RAYMOND F. JONES
Das Erbe der Hölle
MOEWIG-VERLAG • MÜNCHEN
Originaltitel: THE ALIEN Autorisierte Übertragung aus d...
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RAYMOND F. JONES
Das Erbe der Hölle
MOEWIG-VERLAG • MÜNCHEN
Originaltitel: THE ALIEN Autorisierte Übertragung aus dem Amerikanischen von Rainer Eisfeld
Ein deutscher Erstdruck
TERRA-Sonderbände erscheinen monatlich im Moewig-Verlag, München, 2, Türkenstraße 24, Postscheckkonto München 139 68. Erhältlich bei allen Zeitschriftenhandlungen – Preis je Band DM l.–. Gesamtherstellung: Buchdruckerei Hieronymus Mühlberger, Augsburg. – Printed in Germany 1959. – Scan by Brrazo 01/2007 – Für die Herausgabe und Auslieferung in Österreich verantwortlich: Farago & Co. Baden bei Wien. Dieser Band darf nicht in Leihbüchereien und Lesezirkeln geführt werden und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden.
1. Kapitel Weit jenseits der Marsbahn wand sich die Lavoisier vorsichtig durch den Asteroidenring. An Bord des Laborschiffes waren sich nur wenige Mitglieder der Smithsonschen Asteroidenexpedition der Tatsache bewußt, daß sie sich in Bewegung befanden. Wenn man ein oder zwei Jahre hintereinander in dem Feld lebte, gab es nur noch wenig, das man registrierte – außer den verstreuten Trümmern einer Jahrtausende alten Kultur, die einen auf allen Seiten umgaben. Im Augenblick stellte den einzigen Kontakt mit der Erde die Funkverbindung dar, über die Dr. Delmar Underwood Dr. Illia Morov von der Terrestrischen Zentralen Sanitätsbehörde rief. Illias blondes, sorgfältig frisiertes Haar stach nur schwach gegen das grelle Weiß ihres Chirurgenkittels ab. Ihre Augen weiteten sich erfreut, als sie Underwood auf dem Schirm erkannte. „Del! Ich glaubte schon, du hättest dich dem ewigen Schlaf der Mumien dort draußen zugesellt. Seit einem Monat hast du nichts mehr von dir hören lassen. Was gibt es Neues?“ „Nicht viel. Terry entdeckte einige neue Hinweise auf Stroid III. Phyfe ist ein Metallbrocken mit Inschriften in die Hände gefallen, und außerdem stießen wir auf etwas, das wie eine fünfhunderttausend Jahre alte Elektronenröhre aussieht. Momentan befasse ich mich damit, sie auseinanderzunehmen. Sonst ist alles wunderbar ruhig.“ „Immer noch der ewige Einsiedler?“ Illias Augen ver4
loren einiges von ihrem Spott, aber nichts von ihrer Zärtlichkeit. „Hier draußen herrscht mehr Zufriedenheit, als ich je zu finden gehofft hätte. Illia, bitte komm hierher. Komm für einen Monat. Wenn du dann nicht bleiben und mich heiraten willst, kannst du zurückkehren, und ich werde kein Wort mehr darüber verlieren.“ Sie schüttelte entschlossen den Kopf. „Die Erde braucht ihre Wissenschaftler nötig. Zu viele sind schon davongelaufen. Ich sagte dir bereits vor einem Jahr, daß es nicht damit getan sei, einfach der Erde den Rücken zu kehren.“ „Und ich sagte dir vor einem Jahr“, versetzte Underwood, „daß für einen vernünftigen Menschen Flucht das einzig Mögliche ist.“ „Du kannst nicht deiner eigenen Kultur entfliehen, Del. Die Expedition, die dir die Möglichkeit zu deinem Einsiedlerleben bot, ist von der Erde abhängig. Wenn der Kongreß die Mittel des Instituts kürzt, stehst du wieder da, wo du zuvor warst.“ „Im Notfall bleiben immer noch die venusischen Kolonien.“ „Du weißt, daß es unmöglich ist, dort ohne die Unterstützung der Erde zu existieren.“ „Ich spreche nicht von Wissenschaft und Technologie. Ich rede von dem sozialen Verfall. Ihn braucht ein Wissenschaftler bestimmt nicht mitzunehmen, wenn er versucht, ihn hinter sich zu lassen.“ „Die Kultur trifft keine Schuld“, entgegnete Illia ernst, „ebensowenig wie die Menschheit. Niemand wird ein Kind wegen seiner Unbeholfenheit tadeln, wenn es die 5
ersten Schritte unternimmt.“ „Ich hoffe, die menschliche Rasse ist aus ihren Kinderschuhen heraus!“ „Relativ gesehen – nein. Dreyer meint, wir wären jetzt erst im Begriff, uns aus dem Stadium des Höhlenmenschen zu lösen, und ich nehme an, man könnte diese Periode als die Kindheit der Menschheit bezeichnen.“ „Ich hielt ihn für einen Semantiker.“ „Du würdest wissen, daß er es ist, wenn du jemals mit ihm gesprochen hättest. Er zerpflückt jedes deiner Worte und kehrt es gegen dich. Aber seine ‚Führer’-Theorie trifft auf jeden Fall zu. Danach benötigen menschliche Wesen auf dieser Stufe ein Haupt oder einen ‚Führer’, der stärker als sie selbst ist, um sie zu lenken, die Verantwortung zu übernehmen und die Folgen zu tragen, wenn die Gesamtheit scheitert.“ „Und die ganze Verwirrung und Instabilität soll damit zusammenhängen?“ „Sie ist Jahrzehnte hindurch angewachsen. Wir selbst erleben, wie sie während unseres Lebens ihren Höhepunkt erreicht. Die alten Fetische haben versagt, die Führer sich als hohle Götzen erwiesen, und die Menschheit hat sich dem Nihilismus ergeben.“ „Und das ist rassische Entwicklung?“ „Ja, weil daraus ein Volk hervorgehen wird, das in sich selbst die Kraft gefunden hat, die es früher in den Führern suchte. Es wird eine Rasse kommen, in der das Individuum fähig ist, die Verantwortung auf sich zu nehmen, die es stets an den ‚Führer’ weitergegeben hat. Dieser ‚Führer’ ist dann überflüssig.“ „Also – endgültige Anarchie.“ 6
„Das ‚Führer’-Konzept hat nichts mit einer Regierung zu tun. Bei menschlichen Wesen, die selbständigen, schöpferischen Verhaltens fähig sind, wird tatsächliche Demokratie zum ersten Male in der Weltgeschichte möglich werden.“ „Wenn das Ende nach Dreyer auf jeden Fall so aussehen wird, warum soll man dann nicht versuchen, dem Wahnsinn der Übergangsperiode zu entkommen?“ Illia Morovs Augen verengten sich, während sie Underwood verständnislos anblickte. „Bedeutet es dir nichts, daß die Rasse sich in einer der größten Krisen ihrer Geschichte befindet? Bedeutet es nichts, daß du eine Fertigkeit besitzt, die in diesen Zeiten von ungeheurem Wert ist? Seltsamerweise flieht gerade ihr, die in den physikalischen Wissenschaften promoviert haben, in der großen Zahl. Zerstören die physikalischen Wissenschaften eigentlich jedes Gefühl sozialer Verantwortung?“ „Du vergißt, daß ich Dreyers Theorien nicht kritiklos akzeptiere. Für mich ist dies nichts als eine faulende Struktur, deren eigener innerer Verfall sie schließlich zusammenbrechen lassen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich irgend etwas Positives daraus entwickeln könnte.“ „Das scheint mir auch so. Nun, es war nett, daß du angerufen hast, Del. Ich freue mich immer, von dir zu hören. Warte beim nächsten Male nicht so lange.“ „Illia…“ Aber sie hatte die Verbindung unterbrochen, und der Schirm verblaßte langsam und ließ Underwood keine Zeit, seine Erwiderung zu beenden. Ärgerlich warf er den Schalter herum. Die Bordsprechanlage summte. Im Kontrollraum ver7
kündete der gelangweilte Vermittler: „Doktor Underwood. Gespräch für Doktor Underwood.“ Underwood schaltete sich ein. „Am Apparat“, versetzte er gereizt. Die Stimme Terry Bernards dröhnte auf. „Hey, Del! Kannst du für eine Zeitlang herüberkommen? Mir scheint, wir sind hier tatsächlich auf etwas gestoßen.“ „Es wäre besser, wenn es sich als wichtig erwiese. Wir sind mit dem Schiff zu Phyfe unterwegs. Wo bist du?“ „Asteroid C-428. Er ist ungefähr 2000 Meilen von dir entfernt. Und bringe alles an Fördergeräten mit, was du auftreiben kannst. Wir brechen uns an diesem Ding die Zähne aus.“ „Ist das alles, was du willst? Nimm die DoppelmantelDrillbohrer.“ „Fünf von ihnen sind inzwischen stumpf, und nicht einmal ein Kratzer ist zu erkennen.“ „Dann verwende eben den Atomstrom.“ „Haben wir schon versucht. Er wärmt das Ding nicht einmal. Weitere Vorschläge?“ Underwood war äußerst überrascht. „Willst du etwa sagen, du hättest einen Stoff gefunden, den der Atomstrom nicht angreift? Das ist unmöglich! Die Gleichungen des Stroms zeigen …“ „Ich weiß. Willst du jetzt herüberkommen?“ „Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich bringe das ganze Schiff mit.“ Underwood unterbrach die Verbindung und schaltete auf die Welle des Kapitäns um. „Captain Dawson? Underwood. Würden Sie bitte das Schiff so schnell wie möglich in die Nähe des Asteroiden C-428 bringen?“ 8
„Ich dachte, Dr. Phyfe …“ „Ich übernehme die Verantwortung. Setzen Sie bitte das Schiff in Bewegung.“ Captain Dawson gehorchte. Seine Instruktionen besagten, das Schiff zu Underwoods Verfügung zu stellen. Lautlos und unsichtbar griffen die Distorsionsfelder um das massive Laborschiff in den Raum, und die Lavoisier bewegte sich mühelos durch die Leere. Ihre Kompensationskontrollen ließen der Besatzung mit Ausnahme der Navigatoren und Piloten keine ihrer Bewegungen bewußt werden. Die empfindlichen Instrumente in Underwoods Laboratorien blieben ebenso unerschütterlich an ihrem Platz, als wären sie tief unter der Oberfläche der Erde verankert. Zwanzig Minuten später kam der kleine schwarze Asteroid in Sicht, der im matten Licht der weitentfernten Sonne glitzerte. Die mit Raumanzügen bekleideten Gestalten Terry Bernards und seines Assistenten, Batch Fagin, bewegten sich wie Fliegen auf einem geschwärzten, erstarrten Apfel darüber hin. Underwood befand sich bereits an Bord des kleinen Raumscooters, den sie zur Beförderung zwischen Expeditionsschiffen und Asteroiden benutzten. * Als der Scooter sich dem Asteroiden näherte, konnte Underwood die Fremdartigkeit des Fundes erkennen. Der enthüllte Teil glänzte in ebenholzartigem Schimmer, und seine Ebenen und Winkel waren mit mathematischer Genauigkeit herausgearbeitet. 9
Terry spürte etwas von Underwoods Ehrfurcht, die in seinem Schweigen zum Ausdruck kam. „Was hältst du davon, Del?“ „Es ist – schön“, gab Underwood zur Antwort. „Hast du irgendeinen Anhaltspunkt, was es darstellen könnte?“ „Nein. Es weist nicht die geringste Markierung auf.“ Der Scooter wurde langsamer, während Del Underwood ihn heruntersteuerte. Er setzte sanft auf, und Underwood schnallte sich los und trat herunter. „Phyfe wird uns hierfür alle unsere Sünden vergeben“, bemerkte er. „Ehe du mir beweist, daß der Atomstrom wirkungslos ist, wollen wir einige Tonnen von dem Mantel abbrechen und sie ins Schiff verladen. Vielleicht gelingt es uns, aus der Radium-Blei-Beziehung ihr Alter festzustellen. Bei den meisten Asteroiden sind noch geringe Spuren von Radioaktivität vorhanden.“ „Gute Idee“, stimmte Terry zu. „Ich hätte daran denken sollen, aber als ich feststellte, daß der Atomstrom keinen Erfolg zeitigte, war ich nur darauf bedacht, den Fund freizulegen. Ich machte mir nicht klar, daß ich genötigt sein würde, die gesamte Oberfläche des Asteroiden wegzubrennen.“ „Wir können ebensogut die Arbeit zu Ende führen. Ich werde einige meiner Männer vom Schiff herüberkommen lassen.“ Es nahm fast eine Stunde in Anspruch, Proben abzuschlagen, die dazu benutzt werden konnten, das Alter des Mantels zu bestimmen. Dann wurde das konzentrierte Feuer des Atomstroms auf die Umgebung des Artefakts gerichtet, um es völlig freizulegen. 10
* Die edelsteinähnliche Struktur zu den Füßen der Männer gleißte wie poliertes Ebenholz. Sie fing die fernen Sterne in ihren tausend Facetten ein und strahlte sie zurück, bis sie schimmerte, als brächen unendliche Lichter aus ihrem Innern hervor. Selbst die Arbeiter nahm ihr Zauber gefangen, denn sie standen schweigend und betrachteten das Geheimnis eines Volkes, das derartige Schönheit geschaffen hatte. Eine Bewegung am Himmel brach den Bann. Underwood sah auf. „Papa Phyfe ist auf dem Kriegspfad. Ich möchte wetten, daß er sich vorgenommen hat, mir die Ohren langzuziehen, weil ich ohne seine Zustimmung über das Laborschiff verfügt habe.“ Das Kommandoschiff verlangsamte seine Fahrt und kam zum Stehen. Aus der geöffneten Schleuse schoß der feurige Strahl eines Scooters, den Dr. Phyfe mit ärgerlicher Konzentration steuerte. „Sie, Underwood!“ Seine Stimme kam schroff über die Kopfhörer. „Ich verlange eine Erklärung für …“ Weiter kam er nicht, denn er bemerkte das Gebilde. Augenblicklich verwandelte er sich vom Expeditionsleiter, einer Rolle, die er nur ungern spielte, in den eifrigen Archäologen. „Was haben Sie da?“ flüsterte er. Terry übernahm die Antwort. „Wir wissen es nicht. Ich ersuchte Dr. Underwood um seine Unterstützung bei der Freilegung des Fundes. Falls ich Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten verursacht haben sollte, bedaure ich es; 11
es ist meine Schuld.“ „Pah!“ wehrte Phyfe geringschätzig ab. „Eine Angelegenheit wie diese ist von äußerster Wichtigkeit. Ich hätte augenblicklich benachrichtigt werden müssen.“ Terry und Underwood grinsten sich zu. Phyfe schalt jeden Archäologen der Expedition, falls er ihn nicht augenblicklich benachrichtigte, wenn irgend etwas vom kleinsten metallenen Maschinenteil bis zu den größten Steindenkmälern entdeckt wurde. Hätten sie gehorcht, so würde er nichts anderes getan haben, als über Hunderttausende von Meilen von Asteroid zu Asteroid zu eilen. „Sie waren mit Ihrer eigenen Arbeit beschäftigt“, erinnerte Terry. Aber Phyfe war gelandet, und als er dem Scooter entstieg, verharrte er in Ehrfurcht. Terry, der ihm am nächsten stand, glaubte, er sähe durch den Helm des Raumanzuges Tränen in den Augen des alten Mannes. „Es ist wunderbar“, murmelte Phyfe verzaubert. „Wunderbar. Die glänzendste Entdeckung in einem Jahrhundert asteroidaler Archäologie. Wir müssen Vorbereitungen treffen, um es sofort zur Erde zu schaffen.“ „Wenn ich einen Vorschlag machen darf“, mischte sich Terry ein, „werden Sie sich erinnern, daß einige der Funde nicht so gut erhalten sind. In vielen Fällen hat Verfall eingesetzt.“ „Wollen Sie mir weismachen, daß dieses Artefakt verfallen kann?“ fragte Phyfe scharf. „Ich denke dabei an die thermische Transferierung. Dr. Underwood kann Ihnen mehr darüber sagen als ich, aber ich fürchte, daß eine Masse von dieser Größe, deren Temperatur beim absoluten Nullpunkt liegt, ungewöhnli12
che Beanspruchungen erfahren könnte, wenn sie der normalen Erdwärme ausgesetzt wird. Sicher, wir setzten den Atomstrom gegen sie ein, aber die Hitze drang nicht tief genug ein, um innere Spannungen hervorzurufen.“ Phyfe zögerte und wandte sich dann Underwood zu. „Wie lautet Ihre Meinung?“ Underwood wußte zunächst nicht, worauf Terry hinauswollte, bis er dessen Wink hinter Phyfes Rücken auffing. Sobald der Fund aus dem Raum in das Labor des Museums gelangte, mochte Terry nie mehr imstande sein, daran zu arbeiten. Das war die ständige Angst dieser Männer. „Ich denke, Dr. Bernard hat recht“, erwiderte Underwood. „Ich würde raten, das Artefakt hier im Raum zu lassen, bis es gründlich untersucht worden ist. Schließlich haben wir an Bord der Lavoisier jede Möglichkeit, die auf der Erde existiert.“ „Gut“, entschied Phyfe. „Sie leiten die physikalische Untersuchung des Fundes, Dr. Underwood. Sie, Dr. Bernard, sind dafür verantwortlich, daß auch vom archäologischen Standpunkt aus weitergearbeitet wird. Genügt das jedem der Beteiligten?“ Es war weit mehr, als Terry erwartet hatte. „Ich werde immer zu erreichen sein“, fuhr Phyfe fort. „Verständigen Sie mich sofort, wenn sich irgend etwas ergeben sollte.“ Dann fiel die Maske des Führers vom Gesicht des kleinen, alten Wissenschaftlers, und er betrachtete das Gebilde mit Demut und Ehrfurcht. „Es ist schön“, murmelte er von neuem, „schön.“
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2. Kapitel Phyfe blieb in der Nähe der Fundstelle, während Underwood und Terry ihrer Mannschaft die Routineaufgabe zuwiesen, das Objekt zu wiegen, zu messen und zu photographieren. Danach befahl Underwood seinen Männern, die verschiedenartigen Strahlgeräte aufzustellen, die in dem Schiff enthalten waren. Die Arbeit war mühselig und eingehend. Jeder Radiator wurde langsam durch seinen Bereich getrieben, dann entfernt und durch Apparate von höherer Frequenz ersetzt. Während jeder Phase der Operationen wurde der Gegenstand sorgfältig photographiert, um seine Reaktion festzuhalten. Nachdem er die scheinbar nutzlose Arbeit zwei Tage hindurch beobachtet hatte, wurde Terry ungeduldig. „Ich vermute, du weißt, was du tust, Del“, wandte er sich an Underwood. „Aber erreichst du überhaupt etwas damit?“ Underwood zuckte die Schultern. „Hier sind die Photographien. Wahrscheinlich willst du sie zur Unterstreichung deines Berichts verwenden. Die Oberflächen des Objekts sind mathematisch bis auf einen tausendstel Millimeter genau. Glaube mir, das will bei einem Gegenstand dieser Größe einiges heißen. Die Oberflächen besitzen eine Glätte, die in der Größenordnung fünfzehn liegt, was bedeutet, daß sie in einem hunderttausendstel Millimeter noch eben sind. Die Folgerung liegt offen zutage. Die Erbauer waren mechanische Genies.“ „Hast du aus der Radioaktivität irgendwelche Schlüsse auf das Alter ziehen können?“ „Reichlich unbestimmt, aber die Ergebnisse deuten auf 14
ungefähr eine halbe Million Jahre hin.“ „Das würde mit dem übereinstimmen, was wir über die Stroid wissen.“ „Es scheint, daß ihre Kultur der unseren in etwa ebenbürtig ist.“ „Persönlich bin ich der Ansicht, daß sie uns voraus waren“, versetzte Terry. „Und begreifst du, was das für uns Archäologen bedeutet? Zum ersten Male in der Geschichte der Wissenschaft müssen wir uns mit den Überresten einer Zivilisation befassen, die der unseren entweder gleichwertig oder überlegen war.“ „Hat man bereits eine Vorstellung vom Aussehen der Stroid?“ „Wir haben noch keine Körper, Skelette oder auch nur Bilder entdeckt, aber wir glauben, daß sie zumindest annähernd anthropomorph waren. Sie waren weiter von der Sonne entfernt als wir, aber sie war damals jünger und versorgte sie wahrscheinlich mit ungefähr der gleichen Wärmemenge. Ihr Planet war größer, und auch die individuellen Stroid scheinen, an Funden gemessen, hochgewachsener gewesen zu sein als wir. Ihre Atmosphäre jedoch enthielt wahrscheinlich die uns gewohnte Menge an Sauerstoff, durchsetzt mit einem geringen Anteil anderer Gase.“ Sie wurden durch das plötzliche Erscheinen eines Technikers unterbrochen. Der Mann legte eine Aufnahme vor Underwood auf den Tisch. „Ich dachte, dies würde Sie interessieren.“ Underwood starrte aus kürzerer Entfernung auf das Photo. „Was zum Teufel ist das? Wir haben jede Schleiffläche zuvor aufgenommen und nichts Derartiges festgestellt. Lassen Sie das Bild vergrößern.“ 15
„Schon geschehen.“ Der Assistent legte ein weiteres Photo auf den Tisch, auf dem das Muster der Markierungen deutlicher hervortrat. Sie waren jetzt klar zu unterscheiden. „Was hältst du davon?“ fragte Underwood. „Ich würde sagen, es sieht wie Schrift aus“, entgegnete Terry. „Nur – wie ist es möglich, daß diese Zeichen sich jetzt dort befinden, und wir sie zuvor nie bemerkten?“ „Am besten überzeugen wir uns selbst“, entschied Underwood. Er nahm das Bild und notierte sich die Anzahl der Facetten, auf denen die Zeichen erschienen. Wenige Augenblicke später trugen Scooter die beiden Männer zu der Plattform hinüber, die im freien Raum schwebte und von der aus Mason, einer der älteren Physiker, die Untersuchungen leitete. Mason gab ein Zeichen, die Bestrahlung abzubrechen, als die beiden Männer sich näherten. „Haben Sie irgendeinen Anhaltspunkt gefunden, Chef?“ fragte er Underwood. „Wir haben unser Bestes getan, diese Nuß zu knacken, aber nichts geschieht.“ „Und doch geschah etwas. Haben Sie das gesehen?“ Underwood reichte ihm mit den mechanischen Fingern des Raumanzuges die Photographie. Mason hielt sie in das Licht eines Scheinwerfers und starrte darauf. „Wir haben nichts Derartiges bemerkt. Und es kann uns unmöglich entgangen sein.“ Er wandte sich an seine Mannschaft. „Ist irgend jemand diese Schrift auf dem Ding aufgefallen?“ Die Männer blickten auf das Bild und schüttelten den Kopf. „Was hatten Sie zu der Zeit auf das Gebilde gerichtet?“ 16
Mason zog seine Aufzeichnungen zu Rate. „Ungefähr hundertfünfzig Angström.“ „Es muß sich also um etwas handeln, das nur in einem Strahlungsfeld dieser Wellenlänge sichtbar wird“, faßte Underwood zusammen. „Arbeiten Sie weiter und achten Sie darauf, ob sich etwas Neues zeigt, oder ob sich die Erscheinung als dauerhaft erweist, nachdem sie dieser Frequenz ausgesetzt wurde.“ Wieder im Laboratorium, setzten sie sich an den Tisch und gingen die Hunderte von Photographien durch, die jetzt aus der Dunkelkammer kamen. „Nichts Ähnliches“, zuckte Terry schließlich die Achseln. „Es scheint, als handle es sich um eine Botschaft, die nur für jemanden bestimmt war, der wußte, welche Frequenz sie sichtbar machen würde.“ Underwood schüttelte den Kopf. „Das klingt mir ein wenig zu melodramatisch. Dennoch liegt es im Bereich der Möglichkeit, daß dieses Gebilde eine Art Repositorium ist, und wir den Schlüssel dazu gefunden haben. Aber was für einen Schlüssel! Es sieht so aus, als müßten wir erst die Schrift der Stroid entziffern, um ihn benutzen zu können.“ „Die besten Männer auf diesem Gebiet haben sich seit fünfundsiebzig Jahren vergeblich darum bemüht. In diesem Fall können wir ebensogut gleich jetzt aufgeben.“ „Du erwähntest, diese Zeichen glichen in nichts anderen Stroidschriften, die du gesehen hast. Vielleicht gehören sie einem unterschiedlichen kulturellen Stadium an. Mag sein, daß wir hier eher Erfolg haben. Wer ist der hervorragendste Experte auf diesem Gebiet?“ „Dreyer im Laboratorium für Semantik, und nach ihm wahrscheinlich Phyfe selbst.“ 17
„Ich möchte wetten, daß es nicht schwierig sein wird, ihn darauf zu stoßen.“ Er behielt recht. Der alte Wissenschaftler geriet in Ekstase über die Entdeckung der Inschrift auf dem großen Edelstein. Er nahm Kopien der Bilder mit in sein Arbeitszimmer und verbrachte zwei volle Tage damit, sie mit den bekannten Funden zu vergleichen. „Es handelt sich um eine völlig neue Anordnung von Schriftzeichen“, gab er dann bekannt. „Wir kennen bereits drei derartige Folgen, die in keiner Beziehung zueinander zu stehen scheinen. Dies ist die vierte.“ Während Phyfes Studium fand die Arbeit der Strahlungsanalyse ihren Abschluß. Sie erwies sich als völlig negativ mit jener einen Ausnahme, die bei 150 Å lag. Keine anderen Sekundärerscheinungen von irgendwelcher Bedeutung waren festgestellt worden. Underwood glaubte nicht daran, daß das Rätsel jemals gelöst werden würde, wenn nicht jemand durch einen glücklichen Zufall über eine Art Rosettastein stolperte, der die Kluft zwischen dem menschlichen Hirn und dem der artfremden Stroid überbrücken würde. Phyfe dagegen schwor: „Ich werde dem Problem meine gesamte Zeit widmen. Sie können mir helfen, wenn Sie wollen, Dr. Bernard.“ Terry selbst erschreckte die Größe des Geheimnisses, das sie sich vorgenommen hatten zu entschleiern. Er kannte Phyfes Zähigkeit, wenn er etwas in Angriff nahm, und er legte keinen Wert darauf, sich während der restlichen Expeditionszeit mit Semantik zu befassen. Underwood hatte sich auf eine neue Aufgabe gestürzt und versuchte, mit Röntgenstrahlen die Molekularstruk18
tur des Artefakts vom kristallographischen Standpunkt aus zu bestimmen, um herauszufinden, ob es möglich war, den Stoff zu spalten. Nach ungefähr einer Woche tauchte Terry verdrossen in seinem Labor auf. „Du siehst aus, als hätte Papa dich verhauen“, neckte ihn Underwood. „Warum so niedergeschlagen?“ „Ich glaube, ich werde abtreten und wieder zum Museum gehen. Es ist nutzlos, noch länger an diesem Rätsel herumzufeilen.“ „Woher weißt du das?“ „Weil es den Gesetzen der Semantik mit Bezug auf Sprachen nicht gehorcht.“ „Vielleicht haben die Gesetze eine Änderung nötig.“ „Du solltest es besser wissen. Hör zu; du bist mit Carnovans Gesetz ebenso vertraut wie ich. Es besagt, daß in jeder Sprache eine bestimmte konstante Häufigkeit semantischer Konzeptionen existieren muß. Es ähnelt den alten Häufungsgesetzen, wie sie ihre Anwendung bei kryptographischen Untersuchungen fanden, nur daß es tausendfach komplizierter ist. Auf jeden Fall haben wir Tausende von Substitutionen in Carnovans Häufigkeitsskala vorgenommen, und nichts ergibt sich. Nicht das geringste. Kein Konzept von Ego, Identität, Vollkommenheit, Rückschritt oder gegenseitiger Beziehung kommt zum Vorschein. Das einzige, was sich kaum merklich abzeichnet, ist der Begriff der Bewegung, aber er liefert kein einziges Schlüsselwort. Das Resultat ist fast das gleiche, als wäre es überhaupt keine Sprache.“ „Vielleicht ist es wirklich keine.“ „Was sollte es sonst sein?“ 19
„Nun, vielleicht handelt es sich bei unserem Fund um ein Denkmal irgendeiner Art, und die Inschriften verkörpern rituelle Huldigungen an tote Heroen oder etwas Ähnliches. Vielleicht ist mit der ganzen Bestrahlung überhaupt keine Absicht verbunden. Mag sein, daß sie diese Frequenz einfach zur Erleuchtung benutzten und die Schrift so angeordnet war, daß sie nur nachts sichtbar wurde. Der Ärger mit euch strikten Semantikern ist, daß ihr keine Phantasie besitzt.“ „Möchtest du dich nicht bei einigen Sitzungen mit Papa Phyfe versuchen?“ „Nein, danke, aber ich bin wirklich überzeugt, daß es andere Möglichkeiten gibt, die ihr überseht. Ich gebe nicht vor, etwas anderes zu sein, als ein ausgesprochener Amateur auf dem Gebiet der Semantik, aber nimm nur einmal an, daß die Inschriften keine Sprache im üblichen Sinne darstellen.“ „Sie müssen übertragene Gedanken in irgendeiner Form verkörpern.“ „Zugegeben, aber betrachte die verschiedenen Formen des Gedankens. Du bist an die Sprachkonzeption gebunden, die bereits zu Korzybskis Zeiten herrschte. Zumindest an die Auffassung, die bei jenen herrschte, die Korzybski nicht völlig begriffen. Du hast noch nicht die Möglichkeit der Musik in Betracht gezogen. Sie ist eine sehr reale Vorstellung, aber eine, die ohne das Instrument bedeutungslos bliebe. Denke außerdem an – warte einen Augenblick, Terry! Wir waren alle ein Haufen von Dummköpfen!“ „Worauf willst du hinaus?“ „Sieh dir die geometrische und mechanische Voll20
kommenheit des Artefakts an. Sie erfordert mathematisches Wissen, das auf einer hohen Stufe steht. Bei den Inschriften könnte es sich um mathematische Angaben irgendeiner Art handeln. Das würde das Versagen von Carnovans Prinzipien erklären. Sie gelten nicht für Mathematik.“ „Aber welcher Art sollte die Mathematik sein, die auf einem solchen Körper niedergelegt ist?“ „Wer weiß? Wir können es jedenfalls versuchen.“ * Es war am Anfang ihrer Schlafperiode, aber Underwoods plötzlicher Enthusiasmus riß Terry mit. Er verschwand und kehrte mit einer vollständigen Kopie aller Inschriften zurück, die auf den Facetten des schwarzen Edelsteins gefunden worden waren. Underwood legte sie in der Reihenfolge, in der sie um die Peripherie liefen, auf einen großen Tisch. „Für mich wäre das ein Buch mit sieben Siegeln“, schüttelte Terry den Kopf. „Ich bin der schlechteste Mathematiker, den es auf der Welt gibt.“ „Hier ist der Anfang“, rief Underwood im gleichen Moment aus. Er verschob einige der Abzüge, so daß ein Bogen, der bisher in der Mitte gelegen hatte, jetzt den Anfang der Reihe bildete. „Woran erinnert dich das Bild?“ „Ich habe es so oft gesehen, daß ich schon davon zu träumen begann. Es ist dasselbe, aus dem Phyfe bei seinen Häufigkeitsbestimmungen am meisten herauszuholen versuchte. Es wirkt wie ein Dreieck mit …“ 21
„Genau das ist es, und Phyfes Feststellung, daß es von beträchtlicher Häufigkeit war, wundert mich gar nicht. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Erklärung des Stroidschen Differentialbegriffs. Dieses Zeichen hier muß die Ableitung verkörpern, die unserem dy/dx entspricht.“ Underwood kritzelte hastig mehrere Gleichungen auf einen Block, wobei er Kombinationen von „x“ und „y“ und die seltsamen, unbekannten Symbole der Stroid verwandte. „Es stimmt! Sie erklären uns ihre Methode der Differentiation. Und nicht nur das – die Exponentialgrößen liefern uns zugleich den Schlüssel zu ihrem numerischen System, weil sie die Differentiation einer ganzen Folge von Potenzen durchgeführt haben. Irgendwo müßten wir jetzt ein Integral finden, das wir durch Differenzieren zurückverfolgen können. Hier ist es!“ „Was ist es?“ rief Terry aus. „Was hast du gefunden?“ „Ich bin mir nicht sicher. Weißt du, was sich als Endresultat aus diesen Formeln ergibt?“ „Was?“ „Ein Komplex von Wellengleichungen, aber von einer Art, die den Physiker, der sie erträumte, zum Verrückten stempeln würde. Und doch, im Licht einiger neuer Verfahren, die von den Stroid eingeführt wurden, scheint es, daß sie sich verwirklichen lassen.“ „Was können wir damit anfangen?“ „Wir können einen Generator bauen und abwarten, was sich ergibt, wenn wir ihn in Übereinstimmung mit diesen Angaben bedienen. Die Stroid zielten offensichtlich darauf hin, daß jemand diesen Körper finden und 22
