DIE JAGD AUF DEN
DÄMONENPRINZEN
06/3139 · Jäger im Weltall 06/3141 · Die Mordmaschine 06/3143 · Der Dämonenprinz 06/4...
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DIE JAGD AUF DEN
DÄMONENPRINZEN
06/3139 · Jäger im Weltall 06/3141 · Die Mordmaschine 06/3143 · Der Dämonenprinz 06/4013 · Das Gesicht 06/4014 · Das Buch der Träume Kirth Gersen ist an der letzten Station seines Rache zugs angelangt. Vier der fünf »Dämonenprinzen«, die seine Eltern und seine Freunde bei dem brutalen Überfall auf Mount Pleasant, seine Heimatstadt auf dem Planeten Providence, getötet hatten, hat er bei seinen Streifzügen durch die Galaxis aufgespürt, ge stellt und getötet. Ein Name steht noch auf seiner Li ste: Howard Alan Treesong. Doch Treesong ist der gerissenste und kaltblütigste von allen. Kirth Gersens einziger Anhaltspunkt ist ein Foto, das ihm zufällig in die Hände geraten ist: das Foto einer Party, bei der alle Gäste den Tod fanden – durch Treesong, dessen Gesicht mit auf dem Foto sein muß. Gersen versucht ihn durch das fingierte Preisausschreiben einer Zeitschrift zu identifizieren. Er macht den Hinterwäldlerplaneten ausfindig, auf dem Treesong geboren wurde – und dort fällt ihm das »Buch der Träume« in die Hände, das Tagebuch des jungen Treesong. In dem Moment weiß Gersen, daß er einen unwi derstehlichen Köder in Händen hat. Aber er muß am eigenen Leib erfahren, wie skrupellos und gefährlich sein Gegner ist.
Von Jack Vance erschienen in der Reihe
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY:
Start ins Unendliche (06/3111)
Jäger im Weltall (06/3139)
Die Mordmaschine (06/3141)
Der Dämonenprinz (06/3143)
Emphyrio (06/3261)
Der Mann ohne Gesicht (06/3448)
Der Kampf um Durdane (06/3463)
Die Asutra (06/3480)
Trullion: Alastor 2262 (06/3563)
Marune: Alastor 933 (06/3580)
Der graue Prinz (06/3652)
Showboot-Welt (06/3724)
Maske: Thaery (06/3742)
Wyst: Alastor 1716 (06/3816)
Die sterbende Erde (06/3977)
Das Gesicht (06/4013)
Das Buch der Träume (06/4014)
Die Welten des Magnus Ridolph (06/4053)
Außerdem erschien:
»Die letzte Festung« in:
Science Fiction Jahresband 1981,
hrsg. von Wolfgang Jeschke (06/3790)
JACK VANCE
DAS BUCH
DER TRÄUME
5. Band des Dämonenprinzen-Zyklus
Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH Nr. 06/4014
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe
THE BOOK OF DREAMS
Deutsche Übersetzung von Lore Strassl
Das Umschlagbild schuf Michael Pfeiffer
Die Illustrationen im Text zeichnete Hubert Schweizer
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1981 by Jack Vance
Copyright © 1983 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Printed in Germany 1983
Satz: Schaber, Wels/Österreich
Druck und Bindung: Elsnerdruck GmbH, Berlin
ISBN 3-453-30953-7
1
Aus dem Buch der Träume: Hebe den Blick, Fremder, zu jenem allen trotzenden Schutzwall, an dem der Zahn der Zeit nur wenig nagte. Auf ihm stehen die Paladine: ernst, streng, gesetzt. Jeder ist einer, einer ist alle. In der Mitte findet man Immir, den Begnadeten. Ihm sind gewisse Kunstgriffe zu eigen. Er ist Meister der Intri ge, der Schliche und schrecklicher Überraschungen. Er ist Immir, der Unberechenbare – er besteht auf keiner be stimmten Farbe. Zu Immirs Rechten steht Jeha Rais, groß und majestä tisch. Seine Farbe ist schwarz. Er ist scharfsinnig und sieht als erster zukünftige Ereignisse voraus, deren Möglichkei ten er berechnet. Dann streckt er deutend den Finger aus, um die anderen Paladine darauf hinzuweisen. Er kennt keine Zweifel und ist für Entschlossenheit. Manchmal nennt man ihn auch »Jeha, den Unerbittlichen«. Er trägt eine geschmeidige hautenge schwarze Gewandung, ein schwarzes Cape und einen schwarzen Helm, von dessen Kamm eine kristallene Kugel in silberner Fassung blitzt. Zu Immirs Linken steht Loris Hohenger, dessen Farbe das Rot frischen Blutes ist. Er ist der Wilde, Impulsive, Tollkühne, der immer nur unwillig das Schlachtfeld ver läßt – doch von allen Paladinen kann er der großzügigste sein. Ihn zieht es zu hellhäutigen blonden Frauen, die ih rem Stolz keinen Gefallen tun, wenn sie ihn abweisen. Be schweren sie sich oder schelten, ist seine Vergeltung noch schlimmer. Verläßt er schließlich das Bett, schweigen ihre Stimmen, und sie blicken ihm sehnsüchtig nach.
Grün Mewness steht neben Loris Hohenger. Meister in jeder Fertigkeit ist Mewness. Er vermag eine Brücke zu schlagen oder einen Turm zu schleifen. Er ist geduldig und listig. Ist eine Straße links und rechts gesperrt, findet er ei nen Weg dazwischen. Sein Erinnerungsvermögen ist bei spiellos. Nie vergißt er ein Gesicht oder einen Namen, und er kennt sich auf Hunderten von Welten aus. Reiche ver weichlichte Männer beneiden ihn um seinen Einfallsreich tum und sein Geschick in allem, was er anfaßt. Gelb Spangleway ist durchtrieben, verblüffend und miß achtet alles Herkömmliche. Er ist grotesk und possierlich und ein großartiger Schauspieler. Alle Paladine, außer ei nem, lachen über seine Späße, und wenn die richtige Zeit dafür ist, tanzen sie alle, außer einem, zu seiner Musik, denn Spangleway kann selbst einem an seinem Ringel schwanz baumelnden Schweinchen liebliche Töne entlok ken, falls ihm danach ist. Doch sollte niemand versuchen, sich einen Spaß mit ihm zu machen, denn Spangleways Klinge ist sogar noch schärfer als sein Verstand. Ruft der Feind in der Schlacht aus: »Wo ist die Memme Spangle way?« oder »Aha! Der Feigling Spangleway ergreift die Flucht!« wird er ihn aus einer anderen Richtung oder in erschreckender Gestalt auf dem Hals haben. Neben Jeha Rais steht der blaue, sanfte Rhune Fader. Im Kampf jedoch ist er unerschrocken und der erste, der einem arg bedrängten Kameraden zur Seite steht. Er ist auch der erste, der zur Barmherzigkeit und Nachsicht rät. Er ist groß und schlank, hat ein offenes Gesicht und ist so präch tig wie ein Sonnenaufgang im Sommer. Er ist talentiert in allen Künsten und sieht die Schönheit auch im verborge nen, vor allem aber die scheuer Maiden, die er mit Zauber bedenkt. Doch im Kriegsrat hat die Stimme Rhune Faders kein Gewicht.
Neben dem blauen Rhune, aber ein wenig abseits, steht der gespenstisch weiße Eia Panice, dessen Haar, Augen, lange Zähne und Haut weiß sind. Er trägt einen Helm aus weißem Metall, unter dem nur wenig seines Gesichts sichtbar ist: eine schmale Hakennase, ein hartes Kinn und funkelnde Augen. Im Rat spricht er meistens nur »ja« oder »nein«, doch gewöhnlich gibt gerade sein Wort den Aus schlag, denn es hat den Anschein, als wäre das Schicksal ihm nicht verborgen. Als einzigen unter den Paladinen läßt die Possenreißerei Spangleways ihn unberührt. Wahr lich, wenn er sein grimmiges Lächeln zeigt, ist es höchste Zeit für alle, die dazu imstande sind, von dannen zu eilen und nicht zurückzuschauen, wollen sie sich nicht Eia Pa nices durchbohrendem Blick aussetzen. So geh nun deines Weges, Fremder! Wenn du schließlich zu Hause ankommst, wo immer es auch auf den glitzernden Welten sein mag, bring Kunde von jenen, die brütend auf dem Schutzwall stehen. Aus Die Dämonenprinzen von Caril Carphen: ... wir wenden unsere Aufmerksamkeit nun Howard Alan Treesong, seinen gerissenen Unternehmen und der unvor stellbaren Virtuosität seines organisatorischen Talents zu. Lassen Sie mich gleich von Anfang an in aller Offenheit meine Verlegenheit, ja Verwirrung gestehen: ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Er ist möglicherweise von allen der größte Schurke (wenn bei dem beispiellosen Wesen der Dämonenprinzen überhaupt Vergleiche gezogen werden können). Fest steht, daß sein Charakter von den krassesten Gegensätzen geprägt ist. Seine Grausamkeit ist mutwillig und abscheulich, so daß seine gelegentliche Großmut sich scharf hervorhebt. Nach der peinlichen Methodik seiner
Programme zu schließen, müßte man ihn für leiden schaftslos und absolut logisch halten. Doch aus anderer Perspektive gesehen, ist er sprunghaft und frivol wie ein Zirkusclown. Er ist ein Rätsel und seine Ziele sind nicht einmal zu ahnen. Howard Alan Treesong! Ein magischer Name, der Furcht und Staunen hervorruft! Was, genau, ist von ihm bekannt? Die wenigen Tatsachen sind verschleiert durch den glitzernden Staub von Gerüchten. Man spricht von ihm als dem einsamsten Mensch seiner Zeit, während an dere ihn als den Herrscher aller Kriminellen sehen. Rein äußerlich ist er nicht auffällig: er ist groß, dünn, hat wohl geschnittene, wenn auch hagere Züge und auffallend klare blaßgraue Augen. Sein Ausdruck wird oft als drollig, und sein Benehmen als lebhaft beschrieben. Er kleidet sich ge wöhnlich unauffällig. Einig scheint man sich nur darin zu sein, daß er gern schöne Frauen um sich hat, von denen je doch keine durch eine zeitweilige Verbindung mit ihm ge winnt – weder finanziell, noch geistig. Ganz im Gegenteil, die Liebesaffären, von denen etwas bekannt wurde, endeten alle tragisch, wenn nicht schlimmer. Die Ereignisse, die Howard Alan Treesong schließlich in die Enge trieben, verliefen sehr verwirrend – als Folge des Dunkels, in das Treesong sich hüllte. Nach den wenigen Beschreibungen, die es von ihm gab, sollte Treesong etwas größer als der Durchschnitt und seine Augen von ungewöhnlichem Glanz sein. Sein Benehmen wurde als freundlich bis herablassend mit untergründiger Härte bezeichnet. Fast jede Be schreibung erwähnte eine »seltsame Aura unter drückter Energie« oder »unberechenbare Extrava ganz«. Bei einer Beschreibung fiel sogar das Wort
»wahnsinnig«. Treesongs Besessenheit, sich in mysteriöses Dunkel zu hüllen, führte so weit, daß es nirgendwo weder of fizielle noch private Fotografien gab. Es war unbe kannt, woher er stammte; von seinem Privatleben wußte man nicht mehr als vom hintersten Winkel des Universums; regelmäßig verschwand er jahrelang aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Treesongs Operationsfeld umfaßte die Ökumene, selten verließ er sie. Man wußte, daß er sich einmal als »König der Übermenschen«* bezeichnete. Gersen nahm Howard Alan Treesongs Spur haupt sächlich durch abstrakte Erwägungen auf – Schluß folgerungen klassischer Art –, indem er von Informa tionen ausging, die er von Walter Koedelin bekam, einem früheren Kollegen, der jetzt hoher Beamter der IPKG** war. Die beiden trafen sich am Segelma cherstrand, nördlich von Avente, der Hauptstadt von Alphanor, der ersten der rigelschen Welten. Chancys Teehaus am Segelmacherstrand blickte von seiner Er hebung auf tausende kleiner Häuser, Läden, Restau rants, Bars und einen nicht sehr großen Platz hinun ter, auf dem sich Menschen dutzenderlei Arten ein * Diese Behauptung ist in einem Interview erläutert, in dem Treesong sagte: »Menschen bedienen sich der Tiere zu ihrem Nutzen und denken sich durchaus nichts dabei. Die sogenannten ›Verbrecher‹ bedienen sich der Durch schnittsmenschen auf ähnliche Weise mit der gleichen Einstellung. Infolgedes sen ist die richtige Bezeichnung für Kriminelle ›Übermenschen‹.« ** Interwelt Polizei Koordinierungs Gesellschaft: ursprünglich eine kleine Dienststelle, die Informationen für die verschiedenen Polizeiorganisa tionen der Ökumene zusammentrug und kollationierte. Sie erweiterte sich allmählich, in dem sie verschiedene zusätzliche Aufgabenbereiche mitübernahm und Sonderaufträge durchführte, und wurde schließlich zur größten und wirkungsvollsten Polizeimacht des von Menschen be siedelten Universums.
Stelldichein gaben. Jede Baulichkeit war in einer an deren Farbe getüncht: blaßblau, bleichgrün, lavendel, rosa, weiß, gelb, und jede warf im blendenden Rigel schein einen scharfen schwarzen Schatten. Tief unten war ein schmaler Sichelausschnitt des Strandes zu se hen und dahinter das weiche Dunkelblau des Thau maturgischen Meeres, das am Horizont von weißen Kumuluswolken aufgelockert wurde. An einem Tisch im Schatten üppiger tiefgrüner Mematis saßen Kirth Gersen und Walter Koedelin, ein Mann von untersetzterer Statur als Gersen, mit sandfarbenem Haar, rosiger Haut, und einem Gesicht mit breitem Kinn und Stupsnase. Wie Gersen trug er Raumfahrerblau und -grau, eine Bekleidung, wie sie gern von jenen gewählt wurde, die hofften, nicht auf zufallen. Die beiden Männer tranken Rumpunsch und unterhielten sich über Howard Alan Treesong. In Gersens Gesellschaft sprach Koedelin ohne Zu rückhaltung. »Was führt er jetzt im Schild? Das ist die große Frage! Vor zehn Jahren bezeichnete er sich selbst als ›König der Übermenschen‹.« »Also soviel wie ›König der Diebe‹.« »Richtig. Er konzessionierte jegliche ungesetzliche Handlung vom Fernen Ende bis Tangers Old Socco. Einmal schlenderte Howard durch eine Gasse in Bugtown auf Arcturus IV, da versuchte ein kleiner Ganove sein Glück bei ihm. Howard fragte ihn: ›Bist du überhaupt bei der Organisation eingetragen?‹ Der Bursche verneinte es verblüfft. ›Dann wirst du nicht einen Cent von mir bekom men, außerdem werde ich dich melden!‹« Koedelin leerte seinen Krug und schaute zu dem dunklen Laubdach hoch, das mit hängenden rosa
Blüten durchwebt war. »Ideal für Wanzen. Ich frage mich, wer uns abhört.« »Chancy behauptet, niemand.« »So sicher kann man sich heutzutage nicht mehr sein. Aber ganz so allgegenwärtig ist die Organisati on hier nicht.« Gersen winkte dem Kellner zu. »Noch zwei vom gleichen... Also ist Treesong gar nicht mehr der König der Übermenschen?« »Wohl nicht. Aber schon vor längerer Zeit überließ er sogenannten ›Lords‹ bestimmte Sparten seines Aufgabenbereichs. Howard läßt sich nur hin und wieder sehen und überfliegt die Bücher.« »Wie großzügig von ihm! Also, was hat er jetzt vor?« Koedelin zögerte, überlegte kurz, dann breitete er fatalistisch eine Hand aus und beugte sich über den Tisch. »Nun, dir kann ich es ja sagen, aber wenn es sich herumspräche, könnten wir ganz schön in Verle genheit kommen. Wir wissen nicht einmal, ob es wirklich stimmt.« Koedelin schaute sich mißtrauisch um. »Sprich nicht darüber!« »Natürlich nicht!« »Die Administration der IPKG ist ziemlich locker, wie du weißt. Es gibt einen Verwaltungsrat und einen Vorsitzenden, der gegenwärtig Artur Sanchero ist. Vor fünf Jahren starb sein Privatsekretär an den Fol gen eines Unfalls. Ein guter Freund empfahl ihm als Nachfolger einen Mann namens Jethro Cope. Nach den üblichen Sicherheitsüberprüfungen wurde dieser Cope auch angestellt. Er erwies sich als ungemein tüchtig, tatsächlich so tüchtig, daß Sanchero selbst immer weniger zu tun hatte. Und da begann eine
Kette seltsamer Zufälle. Unter den Direktoren des Verwaltungsrats fing ein allmähliches Sterben an: durch Krankheiten, Unfälle, Morde und Selbstmorde. Sanchero, oder besser gesagt Jethro Cope, schlug neue Direktoren vor, die auch tatsächlich in die vakanten Ämter gewählt wurden. Immer war es Jethro Cope, der die Wahlen arrangierte und die Stimmzet tel zählte. Es gelang ihm, sieben Männer in den Ver waltungsrat der IPKG zu schleusen, und er brauchte nur noch weitere sechs, um die Stimmenmehrheit zu erlangen. Das wäre ihm sicher auch geglückt, wäre nicht einer der neuen Direktoren, der sich Bemus Carlisle nannte, von einem Agenten als Sean McMurtree aus Dublin in Irland auf der Erde erkannt worden, der als Erpresser großen Stils berüchtigt war. Um es kurz zu machen, McMurtree wurde ohne Aufsehen entfernt, doch zuvor erwähnte er noch ei nen Namen. Errätst du, welchen?« »Howard Alan Treesong.« »Stimmt! Man suchte sofort nach Jethro Cope, doch er war bereits verschwunden und ließ sich auch nie wieder sehen.« »Und was war mit den anderen sechs neuen Direktoren?« »Drei wurden getötet, einer verschwand, zwei sind noch im Verwaltungsrat. Es konnte ihnen nichts nachgewiesen werden, und sie schworen, nichts mit Treesong zu tun zu haben. Die anderen Direktoren wollen sie nicht abwählen.« »Wie edelmütig – oder korrupt – oder einge schüchtert!« »Die Wahl ist dir überlassen.« »König der Übermenschen und Chef der IPKG –
beides gleichzeitig – zu sein, ist wie ein schöner Traum, egal, auf welcher Seite man steht.« »Allerdings. Treesong ist ein verschlagener Teufel, ich möchte ihn nach wie vor gern in Stücke zerlegen.« »Was ist mit Fotografien?« »Es läßt sich keine einzige auftreiben.« »Also wissen wir immer noch nicht, wie er aus sieht.« Koedelin schnaubte verärgert. »Die, die mit Cope zu tun hatten, erinnern sich an lange blonde Locken, einen blonden Krausbart und Schnurrbart, und freundliches Wesen.« »Und seither?« »Nichts. Er hat sich wie in Luft aufgelöst. Ach, ich vergaß zu erwähnen, daß vor drei Jahren eine Anwei sung an die Bibliothek erging, alles Material über Howard Alan Treesong aufgrund von Ungenauigkeit und Irreführung zu löschen. Das wurde auch getan. Jetzt gibt es kaum noch etwas über ihn.« »Alle erfolgreichen Kriminellen kehren irgendwann an ihren Heimatort zurück.* Irgendwo muß Treesong geboren und aufgewachsen sein. Dutzende von Personen müssen ihn gut kennen. Vielleicht ist inzwischen doch etwas Neues über ihn eingegan gen.« Koedelin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blickte grübelnd vor sich hin. Schließlich sagte er: »Ich werde alles noch einmal durchsehen. Wo bist du abgestiegen?« »Im Miramonte.« * Gersen bezog sich hier auf Michael Diazs Buch Die Mentalität von Krimi nellen.
»Wenn dir die Zeit paßt, komm ich morgen Mittag vorbei.« Am nächsten Tag, pünktlich um die Mittagsstunde, setzte Koedelin sich zu Gersen im Aussichtsraum des Hotels Miramonte an Aventes Promenade. »Wie ich befürchtet hatte«, sagte Koedelin, »gibt es keinerlei Hinweis auf seine Abstammung. Er wurde zum erstenmal als junger Mann auf der Erde bekannt durch Banküberfälle, Betrug, Erpressung, Morde und die Organisierung eines wilden Streiks. Er ist sehr ge schickt mit allem, was er in die Hand nimmt. Trotz dem ist es erstaunlich, daß so wenig über ihn als Mensch bekannt ist.« Kurz darauf verabschiedete sich Koedelin aus Zeitmangel wieder. Gersen machte sich zu einem Spaziergang auf der Promenade auf, die fünfzehn Kilometer weit parallel zu Aventes herrlich weißem Sandstrand verlief. Was Treesong Gersen angetan hatte, lag nun gute zwanzig Jahre zurück, als der Dämonenprinz gerade seinen vollen kriminellen Status erworben hatte.* Seit dieser Zeit widmete er sich Unternehmungen immer größeren Stiles... Ein flüchtiger Gedanke durchzuckte Gersen. Er blieb stehen und lehnte sich an die Brü stung. * In Mount Pleasant, einer ländlichen Siedlung auf der Welt Providence, war ein Konsortium von fünf berüchtigten Verbrechern – den soge nannten Dämonenprinzen – mit einem Raumschiff gelandet. Sie nahmen die gesamte Bevölkerung gefangen, um sie als Sklaven zu verkaufen. Wer Widerstand leistete, wurde an Ort und Stelle getötet. Kirth Gersen und seinem Großvater gelang die Flucht. Danach gab es in Gersens Le ben kaum mehr etwas anderes als die Vorbereitungen für eine Vergel tung und die Rache und Vergeltung selbst.
Vor drei Jahren hatte Howard Treesong sich ir gendwohin zurückgezogen. Dieser Mann, der ver sucht hatte, gleichzeitig König der Diebe und Vorsit zender der IPKG zu sein, war ganz sicher auch jetzt nicht untätig. Zweifellos brütete er etwas Neues aus, das noch monumentaler sein sollte als alles Bisherige. Gersen ließ sich einige Möglichkeiten durch den Kopf gehen: Grausamkeiten unvorstellbaren Ausma ßes, beispiellose Greuel, Schmach für die gesamte Menschheit. Doch keine von Gersens Vorstellungen erschienen ihm ausführbar oder auch nur der Mühe wert. Ganz offenbar fehlt mir, dachte Gersen, Tree songs unübertroffene bizarre Phantasie. Er kehrte zum Hotel zurück und rief Koedelin an. »Was unser Gespräch betrifft, glaube ich, daß sich in Kürze etwas Dramatisches ereignen wird. Gibt es möglicherweise schon irgendwelche Anzeichen?« Koedelin wußte nichts Bestimmtes. »Meine Überle gungen beschäftigen sich seit einiger Zeit in der glei chen Richtung. Ich warte eigentlich nur darauf, daß die Bombe, sozusagen, platzt. Doch so angestrengt ich mich umhöre, begegnet mir nur absolute Stille...« Die drei kolonisierten weganischen Welten waren Aloysius, Boniface und Cuthbert. Während der ersten Bevölkerungsexplosion auf der Erde waren sie von religiösen Orden besiedelt worden, von denen einer fanatischer war als der andere. Im sechzehnten Jahr hundert des Raumzeitalters war immer noch ein Hauch des Sazerdotiums zu spüren, vor allem in den öffentlichen Gebäuden, die früher einmal Tempel gewesen und während des »Großen Rausches« ver weltlicht worden waren.
Pontefract auf Aloysius, eine kleine Stadt, die fast ständig in Dunst lag, war durch eine Laune des Schicksals zu einem bedeutenden Finanz- und Ver lagszentrum geworden. Im ältesten Stadtviertel um den St. Paidrigh-Platz stand der alte Bramvilleturm. Er war nun die Zentrale des Nachrichtenmagazins Cosmopolis, das mit seinen manchmal tiefsinnigen, oft dramatischen, hin und wieder auch gefühlvollen Beiträgen die intelligente Mittelklasse in der ganzen Ökumene ansprach. Durch die Manipulationen seines Finanzberaters, Jehan Addels, hatte Gersen die Aktienmehrheit von Cosmopolis und dadurch die Verfügungsgewalt er worben. Als Sonderberichterstatter Henry Lucas be nutzte er die Büros des Nachrichtenmagazins als sein Hauptquartier. In Pontefract angekommen begab er sich sofort zum Abendessen zu Jehan Addels in dessen herrli chem alten Landhaus in Ballyholt Woods, nördlich von Pontefract. Während des Essens erwähnte Gersen Howard Alan Treesong und das Dunkel, mit dem er sich persönlich umgab. Hörbar angespannt fragte Addels: »Sie sprechen doch natürlich nicht aus allgemeinem Interesse von ihm.« »Nun – nicht ganz. Treesong ist ein Schurke, ein Verbrecher mit ungeheuer weitreichendem Einfluß. Es wäre nicht von der Hand zu weisen, daß heute nacht in Ihrem Haus eingebrochen und Ihre Mem lings und Van Tasals gestohlen werden, ganz zu schweigen von Ihren Rhodositeppichen. Wertgegen stände dieser Qualität könnten sehr wohl direkt an Treesong gehen.«
Addels nickte düster. »Es ist eine ernste Angele genheit. Morgen werde ich vorsichtshalber eine Liste meiner Wertgegenstände an die IPKG schicken.« »Es kann auf keinen Fall schaden.« Addels bedachte Gersen mißtrauischen Blickes. »Ich hoffe, Sie haben kein persönliches Interesse an diesem Mann?« »Nun, vielleicht nicht in großem Maße.« Addels murmelte etwas Unfreundliches vor sich hin, dann sagte er betont: »Bitte verwickeln Sie mich auch nicht im entferntesten mit etwaigen Untersu chungen, die Sie möglicherweise anstellen wollen.« »Mein lieber Addels, Sie sind mein Berater, wie könnte ich da vermeiden, mich an Sie zu wenden?« »Mein Rat in diesem Fall ist eindeutig: lassen Sie die IPKG die Arbeit tun!« »Das ist ein ausgezeichneter Rat, und ich werde sie bei dieser Arbeit, so gut ich es kann, unterstützen, und natürlich weiß ich, daß Sie das gleiche tun wer den.« »Ja natürlich, natürlich«, murmelte Addels un glücklich. In der Bibliothek der Cosmopolis ging Gersen die Un terlagen nach Hinweisen auf Howard Alan Treesong durch. Sie waren zahlreich, ohne ihm jedoch etwas zu verraten, was er nicht schon gewußt hätte, und keiner deutete auf die Punkte hin, die ihn am meisten inter essierten: Treesongs Geburtsort und sein gegenwärti ger Aufenthalt. Treesongs Fotografie glänzte durch Abwesenheit. Am Ende eines enttäuschenden Tages, durchstö berte Gersen – eigentlich aus keinem anderen Grund
als reiner Hartnäckigkeit – auch noch einen Akten schrank mit dem Schild: VERSCHIEDENES – unsor tiert. Zwei Schubläden mit der Aufschrift ABLAGE und UNBRAUCHBAR fielen ihm ins Auge. Die AB LAGE-Schublade war leer, die andere enthielt u.a. ei ne Sechs-mal-sechs-Aufnahme von einem Bankett. Fünf Männer und zwei Frauen saßen, drei Männer standen ein Stück hinter ihnen. Auf das Bild hatte je mand gekritzelt: H. A. Treesong was here. Mit tauben Fingern und prickelnder Haut starrte Gersen auf die Fotografie. Die Kamera hatte einen Ausschnitt aus der Mitte eines runden Tisches aufge nommen, so daß niemand direkt in die Kamera schaute. Vielleicht war sich auch keiner bewußt ge wesen, daß diese Aufnahme überhaupt gemacht worden war. Vor jedem Gedeck stand ein merkwürdiger kleiner Semaphor* mit drei farbigen Fähnchen, und das erste Gericht war offenbar gerade serviert worden: drei braunpurpurne undefinierbare Dinge, etwa zehn Zentimeter hoch, in einer silbernen Schale. Von der gekritzelten Bemerkung am oberen Rand abgesehen, enthielt die Fotografie lediglich noch die aufgestempelte Ziffer 972 in der rechten unteren Ecke. Die Anwesenden waren unterschiedlichen Alters und von verschiedenen Rassen. Alle strahlten das Selbstbewußtsein hoher Positionen und großen Reichtums aus. Bedauerlicherweise waren die Namen auf den Platzkarten von der Kamera abgewandt. Gersen blickte von Gesicht zu Gesicht. Welcher war * Signalturm zur optischen Übermittlung von Informationen, wie er vor der Erfindung des Telegraphen auf der alten Erde üblich war.
wohl Howard Alan Treesong? Seine Beschreibung mochte in etwa auf vier der Männer zutreffen... Ein Bibliotheksangestellter – ein flotter junger Mann, ge kleidet in rosa-schwarz gestreiftem Hemd und brau ner Pluderhose nach der hiesigen Mode – kam heran. Der Blick, mit dem er Gersen bedachte, war respekt voll und freundlich, doch auch eine Spur spöttisch. In den Cosmopolis-Büros erachtete man Gersen als Mann von zweifelhafter Begabung. »Ah, Sie stöbern durch den Abfall, eh, Mr. Lucas?« »Oh, alles kann Öl fürs Getriebe sein«, antwortete Gersen. »Diese Fotografie, die Sie wegwerfen wollten – woher kommt sie?« »Oh, das Ding da? Wir erhielten das Foto vor ein paar Tagen von unserem Starport-Büro. Irgend so ei ne feine Gesellschaft bei ihrem alljährlichen Bankett oder was Ähnliches. Ist es brauchbar?« »Vermutlich nicht, aber es ist recht gut aufgenom men. Ich frage mich, wer H. A. Treesong wohl sein mag.« »Einer der lokalen Bonzen, und die Frauen sind bekannte Luxusschlampen. Das hier ist nichts für un sere Leser, das dürfen Sie mir glauben.« Aber Gersen ließ sich nicht so leicht abweisen. »Von unserem Starport-Büro, sagten Sie? Von wel chem? Es muß doch zumindest ein Dutzend geben!« »Von Starport auf New Concept, Marhab VI.« Wie der der kaum merkliche Spott oder etwas wie Her ablassung! Aber von den Cosmopolis-Leuten verstand keiner, wie Henry Lucas zu seinem Job gekommen war und noch weniger, wie er ihn behalten konnte. Doch Gersen interessierte die Meinung seiner Kolle gen nicht.
»Wie ist die Fotografie hierhergekommen?« erkun digte er sich. »Sie war in der letzten Post. Wenn Sie damit fertig sind, werfen Sie sie bitte in den Papierkorb.« Der Angestellte ging seiner Arbeit nach. Gersen nahm das Bild mit in sein winziges Büro und rief die Personalabteilung an. »Wer ist unser Mann in Star port auf New Concept?« »Starport ist eine Zonenhauptstelle, Mr. Lucas. Der Zonensuperintendent ist Ailett Mayneth.« Gersen studierte das Kursbuch und stellte fest, daß es keine Direktverbindungen zwischen Aloysius und New Concept gab. Mit Linienschiffen müßte er drei längere Aufenthalte an den Knotenpunkten auf sich nehmen und dreimal umsteigen. Gersen klappte das Kursbuch wieder zu und stellte es ins Regal zurück. Er fuhr zum Raumhafen und stieg in seinen Fantamikflitzer: eine recht leistungsfä hige Jacht mit kleinem Frachtraum und Unterbrin gungsmöglichkeit für vier Personen. Der Flitzer war ein wenig größer als seine Distis Pharaon und beque mer als sein Armintor Sternenschiff. Am Spätnachmittag des Tages, an dem er die Foto grafie entdeckte, verließ Gersen Aloysius, während die Wega kalt durch das Heckbullauge zu sehen war. Er gab dem Autopiloten die Koordinaten ein, und die Jacht schoß in Richtung Aries davon. Während der Reise studierte Gersen die Fotografie immer wieder eingehend und allmählich nahmen die Bankettgäste ein starres zweidimensionales Leben an. Jedes der Männergesichter fragte Gersen: »Bist du Howard Alan Treesong?«
Einige verneinten es entrüstet, andere schwiegen, und die restlichen blickten düster und herausfor dernd zurück, als wollten sie sagen: »Wer oder was ich bin, mußt du schon auf eigene Gefahr herausfin den!« Auf einen der Männer konzentrierte Gersen sich schließlich mit wachsender Faszination. Glän zendes kastanienfarbiges Haar umrahmte eine Den kerstirn, Muskelstränge verbanden die eingefallenen Wangen mit dem fleischlosen Kinn, die schmalen zarten Lippen waren wie in Erinnerung an einen mutwilligen Streich verzogen. Es war ein starkes Ge sicht, sensibel, aber nicht weich. Das Gesicht eines Mannes, der zu allem fähig war, fand Gersen. Voraus glühte Marhab und rechts von ihr drehte sich der Planet New Concept mit seinen drei Monden.
2
Aus Zivilisierte Vorstellungen und zivilisierte Welten von Michael Yeaton: Der Student, der sich mit der Entwicklung der neu besie delten Welten befaßt, wird auf einen seltsamen und ironi schen Umstand stoßen, der sich immer wieder findet, so daß er eher die Regel als die Ausnahme zu sein scheint. Die ideale Vorstellung und der Plan, nach dem jede neue Ge sellschaft geformt wird, bewirken nach einem bis jetzt noch nicht bestimmten Gesetz, ihren eigenen gegensätzlichen Anstoß, der im Lauf der Zeit den ursprünglichen Plan ver gessen läßt. Liegt es an der menschlichen Widersinnigkeit? Oder an der Bosheit des Geschicks? Wer vermag das schon zu sagen? Jedenfalls findet der Beweis sich überall. Neh men wir doch die Welt New Concept... Gersen fand Starport auf New Concept und landete auf dem Raumhafen. Eine stromlinienförmige Ein schienenbahn brachte ihn die acht Kilometer zur Stadt. Gersen hatte dadurch einen aufschlußreichen Blick auf das Hügelland New Concepts, das hier mit dichtem dunkelblauen Gras überwuchert war. In mittlerer Entfernung machte das Blau einem Weinrot Platz und dahinter begann ein tiefes Purpur. Etwa eineinhalb Kilometer von der Station entfernt machte die Bahn einen Bogen um eine Strecke moderner wei ßer Ruinen, die ursprünglich komplexe Bauten im neopaladianischen Stil, fast eine kleine Stadt, gewe sen waren. Nun waren die Säulen angeschlagen, ge borsten oder umgefallen. Das einst vornehme Säu
lengebälk war fleckig und rissig. Zuerst hielt Gersen diese Ruinen für unbewohnt, doch dann bemerkte er, wie sich da und dort etwas bewegte, und sah einen Augenblick später eine Schar langbeiniger, schmaler Tiere über einen großen Platz rennen. Die Ruinen blieben zurück, die Bahn fuhr in Star port ein und hielt am Bahnhof. An einem Auskunfts schalter erfuhr Gersen die Adresse des CosmopolisBüros – eine Suite in einem nur hundert Meter vom Bahnhof entfernten zehnstöckigen Turm – und machte sich zu Fuß auf den Weg. Starport schien sich durch nichts sonderlich her vorzuheben. Wären nicht das zitronengelbe Sonnen licht und der eigenartige Geruch der Luft gewesen*, hätte er genausogut in einem Vorort von Avente auf Alphanor sein können, oder in einem Dutzend ande rer quasimoderner Städte der Ökumene. Die Klei dung hier glich der von Avente und den Städten der Erde. Welch »neue Konzepte« ursprünglich auch immer beabsichtigt gewesen waren, ließ sich nicht mehr erkennen. Im Cosmopolis-Büro trat Gersen an einen Schalter, hinter dem ein älterer Mann mit scharfen, an einen Vogel erinnernden Zügen stand. Er hatte klare blaue Augen und glänzendes Silberhaar. Er war dünn, wirkte streng und hatte eine stramme Haltung von der seine Kleidung abstach. Sie bestand aus einem * Erfahrene Raumreisende werden sich schnell der Variationen einer atembaren Atmosphäre bewußt und unterscheiden zwischen Edelgasen, Sauerstoffschichten und komplexen organischen Geruchsstoffen, die ei nem bestimmten Planeten eigen sind. In der Luft von New Concept fiel Gersen ein nicht unangenehmer leicht modriger scharfer Duft auf, der offenbar von der dichten Grasdecke des Hügellands herrührte.
königsblauen Rollkragenpullover aus leichtem Ve lours, einer weichfallenden beigen Hose, und dunk len Wildlederschuhen. Knapp und förmlich fragte er: »Mein Herr, was kann ich für Sie tun?« »Ich bin Henry Lucas von der Zentrale in Ponte fract«, erklärte Gersen. »Ich möchte mich kurz mit Mr. Ailett Mayneth unterhalten.« »Der bin ich«, sagte der Mann und musterte Gersen von oben bis unten. »Henry Lucas? Ich besuchte die Zentrale, kann mich jedoch nicht entsinnen, Ihren Namen gehört zu haben.« »Auf der Gehaltsliste stehe ich als ›Sonderkorre spondent‹«, sagte Gersen, »tatsächlich aber behandelt man mich als Laufburschen. Ich bekomme meistens die Aufträge, die für andere zu stumpfsinnig sind oder Unbequemlichkeit versprechen.« »Ich verstehe«, brummte Mayneth. »Und was ist hier in Starport so stumpfsinnig oder unbequem?« Gersen holte die Fotografie hervor. Sofort verän derte sich Mayneths Miene. »Aha! Daher weht der Wind. Ich fragte mich schon, was sich tun würde. Sie sollen also die Untersuchung durchführen?« »So ist es.« »Hmmm. Nun, vielleicht können wir es uns be quemer machen. Wollen wir zu meinem Apartment hochfahren?« »Das überlasse ich völlig Ihnen.« Mayneth schritt Gersen voraus zum Aufzug, der sie bis zum obersten Geschoß brachte. Mayneth öff nete gleichmütig die Tür. Das Apartment war, wie Gersen auf den ersten Blick sah, das eines Connais seurs und wohlhabenden Sammlers. Wohin er auch schaute, waren wunderschöne Stücke der verschie
densten Epochen allen möglichen Ursprungs. Bei manchen war Gersen sich nicht ganz klar: das Paar glasierter Tonlampen in stumpfem Graubraun, stammte es vielleicht aus dem antiken Japan? Bei den Teppichen kannte er sich – dank einer Episode in sei ner früheren Laufbahn – besser aus. Er erkannte zwei Orientteppiche – der Marhabschein ließ ihre Farben sanft aufleuchten, einen Quli-Qun, einen Mersilin aus dem Adargebirge auf Copus, mehrere kleine Zigeu nerläufer, vermutlich aus dem Khajar-Gebiet auf Co pus. In einem Satinholzschränkchen standen eine Gruppe Myrmidenser Porzellanfigurinen hinter Glas und wertvolle alte Bücher in Pferde- und Schweinsle der gebunden. »Da ich während meiner Freizeit nichts Besseres zu tun habe«, sagte Mayneth und seine Stimme klang entschuldigend, »umgebe ich mich mit schönen Sammlerstücken... Ich glaube, ich kann recht gut feil schen, und es macht mir eigentlich nichts mehr Spaß, als mich in den ländlichen Basaren ferner kleiner Welten umzusehen. Das hier ist mein sogenanntes Arbeitszimmer. Die Bücher hier sind ausschließlich von der Erde – ein Sammelsurium, fürchte ich. Aber bitte, setzen Sie sich doch!« Mayneth berührte mit den Fingerspitzen einen Gong. Ein erstaunlich durchdringender Ton erklang. Ein Dienstmädchen eilte herbei – ein junges Ding von seltsamem Aussehen: dünn und geschmeidig wie ein Aal, mit buschigem weißen Kraushaar, schiefergrau en Augen in einem schmalen Gesicht, einem feinen spitzen Kinn und dünnem Lavendelmund. Sie trug einen kurzen weißen Kittel und bewegte sich merk würdig gleitend.
Ohne Verlegenheit beobachtete sie die beiden Männer aufmerksam. Gersen hatte keine Ahnung, von welcher Rasse sie abstammte, und wenn sie nicht schwachsinnig war, wie es den Eindruck erweckte, war sie auf jeden Fall äußerst ungewöhnlich. Mayneth zischte durch die Zähne, berührte die Handfläche seiner Linken und hob zwei Finger der Rechten. Das Mädchen verließ sofort das Zimmer rückwärts und kehrte fast unmittelbar darauf mit ei nem Tablett zurück, auf dem zwei Kelche und zwei bauchige Flaschen standen. Mayneth nahm ihr das Tablett ab, und schon verschwand das Mädchen mit flatterndem Kittel. Mayneth schenkte ein. »Unser ganz ausgezeichnetes Schwalbenschwanzbier«, er klärte er. Er reichte Gersen einen Kelch und griff nach der Fotografie, die Gersen auf den Tisch gelegt hatte. »Eine sehr mysteriöse Angelegenheit«, murmelte er. Er setzte sich und nippte am Bier. »Eine Frau kam in mein Büro. Ich erkundigte mich nach ihrem Begehr. Sie sagte, sie habe wertvolle Information, die sie für eine größere Summe zu verkaufen bereit sei. Ich ließ sie in mein Büro treten und musterte sie gründlich. Sie war etwa dreißig und wirkte eine Spur herunter gekommen. Trotzdem hielt ich sie für anständig, aber auch einem Nervenzusammenbruch nahe. Sie war nicht von hier. Sie erklärte, sie sei geradewegs vom Raumhafen zu mir gekommen, weil sie unbedingt Geld brauchte. Erneut musterte ich sie eingehend, aber ich hätte nicht sagen können, woher sie stamm te.« Nachdenklich nahm Mayneth einen Schluck Bier. »Zweierlei Kleinigkeiten fielen mir auf, obgleich...« Er zuckte die Achseln, als wären die Kleinigkeiten es nicht wert, darüber zu sprechen. »Sie kam auf ihr
Angebot zu sprechen. Sie sagte, sie hätte etwas, das nicht nur so gut wie einmalig, sondern auch von gro ßem Wert sei. Das waren natürlich nicht genau ihre Worte – sie war so nervös, daß sie kaum zu verstehen war. Ich versuchte, sie ein wenig aufzuheitern – nicht sehr geschickt, befürchte ich. ›Sie bringen mir eine Karte zu einem verborgenen Schatz‹, sagte ich lä chelnd. Das verärgerte sie so, daß sie ihre Nervosität fast vergaß. ›Sind Sie überhaupt interessiert?‹ fragte sie scharf. ›Ich warne Sie, ich will einen fairen Preis!‹ fuhr sie fort. Ich sagte ihr, daß ich verständlicherweise zuerst einmal sehen mußte, was sie anzubieten hatte, ehe wir verhandeln konnten. Sofort wurde sie vorsichtig. Na, das war vielleicht etwas! Schließlich sagte ich: ›Madam, zeigen Sie mir jetzt, was Sie verkaufen wol len. Wenn nicht, muß ich Sie bitten zu gehen, auch meine Zeit ist kostbar.‹ Flüsternd fragte sie: ›Haben Sie den Namen Howard Alan Treesong schon gehört?‹ ›Ja, natürlich‹, antwortete ich. ›Er ist der König der Übermenschen.‹ ›Sagen Sie das nicht! Obgleich es stimmt... Ich habe ein Bild von ihm. Wieviel sind Sie bereit dafür zu be zahlen?‹ ›Zeigen Sie mir zuerst das Bild!‹ ›Nein, erst müssen Sie mir ein gutes Angebot ma chen!‹ Ich fürchte, ich wurde ein wenig aufbrausend. ›Ich kaufe doch nicht die Katze im Sack. Erkennt man ihn denn wenigstens darauf?‹
›Und ob man ihn darauf erkennt! Er ist dabei, einen Massenmord zu begehen!‹ Ich schwieg und schließlich brachte sie das Bild zum Vorschein.« Mayneth deutete auf die Fotografie. »Ich studierte sie eingehend, ehe ich sagte: ›Es ist tat sächlich ein ausgezeichnetes Bild, aber welcher dar auf ist Treesong?‹ ›Das weiß ich leider nicht.‹ ›Woher wollen Sie dann wissen, daß er auch wirk lich auf dem Bild ist?‹ ›Jemand, der es wußte, sagte es mir.‹ ›Vielleicht hat er sich nur einen Scherz erlaubt.‹ ›Wenn es ein Scherz war, wurde er dafür umge bracht.‹ ›Wirklich?‹ ›Ja, wirklich!‹ ›Dürfte ich Ihren Namen wissen?‹ ›Ist er wichtig? Meinen richtigen werden Sie jeden falls von mir nicht erfahren!‹ ›Wo wurde das Bild aufgenommen?‹ ›Wenn ich Ihnen das verriete, brächte ich andere in Gefahr.‹ ›Madam, überlegen Sie doch! Was würden Sie an meiner Stelle tun? Sie zeigen mir eine Fotografie und behaupten, daß eine der Personen darauf Treesong ist, aber Sie können mir nicht sagen, welche.‹ ›Das müßte Ihnen eigentlich beweisen, daß ich ehr lich bin! Ich könnte doch ohne weiteres auf irgend jemanden deuten – auf diesen Mann, beispielsweise.‹ ›Stimmt. Ich muß gestehen, auch mir erscheint die ser Mann als der wahrscheinlichste. Doch vergessen wir das und nehmen wir Ihre Glaubwürdigkeit als gegeben hin. Woher wollen Sie wissen, daß das Bild
authentisch ist? Jemand wurde getötet, sagen Sie. Wer? Warum? Ohne diese Details hat das Bild keinen praktischen Wert.‹ Sie überlegte kurz. ›Können Sie mir garantieren, daß Sie die Sache vertraulich behandeln?‹ ›Selbstverständlich.‹ ›Einer von Treesongs Assistenten ist Ervin Umps. Sein Bruder war Kellner in dem Restaurant, in dem das Bild aufgenommen wurde – und er war mein Mann. Er unterhielt sich mit Ervin und erfuhr, daß Treesong bei diesem Bankett anwesend war. Die Fo tografie wurde automatisch für das Gästebuch des Restaurants gemacht. Mein Mann nahm sich einen Abzug davon und gab ihn mir zum Aufbewahren. Er erwähnte lediglich, daß Treesong auf dem Bild sei und daß er kurz darauf alle der anderen Anwesenden ermordete. Die Fotografie, sagte er, sei ungemein wertvoll. In der gleichen Nacht hat man ihn getötet. Mir war sofort klar, daß es mir genauso ergehen würde, ob ich nun das Bild hergab oder nicht, also zog ich es vor, sofort zu verschwinden. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.‹ ›Und wo ist das Restaurant?‹ ›Das sage ich nicht. Es ist nicht notwendig, daß Sie es wissen.‹ ›Ich verstehe Sie nicht. Sie erzählten mir doch alles andere.‹ ›Ich habe meine Gründe.‹ Dabei blieb es. Wir feilschten lange um den Preis. Ich erklärte ihr, daß ich das Bild auf Treu und Glau ben nähme, aber daß es möglicherweise nicht ein Butterbrot wert sei. Da pflichtete sie mir bei, aber sie war eisern. Ich fragte: ›Wieviel erwarten Sie denn?‹
›Ich verlange zehntausend SVE!‹ ›Kommt überhaupt nicht in Frage!‹ ›Was sind Sie bereit, dafür zu geben?‹ Ich sagte ihr, ich würde das Risiko eingehen und hundert SVE Firmengeld auf den Tisch legen und fünfzig aus meiner eigenen Brieftasche dazu. Sie stand auf, um zu gehen. Ich konnte uns doch das Bild nicht entgehen lassen, also bot ich ihr weitere hundert und garantierte ihr, daß sie noch zweihundert SVE bekäme, wenn Cosmopolis das Bild brächte. Sie gab nach. ›Das Geld, bitte‹, sagte sie. ›Ich muß sofort weg. Das Bild ist gefährlich.‹ Ich bezahlte sie. Sie rannte aus dem Büro, und ich habe sie seither nicht mehr gesehen.« Mayneth schenkte Schwalben schwanzbier nach. »Was geschah als nächstes?« Mayneth räusperte sich. »Ich studierte das Bild mit größter Sorgfalt. Leider verriet es mir nicht allzuviel. Die Kleidung der Anwesenden ist unterschiedlich und läßt darauf schließen, daß die Personen nicht aus der gleichen Gegend sind. Sie hat nur eines gemeinsam: sie ist offenbar sommerlich, das bedeutet ein warmes Klima. Diese kleinen Semaphoren sind mir ein Rätsel. Auch die Speise in den Schalen kenne ich nicht.« »Sie deuteten zwei Einzelheiten in bezug auf die Frau an.« »Stimmt. Ihre Kleidung war Dutzendware, aber sie sprach mit einem Akzent. Zwischen den Sternen hört man Tausende von Akzenten und Dialekten – ich be schäftige mich als Hobby damit, ich habe ziemlich gute Ohren. Ich paßte genau auf, aber ich konnte ihn leider mit keinem bestimmten Ort in Verbindung bringen.«
»Ihren Namen erwähnte sie nicht?« Mayneth zupfte an seinem Kinn. »Ihr Schwager ist Ervin Umps. Vielleicht nennt sie sich ebenfalls Umps.« »Vielleicht, aber nicht unbedingt wahrscheinlich.« »So sehe ich es auch. Jedenfalls war meine Neugier geweckt, und ich beschloß, mich am Raumhafen zu erkundigen, obgleich die Spur inzwischen drei Tage alt war. Ich überprüfte die Passagierlisten, stellte Fra gen. Nun, um es kurz zu machen, ich fand keine ›Umps‹. Für die Reise nannte sie sich offenbar Lamar Medrano. Sie kam am Virgo-Umsteighafen, das ist auf Spica VI, an Bord. Ich zog das Kursbuch zu Rat. Dutzend verschiedene Linienschiffe kreuzen sich dort. Ich bezweifle, daß ihre Anreise vom VirgoUmsteighafen zurückverfolgt werden kann.« »Wann hat sie New Concept verlassen?« »Möglicherweise hat sie es nicht verlassen.« »Wieso?« »Sie reservierte einen Platz auf der Samarthi Ton, ein Linienschiff der Grünen Stern-Gesellschaft, und zwar etwa drei Stunden, nachdem sie bei mir gewe sen war. Ich hörte mich in den Hotels um und stellte fest, daß sie zweimal im Hotel Diomedes übernachtet hatte. Sie erinnerten sich dort gut an sie, weil sie ver schwand, ohne die Rechnung zu bezahlen.« »Merkwürdig!« »Mehr als das! Ich stellte weitere Erkundigungen im Diomedes an und erfuhr, daß sie dort die Be kanntschaft eines Sportgerätevertreters von Krokinol gemacht hat, eines gewissen Emmaus Schahar. Eines Morgens bezahlte Schahar seine Rechnung und reiste ab. Lamar Medrano war am vergangenen Abend
ausgegangen und nicht zurückgekehrt.« Gersen nickte düster. »Was ist mit diesem Scha har?« »Ein finster wirkender Bursche mit guten Manieren und viel Geld.« »Er ist nicht mehr in Starport?« »Er flog mit der Gacy Wunder ab. Sie legt unter an derem auch am Virgo-Umsteighafen an.« »Interessant.« »Allerdings. Ich weiß nur nicht, ob ich jetzt beru higt sein soll oder nicht.« »Sie fragen sich, weshalb Mr. Schahar sie nicht auf suchte?« »Richtig.« »Vielleicht ist Schahar ein harmloser Geschäfts mann, der sich mit Lamar Medrano nur beschäftigte, weil er an einem kleinen Zeitvertreib hier in Space port interessiert war.« »Könnte natürlich sein.« »Angenommen, Schahar ist kein harmloser Ver treter, wäre es möglich, daß Lamar Medrano Angst bekam, die Flucht ergriff und sich noch irgendwo auf New Concept aufhält.« »Möglich.« »Oder Lamar starb, ehe sie verriet, was sie mit dem Bild gemacht hat. Vielleicht erklärte sie Schahar über zeugend, daß sie es mit der Post versandt hat.« »Es wäre natürlich nicht von der Hand zu weisen, daß sie zwei Abzüge hatte. Schahar erachtete seine Mission als beendet und ist nun glücklich und zufrie den.« Gersen lachte. »Wenn Howard Treesong in abseh barer Zeit die Cosmopolis liest, wird Schahar nicht
mehr lange glücklich und zufrieden sein.« Er nahm Papier und Stift aus seiner Tasche, schrieb ein paar Worte, legte fünf 100-SVE-Scheine darauf und schob alles Mayneth zu. »Für Ihre Ausgaben und eine Grati fikation für Ihren konstruktiven persönlichen Einsatz. Bitte quittieren Sie es mir, daß ich es von der Kasse zurückerstattet bekomme.« »O vielen Dank! Das ist wirklich großzügig von Ih nen. Darf ich Sie zum Mittagessen einladen?« »Ich nehme gern an.« Wieder tupfte Mayneth ganz leicht auf den Gong. Das weißhaarige Mädchen erschien. Mayneth schnalzte mit der Zunge und machte ein paar Zeichen mit den Fingern. Mit weichen Bewegungen glitt das Mädchen davon, mit Bier kam sie zurück und beob achtete, wie Mayneth die Kelche füllte. Fasziniert starrte sie auf den Schaum. Ihre lavendelfarbige Zun ge schnellte aufgeregt vor und zurück. »Sie ist ganz verrückt nach Bier«, erklärte Mayneth. »Aber ich gestatte ihr keines, da es sie zu sehr sexuell erregt. Jedenfalls wird sie den Schaum aus unseren leeren Kelchen lecken.« Wagemutig streckte sie einen Finger aus, schöpfte damit ein wenig des Schaums von Gersens Kelch und steckte ihn in den Mund. Mayneth schlug ihr ganz leicht auf die Hand. Das Mädchen sprang zurück wie ein verspieltes Kätzchen. Sie fauchte Mayneth an. Er fauchte zurück und deutete. Das Mädchen verließ das Zimmer. An der Tür bückte sie sich und strich ein paar Randfransen des Läufers glatt. Gersen bemerkte, daß sie unter dem weißen Kittel nackt war. Mayneth seufzte und nahm einen tiefen Schluck. »Ich werde New Concept bald verlassen. Ich kam ur
sprünglich als Sammler hierher. Die ersten Siedler schufen viele schöne Sachen: handilluminierte Bü cher, Grotesken, Musikinstrumente – der Gong, bei spielsweise, er erklingt bei der leisesten Berührung. Die besten sollen sogar erklingen, noch ehe man sie berührt. Einige wurden exportiert, aber die wirklich guten in Höhlen versteckt. Mindestens fünfzehnhun dert Kilometer Höhlengrund durchforschte ich. Mei ne Hoffnung, eines dieser Meisterstücke zu finden, ließ mich sogar meine Klaustrophobie überwinden.« Gersen lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte hinaus auf das sanfte Hügelland. Die Sonne stand im Zenit. Über eine niedrige Kuppe in mittlerer Entfernung rannte eine Schar Tiere, auf langen Beinen springend und hopsend. Im Schatten eines Dickichts hielten sie an und begannen grünes Riedgras zu fres sen. »Diese Welt scheint mir nicht sonderlich gut ge nutzt zu werden«, bemerkte Gersen. »Ich habe noch kein einziges bestelltes Feld oder sonstige Zeichen von Landwirtschaft gesehen.« »Versucht wurde es«, versicherte ihm Mayneth. »Aber die Feeks zerstören die Keimlinge, ehe sie richtig wachsen können. Es ist unmöglich, sie abzu halten, außer mit Gift – das freilich nicht erlaubt ist. Nicht gegen Feeks.« Er lachte. »Mir fielen klassische Ruinen in der Nähe des Raumhafens auf. Waren sie ein Beispiel des ›neuen Konzepts‹?« »Die ursprünglichen Bauwerke waren das Ge schenk eines exzentrischen Philanthropen. Das ei gentliche ›neue Konzept‹ befaßte sich mit Vegetaris mus und maßvoller Meditation. Fünfzig Jahre lang
lebten die Siedler in dem großen Tempel der Organi schen Einigkeit. Sie ernährten sich von Alfalfaspros sen, Grünkohl und einigen der hiesigen Pflanzen. Die menschliche Form ist großartig anpassungsfähig. Nun, die Siedler paßten sich allzu gut an, und dort sind sie...« – Mayneth deutete auf das Rudel langbei niger Tiere, die unter dem Dickicht weideten – »... und genießen ihr Mittagessen... Ah, wir sollten uns vielleicht unserem zuwenden.« Er führte Gersen zum Eßzimmer, wo das weißhaa rige Mädchen wie gebannt auf den Tisch blickte. Plötzlich kam Gersen die Erleuchtung. »Sie ist eine der Hiesigen?« Mayneth nickte. »Sie lassen ihre Babies manchmal in den Wiesen liegen. Reine Vergeßlichkeit vor lauter Meditation, nehme ich an. Hin und wieder bringt je mand sie in die Stadt und erzieht sie mit mehr oder weniger Erfolg. Wenn man sie noch ganz klein be kommt, lernen sie aufrecht zu gehen und die Toilette zu benutzen. Tiptoe hier ist eine der Klügeren. Sie kann Bier servieren, Kissen aufschütteln, und be nimmt sich im großen und ganzen auch recht ma nierlich.« »Es ist faszinierend, sie zu beobachten«, sagte Ger sen. »Ist sie... ah... zutraulich?« »Nun...« – er lachte – »man versuchte, sie zutrau lich zu machen, doch gewöhnlich ohne viel Erfolg«, antwortete Mayneth. »Möchten Sie sich selbst verge wissern? Berühren Sie sie!« »Wo?« »Nun, an der Schulter als erstes.« Gersen näherte sich dem Mädchen, das mit einer wiegenden Bewegung zurückwich und heftig mit den
großen grauen Augen blinzelte. Er streckte eine Hand aus. Sie stieß ein beängstigendes Zischen aus und sprang mit offenem Mund zurück, daß ihre scharfen Zähne zu sehen waren, und hatte die Hände zu Klau en gekrümmt. Gersen zog sich grinsend zurück. »Ich sehe, was Sie meinen. Sie weiß genau, was sie nicht will.« »Oh. Einige der Jungs hier machen sich einen Sport daraus. Sie benutzen als Köder eine besondere Art von Karamelbonbons, auf die die Feeks scharf sind. Während sie sie kauen, können sie nicht beißen, und in der Zeit schaffen sie es manchmal... Ah, hier ist un ser Essen. Sie wird gleich weggehen, denn sie erträgt höchstens den Anblick von Salat, den sie selbst auch ißt – und im Höchstfall gedünstete Karotten. Ja, das ist die Kehrseite des Vegetarismus.«
3
Aus Life, Band 1, von Unspiek, Baron Bodissey: ... oft denke ich über das Wörtchen »Sitte« nach, meines Erachtens das unnützeste und verwirrendste Wort über haupt. Es gibt keine unveränderliche Sitte, oder eine Sitte, die über allem anderen steht, nein, es gibt viele Sitten. Jede be stimmt über die Art und Weise der optimalen Wechselwir kung innerhalb eines Gesellschaftssystems. Der namhafte Entomologe Fabre, der eine Gottesanbete rin beim Verschlingen ihres kopulierenden Männchens be obachtete, rief: »Welch abscheuliche Sitte!« Der Durchschnittsmensch mag sich im Laufe eines ein zigen Tages gezwungen sehen, nach einem halben Dutzend verschiedener Sitten zu handeln. Sein Benehmen, das zu einem Zeitpunkt das einzige richtige ist, mag zu einem an deren, nach einer anderen Sitte, als schändlich oder obszön angesehen werden. Der Mann, der beispielsweise Großzügigkeit von einer Bank erwartet, wirksame Flexibilität von einer Regierung, oder geistige Aufgeschlossenheit von einer religiösen Insti tution, wird enttäuscht werden. In jedem Fall ist das, was dieser Mann erwartet, einfach unvorstellbar. Genausogut könnte sich der bedauernswerte Narr Liebe bei einer Got tesanbeterin erhoffen. Gersen kehrte nach Aloysius zurück und landete auf dem Raumhafen Dunes, ein paar Kilometer südlich von Pontefract, an einem purpurgrauen Spätnach mittag. Der Nebel, der von der Stundenglasbucht
hereintrieb, verhüllte die Raumhafengebäude fast völlig. Den Kopf geduckt schritt Gersen über einen Plankenweg aus verwittertem Seeholz zur Station. Er nahm die U-Bahn in die Stadt und von dort ein Taxi zum Landhaus Jehan Addels, seinem Finanzbe rater und seine rechte Hand in geschäftlichen Dingen, in Ballyholt Woods. Addels empfing ihn mit der üblichen Miene säuer licher Ablehnung, die – wie Gersen inzwischen glaubte – nur seine Wertschätzung, ja möglicherweise sogar Zuneigung verhüllen sollte – obwohl das viel leicht etwas zu viel von Addels erwartet sein mochte, dessen Ansichten über die Menschen und das Uni versum überhaupt durch einen lebenslangen miß trauischen Zynismus gezeichnet waren. Das hatte auch auf Addels Äußeres abgefärbt. Er hatte ein ha geres Gesicht mit leicht gelblichem Teint, eine hohe schmale Stirn, eine lange spitze Nase. Sein dünnes Haar war verwaschen hellbraun, seine Augen waren blaßblau. Gersen begab sich als erstes in das Zimmer, das Addels ihm für seine seltenen Besuche zur Verfügung gestellt hatte, und zog sich um. Er aß mit Addels und seiner vielköpfigen Familie in einem vornehmen Eß zimmer an einer Tafel mit silbernen Kandelabern. Das Besteck war antikes Silber, und das Speiseservice echtes altes Wedgwood. Nach dem Dinner setzten die beiden Männer sich in Addels mit Sampang getäfeltes Arbeitszimmer vor den offenen Kamin und ließen sich Kaffee aus einer silbernen Kanne eingießen. Zu Addels Verblüffung brachte Gersen die Foto grafie zum Vorschein. »Ich hatte gehofft, sie hätten
das hinter sich«, brummte er. »Nicht ganz«, antwortete Gersen. »Was halten Sie davon?« Addels täuschte vor, ihn nicht zu verstehen. »Wo von?« »Nun, daß wir Treesong identifizieren und heraus finden, wo er sein Hauptquartier hat.« »Und dann?« »Führen wir ihn der strafenden Gerechtigkeit zu.« »Pah! Und dann wird vielleicht wieder jemand an einem Haken einen Kilometer hoch in der Luft auf gehängt – so wie es dem bedauernswerten Newton Flickery erging.« »Ja, das war nicht schön. Hoffen wir auf das Beste.« »Eben! Gerade deshalb hoffe ich, daß Sie die Finger von dieser Sache lassen. Lassen Sie mich das Foto ins Feuer werfen!« Gersen achtete nicht auf ihn, sondern studierte die Fotografie zum hundertstenmal. »Welcher ist Tree song? Wie können wir ihn identifizieren?« Addels sagte gereizt: »Er ist einer von zehn Perso nen. Die anderen müssen ihn kennen, oder zumindest einander kennen. Treesong kann durch Elimination identifiziert werden.« »Zuerst müssen wir die anderen identifizieren.« »Na und? Jeder muß viele Freunde oder Bekannte haben. Aber unterhalten wir uns lieber über etwas Angenehmeres.« Gersen schlenderte durch die krummen alten Straßen von Pontefract, saß auf schiefen Plätzen, die mit Buchsbaum und Goldlack bepflanzt waren. Er spa zierte durch altersmodrige Gassen. Er nahm mehrere
Mahlzeiten in einem Aussichtslokal ein, das auf ver rottenden schwarzen Stelzenbeinen in die Stunden glasbucht hinausragte. Von Addels sah er wenig außer beim gepflegten Dinner, das Addels für das Grundelement zivilisier ten Lebens erachtete. Addels weigerte sich mit Gersen über dessen Hauptinteresse zu sprechen, und Gersen hatte keine Lust sich mit ihm über profitbringende Geschäfte zu unterhalten, mit denen Addels Gersens Vermögen vergrößerte. Am vierten Tag entschloß Gersen sich zu etwas, das die Wirkung seines eigentlichen Werkzeugs ver stärken würde. Seit mehreren Jahren zog die Ge schäftsleitung von Cosmopolis eine Schwesterzeit schrift mit dem Namen Sein! in Betracht. Viel der Vorarbeiten waren bereits durchgeführt. Das neue Journal würde, was Produktion und Vertrieb anbe traf, Cosmopolis angeschlossen sein, sollte aber, was seinen Inhalt anbelangte, eine aufgeschlossenere, we niger gesetzte Leserschaft ansprechen. Indem er Inhaber mehrerer Gesellschaften war, die größere Bündel Cosmopolis-Aktien erstanden hatten, gehörte ihm Cosmopolis uneingeschränkt, und so be stimmte er, daß Sein! sofort ins Leben gerufen würde. Schon seit langem vorbereitetes Material kam in Druck, und Sein! schoß durch den Cosmopolis-Vertrieb bis in die hintersten Winkel der Ökumene. Um die Einschlagkraft auf dem Markt zu erhöhen, war die erste Nummer kostenlos. Sie enthielt auch ein Preisausschreiben, das zweifellos die Aufmerksam keit aller Leser auf sich ziehen würde. Ein Bild auf der Titelseite stellte zehn Personen bei einem Bankett dar. Die Überschrift lautete:
WER SIND DIE ABGEBILDETEN?
