben mussten, was die Zofe gehört hatte; dennoch ließ es sich niemand anmerken. Da es angesichts der sengenden Hitze der Sommer unverzichtbar war, kühlende Brisen durchziehen zu lassen, gab es in saramyrrischen Gebäuden höchst selten Türen. Deshalb war die ungeschriebene Regel entstanden, dass es unaussprechlich verwerflich war zu lauschen oder weiterzuerzählen, was man versehentlich erfahren hatte. Dass Laranyas Zofe dieses Schweigen gebrochen hatte, zeugte davon, wie ernst sie den Vorfall einstufte. Noch bevor er den Vorhang beiseite schob, hörte er Laranya schluchzen, und wenngleich ihm das Geräusch beinahe das Herz zerriss, war er doch schrecklich erleichtert, dass sie es noch von sich geben konnte. Sie war auf Händen und Knien auf dem Bett inmitten eines Gewirrs goldener Laken, auf denen sich dünne Blutschlieren befanden. Weinend wühlte sie in den Laken, als suchte sie etwas. Zwischen den gewundenen Elfenbeinhörnern, die des Bettes Pfosten bildeten, schaute sie zu ihm auf. Ihre Augen waren verschwollen und von dunklen Blutergüssen umrahmt. »Ich kann ihn nicht finden«, flüsterte sie. »Ich kann ihn nicht finden.« 387 Tränen wallten unter Rekis Lidern auf. Er wollte zu ihr laufen, doch sie kreischte ihn an, zurückzubleiben. Stockend, verwirrt und hilflos hielt er inne. »Ich kann ihn nicht finden!«, heulte sie abermals. Blaue Flecke und Tränen verunstalteten ihr Antlitz. Reki hatte sie noch nie so gesehen. Wenn sie in der Vergangenheit geweint hatte, war es stets, nur eine flüchtige Wolke gewesen, die an der Sonne vorüberzog. Nun aber wirkte sie wie ein Schatten ihrer selbst; alle Kraft, all ihre Lebendigkeit schienen versiegt. Sie sah aus wie eine Fremde. »Wen suchst du denn?« Laranya grub sich wieder durch die blutigen Laken. »Ich habe gespürt, wie er herauskam, wie er mich verlassen hat!«, schrie sie. »Aber ich kann ihn nicht sehen!« Sie hob etwas Winziges auf, das einem geronnenen Blutklumpen ähnelte, und hielt es ins Licht. Zähflüssige Fäden klebriger Flüssigkeit troffen zwischen ihren Fingern hindurch. »Ist er das? Ist er das?« Übelkeit drehte Reki den Magen um, als er begriff, woher all das Blut stammte und wonach sie suchte. Mit einem Schlag fühlte er sich fern der Wirklichkeit, losgelöst vom Takt der Welt. Das Grauen, seine Schwester so sehen zu müssen, raubte ihm den Atem. »Das ist er nicht«, sagte Reki. Die Worte schienen von jemand anderem zu stammen. »Er ist weg. Er ist jetzt bei Omecha.« »Nein, nein, nein«, begann Laranya zu winseln und wiegte auf den Knien vor und zurück. Sie hatte den Klumpen fallen gelassen. »Er ist es nicht.« Mit forschenden Augen schaute sie zu Reki auf. »Wenn ich ihn finde, kann ich ihn zurückschieben.« Reki begann zu weinen, und der Anblick erfüllte Laranya mit frischem Gram. Sie streckte die blutigen Hände 388 nach ihm aus; kraftlos sank er auf das Bett und umarmte sie. Als sie einander umschlangen, zuckte sie zusammen, und er ließ sie unwillkürlich los, da er wusste, dass er ihr wehgetan hatte. »Was hat er dir angetan?«, fragte Reki. Laranya heulte nur auf und umklammerte ihn. Da er nicht wagte, sie festzuhalten, ließ er stattdessen behutsam die Hände auf ihrem Rücken ruhen, während ihm Tränen der Wut und des Kummers über die schmalen Wangen strömten. Nach einer Weile des Schweigens schlug Reki vor: »Er braucht einen Namen.« Laranya nickte. Selbst Ungeborene brauchten Namen, damit Noctu sie aufschreiben konnte. Es spielte keine Rolle, dass sie nicht wussten, welchen Geschlechts das Kind gewesen wäre. Für Mos hatte Laranya sich einen Sohn gewünscht. »Pehiku«, murmelte sie. »Pehiku«, wiederholte Reki und überantwortete den Neffen, den er nie zu Gesicht bekommen würde, stumm den Feldern Omechas. So fand Asara die beiden vor, als sie eintraf. Sie hatte sich ein wenig Zeit genommen, sich anzukleiden, wenngleich sie keine Schminke trug und ihr das schwarze Haar offen über eine Schulter hing. Ohne um Erlaubnis zu fragen, huschte sie durch den Vorhang und harrte stumm im grünen Mondlicht aus, bis Reki sie bemerkte. »Ich werde ihn töten«, gelobte Reki zwischen zusammengebissenen Zähnen. Seine Augen waren gerötet, und seine Nase lief heftig, weshalb er fortwährend schniefen musste. Unter gewöhnlichen Umständen wäre er zu Tode entsetzt gewesen, sich in einem solchen Zustand von einer Frau sehen zu lassen, die er so unbe389
schreiblich anziehend fand, aber sein Kummer war zu rein, zu gerechtfertigt. »Nein, Reki«, widersprach Laranya, und die Festigkeit ihrer Stimme verriet ihm, dass sie wieder zu Sinnen gekommen war. »Nein, das wirst du nicht.« Sie hob den Kopf, und Reki sah das alte Feuers in ihren Augen. »Vater wird es tun.« Erst verstand Reki nicht recht, doch Laranya wartete nicht, bis er ihr folgen konnte. Stattdessen schaute sie zu Asara. »Offne diese Truhe dort«, sagte sie und deutete auf eine kleine, goldgesäumte Zierkiste, die an einer Wand stand. »Hol mir das Messer darin.« Asara gehorchte. Sie fand einen in Seide gewickelten, juwelenbesetzten Dolch und brachte ihn der Kaiserin. Reki zeigte sich etwas erschrocken, da er nicht sicher war, was seine Schwester mit der Klinge vorhatte. »Du hast eine Aufgabe zu erfüllen, Bruder«, verkündete sie. »Sie wird schwierig und der Weg weit sein, dennoch darfst du sie für die Ehre der Familie nicht scheuen. Ganz gleich, was kommen mag. Hast du verstanden?« Reki war betroffen vom Ernst in ihrer Stimme. Er schien unvereinbar mit der verunstalteten Frau, die vor ihm auf dem Bett kniete. Mit weit aufgerissenen Augen nickte er. »Dann tu das für mich«, forderte sie ihn auf. Und damit drehte sie ihr langes Haar zu einem Schwanz an ihrem Hinterkopf und setzte das Messer daran. »Nicht!«, rief Reki, doch er war zu langsam; mit drei kurzen Stößen war es vollbracht. Laranyas Haar fiel wieder nach vorne, grob auf Kinnhöhe abgeschnitten. Den Rest hielt sie in ihrer Hand. Er stöhnte, als sie den abgetrennten Schopf vor ihn hinhielt. Sie verknotete ihn und reichte ihn Reki. 390 »Bring das zu Vater. Erzähl ihm, was geschehen ist.« Reki wagte nicht, den verknoteten Schopf anzurühren. Das Haar zu nehmen verhieße, der Forderung seiner Schwester zuzustimmen, einen Eid für dessen Überbringung zu schwören, der so heilig war wie jener, den sie geleistet hatte, indem sie es abschnitt. Für das Volk von Tchom Rin bedeutete das Abschneiden der Haare einer Frau Vergeltung. Es wurde nur getan, wenn schreckliches Unrecht angerichtet wurde, und es würde Blut erfordern, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wenn er dies seinem Vater überbrachte, würde Geblüt Tanatsua dem Kaiser den Krieg erklären. Betäubend stieg ihm zu Bewusstsein, wie viele Leben aufgrund dieser einen Tat geopfert werden, wie viel Pein und Tod daraus folgen würden. Doch es ging um Höheres als Menschenleben. Hier ging es um Ehre. Seine Schwester war auf grausamste Weise verprügelt, sein Neffe im Mutterleib ermordet worden. Was als Nächstes geschehen musste, stand außer Frage. Und ein feiger Teil seiner Seele war insgeheim froh darüber, dass die Bürde letztlich nicht auf ihm lasten, sondern er nur den Boten spielen würde. Er nahm das Haar seiner Schwester von ihr entgegen, und der Eid war geleistet. »Und jetzt geh«, sagte sie. »Jetzt gleich?« »Sofort!«, schrie Laranya. »Nimm zwei Pferde und reite, was das Zeug hält. Wechsle zwischen den Gäulen; dadurch bist du schneller. Wenn Mos es herausfindet, wenn Kakre davon erfährt, werden sie versuchen, dich aufzuhalten. Sie werden versuchen, den Vorfall mit Lügen zu vertuschen, sie werden alles tun, um sich gegen unsere Familie zu rüsten. Geh!« 391 »Laranya ...«, setzte er an. »Geh endlich!«, heulte sie, weil sie den Abschied nicht zu ertragen vermochte. Er kletterte vom Bett und warf einen letzten, tränenreichen Blick auf sie; dann steckte er das Haar in die Tasche seines Nachtgewands und rannte. »Du nicht«, sagte Laranya leise, wenngleich Asara keine Anzeichen erkennen ließ, aufbrechen zu wollen. »Ich brauche deine Hilfe. Es muss noch etwas getan werden.« Ihr Tonfall hörte sich matt, aber unbeugsam an. »Verfügt über mich, Kaiserin«, antwortete Asara. »Dann gestatte mir, mich auf dich zu stützen«, bat Laranya. »Wir gehen.« Und das taten sie. Mit blauen Flecken übersät und verschwollen, das Nachtgewand um die Hüfte blutig, humpelte die Kaiserin von Saramyr an Asaras Arm aus ihrem Schlafzimmer, durch die kaiserlichen Gemächer und in die Gänge der Feste. Die Bediensteten waren zu verblüfft, um die Augen rasch genug abzuwenden. Sogar die kaiserlichen Wachen, die an den Eingängen aufgestellt waren, starrten sie voll Entsetzen an. Die von allen geliebte Kaiserin, nunmehr ein zitterndes Wrack. Es war alles andere als schicklich für eine derart misshandelte Frau, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, dennoch schreckte Laranya nicht davor zurück. Ihr Stolz war stärker als ihre Eitelkeit; sie würde das Schweigen der Bediensteten nicht mitspielen, würde sich nicht stumm in einen Winkel verkriechen und so tun, als wäre nichts geschehen. Sie trug Mos' Verbrechen am Körper, auf dass alle sie sehen konnten. Die Feste schlief. Nur wenige Menschen waren auf den Gängen unterwegs, und niemand wagte, sie aufzuhalten. Trotzdem erwies der Weg zum Turm des Ostwinds sich 392 als lange und beschwerliche Plage. Laranya konnte kaum selber laufen, und obwohl Asara sich als ungewöhnlich
stark entpuppte, war es ein schwerer Kampf. Ihre Welt bestand nur noch aus Qualen, dennoch nahm sie die Augen wahr, die sie voll Furcht und Unglauben musterten. Asara stützte sie stoisch schweigend und ließ sich von Laranya leiten. So wie all die anderen Türme war auch der Turm des Ostwinds über eine lange, schmale Brücke mit dem Scheitelpunkt der Feste verbunden. Der Turm bildete eine lange Nadel, die hoch über das flache Dach der Feste emporragte. Ganz oben besaß er eine bauchige, spitz zulaufende Kuppel. Kleine Fensterbogen befanden sich an der ansonsten glatten Oberfläche. Hoch droben säumte den Turm ein Balkon, unmittelbar unterhalb der Stelle, wo er sich zu verbreitern begann. Der Aufstieg war hart für Laranya. Die Wendeltreppe schien kein Ende zu nehmen, trotzdem wollte sie an keinem der Aussichtspunkte rasten, wo Stühle neben den Fensterbogen bereitstanden, um die Aussicht auf die Stadt zu genießen. Erst als sie den Balkon erreichten und in die warme Nacht hinaustraten, gestattete Laranya sich eine Pause. Asara stand bei ihr und schaute über die Brüstung. In unmittelbarer Nähe fiel die Stadt Axekami über den Hügel hinweg ab, auf dem die Feste errichtet war, präsentierte sich als Lichtermeer, das die Dunkelheit sprenkelte. Danach folgten das schwarze Band der Stadtmauern und dahinter die Ebenen und der Kerryn, der aus dem Tchamil-Gebirge entsprang, das zu weit entfernt war, um es zu sehen. Die Nacht war klar und sternenhell, zudem hing Neryn, die kleine grüne Mondschwester, tief am östlichen Himmel vor ihnen, ein makelloser, in der Unendlichkeit des Firmaments treibender Ball. 393 »Was für eine wundervolle Nacht«, murmelte Laranya. Sie hörte sich seltsam friedvoll an. »Wie können die Götter nur so gleichgültig sein? Wie kann die Welt sich weiterdrehen, als wäre nichts geschehen? Bedeutet ihnen mein Verlust so wenig?« »Wendet Euch nicht an die Götter um Hilfe«, meinte Asara. »Läge ihnen auch nur das Geringste an der Menschheit, hätten sie nie gestattet, dass ich geboren werde.« Diese Äußerung verstand Laranya nicht, denn sie hatte keine Ahnung, mit was für einem Geschöpf sie sprach: einer Ausgeburt, die ihre Gestalt wie Lehm zu formen vermochte, die mangels einer eigenen Persönlichkeit eine wandelnde, ihr selbst verhasste Hülle war. Mit wunderschönen, aber kalten Augen schaute Asara die Kaiserin an. »Seid Ihr entschlossen, es zu tun?« Laranya beugte sich über die Brüstung und spähte hinab auf den Hof tief, tief unter ihr, der nur durch winzige Laternenlichtkegel erkennbar war. »Ich habe keine andere Wahl«, flüsterte sie. »Dermaßen ... geschändet will ich nicht weiterleben. Und du weißt, dass Mos mich nicht fortziehen lassen würde.« »Reki hätte Euch davon abgehalten«, meinte Asara leise. »Er hätte es wohl versucht«, pflichtete die Kaiserin ihr bei. »Aber er weiß nicht, was ich empfinde. Mos hat mir alles geraubt, was mich ausgemacht hat. Dafür wird mein Geist ihn von jenseits dieser Welt aus heimsuchen.« Sie ergriff Asaras Arm. »Hilf mir auf.« Die Kaiserin von Saramyr erklomm die Brüstung an der Spitze des Turms des Ostwinds und schaute hinab auf ganz Axekami. Mühevoll richtete sie sich auf. Ihr besudeltes Nachtgewand wehte in der Brise, die sie liebkoste. 394 Tief und langsam holte sie Luft. So einfach ... es wäre so einfach, den Schmerz zu beenden. Dann folgte ein Windstoß, der ihr die Seide gegen die Haut drückte und ihr das frisch geschorene Haar aus dem Gesicht blies. Er roch nach Heimat, ein trockener Wüstenwind aus dem Osten. Plötzlich verspürte sie einen stechenden Schmerz, ein Sehnen nach den schlichten und riesigen Weiten von Tchom Rin, nach der Zeit, als sie noch keine Kaiserin gewesen war, als die Liebe sie weder berührt noch so grausam verwundet hatte. Als sie noch nicht gespürt hatte, wie das Kind in ihr starb. Und dieser Duft erfüllte sie mit einer anderen Entschlossenheit, stärkte ihr Innerstes. Es fühlte sich an wie der Odem der Göttin Suran, der ihr frische Kraft, neues Leben einhauchte. Warum sollte sie sich so wegwerfen? Wieso Mos gewinnen lassen? Vielleicht konnte sie die Qualen ja doch ertragen. Vielleicht konnte sie die Schande überleben. Sie konnte sich auf tausenderlei Weise an ihm rächen, konnte ihn das Unheil bereuen lassen, das er über sich gebracht hatte. Das Schlimmste, was er tun konnte, war, sie zu töten. Wenn ihr Vater den Krieg ausriefe, würde er sich um ihretwillen in eine nahezu hoffnungslose Schlacht werfen. Die Ehre würde es gebieten. All diese Leben. Wenn sie sich hingegen nun eines Besseren besonne, könnte sie Asara entsenden, um Reki einzuholen und ihn aufzuhalten. Sie könnte auf wirkungsvollere Weise Vergeltung üben. »Der Wind hat sich gedreht«, erklärte Laranya, nachdem sie eine ganze Weile kaum einen Fingerbreit von jenem entsetzlichen Abgrund entfernt gestanden hatte. »Zweifel?«, fragte Asara. 395 Mit abwesendem Blick nickte Laranya. »Das glaube ich nicht«, meinte Asara und stieß sie. Einen Moment wankte die Kaiserin von Saramyr, ein Moment blanker und überwältigender Ungläubigkeit, in dem die tausend Wege, die das Schicksal für sie bereithielt, bis auf eine einzige, tödliche Sackgasse auseinander fielen; dann stürzte sie hinaus in die finstere Nacht, und ihr Schrei gellte, bis sie auf dem Hof tief unten
einschlug. 396 DREIUNDZWANZIG 157 Meilen vom Turm des Ostwinds entfernt, von dem die Kaiserin fiel jagten Kaiku und Tsata im grünen Licht Neryns. Der Tkiurathi schlich im schattigen Schutz einer Reihe von Felsbrocken entlang, die Metzgerhaken locker in den Händen. Kaiku folgte ein gutes Stück hinter ihm; sie konnte sich nicht so schnell wie er und gleichzeitig leise bewegen. Die Mischung aus Furcht und Erregung, die Kaiku auf der Jagd verspürte, war mittlerweile berauschend geworden. Tagelang hatten sie sich auf ihre Schläue und ihr Geschick verlassen, um den Kreaturen einen Schritt voraus zu bleiben, die innerhalb der Schranke der Weber umherwandelten. Das lähmende Grauen, das sie zu Beginn erfasst hatte, war nach und nach gewichen, als sie den ausgebürtigen Raubtieren immer wieder entwischt waren - oder sie getötet hatten. Sie hatte gelernt, Vertrauen in Tsatas Fähigkeit zu fassen, sie am Leben zu halten, und sie hatte genug Vertrauen in sich selbst, um zu wissen, dass sie ihm keine Last dabei war. Das Schrillvieh befand sich irgendwo zu ihrer Rechten. Sie konnte hören, wie es leise trällerte, ein gurrender Laut wie jener einer Holztaube - sanft, beruhigend und im Widerspruch zu dem mächtigen Gebilde aus Zähnen, Muskeln und Sehnen, das ihn von sich gab. Um zu wissen, wovon sie sprachen, hatten Kaiku und Tsata begonnen, die verschiedenen Arten der Ausgeburten zu taufen. Bislang hatten sie fünf mit Namen versehen, 397 wodurch noch eine ungewisse Anzahl von Arten verblieb, die sie bislang nur flüchtig erspäht hatten. Neben den Knorpelkrähen und den Schrillviechern gab es die wilden Furien, die heimtückischen Skrendel und, am gefährlichsten von allen, die hünenhaften Ghauregs. Die letzten beiden hatte Tsata auf Okhambisch benannt. Die harschen, kehligen Silben schienen gut zu ihnen zu passen. Auf der anderen Seite der Felsblöcke durchschnitt ein schmaler Graben das steinige Gelände, übersät mit dornigen, von der Geißel entstellten Büschen und wucherndem Unkraut. Die Pfoten des Schrillviehs knirschten über lose Kiesel und Schiefer. Die gleichmäßigen, unbeschwerten Schritte störten Kaiku. Wie bei den anderen Kreaturen, auf die sie gestoßen waren, konnte sie das schaurige Gefühl nicht abschütteln, dass es Rundgänge lief. Es suchte nicht nach Nahrung oder kennzeichnete sein Gebiet oder folgte einer sonstigen, verständlichen tierischen Verhaltensweise, nein, es handelte wie eine Wache. Das Geschöpf lief langsam und wachsam, und Kaiku war sicher, würden sie es lange genug verfolgen, käme es an diese Stelle zurück, schritte denselben Pfad immer wieder ab, bis es auf die Überschwemmungsebene zurückkehrte und eine andere Ausgeburt an seiner statt auftauchte. Sie verhielten sich eindeutig nicht wie Tiere. Bei so vielen gewalttätigen Raubtieren auf engstem Raum müsste die Ebene eigentlich einem Schlachthaus gleichen. Stattdessen herrschte angespannter Friede wie zwischen Feinden, die Notwendigkeit zu Verbündeten werden ließ. Zwar brachen gelegentlich Rangeleien und Gezänk aus, doch nie mehr als ein wütendes Schnappen oder Kratzen, bevor die Streithähne sich zurückzogen. Dann waren da noch das vollkommen regelmäßige Flugmuster 398 der Knorpelkrähen tagsüber und die merkwürdig geregelten Wachgänge nachts. Hier ging zweifellos etwas Widernatürliches vor sich. In jener Nacht wollte Kaiku endgültig herausfinden, was es war. Sie hielt die Augen auf den verstohlenen Okhamber vor sich gerichtet. Wenn er so war wie jetzt, schien er selbst halb wie ein Tier zu sein, ein Wesen urtümlicher Kraft, das zu erschreckender Unbarmherzigkeit fähig war. Es war ein befremdliches zweites Gesicht des stillen und nachdenklichen Mannes mit seiner fremdartigen Denkweise. Ein kurzes Stück vor ihm ergoss sich ein diesiger Streifen fahlgrünen Mondlichts durch eine Kluft zwischen den Felsen. Er schaute zu ihr zurück und vollführte mit einem Arme eine Rauf-und-rüber-Geste. Kaiku begriff, was er meinte. Sie schob die Büchse zurecht, die an einem Riemen über ihren Rücken geschlungen war, und schmiegte sich an das dunkle Antlitz des Hindernisses zu ihrer Rechten. Kaiku lauschte: Das leise Trällern der Ausgeburt, das Knirschen ihrer Pfoten drangen zu ihr. Mit zielstrebigen Schritten lief es an der Stelle vorbei, an der Kaiku kauerte. Mit einer flinken Bewegung zog sie sich zur Kuppe der Felsreihe hoch und stemmte die Füße in die zerklüftete Flanke, um sich abzustützen. Dann schwang sie die Büchse vom Rücken und zielte in den Graben. Ihr Aufstieg war nicht so lautlos erfolgt, wie es ihr lieb gewesen wäre, doch es spielte keine besondere Rolle. Schrillviecher bestimmten ihre Umgebung auf dieselbe Weise wie Fledermäuse, nämlich indem sie eine Reihe verschiedenwelliger Schreie ausstießen, die von Sinnesdrüsen in ihrer Kehle wieder aufgenommen und sortiert wurden. Es machte sie zu außergewöhnlichen nächt399 liehen Jägern, hatte aber die Begleiterscheinung, dass ihr Wahrnehmungsfeld sich auf das beschränkte, was vor ihnen war. Kaiku hielt die Büchse unmittelbar auf die Kreatur gerichtet, doch sie schritt gleichmäßig von ihr weg den Graben entlang auf die Spalte in den Felsen zu, wo Tsata lauerte. Sie feuerte nicht. Während sie im Lichte Neryns kauerte und sich unangenehm ungeschützt fühlte, bewahrte sie
die Ruhe und zügelte ihren Finger am Abzug. Die Waffe war lediglich als Unterstützung da, sollte der schlimmste Fall eintreten. Der Knall einer Büchse würde alles und jeden im Umkreis von Meilen auf sie aufmerksam machen. Die Schrillviecher waren behände und tödliche Geschöpfe, eine Mischung aus Säugetier und Reptil, mit den vorteilhaftesten Eigenschaften. Ihre Größe, der Aufbau ihrer Knochen und ihre Bewegungen erinnerten an eine Großkatze, aber ihre Haut war mit einem natürlichen Panzer aus zähen, überlappenden Schuppen bedeckt. Die länglichen Schädel liefen zu einem langen, glatten Kamm zusammen. Die Oberkiefer waren lippenlos, starr und schnabelähnlich, doch darunter ragten aus dunkelrotem Zahnfleisch tödliche Hauer. Schrillviecher liefen auf allen vieren, wenngleich sie für kurze Zeit mit hilfe des Schwanzes auf zwei Beinen das Gleichgewicht zu halten vermochten, und die beiden Vorderpfoten waren jeweils mit einer übergroßen Klaue bewehrt, die Fleisch und Muskelmasse mühelos durchdrang. Sie waren geschickte Fleischfresser, die sich an die Spitze der rasch wechselnden Nahrungskette im verseuchten Gebiet des Tchamil-Gebirges gesetzt hatten, indem sie sich ihrer nächtlichen Wahrnehmungsfähigkeit bedienten, um Tiere aufzuspüren, die sich beim Klang ihres Gurrens versteckten. Schnell, zielgerichtet und tödlich. 400 Aber das galt auch für Tsata. Erwartete, bis die Kreatur an der Kluft vorbei war, eher er sprang. Bewegungen in so unmittelbarer Körpernähe wurden durch einen Umgebungssinn erfasst, und das Vieh krümmte den Rücken, um ihm mit weit aufgerissenen Kiefern entgegenzuschnellen. Doch Tsata hatte es vorausgesehen und schwang zur Seite, so dass die Zähne in der Luft zusammenschnappten. Er stieß ein Ende seines Metzgerhakens in den gestreckten Hals hinter dem Kamm. Zuckend bäumte die Kreatur sich auf, doch inzwischen hatte Tsata den eingesunkenen Metzgerhaken als Halt verwendet und sich auf den Rücken seines Gegners geschwungen, um die zweite Klinge in die andere Seite der Kehle zu bohren. Die Beine unter dem Schrillvieh knickten ein, und es warf sich hin und her, bevor Tsata beide Klingen durch die Halsmuskeln herausriss und dabei die Wirbelsäule durchtrennte. Eine Fontäne aus Blut und Rückenmark spritzte auf. Das Schrillvieh sackte leblos zusammen. Dann war alles vorüber. Kaiku kletterte von ihrer Stellung herab und huschte in den Graben. Tsata hatte die Metzgerhaken beiseite gelegt und den Kopf der Ausgeburt herumgedreht, damit der Kamm nicht im Weg war. Das Antlitz des Tkiurathi spiegelte sich im schwarzen Auge der Kreatur, während er zwischen den stoßweißen Blutschwallen herumtastete, die sich über den Hals ergossen. »Hast du es gefunden?«, fragte Kaiku, als sie ihn flinken Schrittes erreichte. Von seinen bloßen Armen und Händen troff giftiges Blut. »Hier«, sagte er. Kaiku begegnete seinem Blick. »Kannst du es tun?« »Ich muss es wagen«, antwortete sie. »Für den Pash.« Er grinste. »Eines Tages bringe ich dir bei, wie man dieses Wort richtig verwendet.« 401 Der flüchtige Augenblick der Kameradschaft war zu kurz, um ihn zu genießen. Sie legte die Hände zu den seinen und spürte die abstoßende Haut des schwarzen, wurmähnlichen Wesens am Halsbogen des Schrillviehs, unmittelbar oberhalb der Stelle, an der Tsatas Klingen zugestoßen hatten. Dies war die vierte Ausgeburt, die sie getötet hatten, und jedes Mal hatten sie eines dieser Übelkeit erregenden Dinger an derselben Stelle gefunden, tief im Fleisch verankert und tot. Dieses war noch am Leben, hatte allerdings nur noch kurze Zeit, denn sein Körper versagte, weil er nicht mehr von seinem Wirtstier versorgt wurde. Ihnen blieben nur wenige Augenblicke. Kaiku berührte es und öffnete das Geweb. Tsata beobachtete, wie ihre Augen sich blinzelnd schlössen. Der dunkle Strom des Blutes der Ausgeburt über ihre Handgelenke und Finger versiegte zu einem Rinnsal, da das Herz nicht mehr pumpte. Nachdem Kaiku eingetaucht war, konnte sie der Verbindung mühelos folgen. Das erlöschende Bewusstsein des Egelwesens glich einem Anker im Körper des ausgebürtigen Tieres. Kleine Ranken des Einflusses schrumpften zurück, als es starb, die Haken, die es in seinen Tod bringenden Wirt gegraben hatte; die stärkste Verbindung aber streckte sich quer über den Bruch, führte gleich einer Nabelschnur zu einem fernen Ziel. Kaiku ging ihr nach, und sie führte sie zu einem Knotenpunkt, an dem Dutzende ähnliche Verbindungen wie Bänder an einem Maibaum zusammenliefen und im Fluss des Gewebs wehten. Kaiku las die Fasern, und dann dämmerten ihr die Antworten. Der Knotenpunkt war einer jener großen, schwarz gewandeten Fremden. Sie waren keine Weber, denn sie 402 konnten nicht ins Geweb eingreifen. Vielmehr waren sie die Hände, die eine Vielzahl von Leinen hielten, und die Leinen waren über jene abscheulichen Kreaturen an den Ausgeburten angebracht. Sie waren gleichsam die Hirten. So beherrschten sie die Ausgeburten, erkannte Kaiku. Vorsichtig tastete sie sich weiter. Sie war nicht sicher, in welchem Ausmaß die Verbindung wirkte: Wussten die Hirten, was die Ausgeburten wussten? Sahen sie durch die Augen der Kreaturen? Nein, bestimmt nicht, denn wäre der Verstand eines Hirten mit jenem seiner Tiere verbunden, wussten sie von Tsatas und Kaikus Überfällen. Zuckend öffneten sich ihre Augen, und die Netzhäute schillerten blutrot. Sie wich von der Ausgeburt zurück.