lernen sollte, die beschriebene Strahlung zu erzeugen. Ihre Absicht können wir nur erraten – aber vielleicht werden wir sie erkennen.“ „Haben wir das notwendige Material an Bord, um einen solchen Generator zu konstruieren?“ „Ich denke doch.“ 3. Kapitel Phyfe strahlte. Er gab nicht nur die Erlaubnis, den Generator zu bauen, sondern verlangte, daß alle Arbeit an Bord des Laborschiffes hinter dem neuen Projekt zurückstand. Der Entwurf der Maschine erwies sich als keine leichte Aufgabe, denn Underwood war Physiker und kein Ingenieur. Er hatte jedoch zwei Männer, Moody und Hansen, in seinem Stab, die erstklassige Ingenieure waren. Ihnen fiel die Hauptlast der Konstruktion zu, nachdem Underwood die groben Umrisse ausgearbeitet hatte. Als der Generator schließlich für den Versuch bereitstand, war das große Laboratorium ein Gewirr von Leitungen, in das sich außer Moody und Hansen niemand hineinwagte. Die Vollendung wirkte nicht als Höhepunkt. Das große Projekt, unter dessen Einfluß alle andere Feldarbeit zum Stehen gekommen war, war verwirklicht – und niemand wußte, was er erwarten sollte, als Hansen den Schalter herumwarf, der Energie aus den Umformern in die gigantischen Röhren leitete. Tatsächlich geschah zuerst nichts. Nur das leise Summen der Konverter und die tanzenden Nadeln der Meßge23
räte, die in dem ganzen Raum angebracht waren, zeigten, daß der Strahl arbeitete. Auf dem Bug der Lavoisier war der große, unförmige Radiator angebracht, der die Tiefen des Raumes mit der neu geschaffenen Energie bestrich. Underwood und Terry befanden sich mit ihren Beobachtungsgeräten auf der Hülle des Schiffes hinter dem Radiator. Im Raum war der Strahl völlig unsichtbar und rief kein entdeckbares Feld hervor. Er schien ebenso unwirksam wie ein ultravioletter Schein, der die sternerhellte Dunkelheit durchstößt. Underwood griff nach dem Mikrophon, das sie mit der Bordsprechanlage verband: „Drehen Sie bitte das Schiff, Captain Dawson. Lassen Sie den Strahl durch einen Bogen von hundertachtzig Grad rotieren.“ Der Kapitän gab die entsprechenden Befehle, und die Lavoisier drehte sich um ihre Achse. Der Strahl des Radiators fiel direkt auf den geheimnisvollen Gegenstand, den sie im Herzen eines Asteroiden entdeckt hatten. Augenblicklich war der Himmel von unerträglichem Licht erfüllt. Schlagartig erlosch die Helle, als der Strahl wieder in den Raum traf. Die beiden Männer auf der Hülle des Schiffes gewannen langsam wieder ihr Augenlicht zurück. Die Krümmung der Schiffshülle hatte sie vor der Hauptfülle des Lichts bewahrt. Underwood stolperte auf die Füße, gefolgt von Terry. Offenen Mundes standen die beiden Männer ungläubig vor dem Bild, das sich ihren Augen bot. Wo der Edelstein im Raum gewesen war, befand sich jetzt eine bla24
senwerfende, kochende Masse amorpher Materie. „Er ist zerstört!“ rief Terry heiser aus. „Der größte archäologische Fund aller Zeiten – wir vernichteten ihn, ehe wir etwas darüber herausgefunden haben …“ „Halt’ den Mund!“ befahl Underwood schroff. Er versuchte, sich auf das Geschehen vor ihm zu konzentrieren, aber er konnte keinen Sinn darin entdecken. Er stöhnte vor Ärger über die Tatsache, daß er keine Kamera bei sich hatte, und betete, daß jemand im Innern des Schiffes seine Sinne genug beisammen haben würde, um den Vorgang zu filmen. Während das Schiff seine langsame Drehung fortsetzte, erstarb langsam das Pulsieren der amorphen Masse, die einst das Juwel gewesen war. Und aus ihrer grauen Trübe entstand etwas Neues! * Underwood rang nach Atem. An den Rändern der Facetten zeigten schwere Rippen die Struktur, welche das Skelett bildete. Und jede Zelle zwischen den Rippen war mit einer dichten Substanz ausgefüllt, die teilweise die unbekannte Welt im Innern enthüllte. Aber mehr als das – zwischen zwei Rippenreihen erspähte er eine Lücke, einen Zugang zum Innern. „Komm“, rief er Terry zu. „Sehen wir uns diese Öffnung an.“ Sie sprangen auf die Scooter, die an der Oberfläche des Laborschiffes verklammert waren, und rasten los. Sie manövrierten die Scooter an die Öffnung heran und verankerten sie auf der Oberfläche des Artefakts. 25
Der dreieckige Zugang war groß genug, um einen Mann durchzulassen. Underwood und Terry knieten an seinem Rand nieder und spähten hinunter. Ihre Handlampen blitzten über das enthüllte Innere. Die Öffnung schien in das Zentrum eines kleinen Raumes abzufallen, der leer war. „Komm in meine Wohnung, sagte die Spinne zur Fliege“, zitierte Terry. „Siehst du vielleicht irgend etwas unter dir?“ „Nein. Warum das Spinnenzitat?“ „Ich weiß nicht. Alles ist zu einfach. Ich habe das Gefühl, als beobachte uns jemand und dränge uns auf dem Weg vorwärts, den er uns zu gehen wünscht. Und wenn wir das Ende des Weges erreichen, werden wir wünschen, ihn nie gegangen zu sein.“ Underwood knurrte etwas Unverständliches als Antwort und ließ sich in die Höhlung fallen. Seine Handlampe zuckte rasch umher. Terry folgte augenblicklich. Sie fanden sich in der Mitte eines kreisrunden Raumes, der sechs Meter im Durchmesser maß. Die Wände und der Boden schienen aus dem gleichen ebenholzschwarzen Material zu bestehen, das die äußere Hülle des Edelsteins vor seiner Verwandlung gebildet hatte. Die Wände waren buchstäblich vom Boden bis zu der drei Meter hohen Decke mit Inschriften bedeckt, die schwach in der Dunkelheit glühten, wenn ihre Handlampen nicht darauf gerichtet waren. „Erkennst du etwas davon?“ wollte Underwood wissen. „Stroid III“, stellte Terry ehrfürchtig fest. „Die schönste Sammlung von Gravuren, die jemals gefunden worden ist. 26
Wir haben nie zuvor ein zusammenhängendes Bild erhalten, das auch nur einen Bruchteil dieser Größe aufwies.“ „Ich habe eine bestimmte Ahnung“, bemerkte Underwood langsam. „Ich weiß zwar nichts über die Art, in der man beim Entziffern einer unbekannten Sprache vorgeht, aber ich möchte wetten, ihr werdet feststellen, daß hier die elementaren Begriffe ihrer Sprache vorhanden sind, so, wie die Inschriften draußen den Schlüssel zu ihrer Mathematik lieferten, bevor sie die Wellengleichungen beschrieben.“ „Du magst recht haben.“ Terrys Augen glühten vor Begeisterung, während er die polierten Wände mit den matt glühenden Buchstaben überblickte. Sie kehrten zum Schiff zurück, um Phyfe von ihrem Fund zu berichten. Underwood spielte lediglich den Zuschauer, als sie zu dem Edelstein zurückkehrten. Zwei Photographen, Carson und Enright, begleiteten sie zusammen mit Nichols, dem Assistenten für Semantik. Underwood stand in Gedanken versunken neben ihnen, während die Photographen ihre Apparate aufbauten. Phyfe bemerkte zu ihm: „Dr. Bernard erwähnte Ihre Ansicht, dieser Raum verkörpere den Schlüssel zu Stroid III. Im Augenblick kann ich nichts feststellen, das darauf hindeuten würde. Was veranlaßt Sie zu Ihrer Meinung?“ „Der ganze Aufbau“, erläuterte Underwood. „Zunächst bot sich uns nur die undurchdringliche Hülle. Dann folgte das Mittel, durch das es uns gelang, die Inschriften auf der Außenseite zu lesen. Offensichtlich, wenn Hitze und Kernspaltung ebensowenig wie chemische Reaktionen imstande waren, das Material anzugrei27
fen, blieb die Radiationsmethode als einziger Analysierungsweg. Und nur wer fähig war, einen Generator mit einer Strahlung von 150 Ä zu bauen, konnte die Inschriften entdecken. An jeden, der versuchte, das Geheimnis dieses Körpers zu lösen, wurden also zwei hohe technische Anforderungen gestellt – die Fähigkeit, die entsprechende Strahlung zu erzeugen, und die Fähigkeit, ihre Mathematik zu erfassen und nach den Wellengleichungen einen zweiten Generator zu konstruieren.“ „Sie mögen recht haben“, gab Phyfe zu. „Aber wir Archäologen arbeiten mit Tatsachen und nicht mit Vermutungen. Wir werden bald genug wissen, ob Ihre Ansicht zutrifft.“ * Underwood war damit zufrieden, zu grübeln, während die anderen arbeiteten. Es gab nichts anderes für ihn zu tun. Er ging auf die Oberfläche hinaus und schritt langsam darüber hin, während er mit seiner Lampe in die transparenten Tiefen spähte. Was lag in diesem Gebilde verborgen, das eine alte Rasse hinterlassen hatte, die an wissenschaftlicher Entwicklung mit dem Menschen offensichtlich auf gleicher Höhe gestanden oder ihn sogar übertroffen hatte? War es eine Fundgrube an Wissen, dazu bestimmt, die Menschheit mit ihrem Überfluß zu segnen? Oder würde es sich als eine zweite Büchse der Pandora entpuppen, aus der sich neue Übel über die Welt ergießen und zu ihrer bereits jetzt drückenden Last beitragen würden? Das mußte es sein, was Terry empfunden hatte, dachte er. 28
Fast drei Stunden blieb er auf der Hülle und überließ sich seinen Gedanken. Plötzlich erwachten die Kopfhörer in seinem Helm zu lärmendem Leben. Es war die Stimme Terry Bernards. „Wir haben es, Del“, sagte er ruhig. „Wir können die Schriften lesen wie Kinderreime. Komm herunter. Sie erklären uns, wie wir ins Innere zu gelangen vermögen.“ Underwood ließ sich durch die Öffnung hinunter. Dr. Phyfe war sonderbar schweigsam trotz ihres schnellen Erfolgs beim Entziffern der Sprache der Stroid. Underwood fragte sich, was durch den Kopf des alten Mannes ging. Empfand auch er die Größe dieses Augenblicks? Phyfe bemerkte: „Sie waren ebenso wie wir Semantiker. Sie kannten Carnovans Häufigkeitsprinzip und benutzten es als Schlüssel, um ihre Schrift zu enthüllen. Niemand, der in Semantik minder fortgeschritten wäre als unsere eigene Zivilisation, hätte sie entziffern können, aber mit dem Wissen um Carnovans Gesetz ist es einfach.“ „Wo befindet sich die Tür?“ fragte Underwood. Nach den Notizen, die er sich gemacht hatte, bewegte sich Terry durch den Raum und lenkte Underwoods Aufmerksamkeit auf das Muster. Zierlich gearbeitete, bewegliche Hebel bildeten eine verwickelte Kombination, die plötzlich genau in der Mitte des Raumes ein Stück des Bodens freigab. Es senkte sich langsam, drehte sich dann außer Sicht. Für einen Moment sprach niemand, während Phyfe zu der Öffnung schritt und hinunterspähte. Eine Treppe aus dem gleichen glänzenden Material wie die Wände um sie führte in die Tiefen des Gebildes. 29
Phyfe ging als erster hinunter. „Achtet auf die Stufen“, warnte er. „Sie sind größer, als für menschliche Wesen notwendig ist.“ Die Kammer, in der sie sich jetzt befanden, war mit Gegenständen von unterschiedlicher Größe und seltsamen Formen überladen. Gegenüber dem Fuß der Treppe war ein Sockel angebracht, auf dem ein buchähnlicher Gegenstand lag. Es stellte sich heraus, daß er aus metallischen Blättern bestand, die sich umwenden ließen und mit Inschriften in Stroid III bedeckt waren. „Es scheint, als müßten wir unseren Weg entlanglesen“, meinte Terry. „Ich vermute, wir werden hier erfahren, wie wir in den nächsten Raum gelangen können.“ Die beiden Photographen begannen, jeden Gegenstand, der sich in der Kammer befand, sorgfältig zu photographieren. Underwood stand allein in einer Ecke und untersuchte ein Objekt, das aus nichts als einer Reihe undurchsichtiger, polychromer Kugeln zu bestehen schien, die einander berührten und auf einem Sockel angebracht waren. „Sie spüren es ebenfalls“, sagte eine plötzliche ruhige Stimme hinter ihm. Underwood fuhr überrascht herum. Phyfe stand hinter ihm, seine schmächtige Gestalt ein formloser Schatten in dem Raumanzug. „Spüre was?“ „Ich habe Sie beobachtet, Dr. Underwood. Sie sind Physiker und in weitaus näherer Berührung mit der realen Welt als ich. Sagen Sie mir: Was wird dieses Eindringen einer fremden Wissenschaft in unsere eigene zur Folge haben?“ „Ich wünschte, ich könnte diese Frage beantworten“, 30
entgegnete Underwood kopfschüttelnd. „Ich kann es nicht. Doch eines ist mir klar: Die Stroid scheinen bewußt versucht zu haben, für das Überleben ihrer Kultur zu sorgen.“ * Underwood sah ein, daß er im Erfassen der Wissenschaft der Stroid nicht weit kommen würde, wenn er sich nur auf die Übersetzungen verließ, die Terry und Phyfe ihm gaben. Er schnappte sich Nichols und brachte den Semantiker dazu, ihn in die Anfangsgründe der Sprache einzuweihen. Sie war im Prinzip überraschend einfach und entlang semantischer Linien konstruiert. Sie benötigten fünf Tage, um sich auch nur oberflächlich durch das Material zu arbeiten, welches das erste Stockwerk unter dem Vorraum enthielt. Das metallene Buch trug wenig dazu bei, ihre Neugier über den alten Planeten oder seine Kultur zu befriedigen. Es unterwies sie lediglich weiter im Gebrauch der Sprache. Wie bereits augenscheinlich war, diente das Repositorium dem Zweck, die höchsten Errungenschaften der Stroidkultur vor der Zerstörung zu retten, die über die Welt hereinbrach. Aber die Berichte deuteten nicht einmal die Natur dieser Zerstörung an, und sie sagten nichts über die Gegenstände in dem Raum aus. Die Wissenschaftler waren ein wenig enttäuscht, aber wie erwartet, fanden sie Instruktionen zum Betreten des nächsttieferen Stockwerks. Dort konfrontierte sie eine völlig andere Situation. Die Kammer, in die sie gelangten, war sphärisch in ih31
rer Form und schien mit der äußeren Hülle des Repositoriums konzentrisch zu sein. Sie enthielt ein einziges Objekt. Das Objekt war ein Kubus im Zentrum der Kammer. Von seinen Kanten führten lange Stützen aus kompliziert gewundenen Sprungfedern zur inneren Wandung der sphärischen Kammer. Es schien sich um eine äußerst wirksame Stoßdämpfervorrichtung zu handeln. Der Anblick, der sich den Männern bot, war beeindruckend in seiner Einfachheit und doch enttäuschend, denn nichts sahen sie hier von den großen Wundern, die sie erwartet hatten. Nichts befand sich in der Kammer als der aufgehängte Kubus – und ein Buch. Rasch durchschritt Phyfe den schmalen Gang, der von der Öffnung zu dem Kubus führte. Das Buch lag auf einem Sims, das an der Seite des Würfels befestigt war. Phyfe öffnete es auf der ersten Seite und las zögernd und mühsam: „Grüße euch unbekannten Freunden, Grüße von dem Großen. Dadurch, daß ihr jetzt dieses lest, habt ihr euch geistig als fähig erwiesen, die neue Welt des Wissens und der Entdeckung, die euer sein kann, zu erfassen. Ich bin Demarzule, der Große, der Größte im großen Sirenia – und der Letzte. Und im Speicher meines Gehirns liegt das gewaltige Wissen, das Sirenia zur größten Welt im gesamten Universum machte. Trotz dieser Größe griff die Vernichtung nach der Welt von Sirenia. Aber ihr Wissen und ihre Wunder sollen niemals vergehen. In kommenden Zeiten werden neue Welten erstehen, und Wesen werden sie bewohnen, und sie werden ein Minimum an Wissen erlangen, wel32
ches sicherstellen wird, daß sie die Wunder zu schätzen wissen, die die Welt von Sirenia ihnen bietet. Ihr besitzt ein Minimum an technischem Wissen, sonst hättet ihr nicht die Strahlung erzeugen können, die notwendig war, um den Speicher zugänglich zu machen. Ihr besitzt ein Minimum an semantischem Wissen, sonst hättet ihr nicht meine Worte verstehen können, die euch so weit gebracht haben. Ihr seid geeignet und fähig, den Großen von Sirenia zu erblicken!“ Während Phyfe die erste der metallenen Seiten umwandte, sahen sich die Männer schweigend an. Phyfe starrte angestrengt durch den Helm seines Raumanzuges und fuhr schließlich fort: „Ich lebe. Ich bin ewig. Ich bin in eurer Mitte, unbekannte Freunde, und euren Händen obligt die Aufgabe, meiner Stimme die Sprache zurückzugeben, das Sehvermögen meinen Augen und Gefühl meinen Händen. Dann, wenn ihr eure gewaltige Aufgabe erfüllt habt, werdet ihr mich erblicken.“ Die Männer gaben keinen Laut von sich, als Phyfe weiterlas. „Ich werde von neuem leben. Der Große wird zurückkehren, und ihr, die ihr meine unbekannten Freunde seid, werdet mir bei meiner Rückkehr zum Leben beistehen. Dann, und nur dann, werdet ihr die Geheimnisse der Welt von Sirenia erfahren, welche tausendmal größer sind als eure eigenen. Nur dann werdet ihr mächtig werden, mit den Geheimnissen Sirenias, die in meinem Gehirn verschlossen sind. Durch die Kräfte, die ich euch enthülle, werdet ihr mächtig werden, bis es keinen im gesamten Universum gibt, der euch übertrifft.“ Phyfe wandte die Seite um. Abrupt hielt er inne. Er 33
wandte sich zu Underwood um. „Der Rest steht Ihnen zu“, sagte er. „Was …?“ Underwood blickte auf das Metall. Mühsam begann er zu lesen. Langsam kämpfte er sich durch die ersten Begriffe, überflog dann das Folgende, als offenbar wurde, daß hier Material war, das tagelanges Studium erforderte. Aber unter seinem flüchtigen Dahingleiten erstand die Vision eines großen Traumes, eines Traumes der Eroberung der Äonen, der Erhaltung des Lebens, während Welten schwanden und starben und neu erstanden. Die Zeilen erzählten von einer unbekannten Strahlung, die, auf lebende Zellen gerichtet, sie in Protoplasma zurückverwandelte. Und sie sprachen von anderen Strahlungen und komplizierten chemischen Prozessen, die das Leben wieder herzustellen vermochten, das in dem Protoplasma steckte. Underwood sah auf. Seine Augen glitten über die Gesichter seiner Gefährten. „Es lebt!“ hauchte er. „Fünfhunderttausend Jahre – und es lebt! Hier sind die Anweisungen, nach denen es wiederhergestellt werden kann!“ Im Innern des Würfels lag schlafende Materie, die zu einem Hirn geformt werden konnte – einem fremden, aber mächtigen Hirn. Plötzlich fühlte Underwood sich seltsam zu dieser Kreatur hingezogen, die die Zeit besiegt hatte, und in seinem Innern legte er einen Schwur ab, daß, wenn es in seiner Macht lag, dieses Geschöpf wiederauferstehen und seine Geheimnisse verkünden würde. 34
4. Kapitel „Del!“ rief Illia freudig aus, als sie ihre Wohnungstür öffnete. „Überrascht?“ forschte Underwood. „Warum hast du mich nicht von deinem Kommen benachrichtigt? Es ist nicht fair …“ „… dir keine Zeit zu lassen, dich zu wappnen?“ Sie nickte schweigend, während er sie in die Arme schloß. Aber rasch machte sie sich frei und führte ihn zu dem Sitz vor den hohen Fenstern, welche die nächtliche Helle der tiefergelegenen Stadt überschauten. „Bist du zurückgekehrt?“ wollte sie wissen. „Zurück? Du legst eine verwirrende Bedeutung in gewöhnliche Worte, Illia.“ Sie lächelte, ließ sich neben ihm nieder und wechselte schnell das Thema. „Erzähle mir von der Expedition. Archäologie erschien mir immer als die nutzloseste aller Wissenschaften, aber ich vermute, das rührte daher, daß ich nichts Gemeinsames zwischen ihr und meiner Medizin entdecken konnte. Ich habe mich stets gefragt, was ein Physiker daran finden mag.“ „Ich glaube, unser neuester Fund wird dir etwas Verbindendes geben. Wir haben ein lebendes, wenn auch schlafendes Wesen freigelegt, das auf gleicher oder höherer Intelligenzstufe mit uns steht. Sein Alter beträgt ungefähr eine halbe Million Jahre. Ich bin sicher, daß du an den medizinischen Aspekten interessiert sein wirst.“ Für einen Augenblick saß Illia, als hätte sie nicht gehört. Dann erwiderte sie langsam: „Das könnte eine Ent35
deckung sein, um eine Welt zu verändern.“ Underwoods Ärger, den er empfand, rührte weniger von ihren Worten als von der Tatsache her, daß er versucht hatte, die gleiche Vorstellung zu unterdrücken. „Wir haben keine Entdeckung von derart welterschütternden Ausmaßen gemacht. Wir haben ein Geschöpf eines anderen Zeitalters und einer anderen Kultur gefunden, aber es wird unsere Gesellschaft weder spalten noch verändern.“ „Wenn es sich um eine wissenschaftlich überlegene Kultur handelt, woher willst du dann wissen, was es tun wird?“ „Wir wissen es nicht, aber jetzt auf Einzelheiten einzugehen, würde zu weit führen. Ich erwähnte es lediglich, weil wir einen Biologen als Ratgeber benötigen werden. Ich dachte, du hättest vielleicht Interesse daran.“ Ihre Augen blickten über die hell erleuchtete Stadt. Sie fragte: „Del, ist es menschlich?“ „Menschlich? Was heißt menschlich? Ist Intelligenz menschlich? Bis jetzt wissen wir nur, daß es sich um ein fühlendes Wesen von hohem wissenschaftlichem Standard handelt.“ „Und das allein macht sein Verhältnis zu uns sympathisch?“ „Nun, ich nehme es an. Ich sehe keinen Grund, warum es anders sein sollte.“ „Ja. Ja, ich stimme dir zu. Und hast du nicht weitergedacht? Es kann zu einem Keim der Erneuerung werden, zu einem Nukleus, der die zerstreuten Triebkräfte unserer Kultur um sich sammelt und sie in der Absorption seiner neuen Wissenschaft eint. Bedenke nur, auf welches bio36
logische Wissen das bloße Zeugnis suspendierter Animation hindeutet.“ „Schon gut.“ Underwood lachte leise und resigniert. „Es hat ja wohl keinen Zweck, wenn man versucht, einer solchen Diskussion mit dir auszuweichen, Illia. Du würdest nach der ersten Frühlingsblume einen ganzen Sommer planen.“ „Aber habe ich denn unrecht? Die Menschheit braucht etwas, das imstande ist, sie in dieser Periode der Ernüchterung zusammenzukitten. Dies könnte es sein.“ * Die Begeisterung des Direktorenkomitees übertraf, wenn möglich, noch diejenige Illias. Keiner von ihnen schien die Befürchtungen zu teilen, die einige der Expeditionsteilnehmer hegten. Boarder, der Älteste unter den Direktoren, vermochte die Tränen nicht zurückzuhalten, nachdem er Underwoods Bericht gehört hatte. „Welch ein Wunder, daß dieses Geschehen während unseres Lebens eintrat“, rief er. „Glauben Sie, daß es sich verwirklichen läßt? Das Ganze scheint so – so phantastisch, die Wiedererweckung eines Geschöpfes, das vor einer halben Million Jahren lebte.“ „Eine Antwort darauf kann ich Ihnen nicht geben“, versetzte Underwood. „Niemand ist dazu imstande. Die technischen Voraussetzungen zum Bau der Anlagen, wie sie die Stroid beschrieben haben, sind in jeder Hinsicht gegeben. Die Frage ist allerdings, ob nicht zuviel Zeit vergangen und das Protoplasma abgestorben ist. Wir können es nur erfahren, wenn wir die notwendigen Appa37
raturen erstellen und das Experiment durchführen, was ich bereit bin zu tun, wenn das Direktorium die Kosten billigt.“ „Das steht außer Frage“, erklärte Boarder. „Wir würden das gesamte Institut verpfänden, wenn es notwendig wäre. Ich überlege nur, welche Lagerräume wir benutzen könnten. Wie wäre es mit dem neuerbauten Carlson Museum? Die Fundstücke, die dafür bestimmt sind, können noch eine Weile im Lager bleiben.“ Boarder sah sich in dem Kreis der Direktoren um. Er bemerkte zustimmendes Nicken und ließ abstimmen. Sein Vorschlag wurde angenommen. Phyfe kehrte zu der Expedition zurück, um die Verschiffung des Repositoriums mit Demarzule zur Erde zu überwachen, während Underwood mit der Planung für die Konstruktion und den Aufbau der Geräte begann, wie sie die Instruktionen der Stroid angaben. Dreyer, der große Semantiker, wurde um seine Hilfe als beratende Kapazität für das gesamte Projekt gebeten; speziell, um bei der Übersetzung der Aufzeichnungen behilflich zu sein. * Fünf Monate nach der eigentlichen Entdeckung des Repositoriums waren alle notwendigen Vorkehrungen für die Wiederbelebung getroffen, die Geräte erprobt und gebrauchsfertig. Das öffentliche Interesse an dem Projekt war durch sensationelle Zeitungsberichte erregt worden, und ein ständiger Menschenstrom schob sich an dem Carlson Museum vorüber, um einen Blick auf die Vor38
gänge im Innern zu werfen. Underwood hatte den Zeitungsartikeln keine große Beachtung geschenkt, aber die zunehmenden Volksmengen begannen lästig zu werden und behinderten die Arbeiten. Er war gezwungen, das Direktorium zu ersuchen, ein breites Areal um das Museum einzuzäunen. Während dieser Zeit fiel die Lavoisier langsam auf einer Kreisbahn um die Erde, um das Repositorium auf Raumtemperatur zu halten, bis die Zeit für die Überführung des Protoplasmas in die Nährlösung gekommen war. Jetzt, nachdem im Carlson Museum alles vorbereitet war, kehrten Underwood und Phyfe auf das Schiff zurück, um die Entfernung des Protoplasmabehälters zu beaufsichtigen. Die Beobachter und Techniker standen bereit, ihre Pflichten zu übernehmen. Die Verschiffung des Protoplasmas zur Erde war ein kritischer Vorgang. Das Bad im Carlson war auf den absoluten Nullpunkt gesenkt worden und würde nur langsam Grad um Grad erwärmt werden. Boarder und die anderen Direktoren des Instituts teilten Underwoods Zögern gegenüber allem, was Publizität hieß, nicht. Sie waren an Magazin- und Zeitungsreporter gewöhnt, denn ein Großteil der Gelder des Instituts hing von solcher Werbung ab, die beträchtliche Spenden nach sich zog. So kam es, daß die Ankunft der Lavoisier weithin bekannt wurde. Eine nach Tausenden zählende Menge versammelte sich, um die Ausladung des Protoplasmas zu erleben, das einst ein mächtiges und fremdes Wesen verkörpert hatte. Underwood stand im Kontrollraum und beobachtete 39
den Landeplatz neben dem Museum, während das Schiff tiefer in die irdische Atmosphäre eindrang. Nur allmählich erkannte er die Identität des schwarzen Gewimmels, das die Landschaft um den weißen steinernen Bau bedeckte. Terry rief neben ihm aus: „Sieh dir diesen Mob an! Die ganze Stadt muß auf den Beinen sein, um unseren Gast willkommen zu heißen.“ „Wenn sie nicht von dem Landeplatz verschwinden, wird nicht viel von ihnen übrigbleiben. Collins, setzen Sie sich mit der Bodenstelle in Verbindung und sorgen Sie dafür, daß das Feld geräumt wird.“ Der Funkoffizier gab die Anordnung durch. Das Laborschiff kreiste müßig, während die Menge langsam zurückwich, um dem Schiff Raum zu geben. Sie waren kaum gelandet, als Underwood aus dem Schiff und in das Gebäude eilte. Seine Techniker hatten ihre Plätze eingenommen und meldeten nacheinander, daß alles bereit sei. Daraufhin befahl Unterwood, die tragbare Schleuse herauszuschaffen. Die Menge erblickte den Behälter, als er rasch in das Gebäude gerollt wurde. Jemand in den hinteren Reihen stieß einen Schrei aus: „Heil dem Großen! Willkommen auf der Erde!“ Der Ruf wurde von Hunderten, dann von Tausenden von Kehlen aufgenommen, bis ein Meer von Lärm gegen die Ohren der Wissenschaftler in dem Gebäude brandete. „Die Narren“, bemerkte Underwood ärgerlich zu Terry. „Sie werden sich in Hysterie hineinsteigern, wenn sie so weitermachen. Warum haben die Direktoren nicht die ganze Angelegenheit geheimgehalten? Sie hätten wissen 40
müssen, wie die Nachricht sich auf den Zuschauermob auswirken würde.“ Die Schleuse wurde zu dem Bad gerollt und eine Passage geöffnet, als die beiden Behälter sich berührten. Auf keimfreien Schienen glitt die gefrorene Protoplasmamasse vorwärts und kam endlich in dem Mechanismus zur Ruhe, auf die sie fünf Jahrhunderttausende gewartet hatte. Das große Experiment hatte begonnen. In sechs Monaten würden sie wissen, ob ihnen ein Erfolg beschieden var. Underwood sandte den Behälter zu dem Schiff zurück, und die Lavoisier stieg auf, um den Raumhafen des Instituts aufzusuchen. Dann erschien Boarder mit einem Dutzend Reporter und Photographen in seinem Kielwasser. Underwood hatte keine Zeit, den Berichterstattern irgendwelche Beachtung zu schenken. Er versuchte, überall zugleich zu sein, überprüfte Meßgeräte und Skalen, vergewisserte sich, daß alles ordnungsgemäß funktionierte. Jedes Gerät war dreifach eingebaut worden, falls eines ausfallen sollte. Die Instruktionen warnten, daß der Wiedererweckungsprozeß, hatte er einmal eingesetzt, nicht unterbrochen werden durfte, sonst würde der Tod des Großen die Folge sein. Als er seine Inspektion beendet hatte, fühlte sich Underwood plötzlich erschöpft. Er wandte sich ab, um den Berichterstattern zu entgehen, denen Boarder jetzt einen Vortrag über das seltsame Repositorium im Raum und seinen noch seltsameren Inhalt hielt. Underwood erspähte die versteckte Gestalt, die fast unbemerkt in der Nische zwischen zwei Täfelungen 41
stand. Es war Phyfe, und er begann langsam zu sprechen, als Underwood sich ihm näherte. „Es hat begonnen“, murmelte der alte Archäologe. „Und es kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden.“ * Phyfe ersuchte darum, von seinen Pflichten als Leiter der Expedition, die sich immer noch im Asteroidenring befand, entbunden zu werden, um seine ganze Zeit dem Studium der gefundenen Manuskripte und Aufzeichnungen der Stroid widmen zu können. Terry Bernard gab seine bisherige Arbeit auf und unterstützte ihn, weil er der Stätte der Wiedererweckung möglichst nahe sein wollte. Ihnen zur Seite stand Dreyer, der mit fieberhafter Verbissenheit die Übersetzung der Sprache in Angriff nahm, die ihm so lange getrotzt hatte. So beschäftigt waren die Wissenschaftler mit ihren eigenen Studien, daß sie kaum die Reaktion der Öffentlichkeit auf das Geschöpf bemerkten, das sie versuchten, ins Leben zurückzurufen. Das erste äußere Anzeichen hatte jener entfesselte Willkommensschrei an dem Tage gebildet, an dem das Protoplasma zur Erde gebracht wurde. Als nächstes folgte die Sonntagspredigt, die von William B. Hennessey, einem der vielen obskuren religiösen Führer, gehalten wurde. Es ist wahrscheinlich, daß andere Prediger an diesem Sonntagmorgen das gleiche Thema wählten, aber William B. Hennessey war es, den die Zeitungen herausstellten. Er sagte: „Wie viele von der Gemeinde, die an diesem 42