100000 SVE FÜR DIE RICHTIGE EINSENDUNG
Auf der ersten Innenseite waren die Bedingungen erläutert. Nur die ersten drei Einsendungen, die alle zehn der Abgebildeten richtig nannten, würden Prei se bekommen. War unter den Einsendungen keine, die alle zehn richtig nannte, würden die drei einen Preis gewinnen, die die meisten Gesichter erkannten. Sechs zusätzliche Bestimmungen sicherten jenen Prei se zu, der der erste war oder die, die unter den ersten waren, wenn weniger als alle Gesichter richtig identi fiziert worden waren. Die Einsendungen sollten an folgende Adresse geschickt werden: Sein!, Corrib Platz 9–11, Pontefract, Aloysius, Wega VI. Sie würden von Mitarbeitern der neuen Zeitschrift überprüft werden. Wo immer Zeitschriften verkauft wurden, fiel Sein! sofort ins Auge, um so mehr, als in Riesenlettern FREIEXEMPLAR auf die Titelseite gedruckt war. In den einsamen Schlupfwinkeln der gefrorenen Salztundren von Irta, unter den Limonenbäumen von Duptis Major, an Haltestellen der Bergbahnen im Mi dorgebirge, an Kiosken auf den Boulevards von Paris und Oakland, auf Alphanor, Chrysanthe, Olliphane und Krokinole und jeder anderen Welt der RigelUnion: Sein! In Raumhäfen, Frisiersalons, Haftan stalten, Krankenhäusern, Klöstern, Bordells, Baula gern: Sein! Millionen Augen überflogen die ihnen fremden Gesichter gleichmütig. Aber viele studierten das Bild eingehend, ja fasziniert und schrieben an die Preisausschreiben-Redaktion von Sein! Vor allem
zwei Personen, Lichtjahre im Raum voneinander ge trennt, betrachteten die Fotografie nicht ohne Schock. Die eine saß stirnrunzelnd am Fenster, während sie über die Bedeutung dieses Preisausschreibens nach dachte. Die zweite schrieb – zwischendurch rauh auflachend – einen Brief an die PreisausschreibenRedaktion. Gersen beschloß in die Stadt zu ziehen, um nicht zu weit zur Sein!-Redaktion zu haben. Addels empfahl ihm das Tintenwischer Hotel. »Es liegt ganz in der Nähe Ihres Büros und ist das beste in der Stadt – es ist wirklich sehr angesehen.« Sein Blick wanderte nach denklich über Gersens Kleidung. »Um ehrlich zu sein...« »Was wollten Sie sagen?« »Oh, nichts. Man wird sich im Tintenwischer sehr um Sie bemühen. Der Gast ist dort König. Ich werde gleich anrufen und Sie anmelden. Sie nehmen sehr selten neue Gäste ohne Empfehlung auf.« Die Fassade des Tintenwischer Hotels, sechs Stock werke hoch aus kunstvoll verziertem braunen Sand stein und Schmiedeeisen, mit einem flämischen Man sardendach aus grünen Kupferplatten, war dem Old Tara-Platz zugewandt. Ein unauffälliges Portal führte zu einem Foyer. Von dort kam man in die Empfangs halle, zu deren Linken sich der Aufenthaltsraum und zur Rechten der Speisesaal befanden. Gersen trug sich am Empfangstisch aus gemeißeltem braunen Marmor ein, der von Säulenbeinen aus poliertem schwarzen Gabbro getragen wurde. Der Empfangschef trug den offiziellen Vormittagsanzug längst vergangener Zeit,
einen Cut-away – wie lange es schon her war, daß dieses Kleidungsstück in der besten Gesellschaft in Mode war, wußte Gersen nicht sofort zu würdigen. Tatsächlich war am Stil dieses Cuts seit der Eröffnung des Hotels vor elfhundert Jahren, nicht soviel wie ein Knopfloch verändert worden. Im Tintenwischer und in Pontefract überhaupt wich die Tradition nicht so leicht dem Neuen – wenn überhaupt! Gersen wartete, während der Empfangschef sich mit gedämpfter Stimme an den Chefportier wandte. Beide bedachten Gersen mit unauffälligen Blicken. Danach wurde Gersen in seine Suite geführt. Der Chefportier ging voraus, ein Page trug Gersens Ta sche, ein zweiter Page ein samtüberzogenes Kästchen. An der Tür öffnete der Chefportier das Kästchen, holte ein nach Lavendel duftendes Damasttuch her aus, mit dem er polierend über den Türknauf fuhr, ehe er ihn mit Daumen und Zeigefinger drehte. Die Tür schwang auf. Gersen trat in eine Suite mit hohen Räumen, die mit allem Komfort, ja schon fast Luxus, ausgestattet waren. Die Pagen rückten eifrig ein paar Möbelstücke zu recht und strichen ebenfalls mit nach Lavendel duf tenden Poliertüchern darüber, dann zogen sie sich so schnell und unauffällig zurück, als wären sie mit den Schatten verschmolzen. Der Chefportier sagte: »Mein Herr, der Kammerdiener wird sofort hier sein und Ihnen zur Verfügung stehen. Das Wasser für Ihr Bad ist bereits eingelassen.« Er verbeugte sich und machte sich daran, das Zimmer zu verlassen. »Einen Moment!« hielt Gersen ihn zurück. »Gibt es keinen Schlüssel für die Tür?« Der Chefportier lächelte liebenswürdig. »Mein
Herr, Sie haben im Tintenwischer keine unliebsame Störung zu befürchten.« »Vermutlich nicht. Aber wie sähe es aus, wenn ich beispielsweise Juwelier wäre, der wertvollen Schmuck bei sich führt, an dem ein Dieb interessiert ist? Er brauchte doch nur meine Tür zu öffnen und sich meine Pretiosen anzueignen.« Immer noch liebenswürdig lächelnd, schüttelte der Chefportier den Kopf. »Mein Herr, etwas so Schreck liches könnte hier nie passieren. Es würde ganz ein fach nicht geduldet werden. Ihre Wertsachen sind hier absolut sicher.« »Ich trage keine Wertsachen bei mir«, sagte Gersen. »Ich wies nur auf die Möglichkeit hin.« »Das Unvorstellbare, mein Herr, ist selten mög lich.« »Sie haben mich völlig beruhigt«, erklärte Gersen. »Ich danke Ihnen.« »Ich habe zu danken, mein Herr.« Er wich zurück, als Gersen die Hand ausstreckte. »Wir werden hier alle zufriedenstellend bezahlt. Wir ziehen es vor, kei ne Trinkgelder anzunehmen.« Er verneigte sich knapp und verließ das Zimmer. Gersen badete in der in den Boden eingelassenen Wanne, die wie die Platte des Empfangstischs aus braunem Marmor war. Seine Reisetasche war inzwi schen ausgepackt und ihr Inhalt säuberlich in der unteren Lade eines sehr alten Kleiderschranks ver staut worden. Der angekündigte Kammerdiener hatte offenbar seine Kleidung für unpassend erachtet und neue bereitgelegt: eine einfarbige dunkelbraune Hose, ein lavendel-weiß gestreiftes Hemd, eine Krawatte aus weißem Grobleinen, eine knielange Jacke aus
schwarzem Köper, eng an den Schultern und um die Hüften ausgestellt. Resigniert, aber mit amüsiertem Lächeln kleidete sich Gersen, wie man es von ihm erwartete. Jehan Addels zumindest würde sich freuen, ihn so zu se hen. Er stieg hinunter zum Foyer und durchquerte es zum Haupteingang. Der Chefportier eilte würdigen Schrittes herbei um ihn kurz aufzuhalten. »Einen Moment, bitte, mein Herr! Ich hole Ihnen Ihren Cha peau claque.« Er brachte einen hohen schwarzen Samthut mit breiter gerollter Krempe, einem dunkel grünen Band und einem kleinen Büschel steifer schwarzer Borsten. Gersen blickte entgeistert auf den Hut und wäre schnell weitergeeilt, hätte sich nicht der Portier zwischen Gersen und die Tür gestellt. »Sie werden feststellen, daß es heute etwas kühl ist, mein Herr. Es ist uns eine Ehre, Ihnen mit der passenden Kleidung behilflich sein zu können.« »Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen«, mur melte Gersen. »Vielen Dank, mein Herr. Gestatten Sie mir, den Hut zurechtzurücken. Ah ja, so... Ihre Nachmittags kleidung wird mit dem zweiten Gongschlag bereit gelegt sein. Es ist ein feuchter Nebel mit vereinzelten Schauern am Spätnachmittag zu erwarten.« Gersen blieb vor einem Spiegel stehen. Wer war dieser gesetzte Angehörige der vornehmen Gesell schaft des alten Pontefracts, der da zurückstarrte? In seinem ganzen Leben hatte er nie eine täuschendere Verkleidung getragen. Gersen wanderte durch die verschlungenen Stra ßen unter hohen schmalen Häuserfassaden, über die
zahlreichen kleinen Plätze mit ihren Rabatten aus Goldlack, Stiefmütterchen, hiesigen Bulrastien und St. Olafs Zehen. Hin und wieder teilte der Nebel sich, und ein Wegastrahl glitzerte auf dem nassen Pflaster und ließ die Farben der Blumenbeete aufleuchten. Von einer öffentlichen Telefonzelle rief Gersen Jehan Addels an und bat ihn, zu einem ihm gelegenen Zeit punkt ins Sein!-Büro zu kommen. »Das ließe sich in etwa einer Stunde machen«, er klärte Addels. »Gut. Ich werde dort sein.« Gersen bog in den Corrib-Platz ein, der im Grunde genommen eine kurze, aber etwas breitere Straße als sonst üblich war. Sie war mit poliertem Granit gepfla stert, und die einzelnen Steine exakt aneinanderge fügt. Das war eine Bußarbeit von Estebanitermönchen gewesen. Der Corrib-Platz befand sich im ältesten Teil der Pontefracter Altstadt. Das ehemalige Estebaniterklo ster an der einen Seite war zu Geschäftsräumen um funktioniert worden. Die Gebäude gegenüber aus al tersdunklem Mace- und Gantharholz, das schwarze Eisenklammern zusammenhielten, waren hoch und schmal und bei einigen ragten in den höheren Stock werken Erker über die Straße. Da er noch Zeit bis zu seiner Verabredung mit Ad dels hatte, spazierte Gersen an der Häuserfront ent lang und betrachtete die Schaufenster der Läden, die hier nur ausgefallene und besonders teure Sachen an boten: ungewöhnliche Backwaren und importierte Süßigkeiten, seltene Edelsteine, Perlen von den ein heimischen Walen, Kristall von toten Sternen, Hand schuhe, Krawatten, Gamaschen, Taschentücher, Par
füme, Liebestränke, zauberkräftiges Duhamelöl, Ra ritäten, Kuriositäten, Portfolios alter Künstler: Giotto und Gostwane, William Snyder und William Blake, Mucha, Dulac, Lindsay, Rackham, Nielsen, Dürer, Doré, David Russell. Zehn Minuten lang schaute Ger sen zwei Puppen beim Schachspiel zu. Es waren Harlekin und Kolumbine aus der Commedia dell'arte. Beide hatten bereits mehrere Figuren genommen. Je der machte seinen Zug nach reiflicher Überlegung, wie es aussah. Nahm einer eine Figur, regte der ande re sich mit heftigen Gesten auf. Harlekin machte ei nen Zug und erklärte mit krächzender Stimme: »Schachmatt!« Daraufhin schrie Kolumbine wie in tiefster Seelenqual auf. Sie schlug sich auf die Stirn und kippte rückwärts mit dem Stuhl. Einen Augen blick später erhob sie sich wieder. Die beiden stellten die Figuren erneut auf und begannen eine neue Par tie... Gersen betrat den Laden, kaufte die Schachspieler puppen und ließ sie ins Tintenwischer liefern. Es war in seinem Leben nur selten vorgekommen, daß er sich Spielereien erstand. Er schlenderte den Corrib-Platz weiter, bis er ge genüber der Sein!-Redaktion war. Am Schaufenster eines Uhrengeschäfts mit nur ausgefallenen Sachen blieb er stehen und betrachtete einen Zeitmesser, der scheinbar nur aus wolkenähnlichen Schleiern und Nebelschwaden mit farbigen Punkten bestand, die die Zeit angaben. Interessant, dachte Gersen, aber unpraktisch... Jehan Addels bog in den Corrib-Platz ein und näherte sich mit exakten Schritten. Er war ein paar Minuten zu früh. Neben Gersen hielt er an, um tief Luft zu holen und die Sein!-Büros von außen an
zusehen. Nach einem gleichgültigen Blick auf Gersen ignorierte er ihn und blickte weiter hinüber zur Sein! Redaktion. Gersen erkundigte sich amüsiert: »Warten Sie auf jemanden?« Addels wandte sich ihm sichtlich verblüfft zu. »Mein lieber Junge, ich erkannte Sie nicht!« Gersen lächelte kühl. »Das Hotel legte mir diesen Staat zurecht. Die Hotelleitung ist offenbar der An sicht, daß meine übliche Aufmachung nicht vornehm genug für ihr Etablissement ist.« Addels erklärte betont: »Ich will nicht sagen, daß Kleider Leute machen, aber auf jeden Fall beurteilen die Leute einen nach seiner Kleidung. Ein Herr trägt vornehme, seinem Status gemäße Kleidung ob er es nun gern tut oder nicht, denn Status ist schließlich der Schlüsselfaktor bei zwischenmenschlichen Bezie hungen.« »Nun, zumindest verleiht dieser Staat mir eine ausgezeichnete Verkleidung.« Mit leicht aufgeregter Stimme fragte Addels schnell: »Weshalb sollten Sie eine Verkleidung brau chen?« »Wir – Sie und ich – haben es mit einem beachtli chen Mann zu tun. Er ist ein skrupelloser Mörder, doch gleichzeitig ein Muster an Vornehmheit, das durchaus nicht fehl am Platz im Tintenwischer wäre.« Addels blickte düster drein. »Sie erwarten ihn doch nicht gar hier?« »Ich weiß nicht, was ich erwarte. Wir veröffent lichten sein Bild, obwohl er vor nichts zurückge scheut ist, es nie an die Öffentlichkeit geraten zu las sen.«
»Bitte, benutzen Sie das Wort ›Wir‹ nicht so unein geschränkt.« »Das gehört aber zu meinem Plan. Er wird sich fra gen, wer da so an ihm interessiert ist, und wird der Sache nachgehen.« Addels rümpfte die Nase. »Oder er wird ganz ein fach das ganze Gebäude in die Luft jagen.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete Gersen. »Zuerst wird er Licht in die Sache bringen wollen.« »Er wird versuchen, sich in Sein! einzuschmuggeln. Das zu verhindern dürfte sehr schwierig sein.« »Ich werde gar nicht versuchen, es zu verhindern. Im Gegenteil, ich beabsichtige, es ihm leicht zu ma chen.« »Sehr riskant. Was versprechen Sie sich davon?« »Seine Infiltration wird im Grunde genommen zu unserer Infiltration. Wir werden ihn anlocken und dann ein Treffen vereinbaren. Sie werden der Mit telsmann sein...« »Auf keinen Fall! Nie! Kommt überhaupt nicht in Frage!« »Es dürfte nicht gefährlich werden, solange er seine Neugier nicht befriedigt hat.« Addels ließ sich nicht überzeugen. »Das ist genau so, als versichere man einer angebundenen Ziege, daß der Tiger nicht zubeißen wird, ehe er nicht eine Weile an ihr herumgeschnüffelt hat.« »Ich frage mich, ob dieser Vergleich passend ist.« »Wie dem auch sei, ich beabsichtige nicht, bei Ih rem Plan mitzumachen. Mir reichen die bisherigen Aufregungen. Das fällt nicht in mein Arbeitsgebiet.« »Wie Sie meinen. Wir werden uns mit unseren Plä nen danach richten.«
Addels wirkte nicht sehr beruhigt. »Wann, glauben Sie, wird er etwas unternehmen?« »Sobald er das Bild sieht. Danach wird er jemanden hierherschicken, um der Sache auf den Grund zu ge hen, oder vielleicht auch gleich selbst kommen. Wir haben noch ein paar Tage, uns vorzubereiten.« »Die Ruhe vor dem Sturm«, murmelte Addels. Gersen lachte. »Sie dürfen nicht vergessen, daß wir die Dinge arrangieren, nicht Treesong. Kommen Sie, ich lade Sie zum Mittagessen im Tintenwischer ein, wenn Sie meinen, daß man Sie in den Speisesaal läßt!« An der Tür zur Sein!-Redaktion klebte ein Plakat: BEKANNTMACHUNG ES SIND NOCH EINIGE OFFENE STELLEN IN DER REDAKTION ZU VERGEBEN, AUSSERDEM WERDEN FÜR BEFRISTETE ZEIT AUSHILFEN ZUR SOR TIERUNG DER PREISAUSSCHREIBEN-EINSEN DUNGEN GESUCHT. BEWERBER MÖGEN SICH BEI MRS. ENCH ZU EINEM INTERVIEW ANMELDEN. Betrat ein Interessent die Redaktion, kam er in ein Vorzimmer, das durch einen Schalter geteilt wurde. Zur Linken hing ein Schild an einer Tür: PREISAUSSCHREIBEN BEARBEITUNG
ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE
Auf der rechten Tür stand: REDAKTION
Hinter dem Schalter fand der Bewerber Mrs. Millicent Ench, eine tüchtige dunkelhaarige Dame mittleren Alters, die ohne Ausnahme Tag um Tag die gleiche Kleidung trug: einen langen schwarzen Rock, eine blaßblaue Bluse mit roter Schärpe, eine Kappe mit rotem Schirm, schwarze knöchelhohe Lacklederstie feletten zum Schnüren. Mrs. Ench traf die Voraus wahl. Bewerber, die ihres Erachtens sichtlich unge eignet waren, wies sie ab, die anderen schickte sie in ein Nebenzimmer, wo sie unter den Augen des Per sonalchefs ein Bewerbungsformular ausfüllen muß ten. Dieser Personalchef war Mr. Henry Lucas, der nach seiner Kleidung zu schließen zur vornehmsten Gesellschaft gehörte. Er hatte gutgeschnittene, aller dings etwas harte Züge, sein Mund war breit, dünn und schief. Schwarze Löckchen zierten die Stirn und rahmten die bleichen Wangen. Nach ein paar Worten zu den Bewerbern teilte Henry Lucas ihnen eine offene Zelle zu, wo sie mit dem Rücken zum Zimmer einen Fragebogen ausfül len mußten. Die Zellen und Tische dann waren offen bar provisorisch für diese Gelegenheit gezimmert worden. Tatsächlich verbargen sie ungewöhnlich aufnahmefähige Sensoren und Streßmeßgeräte, die selbst das leiseste Zittern des Bewerbers, jedes Au genzucken, jeden Wechsel des Blutdrucks und jede Veränderung des Gehirnwellenmusters aufzeichne ten. Die gesammelten Ergebnisse leuchteten als farbige Lämpchen auf Gersens Schreibtisch auf und als farbi ge Punkte auf einem Faksimile des Fragebogens. Gersen hatte die Fragen mit größter Sorgfalt so ausgewählt, daß die Antworten und die dazugehöri
gen Reaktionen ein Maximum an Information bieten würden, obgleich die Fragen als solche völlig harmlos zu sein schienen. Die ersten Fragen waren einfach, den Umständen angepaßt und dienten auch zur Feineinstellung der Meßgeräte. NAME GESCHLECHT ALTER GEWÜNSCHTE POSITION HIESIGE ADRESSE GEBURTSORT
NAME DER ELTERN: VATER ADRESSE MUTTER
ADRESSE
BERUF DES VATERS DER MUTTER GEBURTSORT DES VATERS GEBURTSORT DER MUTTER
Die nächste Fragengruppe, folgerte Gersen, würde bei Bewerbern, die es nicht ehrlich meinten, den Blutdruck ein wenig erhöhen. SEIT WANN HIESIGER WOHNSITZ REFERENZEN (in Pontefract und Umgebung). GEBEN SIE ZUMINDEST ZWEI AN. IHRE BEFRAGUNG BLEIBT UNS VORBEHALTEN. 1. 2. IHR FRÜHERER WOHNSITZ, FALLS SIE NOCH NICHT LÄNGER ALS ZWÖLF MONATE AN OBEN ANGEGEBE NER ADRESSE WOHNEN
GEBEN SIE ZUMINDEST ZWEI PERSONEN AN, DIE SIE DORT KANNTEN: 1. 2. IHR WOHNSITZ DAVOR: GEBEN SIE AUCH HIER ZUMINDEST ZWEI PERSONEN AN, DIE SIE DORT KANNTEN: 1. 2. (Sie werden verstehen, daß Sein! sich unter den gegebenen Umständen der Integrität seines Personals versichern muß.)
Die folgenden Fragen waren dazu bestimmt, auf Be werber, die zu täuschen versuchten, maximalen Streß auszuüben. WENN SIE NICHT HIER ANSÄSSIG SIND, WESHALB SIND SIE NACH PONTEFRACT GEKOMMEN? (Geben Sie die ge nauen, keine allgemeinen Gründe) Objektivität ist bei Preisausschreiben-Bearbeitung Vorausset zung. Betrachten Sie die hier abgebildete Fotografie, die Grundlage des Preisausschreibens ist. Kennen oder erkennen Sie irgendwelche der Abgebildeten? Schreiben Sie ein »O« in die Kästchen der Personen, die sie NICHT kennen. Schraffie ren Sie die Kästchen der Personen, die Sie erkennen. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 � � � � � � � � � � (Gehen Sie im Uhrzeigersinn von links unten Mitte angefan gen vor) Geben Sie den Namen der/des Betreffenden an. Bei mehreren mit Angabe der Nummer.
Woher kennen Sie die betreffende(n) Person(en)? Genaue An gaben sind erforderlich.
Falls Sie noch in ungekündigter Beschäftigung sind, wann können Sie Ihren Posten antreten?
Bald stellten sich die ersten Bewerber ein: Studenten vom St. Griegands Seminar und der Keltischen Aka demie, und Hausfrauen, die sich etwas zum Wirt schaftsgeld dazuverdienen wollten. Ohne Ausnahme stellte Gersen bei jedem die Sensoren ein, um den Mechanismus zu justieren und sich der Genauigkeit seiner Methode zu vergewissern. Von wenigen Ab weichungen und unbedeutenden Ausnahmen abge sehen, bestätigte sein System farbiger Markierungen die Harmlosigkeit jedes Bewerbers. Von diesen wählte Mrs. Ench, die auch die Arbeit überwachte, eine Gruppe aus, um die einsetzende Flut von Einsendungen durchzusehen. Jede ankom mende Zuschrift ging durch eine Numeriermaschine, um die Reihenfolge des Eingangs festzuhalten. Gersen persönlich öffnete und überprüfte einen Teil der Umschläge. Die Einsendungen waren sehr gemischt und als Ganzes widersprüchlich. Am Nachmittag eines ungewöhnlich sonnigen Ta ges, als Gersen vom Mittagessen zurückkam, fiel ihm unter den Bewerbern ein zierliches rothaariges Mäd chen auf, für das er sich aus zweierlei Gründen sofort zu interessieren begann: Erstens war sie auf nicht alltägliche Weise sehr hübsch. Ihr Gesicht war an Stirn und Backenknochen breit und lief über schmale
Wangen herzförmig dem spitzen Kinn zu. Die rosi gen Lippen waren wohlgeformt und drückten sogar, wenn unbewegt, aufregende Möglichkeiten aus. Die graublauen Augen unter langen dunklen Wimpern wirkten klar und offen. Sie war etwas unter mittel groß, aber offenbar nicht schwächlich. Sie hatte eine ansprechende Sonnenbräune, als verbrächte sie viel Zeit im Freien. Sie konnte eine Studentin der hiesigen Bildungsstätten sein, aber das glaubte Gersen nicht. Er bemerkte sie zuerst durchs Fenster, als sie auf der anderen Straßenseite stand. Sie trug eine hellgraue Hose mit schwarzer Schärpe und ein hellgraues Cape, beides durchaus nicht in der hiesigen Moderichtung... Unsicher blickte sie kurz herüber, dann straffte sie die Schultern und überquerte außer Sichtweite die Straße. Eine kurze Weile später führte Mrs. Ench sie in Ger sens Büro. Gersen betrachtete sie noch einmal kurz. Der unsi chere Ausdruck war geschwunden. Sie wirkte nun gelassen, und das war der zweite Grund für Gersens Interesse. Ein dritter – und vielleicht der wichtigste – regte sich in seinem Unterbewußtsein. Sie sprach mit angenehm rauher Stimme und ganz leichtem Akzent, den Gersen nicht identifizieren konnte. »Sir, Sie haben Stellen ausgeschrieben?« »Ja, für qualifiziertes Personal«, antwortete Gersen. »Ich nehme an, daß Sie von dem S e i n ! Preisausschreiben gehört haben?« »Ja.« »Wir brauchen Aushilfen für die Sortierung der Einsendungen, stellen aber auch festes Personal an.« Sie dachte sichtlich nach. Gersen fragte sich, ob ihre Ungekünsteltheit echt oder sorgfältige Tünche war.
Er bemühte sich, seine halb freundliche, halb herab lassende Förmlichkeit beizubehalten. »Vielleicht könnte ich als Aushilfe eingestellt werden«, meinte sie, »und falls Sie mit meiner Arbeit zufrieden sind, wäre es dann vielleicht möglich, daß Sie mich fest einstellen?« »Ja, das ist natürlich möglich. Darf ich Sie bitten, diesen Fragebogen auszufüllen? Es müssen alle Fra gen beantwortet werden.« Sie warf einen Blick auf das Formular und sog hör bar die Luft ein. »So viele Fragen?« »Wir erachten es für notwendig.« »Und Sie überprüfen das bei jedem, den Sie ein stellen?« Unbewegt antwortete Gersen: »Bei diesem Preis ausschreiben steht viel Geld auf dem Spiel. Wir müs sen uns vergewissern, daß unser Personal absolut ehrlich ist.« »Ich verstehe.« Sie nahm den Fragebogen und be gab sich in die ihr zugewiesene Zelle. Gersen, der tat, als beschäftigte er sich mit Papier kram, drückte auf einen Knopf und schaute gebannt auf ein Paar Tischbildschirme, während die Rothaari ge den Fragebogen ausfüllte. Der linke Schirm zeigte ihr Gesicht, der rechte das Formular und farbige Markierungen, die Aufzeichnungen der Streßdetekto ren. Sie hatte mit dem Ausfüllen angefangen. NAME: Alice Wroke GESCHLECHT: weiblich Die Frage nach dem Geschlecht und ihre Beant wortung stellten einen offensichtlichen Zustand dar und kalibrierten die Instrumente auf die Ausgangs
stellung. Bei einem Mann, der sich als Frau ausgab, würde die Frage Streß hervorrufen und dadurch die Interpretation aller anderen Lesungen verfälschen. Zusätzlich zu den Farbindikatoren legte ein Auf zeichner die Reaktionen als absolute Einheiten dar. Es war dadurch möglich, anomale Reaktionen zu identi fizieren. Die farbkodierten Indexe hatten bisher zu verlässige Informationen geliefert. Blaue Lichter zeigten jetzt an, daß Alice Wroke Name und Ge schlecht wahrheitsgetreu angegeben hatte. Allerdings hatte das Licht rosa aufgeflackert, ehe sie den Namen niederschrieb, als hätte sie überlegt, ob sie einen fal schen benutzen sollte. Die Warnung seines Unterbe wußtseins war also gerechtfertigt. Erstaunlich! Er hatte gehofft, Treesong würde selbst inzufiltrieren versuchen, doch daß der Infiltrator jemand wie Alice Wroke war, kam völlig unerwartet. Gersen verspürte primitive Aufregung. Das Spiel hatte begonnen. Selbst mit beschleunigtem Puls beobachtete Gersen Alice Wroke beim Ausfüllen der von ihm ausge wählten Fragen. ALTER: 21* Klares blaues Licht: keine Irreführung. GEWÜNSCHTE POSITION: Hier zögerte Alice. Die Farbe schwankte von Blau bis Blaugrün. Das bedeutete weniger Streß als Unent schlossenheit! Sie schrieb: In der Verwaltung oder als Journalistin. Ich bin für beides qualifiziert. Beim Schreiben des letzten Satzes wurde das Blau * Auf allgemeine Übereinstimmung werden Alter und andere Zeitab schnitte nach irdischem Standard gerechnet.
grün flüchtig Grün, als wäre sie sich dieser angege benen Qualifikationen nicht ganz sicher... Sie zögerte noch und das Grün wurde ausgeprägter. Sie fügte hinzu: Ich bin jedoch bereit, jede Position anzunehmen und zu tun, was verlangt wird. Während sie die nächste Frage las, wurde die Farbe wieder zu einem Blaugrün, was auf erhöhte Auf merksamkeit hindeutete. HIESIGE ADRESSE: Die Farbe veränderte sich nicht eine Spur. Alice schrieb: St. Diarmids Inn. Das war ein großes kosmopolitisches Hotel im Zentrum der Stadt, das von Touristen und Reisenden von anderen Welten frequentiert wurde. Es war bei weitem nicht so vornehm wie das Tintenwischer, aber durchaus von gehobener Klasse und alles andere als billig. Alice Wroke schien also nicht am Hungertuch zu nagen. GEBURTSORT: Blackfords Landing, Terranova, Dene bola V NAME DER ELTERN: VATER: Benjamin Wroke ADRESSE: Wild Isle BERUF: Ingenieur MUTTER: Eileen Sversen Wroke ADRESSE: Wild Isle BERUF: Buchhalterin Diese Fragen wurden ohne Anzeichen von Streß beantwortet, außer bei der Beantwortung des väterli chen Berufs, wo das Licht gelbgrün leuchtete. Nun begannen die Fragen, die Druck auf den Be
antworter ausüben sollten. SEIT WANN HIESIGER WOHNSITZ? Alice hatte diese Frage durch die Angabe des Durchgangshotels bereits entschärft. Trotzdem wech selte der Anzeiger zu grellgrün über, als sie schrieb: Seit zwei Tagen. REFERENZEN (in Pontefract und Umgebung): 1. Mahibel Wroke
The Blawens, Gungold Street
2. Sean Paldester
Dingle Lane, Tuorna
Bei diesen Antworten leuchtete der Anzeiger in ru higem Blau. Mahibel Wroke war zweifellos eine Ver wandte, vielleicht bestanden auch zu Sean Paldester verwandtschaftliche Beziehungen. Tuorna war ein kleiner Ort im näheren Umkreis. IHR FRÜHERER WOHNSITZ, FALLS SIE NOCH NICHT LÄNGER ALS ZWÖLF MONATE AN OBEN ANGEGEBENER ADRESSE WOHNEN Das klare Blau wurde zu Grün und flüchtig zu Gelb. Gersen, der Alices Gesicht beobachtete, sah, wie sie die Lippen zusammenpreßte, ehe sie sich ent schlossen vorwärtsbeugte, um zu schreiben. Gleich zeitig schwang der Anzeiger durch Grün zurück ins Blau. Wild Isle, Cytherea Tempestre. Die Referenzen waren: 1. Jason Bone
Wild Isle
2. Jade Channifer
Wild Isle
Ohne jegliche Anspannung schrieb sie auch die vorherige Adresse auf:
1012–792d Avenue, Blackfords Landing, Terranova, Denebola V Als Referenzen gab sie hier folgende an: 1. Dain Audenave
1692–753rd Avenue
2. Willow Tarras
1941–777th Avenue
Die folgenden Fragen waren dazu bestimmt, ma ximalen Druck auszuüben. WENN SIE NICHT HIER ANSÄSSIG SIND, WES HALB SIND SIE NACH PONTEFRACT GEKOM MEN? Während Alice die Frage studierte, glühte der In dikator gelb auf und flackerte kurz ins Orange. Dann beruhigte sie sich ein wenig und der Anzeiger kehrte ins Grün zurück. Sie schrieb: Um eine Anstellung zu suchen. Als sie die Seite umdrehte, sah Alice das Bild und las die Frage: KENNEN ODER ERKENNEN SIE IRGENDWEL CHE DER ABGEBILDETEN? Der Anzeiger glühte Gelb, dann Orange. Sie über legte eine Weile, und die Farbe wurde zu Gelbgrün. Schließlich kritzelte sie in alle Kästchen ein »O«. Beim Kästchen Nummer 6 glühte das Licht rosa. Schnell drehte sie das Blatt um, um die Fotografie nicht mehr sehen zu müssen, und ihre Anspannung verringerte sich allmählich zu Grün. GEBEN SIE DEN NAMEN DER/DES BETREF FENDEN AN. BEI MEHREREN MIT ANGABE DER NUMMER. Das Licht glühte Zinnoberrot. Alice zeichnete einen Querstrich.
WOHER KENNEN SIE DIE BETREFFENDE(N) PERSON(EN)? Das Licht glühte in tiefem Rot. Alice antwortete mit einem weiteren Querstrich. ... WANN KÖNNEN SIE IHREN POSTEN AN TRETEN? Das Licht kühlte schnell, wie in großer Erleichte rung, zu Grün und Grünblau ab. Sofort. Damit war der Fragebogen ausgefüllt. Während Alice ihn noch einmal durchlas, beobachtete Gersen ihr Gesicht. Dieses zierliche rothaarige Mädchen war Howard Alan Treesongs Instrument. Möglicherweise kannte sie ihn unter einem anderen Namen. In die sem Fall mochte sie seinen Ruf erkennen oder auch nicht. Nun, die Wahrheit würde mit der Zeit ans Ta geslicht kommen... Gersen erhob sich und durch querte das Zimmer. Mit unsicherem Lächeln blickte sie hoch. »Ich bin gerade fertig geworden.« Gersen überflog pro forma die Antworten. »Scheint in Ordnung zu sein... Sie sind ursprünglich von Ter ranova, wie ich sehe.« »Ja. Meine Familie zog vor fünf Jahren ins VirgoSystem. Mein Vater ist – nun, ein Berater auf Wild Is le. Waren Sie schon einmal dort?« »Nein, aber ich habe gehört, daß die Gegend dort sich von der hiesigen beträchtlich unterscheidet.« Gersen bemühte sich um eine Stimme müden Miß fallens. Alice widmete ihm einen ausdruckslosen Blick, nachdem sie ein anfängliches Staunen unterdrückt hatte. Gleichmütig erwiderte sie: »Ja, es ist eine Art Traumland, ein wenig unwirklich.«
»Aus reiner Neugier, warum sind Sie von dort fort?« Alice zuckte die Achseln. »Ich wollte reisen, ein bißchen was von anderen Welten sehen.« »Beabsichtigen Sie zurückzukehren?« »Das weiß ich selbst noch nicht. Im Augenblick bin ich jedenfalls lediglich daran interessiert, für Sein! zu arbeiten. Ich wollte immer Journalistin werden.« Gersen schritt bedächtig hin und her, mit den Hän den auf dem Rücken verschränkt: ein Bild pompöser Eleganz. Mit scheinbar nachdenklicher Stimme sagte er: »Entschuldigen Sie mich kurz. Ich werde mich bei Mrs. Ench erkundigen, welche Stellen noch offen sind.« »Gewiß, Sir.« Gersen ging durch den Preisausschreiben-Raum, wo etwa zwölf Aushilfen große Haufen Einsendun gen sortierten. Er warf einen Blick auf den Compu terausdruck. Dreizehn Personen hatten bereits Nummer sieben als John Gray erkannt, und zehn Nummer fünf als Sabor Vidol. Damit durfte die Iden tifizierung dieser beiden so gut wie feststehen. Der große hagere Mann mit der Denkerstirn und dem fleischlosen Kinn war unter den verschiedensten Namen angemerkt worden: Bentley Strange, Fred Framp, Kyril Kyster, Mr. Wharfish, Silas Sparkham mer, Arthur Artleby, Wilton Freebus und Dutzenden mehr. Gersen kehrte in sein Büro zurück. Alice Wroke hatte sich auf einen Stuhl nahe seinem Schreibtisch gesetzt. Gersen blieb stehen und bewunderte die Harmonie der orangeroten Locken mit dem dunklen Elfenbeinteint. Sie lächelte. »Weshalb mustern Sie mich so?«
Mit seiner herablassendsten und näselndsten Stimme antwortete Gersen: »Nun, zumindest läßt sich nicht abstreiten, daß Sie sehr dekorativ aussehen. Doch muß ich Sie bitten, wenn Sie bei uns angestellt werden wollen, sich ein wenig unauffälliger zu klei den.« »Heißt das, daß ich eingestellt werde?« »Wir werden noch heute Ihre Referenzen überprü fen. Ich bin sicher, daß sie meine gute Meinung über Sie nur bestätigen werden. Ich schlage vor, daß Sie sich morgen beim zweiten Gong zur Arbeit melden.« »Vielen Dank, Mr. Lucas.« Alices Lächeln verriet keine große Begeisterung, sie wirkte im Gegenteil ein wenig angespannt und niedergeschlagen. »Wo werde ich arbeiten?« »Im Augenblick braucht Mrs. Ench kein weiteres Personal, aber es würde nichts schaden, wenn jemand sich um mein Büro kümmert, während ich abwesend bin. Ich halte Sie für diesen Job für durchaus fähig.« »Danke, Mr. Lucas.« Alice erhob sich. Über die Schulter warf sie ihm einen Blick zu, der im gleichen Maß flirtend, spröde, traurig und ängstlich war. Sie verließ das Büro. Gersen blickte ihr nach. Merkwürdig, dachte er, äußerst merkwürdig!
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Ein ehemaliger Kollege benutzte folgende Worte über Howard Alan Treesong, der achtzehn Jahre alt war, als sie beide im Werk Philadelphia der EliteSüßwaren-Fabrik arbeiteten: Er war ein unruhiger Geist, quirlig und unberechenbar wie verschüttetes Quecksilber auf einer Tischplatte, aber ich kam immer gut mit ihm aus. Er schien mild und vernünf tig zu sein. Ganz sicher, jedenfalls, war er schlau und amüsant, und er hatte einen Hang für Lausbubenstreiche. Manchmal ging er damit zu weit – viel zu weit! Eines Ta ges brachte er eine Schachtel mit toten Insekten an: Kü chenschaben, Hummeln und Wanzen. Sorgfältig gab er je des einzelne in eine andere Praline einer großen Bonbon niere und machte sie zum Versand fertig. Mit verträum tem Blick sagte er: ›Wer wohl meine kleine Überraschung bekommen wird?‹ Aber das war nicht der Grund, weshalb er flog. In unse rer Nähe arbeitete eine humorlose ältere Frau, die alle ›die fette Agie‹ nannten. Sie trug immer schwarze Halbstiefel, die sie während der Arbeit auszog. Als sie nicht aufpaßte, füllte er die Stiefel: einen mit kandierten Erdnüssen, den anderen mit unseren besten Karamelbonbons. Das kostete Howard den Job. Ich sah ihn nie wieder. Als Alice Wroke sich am nächsten Vormittag in der Sein!-Redaktion meldete, trug sie einen Rock und eine Jacke aus weichem blauen Stoff, der sich wie zärtlich an ihre schlanke Figur schmiegte. Ein schwarzes Band zähmte ihr orangefarbenes Haar. Sie gab ein hübsches
Bild ab, als sie durch die alte schwarze Tür trat. Sie war auch intelligent genug, das zu wissen, dessen war Gersen sicher. Das Kostüm war durchaus nicht so konservativ, wie er hatte durchblicken lassen, daß sie sich kleiden sollte, aber er beschloß, die Sache auf sich beruhen zu lassen, denn es brachte ihm nichts ein, wenn er seine Rolle als selbstgefälliger Hagestolz übertrieb. Alice Wroke, die nicht nur gescheit zu sein schien, sondern auch Menschenkenntnis hatte, ließe sich möglicherweise nicht täuschen. »Guten Morgen, Mr. Lucas«, grüßte sie mit weicher Stimme. »Was haben Sie für eine Arbeit für mich?« An diesem Morgen hatte der Kammerdiener im Tintenwischer Gersen eine graue Hose mit lavendel farbenen Nadelstreifen bereitgelegt, dazu einen schwarzen Gehrock mit schmalen Schultern und glockigen Hüften, ein weißes Hemd mit hohem Kra gen und eine lavendel-schwarz gestreifte Krawatte. Diesen Staat vervollständigte ein schwarzer Hut – den der Chefportier ihm aufgezwungen hatte – mit breiter schräger Seitenkrempe und einem purpurnen Band. Gersen fühlte sich in diesem Anzug verkrampft und eingezwängt. Er hatte das Gefühl, wenn er die Schultern nur ein wenig nach vorn zöge, würde der Gehrock an der Rückennaht platzen. Sein Ärger über diese Unbequemlichkeit und dazu die Notwendig keit, sein Kinn über dem hohen steifen Kragen hoch zuhalten, zwangen ihn zu einer Haltung die ohne weiteres als dünkelhafte Geringschätzung für alle, mit denen er notgedrungen verkehren mußte, ausge legt werden konnte. Auch gut, dachte Gersen. In ei nem Ton, der zu seiner Aufmachung paßte, sagte er: »Miß Wroke! Ich habe mit Mrs. Ench gesprochen.
Sie werden einstweilen aushilfsweise als meine Pri vatsekretärin tätig sein. Ich stelle fest, daß ich mit ständig mehr Papierkram belästigt werde, als ich zu bearbeiten bereit bin, und wenn ich so sagen darf, Sie bringen Farbe in mein sonst so farbloses Büro.« Unwillkürlich zeichnete sich leichter Unmut auf Alices Zügen ab, der Gersen heimlich amüsierte. Eine wahrhaftig eigenartige Situation. Wenn Alice Wroke tatsächlich in enger Beziehung zu Howard Alan Tree song stand, mußte sie einen schlechten Charakter ha ben. Schwer zu glauben... Gersen erfand Arbeit, um Alice etwas zu tun zu geben, und ging nachsehen, was der Computer zu sagen hatte. Die eingehende Post füllte bereits einen badewan nengroßen Behälter. Sechs Leute öffneten die Um schläge, lasen die Einsendungen und gaben die In formation in den Computer ein. Gersen trat an den Monitor am hinteren Ende des Zimmers, den nur er und Mrs. Ench einschalten durften. Er drückte auf den Knopf und las den gegenwärtigen Stand. Neunzehn Personen hatten inzwischen Nummer sieben als John Gray von Four Winds auf Alphanor erkannt. Seine Identität durfte nun als sicher festste hen. Das gleiche konnte für Nummer fünf gesagt werden, der Sabor Vidol von London auf der Erde war. Nummer eins war Sharrod Yest von Nova Bac tria; und Nummer Neun A. Gieselman von Long Pa rade, Espandencia auf Algenib IX. Nummer sechs war in der Ökumene weit und breit unter den ver schiedensten Namen bekannt: Kyril Kyster, Timothy Trimmons, Bentley Strange, Fred Framp, Silas Spark hammer, Wilson Wharfisch, Oberon. Nummer vier wurde zweimal als Ian Bilfred vom Technischen In
stitute in Pallas auf Alcyone identifiziert. Gersen kehrte in sein Büro zurück. Als er durch die Tür trat, erinnerte er sich daran, seine Rolle als Henry Lucas weiterzuspielen. Während seiner Abwesenheit hatte Alice sich ihre Taktik neu überlegt. Um diesen so auf seine Kleidung und Haltung bedachten Dummkopf vielleicht um den Finger wickeln zu können, hatte sie beschlossen, es mit munterer Herzlichkeit, mit einer Spur Flirt ge mischt, zu versuchen. Gut, dachte Gersen, warum auch nicht? »Ich frage mich, ob ich irgendwelche Ihrer Artikel gelesen habe, Mr. Lucas. Ihr Name ist sehr bekannt.« »Möglich, Miß Wroke, durchaus möglich.« »Haben Sie ein bestimmtes Ressort?« »Verbrechen, Ausschreitungen, Frevel.« Alice blickte ihn argwöhnisch an. »Wirklich?« Da wurde Gersen bewußt, daß er seine Maske kurz hatte fallen lassen. Er zuckte gleichmütig die Schul tern. »Jemand muß schließlich über diese Dinge schreiben. Wie sollte die Öffentlichkeit sonst darüber erfahren?« »Aber Sie sehen nicht so aus, als würden Sie sich für so etwas interessieren.« »Oh? Was, glauben Sie denn, würde zu mir pas sen?« Alice bedachte ihn mit einem wachsamen überle genen Blick. »Kulturelle Themen«, antwortete sie leb haft. »Etwas über die Feinheiten des Lebens, über die besten Restaurants, beispielsweise. Oder über die Weine der Erde, oder über Si Shi Shim-Tänze, oder
über Lilienmilch*.« Gersen schüttelte betrübt den Kopf. »Leider fällt das nicht in mein Ressort. Was ist mit Ihnen?« »Ich habe kein bestimmtes Fach.« »Diese Si Shi Shim-Tänze, wie gehen sie denn?« »Nun – man braucht die richtige Maske dazu, die mit Gongs, Wasserflöten und einem Kurdaitsy ge macht wird. Ein Kurdaitsy ist ein etwas abstoßendes dressiertes Tier, das quiekt, wenn man es am Schwanz zieht. Die Kostüme für diese Tänze bestehen hauptsächlich aus federgeschmückten Knöchelbän dern, doch das scheint weder den Tänzern noch den Zuschauern etwas auszumachen. Ich bin nicht sehr gut in diesen Tänzen, ja kann sie kaum.« »Na kommen Sie schon! Ich bin überzeugt, daß Sie sich nur zieren. Also, wie gehen sie?« »Bitte, Mr. Lucas! Stellen Sie sich vor, es kommt jemand ins Büro und sieht, wie ich mich wild im Kreis drehe! Was würde der Betreffende denken!« »Stimmt«, gestand Gersen ihr zu. »Wir müssen ein Beispiel würdevollen Benehmens geben. Zumindest während der Dienststunden. Wo wohnen Sie eigent lich jetzt?« »Noch im St. Diarmid«, antwortete Alice Wroke kühl. »Sie sind allein hier? Ich meine, haben Sie keine Freunde oder Verwandte in Pontefract?« »Ich bin allein hier, Mr. Lucas. Weshalb fragen Sie?« »Reine Neugier, Miß Wroke. Ich hoffe, ich belei * Ein kostbares Porzellan, das in Handarbeit auf der Susimara Inselgrup pe des Gelben-Sonnen-Planeten hergestellt wird.
digte Sie damit nicht.« Alice zuckte tolerant die Achseln und widmete sich wieder der Arbeit, die Gersen so mühsam für sie be schafft hatte. Mittags wurde aus einem nahen Restaurant das Es sen geliefert, für Mrs. Ench und ihr Personal in einem kleinen Pausenzimmer, für Gersen und Alice Wroke in Gersens Büro. Alice wunderte sich darüber. »Weshalb essen wir nicht alle gemeinsam? Es interessiert mich doch auch, wie es mit dem Preisausschreiben steht.« Gersen schüttelte belehrend den Kopf. »Das ist nicht möglich. Meine Vorgesetzten wiesen mich an, für absolute Geheimhaltung zu sorgen, vor allem we gen des Gerüchts.« »Gerücht? Was für ein Gerücht?« »Ein berüchtigter Verbrecher ist an diesem Preis ausschreiben ungemein interessiert – das jedenfalls wurde als Grund angegeben. Ich persönlich bin da skeptisch. Aber wer kann schon wissen? Wir haben sogar für Schlafgelegenheiten gesorgt für alle, die am Preisausschreiben arbeiten. Sie dürfen das Haus erst wieder verlassen, wenn der Gewinner feststeht.« »Das erscheint mir ein wenig übertrieben«, sagte Alice. »Wer soll denn dieser berüchtigte Verbrecher sein?« »Ah, es ist absoluter Unsinn«, erklärte Gersen et was von oben herab. »Ich bin mir zu gut, dieses Ge rücht noch weiterzuverbreiten.« Nun kehrte auch Alice die Hochmütige hervor. »Es interessiert mich ohnehin nicht wirklich.« Während des Essens sprach sie kein Wort, doch hin und wieder warf sie einen verstohlenen Blick auf Gersen.
Nach dem Essen erfand Gersen weitere Arbeit für sie, dann setzte er bedächtig den schrägkrempigen Hut auf. »Ich bin in etwa einer Stunde wieder zu rück«, wandte er sich an Alice. »Ja, ist gut, Mr. Lucas.« Gersen ging ins Tintenwischer. Von seinem Zim mer aus rief er das St. Diarmid an. »Miß Alice Wroke, bitte.« Nach kurzer Pause antwortete die Dame am Tele fon: »Miß Wroke ist augenblicklich nicht im Hotel, mein Herr.« »Ich glaube, ihr Zimmer ist 262?« »Nein, 441.« »Ist sonst jemand Ihrer Gruppe im Haus?« »Sie ist allein hier, Sir. Möchten Sie eine Nachricht für sie hinterlassen?« »Nein, so wichtig ist es nicht.« »Vielen Dank, Sir. Auf Wiederhören.« Gersen richtete verschiedene Gerätschaften her und verstaute sie in einem Koffer. Um Fragen oder Schwierigkeiten am Empfang aus dem Weg zu gehen, schlüpfte er in den bereitgelegten Nachmittagsanzug und verließ den Tintenwischer. Zu dieser Tageszeit, der Nachmittagspause, waren die klammen alten Straßen Pontefracts belebt mit Männern in schwarzen und braunen Anzügen mit glockig geschnittenen Hosenbeinen, und molligen Frauen mit rosigen Gesichtern und weiten Röcken aus gemustertem Stoff und schwarzen Capes. Gersen hatte das St. Diarmids Inn schnell erreicht. Er betrat und betrachtete das Foyer, sah jedoch nichts Auffallendes. Er näherte sich dem Empfang und täuschte vor, Be
rechnungen in einem Notizbuch anzustellen. Der Portier beobachtete ihn kurz, dann trat er ihm entge gen. »Kann ich Ihnen helfen, mein Herr?« Gersen schrieb verschiedene Zahlen in das Notiz buch, während der Mann ihm verblüfft dabei zusah. »Ich brauche für mehrere Tage oder auch eine ganze Woche ein Zimmer, und zwar während des Nume rologen-Kongresses. Mathematische Vibrationen deuten auf die Zahl 441 hin. Ich werde also dieses Zimmer nehmen.« Gersen legte eine 1-SVE-Note auf den Tisch, und der Portier beeilte sich einen Monitor zu konsultieren. »Zu bedauerlich, mein Herr. Aber dieses Zimmer ist bereits besetzt.« »Dann muß ich entweder 440 oder 442 haben.« »442 ist gegenwärtig frei Sir.« »Nun, das muß eben genügen. Ich bin Aldo Brise.« In Zimmer 442 trat Gersen an die Wand und drückte ein Mikrophon gegen die Täfelung. Aus 441 kam kein Laut. Gersen kniete sich in eine Ecke, bohrte ein winziges Loch und steckte einen kaum noch sichtbaren Mi kroempfänger hinein. Er schloß einen Rekorder an, den er mit dem Fon verband. Dann gab er ihn in eine Lade, machte ein paar Tests und verließ das Zimmer. In seinem Büro angekommen, schritt er quer durch das Zimmer, nahm den Hut ab und legte ihn vorsich tig auf die Hutablage. Dann erst bedachte er Alice mit einem Nicken, das sie mit einem gemurmelten sprö den Gruß beantwortete und einem flüchtigen Blick unter den langen dunklen Wimpern hervor. Gersen setzte sich mit einem Seufzer hinter den Schreibtisch, blickte etwa fünf Minuten lang stirnrunzelnd ins Lee
re, als wäre er tief in Gedanken versunken. Dann er hob er sich, ging hinaus auf den Gang und zum Sor tierraum. Das Personal arbeitete wie besessen, denn immer mehr Einsendungen strömten herein. Gersen warf ei nen Blick auf den Monitor. Die Identifizierung aller Abgebildeten konnte nun als abgeschlossen erachtet werden – von allen, außer Nummer sechs, die unter so vielen verschiedenen Namen erkannt worden war. Der Name Howard Alan Treesong war bisher noch in keiner einzigen Einsendung erwähnt worden. Gersen kehrte in sein Büro zurück. Alice blickte von ihrem Schreibtisch auf. »Wie steht es mit dem Preisausschreiben?« »Sehr gut, vom werbetechnischen Standpunkt aus gesehen. Die Beteiligung übertrifft unsere Erwartung inzwischen bereits um siebzehn Prozent.« »Doch keiner hat bisher die Bedingungen für den großen Preis erfüllt?« »Nein, noch nicht.« »Weshalb wurde gerade diese Fotografie ausge wählt?« Gersen ließ sich mit der Wichtigkeit eines Richters wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. Er näselte: »Ich hielt es nie für angebracht, danach zu fragen.« Alices Mundwinkel senkte sich, aber sie schwieg. Nach kurzer Weile drückte Gersen die Fingerspit zen zusammen. »Ich glaube, ich kann Ihnen – unter dem absoluten Spiegel der Verschwiegenheit, selbst redend – verraten, daß alle Abgebildeten, außer ei nem einzigen, richtig identifiziert wurden.« Alice zuckte gleichmütig die Schulter. »So sehr in teressiert es mich wirklich nicht, Mr. Lucas.«
»Na na«, sagte Gersen mit schwerer Stimme, die scherzhaft klingen sollte. »Wir wollen uns doch nichts vormachen. Erwähnten Sie nicht, daß Sie auf Cythe rea Tempestre zu Hause sind?« »Ja, aber erst seit ein paar Jahren.« »Nun, ich habe gehört, daß man sich auf Cytherea sehr formlos benimmt.« Alice blickte ihn nachdenklich an. »Ich weiß nicht so recht, was Sie mit ›formlos‹ meinen.« »Nun, kommt es dort nicht – sagen wir, zu Aus schweifungen?« »Das stimmt allerdings. Die Touristen sind manchmal außer Rand und Band, wenn sie von zu Hause fort sind. Die schlimmsten kommen von Pon tefract.« Gersen lachte. Alice, die ihn aus dem Augenwinkel beobachtete, dachte: Der Idiot hat doch tatsächlich auch menschliche Züge! »Waren Sie je in den Wild Isle-Kasinos? Ich hörte, daß dort um gewaltige Summen gespielt wird.« »Wer dort hingeht, in der Hoffnung, zu gewinnen, schneidet sich ins eigene Fleisch.« Scharf sagte Gersen: »Ihre verlorenen Einsätze wandern in die Taschen berüchtigter Krimineller.« »Das habe ich gehört«, erwiderte Alice. »Auch in meines Vaters Tasche wandert so mancher Gewinn, aber ich glaube nicht, daß er ein berüchtigter Verbre cher ist.« »Das hoffe ich auch nicht für Sie. Ist er denn ein Spieler?« »Ganz im Gegenteil. Er entwirft Spielautomaten und stellt sie so ein, daß sie die Spieler ausnehmen. Ihm macht die Arbeit viel Spaß. Er sagte einmal, daß
er keinerlei Sympathie für Spieler aufbringen kann. Er erachtet sie als genußsüchtig, töricht und arbeits scheu, wenn nicht gar psychotisch.« Mit unschuldigem Blick betrachtete sie Gersen. »Ich hoffe, Sie sind kein Spieler, Mr. Lucas. Ich möchte Ihre Gefühle nicht verletzen.« »Seien Sie beruhigt, Miß Wroke, ich bin weder bei auf mich gemünzten, abfälligen Bemerkungen so schnell beleidigt, noch bin ich ein Spieler.« »Um wieder zum Preisausschreiben zu kommen, welche Nummer wurde denn noch nicht identifi ziert?« Gleichmütig antwortete Gersen. »Sechs.« »Wann wird das Ausschreiben abgeschlossen sein?« »Ich habe keine Ahnung.« Gersen blickte auf seine Uhr. »Ich habe heute keine weitere Arbeit für Sie, Miß Wroke. Sie dürfen nach Hause gehen, wann es Ihnen beliebt.« »Vielen Dank, Mr. Lucas.« Alice schlüpfte in ihre Jacke und ging zur Tür. Kurz blieb sie stehen und er kundigte sich mit schwachem Lächeln: »Werden Sie heute abend noch etwas für mich zu tun haben, Mr. Lucas?« »Nein, danke, Miß Wroke. Bis morgen.« Alice schloß die Tür hinter sich. Gersen begab sich wieder in den Sortierraum und beobachtete die Leute eine Weile bei der Arbeit. Dann kehrte er in sein Büro zurück, zog seinen Gehrock aus und inspizierte ein gehend Wände, Fenster, Boden, Decke und das ge samte Mobiliar. Wäre es erforderlich gewesen, hätte er Detektoren verwenden können, die selbst den auch alles Verdächtigen aufgenommen hätten, aber das
hätte möglicherweise auf seine Wachsamkeit auf merksam gemacht. Hoch in der Ecke, fast unmittelbar unter der Zimmerdecke, bemerkte er ein paar schlei erfeine Fäden, die durchaus von einer Spinne stam men konnten, jedenfalls würden sie dem achtlosen Auge nicht auffallen. Nach fünfminütiger eingehendster Untersuchung kam er zu dem Schluß, daß das Gespinst tatsächlich ein Spinnengewebe war, und er entfernte es. Mit offenem Kragen, die Krawatte gelockert, lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück und dachte nach. Es war nun Spätnachmittag. Gersen ging wieder in den Sortierraum und stellte fest, daß inzwi schen die Nachtschicht übernommen hatte. Er sah auch ihr eine Weile zu, dann machte er sich wieder straßenfein, verließ sein Büro und spazierte durch den kühlen Abenddunst zum Tintenwischer. Der Portier begrüßte seine Ankunft mit einer tiefen Verbeugung, eine Page eilte herbei um ihm den Hut abzunehmen und ihm die Treppe hochzuhelfen, als wäre er ein Tattergreis. In seiner Suite zog er die Jacke aus und setzte sich ans Fon... Mitten in der Luft zog er die ausgestreckte Hand wieder zurück. Er grinste säuerlich. Abhörge räte im Tintenwischer? Unvorstellbar! Um ganz sicher zu gehen – schließlich hatten seine Türen ja keine Schlüsseln – überprüfte er die ganze Suite mit seinem Detektor, der genau nach seinen Anweisungen hergestellt worden war. Nein, man hatte keine Wanzen eingeschmuggelt. Er kehrte zum Fon zurück und rief Zimmer 442 im St. Diarmids Inn. »Mr. Brise ist augenblicklich nicht in seinem Zim
mer«, erklärte sein spezieller Beantworter. »Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht.« Gersen sagte ein Kodewort, das den Rekorder akti vierte. Ein musikalischer Ton meldete ihm, daß etwas aufgenommen worden war und gab auch die genaue Zeit des Anrufs an. Das erste war Alices Stimme. »Mr. Albert Strand, bitte.« »Jawohl, Madam.« Eine Telefonistin, dachte Ger sen. Einen Moment später sagte eine Männerstimme: »Hallo, Alice!« »Hallo, Mr. Sparkhammer. Ich...« »Psst, Alice! Keine Erwähnung dieses Namens. Erinnern Sie sich bitte, daß ich hier Albert Strand von den Wambs Countys Strands bin.« »Tut mir leid. Spielt es denn wirklich eine so große Rolle?« »Das kann man nicht wissen.« Die Stimme klang nicht sehr besorgt. »Wir haben es hier mit schlauen Burschen zu tun. Nicht, daß wir ihnen gegenüber hilflos sind, aber warum sollten wir unsere Vorteile aus der Hand geben? Kühnheit, Macht, Heimlichkeit und Entschlossenheit, das ist unser Motto!« »Vergessen Sie die Angst nicht!« Alices Stimme klang ein wenig bitter. »Ja, und natürlich Angst! Also, was konnten Sie er fahren?« Es war eine klangvolle Stimme mit sorgfäl tig berechneter Betonung. Gersen lauschte atemlos. Alices Stimme dagegen klang bei ihrer Antwort fast ausdruckslos: »Als ich mich heute morgen zur Arbeit meldete, sagte mir Mr. Lucas, daß ich seine einstweilige Pri vatsekretärin sein würde.«
»O je, damit hatte ich nicht gerechnet. Nun, was ist mit Mr. Lucas?« »Er ist sehr auf Geheimhaltung bedacht – er über treibt fast. Ich darf den Sortierraum nicht einmal be treten. Heute versuchte ich es zweimal, während er fort war, aber Mrs. Ench schickte mich jedesmal so fort wieder weg. Ich fragte Mr. Lucas, wie es mit dem Ausschreiben stünde, da wurde er fast unerträglich hochnäsig. Er sagte jedoch, daß alle, außer einem, in zwischen identifiziert wurden. Dieser eine ist Num mer sechs. Dem großen Preis ist keiner auch nur nahe gekommen.« »Ist das alles?« »Ich fürchte, ja. Mr. Lucas ist ziemlich wortkarg. Er ist ein stutzerhafter Narr, aber ein schlauer Narr, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Genau. Nun, es sieht doch ganz so aus, als ließen ihn Ihre beachtlichen Reize nicht kalt.« »Hm – da bin ich mir nicht ganz sicher.« »Dann versuchen Sie, es herauszufinden. Wir dür fen keine Zeit verlieren. Ich habe wichtige Verpflich tungen in nächster Zukunft.« »Ich werde mein Bestes tun, Mr. Strand.« Alice zö gerte, dann fuhr sie fort: »Sie haben mir eigentlich noch nie genau erklärt, was ich für Sie herausfinden soll.« »Habe ich das nicht?« Mr. Strands Stimme klang plötzlich ätzend, giftig. »Stellen Sie fest, warum gera de dieses Bild benutzt wird! Wann bekamen sie es und von wem! Irgend etwas tut sich! Etwas steckt hinter diesem Preisausschreiben und ich möchte wis sen, was!« Damit endete dieses Gespräch.
