Das fliegende Schiff von Fritz Martin Rintelen
Copyright Erstmalig erschienen 1937. Diese elektronische Wiedergabe fol...
21 downloads
636 Views
583KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das fliegende Schiff von Fritz Martin Rintelen
Copyright Erstmalig erschienen 1937. Diese elektronische Wiedergabe folgt der Ausgabe des Bernhard Sporn Verlags Zeulenroda 1944. Diese Ebook-Fassung ist nur für den privaten Gebrauch und nicht für den Verkauf bestimmt. Sie wurde an einigen Stellen an die Erfordernisse der Darstellung auf einem Palm angepasst. Die beiden Abbildungen entstammen nicht dem Buch. fre|e|books
Der Autor Fritz Martin Rintelen geb. 20.02. 1892 in Kassel (Hessen) gest. 29.03. 1963 Beruf: Redakteur Einziges bekanntes Buch: Das fliegende Schiff. Ein Zeppelin- Roman 1937
Widmung
Meinen Freunden aus dem alten Heer und im neuen Fliegerkorps
Zeppelin LZ2 (1905)
I Über die goldenen deutschen Felder gingen mit langsamen, gleichmäßigen Schritten die Reihen der Schnitter. Ihre Arme und entblößten Oberkörper waren von der Sommersonne braun gebrannt. Im weiten rauschenden Schwung der Sensen fiel das schwere Korn. Die jungen Frauen und Mädchen kamen in bewegteren Reihen und banden volle Garben. Blonde Haarsträhnen hingen den Binderinnen über die feuchten Stirnen. Ihre Gesichter unter weißen Kopftüchern waren gerötet von Anstrengung und Lebensfreude. In der Ferne stand das heimatliche Dorf mit roten Dächern. Der Wetterhahn auf der Kirchturmspitze funkelte im Mittagsglanz. Am Himmelsrand umschlossen die grünen Waldberge weitum freundlich die gesegneten Bezirke der Erntearbeit. Der Feierabend kam spät. Bevor aber die zögernde Dämmerung herabsank, waren auf den Höfen die letzten Stimmen schon verstummt. Bauer, Knecht und Magd waren rechtschaffen müde und legten sich schlafen, ohne in ihren Kammern noch die Kerzen anzuzünden. Jeder hatte mit Eifer getan, was ihm an diesen heißen Tagen oblag, und keiner behielt Muße, sich um die Händel der Welt jenseits der reifen Felder zu bekümmern. So geschah es, daß alle von jähein Schrecken überfallen wurden, als aus jener anderen Welt ein furchtbares Wetter von Westen her brüllend über das deutsche Land heraufstieg. Die Sonne war ausgelöscht. Die Bäume der Wälder schrien, und der Birkenbaum auf der Heide zerbrach im Sturm. Von allen Türmen läuteten die Notglocken. Mit blutiger Sense begann der Schnitter Tod grausam zu mähen. Es war Krieg. Da legte der deutsche Bauer sein gewohntes Gerät in Haus und Hof nieder. Er ging in der Nacht schweigend noch einmal rings um seine bedrohten Felder, auf denen wieder
das heilige Brot gewachsen war. Seine Fäuste steckten hart und schwer in den Joppentaschen. Sein Haar wehte im Wind. Am frühen Morgen kehrte er heim und nahm Abschied von Frau und Kindern. Dann zog er den Rock des ewigen deutschen Soldaten an und marschierte gegen den Feind. *** Im Amtszimmer des Bürgermeisterhauses zu Hagenbach in der Rheinpfalz saßen vier Leutnants von den badischen Leibdragonern und vom dritten badischen Dragonerregiment bei einem Krug Wein. Es war spät. Eine brennende Kerze stand auf dem Tisch, und der Vollmond leuchtete hell durch die beiden offenen Fenster herein. Die Mannschaft des Streiftrupps lag schon bei den Pferden im Stroh und schnarchte. Nur der Gefreite Diehm saß noch bei der Josefine in der Küche, aß und trank mit Behagen und ließ das Mädel Schauermärchen von den Turkos erzählen, die vor einigen Tagen bei Hagenbach aufgetaucht waren, sich aber vor den deutschen Vorposten wieder zurückgezogen hatten. Die bunt bemalte Standuhr in der Amtsstube schlug elfmal. Leutnant Gayling von Altheim stopfte sich den großen grünen Porzellankopf seiner halblangen Jägerpfeife mit dem Pfälzer Tabak des Bürgermeisters und entzündete das dunkle Kraut an der Kerzenflamme. Dann lehnte er sich in seinem Rohrsessel bequem zurück, streckte die Beine weit von sich und gähnte laut. »Wo bleibt der Graf?« Der kleine Winsloe sah zur verräucherten Decke hinauf. »Wir werden noch eine Weile warten müssen. Er brütet mit dem alten Schulzen über der Karte.« »Trinkt!« Herr von Wechmar rückte näher an den Tisch und hob langsam sein Glas vor das flackernde Licht. Die tiefe Narbe auf seiner Stirn, Andenken ;in einen schweren Zweikampf, war gerötet. »Wer weiß«, sagte er, »was uns morgen geschieht.«
Winsloe lachte unbekümmert. »Was soll uns geschehen? Wir werden reiten wie die Teufel.« »Das soll so sein!« rief der Leutnant von Villiez mit seiner lauten Krähstimme und ließ die Sporen klingen. »Ich kann uns dazu keinen besseren Führer wünschen als den Grafen. Wissen Sie, wie er sich sein Württembergisches Ritterkreuz verdient hat?« »Wenn ich mich nicht irre«, antwortete Wechmar. »für eine Erkundung im Jahre Sechsundsechzig.« »Kennen Sie den Fall nicht genau?« »Nein. Also erzählen Sie uns die Geschichte!« Villiez trank sein Glas aus und schenkte sich wieder ein. »Der Graf hat damals Auftrag gehabt, die Verbindung zwischen den Württembergischen und den Hessischen Truppen diesseits und jenseits des Mains herzustellen. Er kam an den Fluß und fand die Brücken bei Aschaffenburg und Stockstatt durch die Preußen besetzt. Zeit für eine weite Umgehung blieb ihm nicht. Da sprang er, von anstrengendem Ritt erhitzt und ermüdet, in voller Uniform in den Strom.« »Brav!« sagte Gayling. »Auf halber Strecke verließen ihn die Kräfte. Er mußte sich auf den Grund sinken lassen, von dem er sich aber wieder abstoßen konnte, um Luft zu holen. Das wiederholte er nun solange, bis es ihm gelang, dem Ufer nahe zu kommen und an Land zu waten. Nach kurzer Rast überbrachte er seine Meldung.« »Es gibt noch abenteuerlichere Geschichten von ihm.« Leutnant Winsloe war aufgestanden und an ein .Fenster getreten. Er stützte die Arme rückwärts auf die Brüstung und stand im Mondlicht, blutjung, flachshaarig und knabenhaft schmal, während er berichtete. »Im amerikanischen Bürgerkrieg war der Graf als Beobachter bei den Truppen der Nordstaaten. Danach hat er mit ein paar gezähmten Rothäuten eine Reise in das Quellgebiet des Mississippi unternommen. Ich habe mir auch erzählen lassen, er wäre
auf einer dieser amerikanischen Fahrten pladauz in die Strudel der Niagarafälle hinabgesprungen.« »Menschenkind, halten Sie die Luft an! Dann wäre er nicht hier.« »Doch! Vorher hatte er beobachtet, wie ein Holzstück, das an bestimmter Stelle in das Wasser geworfen wurde, in weitem Bogen immer an denselben Uferfelsen antrieb. Und daraus folgerte er richtig, daß ein Schwimmer ebenso herumgerissen und wieder an Land getrieben werden müßte. Das ist ihm bei seinem Versuch auch tatsächlich geglückt. Seine erschrockenen Begleiter haben ihn freilich schon auf einem der kürzesten Wege in ihre ewigen Jagdgründe dahinfahren sehen.« »Tolle Sache!« sagte Gayling aus einer dicken graublauen Wolke von Tabakrauch heraus. Winsloe schwang sich auf die Fensterbank und ließ die Beine baumeln. »Jedenfalls schwimmt der Graf ebenso gut, wie er reitet.« »Auch eine Ballonfahrt hat er schon mitgemacht«, rief Villiez. »Irgendwo drüben in Amerika.« »Bei St. Paul in Kanada, Herr von Villiez!« In der Tür stand Graf Zeppelin, Hauptmann im Würtlernbereischen Generalstab. Lächelnd trat er ein. »Es war aber keine Fahrt, sondern nur ein Aufstieg im Fesselballon.« Er kam an den runden Tisch, noch jugendlich, straff und strahlend von Tatenlust. Seine Uniform saß faltenlos. Im linken Ärmelaufschlag steckte das Kartenblatt. Seine knappen Bewegungen geschahen rasch und entschieden, aber in einer völlig ausgeglichenen Folge. Seine Augen waren stahlblau und sehr klar. Das helle Haar trug er leicht gewellt und sorgfältig gescheitelt. »Bitte, behalten Sie Platz! Unser Wirt hat sich schlafen gelegt. Ich habe den alten Herrn schon ungebührlich lange aufgehalten. Jetzt möchte ich noch einmal mit Ihnen anstoßen, wenn Sie mir ein Glas Wein übriggelassen haben.
Allzu spät dürfen wir es aber nicht werden lassen. Wir müssen um sechs Uhr am Morgen aufbrechen.« »Danke!« Er nahm das gefüllte Glas, das Wechmar ihm reichte. »Lassen Sie uns auf ein gutes Gelingen unseres Rittes trinken! Wenn unsere Pferde Flügel hätten, wäre die Unternehmung freilich ungefährlicher.« Die Leutnants stießen reihum mit ihm an. »Morgen ist Sonntag«, sagte Winsloe und deutete auf den Abreißkalender, der über dem alten Stehpult neben der Tür hing. »Wir werden Glück haben.« Der Hauptmann sah ihn ernst an: »Wir wollen es hoffen. Ich habe heute nachmittag erfahren, daß vorgestern bei einem Erkundungsritt zwischen Bitsch und Hagenau als erstes Kriegsopfer auf deutscher Seite der bayrische Leutnant Graf Tauffkirchen, ein Neffe des bayrischen Gesandten in Rom, gefallen ist.« »Das ist der Krieg«, ließ Gayling, wieder in Rauchwolken eingehüllt, sich hören. »Wem es bestimmt ist, mein guter Knabe Winsloe, den trifft es.« Der andere ging an das Fenster zurück und sah hinaus. Der runde Mond war inzwischen hoch emporgestiegen, und alle Sterne standen klar am nächtlichen Himmel. Die Straße lag seltsam unwirklich, leer und still im kalten weißen Licht. »Morgen ist Sonntag«, wiederholte der junge Herr. Graf Zeppelin schob den Weinkrug zur Seite und breitete die Ka rte auf dem Tisch aus. »Wir werden zunächst feststellen, wie stark die feindliche Wachttruppe in Lauterburg ist. Ich habe mich zu dem Schwabenstreich entschlossen, mit Ihnen überraschend durch die Stadt hindurch zu reiten. Das hat im Galopp, unter allen Umständen ohne jeden Aufenthalt und mit großem Geschrei zu geschehen.« Wechmar gab seinem Kameraden Villiez einen derben Stoß. »Da haben Sie eine Sonderaufgabe für Ihre anerkannt großartigen Stimmittel.«
»Danke. Ich verspreche einen Lärm, so gräßlich und lähmend, als ob das wilde Heer hereinbräche!« Der Hauptmann nickte Villiez belustigt zu. »Ich rechne mit der völligen Überrumpelung und Verwirrung des Gegners. Bevor er wieder zur Besinnung kommt, müssen wir schon fort sein.« Er deutete auf die Karte. »Wir werden dann über Neuweiler in Richtung auf Hagenau reiten und dort vermutlich auf die ersten Truppen der französischen Südarmee stoßen. Deren Feststellung bleibt unsere eigentliche Aufgabe.« Jetzt gab Villiez den erhaltenen Stoß freundschaftlich zurück. »Das ist dann etwas für Ihre behördlich bestätigte Raufboldigkeit, mein lieber Wechmar.« »Ich will«, fuhr Graf Zeppelin fort, »so tief wie möglich in das französische Aufmarschgebiet eindringen, um unserer Heeresleitung einigermaßen Klarheit zu verschaffen. Sie wissen, wir Süddeutschen sollen den ersten großen Angriff unternehmen.« »Hohe Ehre!« sagte Gayling hinter den wirbelnden Rauchwolken, die unablässig aus seiner Pfeife dampften. Die schwarzen Zeiger der Standuhr rückten auf Zwölf. Der Hauptmann trank sein Glas aus und stand auf. »Der Tag geht zu Ende, und unsere Kerze ist herabgebrannt. Wir wollen uns ausstrecken, um morgen frisch zu sein. Gute Nacht, meine Herren!« »Gute Nacht, Herr Hauptmann!« Das letzte Licht in Hagenbach erlosch. Die Offiziere im Bürgermeisterhause schliefen bald ein. Nur der kleine Winsloe saß noch in einer dunklen Dachkammer wach. Sein tapferes junges Herz wehrte sich mit schnelleren Schlägen gegen eine geisterhafte und geheimnisvolle Bedrückung, die ihn plötzlich befallen hatte. Er hielt die Augen geschlossen und sah doch in wundervollem Bilde weithin vor sich das deutsche Land ausgebreitet mit Höfen, Dörfern und Städten, mit Acker und Wald, Wiese und
Fluß. Aus den Werkstätten hallten die Hammerschläge. Auf den Landstraßen fuhren die schwerbeladenen Erntewagen. Aber am fernen Rand des Himmels stieg riesenhaft der unerbittliche ewige Schnitter allen Lebens herauf. Der fröhliche kleine Dragonerleutnant hatte bisher nie etwas anderes erblickt als die handhaften Dinge auf betretbarem Grund, die beherrschten Gesichter seiner Kameraden und die verliebten lachenden Augen der badischen Mädchen. Erstarrt sah er jetzt die übersinnliche Erscheinung herankommen. An ihrem Wege welkten Halm und Strauch, und das Laub fiel verdorrt von den Bäumen. Schon stand das unbewegte bleiche Antlitz nahe vor dem jungen Soldaten, als es ihm endlich gelang, den lähmenden Bann abzuwerfen. Er dachte nun nicht mehr an Schlaf. Leise ging er aus der Kammer, tastete sich behulsam die knarrende Treppe hinab und verließ das stille Haus. Draußen dämmerte schon der Morgen und löschte die nächtlichen Gestirne am Himmel aus. Ein leichter Wind wehte von den Hagenbacher Tabakfeldern her. Im Garten der Bürgermeisterei blühten die Rosensträucher. Langsam schritt der Leutnant zwischen den Beeten auf und ab. Eine frühe Amsel auf der Giebelspitze der Scheune flötete, während die Helligkeit des Tages schnell zunahm. Dann krähten die Hähne. Die große Stalltür wurde weit geöffnet, und die sieben Dragoner, breitschultrige, kräftige Männer, traten gemächlich nacheinander in das Licht heraus, reckten die steif gewordenen Glieder und gingen sporenklirrend über den Hof zur Pumpe. Sie warfen die Röcke ab, streiften sich die Hemden über die Köpfe und begannen, sich unter dem kräftigen kühlen Strahl prustend und schnaufend zu waschen. Danach wurden die Pferde aus dem Stall geführt, geputzt und gesattelt. Die Soldaten sangen zu ihrer Arbeit,
und das Mädchen Josefine, frisch und pausbäckig wie die Morgenröte, lachte ihnen aus dem Küchenfenster zu. Der Leutnant kehrte in das Haus zurück und fand die Kameraden schon mit ihrem Wirt am Frühstückstisch. Winsloe ging zu dem Stehpult neben der Tür und riß das gestrige Kalenderblatt ab. In hellroten Zahlen und Buchstaben war nun zu lesen: 1870, 24. Juli, Sonntag. Der Hauptmann drängte zur Eile. Die große Standuhr schlug sechsmal, und die Offiziere verglichen ihre Taschenuhren. Sie dankten dem Bürgermeister für die gute Aufnahme. Aber der alte Mann wollte mit bescheidener Freundlichkeit nur gelten lassen, daß er seine selbstverständliche und freudige Pflicht getan hätte. Er begleitete seine Gäste auf den Hof hinaus und reichte jedem die Hand zum Abschied. »...Kommen Sie gesund wieder!« Die zwölf Reiter stiegen zu Pferde, hoben die Hände zum Gruß an die Käppis und ritten unter dem hohen Bogen des Hoftors hindurch. Der Gefreite Diehm, als letzter, sah sich noch einmal nach der Josefine um und winkte lachend. Die Hunde bellten hinter dem kleinen Trupp, der nach Süden auf die Grenze zutrabte, die steigende Sonne zu seiner Linken. In einer halben Stunde erreichte er die deutsche Vorpostenstellung. Dann war er vor dem Feind. Nahe vor Lauterburg hielt die Streife im Schutz eines Wäldchens seitlich der Landstraße. Ihr Führer schwang sich aus dem Sattel und schlich allein im grünbewachsenen Straßengraben vorwärts. Auf der Bahnstrecke nach Straßburg fuhr ein kurzer Personenzug aus Lauterburg ab. Dann begannen die Sonntagsglocken in der kleinen Stadt zu läuten. Graf Zeppelin lag am Grabenrand und hob das Fernglas vor die Augen. Die Zugbrücke über die Lauter war herabgelassen. Am offenen Stadttor stand ein französischer Doppelposten. Aber die beiden Infanteristen in langschößigen
dunklen Röcken und leuchtend roten Hosen schwatzten sorglos miteinander und achteten kaum auf das Vorgelände. Der Graf kam zu seinen Reitern zurück und teilte ihnen kurz seine Beobachtungen mit. Er stieg wieder in den Sattel und führte den Trupp auf Umwegen in guter Deckung bis dicht vor die Stadt. Die Offiziere nahmen ihre entsicherten Pistolen zur Hand. Die Dragoner zogen die breiten Säbel. »Sobald wir anreiten, machen Sie Lärm für Hundert!« befahl «Zeppelin. »Sie bleiben geschlossen hinter mir. Keiner darf sich auf einen Kampf einlassen. Und nun los: Galopp!« Bevor die Posten am Stadttor begriffen hatten, was geschah, donnerten die wilden Reiter mit Hurra über die Zugbrücke und jagten in die Stadt. Die Hufe schlugen Funken aus den Buckelsteinen des Pflasters. Hollahe und Hussahu! Leutnant von Villiez heulte wie die Hölle. Aus einer Seitengasse kamen fra nzösische Infanteristen gelaufen. Pistolenschüsse fegten sie zurück. Über den Marktplatz flüchteten Hals über Kopf die ersten Kirchgänger, und ein aufgescheuchter Taubenschwarm flog flatternd hoch. Das jenseitige Stadttor war nicht bewacht. Ein altes Weiblein, das an der Mauer seine magere Ziege weidete, schrie gellend und schlug sich die Schürze über den Kopf, als die deutschen Reiter vorüberstürmten. Unangefochten entkamen sie aus der Stadt, deren Besatzung zu spät sich ermannte. Die entsetzten Bürger standen noch immer schreckensbleich hinter verschlossenen Türen, als der verwegene Streiftrupp schon an mehreren Stellen der großen Straße nach Hagenau und Straßburg den Draht der Fernsprechleitungen zerschnitt. Graf Zeppelin wandte sich an den Leutnant Winsloe. »Sie werden mit Ihrer gestrigen Voraussagung recht behalten; wir haben Glück.« Winsloe lächelte still. Er neigte sich im Sattel und klopfte zärtlich den Hals seines Pferdes.
Sie trabten gegen Neuweiler. Der Tag wurde heiß. Vom Feinde war nichts zu sehen. Friedlich lagen die Gehöfte in der besonnten Landschaft. Einem Postboten aus Neuweiler nahm Gayling Briefe und Zeitungen ab. Auch den Briefkasten im Dorf ließ er leeren, um Nachrichten zu sammeln. Der Maire wurde aus seinem Hause herausgeholt. Ob Truppen durchgezogen seien? Er schüttelte schweigend den grauen Kopf. »Antworten Sie!« »Ich weiß nichts.« »Mann, Sie wollen nichts wissen!« Die Narbe auf Wechmars Stirn flammte. »Soll ich Ihrem Gedächtnis nachhelfen?« Der Hauptmann winkte ab. »Lassen Sie den Mann gehen, er wird keine Aussage machen.« Am Dorfbrunnen wurden die Pferde getränkt. Es war schon Mittag, als die Deutschen wieder aufsaßen und ihren Ritt in Feindesland fortsetzten. Staub wirbelte auf und hüllte sie ein. Gegen drei Uhr erreichten sie Trimbach. Auch hier war zunächst kein Feind zu sehen. Aus einem Wirtshaus am Ende des Dorfes klang Tanzmusik, und die Reiter reckten sich in den Sätteln. Plötzlich hob Graf Zeppelin, der mit dem Gefreiten Diehm an der Spitze trabte, die Hand. Schon erblickten auch die anderen die Lanciers, die langsam auf der Straße heranzogen, und zählten vier. sechs, sieben Mann. »Da sind sie«, sagte Leutnant von Gayling sehr ruhig. »Ziehen!« Die Säbel funkelten. Aber kaum hatten die Franzosen den unerwarteten, stärkeren Gegner entdeckt, als sie ihre Pferde zur Flucht herumrissen. Der Graf hob sich in den Bügeln und stieß die blanke Waffe senkrecht hoch. Querfeldein jagte er mit den Seinen den Flüchtigen nach. Die Lanciers ritten auf Tod und Leben.
Einer, auf einem Schimmel, schien zu stürzen. Er kam wieder hoch, blieb aber hinter den anderen zurück. »Diehm!« »Herr Hauptmann?« »Wir fangen uns den letzten!« Die Pferde keuchten. Der Schaum flog in dicken Flocken von ihren Mäulern. Jetzt waren die Verfolger rechts und links neben dem Franzosen. Zeppelin schlug ihm mit der flachen Klinge über den Arm, der Gefreite erfaßte die fallenden Zügel. In weitem Bogen lenkten sie um. »Komm mit, mein Junge!« Leutnant von Villiez und der Dragoner Kranz stießen hinzu. Ein heller Befehlsruf ließ die übrigen umkehren. Atemlos kamen sie nacheinander herangeritten. Wechmar fluchte insgeheim, daß es ihm nicht erlaubt war, die Jagd fortzusetzen. Sie ritten nach Trimbach zurück. Die Musik im Dorfkrug war verstummt. Die Häuser waren geschlossen, und auf der Straße liefen nur noch die Hühner aufgeschreckt umher. Wieder wurden die Pferde getränkt. Auch die Reiter löschten am Brunnen ihren Durst und füllten die dickbauchigen Feldflaschen. Der geängstigte Gefangene verriet, daß Sulz, Weißenburg und Niederbrunn von Truppenteilen der französischen Südarmee besetzt waren. Graf Zeppelin schrieb die Angaben des Mannes in einer ausführlichen Meldung nieder, während die Leutnants aus den aufgefangenen Postsendungen alle Mitteilungen hervorsuchten, die für die Heeresleitung von Wert sein konnten. Nach einer raschen Durchsicht bündelte der Hauptmann die Schriftstücke und reichte sie Gayling. »Nehmen Sie sich zwei von Ihren Leuten und den Gefangenen mit und reiten Sie auf kürzestem Wege über die Grenze zurück! Halten Sie die Augen offen, damit der Feind Sie nicht abfängt. Meine Meldung und die Briefe haben Sie so
schnell wie möglich dem Generalkommando in Karlsruhe zu überbringen.« »Zu Befehl!« Leutnant von Gayling hob die Hand an das Käppi, doch konnten weder Gesicht noch Stimme seine Enttäuschung verbergen. »Ich werde schon durchkommen. Aber ich wäre lieber weiter nach vorwärts mitgeritten.« Der Hauptmann sah ihn verwundert an. »Der Mann muß überall seine Pflicht tun, wohin er auch gestellt wird. Und jeder Weg, den seine Pflicht ihm vorschreibt, ist ehrenvoll.« Er gab dem Leutnant die Hand. »Reiten Sie! Ich hoffe, wir sehen uns bald in Karlsruhe wieder.« Gayling ging zu den Pferden. Aber der alte Widersacher in ihm konnte sich nicht versagen, zunächst mit grimmiger Langsamkeit aus der Sattellasche die halblange Jägerpfeife herauszunehmen, die er am Morgen noch einmal mit dem schwarzen Tabak des Hagenbacher Bürgermeisters gefüllt hatte. Umständlich zündete er sie an, bevor er den Dragonern Gerber und Kraft winkte. »Aufsitzen! Der Krieg ist aus. Wir reiten heim.« »Lieber Freund«, sagte Wechmar und schlug ihm derb auf die Schulter, »warum kränken Sie sich? Wer weiß, ob Sie es nicht schwerer haben werden als wir.« Der andere, einen Fuß schon im Steigbügel, wandte sich um. »In Karlsruhe? Meine Gläubiger werden sich allerdings freuen, mich so rasch wiederzuhaben.« Und plötzlich verändert, bat er leise: »Geben Sie um Gottes willen auf Herbert Winsloe acht! Der Kleine gefällt mir nicht. Ein Schatten liegt über ihm.'' Er schwang sich n i den Sattel, grüßte und trabte mit seinen Begleitern aus Trimbach hinaus. Graf Zeppelin ritt nun mit den anderen nach dem Dorfe Hunsbach und ließ dort die Meldegeräte des Bahnhofs zerstören. Dann zeigte es sich bald, daß der Feind bereits begonnen liatte, auf die Streife Jagd zu machen. Auf allen Straßen erschienen starke französische Reitertrupps. Es
gelang aber, unbemerkt an ihnen vorüber in den Schonenburger Forst nahe von Weißenburg zu kommen, und da inzwischen die Dämmerung angebrochen war, beschloß der Hauptmann, hier die Nacht zu verbringen. Ringsum bedroht, lagen die neun Deutschen im Gehölz. Sie durften nicht schlafen und wagten kaum, leise Worte zu wechseln. Jeder hielt sein Pferd am Zügel. Die Sommernacht war warm und erfüllt von würzigem Duft. Der Mond wanderte über den schweigenden Wald. Die Sterne funkelten im dunklen Geäst. Es waren dieselben Gestirne, die auch über der Heimat standen, und der Hauptmann sandte ihnen einen heimlichen Gruß an die junge Frau, die in dieser Nacht schlaflos lag und sich um ihn sorgte. Als früh das Morgenrot am Himmel aufleuchtete, führte er seine kleine Schar aus dem Schonenburger Forst hinaus. Sie ritten gegen Wörth. Auch auf dem Bahnhof von Gundershofen machten die Dragoner den Telegraphen unbrauchbar. Gegen Mittag wurde wieder eine Rast zum Füttern und Tränken der erschöpften Pferde notwendig. In der Nähe von Gundershofen lag der Schirlenhof, ein Weiler mit wenigen Häusern. Bei einer schnellen Durchsuchung fand sich nichts Verdächtiges. Also kehrten die Reiter in der Gastwirtschaft ein. Die Gebäude umgaben hufeisenförmig den Hof, an der Seite nach Niederbronn das Wohnhaus mit einer Treppe von zehn Steinstufen, die zu einem schmalen Flur und dem Gastzimmer hinaufführte, Wand an Wand daneben der Kuhstall. Daran lehnte sich eine Scheune. Mit weiteren Stallungen bog das Anwesen nach der Landstraße ab und zog sich an ihr entlang wieder zum Gasthause zurück. Die Bewohner waren über die Ankunft der deutschen Reiter sehr erschrocken. Nach ihrer Aussage war Niederbronn vom Feinde besetzt. Ein Posten wurde am Scheuneneck dicht an der Straße aufgestellt. Frau Lienhardt, die Wirtin auf dem Schirlenhof, brachte den unerwarteten Gästen ein paar Schüsseln mit saurer Milch und ließ Kartoffeln kochen.
Während sie selbst den Dragonern auftrug, bediente ihre Tochter, ein flinkes, dunkeläugiges Mädchen in der elsässischen Tracht, die vier Offiziere. Hastig aßen sie. Graf Zeppelin hatte die Karte vor sich aufgeschlagen. Leutnant von Wechmar war mit seinem Revolver beschäftigt. Winsloe neckte sich mit dem Mädchen. Plötzlich gellte der Ruf des Postens. »Raus!« Und schon schwang sich Villiez mit wildem Geschrei aus dem Fenster. Wechmar sprang ihm nach. Schüsse knatterten um das Haus. Winsloe griff nach dem Mädel, das sich ihm mit weit offenen, erschreckten Augen widerstandslos ergab. Sie hielt in seinen Armen still, während er sie küßte. Ihre bebenden Lippen erschlossen sich und erwiderten den schmerzhaften Kuß. »Du schönes Leben!'' sagte der junge Leutnant und umfing mit zärtlicheren Händen ihr Gesicht. Dann riß er sich los und eilte hinaus. Auch die Dragoner stürmten auf den Hof. Eine starke Abteilung Chasseurs war überraschend eingedrungen. Gegen ihre Übermacht mußte der erbittertste Widerstand aussichtslos bleiben. Der Kampf hatte noch kaum begonnen, als schon die fünf Dragoner schwer verwundet am Boden lagen. Die Leutnants hatten sich an die vorgebaule Steintreppe an der Hauswand zurückgezogen, um im Rücken gedeckt zu sein. Wechmar blutete aus einer tiefen Stirnwunde, die quer über seine alte Säbelnarbe klaffte. Aber er stand noch unerschüttert aufrecht und schlug rasend vor Wut und Schmerzen um sich. Als erster fiel Villiez, der barhäuptig war und von einem klatschenden Schlag mit flacher Klinge über den Kopf betäubt wurde. Der kleine Winsloe sprang tapfer vor den Gestürzten und wurde von einer Kugel in die Brust getroffen. Wechmar sah durch den roten Schleier seines Blutes, wie der schmale Junge die Arme steil hochstreckte, den
Säbel fallen ließ und lautlos über seinem Kameraden, zusammenbrach. Brüllend warf sich der letzte deutsche Kämpfer auf seine Gegner; aber auch er verlor jetzt das Bewußtsein. Während dieses kurzen blutigen Gefechts war Graf Zeppelin aus einem Kammerfenster an der Rückseite des Hauses gestiegen, um noch zu den Pferden zu gelangen. Auch ihn griffen sofort mehrere Chasseurs an. Er schoß den ersten aus dem Sattel. Als das reiterlose Tier sich dicht vor ihm aufbäumte, griff er ihm in die Zügel, zwang es zum Stehen und saß auf, während schon Säbelhiebe auf Helm und Schultern niederschlugen. Er schoß noch einmal, und in dem freien Raum, der um ihn entstand, trieb er das erregte Pferd zum Sprung über den hohen Lattenzaun, der an dieser Seite das Gehöft gegen das freie Feld hin begrenzte. Eine Karabinersalve knatterte hinter dem Hauptmann her. Er hörte das schrille Pfeifen der Kugeln dicht über sich, blieb aber unverletzt. Tief auf den gestreckten Hals des Pferdes geneigt, jagte er querfeldein. Noch einmal pfiff ein Geschoß an ihm vorüber. Dann nahm der schützende Wald ihn auf. Im dichtesten Gehölz band er das Pferd an einen Baum und erkletterte den hohen Stamm. Er sah eine französische Abteilung vom Schirlenhof heranreiten, am Waldrande absitzen und in einer langen Kette, die Stutzen schußbereit erhoben, zu Fuß eindringen. Die Pistole in der Hand, saß er in der Baumkrone, reglos, mit zusammengebissenen ZähZähnen. Wenn das Pferd die Nähe der Menschen und Tiere wilterte, wenn es unruhig wurde und wieherte, war er verloren. Ruf und Widerruf hallten durch den Wald. Jetzt raschelten und knackten nahe unter ihm die Hische. In dieser größten Gefahr trieb ihm ein heißer aufbrausender Lebensdrang das Blut rauschend in die Schläfen. Alle seine Muskeln waren hart gespannt. Die Rechte mit der Waffe war aus seinem grünen Versteck vorgestreckt. Seine Augen blickten hart. Er hörte auch das
leiseste Geräusch. Im dünnen Gezweig dicht vor sich sah er eine dickbauchige, langbeinige Spinne in ihrem Netz sitzen. War er selbst hier dem Verderben ins Netz geraten? Von den Reitern, die er auf den Schirlenhof geführt hatte, war keiner ihm nachgekommen; also waren sie alle gefallen oder gefangen. Er hob die Pislole und zerriß mit einem kurzen Ruck das Spinnengewebe. Sein Wille, zu entkommen und zu leben, war zäher, wütender und unbedingter als die Macht des Schicksals. Das brave Pferd verhielt sich ruhig, und der Feind entfernte sich, ohne den Gesuchten zu finden. Der Hauptmann sah von seinem Hochsitz, wie die Chasseurs aus dem Walde zurückkamen und nach kurzer Beratung eilig davonritten. Eine unbändige Freude überstürzte ihn. Sein Herz hämmerte so ungestüm, daß ihn die harten Stöße seines Blutes in allen Adern schmerzten. Als er sicher zu sein glaubte, stieg er von dem Baum herab. Dankbar klopfte er dem fremden Pferde den Hals. Es schob ihm zutraulich den Kopf auf die Schulter. Eine Weile stand er und lauschte angestrengt. Aber die Verfolger kamen nicht zurück. Der Tag ging zur Neige, und der Graf entschloß sich, über Nacht im Walde zu bleiben. Erschöpft streckte er sich auf der Erde aus. Als die Dämmerung schon ringsum die Gestalten von Busch und Baum unheimlich veränderte, schreckte ihn ein zorniges Schnaufen jäh aus dem Halbschlaf. Er zog die Pistole. Aber nur ein hungriger wildernder Hund hatte sich herangeschlichen. Das Tier flüchtete, als er sich aufrichtete. Die Nacht sank. Eine Eule schrie so häßlich und laut, daß ihn ein Frösteln überlief. Die Büsche knarrten, und wieder hob der Einsame die Waffe. Doch nichts geschah. Nur die seltsamen, unverständlichen Laute der Finsternis kamen immer wieder. Dann wetterleuchtete es, aber das aufziehende Gewitter kam nicht zum Ausbruch. Die Luft war
schwül, und auch die ersten Stunden des neuen Tages brachten keine Abkühlung. Der Schlaflose litt Durst. Als die Sonne aufging, schlich er durch das Gehölz zum jenseitigen Waldrand. Felder und Wiesen dehnten sich über die leichten Geländewellen vor ihm aus. Vorsichtig umherspähend, kroch er vorwärts und fand endlich einen schmalen Graben. Das Wasser war trüb, aber er trank, tauchte die Hände ein, befeuchtete sein Gesicht, beugte sich lächelnd wieder vor und trank noch einmal. Quell des Lebens, dachte er und fühlte, allein mit der starken Natur, die Gemeinschaft seines erfrischten Leibes mit der morgendlichen fruchtbaren Erde, auf der er kniete, seiner kräftigen Glieder mit dem sommergrünen Busch, seiner Augen mit der flimmernden Luft darüber. Hoch im Blau, leicht und frei, kreiste langsam ein großer Vogel, der das goldene Licht auf seinen ausgespannten Flügeln trug. Auf dem Rückweg zum Walde ersah der Hauptmann aus der Stellung der Sonne die Himmelsrichtungen. Seine Karte war in der Gaststube auf dem Schirlenhof liegengeblieben. Er mußte jetzt nach Osten in den Tag hineinreiten, um wieder an die Grenze zu kommen. Dabei vermied er die Landstraßen und hielt sich jeder Ortschaft fern. Das Pferd war vorher an dem Wiesengraben getränkt worden und fand genug grünes Futter, sooft sein Reiter sich eine kurze Rast gönnte. Plötzlich sah der Graf, als er aus einer Senke heraufkam, in geringer Entfernung eine feindliche Schwadron vorüberziehen, die sich aber durch seine unbefangene Haltung und die württembergische Uniform mit dem Käppi täuschen ließ. Ohne seinen Ritt zu beschleunigen, trabte er weiter und winkte hinüber. So entkam er unbehelligt. Die Sonne stieg zur Höhe ihrer Bahn. Flammend stand sie über dem Reiter. Dann sah er seinen Schatten vor sich hergleiten und allmählich länger werden. Am Nachmittag erreichte er bei Schönau endlich die bayrischen Vorposten.
Er hielt sich nicht länger auf, als es die Versorgung des Pferdes verlangte. De r badische Generalstabshauptmann von Riedberg nahm ihn in seinem Wagen nach Karlsruhe mit. Sie wechselten nur wenige Worte, dann schlief Zeppelin an der Schulter seines Kameraden so fest ein, daß ihn der andere wecken mußte, als sie am späten Abend vor dem Generalkommando in Karlsruhe ankamen. Jetzt war der Graf sofort hellwach. Er zog sich den Uniformrock glatt, ließ sich zum Chef des Generalstabs führen und erstattete seine Meldung: die Armee Mac Mahons marschiere im Raum zwischen Hagenau und Bitsch auf. Der erste Dank für seine Tat war eine dienstliche Sendung nach Stuttgart, die ihm einen unverhofften, letzten Besuch bei seiner jungen Frau ermöglichte. Schon am nächsten Tage fuhr er heim. *** Eine Diele knarrte. Vom Garten herauf klang eine erste schüchterne Vogelstimme und verstummte wieder. Graf Zeppelin sah einen Augenblick die aufdämmernden Fenstervierecke. Dann senkte er die Lider noch einmal. Mit halbwachen Sinnen vernahm er die leisen Atemzüge neben sich. Er hörte, wie die Uhr im Nebenzimmer gleichmäßig tickte und tackte und sank tief in eine warme, vertrauliche Behaglichkeit zurück. Als die Uhr achtmal schlug, erwachte er und lauschte, aber das Atmen an seiner Seite war verstummt. Er öffnete wieder die Augen und betrachtete jeden Gegenstand in der Stube, den hochlehnigen grünen Sessel am Fenster, das gleichfarbige schmale Liegesofa und den kleinen dreibeinigen runden Tisch davor, den schweren geschnitzten Eichenschrank, die beiden freundlichen Landschaftsbilder in vergoldeten Rahmen. Dann leuchtet e sein Blick auf; in einem leichten weißen Morgenkleid war seine junge Frau eingetreten, zart und schmal, mit ihrer anmutigen Art, ein wenig auf den Fußspitzen zu federn. Er sah das gescheitelte dunkle Haar
über der hellen Stirn, die schön geschwungenen Lippen, die großen klaren Augen sich herabneigen und lauschte beglückt dem Wohllaut ihrer geliebten Stimme. »Die Sonne scheint. Guten Morgen, Ferdinand!« »Ich habe nicht gehört, daß du aufstandest. Warum hast du mich nicht geweckt?« »Du hast deinen Schlaf verdient, Lieber.« »Aber ich will keine Stunde mit dir versäumen.« Sie neigte sich tiefer zu ihm hinab. »Ich bin immer bei dir. Wenn du fort bist, gehe ich hier nur wie ein Schatten umher, denn meine Gedanken und mein Herz sind bei dir.« Ihre Lippen berührten leicht die seinen. Dann richtete sie sich auf. »Wir wollen darum in diesen Tagen doppelt froh sein.« Der Graf kleidete sich rasch an. Er fand den Frühstückstisch einladend gedeckt und mit einem großen Rosenstrauß geschmückt. Die junge Frau goß ihm den Kaffee ein und schob ihm die Zuckerschale hin, eine schön geschwungene, flache blaue Kristallschale mit weißem Schliff. Sie stammte von seiner Großmutter Coraly Macaire auf der Insel Konstanz. Seine Mutter hatte das kostbare Erbstück nur benutzt, wenn sie Gäste hatte und an hohen Feiertagen. Eine Menge lieber kleiner Erinnerungen bestürmte ihn. Er beugte sich dem süßen Duft des Rosenstraußes entgegen. Dann ergriff er beide Hände seiner Frau, schmale Hände mit feinem Geäder, und küßte sie. Nach dem Frühstück gingen sie Arm in Arm durch die Wohnung, die erst seit einem Jahr ihr gemeinsames Heim war. Vor den Bildern seines Großvaters und seines Vaters blieb der Graf stehen. Schon als Kind hatte er unter den alten Familienbildern auf Girsberg ein starkes, noch unverstandenes Gefühl gehabt für die unlösbaren Bindungen und unaufhaltsamen Entwicklungen im Leben der Sippe. Ferdinand Ludwig, sein Großvater, war württembergischer Außenminister gewesen, hatte wichtige Verhandlungen mit Napoleon und dem Zaren geführt, mit General Wrede und Metternich. Aus seinem offenen Gesicht sprachen
Selbstgefühl und fester Wille. Er war auf dem Bilde in reich gesticktem Staatskleid dargestellt. Seine Rechte mit dem breiten goldenen Ring lag auf der Brust. Noch im Alter hatte er sein Äußeres mit allen seinen Eigenheiten sorgfältig gepflegt, ein Kavalier der Vergangenheit, der sich durch den Wandel der Dinge seine persönliche Note nicht nehmen ließ. Der Enkel erinnerte sich an die letzte Geburtstagsfeier des Großvaters. Der alte Herr hatte Wünsche, Dank, Ehrungen und Geschenke in würdiger Haltung als angenehme, aber durchaus nicht unerwartete Gaben vom Tisch eines freundlichen Schicksals hingenommen. Das Bild seines Sohnes zeigte die gleiche hohe Stirn, den gleichen klugen Blick eines gebildeten und welterfahrenen Mannes. Graf Friedrich von Zeppelin, ein verständnisvoller Freund der Dichtkunst, fleißiger Landwirt und großer Jäger, trug einen einfachen dunklen Rock mit hoher schwarzer Halsbinde. Als er sich verheiratet hatte, war er Oberhofma rschall des Fürsten von HohenzollernSigmaringen gewesen und hatte eine prächtige Uniform und einen glänzend schwarzen Stab mit silbernem Knauf getragen. Er hatte selbst nicht gewußt, wie es gekommen war, daß er und seine lebensfrohe, schöne Frau des großen Glanzes überdrüssig wurden. Es war ihnen unerwartet, aber desto zwingender geschehen, und eines Tages hatte er den schwarzen Stab niedergelegt, um ein bescheidenes, arbeitsames Leben auf der fruchtbringenden Scholle zu führen. Die junge Gräfin stützte sich fester auf den Arm ihres Mannes, aber sie störte seine stumme ZwieSprache mit den Bildern nicht. Sie besaß in seltener Weise die Gabe, Fremdes schweigend in sich aufzunehmen und durch ihr eigenes Fühlen und Denken zu erweitern und zu vertiefen. Diese Gabe stimmte so gut zu dem schwärmerischen Zug ihres Herzens, immer für andere zu sorgen, daß ihr ganzes Wesen eine vollkommene Anmut erhielt. Für Ferdinand von Zeppelin war sie in diesem ersten Jahr ihrer Ehe der Mittelpunkt aller
seiner Empfindungen und Pläne geworden, ein zauberhafter schöner Kristall, der alle Strahlen seines Wesens sammelte und verstärkte. Während das Paar nun weiterging, und sie wieder miteinander plauderten, bezauberte ihn aufs neue ihre Stimme. Er hatte noch von keiner Frau eine solche Stimme gehört. Zuerst klang sie in tiefen, schmeichelnden Tönen, dann wurde sie lauter und heller, erinnerte an den Ton einer fernen Flöte. Ihr Lachen aber glich dem Amselruf in der Frühe. Er wandte sich ihr zu. Ihr Gesicht war nahe dem seinen, er sah die leisen Bewegungen der zarten Brauen, die leichten Schatten der Wimpern. Ihr Mund war ernst, aber weich und blühend rot, »Du!« Du und du, ewiges Gespräch. Ausgleich, Klarheit und Erfüllung. Geborgen und doch erregt von der Kraft, die sie umfangen hielt, gab sie sich seiner Umarmung hin. Am Abend saßen sie im Garten hinter dem Hause. Ein ausgestochenes Rasenstück lag neben dem Grafen. Der braune Erdbruch war mit weißen Wurzel fasern verfilzt. An den Rändern des Abstichs hafteten kleine Moose, die vordem im grünen Licht der dichten und hohen Gräser schon ihren Himmel gehabt hatten. Graf Zeppelin beugte sich hinab und griff nach dem Rasenstück; er brach eine dunkle Erdkrume ab, ließ die zerbröckelnde durch seine Finger gleiten. »Das ist unsere heilige Erde«, sagte er. »Wir trennen uns von ihr. Die Straßen werden pepflastert, die Wege in den Gärten mit Kies bestreut, und auf dem Acker sind noch die Schuhsohlen zwischen uns und dem Lebensboden. Aber die deutsche Erde bleibt unsere Mutter, und eines Tages nimmt sie uns wieder in ihre Arme, bricht mit singenden Quellen, mit Sonnenglanz und Blumenpracht, mit Vogelliedern und dem Geruch einer warmen Scholle in unsere verhärteten Herzen ein.« Die junge Frau legte ihren Kopf an seine Schulter, und in der beglückenden Stille ringsum nannte er alle Seligkeit
dieser friedlichen Stunden in einer kampferfüllten Welt mit dem Namen der Geliebten. Sie saßen bis in die späte Nacht hinein. Endlich kehrten sie in das Haus zurück. Die Gräfin schlief, sobald sie sich niedergelegt hatte, fest ein. Der Heimgekehrte aber war noch lange wach und hörte, wie die Uhr im Nebenzimmer tickte und tackte. Mit ihren eiligen Schlägen verging unaufhaltsam die Zeit. Er war in das eigene Haus nur als Gast gekommen. Nach vier glücklichen Tagen saß er wieder im Zug. Die Räder auf den Schienen liefen mit den Minuten um die Wette. Die Lichter der Bahnhöfe sprangen heran und stürzten zurück. Telegraphenstangen jagten an den Fenstern des Abteils vorbei. Ein einsames kleines schwarzes Haus drehte sich fern am Himmelsrand vorüber. Aus den vorderen Wagen des Zuges klang ein altes Soldatenlied. Es war Krieg. *** Mit rascheren Schritten ging der unerbittliche Schnitter des Lebens über Land. Er hob mit knöchernen Armen seine Sense zu ungeheuerem Schwung. Bei Weißenburg führte sie den ersten Streich, in den feuerspeienden Weinbergen bei Wörth den zweiten und auf den Höhen von Spichern blitzend den dritten. Sie stumpfte aber nicht ab. Viermal mähte sie auf den Fluren um Metz, bei Colombey und Noisseville, bei Mars a l Tour und Gravelotte. Sie mähte die Reihen der Kämpfer bei Beaumont. An den Landstraßen, auf den Äckern und Wiesen, unter fruchtbehangenen Obstbäumen, an den Gartenhecken, einzeln und in langen Reihen, standen im Rücken der Heere die schnell gezimmerten Holzkreuze, unter denen Freund und Feind in die Erde gelegt waren, daß sich die klaffenden Wunden schlössen, die ihr die Granaten geschlagen hatten. Und der grimmige Tod erkannte auch auf den Schlachtfeldern
die Grenzen seiner Macht, denn schon begann aus der blutigen Ernte des Krieges die Saat einer neuen Zeit zu sprießen. In den Staubwolken und Pulverschwaden des Kessels von Sedan erlosch Napoleons gestürzter Stern. Siebenhundert Geschütze feuerten auf die ringsum angegriffene Festung. Nach einer halben Stunde zeigte sich die weiße Fahne auf ihren Wällen. Eine Armee von hundertundfünfzigtausend Mann gab sich gefangen. Paris wurde eingeschlossen. Herbststürme fuhren durch die bunt gefärbten Wälder. Die Nächte waren schon kalt und neblig. Am Tage wärmte die Sonne nur noch wenig. — Die Generalstabshauptleute Graf Zeppelin und von Riedberg lagen auf dem feuchten Strohdach einer Scheune im Niemandsland zwischen den Stellungen der Belagerer und der Verteidiger von Paris. Die beiden Offiziere fröstelten in der kühlen Morgenluft und hatten die Mantelkragen hochgeschlagen. Durch ihre Gläser spähten sie nordwärts nach den Festungswerken der großen Stadt. Vor sich sahen sie Vitry und Maisons Alfort links und rechts der Seine, dahinter die Forts von Ivry und Charenton. Westlich von Ivry lag das Fort von Bicetre. Jenseits Charenton breitete sich der Wald von Vincennes aus. An Creteil vorüber reichte der große Marnebogen bis vor die Schanzen der württembergischen Division. »Vor Paris nichts Neues«, sagte Riedberg, ein kleiner dicker Herr mit gerötetem Gesicht. »Wenn Metz nicht bald fällt, werden wir hier langsam aber sicher in Deubels Küche geraten.« Der Graf zog die Fernglasröhre länger aus. »Jedenfalls sind die Zeiten vorüber, da man auf dem Feldherrnhügel stand, das Schlachtfeld überschaute und jede Bewegung unmittelbar leiten konnte. Der Kampf nimmt die freieren Formen an, die ich schon drüben im amerikanischen Kriege kennengelernt habe.«
»Warum, zum Donnerwetter, wird das Belagerungsgeschütz nicht in Gang gebracht?« Ohne das Glas von den Augen zu lassen, antwortete Zeppelin: »Ich habe vorgestern in Versailles zu tun gehabt und bin abends bei Bismarck zu Gast gewesen. Er wohnt bei der wenig freundlichen Witwe eines Webereibesitzers. Sein Arbeitszimmer und die Schlafkammer liegen im oberen Stock des Hauses. Gespeist wird unten. Die Tafel war mit einer Reihe Kerzen auf Flaschenhälsen beleuchtet. Bismarck aß reichlich und bestritt die ganze Unterhaltung. Aber er war unausgeschlafen und sehr gereizt. Er beschwerte sich über die Bemerkung mancher Zeitungen, er hielte die Beschießung auf. Er schlug auf den Tisch, daß die Gläser tanzten. Es gäbe in dieser Sache eine widerliche und gefährliche Quertreiberei, angesponnen von Weibern, damit das Lob des Auslandes und die milde Beweihräucherung unserer Menschenfreundlichkeit keine Einbuße erlitten.« »Verdammte Schweinerei!« fluchte Riedberg. »Dabei fangen unsere Leute zu frieren an und werden uns kompanieweise ruhrkrank. Das gütige Ausland aber treibt mit dem Feinde einen schwunghaften Waffenhandel. Die Loirearmee ist nach den letzten Meldungen bereits auf vier vollständig ausgerüstete Korps angewachsen. Sollen wir warten, bis sie uns in den Rücken fällt? Mir ist der letzte deutsche Soldat mehr wert als die Türme von Notre Dame.« Sie schwiegen eine Weile und beobachteten die Forts, dann sagte Zeppelin: »Auch Moltke soll zu den Gegnern der Beschießung gehören.« »Vor Paris nichts Neues!« wiederholte Riedberg grimmig. Plötzlich deutete der Graf in die Ferne. »Sehen Sie dort!« In der belagerten Stadt stieg ein Ballon auf, erhob sich schnell zu großer Höhe und trieb im frischen Morgenwind nach Südwesten, eine dicke gelbliche Kugel zwischen fliegenden weißen Wolkenfahnen.