Morgen hier versammelt ist, haben in der Hetze des Lebens aufgegeben, sind an Werten und Idealen, an die sie sich zu klammern gedachten, verzweifelt, haben der Führung aller abgeschworen, die sich anheischig machen, sie zu führen? Vielleicht zählt auch ihr zu den Millionen derer, die alle Hoffnung aufgegeben haben, jemals die großen Probleme des Lebens zu lösen. Wenn dem so ist, möchte ich euch fragen, ob ihr Zeugen der wunderbaren Ankunft der Gabe der Äonen wart. Wart ihr unter denen, die den Großen schauten?“ William B. Hennessey machte eine Pause. „Jahrhundertelang haben wir nach Führerschaft in unserer eigenen Mitte gesucht und sie nicht gefunden. Alle, die sich an unsere Spitze stellten, waren nur Menschen. Jetzt aber ist den Händen unserer hervorragenden Wissenschaftler die große Aufgabe zugefallen, den schlafenden Großen zu erwecken, und wenn sie ihr Werk vollendet haben, wird das Goldene Zeitalter der Erde anbrechen. Ich rufe euch auf, die Fesseln der Verzweiflung abzuschütteln. Sprengt das Gefängnis eurer Enttäuschung. Macht euch bereit, den Großen am Tage seiner Auferstehung zu bewillkommnen, öffnet eure Herzen und Sinne, um die Botschaft zu empfangen, die er euch verkünden wird, und den Worten zu gehorchen, die er euch zurufen wird, denn wahrlich, von einer größeren Welt und einem helleren Land als dem unseren ist der Große gekommen, um uns zu erretten!“ Binnen einer Stunde waren Hennesseys Worte um die ganze Erde geeilt. * 43
Die Lebensmasse wuchs und vervielfachte ihre Millionen von Zellen. Mittlerweile erhob sich ein anderes Wachstum, weniger greifbar, aber nicht minder real, und verbreitete sich rasch über die Erde. Das Hirn jedes Menschen, das es umstrickte, bildete eine seiner Zellen, und deren Zahl nahm nicht weniger schnell zu als die der Protoplasmazellen in dem marmornen Museumsgebäude. Die Führung von Menschen durch Menschen hatte sich als unzulänglich erwiesen. Mit dem Großen aber verhielt es sich anders. Unbefleckt durch irdische Fehler, verkörperte er das Geschenk der Götter an die Menschen – er war ein Gott, der die Menschheit zu den Höhen der Ewigkeit führen würde, von denen sie einst geträumt hatte. Und die Flamme wuchs und sprang über die Meere. Sie verschmolz alle Konfessionen, alle Rassen, alle Hautfarben. Delmar Underwood sah ärgerlich von seinem Schreibtisch auf, als ein rotgesichtiger Mann von kräftigem, untersetztem Bau von seinem Sekretär hereingeführt wurde. Der Mann blieb auf halbem Wege zwischen der Tür und dem Schreibtisch stehen und verneigte sich leicht. „Ich spreche zu dem Propheten Underwood“, begann .er, „auf Grund des besonderen Auftrages der Jünger.“ „Was zum Teufel …?“ Underwood runzelte die Stirn und streckte die Hand nach einem Knopf aus. Er klingelte jedoch nicht. Der Besucher brachte einen Umschlag zum Vorschein. „Und auf Grund einer speziellen Vollmacht, die von Direktor Boarder ausgestellt ist!“ Ohne den Blick von dem Mann zu wenden, nahm Un44
derwood den Umschlag entgegen und riß ihn auf. In formellem Ton und den üblichen bürokratischen Verklausulierungen instruierte ihn das Schreiben, den Besucher, einen gewissen William B. Hennessey, anzuhören und das Ersuchen zu gewähren, das Hennessey an ihn richten würde. Underwood wußte jetzt, wer vor ihm stand. Seine Kehle schien plötzlich ausgetrocknet. „Setzen Sie sich“, forderte er ihn auf. „Was wünschen Sie?“ „Die Jünger des Großen begehren das Recht, den Herrn schauen zu dürfen“, erwiderte Hennessey, während er vor dem Schreibtisch Platz nahm. „Ihr Wissenschaftler seid Werkzeuge, die für eine große Aufgabe auserwählt wurden. Aber der Große kam nicht nur zu einigen wenigen. Er kam zu der ganzen Menschheit. Wir bitten um das Privileg, den Tempel zu besuchen und die wunderbare Arbeit zu schauen, mit der ihr unseren Herrn ins Leben zurückbringt, damit wir seine großen Gaben empfangen mögen.“ Underwood konnte sich das Laboratorium mit auf den Knien liegenden fanatischen Gläubigen erfüllt vorstellen, die sich drängen, Geräte zerstören und wahrscheinlich versuchen würden, Stücke heiligen Protoplasmas mit nach Hause zu nehmen. Er drückte einen Schalter und drehte zornig eine Wählscheibe. Einen Augenblick später füllte Boarders Gesicht den winzigen Schirm vor ihm aus. „Dieser Fanatiker Hennessey ist hier. Ich wollte Sie lediglich in Kenntnis setzen, bevor ich ihn achtkantig hinauswerfen lasse.“ Boarders Züge verzerrten sich. „Was fällt Ihnen ein? 45
Haben Sie meine Zeilen nicht erhalten? Tun Sie genau das, was darin stand. Das ist ein Befehl!“ „Aber wir können kein Experiment durchführen, wenn uns ein Haufen von Fanatikern im Nacken sitzt.“ „Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. Jedenfalls müssen Sie ihnen zugestehen, was sie wollen, oder Sie können das Experiment aufgeben. Die letzte halbwöchentliche Wahl hat gezeigt, daß sie achtzig Millionen Stimmen kontrollieren. Sie wissen, was das bedeutet. Ein Wort beim Kongreßkomitee für Wissenschaft, und wir fliegen.“ „Wir könnten die Nährflüssigkeit abschalten und das Ganze rückgängig machen. Das Protoplasma würde absterben, und was wollten diese Vögel dann anbeten?“ „Die Zerstörung von Regierungseigentum kann mit dem Tode bestraft werden“, erinnerte Boarder unheilverkündend. „Außerdem sind Sie zu sehr Wissenschaftler, um das zu tun. Hegte ich die leiseste Befürchtung, Sie könnten das Protoplasma vernichten, dann würde ich Sie hinauswerfen, bevor Sie wüßten, wie Ihnen geschieht – aber in dieser Hinsicht habe ich keine Angst.“ „Ja, Sie haben recht, aber diese …“ Underwood verzog das Gesicht, als hätte er Essig getrunken. „Ich weiß. Wir müssen uns damit abfinden. Der Wissenschaftler, der heute überlebt, gehört zu denen, die sich ihrer Umgebung anpassen. Hören Sie, Underwood, warum bauen Sie nicht einfach eine Art Balkon mit einer Rampe, die um das Labor läuft und von der aus diese Jünger des Großen in das Bad hinunterblicken können? Wir leiten Sie am einen Ende des Gebäudes herein und am anderen wieder hinaus. Auf diese Weise kämen sie Ihnen nicht in die Quere.“ 46
Boarder schaltete ab, und Underwood wandte sich wieder an Hennessey, der saß, als könnte ihn nichts erschüttern. „Sehen Sie“, kam ihm dieser zuvor, „ich wußte, wie das Ergebnis aussehen würde. Ich hatte Vertrauen zu dem Großen.“ „Vertrauen! Das einzige, was Sie wußten, war, daß das wissenschaftliche Komitee Ihnen den Rücken stärken würde, weil Sie achtzig Millionen neurotischer Dummköpfe vertreten. Was werdet ihr denn tun, wenn euer Großer erwacht und euch ersucht, samt und sonders zur Hölle zu gehen?“ Hennessey lächelte ruhig. „Er wird es nicht tun. Ich habe den Glauben.“ 5. Kapitel Zwei Tage später rief Phyfe an und ersuchte um eine Unterredung. Es war dringlich; das war alles, was Phyfe sagen wollte. Der Archäologe hatte nichts von den Forderungen der Jünger gehört. Er war überrascht, als er sah, daß in der großen Zentralhalle gebaut wurde. Er fand Underwood und Illia im Laboratorium damit beschäftigt, Filme zu untersuchen, die das Wachstum des Protoplasmas zeigten. „Was geht denn dort draußen vor?“ fragte er. „Ich dachte, die Einrichtung wäre vollständig.“ . „Wir errichten ein Denkmal für die menschliche Dummheit“, knurrte Underwood. Dann erzählte er Phyfe von den Befehlen, die er erhalten hatte. „Wir setzen ei47
nen Balkon ein, damit die Gläubigen imstande sind, auf ihren Großen herunterzublicken. Boarder meint, wir müßten uns diesen Unsinn sechs Monate mitansehen.“ „Warum sechs Monate?“ „Weil Demarzule dann entweder erwacht oder das Experiment mißlungen sein wird. In jedem Fall ist es mit den Jüngern zu Ende.“ „Weshalb?“ Underwood sah irritiert auf. „Wenn er tot ist, haben sie nichts mehr anzubeten. Und wenn er lebt, wird er kaum etwas mit ihnen zu tun haben wollen.“ „Ich könnte erneut, ‚weshalb?’ fragen“, versetzte Phyfe, „aber ich möchte es so ausdrücken. Wir wissen nicht, wie er handeln wird, wenn er erwacht. Und wenn er stirbt, wird er wahrscheinlich als Märtyrer angesehen werden und eine neue weltweite Religion auf den Plan rufen – wobei alle, die in das Experiment und seinen Fehlschlag verwickelt waren, auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.“ Underwood legte die Filme auf den Tisch. „Die technologischen Aspekte dieses Problems sind mehr als genug für meine geistige Kapazität. Ich kann und werde keinen Pfifferling auf irgendwelche anderen Gesichtspunkte geben.“ „Sie müssen es!“ Phyfes Augen erglühten plötzlich, fordernd, unnachgiebig. „Wir haben neue Beweise – Terry hat möglicherweise recht, wenn er die Vernichtung des Protoplasmas fordert.“ Illia erstarrte. „Was für Beweise?“ „Vor mehr als fünfundachtzig Jahren wurde der wichtigste Fund vor der Entdeckung des Repositoriums ge48
macht. Eine umfassende Sammlung historischer Urkunden wurde von Dickens, einem der frühen Wissenschaftler, die sich mit diesem Gebiet befaßten, freigelegt. Sie waren nahezu miteinander verschmolzen, und die molekulare Änderung ließ sich kaum feststellen, weil sie furchtbarer Hitze ausgesetzt gewesen waren. Trotzdem ist es uns gelungen, die Platten zu trennen und die Aufzeichnungen in erweiterter Form auf neue Platten zu übertragen. Und wir können sie lesen. Sie geben uns einen bemerkenswert vollständigen Bericht über die Geschichte der Stroid kurz vor ihrer Auslöschung, und wenn wir sie korrekt entziffert haben, ergibt sich daraus eine überraschende Tatsache.“ „Nämlich?“ „Sie waren nicht im Solarsystem zu Hause. Sie waren extragalaktische Flüchtlinge, deren Heimatwelt während eines gewaltigen interstellaren Konflikts zerstört worden war. Ihre Gegner spürten sie auf und vernichteten zum zweiten Male den Planeten, auf dem sie lebten. Von dem ganzen Volk blieb nur dieses eine Wesen übrig. Ist euch die Bedeutung dieser Tatsache klar? Wenn es ins Leben zurückkehrt, wird es mit dem gleichen Haß und Rachedurst erwachen, der es erfüllte, als es seine eigene Welt untergehen sah!“ „Es wird das Wissen nicht überleben, daß alles, für das es kämpfte, vor geologischen Zeiträumen verschwand“, wandte Underwood ein. „Außerdem widersprechen Sie sich selbst. Wenn ihm seine eigene Welt so gleichgültig war, daß es sich dem Konflikt entzog und sich durch die Äonen rettete, hatte es vielleicht gar kein Interesse an dem Kampf. Möglicherweise war es das führende Genie 49
seiner Tage und wollte lediglich einem nutzlosen Blutbad entfliehen, dem es keinen Einhalt zu gebieten vermochte.“ „Ich widerspreche mir nicht“, beharrte Phyfe ernst. „Es ist typisch für einen Feldherrn, der sein Volk in den Untergang geführt hat, daß er in dem Augenblick, wenn das Unheil hereinbricht, nur an sich selbst denkt. Das Spezimen, das wir hier vor uns haben, bildet ein hervorragendes Beispiel dafür, wie weit egozentrisches Begehren nach Selbsterhaltung führen kann.“ Phyfe erhob sich abrupt von seinem Stuhl und schob die Dokumente, die er mitgebracht hatte, über den Arbeitstisch. „Hier sind die Beweise. Lest selbst. Es handelt sich um eine ziemlich freie Übersetzung des Berichtes, den wir auf den Dickensschen Funden entdeckten.“ Übergangslos verließ er den Raum. Illia und Underwood wandten sich den Papieren zu, die er hinterlassen hatte, und begannen zu lesen. * Die hundert mächtigen Schiffe des Sirenischen Imperiums durcheilten den Raum. Das Herz der Flotte befand sich unter der Hülle des Flaggschiffes, Hebrian, wo der sirenische Hetrarra, Demarzule, finster vor dem komplexen Kontrollbrett saß, das alle Operationen der weit auseinandergezogenen Flotte anzeigte. Neben ihm stand die alte, aber sehnige Gestalt Toshmeres, des Genies, welches diesen Überrest des einst mächtigen Reiches gerettet hatte. Toshmere bemerkte: „Weiterer Flug ist nutzlos. Unsere 50
Instrumente zeigen, daß die Dragbora aufholen. Ihre Flotte übertrifft uns zehn zu eins an Zahl. Selbst mit meinen Schutzschirmen können wir nicht hoffen, lange Widerstand zu leisten. Sie besitzen die eine Waffe, der wir nichts entgegenzustellen haben. Sie sind entschlossen, die Letzten des Sirenischen Imperiums auszutilgen.“ „Und ich bin entschlossen, die Letzten der Dragbora auszutilgen!“ schnappte Demarzule in plötzlicher Wut. „Ich werde leben! Ich werde leben und sehen, wie ihre Welt in Energie verwandelt wird, und der letzte Dragborer stirbt. Ist das Repositorium bald fertiggestellt?“ Toshmere nickte. „Und du bist dir deiner Methode sicher?“ Toshmere nickte von neuem und lächelte ein dünnes Lächeln. Welche Tragödie für die Zivilisationen des Universums, wenn Demarzule oder irgendeiner der Großen des Sirenischen Imperiums überleben würde, dachte Toshmere. Die Dragbora wußten wohl, warum sie das Ziel der völligen Auslöschung der Sirenier verfolgten. Sein eigenes Leben würde weitaus wertvoller sein, vor dem drohenden Verhängnis gerettet zu werden, als das des Hetrarra. Von dem Augenblick an, in dem er das Repositorium erdacht und Demarzule die Idee vorgetragen hatte, hatte Toshmere geplant, daß es nicht den Herrscher, sondern ihn selbst aufnehmen würde. Es gab jedoch nur eine Möglichkeit, dieses gigantische Projekt zu verwirklichen, und sie hieß, Demarzule in dem Glauben zu lassen, daß das Repositorium für ihn bestimmt war. Da es nicht insgeheim vorbereitet werden konnte, mußte Demarzule der Konstruktion zustimmen. Er würde es tun, wenn er überzeugt war, daß es ihn be51
herbergen sollte. Die Vorstellung würde seinem egoistischen Hirn gefallen; der Gedanke, daß seine eigene Persönlichkeit Äonen überlebte, während die Zivilisation, die er kannte, verfiel und hinweggeschwemmt wurde, würde ihn entzücken. Die hundert Schiffe der Sirenier verfolgten ihren stetigen Kurs weiter, während der Gegner, obgleich noch Galaxen entfernt, beständig aufholte. Endlich sichtete der Ausguck ein geeignetes System, in dem der fünfte Planet Zeichen der Bewohnbarkeit erkennen ließ. Demarzule befahl, die Vorbereitungen für einen Halt zu treffen. Der Planet, den sie fanden, wies eine sterbende Zivilisation auf, die fast in ihr Kindheitsstadium zurückgesunken war. Der Widerstand, der geleistet wurde, war schnell abgetan, und die sirenischen Flüchtlinge begannen mit der hoffnungslosen und überstürzten Aufgabe, Verteidigungsanlagen gegen die erdrückende Übermacht der Dragbora zu errichten. Aber während gigantische Schirmgeneratoren aufgebaut und Strahlerstellungen gegraben wurden, waren die besten und weisesten Wissenschaftler damit beschäftigt, das Repositorium für den Hetrarra, Demarzule, vorzubereiten. Der mächtige, kristallähnliche Behälter, den keine bekannte Gewalt außer der Schlüsselfrequenz, deren Formel auf der Außenseite eingegraben war, durchdringen konnte, würde Hunderte von Metern in die großen Erzlager des Planeten versenkt werden, in der Hoffnung, der endgültigen Vernichtung zu entgehen, die über den Planeten hereinbrechen mußte. Zwei Männer würden dieses Repositorium betreten, aber nur einer von ihnen konnte die Äonen überleben. 52
Toshmere war der einzige, der mit dem gesamten Prozeß völlig vertraut war, so daß er die Instrumente bedienen mußte. Aber Toshmere wußte, daß Demarzule nicht die Absicht hatte, ihm zu gestatten, das Repositorium mit dem Wissen um seine Geheimnisse zu verlassen – ebensowenig, wie Toshmere damit einverstanden war, daß Demarzule derjenige war, der seinen Nutzen aus diesen Geheimnissen zog. Drei tor-ela hindurch arbeiteten die Sirenier in rasender Eile, dann meldete ihr Späher, der hunderttausend Lichtjahre entfernt im Raum postiert war, das Auftauchen der dragborischen Flotte – einen Augenblick, bevor eine Feuerzunge aus dieser Flotte nach ihm griff und ihn in die Ewigkeit riß. Toshmere suchte Demarzule in seinem Hauptquartier auf, als die Nachricht eintraf. „Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, Hetrarra. Das Repositorium steht bereit.“ Demarzule blickte auf die gewaltigen Anlagen und großen Maschinen hinaus, die so erbärmlich auf einem fremden Planeten zusammengedrängt waren. Dann wandte er sich zögernd um und sah Toshmere an. „Ich bin bereit“, versetzte er. Sie gingen zum Eingang des Schachts, der in das Herz des Planeten führte. Er war mit dem Wissen nur weniger Sirenier erbaut worden, und keiner von ihnen kannte seinen Zweck. Niemand sah den Hetrarra mit Toshmere den Fahrstuhl betreten, der sie für immer in die Tiefen unter der Oberfläche des Planeten trug. *
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Underwood und Illia kamen zu dem Ende der Seite, und Underwood fluchte unterdrückt, während er die wenigen verbliebenen Platten überflog. Doch mit keinem Wort wurden Demarzule und Toshmere nochmals erwähnt. Bei dem Verfasser des Berichtes hatte es sich anscheinend um einen der sirenischen Wissenschaftler, einen Freund und Vertrauten Toshmeres, gehandelt, aber auch er konnte nicht sagen, was geschehen war, nachdem sie den Grund erreicht und das Repositorium verschlossen hatten. Er wußte nicht, wer den mächtigen Kampf überlebt hatte, der in der Tiefe stattgefunden haben mußte. Illias Augen trafen sich mit denen Underwoods. „Wer könnte gesiegt haben?“ fragte sie. „Wenn es Toshmere war, würde der Fremde alle Hoffnungen erfüllen, die wir auf ihn gesetzt haben. Ist es Demarzule, dann hatte Terry recht – er sollte vernichtet werden.“ Underwood sah hinüber zu dem Bad, in dem der Fremde schlief, in dem bereits die schattenhaften Umrisse einer annähernd menschlichen Gestalt in den trüben Tiefen der Nährlösung erschienen. „Es muß Toshmere sein“, versetzte er und hoffte, daß er recht hatte. 6. Kapitel Der Balkon über dem Boden der Museumshalle war vollendet worden, und die Jünger des Großen begannen in einem nicht enden wollenden Strom hindurchzufließen. Zweimal täglich stand William B. Hennessey auf dem Balkon und betete zu dem Großen, und die Reihe fanatischer Gläubiger hielt inne und sank auf die Knie. 54
Der Anblick empörte Underwood und stieß ihn zugleich ab. Als er die Gesichter derer, die kamen und an dem Altar beteten, beobachtete, stellte er fest, daß sie sich verwandelten, als hätten sie eine Vision geschaut. Runen der Sorge durchfurchten die Züge von alt und jung, die kamen, doch sie gingen mit leuchtenden Augen und aufwärts gewandten Gesichtern. Selbst Kranke und Verkrüppelte schleppten sich heran und ließen Krücken, Augengläser und Verbände zurück. Dann empfing Underwood gegen Ende des vierten Monats einen dringenden Ruf Phyfes. „Kommen Sie sofort herüber!“ forderte der Archäologe. „Wir haben die Antwort in dem Repositorium gefunden. Wir wissen, wer der Große ist.“ „Wer?“ „Ich möchte, daß Sie sich selbst überzeugen.“ Underwood fluchte, als Phyfe die Verbindung unterbrach. Er verließ das Gebäude und begab sich zu der lexikographischen und philologischen Sektion des Instituts hinüber, die in einem alten Block auf der anderen Seite der Stadt, in der Nähe des Raumhafens, untergebracht war, zusammen mit der Abteilung für Semantik. Dreyer und Phyfe erwarteten ihn. Der alte Archäologe zitterte vor Erregung. „Ich habe die Mumie gefunden!“ überfiel er Underwood. „Welche Mumie?“ „Die Mumie desjenigen, der in dem Repositorium getötet wurde.“ „Wer war es?“ „Sie werden sehen. Er hinterließ einen Bericht für die Entdecker des Repositoriums.“ 55
Sie stiegen hinunter in die Hauptkammer der fremden Struktur, welche das Protoplasma des Großen beherbergt hatte. Dann bemerkte Underwood eine Öffnung, die weiter in die Tiefe führte. „Ihr habt einen Zugang zu den übrigen Teilen des Repositoriums gefunden?“ „Ja, und es war unser Unglück, daß wir diesen Weg nicht zuerst entdeckt haben. Aber kommen Sie.“ Phyfe verschwand durch die schmale Öffnung, und sie passierten drei Stockwerke, die mit unbekannten Gegenständen angefüllt waren. Schließlich erreichten sie eine winzige Kammer, die durch die Krümmung der Außenhülle gebildet wurde. Sie war zu klein, um aufrecht darin zu stehen, und füllte sich rasch mit Dreyers Zigarrenrauch. „Dort liegt er, so, wie wir ihn fanden“, erklärte Phyfe. Underwood musterte das unkenntliche Etwas. Es wirkte, als wäre eine verhältnismäßig große, vertrocknete Fledermaus nachlässig in die Ecke der Kammer gestoßen worden. „Vollkommen mumifiziert“, ergänzte Phyfe. „Der Zeitraum, der zwischen seinem Tode und der Zerstörung des Planeten verging, war nicht lange genug, als daß die Verwesung hätte einsetzen können. Er trocknete einfach aus, als die Wassermoleküle froren und sich zerstreuten. Jetzt ist er so formlos, daß man kaum noch sagen kann, wie er aussah.“ „Aber wer ist es?“ „Hier ist der Bericht, den er hinterließ. Anscheinend trugen die Stroid irgendein handliches elektrisches Schreibgerät bei sich, das für metallene Oberflächen be56
stimmt war. Dies sind Photographien seiner Botschaft. Wir haben sie sichtbar gemacht.“ Underwood nahm die Abzüge entgegen. Sie zeigten die Wände der Kammer und im Vordergrund die zusammengeschrumpfte Mumie, die unbeweglich auf der Stelle lag, an der sie schmerzverzerrt im Todeskampf zusammengebrochen war. In scharfen weißen Buchstaben hob sich eine Inschrift ab, die vor Äonen von dem Geschöpf verfaßt worden war. „Können Sie es lesen?“ fragte Phyfe. Underwood überflog die Zeilen und nickte langsam. Der erste Teil der Botschaft wiederholte in kurzen Zügen die Geschichte der unglücklichen Flüchtlinge, die er bereits kannte, aber dann kam er zu einem neuen Absatz. „Demarzule hat mich erschlagen!“ besagte die Mitteilung. Die Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe. Er sah auf und in die leidenschaftslosen Gesichter der beiden anderen Männer und las darin die Entscheidung, die sie getroffen hatten. Er senkte den Blick wieder auf die Photographie und las langsam weiter. „Ich habe versucht, in die Hauptkammer zu gelangen und die Umformer zu zerstören, aber ich bin nicht dazu imstande. Demarzule hat gelernt, die Geräte zu bedienen. Ich bin kein Kämpfer, und es war nicht schwer für Demarzule, mich zu überwinden. Ich sterbe bald, deshalb liegt alles an euch, die ihr dies in kommenden Ären lesen mögt. Meine Botschaft, meine Warnung an euch lautet: Vernichtet ohne Gnade den Inhalt der Protoplasmakammer. Demarzule liegt dort, und er wird die Geißel jeder 57
Zivilisation sein, in der er wiederersteht. Er träumt von Eroberung und wird nicht ruhen noch rasten, bis er der Herr des Universums ist. Er hat Galaxen zerstört; er wird weitere vernichten, wenn er ins Leben zurückkehrt. Tötet ihn! Tilgt alles Wissen um das furchtbare Sirenische Imperium aus eurer …“ Der Bericht brach mit der letzten hingekritzelten Mahnung des alten Wissenschaftlers Toshmere ab. Für lange Augenblicke war es ruhig in der Kammer des Repositoriums. Endlich brach Phyfe das Schweigen: „Wir können die Erweckung Demarzules jetzt nicht riskieren, Del. Denken Sie daran, was es bedeuten würde, eine derartige Mentalität auf die Erde loszulassen.“ „Wir haben ja auch gar nicht vor, ihn loszulassen“, verteidigte sich Underwood. „Wir werden ihn immer noch in unserer Gewalt haben, wenn er erwacht. Er kann eingekerkert – und schließlich beseitigt werden, wenn es notwendig ist. Die Angelegenheit scheint mir ein Risiko wert, wenn wir ihm dafür die Kenntnisse abringen können, die er besitzt.“ „Sie vergessen, daß wir ihn keineswegs in unserer Gewalt haben. Wir sind Angestellte des Instituts, das vom Wissenschaftlichen Komitee abhängig ist. Dessen Männer wiederum sind nur Marionetten in den Händen der Jünger, die die Wählerstimmen besitzen. Wenn Demarzule erwacht, wird er ein bereitwilliges Gefolge haben, das ihn nicht nur als Kaiser, sondern als Gott betrachtet. Ich sage Ihnen, wir haben keine andere Wahl, als ihn zu vernichten.“ * 58
Underwood biß die Zähne zusammen. Eine Wissenschaft, die Jahrtausende normaler Entwicklung im Solarsystem repräsentieren mochte, lag in seiner Reichweite. Er konnte eine Gabe wie die sirenische Kultur nicht zurückweisen, wenn sie ihm angeboten wurde. Dann trafen sich seine Augen mit denen Dreyers. Und dort las er die unwiderrufliche Antwort. „Sie haben gewonnen“, sagte er. „Sie und Toshmere. Gehen wir hinauf, dann werde ich den Befehl geben, die Strahlung abzuschalten.“ Rasch klommen sie die Stufen empor, als wollten sie dem Bann der Toten entfliehen. Sie eilten in das Gebäude und in das Büro Phyfes. Dort rief Underwood Illia an. Sie antwortete augenblicklich, als hätte sie schon auf seine Botschaft gewartet. „Es ist Demarzule, der Eroberer“, erklärte er. „Stelle die Strahlung ab und leere den Tank. Wir wagen nicht, die Wiedererweckung fortzusetzen.“ Illia biß sich auf die Unterlippe und nickte. „Es hätte die große Chance der Erde sein können“, sagte sie, und etwas wie ein Schluchzen klang durch ihre Stimme. „Ich werde die Bestrahlung sofort unterbrechen.“ Phyfe bemerkte: „Wissen Sie was, Underwood? Es wird Unannehmlichkeiten geben. Ich werde um meine Zurückversetzung zu der Expedition ersuchen. Hätten Sie Lust, sich uns anzuschließen?“ „Das schon, aber ich fürchte, das Wissenschaftliche Komitee wird uns nicht so leichten Kaufes davonkommen lassen. Wir beide sind für den Rest unseres Lebens erledigt. Haben Sie nicht daran gedacht, Phyfe? Wir kön59
nen uns glücklich schätzen, wenn wir die nächsten Jahrzehnte nicht im Gefängnis verbringen müssen. Aber Dreyer, Sie brauchen sich nicht in diese Angelegenheit verwickeln zu lassen. Verlassen Sie das Gebäude, bevor man uns verhaftet.“ Ehe Dreyer zu antworten vermochte, meldete sich die Bürosprechanlage. Phyfe schaltete ein, und das verzerrte Gesicht Esmonds, eines der jüngeren Archäologen, erschien. „Phyfe!“ rief der Mann. „Ich weiß nicht, worum es sich handelt, aber die Polizei ist auf dem Weg zu Ihrem Büro. Sie hat Haftbefehle gegen Sie und Dr. Underwood!“ Phyfe nickte. „Danke, Esmond. Ich werde dafür sorgen, daß Sie wegen dieser Mitteilung nicht in Unannehmlichkeiten geraten. Sie haben keine Zeit verloren“, wandte er sich an Underwood. „Aber solange Demarzule getötet ist, haben wir unser Ziel erreicht.“ „Warten Sie einen Augenblick!“ rief Underwood. „Wissen wir, ob Demarzule wirklich vernichtet ist? Irgend etwas muß schiefgegangen sein; die Polizei erschien zu schnell.“ „Sehen Sie!“ Aus seiner gewöhnlichen Ruhe gerissen, deutete Dreyer durchs Fenster auf die Stadt. Dort, wo, wie sie wußten, das Carlson Museum stand, erhob sich eine große, leuchtende Lichtblase. „Eine Energiehülle!“ entfuhr es Underwood. „Aber …“ „Sie haben offensichtlich seit langem ihre Vorbereitungen getroffen“, stellte Dreyer fest. Underwood versuchte, über die Sprechanlage Illia zu erreichen, aber er erhielt keine Antwort aus dem Innern 60
der Hülle undurchdringlicher Energie. Für einen Augenblick packte ihn entsetzliche Furcht. Was war mit Illia? Lebte sie noch? „Wie immer auch die Antwort lautet“, unterbrach Phyfes Stimme seine Gedanken, „es steht zehn zu eins, daß Demarzule nicht vernichtet ist. In welchem Fall man uns besser nicht fassen würde.“ „Was können wir tun? Sie werden das Gebäude umstellt haben. Wir haben keine Möglichkeit, herauszukommen.“ „Dieser Bau ist alt. Er enthält Räume und Kellergeschosse, von denen nur wenige wissen, und der Stab besteht nur aus Wissenschaftlern. Sie werden sich loyal verhalten. Kommen Sie!“ „Nein, warten Sie“, hielt ihn Underwood zurück. „Damit, daß ich mich in dem Kaninchenbau unter der Stadt verberge, ist nichts gewonnen. Es gibt nur eine Möglichkeit, Demarzule zu töten; und sie besteht darin, daß ich in das Museum zurückkehre und ihn persönlich auf mich nehme.“ . „Sie sind wahnsinnig! Die Jünger würden Sie niemals so weit kommen lassen. Vorwärts, Mann, wir verschwenden unsere Zeit!“ „Ihr beiden versteckt euch, Phyfe. Ich werde versuchen, die Schuld auf euch und eine Gruppe von Wissenschaftlern zu schieben und meine eigene Unschuld beschwören. Anders kommen wir nicht an Demarzule heran. Warten Sie – haben Sie einen Brenner?“ „In dem Fach dort. Vielleicht nehmen wir ihn besser mit.“ Underwood riß die Schublade auf und fand die Waffe. Er hielt die Mündung an seinen Oberarm und drückte ab. 61
Sein Gesicht verzerrte sich unwillkürlich vor Schmerz, und Phyfe starrte ihn überrascht an. „Was soll das bedeuten?“ wollte der Archäologe wissen. Underwood warf ihm die Waffe zu, während der Gestank seines verbrannten Fleisches den Raum zu erfüllen begann. „Sie schossen auf mich, als ich mich weigerte, den Befehl zur Abschaltung der Strahlung zu geben. Es ist eine fadenscheinige Geschichte, und falls man sie mir nicht abnimmt, bin ich hinüber. Aber wenn wir es nicht riskieren, avanciert Demarzule zum nächsten Beherrscher der Erde.“ Dreyer nickte. „Es ist eine Chance, und vielleicht haben Sie recht, sie zu ergreifen. Viel Glück.“ Ein plötzlicher Aufruhr im vorderen Teil der Halle verriet ihnen, daß die Polizeibeamten eingedrungen waren. Phyfe warf Underwood, der seinen schmerzenden Arm umklammerte, einen letzten verzweifelten Blick zu. Dann wandte sich der Archäologe ab und verschwand rasch durch eine Tür in der Rückwand des Büros, gefolgt von Dreyer. Fast im gleichen Augenblick wurde die Eingangstür aufgerissen, und zwei schwerbewaffnete Beamte stürmten in den Raum. Verblüfft blieben sie stehen und starrten auf den ächzenden Physiker. „Holen Sie Hilfe!“ stöhnte Underwood verzweifelt. „Ich muß ins Museum. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, wenn Dr. Morov den Strahl abgeschaltet hat. Phyfe zwang mich, den Befehl dazu zu geben. Er verwundete mich, als ich mich weigerte. Hätte mich getötet, wenn …“ Underwood sank über dem Schreibtisch zusammen. Der Schmerz überwältigte ihn, und er wurde ohnmächtig.