Am nächsten Tag gab Alice ihren zweiten Bericht ab. »Mr. Strand?« »Ich höre, Alice.« »Ich habe leider nicht viel erfahren. Heute war's nicht anders als gestern. Ich versuchte, das Gespräch auf das Preisausschreiben zu bringen, aber Mr. Lucas ging nicht darauf ein. Er sitzt nur da und blickt hoch näsig auf mich herab.« »Es wird kritisch, Alice!« Mr. Strand sprach mit zi schender Schärfe, die sich merkwürdig von seiner gestrigen klangvollen Stimme abhob. »Ich brauche Ergebnisse. Sie kennen die Umstände.« Alices Stimme wurde stumpf. »Ich werde es mor gen wieder versuchen.« »Aber etwas wirkungsvoller, wenn ich bitten darf!« »Mir fällt einfach nichts ein. Er ist absolut ver schwiegen!« »Nehmen Sie ihn mit ins Bett. Es ist schwierig ver schwiegen zu bleiben, wenn man nackt ist.« »Mr. Sparkhammer! Ich meine, Mr. Strand – das kann ich nicht! Ich wüßte gar nicht wie!« »Na na, Alice! Das weiß doch jeder!« Mr. Strand ki cherte. Seine Stimme verlor ihre drohende Schärfe, hob sich ein wenig und wirkte fast vergnügt: »Wenn Sie müssen, können Sie es auch – und Sie müssen!« »Wirklich, Mr. Strand! Ich kann nicht...« »Alice, machen Sie doch keine Staatsaffäre daraus! Es gibt doch nichts Einfacheres! Sie brauchen ihn nur anzulächeln, dann lädt er Sie zum Abendessen ein. Eines wird zum anderen führen und schließlich lie gen Sie beide nackt im Bett. Mr. Lucas wird zappeln und keuchen wie ein Hecht auf dem Trockenen, und Sie fangen zu weinen an. ›Meine liebe Alice!‹ wird
Mr. Lucas erschrocken rufen, ›warum die Tränen in diesem ekstatischen Augenblick?‹ ›Weil ich bedrückt bin und Angst habe, Mr. Lucas. Sie spielen nur mit mir, nicht wahr?‹ ›Aber nein, Alice! Die Leidenschaft verbrennt mich, spürst du das denn nicht? Der Gedanke an deine ro ten Locken auf diesem weißen Kissen erregt mich! Fühle meinen Puls. Ich mit dir spielen? Keineswegs! Ich bin voll und ganz bei der Sache!‹ ›Aber Sie behandeln mich wie einen Außenstehen den! Weshalb beweisen Sie mir nicht, daß Sie mich für voll nehmen?‹ ›Ich kann kaum noch erwarten, es zu tun!‹ ›Nicht auf diese Weise. Ich möchte Ihr Vertrauen und Ihre Wertschätzung. Wenn ich, beispielsweise, mein natürliches Interesse für die Verlagsarbeit zeige, ignorieren Sie mich einfach. Deshalb bin ich traurig.‹ ›Hrrumph, harra... Ich möchte nicht, daß so etwas Unwichtiges zwischen uns kommt. Morgen im Büro werde ich...‹ ›Nein, Henry, bis dahin behandelst du mich viel leicht schon wieder kalt und von oben herab. Du mußt es mir jetzt sagen, um dein Vertrauen zu bewei sen.‹ ›Nun, es ist wirklich eine unbedeutende Sache.‹ Und dann wird er alle Geheimnisse ausspucken. Mü de, aber glücklich werden Sie mir am Morgen dann mitteilen, was Sie erfahren haben und alles wird in Ordnung sein. Wenn nicht...« Hier machte Mr. Strand eine bedeutungsvolle Pause. »Wenn nicht, kann ich für nichts garantieren.« »Ich verstehe.« »Nun, werden Sie es schaffen?«
»Ich – ich hoffe es.« »Denken Sie daran, wie begrenzt die Zeit ist! Ich habe Verpflichtungen, die sich nicht aufschieben las sen: ein Klassentreffen, wenn es Sie interessiert. Also befolgen Sie meine Anweisungen! Schließlich wurden Sie ja nur deshalb nach Pontefract gebracht.« »Ich tue mein Bestes, Mr. Strand.« »Ich bin sicher, Ihr Bestes dürfte ans Ziel führen.« Damit war das Gespräch beendet und es herrschte Schweigen.
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Aus Fauna der weganischen Welten, 3. Band: Die Fische von Aloysius, von Rapunzel K. Funk: GAID, auch als »Nachtexpreß« bekannt, ist ein prächtiger Fisch von glänzendem Schwarz, der bis zu sieben Meter lang werden kann. Sein Körper ist ausnehmend wohlge formt und im Querschnitt nahezu rund. Der Schädel ist groß und stumpf mit nur einem knollenförmigen Sehorgan, einem Kapselohr und breitem Maul, das beeindruckende scharfe Zähne beherbergt. Unmittelbar unterhalb dem Kopf anfangend zieht sich eine Kette Rückenstachel – manchmal bis zu einundfünfzig – bis fast zum Schwanz. Die Spitze jeder dieser Stacheln strahlt des Nachts ein leuchtend blau es Licht aus. Tagsüber schwimmt der Gaid unter der Oberfläche und ernährt sich von Algen, Borse und ähnlichem. Bei Sonnen untergang taucht der Nachtexpreß an die Oberfläche und kreuzt mit glühenden Stacheln umher. Die pelagischen Wanderungen bleiben ein Geheimnis. Der Fisch nimmt einen direkten Kurs, wie zu einem be stimmten Ziel. Das mag ein Kap, eine Insel oder auch ein unbezeichneter Punkt mitten im Meer sein. Hat er sein Ziel erreicht, hält er unbewegt etwa eine halbe Stunde an, als ließe er seine Fracht ausladen oder Passagiere einsteigen oder erwarte er neue Anweisungen. Dann schwenkt er majestätisch und mit bedächtiger Entschlossenheit herum. Er hört ein Signal und macht sich zu seinem neuen Ziel auf den Weg, das sehr wohl achttausend Kilometer entfernt sein mag. Diesen prächtigen Fisch des Nachts, wenn er das dunkle
Gewässer des aloysianischen Ozeans durchschneidet, zu sehen, ist wahrhaftig ein beeindruckendes Erlebnis. Gersen war ruhelos und fühlte sich irgendwie krib belig. Er ging hinaus in den nebeligen Abend und schritt ziellos durch die krummen Straßen von Ponte fract. Zu seiner eigenen Überraschung stellte er fest, daß er plötzlich auf das St. Diarmids Inn zuging. Er blieb stehen und betrachtete die Fassade, die für Pontefract auffallend grell war mit ihrer Mosaiktäfelung aus hellblauen und purpurnen Fliesen. Er spazierte wei ter, überquerte den Mullawney-Platz zur Portee Alt stadt, dem Viertel, um das die sogenannte bessere Gesellschaft einen Bogen machte. Hier gab es ver rauchte Tavernen, Läden mit Kuriositäten, Künstler ateliers, Fischbuden und diskrete Bordelle, vor denen, nach altem Gesetz, jeweils eine grüne Kugellampe hing. Schließlich kam er zum Meer. Über die Stundenglasbucht schaute er hinüber zu den fernen Lichtern von Port Rufus. Eine Brise brachte den Geruch der aloysianischen Marschen. Gersen hatte schon an vielen Ufern vieler Welten ge standen. Keine zwei hatten gleich gerochen... Am En de eines nahen Kais hing eine bunte Lichterkette vor einem Restaurant. Gersen trat auf den Kai und schaute in das Restaurant, das einen freundlichen, sauberen Eindruck machte mit den rot-weiß karierten Tischdecken. Ein Schild verriet, daß es Murdochs Grill zur schönen Aussicht war. Gersen trat ein und bestellte sich eine der Speziali täten des Hauses, die hauptsächlich Meerestierge richte waren. Aloysianische Speisen waren gewöhn
lich nur schwach gewürzt. Murdoch allerdings schien keine Angst vor würzigen Kräutern und pikanten So ßen zu haben... Gersen blieb lange sitzen und blickte aus dem Fenster zu den Lichtern von Port Rufus, und lauschte dem Murmeln der sanften Wellen, die gegen die alten Stelzenbeine des Lokals strichen. Ihm schien, als würde er mit der Zeit immer anfäl liger für seltsame Stimmungen, die er sich nicht er klären konnte. In früheren Jahren hatten seine Ge fühle sich nur um eine Achse gedreht: Haß, Trauer, Rachsucht. Er war humorlos gewesen, verbissen und nur die Lebensaufgabe, die er sich selbst gestellt hat te, hatte ihn mit Leidenschaft erfüllt. Nun gab es qua si zahlreiche Achsen für ihn in vielen Richtungen. Litt seine Intensität darunter? Sinnlos, sich diese Frage zu stellen... Seine Strategien, überlegte er, waren zumin dest teilweise wirkungsvoll. Howard Alan Treesong befand sich in aufreizender Nähe, möglicherweise di rekt in Pontefract. Vielleicht spazierte er in diesem Augenblick durch die engen Gassen, oder saß im be quemen Clubsessel eines Hotels und brütete neue Pläne aus. Gersen schaute sich im Restaurant um. Irgendwo nahm Howard Alan Treesong sein Abendessen ein... Unter den Gästen von Murdochs Grill befand sich kein hagerer großer Mann mit Denkerstirn und fleischlosem Kinn. Treesong speiste anderswo. Gersen ging ans Fon und rief das Tintenwischer an. »Henry Lucas. Ist mein Freund Mr. Strand bei Ih nen abgestiegen? Nein? Dann vielleicht Mr. Spark hammer? Hm, auch nicht. Würden Sie mir bitte einen Gefallen tun? Mit größter Diskretion, wenn ich bitten darf – erwähnen Sie meinen Namen nicht. Versuchen
Sie herauszufinden, in welchem Hotel Mr. Strand und Mr. Sparkhammer Zimmer genommen haben.« »Ich werde mein Bestes tun, Sir.« Gersen kehrte an seinen Tisch zurück. So leicht würde es wohl nicht sein, Treesong aufzuspüren. Er würde angelockt, geködert, überlistet werden müssen – und den Mittelsmann mußte Alice Wroke machen. Es würde ein faszinierendes Spiel werden, dachte Gersen, besonders, da Alice ihn für eingebildet, fad, stutzerhaft und töricht hielt. Gersen verließ das Restaurant und kehrte zum Tintenwischer zurück. Dem Portier war es, wie er wartet, nicht gelungen, herauszufinden, wo Mr. Strand und Mr. Sparkhammer abgestiegen waren. Gersen dankte ihm für seine Bemühungen und versi cherte ihm, daß es nicht so wichtig war. Dann ging er in seine Suite. Niemand hatte sie seit seinem Verlassen betreten. Die unauffällige Markierung war noch intakt. Am nächsten Morgen übertraf der Kammerdiener sich selbst und half Gersen in einen so prächtigen Anzug daß selbst der Portier bewundernd die Augen aufriß. Alice saß bereits an ihrem Schreibtisch, als er in der Redaktion ankam. Er wünschte ihr höflich ei nen guten Morgen, und sie antwortete auf die gleiche Weise. Heute trug sie einen knielangen Rock aus dunkelbraunem Stoff und eine aschbeige Hemdbluse, die ihrem Teint schmeichelte. Diese Kombination betonte ihre grazile Figur. Ihr orangerotes Haar glänzte von sorgfältigem Bürsten. Gersen setzte sich hinter seinen Schreibtisch und ignorierte sie, als wäre er sich ihrer Anwesenheit überhaupt nicht bewußt.
Mehrmals spürte er ihren Blick nachdenklich, ab schätzend, verwundert, auf sich. Gersen ging in den Sortierraum. Mrs. Ench kam ihm entgegen. Sie schwenkte einen Brief in der Hand. »Er könnte den Vogel abgeschossen haben, Mr. Lucas. Vielleicht hat er sich einen, wenn nicht gar den ersten Preis verdient! Und wie seltsam alles ist!« Gersen las den Brief. Preisausschreiben Redaktion »Sein!« Pontefract, Aloysius Sehr geehrte Herren, ich kann die abgebildeten Personen alle identifizieren. Es war meine Aufgabe, ihnen bei dem Bankett, das ihnen das Leben kostete, die Speisen zu servieren. Das Bild wurde im Regenblumensaal des Wild Isle Inns aufgenommen. Sie sind gerade dabei, von dem Charnay zu kosten, das sie alle, außer Mr. Sparkhammer, auf unerklärliche Weise vergifte te. Die Namen der Personen am Tisch sind, von links nach rechts: Sharrod Yest Dianthe de Trembuscule Beatrice Utz Robun Martiletto Sabor Vidol Stanley Sparkhammer John Gray Die stehenden Männer sind: Ian Bilfred A. Gieselman Artemouth Gadouth
Ich kenne ihre Namen von den Tischkarten, die ich selbst beschriftete. Außerdem waren noch zwei weitere Männer anwesend, die nicht abgebildet sind. Keiner von ihnen aß Charnay, und so überlebten auch diese beiden. Die Se maphoren sind die farbigen Platzzeichen. Das Erstaunliche an dieser Vergiftungssache ist, daß das Charnay aus ver schiedenen Behältern kam und von verschiedenen Köchen zubereitet war. Das Gift muß durch unsauberes Servierbe steck auf das Charnay gekommen sein. Ich nehme an, daß ich mit diesen Angaben die Bedin gungen Ihres Preisausschreibens alle erfüllt habe und den großen Preis gewinnen werde. Hochachtungsvoll Cletus Parsival Wild Isle Inn Wild Isle Cytherea Tempestre »Äußerst interessant«, sagte Gersen. »Der Inhalt die ses Briefes dürfte stimmen.« »Das scheint mir auch so.« Mrs. Ench warf Gersen einen seltsamen Blick zu. »Hatten Sie gewußt – was dieser Parsival uns schrieb –, daß diese Menschen alle durch Gift starben?« »Ich bin genauso überrascht wie Sie, Mrs. Ench. Aber es wird dem Absatz von Sein! nicht schaden.« »Warum ißt man dieses Charnay überhaupt, wenn man doch weiß, daß es giftig ist. Überhaupt ist das alles recht merkwürdig!« »Nun, dieser Mr. Parsival scheint alle Namen rich tig genannt zu haben.« »Alle, außer dem von Nummer sechs. Sparkham mer ist nicht sein wirklicher Name.« »Hmmm«, murmelte Mrs. Ench. »Diese Nummer
sechs ist schlüpfrig wie ein Aal, was seine Identität anbelangt.« »Das ist er allerdings.« »Ich wäre nicht abgeneigt, diesem Mr. Parsival den großen Preis zuzuerkennen und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Jedenfalls hat kein anderer uns so ausführlich informiert«, sagte Mrs. Ench. »Ich pflichte Ihnen durchaus bei«, versicherte ihr Gersen. »Aber wir müssen warten, bis die Frist abge laufen ist. Wie sieht es mit den Einsendungen aus?« »Ungefähr gleich, vielleicht nicht mehr ganz so viele in der täglichen Post.« »Gut, Mrs. Ench. Machen Sie so weiter! Und sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen besonders auf die Anga ben für Nummer sechs achten!« »Das werde ich tun, Mr. Lucas.« Im Gegensatz zu Alice Wroke fand Mrs. Ench Gersen höflich und lie benswürdig und hielt ihn für einen vollendeten Gen tleman, wie sie ihn auch ihrer Schwester beschrieb. Gersen kehrte mit dem Brief in sein Büro zurück. Lebhaft erkundigte sich Alice: »Gibt es etwas auf regendes Neues?« Gersen setzte sich erhaben hinter seinen Schreib tisch. Alice wartete. Ihr Gesicht war zu einer Maske harmlos neugieriger Erwartung erstarrt. Mit nasaler und absichtlich gedehnter Stimme ant wortete Gersen. »Wir haben eine Einsendung erhal ten, die alle Gesichter identifiziert.« »Richtig?« »Der, von dem sie kommt, behauptet, er habe die Tischkarten für das Bankett selbst beschriftet.« »Dann müßten die Namen ja richtig sein.« »Nicht unbedingt. Eine Identifikation, zumindest,
läßt Zweifel offen.« »Oh? Welche?« Gersen warf ihr einen strengen Blick zu. »Ich bin mir nicht sicher, ob es proper ist, über die Sache et was verlauten zu lassen, Alice. Jedenfalls im Augen blick dürfte es noch verfrüht sein.« Alice vermochte ihre Enttäuschung nur schlecht zu verbergen und verzog das Gesicht ein wenig. Gersen, der sie heimlich beobachtete, dachte: nun überlegt sie, wie sie mich am besten becircen kann. Alice sprang auf und trat an das Schränkchen mit der Teemaschine. Sie schenkte zwei Tassen ein, stellte eine vor Gersen und nahm die andere mit zu ihrem Schreibtisch, wo sie sich lässig so setzte, daß ihre Fi gur voll zur Geltung kam. »Leben Sie schon immer hier in Pontefract, Mr. Lucas?« »Ich machte natürlich viele Reisen, zu den ver schiedensten Orten.« Alice seufzte. »Pontefract ist so unpersönlich, nach fünf Jahren auf Wild Isle macht es mich geradezu trübsinnig.« Gersen dachte gar nicht daran, sie zu bedauern. »Ich verstehe sowieso nicht, weshalb Sie überhaupt hierherkamen.« Alice zuckte die Achseln. »Dafür gibt es Dutzende Gründe. Wanderlust, Ruhelosigkeit... Waren Sie je auf Cytherea?« »Nein, nie, aber ich hörte, daß man dort dem He donismus frönt und die Menschen dort ein sehr un konventionelles Leben führen.« Alice lachte und warf Gersen einen koketten Blick zu. »In manchen Fällen stimmt das natürlich, aber nicht in allen. Auf Wild Isle finden Sie jede Art von
Lebensstil. Meine Mutter ist fast so förmlich wie Sie.« Gersen hob die schwarzen Brauen. »Was? Sie hal ten mich für förmlich?« »Nun ja, in bestimmtem Maße...« »Aha.« Gersen brummte abfällig als wollte er damit andeuten, daß Alices Meinung über ihn oberflächlich war und von Unreife zeugte. »Erzählen Sie mir doch mehr von Wild Isle! Stimmt es tatsächlich, daß Kri minelle die Kasinos leiten?« »Das ist eine arge Übertreibung!« entgegnete Alice. »Mein Vater ist kein Krimineller.« »Aber niemand gewinnt je.« »Natürlich nicht.« »Gehen Sie je ins Kasino?« »Nein, es macht mir keinen Spaß.« »Ist Wild Isle eine Stadt?« »Eher ein Fremdenverkehrsort mit seinen Kasinos, Hotels, Restaurants, Jachthäfen, Sandstränden und unzähligen kleinen Bungalows an den Hängen. Es ist natürlich längst nicht mehr wild, ich meine unkulti viert.« »Haben Sie je ein Charnayrestaurant besucht?« Erstaunt antwortete Alice: »Nein.« »Was ist Charnay eigentlich?« »Eine purpurfarbene Frucht mit harter Schale. Gif tröhren verzweigen sich dicht unter der Schale im Fruchtfleisch, das als solches köstlich schmecken soll. Ich selbst habe noch nie Charnay gegessen. Ich möchte noch länger leben. Außerdem sind Charnay schrecklich teuer.« Gersen lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Eine Einsendung wies darauf hin, daß es sich bei unserer Fotografie um ein Charnay-Bankett handelt.«
Alice griff nach einem Exemplar des Journals mit dem Preisausschreiben und betrachtete das Bild. »Ja – das mag stimmen.« »Wie seltsam! Sie hätten einem dieser Abgebildeten auf der Straße begegnen können.« Alice antwortete kühl. »Möglich, aber nicht wahr scheinlich. Tausende von Touristen kommen durch Wild Isle. Außerdem ist nicht bekannt, wann die Aufnahme gemacht wurde – sie kann schon zehn Jah re alt sein.« »Es ist eine neuere Aufnahme. Jeder wurde identi fiziert, und wir sind bereits dabei festzustellen, ob die Angaben stimmen.« »Also gibt es schon einen Gewinner?« »Das habe ich nicht gesagt.« Alice fragte schlau: »Wie sind Sie denn an das Bild gekommen?« »Ich rettete es aus dem Papierkorb. Aber ich darf nicht über das Ausschreiben reden, noch ist die Frist für die Einsendungen nicht abgelaufen. Nehmen Sie sich doch den Rest des Tages frei Alice! Ich bin heute im Außendienst beschäftigt.« »Vielen Dank, Mr. Lucas. Ich weiß nur nicht so recht, wie ich mir die Zeit vertreiben soll. Ich kenne außer Ihnen niemanden in dieser Stadt – und Sie sind so verschlossen.« »Welch ein Unsinn!« rief Gersen. »Das können Sie doch nicht wirklich glauben!« »O doch, das ist mein ehrlicher Eindruck. Vielleicht halten Sie es für unpassend, gesellschaftlichen Kon takt mit Angestellten zu pflegen. Möglicherweise wird es auch von der Verlagsleitung nicht gern gese hen.«
»Davon habe ich nie gehört.« »Finden Sie mich geschmacklos angezogen oder abstoßend?« »Ganz im Gegenteil«, versicherte ihr Gersen ehr lich. »Ich halte Sie für sehr anziehend, ja, tatsächlich außergewöhnlich attraktiv. Und es tut mir leid, daß Sie sich in Pontefract langweilen. Vielleicht könnten wir einmal zusammen zu Abend essen?« Alices Lippen zitterten. War es ein unterdrücktes Lächeln oder eine Grimasse? Mit schüchterner Stim me sagte sie: »Oh, das wäre nett. Ginge es heute abend?« »Hmm. Lassen Sie mich kurz überlegen. Wo woh nen Sie?« »Im St. Diarmids Inn.« »Also gut, ich werde Sie gegen Median im Foyer abholen.« »Nun fühle ich mich gleich viel besser, Mr. Lucas.«
6
Ein Hoch auf Charnay! Von all den guten Dingen, die es in diesem an ihnen so reichen Universum gibt, übertrifft nichts einen reifen Charnay – außer zwei oder drei seiner Art. Aus Connaisseur von Michael Wiest Wenn man schon sterben muß – und das bleibt ja, wie allgemein bekannt, niemandem erspart –, warum dann auf gewöhnliche Weise? Lieber doch auf eine großartige, um die alle einen beneiden werden, mit dem köstlichen Geschmack von Charnay noch auf der Zunge! Gillian Seal, Hobbykoch, Musiker und Bonvivant Ob Sie es glauben oder nicht, ein ungefährliches, be kömmliches und giftfreies Charnay könnte ohne größere Schwierigkeiten gezüchtet und auf den Markt gebracht werden. Doch alle Bemühungen in dieser Richtung wurden bisher vom Charnay-Züchter-Verband vereitelt, auch ist die Nachfrage nach einer solchen Entwicklung nicht groß. Ist es möglich, daß der anerkannt feine Ge schmack gerade durch das Risiko noch erhöht wird? Leon Wolke, Journalist und Berichter statter der Zeitschrift Cosmopolis, der zwei Wochen nach Erscheinen seines Artikels unsachgemäß zubereiteten Charnay aß und daran starb. Das St. Diarmid war bereits durch die Hände vieler
Besitzer gegangen. Jeder hatte die Ausstattung nach
seinen eigenen Vorstellungen ergänzt oder verändert,
und dadurch zu ihrer Ungewöhnlichkeit beigetragen. Das Foyer umfaßte das gesamte Parterre. Schwere Säulen kretischen Stils, stützten die in Lavendel und Rosa gemusterte Decke. Neben jeder Säule wuchsen Rhodantapalmen in Terrakottatöpfen bis zur Decke, wo die kahlen Stämme mit kugelförmigen dunkel grünen Kronen geschmückt waren. Nach wegani schem Geschmack war das Ganze zu schreiend. Die zahllosen Gäste in Kleidung aus allen Ecken der Ökumene verliehen der etwas wirren und hektischen Atmosphäre des St. Diarmids Leben und Dramatik. Gersen stellte sich pünktlich ein. Er trug, was der Kammerdiener für einen zwanglosen Abend für pas send erachtet hatte: eine hautenge schwarze Hose, ein vertikal gestreiftes Hemd in Schwarz, Dunkelgrau und Hellgrau mit breitem schwarzen Halsband, an stelle einer Krawatte. Das schwarze Jackett war nach der eleganten Mode für die feine Gesellschaft von Pontefract vorne offen, an den Schultern gerafft und glockig in der Hüftpartie. Gersen hatte den dazuge hörigen Federhut abgelehnt, woraufhin der Kam merdiener ihm sichtlich verdrossen eine weiche rechteckige schwarze Mütze gestattet hatte. Mit dem harten, finsteren Lockenhaar und der bleichen Haut machte er eine eindrucksvolle Figur, mit der er jedoch nur deshalb zufrieden war, weil es ihm einen un heimlichen Spaß bereitete, die arme Alice Wroke zu täuschen und zu verwirren. Gersen sah sie durch den mittleren Säulengang na hen. Verlegen schaute sie sich um. Gersen betrachtete sie, als hätte er sie nie zuvor gesehen: den Mund mit dem unbewußt sehnsüchtigen Zug, die zierliche Na se, das ganze herzförmig geschnittene Gesicht. Heute
fiel ihr orangerotes Haar lose bis fast zu den Schul tern ihres einfachen grauen Kleides. Als sie Gersen sah, zwang sie sich zu gespielter Freude. Sie winkte ihm scheinbar vergnügt zu und durchquerte das Foyer schnellen Schrittes. Drei Meter vor Gersen blieb sie stehen und musterte ihn bewun dernd von Kopf bis Fuß. »Ich muß schon sagen, Mr. Lucas, daß Sie sich elegant zu kleiden wissen.« »Das ist nicht mein Verdienst, dafür sorgt das Tin tenwischer. Der mir zugeteilte Kammerdiener sucht alles für mich aus.« Alice schien ihn nicht ganz zu verstehen. Mit strahlendem Lächeln erkundigte sie sich: »Wo wollen wir dinnieren? Hier? Im Wappensaal sitzt man sehr angenehm.« »Zu laut und zu voll«, entgegnete Gersen. »Ich bin für ein exklusiveres Lokal.« »Ich vertraue mich völlig Ihnen an«, versicherte ihm Alice. »Gut, dann hinaus in die weganische Nacht.« Sie verließen St. Diarmids. Alice hakte sich schüchtern bei Gersen ein. »Wohin wollen wir?« »Es ist ein schöner Abend«, meinte Gersen. »Wir könnten zu Fuß gehen, wenn Sie möchten.« »Mir ist es recht.« Sie überquerten den Mullawney-Platz zur Beaudry Lane und kamen in die Portee Altstadt. Wie unwirk lich! dachte Gersen. Wir spazieren durch die Straßen von Pontefract, sie in ihrer Maskerade, ich in meiner. Alice spürte ein wenig von Gersens Stimmung. »Mr. Lucas, weshalb sind Sie so ernst?« Gersen ignorierte ihre Frage und sagte: »Sie dürfen mich Henry nennen. Wir sind ja nicht im Verlag.«
»Danke, Henry.« Sie blickte unsicher über die Schulter. »Ich war noch nie in diesem Teil der Stadt.« »Er ist wohl so ganz anders als Wild Isle?« »Allerdings.« Schließlich kamen sie zum Meer und Murdochs Grill. Alice widmete Gersen einen nachdenklichen Seitenblick. Der so knöcherne und pedantische Lucas schien auch weniger förmliche Charakterzüge zu ha ben. Sie setzte sich in eine Ecke an einem Fenster. Unter ihnen spülte das Wasser in trägen Wellen gegen die Pfähle. Sterne und ferne Lichter spiegelten sich in der dunklen Oberfläche. »Können Sie Ihre Heimatsonne finden?« fragte Gersen. »Ich kenne die Sternbilder von hier aus nicht.« Gersen blickte zum Himmel auf. »Das dort ist Sol, die gute alte Erdensonne.« Ihr Essen wurde aufgetragen: Suppe aus einheimi schen Artischocken, Krebsragout, ein Gemüse aus Zwiebeln und verschiedenen würzigen Kräutern, und Salat aus frischem Grün. Alice stocherte in ihrem Es sen nur herum, und als Gersen sie fragend anblickte, behauptete sie, keinen Appetit zu haben. Beim Wein hielt sie sich weniger zurück und wurde nach mehre ren Gläsern ein wenig munterer. »Was ist mit dem Preisausschreiben?« fragte sie. »Wird sein Stand immer noch geheimgehalten? Vor allem vor mir?« »Geheimnis? Nein, nicht mehr. Aber wir wollen uns doch nicht über Berufliches unterhalten. Erzählen Sie mir von sich. Für mich sind Sie ein Geheimnis.« Alice blickte mit zusammengezogenen Brauen über die Stundenglasbucht. »Da gibt es nicht viel zu er
zählen. Das Leben auf Wild Isle ist nur für die Touri sten aufregend.« »Ich verstehe immer noch nicht, was Sie nach Pon tefract verschlagen hat.« »Oh – die Umstände.« Der Nachtisch wurde serviert: Obsttörtchen und starker Kaffee mit viel Sahne, nach aloysianischem Geschmack. Gersen fand, daß er weit genug von seinem vorge täuschten Charakterbild abgewichen war. Er ver suchte eine Analyse der lokalen Politik, von der er so gut wie nichts verstand. Alice blickte apathisch aus dem Fenster über das dunkle Wasser. Ganz offen sichtlich hörte sie Gersen überhaupt nicht zu. »Was jetzt?« fragte er schließlich. »Mit Unterhal tung sieht es in Pontefract schlecht aus, außer viel leicht im Mummenschanz, aber für das Programm sind wir zu spät dran. Möchten Sie vielleicht einen Streifzug durch die Tavernen in der Hafengegend machen?« »Nein... Ich glaube, wir sollten zum Hotel zurück kehren.« Ein altes hohes Taxi brachte sie zum St. Diarmid zurück. Im Foyer verbeugte sich Gersen höflich, als wolle er sich verabschieden. Hastig sagte Alice: »O bitte, ge hen Sie noch nicht.« Ohne ihn anzusehen fuhr sie mit bemüht gleichmütiger Stimme fort: »Wir könnten uns in meinem Zimmer noch ein wenig unterhalten, wenn Sie möchten.« Höflich wehrte Gersen ab. »Sie sind doch sicher sehr müde.« Immer noch ohne ihn anzusehen, während ihr Ge
sicht sich mit leichter Röte überzog, murmelte sie: »Nein, nicht wirklich. Um ehrlich zu sein, ich – ich fühle mich so allein.« Wieder verbeugte sich Gersen höflich, doch dies mal zustimmend. »In diesem Fall wird es mir eine Ehre sein, mit Ihnen zu kommen.« Er nahm ihren Arm. Sie gingen zum Aufzug und fuhren in den vierten Stock. Alice öffnete die Tür und trat steif wie eine Gefan gene in ihr Zimmer. Gersen folgte ihr wachsam. Unter der Tür blieb er stehen und sah sich scharf um. Alice beobachtete ihn gleichgültig. Sie erkundigte sich nicht einmal nach dem Grund seiner Wachsamkeit. Beruhigt trat er ein und schloß die Tür. »Henry«, hauchte Alice atemlos. »Darf ich Sie Henry nennen?« »Das schlug ich Ihnen ja bereits vor.« »Ich vergaß. Ist das nicht idiotisch? Darf ich Ihren Hut und Ihre Jacke haben?« Gersen warf den Hut auf einen Stuhl und schlüpfte aus der Jacke. »Das tut gut! Die Schneider von Ponte fract haben kein Gefühl für die menschliche Gestalt.« »Bitte setzen Sie sich, Henry – dort.« Gehorsam ließ Gersen sich auf der Couch nieder. Alice brachte ein silbernes Tablett von einer Kommo de an. »Was ist denn das?« erkundigte er sich. »Kandierte Blütenblätter, Hydromelkristalle. Das ist Lebenslikör von Sirsse.« Sie schenkte eine klargrüne Flüssigkeit in zwei kleine Schalen. »Zu Hause trinken Liebende Sirsse miteinander«, erklärte Alice. »Wir sind natürlich keine Liebenden, Sie und ich, aber...« »Aber was?« »Oh – nichts.«
Gersen kostete den Likör. Er schien von der Art zu sein, die einem, ohne daß man es merkte, in den Kopf stieg. »Schmeckt er Ihnen?« fragte Alice. »Er ist ungewöhnlich und sehr würzig.« Alice setzte sich neben ihn und nippte von ihrem Glas. »Mir ist, als prickle ich innerlich, wenn ich ihn trinke.« Gersen wunderte sich selbst, als plötzlich sein Arm um ihre Schulter lag. Er hatte beabsichtigt gehabt, höflichen Abstand zu bewahren. Sie schmiegte sich an ihn, und er küßte sie – ein wenig leidenschaftli cher, als der Anstand es erlaubt hätte. Alice blickte ihn aus dunklen geweiteten Pupillen an. »Stimmt etwas nicht?« erkundigte sich Gersen. »Habe ich dich gekränkt?« »O nein!« Sie lachte nervös. »Du hast mich nur ein wenig erschreckt. Du bist jetzt so anders, als der Mr. Lucas im Büro. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.« »Nun, ich bin jedenfalls ich.« Sie füllte die Glasschalen nach. »Trink!« »Den Liebestrank?« »Wenn du ihn so nennen willst.« »Hast du einen festen Freund?« »Nein... Und du, hast du eine Freundin?« »Ich habe niemanden.« Alice hob das Gesicht zu ihm, und er küßte sie er neut. Ihr Kleid öffnete sich wie von selbst und offen barte eine feste runde Brust. Es schien sie absolut nicht zu stören. Gersen seufzte tief. »So kann es einfach nicht wei tergehen.«
»Nein?« Alice streichelte seine Wange. »Ich kann mich eines unangenehmen Verdachts nicht erwehren.« Alice starrte ihn konsterniert an. »Was willst du damit sagen?« »Es würde mich zutiefst verletzen, müßte ich fest stellen, daß du nur nett zu mir bist, weil du etwas über das Preisausschreiben erfahren willst. Das ist natürlich absurd.« Alice setzte sich auf. Sie war sehr bleich geworden. »Wirklich absurd!« »Nun, könnten wir nicht auch... ah... gute Freunde werden, wenn ich dir nichts über das Preisausschrei ben verrate?« »Das wird so – so intellektuell... Ich könnte jeden falls niemanden lieben, der kein Vertrauen zu mir hat.« »Mit anderen Worten also – nein!« »Aber ich möchte dich gern als – Freund«, sagte Alice ernst. Gersen überlegte kurz. »Es sieht ganz so aus, als müßte ich dir alles erzählen, was ich weiß, um dir mein Vertrauen zu beweisen.« »Nur, wenn du es wirklich willst.« »Nun, warum eigentlich nicht?« Gersen streckte die Beine aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Es gibt im Grunde genommen nicht viel zu er zählen. Die Personen auf dem Bild wurden identifi ziert, das heißt alle, außer einer, die uns unter einem anderen Namen bekannt ist.« Er holte eine Liste aus seiner Tasche und las: Yest, de Trembuscule, Utz, Bil fred Vidol, Sparkhammer, Gray, Gadouth, Gieselman, Martiletto. Alle Namen stimmen außer Sparkham
mers, der unter Dutzenden weiterer Namen bekannt ist. Niemand hat seinen wahren Namen eingesandt. »Wundert dich das?« »Nein. Warum sollte es?« Gersen warf die Liste auf den Tisch und lehnte sich wieder zurück. »Weil es ganz so aussieht, als sei er der berüchtigte Verbrecher, der eigentlich Howard Alan Treesong heißt?« »Howard Alan Treesong? Das kann nicht wahr sein!« »Warum nicht?« Alice fand keine Antwort. »Die Leute auf dem Bild sind alle tot – außer Nummer sechs, und das ist Treesong. Gibt dir das nicht zu denken?« Alice, die mit ihren Gedanken weit weg war, zuckte düster die Achseln. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr.« »Es gibt noch eine andere Seite der Sache«, fuhr Gersen fort. »Wenn Nummer sechs Treesong ist – und es besteht kein Zweifel –, möchte ich ihn inter viewen. Sein! könnte ein solches Interview zu barem Gold machen, oder auch eine kurze Autobiographie. Wenn ich nur wüßte, wie ich ihm eine Nachricht zu kommen lassen könnte! Ich möchte mich mit ihm in Verbindung setzen.« Alice starrte durchs Zimmer ins Leere. Gersen er hob sich. Er griff nach Jacke und Hut. Alice blickte auf und sprach mit rauhem Flüsterton: »Willst du schon gehen?« Gersen nickte. »Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.« »Nein, das hast du nicht!« platzte sie verzweifelt
heraus. »Wie bist du zu der Fotografie gekommen?« »Ich ging in die Cosmopolis-Bibliothek, schaute in den Papierkorb und fand diese Fotografie. Niemand konnte mir etwas darüber sagen, und so kam es zum Sein!-Preisausschreiben!« »Wer hat denn das Bild in den Papierkorb gewor fen?« »Ein junger, dummer Angestellter.« »Trotzdem – warum hast du ausgerechnet dieses Bild ausgewählt. Es muß doch viele andere gegeben haben, die für ein Preisausschreiben nicht weniger geeignet gewesen wären.« »Jemand Unbekannter hatte ›Treesong was here‹ auf das Bild gekritzelt. Mein Interesse erwachte, weil es angeblich nirgendwo Bilder von Treesong gibt. Ich hatte das Gefühl, daß diese Fotografie beachtlichen Veröffentlichungswert haben würde. Und so war es auch.« Alice schwieg. Gersen ging zur Tür. »Gute Nacht.« Alice blickte ihm müden Blickes nach. »Ich frage mich, wieviel du von mir weißt.« »Nicht sehr viel. Willst du mir irgend etwas sagen? Vertrauen gegen Vertrauen, weißt du?« Alice schüttelte bedrückt den Kopf. »Ich wüßte nicht, was ich sagen sollte.« »Nun denn, gute Nacht.« »Gute Nacht.« Alice blieb sitzen, wie Gersen sie verlassen hatte, mit ausgestreckten Beinen, den Rücken gegen die Lehne gedrückt und düsterer Miene. Sie strich mit den Fin gern durch das orangerote Haar und schob die Lok ken aus der Stirn zurück. Zehn Minuten blieb sie
noch tief in Gedanken versunken sitzen. Dann stand sie auf, trat ans Telefon und stellte eine komplizierte Verbindung her. Eine Stimme meldete sich: »Alice? So früh? Ihr seid ja ein schnelles Paar.« Mit tonloser Stimme erklärte Alice: »Ich habe die gewünschte Auskunft. Die Personen auf dem Bild sind folgende.« Sie las von der Liste ab, die Gersen zurückgelassen hatte. »Von wem sind diese Namen?« »Von den verschiedenen Einsendungen. Es soll auch eine geben, die alle Namen richtig angibt, außer einem.« »Und welcher ist es?« »Mr. Lucas sagte, daß ›Sparkhammer‹ noch unter vielen anderen Namen identifiziert wurde: Fred Framp, Bentley Strange, Howard Alan Treesong... Den Rest habe ich vergessen.« Schweigen. Die Stimme klang nun anders, ruhig, überlegend. »Was hält Mr. Lucas von all dem?« »Ich glaube, er ist erpicht darauf, daß Mr. Spark hammer oder Mr. Treesong, sich mit ihm in Verbin dung setzt, weil er ein Interview mit ihm machen möchte. Er würde gern Mr. Treesongs Autobiogra phie bringen.« Die Antwort kam prompt und entschieden. »Er muß sich auf eine Enttäuschung gefaßt machen. Mr. Sparkhammer oder Mr. Treesong, wie immer er auch heißt, legt keinen Wert auf dergleichen. Wie ist Sein! in den Besitz der Fotografie gekommen?« »Mr. Lucas fand sie in einem Papierkorb in der Cosmopolis-Bibliothek. Ein Angestellter hatte sie weg geworfen.«
»Sehr merkwürdig... Ob das stimmt?« »Ich glaube schon.« »Wie ist das Bild denn überhaupt zu Cosmopolis ge kommen?« »Ich habe nicht daran gedacht, das zu fragen. Ich nehme an, auf die übliche Weise.« »Und was brachte Mr. Lucas dazu, gerade diese Fotografie für sein Preisausschreiben auszuwählen?« »Jemand hatte darauf geschrieben: ›Treesong was here‹. Das erweckte Mr. Lucas' Interesse.« »Also schlug er ein Preisausschreiben vor, um Mr. Treesong und seine Kollegen zu identifizieren.« »Das hat er getan.« »Erwähnte er auch, weshalb?« »Er sagte, er möchte gern Mr. Treesongs Autobio graphie veröffentlichen. Und wie ich Ihnen bereits sagte, möchte er, daß Mr. Treesong sich mit ihm in Verbindung setzt.« »Das muß er sich wohl aus dem Kopf schlagen. Mr. Treesong nehmen dringende Geschäfte in Anspruch.« Mr. Strand schwieg so lange, daß Alice zappelig wurde. Dann fragte er: »Was hat er Ihnen sonst noch gesagt?« »Nicht viel. Er weiß, daß die Aufnahme auf Wild Isle gemacht wurde und daß alle an Charnay starben, außer Mr. Sparkhammer.« Wieder ein längeres Schweigen. »Schön, Alice. Im großen und ganzen haben Sie Ihre Sache gut ge macht.« »Darf ich jetzt nach Hause zurück? Und werden Sie tun, was Sie versprochen haben?« »Noch nicht. O nein, noch nicht! Sie müssen auf Ih rem Posten ausharren. Halten Sie weiter Augen und
Ohren offen! Dieser Henry Lucas, was halten Sie von ihm?« Bedrückt antwortete Alice: »Er ist mir ein Rätsel. Ich kann mir kein klares Bild von ihm machen.« »Hmmm. Das sagt mir nicht viel. Aber wie dem auch sei, machen Sie weiter wie bisher. Ich muß ver reisen. Morgen und übermorgen werden Sie mich nicht erreichen können. Halten Sie Ihre private Ver bindung mit Mr. Lucas aufrecht! Ich habe das Gefühl, daß hinter dem Ganzen noch mehr steckt, als er Ihnen verraten hat.« »Wie lange noch?« »Wir werden sehen. Ich gebe Ihnen Bescheid.« »Mr. Strand, ich habe alles getan, was ich kann. Bitte...« »Alice, ich habe keine Zeit für Ihr Lamento. Wie gesagt, Sie machen weiter wie bisher, und alles wird gut werden. Haben Sie das verstanden?« »Ich glaube schon.« »Also dann, gute Nacht.« »Gute Nacht!«
7
Auszug aus einer Ansprache Nicholas Reids, Genosse des Instituts im 88. Rang, im Technischen Kolleg von Madera: Das Institut bemüht sich um menschliche Größe. Wir ver suchen gute Anlagen zu fördern und abartige, krankhafte umzuwandeln. Unser Kredo entstammt der Geschichte der menschli chen Rasse die sich über Millionen von Jahren in einer na türlichen Umwelt entwickelte. Was passiert, wenn ein Salzwasserfisch in Süßwasser gegeben wird? Er geht unter schrecklichen Qualen ein. Nehmen Sie ein Lebewesen, dessen jeder Sinn, Instinkt und jede Anlage durch seine natürliche Umwelt geprägt sind, durch die Wechselbeziehungen mit Sonne, Wind, Wolken, Regen, fernen Horizonten und Bergen, dem Genuß natür licher Nahrung, der Verbundenheit mit der Scholle. Was geschieht, wenn dieses Lebewesen in eine künstliche Um welt gebracht wird? Es wird neurotisch, ein Opfer hysteri scher Launen, vorsätzlicher Halluzinationen, sexueller Perversion. Es beschäftigt sich statt mit Tatsachen mit Ab straktionen und wird so intellektualisiert und untüchtig. Sieht es sich einer wirklichen Gefahr gegenüber, schreit es, rollt sich zu einer Kugel zusammen, schließt die Augen, beschmutzt sich in seiner Angst und wartet. Es ist ein Pa zifist, dessen Furcht nicht zuläßt, daß es sich verteidigt. Aus Zum besseren Verständnis des Instituts von Charles Bronstein (82):
Stadtmenschen erleben nicht das Leben, sondern die Ab straktion des Lebens auf immer höheren Ebenen der Ver feinerung und der Abwendung von der Wirklichkeit. Sie verfolgen Ideen und entwickeln esoterische Beschäftigun gen, werden zum Kritiker, der die Kritik kritisiert, ja sogar zum Kritiker, der die Kritik der Kritik kritisiert. Das ist ein trauriger Mißbrauch menschlicher Fähigkeiten und Ener gie. Aus Das Institut: eine Einführung von Mary Murray: Unser Schutzpatron ist der Riese Antäus. Die Stadt ist ein unnatürliches Habitat. Sind wir elitär, wie häufig behauptet wird? Nun, ganz sicher erachten wir uns nicht als den Abschaum der Gesell schaft. Wir billigen Gegensätze, gesellschaftliche Ungleichheit, ungeheuren Reichtum, tiefste Armut. Man beschuldigt uns der Begünstigung des Chaos, doch das wurde nie zugege ben. DIE STÄDTER SCHLAGEN ZURÜCK! »Elitäre Selbstherrlichkeit!« »Wenn sie das Pleistozän so lieben, warum tragen sie dann nicht Tierfelle und hausen in Höhlen?« »Bewohner hoher und unzugängiger Elfenbeintürme, die sie selbst mit natürlichem Habitat verwechseln!« »Ich kritzle lieber mit einem Schreibstift in einem hellen Büro mit Klimaanlage, als einen Schubkarren durch den Schmutz zu schieben!« Und fast ins gleiche Horn gestoßen: »Ich pflücke lieber Fehler aus einem Manuskript, als reife Tomaten in der heißen Sonne!« Und noch einmal im gleichen Sinnlaut:
»Ich sitze lieber in meinem schnittigen Fisselflitzer als auf einem störrischen Maultier.« Gersen stand am Fenster seines Salons im Tintenwi scher und blickte grübelnd über den Tara-Platz. Es war Mitternacht, und der Tara-Platz lag dunkel und still. Die Sterne schienen auf die Dächer von Ponte fract und warfen dunkle Schatten über hohe Giebel, unter schiefe Erker und Tausende von Schornsteinen. Seine Haltung drückte seine Stimmung aus. Gersen fühlte sich müde und verdrossen. Der große Plan war fehlgeschlagen, obgleich das Programm wie vorgese hen verlaufen war: Howard Alan Treesong hatte ge nau wie erwartet reagiert, und in Alice Wroke hatte er einen Faden gefunden, der zu Treesong führte. Doch dann plötzlich die Niederlage! Aus welchen Gründen auch immer – Stolz, etwas Dringlichem an derem, oder ein ungewöhnlich scharfer Instinkt – hatte Howard Alan Treesong abgelehnt, eine Veröf fentlichung seiner Autobiographie auch nur in Be tracht zu ziehen, genausowenig, wie er an einem In terview interessiert war. Es gab auch an dem Preisausschreiben nichts mehr, was ihn weiterbringen konnte. Morgen würde er Mrs. Ench die alleinige Leitung übertragen. Was dann? Alice Wroke blieb seine einzige ah nungslose Verbindung zu Treesong, aber sie war un sicher und mochte jeden Moment brechen. Zwei Fragen blieben unbeantwortet: Wodurch hatte Howard Alan Treesong Alice Wroke in der Hand? Und weshalb hatte Treesong nun Menschen mit Charnay vergiftet? Die Antworten ließen sich vermutlich auf Wild Isle
finden, überlegte Gersen düster, doch würden sie höchstwahrscheinlich überholt und nutzlos sein. Von viel größerer Wichtigkeit war Howard Alan Treesongs gegenwärtiges ›dringendes Geschäft‹, sei ne ›wichtige Verpflichtung‹, wie er es ausgedrückt hatte. Was war es? Davon wußte Alice Wroke offenbar nichts. Und ei ne andere Informationsquelle hatte er nicht. Er starrte über die sternenhellen Dächer. In den Schenken von Portees Altstadt brannte bestimmt noch Licht. Sein Blick wanderte in die Richtung des St. Diarmid, und er fragte sich, ob Alice Wroke noch wach war. Gersen wandte sich vom Fenster ab und blieb reg los stehen, ehe er sein Tintenwischer-Hemd auszog und in einen dunkelgrauen Raumfahrer-Blouson schlüpfte, eine weiche Kappe aufsetzte und sich zur Tür aufmachte... Das Läuten des Kommunikators ließ ihn umkehren. Stirnrunzelnd betrachtete er das In strument. Wer rief ihn zur so späten Stunde noch an? Der Schirm leuchtete auf und das lange bleiche Ge sicht Maxel Rackroses erschien. »Mr. Lucas?« »Am Apparat.« Rackrose sprach mit gewählt bedächtiger Stimme. »Die von Ihnen gewünschte Information – die Iden titätsbestätigungen und so weiter –, von ein paar Ein zelheiten abgesehen, dürfte zusammengetragen sein.« Die Stimme klang irgendwie zurückhaltend, so daß Gersen sofort wachsam wurde. Fast tonlos sagte Rackrose: »Ich hoffe, ich habe Sie nicht aus dem Schlaf gerissen.« »Nein, ich wollte gerade das Hotel verlassen.« »Warum kommen Sie dann nicht ein paar Minuten
ins Büro. Es wird Sie zweifellos interessieren, was sich ergeben hat.« »Ich bin schon unterwegs.« Die Cosmopolis-Redaktion war nie geschlossen. Es wurde Tag und Nacht gearbeitet. Eine hohe Glastür öffnete sich bei Gersens Näherkommen automatisch. Er betrat das Foyer, in dem fast eine ganze Wand von einer Karte der Erde aus farbigen Leuchtglasplättchen eingenommen wurde. Gersen fuhr mit dem Aufzug hoch in den Nord turm und ging zu der Bürosuite Maxel Rackroses, der zum Leiter der Abteilung für Sondereinsätze aufge rückt war. Das Vorzimmer, ein Beispiel für Rackroses wählerischen Geschmack, war ganz im hohen Clap shott-Stil eingerichtet. Das innere Büro, wo Rackrose die meiste Zeit verbrachte, war ein Dschungel an Un ordnung. Auf einem langen Tisch standen und lagen Haufen von Büchern, Zeitschriften, Fotografien und alle möglichen brauchbaren und unnützen Kleinig keiten. Einige Hocker und Stühle standen herum, ein Kommunikator, eine ausgesprochen kompliziert aus sehende Teemaschine, und ein nicht weniger kompli zierter Projektor für kaleidoskopische Muster, der Akt einer ausgehungert wirkenden Frau, etwa drei Meter groß – der Bauch öffnete sich jede volle Stunde und ein Kuckuck schnellte heraus, der die Zeit angab. Rackrose war ein großer, eckiger junger Mann in teurer, allerdings unkonventioneller Kleidung mit langem, leicht pferdeähnlichem Gesicht, strähnigem blonden Haar und blauen Augen unter schweren Li dern. Er begrüßte Gersen auf kultivierte und unge zwungene Weise. »Setzen Sie sich doch bitte!« Mit
schlaffer weißer Hand deutete er auf einen seiner kostbaren, aber unbequemen antiken Stühle. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Und ein paar Kek se vielleicht?« »Ja, gern.« Als er Tee eingegossen und Anislaibchen auf einen Teller gegeben hatte, setzte Rackrose sich auf einen Stuhl an einem nierenförmigen Tisch. »Wie geht es Ihrem Preisausschreiben?« »Danke gut. Eine Einsendung identifiziert neun von zehn, und wenn keine bessere kommt, wird ihr der erste Preis zugeschrieben. Was ist mit Ihrer Iden tifizierung?« Rackrose lehnte sich zurück, drückte die Finger an einander und blickte mit gespitzten Lippen zur Dek ke. »Genau nach Ihren Anweisungen überprüfte ich alle eingegangenen Informationen. Ich fing mit dem Index* an und mit unseren eigenen Unterlagen. Mit der Identifizierung gab es keinerlei Schwierigkeiten. Die Angegebenen sind alle hochgestellte Persönlich keiten – mit Ausnahme von Nummer sechs. Jeder der für ihn angegebenen Namen steht in Verbindung mit illegalen Tätigkeiten. Kurz gesagt, er ist ein Krimi neller.« »Und die anderen?« »Ah, hier kommen wir zu der interessanten Ent * Ein Identitätsnachschlagwerk, das ursprünglich von der IPKG zusam mengestellt und dann von anderen Stellen ergänzt wurde. Der Index enthält Fürsorgeaufzeichnungen, Wehrdienstaufstellungen, Passagierli sten interplanetarer Schiffe, standesamtliche Unterlagen, Fonbücher, Schul- und Universitäts-Abschlüsse, Vorstrafenregister, Mitgliedschaf ten, und Namen, die durch automatische Scanner den Nachrichten ent nommen wurden.
deckung. Immer wieder fand ich Hinweise auf das Institut und Bemerkungen, wie ›offenbar von hohem Rang in der Hierarchie‹ und ›höchstwahrscheinlich ein hoher Genosse‹. Tatsächlich wurde Beatrice Utz als ›103‹ identifiziert. Artemouth Gadouth ist der Triun*.« Maxel Rackrose machte eine Pause, um Gersen eine Chance zu geben, über die Bedeutung dieser In formation nachzudenken. Gersen studierte die Fotografie, die er im Schlaf in jeder Einzelheit hätte beschreiben können. Ein er schreckender Verdacht erwachte in ihm. »Zehn Ge sichter«, murmelte er. »Könnte es das Dexad gewesen sein?« »Ganz meine Überlegung«, gestand Rackrose. Gersen grübelte noch einen Augenblick lang. Rack rose wußte nichts von der Charnayvergiftung, noch ahnte er, daß die Nummer sechs Howard Alan Tree * Das Institut stuft seine Genossen mit Rangnumerierungen von 1 bis 111 ein. Nummer 111 ist der Triun. Die Ränge 100 und 110 werden nie be setzt. Die Ränge 101 bis 109 stehen immer nur einem einzigen Genossen zu. Mit dem Triun stellen diese Ränge das Dexad dar, obgleich manch mal auch nur die Genossen 101 bis 109 als das Dexad bezeichnet wer den. Genossen steigen von 101 zum Triun nach dem Dienstalter auf. Im Rang 99 gibt es nur drei Genossen. Kommt es zu einem Ausfall im Dexad, gewöhnlich aufgrund eines Todesfalls, wählen die restlichen Genossen des Dexads einen der 99er, um die Lücke zu füllen. Daraufhin wird von den drei Genossen im Rang 98 einer zum Rang 99 gewählt und zwar von den beiden übriggebliebenen. Genauso geht es von den Rängen 90 aufwärts. In den Rängen unter 90 gibt es keine Beschränkung für die einzelnen Ränge. Rang 89 zu erreichen, ist schwierig, doch zum Rang 99 aufzusteigen, ist noch viel schwieriger. Hat ein Genosse Rang 101 erreicht, hat er eine gute Chance, Triun zu werden. Das gleiche gilt nicht unbedingt für ei nen in Rang 99, denn wenn einer dort sich Feinde unter dem Dexad ge schafft hat, ist es wahrscheinlich, daß er keine Sprosse mehr höher kommt.
song war. Er fragte: »Wer ist in der Gegend hier der höchste?« Rackrose blickte stirnrunzelnd zur Decke. »Auf Boniface gibt es einen Eremiten, der angeblich von hohem Rang ist. Ich erfuhr, daß er Dexad angehören soll. Wenn das stimmt, sind die auf dem Bild aller dings nicht das Dexad, denn von Boniface ist keiner darauf.« »Wer ist der höchste in Pontefract?« »Ich bin mir nicht sicher. Lassen Sie mich Condo fragen, er kennt sich in solchen Dingen aus.« Rackro se sprach in den Kommunikator. Seine Stimme klang sanft und kaum lauter als ein Flüstern. Auf einem blaßrosa Block machte er sich Notizen. »Gut, das reicht.« Er drehte sich mit einem Blatt aus dem No tizblock in der Hand zu Gersen um. »Eine Frau, Leta Goynes. Ihre Adresse ist Flaherty Crescent 17, das ist in Bray, ihr Rang ist vermutlich zwischen 60 und 65.« Gersen nahm den Zettel mit in sein eigenes kleines Büro, das weit unauffälliger als Maxel Rackroses war. Er gab dem Kommunikator eine Nummer ein. Eine kurze Weile verging, dann meldete sich eine tonlose Frauenstimme: »Leta Goynes.« »Bitte verzeihen Sie, daß ich Sie zu einer so späten Stunde störe, Mrs. Goynes«, entschuldigte er sich. »Ich bin Kirth Gersen und möchte Sie in einer unge mein wichtigen Sache sprechen.« »Jetzt?« »Bedauerlicherweise ist es sehr dringend, es hat mit dem Institut zu tun. Wenn Sie gestatten, komme ich direkt zu Ihrem Haus.« »Wo sind Sie jetzt?«
»In der Cosmopolis-Redaktion.« »Nehmen Sie den Transiteur zur Bray Kreuzung. Von dort kann ein Taxi Sie zur Flaherty Crescent bringen.« Als Gersen sich dem Haus Nr. 17 näherte, glitt die Tür zurück. Im Lichtschein aus dem Innern stand ei ne dunkelhaarige Frau an der Tür, sie war kompakt und sah aus, als befände sie sich in guter körperlicher Verfassung. Sie musterte Gersen flüchtig, dann trat sie zur Seite. Gersen trat ein. Die Tür schloß sich hin ter ihm. »Bitte hier herein«, forderte Leta Goynes ihn auf und führte ihn in ein gemütliches Wohnzimmer. »Tee?« »Ja, bitte.« Sie schenkte eine Tasse ein und reichte sie Gersen. »Setzen Sie sich bitte, wo Sie möchten.« »Danke.« Gersen setzte sich. Leta Goynes blieb ste hen. Sie war eine gutaussehende reife Frau. Ihr kurz geschnittenes schwarzes Haar wirkte wir eine Kappe. Die dunklen Augen unter den buschigen schwarzen Brauen waren offen und direkt. »Bei Cosmopolis ist kein Kirth Gersen bekannt.« »Aus gutem Grund. Ich nenne mich Henry Lucas, Sonderberichterstatter.« »Sie sind ein Genosse?« »Nicht mehr. Im Rang 11 stellte ich fest, daß die Arbeit des Instituts und meine sich manchmal nicht vereinbaren ließen.« Leta Goynes lächelte leicht und nickte. »Nun, was gibt es?« Gersen streckte ihr die Preisausschreiben-Fotogra fie entgegen. »Kennen Sie sie? Sie erschien in Sein!«
»Ich sehe sie heute zum erstenmal.« »Nun, was halten Sie davon?« »Sie sagt mir nichts.« »Sie kennen keinen der Abgebildeten?« »Nein.« »Es könnte das Dexad sein. Dieser Herr hier ist Artemouth Gadouth. Er ist der Triun, wie Sie natür lich wissen.« Leta Goynes nickte. »Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt.« »Das sind Sharrod Yest, Dianthe de Trembuscule, Beatrice Utz, Rang 103, Ian Bilfred... Dieser Herr nennt sich Sparkhammer... Sabor Vidol, Rang 99, John Gray, Gadouth, Gieselman, Rang 106, Robun Marti letto.« Gersen hielt inne. Leta Goynes sagte: »Das ist nicht das gesamte Dexad. Es gibt drei Personen – diese Nummern fünf, sechs und sieben –, die vermutlich im Rang 99 sind. Im vergangenen Monat verloren wir Elmo Shookey. Dieses Bankett wurde vermutlich zur Erhebung des 99ers gegeben.« »Diese Erhöhung fand vielleicht nicht statt«, erwi derte Gersen. »Alle außer Nummer sechs wurden mit Charnay vergiftet.« Leta Goynes' Gesicht nahm einen kühlen, leicht verächtlichen Ausdruck an. »Das Institut ist nicht nur stark, es ist auch flexibel. Es wird ein normaler Aus gleich geschaffen werden.« »Er dürfte in diesem Fall nicht so leicht sein. Der Überlebende, Nummer sechs, vergiftete die anderen. Sein echter Name ist Howard Alan Treesong.« Leta Goynes starrte auf die Fotografie. »Das ist ja schrecklich – wenn es stimmt. Und ich sehe, daß es
wahr sein muß. Wie gewann er den Rang 99?« »Durch Betrug, Erpressung, Nötigung, Überre dung, nehme ich an. Ganz sicher arbeitete er sich nicht von unten hoch. Doch eine viel wichtigere Fra ge: welche Genossen des Dexads fehlen auf dem Bild? Und wo sind sie?« Leta Goynes lachte rauh und kalt. »Das dürfte un ter diesen Umständen eine außerordentlich wichtige Information sein.« »Stimmt. Und ich könnte einer von Treesongs Henkersknechten sein.« »Oder Treesong selbst?« Gersen gab ihr Jehan Addels Visitenkarte. »Rufen Sie diesen Herrn an! Er ist ein Bürger dieser Stadt von gutem Ruf. Fragen Sie ihn über mich, was Sie wol len!« Leta Goynes ging an den Kommunikator. »Erst werde ich mich über Jehan Addels erkundigen.« Sie zog ein paar vorsichtige Erkundigungen ein und beobachtete dabei Gersen aus dem Augenwinkel. Dann rief sie Jehan Addels an. Nach längerem War ten antwortete er verärgert über die Unterbrechung seiner Nachtruhe. Gersen sprach mit ihm. »Diese Dame ist Leta Goynes. Bitte beantworten Sie jegliche Frage, die sie stellen mag!« Leta Goynes befragte Addels fünfzehn Minuten lang, dann wandte sie sich bedächtig vom Kommuni kator ab. Sie war langsam dabei die Haltung anzu nehmen, die so typisch für die höheren Ränge des In stituts war: eine ruhige aufreizende Gleichmut ge genüber allen Geschehnissen, einschließlich jenen, die sie selbst auf unangenehme Weise betrafen. »Addels gibt Ihnen einen erstaunlichen Leumund.«
Nachdenklich nippte sie von ihrem Tee, dann sagte sie überlegend: »Das Institut ignoriert gewöhnlich normale soziale Probleme, selbst so berüchtigte Ver brecher wie Howard Treesong. Aber...« – Leta Goy nes schob das Kinn vor – »Ich werde Ihnen die ge wünschte Auskunft geben. Drei des Dexads sind auf dieser Fotografie nicht abgebildet, nämlich 101, 102 und 107. Der Tod von 107 war der Anlaß dieses Kon klaves. 101 lebt völlig abgeschieden auf Boniface, an einem Ort namens Athmore Violet in der unzugän gigsten Wildnis von Weltplacke. Er heißt Dwyddion und ist unser Triun, auch wenn er es vielleicht nicht weiß, denn er empfängt niemanden und weigert sich, sich mit irgend jemandem in Verbindung zu setzen.« »Und was ist mit 102?« Leta Goynes' Lächeln wirkte seltsam schief. »Sein Name ist Benjamin Wroke. Er ertrank im Shanaro meer. Vorige Woche wurde seine Leiche an den Strand von Cele gespült, in der Nähe von Wild Isle.«
8
Aus Sternenführer für jedermann: Wega, Alpha Lyrae: ... Die drei inneren Planeten, Padraic, Mona, Noaille, sind die Schlacke verglühter Steine, die im brennenden Schein des großen weißen Sternes backen. Noaille wendet das Ge sicht unentwegt der Wega zu und ist berüchtigt für den Niederschlag flüssigen Quecksilbers auf der dunklen Seite, das zur heißen Seite fließt, wo es verdunstet und zur dunklen Seite als Regen wiederkehrt. Als nächstes kommen die bewohnten Welten: Aloysius, Boniface und Cuthbert. Cuthbert hat ein feuchtes Klima und ist unangenehm sumpfig. Nur wenige Gebiete sind bewohnbar. Auf dem größten Teil des Planeten wird das Leben durch die unzähligen Insekten zur Plage, denen Cuthbert seinen Beinamen »Insektenfängers Paradies« verdankt. Aloysius, der nächste im Orbit, hat gemäßigtes Klima, wenn auch überdurchschnittlich feucht, und ist die am dichtesten besiedelte Welt des Wegasystems. Die Frühgeschichte Aloysius' ist hauptsächlich der Ri valitäten zwischen religiösen Sekten wegen interessant. Die Folgen dieser Kriege und des Hasses sind noch jetzt er kennbar, vor allem im Mißtrauen gegen alles Fremde auf dem Lande. Die Städte Pontefract, New Wexford und Yeo sind verhältnismäßig kosmopolitisch. Boniface, die äußerste und größte der bewohnbaren Wegawelten, ist düster, klamm und wie eine Karikatur der beiden anderen, da sie all die Rauheit und Ungewöhnlich keit ihrer Schwesterplaneten noch zu übertreiben scheint. Die Meere werden von grauenvollen Stürmen heimge
sucht, die Landmassen zeichnet eine extravagante Topo graphie aus: schier unendliche Ebenen, die sich unter hefti gem Wind und Regen beugen, Berge, Höhlen, schroffe Fel sen, Klüfte und breite Ströme, die von Meer zu Meer flie ßen. Da und dort erlaubt das Land Besiedelung, doch kei neswegs Geborgenheit oder gar Annehmlichkeiten. Seit frühester Zeit benutzten die schlauen und vorsorg lichen Bürger von Aloysius, die selbst dem Unbrauchbar sten Wert zu entringen imstande sind, die lebensfeindli chen Öden Bonifaces als Strafkolonie. Dorthin schickten sie die Atheisten, Unverbesserlichen, die nicht mehr in die Ge sellschaft Eingliedbaren der weganischen Welten. In Port Swaven angekommen, wurden die Sträflinge durch ein Durchgangslager geschleust, das vom St. Je dasias Orden betreut wurde. Ein gewisser Abt Nahut er hielt als göttliche Eingebung neue Bestimmungen für die Sträflinge, die helfen sollten, sie auf das Leben auf Boniface vorzubereiten. Die Methoden waren drastisch und bei spiellos. Bei vielen der Überlebenden führten sie zu geneti schen Schäden, die sich weitervererbten. Dadurch wurde mehr oder weniger zufällig eine neue menschliche Spezies geschaffen. Das waren die »Fojos«, eine der Kuriositäten des menschlichen Universums. Der typische Fojo ist hoch gewachsen mit dünnen Armen und Beinen, großen Hän den und Füßen, knorrigen schweren Zügen und weißen fe derkielartigen Stacheln an Stelle von Haaren. Funktionell wurden die Fojos zur Eingeborenenrasse von Boniface, die sich in die geschütztesten Winkel, Klüfte und einsamsten Täler ihrer rauhen Welt zurückzogen. In ein paar kleinen Städten – Slayman, Cashel Creary, Nahutty, Kaw Doon und Fiddletown, unterhalten normale Menschen Läden, Reparaturwerkstätten und andere Dienstleistungsbetriebe. Sie verkehren mit den Fojos in ge
genseitiger Abneigung. Den Orden von St. Jedasias gibt es längst nicht mehr, doch als kosmische Ironie bekennen die Fojos sich immer noch zu einer Variante des Jedasianischen Glaubens und selbst in der kleinsten Fojo-Ortschaft gibt es eine der ecki gen Jedasiakirchen. Die Zeit war plötzlich zum kritischen Faktor gewor den, da Dwyddion, Eremit und neuer Triun, gewiß eine der »dringenden Verpflichtungen« Howard Alan Treesongs war. Gersen eilte von Leta Goynes Haus zum Raumhafen und brach sofort mit seinem Fanta mikflitzer auf. Der Autopilot schwang die Jacht hoch über die Wega auf die gegenüberliegende Seite, wo Boniface sich gerade in seiner Umlaufbahn befand. Da es eine primitive Welt war und es dort auch nichts gab, was sich des Plünderns oder Entführens lohnte, gab es auch keine Ein- und Ausfuhrkontrollen. Ungehindert tauchte Gersen zu der stumpfen blauschwarz-weißen Scheibe hinab. Gersen blätterte durch den Reiseführer für die WegaWelten, aber er fand nur eine einzige vage Erwähnung Athmore Violets. Das Skakgebirge verlief diagonal durch einen Planetenteil, der als Weltplacke bekannt war. An der Südseite des Gebirges schlängelte der Meaughe durch das Meaughetal, in dem die Stadt Poldoolie stand. Vielleicht konnte er dort etwas erfah ren. Die Oberfläche von Boniface war von Wolken be deckt und durch Wolkenschatten getarnt, und so fand Gersen keinen Anhaltspunkt und mußte sich mit Hil fe von Peilfunksendern orientieren. Er berechnete die
Koordinaten Poldoolies und tauchte schräg in die dichte Atmosphäre. Über dem Meaughetal war der Himmel klar. Ger sen entdeckte Poldoolie: eine Gruppe Steinbauten ne ben purpurnem Voitch*. Gersen setzte in Spiralen zur Landung auf einer Moorwiese an, nicht ganz einen halben Kilometer außerhalb der Stadt. Es war hier Mittag. Gersen kletterte aus dem Fan tamikflitzer in einen klammen Wind, der nach Sumpf und Verrottung stank. Ein Dutzend schlaksige Bürschchen kamen von der Stadt herbeigerannt. Die größeren stießen die kleine ren zur Seite, die kleineren fluchten und stellten den größeren ein Bein. Alle trugen schmutzige weiße Kittel, deren Saum sie beim Laufen hochhielten, um nicht darüberzustolpern, und offenbarten so weiße Beine mit knotigen Knien. Ihre Schädel waren schmal, ihre Gesichter grob und knorrig. Vom Kopf hob sich ein Büschel steifer weißer Stachelkiele. Der vorderste blieb einen Meter vor Gersen stehen und schrie: »Ich bin der Hüter! Ich war als erster hier, die anderen sind Schmetterer, zahl ihnen nichts! Ich bin Keak, ich bekomme den Gautsch!« »Gautsch? Was ist Gautsch?« erkundigte sich Ger sen. »Meine Bezahlung. Ich will entweder fünf SVE oder fünf Bilderbücher.« Die anderen Bürschchen riefen eifrig: »Gib ihm Bü * Ein Einzelorganismus, vergleichbar mit einer gigantischen Flechte. Der Voitch trägt auf fünfzehn Meter hohen blaßgrauen Stengeln einen drei Meter dicken mattenähnlichen Bewuchs. Manche Voitcharten sind gif tig, andere raubtierhaft und fleischfressend. Die nutzbaren Arten bieten Nahrung, Getränk, elastische Fasern, ein Schutzdach und Pharmaka.
