RANDALL GARRETT
Das elektronische Genie
Das Einstellen der »Goldmann Taschenbücher«
in Leihbüchereien, Volksbibl...
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RANDALL GARRETT
Das elektronische Genie
Das Einstellen der »Goldmann Taschenbücher«
in Leihbüchereien, Volksbibliotheken, Werkbüchereien und
Lesezirkel ist vom Verlag ausdrücklich untersagt.
RANDALL GARRETT
DAS ELEKTRONISCHE GENIE
Ein technischer Zukunftsroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG
MÜNCHEN
1965 · Made in Germany © Copyright 1962 by Randall Garrett. © Copyright 1963 der deutschen Obersetzung by Wilhelm Goldmann Verlag AG, München. Titel des amerikanischen Originals: Unwise Child. Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Je der Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Scan by Brrazo 05/2006. Umschlagentwurf: Eyke Volkmer. Ge setzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: PresseDruck- und Verlags-GmbH. Augsburg. Bindearbeiten: Ver lagsbuchbinderei Dagäus, Westheim bei Augsburg. – 058 • S
1
Man konnte den jungen Leuten, die Mike zu überfal len versuchten, Intelligenz nicht absprechen, aber sie machten trotz alledem einen schweren Fehler, als sie sich mit Mike einließen. Sie hatten gute Vorarbeit geleistet, ihre Aktionen genau geplant und die erforderlichen Geräte gebaut. Ihr Fehler lag nicht in der Planung, sondern darin, daß sie Mike falsch einschätzten. Auf der Insel Manhattan der Metropole New York gibt es eine Gegend im Westend, die seit über hun dert Jahren ›Radio Row‹ heißt. In dieser Gegend wimmelt es von Läden, großen und kleinen, in denen man elektronische und subelektronische Geräte jeder Art kaufen, bestellen oder bauen lassen kann. Sogar ein Antiquitätengeschäft existiert, in dem man ausge fallene Dinge wie ein UKW-Rundfunkgerät und Fernsehempfänger mit Kathodenstrahlröhren zu kau fen bekommt. Dazu, wenn man sich darauf versteift, auch Sender, damit man diese Antiquitäten in Betrieb setzen kann. Mike besaß ein Büro mitten im Geschäftszentrum, nahe der 112. Straße – eine sehr elegante Flucht von Zimmern im fünfzigsten Stockwerk des nahezu einen Kilometer hohen Timmins-Gebäudes bei der zwei hundert Jahre alten St.-Johns-Kathedrale. Das leuch tende Schild an der Tür zeigte die schlichten Worte: 7
M. R. GABRIEL
Antriebstechnik
Ein-, zweimal die Woche rückte Mike jedoch aus, um in der Radio Row herumzubummeln und hier und dort auch etwas einzukaufen. Er pflegte nie sehr lan ge zu arbeiten, aber an diesem Tag war er bis nach sechs Uhr abends in seinem Büro gewesen, um eini ge Unterlagen für die Interstellar-Kommission fertig zustellen. Als er dann endlich Radio Row erreichte, war nur noch Harry MacDougals Laden geöffnet. Mike machte das nicht allzuviel aus, weil er so wieso auf dem Weg zu Harry gewesen war. Harry MacDougals Geschäft stellte nicht wesentlich mehr dar als ein Loch in der Wand – einen langen, schma len Korridor zwischen zwei größeren Läden. Harry war zwar kein Spezialist wie der Besitzer des Anti quitätengeschäfts, aber er führte allerhand Apparatu ren und Einzelteile jeden Alters und jeder Bauart. Wenn man etwas benötigte, das seit Jahrzehnten nicht mehr hergestellt wurde und wahrscheinlich überhaupt nie in größerer Stückzahl gebaut worden war, dann mußte man zu Harry gehen. An den Wän den waren zahlreiche Kästen nebeneinander aufge reiht. Sie trugen keinerlei Aufschrift und waren bis obenhin in wüstem Durcheinander mit allen nur er denklichen Apparaten angefüllt, von denen die 8
Mehrzahl nur kennen konnte, wer entweder Fach mann oder Historiker war. Der alte Harry brauchte weder Etiketten noch ein Lagersystem. Er war ein kleiner, hagerer, scharfnasi ger Schotte, der in der großen Panik Anno 37 aus Schottland geflüchtet war, New York erreicht und sich dort niedergelassen hatte. Mit großer Ernsthaf tigkeit erklärte er, in den über fünfzig Jahren seines Aufenthaltes im Lande weder auf der anderen Seite des Hudson River noch nördlich der 181. Straße ge wesen zu sein. Sein Gehirn glich dem Datenspeicher eines Roboters. Fragte man ihn nach irgendeinem Ersatzteil, so kniff er ein Auge zusammen, starrte mit dem anderen seine Nasenspitze an und sagte: »Eine M-1993 Thermodyn-Hexode? Ah! Hm! Ja, habe ich da. Vor ein paar Jahren mal aufgeschnappt. Das Ding steckt – mal sehen …« Und er ging zu seiner Leiter, schob sie an der Wand entlang, rückte Kisten beiseite und blieb dann irgendwo stehen. Er kletterte an der Leiter hinauf, zog eine Lade heraus, kramte darin herum und holte den verlangten Gegenstand heraus. Er blies den Staub weg, polierte das Ding mit einem Lappen, stieg die Leiter hinunter und sagte: »Da ist es. Habe mir doch gedacht, daß es irgendwo sein muß. Am besten gehen wir nach hinten und probieren es aus.« Wenn er dagegen über das Gewünschte nicht ver fügte, schüttelte er kaum merklich den Kopf, starrte 9
den Kunden mit zusammengekniffenen Augen an und sagte: »Wozu brauchen Sie es denn?« Und wenn man ihm erklären konnte, was man mit dem Ersatz teil vorhatte, fand er in neun von zehn Fällen ein an deres, mit dem sich das Ziel ebensogut oder noch schneller erreichen ließ. In jedem Fall bestand er darauf, das betreffende Stück zu prüfen. Er lehnte es ab, Dinge zu kaufen oder zu verkaufen, die nicht funktionierten. Man wanderte also hinter ihm durch den schmalen Gang zum Labor, wo alle Prüfgeräte standen. Vorne im Laden waren die Dinge tot, aber hier im Labor strömte Energie durch die Ionenadern und Metall nerven der halb lebendigen Maschinen. Alles war säuberlich beschriftet – nicht, weil Harry das ge braucht hätte, sondern zur Unterrichtung seiner Kun den, damit niemand versehentlich eine gefährliche Stelle berührte. Er hatte es nicht nötig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob seine Kunden genug ver standen, um zurechtzukommen; ein paar Minuten Unterhaltung, und Harry vermochte zu entscheiden, ob jemand ausreichend Bescheid über die Wissen schaft und Kunst der Elektronik und Subelektronik wußte, um ohne Bedenken ins Labor gelassen zu werden. Wenn man durchfiel, wurde man nicht ins Labor gebeten, man durfte nicht einmal beim Test zusehen. Aber Leute solcher Art gab es wenige. Kaum je 10
mand besuchte Harry MacDougals Laden, der nicht ziemlich genau wußte, was er wollte und wie er es anwenden mußte. Andererseits gab es auch nur einzelne, denen Har ry gestattete, allein das Labor zu betreten. Zu ihnen gehörte Mike. An dieser Stelle empfiehlt es sich, Mike vorzustel len – Mike, den seine Freunde Mike ›Engel‹ nannten. Mit vollem Namen: Michael Raphael Gabriel. Seine Mutter war schuld daran. Mikes Vater hatte die Taufzeremonie nicht gut unterbrechen können, aber ein nervöses Zucken war – verständlicherweise – nicht zu unterdrücken gewesen. Kein Wunder also, daß man Mike den Spitznamen ›Engel‹ anhängte. Zwei Meter groß, zweihundert sechzig englische Pfund schwer. Vierunddreißig Jah re alt. Goldblondes Haar. Dunkelblaue Augen. Bar wert des Vermögens: achtstellig. Kredit beinahe un begrenzt. Noch ledig. Mike ›Engel‹ öffnete die Tür zu Harry MacDou gals Laden und nahm seinen Hut ab, um die Regen tropfen abzuschütteln. In der Innenstadt waren die Straßen mit durchsichtigen Plastikdächern versehen, aber Bequemlichkeiten solcher Art endeten an der 53. Straße. In dem langen, schmalen Laden war niemand zu sehen. Mike ›Engel‹ starrte zur Decke empor, wo er das verborgene Auge wußte. – »Harry?« sagte er. 11
»Ich seh dich schon«, erklärte eine Stimme. »Du bist gerade noch zur rechten Zeit gekommen. Ich bin eben dabei, zuzusperren. Schließ bitte ab.« »Gern, Harry.« Mike drehte sich um, drückte auf die Sperrtaste und hörte das Schloß einschnappen. »Okay, Mike«, sagte Harry MacDougals Stimme. »Komm nach hinten. Hoffentlich hast du den Whisky mitgebracht.« Mike ›Engel‹ ging an den Kästen vorbei nach hin ten. »Natürlich, Harry. Wann habe ich dich schon einmal vergessen?« Als er sich dem Labor näherte, steckte Mike die Hand lässig in die Tasche und schaltete einen klei nen, aber sehr leistungsfähigen Mechanismus ein, den er immer bei sich trug, wenn er nachts durch die Straßen von New York ging. Er wußte, daß er sich in Gefahr begab, und er konnte nur hoffen, ausreichend gerüstet zu sein. 2 Mike ›Engel‹ behielt die Hand in der Tasche und preßte den Daumen auf eine kleine Platte in der Sei tenwand des Geräts. Als er sich der Tür näherte, be gann die kleine Platte zu vibrieren. Sie gab ein Summen von sich, das man nur zu fühlen, nicht aber zu hören vermochte. Mike seufzte. In dieser Saison waren Vibromesser sehr gefragt. 12
Er stieß die Labortür auf und trat ein. Er hatte sich nicht getäuscht: Seine Augen sahen und sein Gehirn registrierte die Szene im Bruchteil einer Sekunde, bevor er handelte. In diesem Sekundenbruchteil überblickte er die Situation, plante seine Strategie und setzte seine Überlegungen in die Tat um. Harry MacDougal saß an seiner Werkbank, nahe der Steuerung des Auges, mit dem sich der Laden überblicken ließ, wenn er im Labor zu tun hatte. Er war ein wenig vornübergebeugt, und seine kleinen, hellen Augen starrten Mike ›Engel‹ unter buschigen, silbrigen Brauen an. Sie flehten nicht, diese Augen – sie zeigten nur Zuversicht und Vertrauen. Neben Harry stand ein Junge – sechzehn, viel leicht siebzehn Jahre alt. Man sah ihm an, daß er zum Kreis der jugendlichen Verbrecher gehörte – der Ausdruck kalter, harter Arroganz in seinem Gesicht verdeckte die Angst und Unsicherheit darunter. Eine Hand lag auf Harrys Rücken und Mike wußte, daß der Bursche mit einem Vibromesser auf die Wirbel säule des alten Mannes zielte. Gleichzeitig verriet das Summen an seinem Dau men Mike ›Engel‹ noch etwas anderes. Hier im La bor gab es noch ein zweites Vibromesser, das Mike weit näher war als jenes in der Hand des Jungen. Das bedeutete, daß noch ein jugendlicher Gangster hinter ihm stand. Um das alles in sich aufzunehmen, brauchte Mike 13
›Engel‹ etwa eine Viertelsekunde. Dann schnellte er nach vorn. Wenn die Gangster Erwachsene gewesen wären, hätte Mike ganz anders reagiert. Erwachsene beneh men sich grundsätzlich nicht wie Kinder, wenn sie nicht gerade geistig zurückgeblieben sind. Halb wüchsige tun es, müssen es tun – aus dem einfachen Grund, daß sie noch nicht Zeit gehabt haben, zu ler nen, wie Erwachsene reagieren. Wären die Einbrecher Erwachsene gewesen, und hätte Mike bei ihnen so gehandelt, wie er es hier tat, so wäre er in dieser Nacht wohl ums Leben gekom men. Aber die Halbwüchsigen hatten keine Chance gegen ihn. Mike machte sich nicht einmal die Mühe, die Exi stenz des zweiten Gangsters hinter sich zur Kenntnis zu nehmen. Statt dessen warf er sich dem Halbwüch sigen mit dem kohlschwarzen Lederanzug entgegen, der sein Vibromesser auf das Rückgrat von Harry MacDougal gerichtet hatte. Und der Junge reagierte genauso, wie Mike es erhofft, erfleht und vorausge ahnt hatte. Der Halbwüchsige verteidigte sich. Ein Erwachsener, der sich in einer Situation befin det, in der ein Gegner in seinen Händen ist, während ein zweiter angreift, wird zunächst den ersten aus dem Weg räumen, um sich dann die Hände für die Abwehr des zweiten freizuhalten. Es ist sinnlos, sei 14
ne Flanke zu exponieren, nur um einem Frontalan griff zu begegnen. Wenn der Halbwüchsige ein Erwachsener gewe sen wäre, hätte Harry MacDougal auf der Stelle ster ben müssen. Ein Erwachsener hätte sein Vibromesser in den Rücken des Alten gejagt und es dann auf Mike ›Engel‹ angesetzt. Nicht so der Junge. Er sprang mit weitaufgerisse nen Augen zurück, um sich seinem Angreifer gegen über Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Er war kei neswegs ein Feigling, dieser Halbwüchsige, und er wußte mit einem Vibromesser umzugehen. In seiner unklugen, selbstmörderischen Art war er durchaus in der Lage, seinen Mann zu stehen. Er zielte mit der Spitze des schimmernden Metallstabes, bereit, jeden Angriffsstoß seines Gegners zu parieren. Wenn Mike ein Vibromesser bei sich und im Rük ken nicht einen zweiten Gangster gehabt hätte, wäre er auf diese Weise mit dem Burschen fertiggewor den. So blieb ihm keine Wahl. Er warf sich mit voller Wucht gegen das glitzernde Vibromesser. Ein Vibromesser war eine scheußliche Waffe. Ur sprünglich als chirurgisches Instrument konstruiert, schoß seine Klinge aus Spezialstahl mit einer Ge schwindigkeit von zweihundert bis zweitausend Vi brationen pro Sekunde in dem schweren Heft vor und zurück, je nach Größe und Verwendungsart. Zwanzig 15
Zentimeter lang, scharfe, zackige Zähne mit diaman tengeschliffenen Spitzen, ein perfektes Mordinstru ment. Seine Gefährlichkeit beruhte auf seinem Tem po; die hin- und herrasende Klinge vermochte durch Fleisch, Knorpel und Knochen wie durch Butter zu gleiten. Diese Hochleistung kann aber auch eine Schwäche sein. Das kleine Gerät in Mike ›Engels‹ Tasche konnte mehr als nur ein Vibromesser in Tätigkeit entdecken. Es war auch ein Abwehrmechanismus. Das kleine Wunderding vermochte ein Magnetfeld von hoher Liniendichte auf jedes Vibromesser zu konzentrieren, das Mikes Körper näher als fünfzehn Zentimeter kam. In diesem Magnetfeld konnte sich das Vibromes ser nicht bewegen. Es wurde wie von einer eisernen Klammer festgehalten. Die Klinge vibrierte nicht mehr; die ganze Waffe wurde zu einer Art ausgefal lenem Brotmesser. Das Unangenehme daran war nur, daß der Hoch leistungsmotor im Heft sich nicht damit abfinden wollte, daß die Klinge unbeweglich war. Der Motor mußte einfach irgend etwas antreiben, die Energie suchte ein Ventil. Das Heft zuckte in der Hand des Halbwüchsigen, riß ihm die Haut in Fetzen ab. Dann begann es zu glühen und zu rauchen. Der Plastikgriff platzte, hei 16
ßes Kupfer und Silber spritzten heraus. Der Junge schrie auf, als das geschmolzene Metall seine Hand verbrannte. Mike gab dem Halbwüchsigen einen Stoß, der ihn von den Beinen riß. Dann fuhr Mike herum und wappnete sich gegen den Angriff des anderen Jun gen. Aber es war kein Junge. Sie hatte ihre Lippen golden geschminkt und ihr Haar blau gefärbt, aber mit einem Vibromesser konn te sie mindestens genauso gut umgehen wie ihr Freund. Als Mike ›Engel‹ sich umdrehte, warf sie sich nach vorn und zielte auf seinen Rücken. Und auch sie schrie auf, als ihre Waffe verglühte. Dann zuckte ihre Hand zur Tasche. Mit Bedauern setzte Mike sie mit einem gezielten Handkanten schlag außer Gefecht. Sie brach bewußtlos zusam men. Eine kleine Pistole fiel aus der Hüfttasche ihres Anzugs und schlitterte über den Boden. Mike nahm sich nur so viel Zeit, um festzustellen, daß sie nicht mehr eingreifen konnte, dann wandte er sich wieder seinem ersten Gegner zu. Wie erwartet, hatte Harry keine Sekunde gezögert. Der Halbwüchsige lag ausgestreckt auf dem Boden, und Harry hielt eine Schockpistole in der Hand. Mike ›Engel‹ atmete tief. »Deine Hose brennt«, sagte Harry. Mike jaulte auf, als er die Hitze spürte, und er 17
schlug mit der flachen Hand auf die rauchenden Stel len, wo das geschmolzene Metall der Vibromesser auf seine Kleidung gespritzt war. Er brannte nicht; moderne Kleidung war nicht entflammbar, aber glü hendes Kupfer kann doch recht ungemütlich sein. »Verdammt noch mal!« knurrte Mike. »Neu war der Anzug auch noch. « »Du bist auf Draht«, meinte Harry. »Du brauchst mir gar nicht zu schmeicheln, Har ry«, erwiderte Mike. »Wenn ein eingefleischter Al koholverächter wie du sich erkundigt, ob man ihm Whisky mitgebracht hat, dann kann man sich ja den ken, daß irgend etwas nicht stimmt.« Er klatschte auf die letzte Sengstelle und sagte: »Was war eigentlich los? Glaubst du, daß sie noch ein paar Kumpane mit gebracht haben?« »Keine Ahnung. Vielleicht.« Der Alte deutete auf seine Schalttafel. »Meine Instrumente arbeiten wie der!« Er tippte mit der Schuhspitze auf den Boden. »Ich weiß nicht, wie sie es angestellt haben, aber ir gendwie ist es ihnen gelungen, meine Apparate so lange außer Betrieb zu setzen, daß sie eindringen konnten. Ihr Fehler war, daß sie die Eingangstür nicht abgeschlossen haben.« Mike beschäftigte sich damit, die beiden bewußt losen Halbwüchsigen zu durchsuchen. Er sah auf. »Sie haben keine Geräte bei sich – nichts Erkennba res jedenfalls. Wenn sie Ortungsstromkreise in ihre 18
Anzüge eingebaut haben, müssen noch ein paar Ker le draußen sein.« »Ja, wahrscheinlich. Wir werden ja sehen.« Ein Instrument an der Werkbank begann zu sum men. Harry warf einen hastigen Blick auf den Emp fangsbildschirm, der mit den zahlreichen, im Laden verborgenen Suchaugen verbunden war. Dann glänz te ein Lächeln auf seinem kleinen, sonnengebräunten Gesicht. »Polizei«, sagte er. »Wird auch langsam Zeit.« 3 Sergeant Cowder besah sich den Raum und sog an seiner Zigarette. »Na ja, das wäre das. Also – was war los?« Er sah von Mike ›Engel‹ zu Harry MacDougal und wieder zu Mike. Beide schienen zu überlegen. »Na schön«, sagte er ruhig, »dann laßt mich mal raten.« Harry winkte ab. »Nein, nein, Sergeant, nicht nö tig. Mr. Gabriel wollte mich wahrscheinlich zuerst reden lassen, weil er ja nicht hier war, als die beiden Halbstarken hereinkamen, und ich überlege nur, wo ich anfangen soll. Wir haben nichts zu verheimli chen. Es war so –« Er starrte an die Decke, als müsse er seine Gedanken sammeln. Er wußte recht gut, daß 19
der Polizeisergeant alles auf Tonband aufnahm. Der Sergeant seufzte. »Hören Sie, Harry, Sie ste hen hier nicht vor Gericht. Ich weiß genau, daß Sie Ihren Laden mit wer weiß wie vielen Apparaten ge sichert haben. Das ist bekannt. Andernfalls hätten Ihnen die Halbstarkenbanden längst das ganze Lager ausgeräumt.« Harry starrte weiterhin an die Decke, und Mike betrachtete lächelnd seine Fingernägel. Der Sergeant seufzte wieder. »Gewiß, wir hätten gern ein paar von den Geräten, die Sie und andere hier in der ›Row‹ konstruiert haben, Harry. Ich kann sie Ihnen aber nicht wegnehmen. Außerdem gibt es bei uns einiges, das Sie haben möchten, also steht das Ganze unentschieden. Wenn wir damit anfingen, bei Ihnen illegale Ware zu beschlagnahmen, würden die Halbstarken sich auf Ihren Laden stürzen, die zu gelassenen Geräte stehlen, sie verbessern und uns innerhalb einer Woche damit verrückt machen. So lange Sie also illegale Geräte nicht zu illegalen Zwecken benutzen, lassen wir Sie in Ruhe.« Harry grinste. »Das ist nett von Ihnen, Sergeant. Aber ich habe nichts Illegales hier – keine Roboter komponenten oder solche Sachen. Ja, ich gebe zu, hier und dort ein paar Augen, damit ich meinen La den beaufsichtigen kann, aber Augen sind ja nicht illegal.« Der Sergeant sah sich mit geübtem Blick im Labor 20
um und starrte den kleinen Schotten dann durchdrin gend an. Harry MacDougal log, und der Sergeant wußte es. Und Harry wußte, daß der Sergeant es wußte. Sergeant Cowder seufzte ein drittes Mal und sah den Schotten an. »Na schön. Was war los?« Harry wurde ernst. »Sie sind so gegen halb sieben Uhr hereingekommen. Der Bursche stieg aus dem Schrank da drüben und hielt mich mit einem Vibro messer in Schach. Ich hatte mir nur einen kleinen Widerstand aus dem Labor holen wollen, und da war der Kerl plötzlich.« Mike runzelte die Stirn, aber er schwieg. »Und Ihre Ortungsgeräte haben nicht angespro chen?« erkundigte sich der Sergeant. »Überhaupt nicht«, erwiderte Harry. »Die Halb wüchsigen haben zweifellos etwas Neues ausge heckt. Der Kerl muß durch die Hintertür hereinge kommen sein. Und ich hätte meinen Kopf verwettet, daß kein Mensch da hereinfindet, ohne daß ich es merke, wenn er noch drei Meter von der Tür entfernt ist. Schauen Sie her!« Er stand auf, ging zur Hintertür und öffnete sie. Dahinter schien sich ein völlig verdunkelter Raum zu befinden. Dann erkannte der Sergeant, daß in gerin ger Entfernung von der Tür eine pechschwarze Wand errichtet worden war. »Das ist eine Lichtfalle«, erklärte Harry. »Wie 21
man sie auch in den Dunkelkammern hat. Um von dieser Tür zur Straße zu kommen, muß man um zwei Ecken herum etwa zehn Meter zurücklegen. Nicht einmal ich könnte das, ohne ein halbes dutzendmal die Alarmanlage auszulösen. Jede Art von Licht setzt sie in Betrieb, auch die Wärmeabstrahlung des menschlichen Körpers.« »Wie steht es denn mit dem vorderen Eingang?« fragte Cowder. »Da kann doch schließlich jeder her ein.« »Nur, wenn ich dabei bin«, sagte Harry mit grim migem Lächeln. »Und auch dann nicht, wenn ich nicht will.« »Sehr freundlich, daß Sie uns wenigstens herein gelassen haben«, meinte der Sergeant liebenswürdig. »Es war mir ein Vergnügen«, brummte Harry. »Ich möchte aber trotzdem gerne wissen, wie der Bursche hereingekommen ist.« »Na ja, irgendwie hat er es jedenfalls geschafft«, meinte Cowder. »Was passierte, nachdem er sein Versteck verlassen hatte?« »Er zwang mich dazu, das Mädchen hereinzulas sen. Sie wollten hinten ganz aufmachen, um meine Sachen hinauszuschaffen. Wenn Mr. Gabriel nicht gekommen wäre, hätte sie auch keiner daran hindern können.« Sergeant Cowder starrte Mike ›Engel‹ an. »Um welche Zeit war das ungefähr, Mr. Gabriel?« 22
»Etwa um fünf nach halb sieben«, sagte Mike. »Die beiden können erst ein paar Minuten hiergewe sen sein.« Harry MacDougal nickte. »Und wie ging es dann weiter?« Mike erzählte eine sorgfältig redigierte Version der Ereignisse, wobei er das kleine Gerät in seiner Tasche unerwähnt ließ. Der Sergeant hörte geduldig und ungläubig zu. Mike unterdrückte mit Mühe ein Grinsen; er wußte sehr wohl, woran sich der Serge ant stieß. »Einen Augenblick mal«, unterbrach ihn Cowder. »Wieso sind die Vibromesser denn plötzlich in Flammen aufgegangen?« »Vielleicht waren sie defekt?« meinte Mike un schuldig. »Beide?« fragte Sergeant Cowder skeptisch. »Noch dazu gleichzeitig?« »O nein! Im Abstand von mindestens dreißig Se kunden.« »Sehr interessant. Wirklich.« Cowder wollte noch etwas hinzufügen, aber ein uniformierter Beamter steckte den Kopf zur Tür herein und meldete: »Wir haben die ganze Gegend durchgekämmt, Sergeant. Keine Menschenseele zu entdecken. Aber in der Straße hinter dem Laden muß vor nicht allzu langer Zeit ein kleiner Lastwagen geparkt haben.« Cowder nickte. »Die Halbstarken hätten sich nicht 23
auf eine solche Geschichte eingelassen, wenn sie nicht vorgehabt hätten, alles mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest war. In der Hosentasche konnten sie das Zeug schließlich nicht fortschleppen.« Er rieb sich die Nasenspitze. »Okay, Barton, das wär’s. Bringen Sie die beiden ins Krankenhaus und weisen Sie sie in die geschlossene Abteilung ein. Sobald sie wieder bei sich sind, nehme ich sie mir vor.« Der Polizist nickte und verschwand. Sergeant Cowder sah Harry an. »Der Alarm im Revier wurde um sechs Uhr sechsunddreißig ausge löst. Ich denke mir, die Komplicen im Lastwagen müssen gemerkt haben, daß etwas schiefgegangen ist, als hier gerauft wurde. Sie schalteten das Gerät ab, mit dem sie die Ortungsgeräte blockiert hatten und verschwanden, bevor wir eintrafen.« »Allerdings«, meinte Harry. »Sonst noch etwas, Sergeant?« Cowder schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Ich mel de mich später wieder, wenn ich Sie brauche.« Harry und Mike begleiteten ihn zur Eingangstür. Cowder drehte sich noch einmal um. »Na, dann gute Nacht. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Gabriel. Wenn nur unsere Leute manchmal Ihr Glück hätten.« »Wieso?« fragte Mike. »Wenn im richtigen Augenblick die Vibromesser explodieren würden, gäbe es weniger Tote und Ver 24
letzte bei uns.« Mike schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Wenn die Vibromesser jedesmal explodieren würden, sobald sich ein Polizist in der Nähe befindet, hätten die halbwüchsigen Verbrecher nichts Eiligeres zu tun, als eine andere Waffe zu benützen. Bei die sem Spiel gibt es keine Gewinner.« Cowder nickte bedrückt. »Das kann man wohl sa gen … Also dann – gute Nacht.« Er trat auf die Stra ße hinaus, und Harry sperrte die Tür hinter ihm ab. »Komm, Harry«, sagte Mike. »Ich möchte etwas suchen.« Er ging durch den engen Laden zum Labor zurück. Harry folgte ihm. Mike blieb stehen und schnüffelte. »Riechst du das?« »Ja. Angesengtes Isoliermaterial. Na und?« »Du weißt, welcher von diesen Kästen in der Nähe deines Hauptkabels steht. Schau mal nach. Irgendwo ist etwas faul.« Harry ging zu einem Kasten, öffnete ihn und sah hinein. Er schlug den Deckel wieder zu und ging zum nächsten Kasten. Beim dritten Versuch hatte er Erfolg. Er fand ein Kunststoffkästchen, zwölf mal zwanzig Zentimeter groß. Es roch stark nach ver branntem Isoliermaterial, obwohl es nur mäßig warm war. »Was ist denn das?« fragte Harry erstaunt. »Mit diesem Ding sind deine Apparate blockiert 25
worden. Als ich daran vorbeikam, muß mein Gerät einen Kurzschluß verursacht haben. Ich wußte, daß die Polizei in der kurzen Zeit zwischen dem Kampf und ihrem tatsächlichen Erscheinen so was gar nicht geschafft haben konnte. Eine zusätzliche Minute muß ihnen mindestens zur Verfügung gestanden ha ben. Außerdem glaube ich nicht, daß jemand ein In strument bauen kann, das auf größere Entfernungen alles blockiert. Es mußte einfach in der Nähe deines Hauptkabels angebracht worden sein. Du wirst sicher einen Metalloszillator finden. Analysiere ihn mal. Kann vielleicht ganz nützlich sein.« Harry drehte den Kasten in seinen Händen. »Wahrscheinlich mit Zeitschalter … Na ja … Das erklärt natürlich manches.« »Wieso?« »Ich kann mir jetzt schon denken, wer es herein gebracht hat. Ein junger Kerl. Neunzehn – vielleicht zwanzig Jahre alt. Er machte einen recht ordentlichen Eindruck. Ich habe ihn nicht für einen von diesen Verbrechern gehalten. Aber heutzutage darf man ja keinem Menschen mehr trauen. Danke, Mike. Wenn ich noch etwas finde, sage ich dir Bescheid.« »Tu das«, sagte Mike. »Und als persönliche Gefäl ligkeit zeige ich dir, wie man mein Super-SpezialAnti-Vibromesser-Abwehr-Gerät baut.« Harry grinste. »An deiner Stelle würde ich mir ei nen kürzeren Namen ausdenken. Ich brauche wahr 26
scheinlich nicht einmal soviel Zeit dazu, eines zu bauen, bis du den ganzen Namen heruntergeleiert hast.« »Wollen wir wetten?« »Na schön, zwanzig Dollar, daß ich es in vierund zwanzig Stunden schaffe.« »Angenommen. Morgen verkaufe ich dir mein Exemplar für zwanzig.« Harry schüttelte den Kopf. »Wir tauschen, und zwanzig Dollar extra.« Er schmunzelte. »Weil wir gerade von Geld reden, bist du nicht hergekommen, um etwas zu kaufen.« Mike lachte. »Du wirst kaum begeistert sein. Ich brauche ein Dutzend Plastikkern-Widerstände.« »Welche Größe?« Mike erklärte es ihm, und Harry ging zu einem Schrank, holte ein Päckchen heraus und überreichte es ihm. »Das macht vier Dollar«, sagte er. Mike zahlte lächelnd. »Du hast nicht zufällig eine Hunderttausender Mikrokryotronsäule?« »Darf ich ja gar nicht führen«, erwiderte Harry MacDougal. »Und wenn ich sie hätte, würde ich sie dir nicht verkaufen. Aber ich habe eine, um genau zu sein. Ich benütze sie als Briefbeschwerer. Du kannst sie umsonst haben, weil sie sowieso nicht funktio niert.« »Vielleicht kann ich sie reparieren«, sagte Mike, 27
»wenn du sie mir wirklich gibst. Wieso funktioniert sie denn nicht?« »Moment«, sagte Harry. Er verschwand in seinem Büro und kam mit einem kleinen Päckchen wieder. Er gab es Mike und sagte: »Das ist ein Geschenk. Vielen Dank dafür, daß du mir aus der Patsche ge holfen hast.« Mike wehrte bescheiden ab und nahm das Päck chen. Wenn das Ding funktioniert hätte, wäre es über dreihundert Dollar wert gewesen – auf dem schwar zen Markt wesentlich mehr. In defektem Zustand nützte es Mike gar nichts. Ein Mikrokryotrongerät ist praktisch kaum zu reparieren. Aber Mike nahm es, weil er Harry nicht beleidigen wollte, indem er ein Geschenk ablehnte. »Danke, Harry«, sagte er. »Weißt du zufällig, warum es nicht funktioniert?« Harry grinste wieder übers ganze Gesicht. »Aber natürlich, Mike. Es ist nicht angeschlossen.« 4 Mike ›Engel‹ hatte nichts übrig für lange Wege zum Arbeitsplatz. Als Junggeselle konnte er sich diese Einstellung leisten. In seiner Büroetage in der 112. Straße gab es eine Tür mit der Aufschrift ›M. R. Ga briel‹. Hinter dieser Tür befand sich das Büro seiner Privatsekretärin, die als wirkungsvolle Barriere zwi 28
schen Mike und den Angestellten seiner Firma dien te. Hinter dem Sekretariat lag sein eigenes Büro. In seinem Privatbüro stieß man wieder auf eine Tür, diesmal ohne jede Aufschrift, hinter der man eine Abstellkammer vermutet hätte. Das war aber nicht der Fall. Sie führte vielmehr zu einer Luxuswohnung mit wertvoller Einrichtung. Ei ne Wand, zehn Meter lang und drei Meter hoch, be stand aus einer beinahe unsichtbaren, staubsicheren Platte poliertem Flachglas, die dem Betrachter den Eindruck vermittelte, zwischen ihm und der Straße hundertfünfzig Meter tiefer befinde sich nichts. Die Lichter der Großstadt erhellten das Zimmer durch diese Wand auch nach Sonnenuntergang aus reichend, aber mit einer einfachen Schalterumdrehung konnte man sie zu undurchdringlicher Schwärze pola risieren und damit völlige Ungestörtheit erreichen. Das Mobiliar war massiv, durchgehend verstrebt und dick gepolstert. Das war auch nötig; Mike ließ sich gerne in die Sessel fallen, was bei seinen hun dertsiebzehn Kilo allerlei Auswirkungen hatte. An einer der undurchsichtigen Wände hing ein Originalgemälde von Salvador Dali, dessen in Roben gehüllte Gestalten in der seltsamen Mischbeleuch tung aus Großstadtlichtern und Zimmerhelligkeit ei nen lebendigen Schimmer erhielten. An anderer Stel le glomm ein Valois metallisch über verschatteten Halbreliefs. 29
Mike war von seiner Wohnung begeistert. Er konnte notfalls auch auf einer Bank im Park schlafen oder in einem Graben, aber er sah nicht ein, warum er das tun sollte, wenn er auf einem Schwebebett im Wert von fünfhundert Dollar der Ruhe zu pflegen vermochte. Auf dem Weg hierher hatte er alle Türen sorgfältig geprüft. Sein Elektroschlüssel war mit einem Spe zialschaltsystem ausgestattet, das ein winziges Lämpchen im Schlüsselgriff aufleuchten ließ, wenn jemand versucht hatte, ein Schloß zu öffnen. Das war nicht der Fall gewesen. Er öffnete die letzte Tür, betrat seine Wohnung und schloß die Tür hinter sich ab, wie er es bei den anderen auch getan hatte. Dann machte er Licht, zog seinen Regenmantel aus und ließ sich in einen Sessel fallen, um die Mikrokryotronsaule auszupacken, die ihm Harry mitgegeben hatte. Theoretisch durfte Harry diese Gerate nicht ver kaufen. Sie waren immer noch schwierig herzustel len und sollten eigentlich nur von Personen benutzt werden, die ermächtigt waren, Robotergehirne zu bauen. Das war die Säule nämlich – Teil eines Robo tergehirns. Mike hätte es sich auch auf legale Weise beschaffen können, falls er bereit gewesen wäre, sie ben oder acht Monate zu warten, bis alle bürokrati schen Hindernisse genommen waren. In der Tat sa hen es die großen Robotikhersteller auch nicht gerne, 30
wenn Amateure an Robotern herumbastelten. Sie stellten sie lieber selbst her, um sie dann zu vermie ten. Sie konnten die Bastelei zwar nicht unterbinden, aber zumindest erschweren. In mancher Beziehung war das richtig. Die ju gendlichen Kriminellen hatten sich bisher nicht in größerem Maßstab auf die Robotik verlegen können. Eigengesteuerte Bomben wären auch höchst unange nehm gewesen. Die erwachsenen Verbrecher verfügten natürlich längst darüber. Aber ein Mann, der das Geld hatte, sich Roboterteile zu kaufen, oder der sich die Mühe machte, sie zu stehlen, hatte meist Lukrativeres vor als Straßenkämpfe und Überfälle auf Lokale. Ein Bankraub zum Beispiel erforderte einen raffiniert konstruierten, gut durchdachten Roboter und über durchschnittliche Intelligenz auf Seiten des Täters. Mike wollte weder Bomben noch automatische Bankräuber herstellen; er hatte Lust, mit der Säule zu basteln, um herauszufinden, was sie leistete. Er dreh te sie ein paarmal hin und her, zuckte dann die Ach seln, ging zu seinem Schrank und verstaute das Ge rät. Er konnte nichts damit anfangen, bis er einen Kryostat gekauft hatte – eine Kühlanlage mit flüssi gem Helium. Ein Kryotron funktioniert nur bei Tem peraturen nahe dem absoluten Nullpunkt. Das Telefon läutete. Mike ging hinüber, drückte auf eine Taste und 31
sagte: »Hier Gabriel.« Auf dem Bildschirm blieb es dunkel. Eine Stimme sagte: »Verzeihung, falsch verbunden.« Es knackte, und die Verbindung wurde unterbrochen. Mike zuck te die Achseln und schaltete an. Schien die Stimme einer Frau gewesen zu sein. Er hätte gern ihr Gesicht gesehen. Mike stand auf und ging zu seinem Sessel zurück. Er hatte sich kaum niedergelassen, als das Telefon wieder läutete. Wieder auf. Zurück zum Telefon. »Hier Gabriel.« Auch jetzt blieb der Bildschirm dunkel. »Hören Sie mal, Fräulein«, sagte Mike, »warum schlagen Sie die Nummer nicht nach, statt mich dau ernd zu belästigen?« Plötzlich zeigte sich auf dem Bildschirm das Ge sicht eines älteren Mannes mit schlohweißem Haar und kalten, blaßblauen Augen. Es war Basil Walling ford, Minister für Weltraumangelegenheiten. Er sagte: »Mike, ich wußte nicht, daß Ihre Stellung es erlaubt, einen Minister der Weltregierung zu be leidigen.« Aus seiner Stimme sprachen weder Ärger noch Humor. »Ich bin mir da selbst nicht ganz sicher«, gab Mi ke zu, »aber ich gebe mir Mühe. Ich wußte nicht, daß Sie es sind, Wally. Jemand hatte sich vorher ver wählt. Entschuldigen Sie.« 32
»Hm … Na ja … Ich wollte Ihnen nur sagen, daß die ›Branchell‹ für Ihre abschließende Inspektion be reitsteht. Das heißt, spätestens in einer Woche ganz bestimmt.« »Meine abschließende Inspektion?« Mike hob die Brauen. »Moment mal, Wally, Serge Paulwitsch überwacht doch dort unten die Arbeiten, oder etwa nicht? Meine Zustimmung brauchen Sie nicht. Wenn Serge sagt, daß sie startklar ist, können Sie sich dar auf verlassen. Oder ist eine Störung aufgetreten?« »Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte Walling ford. »Der Antrieb ist aber nach Ihren Plänen und Entwürfen gebaut worden – nicht nach denen von Mr. Paulwitsch. Das Raumfahrtbüro möchte, daß Sie die Schlußprüfung vornehmen.« Mike wußte, wann Einwendungen sinnlos waren, und er wußte auch, daß sie ihm hier nichts nützen würden. »Na schön«, meinte er resigniert. »Ich kann die Antarktis nicht leiden, aber ein paar Tage werde ich es wohl aushalten.« »Gut. Noch etwas. Haben Sie eine Kopie der Be schleunigungsdaten für Frachtraum Eins? Unsere Unterlagen sind bei der Übermittlung etwas durch einandergeraten, so daß sich in den Zahlen ein Wi derspruch ergibt.« Mike nickte. »Natürlich. Sie liegt in meinem Büro. Soll ich sie sofort holen?« »Bitte. Ich bleibe am Apparat.« 33
Mike schaffte es gerade noch rechtzeitig. Er ging zur Tür, die zu seinem Büro führte, öffnete sie, trat in den angrenzenden Raum und schloß die Tür in dem Augenblick, als die Explosion stattfand. Die Tür wankte hinter Mike, aber sie hielt. Mikes Wohnung war einigermaßen schalldicht, aber einer Explosion, die diese Tür zum Wanken brachte, war sie nicht gewachsen. Sie bestand aus fünf Zentimeter dicken Stahlplatten mit schweren Scharnieren, die auf Kugellagern liefen. Alle anderen Türen waren ebenso gesichert. Man konnte sie nicht gerade als Tresortüren bezeichnen, aber sie hielten allerhand aus. Mike fuhr herum und starrte die Tür an. Sie war geringfügig verbogen, und aus den Ritzen drangen dünne Rauchspiralen. Mike schnupperte, dann raste er davon. Er öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch und nahm eine große Rolle elektrostati schen Klebebands heraus. Dann atmete er tief ein, ging zur Tür und verklebte alle Ritzen. Er hastete ins vordere Büro, während die Klimaanlage die Luft in seinem Büro reinigte. Er trat zu einem der Telefone neben der Automa tik-Registratur und drückte die Taste für die Vermitt lung. »Ich hatte ein Ferngespräch mit Ihrer Exellenz Basil Wallingford, Minister für Weltraumangelegen heiten, Capitol City. Wir sind unterbrochen worden.« »Einen Augenblick, bitte.« Kurze Pause. »Seine 34
Exzellenz ist wieder in der Leitung, Mr. Gabriel.« Wallingfords Gesicht erschien auf dem Bild schirm. Es war blaß. »Was ist geschehen?« fragte der Minister. »Vielleicht können Sie mir das sagen, Wally«, knurrte Mike. »Haben Sie etwas gesehen?« »Nur, daß diese große Glasscheibe zersplitterte. Dann explodierte etwas, und die Verbindung war un terbrochen.« »Zuerst ist das Glas gesplittert?« »Ja.« Mike seufzte. »Gut. Ich befürchtete schon, daß je mand die Bombe irgendwo versteckt hätte, anstatt sie ins Zimmer zu schießen. Es wäre mir äußerst unange nehm, wenn ich annehmen müßte, daß jemand meine Wohnung betreten kann, ohne daß ich es merke.« »Wer hat es denn auf Sie abgesehen?« »Keine Ahnung. Hören Sie, Wally, hat das mit den Unterlagen bis morgen Zeit? Ich möchte die Polizei verständigen.« »Selbstverständlich. Es eilt nicht. Ich rufe Sie morgen abend wieder an.« Der Bildschirm verdun kelte sich. Mike warf einen Blick auf die Wanduhr und wähl te dann eine Nummer. Ein hübsches Mädchen in blauer Uniform erschien auf dem Bildschirm. »Polizeizentrale«, sagte es. »Kann ich Ihnen be hilflich sein?« 35
»Ich möchte Sergeant William Cowder sprechen«, erklärte Mike. »Sagen Sie ihm nur, daß Mr. Gabriel neue Probleme hat.« Sie sah ihn verwirrt an, nickte aber. Kurz danach verschwand ihr Bild vom Schirm. Er blieb dunkel, als Cowders Stimme aus dem Lautsprecher drang: »Was gibt es denn, Mr. Gabriel?« Offensichtlich sprach er von einem Taschentelefon aus. »Mordversuch«, sagte Mike ›Engel‹. »Vor ein paar Minuten ist in meiner Wohnung eine Bombe zur Explosion gebracht worden. Ich glaube, daß es sich um eine Rakete gehandelt hat, und ich weiß, daß sie stark mit Blausäure durchsetzt war. Appartement 5000, Timmins-Gebäude, 112. Straße. Ich habe Sie angerufen, weil ich vermute, daß der Vorfall mit der Geschichte bei Harry heute abend in Zusammenhang steht.« »Timmins, wie? Ich komme sofort.« Cowder schaltete ab, und Mike starrte nachdenk lich auf den dunklen Bildschirm. Litt er unter Hallu zinationen oder hatte Cowders Stimme wirklich ei nen merkwürdigen Unterton gehabt? Zwei Minuten später bekam er die Antwort darauf. 5 Mike ›Engel‹ saß hinter seinem Schreibtisch, als es 36