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7. Kapitel Der Komiteevorsitzende betrachtete Underwood mit haßerfüllten Augen. Er erklärte: „Man hat Ihnen die Bewährungsfrist nicht deshalb zugestanden, weil Ihr Verbrechen als weniger schwer angesehen wird. Auf Grund der Tatsache, daß Ihr Anschlag Regierungseigentum bedrohte, welches möglicherweise das gesamte Leben auf der Erde zum Besseren hin ändern wird, hat das Gesicht Sie zum Tode verurteilt. Sie sind jedoch der einzige Mann, der fähig ist, das Projekt zu leiten. Deshalb ist Ihre Strafe umgewandelt worden und wird aufgehoben werden, wenn Sie erfolgreich die Wiederbelebung des Großen zu Ende führen. Nur dadurch können Sie Ihre Unschuld beweisen. Sollte ein Unfall zum Fehlschlag führen, so werden drei getrennte Ausschüsse, die aus kompetenten Wissenschaftlern zusammengesetzt sind, ein Urteil darüber fällen, ob Sie hingerichtet werden oder nicht.“ „Und was ist mit Dr. Illia Morov?“ „Ihr Urteil lautet auf lebenslängliche Einkerkerung für ihren Versuch, den Großen zu zerstören.“ „Sie gehorchte meinen Befehlen, die unter Zwang gegeben wurden, wie ich bereits erklärt habe. Ich kann die Verantwortung für die erfolgreiche Wiederbelebung nicht übernehmen, wenn man mir die nötige Unterstützung verweigert. Dr. Morovs Wissen ist für den Erfolg der Arbeit unbedingt erforderlich.“ Der Vorsitzende runzelte die Stirn. „Der Spruch wurde von zivilen Gerichtshöfen gefällt. Vielleicht können wir sie zu uns überstellen lassen, wie es mit Ihnen geschah, 63
aber ihr Urteil kann nur in einem besonderen Wiederaufnahmeverfahren umgewandelt werden. Wir werden sehen, was sich in der Angelegenheit tun läßt.“ Mit tödlicher Betonung fügte der Vorsitzende hinzu: „Um zu sichern, daß der Große keine Gefahr lauft, werden Sie ständig von einer bewaffneten Wache begleitet werden.“ Als Underwood in das Museum zurückkehrte, standen Wachen der Jünger überall. Die Wissenschaftler arbeiteten mit gleichmütigen, ausdruckslosen Gesichtern – und Gewehren im Rücken. Am folgenden Tage kehrte Illia zurück. Das Schlimmste an ihrem Zusammentreffen war, daß sie nichts zueinander sagen konnten. Illia kam in die kleine Alptraumwelt unter der Energiehülle und damit unter die Beaufsichtigung der Wachen, von denen eine ständig an ihrer Seite blieb, als sie ihre Pflichten wieder aufnahm. Ebenso ließ Underwoods Wache ihn nie aus den Augen. Der Physiker mußte vor beiden den Schein seiner Unschuld aufrechterhalten. „Es waren Phyfe und Dreyer“, bemerkte er zu Illia. „Ich bin froh, daß es dir nicht gelang, Demarzule zu vernichten.“ Sie zögerte einen Augenblick, nickte dann verstehend. „Ich wußte nicht, warum du so handeltest, aber ich nahm an, du hättest einen triftigen Grund. Ich ahnte nichts von ihrem verbrecherischen Anschlag.“ Und das war alles. Nichts von seiner Verzweiflung über ihre bleiche Erscheinung. Nichts von ihrem verlorenen Traum, dem Traum von der Erneuerung der Welt.
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* Die Masse wuchs und nahm Gestalt an. Glieder, Kopf und Torso bildeten sich heraus, verloren ihre embryonale Form. Underwood stellte fest, daß die Kreatur im Stadium des Erwachsenseins erstehen und nicht zur Kindheit zurückkehren würde. Sie war volle zweieinhalb Meter groß und humanoid insofern, als sie Arme, Beine, Kopf und Rumpf besaß. Aber die Röntgenstrahlen zeigten einschneidende Unterschiede in der Knochen- und Gelenkstruktur. Ein Schädel und zwei Unterleibsorgane waren völlig unbekannt und konnten von keinem der an dem Projekt beteiligten Biologen identifiziert werden. Eine Zeitlang nährte Underwood die Hoffnung, diese strukturellen Unterschiede würden es Demarzule unmöglich machen, auf der Erde zu überleben. Aber je mehr die Lungen sich entwickelten, desto deutlicher wurde es, daß der Sirenier sich der Atmosphäre anzupassen vermochte. Toshmere hatte zu gut geplant. Es war phantastisch, dachte Underwood, daß es keinen Weg geben sollte, seine Wachen auszuschalten und die wachsende Monstrosität zu töten. Die Führer der Wachen besaßen technisches Training und hatten Zugang zu den Aufzeichnungen der Wissenschaftler, die jeden Schritt umrissen, der bis zur Wiedererweckung Demarzules getan werden mußte. Underwood wagte nicht, von diesen Unterlagen abzuweichen. Das Bad selbst war mit einem transparenten Schirm umgeben worden, den weder Schuß- noch Strahlwaffen zu durchdringen vermochten, und der es unmöglich machte, der Nährlösung Gift beizumischen. 65
Es war unmöglich, etwas zu unternehmen, solange Demarzule in dem Bad lag. Aber am Tage seiner Erstehung? Ein verzweifelter Plan formte sich in Underwoods Gehirn. Er erklärte seiner Wache: „Wenn der Große erwacht, wäre es gut, wenn ihn jemand in seiner eigenen Sprache willkommen heißen würde. Nur wenige Wissenschaftler beherrschen sie, und von ihnen bin ich der einzige, der hier anwesend ist. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich ihn begrüßen, wenn er sich erhebt.“ Der Mann überlegte. „Ich werde Ihr Ersuchen an den Ersten Hohen Propheten Hennessey weiterleiten.“ Hennessey erteilte augenblicklich seine Zustimmung zu dem Plan. Underwood konnte sich vorstellen, daß die Ironie einer Situation, in der ausgerechnet Underwood der erste war, der den Großen willkommen hieß, dem Propheten beträchtliche Befriedigung bereitete. In dem engen Gang zwischen dem Beobachtungsschirm und dem Bad waren die Kontrollen montiert, die die Strahlung unterbrechen und die Nährlösung ableiten würden, wenn der Wiederbelebungsprozeß zu Ende ging. Hier befanden sich ebenfalls die Wasserventile, mit denen das Bad bei seiner Konstruktion ausgespült worden war. In diesem schmalen Raum konnte sich Underwood den beobachtenden Augen seiner Wache für einen Moment entziehen. Er hoffte, daß es ihm gelingen würde, die Strahlung vorzeitig abzuschalten und das Bad trockenzulegen. War das unmöglich, so konnte er das Bad mit Wasser fluten und Demarzule ertränken, bevor sich die Wachen dazwischenzuwerfen oder das Schließventil zu erreichen vermochten. 66
Die mächtige Gestalt Demarzules hatte sich seit Tagen bewegt, und Underwood wartete auf seinen ersten Versuch, sich zu erheben. Er wünschte, er könnte Illia ins Vertrauen ziehen, aber es ergab sich keine Gelegenheit dazu. Er fürchtete, sie könnte selbst einen verzweifelten Plan hegen. Die Haut des Sireniers hatte einen tiefen Bronzeton angenommen; das Haar über der Stirn war kupferfarben, dunkler als die Haut. Demarzules Erscheinung sprach von Macht und Stärke. Seine Gesichtszüge wirkten kühn und ausgeprägt, mit weit auseinanderstehenden Augen und scharfer Nase. Der Mund war streng, fast schroff. Unter den Jüngern stieg die Hysterie mit jeder Stunde. Anstatt in ihrem endlosen Strom über den Balkon durch das Gebäude zu fließen, ergossen sie sich in die Halle und blieben, in der Hoffnung, die Auferstehung des Großen zu erleben. Einige wurden über das Geländer gestoßen und durch den Aufprall getötet. Andere überfluteten die Halle und wimmelten um die Geräte. Underwood war dies nur willkommen; er hoffte, der Mob würde die Instrumente beschädigen und so das Ende Demarzules herbeiführen. Eines Morgens bemerkte Underwood die erste Bewegung, die darauf hindeutete, daß Demarzule im Begriff stand, sich zu erheben. Underwood deutete auf das Bad und sah fragend auf seine Wache. Der Mann nickte, und Underwood rannte durch den engen Gang, während Demarzule bereits darum kämpfte, sich aufzurichten und seine Lungen den ersten Atemzug terrestrischer Atmosphäre einsogen. Underwood warf den Strahlungsschalter herum und 67
drehte das Ventil mit einem mächtigen Ruck, der das Rad von der Welle riß. Wasser ergoß sich in die Kammer. Demarzule richtete sich in sitzende Stellung auf; er starrte benommen, seine Gesichtsmuskeln arbeiteten. Die Jünger sahen ihn. Ein einziger Schrei der Ekstase dröhnte durch die große Halle des Museums. Und dann plötzlich erscholl ein neuer Laut. Eine einzige Stimme erhob sich über alle anderen. „Schlagt zu!“ schrie sie. „Tötet den Eindringling!“ * Underwood fuhr herum. Auf dem Balkon, dem Platz, den bis jetzt Hennessey eingenommen hatte, stand Terry Bernard. Die Waffe in Terrys Hand blitzte auf. Underwoods Wächter stockte in seinem mörderischen Ansturm, drehte sich um seine Achse und fiel. Er allein hatte das plötzliche Ansteigen des Wasserspiegels bemerkt und seine Bedeutung erkannt. Die Schreie, welche jetzt die Halle erfüllten, ließen den vorhergegangenen Aufruhr wie Grabesstille erscheinen. Strahlen tödlichen Feuers durchzuckten die Luft, und noch immer begriff Underwood nicht. Parteien begannen sich in dem Kampf herauszuschälen. Underwood sah, daß einige der Techniker und Wissenschaftler Waffen besaßen und sich ihrer Wachen entledigt hatten. Jetzt feuerten sie sorgfältig auf die bewaffneten Führer in der Menge um die Geräte. In seinem undurchdringlichen Behälter schwankte der riesenhafte Sirenier wie betäubt. Das Wasser stieg rasch 68
über seine Hüften. Die Luft, die durch das Zufuhrrohr entwich, gestattete dem Wasserspiegel, sich in der sonst hermetisch abgeschlossenen Kammer zu heben. In wenigen Minuten würde Demarzule von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten sein. Wie lange es dauern würde, bis er ertrunken war, wußte Underwood nicht. Es hing weitgehend davon ab, wie weit sein Metabolismus wieder in Gang gekommen war. Er bückte sich und hob die Waffe auf, die seinem Wächter entfallen war. Der Lärm der Jünger wuchs zu betäubender Intensität an, während die vordersten versuchten, aus der Linie der Kämpfenden zu gelangen und die hinteren vorwärtsdrängten, um Demarzule zu erblicken. Keiner der Wissenschaftler befand sich in Underwoods Nähe, und er entschied sich, in der Nähe des Wasserventils zu bleiben, um sicherzugehen, daß es von keinem der Wachen zugedreht wurde. Dann drängten sich zwei Gestalten zu ihm durch, und eine von ihnen packte ihn am Arm. „Del! Komm, wir müssen zusehen, daß wir hinauskommen.“ Er wandte sich um. Terrys blutüberronnenes Gesicht war fast nicht wiederzuerkennen. Seine andere Hand umklammerte Illias Arm. „Geht ihr beide“, schrie Underwood. „Versucht, euch durchzuschlagen. Ich muß bleiben – um sicherzugehen, daß er ertrinkt.“ „Die Wasserzufuhr ist abgeschnitten! Kannst du nicht sehen?“ Underwood drehte sich entsetzt um. Der Wasserspiegel fiel. Jemand hatte eines der anderen Ventile geschlossen und den Abfluß geöffnet. Luft wurde in die Kammer gepumpt. Demarzule stand jetzt unbeweglich und blickte 69
auf die Kämpfenden. Spöttische Verachtung drückte sich in seinen Zügen aus. „Es ist mißlungen!“ machte sich Underwood Luft. „Jetzt bleibt uns keine Möglichkeit mehr.“ „Zumindest nicht hier. Komm mit. Wir können in dem Mob untertauchen und uns nach draußen durchschlagen. Ein Schiff wartet auf uns, um uns zu Phyfe zu bringen. Die Lavoisier ist bemannt und startbereit.“ „Die Lavoisier! Wo …?“ „Wer weiß? Vorwärts!“ Hilflos ließ sich Underwood von Terry in das Gewühl schieben und stoßen. Die Anzeichen eines bewaffneten Kampfes erstarben. Underwood vermutete, daß die Wissenschaftler überwältigt worden waren, denn die Halle war jetzt vollständig mit den Jüngern angefüllt. Er sah zurück. Demarzule stand jetzt aufrecht. Langsam hoben sich seine mächtigen Arme, und seine Hände streckten sich aus, als wollten sie segnen und willkommen heißen. Das Stöhnen der ekstatischen Jünger stieg zu wildem Mißklang an. Dann kam von den fremden Lippen, tausendfach durch das Audiosystem verstärkt, das in der Kammer angebracht war, eine Stimme, die nur Underwood verstehen konnte. Und als die Worte erklangen, schauderte er vor ihrer Tragweite. „Ich habe über den Tod triumphiert“, rief Demarzule aus. „Ich habe die Äonen besiegt, und jetzt bin ich zu euch gekommen, mein Volk. Ich bin gekommen, um euch zu den Sternen und zu den Galaxen jenseits der Sterne zu führen, und die Geschöpfe ferner Welten sollen vor eurem Namen erzittern.“ 70
Jedes Wort fuhr wie ein Messer durch Underwood, denn es zeigte, daß Demarzule die Situation bereits erfaßt – und sie gemeistert hatte. Und obgleich niemand seine Worte verstand, barg sein Tonfall doch ihre Bedeutung, und niemand in der Versammlung anbetender Jünger zweifelte daran, daß ein neues Zeitalter der Größe für die Erde angebrochen war. Die drei kamen jetzt schnell vorwärts, als sie sich hinaus in den Teil des Mobs schoben, der Demarzule nicht zu sehen vermochte. In der Nähe des Nordtores waren die vernichtenden Strahlen der Energiehülle um einen freien Raum herumgeführt, der einen Durchgang bildete. Das Gerücht von der Auferstehung des Großen hatte sich in Windeseile verbreitet, und Tausende waren vor der Hülle versammelt. Jeder Versuch, die Eingänge zu bewachen, schien zusammengebrochen zu sein. Das Trio erzwang sich seinen Weg durch die Öffnung und hinaus in das Sonnenlicht, das Illia und Underwood nach der langen Nacht der Energiehülle nahezu blendete. Sie erreichten schließlich eine relativ freie Zone, die ihnen ein schnelleres Vorwärtskommen gestattete. Underwood erblickte das kleine Flugboot auf einer kleinen Anhöhe, eine Meile von dem Museum entfernt. „Was ist mit den anderen?“ keuchte Underwood im Laufen. „Konnte keiner von ihnen entkommen?“ „Ich glaube kaum“, gab Terry zur Antwort. „Wir rechneten auch nicht damit. Unser Ziel war, Demarzule zu töten, und, falls das mißlang, euch zu befreien.“ Die beiden rennenden Männer, der eine mit bandagiertem Arm, der andere mit blutbeschmiertem Gesicht, und das bleiche Mädchen erregten unwillkommene Aufmerk71
samkeit, aber endlich waren sie auf dem Hügel, auf dem das Flugboot lag, und kletterten hinein. Terry betätigte augenblicklich die Kontrollen, und sie erhoben sich in die Luft. Underwood wandte sich an Terry. „Informiere mich kurz.“ „Sie nahmen Verbindung mit mir auf – die Polizei verdächtigte mich nicht –, und wir organisierten eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern, denen wir trauen zu können glaubten. Die Energiehülle verhinderte einen direkten Angriff auf das Carlson, so versuchten wir, mit den Jüngern einzusickern. Vier von uns wurden erkannt und getötet. Wir unternahmen keinen Versuch, dich zu benachrichtigen, weil wir es für zu gefährlich hielten und wußten, daß du alles tun würdest, was in deinen Kräften stand.“ „Was jetzt?“ fragte Illia. „Die Lavoisier landete vor zwei Wochen, um ihren Proviant zu ergänzen. Der größte Teil der Mannschaft steht auf unserer Seite, und die übrigen haben wir ausgeschaltet. Phyfe und Dreyer sind bereits an Bord, ebenso die restlichen Wissenschaftler unserer Gruppe. Alles, was wir unternehmen können, ist, zu starten und so schnell zu verschwinden, wie das Schiff uns tragen kann. Es kann nur Stunden dauern, bis Demarzule von uns erfährt und eine Flotte hinter uns herschickt. Sobald wir im Raum sind, hängt alles weitere vom Chef ab.“ Er wies mit dem Daumen in Underwoods Richtung. „Was meinst du damit?“ wollte Underwood wissen. „Wir meinen, daß du als einziger befähigt bist, unsere Gruppe zu führen.“ 72
Underwood lachte kurz und bitter auf. „Ich bin schuld an dem Schlamassel, also soll ich auch dafür verantwortlich sein, einen Ausweg zu finden. Ist es das?“ „Wir werden dich der psychiatrischen Abteilung übergeben, wenn du damit nicht aufhörst“, drohte Terry. „Entschuldige. Ich bin natürlich dankbar, daß ihr glaubt, ich könnte euch von Nutzen sein, aber ich fürchte, ich kann mit keinem Vorschlag dienen, was einen Ausweg angeht.“ „Vielleicht bist du tatsächlich überzeugt, es ginge uns anders“, entgegnete Terry. „Du bist jedenfalls am ehesten fähig, ein Mittel zu erkennen, das Demarzule schaden kann.“ Neben den zusammengedrängten Gebäuden leuchtete auf dem Versuchsfeld die Lavoisier in der Morgensonne. Plötzliche Lichtstrahlen zuckten auf dem Feld auf. Illia bemerkte sie zuerst. „Gewehrfeuer!“ rief sie. „Sie werden angegriffen!“ schrie Terry. „Wir müssen landen, oder sie starten ohne uns. Unter deinem Sitz liegen zwei schwere Brenner, Del.“ Underwood zerrte die Waffen hervor, während das Flugboot rasch auf das Feld zuschoß. Konzentriertes Feuer schlug aus einem Gebäudeeingang gegen das Schiff, und im Schutz der Strauchpflanzungen am Rande des Flugfeldes arbeiteten sich weitere Polizisten an das Schiff heran. „Ich werde sie überfliegen“, schlug Terry vor. „Decke du sie mit beiden Brennern ein.“ Underwood drückte gegen den Wind die Luke auf und richtete die Mündungen der tödlichen Waffen hinaus. Er drückte den Abzug, und ein nicht endenwollender Feuer73
strom raste auf die Erde zu und lichtete die Reihen der Angreifer. Dann riß Terry das Schiff hoch, um dem Gebäude auszuweichen. In diesem Augenblick griff ein Strahl von unten nach ihnen. „Wir sind getroffen!“ rief Terry. „Der Motor setzt aus. Bereitet euch auf eine Bruchlandung vor. Ich werde versuchen, backbord herunterzugehen.“ Underwood wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Brennern zu, als wäre nichts geschehen. Als das Flugboot abkippte, feuerte er in das Gebäude, aus dem der verhängnisvolle Schuß gekommen war. Er glaubte einen Schmerzensschrei zu hören, aber es konnte auch der Wind sein, der an der Hülle des kleinen Flugbootes vorbeistrich. Sie fielen jetzt schnell auf die offene Backbordluke des großen Raumschiffes zu. Ein Teil der Besatzung tauchte mit schußbereiten Waffen auf, um sie bei der Landung zu decken. Sie glitten an der Hülle entlang nach unten und schlugen dann hart am Boden auf. Terry riß die Luke auf. Sie taumelten inmitten ihrer Verteidiger heraus. „Steigt ein!“ schrie einer der Männer. „Wir wären fast ohne euch gestartet. Sie werden Verstärkungen heranschaffen.“ Es war Mason, der Physiker. Underwood nickte. „Wir sind bereit. Sind alle anderen an Bord?“ „Ja.“ Ein plötzlicher Schmerzensschrei erscholl neben Underwood. Einer der Männer ließ seine Waffe fallen und umklammerte seinen Arm. Mason und Terry stützten ihn und zogen ihn ins Schiff. Underwood folgte mit Illia, und 74
hinter ihnen schlug der letzte der Männer die Schleuse zu und versperrte sie sorgfältig. „Phyfe und Dreyer warten im Kontrollraum“, erklärte Mason. „Wir werden Peters hier verarzten, und Terry würde es ebenfalls nicht schaden, wenn er sich behandeln ließe.“ Underwood nickte und lief mit Illia durch den Korridor. Sie kamen an anderen Männern vorüber. Einige von ihnen kannte Underwood; andere hatte er noch nie gesehen. Er hoffte, daß Phyfe und Terry eine sorgsame Auslese getroffen hatten. Sie erreichten den Kontrollraum und trafen dort Captain Dawson, der auf den Startbefehl wartete. Offenbar hatte Mason vorübergehend das Kommando übernommen, denn seine Stimme kam durch das Audiosystem, als Underwood und Illia eintraten. Phyfe nickte Captain Dawson zu. „Starten Sie.“ Fast augenblicklich hob sich das Schiff vom Boden ab. „Warten Sie!“ rief Underwood. Die Männer blickten ihn überrascht an. „Wir können nicht warten“, gab Phyfe zur Antwort. „Wir hatten Sie, Terry und Illia schon nahezu aufgegeben. Die Polizei sucht uns seit Wochen, und jetzt, da wir uns ins Freie gewagt haben, wird sie keine Anstrengung scheuen, um unserer habhaft zu werden.“ „Wir können nicht ohne die Aufzeichnungen der Stroid fliehen“, entgegnete Underwood. „Terry erklärte mir, ich wäre zum Führer dieser Mannschaft gewählt worden. Wenn dem so ist, dann lautet mein erster Befehl, jede Stroidurkunde und jeden Fund, der jemals gemacht wurde, mitzunehmen, bevor wird die Erde verlassen.“ „Warum?“ fragte Phyfe. „Ich verstehe Sie nicht.“ 75
„Es gab eine Waffe“, führte Underwood aus, „eine Waffe, die die Sirenier fürchteten, und die offensichtlich für den Sieg der Dragbora verantwortlich war. Wenn irgendeine Spur dieser Waffe im Universum erhalten geblieben ist, muß es unser Ziel sein, sie zu finden. Sie bedeutet vielleicht unsere einzige Hoffnung, Demarzule jemals zu schlagen.“ Die anderen sahen ihn an, als zweifelten sie an seinem Verstand und hofften doch gleichzeitig, er befände sich auf der Spur einer Lösung. „Aber das war vor fünfhunderttausend Jahren!“ machte sich Phyfe Luft. „Sie können doch nicht erwarten, eine Waffe zu finden, die vor Äonen verschwand. Wir haben keine Anhaltspunkte …“ „Wir haben die Berichte der Stroid. Deshalb will ich sie in die Hände bekommen.“ Dreyer nickte und stieß eine Rauchwolke aus. „Er hat recht, Phyfe. Wir haben nicht daran gedacht, aber es mag unsere einzige Chance sein. Zumindest haben wir damit ein Ziel, anstatt ins Blaue hineinzufliegen.“ „Das mag schon sein“, gab Phyfe zögernd zu. „Aber ich sehe nicht ein, auf welche Weise …“ „Lassen Sie das nur meine Sorge sein. Zeigen Sie uns, wo die Funde aufbewahrt werden. Auf jeden Fall werden wir das Repositorium zuerst holen; ich möchte, daß es vollständig an Bord gebracht wird.“ Underwood wandte sich rasch zu Dawson um und befahl ihm, das Schiff neben dem Bau in der Nähe des Museumsgebäudes aufzusetzen, der das Repositorium beherbergte. Dann begab er sich zur Bordsprechanlage und erläuterte das folgende Manöver. Er forderte zwanzig 76
Freiwillige auf, die Scooter und Bordwaffen zu bemannen, um denen Feuerschutz zu geben, die die Aufzeichnungen heranschaffen sollten. Unter ihnen beobachteten die Polizeikräfte verwirrt, wie die Lavoisier langsam über den Gebäudekomplex glitt und sich erneut zu senken begann. Drei Polizeiflieger schwebten über dem großen Raumschiff in der Luft. Underwood beobachtete sie grübelnd. Die zwanzig Männer, die er aus der Zahl der Freiwilligen ausgesucht hatte, standen mit ihm um die Sichtschirme. „Es muß unser erstes Ziel sein, diese Flieger herunterzuholen“, erklärte Underwood. „Begeben Sie sich jetzt zu den Luftschleusen, die Ihnen angewiesen worden sind. Ich werde das Zeichen geben, wenn die Flieger sich in der besten Angriffsposition für eine Gruppe befinden.“ Die Männer verließen den Raum, während das Schiff sich langsam der Erde näherte. Ein Signal sagte Underwood, daß die Gruppen ihre Stellungen bezogen hatten und bereitstanden. Einer der Flieger war hinter dem Bug der Lavoisier der Sicht der beiden anderen entzogen. Underwood rief scharf: „Nummer drei, angreifen!“ Fast augenblicklich öffnete sich eine Schleuse hinter dem nichtsahnenden Polizeiflieger, und drei Scooter schossen heraus. Das Feuer ihrer Piloten konzentrierte sich auf das Leitwerk des Fliegers. Eine plötzliche Flamme erblühte an seinem Rumpf, schwarzer Rauch verhüllte die Sicht, und der Flieger stürzte ab, ohne daß seine Insassen wußten, was sie getroffen hatte. Aber jetzt umrundete der zweite Flieger die Hülle, und die Scooter wurden entdeckt. Der Flieger feuerte, und einer der Scooter torkelte außer Sicht. 77
„Nummer sieben!“ befahl Underwood. Eine Schleuse im Bug schwang auf, und ein zweites Trio von Scootern warf sich auf den Feind. Den Piloten des Fliegers blieb noch Zeit, aufzublicken und den Feuerstrahl zu erkennen, der die transparente Kuppel durchbohrte, bevor sie starben. Die Bodentruppen begannen, das Feuer zu eröffnen, und die Scooter wurden gezwungen, auszuweichen und hin und her zu schießen, um nicht getroffen zu werden. Von oben mischte sich der dritte Flieger mit vernichtender Wut ein. Zwei weitere Scooter stürzten ab. Underwood befahl den übriggebliebenen, anzugreifen. Gleichzeitig verließen sie das Schiff und überschwemmten den Flieger mit einer Welle der Zerstörung. Er stürzte unter die Bodentruppen, die jetzt auseinanderliefen und vor den Scootern Deckung suchten. „Ladeluke eins nach dem Schuppen ausrichten, in dem das Repositorium steht“, instruierte Underwood den Captain. „Wir nehmen es zuerst an Bord.“ Das Schiff setzte auf der Oberfläche auf. Das unmittelbare Gebiet um den Schuppen war gesäubert. Mason übernahm die Beladung und befahl, die Luke zu öffnen. Elektrische Hebevorrichtungen wurden an der Peripherie des geschliffenen Artefakts befestigt, dessen Masse die Luke fast ausfüllte. Die Polizeitruppen unterhielten ein sporadisches Feuer, das aber von den Scootern niedergehalten wurde, ohne daß sie weitere Verluste erlitten. Mason schaltete den Strom ein, und langsam erhob sich die gewaltige Masse von ihrem Podest. Ein damit verknüpftes Drahtseil begann sich aufzuspulen und das 78
Repositorium auf das Schiff zuzuziehen. Als die Luke zufiel, atmete Underwood erleichtert auf. „Das Schwerste haben wir hinter uns! Noch eine halbe Stunde, um die Aufzeichnungen zusammenzusuchen – und wir sind hier fertig.“ Illia stieß einen schrillen Schrei aus. „Del! Das Gebäude – es brennt!“ Die Männer starrten. Aus dem Museum, in dem die Berichte der Stroid lagen, leckten Flammen. „Sie müssen gewußt haben, auf was wir aus waren“, murmelte Phyfe. „Deshalb haben sie das Gebäude in Brand gesteckt. Jetzt haben wir keine Chance mehr.“ „Doch! Die meisten der Urkunden sind aus Metall!“ Underwood trat zu der Sprechanlage. „Alle außer der Startmannschaft Raumanzüge anlegen und Handfeuerwaffen fassen. Fertigmachen zum Betreten des Museums.“ „Was willst du tun?“ rief Illia. Underwood stand bereits vor dem nächsten Schrank und kämpfte sich in den ungefügen Raumanzug. „Das wird uns genügend vor dem Feuer schützen.“ Rasch überflog er den Plan, den Phyfe ihm gegeben hatte, um festzustellen, wo der Hauptteil der Berichte aufbewahrt wurde, und eilte dann in den Laderaum. Er ordnete an, daß jeweils zwei Männer einen Frachtkarren nehmen sollten. Es war eine unheimliche Prozession geisterhafter Gestalten, die unbeholfen die Stufen zu dem brennenden Gebäude emporstapfte. Fast blind durch den Rauch führten Underwood und Mason sie durch die Hallen und in die Räume, in denen die fünfhunderttausend Jahre alten Metallplatten auf Regalen lagen. 79
„Ladet sie auf“, befahl Underwood. „Hier ist es.“ Wie phantastische Geschöpfe vor dem Hintergrund einer Hölle bewegten sich die Männer durch den großen Raum, leerten die Regale und füllten die Karren mit allem, was ihnen unter die Finger kam. Die hölzernen Balken, die das hohe, altertümliche Dach trugen, waren trocken und knisterten in den Flammen. Irgendwo stürzte ein Balken zusammen, und ein Regen von Mauerwerk und Putz rieselte herunter. „Wir haben keine Zeit mehr“, drängte Mason. „Außerdem sind die Karren voll. Gehen wir.“ Underwood schob den Karren auf den Eingang zu, durch den sie gekommen waren. Seine Schwere bot das einzige Hindernis. „Nehmen Sie den Karren“, bat er Mason. „Ich hole noch einen Arm voll.“ Während Mason in den Rauchschwaden verschwand, lud sich Underwood einen letzten Stapel auf. Dann taumelte er fast blind zum Ausgang. Im Schiff blickte Underwood verlangend zu dem flammenumtosten Gebäude zurück. Welche Geheimnisse mochten noch unter den Platten liegen, die er hier zurücklassen mußte! Es war nutzlos, einen weiteren Versuch zu wagen. Die Polizisten hatten offensichtlich gehofft, das Feuer würde die Ziele der Wissenschaftler zunichte machen, aber nach der erfolgreichen Rettung von Tonnen von Funden nahmen sie ihren Angriff mit verstärkter Wut wieder auf. Underwood rief die Scooter zurück. Langsam näherten sie sich dem Schiff, und währenddessen begannen die 80
Polizeibeamten, in die offenen Luken zu feuern. Die Scooter schossen ins Schiff; mehr als einer von ihnen trug einen tödlich verwundeten Piloten. Insgesamt kehrten nur vierzehn zurück. „Das ist alles!“ bemerkte Mason grimmig. „Die übrigen kommen nicht wieder.“ Einen bitteren Augenblick lang fragte sich Underwood, ob die Aufzeichnungen dieses Opfer wert gewesen waren. Aber ohne Hoffnung auf eine Waffe, mit der der Sirenier zu schlagen war, war eine Flucht in den Raum sinnlos. Er kehrte in den Kontrollraum zurück und gab den Startbefehl. Die große Suchfahrt der Lavoisier hatte begonnen. 8. Kapitel Die Mannschaft des Schiffes wurde ihren Spezialitäten entsprechend in kleinere Gruppen aufgeteilt. Underwood stellte dabei fest, daß Physiker und Biologen überwogen. Die dreißig Physiker wurden unter der Führung Masons zusammengefaßt. Ihnen fiel die Aufgabe zu, nach möglichen Waffen und Abwehrmitteln gegen die Angriffe zu suchen, denen sie sicherlich ausgesetzt werden würden. Die Männer, die eine Ingenieurausbildung genossen hatten, wurden angewiesen, mit Masons Schar zusammenzuarbeiten. Die biologische Gruppe schloß ein Dutzend Ärzte und vier Psychiater unter Illias Leitung ein. Dreyer und alle anderen Semantiker wurden mit den Archäologen zusammengeworfen, um die Aufzeichnungen zu untersuchen, die sie aus den Flammen gerettet hatten. 81
