31. 5. 2002
Kamingespenster Nr. 2 „Das Dunkle in mir“ von Martin Clauß
verschüchtertes Kind. Sie mußte zugeben, daß D...
15 downloads
709 Views
347KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
31. 5. 2002
Kamingespenster Nr. 2 „Das Dunkle in mir“ von Martin Clauß
verschüchtertes Kind. Sie mußte zugeben, daß Dr. Sörenson ihr mehr als unheimlich war. Seine bullige Gestalt mit den prankenartigen Händen und dem breiten Stiernacken störte sie dabei weniger. Solche hünenhaften Männer waren hier in Schweden keine Seltenheit. Auch die buschigen rotblonden Augenbrauen, die beinahe sein ganzes Gesicht in Schatten tauchten, fielen ihr nicht negativ auf. Sie mochte kernige, urwüchsige Typen wie ihn eigentlich. Doch die Augen, die von Zeit zu Zeit unter den dicken Brauen hervorblitzen, strotzten nur so von Kälte und Humorlosigkeit. Mit jeder Minute, die sie in seiner Gegenwart verbringen mußte, bekam sie Zweifel, ob ihre Entscheidung wirklich richtig gewesen war. War es ratsam, sich diesem Mann anzuvertrauen? Konnte man einem Menschen sein Innerstes öffnen, vor dem man Furcht und Abscheu
1 „Nur wenn Sie versprechen, mich nicht in ein Kaninchen zu verwandeln.“ Frydas Bemerkung war kaum geeignet, um die angespannte Atmosphäre etwas aufzulockern. Der Mann, der ihr mit großen Schritten voranging, ließ sich nicht einmal zu einem Höflichkeitslächeln erweichen. Sein ernstes Gesicht zuckte nur ein wenig, und die dünnen Lippen preßten sich noch fester aufeinander. „Ihnen wird nichts geschehen, das Ihnen nicht zum Vorteil gereicht“, versicherte er. Die Formulierung war so steif und lieblos, daß Fryda unwillkürlich schauderte. „Und zu zaubern vermag ich nicht. Ich bin nichts als ein Wissenschaftler.“ Fryda nickte artig, wie ein 2
empfand? Der Doktor führte sie in seine Praxis. Doch bevor sie dort ankamen, hatten sie erst noch finstere Gänge und dunkle, überladene Räumlichkeiten zu durchqueren. Fryda hatte den Eindruck, das Refugium eines Antiquitätensammlers zu betreten. An den Wänden hingen afrikanische Masken aus pechschwarzem MahagoniHolz, sowie allerhand exotische Schmuckgegenstände. Dazwischen fanden sich immer wieder schiefe Holzregale, bis zum Bersten gefüllt mit schweren, ledergebundenen Büchern. „Sie sind auch ein Kunstsammler, wie ich sehe“, meinte Fryda, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Die düsteren Flure drohten sie zu erdrücken, wenn sie sich nicht ablenkte. „Alles wertloses Zeug“, entgegnete Sörenson nüchtern. „Es dient nur dazu, das richtige Ambiente zu schaffen.“
Überrascht von der Antwort, hakte Fryda weiter nach. „Sie meinen, das hier soll mich in Stimmung versetzen, um mich für die Behandlung empfänglicher zu machen? Offen gesagt fühle ich mich eher unwohl bei dem Anblick.“ Sie entschied sich, ehrlich und direkt zu ihm zu sein. Zweifellos verfügte ein Mann seinesgleichen ohnehin über genügend Menschenkenntnis, um ihre Emotionen sofort zu durchschauen. Besser, sie gab sich gar nicht erst Mühe, ihm etwas vorzuschwindeln. „Sie sollen sich gerade unwohl fühlen“, sagte Sörensons Stimme ungerührt. „Das ist der Sinn der Sache. Wie Sie wissen, bin ich nicht Psychiater, sondern Hypnotiseur. Ich betreibe eine der ältesten Wissenschaften der Geschichte. Die Seele eines Menschen ist ein kompliziertes Gebilde – ihre Geheimnisse sind nicht ohne weiteres zu entschlüsseln...“ 3
„Man... muß Angst haben, um sich der Hypnose öffnen zu können?“ Fryda verharrte unwillkürlich im Schritt, drehte den Kopf nach hinten und warf einen unsicheren Blick den Gang zurück, das Schau-dich-nicht-um-Dogma der Märchen und Kinderreime ignorierend. „Nein“, antwortete der Doktor, ohne sie wirklich anzusehen. „Angst ist nicht unbedingt notwendig. Aber durchaus hilfreich. Und die unheimlichen Gebilde, die Sie ringsum sehen, sind alles kleine Schlüssel, die die Pforten ihres Unbewußten aufschließen. Die Seele arbeitet nicht nach den Gesetzen der Logik, sondern mit Zeichen und Symbolen. Mit den Mitteln des Verstandes erreichen wir nur die Oberfläche des Seelischen. Aber wir werden Blicke unter diese Oberfläche werfen müssen, wenn wir die Wurzeln Ihrer Probleme ausgraben wollen. Das wünschen Sie doch, nicht wahr, Frau Engbrant?“
Fryda nickte zögerlich. Er hatte recht. Sie war zu ihm gekommen, um tiefer in ihr eigenes Inneres einzudringen als bisher. Sie wollte endlich Licht in das Dunkel bringen, das sie erfüllte. Der Doktor verfiel wieder in seine großen Schritte, und ohne sich dessen bewußt zu werden, beeilte sie sich, ihm zu folgen. Sie fürchtete sich davor, er könnte hinter einer der Ecken plötzlich verschwinden und sie alleine in den finsteren Gängen zurücklassen. Ihre Blicke streiften zwangsläufig weitere Masken und Symbole. Schwer vorzustellen, daß diese unheimlichen Schmuckgegenstände helfen sollten, ihr Unbewußtes zu öffnen... Verwechselte da nicht jemand einen Schlüssel mit einem Brecheisen? Die Praxis des Doktors war noch dunkler und enger, als sie es sich in ihren kühnsten Alpträumen vorzustellen gewagt hätte. Häuser und Räume wie 4
diese waren selten in einem Land wie Schweden, wo die Architektur meist bedacht war, möglichst viel Helligkeit ins Häuserinnere zu lassen. Es gab nicht einmal eine Couch in dem winzigen Raum. Bücher stapelten sich bis unter die Decke. Das Zimmer atmete einen muffigen, abgestandenen Geruch aus. Zweifellos rührte er von den schweren alten Lederfolianten her. „Ich bin wirklich überrascht“, stellte Fryda Engbrant in ihrer offenen Art fest. „Ich dachte, ein Hypnotiseur arbeitet mit entspannenden Gerüchen, ätherischen Ölen, mit beruhigenden Substanzen. Aber Sie scheinen darauf zu verzichten.“ „Sie meinen, die Luft duftet nicht gerade angenehm“, sagte er und brachte beinahe den Ansatz eines Grinsens zustande. „Auch das gehört dazu. Die tiefsten Abgründe der Seele riechen nicht nach frischen Wiesenblumen, Frau Engbrant. Verzeihen Sie die harte
Ausdrucksweise, aber sie riechen nach Moder, nach engen, ungelüfteten Zimmern wie diesem.“ „Das wage ich zu bezeifeln!“ versetzte sie, etwas verärgert durch seine rüden Worte. Ihre Seele sollte nach Moder riechen! Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht und diesen merkwürdigen Sonderling einfach vergessen. Aber damit ließ sie sich eine Chance entgehen, die unter Umständen nicht so schnell wiederkam. Wenn sie etwas über sich erfahren wollte, mußte sie am Ball bleiben und sich auch den unangenehmsten Behandlungsmethoden fügen. Ungewöhnliche Mittel versprachen manchmal ungewöhnliche Erfolge. „Nehmen Sie Platz, bitte“, lud er sie ein, offenbar mit aller Höflichkeit, zu der er fähig war. „Erzählen Sie mir noch einmal von Ihrem Problem.“ Verstimmt ließ sie sich auf den hohen, dunkelgrünen Ohrensessel nieder. Die 5
Armlehnen saßen viel zu hoch für sie, und eine dichte Staubwolke flog in die Höhe, als ihr Gewicht die Federn des Polsters niederdrückte. Fryda mußte husten und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich glaube nicht, daß ich mich hier werde entspannen können“, warnte sie. Verglichen mit der schneeweißen Praxis eines Nervenarztes, den sie einmal konsultiert hatte, kam sie sich hier vor wie in einer Rumpelkammer, die seit Jahren nicht mehr gereinigt worden war. „Es ist nicht nötig, daß Sie sich entspannen“, erwiderte Dr. Sörenson sachlich. „Bleiben Sie angespannt. Ihr Inneres ist voller Spannungen und Verwicklungen. Denen kommen wir mit Ruhe und Frieden nicht bei. Dazu brauchen wir schon ein bißchen Gewalt. Je unwohler Sie sich fühlen, desto leichter wird es für uns. Und jetzt erzählen Sie endlich!“
Abermals unterdrückte Fryda den Impuls, wütend das Zimmer zu verlassen. Sie hatte sich vorgenommen, ihm eine Chance zu geben. Wenn sie merkte, daß die Behandlung zu nichts führte, konnte sie diese immer noch abbrechen. „Ich habe ab und zu schlimme Alpträume“, begann sie. Sie hatte ihm vor ein paar Tagen am Telefon schon kurz davon berichtet, doch offenbar war es ihm wichtig, die Geschichte noch einmal zu hören, hier, an diesem düsteren Ort. Vielleicht war auch dies schon ein Teil der Hypnose. „Manchmal träume ich von den Wäldern. Ich irre hilflos darin umher und scheine etwas zu suchen. Gleichzeitig fliehe ich vor jemandem. Ich weiß nicht, wer es ist. Ich sehe ein Gesicht – es ist das eines Mannes, aber ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn nie zuvor gesehen, und doch ist es immer dasselbe Gesicht. 6
Und ab und zu ist ein zweiter Mann dabei.“ Dr. Sörenson nickte ernst. „Diese Männer müssen nicht unbedingt in der Realität existieren. Es könnten Symbole sein. Wie alt sind die beiden, und wie alt sind Sie selbst im Traum?“ „Ich glaube, ich bin noch ein kleines Mädchen. Jedenfalls kann ich nicht so schnell wegrennen, und zu den Männern muß ich aufschauen. Sie sind ungefähr Mitte oder Ende Vierzig, würde ich sagen.“ „Die Umgebung ist ein Wald, haben Sie gesagt?“ „Ja, die Bäume stehen dicht. Manchmal springen wir über einen kleinen Bach. Es gibt eine Lichtung, glaube ich. An Einzelheiten kann ich mich jetzt nicht erinnern, die sehe ich nur im Traum.“ „Wir werden Einzelheiten herausbekommen“, meinte der Doktor überzeugt. „Unter Hypnose werden Sie