cher als Gautsch. Gute Bücher mit Bosers. Yetch Bosers!« »Bosers? Was sind Bosers?« Die Frage rief würgendes Staunen hervor. Keak fuhr sich über den Mund und erklärte schließlich: »Bosers – mit den weiten Stellen und ohne Kleider. Yetch: das sind gute Bosers!« »Ich verstehe«, sagte Gersen. »Angenommen, ich bezahle weder mit Geld noch mit Bildern von nackten Bosers – was dann?« »Dann die Schmetterer – diese häßlichen Kerle dort! Sie werden deine Ferberatorkristalle zerschla gen und abgestandene Hundejauche in deine Luftfil ter gießen. Also zahl lieber, dann halte ich sie davon ab!« Gersen überlegte. »Wie kommst du gegen so viele Schmetterer an?« »Oh, sie würden es nicht wagen, sich gegen mich zu stellen. Cukkins! Sag ihm, was ich mit dir machen würde!« »Wenn ich auch nur die geringste Kleinigkeit ka puttmachte, würde er mir den Arsch über den Kopf ziehen. Ein Schäler ist er, der Keak, und er würde es auch schaffen.« Gersen nickte. »Also gut, Keak, ich sehe, daß du dein Geschäft verstehst. Trotzdem möchte ich bei al len sicher gehen. Kommt mit, um das Schiff herum! Ich habe hübsche Sachen im Laderaum für Jungs wie euch.« »Oh?« fragte ein kleinerer Bursche. »Was denn für hübsche Dinge?« »Na, was haltet ihr von Boserbüchern?« entgegnete Gersen. »Dutzende, und alle schrecklich verdorben.«
»So ist's richtig!« rief Keak erfreut. »Schauen wir es uns an!« »Hierher!« Gersen ging um die Jacht herum, ge folgt von den hopsenden und laufenden Burschen. Er öffnete die Frachtschleuse und ließ die Leiter herun tergleiten. Er deutete auf Keak. »Du darfst dir als er ster aussuchen, was du magst, aber beeil dich, denn ich habe keine Zeit zu vergeuden!« Keak hüpfte die Leiter hoch, mit den anderen dichtauf, Gersen machte den letzten. »Es ist kein Licht hier!« krächzte Keak. »Mach Licht! Zeig uns Bosers!« Gersen drückte auf einen Knopf. Es wurde hell im Laderaum, der jedoch völlig leer war. »He!« rief Keak. »Da ist ja nichts hier!« Gersen grinste. »Nichts, außer einer Meute junger Spitzbuben! Ich gehe jetzt meinem Geschäft nach und sperre euch solange ein. Wenn ihr euch hier schwei nisch benehmt, fliege ich euch in die Berge und setze euch dort aus. Dann seid ihr zum Abendessen nicht zu Hause. Also, denkt daran!« Gersen stieg die Leiter rückwärts hinunter und ver schloß die Ladeschleuse. Er machte sich auf den Weg durch eine schlammige Wiese, bis er zu einer Art Straße, mit Gräben links und rechts davon, kam. Am Stadtrand sah er eine Pfahlhütte im Moor an der Straße. Auf der Veranda sortierte ein Mann ge bückt Steine aus einem Sack auf drei Haufen. »Hallo!« rief Gersen ihm zu: »Können Sie mir sa gen, wie ich nach Athmore Violet komme? Ich kann es auf meiner Karte nicht finden.« Der Alte kauerte sich lediglich noch tiefer in den Verandaschatten. Da Gersen dachte, er habe ihn nicht
gehört, näherte er sich ihm. Der Alte warf ein Tuch über seine Steine und sprang, mit seinen langen dün nen Beinen gespreizt, wie eine häßliche Spinne in den Schlamm unter seiner Hütte. Gersen drehte sich um und folgte der Straße, bis er zu einer weiteren, schon hausähnlicheren Hütte kam, mit einer schwarzen Energiematte auf dem Dach, und von religiösen Fetischen umgeben. Am Torbogen der Mauer stand ein Mann mit hohem Kegelhut. Gersen blieb stehen und grüßte freundlich: »Guten Tag, mein Herr.« »Ja ja«, erwiderte der Fojo herablassend. Gersen deutete mit einem Daumenzucken auf die erste Hütte. »Weshalb versteckt der alte Mann sich unter seinem Haus?« Der Fojo lachte über Gersens Naivität. »Er ist ein Bergmann, sehen Sie das denn nicht? Schauen Sie unter das Haus, fällt Ihnen auf, wie seine Augen glü hen? Er trägt einen Byloby. Hätten Sie sein Erz be rührt, würden Sie jetzt nicht mehr vor mir stehen.« »Ich brauche nur eine Auskunft. Wo ist Athmore Violet? Ich finde es auf meiner Karte nicht.« »Natürlich nicht. Burgadoig schürft Alexandrit in Athmore Violet.« »Ich interessiere mich nicht für Alexandrit. Ich su che einen Mann, der dort in der Nähe lebt. Können Sie mir bitte sagen, wie ich nach Athmore Violet komme?« Der Fojo deutete auf die Stadt. »Fragen Sie Burga doig.« »Ich bin in Eile. Ich möchte mit der Suche nach Burgadoig nicht noch mehr Zeit vergeuden.« »Machen Sie sich da keine Sorgen! Er wird Sie fin
den, sobald er Ihr Schiff auf seiner Wasserwiese ent deckt, und dann wird er keine Zeit vergeuden.« »Was ist mit Ihnen? Möchten Sie sich nicht viel leicht hundert SVE verdienen? Helfen Sie mir, meinen Bekannten zu finden!« »Bei Athmore Violet, sagten Sie? Das muß der Ein siedler von Voymont sein.« »Stimmt, er ist Eremit.« »Athmore Violet und Voymont – es ist gefährlich dort, und nicht nur wegen Burgadoigs Minen.« Eine heisere Stimme erklang aus dem Haus. »Nimm das Geld, Lippold! Tu, was er verlangt! Es ist nicht viel.« Lippold achtete nicht auf die Stimme. Offenbar hatte er das Interesse an Gersen verloren. Unbewegt blickte er über das Meaughetal. Die Wolken rissen plötzlich auf, und die ferne Wega warf ihren hellen Schein auf die Landschaft und verlieh ihr Farbe: der Stechginster im Moor leuchtete rot und ocker auf, die Berge hinter Poldoolie blau und weiß, der Voitch purpurn und an den Stengeln ein unbeschreibliches blaugrünes Umbra. Lippold berührte die plötzliche Pracht genausowenig wie ihr schnelles Verschwin den. Gersen wandte sich von ihm ab und ging weiter zur Stadt: eine ungleichmäßige Ansammlung von steinernen Hütten, Katen, Ställen und Schuppen, ei nem Dutzend Läden und Betrieben, einer Taverne und einer gedrungenen rechteckigen Jedasiakirche. Wolken aus dem Osten und Westen stießen zu sammen. Sie wogten und brodelten. Es begann zu regnen. Gersen blickte über die Schulter. Im Regen vorhang stand Lippold wie zuvor. Gersen fing zu rennen an und suchte Schutz unter
dem Dach einer Reparaturwerkstatt. Nur die Taverne schien geöffnet zu sein. Er wartete kurz. Der Regen fiel weiter wie aus Gießkannen. Blitze zuckten. Gersen sah langbeinige Gestalten durch die Regenwand zur Taverne hasten, an der Tür anhalten, um sich auszuschütteln und dann hineinzugehen. Einen Augenblick lang hörte der Regen auf. Gersen nutzte die Unterbrechung und rannte ebenfalls zur Taverne. Er betrat eine lange Stube mit der Theke an einer Seite und Stühle mit Bänken auf der anderen. Ge dämpftes Licht fiel durch eine Reihe hoher Fenster mit gelben Mikascheiben. An den Tischen saßen Gruppen von Fojos über ihre Becher mit Glühwein gebeugt. Die Geruchsmischung aus dem würzigen Getränk, den zu dampfen beginnenden nassen Klei dungsstücken und feuchter Haut schlug Gersen in die Nase. Als er in die Gaststube trat, verstummte alle Unter haltung, und Reihen milchblauer Augen musterten ihn. Jeder hatte sich eine Strumpfmütze über den Kopf mit den Federkielstacheln gestülpt, und weitere Strumpfmützen hingen an Stangen neben jedem Tisch. Gersen grüßte die Anwesenden höflich und ging zur Theke. Der Wirt wischte sich die Hände an einem schmutzigen Tuch um den Bauch ab und fragte: »Was möchten Sie?« »Ich hätte gern mit einem Mann namens Burgadoig gesprochen«, erklärte Gersen. »Ist der Herr hier?« »Es ist kein Alois Burgadoig hier. Wären Sie nicht ohne das, was Sie von ihm wollen, besser dran? Und warum tragen Sie keinen Hut? Wo sind Ihre Manie ren?«
»Tut mir leid, aber ich habe keinen Hut.« »Und mit unseren würden Sie recht komisch aus sehen, wenn der Zipfel leer in Ihr Gesicht fällt. Ah, wer ist denn das?« Ein schwerer kräftiger Mann kam in die Taverne gestapft. Die fleischigen roten Apfelbäckchen ließen die blaßblauen Augen fast verschwinden. Er nahm sich eine Strumpfmütze von der nächsten Stange und zog sie geschickt über die Stacheln. Gersen fragte den Wirt: »Ist das Burgadoig?« »Ha ha! Wenn das nicht Grund zum Lachen ist! Oder wenn Sie Burgadoig wären, zur wilden Wut! Das ist Looke Hollop, der allein das Stadtfaß leert. Schauen Sie sich seine Arme an. Er ist ein starker Mann, dieser Hollop, doch nicht wie Burgadoig. Wollen Sie etwas trinken? Mögen Sie unseren ge brauten Twirps?« »Was haben Sie sonst noch?« »Wenig. Er ist gut genug für uns. Wollen Sie viel leicht die Nase über unseren guten Twirps rümpfen?« »Keinesfalls!« versicherte ihm Gersen. »Ich versu che ihn gern.« »So ist's richtig. Einen Krug Twirps für diesen Fremden. Und da, weil Sie mir leid tun, lassen Sie mich versuchen, etwas für Ihren Kopf zu richten, damit Ihre Würde erhalten bleibt.« Der Wirt stopfte Papier in eine schmutzige fettige Strumpfmütze und zog sie über Gersens Stirn. Der ausgestopfte Zipfel schaukelte von einer zur anderen Seite. »Nicht gut«, brummte der Wirt. »Aber besser, vor allem, weil Sie etwas von Alois Burgadoig wollen, der sehr viel von den Feinheiten des Lebens hält. Er hat doch tatsäch lich geschworen, daß er niemals jemandem am Heili
gen Tag etwas antun wird. Können Sie sich das vor stellen? Manche behaupten, daß er deshalb an den anderen Tagen um so schlimmer ist. O je, wer ist das?« Ein Fojo mit gewaltigem Brustkasten und einem Gesicht, so breit und knorrig wie ein Dschungelpilz, trat ein. »Ist das Burgadoig?« fragte Gersen. »Der? Weit gefehlt! Das ist Shirmis Poddle. Shir mis, was darf's sein? Das übliche?« »Das übliche, weil du ja nichts Besseres hast. Ich möchte wissen, wo mein Fratz ist. Er sollte draußen das Holz aufschichten, aber nicht einmal sein Hem denzipfel ist zu sehen. Macht nichts. Es ist nicht mein Fell, das es zu spüren bekommen wird!« Der Wirt schob ihm einen Krug mit stark gewürz tem Glühwein zu. »Trink deinen Twirps mit Genuß, Shirmis! Wir hatten bisher heute unsere Ruhe.« »Ist diese eklige Kreatur unterwegs, oder werde ich einmal einen Augenblick Frieden haben?« »Das wissen nur die Heiligen Augen. Psst! Hörst du ihn?« Shirmis schaute zur Tür. »Das war nur Donner. Trotzdem – du machst mich unsicher. Ich geh' lieber wohin, wo's sicherer ist.« Der Wirt blickte ihm nach und schüttelte traurig den Kopf. »Furcht ist ein seltsamer Sinn, der sich nicht erklären läßt. Ah, ist das noch Donner, oder ist es Burgadoig, der die Beine schüttelt?« Ein Fojo, dessen Schultern fast die Tür ausfüllten, stapfte in die Taverne. Gewaltige Muskelstränge wie zwei Strebepfeiler trugen sein Kinn, dadurch wirkte der Kopf fast schmäler als der Hals. Sein Mund war ein Schlitz, seine Nase ein Knorpelvorsprung.
Gersen blickte den Wirt an. »Ist das...« »Das ist Burgadoig, und heute funkeln seine Au gen. Jemand hat ihn verärgert, und das müssen wir vielleicht alle ausbaden. Sitzt Ihre Mütze jetzt auch richtig?« »Ich hoffe es. Was trinkt er?« »Das übliche und viel von der gleichen Sorte.« »Dann schenken Sie ihm schon mal einen Doppel ten ein.« Gersen drehte sich zu Burgadoig um, der die Gäste mit wild glitzerndem Blick musterte. Als er sich der Theke zuwandte, entdeckte er Gersen und warf übertrieben grimmig den Kopf zurück. »Und was ist das hier, mit schiefer Mütze und Alptraumvisage?« »Ein Freund in Pontefract ersuchte mich, Sie aufzu suchen. Er riet mir, in Ihrer Wasserwiese zu landen, da Sie für Ihre Großzügigkeit und Gastfreundschaft bekannt sind. Ich habe übrigens einen doppelten Twirps für Sie bestellt.« Burgadoig nahm den doppelten Twirps, den der Wirt in zwei Krügen serviert hatte, in die Hände. Erst leerte er den rechten Krug dann goß er sofort den lin ken nach, und stellte die leeren Trinkgefäße zurück auf die Theke. »Zum Geschäft. Da ich keine Ausnahmen mache, haben Sie mir als Landegebühr sofort hundert SVE zu entrichten.« »Unterhalten wir uns zuerst über eine größere Sa che«, schlug Gersen vor. »Könnten Sie sich vielleicht ein paar Stunden Zeit nehmen?« »Wozu?« »Für ein sehr einträgliches Geschäft.« »Und das wäre?« »In der Nähe von Athmore Violet lebt ein sehr
wichtiger Mann, den ich sofort aufsuchen muß.« »Eh? Wer ist das? Der verrückte Einsiedler von Voymont?« »Er ist nicht wirklich verrückt«, versicherte ihm Gersen. »Er hat Sie als den Geeignetsten vorgeschla gen, mich zu ihm zu bringen, da Ihr Besitz in der Nä he liegt.« Burgadoig lachte schallend. »Nicht so nah, daß ich auf Voymont mein Leben aufs Spiel setzen möchte. Also, bezahlen Sie mir die Gebühr und begeben Sie sich allein nach Voymont! Sollten Sie es wagen, Athmore Violet zu nahe zu kommen, können Sie et was von mir erleben!« Gersen nickte bedächtig. »Nun, dann kommen Sie mit zu meinem Schiff. Ich habe kein Geld bei mir.« Burgadoig verzog erstaunt das Gesicht. »Muß ich durch das nasse Moor stapfen, weil Sie so töricht wa ren, kein Geld mitzubringen?« »Nun, wenn es Ihnen lieber ist, können Sie auch hier warten. Ich hole das Geld und bringe es Ihnen.« »Ha!« donnerte Burgadoig. »So leicht lasse ich mich nicht hereinlegen. Wenn es sein muß, komme ich eben mit. Also, auf zu Ihrem Schiffs aber das kostet Sie zehn SVE extra!« »Einen Moment!« rief der Wirt. »Ich bekomme erst ein Dreistück* für den Twirps!« Gersen legte die Münze auf die Theke und winkte Burgadoig. »Beeilen wir uns, ehe es wieder zu regnen anfängt!« Burgadoig brummte etwas Unfreundliches, ehe er Gersen aus der Taverne folgte. Sie nahmen den Weg, *
Eine Münze vom Wert eines Dreiviertel SVEs.
den Gersen gekommen war und den der pflaumen farbene Himmel verdüsterte. Lippold stand noch wie zuvor, der Bergmann dagegen war nirgends zu se hen. Eilig stiefelten sie hinaus in Burgadoigs Wasser wiese. Sie näherten sich dem Fantamikflitzer. »Warten Sie hier!« sagte Gersen. »Ich springe an Bord und hole Ihr Geld.« »Vergeuden Sie meine Zeit nicht mit Torheiten!« brummte Burgadoig. »Öffnen Sie! Ich werde nicht von Ihrer Seite weichen, ehe ich nicht habe, was mir gebührt!« »Die Fojos sind eine mißtrauische Rasse«, bemerkte Gersen. Er kletterte die Leiter hoch und öffnete die Schleuse, mit Burgadoig dicht hinter ihm. »Bitte, hier herein!« Er öffnete die hintere Tür des Salons. Burgadoig schob ihn ungeduldig zur Seite und trat in den Laderaum, ehe ihm bewußt wurde, was es war. Schnell ließ Gersen die Tür zugleiten und ver schloß sie, gerade, als Burgadoig sich gegen die Tür warf. Gersen drückte das Ohr dagegen und hörte schrille Stimmen. Grinsend ging er zu den Armatu ren, startete und ließ das Meaughetal zurück. Unter dem Schiff schlängelte der Fluß sich grau durch ein paar Farbflecken verschiedener Arten von Vegetati on: graue Kropfbüsche, purpurner Voitch, bleichgrü ne Wachspflanzen, schwarze Rußbäume. Minarette aus rosa und gelben Landkorallen drängten sich dreißig Meter und höher dem Himmel entgegen. Gif tiger orangefarbener Schlamm verriet den Wander weg von Bonifaceschnecken. Fünfzehn Kilometer entfernt landete Gersen das Boot auf einer Wiese mit breithalmigem Silbergras. Er
ging von Bord, trat an die Ladeschleuse, öffnete sie und ließ die Leiter herunter. »Keak!« rief er. »Keak!« Eine mürrische Stimme antwortete: »Was willst du?« »Was habt ihr drinnen für einen Saustall gemacht?« Nach kurzer Pause antwortete Keak mit Fistel stimme: »Ich persönlich? Nichts von Bedeutung.« »Keak, hör mir gut zu – sehr gut! Ich werde deine Bürschchen jetzt freilassen, aber du bleibst! Dann se hen wir uns gemeinsam den Laderaum an. Wenn mir sein Zustand widerwärtig ist, fliege ich dich dreihun dert Kilometer in die Berge. Dort wirst du, du ganz allein, den Laderaum schrubben, bis er glänzt und so gut riecht wie die Rosen von Kew. Danach trennen sich unsere Wege.« Keaks Stimme zitterte, als er sagte: »Der Zustand ist erträglich. Ich sehe da und dort ein wenig – ah, Dreck...« »Sorg dafür, daß der Laderaum jetzt gesäubert wird, solange du noch Hilfe hast und du noch nicht allzuweit nach Hause hast!« »Aber wir haben keine Putzmittel!« »In der Wiese ist Wasser. Benutzt eure Kittel.« Wütend stieß Keak eine Reihe von Befehlen hervor. Blinzelnd stiegen die Burschen die Leiter herunter. Dann erschien ein Paar massive Beine, danach ein gewaltiger Rumpf und schließlich Alois Burgadoigs Kopf. Am Fuß der Leiter blieb er stehen. Seine Wan gen bewegten sich wie ein Blasebalg, sein Mund äh nelte einem scharlachroten Polypen. Langsam schob er die Schultern vor und wollte auf Gersen losgehen. Aber der brannte eine blitzende Linie fast unmittelbar vor Burgadoigs Zehen. »Provozieren Sie mich nicht!«
mahnte Gersen. »Ich bin in Eile.« Burgadoig wich einen Schritt zurück. Entgeistert starrte er Gersen mit rot angelaufenem Gesicht an. Gersen richtete die Waffe auf Keak. »Beeilung! Erin nere dich, wie schnell ihr aus der Stadt angelaufen gekommen seid!« Eine halbe Stunde später startete Gersen das Boot wieder und ließ eine trübsinnige Gruppe kittelloser Bürschchen zurück, die dem Schiff nachstarrten. Während er sie noch beobachtete, drehten sie sich um, zogen die Ellbogen an die mageren weißen Oberkörper und begannen das Tal hinunterzulaufen. Burgadoig saß nun im Salon. Ein Strick beschränkte seine Bewegungsfreiheit. Die spielenden Muskeln zeichneten sich wie Knoten unter der Gesichtshaut ab, die zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen funkelten wie Eis. Ganz offensichtlich war Burga doigs Einstellung gegenüber Widerwärtigkeiten we der tolerant noch fatalistisch. Das Schiff tauchte durch die erste, schnell zurück bleibende Wolkenschicht. Gersen drehte sich zu Bur gadoig um. »Kennen Sie Dwyddion?« »Den Einsiedler? Natürlich kenne ich ihn. Er haust in Voymont über Athmore Violet. Habe ich nicht ge sagt, daß er verrückt ist?« »Verrückt oder nicht, wir müssen ihn von dort wegholen, oder er wird umgebracht.« »Ist das so wichtig?« »Sehr. Also, wo ist Voymont von hier aus?« »Dort. Über dem Skag.« »Und wie erkennt man es?« Burgadoig stöhnte. »Oh, die Unbequemlichkeiten, die ich diesem gemeinen Yetch und seiner Waffe ver
danke! Was ist, wenn der Blitz mich trifft?« »Das wäre Ihr höchst persönliches Los!« Burgadoig stemmte sich mühsam hoch und schaute zum Bullauge hinaus. »Nehmen Sie Kurs West und einen Slarshtitt* nordwärts. Voymont liegt hinter den drei spitzen Berggipfeln. Sehen Sie den schwarzen Schatten? Das ist der Pritz auf der anderen Seite von Voymont und die Luftschlucht ist dazwischen. Pas sen Sie auf das Teufelslicht auf! Ah, am Pritz kommt es zu gespenstischen Tricks!« Gersen hob den Fantamikflitzer über die hochra genden Schroffen trostlosen schwarzen Gesteins und über eine weite Ode spitzer Felsen und zahlloser Klüfte. Im Westen erhob sich der Pritz. Beim Näher kommen sahen sie die schier pausenlosen Blitze, die über seine Wand huschten. Ein wirres Chaos von Kämmen zog sich unter ih nen dahin. Mit trüber Stimme erklärte Burgadoig: »Shaggeth – Morneys Zahn – und dort unten Athmo re Violet – dann Hunckertown Trabble mit einer Pal ladiummine – Mount Lucasta: dort ist der Oberlauf des Poorlegs – jetzt das Voymont...« Der Fantamikflitzer flog über eine gewaltige Schlucht, durch die sich tief unten ein silberblitzender Bach wand. »Das ist die Luftschlucht«, brummte Burgadoig. Der Fantamikflitzer ging tiefer. Aus wirbelnden Wolken schossen Blitze gegen den Pritz. Mit unbe wußt angespannter Stimme fragte Gersen: »Wo ist Dwyddion?« * Slarsh: Fojobezeichnung für ein noch nicht voll entwickeltes junges Mädchen. Slarshtitt ist ein vulgärer Ausdruck für »ein kleines wenig« oder »ganz unbedeutend«.
»Tauchen Sie in die Luftschlucht... Dort unten – se hen Sie das Sims? Nur ein Verrückter würde dort hausen!« Gersen lenkte das Boot dicht an das Voymont und kämpfte gegen den heftigen Wind an. Burgadoig deutete. »Dort! Das ist Dwyddions Haus. Ich habe jetzt getan, was Sie verlangten, brin gen Sie mich nun nach Poldoolie zurück!« »Wir bleiben nur lange genug, um uns um Dwyddion zu kümmern.« »Pah!« brummte Burgadoig. »Ich habe gute Lust, Ihnen mit der Faust den Schädel zu zerschmettern, Strahler oder nicht!« Der Fantamikflitzer flog dicht an der Felswand entlang. Dwyddions Haus war ein einfacher Bau: ein Block aus verschweißtem Stein und Glas. Es sah ge fährlich aus, wie es so auf dem Sims kauerte. Gegen Norden war das Sims durch einen geschickten Auf bau und die Verkeilung von gewaltigen Felsblöcken erweitert. Dadurch wurde ein Viadukt geschaffen, etwa dreißig Meter lang dann ein kleiner flacher Lan deplatz mit offener Sicht. Südlich des Hauses wurde das Sims zum Pfad, der zu einem schmalen platzähn lichen Flecken in einem Felsspalt führte. Hier war ein kleines schwarzes Raumfahrzeug geparkt, und da hinter, halb in den Stein gehauen, befand sich eine Art Hütte, die Gersen für eine Werkstatt hielt. Dieser ganze Teil war von oben nicht zu sehen und wirkte auch ansonsten unauffällig. Gersen lenkte den Fan tamikflitzer hinter Dwyddions schwarzes Flugzeug und setzte auf. Burgadoig kritisierte Gersens Wahl des Landeplat zes spöttisch. »Seid ihr Yetch alle so närrisch? Wes
halb benutzen Sie nicht den viel bequemeren eigentli chen Landeplatz? Ist Ihnen das zu einfach?« Gersen antwortete gemessen: »Ein Verbrecher kommt hierher, in der Absicht, Dwyddion zu töten. Ich möchte nicht, daß er gleich auf meine Anwesen heit aufmerksam wird.« Burgadoig schnaubte verächtlich. Gersen öffnete die Luftschleuse und sprang auf den Boden. »Ich kann Sie nicht allein vor den Armaturen lassen«, sagte er zu Burgadoig. »Irgend etwas könnte passieren. Also kommen Sie lieber mit!« Burgadoig kreuzte die Arme auf der Brust. »Ich bleibe hier!« »Sie kommen mit! Sofort! Wir dürfen keine Zeit verlieren!« »Für verrückte Yetchgeschäfte ist jede Zeit vergeu det!« brummte Burgadoig. »Sehen Sie zu, daß Sie weiterkommen!« »Dann müssen Sie wieder in den Laderaum!« »Nein!« Gersen streckte die Hände aus. »Passen Sie auf!« Er zuckte mit dem rechten Bizeps – und hielt, wie durch Zauberei, einen Projac in der Hand. »Sie wissen, was ich damit tun kann!« Er zuckte mit dem linken Bizeps und ließ die komplizierte Waffe sehen, die als De daktor bekannt war. »Kennen Sie diese Waffe? Nein? Sie stößt drei Arten von Glasnadeln aus. Die unge fährlichste verursacht ein dreiwöchiges Jucken. Ich werde zehn Nadeln für Sie verwenden, außer Sie ver schwinden umgehend im Laderaum!« »Sie haben mich überredet«, brummte Burgadoig. Er stöhnte, rülpste und kletterte mit aufreizender Langsamkeit auf den Boden. »Ich begleite Sie und
schaue Ihnen bei Ihren Tricks zu.« Gersen blickte zum Himmel hoch. »Beeilen wir uns!« Er rannte das Sims entlang, mit Burgadoig dicht hinter ihm. Eine Tür an der Rückseite von Dwyddions Haus glitt auf. In ihrem Schatten stand ein hochgewachse ner dünner Mann. Er trat einen Schritt heraus und war nun deutlich zu sehen. Er hatte eine hohe Stirn und glatt zurückgekämmtes staubfarbenes Haar, tief liegende grübelnde schwarze Augen, eingefallene Wangen und ein spitzes Kinn. Es war ein Gesicht, das einen hohen Intellekt verriet, aber von Humor nicht viel hielt. Der Einsiedler musterte die beiden Besu cher unfreundlich. »Sind Sie Dwyddion?« fragte Gersen. »Der bin ich«, antwortete der Mann mit tiefer Stimme. »Sagt Ihnen nicht allein dieser Ort, daß ich die Einsamkeit suche?« »Auch im Tod ist Einsamkeit. Sie müssen mir sorg fältig zuhören, denn wir haben nicht viel Zeit. Ich bin Kirth Gersen, das ist Alois Burgadoig aus Poldoolie, der sich bereit erklärte, mir den Weg hierher zu wei sen.« »Aus welchem Grund?« Wieder blickte Gersen suchend zum Himmel auf und wieder sah er nur eine dunkle Wolkendecke und vereinzelte niedrigere Wolken, die der Wind vor sich hertrieb. Eine heftige Böe heulte durch die Schlucht und be netzte ihre Gesichter mit halbgefrorenem Regen. Dwyddion brummte etwas, zog den Kopf ein und trat in sein Haus zurück. Gersen und Burgadoig folgten
ihm. Unwillig ließ Dwyddion sie an sich vorbei. Sie waren direkt in den Hauptraum des Hauses ge kommen. Gersen hatte den Eindruck strenger Nüch ternheit, neutraler Farben und rein zweckmäßiger Ausstattung. Die Aussage des Zimmers ließ sich auf zweierlei Weise deuten. Es mochte der Ausdruck von Dwyddions Persönlichkeit sein, seine Einstellung zur Existenz – oder er hatte das Zimmer lediglich dem Ausblick aus dem breiten Fenster angepaßt, durch das die gewaltige Schlucht zu sehen war mit ihren Windböen und Dunstfetzen, und der Pritz mit dem unaufhörlichen Spiel purpurweißer Blitze. »Darf ich mich noch einmal nach dem Grund Ihres Besuchs erkundigen?« fragte Dwyddion kalt. »Gewiß. Sie wurden vor kurzem zu einem Konkla ve des Dexads auf Wild Isle eingeladen?« »Ja. Aber ich zog es vor, nicht daran teilzunehmen. Bei Diskussionen bin ich stets die einköpfige Minder heit, und meine Anwesenheit erscheint unnötig.« Gersen streckte ihm die Fotografie entgegen. »Ken nen Sie diese Leute alle?« »Natürlich!« »Und wer ist diese Person hier?« »Silas Sparkhammer, ein 99er. Ich halte ihn für in telligent, geistesgegenwärtig, ungewöhnlich einfalls reich und absolut ungeeignet für das Dexad.« »Da pflichte ich Ihnen hundertprozentig bei«, ver sicherte ihm Gersen. »Sein wirklicher Name ist übri gens Howard Alan Treesong. Er vergiftete den Triun und das gesamte Dexad mit Charnay, außer zwei Personen: Benjamin Wroke, den er ertränkte, und Ih nen, der Sie als neuer Triun zu erachten sind. Nach Ihrem Tod wird Treesong Triun. Er ist bereits auf
dem Weg hierher, um Sie zu ermorden.« Dwyddion riß die Augen weit auf und starrte von der Fotografie zu Gersen. »Sie sind alle tot?« »Alle!« »Ahem... Das kann ich nicht glauben.« »Das ist zu verstehen, es ist auch eine furchtbare Tatsache. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Sie müssen mit uns kommen...« Gersen deutete auf die Tür. Dwyddion wich zurück. »Ich weiß nichts über Sie, ich habe keinerlei Beweise für die Richtigkeit Ihrer Behauptungen. Ich kann nicht so unüberlegt han deln... Wer sind Sie überhaupt?« »Ich werde Ihnen alles erzählen, wenn wir von hier weg sind. Kommen Sie!« Dwyddion schüttelte aufgebracht den Kopf. »Kei nesfalls! Das ist ja reinste Hysterie! Ich kann nicht...« Gersen befahl Burgadoig. »Überwältigen Sie diesen Mann und tragen Sie ihn zu meinem Schiff!« War Dwyddion erst sicher in dem Fantamikflitzer und so aus dem Weg konnte er Treesong einen Hinterhalt stellen. Mit ein wenig Glück mochte es ihm sogar ge lingen, die Sache heute zum Abschluß zu bringen. Burgadoig blinzelte, dann näherte er sich Dwyddi on, der mit vor Wut würgender Stimme rief: »Bleiben Sie mir vom Leib!« Er schlug mit den Fäusten um sich, als Burgadoig ihn fast erreicht hatte. Der Fojo brummte verärgert. Ihm behagte die verrückte Situa tion überhaupt nicht, in der er sich befand. Er packte Dwyddion, warf ihn sich wie einen Mehlsack über die Schulter, dann brummte er: »Was jetzt? Ich habe allmählich genug von diesem Irrsinn!« Gersen öffnete die Tür. »Tragen Sie ihn zum Schiff,
schnell, wenn ich bitten darf! Und natürlich weiß ich, daß es eine undankbare Aufgabe ist.« Burgadoig stapfte aufs Sims hinaus, mit Gersen dichtauf. Drei Männer, die dabei waren, sich dem Haus zu nähern, blieben abrupt stehen. Der zur Linken wirkte glatt wie ein Seehund in seinem schwarzen Samtan zug. Sein Gesicht war rund und weiß und zeichnete sich durch eine künstliche Schmucknase aus Goldfili gran aus. In der Mitte stand Howard Alan Treesong in grüner Hose, pflaumenblauer Jacke, flatterndem schwarzen Cape und schwarzer eckiger Kappe. Der Mann mit dem wie gemeißelten Gesicht zur Rechten, ein Neger mit schwarzem Bart, starrte Burgadoig verblüfft an. Mit munterer Stimme rief Treesong sofort: »Holla! Was geht hier vor?« Gersen zog den Projac und wollte auf Treesong zielen, aber Burgadoig war vor ihm, so mußte er sich seitwärts lehnen. Er drückte auf den Abzug. Der Bol zen sank in Treesongs hageren Oberschenkel. Mit aufflatterndem Cape ging der Verbrecher zu Boden. Gersen ließ sich auf ein Knie fallen und schoß erneut, aber Treesong war zum Rand des Viadukts gerollt und lag geschützt hinter den Felsblöcken, wo er sei ner Wut in merkwürdigen, ja fast vielstimmig klin genden Schreien Luft machte. Gersen feuerte auf den Neger und tötete ihn, gera de als dieser seine Waffe anlegte. Goldnase warf sich auf den Boden und schoß einen Bolzen, der Burga doigs sehnigen Hals aufriß. Das fällte den Fojo wie einen Baum. Er stürzte auf Dwyddion, der sich erbost befreite und davonkrabbelte, während Burgadoigs leuchtend rotes Blut über die Steine spritzte.
Gersen feuerte erneut. Goldnase zuckte, fluchte und rollte über den Rand des Viadukts. Gersen rich tete sich wachsam leicht auf und achtete auf eine mögliche Bewegung. Treesong hatte mit seinem er staunlich vielstimmigen Gejammere aufgehört. Ger sen rannte ein paar Schritte geradeaus und blickte su chend über die leichte Böschung. Er hoffte, Treesong zu überraschen, sah ihn jedoch nicht. Offenbar hatte er Deckung hinter einem großen Gneisblock gefun den. Geduckt rannte Gersen schräg über das Viadukt. Etwas bewegte sich. Er ließ sich flach auf den Boden fallen. Ein Bolzen zischte ungefähr dreißig Zentimeter über seinen Kopf hinweg. Gersen schoß mit dem Projac. Steinsplitter hagelten auf Goldnases Kopf und Hals herab, daß er vor Schmerzen schrill aufschrie. Er verlor seinen Halt und rutschte den Hang hinunter. Fasziniert sah Gersen zu, wie Goldnase dahinglitt, sich überschlug, rollte und schließlich mit wachsen der Geschwindigkeit und offenbar nicht mehr bei Bewußtsein, von Felsbrocken zu Felsbrocken prallte und im dichten Dunst verschwand. Gersen kletterte auf den Viadukt zurück und sah gerade noch, wie ein kleines Flugboot von der Lan deplattform abhob und in den Himmel schoß. Howard Alan Treesong hatte keine Deckung hinter ei nem Felsblock gesucht, sondern war durch die Stein wirrnis zum Boot zurückgekrochen und damit geflo hen. Zehn Sekunden starrte Gersen dem Boot nach. So nah und doch so unerreichbar! Seine Intrigen und Strategien waren umsonst gewesen, und der arme Burgadoig war eine blutleere Leiche. Er drehte sich
zu Dwyddion um, der Gersen mit undeutbarem Ausdruck beobachtete. »Schnell ins Schiff!« forderte Gersen ihn barsch auf. »Wir müssen sofort hier weg!« »Ich sehe keinen Grund...« Mit eisiger Beherrschung unterdrückte Gersen Wut und Frustration. »Das war Howard Alan Treesong. Er kam, um Sie auszulöschen. Er benutzte ein Raum schiffbeiboot. Irgendwo, nicht allzu hoch oben, wartet der Raumer, um ihn wieder aufzunehmen. Ah, sehen Sie, da kommt er ihm bereits entgegen. Sobald er an Bord ist, wird er Ihr Haus zerstören und uns eben falls, wenn wir so dumm sind, so lange zu warten.« Dwyddion zuckte fatalistisch die Schulter und weigerte sich nicht länger. Der Fantamikflitzer stieg auf und flog westwärts. Aus den Wolken senkte sich ein dunkles Schiff herab und näherte sich dem Voy mont. »Das ist sein Raumer. Wir haben es gerade noch geschafft.« »Ich verstehe überhaupt nichts von all dem«, brummte Dwyddion düster. »Es ist eine Unver schämtheit, daß ausgerechnet ich, der ich nichts als die Einsamkeit suche, belästigt, ja fast mit Zwang ent führt und Unannehmlichkeiten ausgesetzt werde.« »Wie traurig«, brummte Gersen. »Aber vielleicht bereitet es Ihnen Genugtuung – und dem armen Bur gadoig – daß wir Treesongs Schlüsselplan vereitelt und ihn am Schenkel verwundet haben.« »Was war das für ein Plan?« »Durch Ihren Tod wäre er Triun geworden. Etwas Ähnliches hat er bereits einmal mit der IPKG ver sucht, und es ist ihm mißlungen – obgleich der Weg ihm noch offen ist. Er herrscht über die Verbrecher
aller Hauptwelten, sie sind sein Kader. In zehn Jahren könnte er Kaiser der Ökumene sein.« »Hmmm... Noch ehe der Tag zu Ende ist, werde ich in Pontefract ein neues Dexad bestimmen. Dieser Mann ist ja größenwahnsinnig!« »Das ist er und mehr.« Gersen dachte über Howard Alan Treesongs scheinbar vielstimmige Schreie nach. »Er ist wahrhaftig sehr seltsam!«
9
An drei Dinge, die mit Dwyddions Haus am Voy mont zusammenhingen, erinnerte Gersen sich mit be ängstigender Klarheit, und er vergaß sie auch sein ganzes Leben lang nicht mehr. Das erste war der Pritz selbst, der sich scheinbar unter dem Angriff unablässiger Blitze duckte, und die Luftschlucht, in der Wind und Donner hallten. Das zweite war Burgadoigs Leiche mit dem er staunten Gesicht, als hätte er sein so unerwartetes schreckliches Geschick nicht begreifen können, und den hellen Federkielstacheln auf dem Kopf, die mit seinem eigenen Blut bespritzt waren. Das dritte, seltsam und wundersam, war das viel stimmige Gejammere Howard Alan Treesongs, wäh rend er sich zwischen den Felsen verkrochen hatte. So manches davon hatte er ganz deutlich gehört: »Bei den Töchtern des Hades, solche Schmerzen!«, »... was macht es schon...«, »... dieser wahnsinnige Hund, wer kennt ihn?« – »Ich nicht!« – »Auch ich nicht!« – »Ge nug, Elhur padache!« – »Unerschütterlicher Grün!« Wieder schwang der Fantamikflitzer hoch über die Wega herum. Dwyddion saß steif und verstimmt, mit düsterem Gesicht und hängenden Mundwinkeln. Schließlich bedachte er Gersen immer öfter mit vor wurfsvollen Seitenblicken, aber der war zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, als sich darum zu kümmern. Schließlich brach Dwyddion das Schweigen. Mit würdevoller Stimme sagte er: »Es würde mich inter
essieren zu erfahren, was Sie mit dieser Sache zu tun haben.« »Das ist kein großes Geheimnis«, antwortete Ger sen. »Ich habe etwas gegen Treesong. Das ist alles.« Dwyddion gelang ein säuerliches Lächeln. »Sie ha ben etwas gegen ihn? Was passiert, wenn jemand et was gegen Sie hat? Nun, es geht mich nichts an. Ich nehme an, ich müßte Ihnen dankbar sein.« »Wahrscheinlich.« »Ah, Sie pflichten mir bei. Dann gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meine Dankbarkeit ausdrücke... Ich war vielleicht zu lange allein. Jetzt, da das Dexad vernichtet ist, sehe ich keinen Grund mehr zur Isola tion. Nun ist das Geheimnis nur noch mir bekannt.« Grübelnd blickte Dwyddion vor sich hin und spielte geistesabwesend mit den langen bleichen Fin gern. Jetzt, da er zu sprechen angefangen hatte, fiel es ihm offensichtlich schwer, wieder aufzuhören. »Sie fragen sich vermutlich, weshalb ich mich für ein Eremitenleben entschied? Aus Verbitterung und Des illusion – das ist die Antwort. Oder, wenn Ihnen das lieber ist: ich erfuhr das ›Geheimnis‹. Vielleicht war ich unreif, naiv – doch nie hatte jemand meinen Eifer gerügt. Es gab kaum je einen zweiten Swotsmann* wie mich. Schon früh stellte man mich als Beispiel hin und erwähnte lobend meinen Einsatz und meinen Edelmut. Meine ganze Zeit widmete ich dem Institut und ausgedehnten Wanderungen. Durch zahllose Gegenden zog ich, sprach unzähligen Landwirten Mut zu. Was ich alles sah! Berenskaya, Kotop, die * Institutterminologie: eine Person, die eifrig bemüht ist, die Ränge mög lichst schnell zu erklimmen.