Die Hauptleute auf dem Scheunendach konnten mit ihren Ferngläsern die Maschen des Ballonnetzes über der prallen, firnisglänzenden Hülle sehen, die Auslaufleinen, den Ring mit den angeknebelten Haltestricken des Korbes und zwei Insassen. Die neuen Kruppschen Ballongeschütze feuerten, ohne das schwebende Ziel zu erreichen. Die helle Kugel überflog ungehindert die Stellung gen der Belagerer, wurde kleiner, war bald nur noch als Punkt zu sehen und verschwand. Riedberg richtete sein Glas wieder nach Norden. »Das war, vorsichtig gerechnet, der dreißigste. In einer Stunde wird der nächste folgen; sie lassen jedesmal ein Paar aufsteigen. Es ist nicht gut, daß ein Ballon allein sei. Sie werden sehen, eines Tages fliegt uns ganz Paris davon.« Graf Zeppelin blieb ernst. »Diese Luftfahrten sind auch so schon schlimm genug. Die Ballons nehmen Post und Brieftauben mit. Und auf demselben Wege ist uns der kleine einäugige Napoleon Gambetta entkommen, der jetzt wild die Trommel der Volkserhebung schlägt. Nun, es ist eine Zeit der Entscheidung angebrochen, Gambetta wird uns mit seinen bewaffneten Massen die Frage lösen helfen, ob das stehende Heer oder die Bürgerwehr vorzuziehen ist.« »Wie meinen Sie das ?« »Gelingt es dem Feind, uns aus Frankreich hinauszuwerfen, führen alle Staaten die Miliz ein; bleiben wir Sieger, dann machen sie uns die allgemeine Wehrpflicht bei stehenden Heeren nach.« »Es wird kein neues deutsches Reich ohne ein starkes Berufssoldatentum geben.« »Auch was das neue Reich angeht, scheinen noch viele Strömungen wirr durcheinanderzufließen.« »Das ist nicht allzu verwunderlich. Was wußten die deutschen Länder noch von Deutschland! Es war nur noch ein nebelhaftes Traumbild, aber dieses Erwachen im Kriegslärm wird es zur reinen Wahrheit werden lassen.«
»Anders wären alle unsere Siege nichts wert.« Höher stieg zur Rechten der beiden Hauptleute von der Heimat her die Sonne. Im Kirchturm eines nahen, noch nicht zerschossenen Dorfes schepperten neun Uhrschläge. »Achtung, der Morgensegen!« rief Riedberg. Auf den Pariser Forts brüllten die Geschütze. Und bei den Belagerungstruppen schlugen die Granaten krachend um die Schanzwerke ein, schleuderten Sprengstücke, Erdschollen, Sand und Steine umher, zerklirrten in splitternden Bäumen, barsten feuerspeiend in niederbrechenden Häusern. Jetzt kam ein gurgelnder und schnalzender Ton durch die Luft, gerade auf die beiden Beobachter zu. Sie glitten das Strohdach hinab und über den Mauerrand hinaus, sprangen aus beträchtlicher Höhe auf das Feld, stürzten und hatten sich noch nicht wieder aufgerichtet, als mit wütendem Fauchen die Granate in das Dach fuhr. Dann öffnete sich die flammende Hölle, hob in rasendem Ausbruch die Scheune vom Boden hoch, zerriß sie in der Luft und ließ einen Hagel von Steinen und Balken niederprasseln. Die Hauptleute lagen reglos an die Erde gepreßt. »Ha no«, schnaubte der dicke He rr von Riedberg, »vor Paris nichts Neues!« Rings um sie her stürzten die Trümmer herab, und der Schutt fiel über sie. Aber sie blieben unverletzt. Als der feurige Wirbelsturm sich gelegt hatte, standen sie auf und klopften den Staub in Wolken von ihren Mänteln ab. Kopfschüttelnd besah Riedberg die verwüstete Stätte, auf der noch vor wenigen Atemzügen die strohgedeckte Scheune gestanden hatte. »Glück gehabt! Hätten wir nur eine Sekunde gezögert, wären wir stracks zum Himmel gefahren.« Zeppelin nickte. »Der Tod ist wieder einmal gnädig an uns vorübergegangen.«
»Das möchte ich mir aber auch ausgebeten haben. Wir sind beide jung verheiratet.« »Leider kümmert sich der Krieg nicht darum.« Riedberg lachte. »Es scheint aber doch so, als wenn einer von uns noch auf dieser Welt gebraucht würde. Jedenfalls leben wir weiter.« Er deutete nach Paris hinüber. »Aha! Da steigt der zweite Ballon.« Zeppelin hatte schon wieder das Fernglas vor dem Auge. Er sah, wie die große gelbe Kugel auch diesmal vergeblich beschossen wurde und im hellen Luftmeer leicht und unaufhaltsam in südwestlicher Richtung abtrieb. »Man müßte ihnen nachfliegen können!« Der andere blies die roten Backen auf. »Weitere Wünsche haben Sie nicht, lieber Graf? Ich bin schließlich kein Vogel.« Zeppelin sah den kleinen runden Herrn an und lachte. »Nein, ein Vogel sind Sie wirklich nicht.« Doch als die beiden Offiziere später, von den Geländewellen gegen den Feind hin gedeckt, nach den deutschen Stellungen zurückkehrten, erzählte Riedberg, indem er schnaufend mit seinen kurzen Beinen über die Stoppeln stapfte;: »Ich habe ein beträchtliches Gewicht, aber im Traum bin ich schon oft wie eine Flaumfeder geflogen. Ich kenne eigentlich seit meiner Kindheit nur zwei Träume, den einen vom Fliegen und den andern vom Fallen. Der Sturz in eine bodenlose schwarze Tiefe ist ganz abscheulich. Aber das Fliegen gibt ein unsagbar wohliges und frohes Gefühl.« Der dicke Herr ruderte seltsam mit den Armen. »In mäßiger Höhe schwebe ich über die Köpfe der staunenden Menschen, ohne Flügel, nur durch leichte Bewegungen meiner Arme getragen.« »Ich kenne diesen Traum«, sagte Zeppelin; »er stammt aus der unerfüllten Sehnsucht, es den Blättern, die im Winde treiben, den Vögeln und den Wolken gleichzutun.«
»Erlauben Sie gütigst, ich habe noch nie eine solche Sehnsucht gehabt. Ich bleibe sehr gern zu Fuß.« »Sie sollten nur einmal in einem Ballon sitzen! In Kanada habe ich einen Aufstieg mitgemacht und kann Ihnen sagen, es war ein wundervolles Erlebnis. Man glaubt zunächst, die Erde versänke. Bald bietet sich ein herrlicher Rundblick auf eine große. bunte, lebendige Landkarte. Das Alleinsein im grenzenlosen Raum über den Schlagbäumen unserer alten Erde, in der klaren Stille über allem Menschenlärm, befreit von den Nichtigkeiten des Daseins. Die Wolke n ziehen unter dem Luftschiffer wie riesige schwimmende Eisberge. Und auch das Unwetter, das sich damals plötzlich mit Regenschauern und grellen Blitzen um uns zusammenballte, war in seiner unerhörten Wildheit überwältigend schön.« Riedberg schüttelte sich. »Ich danke bestens. Mir genügt völlig, mit beiden Beinen auf dem festen Lande zu stehen.« »Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Mensch in absehbarer Zeit seinen Traum vom zielbewußten Fliegen verwirklicht.« »Ohne mich, lieber Graf. Ohne mich.« In Bonneuil trennten sich die beiden mit einem kräftigen Handschlag. »Heute sind wir glücklicherweise nicht geflogen«, sagte Riedberg. Er ging mit kurzen, raschen Schritten die Dorfstraße hinunter. An der Ecke wandte er sich um und winkte seinem Kameraden fröhlich zu. In demselben Augenblick schlug eine schwere Granate dicht vor ihm ein. Er verschwand in einer schwarzen, flammenspeienden, donnernden Wolke. Als der Qualm sich langsam verzog, war der kleine dicke Hauptmann von Riedberg doch noch geradenwegs in den Himmel der deutschen Soldaten aufgefahren.
Für das Wenige, das er zurückgelassen hatte, schaufelten einige Krankenträger eilig das Grab auf dem Kirchhof des Dorfes. Auch das zerfetzte und blutbedeckte Bild einer jungen Frau, die auf den Armen ein kleines Kind hielt, legten sie in die dunkle Grube. Graf Zeppelin warf drei Handvoll Erde hinab und sprach ein Gebet. *** Der Tod aber war schon weitergegangen und schwang noch immer seine unersättliche Sense. Rastlos umkreiste er die belagerte Millionenstadt und schrie vor Wut, daß Mut und Manneszucht seine Schrecken überwanden. Woche um Woche, bei Tag und Nacht, schritt er mähend im Ring von Charenton über die Befestigungsanlagen von Vincennes zum Mont Avron und weiter über Aubervilliers nach St. Denis im Norden, von dort südwestwärts an der Seine entlang zum Mont Valerien, über St. Cloud zurück zu den Südforts. Auf seiner Spur blieben zerstampfte Wälder, ausgebrannte Dörfer, verwüstete Gärten, Gehöfte in Trümmern und die dunklen Erdhügel, auf denen rostende Seitengewehre steckten oder die hölzernen Kreuze mit einem durchschossenen Helm oder einem Käppi darauf. Eines Tages hielt vor dem Quartier des Grafen Zeppelin ein Wagen an. Der Hauptmann saß am Fenster. Er hatte den Aussteigenden kaum erblickt. als er aufsprang und ihm aus dem Haus entgegeneilte. »Eberhard!« »Ei ja, ich bin's, Knöpfleschwab!« »Das ist eine Freude!« Sie umarmten sich lachend. Dann trat der Ankömmling einen Schritt zurück. »Laß dich ansehen. Bruder! Der Krieg hat dir nichts zuleide getan.« »Komm herein, Eberhard! Das Häuschen ist zwar in allen Fugen geborsten, aber mein Zimmer wirst du sehr behaglich finden. Ein warmer Ofen steht darin, und ein Glas Tee mit Rotwein habe ich auch.«
»Das ist mehr, als ich auf dem Kriegsschauplatz erwarten durfte.« Sie gingen in das Haus. Ein junger Ulan, der Bursche des Hauptmanns, nahm dem Gast Hut und Mantel ab, und Graf Eberhard von Zeppelin setzte sich seinem Bruder gegenüber an den Tisch. »Diese Überraschung ist mir also gelungen. Ich habe als Johanniter einen Lazarettzug hergeführt. Bis zur Einlieferung der Verwundeten bleiben mir vierundzwanzig Stunden Zeit; ich habe einen Wagen gemietet und mich auf vielen Umwegen zu dir durchgefragt. Unterwegs bin ich mehrfach angehalten und zurückgewiesen worden, aber schließlich habe auch ich meinen Dickkopf. Und nun hin ich hier und kann dir die Grüße deiner Frau bestellen.« »Wann hast du sie besucht?« »Zwei Tage vor der Abreise. Sie war es, die mir den bestimmten Auftrag gegeben hat, dich unter allen Umständen ausfindig zu machen. Ich durfte meiner schönen Schwägerin nicht wieder vor Augen kommen, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Sie hat deine beruhigenden Briefe regelmäßig erhalten, macht sich aber doch Sorgen um dich.« »So erzähle ihr, daß du mich hier in völliger Sicherheit angetroffen hast.« Der andere lächelte. »Das werde ich berichten, Knöpfleschwab. Sie kennt dich freilich gut genug, um zu wissen, daß du dir den Krieg nicht vom warmen Ofen aus ansiehst. Übrigens habe ich in Ozouer mit einem verwundeten Major von den Preußen gesprochen, der mir begeistert geschildert hat, wie du während des letzten Ausfalls durch die Feuerwände hindurchgeritten bist, um unseren braven Württembergern Verstärkung vom 6. Korps heranzuholen. Mein brüderliches Herz ist stolz auf dich.« Der Hauptmann hob abwehrend die Hand. »Dazu besteht gar keine Veranlassung, Eberhard. Ich habe, wenn es sein mußte, meine Pflicht getan wie jeder andere auch. Darüber ist nichts zu sagen. Erzähle mir mehr von daheim!«
»Bei uns ist alles in bester Ordnung. Unsere gute Schwester Eugenie laßt dir sagen, daß sie deine Frau täglich besucht.« »Das soll ihr nicht vergessen werden.« »Auch von Onkel Wilhelm soll ich dich grüßen. Er trägt sein Schicksal mit immer gleichem Mut. Weißt du noch, wie er von Brescia kam, und wir Kinder ein wenig Furcht vor dem Blindgeschossenen hatten? Er war aber schon damals so gefaßt, daß in seiner Gegenwart nicht einmal unsere zarte kleine Mutter bedrückt wurde. Vor einigen Wochen hat sein Getreuer, der Schätzle, die Köchin geheiratet, und beide wetteifern in der Pflege des alten Herrn.« Fern rollte der Kanonendonner der Pariser Forts. Die Brüder vertieften sich in die lebendigen Erinnerungen aus ihrer gemeinsamen Jugendzeit. Ihre Bindung an das Elternhaus war unlöslich, und sie wurzelten mit allen ihren Kräften im Boden ihrer schönen Heimat. Von kleinauf hatten sie dort bei den landwirtschaftlichen Arbeiten helfen müssen, beim Hacken und Graben der fruchtbaren Erde, beim Säen und Pflanzen, beim Gießen und Jäten im Garten, beim Heuladen auf den Wiesen, beim Garbenbinden auf dem Acker und beim Dreschen in der Scheune. »Wir wollen hoffen, Ferdinand, daß wir alle im nächsten Sommer wieder friedlich und fröhlich in Girsberg vereint sind.« Sie waren aufgestanden. Der Hauptmann hatte seinem Bruder die Hände auf die Schultern gelegt. »Eppo!« »Knöpfleschwab!« Das waren ihre Namen aus der Kinderzeit. Der Ulan brachte Gläser, heißen Tee in einer prächtigen Sèvrekanne und eine Flasche Rotwein. Er legte in den Ofen Holz nach und zog sich wieder zurück. Während der Hauptmann die Gläser füllte, nahm sein Bruder vom Tisch ein Blatt Papier auf, das mit seltsamen Zeichnungen und vielen Berechnungen bedeckt war. Den größten Raum nahm ein
langgestrecktes fischähnliches Gebilde ein. Flossen und Schwanz waren erkennbar. Der ganze Körper aber war vielfach quergeteilt. Schräge Kreuze verbanden das erste und letzte Glied mit je einem kleinen Rechteck. Eine Verbindungslinie zwischen den beiden Rechtecken durchschnitt in ihrer Mitte einen Kreis. Die Nebenzeichnungen gaben offenbar Einzelheiten der großen Darstellung wieder. Alle diese Formen und Verbindungen aber erschienen völlig neuartig und seltsam unwahrscheinlich. Kopfschüttelnd betrachtete der Besucher das rätselhafte Blatt. »Das ist ein Luftschiff«, sagte der Hauptmann. »Ha no, du sollst dich nicht über deinen jüngeren Bruder lustig machen, Ferdinand.« »Aber es ist wirklich ein Luftschiff. Um leicht beweglich zu sein, ist es wie ein Eisenbahnzug aus einzelnen Teilen zusammengesetzt. Am Bug befindet sich ein Seitensteuer und eine Anordnung von Gleitflächen zur Erhaltung des Gleichgewichts. Zwischen den beiden Körben ist als Höhensteuerung ein Laufgewicht angebracht, das in der Längsachse verschoben werden kann und die gewollte Neigung zur Waagerechten ergibt. Die einzelnen Abteilungen des Schiffskörpers sind wie Luftballons mit Gas gefüllt. Wenn ich eine geeignete Maschine zum Antrieb hätte, bliebe nur noch die Möglichkeit zu finden, ohne Ballastverminderung zu steigen und ohne Gasverlust zu sinken.« »Knöpfleschwab, du bist närrisch.« »Ich bin ehrlich bemüht, zu besserem Verstand zu kommen. Der Gedanke an ein lenkbares Luftschiff geht mir schon lange im Kopf herum. Es gibt keinen einzigen tatsächlichen Beweis gegen die Lösbarkeit der Aufgabe. Ihre Bedeutung ist mir schon in Amerika klargeworden, und hier sehe ich täglich die Freiballons fliegen, die Paris trotz der Einschließung zu Lande mit der Außenwelt in Verbindung
halten. Aber diese Ballons sind von jeder Luftströmung abhängig.« Er nahm dem Bruder die Zeichnung aus der Hand und schwenkte das Blatt hin und her. »Das lenkbare Luftschiff, Eberhard! Die Flugmaschine ist die größte technische Aufgabe der Zukunft.« »Laß uns nur erst einmal den Frieden wiederhaben, mein Lieber. Dann wird die Menschheit wie zuvor gern auf ihrer alten Erde sein und auf das Fliegen noch lange verzichten.« »Haben nicht die Eisenbahnen bei unzähligen Menschen die Kenntnis der Erde und die Liebe zu ihr vermehrt?« »Die Eisenbahn ist brav am Boden geblieben.« »Und doch waren die Bedenken und Vorurteile gegen die ersten Bahnbauten kaum zu überwinden.« Der Besucher griff nach seinem Glase. »Also baue dir ein Luftschloß«, rief er lachend, »und ein Luftschiff dazu!« »Ja«, gab der andere ernst zurück, »vielleicht baue ich einmal ein Luftschiff.« Er blickte aus dem Fenster, dessen Scheiben gesprungen waren; am Herbsthimmel jagten die Wolken, ein wildes Heer dunkler Riesen, ein wütender Ansturm der Naturgewalten, die sich jedem Eingriff des Menschen in ihr Reich widersetzen würden. Es ist dennoch möglich, dachte der Hauptmann. Er wandte sich wieder seinem Bruder zu, und sie versenkten sich noch einmal in Erinnerungen. Dann meldete der Bursche, daß der Wagen des Besuchers zur Rückfahrt bereit stand. Graf Eberhard sah überrascht nach der Uhr und sprang auf. »Ja, ich muß fort.« Er sprach hastig und laut, um seine aufsteigende Rührung zu verbergen. »Die Stunden sind allzu schnell vergangen. Aber ich bin froh, daß ich dich gefunden habe. Ich werde allen daheim Grüße von dir bringen, deiner lieben Frau zuerst. Bleib gesund, Ferdinand! Ich hoffe, der Krieg ist bald zu Ende, und wir können wieder beisammen sein, sooft und solange es uns gefällt.«
Als er sich von dem Burschen in den Mantel helfen ließ, drückte er dem Mann einen Taler in die Hand: »Passen Sie auf Ihren Hauptmann gut auf!« »Zu Befehl, Herr Graf!« Vor dem Hause umarmten sich die Brüder noch einmal. Dann stieg der jüngere in den Wagen. Er schob die Füße in die Strohschütte und zog sich die Decke über die Knie. »Auf Wiedersehen, Knöpfleschwab!« »Gute Fahrt! Bist du auch warm genug eingepackt? Auf Wiedersehen, Eberhard!« Der ältere stand und sah dem Wagen nach, der rasselnd davonfuhr. Langsam kehrte er in das Haus zurück und traf seinen Burschen noch beim Aufräumen des Tisches. »Haben Sie Geschwister, Krauß?« »Vier Brüder und zwei Schwestern, Herr Hauptmann. Ich bin der älteste. Unser zweiter wird nächstens achtzehn, ist aber auch schon mit ausgerückt; sie haben ihn zu den Pflasterkästen genommen, und er soll jetzt auf dem Verbandplatz hinter dem Damenwald sein.« »Dann wäre der Junge ja in der Nähe!« »Jawohl, Herr Hauptmann.« »Das hätten Sie mir schon längst sagen sollen!« Zeppelin setzte sich, zog Tinte und Feder heran. »Ich bescheinige Ihnen Urlaub bis morgen mittag. Machen Sie sich sofort fertig, um Ihren Bruder zu besuchen!« Der Ulan bedankte sich strahlend. Bevor er ging, schichtete er noch einen hohen Haufen Brennholz neben dem Ofen auf, und diese Vorsorge war nicht unnötig. Schon am Abend wurde das Wetter stürmisch und sehr kalt. Die Nacht breitete eine weiße Decke weithin über das Land. Der Winter war gekommen. — *** Im Schnee blühten rote Rosen aus dem Blut der Soldaten. Und aus ihrem Leiden und Sterben wuchs das Reich, das sie ersehnten. Am Morgen nach den Weihnachtsfeiertagen eröffneten die deutschen
Belagerungsgeschütze ihr Feuer gegen den Mont Avron. Achtundvierzig Stunden hielt die tapfere Besatzung im Toben der Granaten aus. Dann mußte sie das Feld räumen. Die Beschießung der nächsten Forts wurde begonnen, und zu Anfang des neuen Jahres donnerten rings um Paris die schweren Batterien. Sie waren die Glocken des neugeborenen Deutschen Reiches. Am Morgen des 18. Januar fuhr Graf Zeppelin mit der württembergischen Abordnung nach Versailles. Als sie dort anlangten, marschierte vor der Präfektur mit klingendem Spiel die Ehrenkompagnie auf. Ein Zug von sechzig Fahnen und Standarten folgte. Droben an einem Fenster stand der dreiundsiebzigjährige König von Preußen und sah auf die ruhmvollen Feldzeichen herab, deren viele zerschlissen und zerfetzt waren. Für zwölf Uhr mittags war die Kaiserproklamation im großen Spiegelsaal des Schlosses angesetzt. Dort, vor einem der hohen Mittelfenster der Südseite, stand ein Altar, auf dem eine rotseidene, nur mit dem gestickten Bild des Eisernen Kreuzes geschmückte Decke lag. An einer der Schmalseiten war der Boden um zwei Stufen erhöht. Hier nahmen die sechzig Fahnenträger Aufstellung. Die Abordnungen der Regimenter traten zu beiden Seiten des Altars an. Sie waren nicht nur aus dem Ring um Paris gekommen, sondern auch aus dem Norden des Landes, von den Argonnen, von der Loire, von Beifort, von der Schweizer Grenze. Überall dort wurde noch gekämpft. Die Fenster des Spiegelsaals klirrten leise im dumpfen Rollen des Geschützfeuers. Vom Mont Valerien her drohte ein neuer großer Ausfall der Belagerten. Die württembergischen Herren standen mit sechshundert Offizieren aus allen Bundesstaaten dem Altar gegenüber. Graf Zeppelin sah von seinem Platz aus den Saaleingang und dahinter das Blinken der Trompeten und Fanfaren im Vorsaal.
Moltke trat ein, grüßte die Fahnen, blieb in dem freien Mittelraum stehen. Aus seinem scharf geschnittenen Gesicht leuchteten die hellen Augen. Mit schweren, langsamen Schritten kam der Bundeskanzler. Er trug die Kürassieruniform, in der seine mächtige Gestalt noch riesiger erschien. Aber sein Blick war umschattet, und die Linien um seinen Mund sprachen von schlaflosen Nächten. Blitzend streckten sich die Fanfaren. Mit der glänzenden Schar der deutschen Fürsten trat der alte Preußenkönig ein, dessen greises Haupt die Herrlichkeit und die Bürde der Kaiserkrone tragen sollte. Dem Altar zugewandt, stand er jetzt mitten im Saal. Im Halbkreis umgaben ihn der Kronprinz und die Prinzen Karl und Adalbert von Preußen, der Kronprinz von Sachsen, die Großherzöge von Sachsen, Baden und Oldenburg, von Mecklenburg und Anhalt, die Prinzen Luitpold und Leopold von Bayern, die Herzöge von Meiningen, von Koburg-Gotha und von Altenburg, Herzog Eugen und Prinz August von Württemberg, der Landgraf von Hessen, die Fürsten von Schaumburg-Lippe und Schwarzburg-Rudolstadt, die Fürsten von Putbus, Lynar, Wied und Pleß, die Prinzen Biron, Croy und Reuß. »Helm ab zum Gebet!« König Wilhelm senkte das Haupt, und sein weißes Haar schimmerte. Auch ihm war anzusehen, daß er eint durchwachte Nacht hinter sich hatte. »Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unendlichen und Alleinweisen sei Ehre und Preis!« Nach der Beendigung des kurzen Festgottesdienstes erhob der alte König seinen Blick zu den Feldzeichen und schritt zu ihnen hinüber. Unter den Fahnen der siegreichen deutschen Heere erklärte er sich zur Annahme der Kaiserwürde bereit. Er forderte den Kanzler zur Verlesung seiner Botschaft an das deutsche Volk auf.
Bismarck stand allein zwischen den Abordnungen und den Fürsten, von einer unsichtbaren, aber undurchdringlichen Wand umgeben. Er entfaltete ein Schriftstück und begann mit starrer Miene ohne Feierlichkeit zu lesen, eintönig, halblaut und hastig. Nur einmal klang es wie ein hart unterdrücktes Schluchzen in seiner merkwürdig hohen Stimme. Er wechselte keinen Blick mit seinem Herrn. Graf Zeppelin sah das steinerne Geischt des Kanzlers; er fühlte, dort stand ein Mann, der nach übermenschlichen Anstrengungen und Kämpfen in einem ungeheueren Aufruhr seiner Seele am Ende der Kraft war und doch der Schwäche nicht nachgab. Die Verlesung war beendet. Der Kanzler ließ das Papier sinken. Aus den Reihen der Fürsten trat der Großherzog von Baden vor, hob hoch die rechte Hand und rief: »Es lebe der Kaiser!« Hurrarufe durchbrausten den großen Saal. Die Fahnen senkten sich rauschend. Der Kaiser umarmte seinen Sohn. Tränen standen ihm in den Augen. Glückwünschend drängten sich die Fürsten heran. Aus dem Vorsaal jubelte der Hohenfriedberger Marsch. Unter seinen Klängen schritt der Kaiser an den ruhmvollen Feldzeichen entlang. Er trat zu den Generalen, begrüßte sie einzeln und zeichnete besonders Moltke aus. Schließlich ging er an Bismarck vorüber langsam aus dem Saal. Die Fürsten folgten ihm in lebhaftem Gespräch. Die Fahnen wurden hinausgetragen. Dann schwieg die Musik. Die letzten Rufe verstummten. Der große Raum leerte sich rasch. Graf Zeppelin blickte zurück. Mitten in dem hellen Saal stand noch immer Bismarck, riesengroß, starr, in der Hand den blanken Kürassierhelm. Seine Augen unter den buschigen Brauen waren geschlossen. Dem Grafen prägte sich dieses Bild unvergeßlich ein. Er empfand, was in dem einsamen Kanzler vorging, und in seinem Mitgefühl regte sich
auch eine dunkle Vorahnung ähnlicher Stunden der Verlassenheit. Aber es ging von dem eisernen Riesen zu ihm ein Strom trotziger Kraft. Was bedeutete Menschengunst oder Menschenhaß, was galt der Dank oder Undank der Fürsten! Der Mann folgte dem Gesetz in seiner Brust, er lebte oder starb für die Wahrheit und das Werk. Mit einer schroffen Bewegung wandte sich Bismarck jetzt zum Ausgang und verließ als letzter den großen Spiegelsaal. Er schritt in seinen hohen Reiterstiefeln sporenklirrend an dem Grafen vorüber, der sich von seinem Anblick nicht losreißen konnte. Der Kanzler nickte dem württembergischen Hauptmann zu, und ein freundliches Lächeln lockerte seine harten Züge. Graf Zeppelin empfing mit diesem Gruß eine segnende Weihe, er wurde sich seines eigenen Willens, seiner eigenen drängenden Kräfte voll bewußt, er fühlte unter dem Zwang der Berufung zugleich eine Leichtigkeit des Herzens, als breitete seine Seele geisterhafte Schwingen zu freiem Fluge aus. Seine Entrückung dauerte noch an, als er das Schloß verließ. Verklärendes Licht flutete ihm in goldenen Wogen entgegen. Er meinte wieder die Fanfaren zu hören wie Sturmruf und Siegesgeschrei und den dumpfen Schlag der Kesselpauke wie das Heranschreiten des Schicksals. Eine Weile ließ er sich in dem festlichen Gedränge treiben. Abends kehrte er mit den anderen württembergischen Offizieren in den Stellungsabschnitt der Division zurück. Er fand in dieser Nacht keinen Schlaf, saß bei flackernder Kerze in seiner Stube im Stabsquartier Villiers und bedeckte Blatt um Blatt mit Zeichnungen und Berechnungen, deren Wahrheit ihm immer gewisser wurde. Währenddessen steigerte sich östlich Paris das Geschützfeuer vom Mont Valerien, das schon am Mittag die Fenster des Versailler Schlosses hatte zittern lassen, zu höchster Heftigkeit.
Unaufhörlich rollte der Donner. Blutrote Blitze zerrissen die Dunkelheit. Die einschla genden Geschosse barsten mit betäubendem Krachen. Grelle Flammen lohten auf. Im kalten Morgengrauen erfolgte der erwartete Vorstoß der Belagerten. Die erbitterten Kämpfe dauerten den ganzen Tag über an. Dann war auch der letzte verzweifelte Versuch gescheitert, den schnürenden Ring um Paris zu sprengen. Die größte Festung der Welt war zur Übergabe gezwungen. Dem vorläufigen Waffenstillstand folgte der Friedensschluß, der die alten Reichsländer Elsaß und Lothringen zurückgewann. Das Blut der Schläfer in der fremden Erde band alle deutschen Stämme. Auf dem Rhein barst klirrend das Eis, und aus dem befreiten Strom funkelte goldener Glanz. Der Winter verging. Über Deutschlands neue Saaten wehte der frühlingswarme Wind.
II In der klaren Frühe nach der Walpurgisnacht 1872 schallten jauchzende Weckrufe, Musik und tausendstimmiger Gesang zum stillen Kloster auf dem Odilienberg empor. Von Ober-Ehnheim fuhr eine lange Reihe festlich bekränzter Bauernwagen mit Hüh und Hott rasselnd den Fahrweg hinauf, der sich in weiten Biegungen bergan windet. Um die altersgrauen Gemäuer der Burgen Hagelschloß und Dreistein, Kagenfels und Birkenfels sproßte wieder junges Grün. Die Vögel musizierten von allen Zweigen, und die schwingende Liedkette rings um den Berg klang heller auf. »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus ...« Von Heiligenstein über die frischen Wiesen kamen die Wanderer, schwenkten ihre bunten Mützen im Morgenlicht und zogen singend in den Wald ein. »Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus!..« Eine andere Schar rückte mit der Regimentskapelle der sächsischen Infanterie in Straßburg über die verfallenen Ottrotter Schlösser Ratsamhausen und Lützelburg heran. »Wie die Wolken dort wandern am himmlischen Zelt . . .« Auch Landsperg und Rudlau, die Burgen am Hang nach der Rheinebene, erwachten von dem Hall und Widerhall aus ihrem Zauberschlaf. »So steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt! . . .« In kurzen Abständen näherten sich die drei Züge dem breitgewölbten Klostertor von St. Odilien. Mit lautem Jubel grüßten die Ankommenden den Leiter der neubegründeten Universität Straßburg, den früheren badischen Minister von Roggenbach, und den Bezirkspräsidenten von Ernsthausen, die hier mit den studentischen Festordnern schon wartend standen. Ein ungewohntes, heiter lärmendes Getriebe erfüllte den geräumigen vorderen Klosterhof. Unter den fünfzehn
alten Linden waren lange Tische aufgestellt. Die vielen Gäste fanden kaum Platz daran. Eng drängten sich die Studenten der deutschen Hochschule im Elsaß, die Abordnungen der Studentenschaft aller Universitäten des Reiches, Studenten aus Österreich und aus der Schweiz. In den fröhlichen Reihen saßen die alten Lehrer, Männer mit hochstirnigen, eigenwilligen Gesichtern, auf den weißen Haaren die farbigen Mützen ihrer Jugend, in den Augen das freudige Aufleuchten ihrer herzlichen Verbundenheit mit den Jungen. Auch die Bezirkspräsidenten von Metz und Kolmar trugen mit Stolz wieder Mütze und Band, und ihre amtlichen Mienen erhellte ein verjüngender Schein. Die Stadt Straßburg wurde durch den neuernannten Polizeidirektor Back vertreten, der mit Roggenbach ein eifriges Gespräch über den geplanten Neubau der Universität führte. An der Spitze der Ehrengäste aus der Garnison war der Gouverneur, General von Hartmann, gekommen. Aus dem Klosterkeller stiegen in Körben die klingenden, blaugrünen Weinflaschen an das Licht. Bald läuteten die Gläser unter den alten Linden im Hof. Aus der Küche der frommen Schwestern wurde ein riesiger Kessel mit dampfender Suppe gebracht, aber sein Inhalt reic hte für die hungrigen Jungen nicht aus. Ein Trompetenstoß ließ das laute Stimmengewirr plötzlich verstummen. Präsident von Ernsthausen erhob sich. »Meine Herren, kommen Sie! Wir steigen jetzt zum Männelstein hinauf.« Die Regimentskapelle trat wieder an. Rasch ordnete sich der Zug. Der Marsch dröhnte unter dem alten Tor. Sie kamen an dem Lindenstamm vorüber, der sich nach frommer Sage gespalten hatte, um die Heilige schützend in sich aufzunehmen und verborgen zu halten, als ihre Bedränger ihr bis hierher gefolgt waren. In den großen Ringwall der Heidenmauer rückten sie ein, deren gewaltige Steinblöcke die Höhe umgeben.
Singend erreichten die bunten Scharen den Gipfel. In gewaltiger, strahlend blauer Kuppel wölbte sich der Himmel über die mächtigen Felsen, die sich am steilen Abgrund erheben. Frei schweiften die entzückten Blicke auf die Weinterrassen des Gebirgsrandes und über die prangende Rheinebene, das irdische Paradies, aus dem in besonnter Ferne der Turm des Straßburger Münsters aufragt. Wahrend die Festredner die bekränzte höchste Felskanzel erstiegen und ihre Ansprachen an die begeisterten Wallfahrer hielten, blieb ein Offizier der SchleswigHolsteinischen Ulanen in Straßburg einige Schritte hinter der dichtgedrängten Menge zurück, versunken in den Anblick der leuchtenden Weite. Der Tübinger Professor Grauppe, der in der letzten Reihe der Zuhörer gestanden hatte und selbst die Aussicht in die schöne Landschaft mehr beachtete als die Reden, trat langsam heran. Er trug einen langen braunen Hängemantel über den Schultern und hielt den großen Schlapphut in der Hand. Sein Haar war eine wilde gelbgraue Löwenmähne. Als er eine Weile schweigend neben dem Rittmeister gestanden hatte, sagte er: »Wir sind unserem Heer unermeßlichen Dank schuldig, daß es uns dieses wundervolle Stück deutscher Heimat wiedergewonnen hat.« Der andere löste sich nur ungern aus seiner Versonnenheit. Mit einer ungelenken Verbeugung nannte der Professor seinen Namen. Auch der Rittmeister stellte sich jetzt vor. Er hob die Hand an die Tschapka und ließ die Sporen klingen. »Graf Zeppelin.« »Der Reiter vom Schirlenhof?« fragte der Gelehrte, und seine borstigen Brauen zogen sich hoch in die Stirn. »Ja, Herr Professor. Aber, glauben Sie mir, es ist davon viel mehr Aufhebens gemacht worden, als ich verdient habe.« Grauppe schüttelte den mächtigen Kopf. »Sie können Ihr Verdienst in meinen Augen nicht verkleinern, lieber Graf.