sich an jeden Baum und jeden Strauch erinnern.“ „Ist das denn so wichtig?“ „Es gibt nichts Wichtigeres als die Landschaft, Frau Engbrant! Nirgendwo drückt sich die Seele so klar und unmißverständlich aus wie in der Landschaft. Sie umgibt Sie und führt Sie ans Ziel. Sie ist sozusagen wie ein zweites Gesicht für Sie. Wenn wir diesen Wald genau studieren, lernen wir alles über Ihr Problem.“ „Der Nervenarzt, bei dem ich war, meinte, die Träume gingen auf ein Kindheitserlebnis zurück. Aber ich kann mich nicht erinnern, jemals in einem Wald von jemandem gejagt worden zu sein. Laut dieses Arztes habe ich etwas verdrängt, vielleicht ein schreckliches Erlebnis, ein Verbrechen oder etwas ähnliches.“ Dr. Sörenson schüttelte gelassen den Kopf. „Diese Leute sprechen immer von 7
Verdrängung und von der Kindheit. Eine Berufskrankheit sozusagen. Glauben Sie mir, Wald und Männer sind nichts als Symbole. Aber deshalb müssen wir sie trotzdem ernstnehmen. Ich werde Sie jetzt hypnotisieren, wenn Sie keine Einwände haben. Dann wissen wir bald mehr.“ Einwände hatte sie zur Genüge. Sie fühlte sich unwohl, bekam nicht genügend Luft in dem kleinen, stickigen Raum, saß unbequem und hatte keinen Funken Vertrauen zu dem Doktor. Doch der Gedanke, ihren bedrohlichen Träumen endlich auf den Grund gehen zu können, machte ihre Abneigung um das Zehnfache wett. Sie fühlte sich nicht als freier Mensch, solange sie mit den Träumen zu leben hatte. „Tun Sie jetzt alles, was ich anordne, auch wenn es Ihnen seltsam erscheinen mag“, befahl Sörenson. „Wir werden wohl nicht in einer Sitzung alles klären können,
aber mit etwas Glück bekommen wir heute schon einen guten Überblick. Schließen Sie die Augen... konzentrieren Sie sich auf ihren eigenen Körper... auf Ihren Herzschlag... warten Sie, bis Sie ihn genau hören können... Es dauert einen Moment, geben Sie nicht auf! Schließen Sie den Mund... atmen Sie nur noch durch die Nase...“ Sie kam seinen Anordnungen nach und hatte bald das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Sauerstoff, der durch ihre Nase drang, schien nicht auszureichen. Ihr Herzschlag wurde lauter, deutlicher und schneller. Ein Anflug von Panik griff nach ihr. Sie riß den Mund auf und schnappte nach Luft. „Schließen Sie den Mund!“ befahl er hart. „Sie werden nicht ersticken. Pressen Sie die Luft aus, holen Sie jedes bißchen Sauerstoff heraus! Lassen Sie ihr Herz arbeiten wie eine Mühle. Immer schneller, immer kraftvoller. Hören Sie 8
nicht auf!“ Fryda begriff, daß er künstlich die Atmosphäre eines Alptraums zu schaffen versuchte. Sie gehorchte, und nach zwei Minuten hatte sie sich daran gewöhnt, ihr Herz wie wild rasen zu hören. Vor ihren Augen begannen bedrohliche Figuren zu tanzen. Sie waren dabei, ihr einen Alptraum zu basteln! „Ich werde Sie jetzt berühren“, kündigte der Doktor an. „Lassen Sie Augen und Mund geschlossen, wehren Sie sich nicht.“ Sörenson legte eine Hand über ihre Nase, locker, ohne die Sauerstoffzufuhr ganz zu unterbrechen. Trotzdem wurde ihr Atmen weiter erschwert. Obwohl alle Alarmglocken in ihr schrillten, zwang sich Fryda zum Durchhalten. Ihr Puls raste, ihre Hände klammerten sich an die Sessellehne. Vor ihrem geistigen Auge tauchten die Masken auf, denen sie in den Fluren des Hauses begegnet war. Sie
schienen alle in ihrer Nähe zu schweben, die Luft zu erfüllen, zu atmen. Ja, sie atmeten den wertvollen Sauerstoff, der doch für sie bestimmt war! Aufhören! wollte sie schreien. Ihr lebt nicht! Ihr braucht nicht zu atmen! Das gehört mir! Bin ich schon in Hypnose? fragte ein Teil von ihr, der noch immer klar zu denken vermochte. Was geschieht nun mit mir? Wie durch eine Mauer von Watte drang die Stimme Dr. Sörensons an ihre Ohren. „Sie sind jetzt im Wald. Sehen Sie sich um! Sprechen Sie nicht, warten Sie, bis Sie die Bäume sehen können!“ Fryda war umringt von hohen, alten Bäumen. Es war so schnell gegangen, daß sie erschrak. Sie hatte sich nicht „hineindenken“ brauchen, die Bäume waren zu ihr gekommen, als hätte sie sie nur hereirufen brauchen. Sofort erkannte sie den Ort. Es war der Ort aus ihren 9
Träumen. „Wenn Sie den Wald sehen, öffnen Sie den Mund und atmen sie die frische Waldluft.“ Der Doktor nahm die Hand von ihrem Gesicht, und sie sog den Sauerstoff durch Nase und Mund gleichzeitig ein, wie eine Ertrinkende. Das Traumbild verschwand nicht, sondern wurde im Gegenteil sogar noch deutlicher. „Was sehen Sie?“ fragte Sörenson. „Beschreiben Sie jetzt alles!“ Sie beschrieb ihm die gesamte Umgebung, abgefangen beim Waldboden bis zu den einzelnen Bäumen und Sträuchern. Langsam bewegte sie sich vorwärts, trippelnd, wie ein kleines Kind. Immer weiter ging sie zwischen den gigantischen Baumriesen durchs Dickicht, verfing sich im Unterholz, kam dann wieder auf ausgetretene Waldpfade. Was sie sah, gab sie wahrheitsgetreu an den Doktor weiter. „Suchst du etwas?“ bohrte er. Sie
bekam nicht bewußt mit, daß er sie zu duzen begann. Er hatte sich ihrem Traumalter angepaßt. Sie empfand es nur als natürlich, mit „du“ angesprochen zu werden. „Da ist etwas versteckt“, meinte sie, und obwohl ihre Stimme unverändert blieb, verwandelte sich ihre Ausdrucksweise in die eines kleinen Kindes. „Ich such was. Ich find’s schon noch.“ „Du findest es bestimmt“, bestärkte sie Sörenson. „Laß dir nur Zeit. Beschreibe mir noch genauer, wo du jetzt bist!“ Aber plötzlich wollte sie nicht mehr über die Umgebung reden. Sie fühlte, daß sie ganz nah an ihrem Ziel sein mußte. Sie wußte zwar nicht, was sie die ganze Zeit über suchte, doch sie spürte eindeutig die Nähe des Gesuchten. Ohne auf Dornen zu achten, schob sie sich durch das Gebüsch und kletterte über umgestürzte Bäume. Da lag etwas auf dem Boden. 10
„Ich hab was gefunden!“ brachte sie aufgeregt hervor. „Es ist ganz aus Holz. Eine Kiste, ich habe eine Kiste gefunden, eine Schatzkiste vielleicht!“ Frydas Augen waren geschlossen und auf die Szene in ihrem Inneren konzentriert, sonst hätte sie sehen können, wie Bewegung in Sörensons regloses Gesicht kam. Er beugte sich zu ihr hinab und schien auf jedes Wort zu lauern, das ihrem Mund entschlüpfte. Der sonst so kühle Mann preßte nervös die Hände aufeinander, runzelte die Stirn und begann, langsam an seiner Unterlippe zu knabbern. „Soll ich die Kiste aufmachen?“ fragte Fryda unentschlossen. Es war ihr, als sähe sie diesen Gegenstand zum ersten Mal. Er war noch nie zuvor in ihren Träumen vorgekommen. „Ja, mach sie auf!“ drängte Sörenson. „Aber sag mir zuerst, wie die Umgebung aussieht!“
Fryda vergaß erneut, ihm die Landschaft zu beschreiben. Sie hatte nur Augen für die Kiste, wollte nichts anderes sehen oder hören. Ihre kleinen Finger griffen nach dem Deckel und tasteten nach einem Spalt, in dem sie Halt finden konnten. Es war nicht einfach, denn die Holzkiste schien fest vernagelt zu sein. Wie sollte sie sie aufbekommen, ohne die Hilfe von Werkzeugen? Mühsam und ungeschickt versuchte sie, den Kasten in die Höhe zu heben, aber das Gewicht der Kiste ließ nur zu, daß sie sie umkippte und auf die Seitenwand stellte. Probeweise trat sie mit dem Fuß dagegen. Die Kiste kippte lautlos auf den Deckel, sonst geschah nichts. Doch, etwas passierte! Im Innern des Holzkastens gab es ein Geräusch. Ein Zucken durchlief den schweren Gegenstand, dann begann eine der Holzlatten zu knarren. Fryda konnte nicht verhindern, daß sie 11
einen spitzen Schrei ausstieß. Der Schrei kam aus der Kehle des Kindes, das sie im Traum war, und noch einmal aus dem Mund der erwachsenen Frau, als die sie in Dr. Sörensons Behandlungszimmer saß. Der Hypnotiseur wich unwillkürlich einen Schritt von ihr zurück. Er wußte mit der Reaktion seiner Patientin nichts anzufangen. Bislang war ihren Worten nicht zu entnehmen gewesen, daß sie etwas Bedrohliches oder Ansgteinflößendes zu Gesicht bekommen hatte. „Was siehst du?“ sprach er nochmals das Kind in ihr an. „Sag dem Onkel, was du siehst!“ Aber Fryda war nicht in der Verfassung, Erklärungen abzugeben. Viel zu sehr war sie beschäftigt mit den Vorgängen in ihrem Traum. Immer mehr der hölzernen Latten, aus denen die klobige Kiste gezimmert war, begannen zu knarren und zu vibrieren,
als ob sich im Inneren etwas dagegenzustemmen versuchte. Was mochte in der Kiste sein? Etwas Lebendiges, ein Tier vielleicht? Instinktiv spürte sie, daß es sich nicht um ein Tier handelte. Dort eingesperrt hinter den dichten Holzbrettern lauerte etwas anderes, etwas Dunkles, Furchtbares. Mit ihrem erfolglosen Versuch, die Kiste zu öffnen, hatte sie es geweckt, aus einem langen Schlaf gerissen. Und jetzt versuchte es seinerseits, sein finsteres Gefängnis aufzubrechen. „Ich will nicht!“ schrie Fryda voll Entsetzen. „Ich möchte nicht mehr, daß die Kiste aufgeht. Ich habe Angst. Bleib drinnen, bitte, ich habe solche Angst!“ Noch immer waren ihre Worte die eines Kindes, ihre Stimme wimmerte und flehte. Sie wand ihren Körper im Sessel hin und her, und Dr. Sörenson umfaßte ihre Handgelenke mit hartem Griff, damit 12