Die meisten der Physiker besaßen unterschiedliche Geschicklichkeit in der Handhabung von Werkzeugen und Instrumenten und konnten bei der Herstellung von Waffen für das Schiff helfen. Die erste Aufgabe war, das Schiff mit Absorberschirmen zu umgeben, um Radarechos zu verhindern und damit dieses Mittel, sie von der Erde aus zu entdecken, auszuschalten. Es war ein relativ leichtes Projekt und am Ende der ersten vierundzwanzig Stunden im Raum vollendet. Damit blieben dem Gegner nur astronomische Mittel, um sie aufzuspüren, und mit jeder Stunde, die verging, schrumpfte diese Möglichkeit weiter zusammen. Dennoch vermochte Underwood das Unbehagen nicht abzuschütteln, das ihn angesichts der Verfolgung beschlich, die zweifellos kommen mußte. Die Suche unter den Berichten und Artefakten ging weiter. Das Repositorium selbst wurde Zoll um Zoll durchforscht – und immer noch konnte nahezu keiner der darin enthaltenen Gegenstände identifiziert oder erklärt werden. Abgesehen von dem Repositorium stammte das meiste Material von dem Planeten, auf dem die Sirenier gelandet waren. Am achten Tage hatte Masons Mannschaft die Ausrüstung konstruiert, die notwendig war, um eine Energiehülle um die Lavoisier zu werfen, und Underwood atmete erheblich freier. Hinter dem Schutz dieses undurchdringlichen Schildes konnten sie unendliche Strecken zurücklegen. Navigatorische Data wurden durch winzige Pilotgeräte eingeholt, die mittels haarfeiner Leitungen mit dem Schiff verbunden waren. Underwood war stolz auf diese Errungenschaften. Bei 82
ihren begrenzten Möglichkeiten kam es einem Wunder gleich, daß es ihnen gelungen war, die Menge komplizierter Geräte in so kurzer Zeit herzustellen. Irgendwie erschien es ihm als ein Symbol dafür, daß ihre Suche Erfolg haben würde. Und dann, am gleichen achten Tage, an dem sie die Grenze fast überschritten hatten, bis zu der Objekte von Raumschiffgröße identifiziert werden konnten, gab der wachhabende Beobachter eine Warnung zum Kontrollzentrum durch. „Flotte löst sich von der Erde. Zwanzig Kriegsschiffe. Corius-Typ. Augenscheinlicher Kurs 169 46 12 und 48 19 06. Geschwindigkeit…“ Underwood blickte Phyfe an, der neben ihm stand. „Das ist es“, stellte er lakonisch fest. Die Warnung durchlief das Schiff, und die Männer sahen einen Augenblick von ihren Aufgaben hoch, um dann mit grimmigeren Augen und zusammengepreßten Lippen wieder an die Arbeit zu gehen. Masons Gruppe arbeitete an dem Problem, das Techniker seit Generationen zur Verzweiflung gebracht hatte, dem Problem, den Atomstrom durch eine Energiehülle zu feuern. Underwood hegte wenig Hoffnung, daß sie eine Lösung finden würden, aber schaden konnte ihre Arbeit nicht. Während Underwood mit Phyfe zum Navigatorentisch ging, um ihren Kurs und den der verfolgenden Flotte zu überprüfen, bemerkte er: „Ich frage mich, wie sie uns entdeckt haben mögen. Unser Echoschirm kann nicht zusammengebrochen sein. Es muß reines astronomisches Glück gewesen sein, das sie auf unsere Fährte setzte.“ Leutnant Wilson, der Navigator, runzelte die Stirn, als 83
er auf die Kurskarten deutete. „Ich glaube nicht, daß die Flotte uns folgt“, erklärte er. „Wenn, dann macht sie einen Umweg, denn augenblicklich weicht ihr Kurs um mehr als vierzehn Grad von dem unsrigen ab.“ Phyfe und Underwood studierten die Flugbahnen, verlängerten sie in den Raum, schätzten das Maß ab, in dem die Flotte sich nähern würde, wenn man ihre höhere Geschwindigkeit und die divergenten Kurse in Betracht zog. „Es läßt sich leicht genug feststellen, ob sie uns folgen oder nicht“, versetzte Underwood. „Wir könnten einfach unseren eigenen Kurs um neunzig Grad ändern. Vielleicht haben sie uns überhaupt nicht aufgespürt, sondern schießen lediglich blind in die allgemeine Richtung, in der wir uns, den Beobachtungen der Polizeibeamten bei unserem Start nach zu folgern, befinden könnten.“ Dreyer hatte die Neuigkeit über die Sprechanlage vernommen und kam in den Navigationsraum. Er fing Underwoods letzte Bemerkung auf. „Demarzule würde niemals eine Mannschaft ins Blaue senden“, kommentierte er. „Wie lautet dann die Antwort?“ fragte Underwood gespannt. „Würden wir lediglich blind in den Raum fliehen, so würde sich Demarzule nicht um uns kümmern; haben wir aber einen Punkt zum Ziel, dessen Erreichen ihm schaden könnte – dann würde er sich einschalten.“ Underwoods Blick erhellte sich. Er las in Dreyers Miene die gleichen Schlüsse, zu denen er gelangt war. „Und Demarzule würde seine Flotte nicht eigentlich hinter uns herschicken, sondern zu jenem Ziel, um zu verhindern, daß wir es erreichen. Deshalb steuert seine 84
Flotte auf die Welt der Dragbora zu!“ „Nicht so schnell!“ wandte Phyfe ein. „Danach würde Demarzule annehmen, daß wir ihre Lage kennen. Er hat keinen Grund für eine solche Annahme.“ Dreyer schüttelte den Kopf. „Er weiß nicht, ob wir sie kennen oder nicht. Er weiß nur, daß sie gegen jede mögliche Erforschung durch uns geschützt werden muß. Fliegen wir nicht dorthin, dann sind wir keine Bedrohung für ihn. Andernfalls steht die Flotte bereit, um sich unserer anzunehmen.“ Phyfe überlegte; dann nickte er langsam. „Sie haben recht.“ „Und Demarzule wird uns den Weg zeigen, der zu der dragborischen Waffe führt“, schloß Underwood. Der Kurs der Lavoisier wurde geändert, so daß er parallel zu dem der terrestrischen Flotte verlief. Die Beschleunigung wurde soweit erhöht, daß eine Überbelastung der Kompensatoren um zwanzig Prozent eintrat, die es für jeden an Bord notwendig machte, ein tragbares Gerät zum Ausgleich seines vermehrten Gewichts zu benutzen. Immer noch kroch die Flotte näher, aber Underwood vertraute darauf, daß die Entfernung zwischen den parallelen Kursen groß genug war, um eine Entdeckung ihres Schiffes zu verhindern. Neues Leben erfüllte das Schiff, während die Arbeitsund Schlafperioden rasch vergingen. Es war jetzt leichter, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, denn jedermann empfand, daß er einem definitiven Ziel zustrebte. Unter Phyfes Leitung fanden tägliche Kurse in sirenischer Kultur statt. Die Männer versuchten, alle Existenz85
fakten vom sirenischen Standpunkt aus zu sehen und ihre semantische Bedeutung für diese alte Erobererrasse einzuschätzen. Die Dauer des Fluges wurde auf annähernd drei Monate geschätzt. Die Flotte überholte sie auf halber Strecke, und von da an befanden sie sich in einem verzweifelten Rennen, um die Schiffe nicht aus der Reichweite ihrer Instrumente zu verlieren. * In der letzten Woche der drei Monate beobachteten sie, daß die Schlachtflotte plötzlich und scharf bremste. Underwood versetzte die gesamte Mannschaft in Alarmbereitschaft. Trafen ihre Folgerungen zu, dann waren sie nur noch wenige hunderttausend Lichtjahre von der dragborischen Welt entfernt. Während die Lavoisier ihre ungeheuerliche Geschwindigkeit durch Öffnen der Entropiedissipatoren verringerte, schien die Flotte sich auf eine kleinere Galaxis mit einer Randgruppe gelber Sterne zuzubewegen. Sie steuerte schließlich eine der gelben Sonnen an, die ein System von fünf Planeten aufwies. Es war der vierte Planet, zu dem die Flotte flog. Underwood beobachtete, wie sechs der zwanzig Schiffe auf ihm landeten. „Halten Sie sich hinter einem der anderen Planeten“, instruierte er Dawson. „Der zweite scheint am nächsten. Von dort aus können wir beidrehen und den Mond des vierten anlaufen. Wahrscheinlich werden wir auf ihm landen und die Flotte überblicken, bevor wir unsere nächsten Schritte festlegen.“ 86
Der einzige Nachteil bei dem Manöver war, daß sie keine Fühlung mit der Flotte halten konnten. Für zwei Stunden verließen sie den Planetenschatten und wurden dann von dem Mond der vierten Welt verschluckt. Während dieser Zeit befanden sie sich im Licht der Sonne und sahen nichts von der Flotte. Die Photographen befaßten sich damit, Bilder von der dragborischen Welt aufzunehmen. Wie der zweite Planet erschien der Mond auf den ersten Blick als eine öde, tote Kugel, aber als sie sich auf der Nachtseite näherten, entdeckten sie ein Gebiet üppiger Vegetation, das ein Achtel der Oberfläche einnehmen mochte. Die Lavoisier setzte auf dem Gras einer Lichtung in dem bewachsenen Teil der sonst unfruchtbaren Welt auf. In diesem Augenblick kam Mason in den Kontrollturm. „Ich weiß nicht, was Sie erwartet haben, auf dem Planeten dort unten vorzufinden“, meinte er. Er händigte Underwood einen Stoß Photographien aus. „Wenn er Leben aufweist, muß es unter Kuppeln existieren. Der ganze Planet besitzt nicht einen Funken Atmosphäre.“ „Damit wird das Problem ein archäologisches“, stellte Phyfe fest. „Es war übertrieben zu hoffen, daß eine fortgeschrittene Zivilisation wie die dragborische noch weitere fünfhunderttausend Jahre existiert haben könne. Aber die Bilder – was zeigen sie?“ Er sah Underwood über die Schulter. „Städte! Keine Frage, daß der Planet einst bewohnt war. Sie wirken, als wären sie erst gestern verlassen worden.“ „Das würde durch das Fehlen der Atmosphäre erklärt“, versetzte Underwood. „Auf einer luftlosen Welt 87
werden die Städte nicht unter angewehtem Sand begraben. Irgendein kataklyamisches Unglück muß Atmosphäre und Leben des Planeten zu gleicher Zeit vernichtet haben. Vielleicht wird unser Problem dadurch eher einfacher als schwieriger. Wenn die Zerstörung verhältnismäßig kurz nach der Niederlage der Sirenier eintrat, könnten unter den Ruinen genügend Anhaltspunkte für ihre Waffen begraben sein.“ * Die Dämmerung auf dem Mond der dragborischen Welt fiel nahezu mit dem Ende ihrer Schlafperiode zusammen. Die Analyse der draußen herrschenden Bedingungen ergab, daß die Atmosphäre atembar, wenn auch sehr dünn war. Die Temperaturen waren hoch, was auf Grund der Sonnennähe zu erwarten stand. Dann, als Underwood befahl, die Energiehülle zu heben und die Luke zu öffnen, empfing er einen Schock, der ihn einen überraschten Ruf ausstoßen ließ. Illia kam durch den Gang geeilt. „Was ist, Del?“ Sein Finger deutete auf eine Gruppe von Gestalten am Heck des Schiffes. Ihrem Aussehen nach waren sie auf die gleiche Art menschenähnlich wie Demarzule. Größer als die Erdenmenschen und kupferhäutig, beobachteten sie die Lukenöffnung und verneigten sich vor Underwood und Illia. Sie waren zu viert um eine fünfte Gestalt gruppiert, die auf einer Bahre lag. „Vielleicht sollten wir unser Vorhaben, das Schiff zu verlassen, aufgeben“, murmelte Underwood zweifelnd. 88
„Wir haben keine Zeit, uns mit abergläubischen Eingeborenen abzugeben.“ „Nein, warte, Del“, wandte Illia ein. „Der Mann auf der Bahre ist verletzt. Sie haben ihn wahrscheinlich hierhergebracht, damit wir uns seiner annehmen. Vielleicht können wir etwas für ihn tun.“ Underwood wußte, daß es zwecklos war, ihr etwas ausreden zu wollen, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Er sagte: „Holen wir Dreyer, vielleicht ist er imstande, sich mit ihnen zu verständigen.“ Dreyer, Phyfe und Nichols kamen bereits gemeinsam durch den Gang. Underwoods Bericht versetzte sie in Erregung. „Sie können entweder von der dragborischen oder der sirenischen Zivilisation abstammen“, vermutete Phyfe. „In jedem Fall könnten wir etwas finden, das für uns von Nutzen ist.“ „Sie halten uns für Götter“, gab Underwood zu bedenken. „Was sollte uns eine derart primitive Zivilisation liefern können?“ Die Semantiker blickten auf die kleine Gruppe herunter. Dreyer begann Worte auszustoßen, die einer Reihe von Grunzlauten mit wechselnder Modulation ähnelten. Einer der Eingeborenen, eine Frau, richtete sich auf und hielt eine lange Rede, die für Underwood völlig nichtssagend war. Dreyer jedoch lauschte angestrengt, als verstünde er jeden Laut der fremden Sprache. Underwood erinnerte sich an Dreyers Behauptung, ein wirklicher Semantiker müßte in der Lage sein, jede unbekannte Sprache auf Anhieb zu verstehen und sich in ihr zu verständigen. Alle Sprachen besäßen Laute und Into89
nationen, die von fundamentalem und gleichbedeutendem semantischem Inhalt wären. Diese, erklärte Dreyer, könnten mit der nötigen Geschicklichkeit identifiziert und während der Unterhaltung zur Rekonstruktion der Sprache verwandt werden. Underwood hatte diese Versicherung stets für Prahlerei gehalten; jetzt sah er sie in die Praxis umgesetzt. Die zwei Frauen der Gruppe und einer der Männer schienen völlig in ihrer anbetenden Haltung versunken, der vierte jedoch, der ein wenig entfernt stand, wirkte fast rebellisch. Er sprach abrupt und kurz. „Dieser Bursche ist von gesunder Skepsis“, bemerkte Dreyer. „Er ist bereit, uns als Götter zu akzeptieren, aber er verlangt Beweise.“ „Wir können uns nicht mit ihnen aufhalten“, drängte Underwood. „Hier gibt es für uns nichts zu holen.“ „Vielleicht doch“, widersprach Dreyer. „Wir sollten Illia sehen lassen, was sie tun kann.“ Underwood wurde von den anderen überstimmt. Er mußte es Dreyer schließlich gestatten, die Eingeborenen anzuweisen, ihren Gefährten in das Schiff zu tragen. Illia untersuchte seine Verletzungen im Operationsraum, aber sie schüttelte den Kopf. „Es ist hoffnungslos“, erklärte sie. „Wir können ihm nicht helfen.“ Sie ließ Underwood einen Blick durch das Fluoroskop werfen. Er verschob die Einstellung und rief dann aus: „Illia! Diese seltsamen Organe unter dem Zwerchfell …“ Sie zog die Luft scharf durch die Zähne. „Die gleichen wie bei Demarzule. Er muß von derselben Rasse sein!“ Dreyer sprach mit den Gefährten des Verletzten, erklärte ihnen, daß es unmöglich war, das Leben des schon 90
älteren Mannes zu retten. Die Antwort des rebellischen unter ihnen war ein fast wildes Knurren. Er wandte sich dann sanfter an den Verletzten und schien ihm sein Schicksal mitzuteilen. Die heiteren Züge änderten sich nicht, aber seine Augen schlossen sich, und die Erdenmenschen wußten, daß er tot war. Rasch zog der Rebellische ein gläsernes Messer aus einer Scheide und schlitzte den Leichnam auf. Er zog eines der fremden Organe heraus und legte es in einen Behälter, den er trug. Ohne ein weiteres Wort ging er, und die beiden Frauen und der andere Mann folgten ihm langsam. „Wir scheinen einen Leichnam geerbt zu haben“, bemerkte Underwood. „Terry, sorge dafür, daß ein paar von den Männern ihn hinausschaffen und begraben. Ich frage mich, was das Ganze bedeuten soll. Sind dies Abkömmlinge der sirenischen Kultur?“ Seine Überlegungen wurden durch das Aufdröhnen der Bordsprechanlage unterbrochen. „Dr. Underwood, der Ausguck berichtet, daß die gesamte terrestrische Flotte den dragborischen Planeten verlassen hat.“ Die Gruppe im Operationsraum blickte sich in plötzlichem Schweigen an. „Es ergibt keinen Sinn“, unterbrach Terry endlich die Stille. „Doch“, entgegnete Underwood langsam. „Wenn sie entdeckt und zerstört haben, was wir zu finden hofften.“ „Oder wenn sie uns aus unserem Versteck hervorlocken wollen“, fügte Dreyer hinzu. „Am besten warten wir zwei Tage lang ab. Wenn sie 91
ihren Flug fortsetzen, können wir den Planeten mit der Sonne im Rücken anfliegen, ohne daß sie uns entdecken.“ Terry wollte auf jeden Fall den Mond erkunden, und auch Illia hielt es nicht auf dem Schiff. Gemeinsam überredeten sie Underwood, sich an einem Scooterflug über die umgebende Landschaft zu beteiligen. Da Phyfe und Dreyer sich anschlossen, mußte Mason zurückbleiben und das Kommando auf dem Schiff übernehmen. Hinter der grasbewachsenen Ebene erstreckte sich dichter Wald. Die Scooter stiegen höher, und die Männer an Bord der Lavoisier verloren sie aus den Augen. Lange Zeit flogen sie über Baumwipfel dahin und musterten die öden Sandwüsten, die sich am fernen Horizont erstreckten. Plötzlich deutete Terry nach unten. „Eine Straße!“ Ein schimmernder Gürtel durchzog den Wald fast rechtwinklig zu ihrer Flugrichtung. Sie lenkten ihre Scooter sofort in die neue Richtung. Underwood stoppte unmittelbar über der Oberfläche der Straße. Dann beugte er sich vor und berührte sie. Dreyer warf einen Blick auf sein verwirrtes Gesicht. „Glas, wie?“ „Sieht so aus, aber eine gläserne Straße …“ „Materialmangel“, versetzte Dreyer. „Der Mond setzt sich offensichtlich zum Großteil aus nichtmetallischen Silikaten zusammen. Das Glasmesser, das unser Freund benutzte, deutete auf das Fehlen von Metall hin; diese Straße zeigt jetzt, daß sie eine hochentwickelte Glasbearbeitungstechnik besitzen. Wir haben hier zweifellos keine primitive Kultur vor uns, wie wir zuerst annahmen.“ Sie folgten der Straße wenige Meter über der Oberflä92
che. Sie mochten zwanzig Minuten geflogen sein, ohne daß sich eine Lücke in dem Wald über ihnen oder der Straße zeigte. Dann kam abrupt in der Ferne eine Gestalt in Sicht. Sie bewegte sich rasch, und Terry kniff die Augen zusammen, um dann auszurufen: „Wir kommen über Lichtjahre hierher, um eine Super-Zivilisation zu suchen, und wir finden Radfahrer!“ „Erkennst du den Burschen?“ fragte Underwood. Der Fahrer näherte sich schnell. Schließlich vermochten sie seine Züge deutlich zu sehen und stellten fest, daß es jener Rebell aus der Gruppe war, die sie am Morgen aufgesucht hatte. „Dieses Zusammentreffen kommt mir nicht ungelegen“, meinte Dreyer. „Ich möchte wissen, was er mit dem Organ anfängt, das er aus dem Leichnam entfernt hat. Mit scheint, es handelt sich um einen Ritus, der mit dem Glauben zusammenhängt, dieses Organ sei der Sitz des Lebens, das früher bei uns als das Herz angesehen wurde.“ Sie verlangsamten ihre Geschwindigkeit, als sie den Mann erreichten. Er betrachtete sie finster, und seine Lippen formten zornige Worte: „Shazer na jourli!“ Dreyer runzelte die Stirn und antwortete mit einigen Silben. Der Fremde wiederholte seinen erregten Ausruf. „Er behauptet, wir waren keine Götter“, übersetzte Dreyer. „Das hätten wir ihm gleich sagen können“, erwiderte Underwood trocken. Die Unterhaltung in der fremden Sprache nahm ihren Fortgang, bis Dreyer sich wieder an seine Gefährten wandte. „Der Mann nennt sich Jandro, und die Tatsache, 93
daß wir Metalle besitzen, überzeugt ihn noch nicht, daß wir Götter sind, im Gegensatz zur Ansicht seiner Landsleute. Ergibt das einen Sinn?“ „Selbstverständlich!“ rief Phyfe. „Was ist natürlicher für die Bewohner eines metalleeren Planeten, als eine Religion um die glücklicheren, metallverarbeitenden Götter zu bauen?“ Dreyer erklärte Jandro: „Wir sind keine Götter. Wir kamen zu euch als Besucher von einem fernen Ort, der Erde genannt wird.“ Das Eingeständnis schien Jandro einen Schock zu versetzen, denn sein Gesichtsausdruck änderte sich merklich. „Es tut mir leid“, entgegnete er, „wenn ich euch eines Anspruches beschuldigt habe, den ihr nicht aufgestellt habt. Ich verstehe jedoch eure Worte nicht. Wenn ihr von der Himmelswelt kommt, nehmt mich mit dorthin und helft mir, mit den Geheimnissen zurückzukehren, die mein Volk erhöhen können.“ „Himmelswelt?“ wiederholte Dreyer. Jandro deutete auf den Horizont, an dem der Planet der Dragbora wie eine Silberscheibe hing. „Weshalb nennt ihr ihn Himmelswelt?“ Jandro sah mit Verlangen und Bitterkeit auf, bevor er sprach: „Ihr kommt nicht von dorther?“ „Nein.“ „Aber ihr könnt in eurem Metall dorthin gelangen?“ „Ja.“ „Werdet ihr mich mitnehmen?“ „Das hängt nicht von mir ab, aber vielleicht kann ich die anderen beeinflussen. Erzähle mir, warum du dorthin willst und weshalb du es als Himmelswelt bezeichnest.“ 94
„Vor langer Zeit“, begann Jandro, „ehe Menschen auf Trear existierten, lebten sie mit den Göttern auf der Himmelswelt, aber weil sie sich auflehnten und ungehorsam waren, wurden sie ausgestoßen. Trear war ein öder Mond ohne Leben. Nach vielen dekara gelang es den Menschen, aus den winzigen Samen, die sie mitgebracht hatten, die großen Wälder zu schaffen. Sie gaben uns Holz, und die Wüsten lieferten uns Glas. So haben wir eine Welt aufgebaut und auf die Zeit gewartet, in der die Götter uns wieder zur Himmelswelt erheben werden. So wird erzählt“, schloß Jandro, „aber ich glaube nicht daran. Ich weiß nicht, was ich glauben soll, aber ich will, daß mein Volk das Erbe seiner Heimatwelt antritt.“ Dreyer gab die Erzählung an seine Gefährten weiter. „Es klingt so, als wären Jandros Ahnen eine Gruppe von Flüchtlingen gewesen, die den Planeten vor der Katastrophe verließen, welche die Atmosphäre vernichtete. Ich möchte ihm seine Bitte erfüllen, um mit ihm einen Handel abzuschließen. Ich würde gern erfahren, weshalb er jenes Organ herausgeschnitten und was er damit angefangen hat. Seine chirurgische Geschicklichkeit kam nicht von ungefähr.“ „Mir ist es recht“, stimmte Underwood zu. Dreyer wandte sich erneut an Jandro. „Du kannst uns zu dem Planeten begleiten. Wir möchten dafür nur eines wissen – warum du den Leichnam geöffnet und das Organ entfernt hast.“ „Wegen der discara natürlich. Oh! Du meinst, ihr wollt die Abbitte leisten?“ Plötzliches Verstehen und äußerste Verwirrung stritten auf seinem Gesicht miteinander. 95
Dreyer stotterte einen Augenblick. „Die Abbitte? Ja, natürlich! Wir wollen die Abbitte leisten.“ „Gut. Ihr seid Gäste meines Hauses. Mein Vater wird erfreut sein.“ Jandro drehte sein Fahrrad um und fuhr die Straße hinunter. Dreyer erklärte den anderen, was geschehen war, und setzte seinen Scooter in der Richtung in Bewegung, die der Fremde eingeschlagen hatte. Terry explodierte. „Was zum Teufel ist die Abbitte?“ fragte er. „Wir wissen weder, wie noch wem gegenüber wir sie zu leisten haben. Wir werden nur Ärger bekommen, wenn wir in den religiösen Bräuchen dieser Amateurchirurgen herumstochern!“ 9. Kapitel Underwood grübelte über Dreyer nach. Hinter dem unbewegten Äußeren des Mannes verbarg sich ein Gehirn, dessen unaufhörliche Aktivität oft die abwegigsten Bahnen einschlug. Was motivierte sein Interesse an den Eigentümlichkeiten einer fremden Kultur? Der Wald vor ihnen lichtete sich plötzlich, und sie sahen die Stadt im Sonnenschein wie ein kostbares Juwel glitzern. Die Häuser waren wie die Straßen aus vielfarbigem Glas gebaut, das sein eigenes Licht zu versprühen schien. Viele der hochgewachsenen, kupferfarbenen Menschen bevölkerten die Straßen und Parkwege. Ihre Anmut und Schönheit, die erst in ihrer selbstgeschaffenen Umgebung voll zum Ausdruck kam, beeindruckten Underwood. Heiterkeit und Zufriedenheit lagen in ihren Mienen und ihrer Haltung. 96
Die Erdenmenschen, die auf ihren Scootern über der Oberfläche der Straße flogen, erregten sofort Aufsehen. Schreie wurden laut, und Dutzende von Menschen warfen sich auf der Straße nieder. Jandro bedeutete den Männern zu halten und wandte sich dann an die anderen. Seine Worte flossen zu schnell für Dreyer, der lediglich erfaßte, daß Jandro erklärte, die Männer seien gekommen, um seinem Vater Abbitte zu leisten und er, Jandro, sei auserwählt worden, für sein Volk die Himmelswelt aufzusuchen. Einige schienen Jandro erstaunt und ungläubig zu betrachten, andere verneigten sich vor ihm wie zuvor vor den Erdenmenschen. Als die Gruppe sich weiterbewegte, erhoben sich die Menschen und standen in Schweigen und Ehrfurcht. Sie hielten vor einem großen, einstöckigen Kubus von orangener Tönung. Jandro stieg ab und trat zur Seite, damit sie eintreten konnten. „Ihr erweist meinem Heim Ehre“, sagte er formell. Das Innere des Hauses war luxuriös ausgestattet. Reichhaltiges Licht aus farbigen Prismen erhellte den Raum. Fast augenblicklich betraten zwei Frauen von der gegenüberliegenden Seite her den Raum. Eine von ihnen war bereits älter, die andere aber wirkte jünger als Jandro. Dann erkannten die Erdenmenschen sie – es waren die gleichen, die am Morgen mit Jandro das Schiff aufgesucht hatten. Sie schrien unwillkürlich beim Anblick der Erdenmenschen auf. Rasch erklärte Jandro ihre Anwesenheit und ihr Eingeständnis, keine Götter zu sein. Langsam 97
legte sich die Erregung der beiden Frauen, und Jandro stellte sie Dreyer vor, der sie seinerseits mit den übrigen bekanntmachte. „Sie werden unser Mahl zubereiten“, erläuterte Jandro, „bevor wir gehen. Aber erst werdet ihr die discara meines Vaters sehen und die Abbitte leisten wollen. Kommt.“ Er ging voraus durch das Haus zu einem Raum, dessen Tür geschlossen war. Jandro öffnete die Tür weit und führte sie hinein. „Ihr werdet allein sein wollen“, sagte er. „Ich werde auf euch warten.“ Er schloß die Tür. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, was sie sehen würden, noch hätten sie sich den Anblick vorstellen können, der sich ihnen jetzt bot. Der Raum war groß, und auf allen Seiten säumten Regale die Wände. Es waren die Gegenstände auf diesen Regalen, die ihre Aufmerksamkeit fesselten. Viereckige, gläserne Behälter, vollkommen identisch, füllten die Regale aus, und in jedem lag ein rötlich-braunes Organ, das genau dem glich, dessen Entfernung sie beobachtet hatten. Eine klare Konservierflüssigkeit umgab die Spezimen, und die Behälter waren versiegelt. Unmittelbar vor ihnen jedoch stand ein Tisch und auf ihm ein einzelnes Glas mit einem frisch wirkenden Organ. Instinktiv wußten sie, daß es das gleiche war, das am Morgen vor ihren Augen herausgeschnitten worden war. Terry pfiff respektlos. „Nun, das ist doch wenigstens etwas. Eine Morgue für tote Lebern …“ 98
Illia betrachtete die Spezimen genau. „Nicht alle von ihnen waren so gute Chirurgen wie Jandro. Die meisten sehen aus, als wären sie mit einer Fleischeraxt herausgehauen worden. Einige scheinen seit dem Anbeginn der Zeiten hier zu lagern.“ „Eine Art Ahnenkultur“, zuckte Underwood die Achseln. „Die Abbitte wird irgendein Ritus sein, der den Ahnen eines Freundes dargebracht wird. Alles recht interessant, aber im Augenblick für uns nutzlos.“ „So einfach ist es nicht“, widersprach der Semantiker. „Bedenken Sie, daß Jandro uns, obgleich er begreift, daß wir von einer anderen Welt kommen, mit all dem für vertraut hält. Er glaubt also, daß diese Dinge allen humanoiden Geschöpfen zu eigen sind. Dahinter könnte sich irgendein für ihn logischer Grund verbergen.“ Jandro erwartete sie, als sie heraustraten. Er brachte sie zu dem Tisch, auf dem ein Mahl angerichtet war. Underwood und Illia vermochten sich mit ihren Gastgebern nicht im geringsten zu verständigen, während Phyfe und Terry sich langsam an der Unterhaltung zu beteiligen begannen. Sie hantierten linkisch mit den ungewohnten Eßwerkzeugen, aber beide Seiten übten tolerante Nachsicht. Jandro bemerkte: „Ich nehme an, ihr würdet gern unsere resa und die Einsetzung der abasa sehen?“ Ohne ein Zeichen seiner Verständnislosigkeit wiederholte Dreyer die Frage. „Ich bin willens, alles zu sehen, was es zu sehen gibt“, versetzte Underwood. Obgleich er unruhig war, wußte er, daß sie der terrestrischen Flotte Zeit lassen mußten, sich zu entfernen. 99
Sie verließen das Haus und gingen zu Fuß durch die Straßen. Jandro führte sie zu einem der größeren Gebäude in dieser glitzernden Stadt. Sie durchschritten die gewundenen Korridore der prächtigen Glasstruktur und gelangten in einen Saal, der in mancher Hinsicht einem Operationssaal terrestrischer Krankenhäuser glich. Überrascht stellten sie fest, daß er genau das war. Sie nahmen ihre Sitze hinter dem Schutzgeländer ein. Unter ihnen lag auf einem Operationstisch ein Kind mit einem großen Unterleibsschnitt. Zwei Chirurgen waren zugegen. Einer von ihnen hob ein kleines, aus Fleisch bestehendes Objekt aus einem nahen Bad und fügte es geschickt durch den Schnitt ein. Sie beobachteten gebannt, wie das Organ durch Nähte mit dem Gewebe verbunden, winzige Blutgefäße verspleißt und Nerven aus angrenzenden Organen aufgeschlitzt und in die neue Masse eingeführt wurden. Illia umklammerte Underwoods Arm. Sie flüsterte: „Sie verpflanzen diese seltsamen Organe, die wir nicht identifizieren konnten. Sie werden nicht damit geboren!“ Die Operation nahm lange Zeit in Anspruch. Nachdem der Unterleibsschnitt geschlossen war, begann eine ähnliche Operation an der Basis des Gehirns, wobei auch dort ein Stück formlosen Fleisches eingesetzt wurde. Die Erdenmenschen konnten nicht begreifen, wie das Kind imstande war, den Schock so radikaler Eingriffe zu überleben, und doch wurden sie, wenn sie den Anzeichen Glauben schenken sollten, an jedem Kind durchgeführt, das auf dem Mond der draghorischen Welt geboren wurde. Jandro meinte: „Ihr habt jetzt unsere Technik gesehen. Wie verhält sie sich zu eurer?“ 100
Dreyer nickte unverbindlich. „Sehr ähnlich, nur haben wir es ratsam gefunden, die Gehirnoperation hinauszuzögern. Dadurch wird der Schock verringert und die Genesung erleichtert.“ „Du meinst die tri-abasa? Das ist also die Erklärung. Ich will offen sein. Ich habe versucht, seit eurer Ankunft eure epthalia zu entdecken. Ich habe mich über eure Gründe gewundert, sie zu verbergen, aber das ist natürlich eure eigene Angelegenheit. Es schien mir unmöglich, daß ihr eine Entdeckung verhindern könntet.“ „Ja“, erwiderte Dreyer einsilbig. Er berichtete seinen Gefährten über das Gespräch. „Ich glaube nicht, daß wir noch lange so weitermachen können, und ich halte es für unklug, ihn über das Fehlen dieser Organe bei uns aufzuklären. Jandro nimmt an, sie seien für jedes humanoide Leben notwendig. Er würde uns wahrscheinlich als untermenschlich betrachten.“ Underwood nickte. „Sagen Sie ihm also, wir wollten uns auf den Weg machen.“ Es war nutzlos gewesen, dachte er. Er wußte nicht, was Dreyer sich von ihrem Besuch versprochen hatte, aber soweit er, Underwood, sehen konnte, hatte er zu nichts geführt. Jandro führte sie aus dem Saal, und sie kehrten zu seinem Haus zurück. Dort verabschiedete sich Jandro von seiner Mutter und seiner Schwester und bestieg dann hinter Underwood den Scooter. Sie stiegen hoch in die Luft und wandten sich direkt zu dem Ort, an dem die Lavoisier lag. Jandro ließ sich nach außen durch nichts anmerken, daß ein solcher Flug für ihn ungewöhnlich war. Sie sichteten das Schiff nach wenigen Minuten. Ein 101