Ich habe die Schilderung gelesen, die Fontane von Ihrem Ritt veröffentlicht hat.« »Er hat zuviel von mir und zuwenig von meinen Begleitern geschrieben.« Eine schnelle Handbewegung wehrte die Antwort des Professors ab. »Bitte, sprechen Sie nicht mehr darüber. Für mich ist Lob ein Peinlichkeit, ich möchte es mit den unfeierlich Tüchtigen halten, die mit Selbstverständlichkeit ihre Pflicht tun. Aber Sie verlangen mit Recht, daß wir nie aufhören, die Toten zu rühmen, deren bitterem Sterben wir dieses reiche Land verdanken.« Sie sahen wieder in das Rheintal mit seinen Städten und Dörfern hinab, in den lachenden Garten, vor dem im Osten die blauen Schwarzwaldhöhen, im Süden die Eisgipfel der Alpenriesen als ragende Wächter stehen, und der nach Norden hin in der flimmernden Vereinigung von Erde und Himmel sich unabsehbar verliert. Plötzlich hob der Graf beide Arme und deutete geradeaus in die blaue Luft. »Man müßte fliegen können, Herr Professor.« Grauppe lächelte. »Das ist auf diesem Berge ein leicht begreiflicher Wunsch.« »Ich kenne einige Ihrer Veröffentlichungen«, sagte Zeppelin. »Sie sind Naturwissenschaftler. Glauben Sie nicht daran, daß wir auch das Fliegen einmal lernen werden? Ich meine den gelenkten Flug zum vorbestimmten Ziel.« Der Gelehrte, betroffen von dem ernsten und eindringlichen Ton der Frage, sah den Grafen mißtrauisch von der Seite an. »Wie denken Sie sich das?« »Es müßte möglich sein, ein fliegendes Fahrzeug zu bauen, das imstande ist, uns schnell und sicher auf der kürzesten Strecke über Land und Wasser hinweg an jeden Ort zu tragen und zugleich eine vollkommene Übersicht des ganzen Reisewegs zu geben.« Grauppe zog den weiten Mantel fester um die Schultern. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch seine
wilde Mähne. »Das wird wohl allezeit ein unerfüllbarer Wunsch bleiben«, sagte er mit merklichem Unbehagen. »Heute ist es nur ein Wunsch. Aber jeder Tat geht der Gedanke voraus. Ich selbst glaube fest an die Möglichkeit des fliegenden Schiffes.« Die Unruhe des Professors wuchs. »Ich habe nicht mit dem Glauben zu tun, verehrter Graf, sondern halte es ausschließlich mit den unumstößlichen Tatsachen der Wissenschaft.« »Aber tatsächlich haben doch die Versuche von Leinberger, Giffard und neuerdings von Haenlein in Mainz trotz allen Mängeln und Fehlern die Möglichkeit der Luftfahrt grundsätzlich bewiesen.« »Spiegelfechterei!« erboste sich Grauppe und dämpfte kaum noch seine Stimme, so daß in den letzten Reihen der Menge vor der Felskanzel einige Zuhörer sich unwillig umwandten. »Hirngespinste! Narrheiten! Sie werden wohl nicht verlangen, daß ich als Wissenschaftler das Quacksalbern lächerlicher Pfuscher und Schwindelhuber beachte!« Der Graf behielt seine gleichmäßige ruhige Freundlichkeit. »Die Wissenschaft ist immer unterwegs. Sie selbst, Herr Professor, haben oft bewiesen, wie rüstig und überraschend sie fortschreitet.« Zornig schüttelte Grauppe den Kopf. »Auf festem Boden. Und auch das Wasser ist tragfähig. Aber aus dem Luftreich sind wir Menschen ausgeschlossen. Das ist Gesetz!« »Wir sind mit Ballons schon in dieses Reich eingedrungen.« »Als willenloser Spielball der Winde. Unter Verzicht auf die eigene Bestimmung über uns selbst, die allein unsere Menschenwürde ausmacht.« »Darum muß der lenkbare Ballon erfunden werden, der unserm Willen Untertan ist wie der Dampfer auf See.« Zeppelin begeisterte sich an seinen Fluggedanken und hörte kaum, daß die Bergfeier jetzt mit einem gemeinsamen
Gesang der Versammelten geschlossen wurde. »Das fliegende Schiff wie eine große Wolke im Wind durch die Luft herankommen zu sehen, das muß ein wunderbares, großartiges, überwältigend schönes Schauspiel sein. Es muß alle Leidenschaften, die das Gefühl des Erhabenen in uns entzünden kann, zu einer einzigen, nie gekannten gewaltigen Empfindung verbinden. Sie könnte nur durch das Glück dessen noch übertreffen werden, der den Mut hätte, selbst einen solchen Flug zu unternehmen.« Er lächelte mit leichter Selbstverspottung. »Freilich müßte er zuvor die Mittel dazu gefunden haben.« »Jawohl!« schnaubte der Professor grimmig und wandte sich der Menge zu, die sich nach beendetem Gesang auf der Hochfläche zerstreute. Eine Anzahl Tübinger Hochschüler eilte heran. Sie hatten erfahren, daß der Rittmeister jener Reiter war, dessen Name seit seiner kühnen Erkundung zu Kriegsanfang im Herzen der deutschen Jugend lebte. Nun brachten sie ein Hoch auf den Grafen aus. Während ihn immer mehr Studenten umdrängten, zog sich der Professor kopfschüttelnd zurück. Er beeilte sich, zu seinen gelehrten Amtsbrüdern zu kommen. Dieser Herr von Zeppelin mochte ein tüchtiger Soldat sein, aber er schien an Zwangsvorstellungen zu leiden. Präsident von Ernsthausen gab jetzt das Zeichen zum Aufbruch. Wieder ordnete sich der heitere Zug. Der Abstieg nach Barr wurde eilig angetreten, damit die Bergfahrer rechtzeitig zu der großen Festkneipe in Straßburg eintrafen, die zweitausend deutsche Studenten vereinigte. *** An diesem Abend saß Graf Zeppelin im Zimmer seiner jungen Frau. Durch das geöffnete Fenster kam die zärtliche Frühlingsluft aus der blauen Dunkelheit herein. Der Duft der frischen Fliederzweige auf dem Klavier zog durch den Raum. Eine wertvolle Sammlung von Gemälden und Stichen hing in doppelten Reihen an den Wänden, die bis zur halben Höhe mit geglättetem Birkenholz getäfelt waren. Den Türrahmen
verdeckten geraffte samtene Vorhänge. Auf dem Tisch brannte eine bronzene Stehlampe mit reich verziertem, schwerem Fuß, und der gefältelte weinrote Seidenschirm gab gedämpftes Licht. Auf dem heller erleuchteten Tischrund bewegten sich leicht und anmutig die schmalen Hände der Gräfin, die eifrig an einer Stickerei arbeitete. Sie wählte sorgsam unter den verschiedenen glänzenden Garnsträhnen, die vor ihr lagen wie die Farben einer Palette, und stimmte die Gegensätze zu voller Wirkung aufeinander ab. Im flinken Auf und Nieder ihrer kleinen blanken Nadel enstand ein Kranz vielfach verschlungener und reich belaubter Ranken mit bunt erschlossenen großen Blüten. »Wie schön ist es, daß ich dich wieder einmal in Ruhe bei mir habe«, sagte sie leise. Der Graf lächelte sie an. »Du weißt, wie gern ich bei dir bin. Du mußt aber bedenken, daß ich hier eine Lernzeit durchmachen muß. Ich habe als Generalstäbler bisher noch fast keinen Truppendienst mitgemacht. Und wenn ich auch gewiß kein schlechter Reiter bin, so war ich doch Infanterist und habe jetzt meine Waffe gewechselt. Zudem ist der Dienst an der Grenze rücksichtslos streng.« »Und deine Pläne und Berechnungen nehmen dir die letzten freien Stunden.« »Ist das eine Beschwerde?« fragte er erschrocken. Nun legte sie die Stickerei beiseite und reichte ihm über den Tisch hin die Hand. »Aber nein, Lieber. Ich fühle doch, daß du mehr als andere tun mußt, und ich will dir nicht im Weg stehen, sondern immer neben dir bleiben.« Sie verschwieg ihm, wie oft sie schon in den letzten Wochen, allein in diesem Zimmer, sich wie in ein geheimes, lastendes Gewölbe eingeschlossen gefühlt hatte. Die Zeit der leichten Gedanken, der unbeschwerten Freudigkeit ihrer jungen Ehe schien ihr lange vergangen zu sein. Die frohen Nachklänge der ersten Nachkriegswochen wurden jetzt von dunklen Tönen begleitet, die erregend und erschreckend für
sie waren. Es gab einsame Stunden, in denen ihr ohne ersichtlichen Grund die Tränen in die Augen stiegen. Sie hatte eine dunkle Ahnung von der schweren Aufgabe, die sie erwartete, eine bedrückende Ahnung auch davon, daß jeder, ob er dem geliebten andern noch so eng verbunden sei, zuletzt doch für sich allein mit dem Leben fertig werden muß. Aber sie war bereit, es schweigend und geduldig zu lernen. Und in diesem Gelöbnis erfüllte sich ihre ganze Liebe. Der Graf lehnte sich in seinen Sessel zurück. Eine Weile saßen sie schweigend im warmen Dämmerlicht. Dann erzählte er: »Ich habe heute mittag auf dem Odilienberg mit einem der klugen Herren Professoren über meine Pläne gesprochen.« »Was sagte er?« »Seine Wissenschaft lehnt ab. Er hat mich für verrückt gehalten.« »Ferdinand!« Sie war aufgestanden und trat zu ihm. »Du darfst mich nicht mißverstehen, Lieber. Es ist nicht meinetwegen, aber um deiner selbst willen muß ich dich einmal fragen. Kannst du von diesem Gedanken nicht lassen? Es gibt so vieles zu tun. Warum wählst du dir das Schwerste und Unbegreiflichste ?« Er nahm wieder ihre Hand und hielt sie fest, ergriffen von der Weichheit und Wärme dieser schmalen Berührung. »Es läßt mir keine Ruhe«, sagte er, »und es wird mir niemals Ruhe lassen.« »Ich fürchte, du wirst gegen Mißgunst und Mißverständnisse noch mehr zu kämpfen haben als um deine Sache selbst.« »Das ist möglich. Ich nehme es dem Herrn Professor aber nicht übel, wenn er mich für einen Narren hält; deshalb weiß ich doch, daß ich meinen Vorsatz weiter verfolgen und an seiner Verwirklichung immer arbeiten werde. Ich habe alles bedacht und bin mir klar darüber, wieviel noch zu bedenken und zu tun bleibt. Aber der Plan ist durchführbar.
Ich glaube daran. Ich glaube daran unerschütterlich, bedingungslos, mit aller Kraft und Entschlossenheit.« Sie neigte sich zu ihm und sah ihn mit ruhigem Blick an. Nur ihre Lider zitterten ein wenig unter den leicht erhobenen zarten Brauen. »Dann will auch ich daran glauben, Ferdinand.« »Das ist alles, was ich mir vorerst wünschen kann. Ich verspreche dir, in Zukunft Fremden gegenüber weniger mitteilsam zu sein, solange ich nicht meiner Unternehmung bis zum letzten sicher bin. Und wenn mein fliegendes Schiff jemals Wahrheit wird, so will ich doch nie vergessen, daß alle Weiten unser Glück nicht umschließen können.« Zart legte er seinen Arm um sie und zog sie an sich. Im stärkeren Klopfen ihres Blutes fühlte er ihre tapfere rückhaltlose Liebe. Seine Stimme hatte einen weichen und vollen Klang, als er sagte: »Das Glück ist daheim in den vier Wänden unseres Hauses.« Sie küßte ihn, und wie es ihm immer im vertrauten Zusammensein mit ihr geschah, so überkam ihn auch jetzt mit großer Macht die Sehnsucht nach seiner Heimat am See. »Es ist Mai«, sagte er, »wir müßten jetzt in Girsberg sein.« »Ach, Lieber, du würdest auch dort nicht am Boden bleiben wollen.« »Aber von der Heimaterde führt ein gerader, unverfehlbarer Weg in den Himmel.« Isabella von Zeppelin lächelte und dachte zärtlich, in allem sei er ganz der Sohn jenes reichen Landes am Schwäbischen Meer, das zu den benachbarten riesigen Schweizerbergen hinaufsieht. Sie ging um den Tisch herum an ihren Platz zurück und nahm ihre Handarbeit wieder auf. Der Graf fuhr fort: »Du hättest Girsberg einmal sehen müssen, als wir dort einzogen. Die Großeltern Macaire hatten uns den Kaufbrief als Überraschung an den Weihnachtsbaum gehängt. Damals hatte das Anwesen noch das Aussehen eines Klosterguts. Die Gebäude und der Hof waren von einer zusammenhängenden Mauer umschlossen, die nur zwei
Zugänge besaß. Am großen Eingangstor standen aber schon die beiden mächtigen Pappeln, und diese stolze Anlage gehört zu meinen ersten Erinnerungen. Sehr bald ist dann alles umgestaltet worden, und heute deutet nur wenig auf die ursprüngliche Bauart und Bestimmung des Gutes hin. Die gotische Gartenpforte steht noch, die offenbar der Eingang zu einer Kapelle gewesen ist, und die alte Klosterglocke hängt im kleinen Turm auf dem Wohnhaus.« »Ich kann sehr gut verstehen, daß deine Eltern sich dorthin gern aus der großen Welt zurückzogen.« »Sie haben es nie bereut. Mein Vater hatte sich bald in die Landwirtschaft eingearbeitet. Er kümmerte sich bis in das kleinste um die Wirtschaft. Morgens um vier Uhr schon war er auf und sah nach allem. Dabei war unser Leben, seinen Grundsätzen und Neigungen entsprechend, sehr einfach. Wahrend die Großeltern in Konstanz auf ziemlich großem Fuße lebten, weniger allerdings in Pracht als in ausgesuchter Behaglichkeit, hielten wir uns auf dem Gut nicht einmal einen Wagen zu eigenem Gebrauch. Erst später, als meine Mutter leidend wurde und den Weg nach Konstanz nicht mehr zu Fuß machen konnte, wurde ein Fuhrwerk angeschafft. Wir aßen Schwarzbrot, und nur ausnahmsweise, wenn wir Besuch hatten, gab es weißes Brot. Wir Kinder sind stark dabei geworden. Eberhard und ich mußten in der Wirtschaft helfen, Kühe hüten, Steine fahren, Holz tragen. Wir hatten eigene Dreschflegel, die unserer Größe und unseren Kräften angepaßt waren, und haben oft tüchtig und ausdauernd mitgedroschen.« »Davon hat mir euere Schwester im letzten Sommer viel erzählt.« »Wir beiden Jungen hatten ebenso wie Eugenie jeder ein Gärtchen, das wir mit eigenen Geräten in Ordnung hielten. Ich selbst habe Gemüse gepflanzt und hatte eine Tragbutte, in der ich meine selbstgezogenen Gewächse zu den Verwandten und in das nachbarliche Schloß Castel zur alten Frau von Scherer zum Verkauf trug. Bei alledem sind
wir drei Geschwister sehr selbständig aufgewachsen und waren meist auf uns allein angewiesen.« Er stand auf und ging gemächlich im Zimmer auf und ab, während er weitererzählte. »Unsere treuen Spielgefährten waren die Hofhunde. Lange Zeit hatten wir eine sehr gutmütige Ulmer Dogge. Sie hieß Bianca und besaß eine rührende Geduld mit uns Kindern. Der Liebling der ganzen Familie war aber der kleine Stibbs unseres Hauslehrers Moser, ein unermüdlicher Kamerad beim Wettläufen und Ballspiel, ein zuverlässiger Bote in die Stadt; er sprang über hohe Mauern, schwamm ausgezeichnet, zog uns die Schlitten bergauf und war immer ungemein liebenswürdig und eifrig. Ich habe nie wieder ein Tier mit einem so lebhaften Mienenspiel gesehen. Er weinte, das können andere Vierbeiner ebenfalls, aber er konnte wahrhaftig auch lachen. Nun ist er schon lange tot, der kleine Stibbs, doch ich vergesse ihn nicht. Und ich will nichts von alledem vergessen, was ich mit meinen Geschwistern in unserm Kinderland Girsberg erlebt habe.« Die Gräfin neigte sich tiefer über ihre Stickerei. »Wie schwer muß es deiner Mutter geworden sein, euch allein zu lassen.« »Sie ist uns zu früh genommen worden. Wer sie kannte, rühmt ihre zarte weibliche Anmut, ihre Güte und ihren launigen, lebhaften Geist. Sie galt für eine Schönheit, aber sie war frei von jeder Selbstbespiegelung und gab sich immer schlicht und natürlich. In den wenigen Jahren, in denen wir sie noch gesund bei uns hatten, war sie uns Kindern die beste Vertraute unserer jungen bunten Wünsche und Gedanken. Ach, es war schön auf Girsberg!« »Es ist schön dort.« »Ja. Und weil ich so fest an meiner Scholle hänge, weiß ich wohl, was es für euch Frauen bedeutet, daß ihr dem Manne euere eigene Heimat opfern müßt.« »Ich bin daheim, wenn ich bei dir bin, und Sonnia geht es in Eberhards Haus auf Ebersberg nicht anders.«
Ihr Gesicht war im Schatten, als sie leise hinzusetzte: »Sonnia hat freilich auch ihre Kinder.« Der Graf trat rasch zu ihr. Er legte die Hand auf ihr Haar. »Es steht dem Menschen nicht zu, Geschehenes mit Ungeschehenem zu vergleichen. Du darfst mit Gott nicht streiten. Auch wir werden nicht allein bleiben.« Sie lehnte sich zurück, daß ihr Kopf an seinem Herzen ruhte, und sah zu ihm auf. Der Nachtwind bewegte die Vorhänge am offenen Fenster. In der Ferne schlug die Münsteruhr. Da sagte sie: »Es ist spät, Lieber. Morgen mußt du früh aufstehen. Schön war es, dir zuzuhören.« Sie nahm seine Hände. »Behalte oft eine stille Stunde für mich.« Er zog sie zu sich empor und hielt sie in seinen Armen. »Du weißt, wie ich dich brauche; du bist der einzige Mensch, der bis jetzt an meinen großen Plan glaubt.« Also dachte er schon wieder an sein traumhaftes Flugschiff. Ihre Lider senkten sich, jedoch veränderte sie keine Miene. Während er sie hinausführte, sagte er: »Man muß glauben, man muß wollen und entschlossen handeln, dann wird alles gelingen.« *** Aber so sehr er sich in der nächsten Zeit über seinen Berechnungen und Zeichnungen abmühte, fand er doch anstatt der endgültigen Lösung nur immer neue Einzelheiten, die fragwürdig blieben oder unausführbar erschienen. Das Ziel stand freilich unverrückbar vor ihm. Seine Vorstellung von einem fliegenden Schiff war so sicher wie die tatsächlichen Dinge vor seinen Augen. Der Gedanke an die Verwirklichung ließ ihn nicht los und begleitete ihn auch, als er im Spätherbst des nächsten Jahres zu den Ulmer Dragonern versetzt und zum Major befördert wurde. Seinen soldatischen Dienst versah er mit der größten Gewissenhaftigkeit. Er war mit ganzer Seele
Kavallerist geworden. Von der Truppe verlangte er viel, forderte aber von sich selbst die gleichen Anstrengungen und duldete keine Ungerechtigkeit. Er stellte sich die Aufgabe, ein Lehrer des Volkes, kein Drillmeister von Landsknechten zu sein. Der Gehorsam muß sich aus dem guten Willen ergeben; ihn suchte er zu heben und zu erhalten. Seine Dragoner waren seltener in der Reitbahn und auf dem Kasernenhof zu finden als im Gelände. Ihre Pferde standen nicht, wie es bei manchen anderen Regimentern geschah, nur für die Besichtigung gefüttert, mit prallen Bäuchen und steifbeinig in den Ställen. Es war ein schönes, mannhaftes Bild, wenn der Graf selbst frühmorgens aus dem Haus am Berg heraustrat. Er war breiter geworden. Den blonden Bart trug er sorgfältig beschnitten und gebürstet. Seine blauen Augen leuchteten. Seine Bewegungen waren rasch und straff. Er setzte den Fuß in den Bügel und schwang sich leicht in den Sattel seines Braunen. Der bäumte sich mutwillig auf, aber bei einem Scherzwort meisterte der Reiter das Tier, grüßte zu seiner Frau hinauf, die ihm aus dem Fenster nachsah, und ritt im Trab zur Kaserne. Meist stand die Gräfin, wenn er heimkehrte, wieder am Fenster, und ein hellerer Schein verklärte ihr Gesicht, sobald sie ihn die Straße heraufkommen sah. Die Stunden ungestörter gemeinsamer Ruhe mußten sie oft entbehren, aber sie waren, auch wenn sie nicht beieinander standen, doch unlösbar verbunden und liebten sich nur um so stärker und rücksichtsvoller unter der schweren Prüfung, daß ihre Ehe zehn Jahre kinderlos blieb. Als aber ihr sechstes Jahr in Ulm zu Ende ging, war auch die Zeit ihres Alleinseins vorüber. Ihre Schwägerin Sonnia kam aus Ebersberg, um ihnen in diesen Wochen beizustehen. Die Gattinnen der beiden Grafen waren Jugendfreundinnen und nahe Verwandte. Ferdinand von Zeppelin hatte auf der Hochzeit des jüngeren Bruders seine eigene Frau kennengelernt. Sonnia, die inzwischen selbst vier
Kindern das Leben geschenkt hatte, ergriff mit fester Hand die Zügel des Haushaltes und ordnete mit klarem Kopf, was für den Empfang des heranreifenden neuen Lebens notwendig war. Ihre stille, zuversichtliche Heiterkeit stellte sich den Befürchtungen der letzten Tage vor dem erwarteten Ereignis tapfer entgegen. »Du mußt Geduld haben, Ferdinand. Es wird alles gut gehen. Ich weiß es.« Der Graf hielt den Fenstergriff umfaßt und sah draußen im kalten Abend die letzten welken Blätter fallen. Er sah die dunklen, schweren Wolken am Himmel ziehen, aus denen peitschende Regenschauer herabstürzten. Bei diesem Anblick fröstelte ihn. Er fühlte erschauernd, wie nahe Geburt und Tod beieinander sind. »Sonnia«, sagte er, »du hast es schon selbst erlebt. Haben wir nichts versäumt? Ist sie kräftig genug? Wenn ihr etwas Schlimmes zustieße, wäre ich der elendeste Mensch auf Erden.« »Gesunde Frauen in guter Pflege haben keinen Schaden davon. Ich kann dich nur immer wieder ermahnen, geduldig zu sein.« Eine Stunde später, als schon die Nacht anbrach, saß er am Bett seiner Frau. Im abgeblendeten Licht der Lampe lag sie bleich und mit geschlossenen Augen. Er hielt ihre schmale Hand. Die vergoldete Schäferuhr unter der Glasglocke auf der Kommode tickte eilig, und jeder Laut brachte das ersehnte und gefürchtete Geschehen unabwendbar näher. Plötzlich verzog sich ihr Gesicht in großen Schmerzen. Aber sie öffnete die Augen nicht, hörte seinen Anruf nicht. Sonnia kam und drängte ihn hinaus. Er schickte den Burschen zum Arzt und wartete selbst fiebernd an der Haustür auf dessen Ankunft. Ohne besondere Eile fuhr endlich der rumpelnde alte Wagen im Regen vor.
Langsam und umständlich stieg der Sanitätsrat aus; er hielt die Instrumententasche vor der Brust und stelzte unter seinem großen Schirm durch die Pfützen auf den Bürgersteig. »Guten Abend, lieber Graf! Das ist ein Schandwetter. Nun, herinnen wird bald die Sonne scheinen.« Der Hausherr half ihm aus dem Mantel und führte ihn zum Zimmer der Gräfin, wurde aber vor der Tür mit der größten Entschiedenheit zurückgewiesen. »Sie dürfen nicht mitkommen. Schenken Sie sic h ein Glas Wein ein! Putzen Sie Ihre Jagdflinten! Machen Sie einen Rundgang durch das Haus! Meinetwegen bleiben Sie hier sitzen. Aber drinnen können wir Sie jetzt nicht gebrauchen.« Er stand sehr einsam und dachte traurig: Sie muß nun leiden, und ich kann nichts für sie tun. Dann hörte er ihre geliebte Stimme, die in der qualvollen Not schrecklich verändert war. Seine Knie zitterten, er hiß die Zähne zusammen, und seine Hände verkrampften sich. Wieder traf ihn ein klagender Laut wie ein furchtbarer körperlicher Stoß. Er rang nach Atem und fühlte das Haar an seinen Schläfen feucht werden. Endlich wurde die Tür geöffnet. Erschüttert sah er seine Frau, die ihn mit einer matten Bewegung heranwinkte. Aus ihren Augen grüßte ihn ein tiefer, wunderbarer Schein. Auf ihrer Stirn lag ein fremder Glanz. Ein rührend lächerliches Stimmchen erhob sich. Der Arzt, noch mit seinen Instrumenten beschäftigt, sagte mit gutmütigem Lachen: »Freuen Sie sich! Es ist nun alles gut. Sie haben eine gesunde Frau und eine gesunde Tochter.« Sonnia beglückwünschte ihn; sie lächelte unter Tränen. Aber er sah nur die junge Mutter, beugte sich über sie und berührte mit seinen Lippen behutsam ihre blasse Stirn. *** Zur gleichen Stunde wurde auch dem Verwalter Eßlinger auf Girsberg eine Tochter geboren. Der Brief, in dem
er seinem Herrn davon Nachricht gab, begegnete auf dem Postwege der Mitteilung Zeppelins an die Getreuen auf seinem Gut. Und während einige Wochen später in Girsberg das Kind des Verwalters auf den Namen Annette getauft wurde, bekam in Ulm die kleine Tochter des Grafen bei ihrer Taufe den Namen Hella. An demselben Tage erhielt ihr Vater seine Ernennung zum Kommandeur des Ulanenregiments in Stuttgart. Nach der Übersiedlung in die württembergische Hauptstadt fand er Gelegenheit, noch selbständiger als schon in Ulm auf seine Offiziere und Mannschaften einzuwirken. Er war ein neuzeitlicher Soldat, kein bequemer Vorgesetzter und ein ebenso unbequemer Untergebener, der sich niemals scheute, durch die Selbständigkeit seines Denkens und Handelns seine Stellung zu erschweren. Ihm lag nicht daran, selbst zu gefallen, er wollte mit allen Kräften das Beste für die Ausbildung der Truppe tun. Großen Wert legte er auf die Schießausbildung seiner Ulanen. Weil er das Unkriegsgemäße der üblichen Leitung auch größerer Verbände allein durch Trompetensignale erkannte, ließ er die Bewegungen seines Regiments im Gelände nach sichtbaren Zeichen mit der Hand oder dem gezogenen Säbel ausführen. Mit seinen Offizieren veranstaltete er scharf berechnete Kriegsspiele, gab ihnen auf, über wichtige Einzelheiten Vortrag zu halten. Die älteren Kameraden begannen heimlich über den Neuerer zu spotten. Der Graf bekam nicht selten ihren Widerstand gegen seine Bestrebungen zu fühlen. Es war doppelt schwer, gegen den Strom zu schwimmen in einem Beruf, der auf unbedingtem Gehorsam aufgebaut sein muß. Zeppelin aber kannte nicht jenen blinden Verzicht auf den eigenen Willen, der nur der Trägheit des Denkens Vorschub leistet. Einen starken Rückhalt gegen Spott und Anfeindung hatte er an seinem König. Aber so nahe er dem Hof stand, wurde er doch kein Höfling. Das hätte auch nicht im Sinne des württembergischen Herrschers gelegen, der jedes
Schranzentum aus tiefster Seele haßte und wahrhaft ein Vater seines Volkes war. Er war mit dem Grafen befreundet, so wie er mit ganzem Herzen und unbeirrbar, als Mensch zum Menschen, Freundschaft halten konnte. Zeppelin blieb auch vor dem Thron ein aufrechter und freier Mann. Fünf Jahre führte er sein Regiment. Dann wurde er Militärbevollmächtigter in Berlin und nochmals zwei Jahre später als General württembergischer Gesandter und Bevollmächtigter zum Deutschen Bundesrat. Er selbst war mit dieser Verwendung keineswegs einverstanden und hielt sich nicht dafür geeignet. Der Minister von Mittnacht in seiner geraden Grobheit hatte ihm jedoch gesagt: »Daß Sie für den diplomatischen Dienst nicht geschaffen sind, weiß ich; aber ich habe keinen andern.« Also galt es zu gehorchen. Von Berlin aus sandte der Graf seinem König eine ausführliche Denkschrift über die Möglichkeit und Nutzbarkeit großer Lenkballons. Diese Denkschrift wurde gedruckt und vermehrte die Zahl der Spötter, der offenen und heimlichen Gegner Zeppelins. Als Kommandeur der 30. Kavalleriebrigade in Saarburg trat er aus dem staatsmännischen in den soldatischen Dienst zurück und konnte noch einmal versuchen, seine Ansichten über die zeitgemäße Verwendung der Reiterei durchzusetzen. Stolz und sicher führte er seine beiden Regimenter ins Manöver. Seine Reiter waren keine Paradesoldaten, aber im Gelände bewährten sie sich gleichermaßen zu Pferde und zu Fuß und warfen unter seiner zupackenden Führung den Gegner und alle am grünen Tisch erklügelten Pläne und Annahmen mit rücksichtsloser Verwegenheit über den Haufen. Das hatte jedoch die Verstimmung höherer Befehlsstellen zur Folge. Als er am Ende des letzten Übungstages, während die roten Biwakfeuer seiner Regimenter weithin auf den Stoppelfeldern brannten, im nächsten Städtchen mit dem Kommandeur der gegnerischen Reiterei zu einem friedlichen
Trunk zusammenkam, sagte der andere: »Lieber Graf, ich gestehe neidlos, daß Ihre Brigade der meinen beträchtlich überlegen ist. Wir hätten im Ernstfall jämmerliche Dresche bezogen. Aber wundern Sie sich nicht, daß Sie von oben her unbelebt bleiben. Sie haben den großen Zauberern ihre schönsten Schaustellungen verdorben.« »Zum Donner, Wülknitz, Manöver ist nicht Parade. Wir befehligen Soldaten und keine Komödianten. Wir sind Generale und nicht Schmierendirektoren. Ich jage meine braven Soldaten nicht zum Vergnügen hoher und höchster Herrschaften durch dick und dünn, sondern exerziere sie, um sie kriegstüchtig zu machen.« »Sie haben vollständig recht.« General von Wülknitz hob sein Glas und trank ihm zu. Dann fuhr er kopfschüttelnd fort: »Es ist schon mancher mitsamt der Wahrheit in die Wüste geschickt worden. Und man möchte doch vor Toresschluß wenigstens noch Exzellenz werden.« Zeppelin sah ihn durchdringend an, und seine Stimme klang hart. »Ich möchte gar nichts werden, ich möchte etwas sein.« Der andere fühlte den Hieb. Er lachte ärgerlich. »Sie sind freilich als schwäbischer Dickkopf hinreichend bekannt. Aber Ihr König kann sich schließlich nicht Ihretwegen mit des Kaisers Majestät überwerfen.« »Das wäre mir auch sehr unlieb; ich bin gewöhnt, meine Sache allein zu führen.« »Sehr gut, mein lieber Graf. Aber ich fürchte, Sie werden, wenn es einmal darauf ankommt, nicht viel Gelegenheit haben. Ihre Sache zu vertreten. Jedenfalls habe ich nichts davon gehört, daß Ihre gewiß beachtenswerten Ansichten über Kriegstüchtigkeit in diesen Tagen anerkannt worden wären.« »Um so mehr sollten Sie und alle, die noch vom Kriege aus eigenem Erleben mehr wissen als die großen Herren hinter der Front, für meine Meinung eintreten.«
»Daß der Krieg von hinten anders aussieht als in der Feuerlinie, ist seit der Fähnrichszeit des Hauptmanns von Kapernaum bekannt. Daran läßt sich nichts ändern. Das gibt dem Soldaten kein Recht zu rebellieren.« »Nein, aber es macht dem Krieger zur Pflicht, der Stubenweisheit den erprobten Frontgeist entgegenzustellen. Sonst könnten alle Waffen, aller Mut und alle Manneszucht die Armee nicht vor sehr bitteren Erfahrungen bewahren.« General von Wülknitz sah unzufrieden vor sich hin. »Unterschätzen Sie nicht doch den Wert stolzer Begeisterung, die ein glänzendes militärisches Schauspiel weckt?« »Ich will nicht, daß man sie überschätzt. Den Ausschlag gibt im Kriege nicht das begeisterte Losstürmen des Anfangs, sondern das Aushalten und tapfere Leiden. Erst nach dem Fall von Sedan, an der Loire, an der Lisaine und vor Paris hatten unsere Armeen die härtesten und entscheidenden Proben abzulegen. Das will heute niemand mehr hören. Deshalb rede ich um so nachdrücklicher davon. Warum sollen wir noch einmal Lehrgeld bezahlen!« Der andere, um dem verfänglichen Gespräch eine Wendung zu geben, hob wieder sein Glas. »Auf gute Kameradschaft! Ich merke, Sie wollen mich zum zweitenmal schlagen. Lassen Sie uns das Gefecht abbrechen; wir haben uns beide eine geruhsame Stunde verdient.« Graf Zeppelin aber verabschiedete sich bald. Er ritt zu seinen Ulanen. Und hier im fröhlichen Lagerleben zwischen den flackernden Feuern vergaß er die Bitterkeit der letzten Stunden. Er ahnte noch nicht, daß er schon hier zum letztenmal mit seiner Truppe auf freiem Felde stand. Als er mit den Regimentern in die Garnison zurückkehrte, erhielt er die vertrauliche Mitteilung, er habe in Berlin einen unüberwindlichen Gegner und keine Aussicht, die Führung einer Division zu bekommen.
Er nahm das als einen Wink, den Abschied nehmen zu sollen, und bat um seine Enthebung vom Kommando. Die Antwort war seine Beförderung zum Generalleutnant, aber auch die Genehmigung seines Gesuches. Er war vierundfünfzig Jahre alt, gesund und von unverbrauchter Arbeitskraft. Sein reiches Soldatenleben hatte einen unerwarteten, vorschnellen Abschluß gefunden, und einige Zeit litt er so sehr darunter, daß er das Haus nicht mehr verließ, weil er auf der Straße umkehren mußte, wenn er einem Soldaten begegnete. Eines Morgens, als er unzufrieden mit sich und der Welt schweigsam am Frühstückstisch saß, sagte die elfjährige Hella mit der erstaunlichen Hellsichtigkeit empfindsamer und kluger Kinder: »Vater, jetzt hast du Zeit, das fliegende Schiff zu bauen.« Er sah sie verwundert an. Dann lachte er befreit und ergriff über dem Tisch die Hände seiner Frau. »Das Mädle hat recht! Es ist noch nicht zu Ende mit mir, es soll erst anfangen. Packt euere Koffer; wir wollen so bald wie möglich nach Girsberg fahren.« Zärtlich zog er die kleine Hella an sich. »Du solltst recht behalten, Kind. Ich werde das fliegende Schiff bauen. Das ist eine noch wichtigere Aufgabe als die Führung einer Division. Und ihr beide sollt mir helfen.« Die Gräfin trat zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Wie können wir das, Ferdinand?« »Ihr müßt immer glauben«, sagte er. »Lange warst du der einzige Mensch, der meinen großen Plan ernst nahm. Jetzt habe ich schon zwei Gläubige.« Er lächelte. »Du siehst, es geht vorwärts.« »Ach, Lieber, es wird nicht leicht für dich sein.« »Auch nicht für euch. Aber es wird gelingen. Und bevor ich anfange, sollen die letzten schönen Wochen dieses Jahres nur unserm Zusammensein gehören. Freust du dich auf Girsberg, Hella?«
Die Kleine schlang die Arme um seinen Hals. »Ja, Vater.« »Also rüstet euch zur Reise! Wir werden den Gutsaufenthalt genießen wie nie zuvor.« Er stand auf, wieder gestrafft, mit hellen Augen, den Kopf erhoben. »Je schneller wir fortkommen, desto lieber ist es mir.« *** Schon nach wenigen Tagen konnte er mit den Seinen wieder an den Ausgang seines Lebensweges zurückkehren. Der schöne Landsitz lag auf einer Anhöhe in der gesegneten Ebene des Bodensees, von Rebenhügeln freundlich umgeben. Hochgewachsene Pappeln standen am Eingang. Ein großes Rasenrund mit einem Trompetenbaum teilte den breiten Kiesweg zu einer bequemen Auffahrt an der Freitreppe des Hauses. Den laufenden Brunnen zur Linken überschattete eine Hängeweide. An beiden Seiten des Hofes standen die neuen Wirtschaftsgebäude. Das Wohnhaus hatte ein hohes Erdgeschoß und ein Stockwerk darüber. Es war bis zum Dach hinauf mit wildem Wein bewachsen, der jetzt in den schönsten herbstlichen Farben flammte. Mitten auf dem First saß der kleine Zwiebelturm mit der alten Glocke. Das Gut beherbergte viele Gäste. Von Ebersberg waren Graf Eberhard und Sonnia von Zeppelin mit ihren vier Söhnen gekommen. Um ihre Brüder in der Heimat wiederzusehen, hatte Eugenie von Gemmingen-Guttenberg ihren Mann bei seinen Arbeiten im Konsistorium und in der württembergischen Kammer in Stuttgart allein gelassen. Auch sie hatte ihre Kinder mitgebracht, zwei Söhne und eine Tochter. Der alte Graf Wilhelm, in seiner geduldigen Blindheit von dem getreuen Diener Schätzle sorgsam geleitet, war ebenfalls in Girsberg eingetroffen. Eine reiche Ernte war eingebracht worden. Der Verwalter Eßlinger hatte es eingerichtet, daß der Gutsherr bei
seiner Ankunft von der Fröhlichkeit des Erntefestes empfangen wurde. Über der Einfahrt zum Hof hing das bunte Laubgewinde mit dem großen Erntekranz. Von der Freitreppe des Wohnhauses grüßten die Verwandten mit Zurufen und Winken. Aber vor der Auffahrt mußten die Ankommenden den Wagen verlassen. Die singende Kette der Mägde sperrte den freudig Überraschten den Weg, schloß sie in tanzendem Kreise ein und ließ sie nicht frei, bevor der Graf nach altem Brauch das Lösegeld gegeben hatte. Der Verwalter trat vor, um seinen Herrn mit einer kurzen Ansprache willkommen zu heißen. Die beiden Männer sahen sich mit klaren Blicken an und gaben sich mit festem Druck die Hände. Dann winkte Eßlinger seinem Kinde, das in der Reihe der Gutsleute stand und nun vortrat, um den Erntespruch aufzusagen. Während die Gräfin sich zu Annette hinabbeugte und sie in die Arme schloß, reichte Zeppelin dem Verwalter noch einmal die Hand. Eßlinger stand breit und stramm in der Herbstsonne. Der Wind bewegte sein langes graues Haar. Über sein freimütiges, verwittertes Schwabengesicht zog ein Lächeln. »Exzellenz, wir tun nur, wozu uns das Herz drängt.« »Sie sind ein braver Mann, Eßlinger. Ich bin froh, eine Weile hierbleiben zu können. Lassen Sie nun das Fest seinen Fortgang nehmen! Wir sprechen uns bald wieder. Zuvor müssen aber meine Verwandten zu ihrem Recht kommen.« »Jawohl, Exzellenz.« Unter den Hochrufen der Gutsleute, die mit ihren bekränzten Geräten zu beiden Seiten des breiten Kiesweges aufgestellt waren, ging der Graf jetzt, gefolgt von seiner Frau und seiner Tochter, mit leichten, raschen Schritten zum Wohnhause. Dort fand an der Freitreppe eine laute und heitere Begrüßung zwischen allen alten und jungen Mitgliedern der Familie statt. »Eppo!« »Knöpfleschwab!«
Die getreuen Brüder hielten sich fest in den Armen, bis ihre Schwester Eugenie den älteren nachdrücklich für sich beanspruchte und ihm, auf die Fußspitzen sich hebend, einen Kuß auf den starken grauen Schnurrbart gab. Auch die Schwägerinnen küßten sich, und die Kinder sprangen umher und drängten lärmend von einem zum ändern. Gräfin Sonnia fragte den Hausherrn: »Was sagt ihr zu so vielen ungeladenen Gästen?« »Ha no, wir freuen uns«, rief er und breitete die Arme weit aus, als könnte er sie alle und Haus und Hof umschließen. »Wir freuen uns, ihr Lieben! Keinen schöneren Einzug hätten wir uns wünschen können. Und nun wollen wir den Reisestaub abschütteln. Kommt! Ich hoffe, es wird uns dann ein festliches Mahl aufgetischt.« Als sie lachend und plaudernd in das Haus gingen, klang ihnen vom Wirtschaftshof das erste Tanzlied der feiernden Gutsleute nach. — So begannen einige schöne Herbstwochen für den Grafen und die Seinen. Die Alten, in Blut und Gesinnung verschwistert und verschwägert, genossen auch das räumliche Zusammensein mit vollem Behagen. Die Jungen spielten ungehindert in Hof und Garten. Sie hatten Annette Eßlinger freundschaftlich in ihren Kreis aufgenommen. Aber ihre besondere Freude war es, wenn der Gutsherr sie auf seinen morgendlichen Gängen über Feld mitnahm. Der Graf selbst fühlte sich während dieser sorglosen Tage am wohlsten, wenn er mit den sechs Buben und drei Mädeln, froh ihrer quellenden Jugend, in der Umgegend von Girsberg umherstreifte. Gern erzählte er ihnen von seinen eigenen Kindheitserlebnissen. Da war die Weide, auf der er manchesmal den Sennen bei den Kühen abgelöst hatte,wenn der Alte zum Essen gegangen. Einmal war dem Knaben die Herde davongelaufen. Die Leitkuh war über die Gutsgrenze gerannt, und nur mit äußerster Anstrengung hatte er ihr nach langer Jagd den
Weg abschneiden und sie zurücktreiben können. Dabei hatte er zu seinem großen Kummer seine neue, weißseidene Mütze verloren. Rotgoldenes Laub tanzte im Wind den Hang hinab, an dem er mit Eberhard und Eugenie jubelnd auf dem glitzernden Schnee im Bergschlitten gefahren war. Am Bodensee gab es noch die versteckte natürliche Badestelle, in deren weitem Becken er schon früh ein guter Schwimmer und Taucher geworden war. Hier ging er auch jetzt mit seinen Neffen oft ins Wasser, obwohl der See schon empfindlich kühl wurde. Er zeigte den Kindern jene Stelle im Gutsteich, an der er als Siebenjähriger beim Eislauf eingebrochen war. Die trügerische Decke war unter seinen umhergreifenden Händen wie Glas zersplittert; dennoch hatte er, fast erstarrt, das abschüssige, eisglatte Ufer erreichen können. Mit Hilfe eines Hütejungen war es ihm gelungen, an Land zu kommen. Aus Angst vor dem Vater hatte er sich im Freien trocknen lassen wollen. Aber seine Kleider waren in der Kälte festgefroren, so daß er sich kaum noch hatte bewegen können. Unter furchtbaren Schmerzen war er in das Verwalterhaus gegangen, um sich dort aufzutauen und zu trocknen. Er war in Decken gehüllt und heimgebracht worden. Die erschreckte Mutter hatte ihn ins Bett geschickt und Tee gekocht, der Vater hatte ihm ernste Vorhaltungen wegen seines Leichtsinns gemacht. Aber in der Freude über seine Rettung und seine Unerschrockenheit war ihm doch bald verziehen worden. Im Garten stand mit rostbraunem Laub der große Nußbaum, in dessen Geäst er sich mit Eberhard für seine Kriegsspiele die hohe Burg Falkenhorst gebaut hatte. Zwischen zwei starken Astgabelungen war eine Art Bank angebracht gewesen. Die halsbrecherische, morsche Stiege aus einer abgebrochenen Scheuer hatte emporgeführt. Auch die Großmutter Macaire hatte in den Falkenhorst
hinaufsteigen müssen, um ihren Enkeln auf dem luftigen Sitz Geschichten vorzulesen. Nachdem der Graf davon erzählt hatte, traf er am nächsten Morgen seine Neffen dabei, die Feste im Nußbaum neu herzustellen. Lachend warf er seinen Rock ab und half den Jungen eifrig bei ihrer Arbeit. Bald schickte er den ältesten in das Gutshaus. »Rufe deinen Vater! Auch er soll uns helfen.« Und als er den Bruder durch das alte steinerne Gartentor treten sah, winkte er fröhlich. »Eppo! Komm schnell!« Sein Gesicht strahlte. »Der Falkenhorst wird wieder gebaut.« Auf einem entfernten Wege zwischen blühenden Asternstauden gingen die Gräfinnen Isabella und Sonnia durch den Garten. »Es ist eine Freude, deinen Mann bei den Kindern zu beobachten«, sagte Sonnia. »Er hat den Schmerz über seine Verabschiedung offenbar ganz überwunden.« »Ja. Er ist fröhlicher und frischer als je zuvor. Das macht allein der Gedanke, daß ihm jetzt Zeit für die Erfindung des fliegenden Schifies bleibt.« »In dieser Hinsicht verstehe ich ihn nicht recht. Ferdinand ist trotz seiner erstaunlichen Rüstigkeit kein Jüngling mehr. Er hat, alles in allem, eine glänzende Laufbahn hinter sich. Warum gibt er sich nicht damit zufrieden, anstatt jetzt noch das mühsame, Ungewisse und opferreiche Leben eines Erfinders beginnen zu wollen?« »Du weißt, wie lange er sich schon mit dieser Vorstellung beschäftigt. Ich muß gestehen, gerade hier im Angesicht der Berge wird mir seine Sehnsucht begreiflich. Und ist es nicht ein Glück, daß er nicht, wie so mancher in ähnlicher Lage, untätig und unzufrieden einem nutzlosen Lebensabend entgegenwartet? Er stellt sich noch einmal eine große wundervolle Aufgabe, um seinem Leben einen neuen Inhalt und ein neues Ziel zu geben. Das zeigt Kraft und Willen und mag vorbildlich für viele sein.« Sonnia legte ihr zärtlich den Arm um die Schultern. »Glaubst du an die Ausführbarkeit seines Planes ?«
»Ja.« »Mir ist dieser Gedanke unheimlich. Aber du mußt wohl daran glauben. Ich habe ja selbst erfahren, wie schwer es ist, den blauen ehrlichen Augen der Zeppeline zu widerstehen. Übrigens hat sich auch Eberhard jetzt von seinem Bruder völlig überzeugen lassen. Er macht sich jedoch Sorgen darüber, ob die Kosten eines so großen Unternehmens für euch tragbar sein werden.« »Wir sind nicht arm, und Ferdinand hat gewiß auch die wirtschaftlichen Notwendigkeiten vorbedacht. Freilich wird er vor keiner Schwierigkeit mehr zurückschrecken, und es ist wohl so, daß jede große Tat einen hartnäckigen Kampf, eine Überwindung von Hindernissen, eine Auseinandersetzung mit Ungläubigen und Gegnern erfordert.« Sie hatte den Kopf gesenkt, und mit verlangsamten Schritten neben der Freundin weitergehend, fuhr sie nachdenklich fort: »Man möchte glauben, es gäbe irgendwo eine ungeheuere Macht, die nur für sich da ist, aber gelegentlich in einen besonderen Menschen fährt und ihn zwingt, unaufhaltsam und tollkühn in das Unbekannte einzudringen.« Die Schwägerin zog sie fester an sich. »Mir scheint, du bist von Ferdinands Plänen schon jetzt nic ht weniger besessen als er selbst.« Isabella von Zeppelin blickte auf, sie hatte Tränen in den Augen. Leise antwortete sie: »Mir ist oft sehr angst um ihn.« Erschreckt ließ Sonnia den Arm von ihren Schultern gleiten. Sie zwang sich zu einem Lächeln und deutete nach dem großen Nußbaum, auf dessen starken Ästen die beiden Grafen als vergnügte Spielgefährten der Kinder mit einem langen Brett und einigen Bohnenstangen an der Wiedererrichtung ihrer Jugendburg arbeiteten. »Wir müssen den Männern ihren Willen lassen und wollen nicht verzagen. Sieh dir jetzt deinen vierundfünfzigjährigen Erfinder an! Er klettert wie ein kecker Knabe auf die Bäume. Meinen braven
Eberhard hat er dazu verleitet, vor unseren Söhnen alle väterliche Würde abzutun. Ferdinand ist unwiderstehlich in seiner fröhlichen Lebenskraft. An ihm wird es nicht liegen, wenn er sein neues großes Ziel nicht erreicht.« »Auch du willst also an ihn glauben, Sonnia?« »Ich will es, so fest ich zu glauben vermag.« Aus dem herbstlichen Nußbaum kam ein lauter doppelter Ruf. Die Grafen hatten die beiden Frauen erblickt, streckten und senkten in weitem Schwung zwei Bohnenstangen, verliebte Burgherren, stolze Ritter, die mit siegreichen Lanzen ihre Damen grüßten. Die Buben standen blond und schlank als treue Knappen unter dem Baum, hoben ihre hölzernen Schwerter und jubelten den Großen zu. Die hellen Stimmen schallten noch fast vier Wochen lang durch Haus und Hof. Dann reiste zuerst Eugenie mit ihren Kindern ab. Wenige Tage später nahm auch Eberhard mit seiner Familie Abschied. Er durfte von seiner eigenen Besitzung nicht länger fernbleiben. Der Winter kam nach langem Zögern plötzlich heran. Der Wind pfiff um das Herrenhaus von Girsberg. Unter dem Himmel jagten dunkle Wolkenriesen. Kaum waren die Gäste fort, als das unbekümmerte, fast übermütige Wesen des Gutsherrn schon einer schweigsamen Entschlossenheit, einem rastlosen Arbeitsdrang gewichen war. Seine innere Freudigkeit aber hielt unvermindert an. Sie leuchtete ihm aus den Augen, wenn er vor seinen Zeichnungen und Berechnungen am Schreibtisch saß, wenn er allein weite Wege über Land ging und seine Gedanken dem stürmischen Wolkenflug folgen ließ. Die Tage waren kurz; bald fiel der erste Schnee und verwandelte Girsberg in ein schlafendes Märchenschloß mit weiß glitzerndem Dach und silberbepackten Fensterbänken. Der Hausherr verbrachte die nächste Zeit mit einem regen Briefwechsel, in dem er sich bemühte, eine Anzahl bedeutender Männer für seinen Plan zu gewinnen. Dabei
stellte er auch die ersten Erkundigungen nach einem technisch durchgebildeten Helfer an. Er las noch einmal alles, was in neuer und alter Zeit an Vorschlägen, Zustimmungen und Ablehnungen zur Frage der Luftfahrt veröffentlicht worden war. Abends rief er den Verwalter Eßlinger zum Schachspiel, oder er bat Isabella, sich an den Flügel zu setzen und zu singen, um in seinem Sessel am flackernden Kamin beglückt dem Wohllaut ihrer hell aufschwingenden Stimme zu lauschen. *** Im nächsten Jahr kam der Ingenieur Kober nach Girsberg, um unter Anleitung Zeppelins den Flugschiffsentwurf auszuarbeiten. Er war dem Grafen von befreundeter Seite empfohlen worden und ging in vollem Bewußtsein aller zu überwindenden Hindernisse mit trotziger Begeisterung und Entschlossenheit an die Arbeit. In seinem länglichen Seemannsgesic ht mit dem kleinen Spitzbart blinkten die großen, schmal eingefaßten Brillengläser. Von der geraden Nase zu den absinkenden Mundwinkeln zogen sich die harten Linien, die eine unerschrockene Willenskraft anzeigen. Aber sein lehrmäßiges Denken verzagte anfangs doch mehr als einmal vor einer Aufgabe, für die es keine Vorbilder und keine Erfahrungen gab. »Exzellenz, es geht nicht.« »Es muß gehen. Sie dürfen nicht mit Schwierigkeiten rechnen, die sich auf dem Papier ergeben, aber in der Wirklichkeit gar nicht vorhanden sein werden.« »Exzellenz, ich hätte nicht das Recht, an dieser großen Unternehmung mitzuhelfen, wenn ich auch nur eine einzige Ungewißheit, die ich finde, bestehen ließe.« Der Graf drückte ihm die Hand. »Für Ihre Gewissenhaftigkeit bin ich Ihnen aufrichtig dankbar. Aber man muß auch etwas wagen. Lassen Sie die Arbeit für heute liegen, wir wollen den Verwalter abholen und einen Gang
durch die Felder machen. Im Freien wird alles wieder klar werden. Glauben Sie mir, wir schaffen es! Ich will durchaus nichts Unmögliches. Die Naturkräfte lassen sich nicht beseitigen, aber gegeneinander ausspielen.« Kober trat hinter dem Zeichentisch hervor und folgte ihm aus dem Hause. Er fühlte wieder die Gewalt des Glaubens und der bezwingenden Zuversicht des Grafen. Nach der gemeinsamen Wanderung packte er die Widerstände mit um so grimmigerem Mut an. Aber das Jahr ging schon zur Neige, als sie den Entwurf endlich fertiggestellt hatten. Zeppelin beschloß, ein Modell ihres fliegenden Schiffes herstellen zu lassen. Ein Vetter Eßlingens war Schmiedemeister in Meersburg. Zu ihm ging der Graf. Kober mit seinen Planzeichnungen begleitete ihn. Die Schmiede war eng und niedrig, erfüllt von Lärm, Funkengesprüh und beißendem Rauch. Meister Bartels in ledernem Schurz, mit langem, braunem Bart und buschigen Brauen im geschwärzten Gesicht, mit nackten, kraftvollen Armen und mächtigen Händen stand groß am Amboß. Sein Sohn, fast ebenso hoch gewachsen, aber noch knabenhaft schmal in den Schultern, ging ihm zur Hand. Doch war dem Jungen anzusehen, daß er morgens auf der Schulbank saß und hier nur gelegentlich einmal half. Bartels unterbrach seine Arbeit nicht, als die Besucher hereintraten und Zeppelin ihm seinen Namen nannte. Der Schmiedehammer schlug auf das glühende Erz, das von der langarmigen dunklen Zange gehalten wurde. Die tiefe Stimme des Meisters dröhnte. »I kann jetzt mei Sach net liege lasse.« »Machen Sie nur weiter! Wir warten gern, bis Sie fertig sind.« Der Schmied trat mit dem dampfenden Eisenstück zur Bohrmaschine. Hinter ihm tanzten flackernde rote Lichter und schwarze Schatten wie flinke Kobolde. Er schleuderte die große Riemenscheibe im ernsten Takt einer weihenden Handlung. Dann kam er wieder zur Feuerstätte und ließ
seinen Sohn den Blasebalg treten, daß die hellen Flammen aus der Glut hochauf sprangen und ihm in das dunkle, unbewegte Gesicht leuchteten. Der Graf stand mit seinem Begleiter in einem Winkel der Werkstatt und beobachtete den riesigen Mann, der das Eisen bezwang. Kober flüsterte ihm zu: »Irgendwo gibt es, jagend und gejagt zwischen den Städten und Ländern, einen nervenschwachen, magenkranken Mann, der sich Eisenkönig nennen läßt, vieltausend Maschinen besitzt und doch nie ein Stück Eisen in der Hand gehabt hat. Alles Metall wird ihm zu geprägtem Gold, aber er heißt König des Eisens. Das ist lächerlich. Dieser hier ist ein Herr des Eisens.« Der Schmied hatte jetzt seine Arbeit beendet. Zeppelin erklärte ihm seinen Plan und seine besonderen Wünsche. Bartels hörte aufmerksam zu. Er schüttelte bedenklich den Kopf. Aber die blanken Augen des Jungen leuchteten hell auf. Der große rußige Mann fuhr sich mit den schwarzen Händen durch seinen struppigen Bart. »Ha no, Herr Graf, des han i mei Lebtag net gsehe.« Kober nickte. »Das hat noch keiner gesehen. Das ist eine völlig neue Erfindung.« Dem ändern erschien jedoch das Vorhaben seiner Besucher keineswegs geheuer. »Wollet Sie wirklich ein so ugschickts Ding baue und moinet, des Glump könnt fliege? Des koscht Sie e saumäßigs Geld, und na ischts nur Unsinn.« Zeppelin lachte. Aber Kober wurde ärgerlich. »Was wir später machen werden, lassen Sie nur unsere Sorge sein; jetzt handelt es sich allein um das Modell, das Sie uns herstellen sollen. Wir sind zu Ihnen gekommon, weil uns Herr Eßlinger in Girsberg versichert hat, daß wir uns auf Ihr Stillschweigen unbedingt verlassen können. Wir müssen auch von Ihrem Sohn verlangen, daß er zunächst nicht über die Angelegenheit spricht.« Bartels hob die Achseln. »I schaff mei Sach, Herr. Haarg'nau. Und es soll davon kein Sterbenswörtle laut werde.