sie nicht um sich schlagen konnte. Die Behandlung drohte außer Kontrolle zu geraten. Noch selten war einer seiner Patienten so in Erregung und Panik verfallen. Für einen Moment schwankte er zwischen der Entscheidung, die Traumhandlung weiterzutreiben und mehr zu erfahren, oder sie aus Sicherheitsgründen abzubrechen. Schließlich entschied er, letzteres zu tun. „Wachen sie auf!“ befahl er in strengem Tonfall, bewußt wieder das „Sie“ gebrauchend, mit dem er die erwachsene Fryda Engbrant anredete. „Der Wald verschwindet, die Kiste ist nicht mehr da. Lassen Sie die Finger von der Kiste! Sie sitzen hier bei mir im Sessel. Sie haben eine hypnotische Behandlung hinter sich.“ Für einige Sekunden schien sich Fryda zu wehren, dann aber schlug sie plötzlich die Augen auf und starrte den Doktor an. Ihre Angst vor der unheimlichen Kiste war so übermächtig, daß sie nur zu gerne
ihren Traum verließ und in der Wirklichkeit Zuflucht suchte. „Ich... Sie... was ist passiert?“ „Sie standen unter Hypnose. Jetzt brauchen Sie keine Furcht mehr zu haben, es ist vorbei. Erinnern Sie sich, was Sie gesehen haben? Sie waren wieder ein kleines Mädchen, liefen durch den Wald...“ Fryda erinnerte sich an alles. Verwirrt betrachtete sie ihre Hände, die schweißnaß waren. Erst allmählich begriff sie, wo sie sich befand. Die Szene im Wald stand noch klar und unverändert in ihrer Erinnerung, der moosbewachsene Waldboden mit der Holzkiste, die plötzlich zu vibrieren begonnen hatte. „Erzählen Sie schnell, was Sie noch wissen“, drängte Dr. Sörenson. Fryda berichtete alles, noch ehe das Bild in ihr verblaßte. „Was war in der Kiste, Doktor?“ fragte sie. Sie begann ihren Hypnotiseur mit 13
anderen Augen zu sehen. Er mochte ein verschlossener und unzugänglicher Sonderling sein und mit unorthodoxen Methoden arbeiten, aber eines war er gewiß nicht: ein Scharlatan. Seine Hypnose hatte sie geradewegs in ihre Träume geführt, und sogar noch ein Stück weiter, bis hin zu dieser ominösen Kiste. Sörenson verstand sein Handwerk. Sie begann Vertrauen zu ihm zu schöpfen. „In der Kiste könnte sich der Mittelpunkt Ihrer Probleme verstecken. Daß wir darauf gestoßen sind, kann kein Zufall sein.“ „Aber ich verstehe nicht, was das bedeuten soll. Eine Holzkiste im Wald...“ Fryda schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich habe Ihnen schon des öfteren gesagt, daß wir es hier mit Symbolen zu tun haben, Frau Engbrant. Die Kiste bedeutet nichts. Sie verbirgt nur ein Geheimnis, und erst, wenn wir das gelöst
haben, können wir Sie von den bösen Träumen befreien.“ Fryda erschrak sichtlich. „Daß heißt, ich muß diesen Holzkasten öffnen?“ „Unbedingt. Darin verbirgt sich die Wurzel Ihrer Alpträume.“ Fryda begann, nervös an ihren Fingernägeln zu kauen, während sie nachdachte. Sie bezweifelte, daß sie den Mut haben würde, unter Hypnose das geheimnisvolle Behältnis aufzubrechen. „Ich glaube, lieber lebe ich weiter mit den Träumen“, murmelte sie. „Wenn ich durch den Wald renne, verspüre ich zwar auch Angst, aber das ist nichts, verglichen mit dem, was sich in der Kiste verbirgt.“ Sie redete mehr mit sich selbst denn mit dem Doktor, der sie aufmerksam musterte. „Sie werden erst frei sein, wenn Sie das Dunkle befreit haben“, sagte er ernst. „Es wirkt nur bedrohlich, solange es eingesperrt ist. Jedes Geheimnis sieht 14
gefährlich aus, aber wenn es erst einmal an die Oberfläche kommt und im hellen Tageslicht betrachtet wird, ist es völlig ungefährlich, glauben Sie mir.“ Fryda wollte ihm gerne vertrauen. Aber die Angst in ihr – und noch mehr die Angst des kleinen Mädchens in ihr – schien einfach zu übermächtig. „Ruhen Sie sich heute aus“, meinte der Hypnotiseur eindringlich. „Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit, und wir öffnen die Kiste und stellen uns dem Geheimnis. Vergessen Sie nicht, es handelt sich nur um Symbole, mehr nicht.“ Fryda nickte mechanisch und erhob sich aus dem unbequemen Sessel. Wie in Trance reichte sie Dr. Sörenson die immer noch zitternde rechte Hand. „Kommen Sie, ich führe Sie hinaus“, bot der Doktor beinahe freundlich an, und für eine Minute drangen sie wieder ein in das düstere Gewirr von Holzmasken und
dicken Büchern, bevor sie endlich das Freie erreichten. Erleichtert sog Fryda die frische Luft des späten Nachmittags ein. Vor ihr lag eine Straße mit hübschen Einfamilienhäusern zur rechten, zur linken verlor sich die Straße zwischen hohen, locker stehenden Bäumen, einem der vielen Ausläufer der endlosen Waldfläche, die einen Großteils Schwedens bedeckte. Irgendwo inmitten dieses unendlichen Baumteppichs irrte sie in ihren Träumen umher. Aber wo? Gab es den Ort ihrer Träume wirklich, oder waren das alles tatsächlich nichts als Symbole, wie Dr. Sörenson behauptete? Sie wußte nicht mehr, was sie glauben sollte. Eigentlich hatte sie sich Aufklärung über ihre Träume erhofft, aber nun war alles nur noch verworrener und bedrohlicher geworden. Wieviel Geduld mußte sie mitbringen, um die Rätsel der 15
eigenen Seele zu entschlüsseln? Als sie sich von Dr. Sörenson verabschiedete, fiel ihr auf, daß auch seine Blicke immer wieder gedankenverloren in Richtung zum Wald hin schweiften. Als ob er dort etwas suchen würde...
Felder, nördlich von Karlstad traf man auf Bäume, soweit das Auge reichte. So gesehen war es kaum ein Wunder zu nennen, wenn sie von Wäldern träumte. Und doch war ihre Heimat eher die Stadt, denn schon immer lebte sie mit ihren Eltern in einer kleinen Villa am Rande von Karlstad, und die Innenstadt mit ihren Geschäften und Restaurants stellte für sie eher eine vertraute Umgebung dar als die überwältigende Natur Schwedens. Sie war als Stadtmensch aufgewachsen, brauchte die Abwechslung und fürchtete sich ein wenig vor der monotonen Weite der Wälder. Seit ihr Vater vor fünf Jahren gestorben war, lebte sie zusammen mit ihrer Mutter, die schon etwas zu kränkeln begann, in dem alten Landhaus. Für vier Jahre nur hatte sie es verlassen. Das war, als sie in Göteburg die Universität besuchte. Sie hatte ihr Studium rasch abgeschlossen und war in ihr Elternhaus
2 Fryda Engbrant kehrte nach der Hypnosebehandlung in ihrem japanischen Kleinwagen ins Elternhaus zurück. Das bedeutete, daß sie von einem Ende der Stadt Karlstad zum anderen fahren mußte, was kaum mehr als eine halbe Stunde Fahrzeit ausmachte. Karlstad lag nahe am größten See Schwedens, dem Vänern-See. Nördlich davon begann das ausgedehnte Waldgebiet, das nahezu das ganze Land bedeckte und von zahlreichen Flüssen und kleineren Seen durchzogen war. Nur in Südschweden gab es Heideland und 16
zurückgekehrt, hatte in Karlstad sofort eine Anstellung als Redakteurin in einem kleinen Verlag gefunden und war froh darüber, wieder zuhause wohnen zu können. Sie war ganz und gar ein Familienmensch, und nach dem frühen Tod ihres Vaters fühlte sie sich noch enger mit ihrer Mutter und den zahlreichen Tanten und Onkeln verbunden. Vielleicht hing es auch damit zusammen, daß man den weiblichen Abkommen der Familie ihrer Mutter besondere Fähigkeiten zuschrieb. Fryda mußte auch jetzt, da sie im Wagen durch Karlstad fuhr, unwillkürlich daran denken. Die Fähigkeiten gingen nicht so weit, daß man von Zauberei sprechen konnte, aber fast alle weiblichen Familienmitglieder schienen über eine winzige, unscheinbare Begabung zu verfügen, die sie von anderen Menschen unterschied. Die eine sah manchmal
Dinge voraus, die kurze Zeit später wirklich eintrafen. Eine andere behauptete, oft für Sekunden die Gedanken eines anderen Menschen lesen zu können. Fryda mußte sich eingestehen, daß sie nicht ganz an die Geschichten glaubte. Gerade ältere Damen versuchten sich des öfteren wichtig zu machen, indem sie von Vorahnungen und dergleichen redeten. Zwar hatte es einige Fälle gegeben, welche die übernatürlichen Fähigkeiten zu untermauern schienen, aber von hiebund stichfesten Beweisen konnte dabei nicht die Rede sein. Bei Familienfesten und kleiner Treffen kam das Gespräch mit unerbittlicher Regelmäßigkeit auf die wunderbaren Begabungen, und während die Männer sich gelangweilt abwandten und lieber an hochgeistigen Getränken nippten, verloren die Frauen sich in abenteuerlichen Erzählungen von angeblicher Hellseherei, Magie oder 17
Telepathie. Ihre Mutter jedenfalls, das stand für Fryda fest, hatte vom Kuchen der übersinnlichen Begabungen nichts abbekommen – auch wenn sie oftmals geradezu verzweifelt versuchte, das Vorhandensein ihrer magischen Fähigkeiten zu beweisen. So behauptete sie beispielsweise, Vaters Tod vorausgesehen zu haben, aber das war zu einem Zeitpunkt gewesen, als der Arzt längst unheilbaren Krebs diagnostiziert hatte, also lag nichts Erstaunliches oder gar Übernatürliches in ihrer Prophezeiung. Auch Fryda selbst hatte in ihren sechsundzwanzig Lebensjahren noch kein Anzeichen einer besonderen Gabe bei sich feststellen können. Die Prüfungsfragen in der Abschlußarbeit der Universität waren für sie ebenso überraschend gekommen, wie für alle übrigen Studenten. Um anderen