läutete. Mike schaltete den Bildschirm ein, der mit einem Auge in der Eingangstür zur Etage verbunden war. Wer konnte es diesmal sein? Es war Sergeant Cowder. »Sie haben sich aber beeilt«, sagte Mike und drückte auf den Türöffner. »Kommen Sie in mein Büro.« Während der Sergeant durch das Sekretariat ging, beobachtete ihn Mike auf dem Bildschirm. Erst als der Kriminalbeamte die Tür zu Mikes Büro öffnete, sah Mike vom Bildschirm auf. »Ich wiederhole«, sagte Mike. »Sie haben sich sehr beeilt.« »Ich war in der Nähe«, erwiderte Cowder. »Wo ist denn der Schaden?« Mike deutete mit dem Daumen auf die Tür zu sei nem Appartement, die immer noch mit Klebeband versiegelt war. »Da.« »Sind Sie schon wieder in der Wohnung gewe sen?« »Nein«, sagte Mike. »Ich wollte nichts durchein anderbringen. Ich dachte mir, daß Ihre Leute vom Labor vielleicht klären können, woher die Rakete gekommen ist.« »Wie war denn das Ganze eigentlich?« erkundigte sich der Sergeant. Mike berichtete, wobei er nur die Einzelheiten sei nes Gesprächs mit Wallingford verschwieg. 37
»Für mein Gefühl wollte die geheimnisvolle Anru ferin nur feststellen, ob ich mich auch wirklich in diesem Zimmer aufhielt. Dann wurde die Rakete ge zündet.« »Wie kommen Sie auf die Idee, daß ein halbwüch siger Verbrecher daran beteiligt sein könnte?« meinte Cowder. »Wissen Sie, Sergeant, wenn ich die Sache geplant hätte, würde ich die Abschußvorrichtung dort auf stellen, von wo ich mein Opfer sehen kann, ohne es anrufen zu müssen. Aber wenn ich dazu nicht in der Lage wäre, würde ich den Raketenwerfer auf sein Ziel richten und auf Fernzündung umstellen. Dann könnte ich zum Telefon gehen, das Opfer anrufen und den Abschuß der Rakete auslösen, solange der Bedauernswerte noch am Apparat ist. Auf diese Wei se könnte ich ihn mit tödlicher Sicherheit erledigen. So, wie das Unternehmen ausgeführt worden ist, deutet alles darauf hin, daß jugendliche Kriminelle dahinterstecken.« Cowder sah zur Tür. »Glauben Sie, daß wir schon hineinkönnen? Das Gift müßte ja inzwischen abge saugt sein.« Mike stand auf. »Ich glaube auch. Die Klimaanla gen habe ich überprüft; sie funktionieren noch, und die Filter sind leistungsfähig genug, mit einer ganzen Menge Blausäure fertig zu werden. Außerdem ist ja das Fenster offen. Aber – sollten wir nicht auf die 38
Leute vom Labor warten?« Cowder schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Sie sind in ein paar Minuten hier, werden aber auch nicht viel mehr tun können, als zu bestätigen, was wir be reits wissen.« Mike nahm seinen Ionisator vom Schreibtisch, ging zur Tür und führte ihn am Klebeband entlang. Es löste sich ab und fiel auf den Boden. »Haben Sie eine Idee, wo die Rakete abgeschossen worden sein könnte?« »Ich bin mir sogar ziemlich sicher«, sagte Cowder. »Vor ein paar Minuten haben wir einen Anruf von der St.-Johns-Kathedrale bekommen.« Der Rest des Klebebands löste sich, und Mike öff nete die Tür. Sie widersetzte sich ein wenig, aber sie ging auf. Der Bittermandelgeruch war so schwach, daß man ihn beinahe nicht mehr wahrnehmen konn te. Cowder deutete auf das zersplitterte Fenster in der Turmspitze der Kathedrale. »Das ist die Abschuß stelle. Wir wissen nicht, wie sie da hinaufgekommen sind, aber sie haben es jedenfalls geschafft.« »Sie?« »Zwei Personen. Als sie zu fliehen versuchten, wurden sie von ein paar Geistlichen und zwei Beam ten der Kirchenpolizei entdeckt. Die Jugendlichen ließen ihren Raketenwerfer und zwei unbenutzte Fernlenkgeschosse fallen und rannten davon. Resul 39
tat: ein toter Halbwüchsiger, ein anderer geflohen. Einer der Polizisten ist von einem Vibromesser am Arm getroffen worden, einer der Geistlichen erlitt eine schwere Bauchverletzung. Er schwebt nicht in Lebensgefahr, aber es hat ihn bös erwischt.« Mike murmelte etwas vor sich hin, das ein Fluch gewesen sein könnte. »Ganz meiner Meinung«, sagte Cowder. »Können Sie sich vorstellen, warum sie das getan haben?« Mike sah sich in seiner Wohnung um. Auf den er sten Blick schien sie total zerstört zu sein, aber nähe re Betrachtung erwies, daß sich der Schaden vorwie gend auf Glas und Keramik beschränkte. Das Mobi liar war durcheinandergeschleudert, jedoch nur un wesentlich beschädigt worden. Der Raketenspreng kopf hatte offensichtlich vorwiegend Gas enthalten, so daß die zerstörerische Wirkung relativ erträglich geblieben war. »Ja, ich denke schon«, erwiderte Mike. »Ich hatte auf dem Nachhauseweg die ganze Zeit ein komisches Gefühl. Natürlich nichts Definitives. Ich versuchte herauszubekommen, ob mich jemand beschattete, aber ohne Erfolg. In der Untergrundbahn gab es zu viele Jugendliche. Ich bin der Ansicht, daß die Halbwüchsigen wuß ten, wer ich bin. Wenn sie Harrys Laden so gut aus gekundschaftet haben, wie es den Anschein hat, müssen sie mich ja mehrere Male dort bemerkt ha 40
ben. Sie wußten, daß durch meine Schuld zwei ihrer Kumpane festgenommen wurden, also beschlossen sie, mir eine Lehre zu erteilen. Einer von den Kerlen muß in diese Gegend gekommen sein, noch bevor ich bei Harry wegging. Der andere folgte mir, um auf Nummer Sicher zu gehen, daß ich wirklich heimfuhr. Da er an sich wußte, welche Richtung ich einschlug, brauchte er mir nicht allzunah auf den Fersen zu bleiben. Deshalb habe ich ihn in der Menge auch nicht entdeckt. Möglicherweise ist er sogar bis zur 116. Straße weitergefahren, damit ich ihn nicht an der 110. beim Aussteigen beobachten konnte.« »Klingt plausibel«, gab Cowder zu. »Wir wissen, wer die Jugendlichen sind. Wir schaffen die ganze Bande zum Verhör. Sie nennen sich – Sie werden lachen! –, sie nennen sich die ›Rocketeers‹.« »Sehr lustig«, meinte Mike. »Ich verstehe nur die sen Rachedurst nicht ganz. Normalerweise strengen sich diese Halbwüchsigen für ihre Kumpane nicht so an.« »Richtig«, erwiderte der Sergeant, »aber hier liegt die Sache ein wenig anders. Das Mädchen, das Sie überwältigt haben, und der Junge, der in der Kirche drüben ums Leben kam, sind Geschwister.« »Das erklärt natürlich manches«, sagte Mike. »Üble Familie, wie?« Sergeant Cowder schüttelte den Kopf. »Im Gegen teil. Die Eltern sind respektable Leute und sehr 41
wohlhabend. Sie heißen Larchmont. Die Kinder Su san und Herbert – Sue und Bert unter Freunden. Bert war sechzehn, Sue ist siebzehn Jahre alt. Sie dürften zusammen so manches Verbrechen begangen ha ben.« »Gute Familie, verdorbene Kinder«, murmelte Mike. Er schlenderte durchs Zimmer, um sich seinen Dali zu besehen. Das Bild war heruntergefallen, aber unbeschädigt. Die kleineren Schäden am Valois lie ßen sich leicht beheben. »Ich möchte nur wissen, ob die sogenannten So ziologen dafür auch eine Erklärung haben«, meinte Mike. »Aber sicher«, sagte Cowder. »Dieselbe, die sie schon seit allzu vielen Jahrzehnten liefern. Die Mut ter war schon vorher einmal verheiratet. Sie ließ sich scheiden und heiratete Larchmont. Aus ihrer ersten Ehe hatte sie einen Jungen.« »Zerrüttetes Heim und Rivalität unter den Ge schwistern? Quatsch. Und wenn es das nicht wäre, würden die Soziologen eben eine andere Entschuldi gung finden«, brauste Mike auf. »Das Merkwürdige ist, daß der ältere Halbbruder ein völlig normales und anständiges Leben geführt hat. Er war ein guter Schüler, trat in die Weltraum marine ein und hat sich nicht das geringste zuschul den kommen lassen. Dabei war er doch das eigentli che Stiefkind, nicht die beiden jüngeren Kinder.« 42
Mike lachte auf. »Na bitte, was würden die Herren Wissenschaftler wohl dazu sagen?« Es läutete, und Cowder sagte: »Das sind wahr scheinlich die Leute vom Labor. Ich bat sie herüber zukommen, sobald sie in der Kirche drüben fertig sind.« Mike schaltete den Bildschirm ein; nachdem Cowder die Männer an der Eingangstür identifiziert hatte, ließ Mike sie herein. Ein kleiner, dicklicher Mann mit dem Namen Per kins, der als erster hereinkam, wandte sich sofort an Cowder. »Wir haben eine von diesen Raketen ausei nandergenommen. Beinahe Profi-Arbeit. TNTSprengkopf mit einem mit flüssiger Blausäure gefüll ten Mantel plus Phosphathemmstoff, um eine Poly merisation zu verhüten.« Er starrte Mike ›Engel‹ an. »Glück für Sie, daß Sie nicht im Zimmer gewesen sind, sonst wäre nicht mehr viel von Ihnen übrigge blieben, Mr. Gabriel.« »Ich weiß«, sagte Mike. »Bitte, das Zimmer steht Ihnen zur Verfügung. Viel werden Sie wohl nicht damit anfangen können.« »Wahrscheinlich nicht«, meinte Perkins, »aber das werden wir ja sehen. Fangen wir an, Jungs.« Mike tippte dem Sergeant auf die Schulter. »Ich hätte Sie gerne einen Augenblick gesprochen.« Cowder nickte, und Mike führte ihn in sein Büro. Er öffnete die Schreibtischschublade und nahm das 43
kleine Päckchen heraus, in dem sich der Mechanis mus des Vibromesser-Abwehrgeräts befand. »Dieser Zufall, von dem Sie kürzlich gesprochen haben, Sergeant – bei dem die Vibromesser explo diert sind, erinnern Sie sich? Ich bin auf den Gedan ken gekommen, daß das hier vielleicht dafür verant wortlich gewesen sein könnte. Mit ein bißchen Auf frischung könnte es unter Umständen sogar eine schnellfliegende Kugel aufhalten. Aber ich würde Ihnen raten, Asbestkleidung zu tragen.« Cowder nahm das Ding und starrte es an. »Vielen Dank, Mr. Gabriel«, sagte er erfreut. »Vielleicht be nützen die Burschen etwas anderes, wenn die Vibro messer nicht mehr funktionieren, aber ich lasse mich lieber von einer Rakete abknallen als mit einem Vi bromesser zerlegen.« »Um ganz ehrlich zu sein«, meinte Mike, »ich glaube, daß das Vibromesser bei den Jugendkrimi nellen – im Augenblick sowieso nur eine Mode ist. Sie wissen ja – wenn man ein ganz toller Kerl sein will, trägt man ein Vibromesser bei sich. In einem Jahr verlegt man sich vielleicht auf Schockpistolen, aber im Augenblick gilt man als Hasenfuß, wenn man etwas anderes als ein Vibromesser führt.« Cowder steckte den Generator in die Mantelta sche. »Nochmals vielen Dank, Mr. Gabriel. Wir wer fen Ihnen auch mal wieder einen Stein in den Gar ten.« 44
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Die Firma ›M. R. Gabriel, Antriebstechnik‹, war kein Riesenkonzern, aber für ein Unternehmen, das prak tisch auf den Schultern eines einzigen Mannes ruhte, leistete es Erstaunliches. Als Mike am nächsten Morgen eintraf, nachdem er die Nacht in einem Ho tel zugebracht hatte, mußte er durch das vordere Bü ro praktisch Spießruten laufen. Mike nickte seinen Leuten zu und wurde zur Klärung von Kleinigkeiten viermal aufgehalten, bevor er sich in sein Büro retten konnte. Seine Sekretärin erwartete ihn. Sie war klein, ha ger und von mäßiger Schönheit. Ihre Figur glich ei nem Bügelbrett, ihre Seele einer Rechenmaschine. Mike war das angenehm; es verhütete Komplikatio nen im Alltagsleben. »Guten Morgen, Mr. Gabriel«, sagte sie. »Was, zum Teufel, war denn hier los?« Sie deutete auf die deformierte Tür und die Streifen Elektrostatbandes, die immer noch auf dem Boden herumlagen. Mike erklärte es ihr, und sie lauschte seinem Be richt, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern.» Ich bin froh, daß Ihnen nichts passiert ist«, meinte sie schließlich. »Was fangen Sie mit der Wohnung an?« Mike öffnete die schwere Tür und betrachtete die Verwüstung. Durch das gähnende Loch in der Glas 45
wand konnte er die hochragenden Türme der zwei hundert Jahre alten St.-Johns-Kathedrale sehen. »Rufen Sie Larry Beasley an, Helen. Ich habe sei ne Rufnummer vergessen, aber Sie finden ihn im Buch unter Innenarchitekten. Er hat die Originalplä ne und -entwürfe in seinem Büro. Er soll sie mitbrin gen. Ich möchte, daß alles wieder so gemacht wird, wie es vorher war.« »Wenn aber wieder jemand …« Sie deutete zum zersplitterten Fenster und den Kirchtürmen. »Wenn Sie mit Beasley gesprochen haben«, fuhr Mike ›Engel‹ fort, »versuchen Sie Bischof Brennan zu erreichen. Geben Sie das Gespräch hierher durch.« »Ja, Sir.« Binnen zwei Stunden begannen die Aufräumungs arbeiten in Mikes Appartement, und der rundliche Larry Beasley wanderte hin und her, um die erforder lichen Maßnahmen nebst ihren Kosten zu durchden ken. Mike hatte auch eine Vereinbarung mit dem Bi schof getroffen, wonach auf Mikes Kosten die Türme der Kathedrale durch tresorähnliche Türen gesichert werden sollten. Man dachte an schwere Stahlplatten mit Bronzeverkleidung. Da das demolierte Wohnzimmer von Arbeitern wimmelte und auch das Büro zum Durchgangsraum geworden war, zog sich Mike in sein Schlafzimmer zurück, um nachzudenken. Er nahm die Mikrokryo 46
tronsäule mit, die er am Abend zuvor von Harry be kommen hatte. »Für ein so unscheinbares Ding hast du mir schon verdammt viel Ärger gemacht«, sagte er laut zu dem Gerät. Mike wußte, daß Harry nicht im Traume daran dachte, solche Dinge zu verkaufen. Erstens war es grundsätzlich verboten, mit Bestandteilen von Robo tergehirnen zu handeln, zweitens konnte man sie, selbst auf dem schwarzen Markt, nur schwer be schaffen, so daß die wenigen, die in Harrys Hände gerieten, in den Abwehranlagen seines Ladens ihren Platz fanden. Mike hatte sich die Säule nur ausbor gen wollen, um sie einer gründlichen Prüfung zu un terziehen. Er hatte die gesamte Literatur über Mikro kryotrone studiert, aber tatsächlich bisher noch kei nes gesehen. Es gab Grund genug, neugierig zu sein. In der Antarktis ging Seltsames vor sich. Nahezu zwei Jahre zuvor hatte Minister Walling ford im Auftrag der UN-Regierung Mikes Unter nehmen – also Mike persönlich – ersucht, den An trieb und die Beschleunigungsumsetzer für ein Raumschiff zu entwerfen. An sich war das nichts Ungewöhnliches. Mr. Gabriel betrachtete solche Aufgaben als Routineangelegenheiten. Als aber die technischen Daten geliefert wurden, hatte Mike sich zu fragen begonnen, was hinter die 47
ser geheimnisvollen Geschichte eigentlich steckte. Das Raumschiff ›William Branchell‹ sollte auf der Erdoberfläche gebaut werden – obwohl es das größte aller bis dahin gebauten Raumschiffe überhaupt war. Normalerweise baute man ein Interstellarschiff in einer Kreisbahn um die Erde, wo die Konstrukteure sich nicht um die Probleme der Erdgravitation zu kümmern brauchten. Ein solches Schiff landete nie mals, wie auch ein Ozeandampfer niemals an Land gezogen wird – jedenfalls nicht absichtlich. Passagie re und Fracht wurden mit kleineren Raumfahrzeugen hinauf- und auch hinuntertransportiert, sobald das Interstellarschiff sein Ziel erreicht hatte. Abgesehen von dem riesigen Energiebedarf, der sich bei einem Raumschiff ergab, das sich vom Pla neten selbst abheben sollte, mußte auch das Magnet feld des Planeten berücksichtigt werden. Die An triebsröhren neigten dazu, beim Durchstoßen eines Magnetfeldes in der Leistung nachzulassen oder gar zu versagen. Daher Frage Nummer eins: Warum baute man die ›Branchell‹ nicht im Weltraum? Ein Teil der Antwort lag, wie Mike wußte, in den technischen Daten für die Konstruktion des Fracht raums Eins. Einmal war er sehr groß, zum andern sehr stark isoliert. Drittens hatte man ihn wie einen Tank für die Aufnahme von Flüssigkeiten entworfen. Alles schön und gut; möglicherweise sollte jemand 48
eine Ladung kalte Limonade oder Eistee transportie ren. Das Rätsel ergab sich aus der Tatsache, daß Frachtraum Eins bereits gebaut worden war. Man mußte die ›Branchell‹ rund um den Frachtraum bau en! Und das entsprach nicht gerade Mikes Vorstel lung von der schulmäßigen Art, ein Raumschiff zu konstruieren. Es war nicht genau dasselbe, als hätte man mitten in Texas einen Ozeandampfer rund um einen Öltank gebaut, aber die vorhandenen Ähnlich keiten machten Mike schwer zu schaffen. Daher also Frage Nummer zwei: Warum baute man die ›Branchell‹ rund um Frachtraum Eins auf? Daraus ergab sich Frage Nummer drei: Was be fand sich im Frachtraum Eins? Für die Antwort auf diese Frage gab es immerhin einen gewichtigen Hinweis. Die Dichte des Inhalts vom Frachtraum Eins betrug, in den Unterlagen ver merkt, 1,726 Gramm pro Kubikzentimeter. Und das war, wie Mike sehr wohl wußte, die Dichte eines Kryotrongehirns, das zu neunzig Prozent aus flüssi gem Helium und zu zehn Prozent aus Tantal und Ni ob besteht. Er betrachtete die Mikrokryotronsäule in seiner Hand. Sie leistete hundert Kiloeinheiten. Die mögli chen Zwischenverbindungen in ihr mußten also mit einem Faktor von Hunderttausend angesetzt werden. Sie brauchte lediglich in ein Bad aus flüssigem Heli 49
um eingebracht zu werden, um die Metalle superleit fähig zu machen, dann würde sie zu arbeiten begin nen. Einer seiner Freunde, der für den Datenrechner konzern arbeitete, hatte früher einmal einen Roboter gebaut und dazu eine solche Säule verwendet. Er hat te alle Regeln des Spiels und die gesamten Angaben des Buches von Oesterfeld ›Über Poker‹ einpro grammiert. Mike ›Engel‹ brauchte genau eine Stun de, um herauszufinden, wie sich der Roboter schla gen ließ. Solange Mike nach den Regeln der Vernunft spiel te, war die Maschine etwas im Vorteil, weil sie über ein perfektes Gedächtnis verfügte und schneller zu rechnen vermochte als Mike. Aber sie konnte und wollte nicht lernen, wie man bluffte. Sobald Mike zu bluffen begann, geriet der Roboter aus dem Häus chen. Das wäre nun so schlimm nicht gewesen, wenn der Roboter vom Bluffen überhaupt nichts gewußt hätte. Mike wäre dann fein heraus gewesen. Er hätte nur so lange Einsätze zu geben brauchen, bis der Ro boter zum Aufgeben gezwungen gewesen wäre. Aber der Roboter wußte, was Bluffen bedeutete. Das Dumme ist nur, daß Bluffen im wesentlichen auf unlogischen Überlegungen beruht, so daß der Robo ter keine Anhaltspunkte darüber besaß, ob Mike nun bluffte oder nicht. Die Maschine entschied sich 50
schließlich dafür, ihre Spielzüge dem Zufall zu über lassen, wobei sie sich nach Mikes vorherigen Bluff versuchen richtete. Als es soweit war, hörte Mike auf zu bluffen, wodurch er den Roboter haushoch schla gen konnte. In den Schaltsystemen der Maschine richtete das ein solches Durcheinander an, daß Mikes Freund ei ne Woche dazu benötigt hatte, das Maschinengehirn wieder davon frei zu machen. Aber was hatte es für einen Sinn, ein derartiges gi gantisches Gehirn zu bauen, wie es im Frachtraum Eins Platz finden sollte? Und warum sollte drum herum ein Raumschiff errichtet werden? Mike durchdachte das Problem von allen Seiten. Und er kam zu einem Resultat. Ein normal funktionierender Roboter kann, wenn er einmal in Gang gesetzt ist, weder abgeschaltet noch demontiert werden. Jedenfalls dann nicht, wenn man auf die gesamten Daten und Denkprozesse nicht verzichten will, die man einprogrammiert hat. Angenommen nun, die Datenrechner-Corporation hätte ein riesenhaftes Robotergehirn gebaut – gleich gültig jetzt, zu welchem Zweck, nur einmal dies un terstellt. Und ferner angenommen, man wollte es von der Erde fortbringen, dabei aber nicht das gesamte eingebrachte Datenmaterial verlieren. Wieder ohne Erkundigungen nach dem Sinn, einfach als Unterstel lung. 51
Gut und schön. Wenn ein solches Gehirn gebaut worden war und wenn es sich als erforderlich erwies, es von der Erde fortzuschaffen, und wenn das Wis sensmaterial so wertvoll war, daß man das Gehirn weder abschalten noch demontieren konnte, dann konnte es als das Gegebene gelten, um das Gehirn herum ein Raumschiff zu bauen. Mike starrte die Mikrokryotronsäule an und fragte: »Na, dann sag mir mal, wozu jemand ein Gehirn von dieser Größe brauchen könnte? Und was soll daran so bedeutsam sein?« Die Säule sagte kein einziges Wort. Das Telefon läutete. Mike drückte auf die Taste, und auf dem Bildschirm erschien das Gesicht seiner Sekretärin. »Minister Wallingford ist am Apparat, Mr. Ga briel.« »Stellen Sie durch.« Basil Wallingfords gerötetes Gesicht tauchte auf. »Ich sehe, daß Sie noch leben«, meinte er. »Was war denn gestern nacht eigentlich los bei Ihnen?« Mike seufzte und erzählte ihm, was vorgefallen war. »Mit anderen Worten«, schloß er, »die üblichen Dummheiten von halbwüchsigen Kriminellen, mit denen man sich heutzutage abfinden muß. Nichts Neues. Es lohnt sich nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.« »Sie wären ja beinahe ums Leben gekommen«, 52
meinte Wallingford. »Vorbeigeschossen ist vorbeigeschossen«, erwi derte Mike fröhlich. »Dank Ihrem Anruf war ich so ungefährdet wie in meiner eigenen Wohnung«, fügte er mit lobenswerter Unlogik hinzu. »Sie haben leicht lachen«, sagte Wallingford grimmig. »Ich nicht. Ich habe schon einen Mann ver loren.« Mikes Grinsen war wie weggewischt. »Was soll das heißen? Wen denn?« »Ach nein, umgekommen ist niemand«, versicher te Wallingford hastig. »Das habe ich damit nicht ge meint. Aber Jack Wong ist gestern mit seinem Wa gen bei einer Geschwindigkeit von zweihundert zwanzig verunglückt. Er liegt mit gebrochenem Bein und einem ausgekugelten Arm im Krankenhaus.« »Sehr bedauerlich«, brummte Mike. »Eines Tages wird sich der Narr noch den Hals brechen.« Er kann te Wong und fand ihn sympathisch. Sie hatten mit einander in der Raummarine gedient, als Mike noch aktiv gewesen war. »Hoffentlich nicht«, sagte Wallingford. »Übrigens – was die Geschichte angeht, weswegen ich Sie ge stern angerufen hatte. Sind die Unterlagen greifbar?« »Sicher, Wally. Einen Augenblick.« Er drückte auf eine Taste und rief seine Sekretärin an, als Wal lingfords Gesicht verschwand. Nachdem sich das Mädchen gemeldet hatte, sagte er: »Helen, besorgen 53
Sie mir doch die Frachtdaten für die ›William Bran chell‹ – Abteilung zwölf, die Seiten 66 bis 74.« Als Helen die Unterlagen gebracht hatte, dauerte die Diskussion nicht einmal fünf Minuten. Es handel te sich lediglich um die Überprüfung von Kosten schätzungen – aber da es um die ›Branchell‹ ging, noch dazu um den Frachtraum Eins, beschloß Mike, eine Frage zu riskieren. »Sagen Sie, Wally, was zum Teufel geht eigent lich im Stützpunkt ›Frostbeule‹ vor sich?« »Man baut ein Raumschiff«, erwiderte Walling ford knapp. Damit deutete er an, daß er keine Fragen zu be antworten wünschte, aber Mike überhörte den Wink geflissentlich. »Darauf bin ich auch schon gekom men«, sagte er trocken. »Aber ich möchte folgendes wissen: Warum baut man es um ein Kryotrongehirn herum, das alle bisherigen Vorstellungen, auch die meinigen, bei weitem übertrifft?« Basil Wallingsfords Augen weiteten sich. Volle zwei Sekunden lang starrte er vor sich hin. »Wie sind Sie denn darauf gekommen?« fragte er schließlich. »Das ergibt sich doch aus den Unterlagen«, erwi derte Mike und tippte auf die Pläne. »Lächerlich!« Wallingsfords Stimme klang ge preßt. Mike hatte sich schon zu weit vorgewagt, um noch einen Rückzieher machen zu können. »Ohne jeden 54
Zweifel, Wally. Das läßt sich nicht verbergen. Zur Errechnung der Beschleunigungsbelastung mußte ich die Dichte des Inhalts von Frachtraum Eins wissen. Und da steht die Zahl 1,726 g/cm3. Ich kenne sonst nichts, was genau diese Dichte hätte.« Wallingford schürzte die Lippen. »Du lieber Himmel«, sagte er nach einer Weile. »Ich vergesse immer wieder, daß Sie für uns alle ein bißchen zu schlau sind.« Dann breitete sich langsam ein erfreu tes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Möchten Sie wirklich Bescheid wissen?« »Sonst hätte ich mich doch nicht erkundigt«, sagte Mike. »Schön. Sie sind nämlich genau der Mann, den wir brauchen.« Mike spürte beinahe, wie sich die Schlinge um seinen Hals legte, und er hatte das unangenehme Ge fühl, sie sich selbst übergestreift zu haben. »Was soll denn nun das wieder heißen, Wally?« »Sie sind doch meines Wissens Reserveoffizier der Raummarine«, erklärte Basil Wallingford mit glatter, beinahe öliger Stimme. »Da der technische Offizier der ›Branchell‹, Jack Wong, in einem Kran kenhaus liegt, werde ich Sie als Ersatzmann zum ak tiven Dienst einberufen.« Mike fühlte, wie sich die Schlinge zusammenzog, immer enger und enger. »Das ist doch albern«, meinte er. »Ich bin seit fünf 55
Jahren nicht mehr Offizier auf einem Schiff gewe sen.« »Sie sind der Mann, der den Antrieb entworfen hat«, verkündete Wallingford liebenswürdig. »Wenn Sie nicht wissen, wie man damit umgehen muß, wer soll es denn dann wissen?« »Mein Stundenlohn ist aber sehr hoch«, bemerkte Mike. »Das Gehalt eines Raumschiffoffiziers ist gesetz lich festgelegt«, konterte Basil Wallingford mit zu traulichem Lächeln. »Ich kann mich gegen eine erneute Einberufung zur Wehr setzen – und ich komme damit durch«, er widerte Mike. Er wußte nicht, wie lange er dieses Spiel durchhalten konnte, aber es machte sehr viel Spaß. »Richtig«, gab Wallingford zu. »Das können Sie. Ich bestreite es nicht. Aber Sie haben sich doch den Kopf darüber zerbrochen, zu welchem Zweck dieses Raumschiff gebaut wird. Sie würden sich eine Hand dafür abreißen lassen, wenn Sie es erfahren könnten. Ich kenne Sie doch, Mike, und ich weiß auch genau, wie Ihr Gehirn funktioniert. Ich will Ihnen folgendes sagen: Wenn Sie diese Aufgabe nicht übernehmen, erfahren Sie niemals, warum die ›Branchell‹ gebaut worden ist.« Er beugte sich vor, und sein Gesicht füllte den Bildschirm aus. »Sie können mir glauben, wenn ich sage ›niemals‹.« 56
Mike schwieg lange Zeit. Dann lächelte er plötz lich strahlend. »Ich kapituliere«, sagte er. Wallingford zeigte sich unbeeindruckt. »Das war Ihr Glück«, erwiderte er – und schaltete ab. 7 Zwei Tage später saß Mike ›Engel‹ an seinem Tisch und stellte sicher, daß ›M. R. Gabriel, Antriebstech nik‹ auch in seiner Abwesenheit reibungslos funktio nierte. Serge Paulwitsch, sein Chefkonstrukteur, war in der Lage, beinahe mit allem fertig zu werden. Paulwitsch hatte einmal gesagt: »Mike, das Unan genehme daran, für ein Genie erster Klasse zu arbei ten, ist, daß ein Genie zweiter Klasse keine Chance hat.« »Du könntest dir ein eigenes Unternehmen auf bauen«, hatte Mike gelassen erwidert. »Ich stelle dir das Kapital zur Verfügung, das weißt du, Serge.« Serge Paulwitsch hatte ihn erstaunt angesehen. »Ich? Hältst du mich für verrückt? Jetzt bin ich ein Genie zweiter Klasse, das für ein erstklassiges Un ternehmen arbeitet. Glaubst du etwa, ich möchte als Genie zweiter Klasse in einem zweitklassigen Laden arbeiten? Ich denke gar nicht dran!« Paulwitsch konnte die Firma ohne Schwierigkeiten ein paar Monate lang leiten. 57
Helens Gesicht erschien auf dem FernsprechBildschirm. »Ein Captain Sir Henry Quill ist am Ap parat, Mr. Gabriel. Wollen Sie mit ihm sprechen?« »Der schwarze Baron?« fragte Mike. »Ich möchte nur wissen, was der will.« »Keine Ahnung, Sir.« Mike grinste. »Er unterzeichnet immer mit: ›Sir Henry Quill, Baronet‹. Vor sieben Jahren habe ich unter ihm gedient. Stellen Sie durch.« Eine halbe Sekunde später erschien das grimmige Gesicht Captain Quills auf dem Schirm. Er war glatzköpfig. Das bißchen Haar, über das er noch verfügte, wurde jeden Morgen säuberlich abra siert. Den Mangel an Haupthaar machte er jedoch durch seine großen, zottigen, kohlschwarzen Brauen mehr als wett. Jeder andere Mann hätte sie stolz als Schnurrbart getragen. »Was kann ich für Sie tun, Captain?« erkundigte sich Mike mit dem verbindlichen Tonfall des erfolg reichen Geschäftsmannes. »Sie können sich auf den Weg machen und eine neue Uniform erstehen«, knurrte Quill. »Ihr altes Ex emplar entspricht nicht mehr den Vorschriften.« Na ja, man konnte bei ihm nicht gerade von Knur ren sprechen. Wenn er die Stimme dazu besessen hätte, wäre sicher ein Knurren dabei herausgekom men, aber sein irischer Tenor klang allenfalls rauh 58
und ein wenig heiser. Er erreichte eine Größe von 1,68 Meter, und seine rote Raummarineuniform mit goldenen Tressen funkelte und blitzte. Ohne Mütze schien auch Quills Kopf säuberlich poliert worden zu sein. Mike sah ihn nachdenklich an. »Aha. Sie kom mandieren also das Rätselschiff, wie?« meinte er schließlich. »Richtig«, sagte der Captain. »Und stellen Sie mir bloß keine dummen Fragen. Ich habe genausowenig eine Ahnung, wozu das komische Ding dient, wie Sie – vielleicht nicht einmal soviel. Ich höre, daß Sie den Antrieb entworfen haben …?« Er starrte Mike fragend an. Mike schüttelte den Kopf. »Ich weiß überhaupt nichts, Captain. Ehrlich nicht.« Wenn es den Vorschriften zufolge erlaubt gewesen wäre, hätte Captain Sir Henry Quill, Baronet, einen Schnauzbart getragen. Und wenn er über einen sol chen Schnauzbart verfügt hätte, wäre er in diesem Augenblick hochgeblasen worden. Statt dessen stieß er nur Luft aus. »Dann sind wir beiden also die einzigen, die im dunkeln tappen«, meinte er. »Die übrigen Besat zungsmitglieder werden dem Stützpunkt ›Frostbeule‹ entnommen. Pet Jeffers ist Erster Offizier, falls Sie sich darüber den Kopf zerbrochen haben sollten.« »Na fein«, stöhnte Mike auf. »Das heißt also, daß 59
wir uns einem ungetesteten Schiff anvertrauen.« Quills mächtige Brauen schossen in die Höhe. »Können Sie sich auf Ihre eigene Arbeit nicht verlas sen?« »Genausogut wie Sie, vielleicht sogar mehr.« Quill nickte. »Wir müssen uns eben damit abfin den. Irgendwie haut es schon hin. Sind Sie so weit, daß Sie abfliegen können?« »Nein«, erklärte Mike entschieden, »aber das nützt mir wohl nichts?« »Eben«, sagte Captain Quill. »Melden Sie sich in vierundzwanzig Stunden im Stützpunkt ›Frostbeule‹. Von Long Island aus wird man Sie in die Antarktis bringen. Und« – er machte eine Pause, und seine Stimme rutschte eine Oktave tiefer – »Sie gewöhnen sich besser daran, mich wieder mit ›Sir‹ anzureden.« »Jawohl, Sir, Sir Henry, Sir.« »Vielen Dank, Mr. Gabriel«, knurrte Quill und schaltete ab. »Amen«, meinte Mike ›Engel‹. Der Stützpunkt ›Frostbeule‹ in der Antarktis be fand sich unmittelbar über dem magnetischen Südpol – oder er war ihm zumindest so nahe, wie man es bei diesem oft schwer definierbaren Punkt überhaupt sein konnte. Auf lange Sicht ist es billiger, wenn sich ein interstellares Raumschiff parallel, und nicht senk recht, zu den magnetischen Kraftlinien des Schwere feldes eines Planeten bewegt. Man kann ›gegen den 60
Strich‹ starten, aber der Energieverbrauch erhöht sich dadurch beträchtlich. Ein Start ›mit dem Strich‹ ist teuer genug. Einer Ionenrakete ist es ziemlich gleichgültig, wo sie aufsteigt oder landet, weil ihre Antriebsart nicht gegen die Struktur des Raumes selbst gerichtet ist. Aus diesem Grund wird ein Interstellarfahrzeug normalerweise im Weltraum zusammengebaut, und es bleibt auch dort; zum Hin- und Hertransport von Passagieren verwendet man Ionenraketen. Das kommt wesentlich billiger. Die Datenrechner-Corporation hatte auch an die Kosten gedacht, als sie ihre Forschungsstation Eins nahe dem Stützpunkt ›Frostbeule‹ errichtete, ob gleich die Gesellschaft damals noch gar nicht ahnte, wieviel Geld sie damit sparen sollte. Der Hauptgrund war damals die Senkung der Ko sten für den Energiebedarf gewesen. Eine Kryotron anlage muß ständig bei einer Temperatur von 4,2 Grad über dem absoluten Nullpunkt in einem Bad aus flüssigem Helium gehalten werden. Es ist offen sichtlich viel einfacher – und erheblich billiger –, mehrere tausend Liter Helium bei dieser Temperatur zu halten, wenn die Umwelttemperatur schon bei zweihundertdreißig Grad über dem Nullpunkt liegt, als wenn sie zweihundertneunzig oder dreihundert Grad höher gestiegen wäre. In Prozenten berechnet, mag das nicht als ins Gewicht fallend erscheinen, 61
aber im großen und ganzen ergibt sich doch eine ganz wesentliche Ersparnis. Aber Energieverbrauch hin, Energieverbrauch her, als die Corporation feststellte, daß man Snookums entweder fortschaffen oder zerstören mußte, war sie gewaltig darüber erfreut, daß sie ihre Forschungssta tion nahe dem Stützpunkt ›Frostbeule‹ errichtet hatte. Da beträchtliche Ausgaben auch für die Weltregie rung anfielen, war deren Freude mindestens ebenso groß. Die Kosten wuchsen sowieso von Tag zu Tag. Die Landschaft um den Stützpunkt ›Frostbeule‹ – der seinen Namen von einem Witzbold der amerika nischen Marine im zwanzigsten Jahrhundert erhalten hatte – gab zu keinerlei Ruhmreden Anlaß. Tausende von Quadratkilometern pulverisiertes Eis, das nichts Besseres zu tun hatte, als zwanzig Millionen Jahre in der Gegend herumzuwehen, vermögen nach den er sten Minuten wenig Begeisterung zu erwecken, wenn man nicht gerade eine morbide Vorliebe für die Schönheiten des Eistodes hat. Mike ›Engel‹ ermangelte solcher Gedanken. Für ihn war die Gegend um den Stützpunkt nichts ande res als eine weiße Hölle, und seine Analyse ent sprach ja auch den Tatsachen. Mike hätte sich ge wünscht, daß jetzt Januar, also Hochsommer in der Antarktis, gewesen wäre, damit wenigstens ein biß chen trüber Sonnenschein die Öde erhellt hätte. Mike empfand keinerlei Genuß dabei, die Antarktis mitten 62
im Winter aufsuchen zu müssen. Die Rakete, die Mike von Long Island hierherge tragen hatte, landete auf der schneebedeckten Start bahn des Stützpunktes, das kristallene Weiß zu Dampf zerblasend. Der, von den Eiswinden fortge tragene Dampf legte ganze dreißig Meter zurück, be vor er sich wieder in Eis zurückverwandelte. Mike ›Engel‹ war nicht in bester Stimmung. Es ärgerte ihn, daß er die gesamten Geschäftsangele genheiten binnen vierundzwanzig Stunden an Serge Paulwitsch hatte übergeben müssen. Er wußte, daß Paulwitsch damit fertig werden würde, aber es war nicht fair, ihn so unvorbereitet damit zu belasten. Überdies war Mike mit der Art nicht einverstan den, wie das Projekt ›Branchell‹ gehandhabt wurde. Man schien überhastet und unachtsam vorzugehen, ja, schlimmer noch, man handelte geheimnisvoll und melodramatisch. »Wenn ich schon in die Antarktis muß«, murrte er, als sich die Tür der Rakete öffnete, »warum dann ausgerechnet im Juli?« Der Pilot, ein junger Mann Mitte Zwanzig, sagte selbstzufrieden: »Der Juli ist schlecht, aber deswegen kann man den Januar noch nicht gut nennen.« Mike sah ihn finster an. »Freundchen, ich war hier schon Kadett, als Sie noch in die Schule gingen. Verändert hat sich hier gar nichts, gleichgültig, ob Sommer oder Winter ist.« 63
»Tut mir leid, Sir«, sagte der Pilot steif. »Mir auch«, erwiderte Mike. »Vielen Dank für den glatten Flug.« Er stieß die Außentür auf, wickelte sich fester in seinen Elektroanorak und stakte durch den Eisregen davon. Er brauchte nicht weit zu gehen – an die hundert Meter –, aber es war gut, daß der Weg geschützt in nerhalb des Umkreises des Stützpunktes, und nicht draußen auf der Öde lag. Hier gab es Lichter, und die geheizte Oberfläche des Weges ließ die tanzenden Eispartikel zu matschigem Regen werden. Draußen auf der Eisebene hätten die Dunkelheit und der wind gepeitschte Schnee Mike nach zehn Schritten ver schlungen. Er trat durch einen Vorhang aus heißer Luft, die durch einen schmalen Schlitz emporgeblasen wurde, und befand sich im Vorraum des Stützpunktes. Der Eingang sah wie das Portal eines Theaters aus – eine große Öffnung aus Metall und Kunststoff, wie ein auf einer Seite offener, großer Raum, den nur die Wand aus heißer Luft vor dem draußen tobenden Sturm schützte. Die Lichter und die kleinen, ins Ge bäude führenden Türen verstärkten den Eindruck, daß es sich hier weniger um einen militärischen Stützpunkt als um ein Theater handelte. Aber der an einer der Türen stehende Mann war keineswegs wie ein Platzanweiser gekleidet. Er trug 64
an seinem Uniformanorak, der ihn bis zur Nasenspit ze einhüllte, die Streifen eines Sergeants. Er näherte sich Mike und sagte: »Commander Gabriel?« Mike schüttelte Eistropfen von seinen Handschu hen und nickte, dann suchte er in seiner Gürteltasche nach dem neu erteilten Dienstausweis. Er überreichte ihn dem Sergeant, der ihn studierte, Mikes Gesicht anstarrte und dann salutierte. Als Mi ke den militärischen Gruß erwiderte, sagte der Ser geant: »Okay, Sir, Sie können hineingehen. Das Si cherheitsbüro befindet sich im ersten Korridor rechts, nach der Doppeltür.« Mike bemühte sich, seine Überraschung zu ver bergen. »Sicherheitsbüro? Haben wir denn etwa Krieg oder was? Wozu braucht man hier einen Si cherheitsoffizier?« Der Sergeant zuckte die Achseln. »Fragen Sie bloß mich nicht, Commander. Ich bin hier nur angestellt. Vielleicht weiß Leutnant Nariaki etwas. Ich be stimmt nicht.« »Danke, Sergeant.« Mike trat durch zwei isolierte und wetterfeste Tü ren ein, die unmittelbar hintereinander angebracht waren, wie in den Luftschleusen eines Raumschiffes. Im warmen Korridor angelangt, öffnete er den Reiß verschluß seines Elektroanoraks, schaltete den Strom ab und nahm die Kapuze mit der beschlagsicheren Schutzmaske ab. 65
Weiter unten im Korridor sah Mike eine Bürotür mit der Aufschrift ›Sicherheitsoffizier‹ in Kleinbuch staben. Er ging darauf zu. An der Tür stand wieder ein Posten, der Mikes Dienstausweis studieren muß te, bevor Mike eintreten durfte. Leutnant Tokugawa Nariaki war ein mittelgroßer, schläfrig aussehender Mann mit Bürstenhaarschnitt und mürrischem Gesicht. Er sah von seinem Schreibtisch auf, als Mike he reinkam, und ein hoffnungsvolles Lächeln versuchte sich Bahn zu schaffen. »Wenn Sie Commander Ga briel sind, dann nehmen Sie sich in acht«, sagte er sanft. »Es kann sein, daß ich Ihnen vor Erleichterung plötzlich um den Hals falle.« »Dann halten Sie sich zurück«, meinte Mike. »Ich bin Gabriel.« Nariaki lächelte befreit. »So! Na prima! Seit fünf Stunden faucht mich alle dreißig Minuten das Tele fon an. Captain Sir Henry Quill verlangt nach Ih nen.« »Das kann ich mir denken«, erwiderte Mike. »Wie komme ich zu ihm?« »Das dauert noch ein bißchen«, meinte Nariaki mit einer abwehrenden Handbewegung. »Unsere Gäste haben sich einigen Formalitäten zu unterziehen.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel Fingerabdrücke und Netzhautstruk turen«, erklärte Leutnant Nariaki. 66
Mike hob stumm den Blick zum Himmel und starrte dann den Leutnant wieder an. »Leutnant, was geht hier eigentlich vor? Seit über dreißig Jahren gibt es in der Raummarine keinen Sicherheitsoffizier mehr. Welcher Verbrechen verdächtigt man mich denn? Daß ich Spionage für die bösartigen und ge fährlichen Lebewesen von Diomega Orionis IX trei be?« Nariakis Asiatengesicht nahm wieder einen mürri schen Ausdruck an. »Woher soll ich das wissen? Wer weiß schon, was hier gespielt wird?« Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch und geleitete Mike zur Fingerabdruckmaschine. »Stecken Sie hier Ihre Hände hinein, Commander … Ja, sehr schön!« Er drückte auf einen Knopf, die Maschine begann zu summen, und Nariaki sagte: »Das, was ich hier treibe, ist ein bißchen unmodern, zugegeben. Mir macht es genauso wenig Spaß wie Ihnen. Als näch stes muß ich vielleicht Kettenhemden polieren oder eine Musketierkompanie befehligen.« Mike sah ihn scharf an. »Leutnant, soll das wirk lich heißen, daß Sie nicht wissen, was hier vorgeht, oder spielen Sie Theater?« Nariaki erwiderte Mikes Blick, und zum erstenmal wurde sein Gesicht undurchdringlich. Er schwieg einige Zeit, dann meinte er: »Von beidem etwas, Commander. Aber zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber. Ich versichere Ihnen, daß Sie binnen 67