Darauf dürfet Sie sich verlasse. Aber warum soll der Mensch in d' Luft fliege? Des ischt. gwiß e sündhafts Beginne.« »Du, Vater«, rief der Siebzehnjährige, »so derfscht net rede; des ischt e ganz gwaltig Sach!« »Ob du gleich still bischt, Lausbub! Deswege gehscht net in d' Schul, daß du lernscht, mir übers Maul z' fahre.« Der Graf klopfte dem Jungen freundlich auf die Schulter. »Ich freue mich, daß mein Plan der Jugend gefällt. Sie besuchen eine höhere Schule?« »Das Gymnasium in Konstanz, Herr Graf.« »Was wollen Sie werden?« »Ingenieur, Herr Graf.« »Das ist recht. Wenn Sie Ihre Prüfung gemacht haben, kommen Sie zu mir und helfen mir Luftschiffe bauen.« Hans Bartels Gesicht glühte auf. »Jawohl, Herr Graf.« Die drei Männer besprachen nun noch einmal jede Einzelheit der auszuführenden Arbeit. »Ist Ihnen alles klar?« fragte Kober. »In zwei Woche-han Sie Ihr Sach'.« »Laß mich dabei helfen, Vater!« bat Hans eifrig. Worauf der Schmied eine unverständliche Antwort brummte. Die Besucher verabschiedeten sich. Auf dem Heimweg sagte Zeppelin: »An dem Jungen habe ich eine Eroberung gemacht. Ich bin froh darüber, denn für die Jugend ist unser Werk bestimmt.« »Exzellenz, vorerst müssen wir mit den Alten rechnen. Ich hoffe, der Kaiser gibt Ihrem Antrag auf Einberufung eines Prüfungsausschusses statt, damit wir bald erfahren, ob die gelehrten Herren sich überzeugen lassen.« »Ich vertraue auf Helmholtz, der einem solchen Ausschuß zweifelsohne angehören wird. Nachdem er einst zu beweisen versucht hat, daß es unmöglich wäre, mit großen Körpern die Luft zu bezwingen, hätte seine Gegnerschaft mir gefährlich werden können. Sie haben seinen letzten Brief gelesen; er hat sich bekehrt und meine Pläne für
beachtenswert und nicht unausführbar erklärt. Also wird er sich meiner annehmen, und das bedeutet den Sieg über alle Zauderer und Querköpfe.« In dieser Hoffnung täuschte er sich. Der Prüfungsausschuß trat in Berlin zusammen. Helmholtz aber, der tatsächlich entschlossen gewesen war, für die Sache Zeppelins einzutreten, starb, bevor die entscheidende Sitzung stattfand. An seiner Stelle übernahm Professor Grauppe als Ältester den Vorsitz. Der Achtzigjährige galt noch immer als eine Leuchte der Wissenschaft. Seine Begegnung mit dem närrischen Grafen auf dem Odilienberg hatte er nicht vergessen. Die Mähne um seinen mächtigen Schädel war dünner geworden und weiß wie die starren Brauen. Sein Gesicht war zerknittert in hundert Falten und Furchen. Beim Gehen stützte er sich fest auf einen Krückstock, hielt sich aber straff aufrecht. Seine Stimme klang noch in vollem, dunklem Ton und mit der Deutlichkeit und Sicherheit des geübten Redners. Er eröffnete die Sitzung mit einem kurzen Nachruf auf Helmholtz. Als danach die Anwesenden an dem grün gedeckten hufeisenförmigen Beratungstisch Platz genommen hatten, nahm er die umfangreiche Denkschrift Zeppelins zur Hand. »Der Inhalt dieser Vorschläge ist Ihnen allen hinreichend bekannt. Wir haben uns bereits über die einschlägigen Fragen untereinander ausgesprochen. Es gilt jetzt, unsern Auftrag auszuführen und ein Urteil zu fällen, das wir Seiner Majestät vorzulegen haben. Ich bitte Sie deshalb, der Reihe nach mit möglichst wenigen Worten abschließend sich zu äußern.« Zu seiner Rechten erhob sich Professor Brettschneider, ein großer, hagerer Mann mit kahle m Kopf und spitzem, blassem Gesicht. Der langschößige schwarze Rock war eng über die Brust geknöpft. Seine Brille hatte er hoch auf die Stirn hinaufgeschoben. »Der uns vorliegende Plan des Generalleutnants Grafen von Zeppelin ist sehr
aufschlußreich; denn er hat den unumstößlichen Beweis erbracht, daß sich ein Ballon niemals zweckdienlich und nützlich wird lenken lassen.« Er sah sich im Kreise um. Die anderen nickten, und Brettschneider fuhr fort: »Bei der großen Fläche, die ein Ballon, mag seine Form sein, wie sie will, dem Luftwiderstand darbietet, der sich bei Erhöhung der Schnelligkeit der Fortbewegung ins Ungeheuere verstärken müßte, wäre eine gewaltige Antriebskraft nötig. Diese ihrerseits erforderte Maschinen, die mehr Gewicht hätten, als der gegebene Ballon tragen könnte. Dessen Vergrößerung hülfe gar nichts, weil dann ja die Widerstandsflächen abermals vergrößert würden. Ich behaupte daher, daß dieses Zeppelinsche Luftschiff eine Unmöglichkeit ist.« Er klappte seine Brille von der Stirn vor die Augen zurück und setzte sich. Neben ihm stand Professor Wittig auf. Er war nach der neuesten Mode gekleidet. Das spärliche blonde Haar trug er scharf gescheitelt, und die Narben mancher Paukerei seiner Studentenzeit standen ihm wohl an. Er verbeugte sich gewandt. Mit einer leichten Handbewegung wurde die Erfindung des Grafen abgetan: »Kurz und klar, meine Herren. Diese Sache widerspricht allen Erkenntnissen. Sie ist eine ausgemachte Torheit.« Die anderen nickten in der Bunde. Als Dritter urteilte der Physiker Lambrecht, ein ruhiger Mann mit einem dunklen Haarkranz um den blanken Schädel und einem starken, mitten geteilten, in zwei lange Spitzen auslaufenden Backenbart. Er räusperte sich. »Trotz des Scharfsinns und der sehr beträchtlichen Geldsummen, die für die Erbauung eines solchen Spitzballons aufgewendet werden müßten, ließe sich leider mit dem schwächlichen und zerbrechlichen Riesenleib des Ungetüms gegen stärkeren Wind ein Erfolg nicht erzielen. Meine Berechnungen liegen Ihnen als Beweise vor.« Professor Bodenbach wuchtete den breiten, massigen Körper hoch, stemmte die Fäuste vor sich auf die Tischplatte
und sagte grob: »Wenn Sie hören, daß ich mich mit dem Bau eines lenkbaren Ballons abgebe, dann können Sie getrost behaupten, ich sei verrückt geworden.« Es gab in der vorliegenden Frage keinen Gelehrtenstreit. Alle Anwesenden waren sich in der Ablehnung des Zeppelinschen Entwurfes einig. Mit grimmiger Genugtuung stellte der alle Grauppe dieses Ergebnis fest. Er schüttelte seine weiße Mähne und schob die Denkschrift von sich. »Der Prüfungsausschuß erklärt diesen Plan für unausführbar mit den heutigen Mitteln. Der Herr Graf mag ein guter Soldat gewesen sein, ein Erfinder ist er nicht. Für uns bleibt zu tun nur übrig, einen entsprechenden Bescheid an ihn und den geforderten Bericht an Seine Majestät zu geben. Ich möchte Ihnen vorschlagen, mit der Abfassung Herrn Professor Wittig zu betrauen, den ich bitten würde, uns den Wortlaut zur Beistimmung vorzulegen.« Er wandte sich an den Genannten: »Darf ich annehmen, Herr Kollege, daß Ihnen für diese Arbeit etwa zwei Stunden genügen?« Der andere verbeugte sich. »Selbstverständlich, sehr verehrter Herr Professor.« »Gegen meinen Vorschlag erhebt sich kein Widerspruch. Ich bitte also den Kollegen Wittig, unsere Entscheidung in geeigneter Form zu Papier zu bringen.« Der Alte stützte sich auf seinen Stock und erhob sich. »Die Sitzung wird unterbrochen. In zwei Stunden tritt der Ausschuß noch einmal zusammen.« Die Herren schoben mit Gepolter die Stühle zurück. Sie verließen ihre Plätze und begannen sich in einzelnen Gruppen zu unterhalten. Im Freien schien die Sonne, aber die Vorhänge vor den Fenstern waren dicht geschlossen. Professor Wittig zog sich in einen anschließenden Raum zurück. Der erste Versuch Zeppelins, für den Bau des fliegenden Schiffes tatkräftige Hilfe zu finden, war gescheitert.
Aber schon wenige Tage nach dem Eintreffen des abschlägigen Urteils der Wissenschaftler hatte die unerschütterliche Glaubensstärke des Grafen diesen harten Schlag überwunden. Seinem Bruder, der ihn zu trösten kam, sagte er: »Man muß vom Sarge einer Hoffnung zurücktreten mit neuer Hoffnung. Es gibt nichts, was ein tapferer Mensch nicht verwinden könnte.« Weil die Gelehrten sich versagt hatten, wandte er sich an die werktätigen Männer. Diesma l vertrat er seine Sache selbst. Er hielt bei der Tagung des württembergischen Bezirksvereins der deutschen Ingenieure in Stuttgart einen Vortrag über seine Erfindung. Die Stimmung dieser Versammlung war ihm von vornherein günstig. Der bekannte Reitergeneral, der sich durch eine unerhört kühne Tat zum Luftadmiral aufschwingen wollte, wurde mit lebhaftem Händeklatschen und Zurufen empfangen, als er das Rednerpult betrat. Aus hellen, fordernden Augen blickte er in den Saal. Hier saßen nun die Männer der Tat, deren Ja wichtiger war als das Einverständnis der Kathederweisen. Er fühlte die Bereitwilligkeit der Versammelten, reckte sich und strich seinen weißen Schnurrbart. Den Backenbart hatte er sich vor kurzem abnehmen lassen, und sein verjüngtes Gesicht zeigte offen die schöne Vereinigung von Freundlichkeit und Kühnheit, Frohmut und Ernst, Güte und Zuversicht, die ihm eigen war. Mit gewinnender Bescheidenheit begann er seine Ansprache. Von ihm, als einem der jüngsten Schüler der jungen technischen Wissenschaft, wären keine überraschenden Entdeckungen noch unbekannter Naturgesetze und keine Begründungen neuer Lehren zu erwarten. Seine Beobachtungen beträfen nur die Anwendung bereits vorhandener Erkenntnisse und Erfahrungen auf dem jüngsten Zweig technischen Schaffens, dem Luftschiffbau. Dabei aber hätte das durch seine Aufgabe gebotene
Hineinleuchten in manche noch ungenügend erhellte Fragen gewiß größere Klarheit gebracht. Ausführlich erklärte er dann seinen Entwurf und legte die Umstände dar, die eine Verwirklic hung ermöglichen müßten. Die Begeisterung der Zuhörer wuchs. Er erwähnte die Ablehnung des Berliner Prüfungsausschusses und wies dabei auf die Bedenken und Schwierigkeiten hin, die sich den ersten Eisenbahnbauten entgegengestellt hatten. »Größere Widerstände begegnen auch meinem Plan nicht. Ich werde sie überwinden.« Stürmische Zustimmung unterbrach ihn. Er sah das Ziel nähergerückt und schloß seinen Vortrag mit der Mahnung: »Möchten Sie es als Ihre vaterländische Pflicht betrachten, die Prüfung des von mir Geschaffenen nicht mehr ruhen zu lassen, den Meinungskampf darüber sofort zu eröffnen, um tunlichst bald zu einem abschließenden Urteil zu gelangen. Wenn es gegen mich ausfällt, wenn Sie mir beweisen können, daß ich mich geirrt habe, so werde ich Ihnen auch dafür dankbar sein.« Er stand im Licht der Nachmittagssonne, deren schräge Strahlen ungehindert durch die hohen und breiten Saalfenster hereindrangen. Seine Stimme hob sich, als er versicherte: »Der Schmerz, daß meine Arbeit vergeblich gewesen, wäre für mich unendlich leichter zu tragen, als das Leben mit dem festen Glauben in der Brust, dem Vaterlande eine herrliche Gabe bereitet zu haben, und dabei sehen zu müssen, daß das Kleinod nicht erkannt und darum nicht aufgegriffen wird.« Die Ingenieure jubelten ihm zu, als er das Rednerpult verließ. Der Leiter der Tagung beglückwünschte ihn: »Exzellenz, Sie haben die größte Erfindung des Jahrhunderts gemacht. Ich muß gestehen, daß ich bisher nicht daran geglaubt hatte.« Der Graf lachte fröhlich. »Das nehme ich Ihnen durchaus nicht übel. Schon in Anbetracht der Ausmaße meines geplanten Schiffes habe ich manchen Zweifel an
meinen Verstand vorausgesehen. Aber meine Berechnungen sind zutreffend.« »Exzellenz, Sie haben uns alle davon überzeugt, und was wir von uns aus tun können, um Ihrer Arbeit zu einem vollen Erfolg zu verhelfen, wird sofort geschehen.« Inzwischen waren auch viele andere herangetreten, drängten sich um den Grafen, ihm die Hand zu reichen und aus der Nähe in seine leuchtenden Augen zu sehen. »Ich danke Ihnen, meine Herren. Tun Sie, was Ihnen möglich ist! Für das Meine stehe ich ein.« Durch einen raschen Abschied entzog er sich der Ehrung. Die deutschen Ingenieure aber erließen einen wirksamen Aufruf zu seiner Unterstützung. Der auf ihr Betreiben einberufene Sachverständigenausschuß anerkannte die Richtigkeit seines Entwurfes. Auch die junge Luftfahrerzeitschrift trat für ihn ein. Der König von Württemberg stellte in der Nähe von Friedrichshafen das notwendige Gelände zur Verfügung. Durch freiwillige Spenden wurden vierhunderttausend Mark zusammengebracht. Aus seinem eigenen Vermögen legte Zeppelin den gleichen Betrag hinzu und gründete mit der Summe die Gesellschaft zur Förderung der Luftfahrt. Auf dem Bodensee in der Bucht von Manzell wurde die schwimmende erste Luftschiffhalle gebaut. Sie war einhundertundvierzig Meter lang, ruhte auf fünfundneunzig Prahmen und wurde an der Eingangsseite so verankert, daß sie sich mit dem Winde drehen konnte. Neue Mitarbeiter wurden herangezogen, Oberingenieur Kubler und der junge Ludwig Dürr, Sohn eines verstorbenen württembergischen Weingärtners. Er hatte die Stuttgarter Baugewerbeschule besucht und kam nach Ableistung seiner Wehrpflicht bei der Kaiserlichen Marine sogleich als begeisterter Helfer nach Manzell.
Dort in der schnell entstandenen großen Holzhalle auf dem See begann nun, als das Jahrhundert zu Ende ging, der Bau des ersten Luftschiffs. Wunderliche Gerüchte verbreiteten sich über das Schiff und die Männer, die ihre Kräfte an das unglaubhafte Werk setzten. Es gab allenthalben ein bedenkliches Kopfschütteln über diesen verrückten Grafen. Als der kühne Erfinder eines Tages mit seinen Getreuen an der Mittagstafel im Hotel saß, fragte ein fremder Gast seinen einheimischen Tischnachbarn, wer der lebhafte alte Herr wäre. Er erhielt die Antwort: »Des ischt ein Narr, ein Graf Zeppelin. Der arme Mann moint, er könnt' durch d' Luft fahre.«
III Es war wieder Winter in Deutschland. Wälder und Felder lagen tief verschneit. Die bescheidensten Sträucher und Bäume wurden zu bedeutsamen Fabelwesen der verzauberten Landschaft. Die Telegraphendrähte waren Ketten glitzernder Kristalle. Die Gewässer erstarrten zu tragfähigen silbernen Flächen. Alle Häuser duckten sich unter weiche, weiße Decken, und über den Dächern stieg der graublaue Rauch senkrecht auf. An den Fensterscheiben blühten die schönsten Wunderblumen. Mitte Dezember kam die Nachricht, daß Eberhard von Zeppelins ältester Sohn Heinrich Eugen bei Elandslaagte in Transvaal im Kampf der Buren gegen die Engländer gefallen war. Da schob der Erfinder zum erstenmal seit Monaten die Arbeit beiseite und fuhr sofort nach Ebersberg. An seinem Neffen Heinrich hatte auch er mit großer Liebe gehangen. Der tapfere Junge hatte ihn in vielem an die eigene Jugend erinnert, hatte sich schon als Knabe durch eine ungewöhnliche Verwegenheit und eine lebhafte Neigung zum Reiten ausgezeichnet. Als Leutnant im 2. Württembergischen Ulanenregiment war er in zahlreichen Rennen Sieger geworden. Aber wie einst dem Onkel hatte auch ihm der Friedensdienst auf die Dauer nicht genügen können. Er war nach Transvaal gegangen und dort Leiter eines großen Zyankaliwerkes geworden. Bei Ausbruch des Burenkrieges war er als Hauptmann in das deutsche Hilfskorps des Obersten Schiele eingetreten. Im Sturmangriff zu Beginn des Kampfes bei Elandslaagte hatte ihn eine Kugel über dem Herzen in die Brust getroffen. Nach zwei Tagen war er an den Folgen der schweren Verwendung gestorben. In Ebersberg fand der Graf seinen Bruder erschreckend gealtert und wie die Mutter des Gefallenen noch völlig verzweifelt gegenüber dem harten Schicksalsschlag. Es
gelang seinem Zuspruch, die beiden wenigstens so weit zu trösten, daß sie sich äußerlich wieder gefaßter zeigten. Nur mühsam unterdrückte er seine eigene Erschütterung, als er nach einigen Tagen abreisen mußte. Er kehrte zu einem letzten kurzen Besuch in diesem Jahr im verschneiten Girsberg ein. Der alte Verwalter Eßlinger war mit dem winterlichen Wetter sehr zufrieden. »Viel Schnee, viel Heu«, sagte er seinem Herrn, »und eine gute Decke von Schnee bringt das Winterkorn in die Höh.« Dann, mitten im kalten Dunkel, leuchtete das warme Licht der Weihnacht. Graf Zeppelin verlebte das Fest mit Frau und Tochter in seiner Stadtwohnung am Herdweg in Stuttgart. Der Einundsechzigj ährige, der es gewagt hatte, noch ein zweites Leben zu beginnen, sah mit stiller Zuversicht das neue Jahrhundert herankommen, ein Jahrhundert, dessen jugendlichen Schritten seine Erfindung neue Wege erschließen sollte. In der letzten Stunde des versinkenden Jahres saß er nachdenklich vor seinem großen Globus, stieß die bunte Kugel mit dem Finger an und ließ sie um ihre Achse kreisen: So läuft die Erde mit Wasser und Land, Wald und Wüste, Berg und Tal, Tier und Menschenkind auf ihrer vorgeschriebenen Reise durch den ungemessenen Raum, umkreist die flammende Sonne, wird selbst vom sanften Mond umkreist. So läuft sie, ein Ball aus Gottes Hand, ihren Weg bis zu einein Ziel, das wir nicht kennen. Dort wird Gott sie dereinst in seine Hände zurücknehmen. So lief die alte Erde durch die Tage, Jahre, Jahrhunderte und Jahrtausende, trug die Menschengeschlechter, ihr Suchen, Raten, Ringen und Irren mütterlich geduldig mit sich fort. Anfangs kannten die Menschen nicht einmal die wahre Gestalt der Erde. Mit fest begrenztem Horizont war sie ihnen als ein riesiger Teller erschienen, an dessen Rand die Lichter des Tages und der Nacht auf und nieder stiegen. Erst der Grieche Aristoteles erbrachte einen Beweis für ihre Kugelform.
Dreh dich, meine Erde! Jahr um Jahr vorbei. Jahrhundert um Jahrhundert vorbei. Niklas Koppernik aus Thorn, der auf dem Schloß zu Heilsberg seine kosmischen Erkenntnisse niederschrieb, lehrte seine Freunde, daß die Sonne der Mittelpunkt ist, um den mit allen Planeten auch die Erde kreist. Seine Zeitgenossen verdammten die Wahrheit als Blendwerk und Ketzerei. Dreh dich, meine Erde! Galilei aus Pisa trat für die Lehrsätze des Kopernikus ein. Die Inquisition ging gegen ihn vor. Als alter Mann lag er einen Monat lang in Rom gefangen und wurde durch Drohung und Folter zum Widerruf gezwungen. Aber sie bewegt sich doch. Johannes Kepler aus Weil in Württemberg fand die Gesetze der Planetenbewegung. Und während die alte Erde ihre Kreise weiterlief, fuhren kühne Entdecker, abenteuerliche Glückssucher und gewissenhafte Forscher über die Meere und fanden Neuland. Unser Wissen bleibt trotz allen Erfahrungen und Erkenntnissen beschränkt. Aber wir sollen nicht kleinherzig und engstirnig sein. Unser Hiersein ist begrenzt, nicht unser Glaube. Mühe und Sorge sind uns zugedacht, nicht aber Furcht und Verzweiflung. Wir sollen tapfer leben und fromm und mit fröhlicher Zuversicht arbeiten in unserm schönen und weiten Garten Erde. Dreh dich, meine bunte Kugel! Das fliegende Schiff soll dein neuer Planet werden. Jetzt! Die Turmuhren schlugen zwölfmal. Alle Glocken fingen feierlich zu läuten an. Knatternd stieg eine Rakete auf, platzte und warf einen glänzenden Schwarm rot, blau und grün funkelnder Bälle in die Nacht. Fenster klirrten. Fröhliche Rufe wurden ringsum laut. Das neue Jahrhundert hatte begonnen.
Graf Zeppelin war aufgestanden und wandte sich zu seiner Frau und seiner Tochter, die still am Kamin gesessen hatten und ihm nun entgegenkamen. Er schloß sie bewegt in die Arme. »Ihr meine Treuesten!« sagte er. »Eine neue Zeit ist da. Gott gebe, daß sie mir das nahe Ziel nicht entrückt!« Die Zwanzigjährige schmiegte sich enger an ihn. »Vater, wenn wirklich der Glaube zu helfen vermag, wird dir alles gelingen.« Er streichelte ihr Haar. »Die nächste Zukunft wird nicht leicht für mich sein. Auch nicht für euch. Aber ich tue nur, was ich tun muß.« Draußen läuteten mit vollem Klang die Neujahrsglocken. Der Graf schloß die Augen: Die Himmelstore donnerten weit auf. Der junge Tag trat leuchtend hervor und sah hinab in das schöne Land, das ihm verheißen war. Mit mächtiger Gebärde breitete er die Arme und stieg mit wehenden Locken jauchzend zur Erde nieder. — In den nächsten Wochen war in vielen deutschen und ausländischen Zeitungen von dem sagenhaften Luftschiff die Rede, das auf dem Bodensee gebaut wurde und der neuen Zeit ein neues Gesicht geben sollte. Die Krämer im Ausland waren besorgt und mißgünstig. Sollte diesem Volk im Herzen Europas, das aus einem Länderhaufen zum Reich und zu staatlicher und wirtschaftlicher Weltmacht gelangt war, das sich den Weltmarkt erobert und Kolonialbesitz errungen hatte, dessen Handelsflotte im Schutz eines starken Kampfgeschwaders jährlich wuchs, nun eine Erfindung beschert werden, deren Auswirkungen gar nicht abzusehen waren? Zwar wollten Spott und Zweifel nicht verstummen, aber diesem hartnäckigen alten General aus Schwaben war nach allem, was man über ihn wußte, ein Erfolg dennoch zuzutrauen.
An die Gesandten und Militärbevollmächtigten Englands und Frankreichs erging die Weisung, den bevorstehenden Ereignissen am Bodensee die sorgfältigste Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen. Im Frühjahr setzten die Arbeiten in der Halle bei Manzell in vollem Umfang wieder ein. Hundert Mann wurden jetzt beschäftigt. Kubler und Dürr kamen kaum noch aus der großen schwimmenden Werkstatt heraus. Auch Zeppelin selbst gönnte sich nur noch die nötigste Ruhe. Für den 30. Juni 1900 wurde das mit Ungeduld erwartete Ereignis des ersten Aufstiegs angekündigt. Die Bevölkerung an den Ufern des Schwäbischen Meeres und Fremde von weither strömten in Scharen. herbei. Die Dampfer und Hunderte von Motorschiffen, Seglern und Ruderbooten kreuzten in strahlendem Wetter vor der Bucht von Manzell, und am Strande standen Tausende, um Zeugen der weltgeschichtlichen Begebenheit zu werden. Das württembergische Königspaar, Prinzessin Therese von Bayern, der Herzog und der Fürst von Urach waren gekommen. Die großen Zeitungen hatten Berichterstatter entsandt. Der englische Gesandte in München und der englische Militärattaché in Berlin fanden sich ein. Aber kurz vor Anbruch der Dämmerung fuhr das Polizeiboot von Dampfer zu Dampfer, um bekanntzugeben, daß der Aufstieg verschoben war. Auch am 1. Juli, einem Sonntag, konnte wegen des heftigen Windes, der sich unerwartet erhoben hatte, der Versuch nicht gewagt werden. Das war eine Enttäuschung, wie sie im weiten Seebezirk vom Hegau bis zum St. Galler Land wohl noch nie erlebt worden war. Die Nerven des Grafen und seiner Mitarbeiter waren bis zum Zerreißen gespannt. Am Abend des zweiten Julitages war endlich alles zur Auffahrt bereit. Vom Dach der Halle flogen die letzten kleinen Versuchsballons auf und trieben langsam in der Richtung nach Immenstaad hin.
Als schon der Dampfer »Buchhorn« das Floß mit dem Luftschiff aus der Halle zog, sahen Kober und Dürr in der vorderen Go ndel den Grafen seine weiße Schirmmütze abnehmen, niederknien und beten. Der Ältere wandte sich ab. Die Erregung trieb ihm Tränen in die Augen. Dürr stand stumm, mit geballten Händen und unbeweglich. Nur in seinem schmalen Gesicht zuckte es. Um acht Uhr abends hatte der Dampfer den riesigen Ballon völlig aus der Halle herausgezogen. Auf dem Floß standen die Turner und Feuerwehrleute der benachbarten Orte und hielten das Luftschiff an starken Tauen nieder. Der Graf hatte seine weiße Schirmmütze wieder aufgesetzt und trat an die Stirnseite der Gondel. »Luftschiff marsch!« Ein Trompetenstoß gab das Zeichen zum Loslassen der Taue. Jetzt wurden auch Ludwig Dürrs Gedanken zum Gebet: »Herrgott, laß es gelingen!« Es gelang nicht. Nur sehr langsam hob sich das Schiff zu geringer Höhe. Zwei Taue am Heck wurden zu lange festgehalten, so daß sich das Schiff im Aufstieg schräg aufwärtsrichtete. Graf Zeppelin gab Befehl, das Laufgewicht zwischen den Gondeln vorzuziehen. Als aber die Gleichgewichtslage erreicht war und das Gewicht in die Mittellage zurückgebracht werden sollte, brach die Kurbel der Zugvorrichtung. Nun senkte sich jäh der Bug so steil abwärts, daß die Menschen auf dem See und an den Ufern fürchteten, der Ballon ginge von der waagerechten zur senkrechten Stellung über, und die Insassen der Gondeln müßten herausstürzen. Während sich der Graf mit der Besatzung angestrengt um die Wiederaufrichtung des Schiffes mühte, war es mit dem schwachen Winde westwärts getrieben worden.
Alle Versuche der Luftfahrer, eine größere Höhe zu erreichen, blieben erfolglos. Auch die Steuerung wurde nicht wirksani. Die Umkehr nach Manzell war unmöglich. Das Schiff begann zu sinken, und zwanzig Minuten nach dem Aufstieg sahen die enttäuschten Zuschauer, wie die beiden Gondeln auf die Wasserfläche aufsetzten. *** Am Hang eines Hügels standen zwei Studenten, die auf ihren Rädern in langer unverdrossener Fahrt von der Technischen Hochschule in Stuttgart gekommen waren. Der eine war Hans Bartels, der Schmiedssohn aus Meersburg. Der andere, sein Studienfreund Robert Möllenhoff, lachte spöttisch und verärgert. »Da haben wir die Bescherung. Habe ich es nicht vorausgesagt? Das Luftschiff deines Grafen Zeppelin ist fauler Zauber. Mit euerer schwäbischen Dickköpfigkeit allein könnt ihr das Unwahrscheinliche nicht zur Tatsache machen.« Auch Bartels war ernüchtert. Aber er blieb gelassen. »Wir haben zuviel erwartet. Niemand kann verlangen, daß ein so gewaltiges Unternehmen schon beim ersten Ansatz gelingt.« »Hans, nun wisch dir die Augen aus! Dieser ganze Versuch war ein närrischer Schwabenstreich, und es ist bitter schade um das gute Geld, das für die verlorene Sache verschwendet wurde.« »Nichts gegen unsere Schwabenstreiche! Sie haben mehr als einmal recht getroffen. Du wirst sehen, der Graf läßt nicht nach, und das nächste Mal schon glückt ihm die Fahrt.'' Der andere spottete wieder: »Wenn du es sagst, zweifle ich nicht daran. Ich sehe dich schon mit dem Alten über die Schweizerberge fliegen.« Der Meersburger behielt seine Ruhe. »Das wirst du ganz gewiß erleben.«
»Menschenkind, fliegt meinetwegen über den Großen Ozean! Zuvor aber sollst du mich irgendwohin führen, wo wir einen guten Trunk bekommen; ich bin fast verdurstet.« Erst jetzt, als sie sich umwandten, um ihre im Grase liegenden Räder aufzuheben, bemerkten die Studenten, daß sie auf dem Hügel nicht allein geblieben waren. In ihrer Nähe stand, mit grüner Joppe und Stulpenstiefeln angetan, ein hochgewachsener und breitschultriger alter Herr, neben ihm, schlank und hell, ein junges Mädchen. Die beiden waren gleichfalls mit Fahrrädern gekommen und stützten sich auf die federnden Sättel. Das verwitterte Gesicht des Mannes war sehr ernst. Das Mädchen blickte traurig zum See hinunter. Die Studenten gingen vorüber und grüßten. Der Alte nickte ihnen stumm zu. Auch seine Begleiterin neigte den Kopf. Dann aber traf den Meersburger ein Blick ihrer großen, dunkel bewimperten Augen, der seine Schritte stocken und sein Herz schneller schlagen ließ. Ein unbekanntes, noch unverstandenes Glücksgefühl überstürzte und erschütterte ihn. Er sah entzückt die junge, hochgewachsene Gestalt im leichten hellen Sommerkleid, das schmale Gesicht, die eigenwillige dunkelblonde Locke auf der Stirn, die schön geschwungenen zärtlichen Lippen. Der Freund drängte vorwärts. Als Hans im Weitergehen zurückblickte, sah auch das Mädchen sich nach ihm um. Auf der Höhe bestiegen die Studenten ihre Räder. Sie fuhren nach Friedrichshafen, um dort die eigentlichen Ursachen des mißlungenen Aufstiegs zu erfragen. Am späten Abend saßen sie in der verräucherten Schankstube eines kleinen Gasthauses. Bartels achtete nicht auf das Geplauder des andern mit der schlagfertigen Wirtstochter. Seine Gedanken blieben bei dem Mädchen auf dem Hügel am See. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er seinen entfernten Verwandten Eßlinger begegnet war, die im Dienst des Grafen Zeppelin auf Girsherg wohnten. Er hatte sie bisher nicht
kennengelernt. In früheren Jahren war der Verwalter hin und wieder zu einem kurzen Besuch in die Meersburger Schmiede gekommen; da war Hans in Konstanz in der Schule gewiesen. Seine Eltern hatten wohl einmal von Eßlingers Tochter gesprochen. Aber heute hatte er sie zum erstenmal gesehen. Über die völlige Sicherheit seiner Annahme wunderte er sich selbst, hütete sich auch, mit dem Freunde darüber zu. reden. Moellenhoff hätte ihn wahrscheinlich nicht verstanden. Und doch gab es für ihn nicht den geringsten Zweifel. Bei der Begegnung war eine Stimme des Blutes überraschend in ihm laut geworden. Daß ihn der Anblick des Mädchens empfindlicher getroffen hatte, wagte er sich noch nicht einzugestehen. *** Die Nacht sank herab. Das Luftschilf auf dem Bodensee wurde in der Dunkelheit nach der Bucht von Manzell zurückgeschleppt. Es war zwei Uhr vorüber, als der Ballon wieder in der Halle lag. Zeppelin und seine Ingenieure hatten schweigend die notwendigen Arbeiten verrichtet. Schweigend fuhren sie miteinander nach Friedrichshafen und trennten sich dort rasch. Mit dem Grafen durchwachte seine Tochter die ganze Nacht. Auch sie versuchte nicht, den Vater mit Worten zu trösten. Durch ihre stille, sorgende Anwesenheit allein zeigte sie ihm ihre Teilnahme und ihre ungebrochene Zuversicht. Zeppelin ging rastlos im. Zimmer hin und her, mit schweren Schritten quer durch den Raum vom Fenster zur Tür und zurück von der Tür zum Fenster. Er sah nicht hinaus nach dem Sternenhimmel. Mit gssenktem Kopf ging er wie unter einer schweren körperlichen. Last, aber ohne anzuhalten, als triebe ihn ein böser Geist. Seine Hände hatten sich geballt. Seine Stirn wurde feucht. In seinen bewegten Mienen waren die Sorgen und Zweifel sichtbar, die er während dieser schrecklichen nächtlichen Wanderung niederrang.