Menschen ihre Gedanken mitzuteilen, mußte sie das Mittel der Sprache einsetzen – und selbst dann wurde sie nicht immer verstanden. Und die Gedanken ihres Verlobten Gunnar vermochte sie nur dann zu lesen, wenn er zudringlich wurde und seine Lippen allzu ungestüm die ihren suchten. Trotzdem wagte Fryda nicht, über die Geschichten zu spotten. Zum einen aus Rücksicht auf den Familienfrieden, zum anderen, weil ihre immer wiederkehrenden Träume sie beunruhigten. Konnte nicht in ihnen etwas von den mysteriösen Fähigkeiten ihrer Familie verborgen liegen? Eine Botschaft, eine Warnung? „Und wenn Dr. Sörenson sich irrt und das alles keine Symbole sind?“ fragte sie sich laut im Selbstgespräch, während sie ihren Kleinwagen in die breite Einfahrt des Elternhauses lenkte. „Vielleicht liegt irgendwo da draußen in den Wäldern 18
tatsächlich eine Kiste und wartet nur darauf, gefunden zu werden. Ein Schatz wäre nicht schlecht...“ Ein Schmunzeln stahl sich auf Frydas hübschen Mund. Zwar entstammten die Engbrants einer wohlhabenden Familie, doch der Reichtum hatte sich im Laufe der Generationen weitgehend verbraucht. Mochte auch ihre Villa noch ein wenig vom Glanz der alten Zeiten widerspiegeln, in ihren Taschen klimperte nicht mehr Geld als in denen jedes anderen Schweden. Ohne ihre Anstellung im Verlag hätte sie ihr Leben nicht finanzieren können. Fryda gefiel der Gedanke an einen Schatz. Natürlich glaubte sie nicht daran, aber die Idee brachte ein wenig Erleichterung und verdrängte die Angst vor dem, was in der geheimnisvollen Holzkiste versteckt lag. „Hej“, rief ihre Mutter den schwedischen Gruß, kaum daß sie aus
dem Wagen gestiegen war. Sie hatte offenbar das Auto kommen hören. „Wie war’s bei Gunnar? Hat er dir schon wieder einen Heiratsantrag gemacht?“ Die junge Frau stockte für einen Augenblick. Sie hatte ihrer Mutter gegenüber eine kleine Notlüge erfunden, da sie wußte, daß diese nicht gerade angetan sein würde von ihrem Besuch beim Hypnotiseur. Schließlich war Mutter auch damals verstimmt gewesen, als Fryda einen Nervenarzt konsultierte. Sie schien kein Verständnis dafür aufzubringen, daß ihre Tochter Nachforschung über ihr eigenes Inneres anstellte. Wenn Fryda von ihren Träumen berichtete, kommentierte sie nur lakonisch: „Das geht schon von selbst wieder vorbei. Kein Grund, zu einem Irrendoktor zu rennen!“ Aus diesem Grund hatte Fryda ihr erzählt, sie wolle ihren Verlobten besuchen. In Wirklichkeit hatte sie sich 19
ein paar Tage Urlaub genommen, um täglich Dr. Sörensons Behandlung zu genießen. „Gunnar macht mir jedesmal einen Heiratsantrag, wenn wir uns sehen“, meinte Fryda und sagte wenigstens damit die Wahrheit. „Es ist schon fast eine Gewohnheit von ihm geworden. Ich höre schon nicht mehr hin.“ „Du dummes Mädchen“, schimpfte Mutter entrüstet. „Du könntest ihm allmählich dein Jawort geben.“ „Das hat noch Zeit, bis ich weiß, ob er der Richtige ist.“ Auch dies war eine Lüge, und sie entschuldigte sich innerlich bei dem armen Gunnar dafür. In Wirklichkeit wußte sie schon seit langem, daß niemand anderes für sie in Frage kam als er. Beide liebten einander aufrichtig, und am liebsten wäre sie sofort seine Frau geworden. Der Grund für ihr Zögern lag nicht bei ihm, sondern bei ihr selbst.
Solange sie unter diesen bösen Träumen litt und nicht wußte, ob sie nicht etwa psychisch krank oder seelisch unstabil war, wollte sie von Hochzeit und Kinderkriegen nichts wissen. In einer schwachen Stunde hatte sie der Verlobung zugestimmt, aber für den letzten Schritt fühlte sie sich noch nicht reif. So kam es, daß Gunnar und sie bereits zwei Jahre verlobt waren und ihre Bekannten längst tuschelten, ob es da nicht irgendwo zwischen ihnen kriselte. Doch die Schwierigkeiten lagen einzig und allein bei Fryda und ihren Träumen. Ihre Mutter begleitete sie ins Wohnzimmer, wo bereits für einen Tee gedeckt war. „Sechs Uhr ist etwas zu spät für Tee“, gab Mutter zu, „aber ich habe auf dich gewartet. Du trinkst doch ein Täßchen mit mir, oder?" „Natürlich. Du brauchst aber nicht immer zu warten.“ „Was soll ich alleine Tee trinken?“ sagte 20
Mutter, und die Einsamkeit klang aus ihrer Stimme. „Da schmeckt der beste Kuchen nicht.“ Fryda nickte verständnisvoll. Sie kümmerte sich so viel wie möglich um die alternde Frau, aber der Tod ihres Vaters hatte eine Lücke hinterlassen, die sie nicht zu stopfen in der Lage war. Es war ihr nicht unrecht, daß ihre Mutter Tee und Kuchen brachte. Sie hatte sich vorgenommen, ihr noch einige Fragen zu stellen, auf die sie noch niemals eine befriedigende Antwort erhalten hatte. Die entspannte Atmosphäre beim Teetrinken kam ihr dabei nur gelegen. „Mutter“, begann sie vorsichtig, als die Tassen dampfend vor ihnen standen. „Es gibt ein paar Dinge, die ich dich fragen wollte. Bitte gib mir eine ehrliche Auskunft. Es ist so wichtig.“ Das Gesicht der Frau erstarrte sichtbar. „War ich als Kind oft im Wald?“
erkundigte sich Fryda rasch, bevor ihre Mutter das Gespräch abblocken konnte. „Du warst nie im Wald, mein Kind. Du hast immer mit den anderen Mädchen auf Straße, im Garten oder in deinem Zimmer gespielt. Darin mußt du dich doch selbst erinnern können!“ Ja, Mutter hatte recht. Sie vermochte sich nicht zu entsinnen, jemals tiefer als ein paar Meter zwischen die Bäume eingedrungen zu sein. „Vielleicht hat mich jemand dorthin mitgenommen“, hakte Fryda nach, „als ich noch ganz klein war.“ „Deine Fragen hängen mit den Träumen zusammen, nicht wahr? Hattest du wieder Alpträume? Ich habe dir schon oft gesagt, du brauchst nur Geduld zu haben. Sie verschwinden von alleine.“ „Sie verschwinden nicht, Mutter. Jede dritte, vierte Nacht kehren sie zurück.“ „Das ist der Beweis, daß sie allmählich weniger werden.“ 21
Fryda stutzte. Was wollte sie damit sagen? Daß die Träume früher häufiger gekommen waren? Als sie ein kleines Kind war, vielleicht? Ihr Mutter zog eine Miene, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Sie hatte etwas verraten, was sie unter keinen Umständen hatte preisgeben wollen. „Wie war es, als ich ein kleines Mädchen war?“ fragte Fryda angespannt. Sie spürte deutlicher als je zuvor, daß ihre Mutter etwas vor ihr verbarg. „Habe ich jede Nacht davon geträumt? Warum sprichst du nicht mit mir darüber? Was kann daran schon so Schlimmes sein?“ „Du drehst mir das Wort im Mund herum“, konterte die Mutter verdrossen. „Ich kann dir nichts erzählen, was niemals geschehen ist. Warum bist du so nervös?“ Sie zitterte dabei und verschüttete einen Teil ihres Tees. „Nicht ich bin nervös, sondern du!“ klagte Fryda sie an. „Weil du
Geheimnisse vor mir hast.“ „Papperlapapp“, krächzte die Mutter und beeilte sich, die Lache auf der Untertasse mit der Serviette aufzuwischen. Fryda seufzte. Sie kam keinen Schritt vorwärts. Wie sollte sie verstehen, was in ihren Träumen und unter Hypnose mit ihr vorging, wenn sie nicht einmal ihr eigenes Leben zur Genüge kannte? Wie sollte sie unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Traum-Symbolen, wenn sie nicht wußte, ob sie nicht vielleicht doch einmal als kleines Mädchen mit zwei Männern im Wald gewesen war und gar eine Holzkiste gefunden hatte? Was ist in der Kiste? zermartete sie sich den Kopf. Sie wußte nur, daß sie furchtbare Angst davor verspürte, hineinzusehen... 3 Am frühen Nachmittag des folgenden 22
Tages lenkte Fryda Engbrant ihren Japaner zum zweiten Mal die lange Straße mit den Einfamilienhäusern entlang. Unvermeidlicherweise tauchte am Ende der linken Gebäudereihe das Haus von Sörenson auf. Von außen wirkte es nicht weniger hell und freundlich als all die anderen. Als sie am Morgen erwacht war, hatte sie sich spontan geschworen, den sonderbaren Hypnotiseur nie mehr wieder aufzusuchen. Nicht genug, daß seine Behausung und seine Arbeitsmethoden ihr Furcht und Schrecken einjagten – sie hatte so schlecht geschlafen wie selten zuvor. Anstatt ihr Ruhe und Entspannung zu schenken, hatte der Schlaf ihr Bilder von der Kiste im Wald gebracht. Die Geräusche aus dem Innern des Holzkastens waren eine Mischung aus Poltern, Pochen und Schaben, die Kiste ruckte auf dem feuchten Waldboden hin und her, und einmal überschlug sie sich
beinahe aus eigener Kraft. Was immer darin eingesperrt war, es wollte unbedingt in die Freiheit. Eine halbe Stunde nach dem Aufwachen hatte sie eine kalte Dusche und eine heiße Tasse Kaffee hinter sich und dachte schon wieder ein wenig nüchterner über die Angelegenheit. Daß sie von der Kiste träumte, war mehr als selbstverständlich. Immerhin hatte sie den ganzen Vorabend lang an nichts anderes gedacht. Wenn sie die Sache jetzt nicht zu einem Ende brachte, würde sie über die Kiste und ihren Inhalt nachgrübeln, solange sie lebte. War der Gegenstand ein Symbol, würde ihr Dr. Sörenson beim Entschlüsseln behilflich sein – handelte es sich um eine reale Erinnerung, mußte sie die Wahrheit eines Tages aus Mutter herausquetschen. Sie telefonierte mit Gunnar und erzählte ihm von der Sache. Ihr Verlobter riet ihr, dem Hypnotiseur gegenüber 23