Teil der Mannschaft war im Freien versammelt. Sie kreisten über der Lichtung und landeten. Mason kam ihnen entgegen, als wäre er erleichtert, sie wiederzusehen. „Die Flotte Demarzules kehrt einwandfrei zur Erde zurück, noch schneller, als sie hierherkam“, meldete er. „Für einen weiteren Aufenthalt scheint kein Grund mehr vorhanden zu sein.“ Underwood nickte. „Wir starten.“ * In einer Entfernung von einer Viertelmillion Meilen begannen die Einzelheiten der alten Städte auf den großen Schirmen deutlich hervorzutreten. Phyfe war begeistert von dem Anblick. „Der Traum der Archäologen“, rief er. „Die lückenlose Erhaltung einer alten Zivilisation.“ „Ich verstehe nicht, wie die Atmosphäre vernichtet werden konnte, ohne daß sich beträchtliche Wirkungen auf dem ganzen Planeten ergaben“, meinte Underwood. „Es scheint nicht möglich. Warten Sie – da haben wir es!“ Am Horizont der Welt tauchte eine gewaltige Narbe auf, die wenigstens ein Achtel der Oberfläche des Planeten zu umfassen schien. Sie wirkte relativ flach, obgleich sie wußten, daß sie in ihrem Zentrum Meilen tief sein mußte, als wäre ein sengender Blitz niedergefahren und hätte in einer einzigen Lohe alle atmosphärischen Gase des Planeten verzehrt. Über Hunderte von Meilen wiesen die Städte und Ebenen der Umgebung Zeichen der Zerstörung auf. Lediglich auf der entgegengesetzten Seite 102
des Planeten waren die Bauwerke der alten Einwohner der Vernichtung entgangen. „Ich habe eine Ahnung“, kommentierte Underwood, „daß wir nur wenige Städte ohne beträchtliche Schäden vorfinden werden, aber das ist schon mehr, als ich zu hoffen wagte.“ Sie umkreisten den Planeten außer Sicht der weitentfernten Flotte und nahmen Dutzende von Bildern von den Ruinen auf, die sich unter ihnen erstreckten. An dem Punkt, der am weitesten vom Zentrum der Zerstörung entfernt war, lag eine der größten der unbeschädigten Städte. Sie nahm ein Gebiet von fast fünfhundert Quadratmeilen ein und wies in ihrer Mitte ein Areal auf, das aussah, als sei es ein Landeplatz für Schiffe gewesen. Underwood befahl, die Lavoisier dort aufzusetzen. Während Jandro auf den öden Planeten hinausblickte, drückten seine Züge die erste Spur einer Bewegung aus. Er starrte zu den verlassenen Ruinen hinüber, und seine Lippen bewegten sich. „Himmelswelt!“ murmelte er. Dreyer stellte sich neben ihn. „Es war nur ein Planet, auf dem Menschen lebten“, sagte er ruhig. „Vor langer Zeit trat eine Katastrophe ein, die ein Weiterleben hier für dein Volk unmöglich machte. Ein Teil entkam zum Mond und führte eure Zivilisation weiter. Das ist die Wahrheit hinter euren Legenden von der Himmelswelt.“ Jandro nickte langsam. „Und es bedeutet, daß wir unsere Welt niemals wieder in Besitz nehmen können. Ich glaubte, ich könnte mein Volk hierher zurückführen, der erste sein, der sein Erbe anträte – aber es gibt kein Erbe.“ „Dein Volk wäre dir niemals gefolgt“, versetzte Drey103
er, „selbst wenn der Planet alle deine Träume übertroffen hätte. Du weißt das, nicht wahr?“ Jandro fuhr überrascht herum, als hätte Dreyer seine geheimsten Gedanken gelesen. Dreyer schien es nicht zu bemerken. „In jeder Zivilisation gibt es Männer, die von Höherem für sich und ihre Welt träumen. Würde es dir helfen, wenn ich dir versichere, daß von allen Welten und Völkern, die die Menschen bei ihren Wanderungen durch die Leere gefunden haben, keines höher zivilisiert ist als das deine?“ „Eine Welt aus Glas?“ „Eine Welt, in der die Vollkommenheit des Einzelnen das vornehmste Gemeinschaftsanliegen ist. Aber das weißt du alles selbst. Gehen wir hinaus, um zu sehen, wie eure Himmelswelt aussah, als euer Volk hier lebte.“ In Raumanzüge gekleidet, begannen die Erdenmenschen aus dem Schiff zu strömen. Phyfe und Underwood dirigierten den Abflug der kleinen Erkundungsgruppen, die sich strahlenförmig in alle Richtungen bewegen sollten. Einer nach dem anderen erhoben sich die Scooter in den Himmel, wie Bienen, die von ihrem Korb aufstiegen. Underwood entschloß sich, mit Phyfe, Terry und Dreyer sowie Illia und Jandro die Gebäude in der unmittelbaren Nachbarschaft des Landeplatzes zu erforschen. Seitdem er in dem hastig umgeänderten Raumanzug, der ihm bei seiner Größe kaum paßte, aus dem Schiff getreten war, hatte Jandros Gesicht einen forschenden, fast fragenden Ausdruck angenommen, als wartete er darauf, daß die Erdenmenschen irgend etwas täten. Underwood beeindruckte diese seltsame Erwartung, 104
aber im Augenblick stürmte zu vieles auf ihn ein. Er lenkte die Aufmerksamkeit der anderen auf ein Gebäude, das eine Meile von dem Landeplatz entfernt wenigstens sechshundert Meter in den Himmel ragte und mit ihm durch eine lange Straße oder Rampe verbunden war. „Sehen wir uns das einmal an“, schlug er vor. Jandro öffnete zögernd die Lippen, als wollte er sprechen. Dann preßte er sie zusammen, und ein furchtsamer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Underwood empfand Verwunderung, verdrängte aber das Rätsel aus seinen Gedanken. Seine Augen ruhten auf dem gewaltigen Bauwerk, das sich vor ihm erhob. Er umflog es, bemerkte aber nirgends Fenster oder andere Öffnungen in den Wänden. Er ging bis auf Bodenhöhe hinunter und fand seine Gefährten am Rande der enormen Rampe, die in die Tiefen unterhalb des Gebäudes führte. Er bemerkte, daß sie nur zu viert waren. „Wo ist Jandro geblieben?“ Terry warf einen raschen Blick in die Runde. „Ich dachte, er hätte sich dir angeschlossen.“ „Nein. Wahrscheinlich untersucht er irgend etwas, das ihm bekannt vorkam. Verloren kann er kaum gehen. Wollen wir uns dort unten umsehen?“ Dreyer wies auf die Schienen, die aus der Tiefe heraufführten. „Möglicherweise haben wir einen unterirdischen Hangar für ihre Schiffe vor uns, eine Art Einschiffungsstation, von der aus die Schiffe auf den Startplatz gehoben wurden.“ Underwood betätigte die Kontrollen seines Scooters. Wenige Meter über der Oberfläche glitt er in den Schacht 105
hinein. Im Scheinwerferlicht des Scooters konnte er sehen, daß die Öffnung am Grunde annähernd fünfzig Meter im Durchmesser maß. Die anderen folgten ihm vorsichtig. Unten angekommen, verhielten sie, blickten zurück und schätzten die Tiefe unter dem großen Bauwerk über ihnen. Dann drang Underwood langsam in die Dunkelheit ein. Plötzlich wurde der Scheinwerferstrahl von Metall reflektiert. Underwood erhöhte die Geschwindigkeit und schwenkte den Scheinwerfer, bis er erkannte, daß sie sich bereits im Zentrum einer doppelten Reihe metallener Wände befanden. „Schiffe!“ rief er aus. „Sie hatten recht, Dreyer. Es konnte nichts anderes sein.“ Reihe um Reihe ungeheurer Schiffe füllte den Hangar aus, ragende Ellipsoide, deren Spitzen in der Dunkelheit verschwanden. Die Erdenmenschen entstiegen den Scootern und strebten auf das nächste Schiff zu. „Ist das dort eine Luke?“ fragte Phyfe, wobei er nach oben deutete. Underwood starrte in die Richtung, die ihm die Taschenlampe des Archäologen wies. Und plötzlich ergoß sich grelles Licht aus allen Teilen des Hangars über sie. Laufende Gestalten waren schwach erkennbar. Die Erdenmenschen fuhren erstaunt und von plötzlicher Furcht gepackt herum. Eine Stimme widerhallte rauh in ihren Ohren: „Im Namen Demarzules, des Großen – stehenbleiben und Waffen fallen lassen!“ * 106
Die Erkenntnis ihres Fehlers brach mit zermalmender Wucht über alle zugleich herein. Jede Möglichkeit hatten sie in Betracht gezogen – nur nicht die einer Besatzung, die von der terrestrischen Flotte auf dem Planeten zurückgelassen worden war. Erneut hatten sie Demarzule unterschätzt! Underwood stellte plötzlich seine Sprechanlage auf volle Kraft, um die anderen Gruppen zu erreichen, und rief in das Mikrophon: „Hier Underwood. Wir werden von Demarzules Besatzung angegriffen. Verteidigt…“ Ein Lachen unterbrach ihn. „Sie würden sich zweifellos gern verteidigen, wenn sie könnten, aber sie sind so hilflos wie ihr. Glaubt ihr, den allwissenden Verstand des Großen überlisten zu können? Er wird erfreut sein, die zu sehen, die sich mit ihm zu messen wagten. Und er wird mit seinen Dienern zufrieden sein, die euch zurückbrachten.“ Underwood konnte den Sprecher nicht sehen, weil die Scheinwerfer ihn blendeten, aber jetzt trat eine der mit Raumanzügen bekleideten Gestalten vor und machte eine gebieterische Geste. „Zurück in euer Schiff!“ befahl der Mann. „Wir werden zur Erde fliegen, sobald wir euch alle beisammen haben. Schlagt euch alle Gedanken an Flucht aus dem Kopf. Allein in dieser Stadt übertreffen wir euch zehnfach an Zahl, und diejenigen von uns, die an anderen Orten Wache hielten, werden binnen kurzem zu uns stoßen. Unsere Flotte hat die Meldung von unserem Erfolg bereits erhalten und wird sofort umkehren, um uns zurückzubegleiten.“ 107
Keiner der anderen sprach, aber sie umgaben die Wissenschaftler wachsam, als sie gezwungen wurden, die lange Rampe hochzusteigen. Die Scooter blieben zurück. Wieder auf der Oberfläche, sahen sie sich wenigstens zwei Dutzend der Jünger des Großen gegenüber. Sie hatten ihre Pläne mit offensichtlicher Sorgfalt getroffen, zweifellos von Demarzule mit Karten versehen, und ihre Besatzung auf strategische Punkte verteilt, von denen anzunehmen war, daß die Wissenschaftler sie zuerst erforschen würden. Sie näherten sich langsam der Lavoisier, und während sie sich bewegten, bemerkten sie andere Gruppen, die von der gegenüberliegenden Seite des Landeplatzes zurückgeführt wurden. Das Schiff war bereits besetzt worden. Es konnte nicht schwierig gewesen sein, vermutete Underwood. Jede Gestalt, die sich näherte, würde für einen zurückkehrenden Wissenschaftler gehalten worden sein. Underwood und seine Gruppe wurden in die Schleuse getrieben, gefolgt von vier Wächtern mit schußbereiten Waffen. Sie mußten sich der Raumanzüge entledigen und wurden an andere Männer übergeben, nachdem die Schleuse sich geöffnet hatte. Underwood fühlte sich krank, als er beobachtete, wie Illia weggeführt wurde, um in ihrer eigenen Kabine eingeschlossen zu werden. Die Männer wurden in einem anderen Raum zusammengepfercht, und das Geräusch der zufallenden Tür wirkte wie ein Schlußstrich unter alle ihre Hoffnungen. Für Augenblicke sahen sie sich schweigend an. Schließlich lachte Terry bitter auf. „Es scheint, als hätten wir diesmal den Anschluß verpaßt. Selbst wenn wir einen 108
Ausweg aus dieser Mausefalle finden, sind die Schlachtschiffe der Flotte auf dem Weg hierher.“ Geräusche drangen undeutlich aus anderen Teilen des Schiffes, aber die Männer konnten keines davon identifizieren. Underwood ging zu einem Stuhl in der Ecke des Raumes hinüber und setzte sich. Er versuchte, zu überlegen. Er fragte sich, was in den anderen vorging. Phyfe, auf eine Koje geworfen, schien zu resignieren. Terry bewegte sich unruhig. Dreyer saß zusammengesunken in der entgegengesetzten Ecke, und die Rauchwolken aus seiner Zigarre entzogen ihn fast der Sicht. Während seine Gedanken gingen, nahmen Underwoods Sinne die Laute, die sich durch die metallischen Wände fortpflanzten, allmählich schärfer wahr. Er wurde sich plötzlich bewußt, daß er versuchte, die Geräusche zu identifizieren und voneinander zu trennen. Eines von ihnen durchdrang alle anderen, aber es war nicht das Scharren von Füßen auf dem stählernen Boden oder das Knallen zuschlagender Luken. Es wirkte eher wie eine Stimme, so fern, daß sie sich kaum vernehmen ließ. Minuten hindurch pochte es an der Schwelle seines Bewußtseins, bevor er sich eingestand, daß es nicht nur in seiner Einbildung existierte. Sein Blick glitt von einem seiner Gefährten zum nächsten, und er fragte sich, ob sie die Stimme ebenfalls vernommen haben mochten. Dann unterschied er zum erstenmal Worte. „Männer von der Erde“, rief die leise Stimme. Underwood sprang auf. Terry wandte ihm den Kopf zu. „Hast du es auch gehört?“ erkundigte er sich. 109
Underwood nickte. „Ich könnte schwören, daß jemand in diesem Raum gesprochen hat. Da – jetzt wird es lauter!“ Während sie sich fragend anstarrten, wurde in der Mitte des Raumes ein flackernder Lichtschein sichtbar. Er nahm verschwommene Form an, schwankte und krümmte sich wie eine Zeichnung auf einem Blatt Papier, mit dem der Wind sein Spiel treibt. Dann schien er sich zu festigen. Er wies humanoide Gestalt auf, war größer als ein Mensch und von kupferner Hautfarbe. „Jandro!“ rief Underwood. Das Bild verschwamm und flackerte von neuem. „Wie ist das möglich?“ murmelte Phyfe. Underwood wußte, daß dieses Abbild nicht real sein konnte. Es war ein identischer Eindruck, den Jandro in ihren Gehirnen hervorrief. Auf irgendeine seltsame Weise vermochte er mit ihnen in Verbindung zu treten. „Ich weiß nicht, ob ihr mich hören könnt“, sagte die Stimme Jandros in ihren Gedanken. „Ich sehe und höre euch, und euer Verhalten deutet darauf hin, daß ihr euch meiner Gegenwart bewußt seid. Ich spreche zu euch mittels der abasischen Sinne. Ich weiß jetzt, daß ihr die abasischen Organe weder besitzt noch ihre Funktion erfaßt. Es hatte mich verwirrt, daß ihr sie nicht anwandtet. Was oder wer ihr seid, kann ich nicht erkennen. Ihr seid selbstverständlich keine Menschen, denn diese können ohne abasa nicht existieren. Ihr liefertet den Beweis, daß ihr sie nicht besitzt, als ihr euch in die Falle locken und gefangennehmen ließt. Ich verstand das nicht, denn ich spürte eure Gegner in dem Augenblick, als das Schiff die Oberfläche des Planeten berührte. 110
Unsere alten Mythen und Legenden erzählen von Geschöpfen wie euch, Tieren, die imstande waren, ohne die abasa zu leben, aber nirgends sprechen sie ihnen die Intelligenz zu, die ihr an den Tag legtet. Demnach ist Metall nicht nur allein den non-existenten Göttern vorbehalten – es ist selbst Wesen wie euch gegeben. Deshalb will ich mit euch ein Übereinkommen treffen. Ihr sollt mir helfen, meinem Volk die alte Wissenschaft und die Metallkultur, die ihm versagt geblieben ist, zu vermitteln. Ich werde euch dafür bei der Überwältigung eurer Feinde helfen. Seid ihr einverstanden?“ „Wo bist du?“ fragte Underwood. „Ihr könnt meine Gedanken erfassen, aber ich verstehe eure Sprache nicht“, entgegnete Jandro. „Es gibt nur eine Antwort“, wandte sich Dreyer an seine Gefährten. „Sind alle mit ihr einverstanden?“ Die anderen nickten, und Dreyer erklärte in Jandros Sprache: „Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht.“ „Ich fühle, daß ihr intelligent genug seid, um euer Wort zu halten“, versetzte Jandro. „Wenn der nächste eurer Gegner den Raum betritt, werde ich ihn überwältigen, so daß ihr euch seiner Waffe bemächtigen und euer Gefängnis verlassen könnt. Ich werde danach bei euch sein, wenn ihr mich auch nicht seht. Jetzt will ich die anderen aufsuchen.“ Die Erscheinung und die Stimme waren plötzlich verschwunden, und die vier Männer sahen sich an, als erwachten sie aus einem Traum. „Die Organe, die man in sie verpflanzt, geben ihnen also telepathische Fähigkeiten“, sann Terry. „Seltsam, 111
daß er nicht schon im ersten Augenblick argwöhnisch wurde, als wir uns durch gesprochene Worte unterhielten.“ Das Klicken des Türschlosses ließ sie erstarren. Einer der Jünger betrat den Raum und blieb im Eingang stehen, um sie zu mustern. Er eröffnete ihnen formell: „Im Namen des Großen wird euch befohlen, vor dem Kommandanten zum Verhör zu erscheinen. Ihr werdet…“ Seine Augen schienen zu verglasen, während unerträgliche Qual über sein Gesicht zuckte. Für einen Augenblick stand er leblos und starr, dann fiel er langsam zu Boden. 10. Kapitel Underwood ergriff die Waffe, die den Fingern des Mannes entglitten war. Vorsichtig näherte er sich der offenen Tür. Der vor ihm liegende Korridor war leer. „Sie und Dreyer bleiben hier“, instruierte er Phyfe hastig. „Terry und ich werden versuchen, den Kontrollraum zu erreichen. Wenn wir diesen sogenannten Kommandanten gefangennehmen und uns des Schiffes bemächtigen können, werden Sie innerhalb der nächsten Stunde von uns hören. Andernfalls wird es an Ihnen liegen, einen weiteren Versuch zu unternehmen.“ Die älteren Männer nickten. Lautlos glitt Underwood mit Terry um die Ecke. Die übrigen Türen auf dem Korridor waren sämtlich geschlossen. Underwood drückte den Knopf, der das Schloß für den anstoßenden Raum auslöste. Die Tür öffnete sich und enthüllte Roberts, einen der Ärzte, sowie die drei Männer, aus denen seine Gruppe bestanden hatte. 112
„Underwood!“ rief Roberts. „Was ist geschehen?“ Underwood bedeutete ihm, leise zu sprechen, und erklärte in wenigen Worten das Vorgefallene. „Versuchen Sie, sich Waffen zu verschaffen. Die Flurschränke müßten einige Strahler enthalten. Versuchen Sie, die Schleusen gegen weitere Jünger zu halten, bis wir das Schiff in der Hand haben. Wir haben keine Ahnung, wie viele von ihnen hier sind.“ Die Männer nickten, froh, etwas gegen den Feind unternehmen zu können. Der nächste Raum war leer. Sie dachten zunächst, der anstoßende wäre es ebenfalls und wollten sich schon entfernen, als Terry ausrief: „Dort! Auf dem Boden!“ Einer ihrer Männer lag verkrümmt da. Sein Hemd war auf dem Rücken verbrannt und mit Blut bedeckt. Er sah auf und lächelte schwach, als sie auf ihn herunterblickten. „Hallo, Doktor“, flüsterte er. Es war Armstrong, einer der Ingenieure. „Was ist geschehen?“ forschte Terry. „Haben Sie versucht, Widerstand zu leisten?“ Die Antwort kam langsam. „Nein. Es war eine Art Lektion, scheint mir. Der Kommandant – Rennies nennen sie ihn – widmete mir seine persönliche Aufmerksamkeit.“ „Wissen Sie, wie viele von ihnen an Bord sind?“ „Ungefähr zwanzig überwältigten uns zu Anfang. Wir wunderten uns schon, warum so viele Gruppen auf einmal zurückkamen. Sessions und Treadwell im Maschinenraum wurden sofort erschossen und eine ganze Anzahl verwundet, als sie versuchten, sich zur Wehr zu set113
zen. Sie sind die einzigen, von denen ich Genaueres weiß. Rennies hat sein Hauptquartier im Kontrollraum aufgeschlagen, aber mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.“ „Es reicht“, tröstete ihn Underwood. „Wenn wir uns organisieren können, werden wir mit zwanzig fertig. Halten Sie aus; wir bringen Ihnen so bald wie möglich Hilfe.“ Der Ingenieur lächelte, und seine Augen schlossen sich. Underwood und Terry erreichten die Waffenschränke und stellten zu ihrer Erleichterung fest, daß die Angreifer die dort aufbewahrten Strahler nicht entfernt hatten. Underwood wählte sich eine zweite Waffe; Terry nahm ein paar an sich. „Ich wünschte, wir würden wieder von Jandro hören“, bemerkte Terry. „Vielleicht hilft er der Gruppe bei den Schleusen. Es scheint, daß wir hier auf uns selbst gestellt sind.“ Sie kamen zum Ende des Korridors. Der Gang verzweigte sich und formte ein U um den Kontrollraum, weil die Navigationsgeräte auf der Achse des Schiffes liegen mußten. „Trennen wir uns“, schlug Underwood vor. „Auf diese Weise können wir von zwei Seiten angreifen.“ „Gute Idee“, stimmte Terry zu. Er verglich seine Uhr mit der Underwoods. „In genau sechzig Sekunden kannst du zu feuern beginnen.“ Sie entfernten sich voneinander und eilten in entgegengesetzte Richtungen davon. Als Underwood die Biegung erreichte, hinter der er 114
dem Eingang zum Kontrollraum direkt gegenüberstehen würde, verhielt er und horchte. Fußtritte bewegten sich sorglos hin und her. Nur einer, dachte Underwood. Er trat um die Ecke und feuerte. Der Schuß traf den Mann in die Brust, verhinderte aber nicht, daß sich ein wilder Schrei seiner Kehle entrang. Underwood sprang über den gestürzten Körper, bevor er aufgehört hatte, sich zu bewegen. Aus dem Innern des Kontrollraums erklang verwirrtes Geschrei und geschriene Befehle. Underwood sah zwei Gestalten auf die Tür zurennen. Er feuerte zweimal und warf sich dann zu Boden. Der erste Mann brach vor den Füßen des zweiten zusammen, aber dieser war nur leicht verwundet. Noch im Fallen hob er seine Waffe gegen Underwood, der erneut schoß. Der Strahl verfehlte sein Ziel und rötete das Metall der entfernten Wand des Raumes für einen Augenblick. Underwood wagte nicht, sich zu bewegen. Die winzige Ecke, die die Vereinigung der runden Tür mit dem rechteckigen Korridor schuf, gewährte ihm kaum Deckung. Schüsse aus dem Kontrollraum kamen jetzt näher. Er spürte die Hitze, die sie in dem metallenen Boden hervorriefen. Während er versuchte, sich noch weiter in die Ecke hineinzuschieben, kam jemand anders in seinen Gesichtskreis. Es war eine eindrucksvolle, militärische Gestalt, zweifellos Commander Rennies, denn seine schroffe, hochmütige Stimme befahl einem der Männer, vom anderen Ende des Schiffes Unterstützung anzufordern. Dann erstarrte der Kommandant plötzlich. Selbst Underwood konnte das Starren erkennen, das seine Augen verglaste. Jandro? 115
Die anderen in dem Raum sahen das gleiche, hörten das Krachen, mit dem der schwere Körper zu Boden stürzte. Die Überraschung lähmte die Jünger für einen Augenblick, lange genug für Underwood, um seine Waffe zu heben und auf seinen Gegner zu feuern. Der Mann zuckte zusammen und fuhr mit einem überraschten Ausdruck auf dem Gesicht hoch, ehe er starb. Und dann zuckte ein zweiter Schuß auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes auf und traf einen der Verteidiger. Terry war endlich erschienen! Underwood seufzte erleichtert auf. Er hatte gefürchtet, daß Terry überwältigt worden war. Anscheinend war der Archäologe auf Widerstand gestoßen, hatte sich aber durchgeschlagen. Terry und Underwood drangen gleichzeitig in den Kontrollraum ein. Nur noch einer der Jünger war imstande, sich zur Wehr zu setzen. Strahlen aus beiden Waffen durchkreuzten den Raum und trafen ihn mit tödlicher Gewalt. Underwood bemerkte zu seinem Schrecken, daß Terrys linker Arm von der Schulter bis zum Handgelenk blutbedeckt war. „Terry! Du bist verletzt!“ „Mein erster Schuß saß nicht genau. Schon in Ordnung. Was jetzt?“ „Wir können Chlortriptanat in die Luftanlage kippen und damit das Schiff säubern“, schlug Underwood vor. „Ich werde es holen“, erbot sich Terry, „und außerdem Mesarpin als Gegengift. Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, kannst du nachsehen kommen.“ 116
„Du bleibst hier“, lehnte Underwood ab. „Dein Arm braucht Schonung.“ „Deine Anwesenheit hier ist wichtiger. In fünf Minuten bin ich wieder hier.“ Terry verschwand in Richtung des Operationssaales. Underwood ließ sich müde auf einen Sitz sinken – und wurde sich plötzlich des starren, toten Blicks der Augen von Commander Rennies bewußt, der auf dem Boden lag. Sein Name war Underwood verschwommen bekannt gewesen, und er wußte jetzt, warum. Rennies hatte auf dem Gebiet interstellarer Kriegsführung beachtlichen Ruhm erlangt. Er war ein fähiger Führer, intelligent, belesen – und doch ebenso verwundbar gegenüber Demarzule wie der unwissendste Jünger. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Terry mit den Chemikalienbehältern aus dem medizinischen Laboratorium kam. „Geschafft!“ keuchte er. Er bückte sich und befeuchtete einen Streifen seines Hemdes mit einer der Flüssigkeiten. Nachdem er ihn abgerissen hatte, hielt er ihn für einen Augenblick an seine Nase und gab ihn dann an Underwood weiter. Anschließend öffnete er die Lüftungsklappe und goß den Inhalt der anderen Flasche hinein. Die Flüssigkeit verdampfte schnell und gelangte über die Ventilatoren in jede Kammer des Schiffes. Nach zehn Minuten waren alle an Bord, außer den beiden, die das Gegenmittel eingeatmet hatten, ohnmächtig. Während sie warteten, starrte Underwood nachdenklich auf den toten Rennies. „Ich frage mich, wie Jandro tötet“, kleidete er seine Überlegungen in Worte. „Kann es 117
eine Verteidigung gegen diese lautlose Kraft geben? Hast du schon daran gedacht, was das in Hinsicht auf Jandros Volk und die Gesellschaftsform, in der es lebt, bedeutet?“ Terry nickte. „Eine Zivilisation, in der über dem Kopf eines jeden die heimliche Waffe seines Nachbarn schwebt. Es scheint unglaublich, daß sie überhaupt existiert.“ „Sie setzt zweifellos eine Stabilität und ein individuelles Verantwortungsgefühl voraus, wie es bei uns niemals vorhanden war und wahrscheinlich auch nie sein wird.“ „Vielleicht eines Tages.“ „Und noch etwas anderes hängt damit zusammen“, wechselte Underwood das Thema. „Hier könnte sich uns ein Ausweg bieten.“ „Was meinst du damit?“ „Angenommen, einer von uns hätte die Kraft, die Jandro besitzt. Das wäre die Waffe gegen Demarzule, die wir brauchen.“ Terry zögerte. „Wir werden sie kaum erlangen – und wenn, dann kämen wir niemals nahe genug an Demarzule heran, um sie einzusetzen.“ „Nein? Wir könnten uns von der Flotte gefangennehmen und zurückschaffen lassen. Ich vermute, daß Demarzule uns lebend will. Es würde seinem Charakter entsprechen, sich persönlich an unserer Niederlage zu ergötzen. Dann brauchten wir ihn nur noch zu beseitigen, wie Jandro es mit Rennies tat.“ „Du vergißt, daß Demarzule die gleichen Organe und die gleiche Kraft besitzt. Und außerdem haben wir doch keine Möglichkeit, sie zu erlangen.“ 118
Underwoods Gesicht rötete sich erregt. „Darüber bin ich mir noch nicht klar, aber es muß einen Weg geben. Es sieht so aus, als wäre das die einzige Hoffnung, die uns geblieben ist, um den Fremden zu vernichten. Wir müßten die gesamte Flotte überwinden, um unsere Suche nach der dragborischen Waffe fortzusetzen, und dabei haben wir keine Chance.“ „Hoffentlich hast du recht. Inzwischen dürfte das Betäubungsmittel gewirkt haben. Erwecken wir also unsere Männer wieder zum Leben und gehen an die Arbeit.“ Sie sahen ihre Waffen nach und verließen den Kontrollraum. Kein Laut erklang im ganzen Schiff außer ihren Fußtritten, die im Korridor widerhallten. Systematisch gingen sie von Kabine zu Kabine und hielten ihren Männern die angefeuchteten Tücher unter die Nase. Dreyer und Phyfe waren die ersten. Mason und seine Mannschaft fanden sie im anschließenden Raum. Illia wurde von Underwood behutsam ins Bewußtsein zurückgerufen. „Ich habe angenehm geträumt“, lachte sie, als sie auf ihrer Koje saß. „Ich wußte, daß ihr die Lavoisier zurückerobert hattet, sobald der erste Hauch Triptanat durchkam.“ „Noch haben wir das Schiff nicht in der Hand. Die Hauptflotte wird in wenigen Stunden eintreffen und uns in die Enge treiben. Die meisten von uns sind jetzt wieder bei Bewußtsein, mit Ausnahme einer großen Gruppe bei den Schleusen. Würdest du dich Armstrongs annehmen? Er liegt schwerverletzt in B 05.“ Illia nickte. „Ich werde mich um ihn kümmern.“ Sie trennten sich im Korridor, und Underwood eilte 119
mit Terry zu den Heckschleusen weiter. Sie stießen auf eine Gruppe von Männern. Die Männer wandten sich um, als sie ihre Schritte vernahmen, und gaben ihnen den Weg frei. Ein Bild des Todes erstreckte sich vor ihnen. Körper von Wissenschaftlern und Jüngern lagen Seite an Seite auf dem Boden, unter ihnen Roberts, der Arzt, sowie Parker und Muth, zwei der Chemiker. Drei andere waren nicht zu identifizieren. Sechs von Underwoods Leuten und fünf Jünger waren gefallen, bevor das Gas dem Kampf ein Ende gesetzt hatte. Underwood winkte Terry, der bereits die Mannschaftsliste überprüft hatte. „Hast du festgestellt, wer fehlt?“ „Peters, Atchison und Markham scheinen die drei Toten zu sein, die unkenntlich sind“, erwiderte Terry. „Und natürlich Jandro. Keiner hat etwas von ihm gehört oder gesehen, seit er Rennies tötete.“ „Wir müssen ihn finden, sonst können wir gleich hierbleiben“, rief Underwood bestürzt. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich sah ihn in seinem übergroßen Raumanzug vor einer Minute von den Schleusensichtplatten aus“, meldete sich Captain Dawson. „Wenn er getötet worden ist …“ Underwood hastete zur nächsten Sichtscheibe. Er schaltete sie ein und suchte die Gegend um das Schiff ab. Jünger liefen durcheinander und wagten nicht, ohne Befehl ihres Kommandanten ihre AtomstromWaffen zu benutzen, um den Zugang zu erzwingen. „Dem Heck zu“, zeigte Dawson. „Dort!“ Es war unverkennbar Jandro, der da lag. Ein Energie120