Langberge, die Alte Heimat und Prärie-Lande, die Grünstern-Swantees, die Poldergebiete von PedderDulah: überall dort streifte ich herum. In Chlodie auf Marskens steckte man mich ins Gefängnis; die Fakto ren von Pollardich auf Copus schoren mir den Kopf; ich wurde Thwartermann auf Vasconcelles. Vielleicht erinnern Sie sich an den Feldzug gegen elektrische Sportarten in Myra, auf dem Südkontinent von Al phanor – wie heißt es nur?« »Transiskana.« »Sie entsinnen sich des Feldzugs?« »Nein.« »Ich führte ihn an und wir leisteten Großes, doch nicht ohne Opfer. Oh, wenn ich mich an die Mühen, die Hitze, den Hohn, die Beschimpfungen erinnere, ganz zu schweigen von den Insekten, den Kriechern, den Giftkäfern! Aber wir kämpften uns nach Cattles bury durch und trugen den Sieg davon... Wie lange das zurückzuliegen scheint! Und plötzlich war ich im 50er Rang und dann im 60er! Ich führte den Kreuz zug gegen die Schädlinge auf Wirfil an. Ich arbeitete als Mittelsmann zwischen den Erbsen- und Bohnen anbauern auf Neu Gorcherum. Ich diente in der Liga für einen natürlichen Dschungel auf Armongol. Alle erachteten mich als den größten Aktivisten des Insti tuts. Ich war überzeugend, eindringlich und glaubte fest daran, daß meine Ideale die besten aller mögli chen Ideale waren. Immer höher erklomm ich die Rangleiter zu den 80ern und 90ern und weiter. Und nun war Schluß mit den Feldzügen und neuen Pro grammen – nun beschäftigte ich mich mit der Politik. Ich hatte Zeit mich auszuruhen, nachzudenken. Ich ging vor das Dexad, ich beobachtete es, nahm an sei
nen Banketten teil, und schließlich wurde ich zu ei nem 99er ernannt. Der Weg zum Dexad lag offen für mich. Ich lernte die anderen 99er persönlich kennen – meine Rivalen und Gleichgestellten. Einer war Ben jamin Wroke. Er war mir ähnlich und hatte seinen Status auf fast gleiche Weise wie ich erreicht. Wir hatten vieles gemeinsam, doch kam es nie zur echten Freundschaft zwischen uns, aber das konnte unter den Umständen – wo drei Männer erhofften, in das Dexad aufgenommen zu werden – auch nicht erwar tet werden. Der andere 99er nannte sich Sparkham mer. Er war mir ein Rätsel und ließ sich auf übliche Weise nicht durchschauen. Ich fand ihn abwechselnd charmant, abstoßend, beruhigend und aufreizend. Er bewies sowohl seine Tüchtigkeit als sein Selbstver trauen, mühelos traf er seine Entscheidungen. Er schien wie geschaffen für das Dexad zu sein, wäre nicht seine Selbstherrlichkeit gewesen. Sowohl Ben jamin Wroke als auch Silas Sparkhammer wünschten sich offenbar nichts sehnlicher, als ins Dexad aufge nommen zu werden – Sparkhammer geradezu über trieben aufdringlich. Cloyd Free, Rang 104, starb in den Kankasheedschungeln. Das Dexad wählte Ben jamin Wroke, und Sabor Vidol rückte in die 99er auf. Sparkhammer vermochte seine Wut kaum zu verber gen. Nur zwei Wochen später wurde Hassamid von einem thrazischen Straßenräuber getötet. Man nahm mich in das Dexad auf und Ian Bilfred wurde der dritte 99er. Sparkhammer gratulierte mir freundlich und gefaßt, in Wirklichkeit aber war er höllisch auf gebracht, das wußte jeder. Was mich betraf, bedeutete mir das Dexad nichts. Plötzlich war mir klar gewor den – innerhalb von zehn Sekunden –, daß dieses ho
he Ziel, ich meine damit die Mitgliedschaft im Dexad, eine reine Äußerlichkeit war. Ich hatte das Gefühl, über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Ich sah mein altes Selbst als Kind, das sich am Spielen erfreute. Das war eine Einstellung – wie ich jetzt vermute –, mit der das Dexad übereinstimmte. Zweiunddreißig Jahre harter Arbeit und schwerer Opfer hatte ich einer Sa che gewidmet, auf die die Führungsspitze in bestem Fall mit gönnerhaftem Wohlwollen herabsah. Verges sen Sie nicht, daß dies die größten Intellektuellen der Ökumene und weder korrupt noch unehrlich waren. Ich begann zu verstehen, daß sie in der Reifung und durch die schließliche Erweiterung des Gesichtskrei ses erkannten, daß die Stärke und Tugend des Insti tuts nicht in seinen Zielen lag, oder in der Hoffnung, diese Ziele zu erreichen, sondern in der operativen Funktion als ein System, in dem Leute wie ich ihre Energie einsetzten und dadurch eine ansonsten schwerfällige Gesellschaft auflockern konnten.« Dwyddion hielt inne und beschäftigte sich mit sei nen Erinnerungen, während seine zu einem bitteren Lächeln verzogenen Lippen zitterten. Gersen fragte ihn: »Sie sagten, Sie hätten sich innerhalb von zehn Sekunden verändert, war das nicht ein wenig plötz lich?« »Ja – nun, warum sollten Sie es nicht erfahren? Rob Martiletto, der 108., kam zu mir. Er sagte: ›Dwyddi on, Sie sind jetzt Dexad. Es braucht wohl nicht er wähnt zu werden, daß Sie sich diesen Rang verdient haben. Darf ich Sie fragen, ob Sie in Ihrer Beobach tung des Dexads eine gewisse, wie ich es nennen möchte, transzendentale Gelassenheit bemerkt ha ben?‹
›Ja, etwas dergleichen fiel mir auf. Ich schrieb es dem Alter und nachlassender Kraft zu.‹ ›Nun, das ist nicht die ganze Erklärung. Der Sprung von 99 nach 101 ist weiter als, sagen wir, von 70 nach 99. Das kommt daher, daß das Dexad ein Ge heimnis miteinander teilt, das ich nun auch Ihnen an vertrauen werde. Im Dexad machen Sie einen weiten Schritt über den Rationalismus hinaus, der Sie bis 99 gebracht hat. In diesem Geheimnis liegt die neue Ideologie.‹ Und dann verriet er mir das Geheimnis. Die zehn Sekunden, die ich erwähnte, vergingen. Ich sagte: ›Mein Herr, ich kann mich nicht nur nicht Ihren Ansichten anschließen, ich fühle mich auch außer stande, dem Dexad anzugehören. Kurz gesagt, ich ziehe mich jetzt und für immer vom Institut zurück.‹ ›Das ist unmöglich! Sie haben sich auf Lebenszeit verpflichtet, haben den Treueeid geleistet, von dem Sie nicht enthoben werden können.‹ ›Leben Sie wohl!‹ sagte ich. ›Sie werden mich nie wiedersehen.‹ ›Wohin wollen Sie denn gehen?‹ ›Dorthin, wo niemand Lust haben wird, mich zu besuchen.‹ Martiletto verriet weder Überraschung noch Ärger, er wirkte, im Gegenteil, leicht amüsiert. ›Tun Sie, was Sie für richtig halten‹, sagte er. ›Abgeschiedenheit bringt Ihnen vielleicht eine neue Einsicht.‹ Ich verließ ihn und fand auch bald die Einsamkeit, die ich suchte. Ich muß sagen, bis heute war es die friedlichste Zeit meines Lebens.« »Und das Geheimnis?« »Es geht aus dem Gesagten hervor. Das Dexad sieht die Gesellschaft in drei Gruppen geteilt, und
zwar der Vorrangigkeit nach: die Menschen im all gemeinen, das Institut und das Dexad. Menschheit und Institut sind zwei gegensätzliche Kräfte in dy namischem Gleichgewicht. Das Dexad sorgt für die Aufrechterhaltung der Spannung zwischen beiden und verhindert, daß die eine oder andere Seite das Übergewicht erlangt. Aus diesem Grund hat das Dexad des öfteren gegen die Interessen des Instituts gehandelt und Situationen herbeigeführt, die die Mitgliedschaft erregen und stimulieren sollten. Doch das Geheimnis.« »Nun sind Sie der Triun und werden ein neues Dexad aufstellen. Wie stehen Sie nun zu dieser Ein stellung?« Dwyddion lachte trostlos. »Ich habe etwas über mich selbst entdeckt. Das ›Geheimnis‹ bestürzte mich. Ich sah mich während der langen zweiunddreißig Jahre: den eifrigen Swotsmann, den schwitzenden Gimpel, gelenkt von der Scheinheiligkeit des Insti tuts, den leichtgläubigen Tölpel, der Triun und Dexad verehrt und verächtlich auf die Allgemeinheit hinab sieht. Das Geheimnis traf mich wie ein vernichtender Schlag. Und nun, da ich Triun bin, muß ich dem nächsten Dexad das Geheimnis entweder anvertrau en, oder es unterdrücken.« Gersen blickte ihn ernst an. »Sie sind Treesong noch nicht los. Heute erlitt er einen Reinfall und wurde verwundet. Er wird nach Rache dürsten.« »Rache?« rief Dwyddion zum erstenmal mit echter Gefühlsaufwallung. »Wo er doch mich töten wollte? Absurd! Ich bin es, der Vergeltung verlangt! Vergel tung für den Mord an meinen Genossen und für das, was er dem Institut antat.«
»Gestatten Sie mir einen Rat«, sagte Gersen. »Ge ben Sie in Pontefract eine öffentliche Erklärung des Vorfalls ab. Treesong muß sofort die Möglichkeit ge nommen werden, seine Rolle als Silas Sparkhammer, Rang 99 im Institut, weiterzuspielen.« »Das hatte ich ohnedies beabsichtigt.« »Je schneller, desto besser. Sobald wir auf dem Raumhafen von Pontefract landen, rufen wir Cosmo polis an.«
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Titelseitenbericht des Pontefract Clarion: TRIUN DES INSTITUTS OFFENBART MORDBANKETT BESCHULDIGTER: HOWARD ALAN TREESONG Gift für die gesamte Führungsspitze. Komplott, um Institut in die Hand zu bekommen, wird dem be rüchtigten ›König der Kriminellen‹ – Howard Alan Treesong zugeschrieben. »Ich persönlich entging dem Tod durch ein Zusammenspiel von Glück, schneller Reaktion und der Hilfe meines Assi stenten«, erklärte Dwyddion, bisher im Rang 101 des Insti tuts und nun Triun, ein Titel, der mit Rang 111 gleichbe deutend ist. »Ich habe nicht am Bankett teilgenommen«, sagte Dwyddion. »Ich erfuhr durch den Nachrichtendienst des Instituts davon. Man informierte mich, daß der berüch tigte Kriminelle Treesong auf noch unbekannte Weise in den Rang 99 gelangte, natürlich nicht unter seinem eige nen Namen, sondern unter dem Namen Sparkhammer. Ich bin bereits dabei, zu eruieren, durch welche Mittel er den Rang 99 erreichte. Gewiß dürfte es unnötig sein zu betonen, daß ihm dieser nicht zustehende Rang aberkannt wird. Aus der Reihe authentischer Rangangehöriger habe ich ein neues Dexad zusammengestellt. Die Arbeit des Insti tuts wird weitergeführt. Ich nahm aus mehreren Gründen nicht an dem Mord bankett teil. Das Dexad und der Triun kamen auf Wild Is le, auf dem Planeten Cytherea Tempestre, zusammen, um
einen der drei 99er in das Dexad zu erheben, und sich eines Banketts zu erfreuen, zu dessen Gängen auch Charnay ge hörte. Charnay ist eine Delikatesse, die es nur auf Cytherea gibt. Ich selbst habe Charnay gekostet und fand es köstlich, doch wird es bei unsachgemäßer Zubereitung zum tod bringenden Gift. Howard Alan Treesong besorgte sich Charnay, entnahm ihm das Gift und injizierte es in die zubereiteten, überprüf ten und als unschädlich garantierten Früchte, die danach dem Triun, dem Dexad und den 99er Kandidaten vorge setzt wurden. Treesong nahm nichts davon zu sich oder aß vielleicht von einer harmlosen Frucht. Benjamin Wroke, Rang 102, der genau wie ich vorzog, nicht am Bankett teil zunehmen, wurde bald darauf von Treesong ertränkt. Weshalb beging er eine so grauenvolle Tat, wenn die Chance bestand, daß er selbst in das Dexad aufrückte? Nun, er war bereits zweimal übergangen worden und hatte vermutlich erfahren, daß auch diesmal nicht er, sondern Vidol oder Bilfred gewählt werden würde. Wenn ein 99er auch beim drittenmal nicht erhoben wird, muß er sich mit der bitteren Tatsache abfinden, daß er nie in das Dexad aufsteigen wird und er sich gleich von der Kandidatur aus schließen kann. Statt dessen jedoch beschloß Treesong alle Ränge über sich durch Mord freizumachen, woraufhin er nach dem In stituts-Gesetz zu dem höchsten offenen Rang aufsteigen würde. In diesem Fall war das nur 109, bis auch ich aus dem Weg geräumt war. Natürlich würde ich, da ich von höherem Rang war, vor ihm zum Triun werden.« Gersen rieb sein Gesicht mit bleichem Hauttöner ein, zog eine Perücke mit üppiger schwarzer Locken pracht über sein eigenes kurzes schwarzes Haar und
schlüpfte in seine exquisite Kleidung, um wieder sei ne Rolle als elegante Drohne zu spielen. Er stolzierte über den Tara-Platz. Es war ein grauer Tag mit tiefhängendem Nebel. Die Passanten gingen gleichmütig ihres Weges. Ihre schwarze und braune Kleidung wirkte gegen den nassen Stein und das alte schwarze Eisen fast farbenfroh. Gersen bog auf den Corrib-Platz ein und blieb stehen, um die Sein! Redaktion von außen zu betrachten. Das alte Gebäu de, schwarz von Schmutz, wirkte so friedlich wie immer. Seine Abwesenheit ließ sich in Stunden mes sen, aber die psychologische Zeit erschien ihm um ein Vielfaches länger... Er überquerte die Straße, betrat das Haus und begab sich direkt in den Preisaus schreibenraum. Heute, so erinnerte er sich, lief die Frist für die Einsendungen ab, die in den letzten Ta gen bereits immer weniger geworden waren. Heute lagen nur sechs Postsäcke auf dem Tisch. Mrs. Ench kam auf ihn zu und wünschte ihm einen guten Morgen. »Guten Morgen, Mrs. Ench. Gibt es irgendwelche überraschenden Entwicklungen?« »Nein, Mr. Lucas. Die Einsendung von Cytherea er füllt die Bedingungen immer noch am ehesten. Aber haben Sie heute schon die Zeitung gelesen? Ist es nicht absolut erstaunlich?« »Das ist es allerdings.« »Wird es irgendwelche Auswirkungen auf unser Preisausschreiben haben?« »Keinesfalls, hoffe ich zumindest. Wir können von Glück sagen, daß die Frist heute abläuft, sonst bekä men wir wahrscheinlich noch unzählige opportuni stische Gewinner.«
»Nun, einige könnten immer noch kommen.« »Wir müssen eben jede Einsendung genau prüfen.« »Wie bisher, Mr. Lucas.« Gersen drehte sich um, da rief Mrs. Ench ihn noch einmal zurück. »Oh, Mr. Lucas, ich habe einen inter essanten Brief – zumindest halte ich ihn für interes sant. Ich legte ihn für Sie zur Seite, weil er unsere my steriöse Nummer sechs betrifft.« Sie gab Gersen einen Umschlag. »Vielen Dank, Mrs. Ench.« Gersen las den Brief. »Ja, wirklich interessant!« Er überflog die Zeilen ein zweitesmal. »Auf unser Preisausschreiben hat es kei nen weiteren Einfluß mehr, da die Zeitungen inzwi schen Sparkhammers echte Identität veröffentlicht haben.« »Das ist auch meine Meinung. Unser Preisaus schreiben erscheint mir sehr aktuell. Ist es reiner Zu fall?« Gersen lächelte höflich. »Falls jemand fragt, die Entwicklung hat uns alle ungemein überrascht.« »Gefragt hat noch niemand, aber viele wundern sich zweifellos.« »Das mag schon sein. Die Publicity schadet Sein! jedenfalls ganz sicher nicht.« Gersen ging in sein Büro. Alice saß still an ihrem Schreibfisch. Sie trug ein einfaches schwarzes Jacken kleid. Ihr orangerotes Haar fiel leicht nach außen ge rollt auf die Schultern. Als Gersen eintrat, wollte sie abrupt nach der Zeitung vor sich greifen, doch dann ließ sie sie unberührt liegen. »Guten Morgen, Mr. Lucas.« »Guten Morgen, Alice. Ich sehe, Sie haben das Neueste bereits gelesen.«
Alice versuchte gar nicht vorzutäuschen, daß sie nicht verstand, was er meinte. »Ja.« Sie schlug die Augen zur Zeitung nieder. »Es ist... interessant.« »Ist das alles?« Alice zuckte die Achseln. »Treesong ist gefährlich«, sagte Gersen. »Er ist ei ner der ›Dämonenprinzen‹.« »Ich hörte davon«, antwortete Alice steif. »Es wird ein Benjamin Wroke erwähnt, der im Shanaromeer ertrank. Es ist doch hoffentlich kein na her Verwandter von Ihnen?« Mit verschleierten Augen blickte Alice hoch, dann wandte sie den Blick ab. »Doch«, murmelte sie. Alice schwieg. Gersen setzte sich hinter seinen Schreibtisch und musterte Alices Profil. »Ich möchte immer noch gern mit Howard Alan Treesong zu sammenkommen.« Alices Kinn hob sich um einen halben Zentimeter. Verbittert fragte sie kurz: »Warum?« »Weil ein Interview mit ihm jetzt noch wertvoller ist.« Alice senkte das Kinn wieder. »Halten Sie es für klug, den Lebenslauf dieses Mannes zu veröffentli chen?« »Natürlich. Früher oder später wird er sein ver dientes Ende finden. Wie sieht es in einem solchen Menschen aus? Was motiviert ihn? Wie sieht er sich selbst?« »Er würde nie zulassen, daß Sie etwas schreiben, das ihn in seiner Selbstachtung treffen könnte.« »Er kann die Biographie selbst schreiben und wir ändern sie nicht, das spielt keine Rolle für mich. Durch die Reklame des Preisausschreibens und der
offenbarten Morde würden wir eine Auflage von hundert Millionen an den Mann bringen.« Abrupt stand Alice auf. »Mir ist nicht gut. Wenn Sie nichts Dringendes für mich zu tun haben, würde ich mich gern eine Stunde niederlegen.« »Tun Sie das!« sagte Gersen. Er erhob sich höflich. »Ich hoffe, Sie fühlen sich bald wohler.« »Danke.« Mit einem verabschiedenden, etwas skeptischen Blick verließ Alice das Büro. Gersen setzte sich wieder. Er holte den Brief, den Mrs. Ench ihm gegeben hatte, aus der Tasche und las ihn zum drittenmal. An die Preisausschreiben-Redaktion, bitte betrachten Sie diesen Brief als meine Teilnahmezu schrift für das Preisausschreiben. Mit Sicherheit kann ich eine der abgebildeten Perso nen identifizieren. Dadurch steht mir ein Zehntel Anteil des ausgesetz ten Preises zu, den ich hiermit beanspruche. Die mit Nummer sechs kenntlich gemachte Person wurde auf der Home Farm bei Gladbetook im Land Maunish geboren. Seine Mutter gab ihm die Namen Howard Alan, nach dem Televisions-Zauberkünstler H. A. Topfinn, und Arblezanger als Andenken an ihren Großvater. Einschließlich seines Familiennamens war und ist er Howard Alan Arblezanger Hardoah, und als diesen identifiziere ich ihn. Er war kein sehr guter Sohn und verließ uns vor vielen Jahren. Ich hörte, daß er er folgreich und wohlsituiert ist, und hoffe ihn bald bei dem Klassentreffen zu sehen, zu dem er eingeladen wurde. Jedenfalls ist hier die gewünschte Identifikation, für die ich meinen Anteil des Preisausschreiben-Gewinns
umgehend erwarte. Mit freundlichen Grüßen Adrian Hardoah Home Farm bei Gladbetook Maunish Land, Moudervelt Van Kaathes Stern Gersen überlegte kurz, dann rief er den Informati onsdienst an. Er erfuhr, daß Moudervelt der einzige besiedelte Planet von Van Kaathes Stern war. Diese Welt war etwas größer als die Erde, mit nur einem Kontinent, der sich etwa zwei Drittel um den Äquator schlang. Es war ein alter Planet mit fruchtbarer, krü meliger Erde. Die schroffen Gebirgsketten seiner Frühzeit waren durch Zeit und Witterung abgetragen und nun fanden sich an ihrer Stelle weite Prärien, durch die sich Flüsse schlängelten. Moudervelt wur de ursprünglich von unterschiedlichen kleinen Grup pen besiedelt: von religiösen Sekten, Clans, Sportver einen, philosophischen Gesellschaften und derglei chen. Schnell hatten sie die semi-intelligenten Einge borenen ausgerottet und das Land aufgeteilt. Für ihre eintausendfünfhundertzweiundsechzig verschiede nen Territorien hatten sie Grenzen gesetzt, und sich Jahrhundert um Jahrhundert nur ihren eigenen An gelegenheiten gewidmet. Das Land Maunish war ein Gebiet in der Goshenprärie im östlichen Mittelland des großen Kontinents. Die Hauptstadt Cloutie hatte dreitausend Einwohner. Hundertdreißig Kilometer nördlich davon, in der Fluter Township, an den Ufern des Wiggals, befand sich Gladbetook, ebenfalls mit etwa dreitausend Einwohnern. Maunish war von den »Erben des Reinen Glaubens« besiedelt worden. Die
se Sekte mißbilligte Raumreisen, deshalb lag der nächste Raumhafen auch fünfhundert Kilometer ent fernt südlich bei Theobald Station im Land Lelander. Gersen wandte sich vom Kommunikator ab. Howard Treesong war als Bauernjunge in einem der ru higsten Hinterlande des menschlichen Universums geboren worden. Gersen dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß diese Tatsache von keiner größeren Bedeutung war, dazu gab es viel zu viele Bauernsöhne, die nie etwas Kriminelles taten... Er drehte sich wieder zum Kommunikator um und stellte eine Verbindung mit Zimmer 442 im St. Diar mids Inn her. Alice müßte gerade jetzt im Hotel an kommen. Er hatte sich mit der Zeit nicht verrechnet. Er hörte das Öffnen der Tür und Alices Schritte, als sie das Zimmer durchquerte. Eine Weile waren nur ihre of fenbar müden und unentschlossenen Schritte zu hö ren, bis sie sich vermutlich setzte. Fünf Minuten verharrte sie ruhig, sicher, um ihre Gedanken zu ordnen, dann hörte er sie mit fester Stimme sagen: »Hier spricht Alice Wroke.« Eine Minute verging, schließlich meldete Howard Treesong sich mit barscher, durchdringender Stimme. »Ja, Alice? Was haben Sie erreicht?« »So viel wie möglich.« »Ich gebe mich nur mit Leistungen zufrieden.« »Wo ist mein Vater? Die Zeitungen schreiben, er sei tot!« »Maßen Sie sich nicht an, mir Fragen zu stellen! Geben Sie Ihren Bericht durch!« »Ich kann nur berichten, was Sie ohnedies bereits wissen. Mr. Lucas erwähnte erneut, daß er ungemein
daran interessiert ist, Sie zu interviewen.« Die Stimme wurde noch schneidender: »Er weiß, daß Sie in Verbindung mit mir stehen?« »Natürlich nicht! Er ist so gefühllos, so abge stumpft wie Sie. Er will Ihre Biographie oder Auto biographie veröffentlichen, damit er hundert Millio nen Exemplare seines Journals verkaufen kann.« »Und er hält mich wohl für einen Altruisten?« »Das bezweifle ich. Ich gebe lediglich seine Bemer kung wider. Tun Sie, was Sie für richtig halten!« »Das werde ich auch.« Alice zögerte, dann fragte sie: »Das Preisausschrei ben ist zu Ende. Ich habe meine Seite der Abmachung eingehalten. Ist mein Vater wirklich tot?« Treesongs Ton veränderte sich, seine Stimme klang nun flach, kehlig und beißend. »Sie kennen meinen Namen jetzt!« »Ja.« »Und Sie wissen, wer ich bin.« »Ich habe von Ihnen gehört.« »Dann ahnen Sie sicher auch, was mein großer Plan war.« »Sie wollten Triun des Instituts werden.« Treesongs Stimme wurde wieder durchdringend, ja schrill. »Man hat diesen Plan auf gemeine Weise ver eitelt. Benjamin Wroke – wer war er schon? Ein Nichts! Natürlich ist er tot. Ich machte mir die ganze Mühe umsonst! Durch diesen blödsinnigen Journali sten und sein Preisausschreiben wurde mein genialer Plan aufgedeckt!« »Er ist also tot? Ich habe es längst befürchtet.« »Wer ist tot? Wroke? Natürlich. Wie konnten Sie etwas anderes erwarten?«
»Sie versicherten mir das Gegenteil!« Er lachte raspelnd. »Die Menschen glauben immer das, was sie glauben wollen!« »Ich bin jetzt fertig mit Ihnen.« »Gehen Sie Ihres Weges! Sie sind von destruktiver Schönheit. Sie brachten Zwietracht in die Farben mei ner Seele. Rot begehrt Sie lüstern, Blau empfindet ein melancholisches Verlangen, während Grün Ihnen Schmerzen zufügen möchte. Doch nichts wird daraus werden. Ich wurde verletzt und leide. Ich habe auch keine Zeit. Außerdem haben Sie sich selbst be schmutzt, indem Sie sich diesem Journalisten hinga ben. Gewiß, Sie taten es auf mein Drängen, aber Sie hätten mich anflehen sollen, es nicht tun zu müssen, hätten sich dagegen wehren sollen!« »Ich bewies schlechte Menschenkenntnis«, sagte Alice verbittert. Als Treesong wieder sprach, war seine Stimme streng und gekränkt. »Ich breche jetzt auf. Wega war nicht gut zu mir, war es nie. Ich bin verwundet und habe Schmerzen, aber die Zeit wird kommen, da ich mich räche. Meine Schmerzen werden um ein Tau sendfaches vergolten werden.« »Was ist Ihnen denn zugestoßen?« erkundigte sich Alice mit echtem Interesse. »Man stellte uns einen Hinterhalt. Ein Dämon in Menschengestalt sprang aus Dwyddions Haus und sein Projakgeschoß schlug in meinen Schenkel.« »Man sollte meinen, Sie müßten auf so etwas gefaßt sein.« Treesong schien ihre Bemerkung gar nicht zu hö ren. Nach einer weiteren kurzen Pause sagte er mit erneut veränderter Stimme, die diesmal schlau und
erregt klang. »Das Sein!-Preisausschreiben endet morgen?« »Nein, heute.« »Und es gibt noch immer keinen hundertprozenti gen Gewinner?« »Stimmt.« »Nun, hier ist Ihre neue Anweisung: Rufen Sie mich nicht mehr an!« »Ihre Anweisung ist unnötig.« Treesong ignorierte ihre Unterbrechung. »Machen Sie weiter wie bisher!« Aber Alice hatte die Verbin dung bereits unterbrochen. Gegen Mittag verdrängte die Wega die Wolkendecke. Nun war der Himmel blau hinter einem milchigen Dunstschleier. Blaß und abgespannt kehrte Alice in die Redaktion zurück. »Fühlen Sie sich besser?« erkundigte sich Gersen. »Ja, danke.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein grau grünes Kleid mit steifem weißen Kragen, den ihre orangefarbenen Locken kaum berührten. Das sind die Farben einer exotischen Wüstenblume, dachte Gersen unwillkürlich. Sie wurde sich seiner Musterung be wußt und warf ihm einen schnellen Blick zu. »Haben Sie etwas für mich zu tun?« »Nein, eigentlich nicht. Das Preisausschreiben ist so gut wie beendet. Es brachte interessante Entwicklun gen, finden Sie nicht auch?« »Das kann man wohl sagen!« »Trotzdem ist es nicht viel besser als ein Aufschub. Zwar ist es Treesong nicht gelungen, die Führung des Instituts zu übernehmen, aber andererseits ist er noch
am Leben und führt seine Verbrecherlaufbahn fort. Ihr Vater ist tot, das ist Ihre private Tragödie. Hätten Sie gewußt, daß Sparkhammer Howard Alan Tree song ist, hätten Sie von vornherein das Schlimmste befürchtet.« Alice drehte sich auf dem Stuhl um und blickte Gersen mit großen Augen an. »Woher wußten Sie, daß Benjamin Wroke mein Vater war?« »Es steht auf Ihrem Fragebogen«, antwortete Ger sen. Er lächelte fast ein wenig verlegen. »Außerdem muß ich ehrlich sein: ich zapfte Ihre Gespräche mit Treesong an.« Alice saß wie eine Statue. »Dann wußten Sie...« »Vom ersten Moment an, als Sie mein Büro betra ten. Selbst zuvor, als ich Sie auf der gegenüberliegen den Straßenseite beobachtete.« Alice errötete tief. »Dann müssen Sie auch gewußt haben...« »Allerdings.« »Aber trotzdem...« »Was hätten Sie von mir gedacht, wenn ich die Si tuation ausgenutzt hätte?« Alice lächelte angespannt. »Was spielt es denn für eine Rolle, was ich denke?« »Ich möchte nicht, daß Sie Ihre Selbstachtung ver lieren – schon gar nicht aus falschen Gründen.« »Das ist ein idiotisches Gespräch«, murmelte Alice. Sie erhob sich. »Und es ist idiotisch für mich, noch länger hierzubleiben.« »Wohin wollen Sie denn?« »Nichts als fort. Bin ich denn nicht entlassen?« »Natürlich nicht. Ich bewundere Ihren Mut! Wenn ich von meinem Schreibtisch aufblicke, gefällt es mir,
Sie hier sitzen zu sehen. Außerdem...« Der Kommunikator auf Gersens Schreibtisch summte. Gersen drückte auf einen Knopf. Eine Stim me meldete sich: »Howard Alan Treesong möchte mit Henry Lucas sprechen.« »Ich bin Henry Lucas. Haben Sie ein Gesicht?« »Allerdings.« Auf dem Schirm erschien ein Gesicht mit hoher eckiger Stirn, klaren haselnußbraunen Au gen, einer schmalen geraden Nase, breitem ruhigen Mund, und einem Ausdruck inneren Feuers, Lebhaf tigkeit und Stolzes. Gersen zog die schwarzen Locken seines Toupets über Stirn und die weißen Wangen, kniff die Augen zusammen, ließ das Kinn etwas hän gen, um den Eindruck aristokratischer Lässigkeit zu erwecken. Alice beobachtete ihn spöttisch amüsiert. Gersen übermittelte Howard Treesong sein Bild. Die beiden Männer studierten einander. Treesong sagte mit klangvoller einschmeichelnder Stimme: »Mr. Lucas, ich habe Ihr Preisausschreiben mit Inter esse verfolgt, da ich, wie Sie ja inzwischen wissen, auf der Fotografie abgebildet bin.« »Stimmt. Das erhöht verständlicherweise das öf fentliche Interesse.« Ein wenig von oben herab sagte Treesong: »Ich bin mir nicht im klaren, ob Sie beabsichtigen, mir zu schmeicheln oder nicht.« »In diesem Fall bin ich Journalist und als solcher ein Roboter ohne eigene Gefühle.« »Wenn das stimmt, unterscheiden Sie sich von Ih ren Kollegen. Aber das spielt keine Rolle. Da der Wortlaut Ihres Preisausschreibens niemanden von ei ner Teilnahme ausschließt, möchte ich mich daran beteiligen. Bitte haben Sie die Güte, meine Identifizie
rung zu notieren, oder besser noch, bitten Sie ihre be zaubernd schöne Sekretärin, es zu tun.« Zweifelnd sagte Gersen: »Ich weiß nicht recht, ob das nicht gegen die Regeln verstößt. Alle anderen Beteiligungen kamen in schriftlicher Form.« »Die Preisausschreiben-Bedingungen spezifizieren nicht, ob schriftlich oder mündlich, also weshalb sollte eine mündliche Identifizierung nicht rechtsgül tig sein? Ich kann den ausgesetzten Preis genausogut brauchen wie jeder andere.« »Ja, natürlich. Unsere Preisverleihung wird in Kür ze stattfinden. Sollten Sie den ersten Preis zugespro chen bekommen, wäre es Ihnen dann möglich, ihn auch entgegenzunehmen?« »Ich fürchte, das ist etwas zu umständlich. Außer, natürlich, diese Preisverleihung fände weit außerhalb der Ökumene statt.« »Nun, das wäre aus unserer Sicht umständlich.« »Dann werden Sie das Geld an eine Adresse schik ken, die ich Ihnen noch angeben werde. Und nun zur Identifizierung.« »Gut – Alice, bitte schreiben Sie mit.« »Ich werde mich nach Ihren Zahlen richten. Eins ist Sharrod Yest. Zwei ist diese giftige alte Vettel Dianthe de Trembuscule. Drei ist die fette Schlampe Beatrice Utz. Vier ist der einst so gewichtige Ian Bilfred, des sen spitze Zunge nun für immer verstummt ist. Fünf ist der übereifrige Sabor Vidol. Sechs ist die Person, die für diese Gelegenheit Sparkhammer als Namen wählte, aber ansonsten besser unter dem Namen Howard Alan Treesong bekannt ist. Sieben ist John Gray. Acht ist dieser überflüssige Tölpel, der Triun Gadouth. Neun ist Gieselman, zehn Martiletto. Ich
hoffe, ich bin der erste, der alle richtig identifizierte.« »Leider nein. Kaum war Dwyddions Erklärung veröffentlicht, stürmten Dutzende von Opportunisten mit der korrekten Identifizierung in die Redaktion.« »Pah! Habgier ist wohl überall zu finden! Eine weitere Rechnung, die ich mit Dwyddion zu beglei chen habe!« »Nun, etwas ließe sich aus der Sache noch machen. Ich würde sehr gern Ihre Biographie herausbringen – zu Bedingungen, die wir ja noch besprechen können. Sie sind eine äußerst ungewöhnliche Persönlichkeit, deshalb dürften Ihre Memoiren unsere Leser interes sieren.« »Das muß ich mir erst noch überlegen. Ich emp fand des öfteren das Bedürfnis, meinen Ansichten öf fentlich Ausdruck zu verleihen. Die Allgemeinheit sieht in mir einen Kriminellen. Nach normaler Defi nition bin ich das unumschränkte Vorbild meiner Profession. Es gibt keinen mir Gleichgestellten und schon gar keinen über mir. Allein durch meine Lei stungen habe ich eine neue Kategorie geschaffen, nach der ich, und nur ich, beurteilt werden könnte. Doch ich werde im Augenblick nicht näher darauf eingehen.« »Was immer, das öffentliche Interesse bleibt gleich.« »Ich muß mir die Sache sorgfältig durch den Kopf gehen lassen. Ich möchte keine Vereinbarung treffen, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimm ten Ort zu sein. Wenn Sie meine Lebensart bedenken, werden Sie mir beipflichten, daß einer ihrer wenigen Nachteile die Notwendigkeit zur ständigen Wach samkeit ist.« »Verständlich.«
»Gewisse Leute fühlen sich zu erhaben, meinen Anweisungen Folge zu leisten – deshalb werden sie bestraft. Das ist eine unabwendbare Tatsache. Ich bin sehr genau, was Vergütungen und Bestrafungen be trifft, das dürfen Sie mir glauben. Die Vergütungen sind gewöhnlich für mich, die Bestrafungen für die anderen, doch genug davon. Ist der Kosmos nicht durch mich ein wesentlicherer, abenteuerlicherer Ort? Natürlich ist das so! Ich bin eben unentbehrlich!« »All das wird unsere Leser faszinieren. Ich hoffe sehr, daß Sie sich zu einem Interview bereiterklären.« »Wir werden sehen. Im Augenblick stehe ich unter Zeitdruck. Ich habe eine Verabredung auf einem fer nen Planeten und muß erst noch meine Vorbereitun gen treffen. Das wär's für heute.« Der Schirm wurde dunkel. Gersen lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. »Treesong hat ganz offensichtlich ein sehr flexibles Wesen.« »Ja, man weiß von Minute zu Minute nicht, was man von ihm zu erwarten hat«, bestätigte Alice. »Er jagt mir Angst ein. Trotzdem hoffe ich, ihm zumin dest einmal noch zu begegnen.« Ihre stumpfe Stimme ließ Gersen aufhorchen. »Weshalb?« »Weil ich versuchen werde, ihn zu töten.« Gersen hob die Arme. Die schmalschultrige Jacke beengte ihn. Er zog sie aus und warf sie achtlos zur Seite. Dann nahm er die Perücke ab und ließ sie gleichmütig auf die Jacke fallen. Alice beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, schwieg jedoch. »Er ist vorsichtig«, sagte Gersen. »Ich hatte Glück, daß wenigstens ein Schuß ihn am Voymont traf.« Mit weicher, staunender Stimme fragte Alice: »Wer
sind Sie?« »In Pontefract bin ich als Henry Lucas, Sonderbe richterstatter von Cosmopolis, bekannt. Manchmal be nutze ich einen anderen Namen und beschäftige mich auch mit etwas anderem.« »Warum?« Gersen stand auf und durchquerte das Büro zu ih rem Schreibtisch. Er griff unter ihre Achseln und zog sie hoch, daß ihr Gesicht seinem ganz nahe war. Er küßte sie auf die Stirn, die Nase, die Lippen. Sie wehrte sich nicht, sondern ließ es wie eine Puppe über sich ergehen. Er lockerte die Umarmung. »Wenn Treesong dich über mich ausfragt, kannst du es ihm nicht sagen, wenn du es nicht weißt.« »Ich werde ihm auf keinen Fall noch etwas sagen. Er hat meinen Vater ermordet und mich betrogen und ausgenützt. Er hat keine Macht mehr über mich.« Wieder küßte Gersen sie. Auch diesmal ließ sie es zu, erwiderte seine Küsse jedoch nicht. Sie lehnte sich ein wenig in seinen Armen zurück. »Dann möchtest du also, daß ich hier bleibe?« »Ja, sehr.« Sie drehte sich um und löste sich aus seinen Ar men. »Ich habe nichts Besseres zu tun.« »Dann wirst du also hier sein, wenn ich zurück komme?« »Wohin gehst du denn?« »Ich fliege zu einer seltsamen alten Welt, um an ei nem gesellschaftlichen Treffen teilzunehmen.« »Wo auch Treesong sein wird?« »Ja. Ich werde dir alles erzählen, wenn ich zurück bin.«
Fast sehnsüchtig sagte Alice: »Wann wird das sein?« »Ich weiß es nicht.« Wieder küßte Gersen sie. Diesmal erwiderte sie seine Küsse und schmiegte sich kurz an ihn. Gersen drückte zum Abschied noch ei nen Kuß auf ihr Haar. »Auf Wiedersehen!«
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Aus Life, Vorwort zu Band 2 von Baron Bodissey Un spiek: Wenn wir mit unseren Wunderschiffen den Fluß überque ren, der die Zeit ist, fallen uns immer wiederkehrende Mu ster bei den Völkern und Zivilisationen auf... Ungleichar tige Rassen vermischen sich nur, wenn das ihnen gemein sam zur Verfügung stehende Territorium beschränkt und überfüllt und der gesellschaftliche Druck unabwendbar ist. Eine starke gerechte Regierung ist unter diesen Umstän den üblich und sie ist sowohl unbedingt erforderlich als auch willkommen. Im umgekehrten Fall, wenn weite Gebie te zur Verfügung stehen und Land für jeden zu haben ist, wie bei der Besiedlung eines neuen Kontinents oder einer neuen Welt, kann nichts verschiedenartige Menschen in enge Verbindung bringen. Die einzelnen Gruppen wan dern zu neuen Orten aus und isolieren sich, woraufhin im Lauf der Zeit die Sprache mutiert, sich neue Sitten und Gebräuche entwickeln, auch was die Kleidung anbelangt, und ästhetische Symbole neue Bedeutung gewinnen. Die öffentliche Einstellung ist introvertiert, eine von anderer Seite aufgezwungene Regierung wird nicht geduldet. Die Vorgänge, wenn eine Rasse oder Gruppe von ihrer Hei matwelt auswandert und sich anderswo einlebt, sind von ungeheurer Vielfalt und eine Quelle endloser Faszination... MOUDERVELT: Damals und jetzt aus Studien der ver gleichenden Anthropologie von Russell Cooke: Hätte der scharfsinnige Baron sich entschlossen, sein be
rühmtes VORWORT ZU BAND 2 mit Beispielen zu er läutern, wäre es leicht möglich gewesen, daß er sich für die abgelegene Welt Moudervelt, den einzigen besiedelten Pla neten des Van Kaathe Sterns, als Musterbeispiel entschie den hätte. Moudervelt ist eine angenehme, fruchtbare Welt mit ei ner ausgedehnten Landmasse. Die Flora verträgt sich im allgemeinen mit den mitgebrachten Erdpflanzen; die Fauna bietet keine Bedrohung, von ein paar fleischfressenden Meerestieren abgesehen. Moudervelt ist eine alte Welt. Die ehemals schroffen Ge birgsketten sind nun bewaldete Hügel. Sanft gewellte Ebe nen erstrecken sich von Horizont zu Horizont und erfreu en sich gewöhnlich blauen Himmels mit hohen weißen Kumuluswolken Träge Flüsse schlängeln sich durch schwarzerdige Prärien mit gemäßigtem Klima. Von den Flüssen abgesehen hat das Land keine natürlichen Gren zen, wohl aber wurde eine große Zahl künstlich gezogen, und so wurden 1562 getrennte Hoheitsgebiete geschaffen, von denen jedes eifrig bedacht ist, seine Eigenheiten zu be wahren, seine Sitten und Gebräuche hochzuhalten, seine eigene Küche zu pflegen. Und jedes Land erachtet alle an deren Länder als Schmutz und seine Bewohner als Ab schaum der Menschheit, und sich selbst als die einzige wirkliche Zivilisation unter 1561 barbarischen, unver ständlichen und unangenehmen Nachbarn. Moudervelt hat keine wirklich echten Städte. Die mei sten der Länder unterhalten einen Raumhafen. Handels wege sind hauptsächlich die Flüsse, die durch Kanäle mit einander verbunden sind. Nur wenige Straßen verbinden die einzelnen Staaten miteinander. Moudervelt ist jedoch keineswegs vom Rest des Univer sums isoliert. Es exportiert, beispielsweise, eine beachtliche
Menge erlesener Nahrungsmittel, ursprünglich für seine ausgewanderten Söhne.* Es führt technische Artikel ein, vor allem Werkzeuge und Maschinen, aber auch Bücher und Zeitschriften, jedoch nicht in größerem Umfang. Im großen und ganzen ist Moudervelt Selbstversorger. (Nach der üblichen Aufführung physikalischer Daten und einer Zusammenfassung der Geschichte widmet der Bericht jedem der 1562 Hoheitsgebiete zumindest ein paar Zeilen.) Maunish, im Herzen der Goshenprärie, umfaßt ein Ge biet von etwa siebzigtausend Quadratkilometern und be herbergt eine Bevölkerung von ungefähr einer Million, die von der Sekte »Erben des reinen Glaubens« abstammt. Maunish wird im Süden und Osten vom Dalglish-Fluß begrenzt, im Westen liegt das Land Puck, im Norden Amable und der Fluß Bohuloe, und im Osten grenzen die Länder Ganaster und Erquhar an. Hauptstadt ist Cloutie. Hinweis an Reisende von anderen Welten: Im MaunishTerritorium gibt es keine Raumhäfen. Raum- und Luft schiffe, Flitzer und Himmelsreiter sind in einer Höhe von mehr als sechzehn Metern über dem Boden verboten. Ein reise muß per Bodenfahrzeug durch eine staatliche Kon trollstation erfolgen. Grenz- und Zollkontrollen sind streng, genau wie die Einfuhrbestimmungen. Keinesfalls dürfen Waffen, Spirituosen, Erotika und Arzneimittel (au ßer für den persönlichen Gebrauch) eingeführt werden. Strafen für Übertretungen sind ungewöhnlich hoch. Gersen tauchte mit dem Fantamikflitzer zur The obald-Station hinunter. Ackerland mit da und dort * Handelsschiffe mit Nahrungsmitteln verkehren regelmäßig zwischen den besiedelten Welten. Die alte Erde liefert etwa ein Drittel davon. Be sonders geschätzt sind die irdischen Weine.
einem weißgetünchten Hof, erstreckte sich von der Stadt in alle Richtungen. Der Dalglish mäanderte in weiten Schleifen träge durchs Land, ehe er scharf nach Norden abbog und am Horizont verschwand. Der Raumhafen wies weder einen Kontrollturm noch sonst ein aus der Luft erkennbares Merkmal auf. Gersen erkannte ihn nur, weil sich drei Raumfahr zeuge von den umliegenden Feldern abhoben: zwei kleine Frachter und eine alte mitgenommene SisselWanderer. Er landete den Fantamikflitzer, traf die üblichen Vorkehrungen und sprang auf den Boden – ein son niges freies Feld mit blaugrünem Grasbewuchs. Kühle Landluft stieg ihm in die Nase. Außer einem schwachen Zischen aus den Aufladegeräten des Flit zers war kein Laut zu vernehmen. Etwa hundert Meter entfernt sah er im Schatten zweier mächtiger Bäume einen kleinen Schuppen mit einem Schild da vor: ZENTRALRAUMHAFEN
THEOBALD STATION, LELANDER
REGISTRIERUNG VON PASSAGIEREN
Im Innern fand Gersen einen kleinen fetten Mann, der an einem Tisch schlief. Die Überreste seines Mittages sens lagen vor ihm ausgebreitet. Er trug eine einst mals fesche Uniformjacke aus schwarzem, beigem und rotem Drillich, aber statt der dazu gehörenden Hose und der Stiefel hatte er einen weißen knielangen Rock und Sandalen an. Gersen klopfte auf den Tisch. Der Mann erwachte abrupt. Noch ehe er die Lider hob, tastete er nach sei
ner Mütze und zog sie über die schütteren Haare. Mild musterte er Gersen. »Mein Herr?« »Ich bin soeben angekommen und las Ihr Schild.« »O ja, ja, natürlich. Würden Sie bitte dieses For mular ausfüllen...« Er brachte ein Blatt Papier zum Vorschein, stellte einige Fragen und schrieb die Ant worten nieder, dann legte er das Formular in die Ab lage. »Das ist alles, Sir, außer der Landegebühr.« »Könnten Sie mir bitte mit Auskunft behilflich sein?« fragte Gersen höflich. »Ich möchte nach Mau nish, gibt es da irgendwelche Schwierigkeiten?« »Nein, keinerlei. Die Grenzen sind offen.« »Kann ich einen Wagen mieten?« »Gewiß. Sie können meinen eigenen haben, und mein Sohn wird Sie fahren.« Gersens Ohren waren auf fast unmerkliche Unter töne gestimmt. Er blickte den Mann scharf an: »Zu welchem Preis?« »Oh – den normalen. Zehn SVE pro Tag.« »Keine zusätzlichen Gebühren oder Bedingun gen?« »Nein. Glauben Sie, ich will Sie ausnehmen?« »Wird Ihr Sohn mich nach Cloutie fahren und wo hin immer mein Geschäft mich in Maunish führt?« Der Mann blickte ihn mit unverhohlener Entrü stung an. »In Maunish? Sie machen wohl Witze! Bis zur Grenze, nicht weiter! Ich kann doch meinen Wa gen nicht in einem Land voll sturer Hinterwäldler in Gefahr bringen, wo die Mädchen mit nackten Ellbo gen herumstolzieren und die Männer beim Essen ihre Zähne offenbaren! Die Leute dort fahren wie die Wahnsinnigen, und die Luft stinkt nach Betrug! Bis zur Grenze, nicht weiter! Vielleicht finden Sie dort ein
anderes Transportmittel.« »Wie sieht es mit öffentlichen Verkehrsmitteln zwi schen den beiden Ländern aus?« »Keine, die für einen reichen Fremden passend wä ren. Sie würden im Transweltbus mit schmutzigen Tölpeln fahren müssen, die nach Maunish zurück kehren.« »Das macht mir nichts aus, ich bin schon in schlechterer Gesellschaft gereist.« »Nun, wenn Ihnen das tatsächlich zusagt, haben Sie Glück. Der Nachmittagsbus wird in wenigen Mi nuten vorbeikommen. Und nun zur Landegebühr. Eine Raumjacht wie Ihre ist auf zweihundert SVE pro Woche eingestuft, vorauszahlbar für einen Monat.« Gersen lachte. »Ich habe hochgestellte Persönlich keiten in der Gegend als Freunde. Sie machten mich bereits darauf aufmerksam, daß die Beamten hier versuchen, Leichtgläubige auszunehmen, wenn sie nicht gerade während des Dienstes schlafen.« Er brachte eine 5-SVE-Note zum Vorschein. »Das ge nügt.« Mit mürrischer Miene nahm der Mann das Geld. »Das ist gegen die Vorschriften, aber ich nehme an, daß Ausnahmen geduldet werden, wenn es um gut nachbarliche Beziehungen geht... Sehen Sie, dort kommt der Transweltbus.« Ein klappriger dreiteiliger Bus rollte auf acht gro ßen luftgefüllten Kugelrädern herbei. Gersen hielt ihn an, bezahlte dem Fahrer weitere fünf SVE und nahm Platz. Stundenlang fuhr er durch sanft gewelltes Land mit Äckern, Flüssen, Teichen und Obstgärten. Weiße Bauernhöfe lagen zwischen Bäumen und Sträuchern
mit leuchtendem Laubwerk in Rosa, Lachs, Orange und Gelb. Die Bauern hier schienen wohlhabend zu sein, und das Leben im Lande Lelander nicht schlecht, auch wenn die Mädchen hier ihre Ellbogen nicht zeigten. Eine Linie dunkelblauer und schwarzer Pflanzen zog sich den Horizont entlang, wo der nach Osten biegende Dalglish die Grenze darstellte. Hundert Meter vor der Grenze hielt der Bus an. Aus dem Sta tionshaus marschierten ein Sergeant und sechs Sol daten in prächtiger Uniform. Der Sergeant stieg in den Bus und stellte dem Fah rer einige Fragen. Er deutete mit dem Daumen auf Gersen. »Bitte kommen Sie kurz mit mir, mein Herr! Und nehmen Sie Ihr Gepäck mit!« Gersen griff nach seiner Reisetasche. Er folgte dem Sergeanten aus dem Bus und in das Haus. Der Ser geant nahm die Tasche, hob sie prüfend hoch und lä chelte Gersen an. »Ich sehe, Sie wollen ein Modell 6A Projac nach Maunish schmuggeln.« Er löste zwei Halterungen von den Griffen der Reisetasche. »Das ist kein neuer Trick – wir achten auf solche Verstecke. Ich konfisziere die Waffe lediglich, hätte man Sie da mit in Maunish erwischt, würde man Sie in einen Kä fig stecken und drei Stunden in den Fluß tauchen, oder zumindest so lange, bis sie ertrunken sind. Sie sind in dieser Beziehung barbarisch streng. Geben Sie mir lieber auch die anderen Teile, bitte!« Gersen öffnete die Tasche und brachte den Rest zum Vorschein, den er auf verschiedenste Weise ge tarnt hatte. »Hier, Sergeant. Ich danke Ihnen für die Warnung.« Sein rechter Unterarm zuckte und ein Wurfmesser lag in seiner Hand. »Sie sollten das viel
leicht besser ebenfalls in Verwahrung nehmen.« Er schüttelte den linken Arm und streckte dem Ser geanten ein Blasrohr für Glasnadeln entgegen. »Und das auch.« »Ein weiser Entschluß, Sir.« »Bitte veräußern Sie die Waffen nicht sofort. Ich werde auf diesem Weg zurückkehren – zumindest habe ich es vor –, dann werde ich sie selbst zurück kaufen.« »Das ist durchaus nicht unüblich, Sir.« Gersen kehrte zum Bus zurück, der sogleich weiter fuhr und den breiten Dalglish auf einer Eisenbrücke überquerte und damit die Grenze überschritt. Die Straße führte quer durch eine Marsch mit braunem Schlamm und purpurnem Ried, durch einen Papayenhain von aufdringlicher, leicht fauliger Süße, und hinaus in den hellen Sonnenschein. Die Land schaft war hier völlig anderer Art. Drüben über dem Fluß lag Lelander, doch hier war Maunish, wo nichts ganz gleich war. Der Bus blieb an der maunishen Grenzstation stehen, im Schatten eines gewaltigen Linglangbaums mit blauem Laubdach und zwei Me ter dickem, knorrigem Stamm. Auch hier marschier ten Soldaten zum Bus, doch war ihre Uniform weni ger farbenfroh in Grau und Grün gehalten. Schon rein äußerlich unterschieden die Maunisher sich von den zierlichen Lelandern mit den weichen Zügen. Die Soldaten waren ohne Ausnahme groß, hager und hatten strähniges braunes Haar und knochige Ge sichter. Auf einen Wink des Sergeanten stiegen die Passa giere aus und betraten einer nach dem anderen ein niedriges langes Gebäude, wo sie in drei verschiede
nen Räumen überprüft und durchsucht wurden. In Gersens Fall waren die Beamten kurz angebunden, unpersönlich und ungemein sorgfältig. Sein angege bener Beruf – Journalist – erregte nur geringes Inter esse. »Was erwarten Sie hier in Maunish zu erfah ren?« erkundigte sich einer der Beamten. »Nichts Besonderes. Ich bin eigentlich als Tourist hier.« »Warum gaben Sie das dann nicht an?« »Das spielt doch wohl keine große Rolle, oder?« »Vielleicht nicht für einen Touristen und auch nicht einen Journalisten, wir jedoch sind Sicherheitsbeamte, die für Sitte und Anstand in Maunish verantwortlich sind. Für uns spielt es eine große Rolle. Erstens ein mal ist Touristen gestattet, im Hotel Bon Ton in Mau nish abzusteigen, während Journalisten die Nacht – jede Nacht! – in einer Polizeistation verbringen müs sen.« »Nun, in diesem Fall bin ich absolut ein Tourist reinsten Wassers und muß Ihnen beipflichten, daß es tatsächlich einen bedeutenden Unterschied macht.« »Offenbar führen Sie keine Schmuggelware bei sich.« »Offenbar nicht.« Der Beamte lächelte kühl. »Sie werden feststellen, daß sich viele unserer guten maunishen Sitten bei nä herer Betrachtung als überzeugend praktisch erwei sen. Ich kann Ihnen versichern – denn ich bin weitge reist, ich habe nicht weniger als neununddreißig un terschiedliche, getrennte Domänen besucht –, daß Maunish ein Paradies an Toleranz ist, verglichen mit Malchione oder Dinkland. Unsere Gesetze sind ein fach und vernünftig. Wir verbieten die Verbreitung
von Polytheismus und die Zurschaustellung von weißen Fahnen, Wimpeln und Standarten. Wir ver bieten anstößiges Rülpsen, vernehmliches Windelas sen und andere Vergehen gegen die öffentliche Ruhe. An unserer Liste strafbarer Handlungen ist nichts Be sonderes. Sie brauchen sich nur anständig zu beneh men, dann werden Sie nicht in Schwierigkeiten kommen.« Er unterzeichnete Gersens Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung mit schnörkeliger Unter schrift. »Hier, mein Herr, nun können Sie sich frei in Maunish bewegen!« Gersen stieg wieder in den Bus, der ruckhaft an fuhr. Grenzstation und Linglang blieben zurück. Die Landschaft war nun absolut maunish, also anders als die Lelanders. Ob es psychologisch bedingt oder mit Absicht herbeigeführt war, wußte Gersen nicht, der ähnliche Unterschiede von anderen Planeten kannte. Das Land hier schien weiter zu sein, der Himmel of fener. In der klaren Luft wirkten die Horizonte gleichzeitig nah und fern, so paradox das auch war. Auf der Prärie wuchsen Bäume in kleinen Gruppen, aber auch in größeren Hainen, doch immer nur solche der gleichen Gattung: Ginsaps, Orpoons, Linglangs und Flammlinge. Ihre Schatten waren von einem dichten Schwarz, das jedoch irgendwie in einer un nennbaren Farbe zu schimmern schien. Die Bauern höfe hier waren weit seltener, älter, und aus keinem ersichtlichen Grund hoch und schmal, und sie lagen weit von der Straße entfernt, als wollten sie ihre Ab geschiedenheit eifersüchtig hüten... Das Land wurde freundlicher. Der Bus fuhr nun durch ausgedehnte Obstgärten mit rosa- oder gelbblättrigen Bäumen, die ohne Ausnahme schwarze Stämme hatten, über tiefe
Flüsse, durch kleine Ortschaften und schließlich kam er in Cloutie an, wo er auf dem Hauptplatz hielt. Die Seiten schwangen hoch, um die Passagiere hinaus zulassen, deren Ziel die Stadt war. Gersen gehörte zu ihnen. Er sah sich interessiert um. Dem jungen Howard Treesong mußte Cloutie als wichtiger Ort vor gekommen sein, ja vielleicht als die Nabe des Univer sums, wenn er zu besonderen Anlässen, vielleicht einmal im Jahr, hierher mitgenommen worden war. Auf einer Seite des Platzes entdeckte Gersen das Ho tel Bon Ton, ein häßliches vierstöckiges Haus, hoch und schmal, mit plumpem überhängenden Dach und zwei zweistöckigen Flügeln. Wenn Howard Alan Treesong nach Gladbetook reiste, um an dem Klassentreffen teilzunehmen, wür de er möglicherweise, genau wie Gersen, im Bon Ton absteigen. Nun galt es vorsichtig zu sein – wenn es dazu nicht bereits zu spät war... In einem Textilge schäft erstand er die hier übliche Bekleidung: ein Hemd aus dickem grünen Stoff, bauschige Kniehose, graue wollene Wadenstrümpfe und schwarze breite Schuhe, dazu einen breitkrempigen, niedrigen schwarzen Hut, der am Hinterkopf etwas abge schrägt war. Die hiesige Art sich zu bewegen – mit langsamen steifen Schritten, die Arme gerade an den Seiten hängend und das Gesicht nach vorne gerichtet –, war nicht so leicht nachzuahmen. Deshalb würde man ihn gewiß auch jetzt noch als Fremden erkennen, doch jedenfalls nicht mehr auf den ersten Blick. Gersen überquerte den Platz zum Bon Ton Hotel und betrat das dunkle Foyer, in dem es nach altem Holzwachs, modrigem Leder, schweren Kissen und unbeschreiblichen Ausdünstungen roch. Niemand
war zu sehen, am Empfang brannte kein Licht. Ger sen klopfte an einer Tür neben dem Empfangstisch, bis eine kleine alte Frau aus einem Hinterzimmer an kam. Mit schriller Stimme erkundigte sie sich nach seinem Begehr. Würdevoll erklärte ihr Gersen, daß er ein Zimmer für mehrere Tage haben wollte. »Tatsächlich. Und wo werden Sie speisen?« »Wo immer es die besten Menüs gibt.« »Da müßten Sie weit laufen, bis über den See, wo man nicht auf Anstand achtet und den Magen mit Ausgefallenem verzärtelt. Sie müssen schon essen, was wir uns entschließen in unserem Speisesaal zu servieren.« »Nun, was immer schicklich ist.« »Das ist schicklich!« Die Alte betrachtete ihn schräg. »Was machen Sie hier? Verkaufen Sie Dinge?« Sie gab diesem Wort eine Betonung, die gleichzeitig schlüpfrig und abfällig war. »Nein, ich verkaufe nichts.« »Oh.« Und nach kurzer Pause: »Gar nichts?« »Absolut nichts.« »Das ist bedauerlich«, erklärte sie plötzlich redse lig. »Ich sage immer, daß jeder kaufen und verkaufen soll, wie es ihm beliebt, auch wenn es dem Gesund heitsamt nicht paßt. Woher sind Sie? Ich werde mir da nicht klar. Sie sind doch kein Mandyker? Oder ein Booder?« »Weder noch.« »Zünden Sie Feuer oder schütten Sie Wasser?« »Ganz bestimmt nicht.« »Na gut, dann gebe ich Ihnen das freundliche Son nenaufgangszimmer.« Sie machte ein so betont un
schuldiges Gesicht, daß Gersen sofort mißtrauisch fragte: »Der Preis?« »Es ist unser bestes Zimmer, das wir immer für hochgestellte Persönlichkeiten reservieren. Natürlich ist der Preis entsprechend.« »Wieviel ist ›entsprechend‹?« »Dreiundachtzig SVE pro Tag.« »Kommt ja gar nicht in Frage! Zeigen Sie mir die Preisliste für Ihre Zimmer!« »Nun, dann fünf SVE...« Gersen gefiel das Zimmer, zu dem die unterste der mittleren Terrassen gehörte, ein mit weißem Holz getäfeltes Bad, ein Schlafalkoven und ein kleiner Sportraum. Es war inzwischen Spätnachmittag. Gersen ging hinunter auf die Straße, schaute sich links und rechts um, dann machte er sich daran, sich die Stadt anzu sehen. Am Südende des Platzes stand eine Statue und dahinter ein hohes nüchternes Bauwerk, vermutlich eine Kirche oder ein Tempel. Eine Inschrift im Sockel der Statue wies den Betrachter darauf hin, daß sie Bandervoum, den Didram, darstellte, der einen An schlagwinkel in der Hand hielt, um die Seelen der Verstorbenen zu messen. Hinter der Kirche wuchs ei ne Reihe kräftiger schwarzer Zedern. Durch die Lük ken konnte man mehrere weiße Statuen sehen. In der Nähe der Kirche entdeckte Gersen ein kleines Schreibwarengeschäft, in dem auch aller möglicher Krimskrams zu erstehen war. Auf einer Stellage be merkte er mehrere Ausgaben von Cosmopolis verschie denen Datums und ein Sein! Das Sein!-Titelbild war die Preisausschreibenfotografie mit der Überschrift:
WER SIND DIE ABGEBILDETEN?
100000 SVE FÜR DIE RICHTIGE EINSENDUNG
Gersen betrat den Laden. Hinter zwei parallelen Ver kaufstischen links und rechts standen zwei kleine Mädchen in langärmeligen schwarzen Kleidern. Ihr schwarzes Haar war so straff zu einem Knoten ge bunden, daß ihnen die Augen hervorzuquellen schie nen. Als Zier trugen beide zwei korallenrote Wedel. Auf dem nächsten Tisch lag eine Broschüre zum Ver kauf mit dem Titel: DAS LAND MAUNISH
AMTLICHE KARTE
ENTHÄLT ALLE STRASSEN, ORTSCHAFTEN,
FLÜSSE,
BRÜCKEN UND GRENZSTATIONEN
MIT PHYSIOGRAPHISCHEN ANGABEN
PREIS: 25 CENTUMS
Gersen nahm sich ein Exemplar und legte eine Münze dafür auf den Tisch. Die beiden Mädchen protestier ten: »Sir! Die Karte kostet zwei SVE!« Gersen deutete auf den aufgedruckten Preis. »25 Centums steht hier!« »Er gilt nur für Einheimische«, erklärte ein Mäd chen. »Fremde müssen einen Zuschlag bezahlen«, fügte das andere hinzu. »Wieso das?« erkundigte sich Gersen, der sich fragte, wieso die Mädchen ihn in seiner neuen Clou tie-Kleidung als Fremden erkannt hatten. »Weil die Karte auch wertvolle Geheiminformation
enthält«, sagte das Mädchen am rechten Tisch mit ernster Stimme. »Ungemein wertvoll für jede feindliche Streit macht«, stieß das linke Mädchen ins gleiche Horn – mit noch ernsterer Stimme, wenn das überhaupt möglich war. »Aber gewiß besitzen Ihre Feinde bereits Karten von Maunish«, gab Gersen zu bedenken. »Die wer den doch meine nicht brauchen.« »Vielleicht haben nicht alle unsere Feinde Karten.« »Vielleicht nicht mit so vielen geheimen Einzelhei ten.« »In diesem Fall«, sagte Gersen, »ist Ihre Karte weit mehr als zwei SVE wert.« »Das stimmt, doch würde niemand soviel bezah len«, meinte ein Mädchen. »Sie würden eher eine alte ungenaue benutzen«, sagte das andere. »Nun, zufällig wohne ich hier und bin auch kein Feind«, versicherte ihnen Gersen. »Meine Adresse ist das Bon Ton Hotel, deshalb brauche ich auch nur den niedrigeren Preis zu bezahlen.« Die Mädchen wußten darauf nicht gleich eine Antwort. Sie dachten offensichtlich über Gersens Be hauptung nach. Ehe sie zu einem Entschluß gekom men waren, hatte Gersen sich längst mit der Karte um 25 Centums zurückgezogen. Er setzte sich auf eine Bank und studierte die Karte. Er stellte fest, daß Gladbetook sich siebzig Kilometer nördlich an den Ufern des Sweet Trelawneys befand. Gersen blickte sich weiter auf dem Platz um, da fiel ihm ein großes Schild auf:
PANTILOTE GARAGE
QUALITÄTSFAHRZEUGE ZU MIETEN UND VER
KAUFEN:
STUNDEN-, TAGE- ODER WOCHENWEISE
Anmeldungen bei unseren reellen Werkstätten,
wo Sie sich selbst
von unserer Integrität überzeugen können
DIDRAM RUMMEL STRASSE 29
Gersen fand die Didram Rummel Straße und auch die Pantilote Garage, wo es ihm schließlich nach beachtli chen Formalitäten gelang, einen 3-Rad-Wagen zu mieten, der aus alten Teilen in der Werkstatt zusam mengebastelt worden war. Abendliche Dunkelheit senkte sich bereits herab. Der Weg nach Gladbetook war zu lang um am selben Tag noch aufzubrechen. Gersen vereinbarte, das Fahrzeug am nächsten Morgen abzuholen. Dann würde er über die Goshenprärie zu Howard Alan Treesongs Heimat seiner Kindheit fahren.
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Aus Die Lehren Didram Bodo Simes, 6:6: Schande über den Säufer und seine alkoholischen Getränke! MOTTO:Es ist nicht gut, sich zu betrinken, sich zu be säufen, ob nun mit Fusel, eingeführtem Bier oder Branntwein. ERKLÄRUNG: Der Säufer wird allen lästig, wird un zurechnungsfähig und zum Gespött. Häufig besudelt er sich und seine Kleidung und begeht Grausamkeiten. Er riecht schlecht und rülpst. Seine aufdringlichen Vertrau lichkeiten ergrimmen alle anständigen Menschen. Sein trunkener Gesang, sein Johlen und Grölen beleidigen das Ohr. Häufig stellt er skurrile Behauptungen auf. Der Säufer bemächtigt sich guter Früchte und läßt sie verderben. Der anständige Mensch, der sich der Erquik kung und des guten Geschmacks der reinen Frucht erfreu en möchte, sieht sich ihrer beraubt und zur Klage veran laßt: »Weshalb, o Säufer, beraubtest du mich meiner Früchte und ließest sie verfaulen?« Der Säufer führt verrückte Tänze auf. Er benimmt sich wie ein Clown und säubert seine Ohren mit Besenstroh. Er neigt zur Streitsucht und beschimpft gesittete Leute, die stehenbleiben, um ihn seiner Torheit wegen zu rügen. Nördlich von Cloutie wurde die Landschaft wild und öde, anfangs durch die Junifer-Sümpfe, dann durch die ausgedehnten Strecken schwarzen Gesteins, wo das Land lediglich als magere Weide benutzt werden konnte. Zum erstenmal sah Gersen die einheimische Fauna von Moudervelt: zweibeinige krötenähnliche
Wesen, die mit hohen Sprüngen Insekten fingen; ein Rudel Echsenfüchse mit graugrüner Pangolinschup penhaut und nur einem Sehorgan. Die Tiere richteten sich hoch auf, um Gersen beim Vorüberfahren zu be obachten; als er auf die Bremse stieg, näherten sie sich mit tänzelnden Seitwärtsschritten, aus Gründen, die Gersen nicht einmal zu ahnen vermochte. Schnell be schleunigte er wieder, und das Rudel starrte ihm nach. Als die Steinebene hinter ihm lag, blieb die Ein samkeit erhalten. Eintönige Steppe breitete sich bis zum Horizont aus: sie war sanft hügelig, baumlos und trostlos im Sonnenschein. Endlich zeichnete sich nordwärts eine schwarze Li nie ab: die Bäume entlang der Ufer des Großen Swo mey-Flusses. Am anderen Ufer war das Land wieder besiedelt. Gersen kam durch ein halbes Dutzend Dör fer, die einander wie ein Ei dem anderen glichen, mit ihrer Hauptstraße, ein paar Querstraßen, einem Wirts haus, mehreren Läden, einer Schule, der Verwaltung einem Tempel und diversen Häusern und Hütten. Gegen Mittvormittag erreichte Gersen Gladbetook: eine Ortschaft, nicht viel anders als die, durch die er gekommen war, nur etwas größer, was allein die Tat sache schon bewies, daß sie nicht nur ein Wirtshaus hatte, sondern die Dankwall Taverne am Stadtrand und das vornehmere Swechers Inn an der Hauptstraße. Gersen hielt den Dreiradwagen neben Swechers Inn an, einem sehr alten, sichtlich mehrmals ange stückelten Bau mit zwanzig Gästezimmern verschie dener Größen in unterschiedlich hohen Stockwerken. Die Gaststuben waren genauso ungleich. Sie hatten schräge Decken, schwarze Holzvertäfelung und Fen
ster, die Van Kaathes Stern in den hundert Jahren ih rer Existenz violett getönt hatte. Die steinerne Fassa de war hinter dem dicht rankenden wilden Wein kaum zu sehen. Vor ihr waren Tische unter einer Per gola aufgestellt, an denen einige Bürger saßen. Am Empfang stand ein gut zwei Meter dreißig großer und stockdürrer Mann mit wachsbleichen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen. »Kann ich Ihnen behilflich sein. Sir?« fragte er. »Ich hätte gern eine Suite mit mehreren Räumlich keiten.« Der Wirt musterte Gersen mit erhobenen Brauen und hängenden Mundwinkeln. »Sind Sie allein?« »Ja.« »Und da wollen Sie mehrere Zimmer?« »Wenn Sie eine Suite haben.« »Sehr unbescheiden, wenn ich so sagen darf. Wie viele Zimmer können Sie denn gleichzeitig bewoh nen? In wie vielen Betten beabsichtigen Sie zu schla fen? Wie viele sanitäre Einrichtungen benötigen Sie für Ihre Gesundheit?« »Vergessen Sie es!« brummte Gersen. »Geben Sie mir ein Einzelzimmer mit Bad... Ist mein Freund Ja cob Bane bereits eingetroffen?« »Hier bei uns im Swecher? Nein.« »Noch nicht? Irgendwelche andere Fremde außer mir?« »Es ist weder jemand hier mit dem Namen Bane noch mit einem anderen Namen. Sie sind der erste heute. Bitte bezahlen Sie im vorhinein! Jemand, der wie ein Irrlicht aus irgendeinem fernen Winkel des Universums kommt, mag allzuleicht verschwinden, ohne die Rechnung zu begleichen.«
Der Wirt führte Gersen in ein dämmeriges Zimmer mit blauen Wänden und einer schwarzen Decke, die höher zu sein schien, als sie weit war. Ein Ständer enthielt eine Waschschüssel und eine Handbürste. Eine graue Matte bedeckte das Bett und eine ähnliche lag auf dem Boden. Ein Blick ins Badezimmer verriet Gersen, daß es unbenutzbar war. Der Wirt kam seiner Bemerkung zuvor und sagte schnell: »Im Augenblick haben wir nichts Besseres. Die Zimmer wurden alle vorbestellt, da übermorgen ein gesellschaftliches Er eignis stattfindet. Zum Waschen verwenden Sie bitte das Wasser in der Schüssel und die Bürste daneben. Ansonsten können Sie die Toilette unten auf dem Gang benutzen.« Der Wirt verließ das Zimmer. In der Dankwall Taverne hätte ich es vermutlich noch schlechter getroffen, dachte Gersen stoisch. Er vergeudete keine Zeit im Zimmer, sondern be gab sich gleich auf die Straße hinunter. Er blickte in die Richtung, aus der er gekommen war, dann wandte er sich in die entgegengesetzte und spazierte durch Gladbetooks kleines Geschäftsviertel. Am Golcherweg bog er links ab, überquerte den Sweet Trelawney auf einer moosüberwucherten Steinbrücke. An einer Seite stand eine Statue, die, wie angegeben, Didram Runel Fluter darstellte. In einer erhobenen Hand hielt er einen kurzen Krummsäbel, in der anderen triumphierend ein abgetrenntes männliches Glied. Hinter der Statue stand die Kirche. Auf einem Schild stand: GETREUE DER KREATIVEN WAHRHEIT
»ES GIBT KEINE UMKEHR!«
»ES GIBT KEIN ABWENDEN!«
»ES GIBT NUR DIE WAHRHEIT
UND IHRE LEHRE!«
Seitlich der Kirche stand ein mit Zedern umschlosse ner Friedhof. Unzählige Statuen, anstelle von Grab steinen, konnte man sehen. Sie waren mit erstaunli chem Geschick aus weißem Marmor oder Kunststein gehauen und stellten offenbar die Verstorbenen dar, doch zierten sie nicht die Gräber, sondern standen in Gruppen, wie im Gespräch, als unterhielten sie sich über ihr gemeinsames Los. Etwa einen halben Kilometer weit die Straße auf wärts führte eine zweite Brücke über den breiten trä gen Swanibel, der sich dem Sweet Trelawney näherte, um sich mit ihm zu vereinen. Unweit der Brücke sah Gersen die Gladbetooker Schule. Er blieb stehen und überlegte einen Augenblick lang. Es war bald Mittag. Er drehte sich um und kehrte auf dem Golcherweg in die Stadt zurück. In einem Fleischerladen erkundigte er sich, wie er zu Adrian Hardoahs Farm kommen konnte. »Biegen Sie bei Swechers Inn ab«, sagte man ihm. »Sie sind dann auf dem Virleweg. Folgen Sie ihm aus der Stadt. Nach etwa sechseinhalb Kilometern kom men Sie an eine Kreuzung. Dort müssen Sie rechts auf die Bausger Lane abbiegen. Hardoahs Farm ist die zweite links, sie ist leicht an ihrer großen grünen Scheune zu erkennen. Was wollen Sie denn von Har doah? Erhoffen Sie sich lieber kein Geld von ihm. Er ist so geizig, daß es schlimmer nicht geht.« Gersen ging nicht auf die Frage ein. Er bedankte sich für die Auskunft und machte sich auf den Weg. Mit dem Dreiradwagen fuhr er auf dem Virleweg
nordwärts. Nach sechseinhalb Kilometern durch die Prärie erreichte er die Kreuzung und bog nach rechts in die Bausger Lane ab. Etwa eineinhalb Kilometer weiter und knapp hundert Meter abseits der Straße sah er einen von Garomen- und Pfeffernußhecken – deren Laub im Schein von Van Kaathes Stern schil lerte – umzäunten Bauernhof. Nach weiteren einein halb Kilometern bemerkte er ein Häuschen links der Straße – konnte das Hardoahs Farm sein? Als Farm war die Hütte arg klein und wacklig. Auch sah er keine grüne Scheune in der Nähe. Eine kleine dürre Greisin mit spitzem runzeligen Gesicht saß auf einer Bank im Sonnenschein. Neben ihr lag ein Knäuel dik ken Garns. Mit den steifen alten Fingern stickte sie ein vorgezeichnetes Muster in groben Stoff. Gersen hielt den Dreiradwagen an und stieg aus. »Guten Tag, Madame.« »Guten Tag, Sir.« »Ist das hier die Hardoah Farm?« »Nein, Sir! Keineswegs! Sie müssen eineinhalb Ki lometer weiterfahren, dann sehen Sie sie.« Fünfzig Meter von der Hütte entfernt bemerkte Gersen ein zerfallendes, zweifellos nicht mehr be nutztes, langgestrecktes Haus, das von dichten blau schwarzen Ginsapbüschen umgeben war. »Das sieht aus wie eine alte Schule«, sagte er. »Das war es auch. Dreißig Jahre unterrichtete ich dort, und weitere zwanzig Jahre sitze ich schon hier und muß zusehen, wie das Haus zerfällt. Jetzt gibt es hier keinen Unterricht mehr, die Kinder werden mit dem Bus über den Hügel zur neuen Schule nach Leck gebracht.« »Und Sie wohnten all die Zeit hier?«
»Allerdings. Ich war nie verheiratet. Ich trinke Wasser, Molke und Selbstgebrannten. Ich lebe nach dem Glauben, so gut ich es kann. Und früher war ich den Kindern eine gute Lehrerin, das sagten alle.« »Gehörte auch Howard Hardoah zu Ihren Schü lern?« »Ja. Kennen Sie ihn?« »Nicht sehr gut.« Die Greisin blickte vor sich hin, während Bilder der Erinnerung an ihrem inneren Auge vorüberzogen. »Ich habe mich oft gefragt, was aus Howard gewor den ist. Er war ein seltsamer kleiner Bursche, unbere chenbar, ein Kobold. Tatsächlich hat er bei einer Schulaufführung einmal einen Kobold gespielt. Ganz in Grün und Braun war er gekleidet. Und was für ein Kobold er war! Er machte ein schiefes Gesicht und zappelte herum. Ah ja, und richtig schlimm war er zu Tammy Fluter, der Fee. Sie brüllte wie am Spieß, daß sogar Howard erschrak. Und zweifellos hat sein Va ter ihn gehörig dafür versohlt. Sie waren Fundamen talisten, die striktesten der Erben des reinen Glau bens. Aber sie sind jetzt fast ausgestorben. Sie sind doch nicht etwa gar ein Fundamentalist?« »Ich weiß nicht einmal, was das ist.« »Ihrer war ein starker Glaube und ganz vernünftig wenn man davon reden hörte. Sie waren der Ansicht, daß die Sünde im Menschen durch sorgfältige Gat tenwahl unterbunden werden konnte. So heiratete Bruder Schwester, und Vetter Base, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Haben Sie die Statue des Didrams Runel Fluter in der Stadt gesehen? Er war Glaubens meister und tat, was getan werden mußte, aber es brachte ihm nicht viel Dank ein, und schon gar kei
nen von jenen, die er für unwürdig erachtete. Oh, das waren noch Zeiten, als der Glaube wirklich stark war! Nun gibt es keine Fundamentalisten mehr in der Ge gend, außer den Hardoahs, und sie kümmern sich auch kaum noch um die alten Ideen.« »Howard hat Ihnen wohl ganz schön zu schaffen gemacht?« »Manchmal ja. Aber er konnte auch unvorstellbar lieb sein. Er hatte eine übermäßige Phantasie. Wie sehr er Blumen liebte! Und wie sein kleines Gehirn funktionierte! Einmal sortierte er Blumen nach Farben für die Schlacht der Blumen. So etwas Verrücktes ha ben Sie noch nie gesehen! Die Blütenblätter flogen und die Gefallenen schrien. Ständig eilte Howard hin und her, griff mit seinen roten Tulpen die blauen an. Tapfer gingen die Rosen in den Tod, und die blauen Glockenblumen besiegten jubelnd das Eisenkraut. Welch ein Tag! Und dann verließ er die Volksschule und ging in die höhere Schule, wo er nicht so beson ders gut zurechtkam, wie ich hörte. Er war so zierlich und jung, das nutzten die Größeren, Stärkeren zwei fellos aus. Dann rächte er sich an den Sadalflourys und das führte natürlich zu einem ordentlichen Skandal.« »Was hat er denn getan?« »Hm – hm. Ich sollte vielleicht nicht so viel rat schen, aber es liegt ja schon so lange zurück, und die Zeiten haben sich geändert, obwohl die Sadalflourys immer noch hochgestellte Persönlichkeiten sind. Howard hatte ein Auge auf eines der Mädchen gewor fen, auf Suby, wenn ich mich recht erinnere. Natür lich machte sie sich nur lustig über ihn, da tat Howard etwas Abscheuliches, das die Sadalflourys sich
nicht bieten lassen konnten. Aber Howard suchte schnell sein Heil in der Flucht und verließ mit dem nächsten Schiff unsere Welt.« Gersen beugte sich über die Stickerei der Alten. »Wunderschön«, lobte er. »Meine beste Arbeit, aber Eigenlob stinkt. Jeden falls verdiene ich mir damit meinen Unterhalt.« Gersen gab ihr zehn SVE. »Vielleicht könnten Sie mir auch ein solches Tuch sticken? Komme ich nicht zurück, was ich nicht hoffe, dürfen Sie es anderweitig verkaufen, ohne daß Sie sich deshalb Gewissensbisse machen müssen.« »O danke, Sir!« »Nichts zu danken. Es war mir eine Freude, mich mit Ihnen zu unterhalten, doch jetzt muß ich weiter.« Eineinhalb Kilometer die Straße aufwärts kam Ger sen zu einem Hof mit einer ins Auge stechenden grü nen Scheune zu einer Seite. Er hielt den Wagen an und betrachtete das Haus, und unwillkürlich überlief ihn eine Gänsehaut. Das Haus war wie viele andere drei Stockwerke hoch, aus rosa Schindeln mit blauem Zierrand um die Fenster, einem hohen Giebeldach mit mehreren Fenstern. Im Küchengarten arbeitete ein Mann in blauer Hose und schwarzem Hemd mit einer Hacke. Als er auf Gersen und den Dreiradwa gen aufmerksam wurde, hielt er in der Arbeit inne. Gersen fuhr in den Hof. Der hochgewachsene Mann, vermutlich Adrian Hardoah, kam ihm entge gen. Sein mit grauen Fäden durchzogenes hellbrau nes Haar war ohne Rücksicht auf irgendeinen Stil of fenbar selbstgestutzt, sein Gesicht war lang, knochig und von Fältchen gezeichnet. Er musterte Gersen weder freundlich noch interessiert. »Sir?«
»Ist das die Home Farm?« »Ja.« »Und Sie sind Adrian Hardoah?« »Der bin ich.« Seine Stimme war weich und tief, mit klarer Aussprache und hörbar bedächtig. »Ich bin Henry Lucas von der Zeitschrift Sein! und komme aus Pontefract auf Aloysius.« »Ah, das war das Magazin mit dem Preisausschrei ben.« Hardoahs Stimme klang nun ein wenig lebhaf ter. »Stimmt. Unter Millionen Einsendungen war Ihre die erste, die Nummer sechs richtig identifizierte – verständlich, da es sich dabei ja um Ihren Sohn han delt.« Sofort wurde Hardoahs Stimme scharf. »Das dürfte keine Rolle spielen. Identifizierung bleibt Identifizie rung!« »Da haben Sie völlig recht. Ich bin gekommen, um Ihnen den Preis auszuzahlen.« »Eine solche Neuigkeit lob' ich mir! Wieviel ist es denn?« »Nach unseren Bestimmungen stehen für die erste richtige Einzelidentifizierung dreihundert SVE zur Verfügung. Ich habe die Summe bei mir.« »Welch ein Segen für uns durch die Hilfe der Di drams! Und was sagen Sie dazu, wenn Sie eine Stun de eher gekommen wären, hätten Sie sogar Howard hier getroffen. Er ist seines Klassentreffens wegen hier.« Gersen lächelte und zuckte die Achseln. »So ein Zufall! Aber es ist von keiner Bedeutung für mich. Für Sein! ist er lediglich ein Mann auf einer Fotogra fie.«
»Er hat es zu etwas gebracht, allerdings hatte er für uns nicht eine Münze übrig, und es ist schon viele Jahre her, daß er von daheim fort ist. Aber kommen Sie bitte ins Haus. Meine Frau soll doch die gute Neuigkeit auch erfahren. Um ehrlich zu sein, ich hatte die Sache ganz vergessen und nicht einmal daran ge dacht, Howard zu fragen, wie er sich so bei dieser weltweiten Publicity fühlt. Die Leute müssen ihn ja überall kennen, bei der Verbreitung seines Bildes!« »Wenige achten wirklich darauf, Sir.« Gersen folgte Adrian Hardoah die Stufen hoch in eine kleine saube re Küche. Eine Frau, fast so groß wie der Mann, drehte sich um. Ihr Gesicht, das auf vielerlei und doch unbeschreibbare Weise Howard Treesong äh nelte, faszinierte Gersen. Die Augen unter der hohen breiten Stirn standen ein wenig zu dicht beisammen. Unter der langen geraden Nase verschwanden die bleichen Lippen und das winzige Kinn fast. Diese Charakteristiken verliehen ihr einen unerbittlichen verschlossenen Ausdruck, der keinen Humor, keine Weichheit gelten ließ. Trotzdem reagierte sie auf Adrians Hinweis auf ih ren Gewinn mit einem erfreuten kehligen Laut. »Das ist aber eine Überraschung! So sind wir auch ohne ein Zutun durch Howard zu etwas gekommen!« »So ist es. Nun, wie wär's mit einem Schluck Tee? Und frischen Waffeln? Was halten Sie davon, Mr. Lucas?« »Ich würde nicht nein sagen.« Adrian rückte ihm einen Stuhl zurecht, und Gersen setzte sich an den Tisch. Er holte ein Bündel Scheine aus seiner Tasche und zählte sie auf den Tisch. Fast ehrfurchtsvoll sagte Adrian: »Wenn man bedenkt,
daß ich nur durch reinen Zufall auf die Fotografie schaute, und auch nur, weil sie in diesem fremden Journal Sein! abgebildet war! Wer hat denn den Gro ßen Preis gewonnen?« »Die Abgebildeten stammten von verschiedenen Welten, die sich in einem Touristenrestaurant trafen. Der Kellner des Restaurants war der erste, der sie identifizierte. Auch Ihr Sohn Howard gab uns die ge naue Identifizierung, doch zu spät.« Reba Hardoah lächelte sarkastisch. »Das sieht Howard wieder einmal ähnlich! Mit allem war er immer eine Spur zu spät dran! Wie schade... Pst! Ich höre Ledesmus. Er ist Howards älterer Bruder, und von ganz anderer Art. Er wird die Farm bekommen, wenn wir den Ewigen Fluß durchqueren.« Ledesmus blieb, überrascht einen Fremden zu se hen, an der Tür stehen. Er war kräftiger als sein Va ter, mit Apfelbäckchen und schweren Lidern, die sei nem Gesicht einen verschmitzten Ausdruck gaben. Adrian rief ihm zu: »Ledesmus, komm herein! Das ist Mr. Henry Lucas von einem fernen Planeten. Er hat uns ein hübsches Sümmchen gebracht.« Ledesmus pfiff durch die Zähne. »Welch ein Tag! Erst taucht Howard aus dem Nichts auf, und jetzt Mr. Lucas.« »Reiner Zufall«, versicherte ihm Gersen. »Trotz dem ist es bedauerlich, daß ich ihn verfehlte, weil ich einen Artikel über alle auf der Fotografie Abgebilde ten schreiben soll.« »Über Howard gibt's nicht viel zu sagen«, erklärte Adrian objektiv. »Er hat nie auch nur einen Hand schlag auf der Farm getan. Seine Schulzeit hat er mit Träumen zugebracht, und ich würde sagen, trotz sei
ner vielen Reisen ist er auch jetzt nichts so Rechtes.« »Sei nicht so streng mit dem Jungen«, sagte Reba. »Du weißt schließlich, daß er schon immer ein wenig seltsam war.« »Wird er noch einmal hierherkommen?« fragte Gersen. »Nein«, antwortete Adrian kurz. »Seltsam, daß er sich nur ein paar Stunden für Sie Zeit nahm, wo er doch von so weither gekommen ist.« Reba versuchte zu erklären: »Nun, von ihm erwar ten wir unziemliches* Benehmen geradezu. Trotzdem tut es uns natürlich leid, daß er so vom reinen Glau ben abweicht. Wenn er nur den Sternenstaub ab schütteln und zu uns zurückkehren würde, um mit Ledesmus die Felder zu bestellen – das wäre uns eine echte Freude!« Ledesmus bedachte Gersen mit einem trockenen Grinsen. »Er wird nicht zurückkommen. Er ist un ziemlicher denn je.« Adrian pflichtete ihm bei. »Er wird nicht zurück kommen. Er hat sich hier bloß noch mal umgeschaut und gesagt: ›Es hat sich nichts geändert, aber es hat sich geändert!‹ Er hat in seinem alten Büro mehr Zeit zugebracht als mit seiner Mutter.« »In seinem Büro?« »So hat er es früher genannt. Es ist die alte Pum penhütte, wo er sich immer mit seinen Büchern und seinem Schreibkram und seinen Buntstiften einge sperrt hat.« * Vardespant. Für dieses Wort gibt es keine völlig passende Übersetzung. Es schließt Unarten ein, wie Uneinsichtigkeit, Sturheit und eine spötti sche Einstellung gegenüber Ernsthaftigkeit und Redlichkeit.