vorsichtig zu sein, pflichtete ihr aber ansonsten bei. Die angefangene Behandlung an dieser Stelle abzubrechen, schien ihm so sinnlos wie es war, eine Blinddarmoperation abzublasen, nachdem man gerade die Bauchdecke aufgeschnitten hatte. „Laß dich nicht von ein bißchen Blut abschrecken“, hatte er gesagt. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“ Fryda liebte Gunnars bildhafte Ausdrucksweise - normalerweise. Er unterrichtete Schwedisch und Geschichte an einer Schule in Örebro. In seiner Freizeit vereinigte er so gegensätzliche Hobbies wie Segeln und Gedichteschreiben. Die Sonne stand hoch am Himmel, und als Fryda ihren Wagen abstellte, erkannte sie sofort Dr. Sörenson, der vor dem Haus saß und in einem seiner dicken Folianten las. „Ich habe viel nachgedacht“, begrüßte
er sie mit einem Lächeln. Er schien sich vorgenommen zu haben, ihr heute mehr Freundlichkeit zu signalisieren, aber ganz vermochte er seine unterkühlte Nüchternheit nicht abzulegen. „Wir haben gestern bereits eine Menge erreicht. Es kommt nicht oft vor, daß man in einer einzigen Sitzung schon zum Kern des Problems vorstößt. Ich gratuliere!“ Jeder andere hätte zuerst Konversation über das Wetter gemacht oder sich nach dem Befinden der Patientin erkundigt. Nicht so Sörenson. Jedes überflüssige Wort mußte ihm wie Zeitverschwendung erscheinen. Der strahlende Sonnenschein war ihm nicht eine einzige Silbe wert. Fryda war umso dankbarer für jeden Sonnenstrahl, den ihre Haut aufsaugen konnte. Wenn sie nur daran dachte, in welcher dunklen und staubigen Kammer sie gleich sitzen würde, gierte sie nach jedem Atemzug, der voll von Sauerstoff und Sonnenlicht war. 24
Auch beim zweiten Mal verfehlte das gruselige Innenleben von Sörensons Haus nicht seine Wirkung auf die junge Frau. Sie entdeckte Masken, die ihr gestern verborgen geblieben waren. Die kleinen, unscheinbareren wirkten beim genauen Hinsehen noch furchteinflößender als die großen, klobigen Exemplare. Hundert Augenpaare stierten in die schmalen Flure, starr und steif, unfähig, den beiden Menschen zu folgen, und doch schienen sie sie zu betrachten wie Eindringlinge. „Sie versuchen uns zu hypnotisieren“, bemerkte der Doktor fast beiläufig. „Und die meisten schaffen es – ein wenig...“ So sehr Fryda auch versuchte, die Worte Sörensons als Angstmacherei abzutun, es gelang ihr nicht. Zu sachlich klang sein Tonfall. Die Kammer, die sie erwartete, schien unverändert. Der Staub, den sie am Vortag aufgewirbelt hatte, war wieder in Teppich und Sesselpolster gesunken, die
Bücher atmeten noch immer denselben stickigen Odem. Ein Hauch von Beklemmung tastete nach ihr – ein Mensch, der Furcht vor engen Räumen hatte, würde hier binnen weniger Augenblicke wahnsinnig werden. „Keine Angst vor der Angst“, flüsterte der Doktor. „Ihre Furcht ist Ihr Schlüssel.“ Er brachte sogar ein Schmunzeln zustande über die Widersinnigkeit seiner eigenen Worte. „Werde ich wieder glauben, ersticken zu müssen?“ fragte Fryda unsicher. „Geht es nicht anders?“ „Es ist eine meiner besten Methoden“, verteidigte sich Sörenson. „Höchst wirkungsvoll, weil es eine der tiefsten Ängste des Menschen darstellt. Und im übrigen vollkommen ungefährlich. Machen Sie sich keine Sorgen!“ „Werde ich die Kiste wieder sehen?“ „Ich hoffe doch, Sie können sie finden. Sie müssen mir auf jeden Fall die 25
Umgebung beschreiben. Gibt es dort besondere Auffälligkeiten, einen Bach, eine Lichtung? Ich muß alles genau wissen!“ „Weshalb?“ „Es ist wichtig.“ „Wie soll ich die Kiste öffnen?“ „Mit etwas Glück werden Sie sich erinnern, daß Sie jetzt kein Kind mehr sind, sondern eine erwachsene Frau. Ihre Körperkraft hat sich vervielfacht.“ „Gut, fangen wir an.“ Fryda befürchtete, sie werde sich zum Abbruch der Behandlung entschließen, wenn sie noch länger darüber nachgrübelte. Je schneller sie es hinter sich gebracht hatte, umso besser. Die seltsame Hypnose begann. Fryda atmete die verbrauchte Luft der Kammer durch die Nase, durch die Hand des Doktors. Obwohl sie diesmal wußte, was sie erwartete, vermochte sie die Furcht vor dem Ersticken nicht abzuschütteln. Es
war eine Urangst, die man nur mühsam wegtrainieren konnte. Der Wald kam zu ihr, zuerst einzelne Bäume, dann nach wenigen Sekunden ein dichter Vorhang aus massigen Stämmen. Und ganz in der Nähe floß in der Tat ein Bach vorüber. Fryda gab sich äußerste Mühe, seine Form zu beschreiben, aber der Doktor ließ nicht locker, bohrte immer weiter. Die Kiste! Plötzlich tauchte sie am Rand ihres Blickfelds auf. Sie lag nicht mehr ruhig da, wie am Vortag. Sie zuckte und ruckte, ganz wie in ihrem Traum heute nacht. Und ebenfalls ihrem Traum ähnelte das Klopfen und Scharren, das ganz deutlich aus ihrem Innern zu vernehmen war. Mein Gott, dachte Fryda fieberhaft. Ich will dieses Ding nicht öffnen! Sie starrte auf ihre kleinen Kinderhände. Zum Glück bin ich ein Kind, 26
überlegte sie mit einem Anflug von Erleichterung. Mit diesen zarten Händen werde ich den Kasten niemals öffnen können. Er wird auf ewig geschlossen bleiben. „Sie sind eine erwachsene Frau“, hörte sie dumpf Sörensons Stimme. „Sie haben genügend Kraft. Strengen Sie sich an! Reißen Sie die Kiste auf!“ „Nein!“ flehte sie. „Ich bin nur ein kleines Mädchen. Ich bin zu schwach.“ „Versuchen Sie es, Frau Engbrant! Fassen Sie eine Latte und zerren Sie!“ Schweiß perlte von Frydas Stirn. Warum nannte er sie nur Frau Engbrant? Sie war Fryda, die kleine Fryda, ein dreijähriges Mädchen! Ja, sie wußte jetzt genau, daß dies ihr Alter war. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, drei Finger auszustrecken, wenn sie nach ihrem Alter gefragt wurde. Die Fryda Engbrant im Sessel vor Dr. Sörenson streckte drei Finger in die
Höhe. „Ich bin drei“, wimmerte sie. „Ich bin schon drei!“ Sie wollte sagen: Ich bin erst drei, aber ihr kindlicher Wortschatz wußte mit dieser Formulierung nichts anzufangen. Deshalb schrie sie, wie alle Kinder in ihrem Stolz: „Ich bin schon drei!“ Zaghaft tasteten ihre Hände nach der Kiste. Sie fühlte sich kalt und feucht an, als hätte sie lange Zeit tief in der Erde gelegen. Sie schob ihre Fingerspitzen zwischen zwei Latten, suchte Halt daran, zog ein bißchen. „Es geht nicht“, rief sie halb verzweifelt, halb erleichtert. Sie wußte nicht, ob sie mehr Angst davor hatte, es zu öffnen oder es nicht aufzubekommen. „Strengen Sie sich an, Frau Engbrant!“ donnerte Dr. Sörenson. Sie zog ein wenig stärker, und plötzlich stemmte sich vom Innern der Kiste etwas gegen die gleiche Latte, an der auch ihre 27
kleine Hand zerrte. Holz knarrte, splitterte. Binnen eines Augenblicks schien die Kiste zu explodieren. Etwas Eiskaltes berührte ihre Hand, streifte ihren Arm. Ein dunkler Schatten sprang aus der zerborstenen Kiste. Es war ein Mann. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, weil alles an ihm schwarz war wie die finsterste Nacht. Er kam ihr riesengroß vor, aber das war kein Wunder – immerhin war sie ein dreijähriges Mädchen. Sie begann zu schreien, einmal im Traum und einmal in Wirklichkeit. „Was sehen Sie?“ brüllte Dr. Sörenson. Aber sie kreischte unablässig, und es blieb ihm nichts übrig, als sie in die Realität zurückzuholen. Er schüttelte sie und schrie auf sie ein, bis sie endlich die Augen aufschlug und ihn voller Panik anstarrte. „Der... der schwarze Mann“, hauchte sie
verwirrt. Auch Sörensons Blick drückte Verwunderung aus. Er schien sich den Verlauf der Hypnose weniger dramatisch vorgestellt zu haben. „Sie haben einen Mann gesehen?“ erkundigte er sich ungläubig. Fryda brauchte zwei Minuten, um einigermaßen zu Atem zu kommen. Danach berichtete sie dem Doktor so detailliert wie möglich, was sie gesehen hatte. Dieser schien damit wenig anfangen zu können und wirkte immer verwirrter, je mehr sie erzählte. „Ein dunkler Schatten“, widerholte er abwesend. „Was hat das zu bedeuten?“ „Was bedeutet das Symbol eines männlichen Schattens?“ fragte sie ihn, doch er gab keine Antwort. Exakt dieselbe Frage schien er sich auch zu stellen. Fryda wischte den Schweiß von ihrer Stirn und stand auf. Wenn sie jetzt irgend 28
etwas brauchte, dann war es frische Luft. Noch immer stand das Bild der berstenden Holzkiste vor ihrem inneren Auge. Wie eine Welle schwappte der Dunkle heraus, füllte beinahe ihr gesamtes Blickfeld aus. Diesmal wartete sie nicht, bis der Doktor sie hinausbegleitete. Sie ließ ihn sitzen wie ein Häuflein Elend und bahnte sich ihren Weg ins Freie. Allmählich kannte sie sich in diesem Gebäude aus. Die Masken glotzten sie neugierig an, aber sie schaffte es, sie zu ignorieren. Vor dem Haus herrschte noch immer strahlender Sonnenschein. Einige Vögel pickten in der Wiese des kleinen Gartens herum und zwitscherten dabei. Fryda atmete tief durch, und langsam beruhigte sich ihr rasender Herzschlag. Wie das Geschehene zu deuten war, wußte sie nicht. Nicht einmal der Hypnotiseur schien es zu begreifen. Wenn sie nur das Gesicht des Schattens besser
hätte erkennen können! Vielleicht lag darin ja der Schlüssel zur Lösung des Rätsels. Dr. Sörenson trat hinter ihr aus der Tür. Sogar er schien die frische Luft und Sonne zu genießen. Hatte ihn ihre Vision so erschreckt, daß selbst er weiche Knie bekam? „Wir sind einen großen Schritt weitergekommen“, murmelte der Doktor, aber es war nicht zu überhören, daß er log. „Verraten Sie mir, was mein Traum bedeutet“, verlangte Fryda scharf. Hier draußen fühlte sie sich ihm überlegen. Ohne die Bedrohlichkeit seines Hauses war er ein Nichts. Seine dichten, rotblonden Augenbrauen zogen sich besorgt zusammen. „Morgen werden wir es erfahren“, versprach er. „Dann werden wir mit dem Schatten zu sprechen versuchen. Wir...“ „Machen Sie mir nichts vor, Doktor. Sie 29