strahl hatte den oberen rechten Teil seines Raumanzuges geschwärzt und ein Loch darin gerissen. „Wenn die selbsttätigen Verschlüsse gewirkt haben, ist er vielleicht noch zu retten“, sagte Underwood. „Dawson, treiben Sie den Mob mit dem großen Atomstrom zurück und werfen Sie eine Energiehülle über Jandro, damit wir ihn hereinschaffen können.“ Dawson eilte in den Kontrollraum, unterwegs nach seinen Maaten und Ingenieuren rufend. Underwood blieb bei der Platte und beobachtete das Geschehen. Abrupt wandten sich die Jünger um und flohen. Die blaue Strahlung des Atomstroms spielte um das Schiff, schuf Raum. Dann verschwand das Bild der alten Stadt und der flüchtenden Jünger, als die undurchdringliche Energiehülle um das Schiff gelegt wurde. Mason und zwei seiner Männer standen bereits in Raumanzügen in der Schleuse. Sie öffneten sie, sobald die Hülle sich stabilisierte. Die drei Männer erreichten den Dragborer und hoben ihn behutsam auf eine Bahre. Sie wußten nicht, ob er am Leben oder tot war, als sie ihn ins Schiff trugen. Underwood suchte zunächst Akers auf, den nächst Illia geschicktesten Chirurgen, und befahl ihm, alles für eine Operation vorzubereiten. Dann machte er sich auf die Suche nach Illia. Er fand sie in dem Raum, in dem Armstrong lag. Sie erhob sich von den Knien, als er eintrat. „Ich konnte nichts mehr für ihn tun“, sagte sie. „Ich blieb bei ihm, bis er starb. Brauchst du mich irgendwo?“ „Ja. Jandro wurde draußen angeschossen. Ich habe Akers schon informiert, aber vielleicht ist es doch besser, du operierst selbst. Jandro ist der Schlüssel zu unserem 121
Erfolg. Wenn er noch lebt, muß er am Leben erhalten werden.“ Illia sah ihn fragend an, versetzte dann aber nur: „Ich werde mein Bestes tun.“ Jadros Wunde war grausig anzusehen; sie hatte die Brust in ihrer ganzen Breite aufgerissen. Während Jandro im Operationssaal lag, berief Underwood eine allgemeine Versammlung ein. Er umriß kurz die Situation und kam dann auf seine Idee zu sprechen, die Organe und Kräfte einzusetzen, die Jandro besaß, und sich von der Flotte gefangennehmen zu lassen. „Als letzter Ausweg klingt es nicht schlecht“, gab Mason zu. „Aber Sie haben noch nicht erklärt, wie Sie zum Mond zurückgelangen wollen, um diese Dinge von den Dragbora zu erhalten.“ „Das ist die einzige Lücke in meinem Plan“, entgegnete Underwood. Dann fügte er wild hinzu: „Und sie muß geschlossen werden! Deshalb habe ich euch hier zusammengerufen. Wir müssen die Antwort gemeinsam finden. Sie ist unsere letzte Chance, Demarzule Einhalt zu gebieten.“ Mason sprang auf. „Es muß noch Stunden dauern, bis die Flotte eintrifft. Vielleicht haben wir Zeit genug, einen Feldgenerator zurechtzubasteln und hier eine Attrappe aufzubauen, um die Jünger glauben zu machen, wir würden uns darunter verbergen, während wir tatsächlich zum Mond fliegen.“ „Das ist es!“ rief Underwood. „Nur werden wir den Planeten umrunden müssen, damit wir nicht von der Garnison entdeckt werden. Aber sonst …“ Die Sprechanlage unterbracht ihn. Illia meldete sich: 122
„Wir sind fertig, Del. Jandro lebt, aber in einer Stunde wird er tot sein. Wenn du ihn sprechen willst, tust du es am besten gleich.“ Underwood eilte ohne Zögern zur Tür. „Wir handeln nach Ihrem Plan, Mason. Übernehmen Sie den Befehl. Dreyer, Phyfe – kommen Sie bitte mit.“ Sie hasteten zu dem Raum, der an den Operationssaal stieß. Jandro lag bewegungslos im Bett, ohne etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Nur Illia und Akers befanden sich bei ihm. Beim Anblick der starren Gestalt überwältigten Mitleid und Schmerz Underwood und schalteten für einen Augenblick alle anderen Gedanken aus. Er fühlte, daß er allein von allen Erdenmenschen die innere Rebellion, die Träume und die Hoffnungen verstehen konnte, welche die Triebkraft in Jandros Leben gewesen waren. Und dies war ein armseliges Ende für solche hochgespannten Träume – Tod von den Händen wahnwitziger Fanatiker auf der Himmelswelt, die sich als alles andere erwiesen hatte. Underwood dachte an den grünen, leuchtenden Mond, auf dem die Dragbora in Frieden miteinander lebten. Der Mond, den Jandro niemals wiedersehen würde. Jandros Augen öffneten sich langsam, und allmählich trat Erkennen in sie. Dreyer sagte leise: „Es tut uns leid. Wenn es in unserer Macht stünde, dich zurück zu deiner eigenen Welt und deinem eigenen Volk zu bringen, würden wir es tun. Ich hoffe, du weißt das.“ „Natürlich“, antwortete Jandro langsam. „Ich würde gern meine seea-abasa mit denen meiner Ahnen vereinigt sehen, bis zu dem Tag, an dem das Leben wieder123
kehrt. Aber vielleicht wird dieser Tag niemals eintreten. Er ist nur ein leerer Wahn, wie der Traum von unseren Göttern. Was den Tod angeht, so ist er jedem Menschen sicher. Wie oder wann er kommt, ist unwichtig. Es ist seltsam für mich, den Kummer von Tieren über einen Menschen zu beobachten. Seltsam …“ „Wir wissen nicht viel voneinander“, schaltete sich Underwood ein, „aber vielleicht verstehst du uns mittlerweile gut genug, um zu wissen, daß wir deine Hilfe gegen unsere – und eure Gegner benötigen. Vor vielen Jahrhunderttausenden lebte eine Rasse, Sirenier genannt, welche der Todfeind deiner eigenen Rasse, der Dragbora, war. Wie ihr besaßen sie die abasa, aber anstatt in Frieden zu leben, gingen sie daran, andere Welten und Galaxen zu erobern. Zuletzt wurden sie von deinem Volk vernichtet, das irgendeine geheimnisvolle Waffe sein eigen nannte, die jede Schutzvorrichtung der Sirenier durchdrang. Wir kamen zu eurem Planeten, um einen Anhaltspunkt für diese Waffe zu finden, weil einer der Sirenier überlebte und jetzt auf unserer eigenen Welt wütet. Er hat sich der Herrschaft über unser Volk bemächtigt und steht im Begriff, die Galaxen mit Tod und Zerstörung zu überschwemmen. Mit der Zeit wird er auch eure kleine Welt entdecken. Die Zivilisationen vieler Milchstraßen werden um Jahrhunderte zurückgeworfen werden. Wir haben die Waffe nicht gefunden, deretwegen wir kamen, und unsere letzte Chance ist dahin, denn die Flotte Demarzules, des Sireniers, wird binnen kurzem über uns sein. Wir haben nur noch eine Hoffnung. Wir nehmen an, daß seine Männer Befehl haben, uns 124
gefangenzunehmen und vor ihn zu bringen. Könnten wir mit der Zerstörungskraft, die in den abasa liegt, in seine Nähe gelangen, so wären wir vielleicht imstande, ihn zu töten. Kannst du – willst du – es uns möglich machen, diese Kraft dadurch zu erlangen, daß auf deiner eigenen Welt die abasa in einige von uns verpflanzt werden?“ Dreyer übersetzte so schnell wie möglich die rasch gesprochenen Worte Underwoods, während Jandro mit geschlossenen Augen dalag. Erst nach langer Zeit schlug er sie langsam wieder auf. Seine Stimme war so leise, daß Dreyer sich vorbeugen mußte, um seine Worte zu verstehen. „Es ist eine sonderbare Geschichte, die du erzählst“, flüsterte er, „aber ich habe den Eindruck, daß sie der Wahrheit entspricht. Was deine Bitte betrifft – nein. Es wäre vollkommen unmöglich, euch frische abasa zu geben, wie es mit den Kindern unserer Rasse geschieht. Nicht, daß ich es nicht einigen wenigen von euch ermöglichen würde, sie zu empfangen, wenn ich könnte, aber der Gebrauch der abasa ähnelt dem der Geh- oder Sprechwerkzeuge. Die Organe müssen lange Jahre hindurch aus ihren rudimentären Anfängen entwickelt werden, und ihre völlige Beherrschung stellt sich langsamer als jede andere Fertigkeit ein. Obgleich sie uns im Kindheitsstadium eingesetzt werden, sind die meisten von uns völlig erwachsen, bevor sie bedeutende Geschicklichkeit in ihrem Gebrauch erlangen. Aus diesem Grunde allein wäre es für euch nutzlos, die Organe zu besitzen.“ Über dem Bett trafen sich Underwoods Augen mit denen Illias und hielten sie für einen endlosen Augenblick 125
fest. In ihnen suchte er Kraft, um die niederschmetternde Enttäuschung zu ertragen. Illias Augen gaben ihm die Versicherung, daß ein Weg gefunden werden würde. „Demarzule ist ein äußerer Faktor, der in unsere Evolution nicht einkalkuliert war“, versetzte Underwood. „Wir haben keine Verteidigungsmöglichkeit gegen ihn. Wenn die tödliche Kraft, die die abasa bergen, dazu benutzt werden könnte, ihn zu vernichten, hätte unsere Rasse ihre einzige Chance, diese Drohung abzuwehren. Deinen Worten zufolge ist dies unmöglich. Es bedeutet für uns keine Hoffnung gegen eine Barbarei, die unsere Zivilisation zerstören und unser Volk zu Tieren machen wird, ganz zu schweigen davon, was sie für die anderen Zivilisationen der Galaxis bedeutet – einschließlich deiner eigenen.“ Außer dem Geräusch ihres Atmens war kein Laut in dem Raum zu vernehmen. Die Erdenmenschen wichen sich mit ihren Blicken aus, starrten auf die geschlossenen Augen Jandros. „Euer Volk hat die Geißel Demarzule kaum verdient“, überlegte Jandro langsam. „Und was du von dem übrigen Universum sagst, ist wahr. In gewisser Hinsicht sind die Dragbora verantwortlich. Demarzule ist ein Produkt der sirenisch-dragborischen Kultur. Meine Ahnen hätten sich von der völligen Auslöschung des sirenischen Zweiges überzeugen sollen. Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit für uns, euch zu helfen.“ „Du kannst helfen?“ fragte Underwood ungläubig. „Ich habe nicht mehr lange zu leben. Es wäre der Mühe wert, wenn ich in der Stunde, die mir noch bleibt, die Aufgabe der Vernichtung vollenden – oder zumindest 126
euch dazu befähigen könnte. Soweit ich weiß, ist es noch niemals versucht worden, aber vielleicht könnten meine eigenen abasa in einen von euch verpflanzt werden.“ Dreyer übersetzte das Angebot. Underwood zog scharf den Atem ein. Neue Hoffnung leuchtete in seinen Augen auf. „Damit wäre einer von uns Demarzule gewachsen. Illia …“ Ihr Antlitz war plötzlich bleich. „Es ist unmöglich, Del! Ich kann eine derartige Operation nicht ausführen, ohne mich vorher jemals mit ihren Methoden vertraut gemacht zu haben. Ich kann es nicht tun.“ „Du mußt, Illia. Ich verlasse mich auf deine Geschicklichkeit.“ „Das ist ein lächerliches Argument. In einem solchen Fall besitze ich keine Geschicklichkeit.“ Als spürte er die Bedeutung ihrer Worte, sprach Jandro plötzlich. „Ihr werdet Schwierigkeiten haben, eine erfolgreiche Verpflanzung durchzuführen, weil ihr mit der Anatomie der abasa. nicht vertraut seid, aber ich kann euch dabei helfen. Ich kann eure Hände bis zu dem Punkt lenken, an dem ihr die Nerven zu der tri-abasa zertrennt. Es wird euch gelingen, wenn ihr mir vertraut.“ * Underwoods Blick wich nicht von Illia. Ihr Gesicht war weiß. „Ich werde es versuchen, Del“, sagte sie. Minuten nach der Entscheidung rollten Assistenten die Tische, auf denen die verhüllten Gestalten Underwoods und Jandros lagen, in den Operationssaal. 127
Die Erregung, die Illia beherrscht hatte, war verschwunden, als sie Underwood gegenübertrat. Underwood lächelte zu ihr auf, als ihm das Betäubungsmittel eingespritzt wurde. „Wenn ich aufwache, werde ich dir erzählen, wie man sich als Dragborer fühlt.“ Auf dem benachbarten Operationstisch bereitete Akers Jandro für den Eingriff vor, der die abasischen Organe bloßlegen mußte. Dann erreichte jeden von ihnen der unausgesprochene Befehl, ihre Gehirne Jandro zu überlassen. Es war eine unvorstellbare, unirdische Erfahrung, aber sie entspannten ihre Sinne, und allmählich fluteten die lenkenden Impulse aus dem dragborischen Gehirn auf sie ein. Mit wachsender Schnelligkeit führten Akers und Illia die Einschnitte in die Körper vor ihnen aus. Ihre Hände bewegten sich sicher, als sähe Jandro mit ihren Augen und arbeitete mit ihren Fingern. Underwoods pulsierendes Gehirn war freigelegt. Illia konzentrierte sich für einen Augenblick, während Instruktionen von Jandro zu ihr flossen. Dann schnitt das elektronische Skalpell eine unblutige Bahn durch einen Lappen unbenutzten Gewebes. Sie bewegte sich zu dem benachbarten Tisch hinüber und blickte in Jandros geöffneten Schädel. Seine Worte erreichten sie. „Dies ist der letzte Schritt. Weiter kann ich nicht bei euch sein. Befolgt meine Weisungen, und es wird euch gelingen.“ Blitzartig fluteten unbegreifliche Erklärungen in ihr Gehirn, bleibende Photographien von der restlichen Ope128
ration und der, die noch folgen mußte, um die beiden abdominalen Organe zu verpflanzen. Illia wußte, daß jedes Bild zu seiner Zeit wiederkehren und ihre Hände auf unbekannten Bahnen lenken würde. „Fahrt fort!“ befahl Jandro plötzlich. „Ich ziehe mich in die seea-abasa zurück. Lebt wohl!“ Die Bilder hörten auf zu fließen, und Illia fühlte sich plötzlich allein, wie ein Kind, das sich in einem tosenden Sturm verirrt hat. Jetzt hing alles von ihrer eigenen Geschicklichkeit und den telepathischen Instruktionen ab. Sie schwankte für einen Augenblick und flüsterte: „Del – Del!“ Akers beobachtete sie scharf, während sie auf das fremde Organ starrte, das in der Hirnschale des toten Dragborers lag. Aber es war nicht fremd. Sie kannte seinen Aufbau und die komplexen Nervenstränge, die es mit dem Gehirn verbanden. Sie standen so klar vor ihr, als hätte sie sich Jahre hindurch mit ihnen befaßt. Ihr Skalpell trat in den Einschnitt und trennte mit seiner Spitze das Gewebe von den weißen Nervenkanälen, die das abasischen Organ versorgten. Eine Stunde hindurch, und dann eine weitere, beobachtete Akers in ungläubiger Faszination, wie Illia die zwölf selbständigen Nervenstränge abtrennte, dann die Arterie abklemmte und die Blutgefäße mit der chemischen Lösung füllte, welche die Zellen ernähren würde, bis Underwoods Blut hindurchströmen konnte. Zum Schluß blieb nur noch das Zerschneiden der verbindenden Gewebe, die das Organ an seinem Platz hielten. Illia trennte sie durch und fuhr mit den Händen in die 129
schützende Verbindung, die nach Jandros Anweisungen zubereitet worden war. Sie massierte das Organ damit ein und hob es heraus, stieß es dann schnell in die entsprechende Höhlung in Underwoods Hirnschale. Damit war diese Phase der Operation noch nicht halb vorüber. Blutgefäße mußten an das neue Organ herangeführt und die zwölf Nerven mit dem Vagusstrang verbunden werden. Zwei weitere Stunden vergingen, bevor die letzten Nähte die Wunde in Underwoods Schädel schlossen. Als sie endlich die Nadel weglegte, zitterte Illias Hand plötzlich, und sie flog am ganzen Körper. „Können wir die anderen nicht verschieben?“ fragte Akers. „Sie können unmöglich so weitermachen.“ „Ich fürchte, die Gewebe entarten zu schnell, wenn wir zögern. Füllen Sie mir eine Spritze mit Neostren und injizieren Sie sich selbst die gleiche Dosis. Wir operieren weiter.“ Akers war willig, aber er glaubte nicht, daß Illia weitere Stunden aufreibender Konzentration durchhalten würde. Nachdem sie sich jedoch das Stimulans eingespritzt und ihm einen Augenblick Zeit gelassen hatte, zu wirken, trat sie zurück an die Operationstische, um die abdominale Operation durchzuführen. Im Kontrollraum warteten die Gruppenführer in nervenzerrüttender Untätigkeit auf Nachricht. Schließlich warf Terry einen besorgten Blick auf die Uhr. „Es sind jetzt mehr als dreizehn Stunden vergangen, seitdem Underwood in den Operationssaal gefahren wurde. Sollten wir nicht besser Illia fragen …“ „Es gibt nur zwei Möglichkeiten“, unterbrach ihn 130
Dreyer. „Erfolg oder Fehlschlag. Unsere Fragen können nichts zum Erfolg beitragen, also bleiben wir wenigstens aus dem Wege.“ Mason beobachtete angstvoll das Nahen der Flotte. Die Schiffe waren kaum weiter als zehn Minuten von dem Planeten entfernt. Wie von einer einzigen Hand gelenkt, drehten sie langsam an dem schwarzen Himmel bei, als ihre Navigatoren die leuchtende Blase entdeckten und ansteuerten, die den Ort der Energiehülle verriet, unter der sich die Lavoisier verbarg. Für die Männer, die aus ihrem Innern die Flotte verfolgten, war es ein bedrückender Anblick, als die zwanzig mächtigen Schiffe in plötzlichem Sturzflug herunterglitten. Gleichzeitig richteten sich Dutzende von Atomströmen auf die Blase, offensichtlich nicht in der vergeblichen Hoffnung, sich durch die Schutzhülle zu brennen, sondern, um die winzigen außenliegenden Sonden zu zerstören und das Schiff am Verlassen des Planeten zu hindern. Im Weltraum, wo das Schiff wenden und sich verteidigen konnte, wäre es nicht so einfach gewesen, die Sonden zu vernichten. So aber wuschen die Feuerströme über jeden Quadratmillimeter der Hülle und machten die Transmitter der Lavoisier blind. Mason trat zurück, als eine Platte nach der anderen dunkler wurde und sie schließlich vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten waren. Er wandte sich zu den anderen und deutete auf die toten Platten: „Das wäre es.“ Der Bann, der sie auf ihren Plätzen festhielt, wurde Minuten später durch Illias Stimme in der Sprechanlage gebrochen. „Die Operation ist beendet.“ 131
11. Kapitel Das Bewußtsein pochte an Underwoods Sinne wie die drängende Stimme eines unsichtbaren Sprechers. Sie rief ihn aus den Tiefen der Ewigkeit zurück in das Reich von Kampf und Realität. Seltsamerweise klang sie wie Jandros Stimme. Er öffnete die Augen. Illia war da, ihre Züge bleich und übernächtigt. Aber als er sie ansah, glänzten ihre blauen Augen, und sie beugte sich über ihn. „Del! Oh, Del …!“ Terry, Phyfe, Mason und Akers standen neben dem Bett und beobachteten ihn besorgt. Schmerz durchzuckte ihn brennend, aber er brachte ein schnelles Lächeln zustande. „Es sieht so aus, als hätten wir es geschafft“, bemerkte er. „Jetzt wüßte ich gern, was ich mit diesen Werkzeugen anfangen kann. Glaubst du, daß sie arbeiten werden, Illia?“ Sie richtete sich auf und war wieder die kühle Ärztin. „Du wirst dich noch eine Weile gedulden müssen. Vorläufig werde ich dich für vierundzwanzig Stunden ausschalten. Gib mir deinen Arm.“ Sie griff nach einer Spritze, die auf einem Tisch neben dem Bett lag. Ihm war, als stolperte er durch das Dunkel und versuchte, einem unsichtbaren Verfolger zu entkommen. Aber plötzlich wußte Underwood, daß er nicht zu laufen brauchte. Das Schlafmittel blockierte seine Sinne, aber es konnte die abasischen Organe nicht beeinflussen, wenn er es nicht wollte. Er blieb stehen und ließ seinen Körper 132
unter sich zurück. Er hatte das Gefühl, heraustreten und auf sich selbst herunterblicken zu können. Und dann tat er genau das! Er konnte den Raum sehen, die beobachtenden Wissenschaftler und Illia, die sorgfältig seinen Herzschlag und seine Atmung prüfte. Er sah sich selbst mit geschlossenen Augen liegen. Seltsamerweise vermochte er seinen Standpunkt nicht zu bestimmen. Er glaubte für einen Augenblick, er befände sich irgendwo unter der Decke, aber auch das traf nicht zu, denn er war imstande, die Decke ebenso zu erkennen wie den Boden oder die vier Wände. Die Szene wirkte wie ein Bild, das von einer Linse mit einem Aufnahmevermögen von dreihundertsechzig Grad photographiert war. Er fragte sich, ob es ihm möglich war, den Raum zu verlassen. Er versuchte es. Für einen Moment ergriff ihn Entsetzen, er könnte zwischen den Metallplatten gefangen bleiben, aber dann war er hindurch. Er wandte sich zum Kontrollraum und fand ihn nur von Dreyer besetzt, der in dem Navigatorensitz lehnte und ruhig seine Zigarre rauchte. Underwood wollte sich mit dem Semantiker in Verbindung setzen, aber er wußte nicht, wie er es anfangen sollte. Es war, als versuchte er, mit einem Mund voll trockenen Zwiebacks zu sprechen. Aber Dreyer zuckte plötzlich zusammen. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und sah sich verblüfft nach einem unsichtbaren Sprecher um. „Dreyer, können Sie mich hören?“ „Underwood! Sie haben Erfolg gehabt!“ „So ungefähr. Bis jetzt ist es das gleiche Gefühl, als 133
watete ich durch tiefen Schlamm, aber allmählich gewöhne ich mich daran.“ „Das ist wunderbar – wunderbar!“ flüsterte Dreyer. „Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, daß ich Ihre Stimme jemals wieder hören würde. Wo sind Sie?“ „Das ist eine schwere Frage. Theoretisch liege ich bewußtlos im Bett. Praktisch scheine ich überall im Schiff umherwandern zu können. Seltsamerweise kann ich keinen Standpunkt festlegen. Ich scheine nirgendwo zu sein. Aber dadurch rückt etwas in den Bereich der Möglichkeit, an das wir vorher nie gedacht haben.“ „Nämlich?“ „Wir können immer noch nach der dragborischen Waffe suchen, deretwegen wir hierherkamen. Ich kann mit diesen neuen Sinnen das Schiff verlassen. Ich weiß nicht, ob ich imstande bin, den ganzen Planeten zu überqueren, aber andernfalls kann das Schiff mir folgen, um in Reichweite meiner Kräfte zu bleiben.“ „Ich frage mich nur, ob das in Gegenwart der Flotte möglich sein wird – oder wußten Sie nicht, daß sie eingetroffen ist?“ Dreyer deutete auf die leeren Sichtplatten. „Ich wußte es nicht. Was tut sie jetzt?“ Underwood erkannte augenblicklich die Sinnlosigkeit der Frage. Dreyer konnte nicht mehr darüber wissen als er, denn jede Verbindung mit der Außenwelt war abgeschnitten. Mit aller Kraft schleuderte er sich durch die Hülle des Schiffes, hinaus in die gegensätzliche Welt glühender Hitze und eisiger Kälte. Wie aus der Höhe des Raumes überblickte er die Weite des dragborischen Planeten und die Flotte Demarzules. 134
Underwoods Sinne wehrten sich gegen das, was er sah. Flammende Zerstörung umgab das Schiff auf allen Seiten. Die große Stadt der Dragbora war von den zwanzig Schiffen in geschmolzene Trümmer verwandelt worden. Die Flotte kreiste langsam, die machtvollen Strahlen ihrer Atomströme auf die Gebäude unter ihr gerichtet. Unter Underwoods Augen vollendeten sie ihr Werk und flogen zu einer anderen großen Stadt, die weniger als hundert Meilen entfernt lag. Welcher Zweck sich hinter dieser sinnlosen Zerstörung verbarg, konnte Unterwood nur erraten. Vielleicht hofften die Terrestrier jetzt, da die Wissenschaftler in die Enge getrieben waren, die Superwaffe zu vernichten, die Demarzule aus dem Sattel heben konnte. Er wandte seine Sinne der Energiehülle zu, hinter der die Lavoisier sich verbarg. Von der gesamten Stadt war ihre leuchtende Oberfläche allein der Zerstörung entgangen. Während Underwood sie betrachtete, traf ihn wie ein Schock die Erkenntnis. Er – seine Sinne zumindest – hatte die undurchdringliche Energiehülle passiert. Plötzliche Furcht mischte sich in die erschreckende Klarheit. Konnte er zurückgelangen? Wie hatte er die Barriere beim ersten Male durchquert? Es war mathematisch unmöglich für Materie oder Energie, sie zu passieren. Verkörperten seine Sinne weder das eine noch das andere? Er warf sich gegen die Hülle, wartete auf den Anprall – und empfand keinen. Dann war er hindurch, blickte auf das Innere der Barriere und das Schiff. 135
Seine Gedanken wirbelten unter dem Eindruck der Bedeutung seiner Entdeckung, als er in den Kontrollraum gelangte. Die anderen hatten sich Dreyer wieder zugesellt. Mason und einige seiner Männer bemühten sich, einige der Sonden zu erneuern, nachdem der Angriff auf das Schiff für den Augenblick eingestellt worden war. „Wir haben sie gefunden!“ rief Underwood. „Wir haben die Waffe, die Dragbor gegen Sirenia einsetzte!“ Illias überreizte Nerven ließen sie entsetzt aufschreien. Mason fuhr herum und rief: „Underwood! Wo sind Sie?“ „Wir können sie treffen, wo immer sie sich zu verbergen suchen“, ergänzte Underwood ruhiger. „Wohin auch Demarzule flieht, ich werde ihn finden. Es gibt keinen Ort im Universum, wohin er mir entkommen kann!“ Underwoods physischer Körper erholte sich nur langsam von dem Schock der Operation. Die Schmerzen machten ihm jedoch kaum zu schaffen, denn mit den abasischen Organen schien er einen zweiten Körper zu besitzen. Er konnte sein normales Wahrnehmungsvermögen ausschalten und nur durch die Sinne existieren. Allmählich erfaßte er ihre Eigentümlichkeiten und einige ihrer Funktionen. Die tri-abasa, die in seiner Schädelbasis lag, war das Sinnesorgan, das die gleichen Empfindungen wie jeder seiner normalen fünf Sinne registrierte. Die dor-abasa diente zur Verbindung mit der Außenwelt, arbeitete aber mit der tri-abasa bei der Übermittlung und Aufnahme von Sinneseffekten zusammen. Diese beiden Organe waren imstande, schnell und lautlos zu töten. 136
Wie das geschah, stellte das größte Geheimnis dar, welches Underwood zu lösen hatte. Er stellte Versuche an, indem er seine Kräfte gegen ein künstliches Nervensystem schleuderte, das aus einem Netzwerk von Drähten aufgebaut worden war. Ein starkes elektrisches Feld wurde zwischen den Drähten gemessen. Underwood experimentierte weiter und fand, daß er die Stärke dieses Feldes mit jedem Male vergrößern konnte. Das dritte Organ, die seea-abasa, war das seltsamste von allen. Durch Nervenstränge eng mit den beiden anderen verbunden, besaß es jedoch keine offenbaren Funktionen. Jandro hatte es als Behälter des Lebens bezeichnet. Es schien der Glaube der Dragbora zu sein, daß alle Eigenschaften, die das Individuum ausmachten, in die seea-abasa gezogen werden konnten, wenn der Tod nahte. Am dritten Tage nach der Operation war Underwood imstande, sich für wenige Augenblicke von seinem Lager zu erheben, obgleich er mittels der abasischen Sinne die ganze Zeit hindurch die Arbeit im Laboratorium geleitet hatte. Er fühlte, wie seine Fähigkeiten fast stündlich wuchsen, und der Ausblick auf die neue Welt physischer und mentaler Kräfte, in die er eintrat, war überwältigend. Er ahnte andere neue und unerprobte Eigenschaften der Organe, die er noch nicht zu erproben wagte. Dazu würde Zeit sein, wenn sie die Erde erreichten. Der Flug der terrestrischen Schlachtschiffe war genau verfolgt worden. Ihre Zerstörung der alten Städte war zu dem Zeitpunkt vollendet, als Underwood wieder aufstehen konnte. Der Beobachter berichtete, daß die Schiffe wendeten und zur Lavoisier zurückkehrten. 137
„Wir sehen zu, daß wir in den Raum kommen“, bestimmte Underwood. „Es gibt keinen Grund, warum wir hier noch länger bleiben sollten, und ich möchte nicht, daß sie uns erneut alle Sonden wegbrennen, wenn es sich vermeiden läßt.“ Die Lavoisier erhob sich von der Oberfläche des Planeten. Ziel ihres Kurses war die Erde, mehr als neunzig Millionen Lichtjahre entfernt. Die Energiehülle um das Schiff funkelte wie ein neuer Stern, und durch die Sonden beobachteten sie, wie die Flotte ihre Verfolgung aufnahm. Underwood verließ das Schiff und ließ seine Sinne durch den umgebenden Weltraum schweifen. Hinter der Lavoisier kamen die zwanzig mächtigen Schlachtschiffe, ihre Beschleunigung hoch genug, um die Lavoisier zu überholen. Impulsiv trieb Underwood auf das nächste gegnerische Schiff zu und betrat es durch die Hülle. Es war das gigantische Flaggschiff Creagor. Während Underwood sich ungesehen unter seinen Gegnern bewegte, vernahm er gelegentliche Bemerkungen, deren Gegenstand die Lavoisier und ihre Wissenschaftler bildeten. Gotteslästerer und Ungläubige waren noch die schwächsten Bezeichnungen. Er erreichte den Kontrollraum, wo der Admiral mit dem Kommandanten des Flaggschiffes konferierte. „Wir haben unsere Befehle, Captain Montrose“, sagte der Admiral gerade. „Die Vernichtung des Schiffes und seiner Mannschaft muß vollständig sein.“ „Damit ist die Instruktion, Gefangene zu machen, also überholt?“ Der Admiral nickte. „Die entsprechenden Anweisun138
gen werden sofort an alle Schiffe ergehen. Wir werden mit dem neuen Energieschirm-Disruptor angreifen.“ Underwood erstarrte bei diesen Worten. Hatte Demarzule ein Mittel gefunden, die Energiehülle zu durchdringen? Sie war der einzige Schutz, den die Lavoisier besaß. Ihre eigenen Atomstrom-Projektoren würden gegen die zwanzig Schiffe nutzlos sein. Underwood hörte, wie die Befehle erteilt wurden. In dem gesamten Schlachtschiff füllte prickelnde Spannung die Luft. Underwood vermutete, daß die Waffe zum ersten Male gegen einen Gegner eingesetzt werden sollte. Die Männer dürsteten danach, zu töten. Auf der Suche nach den Maschinen, die auf die Lavoisier gerichtet werden würden, eilte Underwood hastig durch das Schiff. Er glaubte immer noch nicht daran, daß irgend etwas die Energiehülle zum Zusammenbrechen bringen könnte. Als er jedoch die Waffen erblickte, wußte er, daß das Ende einer Ära gekommen war, die gelernt hatte, sich auf die Energiehülle als Schutz zu verlassen. Er beobachtete die Bedienungsmannschaften an den komplizierten Kontrollinstrumenten, welche die Energiezufuhr und die Einstellung der Radiatoren auf das ferne Ziel regelten. Underwood folgte der Lavoisier, um zu sehen, welche Wirkung der Angriff zeitigen würde. Die Energiehülle um das Schiff glühte schwach, blaßrosa, als die zwanzig Strahlen sich auf ihr vereinigten. Noch war kein Resultat zu erkennen, aber plötzlich rötete sich die Hülle an einem Punkt, als das Energiefeld schwächer wurde. In diesem Moment verstand Underwood die Arbeits139