Ledesmus sagte ernst: »Howard hat mehr von dem verrückten Zeug von anderen Welten gelesen, als gut für ihn war. Er hatte einen Stuhl und einen Tisch in seinem ›Büro‹, und da saß er die halbe Nacht und brannte Licht, bis wir ihn ins Bett riefen. Ein richtiger Werd** war Howard.« »Wo ist er denn jetzt?« »Er erwähnte Freunde, die er besuchen wollte«, antwortete Adrian skeptisch. Ledesmus lachte spöttisch. »Freunde? Howard? Außer dem armen Nimpy Cleadhoe hatte er nie Freunde, und Nimpy lebt nicht mehr.« »Alles weißt du auch nicht, Ledesmus«, rügte Reba mild. »Er ist hauptsächlich seines Klassentreffens wegen hier hergekommen«, erklärte Adrian. »Trotzdem sollte man doch meinen, daß er auch ein bißchen Zeit mit seinen Eltern und seinem Bruder zubringen könnte. Schließlich ist er ja hier geboren und ist Blut von unserem Blut.« Gersen schob das Bündel SVE-Scheine über den Tisch zu Adrian Hardoah. »Ihr Gewinn, Sir, und un ser Dank für Ihre Teilnahme am Preisausschreiben. Ich nehme an, Sie werden Sein! abonnieren wollen?« Adrian zupfte an seinem Kinn. »Wir werden es uns überlegen. Es ist ja immerhin von einer fremden Welt und außerhalb unserer Interessen. Wenn ich nicht einmal die irren Handlungen der falschen Ulms im nördlichen Nachbarland begreifen kann, wie soll ich dann verstehen, was auf Alpheratz oder Caph vor ** Ein übernatürliches Wesen von menschenähnlicher Gestalt, das des Nachts herumstreicht und tagsüber unter der Erde schläft. Nach den maunishen Sagen lauert es Kindern auf und verschleppt sie.
sich geht? Nein, wir lesen unsere eigene Heilige Schrift, die ja immerhin die reine Wahrheit ist, das sagen jedenfalls die Didrams.« »Gesegnet sei der Glaube«, murmelte Reba. Gersen stand auf. »Dürfte ich mich vielleicht noch auf Ihrer Farm umsehen? Es wird mir als Hinter grund für den Artikel über Howard von Nutzen sein.« »Aber selbstverständlich. Ledesmus, führ Mr. Lucas bitte herum.« Gersen und Ledesmus gingen hinaus in den Hof. Ledesmus warf Gersen einen etwas schrägen Blick zu. »So, Sie müssen also über Howard schreiben? Wer will denn über ihn lesen?« »Das Interesse an dem Preisausschreiben ist groß. Ich werde auch Ihren Vater, Ihre Mutter und natür lich Sie erwähnen.« »Tatsächlich? Mit Bildern und allem?« »Leider nicht. Ich habe keine Kamera bei mir... Sie sind älter als Howard, nicht wahr?« »Ja, drei Jahre.« »Sind Sie gut mit ihm ausgekommen?« »Na ja. Vater gestattete keinen Streit. Ich hab' die Arbeit getan, während Howard die Zeit in seinem Büro verträumte.« Gersen war ein wenig unentschlossen. Howard Alan Treesongs Fährte war heiß, aber sie schien nir gendwo hinzuführen. »Ich würde mir gern Howards ›Büro‹ ansehen.« »Gleich dort drüben. Es ist noch wie vor dreißig Jahren. Wir pumpen das Gießwasser für den Obst garten aus dem Teich. Das Wasser für den Hausge brauch bekommen wir aus dem Brunnen, dafür ha
ben wir eine andere Pumpe.« Ledesmus ging voraus zu einem etwa dreieinhalb mal zweieinhalb Meter großen Schuppen. Er zog an der sich nur widerwillig auf rostigen Angeln knar rend öffnenden Tür. Durch zwei Fenster fiel Licht auf das staubige Mobiliar. »Es hat sich kaum was hier geändert«, brummte Ledesmus. »Das dort ist sein Tisch und der Stuhl, auf dem er faulenzte. In den Regalen waren seine Bücher und Papiere. Da war er ziemlich ordentlich. Alles mußte immer ganz genau so und durfte nicht anders stehen und liegen.« »Wo sind die Bücher und Papiere jetzt?« »Schwer zu sagen. Manche wieder im Haus, andere vernichtet. Howard war sehr eigen mit seinen Sachen. Als er auswanderte, ließ er nur wenig zurück. Er hatte seine Geheimnisse.« »Hatte er Freunde? Mädchen?« Ein spöttisch amüsierter Laut drang über Ledes mus' Lippen. »Howard hatte kein Glück bei Mäd chen. Er redete immer zu viel und handelte zu wenig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er mochte vor allem junge, kleine Mädchen, und er trieb seine schmutzigen Spielchen mit einem oder auch zweien, aber drucken Sie das bitte nicht.« Ledesmus blickte über die Schulter zum Haus. »Vater weiß nichts da von, er hätte Howard das Fell über die Ohren gezo gen. Es hatte nicht viel zu bedeuten. Howard wollte nur ausprobieren, was er hatte, und wozu hat man es denn, habe ich nicht recht? Die Schrift ist da ein biß chen vage, aber wenn Sarter Martus nicht gewollt hätte, daß man mit Mädchen spielt, dann hätte er ih nen doch bestimmt Schnappzähne wie Fallen gege
ben, wenn Sie wissen, was ich meine. Seine große Liebe war ein Mädchen namens – na, wie hieß sie denn bloß? Sie ist im Persimmonsee ertrunken – ah ja, Zada Memar, ein hübsches Ding... Und Freunde? Da war Nimpy Cleadhoe von der nächsten Farm. Er und Howard streiften gemeinsam durch die Gegend und suchten Nüsse, eine Art Freund war er wohl. Vater war dagegen, weil der alte Cleadhoe damals Stadt marmolierer war.« »Marmolierer? Was ist das?« »Haben Sie den Friedhof gesehen, wo die Toten herumstehen? Sie sind alle Marmols. Es ist eine eklige Arbeit mit Toten, auch wenn sie nichts mehr davon spüren. Jedenfalls war Nimpy so etwas wie Howards Freund.« Er lächelte verlegen. »Ich und meine Dummheit waren schuld, daß die Freundschaft in Brüche ging.« »Wie das?« »Na ja, Howard hatte ein rotes Notizbuch, das niemand anrühren durfte. Einmal rief Nimpy ihn aus seinem Büro, weil Mutter irgend etwas von ihm wollte. Während er weg war, langte ich durchs Fen ster, griff nach dem roten Buch und warf es über die Pumpe. Wie der Zufall es haben wollte, rutschte es hinter das Gehäuse. Ich rannte zur Scheune zurück und wartete. Howard kehrte zurück, um sein Buch wegzusperren, konnte es aber nicht finden. Und dann geschah das Verrückteste, was mir je vorgekommen ist. Er redete da ganz komisch mit verschiedenen Stimmen und hopste wie ein Wahnsinniger herum, bis er den armen unschuldigen Nimpy entdeckte und sich auf ihn stürzte. Ich eilte hin und zog Nimpy weg, ehe Howard ihn umbringen konnte. Ja, das war Ho
wards Freund gewesen, aber nicht mehr danach. Howard ging dann in die Glaubenssommerschule, und ich vergaß das Buch. Schauen wir mal, ob es noch da ist.« Ledesmus stieg über die Pumpe und zog die Rückwand zur Seite, dann tastete er herum. »Hof fentlich hat sich hier kein Cang* verkrochen... Ah, da ist es schon.« Er hielt ein rotes Notizbuch hoch und warf es Gersen zu, der es mit in den Sonnenschein hinausnahm und durchblätterte. Ledesmus trat aus der Pumpenhütte. »Was steht denn drin?« Gersen reichte es Ledesmus. Auch er blätterte es durch. »Nichts Wichtiges... Was ist denn das für eine Schrift? So was habe ich noch nie gesehen.« »Ziemlich schwierig, daraus schlau zu werden.« »Was immer auch, reine Spielerei. Wozu etwas schreiben, das niemand lesen kann? Ah, hier sind Bilder: Könige und Edle in Prunkgewändern. Dumme Karnevalsverkleidung! Vater dachte immer, Howard schriebe die Heiligen Gebote ab, und ich war ganz si cher, daß es irgendwas mit kleinen Mädchen zu tun hatte. Da haben wir uns also beide getäuscht.« »Sieht ganz so aus«, pflichtete Gersen ihm bei. »Ich nehme es Ihnen gern als Andenken an Gladbetook ab. Würden Sie es mir für zehn SVE überlassen?« »Ich – ich weiß nicht recht...« Ledesmus zögerte, dann nahm er das Geld. »Ich glaube nicht, daß Vater daran interessiert wäre. Aber erwähnen Sie es bitte lieber nicht.« »Ich werde schweigen, und erwähnen lieber auch Sie * Einheimische Stechmücke, die bis zu zehn Zentimeter groß werden kann.
es Howard gegenüber nicht, wenn Sie ihn doch noch sehen sollten. Ich frage mich, wo er abgestiegen ist.« Ledesmus zuckte die Achseln. »Ich glaube, er hatte vor, während seines Aufenthalts hier zu bleiben, aber dann kam es zu unfreundlichen Worten mit Vater, und er brach gleich wieder auf. Vielleicht ist er im Swechers Inn, da es das beste in der Stadt ist.« Als Gersen in Gladbetook zurück war, setzte er sich an einen Tisch unter der Swecher Inn Pergola, mit dem Rücken zur brennenden Nachmittagssonne, daß sein Schatten schwarz über die geschrubbte Rosen holzplatte fiel. Ein schlaksiger Junge erkundigte sich nach seinen Wünschen. »Was darf es sein, Sir?« »Was gibt es zum Lunch?« »Der ist leider schon aus, mein Herr. Sie sind ein bißchen zu spät gekommen. Ich könnte Ihnen einen Teller Maunce bringen mit einer dicken Scheibe unse res köstlichen Brotes.« »Was ist Maunce?« »Eintopf aus Gemüse und Flußfischen.« »Klingt nicht schlecht. Ich nehme es.« »Und zu trinken, Sir?« »Was gibt es denn?« »Was immer Sie gern hätten, Sir.« »Ein Glas kühles Bier.« »Das führen wir leider nicht, weder warm noch kühl.« »In diesem Fall würde es mir helfen, wenn Sie mir die Getränkekarte bringen.« »So etwas haben wir nicht, Sir. Unsere Gäste wis sen auch so, was sie mögen, ohne daß sie es erst lesen müssen.«
»Ich verstehe... Was trinken die Leute an dem Tisch dort drüben?« »Gekühlten dünnen Haferschleim.« »Und die am Nebentisch?« »Wirrbeerensaft.« »Was haben Sie außerdem noch?« »Nierentonikwasser, Nibbet, heißen Sauersaft, Rülpsfruchtsprudel.« »Was ist Nibbet?« »Erfrischender Tee.« »Dann versuche ich Nibbet.« »Kommt sofort, mein Herr.« Der Junge ging ins Haus. Gersen überdachte die Situation. Ganz in der Nähe, in Hörweite, mögli cherweise, war Howard Alan Treesong. Gersen spürte den psychischen Druck, den seine Anwesen heit auf ihn ausübte. Wenn er Treesong ein Stück aus der Stadt locken könnte, vielleicht indem er das rote Notizbuch erwähnte, und ihn im Sweet Trelawney ertränkte, wäre es ein zufriedenstellendes Ende der ganzen Sache. Aber es war natürlich unwahrschein lich, daß es so leicht gehen würde... Der Kellnerjunge brachte einen tiefen Teller mit Fischeintopf, Brot und eine Kanne Tee. Gersen schenkte sich Tee ein und kostete ihn. Er hatte einen unbeschreibbaren Geschmack. Eine seiner Ingredienzen brannte zuerst auf der Zunge und dann im ganzen Rachenraum. Der Junge verbiß ein Grinsen und erkundigte sich höflich: »Nun, mein Herr, ist der Nibbet nach Ihrem Geschmack?« »Er schmeckt ausgezeichnet«, versicherte Gersen, der schon weißen Curry im Lascarviertel von Zambo anga, Pfefferrum im Mama Potts Bar in Sairle City auf
Copus und dergleichen scharfe Sachen getrunken hatte. »Ich erwarte einen Freund von außerhalb, aber offenbar ist er noch nicht hier im Inn. Haben Sie Zimmer für Mr. Slade oder einen anderen Fremden reserviert?« »Das weiß ich leider nicht, mein Herr.« Gersen drückte ihm ein Geldstück in die Hand. »Finden Sie es bitte heraus, aber unauffällig, ich möchte meinen Freund überraschen. Er kommt zu dem Klassentreffen.« Der Junge steckte die Münze ein und verschwand. Gersen aß gleichmütig sein Maunce, wie er schon Dutzende ähnlicher Gerichte auf unzähligen anderen Planeten gegessen hatte. Der Junge kehrte zurück. »Es ist niemand derglei chen hier, Sir, und wir haben auch keine Zimmer für Fremde reserviert.« »Wo könnte er denn dann abgestiegen sein?« »Vielleicht in der Dankwall Taverne am Stadtrand, aber die Zimmer dort sind nicht zu empfehlen, und dann wäre da noch Otts Kurhotel draußen am Skoo neysee, wo die ganz Reichen absteigen. Ansonsten ist nichts näher als das Inn in Blurry Corners.« »Aha. Wo ist ein Fon?« »Am Empfang. Aber bitte bezahlen Sie erst für Ihr Maunce und den Nibbet – ich bin schon mal auf einen solchen Trick hereingefallen.« »Wie Sie meinen.« Gersen bezahlte, dann blickte er den Jungen nachdenklich an und legte noch eine SVE dazu. »Tun Sie mir den Gefallen und rufen Sie für mich zuerst Skooneysee an, dann erst Dankwalls Ta verne, und erkundigen Sie sich, ob dort Fremde abge stiegen sind, die zum Klassentreffen gekommen sind.
Doch, wie gesagt, diskret, ja? Erwähnen Sie mich kei nesfalls.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Minuten vergingen. Gersen versuchte einen zwei ten Schluck Nibbet. Der Junge kehrte zurück. »Kein Glück, Sir. Am Klassentreffen nehmen hauptsächlich Einheimische teil, obgleich ein paar auch von ferne ren Orten kommen. Ditty Jingols Onkel ist hier von Bantry, und ein paar andere von Wimping. Ihr Freund wird vermutlich heute abend erst eintreffen. Sonst noch etwas, mein Herr?« »Danke, nicht im Moment.« Der Junge zog sich zurück. Gersen holte das rote Buch hervor. Der Titel auf der Vorderseite war sorg fältig mit Blockschrift geschrieben: DAS BUCH DER TRÄUME Gersen schlug es auf und konzentrierte sich auf die Handschrift des jungen Howard Hardoah... Eine Stunde verstrich – eine zweite. Gersen blickte auf, drehte den Kopf, um zu Van Kaathes Stern hochzuschauen. Es war Spätnachmit tag. Bedächtig klappte er das Buch zu und steckte es in die Tasche. Er rief den Kellnerjungen herbei. »Wie heißen Sie?« »Vitching, mein Herr.« »Vitching, hier ist eine SVE – für Sie. Sie wird nicht die einzige bleiben, wenn Sie mir einen Dienst erwei sen.« Vitching blinzelte. »Schön und gut, Sir, aber wel chen? Ich darf nichts tun, was die Lehre verbietet, dadurch würden alle meine bisherigen guten Taten zunichte.«
»Ich verlange durchaus nichts, was gegen die Lehre verstieße. Ich möchte nur, daß Sie die Augen nach dem Mann von außerhalb offenhalten, den ich er wähnte.« »Nun, ich glaube nicht, daß das gegen die Lehre verstößt.« »Gut, aber denken Sie bitte daran, daß es völlig un bemerkt geschehen muß. Absolute Geheimhaltung ist erforderlich. Wenn Sie auch nur ein Wort darüber verlauten lassen, würde ich ernsthaft ärgerlich.« »Keine Angst, Sir.« Gersen steckte dem Jungen einen weiteren Schein zu. »Ich werde jetzt einen kleinen Spaziergang durch die Stadt machen.« »Für einen wie Sie, Sir, der Cloutie kennt, gibt es hier arg wenig zu sehen.« »Nun, ich schaue mich trotzdem ein wenig um. Und nicht vergessen: zu niemandem, aber auch gar niemandem, ein Wort über unsere Vereinbarung.« »Wie könnte ich das vergessen, Sir!« Gersen schlenderte die Straße hoch. Er erregte Auf sehen in seinem städtischen Cloutie-Anzug. An ei nem Geschäft, das auch Kleidung führte, blieb er ste hen und betrachtete das Schaufenster, ehe er eintrat. An einem Tisch neben der Tür lag eine Auswahl spit zer schwarzer Stiefel. Von einem Ständer hingen Schals, Hüte und lange Gamaschen in Maulwurfgrau mit grüner und roter Stickerei. Er stattete sich im Gladbetook-Stil aus: eine schwarze Filzjacke mit ge polsterten Schultern, eine Hose mit weiten Beinen, die unterhalb der Knie mit schwarzer Kordel zusam mengezogen waren, ein breitkrempiger grüner Hut, der tief in die Stirn gezogen wurde und dafür viel
vom Hinterkopf frei ließ. Als er sich im Spiegel begutachtete, stellte er fest, daß ihm ein harmloser Tölpel entgegenblickte. In die ser Maskerade würde er sicher jeden Nichteinheimi schen täuschen können. Nach Verlassen des Ladens schritt er den Golcher weg hoch, überquerte den Sweet Trelawney und ging vorbei an Didram Runel Fluter, der orthometrischen Kirche und dem Friedhof, wo die Marmols der Ver storbenen mit ihresgleichen umherstanden. Mit ei nem unbehaglichen Gefühl marschierte Gersen daran vorbei denn auf unheimliche Weise war er davon überzeugt, daß die leeren weißen Augen ihn beob achteten, ihm nachblickten. Einen halben Kilometer weiter überquerte er den Swanibel. Vor der Schule blieb er stehen. Es war ein Bauwerk vornehmster maunisher Architektur. An beiden Längsseiten schloß sich ein Flügel mit einem Barockturm an; das schwere steile Dach krönte ein Glockentürmchen aus geripp tem Messing mit einer kunstvoll verzierten Messing spitze. Im silbrig goldenen Schein des untergehenden Van Kaathes Sterns hob sich jede Einzelheit, jedes Ornament, jeder Schnörkel scharf ab. Über dem Por tal hing ein großes Schild: 25JÄHRIGES KLASSENTREFFEN
HERZLICH WILLKOMMEN
KLASSE DER GALOPPIERENDEN FLUNDERN
Galoppierende Flundern? Ein Spitzname, ein Witz, vermutlich, den nur die ehemaligen Schüler dieser Klasse verstanden... Es fiel Gersen schwer, sich Tree
song hier vorzustellen, wie er die Straße hochkam, die Stufen zum Eingang hinaufstieg, aus den hohen Fenstern schaute... Zwischen dem Nordflügel und dem Swanibel stand ein steinerner Pavillon, wo die Schüler sich während den Pausen oder bei festlichen Anlässen unterhalten und auf den Fluß blicken konnten. Ein gutes Dutzend Männer und Frauen waren damit be schäftigt, Girlanden aufzuhängen, Tische und Stühle zurechtzurücken und das Rednerpodium mit Bän dern, Quasten und Wimpeln zu schmücken. Gersen schritt durch die Einfahrt, stieg einen brei ten Treppenaufgang aus rotem Porphyr hoch, über querte einen kleinen Vorplatz und näherte sich einer Reihe Bronze- und Glastüren, von denen eine weit of fenstand. Er trat ein und sah, daß er sich in einem langen, von Ost nach West verlaufenden Gang befand. An seinem anderen Ende schien Van Kaathes Stern fast gerade durch weitere Glastüren. An den Wänden zu beiden Seiten hingen Gruppenbilder, Abschlußklas sen unzähliger Jahre. Gersen blieb lauschend stehen. Von gedämpfter Musik abgesehen, die auf- und abschwellend plötz lich innehielt, herrschte Stille. Eine nahe Tür stand of fen. Er blickte hindurch. Die Musik setzte wieder ein. Ein großer Mann mit schmalem Gesicht dirigierte mit majestätischen Gebärden, und zwei Mädchen spielten Flageolett. Gersen trat von der Tür zurück und betrachtete die Fotografien. Die der Tür am nächsten war vor fünfzig Jahren aufgenommen, je weiter er dem Korridor folgte, desto neuerer wurden die Gruppenbilder. Vor
dem jetzt fünfundzwanzig Jahre alten Bild blieb er stehen und studierte die jungen Gesichter. Manche blickten stolz in die Kamera, andere grinsten verle gen, wieder andere wirkten mürrisch, gelangweilt... Stimmen und Schritte waren zu vernehmen. Der Mu siklehrer und seine Schülerinnen kamen aus dem Musikzimmer. Der Lehrer musterte Gersen mißtrau isch. Nach einem kurzen gleichgültigen Blick verlie ßen die Mädchen das Schulhaus. Steif und pedantisch erklärte der Lehrer Gersen: »Mein Herr, die Schule ist nicht für Besucher geöffnet. Darf ich Sie ersuchen, zu gehen, da ich jetzt abschließen muß?« »Ich habe auf Sie gewartet, Sir. Dürfte ich Sie kurz sprechen?« »Worum handelt es sich?« Gersen entwickelte eine Idee, die ihm gerade einge fallen war. »Sie sind doch Musikprofessor hier?« »Hier bin ich Professor Kutte. Ich erteile Unterricht. Aus kleinen Barbaren, die nichts von Musik verste hen, kreiere ich die Majestät eines Orchesters. An derswo bin ich Valdemar Kutte, Meistermusiker und Dirigent des Grand Salon-Orchesters.« Kuttes Augen wanderten über Gersen mit dem scharfen Blick des Lehrers, der jahrzehntelang Kinder in der genauen Handhabung von Flöten, Lauten, Klavieren, Harfen und anderen Instrumenten unterrichtet hatte. »Und wer sind Sie, mein Herr von einer anderen Welt, wie ich sehe.« »Ich verstehe nicht, wie erkennen Sie das?« fragte Gersen. »Ich dachte, ich sähe aus, wie ein ganz nor maler Gladbetooker.« »Nicht mit diesen plumpen Stiefeln. Und Sie tragen Ihre Hosenbeine zu lang. Hier kultivieren wir Stil,
nicht Nachlässigkeit. Ich möchte Sie nicht beleidigen, aber Sie sehen aus, als wollten Sie an einem Masken ball teilnehmen.« Gersen lachte ein wenig kläglich. »Ich werde mir Ihre Kritik zu Herzen nehmen.« »Guten Tag, Sir. Wir müssen jetzt wirklich gehen.« »Noch einen Moment. Spielt das Grand SalonOrchester morgen bei dem festlichen Anlaß?« Säuerlich antwortete Valdemar Kutte. »Es wurde aus Sparsamkeitsgründen überhaupt kein Orchester eingeladen.« »Nun, ich würde sagen, die Umstände erfordern Ihr Orchester geradezu.« »Möglich. Aber wie fast immer bei dergleichen Anlässen hält jemand die Hand auf dem Säckel – und wie gewöhnlich der Wohlhabendste der Zuständi gen.« »Gerade weil sie so sind, werden diese Leute wohlhabend«, gab Gersen zu bedenken. »Hm. Vielleicht haben Sie recht.« »Wie lange sind Sie denn schon Musikprofessor hier?« »Viel zu lange. Vor drei Jahren feierte ich mein fünfundzwanzigjähriges Amtsjubiläum. Ich darf wohl bemerken, daß außer mir niemand davon Notiz nahm.« »Dann haben Sie ja auch diese Leute hier unter richtet?« Gersen deutete auf die Fotografien an den Wänden. »Viele von ihnen... Einige waren guten Willens, doch völlig unbegabt. Andere hatten Talent, aber kei ne Lust. Vielen fehlte beides, nur wenige hatten es, an diese wenigen erinnere ich mich.«
»Was war mit dieser Klasse?« Gersen blickte auf das Bild, neben dem er stand. »Wer waren hier die Begabten?« »Ah. Darben Sadalfloury war wirklich gut auf dem Tantalein. Ich glaube, er spielt es immer noch. Die bedauernswerte Mirtisha van Boufer plagte sich jah relang ab, aber was sie auch zu spielen versuchte, klang mißtönend. Howard Hardoah war ungemein begabt, doch völlig undiszipliniert. Mit ein wenig Mühe hätte er es weit bringen können.« »Howard Hardoah? Welcher auf dem Bild ist es denn?« »Der ganz rechts in der dritten Reihe von unten – der Junge mit dem braunen Haar.« Gersen studierte den jungen Howard Alan Tree song, der durchaus kein häßliches Gesicht hatte. Die Stirn war breit und hoch, das Haar hellbraun und or dentlich gekämmt, die blaugrauen Augen schienen den Beschauer kritisch zu mustern. Doch der auf den ersten Blick gute Eindruck wurde durch das spitze füchsische Kinn gemindert, durch den mädchenhaf ten Mund mit den hängenden Winkeln und der Nase, die um eine Spur zu lang und zu schmal war. »... Fadra Hessel spielt noch jetzt beim Katechismus Loiter. Ich fürchte, an mehr aus dieser Klasse kann ich mich nicht erinnern. Aber ich muß jetzt wirklich zusperren, Sir.« Die beiden verließen das Haus. Valdemar Kutte drehte den Schlüssel im Schloß und verneigte sich höflich. »Es freut mich, Sie kennengelernt zu haben.« »Einen Moment noch«, hielt Gersen ihn zurück. »Mir ist etwas gar nicht so Übles eingefallen. Ich habe gerade für diese Klasse etwas übrig, deshalb möchte
ich zu dem Klassentreffen ein Orchester engagieren. Aber es soll mir niemand dafür danken, deshalb be stehe ich darauf, anonym zu bleiben. Könnten Sie mir ein gutes Orchester vorschlagen?« Der Musiklehrer richtete sich hoch auf, und seine Augen glänzten. »Zufällig kann ich das. Darf ich Ih nen raten, das Valdemar Kutte-Grand SalonOrchester zu nehmen, dessen Dirigent ich bin? Es ist das einzig Passende für diesen festlichen Anlaß. Ge wiß, es gibt hier auch noch andere Gruppen, die Mu sik machen: Schmetterbockers, Paukenhüpfer und dergleichen, doch ich bin der Leiter der einzigen Ka pelle diesseits von Cloutie, die wirkliche Musik macht.« »Und Sie wären für den Festabend noch frei?« »Zufällig, ja.« »Dann sind Sie engagiert. Nennen Sie mir bitte Ihr Honorar!« »Lassen Sie mich überlegen... Wie viele Instru mente hätten Sie gern? Gewöhnlich spiele ich mit Doppelbesetzung, eine rechts, eine links, und zwar: Zumbolt, Sopranflöte, Gambe, Kornett, Vibra, Geige, Gitarre und Flageolett in klassischer Zusammenstel lung. Für ein Engagement dieser Art verlange ich normalerweise zweihundert SVE, aber...« Professor Kutte widmete Gersens Aufmachung einen etwas zweifelnden Blick. »Ich werde nicht feilschen«, versicherte ihm Ger sen. »Sie sind für ein Honorar von zweihundertfünf zig SVE engagiert. Ich habe nur eine Bedingung, daß Sie mich für diesen einmaligen Anlaß in Ihr Orchester aufnehmen.« »Wa-as? Sind Sie denn Musiker?«
»Ich kenne nicht eine Note. Ich werde ganz leise auf einer Trommel schlagen und niemanden stören.« »Sie würden uns alle stören! Trommeln sind Krachmacher für Kinder!« »Was würden Sie vorschlagen?« »Aber das ist ja – absurd! Weshalb können Sie nicht ganz einfach nur zuhören, wie alle anderen auch?« »Ich möchte unmittelbar dabei sein. Aber natürlich, wenn Sie nicht...« »Nein, nein! Wir werden schon eine Möglichkeit finden. Können Sie wenigstens eine einfache Flöte blasen?« Unwillkürlich wurde Gersen ganz verlegen über sein Unvermögen. »Ich habe es noch nie auch nur versucht«, gestand er. »So etwas ist mir noch nie untergekommen. Be gleiten Sie mich! Wir werden sehen, was wir tun können.«
13
Nur ein toter Trommler ist ein guter Trommler. Valdemar Kutte Dirigent des Grand Salon-Orchesters von Gladbetook In des Professors Musikzimmer drückte Kutte Gersen eine lange Holzflöte in die Hand. »Ein Kinderinstru ment«, erklärte der Professor abfällig. »Aber trotz dem, wer im Grand Salon sitzen will, muß auch spielen, selbst wenn es nur eine Kinderflöte ist. So, den Finger hier, den da, den dort und hier, und jetzt, blasen Sie!« Gersen entlockte seinem Instrument einen jämmer lichen Ton. »Noch einmal!« Nach drei Stunden hatte Gersen einen der fünf Grundakkorde gelernt – und Kutte war völlig er schöpft. »Das reicht einstweilen. Ich werde diese No ten numerieren: eins, vier, fünf und acht. Wir werden simple Weisen spielen: Märsche, Galoppe, und hin und wieder einen Walzer. Sie werden eins-fünf eins fünf eins-fünf-acht eins-fünf-acht spielen, im Takt mit der Musik, manchmal vier-fünf-acht oder eins-vier fünf. Wenn wir die Tonart wechseln, gebe ich Ihnen ein anderes Instrument. Mehr kann ich nicht tun. Bitte bezahlen Sie das Honorar im voraus, zuzüglich vierundzwanzig SVE für drei Stunden intensiven Unterrichts.« Wortlos gab Gersen ihm die verlangte Summe.
»Also gut! Nehmen Sie diese Flöte! Üben Sie, wann immer Sie Gelegenheit haben! Spielen Sie die Tonlei ter! Spielen Sie einfache Akkordfolgen! Vor allem aber, lernen Sie das eins-fünf-acht eins-fünf eins fünf!« »Ich werde mein Bestes tun.« »Sie müssen mehr als Ihr Bestes tun! Sie dürfen nicht vergessen, daß es das Grand Salon-Orchester ist, mit dem Sie spielen werden! Obgleich natürlich ›spielen‹ ein viel zu angeberisches Wort für das ist, was Sie schaffen werden. Und natürlich dürfen Sie nur ganz leise blasen. Ich kann bloß hoffen, daß alles gut geht. Es ist eine verrückte Situation, aber für ei nen Musiker ist das Leben eine Reihe erstaunlicher Ereignisse. Gegen Mittnachmittag treffen wir uns morgen wieder hier. Danach begeben Sie sich in Van Zeels Laden und statten sich mit der ordentlichen Musikerkleidung aus, wie wir vom Grand SalonOrchester sie tragen. Ich werde Van Zeel Bescheid geben, daß Sie kommen, damit er Sie richtig bedient. Danach kommen Sie derart ausstaffiert noch einmal hierher, damit ich Ihnen die letzten Anweisungen erteilen kann. Wer mag schon wissen, vielleicht wird noch ein echter Musiker aus Ihnen.« Gersen warf einen zweifelnden Blick auf die Flöte. »Vielleicht«, murmelte er. Im Swechers Inn speiste Gersen Linsenbrei mit hel lem Fleisch und Kräutern, Flußriedsalat und einen halben Laib knuspriges Brot. Vitching, der Kellner junge bedauerte, daß er mit seinen Nachforschungen noch kein Glück gehabt hatte, trotzdem drückte Ger sen ihm einen Schein in die Hand.
Allmählich wurde es dunkel. Gersen verließ Swechers Inn wieder und spazierte die Hauptstraße zur Stadtmitte hoch. An jeder Ecke des Stadtplatzes trug eine hohe Stange eine weißgrüne Lichtkugel, um die Dutzende handgroßer rosiger Insekten, mit acht weichen Flügeln an jeder Seite wie Galeerenruder schwärmten. Die Geschäfte waren dunkel und verlassen. Der Be sitzer des Ladens, in dem er sich auf Gladbetooker Art eingekleidet hatte, hatte den Tisch mit den Stie feln vor der Tür stehen lassen und auch den Ständer mit den Schals, Hüten und Gamaschen. Wenn es je mand darauf anlegte, konnte er die ganze Kollektion an sich bringen. Vor anderen Läden sah es nicht viel anders aus. Offenbar war Diebstahl in Gladbetook nicht üblich. In der Stadtmitte gab es so etwas wie ein Nachtle ben ganz offenbar nicht. Gersen kehrte auf die Hauptstraße zurück, ging jedoch an Swechers vorbei weiter zur Dankwall Taverne, in deren Schankraum ein paar Landarbeiter im Schein ein paar matter Lampen säuerlich riechendes Bier tranken. Gersen machte sich auf den Rückweg. In seinem Zimmer übte er eine Stunde lang ganz leise auf der Flöte, bis seine Lippen streikten. Dann vertiefte er sich in Das Buch der Träume. Offenbar hatte der junge Howard eigene Heldensagen erfunden und sich Geschichten über eine Reihe von Helden ausgedacht, die er in al len Einzelheiten sorgfältigst und hingebungsvoll be schrieb. Gersen legte das Buch zur Seite und versuchte es sich auf dem harten Bett einigermaßen bequem zu machen. Am nächsten Morgen befolgte er Kuttes Anwei
sungen. Er übte auf der Flöte und besuchte Kutte in seinem Studio an einer Verlängerung des Golcher wegs, etwa hundert Meter südlich vom Stadtplatz. Ohne sichtliche Begeisterung hörte Kutte ihn an, als er seine Akkorde zum besten gab. »Versuchen Sie jetzt eins-vier-fünf!« »Soweit bin ich noch nicht.« Kutte hob die Augen zur Decke. Er seufzte ab grundtief. »Dann wird es aber Zeit! Das muß jeder Musiker lernen! Ich habe übrigens mit Mrs. Lavenger gesprochen. Sie ist die Vorsitzende des Klassentref fens. Ich sagte ihr, ein anonymer Wohltäter habe das Grand Salon-Orchester engagiert. Sie war sehr erfreut darüber. Wir müssen morgen nachmittag zur vierten Stunde bereit sein. Wir werden vor dem Abendessen spielen, während die Gäste auf ausweltliche Sitte Aperitifs trinken, und während des Essens. Nach dem Essen werden Reden gehalten, wie es bei solchen Anlässen üblich ist, dann werden wir einige Märsche spielen. Zweifellos wird dann Bowle serviert werden, aber ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß ich nicht trinke. Als Ausweltler haben Sie vermutlich schon Betrunkene gesehen?« »Allerdings.« »Lob sei den Didramlehren! Denken Sie daran! Aber Sie scheinen mir ein verhältnismäßig vernünfti ger Mann zu sein.« »Wenn Sie damit anklopfen wollen, ob ich trinke, nun ich trinke selten, wenn überhaupt je, über den Durst.« »Aber ist das Zeug denn nicht schädlich?« »Ich habe auch schon gegenteilige Meinungen ge hört.«
Kutte achtete nicht darauf. Er zog nachdenklich die Brauen zusammen. »Wo in der Ökumene wird Ihres Wissens am meisten getrunken? In welcher schreckli chen Lasterhöhle verkehren die meisten Säufer?« Gersen überlegte. »Das ist nicht so leicht zu beant worten. Hunderttausend Saloons würden dieses Prä dikat gern für sich beanspruchen. Twasts Spelunke auf Krokinole dürfte ziemlich oben stehen, Dirty Reds am Pier von Daisys Landing auf Canopus III steht ihr kaum nach.« »Wie glücklich wir uns hier in Gladbetook schätzen können! Im ganzen Kosmos beneidet man uns um unsere Enthaltsamkeit! Ich fürchte nur, und sage es mit Bedauern, daß unser guter Ruf morgen abend möglicherweise zu Schaden kommt. Die Sadalflourys, die van Bessems, die Lavengers – ganz sicher werden sie Alkohol zu sich nehmen. Doch keiner wird uns belästigen, wir brauchen also nicht übermäßig be sorgt zu sein... So, und jetzt: eins-fünf-acht eins-fünf acht. Halt! Das muß genügen. Mehr kann ich heute nicht hören. Üben Sie aber noch fleißig! Konzentrie ren Sie sich auf die Tonerzeugung, auf den Ton selbst, die Höhe, das Timbre, die Reinheit, die exakte Finger führung und die Klangfülle! Wenn Sie den Ton än dern, heben Sie einen Finger und drücken Sie gleich zeitig mit dem anderen, nicht erst nach einer Sekun de. Üben Sie die Plazierung Ihrer Finger. Wenn Sie einen Finger auf vier drücken wollen, muß es auch vier sein, weder zwei noch sechs. Gehen Sie etwas aus sich heraus, vermeiden Sie diese Stumpfheit, die Ihre Ausdruckskraft hemmt! Ist das alles klar?« »Völlig.« »Sehr gut!« Kutte war sichtlich erleichtert. »Möge
das Morgen uns Hoffnung und Verbesserung brin gen.« Am nächsten Nachmittag trafen die Mitglieder des Orchesters sich in Kuttes Studio. Kutte verteilte Par tituren, dann zog er Gersen zur Seite und hörte ihn ab. Offenbar hatte er ein Stadium fatalistischer Ruhe erreicht, denn er unterbrach ihn nicht einmal. »Es muß genügen«, sagte er nur, als Gersen geendet hat te. »Blasen Sie bitte ganz leise, dann wird es schon gut gehen, vor allem, wenn die Töne fließen.« Kutte brachte Gersen zu den anderen Musikern. »Bitte, alle herhören!« rief er. »Ich möchte Ihnen mei nen Freund, Mr. Gersen, vorstellen, der zum Ama teurflötisten wurde. Er wird nur dieses eine Mal, als eine Art Experiment, mit uns spielen. Wir müssen alle versuchen, höflich zu ihm zu sein.« Die Musiker betrachteten Gersen und flüsterten miteinander. Er hielt dieser Musterung mit so viel Aplomb stand, wie er nur aufbringen konnte. Das Orchester machte sich auf den Weg. Jeder der Musiker trug sein Instrument, Gersen gleich fünf Flöten, für die verschiedenen Tonarten gestimmt. Ihre Kleidung war uniform: schwarze Anzüge – die Jak ken mit gepolsterten Schultern, die Hosen bauschig, knielang und an den Knien gebunden –, graue Gama schen, spitze schwarze Schuhe, niedrige schwarze Hüte mit hängender Krempe. Die Gruppe näherte sich der Schule. Gersen wurde immer unruhiger. Der Plan, den er anfangs für so großartig gehalten hatte, erschien ihm nun, da der kritische Moment nicht mehr fern war, unpassend, überspannt und unsicher. Wenn Howard Alan Tree
song die Musiker mit mehr als nur einem flüchtigen Blick bedachte, mochte er Henry Lucas von Sein! er kennen, und das konnte sehr unangenehme Folgen haben. Treesong würde zweifellos gutbewaffnet und in Begleitung erscheinen, mit Leibwächtern vermut lich. Gersen dagegen hatte lediglich fünf Flöten und ein Küchenmesser, das er am Vormittag in einem Ei senwarengeschäft erstanden hatte. Das Orchester schritt im Gänsemarsch in den Pa villon und legte die Instrumente auf die Bühne. Die Musiker warteten, während Valdemar Kutte sich mit Ossim Sadalfloury von der hier so hochangesehenen Familie Sadalfloury besprach. Er war ein stattlicher jovialer Mann in einem eleganten Anzug aus grünem Gabardine. Der Dirigent kehrte zu seinem Orchester zurück. »Eine kleine Erfrischung wird hinter dem Schirm für uns bereitgestellt. Sie besteht aus geschmorten Na vetten und Konfitüre, Tee und Rosinenwasser.« Jemand in der hinteren Reihe der Gruppe mur melte und lachte. Kutte blickte strafend in seine Richtung und sagte: »Mr. Sadalfloury weiß, daß wir alle enthaltsam sind und respektiert unsere Einstel lung. Keinerlei Getränk mit Alkoholgehalt für das Orchester, denn es würde – falls wir uns herabließen, es zu kosten – nur unsere musikalische Leistung be einträchtigen. So, und nun auf die Bühne, hopp hopp! Und daß mir jeder sein Bestes gibt und einen guten Eindruck macht!« Die Musiker setzten sich auf die Bühne, klemmten die Notenblätter auf die Ständer, und stimmten ihre Instrumente. Kutte setzte Gersen in die hintere Reihe zwischen Zumbolt und Gambe. Beide Instrumente
wurden von großen blonden, phlegmatisch wirken den Männern gespielt. Gersen legte die Flöten in die von Kutte angewie sene Reihenfolge und blies zur Probe ein paar Ton folgen, um möglichst echt zu wirken. Dann lehnte er sich zurück und beobachtete die alten Klassenkame raden beim Betreten des Pavillons. Viele lebten noch hier in Gladbetook, andere kamen von kleineren maunishen Ortschaften, einige von fernen Landen, und ein paar sogar von anderen Welten. Sie begrüß ten einander mit Freudenschreien und staunenden Gesichtern, denn jeder wunderte sich, wie der andere gealtert war, aber das gaben sie natürlich nicht zu. Herzliche Worte wurden zwischen den Anwesenden etwa gleichen Standes gewechselt, und etwas gemes senere zwischen jenen aus unterschiedlichen Gesell schaftsschichten. Howard Hardoah, als den man ihn hier kannte, war noch nicht gekommen. Wenn er eintraf, was dann? Gersen hatte noch nicht den geringsten Plan. Zur vierten Nachmittagsstunde begann die Reuni on offiziell. Die meisten Plätze waren bereits besetzt. Rechts von der Orchesterbühne hatte sich die höhere Gesellschaftsschicht eingefunden, links saßen die kleineren Geschäftsleute und das einfache Volk. Ein paar Tische noch weiter links waren von Flußschif fern belegt, die auf Lastkähnen und anderen Wasser fahrzeugen hausten. Die Männer trugen braune Kordsamtkleidung die Frauen grobgewebte weite Beinkleider und langärmelige Blusen. Die bessere Ge sellschaft nippte Likör aus stilvollen blauen und grü nen Glasfläschchen, war eines leer, wurde es betont auffällig in einen Korb geworfen.