Er schien Hella nicht zu beachten, doch behielt er sie bei sich, bis der Morgen anbrach. Dann erst schickte er sie schlafen; er hatte jetzt seine eigene Ruhe wiedergewonnen. Wenige Stunden später versammelte er seine Angestellten und Arbeiter vor den Werkstätten am Ufer bei Manzell. Aufgereckt, mit harter Entschlossenheit trat er vor sie hin. »Mein erster Flugversuch ist mißlungen. Sie werden heute in allen Zeitungen lesen können, daß meine Mühen vergeblich und meine Überlegungen falsch gewesen sind. Ich nehme es keinem von Ihnen übel, wenn er das Vertrauen zu mir verloren hat. Er mag sich von mir und meinem Werk trennen. Ich selbst werde freilich in meinem Beginnen nicht nachlassen, auch wenn ich alles allein tun müßte.« Kubler, Dürr und Kober traten nebeneinander vor. »Exzellenz, wir arbeiten hier weiter.« Und während in der Presse der ganzen Welt das Unternehmen wie der Erfinder selbst ohne Verständnis und Erbarmen verurteilt und verspottet wurden, gingen die Männer in Manzell schon wieder ans Werk. Während die Kathederweisen mit erhobenen Fingern sich mit der Voraussage des Mißerfolges brüsteten und auch der billigste Witz des Tages das fliegende Schiff und den tollen Grafen verhöhnte, wurden schon mit frischer Hoffnung neue Berechnungen und Versuche angestellt. Alle Beobachtungen und Erkenntnisse, die sich aus dem mißglückten ersten Wagnis ergeben hatten, wurden sorgsam überprüft und bei den Änderungen und Verbesserungen des Lenkballons berücksichtigt. Nach drei Monaten wurde der Aufstieg zum zweitenmal versucht. Er verlief ohne Zwischenfall, und das Schiff schien seiner Steuerung gehorchen zu wollen, als sich das Ballonet einer der siebzehn selbständigen Kammern des langen Tragkörpers entleerte und die Luftfahrer so plötzlich auf das Wasser herabsanken, daß sie ihr Fahrzeug vor einigen leichten Beschädigungen nicht bewahren konnten. Jedenfalls war auch diesmal der Erfolg ausgeblieben. Aber nur eine
Woche später konnte der Ballon wieder aufsteigen. Und nun gelang es dem Grafen, ohne Unfall längere Zeit in etwa vierhundert Meter Höhe über dem Bodensee zu kreuzen, zu der schwimmenden Halle zurückzukehren und dort planmäßig zu landen. Die Ingenieure strahlten. Der Erfolg war da. Das Vermögen der Gesellschaft zur Förderung der Luftfahrt, das inzwischen durch eine von den Teilhabern gezeichnete Haftsumme hatte verstärkt werden müssen, war größtenteils aufgebraucht worden, aber jetzt konnte es dem Grafen nicht schwer werden, neue Mittel herbeizuschaffen. Jedoch ergab sich, daß alle Welt zwar den Mißerfolg im Sommer kannte, von der ersten gelungenen Fahrt aber nichts wissen wollte. Die Bemühungen Zeppelins, für die Weiterführung seines Werkes Unterstützung zu finden, scheiterten. Im November beschloß die Gesellschaft ihre Auflösung. Die Arbeiter mußten entlassen, die Werkstätten geschlossen werden. Nur die Ingenieure harrten auch weiterhin bei dem Grafen aus. Das Luftschiff lag in der Halle. Seine Erbauer hatten gelernt, es zu steuern. Nichts fehlte als das Geld, um es wieder fahrtfertig zu machen. In die Gesichter Zeppelins und seiner Getreuen gruben sich in dieser Zeit harte Züge ein. Der Erfinder nahm es auf sich, als Bittsteller eine Anzahl vermögender Männer aufzusuchen. Auch diese schweren Gänge waren vergeblich. Das Opfer seines Stolzes blieb unbelohnt. Er versandte einen Aufruf an zehntausend wohlhabende Leute. Das Rundschreiben blieb ohne Widerhall. Im nächsten Jahr sprach er in Berlin vor der Deutschen Kolonialgesellschaft über sein Werk. Es geschah nichts danach. Er richtete an den Kaiser die Bitte, über seine Erfindung berichten zu dürfen. Die erwartete Aufforderung zum Vortrag blieb aus. Auch der Verein deutscher Ingenieure verhielt sich jetzt ablehnend. Den Offizieren des deutschen
Heeres wurde eine Verfügung vorgelegt, worin zwar dem Generalleutnant Grafen von Zeppelin Anerkennung gezollt werden mußte für die Kraft und Ausdauer, mit der er sein Ziel verfolgt hatte; aber zugleich wurde sehr eindringlich davon abgeraten, Geld an diese aussichtslose Sache zu wenden. In Friedrichshafen hieb Ludwig Dürr mit der Faust auf den Tisch. »Es ist zu Ende.« Kober fluchte. »Der Teufel soll die zugeschnürten Geldsäcke holen! Der deutsche Michel hat ein Brett vor dem Schädel, daß er nicht einsieht, was hier von einem großen, tapferen Mann für ihn geschaffen worden ist. Aber es darf trotz allem mit unserm Alten Herrn nicht zu Ende sein. Solange er sich nicht selbst aufgibt, bleiben wir bei ihm.« »Das ist ja wohl selbstverständlich.« *** Graf Zeppelin holte sich für seinen täglichen Kampf gegen die aufsteigende Verzweiflung neue Kraft auf der Heimaterde. Wieder zog er mit den Seinen für einige Sommerwochen nach dem geliebten Girsberg und lud auch Bruder und Schwester zu einem längeren Zusammensein auf das Gut ein. Vor den Geschwistern konnte er die übermenschliche Selbstbeherrschung einmal abwerfen. Eines Abends, als er mit Eberhard im Garten saß, klagte er, den Blick in die verdämmernde Ferne gerichtet: »Noch eine kurze Spanne Zeit, und Witterung, Wind und Wellen werden mein Schiff und die noch lagernden Baustoffe unverwendbar gemacht haben. Meine letzten geschulten Gehilfen werden mir nicht mehr zur Verfügung stehen. Die geringen Mittel, die ich selbst noch zu opfern vermag, werden erschöpft sein, und die Gebrechen des Alters oder der Tod werden meinem Schaffen ein Ziel setzen.« Eberhard legte ihm die Hand auf den Arm. »Mein guter, alter Knöpfleschwab«, sagte er leise, »wir sind nur Glieder einer Kette, und was wir selbst nicht erreichen, das wird nach
uns einem andern gelingen, der unsere Arbeit dankbar aufnimmt und fortsetzt.« Der Erfinder schüttelte den Kopf. »In meinem Fall müßte einer, bis er imstande wäre, einen Lenkballon zu bauen und zu führen, in jahrelanger Mühe sich selbst vorbereitet und bei seinen Helfern das Verständnis für ihre besonderen Aufgaben geweckt haben. Umständliche Prüfungen der Werkstoffe müßten vorangegangen, Arbeitsmaschinen, Handwerkszeug, Gasbehälter beschafft sein. Zur Zeit bin ich der einzige, der an Erfahrung und Übung, an Zeichnungen, Stoffen, Werftanlagen und ausgebildeten Mitarbeitern bereits alles besitzt, was zum Bau eines tauglichen Flugschiffes notwendig ist.« Er sah den Bruder verzweifelt an. »Wer wagt zu hoffen, daß in absehbarer Zukunft die Gunst des Schicksals und die Förderung durch seine Mitmenschen einem andern so weit helfen werden, wie mir schon geholfen wurde. Findet sich dieser andere aber nicht, so fällt mit mir die Aussicht dahin, jene Luftschiffe zu erhalten, die nach klar vorgezeichneter Entwicklung eine Bedeutung haben würden, die in ihrem ganzen Umfang gar nicht hoch genug geschätzt werden kann.« Mit jäher Heftigkeit stand er auf. Seine Stimmung schlug um. Die unverlöschliche Flamme in ihm lohte wieder hell aus seinen Augen. »Wenn ich mich getäuscht hätte, wenn mir meine Arbeit mißlungen wäre, so wollte ich mich stumm bescheiden. Aber es ist mir unerträglich, auf dem richtigen Wege untätig liegenzubleiben. Ich darf nicht und ich will nicht verzichten; ich weiß aus Erfahrung und sicherer Berechnung, daß ich Luftfahrzeuge bauen kann, deren Leistungen sie zu einem außerordentlich nützlichen Dienst für Deutschland befähigen werden.« »Du solltest das alles aufschreiben, Ferdinand, und dich mit einer solchen rückhaltlosen Darlegung an die gesamte deutsche Öffentlichkeit wenden.«
»Ich kann mich nicht noch einmal dazu erniedrigen, mit dem Bettelhut in der Hand herumzugehen. Du weißt nicht, wie tief ich mich schon gedemütigt habe.« »Du müßtest nicht von dir selbst, sondern nur von der Gefahr für die große Sache sprechen, so wie du es jetzt mir gegenüber getan hast. Verfasse einen letzten Notruf zur Rettung der Luftschiffahrt! Es ist undenkbar, daß er nicht doch noch gehört wird.« Der Erfinder blieb vor seinem Bruder stehen. »Nach allem, was mir bisher geschah, ist es leider sehr wahrscheinlich. Aber du hast recht, solange dem Ertrinkenden das Wasser nicht schon über dem Mund steht, kann er wenigstens noch um Hilfe schreien, und wenn Gott es will, wird er gehört. Ic h werde also deinen Rat befolgen, werde mich an die Zeitungen und Zeitschriften wenden und will ihnen meine Erklärung sofort aufsetzen.« Mit eiligen Schritten ging er nach dem Gutshaus. Graf Eberhard sah ihm nach; er war erregt und traurig und lächelte nun doch. So kannte er den Älteren seit jeher. Es gab für Ferdinand keinen Aufenthalt, sobald er etwas zu tun vor sich sah. Unter dem großen alten Nußbaum, auf dem er in seiner Knabenzeit mit dem Bruder und später mit seinen Söhnen den Falkenhorst gebaut hatte, saßen die Frauen. Seine Schwester Eugenie blickte herüber; sie trennte sich von den Schwägerinnen und Hella und kam zu ihm. »Wo ist Ferdinand?« »Er schreibt einen Aufruf an alle, um sein Werk vor dem Untergang zu retten.« Eugenie setzte sich neben ihn. »Ach, Eppo, wenn er doch von diesen Plänen abließe!« Als sein erstaunter Blick sie traf, fuhr sie schnell fort: »Ich will ihm gern glauben, daß er ein lenkbares Luftschiff bauen könnte. Wir wissen aber, die Mittel dazu sind unerschwinglich. Ich mache mir Sorgen um Isa. Sie spricht
sich nicht aus, doch sie ist krank von tausend ängstigenden Gedanken. Gestern klagte sie über Schmerzen.« »Frage sie, ob sie einverstanden wäre, wenn auch wir versuchen wollten, Ferdinand von seinen Unternehmungen abzudrängen? Es gibt für beide nur eine Hilfe, der Lenkballon muß vollendet werden. So grausam kann das Geschick nicht sein, daß es unsern tapferen Bruder jetzt noch endgültig um den Erfolg brächte.« »Ihr seid immer die gleichen Hoffer gewesen.« Bekümmert sah sie vor sich hin. »Oft scheint mir, von uns dreien wäre ich allein grau geworden.« Eberhard nahm ihre Hände in die seinen. »Laß dich nicht auslachen, altes Mädchen. Sieh meine weißen Haare an! Und Ferdinand wäre froh, wenn er einen so reichen Schmuck noch hätte. Das bedeutet bei uns gar nichts. Wir werden vor unserer letzten Stunde nicht alt. Und unser lieber Erstgeborener ist der Jüngste von uns allen, die Kinder eingerechnet.« Die Schwester der Grafen Zeppelin erhob sich. Lachend und ärgerlich zugleich rief sie: »Männer werden niemals wirklich Erwachsene.« In würdiger Haltung, mit kurzen Schritten, rundlich und trotz ihren Jahren kerngesund, ging sie langsam zu den anderen Frauen zurück. Der Bruder blickte ihr erheitert nach. Da rauscht sie hin! Als aber die Geschwister einige Tage später wieder auseinandergingen, schloß Eugenie von GemmingenGuttenberg mit einer ausbrechenden heftigen Gefühlswallung den Luftfahrer in die Arme; sie hatte Tränen in den Augen. »Mein guter, lieber Knöpfleschwab''. sagte sie ihm ins Ohr, »tue, was nötig ist.« Der Graf, indem er sie noch fest an seiner Brust hielt, streckte seiner Frau die freie Hand hin und nickte seiner Tochter zu. »Um dieser beiden willen wird mir am Ende alles gelingen.«
Hella von Zeppelin stand schlank und jugendfrisch im sommerlichen Sonnenlicht. »Luftschiff marsch!« Eberhard neigte sich zum Kuß über die Hand seiner Schwägerin. »Ihr seid die bewundernswertesten Menschen, die ich kenne.« Dem Herrn auf Girsberg war keine Verzagtheit mehr anzumerken. »Eppo«, rief er und zog Frau und Tochter rechts und links neben sich, »wir sind ein glückliches Kleeblatt'« »Gott helfe uns allen!« sagle Eugenie. Sie kletterte, von ihrer Nichte unterstützt, in den Wagen. Auch Hella und ihre Mutter stiegen ein. Sie fuhren nach Konstanz, um von dort gemeinsam mit der Bahn nach Stuttgart zurückzukehren. Die Ebersberger begleiteten den Erfinder nach Friedrichshafen und trennten sich erst am nächsten Abend von ihm. Dann blieb er mehrere Tage allein mit seiner Aufgabe und Arbeit. Im Herbst erschien der Aufruf. »Eilet alle, die ihr eine Flugschiffahrt haben wollt, dem die Mittel zu bieten, der allein sie noch schaffen kann. Sie wird die unerforschten Gebiete erschließen, die Pole gefahrlos erreichen, die entlegensten Siedlungen mit der Kulturwelt verbinden und das sicherste, schnellste und zugleich behaglichste Reisemittel sein. Aber eilet, sonst werdet ihr das schon in die Tiefe versinkende Kleinod nicht mehr erfassen können!« Dieser Notruf wirkte. Der König von Württemberg genehmigte eine Ziehung zugunsten des Zeppelinschen Luftschiffbaues. Der Vertrieb der Lose wurde auch in Baden und Bayern, in Braunschweig und Sachsen, Bremen, Lübeck und Elsaß-Lothringen zugelassen. Der Reichskanzler ließ einen größeren Betrag anweisen. Das preußische Kriegsministerium stellte die zur Füllung des Ballons nötigen Gasflaschen zur Verfügung. Einige große Werke lieferten Aluminium, Hüllenstoff und Motoren vorläufig unberechnet. Doch erst, als der Graf auch von sich aus mit größter Mühe noch einmal hunderttausend Mark aufgebracht hatte,
konnte im nächsten Jahr mit dem Bau eines neuen Schiffes begonnen werden. Als jüngster Ingenieur kam der Meersburger Hans Bartels nach Manzell. Er hatte nach bestandener Prüfung den Glauben an das große Werk wieder mit leidenschaftlicher Begeisterung gegen die nüchterne Bedächtigkeit seines Freundes verteidigt. Seit ihrer Radfahrt von Stuttgart an den Bodensee zum ersten Flugversuch des Grafen war Moellenhoff von der Möglichkeit eines lenkbaren Luftschiffs nicht zu überzeugen gewesen. »Du bist nicht gescheit«, schrieb er jetzt von Hause. »Du stellst Dich auf einen verlorenen Posten. Mein Vater würde sich freuen, Dich in unseren Mülheimer Betrieben unterzubringen. Ich weiß, daß Du viel tüchtiger bist als ich. Wenn Du an meiner Seite bleiben wolltest, wäre ich Dir sehr dankbar. Denke nur einmal klar an Deine Zukunft; bei uns wäre sie gesichert, bei Deinem verrückten Grafen wirst Du Deine beste Zeit verlieren und schließlich froh sein, das Geld zur Abreise übrig zu haben. Also werde vernünftig, Du schwäbischer Hansel, und komme doch noch zu uns als erster Mitarbeiter und getreuer Freund des zukünftigen Herrn der Möllenhoffschen Werke.« Der Meersburger Hans las diesen Brief auf dem Weg von Friedrichshafen nach Manzell nachdenklich zum zweitenmal. Er wanderte vorüber am Sommersitz des württembergischen Königspaares, dem einstigen Kloster Höfen, und am See entlang. Dann nahm ihn der frisch begrünte Wald auf. Und während er mit langen Beinen dahinschritt, dachte er an seinen Vater, dessen Arbeit und Hinterlassenschaft ihm die Ausbildung ermöglicht hatten. Ein Schlossermeister galt nicht viel in der menschlichen Gesellschaft dieser Zeit, aber der alte Bartels stand seinem Sohn immer als ein wahrhaft reicher und mächtiger Mann vor Augen und im Sinn. Seine Werkstatt war klein und niedrig gewesen, doch erschien sie Hans als eine Halle der Wunder
und Offenbarungen. Daran hatte alle Schulweisheit nichts ändern können. Der Alte in der ledernen Schürze, mit langem Bart und buschigen Brauen im rauchgeschwärzten Gesicht, mit mächtigen Armen und gewaltigen Fäusten war ein Gebietender und Weiser gewesen, ein Meister der Metalle. Niemand hatte je das harte, nur seinem rechten Herrn gehorsame Eisen besser als er verstanden und gehandhabt. »I han dich manches lerne lasse, was i net verschteh«, antwortete er jetzt in der Stille des Waldes den Gedanken seines Sohnes. »Aber merk dir, du sollscht immer b'scheide bleibe, 's hilft keinem, wenn der Geldsack groß, aber der Mensch klein ischt. Laß du d' Narre sich ums elende Geld raufe und um allerlei G'lump, das über sie G'walt bekommt. Ein gutes Herz und ein g'sunder Mage sind viel mehr wert. Des ischt einiwäg g'wiß.« So sprach der Schmied Bartels, ein Verächter des Geldes und der Maschine, aber ein wahrer Meister der Metalle. — Der Meersburger Hans schob den Brief Robert Moellenhoffs in die Tasche. Rascher schritt er vorwärts, und kurz vor dem Dorfe Manzell wurde zwischen den Bäumen die Seefläche mit der schwimmenden Halle wieder sichtbar. Ich bin jung, dachte er. Ich will mehr als bezahlte Arbeit tun. Ich will dabei sein, wenn die größte Tat unserer Zeit geschieht! Niemand sah ihn, doch überflog ein leichtes Rot sein ehrliches Schwabengesicht. Er gestand sich ein daß die ersehnte Nähe Annette Eßlingers in Girsberg nicht ohne Einfluß auf seinen Entschluß gewesen war. Er hatte sie noch nicht wiedergesehen, aber auch nicht vergessen. Der brave Junge suchte beide, die Arbeit und die Liebe. In den Werkstätten am Ufer empfing Ludwig Dürr den jüngsten Ingenieur des Luftschiffbaues, machte ihn mit den anderen Herren bekannt und führte ihn in seine neue Tätigkeit ein. Auch der Graf selbst nahm ihn freundlich in den
Kreis seiner Mitarbeiter auf. Lächelnd klopfte er ihm auf die Schulter. »Wenn die Jugend zu mir kommt, habe ich gesiegt.« Der Sieg lag noch in weiter Ferne. Der Bau des neuen Schiffes hatte schon begonnen. Die Arbeiten wurden mit der größten Sorgfalt ausgeführt und dauerten länger, als die begeisterte Ungeduld des Meersburger Hans erwartet hatte. Sobald er es ermöglichen konnte, besuchte er die Verwandten in Girsberg. Der alte Verwalter öffnete ihm sein Haus. Annette erkannte ihn sofort wieder. Die beiden jungen Leute wurden bald miteinander vertraut, und Hans kam, so oft er es ermöglichen konnte. Eines Abends, als er erst spät aufbrach, führte Annette ihn die Treppe hinab. Im Hausflur wandte sie sich plötzlich zu ihm um, drängte sich an den Erschreckten, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küßte ihn auf den Mund. Dann eilte sie zurück, und der lange Hans stolperte völlig verwirrt aus der Tür. Als er das nächstemal kam, gingen die beiden nachmittags über Land. Sie hielten sich an den Händen, bevor sie der zärtlichen Berührung sich bewußt wurden. Das Mädchen sagte leise: »Ich habe immer auf dich gewartet.« Hans faßte ihre Hand fester. Im gleichen Schritt und Herzschlag wanderten sie zwischen den Feldern hin, zwei Menschen, die einander ohne viele Worte gewiß waren und das, was sie im Innersten bewegte, für reifere Stunden in sich verschlossen hielten. Hoch im himmlischen Blau standen die Lerchen. Am Wegrand fiedelten die Insekten. Die hellen Fernen lagen wie ein weiter, bunter, bilderreich belebter Teppich ausgebreitet. Abends geleitete Annette den Gast wieder aus dem Hause. Sie ging mit ihm bis zu den hohen Bäumen am Gutseingang und winkte ihm nach. Eßlinger war an ein Fenster getreten und sah seine Tochter schmal, und hell im goldroten Licht der sinkenden
Sonne stehen. Mit beiden Armen umschlang sie eine der mächtigen dunklen Pappeln. Der Alte wiegte den kantigen Kopf und trat lächelnd an seinen urväterischen Schreibtisch zurück. Er nahm das Bild seiner verstorbenen Frau und streichelte behutsam über das kühle Glas. — *** Im Herbst des nächsten Jahres waren die Arbeiten in Manzell beendet. Das unerbittliche Schicksal versagte dem Grafen auch diesmal den Erfolg. Der erste Flugversuch des neuen Schiffes scheiterte an einem boshaften Zufall. Ein Haltetau blieb in einem Ring hängen. Der Ballon wurde auf den Wasserspiegel herabgerissen und triebweitab. Der zweite Aufstieg gelang, aber nun versagte die Steuerung. Ein Motor mußte abgestellt werden. Das riesige Fahrzeug wurde vom Wind über Land geführt und mußte bei Kißlegg in der Nähe von Sommersried notlanden. Hilfskräfte zu seiner Bergung fehlten. Ein plötzlich aufkommender Sturm beschädigte es so schwer, daß Zeppelin den Befehl zum Abwracken geben mußte. Vierundzwanzig Stunden, nachdem der Ballon sich über dem Bodensee erhoben hatte, zerbrach das letzte Rippenpaar des riesigen Aluminiumgerüstes unter den hallenden Hammerschlägen. Wieder war alle Mühe vergeblich gewesen. Wieder erhoben sich die Stimmen der Gegner. Keiner hatte jetzt noch den Mut, für Zeppelin einzutreten. Das Ausland aber beurteilte die neuen Versuche günstiger und machte dem Erfinder die verlockendsten Anerbieten. Wenn er jetzt die Hände ergriff, die sich über die Grenzen ihm entgegenstreckten, so konnte er aller Sorgen ledig sein, hatte die Anerkennung gefunden, die ihm im eigenen Lande versagt wurde, und erhielt ausreichende Mittel zur Fortsetzung seiner Arbeit. Er hätte von der Notwendigkeit, von den Aussichten seiner Erfindung weniger überzeugt sein müssen, wenn er
durch die erhaltenen Angebote nicht in einen Kampf mit sich selbst gerissen worden wäre. Es gab wohl nichts Böses, das ihm erspart bleiben sollte. Aber in kurzem war die auflohende Empörung über die Verkennung und Verketzerung im Vaterlande unterdrückt. Die Heimat galt vor allem. Wenn Deutschland sein Werk nicht wollte, so sollten es auch die anderen nicht bekommen. Eher würde er sich, verhöhnt und verlacht, als ein armer Narr ins Grab legen. Bruder Eberhard war vor einigen Wochen schwer erkrankt und lag, von den Ärzten aufgegeben, in Konstanz im Krankenhaus. Vielleicht war auch dem Leben des älteren schon bald ein Ziel gesetzt. Oh, es tat wohl, an das Ende zu denken, an die unendliche Ruhe nach so vielen Mühen und Enttäuschungen! Frau und Tochter, seine beiden geliebten Treuesten, standen ihm wie immer tapfer zur Seite und bewahrten den Anschein ungebrochener Zuversicht. Er wußte dennoch, wie sehr auch sie litten. Und nicht zuletzt um ihretwillen ließ er den Bau eines dritten Flugschiffes beginnen, ohne noch die Mittel zu seiner Vollendung zu besitzen. Da griff der König von Württemberg noch einmal ein und genehmigte eine zweite Ziehung. Der neue Ballon konnte also fertiggestellt werden. Er stieg auf, und der erste, zweistündige Flug gelang. Glücklich führte der Graf sein Schiff zurück. Bei der Landung erhielt er die Nachricht, daß täglich mit dem Ableben seines Bruders gerechnet werden müßte. Seine Freude über die gelungene Unternehmung war ausgelöscht. Die Absicht, noch in der Nacht an das Krankenbett Eberhards zu eilen, gab er auf und ordnete für den nächsten Tag einen zweiten Aufstieg an. Wieder glückte die Fahrt. Der Erfinder steuerte seinen Ballon nach Konstanz und kreuzte unter strahlendem Himmel über dem Krankenhaus. Eppo, dachte er, mein guter alter Eppo, siehst du mich? Auch du hast an mich geglaubt und sollst nicht an mir irre werden. Sieh her, mein Schiff fliegt
und gehorcht seinem Steuermann! Unten streckte sich Eberhard von Zeppelin auf dem Sterbelager. Er hatte das Brausen der Propeller gehört und sein Bett an das geöffnete Fenster rücken lassen. Nun lag er still und hielt die Hand seiner Frau. Wieder kam das stolze, silberglänzende Luftschiff vorüber. Die Blicke des Sterbenden leuchteten auf. »Sonnia«, flüsterte er mit brechender Stimme, »du mußt ihm sagen, daß ich ihn gesehen habe. Er ist meinetwegen gekommen. Ich habe immer gewußt, unser lieber Knöpfleschwab würde recht behalten.« Jäh richtete er sich auf und hob die Arme. Das Schiff kehrte in weitem Bogen noch einmal um. »Wir fliegen, Bruder! Wir fliegen!« Langsam sank der Sterbende zurück, und seine Augen erloschen. Neben ihm brach Sonnia weinend in die Knie. Draußen wendete sich mit singenden Schrauben das riesige Luftschiff, gehorsam dem Steuer, zur Rückfahrt nach Manzell. Der Tod Eberhards traf den Grafen schwer. Ein Stück seines eigenen Lebens war von ihm gegangen. Aber gerade in diesen Tagen trat eine Wende seiner wirtschaftlichen Lage ein. Die beiden erfolgreichen Fahrten mußten seine Widersacher nachdenklich stimmen. Auch Preußen genehmigte jetzt eine Ziehung zugunsten seines Werkes. Der wissenschaftliche Berater des Erfinders, der Straßburger Professor Hergesell, regte die Abfassung einer Denkschrift an, die in eine eindringliche Bitte um Unterstützung des großen Unternehmens ausklang und mit vielen gewichtigen Unterschriften dem Kaiser überreicht wurde. Von den Reichsämtern wurde die Einstellung einer großen Summe zur Förderung der Zeppelinschen Versuche in den Staatshaushalt gefordert. Der Reichstag nahm die Vorlage an.
Dagegen verpflichtete sich der Graf, zunächst eine neue schwimmende Halle auf dem Bodensee zu bauen, die in den Besitz des Staates übergehen sollte, Weitere Hilfeleistungen des Reichs wurden abhängig geniacht von der Ausführung einer ununterbrochenen vierundzwanzigstündigen Fahrt, womit eine Strecke von siebenhundert Kilometern zu einem vorbestimmten Ziel zurückgelegt und der Heimathafen wieder erreicht werden müßte. Das umgebaute Schiff unternahm ohne Zwischenfall eine achtstündige Fahrt. Dann, im Juni 1908, war der vierte Ballon fertiggestellt, und der 1. Juli wurde zum denkwürdigsten Tag im Leben des nun Siebzigjährigen. Seine Tochter Hella fuhr mit ihm und Hergesell in der hellen, sommerlichen Frühe auf dem Motorboot von Friedrichshafen nach Manzell. Um sieben Uhr morgens betrat der Graf die Luftschiffhalle. Die Vorbereitungen des Aufstiegs hatten unter Dürrs Leitung schon begonnen. »Ist alles in Ordnung?« »Nein, Exzellenz.« Der Ingenieur konnte seinen Ärger nicht verbergen. »Die errechnete Aufstiegskraft stimmt bei der Abwägung nicht. Aber meine Zahlen sind richtig.« »Wo liegt der Fehler?« »Ich werde es bald wissen.« Dürr gab den Befehl, das Fahrzeug abzusuchen. Und aus einem Versteck in der zweiten Gondel wurde ein Mann hervorgezogen. Er gehörte zur Belegschaft der Werkstätten und hatte der erste blinde Passagier der Luftschifffahrt werden wollen. Der alte Graf schmunzelte. Er verstand diese Handlungsweise trotz ihrer gefährlichen Leichtsinnigkeit. Auch der Geheimrat lächelte. Dürr aber jagte den Ertappten grimmig aus der Halle. Dann nahmen Besatzung und Fahrgäste ihre Plätze in den Gondeln ein, in der vorderen der Erfinder selbst, Hergesell, Dürr, zwei Steuerleute und dre i Maschinisten, in der zweiten ebenfalls drei Maschinisten, in der Kabine zwischen den Gondeln der Schriftsteller Emil Sandt als
Berichterstatter. Es dauerte nur wenige Minuten, bis das Schiff aus der Halle herausgebracht war und aufstieg. Hella von Zeppelin winkte ihrem Vater zum Abschied. »Glück ab!« Der Graf schwenkte seine weiße Schirmmütze. Durch den Riesenleib des Fahrzeugs lief ein leises Zittern; die Motore waren angelassen worden. Aus den dreiflügligen Luftschrauben wurden flimmernde Scheiben, die in tiefen Orgelklängen tönten. Das Schiff schwenkte backbord in voller Fahrt gegen Konstanz, das nach kaum zwanzig Minuten unter dem Jubel seiner Einwohner überflogen wurde. Nun lag drunten der Untersee. Zur Rechten dehnte sich die Reichenau mit Dörfern und Klöstern, voraus schimmerten mit ihren Schlössern und Weilern die besonnten grünen Uferberge des Rheins, dessen Lauf im See deutlich durch Schaumstreifen zu erkennen war, und fern erhob sich der steile Felsklotz des Hohentwiel. Aber schon änderte sich das prächtige Bild. Stein am Rhein blieb zurück. Der Schlattenberg wurde im Süden umfahren. In den engen Gassen und auf den Giebeldächern Schaffhausens warteten die begeisterten Menschen. Tücher und Fahnen wurden geschwungen. Das Hurrarufen klang herauf. Dann überflog das Schiff den tosenden Rheinfall, der mit dumpfem Donnern seinen Gruß heraufsandte. Über der Thurmündung drehte der Luftriese nach Südostcn ab, dann wieder nach Steuerbord gegen Baden im Limmattal. Am Mittag leuchteten die blauen Flächen des Zuger und des Vierwaldstätter Sees auf. Pilatus und Rigi ragten empor und dahinter die schneebedeckten Gipfel des Berner Oberlandes. Die Luzerner eilten jubelnd durch die Straßen. Auf der Promenade vor dem Schweizerhof standen sie in dichtestem Gedränge. Mitten über den See der vier Waldstätten führte die sichere Fahrt, und unten zogen langsam die weißen Dampfer ihre langgestreckten Spuren. Die Decks waren mit winkenden und schreienden Menschen
bedeckt. Die Dampfpfeifen schrillten, und die Schiffsglocken hallten. Das Luftschiff drehte sich Küßnacht zu. Der Graf befahl, über den Gebirgssattel zu steuern, der den Zuger vom Züricher See trennt. Wie sich Wasser, das aus breitem Fluß in ein verengtes Bett gezwängt wird, mit gesteigerter Kraft vorwärtsstürzt, so rauschte hier, durch die umgebenden Berge herangeleitet, ein mächtiger Luftstrom durch den Engpaß. Es wäre leicht gewesen, diese Windschleuse zu übersteigen, aber Zeppelin drückte sein Schiff immer wieder in die Strömung hinein, und es gehorchte seinem Willen. Was die Menschen seit Jahrtausenden sehnsüchtig erträumt hatten, war zur Wirklichkeit geworden. Der Gast in der Kabine schrieb an seinem Fahrtbericht. Er nahm hastig ein neues Blatt: »Das ist die Macht. Das ist der hellste Glanz menschlichen Herrschertums auf Erden. Das ist der Eingang in ein neues Zeitalter. Der Mensch hat als natürliche Waffe nur das Hirn, das aber für seine Auswirkungen keine Grenzen kennt. Diese Erkenntnis ist es, die wir im Unterton des tosenden Jubels, der überall zu uns heraufgeschickt wird, mitklingen hören. Es ist nicht das Schauspiel an sich, das solche Begeisterung weckt, es ist der Sieg, der ungeheuere Triumph des Glaubens und der Willenskraft, den jetzt jeder begreift.« In Zürich stockte bei der Ankunft des fliegenden Riesen jeder Verkehr. Die Luftfahrer erwiderten den hellstimmigen Gruß der Stadt durch Tücherschwenken und Abwerfen von Postkarten. Der Graf lenkte sein Schiff nordwärts und fuhr über die Waldgebirge des Thurgaues nach Winterthur. Gegen fünf Uhr nachmittags war er über Frauenfeld, eine halbe Stunde später wurde der Bodensee wieder sichtbar. Aber der Ballon ging noch nicht nieder. Rorschach, Bregenz und Lindau wurden besucht.
Dann erst kehrte das Luftschiff mitten durch den rotgoldenen, flimmernden Glanz des feierlichen Sonnenuntergangs hindurch nach Manzell zurück. Die Lichter der Uferstädte strahlten auf. In stillem Abendfrieden breitete sich mit verschwimmenden Farben die schöne Landschaft aus. Die Schrauben über den Gondeln sangen, und schnell und sicher fuhr das stolze Schiff der schwimmenden Halle, dem Heimathafen zu. Am Bug stand in ruhiger Bescheidenheit der Mann, der es gegen allen Spott und Widerstand geschaffen hatte. Nur Geheimrat Hergesell, neben ihm, sah das verklärte Gesicht und den feuchten Schimmer der Augen, als der Graf nun auf seine Heimat, auf seine Arbeitsstätte hinabblickte. Fast dreizehn Stunden seit dem Aufstieg waren vergangen, als die Gondeln die Wasserfläche wieder berührten. Die gesamte Belegschaft der Manzeller Werkstätten war am Ufer versammelt und begrüßte das glückhafte Schiff und seinen Erbauer mit begeisterten Rufen. Hella von Zeppelin hatte sich den Tag über bei ihrer Mutter in Friedrichshafen und seit den ersten Abendstunden wieder in Manzell aufgehalten. Von der Werftleitung war sie über den Verlauf der Fahrt dauernd unterrichtet worden. Hans Bartels brachte sie jetzt im Boot zurück nach der Halle auf dem See. In kurzer Zeit war der Ballon wieder unter Dach gebracht. Der Graf stieg aus der Gondel, nahm die weiße Mütze ab und schloß seine Tochter in die Arme. »Hella, das war der schönste Tag meiner siebzig Jahre.« Sie küßte seinen weißen starren Schnauzbart. »Es war herrlich, euch im Abendrot herankommen zu sehen. Hättest du mich doch mitfliegen lassen! Mutter hat sich heute zum erstenmal über ihre schwache Gesundheit beklagt, weil sie dich nicht hier begrüßen kann.«
»Sie ist mein erster und treuester Helfer gewesen. Ihr bin ich meinen größten Dank schuldig. In einer Stunde fahren wir zu ihr. Ich habe euch viel zu erzählen. Zuvor muß ic h meinen braven Mitarbeitern die Hände schütteln.« Er wandte sich zu den Ingenieuren, die mit strahlenden Gesichtern herantraten und ihn zum Gelingen der großen Fahrt beglückwünschten. Sie umdrängten Dürr mit hundert Fragen, als der Graf sich zu den Werkstätten am Seeufer übersetzen ließ, um seine Arbeiter zu begrüßen, die ihn selbstbewußt und stolz auf das gemeinsame Werk erwarteten. Auch sie waren sich der Bedeutung dieses Tages bewußt, empfanden den Sieg der Klugheit. des Mutes und Fleißes über die Naturkräfte. Der alte Herr fand für jeden ein freundliches Wort, und keiner war unter ihnen, der ihm nicht im schneller pochenden Herzen unverbrüchliche Treue gelobte. Die Nacht brach schon an, als der Siebzigjährige mit seiner Tochter nach Friedrichshafen fuhr. Die Gräfin hatte ihn dort im Deutschen Haus erwartet. Stumm hielten sich die beiden umschlungen und konnten es nicht hindern, daß ihnen die Tränen über die Gesichter liefen. Hella ließ die Eltern miteinander allein. Sie saßen noch lange Hand in Hand, Schulter an Schulter gelehnt, am weit geöffneten Fenster, sahen zu den Sternen hinauf und gedachten des gemeinsamen schweren Kampfes gegen Unverstand und Feindschaft der Menschen, gegen die blindwütigen Schläge des Schicksals. Nun hatten sie gesiegt, allen zu Trotz und doch allen zu Liebe. — Der Name Zeppelin hallte als Jubelruf durch ganz Deutschland. Die Ehrungen, die in den nächsten Wochen dem Grafen dargebracht wurden, bewiesen die allgemeine begeisterte Anerkennung seines AVerkes. Das württembergische Königspaar unternahm in vollem Vertrauen auf die Sicherheit des Flugschiffes eine Rundfahrt über dem Bodensee. Die Konstanzer Schuljugend brachte dem Erfinder
zu seinem siebzigsten Geburtstag einen Fackelzug. Bei Girsberg ließen die Schweizer ein prächtiges Feuerwerk abbrennen. Die deutschen Ingenieure sandten eine Abordnung. Und aus Tübingen kamen mehr als siebenhundert Studenten und Professoren nach Friedrichshafen. In vollem Wichs, mit flatternden Fahnen zogen sie zum Deutschen Haus, um den Eroberer der Luft zu feiern. Das Korps Suevia in seinen roten Pekeschen schritt voraus, ihm folgten die Franken in frischem Grün, die Ulmer in leuchtendem Gelb. alle Farben der Tübinger Hochschule. Während die Verbindungen vor dem Deutschen Haus in dichten Reihen sich aufstellten, überreichte drinnen Professor Wislicenus, der Dekan des naturwissenschaftlichen Fachs, in Begleitung seiner Amtsbrüder von Brill, Paschen und von Vöchtling dem Grafen die Ernennung zum Ehrendoktor. Der gelehrte Herr Dekan entrollte umständlich und feierlich die Urkunde, räusperte sich und sprach also: »Dem Manne, der, mit Kraft des Geistes und wahrer Wissenschaft erfüllt, unbekümmert um Ruhm und Ehre bei den Leuten, seine mühevollen Forschungen und Versuche mit ausdauernder, tapferer Seele und unter großen Erschwerungen fortführte, bis er nach fünfunddreißig arbeitsreichen Jahren seine Erfindung des leicht dem Steuer gehorchenden Flugschiffs und somit ein Werk vollbrachte, vollkommener, als bisher irgendwo bekannt war, so daß er den Menschen auch das Meer der Luft zur Fahrt und Beherrschung erschloß, diesen um das ganze Menschengeschlecht wie um das Vaterland hochverdienten Mann ernennt die Fakultät an seinem siebzigsten Geburtstag ehrenhalber zum Doktor der Naturwissenschaften mit herzlichen Wünschen für ein rüstiges Alter.« Professor Paschen war an ein Fenster getreten und gab ein Zeichen. Die Hochrufe der Studenten brausten auf. Sie wurden zu einem Jubelsturm, als der Graf auf den Balkon
hinaustrat, um für die Huldigung zu danken und zur Besichtigung seines Schiffes und der Werft einzuladen. Am Abend kam auch der König von Württemberg nach Friedrichshafen, um selbst in Mütze und Band eine Festkneipe zu leiten. Der alte Graf saß tief bewegt neben seinem Landesherrn und Freunde. Auch seine Ingenieure nahmen an der Feier teil. Professor Garbe, der Rektor der Tübinger Universität, erhob sich. Dreimal krachte der blanke Schläger auf den Tisch. Dann schallte die starke, wohlklingende Stimme des Redners über die festlich bunte, frohe Versammlung. Der gefeierte, erfolgreiche Erfinder habe gesehen, wie sie alle, Lehrer und Studenten, die heute zusammengekommen, um ihn zu ehren, von derselben glühenden Begeisterung erfüllt seien. Sie seien stolz und glücklich darüber, ihre ehrerbietigen Glückwünsche ihm darbringen zu können. Für jeden von ihnen bedeute os ein unvergeßliches Erlebnis, heute Auge in Auge ilem Manne gegenüberzustehen, der ihnen mit einer herrlichen Tat das Tor einer neuen Zeit geöffnet habe. In den Zeitungen stehe, der Graf sei siebzig Jahre alt geworden. Diese Nachricht sei aber falsch. »Sie sind nicht siebzig Jahre alt geworden, sondern siebzig Jahre jung geblieben. Das wissen wir nun, und deshalb dürfen wir uns der Hoffnung hingeben und den Wunsch aussprechen, daß es Ihnen noch lange beschieden sein möge, sich des Segens zu erfreuen, der aus der großartigen Erfindung, die wir heute bewundert haben, für das deutsche Vaterland hervorsprießen wird.« Bevor der alte Herr antworten konnte, blitzte wieder die Waffe, um mit kräftigen Schlägen Schweigen zu gebieten. Der Sprecher der Studentenschaft stand auf und erinnerte an den Erkundungsritt Zeppelins im letzten Kriege, des Grafen ersten Schwabenstreich, dem jetzt der kühne Ritt durch die Luft gefolgt war. Danach aber ließ er, dem diese fröhlichen Feierstunden galten, keinen mehr zu Wort kommen. Er sprang auf und stand da mit seinem ehrlichen freundlichen Gesicht, die
klaren Augen unter der vorspringenden Stirn offenbarten seine leidenschaftliche Kraft und Entschlossenheit. Er war noch kein Greis, er stand kerzengerade, spannkräflig und frisch. Seine Stimme klang hell. Für die Auszeichnung, die Tübingen seinem jüngsten Doktor erweise, spreche er aus bewegtem Herzen seinen innigen Dank aus. Seine Freude habe sich frei gerungen von dem bedrückenden Gedanken, daß alle diese Ehrungen nur aus einer weitgehenden Überschätzung seiner Leistungen kämen. Wenn man die Gewißheit habe, daß man zum Ziel gelangen werde, dann sei es kein großes Verdienst mehr, auch den Weg zu finden. So habe er nun das Bewußtsein, daß die Begeisterung, die ihm aus allen deutschen Gauen entgegengebracht werde, dem Werke gelte, das berufen gewesen sei, etwas zu erreichen, wonach die ganze Welt sich lange gesehnt habe. Er könne sich diesem beglückenden Gefühl mit Dank hingeben, denn es gebe ihm die Zuversicht, daß sein Flugschiff allezeit ausgenutzt werde zum Vorteil des Vaterlandes. Er reckte sich höher. »Die Wissenschaft wird sich seiner annehmen. Die Technik wird die nötige Vervollkommnung herbeiführen. Die Naturwissenschaft wird die Gesetze klarlegen, welche die möglichen Leistungen bedingen. Die Erd- und Völkerkunde wird das Mittel, das ihr ganz besonders zustatten kommt, ausnutzen. Die Volkswirtschaftler werden zeigen, wie die Besitzenden in Deutschland ungesäumt zuzugreifen haben, um den Vorteil auszunutzen, der darin liegt, daß wir das erste wirklich brauchbare Luftfahrzeug besitzen. Die Rechtswissenschaft wird Vorschriften und Verträge aufsetzen, damit die Flugschiffahrt sich zu neuen Verbindungen und zum friedlichen Verkehr der Völker verwenden läßt. So habe ich die herrliche Aussicht, daß das Unternehmen, das ich begonnen habe, sich weiter entwickeln wird zum Segen unseres Volkes.« Mit einem Hoch auf die Universität Tübingen schloß er. Es war spät geworden. Der König verabschiedete sich.
Der Sonderzug der Tübinger stand fahrtbereit. Aber zunächst geleiteten sie den Grafen zu seiner Wohnung zurück. Als er in den Wagen stieg, wurden ihm die Pferde ausgespannt, und singend zogen die Studenten ihn zum Deutschen Haus. Am andern Morgen aber betrat der alte Herr zur gewohnten Stunde die Werkstätten in Manzell. Seine Arbeit mußte weitergeführt werden. Die Erfahrungen, die er auf der großen Schweizerfahrt gemacht hatte, wurden verwertet. Und schon nach zwei Wochen war das Flugschiff zur Vierundzwanzigstundenfahrt bereit. — Drahtnachricht aus Friedrichshafen, am 4. August 1908, 7 Uhr. Das Luftschiff des Grafen Zeppelin ist zu einer großen Fahrt aufgestiegen. Schon vor Tagesanbruch erwachte die Ballonhalle von Manzell. Die Bewohner der umliegenden Ortschaften eilten seit vier Uhr morgens herbei, und auf dem Bodensee kamen die Boote in dichten Schwärmen. Der Ballon flog ohne Hilfe eines Dampfschiffs ruhig aus der schwimmenden Halle und erhob sich um 6 Uhr 10 Minuten leicht in die Luft. In den Gondeln befinden sich zwölf Mitfahrende. Das Schiff steuerte zunächst über dem Ufer nach Immenstad und kreuzte dann über den See in Richtung nach Konstanz. Das Wetter ist klar. Konstanz, 7 Uhr 50 Minuten. Als heute früh um 7 Uhr der bekannte Ruf ertönte: Zeppelin kommt! hatte man die beste Gelegenheit, seine hinreißende Wirkung zu beobachten. Im Augenblick füllten sich unsere ruhigen Straßen mit Menschen. Um 7 Uhr 10 Minuten war das Luftschiff über Mengen am Untersee. In allen überflogenen Orten herrscht große Begeisterung. Zweite Meldung aus Konstanz, 8 Uhr 20 Minuten. Graf Zeppelin war um 7 Uhr 15 Minuten über Radolfzell, um 8 Uhr über Schaffhausen. In unsere Stadt wurde ein Telegramm abgeworfen: »Über Konstanz alles gut. Gruß den Meinen. Graf Zeppelin in der Luft.«
Eine Stunde später Meldung aus Waldshut: Graf Zeppelin ist um 8 Uhr 45 Minuten über unserer Stadt erschienen und in der Richtung nach Baden weitergefahren. Basel, 10 Uhr vormittags. Heute morgen hat Graf Zeppelin Basel überflogen. Eine nach vielen Tausenden zählende Volksmenge brachte dem Flugschiff stürmische Huldigungen dar, und die Regierung ließ zu Ehren des großen Erfinders Kanonenschüsse abgeben. Straßburg, 1 Uhr mittags. Bald nach zehn Uhr kam aus Mühlhausen die Nachricht, daß Graf Zeppelin diese Stadt überflogen habe. Eine Stunde später wurde das fliegende Schiff durch Fahnenschwenken vom Münsterturm und durch Kanonenschüsse angekündigt. Um 12 Uhr 30 Minuten flog das Luftschiff an der Südwestseite des Münsters in ruhigem, prächtigem Fluge vorüber. Es wurde durch Glockenläuten, Fahnenschwenken, Musik und den unbeschreiblichen Jubel der Menge bewillkommnet. Maxau, 1 Uhr 40 Minuten. Als in Karlsruhe die Kunde von Zeppelins Aufstieg eintraf, entstand auf der Landstraße von Knielingen nach Maxau eine Völkerwanderung. Droschken, Kraftwagen, Reiter, Radler und Fußgänger eilten herbei. Die Tagung der Ersten Kammer wurde unterbrochen, als das Ministerium des Äußeren mitteilen ließ, daß Graf Zeppelin gegen 1 Uhr Maxau überfliegen werde. Das Flugschilf kam hier bald nach der angegebenen Zeit in Sicht. Es wurde mit Hurrarufen und Böllerschüssen begrüßt. Speyer, 2 Uhr nachmittags. Das Luftschiff des Grafen Zeppelin ist vor zehn Minuten in einer Höhe von etwa zweihundertfünfzig Metern über unsere Stadt dahingefahren, bejubelt von Tausenden von Zuschauern, die sich an beiden Ufern des Rheins eingefunden hatten. Meldung aus Mannheim. Um 2 Uhr 40 Minuten hat Graf Zeppelin unsern Marktplatz überflogen. Auf den Straßen drängt sich die Menge, und noch immer sind alle Dächer mit begeisterten Menschen besetzt.