»Genau wie wir dachten«, murmelte sie. Ihr Blick suchte Tsatas Augen. »Wir sollten gehen. Sie werden kommen.« Die beiden stahlen sich den Graben entlang davon und verschwanden in den Schatten. Tsata lief mit geübter Mühelosigkeit voraus; Kaiku folgte ihm, achtete wachsam auf Anzeichen von Gefahr. In der Ferne hatte ein Winseln und Heulen eingesetzt, doch bis die anderen Ausgeburten am Schauplatz des Todes eintrafen, waren die Übeltäter längst entflohen. Kaikus Augen wanderten zu der Maske, die neben ihr auf dem Boden lag. Tsata, der ein Stück abseits auf der Lichtung kauerte, bemerkte den Blick. »Sie macht dir zu schaffen«, meinte er leise. »Nicht wahr?« Kaiku nickte freudlos. Sie ergriff ihr Bündel und warf 403 es auf die Maske, um die höhnische Fratze zu verbergen. Die Nacht war warm, aber eine kühlere Brise kündigte das Versprechen des fernen Winters an. Chikkikii zirpten und knackten aus der Dunkelheit wie Zweige in einem Feuer, veranstalteten einen abgehackten Trommelwirbel, indem sie ihre starren Deckflügel aneinander klickten, besorgten den Hintergrund für das melodische Piepsen anderer nächtlicher Insekten und das gelegentliche Rufen eines Baumbewohners. Neryns glattes Antlitz schimmerte durch das sanft wogende Geflecht der Blätter über ihnen, spendete der kleinen Lichtung friedvolles Licht, strich verspielt über die Schnörkel zäher, aus der Erde ragender Wurzeln und die Gewächse und das Unkraut. Ein Grüppchen Mondblumen mit zu traumseligen, grauen Sternen geöffneten Blüten nickte träge in der Brise, reckte die Köpfe dem lebensspendenden Schein entgegen. Die Lichtung lag außerhalb der Schranke der Irreleitung der Weber, eine Meile östlich der Stelle, wo sie begann. Sie rasteten nie innerhalb des Gefahrenbereichs, erst recht nicht nun, da der Feind auf der Hut war. Seit der erste ausgebürtige Wächter sie überrascht hatte und sie gezwungen gewesen waren, ihn zu töten, hatten die Wachgänge sich vermehrt, und die Knorpelkrähen kreisten bei Tageslicht ohne Unterlass über den Himmel. Bei jenem ersten Aufeinanderprallen waren sie nur um Haaresbreite entkommen, denn sie hatten kostbare Zeit damit vergeudet, das sonderbare, schleimige Ding am Hals des Wächters zu begutachten, und nur Tsatas Gespür hatte sie rechtzeitig gewarnt, um einem Dutzend weiterer Ausgeburten zu entwischen, die angerannt gekommen waren. Was ihnen ein weiteres Rätsel aufgegeben hatte: Woher wussten die Kreaturen, dass eine ihrer Art gestorben war? 404 Seither musste Kaiku sie mehr als einmal vor der böswilligen Aufmerksamkeit eines Webers abschirmen, indem sie Tsata und sich verbarg, als eine unsichtbare Wesenheit auf der Suche nach den geheimnisvollen Eindringlingen über das Gebiet fegte. Die Weber vermuteten, dass etwas nicht stimmte; nach den erhöhten Sicherheitsmaßnahmen zu urteilen, hatte der gelegentliche Tod einer ihrer Kreaturen für einige Aufregung gesorgt, doch sie konnten die Ursache der Störung nicht finden. Ihre Denkweise war zu engstirnig. Sie gingen wohl davon aus, ein verirrter Stammeskrieger von irgendwo im Bruch wäre irgendwie in den geschützten Bereich gelangt, wäre nun darin gefangen und bereitete ihnen kleinere Unannehmlichkeiten. Der Umstand, jemand könnte frei durch ihre Schranke gehen, war ihnen nicht in den Sinn gekommen, weshalb sie nie außerhalb suchten. Auch die Ausgeburten überschritten jene Grenze nie. Kaiku und Tsata nutzten diesen Vorteil, um vergleichsweise sicher zu schlafen und Pläne zu schmieden. »Ich wünsche, mich zu entschuldigen«, erklärte Tsata ohne Vorwarnung. »Ja?«, fragte Kaiku ein wenig neugierig. »Mein Urteil über dich war wenig vorteilhaft«, sagte er. Der Tkiurathi wechselte die Stellung und nahm eine bequemere Haltung mit untergeschlagenen Beinen ein; es war einer der wenigen Gebräuche, die Saramyr und Okhamba gemein hatten. »Das hatte ich schon längst vergessen«, log Kaiku, doch Tsata kannte die Eigenarten ihres Volkes gut genug, um sich nicht täuschen zu lassen. »Unter den Tkiurathi ist es nötig zu sagen, was wir denken«, erklärte er. »Da wir Dinge nicht besitzen, da unsere 405 Gemeinschaft auf Teilen beruht, ist es nicht gut, etwas in uns zu verschließen. Wenn es uns widerstrebt, dass jemand bei jeder Mahlzeit zu viel Essen nimmt, dann sagen wir es ihm; wir lassen es nicht schwelen. Unser Gleichgewicht wird durch die Billigung oder Missbilligung des Pash gewahrt, und daraus bestimmen wir das gemeinsame Wohl.« Kaikus dunkelrote Augen musterten ihn unverwandt. »Ich habe gesagt, dass du dieses Unterfangen aus selbstsüchtigen Gründen aufgenommen hast, und das stimmt noch immer«, fuhr er fort. »Aber wie du das Unterfangen verfolgst, ist selbstlos. Du bringst zahlreiche Opfer und verlangst von niemandem etwas, das du nicht selbst tun würdest. Ich bewundere das. Es widerspricht meiner bisherigen Erfahrung mit dem Volk von Saramyr.« Kaiku wusste nicht recht, ob sie sich nun geehrt oder beleidigt fühlen sollte, denn er hatte sie gelobt und gleichzeitig ihre Landsleute verhöhnt. Sie beschloss, es versöhnlich aufzunehmen. »Du bist rücksichtslos offen und ehrlich mit deinen Ansichten«, stellte sie mit einem müden Lächeln fest. »Es dauert ein Weilchen, sich daran zu gewöhnen. Trotzdem war ich nicht beleidigt wegen dem, was du gesagt hast.«
Was er von dieser Äußerung hielt, ließ sich in seinen Zügen nicht ablesen. Eine Zeit lang musterte sie ihn. Mittlerweile war er ihr recht vertraut geworden, vom mit Saft gestärkten, orangeblonden Haar, das er streng über den Schädel zurückgeklatscht trug, bis hin zur ungewöhnlichen Blässe seiner Haut und den Wirbeln der Tätowierungen, die sich von seinem Gesicht über die nackten Arme bis zu den Fingerspitzen erstreckten. Er 406 wirkte nicht mehr fremdartig, sondern nur noch seltsam, so wie Lucia seltsam war. Die Sprache jedenfalls behinderte ihn gewiss nicht. Seit seiner Ankunft an den Gestaden ihrer Heimat hatte er sich verbessert, und nun war sein Saramyrrisch so gut wie fehlerlos. Tatsächlich konnte er sich bemerkenswert gewählt ausdrücken, wenn ihm danach war. »Was denkst du von uns, Tsata?«, wollte sie von ihm wissen. »Von Ausgeburten wie mir?« Tsata ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. »Nichts«, antwortete er schließlich. »Nichts?« »Niemand kann die Umstände seiner Geburt beeinflussen«, führte er weiter aus. »Ein starker Mann mag als starkes Kind geboren werden, mag seinen Freunden beim Rangeln oder Steine heben immer überlegen sein. Aber wenn er nur seine Kraft einsetzt, wenn er sich allein darauf verlässt, um geachtet zu werden, wird er in anderer Hinsicht versagen. Wir sollten nur nach dem beurteilt werden, wie wir das, was uns gegeben ist, einsetzen, oder das, womit wir geschlagen sind, überwinden.« Kaiku seufzte. »Deine Ansichten sind so einfach, so klar«, meinte sie. »Und doch halten hehre Leitsätze der Wirklichkeit nicht immer stand. Ich wünschte, das Leben wäre tatsächlich so einfach.« »Ihr" habt es selbst schwierig gestaltet«, erwiderte Tsata. »Durch Geld, Besitz und Gesetze. Ihr strebt nach Dingen, die ihr nicht braucht, und es macht euch neidisch, verdrießlich und habgierig.« »Aber durch diese Dinge gibt es Heilmittel, Kunst, Philosophie«, hielt Kaiku dem entgegen. »Überwiegen die Übel in unserer Gesellschaft, die wir erdulden müssen, denn wirklich den Vorteil, dass wir in der Lage sind, Seu407 chen zu heilen, die weniger entwickelte Kulturen wie die deine an den Rand der Ausrottung bringen würden?« Sie wusste, dass er dies nicht als Herabsetzung empfinden würde; tatsächlich hatte sie einen Teil seines mangelnden Feingefühls bei der Wortwahl angenommen, denn noch vor wenigen Tagen hätte sie wesentlich behutsamer ausgedrückt, was sie meinte. »Euer eigener Gelehrter Jujanchi vertritt die Meinung, dass die Überlebenden einer solchen Seuche diejenigen wären, die am besten geeignet sind, die Rasse fortzuführen«, warf Tsata ein. »Dass eure Göttin Enyu die Schwachen aussortiert.« »Aber dadurch ließe man die Auslese von den Launen der Natur treffen«, schoss Kaiku zurück. »Ihr lebt im Wald und lasst euch von ihm so beherrschen, wie er die Tiere beherrscht. Wir hingegen beherrschen dieses Land.« »Nein, ihr habt es euch unterjocht«, widersprach er. »Mehr noch, ihr habt es von den Ugati geraubt, die nach euren eigenen Gesetzen das Recht hatten, hier zu sein. Euer eigenes Land hat euch nicht gefallen, also habt ihr euch ein anderes genommen.« »Und unterwegs haben wir in Okhamba angehalten, woraus die Tkiurathi entstanden sind«, erinnerte sie ihn. »Du kannst mir keine Schuldgefühle für das einreden, was meine Ahnen getan haben. Du hast selbst gesagt: Wir können die Umstände unserer Geburt nicht beeinflussen.« »Ich verlange auch nicht, dass du dich schuldig fühlst«, gab er zurück. »Ich halte dir nur den Preis für eure >entwickelte< Kultur vor Augen. Ihr vergesst die Lehren der Vergangenheit, weil sie schwer verdaulich sind, so wie eure adeligen Familien über den Schaden hinwegsehen, den die Weber eurem Land zufügen.« 408 Kaiku war still, lauschte den nächtlichen Geräuschen und überlegte. Ihr Streitgespräch verlief keineswegs hitzig. Sie war längst darüber hinaus, sich verpflichtet zu fühlen, Saramyr zu verteidigen, zumal sie von ihrer Kultur aufgrund ihrer Ausgebürtigkeit vor geraumer Zeit geächtet worden war. Es war nur äußerst hörenswert, wie jemand eine Lebensweise, die für sie stets selbstverständlich gewesen war, so nüchtern und unvorteilhaft zerlegte und beurteilte. Sie war neugierig auf seine Sicht der Dinge, und sie hatten sich in den letzten paar Tagen oft über die Unterschiede zwischen sich unterhalten. Von einigen Sitten und Gebräuchen der Tkiurathi konnte sie unmöglich glauben, dass sie sich im wahren Leben umsetzen ließen, andere waren ihr schlichtweg unverständlich; doch sie hatten auch zahlreiche sehr vernünftige und sogar beneidenswerte Seiten. Nun war es an der Zeit, sich unmittelbareren Sorgen zu widmen. Sie schob sich die Strähne aus dem Gesicht und verfiel in einen bestimmteren Tonfall. »Es besteht kein Zweifel mehr«, begann sie. »Die Weber sind in der Lage, die Ausgeburten zu beherrschen. Wir wissen zwar nicht genau wie, aber es hat mit den Kreaturen zu tun, die wir im Nacken der Ausgeburt gefunden haben.« Müde streckte sie die Schultern. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass jede Ausgeburt dort unten mit einem solchen Ding versehen ist.« »Und inzwischen wissen wir auch, dass es nicht die Weber sind, die sie lenken«, fügte Tsata hinzu. »Sondern die anderen Maskierten.« »Wenigstens darauf können wir uns stützen«, meinte sie und kratzte am Schlamm an ihrem Stiefel. »Was tun wir als Nächstes?«
»Wir müssen die Lücken in unserem Wissen füllen«, 409 antwortete Tsata. »Wir müssen eine der schwarz gekleideten Gestalten töten.« Der nächste Tag dämmerte rot und blieb bis in den späten Vormittag hinein in dieser Farbe. Die Geschichte sollte später zu berichten wissen, dass der Surananyi nach Kaiserin Laranyas Tod drei Tage lang in Tchom Rin wütete, nachdem er unerwartet und ohne Vorwarnung aufgekeimt war. Windhosen und Sandstürme tobten durch die Wüsten im Osten, und der Staub stieg gleich einer Wolke über die Berge empor, um Nukis Auge blutrot zu färben. Später, nachdem die Kunde vom traurigen Freitod Laranyas sich über das Reich ausgebreitet hatte, sollte es heißen, der Sturm wäre Ausdruck des Zorns der Göttin Suran über den Tod einer ihrer geliebtesten Töchter, und Mos wäre auf ewig verdammt in ihren Augen. Doch abgesehen von einem ungewissen Unbehagen, das sich an jenem Morgen in ihren Knochen festsetzte und anhielt, bis der Surananyi verebbt war, wusste Lucia von alledem nichts. Sie hockte an einem steinigen Bach an der Nordseite des Tals, das den Schoß beherbergte, schaute nach Osten und vermeinte, aus der Ferne das wutentbrannte und gemarterte Geheul einer überirdischen Stimme zu vernehmen. Flen saß neben ihr. Er war groß für sein Alter und wirkte ob des jähen Wachstumsschubs schlaksig. Er besaß einen Schopf dunkelbraunen Haares, das ihm lose in die Augen hing, und ein flinkes, ehrliches Lächeln. An diesem Morgen hatte er es noch nicht oft gezeigt. Lucia hatte sich verändert. Von der Reise nach Alskain Mar hatte sie ihm erst nach der Rückkehr erzählt, und selbst dann nur mit 410 sehr knappen Worten. Natürlich hielt ihn keiner der Erwachsenen für wichtig genug, um es ihm zu erzählen, aber es war Lucias Entscheidung, es für sich zu behalten, die ihn schmerzte. Was keine Überraschung darstellte: Nichts, was Lucia tat, war wirklich ungewöhnlich, denn sie schien stets in anderen Gefilden als ihre Mitmenschen zu wandeln, was sie zugleich seltsam und anziehend machte. Was Flen zutiefst beunruhigte, war vielmehr, dass sie nun so anders war, und er fürchtete, sie könnte sich noch weiter in ihre eigene Welt zurückziehen. Es war nichts, was er zu beschreiben vermochte hätte; nur ein Gefühl, eine jener Eingebungen, die Halbwüchsige den Weg durch das Erwachsenwerden geleiteten. Wie die heimliche, verbotene Selbstsicherheit, die Unerfahrene unbewusst nach dem Abschütteln der Jungfräulichkeit annahmen; wie die ständig wechselnde Rangordnung von Freundschaften, Anführern und Sündenböcken, der sich Heranreifende wie selbstverständlich fügten, ohne zu wissen, wer ihnen die Regeln auferlegt hatte oder dass sie überhaupt Regeln folgten. Jedenfalls lag in ihren blassblauen Augen nun eine bisher ungekannte Ferne. Etwas war abgestreift worden, und darunter war eine neue Haut gewachsen; etwas war verloren, etwas anderes erlangt worden. Sie hatte mit einem Wesen Verbindung aufgenommen, das eine winzige Stufe unterhalb einer Gottheit anzusiedeln war. Sie war gestorben, wenngleich nur kurz, und es hatte ihre Sichtweise verlagert. Lucia schien gealtert - nicht äußerlich, sondern in der Wahl ihrer Antworten und ihres Tonfalls. Und Flen konnte nur daran denken, dass er im Begriff war, seine beste Freundin zu verlieren und wie ungerecht er das empfand. Eine lange Weile saßen sie an einen Felsbrocken 411 gelehnt Seite an Seite am Ufer des steinigen Baches. Rings um sie wuchs hohes Gras, das sie in den Kniekehlen kitzelte. Der Bach plätscherte durch eine Hindernisbahn aus Steinbrocken vom Rand des Tals, und Libellen schwirrten durch die Luft, huschten in ruckartigem Flug umher und schwebten vor ihren Gesichtern. Der Himmel war rosa, und den gestuften Ebenen der Häuser zu ihrer Rechten haftete in jenem Licht etwas Düsteres, Unheilvolles an. Unter ihnen graste auf dem Talboden eine Banathi-Herde, über die ein Dutzend Männer und Frauen hoch zu Ross wachten. Flen beobachtete, wie die Banathi träge umherschlurften und mit den breiten, ledrigen Mäulern das Gras rupften. Es waren riesige, aber sanftmütige Geschöpfe, die allein dafür bestimmt schienen, Raubtieren als Nahrung zu dienen. Obwohl die Bullen mächtige, gekrümmte Hörner besaßen, setzten sie diese nur während der Paarungszeit ein, wenn sie um die Kühe stritten. Zu Urzeiten waren sie wild über die Ebenen gestreift; nun wurden sie nahezu ausschließlich für ihr Fleisch und ihre Milch gezüchtet. Flen grübelte gerade über das Los der Banathi nach, als Lucia endlich zu reden begann. Er hatte gewusst, dass sie es früher oder später tun würde. »Verzeih mir«, sagte sie leise. Flen zuckte mit den Schultern. »Tu ich doch immer«, gab er zurück. Sie ergriff seinen Arm und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich weiß, was du denkst. Dass die Dinge jetzt anders sind.« »Und sind sie es?« »Nicht zwischen uns«, antwortete sie. Flen wechselte die Haltung, so dass sie es beide gemütlicher hatten. Er hatte knochige Schultern. 412 »Aber du musst mich verstehen«, fuhr sie fort. »Es gibt Dinge, die ich nicht erklären kann. Für die es keine Worte gibt.«
»Du lebst an einem anderen Ort als ich«, meinte er. »Es ist, als ob ... du hinter einer Tür lebst, und ich kann nur durch die Spalten entlang der Ränder lugen. Du siehst, was in dem Raum ist, ich hingegen kann nur flüchtige Eindrücke erhaschen. So ist es schon immer gewesen.« Er legte eine Hand auf ihren dünnen Unterarm, ihr zierliches Handgelenk. »Du bist allein, und alle anderen sind ausgesperrt.« Lucia lächelte ein wenig. Es sah Flen ähnlich, ihre Entschuldigung so umzudrehen, dass es schien, als sei sie es, die Mitgefühl verdiente. Sie setzte sich wieder auf. »Ich sollte dir das eigentlich nicht erzählen...«, setzte sie mit leiser werdender Stimme an. »Trotzdem tust du's«, grinste er. »Das ist sehr wichtig, Flen«, erklärte sie. »Du darfst es niemandem weitererzählen.« »Habe ich das denn jemals?«, fragte er, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Lucia musterte ihn einen Augenblick. Sie besaß die unheimliche Gabe, in Menschen zu lesen; doch es war unnötig, an ihm zu zweifeln. Sie wusste, dass Flen sie für den wichtigsten Menschen hielt, der auf Erden wandelte, und zwar nicht aufgrund der Erwartung, sie würde das Land heilen oder über das Reich herrschen, sondern nur deshalb, weil sie seine beste Freundin war. Dennoch gab es an ihm etwas, das sie sich nie recht zusammenreimen konnte: Warum wollte er bei ihr sein? Nicht dass sie sich unbeliebt wähnte; im Gegenteil, sie hatte einen breiten Freundeskreis, der sich ohne großes Zutun ihrerseits um sie scharte, bedingt durch eine 413 Anziehungskraft ihrer Persönlichkeit, die sie eigentlich nicht verstand, zumal sie beileibe nicht besonders lebhaft oder gesellig war. Aber Flen war seit dem Tag, an dem sie sich begegnet waren, praktisch untrennbar von ihr. Er hatte sie stets vor allen anderen aufgesucht, zeigte seit jeher eine schier endlose Geduld für ihre Eigenheiten. Lange Zeit hatte sie ihm so gut wie nichts zurückgegeben. Sie genoss seine Gesellschaft und gestattete ihm, bei ihr zu sein, aber sie lebte in einer eigenen Welt und hatte gelernt, dass es nutzlos war, jemanden dorthin einzuladen. Dennoch war er geblieben. Er war selbst ein beliebter Junge, und sie fragte sich oft, weshalb er seine Zeit nicht mit jemandem verbrachte, der ihn weniger Mühe kostete; doch sie hatte für ihn immer Vorrang gehabt, und allmählich, ganz allmählich, gewöhnte sie sich an ihn. Von all den Menschen, die sie je gekannt hatte, war nie jemand so nahe wie er daran gewesen, sie zu verstehen, und dafür liebte sie ihn. Sie liebte sein argloses, selbstloses Herz und seine Ehrlichkeit. Obwohl sie ein merkwürdiges Paar abgaben, verband sie eine so reine Freundschaft, wie sie nur möglich ist, bevor die Begleitumstände des Erwachsenseins sie verderben. »Ich werde dir anvertrauen, was ich in Alskain Mar erfahren habe«, offenbarte sie ihm. »Bei den Geistern, ich dachte schon, du rückst gar nicht mehr damit heraus«, antwortete Flen schelmisch. Lucia lachte nicht. Sie lächelte nicht einmal, aber sie wusste, dass es seine Art war, Witze zu reißen, wenn er unruhig oder verunsichert war, und plötzlich war er beides. Lucias Miene blieb ernst. Sie besann sich des Grauens in Zaelis' Zügen und der Kälte in Cailins Augen, als sie ihnen die Dinge mitteilte, die der Geist ihr gezeigt hatte. 414 »Vielleicht ist erfahren der falsche Ausdruck«, berichtigte sie sich. Ich habe es nicht in dem Sinn erfahren, als hätte mir jemand etwas gesagt oder beigebracht. Es war vielmehr ... es war, als würde ich mich gleichzeitig erinnern und in die Zukunft blicken, in eine Zukunft, die bereits vergangen war. Anfangs war es schwierig zu verstehen ... es ist noch immer schwierig für mich, darüber nachzudenken. Die Dinge, die ich jetzt weiß, sind nicht klar.« Sie schaute zu Boden und begann, mit einem Grashalm zu spielen. »Es war, als hielte ich mich an der Flosse eines Wals fest, der tief zu den Wundern am Grund des Meeres mit mir hinabgetaucht ist. Nur können unsere Augen unter Wasser nicht scharf sehen, deshalb ist alles verschwommen. Man kann den Mund nicht öffnen, um zu sprechen. Und früher oder später fällt einem ein, dass der Wal nicht so oft atmen muss wie man selbst.« »Was hat er dir gezeigt?« »Er hat mir die Hexensteine gezeigt«, antwortete sie, und plötzlich wirkte ihr Blick gehetzt. Als sie eine Weile nicht fortfuhr, half Flen ihr auf die Sprünge: »Und was hast du gesehen?« Sie schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie verleugnen, was sie auf der Zunge hatte. »Flen, ich bin Teil von etwas wesentlich Größerem, als irgendjemand dachte«, flüsterte sie. Sie drückte seine Hände und schaute ihm unmittelbar in die Augen. »Das sind wir alle. Es geht nicht nur um ein Kaiserreich; nicht darum, wer auf dem Thron sitzt, ganz gleich, wie viele Tausende Leben auf dem Spiel stehen. Das Goldene Reich beobachtet uns mit größter Aufmerksamkeit, und die Götter selbst haben die Hände im Spiel.« »Soll das heißen, dass die Götter die Dinge lenken?«, fragte Flen, dem es nicht gelang, einen Hauch von Argwohn aus der Stimme zu bannen. 415 »Nein, nein«, widersprach Lucia. »Die Götter lenken die Dinge nicht. Sie bedienen sich feinerer Mittel, beugen den Willen ihrer Gläubigen durch Avatare und Omen, damit sie ihr Werk verrichten. Es gibt keine Vorherbestimmung, kein Schicksal. Wir alle haben unsere Entscheidungen zu treffen. Wir sind es, die unsere Schlachten schlagen.« »Was also ...«
»Kaiku meinte immer, die Hexensteine wären lebendig, aber sie hatte nur halb Recht«, erklärte Lucia mit für sie unüblicher Eile. Die Worte flössen nur so aus ihr heraus, und sie konnte sie nicht aufhalten. »Sie sind nicht nur lebendig, sie haben ein Bewusstsein Nicht wie die Geister der Steine in der Erde; nicht wie die schlichten Gedanken der Bäume. Sie sind klug und böse und werden es mit jedem Tag ein wenig mehr.« Flen wusste nicht, ob er all das glauben sollte, doch er hatte keine Gelegenheit, sich zu entscheiden. »Die Weber sind gar nicht unsere eigentlichen Feinde, Flen!«, schrie Lucia, deren Antlitz in der staubverhangenen Morgensonne unnatürlich rot schimmerte. »Sie halten sich selbst für die Puppenspieler, dabei sind sie nur die Puppen. Sklaven der Hexensteine.« »Das ist-«, setzte Flen an, aber Lucia schnitt ihm abermals das Wort ab. »Lass mich ausreden!«, herrschte sie ihn an, und Flen verstummte bestürzt. Zum ersten Mal begann er das Ausmaß von Lucias Grauen darob zu begreifen, was sie in Alskain Mar herausgefunden hatte. »Die Hexensteine benutzen die Weber. Sie lassen sie glauben, dass sie ihrem eigenen Plan folgen, aber kein Weber weiß, wer diesen Plan eigentlich vorgibt; sie halten ihn für einen Teil eines Gemeinschaftsbewusstseins. Und dieses Bewusstsein ist der Wille der Hexensteine. Die Weber sind nur die Fuß416 soldaten. Sie sind Süchtige, gefangen durch ihre Abhängigkeit vom Hexensteinstaub in ihren Masken, und sie wissen nicht einmal, dass sie sich einem höheren Herrn unterwerfen, indem sie ihre Macht erlangen.« Lucia sah sich um, als fürchtete sie, jemand könnte sie belauschen; und tatsächlich schien es so, denn die Libellen waren verstummt und von dannen geflogen, der Wind war abgeflaut. »Der erste Hexenstein, jener unter Adderach ... er hat die Bergarbeiter umgarnt, die ihn fanden. Damals war er noch schwach, da er Tausende Jahre gehungert hatte, sie aber waren noch schwächer. Von einer Eingebung angetrieben, die sie nicht verstehen konnten, nahmen sie den Staub. Auf dieselbe Weise haben sie gelernt, ihn mit Blut zu nähren. Der Stein wuchs, und damit auch seine Macht, und er sandte die Weber in die Welt hinaus, damit sie ihm als Augen, Ohren und Hände dienten. Er hat sie geschickt, um weitere Hexensteine zu finden.« »Aber was sind die Hexensteine?«, fragte Flen. »Die Antworten waren vor unseren Augen, aber niemand wollte sie glauben«, flüsterte Lucia. »Selbst ich hätte sie nicht geglaubt, aber was der Geist von Alskain Mar mir gezeigt hat, war mehr als Wahrheit oder Lügen, Tatsachen oder Einbildung. Sogar jener Geist war nicht alt genug, um bezeugt zu haben, was vor all der Zeit geschah, doch er hat mir berichtet, was er wusste.« Sie schloss die Augen, presste sie fest zusammen, und als sie weiterredete, bediente sie sich einer förmlicheren Sprechweise, die verwendet wurde, wenn man unmittelbar auf die Götter Bezug nahm. »Die Götter fochten in einem Zeitalter, als die Menschheit noch kaum der Wiege entschlüpft war. In jener Zeit also führte die Wesenheit, die wir Aricarat nennen, jüngster Spross von Assantua und Jurani, im Goldenen 417 Reich Krieg, aus Gründen, die der Geschichte nicht mehr bekannt sind. Beinahe hätte er Ocha höchstpersönlich gestürzt, doch bei einem letzten Gefecht führten seine eigenen Eltern eine Armee an und metzelten ihn im Zuge einer Schlacht, die den Himmel zerriss. Bei seinem Tod wurde seine Erscheinungsform auf dem Bildteppich der Welt zerstört - der vierte Mond, der seinen Namen trug -, und Brocken des Mondes prasselten bei der Katastrophe, von der Saran uns berichtet hat, auf die Erde herab.« Sie drückte seine Hände fester. »Aber er war nicht tot«, flüsterte sie. »Nicht solange ein Teil von ihm auf dem Bildteppich verblieb ... in unserer Welt. Der Mond hagelte in Teilen herab, und einige dieser Teile haben überlebt. In jedem davon ist ein winziges Bruchstück von Aricarats Geist erhalten. Schlummernd.« »Bruchstücke?« Lucia nickte, ließ seine Hände los und hob den Kopf. »Bruchstücke eines zerschmetterten Gottes. Tausende Jahre haben sie in der Erde gelegen, bis durch Zufall eines davon an der Stelle entdeckt wurde, an der heute Adderach steht. Nun verwendet es die Weber, um andere Bruchstücke aufzuspüren, sie freizulegen, sie mit Blutopfern zu erwecken. Sie sind miteinander verbunden, so wie die Weber, wie ein Netz. Jeder Stein, den sie ausgraben, macht die Gesamtheit stärker; jeder verleiht den Webern mehr Macht. Die Hexensteine sind die geborstenen Teile Aricarats; und jeder Teil, den sie retten, führt einen Schritt näher zu einer Wiederauferstehung.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Stimme wurde leise und furchtsam. »Er ist so wütend, Flen. Ich habe seinen Zorn gespürt. Im Augenblick ist er noch schwach, machtlos; trotzdem lodert sein Hass so grell. Er wird dieses Land beherrschen, und er wird alle Länder beherrschen. Und sobald genügend 418 Hexensteine erweckt sind, wird er zurückkehren und Vergeltung üben.« Flen wusste nichts darauf zu erwidern. Das blutige Licht von Nukis Auge wirkte unheilvoll, tauchte das Tal in Farbtöne der Angst. »Seine Macht wirkt bereits gegen Enyu und ihre Kinder, die Götter und Göttinnen alles Natürlichen«, fuhr Lucia fort. »Allein sein Dasein vergiftet das Land, entstellt die Tiere und Menschen, die von den Ernten essen. Wenn er hier gewinnt, wird er die Schlacht ins Goldene Reich verlagern und gegen die Götter selbst kämpfen. Deshalb müssen wir ihn aufhalten. Wenn wir die Weber und die Hexensteine nicht jetzt zerstören, werden sie die gesamte Welt wie ein Leichentuch umhüllen. Und das wird erst der Anfang sein.«