Valdemar Kutte, mit einer Geige in der Hand, trat auf die Bühne. Er verbeugte sich nach rechts und nach links, dann drehte er sich zu seinem Orchester um. »›Sharmellas Tanz‹, ungekürzt. Sanft und doch schwungvoll, wenn ich bitten darf, aber nicht zu auf dringlich bei den Duetten. Fertig?« Kutte schaute Gersen an und deutete mit einem Finger. »Die vierte Tonart – nein, nicht diese... Ja, richtig.« Er stieß die Ellbogen zurück und die Kapelle spielte eine fröhliche Weise. Gersen blies auf seiner Flöte, wie er es gelernt hatte, und natürlich sehr leise. Das Stück endete. Dankbar legte er die Flöte ab. Es hätte schlimmer gehen können, dachte er. Das Wich tigste war wohl, dann zu spielen aufzuhören, wenn alle anderen es auch taten. Valdemar Kutte bestimmte eine neue Weise, und wie zuvor bedeutete er Gersen, welche Flöte er dazu zu nehmen hatte. Das Lied »Schlimmer Bengfer« war allen Anwe senden bekannt. Fast jeder sang den Refrain mit und stampfte mit den Füßen im Takt. Soweit Gersen es verstand, ging es bei diesem Lied um die Eskapaden Bengfers, eines versoffenen Taglöhners, der bei Bun tertown in eine Jauchegrube fiel. Da er in seinem Rausch überzeugt war, er sei in einem Bottich mit »Nip-duddel-Bier« gelandet, trank er von der Jauche, bis er nicht mehr konnte. Als Van Kaathes Stern auf ging und ihr Schein dieses Bild offenbarte, sahen die erstaunten Vorüberkommenden Bengfers Faßbauch aus der Jauchegrube ragen. Wie unappetitlich, dachte Gersen, aber Valdemar Kutte dirigierte sein Orchester mit Begeisterung. Gersen nutzte den allgemeinen Lärm und blies ein wenig lauter. Kutte bedachte ihn
dafür lediglich ein paarmal mit warnendem Blick. Ein Herr von einem Tisch zur Rechten trat an die Bühne und sagte etwas zu Valdemar Kutte, der sich ein wenig verdrossen, aber ergeben verneigte. Kutte wandte sich an die Festgäste: »Auf besonde ren Wunsch wird Miß Taduca Milgher jetzt für uns singen.« »O nein!« rief Taduca Milgher entsetzt von ihrem Tisch. »Das wäre ja eine Katastrophe!« Aber sie ließ sich schließlich doch erweichen und stieg auf die Bühne, wo Valdemar Kutte sie mit einem säuerlichen Lächeln empfing. Taduca Milgher sang mehrere Balladen: »Ein ein sames Vögelchen bin ich«, »Mein kleines rotes Schiff auf dem Fluß« und »Rosenrot, des Raumpiraten Tochter«. Die Tische waren alle voll besetzt, offenbar waren auch die Nachzügler inzwischen alle eingetroffen. Gersen fragte sich, ob Howard Treesong überhaupt noch zu diesem Klassentreffen kommen würde. Taduca Milgher kehrte an ihren Tisch zurück. Das Essen für die Gäste wurden aufgetragen. Das Orche ster zog sich hinter den Trennschirm zurück, um den vorbereiteten Imbiß zu sich zu nehmen. Der Abend war hereingebrochen. Zahllose Lampi ons an Bambusspalieren verliehen dem Pavillon ein romantisches Licht. Die sogenannte bessere Gesell schaft speiste geruhsam und genoß die seltenen alko holischen Getränke. Jene, die die Lehren ernster nahmen, tranken Tee, und ließen sich nicht entgehen, was an den Tischen der feineren Leute vor sich ging. Es wirkt alles so unwirklich, dachte Gersen. Wo war bloß Howard Treesong. Er ist ganz nah! sagte sein
Unterbewußtsein ihm plötzlich scharf. Er blickte hin aus auf die Uferwiese... Die Zeit schien still zu stehen, die Unwirklichkeit verflog. Am Fluß standen reglos drei Männer und schauten zum Pavillon herauf. Ger sen drehte sich um und blickte zur Straße. Am Zaun standen drei weitere Männer, deren Gesichter und Kleidung im Zwielicht nur vage zu sehen waren. Doch allein aus ihrer Haltung schloß er, daß sie nicht aus Gladbetook waren. Mit einemmal hatte sich alles verändert. Die bisher fröhliche Reunion, die ihm ein wenig fremdartig und übertrieben, ja absurd vorgekommen war, sah plötz lich ganz anders aus für ihn. Nicht länger wirkte das Licht der Lampions romantisch, sondern verstohlen und Finsteres verbergend. Gersen ging zur Ecke des Pavillons und blickte südwärts. Unter ein paar Ul men, im Schatten fast verborgen, entdeckte er weitere Männer. Kutte rief sein Orchester auf die Bühne zurück. »Wir spielen nun die ›Rhapsodie des träumenden Mädchens‹. Und bitte, meine Herren, sanft und schmeichelnd!« Die Stimmung zwischen den alten Schulkameraden war nun weicher geworden und von Erinnerung ver klärt. Freunde riefen einander quer durch den Pavil lon zu, schwelgten in alten Späßen und Streichen. Die strikten Grenzen zwischen den Gesellschaftsschichten fielen allmählich, jeder unterhielt sich mit jedem: »... nein, nein! Das ist ja nicht zu glauben! Es war also Crambert gewesen, und ich wurde dafür bestraft...« – »He, Sadkin! Erinnerst du dich noch an die Stinkblu me in Miß Boabs Strauß? Ha, das war was!« – »... der weitverbreitetste Skandal! Das war ein Jahr, ehe du
zu uns kamst! Von da ab hatte er den Spitznamen ›Pussyhöschen‹ weg.« – »Was ist aus ›Pussyhöschen‹ denn eigentlich geworden?« – »Der arme Kerl ist im Quadekanal ertrunken, ist von seinem Kahn gefal len.« – »Ich finde, das mit Fimflers Periskop war ein noch ärgerer Skandal, erinnerst du dich daran?« – »Na, und ob! Durchs Oberlicht in den Ankleideraum der Mädchen! Nichts ist ihm entgangen!« – »Das konnte auch nur ihm einfallen!« – »Na ja, es hat schon ein bißchen gefehlt bei ihm! Wo ist er eigentlich heu te?« – »Ich habe ihn hier nicht gesehen.« – »He, ihr alle! Was ist eigentlich mit Fimfle?« – »Dieser gräßli che kleine Junge! Ich bin froh, daß er nicht hier ist.« Letzteres kam von Adelie Lagnal am SadalflouryTisch. Ein Laut wie der tiefste Ton eines Gongs! War er wirklich gewesen oder hatte er ihn nur in seinem Unterbewußtsein gehört? Gersen war sich nicht im klaren, denn außer ihm schien niemand ihn vernom men zu haben. Am Eingang stand ein hochgewachsener Mann mit eckigen Schultern. Eine enge Hose aus grünem Samt spannte sich um die langen kräftigen Beine. Über ei nem langärmeligen weißen Hemd trug er eine schwarze Weste mit purpur- und goldverzierten Ta schen. Seine knöchelhohen Stiefel waren aus hell braunem Leder. Eine weiche schwarze Kappe hatte er sich etwas schief über die hohe breite Stirn gezogen. Ein etwas verzerrtes Lächeln spielte über seine Lip pen. Mit überbetonter Schüchternheit setzte er sich an einen leeren Tisch ganz in der Nähe. Sein Lächeln schien erstarrt zu sein. Vom Tisch der Sadalfloury er klang ein heiseres Flüstern, das in der plötzlichen
Stille ganz deutlich zu hören war: »Da ist ja Fimfle!« Howard Alan Treesong oder Howard Hardoah drehte das Gesicht langsam den Sadalflourys zu. Dann schaute er zum Orchester. Sein Blick huschte an Gersen vorbei und kam auf Valdemar Kutte zu ru hen. Jetzt lächelte, ja grinste er breit. Die Schulkameraden nahmen ihre Unterhaltung wieder auf. Scherze flogen weiter hin und her, doch nicht mehr so unbeschwert, und immer wieder wandte der eine oder andere den Blick neugierig auf Howard Hardoah. Endlich nahm Morna van Hulgen, eine der Damen des Vorstands, die Sache in die Hand. Sie ging auf Howard Hardoah zu und begrüßte ihn mit nahezu echter Herzlichkeit, und er bedankte sich höflich. Morna van Hulgen deutete auf das kalte Buffet, wor aufhin Howard Hardoah lächelnd den Kopf schüt telte. Morna schaute unsicher von Tisch zu Tisch, dann wandte sie sich wieder dem jetzt unverbindlich lächelnden Mann vor sich zu. »Es ist schön, dich nach all den Jahren einmal wiederzusehen. Ich hätte dich auf der Straße nicht erkannt – obwohl du dich nicht wirklich verändert hast. Die Jahre müssen gut zu dir gewesen sein.« »Ja, sehr, ich kann mich durchaus nicht beklagen.« »Ich erinnere mich nicht, wer deine näheren Freunde waren... Aber du darfst nicht allein hier sit zen. Dort drüben ist Saul Cheebe. Du erinnerst dich doch an ihn? Er sitzt mit Elvinta Gierle und ihrem Mann aus Puch am Tisch.« »Natürlich erinnere ich mich an Saul Cheebe. Ich erinnere mich an alle und alles!« »Setz dich doch zu ihm! Oder zu Shimus Woot? Es
gibt ja so viele alte Erinnerungen auszutauschen.« Sie deutete auf die Tische, die am linken Ende des Pavil lons standen. Howard Hardoah warf einen flüchtigen Blick dar auf. »Saul oder Shimus, eh? Wie ich mich entsinne, waren beide stumpfsinnige und schmutzige Tölpel. Ich, andererseits, war schon damals ein Philosoph.« »Nun, möglich, aber du darfst nicht vergessen, daß die Menschen sich ändern.« »Nicht wirklich. Nimm mich, beispielsweise! Ich bin immer noch Philosoph, noch größer, verständli cherweise, als zuvor.« Morna machte einige sichtlich verlegene Bewegun gen und wollte sich zurückziehen. »Wie schön für dich, Howard.« »Nun, da du das weißt – zu wem, würdest du vor schlagen, soll ich mich setzen? Zu den Sadalflourys? Oder den van Bouyers? Oder an deinen Tisch?« Morna spitzte die Lippen und blinzelte. »Ich bin si cher, Howard, daß du an jedem willkommen wärst, es ist nur, in der Schule, du weißt schon, und ich dachte...« »Du dachtest, ich sei ein bedauernswerter Welten vagabund, der müde und verloren und sentimental heimkehrt, um sich freudig bei unserem Klassentref fen zu Shimus und Saul zu setzen. In gewisser Weise ist die Zeit wie ein Vergrößerungsglas, Morna. Als Junge bekam ich Spirituosen nie auch nur zu kosten. Ich grübelte über diese verbotenen Genüsse nach, und die hübschen niedlichen Fläschchen wurden zum Objekt der Faszination und des Staunens für mich. Hab die Güte, Morna, und ruf den Kellner, und setz dich zu mir! Wir wollen zusammen Phloxnektar
trinken und Blaue Tränen und Nun-siehst-du-mich.« Morna wich einen Schritt zurück. »Man kann hier nicht so einfach bestellen, Howard. Die Getränke, die du siehst, wurden privat zur Verfügung gestellt. Und jetzt...« »Nun, in diesem Fall nehme ich deine Einladung dankend an.« Howard Hardoah sprang auf. »Wir set zen uns an deinen Tisch. Zweifellos kann Wimberly ein paar der Fläschchen aus seinem Korb entbehren.« Als vollendeter Kavalier führte er die sprachlose Morna durch den Pavillon zu dem Tisch, an dem ihr Mann, Wimberly, Bloy und Jenore Sadalfloury, Peter und Ellicent Vorvelt saßen. Diese Gruppe begrüßte Howard Hardoah kühl, während er sich formvollendet verbeugte. »Vielen Dank. Morna hat mich zu diesem edlen alten Blaue Tränen eingeladen, da konnte ich nicht nein sagen. Meine Herren und Damen, meine Wiedersehensfreu de ist groß.« Er lächelte und ließ die Förmlichkeit. »Laßt das Programm jetzt weiterrollen!« »Es gibt kein festes Programm«, erklärte ihm Jeno re. »Sind denn keine deiner alten Freunde hier?« »Nur ihr«, erwiderte Howard Hardoah. »Kein fe stes Programm, sagtest du? Da müssen wir doch et was dagegen tun. So ein Klassentreffen soll einem doch in Erinnerung bleiben. Danke, Wimberly, ich nehme noch einen Schluck. He, Professor Kutte! Spielen Sie uns was auf!« Valdemar Kutte nickte mit steifer Verbeugung. Howard Hardoah schmunzelte und lehnte sich zu rück. »Er hat sich nicht ein bißchen verändert, immer noch der gleiche steife Hagestolz. Einige von uns entwickeln sich in einer Richtung, einige in einer an
deren. Richtig, Bloy? Du hast dich äußerlich entwik kelt, ganz schön rund bist du geworden.« Bloy Sadalfloury lief rot an. »Ich lege keinen Wert darauf, mich darüber zu unterhalten.« Aber Howard Hardoah hatte ohnedies bereits das Thema gewechselt. »Es gibt so viele Sadalflourys in Fluters Bezirk, daß ich die verschiedenen Familien nicht auseinanderhalten kann. Wenn ich mich recht entsinne, bist du von der Hauptlinie?« »Stimmt.« »Und wer ist jetzt das Familienoberhaupt?« »Mein Vater, Mr. Nomo Sadalfloury.« »Er ist nicht anwesend?« »Er gehört doch nicht zu dieser Klasse.« »Was ist mit Suby Sadalfloury, die ein bildschönes Mädchen war?« »Du meinst offenbar meine Schwester, Mrs. Suby ver Ahe. Sie ist hier.« »Wo sitzt sie denn?« »An dem Tisch dort drüben, mit ihrem Gatten und anderen.« Howard Hardoah drehte sich um und musterte die dunkelhaarige Matrone an dem etwa fünf Meter ent fernten Tisch. Er stand auf und ging darauf zu. »Suby! Erkennst du mich?« »Du bist Howard Hardoah, wenn ich mich nicht ir re«, antwortete Mrs. Suby ver Ahe sehr kühl. »Der bin ich. Und wer sind diese anderen?« »Mein Mann, Paul, meine Töchter, Mirl und Maud, Mr. und Mrs. Janust von River View, und Mrs. Gildy vom Skooneysee und ihre Tochter Halda.« Howard Hardoah verneigte sich höflich vor jedem, dann wandte er sich wieder an Suby. »Schön, dich
wiederzusehen. Ich freue mich jetzt, daß ich gekom men bin. Deine Töchter sind so bezaubernd, wie du es in ihrem Alter warst.« Subys Stimme wurde noch kühler: »Es überrascht mich, daß du Vergangenes aufwärmen willst.« »Es ist erstaunlich, daß Sie überhaupt gekommen sind«, sagte Paul ver Ahe. Howard Hardoah lächelte schwach. »Wurde ich denn nicht eingeladen? Ist dies nicht meine Klasse und meine Schule?« Unhöflich brummte Paul ver Ahe: »Manches bleibt besser ungesagt.« »Damit haben Sie recht.« Howard zog einen Stuhl herbei und setzte sich. »Wenn Sie die Güte hätten, würde ich gern ein Fläschchen Ihres Ammarys pro bieren.« »Ich habe Sie nicht eingeladen!« »Psst, Paul, sei nicht unhöflich, und du kannst es dir leisten! Mahlt deine Mühle nicht Tonne um Tonne kostbaren Murdockmehls?« »Das tut sie, aber ich gebe mein Geld gern so aus, wie ich es für richtig halte.« Howard Hardoah warf den Kopf zurück und lach te. »Es ist eine Freude, Sie alle kennenzulernen.« Er griff nach Mirls Hand und küßte ihre Fingerspitzen. »Vor allem Sie. Ich habe ein unstillbares – unersättlich dürfte nicht ganz das passende Wort sein – Bedürfnis, schöne Mädchen zu bewundern. Ehe der Abend vor über ist, müssen wir noch einen Treffpunkt vereinba ren.« Paul ver Ahe wollte aufspringen, aber Howard Hardoah hatte sich bereits von Mirl abgewandt. Er hob das Fläschchen Ammary an die Lippen und trank
es mit einem Schluck aus. »Erfrischend.« Auf die üb liche Weise warf er die leere Flasche in einen Korb. Subys Aufmerksamkeit war abgelenkt worden. Sie legte eine Hand auf den Arm ihres Mannes. »Paul, wer sind diese Leute?« Sie deutete auf eine Ecke des Pavillons. Drei Männer standen dort. Sie hatten harte Gesichter und trugen grau-schwarze Uniformen mit schwarzem Helm. Jeder hielt eine kurze schwere Schußwaffe in der Hand. Mrs. Janust rief erstaunt: »Sie sind überall! Sie ha ben uns umzingelt!« Mit gleichmütiger Stimme sagte Howard Hardoah: »Achten Sie nicht auf sie! Sie gehören zu meiner Be gleitung. Vielleicht sollte ich eine Erklärung abgeben, um die allgemeine Neugier zu befriedigen.« Howard Hardoah sprang auf die Bühne. »Klassen kameraden, alte Bekannte und alle anderen Anwe senden. Die Trupps da und dort werden Ihnen inzwi schen sicher aufgefallen sein. Sie werden Sie für Sol daten halten. Nun, sie sind eine Abteilung meiner Getreuen. Heute tragen sie diese etwas düstere Uni form, die uns darauf hinweisen soll, daß sie in ernster Stimmung sind. Trügen sie Gelb, würden Sie fest stellen, daß sie sehr fröhlich sein können. Wenn sie Weiß tragen, nennen wir sie ›Todespuppen‹. Beachten Sie ihren weisen Rat, dann werden wir alle einen vergnüglichen Abend erleben. Machen Sie nun alle weiter wie zuvor! Schwelgt in Erinnerungen, Klassenkameraden. Jenore Sadalfloury sagte mir, daß kein festes Programm geplant ist. Das hatte ich be fürchtet und arrangierte mein eigenes. Laßt mich kurz von mir selbst erzählen. Von allen, die je diese teure alte Schule besuchten, war ich vielleicht der Un
schuldsvollste. Ich amüsiere mich jetzt über die Illu sionen, denen ich mich damals hingab. Ah, das war ein verträumter Junge vor fünfundzwanzig Jahren! In der Schule entdeckte er geheimnisvolle neue Welten verbotener Vergnügen und verlockender Möglich keiten. Doch als er sich damit beschäftigen, sich wei ter entwickeln wollte, wurde er abgewiesen. Alles, was er tat, ging schief. Man schikanierte ihn, demü tigte ihn, führte ihn an der Nase herum und gab ihm einen anrüchigen Spitznamen: ›Fimfle‹. Bloy Sa dalfloury, glaube ich, war der, der ihn aufbrachte. Habe ich recht, Bloy?« Bloy Sadalfloury blies die Wangen auf, schwieg je doch. Howard Hardoah schüttelte langsam, wie stau nend den Kopf. »Der arme Howard! Die Mädchen behandelten ihn nicht viel besser. Selbst jetzt noch winde ich mich, wenn ich daran denke. Suby Sa dalfloury trieb ein besonders herzloses Spiel mit ihm, das ich nicht beschreiben möchte. Ich lade nun ihre reizenden Töchter zu einer Kreuzfahrt auf meinem Schiff ein. Wir werden interessante Sternenregionen besuchen, und ich kann ihnen versichern, daß sie sich in meiner Gegenwart ganz bestimmt nicht langweilen werden. Natürlich wäre es möglich, daß es Suby Kummer machen und sie einsam ohne sie sein wird, aber sie hätte die eventuellen Folgen ihrer Herzlosig keit, die mich aus Gladbetook vertrieb, vor fünfund zwanzig Jahren bedenken sollen. Um ganz ehrlich zu sein, hätte es für mich gar nicht besser kommen können. Ich bin nun ein sehr vermö gender Mann. Ich könnte Gladbetook aufkaufen, oh ne daß sich deshalb größere Schwankungen auf mei
nem Konto ergäben. Philosophisch gesehen, bin ich jetzt viel entschlossener. Ich handle nach der Doktrin des kosmischen Gleichgewichts, oder besser ver ständlich, ich sorge dafür, daß nichts mir Angetanes ungesühnt bleibt. Und nun zum Programm des heu tigen Abends. Ich dachte an eine Aufführung des kleinen Stückes: Eines edlen Schuljungen Traum von der Gerechtigkeit. Und welch ein glücklicher Um stand, daß so viele der Mitwirkenden dafür verfügbar sind.« Cornelius van Bouyers, der Vorsitzende des Arran gementsausschusses, kam eilig herbeigerannt. »Ho ward! Du redest verschrobenen Unsinn! Du meinst das doch nicht ernst! Nein, ich weiß, daß du dich nur lustig über uns machen willst. Komm runter und wir werden den Abend gemeinsam genießen!« Howard hob einen Finger. Zwei Getreue führten Cornelius van Bouyers aus dem Pavillon und sperr ten ihn in den Turnsaal der Mädchen. Er wurde an diesem Abend nicht mehr gesehen. Howard Hardoah drehte sich zur Kapelle um. Ger sen, der etwa fünf Meter entfernt saß, hoffte daß der breitkrempige Hut und eine milde Miene als Tarnung ausreichten. Howard Hardoahs Blick achtete kaum auf ihn. »Professor Kutte! Es ist mir eine große Freude, Sie heute abend ebenfalls hier zu treffen. Erinnern Sie sich an mich?« »Nicht sehr gut.« »Vermutlich, weil Sie meinetwegen einen Wutan fall bekamen und mir die Geige wegnahmen. Sie sagten, ich spiele wie ein betrunkenes Eichhörnchen.« »O ja, dessen entsinne ich mich. Sie verärgerten
mich mit einem äußerst ungeschickten Vibrato. Aus Ihrem Versuch, Gefühl auszudrücken, wurde ein jämmerliches Wimmern.« »Interessant. Sie spielen also nicht auf diese Wei se?« »Ganz sicher nicht. Jede Note muß scharf getrennt sein.« »Gestatten Sie, daß ich Sie an einen Musikeraus spruch erinnere: Wenn man aufhört aufzusteigen, geht es abwärts. Sie haben nie auf ›betrunkene Eich hörnchen Weise‹ gespielt, deshalb ist es an der Zeit, daß Sie es versuchen. Zwar können Sie kein Eich hörnchen werden, wohl aber betrunken. Hier ist die Voraussetzung dafür! Trinken Sie, Professor Kutte, dann spielen Sie. Sie werden spielen, wie nie zuvor!« Professor Kutte verbeugte sich steif und schob die angebotenen Flaschen zur Seite. »Verzeihen Sie, aber ich trinke keinen Alkohol, das verbietet die Lehre.« »Pah! Heute werfen wir eine Decke über die Theo logie, so wie man einen räudigen Papagei verbirgt. Wir wollen uns vergnügen! Trinken Sie, Professor! Trinken Sie hier – oder draußen bei den Getreuen.« »Ich habe keine Freude daran, aber da ich mich ge zwungen sehe...« Kutte goß den Inhalt eines Fläsch chens in sich hinein. »Es schmeckt bitter.« »Ja, das ist auch Ammary Bitters. Hier, versuchen Sie Wilden Sonnenschein!« »Hm, ein wenig besser. Lassen Sie mich Blaue Trä ne kosten! Ja, erträglich. Aber das genügt.« Howard Hardoah lachte und schlug Kutte auf den schmalen Rücken zwischen die Schulterblätter, wäh rend Gersen bedrückt zusah. So nah und doch so weit! Der Zumboltspieler neben ihm murmelte: »Der
Mann ist ja wahnsinnig! Wenn er nahe genug heran kommt, haue ich ihm die Zumbolt über den Schädel. Wenn Sie mit den Flöten nachhelfen, überwältigen wir ihn im Handumdrehen.« Am Eingang standen zwei Männer: einer kurz und dick wie ein Baumstumpf, fast kahl, mit eckigem Schädel und derbem Gesicht; der andere hager, fin ster, mit dickem schwarzen Haar im Bürstenschnitt, eingefallenen Wangen, langem bleichen Kinn. Weder der eine noch der andere trug Getreuenuniform. »Se hen Sie die beiden Burschen?« Gersen deutete unauf fällig auf sie. »Ihre Augen sind überall, sie warten nur auf eine solche Unüberlegtheit.« »Es liegt mir nicht, solche Demütigungen unge straft hinzunehmen!« knurrte der Zumboltspieler. »Trotzdem rate ich Ihnen, sich heute abend lieber zurückzuhalten, wenn Sie wollen, daß Sie morgen wieder zum Leben erwachen.« Professor Kutte fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Seine Augen wirkten ein wenig glasig, und er schwankte leicht, als er sich zu seinem Orchester um drehte. »Spielen Sie was Hübsches für uns«, rief Howard Hardoah, »auf betrunkene Eichhörnchen Weise, wenn ich bitten darf!« Kutte murmelte mit Zungenschlag: »›Zigeunerfeu er‹, aeolisch.« Howard Hardoah lauschte aufmerksam und klopfte mit dem Finger den Takt. Plötzlich rief er: »Genug! Jetzt zum Programm! Es bereitet mir unsag bare Freude, heute abend für die Unterhaltung sor gen zu dürfen – seit fünfundzwanzig Jahren warte ich darauf. Da ich der Impressario bin und die Themen auf meine eigene Erfahrung zurückzuführen sind,
dürfte die subjektive Einstellung wohl nicht überra schend kommen. Fangen wir an. Unsere Requisiten sind vorhanden. Ich öffne nun den Vorhang der Vergangenheit. Wir befinden uns jetzt in der Schule mit Howard Har doah, einem lieben Jungen, der von eingebildeten Klassenkameraden herumgestoßen und von flatter haften Mädchen zum Narren gehalten wurde. Ich erinnere mich an einen dieser Vorfälle. Maddo Strub bins, ich sehe dich. Du scheinst mir noch genauso anmaßend zu sein wie damals. Komm her! Ich möchte mir diesen Vorfall wieder ins Gedächtnis ru fen.« Maddo Strubbins funkelte ihn wütend an und lehnte sich herausfordernd zurück. Die Getreuen nä herten sich. Da entschloß er sich doch aufzustehen. Er schlurfte zur Bühne, dieser große korpulente Mann mit dem stumpfschwarzen Haar und den grobge schnittenen Zügen. Halb verächtlich, halb unsicher blickte er zu Howard Hardoah hoch. Hardoah sagte mit blechern klingender Stimme: »Wie nett, dich nach so langer Zeit einmal wiederzu sehen. Spielst du immer noch Quardrangel?« »Nein! Das ist doch ein Spiel für Kinder, den Ball vor und zurück zu schlagen.« »Früher dachten wir beide anders darüber. Ich ging mit meinem neuen Schläger auf den Platz. Da kamst du mit Wax Buddle daher, und ihr habt mich nicht spielen lassen. ›Kühl deinen Hintern ab, Fimfle‹, hast du gesagt. ›Du mußt schon warten, bis die, die besser sind als du, ihr Spiel hinter sich haben.‹ Und dann habt ihr zwei mit meinem Ball gespielt! Erinnerst du dich? Als ich protestierte und sagte, daß schließlich
ich zuerst dagewesen sei sagtest du: ›Halt's Maul, Fimfle! Wie soll ich mich auf mein Spiel konzentrie ren, wenn du mir was vorjammerst.‹ Nachdem ihr mit eurem Spiel fertig wart, hast du meinen Ball über den Zaun geworfen, wo er im hohen Unkraut nicht mehr zu finden war. Erinnerst du dich?« Maddo Strubbins schwieg. »Lange quälte es mich, daß ihr mir diesen sonnigen Tag vergällt habt. Als nagende Frustration bohrte er sich in meine Erinnerung. Der Ball selbst kostete fünfzig Centums. Die Zeit, die ich mit Warten und Suchen vergeudete, hatte für mich einen Wert von ei ner SVE. Das wären also eineinhalb SVE. Bei zehn Prozent Zinsen über fünfundzwanzig Jahre sind es genau sechzehn SVE, fünfundzwanzig Centums und zwei Farthings. Dann kommen noch zehn SVE Schmerzensgeld dazu, das ergibt summa summarum, sagen wir sechsundzwanzig SVE. Gib sie mir!« »Ich habe nicht soviel Geld bei mir.« Howard Hardoah wies seine Getreuen an: »Peitscht ihn sechsundzwanzig Minuten lang aus, dann schneidet ihm die Ohren ab.« »Wart einen Moment!« sagte Strubbins schnell. »Hier ist das Geld.« Er zählte es ab, gab es Hardoah und machte kehrt, um an seinen Tisch zurückzukeh ren. »Nicht so schnell!« hielt Howard Hardoah ihn zu rück. »Du hast mir nur den verlorenen Ball bezahlt. ›Kühl deinen Hintern ab‹, hast du gesagt, und ›halt's Maul!‹« Die Getreuen rollten einen hölzernen Stuhlrahmen herbei, der statt eines Sitzes einen Eisblock hatte. Sie zerrten Maddo Strubbins zu ihm, schnitten ihm das
Hinterteil der Hose ab, setzten ihn auf das Eis und schnallten ihn fest. »Halt's Maul und kühl deinen eigenen Hintern ab!« sagte Hardoah. »Du hast meinen Ball verloren, und ich habe gute Lust, eine Ausschneidung deines Sacks vornehmen zu lassen. Daß ich es nicht tue, verdankst du nur der Tatsache, daß Damen anwesend sind. Doch noch was...« Ein Getreuer trat näher und drückte etwas auf Maddo Strubbins Stirn. Strubbins schrie vor Schmerzen. Als der Getreue das Etwas wegnahm, blieb der Buchstabe F tiefrot und groß zu rück. »Das ist eine unauslöschliche Erinnerung an den anrüchigen Spitznamen ›Fimfle‹«, erklärte Howard Hardoah. »Ich werde jeden damit bedenken, der mich, soviel ich weiß, so nannte. Zu verdanken hatte ich ihn Bloy Sadalfloury. Beschäftigen wir uns also als nächstes mit diesem feisten Lumpen.« Bloy Sadalfloury wurden die Kleider vom Leib ge rissen, dann tätowierten die Getreuen ihm Fs dicht an dicht auf den gesamten Körper, außer aufs Gesäß, wo FIMFLE ganz ausgeschrieben aufgeprägt wurde. »Nun bist du herausgeputzt, wie es sich für dich ziemt«, sagte Howard Hardoah beifällig. »Wenn du im Skooneysee schwimmst und deine Freunde fragen sich, wieso du fleckig wie ein Leopard bist, wirst du antworten: ›Das verdanke ich meiner boshaften Zun ge.‹ He, Getreue! Mir ist noch etwas eingefallen! Setzt eurer Arbeit die Krone auf! Stempelt auch seine Zun ge! Sehr gut. Wer steht als nächster auf dem Pro gramm? Ah, Edver Vissy. Komm her, wenn ich bitten darf... Erinnerst du dich an Angela Dain? Ein hüb
sches Ding aus einer der unteren Klassen. Ich be wunderte Angela mit aller Glut meines romantischen Herzens. Eines Tages stand ich glücklich bei ihr und sprach zu ihr, da kamst du daher und schobst mich zur Seite. Du sagtest: ›Sieh zu, daß du weiterkommst, Fimfle! Such dir irgendeine Richtung aus, Angela und ich nehmen die entgegengesetzte.‹ Über diesen Befehl habe ich lange nachgegrübelt. Was meintest du mit ›weiterkommen‹? Weiter kommen als ein anderer?« Howard Hardoahs Stimme wurde nasal und pedan tisch. »Ich würde sagen, du machst es uns vor! Du läufst um den Pavillon herum! Vier Bluthunde wer den dich verfolgen und ein wenig an deinen Waden knabbern, wenn du dir zuviel Zeit läßt. Wir werden dann feststellen, wer weiter kommt, du oder die Hunde. Nur schade, daß die kleine Angela nicht hier ist und sich daran erfreuen kann.« Die Getreuen brachten Edver Vissy vor den Pavil lon, gaben ihm einen Stoß, daß er losrannte, und hetzten vier kräftige Jagdhunde hinter ihm her. Der Zumboltspieler flüsterte Gersen zu. »Haben Sie so etwas schon je erlebt? So etwas von Rachsucht! Es kann kein Zweifel bestehen, der Mann ist wahnsin nig!« »Nicht so laut!« warnte Gersen. »Er hört Flüstern aus einer Entfernung von einem Kilometer. Bis jetzt benimmt er sich fast noch mild, und er scheint bei guter Laune zu sein.« »Ich hoffe, ich muß ihn nie erleben, wenn er schlechter Laune ist.« Das Programm verlief Punkt um Punkt weiter. Howard Hardoah justierte sein kosmisches Gleich gewicht.
Olympe Omsted hatte versprochen, Howard am Picknickplatz beim Blinickteich zu treffen. Fünfzehn Kilometer war Howard marschiert und hatte vier Stunden gewartet – und dann war Olympe in Gard Thornblooms Begleitung angekommen. »Du wirst jetzt an einen fernen Ort gebracht werden«, erklärte Howard Olympe. »Dort wirst du acht Stunden, bis zum Morgen warten und dann dreißig Kilometer bis zum Wiggalfluß laufen. Damit es dir in ewiger Erin nerung bleibt, ließ ich mir noch eine andere Strafe für dich einfallen.« Olympes Oberkörper wurde entblößt, dann eine Brust grellrot eingefärbt und die andere in einem leuchtenden Blau, und zur Abrundung ein purpurnes F auf ihren Bauch gestempelt. »Ausge zeichnet!« freute sich Howard Hardoah. »In Zukunft dürfte es dir nicht mehr so leicht fallen, vertrauens volle junge Burschen zu becircen und zum Narren zu halten.« Während Howard sich mit Leopold Friss beschäf tigte, führte man Olympe aus dem Pavillon und fuhr sie hinaus in die Nacht. Leopold hatte sich dem jun gen Howard gegenüber mehrmals des Götz von Ber lichingenschen Zitats bedient. Sechs Schweine wur den vor Leopold getrieben, und er mußte mit ihnen das tun, wozu er Howard bei sich zu tun aufgefordert hatte. Hippolita Fawer, die Howard auf der Eingang streppe der Schule eine Ohrfeige verabreicht hatte, wurde von zwei Getreuen der Allerwerteste versohlt. Professor Kutte begleitete ihre Schreie mit einer Threnodie in würdigem Takt. Valdemar Kutte, dessen Knie ziemlich weich wa ren, hatte seine liebe Not, den Bogen an den Saiten zu
halten. Verächtlich nahm Howard Hardoah ihm die Geige aus der Hand. »Ich habe fünfmal soviel ge trunken wie Sie«, sagte er zu Kutte. »Sie prahlen mit ihren musikalischen Leistungen, dabei sind Sie nicht imstande, richtig zu spielen, wenn Sie angetrunken sind! Schämen Sie sich! Ich werde Ihnen zeigen, wie man die Geige streicht!« Er bedeutete den Getreuen, sich weiter mit Hippolita zu beschäftigen, die prompt wieder schrie, und Howard spielte dazu auf. Schließ lich begann er dabei zu tanzen. Er hob eines seiner langen Beine, warf es hoch und nach vorn, stieß ein wenig nach und hüpfte mit gebeugten Knien vor wärts, während er mit halbgeschlossenen Lidern hin gebungsvoll geigte. Staunend sagte der Zumboltspieler zu Gersen: »Ich muß ehrlich sein, er spielt großartig, mit sicherem Strich. Passen Sie auf, wie genau er die Schreie der Frau betont! Ich habe gute Lust, ihm zuzuklatschen.« »Er würde sich geschmeichelt fühlen«, murmelte Gersen. »Aber ich halte es für besser, wenn Sie seine Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken.« Das Stück endete, und Hippolita kehrte reichlich mitgenommen an ihren Tisch zurück. Howard Har doah war nun in der Stimmung für mehr Musik. Er drehte sich zum Orchester um. »Alle, jetzt, mit feinen Tönen und genauem Rhythmus: ›Pettyville Vergnü gen‹ – in parnassischem Modus!« Gersen stupste den Zumboltspieler: »Welche Flö te?« »Die mit dem Messingflansch.« Howard Hardoah stampfte mit dem Fuß, das Or chester setzte ein. Nach dem ersten Durchgang, hielt Hardoah es an. »Mittelmäßig, sehr mittelmäßig. Das
Kornett ein wenig eindringlicher! Und Sie an der Flöte! Weshalb spielen Sie nicht das übliche Solo?« Gersen grinste verlegen. »Ich kann es nicht sehr gut, Sir.« »Dann sollten Sie mehr üben!« »Ich werde mein Bestes tun, Sir.« »Noch einmal, etwas lebhafter!« ›Pettyville Vergnügen‹ wurde gespielt und wieder gab Hardoah seinen absurden Bocksprungtanz zum besten. Abrupt hielt er inne, stampfte heftig auf, hob die Hände und schwang erbost die Geige. »Sie, mit der Flöte! Warum spielen Sie nicht vernünftig? Was soll dieses lächerliche Pip-pup-pup, Pip-pup-pup?« »Ich muß ehrlich sein, mein Herr, so habe ich es gelernt.« Howard Hardoah griff sich an den Kopf und ver schob den Hut in seiner wilden Ungeduld. »Sie brin gen mich zur Verzweiflung mit Ihrem Pip-pup-pup! Auch Ihr dämliches Gesicht stört mich. Getreue! Packt dieses Mondkalb, bringt ihn hinunter zum Fluß und entledigt euch seiner!« Die Getreuen griffen nach Gersen und zerrten ihn von der Bühne. Howard wandte sich an die Anwe senden. »Ihr seid Zeugen eines wichtigen Ereignisses. Die Bevölkerung ist in drei Klassen aufgeteilt. Zur er sten Klasse gehören Persönlichkeiten von hohem per sönlichen Wert und erlesenem Geschmack; zur zweiten die gewöhnlichen Massen, zu denen ihr zählt; und zur dritten ein paar jämmerliche Empor kömmlinge, die jene, die weit über ihnen stehen, nachahmen wollen, wie dieser Flötist. Seinesgleichen darf nicht geduldet werden. So, und nun weiter mit
der Musik! Tanze, wer Lust hat!« Zwei Getreue führten Gersen zwischen sich durch den Pavillon und den Hang hinab zum Fluß. Ein dritter schlenderte hinter ihnen her. Nichts hätte Ger sen gelegener kommen können. Zu den Stufen des Anlegestegs marschierten sie und hinaus auf den Steg, wo die Lampions sich tänzelnd und zuckend im Wasser spiegelten. Die Getreuen faßten Gersen an den Armen und seine Hose am Gesäß. Schlaff und langgestreckt hing er in ihrem Griff. »Und jetzt eins und zwei und drei«, zählten die Getreuen. »Und los!« »Und los!« sagte Gersen. Er drehte sich kraftvoll um, befreite sich und versetzte dem Linken einen Schmetterschlag an den Hals, daß die Luftröhre brach. Dem anderen hieb er die Faust gegen die Schläfe, und hörte den Knochen bersten. Geduckt wirbelte er herum und warf sich gegen die Knie des dritten, der rückwärts taumelte und nach seiner Sei tenwaffe fummelte. Gersen umklammerte ihn, drückte ihn mit dem Gesicht auf den Boden, preßte die Knie auf die kräftigen Schultern, griff nach den Mundwinkeln des Burschen und riß seinen Kopf nach hinten, daß der Hals brach. Keuchend erhob sich Gersen. In weniger als dreißig Sekunden hatte er drei Männer getötet. Er nahm eines der Gewehre an sich, eine Pistole und zwei Dolche, und rollte die Leichen in den Fluß. Er machte sich auf den Weg zurück zum Pavillon. Die Musik hatte aufgehört. Auf die eine oder andere Weise waren die Getreuen untereinander durch Funk verbunden und waren dadurch gewarnt, daß es am Fluß Schwierigkeiten gegeben hatte.
Gersen sah ein Dutzend Burschen in geduckter Haltung aus dem Pavillon laufen. Howard Alan Tree song stand auf der Bühne und starrte mit finsterer Miene in seine Richtung. Gersen hob das Gewehr, zielte und feuerte eine Runde, gerade als Howard Treesong von der Bühne sprang. An der Schulter ge troffen, wirbelte er mitten in der Luft herum. Erneut feuerte Gersen und traf ihn diesmal in der Leistenge gend. Die Wucht riß Treesong wieder herum. Er fiel auf den Boden und so außer Gersens Sichtweite. Gersen zögerte hin und her gerissen. Es drängte ihn danach, in den Pavillon zu laufen, um sich zu vergewissern, ob Treesong auch wirklich tot war. Aber die Gefahr war zu groß. Falls Howard Treesong nur verwundet war, was sehr leicht sein mochte, und man Gersen gefangennahm, würde es sehr schlecht für ihn aussehen. Nein, er durfte nicht länger warten. Er tauchte in den Schatten einer Lärche, lief um den Pavillon zur Einfahrt, wo er sich zwischen die ge parkten Wagen kauerte. Drei Getreue rannten die Vorderseite des Pavillons entlang. Gersen zielte und feuerte einmal, zweimal, dreimal. Alle drei fielen. Vorsichtig richtete Gersen sich auf und verrenkte sich fast den Hals, in der Hoffnung, noch einmal auf Treesong schießen zu können. Gefahr war allgegenwärtig, der Tod nahe. Gersen zog sich zur Straße zurück, überquerte sie und suchte Zuflucht in einem dichten Gestrüpp irgendwelcher einheimischer Pflanzengattung. Etwas Massiges schob sich vor die Sterne und tauchte auf den Pavil lon herab. Plötzlich erhellten Suchlichter die ganze Umgebung... Gersen beschloß, nicht länger zu war ten. Bald würden Infrarotscheinwerfer die Gegend
durchkämmen. Er rannte zum Fluß, glitt ins Wasser, wo er vor den Infrarotsuchstrahlen sicher sein würde, und ließ sich nordwärts mit der Strömung treiben. Schließlich schwamm er ans andere Ufer und tauchte etwa einen halben Kilometer flußabwärts auf. Er kletterte naß wie eine Bisamratte heraus und beob achtete die Szene im Süden... Wieder einmal hatte er versagt. Gallenbitter stieg es ihm auf. Zum zweitenmal hatte er seine Beute im Vi sier gehabt und hatte sie zum zweitenmal lediglich verwundet. Beiboote tauchten aus dem Schiff hinab und kehr ten nach einer kurzen Weile zurück. Die Suchlichter wurden ausgeschaltet. Die gewaltige Masse des Schif fes wurde durch eine Reihe beleuchteter Bullaugen betont. Es hob sich nun allmählich in etwa einen Ki lometer Höhe und hielt dort an. Treesongs Gehirn würde im Schiff nicht untätig sein. Der Alarm war vom Bootssteg gekommen, wo hin die Getreuen den unfähigen Flötisten gebracht hatten. Wer war dieser Musiker, dem Professor Kutte gestattet hatte, in seinem Orchester zu spielen? Zwei fellos würde man Kutte diese Frage stellen, und na türlich würde er alles gestehen, was er wußte: der Flötist war ein Ausweltler, der bei dem Klassentreffen zugegen sein wollte. Ein Ausweltler? Man mußte sich seiner auf jeden Fall bemächtigen! Man würde umgehend Erkundi gungen in den Inns, Städten, bei den Verkehrsgesell schaften und Raumhäfen anstellen. Man würde den Fantamikflitzer im Raumhafen Theobald finden und an Bord gehen. Der Name des Eigners, Kirth Gersen, würde Howard Alan Treesong umgehend mitgeteilt
werden. Gersen verzog das Gesicht. Er kletterte die Böschung hoch und trottete nordwärts zum Gol cherweg, dann nach Westen am Friedhof vorbei. Die Toten von Gladbetook, die im Sternenlicht auf un heimliche Weise wachsam wirkten, schienen ihm nachzublicken. An der Hauptstraße zögerte Gersen kurz. Er dachte an den Dreiradwagen, doch Professor Kutte war im Augenblick wichtiger. So folgte er weiter dem Gol cherweg zu Kuttes Haus. Licht brannte hinter den vorderen Fenstern. Gersen näherte sich in den tiefsten Schatten dem Haus. Val demar Kutte, in einem weinroten Morgenrock, drückte ein nasses Handtuch an seine Stirn und stie felte ruhelos hin und her. So weit, so gut, dachte Ger sen. Diese normale Szene ließ ihn an der Richtigkeit seiner Überlegungen zweifeln. Das Raumschiff war vielleicht schon aufgebrochen, und der idiotische Flötenspieler blieb ein ungelöstes unwichtiges Rät sel... Trotzdem beschloß Gersen zu warten. Eine Hek ke bot ihm ein geeignetes Versteck. Er machte es sich hinter ihr einigermaßen bequem. Fünf Minuten vergingen, zehn. Es blieb ruhig auf der Straße. Gersen wurde unru hig. Er blickte zum Himmel hoch, doch außer den Sternen in ihm ungewohnten Konstellationen war nichts zu sehen. Er seufzte und verlagerte sein Ge wicht. Seine Kleidung war immer noch naß. Da vernahm er ein schwaches Geräusch hoch über sich. Sofort wurde er wachsam. Gefahr näherte sich! Ein kleines Beiboot schwebte herab. Weich wie ein Schatten landete es auf der Straße, etwa zehn Meter von Gersens Versteck entfernt. Drei Männer stiegen
aus, im Sternenlicht nur als dunkle Massen zu erken nen. Kurz besprachen sie sich flüsternd. Vermutlich wollten sie sich vergewissern, ob das hier tatsächlich Kuttes Haus war. Geduckt rannte Gersen hinter der Hecke entlang, machte einen Bogen um Kuttes Hortensien und war tete hinter einem Torpfosten. Mit wütenden und empörten Gesten berichtete Valdemar Kutte einer kleinen dicklichen Frau seine nächtlichen Erlebnisse. Entsetzt hörte die Frau ihm zu. Zwei Männer kamen die Straße herab und bogen zu Professor Kuttes Garten ab. Gersen schlug einem mit einer eisernen Zaunverzierung auf die Stirn, warf sich auf den anderen und stach ihm einen Dolch ins Herz. Es war völlig lautlos vor sich gegangen. Im Haus stapfte Professor Kutte weiter hin und her, begleitete seine Worte mit lebhaften Gebärden und blieb hin und wieder stehen, wenn er von einem besonders empörenden Geschehnis erzählte. Gersen kauerte sich wieder hinter den Torpfosten. Der dritte Mann stand gegen das Beiboot gelehnt. Lautlos näherte Gersen sich ihm auf der Straße von hinten und stieß ihm den Dolch in den Rücken. Die drei Leichen zerrte er zu den Rücksitzen des Beiboots. Dann startete er damit, flog über das nächt lich dunkle Gladbetook und ging im Hinterhof des Swechers Inn nieder. Er schlich zu seinem Zimmer, schlüpfte dankbar in seine normale Kleidung und steckte Das Buch der Träume in eine Jackentasche. Mit dem Beiboot stieg er wieder auf und flog süd wärts nach Theobald. Über dem Dalglish ging er tie
fer, stieß die drei Getreuen hinaus und flog weiter. Endlich zeichneten sich die verstreuten Lichter von Theobald ab. Rote und blaue Blinklichter markierten das Landefeld des Raumhafens. Unbemerkt landete Gersen das Beiboot neben sei nem Fantamikflitzer. Er ging an Bord und schaltete die Flugsysteme ein. Dann dachte er über das Beiboot nach. Wenn Howard Treesong es hier, nahe dem ehemaligen Lande platz des Fantamikflitzers fand, würde er die unver meidlichen Folgerungen ziehen. Vom Flughafenbe amten würde er den Registrierkode bekommen, und dann führte die Spur direkt zu Kirth Gersen, c/o Je han Addels, Pontefract, Aloysius... Gersen stieg wieder ins Beiboot, schaltete die Si cherheitseinrichtung aus, stellte den Autopiloten ein und schickte es hinaus in die Nacht. Er kehrte in seinen Fantamikflitzer zurück, schloß die Luftschleuse und ließ Lelander unter sich zu rück... In einer Höhe von fünfzehn Kilometern brachte er den Flitzer zum Schweben und suchte den Himmel ab. Weder Makroskop, Radar, noch Xe nodendetektor zeigten auch nur eine Spur von Tree songs Schiff an. Das war auch gut so, da sein Flitzer nicht bewaffnet war. Gersen flog weit in den Norden und landete auf ei ner weiten öden Tundra, wo er vor Treesongs De tektoren sicher war, falls einem auf dem Schiff ein fallen sollte, sie zu benutzen. Stille und Sternenlicht ruhten über der leeren Weite außerhalb der Bullaugen. Gersen genehmigte sich ei nen Teller Gulasch und saß schlaff in seinem Sessel. Er war schrecklich müde, aber innerlich viel zu er
regt, um einschlafen zu können. Die Nervosität ließ allmählich nach, doch die Enttäuschung, daß er Howard Treesong nicht tödlich getroffen hatte, machte ihm zu schaffen. Doch andererseits empfand er eine grimmige Genugtuung über seine, wenn auch un vollkommenen Erfolge, die Treesong Ungelegenhei ten, Ärger, Furcht, Unsicherheit und Schmerzen be reiten mußten. Neins es war eigentlich keine schlechte Arbeit für einen Abend. Die Geschehnisse als solche konnten nur verstanden werden, wenn man Howard Treesongs Wesen verstand... Gersen holte Das Buch der Träume hervor und machte sich daran es zu studieren. Aber er war viel zu erschöpft, sich eingehend damit zu beschäftigen... Er legte sich auf seine Koje und schlief ein.
14
Am Morgen stieg Gersen aus dem Flitzer, um eine Tasse Tee im Freien im schrägen Sonnenschein zu trinken. Die Luft roch nach warmem Moder, Schlamm und Äonen langsam verrottender Vegetati on. Niedrige Berge kauerten quer am südlichen Hori zont, ansonsten war, soweit das Auge reichte, nur fla ches Gebiet, halb Tundra, halb Sumpf zu sehen. Graugrüne Flechten bedeckten den Boden. Da und dort ragten karge Büschel Riedgras heraus und kleine schwarze Platanen mit roten Beeren. Das Klassentref fen der Gladbetooker Schule schien unendlich weit entfernt zu liegen, sowohl in der Zeit als auch im Raum. Gersen kehrte in den Salon zurück und goß sich ei ne zweite Tasse Tee ein. Damit setzte er sich auf die oberste Stufe außerhalb der Luftschleuse, und nahm erneut Das Buch der Träume zur Hand. Der Tee wurde kalt. Gersen las Seite um Seite und kam schließlich zu der Stelle, wo der junge Howard Hardoah seine Aufzeichnungen mitten im Satz un terbrochen hatte. Gersen legte das Buch nieder und starrte in die Ferne. Das Buch hatte Howard Hardoah einmal viel bedeutet. Für Howard Alan Treesong mußte es eine Erinnerung an die süßen melancholischen Tage seiner Kindheit und Jugend sein. Doch mehr noch: es er klärte sein Wesen. Es war wertvoll über jegliche Vor stellung. Angenommen, Treesong erfuhr, daß es das Buch noch gab? Alle möglichen Folgen mochten sich ergeben. Howard glaubte, daß sein Freund Nimpy
Cleadhoe ihm das Buch weggenommen hatte. Eine sehr wichtige Frage ergab sich: Wo war Nimpy Cleadhoe jetzt? Gersen dachte nach: über den jungen Howard Hardoah, der schwächlich, unsicher und sensibel ge wesen war; und über Howard Alan Treesong, der stark, selbstsicher und vor Leben sprühend war. Wieder nahm Gersen das Buch zur Hand und glaubte aus dem verwaschenen Umschlag einen Hauch dieses gleichen Lebens zu spüren... Als er es das erstemal gelesen hatte, war das Buch ihm wie ein etwas form loser Pastiche erschienen. Es enthielt persönliche Aussagen, Gespräche zwischen sieben Paladinen, zwölf lange Balladen. Ein späteres Kapitel offenbarte die Sprache Naomei, die nur den sieben Paladinen bekannt war, und enthielt ein Syllabarium von drei hundertfünfzig Schriftzeichen, mit deren Hilfe Nao mei übertragen werden konnte. Noch ehe der junge Howard Naomei völlig hatte entwickeln können, kam das Buch zu seinem abrupten Ende. Ganz offensichtlich hatte Howard Hardoah sich über viele Jahre hinweg mit dem Buch beschäftigt. Die Einleitung beanspruchte eineinhalb Seiten. Ihr mochte ein mitfühlender Leser viel Eindringliches, Anschauliches entnehmen, während ein Zyniker vielleicht nur die Prahlerei eines grünen Jungen sah. Soviel, dachte Gersen, konnte über das ganze Buch gesagt werden. Eine abschließende Beurteilung mußte davon abhängen, inwieweit Leistung und ju gendliche Phantasie einander nahekamen. Aus dieser Sicht konnte man die Bezeichnung »Prahlereien eines grünen Jungen« vergessen. »Kraftlose Untertreibung« würde eher zutreffen.
Das Buch begann: Ich bin Howard Alan Treesong. Ich empfinde kein Zugehö rigkeitsgefühl zur Familie der Hardoahs, und erwarte auch von ihr keine Zuneigung. Daß meine Geburt über Adrian und Reba Hardoah zustande kam, lag außerhalb meiner Kontrolle. Ich ziehe es vor, von anderem abzustammen: von der braunen Erde, die ich jetzt in einer Hand halte, von grauem Regen und wimmerndem Wind, von den Strahlen des magischen Sternes Meamone. Meine Lebenssubstanz ist von zehn Farben durchdrungen, von denen fünf sich in den Blumen des Dahanewaldes finden, und die anderen fünf im Sprühen der Meamonefunken. Derart ist mein Wesen. Meine wahre Familie ist vom Geschlecht derer, die von Demabia Hathkens* abstammen, im besonderen von dem, das seiner Vereinigung mit Prinzessin Gisseth von Burg Treesong entsprang aus dem Searl Treesong kommt, der Ritter des Flammenspeers. Mein Vistgeist** hat einen Namen von geheimer Magie. Dieser Name ist IMMIR Mögen finstere Strahlen des Dunkelsterns neben Mea mone jenen treffen, der seinen Namen mit Verachtung spricht! Eine Zeichnung von ungeübter Hand, doch voll Eifer * Der Held einer Reihe von Volksmärchen aus Das Heham-Buch, einer Sammlung von Sagen und Märchen, deren Verbreitung die Lehre ge stattet. ** Ein Begriff aus der Lehre: die idealisierte Version des Ichs. Die Lehre de finiert den Vistgeist nur vage, fordert den einzelnen jedoch auf, sein Le ben lang danach zu streben, seinem hehren Vistgeist nahe zu kommen. Howard entsann sich eines Vistgeistes, der sich aus den Beschränkun gen der Lehre erhob.
und ernstem Bemühen war der nächsten Seite hinzu gefügt. Sie stellte einen nackten Jungen einem nack ten jungen Mann gegenüber dar. Der Junge wirkte standhaft und entschlossen und hatte intelligente Zü ge. Der junge Mann war schleierfein, als wäre er un wirklich, dargestellt, doch er strahlte etwas Unbe schreibliches aus, eine Mischung vielleicht, aus Toll kühnheit, feuriger Kraft und magischer Stärke. Das, dachte Gersen, war des jungen Howards Vor stellung von sich und seinem Vistgeist Immir. Auf der nächsten Seite stand eine Reihe von Apho rismen, einige leserlich, andere so oft ausradiert und umgeändert, daß sie nicht mehr verständlich waren: WIDERRUFUNG Probleme sind wie die Bäume des Bleadstonewaldes – es gibt immer einen Weg hindurch. Ich stehe über allen. Ich glaube, ich dränge, und es ist vollbracht. Ich besiege Helden. Ich erobere schöne Mäd chen. Ich schwimme warm voll sieghafter Sehnsucht nach dem Unaussprechlichen. Mit meinem inneren Feuer hole ich die Zeit ein und denke das Undenkbare. Ich beherrsche eine geheime Kraft. Sie kommt von innen und ist unwider stehlich. Sie hat Teil an aller Fröhlichkeit, am ungeheuren Edelmut der wunderschönen Tattenbarthnymphen, am Sieg der Seele über die Unendlichkeit. Das ist VLON, das niemandem gezeigt werden darf. Hier ist das Geheimsymbol:
Ich liebe Glaide mit den blonden Locken. Sie lebt im
Traumland wie eine Anemone in kühlem Wasser. Sie weiß nichts von mir. Ich wollte, ich wüßte den Weg in ihre See le. Ich wollte, ich wüßte den Zauber, der unsere Träume vereinen könnte. Wenn ich nur auf stillem Wasser treibend im Sternenschein zu ihr sprechen könnte. Ich erkenne die Umrisse. Es gibt Möglichkeiten, das Tier in sich zu beherrschen. Aber ich muß viel lernen. Furcht, Panik, Schrecken: sie sind wie wilde Riesen, die besiegt und mir als Sklaven zu Diensten gemacht werden müssen. Ich werde es schaffen. Wohin immer ich auch gehe, sie werden mir folgen, unsichtbar und ungeahnt, bis ich meinen Befehl ausspreche. Glaide! Ich weiß, daß sie wach ist in ihrem Traum. Glaide! Aus Sternenlicht und Blumenstaub ist sie erschaffen. Sie atmet die Erinnerung mitternächtlicher Musik. Ich frage mich... Ich frage mich... Ich frage mich... Heute zeigte ich ihr das Zeichen, wie nebenbei, als wäre es unwichtig. Sie sah es. Sie blickte mich an. Aber sie sagte kein Wort. (Die nächsten paar Absätze waren ausradiert und mit festerer Hand neu beschriftet.) Was ist Macht? Sie ist das Mittel, Bedürfnisse zu stillen und Wünsche zu erfüllen. Für mich ist Macht ein Muß! Sie ist als solche eine Tugend und lindernd und süß wie der Kuß eines Mädchens, und – genau wie es – da, um ge nommen zu werden. Ich bin allein. Feinde und Flattermädchen umgeben
mich und starren mich irren Blickes an. Aufreizend wiegen sie die Hüften, wenn sie vorübereilen. Glaide, o Glaide, warum hast du das getan? Nun bist du verloren für mich. Du bist beschmutzt und verdorben. O süße beschmutzte Glaide! Bedauern und Reue werden dich quälen. Klagelieder wirst du singen, doch sie werden dich quälen. Klagelieder wirst du singen, doch sie werden nichts ungeschehen machen. Und diesen Hundesohn Tupper Sa dalfloury, ihn werde ich in der Bernsteingondel zur Slay marketinsel bringen und den Moals übergeben. Aber es ist Zeit weiterzusehen. (So ging es eine ganze Seite. Die nächste war nicht radiert, und mit dicker purpurschwarzer Tinte be schriftet, mit fester Hand, wie es schien. Die Buchsta ben waren regelmäßiger. Der nächste Abschnitt hatte die Überschrift: MANTRA Die Akkumulation von Macht ist ein sich selbst erweiternder Vorgang. Das Anfangswachstum ist langsam, erhöht sich jedoch mit der Leitung*. Zuerst die absoluten Erfor dernisse: Gleichmut und Sorglosigkeit und Verschlossen heit. Während der ersten Phase werden alle Hemmungen methodisch abgelegt. Die Disziplin als solche ist kein kor ruptes Konzept, nur die Disziplin, die einem aufgedrängt wird, Selbstdisziplin ist etwas anderes. Emanzipation kommt als erstes: von der Lehre, von der Pflicht, von sanf teren Gefühlen, die der Macht der Entscheidung hinderlich sind. * »Leitung« bedeutet in diesem Kontext offenbar »persönliche Kontrolle«, »persönliche Manipulation«.
(Offenbar verstrich einige Zeit, ehe weitergeschrieben wurde, einige Monate, möglicherweise. Die Schrift war nun hoch, gerade und eckig und wirkte ausge sprochen energisch.) Ein neues Mädchen ist in die Stadt gekommen! Sie heißt Zada Memar. Zada Memar. Von ihr zu denken, betört den Verstand. Sie lebt in einem eigenen Kosmos, von ihren eigenen Farben gefärbt und von ihrer eigenen faszinierenden In brunst in Schwung gehalten! Wie kann ich meinen Kosmos mit ihrem in Verbindung bringen? Wie kann ich unsere Geheimnisse teilen? Wie können wir zu einer Einheit aus Körper, Seele und Inbrunst verschmelzen? Ich frage mich, ob sie mich kennt, wie ich sie kenne? Es folgten mehrere Seiten mit hochgestochenen Überlegungen über das Geschick und über Umstän de, die einem zufälligen Treffen zwischen ihm und Zada Memar vorausgingen. Der nächste Teil bestand aus leidenschaftlichen Apostrophen an das innere Bewußtsein Zada Me mars. Es gab keinen eigentlichen Hinweis auf den Fortschritt oder den Ausgang dieser Liebe, außer am Ende dieses Teils: ein wilder Gefühlsausbruch, der gegen Howard Hardoahs Umwelt gerichtet war. Feinde umgeben mich, starren mich irren Blicks an, gehen oder laufen an mir vorüber, oder schwanken wie Ried im Wind und fordern mich höhnisch heraus. Ich sehe sie durch mehrere Gehirne und das ist sehr nützlich. Jetzt ist die Zeit gekommen. Ich rufe Immir. Immir! Herbei!
Es folgte eine leere Seite und ein neuer Teil begann im Das Buch der Träume. Mangels einer besseren Bezeich nung könnte man das bisherige als 1. Teil ansehen. Der 2. Teil war mit fester geschwungener Schrift nie dergelegt. Die schmerzende Inbrunst der vorherigen Abschnitte schien nun unter starker Kontrolle zu sein. Die offensichtliche Fortsetzung der letzten Zeile des 1. Teils in der ersten Zeile des 2. Teils war irre führend. Ich ließ mein Blut an dem mir heiligen Ort und beschrieb das Zeichen, sprach das Wort, ich rief Immir, und er kam. Ich sagte, Immir, jetzt ist die Zeit gekommen. Steh mir bei! Ohne Zweifel sind wir eins. Nun müssen wir uns an die Arbeit machen. Laßt uns unseren Bund schließen, damit jeder jeden kennt unter den mächtigen Paladinen. So soll es sein. Komm, stell dich in Meamones Strahlen! Mögen sie an ihren üppigen Farben erkannt werden! Ein Strahl stieß herab auf den schwarzen Juwel, und ei ne Person von schwarzer Pracht erschien. Sie und Immir umarmten sich wie gute alte Kameraden. Hier ist der erste Paladin. Er ist Jeha Reis, der Weise und Weitsichtige. Er erwägt Möglichkeiten, rät zum Not wendigen, ohne Schwäche, Mitleid, Skrupel oder Erbar men. Ich heiße dich willkommen, edler Paladin! In Meamones Strahl hielt Immir den roten Juwel, und eine Person mit rotem Amphruskulen* schloß sich den * Amphruskulen: emaillierte Täfelchen, die die Schulterklappen und den Brustschild eines Trelancthianischen Ritters bilden.
dreien an. Hier steht Loris Hohenger, der rote Paladin. Er be herrscht die bildenden Künste. Mühelos sind seine Taten, die dem normalen Sterblichen wundersam erscheinen. Furcht ist ihm fremd. Ah, ha ha! ruft er, wenn die Helle barden zum Kampf gesenkt sind. Loris, ich erhebe dich zu meinem roten Paladin, und ver spreche dir Taten und Feldzüge, wie selbst du noch keine erlebt hast. Ich freue mich, das zu hören. Immir, wer stößt jetzt zu uns? Immir zeigte den grünen Juwel, und einer in der grünen Gewandung des idaspianischen Edlen erschien. Hochge wachsen und ernst stand er da, mit mitternachtschwarzem Haar und leuchtend grünen Augen. Hier ist Mewness, der Grün in Ehren hält. Ein außer gewöhnlicher Paladin ist er, wendig, ungewöhnlich und unheimlich in seinem Wesen. Für ihn sind die tollkühnen Unternehmungen, er schafft das Unglaubliche. Er hat nicht mehr Skrupel als eine Echse und gibt weder Freund noch Feind eine Erklärung ab. Keiner kommt ihm gleich, wenn es darum geht, Rätsel aufzugeben. Auch ist er ein höchst begabter Musiker, der alle Tonarten beherrscht. Grüner Mewness, bist du bereit, dich uns als Paladin anzuschließen? Mit großer Freude und für immer. Ausgezeichnet! Immir, wer nun? Immir holte einen schönen Topas hervor und hielt ihn unter Meamones Strahl. Da war eine Person mit schwar zem Barett, das mit einem gelben Federbusch verziert war, gelben Stiefeln und gelben Handschuhen. Über die Schul ter geschlungen trug er eine Laute. Immir begrüßte ihn und nannte seinen Namen: Spangleway, der Possenreißer.