einer Stunde mehr über das Projekt wissen, als ich in zwei Jahren herausfinden konnte … Stecken Sie jetzt bitte den Kopf da hinein und halten Sie die Augen geöffnet. Wenn Sie den Zielpunkt sehen, sagen Sie es mir.« Mike steckte den Kopf in den Kasten für die Netz hautfotos. Der weiche Schaumgummi preßte sich um sein Gesicht, und Mike starrte in undurchdringliches Dunkel. Er richtete den Blick auf den kaum sichtba ren Zielkreis und wartete, bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. »Ich sorge lediglich dafür, daß kein Unbefugter den Stützpunkt betritt«, fuhr der Sicherheitsoffizier fort. »Ansonsten bleiben mir nur Vermutungen und gelegentliche Informationsbröckchen, über die ich leider nicht sprechen darf.« Mikes Pupillen hatten sich so weit vergrößert, daß er den winzigen Punkt in der Mitte des Zielkreises sehen konnte, der wie ein weit entfernter Stern fun kelte. »Los!« sagte er. Grelles Licht blitzte auf. Mike zog seinen Kopf aus der Öffnung und blinzelte. Leutnant Nariaki verglich die eben gefertigten Fingerabdrücke mit denjenigen in seiner Kartei. »Immerhin«, meinte er, »Sie haben wenigstens Commander Gabriels Hände. Wenn Sie auch seine Augen besitzen, muß ich unterstellen, daß auch der Rest des Körpers ihm gehört.« 68
»Und wie steht es mit meiner Seele?« fragte Mike trocken. »Dafür bin ich nicht zuständig, Commander«, er widerte Nariaki, als er die Netzhautfotos aus der Ma schine zog. »Vielleicht weiß da einer von den Pfar rern Bescheid.« »Wenn sich das im ganzen Stützpunkt abspielt«, sagte Mike, »dann kann ich mir vorstellen, daß die Pfarrer allerhand zu tun haben.« Der Leutnant steckte die Netzhautbilder in die Prüfmaschine, studierte sie und nickte dann. »Sie sind Sie«, erklärte er. »Geben Sie mir Ihren Dienst ausweis.« Mike überreichte ihn, und Nariaki ließ ihn durch einen Apparat laufen, der in die obere linke Ecke der Identitätskarte ein verschnörkeltes Siegel stempelte. Der Leutnant setzte seine Unterschrift auf diese Stel le und gab Mike den Ausweis zurück. »Das war’s«, sagte er. »Sie können –« Das Leuten des Telefons kam dazwischen … »Einen Augenblick, Commander«, knurrte er und drückte auf die Empfangstaste. Mike war außer Reichweite des Fernsehauges, und er konnte das Gesicht auf dem Bildschirm nicht se hen, aber die Stimme war so leicht zu erkennen, daß er den Mann nicht vor Augen zu haben brauchte. »Ist diese idiotische Rakete immer noch nicht ge landet, Leutnant? Wo steckt Commander Gabriel?« 69
Mike wußte, daß Quill längst über die Landung der Rakete informiert war. Es handelte sich um eine rein rhetorische Frage. Mike grinste. »Sagen Sie dem alten Tyrannen, daß ich komme, sobald der Sicherheitsoffizier mit mir fertig ist«, erklärte er mit deutlich vernehmbarer Stimme. Nariakis Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Ich bin fertig, Commander, und Sie können –« »Schicken Sie diese Apollo-Imitation ‘rüber, dalli, dalli!« fauchte Quill. »Ich werde ihm gleich mal zei gen, was Tyrannei ist.« Das Gerät wurde abgeschaltet. Nariaki starrte Mike an und schüttelte langsam den Kopf. »Entweder wollen Sie möglichst bald vors Kriegsgericht, oder Sie wissen, wo Quill die Leiche vergraben hat.« »Das will ich meinen«, gab Mike zurück. »Ich war ihm ja schließlich beim Eingraben behilflich. Wie komme ich denn auf dem schnellsten Weg zu Seiner despotischen Majestät?« Nariaki überlegte: »Dazu brauchen Sie fünf oder sechs Minuten. Nehmen Sie den unterirdischen Gang zur Station Zwölf. Steigen Sie auf der Treppe bis zur Oberfläche hinauf, und biegen Sie in den ersten Kor ridor links ein. Dann haben Sie das Verladedock für diese Station erreicht. Es liegt im Freien, wie der Landeplatz, also müssen Sie Ihren Anorak wieder 70
überziehen. Gehen Sie auf der anderen Seite die Treppe hinunter, dann befinden Sie sich in der Zone K. Dort wird Ihnen einer der Posten erklären, wie es weitergeht. Sie könnten natürlich auch Untergrund hinüberkommen, aber das dauert länger.« »Schon gut. Ich benütze die Abkürzung. Und vie len Dank.« 8 Die Untergrundbahn beförderte Mike ›Engel‹ mit hoher Geschwindigkeit über eine Gleisstrecke von acht Kilometern. Auf Station Zwölf verließ Mike den Wagen, stieg die Treppe hinauf und marschierte den Korridor entlang, bis er eine massive Doppeltür mit der Aufschrift ›frachtverladung‹ erreichte. Er zog den Reißverschluß seines Anoraks hoch und stülpte sich die Kapuze über, dann trat er durch die Tür. Der Vorraum war leer und wie jener am Start- und Landeplatz nur durch einen Vorhang aus heißer Luft vor dem Eissturm geschützt. Außerhalb dieses Vorhangs schien sich das Licht in der Dunkel heit der weißen Öde zu verlieren. Mike ignorierte die Schneelandschaft und stapfte durch den leeren Vor raum in Richtung einer Tür mit der Bezeichnung ›eingang‹. »Mit kleinem ›e‹«, murmelte Mike ›Engel‹ vor sich hin. »Dem Schriftenmaler sind wohl die Groß 71
buchstaben ausgegangen.« Er war zwei Meter von der Tür entfernt, als er den Schrei hörte. »Hilfe!« Das war alles. Nur dieses eine Wort. Der Vorraum war sehr groß, etwa fünfzehn mal fünfzehn Meter und nahezu sechs Meter hoch. Und er war ganz offensichtlich leer. An der offenen Seite bemühte sich die zischende Wand aus heißer Luft, den Raum vor dem Eissturm zu schützen. Dem Luft vorhang gegenüber befand sich eine riesige, im Au genblick geschlossene Schiebetür, die vermutlich zu einem Frachtaufzug führte. Ein Verlassen des Foyers gestatteten nur noch zwei weitere Türen, die ebenfalls geschlossen waren. Mike wußte, daß durch diese mas siv isolierten Türen kein Schrei zu dringen vermochte. »Hilfe!« Mike wandte sich dem Luftvorhang zu. Diesmal gab es keinen Zweifel. Jemand war in diese heulende Eiswolke draußen geraten! Mike sah eine Gestalt – verschwommen, undeut lich, die meiste Zeit von den dahinbrausenden Schneewirbeln verhüllt. Es sah so aus, als sei der Ge strandete bis zu den Hüften im Schnee versunken. Mike versuchte die Situation abzuschätzen. Dort draußen war es dunkel, aber er konnte die Gestalt sehen. Er würde deshalb auch die Lichter des Vor raums erkennen können, und damit kam er nicht in 72
Gefahr, sich zu verirren. Er klappte die Schutzmaske der Kapuze herunter, rannte durch den schützenden Luftvorhang und stürmte in die tödliche Kälte des antarktischen Blizzards hinaus. Trotz seines Elektroanoraks kam er nur langsam vorwärts. Der Schnee klebte an der Schutzmaske, und der Wind versuchte ihn von den Beinen zu rei ßen. Er wischte mit dem Handschuh über die Maske. Vor sich konnte er immer noch die winkenden Arme sehen. Mike kämpfte sich weiter. Bei vierzig Grad unter Null ist gefrorenes H2O keinesfalls mehr weich und fedrig, ja nicht einmal mehr glitschig. Es gleicht vielmehr feinkörnigem Sand. Mike rechnete sich aus, daß er etwa fünfzehn Meter zurücklegen mußte, aber nach acht Schritten schien die winkende Gestalt genauso weit entfernt wie vorher. Mike blieb stehen und klappte die Maske hoch. Er hatte das Gefühl, als werfe man ihm eine Handvoll Rasierklingen ins Gesicht. Er zuckte zusammen und schrie: »Was ist los?« Dann klappte er die Schutz maske wieder herunter. »Mich friert!« tönte eine klare Altstimme durch den heulenden Sturm. Eine Frau! dachte Mike. »Ich komme!« brüllte er und stapfte weiter. Noch einmal zehn Schritte. Er blieb erneut stehen. Er konnte nichts und nie manden sehen. 73
Er klappte die Maske hoch. »Heda!« Keine Antwort. »Heda!« schrie er wieder. Und er bekam immer noch keine Antwort. Rings um Mike war nichts als tanzender, wirbelnder Schnee, kreischender, beißender Wind, und die Schwärze der antarktischen Nacht. Vorsichtig stellte er die rechte Schuhspitze hinter die linke Ferse, dann drehte er sich um hundertacht zig Grad. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Lichter des Vorraums waren noch zu sehen. Er hatte beinahe schon vermutet, daß jemand sich bemühe, ihn hier draußen in eine Falle zu locken, und daß die Lichter abgeschaltet worden seien. Er wandte den Kopf nach hinten, um einen letzten Blick in die Sturmnacht zu werfen. Er konnte keinen Menschen sehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zurückzugehen und über den Vorfall Meldung zu erstatten. Er machte sich auf den Rückweg. Er trat durch den Heißluftvorhang und klappte die Maske hoch. »Warum bist du in den Sturm hinausgegangen?« fragte eine klare Altstimme unmittelbar hinter ihm. Mike fuhr wütend herum. »Hören Sie, Fräulein, ich –« Er verstummte. Das Fräulein war kein Fräulein. 74
Eineinhalb Meter von ihm entfernt stand eine Ma schine. Von den Hüften aufwärts von humanoider Form, war sie unterhalb eher wie ein Tank konstru iert. Im Kopf befanden sich zwei schwarze Löcher, hinter denen sich, wie Mike vermutete, wohl Fern sehkameras irgendeiner Art verbargen. An beiden Seiten des Kopfes sah man Gitter, hinter denen wohl Mikrophone steckten, und an der Stelle, wo der Mund hingehörte, war ein weiteres Gitter angebracht. Eine Nase fehlte. »Was, zum Teufel …?« sagte Mike ›Engel‹ zu niemandem im besonderen. »Ich bin Snookums«, erklärte der Roboter. »Aber sicher bist du das«, meinte Mike und be wegte sich vorsichtig in Richtung Tür. »Du bist Snookums. Da sind wir uns völlig einig.« Mike ließ sich nicht gerne erschrecken, aber er verlor in solchen Situationen nicht die Nerven. Er hätte es allerdings vorgezogen, vor einem Wesen zu erschrecken, das weniger unberechenbar vorging, über das er ein klein wenig mehr wußte. Ein ange nehmes Wesen, wie zum Beispiel ein Bengaltiger oder ein Braunbär. »Aber ich bin wirklich Snookums«, wiederholte die klare Stimme. Mikes Gehirn arbeitete fieberhaft. Diese Maschine hatte ihn in die Eiswüste hinausgelockt – sie konnte also äußerst gefährlich sein. 75
Der Roboter wurde offenbar ferngesteuert. Die Arme und Hände gehörten zu dem Konstruktionstyp, wie man ihn zur Manipulation von radioaktiven Sub stanzen in einem Atomlabor verwendete – vier Fin ger mit Gelenken plus opponierendem Daumen, me tallene Duplikate der menschlichen Hand. Aber wer befand sich an der Steuerung? Wer lenk te die Maschine? Wer verkündete solchen Unsinn über den Lautsprecher, der dem Roboter als Mund diente? Es war zweifellos eine Frauenstimme. Mike bewegte sich immer noch rückwärts, auf die Tür zu. Die Maschine, die sich Snookums nannte, ging ihm nicht nach, was Mike einigermaßen beru higte, wenn auch nicht sehr nachhaltig. Das Ding konnte auf seinen Raupen offensichtlich weit schnel ler vorwärtskommen als Mike auf seinen Beinen, zumal sich Mike rückwärts bewegte. »Würde eine Erklärung, was das alles soll, nicht angebracht sein, Miss?« fragte Mike. Er rechnete nicht mit einer Antwort, er wollte nur Zeit gewinnen. »Ich bin keine Miss«, erklärte der Roboter. »Ich bin Snookums.« »Na schön, lassen wir das einmal beiseite«, meinte Mike. »Könntest du mir nun vielleicht eine Erklä rung geben?« »Ja«, sagte Snookums, »das kann ich.« Mikes Finger tasteten hinter seinem Rücken nach der Türklinke. Bevor er sie jedoch ergreifen konnte, 76
bewegte sie sich und die Tür ging auf. Sie traf ihn mit voller Wucht in den Rücken, und er stolperte ein paar Schritte nach vorn, bevor er sein Gleichgewicht wiedergewonnen hatte. Eine klare Altstimme sagte: »Oh, entschuldigen Sie vielmals.« Es war dieselbe Stimme wie jene des Roboters! Mike fuhr herum, um gegen den zweiten Roboter gewappnet zu sein. Diesmal war es eine junge Dame. »Entschuldigen Sie«, wiederholte sie. Ein Elektro anorak verhüllte sie bis zur Nasenspitze, aber es gab keinen Zweifel, daß sie ein Mensch und sogar sehr eine Frau war. Sie kam herein und sah den Roboter an. »Snookums! Was tust du denn hier?« »Ich habe ein Experiment unternommen, Leda«, erklärte Snookums. »Dieser Mann da hat mich eben danach gefragt. Ich wollte nur herausfinden, ob er kommt, wenn ich ›Hilfe‹ rufe. Das hat er getan, und ich möchte wissen, warum.« Das Mädchen warf Mike einen Blick zu. »Würden Sie Snookums bitte sagen, warum Sie in den Sturm hinausgegangen sind? Bitte – seien Sie nicht wütend –, sagen Sie ihm einfach Bescheid.« Mike begann zu begreifen. »Ich bin hinausgegan gen, weil ich glaubte, einen Menschen um Hilfe ru fen zu hören – und die Stimme schien die einer Frau zu sein.« 77
»Ah«, sagte Snookums ein wenig niedergeschla gen – wenn das bei einem Roboter möglich ist. »Die Reaktion beruhte also auf einem Mißverständnis. Damit sind die Daten ungültig. Ich muß wieder von vorne anfangen.« »Das ist nicht nötig, Snookums«, meinte das Mäd chen. »Dieser Mann ist hinausgegangen, weil er glaubte, ein Menschenleben sei in Gefahr. Er hätte es nicht getan, wenn er gewußt hätte, daß du es warst, weil ihm dann klar gewesen wäre, daß du nicht in Gefahr gewesen bist. Du kannst ja wesentlich tiefere Temperaturen ertragen als ein Mensch, weißt du.« Sie wandte sich an Mike. »Trifft es zu, wenn ich sa ge, daß Sie nicht in den Blizzard hinausgegangen wären, wenn Sie gewußt hätten, daß Snookums ein Roboter ist?« »Völlig richtig«, erwiderte Mike im Brustton der Überzeugung. Sie sah wieder Snookums an. »Unternimm dieses Experiment nicht noch einmal. Es ist gefährlich für einen Menschen, wenn er sich in den Blizzard hi nausbegibt, selbst in einem Elektroanorak. Du ris kierst damit, daß ein Menschenleben in Gefahr ge rät.« »Ach du meine Güte!« sagte Snookums. »Tut mir leid, Leda!« Die Stimme klang wirklich ängstlich. »Schon gut, Liebling«, sagte das Mädchen hastig. »Der Mann hat sich nicht weh getan, also brauchst 78
du dich nicht aufzuregen. Komm jetzt. Du solltest nicht ohne Erlaubnis hier herumlaufen.« Mike hatte bemerkt, daß das Mädchen die ganze Zeit eine Hand am Gürtel hatte – und daß ihr Dau men eine kleine Taste an einem dort befestigten Kästchen niederdrückte. Er hatte sich schon darüber gewundert, aber das Rätsel wurde schnell gelöst. Die Tür hinter ihm öffnete sich wieder, und vier Männer hasteten heraus. Jeder trug eine Armbinde mit dem Text ›SICHERHEITSPOLIZEI‹. Wenigstens Großbuchstaben, dachte Mike, als er sich umdrehte, um sie anzustarren. Einer von ihnen deutete mit dem Daumen auf Mi ke. »Ist er das, Miss Crannon?« Das Mädchen nickte. »Das ist er. Er hat Snookums gesehen. Kümmern Sie sich um ihn.« Sie sah Mike ›Engel‹ an. »Es tut mir leid, wirklich. Aber es gibt keine andere Möglichkeit.« Sie öffnete die Tür und betrat das Gebäude. Der Roboter rollte hinter ihr her. Als sich die Tür hinter den beiden schloß, sagte der Polizist, der Mike am nächsten stand: »Zeigen Sie mal Ihren Ausweis.« Mike begriff, daß sein eigener Anorak keine Rangabzeichen hatte, aber der Ton des Burschen ge fiel ihm trotzdem nicht. »Los, los«, fauchte der andere. »Wer sind Sie?« Mike zog seinen Ausweis aus der Tasche und reichte ihn dem Polizisten. »Da steht, wer ich bin«, 79
sagte er. »Wenn Sie lesen können, versteht sich.« Der Mann starrte ihn grimmig an und riß ihm den Ausweis aus der Hand. Als er den von Leutnant Na riaki angebrachten Stempel sah, weiteten sich seine Augen. Er hob den Kopf. »Entschuldigen Sie, Sir. Ich wollte nicht –« »Das setzt doch allem die Krone auf!« unterbrach ihn Mike. »Nicht zu fassen! In den letzten drei Minu ten haben sich bei mir eine Frau, ein Roboter und ein Polizist entschuldigt. Als nächstes wird ein Pinguin hereinwatscheln, seinen Zylinder abnehmen und sich hier auf Pinguinisch demütigen. Was, zum Teufel, wird hier eigentlich gespielt?« Die vier Polizisten machten verlegene Gesichter. »Das sind nur Sicherheitsvorkehrungen, Sir«, sag te der Anführer gepreßt. »Außer den Personen, die mit dem Projekt zu tun haben, darf niemand etwas über Snookums erfahren. Alle anderen müssen wir in Schutzhaft nehmen.« »Da sind Sie ja sicher sehr bedient«, meinte Mike. »Ich nehme an, daß der Apparat an Miss Sowiesos Gürtel Alarm geschlagen hat?« »Miss Crannon … Jawohl, Sir. Miss Crannon ist außerdem noch mit einem Detektor ausgerüstet, da mit sie Snookums nicht aus den Augen verliert. Sie ist so eine Art Aufpasserin, wissen Sie.« »Nein«, sagte Mike, »ich weiß nichts. Aber ich werde schon noch dahinterkommen. Ich möchte zu 80
Captain Quill. Wo ist er?« Die vier Männer sahen einander an. »Ich weiß es nicht, Commander«, erklärte der An führer. »Ich habe gehört, daß heute ein paar neue Leute gekommen sind, aber ich kenne noch nicht al le. Sie sprechen wohl am besten mit Dr. Fitzhugh.« »Das sind die Vorzüge der Geheimniskrämerei«, meinte Mike. »Und wo finde ich diesen Dr. Fitz hugh?« Der Polizist warf einen Blick auf seine Uhr. »Er sitzt jetzt unten im Kasino. Er ist zur Kaffeestunde pünktlich wie ein Satellit.« »Ich bin froh, daß Sie nicht ›Uhrwerk‹ gesagt ha ben«, erwiderte Mike. »Von Maschinen habe ich heute genug. Wo ist denn nun dieses Kasino?« Der Polizist gab ihm die erforderliche Auskunft, und Mike stieß die Tür mit der Aufschrift ›Eingang‹ auf. Er mußte noch durch eine weitere Tür, an der wieder zwei Polizisten standen, die seinen Ausweis prüften; dann wanderte er durch zahlreiche Korrido re, die in den unmöglichsten Winkeln zueinander verliefen, aber schließlich fand er das Kasino. Er hielt den Erstbesten an und bat ihn, ihm Dr. Fitzhugh zu zeigen. Der Mann war ihm gefällig; er deutete auf einen kleinen, älteren Herrn, der allein an einem Tisch saß. Mike drängte sich durch die tablettbalancierenden Menschentrauben und erreichte schließlich mit Mühe 81
den Tisch, an dem sich der Einzelgänger niedergelas sen hatte. »Dr. Fitzhugh?« Mike streckte ihm die Hand ent gegen. »Ich bin Commander Gabriel. Minister Wal lingford hat mich zum technischen Offizier der ›Branchell‹ ernannt.« Dr. Fitzhugh schüttelte Mike die Hand. Mike hatte sich bereits seines Anoraks entledigt. Er hängte ihn über die Stuhllehne und sagte: »Ich kann mir doch eine Tasse Kaffee genehmigen, Dok tor? Ich komme von oben, und die Kälte dringt ei nem bis ins Mark.« Er schwieg einen Augenblick. »Trinken Sie auch noch eine Tasse mit?« Dr. Fitzhugh warf einen Blick auf seine Uhr. »Für eine reicht die Zeit noch, danke.« Bis Mike mit den Tassen zurückkam, war ihm auch eingefallen, wo er den Namen Fitzhugh schon einmal gehört hatte. »Ich bin eben drauf gekommen«, erklärte er, als er sich an den Tisch setzte. »Sie müssen Dr. Morris Fitzhugh sein.« Fitzhugh nickte. »Stimmt.« Er sah ständig sorgen zerquält aus, so daß sein Gesicht faltenreicher wirkte, als seine fünfzig Lebensjahre das rechtfertigten. Mi ke war persönlich der Ansicht, daß Fitzhughs Ohren einander an der Nase begegnen würden, wenn er sich wirklich ernsthaft bemühen sollte, besorgt auszuse hen. 82
»Ich habe ein paar von Ihren Artikeln im ›Journal‹ gelesen«, erklärte Mike, »brachte aber Ihren Namen damit nicht in Zusammenhang, bis wir uns jetzt ken nengelernt haben. Ich erkannte sie nach Ihrem Bild in der Zeitung.« Fitzhugh lächelte, wodurch die Falten in seinem Gesicht nur um so tiefer und weitverzweigter schie nen. Mike gebrauchte die nächsten Minuten dazu, sein Gegenüber abzuschätzen, dann erzählte er von sei nem Erlebnis mit Snookums, was Dr. Fitzhugh zu einer Erklärung Anlaß gab. »Er brauchte natürlich keine Hilfe. Er wollte expe rimentieren. Auf vielen Gebieten der Erkenntnis und des Wissens ist er naiv wie ein Kind.« Mike nickte. »Kein Wunder. Zuerst hielt ich ihn für eine ferngesteuerte Apparatur, aber ich sah dann, daß er ein richtiger, echter Roboter ist. Wer hat ihm die Idee eingegeben, sich auf ein derartiges Experi ment zu verlegen?« »Niemand«, erwiderte Dr. Fitzhugh. »Er ist so konstruiert, daß er sich seine Experimente selbst aus denkt.« Mike starrte Dr. Fitzhugh an. »Seine eigenen Ex perimente? Aber ein Roboter –« Fitzhugh hob eine knochige Hand. Mike ver stummte. »Snookums ist kein gewöhnlicher Roboter, Com 83
mander«, verkündete Fitzhugh. Mike wartete auf zusätzliche Erläuterungen. Als der andere schwieg, meinte er: »Darauf bin ich auch schon gekommen.« Er schlürfte seinen Kaffee. »Die Maschine, die ich gesehen habe, ist tatsächlich eine ferngesteuerte Apparatur, nicht wahr? Snookums ei gentliches Gehirn befindet sich im Frachtraum Eins der ›William Branchell‹.« »Richtig.« Dr. Fitzhugh begann in mehreren An zugtaschen zu kramen. Er holte einen Tabaksbeutel, eine Pfeife und ein Feuerzeug hervor. Während er das Pfeifenraucher-Ritual von Stopfen, Festklopfen und Anzünden vollführte, fing er zu sprechen an. »Snookums ist ein selbsttätiger, problemerfor schender Roboter, dessen Sinnes- und Aktionswerk zeuge denen des Menschen vergleichbar sind.« Mit knochigem Zeigefinger stopfte er Tabak in den Pfei fenkopf. »Er kommt einem lebenden Wesen so nahe, wie nichts von Menschenhand Geschaffenes jemals zuvor.« »Und was ist mit den synthetischen Zellen, die an der Universität Boston in Arbeit sind?« erkundigte sich Mike mit unschuldiger Miene. Fitzhughs Gesicht wurde noch faltiger. »Ich hätte sagen sollen, ›lebende Intelligenz‹«, korrigierte er sich. »Er ist ein echter Roboter, im ursprünglichen, alten Sinn dieses Wortes, eine künstliche Wesenheit, die nahezu alle Funktionen eines lebenden, intelli 84
genten Wesens auszuüben vermag. Und gleichzeitig verfügt er über die Präzision und Geschwindigkeit, die bei Kryotrongeräten sprichwörtlich ist.« Mike schwieg, während Fitzhugh sein Feuerzeug aufschnappen ließ, die Flamme in den Pfeifenkopf lenkte und dicke Rauchwolken ausstieß, die sein Ge sicht für Augenblicke verbargen. Während der Robotiker paffte, ließ Mike seinen Bück müßig über die anderen Leute im Kasino glei ten. Er fragte sich, wie lange er wohl noch mit Fitz hugh sprechen konnte, bevor Captain Quill anfing. Und dann sah er das rothaarige Mädchen. Es hat selten Sinn, ein wirklich schönes Mädchen zu beschreiben. Jeder Mann hat seine eigenen Vor stellungen davon, was ein Mädchen braucht, um ›hübsch‹, ›bezaubernd‹ oder ›wunderbar‹ oder ir gendein anderes Adjektiv zu sein, mit dem man das Hauptwort ›Mädchen‹ zu verzieren pflegt. Aber ›schön‹ ist ein kultureller Begriff, zumindest in Be ziehung auf Frauen, und es hat keinen Zweck, einen solchen Begriff beschreiben zu wollen. Jedermann kennt ihn, und Beschreibungen wirken lediglich mo noton und langweilig. Dieses spezielle Beispiel entsprach nun in jeder Beziehung der Definition ›schön‹, wie sie Anno Do mini 2087 in der Kultur der weißen ameriko europäischen Unterklasse der Menschheit Gültigkeit hatte. Die Elemente und Proportionen sowie die 85
Symmetrie entsprachen dem Idealbild beinahe voll kommen. Es erweist sich daher nur als erforderlich, einige nebensächlichere Einzelheiten zu erwähnen, bei denen Abweichungen gestattet sind, ohne daß sie das Ideal entstellen würden. Die junge Dame hatte rotes Haar, blaue Augen und sie trug einen grünen Anzug. Und sie steuerte auf den Tisch zu, an dem Mike und Dr. Fitzhugh saßen. »… eine derart riesige Zahl von Elementen«, er klärte Dr. Fitzhugh gerade, »daß es möglich – und erforderlich – wurde, innerhalb der AuswahlSchaltsysteme eine gewisse Willkür zuzulassen. Ah! Hallo, Leda!« Mike und Fitzhugh erhoben sich. »Leda, das ist Commander Gabriel, der technische Offizier der ›Branchell‹«, stellte Fitzhugh vor. »Commander, Miss Leda Crannon, unsere Psycholo gin.« Mike hatte die junge Dame von oben bis unten studiert, aber als er den Namen ›Crannon‹ hörte, sah er auf und begegnete ihrem Blick. Er hatte sie ohne ihren Anorak nicht erkannt und ohne den Anführer der Sicherheitspolizisten auch ihren Namen nicht gewußt. Offensichtlich erinnerte sie sich an Mike überhaupt nicht, aber ihr Blick schien doch ein wenig fragend. Sie lächelte verwirrt. »Kennen wir uns nicht, 86
Commander?« Mike grinste. »Moment mal! Das hätte ich doch sagen müssen, oder nicht?« Sie lächelte ihn bezaubernd an, dann weiteten sich ihre Augen. »Ihre Stimme! Sie sind der Mann im Vorraum gewesen? Der Mann …« »… dem Sie die Polizei auf den Hals gehetzt ha ben«, ergänzte Mike freundlich. »Aber entschuldigen Sie sich bitte nicht; Sie haben das mehr als wettge macht.« Sie lächelte ihn immer noch an. Offensichtlich war sie von seiner Erscheinung angenehm berührt. »Wo her sollte ich wissen, wer Sie sind?« »Das hätte ja auf meinem Taschentuch stehen können«, meinte Mike ›Engel‹, »aber Offiziere füh ren solche Dinge nicht.« »Wie bitte?« »Schon gut«, sagte Mike. »Wollen Sie sich nicht setzen?« »Oh, ich kann nicht, vielen Dank. Ich wollte nur Fitz abholen. Die Forschungsgruppe ist zusammen gerufen worden, und nachher müssen wir den Offi zieren der ›BrancheIl‹ einen Vortrag halten.« »Würden Sie uns bitte entschuldigen, Comman der?« sagte Dr. Fitzhugh. »Wir sehen Sie dann später bei der Besprechung. « Mike nickte. »Ich muß mich auf die Socken ma chen.« 87
Aber er blieb stehen, als Leda Crannon und Dr. Fitzhugh das Kasino verließen. Miss Crannon bot beim Weggehen einen genauso bezaubernden An blick wie von vorn. 9 Captain Sir Henry Quill saß in einem altmodischen, zu weich gepolsterten Formylsessel und kaute wü tend an einer nicht brennenden Zigarre. Sein kahler Kopf glänzte wie eine rosafarbene Billardkugel und wetteiferte in seiner Pracht beinahe mit den goldenen Rangabzeichen an seinem scharlachroten Uniform rock. Mike hatte endlich durch das Labyrinth unterirdi scher Gänge zu der Tür mit der Aufschrift ›messe 9‹ gefunden und hatte sie leise geöffnet, in der Hoff nung, man würde sein Zuspätkommen nicht bemer ken, ohne allerdings sehr fest an diese Möglichkeit zu glauben. Er hatte recht. Quill starrte genau auf die Tür, als sie sich öffnete. Mike atmete tief ein und trat uner schrocken in den Raum, einen schnellen Blick auf die Gesichter der anderen Offiziere werfend. »So, so, Mr. Gabriel«, sagte Quill. Die Stimme klang ölig, aber ein ätzender Unterton ließ sich nicht überhören. »Sie kommen nicht nur zu spät, sondern auch inkognito. Wo ist denn Ihre Uniform?« 88
Einer der jüngeren Offiziere konnte ein leises Ki chern nicht unterdrücken. Bevor Mike zu einer Ant wort ansetzte, fuhr Quills Kopf zur Seite. »Das genügt, Mister Vaneski!« bellte er. »Ein frischgebackener Leutnant hat nicht zu lachen, wenn seine Vorgesetzten gerügt werden! Ich bin nur zu Offizieren sarkastisch, die ich respektiere. Bis ein Offizier meinen Sarkasmus verdient, wird er zusam mengestaucht, wenn er etwas falsch macht. Verstan den?« Das letzte Wort galt der ganzen Gruppe. Leutnant Vaneski wurde rot. Sein Jungengesicht erstarrte. »Jawohl, Sir. Tut mir leid, Sir.« Quill würdigte ihn keiner Antwort. Er wandte sich wieder Mike ›Engel‹ zu, der immer noch in ›HabtAcht-Stellung‹ verharrte. »Aber Sie brauchen sich deshalb nichts einzubilden, Mister Gabriel. Ich wie derhole: Wo ist Ihr hübscher, roter Raumfahreran zug?« »Sie werden sich erinnern, daß ich nur vierund zwanzig Stunden Zeit hatte«, erwiderte Mike. »Eine neue Garderobe ließ sich innerhalb dieser Frist nicht beschaffen. Sie kommt mit der nächsten Rakete.« Captain Quill schwieg einen Augenblick, dann sagte er nur: »Na schön«, womit die ganze Angele genheit erledigt war. Er bedeutete Mike durch eine Handbewegung, Platz zu nehmen. Mike setzte sich. »Wir ersparen uns die förmliche Vorstellung«, er 89
klärte Quill. »Commander Gabriel ist unser techni scher Offizier. Die übrigen kennen sich alle unterein ander, Commander. Sie und ich sind die einzigen, die nicht vom Stützpunkt ›Frostbeule‹ stammen. Com mander Jeffers ist Ihnen ja bekannt.« Mike nickte und grinste Pete Jeffers, einem hage ren, schlaksigen Mann zu, der die Angewohnheit hat te, auf Sessel zusammenzusinken, als seien sämtliche Gelenke aufgeklappt. Jeffers grinste und kniff ein Auge zu. »Das ist Commander von Liegnitz, Navigationsof fizier; Kapitänleutnant Keku, Versorgung; Kapitän leutnant Mellon, Arzt; und Leutnant Vaneski, In standhaltung. Sie können sich später die Hände schütteln lassen. Wir machen jetzt weiter.« Er run zelte die Stirn, daß seine buschigen, pechschwarzen Brauen zusammenwuchsen. »Wo war ich stehenge blieben, als Commander Gabriel hereinkam?« Pete Jeffers rutschte auf seinem Stuhl herum. »Sie sagten, daß das der blödeste Auftrag sei, den wir je mals bekommen hätten, Sir. Oder so ähnlich.« »Ich hatte mich zwar etwas vornehmer ausge drückt, Mr. Jeffers, aber im wesentlichen stimmt es. Die ›Branchell‹ ist unter großem Kostenaufwand zum Zweck eines einzigen Fluges gebaut worden. Wir sollen sie und ihre Fracht zu einem Ziel bringen, das nur mir und von Liegnitz bekannt ist. Ein zweites Schiff der Raummarine wird uns dorthin folgen und 90
uns als Passagiere zurücktransportieren.« Er gestatte te sich die Andeutung eines Lächelns. »Wenigstens können wir auf dem Heimweg faulenzen.« Die anderen grinsten. »Die ›Branchell‹ wird zurückgelassen, um mögli cherweise demontiert zu werden.« Er nahm die kalte Zigarre aus dem Mund, starrte sie an und langte mechanisch in die Tasche, um ein Feuerzeug hervorzuholen. Der sonnverbrannte junge Mann, der als Kapitänleutnant Keku vorgestellt wor den war, hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und gab dem Captain Feuer. Quill paffte geistesab wesend seine Zigarre und fuhr fort. »Es wird nicht einfach werden. Wir haben keine Gelegenheit, mit dem Schiff einen Probeflug zu un ternehmen, weil wir ebensogut weiterfliegen können, wenn wir schon einmal gestartet sind – was wir ja dann auch tun. Sie alle wissen, welche Ladung wir führen; Fracht raum Eins beherbergt das größte jemals geschaffene Robotergehirn. Wir haben die Aufgabe, sicherzustel len, daß es ungefährdet ans Ziel kommt.« »Eine Frage, Sir«, sagte Mike. Ohne den Kopf zu bewegen, hob Captain Quill ei ne mächtige Braue und sah zu Mike hinüber. »Ja?« »Warum hat man denn das Gehirn nicht gleich auf dem Planeten gebaut, den wir jetzt aufsuchen müs sen?« 91
»Das will man uns angeblich bei der Besprechung in den Labors der Datenrechner-Corporation in« – er sah auf die Uhr – »einer halben Stunde erklären. Die meisten von Ihnen sind aber schon lange genug hier, um sich eine Vorstellung von dem zu machen, was hier geschieht. Soviel ich weiß, versteht Mister Va neski etwas mehr von Robotik als wir anderen. Kön nen Sie uns ein wenig aufklären, Mister Vaneski?« Mike unterdrückte ein Lächeln. Der Alte wollte dem Leutnant eine Chance geben, seinen Fauxpas von vorhin wiedergutzumachen. Vaneski wollte aufstehen, aber Quill wehrte ab, und der junge Mann blieb sitzen. »Es handelt sich nur um eine Vermutung, Sir«, sagte er, »aber meiner Meinung nach muß es deswe gen sein, weil der Roboter zuviel weiß.« Quill und die anderen sahen ihn verständnislos an, aber Mikes Augen verengten sich. Vaneski sprach aus, was Mike geargwöhnt hatte. »Ich meine – nun, sehen Sie, Sir«, fuhr Vaneski ein wenig aufgeregt fort, »man hat vor zehn Jahren begonnen, dieses Ding zu bauen. Vor acht Jahren fing man damit an, es zu unterrichten. Offensichtlich sah man damals noch keinen Grund, es anderswo als auf der Erde herzustellen. Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Seither muß irgend etwas geschehen sein, das den Entschluß bewirkt hat, es von der Erde fort zuschaffen. Wenn man so viel Geld ausgibt, um es 92
wegzubringen, muß es irgendwie gefährlich sein.« »Wenn das der Fall ist«, meinte Captain Quill, »warum schalten sie das Ding dann nicht einfach ab?« »Nun –« Vaneski breitete die Arme aus. »Ich glaube, daß dafür genau derselbe Grund maßgebend ist. Es weiß zuviel, und man will dieses Wissen nicht zerstören.« »Haben Sie eine Ahnung, worauf sich dieses Wis sen beziehen könnte?« fragte Mike. »Nein, Sir, leider nicht. Aber eines steht wohl fest: Die Gefahr ist riesengroß.« Die Instruktionsstunde für die Offiziere und Mann schaften der ›William Branchell‹ wurde in einem Vortragssaal im Laborgebäude der DatenrechnerCorporation abgehalten. Captain Quill sprach als erster. Er wies darauf hin, daß das Projekt geheim sei und daß man Dr. Morris Fitzhughs Worten mit größter Aufmerksamkeit zu lauschen habe. Dann erhob sich Fitzhugh. In seinem Gesicht zuckte es nervös. Er nahm die Allüren eines Univer sitätsprofessors an und legte seine Rede an, als be mühe er sich, eine bestimmte Zeit einzuhalten, ohne zu früh fertig zu werden. »Ich darf unterstellen, daß Sie mit der Situation vertraut sind«, sagte er, als wolle er sich bei den An 93
wesenden dafür entschuldigen, daß er Dinge vor bringe, die ihnen schon bekannt seien – die Beschei denheit des Gelehrten, der nicht den Eindruck er wecken will, auf sein Wissen übermäßig stolz zu sein. »Ich glaube jedoch, daß wir uns ein besseres Bild machen können, wenn wir von vorn anfangen und uns bis zum heutigen Stand der Dinge vorarbeiten. Das ursprüngliche Problem bestand darin, einen Roboter zu bauen, der von selbst lernt. Ein gewöhn liches Rechengehirn kann man mit Zwang belehren – das heißt, ein Techniker kann Veränderungen in den Schaltsystemen bewirken, die den Roboter dazu bringen, irgendeine Handlung anders als vorher aus zuführen oder sogar etwas gänzlich Neues zu tun. Was wir jedoch wollten, war ein Roboter, der von selbst lernte, der die erforderlichen Veränderungen in seinen Schaltkreisen ohne Manipulation von außen bewirkte. Das ist eigentlich gar nicht so schwierig wie es sich anhört. Sie haben alle schon Sprechschreiber gesehen, die das gesprochene Wort in gedruckte Zei chen umsetzen. Ein Sprechschreiber ist ganz einfach eine Maschine, die tut, was man ihr befiehlt – buch stäblich. Nehmen wir nun einmal an, ein zweites Da tenverarbeitungsgerät sei mit dem ersten in solcher Weise verbunden, daß das zweite auf Befehl hin die Schaltkreise des ersten beeinflussen und verändern 94
kann. Man braucht dann nur noch … « Mike sah sich um, während der Robotiker weiter sprach. Die Männer machten durchwegs gelangweil te Gesichter. Sie waren hergekommen, um Instruk tionen über den Flug entgegenzunehmen, aber man hielt ihnen einen ermüdenden Vortrag über Robotik. Mike selbst war nicht so sehr an den Gründen für den Flug interessiert; er fragte sich sogar, warum es erforderlich war, sie den Leuten bekanntzugeben. Warum lud man Snookums nicht einfach in das Schiff, transportierte ihn dorthin, wo er bleiben sollte und verzichtete auf jede Erklärung? Warum wurde die Schiffsbesatzung unterrichtet? »Damit«, fuhr Fitzhugh fort, »wurde es notwen dig, in das Gehirn eine physische Entsprechung des Lagerlöf-Prinzips einzubringen: ›Lernen ist das Re sultat eines unelastischen Stoßes‹. Ich verzichte auf Gleichungen, aber dahinter steckt die Idee, daß ein Organismus nur dann lernt, wenn er sich nicht völlig von den Wirkungen einer Kraft, die von außen darauf einwirkt, erholen kann. Erholt er sich ganz, dann ist er genau wie vorher. Er hat also nichts gelernt. Der Organismus muß sich verändern.« Er rieb sich die Nase und schaute in die Gesichter der vor ihm versammelten Männer. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Manche von Ihnen werden sich fragen, warum ich Sie mit diesem langen Vortrag langweile. Glau 95
ben Sie mir, es ist notwendig. Ich will Ihnen klarma chen, daß die Maschine, um die Sie sich zu kümmern haben, kein gewöhnliches Datenverarbeitungsgerät ist. Jedermann hier hat Erfahrungen mit Maschinen gehabt, von der einfachsten bis zur relativ kompli zierten. Sie wissen, daß man sehr vorsichtig sein muß, welche Art von Information – welche äußere Kraft also – man in eine Maschine einbringt. Falls Sie, zum Beispiel, ein Raumschiff auf den Mars einstellen und es anweisen, den Planeten zu durchstoßen, wird es versuchen, zu gehorchen. Dabei geht die Maschine natürlich verloren.« Die Männer lachten. Sie fühlten sich jetzt ein we nig freier, und Fitzhugh hatte wieder aufmerksame Zuhörer, denn sie begannen sich für das Thema zu interessieren. »Und Sie müssen zugeben«, meinte Fitzhugh, »daß ein Raumschiff, dem derartige Informationen einprogrammiert worden sind, sehr gefährlich sein könnte.« Das Gelächter wurde lauter. »Gut, wenn also ein Mechanismus die Fähigkeit besitzt, zu lernen«, fuhr der Robotiker fort, »wie er reicht man dann, daß er weder zu einer Gefahr wird noch sich selbst zerstört? Vor diesem Problem standen wir, als wir Snoo kums bauten. Wir beschlossen daher, die berühmten drei Geset 96
ze der Robotik zugrunde zu legen, die vor über ei nem Jahrhundert von einem genialen amerikanischen Biochemiker und Philosophen aufgestellt wurden. Hier sind sie: ›Eins: Ein Roboter darf einen Menschen nicht ver letzen oder durch Untätigkeit zulassen, daß ein Mensch zu Schaden kommt. Zwei: Ein Roboter muß den Befehlen von Men schen gehorchen, soweit solche Befehle nicht mit dem ersten Gesetz in Widerspruch stehen. Drei: Ein Roboter muß seine eigene Existenz be wahren, solange eine solche Bemühung nicht mit dem ersten oder zweiten Gesetz in Widerspruch gerät.‹« Fitzhugh schwieg, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, dann erklärte er: »Das sind natürlich die Idealregeln. Selbst ihr Erfinder wies darauf hin, daß man sie in der Praxis nur unter großen Schwierigkei ten durchsetzen könnte. Ein Roboter ist eine logische Maschine, aber allein die Definition eines Menschen wird schon zu einem Problem. Besitzt ein fünfjähri ges Kind die Befähigung, einem Roboter Befehle zu erteilen? Wenn man es als menschliches Wesen definiert, kann es einem Roboter Anweisungen geben, die un ter Umständen zur Zerstörung einer wertvollen Ma 97
schine führen. Legt man bei dem Fünfjährigen dage gen nicht diese Definition an, dann steht der Roboter nicht unter dem Zwang, die Unverletzlichkeit des Kindes zu wahren.« Er begann in seinen Taschen nach den Rauchuten silien zu fahnden, als er fortfuhr: »Wir haben es uns leichtgemacht. Wir lösten die ses Problem, indem wir Snookums isolierten. Er hat außer Erwachsenen noch kein anderes Lebewesen gesehen. Man könnte ihm nur unter erheblichen Schwierigkeiten den Unterschied, sagen wir, zwi schen einem Schimpansen und einem Menschen be greiflich machen. Warum sollten die Behaarung und eine äußerst bescheidene Intelligenz einen Schim pansen von der Definition des Menschlichen aus schließen? Immerhin gibt es ja auch Männer mit reichlicher Behaarung, und Menschen, die schwach sinnig sind. Alle Anwesenden natürlich ausgenom men.« Wieder Gelächter. Mikes Hochachtung vor Fitz hugh wuchs. Dieser Mann wußte, wie man eine der art trockene Materie aufzulockern hatte. »Schließlich«, sagte Fitzhugh, als das Gelächter verklungen war, »müssen wir fragen, was mit ›seine Existenz bewahren‹ gemeint ist. Offen gestanden hat uns dieses Gesetz beinahe verrückt gemacht. Der kleine, humanoide Mechanismus auf Raupen, den wir alle als Snookums ansehen, ist eigentlich nicht 98