Eine Träne löste sich von ihrem Auge und kullerte ihr über die Wange hinab. »Es ist ein neuer Krieg der Götter, der hier in Saramyr tobt. Und die gesamte Schöpfung steht auf dem Spiel.« 419 VIERUNDZWANZIG Über Zila verhüllten graue Wolken den Himmel und verwandelten den mittäglichen Sonnenschein in einen gedämpften, stählernen Schimmer. Ein Reiter im Livree des Geblüts Vinaxis verließ die Stadt durch das mächtige Südtor und hielt den Hügel hinab auf die dort wartenden Ränge der Truppen zu, zwischen denen hohe Belagerungstürme aufragten. Hinter ihm schloss sich geräuschvoll das Tor. Xejen beobachtete vom Fenster seiner Kammer, wie er von dannen zog. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und klopfte sich unruhig mit den Fingerspitzen auf die Knöchel. Als der Reiter außer Sicht war, schwang er zu Bakkara herum, der sich an der Wange kratzte. Mishani lehnte sich auf einem Sofa zurück. Ihr Haar ergoss sich über ihre Schulter, ihre Augen verrieten nichts. »Was denkt ihr?«, fragte Xejen alle beide. Bakkara zuckte mit den Schultern. »Was macht es für einen Unterschied? Sie werden uns ohnehin angreifen, ob wir ihnen nun eine >Geste des guten Willens< gewähren oder nicht. Die wollen sich bloß die Peinlichkeit ersparen, sich mit einem Rudel geringerer Adelsfamilien herumschlagen zu müssen, die ihnen zürnen würden, sollten ihre Söhne und Töchter bei der Befreiung getötet werden.« »Befreiung?«, höhnte Xejen mit einem schrillen Lachen. »Bei den Geistern, du hörst dich an, als wärst du auf ihrer Seite.« 420 Abermals zuckte Bakkara mit den Schultern. »Wenn sie gewinnen, werden sie es als Befreiung bezeichnen«, gab er nüchtern zurück. »Außerdem, haben wir denn eine Wahl? Geiseln können wir ihnen wohl kaum schicken. Um die hat sich die aufgebrachte Menge gekümmert, als wir die Stadt übernommen haben.« »Mit dieser Neuigkeit werdet ihr wenig Freunde gewinnen«, gab Mishani zu bedenken. »Also weigern wir uns einfach«, schloss Xejen und schnippte mit den Fingern. »Lassen wir sie glauben, wir hätten Geiseln. Wie du sagst, angreifen werden sie uns früher oder später ohnedies. Aber im Gegensatz zu dir habe ich Vertrauen in Zilas Mauern.« Er beendete seine Ausführungen mit einem scharfen Blick zu dem angegrauten Soldaten. »Davon würde ich abraten«, meldete Mishani sich zu Wort. »Durch eine unverhohlene Weigerung werden sie denken, Ihr wärt stur und zu keinen Unterredungen bereit. Das nächste Mal werden sie sich die Mühe sparen. Und falls die Dinge sich anders als geplant entwickeln, müsst Ihr vielleicht doch auf Verhandlungen ausweichen.« Bakkara unterdrückte ein Lächeln. Für ein so zierliches und anmutiges Geschöpf war sie bemerkenswert selbstsicher. Es war ein Beweis ihres politischen Geschicks, dass sie sich im Verlauf der letzten paar Tage zu Xejens Hauptberaterin gemausert hatte, ohne ihm je eine klare Antwort darauf gegeben zu haben, ob sie ihre Unterstützung für die Ais Maraxa erklären würde oder nicht. Xejen trachtete geradezu Mitleid erregend nach ihrer Hilfe, nach Bakkaras Hilfe, nach jedermanns Hilfe, der entschlussfreudiger war als er selbst. In Belangen, die Lucia betrafen, war sein Verstand messerscharf, klar und unbeugsam; doch nachdem er nun eine Stadt 421 gleichsam erobert hatte, erschien er unsicher, was er damit anfangen sollte. Er mochte ein überzeugender Aufwiegler sein, doch von militärischen Angelegenheiten verstand er nicht das Geringste, weshalb er das meiste Bakkara überließ, den er nach dem Aufstand in Zila zu seinem Stellvertreter ernannt hatte. »Was also würdet Ihr tun, Fürstin Mishani?«, fragte Bakkara übertrieben ehrfürchtig. Mishani schenkte dem Tonfall keine Beachtung. »Schickt ihnen Chien«, schlug sie vor. Bakkara stieß ein überraschendes Lachen aus, dann schloss er rasch den Mund. Xejen blickte ihn finster an. »Ein Witz, der mir entgeht?«, erkundigte er sich. »Verzeihung«, erwiderte Bakkara süßsauer. »Ich bin nur ganz gerührt von der edelmütigen Opferbereitschaft der Fürstin Mishani. Schließlich hätte sie auch sich selbst vorschlagen können.« Mishani musterte Xejen unverwandt, ohne auf die Stichelei des Soldaten zu achten. Sie hatte nicht vor, sich selbst vorzuschlagen. Ginge sie dort hinaus, wüsste binnen eines Tages jeder von ihrer Anwesenheit, und sie wäre ein leichtes Ziel für die Handlanger ihres Vaters. Außerdem war ihr sonnenklar, dass Xejen sie nicht ziehen lassen würde. Für ihn war sie zu wertvoll, was sie bleiben wollte, indem sie ihn glauben ließ, sie teilte seine Ziele und Überzeugungen. »Schickt ihnen als Geste des guten Willens eine Geisel«, führte sie weiter aus. »Chien weiß nicht, dass die anderen Adeligen umgekommen sind. Aus seiner Sicht könnten in den Verliesen der Feste zahlreiche weitere eingekerkert sein. Für euch ist Chien ohnehin nutzlos, darüber hinaus ist er sehr krank, und euer Arzt war bislang unfähig, ihm zu helfen.« Sie schaute zu 422 Bakkara. »Er ist unschuldig und verdient es nicht, hier zu sein.« »Er wird ihnen die Stärke unserer Streitkraft verraten«, erwiderte Xejen argwöhnisch und stapfte durch die Kammer auf und ab. »Er wird Namen nennen.«
»Er ist kaum aus der Kammer gekommen, in die ihr ihn verfrachtet habt«, entgegnete Mishani. »Er weiß rein gar nichts über eure Streitkraft.« »Und was das Nennen von Namen angeht«, warf Bakkara ein, »ist das nicht genau, was wir wollen}« »Richtig«, pflichtete Mishani ihm bei. »Bei den Händlern und im Schifffahrtsgewerbe ist Chien eine bedeutende Persönlichkeit. Wenn er zu reden anfängt, verbreiten seine Seefahrer die Kunde über die gesamte Nahe Welt.« Xejen kaute nervös an einem Finger. Offensichtlich war er überzeugt, doch er wollte wohl so tun, als wöge er sorgfältig ab. Anscheinend dachte er, jemand wie Mishani ließe sich davon täuschen, damit er nicht ganz zu beflissen schien, ihr zuzustimmen. »Ja, ja, das könnte gehen«, murmelte er bei sich. »Redet Ihr mit ihm, Fürstin Mishani?« »Ich rede mit ihm«, willigte Mishani ein. Wie sich herausstellte, war es nicht ganz so einfach, wie Mishani gedacht hatte. »Ich lasse Euch hier nicht allein!«, tobte Chien. »Das könnt Ihr nicht von mir verlangen.« Äußerlich zeigte Mishani sich ungerührt wie immer, innerlich jedoch war sie regelrecht erschrocken ob der jähen Heftigkeit seines Gefühlsausbruchs. Nach dem Ende ihrer Gefangenschaft war er in einer behaglicheren Kammer untergebracht worden. Sie unterschied 423 sich kaum vom Rest der trostlosen Feste und enthielt ein paar Wandbehänge, Läufer, ein bequemeres Bett sowie ein paar Kleinigkeiten wie einen Tisch und eine Truhe für Kleider. Was die Schwere seines Fiebers anging, hatte sie Xejen gegenüber keineswegs übertrieben; trotzdem ging es Chien offensichtlich gut genug, um wütend zu werden, obwohl er immer noch zu schwach war, um aufzustehen. »Beruhigt Euch gefälligst!«, herrschte sie ihn an, und die plötzliche Schärfe in ihrer Stimme brachte ihn zum Schweigen. »Ihr führt Euch auf wie ein kleines Kind. Denkt Ihr nicht, ich würde lieber mit Euch kommen? Ich will, dass Ihr geht, weil Ihr etwas für mich erledigen müsst, dass nur Ihr tun könnt.« Sein Haar war während seiner Bettruhe ein wenig gewachsen, so dass nun schwarze Stoppel auf seinem breiten Schädel zu sehen waren. Beschwichtigend blickte er sie an und fragte: »Was also ist es, das ich tun kann?« »Ihr könnt helfen, mein Leben zu retten«, antwortete Mishani. Die Äußerung sollte den letzten Rest seiner Entrüstung beseitigen, und es wirkte. »Wie?«, wollte er wissen. Nun war er bereit, es zu hören. »Ihr müsst eine Botschaft für mich überbringen«, erklärte sie. »An Barak Zahn tu Ikati.« Chien musterte sie argwöhnisch. »Der Barak Zahn, der diese Stadt belagert?« »Genau der«, bestätigte sie. »Fahrt fort«, forderte Chien sie auf. »Ihr müsst verlangen, mit ihm allein zu reden. Niemand sonst darf erfahren, dass ich hier bin. Andernfalls werden die Schergen meines Vaters bei meiner Freilassung bereits auf mich warten.« 424 »Und was sage ich ihm?« Mishani senkte den Kopf. »Sagt ihm, dass ich Neuigkeiten über seine Tochter habe. Sagt ihm, dass sie lebt, es ihr gut geht und ich weiß, wo sie sich aufhält.« Chien verengte die Augen. »Barak Zahn hat keine Tochter.« »Doch, hat er«, widersprach Mishani ungerührt. Chien schaute ihr noch kurz in die Augen, dann ließ er die Schultern hängen. »Wie kann ich Euch hier zurücklassen?«, brummte er, mehr zu sich selbst denn zu ihr. »Dort draußen wartet eine Armee nur darauf, diesen Ort anzugreifen, und er wird von Bauern und Handwerkern verteidigt.« »Ich weiß, dass Euch die Ehre gebietet zu bleiben, Chien«, erwiderte Mishani verständnisvoll. »Aber indem Ihr Zila verlasst und meine Botschaft überbringt, erweist Ihr mir einen größeren Dienst als all den Schutz, den Ihr mir hier bieten könntet. Das ist alles, worum ich Euch bitte. Den Rest wird Barak Zahn erledigen.« »Fürstin Mishani...«, stöhnte er. »Ich kann nicht.« »Eine bessere Aussicht, diese Belagerung zu überleben, habe ich nicht, Chien«, hielt sie ihm vor Augen. Sie ging zum Bettrand hinüber und blickte auf ihn hinab. »Ich weiß, wer Euch geschickt hat, Chien«, sagte sie leise. »Ihr musstet ihr Verschwiegenheit schwören, nicht wahr? Meiner Mutter.« Chien versuchte vergeblich, seine Überraschung zu verbergen. Das kurze Flackern in seinen Augen verriet ihr alles, was sie wissen musste. »Ich verlange nicht, dass Ihr Euren Eid brecht«, sprach sie und setzte sich auf den Bettrand. »Sie muss wohl etwas über mich gehört haben, als ich auf dem Weg nach Okhamba durch Hanzean reiste. Ich kann dem Glück nur danken, dass es ihre Leute und nicht die mei425 nes Vaters waren, die mich erspähten. Während des Monats, den ich auf See verbrachte, hat sie sich mit Euch in Verbindung gesetzt; vermutlich durch einen Weber, wenngleich ich bezweifle, dass es der unserer Familie war. Sie hat Euch gebeten, mich vor meinem Vater zu beschützen.« Wieder spürte sie, wie Tränen aufzuwallen drohten, doch diesmal rang Mishani sie zurück. Ihre Mutter, ihre stille, vernachlässigte Mutter, hatte die ganze Zeit hinter dem Vorhang die Fäden gezogen, um ihre Tochter zu beschützen. Bei den Göttern, was, wenn Avun es herausgefunden hätte? Was wäre dann aus Muraki geworden?
Chien beobachtete sie nur stumm, weigerte sich zu sprechen. »Sie hat Euch angeboten, Euch zu befreien«, fuhr Mishani fort. »Die Verpflichtungen, die Euch an Geblüt Koli binden, waren das Einzige, was Eure Familie all die langen Jahre eingeschränkt hat - der Preis für die Heirat Eurer Mutter, einer Fischerin in der Flotte meines Vaters. Wärt Ihr von Eurer Schuld befreit, müsstet Ihr meiner Familie nicht mehr den besten Preis anbieten, ihr die besten Schiffe zur Verteilung ihrer Waren bereitstellen. Ihr könntet die Handelsverbindung zwischen Saramyr und dem Dschungelkontinent beherrschen.« Sie musterte ihn eingehend, um Bestätigung zu erhalten, obschon sie bereits überzeugt war, Recht zu haben. Endlich passte alles zusammen. »Um Eure Familie zu befreien, würdet Ihr viel wagen. Meine Mutter bot es Euch an. Neben Avun ist sie die Einzige mit der Macht, den Vertrag aufzuheben. Und sie wollte es tun, ganz gleich, was es sie selbst kosten mochte, wenn Ihr auf der Reise für meine Sicherheit sorgen würdet.« Beschämt schlug Chien die Augen nieder. Er wollte sie 426 fragen, woher sie es wusste, doch damit hätte er zugegeben, dass es stimmte. Mishani hegte nicht den Wunsch, ihn zu quälen. Nun verstand sie alles. Die ganze Zeit hatte sie nach seinem Vorteil gesucht, hatte darüber nachgegrübelt, was er von ihr zu erlangen hoffte. Darauf aber wäre sie wohl nie gekommen. »Da war noch etwas«, sprach Mishani leise weiter und schob das Haar über eine Schulter zurück. »Meine Mutter gab Euch ein Zeichen für den Fall, dass es keine andere Möglichkeit gäbe, mich zu überzeugen. Sie wusste, wie misstrauisch ich sein würde. Es war ein Schlaflied, das sie selbst geschrieben hat. Sie hat es mir früher immer vorgesungen, als ich noch klein war. Es handelt von mir. Nur sie und ich kennen die Worte.« Sie stand auf und drehte ihm den Rücken zu. »Letzte Nacht habt Ihr es in Eurem Fiebertraum gesungen.« Eine lange Weile erwiderte Chien nichts; dann endlich brach er sein Schweigen. »Wenn ich das für Euch tue, lasst Ihr sie dann wissen, dass ich meinen Eid erfüllt habe?« »Ich schwöre es«, antwortete Mishani, ohne sich umzudrehen. »Ihr habt Euch ehrenvoll verhalten. Verzeiht, dass ich Euch misstraut habe.« Chien legte sich auf das Bett zurück. »Ich werde tun, was Ihr verlangt«, sagte er. »Habt meinen Dank«, gab Mishani zurück. »Für alles.« Und damit ging sie. Sie sahen einander nicht mehr, bevor Chien durch die Tore hinaus und hinab zur wartenden Armee getragen wurde. Mishani beobachtete seine Abreise nicht. Stattdessen stand sie einfach nur mit dem Rücken zum Fenster da. Alleine. 427 Später bot sie sich Bakkara an, und die beiden liebten sich leidenschaftlich in seiner Kammer. Zu jenem Zeitpunkt hätte sie nicht zu sagen vermocht, was sie dazu veranlasste; es widersprach ihrer Art. Sie hätte warten, sich vergewissern sollen, dass der Augenblick richtig war. Mishani fand ihn anziehend und spürte, dass er dasselbe für sie empfand, doch das war schon alles; darüber hinaus herrschte nur Politik, und es war sinnvoll, mit ihm zu schlafen. Mittlerweile hatte sie sich hinlänglich davon überzeugt, dass Xejen nicht der Anführer war, dessen Ruf ihm vorauseilte, und dass Bakkara sich wesentlich besser dafür eignete. Und sie war sich der Macht sehr wohl bewusst, die der Frauen Künste auf einen Mann auszuüben vermochten, selbst wenn es sich um einen handelte, für den sie nur eine nette und angenehme Zerstreuung war. Und doch war es letzten Endes etwas anderes als ausgeklügelte Überlegungen gewesen, das sie in seine Arme getrieben hatte. Der Vorfall mit Chien hatte sie mit einer schmerzlichen Sehnsucht erfüllt, die zu empfinden sie nicht für möglich gehalten hätte, eine pochende Leere, die sie nicht ertragen konnte, und sie wollte sich auf jede Weise davon befreien, die ihr zur Verfügung stand. Das kaum spürbare Eingreifen ihrer Mutter in ihre Angelegenheiten hatte ihr vor Augen geführt, wie verloren sie umhertrieb, wie viel sie aufgegeben hatte, um sich ihrem Vater zu widersetzen. Dennoch konnte sie sich keine Trauer leisten. Es stand zu viel auf dem Spiel. Mishani war nicht so töricht anzunehmen, sie könnte den Schmerz dauerhaft in der Verzückung körperlicher Wollust vergraben, aber sie konnte ihn damit zumindest eine Weile verdrängen. Anschließend, nachdem die heimtückische Leidenschaft abgeflaut war, die sie bisweilen unbedachte Dinge 428 ausplaudern ließ, lag sie neben dem Soldaten, fuhr mit ihrer zierlichen Hand über seine zernarbte Brust und kringelte das raue Haar zwischen seinen mächtigen Brustmuskeln um die Finger. In seinem Arm wirkte sie zwergenhaft, und obwohl sie knochig, kantig und dürr war, fühlte sie sich an ihm weich an. Sie hatte beinahe vergessen, wie sehr sie die Wärme des Körpers eines Mannes vermisst hatte. »Du glaubst nicht, dass Xejen dazu fähig ist, oder?«, fragte sie leise. Eigentlich hörte es sich eher wie eine Feststellung an. »Hmmm?«, brummte er schläfrig. »Du glaubst nicht, dass er fähig ist, diesen Aufstand zu führen und zu gewinnen.« Leicht gereizt und mit nach wie vor geschlossenen Augen seufzte er. »Ich bezweifle es.« »Warum also -« »Hast du etwa vor, die ganze Nacht Fragen zu stellen?« »Bis ich ein paar Antworten kriege, ja«, lächelte sie. Er stöhnte und rollte sich etwas herum, so dass sie einander in die Gesichter blickten. Mishani drückte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen.
»Der Albtraum jedes Mannes«, raunte er. »Eine Frau, die nicht die Klappe hält, nachdem man sich um sie gekümmert hat.« »Ich möchte nur wissen, welche Aussichten ich habe, die Lage zu überleben, in die du mich gebracht hast«, entgegnete sie. »Warum bist du überhaupt hier?« Er ergriff eine Hand voll ihres offenen Haares, das zwischen sie gefallen war und rieb es abwesend zwischen den schwieligen Fingerspitzen. »Ich stamme aus den Neuländern«, begann er weit ausholend. »Als ich jung war, herrschte dort jede Menge 429 Zwietracht. Streitigkeiten um Land, Händlerkriege. Ich war ein armer, fleißiger Knabe und voller Zorn. Soldat zu werden war das Beste, worauf ich hoffen konnte, und so schloss ich mich der Bürgerwehr der Mark an, einer kleinen Dorfarmee. Wie sich herausstellte, war ich gut darin. Ich wurde von der Armee eines niedrigen Adeligen angeworben, wir haben ein paar' Schlachten gewonnen ... bei den Göttern, ich langweile mich ja schon selbst.« Mishani lachte. »Bitte erzähl weiter.« »Lass mich all das überspringen. Viele - wirklich viele - Jahre später endete ich als General in Geblüt Amachas Armee auf der gegenüberliegenden Seite des Kontinents. In der Zwischenzeit war ich so etwas wie ein Söldner geworden und keinem Herrn mehr blutsgebunden, da mein ursprünglicher Barak es geschafft hatte, sich töten und seine Familie auslöschen zu lassen. Ich war vor fünf Jahren bei der Schlacht vor Axekami dabei.« Mishani versteifte sich leicht. »Keine Bange.« Er grinste. »Ich gebe dir keine Schuld für das, was dein Vater getan hat. Vor allem nicht nach dem, was Xejen mir über dich und ihn erzählt hat.« Seine Belustigung versiegte, und er wurde wieder ernst. »In dieser Schlacht starben viele Männer, die ich gekannt hatte. Ich selbst hatte großes Glück, mit dem Leben davonzukommen.« Eine Weile setzte er ab, und als er fortfuhr, wirkte er niedergeschlagen. »Aber so ist das Soldatenleben nun mal. Freunde sterben. Gefechte werden gewonnen und verloren. Ich gebe stets das Beste für mich und meine Männer, doch letzten Endes bin ich nur ein Teil von Tausenden. Ein Muskel. Aber es ist das Gehirn, das uns alle lenkt. Die Verantwortung für ein solches Gemetzel übernehmen die 430 in den höheren Rängen. Sonmaga war ein Narr, und dein Vater ein Verräter. Und viele Menschen wurden für die beiden getötet.« Mishani wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Plötzlich war ihr auf schreckliche Weise bewusst, wie stark er war. Allein, indem er den Arm anspannte, der um ihre Schultern ruhte, könnte er ihre Knochen wie Zweige brechen. »Danach beschloss ich, dass ich vom Soldatenleben genug hatte«, fuhr er fort. »Aber ich schätze, das Soldatenleben hatte noch nicht genug von mir. Über dreißig Jahre lang focht ich die Kriege anderer, hockte um Lagerfeuer mit Menschen, von denen ich nicht wusste, ob sie am nächsten Morgen noch leben würden, hauste in Zelten und marschierte über ganz Saramyr. Es fiel mir schwer, dies einfach so aufzugeben. Zwischen Kriegern gibt es ein gewisses Gefühl, Bande, die sich nicht beschreiben lassen, die es sonst nirgends gibt. Ich habe versucht, sesshaft zu werden, aber es ist zu spät für mich; das Soldatenleben ist mir längst in Fleisch und Blut übergegangen.« Mishani streichelte müßig über seine Arme, während sie ihm lauschte. »Ich trieb also planlos umher. Konnte kein sinnvolles Ziel finden. Bis dahin hatte ich nie eines gebraucht. Ich war gerade dabei, mich in einem Freudenhaus zu besaufen, als ich von den Ais Maraxa hörte. Keine Ahnung warum, aber irgendwie erregten sie meine Aufmerksamkeit. Deshalb fing ich an, ein wenig herumzuschnüffeln, und bald erfuhren sie davon und fanden mich.« »Du hattest etwas, woran du glauben konntest«, legte Mishani ihm in den Mund. Wie angewidert verzog er das Gesicht. »Sagen wir 431 lieber, es war ein Unterfangen, das ich für sinnvoll hielt. Ich bin ein Gefolgsmann, kleine Fürstin, kein Anführer. Ich mag wohl Männer befehligen, aber ich zettle keine Kriege an, und ich verändere nicht die Welt. Dafür sind Menschen wie ich nicht geschaffen; dafür gibt es Menschen wie Xejen. Vom Krieg mag er keine Ahnung haben, aber er ist ein Anführer. Die Ais Maraxa würden für ihn sterben.« »Und du?« »Ich würde für Lucia sterben«, antwortete er. »Scheint mir wesentlich sinnvoller als jeder andere Grund, für den ich in der Vergangenheit bereit war, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Was übrigens zumeist mit Geld zu tun hatte.« Eine Weile schwiegen sie beide. Bakkara döste gerade wieder ein, als er spürte, wie Mishani das Gesicht zu einem Lächeln verzog. »Ich weiß, dass du etwas sagen willst«, brummte er warnend. »Also raus damit.« »Du hast meine Frage nicht beantwortet.« »Welche?« »Warum hast du geholfen, Zila zu übernehmen, wenn du dachtest, ihr könntet die Stadt nicht halten?« »Xejen dachte, wir könnten es. Das glaubt er immer noch. Für mich reicht das.« Kurz überlegte er. »Vielleicht wendet das Blatt sich ja noch.«