weise des Disruptors. Er durchdrang die Hülle nicht. Das war unmöglich. Aber er brachte die Kräfte, die das Feld zusammenhielten, aus dem Gleichgewicht und rief eine Rotation innerhalb der Hülle hervor. Diese wiederum schuf einen gewaltigen Energiestrom, der durch die Generatoren an Bord der Lavoisier jagte und sie binnen kurzem ausbrennen würde, womit das Schiff eine wehrlose Beute wäre. Es blieb keine Zeit mehr, die Lavoisier aufzusuchen und die Mannschaft zu warnen. Sofort kehrte Underwood zu der Creagor zurück. In den Tiefen des Schiffes fand er den Ingenieur, der die Strahlen gegen die Lavoisier lenkte. Mit aller Kraft seiner abasischen Organe jagte er einen entsetzlichen Energiestoß in die Nervenkanäle des Mannes. Das Resultat war erschütternd für jemand, der nicht gewohnt war, zu töten. Der Mann fuhr steil in die Höhe, taumelte und fiel gegen die Schalter der Kontrolltafel. Die komplexe Maschinerie des Disruptors stotterte und stand endlich still. Underwood suchte den nächsten Teil des Schiffes auf, in dem die machtvollen Atomströme auf ihre Beute warteten. Behutsam streckte er die Fühler der dor-abasa aus. Er vermeinte fast zu spüren, wie er sich durch die Nervenstränge in dem Körper des Operateurs bis zu den Tiefen des Gehirns vortastete. Dort sandte er einen plötzlichen, erbarmungslosen Befehl aus. Der Operateur drehte übergangslos die Räder, welche die Radiatoren bewegten. Sie wiesen auf das nächste Schiff der Flotte. „Feuer!“ kommandierte Underwood. 140
Die Finger des Mannes schlossen sich über den Schaltern. Der Atomstrom griff in den Raum, zerfetzte die Engeweide des Schwesterschiffes und riß die Bruchstücke in den Raum. Sie prallten teilweise gegen andere Schiffe beschädigten sie oder warfen sie von ihrem Kurs. Für Augenblicke nach der Katastrophe waren die Flottenkommandeure wie betäubt, während in den Menschen Verwirrung um sich griff. Die hysterischen Schreie des Operateurs erfüllten den Raum. „Ich tat es nicht“, kreischte er. „Etwas zwang mich…“ Einige der Schiffe griffen immer noch die Lavoisier an. Underwood, der nicht wußte, wie lange sie standhalten würde, eilte zu dem nächsten Schiff und fand die Feuerkontrollkammer. Er tastete sich durch die Nervenkanäle des Operateurs und drehte die Projektoren. Diesmal war das mächtige Schlachtschiff das Ziel. Der Operateur keuchte entsetzt, als die titanische Hülle in seinem Visier erschien, aber seine Hände zentrierten die Strahler mit unfehlbarer Sicherheit auf das Ziel. Seine Finger drehten die Schalter. Lautlos erblühte der Flammenball, wo der Gigant sich vorher befunden hatte. In der ganzen Flotte erloschen die Sichtplatten, um die Überbelastung zu kompensieren. Als sie wieder aufleuchteten, zeigten sie das treibende, hilflose Wrack des Heckdrittels. Das unmittelbare Ziel war erreicht. Die Disruptorstrahlen erloschen, während die achtzehn Schiffe auf die beiden geschwärzten Hüllen zuliefen, um etwaige Überlebende an Bord zu nehmen. Underwood ergriff die Gelegenheit und zerstreute seine Kräfte, bis sie die Flotte umfaßten. Dann sprach er, und 141
jeder in den mächtigen Schiffen vernahm seine Stimme. „Männer der Erde! Ihr habt der Macht Demarzules, des Sireniers, Treue geschworen. Jetzt werdet ihr einer Macht den Treueid leisten, die groß genug ist, um Demarzule vom Angesicht der Zivilisation zu vertilgen. Ich habe eure Kameraden mitten unter euch getötet und zwei eurer gewaltigsten Schiffe zerstört – und doch hat mich keiner von euch gesehen, und keiner weiß, wie es möglich ist, daß er meine Stimme hört. Ihr habt eure Rasse an einen Fremden verkauft, der Welten vernichtet und Milchstraßen in Trümmer gelegt hat. Ihr habt euch des Hochverrats an der Menschheit schuldig gemacht. Was könnt ihr tun, um solche Schande von euch abzuwaschen? Ihr könnt euch den Kräften anschließen, die das Ungeheuer Demarzule austilgen werden! Ihr könnt die Führerschaft einer größeren Macht anerkennen – oder vernichtet werden. Wählt!“ Für einen Augenblick herrschte betäubtes Schweigen im Innern der Schiffe, dann erhob sich ein Lärm, der minutenlang anhielt. Underwood kehrte mittlerweile in den Kontrollraum der Lavoisier zurück. Dort fand er ein verzweifeltes Chaos vor. Rasch erklärte er den Wissenschaftlern, was geschehen war, und schloß: „Im Moment sind wir obenauf, aber ich weiß nicht, was werden soll, wenn sie sich wieder zusammenfinden. Akzeptieren sie mein Ultimatum nicht, dann stecken wir in der Klemme.“ „Und wenn sie es akzeptieren – was sollen wir mit einer ganzen Flotte von Fanatikern und Dummköpfen anfangen?“ 142
„Wir brauchen jetzt jedes Schiff, dessen wir habhaft werden können. Zweifellos haben sie die Katastrophe gemeldet, bevor ich mich an sie wandte. Demarzule weiß, daß wir kommen, und er wird uns Abfangkräfte entgegenschicken. Wenn wir diese Schiffe in die Hand bekommen, können wir sie gegen unsere Angreifer werfen und uns vielleicht durch die terrestrischen Sperren schleichen.“ Er hatte kaum geendet, als Captain Dawson eintrat. „Ein Funkspruch von der Flotte. Sie bieten uns bedingungslose Übergabe.“ 12. Kapitel So eilte die reorganisierte Flotte mit der kleinen Lavoisier als Flaggschiff erneut der Erde entgegen. Während die langen Tage im Raum verstrichen, verwandelten Physiker und Ingenieure die Lavoisier in ein tödliches Kriegsschiff. Neue und mächtige Atomstrom-Projektoren wurden installiert und massive Disruptoranlagen eingebaut. Und während unglaubliche Geschwindigkeiten sie durch den Raum schleuderten, bewegte sich Underwood mittels der abasiscben Sinne von Schiff zu Schiff, prüfte, verhörte und siebte die Mannschaften. Er sprach täglich zu ihnen, zeitweise ermahnend, zeitweise befehlend, immer aber mit einer deutlich unterstrichenen Macht, die sie respektieren mußten. Die meisten hungerten mit neurotischem Verlangen nach einer Führung und waren bereit, sich den Wissenschaftlern unterzuordnen. Sie kreuzten die Marsbahn, als der Kampf begann. Der Ausguck meldete, daß mehr als zwanzig schnelle Inter143
zeptoren die Erde verlassen hatten und in ihre Richtung flogen. Die Entropiedissipatoren waren bereits an der Arbeit, um einen Bruchteil der Beschleunigung zu absorbieren, welche die Flotte durch die Weiten des Raumes getragen hatte, aber als sie das Herz des Solarsystems erreichte, war ihre Geschwindigkeit vom solarischen Standpunkt aus immer noch unermeßlich. Die Interzeptoren konnten sich unmöglich dieser Schnelligkeit in so kurzer Zeit anpassen, aber eine Welle glitt auf einem Kurs heran, der sie fast zu rammen drohte, und das konzentrierte Feuer ihrer Disruptoren und Atomströme schlug der Flotte entgegen. Die Wirkung war jedoch unbedeutend, als die Flotte vorbeiraste, wobei ihre eigenen Waffen flammten. Das bedeutete jedoch nichts. Wollte die Lavoisier eine Landung versuchen, so mußte sie ihre Geschwindigkeit herabmindern, die sie bereits über die Erde hinausgetragen hatte. Underwood kehrte in den Kontrollraum der Lavoisier zurück und nahm wieder von seinem Körper Besitz. „Ich bin jetzt sicher, daß meine Reichweite mit den abasischen Organen wenigstens achtzigtausend Meilen beträgt, und sie erweitert sich beständig“, sagte er befriedigt. „Wie willst du vorgehen?“ fragte Terry. „Wollen wir zu landen versuchen oder Demarzule angreifen, ohne herunterzugehen?“ „Ich denke, wir werden im Raum sicherer sein. Wenn wir in eine Kreisbahn von fünfzigtausend Meilen um die 144
Erde einbiegen und uns so lange halten können, bis ich Demarzule gefunden habe, müßte unsere Erfolgschance eigentlich am größten sein.“ Underwoods Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, obgleich niemand glaubte, daß sie imstande sein würden, die kommenden Angriffe lange abzuwehren. Aber sie sagten sich, daß ihr eigenes Leben jetzt nicht wichtig war. Underwood mußte eine Möglichkeit erhalten, die abasischen Waffen gegen Demarzule einzusetzen. Die dahinrasende Flotte wendete, nachdem sie die Erde passiert hatte. Während die Geschwindigkeit der Flotte sank und diese selbst in eine immer enger werdende Spirale einbog, stießen die Interzeptoren zum zweitenmal auf sie herunter. Die donnernde Masse der Flotte hielt ihren Kurs. Ströme von Energie ergossen sich aus den großen Strahlern in den Raum. Drei der Interzeptoren explodierten, bevor ihre Schutzschirme sie einhüllten. Die Schlacht entwickelte sich zu einem phantastischen Ringen zwischen fast unbesiegbaren Kräften. Sowohl die Atomströme als auch die Disruptorstrahlen konnten nur durch eine Lücke in der Energiehülle verfeuert werden; eine solche Öffnung aber war wiederum für das gegnerische Feuer verwundbar. Deshalb bestand bei ähnlich ausgerüsteten Flotten die Kampftechnik darin, blitzschnell Radiator auf Radiator einzusetzen, so daß keine Öffnung lange genug existierte, um dem Feind ein Ziel zu bieten. Der einzige Vorteil der Interzeptoren lag demgegenüber in ihrer Manövrierfähigkeit. Sie zuckten zwischen den Schlachtschiffen hin und her, und ihre Strahlen gin145
gen in alle Richtungen. Der Zufall begünstigte sie mitunter, und ihre Atomströme trafen eine Lücke. Ein solcher Augenblick genügte, um das Schiff zu zerstören, ungeachtet der Schnelligkeit, mit der die Öffnung geschlossen wurde. Und so sahen Underwood und seine Gefährten eines ihrer großen Schlachtschiffe in einer Nova atomischen Feuers explodieren. Von der Erde stieg ein Dutzend weiterer Interzeptoren auf, und hinter ihnen erhob sich langsam und schwerfällig eine Flotte von fünfzig Großkampfschiffen mit gewaltiger Feuerkraft. „Welchen Radius hat unsere Kreisbahn im Augenblick?“ fragte Underwood abrupt den Navigator. „Sechzigtausend.“ „Übernehmen Sie, Mason“, befahl Underwood. „Ich gehe.“ Diese Worte trafen sie alle wie ein Schlag, obgleich sie versucht hatten, sich darauf vorzubereiten. * Underwood ließ sich in dem tiefen Sitz nieder, der seinen Körper halten würde, während seine abasischen Sinne auf der Erde weilten. Es war mehr als Gerechtigkeit, dachte er, mehr als Ironie. Es war sein Privileg, einen Teil der Schuld zu tilgen, von der er wußte, daß er sie niemals aus seinen Gedanken verbannen konnte – der Schuld, Demarzule zum Leben erweckt zu haben. Er lag scheinbar entspannt mit geschlossenen Augen in dem Sitz im Kontrollraum der Lavoisier, aber sein Wesen, die Kraft, die Delmar Underwood war, schwebte 146
sechzigtausend Meilen entfernt über der Energiekuppel, die das Carlson Museum verbarg. Und im gleichen Augenblick dröhnte das Alarmsignal durch den Kontrollraum, erfüllte ihn mit seiner mörderischen, beharrlichen Botschaft: „Wir sind getroffen! Generatoren drei und vier ausgefallen!“ Underwood hatte das Gefühl, kopfüber auf die Menge zuzustürzen, die sich um die weißen, leuchtenden Säulen des Gebäudes versammelt hatte, als die Energiehülle davor in die Höhe glitt und die Schlachtflotten in den Raum starteten. Sie beobachtete, wartete auf das Unbekannte, das Ungewisse, fühlte irgendwie, daß sich hier ihr Schicksal entschied. Die Tausende verschwanden aus Underwoods Gesichtskreis, während er die schützende Hülle durchstieß. Die Dunkelheit in ihrem Innern wurde von lodernden Lichtern erhellt, die ihre Strahlen auf das Museum warfen, welches in einen gewaltigen Palast verwandelt worden war. Wachen und Diener bewegten sich allenthalben über das Gelände. Underwood betrat das Gebäude. Die Maschinen und Instrumente waren aus der Haupthalle verschwunden, ersetzt durch kostbare Gemälde und Wandteppiche aus den Schätzen der Erde. Niemand war zu erblicken. Underwood kam durch eine Reihe großer Ausstellungsräume, in denen sich offensichtlich Verwaltungsstellen niedergelassen hatten, um den notwendigen persönlichen Kontakt zwischen Demarzule und den Jüngern, die er regierte, herzustellen. Schließlich erreichte er den zentralen Teil des Gebäudes, und hier traf er auf Demarzule. 147
Er empfand einen unwillkürlichen Schock, als er das fremde Wesen erblickte, dem er das Leben wiedergegeben hatte. Wie er in dem thronähnlichen Sessel an einer Wand des Raumes saß, erschien der Große wie die verwitterte Bronzeskulptur einer jener mythenhaften Inkarnationen des Bösen. Nur das Weiß seiner Augen zeigte, daß Leben in der reglosen Gestalt war. Underwood hatte die zwanzig Erdenmenschen nicht erwartet, die in brütendem Schweigen vor Demarzule saßen und einen Halbkreis um ihn bildeten. Kein Wort fiel zwischen ihnen, und Underwood beobachtete sie verwundert. Dann rührte sich Demarzule langsam. Seine weißen, starrenden Augen bewegten sich, wanderten durch den Raum. Seine Worte erreichten Underwood. „So bist du also doch gekommen“, hob er an. „Du forderst Demarzule, den Großen, mit deinen schwachen Kräften heraus. Ich kenne dich, Delmar Underwood. Man sagte mir, du seiest es gewesen, der mich fand und wiedererweckte. Ich schulde dir viel, und ich hätte dir eine hohe Stellung in meinem Reich geboten, welches das Universum umfassen wird. Und doch stellst du dich gegen mich! Aber ich bin gnädig. Du kannst immer noch wählen.“ Demarzules Rede verkörperte einen lähmenden Schock. Underwood hatte sich nicht bemerkbar gemacht, und doch hatte der Fremde seine Anwesenheit gespürt. Durch die abasa empfand er die Macht Demarzules, die vollen Möglichkeiten, die in drei Organen lagen, Möglichkeiten, an die er in den vergangenen kurzen Wochen kaum gerührt hatte. 148
Für einen Augenblick drohte ihn Furcht vor der fast sicheren Niederlage zu übermannen. Dann schlug er mit aller Kraft zu. Niemals zuvor hatte er einen so vernichtenden Blitz geschleudert, und mit Befriedigung fühlte er, wie Demarzule erzitterte und schwankte, aber der Große absorbierte den Strahl und erholte sich nach einem Augenblick wieder. „Du bist ein würdiger Gegner“, versetzte er. „Du hast viel in so kurzer Zeit erreicht, aber ich fürchte, es genügt nicht. Noch einmal wiederhole ich mein Angebot. Als mein Statthalter könntest du über viele Milchstraßen herrschen.“ Underwood schwieg und konzentrierte seine Energien auf einen neuen Stoß, dem Demarzule sicherlich nicht standhalten konnte. Er spürte, wie der lebensvernichtende Strom von ihm ausging. Demarzules bronzenes Gesicht lächelte nur sardonisch, als er dem Angriff begegnete – und ihn absorbierte. „Wenn du erschöpft sein wirst“, bemerkte er, „werde ich meine eigenen Kräfte unter Beweis stellen – aber langsam, damit der Tod dich nicht zu schnell erlöst.“ Ein drittes Mal stieß Underwood zu, und dann kam ihm die plötzliche, schreckliche Erkenntnis, daß es nicht Demarzule war, der die Energie aufsaugte. Sie wurde abgelenkt, bevor sie dem Sirenier auch nur nahe kam. In beginnender Panik suchte Underwood nach der Ursache dieser Ablenkung und fand sie in den zwanzig Erdenmenschen, die bewegungslos um Demarzule saßen. Demarzule schien zu wissen, daß Underwood die Tatsache erkannt hatte. „Ja“, erläuterte er, „wir haben die 149
abasa dupliziert. Krebs ist verbreitet unter euch. In fünftausend Jahren würdet ihr gelernt haben, ihn nicht zu bekämpfen, sondern zu kontrollieren. Du wärest nicht gekommen, hättest du gewußt, daß du als einzelner so viele bekämpfen mußt, nicht wahr? Jetzt ist es zu spät!“ Beim letzten Wort überschwemmte Underwood eine Welle paralysierender Kraft. Welche Sinne sie angriff, wo sie ihn traf, wußte er nicht. Er wußte nur, daß eine flammende Qual langsam das Leben in ihm ausbrannte. Er mußte sich zu dem Schiff zurückziehen, um neue Kräfte zu sammeln. Er konnte niemals dem Angriff von einundzwanzig abasas standhalten. Underwood entspannte sich und warf seine Energien zurück zu dem Schiff – vergeblich! Abrupt brach ein dröhnendes Gelächter von den Lippen Demarzules. „Nein, mein tapferes Menschlein, du kannst nicht fliehen. Für die, welche den Großen herausfordern, gibt es kein Entkommen. Deine Entscheidung ist gefällt, und du wirst fallen und sterben – aber erst, wenn ich es will!“ Das brennende Feuer der Angriffe Demarzules hielt an, während Underwood rasend und vergeblich darum kämpfte, sich zurückzuziehen. Endlich gab er auf und wandte sich zurück, ließ die Energie in die Absorptionszellen der dor-abasa fließen. Nicht lange mehr, dann würde das Organ unter der Beanspruchung zusammenbrechen. Dann, wie im Einklang mit seinem Versprechen, die Agonie hinauszuziehen, brach der Angriff ab, und Demarzule gestattete ihm, sich zu erholen. „Du warst kühn“, höhnte er. „Wie konntest du es wa150
gen, dich gegen die gewaltigste Macht im Universum zu stellen, das größte Gehirn, das je erschaffen wurde? Du lästerst den Großen mit deiner Anmaßung!“ „Vor langer Zeit“, erwiderte Underwood, „wurden die Sirenier von den Dragbora geschlagen. Wieder ist es der Dragbora, dem du gegenüberstehst, Demarzule. Erinnere dich daran und verteidige dich!“ Underwood war verblüfft. Ihm schien, nicht er habe diese Worte gesprochen, sondern der tote Jandro stünde hinter ihm, lehrte ihn, beriete ihn … Er schlug zu, aber nicht gegen Demarzule. Er wählte den nächsten Erdenmenschen als Ziel. Fast augenblicklich schauderte der Unglückliche und fiel tot zu Boden. In rascher Folge zerfetzte Underwood die Nervenzellen der nächsten fünf, und sie starben lautlos. Wütend rächte sich Demarzule. Underwood absorbierte den Schlag – und schleuderte ihn unglaublicherweise zurück. Es schien, als sei er sich plötzlich einer Technik bewußt geworden, die er nie geahnt hatte. Er hatte nicht gewußt, daß es möglich war, die nervenverbrennende Kraft mit seiner eigenen dor-abasa. aufzusaugen und gegen den Angreifer zu kehren, wie einen Ball, den man auffing und zurückwarf. Er empfand die Überraschung Demarzules, und in diesem Augenblick erkannte er das Geheimnis. Die Erdenmenschen besaßen offenbar nur ein einziges, primitives Organ, kaum als abasa identifizierbar, denn sie konnten sich wohl schützen, nicht aber angreifen. Vier weitere von ihnen fielen, und dann sah sich Underwood wieder der Attacke Demarzules gegenüber. Etwas wie Schrecken war jetzt in die Gedanken des 151
Fremden getreten. Underwood spürte die Furcht vor einer möglichen Niederlage, die Demarzules Hirn überflutete. „Erinnerst du dich an jenen Tag auf Vorga?“ fragte er. „Vergiß nicht, Demarzule, es waren die Dragbora, die du damals bekämpftest, und es sind die Dragbora, die du jetzt bekämpfst. Ich komme nicht als schwacher Erdenmensch, um dich herauszufordern. Ich komme als Dragborer, um die unvollendete Aufgabe meiner Ahnen zu erfüllen!“ Der Sirenier schwieg, und neues Vertrauen erfüllte Underwood. Er fühlte, daß er nicht allein kämpfte, daß die alte dragborische Zivilisation ihm half, ihre äonenalten Gegner auszulöschen. Verzweifelt verstärkte Demarzule die Wucht seiner Angriffe. Aber Underwood lernte, die anbrandenden Energiewellen zu kontrollieren und mit ihnen seine eigenen Schläge zu verstärken, die immer noch auf die Erdenmenschen in der Kammer gerichtet waren. Die letzten beiden auf jeder Seite Demarzules fielen. Der Sirenier schien es nicht bemerkt zu haben, denn seine ganzen Energien und seine ganze Konzentration waren jetzt auf Underwood gerichtet. Underwood ermüdete schnell. Die Kräfte, die aus ihm abgezogen wurden, schienen jede Faser seines Wesens lahmzulegen, und seine Qual spiegelte sich unwillkürlich auf seinen physischen Zügen an Bord der Lavoisier. Die ihn beobachteten, litten mit ihm. Das Tempo des Kampfes verschärfte sich langsam. Obgleich er fast bis zum Punkt der Niederlage erschöpft war, suchte er in sich nach weiterer Energie und fand, daß sie ihm zur Verfügung stand. In ihm wie in Demar152
zule spielte sich der gleiche Prozeß ab, und das Ergebnis würde von dem schließlich resultierenden Fluß zerstörender Energie entschieden werden. Underwood wußte, daß er sich jetzt zurückziehen konnte. Aber damit wäre nichts gewonnen. Er drängte mit verstärkter Kraft weiter. Plötzlich verspürte er, wie sein Gegner strauchelte. „Du bist alt und schwach“, frohlockte Underwood. „Vor fünf Jahrhunderttausenden verwarf dich die Zivilisation. Heute verwerfen wir dich!“ Er schlug jetzt fast ungehindert zu. Demarzule krümmte sich schmerzverzerrt auf dem Thron – und schleuderte eine letzte, verzweifelte Energiewelle nach ihm. Underwood fing sie auf und kehrte sie gnadenlos gegen Demarzule. Er tastete sich in die Tiefen des sirenischen Geistes vor. Und auf seinem Weg verbrannte und zerstörte er die lebenswichtigen Ganglienknoten. Demarzule schrie laut im Todeskampf, und dann stürzte seine gigantische Gestalt zu Boden. * Die Erleichterung, die Underwood überkam, grenzte an Agonie. Die wilden Kräfte der Dragbora rissen sich unbarmherzig von ihm los und erfüllten den Raum mit ihrer tödlichen Energie, bevor sie erstarben. Dann, in größerer Ruhe, betrachtete er sein Werk. Es war vollbracht, und er vermochte fast nicht daran zu glauben. Aber es gab noch mehr für ihn zu tun. Er verließ das Gebäude und suchte die Wachen und Diener und flüsterte 153
ihnen ein: „Demarzule ist tot! Der Große ist gestorben, und ihr seid wieder Menschen.“ Er fand die Kontrollen der Energiehülle und zwang den Operateur, den Schirm fallen zu lassen. Dann wisperte er: „Der Große ist tot“, und gleich dem Wind umspielte seine Stimme die Tausende, die sich angesammelt hatten. Die Botschaft sank unausgesprochen in ihre Gedanken, und jeder blickte seinen Nachbarn an, als wollte er ihn fragen, woher sie gekommen war. Sie drängten vorwärts, ein entfesselter, wahnsinniger Mob. Sie ergossen sich in das Gebäude, stießen sich, trampelten sich nieder. Sie fanden den Körper des gefallenen Sireniers, und bald würde die Nachricht sich um die Erde verbreiten. Underwood blickte auf die wogende Menschenmasse. Konnte Dreyer recht haben? Würde sie je enden – die gedankenlose Gier der Menschen nach Führerschaft, ihre Suche nach Königen und Götzen, während in ihnen ihre eigenen Kräfte brachlagen? Immer war es dasselbe gewesen; Führer erhoben sich, fütterten das Volk mit Illusionen und führten es durch Höllen gebrochener Versprechen und zerstörter Träume. Ja, es würde anders werden, dachte Underwood. Die Dragbora hatten bewiesen, daß es anders sein konnte. Die Menschheit war ihrem Ziel nähergerückt – weitaus näher, jetzt, da Demarzule tot war. Underwood schickte ein schweigendes Gebet zum Himmel, daß das Schicksal gnädig sein und nicht einen neuen Demarzule senden würde. Mit einem letzten Blick auf die Szene unter ihm, eilte er zurück in den Raum. Was er dort sah, ließ ihn zutiefst 154
erschrecken. Die große Flotte war zerbrochen, untergegangen im atomischen Feuer. Nur zwei der Schlachtschiffe boten den Angreifern noch Trotz. Die Lavoisier selbst trieb mit geschwächter Energiehülle dahin, während die flammenden Disruptoren dreier Kolosse sich auf sie konzentrierten. Underwood schleuderte sich zu dem nächsten der gegnerischen Schiffe. In seinem Inneren suchte er die Kanoniere und tötete sie, bevor sie seine körperlose Gegenwart gewahr wurden. Rasch richtete er die Strahlen der Energiewaffen auf die beiden anderen Schiffe und sah, wie sie explodierten und in Flammen aufgingen. Andere traten an ihre Stelle. Immer noch waren es mehr als zwanzig, die das angeschlagene Laborschiff bedrohten, mehr, als er hoffen konnte, schnell genug zu vernichten. Aber sie feuerten nicht, sondern änderten ihren Kurs und verließen den Kampfplatz. Verständnislos spähte Underwood in ihre Hüllen und erhielt die Antwort. Die Nachricht von Demarzules Tod hatte sie erreicht. Wie Männer, die einer Fata Morgana nachtaumelten, konnten sie die Realität nicht ertragen, der sie sich mit dem Verschwinden ihres Traumes gegenübersahen. Ihre Niederlage war vollständig. Underwood glitt zurück zu der Lavoisier. Er bewegte sich wie ein Geist durch ihre öden Hallen und verlassenen Korridore. In den Generatorräumen fand er die Ursache der Katastrophe in den zerfetzten Resten überladener Generatoren. Vier von ihnen mußten zugleich nachgegeben, das Schiff der Länge nach aufgerissen und mit tödlicher Strahlung erfüllt haben. 155
Der Kontrollraum war dunkel, wie der Rest des Schiffes, und die Gestalten seiner Gefährten lagen auf dem Boden. Aber als er feststellte, daß noch Leben in ihnen war, wagte er zu hoffen. Er drang in ihre Gehirne ein und zwang Leben und Bewußtsein zurück in die Nervenzellen. Er wurde sich ungeahnter Wiederbelebungskräfte bewußt, die in seinem Innern schlummerten. Seine Mission war vollendet. Er kehrte in seine physische Gestalt zurück und beobachtete von seinem Sitz im Kontrollraum aus, wie sie um ihn erwachten und allmählich Leben in das sterbende Schiff zurückkehrte. Von der gegnerischen Flotte war nichts mehr zu sehen; sie war zur Erde zurückgekehrt. Als die Trümmer beseitigt und das Schiff wieder manövrierfähig war, standen Underwood und Illia allein in einer dunklen Beobachtungsnische in den Anblick der Sterne versunken, die über den massiven Bogen der Schirme glitten. Während Underwood ihre Bahnen verfolgte, glaubte er etwas von dem Trieb zu spüren, der Demarzules Hirn gefoltert haben mochte, die Versuchung, die überlegene Macht auch in den Händen eines gütigen Mannes untragbar machte, weil er nicht länger gütig blieb. Durch die Kraft, die in ihm wohnte, hatte er den Großen bezwungen! Er konnte seinen Platz einnehmen, wenn er wollte! Die Geheimnisse des Universums schienen eines nach dem anderen vor seinem Auge vorüberzuziehen. Ein Blick auf die tote Materie vor ihm, und seine Sinne drangen in ihre Atome ein, erkannten ihre Struktur, sagten ihm ihre Eigenschaften. Ein Blick in die weiten Räume jenseits des Solarsystems, und er schwang sich in 156
die Ewigkeit auf. Ja, seine Macht und seine Erkenntnis wuchsen, und er wagte nicht abzuschätzen, wohin sie ihn führen mochten. Aber es gab noch andere, einfachere Ambitionen, in denen Menschen seit Äonen ihre Erfüllung gefunden hatten. Illia lag in seinen Armen, ihr Körper preßte sich warm gegen ihn. „Du mußt sobald wie möglich wieder operieren“, murmelte er. Sie sah überrascht zu ihm auf. „Was meinst du damit?“ „Du mußt die abasischen Organe herausnehmen. Sie haben ihren Zweck erfüllt. Ich will nicht mit ihnen leben. Ich könnte ein neuer Demarzule werden mit der Macht, die ich besitze.“ Ihre blauen Augen glänzten schwach in dem Licht, das von der Skalenscheibe kam, und sie blickten ihn unverwandt an. In ihnen las er etwas, das ihn in Furcht versetzte. „Wir brauchen immer Männer mit größeren Fähigkeiten und größerem Wissen, als es der Durchschnittsmensch besitzt“, entgegnete sie. „Die Rasse benötigt ihre Mutanten. Ihre Zahl ist so dürftig bemessen, daß wir uns nicht leisten können, sie uns nicht nutzbar zu machen.“ „Mutanten?“ „Du bist ein echter Mutant, ob künstlich oder nicht, denn du besitzt Organe und Fähigkeiten, die einzigartig sind. Die Rasse braucht sie. Du kannst nicht von mir verlangen, sie zu zerstören.“ Er hatte sich niemals für einen Mutanten angesehen, und doch hatte sie recht. Vielleicht würde für Jahrtausen157
de kein Mensch seine Kräfte besitzen. Vielleicht konnte er sie dazu benutzen, der Menschheit bei ihrem langsamen Aufstieg zu helfen. Eine neue Bereicherung der Wissenschaft, eine neue Stärkung der Führerschaft, wenn notwendig … „Ich könnte der größte Verbrecher der Welt werden“, wandte er ein. „Es gibt kein Geheimnis, kein Eigentum, das vor meinem Zugriff sicher ist. Ich brauche nur nach Besitz, nach Macht zu greifen.“ „Du machst dir zu viele Sorgen“, sagte sie leichthin. „Du könntest nicht eher zum Verbrecher werden als ich.“ „Weshalb bist du dessen so sicher?“ „Erinnerst du dich nicht an die Eigenschaften der seea-abasat? Dann hast du die letzten Worte nicht gehört, die Jandro sprach. Er sagte: ‚Ich ziehe mich in die seea-abasa zurück.’ Weißt du, was das bedeutet?“ Plötzlich fror Underwood. Flüsterworte raunten in seinem Gehirn. Der Augenblick, als er nach der Operation erwacht war, als der Tod nach ihm griff und nur die Kraft eines fordernden Willens ihm geholfen hatte, sich an sein Leben zu klammern. Die Stimme, die ihn zurückzurufen schien. Die Stimme Jandros. Und dann der Kampf in den Kammern Demarzules. Neue Stärke und neues Wissen hatten ihn wie aus dem Nichts erreicht. Er hatte geglaubt, beide seiner wachsenden Erfahrung und Fähigkeit zuschreiben zu können. Aber war es möglich, daß sie aus ihm gekommen waren? Er suchte drängend in seinen Nervensträngen, in den Zellen seines eigenen Wesens und in den Pfaden des fremden Organs, welche ihm diese unirdischen Sinne verliehen. Er entdeckte nichts, und doch schien es ihm, als husche 158
tief unten in diesen Wahrnehmungskanälen ein flüchtiger Schatten, der sich niemals fangen ließ, der aber auch niemals weit entfernt war. Da wußte Underwood, daß, wenn es Jandro war, er sich niemals bemerkbar machen würde. Aber ein plötzlicher Friede erfüllte ihn, als hätte er einer Versuchung widerstanden, als wäre er auf einen Berg geführt worden und hätte alle Welt geschaut und ihr doch den Rücken gekehrt. Ob er Jandro jemals finden würde oder nicht, er war sicher, daß der Wächter nie von seiner Seite wich. Er vernahm Illias Stimme: „Ich kann nicht operieren, Del. Selbst wenn du mich für den Rest meines Lebens haßtest, würde ich es nicht tun. Und sonst gibt es niemanden auf der Welt, der dazu imstande wäre. Du würdest getötet werden, wenn jemand anders den Versuch unternähme, jene Nerven durchzutrennen.“ Er lächelte. „Dann tut es mir leid um dich. Das bedeutet, daß du dein Leben hinfort mit einem Mutanten verbringen mußt.“ Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen. „Ich kann mir Schlimmeres vorstellen.“ ENDE
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