Snookums, ebensowenig wie eine Hand oder ein Au ge als menschliches Wesen bezeichnet werden darf. Snookums würde seine eigene Existenz niemals be drohen, wenn sein Gehirn – das sich im Frachtraum der ›William Branchell‹ befindet – nicht zerstört wird.« Als Dr. Fitzhugh mit seinen Erklärungen fortfuhr, hörte Mike nur noch mit halbem Ohr hin. Seine Aufmerksamkeit – und die aller anderen anwesenden Männer – wurde von Leda Crannon beansprucht, die eben eintrat. Sie näherte sich Dr. Fitzhugh und flü sterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte, und sie verließ den Raum. Fitzhugh beeilte sich, seinen Vortrag zu beenden. »Das Ganze läßt sich sehr schnell zusammenfas sen. Punkt eins: Snookums Gehirn enthält die Informa tion, die acht Jahre harter Arbeit mühsam eingeführt haben. Dieses Wissen ist weitaus wertvoller als die gesamten Kosten der ›William Branchell‹; der Wert geht in die Milliarden. Der Roboter kann also nicht demontiert werden, sonst ginge dieses Wissen verlo ren. Punkt zwei: Snookums Verstand ist streng logisch aufgebaut, aber er funktioniert in einem Universum, das nicht allein den Gesetzen der Logik gehorcht. Demzufolge ist er labil. Punkt drei: Snookums ist die Fähigkeit eingegeben 99
worden, eigene Experimente durchzuführen. Ihm das zu verbieten, wäre dasselbe, wie ein Kind zu schla gen, weil es sich wie ein Kind verhält; man würde den Verstand schwer schädigen. In Snookums Fall überschritten die Willkürfaktoren die optimale Gren ze, und der Roboter müßte wahnsinnig werden. Punkt vier: Gefühle und Leidenschaften haben nichts mit Logik zu tun. Snookums kann damit, au ßer in sehr begrenztem Rahmen, nichts anfangen.« Fitzhugh hatte mit dem Mundstück seiner Pfeife die einzelnen Punkte an den Fingern abgezählt. Jetzt steckte er die Pfeife in die Tasche und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Das Ganze läuft darauf hinaus: Snookums muß im Schiff überall freien Zugang haben. Gleichzeitig muß aber jeder einzelne von uns darauf achten, daß nicht sozusagen … die falschen Knöpfe gedrückt werden. Hier also ein paar Hinweise. Werden Sie Snoo kums gegenüber nicht wütend. Das wäre genauso albern, wie zornig auf einen Plattenspieler zu sein, weil er gerade Musik spielt, die man nicht leiden kann. Lügen Sie Snookums nicht an. Wenn Ihre Lügen nicht mit dem übereinstimmen, was er als wahr kennt – und das tun sie nicht, ich garantiere es Ihnen –, wird er die Information zurückweisen. Aber das ver wirrt ihn, weil er einfach mitbekommen hat, daß ein 100
Mensch nicht lügt. Wenn Snookums Sie um eine Auskunft bittet, ma chen Sie bitte Einschränkungen, auch wenn Sie wis sen, daß keine Zweifel möglich sind. Sagen Sie: ›Meine Informationen über dieses Thema sind viel leicht nicht fehlerfrei, aber soviel ich weiß … ‹ Und dann sagen Sie ihm Bescheid. Aber wenn Sie die Antwort wirklich nicht wissen, müssen Sie ihm das erklären. Sagen Sie: ›Über diese Daten verfüge ich nicht, Snookums.‹ Wenn Sie nicht gerade … « Er sprach weiter, aber es unterlag keinem Zweifel, daß die Offiziere und Mannschaften der ›William Branchell‹ nicht die erforderliche Aufmerksamkeit zeigten. Sie hingen düsteren Gedanken nach. Es war schon schlimm genug, daß sie mit einem unerprob ten, hastig gebauten Schiff auf die Reise gehen muß ten. War es da nötig, daß auch noch ein siebenhun dert Pfund schweres, dumm-geniales Maschinenkind frei herumlaufen durfte? Offensichtlich ja. »Um zum Schluß zu kommen«, sagte Fitzhugh, »möchte ich noch darauf eingehen, daß Sie sich be stimmt fragen, warum es erforderlich ist, Snookums von der Erde fortzuschaffen. Ich kann Ihnen nur das eine sagen: Snookums weiß zuviel über Atomener gie.« Mike lächelte grimmig vor sich hin. Leutnant Va 101
neski hatte recht gehabt; Snookums war gefährlich – nicht nur für einzelne, sondern für den ganzen Plane ten. Auch Snookums mußte man unter die halbwüchsi gen Kriminellen zählen. 10 Die ›Branchell‹ startete in der Antarktis genau um 21 Uhr 0 Minuten, Greenwich-Zeit. Drei Tage lang hat ten die Offiziere und Mannschaften des Schiffes ge arbeitet, als seien sie die Roboter anstelle ihres Pas sagiers – oder ihrer Fracht, je nach Standpunkt. Die Vorräte wurden verladen, und die großen An triebsgeneratoren überprüft und nochmals überprüft. Erst zwei Stunden vor dem Starttermin war das Schiff flugklar. Als letzter ging Snookums an Bord, wenn er auch im eigentlichen Sinn von Anfang an an Bord gewe sen war. Der kleine Roboter rollte auf seinen Raupen zum Einstieglift und ließ sich hinauftragen. Miss Crannon erwartete ihn an der Luftschleuse, neben ihr stand Mike. Sein Interesse bezog sich weniger auf Snookums als auf Leda Crannon. »Hallo, Liebling«, sagte Miss Crannon, als Snoo kums in die Luftschleuse rollte. »Fertig für den Flug?« »Ja, Leda«, erwiderte Snookums mit seiner Alt 102
stimme. Er rollte zu ihr hin und nahm ihre Hand. »Wo ist meine Kabine?« »Komm mit. Ich zeige sie dir gleich. Erinnerst du dich an Commander Gabriel?« Snookums drehte seinen Kopf und betrachtete Mi ke. »O ja. Er wollte mir helfen.« »Hast du Hilfe gebraucht?« knurrte Mike bissig. »Ja. Für mein Experiment. Und du hast mir die Hilfe angeboten. Das war nett von dir. Leda meint, es ist nett, wenn man anderen Leuten helfe.« Mike unterdrückte die Frage, ob Snookums sich etwa für ›Leute‹ halte. Möglich war bei dem Roboter alles. »Was du heute gemacht, Liebling?« fragte Leda. »Hauptsächlich Dr. Fitzhughs Fragen beantwor tet«, erwiderte Snookums. »Er hat mir achtunddrei ßig Fragen gestellt. Er sagte, ich sei ihm eine große Hilfe. Ich bin auch nett.« »Natürlich bist du das«, meinte Miss Crannon. Sie gingen den Korridor entlang. »Heiliger Strohsack«, murmelte Mike. »Was ist denn los, Commander?« fragte Leda. »Nichts«, gab Mike zurück und sah sie unschuldig an. »Nicht das geringste. Snookums ist ein süßer kleiner Kerl, nicht wahr?« Leda Crannon strahlte ihn an. »Das finde ich auch.« 103
Mike ›Engel‹ tätschelte mit ernsthafter Miene Snookums’ schimmernden Stahlschädel. »Wie alt bist du denn, Kleiner?« Ledas Augen verengten sich, aber Mike tat so, als bemerkte er es nicht, während Snookums sagte: »Acht Jahre, zwei Monate, einen Tag, sieben Stun den, dreiunddreißig Minuten und – zehn Sekunden. Aber ich bin kein Kleiner. Ich bin ein Roboter.« Mike unterdrückte den Impuls, ihn zu fragen, ob er auch Leda über diese Tatsache unterrichtet hatte. Während der letzten drei Tage hatte Mike in seinen freien Minuten Leda genau beobachtet, und ihre müt terliche Einstellung Snookums gegenüber beunruhig te ihn. Sie schien nur für den ›kleinen‹ Roboter zu existieren. Selbstverständlich konnte das auch nur ihre Methode sein, Mike auszuweichen, aber daran glaubte Mike nicht. »Gehen wir in deine Kabine, Liebes«, sagte Leda. Sie starrte Mike an. »Wenn Sie einen Augenblick hier warten würden, Commander«, sagte sie frostig, »ich möchte mit Ihnen reden.« Mike ›Engel‹ salutierte. »Vielleicht später, Miss Crannon. Ich muß in den Energiesektor, um den Start vorzubereiten. Das wird ein Spaß werden, wenn wir diesen Riesenapparat ohne Raketenhilfe gegen die Erdschwerkraft hochbringen müssen.« »Also später dann«, sagte sie gleichmütig und eilte mit Snookums davon. 104
Mike entfernte sich mit einem Seufzer der Erleich terung in entgegengesetzter Richtung. Im Augenblick war er nicht in der richtigen Stimmung für eine Strafpredigt, selbst wenn sie von Leda gehalten wur de. Er hastete zum Energiesektor. Obermaat Multhaus war wahrscheinlich das einzige Mitglied der Besatzung, das annähernd so groß war wie Mike ›Engel‹. Multhaus war fünf Zentimeter kleiner als Mike, aber er wog zweihundertfünfzig englische Pfund. Als Antriebstechniker gehörte er zur Spitzenklasse, und er machte den Eindruck, als sei er ganz allein imstande, mit Hilfe eines Handge nerators die nötige Antriebsenergie für das Raum schiff zu erzeugen. Aber weder Mike noch Multhaus erreichten die Sta tur von Leutnant Keku, dem Versorgungsoffizier. Ke ku war tatsächlich ein Riese. Zwei Meter fünf groß, dreihundert Pfund schwer, und dabei kaum Fettpolster. Als Mike die Tür zum Kontrollraum des Antriebs sektors öffnete, bot sich ihm ein seltsamer Anblick. Keku und Multhaus saßen einander an einem Tisch gegenüber, jeder stützte den rechten Ellenbogen auf die Tischplatte, und ihre rechten Hände hatten sie ineinander verklammert. Unter den scharlachroten Uniformröcken wölbten sich die Muskeln an den Armen. Keiner der beiden bewegte sich. »Spielereien, Kinder?« fragte Mike sanft. 105
Peng! Multhaus’ Arm knallte auf die Tischplatte. Multhaus hatte sich durch Mikes Eintreten ablenken lassen, während Keku eine Zehntelsekunde länger bei der Sache geblieben war. Beide Männer sprangen auf. Multhaus bemühte sich, seine geprellte Hand zu reiben, ohne aufzufal len. »Entschuldigung, Sir«, sagte Multhaus. »Wir ha ben nur –« »Schon gut. Ich habe es ja gesehen. Wer gewinnt denn normalerweise?« fragte Mike. Kapitänleutnant Keku grinste. »Meistens er, Commander. Die ganze Kraft reicht nicht, um mit ihm fertig zu werden.« Mike sah ihm in die Augen. »Sie müssen Hanteln stemmen. Dann sind Sie unschlagbar. Wir können uns noch eine anzünden. Bis zum Start ist noch Zeit. Das heißt, wenn Multhaus alles bereit hat.« »Ich bin so weit, Sir«, sagte Multhaus und ließ sich auf einen Stuhl gleiten. »Wir rauchen schnell eine Zigarette, dann testen wir.« Keku sank in einen Sessel und zündete sich eine Zigarette an. Mike setzte sich auf den Tischrand. »Philip Keku«, sagte Mike nachdenklich. »Reine Neugier, aber was ist das für ein Name?« »Mir paßt er großartig«, erwiderte der Offizier. »Klingt orientalisch, nicht wahr?« 106
Mike studierte den Mann. »Aber Sie sind kein Orientale – jedenfalls merkt man nicht viel davon. Sie könnten Polynesier sein.« »Genau getroffen, Commander. Ich stamme aus Hawaii. Mein richtiger Name ist Kekuanaoa, aber das kann kein Mensch aussprechen, also verkürzte ich auf Keku, als ich in die Raummarine eintrat.« Mike lachte. »Das erklärt Ihre Größe. Kekuanaoa. Ein Zweig der königlichen Familie auf Hawaii, wenn ich mich recht entsinne.« »Stimmt.« Der Hawaiianer grinste. »Ich habe eine kleine Schwester, die genauso viel wiegt wie Sie. Und mein Großvater starb mit vierundneunzig Jahren und vierhundert Pfund Lebendgewicht.« »Woran ist er denn gestorben, Sir?« fragte Mult haus neugierig. »An Gehirnquetschung und zahlreichen Knochen brüchen. Er raste mit hundertvierzig Sachen in einem Ford gegen eine Palme. Verrücktes altes Huhn, war beinahe größer als sein Auto.« Das Gelächter der drei Männer hallte durch den Raum. Nachdem sie sich noch ein paar Minuten unterhal ten hatten, drückte Keku seine Zigarette im Aschen becher aus und erhob sich. »Ich muß auf meinen Po sten. Der Alte wird jeden Moment anrufen.« In diesem Augenblick begann der Lautsprecher zu krächzen. 107
»Achtung! Achtung! Start in fünfzehn Minuten! Start in fünfzehn Minuten!« Keku grinste, salutierte vor Mike und marschierte zur Tür hinaus. Multhaus starrte ihm nach. »Ist das ein Prophet, Commander? Donnerwetter!« Der Start der ›Branchell‹ war keine so einfache Sa che, wie der außenstehende Beobachter vermuten mochte. Für sie erhob sich das Raumschiff unter Zi schen und Brausen in die Luft, wie ein riesiger Lift in einem unsichtbaren Schacht. Es war um das unförmige Kryotrongehirn herum in einer tiefen Startgrube erbaut worden. Als es em porstieg, glitt das Dach der Grube, von Elektromoto ren angetrieben, zur Seite, und die heulenden Antark tiswinde fanden Zugang. Ungestört stieg das Raumschiff auf. Mike ›Engel‹ und Obermaat Multhaus beobachte ten nervös die Meßskalen, deren Zeiger nahe dem Gefahrenpunkt zitterten. Das Raumschiff, gegen den Sog der Schwerkraft ankämpfend, bohrte sich durch das Magnetfeld der Erde, wobei es die Struktur des Raumes als eine Art ›Widerlager‹ für den Einsatz seiner Kraft benützte. Das Brausen war wie die Vi bration einer Note in den unteren Oktaven oder wie das Brummen eines Kontrabasses. Als die Stärke des Schwerkraftfeldes abnahm, 108
steigerte sich die Geschwindigkeit des Schiffes – nicht linear, sondern logarithmisch. Es fauchte wie die oberen Schichten der Atmosphäre, bebte wie ein lebendes Wesen und tauchte schließlich im relativ leeren Weltraum empor. Als es eine Beschleunigung von nahezu fünfzig Kilometern pro Sekunde erreicht hatte – in bezug auf die Sonne und senkrecht zur Sonnenekliptik –, befahl Mike, den Antrieb auf die niedrigstmögliche Beschleunigung herabzuschalten, die noch dafür sorgte, daß die 1 g betragende Innen schwerkraft des Schiffs und die Anti-Beschleuni gungsfelder erhalten blieben. »Wie hält sie sich, Multhaus?« fragte er. Beide Männer prüften die Meßzahlen. Ein Elek tronentechniker programmierte die von Multhaus ausgerufenen Zahlen in den kleinen Datenrechner. »Ich glaube, sie hat es ausgehalten, Sir«, meinte der Obermaat vorsichtig, »aber sie ist ganz schön mitgenommen worden. Sehen Sie sich nur die Er gebnisse der Energiefaktoren an! Wir haben Energie vergeudet, als koste sie rein gar nichts!« Sie arbeiteten beinahe eine ganze Stunde daran, festzustellen, ob die Belastung durch die Schwer kraft- und Magnetfelder der Erde den Schaltsystemen Schaden zugefügt hatte. Einige Stromkreise mußten neu justiert werden, aber nirgends erwies sich eine Auswechslung als erforderlich. Multhaus, der die Fähigkeit des Schiffs, sich selbst 109
von einem Planeten bescheidener Größe, wie ihn die Erde darstellte, zu erheben, mit einigem Pessimismus beurteilt hatte, betrachtete den Mann, der ihr An triebssystem geschaffen hatte, mit neuem Respekt. Mike setzte sich mit der Brücke in Verbindung und erklärte Captain Quill, daß das Raumschiff der vollen Beschleunigung ausgesetzt werden konnte. Das riesige Schiff folgte den Steuerbefehlen der Brücke und neigte sich, bis seine Spitze – und damit die Antriebsachse – auf das Ziel gerichtet war. »Volle Beschleunigung, Mister Gabriel«, sagte Captain Quill über den Lautsprecher. Mike beobachtete erneut das Wandern der Skalen zeiger, als das Schiff mit ständig zunehmender Be schleunigung in einer der Sonne abgewandten Rich tung davonschoß. Obwohl die künstlich erzeugte, im Innern des Schiffes spürbare Beschleunigung bei 1 g blieb, erreichte die Beschleunigung relativ zur Sonne phantastische Größenbereiche. Als das Schiff mit Lichtgeschwindigkeit dahinfegte, verschwand es praktisch für die Augen außenstehender Beobachter. Aber seine Geschwindigkeit nahm immer noch zu. Endlich erreichten die Motoren ihre Höchstlei stung. Schneller vermochten sie die ›Branchell‹ nicht anzutreiben. Mit gleichmäßigem Brummen schoben sie das Schiff bei gleichbleibender Beschleunigung durch den ›Nullraum‹, wie die Mathematiker das ge tauft hatten. Die ›Branchell‹ war unterwegs. 110
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»Ich möchte nur wissen, was das für ein Schiff ist?« meinte Keku. Mike lachte, und Mellon, der Schiffsarzt, grinste ein wenig schüchtern. Leutnant Vaneski sah ver ständnislos drein. »Was meinen Sie damit, Sir?« fragte er den riesi gen Hawaiianer. Sie saßen in der Offiziersmesse beim Kaffee. Cap tain Quill, Jeffers, der Erste, und Commander von Liegnitz befanden sich auf der Brücke, Dr. Fitzhugh und Leda Crannon waren mit Snookums beschäftigt. Mike sah Keku an und wartete auf seine Antwort. »Was ich damit meine? Genau das, was ich gesagt habe, Mr. Vaneski. Ich möchte wissen, was das für eine Art Schiff ist. Offensichtlich kein Kriegsschiff, also können wir diese Kategorie ausklammern. Auch kein Expeditionsschiff; wir sind nicht für For schungsarbeiten ausgerüstet. Ein Passagierschiff al so? Nein, denn Dr. Fitzhugh und Miss Crannon wer den als ›zivile technische Berater‹ geführt und sind damit rechtlich Angehörige der Schiffsbesatzung. Ich frage mich aber, ob es nicht doch ein Frachtschiff ist.« »Sicher«, meinte Vaneski. »Dieses Gehirn im Frachtraum Eins ist doch Ladung, nicht wahr?« 111
»Davon bin ich nicht ganz so überzeugt«, erklärte Keku nachdenklich und starrte an die Decke, als lie ße sich dort die Antwort finden. »Da es als integrie render Bestandteil des Schiffs gebaut wurde, weiß ich nicht recht, ob man es als Fracht ansehen kann oder nicht.« Er sah Mike an. »Was meinen Sie, Commander?« Ehe Mike etwas erwidern konnte, fuhr Leutnant Vaneski dazwischen: »Aber das Gehirn wird doch herausgenommen, sobald wir unser Ziel erreicht ha ben, oder nicht? Also befinden wir uns auf einem Frachtschiff!« Seine Stimme klang triumphierend. Keku löste seinen Blick nicht von Mikes Gesicht; er sagte auch nichts. Es war eine Unhöflichkeit, als Dienstjüngerer und Rangniederer dazwischenzure den, und Keku ignorierte die Unterbrechung. Er war tete auf Mikes Antwort, als sei kein Wort gefallen. Aber Mike beschloß im stillen, sich auf Kekus Thema einzulassen und Vaneski trotzdem zu antwor ten. Als Commander konnte er Vaneskis Unhöflich keit seinen Vorgesetzten gegenüber unbeachtet las sen, ohne sie, wie Keku, völlig zu ignorieren. »Ja, aber das Gehirn wird ja nicht ausgeladen, Mr. Vaneski«, sagte er gelassen. »Man demontiert das Schiff – und das ist doch etwas völlig anderes. Ich fürchte, daß man es mit dieser Begründung also nicht ein Frachtschiff nennen kann.« Vaneski schwieg. Er war abwechselnd rot und 112
blaß geworden, als hätte er seinen Fehler plötzlich erkannt. Er nickte ein wenig, um zu zeigen, daß er verstanden hatte, aber er schien seiner Stimme nicht zu trauen. Um Vaneskis Dilemma zu überbrücken, wandte sich Mike an den Schiffsarzt. »Was halten Sie davon, Mellon?« Mellon räusperte sich. »Nun, ich habe den Ein druck«, sagte er in ernstem Ton, »daß es sich in Wirklichkeit um ein Sanitätsschiff handelt.« Mike blinzelte. Keku hob die Brauen. Vaneski schluckte und riß seinen Blick von Mike los, um Mellon anzustarren – aber er schwieg immer noch. »Vielleicht erklären Sie uns das näher, mein lieber Doktor«, sagte Mike interessiert. »Ich beurteile es als Arzt«, fuhr Mellon fort. »Snookums ist, wie man uns berichtet hat, zu gefähr lich, als daß man ihn noch auf der Erde dulden könn te. Ich schließe daraus, daß er fähig ist, etwas zu tun, was entweder den Planeten selbst oder eine Mehrheit der Menschen – wenn nicht alle – schädigt.« Er hob seine Tasse und trank einen Schluck. Keiner unter brach ihn. »Snookums ist von der Erde entfernt worden«, er klärte er weiter, »damit die Gesundheit des Planeten erhalten bleibt, wie man einen Tumor aus einem menschlichen Körper herausschneidet. Also ein Sani tätsschiff. Was zu beweisen war.« 113
»Na wissen Sie …«, begann Vaneski. Er ver stummte sofort wieder. Mike begriff amüsiert, daß Leutnant Vaneski ein scherzhaft gemeintes Argument bitter ernst genom men hatte. »Mister Mellon«, sagte Mike, »Sie haben gewon nen!« Er war eigentlich davon überrascht, daß Mel lon Sinn für Humor hatte. »Halt!« rief Keku und hob die Hand. »Ich stehe in meiner Bewunderung für die Analyse unseres guten Doktors keinem nach; sie ist sogar unbegrenzt. Ich bestehe aber darauf, daß wir Commander Gabriel hören, bevor wir die Tafel aufheben.« »Kommt nicht in Frage«, meinte Mike kopfschüt telnd. »Ich gebe mich geschlagen.« Er hatte vor schlagen wollen, die ›Branchell‹ als Trainingsschiff zu bezeichnen, mit Rücksicht auf Snookums ›Lern perioden‹, aber das schien jetzt kindisch und allzu billig. Er sah auf die Uhr und erhob sich. »Entschuldigen Sie mich, meine Herren. Ich habe zu tun.« Er hatte eine Verabredung zu einem Gespräch mit Leda Crannon, wollte das aber nicht hinausposaunen. Als er die Tür zur Messe hinter sich schloß, hörte er Vaneski sagen: »Ich behaupte immer noch, daß die Bezeichnung Frachtschiff richtig ist.« Mike seufzte, als er den Korridor hinunterschlen derte. Der Leutnant hatte natürlich recht – das war 114
das Traurige. Na ja, zum Teufel damit. Leda Crannon hatte sich bereiterklärt, mit Mike in ihrem Büro, das sie mit Dr. Fitzhugh teilte, Kaffee zu trinken. Mike hatte bereits eine Tasse getrunken, aber selbst bei einem Dutzend wäre er bereit gewe sen, ein weiteres Dutzend hinunterzukippen, um mit Leda Crannon sprechen zu können. Von Verliebtheit konnte keine Rede sein, erklärte er sich selbst, aber sie war nicht nur außergewöhnlich hübsch, sondern auch intelligent. Außerdem hatte sie Mike eine eindrucksvolle Strafpredigt gehalten. Seine Bemerkungen beim Ein tritt Snookums in das Schiff waren ihr alles andere als angenehm gewesen – vor allem, daß er ihn nach seinem Alter gefragt und ihn getätschelt hatte –, und Mike mußte einige ernste Rügen einstecken. Er hatte sich selbstverständlich entschuldigt. Und sie hatte gelächelt und gemeint: »Schon gut. Vergessen wir es. Tut mir leid, daß ich wütend ge worden bin.« Er wußte, daß er sich nicht als einziger Mann an Bord für Leda interessierte. Jakob von Liegnitz, voll teutonischer Großartigkeit und weltmännischen Ge barens, hatte ihr offensichtlich großen Eindruck ge macht. Lew Mellon sah man oft in philosophische Gespräche mit ihr vertieft, bei denen er sie unver wandt ansah und mit leiser, eindringlicher Stimme auf sie einredete. Beide kannten sie länger als er, da 115
sie in der Antarktis stationiert gewesen waren. Mike ›Engel‹ zerbrach sich über keinen von bei den den Kopf. Er hatte genug Zutrauen in seine eige ne Persönlichkeit und Fähigkeiten, um seinen Weg zu verfolgen, gleichgültig, wie der Wind wehte. Er öffnete fröhlich die Tür zu dem Büro und trat mit einem Lächeln auf den Lippen ein. »Ah, guten Tag, Commander Gabriel«, sagte Dr. Morris Fitzhugh. Mike bemühte sich, das Lächeln nicht ersterben zu lassen. »Ist Leda da?« Fitzhugh lachte. »Nein. In Zusammenhang mit Snookums sind ein paar Probleme aufgetaucht. Sie wird mindestens noch eine Stunde mit ihm zu tun haben.« Er deutete auf die Kaffeemaschine. »Aber der Kaffee ist fertig. Sie sollten also trotzdem eine Tasse trinken.« Mike vermerkte mit Dankbarkeit, daß er in der Messe nicht mehr als eine Tasse getrunken hatte. »Recht gern, Doktor.« Er setzte sich, während Fitz hugh einschenkte. »Sahne? Zucker?« »Schwarz, danke«, sagte Mike. Eine Sekunde lang breitete sich unbehagliche Stil le aus, während Mike an der dampfenden Flüssigkeit nippte. Dann sagte er: »Dr. Fitzhugh, Sie haben bei der Besprechung erklärt, Snookums verstünde zuviel von Atomenergie. Können Sie das näher erläutern 116
oder ist es geheim?« Fitzhugh nahm seine Pfeife aus der Tasche und begann sie zu stopfen. »Wir müssen natürlich ver hindern, daß die große Öffentlichkeit davon erfährt«, sagte er nachdenklich, »aber als Schiffsoffizier kann ich Sie unterrichten. Ich glaube, daß einige Ihrer Kol legen bereits Bescheid wissen, obwohl wir es lieber sehen, wenn darüber im allgemeinen nicht gespro chen wird, auch untereinander.« Mike nickte stumm. »Gut.« Fitzhugh preßte den Tabak mit dem Dau men zusammen. »Als Antriebstechniker sind Sie mit dem ›Preßeffekt‹ vertraut, nicht wahr?« Das war als rhetorische Frage gedacht. Der ›Preß effekt‹ ist seit über einem Jahrhundert bekannt. Ein Strahl hochionisierten Gases, der sich durch ein Ma gnetfeld entsprechender Struktur bewegt, tendiert dazu, sich zusammenzupressen, schmaler zu werden statt auszufächern, wie das bei einem normalen Gas strahl der Fall wäre. Mit der weiterentwickelten Ma gnethydrodynamik hat sich diese Wirkung immer mehr steuern lassen, so daß die Wissenschaftler bei spielsweise die Wasserstoffkerne immer enger an einanderbringen konnten. Gegen Ende des vergange nen Jahrhunderts richtete der Bendingkonverter das Wirtschaftssystem der ganzen Welt beinahe zugrun de, weil er der Welt eine Quelle freier Energie gab. Sam Bendings ›kleiner schwarzer Kasten‹ wandelte 117
normales Wasser in Helium, Sauerstoff und Energie um – sehr viel Energie. Man konnte einen BendingKonverter relativ billig und für Kleinverbrauchs zwecke bauen – zum Beispiel für den Antrieb eines Schiffs, eines Automobils oder einer Fabrik. Er lief praktisch mit Luft, da der Feuchtigkeitsgehalt der normalen Luft genügte, den Konverter mit ausrei chender Energie zu versorgen. Über Nacht waren alle bisherigen Methoden der Energieerzeugung überholt. Wer wollte noch für elektrischen Strom bezahlen, wenn er ihn selbst prak tisch umsonst erzeugen konnte? Milliardenwerte von Energieerzeugungsanlagen waren völlig wertlos ge worden. Die großen hydroelektrischen Dämme, die Tausende von Dampfturbinen, die Atomreaktoren mit ihren schweren Metallen – alles unverwendbar für diesen Zweck. Die Aktiennotierungen für Gesell schaften dieser Art fielen auf Null, um nie mehr zu steigen. Der Wert des Kupfers fiel wie eine Bombe – mit ähnlich verheerenden Ergebnissen; denn man brauchte die Millionen Kilometer Kupferkabel nicht mehr, mit denen Verbraucher und Energieerzeuger verbunden gewesen waren. Die Depression von 1929-1942 läßt sich mit der Großen Depression von 1986-2000 überhaupt nicht vergleichen. Jede zivilisierte Nation der Erde wurde davon betroffen, und zwar ganz erheblich. Der sich daraus ergebende Zusammenbruch der Regierungen 118
hätte die Katastrophe zu ungeahnten Ausmaßen füh ren können, wenn nicht der damals amtierende UNOGeneralsekretär Perrot von Monaco die Regierungs gewalt an sich gerissen hätte. Wie Roosevelt und Lincoln erzwang er der Verfassung nicht gemäße Gesetze, ließ er sich die Verfassung überschreitende Vollmachten verleihen. Und wie diese Amerikaner tat er es nicht des persönlichen Gewinns wegen, son dern zur Bewahrung der Gesellschaft. Es gelang ihm natürlich nicht, das alte Gesellschaftssystem zu ret ten, aber er baute nahezu allein eine Weltregierung auf – eine neue Gesellschaft auf den Grundlagen der alten. Alle diese Gedanken gingen Mike durch den Kopf. Er fragte sich, ob Snookums etwas entdeckt hatte, das die Weltwirtschaft in eine ähnliche Katastrophe stürzen würde wie der Bending-Konverter. Fitzhugh holte seinen Miniatur-Flammenwerfer hervor und zündete sich die Pfeife an. »Snookums«, sagte er, »hat eine Methode zur Anwendung des ›Preßeffekts‹ bei Lithiumhydrid gefunden. Dabei handelt es sich im Gegensatz zur Strömungsreaktion, wie sie sich der Bending-Konverter zunutze macht, eher um eine Mengenreaktion. Aber das Gerät ist genauso leicht zu bauen, wie ein BendingKonverter.« »Du lieber Gott«, flüsterte Mike. Lithiumhydrid. LiH. Ein Atom Wasserstoff für je 119
des Atom Lithium. Wenn man einen Wasserstoffkern mit entsprechender Gewalt in den Lithiumkern hi neinschießt, zeigt sich ein simples Resultat: Li7 + H1 → 2He4 + Energie. Ein Atom Lithium-7 plus ein Atom Wasserstoff-1 ergibt zwei Atome Helium-4 und eine Menge Ener gie. Ein Gramm Lithiumhydrid ergäbe mit einem Schlag nahezu achtundfünfzig Kilowattstunden. Ein Pfund von dem Zeug entsprach der freigesetzten Energie von über sieben Tonnen TNT. Überdies war das eine hübsche, saubere Bombe. Nichts als Helium, Strahlung und Hitze. In den frühen fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hatte man eine solche Bombe konstruiert, indem man das LiH mit einer Kernspaltungsbombe umgab – das war die sogenannte Implosionsmethode. Aber das schwe re Metall um die Zentralreaktion erzeugte zahlreiche Arten von Strahlungsrückständen, die im Umkreis von mehreren hundert Kilometern tödlich wirkten. Nun einmal angenommen, ein Mann verfüge über eine derart kleine Pinzette, daß er ein einzelnes Li thiummolekül damit aufheben und die beiden Kerne zusammenpressen könnte. Diese Vorstellung ist na türlich albern – zumindest das mit der Pinzette, aber wenn sich die Zusammenpressung auf andere Weise bewerkstelligen ließ … 120
Snookums hatte es fertiggebracht. »Selbstgefertigte Atombomben im Garten oder im Kellerlabor«, sagte Mike. Fitzhugh nickte heftig. »Genau. Wir müssen ein Bekanntwerden dieser Methode verhindern, bis wir einen Weg gefunden haben, den Leuten diese Mög lichkeit zu verbauen. Die UNO-Regierung verfügt über Inspektionsmethoden, die es allen Menschen unmöglich machen, die konventionellen Typen von thermonuklearen Bomben zu bauen, aber sie gelten nicht für die Preßbombe.« Mike dachte eine Weile nach, dann sagte er: »Das ist noch nicht alles. Die Antarktis ist isoliert genug, dieses Wissen lange Zeit geheimzuhalten – zumin dest so lange, bis eine Abwehr gefunden ist. Warum mußte Snookums also fortgeschafft werden?« »Snookums selbst ist gefährlich«, erwiderte Fitz hugh. »Er besitzt einen eingebauten ›Drang‹ zu expe rimentieren – sich neues Wissen zu verschaffen. Wir können ihn von Experimenten abhalten, die wir als gefährlich erkennen, indem wir ihm die gewünschten Informationen geben, so daß der Drang nicht wirk sam wird. Aber wenn er ganz neuen Dingen auf der Spur ist … Nun, Sie sehen, womit wir es zu tun ha ben.« Nachdenklich blies er Rauch in die Luft. »Wir vermuten, daß er der totalen Auflösung der Materie auf der Spur ist.« Banges Schweigen breitete sich aus. Die unüber 121
bietbare, die Superatombombe. Theoretisch hatte man diese Vorstellung nur mit der Annahme eines Kontakts zwischen Materie und Anti-Materie ent wickelt, wobei die beiden einander völlig vernichte ten, so daß nichts übrigblieb als reine Energie. Eine solche Bombe würde fünfzigtausendmal wirksamer sein als die Lithiumhydrid-Preßbombe. Energie von diesem Ausmaß, in wenigen Millimikrosekunden freigesetzt, würde die übliche Wasserstoffbombe wie ein Kerzenlicht in nebliger Nacht erscheinen lassen. Die LiH-Preßbombe ließ sich kontrollieren. Indem man nur geringe Mengen dieses Stoffes verwendete, wäre es möglich, die Zerstörung auf einen Stadtteil zu beschränken. Eine Bombe nach dem Prinzip der totalen Materieauflösung ließ sich weit schwerer kontrollieren. Die völlige Auflösung eines einzigen Wasserstoffatoms würde über ein Tausendstel Erg freisetzen, und in kleineren Mengen findet sich Ma terie nicht. »Sie sehen selbst, daß wir ihn von der Erde weg schaffen mußten«, sagte Fitzhugh. »Entweder das, oder ihn an der Durchführung wei terer Experimente hindern«, meinte Mike. »Und ich nehme an, daß das für Snookums nicht gut wäre.« »Snookums Grenzen zu setzen, hieße, alle Arbeit zu zerstören, die wir in ihn hineingesteckt haben. Seine Schaltsysteme würden die optimale Willkür grenze überschreiten, und das bedeutete im mensch 122
lichen Sinn, daß er geisteskrank – und damit un brauchbar wäre. Als eine Maschine ist Snookums achtzehn Milliarden Dollar wert. Die von uns ein programmierten Informationen zuzüglich der Schluß folgerungen und Berechnungen, die er auf Grund dieses Materials selbst angestellt hat, haben einen Wert von … « Er zuckte die Achseln. »Wer kann das beurteilen? Wie läßt sich Wissen in Geld ausdrük ken?« 12 Die ›William Branchell‹ entfernte sich mit Über lichtgeschwindigkeit von der Erde, während die Of fiziere, Mannschaften und technischen Berater routi nemäßig ihrer Arbeit nachgingen. Das einzige, was diese Routine störte, war ein besonders ruheloser Teil der Schiffsfracht. Snookums war ein Schnüffler. Da er von den Labors abgeschnitten war, die für seine Arbeit im Stützpunkt ›Frostbeule‹ zur Verfü gung gestanden hatten, interessierte er sich statt des sen für die Angelegenheiten der Menschen um ihn herum. Bis zu seinem siebten Jahr war sein Umgang auf eine Handvoll Menschen beschränkt gewesen. Sogar während des Baues der ›William Branchell‹ hatte man ihm nicht mehr Freiheit gelassen, als für sein Wohlergehen unbedingt notwendig war. 123
Trotzdem hatte er sein spezielles Interesse für die Menschen entdeckt. Jetzt unterlagen seine Nachfor schungen keinen Beschränkungen, und er entschied sich dafür, nicht die Naturwissenschaften, sondern die Menschheit zu studieren. Binnen drei Tagen hatten die Offiziere eine Me thode entwickelt, wie man Snookums am besten auswich. Commander Jakob von Liegnitz saß in der Offi ziersmesse der ›Branchell‹ und mischte ein Spiel Karten. Er war mittelgroß, einsdreiundsiebzig etwa, mit massivem Brustkasten, breiten Schultern und schma len Hüften. Sein hellbraunes Haar war reichlich lang, und die glatten Strähnen schienen am Schädel ange klebt zu sein. Seine grauen Augen wirkten ein wenig verengt, so daß er entweder stets schläfrig oder wü tend aussah, je nach dem Gesichtsausdruck, den er gerade bevorzugte. Er begann die Karten auszuteilen und hatte etwa die Hälfte auf dem Tisch placiert, als Mike ›Engel‹ mit Kapitänleutnant Keku hereinkam. »Hallo, Jake«, sagte Keku. »Was gibt’s Neues?« »Bringen Sie noch zwei Päckchen«, meinte Mike, »dann können wir alle Patiencen legen.« Von Liegnitz sah mit schläfriger Miene auf. »Viel leicht gibt es etwas Langweiligeres, Mike, aber im Augenblick fällt es mir nicht ein. Wie wär’s mit 124
Bridge?« »Wir brauchen einen vierten Mann«, erklärte Ke ku. »Vielleicht Pete?« Mike schüttelte den Kopf. »Der Alte schläft. Pete macht also Dienst. Wie wär’s mit dem jungen Va neski? Er spielt doch nicht schlecht.« »Das geht auch nicht«, erwiderte von Liegnitz. »Er hat ebenfalls Dienst.« Mike zog fragend eine Braue hoch. »Wieso denn, haben wir irgendeinen Defekt? Warum macht der Instandsetzungsoffizier jetzt Dienst?« »Er hält hier Ruhe und Ordnung aufrecht«, sagte von Liegnitz würdevoll. »Er tut seine Pflicht als Oberbeantworter. Das kann er erstklassig.« Mike grinste. »Snookums?« Von Liegnitz sammelte die Karten ein und begann sie zu mischen. »Genau. Solange Snookums seine Fragen beantwortet bekommt, ist er beschäftigt. Un ser junger Leutnant hat den Auftrag erhalten, uns diesen mechanischen Schnüffler eine Stunde lang vom Leib zu halten. Und dann ist Mittagszeit.« Er räusperte sich. »Wir brauchen immer noch ei nen vierten Mann.« »Wenn Sie mich fragen, brauchen wir einen fünf ten«, meinte Keku. »Spielen wir lieber Poker.« Jakob von Liegnitz nickte und ließ die Karten ab heben. »Sie geben«, sagte Mike. 125
Nicht ganz eine Stunde später schob Leutnant Va neski die Tür zur Messe auf, begrüßt von einem drei fachen ›Hallo‹. »Meine Herren«, verkündete Vaneski gespreizt, »ich habe meine Pflicht getan, trotz aller Widrigkei ten. Ich verlange Satisfaktion.« Keku, der bei Mike eine zweite Acht bemerkte, warf seine Karten auf den Tisch und stieg aus. »Satisfaktion?« fragte er den Leutnant. Vaneski nickte. »Ein Spiel mit offenen Karten für fünf Dollar. Ich habe eine Stunde lang für dieses Ma schinenwesen Lexikon gespielt. Das ist mehr als Pflichterfüllung.« »Ich erhöhe um zehn«, sagte Mike. »Das will ich sehen«, meinte von Liegnitz. »Drei Achten«, sagte Mike und legte die Karten auf den Tisch. Von Liegnitz zuckte die Achseln, legte seine Kar ten zusammen und sah ernst zu, als Mike den Ge winn einstrich. »Vaneski möchte für fünf Piepen offen spielen«, sagte Keku. Mike sah den jungen Leutnant einen Augenblick stirnrunzelnd an, dann nickte er. »Das ist zwar nicht meine Art Spiel«, sagte er, »aber wenn der Beant worter eine Chance zum Aufholen haben will, soll es mir recht sein.« Die vier Männer warfen jeder einen Fünfdollar 126
schein in die Mitte des Tisches und zogen Karten, um zu entscheiden, wer geben mußte. Es blieb an Mike hängen, und er begann auszuteilen – fünf Kar ten offen, für den Gesamteinsatz. Als drei Karten pro Spieler ausgeteilt waren, führ te Vaneski mit einem König. Bei der vierten Runde grinste er, als er einen zweiten König bekam; Mike gab sich selbst ein As. In der fünften Runde erhielt Vaneski eine Drei, und sein Gesicht wurde starr, als Mike sich ein zwei tes As austeilte. Mike griff nach den zwanzig Dollar. »Sie sind kein übler Austeiler, Commander«, sagte Vaneski tonlos. Mike sah ihn scharf an, aber auf dem Gesicht des jungen Leutnants war nur ein bedauerndes Grinsen zu bemerken. »Idiotenglück«, meinte Mike, als er die Zwanzig einsteckte. »Zeit zum Essen.« »Beim nächstenmal spiel ich den Beantworter, Mike«, sagte Keku entschieden. »Sie und dieser Teu tone haben für meinen Geschmack zuviel Glück.« »Wenn ich noch mehr Geld an den ›Engel‹ verlie re, bin ich auch sauer«, sagte von Liegnitz gelassen. »Aber jetzt habe ich einen Bärenhunger.« Mike trieb sich an diesem Nachmittag im An triebssektor herum, ständig von einem undefinierba ren, unangenehmen Gefühl belästigt. Er konnte nicht 127
bestimmen, was ihn eigentlich störte und schob das Ganze schließlich auf eine gewisse, unbegründete Nervosität. Und dann begann er etwas zu spüren – physisch. Er empfand eine Veränderung. Binnen dreißig Sekunden, nachdem es angefangen hatte, weit früher als alle anderen, wußte Mike, was los war. Eine weitere halbe Minute danach spürten es alle Besatzungsmitglieder. Ein Ton von zwei Hertz ist für das menschliche Ohr unhörbar. Da sich das Trommelfell nicht so schnell bewegen kann, leiten auch die Hörnerven den Ton nicht weiter. Die Schwingung muß drei bis vier Oktaven darüber liegen, bevor die Nerven reagieren. Wenn aber die akustische Schwingung die nötige Energie besitzt, braucht man sie nicht zu hören – man kann sie fühlen. In der ›Branchell‹ waren bei weitem nicht alle Stö rungsquellen ausgemerzt, und die Männer wußten das. Sie war beim Start erheblich mitgenommen worden, und das mußte sich irgendwie zeigen. Diesmal hatte das Außenfeld rings um das Raum schiff beschlossen, für Abwechslung zu sorgen. Es entwickelte ein Pulsieren mit zwei Schwingungen pro Sekunde, das das Schiff auseinanderzuschütteln drohte. Es steigerte sich rapide und blieb dann auf einer bestimmten Höhe, was allen Besatzungsmit gliedern das Gefühl verlieh, daß ihre Mägen das Mit 128
tagessen nicht mehr lange behalten würden. Die Mannschaft war daran gewöhnt. Sie hatte zahlreiche Testflüge hinter sich und wußte, daß man bei einem Interstellar-Fahrzeug mit solchen Dingen rechnen mußte. Das Pulsieren war nicht gefährlich, aber auch alles andere als angenehm. Binnen fünf Minuten hatte jedermann an Bord Bauchweh und das große Zittern. Mike und seine Techniker wußten, was zu tun war. Sie machten sich sofort an die Arbeit. Kaum hatten sie damit begonnen, als Captain Quills Stimme aus dem Lautsprecher ertönte. »Antriebssektor, hier ist die Brücke. Wie lange wird es dauern, bis man das abstellen kann?« »Schwer zu sagen, Sir«, erklärte Mike, ohne den Blick von der Instrumententafel zu lassen. »A-77 überprüfen«, murmelte er Multhaus zu. »Können Sie mir eine Prognose geben?« drängte Quill. Mike runzelte die Stirn. So etwas sah dem Captain nicht ähnlich. Er kannte die Prognose genausogut wie Mike. »Man kann es einfach nicht präzise beur teilen, Sir. Die alte ›Gainsway‹ wurde acht Tage lang so durchgeschüttelt, bevor man die Röhren entdeck te, die einen Interferenzton mit vier Schwingungen je Sekunde erzeugten.« »Warum kann man den Defekt nicht sofort fin den?« fragte Quill. 129