»Du übernimmst also keinerlei Verantwortung? Du folgst ihm, obwohl du es für Narretei hältst?« »Ich bin schon größeren Narren gefolgt«, murmelte er. »Und Verantwortung ist etwas für Denker und Politiker. Ich bin nur ein Soldat. Was ich tue, tue ich ohne Beweggrund.« »Vielleicht erkennst du deinen eigenen Beweggrund bloß nicht.« 432 »Weib, wenn du nicht gleich die Klappe hältst, bin ich gezwungen, etwas zu tun, um dich zum Schweigen zu bringen.« »Ach ja?«, frage Mishani unschuldig. »Und was könnte das wohl sein?« Bakkara zeigte es ihr, und danach ließ sie ihn schlafen; Mishani aber lag wach und dachte nach. Sie konnte Zila nicht verlassen: Xejen würde es nicht gestatten. Und sie hatte keinesfalls die Absicht, das nächste Jahr hier gefangen zu bleiben. Stattdessen hatte sie einen Plan ersonnen, wie sie Barak Zahn in die Stadt einladen konnte, um ihn in Hinblick auf Lucia auszuloten und die Verhandlungen zu führen, für die sie eigentlich nach Laranya reisen wollte. Um zu versuchen, ihn mit der Neuigkeit, dass sie seine Tochter hatten, für die Libera Dramach zu gewinnen. In Zila wäre sie im Vorteil, und Zahn würde ihr zuhören müssen. Doch wieder stand Xejen im Weg: Er würde sie aufhalten, sobald er mitbekäme, was sie vorhatte. Xejen war ein Hindernis, das es zu beseitigen galt. Bakkara war nicht nur der bessere Anführer und am ehesten in der Lage, in Zila für Ordnung und Sicherheit vor dem Feind zu sorgen, er war auch einfacher lenkbar. Deshalb wollte sie langsam sowohl an Bakkara als auch an Xejen arbeiten, um den einen mit dem anderen zu unterwandern, so dass letzten Endes Bakkara - und damit sie - die Oberhand erlangen würde. Hatte Bakkara die Vormachtstellung erst inne, konnte sie seine Ansichten den ihren anpassen, Xejen hingegen war zu unnachgiebig, zu festgefahren in seinem blinden Eifer. Das also war ihr Ziel. Sie brauchte nur Zeit... 433 Es war dunkel, wo Mos sich aufhielt. Die Luft stank nach Blut. Schauerliche Schemen lauerten zu beiden Seiten und über ihm. Von oben ertönte ein leises Rasseln, das Klirren von Ketten, die in der Hitze wogten. Das einzige Licht war ein düsterer, rötlicher Schimmer, der von den glühenden Kohlen in der Feuergrube stammte. In diesem Licht erschien eine tote Fratze, eine Leichenmaske ausgemergelten Fleisches im Schatten einer Kapuze, den Mund zu einem grauenvollen Gähnen aufgerissen. Mos starrte sie über die Feuergrube hinweg an. Sein eigenes Antlitz wirkte ausgezehrt und abgehärmt, die Augen waren von Tränen geschwollen, die Züge schlaff. Über ihnen glotzten Webfürst Kakres Hautdrachen mit leeren Höhlen aus der tiefen Schwärze herab. »Er ist also verschwunden?«, krächzte Kakre. »Er ist weg«, gab Mos zurück. »Und Ihr habt Männer auf die Suche nach ihm entsandt?« »Er wird nicht weit kommen.« »Das bleibt abzuwarten.« Mos schaute in die Glut hinab, als wäre darin Trost zu finden. »Was hat mich nur besessen, Kakre?« Der Webfürst antwortete nicht. Er wusste haargenau, was Mos besessen hatte; aber selbst er hatte nicht damit gerechnet, dass die Kaiserin in den Freitod gehen würde. Es hätte schon gereicht, wenn sie schlimm genug verprügelt worden wäre, dass ihr Vater davon erfuhr und vor Wut die Armeen der Wüste in Bewegung setzte. Dieses Ergebnis war besser, als er es sich in seinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hätte. Und Mos den guten Reki entführen zu lassen, um den Schaden zu begren434 zen, rundete die Geschichte zur Vollkommenheit ab; es bedurfte lediglich des Durchdringens eines kleinen Hinweises, wofür Kakre sorgen würde, und die Antwort Tchom Rins wäre gewiss. Nach Laranyas Verprügelung hatte Kakre den Kaiser aufgesucht und ihn als jämmerlich heulendes, um Hilfe bettelndes Häufchen Elend vorgefunden - als wäre Kakre jemand, dem er sich anvertrauen, der ihm Beistand leisten könnte. Es hatte wie ein Zufall ausgesehen, doch nur wenig, was Kakre tat, erfolgte ungeplant. Während er beim Kaiser war, konnte er nicht weben, denn Weben bedurfte all seine Aufmerksamkeit, und Mos hätte es bemerkt. Daher konnte er den letzten Augenblicken Laranyas nicht beiwohnen; andererseits hatte er dadurch einen untadeligen Nachweis, der ihn von jeglichem Verdacht entlastete, er könnte beim Tod der Kaiserin die Hand im Spiel gehabt haben. Selbst Mos - der arme, arme Mos -hatte nie an die Möglichkeit gedacht, dass die Träume, die ihn dem Wahnsinn zum Fraß vorwarfen, von Kakre stammen könnten. Dafür war Kakre zu gerissen; er hatte jenen Gedankengang aus Mos' Verstand geschnitten, damit er gar nicht erst aufkommen konnte. »Barak Goren tu Tanatsua wird lange vor Rekis Eintreffen vom Tod seiner Tochter erfahren«, schnarrte Kakre schließlich. »Und er wird die Begleitumstände kennen. Laranya hat aus ihrem Zustand kein Hehl gemacht.« Er regte sich, wodurch die Kapuze die Maske in Schatten hüllte. »Ihr Haar war abgeschnitten, Mos. Ihr wisst, was das bedeutet.« »Wenn wir Reki haben, ist ihr Vater vielleicht bereit, auf Vernunft zu hören.« Mos' Worte hörten sich bar jeder
Empfindung an. Es kümmerte ihn so oder so nicht wirklich. 435 »Dennoch«, entgegnete Kakre, »müssen Vorbereitungen getroffen werden. Durch Eure Ehe mit Laranya hielten die Wüsten-Baraks lange Zeit Frieden; nun aber, da diese Verbindung gekappt ist, wird es umso schlimmer werden. Sie waren schon immer Störenfriede. Zu unabhängig in ihren pfadlosen Reichen aus Sand.« Eine Weile starrte Mos den Webfürsten mit ausdrucksloser Miene an. Wegen der Hitze in der Häutungskammer stand ihm Schweiß auf der Stirn. »Wenn sie nach Axekami kommen, werden sie die anderen unzufriedenen Baraks ermutigen«, erklärte ihm Kakre. »Stellt Euch nur eine Wüstenarmee vor, die in der Absicht, Genugtuung für den Tod Laranyas zu fordern, durch Tchamaska und den Ostpfad heraufmarschiert. Stellt Euch vor, wie machtlos Euch das erscheinen ließe.« Mos konnte es sich nicht richtig vorstellen. »Ihr solltet Männer nach Maxachta entsenden«, riet der Webfürst. »Viele Männer. Wenn Ihr Euch ihnen schon stellen müsst, dann am besten in den Bergen am Juwacha-Pass. Haltet sie dort auf. Verhindert, dass sie in den Westen gelangen.« »Ich brauche all meine Männer hier«, entgegnete Mos, doch in seiner Stimme war keine Kraft. »Wofür? Für Geblüt Kerestyn etwa? Kerestyn hat bislang nur mit den Säbeln gerasselt, aber noch nichts unternommen. Die Familie wird noch Jahre brauchen, um stark genug zu werden, Euch herauszufordern. Axekami ist vorerst für keine Streitmacht in Saramyr einnehmbar; das heißt, sofern die Baraks der Wüste sich nicht mit jenen im Westen zusammenrotten.« Darüber dachte Mos kurz nach. »Ich werde Männer entsenden«, meinte er schließlich, was Kakre gewusst hatte. Mos hatte nicht auf seine Bera436 ter gehört, und Kakre hatte die Größe der Streitkräfte, die sich im Gefolge der wachsenden Hungersnot gegen den Kaiser scharten, bedachtsam untertrieben. In dieser Nacht würde Barak Avun tu Koli das Zeichen geschickt, mit dem Aufmarsch der Armeen zu beginnen. Das kaiserliche Heer teilte sich, und viele Tausende würden fernab Axekamis marschieren, um der vermeintlichen Bedrohung aus der Wüste zu begegnen, wodurch die Hauptstadt durch ihre Abwesenheit geschwächt zurückblieb. Das Spiel beginnt, dachte Kakre, und hinter der Maske verzogen sich die hässlichen Züge zu einem Grinsen. 437 FÜNFUNDZWANZIG Kaiku rutschte halsbrecherisch den Schieferhang hinab, dass ihre Stiefel den Staub im kalten, weißen Mondlicht nur so aufwirbeln ließen. Tsata war bereits unten angelangt und legte die Büchse an. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass der Umriss ihres Verfolgers sich ins Licht schieben würde, um hinter Kaiku herzuhetzen. Der Ghaureg brüllte, ein Laut zwischen jenem eines Bären und jenem eines Wolfes. Er kam ihnen rasch näher. Kaiku flüchtete Hals über Kopf an dem Tkiurathi vorbei, der auf den Bereich zielte, an dem er das Auftauchen des ausgebürtigen Ungeheuers vermutete. Das Gelände ringsum war praktisch bar jeglichen Pflanzenwuchses, bestand nur aus verstreuten Felsbrocken und hartem, steinigem Boden. Kaiku hielt auf eine Stelle zu, wo das Land abfiel und sich linkerhand ein Rücken erhob. Vielleicht konnten sie dort Deckung finden. Oder vielleicht würde der Ghaureg die Erhebung einfach verwenden, um von oben auf sie zu springen. Dann war Tsata bei ihr und übernahm die Führung. Geduckt rannten sie den Abhang hinab, wobei der Vorsprung sie verbarg. Abermals brüllte der Ghaureg, nunmehr beängstigend nahe. Über das Pochen ihres Herzens und das Scharren ihrer Sohlen hörte sie, wie die Kreatur aufholte; die schweren Schritte wiesen auf die schiere Masse, die ihr Verfolger besaß. Gelangten sie in die Reichweite jener Klauen, würden sie in Stücke gerissen. 438 Das scheinbare Verschwinden ihrer Beute ließ die Ausgeburt innehalten. Tsata und Kaiku nutzten die kurze Pause, um Abstand zu gewinnen. Der Abhang verflachte und wurde zerklüftet, führte sie in einen breiten, ebenen Graben, der mit Geröll übersät war. Auf der gegenüberliegenden Seite stieg eine natürliche Wand zu höheren Gefilden hin an, die sich fahl und öde im gemeinsamen Schein von Aurus und Iridima präsentierten, deren Umlaufbahnen sich jüngst angenähert hatten und die Aussicht auf einen Mondsturm androhten, sollte sich in den kommenden Nächten auch die dritte Schwester zu ihnen gesellen. Kaiku steuerte auf eine Felsgruppe zu. Hier waren sie zu ungeschützt. Wenn es ihnen gelänge, sich lange genug vor dem Ungeheuer zu verbergen, würde es die Jagd aufgeben, davon war sie überzeugt. Ghauregs waren zwar wild und gefährlich, doch beileibe nicht die klügste von den Webern gesammelte Raubtierart. Aber in jener Nacht war Shintu nicht auf ihrer Seite. Sie hatten den Schatten der Felsen beinahe erreicht, als die Ausgeburt auf dem Rücken auftauchte. Kaiku erhaschte einen Blick auf die Gestalt des Wesens, dessen Schädel tief zwischen den hochgezogenen Schultern saß, während es suchend über den Graben spähte. Dann sah es sie, und seine Augen begegneten jenen Kaikus, sandten ihr einen Schauder über den Rücken. Es heulte auf und sprang gute sechs Meter vom Rücken auf den Boden des Grabens herab; Kaiku spürte die Wucht seiner Landung durch die Stiefelsohlen. Ghauregs. Sie waren die größten der Ausgeburten, die Kaiku und Tsata bislang im Bruch angetroffen hatten, und mit Abstand die bösartigsten. Außerdem aber ähnelten sie menschlichen Wesen, was Kaiku als am schlimmsten empfand. Als sie zum ersten Mal ihr Gebrüll gehört
439 und ihre zottigen Umrisse in der Nacht gesehen hatte, waren sie ihr beunruhigend vertraut vorgekommen; erst Tage später wurde ihr klar, dass sie sich vor eben jenen Kreaturen in den Lakmar-Bergen auf Fo versteckt hatte, indem sie bibbernd im Schnee gekauert hatte, damals während ihres einsamen Marsches, um die Schritte ihres Vaters in das Weberkloster zurückzuverfolgen. Dort waren es gespenstische, nur ansatzweise an weißen Horizonten erspähte Schemen gewesen; hier hatten sie Gestalt angenommen, und sie stellte fest, dass sie grauenvoller waren, als sie es sich ausgemalt hatte. Ghauregs ragten fast zweieinhalb Meter hoch auf, obwohl ihre stets gebückte Haltung verhieß, dass sie aufrecht gar noch größer waren. Ihre Gestalt war in gewisser Weise affenähnlich, und obwohl sie auf allen vieren rennen konnten, waren ihre Hinterbeine dick und groß genug, um auf zwei Füßen zu stehen. Für gewöhnlich liefen sie auf diese Weise, was zu ihrem absonderlich menschenähnlichen Erscheinungsbild beitrug. Die Schädel waren riesig und geprägt von zwei gewaltigen Kiefern. Die Mäuler glichen Stahlfallen mit zottigen Barten und voller Allesfresserzähnen, vorne scharf, stumpf an den Seiten. Kleine, gelbe Augen und eine kurze Schnauze dienten überwiegend zum Aufspüren ihres nächsten Fressens. Ein dichter, grauer Pelz bedeckte die Leiber, Hände, Brust und Füße jedoch waren unbehaart, und die Haut war runzlig und schwarz. Wenngleich sie keine natürlichen Waffen besaßen wie einige der anderen Raubtierarten, wogen sie den Mangel durch ihre schiere Größe und wahrhaft Furcht erregende Kraft aus. Auch waren sie keineswegs langsam. Von den unglaublichen Ausmaßen des Ungetüms wie gelähmt, erstarrte Kaiku für einen Moment, als es im 440 Graben landete und auf allen vieren auf sie zuzupreschen begann. Dann zupfte Tsata sie, und sie flüchtete. Ihr Kana brodelte in ihr, lechzte nach Befreiung, während sie durch den Graben hetzten. Sie wagte nicht, es zu entfesseln. Zuvor war sein Einsatz an dem toten Schrillvieh nur deshalb unbemerkt geblieben, weil sie es auf zarteste Weise benutzt hatte. Zöge sie es für etwas so Heftiges wie den Angriff auf eine Ausgeburt heran, würden die Weber in der Umgebung es entdecken und keine Mühen scheuen, um sie zu finden. Andererseits gingen ihnen rasch die Möglichkeiten aus. »Hier!«, rief Tsata plötzlich. »Da lang!« Jäh beschleunigte der Tkiurathi die Schritte, preschte an ihr vorbei, änderte die Richtung und hielt den Graben entlang auf einen Abschnitt der gegenüberliegenden Seite zu, der gesplittert und geborsten war, so dass ein flacher Einschnitt entstanden war. Tsata erreichte die Stelle im Laufschritt und kletterte hinauf. Kaiku traf unmittelbar nach ihm an der steilen Wand ein. Ihre Büchse schlug schmerzlich gegen ihren Rücken, als sie zu dem Einschnitt emporhechtete. Das Erklimmen von Felsen war ihr keineswegs fremd - es hatte zu jenen Dingen gehört, in denen sie und ihr Bruder Machim sich als Kinder stets gemessen hatten -, doch beim ersten Versuch fand sie keinen Halt. Nackte Angst ließ sie einen Augenblick damit verschwenden, über die Schulter zurückzuschauen. Der Ghaureg raste auf sie zu, galoppierte auf den Knöcheln der Fäuste, während das verfilzte Haar gegen den riesigen Leib klatschte. »Klettere!«, brüllte Tsata, und Kaiku gehorchte. Diesmal fand sie etwas, woran sie sich festhalten konnte, indem sie die Finger in den Einschnitt hakte und sich hochzog, um mit den Füßen Halt zu suchen. Tsata 441 streckte die Hand zu ihr herab. Zu weit entfernt. Kaiku fand einen weiteren Felsvorsprung, verlagerte das Gewicht auf diesen und tastete nach einer anderen, höheren Stelle für ihren freien Stiefel. » Kaiku, jetzt« Die Spitze ihres Stiefels grub sich in eine Spalte, und sie stieß sich ab, streckte die Hand nach der seinen aus. Er fing sie mit einem Griff gleich einer Stahlklammer und hievte sie nach oben, wobei die Venen an seinem tätowierten Arm hervortraten. Den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Ghaureg nach ihr schnappte und seine Klauen ihren emporschnellenden Knöchel um wenige Fingerbreit verfehlten, wurde sie über den Rand und in Tsatas Arme gezogen. Für eine Pause blieb keine Zeit. Kaiku löste sich von ihrem Gefährten, und die beiden rannten weiter. Der Ghaureg konnte zwar springen, doch aufgrund seines Gewichts nicht besonders hoch. Die Oberkante der Grabenböschung war außerhalb seiner Reichweite, aber es würde nicht lange dauern, bis er einen anderen Weg hinauffand. Die Dinge waren zu gefährlich geworden. Wie die wahre Beziehung zwischen den Ausgeburten und ihren seltsamen, maskierten Hirten - die Kaiku Nexusse getauft hatte - auch aussehen mochte, die Weber wussten offensichtlich, dass etwas in ihrem geschützten Gebiet nicht stimmte, und waren fest entschlossen, den Missstand zu beseitigen. Kaikus und Tsatas Streifzüge durch die Schranke waren immer gefährlicher geworden. Auf dem verseuchten, öden Land, das die Überschwemmungsebene mit der Armee der Ausgeburten umgab, wimmelte es mittlerweile vor Wachposten. Immer wieder waren sie gezwungen gewesen, sich zurückzuziehen, ohne der Ebene, geschweige denn 442 einem der Nexusse, auch nur nahe gekommen zu sein. Tsatas Vorschlag, eine der schwarz gewandeten Gestalten zu töten, damit Kaiku versuchen konnte, ihr Wesen zu ergründen, schien in wachsendem Maße unmöglich; und beiden wurde klar, dass sie es so, wie die Dinge standen, nicht weiter versuchten konnten. Früher oder später
würden sie gefangen oder getötet werden. Der Ghaureg war bloß Pech gewesen. Für gewöhnlich war es recht einfach, ihnen auszuweichen, denn sie waren weder besonders leise Kreaturen noch geschickte Jäger, da sie sich auf schiere Kraft verließen, um die Nahrungskette der verschneiten Weiten zu beherrschen, aus denen sie eingesammelt worden waren. Doch Kaiku und Tsata waren auf der Flucht vor einer Furie gewesen, die ihre Fährte aufgenommen hatte, und in ihrer Hast, der einen Ausgeburt zu entrinnen, waren sie versehentlich einer anderen über den Weg gelaufen. Kaiku hatte angenommen, Tsata könnte ein solcher Ausrutscher nicht unterlaufen, aber anscheinend waren selbst die Tkiurathi nicht unfehlbar. Sie hoffte nur, diese Erkenntnis würde sie nicht das Leben kosten. »In welcher Richtung ist sie?«, keuchte sie, während sie durch die unwirtliche Landschaft preschten. »Geradeaus«, antwortete er. »Nicht mehr weit.« Nicht mehr weit erwies sich als wesentlich weiter, als Kaiku vermeint hatte, und mittlerweile war der Ghaureg ihnen wieder auf den Fersen. Er erspähte sie von einer Erhebung aus, als sie gerade über einen Abschnitt flachen Geländes rannten; mit grimmigem Geheul nahm er die Verfolgung auf. Kaiku beobachtete, dass es eine Gewohnheit von Ghauregs zu sein schien, sich eine hoch liegende Stelle zu suchen, wenn sie nach Beute suchten, denn sie hatten keine 443 natürlichen Feinde und fürchteten daher nicht, sich weithin sichtbar zu offenbaren. Sie merkte es sich für denn Fall, dass sie je wieder in die missliche Lage geraten sollten, einem Ghaureg entkommen zu müssen. Den Kopf unten zu halten und sich hinter schützenden Wänden zu verbergen schien die beste Vorgehensweise, um diese Ausgeburtenart zu meiden. Für diesen Fall jedoch war es zu spät. Das Vieh raste polternd hinter ihnen her. Sie erklommen eine flache Böschung und lösten dabei kleine Geröll- und Erdlawinen aus, als der Boden unter ihren Füßen nachgab. Oben wuchs ein Grüppchen von der Geißel befallener Bäume, das sich in scharfen Umrissen im Mondlicht abzeichnete und das Kaiku erkannte. Sie hatten den Rand des Hoheitsgebiets der Weber erreicht. »Die Maske, Kaiku!«, drängte Tsata sie und schaute über das flache Gelände zurück, das sie soeben überquert hatten. Jäh geriet der Ghaureg in Sicht, galoppierte unerbittlich hinter ihnen her. Während Kaiku die Maske hervorzog, die sie hinter den Gürtel geklemmt hatte, rannten sie weiter. Aber sie hatte sie zu gut gesichert, und in ihrer Hast verhedderte die Lippe sich an ihren Kleidern; die Maske wirbelte ihr aus der Hand, schlitterte klappernd über den Steinboden und grinste sie aus leeren Augen höhnisch an. Kaiku fluchte ungläubig. Tsata hatte sofort die Büchse im Anschlag und zielte auf die herannahende Ausgeburt, während Kaiku zu der Stelle hetzte, an der die Maske gelandet war. Der Ghaureg hatte den Abstand zu ihnen schnell überwunden, und Kaiku war nicht ganz sicher, wie weit die Schranke von hier aus entfernt war und ob sie rechtzeitig hineingelangen konnten. Es war der letzte, flüchtige Gedanke, der durch ihren 444 Verstand huschte, bevor sie die Maske aufhob und aufsetzte. Das warme, einsinkende Gefühl milder Verzückung war diesmal intensiver, deutlicher spürbar als je zuvor. Auch die Anzeichen für die Anwesenheit ihres Vaters waren stärker; sein Geruch schien aus der Maserung des Holzes zu dringen und sie zu liebkosen, als wäre sie wieder ein Kind in seinen Armen. Die Maske schmiegte sich vollkommen an ihr Gesicht, ruhte an ihrer Haut wie die Hand eines Geliebten auf ihrer Wange. »Lauf!« Tsatas Stimme ließ den zeitlosen Augenblick zerbersten, und sie befand sich wieder in der Gegenwart. Die Maske loderte heiß; die Schranke musste nahe sein. Sie flüchtete; Tsata ließ die Waffe sinken und flüchtete mit ihr. Der Ghaureg brüllte, als er den tückischen Hang heraufraste. Der nachgiebige Boden behinderte ihn in keiner Weise, denn er grub die Hände und Füße tief in die Erde und schleuderte steinige Brocken hinter sich auf. »Gib mir die Hand!«, rief Kaiku und streckte den Arm rückwärts nach Tsata aus. Plötzlich war die Schranke da, und sie erkannte, dass sie zu nahe war, denn wäre Tsata darin nicht bei ihr, könnte er nicht hindurch. Noch bevor sie den Gedanken zu Ende geführt hatte, handelte er, indem er vorwärts hechtete und die Hand fest um die ihre schloss. Nun war der Ghaureg nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt, verhüllte mit seiner Masse die Mondschwestern und brüllte mit geiferndem Maul in Vorfreude auf das Erlegen seiner Beute. Das Geweb erblühte rings um Kaiku, verwandelte die Welt in ein Gewirr aus goldenem Licht, als sie Hals über Kopf in die Schranke stürzte. Sogleich spürte sie, wie Tsatas Griff sich lockerte und er nach rechts zerrte, als seine 445 Sinne getrübt wurden und er die Richtung zu ändern versuchte; aber sie hatte seine Hand und würde nicht loslassen. Sie zog, so kräftig sie konnte, und fühlte, wie er seitwärts taumelte und stolperte, als sein Körper einen Weg einschlug, von dem ihm alle Sinne abrieten. Sein wackeliges Gleichgewicht hielt ein paar Schritte lang, ehe sie beide auf der anderen Seite der Schranke herausfielen und das Geweb hinter ihnen in Unsichtbarkeit verschwand. Tsata befand sich auf Händen und Knien. In seinen Augen war die vertraute Verwirrung abzulesen. Kaiku schenkte ihm keine Beachtung und richtete die Aufmerksamkeit stattdessen auf den Ghaureg. Die Kreatur hatte
kehrtgemacht und preschte in schrägem Winkel von ihnen weg, zurück ins Herz des Webergebietes, als wäre ihr gar nicht bewusst, dass seine Beute nicht mehr vor ihr war. Kaiku beobachtete das Ungetüm, bis es außer Sicht geriet. Tsata erholte sich rasch. In der Zwischenzeit hatte Kaiku die Maske widerwillig abgenommen. In letzter Zeit fühlte sie sich dabei schuldig, als wäre es eine Art Verrat, als enttäuschte sie dadurch irgendwie den Geist ihres Vaters. Die Stirn des Tkiurathi glättete sich; er setzte sich auf den Steinboden und musterte Kaiku. »Das war eine ausgesprochen glückliche Flucht«, stellte er fest. Kaiku schob ihre Strähne beiseite. »Wir waren unachtsam«, meinte sie. »Das ist alles.« »Ich glaube«, erwiderte Tsata, »die Zeit ist gekommen, es aufzugeben. Wir können nicht in die Nähe der Weber oder Nexusse gelangen. Wir müssen in den Schoß zurückkehren.« Kaiku schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Erst wenn wir 446 mehr herausgefunden haben.« Sie begegnete seinem Blick. »Geh du zurück.« »Du weißt, dass ich das nicht kann.« »Dann wirst du dich wohl weiter mit mir herumschlagen müssen.« Sie erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. Er ergriff sie, und Kaiku half ihm auf. Eine Weile betrachtete er sie mit im Mondlicht unlesbaren, tätowierten Zügen. »Scheint so«, meinte er, aber sein Tonfall war freundlich und brachte sie zum Lächeln. Chien os Mumaka lag in einem Bett im Krankenzelt vor Zila und tauchte abwechselnd in einem Wachzustand auf und in einen Dämmerzustand ein. Schlaf blieb ihm versagt; sein ganzer Körper schmerzte, und es fühlte sich an, als rieben die Enden seiner Knochen aneinander. Abgesehen von ihm war das Zelt verwaist. Mehrere Bettenreihen würden erst gefüllt werden, wenn die Kampfhandlungen ausbrachen. Im Zelt war es kühl und schattig, und er war umgeben von den gedämpften Klängen eines militärischen Lagers: dem An- und Abschwellen vorüberziehender Stimmen, dem Schnauben von Pferden, dem Knistern von Feuern. Hier draußen in Küstennähe auf der Ebene südlich der befestigten Stadt waren die nächtlichen Insekten weder zahlreich noch laut, und die Dunkelheit wirkte friedvoll. Unmittelbar nach dem Eintreffen im Lager war er der Obhut eines Arztes übergeben worden, der ihm einen Aufguss zu trinken gab, um das Fieber zu senken. Matt hatte Chien verlangt, mit Barak Zahn zu sprechen. Zunächst hatte der Arzt sein Gesuch abgewiesen, aber Chien zeigte sich hartnäckig und erklärte, er hätte eine 447 Botschaft von äußerster Wichtigkeit und jeder, der ihr Überbringen verzögerte, würde sich Zahns Groll zuziehen. Das brachte den Heiler zum Nachdenken. Ob seiner Erfahrung als Händler wusste Chien hinlänglich, dass die Menschen eher taten, was man von ihnen verlangte, wenn sie glaubten, sie würden für die Folgen ihrer Untätigkeit zur Rechenschaft gezogen. Doch dem Arzt widerstrebte es, sich im eigenen Krankenzelt Vorschriften machen zu lassen, und Chien war sehr krank und Zahn zu jenem Zeitpunkt bereits im Bett. »Morgen früh«, gab der Arzt barsch nach. »Bis dahin sollte es Euch gut genug gehen, um Besucher zu empfangen. Und ich werde mich erkundigen, ob der Barak Euch zu sehen wünscht.« Chien war gezwungen, sich damit zufrieden zu geben. Nachdem er wieder allein war, hatte Chien Zeit, über die Ereignisse des Tages nachzugrübeln. Bei den Göttern, diese Mishani war ganz schön scharfsinnig. Er wusste nicht recht, ob er sich dafür schämen oder es einfach gelassen hinnehmen sollte, wie sie ihm letztlich auf die Schlichte gekommen war. Jedenfalls war er machtlos dagegen, was er in seinen Träumen murmelte. Eigentlich war er eher geneigt, es für den Willen der Götter zu halten, genauer gesagt jenen Myens, der Göttin des Schlafes, in deren Adern mehr als bloß ein paar Tropfen des schalkhaften Blutes ihres Bruders Shintu flössen. Und wer war er schon, dass er sich in diesem Fall schlecht deswegen fühlten sollte? Zudem musste er widerwillig zugeben, dass sie Recht hatte. Indem er sie verließ, half er ihr am besten. Zwei Mal hatte er darin versagt, sie zu beschützen; nur um Haaresbreite war sie den Meuchelanschlägen der gedungenen Mörder ihres Vaters entgangen. Er wusste zwar 448 nicht, welches Spiel sie mit Zahn trieb, aber er war froh, aus all dem draußen zu sein, sobald die Botschaft überbracht war. Seine Verpflichtung wäre damit erfüllt. Solange Mishani überlebte, wäre Muraki durch ihre Ehre gebunden, Geblüt Mumaka von den Fesseln an ihre Familie zu befreien. Trotz der Fieberschmerzen brachte er ein mattes Lächeln zustande. Sein ganzes Leben lang hatte er hügelaufwärts gekämpft, um die Vorurteile zu überwinden, die einem an Kindes statt aufgenommenen Menschen entgegengebracht wurden. Und es hatte auch nicht geholfen, dass seine Eltern später eigene Kinder in die Welt zu setzen vermochten, wofür die Arzte ihnen keinerlei Hoffnung eingeräumt hatten. Jeden Tag war er gezwungen gewesen, sich gegen seine Geschwister zu behaupten. Aber obschon er nicht elegant, feinsinnig oder gebildet sein mochte wie seine jüngeren Brüder, konnte er voller Stolz in den Spiegel blicken. Er hatte entscheidend dazu beigetragen, seine Familie aus der Ungnade zu erheben, in die sie durch seine Eltern gefallen war, und nun würde er sie obendrein noch von der Schuld befreien, die erwachsen war, indem sie Liebe über Politik gestellt hatten.