Letzte Nachricht am 4. August 1908. Das Luftschiff ist gegen sechs Uhr abends bei Oppenheim auf dem Rhein niedergegangen und hat um 10 Uhr 25 Minuten die Fahrt in Richtung auf Mainz fortgesetzt. Erste Meldung am 5. August. Graf Zeppelin ist über Mannheim nach Stuttgart zurückgefahren und um sieben Uhr morgens auf dem Felde bei Echterdingen gelandet. Wann das Schiff zur Weiterreise aufsteigen wird, ist noch nicht bekannt. Deutschland, die ganze Welt stand unter dem Eindruck des gewaltigen Erlebnisses dieser großen Luftfahrt. Sie war ein Siegeszug ohnegleichen. Wo der Ballon groß und glänzend am Himmel erschien, klangen unter ihm die Glocken in Dorf und Stadt. Jung und Alt standen Arm in Arm. Fahnen wehten, und Lieder klangen auf. — Stuttgart, am 5. August, 4 Uhr nachmittags. Das Luftschiff des Grafen Zeppelin ist fünf Minuten vor drei Uhr durch Explosion des Ballons vollständig zerstört worden. Auf dem Felde liegt nur noch ein Gerippe. Bericht eines Augenzeugen dieses Unglücks: Auf die Nachricht von der glücklichen Landung des Luftschiffs bei Echterdingen zogen die Stuttgarter zu Tausenden die zwölf Kilometer lange Strecke hinaus. Die Wanderung dauerte von Mittwoch früh bis zum nachmittag ununterbrochen fort. Und draußen entwickelte sich auf dem Wiesenfeld bald ein fröhliches Treiben. Der Graf selbst befand sioh im Dorfe Echterdingen. Plötzlich machten besorgte Stimmen auf einen dunklen Regenschauer aufmerksam, der in der Ferne niederging. Aber bald sah jeder, das war kein Regen, das waren Staubwolken, die ein heftiger Sturm vor sich hertrieb. Und schon brauste der Windstoß heran. Da hob sich das Luftschiff, das in voller Breitseite getroffen wurde, leicht und ohne Erschütterungen, die Ankertaue rissen, und es trieb eine kurze Strecke ab. Den Tausenden stockte der Atem. Keiner verstand recht, was in diesen Augenblicken der Fassungslosigkeit geschah. Dann setzte sich die Menge schreiend in Bewegung. Während die
einen flüchteten, auseinanderstoben, sich zu Boden warfen, um dem dicht über der Erde treibenden Schiff mit seinen Gondeln und Steuerflächen zu entgehen, rannten die anderen zu Hunderten hinter dem Ballon her. Jetzt senkte sich seine Spitze. Würden die Verfolger die nachschleifenden Taue fassen und halten können? Der Luftriese stieß hart auf das Feld. Eine Flamme schoß jäh empor. Unter furchtbarem Krachen stieg eine große schwarze Rauchwolke auf. Das ganze Schiff stand in Flammen. Entsetzen, Verwünschungen, Drohungen und Schluchzen vereinten sich zu einem furchtbaren Aufschrei. Die Menschen stürzten näher an die Unglücksstätte heran oder eilten jammernd nach dem Dorfe. Der Sturm heulte noch immer und warf ihnen den grauen Staub in die verzerrten Gesichter. Alle schienen von einem schauerlichen Wahnsinn befallen zu sein. Ich selbst lief mit nach Echterdingen. Am Dorfeingang erschien ein großer Kraftwagen. Die Menge hielt an. Das Geschrei verstummte. Die Männer nahmen die Hüte ab. Der alte Graf und Oberingenieur Dürr fuhren vorüber. Ludwig Dürr hämmerte mit der Faust auf den Wagenschlag. Im Gesicht des Grafen bewegte sich keine Miene. Er hielt sich steif aufgerichtet und schien völlig erstarrt. — *** Zeppelin stand vor den rauchenden Trümmern seines Schiffes. Der grausamste Schicksalsschlag war gefallen. Die vom Reich gestellten Bedingungen hatten nicht erfüllt werden können, und jeder Anspruch auf weitere Unterstützung war verwirkt. Mittel zum Bau eines neuen Ballons gab es nicht mehr. Am Ziel seines Siegeslaufs war der Titan aus dem schon erstürmten Himmel m vernichtendem Sturz zur Erde zurückgeschleudert worden. — Endlich wandte sich der Graf von seinem zerstörten Werk ab.
Er faßte nach dem Arm seines Begleiters. »Kommen Sie fort, Dürr! Das ist das Ende. Das Ende für immer.« *** Das Unglück von Echterdingen brachte jedoch eine jähe Wendung; diesmal erwiesen sich die Befürchtungen als falsch. Die offenbaren Erfolge der großen Fahrt konnte nichts mehr verdunkeln. Als der Erfinder auf der Heimreise nach Stuttgart kam, empfinden ihn seine schwäbischen Landsleute mit einer großen Kundgebung ihres unverminderten Vertrauens. Und als er am späten Abend in Friedrichshafen den Zug verließ, standen auch dort die erschütterten und hilfsbereiten Menschen Kopf an Kopf in dichtgedrängten Scharen. Mit tränenerstickter Stimme dankte ihnen der Graf für ihre Teilnahme. Die braven Schwaben blieben nicht allein. Jede Stadt und jeder Stand im Reiche traten jetzt für den Vorkämpfer der deutschen Luftfahrt ein. Aus dem Flammentod des stolzen Flugschiffs erstand stärker das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit des ganzen Volkes in guten und bösen Tagen. Feuervogel, in Flammen geboren, schwang sich die Erkenntnis der Einheit deutschen Willens leuchtender auf. Der Kampf des einen Mannes war jetzt aller Deutschen Kampf, sein Werk war ihrer aller Besitz, sein Sieg sollte der Erfolg aller werden. Hunderttausende streckten ihm die helfenden Hände entgegen. In wenigen Tagen wurde eine Spende von sechs Millionen Mark aufgebracht. Unter den Gebern befanden sich Männer mit geringem Einkommen, alte Frauen, die kaum eine Mark entbehren konnten, und Kinder, die ihre kleinen Sparkassen leerten. In Friedrichshafen war man zunächst völlig außerstande, alle Eingänge auch nur durchzusehen. Täglich kamen die Postboten wie die Weihnachtsmänner mit großen Säcken und schütteten den Inhalt an Karten, Briefen und Paketen auf den Boden aus. Der Graf aber ließ die Arbeiten in
Manzell sofort wieder aufnehmen. Er vermehrte die Zahl seiner Mitarbeiter, neue tatkräftige und begeisterte Männer traten an seine Seite. Eines Morgens, als Zeppelin seine Wohnung im Deutschen Haus verließ, spielten kleine Mädchen auf der Straße. Sie hielten sich an den Händen gefaßt, tanzten im Kreise und sangen. Der Graf war unbemerkt herangekommen. Er blieb stehen, als er seinen Namen hörte. Die blonden und braunen Zöpfe flogen, und die bunten Röckchen wippten. Die frischen Gesichter waren gerötet. Schneller drehte sich der lustige Reigen. Die hellen Stimmen hielten mit den flinken Schritten rechten Takt. Die Sommersonne erfüllte die Straße in ganzer Breite mit goldenem Schein. Der alte Herr stand in dem warmen Licht und hörte das neue Kinderlied: »Zeppelin hin, Zeppelin her, Zeppelin hat kein Luftschiff mehr. Zeppelin auf, Zeppelin nieder, Zeppelin hat sein Luftschiff wieder.« An diesem Morgen kam der Graf zum erstenmal verspätet nach Manzell. Er war umgekehrt und hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen, um der Rührung Herr zu werden, die ihn übermannen wollte. Und am Abend gab er die Einwilligung. seinen Dank für den endlich gewonnenen Glauben, die Liebe und die Hilfe des ganzen Volkes auf eine Sprechplatte aufnehmen zu lassen. So konnten alle Deutschen im Reich und jenseits der Grenzen, der Ströme und Meere ihn hören. »Zuversichtlich darf das deutsche Volk annehmen, daß es sich mit seiner hochherzigen Spende den Zugang in das Luftreich erschlossen hat, daß es bald im Besitz von Flugschiffen sein wird, die zur Erhöhung der Wehrkraft und damit zur Erhaltung des Friedens beitragen und in mancherlei Weise dem Verkehr, der Erderforschung und allerlei Aufgaben der Kultur dienen. Was Unkenntnis des wahren Sachverhalts
noch immer an Zweifeln verbreiten mag, die fachmännische Untersuchung und die unvoreingenommene wissenschaftliche Beurteilung aller Vorkommnisse bei den Fahrten bis zum unglücklichen Ende haben das Zutreffen meiner Annahme in allen Hauptsachen nur zu bestätigen vermocht. Wenn mir noch eine paar Jahre des Schaffens geschenkt werden, so werde ich das selten hohe Glück haben, den vollen Erfolg einer bedeutsamen Erfindung, zu deren Werkzeug ich ausersehen war, erleben zu dürfen. Er wird das darstellen, was sich schon heute wieder in herzerhebender Weise vollzieht: Gleiches Wollen hat alle, arm und reich, jung und alt, zu gleicher Tat vereint, der das Ziel nicht versagt bleibt. Möchte die Freude des gesamten deutschen Volkes an seiner Tat es zu stets erneutem, einigem Zusammengehen, ohne welches die ihm innewohnende Kraft nicht zur Geltung kommen kann, anfeuern zum Nutzen und zum Heil des Vaterlandes.« Vier Wochen nach dem Unglück bei Echterdingen wurde mit Hilfe der großen Spende die Gesellschaft Luftschiffbau Zeppelin gegründet. An demselben Tage verlobte sich Hella von Zeppelin mit dem Oberleutnant Alexander von Brandenstein, einem Sohn des verstorbenen württembergischen Generals von Brandenstein, Abstammen eines alten hessischen Geschlechts aus Brandenstein an der Elm. Die Arbeiten auf der Werft und in den Werkstätten am Bodensee ruhten an diesem doppelten Festtage des Grafen und der Seinen. Der jüngste Ingenieur in Friedrichshafen, Hans Bartels, war schon morgens wieder einmal nach Girsberg gefahren. Vater Eßlinger war in der letzten Zeit äußerlich sehr gealtert, fühlte sich aber noch rüstig und leitete noch immer alle Arbeiten auf dem Gute. Der Meersburger Hans wurde freundlich empfangen. Seit geraumer Zeit hatte er die zunehmende Innigkeit seines Gefühls für Annette nicht mehr in sich verbergen können. Aber zu einer entscheidenden Aussprache war es noch nicht gekommen.
Jetzt hatte die Gründung der neuen Luftschiffbaugesellschaft auch seine Zukunft gesichert, und die heutige Verlobung im Hause Zeppelin gab ihm einen Anstoß. Sobald er sich mit Annette allein sah, trat er vor sie hin und ergriff ihre Hände, schlanke, feste und arbeitgewohnte Mädchenhände mit feinem Geäder. »In einigen Tagen muß ich dienstlich verreisen, und es wird Wochen dauern, bis wir uns wiedersehen. Wirst du mich nicht vergessen?« Sie senkte den Kopf. »Warum sollte ich dich vergessen, Hans? Wir waren nur selten beieinander und sind doch Freunde gewesen, seit wir uns zum erstenmal trafen.« »Ich will mich nicht mehr von dir trennen. Du weißt, Annette, was mich zu euch geführt hat. Viele meiner Altersgenossen sind unbeständige Liebhaber, sie befreunden sich heute mit einem Mädchen, um ihm schon morgen eine andere vorzuziehen, deren Stelle bald eine dritte einnimmt. Ich bin nicht so, ich will mein Herz nur für eine einzige schlagen lassen. Nur für dich.« Jetzt hob sie den Blick und sah in sein freies, gebräuntes Gesicht. Seine Lippen lagen schmal aufeinander. Zwischen den Brauen über seinen hellen Augen stand eine zitternde steile Falte. Annette entzog ihm ihre Hände und trat zurück. Sie stand jetzt vor dem Fenster. Die flimmernden Sonnenstrahlen glitten über ihre Schultern. Auf ihren weichen Haarwellen tanzten kleine goldene Lichtflammen. »Ich muß endlich wissen«, sagte er, »ob du meine Frau werden willst oder nicht.« Da lächelte sie: »Bis jetzt hast du mich noch nicht danach gefragt.« Sie erschrak ein wenig, als er sich über sie beugte und sein Atem sie streifte. Aber sie blieb ergebungsvoll und demütig. Er zog sie in seine Arme. Ihr schmales Gesicht war nahe dem seinen. Er sah die leisen Bewegungen ihrer Wimpern. Ihr Mund war zärtlich und blühend rot.
Eine heiße Seligkeit überströmte ihn. »Ich bin sehr glücklich, Annette«, sagte er langsam und neigte sich liebkosend und gewalttätig zu ihren Lippen. Ihre Knie zitterten. Dann aber lehnte sie sich an ihn mit dem Gefühl völliger Geborgenheit in der Kraft, die sie umschlossen hielt. Sie legte ihre Arme leicht auf seine breiten Schultern und erwiderte seine Küsse. So überhörten die beiden Vater Eßlingers Kommen. Bei seinem Anruf lösten sie sich voneinander. Der lange Hans machte Anstalten zu einer feierlichen Werbung. »'s ischt schon guet«, sagte der Alte und umfing mit seinen harten Bauernfingern Annettes glühende Wangen. »Meinet ihr wohl, dies hätt i net pfeilgrad komme g'sehe? 's ischt halt Herbst, und was reif ischt, mueß falle. Seid glücklich miteinander! I schteig jetzt in den Keller und hol uns ein Fläschle Meersburger. Wir wolle auf euere Verlobung anschtoße!« Er ging hinaus. Aber im Nebenzimmer blieb er vor seinem alten eichenen Schreibtisch stehen, nahm wieder das Bild seiner Frau und streichelte das kühle Glas. In stummer Zwiesprache lächelte und nickte er dem vertrauten Antlitz auf dem kleinen vergilbten Bilde zu. Als er dann den Wein geholt hatte und fröhlich zu den Verlobten zurückkam, entkorkte Hans die dunkelgrüne Flasche und schenkte ein. Der Alte schmunzelte. »Das ischt kein Seewein, das ischt einer von den g'segneten Hügeln deiner Heimat, Hans.« Andächtig hob er sein Glas. »Auf euere Zukunft, Kinder, und auf das gewaltige Werk unseres Grafen!« Sie stießen an und tranken. Was sie für sich selbst erhofften, war untrennbar von dem endgültigen Erfolg des fliegenden Schiffes. Bei dessen erstem Aufstieg waren sich die Liebenden zum erstenmal begegnet, und sie beschlossen, nach seinem vollkommenen Siege Hochzeit zu halten. »Das wird bald sein«, rief der lange Hans und zog Annette an sich. »Die nächsten Flüge sollen schon im
kommenden Monat stattfinden. Wir bauen jetzt die Motoren selbst, auch die Gaszellen. Eine zweite Halle wird an Land errichtet. Wißt ihr schon, daß die Stadt Düsseldorf auf eigene Kosten einen Luftschiffhafen anlegen läßt? Ich bin heilfroh, daß ich mich nicht von meinem Freunde abschrecken ließ. Er hat kürzlich wieder geschrieben. Der Unfall von Echterdingen hat seine Zweifel aufs neu bestärkt. Da sitzt er nun als ungläubiger Thomas im Kontor seines Vaters und arbeitet, was andere ihm hundertmal vorgemacht haben.« »Ha no, Hans«, unterbrach Vater Eßlinger und schenkte sich ein, »'s ischt eines braven Mannes Pflicht, sein Erbteil zu erhalte und zu mehre.« »Ja, aber es ist auch Pflicht der Jugend, alle Kraft an die größte und gewagteste Tat der neuen Zeit zu setzen.« »Hansel«, sagte Annette, »weil du das getan hast, habe ich dich doppelt lieb.« Der Alte lachte. »Hascht recht, mei Madle. Nun, so küßt euch schon! I hab derweil mei Ablenkung.« Er nahm sein Glas, schob die Nase über den süß duftenden Wein, schluckte bedächtig, schloß die Augen und nippte noch einmal, trank aus und schenkte sich wieder ein. Bald aber erhob er sich, küßte seine Tochter auf die Stirn und gab Hans die Hand. »Jetzt seid brav, Kinder! I mueß aufs Feld.« Die Verlobten begleiteten ihn ein Stück Wegs. Dann kehrten sie eilig um. Annette durfte ihre Hausarbeit nicht länger versäumen. Am Nachmittag schnitt sie von ihren prächtigen Herbstblumenbeeten einen wagenradgroßen Strauß, den der lange Hans abends im Arm nach Friedrichshafen mitnehmen mußte, um ihn am andern Morgen Hella von Zeppelin im Namen der Jugendgespielin zu überreichen. Wie er es vorausgesagt hatte, fanden im Oktober die neuen Versuchsflüge über dem Bodensee statt. Noch in demselben Monat nahm Prinz Heinrich von Preußen, der Bruder des Kaisers, an einer fünfstündigen Fahrt teil. Anfang
November steuerte der Graf sein Schiff nach Donaueschingen. An Bord befand sich der deutsche Kronprinz. Im Schloß zu Donaueschingen wurde der Kaiser erwartet. Das Luftschiff flog dem Hofzug entgegen, kehrte über ihm um und begleitete ihn, kreuzte über dem Bahnhof, während der Kaiser den Zug verließ, folgte seinem Wagen bis zum Schloß und trat dann die Rückfahrt an. Die Dunkelheit lag schon über dem See, als der Ballon wohlbehalten vor der erleuchteten Halle niederging. Auch seine Bergung geschah ohne Zwischenfall. Wenige Tage später kam der Kaiser, vom Fürsten Fürstenberg begleitet, nach Manzell. Er zeigte sich sehr liebenswürdig, war ein Bild kräftiger Gesundheit und selbstbewußter Männlichkeit, nicht so stattlich wie sein Vater, nicht so ehrfurchtgebietend wie sein Großvater, aber voll natürlicher Freundlichkeit und Lebhaftigkeit. Der Graf — General, der keine Division bekommen hatte und Admiral im eroberten Luftmeer geworden war — empfing ihn vor den Werkstätten, ließ sein Schilf aufsteigen, auf dem See die Besatzung wechseln und wieder aufsteigen. Der Ballon gehorchte jedem Befehl. Dann führte der alte Herr den Kaiser und seinen Begleiter durch alle Anlagen der Werft. Der Arbeitslärm der Feilen und Hämmer verstärkte sich, Funken stoben auf, das rote Feuer und das schwarze Eisen sangen das heiße Lied ihrer Vereinigung. Der Graf öffnete eine Tür. Silberglanz erfüllte ringsum den weiten Raum. Hier wurde das Aluminium geschnitten, gehämmert, gefalzt und genietet. Streben und Laschen wurden gestanzt und geprägt und mit Aluminiumstäben zu den Trägern vereinigt, aus denen das Gerüst der Luftschiffe bestand. Auch die verschiedenen Maschinenteile für Kuppelungen, Getriebe, Propeller und Steuervorrichtungen wurden in dieser großen Werkstatt hergestellt und zusammengesetzt.
Am Ende des Saales stand eine große, glänzende Gondel schon bereit, in die Lagerhalle der fertigen Einzelstücke gebracht zu werden. In einer anderen Werkstatt lagen hohe Ballen von silberweißem Baumwollstoff. In Reihen saßen auf Tischen und Bänken die Schneider mit klappernden Scheren und flinken Nadeln. Sie nähten den schimmernden Mantel eines neuen Luftriesen. Es war sehr still in diesem Raum, und um so lauter und gewalttätiger erschien das Getöse der Schmiede und der Aluminiumgießerei. In der Versuchswerkstätte sah der Kaiser eine Weile zu, wie einige neue Maschinenteile erprobt wurden. Dann durchschritt er neben dem Grafen eine schmale Tür und stand in einer hohen und weiten Halle, unter deren Dach das ungeheuere Gerippe eines gewaltigen Fabeltieres hing. Aber seine Teile waren nicht vermorscht und brüchig, sondern unversehrt und spannkräftig. Zwischen den blanken Stäben und Streben glitt ein unwiderstehliches, weiß grünes, kaltes Licht hindurch. »Quecksilberlicht«, sagte Zeppelin. Auf einer schmalen Holztreppe stieg der Alte dem Kaiser vorauf zu dem Umgang unter dem Dach. Von droben war es erst möglich, das Riesenhafte, fast Unheimliche der mächtigen schwebenden Erscheinung ganz zu erfassen. »In dieser Halle«, erklärte der Graf, »wird der Luftkreuzer allmählich zusammengesetzt. Die in den Werkstätten hergestellten Träger werden zu Ringen vom Durchmesser des Schiffes vereinigt, und diese Ringe durch Längsstreben verbunden. An das Rumpfgerüst werden die Gondeln befestigt. Die Motoren werden einmontiert, Propeller und Getriebe angebracht. Es folgen Steuer und Drahtzüge, Ballastsäcke und Gasventile. Schließlich wird die Außenhülle über das Gerippe gezogen, die Gaszellen werden eingebracht und gefüllt. Dann ist das Schiff zum Auslaufen bereit.« Sie stiegen wieder hinab, gingen durch das Baubüro, die kaufmännischen Geschäftszimmer und die Laboratorien, um zuletzt noch einmal in die große Werfthalle einzutreten.
Dort legte Fürst Fürstenberg dem Erfinder unter dem werdenden neuen Flugschiff das gelbe Band des Schwarzen Adlerordens um. Der Kaiser äußerte, wie sehr er sich freue, im Namen des ganzen deutschen Volkes den Grafen zu seinem großen Werke aus tiefstem Herzen beglückwünschen zu können. Das Vaterland könne stolz darauf sein, einen solchen Sohn zu besitzen, einen der größten Deutschen des neuen Jahrhunderts, der durch seine Erfindung ihm einen der bedeutsamsten Fortschritte in der Entwicklung der menschlichen Kultur beschert habe. Der alte Herr, im dunkelblauen Anzug mit der weißen Schirmmütze, stand in straffer soldatischer Haltung. Der Kaiser sah ihn ernst an, reichte ihm die Hand und fuhr fort: »Möge es uns allen vergönnt sein, dereinst mit Stolz an unserm Lebensabend sagen zu dürfen, daß es uns gelungen ist, so erfolgreich wie Sie unserm Vaterlande gedient zu haben.« »Majestät«, sagte Zeppelin, »ich habe immer nur getan, was ich tun mußte. Aber ich habe in keinem Augenblick an mich selbst gedacht, sondern immer daran, daß mein Schiff Deutschlands Ruhm tragen solle.« Der Kaiser blickte in die abendlich glühende Ferne. Die Sonne neigte sich zum Untergang und leuchtete mit schrägen, purpurroten Strahlen von Westen über den See. »Ich kann es nicht jedermann recht machen, aber glauben Sie mir, lieber Graf. ich denke ebenso und werde nie anders denken.« Zeppelin sah ihn an. Am guten Willen zweifle ich nicht, dachte er. Aber eine mächtige geistige Gestalt stieg in diesem Augenblick vor ihm auf und verdeckte den Monarchen: Bismarck, wie ihn der Graf im Versailler Schlosse gesehen hatte, als der alte Kaiser im Geleit der Bundesfürsten wortlos an dem Kanzler vorübergegangen war. Der Schöpfer des Reichs stand starr, riesenhaft, in der Hand den blinkenden Kürassierheilm; seine Augen unter den buschigen Brauen waren geschlossen.
Nun schlief der Alte im Sachsenwald den ewigen Schlaf, nachdem der Erbe der Krone, die er geschmiedet hatte, ihm die Zügel der Regierung aus der Hand genommen. Das Bild verschwand. Die befehlsgewohnte Stimme des Kaisers hatte einen wärmeren Klang gehabt. Aber die weichere Stimmung war schon verdrängt. Er ließ sich die Ingenieure und die gesamte Belegschaft der Werft vorstellen und sprach ihr seine Anerkennung aus. Dann fuhr er in einem der Motorboote Zeppelins nach Friedrichshafen und begrüßte dort die Gräfin. Erst spät trat er die Rückreise nach Donaueschingen an. Mitternacht war vorüber, als der siebzigjährige Erfinder zur Ruhe kam. In seinem Schlafzimmer trat er nahe vor den Spiegel und betrachtete sich mit prüfenden Blicken: War er der Mann, der nach allem Erlebten immer noch Zeit genug besaß, das spät Begonnene völlig zu beenden? Hier stand er nun vor sich selbst. Sein Gesicht war gebräunt. Seine Haltung war auch in dieser Stunde noch ungebeugt und spannkräftig. Aber die sieben Jahrzehnte, die er hinter sich hatte, sah er als senkrechte Falten sich auf die Stirn geschrieben. Viele zerknitterte Fältchen waren von den Augen zu den weißen Schläfen hin gezogen. Nur die beiden strengen Linien an den Mundwinkeln blieben von dem immer noch starken Schnurrbart größtenteils verdeckt. Kriegsjahre zählen doppelt, und Kampf war sein Leben gewesen, nicht nur während seiner Soldatenzeit. Seine dreifach schweren Jahre begannen, als er den bunten Rock ausgezogen hatte. Er strich sich über die Stirn und wandte sich von seinem Spiegelbilde ab. Was ist Jugend?, dachte er, die Zahl der Jahre macht weder jung noch alt. Ich habe fünfundzwanzigjährige Menschen gesehen, denen mancher Siebzigjährige geistig und körperlich überlegen war. Nein, ich bin noch nicht am Ende; Gott wird mir die Zeit schenken, die ich nötig habe. Noch lange lag er wach. Im Einschlafen sah er vor sich
in der Finsternis ein langsam und gleichmäßig sich drehendes riesiges Rad, das immer Neues aus unbekannter Tiefe heraufschöpfte, um es im Umschwung zurück in das Unbekannte zu schütten. Er hörte wieder und wieder ein dumpfes Aufschlagen, als ob große Steine in einen tiefen Brunnen hinabfielen, und seine letzten Gedanken fragten: Woher steigt das auf, was uns das Leben bringt, und wohin wirft das Leben dann alles, was es brachte? Unaufhörlich drehte sich das große Rad in der Nacht. Es machte sehr müde, seine Bewegung anzusehen. Der Graf versank langsam in die Unbewußtheit eines traumlosen, wohlverdienten Schlafes.
IV Im nächsten Frühjahr lagen in den Hallen der erweiterten Werft zwei flugfertige Schiffe. Ihre Fahrten brachten sie nach München und Bitterfeld. Ende August trat Z III seinen Flug nach Berlin an. Zunächst stand Ludwig Dürr am Steuer. Auch Zeppelins erster Mitarbeiter Kober befand sich an Bord. Der Graf reiste mit der Bahn bis Bitterfeld, um nach einer dortigen Zwischenlandung die Führung des Ballons selbst zu übernehmen. Wieder einmal mußte er bange Stunden durchleben. Das Schiff hatte einen Triebflügel verloren und war gezwungen, mit vorsichtiger Langsamkeit zu fahren. Am späten Nachmittag wurde seine Ankunft über Leipzig gemeldet, als man in Bitterfeld schon die Hoffnung auf sein Kommen aufgegeben hatte. Der deutsche Kronprinz und Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg hatten sich dem alten Grafen zugesellt. Jetzt fuhren die drei in ihren Kraftwagen in der Richtung nach Leipzig und spähten angestrengt voraus an den Himmel. Plötzlich sprang der Kronprinz in seinem jäh gebremsten Wagen auf, deutete mit hochgestrecktem Arm. Der Luftkreuzer kam heran. In Bitterfeld strömten schon die Menschen in dichten Scharen auf das Landungsfeld zurück. Gendarmen und berittene Schutzmannschaft sprengten herbei. Die Absperrungen wurden verstärkt. Soldaten und Matrosen spannten schwere Taue um den Platz. Nun wußte jeder, daß die Ankunft des Luftschiffes bevorstand. Die Haltemannschaft trat mitten auf dem Felde an. Dann erschien ein lichter Streifen am Horizont. Es war der Ballon. Die Wagen des Grafen und des Kronprinzen kamen in sausender Fahrt zurück, stoppten und gelangten nur langsam durch die jubelnd andrängende Menge. Inzwischen hatte sich das fliegende Schiff silberglänzend genähert. Jetzt flog es riesenhaft über die Zuschauer.
Da zerriß die Absperrung. Ein einziger jauchzender Schrei stieg aus vielen tausend Kehlen auf, und es gab kein Halten mehr. Die berittenen Schutzleute galoppierten heran. Niemand kümmerte sich um sie, niemand sah sie, aller Blicke hingen gebannt an dem gewaltigen Luftschiff. Mit Geschrei und geschwungenen Säbeln versuchten die Reiter, den Ansturm zum Stehen zu bringen. Keiner beachtete ihre Drohungen. Machtlos mußten sie vor den unaufhaltsamen Menschenmassen zurückweichen. Als der Ballon schnell auf den letzten noch freien Raum des Feldes niederging und die Soldaten ihn zur Ankerschleife zogen, marschie rte die Menge zwischen den Gondeln dicht unter dem Schiff und ihm zu seiten mit. Es war, als trüge sie es auf ihren Schultern. Und während die Menschen so dahinzogen, fanden sie für ihre Schritte den Takt. Von einzelnen angestimmt, wurde das Lied von allen aufgenommen. Das letzte Tönen der Motore und Luftschrauben ging unter in dem brausenden Gesang: »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!« Noch lange, nachdem Z III, ringsum von Pionieren bewacht, sicher verankert war, standen die Begeisterten, ohne sich von seinem Anblick trennen zu können. Der Graf ließ sofort mit der vorbereiteten Nachfüllung von Gas und Wasser beginnen. Für den verlorenen Triebflügel wurde im Lauf der Nacht Ersatz beschafft. Um sieben Uhr früh war der Kreuzer wieder fahrtbereit. Obwohl der Nebel jede Fernsicht unmöglich machte, verzögerte Zeppelin den Aufstieg nicht. Er hatte nun wieder selbst die Führung übernommen, und laut klang vom Bug der vorderen Gondel seine helle, kräftige Stimme: »Anlüften! — Los! — Luftschiff marsch!« Schon am Vorabend hatte der Graf in Berlin angefragt, wann seine Ankunft dort erfolgen solle. Daraufhin war der Wunsch ausgesprochen worden, das Luftschiff möge um
zwölf Uhr mittags über dem Tempelhofer Feld sein. Die Fahrt nach der Reichshauptstadt verlief ohne jeden Zwischenfall. Das Wetter hatte sich aufgeklärt, als gegen elf Uhr fünfzehn Minuten das Häusermeer Berlins gesichtet wurde. Der Ballon überflog die Stadt. Kurz nach zwölf Uhr begrüßte er den Kaiser auf dem Tempelhofer Felde durch me hrmaliges Neigen der Spitze und fuhr dann in dem Geläut aller Kirchenglocken zum Schloß, zum Rathaus, wandte sich nach den Linden, flog über das Brandenburger Tor, die nördliche Friedrichstadt und die Oranienburger Vorstadt. Inzwischen fuhr der Kaiser zum vorbereiteten Ankerplatz in Tegel. Das sieghafte Schiff wurde auf der Weiterfahrt von den Berliner Schulkindern begrüßt, die im Friedrichshain Aufstellung genommen hatten. Bunte Mützen wurden geschwungen. Es sah von oben so aus, als wehte ein heftiger Wind über weite Blumenfelder. Die hellen Mädchenkleider leuchteten. Und der tapfere alte Flugkapitän beugte sich hinab und hörte deutlich: »Zeppelin auf, Zeppelin nieder, Zeppelin hat sein Luftschiff wieder!« Über die Friedrichstraße und den Tiergarten steuerte er nordwärts zum Tegeler Schießplatz. Gegen zwei Uhr landete er dort mit seinem Ballon ohne Schwierigkeiten auf dem Felde. Die kaiserliche Familie empfing ihn mit ihren Glückwünschen. Sie nahm den Erfinder in ihre Mitte und führte ihn zu den bereitstellenden Wagen. Zur Rechten des Kaisers fuhr der Graf, wie immer in blauem Rock und weißer Schirmmütze, ein strahlendes Lächeln auf seinem guten, kühnen Schwabengesicht, durch die fahnengeschmückten Straßen zum Schloß. An der festlichen Tafel nahmen auch die Getreuen Kober und Dürr teil. Im Lustgarten sammelte sich eine unübersehbare Menschenmenge an, deren Hochrufe den Eroberer des Luftmeeres immer wieder zwangen, sich am Fenster zu zeigen.
Auch bei seiner Abreise aus Berlin in einem kaiserlichen Wohnwagen wurden ihm neue stürmische Huldigungen dargebracht. Er trat an ein Abteilfenster und winkte. »Ich danke Ihnen«, rief er, »und allen Ihren Mitbürgern für die herzliche Aufnahme, die ich bei Ihnen gefunden habe. Sie wissen, daß es schon lange mein Wunsch war, mit meinem Luftschiff hierher zu kommen. Ich freue mich, daß es mir jetzt gelungen ist.« »Auf Wiedersehen!« riefen die Berliner, und der Zug setzte sich in Bewegung. Wenige Tage später erwiderte die Reichshauptstadt den Besuch des Z III. Die Mitglieder des Bundesrats und des Reichstags kamen nach Friedrichshafen. Am Morgen des 4. September empfing der Graf seine Gäste. Dann bestieg er sein Motorboot »Manzell« und führte sie auf zwölf Bodenseedampfern zu der schwimmenden Luftschiffhalle. Von Bord der »Meersburg« blitzten die Trompeten des Musikkorps des württembergischen Artillerieregiments aus Ulm. In weitem Bogen umgaben die festlich geschmückten Dampfer und hunderte von Ruder- und Segelbooten die Manzeller Bucht. Langsam schob sich das silbergraue Luftschiff mit seinem Erbauer und den ersten Fluggästen aus dem Tor der Halle, stieg mit singenden Schrauben auf, hob sich höher und fuhr, im Sonnenglanz schimmernd, nach Norden. Die Dampfer wendeten und folgten ihm langsam auf dem See. Bei Langenargen ging der Ballon zum erstenmal auf der Wasserfläche nieder, um nach dem Wechsel der Fahrgäste bis Rorschach zu fliegen. Dort kehrte er um und steuerte nach Lindau, wo inzwischen die Dampfer schon eingetroffen waren. Die ganze Inselstadt hatte sich mit Fahnen geschmückt . Die Einwohner standen auf den Mauern, Wehrgängen und Schanzen, auf der langen Hafenmole, dem steinernen Löwen, dem alten und dem neuen Leuchtturm und den Dächern der Häuser. Als nun das Flugschiff
herankam, um vor dem Lindauer Hafen niederzugehen, donnerten die Böller in das Geläut der Glocken, grüßten die fröhlich geschwungenen Hüte und Tücher. Zeppelin übertrug die weitere Führung seinem Oberingenieur Dürr, begab sich an Bord des Festdampfers »Württemberg« und fuhr mit seinen Gästen nach Konstanz. Es war Abend geworden, und funkelnde Raketen flogen auf, als sie dort im beleuchteten Seehafen eintrafen. Die Musik voran, zogen sie zum Inselhotel. Alle waren ergriffan ven aufrichtiger Dankbarkeit und stolzer Bewunderung. Die Abgeordneten versprachen, jede Forderung zu erfüllen, die zur Verwirklichung der erhellten Aussichten der deutschen Luftfahrt an den Reichstag gestellt werden sollte. Der Graf hob sein Glas. »Man muß etwas wagen, meine Herren! Immer warten und zögern, ist zu nichts nütze. Ich freue mich von Herzen, den Eindruck zu haben, daß mein Werk unter allen Umständen fortgeführt wird zum Nutzen des deutschen Volkes. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und trinke auf Ihr Wohl!« Das Fest dauerte bis in die Nachtstunden. Der alte Herr ging zu seinen Ingenieuren, die im Kreise der Besucher saßen, und hatte für jeden einige freundliche Worte. Nur Kober und Dürr gab er schweigend die Hand; sie verstanden ihn auch so. Als er zu Hans Bartels kam, sagte er: »Sie werden nun bald heiraten. Machen Sie Ihre kleine Annette recht glücklich. Sie verdient es. Ich weiß, was es bedeutet, eine Frau zu haben, die ihren Mann versteht. An der nächsten Fahrt sollen Sie teilnehmen, wir wollen dann unser geliebtes Girsberg besuchen.« Der Meersburger Hans war aufgestanden und neigte sich dankend über die dargebotene Hand. »Erinnern Sie sich noch unseres ersten Zusammentreffens in der Werkstatt Ihres Vaters?« fragte Zeppelin.
»Gewiß, Exzellenz. Ich bin doch schon damals als jüngster Ingenieur des Luftschiffbaues angemustert worden.« »Wissen Sie auch noch, mit wie schweren Bedenken Ihr Vater das bestellte Modell in Arbeit nahm?« »Jawohl, Exzellenz. Mein Vater war sehr tüchtig, aber er hatte wenig Vorstellungskraft. Ich bedauere, daß er die Erfolge Ihres Luftschiffs nicht mehr erlebt hat.« »Jedenfalls war der Schmied von Meersburg ein ganzer Mann«, sagte der Graf. »Ich denke immer wieder einmal daran, wie er damals Kober und mich empfing: Was wöllet Sie? I kann jetzt mei Sach net liege lasse.« Er lächelte und dämpfte seine Stimme. »Ich wollte, jeder dieser Herren Volksvertreter dächte ebenso!« Er legte dem langen Jungen die Hand auf die Schulter. »Jedenfalls bleibt es dabei, das nächstemal fahren wir nach Girsberg.« Schon bald ergab sich die Gelegenheit zur Erfüllung dieses Versprechens. Als noch in demselben Monat der König von Sachsen nach Friedrichshafen kam, um eine Fahrt im Luftschiff zu erleben, wurde der Meersburger Hans der Besatzung zugeteilt. Der Flug führte über den spiegelnden See, über Konstanz und den Rhein. Dann steuerte Zeppelin mit einer Wendung nach dem Dorfe Emmishofen und ging so tief hinab, daß die Luftschiffer über Girsberg Grüße mit Annette und ihrem Vater austauschen konnten. Schon am folgenden Morgen besuchte Hans Bartels seine Verlobte, um mit ihr und ihrem Vater den Tag der Hochzeit festzusetzen. Der alte Verwalter entschloß sich, nach der Ernte dieses Jahres aus seinem Amt zu scheiden und zu dem jungen Paar, dessen Flitterwochen dann vorüber sein würden, nach Friedrichshafen zu ziehen. Annette war stiller und ernster als sonst, erschien dem Meersburger Hans aber um so schöner und liebenswerter. Sie dachte mit Trauer an den bevorstehenden Abschied von der lieben Erde, auf der sie geboren und auf gewachsen
war, und zugleich mit Sehnsucht an die neue Heimat, dahin der geliebte Mann sie führen würde, die ihr noch fremd und doch lockend, neu und doch vorbestimmt seit Anbeginn war. Die reiche Landschaft rings um das schwäbische Meer prangte in allen Farben des Sommers. Der unbewegte See leuchtete bis tief hinab im schönsten kristallenen Blau. Die Glocken klangen mächtig und weithin hallend in der klaren Luft über Friedrichshafen, als das Brautpaar zur Trauung fuhr. Auf den vordersten Bänken der Kirche saßen die Ingenieure und Werkmeister des Luftschiffbaus, in erster Reihe Kubler, Kober, Dürr und die beiden neuen Männer in Friedrichshafen, Direktor Colsmann und Dr. Eckener. Auch Graf und Gräfin von Zeppelin mit ihrer Tochter waren gekommen. Sie hatten an Annettes hohem Tag nicht fehlen wollen. Seit fünfzig Jahren war Eßlinger Verwalter von Girsberg, und das freundschaftliche Verhältnis zwischen seinem Herrn und ihm war immer enger geworden. Auch die Freundschaft zwischen Hella und Annette hatte von ihrer gemeinsamen Kindheit her trotz allen Unterschieden ihrer späteren Lebensführung und Lebenswünsche standgehalten. Von der Tochter Zeppelins hatte die Braut Kranz und Schleier erhalten. Hinter den hohen Kirchenfenstern stand die Sonne und ließ glänzend bunte Lichter in dem heiligen Raum funkeln. Die Orgel begann feierlich zu tönen. Das junge Paar schritt langsam zum blumengeschmückten Altar vor. Annette war bleich, aber ein glückliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Vater Eßlinger folgte seinen Kindern, sehr verändert im ungewohnten schwarzen, langschößigen Rock und ohne seine langschäftigen Stiefel. Zum erstenmal ging er ein wenig gebeugt. Als er aber seinen Platz auf der Kirchenbank einnahm, richtete er sich wieder straff auf.
Die Orgelklänge schwollen brausend an. Hella von Zeppelin führte ihr Spitzentuch an die Augen. Auch sie würde in wenigen Wochen wie heute die Jugendgespielin vor den Altar treten. Ihr Vater ergriff unauffällig ihre Hand und drückte sie. Dann stand der Geistliche vor Annette und dem Meersburger Hans. Er wechselte ihre Ringe, legte ihre Hände ineinander und segnete den Bund. Wieder tönte die Orgel, und während auf ihren Steilen Pfeifen blaue, rote und silberne Flammen brannten, strömten ihre Töne jubelnd auf die Vermählten herab. Hans führte seine junge Frau hinaus in das neue, gemeinsame, reichere Leben. In der Kirchstube schloß Vater Eßlinger sie bewegt in die Arme. Hier nahmen sie die ersten Glückwünsche der Freunde und Bekannten entgegen. Dann fuhren sie zum Deutschen Haus. Zeppelin hatte dazu beigetragen, daß die Hochzeitsfeier der Tochter seines getreuen Verwalters und Freundes dort stattfinden konnte. Am Nachmittag aber zogen sich die jungen Eheleute zurück. Ein Kraftwagen der Werft brachte sie nach Meersburg im gesegneten Rebenland, der Geburtsstadt des langen Hans, dessen Vater dem Grafen das erste Flugschiffsmodell gebaut hatte. Sie gingen an der alten Schmiede vorüber. Durch die Weinberge stiegen sie hinauf zum Schloß und blickten über die Giebeldächer der kleinen Stadt und den leuchtenden See hinüber zu den weißen Bergen. Der Tag verging in feierlicher goldener Klarheit. Später saßen die beiden noch eine Weile im stillen Garten des Gasthauses, in dem sie für die Dauer ihres Aufenthalts eingekehrt waren. Dem glücklichen Hans sank alle lodernde Pracht des warmen Sommerabends wie ein strahlender Teppich vor die Füße der Geliebten. Als ein Schatten vorüberglitt, sah er auf. Eine rotgoldene selige Wolkeninsel fuhr durch das flimmernde Licht. Aus dem Baum, unter dem sie saßen, flog ein Starenpaar fröhlich lärmend auf. Danach war es wieder ringsum still.