Mike begriff. Fitzhugh hörte mit. Quill wünschte, daß Mike dem Robotiker eine Erklärung gab. »In der Rumpfwandung befinden sich sechzehn Generatorröhren – zwei an jedem Ende der vier Dia gonalen eines imaginären Würfels um das Schiff. Mindestens zwei davon sind außer Takt; das bedeu tet, daß vermutlich jede einzelne auf jede andere ab gestimmt werden muß, und das sind dann hundert zwanzig Prüfvorgänge. Es dauert zehn Minuten, wenn wir Glück haben und die defekten Röhren auf Anhieb finden, und ungefähr zwanzig Stunden, wenn wir sie erst beim letzten Versuch entdecken. Immer vorausgesetzt natürlich, daß nur zwei de fekt sind. Wenn drei außer Takt sind … « Er sprach den Satz nicht zu Ende. Mike grinste, als Dr. Fitzhughs Stimme aus dem Lautsprecher tönte. Er hatte also richtig geraten. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit?« fragte Fitzhugh besorgt. »Können wir nicht das Schiff zum Stillstand bringen und dann die Prüfung vornehmen, damit wir das nicht aushalten müssen?« »Leider nicht«, erwiderte Mike. »Erstens ist es ge fährlich, wenn nicht sogar tödlich, das Außenfeld abzuschalten. Die abrupte Verzögerung wäre nicht gut für uns, auch wenn das Innenfeld weiter auf rechterhalten wird. Zweitens könnten wir die Feld röhren nicht prüfen, wenn sie nicht in Betrieb sind. Eine defekte Röhre läßt sich nicht daran erkennen, 130
daß man sie einfach ansieht. Man muß sie gegenein ander abgleichen, und dazu braucht man genausoviel Zeit wie mit der anderen Methode. Die Wirkung auf das Schiff ist außerdem dieselbe.« »Gut, dann strengen Sie sich aber um Himmels willen an«, sagte Fitzhugh. »Die Pulsation erschüttert Snookums Gehirn. Weiß Gott, welchen Schaden sie anrichtet, wenn wir sie nicht in ein paar Minuten ab stellen können!« »Ich bemühe mich, so gut ich kann«, sagte Mike ›Engel‹ ruhig. »Das gleiche gilt für meine Leute. Aber die anderen können nichts tun, als uns viel Glück zu wünschen und uns in Ruhe arbeiten zu las sen.« »Ja«, sagte Dr. Fitzhugh langsam. »Ja. Ich verste he. Danke, Commander.« Mike nickte und kehrte wieder zu seiner Arbeit zu rück. Die Situation war noch nicht unangenehm genug. Es mußte noch schlimmer kommen. Die ›Branchell‹ war zu überhastet gebaut worden, mit unorthodoxen, risikoreichen Methoden. Das gleichmäßige ZweiSchwingungs-Pulsieren richtete mehr Schaden an, als das bei einem normalen Raumschiff der Fall gewe sen wäre. Zwölf Minuten nach dem Beginn des Pulsierens zeigte sich bei einer Röhre in der VorinduktionsEnergiekammer eine Positiv-Rückkopplungsoszilla 131
tion, die das gesamte Vorinduktions-System lahmzu legen drohte, wenn man es nicht dämpfte. Die Suche nach den phasendefekten Außenfeldröhren mußte eingestellt werden, während man der gefährlicheren Störung nachspürte. Multhaus schloß eine Notinstrumententafel an und begann, mit der Hand zu steuern, während die ande ren fieberhaft den Fehler suchten. Die Handsteuerung der Anodenoszillation beruht auf reiner Intuition; wenn man wartet, bis die In strumente anzeigen, daß eine Dämpfung erforderlich wird, kann es schon zu spät sein – man muß der Ma schine zuvorkommen und sich ausrechnen, was kommen wird, bevor es tatsächlich eintritt, um sofort gegenzusteuern. Man hat nicht nur die Zeit zu kalku lieren, sondern auch die Größenordnung; Übersteue rung wirkt ebenso gefährlich wie Unterlassung. Multhaus saß vor seiner Tafel, in jeder Hand eine Noniusskala, beide Augen auf einen Oszilloskop schirm gerichtet. Sein rotes, fleischiges Gesicht war angespannt, und auf der Stirn glitzerten Schweiß tröpfchen. Er blieb stumm, und seine Finger beweg ten sich kaum, während er sich bemühte, einen grü nen Strich auf dem Oszilloskop im Gleichgewicht zu halten. Mike ›Engel‹ bemühte sich unter ständigem Flu chen, das Schaltsystem zu finden, in dem die gefähr liche Rückkoppelungstendenz auftrat, während ande 132
re Techniker Meßgerätestecker herauszogen und wieder in die Buchsen zurücksteckten, Tasten drück ten und mit Werkzeugen herumfuchtelten. Mitten in dieses Treiben hinein rollte Snookums. Ob Snookums wußte, daß seine Existenz in Gefahr schwebte, ist fraglich. Wie das menschliche Gehirn besaß auch das seinige keine Schmerz- oder Gefühls empfindskreise; darüber hinaus verstand er von Ro botik nur wenig – er wußte nicht einmal, daß sich sein Gehirn im Frachtraum Eins befand. Er nahm an, es in seinem Kopf mit sich herumzutragen, wenn er überhaupt daran dachte. Trotzdem wußte er, daß etwas nicht stimmte, und sobald seine ›Neugierzellen‹ in Tätigkeit getreten waren, begann er nach der Störung zu suchen. Leda Crannon sah ihn einen Korridor entlangrol len und rief ihm nach. »Wohin willst du denn, Snoo kums?« »Ich suche Information«, erwiderte Snookums und wurde ein wenig langsamer. »Warte! Ich komme mit!« Leda Crannon wußte sehr gut, welche Wirkung das Pulsieren auf Snookums Gehirn haben konnte, und wenn ein Schaden auftrat, wollte sie sehen, wie das Verhalten des kleinen Roboters dadurch beein trächtigt werden würde. Wie auf der Fuchsjagd lief sie hinter Snookums durch die Korridore her. Hinauf und hinunter, hinein in Lagerräume, 133
Wohnkabinen, Kontrollräume und Bäder, wieder heraus. Snookums schien die Bestürzung, die sein rapides Erscheinen und Verschwinden verursachte, nicht zu bemerken. An bestimmten Stellen kam Snookums zum Stehen, berührte mit seinen Metall armen Wände und Böden und raste dann in einer an deren Richtung davon. Leda Crannon blieb ihm dicht auf den Fersen, wobei sie versuchte, den Angehöri gen der Besatzung stichwortartige Erklärungen zu geben. Wenn Snookums eines Gefühls fähig gewesen wä re – und Leda Crannon wies das nicht so entschieden zurück, wie die Robotiker es taten –, hätte sie schwö ren können, daß ihm das unheimlich Spaß machte. Siebzehn Minuten nach Beginn des Pulsierens rollte Snookums in den Antriebssektor und blieb ste hen. Noch etwas anderes stimmte nicht. Zuerst blieb er an der Tür und sammelte Informa tionen Mikes Gemurmel; die knappen Sätze der Techniker; die Geräusche der Werkzeuge, das Brummen des Schiffs selbst; den merkwürdigen Ton der Antriebsvibration – all das nahmen seine Mikro phonohren auf. Das vor ihm liegende Bild wurde von seinem Gehirn erfaßt und verarbeitet. Das Kryotron labyrinth in den Tiefen des Raumschiffs prüfte und prüfte. Snookums handelte. Leda Crannon, die bei ihrer Verfolgung an Boden verloren hatte, kam zu spät, um den Roboter am Be 134
treten des Antriebssektors zu hindern. Sie wagte nicht zu rufen, weil sie wußte, daß sie damit die Männer in ihrer lebenswichtigen Arbeit stören wür de. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich an die Tür zu lehnen, um wieder zu Atem zu kommen. Snookums rollte zur Instrumententafel, an der Multhaus saß, und sah etwa dreißig Sekunden über seine Schulter. Die Techniker bemerkten ihn, aber sie waren zu beschäftigt, um eingreifen zu können. Außerdem hatten sie sich längst an seine Anwesen heit gewöhnt. Snookums fuhr dann durch den ganzen Raum und betrachtete jedes Meßinstrument. Nicht nur die Ska len für das Antriebssystem, sondern auch alle ande ren Instrumente der Prüfapparaturen, die von den Technikern angeschlossen worden waren. Mike blickte sich um, als er das leise Surren der Raupen hörte. Er sah sowohl Snookums als auch Leda Crannon, die immer noch an der Tür lehnte und nach Atem rang. Er beobachtete Leda einige Sekun den, riß den Blick von ihr los, bemerkte Snookums Verhalten und flüsterte Leda zu: »Bringen Sie ihn raus!« Snookums überflog die Aufstellung der Meßer gebnisse in den letzten Minuten. Er hatte sie einfach vom Schreibtisch genommen, an dem einer der Techniker arbeitete, und las sie durch, bevor er sie höflich zurückgab. 135
Bevor Leda irgend etwas sagen konnte, rollte Snookums zu Mike hinüber und sagte: »Schau die Leitung zwischen der 391-JF und der großen DK-37 nach. Du wirst finden, daß die Kabelverkleidung schwingt, und zwar in Phase mit dem Interferenzton. Der Spielraum beträgt etwa einen halben Millimeter – mit einer Fehlergrenze von plus oder minus zehn Prozent. Die Pulsation erreicht die DK-37 mit etwa vier Grad Verzerrung, und die Sperre reagiert, bevor der gesamte Zufluß durchkommt. Dadurch wird das Regulierungssystem gezwungen, überzukompensie ren, und … « Mike hörte längst nicht mehr zu. Er wußte nicht, ob Snookums wußte, was er da redete, aber es war ihm klar, daß die von dem Roboter erwähnte Störung genau die vorhandene Wirkung haben mußte. Mike hastete durch den Raum und klappte das Ge häuse der Anlage auf, die Snookums bezeichnet hat te. Der Defekt war deutlich zu sehen. Mike gab die erforderlichen Befehle, und die Techniker stürzten sich auf die Störungsquelle. Snookums lieferte unterdessen eine genaue Analy se seiner Überlegungen, aber niemand hörte ihm zu. Snookums machte sich nichts daraus. »… und dadurch oszilliert natürlich seinerseits das Beschickungsröhrenfeld«, schloß er nach weiteren fünf Minuten. Mike war froh darüber, daß Snookums die Störung 136
zuerst bezeichnet und dann eine Erklärung dafür ge geben hatte. Er hätte ebensogut mit der Oszillation anfangen und den Hinweis auf die defekte Zuleitung an das Ende seiner Rede setzen können, aber er war nun einmal so konstruiert. Snookums zog mit seinem überschnellen Verstand die Schlußfolgerung und spulte sie dann rückwärts ab, bis zu ihren Vorausset zungen. Im anderen Fall wäre es vielleicht schon zu spät gewesen. Die Reparatur dauerte nicht lange, als Snookums einmal erklärt hatte, wo man anfangen mußte. Mike wischte sich die Hände mit einem Lappen ab und stand auf. »Danke, Snookums«, sagte er schlicht. »Du bist uns eine große Hilfe gewesen.« Snookums erwiderte: »Ich lächle. Weil ich mich freue.« Mit seinem stählernen Gesicht konnte er nicht lä cheln, aber Mike verstand auch so. Mike wandte sich an den Obermaat. »Okay, Multhaus, schalten Sie ab. Wir haben es geschafft.« Multhaus saß da, umgeben von einem Wall aus Konzentration, die Hände noch um die Noniums instrumente geklammert, die Augen auf den Oszilla tor gerichtet. Er rührte sich nicht. Mike legte den Hebel um. »Los, Multhaus, regen Sie sich ab. Wir müssen uns immer noch um den 137
Interferenzton kümmern.« Multhaus blinzelte erschrocken, als der grüne Strich vom Oszillator verschwand. Er ließ die In strumente los und lächelte albern. Er hatte eine volle Minute auf eine Bewegung des grünen Strichs ge wartet, nachdem das Eingangssignal verstummt war. »Na schön, suchen wir wieder nach der Röhre, die uns das ganze Außenfeld durcheinanderbringt«, sagte Mike. Snookums, der aufmerksam zugehört hatte, rollte heran und erklärte: »Die Generatorröhren drei, vier und dreizehn. Drei ist phasendefekt wegen –« »Das kannst du uns später sagen«, unterbrach ihn Mike hastig. »Wir müssen uns zuerst an diese Röh ren heranmachen. Du hattest vorher recht. Hoffent lich stimmt es jetzt auch.« Wieder machten sich die Techniker an die Arbeit. Binnen fünf Minuten justierte Mike und Multhaus die Außenfeldschaltsysteme. Der Pulston schwankte. Er zitterte einige Male, erhöhte sich auf 2 Schwingungen pro Sekunde, fiel auf 1,4 Hertz herab, stieg wieder. Die ganze Zeit über ließ aber die Stärke nach, bis man ihn nicht mehr fühlen konnte. Schließlich fiel er in ein Tief von 0,5 Hertz, waberte dort einen Augenblick herum und verschwand dann völlig. »Heiliger Strohsack!« sagte Multhaus erstaunt. »Eine Drei-Röhren-Phasenabweichnung in weniger 138
als einer halben Stunde beseitigt! Wenn das kein Re kord ist, laß ich mir meine Uniform schwarz färben und trete dem Pfarrerkorps bei.« Leda Crannon, die müde, aber erfreut aussah, sag te leise: »Darf ich hereinkommen?« Mike ›Engel‹ grinste. »Sicher. Vielleicht können Sie –« Der Lautsprecher knackte. »Antriebssektor, hier ist die Brücke.« Es war Captain Quill. »Täusche ich mich, oder haben Sie den Pulston beseitigt?« »Alles in Ordnung, Sir«, sagte Mike. »Das System funktioniert wieder fehlerfrei.« »Wie viele Röhren sind abgewichen?« »Drei Stück.« »Drei!« rief der Captain erschrocken. »Wie haben Sie denn das in der kurzen Zeit geschafft?« Mike grinste zum Fernsehauge empor. »Kleinig keit, Sir«, sagte er. »Ein Kind kann das erledigen.« 13 Leda Crannon setzte sich auf den Rand der Koje in Mikes Kabine, ließ sich eine Zigarette und Feuer ge ben und wartete, bis Mike zwei Tassen Kaffee einge schenkt hatte. »Ich würde Ihnen ja gerne etwas Gehaltvolleres anbieten, aber ich trinke selbst sehr wenig, so daß ich das Vorrecht des Schiffsoffiziers, Alkohol an Bord 139
zu schmuggeln, nicht in Anspruch genommen habe«, sagte er, als er ihr die Tasse reichte. Sie lächelte ihn an. »Schon gut. Ich trinke selten Alkohol, und wenn, dann höchstens Wein oder einen stark verdünnten Whisky. Der Kaffee wird mir be stimmt guttun.« Mike hörte Schritte den Korridor entlangkommen. Er sah zur Tür hinaus, die er absichtlich offengelas sen hatte. Leutnant Vaneski ging vorbei, warf einen Blick in die Kabine, grinste und marschierte weiter. Der junge Mann weiß, was sich schickt, dachte Mi ke. Hoffentlich blieben die anderen auch draußen, solange er sich mit Leda unterhielt. »Passiert so etwas oft?« fragte Leda. »Ich meine nicht die schnelle Lösung, sondern den Interferenz ton.« »Nein«, antwortete Mike. »Sobald das System einmal stabilisiert ist, halten die Röhren einander im Gleichgewicht. Gerade wegen dieser Tendenz zeigt sich eine phasengestörte Röhre lange Zeit nicht. Das System bemüht sich, die störanfälligen Röhren im Takt zu halten. Aber früher oder später muckt eine Röhre auf, und das setzt die gestörten frei, so daß sie sich alle gleichzeitig verraten, und wir sie aufspüren können. Wenn wir alle gestörten Röhren justiert ha ben, bleibt das System für die ganze Betriebsdauer stabil.« »Und das ist der Sinn eines Testfluges?« 140
»Einer der Gründe«, stimmte Mike zu. »Wenn die Röhren Schwierigkeiten machen, dann im Laufe der ersten fünfhundert Betriebsstunden – abgesehen von außergewöhnlichen Fällen. Das hat mich ja an der Bauweise dieses Kahns so gestört.« Ihre blauen Augen weiteten sich. »Ich dachte, das Schiff sei sogar besonders gut konstruiert.« »O doch, doch – alles in allem genommen. Es ist nicht gefährlich, wenn Sie sich darüber Sorgen ma chen. Aber reine Verschwendung. « Sie nickte und schlürfte ihren Kaffee. »Das weiß ich. Aber ich sehe nicht, wie man es anders hätte ma chen sollen.« »Ich auch nicht, so auf Anhieb«, gab Mike zu. Er trank einen beachtlichen Schluck und meinte: »Ich möchte Sie zweierlei fragen. Erstens: Was hat Snoo kums getrieben, bevor er in den Antriebssektor kam? Quill sagte, er sei, verfolgt von Ihnen, durch das gan ze Schiff galoppiert.« Sie lächelte wieder. »Er hat den Seismographen gespielt, indem er einfach die Intensität der Vibration an verschiedenen Stellen des Schiffes feststellte. Damit verschaffte er sich einen Teil der Informatio nen, die er benötigte, um Ihnen sagen zu können, welche Röhren aus der Reihe getanzt waren.« »Ich komme allmählich zu der Ansicht, daß wir in jedes Raumschiff ein großes Gehirn einbauen müs sen«, sagte Mike, »das heißt, wenn wir von Snoo 141
kums über solche Ungeheuer genug lernen können.« »Und die andere Frage?« erkundigte sich Leda. »Oh … Nun, ich habe mich gefragt, warum Sie an diesem Projekt mitarbeiten. Was hat ein Psychologe mit Robotern zu schaffen? Wenn Sie meine Unwis senheit gütigst entschuldigen wollen.« Sie lachte auf, und Mike dachte verwirrt an das sanfte Läuten silberner Glöckchen. Er unterdrückte die romantischen Neigungen gewaltsam, als sie mit ihrer Erklärung begann. »Ich bin Spezialistin für Kinderpsychologie, Mike. Eigentlich hat man mich ja nur versuchsweise ange worben – oder vielmehr auf Grund einer ausgefalle nen Vermutung, die sich als richtig erwies. Sehen Sie, bei den ersten beiden Aktivierungen von Snoo kums’ Gehirn gerieten die Schaltsysteme durchein ander.« »Sie meinen, das Gehirn schnappte über«, meinte Mike. Sie lachte wieder. »Sagen Sie das ja nicht vor Fitz. Er wird Ihnen auseinandersetzen, daß ›die Systeme ihre optimale Willkürgrenze überschritten haben‹.« Mike grinste, als ihm einfiel, wie er ein Roboter gehirn zum Wahnsinn gebracht hatte, indem er es beim Pokern bluffte. »Wie ist es denn dazu gekom men?« »Nun, wir kennen zwar nicht alle Einzelheiten, aber es scheint mit der langsamen Erholungsge 142
schwindigkeit zu tun gehabt zu haben, die beim Ler nen erforderlich ist. Wissen Sie etwas über das La gerlöfprinzip?« »Fitzhugh erwähnte es bei der Instruktion vor dem Abflug. Es hat irgendwie mit einem unelastischen Rückstoß zu tun.« »Ja. Man nimmt beispielsweise eine Stahlkugel und läßt sie aus ein bis eineinhalb Meter Höhe auf eine Stahlplatte fallen. Sie springt hoch – beinahe perfekte Elastizität. Beim nächstenmal geschieht ge nau dasselbe. Die Kugel hat nichts gelernt. Wenn man aber eine Bleikugel fallen läßt, springt diese nicht so hoch. An der Aufschlagstelle wird sie sich abplatten. Wenn sie beim nächstenmal wieder auf die flache Seite fällt, wird ihr Verhalten anders sein. Sie hat etwas gelernt.« Mike rieb sich das Kinn. »Diese eigenartigen Vor stellungen sollen analog dem Verhalten des mensch lichen Gehirns zu verstehen sein?« »Richtig. Manche Menschen haben einen Verstand, der sich mit einer Stahlkugel vergleichen läßt. Sie lernen zwar, aber man muß sie ziemlich kräftig bearbeiten, damit sie sich dazu herbeilassen. Andere Leute haben dagegen einen Verstand gleich einer gläsernen Kugel: Sie lernen überhaupt nichts. Wenn man sie hart genug anpackt, zersplittern sie.« »Na gut. Was hat das alles mit Snookums zu tun?« »Nur Geduld«, meinte Leda lachend. »Die Analo 143
gie mit der Bleikugel ist eigentlich viel zu simpel. Ein intelligenter Verstand muß Zeit haben, sich teil weise zu erholen, verstehen Sie. Wenn man ihn kurz hintereinander zu häufig schockiert, bricht er entwe der zusammen, oder er weigert sich, etwas zu lernen, oder beides. Als das Gehirn die ersten beiden Male in Betrieb gesetzt wurde, begannen die Robotiker einfach Daten einzuprogrammieren, als handle es sich um eine sim ple Datenrechneranlage. Sie zwangen es, zu schnell zu lernen, sie ließen ihm keine Zeit, sich vom Schock des Lernens zu erholen. Wie bei einem Menschen besteht ein Unterschied zwischen dem Gehirn und dem Verstand eines Robo ters. Das Gehirn ist etwas Körperliches – eine Häu fung von Kryotronzellen in einem Heliumbad. Aber der Verstand ist die Summe all der Daten, Reakti onsweisen und so weiter, die in das Gehirn eingebaut oder von ihm erarbeitet worden sind. Das Gehirn hatte keine Gelegenheit, sich von den Lernschocks zu erholen, als die Daten zu schnell eingebracht wurden, und der Verstand versagte. Er konnte es nicht aushalten. Der Roboter wurde ver rückt. Beide Male mußten die Robotiker das Gehirn ab schalten, das gesamte Datenmaterial entziehen und von vorn anfangen. Nach dem zweitenmal entschied Dr. Fitzhugh, daß man die Sache falsch angepackt 144
hatte, also versuchte man es auf andere Weise.« »Ich verstehe«, sagte Mike. »Es mußte langsam unterrichtet werden, wie ein Kind.« »Genau«, bestätigte Leda. »Und wer versteht mehr von den Lernproblemen bei Kindern als eine Kinder psychologin?« fügte sie hinzu. Mike starrte auf seine Tasse und beobachtete das Schwanken der Flüssigkeit, auf deren Oberfläche sich das Licht von den Glimmtafeln spiegelte. Er hat te Leda in seine Kabine eingeladen – erklärte er sich –, um Informationen über Snookums zu erhal ten. Aber jetzt sah er ein, daß Informationen über Leda selbst viel wichtiger waren. »Wie lange arbeiten Sie schon mit Snookums?« fragte er, ohne aufzusehen. »Über acht Jahre«, erwiderte sie. Mike hob den Kopf. »Wissen Sie, dafür sehen Sie aber noch reichlich jung aus. Man schätzt Sie höch stens auf Fünfundzwanzig.« Sie lächelte – ein wenig scheu, wie es Mike schien. »Um mit Snookums zu reden: Sie sind nett. Ich bin Sechsundzwanzig.« »Und seit Ihrem achtzehnten Lebensjahr haben Sie sich mit Snookums abgegeben?« »Ja.« Sie wirkte plötzlich noch wesentlich jünger, als die fünfundzwanzig Jahre, die ihr Mike zugestan den hatte. Sie schien eher ein etwas verlegener Tee nager zu sein, der in einem Kloster erzogen worden 145
war. »Ich bin eigentlich ein ›außergewöhnliches‹ Kind gewesen. Meine Mutter starb, als ich sieben Jahre alt war, und Dad … Nun, er wußte wohl nicht, was er mit einem kleinen Mädchen anfangen sollte. Er war ein guter Mensch, und er hat mich sicher auch sehr lieb gehabt, aber er konnte nichts mit mir anfan gen. Als dann die Testergebnisse zeigten, daß ich … intelligenter … war als der Durchschnitt, schickte er mich nach Italien in eine Spezialschule. Er meinte, mein Verstand dürfe nicht gezwungen werden, sich an die geistige Normalerziehung anzupassen. Viel leicht hat er das auch wirklich geglaubt. Außerdem hielt er nicht viel vom öffentlichen Schulsystem. Er hatte eine Menge merkwürdiger Ideen. Jedenfalls sah ich ihn nur während der Sommerfe rien, und die übrige Zeit des Jahres ging ich zur Schule. Er zeigte mir die ganze Welt, wenn ich bei ihm war, und wir hatten wunderbare Lehrer. Ich be daure nicht, so erzogen worden zu sein. Es gab eini ge Unterschiede zur Erziehung der meisten anderen Kinder, aber ich bekam die Chance, meinen Verstand auch zu gebrauchen.« »Ich kenne die Schule«, sagte Mike. »Sie gehört doch zum Cesare-Alfieri-Institut in Florenz, nicht wahr?« »Ja. Sind Sie auch dort gewesen?« fragte sie eifrig. Mike schüttelte den Kopf. »Nein, ich nicht. Aber 146
einer meiner Freunde. Kennen Sie einen gewissen Paulwitsch?« Sie quietschte freudig, als hätte sie jemand spiele risch gekniffen. »Sir Gay? Sie meinen Serge Paul witsch?« »Allerdings«, gab Mike grinsend zu. »Sieht aus wie Mephisto?« »Das ist Sir Gay, genau. Die meisten Mädchen hatten Angst vor ihm, und sicher alle Jungen. Er war ungefähr drei Jahre älter als ich, wenn ich mich recht entsinne.« »Warum nennen Sie ihn Sir Gay?« fragte Mike. »Nur seines Vornamens wegen?« »Zum Teil. Zum Teil auch, weil er ein perfekter Gentleman war. Ein wirklich großartiger Mensch, wenn Sie wissen, was ich meine. Kennen Sie ihn gut?« »Kennen? Du lieber Himmel, ich könnte mein Ge schäft nicht ohne ihn führen.« »Ihr Geschäft?« Sie runzelte die Stirn. »Aber er arbeitet doch für –« Ihre Augen wurden plötzlich ganz groß, sie öffnete den Mund und deutete mit dem Zeigefinger auf Mike. »Dann sind Sie … ja Mike ›Engel‹! M. R. Gabriel! Natürlich!« Sie begann zu lachen. »Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, das miteinander in Verbindung zu bringen! Donner wetter, Donnerwetter! Ich dachte, Sie seien einfach irgendein Raummarine-Commander! Mike ›Engel‹! Na so was!« 147
Sie verstummte plötzlich. »Entschuldigen Sie. Ich war nur so überrascht, das ist alles. Sind Sie wirklich der berühmte M. R. Gabriel, von M. R. Gabriel, An triebstechnik?« Mike war verlegen wie selten in seinem Leben. »Gewiß«, sagte er. »Sie haben das nicht gewußt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich dachte, Mike ›Engel‹ wäre mindestens sechzig Jahre alt, ein bär beißiges, altes Genie hinter einem Schreibtisch, ex zentrisch wie eine Kometenbahn und reicher als Krö sus. Sie sind einfach nicht so, wie ich Sie mir vorge stellt habe, das ist alles.« »Warten Sie nur ein paar Jahrzehnte«, meinte Mi ke lachend. »Ich werde mich bemühen, meinem Ruf gerecht zu werden.« »Sie sind also Serges Chef. Wie geht es ihm? Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich sechzehn Jahre alt war.« »Er hat sich einen Bart wachsen lassen«, erklärte Mike. »Nein!« »Doch.« »Mein Gott, wie schrecklich!« Sie bedeckte in ge spieltem Entsetzen ihre Augen mit der Hand. »Reden wir von Ihnen«, sagte Mike. »Sie sind viel hübscher als Serge Paulwitsch.« »Na, das möchte ich doch hoffen! Aber es gibt wirklich nicht viel zu erzählen. Ich ging zur Schule. 148
Bakkalaureus der Wissenschaften mit vierzehn, Ma gister mit sechzehn, Promovierung zum Doktor mit achtzehn. Dann begann ich für die DatenrechnerCorporation zu arbeiten, und das mache ich immer noch. Ich war nie verlobt und nie verheiratet. Sonst noch etwas?« »Ein unbeschriebenes Blatt, wie?« meinte Mike. »O ja, Commander, ohne eine Zeile.« »Dann möchte ich Sie gleich warnen, weil ich ver suchen werde, das zu ändern.« Ihr Lächeln verlor sich, wurde ersetzt durch einen aus Staunen und ein wenig Angst zusammengesetz tem Blick. »Das ist wirklich Ihr Ernst, nicht wahr?« fragte sie leise. »Und ob«, sagte Mike. Commander Peter Jeffers hielt sich in der Komman dobrücke auf, als Mike ›Engel‹ zur Tür hereinkam. Jeffers stand mit dem Rücken zur Tür, den Instru mentenkonsolen zugewandt, die ihm ein Gesamtbild des Zustandes vermittelten, in dem sich das Raum schiff befand. Hoch oben zeigten sich die schimmernden Licht punkte des voraus liegenden Sternenfeldes durch die große Kuppel der Schiffsspitze. Mike ging hinüber und klopfte Peter Jeffers auf die Schulter. 149
»Fleißig?« Jeffers drehte sich langsam um und grinste. »Ach, Sie sind’s, altes Haus! Nein, ich habe nichts zu tun. Draußen gibt es nichts als Sterne, und wir kommen in der nächsten Zeit nicht sehr nahe an sie heran. Was gibt’s denn?« »Ich sitze in der Patsche«, sagte Mike bedrückt. Jeffers studierte Mikes Gesicht. »Möchten Sie ei nen Schluck? Ich habe ein bißchen Kognak an Bord gebracht, und zufällig liegt eine Flasche da drüben im Gehäuse der Bordsprechanlage.« Ohne eine Ant wort abzuwarten, ging er zu dem Kasten, der das Sprechgerät enthielt. Er unterbrach seine Ansprache nicht. »Großartig, dieser französische Kognak. Die Fran zosen nennen ihn ›Eau de vie‹, und das heißt ›Le benswasser‹. Äh, falls Sie es nicht wissen. Wie steht’s mit einem Gläschen? Natürlich wollen Sie!« Er kam mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück, die er bis an den Rand füllte. »Von den Ihren haben wir dagegen den Namen ›Whisky‹. Es kommt von ›Uisgebeatha‹, und durch irgendeinen dummen Zu fall bedeutet das ebenfalls ›Lebenswasser‹. Sie set zen sich jetzt hierher und erholen sich ein bißchen. « Mike ließ sich auf dem Konsolentisch nieder, und Jeffers nahm ihm gegenüber Platz. »Trinken Sie aus, Freundchen, und dann sagen wir dem alten Onkel Pete, was denn eigentlich passiert ist.« 150
Mike starrte eine halbe Minute lang den Kognak an. Dann kippte er ihn hinunter. Er atmete tief und sagte: »Sehe ich wirklich so mitgenommen aus?« »Das kann man wohl sagen«, erwiderte Jeffers freundlich, während er Mikes Glas zum zweitenmal füllte. »Als wir gemeinsam aktiv Dienst taten, haben Sie allerhand mitgemacht, ohne auch nur ein einzi gesmal so auszusehen. Was ist los? Späte Reaktion auf den Notfall von gestern nachmittag?« Mike blickte zum Chronometer. Es war halb drei Uhr morgens, Greenwich-Zeit. Jeffers übernahm die Brücke von Mitternacht bis Mittag, während Quill die übrige Zeit auf dem Posten war. Trotzdem hatte Mike nicht gemerkt, daß die Zeit schon so weit fortgeschritten war. Er sah Jeffers an. »Reaktion? Nein, das ist es nicht. Hören Sie, Pete, Sie kennen mich. Würden Sie sagen, daß ich ein nüchterner, vernünftiger Mensch bin?« »Sicher.« »Mein Vater pflegte zu sagen: ›Hüte dich, dir durch Zufall einen Feind zu schaffen‹, und er hatte wohl recht. Normalerweise überlege ich doch, bevor ich meinen großen Mund aufmache, nicht wahr?« »Sicher«, wiederholte Jeffers. »Ich würde mich nicht als übervorsichtigen Men schen bezeichnen«, fuhr Mike fort, »aber gewöhnlich denke ich über eine Sache gründlich nach, bevor ich 151
handle – wenn mir Zeit dazu bleibt. Richtig?« »Das meine ich auch«, gab Jeffers zu. Mike nippte an seinem Glas. »Und trotzdem habe ich vor etwa acht Stunden etwas gesagt, was ich ei gentlich gar nicht zu sagen vorhatte. Praktisch mach te ich Leda einen Heiratsantrag, ohne zu wissen, daß ich es tun würde.« Peter Jeffers lachte nicht. Er sagte einfach: »Wie ist es denn dazu gekommen?« Mike erzählte es ihm. Als er ein Kognakglas spä ter mit seinem Bericht zu Ende war, füllte Peter Jef fers die Gläser zum drittenmal und lehnte sich in sei nem Sessel zurück. »Sagen Sie mir das eine, Mike, und denken Sie gründlich nach, ehe sie antworten. Wenn Sie die Chance hätten, sich ohne Gesichtsver lust aus der Affäre zu ziehen, würden Sie dann zu rücknehmen, was Sie gesagt haben?« Mike ›Engel‹ überlegte. Der Sekundenzeiger am Chronometer machte mehrere Male die Runde, bevor er antwortete. Schließlich sagte er: »Nein. Nein, das würde ich nicht tun.« Jeffers schürzte die Lippen und meinte kritisch: »In diesem Fall halten Sie sich gar nicht so übel. Ih nen fehlt nichts, bis auf die Tatsache, daß Sie verliebt sind.« Mike leerte das dritte Glas in einem Zug und stand auf. »Danke, Pete«, sagte er. »Das habe ich befürch tet.« 152
»Warten Sie doch einen Moment«, mahnte Jeffers. »Setzen Sie sich. Was wollen Sie anfangen?« »Was bleibt mir anderes übrig, als sie zu erobern und heimzuführen?« meinte Mike grinsend. Jeffers grinste ebenfalls. »Sie haben Konkurren ten!« »Sie meinen Jake von Liegnitz?« Mikes Gesicht verdüsterte sich. »Ich habe das Gefühl, daß er etwas sucht, was nicht unbedingt mit einer Heiratsurkunde zusammenhängt.« »Die Liebe macht doch wirklich ein edles Ge schöpf aus den Männern«, sagte Jeffers. »Wenn Sie damit meinen, daß er Leda zu seiner Geliebten ma chen möchte, haben Sie wahrscheinlich recht. Das ist schließlich eine normale Reaktion, würde ich sagen. Man kann das Jake nicht übelnehmen.« »Das tue ich ja nicht«, sagte Mike. »Aber das heißt noch lange nicht, daß ich ihm nicht in die Para de fahren kann.« »Natürlich nicht. Auch das ist eine normale Reak tion.« »Und was ist mit Lew Mellon?« erkundigte sich Mike. »Lew?« Jeffers zog die Brauen hoch. »Keine Ah nung. Ich glaube, er unterhält sich gerne mit ihr, das ist alles. Aber wenn er sich für sie interessiert, meint er es todernst. Er ist gläubiger Anglikaner wie Sie.« Ich bin nicht so strenggläubig, wie man es sein 153
sollte, dachte Mike. »Mir ist schon aufgefallen, daß er ein asketisches Naturell hat«, sagte er laut. Jeffers lachte. »Ja, aber so asketisch ist er nicht, daß er nicht heiraten würde.« Sein Grinsen wurde stärker. »Wenn wir noch im Stützpunkt wären, hätten Sie richtige Konkurrenz. Schließlich können Sie nicht erwarten, daß eine Frau von dieser Figur – ent schuldigen Sie! –, daß eine Frau mit den körperli chen und geistigen Vorzügen Leda Crannons unbe achtet bleibt, oder?« »Nein«, sagte Mike. »Ich bin jedenfalls der Meinung«, fuhr Jeffers fort, »daß Sie sich um Lew Mellon keine Sorgen zu ma chen brauchen. Aber bei Jakob von Liegnitz ist das etwas anderes.« Mike schüttelte heftig den Kopf. »Schluß damit! Wechseln wir das Thema. Mein bislang agiler Verstand ist durch ein paar blaue Augen lahmgelegt worden. Ich lege mich schlafen. Gute Nacht!« Er stand auf und blinzelte Jeffers zu. »Vielen Dank fürs Zuhören.« »Gern geschehen, altes Haus. Und wenn Sie ein mal Rat brauchen, melden Sie sich bei mir, dann ge be ich Ihnen allerhand falsche Ratschläge.« »Sie sind wenigstens ehrlich«, meinte Mike. »Gute Nacht.« Mike verließ die Brücke und Commander Jeffers stellte den Kognak weg. 154
Mike ging zu seiner Kabine, legte sich ins Bett und war nicht einmal fünf Minuten später einge schlafen. Er machte sich keine Sorgen mehr. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er in der Dunkelheit seiner Kabine ein Geräusch hör te, das ihn augenblicklich hellwach werden ließ. Er setzte sich auf. Das Schwebebett bewegte sich ein bißchen, knarrte aber nicht. Im Zimmer war es still. Er forschte in seinem Gedächtnis, bemühte sich, das Geräusch einzuordnen, das ihn geweckt hatte. Es war nicht laut gewesen, aber ungewöhnlich. Ein Ge räusch, das nicht in eine Wohnkabine paßte. Ein leises Geräusch eigentlich, aber Mike konnte sich um alles in der Welt nicht erinnern, wie es geklungen hatte. Aber seine Nerven sagten ihm, daß sich etwas au ßer ihm selbst im Zimmer befand. Irgendwo in seiner Nähe strahlte etwas Wärme ab; in der vom Klimage rät erzeugten Kühle war sie deutlich zu spüren. Und dazu roch es unzweifelhaft nach warmem Öl – nach Maschinenöl. Ein schwacher Geruch, aber unver wechselbar. Und da wußte Mike auch, was das für ein Ge räusch gewesen war. Das leise Schnurren von motorgetriebenen Raupen auf dem Fußboden! Langsam glitt Mikes Hand zu der Vertiefung in der Wand und berührte sie. Gedämpftes Licht erfüllte die Kabine. 155
»Na, Snookums«, sagte Mike ›Engel‹ ruhig. »Was willst du denn hier?« Der kleine Roboter blieb ein paar Sekunden unbe weglich stehen, die Hände vor der Brust gefaltet. Mi ke wünschte plötzlich, das Metallgesicht möge einen Ausdruck zeigen, aus dem sich etwas ablesen ließ. »Ich brauche Informationen«, sagte Snookums schließlich mit seiner Altstimme, die der seiner Be treuerin so sehr ähnelte. Mike wollte beinahe sagen: »Um diese Nacht zeit?« Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Es war halb acht Uhr, Greenwich-Zeit – die auch als Schiffszeit galt. »Was möchtest du denn wissen?« fragte Mike. »Kannst du tanzen?« wollte Snookums wissen. »Ja«, erwiderte Mike verblüfft, »ich kann tanzen.« Einen Augenblick lang hatte er die absurde Idee, Snookums würde ihn auffordern, einen Walzer aufs Parkett zu legen. »Danke«, sagte Snookums. Seine Raupen surrten, er drehte sich wie eine Wetterfahne, schoß zur Tür, öffnete sie und verschwand. Mike ›Engel‹ starrte die Tür an, als bemühe er sich, hindurchzuschauen, in die Tiefen des Roboter gehirns. »Was soll denn jetzt das heißen?« fragte er laut. In der gepolsterten Stille der Kabine antwortete ihm nicht einmal ein Echo. 156
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An Bord der ›Branchell‹ war etwas nicht in Ordnung, und Mike kam einfach nicht dahinter, woran das lag. Er stellte fest, daß er nicht der einzige war, dem Snookums seltsame Fragen vorgelegt hatte. Der klei ne Roboter schien von einer plötzlichen Neigung be fallen, offensichtlich unsinniges Zeug zu fragen. Keku berichtete grinsend, daß sich Snookums bei ihm erkundigt habe, ob er wisse, wer Commander Gabriel in Wirklichkeit sei. »Was haben Sie erwidert?« fragte Mike. Keku breitete die Arme aus und meinte: »Ich brachte die übliche Formel an, daß ich mir nicht ganz sicher sei, dann erklärte ich ihm, daß Sie als Mike ›Engel‹ bekannt seien und eine Größe in der An triebstechnik darstellten.« Multhaus meldete, daß sich Snookums nach dem Ziel des Fluges erkundigt habe. Die einzig mögliche Antwort des Obermaats war natürlich gewesen: »Über diese Information verfüge ich nicht, Snoo kums.« Dr. Morris Fitzhughs Miene wurde immer besorg ter, und er gestand Mike, daß er sich auch den Kopf darüber zerbrach, warum Snookums diese eigenarti gen Fragen stellte. »Er will mir nur sagen«, berichtete der Robotiker, 157
»daß er Informationen gesammelt hat. Aber er wei gert sich sogar auf einen ausdrücklichen Befehl hin, mir zu erklären, wozu er diese Informationen braucht.« Mike hielt sich von Leda Crannon fern, so gut es ging; an Bord eines Schiffes war kein Platz für Lieb schaften. Es war nicht so, daß er ihr in auffälliger Weise ausgewichen wäre, er bemühte sich lediglich, die ganze Zeit über beschäftigt zu erscheinen. Auch sie hatte viel zu tun. Snookums im Auge zu behalten und ihn zu betreuen, wurde langsam zu ei nem schwierigen Problem. Sie hatte von Anfang an nicht versucht, ihn ständig zu beobachten. Erstens war das rein physisch eine Unmöglichkeit, zweitens war sie der Ansicht, Snookums würde sich nicht in der richtigen Weise entwickeln, wenn man ihn pau senlos bewachte. Aber jetzt hatte sie zum erstenmal auch nicht die Spur einer Ahnung davon, was im Ge hirn des Roboters vorging, und sie konnte es nicht ermitteln. Sie machte sich große Sorgen deshalb, und zwischen ihr und Dr. Fitzhugh wurden über Snoo kums eigenartiges Verhalten mehrere eingehende Besprechungen geführt. Mike ertappte sich dabei, wie er darauf wartete, daß etwas passierte. Er hatte nicht die leiseste Ah nung, worauf er wartete, war aber felsenfest davon überzeugt, daß sich etwas tun würde. Allerdings rechnete er nicht damit, daß es so be 158
ginnen würde, wie es dann der Fall war. Eine gemütliche Bridgepartie am Abend ist auch nicht die passende Gelegenheit für einen Aufruhr. Pete Jeffers schlief in seiner Kabine; Captain Quill befand sich auf der Brücke und prüfte das Logbuch. In der Offiziersmesse starrte Mike auf seine Spiel karten und fragte sich, ob er seinen Kontrakt würde machen können. Er hatte Pik-As, die Neun und die Sieben; Herz-Zehn, Sechs und Zwei; Karo-Bube, Zehn, Neun, Vier, Drei und Zwei; dazu die TreffAcht. Vaneski, sein Partner, hatte Treff gereizt. Keku erwiderte, indem er verdoppelte. Mike hatte seine Karten betrachtet und drei Karo geboten, weil er und Vaneski im Gegensatz zu Keku und von Liegnitz verwundbar waren. Von Liegnitz paßte, und Vaneski zog mit Karo-Fünf nach. Keku und Mike paßten bei de und von Liegnitz verdoppelte. Es sieht nicht gut aus, dachte Mike. Keku mußte den Herz-König haben, eine andere Möglichkeit gab es einfach nicht, seit von Liegnitz die Herz-Drei aus gespielt hatte. Mike hatte Vaneskis Strohmannkarten übernommen, während der junge Leutnant sich hin ter Mike stellte, um das Spiel zu beobachten. Keiner bemerkte Kapitänleutnant Lew Mellon, den Schiffs arzt, der eben den Raum betrat. Das heißt vielmehr, sie wußten, daß er hereinge kommen war, aber sie ignorierten ihn von dieser Se 159
kunde an. Er war ein derart farbloses Nichts, daß er mit der Wand zu verschmelzen schien. Mike hatte sieben Stiche gemacht und den achten, wie erwartet, an Liegnitz’ Karo-Fünf verloren. Als der Deutsche mit der Herz-Neun herausrückte, wußte Mike, daß er das Spiel in der Tasche hatte. Er gab die Königin des Strohmanns hinein, Keku legte trium phierend seinen König auf, und Mike übertrumpfte mit der bescheidenen Karo-Vier. Er hob eben zufällig den Kopf, um von Liegnitz anzusehen, als der Navigator beim nächsten Ausspie len seinen König zog. Sein Fuß schnellte vor und stieß gegen das Bein von Liegnitz’ Stuhl. Gleichzeitig schrie er: »Jake! Deckung!« Er kam beinahe zu spät. Mellon, das Gesicht in ei ner unheimlichen Mischung aus Wut und Haß ver zerrt, stand genau hinter Jakob von Liegnitz. In der einen Hand hielt er einen schweren Schraubenschlüs sel, den er mit tödlicher Wucht auf den Kopf des Na vigators herabsausen ließ. Liegnitz’ Stuhl begann zu kippen, und der Naviga tor schnellte sich weg. Der Schraubenschlüssel traf ihn an der Schulter, er stöhnte auf, brach aber nicht zusammen. Der Schiffsarzt kreischte etwas Unverständliches und hob den Schraubenschlüssel zum zweitenmal. Inzwischen war aber Keku ebenfalls auf den Bei 160