Bewusstlosigkeit kroch auf ihn zu, verschuf ihm Erleichterung von dem Fieber; jäh erwachte er wieder, als sich etwas an der Zeltklappe bewegte. Mühevoll hob er den Kopf und spähte in die Finsternis. Seine Augen weigerten sich, scharf zu sehen. Zwar vermochte er niemanden zu erkennen, doch das tat seiner Überzeugung keinen Abbruch. Jemand war beim ihm im Zelt. Das Gefühl war so deutlich, dass Gänsehaut seine Arme überzog. Er stützte sich auf die Ellbogen, sah sich abermals um und versuchte, den flüchtigen Schatten zu finden, den er erspäht hatte. Sein Kopf 449 wurde leicht. Eine Sinnestäuschung? Der Arzt hatte ihn davor gewarnt, dass der Aufguss Nebenwirkungen haben konnte. »Ist jemand hier?«, fragte er schließlich, als er die Stille nicht mehr ertragen konnte. »Ich bin hier«, antwortete eine Stimme neben Chiens Bett, und die Überraschung ließ ihn heftig zusammenzucken. Ein schwarzer Schemen, der ob der Arznei in seinem Kreislauf verschwommen wirkte, stand neben ihm. »Du hast meinem Auftraggeber eine Menge Ärger bereitet«, zischte der Mann. Gleichzeitig spürte Chien, wie ihm eine behandschuhte Hand die Nase zuhielt und ihm ein Holzfläschen zwischen die Lippen geschoben wurde, bevor er sie schließen konnte. Er warf sich hin und her, versuchte zu schreien und verschluckte sich an der Flüssigkeit in seinem Mund. Dann presste sich eine weitere Hand auf sein Gesicht, um zu verhindern, dass er sie ausspuckte. Unwillkürlich schluckte er, um wieder Luft zu bekommen; erst da wurde ihm klar, was er getan hatte. »Lebwohl«, sagte der Schemen. »Schön runter damit.« Mit vor stummem Entsetzen geweiteten Augen erschlaffte Chien. Eine neue Benommenheit breitete sich in ihm aus, verwandelte seine Muskeln in Blei. Seine Glieder wurden zu schwer, um sie zu heben; sein Kopf fiel kraftlos zurück auf das Kissen. Ein furchtbarer Schlaf senkte sich auf ihn herab, zu schnell, um sich dagegen zu wehren. Binnen weniger Lidschläge lag er mit offenen Augen still; seinen Pupillen glichen schwarzen Tassen, die an die Decke des dunklen Krankenzeltes starrten. Der Eindringling nahm die Hände von Chiens Gesicht und beobachtete, wie sein Atem zu flachen Stößen abflaute und letztlich ganz verebbte. 450 »Ich überantworte dich Omecha und Noctu, Chien so Mumaka«, murmelte der Meuchelmörder und schloss mit den Fingern die Augen des Händlers. »Möge dir im Goldenen Reich mehr Glück beschieden sein.« Damit verschwand der Schemen, huschte hinaus ins Lager, um wieder in die Maske als Soldat in Barak Moshitos Armee zu schlüpfen. Barak Avun tu Koli mochte fern im Norden weilen, aber sein Arm war lang. Chien erkaltete in der Dunkelheit, ein Tod, den man am nächsten Morgen dem Fieber zuschreiben sollte, und seine Botschaft blieb letzten Endes unüberbracht. Reki tu Tanatsua, Schwager des Kaisers von Saramyr, kauerte in einem Winkel einer verlassenen Kate und weinte in das Haar seiner Schwester. Er hatte den Rahn bei Sonnenuntergang überquert, nachdem er Hals über Kopf aus Axekami aufgebrochen und die ganze Nacht durchgeritten war. Die Brücke am Ostpfad war viel zu gefährlich gewesen, aber er hatte mühelos einen Fährmann gefunden; eine kleine Gnade, für die er hätte dankbar sein sollen, wäre er zu einer solchen Empfindung in der Lage gewesen. Aber der Kummer in ihm ließ keinen Platz für etwas anderes, und so schluchzte er in den Schatten der alten Feldarbeiterkate, die er als Unterschlupf entdeckt hatte. Er war umgeben vom Geruch des schimmligen Strohbettes und rostigen Sicheln, die an der dünnen Bretterwand lehnten. In unmittelbarer Nähe wieherten die Pferde leise vor sich hin. Die Enge behagte ihnen nicht, aber er hatte nicht gewagt, sie draußen zu lassen, und sie waren zu erschöpft, um sich wirklich unruhig zu zeigen. Müde mampften sie Hafer aus ihren Fressbeuteln und schenkten ihm keine Beachtung. 451 Den ganzen Tag und einen Großteil der Nacht war er geritten, dennoch war Schlaf seinen Gedanken ferner denn je. Es war ihm einerlei, ob er überhaupt jemals wieder schlafen würde. Jedenfalls glaubte er kaum, dass dieser überwältigende Kummer, diese Bitterkeit und dieser Schmerz je weichen würden. Wie grausam die Welt doch sein konnte: Just als er leidenschaftliches Glück mit Asara gefunden hatte, war ihm alles entrissen worden, war er mit einer entsetzlichen Verantwortung in die Nacht hinausgeschleudert und gezwungen worden, seine Schwester zu verlassen. Er konnte sich nicht dazu durchringen, sich den entsetzlichen Zustand ins Gedächtnis zu rufen, in dem er Laranya vorgefunden hatte. Es erschien ihm eine Verunglimpfung des Menschen, der sie gewesen war, immer gewesen war, bis Mos sie so zugerichtet hatte. Die Pein schien so allmächtig, dass er kaum zu atmen vermochte; der körperliche Schmerz in seiner Brust und seinem Magen ließ ihn sich krümmen. Zu jenem Zeitpunkt hatte er noch keine Ahnung, dass seine Schwester bereits tot war. Sie würden nach ihm suchen, hatte sie gesagt. Sie würden trachten, ihn aufzuhalten. Mos hatte eine Grenze überschritten, und es war unmöglich zu sagen, wozu er nun fähig war. Reki hatte es eigentlich nicht verstanden: Er hatte nicht gewusst, was seine Schwester vorhatte, wie sie ihre Demütigung den Bediensteten der Feste zur Schau stellte, damit die Gerüchte sich nicht mehr unterdrücken ließen, und dass sie sich das Leben nehmen wollte, um zu gewährleisten, dass Vergeltung aus der Wüste kommen würde. Er glaubte nicht, dass Mos es wagen würde, ihn gefangen zu nehmen und gegen seinen Willen festzuhalten. So abscheulich seine Taten
gewesen sein mochten, Entführung war eine andere Größenordnung. 452 Doch all das spielte nun keine Rolle. Um seine Faust war das Haar seiner Schwester geknotet. Sie hatte ihm aufgetragen, es ihrem Vater zu überbringen. Die Ehre verpflichtete ihn dazu, so wie sie Geblüt Tanatsua verpflichten würde. Und Geblüt Tanatsua, eine der mächtigsten der Familien Tchom Rins, würde die anderen Familien im Namen Surans zu Hilfe rufen. Reki hegte keine Zweifel daran, dass sein Vater eine mächtige Armee aufstellen konnte und würde. Traditionell kapselte das Wüstenvolk sich eher ab, kümmerte sich um die Angelegenheiten innerhalb seines Hoheitsgebietes und mischte sich nicht in die Politik des Westens. Den Kaisern und Kaiserinnen war es nur recht so. Trotz der Weber, die ihnen zur Verfügung standen, war die Wüste ein schwierig zu verwaltender Ort, und wer in den fruchtbaren Ländern diesseits des Tchamil-Gebirges lebte, hatte wenig Ahnung von den mannigfaltigen Sitten und Gebräuchen der Anbeter Surans. Obwohl sie alle Teil desselben Reiches waren, konnten benachbarte Kulturen in einem so großen Land wie Saramyr einander wie Fremde sein. Reki hielt Krieg in der Hand. Es war eine Verantwortung, die er nicht wollte. Doch wenn er sie scheute, würde er seine Schwester verraten, die durch die Hände des Mannes, den sie liebte, schrecklich gelitten hatte. Rekis eigener Kummer war nichts im Vergleich zu dem ihren, doch das vermochte ihn nicht zu trösten. Die von Schluchzern begleiteten Tränen wollten einfach nicht versiegen, schwemmten ein endloses Meer der Scham, der Schuld, des Hasses und des Jammers empor. Er ging so im eigenen Elend auf, dass er weder hörte, wie die Tür der Kate sich öffnete und schloss, noch wie der Neuankömmling zu ihm herüberkam. Erst als er eine Berührung an der Schulter spürte, zuckte er jäh 453 zusammen, presste sich in den Winkel der Kate und wand sich von dem über ihm aufragenden Schatten weg. »O Reki«, sagte Asara. Beim Klang ihrer Stimme wimmerte er, warf die Arme um ihre Beine und fing wieder an zu weinen. Sie kniete sich neben ihn, ließ sich von ihm festhalten und erwiderte die Umarmung. Dort in der Dunkelheit umklammerte er sie, als wäre sie die Mutter, die er nie gekannt hatte, und sie tröstete ihn. Eine lange Weile verharrten sie so. Die Pferde wieherten leise, und der Herbstwind ließ die Katentür in der Verriegelung rattern. »Warum bist du hier?«, brachte er schließlich hervor und berührte ihr Gesicht voll glückseliger Verwunderung, als wäre sie eine gnadenvolle Gottheit, die gekommen war, um ihn zu retten. »Denkst du etwa, du könntest es alleine schaffen?«, fragte sie. »Ich bin deiner Spur so mühelos gefolgt, als hättest du mir eine Karte zurückgelassen. Und wenn ich es konnte, können es auch andere. Ohne mich wirst du vor dem nächsten Mondaufgang erwischt.« »Du bist mir nachgeritten«, schluchzte er und umarmte sie erneut. Sanft schob sie ihn weg. »Beruhige dich«, forderte sie ihn auf. »Du bist kein Kind mehr.« Das verletzte ihn, und sein tränenverquollenes Gesicht zeigte, wie gekränkt er sich fühlte. »Wir müssen jetzt gleich aufbrechen«, erklärte sie mit fester Stimme. In den Schatten zeichnete sie sich nur als formloser Schemen ab, ihre Augen aber funkelten seltsam. »Dieser Ort ist zu gefährlich. Ich führe dich auf schnellere und weniger bereiste Straßen. Ich werde dafür sorgen, dass du den Eid deiner Schwester überbringst.« 454 Reki rappelte sich auf die Beine, und Asara erhob sich mit ihm. Seine Augen brannten, seine Nase lief. Verlegen wischte er sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Du könntest hingerichtet werden, wenn man dich erwischt«, flüsterte er. »Ich weiß«, antwortete sie. »Darum werde ich sicherstellen, dass man uns nicht erwischt.« Er schniefte laut. »Du solltest nicht hier sein.« »Bin ich aber.« »Warum?«, fragte er abermals, da sie ihm beim ersten Mal keine richtige Antwort gegeben hatte. Flüchtig küsste sie ihn auf die Lippen. »Das wirst du schon selbst herausfinden müssen.« Sie führten die Pferde hinaus zu jenen Asaras und ritten in die Nacht hinein. Später würde sie ihm vom Selbstmord seiner Schwester erzählen. Vorerst reichte es, ihn in Sicherheit zu bringen und auf dem langen Weg nach Südosten in die Länder seines Vaters zu beschützen. Sie würde gewährleisten, dass er Laranyas Haar in die Hände von Barak Goren übergab. Sie würde dafür sorgen, dass er den Bürgerkrieg auslöste, der kommen musste. Während sie über die Felder und Sümpfe reisten, waren Asaras Augen kalt. Sie dachte über den Mord an der Kaiserin nach. Ursprünglich hatte sie nicht vorgehabt, Laranya etwas anzutun. Tatsächlich war sie von Cailin gesandt worden, um die Entwicklungen innerhalb der Kaiserfamilie im Auge zu behalten, denn es waren Gerüchte über Mos' Wahnsinn nach draußen gedrungen, und Cailin hatte vermutet, dass demnächst etwas geschehen würde. Wenn es soweit war, wollte sie Asara an Ort und Stelle haben, um sich der Sache anzunehmen. Nur 455 wenige Tage vor Mos' kleiner Meinungsverschiedenheit mit seiner Gemahlin hatte Asara sich äußerst vorsichtig in die Kaiserliche Feste eingeschlichen. Als Spitzel war sie unerreicht, und für ein Geschöpf wie sie war es ein Leichtes gewesen, in die Feste - und in das Bett eines schüchternen, jungen Mannes - zu gelangen. Trotz ihres Äußeren war sie alt, hatte viel gesehen
und viel gelernt. Es war keine große Herausforderung gewesen, sich in die Gesellschaft der Dichter, Stückeschreiber und Musiker einzuschmeicheln, mit denen Laranya sich umgab. Sie besaß eine größere Fülle an Wissen als die meisten von ihnen, was für eine scheinbar so junge Frau wahrhaft bemerkenswert war. Von dort aus hatte der Klatsch über Eszel und Laranya zu Reki geführt, und so war sie bei ihm vorstellig geworden. Auch das war nicht schwierig gewesen. Er war noch fast ein Knabe, gänzlich unerfahren mit Frauen. Es war denkbar einfach gewesen, ihn zu verführen. Dann die Kaiserin. Reki hatte ihr von den Träumen erzählt, die Mos heimgesucht hatten. Asara hatte dieses Mosaikteilchen mit dem Armeeaufmarsch des Geblüt Kerestyns, der drohenden Hungersnot und dem zusammengefügt, was sie getarnt als Saran Ycthys Marul über die Weber in Erfahrung gebracht hatte, und war zu einem einzigen Schluss gelangt. Zu jenem, den sie ohnehin vermutet hätte. Die Weber trieben Mos in den Wahnsinn. Damit er seiner Gemahlin ein Leid antat. Sie wollten, dass die Wüstenfamilien in das Spiel hineingezogen wurden. Und deshalb wollte es auch Asara. Wenn sich ihr eine Gelegenheit bot, kannte sie kein Zaudern. Wenn Asara etwas mit Bestimmtheit wusste, dann dies: So wie die Dinge standen, konnten die Libera Diamach die Weber nicht besiegen. Nicht jetzt, nicht in zehn 456 Jahren und wahrscheinlich wohl nie. In dem Augenblick, in dem Lucia an die Öffentlichkeit träte und Anspruch auf den Thron erhöbe, würde die geballte Kraft der Weber sie töten und die Libera Dramach vom Antlitz der Erde vertilgen. Lucia konnte das Reich nicht erobern. Die Weber hingegen mit ein wenig Hilfe von Asara sehr wohl. 457 SECHSUNDZWANZIG Der Angriff auf Zila begann mitten in der Nacht. Die Wolkenfetzen an Saramyrs Westküste hatten sich gegen Sonnenuntergang zu einer düsteren Decke verdichtet, und als die Dunkelheit einsetzte, war sie fast vollkommen. Keine Sterne funkelten, Aurus war überhaupt nicht zu sehen und Iridima nur als diesiger, weißer Schemen am Himmel, dessen Strahlen erstickten, bevor sie die Erde erreichen konnten. Dann setzte der Regen ein: erst ein warnendes Nieseln, ein paar schleichende, feuchte Spritzer auf dem Stein der Stadt, bevor der richtige Guss folgte. Mit einem Schlag war die Nacht von Leben erfüllt, hämmerten Tropfen vom Himmel herab, verdampften zischend in Fackeln. Es war ein schmerzlicher, wilder Regen, der die Kleider der Männer durchdrang, die bewaffnet Wache schoben und mit zu Schlitzen verengten Augen die fernen Lagerfeuer der Armee beobachteten. Sie flackerten in einem Kreis um den Hügel, auf dem Zila thronte, bildeten inmitten der sonst völligen Finsternis Lichtinseln, die nichts erhellten. Schließlich erloschen sie, wurden vom Regen ertränkt. Die sintflutartigen Niederschläge hielten stundenlang an. Zila wartete gleich einer Krone aus schimmernden Fenstern und Laternen, die in regengepeitschter Schwärze hing. Der Mann, der als Erster bemerkte, dass etwas nicht stimmte, war ein Schönschreiber, ein gebildeter Bursche, der so wie viele andere in den Sog der Ereignisse im 458 Umfeld der Übernahme der Stadt geraten war und keine klare Vorstellung hatte, wie er gegen den Strom schwimmen sollte. Zum Wachdienst war er von einer Befehlskette eingeteilt worden, die er nicht verstand, und er hatte widerspruchslos gehorcht. Nun war er bis auf die Knochen durchnässt und fühlte sich elend, während er eine Büchse in den Händen hielt, die er nicht zu verwenden wusste, und jeden Augenblick damit rechnete, von einem Pfeil aus dem finsteren Abgrund jenseits der Stadtmauern in die Stirn getroffen zu werden. Vielleicht war er ob dieser furchtsamen Erwartungshaltung aufmerksamer als die anderen Wachposten in jener Nacht. Nach mehreren ereignislosen Nächten hatten sie sich auf eine lange Zeit der Verhandlungen und Vorbereitungen eingestellt, ehe es zu einem tatsächlichen Kampf kommen würde. Die Hitze des Aufstands war mittlerweile in ihnen abgekühlt, und die meisten hatten sich mit einem langen Herbst und einem noch längeren Winter abgefunden, die sie eingesperrt in Zila verbringen würden. Welche Wahl hatten sie schon? Der Gedanke, sich der Gnade der Armeen auszuliefern, widerstrebte ihnen zutiefst, selbst wenn sie in der Lage gewesen wären, die Stadt zu verlassen. Einige fragten sich inzwischen, ob es nicht besser gewesen wäre, den Statthalter weiter seine Vorräte horten zu lassen und irgendwie die Hungersnot zu überstehen; ihre Gefährten aber erinnerten sie daran, dass sie nun mit einem wohlig gefüllten Bauch dachten, und litten sie stattdessen Hunger, wären sie wohl kaum so selbstgefällig. In Zila gab es Essen, jedenfalls mehr, als sie draußen bekämen. So wie der Schönschreiber fragten sich viele, wie sie in dieses Schlamassel geraten waren und wie sie mit heiler Haut herauskommen könnten. 459 Während er eben diese Gedanken wälzte, hörte der Schönschreiber Geräusche über dem beständigen Trommeln des Regens. Der Wind peitschte in unsteten Böen bald hierhin, bald dahin, schleuderte ihm warme Tropfen entgegen, und wenn er in seine Richtung blies, vermeinte er vereinzelt, das Knarren oder Quietschen eines Rades zu vernehmen. Da er ein zaghafter Mann war, fürchtete er, sich in Verlegenheit zu bringen, indem er die anderen Wachen daraufhin wies, und so zog er es vor, eine lange Weile nichts zu unternehmen. Und doch hörte er die Laute immer wieder - ganz leise im Wind -, und allmählich schwoll in seiner Brust die Gewissheit an, dass etwas
nicht stimmte. Die Geräusche waren flüchtig genug, um schierer Einbildung entsprungen zu sein, nur besaß er keine solche. Er war ein besonnener, praktisch veranlagter Mann, der noch nie anfällig für Hirngespinste gewesen war. Schließlich teilte er seine Bedenken dem nächsten Mann auf der Mauer mit. Dieser lauschte, und kurz darauf erstattete er seinem Offizier Meldung. So erlangte der Wachbefehlshaber davon Kenntnis. Der Befehlshaber ließ den Schönschreiber berichten, was dieser gehört hatte. Andere Männer gesellten sich dazu: Auch sie hatten es vernommen. Angestrengt starrten sie in die Dunkelheit, doch die regenverschleierte Nacht war undurchdringlich. »Zündet eine Rakete«, befahl der Befehlshaber letztlich, obschon es ihm widerstrebte: Er fürchtete, er könnte damit unnötig die eigenen und feindlichen Truppen gleichermaßen aufschrecken. Noch mehr aber missfiel ihm sein Gefühl der Beklommenheit. Wenig später zerriss ein schrilles Pfeifen die Nacht. Das Feuerwerk stieg in hohem Bogen gen Himmel und zog einen dünnen Rauchschweif hinter sich her. Das 460 Pfeifen verhallte, und ein greller Lichtball erstrahlte, ein loderndes Gleißen, das den gesamten Hang erhellte. Was sie sahen, entsetzte sie. Am Fuß des Hügels wimmelte es vor Soldaten, erstarrt wie ein Flachrelief im Blitzstrahl der falschen Sonne. Über die Lederrüstungen hatten sie schwarze Juteumhänge gehüllt, um ihre Farben zu verdecken, und im Schutz dieser Tarnung waren sie vorgerückt, hatten still und heimlich ein mögliches Schlachtfeld überquert, auf dem die Bevölkerung von Zila sie mit Bogen und Feuerkanonen unter schweren Beschuss hätte nehmen können. Unter den Umhängen wirkten sie wie eine Horde seltsamer, übergroßer Käfer mit glitschigen Rücken, die verstohlen zu den Stadtmauern emporkrochen und Mörser, Leitern sowie eigene Feuerkanonen mitschleppten. Die schiere Plötzlichkeit des Bildes war grauenerregend, so als löste man einen Verband und fände darunter eine Wunde, die vor Maden schwirrte. An die dreitausend Mann erklommen den schlammigen Hügel Richtung Zila. Als das Feuerwerk erlosch, brandete gewaltiger Lärm auf, sowohl aus der Stadt als auch von den Soldaten darunter. Im letzten Licht der Rakete warfen sie die Umhänge ab und rissen sie von den Läufen der Feuerkanonen, die zu knurrenden Hunden oder kreischenden Dämonen geformt waren. Dann kehrte die Schwärze zurück, die sie wieder verbarg; Zila hingegen war von Lichtern erhellt und konnte sich nicht verstecken. Alarmglocken wurden geläutet. Stimmen brüllten Befehle und Warnungen. Männer ließen Eintopfschüsseln fallen und hetzten zu den Waffen, die sie achtlos an Wände gelehnt hatten. Dann eröffneten die Feuerkanonen den Beschuss. Als die Eisenmäuler der Geschütze Flammen spien, 461 blitzte in der Dunkelheit am Fuß des Hügels erneut Licht auf, das kurz die im Laufschritt anrückenden Soldaten erhellte. Die Geschosse stiegen träge empor und flogen über die Mauern, schwarze Kugeln, aus deren Rissen in der Oberfläche chemisches Feuer troff, während sie sich drehten. Sie durchschlugen die Dächer von Häusern, zerbarsten auf den Straßen, rissen Brocken aus Gebäuden. Wenn der Aufprall hart genug war, brachen sie auf und versprühten ein Gelee, das sich bei Berührung mit der Luft entzündete. Lodernde Streifen rasten über die Kopfsteinwege Zilas, und der Regen war außerstande, sie zu löschen; dunkle Heime erstrahlten jäh, als ihr Inneres sich in eine Feuersbrunst verwandelte; gellende Gestalten, Männer und Frauen und Kinder, taumelten wild um sich fuchtelnd umher, während ihre Haut gebraten wurde. Die erste Salve war verheerend. Die zweite ließ nicht lange auf sich warten. Bakkara war aus dem Bett, bevor das erste Pfeifen der Rakete verhallt war, und legte gerade die Lederrüstung an, als das Geschoss einschlug. Mishani war zur selben Zeit erwacht, aber sie hatte nicht verstanden, was das Feuerwerk bedeuten mochte. Beim Klang der Explosion jedoch setzte auch sie sich ruckartig in Bewegung. Während Bakkara ans Fenster stürzte und die Läden aufriss, schlüpfte sie in ihr Gewand und bündelte das Haar zu einem dicken Schwanz, den sie unten verknotete. Bakkara stieß einen wüsten Fluch aus, als er auf die Dächer Zilas hinabschaute und die bereits emporzüngelnden Flammen erblickte. »Ich wusste, dass sie es so machen würden«, knirschte er zwischen den Zähnen hervor. »Die Götter sollen sie verfluchen! Ich wusste es!« Er wandte sich vom Fenster ab und zu Mishani um, die 462 gerade in die Sandalen schlüpfte. »Wohin willst du?«, verlangte er zu erfahren. »Ich komme mit dir«, antwortete sie. »Weib, ich warne dich, das ist nicht die rechte Zeit, um mir zur Last zu fallen.« Plötzlich erzitterte die Kammer unter einem ohrenbetäubenden Einschlag, einem Beben, das Bakkara aus dem Gleichgewicht brachte, so dass er an einer Frisierkommode Halt suchen musste, um sich zu stützen. Die Feste war getroffen worden. Zwar konnten Feuerkanonengeschosse so dicke Mauern nicht durchdringen, doch dafür troff ein loderndes Rinnsal die Flanke der Feste hinab auf den Hof darunter. »Hier bleibe ich nicht; es ist das auffälligste Ziel in Zila«, erklärte sie. »Geh. Kümmere dich nicht um mich. Ich
halte schon Schritt.« Sie hätte nicht zu sagen vermocht, weshalb sie das Bedürfnis verspürte, ihn zu begleiten. Sie wusste nur, dass diese Art des Erwachens sie mit Furcht erfüllt hatte und sie nicht alleine gelassen werden wollte, um darüber nachzugrübeln, welches Los die Stadt ereilen mochte. »Nein, du hast Recht«, räumte Bakkara ein, der sich kurz beruhigte. »Ich weiß einen sicheren Ort für dich.« Mishani wollte sich eben erkundigen, was er damit meinte, doch die Gelegenheit bot sich ihr nicht, denn Xejen stürzte brabbelnd in die Kammer. Offenbar war er wach gewesen, denn er wirkte nicht schlaftrunken, und sein Haar war ordentlich gekämmt; Mishani war bereits aufgefallen, dass er an ständiger Schlaflosigkeit litt. »Was machen die denn da, was machen sie nur?«, schrie er. Dann bemerkte er Mishanis Anwesenheit und schaute mit unverhohlener Überraschung zu Bakkara. Anschei463 nend hatte er nicht gewusst, dass sie das Bett miteinander teilten. »Bakkara, was -« »Sie greifen uns an, du Narr, wie ich es dir gesagt habe!«, brüllte er. Damit stieß er ihn beiseite und lief zur Tür hinaus. Xejen und Mishani folgten ihm, während er durch die Feste eilte. Draußen hatte das abgehackte Knallen von Büchsen eingesetzt, als die Männer auf den Mauern sich ordneten, um Widerstand zu leisten. »Wir waren in Verhandlung!«, erboste sich Xejen, der rennen musste, um mit Bakkara Schritt zu halten. »Sind ihnen die Geiseln denn einerlei? Wollen sie eine Stadt des Kaisers bis auf die Grundfesten niederbrennen?« »Wenn es nötig ist«, gab Bakkara kurz angebunden zurück. Ihm war der hilflose Zorn vertraut, den ein Soldat empfand, wenn er die Unfähigkeit eines Vorgesetzten erdulden musste, und er hatte gelernt, damit zu leben. Selbst wenn jemand in einer Befehlskette vermeinte, es besser zu wissen als derjenige über ihm, musste er die Anweisungen befolgen. Tief in seinem Herzen hatte Bakkara zwar nicht gedacht, dass die Baraks Zahn tu Ikati und Moshito tu Vinaxis eine Taktik wie diese anzuwenden wagen würden, trotzdem hatte er Xejen vor der Möglichkeit gewarnt. Xejen hatte nicht auf ihn gehört. Er hatte immer geglaubt, dass die Truppen des Reiches versuchen würden, sie zu zermürben: die Zeit mit Verhandlungen vergeuden, die Menschen gelangweilt, selbstgefällig und entmutigt werden lassen und so lange ausharren, bis die Moral der Aufständischen sank. Danach würden sie den Menschen selbst Angebote unterbreiten, um von innen heraus einen Umsturz herbeizuführen. Im schlimmsten Fall würden sie die Mauern angreifen, und Xejen war 464 überzeugt davon, dass sie durch den Vorteil des hohen Geländes einfach zu verteidigen wären. Bis zu einem gewissen Grad wären dem Kaiser die Hände gebunden: Er würde der Stadt so wenig Schaden wie möglich zufügen und gewiss nicht Tausende saramyrrische Bauern und Handwerker der Stadt töten wollen, erst recht nicht in so unbeständigen Zeiten. Wenn Xejen etwas wusste, dann, wie man Menschen beeinflusste, wie man sie anspornte oder zum Zweifeln brachte. Und er hatte vorgehabt, die Zeit der Verhandlungen dafür zu verwenden, die Ziele der Ais Maraxa zu verbreiten, um den Menschen Zilas etwas zu geben, woran sie glauben konnten, ein hehres Ziel, das ihre Unerschütterlichkeit gewährleisten würde. Er hatte sich darauf verlassen, dass die Generäle wenig Begeisterung für Kampfhandlung hegen und ihre Streitkräfte stattdessen für den sich zusammenbrauenden Bürgerkrieg aufsparen würden. Xejen dachte nur in seinen eigenen Bahnen, und er ging - verhängnisvollerweise - davon aus, dass jeder gebildete Mensch ebenso dachte. Er hatte geglaubt, es würde auf einen Willenskrieg hinauslaufen. Und hatte sich geirrt. Sie stürzten aus der Feste und in einen Tumult aus Regen, Schreien und Flammen, dann duckten sie sich unwillkürlich, als Geschosse über ihre Köpfe sausten, auf der gegenüberliegenden Seite Zilas explodierten und loderndes Gelee auf die Dächer spieen. Bakkara fluchte lauthals und raste die Stufen hinunter auf die Straße. Sein Haar war binnen weniger Sekunden klatschnass. Die Straße war voller vom Feuerschein erhellter Menschen, die wirr umherliefen und einander zubrüllten, in ihrer maßlosen Angst nach jeder Art von Deckung suchten, die sich bot. 465 Die Stufen der Feste beschrieben zwei Kehrtwendungen, ehe sie den Platz rings um das Bauwerk erreichten. Unten standen mehrere Wachen, Berufssoldaten, die wussten, dass sie ihre Posten selbst unter einem solchen Angriff nicht zu verlassen hatten. Bakkara klopfte einem von ihnen auf die Schulter. »Hol mehr Männer!«, befahl er drängend. »Früher oder später werden all diese Menschen die Feste für den einzigen sicheren Ort in Zila halten und hinein wollen. Das müsst ihr verhindern. Wir wollen nicht, dass sie drinnen Zuflucht suchen; wir wollen, dass sie hier draußen kämpfen!« Der Wachposten salutierte quer über die Brust und begann, Befehle zu erteilen. Bakkara wartete nicht. Er steuerte auf die Südmauer zu, wo der Schlachtlärm bereits einsetzte. Jene Mitglieder der Ais Maraxa, die über eine militärische Ausbildung verfügten, hatten gewusst, dass es ein schwieriges Unterfangen würde, Bauern und Handwerker zu einer wirkungsvollen Verteidigungsstreitkraft zusammenzuführen, aber selbst sie hatten nicht mit solch unglaublicher Unordnung gerechnet. Der Schlachtplan der Baraks war tadellos darauf ausgerichtet, Verwirrung zu stiften, Zila durch die unbarmherzige Heftigkeit des Angriffs in Panik zu stürzen. Feuerkanonen ließen wahllos Geschosse auf die Stadt herabregnen und bemühten
sich gar nicht zu zielen. Mörser schleuderten Bomben durch die Luft, die Mauerwerk zerstörten und erheblichen Schaden an den Mauern der Feste anrichteten. Die Menschen Zilas waren bereit für einen Kampf gewesen, doch dies war kein Kampf; dies war ein Gemetzel. 466 Zumindest schien es so. Tatsächlich - und das wussten Männer wie Bakkara - gab es wesentlich weniger Verluste, als das Ausmaß der Zerstörung nahe legte. Die Absicht bestand darin, den Schaden schlimmer aussehen zu lassen, als er in Wirklichkeit war. Der Regen verhinderte, dass sich die Feuer zu weit ausbreiteten, und die Außenmauer der Stadt war so stark wie eh und je. Die Stadtbewohner aber sahen nur, dass ihre Häuser in Flammen standen und ihre Familien von Grauen erfüllt flüchteten, weshalb viele von ihnen die Posten verließen, um zu versuchen, ihre Lieben vor Gefahren zu beschützen, in denen sie diese wähnten. Es dauerte lange, zu lange, bis Zilas eigene Feuerkanonen zu schießen begannen und flammende Furchen in die Ränge der Angreifer zogen. Feuerwerke schwirrten pfeifend gen Himmel und verwandelten sich in grellweiße Fackeln, die ein Bildnis sich plagender Menschen am Fuß der Mauer Zilas erhellten, als die Soldaten sich mit Schilden über den Köpfen durch Schlamm, Bogenschüsse und Büchsenfeuer kämpften. Abgesehen von Einsätzen wie diesen, wurden bei Schlachten in Saramyr selten Schilde verwendet, deshalb waren sie aus dickem Metall gefertigt, das stark genug war, Büchsenkugeln abzuhalten. An den Flanken der Formationen fielen zwar Männer, das Innere jedoch blieb unberührt, während unter dem Baldachin der Schilde Leitern nach vorne gereicht wurden. Aus der Ferne war das Unheil verkündende Knarren der herannahenden Belagerungstürme zu vernehmen; zudem trafen Verstärkungen ein, die an der ersten Angriffswelle nicht teilgenommen hatten. Die schlimmste Folge der Wirren aber war: Alle Augen waren gen Süden gerichtet, und niemand schaute nach Norden zum Fluss. 467 Die Dunkelheit, der Regen und die Wolken, die so wirkungsvoll die Armeen der Baraks verborgen hatten, taten dasselbe für die Soldaten, die den Zan überquert hatten und die steile Seite des Hügels erklommen, indem sie hintereinander die Treppe von den Docks zum kleinen Tor hinaufliefen und sich anschließend entlang der Mauer verteilten. Zwar hatten die Männer an der Nordseite ihre Posten nicht verlassen, aber unter den gegebenen Bedingungen war es unmöglich, etwas zu sehen; außerdem hatte der Geschosshagel die weniger Unerschütterlichen mit Panik erfüllt. Die Anweisung des Wachbefehlshabers, an der Nordseite der Stadt Feuerwerke zu entzünden, ging irgendwo in den Wirren unter, und während er auf eine Antwort wartete, die nie kommen sollte, schlug das Unheil ein. Vier Soldaten bewachten das kleine Nordtor auf der Innenseite. Es war mächtig dick, mit Nieten beschlagen und in Metall gefasst, aufgrund seiner Breite und gedrungenen Größe praktisch nicht zu durchbrechen. Die Neigung des Hanges dahinter, der steil zum Südufer des Zan hin abfiel, machte jeden Versuch eines Angriffs zu einem törichten Unterfangen. Man würde die Treppe verwenden müssen - denn die grasbewachsene Böschung war zu stark geneigt - und man böte ein einfaches Ziel für alles, was die Verteidiger von oben herabschleudern mochten. Etwaige Angreifer wären gezwungen, sich dicht auf dem schmalen Streifen ebenen Geländes neben den Mauern zu scharen, wo man brennendes Pech auf sie gießen konnte, während ein paar Soldaten erfolglos gegen das Tor hämmerten. Zwischen 468 dem Tor und der Böschungskante war nicht einmal genug Platz, um eine Ramme wirkungsvoll einzusetzen. Giri versah mit seinen drei Gefährten in der laternenerhellten Vorkammer Dienst und lauschte der Zerstörung Zilas draußen. Er war zwar Berufssoldat, doch ihm fehlte das rechte Gemüt dafür. Ihm gefiel weder das Kämpfen, noch konnte er der Kameradschaft etwas abgewinnen, die andere Soldaten so genossen. Die meiste Zeit verbrachte er mit dem Versuch, Posten zu erhaschen, an denen die geringste Wahrscheinlichkeit einer Gefahr für sein Leben bestand. Diesmal wähnte er sich glücklich. Er befand sich am wohl sichersten Ort der Stadt. Die erste Vermutung, dass etwas nicht in Ordnung war, keimte in ihm, als sein Kopf zu pochen begann. Zunächst war es nichts Besorgnis erregendes, lediglich ein leichter, dumpfer Schmerz, der wohl gleich wieder vergehen würde. Doch statt zu schwinden, schwoll er an. Giri kniff die Augen zusammen, dann blinzelte er heftig, als es immer schlimmer wurde. »Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte ihn einer der anderen Wachmänner. Giri fühlte sich alles andere als wohl. Die Qualen wurden unerträglich. Mit den Fingerspitzen bearbeitete er sein rechtes Auge, wurde von einer abartigen Eingebung angehalten, den schmerzenden Bereich zu berühren; doch er steckte in seinem Kopf, war wie ein kleines Tier, das in seinem Schädel krabbelte. Nun sah er, dass ein weiterer Soldat die Stirn runzelte, nicht wegen Giri, sondern wegen etwas anderem, als wäre ihm ein plötzlicher Gedanke gekommen, der zu wichtig war, um ihn zu verwerfen. Mittlerweile hatten alle diese Miene aufgesetzt, eine seltsame Aufmerksamkeit, so als lauschten sie auf etwas. 469 Dann drehte der Wachmann, der mit ihm gesprochen hatte, sich wieder zu ihm um und zog das Schwert aus der Scheide. »Du machst nicht mit, Giri«, stellte er fest.