tappen im Dunkeln!“ Seine Miene erstarrte. „Nehmen wir an, Sie haben recht, Frau Engbrant. Aber bedenken Sie, daß Sie ohne mich nicht die geringste Chance haben, mehr zu erfahren. Sie werden meine Dienste wohl oder übel in Anspruch nehmen müssen.“ Ein kaltes Lächeln prangte auf seinen Lippen und bewies, daß er nicht so leicht aufzugeben gewillt war. Möglicherweise belastete ihn, daß seine Berufsehre auf dem Spiel stand. Kein Arzt gestand sich gerne ein, daß er mit seinem Latein am Ende war. Dies galt umso mehr für einen Sonderling wie Dr. Sörenson. „Vielleicht finde ich selbst mehr heraus als mit Ihrer Unterstützung“, gab Fryda zurück. Die Arroganz dieses Menschen widerte sie an. „Kaum möglich“, zischte er. „Vielmehr sollte Sie sich Sorgen über das machen, was Sie da eben gesehen haben. Mir scheint, Sie haben etwas freigelassen,
das ab jetzt Jagd auf Sie machen wird. Einen Schatten, der Ihnen folgt, wohin Sie auch gehen.“ Der Gedanke ließ Fryda schaudern, aber sie gab sich Mühe, Sörenson nichts von ihrer Unsicherheit zu zeigen. „Ich dachte, wir haben es mit Symbolen zu tun“, fragte sie scheinheilig. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Kommen Sie morgen, und wir klären das ganze in einer weiteren Sitzung.“ „Wir werden sehen“, meinte Fryda schnippisch. Sie wollte sich ein Hintertürchen offenlassen, um erst einmal in Ruhe nachzudenken. Im Moment mochte sie noch nicht entscheiden, ob sie die Sitzungen abbrach oder fortsetzte. Vor allen Dingen verspürte sie das Verlangen, erst mit Gunnar darüber zu sprechen. Sie gab viel auf seine Ratschläge. Sie sprang in ihren Wagen und stieg aufs Gaspedal, um Sörensons Haus 30
schnell weit hinter sich zu lassen. Eine Unruhe hatte von ihr Besitz ergriffen und verschwand selbst dann nicht, als das Haus längst außer Sichtweite lag. Alle zehn Sekunden blickte sie um sich, hinter ihren Sitz, in den Rückspiegel, neben sich auf den leeren Beifahrersitz, ob nicht irgendwo ein schwarzer Schatten zu sehen war, der sie verfolgte...
Verkehrsschilder kaum wahr. Zuhause angekommen, speiste sie ihre Mutter mit einer sparsamen Begrüßungsformel ab, verschwand in ihrem Zimmer, und während ihre rechte Hand Gunnars Nummer ins Tastentelefon tippte, drehte die linke den Schlüssel der Zimmertür herum. „Gunnar, hej! Hör zu, was ich dir erzähle!“ Und dann sprudelten die Worte über ihre Lippen. Sie beschrieb ihren heutigen Besuch bei Dr. Sörenson und die Träume der letzten Nacht. Ihre Erzählweise war chaotisch, sie sprang in der Zeit vor und zurück, aber trotzdem konnte sich ihr Verlobter nach zehn Minuten ein recht detailliertes Bild machen. „Hast du das Gefühl, dieser Sörenson könnte ein Scharlatan sein?“ wollte Gunnar wissen. „Möglich. Seine Methoden sind bizarr, aber er hat es immerhin geschafft, mich
4 Fahrig und nervös hatte sie ihren Kleinwagen durch die Straßen Karlstads bugsiert und war dabei nur mit Glück zwei Unfällen entgangen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, mußte sie sich eingestehen, daß in ihrer seelischen Verfassung eine einfache Heimfahrt zum unkalkulierbaren Risiko wurde. Beim besten Willen vermochte sie sich nicht auf den Verkehrsfluß zu konzentrieren, fand den Rhythmus von Gaspedal und Bremse nicht und nahm Ampeln und 31
sofort in Hypnose zu versetzen. Deshalb war ich gestern fest überzeugt von seinen Fähigkeiten. Heute kam er mir dagegen eher dilettantisch vor. Die Hypnose klappte, aber er wußte meinen Traum nicht zu interpretieren.“ „Dann bist du eben sein schwierigster Fall“, gab Gunnar zu bedenken. „Das glaube ich nicht. Ich hatte eher den Eindruck, es suchte etwas, das ich ihm nicht geben konnte.“ „Er suchte etwas in deinen Träumen?“ kam die warme Stimme ihres Verlobten verwundert aus der Muschel. „Ich weiß, es klingt verrückt. Man könnte meinen, er versucht mich auszuhorchen. Er fragt ständig danach, wie die Umgebung aussieht, als ob das so entsetzlich wichtig wäre!“ „Ich bin zwar kein Psychologe, aber die Angelegenheit kommt mir spanisch vor. Auf keinen Fall möchte ich, daß du morgen wieder zu ihm gehst, hörst du?
Wer weiß, was er im Schilde führt? Du brauchst etwas Zeit zum Nachdenken.“ „Gehe ich recht in der Annahme, daß du versuchen wirst, ein paar Nachforschungen über Sörenson anzustellen?“ Fryda kannte ihren Verlobten gut genug, um zu wissen, daß er über eine gesunde Portion Neugier verfügte und nichts lieber tat, als in Bibliotheken und Archiven ein wenig Detektiv zu spielen. Ab und zu warf sie ihm vor, als kleiner Junge zu viel Kriminalgeschichten gelesen zu haben. Andererseits genoß sie es, mit ihm eine nahezu unerschöpfliche Informationsquelle zur Hand zu haben. „Vor dir kann man wirklich keine Geheimnisse haben“, spielte Gunnar den Entrüsteten. „Gut, ich gestehe. Ich hatte vor, mich mal umzuhören.“ „Hoffentlich wirst du Sörensons Gedanken so gut lesen, wie ich die deinen lesen kann. Dann hätte ich nichts 32
zu befürchten.“ Die beiden führten ihr Gespräch noch ein paar Minuten weiter, immer haarscharf an der Grenze zwischen Ernst und Flachserei. Als Fryda schließlich auflegte, fühlte sie sich nur zur Hälfte erleichtert. Wenn von Sörenson eine Gefahr ausging, konnte sie ihr dadurch entgehen, daß sie nicht mehr zu seinen Sitzungen fuhr. Doch Fryda wurde das Gefühl nicht los, daß die wirkliche Bedrohung nicht aus der Richtung des exzentrischen Hypnotiseurs kam, sondern von ihr selbst, tief aus ihrem Inneren. Noch nie hatte sie sich mit so viel Furcht zum Schlafen gelegt, wie an diesem Abend...
Das Zimmer lag in völliger Dunkelheit, die Schwärze der Nacht erfüllte es bis zum letzten Winkel, machte es – scheinbar – unendlich groß. In der Finsternis wurde jeder Ort ein Teil des endlosen schwarzen Weltalls, und vielleicht machte sie das so bedrückend und unheimlich. Vorsichtig faltete der Mann die Bettdecke zurück, um sich keinen Laut von draußen entgehen zu lassen. Wenn tatsächlich irgendwo im Haus ein Geräusch erklungen war, wollte er es nochmal hören, um es einzuordnen. Schritte auf dem Flur! Zweifellos, in dem Gang, der von der Haustür zu den Räumlichkeiten führte, war ein Mensch unterwegs. Die Schritte klangen schwer, dumpf und langsam. Sie gehörten jemandem, der offenbar schlecht zu Fuß war. Sie waren unregelmäßig, stolpernd, als müßte da erst jemand lernen, richtig zu gehen.
5 Der Mann schreckte aus unruhigem Schlaf hoch. Er war sicher, daß ein Geräusch ihn geweckt hatte. 33
Dr. Sörenson knipste eine Schreibtischleuchte an, die auch die Funktion einer Nachttischlampe übernahm. Er las regelmäßig noch im Bett. Die Birne brannte grell einen scharfumrissenen Lichtkegel in die Mitte des Zimmers. Der Doktor kroch aus dem Bett und verharrte einen Moment, bevor er die Tür zum Flur öffnete. Er hatte nie eine Schußwaffe besessen, sich nie vor Einbrechern gefürchtet. Denn zu holen gab es bei ihm nur alte Bücher und einige wertlose Kunstgegenstände. Sollte jemand unter dem billigen Krimskrams an seinen Wänden eine teure Antiquität vermuten? Lächerlich! Seine Finanzen hatten ihm nie erlaubt, solcherlei Dinge anzuschaffen. Mit einem Knarren gab die Schlafzimmertür seinem Drücken nach. Aus dem Flur äugten ihm Dutzende hölzerner Masken entgegen, verstört, wie es schien. Nacht für Nacht starrten ihre
geöffneten Augen in die Dunkelheit, ohne gestört zu werden. Ihr Dummköpfe, dachte Sörenson. Habt keine Angst, euch wird niemand stehlen! Keiner von euch ist mehr als zwanzig Kronen wert. Eine Taschenlampe besaß der Hypnotiseur nicht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nach dem Lichtschalter im Gang zu tasten. Gelbes Licht flammte auf, trüber und schwammiger als das der Schreibtischlampe. „Ist da jemand?“ brachte Sörenson mit belegter Stimme vor. „Lassen Sie den Blödsinn! Was wollen Sie hier?“ Die schweren, unregelmäßigen Schritte setzten sich unbeirrt fort, näherten sich jetzt der Ecke, wo die beiden Flure zusammentrafen. Der Doktor verharrte, wo er war, um ins Schlafzimmer flüchten zu können, falls es nötig wurde. Doch als er das Wesen am Ende des Flurs erblickte, vergaß er für einige Augenblicke alle Gedanken an Flucht. 34
Es war ein Schatten, der eines großen, massigen Mannes, der sich gebückt und verkrümmt vorwärtsschob. Seine Füße schlurften ungelenk über die Dielen, sein Kopf drehte sich langsam in Richtung zu dem Hausherrn und erstarrte dann in dieser Haltung. Sörenson spähte unwillkürlich nach dem Gesicht des Eindringlings, doch obwohl das Licht ihn frontal beleuchtete, waren keine Gesichtszüge auszumachen. Außer einer struppigen, ungepflegten Haarmähne und der Andeutung eines breiten, zweigeteilten Kinns schien das Gesicht des Fremden ein Meer aus Finsternis zu sein. Es war kein Mensch, es war nichts als ein Schatten. Aber ein Schatten, dessen Schritte zu vernehmen waren! Dr. Sörenson zweifelte an seinem Verstand. Oder war es möglich, daß er noch träumte? Er, der sich mit Träumen auszukennen glaubte.