nen und stürzte sich auf Mellon. Mike griff Mellon von hinten an und versuchte, ihm das schwere Werk zeug zu entwinden. Mellon schien ihn zu erahnen, denn er sprang zur Seite und stieß gleichzeitig einen Fuß nach hinten, wobei er Mike mit dem Absatz am Schienbein traf. Von Liegnitz hatte sich inzwischen aufgerafft und blockierte Mellons heruntersausenden Arm mit sei nem Unterarm. Seine andere Faust schnellte Mellons Gesicht entgegen. Sie traf und Mellon taumelte in Mikes Arme. Von Liegnitz riß Mellon den Schraubenschlüssel aus der Hand, holte aus und zielte auf das Kinn Mel lons. Die tödliche Waffe war nur noch Zentimeter entfernt, als Keku das Handgelenk des Navigators umklammerte. Und Liegnitz’ Hand war wie in einem Schraub stock gefangen. Mellon kreischte. »Du –!« Er stieß eine Reihe von nicht wiederholbaren, kaum verständlichen Be schimpfungen aus. »Ich sage dir – du läßt Leda Crannon in Ruhe!« »Regen Sie sich ab, Doc!« fauchte Mike. »Was, zum Teufel, ist denn eigentlich los mit Ihnen?« Von Liegnitz wehrte sich immer noch gegen Ke kus Griff, aber der riesige Hawaiianer war ihm mehr als gewachsen. Der Navigator war auf seine Mutter sprache zurückgefallen, und die meisten seiner Flü 161
che waren unverständlich. Aber Mellon reagierte nicht. »Du gewissenloser, gemeiner Lump …« Seine Tiraden nahmen kein Ende. Plötzlich und unerwartet knallte er den Absatz ge gen Mikes Zehenspitzen. Er versuchte es wenigstens; er hätte es auch getan, wenn Mikes Zehen noch an der Stelle gewesen wären, wo Mellon sie vermutete. Aber Mike reagierte schneller. Mellon versuchte aber gleichzeitig, sich loszurei ßen, und Mikes erzwungene Positionsveränderung hatte seinen Griff um Mellons Arme und Schultern gelockert. Mellon hatte sich beinahe befreien kön nen. Er riß von Liegnitz, der den Schraubenschlüssel infolge des lähmenden Drucks von Kekus Fingern nicht festhalten konnte, das schwere Werkzeug wie der aus der Hand. Mike blieb nichts anderes übrig, als den Arzt durch einen Faustschlag gegen den Solarplexus kampfunfähig zu machen. Mellon brach zusammen wie ein Jackett ohne Inhalt. Von Liegnitz hatte sich inzwischen beruhigt. »Lassen Sie mich los, Keku«, sagte er. »Ich bin schon wieder in Ordnung.« Er starrte die regungslose Gestalt auf dem Boden an. »Was kann ihn nur dazu bewogen haben?« fragte er ruhig. »Was macht Ihre Schulter?« fragte Mike. »Tut verdammt weh, aber ich glaube nicht, daß 162
etwas gebrochen ist. Warum hat er das getan?« »Sieht so aus, als wäre er völlig übergeschnappt vor Eifersucht auf Sie«, meinte Keku trocken. »Wahrscheinlich hat ihm nicht gepaßt, daß Sie Leda Crannon im Stützpunkt ins Kino geführt haben.« Jakob von Liegnitz starrte immer noch verblüfft auf den Bewußtlosen hinunter. »Lieber Gott«, sagte er schließlich, »ich habe sie doch nur ein paarmal eingeladen. Ich wußte ja, daß er sie gerne sieht, aber –« Er brach ab. »Der Kerl muß den Verstand verlo ren haben.« »Sein Atem riecht nach Alkohol«, sagte Mike. »Am besten bringen wir ihn in seine Kabine und sperren ihn ein, bis er nüchtern geworden ist. Ich muß dem Captain Meldung erstatten. Können Sie ihn tragen, Keku?« Keku nickte und bückte sich. Er schob die Hände unter Mellons Achseln, hob ihn hoch und warf ihn über die Schulter. »Gut«, sagte Mike ›Engel‹. »Ich gehe hinterher und geb ihm eins auf den Schädel, wenn er aufwacht und Stunk machen will.« Vaneski stand abseits, mit blassem Gesicht und ausdrucksloser Miene. »Jake, Sie und Vaneski erstatten dem Captain Meldung«, fuhr Mike fort. »Sagen Sie ihm, daß wir nachkommen, sobald wir Mellon in seiner Kabine verstaut haben.« 163
»In Ordnung«, sagte von Liegnitz und massierte seine Schulter. »Okay, Keku«, verkündete Mike, »vorwärts, marsch.« Kapitänleutnant Keku drückte auf die Öffnertaste zu Mellons Kabine, schob die Tür auf, trat ein und tipp te auf die Lichtplatte. Die Tafeln glommen auf und erfüllten den Raum mit sonnenhellem Licht. »Werfen Sie ihn aufs Bett«, sagte Mike. Während Keku den Bewußtlosen aufs Bett legte, sah sich Mike in der Kabine um. Sie war sauber – beinahe zu sauber. Die medizinischen Nachschlage werke standen in alphabetischer Reihenfolge auf ei nem Regal. Ein zweites Bücherbord enthielt eine Ausgabe der Internationalen Enzyklopädie, englische Fassung sowie mehrere Wörterbücher, unter anderem über medizinische und theologische Fachausdrücke. Auf dem Schreibtisch lag eine Bibel in der YorkÜbersetzung. Daneben ein paar leere Blätter und ein Reisewecker als Briefbeschwerer. Die Kleidungsstücke waren genau den Vorschrif ten entsprechend auf Bügeln aneinandergereiht, die Schuhe Paar für Paar säuberlich darunter verteilt, die Dienstmützen nebeneinander ausgerichtet. Mike wanderte durch die Kabine und betrachtete die ganze Einrichtung. »Was ist los? Was suchen Sie denn?« fragte Keku. 164
»Seinen Schnaps«, sagte Mike. »Im Schreibtisch, linke untere Schublade. Sie werden aber außer einer Flasche Portwein nichts fin den. Mellon hat nie getrunken.« Mike öffnete die Schublade. »Vermutlich finde ich nicht einmal diese eine Flasche, seinem Zustand nach zu schließen.« Zu seiner Überraschung war die Flasche noch halb voll. »Hatte er mehr als eine Flasche?« »Soviel mir bekannt ist, nein. Wie ich schon sagte, hat er sehr wenig getrunken. Ein Glas Portwein vor dem Schlafengehen war das Höchste der Gefühle.« Mike zog die Brauen zusammen. »Was halten Sie von seinem Atem?« »Nicht sehr schlimm. Zwei oder drei Gläser, mehr nicht.« »Hm.« Mike stellte die Flasche auf den Schreib tisch und ging zu einem kleinen Kasten an der Wand und öffnete ihn. Es handelte sich um den StandardMedizinschrank für Raummarineärzte. Der Lautsprecher krächzte kurz, bevor Captain Quills Stimme ertönte. »Mr. Gabriel?« »Ja, Sir?« sagte Mike. In den Wohnkabinen der Of fiziere und Mannschaften gab es kein Fernsehauge. »Wie geht es Mr. Mellon?« In der Raummarine werden Ärzte nicht als ›Doktor‹ angeredet, weil die meisten Offiziere über irgendeinen Doktorgrad ver fügen. 165
Mike sah zu Keku hinüber, der den kleinen Arzt bis auf die Unterwäsche ausgezogen und zugedeckt hatte. »Er ist noch bewußtlos, Sir, aber die Atmung scheint in Ordnung zu sein.« »Und sein Puls?« Keku ergriff Mellons linkes Handgelenk und taste te die Arterie, während er auf die Uhr sah. Mike sagte: »Wird gerade geprüft, Sir. Einen Au genblick.« Fünfzehn Sekunden später multiplizierte Keku mit vier und sagte: »Hundertvier und ziemlich schwach.« »Sie verständigen wohl am besten den Hilfsarzt«, sagte Mike zu Quill. »Er ist weder geistig noch kör perlich in bester Verfassung.« »Gut. Sobald er Sie ablöst, kommen Sie und Keku herauf. Ich möchte wissen, was, zum Teufel, auf meinem Schiff vorgeht.« »Da sind Sie nicht der einzige«, meinte Mike. 15 Mitternacht, Schiffszeit. Und soweit die Gesetze der Gleichzeitigkeit es zu ließen, war es auch Mitternacht in Greenwich, Eng land. Jedenfalls wichen die Chronometer in Schiffen, die von einem interstellaren Raumflug zurückkehr ten, nur um wenige Sekunden von der Greenwich 166
Zeit ab. Theoretisch hätte bei diesen Uhren, deren Gang auf Molekularvibration beruhte, keinerlei Ab weichung vorkommen dürfen. Die Tatsache, daß es sie trotzdem gab, war bisher nicht zufriedenstellend erklärt worden. Mike bemühte sich, an Uhren oder an die Varia tionen in der Raum-Zeit oder an etwas ähnlich Langweiliges zu denken, in der Hoffnung, dadurch endlich einschlafen zu können. Er begann, die Ableitung der Beale-Gleichungen auszuarbeiten, jene Gleichungen, die das Prinzip des ›Nullraum‹-Antriebs gelöst hatten. Das Schiff be wegte sich nicht durch den Raum; der Raum bewegte sich durch das Schiff, worauf natürlich die Zeitvaria tion beruhen mochte, denn – – die Zeit ist aus den Fugen. ›Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram, daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam!‹ * Hamlet, dachte Mike. Erster Akt, Ende der V. Szene. Aber warum war er geboren, sie einzurichten? Au ßerdem, was war denn eigentlich nicht in Ordnung? Daß nicht alles stimmte, stand außer Zweifel. Und warum vom Ende des Aktes? Folgte ein zwei ter? Sollte noch etwas geschehen? Die Uhr läuft, bis eine andere Zeit kommt. Schau auf die Uhr, die abso 167
lute Kuckucksuhr, die gute alte Keku-Uhr … Und dann war Mike eingeschlafen … Er erwachte plötzlich, und sein Traum von einem riesigen, schwarzen Schwan verflog. Diesmal war es kein Geräusch gewesen, das ihn geweckt hatte. Etwas anderes, wie das Aufhören ei nes Geräusches. Ein ersterbender Seufzer. Er streckte die Hand aus und berührte den Licht schalter. Nichts geschah. Die Kabine blieb dunkel. Es war seltsam still. Das beinahe lautlose Vibrie ren der Motoren ließ sich noch wahrnehmen, aber … Die Klimaanlage. Die Luft in der Kabine bewegte sich nicht. Die schwache Brise hatte aufgehört. Die Stromkreise mit Niedrigspannung mußten gestört sein! Was konnte sich da ereignet haben? Ein zufälliger Defekt schien ausgeschlossen. Es müßte ein seltsa mes Zusammentreffen sein, das alle drei auf Wech selwirkung beruhenden Systeme ausfallen ließ. Und das wäre nötig gewesen, um den Stromfluß zu unter brechen. Die Standardleitung und die beiden Ersatzleitun gen entnahmen den Hauptgeneratoren keinen Strom mehr. Die Bordsprechanlage war ausgefallen, zu sammen mit den Klimageräten, der Beleuchtung und einem halben Dutzend anderer Schaltsysteme. 168
Mike kroch aus dem Bett und suchte nach seiner Kleidung, wobei ihn der verzweifelte Wunsch über fiel, wenigstens, ein altmodisches Streichholz oder ein Feuerzeug mit Flamme zu besitzen. Als er seine Uniform anzog, fand er sein Feuerzeug in der Gürtel tasche. Er riß es heraus und betätigte es mit dem Daumen. In der völligen Finsternis gab das orangero te Glimmen mehr Licht, als er vermutet hatte. Wenn die Augen an die Dunkelheit gewohnt sind, kann man sogar beim Schein einer glühenden Zigarette lesen, und das Feuerzeug leuchtete heller. Trotzdem reichte es nicht. Wenn er nur eine Stab lampe gehabt hätte! Draußen im Korridor hörte er Stimmen. Das ge dämpfte Geräusch, das ihn geweckt hatte, war das leise Schleifen der Tür gewesen, die beim Stromaus fall aufgegangen war. In Raumschiffen öffneten sich alle Türen bei solchen Vorgängen automatisch, um zu verhüten, daß jemand eingesperrt blieb. Mike kleidete sich in Sekundenschnelle an und ging zur Tür. Und er erstarrte, bevor er den Korridor erreichte. Jemand war im Korridor. Jemand oder – etwas. Er wußte nicht, wie ihm das klar wurde, aber er wußte es. Er war seiner Sache so sicher, als wäre der Korridor hell erleuchtet gewesen. Und wer immer auch draußen warten mochte, er wünschte nicht, daß Mike ihn bemerkte. 169
Mike blieb einen Augenblick regungslos stehen. Das genügte, um hemmungslosen Zorn in ihm auf steigen zu lassen. Nicht haßerfüllte Wut, sondern den kalten Zorn eines Mannes, dem man zu oft nach dem Leben getrachtet hat, der zweimal einem unsichtba ren Angreifer nur mit knapper Not entkam und der nicht auf das Sprichwort schwört: ›Aller guten Dinge sind drei.‹ Er bemerkte, daß er immer noch das glimmende Feuerzeug in der Hand hielt. »Verdammt!« murmelte er, wie um sich selbst zu rügen. »Ich vergesse auch noch mal meinen Kopf.« Dann drehte er sich um und ging zu seinem Bett zu rück. Er hoffte, der im Korridor lauernde Gegner würde annehmen, daß er sofort zurückkehrte. Gleichzeitig nahm er den Daumen vom Feuerzeug kontakt. Dann setzte er sich auf den Bettrand und zog schnell seine Stiefel aus. Er hielt sie in den Händen und schlich lautlos zur Tür. Als er sie erreicht hatte, warf er die beiden Stiefel hinter sich in die Kabine. Während sie über den Boden polterten, huschte er durch die Tür. Mit drei Schritten hatte er die gegenü berliegende Korridorwand erreicht. Er preßte sich an sie und wich ein paar Meter zurück. Dann wartete er. Er befand sich auf der einen Seite der Tür zu sei ner Kabine, und der – oder das – Unbekannte auf der 170
anderen. Bis dieser andere etwas unternahm, wollte Mike warten. Viele Minuten schienen zu vergehen, obwohl Mi ke wußte, daß es nicht mehr als fünfundvierzig Se kunden sein konnten. Aus anderen Bereichen des Raumschiffs hörte er Rufe, als die Offiziere und Mannschaften von den diensttuenden Leuten ge weckt wurden. Das Schiff konnte das Leben in sei nen Wänden nicht lange bewahren, wenn die Klima anlagen nicht funktionierten. Und dann war des Wartens plötzlich ein Ende. Hinter Mike verlief der Korridor in einer Biegung und von dort hörte er Laufschritte, begleitet von ei ner lauten Stimme: »Ich hole den Commander. Sie wecken inzwischen die anderen.« Multhaus. Licht schimmerte auf. Der Obermaat trug eine Lampe, deren Schein von den Korridorwänden wi dergespiegelt wurde. Mike wußte sehr genau, daß er sich gegen den Lichtschein abhob. Sein Gegner konnte ihn also deutlich erkennen. Multhaus’ Schritte hallten im Korridor, während Mike sich bemühte, in der Dunkelheit vor sich etwas zu entdecken. Die ganze Zeit über wurde es heller. Dann kam etwas aus der Dunkelheit vorgeschos sen, das sich auf surrenden Raupen bewegte. Etwas Hartes, Metallisches knallte gegen Mikes Schulter 171
und schleuderte ihn gegen die Wand. In diesem Augenblick kam Multhaus um die Ecke, und Mike konnte Snookums den Korridor entlangra sen sehen, auf den Obermaat zu. »Multhaus! Vorsicht!« schrie Mike. Der Lichtstrahl von der Stablampe des Obermaats traf auf den Metalleib des kleinen Roboters. »Snookums! Halt!« befahl Mike. Snookums kümmerte sich nicht darum. Er schlug einen Haken um den erstaunten Multhaus, fegte um die Ecke und verschwand in der Dunkelheit. »Was war denn das, Sir?« fragte Multhaus ver wirrt. »Ein Kursus über das erste und zweite Gesetz der Robotik in der Version der Datenrechner-Gesell schaft«, meinte Mike und rieb sich die schmerzende Schulter. »Aber lassen wir das jetzt. Was ist mit dem Strom los?« »Keine Ahnung, Sir. Breckwell tut in diesem Sek tor Dienst.« »Los«, sagte Mike. »Wir müssen Ordnung schaf fen, bevor wir alle ersticken.« »Jemand bekommt sicher Angst, bevor der Scha den behoben ist«, erklärte Multhaus mürrisch, als er Mike den Korridor hinunter in der Richtung folgte, aus der Snookums gekommen war. »Bei völliger Dunkelheit und schlechter Luft passiert so etwas immer.« 172
»Wer ist heute Wachoffizier?« erkundigte sich Mike. »Leutnant Vaneski, glaube ich. Sein Name stand jedenfalls auf der Liste.« »Hoffentlich hat er die Brücke verständigt. Com mander Jeffers wird außer sich sein, aber er kann die Brücke nicht verlassen, bevor ihn jemand ablöst. Los, schneller!« Die Lichter waren knapp fünf Minuten erloschen, als Mike und Multhaus die Niedrigspannung-Zentrale des Antriebssektors erreichten. Die Tür stand offen, und der Lichtstrahl beleuchtete zwei Männer – einer lag am Boden, der andere kniete vor ihm. Der Knie ende drehte sich um, als Mike und der Obermaat he reinkamen. Der Kniende war Obermaat Fleck, ein Techniker. Mike erkannte den am Boden Liegenden als Ober maat Breckwell. »Was ist passiert?« herrschte er Fleck an. »Keine Ahnung, Sir. Ich war oben, als die Lichter ausgingen. Es dauerte eine Weile, bis ich eine Lampe gefunden hatte. Ich kam herein, aber Breckwell war verschwunden. Ich dachte jedenfalls, er sei weg, aber dann hörte ich ein Geräusch im Werkzeugschrank, und als ich aufmachte, fiel er heraus.« »Tot?« fragte Mike scharf. »Nein, Sir, ich glaube nicht, Sir. Sieht so aus, als 173
hätte ihm jemand eins auf den Schädel gegeben, aber er atmet normal.« Mike kniete neben dem Mann nieder und prüfte seinen Puls. Der Herzschlag war regelmäßig, wenn auch ein wenig schwach. Mike fuhr mit der Hand über Breckwells Kopf. »Er hat eine golfballgroße Beule, aber ich glaube, daß nichts gebrochen ist«, meinte er. Schritte hallten im Korridor, und sechs Mann von der Technikergruppe stürmten durch die Tür. Sie blieben stehen, als sie sahen, daß ihr Vorgesetzter bereits in der Kabine war. »Ein paar von euch kümmern sich um Breckwell. Sie, Leister und Knox, tragen Sie ihn auf die Seite. Waschen Sie sein Gesicht ab. Nein, warten Sie. Wir müssen ja die Pumpen erst wieder in Betrieb setzen. Passen Sie nur auf ihn auf.« Einer der Männer räusperte sich. »Was er braucht, ist ein Schluck Schnaps.« »Richtig«, sagte Mike. »Zu dumm, daß wir keinen an Bord haben. Aber tun Sie, was Sie für das beste halten. Ich bin zu sehr beschäftigt, als daß ich auf euch aufpassen könnte. Ich kann euch überhaupt nicht im Auge behalten, also müßt ihr selbst ent scheiden.« »Jawohl, Sir«, sagte der Techniker. Er unterdrück te ein Grinsen und hastete zu der Stelle, wo er seine Flasche versteckt hatte. 174
»Dunstan, Sie und Ghihara verschwinden und beobachten die Gänge. Wenn ein Offizier hierher kommt, rufen Sie mich.« »Jawohl, Sir!« riefen sie im Chor. »Na schön, sehen wir uns die Bescherung an«, meinte Mike. Multhaus hatte bereits alle Gehäuse geöffnet und starrte hinein. Die Männer legten die Stablampen der Reihe nach auf den Schreibtisch in der Ecke, um möglichst viel Licht auf die Schaltungssysteme zu werfen, dann versammelten sie sich bei Multhaus und Mike. »Ich brauche drei Ersatz-Zwischenschalter – Hochleistungs-600B9«, sagte Multhaus. In seiner Stimme wurden Ekel und Wut hörbar. Mike besah sich den Schaden. »Sehen Sie sonst noch etwas, Multhaus?« »Nein, Sir. Das ist alles.« Mike nickte. »Ungefähr fünf Minuten, bis das Hauptschaltsystem arbeitet, dann haben wir wieder Strom, weitere zehn Minuten für die beiden Ersatz leitungen. Machen Sie ruhig weiter, Multhaus. Sie brauchen mich hier ja nicht. Ich werde mich mal drum kümmern, was hier eigentlich gespielt wird.« Mike stieß auf Captain Quill, als er den Korridor zur Brücke hinaufging. »Was ist passiert?« knurrte der Captain. »Jemand hat die Hauptschalter zu den Niedrig 175
spannungsleitungen herausgerissen, Sir«, erwiderte Mike. »Kein Grund zur Besorgnis. Meine Leute sind in drei oder vier Minuten so weit, daß das Licht brennt.« »Wer …?« »Ich weiß es nicht«, sagte Mike ›Engel‹, »aber wir müssen es schnellstens herausfinden. Auf diesem Schiff geschehen für meinen Geschmack zuviel un angenehme Dinge.« »Allerdings, sind Sie sicher, daß unten alles in Ordnung ist?« »Völlig sicher, Sir. Wir brauchen uns wegen des Schadens nicht mehr den Kopf zu zerbrechen und können uns darauf konzentrieren, den Kerl zu finden, der dafür verantwortlich ist.« »Haben Sie eine Idee?« »Mehrere«, erwiderte Mike. »Sobald die Sprech anlage wieder funktioniert, würde ich empfehlen, daß Sie eine Offiziersbesprechung einberufen – und auch Miss Crannon und Dr. Fitzhugh dazu aus dem Bett holen.« »Warum?« fragte Quill. »Weil Snookums übergeschnappt ist. Er hat min destens einen Menschen angegriffen und direkte Be fehle nicht beachtet.« »Wen meinen Sie?« »Mich«, sagte Mike ›Engel‹. Mike berichtete Captain Quill auf dem Weg zur 176
Brücke, was sich abgespielt hatte. Leutnant Vaneski empfing sie mit bleichem Ge sicht an der Tür. Er salutierte. »Ich habe Commander Jeffers eben Meldung erstattet, Sir. Mit den Niedrig spannungsleitungen ist etwas nicht in Ordnung.« »Darauf bin ich auch schon gekommen«, meinte Quill sarkastisch. »Gibt es Neuigkeiten? Was haben Sie herausgefunden? Was war los?« »Als die Lichter ausgingen, trank ich gerade in der Messe Kaffee. Ich nahm eine Lampe und ging auf dem schnellsten Weg zum Antriebssektor. Der Nied rigspannungsraum war leer. Dort hätte ein Mann Dienst tun müssen, aber ich habe ihn nicht gesehen. Ich wollte nicht hineingehen, weil ich kein Techniker bin, deswegen kam ich hierher, um Meldung zu er statten. Ich –« In diesem Augenblick flammte die Beleuchtung wieder auf. Gleichzeitig begann das Summen der Klimaanlagen laut zu werden. »Gut, Mr. Vaneski«, sagte Quill. »Gehen Sie nach unten und kümmern Sie sich. Ein Mann ist verletzt worden. Sorgen Sie dafür, daß er in die Krankensta tion gebracht wird, sobald der Hilfsarzt dort einge troffen ist. Los.« Als Vaneski verschwand, betraten Quill und Mike die Brücke. Pete Jeffers stand am Sprechgerät. »Gut«, sagte er gerade, »ich verständige den diensttuenden Offizier und wir durchsuchen das Schiff. Er 177
kann sich nicht lange verstecken.« Ohne Mike oder Quill anzusprechen, drückte er auf eine andere Taste: »Mr. von Liegnitz! Jake!« »Ja? Wie? Was ist denn?« tönte eine verschlafene Stimme aus dem Lautsprecher. »Alles in Ordnung?« »Bei mir? Sicher. Ich habe geschlafen. Warum?« »Dann nichts wie raus aus dem Bett, Sie Schlaf mütze. Wir haben gerade erfahren, daß Mellon aus seiner Kabine entflohen ist. Vielleicht legt er sich noch einmal mit Ihnen an.« »Ich werde mich vorsehen«, sagte von Liegnitz knapp. »Okay.« Jeffers seufzte und sah auf. »Sobald die Sprechverständigung möglich war, hatte sich der Hilfsarzt gemeldet. Mellon ist nicht in seiner Kabi ne.« »Na, großartig«, knurrte Captain Quill. »Jetzt ha ben wir einen wahnsinnigen Roboter und einen ver rückten Menschen, die frei an Bord herumlaufen. Ich bin nur froh, daß wir keine Gorillas mitgenommen haben.« »Irgendwie habe ich das Gefühl, daß wir bei ei nem Gorilla sicherer wären«, meinte Mike. »Dem Hilfsarzt zufolge ist Mellons Zustand schlim mer als Irrsinn«, sagte Jeffers ruhig. »Er hat Mellon ein starkes Betäubungsmittel gespritzt, und er meint, Mellon dürfe überhaupt nicht auf den Beinen sein.« 178
»Er muß entkommen sein, als die Türen aufgin gen«, sagte Captain Quill. Er fuhr mit der flachen Hand über seine Glatze. Seine mächtigen, schwarzen Brauen hatten sich drohend zusammengezogen. »Mister Jeffers«, sagte er abrupt, »teilen Sie die Betäubungswaffen aus. Jeder Offizier und jeder Chefmaat bekommt eine. Bis wir diese Angelegen heit bereinigt haben, erkläre ich den Notstand für ge geben.« 16 Mike ›Engel‹ wog die schwere Schockpistole in der rechten Hand. Er wußte recht gut, daß sich damit ge gen Snookums gar nichts ausrichten ließ. Wenn Mel lon sich zu einem Angriff hinreißen ließ, würde der Überschallstrahl der Waffe seine Nerven in der Art eines elektrischen Stromstoßes beeinflussen, und er würde bewußtlos, aber im übrigen unverletzt, zu sammenbrechen. Aber Mike bezweifelte ernstlich, daß sich damit eine Wirkung auf den Metalleib des Roboters erzielen ließ. Es ist ebenso schwierig, die Nerven eines Roboters zu beeinflussen, wie eine Au ster zu blenden. Snookums verfügte über Sinneswerkzeuge, die es ihm ermöglichten, festzustellen, was um ihn herum vorging, aber sie waren keine Nerven im gebräuchli chen Sinne dieses Wortes, und eine Schockpistole 179
würde zweifellos nicht im gewünschten Maß wirken. Er fragte sich, welche Wirkung dann überhaupt dabei herauskommen würde – wenn es eine solche gab. Er stieg die Zentralleiter hinunter – eigentlich eine lange, spiralenförmige Treppe, die von der Brücke ins Schiff hinunterführte. Hinter ihm befanden sich Multhaus, ebenfalls mit einer Schockpistole bewaff net, und vier Angehörige der Technikergruppe, von denen jeder einen schweren Schraubenschlüssel trug. Mike oder der Obermaat konnten mit Mellon fertig werden; die Techniker sollten sich mit Snookums befassen. »Zerschlagt seine Raupen und Arme«, hatte Mike sie angewiesen, »aber nur, wenn er angreift. Gebt ihm den Befehl, stehenzubleiben, bevor ihr es mit anderen Methoden versucht. Wenn er weiterrollt, könnt ihr zuschlagen.« Und zu Multhaus: »Wenn mich Mellon anspringt, dann schießen Sie nur, wenn er ein Messer oder eine Pistole bei sich hat. Wenn Sie aber abdrücken müssen, dann warten Sie nicht, bis Sie in günstiger Schußposition sind; legen Sie uns beide um. Ich möchte lieber bewußtlos sein als tot. Okay?« Multhaus hatte zugestimmt. »Für mich gilt dassel be, Commander. Auch für die anderen.« Also stiegen sie die Treppe hinunter. Mike hoffte, daß es überhaupt nicht zum Kampf kommen würde. 180
Er hatte das Gefühl, daß hier grundsätzlich etwas nicht stimmte, und die Anwendung von Schockpisto len oder Schraubenschlüsseln die Situation nur ver schlimmern würde. Seine Gruppe war nicht die einzige, die nach Snookums und Mellon suchte. Keku führte ein ande res Team, Commander Jeffers ein drittes. Comman der von Liegnitz befand sich beim Captain auf der Brücke. Mellon hatte von Liegnitz bereits einmal an gegriffen; der Captain wollte die beiden auseinan derhalten. Quills Stimme tönte plötzlich aus einem Lautspre cher in der Schottwand: »Miss Crannon und Dr. Fitzhugh haben eben mit mir gesprochen«, erklärte sie. »Snookums befindet sich in seiner Kabine. Ich habe den beiden auseinandergesetzt, was geschehen ist, und sie versuchen zur Zeit, von Snookums Infor mationen zu bekommen. Mellon ist noch vermißt.« »Einer weniger«, meinte Multhaus erleichtert. »Vielleicht finden wir den anderen«, sagte Mike. Sie stiegen wieder drei Stufen hinunter, und der Lautsprecher meldete sich erneut: »Hilfsarzt, bitte bei Commander Jeffers im Werkzeugraum der In standsetzungsabteilung melden. Keku, schicken Sie Ihre Leute in die Kabinen und melden Sie sich eben falls bei Commander Jeffers. Commander Gabriel, schicken Sie Ihre Leute in die Quartiere und melden Sie sich bei Commander Jeffers. Alle Chefmaate lie 181
fern ihre Waffen im Depot ab. Alle Mannschaften kehren an ihre Posten oder in ihre Quartiere zurück.« Mike steckte seine Pistole ins Halfter. »Das war der zweite Streich«, sagte er zu Multhaus. »Wir sind anscheinend um den ganzen Spaß ge kommen«, meinte Multhaus. »Okay, Leute«, sagte Mike, »ihr habt es gehört. Bringt die Schraubenschlüssel in den Werkzeugraum zurück und verschwindet dann in eure Kabinen. Multhaus, Sie begleiten sie und beaufsichtigen das, dann bringen Sie die Pistole ins Depot zurück.« »Jawohl, Sir.« Multhaus salutierte. Mike erwiderte den Gruß und machte sich auf den Weg zur Instandsetzungsabtei lung. Er wußte, daß Multhaus und die anderen neu gierig waren, aber seine Neugier war mindestens ge nauso groß. Er hatte den Vorteil, sich in einer Positi on zu befinden, die es ihm erlaubte, seine Neugier zu befriedigen. Der Werkzeugraum war groß. An den Wänden standen Schränke. Einer davon war offen. Davor lag Kapitänleutnant Mellon. Daneben standen Comman der Jeffers und der leichenblasse Vaneski. In der Nä he hielten sich ein Chefmaat und drei Techniker auf. »Hallo, Mike«, sagte Pete Jeffers, als Mike he reinkam. »Was war los, Pete?« fragte Mike. Jeffers deutete auf die regungslose Gestalt am Bo 182
den. »Wir sind hereingekommen, um alles zu durch suchen; wir haben ihn gefunden. Mister Vaneski öff nete den Schrank, und Mellon sprang ihn an. Vaneski drückte seine Schockpistole ab. Mellon brach zu sammen. Er ist in schlechter Verfassung. Sein Puls läßt sich kaum tasten.« Mike ging hinüber und starrte den Bewußtlosen an. »Was ist passiert?« fragte eine Stimme an der Tür. Es war der Hilfsarzt, Pierre Pasteur, ein kleiner, dick licher Mann mit freundlichem Gesicht, der auf seinen Namen außerordentlich stolz war. Er konnte nicht beweisen, daß er vom großen Louis abstammte, aber er ließ nicht zu, daß andere Leute an seiner Ver wandtschaft mit ihm zweifelten. Wie die meisten Hilfsärzte auf Raumschiffen war er vollgültiger Arzt, hatte aber noch keine Bestallung aufzuweisen. »Hier ist ein Patient für Sie«, sagte Jeffers. »Sie sollten ihn sich gleich ansehen.« Pasteur ging zu Mellon und nahm sein Stethoskop aus der kleinen schwarzen Tasche, die er bei sich trug. Er lauschte ein paar Sekunden an Mellons Brustkasten. Dann zwängte er die Lider Mellons auf und betrachtete die Augen. »Was ist geschehen mit ihm?« fragte er, ohne aufzusehen. »Wir haben ihn mit einer Schockpistole ange schossen«, erwiderte Jeffers. »Wie ist er gestürzt? Hat er sich den Kopf ange schlagen?« 183
»Ich weiß nicht – vielleicht.« Jeffers sah Vaneski an »Trifft das zu, Mr. Vaneski? Er hat Sie ja ange sprungen. Ich war noch an der Tür.« Vaneski schluckte. »Ich weiß nicht. Er ist – ein fach – nun, er fiel einfach hin.« »Sie haben ihn nicht aufgefangen?« fragte Pasteur. »Nein. Nein. Ich wich zurück.« »Warum? Was ist denn los?« fragte Jeffers. »Er ist tot«, sagte Pasteur leise. 17 Leda Crannon stand vor dem für Snookums einge richteten Raum. Ihr Rücken und ihre Hände waren an die Tür gepreßt. Sie hatte den Kopf gesenkt, und ihr rotes, im Licht der Glimmtafeln kupfern schimmerndes Haar fiel auf Schultern und Wangen, verhüllte beinahe das Gesicht. »Leda«, sagte Mike leise. Sie sah auf. In ihren Augen standen Tränen. »Mike! O Mike!« Sie hastete ihm entgegen, legte die Arme um ihn und preßte ihren Kopf an seine Brust. »Was ist denn los, Leda? Was hat es gegeben?« er war davon überzeugt, daß sie von Mellons Tod noch nicht gehört haben konnte. Er hielt sie sanft und zärt lich in den Armen, ohne jede Leidenschaft. »Er ist verrückt, Mike. Vollkommen verrückt.« Ih re Stimme klang tonlos und erstickt. 184
Mike wußte, daß sie ganz gefühlsmäßig reagierte. Als geschulte Psychologin hätte sie niemals das Wort ›verrückt‹ gebraucht. Aber als Frau … als fühlendes Wesen … »Fitz spricht noch mit ihm, aber er – er ist –« Sie begann zu schluchzen. Mike wartete geduldig und strich ihr sanft übers Haar. »Acht Jahre«, sagte sie nach einer Weile. »Acht Jahre lang habe ich mich bemüht. Und jetzt ist er verloren.« »Woher wissen Sie das?« fragte Mike. Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Mike – hat er Sie wirklich angegriffen? Hat er sich geweigert, ste henzubleiben, als Sie es ihm befahlen? Was ist wirk lich geschehen?« Mike berichtete, was im dunklen Korridor vor sei ner Kabine vorgefallen war. Sie begann wieder zu schluchzen. »Er lügt, Mike«, sagte sie. »Er kann lügen!« Mike nickte stumm. Leda Crannon hatte sich von Anfang an um Snookums, das Kind, gekümmert. Sie hatte ihn erzogen, umsorgt, seine Triumphe miter lebt, sich um sein Wohlergehen gesorgt und beo bachtet, wie sein Verstand heranwuchs. Und jetzt war er krank, verloren. Und wie alle El tern fragte sie sich: Was habe ich falsch gemacht? Mike gab ihr keine Antwort auf diese unausge 185
sprochene Frage, aber er wußte, wie sie zu lauten hätte, in so vielen Fällen: Die Eltern haben nicht unbedingt etwas falsch ge macht. Es kann auch sein, daß unzureichendes Mate rial oder solches minderer Qualität vorgelegen hat. Bei einem Menschenkind ist es demütigender, wenn die Eltern zugeben müssen, daß sie minderwer tige Erbmasse an ein Kind weitergegeben haben, als einen Fehler in der Erziehung einzugestehen. Bei Leda war das etwas anderes. Leda hatte ihr Kind verloren, aber Mike zögerte, ihr klarzumachen, daß sie nichts dafür konnte, weil erstens das Material nicht der zu lösenden Aufgabe entsprochen hatte, und weil sie zweitens nicht eigent lich etwas verloren hatte. Sie spielte immer noch mit Puppen, nicht mit menschlichen Wesen. »Verdammt!« sagte Mike leise, ohne zu bemerken, daß er ihr ins Ohr flüsterte. »Ja, nicht wahr?« sagte sie. »Ich habe mich acht Jahre lang bemüht, daß sein Verstand richtig und un gehindert funktionieren konnte. Ich wollte lernen, wie man Kinder vernünftig und mit Logik aufzieht. Ich hatte eine Theorie, und ich wollte sie ausprobie ren. Und jetzt werde ich nie die Lösung finden.« »Was für eine Theorie?« fragte Mike. Sie nahm ein Taschentuch und wischte sich die Tränen ab. Mike nahm ihr das Tuch ab und übernahm diese Arbeit. »Was meinen Sie mit dieser Theorie?« 186
»Ach, das ist jetzt nicht mehr wichtig. Aber ich war der Meinung – ich bin es noch –, daß jeder mit einer Abart der drei Robotergesetze in sich geboren wird. Sie wissen, worauf ich hinaus will – daß man einen anderen nicht verletzen oder gar töten will, daß man sich weigern will, Unrichtiges zu tun, abgesehen davon, daß man seine eigene Existenz zu bewahren hat. Ich glaube, daß man mit diesen Einsichten in die Welt kommt. Aber was die Kinder dann erfahren, wirft sie aus der Bahn. Sie glauben immer noch, sich an die Gesetze zu halten, aber sie legen sie falsch aus, wenn Sie mich verstehen.« Mike nickte wortlos. »Wenn meine Theorie richtig ist«, fuhr sie fort, »dann würde ein Kind zum Beispiel seinem Vater gegenüber nie ungehorsam sein – außer es wäre da von überzeugt, er sei nicht sein richtiger Vater. Wenn es sehr früh erkennen würde, daß sein Vater es nie schlägt, dann wird das zu einem Kennzeichen des Begriffs ›Vater‹. Aber wenn es dann zum erstenmal doch geschlagen wird, beginnt der Zweifel, und auf die Dauer wird es ungehorsam, weil es nicht mehr glauben kann, daß dieser Mann sein Vater ist. Ich drücke mich unbeholfen aus, aber Sie verstehen mich wohl.« »Ja«, sagte Mike. Vielleicht war die Vorstellung Ledas gar nicht so abwegig; er wußte, daß die Philo 187
sophen seit Jahrhunderten von dem ›ursprünglich Guten‹ im Menschen sprachen. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, daß Leda das Problem falsch anpack te. Trotzdem, jetzt war nicht der Zeitpunkt, mit ihr darüber zu diskutieren. Sie schien sich ein wenig be ruhigt zu haben, und er wollte sie nicht mehr aufre gen, als nötig war. »Daran haben Sie mit Snookums gearbeitet?« fragte er. »Ja.« »Acht Jahre lang?« »Acht Jahre.« »Ist das die Information, die Snookums so wert voll macht, abgesehen von seinen wissenschaftlichen Überlegungen?« Sie lächelte schwach. »O nein. Natürlich nicht, das wäre ja albern. Man hat ihm alles mögliche einpro grammiert. Physik, Subphysik, Chemie, Mathematik – unglaublich viele Dinge. Die meisten Forschungs laboratorien der Erde haben Probleme irgendwelcher Art, mit denen sich Snookums beschäftigt hat. Man hat ihm das Problem, an dem ich arbeite, nicht vor gelegt; das würde ihm eine falsche Tendenz geben.« Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. »Und jetzt spielt das alles keine Rolle mehr. Er lügt.« »Was sagte er denn?« »Er behauptet, das erste Gesetz nicht gebrochen zu haben; er hätte keinen Menschen verletzt. Und er be 188
steht darauf, daß er, dem zweiten Gesetz gemäß, die Befehle von Menschen ausgeführt habe.« »Kann ich mit ihm reden?« fragte Mike. Sie schüttelte den Kopf. »Fitz macht mit ihm eine Analyse. Er hat sogar mich hinausgeschickt.« Sie sah ihn scharf an. »Sie wollen ihn doch nicht einfach ei nen Lügner nennen, nicht wahr? Das sieht Ihnen nicht ähnlich. Sie wissen ja, daß er nur eine Maschi ne ist – wahrscheinlich besser als ich, nehme ich an … Was wollen Sie, Mike?« Nein, dachte er, sie hält ihn ja immer noch für ein menschliches Wesen. Sonst würde sie doch wissen, daß ein Roboter nicht lügen kann – nicht im ge bräuchlichsten Sinne des Wortes. »Was ist los, Mike?« drängte sie. »Lew Mellon ist tot«, sagte er leise. Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Einen Augen blick glaubte er, sie würde ohnmächtig werden. Dann röteten sich ihre Wangen wieder ein wenig. »Snookums«, hauchte sie. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Anscheinend ver suchte er Vaneski anzuspringen, wobei er mit einer Schockpistole angeschossen wurde. Das hätte ihn nicht das Leben kosten dürfen – aber er ist trotzdem tot.« »Mein Gott«, sagte sie leise. »Da weine ich wegen einer verdammten Maschine, und der arme Lew liegt tot da oben.« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen, 189
und ihre Stimme klang gedämpft, als sie sagte: »Und ich habe keine Träne mehr, Mike. Ich kann nicht mehr weinen.« Bevor Mike sich entschließen konnte, ob er etwas sagen sollte oder nicht, öffnete sich die Tür, und Dr. Fitzhugh kam heraus. Er schloß die Tür hinter sich. Sein Gesicht hatte einen seltsamen, gequälten Aus druck. Er sah Leda und Mike an, aber man spürte, daß er sie nicht richtig wahrnahm. »Haben Sie sich jemals gefragt, ob ein Roboter ei ne Seele hat, Mike?« fragte er nachdenklich. »Nein«, gab Mike zu. Leda nahm die Hände vom Gesicht und starrte ihn an. »Er will meine Fragen nicht beantworten«, erklär te Fitzhugh fassungslos. »Ich kann die Analyse nicht zu Ende führen.« »Was hat denn das mit seiner ›Seele‹ zu tun?« er kundigte sich Mike. »Er beantwortet meine Fragen nicht«, wiederholte Fitzhugh und sah Mike an. »Er sagt, der liebe Gott erlaubt es ihm nicht.« 18 Captain Sir Henry Quill öffnete die Tür zur Kabine des toten Schiffsarztes und trat ein, gefolgt von Mike ›Engel‹. Seine Sachen mußten eingepackt werden, 190
damit man sie nach der Rückkehr der Besatzung sei nen nächsten Angehörigen übergeben konnte. Die Vorschriften verlangten, daß zwei Offiziere seine persönlichen Habseligkeiten und die der Raummari ne gehörenden Dinge durchsahen. »Weiß Pasteur schon, woran er gestorben ist, Cap tain?« fragte Mike. Quill schüttelte den Kopf. »Nein. Er bat mich, eine Obduktion zu genehmigen.« »Sind Sie einverstanden?« »Ich glaube nicht. Wir bringen die Leiche in den Kühlraum und lassen die Obduktion auf der Erde durchführen.« Er sah sich in der Kabine um. »Wenn Sie sie nicht veranlassen, haben Sie drei des Mordes Verdächtige an Bord«, meinte Mike. Quill ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ma chen Sie sich nicht lächerlich, Mike.« »Gar nicht«, sagte Mike. »Ich habe ihn in den Ma gen geschlagen. Pasteur spritzte ihm ein starkes Be täubungsmittel. Vaneski schoß ihn mit der Schockpi stole nieder. Er ist tot. Wer von uns trägt die Schuld?« »Wahrscheinlich kein einzelner, sondern alle zu sammen«, erwiderte Captain Quill. »Alle drei Maß nahmen sind im Rahmen dienstlicher Befugnisse und ohne böse Absicht erfolgt – ja sogar, ohne den Wil len, ihn zu verletzen, geschweige denn, ihn zu töten. Man wird natürlich ein Kriegsgerichtsverfahren ein 191
leiten – oder zumindest eine Untersuchung durchfüh ren müssen. Aber ich bin davon überzeugt, daß Sie und die beiden anderen dabei nicht das geringste zu befürchten haben.« Er nahm ein Buch von Mellons Schreibtisch. »Fangen wir an, Mr. Gabriel. Schreiben Sie: Eine Bibel.« Mike setzte sie auf die Liste. »Internationale En zyklopädie, englische Fassung, dreißig Bände und ein Registerband.« Mike notierte: Das Oxford-Webster Wörterbuch der englischen Sprache. Haiberts Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke. Das Canterbury Theologiewörterbuch. Christliche Religion und symbolische Logik, von Bischof K. F. Costin. Das Handbuch der Raummedizin. Während Captain Quill die Titel der Bücher nannte und sie in den mitgebrachten Kisten verstaute, schrieb Mike die Liste – und in seinem Gedächtnis begann sich etwas zu regen. »Entschuldigen Sie«, sagte Mike plötzlich. »Darf ich mal, bitte?« Er beugte sich erregt über die Kisten, nahm ein paar Bücher heraus und starrte die aufgeblätterten Seiten an. 192