Giris Augen weiteten sich, als er begriff. »Nein, halt! Bei den Göttern! Es ist ein Weber! Die haben da draußen einen Weber!« Bevor er mehr von sich geben konnte, drang die Klinge in seine Brust. Einer der drei Soldaten, die sich als weniger widerspenstig gegen den Einfluss des Webers erwiesen hatten, löschte die Laternen und entriegelte das Tor. Gemeinsam öffneten sie es dem Regen und der Dunkelheit davor. Schemenhaft war eine Maske aus kostbaren, in Winkel geschnittenen Metallen zu erkennen, eine gesplitterte, zerklüftete Fratze aus Gold, Silber und Bronze. Hinter der buckligen Gestalt warteten Soldaten in schwarzen Juteumhängen mit gezückten Schwertern. Sie stürmten an dem Weber vorbei, metzelten die unglücklichen Handlanger und sammelten sich in der Vorkammer. Dann schlichen sie verstohlen weiter nach Zila hinein. »Meldung erstatten!«, brüllte Bakkara über den Lärm einstürzender, in Flammen stehender Balken und das Donnergrollen der Sprengkörper. »Sie sind überall!«, rief der Wachbefehlshaber. Er war ein Mann mittleren Alters mit einem herabhängenden, nun klatschnassen Schnurrbart. »Sie haben es bis zur Mauer geschafft und stellen jetzt Leitern auf. Ein Drittel der Männer haben ihre Posten bereits verlassen; sie rennen wie Hohlköpfe überall in der Stadt umher.« 470 »Du hast sie nicht aufgehalten?«, fragte Bakkara ungläubig. »Wie denn? Indem ich sie töten lasse? Und wer würde sie schon töten? Das Stadtvolk bestimmt nicht, und wenn die Ais Maraxa in Schwertwahn verfallen, bricht unsere letzte, kümmerliche Verteidigung zusammen.« Der Befehlshaber wirkte niedergeschlagen. »Männer kämpfen nicht, wenn sie nicht wollen. Wir haben einen Aufstand angezettelt; aber wir haben keine Armee geschaffen.« »Sie werden getötet, wenn sie nicht kämpfen!«, empörte sich Xejen. So wie die anderen war er unter dem Holzvordach einer verwaisten Schänke nahe der Südmauer in Deckung gegangen. Auf der Straße liefen Menschen vorbei, die immer wieder von kurz aufzuckenden Blitzen erhellt wurden. Mishani lauschte dem Wortwechsel nur mit halber Aufmerksamkeit. Unter ihrem teilnahmslosen Äußeren war sie vor Angst förmlich gelähmt. Das dröhnende Getöse ringsum, das Wissen, dass sie jeden Augenblick in Flammen aufgehen konnten, zerfraß ihre Nerven. Sie wollte nichts lieber als zurück zur Feste; verzweifelt wünschte sie, das Bollwerk nie verlassen zu haben. Durch den Regen schaute sie empor und sah es in der Mitte der Stadt aufragen. Obwohl die Seiten versengt und verkohlt und sogar an manchen Stellen Brocken herausgebrochen waren, schien es immer noch viele Male sicherer als ihr gegenwärtiger Aufenthaltsort. Furcht hatte sie dorthin getrieben, wo der Kampf wütete, denn zuvor hatte ihr davor gegraut, in einem Turm auszuharren, der unter Beschuss stand. Aber sie hatte keine Ahnung von Krieg und war bestürzt von seiner Unbarmherzigkeit. Zwei Mal waren sie um ein Haar von Geschossen getroffen worden; mehrere Male waren sie an ver471 brannten und zerfetzten Leichen vorübergelaufen. Mishani hatte solche Grausamkeiten schon einmal gesehen, als sie Opfer eines Bombenanschlags im Marktviertel Axekamis geworden war; doch das war ein grässlicher Augenblick der Gefahr gewesen, gefolgt von den grausigen Nachwehen. Hier hagelten die Geschosse ohne Unterlass herab, und früher oder später musste sie eines treffen. Der Befehlshaber musterte Xejen mit ernster Miene. »Die sagen, die Männer werden verschont, wenn sie sich ergeben. Wir können irgendwo dort unten Barak Moshito hören.« »Unmöglich!«, schrie Xejen. »Weber«, sagte Bakkara. »Sie können die Stimme eines Mannes verstärken. Damals als ich in den Neuländern kämpfte, haben sie das gemacht, wenn Generäle sich an die Truppen wandten. Zweitausend Mann, aber jeder Einzelne konnte die Ansprache hören, als stünde der General unmittelbar vor ihm.« »Weber?«, wiederholte Xejen beunruhigt. »Was hast du denn erwartet?«, brummte Bakkara. »Wir brauchen dich auf der Mauer, Bakkara«, meldete der Befehlshaber sich zu Wort. »Dort oben geht es drunter und drüber. Die Männer wissen nicht, wie sie sich eines Sturmangriffs erwehren sollen.« »Niemand ergibt sich!«, kreischte Xejen plötzlich. »Bestellt das den Männern! Ganz gleich, was Moshito sagen mag!« Er schnaubte zornig. »Ich gehe selbst auf die Mauer und teile es ihnen mit.« Der Befehlshaber schaute verunsichert zu Bakkara. »Du willst die Männer anführen?«, fragte er Xejen. »Da es anscheinend sein muss, ja«, antwortete er. »Xejen ...« setzte Bakkara an, verstummte aber. Doch Mishani wollte nicht zulassen, dass er sich Xejen fügte, 472 nicht hier. Trotz all ihrer Angst erkannte sie, dass sie sich am Angelpunkt des Gleichgewichts der Macht befanden; und es war an der Zeit, dass sie das eigene Gewicht in die Waagschale warf. »Bei den Göttern, Xejen, lasst ihn seine Arbeit tun!«, herrschte sie ihn an, verlieh ihrer Stimme einen barschen, herabwürdigenden Tonfall. »Er ist der Schlachtführer, nicht Ihr!« Bakkara zog überrascht die Augenbrauen hoch. Sein Blick zuckte von Mishani zu Xejen. »Geh in den Unterschlupf. Hier kannst du nichts tun.« »Ich muss hier bleiben!«, begehrte Xejen sogleich auf.
Doch nun war es in eine Frage des Stolzes ausgeartet; obschon Bakkara es sich niemals eingestanden hätte, er würde sich nicht vor den Augen seiner Frau unterkriegen lassen, so unangemessen der Begriff auch sein mochte. Mishani hatte ihn richtig eingeschätzt. »Du tust Lucia keinen Gefallen, indem du dich töten lässt!«, brüllte Bakkara ihn an. »Und du, Mishani, dies ist nicht dein Kampf. Wenn du im Getümmel erwischt wirst, werden sie dich töten, Adelige hin, Adelige her.« »Leitern!«, rief jemand in der Ferne. »Es kommen noch mehr Leitern!« Der Befehlshaber starrte Bakkara drängend an. »Wir brauchen dich!«, wiederholte er. »Sie versuchen, die Mauer zu erstürmen.« »Geh!«, brüllte Bakkara Xejen an, dann drehte er sich um und rannte hinter dem anderen Soldaten her. Xejen und Mishani standen zusammen unter dem Vordach, von dem der Regen auf das Kopfsteinpflaster spritzte. Bakkara schaute nicht zurück. Xejen schien vorübergehend jeglicher Richtung beraubt. Mishani fiel seine Miene auf, und sie ahnte, dass die Dinge anders 473 sein würden, sollten sie diese Schlacht überleben. Unbeabsichtigt hatte Bakkara einen großen Schritt in Richtung Anführer der Ais Maraxa getan, und Xejen war geschwächt worden. Was Mishanis Zwecken sehr dienlich sein würde. »Wir sollten tun, was er sagt«, schlug sie vor. Sie war selbst überrascht, wie ruhig sie sich anhörte, obwohl alles in ihr danach brüllte, in die nächstbeste Zuflucht zu fliehen, die sie finden konnte. Bakkara hatte den Unterschlupf einmal erwähnt: eine kleine, unterirdische Flucht von Kammern, die von den Ais Maraxa bei Durchsicht der Aufzeichnungen des gestürzten Statthalters entdeckt worden war. Eine Zuflucht, wo sie vor den Bomben und Feuergeschossen geschützt wären. Voll hilfloser Wut spuckte Xejen auf den Boden aus, dann stapfte er in die Richtung los, aus der sie gekommen waren. »Folgt mir!«, forderte er sie mit trotzig vorgerecktem Kinn auf. Sie eilten die trostlosen, steilen Straßen Zilas entlang. Die hohen Gebäude drängten sich bedrohlich nahe heran, als sie von den Hauptwegen abbogen und durch die schmalen Gässchen liefen, die sich zwischen den Querstraßen erstreckten. Glimmendes Geröll hatte zahlreiche Pfade versperrt, und aus den Fenstern einiger Häuser züngelten Flammen, die sie von innen verbrannten. Menschen drängten sich an ihnen vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Einige von ihnen erkannten Xejen. Ein paar flehten ihn an, als besäße er die Macht, all dem ein Ende zu bereiten. Er riet ihnen, sich auf die Mauer zu begeben und zu kämpfen, falls sie noch ein wenig Stolz auf ihre Stadt übrig hätten. Verwirrt schauten sie ihn an und hetzten weiter. Soweit es sie betraf, waren die Dinge hoffnungslos. Der nüchterne, sachliche Teil von Mishanis Verstand 474 beobachtete Xejen sogar durch den Schleier der Angst hindurch. Er war erbost über den Verlauf der Ereignisse, fühlte sich verraten von der Willensschwäche der Stadtbevölkerung und von Bakkara; und dennoch las sie an seinem Gebaren ab, dass er nach wie vor höchstes Vertrauen in seinen Plan setzte, ganz gleich wie schlecht die Chancen standen, dass die Mauern Zilas halten würden. Er fluchte unterwegs unablässig, murmelte wütend vor sich hin, wenn er sah, wie Männer ihre Familien von den lodernden Gebäuden wegscheuchten. In seinen Augen konnten sie ihre Sicherheit am besten gewährleisten, indem sie für die Stadt kämpften, und er war schlichtweg nicht in der Lage zu begreifen, dass die Menschen dies nicht einsahen. Mit dieser Erkenntnis stand für Mishani eindeutig fest, dass sein Glaube an seine Ziele ihn blind für alles andere gemacht hatte, und das war der Grund, weshalb sie verlieren würden. Die Ais Maraxa waren gefährlich, nicht nur für das Kaiserreich, sondern auch für die Libera Dramach. Zaelis hatte das von Anfang an gewusst. Sie waren eine Belastung, wurden von ihrem glühenden Eifer dazu getrieben, unbedacht zu handeln und sich heillos zu überschätzen. Der Zufall hatte sie just zu einem Zeitpunkt in die Stadt geführt, da diese reif für den Sturz seines ungeeigneten Herrschers war, doch sie hatten weder die Mittel noch die Erfahrung, um Zila zu leiten, und erst recht nicht die Fähigkeit, es mit zwei Baraks und einer Vielzahl schlachterprobter Generäle aufzunehmen. Mishani hatte daran gearbeitet, den Schlamassel zu ihren Gunsten zu lösen, sich einen Pfad in die Sicherheit zu ebnen; doch die Ereignisse hatten sich zu überstürzt gegen sie gewandt. Wo war Zahn? Hatte er beschlossen, ihrer Nachricht keine Beachtung zu schenken? Bei den 475 Göttern, war ihm nicht klar, wie wichtig sie für ihn war? Wenn sie die Nacht überlebte, redete sie sich ein, bestünde immer noch eine Möglichkeit, Zila mit heiler Haut zu verlassen. Wenn sie die Nacht überlebte. Eben jene Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als die Mörserbombe mit ohrenbetäubendem Knall in das Gebäude neben ihr einschlug und die gesamte Fassade auf die Straße herabstürzte. Allein Xejens stets übermäßige Unruhe rettete sie. Er hatte das Geschoss einen Moment vor dem Aufprall erspäht, war in den offenen Eingang des Hauses gegenüber geprescht und hatte dabei den Ärmel von Mishanis Kleid gepackt. Im selben Augenblick, als der Lärm, das grelle Licht und die Wucht der Erschütterung sie geradezu lähmten, wurde sie jäh durch den Eingang gerissen und fiel über die Stufe, als die Straße, wo sie gerade noch gestanden hatte, sich in eine Lawine aus Stein und Holz verwandelte. Eine Staubwolke quoll in den Raum, drang in Mishanis Lungen und drohte, sie zu ersticken. Mit tränenden Augen konnte sie verschwommen Xejens Schemen ausmachen. Dann hörte sie das berstende Geräusch
splitternden Holzes und das entsetzliche Ächzen des Hauses rings um sie. Ihr war noch kaum klar geworden, dass sie dem Tod um Haaresbreite entronnen war, als sie über sich ein Krachen vernahm. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie hörte, wie die letzten Balken nachgaben; dann sauste die Decke auf sie herab. Bakkaras Klinge zischte in hohem Bogen herab, zerschmetterte das Schlüsselbein des Soldaten und trennte ihm beinahe den Kopf ab. Der Griff seines Opfers um die Leiter löste sich; der Mann fiel auf die Nachdrängenden 476 und riss einige mit, die schreiend auf die aufgerichteten Schilde ihrer Kameraden darunter stürzten. Bakkara und ein weiterer Verteidiger stießen das obere Ende der Leiter weg; sie schwang zurück und wankte kurz, dann vollführte sie eine Vierteldrehung und kippte, warf die letzten Männer ab, als sie auf die Köpfe der gegen die Südmauer Zilas stürmenden Angreifer krachte. »Wo sind denn alle?«, rief er verzweifelt und hetzte zu einer weiteren Leiter, die bereits gegen die Brustwehr klapperte. Sie hätten diese Stellung mit einem Zehntel der angreifenden Männer zu halten vermocht, doch nicht einmal so viele waren noch da. Die Verteidiger konnten nur versuchen, die Eindringlinge davon abzuhalten, über die Mauer zu gelangen. Bakkara fiel auf, dass Zilas Feuerkanonen verstummt waren, weshalb die Truppen der Baraks nunmehr umso furchtloser angriffen. Es war ein Krieger der Ais Maraxa, der ihm antwortete, ein ebenso kampferprobter und erschöpfter Soldat wie er. »Die Feiglinge sind von der Mauer geflüchtet«, knurrte er. »Einige zu ihren Familien, einige weil sie sich ergeben wollen. Die verstecken sich, bis alles vorüber ist, mögen die Götter sie verrotten lassen.« Bakkara fluchte. Dies war eine Katastrophe. Die Stadtbevölkerung hatte so gut wie aufgegeben, hatte ob des Anblicks ihrer brennenden Heime und der scheinbar unaufhaltsamen Übermacht des Feindes allen Mut fahren lassen. Wären sie zusammengeblieben, hätten sie dem Angriff standhalten können. Doch dafür waren Geschlossenheit und Disziplin vonnöten, und Xejens bunt zusammengewürfelte Armee besaß weder das eine noch das andere. Mehr Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, denn er hatte bereits die neue Leiter erreicht, mit deren Hilfe 477 zwei Soldaten des Geblüts Vinaxis auf den Laufsteg gelangt waren und auf ihn zurannten. Er schwang das Schwert hoch, um den unüberlegten Abwärtshieb des ersten Gegners abzuwehren, dann trampelte er dem Mann seitlich auf den Fuß und spürte, wie das Gelenk unter seinem Absatz nachgab. Sein Feind kreischte auf und fasste sich unwillkürlich an den Knöchel. Bakkara enthauptete ihn, als er die Deckung sinken ließ. Der Unglückselige sackte zusammen, während aus dem klaffenden Hals Blutströme quollen, die der strömende Regen fortschwemmte. Der Soldat der Ais Maraxa, dessen Name Hruji lautete, hatte sich seines Gegners ähnlich wirkungsvoll entledigt, und die beiden kippten die Leiter zurück, bevor weitere Angreifer nachdrängen konnten. Mit verbitterter Miene spähte Bakkara links und rechts die Mauer entlang. Da waren zu wenige Männer, viel zu wenige. Und fast alle gehörten zu den Ais Maraxa. Die Stadtbevölkerung hatte sie im Stich gelassen. Im Laternenlicht sah er kleine Gruppen von Soldaten, die auf und ab eilten, sich verzweifelt gegen die anstürmenden Feinde zur Wehr setzten. Doch die angreifenden Truppen schienen endlos, und seinen Männern ging die Kraft aus. Sie waren einfach nicht genug, um den Feind über eine solche Frontlänge zurückzuschlagen. »Bakkara!«, schrie jemand. Er drehte sich um und sah einen vom Kampf gezeichneten Mann über den Laufsteg auf sich zuhetzen. Er kannte das Gesicht, doch sein Gedächtnis verweigerte ihm den Namen. »Ich will eine gute Neuigkeit hören«, warnte ihn Bakkara, doch allein die Miene des Mannes verriet ihm, dass sie alles andere als das sein würde. »Sie sind durchs Nordtor eingedrungen! Sie haben 478 die Nordmauer eingenommen. Die Bauern ergeben sich ... einige helfen ihnen sogar in den Straßen dort oben. Unsere Männer flüchten nach Süden in die Stadtmitte.« Damit war es vorbei. Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren. »Wir ziehen uns zur Feste zurück«, sagte Bakkara. Die Worte fühlten sich wie Asche in seinem Mund an. »Die Stadt ist verloren. Alle zum Sammelpunkt. Von dort brechen wir auf.« Hruji und der Bote salutierten und preschten los, um den Befehl zu verbreiten. Bakkara schaute mit leeren Blick zu dem versengten, beschädigten Bauwerk, das über den brennenden Straßen Zilas aufragte, und fragte sich, ob seine Entscheidung etwas nutzen würde oder lediglich das Unvermeidliche hinauszögerte. Er vermutete Letzteres. Kurz darauf stimmte ein Hörn einen durchdringenden, klaren Ton an, der durch die schlachtbesudelte Nacht hallte: das Zeichen zum Aufgeben der Mauer. Dieses verlief ebenso wirr wie zuvor die Verteidigung. Zwar waren die Letzten, die ihre Posten verließen, Männer der Ais Maraxa, doch nicht alle waren Soldaten, und der Rückzug artete in eine wilde Flucht aus, als die feindlichen Soldaten über die verwaiste Mauer und in die Stadt zu strömen begannen. Gestiefelte Füße platschten durch Straßen, die sich in seichte Bäche trüben Wassers verwandelt hatten; mit furchtsamen Blicken spähten die überlebenden Bewohner Zilas zu der Flut von Schwertern, Büchsen und Rüstungen. Die Ais Maraxa rannten Hals über Kopf durch den Schein der Straßenlaternen, preschten aus Schatten ins Licht und wieder zurück,
flohen zum Sammelpunkt an der Kreuzung einer Querstraße und einer Seitengasse. 479 Bakkara stand am Nordende des Platzes, während die zerlumpten Krieger von allen Seiten eintrudelten. Mit düsterem Blick musterte er sie. Ihre Mienen zeugten von Ungläubigkeit, ihre Überzeugung war zerschmettert. So lange hatten sie im Geheimen gearbeitet und sich für unbesiegbar gehalten, gerechte Kreuzritter für ein von den Göttern gesegnetes Unterfangen. Doch in dem Augenblick, in dem sie ans Licht traten, waren sie von der Macht des Kaiserreichs zermalmt worden. Es war eine grausame Lektion, und Bakkara überlegte, was wohl aus den Ais Maraxa werden würde, sollte es ihnen gelingen, der drohenden Vernichtung zu entrinnen. Mittlerweile drängten sich genug Männer auf dem Platz, um den Befehl zum Aufbruch zur Feste zu geben. Durch die Feuer der Geschosse, die immer noch rings um sie einprasselten, führte er den Haufen im Laufschritt die steile, kopfsteingepflasterte Querstraße hinauf, die am bedrohlich aufragenden Bauwerk an Zilas Nabe mündete. Vielleicht konnten sie sich dort zumindest eine Atempause verschaffen. Neue Strategien könnten erörtert, neue Pläne geschmiedet werden. Aber wer würde sie schmieden? Er wischte sich den Regen aus den Augen und schleuderte dabei gleichzeitig seine Zweifel von sich. Neu formieren und verteidigen. Das war das Nächste, was zu tun war, und darüber hinaus würde er vorerst nicht denken. Er hatte nie über sein nächstes Ziel hinausgedacht. So war er nun mal. Sie gelangten zum Ende der Querstraße, einem großen, runden Platz, der die Feste umgab. Bakkara verlangsamte die Schritte, bis er zum Stehen kam, seine Männer taten es ihm gleich. Die Reglosigkeit breitete sich nach hinten aus, bis selbst jene in der Nachhut, die nicht nach vorne zu sehen vermochten, von einer grässlichen 480 Beklommenheit erfasst wurden und aufhörten weiterzudrängen. Vor ihnen am Fuß der Feste standen über tausend Mann in Reih und Glied; doppelt so viele, wie Bakkara zusammengezogen hatte. Bakkara holte tief Luft und wog ab, wie tief sie in der Tinte saßen. Der Raum zwischen den Ais Maraxa und den feindlichen Soldaten war so gut wie leer, ein dunkler, glitschiger Streifen halbkreisförmiger Pflastersteine. Zwei große Feuersbrünste zu ihrer Linken - wo sich Gelee aus den Geschossen noch immer des strömenden Regens erwehrte - tauchten die Umgebung in verschiedene Gelbtöne. Der Feind setzte sich aus einer Mischung aller Geblüte zusammen, die sich zur Niederschlagung des Aufstands eingefunden hatten; aber er sah darunter auch Bauern und Handwerker, Bewohner Zilas, die bestrebt waren, sich das Leben zu erkaufen, indem sie den Eindringlingen Hilfe leisteten. Bakkara versuchte, Abscheu für sie zu empfinden, stellte aber fest, dass er es nicht konnte. Es schien nunmehr zu belanglos. Über den Rängen, auf den Stufen, die zur Feste führten, erblickte er die matt schimmernde Maske eines Webers. Die Fratze aus kostbaren Metallen bildete einen krassen Gegensatz zu den Lumpen, die er trug. Bakkara brauchte nicht weiter emporzuschauen, um zu wissen, dass die Feste bereits eingenommen war. Männer murmelten angsterfüllt hinter ihm. Allein der Gedanke, sich einem Weber stellen zu müssen, reichte, um sie zaudern zu lassen. Doch die feindlichen Streitkräfte, die über die Südmauer gedrungen waren, holten mit jedem vergeudeten Augenblick auf. Bakkara spürte, dass er sofort handeln musste, wenn er ihre Gefolgstreue nicht verlieren wollte. Ihre Leben waren verwirkt, wenn sie gefangen wur481 den. Er wusste es mit der Gewissheit eines Mannes, der viele, viele Kriege miterlebt hatte. Und er wusste auch, dass es wesentlich Schlimmeres gab als zu sterben. »Ais Maraxa« brüllte er, so dass seine Stimme über die Menge zu hören war. Sie klang wie die Stimme eines anderen und schien die Worte eines anderen zu rufen. »Für Lucia! Für Lucia!« Damit schwang er das Schwert hoch empor und stimmte einen wortlosen Schrei an, und als einer der Männer, die ihm folgten, dasselbe tat, verpuffte ihr Augenblick der Schwäche beim Klang von Lucias Namen, besannen sie sich des Glaubens, der sie überhaupt erst hierher geführt hatte. In Bakkaras Brust wallte ein bewegendes Gefühl auf. Dann senkte er die Spitze des Schwertes in Richtung des Feindes, der sie mit besseren Waffen, besseren Büchsen und in größerer Zahl erwartete. »Angriff!«, brüllte er. Büchsen krachten und Schwerter schnellten klirrend aus den Scheiden, als der Rest der Ais Maraxa in den Tod brandete, und in den letzten Sekunden seines Lebens erfuhr Bakkara endlich, was es bedeutete, ein Anführer zu sein. 482 SIEBENUNDZWANZIG Als Nukis Auge über den östlichen Horizont aufstieg, blickte es auf ein anderes Zila herab. Der Surananyi in Tchom Rin, jenes Toben der todbringenden Göttin der Wüste ob des Mordes an der Kaiserin, war mittlerweile verebbt und verlieh dem folgenden Morgen eine knisternde und kristallene Klarheit. Ein solches Licht fiel über die gebrochene Krone Zilas. Von geschwärzten Dächern und offen in den Himmel ragenden Holzbalken kräuselten sich dicke Rauchschwaden in die Luft, wo der sanfte Wind sie nordwärts blies. Die Stadt präsentierte sich nicht mehr grimmig und trotzig, sondern nur noch als Gerippe ihres früheren Stolzes, und den