Der Dunkle bewegte sich so unendlich langsam, daß dem Doktor Zeit blieb, sich herumzuwerfen und ins Schlafzimmer zu fliehen. Mit einem lauten Krachen fiel die Tür hinter ihm zu. Wie ein gehetztes Tier huschte Sörenson in dem kleinen Raum hin und her, warf sich dann aufs Bett und nahm die Schreibtischlampe an sich. Den weißen Lichtfinger der Leuchte richtete er auf die Tür. Einige Zeit geschah nichts. Zehn Minuten dehnten sich zu einer Ewigkeit. Er mußte daran denken, was ihm Fryda Engbrant erzählt hatte, über den Schatten eines Mannes, der sich mit ihrer Hilfe aus der Kiste befreit hatte. Sörenson mußte sich eingestehen, daß er sich darauf nicht den geringsten Reim machen konnte. Er hatte der Kiste nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, sie als unbedeutendes Symbol gewertet. Er hatte Fryda zum Öffnen bewegt, weil er sich in ihrem Inneren weitere 35
Informationen erhoffte. Informationen zu den Örtlichkeiten. Sein einziges Ziel war, den Ort ausfindig zu machen, an dem sich die Träume der jungen Frau abspielten. Er mußte diesen Ort aufsuchen... Etwas polterte gegen die Schlafzimmertür. Mit einem Satz sprang Sörenson vom Bett auf und warf sich dagegen. „Bleib, wo du bist!“ schrie er, und seine Stimme überschlug sich. Er erwartete einen Gegendruck von außen, aber der erfolgte nicht. Auch die Geräusche waren für einen Moment verstummt. Dann hörte er erneut die schweren Schritte. Diesmal schienen sie sich von der Tür zu entfernen. Dr. Sörenson stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Holz der Tür und verharrte in dieser Stellung. Der grelle Lichtfinger der Schreibtischleuchte traf den elektrischen Wecker neben dem
Bett. Zwei Uhr. Er hielt die Augen fest an die Uhr geheftet, bis ihm Tränen der Anstrengung über die Wangen liefen. Bis fünf Uhr behauptete er sich, bewachte die Tür, ohne einen Fingerbreit von ihr abzurücken. Als durch die Fugen der Fensterläden der Morgen dämmerte, gab er erschöpft seinen Posten auf und ließ sich kraftlos aufs Bett fallen. Seit Stunden schon waren die gespenstischen Schritte verklungen, doch kaum hatte Sörenson die Schwelle des Schlafes überschritten, kehrte der Schatten zu ihm zurück. Diesmal war er lediglich Bestandteil seiner Träume und vermochte ihm nichts anzuhaben. 6 Noch einem anderen Menschen in Karlstad stahl der unheimliche Schatten den Schlaf. Fryda Engbrants Träume 36
waren bis zum Bersten gefüllt mit Bildern des Schattenwesens. Ein dutzend Mal schrak die junge Schwedin hoch. Ein dutzend Mal verkroch sie sich wieder unter die Decke. Jedesmal dauerte es länger, bis sie wieder in den Schlaf zurückfand, und jedesmal wartete im Traum der schwarze Schatten eines großen, aber gebückt gehenden Mannes auf sie. Er fügte ihr kein Leid zu, wich aber keinen Schritt von ihrer Seite. Wie auch Sörenson, vermochte sie das Gesicht des Mysteriösen nicht zu erkennen. Einem Schleier gleich hüllte die Dunkelheit ihn ein, und nur selten gestattete die Finsternis einen Blick auf das, was unter dem Schatten lag: schmutzige und zerschlissene Kleidung. Im Traum versuchte Fryda, dem Fremden zu entkommen, aber sie war ein kleines Mädchen und konnte nicht so schnell wegrennen. Wohin sie sich auch
wandte, er war schon vor ihr da, ganz wie der Igel in der Fabel vom Wettlauf zwischen Hase und Igel. Das vom Angstschweiß durchnäßte Nachthemd klebte auf Frydas nackter Haut und ließ sie frösteln. Zweimal in dieser Nacht stand sie auf, um sich umzuziehen. Im Morgengrauen gab sie den Kampf auf und erhob sich schließlich wie gerädert. Sie fühlte sich erschöpfter als beim Zubettgehen. Niedergeschlagen irrte sie in der Villa umher. Zwei Gläser Orangensaft schüttete sie in sich hinein, dann goß sie Frühstücksflocken in eine Schale und knabberte lustlos darauf herum. Was ist nur mit mir? bohrten ihre Gedanken. Warum muß ich Alpträume haben wie ein Verbrecher? Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen, sagt man. Aber wenn ein Mensch nichts Böses getan hat, dürfte er eigentlich nicht von schlimmen Träumen heimgesucht werden. Habe ich 37
irgendwann einmal Schuld auf mich geladen, die mich nun nicht ruhen läßt? Wenn es so ist, warum weiß ich nichts davon? Über diesen Gedanken begann Fryda zu weinen. Es war ein ungewohntes Gefühl, als die Tränen über ihre Wangen rannen. Sie war gewöhnlich kein Mensch, der dicht am Wasser gebaut hatte. Richtig geweint hatte sie zum letzten Mal vor fünf Jahren beim Tode ihres Vaters. Jetzt fühlte sie sich ähnlich wie damals. Eine hohe Mauer aus Einsamkeit umhüllte sie mit einem Mal. Wenn sie wahrhaftig den Verstand verlieren sollte, dann konnte ihr niemand helfen. Nicht einmal Gunnar. Plötzlich fuhr sie zusammen. Eine Hand hatte sich auf ihre Schulter gelegt. „Mutter!“ schrie sie, als sie die Gestalt erkannte, die im Nachthemd neben ihr stand. Fryda hatte ihr Gesicht in den Händen begraben und dadurch nicht bemerkt, daß jemand ins Zimmer
getreten war. „Du hast mich zu Tode erschreckt!“ Die Mutter sah sie mit zusammengekniffenen Lippen an. Sorge um ihre Tochter stand auf dem kleinen, vorzeitig gealterten Gesicht. „Du hast geweint. Ich habe schon lange keine Tränen mehr auf deinem Wangen gesehen, Kind“, stellte sie fest, raffte ihr Nachthemd zusammen und ließ sich auf einen Stuhl neben ihrer Tochter nieder. „Die Alpträume“, schluchzte Fryda und kam sich unendlich hilflos vor, wie ein kleines Mädchen, „sie werden immer schlimmer. Bisher konnte ich damit umgehen, aber heute nacht hatte ich das Gefühl, daß mich etwas sehr Böses heimgesucht hat.“ „Was siehst du? Bist du immer noch im Wald?“ Fryda nickte und wischte unbeholfen die Tränen von ihrem Gesicht. Daß Mutter bereit war, mit ihr über die Träume zu 38
reden, war eine neue Situation für sie. Gewöhnlich versuchte sie, auch das harmloseste Gespräch darüber im Keim zu ersticken. Fryda schluckte ihre Tränen hinunter und erzählte in ein paar Sätzen von der Kiste und dem daraus entwichenen Schatten. Mutter hielt dabei fest die schmale Hand ihrer Tochter und nickte zwischendurch beruhigend. „Du mußt mir verzeihen“, sagte die Mutter, als sie die Geschichte gehört hatte. Nun begannen ihre Augen feucht zu werden, kaum daß die Tränen ihrer Tochter getrocknet waren. „Verzeihen? Weshalb?“ „Daß ich nicht schon früher mit dir darüber gesprochen habe. Ich hatte es nur gut mit dir gemeint. Du solltest es vergessen, unbeschwert aufwachsen und ein Leben ohne die bösen Erinnerungen führen. Ich dachte, es könne funktionieren. Jetzt erst weiß ich, daß
sich die Vergangenheit nicht einfach wegwischen läßt wie einen lästigen Fleck. Sie meldet sich zu Wort – immer und immer wieder.“ „Es gibt also ein Geheimnis in meiner Kindheit?“ fragte Fryda atemlos. Sie umklammerte nun ihrerseits die Hand ihrer Mutter. Würde das Mysterium nun seine Schleier lüften? Plötzlich bekam sie Angst vor der eigenen Courage. Vielleicht war es besser, manche Dinge nicht zu wissen... „Ja“, nickte die Mutter. „Es gibt ein Geheimnis, und es hätte für immer eines bleiben sollen. Ich ahnte ja nicht, daß die Träume dich so quälen würden.“ „Habe ich – etwas Böses getan?“ erkundigte sich Fryda stockend. Diese Frage interessierte sie jetzt mehr als alles andere. „Du, etwas Böses?“ Mutter schüttelte mit einem sanften Lächeln den Kopf. „Was hätte ein kleines Mädchen wie du 39
Schlimmes anrichten können? Nein, mein Schatz, das hast du nicht, niemals. Aber andere Menschen haben dir Böses angetan, und uns, deinem Vater und mir. Sie haben dich uns weggenommen.“ Fryda starrte ihre Mutter an, ohne zu verstehen. „Du wurdest entführt, mein Kind. Damals warst du gerade drei Jahre alt. Zwei Männer raubten dich vor unserem Haus. Wir ließen dich nur einem Moment im Garten beim Spielen allein, weil wir dich als braves Kind kannten, das nicht einfach davonrennt. Wir sahen keine Gefahr. Aber als wir zurückkamen, warst du spurlos verschwunden. Wir ahnten sofort, was passiert war.“ Fryda schloß die Augen und versuchte sich an ein Ereignis zu erinnern, das dreiundzwanzig Jahre in der Vergangenheit liegen mußte. Doch die Erinnerung an ihre Träume war zu stark und überlagerte alles übrige.