Die Sonne versank, und schon schimmerten am Himmel die ersten silbernen Sterne auf. Annette saß zurückgelehnt und hielt die Augen geschlossen. »Nun komm«, bat er. Sie neigte den Kopf und folgte ihm in das Haus. Die Vermählten blieben einige Tage in Meersburg, dann zogen sie in ihr vorbereitetes Heim in Friedrichshafen ein. Ihr Glück wäre ungetrübt geblieben, wenn nicht wieder den Luftschiffbau eine Reihe schwerer Unglücksfälle getroffen hätte. Am Himmelsrand, die Aussicht jäh verfinsternd, reckte sich ungeheuer die schwarze Faust des grimmigen, unversöhnlichen Schicksals. Dreimal schlug sie besinnungslos wütend zu und zerschmetterte das Werk des Greises, der ihr heldenmütig Trotz bot. Bei Weilburg riß sich Z II von der Verankerung los, trieb führerlos gegen den Webersberg und brach mitten durch. Die »Deutschland« strandete in den Gipfeln des Teutoburger Waldes. Z IV wurde in Oos durch Feuer vernichtet. Im Mai 1911 schleuderte ein Sturmstoß die »Deutschland II« auf das Dach der Düsseldorfer Halle und zerbrach das Schiff in drei Teile. Schon meldeten sich wie vordem die Zweifler, und Zeppelins alte Feinde, die sich unter dem Zwang der Volksmeinung seit dem Tage von Echterdingen zurückgehalten hatten, erhoben neue Angriffe. Auch Moellenhof schrieb wieder einen spöttischen Brief an seinen Studienfreund Bartels. Die Mitarbeiter des Grafen aber waren in ihrem Glauben an den endgültigen Sieg nicht mehr zu erschüttern. Jedoch wurde auch die geschäftliche Lage noch einmal bedenklich. Frau und Tochter trösteten mit verdoppelter Anteilnahme und Liebe den alten Kämpfer, der den schon errungenen Erfolg seinen Händen entgleiten sah. Er war sehr schweigsam geworden. Nur einmal brach die Erbitterung aus ihm heraus, als er abends mit seinem vertrauten Mitarbeiter Eckener am
Schachbrett saß. Plötzlich warf er die Figuren durcheinander und erhob sich. »Lassen Sie uns aufhören! Mein Spiel steht sehr schlecht, und ich fühle meine Kraft schwinden. Bedauern Sie nicht schon, daß Sie zu mir gekommen sind?« Der andere schüttelte ernst den Kopf. »Exzellenz, hundert Fehlschläge können unsere Überzeugung nicht ändern.« Zeppelin stand am Fenster, hatte die Hände in den Jackentaschen geballt und sah starr in die Dämmerung hinaus. »Wer seine Überzeugung nicht der Nachwelt zum Verständnis bringen konnte, hat das Leben eines Narren gelebt.« Mit Heftigkeit wandte er sich um. »Muß es einem Mann, dem das Vaterland über alles geht, nicht das Herz abdrücken, daß die Erkenntnis des Wertes seiner Lebensarbeit maßgebenden Kreisen nicht aufgehen will. Meine Erklärungen, Warnungen und Bitten sind in den Wind geredet. Ich werde verlacht, bemitleidet, verdächtigt, genau wie früher.« Eckener sah den Grafen ruhig an; nur seine Stimme hatte einen wärmeren Klang. »Unser nächstes Schiff wird alles gutmachen, Exzellenz.« Und die ersten Fahrten der »Schwaben« brachten wirklich neue Erfolge. Daraufhin reiste in Zeppelins Auftrag der Direktor der Luftschiffbaugesellschaft Colsmann nach St. Blasien, um dort den Staatssekretär des Reichsmarineamts von Tirpitz in seinem Landhaus aufzusuchen und für die Förderung des gefährdeten Werkes zu gewinnen. Er traf bei seiner Ankunft im Garten Frau von Tirpitz beim Stachelbeerpflücken und wurde von ihr in das Haus geführt, wo ihn der Staatssekretär sehr unfreundlich empfing. Er fuhr sich ärgerlich durch seinen langen, zweizipfligen Bart. »Es ist mir nicht angenehm, daß Sie meinen Urlaub stören.« Dann rief er jedoch seinen Adjutanten herein und ließ den Besucher über die Leistungen der »Schwaben« Vortrag halten.
Colsmann lud ihn zu einer Fahrt in dem Luftschiff ein. »Ich will ein paar Wochen Ruhe haben!« brauste Tirpitz noch einmal auf. Colsmann ließ sich nicht beirren. »Das kann ich sehr gut verstehen«, sagte er. »Ich erlaube nur unter diesen Umständen den Vorschlag, durch Sachverständige unsere Auffassung prüfen zu lassen, daß die Luftschiffe zur Unterstützung der schwimmenden Flotte geeignet sind.« »Darüber läßt sich reden. Aber vor 1915 bestelle ich kein Luftschiff.« »Im Jahre 1915 bekommen Euer Exzellenz kein Luftschiff mehr.« »Wieso?« »Reise ich heute ohne Aussicht auf einen Auftrag nach Friedrichshafen zurück, so werden wir dort in wenigen Wochen unsere Zahlungsunfähigkeit erklären müssen.« Tirpitz griff sich wieder in den Doppelbart. Seine Augen verdunkelten sich gefährlich. »Die Welt wird von Tag zu Tag unfriedlicher. Die anderen gönnen uns nicht Arbeit noch Verdienst. Wir sind in größter Unsicherheit und müssen uns für den drohenden Kriegsfall rüsten. Sie wissen selbst, wie sehr es noch an der allgemeinen Einsicht in diese Notwendigkeit fehlt. Alle Schafsköpfe stecken Augen und Ohren tief in den Sand, um die Wahrheit nicht hören und sehen zu müssen.« Er schlug auf den Tisch. »Man gibt uns nicht das Recht, ihre dargebotenen Hintergesichter entsprechend zu bearbeiten. Wenn ich den Kerlen im Reichstag jetzt auch noch mit Luftschiffen komme, bewilligen sie mir die Torpedoboote nicht, die wir unbedingt brauchen.« Der Adjutant mischte sich ein. »Ich bitte Euer Exzellenz, sich einmal zwanzig Luftschiffe im Kriegsfall über London kreuzend vorzustellen.« »Auf Vorstellungen gebe ich gar nichts«, sagte Herr vonTirpitz, versprach dann aber die sofortige Entsendung von
Sachverständigen und forderte den Besucher auf, sich in einigen Wochen in Berlin wieder zu melden. Bei dieser zweiten Unterredung hatte Colsmann Gelegenheit, die völlige Rücksichtslosigkeit des Staatssekretärs zu erkennen, dem er am Schreibtisch gegenübersaß. Rechts stand ein Büchergestell, links hatte der Adjutant Platz genommen. Ohne daß ein Ausweichen möglich gewesen wäre, ließ Tirpitz den Besucher in die brennende Sonne, die hinter seinem eigenen Stuhl durch das Fenster schien, hineinblicken. Der Geblendete sah nur einen flimmernden Glanz um einen bärtigen, mächtigen Kopf. Er bewahrte jedoch seine Ruhe und Selbstsicherheit, faßte sic h so kurz wie möglich und stand auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Da erhob sich auch Tirpitz, und die Unterredung wurde im Stehen fortgesetzt, wobei sich beide unbehindert ansehen konnten. Colsmann hatte um eine Zuwendung von einer Million Mark gebeten, die durch Lieferung eines später zu bestellenden Luftschiffes ausgeglichen werden sollte. Dem Staatssekretär, dem ein sehr günstiges Gutachten der Sachverständigen bereits vorlag, war dieser Vorschlag genehm; er sagte also die Anweisung der erbetenen Summe zu und hielt sein Versprechen. Vier Luftschiffe konnten im folgenden Jahre auf der Friedrichshafener Werft gebaut werden; darunter das erste für die Kriegsmarine bestimmte. Vierhundert Aufstiege wurden ohne den geringsten Unfall unternommen. Die Schiffe »Viktoria Luise« und »Hansa« fuhren über See nach Helgoland und Kopenhagen. Im Juni 1913 steuerte Eckener die »Sachsen« nach Wien und landete auf dem Asperner Felde. Der alte Graf kam mit der Bahn und wurde vom Kaiser Franz Joseph zur festlichen Tafel nach Schönbrunn geladen. Vier Wochen später feierte Zeppelin seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag. Die Jahre schienen machtlos von ihm abzugleiten. Am Vormittag führte er selbst ein neues Flugschiff, sein zwanzigstes, auf der ersten Versuchsfahrt
über dem Bodensee. Auch sein treuer Mitkämpfer Dürr, seine Tochter und sein Schwiegersohn, befanden sich an Bord. Als der Ballon vor der Halle niederging, trat der Alte zu der jungen Frau, nahm ihre Hand und sagte leise: »Ich bin glücklich, Hella.« Am Nachmittag fuhren alle Arbeiter und Angestellten der Werft auf zwei großen, bunt bewimpelten und bekränzten Dampfern über den See nach dem Waldhaus Jacob. Von dort marschierten die siebenhundert Menschen zum Gasthaus Friedrichshöhe. Hier hatte im Auftrage des Grafen der Meersburger Hans alle Vorbereitungen zu einem fröhlichen Fest getroffen. Der alte Herr selbst nahm inmitten seiner Getreuen mehrere Stunden daran teil. Großer Jubel dankte ihm für die Ankündigung des Baues einer Arbeitersiedlung. Als er sich den stürmischen Hu ldigungen anders nicht entziehen konnte, sprang er kurz entschlossen trotz seinen Jahren aus dem Saalfenster und eilte zu dem bereitstehenden Wagen. Abends fand ihm zu Ehren ein Essen im Buchhorner Hof statt. Im Namen der Luftschiffbaugesellschaft erhob sich Colsmann und sprach aus, was die Herzen aller bewegte. Seine Exzellenz habe den Menschen neue Wege zu neuen Zielen gewiesen, habe ein leuchtendes Beispiel von Willen und Tatkraft aufgerichtet, sei dem Vaterlande in der Jugend ein Held in Waffen gewesen und habe im Alter eine Waffe für Helden geschaffen. Seine Exzellenz habe dieser Stadt zu einem ungewohnten Aufschwung verholten, habe seinen Getreuen eine große und schöne Arbeit zugeteilt, die dem Leben neuen Sinn gebe. Darum verehre und liebe jeder den Grafen, sage ihm am heutigen Tage seinen innigen Dank und wünsche ihm Glück und Heil für ein noch langes gesegnetes Leben. Brausende Hochrufe. Im Verlauf der Stunden aber nahm die Begeisterung noch zu. Bis spät in die Nacht hinein blieb der Fünfundsiebzigjährige inmitten seiner Gäste. Mehrfach bestieg er mit erstaunlicher Frische seinen Stuhl,
um sich für die Ehrungen zu bedanken. Schließlich fand das Fest einen vergnügliehen Abschluß, als sich in vorgerückter Zeit ein wohlbeleibter Konstanzer Stadtrat noch zu Wort meldete. Er hatte dem Wein reichlich zugesprochen, sein Gesicht war gerötet, und seine Stimme war ein recht rauher, kratziger Baß geworden. Im Überschwang seiner Freude schwankte er bald vorwärts, bald rückwärts, so daß ihn die helfenden Hände seiner Tischnachbarn manchmal stützen und ins Gleichgewicht zurückschieben mußten. Doch unbeeinflußt von solchen irdischen Hemmungen, stieg der Redner, wenn auch keuchend, zu unermeßlichen Höhen empör. Bewundernswert seien schon jetzt die Erfolge des Grafen, bald würden seine Luftschiffe das Reich der klingenden Gestirne erobern; dann würde Seine Exzellenz auf dem Saturn landen. Hier aber konnte auch der Redner nicht mehr weiter; er schnaufte noch einmal hörbar nach Luft, und noch bevor er sich an der Wirkung seiner Worte stärker berauschen konnte, erfolgte im Gelächter der großen Tafelrunde der jähe Sturz vom Saturn auf den rasch untergeschobenen Stuhl. Da stand der alte Graf noch einmal auf. Schmunzelnd strich er seinen Schnurrbart. »Die gute Meinung«, rief er, »die Sie, Herr Stadtrat, von meinem Flugschiff haben, freut mich aufrichtig, und ich bewundere Ihren seherischen Scharfblick in die Zukunft. Gleichwohl muß ich Ihnen schon nach kurzer Rücksprache mit meinen Kapitänen sagen, daß wir uns als ersten Stern, wenn es einmal möglich ist, nicht gerade den Saturn aussuchen werden. Man weiß nämlich nicht, mein lieber Herr Stadtrat, in wie gehobener Stimmung man dort oben anlangen könnte, und die Ringe des Saturn wären wohl imstande, einen Menschen völlig verdreht zu machen, so daß er sich aus ihren Kreisen möglicherweise nicht mehr herausfände.« Als bei diesen Worten der Verspottete selbst in seiner fröhlichen Verwirrung eifrig nickte, erschloß sich sogar Dürrs ernstes und hartes Gesicht einmal in einem lauten Lachen.
Dann verabschiedete sich der Graf von seinen Gästen. Nachdem er den Saal verlassen hatte, endete das Fest schnell. Bald traten auch die letzten Teilnehmer den Heimweg an. Die Julinacht war hell und warm. Unter dem Himmel fuhr das Mondschiff und spiegelte sich glänzend im Bodensee. *** Wieder hatten die tapferen Männer der Zeppelinwerft einen Sieg errungen, und wieder stand ihnen eine Niederlage bevor. Wieder zog ein grausames Unwetter schwarz herauf. Die beiden ersten von der Marine in Dienst gestellten Luftschiffe wurden zerstört. Schon im September stürzte L I bei Helgoland in das Meer. Nur vier Mann der Besatzung konnten von herbeieilenden Schiffen gerettet werden, alle anderen versanken mit dem Wrack in der stürmischen See. Im Oktober geriet L II, vor kurzem erst vollendet, bei einem Aufstieg in Johannisthal in Brand und stürzte aus dreihundert Meter Höhe ab. Achtundzwanzig junge hoffnungsvolle und wagemutige Offiziere, Ingenieure und Mannschaften fanden einen schrecklichen Tod. Der greise Erfinder war im Tiefsten erschüttert. Zum erstenmal waren bei Unfällen seiner Flugschiffe auch Menschenleben zu beklagen. Dürr brachte ihm die Zeitungen, stand starr mit zusammengebissenen Zähnen und wollte doch dem alten Herrn ein Trostwort sagen. Der Graf sah ihn an. »Geben Sie nur her!« Dann las er und erblaßte: »Jetzt ist es endlich offenbar, der Zeppelinballon ist die größte technische Verfehlung, welche die Welt je gesehen hat, ein technischer Unsinn von riesenhaften Ausmaßen. Nun wollen wir lieber von dem Zusammenbruch, ja dem Untergang des Grafen hören, als noch einmal die gellenden Rufe aus dem Flammenring: Schlagt mich tot! Wir verachten den Schwatz, der bei einer so beispiellosen Häutung vernichtender Unfälle das System noch zu entschuldigen versucht. Die Arbeiten Zeppelins sind
völlig aussichtslos. Das ist jetzt allen klar, die nicht mit Bewußtsein blind sein wollen.« Der Graf ließ die Blätter aus den Händen fallen. Ein qualvoller Blick traf Dürr, der mit zuckendem Gesicht vor ihm stand. Der Alte aber wandte sich schweigend um und ging gebeugt und mit müden Schritten aus dem Zimmer. Er fuhr nach Stuttgart. In seiner dortigen Wohnung am Herdweg emfing ihn die Gräfin mit der stillen Freundlichkeit des unbeirrbaren Gefährten, der allein durch sein Dasein Trost und Hilfe zu geben vermag. Zeppelin zog sie an sich und fühlte, wie ihre Finger leicht und zärtlich über seine Schläfen strichen. Dann saß er ihr gegenüber. Sie war alt geworden, und er hatte in den Jahren ihrer Lebenshöhe kaum einmal Zeit für sie übrig gehabt. Plötzlich entsann er sich jenes Abends in Straßburg, als sie ihn gebeten hatte: Behalte oft eine stille Stunde für mich! Nun war ihr Haar weiß, aber ihre Augen waren noch dieselben, die ihn einst beglückt hatten. Und während ihre Blicke sich ineinander versenkten, sah er wieder die geliebte junge Frau vom Beginn ihrer Ehe, zart und schmal, mit leichten anmutigen Bewegungen, das volle Haar über der hellen Stirn gescheitelt, die Lippen schön geschwungen. »Du hast es mit mir sehr schwer gehabt«, sagte er traurig. Sie lächelte ihn an. »Ach, Lieber, ich habe mir nie gewünscht, daß etwas zwischen uns anders wäre.« Da nahm er ihre Hand und küßte sie. »Du sollst nicht erleben, daß ich unterliege. Ich will schon morgen nach Friedrichshafen zurückreisen.« Sein Gesicht erhärtete sich. »Wir werden uns auch diesmal behaupten. Das Vaterland ist ein eiserner Herr und fordert alle Kräfle. Blut und Leben von denen, die ihm dienen. Wo einer fällt, muß ein anderer in die Bresche springen.«
Er sah in weite leuchtende Fernen. »Die Toten aber belohnt das Höchste, was die Erde kennt, der unsterbliche Ruhm.« Es war übermenschlich, es war ein Wunder, daß der Fünfundsiebzigjährige noch einmal die Kraft fand, sich aufzurichten und den Kampf für sein Werk fortzusetzen. Diese heldische Tapferkeit und Willenskraft aber gewann ihm bald die Herzen des ganzen Volkes zurück. Die Arbeiten auf seiner Werft wurden nicht unterbrochen. Die zwischen ihm und Admiral von Tirpitz nach den Unfällen der beiden ersten Marineluftschiffe entstandenen persönlichen und sachlichen Streitigkeiten konnten in kurzem beigelegt werden, und die Zusammenarbeit zwischen Marine und Luftschiffbau wurden in erneutem gegenseitigem Vertrauen und gutem Einvernehmen wieder aufgenommen. Endlich gab sich das Schicksal überwunden. Alle weiteren Aufstiege und Fahrten gelangen. »Nun sind wir obenauf«, sagte der alte Herr. »Meine Luftschiffe machen ihren Weg, und meine Mitarbeiter haben mich kaum noch nötig.« Aber schon wandte er sich einer neuen Aufgabe zu und errichtete in Seemoos seinem jungen Ingenieur Dornier eine Halle für die Erbauung eines großen Flugbootes aus Stahl und Leichtmetall, eines Doppeldeckers von fast fünfzig Meter Spannweite mit drei starken Motoren. Er selbst verbrachte manche Stunde an diesem Neubau und kümmerte sich um jede Einzelheit. Sein hohes Alter hinderte ihn nicht, die steilen Leitern und Gerüste zu erklettern, um zu sehen, wie die riesigen Flügel, die an Kranen unter dem Hallendach hingen, zusammengestellt und an den Rumpf gefügt wurden. Während der Arbeit ergaben sich jedoch immer neue Fragen, deren schwierige Lösung die Fertigstellung des Flugbootes noch lange verzögerte. Im Frühling geleitete der Graf seinen treuen Verwalter Eßlinger zu Grabe.
Der Verstorbene hatte im Hause seiner Kinder in Friedrichshafen noch die Freude erlebt, Großvater zu werden. Annettes Kind war ein gesunder, kräftiger Junge, noch feingliedrig wie die Mutter und schon mit dem ehrlichen, guten Gesicht und schwäbischen Dickkopf des Meersburger Hans. Der strenge Winter hatte dem wetterfesten dreiundachtzigjährigen Vater Eßlinger nichts anhaben können. Als aber der neue Frühling wieder über die Berge wehte und schon der See blühte, da wieder der Blütenstaub der vieltausend Uferbäume die leise bewegte Fläche mit einer samtenen goldgelben Schicht bedeckte, war der alte Mann über Nacht schwer erkrankt. Seine Tochter hatte ihn aufopfernd gepflegt, hatte unermüdlich an seinem Bett gesessen und seine verarbeiteten, runzligen Bauernhände gehalten. Eßling war sehr still und geduldig gewesen. Der Arzt hatte nicht mehr für ihn tun können, als das Fieber immer wieder zurückzudämmen, das doch die letzten Lebenskräfte des alten Mannes aufzehrte. In der Todesnacht hatte er sich aufgerichtet. Hans war auf den Ruf Annettes hin aus dem Nebenzimmer hinzugeeilt und hatte ihn mit Kissen gestützt. Der Sterbende hatte seinen Enkel noch einmal zu sehen verlangt. Annette brachte das Kind auf ihren Armen, aber bevor sie an das Bett zurückgekommen war, hatten Eßlingers Augen sich geschlossen. »Das Korn ist reif«, hatte er noch mit brechender Stimme gesagt und seine Hände über der Brust gefaltet. Dann war er zurückgesunken und mit einem tiefen, befreienden Atemzug entschlafen. Hans hatte seiner Frau den Jungen abgenommen, und Annette war schluchzend neben dem Verstorbenen niedergesunken. Als auch der Kleine zu weinen begann, trug sein Vater ihn schnell hinaus.
Er kam zurück und hob Annette behutsam auf. »Du mußt nun auch wieder an mich und das Kind denken. Wir wollen einen braven Mann aus ihm machen, der seinem Großvater gleicht.« Als Zeppelin am Grabe Eßlingers stand und die schmale, schwarz gekleidete Gestalt Annettes sah, die nur mit äußerster Anstrengung sich aufrecht hielt, dachte er: So wird Hella vor meinem Sarge stehen. Wer weiß, wie bald? Er warf drei Handvoll Erde in die Grube. »Du warst ein guter und getreuer Knecht unserer lieben Heimat. Gott gebe dir die verdiente ewige Ruhe. Auch ich habe mich redlich bemüht, meine Schuldigkeit zu tun. So hoffe ich, wir werden uns wiedersehen.« Auf der Heimfahrt nahm er Hans und Annette bis zu ihrer Wohnung in seinem Wagen mit. Er selbst hatte seit einiger Zeit eine geschlossene Reihe von Zimmern in einem Flügel des neuen Kurgartenhotels bezogen. Die Räume waren weder hoch noch groß, aber behaglich eingerichtet. Der Wandschmuck bestand zumeist aus Abbildungen seiner Luftschiffe, aus Spottbildern, die ihm zugeschickt wurden, aus den gerahmten Ehrenbürgerbriefen und anderen wertvollen Urkunden. Das Arbeitszimmer erinnerte an die Kapitänskajüte an Bord eines Überseedampfers. Hier saß er abends nach dem Essen oft mit einem seiner Herren beim Schachspiel, das er so meisterhaft beherrschte, daß es nur selten einmal einem Gegner gelang, ihn mattzusetzen. Er führte seine Züge mit Lebhaftigkeit und Siegeszuversicht aus, liebte den sofortigen Angriff im Zentrum auf den feindlichen König, änderte aber oft seinen ursprünglichen Plan mit plötzlicher Entschlossenheit und nur um so zielsicherer. Es war verständlich, daß ihn mit anderen Bittstellern auch viele vermeintliche Erfinder, hemmungslose Schwärmer, Faselhänse, Wirrköpfe und eitle Selbstbetrüger um Hilfe angingen. Eines Tages brachte ihm Hauptmann Wilcke, ein neuer Mitarbeiter, einen acht Seiten langen Brief,
der unter Anschrift der Luftschiffbaugesellschaft eingetroffen war, und dessen Absender sich hoch und heilig verschwor, den Traum der geheimnisvoll gelehrten Goldköche wahrgemacht und künstliches Gold gewonnen zu haben. Zeppelin lachte. »Den Mann könnten wir wahrhaftig gebrauchen!« Wilcke wollte das Schreiben unbeantwortet lassen, aber dem Grafen gefiel es, sich den Goldmacher einmal anzusehen. Er ließ ihn auffordern, zu weiteren Mitteilungen nach Friedrichshafen zu kommen, und es erschien ein hagerer Mann mit ungezügelten schlenkernden Bewegungen und wilden Blicken. Er war in einen langen schwarzen Schoßrock geknöpft. Den erschreckend hohen Kragen schloß eine haßgelbe, rotgetupfte Schleife. Seine Finger, in schwarzen Glanzlederhandschuhen, drehten den seidenen Klapphut. Der närrische Sonderling gab an, aus zwei bestimmten, nicht goldhaltigen Stoffen könnte er eine Verbindung herstellen, die auch das Edelmetall reichlich enthielte. Die Frage, wie groß die Ausbeute an Gold im Verhältnis zur Menge der verwendeten Stoffe wäre, beantwortete er selbstbewußt und mit einer großartigen Handbewegung: »Fünfzig vom Hundert.« Als Wilcke sah, wie der Graf in Verlegenheit geriet, stand er auf und erklärte wütend, daß Seine Exzellenz es sich versagen müsse, seine kostbare Zeit mit dem Anhören solchen Schwindels zu verlieren. Aber der alte Herr legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm und bat ihn, zu einer kurzen Rücksprache in das Nebenzimmer mitzugehen. Dort fragte er: »Wilcke, können Sie es wirklich verantworten, den Mann so grob zu behandeln?« »Exzellenz, der Kerl ist vollständig verrückt oder ein gemeiner Gauner.« »Verrückt? Sehen Sie, mein Lieber, ebenso wie dieser Unglücksmensch habe ich selbst früher vor den Leuten
gesessen und ihnen meine Gedanken und Pläne vorgetragen; und genau wie Sie mit ihm umgehen, so haben jene mich behandelt. Das läßt sich nicht vergessen. Seien Sie nicht allzu unfreundlich zu dem armen Narren. Sagen Sie ihm in Ruhe, er solle das Gutachten eines Chemikers vorlegen; davon müßte ich es abhängig machen, was in seiner Sache von mir aus geschehen könnte.« Der Schwarze erhielt diesen Rescheid. Er verbeugte sich stumm mit einem prachtvollen Schwung seines glänzenden Hutes und verschwand, ohne jemals wieder von sich hören zu lassen. Der Graf rief Wilcke noch einmal zu sich. »Dieser Goldmacher war ein Hanswurst. Aber haben Sie schon einmal bedacht, wie viele begabte Menschen auf hohem Geistesflug in die Irre geraten, wie viele von ihnen wirtschaftlich und geistig untersinken, nur weil sie nicht Hilfe oder Rat finden, solange sie dafür noch empfänglich sind? Es müßten besondere Einrichtungen geschaffen werden, die jede nutzbare Erfindung und zugleich das Schicksal der Erfinder dem Zufall entziehen. Ich würde gern durch eine Stiftung dazu beitragen.« Nachdenklich ging er im Zimmer auf und ab. »Wie oft ist mein Unternehmen dem Zusammenbruch nahe gewesen, nur weil bei mangelnder Sorgfalt und Weitsichtigkeit in der Beurteilung meiner Pläne der verlangte goldene Hintergrund nicht erblickt wurde. Die einseitige, nüchterne kaufmännische Rechnung ist durchaus nicht immer richtig. Das selbstlose, hochfliegende Wagnis muß auch zu seinem Recht kommen. Solche Doppelspannung entspricht dem wahren deutschen Wesen. Gilt es einmal, zwischen Waagen und Rechnen zu wählen, so führt uns eine tapfere Unbesonnenheit meist weiter als ängstliches Klügeln.« Er blieb stehen. »Nun gut; ich bin nicht dazu da, weise Worte zu wählen. Ich will noch einmal zu Dornier hinausfahren. Regleiten Sie mich?« »Gern, Exzellenz.«
Die Arbeiten an dem Flugboot Dorniers waren in den letzten Wochen weiter fortgeschritten. Im Riedlepark aber standen die Werkstätten des Luftschiffbaus. Dort wurde geschmiedet, gehämmert und genietet. Der Lärm der Arbeit dröhnte in die Straßen der Stadt Friedrichshafen hinein. In der Welt war Friede. Deutschland arbeitete fleißig, ehrlich, strebsam und erfolgreich für sich und die anderen. In den Hallen der Fabriken liefen mit singenden Riemen und sausenden Schwungrädern die großen Maschinen. Tüchtige Handwerker saßen vor ihren Werktischen. Die Bergleute fuhren in die Schächte ein. Der Sommer zog prächtig über die gesegneten Felder, und schon glänzten die ersten Früchte an den Zweigen. Die Sensen der Bauern mähten wieder in kräftigem Schwung die duftenden bunten Wiesen. Hochbeladene Heuwagen schwankten durch die Tore der Gehöfte und der kleinen alten Städte. Dunkler wurde das Grün der weiten Wälder. In hohem Bogen stieg die Sonne am wolkenlosen Himmel auf. Da krachten in Serajewo, der bosnischen Hauptstadt, die Revolverschüsse, mit denen der verfluchte Mensch Princip, serbischer Student, den österreichisch - ungarischen Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Gemahlin ermordete. Ein Donner rollte über Europa und brachte den ganzen Erdteil zum Beben. Österreich forderte Genugtuung. In Petersburg saß in diesen Tagen der Deutschenfresser Poincaré. Er und die russischen Staatsmänner beeinflußten die ablehnende serbische Antwort. Am Tage der Überreichung befahl Serbien die allgemeine Mobilmachung seines Heeres. Gleichzeitig ordnete der Zar den Kriegsvorbereitungszustand für ganz Rußland an. England hatte bereits seine Flotte versammelt, und Frankreich war seit langem zum Schlage gegen den Nachbarn gerüstet. Zwischen den Hauptstädten Europas war ein überstürzter Notenwechsel im Gange. Der Kaiser kehrte von seiner Nordlandreise nach Berlin zurück und unternahm die
letzten Versuche, durch Einwirkung auf den Zaren die stündlich wachsende Kriegsgefahr zu bannen. Am 28. Juli des Schicksalsjahres 1914 erklärte Österreich-Ungarn an Serbien den Krieg. Am 31. forderte Deutschland die Aufhebung des russischen Mobilmachungsbefehls. Am Abend dieses verhängnisvollen Tages saß in Friedrichshafen der alte Graf Zeppelin mit Wilcke beim Schachspiel. Sie stellten die Figuren auf, losten, wer anzufangen hätte, und einige Züge wurden getan. Dann aber stockten Angriff und Verteidigung in der Entwicklung, beide Spieler waren von Gedanken bewegt, die weder rechte Lust noch Sammlung aufkommen lassen wollten. Plötzlich stürzte der alte Herr die beiden Könige um. »Wir wollen aufhören; es wäre kindisch, weiterzuspielen. Jetzt sind andere Schachfiguren in der Aufstellung begriffen auf einem Felde, auf dem jeder Zug Ströme von Blut kostet, und das Schachmatt wird nicht nur den Verlust eines Königs bedeuten, sondern das Schicksal von Millionen Menschen entscheiden.« Dann erzählte er von seinen Erlebnissen im letzten Kriege. »Der Kampf, der uns jetzt bevorsteht, wird hundertmal schwerer werden, und alles kommt darauf an, unserm Volke richtig vorzustellen, daß es nur um unser heiligstes Recht geht, Haus und Herd zu schützen. Unter dieser Voraussetzung aber müssen wir sofort alle Machtmittel einsetzen. Wir haben nur wenige Verbündete gegen unsere vielen Feinde, und die Zeit wird nicht für uns, sondern gegen uns sein. Ich hoffe, auch meine Luftschiffe werden bald Verwendung finden.« Der nächste Tag brachte die Mobilmachung des Heeres und der Flotte. Bauern und Städter zogen den feldgrauen Soldatenrock an. Alle wurden einander gleich in Kleidung und Schritt und in der mutigen Entschlossenheit ihrer Herzen. Frauen und Kinder griffen tapfer zu den Werkzeugen, die ihre Väter oder Gatten aus der Hand legen mußten. Die verschiedenen Kräfte, Wünsche und Ziele der einzelnen und
der Stände wurden zu einer einzigen riesigen Macht, zu einein einzigen Willen des Volkes. Die vielfältigen Eigenheiten der Stämme ergossen sich in den einen, breiten, brausenden Strom ihres gemeinsamen Deutschtums. Der Graf fuhr nach Girsberg, um dort vor der Durchführung der Grenzsperre seine Anordnungen zu treffen. Vor allem wollte er seine noch dort befindlichen Pferde auf deutschen Boden herüberbringen. Es gelang ihm, und die Schweizer schüttelten verwundert den Kopf, als sie den alten Herrn, dessen Bescheidenheit allgemein bekannt war, sechsspännig über Land fahren sahen. Lachend kutschierte er in Friedrichshafen ein, kaum eine halbe Stunde, bevor ein Schweizer Unteroffizier nach Girsberg kam, um die Pferde für den Grenzschutz anzufordern.
V Der deutsche Kriegsplan hatte die Einnahme Lüttichs mit seinen zahlreichen Maasübergängen durch einen sofortigen kühnen Handstreich vorgesehen. Sechs durch Artillerie und Pioniere verstärkte Infanteriebrigaden wurden an die Grenze geworfen und unter Führung des Generals von Emmich schon in der Nacht zum 5. August von Norden, Osten und Südosten zum Einbruch in die Linie der Lütticher Forts angesetzt. Der Stoß traf auf einen wider Erwarten starken Ausbau des Zwischengeländes. Ein schweres nächtliches Gewitter brach aus. In das Donnerrollen krachten die Abschüsse der Geschütze. Brüllend barsten die Granaten, und klirrend zersprangen die Schrapnells. An der Spitze seines Zuges stürmte der Reserveleutnant Moellenhoff aus Mülheim durch den peitschenden Regen. Heftiges Schützenfeuer zwang die Angreifer zu Boden. Dicht über ihren Köpfen zischten die Geschosse. Dann zog sich der Feind plötzlich zurück, und das erneute deutsche Vorgehen stieß zunächst kaum noch auf Widerstand. In einem kleinen, mit dichtem Unterholz bestandenen Waldstück aber geriet Moellenhoff mit seinen Leuten in einen wilden Granatenschlag. Blitze zerrissen die Finsternis. Fauchend flogen die Sprengstücke. Äste brachen von den Bäumen. Stämme barsten schreiend. Unter erheblichen Verlusten erreichten die Angreifer den jenseitigen Waldrand, und schon schlug ihnen wieder das Gewehrfeuer der feindlichen Schützen entgegen. Jedoch von rechts und links riefen aus der brüllenden Dunkelheit die wilden Trommeln und Hörner zum Sturmangriff. Moellenhoff kauerte sich zum Sprung. »Auf! Marsch marsch!« Er hatte sich kaum erhoben, als er einen harten Schlag gegen die Brust erhielt.
Ein stec hender Schmerz ließ ihn im Lauf einhalten, und während sein Zug vorwärts in die tödliche Nacht stürmte, sank er taumelnd auf die Knie und fiel langsam seitwärts in das feuchte Gras. Seine Finger versuchten, den Waffenrock auf zuknöpfen, unter dem er das warme Blut aus seiner Wunde fließen fühlte. Er verlor das Bewußtsein. — Das Gewitter war abgezogen, und der Morgen dämmerte schon, als er wieder zu sich kam. Der Gefechtslärm war verstummt. Das schien ihm kein gutes Zeichen zu sein. Er wollte sich aufrichten, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu. Ob sie ihn bald fanden? Es war wohl gleichgültig, er wußte jetzt, daß er sterben mußte. Irgendwoher hörte er einen qualvollen Ruf, wieder und wieder den gleichen Aufschrei aus Todesnot, und wußte nicht, ob er von fern oder in seiner Nähe klang. Neben ihm stützte sich jetzt ein Mann mit blutüberströmtem Gesicht stöhnend hoch, beugte sich über ihn. Eine erstickende Stimme flüsterte: »Wir sind zurückgeschlagen worden.« Moellenhoff lag starr auf dem Rücken, er konnte nicht einmal die Arme heben. Aber jäh verschwand das entstellte Gesicht, und ein schwerer Körper fiel quer über ihn hin. Unerträglicher Durst ließ seine Kehle brennen. Die Zunge lag ihm bleischwer im Munde. Wieder verließ ihn das Bewußtsein. Als er zum letztenmal die Augen öffnete, war die Sonne am strahlend blauen Himmel aufgegangen. Nur aus weiter Entfernung hörte er einzelne Gewehrschüsse. Wo blieben die Kameraden? Was war geschehen? Und mit würgendem Griff überfiel ihn die schreckliche Frage: Was würde geschehen, wenn der Krieg nicht gut für die Seinen ausginge?
»Herrgott im Himmel«, betete er, »gib uns den Sieg!« Ein leises metallisches Singen klang aus der Höhe, verstärkte sich in schnellem Näherkommen, schwoll zu brausenden Orgeltönen an. Und nun fuhr es durch die flimmernde Luft daher in silbernem Glanz, unbeirrbar, groß und mächtig, eine himmlische herrliche Siegesverheißung. Mit dem Opfer seiner letzten Lebenskraft richtete Moellenhoff sich auf und streckte die Arme in schmerzhafter Verzückung empor. »Hurra Zeppelin!« schrie er, der bis zu dieser Stunde an dem Flugschiff des schwäbischen Grafen gezweifelt hatte. Aber sein jauchzender Ruf gegen den Tod war nur ein undeutlicher Laut. Jäh fiel er zurück. Seine Glieder streckten sich steif aus, seine weit offenen Augen brachen, und fern verklang das stolze Sturmlied der großen Flügelschrauben. *** Bald nach der Einnahme von Lüttich erschien als erstes deutsches Luftfahrzeug ein Flugschiff drohend über Paris. Auf den Zeppelinwerften wurde mit der größten Anstrengung am beschleunigten Bau weiterer Luftkreuzer gearbeitet, und in England erwartete man zitternd den Angriff der neuen Kriegswaffe, gegen die es zunächst keine Abwehrmöglichkeiten gab. Das Luftdepartement der britischen Marine mußte zugeben, daß es nach sorgfältiger Überlegung und Durchführung aller erdenklichen Gegenmaßnahmen dennoch gegen einen solchen Angriff vollständig machtlos bliebe. Die Flugzeuge waren noch nicht imstande, die Höhen zu erreichen, in denen sich die Zepps halten konnten. Lord Fischer, Erster Seelord, verlor in seiner ohnmächtigen Wut Nerven, Haltung und Anstand. Er verlangte für jede abgeworfene Bombe die Tötung eines deutschen Gefangenen.
Im Januar 1915 legte Admiral von Pohl dem Kaiser eine umfangreiche Denkschrift mit der Forderung einer entscheidenden Änderung der Seekriegsführung vor. Der Führer der Hochseeflotte sollte eine größere Selbständigkeit erhalten. Der Kaiser gab seine Zustimmung und schränkte sie sogleich ein: »Größere Unternehmungen sind mir auch weiterhin vorher zu melden.« Der Admiral fuhr in seinem Vortrage fort: »In den nächsten Monaten sollen bei ruhiger und kalter Witterung Luftschiffe gegen England ausgesandt werden. Angriffsziele sind die militärisch bedeutsamen Teile Londons.« Wieder schränkte der Kaiser ein. Die englische Hauptstadt selbst sei unter allen Umständen zu schonen. Dagegen sollten Arsenale und Docks auch dann bombardiert werden, wenn sie innerhalb Londons lägen. Pohl wußte, wie unvollkommen die ersten Zielvorrichtungen der Flugkreuzer waren. Es würde sich kaum vermeiden lassen, daß bei den Abwürfen auch Straßen und Wohnhäuser getroffen wurden. Der Admiral schwieg, um nicht zu gefährden, was er erreicht hatte. Er kannte die Bemühungen des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg, jede größere Unternehmung gegen England zu verhindern. L 6 unternahm die erste Kriegsfahrt über die Nordsee. Um zehn Uhr vormittags stieg das Luftschiff unter Führung des Freiherrn von Buttlar an der Küste auf. Vom Heck wehte die große Reichskriegsflagge. An der Steuerung stand der Meersburger Hans. Noch einmal flogen seine Wünsche zurück in die Heimat im Süden des Vaterlandes, zu Annette und dem Kinde, zum alten Grafen, dessen Werk vielleicht dazu bestimmt war, einen mächtigen Feind auf die Knie zu zwingen. Dann richteten sich Blicke und Gedanken der Fahrt voraus. Drunten lag das Meer, kalt, unbewegt und klar wie eine unendliche grüne Glasplatte.
Als die Dämmerung anbrach, erreichte L 6 Terschelling. Gegen zehn Uhr abends würde es über England sein. Die Dunkelheit breitete sich aus, und an Bord des fliegenden Kreuzers wurden alle Lichter gelöscht. Plötzlich erhob sich ein starker Gegenwind. Der Benzinverbrauch wurde außergewöhnlich groß. Dennoch nahm die Fahrtgeschwindigkeit des Luftschiffes immer mehr ab. Es wurde elf Uhr. Ein Ankertau, die Konservenbüchsen, der große Schraubenschlüssel, der halbe Kartenbestand, die Fallschirme flogen über Bord. Mitternacht. Die englische Küste war noch immer nicht erreicht. Aus der Führergondel erging der Befehl: »Betriebsstoff peilen!« Im Gesicht des Kommandanten verzog sich keine Miene, als die Antwort zurückkam: »Nur noch für sechs Stunden Benzin.« Das Luftschiff setzte die Fahrt fort. Dann schoß jäh ein greller weißer Lichtstreif auf, ein zweiter und dritter kreuzten einander, erloschen, glitten wieder durch die Nacht. Jetzt fuhr L 6 mitten durch die blendenden Strahlenbündel der englischen Scheinwerfer. Und schon wurden die ersten Bomben abgeworfen. Das Feuer der Abwehrbatterien blieb unwirksam. Die Besatzung des Flugkreuzers sah den roten Flammentanz der ausbrechenden Brände. Langsam wendete das Schiff ostwärts und glitt unerreichbar aus dem aufgeregten Scheinwerferlicht in die Finsternis zurück. Nun hatte es den heftigen Wind im Rücken. Doch als es am nächsten Tage Hamburg erreichte, waren nur noch anderthalb Liter Betriebsstoff vorhanden. Zeppelin war selbst gekommen, die kühnen Luftfahrer zu begrüßen. Bartels mußte ihm über seine Beobachtungen ausführlich Bericht erstatten. Er wußte verschiedene Verbesserungen vorzuschlagen und wurde für einige Monate
nach Friedrichshafen zurückgeschickt, um dort seine Erfahrungen auszuwerten. Annette, die ihr zweites Kind unter dem Herzen trug, stand auf dem Bahnsteig, als er ankam, und winkte ihm entgegen. Schon bei der Einfahrt erkannte er ihren dunkelblauen Mantel und ihre graue Pelzkappe. Dann sah er ihr Gesicht vor dem Abteilfenster. Ihre Haut war von der kühlen Luft frisch gerötet, ihre großen Augen strahlten. Und als sie ihn in der Freude über seine Heimkehr mit beiden Armen fest umschlungen hielt, löste sich die bange Sorge der letzten Tage in den Tränen, die ihr unaufhaltsam über die Wangen liefen. In der Folgezeit war ihr tägliches Gebet der inbrünstige Dank ihres zitternden Frauenherzens für die Sicherheit des geliebten Mannes, während der Krieg in seiner schreienden Wut die dunklen grausamen Reiter Not und Tod zu immer wilderem Ansturm gegen die deutsche Mannschaft hetzte. Anfang August erhielt Hans den Befehl, wieder an einer Fahrt nach England teilzunehmen. Der Abschied wurde den jungen Eheleuten sehr schwer; die Geburt des Kindes stand nahe bevor. Annette hing sich schwer an ihren Mann. »Ich lasse dich nicht fort!« Er führte sie zu einem Lehnstuhl, zwang sie, sich zu setzen, und löste sich von ihr. »Wir müssen unsere Pflicht tun. Wenn ich sterben muß, behält deine Liebe mich doch für immer. Aber heute hat den ersten Platz im Herzen das Vaterland.« Annette schwieg. Sie ließ sich nicht abhalten, ihn zur Bahn zu begleiten, stand reglos und mit starrem Gesicht, als der Zug abfuhr. In der nächsten Nacht kam ihre schwere Stunde. Auch ihr zweites Kind war ein gesunder und kräftiger Junge. Sie lag bleich und erschöpft in den Kissen und dachte an den
Vater des Neugeborenen. Wo unter dem dunklen Himmel und über dem Meer mochte er jetzt sein? War der Kleine ein neues Unterpfand ihres gemeinsamen Glücks, oder war er das Vermächtnis eines Toten? — In dieser Stunde erwachte London mit einem Entsetzensschrei vom Gebrüll und Geklirr der berstenden Bomben, vom krachenden Einsturz der getroffenen Häuser. Die Angreifer sahen, wie die Lichter der Stadt erloschen und die ausgedehnten Brandstätten um so heller aufglühten, die Strahlenschwerter der Scheinwerfer um so greller über den Nachthimmel fegten. Auf der Rückfahrt erhielt das Luftschiff einen Treffer. Ein jäher blutroter Feuerschein stand steuerbord, ein betäubender Schlag zerriß die Luft. Auf die zweite Gondel prasselte der Hagel der Schrapnellkugeln. Der Kommandant Petersen und neben ihm der Meersburger Hans hatten vor dem plötzlichen zischenden Flammensturz die Augen geschlossen. Nun sahen sie sich wieder um. Brannte das Schiff noch nicht? »Fahrthöhe?« fragte der Führer. »5500«, rief der Ingenieur. Ein Segelmacher taumelte über den Laufsteg heran. »Drei Zellen sind völlig leergelaufen.« Noch immer erfolgte keine Explosion. Aber das Schiff sank. »Ballast über Bord!« Petersen nahm Fahrtkursrichtung gegen Ostende. An eine Rückfahrt nach Deutschland war nicht mehr zu denken. Immer tiefer sank das Schiff, und immer näher kamen die gierigen Wogen der See. Der Funker gab eine letzte Meldung nach Brügge: der Kommandant ließ um Entsendung eines Torpedobootes bitten. Dann wurde die ganze Funkbude abgeworfen. Die Maschinengewehre klatschten ins Meer.