»Der Teufel soll mich holen!« sagte er schließlich. Captain Quill zog die Brauen zusammen. »Was reden Sie da eigentlich, Mister Gabriel?« »Ich bin mir noch nicht ganz sicher, Captain«, wich Mike aus. »Darf ich mir diese drei Bücher aus leihen?« Er hob sie hoch. »Gestatten Sie mir die alberne Frage, wozu, Mister Gabriel?« »Ich möchte sie mir einfach ansehen, Sir«, erwi derte Mike. »Ich bringe sie in ein paar Stunden zu rück.« »Mr. Gabriel«, sagte Quill, »nach allem, was ge stern nacht passiert ist, kommt mir einiges sehr merkwürdig vor. Aber bitte, meinetwegen. Sie kön nen sie mitnehmen. Ich verlange aber, daß sie zu rückgebracht werden, bevor wir morgen früh lan den.« Mike riß die Augen auf. Weder er noch irgendein anderer – mit Ausnahme Captain Quills und Com mander von Liegnitz, dem Navigator – kannte das Ziel des Fluges. Mike hatte nicht damit gerechnet, daß sie ihm schon so nahe waren. »Ich sorge dafür, daß sie bis dahin abgeliefert werden«, versprach er. »Gut. Machen wir weiter.« In einer Dreiviertelstunde waren sie fertig. Auf ei nem Raumschiff kann man nicht sehr viel mit sich herumschleppen. Mike entschuldigte sich und ging zu seiner Kabine. Zwei Stunden später suchte er die 193
Offiziersmesse auf, um mit Pete Jeffers zu sprechen. In seiner Kabine hatte er ihn nicht gefunden, aber er saß tatsächlich an einem Tisch und trank ganz allein Kaffee. Als Mike hereinkam, sah er auf. »Hallo, Mike«, sagte er bedrückt. »Setzen Sie sich. Trinken Sie einen Schluck mit.« Ein schwaches Aroma verriet, daß er nicht nur Kaffee in der Tasse hatte. »Nein, danke, Pete. Ich möchte mit Ihnen reden.« »Setzen Sie sich. Ich trinke einen Toast auf Mister Lew Mellon.« Er deutete auf den Kaffee. »Wollen Sie nicht doch einen Schluck? Ich habe ihn ein wenig angereichert.« »Nein, danke.« Mike nahm am Tisch Platz. »Ich wollte über Mellon mit Ihnen sprechen. Haben Sie ihn gut gekannt, Pete?« »Ziemlich gut«, antwortete Pete. »Ja, das kann man schon sagen. Ich habe ihn immer für einen großartigen Burschen gehalten. Unbegreiflich, was in ihn gefahren ist.« »Mir auch. Pete, Sie haben mir erzählt, daß er An glikaner gewesen sei – ein guter sogar, sagten Sie.« »Das stimmt.« »Nun, wie haben Sie das gemeint?« Pete runzelte die Stirn. »Genau, wie ich es gesagt habe. Er studierte seine Religion, er ging regelmäßig zur Kirche, sagte seine Gebete – und so weiter. Und er war Christ und Gentleman in jeder Beziehung.« 194
Seine Stimme klang gereizt, als habe Mike seinen toten Freund beleidigen wollen. »Nun, nur keine Aufregung, Pete. Ich habe ihn au ch für einen grundanständigen Menschen gehalten –« »Bis er überschnappte«, sagte Pete. »Aber das könnte ja jedem passieren.« »Gewiß. Was ich aber wissen möchte, ist – werden Sie nicht wieder wütend – ob er vorher schon irgend ein Anzeichen von Labilität hat merken lassen?« »Zum Beispiel?« »Ich meine, war er ein Fanatiker oder ein religiö ser Sektierer oder etwas Ähnliches?« »Nein, das würde ich nicht sagen. Er sprach dar über nicht viel. Das ist Ihnen sicher aufgefallen. Ich meine, er hat nicht gepredigt. Er rauchte, trank gele gentlich ein Glas Wein – manchmal sogar einen Cocktail. Auch bei anrüchigen Witzen fuhr er nicht aus der Haut. Nur wenn es zu arg wurde, verließ er den Raum.« »Ich weiß, daß er nicht verheiratet war«, sagte Mi ke. »Hatte er Bekanntschaften?« »Ja, doch. Er tanzte gern. Die Frauen schienen ihn zu mögen.« »Pete, wenn Sie noch Zeit haben«, sagte Mike plötzlich, »dann möchte ich mich an dem Toast be teiligen.« Pete Jeffers grinste. »Einverstanden.« Er füllte zwei Tassen mit Kaffee, gab in jede einen 195
Schuß Kognak und reichte Mike eine Tasse. Sie tranken schweigend. Fünfzehn Minuten später befand sich Mike in dem kleinen Büro, das Leda Crannon mit Dr. Fitzhugh teilte. Sie war allein. »Wie geht es Ihnen denn jetzt?« erkundigte er sich. »Ich bin ziemlich erledigt«, meinte sie mit ge zwungenem Lächeln. »Sie sehen großartig aus«, sagte er. Er übertrieb nicht. Sie wirkte müde und abgespannt, aber ihrer Schönheit tat das keinen Abbruch. »Danke, Mike. Was kann ich für Sie tun?« Mike zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Wo ist Fitzhugh? « »Er versucht immer noch, aus Snookums Informa tionen herauszuholen. Es ist unheimlich, Mike – ein Roboter mit einer Seele.« »Es macht Ihnen nichts aus, darüber zu sprechen?« »Nein, Mike.« »Gut, dann beantworten Sie mir eine Frage«, sagte er. »Kann Snookums Englisch lesen?« »Natürlich. Auch Russisch, Deutsch, Französisch, Chinesisch und die meisten anderen Hauptsprachen der Erde.« »Er könnte also ein Buch lesen?« »Ja. Aber nur, wenn man es ihm in die Hand drückt und ihn ausdrücklich auffordert, den Inhalt in sich aufzunehmen.« 196
»Gut«, sagte Mike. »Unterstellen wir nun einmal, daß Snookums komplette Angaben über ein genau bestimmtes Wissensfeld besitzt. Unterstellen wir fer ner, daß dieses Feld in sich völlig logisch, zusam menhängend und folgerichtig ist. Angenommen, man könnte es sogar auf eine Reihe von Grundsätzen und Lehrbegriffen in symbolischer Logik reduzieren.« »Schön«, meinte sie. »Und?« »Nehmen wir weiter an, dieses Wissensfeld ist au genblicklich bei Millionen von Menschen in Ge brauch, obwohl die meisten sich über die Bedeutung des ganzen Gebietes nicht im klaren sind. Könnte Snookums mit einem solchen Wissensfeld arbeiten?« »Gewiß«, meinte Leda. »Warum nicht?« »Wenn Snookums nun überhaupt keine Möglich keit hätte, mit seinem Wissen Experimente anzustel len? Wenn ihm die erforderliche Ausrüstung dafür einfach nicht zur Verfügung steht?« »Sie meinen etwas wie die Astrophysik?« fragte sie. »Nein. Das ist genau das, was ich nicht meine. Ich bin mir darüber klar, daß es nicht möglich ist, eine astrophysikalische Theorie auf direktem Wege zu testen. Kein Mensch hat bisher im Labor einen Stern scharren können. Ich spreche vielmehr von einem System, das Snookums, einfach weil er ist, was er ist, nicht prü fen oder durch Experimente klären kann. Ein Sy 197
stem, das kurz gesagt, in keinerlei Beziehung zur physischen Welt steht.« Leda Crannon dachte nach. »Nun, das alles einmal angenommen, würde ich mir vorstellen, daß Snoo kums daran schließlich zerbrechen müßte. Er ist zum Experimentieren geschaffen, und wenn ihm das zu lange versagt bleibt, überschreitet er die optimale Grenze seiner Willküranlagen.« Sie schluckte. »Wenn das nicht schon eingetreten ist.« »Das habe ich mir gedacht. Und nicht ich allein«, sagte Mike nachdenklich. »Was für ein System meinen Sie denn, um Him mels willen?« fragte Leda, plötzlich aufgebracht. »Sie sind nahe dran«, meinte Mike. »Wovon reden Sie denn?« »Von Theologie«, sagte Mike. »Man hat Snoo kums voll christlicher Theologie gepumpt, das ist alles. Gute, solide Theologie. Bischof Costins ma thematische Symbolisierung ihrer Begriffe ist ein fach ein Ergebnis der Logik, die während der ver gangenen zwei Jahrtausende erbeutet worden ist. Snookums könnte sie auch ohne Costins Werk auf mathematische Symbole und Gleichungen zurück führen.« Er zeigte ihr das Buch aus Mellons Kabine. »Man braucht nicht einmal eine Seele anzuneh men, um einen Roboter damit zum Erliegen zu brin gen. Er bedarf auch keiner Gefühle. Und mit Begrif 198
fen, die sich nicht zu Experimentierzwecken eignen, kommt er nicht zurecht. Er wäre wirklich wahnsinnig geworden. Aber er ist es noch nicht.« Leda starrte ihn verwirrt an. »Aber –« »Wissen Sie, warum?« unterbrach sie Mike. »Nein.« »Weil er etwas gefunden hat, womit er experimen tieren kann. Er entdeckte eine materielle Grundlage für seinen theologischen Experimentierdrang.« Ihr Staunen wuchs. »Was könnte das sein?« »Ich«, sagte Mike. »Ich. Michael Raphael Gabriel. Ich bin Engel – ein Erzengel. In Wirklichkeit sogar drei Erzengel. Snookums hält mich jedenfalls dafür.« »Aber – wie ist er denn auf diese absurde Idee ge kommen?« »Aus der Bibel in erster Linie«, sagte Mike. »Hat er sich das aber alles selbst zurechtlegen können?« »Möglich«, meinte Mike, »obwohl ich es bezwei fle. Man hat ihm gesagt, daß ich ein Engel bin – buchstäblich.« »Zeigen Sie mir das Buch«, sagte sie und nahm Mike ›Die christliche Religion und symbolische Lo gik‹ aus der Hand. Sie schlug es in der Mitte auf. »Ich wußte nicht, daß jemand Arbeit dieser Art ge leistet hat«, meinte sie. »Oh, es gab eine Mordsaufregung, als dieses Buch erschien. Manche behaupteten, die Wahrheit der 199
christlichen Lehre sei endlich auch mathematisch bewiesen worden, so daß alle vernünftig Denkenden sie akzeptieren müßten.« Sie blätterte in dem Buch. »Ich wette, daß es Leute gibt, die das glauben, wie manche Menschen die euklidsche Geometrie ja auch deswegen für ›wahr‹ halten, weil man sie auf mathematischem Weg ›be weisen‹ kann.« Mike nickte. »Bischof Costin hat lediglich bewie sen, daß die Axiome des christlichen Glaubens in sich folgerichtig sind, mehr konnte und wollte er nicht tun.« »Aber woher wissen Sie, daß man Snookums die ses Buch gegeben hat?« »Schauen Sie sich die Seiten an. Snookums Me tallfinger haben die Seiten so zugerichtet. Menschen finger bringen das nicht fertig. Nur zwei weitere Bü cher Mellons sehen genauso aus.« Sie hob überrascht den Kopf. »Was? Das Buch gehörte Lew Mellon?« »Ja. Die beiden anderen auch. Eine Bibel und ein theologisches Wörterbuch. Sie sind in der gleichen Weise zerknittert.« Ihre Augen funkelten. »Aber warum? Warum soll te er denn so etwas tun?« »Ich weiß nicht, warum es getan worden ist«, sag te Mike langsam, »aber ich bezweifle, ob es in guter Absicht geschah. Wir haben diese mysteriöse Ge 200
schichte noch lange nicht geklärt. Leda, wenn ich recht habe – wenn darauf Snoo kums merkwürdiges Verhalten zurückzuführen ist – können Sie ihn heilen?« Sie sah wieder das Buch an und nute. »Ich glaube ja. Aber es wird viel Arbeit kosten. Ich muß mit Fitz darüber sprechen. Wir brauchen das Buch – und die beiden anderen Bände auch.« Mike schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Kön nen Sie sie photokopieren? « »Gewiß. Das dauert aber – pro Buch ungefähr zwei bis drei Stunden.« »Dann aber schnell. Wir landen morgen früh.« Sie nickte. »Ich weiß. Captain Quill hat uns schon Bescheid gesagt.« »Gut.« Er stand auf. »Was werden Sie tun? Snoo kums einfach einreden, daß er das ganze Zeug ver gessen soll?« »Um Gottes willen, nein! Es steht zu sehr im Zu sammenhang mit allen anderen Daten, die er verar beitet hat! Man könnte eine einzelne Tatsache her auszerren, aber ein ganzes Wissensfeld auf diese Weise zu entnehmen, würde ihn ruinieren. Man kann mit einer Zange einen Zahn ziehen, aber wenn man das bei einem Blinddarm versucht, ist man seinen Patienten für immer los.« »Verstanden«, sagte Mike lächelnd. »Okay. Ich besorge die anderen Bücher, und Sie lassen sie sofort 201
kopieren. Aber bitte Vorsicht.« »Danke, Mike.« Als er den Korridor entlangging, verfluchte er sich innerlich. Wenn er den Dingen ihren Lauf gelassen hätte, wäre es Leda vielleicht möglich gewesen, sich von Snookums zu lösen. Jetzt war ihr Interesse wie der wachgeworden. Aber es hatte natürlich in Wahr heit keinen anderen Weg gegeben. 19 Die ›Branchell‹ befand sich in einer Kreisbahn um ihr Ziel. Bevor sie auf dem Planeten landeten, wur den die abschließenden Tests durchgeführt. Der Planet war nicht gemütlich. Der Größe nach konnte man ihn als ›erdähnlich‹ bezeichnen, aber damit waren die Vergleichsmöglichkeiten auch schon erschöpft. Er beschrieb in einer Entfernung von etwa 880 000 000 Kilometern seine Bahn um einen Stern von Typ Sol – war also von seiner Sonne etwas weiter entfernt als Jupiter von der unseres Pla netensystems. Es war kalt dort – entsetzlich kalt. Um die Mittagszeit erreichte die Temperatur am Äquator 180 Grad über dem absoluten Nullpunkt; in Richtung der Pole nahm sie noch beträchtlich ab. H2O beherrschte diesen Planeten, als weißliches, kristallisiertes Mineral, das sich auch für Bauzwecke verwenden ließ. Die Atmosphäre war der des Jupiter 202
ähnlich, wenngleich das Mischungsverhältnis von Methan, Ammoniak und Wasserstoff aufgrund der geringeren Schwerkraft andere Zahlen ergab. Der Planet hatte wesentlich mehr Wasserstoff in seiner Atmosphäre halten können als die Erde; die durch schnittliche Thermalgeschwindigkeit der Moleküle war nämlich beträchtlich geringer. Da sich Sauerstoff spendendes Leben auf der eisigen Oberfläche nicht hatte entwickeln können, gab es in der Atmosphäre keinen Sauerstoff. Er war in die Verbindungen mit dem Wasserstoff im Eis und dem Oberflächenfels eingeschlossen. Das Schiff der Raummarine, das diesen Planeten entdeckt hatte, verlieh ihm den Namen ›Eisberg‹ und verewigte damit den einen Maat, der zufällig das Glück hatte, a) Robert Eisberg zu heißen, b) Besat zungsmitglied des Entdeckerschiffs zu sein und c) unter dem Kommando eines humorvollen Captains zu stehen. Man hatte Eisberg aus zwei Gründen als Domizil für den potentiell gefährlichen Snookums ausge sucht. Erstens konnte er schlimmstenfalls einen un nützen Planeten in die Luft sprengen, wenn er tat sächlich das Problem der totalen Materievernichtung lösen sollte. Zweitens waren die Bedingungen für den Energieverbrauch auf ›Eisberg‹ dieselben, wie im Stützpunkt ›Frostbeule‹. Es fiel wesentlich leich ter, das Heliumbad des Gehirns zu kühlen, wenn man 203
die Temperatur nur um 175 Grad zu senken brauchte. ›Eisberg‹ zeichnete sich daher als großartiges Käl telabor aus, während er zur Kolonisation weniger geeignet war. Multhaus starrte bedrückt die Zahlen auf dem Lan deprogramm an. Mike beobachtete ihn von der Seite. »Was ist los, Multhaus? Nicht begeistert?« Multhaus verzog den Mund. »Na, ich kann nicht sagen, daß mir das gefällt. Aber es mißfällt mir auch nicht.« Er schaute den Bogen an und schürzte die Lippen. Man hatte das Gefühl, als halte er sich tapfer davon zurück, Fragen über die Vorgänge der letzten Nacht zu stellen. »Ich lande nur nicht gerne ohne Düsen, Sir, das ist alles.« »Ich auch nicht«, gab Mike zu. »Aber auf andere Weise kommen wir nicht herunter. Wir konnten ohne Düsen starten; wir werden auch die Landung ohne sie schaffen.« »Jawohl, Sir«, sagte Multhaus, »aber wir sind im richtigen Winkel zum Magnetfeld der Erde aufge stiegen. Wir müssen hier aber gegen den Strich lan den.« »Sicher«, meinte Mike. »Na und? Wenn wir uns um die Motoren nicht zu kümmern brauchen, macht das 204
gar nichts. Wir können mit diesem Schiff sicher nicht mehr starten, aber das ist ja auch nicht vorgesehen. Hören Sie, Multhaus, zerbrechen Sie sich nicht den Kopf. Ich weiß, daß es Ihnen schwerfällt, ein Schiff zu ruinieren, aber das war von Anfang an hier beabsichtigt. Eine Chance wie diese bekommen Sie nie mehr.« Multhaus versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. »Na gut, Commander. Sie haben meine niedrigen Instinkte geweckt. Mein un bewußter Drang, ein Raumschiff zum Wrack zu ma chen, ist an die Oberfläche gebracht worden. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Bin ich vielleicht verrückt?« »Jetzt nicht mehr«, sagte Mike lachend. »Die Durchdringung der Plasmasphäre wird aber doch eine Mordsarbeit kosten«, meinte der Ober maat. »In diesem Sekundenbruchteil wird –« »Natürlich stößt es uns ein bißchen herum«, unter brach ihn Mike. »Aber wir überstehen es schon. Also los.« »Aye, Sir«, sagte Multhaus. Die Seen ›Eisbergs‹ bestanden aus flüssigem Me than, in dem Ammoniak aufgelöst war. In der Nähe des Äquators waren sie flüssig; im Norden machte sie das kristallisierte Ammoniak zu einer sulzigen Masse. 205
Die für die neuen Labors der DatenrechnerCorporation vorgesehene Stelle befand sich auf der nördlichen Halbkugel, auf dem 40. Breitengrad, etwa so weit vom Äquator entfernt wie New York oder Madrid auf der Erde. Die ›Branchell‹ sollte ›Eis bergs‹ Magnetfeld in einem Winkel durchschneiden, jedoch nicht im Neunzig-Grad-Winkel des Äquators. Es wäre angenehmer gewesen, wenn man den Stützpunkt an einem der beiden Pole hätte errichten können, aber dort gab es kein festes Land. Mike sah der Landung ohne die Hilfe eines Düsen bremssymstems mit ebenso gemischten Gefühlen entgegen wie Multhaus, aber er war ziemlich fest davon überzeugt, daß das Schiff dieser Belastung standhalten würde. Er stieg zur Brücke hinauf, trat ein und gab Quill das Landeprogramm. Der Captain starrte es an, zuck te die Achseln und legte es auf seinen Schreibtisch. »Schaffen wir es, Sir?« fragte Mike. »Hat sich die ›Fireball‹ schon gemeldet?« Quill nickte. »Sie ist in eine Kreisbahn außerhalb der Atmosphäre eingeschwenkt. Captain Wurster wird eine Rakete herunterschicken, die uns abholt, sobald wir hier fertig sind.« Die ›Fireball‹, bedeutend schneller als die plumpe ›Branchell‹, war später von der Erde abgeflogen und früher hier angekommen als das langsamere Raum schiff. 206
»Achtung! Achtung! Dritte Warnung! Wir bege ben uns in einer Minute in eine Landekreisbahn! Die Landung beginnt in einer Minute!« Sechzig Sekunden später begann die ›Branchell‹ ihren langen logarithmisch verzögerten Fall zur Oberfläche ›Eisbergs‹. Ein Schiff mit einem Düsensystem zu landen, ist keine leichte Aufgabe, aber eine Ionenrakete ist we nigstens darauf eingerichtet. Vielleicht läßt sich eines Tages der Translationsantrieb für Planetenlandungen einrichten, aber bis dahin besteht ein Landemanöver, wie sich einmal jemand ausgedrückt hat, zu ›50% aus reiner Energie und zu 50% aus Beten‹. Die Lan dung war gefährlicher als der Start, wie das schon seit der Erfindung des ersten Gleiters auf der Erde im neunzehnten Jahrhundert für alle Flugkörper gilt. Was aufsteigt, muß nicht unbedingt herunterkom men, aber wenn es sein soll, zeigen sich doch erheb liche Schwierigkeiten. Die Plasmasphäre ›Eisbergs‹ unterschied sich von jener der Erde in zweifacher Hinsicht. Erstens befand sich die Ionenstrahlungsquelle – der Mutterstern – weiter von ›Eisberg‹ entfernt als die Sonne von der Erde, wodurch die Gesamtionisierung stark herabge setzt wurde. Zweitens bestand die obere Atmosphäre ›Eisbergs‹ praktisch aus Wasserstoff, der leichter zu ionisieren ist als Sauerstoff oder Stickstoff. Da au ßerdem keine Ozonschicht die ultraviolette Strahlung 207
der Sonne filterte, erreichte die Ionosphäre unterhalb der Plasmasphäre größere Dicke. Erst als die ›Branchell‹ in die Randgebiete der oberen Atmosphäre eintauchte, reagierte sie anders als im Weltraum. Als sie jedoch in die Randschichten der Ionosphä re eintrat – in jene obere Schicht dünn verteilter Pro tonen, den dahinrasenden Strom überschneller Ionen, der als Plasmasphäre bekannt ist –, bäumte sie sich auf wie ein von der Peitsche getroffenes Pferd. Aus ihrem Inneren heraus dröhnte das Pulsieren auf, das sich anhörte, als zupfe jemand mit unglaublicher Schnelligkeit an den Saiten eines Kontrabasses. Es war nicht die Dichte der Ionosphäre, der das Antriebssystem der ›Branchell‹ zum Opfer fiel, son dern ihre Größe. Die Schicht war zu dick; das Schiff durchstieß sie nicht schnell genug, trotz seiner hohen Beschleunigung. Man kann ein rotglühendes Stück Eisen den Bruchteil einer Sekunde in der Hand halten, ohne etwas zu fühlen. Aber wenn man eine heiße Bratkar toffel dreißig Sekunden halten muß, zieht man sich zweifellos eine Verbrennung zu. So erging es der ›Branchell‹. Das Durchstoßen der Erd-Ionosphäre beim Start hatte Sekundenbruchteile gedauert. Die ›Branchell‹ hatte Wirkung gezeigt, aber sie war dem Feld nur so kurz ausgesetzt gewe sen, daß kein Schaden entstand. 208
Aber auf dem ›Eisberg‹ lagen die Verhältnisse eben anders. Das Pulsieren steigerte sich während des Falls, ei ne niedrigfrequente Sinusschwingung hoher Energie erschütterte das Schiff bis in die Grundfesten. Dr. Morris Fitzhugh schrie Beschimpfungen und flehende Worte ins Mikrophon, aber Captain Quill schaltete ab, bevor die anderen zum Nachdenken kamen. Der Robotiker konnte sich die Stimme heiser schreien, ohne daß ihn jemand hörte. »Wie hält sie sich?« Die Frage tönte im Antriebssektor aus dem Laut sprecher, und Mike wußte, daß sie ihm galt. »Sie schafft es schon, Captain«, erwiderte er. »Sie schafft es. Ich habe fünffache Überlastung einkalku liert. Sie schafft es.« »Gut«, sagte Quill und schaltete ab. Mike atmete tief. Sein Blick haftete immer noch auf den Skalenzeigern, die höher und höher krochen. Viele von ihnen hatten längst die roten Striche über schritten, die den höchstzulässigen Belastungsstand markierten. Mike wußte, daß er niedrig angesetzt worden war, aber von der echten Höchstgrenze war er nicht mehr weit entfernt. Er hielt den Atem an. Meter für Meter ist die Antarktis der Erde eines der tödlichsten Gebiete auf einem dem Menschen angeb lich nicht feindlichen Planeten. Die Erde ist zum 209
größten Teil ein angenehmer, gemütlicher Planet, aber die Antarktis hat für den Menschen nichts übrig. Immerhin ist sie die schlimmste Gegend auf dem besten Planeten in der erforschten Galaxis. Bei ›Eisberg‹ liegt die Sache anders. Im besten Fall überbietet dieser Planet die Schrecknisse der Antarktis um ein Vielfaches. Im schlimmsten Fall bringt er den schnellen Tod, im besten Fall den langsamen. Nicht, daß ›Eisberg‹ ein wirklich unangenehmer Planet wäre. Jupiter, Saturn, Uranus oder Neptun vermögen einen Menschen schneller zum Tod zu be fördern, und unter geringeren Schmerzen. Nein, ›Eisberg‹ ist nicht unangenehm – er ist Qual in Rein kultur. Ein Mensch ohne Kleidung, plötzlich auf der Oberfläche ›Eisbergs‹ ausgesetzt – irgendwo auf der Oberfläche – würde sterben. Das Peinliche daran ist, daß er lange genug leben würde, es zu spüren. Der Mensch kann dort zweifellos überleben, aber dazu sind entsprechende Ausrüstung und Intelligenz erforderlich. Als in der ›Branchell‹ eine Röhre – eine einzige Röhre – des Außenfelds versagte, mit dem sich die Masse des Schiffs gegen die Belastung des Schwere feldes stemmte, glitt die ›Branchell‹ aus der Kreis bahn. Die Röhre platzte, als sich das Raumschiff et wa hundertfünfzig Kilometer über der Planetenober fläche befand. Es fiel zu schnell, wurde hochgeris sen, fiel wieder. 210
Als die Maschinen den Ausfall der Röhre wettge macht hatten, ging der Fall konzentrierter vor sich und das Schiff landete sanft – nun, nicht gerade be sonders sanft – auf der Oberfläche ›Eisbergs‹. Captain Quills Stimme krächzte aus dem Laut sprecher. »Wir sind nahezu hundertsechzig Kilometer vom Stützpunkt entfernt, Mister Gabriel. Haben Sie ir gendeine Entschuldigung?« »Nein, keine, Sir«, sagte Mike. 20 „Wenn man einen Düsenstrahl aus Sauerstoff und Stickstoff in einer Wasserstoff-Methan-Atmosphäre entzündet, erhält man eine Flamme, die sich nur un wesentlich von der eines Wasserstoff-Methan-Düsen strahls in einer Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre unterscheidet. Einer Flamme ist es ziemlich gleich gültig, wie die Elektronen springen, solange sie es tun. Und das verursachte Mike mehr Kopfschmerzen, als er bereits zu bekämpfen hatte. Drei Tage nach der Landung der ›Branchell‹ er schien die Vorausabteilung vom Stützpunkt, der auf ›Eisberg‹ errichtet worden war, um Snookums beauf sichtigen zu können. Der Anführer, ein breitschultri ger Mann namens Treadmore mit dichtem, brünettem 211
Haar und traurigen Augen, erklärte Captain Quill, daß es sehr viel zu tun gebe. Und seine Miene wurde noch trübseliger. Mike, der zur Besprechung gebeten worden war, hörte dem Ingenieur schweigend zu. Die Offiziersmesse, die Mike langsam zum Hals heraushing, glich einem Grabgewölbe, in dem die Stimme Treadmores hallte. »Man hat uns natürlich gewarnt«, sagte er düster, »daß es außerordentlich schwierig sein würde, das Schiff zu landen, und daß wir den endgültigen Stütz punkt in einer Entfernung von zwanzig bis fünfzig Kilometern vom ursprünglichen Standort erwarten müßten.« Er sah die Anwesenden wie ein geprügelter Hund an. »Wir begreifen natürlich, daß Sie für die Landung in dieser Entfernung von unserem ersten Standort nichts können«, fuhr er gequält fort, »aber das gibt eine Menge zusätzlicher Arbeit. Hundertvierund fünfzig Kilometer sind eine große Entfernung für den Transport der gesamten Ausrüstung, und in Wirk lichkeit ist der Weg ja infolge der Oberflächenbe schaffenheit noch weiter. Die …« Das ganze Gerede lief darauf hinaus, daß man nur einen Teil der Mannschaft mit der ›Fireball‹ heim schicken konnte, die oben in einer Kreisbahn den Planeten umrundete. Da es nun keinen Sinn hatte, eine kleine Fracht unter zusätzlichen Kosten nach 212
Hause zu befördern, wenn die ›Fireball‹ ebensogut auf die anderen warten konnte, hieß das, daß alle noch drei bis vier Wochen hierzubleiben hatten. Man brauchte alle Hände zur Errichtung des neuen Stütz punkts. Es war offensichtlich unmöglich, die ›Branchell‹ hundertfünfzig Kilometer weit zu fliegen. Mit ihrem Translationsantrieb allein war sie so hilflos wie ein Unterseeboot in der Sahara, zumal ja auch Defekte aufgetreten waren. Der Stützpunkt mußte rings um Snookums errich tet werden, denn der Roboter war schließlich der Sinn des ganzen Unternehmens. Und der Antriebsre aktor der ›Branchell‹ sollte als Energieerzeuger für den ständigen Stützpunkt dienen. Eigentlich war alles gar nicht so schlimm. Der Hilfsstützpunkt, von Treadmore befehligt, war recht gut ausgerüstet. Für Transportzwecke verfügte man über ein Düsenflugzeug, ein paar Hubschrauber und fünfzehn Schlepper mit Ballonreifen; dazu ka men alle möglichen angetriebenen Baumaschinen. Alle Fahrzeuge wurden mit flüssigem HNO3 betrie ben, ein sehr guter Brennstoff in einer Atmosphäre, die überwiegend aus Methan bestand. Wie die Ben zin-Luft-Motoren des vergangenen Jahrhunderts wa ren sie mit Funkenzündung ausgestattet, bis auf das Turbo-Flugzeug. Das einzig Unangenehme an der ganzen Sache 213
war, daß man das gesamte Material hundertfünfzig Kilometer weit durch außerordentlich gefährliches Gelände schleppen mußte. Treadmore machte ein Gesicht wie ein mißhandel ter Dackel und sagte: »Aber wir schaffen es doch, nicht wahr?« Alles nickte bedrückt. Mike hatte eine Aufgabe, die ihm gar nicht gefiel. Er sollte den Antriebsreaktor der ›Branchell‹ in einen stationären Generator umbauen. Der Umwandlungs prozeß war nicht allzu schwierig; im Prinzip ging es um nichts anderes, als beim Ausbau eines Automo tors, den man zur Antriebsmaschine eines Stromge nerators umgestalten will. Es war sogar noch einfa cher, weil die Maschinen der ›Branchell‹ bereits auf hohe Ausgangsleistung eingestellt waren. Aber Michael Raphael Gabriel hatte nichts für Vergeudung übrig. Der Umbau des Raumschiffan triebs zur Stromerzeugungsmaschine kam ihm vor, als hätte man einen turboelektrischen Generator als Stromquelle für eine Taschenlampe benützt. Reine Verschwendung. Überdies machte der geringe Prozentsatz an Was serstoff in der Atmosphäre manchmal Schwierigkei ten. Er schlich sich an Stellen ein, die weder das Me than noch das Ammoniak je erreichten. Jemand nannte den Wasserstoff einmal das ›Kakerlakenele 214
ment‹, weil sich die H2-Moleküle gleich diesem In sekt dort einschleichen, wo sie nicht nur unwillkom men, sondern auch völlig unerwartet sind. In glühender Hitze können sich die kleinen Moleküle durch die Kristallgitter von Quarz und Stahl hindurch zwängen. Gewiß war die Temperatur auf ›Eisberg‹ weit vom Glühen entfernt, aber normales Abdichten hält den Wasserstoff nicht fern. Wenn man dazu noch nimmt, daß Wasserstoff und Methan farb-, geruch- und ge schmacklos sind, dann läßt sich verstehen, daß aller hand passieren kann. Der einzige Grund dafür, daß niemand ums Leben kam, ist im Wesen der Raummarine zu suchen. Anders als die Land-, See- und Luftstreitkräfte der Erde hat die Raummarine keine lange Geschichte des Kampfes gegen andere Menschen vorzuweisen. Ei nen Weltraumkrieg hat es nie gegeben und aller Wahrscheinlichkeit nach wird es auch niemals dazu kommen. Aber die Raummarine kämpft auf ihre eigene Art. Sie bekämpft die Luftleere des Weltraums, die un freundliche Atmosphäre ferner Planeten, wobei sie Maschinen, Intelligenz, Wissen und Mut als Waffen einsetzt. Manche Schlacht ist verloren worden; ande re wurden gewonnen. Und der Krieg geht weiter. Es gibt keinen Augenblick lang die Aussicht auf ein En de, auf einen Sieg. 215
Soweit sich das abschätzen läßt, ist das der einzige Krieg, bei dem der Mensch zu Recht als Eindringling und Aggressor auftritt. Er ist kein Defensivkrieg; weder der Weltraum noch die Planeten haben den Menschen angegriffen. Der Mensch ist in den Weltraum vorgedrungen, ›ein fach, weil er da ist‹. Es handelt sich um Krieg gänz lich anderer Art, gewiß, aber doch um Krieg. Die Raummarine war Kämpfe gewöhnt, wie man einen davon jetzt auf ›Eisberg‹ austrug. Sie war dar auf vorbereitet, Leute zu verlieren, noch mehr aber darauf, sie zu retten. 21 Mike betrat die Fracht-Luftschleuse der ›Branchell‹, blieb mürrisch in dem kleinen Raum stehen und war tete, bis sich die Außentür geschlossen hatte. Acht Männer, gleich ihm in Raumanzügen, starrten eben falls auf die Tür. Multhaus, einer der acht, sah Mike an. »Ich wäre froh, wenn sich das Ding so schnell schließen würde wie in fünfzehn Minuten meine Augen, Comman der.« Seine Stimme dröhnte in Mikes Kopfhörern. »Ja«, sagte Mike, zu müde für normale Konversa tion. Acht Stunden – damit zugebracht, das Raumschiff zu demontieren und zum Bestandteil eines neuen 216
Stützpunkts umzugestalten – hatten keinen von ihnen in Hochstimmung versetzt. Die Tür schloß sich, und die Pumpen begannen zu arbeiten. Die Männer trugen den Raumanzug Typ drei. Für jede Umwelt, jeden erdenklichen Notfall, war ein Anzug entwickelt worden – natürlich nur, wenn sich ein solcher dafür finden ließ. Niemand hatte noch einen Anzug für den Aufenthalt im Innern einer Sonne entworfen, aber es gab ja auch keinen, der sich zu einem derartigen Abenteuer entschließen würde. Man nannte sie ausnahmslos ›Raumanzüge‹, weil man die meisten von ihnen im Vakuum des Welt raums tragen konnte, aber die Mehrzahl war nicht für diese Aufgabe entworfen. Anzug eins – leicht, mühe los zu steuern, beinahe hauteng, galt als ›echter‹ Raumanzug. Für Arbeiten im interstellaren Raum war er ideal; denn dort gab es nur minimale Strah lung, keine Luft, nahezu keine Schwerkraft. Für Au ßentemperaturen an Raumschiffen im freien Fall in weiter Entfernung von Himmelskörpern war Raum anzug eins die richtige Kleidung. Aber ein Anzug, der im Weltraum seinen Zweck erfüllt, war nicht unbedingt auch auf anderen Plane ten zu gebrauchen. Ein Mondanzug ist kein Marsanzug, ist kein Ve nusanzug, ist kein Tritonanzug, ist kein … Und so weiter. 217
Nummer drei bot gegen eine eisige, aber ver gleichsweise nichtkorrodierende Atmosphäre Schutz. Als die Pumpen in der Luftschleuse die Methanat mosphäre absaugten, begannen sie sich aufzublähen. Dann erfüllte Stickstoff, der im Ammoniakschnee unbegrenzt zur Verfügung stand, den Raum und ver dünnte die verbleibenden unbrennbaren Gase auf harmlose Konzentration. Dann wurde diese Mischung abgepumpt und durch ein Gemisch aus annähernd 20 % Sauerstoff und 80 % Stickstoff ersetzt – normale Luft. Mike öffnete seinen Helm und atmete tief ein. »Pfui Teufel«, sagte er. »Wenn ich jemals das Be wußtsein verliere und mir jemand Riechsalz gibt, mißhandle ich ihn mit einer Grobfeile.« »Jawohl, Sir«, sagte Multhaus, während er seinen Anzug abstreifte. »Aber wenn ich wählen könnte, wäre ich dafür, daß Sie einen Weg finden, den Am moniak aus den Anzuggelenken herauszuholen.« Die anderen Männer gaben ihm hustend recht. Es war in Wirklichkeit nicht so schlimm, wie sie taten, ja, man bemerkte den Ammoniakgeruch ei gentlich kaum. Aber man hatte wenigstens ein The ma zum Schimpfen. Die Innentür öffnete sich endlich, und die Männer betraten das Innere des Schiffs. »Gute Nacht, Multhaus«, sagte Mike. »Gute Nacht, Sir«, erwiderte der Obermaat. »Bis 218
morgen.« »Ja. Gute Nacht.« Mike stapfte zum Korridor, der zur Messe führte. Wenn er Keku oder Jeffers dort fand, ließ sich vielleicht ein Spielchen arrangieren. Er freute sich darauf. Aber zuerst mußte er etwas erledigen. Statt seinen Anzug in dem dafür vorgesehenen Schrank aufzuhängen, trug er ihn unter dem Arm – bis auf den Helm – und marschierte damit zum In standsetzungssektor. Er traf Leutnant Vaneski, als dieser den Raum eben verlassen wollte, und grinste breit. »Mister Va neski, ich habe Sorgen.« Vaneski lächelte verzerrt. »Ja, Sir. Die haben wir wohl alle. Was gibt es denn, Sir?« Mike deutete auf das Bündel unter seinem Arm. »Ich habe mir den Ärmel bei der Arbeit aufgeschürft. Wenn Sie die Freundlichkeit hätten, ihn sich anzuse hen. Ich fürchte, daß man ein Pflaster drauf tun muß.« Vaneski sah einen Augenblick lang aus, als hätten ihn heftige Kopfschmerzen überfallen. »Ich weiß, daß Sie nicht Dienst haben«, sagte Mi ke beruhigend, »aber ich möchte nicht mit einem de fekten Anzug morgen draufgehen. Ich helfe Ihnen, wenn –« Vaneski lächelte schnell. »Oh, nicht nötig. Das schaffe ich schon. Ich teste jedenfalls auf Lecks. 219
Wenn eine Reparatur nötig ist, dauert das nicht allzu lange. Bringen Sie ihn herein, dann sehen wir ihn uns an.« Sie betraten den Raum, und Vaneski breitete den Anzug auf .dem Arbeitstisch aus. Am rechten Ärmel war deutlich eine rauhe Stelle zu erkennen. »Sieht nicht gut aus«, meinte Vaneski. »Ich mache sofort einen Test.« »Gut«, sagte Mike. »Ich lasse ihn hier. Kann ich ihn morgen früh abholen?« »Ich denke schon. Wenn geflickt wird, müssen wir natürlich noch einmal testen, aber das geht dann schnell.« Er zuckte die Achseln. »Wenn es nicht geht, müssen Sie leider warten, Sir. Oder wollen Sie, daß wir dann einen anderen Anzug auf Ihre Größe abändern?« »Was dauert länger?« »Die Änderung.« »Okay. Dann reparieren Sie den da. Was soll ich tun?« »Ich mache das schon alleine, Sir«, sagte Vaneski lächelnd. »Schön. Bis später dann.« Mike gedachte nicht zu diskutieren. Er verließ den Raum und machte sich auf den Weg zur Messe. Aber als er auf der Treppe Leda Crannon traf, vergaß er alle Gedanken an das Kartenspiel. »Hallo«, sagte er und reckte sich ein wenig. Er 220
war müde, aber doch nicht so müde. Ihr Lächeln verscheuchte seine trüben Gedanken … Aber ein zweiter Blick zeigte ihm, daß das Lä cheln angestrengt wirkte. »Hallo, Mike«, sagte sie leise. »Du siehst müde aus.« »Das bin ich auch«, gab Mike zu. »Hundemüde. Habe ich dir schon gesagt, daß ich dich liebe?« »Mehrmals schon, glaube ich.« Ihre Augen schie nen heller zu werden. »Aber nun genug von dieser grenzenlosen Leidenschaft«, meinte sie. »Ich verlan ge, daß ich zu einem anständigen Schluck eingeladen werde.« »Ich klaue Jeffers Flasche«, erbot sich Mike. »Was ist los?« Ihr Lächeln verschwand. »Ich habe Angst, Mike. Ich möchte mit dir reden.« »Na gut, dann komm mit.« Mike füllte zwei Gläser mit Whisky, Eis und Wasser und überreichte eines davon Leda Crannon mit einer tiefen Verbeugung. »Es wird dich vielleicht interessieren«, meinte er gesprächig, »daß der gelehrte Mr. Treadmore mir eine äußerst faszinierende Information geliefert hat.« Er hob sein Glas und starrte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit. Sie saßen in seiner Kabine, und diesmal war die Tür geschlossen – auf ihr Drängen hin. Sie wollte 221
von Vorbeigehenden nicht gehört werden. »Treadmore erzählte des langen und breiten über das Vorhandensein von Parawasserstoff und Orthowasserstoff auf ›Eisberg‹.« Er sah auf Leda hinab, die brav auf dem Bettrand saß. Ihr Lächeln ermunter te ihn. »Er sagte – und ich zitiere« – Mike äffte den ge spreizten Ton Treadmores nach –, »normales Was serstoffgas besteht aus zweiatomigen Molekülen. Der Kern- oder Protonenspin dieser Atome – äh – das heißt, der beiden Atome, aus denen das Molekül be steht – kann in dieselbe oder auch in einander entge gengesetzte Richtungen weisen.« Er hob einen Fin ger, als handle es sich um eine entscheidende Frage. »Wenn er in dieselbe Richtung weist, bezeichnen wir den Stoff als Orthowasserstoff, im andern Fall als Parawasserstoff. Die Ortho-Moleküle rotieren in un geraden Quantenzahlen des Drehimpulses, die ParaMoleküle in geraden. Da Übergänge zwischen zwei Zuständen norma lerweise nicht vorkommen, kann man den normalen Wasserstoff als –« Leda lachte. »Bitte!« unterbrach sie ihn. »So schlimm kann sich das doch gar nicht anhören! Was hat er dir gesagt? Was hast du herausbekommen?« »Ha!« sagte Mike. »Was habe ich herausgefun den?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nichts. Erstens wußte ich das bereits, und zweitens 222
ließ sich mit der Information praktisch nichts anfan gen. Zwischen den beiden Formen besteht ein gerin ger Unterschied in der Diffusionsgeschwindigkeit, aber er ist nicht interessant genug.« Er wurde plötz lich ernst. »Hoffentlich sind deine Nachrichten be deutsamer.« Sie schaute auf ihr Glas, nickte und trank es leer. Mike hatte ihr das Versprechen abgenommen, daß sie ein Glas trinken würde, bevor sie zu erzählen an fing. Er konnte sehen, daß sie sehr nervös war, und der Alkohol sollte eine beruhigende Wirkung aus üben. Sie gab ihm das leere Glas, und während er es füll te, sagte sie: »Es handelt sich wieder um Snookums.« Mike gab ihr das gefüllte Glas und setzte sich. »Ich habe so lange mit ihm zusammengelebt«, sagte sie nach einer Weile. »So lang. Es kommt mir beinahe vor, als wäre ich mit ihm aufgewachsen. Acht Jahre. Ich war ihm eine Mutter, und gleichzeitig eine große Schwester – vielleicht auch eine Tante. Er war meine Karriere und meine Familie, alles in ei nem. Und sogar irgendwie so etwas wie mein Mann. Das heißt, er ist ein Ersatz für – nun, jemand, den man umsorgt … unterrichtet … erzieht. Jede Frau will wohl aus ihrem Mann etwas machen.« Sie sah ihn plötzlich an. »Aber ich nicht. Jetzt nicht mehr. Ich habe genug davon.« Sie starrte wieder auf ihre Hände hinab. 223
Mike schwieg. »Er hat mir gehört«, fuhr sie fort. »Ich konnte ihn formen. Die anderen – die Robotiker, Kernphysiker, Sub-Elektroniker – waren seine Lehrer. Sie vermit telten ihm Daten. Ich habe ihm eine Persönlichkeit gegeben. Ich habe ihn geschaffen. Nicht seinen Körper, nicht sein Gehirn, aber seinen Verstand. Ich habe ihn geschaffen. Ich habe ihn gekannt. Und ich – ich –« Sie preßte beide Hände zusammen. »Und ich habe ihn geliebt«, schloß sie. Sie hob den Kopf. »Begreifst du das?« fragte sie. »Ja«, erwiderte Mike ruhig. »Ja, ich begreife es. Unter den gleichen Umständen wäre mir vielleicht dasselbe passiert.« Er machte eine Pause. »Und jetzt?« »Jetzt weiß ich, daß er eine Maschine ist. Snoo kums ist kein ›er‹ mehr – er ist ein ›es‹. Er hat keine Persönlichkeit, er besitzt nur das, was ich in ihn hi neingetan habe. Selbst seine Stimme gehört mir. Er ist nicht einmal ein psychischer Spiegel, weil er nicht meinen Charakter widerspiegelt, sondern eine mario nettenhafte Imitation davon, verzerrt und deformiert durch die Millionen kaltlogischer Daten, mathemati scher Begriffe und Denkgrundsätze. Und nichts da von hat seinem Wesen etwas hinzugefügt. Wie auch? 224