„Wie habt ihr mich wiederbekommen?“ wollte Fryda wissen. „Einen Tag nach deiner Entführung erhielten wir einen Brief mit einer Lösegeldforderung“, antwortete die Mutter und kaute nervös auf ihrer Unterlippe, als durchlebte sie in diesen Momenten das ganze Geschehen noch einmal. „Zwei Millionen Kronen wollten die Männer, viel mehr als wir besaßen.“ „Und ihr habt bezahlt?“ „Wie hätten wir dich sonst lebend zurückbekommen sollen? Es gab keinen anderen Ausweg. Wir nahmen Hypotheken auf das Haus auf, liehen uns Geld bei allen Banken und Verwandten, die bereit waren, uns etwas zu geben. Eine Woche nach dem Brief hatten wir die Summe zusammen und hinterlegten sie an dem Ort, den die Entführer uns vorgeschrieben hatten. Es war im Wald, etwa zehn Kilometer von hier entfernt.“ Fryda schluckte. „Und dann haben mich 40
die Männer freigelassen?“ Ihre Mutter zuckte die Schultern. „Ich glaube, sie hatten es vor. Sie wollten sich an die Vereinbarung halten. Aber bei der Geldübergabe hatte sich die Polizei an ihre Fersen geheftet, und sie traten so überstürzt die Flucht an, daß sie dich mitnahmen. Als Geisel vielleicht, oder weil sie fürchteten, du könntest dich im Wald verirren. Ich weiß es wirklich nicht.“ Vor Frydas geistigem Auge tauchte das kleine, dreijährige Mädchen auf, das sie damals gewesen war. Sie sah sich und die Entführer fliehen, tagelang, nächtelang, immer zwischen den dunklen Bäumen, bis sie völlig die Orientierung verloren. Manchmal war nur einer der Männer bei ihr, manchmal beide. Allmählich tauchten die Gesichtszüge der beiden in ihrer Erinnerung auf, undeutlich allerdings. „Wie ging es weiter?“ „Nach einigen Tagen hatte die Polizei
sie eingekreist. Vater und ich wurden beinahe wahnsinnig vor Angst, denn wir fürchteten, du könntest bei der Sache verletzt werden. Keine Nacht taten wir ein Auge zu. Wir stellten uns vor, wie dich eine Kugel aus den Revolvern der Polizisten traf, die für die Entführer bestimmt war. Aber die Sache ging glimpflich über die Bühne. Nach vielen bangen Stunden waren die Männer überwältigt, und du wurdest uns in einem Polizeiwagen zurückgebracht. Du warst sehr durcheinander, aber körperlich vollkommen unversehrt. Ich kann nicht beschreiben, wie glücklich wir waren, dich wiederzuhaben.“ „Die Entführer hatten mich gut behandelt?“ „Diese Männer waren keine Teufel. Wir erfuhren später, daß es sich um zwei arme Kreaturen handelte, die sich haushoch verschuldet hatten und keinen anderen Ausweg mehr sahen. Ich glaube, 41
sie hätten dir niemals etwas antun können. Du kamst sogar mit einem Armvoll Spielsachen zurück, die sie dir besorgt hatten.“ Fryda schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich verstehe nicht, warum ich solche Alpträume habe, wenn es mir so gut erging.“ „Vergiß nicht, daß du insgesamt fast zwei Wochen in ihrer Gewalt warst, getrennt von deinen Eltern, von der vertrauten Umgebung. So etwas hinterläßt seine Spuren.“ „Warum habt ihr mich nicht aufgeklärt?“ „Ein Kinderpsychologe riet uns, die seelischen Wunden verheilen zu lassen. Bis zur Pubertät sei das Erlebnis für dich vergessen, behauptete er. Vater und ich fanden, daß es auch für uns leichter sein würde, einfach so zu tun, als sei alles nur ein böser Traum gewesen.“ Fryda goß sich noch ein Glas Fruchtsaft
ein. Sie brauchte etwas Zeit, um das Gehörte verarbeiten zu können. An einigen Punkten war nun endlich Klarheit in ihre Träume gekommen. Aber es gab Bereiche, die Mutters Erzählung nicht abdeckte. Was hatte es mit der Kiste auf sich, und wer oder was verbarg sich hinter dem unheimlichen Schatten? „Du mußt jetzt entsetzlich verwirrt sein“, meinte Mutter behutsam. „Und mußt dir betrogen vorkommen. Deine Eltern haben dich jahrelang angelogen.“ „Mach dir deswegen keine Sorgen“, entgegnete Fryda. „Mich beschäftigt eher, daß noch ein paar Fragen offengeblieben sind.“ Die Mutter nickte. „Das ist wohl ganz normal bei einem Verbrechen. Man erfährt nie die ganze Wahrheit.“ Fryda nippte nachdenklich an ihrem Glas. „Spielte bei der Sache eine Kiste eine Rolle?“ Mutter schüttelte resolut den Kopf. 42
„Nein, es gab keine Kiste. Das Lösegeld hatten wir in eine Plastiktüte gewickelt. Aber es gab eine Zeit nach der Entführung, da sprachst du im Schlaf oft von einer Kiste. Der Psychologe wußte nichts damit anzufangen, sagte, es habe keine Bedeutung. Nach ein paar Monaten hörte es auf. Dein Schlaf beruhigte sich, die Alpträume wurden seltener, und von einer Kiste war nie mehr die Rede. Ich höre es heute zum ersten Mal wieder von dir." Sie sah ihrer Tochter tief in die Augen, wie um zu beweisen, daß sie die Wahrheit sprach. Fryda entschied sich, ihr Glauben zu schenken. Unruhig erhob sie sich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei fiel ihr Blick auf die Wanduhr. Sieben Uhr. Der Morgen fing eben erst an, und sie fühlte sich bereits wieder reif fürs Bett. Es war wohl das beste, wenn sie sich noch eine Weile hinlegte. Auch falls sie nicht einschlief – sie mußte etwas
Ruhe finden, ein wenig nachdenken. Da fiel ihr etwas ein, das sie ihre Mutter noch fragen mußte, bevor sie sie entließ. „Was ist eigentlich mit dem Lösegeld passiert? Ihr habt es doch zurückbekommen, oder?“ „Leider nein“, versetzte Mutter mit traurigem Blick. „Es verschwand wohl auf der Flucht. Die Männer müssen es entweder versteckt oder verloren haben. Bei ihrer Festnahme jedenfalls trugen sie es nicht mehr bei sich. Die Polizei durchsuchte tagelang das Waldgebiet, aber die Flucht erstreckte sich über einen Raum von vielen Hundert Quadratkilometern. Das Geld tauchte nie mehr auf.“ „Ihr habt also zwei Millionen Kronen verloren“, faßte Fryda zusammen. „Dann müssen wir heute noch Schulden haben.“ „Dein Vater hat wie ein Irrer gearbeitet, um die Hypotheken zurückzuzahlen. Ich glaube, er hat sich zu Tode geschunden. 43
Heute gehört das Haus wieder uns.“ „Mein Gott“, murmelte Fryda schockiert. Daß ihr Vater stets zu viel gearbeitet hatte und dies unweigerlich zu seinem frühen Ableben geführt hatte, war ihr bekannt. Doch bislang hatte sie stets seine Arbeitsbesessenheit dafür verantwortlich gemacht. Schuld an alldem war also ihre Entführung gewesen... Wie in Trance verließ sie den Raum und stieg die Treppen zu ihrem eigenen Zimmer empor. In der letzten Stunde hatte sie so viel Erschreckendes gehört, daß sie sich automatisch zu fragen begann, ob nicht ihr bisheriges glückliches Leben nur ein Traum gewesen war, aus dem sie nun allmählich erwachte. Als sie auf ihrem Bett lag und an die weiße Zimmerdecke starrte, fühlte sie sich wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Die Welt
war nicht so friedlich und harmonisch, wie man sie immer glauben machte. Nun, da sie die Wahrheit kannte, mußte sie entsprechend handeln, die Rätsel um ihre Träume aus eigener Kraft lösen. Schritt für Schritt versuchte sie ihr Wissen zu ordnen. Wie würde Gunnar in seiner Eigenschaft als Hobby-Detektiv die Sache angehen? Da war zum einen Dr. Sörenson. Anstatt offen und ehrlich zu ihr zu sein, schien er sie mit seinem Gerede über Symbole und die Natur der Seele hinzuhalten, während er sie nach den räumlichen Gegebenheiten ihrer Träume ausfragte. Natürlich, das konnte nur eines bedeuten! Er suchte etwas in ihrer Erinnerung, und wenn es dort etwas gab, das zu suchen wert war, dann konnte es sich dabei nur um das Lösegeld handeln! Was wiederum hieß, daß er ihre Vergangenheit kannte. Er wußte von ihrer Entführung, wußte, daß das Geld 44
irgendwo im Wald verborgen sein mußte. Und die einzige Möglichkeit, es aufzuspüren, war, unter Hypnose ihre Erinnerung nach Spuren zu durchforsten. Sie war zugegen gewesen, als die Verbrecher das Geld versteckten, und irgendwo in ihrem Unbewußten mußte dieses Wissen noch vorhanden sein. Anstatt Hunderte von Quadratkilometern Waldboden umzupflügen, reichte es, in ihren Träumen zu wühlen. Mit anderen Worten: Schatz und Schatzkarte waren gewissermaßen beide vergraben, aber die Schatzkarte zu finden, erschien ihm einfacher. Unter dem Vorwand, sie unter Hypnose von ihren Alpträumen zu befreien, wollte er sich einen genauen Lageplan des Lösegelds verschaffen. Fryda mußte sich wohl oder übel eingestehen, daß Sörensons Plan beinahe perfekt war. So sehr sie den Doktor dafür haßte, sie konnte nicht umhin, seine Genialität anzuerkennen. Er stahl nichts
als ein Stück ihrer Erinnerung, doch es konnte ihm zwei Millionen Kronen einbringen. Aber etwas war dazwischengekommen. Die Kiste und der Schatten. Sörenson war ebensowenig darauf vorbereitet gewesen wie sie selbst... Nachdem sie fast eine Stunde lang im Kreis herum dachte, was beides zu bedeuten haben mochte, fiel sie in einen leichten, unruhigen Schlaf. Zuerst träumte sie wirres, undeutliches Zeug von Mutter und Vater, dann allmählich begann der Schattenmann wieder aufzutauchen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und zwang sich, nicht vor ihm zu fliehen. Langsam ging sie von sich aus auf ihn zu. „Ich muß mit Ihnen reden!“ rief sie. Er wich ihr nicht aus, sondern wartete geduldig, bis sie ihn erreicht hatte. „Bitte!“ flehte sie. „Ich muß wissen, wer Sie sind und was...“ In diesem Moment zerriß etwas ihren 45
Traum. Der Schatten flog davon wie ein trockenes Blatt im Wind. Das Telefon! Neben ihrem Bett klingelte das Telefon.
(Fortsetzung in Kamingespenster „Das Geschöpf im Waldboden“)
3:
46