Die Besatzung hatte kaum die Plattform auf dem Ballon erstiegen, als die Gondeln in das Wasser tauchten. Ein Maschinist hatte die Flagge mit heraufgebracht. Inzwischen eilte unter einer schwarzen Rauchfahne in höchster Fahrt ein Torpedobootszerstörer von Ostende heran. Es gelang ihm am Morgen, das Wrack aufzufinden und die Schiffbrüchigen in letzter Stunde zu retten. Wenige Tage später stand Hans Bartels wieder vor dem alten Grafen und schilderte dem Erfinder seine Erlebnisse und Beobachtungen. Wieder wurde er zur Friedrichshafener Werft gesandt. Daheim empfing ihn Annette, das Kind an der Brust. Sie war wieder wohlauf. Eine frohe Mütterlichkeit erfüllte sie und ließ sie ruhiger sein, als es bisher ihre Art gewesen war. Sie wußte, daß ihr Mann auch diesmal nicht bei ihr bleiben konnte, aber sie beschränkte ihre Liebe nicht mehr auf sich selbst. Sie hielt ihr Empfinden zurück, um daraus immer neue Kraft des Glaubens und der Tapferkeit zu nehmen. Das zweite Kriegsjahr hatte begonnen. In London aber ging das Grauen um. Die Admirale waren sich darüber klar, wenn die Deutschen mit ihren Zepps in jeder Nacht über England erschienen, wäre der Krieg in wenigen Wochen beendet. Aber sie kamen nicht. Ihr Erbauer fuhr vor Jahresende nach Berlin. Er wollte selbst einen Versuch machen, den Widerstand des Reichskanzlers gegen seine Pläne zu überwinden. Alle Luftschiffe sollten gleichzeitig ausgeschickt werden, um einen entscheidenden rücksichtslosen Schlag gegen das Inselreich zu führen. Das würde barmherziger sein, als durch unnötige Verlängerung des Krieges die Leiden aller Völker unermeßlich zu steigern. Siebenundsiebzig Jahre war Zeppelin alt. Er war in gewaltiger Erregung. Seine Augen flammten, und der weiße Schnurrbart sträubte sich. »Heute noch können meine Schiffe
die englischen Kriegshäfen zerstören, Transporte unterbinden, der englischen Flotte erheblichen Schaden zufügen. Der zögernde Einsatz einzelner Luftschiffe hat auf die Dauer keine genügende Wirkung, setzt nur den Feind in die Lage, seine Abwehr zu verbessern. Das Flugzeugwesen entwickelt sich schnell und beginnt schon jetzt eine Gefahr für die Flugschiffe zu werden. Monate, Wochen können die Überlegenheit Englands bringen. Dann ist eine stolze und starke Waffe, für Deutschland geschmiedet, wertlos geworden.« Was er zu erreichen hoffe? »Den entschlossenen, überraschenden Einsatz aller Luftschiffe, unterstützt durch die Flotte. Das ist die einzige Möglichkeit, England zu treffen.« Der Kaiser habe Nachrichten aus England, die einer solchen Ansicht gründlich widersprächen. Die bisherigen Luftschiffangriffe seien nur ein Frauen-und Kinderschreck gewesen, böse Nadelstiche ohne tatsächliche militärische Erfolge. Der Graf brauste noch einmal auf. »Ich habe mit Tirpitz gesprochen, weiß, wie es ihm und anderen entschlossenen Männern ergangen ist, als man ihnen das Wort abnahm, gewisse Dinge nicht zu erwähnen, als der Kaiser sie zum Vortrag kommen ließ.« Tränen standen dem erregten alten Mann in den Augen. »Ein Ring umschließt den Kaiser. Aber der Fluch des ganzen Volkes trifft in alle Ewigkeit jeden, der eine letzte Möglichkeit nicht nützt, dieses üble Geschranz zu durchbrechen, das durch Schlappheit oder mangelhaftes Verständnis unsern Sieg verhindert.« Der greise Admiral der Lüfte bat und drohte. Seine Bemühungen blieben erfolglos. Seine Befürchtungen aber bewahrheiteten sich bald. Die Abwehrmaßnahmen gegen die Luftkreuzer überflügelten den Ausbau der Waffe selbst. Zeppelin litt schwer unter dieser letzten großen Enttäuschung, die ihm das Schicksal
zufügte. Zwar führten noch viele Luftschiffe tapfere und erfolgreiche Kriegsfahrten aus, und am 31. Januar 1916 schlugen die Bomben von neun deutschen Luftschiffen in die Industrieanlagen von Liverpool und Manchester. Aber der wirklich entscheidende Schlag wurde nicht gewagt. Den einzelnen Unternehmungen blieb ein ausschlaggebender Erfolg versagt, die Schiffsverluste nahmen zu. Dennoch wurde auf den Werften unermüdlich weitergearbeitet. *** Das dritte Kriegsjahr begann. Als die Weihnachtszeit herankam, deren Botschaft im Donner der Geschütze nur noch wenigen vernehmbar wurde, reiste Graf Zeppelin an die Front. Der Achtundsiebzigjährige wollte mit seinem alten Regiment, den Ulmer Ulanen, die Christtage verbringen. Die zweite und die fünfte Schwadron lagen in Ruhequartieren und rüsteten begeistert zum Empfang des alten Herrn. Eine Ehrenpforte wurde errichtet, vor der sich alle abkömmlichen Offiziere des Regiments aufstellten, den verehrten Gast zu begrüßen. An der präsentierenden Ortswache vorüber geleiteten sie ihn in sein Quartier in einem kleinen Bauernhaus. Zwei alte Wachtmeister standen als erste auf Ehrenwache am Gattertor des verschneiten schmalen Vorgartens. Schon am Nachmittag fand die Bescherung der zweiten Schwadron in einem nahegelegenen Jagdhaus statt. Der Feldpost hatte Liebesgaben und Briefe aus der Heimat gebracht. Die Soldaten lasen einander die Briefe vor. Für den einzelnen bestimmt, galten sie doch allen, und ihr Inhalt war immer der gleiche, Stolz, Vertrauen, Zuspruch, aber auch die vielen Fragen sorgender Liebe. Am Abend feierte auch die fünfte Schwadron gemeinsam mit dem Regimentsstab in der geschmückten Dorfkirche. Die noch erhaltenen beiden Glocken läuteten. Auf einer hohen Tanne brannten die festlichen Kerzen. In feldgrauer Ulanka, mit hohen Reiterstiefeln stand Zeppelin unter dem Baum. Das Licht überströmte ihn. Er
sprach von der Sehnsucht, die ihn als alten Feldsoldaten unwiderstehlich gepackt hatte, Weihnachten bei der Truppe zu sein, von seiner Freude, daß ihm dieser Wunsch noch einmal erfüllt war, von dem sorgenvollen Gedenken an die fernen Angehörigen und der schmerzlichen Erinnerung an so viele gefallene gute Kameraden; er sprach aber auch von dem Trost, den es dem deutschen Soldaten gab, daß er und nicht seine zahlreichen Feinde im Land des Gegners standen. Als die Offiziere den Grafen zu seinem Quartier zurückgeleiteten, standen Mond und Sterne klar und feierlich am Himmel. Aber ein anhaltendes dumpfes Grollen erschütterte Luft und Erde. Auch in der Heiligen Nacht schwieg das Geschütz des Feindes nicht. Der alte Herr blieb allein. Er wachte bis zum Morgen. Schon seit geraumer Zeit hatte er kaum noch Schlaf nötig. Jetzt gingen seine Gedanken zurück zu dem Kriegserlebnis vor sechsundvierzig Jahren. Damals war das Reich wieder erstanden, das sich heute gegen die ganze Welt zu verteidigen hatte. Noch einmal übersah er auch den schweren Kampf seines eigenen Lebens gegen Torheit und Unverstand, ängstlichen Zweifel und bequeme Trägheit, gegen Neid und Haß, gegen die Schläge des blind wütenden Schicksals. Längst hatten die Menschen sich Erde, Wasser, Feuer Untertan gemacht. Nun war auch das Luftreich erobert. Den Kriegswert der Luftschiffe hatte in letzter Zeit die Flugzeugwaffe übertroffen, aber die vielfachen Aussichten der großen Erfindung konnten nicht verringert werden. Und wenn doch einmal die Bedeutung seines Werkes schwinden sollte, die Kunde einer tapferen Tat würde bleiben, die Lehre von der Macht und Opferfähigkeit eines festen Glaubens und reinen Willens. Erfolg oder Mißlingen waren am Ende nicht das Wichtigste. Der Stoff war Eines, die Kraft war Eines, die
lebendige Bewegung war Eines, und dies alles wurde auch Eines: Geist, der sich darstellt. Er war das Entscheidende. Auf das Wollen und Wagen kam es an. Die Kraft des mutigen Willens im Überwinden und im Dulden galt es immer wieder zu beweisen, um die Menschen aus dem Staube der Erdgebundenheit emporzureißen zum strahlenden Aufflug des Unsterblichen in ihnen. Der Achtundsiebzigjährige in dem verschneiten Bauernhaus nahe der Front hatte dazu allzeit das Seine getan. Langsam verging die Nacht. Die Kerze auf dem runden Tisch brannte herab und erlosch mit einem letzten Flackern. Der Graf rückte seinen Stuhl näher an den alten Kachelofen. Durch die beiden kleinen Fenster leuchtete der Mondschein in die niedrige Stube. Der Alte im feldgrauen Rock saß zurückgelehnt und blickte in das kalte weiße Licht. Es wäre doch gut, schlafen zu können. Seine Glieder waren müde. Sein rastloser Geist begann stiller zu werden. Er war jetzt bereit, die Arbeit niederzulegen, wenn der Herrgott es ihm erlaubte. Wenn es weit kam, währte das Leben achtzig Jahre. Er hatte dieses zeitliche Ende bald erreicht, und Mühen und Sorgen hatte ihm jeder Tag im Übermaß gebracht. Jedoch sah er sich am Ziel, erfuhr die Genugtuung hoher Ehrungen und die Freude an der innigen Liebe der Seinen. Er tastete über den Waffenrock, da knisterte der Brief, den er am letzten Morgen kurz vor der Abfahrt hierher von seinem ältesten Enkelkinde erhalten hatte. Mit Zärtlichkeit dachte er an Isabella, seine getreueste Gefährtin, die ihm immer zur Seite gegangen war und doch so oft vergebens die Hand nach ihm ausgestreckt hatte. Auch in dieser Weihnacht war sie wieder allein geblieben. Bald würde sie ihn für immer fortlassen müssen.
Der Graf stand auf, reckte sich, zog die Ulanka glatt, trat an ein Fenster und sah hinaus. Der Schnee glitzerte im Vorgarten. Am Eingang stand der Doppelposten. Die beiden blanken Säbel glänzten im aufdämmernden Licht des neuen Tages. Das Fenster klirrte. »Posten!« Zwei Sporenpaare klangen. »Exzellenz?« »Herkommen!« »Zu Befehl, Exzellenz!« Die beiden Feldgrauen standen vor dem alten Herrn, der sich zu ihnen hinausbeugte und jedem ein großes Silberstück reichte. »Nehmt das für eueren nächsten Heimaturlaub als Entschädigung für die Stunden, die ihr mir geopfert habt.« Die Ulanen strahlten. »Danke, Exzellenz!« Der Jüngere aber sah den General freimütig an. »Exzellenz, ich bin Student der technischen Hochschule Charlottenburg. Ich hätte gern nächtelang gestanden, wenn ich mir damit die Freude gewonnen hätte, Euer Exzellenz einmal so nahe zu sehen.« »Ich hätte Ihnen also kein Geld schenken sollen.« »Darf ich bitten, Exzellenz, das Stück als teueres Andenken behalten zu dürfen!« »Gewiß.« Der Graf wandte sich dem ändern Manne zu. »Welchen Beruf haben Sie daheim?« »Ich bin Pferdeknecht, Exzellenz.« »Dann werden Sie ein guter Reiter und braver Ulan sein, der in dieser schlimmen Zeit auch für seinen treuen vierbeinigen Kameraden nach Kräften sorgt.« Er reichte den beiden Soldaten schmunzelnd die Hand. »Nun geht wieder auf euern Posten, daß euch der Herr Ortskommandant nicht am falschen Platz erwischt.« Die Ulanen eilten lachend an das Gattertor zurück. Zeppelin schloß das Fenster. In der Stube verbreitete sich das zarte Licht des ersten Frührots.
Der helle Weckruf der Trompeten klang durch die Dorfstraßen. In der Ferne rumpelte das Artilleriefeuer. *** Das feldgraue Heer hielt allen Feinden stand. Auch Amerika trat an die Seite der Gegner. Jedoch war der russische Riese dem Zusammenbruch nahe. Dennoch ließ sich die bisherige Front im Westen nicht halten. Der Rückzug in die Siegfriedstellung wurde eingeleitet. Die Heimat erwartete mit tausend Schmerzen die täglichen Heeresberichte und die wachsenden Verlustlisten. Nicht jede Kugel traf im Felde ihr Ziel, aber auch Geschosse, die den Mann verfehlten, zerrissen die Herzen der Frauen, und die Leiden und Mühen der Daheimgebliebenen waren in diesem sorgengrauen Kohlrübenwinter kaum geringer als die Entbehrungen und Anstrengungen der Truppen. So geschah es, daß die ersten Nachrichten von einer plötzlichen Erkrankung Zeppelins kaum beachtet wurden. Der Graf war auf einer Reise im Kaiserhof in Berlin eingekehrt und über Nacht von heftigen Schmerzen befallen worden. Ende Februar suchte er das Westsanatorium auf und mußte dortbehalten werden, weil ein inneres Leiden schon weit fortgeschritten war. Am 7. März wurde er operiert. Den Geschwächten befiel eine Lungenentzündung, deren Heftigkeit den behandelnden Ärzten keine Hoffnung ließ. Hella von Brandenstein kam noch an demselben Abend an das Sterbelager ihres Vaters. Die Gräfin wurde am nächsten Morgen aus Stuttgart erwartet. Der alte Streiter lag still und geduldig und wehrte sich nicht mehr. Er hob die Hand und streichelte seiner Tochter über das Haar. »Ihr sollt nicht um mich trauern. Ich habe ein reiches Leben gehabt.« Gegen Mitternacht schloß er die Lider. »Ich bin sehr müde und möchte schlafen.« Dann begann sich sein Bewußtsein zu trüben. Starkes Fieber schüttelte ihn. Er sprach oft, aber seine Worte blieben. unverständlich.
Nur einmal noch schlug er die Augen auf und sah mit klaren Blicken um sich. »Ich habe das volle Vertrauen«, sagte er laut und ruhig. Seine Tochter verstand ihn. Nicht allein an die Zukunft seines Werkes dachte er, an den stolzen, sieghaften Weiterflug seines Luftschiffs aus der Zeit, die mit ihm versank, in eine neue Zeit hinein, er dachte an die Zukunft seines bleibenden Volkes, das jetzt auf dem blutigen und tränenüberströmten Weg des Krieges zum bitteren Ende ging. In der Frühe drehte er den Kopf zur Seite und blieb von nun an stumm. Als die Gräfin kam, schlief er und atmete leichter. Aber er erwachte nicht mehr. Auch in seiner letzten Stunde stand die treue Gefährtin seines Lebens neben dem geliebten Mann, war doch allein und mußte auf ihn verzichten, wie sie es jahraus, jahrein hatte tun müssen. Sie hielt die Hände gegen das zuckende Herz gepreßt und verharrte reglos, um den friedlichen Schlaf des Sterbenden nicht zu stören. Um die Mittagsstunde stellten die Ärzte seinen Tod fest. Zeppelin hatte den letzten Flug angetreten, den Aufstieg zu den klingenden Gestirnen. Jetzt, da er es nicht mehr hören konnte, brach die Frau an seiner Seite zum erstenmal in Klagen aus. Aber bald bezwang sie sich wieder, um alle notwendigen Anordnungen für die Überführung des Verstorbenen nach Stuttgart treffen zu können. Luftschiffer trugen den Eichensarg, darauf Tschapka und Degen lagen, am nächsten Tage nach einer kurzen Trauerfeier zum Wagen. Die Berliner Schulkinder hatten in erster Reihe Aufstellung an den Straßen genommen, durch die sich der Trauerzug unter dem Wirbel gedämpfter Trommeln zum Bahnhof bewegte. Die Fahnen wehten auf Halbmast. Mit den Angehörigen und Mitarbeitern des Grafen trauerte das ganze deutsche Volk.
Auf dem Prag-Friedhof in Stuttgart fand am 12. März im Beisein des Königs und der Königin von Württemberg die Beisetzung des Verstorbenen statt, der ein großer Erfinder und ein mutiger, edler Mann gewesen war. Aus Friedrichshafen waren die Angestellten und Arbeiter der Zeppelinwerft gekommen, um von ihrem Führer Abschied zu nehmen. Das Heer und die Flotte hatten Abordnungen geschickt. Ein Luftschiff und ein Fliegergeschwader kreuzten mit schwarzen Trauerwimpeln über dem Grabe. Alle Glocken der Stadt läuteten. Drei Ehrensalven wurden abgefeuert. Die Grafin hielt sich mit letzter Kraft aufrecht, stützte sich auf den Arm ihres Schwiegersohns und hatte den Kopf gesenkt, so daß sie nur noch die Blondköpfe ihrer vier Enkelkinder sah. Sie hörte Hellas mühsam unterdrücktes Schluchzen und jetzt eine klar tönende Stimme: »Dieser echte Mann wurde zu einer sittlichen Macht. Wir können nicht dankbar genug sein für die Erziehung zu mannhafter Arbeit und Treue, die von seinem Wirken ausgegangen ist. Und für sein rastloses Wirken bestimmend war seine Persönlichkeit, ritterlich schon in der äußeren Erscheinung, mehr noch im Herzen. Ob Könige oder Kinder zu ihm kamen, alle nahmen Beigeisterung mit. Auch im jähesten Sturz wußte er die Anzeichen eines neuen Aufstiegs zu erkennen. Seinen Arbeitern war er ein wahrhafter Freund. Und wo er unbeugsam war, da war er es um der Sache willen. Sein Werk wird bestehen, aber auch sein Geist möge in seinein Volke immer fortdauern! Graf Zeppelin hat viel leiden müssen. um zu siegen. Nun ist er gestorben, um zu leben.« In der Höhe rauschten die feierlichen Orgelklänge der Propeller. Das Flugschiff über dem Friedhof senkte zum Abschiedsgruß den silbernen Bug. Danach fuhr es in weiter Schleife, während sein brausendes Lied verklang, über die Stadt hin und verschwand in der Ferne des blauen Luftmeeres.
Aber freier schon, im läuternden Bereich der Sonnen, durchglüht von Urlicht und beseelt von dem Gesang der Sterne am Eingang der Ewigkeit, einmal noch blickte der Abgeschiedene zurück auf Erde und Menschen. Wie weit lief drunten die Reiche und Städte entfernt lagen! Das wilde Geschrei der kriegführenden Völker drang nicht herauf. Keine Klage war hier oben noch hörbar. Der letzte kaum vernehmbare Laut von den Menschen her war ein leisestes Tönen der Flügelschrauben des Luftschiffs in Himmelsnähe. Aber der lauschend Zögernde wurde schon höher emporgetragen. Die Erde wurde zum kleinen Ball. Spielzeug für eine Kinderhand, und verschwand endlich, als sich dem Aufgestiegenen nun die strahlende Welt ohne Horizont erschloß, das Meer der Ewigkeit, das von keinem Gestade umgrenzt ist und doch die Seligen zu goldenen Häfen leitet. Graf Zeppelin, jenseits des Todes, ging mit verklärtem Gesicht und ewig jungem Herzen in das Wunder ein. Um den Erdball aber ritten die dunklen Reiter Not und Tod mit der blutroten Fahne des Krieges. *** An einem kühlen Oktobermorgen erhielten die Kommandanten von dreizehn deutschen Luftkreuzern den telefonischen Befehl: »Schiffe klarmachen zum Angriff. Aufstieg zwölf Uhr mittags. Näheres nach Fertigstellung der Morgenkarte.« Das Wetter der letzten Wochen war sehr schlecht gewesen, jetzt aber lag eine gleichmäßige Druckverteilung mit ruhiger Luftschichtung über Norddeutschland und Nordsee. Sollte nun, nach Beginn des vierten Kriegsjahres, doch noch die große, von Zeppelin vergeblich geforderte Unternehmung gegen England gewagt werden? Im Luftschiffhafen Wainoden in Kurland wurden L 45 und L 54 aus der gemeinsamen Halle gebracht. Zur Besatzung des L
45 gehörte der Meersburger Hans. Um zehn Uhr waren die beiden Schiffe zum Aufstieg klar. Ein zweiter Befehl kam durch den Draht: »Aufstieg zwölf Uhr mittags. Angriffsziel England Mitte. Die Schiffe fahren einzeln. Wetterkarte wird gegeben fünf Uhr nachmittags und neun Uhr abends. Windmessung in üblicher Folge.« Zur angegebenen Stunde hob der Führer des L 45, Koelle, die Hand. »Luftschiff marsch!« Schnell hob sich der fliegende Kreuzer und nahm Kurs auf Flamborough Head. Der Kommandant plante, von dort nördlich ausholend Leeds anzugreifen. L 54 war zwanzig Minuten später aufgestiegen, kam aber mit größerer Geschwindigkeit schnell nach und überholte das Schwesterschiff nachmittags. Dann wurden, teils voraus, teils links in der Ferne, die Nordholzer und Ahlhorner Luftkreuzer gesichtet. Den Meersburger Hans überstürzte eine heiße Welle gewaltiger Emfindungen, als er das prächtige Bild der dreizehn schwebenden Riesen sah, die weit im Luftraum verteilt mit gleicher Zielrichtung im Brausen der Flügelschrauben stolz dahinzogen. Tief unten leuchtete die Nordsee. Im Südwesten hing ein leicht bewegter Wolkenschleier zwischen Himmel und Meer. Gegen fünf Uhr wurde der erwartete Funkspruch der Leitung aufgenommen: »Leichte bis mäßige südwestliche Winde in der östlichen, mäßige südwestliche bis nordwestliche in der westlichen Nordsee bis in große Höhen, gute Lage für England Mitte. Stoßen Sie tief ins Innere vor!« Da eine Funkpeilung zur genauen Feststellung des Schiffsortes eine geringe südliche Abweichung ergab, setzte Koelle die Fahrtrichtung erneut auf Flamborough Head und ließ gegen Nord vorhalten.
Bei Anbruch der Dunkelheit hatte L 45 dreiviertel des Anmarschweges über See hinter sic h. Die Sicht nach unten blieb frei. Um sechseinhalb Uhr stand der Ballon noch etwa vierzig Seemeilen vor der englischen Küste, als es auf dem Meer gelb und rot aufflammte. Die Geschütze der englischen Vorpostenschiffe bellten herauf. Der fliegende Kreuzer stieg auf fünftausend Meter und fuhr unbeirrbar weiter. Eine halbe Stunde später kam die Küstenlinie in Sicht. Westlich standen Schichtwolken. Jetzt zischten die weißen Strahlenschwerter der Scheinwerfer über den Himmel. Der dumpfe Donner der Batterien wurde aus der Entfernung hörbar. »Sehen Sie dorthin, Bartels!« Der Kommandant deutete nordwärts. »Das ist die breite Humbermündung. Grimsby oder Hull wird angegriffen. Wir stehen also doch wieder südlicher, als wir wollten. Aber wir haben Zeit; der Mond wird erst spät aufgehen. In einer knappen Stunde können wir über Sheffield sein.« Der neue Kurs war eingewinkt. Da griff ein mächtiger Lichtarm nach dem Schiff, und eine wilde Beschießung setzte ein. Alle Motoren liefen mit äußerster Kraft. Schnell kam L 45 den Schichtwolken näher. Jetzt hing eine durchbrochene Wolkendecke unter dem Schiff. Das Geleucht der Scheinwerfer, das Aufblitzen der Schüsse, das Flackern ausbrechender Brände wechselten mit völliger Dunkelheit. Es war nicht mehr möglich, nach Bodensicht zu steuern. Der Erste Offizier lief zur Funkbude, kam aber nach wenigen Minuten mit einem kräftigen Seemannsfluch zurück. »Standmeldung nicht zu bekommen. Alle Schiffe rufen.« »Also werden wir blind fahren.« Gegen zehn Uhr nachts ließ Koelle auf Nord drehen. Die Wolkendecke verdichtete sich jedoch immer mehr. Neue Versuche, eine Funkverbindung herzustellen, blieben
erfolglos. Um elf Uhr machte das Luftschiff kehrt, um auf Gegenkurs zu gehen. Nun wurde das Gewölk dünner, und die große Überraschung war nahe. An Steuerbordseite erschienen plötzlich wieder die blendenden Lichtstreifen vieler Scheinwerfer. Weiter entfernt zogen lange Lichtzeilen ein vielverschlungenes Geflecht über den Boden. Drunten lag eine große Stadt. Birmingham? Das jäh einsetzende Feuer zahlreicher Abwehrbatterien steigerte sich rasch zu einem höllischen Lärm. Aber L 45 fuhr heran wie die wilde Jagd. Noch immer lag die Stadt erleuchtet. Jetzt war ein breites, von Westen nach Osten gewundenes Band erkennbar. »Die Themse! Wir sind über London. Klar zum Angriff! Fahrtrichtung südost.« In sechstausenddreihundert Meter Höhe flog das Luftschiff über der flammenden Zone der platzenden Geschosse und warf seine Bombenkette ab. Der Kommandant und Hans Bartels lehnten sich aus der Gondel und beobachteten durch ihre scharfen Gläser die Wirkung der Aufschläge. Sie standen im Kampf mit dem größten und grimmigsten Gegner ihrer Waffe, und sie fuhren als Sieger. »Letzte Bombe!« rief der Wachoffizier. Der Kreuzer drehte hart backbord. Die tastenden Arme der Scheinwerfer blieben schnell zurück. Aber auch das Kriegsglück wendete sich wieder von den kühnen Luftfahrern ab. Ein heftiger Sturm kam auf und trieb sie mit so großer Geschwindigkeit nach Süden ab, daß sie schon eine halbe Stunde nach Beginn ihres Angriffs wieder das Meer unter sich sahen. Mit blutrotem Schein brannte fern die Artillerieschlacht in Flandern. Sie trieben über dem Kanal. In der Hoffnung, in geringerer Höhe schwächeren Wind zu finden und sich nach Ostende durcharbeiten zu können, gingen sie auf dreitausend Meter herab.
Ein Feuerwerk von Leuchtsternen flammte vor ihnen auf. Zugleich erscholl die Meldung: »Fliegergeschwader voraus!« Der Weg war verlegt. Das Schicksal des Schiffes war besiegelt, als kurz nacheinander zwei Motoren aussetzten und trotz allen Anstrengungen nicht wieder in Gang gebracht werden konnten. Die feindlichen Flieger kamen heran.. »Ruder oben!« schrie Koelle. »Mit zehn Grad Schräglage auf größte Höhe steigen!« Es gelang, den Flugzeugen zu entkommen. Dann trieb L 45 über Frankreic h. Stunde um Stunde verging. Das Schiff schwankte in immer heftigeren Sturmstößen. Die Besatzung war überanstrengt. Die völlig erschöpften Rudergänger hielten sich nur noch mühsam aufrecht. Endlich graute der Morgen. Nach Sonnenaufgang wurde eine Stadt gesichtet, Lyon. Ein Maschinist kam bleich und entkräftet in die Führergondel. »Unser Benzin reicht kaum noch für eine Stunde aus.« Das Luftschiff ging auf tausend Meter hinab. Sein Kommandant gab es verloren. Die Besatzung aber wollte er retten. Gegen zehn Uhr, über dem oberen Durancetal, wurde im Fluß eine flache Insel gesichtet, die eine Landungsmöglichkeit bot. »Scharf hinunter und Kurs auf die Insel!« Die Ventile wurden gezogen, das Gas entwich. Mit Fahrt setzte L 45 auf. Die Gondelstützen krachten. Spanndrähte zerrissen. Träger und Verstrebungen bogen sich ächzend. Dann lag das Schiff fest. »Landungstau heraus! Zellen aufschneiden! Motoren unbrauchbar machen!« Die Besatzung verließ das Schiff. Sie zog sich von dem sterbenden Riesen soweit als möglich zurück. Der Erste Offizier hob die Signalpistole gegen den Ballon, der
inzwischen zwei Drittel seiner Füllung verloren hatte. »Achtung! Hinlegen!« Der Schuß krachte. Ein strahlender Stern flog in das Schiff. Weißer Rauch stieg daraus auf. Ein heftiger Schlag folgte. Dann stand L 45 in ganzer Länge in hellroten Flammen. Der wilde Feuerschein leuchtete über die starren Gesichter der Mannschaft. Eine zweite Explosion riß den Ballon mitten auseinander. In diesem Augenblick landeten einige Boote mit französischen Gendarmen und Offizieren an der Insel. Am jenseitigen Ufer stand eine Abteilung Alpenjäger und hielt die Gewehre im Anschlag. *** Die Luftfahrer waren gefangen. Ihre mächtige Waffe war zerbrochen. Aber in den elenden Bretterschuppen hinter Stacheldraht erwartete sie ein neuer, schwerer Kampf gegen das erstickende Gefühl der Unfreiheit, gegen das erdrückende Heimweh, gegen die lähmende Ungewißheit um die eigene Zukunft und das Schicksal der Ihren. Der Winter kam. Noch immer raste der Krieg mit brüllender Wut. Er wusch sein rauchendes Schwert in Tränen und färbte es wieder mit Blut. Im Frühling des vierten Jahres entbrannte ein ungeheueres Fangen im Westen. Noch einmal versuchte das deutsche Heer die eisernen Bande zu sprengen, die mit unerbittlicher Grausamkeit die Heimat umschlossen hielten und zu erdrosseln drohten. Das Schlachtenglück neigte sich in grimmiger Laune hin und her. Monatelang stießen Angriff und Gegenangriff rasend aufeinander. Als das Kriegsjahr mit Grauen zu Ende ging, sank die ganze Front hüben und drüben in lähmender Erschöpfung todmüde in die zerschossenen Schützengräben, in die Sprengtrichter der Granaten nieder. Da aber traten die neuen Regimenter der Amerikaner zum Sturm auf den
abgekämpften, hungernden und nur noch schlecht bewehrten Gegner an. Über den Leidensweg des deutschen Volkes senkte sich die Nacht. Am fünften August endete die letzte große Fahrt deutscher Luftschiffe gegen England nach gelungenem Angriff auf das Industriegebiet des Inselreiches mit dem Absturz des L 17 am Wash. Das Marineluftschiffgeschwader verlor seinen Führer, Korvettenkapitän Peter Strasser. Die Widerstandskraft des ausgehungerten und verblutenden Volkes versagte. Der Kampf mußte nach vier Jahren siegreicher Angriffe und heldenmütiger Abwehr aufgegeben werden. Dem glänzenden Aufstieg des Reichs war ein tiefer Absturz gefolgt. Doch regte der deutsche Luftfahrergeist noch immer die Schwingen. Vier ZeppelinFlugschiffe gab es noch. Sie lagen in der Halle Ahlhorn in Oldenburg. Als der Feind ihre Auslieferung verla ngte, handelten die Besatzungen wie ihre Kameraden von der Hochseeflotte, sie vernichteten ihre Fahrzeuge. Die Werften in Frankfurt, Potsdam und Staaken wurden abgerüstet. Die Männer von Friedrichshafen aber, Colsmann, Dürr und Eckener, arbeiteten weiter, wie der Graf selbst es getan hätte. Sie ließen den Bau neuer Schiffe beginnen, die nicht mehr als Waffe, sondern als Verkehrsmittel dienen sollten. Die Getreuen wollten ein Beispiel geben. Nur der Wille zur Arbeit konnte Volk und Staat wieder hochbringen. Und schon im nächsten Frühjahr, aus der schlimmsten wirtschaftlichen Not und politischen Wirrnis heraus, erhob sich das erste neue Luftschiff, die »Bodensee«. Auch die »Nordstern« war fast vollendet, als der Feind Einspruch erhob und die Auslieferung der beiden Ballons erzwang. Jetzt wehrten sich die Schiffe selbst, unter der fremden Führung stürzten beide ab. Danach lag auch die Werft am Bodensee still. Aber noch immer war der unüberwindliche Mut ihres Schöpfers lebendig. Eckener nahm Verhandlungen mit
Ame rika auf. Er führte mit Klugheit und Zähigkeit den letzten großen, entscheidenden Kampf um das Werk des Grafen und erreichte es, daß die Vereinigten Staaten sich bereit erklärten, ein Luftschiff auf Kriegsschuldenrechnung anzunehmen. Damit war die Erhaltung der Friedrichshafener Werft gesichert. ZR III wurde gebaut. In dieser Zeit stand der Feind an Rhein und Ruhr. Der Marschtritt der Regimenter stampfte: Unterwerft euch! Die Säbel der Reiter rasselten: Unterwerft euch! Die Geschützrohre starrten drohend: Unterwerft euch! Tanks fuhren durch die Straßen der Städte: Unterwerft euch! Die Sporen der fremden Offiziere klirrten Hohn. Die Bedrückung war so grausam, das Unrecht so erschütternd, daß die Alten, die ihr Leben trotz allen Nöten im Dienst des Rechts und der Gerechtigkeit zugebracht hatten, verzweifelnd die Walstatt verließen und sehnsüchtig nach einem andern Gestirn ausblickten. Die Jungen aber, unter den Entbehrungen der Kriegsjahre herangewachsen, verbündeten sich und nahmen mit glühender Hingabe den Kampf auf. Auch Bartels schloß sich ihnen an. Schon vor Kriegsende war er auf dem Wege eines Gefangenenaustauschs über die Schweiz in die Heimat zurückgekommen. Aber er fand noch nicht zurück in die Ruhe seines Hauses und zu seiner Friedensarbeit. Ein Jahr hatte er hinter dem Stacheldraht gesessen. Das hatte ihn hart werden lassen, und vergeblich bat ihn Annette, sich nicht freiwillig neuen Gefahren auszusetzen. Er fuhr in das Ruhrgebiet und wurde Kumpel auf einer großen Zeche, um mit Wort und Beispiel den Widerstandswillen der Bergleute gegen den vorbereiteten Raub deutscher Kohle zu stärken. In kurzer Zeit waren seine Hände rissig und schwarz geworden. Seine Arme schmerzten. Seine Augen umschatteten sich, und abends fiel er übermüdet auf sein Bett. Aber er blieb seiner Aufgabe treu,
bis eines Tages das Geheul der Sirenen, das Rasseln der Klingeln die Zeche stillegten. Aus allen Stollen eilte die Belegschaft zu den Förderkörben. Hans fuhr mit den ersten zu Tage. Vor dem verschlossenen Zechentor hielt eine starke Abteilung französischer Soldaten. Auf dem Hof standen in erregten Gruppen die Arbeiter und Angestellten, der Betriebsrat, die Leiter der Grube. Unaufhörlich heulten die Sirenen. Das Tor zitterte unter krachenden Stößen und brach auf. Die Soldaten stürmt en herein. Ein Offizier lief mit gezogenem Degen und erhobenem Revolver schreiend voraus. Der Meersburger Hans schlug ihm die Schußwaffe aus der Hand. Er sah die Augen des Gegners funkeln. Dann blitzte es weiß über ihm. Ein klatschender Schlag auf den unbedeckten Kopf warf ihn besinnungslos nieder. Als er wieder zu sich kam, war er zum zweitenmal gefangen. Nach kurzem Verhör wurde er am Nachmittag in das Gefängnis eingeliefert und dort mit mehreren anderen neuen Häftlingen der Besatzungsbehörden in einer schon überfüllten Zelle untergebracht, darin ihnen ein paar Bunde Stroh als Lager hingeworfen waren. Eine lange Nacht sank herab. Nur ein kleines durchkreuztes Stück des Sternenhimmels blieb durch das schmale Gitterfenster hoch in der schwarzen Wand sichtbar. Die Mitgefangenen schliefen einer nach dem andern ein. Manche lagen langgestreckt, reglos und schwer wie Tote. Aber Hans hörte ihren Atem gehen. Die Träumenden ballten krampfhaft die Fäuste. Schmerzliche Falten durchschnitten die bleichen Gesichter. Einer, den jetzt der langsam wandernde weiße Streifen des Mondlichts traf, stöhnte tief auf. Seine Lippen waren wie die eines Verdurstenden geöffnet. Schwere Schritte hallten jenseits der eisernen Tür auf dem Flur. Ein Aufseher machte die Runde. In der Weite der Nacht schlug eine Turmuhr. Der Meersburger Hans stand
leise auf und trat unter das vergitterte Fenster. Er griff nach dem feuchten Mauerrand, um sich emporzuziehen. Über blanken blauen Dächern stand der Vollmond. Einzelne schmale schwarze Wolken mit silbernen Rändern trieben eilig an ihm vorüber. Sie flogen rheinauf wärts, nach Süden, zum Schwäbischen Meer. Dort standen die großen Werkstätten, in denen wieder ein neues Luftschiff gebaut wurde. »O Freiheit und Heimat!« Langsam ließ sich der Gefangene hinabgleiten, ging zu seinem Platz in den Reihen der Schläfer und sank wieder auf das Stroh. Die gewaltigen Flügelschrauben der Luftschiffe und Flugzeuge konnten ihn aus diesen Mauern nicht befreien. Jetzt mußten die Flügel der Seele mächtiger sich entfalten. Sie hoben ihn frei auf und trugen ihn zu Annette und seinen Kindern. Auch sie schliefen in dieser Stunde. Behutsam trat er zu ihnen und streichelte zärtlich über ihre Stirnen. Mit beiden Händen umschloß er Annettes schmales Gesicht und küßte den geschlossenen Mund. Wieder schlug die Turmuhr. Mit einem letzten Blick auf die Kinder nahm er Abschied, um aus seiner Entrückung zurückzukehren und seinen Opfergang zu vollenden. An dem Himmelsstück hinter dem Gitterfenster erkannte er, daß der Tag nahe war. Seine Leidensgefährten erwachten. Ein blutjunger Mensch, Schüler noch, sprang auf und starrte unverständig um sich. Als er begriff, wo er sich befand, brach er jammernd in die Knie. Ein anderer legte ihm den Arm um die mageren zuckenden Schultern und sprach leise auf ihn ein. Eine Klingel gellte durch das Gebäude. Auf dem Flur hallten wieder die Schritte eines Aufsehers. In der Eisentür öffnete sich eine Klappe, ein großer Napf mit dünner Suppe wurde hereingereicht. Nur wenige aßen davon.
Allmählich kam das Gespräch in Gang. »Wir müssen hier auf alle Schrecken vorbereitet sein«, sagte einer. »Und wir werden alle Gnade erleben«, antwortete ihm sein Nebenmann, ein graubärtiger Förster vom Westerwald. »Wir werden noch manches Leid erfahren, aber darum auch alle Liebe fühlen. Wir haben hier einer am andern eine Stütze. Meine gute Frau, die vielleicht noch heute nicht weiß, wo ich geblieben bin, und die sich, wenn sie es erfährt, Tag und Nacht allein in unserm einsamen Haus um mich bangt, hat es schwerer.« Hans Bartels sah wieder das blasse Gesicht Annettes. Ein alter Bauer erzählte, daß in seinem Dorfe eine Mutter die Pistole ihres verhafteten Mannes unter dem Wiegenkind versteckt hatte, als eine plötzliche Haussuchung nach Waffen stattfand. Der Mann war freigelassen worden und hatte bei seiner Heimkehr nur gefragt: »Wo?« Die Frau hatte stumm nach der Wiege gedeutet. »Und das Kind?« »Schlief darüber.« Er hatte geschwankt wie ein Trunkener, als er hastig zur Wiege trat, um das Kind in den Kissen aufzuheben. Da lag die Pistole vor ihm, geladen und entsichert. »Versteckte Waffen helfen uns nicht von hier fort!« rief einer. Und grübelte: »Unsere tapfersten Taten bleiben Stückwerk, die größte ist immer nur um ein Geringes mehr als die kleinste. Der Mensch bleibt immer gebunden.« Da richtete der Meersburger Hans sich auf. »Unser W'ille ist immer frei, und wir können auch im Kleinsten den Anfang zum Größten tun!« Der Forstmann ging an ihm vorüber und nahm den Zweifler derb an den Schultern. »Wissen Sie, wie langsam ein Obstbaum wächst? Die grünen Sommer und die weißen Winter vieler Jahre vergehen, bis er zum erstenmal blüht. Aber dann wird die lange Dauer seines Reifens zum Segen. Wir wollen immer hoffen. Auch unser Volk ist von spät reifendem Stamm.«
*** Zur fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Tages, an dem der erste Aufstieg eines Luftschiffes über dem Bodensee stattgefunden hatte, legte der Vertreter der Werft am Zeppelindenkmal in Konstanz einen Kranz nieder. »Diese steinerne Säule, welche die Stadt zur Erinnerung an ihren großen Sohn aufrichtete, zeigt Wieland den Schmied. Die Sage erzählt, daß ihm von seinem Feinde die Sehnen der Fesseln zerschnitten wurden, damit er, an seine Werkstatt gebannt, für diesen Feind Frondienste leisten sollte. Da schuf Wieland sich künstliche Flügel und stieg hinauf in die Freiheit. Auch unserm Volk sind die Sehnen grausam zerschnitten worden, damit es, an seine Werkstätten gefesselt, fronen soll. Nun hat es sich sein Luftschiff zum Zeichen der Sehnsucht und Hoffnung erkoren, daß auch ihm gelingen möge, sich Schwingen zu schaffen, die es in die Freiheit tragen. Dabei wird ihm auch das unvergängliche Werk unseres Grafen Zeppelin helfen.« Unter den Teilnehmern an der kurzen Feier stand Annette Bartels mit ihren beiden Kindern. Sie beugte sich zu ihnen hinab und flüsterte: »Merkt euch gut, was ihr hier gehört habt!« »Ja, Mutter«, sagte der ältere und sah mit leuchtenden Blicken zu dem Denkmal auf. Sein Bruder aber lehnte den kleinen Blondkopf fester gegen Annettes Arm und fragte leise: »Wann kommt der Vater heim?« »Bald, kleiner Hans.« Sie neigte siph noch einmal zu dem Kinde und küßte es. Und die Knaben sahen die Tränen in ihren Augen nicht. — Schon im nächsten Sommer richteten sich die gebeugten Nacken auf, alle Blicke waren zum Himmel emporgewandt, und über die gefurchten Gesichter ging ein heller Schein. Brausender Orgelton erfüllte die Luft. In stolzer Sicherheit fuhr das neue Luftschiff über die deutschen Gaue, um Abschied zu nehmen, um die Kunde von unbesiegbarer
Tüchtigkeit und Tatkraft, von wieder erwachtem Mut und Lebenswillen eines verfolgten und verleumdeten Volkes über das Meer zu tragen. Die große Fahrt gelang. Das deutsche Flugschiff zog seine silberne Bahn hoch unter dem Himmel. Bald glich es einem riesigen Fabeltier, das im Blau schwebte, bald dem Meteor, der glänzend durch die Nacht zieht. Sein Schatten glitt wie ein Geisterschiff über das Meer. Die Wogen schäumten auf, als es hoch über sie dahinfuhr. Es schien den Raum zu verzehren. Brausend teilte es die weißen und rosigen, blauen, purpurnen und goldgelben Wolken und durchschnitt wie ein Strahl die Nebelmassen. Wie ein geflügelter Berg, erlöste Schwere, ein Sieg des Menschengeistes, ein Wunder des Willens, der König aller Flügelwesen, erschien es über dem ändern Erdteil. Es war der Bote der Freiheit, die sich zum Licht aufschwingt, und der Feind von gestern bereitete deutschen Männern einen jubelnden Empfang. Als zwei Jahre später das Bauverbot für deutsche Luftschiffe endgültig fiel, trat das deutsche Volk noch einmal einmütig für das Werk des schwäbischen Grafen ein. Nach Krieg, Umsturz und Währungsverfall gab es zwei Millionen für den Bau neuer Luftschiffe. In den Hallen am Bodensee wurde die Arbeit sofort aufgenommen. Deutschland arbeitete und glaubte wieder. Sein Wille erhob sich mit erneuter Kraft. Und schon stieg, herangezwungen, am Himmelsrand das strahlende Morgenrot der Freiheit auf.
Wasserung eines Zeppelin