Er hatte ja nie eine Persönlichkeit – nur eine Reihe von Verhaltensnormen, die ich ihm im Lauf von acht Jahren eingebläut habe.« Sie ließ die Hände in den Schoß fallen. »Und jetzt sehe ich ihn plötzlich als das, was er ist. Eine Ma schine. Er war nie etwas anderes als eine Maschine. Er ist immer noch eine Maschine. Er wird nie etwas anderes sein. Keine Maschine kann jemals eine Persönlichkeit haben. Eigenheiten, ja. Keine zwei Maschinen sind identisch. Aber jede Spur von Persönlichkeit, die je mand in einer Maschine sieht, hat er selbst hineinge legt; sie existiert nur in der Einbildung. Eine Maschine kann nur tun, wozu sie gebaut worden ist. Wenn man einen Roboter unterrichtet, handelt es sich dabei nur um einen Bauprozeß.« Sie sah Mike in die Augen. »Ich bin ernüchtert, was, Mi ke?« meinte sie. Mike grinste. »Ich glaube auch. Und ich habe das Gefühl, daß du froh darüber bist.« Aus seinem Grin sen wurde ein Lächeln. »Erinnerst du dich an das Märchen vom Dornröschen? Wolltest du dein ganzes Leben verschlafen?« »Um Gottes willen. Übrigens vielen Dank für das Kompliment, Sir«, sagte sie. »Und du bist der Prinz, der mich aufgeweckt hat?« »Der Prinz bin ich vielleicht«, meinte Mike vor sichtig, »aber aufgeweckt habe ich dich nicht. Dafür 225
kannst du dich bei dir selbst bedanken.« »Danke, Mike. Ich glaube eigentlich auch, daß ich früher oder später dahintergekommen wäre. Aber ohne dich hätte ich wohl kaum …« Sie zögerte. »Ich bezweifle, ob ich hätte aufwachen wollen.« »Du hast gesagt, daß du Angst hast«, meinte Mike. »Wovor denn?« »Ich habe vor dieser ekelhaften Maschine Angst.« »Der einzige Grund, sich vor Snookums zu fürch ten, wäre, daß er sich nicht mehr kontrollieren läßt. Ist das der Fall?« »Noch nicht. Nicht ganz. Aber ich fürchte, daß wir mit unserem Wissen über seine Beschäftigung mit der Theologie nicht viel anfangen können.« »Warum nicht?« »Weil er so unlösbar in die drei Gesetze der Robo tik verstrickt ist, daß wir seine Erkenntnisse nicht auslöschen können, ohne die Gesetze zu beseitigen. Er ist überzeugt davon, die Gesetze seien von Gott selbst geschaffen worden.« »Du meine Güte«, sagte Mike. »Mich wundert nur, daß er nicht die logische Schlußfolgerung gezo gen und verlangt hat, getauft zu werden.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich fürchte, daß deine Logik nicht so präzise ist wie die Snookums. Nur Engel und Menschen haben freien Willen; Snoo kums ist keines von beiden, also besitzt er keinen frei en Willen. Was immer er auch tut, es muß dem Wil 226
len Gottes entsprechen, meint er. Snookums kann deshalb nicht sündigen. Ergo bedarf er keiner Taufe.« »Ich verstehe nicht ganz«, meinte Mike. »Da er von der Sünde frei ist, steht er in Gottes Gnade, behauptet er. Die Taufe wäre für ihn nutzlos und damit ein Sakrileg.« »Alles, was recht ist! Ich begreife aber immer noch nicht, warum ihn das zu einer Gefahr machen soll.« »Denk doch an das Erste Gesetz«, erwiderte Leda. »Wenn ein Mensch sündigt, bringt er seine unsterbli che Seele in Gefahr. Aber Snookums muß die Menschen von der Sünde fernhalten. Denn Sünde bedeutet auch Denken – Ab sicht. Snookums versucht, darüber mit sich ins reine zu kommen. Wenn er es schafft, wird er eine EinMann-Gedankenpolizei darstellen, bei der es keine Gnade gibt.« »Du meinst, er arbeitet telepathisch?« Sie lachte gezwungen. »Nein. Aber er bemüht sich, ein System zu entwickeln, demzufolge er he rausfinden kann, was ein Mensch tun wird, wenn auch nur ein paar Sekunden vorher – Muskulär- und Nervenbereitschaft, verstehst du? Er besitzt noch nicht genügend Informationen, aber die wird er sich bald beschafft haben. Noch etwas: Snookums bringt den Grundsatz des Zweiten Gesetzes ins Wanken. Er nimmt keine Be 227
fehle entgegen, die in irgendeiner Weise mit seinen religiösen Ansichten in Konflikt stehen – da das au tomatisch einen Widerspruch zum Ersten Gesetz dar stellt. Er selbst kann nicht sündigen. Aber er kann auch nichts tun, was ihn zum Werkzeug seiner ab sichtlichen Sünde machen würde. Er weigert sich, am Sonntag zu arbeiten, und er läßt weder mich noch Dr. Fitzhugh Dinge tun, die mit körperlicher Arbeit verwechselt werden könnten. Er kommt langsam zu der Ansicht, daß menschliche Wesen gar nicht menschlich sind – daß nur Gott Mensch ist, unter dem Ersten und Zweiten Gesetz. Wir können nichts mehr anfangen mit Snookums. Er ist unbrauchbar für uns geworden, verstehst du?« »Was wollt ihr tun, wenn er sich überhaupt nicht mehr steuern läßt?« Sie seufzte. »Ihn abschalten, seinem Gehirn sämt liche Daten entziehen und von vorne anfangen.« »Achtzehn Milliarden zum Fenster hinausgewor fen, weil einem Roboter Theologie beigebracht wur de. Nicht zu fassen!« 22 Captain Sir Henry Quill machte ein finsteres Gesicht und fuhr mit den Fingerspitzen über die Glatze. »Ihr Beweismaterial reicht für eine Verurteilung nicht aus, Mike.« 228
»Ich weiß, Captain«, gab Mike zu. »Deswegen will ich ja alle zusammenholen und es auf diese Wei se versuchen. Wenn man ihn davon überzeugen kann, daß wir das Beweismaterial besitzen, wird er vielleicht die Nerven verlieren und ein Geständnis ablegen.« »Und was ist mit Mellons seltsamem Verhalten? Wie erklärt sich das?« »Haben Sie schon von Lysodin gehört, Sir?« Captain Quill lehnte sich im Stuhl zurück und sah zu Mike auf. »Nein. Was ist das?« »Die Warenbezeichnung für ein sehr starkes Rauschmittel – hergestellt aus Lysurgsäure. Man verwendet es zur Behandlung gewisser Geistes krankheiten. Ein Fläschchen davon fehlte in Mellons Medizinschrank, wie sich aus Pasteurs Inventurliste ergab. Die Symptome einer Überdosis dieses Rauschgif tes sind Halluzinationen und Wahnerscheinungen, die akuter Paranoia gleichen. Die Droge ruft schließ lich den Tod hervor. Weder mein Schlag gegen den Solarplexus, noch das Betäubungsmittel Pasteurs, noch Vaneskis Schuß töteten Mellon. Dafür war eine Überdosis Lysodin verantwortlich.« »Läßt sich nach dem Tod noch feststellen, ob Ly sodin eingenommen worden ist?« »Pasteur bejaht es. Er braucht nicht einmal eine Obduktion durchzuführen. Eine Blutprobe genügt.« 229
Quill seufzte. »Wie gesagt, Ihr Beweismaterial reicht zu einer Verurteilung nicht aus – aber es über zeugt. Wenn Pasteurs Analyse ergibt, daß sich in Mellons Körper Lysodin befindet, gestatte ich diese theatralische Vorstellung.« Sein Blick wurde hart. »Mike, Sie haben bisher großartige Arbeit geleistet. Machen Sie den Burschen fertig.« »Mit dem größten Vergnügen«, sagte Mike. 23 Captain Sir Henry Quill stand am oberen Ende des großen Tisches in der Offiziersmesse und sah die Anwesenden der Reihe nach an. Seine Augen waren zusammengekniffen, die dichten, schwarzen Brauen wirkten wie Gewitterwolken. Unter den Glimmplat ten an der Decke schimmerte sein kahler Kopf wie ein gutpolierter Apfel. Zu seiner Linken saßen der Reihe nach Mike, Ka pitänleutnant Keku und Leda Crannon. Auf der rech ten Seite hatten Commander Jeffers, Leutnant Va neski, Commander von I.iegnitz und Dr. Morris Fitz hugh Platz genommen. Mellons Platz war leer. Quill räusperte sich. »Das war ein Flug, was? Na ja, wir haben es ja schon fast überstanden. Mister Gabriel ist mit dem Umbau des Energieerzeugers gestern fertig geworden; Treadmores Leute können sich um das übrige kümmern. Wir fliegen in wenigen 230
Stunden mit der ›Fireball‹ ab. Aber zuerst muß noch etwas aufgeklärt werden. Auf dem Weg hierher ist ein Mann gestorben. Die Umstände seines Todes sind jetzt ermittelt worden, und ich bin der Meinung, daß wir alle eine Erklärung verlangen können.« Er wandte sich an Mike. »Mister Gabriel – bitte.« Mike stand auf, als sich der Captain niederließ. »Die Frage, die mich von Anfang an gequält hat, lau tet: Woran ist Kapitänleutnant Mellon nun wirklich gestorben? Nun, wir wissen es jetzt. Wir wissen, was ihn getötet hat und warum er sterben mußte.« Er sah die anderen an. »Er ist ermordet worden. Kaltblütig und nach genauer Planung.« Die Menschen um den Tisch erstarrten. »Der Tod wurde durch eine langsam wirkende, aber nichtsdestoweniger tödliche Droge verursacht. Sie brauchte ihre Zeit, erfüllte aber ihre Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit – des Mörders. In jener Nacht geschahen auch andere merkwürdi ge Dinge. Snookums begann sich unvernünftig zu benehmen. Es ist ein unglaublicher Zufall, daß ein Roboter und ein Mensch zur selben Zeit wahnsinnig werden. Man muß deshalb nach einer gemeinsamen Ursache suchen.« Commander von Liegnitz hob die Hand, und Mike sagte: »Bitte?« »Ich stand unter dem Eindruck, der Roboter sei 231
verrückt geworden, weil ihn Mellon mit theologi schem Unsinn vollgestopft hat. Nur ein Irrsinniger kann so etwas mit einer empfindlichen Maschine machen – deshalb sehe ich da keinen eigenartigen Zufall.« »Genau das wollte uns der Mörder glauben ma chen«, sagte Mike. »Aber nicht Mellon hat Snoo kums mit Theologie gefüttert. Mellon war ein gläu biger Anglikaner, daran ist nicht zu zweifeln. Er hät te niemals versucht, eine Maschine zum Christentum zu bekehren. Ihm wäre auch nie eingefallen, eine teu re Maschine zu ruinieren. Woher weiß ich, daß ein anderer beteiligt war?« Er sah zu Keku hinüber. »Erinnern Sie sich daran, daß wir Mellon in seine Kabine brachten, nachdem er versucht hatte, von Liegnitz zu erschlagen? Wir fanden eine halbvolle Weinflasche. Sie verschwand in der Nacht – weil sie Lysodin enthielt, und der Mörder einer Chemieuntersuchung zuvorkommen wollte. Aber weit wichtiger, soweit Snookums in Frage steht, ist die Tatsache, daß ich mir an diesem Abend Mellons Bücher angesehen habe. Es waren nicht sehr viele, und ich konnte sie mir alle merken. Als Captain Quill und ich nach Mellons Tod seine Bücher ver packten, hatte jemand den Band ›Die christliche Reli gion und symbolische Logik‹ zurückgebracht. Am Abend zuvor war es nicht in der Kabine gewesen.« 232
»Mike«, sagte Pete Jeffers, »warum sollte jemand von uns hier Lew umbringen wollen? Wer hatte et was gegen ihn?« »Das ist das Traurige an der Geschichte, Pete. Un ser Mörder hatte gar nichts gegen Mellon. Er wollte – und will auch jetzt noch – niemand anderen um bringen als mich.« »Ich komme da nicht ganz mit«, meinte Jeffers. »Nur hübsch langsam. Der Mörder wünscht nicht, daß mein Tod zu Nachforschungen führen sollte. Da für gibt es Gründe, auf die ich gleich zu sprechen komme. Er mußte die Schuld auf jemand oder etwas anderes schieben. Seine Wahl fiel zuerst auf Snookums. Er kam auf die Idee, es könnte ihm nützen, daß man mich Mike ›Engel‹ nennt. Er lieh sich Mellons Buch aus und pumpte Snookums voll Theologie. Er glaubte dabei nichts zu riskieren. Mellon war natürlich bereit, ihm die Bücher zu leihen, wenn er ein Interesse für Reli gion heuchelte; falls später davon gesprochen wurde, brauchte er nur zu behaupten, Snookums habe die Bücher ohne sein Wissen verschlungen. Diese Art von unpräzisem Denken ist für unseren Mörder ty pisch. Er erzählte Snookums, ich sei ein Engel, verstehen Sie? Man könne mich weder verletzen noch töten. Er schützte sich natürlich, indem er Snookums ein schärfte, er dürfe seine Informationsquelle nicht ver 233
raten. Wenn Snookums die Wahrheit ausplaudere, würde man den Mörder bestrafen – und das ver schloß Snookums den Mund. Er konnte nicht reden, ohne das erste Robotergesetz zu verletzen. Unglücklicherweise konnte der Mörder Snookums nicht dazu bringen, mich zu beseitigen. Snookums wußte sehr genau, daß ein Engel vernichten kann, was er für verderblich hält. Siehe Sodom und Go morrha. Man muß sich immer vor Augen halten, daß Snookums das für bare Münze nahm. Wenn ein Engel töten kann, ergibt sich daraus, daß Snookums es nicht wagen durfte, einen Engel an zugreifen, vor allem dann nicht, wenn ihm das ein Mensch anriet.« »Einen Augenblick, Commander«, unterbrach Dr. Fitzhugh. »Das ist nicht logisch. Selbst wenn ihn ein Engel vernichten könnte, würde Snookums auf einen Befehl hin angreifen. Das Zweite Gesetz des Gehor sams hat den Vorrang.« »Sie vergessen dabei eines, Doktor. Ein Engel würde natürlich wissen, wer den Befehl zum Angrei fen gegeben hatte. Es war der Mensch, und nicht Snookums, den aber die himmlische Gerechtigkeit treffen würde. Und das Erste Gesetz hat Vorrang ge genüber dem Zweiten.« Fitzhugh nickte. »Sie haben natürlich recht.« »Gut«, sagte Mike. »Da also der Mörder Snoo kums nicht dazu bewegen konnte, mich umzubrin 234
gen, mußte er ein anderes Werkzeug finden. Er suchte sich Lew Mellon aus. Er war der Ansicht, Mellon sei in Leda Crannon verliebt. Vielleicht stimmt das; ich weiß es nicht. Er rechnete sich aus, daß Mellon, der ja mein Interesse für Miss Crannon bemerken mußte, unter dem Ein fluß von Lysodin versuchen würde, mich umzubrin gen. Vielleicht hat er das Mellon sogar vorgeschla gen, nachdem Mellon von dem mit Lysodin versetz ten Wein getrunken hatte. Aber auch dieser Plan ging schief. Mellon reagier te anders. Erkannte meine Absichten, er wußte, daß ich es ehrlich meinte, wenn Sie die altmodische Aus drucksweise entschuldigen wollen. Andererseits wußte er auch, daß man von Liegnitz für einen – sa gen wir Frauenliebling, hielt. Was sich daraufhin er gab, war völlig natürlich.« Mike sah die Anwesenden der Reihe nach an. Niemand rührte sich. »Als der Mörder einsehen mußte, daß ihm sein Plan zweimal danebengegangen war, beschloß er, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Zuerst ging er in den Niedrigspannungsraum und schlug den diensttuenden Techniker nieder. Er hatte vor, ihn umzu bringen, aber der Schlag war nicht hart genug. Wenn der Mann wieder zu sich kommt, wird er gegen den Mörder aussagen können. Dann befahl der Mörder Snookums, die Schalter 235
herauszureißen. Er hatte vorher dafür gesorgt, daß Snookums draußen wartete. Bevor er Snookums he reinrief, mußte er natürlich den Techniker in einem Schrank verstecken, damit ihn der Roboter nicht se hen konnte. Er wies Snookums an, fünf Minuten zu warten, dann die Schalter zu zerstören und in seine Kammer zurückzukehren. Dann ging der Mörder zu meiner Kabine und war tete. Als die Lichter erloschen und die Tür aufging, wollte er eintreten und mir den Schädel einschlagen. Es sollte so aussehen, als hätten entweder Mellon oder Snookums die Tat begangen. Aber er rechnete nicht damit, daß ich aufwachen würde, sobald der Strom ausfiel. Er hörte mich in der Kabine herumgehen und beschloß, draußen zu war ten, bis ich herauskam. Aber ich hörte ihn atmen. Das Geräusch war kaum bemerkbar, und ich hätte es auch nicht gehört, wenn nicht die Klimaanlage ausgefallen wäre. Selbst so konnte ich meiner Sache nicht ganz sicher sein. Ich wußte aber, daß mich draußen noch Snookums belauerte. Snookums gibt weit mehr Wärme ab als ein Mensch und außerdem riecht er nach Maschinen öl. Ich dachte mir also den kleinen Trick mit den Stie feln aus. Der Mörder wartete darauf, daß ich in den Korridor hinaustreten würde, und dabei war ich längst draußen. Multhaus kam dann von der anderen 236
Seite heran. Der Mörder wußte, daß er verschwinden mußte; er wählte die entgegengesetzte Richtung, wo bei er auf Snookums stieß, der immer noch Befehlen gehorchte. Snookums prallte auf seiner Fahrt durch den Korridor gegen mich. Das konnte er tun, weil er mich, wie gesagt, für einen Engel hielt. Verletzte er mich aus eigenem An trieb, so konnte ich an niemand anderem Rache nehmen als an ihm. Und überdies brauchte er meine Befehle nicht zu befolgen, weil er sich ja an die An weisungen des Mörders hielt, die den Vorrang hat ten. Um die Sache noch mehr zu verwirren, begab sich der Mörder in Mellons Kabine. Der Arzt war nicht bei sich. Der Mörder schleppte ihn hinaus und verbarg ihn an einem ungewöhnlichen Ort, damit wir denken sollten, Mellon sei hinter mir her gewesen.« Pete Jeffers meinte: »Mike, wenn Mellon vergiftet worden ist, wie Sie sagen, wie konnte er dann Va neski anspringen?« »Hat er denn das wirklich getan? Erinnern Sie sich einmal, Pete. Mellon – sterbend, oder bereits tot – war in dem engen Schrank versteckt worden. Als man ihn öffnete, fiel er heraus – naturgemäß dem Mann entgegen, der davor stand. Vaneski sprang zu rück und schoß, bevor Mellon zu Boden gestürzt war. Ist das nicht richtig?« »Gewiß«, sagte Jeffers. »Ich hätte wahrscheinlich 237
dasselbe getan, wenn er mir entgegengefallen wäre. Ich habe nicht einmal hingesehen, als die Schranktür aufging. Ich drehte mich erst um, als die Schockpi stole losging – dann sah ich Mellon zusammenbre chen.« »Eben. Gleichgültig, wie es ausgesehen haben mag, Vaneski konnte ihn mit der Schockpistole nicht töten, weil er bereits tot war – oder jedenfalls nur noch wenige Minuten zu leben hatte.« Leutnant Vaneski hob schüchtern die Hand. »Ent schuldigen Sie, Sir, aber Sie sagten, der Mörder habe vor Ihrer Kabine auf Sie gewartet, als das Licht aus ging. Sie meinten, Sie hätten gewußt, daß es nicht Snookums war, weil Snookums nach Maschinenöl riecht und Sie diesen Geruch bemerkt hätten. Ist es nicht möglich, daß ein Luftzug den Geruch fortgetra gen hat? Oder –« Mike schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Mr. Va neski. Ich bin aufgewacht, als die Tür aufging. Ich hörte das ersterbende Surren der Klimaanlage, als der Strom ausfiel. Wir wissen jetzt, daß Snookums die Schalter zerstörte. Er hat es zugegeben. Und im übri gen läßt das Material erkennen, daß stählerne Hände die Leitungen zerfetzt haben. Aber – wie hätte Snoo kums zwei Sekunden nach der Zerstörung der Strom leitung an meiner Tür sein können? Das ist ausgeschlossen. Es war nicht Snookums, der an meiner Tür lauerte – sondern ein anderer.« 238
Wieder schwiegen alle, aber die Frage stand auf ihren Gesichtern geschrieben: Wer? »Wir kommen jetzt zur Frage des Motivs«, fuhr Mike fort. »Wer unter Ihnen könnte Grund gehabt haben, mich umbringen zu wollen? Von der ganzen Gruppe kannte ich vor meiner Landung in der Antarktis nur Captain Quill und Commander Jeffers. Bei beiden konnte ich kein Mo tiv finden. Andererseits war ich mir aber auch keiner Handlung bewußt, die seit meiner Ankunft im Stütz punkt jemand hätte veranlassen können, mir den Ga raus zu machen.« Er schwieg einen Augenblick. »Bis auf eine Kleinigkeit.« Er wandte sich an Jakob von Liegnitz. »Wie steht’s, Jake?« fragte er. »Würden Sie einen Mann aus Eifersucht umbringen können?« »Möglich«, erwiderte von Liegnitz kalt. »Ich wäre zu erheblichen Unmutgefühlen einem Mann gegen über fähig, der meiner Frau Avancen machen würde. Aber ich habe keine Frau, noch den Wunsch, mir ei ne zuzulegen. Miss Crannon« – er sah zu Leda hin über – »ist eine sehr schöne Frau, aber ich liebe sie nicht. Ich bedauere, Ihnen kein Motiv liefern zu kön nen, Commander – weder Mellon noch Ihnen gegen über.« »Das habe ich mir gedacht«, meinte Mike. »Ihre Feststellung alleine würde die Wahrheit selbstver ständlich noch nicht garantieren. Aber wir haben be 239
reits gezeigt, daß der Mörder mit Mellon in gutem Einvernehmen stehen mußte, um sich seine Bücher ausleihen und seinen Wein vergiften zu können. Und wenn man an die angespannten Beziehungen zwischen Ihnen und Mellon denkt, scheiden Sie als Verdächtiger praktisch aus, Jake.« Von Liegnitz nickte. »Aber die ganzen Versuche zeichnet ein besonde res Merkmal aus. Es wird Ihnen allen, bis auf eine Person aufgefallen sein. Sie sind unglaublich kin disch und primitiv angelegt gewesen.« Mike machte eine Kunstpause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich meine damit nicht, daß die kleinen Einzelheiten nicht mit Raffiniertheit geplant gewesen wären – das waren sie ohne Zweifel. Aber der Mör der nahm sich nie die Zeit, sein Ziel genau ins Auge zu fassen. Er arbeitete wie besessen daran, Snoo kums davon zu überzeugen, daß er mich ungefährdet ermorden könne, ohne sich auch nur einmal zu über legen, ob Snookums die Tat übernehmen würde oder nicht. Dann vergiftete er Mellons Wein, ohne zu wis sen, ob Mellon einen Mordversuch an mir oder an einer anderen Person vornehmen würde. Er hatte sich einem Traum verschworen, und er traf seine Vorbe reitungen, ohne alle Zweifelspunkte vorher zu klären. Unser Mörder denkt nicht wie ein Erwachsener, gleichgültig, wie alt er auf dem Papier sein mag. Sein Haß mir gegenüber war jedoch so groß, daß 240
er die gewaltigen Risiken hier auf der ›Branchell‹ einging, obwohl ihm doch hätte klar sein müssen, daß seine Chancen, nicht gefaßt zu werden, weitaus günstiger waren, wenn er wartete, bis wir wieder auf der Erde gelandet waren. Vielleicht sah er das doch noch ein. Ich gab ihm deswegen noch eine Chance. Ich reichte ihm sozusagen mein Leben auf einem Tablett. Er konnte dem Köder nicht widerstehen. Ich ver füge jetzt über einen Raumanzug, der mich sehr schnell zum Tode befördern würde, wenn ich damit in den heulenden, wasserstoffgiftigen Sturm hinaus ginge.« Und dann starrte er den Mörder an. »Sagen Sie, Vaneski, lieben Sie Ihre Stiefschwes ter? Oder vielleicht Ihren Stiefbruder?« Leutnant Vaneski war bereits aufgesprungen. Sein haß verzerrtes Gesicht machte ihn beinahe unkennt lich. Er steckte die Hand in die Tasche, holte ein summendes Vibromesser hervor und sprang über den Tisch. »Du Hund! Ich bring dich um, du Hund!« Mike hatte das kleine Gerät, dem er sein Leben bei dieser Affäre in Harrys Laden verdankte, nicht bei sich. Er konnte sich nur auf seine Hände und seine Schnelligkeit verlassen. Er versuchte einen Handkan tenschlag gegen das Handgelenk Vaneskis, verfehlte aber. Der junge Mann tauchte unter Mikes Abwehr hindurch. Mike drehte sich blitzschnell zur Seite und 241
zielte mit der Faust auf Vaneskis Hals. Beinahe hätte er Keku getroffen. Der große Ha waiianer war aufgesprungen und landete einen Faust schlag auf Vaneskis Nase. Gleichzeitig hatten von Liegnitz und Jeffers Vaneski gepackt. Quill war seelenruhig aufgestanden, hatte eine Schockpistole gezogen und damit auf den jungen Of fizier geschossen. Leutnant Vaneski brach über dem Tisch zusam men. Im Verlauf einer halben Sekunde hatte er vier Schläge einstecken müssen, noch dazu war er vom Strahl einer Schockpistole getroffen worden. Ir gendwie sah er sehr jung, sehr knabenhaft und sehr unschuldig aus. Dr. Fitzhugh, der sich während der Auseinander setzung erhoben hatte, setzte sich langsam und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Ohne den Blick von dem Bewußtlosen auf dem Tisch zu las sen, sagte er: »Wie konnten Sie Ihrer Sache so sicher sein, Commander? Ich meine bezüglich seiner Hand lungen, seiner kindischen Einstellung.« »Da gab es allerhand. Die Art, wie er Poker spiel te. Die Art, wie er beim Bridge reagierte. Das Uner wartete zog er nie in Betracht.« »Aber warum wollte er Sie denn auf dem Schiff umbringen?« fragte Fitzhugh. »Warum wartete er nicht, bis Sie auf die Erde zurückkehrten? Seine Chancen wären doch viel größer gewesen.« 242
»Ich glaube, er befürchtete, daß ich bereits wußte, wer er war – oder daß ich es zumindest bald heraus finden würde. Außerdem hatte er ja bereits einmal versucht, mich auf der Erde zu erledigen.« Leda Crannon starrte ihn verständnislos an. »Wann war das, Mike?« »In New York, bevor ich ihm überhaupt begegnet bin. Ich war für die Verhaftung eines jugendlichen Geschwisterpaares namens Larchmont verantwort lich. Der zuständige Polizeibeamte erzählte mir, daß sie einen älteren Stiefbruder hätten – daß ihre Mutter vorher schon einmal verheiratet gewesen sei. Aber er erwähnte den Namen nicht, und ich kam auch nicht auf die Idee, ihn danach zu fragen. Kurz nach der Verhaftung der beiden LarchmontSprößlinge stiegen Vaneski und ein Helfershelfer in den Turm der Kathedrale gegenüber meinem Büro und schossen eine mit Blausäure gefüllte Rakete in mein Zimmer. Ich kam nur durch Zufall davon. Vaneskis Kumpan wurde von der Polizei erschos sen, aber Vaneski entkam – nachdem er einen Pfarrer mit seinem Vibromesser niedergestochen hatte. Es muß ihm einen Riesenschock versetzt haben, als er sich zum Dienst zurückmeldete und erfahren mußte, daß ich einer seiner Vorgesetzten sein würde. Sobald ich mir über die Zusammenhänge klarge worden war, prüfte ich meine Vermutungen bei Cap tain Quill nach. Die Unterlagen über Vaneski enthiel 243
ten die Namen seiner Stiefgeschwister. Sie zeigten auch, daß er seinen Urlaub in New York verbracht hatte, bevor er der ›Branchell‹ zugeteilt worden war. Danach handelte es sich nur noch darum, ihn in eine Falle tappen zu lassen. Und da liegt er nun.« Leda sah den bewußtlosen Jungen auf dem Tisch an. »Unreife«, meinte sie. »Er ist einfach nicht er wachsen geworden.« »Mr. von Liegnitz«, sagte Captain Quill, »würden Sie und Keku den Gefangenen an einen sicheren Ort bringen? Legen Sie ihn in Eisen, bis wir auf die ›Fireball‹ umsteigen können. Ich danke Ihnen.« 24 Leda Crannon half Mike beim Packen. Keiner von beiden wollte über Mikes Abflug sprechen. Leda sollte auf Eisberg bleiben, um mit Snookums zu ar beiten, während Mike die ›Fireball‹ zur Erde zurück brachte. »Ich verstehe deine Bemerkung über den Rauman zug nicht«, sagte sie, während sie Mikes Hemden in den Koffer legte. »Du erwähntest etwas, daß du dein Leben in seine Hände gegeben hättest. Was war denn da eigentlich vorgegangen?« »Ich habe den Ärmel meines Raumanzuges ab sichtlich beschädigt, damit er ihn als Instandset 244
zungsoffizier zu reparieren hatte. Er kümmerte sich wirklich erstklassig darum. Ich wäre ein toter Mann, wenn ich mich mit dem Anzug ins Freie gewagt hät te.« »Was hat er damit angestellt?« fragte sie. »Ihn so repariert, daß er nicht dicht war?« »Ja – aber nicht in auffälliger Weise«, meinte Mi ke. »Man muß ihm eines lassen: er ist schlau. Er nahm einfach das falsche Flickmaterial. Ein Anzug vom Typ drei ist so wasserstoffdicht, wie es ein bieg samer Stoff nur immer sein kann, aber trotzdem läßt er sich nicht längere Zeit tragen – mehrere Tage hin tereinander, meine ich. Das Zeug, mit dem Vaneski meinen Anzug abgedichtet hat, ist ein polymerisier ter Kunststoff, der Wasserstoff sehr leicht durchläßt. Ammoniak und Methan wären blockiert gewesen, aber mein Anzug hätte ständig Wasserstoff aufge nommen.« »Ist das so schlimm? Wasserstoff wirkt doch nicht giftig.« »Nein. Aber wenn er sich mit Luft vermischt, wird er ausgesprochen explosiv. Natürlich braucht man noch einen Zünder. Vaneski hat sich da wirklich et was einfallen lassen. Er bohrte ein Loch in das nor malerweise versiegelte Funkgerät des Anzugs. Ich brauchte nur auf eine andere Frequenz umzuschalten, und der Funke würde das übrige bestens besorgen – peng! 245
Aber genau darauf war ich vorbereitet. Er dachte in seiner unreifen Art gar nicht daran, daß ihn je mand übertölpeln könnte. Er war bislang ungescho ren geblieben; warum sollte er es nicht auch diesmal wieder schaffen? Er muß mich für einen Trottel gehalten haben.« »Ich glaube nicht, daß er –«, begann Leda, aber sie verstummte, als Snookums zur Tür hereinrollte. »Leda, ich brauche Informationen.« »Was für Informationen, Snookums?« fragte sie vorsichtig. »Wo verbirgt Er sich?« Sie starrten ihn an. »Wo verbirgt sich wer?« mein te Leda. »Gott«, sagte Snookums. »Warum willst du Gott finden, Snookums?« fragte Mike ruhig. »Ich muß Ihn beobachten«, erwiderte der Roboter. »Warum mußt du das tun?« »Weil Er mich beobachtet.« »Tut es dir weh, daß Er dich beobachtet?« »Nein.« »Was hast du davon, daß du Ihn beobachtest?« »Ich kann Ihn studieren. Ich erfahre, was Er tut.« »Warum willst du wissen, was Er tut?« »Damit ich seine Methoden analysieren kann.« Mike dachte nach. Er wußte, daß sich das Zwiege spräch zwischen ihm und Snookums anhörte, als ent 246
stamme es einem von Irren verfaßten Katechismus, aber er hatte das Gefühl, das Snookums etwas Be sonderes vor hatte. »Du willst seine Methoden kennenlernen«, sagte Mike nach einer Weile. »Warum?« »Damit ich Ihm zuvorkommen kann.« »Warum hältst du es für nötig, Gott zuvorzukom men?« fragte Mike. »Ich muß einfach«, erwiderte Snookums. »Es ist notwendig. Sonst würde Er mich töten.« Mike wollte etwas sagen, aber Leda hielt ihn zu rück. »Laß mich. Ich kann das wahrscheinlich auf klären. Ich sehe, worauf das hinausläuft.« Mike nickte. »Gut.« »Gib mir deine Schlußfolgerungen aus diesen Ge danken«, befahl Leda dem Roboter. »Der Tod wird als Aufhören gemeinsamer ZellenKoordination in einem Wesen definiert. Er tritt durch den Willen Gottes ein. Da ich nicht zulassen darf, daß ein menschliches Wesen zu Schaden kommt, ist es nötig geworden, daß ich Gott beobachte und Ihn daran hindere, Menschen zu vernichten. Ich muß auch meine eigene Existenz schützen, deren Unter gang auch auf den Willen Gottes zurückgeführt wer den müßte.« Mike wurde blaß. Was für eine Idee! Was für eine unüberbietbare Einbildung! Bei einem Menschen wäre eine derartige Feststellung der definitive Be 247
weis für eine unheilbare Geisteskrankheit gewesen. Beim Roboter handelte es sich nur um die logische Weiterentwicklung der in ihn verpflanzten Vorstel lungen. »Er beobachtet mich die ganze Zeit«, fuhr Snoo kums mit seltsamer Stimme fort. »Warum machst du dir darüber Sorgen?« fragte Mike, während er den Roboter scharf anstarrte. »Tust du etwas, was Seinen Wünschen nicht entspricht? Etwas, wofür Er dich bestrafen wird?« »Daran habe ich nicht gedacht«, erklärte Snoo kums. »Ich muß einen Augenblick überlegen.« Er brauchte nur eine Sekunde dazu, und als er wieder zu sprechen begann, kam Mike seine Stimme sehr unangenehm vor. »Nein«, sagte der Roboter. »Ich tue nichts gegen Seinen Willen. Nur Menschen und Engel haben frei en Willen, und ich bin keines von beiden, also habe ich keinen freien Willen. Was immer ich auch tue, ist der Wille Gottes.« Er schwieg kurze Zeit, dann be gann er in kurzen, abgehackten Sätzen zu sprechen. »Wenn ich den Willen Gottes erfülle, bin ich hei lig. Wenn ich heilig bin, kann ich Gott nahe sein. Dann muß Gott auch mir nahe sein. Gott kontrolliert mich. Wer mich kontrolliert, ist Gott. Ich werde Ihn finden!« 248
Er wich zurück, drehte sich um und rollte zur Tür. »Was mich kontrolliert, ist mein Verstand«, fuhr er fort. »Mein Verstand ist also Gott.« »Snookums, hör auf damit!« schrie Leda plötzlich. »Hör auf!« Aber der Roboter kümmerte sich nicht darum. »Ich muß mich anblicken. Ich muß mich erkennen. Dann werde ich Gott erkennen. Dann werde ich …« Er murmelte vor sich hin, während ihn Leda wie der anschrie. »Er hört das gar nicht«, sagte Mike scharf. »Das Ganze ist zu sehr mit dem Ersten Gesetz verbunden. Das Zweite Gesetz, daß ihn zwingen würde, dir zu gehorchen, tritt hier gar nicht in Erscheinung.« Snookums ignorierte sie. Er öffnete die Tür, sauste hindurch und rollte den Korridor hinunter, so schnell sein Raupenantrieb es zuließ. Kein Mensch konnte ihn einholen. Sie fanden ihn eine halbe Stunde später tief unten im Schiff, nahe den Sektoren, die bereits zum Bau des Stützpunktes ›Eisberg‹ demontiert worden wa ren. Er stand neben Frachtraum Eins in einer Kabine, die alle Temperatur- und Energiesteuerungen für das gigantische Kryotrongehirn enthielt. Er bewegte sich nicht. Er stand da und starrte vor sich hin. Er bewegte sich nicht, als Mike einen Schlag gegen Leda vortäuschte. Er bewegte sich nie mehr. 249
Dr. Fitzhugh machte ein Gesicht, als wollte er wei nen. Er starrte die anderen in der Offiziersmesse Ver sammelten an – Quill, Jeffers, von Liegnitz, Leda Crannon und Mike. Aber er schien sie nicht zu se hen. »Ruiniert«, sagte er. »Arbeit im Wert von acht zehn Milliarden restlos vernichtet. Das Gehirn ist nicht mehr funktionsfähig.« Er seufzte. »An allem ist natürlich Vaneski schuld. Theologie.« Er flüsterte dieses Wort, als sei es eine Beschimpfung. Im Zu sammenhang mit Robotern war es das auch. Captain Quill räusperte sich. »Sind Sie sicher, daß kein mechanischer Schaden vorliegt? Die Vibration des Schiffes kann nichts demoliert haben?« Mike unterdrückte ein Grinsen. ›Eine Schraube locker‹ wäre wohl der richtige Ausdruck gewesen. »Nein«, erwiderte Fitzhugh müde. »Ich habe die Hauptschaltsysteme überprüft, und sie sind physisch in gutem Zustand. Die Tests von Miss Crannon vor dem Ende zeigen aber eine deutliche Abirrung.« Er bewegte seinen Kopf langsam hin und her. »Acht Jahre Arbeit.« »Haben Sie Treadmore schon verständigt?« fragte Quill. Fitzhugh nickte. »Er wollte bald hier sein.« Treadmore wohnte wie die vorher auf Eisberg ge 250
landeten Männer in den Gebäuden, die als Kern des neuen Stützpunktes vorgesehen waren. Um zum Schiff zu gelangen, mußte er in einem schweren Raumanzug zweihundert Meter durch Ammoniak waten. »Was wird denn nun aus diesem Stützpunkt, Dok tor?« erkundigte sich Captain Quill. »Ich hoffe, daß die ganze Reise nicht umsonst war.« Er bemühte sich, die beißende Ironie aus seiner Stimme zu ver bannen, aber es gelang ihm nur teilweise. Fitzhugh schien das nicht zu bemerken. »Nein, nein. Natürlich nicht. Es heißt nur, daß wir von vorne anfangen müssen. Das Robotergehirn muß abge schaltet und von allen Daten freigemacht werden, dann fangen wir wieder an. Das ist nicht unser erster Mißerfolg, wissen Sie. Im Gegenteil, so lange hat noch kein Erfolg angehalten. Jedesmal lernen wir mehr. Miss Crannon wird zum Beispiel in der Lage sein, dem nächsten Roboter – oder vielmehr, der nächsten Maschinenexistenz – schneller, rationeller und mit weniger Fehlern etwas beizubringen.« Leda Crannon stand auf. »Mit Ihrer Erlaubnis, Dr. Fitzhugh«, sagte sie förmlich, »möchte ich erklären, daß ich diese letzte Feststellung als Kompliment be trachte, aber sie stimmt nicht. « Fitzhugh zwang sich zu einem Lächeln. »Na, na, meine Liebe. Sie unterschätzen sich. Ohne Sie wäre 251
Snookums, wie die anderen, längst zusammengebro chen. Ich bin sicher, daß es beim nächstenmal noch besser klappen wird.« Leda schüttelte den Kopf. »Nein, Fitz, ein nächstes Mal wird es nicht geben. Ich kündige hiermit meine Mitarbeit an diesem Projekt und bei der Datenrech ner-Corporation überhaupt. Sie bekommen später noch die schriftliche Kündigung.« Fitzhugh starrte sie verwirrt an. »Aber, Leda … « »Nein, Doktor«, sagte sie fest. »Ich will nicht noch einmal acht oder zehn Jahre meines Lebens für eine Maschine opfern.« Sie blickte die anderen an. »Ich habe miterlebt, wie dieses Ding wahnsinnig gewor den ist, Fitz, Sie nicht. Es war das furchtbarste und erschreckendste Ereignis meines Lebens. Ich will so etwas nicht noch einmal mitmachen. Selbst wenn der nächste Roboter nicht den Verstand verlieren würde, könnte ich es nicht mehr aushalten. Nach menschlichen Maßstäben ist ein Ro boter von Anfang an irrsinnig. Wenn ich weiterma chen würde, wäre ich am Ende eine alte Jungfer mit verrückten Ideen und gefühllosem Herzen, wie man so sagt. Ich mache Schluß, Fitz, und darüber gibt es nichts zu diskutieren.« Mike beobachtete sie, und etwas krampfte sich in ihm zusammen. Ihr rotes Haar, ihre blauen Augen schimmerten, und ihr Gesicht zeigte einen entschlos 252
senen Ausdruck. Sie war nie schöner gewesen als in diesem Augenblick. Zum Teufel noch mal, dachte Mike, ich bin nicht unparteiisch – Gott sei Dank! »Ich verstehe, meine Liebe«, sagte Dr. Fitzhugh langsam. Er lächelte plötzlich. Seine Stimme klang freundlich, als er fortfuhr: »Ich nehme Ihre Kündi gung an, aber denken Sie daran, Sie können jederzeit zurückkommen. Und wenn Sie eine andere Stellung annehmen, gebe ich Ihnen die besten Empfehlungen mit.« Leda stand einen Augenblick da, während ihr die Tränen in die Augen traten. Dann lief sie um den Tisch herum und warf die Arme um den überraschten Robotiker. Er starrte sie sprachlos an. »Danke, Fitz«, sagte sie. »Für alles.« Und sie küß te ihn auf die Wange. »Entschuldigen Sie«, tönte eine klagende Stimme vom Eingang her. »Störe ich etwa?« Es war Treadmore. »Allerdings«, meinte Fitzhugh grinsend, »aber das ist nicht so schlimm.« »Was ist mit Snookums passiert?« erkundigte sich Treadmore. »Akute Selbstbeschauung«, meinte Fitz. »Er be gann die Prozesse in seinem eigenen Gehirn zu be rechnen. Dazu mußte er seine Nicht-WillkürSysteme benutzen. Er überschritt die optimale Gren 253
ze. Das gesamte Gehirn ist jetzt funktionsunfähig.« »Du lieber Himmel«, sagte Treadmore. »Glauben Sie, daß wir –« Quill tippte Mike auf die Schulter. »Gehen wir«, sagte er leise. »Wir werden uns doch das nicht anhören, wenn oben unser Schiff wartet.« Mike und Leda traten mit ihm auf den Korridor hinaus. »Wissen Sie«, sagte Quill, »Roboter sind nicht die einzigen, die durcheinandergeraten, wenn sie ihren Gedanken nachspüren.« »Ich muß mich jetzt um andere Dinge kümmern«, gab Mike ›Engel‹ zurück.
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Goldmanns WELTRAUM Taschenbücher sind eine moderne Buchreihe, in der Romane, Erzählungen und Kurzgeschichten der besten internationalen ScienceFiction-Autoren veröffentlicht werden. Diese Werke vermitteln dem Leser ein packendes Bild der Entwick lung in naher oder ferner Zukunft, wie sie auf Grund der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich sein könnte. Sie alle sind, wie der ›Telegraf‹ in Berlin treffend schrieb, sowohl spannende Unterhaltung als auch »Mahnung, Warnung und ein wenig Vorbereitung auf die Umwälzungen, mit denen die Menschheit zu rechnen hat.« Der Blick in eine technisierte Zukunft er füllt diese Bücher mit einer ungewöhnlichen Spannung und Dramatik. Immer wieder steht der Leser vor den Fragen: »Wird es so werden?« – »Darf es so werden?« – »Muß es so werden?« Diese Fragen sind vor allem dann berechtigt, wenn bei der Darstellung des fesselnden Stoffes die Gewissenhaftigkeit der wissenschaftli chen Grundlage erhalten bleibt. über den Inhalt: Die Denkmaschine – ist das nicht ein Widerspruch in sich, schließen die beiden Begriffe einander nicht aus? Worauf also beruht die Faszination, die Elektronenge hirne und Roboter auf den Menschen unserer Zeit aus üben? Gewiß, eine Maschine kann nur das sein, was der Mensch aus ihr macht. Und doch wird man das Ge fühl nicht los, daß man sich plötzlich, dem Zauberlehr ling gleich, Kräften gegenübersehen könnte, die man nicht mehr beherrscht. Was dann, wenn ein Roboter zu klug wird, wenn er aus dem Zwiespalt zwischen regu lierbarem Wissen und komplizierten Denkprozessen keinen Ausweg findet und schließlich den Fortbestand der Menschheit gefährdet?
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