durch die Straßen wandelnden Stadtbewohnern standen Scham und Furcht vor den Folgen ihres Aufstands in die Gesichter geschrieben. Während die Sonne ihrem Höhepunkt entgegenkletterte, wurden Lager abgebrochen und näher am Hügel wieder aufgeschlagen. Einige Truppen zogen weiter, da ihre Anwesenheit andernorts dringender erforderlich war. Die Leichname der Erschossenen, Durchbohrten oder Verbrannten wurden vom Fuß der Stadtmauer beseitigt, und ein steter Strom von Karren rollte mit den Toten durch das Südtor aus der Stadt. Das Wiederherstellen der Ordnung und das Verfahren der Bestrafung würden lange dauern. Zila hatte sich gegen das Reich aufgelehnt, und es musste ein mahnendes Beispiel gesetzt werden. Letzten Endes war dies 483 Xejens Untergang gewesen. Er hatte nicht mit der rücksichtslosen Entschlossenheit der Baraks gerechnet, in Zeiten wie diesen den Stand der Dinge zu bewahren. Eine Hungersnot war im Anzug, nagte bereits an den Rändern Saramyrs und fraß sich allmählich den Weg ins Landesinnere voran. Die Gesellschaft wandelte auf einem schmalen Grat zwischen Ordnung und Wirren. In einem solchen Umfeld musste jegliche Auflehnung so unbarmherzig wie möglich zertrampelt werden. Nur mit strenger Ordnung konnte das Reich die bevorstehenden, harten Zeiten überstehen. Das gemeine Volk musste lernen, dass ein Umsturz unmöglich war. Deshalb griffen die hohen Familien Zila mit einer Gewalt an, die alles überstieg, was Xejen oder die Stadtbevölkerung erwartet hätten, indem sie sich in keinster Weise um die Sicherheit Unbeteiligter oder die Beschädigung der Bauwerke eines der bedeutendsten Orte Saramyrs kümmerten. Wäre es ihnen nicht gelungen, die Mauer zu überwinden, hätten sie Zila bis auf die Grundfesten niedergebrannt oder mit Sprenggeschossen dem Erdboden gleichgemacht. Aufstand war unduldbar. Das Volk von Zila hatte dies nun gelernt, und im Verlauf der nächsten Wochen würde es ihm wieder und wieder eingebläut werden. Die Botschaft würde die übrige Bevölkerung des Landes erreichen. Das Kaiserreich war unantastbar. Für Barak Zahn tu Ikati aber fühlte es sich an, als versuchte man, einem Leichnam Leben einzuhauchen. Für ihn war das Kaiserreich vor langer Zeit gestorben. Zwar hatte er entscheidend an der Planung des Angriffs der vergangenen Nacht mitgewirkt, aber sein Beitrag war bar jeglichen Gefühls gewesen. Im Gegensatz zu Barak Moshito tu Vinaxis oder den von den anderen hohen Familien gesandten Generälen brannte er nicht vor Eifer, ihre Lebensweise zu bewahren. 484 Dennoch hatte auch er einst so empfunden. Bevor Mos den Thron an sich gerissen hatte, bevor Anais tu Erinima getötet wurde. Bevor seine Tochter starb. Es war Mittag, als er von den Toren der rußeschwärzten Feste hinab auf den Platz ging, wo gerade die letzten Toten der Ais Maraxa entfernt wurden, deren Glieder schlaff herabhingen und deren verzerrte Gesichter von verschorften Wunden überzogen waren. Das geronnene Blut auf den Halbmondkacheln kochte in der sengenden Hitze und verströmte einen durchdringenden süßlichen Modergeruch, der sich in der Kehle sammelte und sie zu verstopfen schien. Die grauen und verwüsteten Straßen Zilas waren bereits getrocknet, nun präsentierten sie sich staubig und still, ein Irrgarten aus grellem Sonnenlicht und tiefschwarzen Schatten, in dem verschreckte Männer und Frauen umherschlichen und Zahns Blick mieden. Er war ein schlanker, langgliedriger Mann mit schlichten Zügen und pockennarbigen, neuerdings verhärmten und eingefallenen Wangen. Den Großteil verbarg sein ordentlich gestutzter, weißer Bart, nicht aber um die Augen, wo der Tribut seines langen Leidens deutlich erkennbar war. Über fünfzig Ernten hatte er miterlebt, doch die härtesten waren die letzten gewesen. Seit Lucia verloren war. Der Augenblick ihrer Begegnung hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt, als wäre es gestern geschehen. Seither hatte er ihr Aufeinandertreffen jeden Tag aufs Neue durchlebt, besann sich immer und immer wieder des grundlegenden Wandels, der sich in ihm vollzogen hatte, als er das ausgebürtige Kind zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Mit einem Schlag hatte er eine Gefühlsebene erfahren, von der er nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab, urtümlich tief in seinem Innersten hau485 send und unwiderstehlich. Da hatte er gewusst, was ein Mann empfinden musste, der seiner Gemahlin beim Gebären zusah: eine überwältigende Einführung in die Geheimnisse der wundervollen und zugleich schrecklichen Bande zwischen Eltern und Kind. Er hatte sie angesehen und es gewusst. All seine Sinne hatten gleichzeitig aufgebrüllt: Sie ist dein. Sie hatte es auch gewusst. Er hatte es an der Art gemerkt, wie sie die Arme um ihn warf, hatte es in jenen fahlen Augen gesehen, als Tränen darin aufwallten und aus ihnen sprach, wie verraten sie sich fühlte. Wo warst du}, hatten sie gefragt, und der Blick hatte ihm das Herz zerrissen. Dass er nicht gewusst hatte, eine Tochter zu haben, machte es auch nicht einfacher für ihn. Natürlich passten ihr Alter und der Zeitpunkt ihrer Geburt zu jenem kurzen, leidenschaftlichen Techtelmechtel, das er vor all den Jahren mit der Geblütskaiserin unterhalten hatte, aber schließlich hatte er damals gewusst, dass Anais indes immer noch mit ihrem Gemahl schlief, und als ihre Empfängnis bekannt gegeben worden war, hatte es unmöglich geschienen, dass es sein Kind sein könnte. Der Gedanke war ihm nur einmal kurz gekommen, doch er hatte ihn sogleich verworfen. Hätte sie vermutet, dass es Zahns Spross war, so war er überzeugt gewesen, sie hätte es ihm entweder erzählt oder das Ungeborene im Mutterleib vergiftet, ohne es je jemand anderen als ihren Arzt erfahren zu lassen. Es waren die einzigen politisch richtigen Vorgehensweisen. Als sie weder das eine noch
das andere tat, gelangte Zahn zu dem Schluss, dass er nichts damit zu tun hatte: Die Verbitterung, die er empfand, als sie ihre gefährliche Liebschaft beendete, hatte er bereits überwunden gehabt, und da nunmehr ein Thronerbe im Spiel gewesen war, hatte er sich glücklich 486 gewähnt, aus der Angelegenheit draußen zu sein. Kinder waren etwas, womit Zahn einfach nichts anfangen konnte. Zumindest hatte er das geglaubt. Doch in jenem Augenblick ihrer Begegnung hatten der Kummer, der Verlust, das Bedauern ihn regelrecht niedergeschmettert. Er hatte sich gefühlt, als hätte er sie bei ihrer Geburt verlassen. Von der Erfahrung wie betäubt, hatte er sich aus der Kaiserlichen Feste zurückgezogen, doch er hatte vorgehabt, alsbald wiederzukommen. Trotz all der Unruhen, die zu jener Zeit herrschten, obwohl er als einzigen Beweis die eigene, schlichte Überzeugung hatte, wollte er Anais zur Rede stellen. Er hätte zu erfahren verlangt, weshalb sie ihm Lucia vorenthalten hatte. Wie ein heißsporniger Jüngling hätte er allerlei Unbesonnenes unternommen, wären Anais und seine Tochter nicht zuvor getötet worden. Ob der Neuigkeiten war etwas in ihm verwelkt und nie wieder erblüht. Ein entscheidender Teil seiner Seele war geschrumpft und hatte sich verdunkelt, die Welt jeder Farbe beraubt. Immer wieder hatte er versucht, sich einzureden, es sei lächerlich, sich derart betroffen zu fühlen. Schließlich war er jahrelang in seiner Unwissenheit glücklich gewesen und hatte seine wahre Verbindung zu Lucia nur sehr kurze Zeit gekannt. Wie konnte er solchen Verlust für etwas empfinden, das er nur so flüchtig erlebt hatte? Doch die Worte hatten sich hohl angehört, und ihr Widerhall schien ihn stets zu verhöhnen, weshalb er es aufgegeben hatte, Vernunft anzuwenden. Das Elend breitete sich wie ein Geschwür in ihm aus und tötete etwas in ihm. Essen bereitete ihm kein Vergnügen mehr. Seine Gefährten fanden ihn verdrießlich und schwermütig. Er kümmerte sich kaum noch um die 487 Belange seiner Familie und seine Anwesen, verteilte zahlreiche Aufgaben, die eigentlich ihm oblagen, an jüngere Brüder und Schwestern. Er war immer noch ein fähiger Barak, doch er empfand nur noch Teilnahmslosigkeit und keinerlei Ehrgeiz. Zwar wahrte er die Besitztümer seiner Familie, aber ihm fehlte jede Leidenschaft für die politischen Spiele und das Rangeln um Macht, die einen wesentlichen Bestandteil der hehren Gesellschaft Saramyrs darstellten. Er hielt sich einfach nur über Wasser. Doch an jenem Morgen sollte etwas geschehen, das in seiner Brust den Funken von etwas längst Vergessenem entfachte, etwas, das ihm mittlerweile so fremd war, dass er Mühe hatte, sich des rechten Wortes dafür zu besinnen. Hoffnung. Törichte Hoffnung. Soldaten des Geblüts Ikati hatten eine Frau in Gewahrsam genommen, die bewusstlos in den Trümmern eines Gebäudes gefunden worden war. Offenbar war sie von einem herabfallenden Balken am Kopf getroffen worden, als die Decke auf sie herabstürzte. Derselbe Balken hatte ihr das Leben gerettet, denn er war in einem Winkel gelandet, der sie vor den rings um sie herabhagelnden Ziegeln schützte. Sie war von Stadtbewohnern entdeckt worden, die begonnen hatten, nach Überlebenden zu graben. Diese hatten sie Zahns Männern zusammen mit einem wesentlich wertvolleren Preis übergeben: Xejen tu Imotu, den die Bauern beflissen als Anführer der Ais Maraxa verrieten. Obwohl niemand wusste, wer die Frau war, zeugten ihre elegante Aufmachung und ihr erlesenes Haar davon, dass sie nicht aus Zila stammte, und die Nähe zu Xejen, in der sie gefunden worden war, verdammte die Frau. Sie war bewacht und gepflegt worden, bis sie das 488 Bewusstsein erlangte, woraufhin sie sogleich mit Barak Zahn tu Ikati zu sprechen gewünscht und behauptet hatte, sie wäre Mishani tu Koli. »Ich werde mit ihr reden«, hatte er dem Boten geantwortet, der ihm die Neuigkeiten überbrachte. Dann hatte er sich seiner Manieren besonnen und hinzugefügt: »Lasst sie bei Bedarf erst von meinen Bediensteten waschen und ankleiden. Sie ist von edler Geburt. Behandelt sie dementsprechend.« Und so war er durch die nunmehr stillen Straßen Zilas zu Mishani tu Koli unterwegs. Mishani empfing ihn neben ihrem Krankenbett, nicht darin. Sie fühlte sich durch den eingeatmeten Staub noch schwach, zudem war ihr ganzer Körper mit Blutergüssen übersät, und sie hatte einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf erlitten, weshalb ihre Augen nicht richtig scharf zu sehen vermochten. Die Ärzte gestatteten ihr nicht, ihre Kammer zu verlassen; stattdessen hielten sie sich in der Nähe, falls die Anstrengung, sich aus dem Bett zu erheben, zu viel für sie sein sollte und sie in Ohnmacht fiele. Das Wissen, dass sie eine Adelige und für ihren Barak wichtig war, hatte sie von herrischen und hochmütigen Männern in duckmäusernde Diener verwandelt. Als Zahn klingelte und eintrat, entließ Mishani sie mit einer flüchtigen Handbewegung. Die Arzte hatten eine Reihe unbeschädigter Häuser als Standort für ihr Wirken in Anspruch genommen und die Betten mit verwundeten Soldaten und Stadtbewohnern gefüllt. Mishani war zufällig oder aufgrund ihrer Aufmachung im Schlafzimmer des Heims eines wohlhabenden Händlers untergebracht worden. Das Bett war 489 eindeutig kostspielig, und die Wände schmückten Holzkohlezeichnungen und anmutige Wasserfarben. In einer
Zierhalterung aus Knochen befand sich ein Musterbrett, das ein Meerespanorama darstellte, dessen verwaschene Farben sich in einem dreidimensionalen Rechteck aus gehärtetem, durchsichtigem Gel verteilten. Zahn fragte sich müßig, ob der Besitzer all dieser Kostbarkeiten von der Bevölkerung im Zuge des Aufstands getötet worden war oder ob er noch lebte und nur auf die Straße gesetzt worden war. So ein Umsturz war schon eine unangenehme Geschichte. Mishani tu Koli stand in geliehenen Kleidern neben ihrem Bett. Das wallende, gekämmte Haar trug sie offen. Sie wirkte unverletzt, doch Zahn wusste ganz genau, dass sie sich lediglich nichts anmerken ließ. Es gab durchaus Hinweise darauf: Sie trug das Haar auf eine Weise, dass es die Wangen bedeckte und die Kratzer an ihrem Ohr verbarg; auf dem Rücken ihres Handgelenks, wo der Ärmel ihres Kleids nicht hinreichte, war ein leichter blauer Fleck zu erkennen; und schließlich war da noch der verräterische Umstand, dass sie sich nicht weit vom Bett entfernt hatte, falls die Kraft sie verlassen sollte. Zahn war ihr einige Male am kaiserlichen Hof begegnet, als sie noch jünger gewesen war, und schon damals war ihre Haltung stets bemerkenswert gewesen. »Fürstin Mishani tu Koli«, begrüßte er sie und vollführte die für ihren gesellschaftlichen Rang angemessene Verbeugung. »Es betrübt mich zutiefst, dass ihr inmitten dieses Unheils verletzt worden seid.« Sie antwortete mit der weiblichen Form derselben Verbeugung. »Ochas Gnade hat mich vor schlimmerem Leid bewahrt«, gab sie zurück. In ihrer Stimme waren keinerlei Anzeichen für ihren geschwächten Zustand zu hören. 490 »Möchtet Ihr Euch setzen?«, bot Zahn an und deutete auf einen Stuhl. Doch Mishani hatte nicht vor, Zugeständnisse anzunehmen. »Ich ziehe es vor zu stehen«, erwiderte sie, da sie wusste, dass es in der Kammer nur einen Stuhl und keine Matten gab. Zahn war über einen Kopf größer als sie; würde sie sich setzen, sähe er aus einem noch steileren Winkel auf sie herab, als er es ohnehin schon tat. »Meine Bediensteten haben mir berichtet, dass Ihr mich zu sehen wünscht«, meinte er. »So ist es«, lautete die Antwort. »Ich wollte Euch schon sprechen, seit ich von den Ais Maraxa in Zila festgehalten wurde. Obwohl Ihr letzten Endes einen recht gewalttätigen Weg gewählt habt, um unser Treffen herbeizuführen.« Zahn bedachte sie mit dem Ansatz eines Lächelns. »Darf ich Euch eine Frage stellen?«, sagte sie. »Selbstverständlich.« »Was ist aus Xejen tu Imotu geworden?« Zahn überlegte kurz. »Er lebt, wenngleich gerade noch.« »Darf ich erfahren, wo er ist?« »Sorgt Ihr Euch um ihn?« »Ich bin tatsächlich besorgt, aber nicht aus den Gründen, die Ihr vermutet«, gab sie zurück. Zahn musterte sie eine Weile. Sie glich einer Eisskulptur. »Ich habe ihn Barak Moshito übergeben«, erklärte Zahn. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging zu dem Musterbrett, um es zu betrachten. »Moshito wird ihn zweifellos an seinen Weber weiterreichen. Ich kann nicht behaupten, dass ich Mitgefühl für ihn empfinde. Ich mag die Ais Maraxa nicht besonders.« 491 »Weil sie Euch an Eure Tochter erinnern«, beendete Mishani den unausgesprochenen Teil für ihn. »Sie halten Euch die Möglichkeit vor Augen, dass sie noch am Leben sein könnte, und das ist eine unverheilte Wunde.« Jäh wirbelte Zahns Kopf herum. Seine Augen funkelten zornig. »Verzeiht meine Unverblümtheit«, sagte sie. »Ich war auf dem Weg nach Laranya zu Euch, und zwar mit der Absicht, Eure Gefühle für sie zu ergründen. Jetzt habe ich leider nicht die Zeit, mich behutsam vorzutasten.« Sie bedachte ihn mit einem unverwandten Blick. »Ihr Leben steht auf dem Spiel. Xejen tu Imotu weiß, wo sie ist.« Zahn stellte den Zusammenhang sofort her. Wenn Xejen es wusste, würde der Weber es aus ihm herausbekommen. Und wenn der Weber es wusste ... Dies ging zu schnell, war zu viel, um es zu glauben, denn das hieße gleichzeitig zu glauben, dass seine Tochter noch lebte. Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern über das bärtige Kinn. »Nein, nein«, murmelte er. »Was habt Ihr vor, Mishani tu Koli? Warum wart Ihr hier in Zila?« »Hat Chien Euch das nicht gesagt?«, fragte sie. »Chien? Ah, die Geisel. Es tut mir leid, Euch sagen zu müssen, dass er in der Nacht verstarb, in der er aus Zila geschafft wurde.« Mishanis Züge ließen keine Regung erkennen. Sie verspürte keine Trauer um ihn; er war lediglich ein weiteres Opfer. Sorgen bereitete ihr vielmehr der Umstand, was sein Tod bedeutete, nämlich dass die Handlanger ihres Vaters von ihrem Aufenthalt in Zila wussten und in der Nähe sein würden. Sie musste Zahns Vertrauen sofort erringen, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stan492 den. Es war unabdinglich, dass sie die Stadt im Geheimen verließ, und das ging nur unter Zahns Schutz. »Beantwortet Ihr nun meine Frage?«, bohrte er nach. »Weshalb wart Ihr in Zila.« »Reines Pech«, erwiderte sie. »Auf dem Weg zu Euch haben uns Wegelagerer überfallen. Wenngleich die Götter uns anscheinend doch noch zusammengeführt haben.«
»Das kann ich glauben oder auch nicht«, gab er zurück. Mittlerweile war sein Tonfall etwas weniger freundlich geworden. »Ihr wisst, dass Eure Anwesenheit hier ausreicht, um Euch enthaupten zu lassen. Und Ihr wart gewiss keine Gefangene; schließlich wurdet Ihr neben dem Anführer der Ais Maraxa gefunden.« Das hatte Mishani befürchtet. Hätte sie sich in Laranya mit ihm treffen können, wäre sein Argwohn nicht erregt worden; doch die Umstände hatten sie in eine Lage gebracht, in der alles, was sie sagte, nach einem Versuch aussehen würde, ihr Leben zu retten. »Ihr habt Recht« räumte sie ein. »Ich wurde zwar gegen meinen Willen hergebracht, aber ich wurde nicht gefangen gehalten. Für die Ais Maraxa bin ich so etwas wie eine Heldin, weil ich geholfen habe, Eure Tochter zu retten. Was jedoch nicht heißt, dass ich die Ais Maraxa billige.« »Hört auf mit diesen Lügen«, brüllte Zahn plötzlich, packte das Musterbrett und brachte die Halterung zum Kippen. Das Kunstwerk fiel zu Boden und zerbarst in bunte Scherben. »Lucia tu Erinima ist vor über fünf Jahren gestorben. Ihr Vater war Durun tu Batik. Ich weiß nicht, was Ihr in der Hand zu haben glaubt, Fürstin Mishani, aber Ihr seid gewaltig auf dem Holzweg, wenn Ihr denkt, Ihr könntet Euch die Freiheit erschleichen, indem Ihr Geister zum Leben erweckt.« 493 Mishanis Hochgefühl zeigte sich zwar nicht in ihren Zügen, doch sie wusste, dass sie nun im Vorteil war. Ein Mann wie Zahn verlor nicht leicht die Fassung; sein Zornausbruch verriet, wie empfindlich die Angelegenheit Lucia für ihn war. »Natürlich könntet Ihr mich hinrichten lassen«, meinte Mishani mit frostiger Stimme. »Aber dann würdet Ihr erst erfahren, dass ich die Wahrheit sage, wenn die Weber Eure Tochter töten. Könntet Ihr damit leben, Zahn? Die letzten paar Jahre ist es Euch nicht gut bekommen.« »Beim Blut des Herzens, Ihr wisst wohl nicht, wann es genug ist, was?«, schrie Zahn. »Ich höre mir das nicht länger an!« Damit stürmte er zum bevorhangten Eingang, als Mishani neuerlich das Wort ergriff. »Zaelis tu Unterlyn war an dem Tag dabei, als Ihr Eure Tochter kennen gelernt habt«, rief sie ihm hinterher. »Er hat Lucias Entführung eingefädelt. Am selben Tag, als Geblüt Batik Geblüt Erinima stürzte, haben wir das Kind gestohlen und versteckt. Es wurde nie ein Leichnam gefunden, weil es keinen Leichnam gab, Zahn! Lucia lebt!« Mit der Hand am Vorhang ließ Zahn die Schultern sinken. Mishani hatte nicht vorgehabt, den Namen des Anführers der Libera Dramach ins Spiel zu bringen, aber die Lage war zu heikel. Sie musste verhindern, dass Zahn ging. »Ihr wisst, dass Ihr mir glaubt«, sagte sie. Ein plötzliches Schwindelgefühl erfasste sie, aber sie kämpfte dagegen an. Es war erstickend heiß; sie war nicht sicher, wie lange sie noch durchhalten konnte, ohne sich zu setzen. »Ich kann Euch nicht glauben«, krächzte Zahn. »Ver494 steht Ihr?« Er wusste, wie gerissen Mishani sein konnte, er kannte die Spiele des Hofes, und obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als zu denken, Lucia könnte noch leben, würde er sich nicht in die Irre führen und benutzen lassen. Er war alles andere als ein Freund von Geblüt Koli, und er sah keinen Grund, einem Mitglied der Familie zu trauen. Er würde seine Tochter nicht noch einmal verlieren, indem er sich zu dem Glauben verleiten ließ, er könnte sie wiedererlangen, um später festzustellen, dass es nur eine List gewesen war. Das könnte er nicht ertragen. Er wandelte schon so lange wie betäubt umher, dass es ein Schild gegen die Welt geworden war, und nun stellte er fest, dass er Angst davor hatte, diesen Schutz aufzugeben. Abermals wandte er sich zum Gehen. Diese Art der Folter war schier unerträglich. »Wartet«, hielt Mishani ihn zurück. »Ich kann es beweisen.« Zahn hatte beinahe befürchtet, diese Worte zu hören. »Wie?«, fragte er mit geneigtem Haupt. »Xejen wird verhört werden«, meinte sie. »Ihr müsst dabei sein.« »Was wird das bringen?« »So wie ich weiß er, wo sie ist. Früher oder später wird er reden. Der Weber wird versuchen, es zu verheimlichen. Er wird die Auskunft nur für sein Pack nutzen wollen. Er wird Xejens Verstand durchforsten und danach entscheiden, was er Euch erzählt. Das dürft Ihr nicht zulassen. Zwingt ihn, mit Euch zu teilen, was er erfährt. Sorgt dafür, dass er Xejen die Wahrheit sprechen lässt, und befragt Xejen selbst. Der Weber kann sich nicht weigern, wenn Ihr es ihm befehlt.« Zahn hatte ihr den Rücken zugekehrt und schwieg. 495 Mishani war bewusst, dass sie einen Zug der Verzweiflung spielte, doch mehr blieb ihr nicht übrig. Das Leben Tausender Menschen hing von ihr ab. Wenn sie schon nicht zu verhindern vermochte, dass die Weber den Schoß fanden, dann könnte sie mit Zahn an der Seite vielleicht zumindest rechtzeitig eine Warnung hinsenden. Es war ein winziger Rettungsanker, aber immer noch besser als gar keiner. »Ihr erfahrt die Wahrheit im selben Augenblick, in dem Ihr sie zum Tode verurteilt«, fuhr Mishani fort. »Aber wenn ich Euch nicht überzeugen kann, dies aufzuhalten, dann ist das der Preis, den wir alle bezahlen müssen. Wenn Ihr nicht glauben wollt, was Euer Herz Euch sagt, werdet Ihr den Namen Eurer Tochter von den Lippen eines Webers hören.«
»Betet besser dafür«, gab Zahn zurück. »Denn wenn nicht, komme ich wieder und lasse Euch töten.« »Ich bete dafür, dass es nicht geschieht«, entgegnete Mishani. »Denn ich würde mit Freuden mein Leben für all jene opfern, die sterben werden, um Euch zu überzeugen.« Xejen tu Imotu hatte gedacht, seine Geschichte sei zu Ende, als die Decke auf ihn herabstürzte, doch er hatte das Bewusstsein wiedererlangt und festgestellt, dass sie ein Nachwort hatte, und zwar ein von Schmerzen geprägtes. Er erwachte in einem Bett in den Verliesen der Feste, und er erwachte brüllend. Die Pein in seinen zerschmetterten Beinen ließ ihn aus der Ohmacht emporschnellen und einen gedankenleeren, sinnlosen Schrei atemberaubender Heftigkeit ausstoßen. Seine Hose war über den Knien abgeschnitten worden. Seine Beine waren 496 aufgedunsen, blau und purpurn, übersät mit Schwellungen und den schrecklichen Blutergüssen schwerer Brüche. Beide wiesen an mehreren Stellen widernatürliche Knicke auf. Es war kein Versuch unternommen worden, sie gerade zu richten, und die gebrochenen Knochenenden drückten gegen die fleckige Haut. Abermals brüllte er, und er brüllte, bis seine Kehle heiser wurde. Irgendwann verlor er die Besinnung. Als er wieder erwachte, begrüßte ihn ein neues Grauen. Er spürte, wie er ins Bewusstsein gezogen wurde. Sein Verstand hing wie ein Fisch an einer Angel und wurde aus der Schutzhülle gezerrt, in der er sich vor den unvorstellbaren Schmerzen versteckte. Blinzelnd schlug er die Augen auf. Aus einem vergitterten Fenster hoch droben an der Wand fiel Nachmittagslicht durch die staubschwangere Luft ein, flutete über seine verheerten Beine und durch die kahle Steinzelle. Er war von Gestalten umgeben, doch eine beugte sich dichter über ihn als die anderen. Eine Maske aus Winkeln, scharfen Wangen und vorstehenden Kinn- und Stirngraten, teils aus Gold, teils aus Silber, teils aus Bronze; eine von einem meisterlichen Randvater gefertigte, metallische Gebirgslandschaft, in der zwei dunkle Augen wie schwarze Höhlen lagen. Ein Weber. Xejen sog den Atem ein, um zu schreien, doch eine fahle, runzlige Hand strich durch die Luft über ihn, und seine Kehle war gelähmt. »Schweig still«, zischte die Stimme hinter der Maske. Zwei weitere Männer waren anwesend. Xejen erkannte die Baraks: Zahn, groß, langgliedrig und verhärmt; Moshito, stämmig, kahl und mit grimmiger Miene. Mit unbarmherzigen Zügen schauten sie auf ihn herab. 497 »Bist du Xejen tu Imotu?«, fragte Moshito. Xejen nickte stumm und mit tränenden Augen. »Anführer der Ais Maraxa?« Abermals nickte er. Zahn ließ den Blick zum Weber wandern, der im Dienste von Geblüt Vinaxis stand, ein besonders bösartiges und folterwütiges Ungeheuer, wenn man Moshitos Erzählungen glauben durfte. Sein Name lautete Fahrekh. Den eigenen Weber hatte Zahn auf seinem Anwesen für seine Familie zurückgelassen; er verabscheute Weber, zumal er vermutete, dass der vorige, mittlerweile verstorbene Webfürst Vyrrch für den politischen Handstreich verantwortlich gewesen war, bei dem Lucia verschwand. Zahn riss sich zusammen. Er war bereits dabei, sein Denken Mishanis Ausführungen anzupassen. Lucia war gestorben, redete er sich krampfhaft ein. Geblüt Koli war ein Feind, Mishani war eine Feindin, und woher auch immer sie von seiner Schwachstelle erfahren haben mochte, er würde sich dadurch nicht ausnutzen lassen. Aber bei den Göttern, was wenn sie tatsächlich die Wahrheit sagte? Wenn Xejen redete, würden weder die Weber noch der Kaiser ruhen, bis Lucia aufgespürt war. Gab es eine Möglichkeit, dies aufzuhalten? Gab es eine? Er biss sich auf die Unterlippe. Schwachsinn. Narretei. Lucia war tot. »Seid Ihr sicher, dass er tun wird, was Ihr ihm aufgetragen habt?«, fragte Zahn Moshito und deutete auf die bucklige, über das Bett gebeugte Gestalt mit der Kapuze. »Ich habe den Befehl meines Baraks gehört«, krächzte Fahrekh mit einem Anflug von Verachtung in der Stimme. »Nichts wird verborgen. Ihr stellt ihm die Fra498 gen. Ich sorge dafür, dass er antwortet und die Wahrheit spricht.« Erschrocken wanderten Xejens Augen vom einen zum anderen. »Es ist, wie er sagt, Zahn«, antwortete Moshito. »Weshalb seid Ihr nur so misstrauisch?« »Bei Webern bin ich immer misstrauisch«, gab Zahn zurück, wobei er versuchte, die Unsicherheit und Unentschlossenheit aus seinem Tonfall zu verbannen. Denn er fragte sich, ob der Weber Xejens Verstand nicht einfach still und heimlich durchwühlen und sich nehmen konnte, was er wollte, und ob sie es überhaupt feststellen könnten, wenn er es täte. Beim Blut des Herzens, wie hatte es nur dazu kommen können: dass durch den einzig möglichen Wahrheitsbeweis der Behauptungen Mishanis dasselbe Wissen gleichzeitig in die Hände derer gelangte, die Lucias Tod wünschten? Letzten Endes war es eine Vertrauenssache. Konnte er Mishani glauben? Konnte er glauben, dass seine Tochter noch am Leben war? Früher vielleicht. Aber sein Glaube war zusammen mit den anderen Teilen seiner Seele gestorben, und er musste es wissen. Glauben reichte nicht. Er musste es wissen. »Anfangen«, befahl Moshito.
Fahrekh drehte die schimmernde Fratze langsam der verwüsteten Gestalt auf dem Bett zu. Das Nachmittagslicht zuckte in gleißenden Dreiecken von einer Fläche der Maske zur nächsten. »Ja, mein Barak«, murmelte er. Als der Weber sich in seine Gedanken und seinen Willen bohrte wie ein Holzwurm in die Borke eines Baumes, stand Xejen seine Kehle wieder zum Schreien zur Verfügung. Fahrekh fand, dass er besser arbeitete, wenn seine Opfer auf ihn ansprachen. 499 ACHTUNDZWANZIG Die Wissenschaft, die Umlaufbahnen der drei Monde vorherzusagen, war uralt. Obschon Mondstürme in scheinbar zufälligen Abständen einsetzten, ließ sich über Hunderte Jahre ein Muster unerschütterlicher Regelmäßigkeit erkennen. Mittlerweile waren Sternforscher in der Lage, fast genau vorherzubestimmen, wann die drei Monde einander nahe genug kamen, um einen Sturm auszulösen. Navigatoren verließen sich sehr auf ihre Fähigkeit, den Kurs der Monde zu errechnen, damit sie abwägen konnten, welche Auswirkungen sie auf die Tiden der Welt haben würden. Wenngleich nur die Gebildeten wussten, wann ein Mondsturm losbrechen würde, verbreiteten sich die Gerüchte unter dem gemeinen Volk für gewöhnlich weit genug, um so gut wie jeden davon in Kenntnis zu setzen. All das war Kaiku und Tsata keine Hilfe, die sich unter freiem Himmel befanden, als der Mondsturm losbrach. Seit der Nacht, in dem sie dem Ghaureg mit Mühe und Not entronnen waren, hatte es neue Entwicklungen gegeben, und sämtliche Gedanken an eine Rückkehr nach Hause waren über Bord geworfen worden. Obwohl sie bereits zuvor die Hoffnung aufgegeben hatten, einen der Nexusse zu fangen oder zu töten, hatten sie beschlossen, die Überschwemmungsebene zu beobachten und zu versuchen, mehr über das widerwärtige, brodelnde Bauwerk herauszufinden. Sie hielten sich in der Ferne, wo es nur wenige Wachen gab. In die Nähe der Ebene zu 500 gelangen war mittlerweile unmöglich, denn sie wurde zu scharf bewacht. Kaikus Entschlossenheit zu bleiben wurde früher belohnt, als sie gedacht hätte. Schon in der nächsten Nacht trafen die ersten Frachtkähne ein. Kaiku hatte gemutmaßt, dass all diese Ausgeburten überhaupt erst über den Fluss hierher befördert worden waren und dass die Weber aus dem Norden Vorräte heranschafften, die für ihre Raubtierarmee in dem seltsamen Bauwerk gelagert wurden. Kaiku und Tsata waren Zeugen mehrerer Massenfütterungen geworden, bei denen große Fleischberge auf Karren von demselben unterwürfigen Zwergenvolk herangeschafft wurden, das auch die Weber im Kloster auf Fo bediente. Kaiku nannte es die Golneri, was so viel wie >kleine Menschen< bedeutete. Sie hätte sich denken können, dass sie hier sein würden: Die Weber waren bekanntermaßen nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen, zumal sie infolge der Verwendung ihrer Masken von stetig wachsendem Wahnsinn befallen waren. Die Kähne waren während des Tages aufgetaucht. Als Kaiku und Tsata die Schranke in jener Nacht durchschritten, fanden sie die Schiffe deshalb bereits wartend vor. Sie drängten sich entlang beider Ufer des Flusses, ein Gewirr von mehr als drei Dutzend mächtiger Boote entlang des Randes der Überschwemmungsebene. Zwei Nächte lang verkehrte im Mondlicht ein steter Strom von Karren zwischen den Kähnen und dem Gebäude, und Scharen von Golneri entluden große Ballen und Kisten. Plötzlich ergab das scheinbar ziellose Unterfangen der Weber, während der letzten fünf Jahre Frachtkähne zu kaufen, einen Sinn: Sie hatten damit die ausgebürtigen Raubtiere über die Flüsse befördert, sie gesammelt, ihre Streitmacht gehortet. Kaiku fragte sich, welchen 501 Einfluss die Weber auf die über die Decks stapfenden Kapitäne haben mussten, dass sie ihnen das Wissen um diese geheime Armee anvertrauten. Jedenfalls musste es mehr sein als bloß Geld. In der dritten Nacht begann das Einsteigen. Der erste Schreck darüber, dass sie die Überschwemmungsebene halb leer vorfanden, als sie kurz nach Einbruch der Dämmerung eintrafen, wurde rasch von den Geschehnissen am Fluss verdrängt. Die Ausgeburten wurden über breite Laufplanken in die Frachträume der breitbäuchigen Kähne getrieben, ein steter Strom aus Muskeln und Zähnen, der unter den wachsamen Augen der Nexusse widerstandslos auf die Decks flutete. Es waren so viele Schiffe, dass sie nicht alle gleichzeitig entlang des Ufers anlegen konnten, deshalb hatten sie gen Norden eine Schlange gebildet, um ihren Teil der Ungeheuer in Empfang zu nehmen. Nach dem Beladen kreuzten sie flussaufwärts davon. Anscheinend spannte sich die Schranke der Irreführung nicht über den Fluss; andererseits befuhr ohnehin niemand den Zan so weit stromabwärts, denn die großen Wasserfälle befanden sich unmittelbar südlich, und die vermochte kein Gefährt zu überwinden. Erstaunt vom schieren Ausmaß des logistischen Unterfangens, beobachteten Kaiku und Tsata dessen Verlauf. »Sie setzen sich in Bewegung«, meinte Tsata. »Aber wohin?«, fragte sich Kaiku. Als der Morgen graute und die letzten Frachtkähne aufbrachen, zogen Kaiku und Tsata sich hinter die Schranke zurück, um sich auszuruhen. Doch an jenem Tag wollte der Schlaf sich einfach nicht einstellen, und so verbrachten sie die Zeit damit, rastlos über die Auswirkungen nachzudenken und zu überlegen, ob sie es wagen
sollten, Cailin über das Geweb zu informieren. 502 Dafür waren sie schließlich zurückgeblieben: um die Warnglocken zu läuten, sollten die Weber sich in Richtung des Schoßes in Bewegung setzen. Aber die Frachtkähne waren nicht dorthin unterwegs. Sie steuerten gen Axekami. Tsata wies auf die Möglichkeit hin, dass sie über den Rahn zurück in den Xarana-Bruch gelangen könnten. Der Schoß lag nur etwa ein Dutzend Meilen westlich des Flusses. Aber Kaiku wollte nur dann eine Nachricht senden, wenn es unbedingt nötig war, und sie wussten zu wenig darüber, wohin diese Kähne unterwegs waren. Schließlich einigten sie sich darauf, zwei weitere Nächte zu bleiben. Hätten sie bis dahin nichts Neues herausgefunden, würden sie einen Tag lang Richtung Osten marschieren, um sich so weit wie möglich von den Webern zu entfernen; danach würde Kaiku ihre Botschaft senden. Sie hatte keine Ahnung, welche Gefahren dies barg. Vielleicht würden die Weber sie überhaupt nicht bemerken; vielleicht rührte Cailins Erlass bloß daher, dass sie übervorsichtig war. Vielleicht wäre es aber auch so, als versuchte eine Henne sich durch einen Stall voller Füchse zu schleichen. Sie hatten wohl deshalb nicht damit gerechnet, weil sie so lange keine Verbindung zur Außenwelt mehr gehabt und stattdessen in ihrer eigenen, kleinen Zweiergesellschaft geweilt hatten. Sie beobachteten die Ebene von einem Kliff an der Westseite aus, wo es wesentlich weniger Wachposten gab. Dort reichte das hohe Gelände gleich Fingern an den Rand des Flusses heran und endete unvermittelt in steilen Klippen, als es am Wasser angelangte. Zwischen den Kliffs befanden sich breite, offene Täler, die sich sanft an die Böschungen schmiegten. Kaiku und Tsata hatten sich in einem Dickicht verseuchten Unterholzes verschanzt, das einen hohen Fels503 vorsprung säumte. Auf den Bäuchen liegend beobachteten sie die Untätigkeit unten durch Nomorus Fernrohr. Widerwillig und unter mürrischen Drohungen, was geschehen würde, wenn sie es nicht heil zurückbrächten, hatte sie es ihnen überlassen. Die Mondschwestern waren von unterschiedlichen Horizonten aufgestiegen - Aurus im Norden, Iridima im Westen und Neryn aus Südwesten -, weshalb es keinerlei Warnung gab, bis sie sich unmittelbar über Kaiku und Tsata beinahe trafen. Kaiku spürte die Spannung in der Luft als Erste, jenes eigenartig rupfende Gefühl, als würde man behutsam angehoben. Sie schaute zu Tsata. Der Mann mit der goldenen Haut und den grünen Tätowierungen wirkte im Mondenschein gespenstisch und überirdisch. Das Rascheln der zähen Büsche, in denen sie sich verbargen, glich einem rauen Flüstern. Ihre Sinne versteiften sich, nahmen eine unsichtbare Bewegung wahr. Sie schaute empor und verspürte jähes Erschrecken, als sie die drei Kugeln sah, über deren Antlitze sich in schrägem Winkel Schatten zogen und die sich einander am Himmel näherten. Scheinbar aus dem Nichts wallten Wolken auf, kräuselten sich und strudelten unter dem Einfluss der widerstreitenden Schwerkräfte. »Bei den Geistern«, murmelte sie und spähte zur Ebene hinunter. »Wir müssen uns einen Unterschlupf suchen.« Sie schafften es gerade noch rechtzeitig. Der Mondsturm begann mit einem ohrenbetäubenden Kreischen im selben Augenblick, als sie die Zuflucht fanden. Es war eine tiefe und weite Ausnehmung in 504 einem Kalksteinklotz mit einem breiten Überhang als Dach. Es sah aus, als hätte ein riesiges Tier einen Brocken aus der glatten Flanke des Felsgebildes gebissen. Der Boden neigte sich nach oben, so dass die kleine Höhle nach innen hin enger wurde, aber selbst am hinteren Rand war noch genug Platz, dass Kaiku und Tsata sich hinkauern konnten, er mit untergeschlagenen Beinen, sie mit den Armen um die Knie geschlungen. Dem ersten schauerlichen Gebrüll vom Himmel folgte der Regen, der gleich einem Sturzbach losbrach, und plötzlich war die zuvor stille Nacht vom feuchten Tosen prasselnder Tropfen erfüllt, die zornig gegen unerschütterlichen Stein hämmerten und die knorrigen Stiele von der Geißel befallenen Blattwerks niederdrückten. Kaiku und Tsata stellten fest, dass sie es in ihrem kleinen, sicheren Hafen recht trocken hatten. Obwohl die Vorderkante der Ausnehmung alsbald triefnass war, befanden sie sich ein gutes Stück außerhalb der Reichweite des Sturmes. Tsata holte kaltes Räucherfleisch hervor und teilte es wie immer mit Kaiku. Eine Weile saßen sie schweigend da, beobachteten den Regen und lauschten dem grollenden und schrillen Donner, während der Himmel sich selbst in Stücke riss. Infolge des gespenstischen Lichtes, das den Sturm begleitete, erhellten unablässig purpurne Blitze die trostlose Umgebung. Kaiku fühlte sich unbehaglich. Schon als Kind hatte sie sich vor Mondstürmen gefürchtet; durch Ereignisse der Vergangenheit waren sie zudem schwer mit bösen Erinnerungen belastet. Ihre Familie war während eines Mondsturms gestorben, vergiftet von ihrem eigenen Vater, um sie davor zu bewahren, was die Weber ihr antun würden. Und sowohl in jenem als auch im nächsten Mondsturm war sie vor den Shin-shin um ihr Leben 505 geflüchtet, jenen Schattendämonen, die von den Webern gesandt worden waren, um erst Kaiku und später Lucia zu holen. Aus Tsatas Augen sprach Sorge, als er sie betrachtete.
»Es wird bald vorüber sein«, meinte er beruhigend. »Die Monde ziehen nur aneinander vorüber; ihre Umlaufbahnen haben sich nicht angeglichen.« Kaiku strich sich das Haar aus einer Seite des Gesichts und nickte. Sie empfand es als merkwürdig, die Empfängerin seines Mitgefühls zu sein. Warum hatte sie ihm überhaupt von ihrer Familie erzählt? Wieso hatte sie ihm aus ihrer Vergangenheit berichtet? Schon merkwürdig, vor allem für jemanden, der sich so davor hütete wie sie. Aber mit ihm über derlei Dinge zu reden schien wesentlich einfacher als mit jedem anderen. Zumindest jedem anderen Saramyrrer. Kaiku hatte das Zeitgefühl dafür verloren, wann sie den Schoß verlassen hatten. Vor einem Monat? War es schon so lange her? Der Beginn der Sommerfestwoche und der Verrat durch Asara in der Maske Sarans wirkten mittlerweile wie ferne Erinnerungen; sie war zu beschäftigt gewesen, um darüber nachzudenken. Allmählich fühlte es sich herbstlich an. Obwohl die Hitze während der Tage kaum nachgelassen hatte, zerstäubten kühlere Brisen die Schwüle des Sommers. Die Vorräte, die sie mitgebracht hatten, waren längst verbraucht, weshalb sie während ihrer wachen Zeit außerhalb der Schranke Tiere jagten oder Wurzeln und Pflanzen für Eintöpfe sammelten. Der Art, wie sie lebten, seit Nomoru und Yugi fort waren, haftete etwas Reines an. Die Kost war karg und enthielt für Kaikus Geschmack zu viel rotes Fleisch, aber sie fühlte sich dem Land merkwürdig nahe, und das erfüllte sie mit Glück. 506 Nachts trotzten sie den ausgebürtigen Wachen, und Kaiku wurde in den Lektionen sehr gut, die Tsata ihr beibrachte. Er brauchte sie nicht mehr im Auge zu behalten, wenn sie durch Klüfte und Mulden des karstigen Geländes schlichen, sondern verließ sich auf sie. Dadurch war sie eher eine Gefährtin denn eine Schülerin. Sie hatte gelernt, sich verstohlen zu bewegen, und war geschickt darin geworden, sich zu verbergen, zudem wesentlich aufmerksamer und sicherer als noch vor wenigen Wochen. Und in diesen Wochen hatten sie einander sehr gut kennen gelernt - auf eine Weise, wie sie in der Enge des Schiffes von Okhamba nach Saramyr nicht möglich gewesen war. Lange Zeit hatte Kaiku ihn nicht gemocht, nachdem er ihr Leben als Köder für den Maghkriin aufs Spiel gesetzt hatte; nun aber verstand sie ihn besser, und aus seiner Sicht war es durch und durch sinnvoll gewesen. Kaiku wusste, dass diese neue Verbundenheit wahrscheinlich vergänglich war, so wie die Freundschaften, die sie mit den Mitreisenden an Bord der Dschunke geschlossen hatte, als sie das Meer zum ersten Mal überquerte; doch im Augenblick fühlte sie sich ihm näher als jedem anderen in den letzten Jahren. Das ständige Beisammensein, die Wochen, in denen sie alles gemeinsam taten, erinnerten sie an die Beziehung, die sie zu ihrem Bruder Machim gehabt hatte - damals in einer Zeit, bevor sie erfahren hatte, was echter Verlust bedeutet. Aber trotz allem gab es immer noch Schranken; es lag wohl einfach daran, dass sie sich an anderen Orten als den üblichen aufhielten. Kaiku hatte sich selbst überrascht, indem sie ihm von ihrer Familie erzählt hatte, er hingegen hatte noch nie von der seinen gesprochen. Den Grund dafür kannte sie genau: Sie hatte ihn nicht danach gefragt. Wenn sie sich über ihn unterhalten 507 wollte, würde er sich nicht weigern - sie hatte erfahren, dass Okhamber berüchtigt für ihr Entgegenkommen waren -, doch es war eben jenes Wissen, das sie davon abhielt. Sie hatte das Gefühl, indem sie ihn fragte, könnte sie ihn zwingen, über etwas zu reden, das er nicht besprechen wollte. Ganz begriff sie seine Gesinnung noch immer nicht, deshalb achtete sie behutsam darauf, sich ihm gegenüber nicht so unhöflich zu zeigen, wie er es bisweilen unbewusst ihr gegenüber tat. Vielleicht lag es am leicht unwirklich anmutenden Umfeld des Mondsturms oder vielleicht an dem plötzlichen Gefühl, dass ihr Geheimnisse entlockt worden waren, während er die seinen für sich behielt, jedenfalls beschloss sie, es zu wagen. »Warum bist du hier, Tsata?«, fragte sie. »Warum bist du nach Saramyr gekommen? Bei den Göttern, Tsata, ich bin jetzt seit Wochen praktisch jeden Augenblick mit dir zusammen, und ich weiß immer noch nichts über dich. Dein Volk scheint alles zu teilen, warum also das nicht?« Noch ehe sie den Satz beendet hatte, begann Tsata zu lachen. »Dein Volk ist schon ein wahrhaft erstaunlicher Menschenschlag«, meinte er. »Ich habe dich die ganze Zeit gequält, und du hast deiner Neugier so beharrlich widerstanden.« Er lächelte. »Ich wollte bloß wissen, wie lange du es aushalten würdest.« Kaiku errötete. »Verzeih mir«, sagte er. »Du bist so besessen von Manieren und Förmlichkeiten, dass du es nicht gewagt hast, mich nach etwas Persönlichem zu fragen. Hast du trotz allem, was du über mich und die Tkiurathi erfahren hast, den Wert von Offenheit immer noch nicht zu schätzen gelernt?« »Eben weil ihr so offen seid, wollte ich dich nichts fra508 gen«, antwortete sie, wobei sie sich verlegen und erleichtert zugleich fühlte. Abermals lachte er. »Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich schätze, in gewisser Weise ergibt es einen Sinn.« Er bedachte sie mit einem schiefen Lächeln. » Anscheinend bin ich doch noch nicht so vertraut mit eurer Denkweise, wie ich dachte.« Der Himmel über ihnen brüllte, und ein gezackter, zinnoberroter Blitz zuckte über den fernen Horizont, ließ Kaiku zusammenschrecken.
»Saran war auch so«, erklärte Tsata. »Er hat mich nie nach meinen Beweggründen gefragt, war in seiner Unwissenheit rundum zufrieden. Er glaubte wohl, es wäre meine Angelegenheit und ginge ihn nichts an.« »Ihre«, berichtigte Kaiku ihn verbittert. Sie hatte ihm von Asara erzählt, wenngleich sie den Teil darüber, dass sie beinahe mit ihr geschlafen hätte, ausgelassen hatte. Tsata hatte sich nicht im Geringsten erstaunt gezeigt, weder über den Betrug noch über eine Ausgeburt, die in der Lage war, andere Gestalten und sogar ein anderes Geschlecht anzunehmen. Er hatte ihr erklärt, dass es in Okhamba Frösche gab, die ihr Geschlecht wechseln konnten, und Insekten, die ihre Körper in Kokons neu zu gestalten vermochten. Asara war also in der Natur keineswegs beispiellos, lediglich unter der Menschheit. Kurz wurde Tsata nachdenklich. »Die Antwort auf deine Frage ist einfach«, meinte er gedehnt. »Saran hat mir von seinem - ihrem - Unterfangen erzählt, und von der Gefahr, die von den Webern für Saramyr ausgeht. Außerdem sprach er davon, was seiner Ansicht nach geschehen könnte, nachdem sie diesen Kontinent erobert hätten. Sie würden in andere einfallen.« Kaiku nickte; es entsprach dem, was sie bereits vermutet hatte. 509 »Ich begleitete ihn in das Herz Okhambas, um zu sehen, ob seine Mutmaßungen Gehalt besaßen. Ich kehrte überzeugt davon zurück.« Abwesend rieb er sich den nackten Oberarm, fuhr mit den Fingern die Tätowierung darauf nach. »Ich habe eine Verantwortung gegenüber dem größeren Pash, jenem meines gesamten Volkes. Also beschloss ich, nach Saramyr zu reisen, um die Bedrohung mit eigenen Augen zu sehen, um zu beobachten, wie dein Volk sich verhalten würde, und um die Neuigkeiten nach Möglichkeit zurück in meine Heimat zu bringen. Ich muss mein Volk davon unterrichten, so wie Saran das deine aufgeklärt hat. Deshalb kam ich her, und deshalb werde ich wieder weg müssen.« Mit einem Schlag fühlte Kaiku sich traurig. Seine Antwort entsprach voll und ganz dem, was sie erwartet hatte, dennoch überraschten ihre Gefühle sie. Ihre Zeit war begrenzt, und seine Worte erinnerten Kaiku daran, dass sie bald enden musste. Die Rückkehr in die wirkliche Welt mit all ihren allgegenwärtigen Schwierigkeiten war unvermeidlich. »Das hatte ich vermutet«, meinte Kaiku mit einer Stimme, die kaum lauter war als das Prasseln des Regens. »Offenbar lerne ich dich allmählich ebenfalls besser kennen.« Tsata bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. »Vielleicht tust du das«, sagte er nachdenklich. Dann schaute er kurz hinaus auf die öde, regengepeitschte Landschaft und lauschte dem entsetzlichen Toben des Mondsturms. Plötzlich versteifte sich Kaiku. Sie kroch vor und sah sich um. »Hast du etwas gehört?«, fragte er und tauchte in gebückter Haltung neben ihr auf. »Die Schranke ist weg«, erklärte sie. 510 Im ersten Augenblick begriff Tsata nicht. »Die Schranke ist weg!«, wiederholte sie eindringlicher. »Der Schild der Irreführung. Er ist verschwunden. Ich spüre es.« »Wir sollten zur Überschwemmungsebene zurück«, schlug Tsata vor. Mit verkniffener Miene nickte Kaiku. Die Schranke war gefallen. Die Weber versteckten sich nicht mehr. Ihr graute bei dem Gedanken, was dies bedeuten mochte. Cailin tu Moritat schlug blinzelnd die Augen auf; ihre Netzhäute schillerten rot wie Blut. »Kaiku«, hauchte sie erschrocken. Zwei weitere Schwestern befanden sich bei ihr in der Versammlungskammer. Es handelte sich um einen der oberen Räume des Hauses des Roten Ordens, dessen Wände schwarz bemalt und mit scharlachroten Wimpeln und Symbolen behangen waren. Die Schwestern hatten auf Matten um den Tisch in der Mitte der Kammer gehockt und sich leise unterhalten, während das Unwetter gleich einer zornigen Bestie gegen die Läden heulte und tobte. Dem Schein der Laternen und dem gekräuselten Pfad des duftenden Rauchs aus dem Kohlenbecken zwischen ihnen haftete unter dem verzerrenden Einfluss des Mondsturms etwas Böswilliges an, und ihre einheitlich bemalten Gesichter wirkten schmal und verschwörerisch. Die beiden anderen Schwestern schauten zu Cailin. Sie brauchten nicht erst ihre roten Augen zu sehen, um zu wissen, dass etwas geschehen war; sie hatten es an sich vorbeihuschen gespürt, ein Flüstern im Geweb, das nur von einer der ihren stammen konnte. 511 Jäh erhob sich Cailin und richtete sich zu voller Größe auf. »Ruft unsere Schwestern zusammen«, befahl sie. »Ich will, dass sich jede von uns, die im Schoß weilt, binnen einer Stunde in diesem Haus einfindet.« Bevor eine der anderen sich erheben konnte, um ihr zu gehorchen, verließ sie die Kammer, stapfte die Stufen hinab und hinaus auf die schlammigen, behelfsmäßigen Straßen. Es war erst kurz vor Mitternacht. Zaelis würde noch wach sein. Sie hätte ohnedies nicht gezögert, ihn zu wecken; dafür war dies viel zu wichtig. Sie lief über die verwaisten Pfade des Schoßes, ein großer, schmaler Schatten, der durch den Regen huschte, förmlich zwischen den Tropfen hindurchzugleiten schien, denn so heftig es auch goss, sie wurde nur ein wenig feucht. Cailin war zugleich fuchsteufelswild und ängstlich, und ihre Gedanken waren düster, während sie sich den Weg bahnte.
Kaiku. Bei den Göttern, wie konnte sie nur so unbesonnen sein? Cailin wusste nicht, ob sie das Gör bewundern oder verfluchen sollte. Seit Yugi und Nomoru mit der Kunde zurückgekehrt waren, dass sich am Ufer des Zan eine mächtige Armee von Ausgeburten scharte und Kaiku sich geweigert hatte, mit ihnen zurückzureisen, war Cailin ständig in Sorge gewesen. Wäre Kaiku in der Zeit seither gefangen worden, hätten die Weber ihren Verstand zerlegt und alles erfahren, was sie über den Roten Orden wissen mussten. Nun hatte Kaiku das Geweb benutzt, um eine Botschaft über mehr als hundert Meilen zu senden, hatte über die gesamte Entfernung einen Faden gesponnen. Es bedurfte nur eines einzigen Webers, der den Faden aufgriff und ihn zu seinem Ziel oder seiner Quelle verfolgte, und all die Jahre der Geheimhaltung des Roten Ordens wären umsonst gewe512 sen. Schlimm genug, dass die Weber von «nerausgebürtigen Frau wussten, die in der Lage war, sie in ihrem eigenen Spiel zu schlagen - der vorige Webfürst Vyrrch hatte sie davor gewarnt, bevor Cailin ihn tötete; aber eine konnte man noch als zufällige Erscheinung abtun, eine vereinzelte Laune der Natur, wie Asara sie verkörperte. Zwei hingegen, die sich miteinander verständigten, deuteten auf wesentlich Größeres hin - auf Zusammenarbeit, eine Vereinigung. Bekämen die Weber auch nur den Hauch einer Ahnung, dass es den Roten Orden gab, würden sie alles daran setzen, ihn auszulöschen. Der Rote Orden stellte die größte Bedrohung für die Weber dar, eine vielleicht noch größere als Lucia selbst, denn gegen die Schwestern besaßen die Weber nicht den Vorteil der Masken. Auch der Rote Orden vermochte zu weben, nur wohnte den Schwestern ihre Macht inne, und deshalb waren sie besser als Männer, die sich schwerfälliger Hilfsmittel bedienen mussten, um in das Reich jenseits der Sinne einzudringen. Doch die Schwestern waren rar, viel zu rar. Darum wagte Cailin nicht, sie gegen die Weber antreten zu lassen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Nun war diese Zeit womöglich gekommen. Denn so wütend sie auf Kaiku sein mochte, weil sie ein solches Wagnis eingegangen war, so verstört hatte die Nachricht sie auch. Die Dinge hatten eine beunruhigende Wende genommen. Taten waren erforderlich, und zwar bald. Aber vielleicht nicht jene, die Zaelis vorschwebten. Cailins oberstes Ziel war das Überleben des Roten Ordens. Daneben spielte alles andere eine untergeordnete Rolle. Obwohl der Weg von ihrem Haus zu jenem Zaelis' nur kurz war, hatte der Regen aufgehört und der Himmel sich beruhigt, als sie dort eintraf. Die Mondschwestern 513 drifteten wieder auseinander, und die wallenden Wolken trieben nun lustlos vor sich hin, lichteten sich und lösten sich auf. Der Sturm war kurz und heftig gewesen, und sein Ende war so unvermittelt wie sein Beginn. Das Heim, das Zaelis sich mit Lucia teilte, war unscheinbar und befand sich auf einer der oberen Ebenen des Schoßes inmitten mehrerer anderer, ähnlich gearteter Gebäude. Es war ein schlichtes, zweistöckiges Haus aus poliertem Holz und Verputz. Dazu gehörten ein das Tal überblickender Balkon und neben der Tür ein kleiner Schrein mit geschnitzten Standbildern Ochas und Isisyas. Draußen leuchtete eine einsame Laterne, beleuchtete von innen die Schriftzeichen des Willkommens und des Segens für Besucher. Daneben hing eine Glocke, die Cailin mit dem kleinen Hammer läutete, der daran baumelte. Zaelis erschien fast unverzüglich an der Tür und bat sie hinein in einen bescheidenen Raum mit ein paar Matten und Tischen. Topfpflanzen nickten traumselig auf Ständern, an der Wand hingen ein paar Zierwaffen und das Landschaftsölgemälde eines Künstlers aus dem Schoß, dessen Werke Zaelis zu bewundern schien, wenngleich ihr Reiz sich Cailin stets entzogen hatte. Von der Decke baumelte eine einzelne Lampe, bildete somit den Mittelpunkt der Beleuchtung und warf zuckende Schatten auf jeden in der Kammer. Lucia saß in ihrem Nachtgewand mit untergeschlagenen Beinen auf einer Matte und trank einen Kräuteraufguss aus einem Tonbecher. Neugierig schaute sie auf, als Cailin eintrat. »Sie konnte nicht schlafen«, erklärte Zaelis. Abwesend fiel ihm auf, dass Cailins Zöpfe vor Wasser triefen, die Rabenfedern ihrer Krause nass und ihre Schminke verwaschen sein müssten; doch nichts von alledem traf zu. »Der Mondsturm.« 514 Cailin hatte keine Zeit für Höflichkeiten. »Kaiku hat sich über das Geweb mit mir in Verbindung gesetzt«, verkündete sie. Zaelis erstarrte. Lucia musterte die groß gewachsene Schwester vom Roten Orden weiter ungerührt über den Becherrand hinweg, als hätte sie lediglich etwas mitgeteilt, das Lucia ohnehin schon wusste. »Ist es schlimm?« »Sehr schlimm«, antwortete sie. »Die Ausgeburten stehen unter der Herrschaft der Weber, und zwar durch jene Wesen, von denen Yugi berichtet hat. Kaiku bezeichnet sie als Nexusse. Vor einigen Nächten zogen die meisten Ausgeburten mit Frachtkähnen den Zan hinauf ab; aber Tausende blieben zurück. Nun sind bis auf wenige Ausnahmen auch diese aufgebrochen. Die Weber haben ihre Schranke abgebaut, und die Ausgeburten sind auf dem Marsch.« »Wohin?«, verlangte Zaelis zu erfahren. »Nach Osten. Über den Bruch. Zu uns.« Zaelis spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. »Wie lange?« »Sie marschieren schnell«, antwortete Cailin. »Sehr schnell. Sie schätzt, wir haben vier Tage und Nächte, bevor sie uns erreichen.« »Vier Tage und Nächte...«, wiederholte Zaelis. Er wirkte wie benommen. »Beim Blut des Herzens.«
»Angesichts dieser Neuigkeiten muss ich mich um ein paar Dinge kümmern«, erklärte Cailin. »Du vielleicht auch. Ich komme in ein paar Stunden wieder.« Sie bedachte Lucia mit einem knappen Nicken. »Ich bezweifle, dass heute Nacht jemand von uns schlafen wird.« Dann war sie so schnell verschwunden, wie sie gekommen war, kehrte zurück zum Haus des Roten Ordens, wo sie sich auf das Eintreffen ihrer Schwestern vorbereiten 515 würde. Rings um sie schwebten sanft die ersten glitzernden Flocken des Sternenregens herab, winzige Kristalle verschmolzenen Eises, die im Licht der drei Mondschwestern zur Erde rieselten. Etwa einen Tag lang würden sie in unregelmäßigen Abständen auftreten. Cailin schenkte dem Sternenregen keine Beachtung, denn ihre Gedanken kreisten um andere Dinge. Sie hatte in der Tat einiges, worum sie sich kümmern musste, außerdem war eine Entscheidung zu fällen, die sich als die wichtigste erweisen konnte, die sie je zu treffen hatte. Der Schoß war aufgeflogen, und die Weber nahten. Sie wusste so gut wie Zaelis, dass vier Tage nicht reichten, um die Bevölkerung des Schoßes über den Xarana-Bruch in Sicherheit zu schaffen, und selbst wenn er es versuchen sollte, würden die Menschen unterwegs eingeholt und getötet werden. Wohin wollten sie sich wenden? Was sollten sie tun? Zaelis würde nicht alles aufgeben, wofür er gearbeitet hatte, all die Waffen und Vorräte und Befestigungsanlagen; ebenso wenig würde er die Dorfbevölkerung aufgeben. Er wäre gezwungen, sich dem Feind hier zu stellen, zumindest so lange, bis ein anderer Ausweg möglich wurde. Ihre Wahl war einfach. Zaelis und die Libera Dramach waren an diesen Ort gebunden, sie hingegen nicht. Sollte der Rote Orden ihnen gegen die Weber beistehen oder sie ihrem Schicksal überlassen? Kurz danach traf Yugi in Zaelis' Haus ein. Lucia hatte sich mittlerweile angezogen und war auf ihren Platz auf der Matte zurückgekehrt. Inzwischen wäre für sie längst Schlafenszeit gewesen, doch sie wirkte keine Spur müde. Zaelis war zu tief in Gedanken versunken, um ihr Auf516 bleiben zu missbilligen. Sein Verstand war von düsteren Grübeleien erfüllt. Er dachte über Weber, Götter und Alskain Mar nach. Bestand für die Libera Dramach überhaupt die geringste Aussicht auf Erfolg, falls das stimmte, was der Geist Lucia gezeigt hatte? Falls es sich hierbei tatsächlich um einen Streit der Götter handelte, was für Hoffnung bestand dann, dass sie die Flut zurückzudrängen vermochten? Glichen sie einem auf dem stürmischen Meer treibenden Korken, der machtlos war, etwas zu unternehmen, und sich nur über Wasser halten konnte? Er hatte das niederschmetternde Gefühl, dass sein Lebenswerk nur ein Trugbild gewesen war, die Torheit eines alten Mannes, der einen Widerstand erschaffen hatte, der letzten Endes nicht standhielt. Im Geiste beschuldigte er Cailin bitterlich, sie in diese Lage gedrängt zu haben: indem sie die Libera Dramach zurückgehalten, zu Geheimhaltung geraten hatte, obwohl Handeln vonnöten gewesen wäre. Nun war ihre Tarnung letztlich irgendwie hinweggerissen worden, und sie standen schutzlos da. Sie waren nicht stark genug, um in einem offenen Kampf gegen die Weber anzutreten, das wusste Zaelis. Aber aufgeben würde er auch nicht. Er erkannte sofort, dass Yugi Amaxawurzeln geraucht hatte. Es war am Glanz seiner Augen, an den geweiteten Pupillen, am durchdringenden Gestank zu erkennen, der noch in seinen Kleidern hing. »Bei den Göttern, Yugi, ich brauche dich mit klarem Kopf!«, herrschte er ihn statt einer Begrüßung an. »Dann hättest du mich morgen rufen sollen«, gab Yugi beschwingt zurück. »Aber nun bin ich ja hier. Also, was willst du?« Dann sah er Lucia und verbeugte sich leicht. Lucia erwiderte die Geste freundlich mit einem Nicken. Zaelis seufzte. »Komm rein und setz dich«, sagte er. 517 »Lucia, würdest du bitte etwas Starkes für Yugi brauen?« »Ja, Vater«, antwortete sie und begab sich gehorsam in die Küche. Zaelis nahm Yugi gegenüber auf der Bodenmatte Platz und musterte ihn, wog ab, wie weit er entschwunden war und ob er aufzunehmen vermochte, was Zaelis ihm mitzuteilen hatte. Dass Yugi zur Entspannung Amaxawurzeln frönte, war für Zaelis schon immer ein Grund zur Sorge gewesen, doch er tat es bereits, seit Zaelis ihn kannte, und trotz aller Gefahren war es nie in Abhängigkeit ausgeartet. Yugi schien eine ungewöhnliche Widerstandskraft gegen die Suchtwirkung der Wurzel zu besitzen, und er behauptete hartnäckig, dass er sich nach Belieben daran gütlich tun oder es bleiben lassen könnte. Lange Zeit war Zaelis argwöhnisch gewesen, aber er war gezwungen gewesen, sich damit abzufinden, dass Yugi Recht hatte. Er konnte wochenoder gar monatelang am Stück ohne auskommen, und das Kraut hatte nie seine Zuverlässigkeit beeinträchtigt. Er meinte, er verwendete es, um >die schlimmen Nächte zu lindern