Welch ein Glück für uns, den fröhlichen Spangleway bei uns zu haben, der uns erheitert, wenn der Weg mühsam ist. Im Kampf ist er listenreich, ein Meister schrecklicher Überraschungen. Nur Mewness ist ihm ebenbürtig, wenn es um ausgefallene Streiche und erstaunliche Tricks geht. Immir, wer soll noch zu uns gehören? Ich hebe diesen Saphir in den Meamonestrahl und rufe Rhune Fader, den Blauen! Eine schlanke und doch kraftvolle Person, so strahlend und einnehmend wie der sonnige Himmel der Erinnerung, trat herbei. Hier ist unser edler Rhune, von angenehmem Äußeren und ohne Furcht und Tadel. Manchmal nennt man ihn Rhune, den Sanften. Zwar schlägt er hart und tief und oft zu, doch nie in unbedachtem Grimm, und er läßt Gnade bei seinen Gefangenen walten. Rhune Fader, sei uns willkommen! Willst du einer von uns sein? Weder Wind noch Donner, weder die Kraft des Krieges, noch alle Listen und Schliche verschiedener Feiglinge könnten mich davon abhalten. So sei auch du ein Paladin. Immir, wer noch? Gibt es noch einen für unsere unver gleichlichen Reihen? Ein letzter, einer, der sie erst vollständig macht. Immir hielt einen weißen Kristall gen Himmel. Ich rufe Eia Panice, den Weißen! Eine Person erschien mit einem schwarzen Cape über einem weißen Schuppenpanzer. Ihr Gesicht war bleich und humorlos, ihre Wangen eingefallen, und die Augen brann ten wie weißes Feuer. Immir sprach: Eia, den seine Feinde fürchten wie den Tod, ist wortkarg, doch seine Taten sprechen ihre eigene
Sprache und lassen den Schrecken zurück. Jubelt, Paladine, daß Eia zu uns gehört, denn als Feind ist er furchtbar! Eia Panice, ich grüße dich! Sei als Paladin mein Bruder, und gemeinsam werden wir viel erleben! Das hoffe ich. Immir sprach: Nun denn, edle sieben. Tretet alle näher und nehme einer die Hand des anderen. Möge dieses Band nur durch den Tod gebrochen werden. Alle bekräftigten es, und so war der edle Bund geschlos sen, der Taten und Leistungen vollbringen sollte, wie sie bisher ungehört waren. Auf den nächsten Seiten hatte der junge Howard ver sucht, die sieben darzustellen. Es war offensichtlich, daß er viel radiert und verbessert hatte. Mit diesen Skizzen endete der 2. Teil. Es folgten mehrere Seiten mit Notizen und Auf zeichnungen, einige in der Naomei-Schrift, doch of fensichtlich wurde Howard dieser mühsamen Arbeit müde und fuhr mit normaler Schrift fort. Er setzte eine Liste mit Titeln auf: 1. Das Abenteuer von Tuarech 2. Das Duell mit dem Sarsen Ebratan Helden 3. Zadas Erscheinen 4. Der törichte Stolz König Wepers 5. Zada im Elend 6. Burg Haround 7. Buhlen um Zada Memar 8. Die sieben Zauberinnen von Haltenhorst 9. Das Abenteuer im Grünen Stern Inn 10. Die großen Spiele bei Woon Windway 11. Die Verliese von Mourne 12. Die siegreichen Paladine
Welche Texte Howard Hardoah auch immer zu diesen Titeln geplant hatte, sie fehlten im Buch, von ein paar Ausschnitten und Fragmenten auf den fol genden Seiten abgesehen. Und dann abrupt, etwa nach zwei Drittel des Buches, endete der Inhalt mit ten im Satz. Gersen legte das Buch zur Seite, stieg die Stufen hinunter und stapfte neben dem Fantamikflitzer in der Tundra hin und her. Es konnte alles noch zu ei nem guten Ende kommen. Am Voymont und genau so in Gladbetook war nicht alles ganz wie vorgesehen gegangen, aber Das Buch der Träume mochte eine dritte Chance bieten – wenn er es richtig nutzte. Der nun zum zweitenmal verwundete Howard Alan Treesong würde nicht so leicht nach einem Köder schnappen. Zweifellos war sein Mißtrauen ins Uner meßliche gestiegen. Das Problem war demnach, den Köder so anzu wenden, daß er keineswegs als solcher erkannt wer den konnte. Gersen blieb stehen und blickte finster südwärts. Ehe er sich mit irgendwelchen Plänen beschäftigen konnte, mußte er noch einmal nach Gladbetook. Die Gesetze in bezug auf die maunishe Lufthoheit störten Gersen nicht mehr, denn ganz offensichtlich machte niemand Anstalten, gegen Übertreter vorzu gehen. Gegen Mittag tauchte er aus einer tiefhängen den Wolke und landete den Fantamikflitzer auf einer Waldlichtung hinter Hardoahs Home Farm. Diesmal bewaffnete er sich sorgfältig dann versiegelte er seine Jacht und spazierte an den Rand des Wäldchens. Das Land lag offen vor ihm. Rechts erstreckte sich ein
größerer Teich, links lag der Landstreifen, der früher von den Cleadhoes bestellt worden war. Als sich Ger sen der Home Farm näherte, verließ Ledesmus Har doah die Scheune mit einem Eimer, aus dem er den Hühnern Körner zuwarf. Dann kehrte er in die Scheune zurück. Gersen ging zur Tür des Bauernhauses und klopfte. Reba Hardoah öffnete. Mit undeutbarem Ausdruck blickte sie Gersen an. Er grüßte höflich. »Heute bin ich geschäftlich hier. Ich fürchte, ich brauche noch einige Informationen. Selbstverständlich bin ich gern bereit, Sie für die Zeit, die ich Ihnen dadurch stehle, zu entschädigen.« Nervös sagte Reba Hardoah: »Mein Mann ist im Augenblick nicht hier – er ist in die Stadt.« Ledesmus kam aus der Scheune und sah Gersen. Er stellte den Eimer ab und kam über den Hof. »Ah, Sie sind also noch einmal gekommen. Haben Sie schon das Neueste über Howard gehört?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Ledesmus grinste und fuhr sich mit dem Handrük ken über die Lippen. »Ich sollte wirklich nicht dar über lachen, aber dieser verrückte Kerl kam mit einer Gangsterbande zum Klassentreffen und ließ alle nach seiner Pfeife tanzen. Auf seine Weise hat er sich für alle Kränkungen während seiner Schulzeit gerächt.« »Schrecklich! Schrecklich!« jammerte Reba Har doah. »Er beleidigte die van Bouyers und schlug Bloy Sadalfloury und benahm sich überhaupt wie ein grausamer Verbrecher. Die Schande, die dieser Sohn über uns gebracht hat!« »Na na«, versuchte Ledesmus seine Mutter zu trö sten. »Wir können doch nichts dafür. Aber um ehrlich
zu sein, ich kann einfach nicht anders, ich muß la chen, wenn ich daran denke. Das hätte ich Howard nicht zugetraut.« »Welch furchtbare Schande!« rief Reba. »Dein Vater ist in die Stadt, um zu sehen, ob er Schadenersatz lei sten kann und um sich zu entschuldigen.« »Vater ist viel zu ehrenhaft! Wir haben mit Howard doch überhaupt nichts mehr zu tun!« »Ganz meine Meinung«, versicherte ihm Gersen. »Trotzdem ist es natürlich bedauerlich, daß dadurch auch unliebsame Aufmerksamkeit auf Sie fällt.« »Wenn ich wieder zur Andacht gehe, weiß ich nicht, wohin ich schauen soll«, klagte Reba Hardoah. »Blick ihnen einfach fest in die Augen!« riet ihr Ledesmus. »Und wenn jemand unverschämt wird, dann sag ganz einfach, du wirst dich bei Howard über sie oder ihn beschweren! Das dürfte seine Wirkung nicht verfehlen.« »Welch eine Vorstellung! Aber gib diesem Herrn doch die Auskunft, die er gern noch hätte. Er ist be reit, dafür zu bezahlen.« »Tatsächlich? Und was möchten Sie diesmal gern wissen?« »Nichts Besonderes. Sie erwähnten einen von Ho wards Freunden, Nimpy Cleadhoe.« »Ja, und?« »Was ist aus Nimpy geworden? Wo ist er jetzt?« Ledesmus runzelte die Stirn und blickte über die Felder zu einem heruntergekommenen kleinen Haus unter zwei wuchernden Ginsaps. »Die Cleadhoes wa ren recht merkwürdige Menschen, sie waren auch nicht von hier, sondern von irgendeiner fernen Welt. Der merkwürdigste war der alte Cleadhoe, er war ja
auch der Marmolierer der Stadt. So genau erinnere ich mich natürlich nicht mehr, aber sie waren sehr bö se darüber, daß Howard über Nimpy hergefallen ist und ihn beschuldigte, ihm sein Buch gestohlen zu ha ben. Mrs. Cleadhoe kam herüber und beschwerte sich bei Vater, der daraufhin Howard seine Meinung sagte. Und Howard ging fort, um Karriere zu ma chen, und das hat er ja auch, wie sich jetzt herausge stellt hat.« »Ledesmus, red nicht so daher! Seine schrecklichen Taten sind eine Schande für uns!« Ledesmus lachte bloß. »Ich wollt', ich wär' dabei gewesen und hätt' alles sehen können. Stell dir doch nur Maddo Strubbins mit dem Hintern auf Eis vor! Na, wenn das nichts ist!« Gersen fragte: »Und was ist mit Nimpy?« »Die Cleadhoes sind fort, und wir haben sie nie mehr gesehen.« »Wohin sind sie denn?« »Ich weiß es nicht.« Ledesmus blickte hilflos seine Mutter an. »Weißt du es?« »Dorthin zurück, woher sie gekommen sind.« Reba deutete mit dem Daumen kurz zum Himmel. »Zu ih rer alten Welt. Als die hiesigen Cleadhoes seinerzeit starben, erbten Verwandte von einer anderen Welt ih ren Besitz und kamen hierher – das war noch, ehe du geboren wurdest. Wir hatten keine näheren Bezie hungen zu ihnen, das kann man uns auch nicht ver denken, wenn man den Beruf des Mannes in Betracht zieht.« »Totenausweider und Marmolisierer!« brummte Ledesmus voll Verachtung. Reba Hardoah hob die knochigen Schultern und
schauderte. »Wir bleiben davon auch nicht verschont, Lehre oder nicht. Aber wer würde schon freiwillig Marmolisierer werden? Doch nur einer der niedrig sten Kaste oder von einer fremden Welt!« Adrian Hardoah kam von der Stadt zurück. Beim Anblick Gersens blieb er abrupt stehen und blickte argwöhnisch von Gesicht zu Gesicht. »Was soll das? Wieder irgendwas mit Howard?« »Nein, diesmal nicht, Sir«, versicherte ihm Gersen. »Wir unterhielten uns über Ihre ehemaligen Nach barn, die Cleadhoes.« Hardoah brummte etwas und warf seinen Hut auf das Sofa. »Kein guter Schlag, diese Leute. Haben nie was richtig gemacht, nicht die richtige Familie ge gründet. Nur gut, daß sie fort sind.« »Wohin sie wohl sind?« »Wer weiß? Jedenfalls sind sie nicht mehr auf dem Planeten.« »Erinnerst du dich nicht? Hat der alte Otho nicht gesagt, sie würden dorthin zurückkehren, woher sie gekommen sind?« »Ja, so was Ähnliches.« »Wo könnte das sein?« fragte Gersen. Hardoah warf ihm einen nicht sehr freundlichen Blick zu. »Die Hardoahs sind vom Geschlecht Didram Flu ters. Ich bin Lehrer im Kolleg, meine Mutter war eine Bistwider, meines Vaters Mutter eine Dwint der neunzehnten Generation. Otho Cleadhoe dagegen war städtischer Leichenöffner, den die Lehre kalt ließ. Hätte ich da vielleicht sein Busenfreund sind sollen?« »Keineswegs!« Adrian Hardoah nickte finster. »Sehen Sie sich die
Marmols an! Der erste Cleadhoe steht stolz. Geburts ort und -datum müßten auf seiner Tafel angegeben sein.« »Ja, das stimmt!« rief Ledesmus. »Vaters Klugheit ist unfehlbar!« Ledesmus und Gersen fuhren im alten Batteriewagen der Hardoahs in die Stadt. Unterwegs erzählte Ledesmus von Howards Streichen beim Klassentreffen. Sein Kichern und hin und wieder auch schallendes Gelächter verrieten, daß er sich Howards Taten we gen keineswegs schämte und sie auch nicht bedauer te. Ledesmus hielt den Wagen neben der Kirche an und ging Gersen voran in den Friedhof. Die Weise, wie er sich durch die Versammlungen der Toten schlängelte, bewies eine lange Vertrautheit. »Die Hardoahs und unsere anderen Verwandten sind dort drüben. Hier stehen die Unbedeutenden: Fremd weltler und Personen von niedrigem Stand oder schlechtem Ruf.« Es war Spätnachmittag. Im schrägen Schein von van Kaathes Stern traten die beiden durch die Marmols hindurch. Tafeln nannten die Namen jener, die sonst vielleicht im Lauf der Jahre in Vergessenheit geraten wären. Kassideh – Hornblath – Dadendorf – Lup – Cleadhoe... Gersen deutete. »Hier ist einer von ihnen.« »Das ist eine der alten Damen. Hier ist Luke Cleadhoe. Er müßte der erste sein, und da ist auch schon Ihre Antwort: ›Geboren im Bethune Reservat auf der Krähe, einer fernen Welt, die die Lehre nicht erreichte. In seiner Jugend ein bekannter Wildreiter,
verdiente er sich durch Fleiß den Posten des Krank heitsaufzeichners bei den Raubtieren, dann den des Ersten Hilfstaxidermisten. Nach seiner Ankunft in Gladbetook bestellte er fleißig seine Äcker und er nährte eine Familie aus mehreren Seelen, alle bedau erlicherweise uneinsichtig gegenüber dem reinen Glauben der Lehre.‹ Na, was sagen Sie dazu?« Ledesmus' Stimme klang triumphierend. Als sie durch den Friedhof zur Kirche spazierten, fiel Gersen das Marmol eines jungen Mädchens auf. Sie stand kerzengerade, den Kopf ganz leicht zur Seite geneigt, als lauschte sie einem fernen Laut, einer Stimme oder einem Vogelruf. Sie trug ein einfaches Gewand, Kopf und Füße waren bloß. Auf ihrer Tafel stand: Zada Memar, bedauernswertes Kind, noch vor der vollen Blüte ihrer Familie entrissen. Beklagt und bedauert diese arme Maid. Gersen machte Ledesmus auf dieses Marmol auf merksam. »Erinnern Sie sich an sie?« »O ja! Bei einem Schulausflug wanderte sie allein in den Wald. Später fand man sie ertrunken im Persim monsee. Ein hübsches Mädchen war sie!« Die Sonne stand nun tief hinter der Zedernreihe und düsterer Schatten fiel auf die Marmols. Plötzlich sagte Ledesmus: »Sehen wir zu, daß wir wegkommen. Das hier ist nicht der richtige Aufent haltsort nach Einbruch der Dunkelheit.«
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Aus »Der Awatarlehrling« in Schrift aus der Neunten Dimension: Das Piedestal umgab ein niedriger Trümmerhaufen: Scherben falscher Idole von hundert Jahrhunderten. Das letzte, ein Abbild von Bernissus, lag umgekippt, mit einem mächtigen Bein hoch erhoben. Marmaduke stand in einer schmutzig braunen Kutte daneben und eine Träne trauri ger Erinnerungen glänzte in seinem Auge. Nun wurde das Abbild des Heiligen Mungol herbeige schleppt und auf das Piedestal gestellt, um von der begei sterten Menge verehrt zu werden. Der Kriegsherr von Gortland kletterte zu der Plinthe. Er hob die Arme und rief mit schallender Stimme: »Sieg – endlich und für immer! Hoch steht Mungol, der heilige und wahre Hüter unseres Landes! So wird es von nun an bis in alle Ewigkeit bleiben! Jauchzet und frohlocket! Die Menge jubelte und tanzte im Kreis. Die Windlords schlugen mit gepanzerten Fäusten auf ihre Schilde. Die Bracha spielten auf ihren Dudelsäcken ihre hehrsten Wei sen. In schimmernden Dunst gehüllt läuteten die Prudes sen Glocken und gaben Zeichen. Die kleinen Wefkins juchzten. Wieder sprach der Kriegsherr. Alles ist vollendet! Die Brustwehr wird von unseren mächtigen Venzedeoren be wacht. Bernissus ist weniger als nichts: der Hauch eines erinnerten Gestanks im Alptraum eines Aussätzigen! Doch genug der Vergangenheit! Der Heilige Mungol steht erhaben über uns und blickt hinweg über die Ewig keit. Möge jeder nun seine Beute an sich nehmen und sie
gesfroh in seine Heimat zurückmarschieren! Blaue gen Osten! Grüne gen Westen! Ich mit meinen Cantaturken gen Norden!« Die Heerscharen stießen einen letzten gemeinsamen Be geisterungsruf aus, dann zerstreuten sie sich, jeder nahm seinen eigenen Weg. Eine Gruppe von sieben Personen brach gen Süden über die Maudlyöde nach Sesset auf; die sieben waren: Cathres, ein Kloben mit grobem Gesicht, breiten Schultern und scharfer Zunge; drei Hilfslygons: Shalmar, Bahuq und Amaretto; Implissimus, Ritter von Blaukerlanth; Rorback, der Nimmersatt; und Marmaduke. Es war ein gemischter Trupp und jeder einzelne mürrisch, denn keiner hatte Beute gemacht. Auf ihrem Weg über das Ödland stießen sie auf einen Wagenzug: drei Wagen voll mit den Schätzen vom Molan derkloster beladen. Führer dieses Wagenzugs war Horman, der einäugige Vagabund. Mit ihm und seinen Handlan gern wurde kurzer Prozeß gemacht, und der Trupp machte sich daran, die Beute auszuteilen. Im vordersten Wagen entdeckte Marmaduke die liebrei zende Sufrit, die ihm beim Großen Maskenfest solches Her zeleid zugefügt hatte. Zu Marmadukes Enttäuschung, ja seinem Schrecken, bestand Cathres darauf, daß Sufrit als Teil seiner Beute zu erachten sei, und Marmaduke kam nicht gegen seine Argumente an. Voll List sagte Cathres zu Marmaduke: »Da du Unzu friedenheit mit der Verteilung ausdrücktest, schlage ich vor, daß noch einmal alles zusammengeworfen und neu verteilt wird, und zwar wirst du sieben Haufen machen, und jeder sucht sich einen davon aus.« »Und in welcher Reihenfolge darf die Auswahl getroffen werden?« »Das wird das Los entscheiden.«
Marmaduke machte sich daran die Beute aufzuteilen. Sufrit flüsterte ihm zu: »Er hat dich hereingelegt. Das Los wird entscheiden, wer als erstes wählen darf, aber du hast die letzte Wahl, da du es bist, der die Verteilung vornimmt, und vermutlich teilst du alles wertgemäß gleich auf.« Marmaduke schaute sie entsetzt an. Sufrit sagte: »So hör mir zu! Gib mich getrennt als einen Anteil. Die Schät ze verteilst du auf fünf Haufen. Der letzte Haufen soll nur aus Hormans drei Eisenschlüsseln bestehen, seinen Schu hen, seiner Trommel und anderem wertlosen Kram. Dieser Haufen wird natürlich dir zufallen. Behalte davon nur die Schlüssel.« Marmaduke tat, wie sie ihm geheißen hatte. Durch einen schlauen Trick versicherte der geile Cathres sich die erste Wahl und beanspruchte mit galanter Verbeugung Sufrit für sich. Die anderen nahmen sich die Haufen mit Gold und Edelsteinen. Für Marmaduke blieb Hormans Kram. Plötzlich stellte man fest, daß die Zugtiere durchge brannt waren, doch schlimmer noch, daß alle Wasserbeutel aufgeschlitzt und leer waren. Aufgeregte Stimmen waren zu hören und gegenseitige Beschuldigungen. »Wie sollen wir Sesset erreichen, das fünf Tagesmärsche durch die brennende Wüste von hier entfernt ist?« rief Cathres. »Macht euch deshalb keine Gedanken«, sagte Sufrit. »Ich weiß von einem Brunnen im Süden, gar nicht weit von hier. Wir können ihn bei Sonnenuntergang erreichen.« Brummelnd und jetzt schon durstig nahm jeder seinen Beuteanteil und kämpfte sich gen Süden. Im abendlichen Zwielicht erreichten sie einen fruchtbaren Garten, der von einer hohen Eisenmauer umgeben war, die keiner, ihrer vergifteten Eisendornen wegen, erklimmen konnte. Glück licherweise jedoch ließ sich eine der Seitentüren mit einem
der Schlüssel aufsperren, die Marmaduke behalten hatte. »Welch ein Glück!« rief Cathres. »Marmadukes Weit sicht hat sich bewährt und so ist uns allen geholfen!« »Nicht so schnell!« mahnte Marmaduke. »Ich verlange eine Gebühr für die Benutzung meines Schlüssels. Jeder von euch muß mir seinen wertvollsten Edelstein geben.« »Ich habe keine Edelsteine!« rief Cathres »Muß ich des halb außerhalb ausharren und zum Opfer wilder Tiere werden?« »Was hast du mir denn zu bieten?« »Ich besitze nur mein Schwert, meine Kleidung und meine Sklavin, die du nicht haben kannst, und kein Krieger von Ehre würde sich von seinem Schwert trennen.« »So gib mir doch deine Kleidung – alles, was du auf dem Leib trägst.« So geschah es, und Cathres betrat – zur Erheiterung al ler – den Garten nackt wie ein Ei. »Lacht nur, jetzt!« sagte Cathres. »Heute nacht werde ich mich mit meiner Sklavin vergnügen. Und was macht ihr?« Zum Abendessen genossen sie Früchte von den Bäumen und tranken reichlich des klaren kühlen Wassers. Dann brachte Cathres Sufrit unter die Bäume und machte sich daran, seine Lüsternheit zu befriedigen. Doch die eiserne Mauer umgab einen heiligen Hain, und jedesmal, wenn Cathres seine Zügellosigkeit schießen lassen wollte, flog ei ne große weiße Fledermaus herab, um ihn mit ihren Flü geln zu schlagen, bis Cathres es schließlich aufgab und Sufrit unbelästigt schlafen konnte. Cathres seinerseits fand keinen erholsamen Schlaf in der Kälte der Wüstennacht. Am nächsten Morgen machte die Gruppe sich ohne Wasserbeutel weiter auf den Weg gen Süden. Cathres hatte arg unter den glühenden Strahlen der Sonne zu leiden und
auch unter den spitzen Steinchen und Dornbüschen. Bei Sonnenuntergang führte Sufrit den Trupp zu einem verlassenen Kloster, zu dem nur Marmadukes Schlüssel Zutritt verschaffen konnte. Diesmal blieb Cathres nichts übrig, als sich seines Schwertes als Bezahlung zu bedienen, um Eintritt zu er langen. Während der Nacht versuchte Cathres wieder, Sufrit zur Befriedigung seiner Lüste zu benutzen, aber diesmal spuck te das alte Gemäuer einen Geist aus, der sich auf Cathres Rücken setzte, was diesen so störte, daß er von seinem Vorhaben abließ. Wieder machte der Trupp sich am Morgen auf den Marsch in den Süden. Cathres litt arg unter wunden Fü ßen, Insektenstichen und Hitzeblasen, doch er trennte sich nicht von dem Strick, den er um Sufrits Handgelenk ge bunden hatte. Eine Stunde vor Sonnenuntergang betrat die Gruppe ei ne Schlucht, die sich bald zum Hohlweg verengte. Eine Treppe führte hoch zu einer verschlossenen Tür hinauf, die sich mit einer Umdrehung von Marmadukes drittem Schlüssel öffnen ließ. Jeder des Trupps ging hindurch und gab dafür einen ausgesucht schönen Edelstein, außer Ca thres, der Marmaduke den Strick entgegenstreckte, der um Sufrits Handgelenk gebunden war. »Sie gehört dir mit al lem anderen«, sagte er. »Laß mich ebenfalls ein!« Sofort löste Marmaduke den Strick. »Sufrit, du bist frei! Ich ersehne mir deine Liebe, doch nicht deine Unterwürfig keit.« »Du sollst beides haben«, versicherte sie ihm, und die beiden nahmen einander an den Händen. Der Trupp setzte seinen Weg auf einem schmalen Pfad fort. Da sprang ein Felsteufel aus einer Grotte. »Wie könnt
ihr es wagen, meinen Privatweg zu benutzen?« keifte er. »Sei still!« mahnte ihn Sufrit. »Wir bezahlen dir Maut.« Für sich und Marmaduke gab sie ihm als Zoll das Schwert und Cathres ehemalige Kleidung. Jeder der ande ren händigte ihm einen Edelstein aus, außer Cathres, der verstört rief: »Du siehst an meiner Nacktheit, daß ich mit tellos bin. Ich habe nichts, um den Zoll zu bezahlen.« »In diesem Fall«, sagte der Teufel, »mußt du in die Grotte treten!« Die anderen hasteten weiter, um Cathres schrille Schreie nicht lange hören zu müssen. Schließlich erreichten sie ein freundliches Land. Straßen führten in verschiedene Richtungen. Die Kameraden ver abschiedeten sich voneinander und jeder ging seines eige nen Weges. Marmaduke und Sufrit blieben Hand in Hand stehen und überlegten, welche dieser Straßen sie nehmen sollten. Eine führte hinunter in ein grünes Tal, dann wieder auf wärts und schräg über grüne Wiesen zu einem Kirchturm, dem Wahrzeichen eines teuren und vertrauten Dorfes. Voll Staunen ruhte Marmadukes Blick auf ihm. »Diesen Weg würde ich gern nehmen«, wandte er sich an Sufrit. »Kommst du mit mir?« Sufrits Blick war einer anderen Straße gefolgt, die zu ei nem Ort führte, den sie gut kannte, doch keine Bande der Liebe zogen sie dorthin. »Ja, Marmaduke, ich komme mit dir.« »Hurra! Dann sind wir vor Sonnenuntergang zu Hause!« Und so war es. Glücklich rannten sie die Straße entlang nach Hause, während die Sonne sich dem Horizont näher te. Zur Teestunde stellte nur Pinnacy Fragen, die sie ein wenig in Verlegenheit brachten, aber sie antworteten, daß sie auf einem Maskenfest gewesen seien – und das war alles.
Später erinnerte Gersen sich nur verschwommen an diese Zeit. Das war seiner jetzigen Erschöpfung zuzu schreiben und der Notwendigkeit, ständig neue Pläne auf den Trümmern alter aufzubauen. Howard Alan Treesong war zum Irrlicht geworden, das vor ihm hertanzte, doch nie zu greifen war. Wieder im Sternenraum unterdrückte Gersen sein Verlangen, nach Pontefract zurückzukehren, um dort neue Pläne zu schmieden und seine Bekanntschaft mit Alice Wroke zu festigen. Statt dessen kramte er das Sternenhandbuch hervor. Das Bethune Reservat war der einzige Planet von Corvus 892, einem gelben Zwerg in einer Gruppe von einem Dutzend ähnlicher Sterne. Dieses Sternensy stem hatte insgesamt vierzehn Planeten, ungezählte Planetoiden, Monde und kosmische Trümmerstücke, doch nur das Bethune Reservat trug Leben. Bethune war von der Planetensucherin Trudi Sel land entdeckt worden. Ihre Beschreibung seiner phä nomenalen Flora und Fauna kam einer Sensation gleich und veranlaßte die Gesellschaft der Naturali sten, sich um die Rechte zu bemühen und den Plane ten schließlich zu kaufen. Jahrhunderte vergingen, während derer das Bethune Reservat zum planeten weiten Wildschutzgebiet wurde. Aus dem Handbuch las Gersen: Gegenwärtig ist das Bethune Reservat eine seltsame Mi schung: zu zehn Teilen Naturreservat, zu fünf Teilen Tou ristenattraktion, und zu drei Teilen der Sitz der Naturali sten-Gesellschaft, ihrer Zweigstellen und anderer Verbän de, wie: Freunde der Natur, Tabu, Naturschützer, Leben in Gottes Kirche, Sierra Club, Biologische Falange, Verein für
natürliche Erzeugung. Allen diesen Gruppen wurden klei nere Wohngebiete zugeteilt, genau wie den ständig wech selnden Wissenschaftlern, Studenten und Forschern. Prak tisch jedem, der sich im Bethune Reservat wohl fühlt, wird erlaubt, sich hier vorübergehend, und, wenn gewünscht, auf die Dauer niederzulassen. Heute umfaßt das Reservat über sechshundert Wild schutz- und Pflanzenschutzgebiete, die achtsam in ihrem ursprünglichen Zustand belassen werden und in der Größe von einem ganzen Kontinent zu einem einzelnen Morgen schwanken. Auf diesem Morgen Land steht der einmalige Lillawbaum, dessen Herkunft auch heute noch unbekannt, ja ein Rätsel ist. Die Kuratoren sind selbst in unserer Zeit noch so fana tisch wie ihre Vorgänger – so manches Mal hört man Wor te wie: despotisch, pedantisch, rachsüchtig, unberechenbar und eigensinnig über sie. Sie herrschen über diese Welt, als wäre sie ein privates Naturgeschichtsmuseum – und das ist es im Grund genommen auch. Den Bestimmungen entsprechend legte Gersen an ei ner der zehn Quarantänestationen im Orbit des Pla neten an. Vier Beamte in blau-grünen Uniformen ka men an Bord und durchsuchten den Fantamikflitzer. Gersen wurde gefragt, ob er irgendwelche Lebens formen an Bord habe, und dann zählte man ihm die Bestimmungen auf, die er zu beachten habe. Ein Pilot blieb an Bord, um den Fantamikflitzer zu einer Lan deplattform im Besucher-Raumhafen, außerhalb der Stadt Tanaquil zu lenken. Hier mußte Gersen einen höheren Einsatz leisten, und man erklärte ihm, daß es bei Strafe verboten sei Pflanzen und Tiere, gleich wel cher Art, einzuführen, zu belästigen, gefangenzu
nehmen, zu mutieren, zu füttern oder zu reizen. Dann erst gestattete man ihm, seinen Geschäften nachzugehen. Vom Raumhafen brachte ein Bus Gersen nach Ta naquil, durch einen Hain mächtiger schwarzstämmi ger Bäume, deren Kronen ein einziges rotes Blüten meer waren. Hier wimmelte es nur so von zwit schernden Geschöpfen, die hüpften und sich von Baum zu Baum schwangen und durch die Luft schwebten. Offenbar betrachteten sie den Bus als ih ren Erzfeind. Ein ganzer Trupp folgte ihm hoch über dem Dach und bewarf ihn mit Samenkapseln. Der Bus fuhr in Tanaquil ein, das eine unerwartet malerische Stadt war. Sie sah aus, als wäre sie aus Kinderbausteinen in leuchtenden Grundfarben er richtet. Der Plan für sie stammte von der Vorsitzen den eines alten Architektur-Verbandes, die von Illu strationen in einem Kinderbuch inspiriert worden war. Sie hatte die architektonischen Grundbestim mungen festgelegt, nach denen Konkordanz* erreicht werden mußte.
* Konkordanz: Ein Grundkonzept zur Funkbon der bethunischen Gesell schaft. Das Kuratorium regiert das Bethune Reservat in Konkordanz mit den alten Bestimmungen. Die Kuratoren werden von »angesehenen Organisationen« gewählt, in denen die Mitgliedschaft erblich ist. Diese ehemals naturalistischen Gesellschaften stellen nun die Aristokratie des Planeten dar. Es gibt gewisse, wenn auch nicht uneingeschränkte Kastenaufteilun gen. Touristen gelten als kastenlos und haben keinen Zutritt zur ein heimischen Gesellschaft. Durch eine kuriose und den Außenstehenden erheiternde Wertum drehung gehören Berufsgruppen, die sich mit Tieren und Pflanzen be schäftigen, wie Wildhüter, Tierärzte, Biologen, Hirten, Pflanzenpatholo gen und dergleichen, in die niedrigste Kaste.
Gersen stieg im Hotel Triceratops ab, einem Touristen Inn, das sich nach seinem ausgestopften sechs Meter langen Saurier mit sechs Spreizbeinen und zwei Hör nern nannte, der allgemein als Triceratops Shanar** bekannt war. Gersen wandte sich an den Empfangschef. »Ich möchte einen alten Bekannten besuchen, weiß jedoch nicht, wo er wohnt.« »Das ist kein Problem, Sir. Wenden Sie sich an das Meldeamt. So viele Ansässige gibt es hier nicht, ins gesamt zahlen wir weniger als fünf Millionen. Doch es ist über Mittag geschlossen.« Im Speisesaal, der einem uralten Wald nachgeahmt war, bekam Gersen ein herzhaftes Mahl vorgesetzt, ganz nach kosmopolitischem Standard, obwohl man den einzelnen Speisen hier anheimelnde einheimische Namen gegeben hatte. Bier trank er aus einer Flasche mit dem Etikett Wildstümmler Bier und dem Bild einer gräßlichen Bestie, die einem Ausflugsbus nachsah. Im Meldeamt bekam Gersen ohne Schwierigkeiten die Adressen von zwei Cleadhoes. Beide wohnten auf dem Kontinent Rheas in einem Ort namens Blau waldlager im Grand Triste Primitivreservat. Gersen hatte am Nachbarhaus des Hotels das Schild Albatros Aussichtstouren gesehen, doch als er das Büro betreten wollte, mußte er feststellen, daß es bereits geschlossen hatte. Es sah aus, als richteten die Öffnungszeiten der Betriebe hier sich nicht nach den Kunden, sondern der eigenen Annehmlichkeit. Er kehrte zum Hotel zurück und saß den Rest des ** Der zwar exakten bethunischen Taxonomie fehlt die Anschaulichkeit. Die allgemeinen Bezeichnungen sind eindrucksvoller.
Nachmittags auf der schattigen Veranda, von wo aus er Touristen, Einheimische und große Insekten beob achtete: zarte, schleierfeine Geschöpfe mit langen Fühlern, die von einer prallen Blase hingen. Diese In sekten schwebten mehr, als sie flogen. Gersen trank mehrere Ginpahits und überlegte, wie er die Sache am günstigsten angehen könnte. Weihte er die Cleadhoes in seinen Plan ein, moch ten sie ihm entweder helfen, ihn an seiner Ausfüh rung hindern oder ihn in große Gefahr bringen. Er ließ sich hunderterlei Möglichkeiten durch den Kopf gehen, doch als die Sonne hinter dem Wald unter ging, hatte er sich noch für keine entscheiden können. Nein, er konnte keinen festen Plan machen, ehe er nicht noch einiges mehr über die Cleadhoes wußte. Am nächsten Vormittag ging Gersen in die Alba tros-Reiseagentur, wo ihm ein Angestellter lächelnd erklärte, daß nur anerkannte Wissenschaftler für Ex peditionen mit Sondergenehmigung Luftfahrzeuge mieten durften. »Stellen Sie sich nur vor, wie es ohne diese Be schränkung hier aussehen würde, mein Herr«, sagte der Angestellte. »Wir hätten kleine Familienpicknicks mitten in der Gunderson-Suhle, wo das Baby dann von einem dreiarmigen Sumpfaffen verschlungen und die Tochter von einem Wildhüter vergewaltigt würde.« »Wie komme ich dann dorthin, wohin ich möchte?« »Touristen können sich einer der Inspektionssafaris in einem absolut sicheren Fahrzeug mit Klimaanlage anschließen. Das ist die einfachste und beste Weise, die Reservate zu besuchen. Wohin möchten Sie denn? Sie müssen wissen, daß manche Gebiete off limits sind.«
»Zum Blauwaldlager im Grand Triste Primitivre servat.« Der junge Mann schüttelte bedauernd den Kopf. »Das ist kein für Touristen zugängiges Gebiet, Sir.« »Angenommen, Sie wollten das Blauwaldlager be suchen, wie würden Sie es angehen?« »Ich bin kein Tourist.« »Trotzdem, wie würden Sie es machen?« »Ich würde natürlich das Verkehrsflugzeug zur Maundy Flußstation nehmen und von dort in den Wald fliegen. Aber...« Gersen legte einen 50-SVE-Schein auf den Tisch. »Ich bin kein Tourist, ich bin Geschäftsreisender, ich handle mit Insektenabstoßmitteln. Besorgen Sie mir bitte das Ticket, ich bin in großer Eile.« Der Angestellte lächelte, zuckte die Achseln und legte die Banknote in eine Schublade. »Eile können Sie hier vergessen. Tatsächlich ist sie vielleicht sogar gegen das Gesetz.« Der Blauwald war kein eigentlicher Wald, sondern eine Savanne mit dichtem Baumbestand im Becken des Großbulduke Flusses, einem Gebiet von etwa ei ner Million Quadratkilometer. Die Belaubung war hauptsächlich blau, in drei verschiedenen Schattie rungen: Ultramarin, leuchtend Himmelblau und ei nem blassen Kreideblau, doch einige Bäume hatten auch schillernd grüne Blätter und andere, doch nur wenige, graue. Riesige Schmetterlinge, die durch den Sonnenschein flatterten, brachten rote und schwarze Tupfen in die Landschaft. Tiere gab es eine große Zahl. Die Pflanzenfresser waren geschützt, entweder durch ihre Größe, ihren Panzer, ihre Behendigkeit, ih
re Reaktionsschnelligkeit, ihren Gestank, die fuch telnden Gliedmaßen, spitzen Hörner oder ihre Gift drüsen. Die Raubtiere, andererseits, hatten sich so entwickelt, daß sie gegen diese Schutzmaßnahmen ankamen. Verschiedene Arten von Aasfressern schli chen durch die Schatten. Wo der Kleinbulduke sich mit dem Verwunsche nen Fluß vereinte, erstreckte sich ein Netzwerk von Sümpfen und Mooren, in dem sich die unterschied lichsten Tierarten tummelten: große, kleine, furchter regende, harmlose Kreaturen, solche mit und ohne gelbe Hautlappen, und welche mit und ohne klaffende purpurne Rachen. Nördlich dieses Netzwerks er hob sich ein Tafelland, auf dem das Blauwaldlager zu finden war. Vom Flughafen marschierte Gersen auf einer Lehmstraße zur Stadt. Links und rechts der Straße waren drei Meter hohe Zäune errichtet, die nur In sekten hindurchließen, nicht aber Tiere und Pflanzen. Hitze und Luftfeuchtigkeit waren niederdrückend. Es roch nach allem möglichen Vertrauten und Fremdar tigen: nach Pflanzen, Erde und Tierabsonderungen. Der Zaun bog zu beiden Seiten in rechtem Winkel ab, um die ganze Ortschaft abzusichern. Gersen ging zum Gesellschaftshotel und trat in ein dämmriges kühles Foyer. Kommentarlos wurde Gersen von einer jungen Frau ein Zimmer angewiesen, die sein Geld nahm und mit dem Daumen zum Korridor deutete. »Zimmer vier.« Schlüssel wurden offenbar als unnö tig erachtet. Gersens Zimmer war sauber, kühl, kärglich ausge stattet und gut von außen abgeschirmt. Ein altes Adreßbuch lag auf dem Tisch. Gersen blätterte darin
und las: Cleadhoe, Otho Privatadresse: Perimeter 20 Dienstanschrift: Lagerwerkstatt Cleadhoe, Tuty Privatadresse: Perimeter 20 Dienstanschrift: Einkaufszentrum Gersen ging hinaus auf den kleinen Marktplatz. Es war still auf den Straßen, nur wenige Passanten wa ren unterwegs. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes hing ein Schild: EINKAUFSZENTRUM Gersen schaute durch die offene Tür. Er sah einen äl teren Mann und eine stattliche schwarzhaarige Frau mit buschigen schwarzen Brauen, einer dicken Nase und offensichtlicher Entschlossenheit. Sie war mit ei ner Kundin beschäftigt. Gersen ging weiter. Das Ein kaufszentrum war nicht der geeignete Ort für ein Ge spräch mit Tuty Cleadhoe. In der Mitte des Platzes gab es an einem Stand kalte Getränke und Eiskrem. Gersen erstand einen Becher gemischten Fruchtsaft und setzte sich damit auf eine Bank. Eine Stunde beobachtete er die Menschen des Blauwaldlagers, die ihren Geschäften nachgingen. Kinder rannten und hüpften auf dem Heimweg von der Schule vorbei Kunden betraten und verließen das Einkaufszentrum. Die Sonne sank allmählich tiefer. Tuty Cleadhoe kam aus dem Laden. Flotten
Schrittes machte sie sich zum Südteil des Städtchens auf den Weg. Gersen folgte ihr eine durch breite Kronen be schattete Allee entlang. Tuty Cleadhoe betrat ein Haus dicht am Schutzzaun. Er wartete zehn Minuten, ehe er auf die Türklingel drückte. Die Tür glitt zurück, Tuty Cleadhoe schaute heraus. »Ja?« »Ich möchte Sie gern ein paar Minuten sprechen.« »Ach ja?« Die dunklen Augen musterten Gersen unfreundlich von oben bis unten. »Weshalb?« »Sie wohnten doch früher in Gladbetook in Mau nish?« Nach einer kurzen Pause ließ sie sich zu einer Antwort herab. »Ja, vor langer Zeit.« »Ich komme gerade von dort.« »Das interessiert mich nicht. Ich erinnere mich nicht gern an Gladbetook. Sie müssen mich entschul digen. Die Nachbarn werden sich Gedanken machen, weshalb ich mich mit einem Fremden unterhalte.« Sie wollte die Tür schließen. »Warten Sie!« rief Gersen. »Sie wohnten neben den Hardoahs?« Tuty Cleadhoe blickte durch den schmalen Spalt. »Allerdings.« Gersen ging schneller voran, als er beabsichtigt ge habt hatte. »Erinnern Sie sich an Howard Hardoah?« Tuty Cleadhoe starrte Gersen zehn Sekunden lang stumm an, dann antwortete sie mit belegter Stimme: »Das kann man wohl sagen!« »Darf ich eintreten? Ich bin Howard Hardoahs we gen hier.« Tuty Cleadhoe wich widerwillig zur Seite. »Na,
dann kommen Sie herein!« Im Haus war es dämmrig, stickig, und die Zimmer für ein so mildes Klima überladen. Tuty deutete auf einen rosaroten Samtsessel. »Setzen Sie sich, wenn Sie möchten! – Also, was ist mit Howard Hardoah?« »Ich besuchte vor kurzem die Hardoah Farm und das Gespräch kam auf Howard.« Tuty schüttelte ungläubig den Kopf. »Howard lebt zu Hause?« »Nein. Er ist schon lange von zu Hause fort.« Tuty schob das Kinn vor. »Wissen Sie eigentlich auch, weshalb?« »Ich nehme an, er hat irgendwas angestellt.« »Wenn ich ihn in die Finger bekommen hätte...« – sie streckte die Hände aus und krümmte die Finger zu Klauen – »... ich hätte ihn eigenhändig zerrissen.« Gersen lehnte sich im Sessel zurück. Tutys Stimme klang nun zischend vor Gefühlserregung. »Er kam zu unserem Haus und rief unseren Sohn, aber so leise, daß wir es nicht hören würden, doch wir hörten es. Er rief unserem einzigen Kind, unserem Jungen Nymphotis, der so duldsam und lieb war. Sie gingen zum Teich und dort ertränkte Howard unseren klei nen Sohn, indem er ihm den Kopf unter Wasser hielt. Ich hatte eine schreckliche Ahnung. ›Nymphotis‹, rief ich. ›Nymphotis, wo bist du?‹ Ich ging zum Teich und fand dort mein geliebtes Kind. Ich zog die kleine nasse Leiche heraus und trug sie nach Hause. Otho suchte Howard, aber er war bereits fort.« Gersen fragte: »Wußte Howard, daß Sie ihn ver dächtigen?« »Es war kein Verdacht, es war Tatsache!« »Aber Howard wußte es nicht?«
Tuty machte eine heftige Gebärde. »Wie hätte er es wissen sollen? Er war ja schon weg. Das war unsere Tragödie.« »Ich wußte nicht, daß Nymphotis tot ist«, sagte Gersen. »Es tut mir leid, daß ich bittere Erinnerungen geweckt habe.« »Sie haben sie nicht geweckt. Wir leben mit ihnen Tag um Tag. Sehen Sie!« Nun klang Tutys Stimme brüchig. »Sehen Sie!« Gersen drehte den Kopf. In einer dunklen Ecke des Zimmers stand ein Junge, eine Statue aus glänzender weißer Substanz. »Das ist unser Nymphotis.« Gersen wandte sich ab. »Ich will Ihnen etwas von Howard Hardoah erzählen und was aus ihm gewor den ist, und wie ihm die gerechte Strafe zuteil werden könnte.« »Warten Sie! Das muß auch Otho hören. Wenn Sie glauben, ich sei verbittert, werden Sie feststellen, daß er es noch viel mehr ist.« Sie ging an ein Fon, stellte eine Verbindung her und stieß einen wahren Wort schwall aus. Hin und wieder stellte eine Männer stimme eine Frage. Tuty winkte Gersen. »Sprechen Sie jetzt! Wir können Sie nun beide hö ren.« »Howard Hardoah ist jetzt ein berüchtigter Verbre cher. Er nennt sich Howard Alan Treesong.« Weder Tuty noch Otho Cleadhoe gingen darauf ein. »Sprechen Sie weiter!« »Ich habe ihn quer durch die Ökumene verfolgt. Er ist wachsam. Er muß mit einem Köder mit allergröß ter Behutsamkeit angelockt werden. Ich habe zwei mal Pech gehabt, doch jetzt habe ich den richtigen
Köder. Ihre Hilfe würde mir sehr zustatten kommen.« Gersen machte eine Pause. Otho sagte: »Sprechen Sie weiter!« »Ich möchte nicht weitersprechen, außer Sie wären bereit, mir zu helfen. Doch das würde Sie sicher in Gefahr bringen.« »Sie brauchen sich unseretwegen keine Sorgen zu machen!« versicherte ihm Otho. »Sagen Sie uns, was Sie vorhaben!« »Sie werden mir helfen?« »Sagen Sie uns erst, was Sie tun wollen.« »Ihn hierherlocken und im Dschungel töten.« Aufgebracht rief Tuty: »Da bleibt nichts für uns! Sie wollen sich ihm stellen! Sie wollen ihn töten! Für Nymphotis soll er bezahlen.« »Egal«, sagte Otho mit schwerer Stimme. »Wir werden helfen.«
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Aus Das Buch der Träume: Sanft und gütig ist Rhune Fader, doch stöhnt der Wind des Krieges, trinkt Rhunes Schwert nicht weniger als andere. Herrscht Frieden im Land, wandert Rhune durch die blü henden Wiesen und singt fröhliche Weisen. Anders ist Loris Hohenger, der Heftige, dessen Farbe das roteste Rot ist! Seine Wildheit bedarf steter eiserner Be herrschung, seine Streitsucht hängt an einem seidenen Haar. Nur zu den Paladinen ist er duldsam und ihnen ist er zugeneigt, alle anderen gehen in seiner Gegenwart wie auf rohen Eiern. Seine Gelüste sind unbezähmbar, er be raubt holde Maiden ihres größten Schatzes, gewöhnlich zu ihrem Ergötzen, doch hin und wieder auch zu ihrer Qual, wie es bei der goldenhaarigen Melissa war, die ihre Jung fräulichkeit Sancta Sanctissima geweiht hatte. Zada Me mar, von wundersamer Schönheit, erregte ihn über alle Maßen, doch sie gab sich Immir hin. Und Loris war der er ste, der preisend das Schwert hob! Galoppiere weiter auf deinen tollkühnen Murst*, o Loris, weiter, immer weiter! In Pontefract angekommen, fuhr Gersen mit einem Taxi zum Taraplatz und stieg aus. Rundum, wohin er blickte, Ordnung und Rechtschaffenheit: schmale alte Häuser blasse Menschen in förmlicher Kleidung, Stiefmütterchen und Goldlack in säuberlich abge grenzten Beeten; Dunst, bedeckter Himmel, feuchter * Die Bedeutung dieses Wortes, wie die vieler anderer in Das Buch der Träume, kann nur erraten werden. Bedeutet es »Weg«? »Drang«, oder soll es eine Maßeinheit sein? Wer weiß?
Wind und die dazu passenden Gerüche – alles ruhig, friedlich, alltäglich und beruhigend... Von einer öf fentlichen Fonzelle aus rief Gersen die Sein!-Redak tion an und wurde mit Maxel Rackrose verbunden, der Gersen als Chefredakteur vertrat. Rackrose begrüßte Gersen gleichzeitig herzlich und vorsichtig. Er berichtete, daß im großen und ganzen alles in bester Ordnung war, wofür ihm zu danken sei. »Freut mich, zu hören«, sagte Gersen. »Ich sollte mich vielleicht bei meiner Sekretärin melden.« »Ihrer Sekretärin?« Rackroses Stimme klang über rascht. »Wer ist denn Ihre Sekretärin?« Gersens Herz setzte einen Schlag aus. »Alice Wroke – die Rothaarige. Ist sie denn nicht mehr bei Sein!?« »Oh, ich erinnere mich an sie«, sagte Rackrose. »O ja, natürlich. Alice Wroke, Sportmodelltyp, rothaarig. Sie ist fort.« »Fort? Wohin?« »Ich habe keine Ahnung... Ich sehe in den Akten nach... Ah, Sie haben Glück. Sie hat einen an Sie adressierten Brief hinterlassen.« »Ich bin gleich bei Ihnen.« Auf dem Umschlag stand: Für Henry Lucas persönlich. Im Brief stand: Lieber Henry Lucas, ich habe festgestellt, daß Journalismus mich doch nicht wirklich interessiert. Deshalb habe ich meine Stellung
bei SEIN! gekündigt. Ich wohne jetzt im Hotel Gladen in Port Wheary, das im Süden an der Küste liegt. Alice Wroke Gersen rief das Hotel Gladen in Port Wheary an. Miß Wroke war gegenwärtig nicht im Haus, erfuhr er, würde jedoch in etwa einer Stunde zurück sein. In einem Verleih mietete Gersen sich einen Luft wagen. Er flog an der Küste entlang südwärts über die unregelmäßige Linie, die die gischtende Bran dung an den Klippen zeichnete, dann über die St. Kildasbucht, das Kap May und Point Kittery. An Hannahs Landzunge kam er gerade vorbei als die Wega durch einen Riß in den Wolken spitzte und ihre Strahlen auf die weißgetünchten Häuser von Port Wheary jenseits der Polradbucht warf. Gersen setzte auf der öffentlichen Landeplattform auf und ging zu Fuß zum Hotel Gladen am Ufer. Am Kamin im Foyer fand er Alice Wroke. Sie drehte den Kopf, sah ihn und wollte aufstehen. Gersen rannte durch die Halle, griff nach Alices Händen und hob das Mädchen ganz auf die Füße, dann legte er die Arme um sie und küßte sie. »Hör auf, Henry!« rief Alice und lachte glücklich. »Du erdrückst mich ja!« Gersen lockerte die Umarmung. »Du brauchst mich nicht mehr Henry zu nennen. Henry ist nur für meine Postanschrift. Jetzt bin ich ich!« Alice lehnte sich zurück und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Und hat dieses Ich auch einen Na men?« »Es heißt Kirth Gersen und ist bei weitem kein sol cher Gentleman wie Henry Lucas.«
Wieder betrachtete Alice ihn. »Mir gefiel Henry Lucas, obwohl er arrogant und hassenswert war. Was ist mit du-weißt-schon-wer?« »Er lebt noch. Ich hab' dir eine Menge zu erzählen. Kannst du warten, bis ich mir ein Bad gegönnt und mich umgezogen habe?« »Ich rede mit Mrs. Gladen, daß sie dir ein Zimmer gibt. Sie sieht sehr auf Anstand, hl also bitte nichts, was sie schockieren könnte!« Gersen und Alice speisten bei Kerzenschein in einer Ecke der Veranda. »Erzähl mir jetzt von deinen Er lebnissen!« bat das Mädchen. »Ich war nicht ganz stiller Beobachter bei Howards Klassentreffen in Gladbetook auf Moudervelt. Howard spielte Streiche und ließ die Puppen tanzen. Er kritisierte die Spielart eines Musikers im Orchester. Der Musiker schoß ihm in die Kehrseite und damit endete die Feier.« »Und wo warst du?« »Ich war der Musiker.« »Oh, jetzt ist mir alles klar. Was passierte sonst noch?« »Ich kam in den Besitz von Howards Buch der Träume, das ihm vor fünfundzwanzig Jahren ab handengekommen war. Ich bin sicher, daß er es gern zurückhaben möchte.« Gersen schob das alte rote Notizbuch über den Tisch. »Das ist es.« Alice beugte sich darüber. Der Kerzenschein ließ das Rot ihres Haares wie Feuer aufflammen und warf Schatten über ihre Wangen. Gersen beobachtete sie. Hier sitze ich am Tisch der wundervollen Alice Wro ke gegenüber, dachte er.
Alice blätterte durch das Buch, überflog die Zeilen, schließlich schlug sie es wieder zu. Nach einer Weile sagte sie: »Fast immer ist er Immir. Aber ich habe auch Jeha Rais und Mewness und Spangleway ken nengelernt und hatte ein paarmal einen kurzen Blick auf Rhune Fader, der mich jedoch nicht beachtete. Ich bin glücklich, daß Loris Hohenger anderweitig be schäftigt war.« Gersen steckte das Buch wieder in die Tasche. Alice murmelte nachdenklich: »Zada Memar – was wohl aus ihr geworden ist?« »Sie war von einer fremden Welt nach Gladbetook gekommen. Während eines Schulausflugs ertrank sie im Persimmonsee.« »Die arme Zada Memar. Ich frage mich...« Gersen schüttelte den Kopf. »Ich nicht.« Alice blickte ihn erstaunt an. Ihre Augen wirkten dunkel im Kerzenlicht. »Was meinst du damit?« »Ich frage mich nicht, ich bin sicher!« In Cosmopolis erschien ein gut illustrierter Artikel mit der Überschrift: HOWARD ALAN TREESONG NIMMT TEIL AN KLASSENTREFFEN 25JÄHRIGES JUBILÄUM – EINE FEIER, DIE NIEMAND VERGESSEN WIRD! SELBST KRIMINELLE SIND EMPFINDSAM JE GRÖSSER DER VERBRECHER, DESTO GRÖSSER DIE EMPFINDLICHKEIT von unserem Korrespondenten in Gladbetook, Maunish Moudervelt, Van Kaathes Stern
(Anmerkung der Redaktion: Maunish ist eine der eintau sendfünfhundertzweiundsechzig Freistaaten der politi schen Hoheitsgebiete Moudervelts. Es ist ein von Flüssen durchzogenes Prärie-, Wald- und Farmland mit etwa einer Million Einwohner. Howard Alan Treesong wurde auf ei nem Bauernhof nahe des Städtchens Gladbetook geboren.) Vor fünfundzwanzig Jahren besuchte ein schüchterner braunhaariger Junge namens Howard Hardoah das Be zirksgymnasium in Gladbetook. Dieser Junge ist nun der berüchtigtste Verbrecher der Ökumene und auch außer halb. Er ist als einer der ominösen »Dämonenprinzen« be kannt. Sein Name ruft in den Herzen Unzähliger Schrek ken hervor, und seine Untaten sind allgemein bekannt – er nennt sich, seit er seine Heimat verließ: HOWARD ALAN TREESONG. Aber dieser Verbrecher erinnert sich sehr wohl alter Zeiten und nicht ganz ohne Nostalgie. Beim kürzlichen Treffen seiner Klasse gab er eine dramatische Vorstellung die bei seinen alten Klassenkameraden im be sten Fall gemischte Gefühle hervorrief. Dieser Abend wird unvergeßlich bleiben und muß, wenn auch nur aus diesem Grund, als großer Erfolg betrachtet werden. Zu Beginn des Abends zeigte Howard Hardoah (als der er in der Schule bekannt war) sich von seiner ge selligen Seite, ging von Tisch zu Tisch, erzählte Witze und Anekdoten, und rief, durchaus nicht immer zur Freude der Zuhörer, frühere Vorfälle ins Gedächtnis. Mit fortschreitendem Abend wurde Mr. Hardoah immer vergnügter und ausgelassener. Er spielte fröhliche Weisen auf der Geige, tanzte mehrere Gavotten, Hopser und einen Zuckerwucker. Mr. Hardoahs Ausgelassenheit fand keine Grenzen und unterhielt alle Anwesenden. Er ordnete die einfallsreichsten Schabernacke und Possen an, in Gedanken
an alte Ereignisse. Seine inzwischen etwas nervösen Klas senkameraden spielten gehorsam mit, doch waren ihnen seine Absichten nie ganz klar. Er ließ Mr. Maddo Strub bins auf einen Eisblock setzen, Mr Bloy Sadalfloury täto wieren, und arrangierte eine längere Kreuzfahrt durch die äußeren Welten für Mrs. Suby ver Ahe und ihre beiden reizenden Töchter in seiner Begleitung. Die alle in Atem haltenden Darbietungen wurden durch eine Bande Störenfriede unterbrochen, die Mr. Hardoah ins Gesäß schossen und solche Entrüstung hervorriefen, daß die Party zu einem abrupten Ende kam. Schmerzerfüllt verließ Mr. Hardoah den Planeten. Seine Verwundung wird ihn sicher einige Zeit vom Tanzen abhalten. Mr. Hardoah gab seiner Empörung lautstark Ausdruck, daß es in einer angeblich so gesitteten Gesellschaft zu so gemeiner Tätlichkeit kommen konnte. Er hofft auch das nächste Klas sentreffen zu besuchen, vorausgesetzt es findet nicht wie der ein so plötzliches Ende, denn er war mit seinen frivolen Darbietungen noch lange nicht fertig. In der nächsten Nummer von Cosmopolis stand: HOWARD ALAN TREESONG
SEINE MEMORABILIEN UND FRÜHE JUGEND
(Anmerkung der Redaktion: Ein kürzlicher Beitrag über den berüchtigten Howard Alan Treesong fand weites Echo. Wie wir annehmen, wird auch folgendes Schreiben für un sere Leser von Interesse sein.) An die Redaktion von COSMOPOLIS, ich habe Ihren Artikel über das Klassentreffen in Gladbe took mit großer Aufmerksamkeit gelesen, da mein Sohn
Nymphotis ein Schulfreund des jungen Howard Hardoahs gewesen war. Es ist seltsam, wie das Leben spielt. Die bei den Jungen waren unzertrennlich, und Nimpy, wie wir unseren Sohn nannten, lobte oft Howards Begabungen und Geschicklichkeit. Howards teuerster Besitz war ein Notiz buch, das er DAS BUCH DER TRÄUME nannte, und das er Nimpy schenkte. Unser kleiner Junge ertrank, kurz ehe wir Maunish ver ließen. Wir haben DAS BUCH DER TRÄUME noch, um uns an die alte Zeit auf der Prärie zu erinnern. Es fällt uns schwer, uns den so schüchternen und bedachtsamen Howard Hardoah als den vorzustellen, den Sie beschrieben haben. Aber in unserem Leben haben wir viel Überra schendes erfahren, mehr als andere, glaube ich, denn wir sind sehr viel herumgekommen und wissen selbst jetzt noch nicht, an welchem Ort wir uns einmal zur Ruhe set zen und auf den Tod warten werden. Wir denken oft an unseren armen kleinen Nimpy. Vielleicht hätte auch er, falls ihm ein längeres Leben beschieden gewesen wäre, es zu einer hochgestellten Persönlichkeit gebracht. Sollten Sie diesen Brief veröffentlichen, bitte ich Sie, meinen Namen und Adresse nicht anzugeben, da ich mich nicht imstande sehe, in nächster Zeit irgendwelche Zu schriften zu beantworten. Mit freundlichen Grüßen Tuty (Auf Wunsch werden Name und Adresse nicht genannt.) Ein hagerer, finster wirkender Mann unbestimmten Alters, im dezenten schwarzen Anzug nach hiesiger Mode, mit schmalen Schultern und ausgestellten Hüften, betrat die Redaktion von Cosmopolis. Er be wegte sich mit der ruhigen Geschmeidigkeit einer
Katze. Seine Augen waren dunkel, sein Gesicht schmal, mit eingefallenen Wangen. Dichtes schwarzes Haar wuchs spitz in die Stirn, wich über den Schläfen zurück und fiel über die Ohren. Er ging an den Emp fang und blickte dabei wachsam nach links und rechts, wie aus ständiger Gewohnheit. Die Ange stellte fragte: »Was können wir für Sie tun?« »Ich möchte gern mit dem Herrn sprechen, der vor ein paar Wochen über Mr. Howard Treesong schrieb.« »Oh, das ist Mr. Henry Lucas. Ich glaube, er ist in seinem Büro. Darf ich um Ihren Namen bitten?« »Schahar.« »Und worum geht es, Mr. Schahar?« »Nun, Miß, das ist etwas kompliziert. Ich würde es lieber Mr. Lucas persönlich erklären.« »Ganz wie Sie wünschen. Ich werde mich erkundi gen, ob Mr. Lucas jetzt Zeit für Sie hat.« Das Mädchen sprach ins Intercom und bekam Antwort. Sie wandte sich wieder an Schahar. »Neh men Sie doch bitte einstweilen Platz. Mr. Lucas wird in fünf Minuten für Sie frei sein.« Schahar setzte sich. Seine schwarzen Augen sahen sich unruhig um. Ein musikalischer Gong erklang. Das Mädchen sagte: »Bitte begleiten Sie mich, Mr. Schahar!« Sie führte Schahar einen Korridor entlang und ließ ihn in ein Zimmer mit blaßgrünen Wänden und la vendelfarbigem Teppich treten. Hinter einem nieren förmigen Schreibtisch saß ein modisch bleicher Herr, dessen gelangweiltes Gesicht von glänzenden schwarzen Korkenzieherlocken umrahmt war. Seine Kleidung war von vollendetem Schnitt, sein Beneh
men, ähnlich seiner Miene, gelangweilt und fast her ablassend. Mit gezierter Stimme sagte er: »Ich bin Henry Lucas. Bitte nehmen Sie Platz. Ich glaube nicht, daß ich Sie kenne. Schahar, sagten Sie, ist Ihr Name?« »Richtig, Sir.« Schahar sprach mit ruhiger neutraler Stimme. »Ich weiß, daß Sie sehr beschäftigt sind, und will Sie nicht allzuviel Ihrer Zeit berauben. Ich bin Schriftsteller, genau wie Sie, obgleich gewiß nicht so fähig und auch nicht so erfolgreich.« Gersen, der sehr wohl Schahars kräftige Schultern, die langen muskulösen Arme mit den starken Fin gern bemerkte, unterdrückte ein grimmig amüsiertes Lächeln. Von Schahar ging eine gefährliche Aus strahlung aus, man spürte geradezu seine Erfahrung im Erdolchen, Erwürgen und dergleichen Tötungs arten, im sadistischen Zufügen von Schmerzen und der Verbreitung von Terror. Schahar war beim Klas sentreffen dabei gewesen, er hatte mit dem kleinen dicken Mann an der Eingangstür gestanden. Gersen entsann sich der Monate zurückliegenden Begegnung Lamar Medranos von Wild Isle mit Emmaus Schahar in Startport auf New Concept. Sie hatte das Hotel Diomedes mit ihm verlassen und war seither nie wieder gesehen worden. »Ich bin kein Schriftsteller«, berichtigte Gersen, »ich bin Journalist. Worauf sind Sie spezialisiert?« »Allgemeines. Tatsachen und Persönlichkeiten. Ich interessiere mich seit einiger Zeit für Howard Alan Treesong und seine erstaunliche Karriere. Es ist un gemein schwierig, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen.« »Das habe auch ich festgestellt.« »Der Artikel über das Klassentreffen – haben nicht
Sie ihn geschrieben?« »Unser Lokalreporter hat uns zehn Seiten aufge regter Darstellung übermittelt, die ich so gut ich konnte straffte. Wenn Sie mehr über Treesong hören wollen, wäre es bestimmt das Beste, Sie würden Maunish besuchen.« »Das werde ich vielleicht auch tun. Was ist mit die ser Frau und ihrem Buch der Träume?« Gersen zuckte gleichgültig die Achseln. »Ich habe mich nicht sonderlich eingehend damit befaßt. Der Brief müßte irgendwo hier herumliegen. Offenbar er achtet man mich als Treesong-Experten.« Gersen öff nete eine Lade, zog ein Blatt Papier heraus und über flog es. Schahar beugte sich über den Tisch. »Ein altes Notizbuch oder dergleichen«, sagte Ger sen, »vermutlich nichts von Bedeutung.« Schahar streckte die Hand aus. »Darf ich den Brief sehen?« Gersen blickte scheinbar erstaunt hoch und schien zu zögern. Stirnrunzelnd betrachtete er das Blatt Pa pier. »Ich fürchte, nein. Die Frau möchte nicht, daß ihr Name und ihre Anschrift bekannt werden. Ich kann es ihr nicht verdenken, wo so viele Verrückte und Fanatiker frei herumlaufen.« Schahar richtete sich wieder hoch auf und lächelte dünn. »Ich würde gern alles erfahren, was Sie über dieses Thema wissen. Mein Hauptinteresse gilt Ho wards Jugend, der Zeit seiner Entwicklung, sozusa gen, da wären natürlich gerade so im Grund genom men unwichtige Dinge wie dieses Buch der Träume vielleicht recht aufschlußreich.« Schahar hielt inne, aber Gersen nickte nur gleichgültig. Schahar fuhr fort, und seine Stimme sollte nun
dringend und überzeugend klingen. »Angenommen, ich würde diese Frau für Cosmopolis interviewen, würden Sie mir dann Ihre Adresse geben?« »Ihre Bemühungen wären unrentabel, das dürfen Sie mir glauben. Viel mehr würden Sie in Gladbetook auf Moudervelt von Treesongs alten Bekannten er fahren. Das wäre doch ein fruchtbarer Ausgangs punkt für Ihre Nachforschungen.« »Ja, das ist wahrhaftig ein guter Rat, Sir.« Schahar erhob sich, blieb einen Augenblick lang stehen und schien ganz leicht nach vorn zu kippen. Auch Gersen stand auf. »Ich habe eine Verabre dung, sonst würde ich mich gern noch länger mit Ih nen unterhalten. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Er folg.« »Besten Dank, Mr. Lucas.« Schahar verließ das Bü ro. Gersen wartete kurz. Ein Gerät an der Schreibtisch seite summte fast unhörbar. Er lächelte. Er traf seine Vorkehrungen, die ihm später verraten würden, ob sich jemand an der Schublade zu schaffen gemacht hatte, und drehte den Schlüssel in dem antiken Schloß. Dann setzte er einen dreikrempigen aloysia nischen Hut auf, ging aus dem Zimmer und den Kor ridor entlang an zwei unbesetzten Büros vorbei. Hinter einer dieser Türen stand Schahar, wie der Si gnalton Gersen verraten hatte. Gemächlich spazierte er rund um den Block, ehe er in sein Büro zurückkehrte. Er stellte sich seitwärts davon und ließ die Tür aufgleiten. Keine Explosion, kein Zischen eines Geschosses. Er betrat das Zimmer. Das Schloß der Schreib tischlade schien unberührt zu sein, doch sein kleiner
Spion verriet ihm, daß sie geöffnet worden war. Schahar war offenbar sehr geschickt. Gersen zog die Schublade ein Stück heraus. Der Brief lag noch so, wie er ihn zurückgelassen hatte. Schahar hatten Na me und Adresse genügt. Gersen rief Alice an. »Genau wie vorgesehen«, sagte er. »Wer war da?« »Ein Bursche namens Schahar. Ich fahre jetzt zum Raumhafen.« »Paß auf dich auf!« sagte Alice mit tonloser Stim me. »Natürlich.« Gersen warf den Hut auf einen Stuhl, schlüpfte aus dem schmalschultrigen Anzug in den üblichen Raumfahrerdreß und verließ die C o s m o p o l i s Redaktion – zum letztenmal, vielleicht. Ein Taxi brachte ihn zum Raumhafen und zur Zu fahrt zum Fantamikflitzer. Er war gründlich gesäu bert, gewaschen, poliert, überprüft und tipptopp in standgesetzt, und auch der Proviant war bereits an Bord gebracht worden. Die Luftschleusen und Bull augen waren frei von Raumstaub, die Wassertanks frisch gefüllt worden, die Tiefkühl- und Kühlschrän ke genauso voll wie die Vorratskammer, und die Bettund Tischwäsche war ausgetauscht worden. Die Lufterneuerungs- und alle anderen Anlagen funktio nierten einwandfrei. Der Fantamikflitzer war raumbereit. Gersen stieg an Bord, schloß die Schleuse und ging in den Salon. Seine Nase nahm einen kaum merkli chen Hauch von Parfüm auf. Er blickte nach links und rechts.
Nichts Ungewöhnliches. Er schaute in die Kabine, sie war leer. Er öffnete die Tür zum Bug. »Heraus mit dir!« Alice, die mausgraue Shorts und einen schwarzen Pullover trug, kam heraus. »Da bist du also«, brummte Gersen. »Sieht wohl ganz so aus«, murmelte Alice. »Ich hatte es fast erwartet«, sagte Gersen und deu tete auf die Luftschleuse. »Hinaus mit dir!« »O nein! Ich habe beschlossen, dich nie wieder aus den Augen zu lassen.« Sie trat ganz dicht vor ihn und blickte ihm ins Gesicht. »Möchtest du mich denn nicht bei dir haben?« »Oh, du könntest dich bestimmt nützlich machen, aber es ist zu gefährlich.« »Das ist mir klar.« »Nun, ich habe keine Zeit, mich mit dir herumzu streiten. Da du schon mal hier bist...« Alice lachte erfreut. »Ich wußte, daß du es einsehen würdest.«
17
Das Licht von Corvus 892 fiel voll auf die im Raum schwebende Kugel, die das Bethune-Reservat war. Gersen legte den Fantamikflitzer an einer der Raum stationen an. Im Augenblick war kein Pilot zur Hand, so wurden sie angewiesen zu warten. Alice beschwerte sich über die Formalitäten. »Ich habe nicht die Absicht, irgendeines ihrer Tiere zu be lästigen! Das habe ich ihnen auch versichert, aber sie scheinen mir nicht zu glauben.« »Howard wird sich noch mehr ärgern. Er kann nicht einfach mit seinem Schlachtkreuzer landen und alle herumkommandieren.« »Vielleicht tarnt er sich als Tourist? Oder er wagt nicht, überhaupt zu kommen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sein kostba res Buch der Träume von Schahar holen läßt. Auf jeden Fall mußt du in Tanaquil bleiben und darfst dich nicht sehen lassen, denn wenn er dich entdeckt, sitzen wir ganz tief in der Tinte.« Alice bemühte sich um eine ergebene Miene. »Wie du befiehlst, aber du hast selbst gesagt, daß ich nicht wie Alice aussehe, wenn ich mich wie ein Junge klei de und das Haar bedeckt habe.« »Vielleicht sollten wir dir das Haar lieber scheren und die Stoppeln schwarz färben.« »Das wird nicht nötig sein. Ich sähe vielleicht ko misch aus. Du würdest mich auslachen, und ich wür de wütend, und dann ist Schluß mit unserer Roman ze.« Gersen nahm sie in die Arme. »Nein, dieses Risiko
dürfen wir natürlich nicht eingehen.« »Natürlich nicht! He, was machst du denn? Hörst du vielleicht sofort auf! Du hast mich heute schon zweimal durch das ganze Schiff gejagt!« »Es gibt nicht viel anderes zu tun. Du bist ja selbst schuld daran.« »Hast du denn nicht Angst, daß ich zusammen klappe? Nein? Na gut...« Der Pilot meldete sich schließlich und steuerte den Flitzer nach Tanaquil, obgleich Gersen ersucht hatte, daß er sie zum Flughafen vom Blauwaldlager bringen möge. »Tut mir leid«, bedauerte der Pilot. »Das ist gegen die Vorschriften.« Gersen fiel auf, daß jedes dritte Wort des Piloten »Vorschriften« war. Der Pilot fuhr fort: »So etwas dürfen wir nicht einführen, wissen Sie? Jeder würde sich nach Belieben absetzen lassen und herumwan dern und dabei Blumen pflücken und die Affen är gern. Touristen müssen sich mit Würde und Respekt benehmen. Ich persönlich würde überhaupt keine zulassen.« »Dann hätten Sie niemanden, dem Sie Ihre Vor schriften aufzwingen könnten und wären arbeitslos.« Der Pilot bedachte Gersen mit einem überlegenden Blick seiner blauen Augen. Dann kam er zur Über zeugung, daß Gersen einen Witz gemacht hatte, und lachte. »An Arbeit würde es mir persönlich bestimmt nicht mangeln. Das eine oder andere gäbe es immer zu tun. Ich bin nicht nur Flugbegleiter, wissen Sie? Ich bin vom vierten Typ, und man erachtet mich als Experte in der Pathologie des schwarzen Glieder wurms.«
»Weshalb kutschieren Sie dann hier herum, statt sich um kranke Würmer zu kümmern?« fragte Alice. »Das ist gar nicht so einfach«, antwortete der Pilot ernst. »Die Würmer verstecken sich tief im Schlamm, wo sie schwer zu fangen sind, und hat man mal einen erwischt, ist er wie zum Hohn bestimmt kerngesund. Vielleicht lege ich mir noch eine zweite Spezialisie rung zu. Inzwischen arbeite ich eben für die Gesell schaft... Wir sind angekommen. Lassen Sie alle Waf fen und mögliche Schmuggelware an Bord! Wenn Sie nun bitte aussteigen würden, damit ich die Schleusen versiegeln kann.« Alice und Gersen, jeder mit einer kleinen Reiseta sche, stiegen die Stufenrampe hinunter und wurden einer weiteren Überprüfung und Durchsuchung un terzogen, ehe sie die Besuchserlaubnis erhielten. An einer Seitentür im Raumhafengebäude stand mit großen Lettern: STAATLICHES VERKEHRSBÜRO Gersen versuchte einen Flug zum Blauwaldlager mit einem Stationsdienstflugwagen zu buchen, aber der Angestellte weigerte sich, ihn auch nur anzuhören und schob sein Geld über den Schalter zurück. »Sie müssen sich an die zuständigen Stellen wenden«, er klärte er. »Es geht hier alles auf dem Dienstweg.« »Aus reiner Neugier, wann ist der nächste Flug zum Blauwaldlager?« »Heute sind zwei Flüge, Sir, um Mittnachmittag und kurz danach, über die Links- und die Rechts route.« In einem Bus mit offenen Seiten fuhren Gersen und
Alice unter hohen Jakaranda- und verschiedenen Kernobstbäumen zur Stadt, verfolgt von hysterisch keifenden Baumlebewesen. Im Albatros-Reisebüro saß ein neuer Angestellter hinter dem Schalter: eine von ihrer Wichtigkeit über zeugte junge Frau mit dicht beisammenliegenden Augen und verkniffenem Gesicht. Sie behauptete, daß Gersens Wunsch unerfüllbar sei und versuchte ihm Karten für den Touristenflug, Route C, zu ver kaufen. Gersen ließ jedoch nicht locker. Er argumen tierte logisch, und nach zehn Minuten grimmiger Überprüfung der Verordnungen, in denen die Frau nichts finden konnte, das ihren Standpunkt bekräf tigte, stellte sie schließlich dann doch noch mißmutig zwei Flugkarten aus. Der Flughafenbus fuhr heute nicht mehr, aber es gelang Gersen, das einzige Taxi der Stadt aufzuspü ren. Es brachte sie zurück zum Raumhafen, wo sie zehn Minuten vor dem Start des ersten Fluges anka men. Zwei Stunden später landete der Flugwagen auf dem Dschungelflughafen nördlich vom Blauwaldla ger. Als die Tür sich öffnete, drang ein Schwall nach Sumpf riechender Luft ins Innere. Gersen und Alice stiegen aus. Der Flugwagen machte sich weiter auf seinen Weg nach Süden, und die beiden standen allein auf der umzäunten Dschungellichtung: »Mitten im Nirgendwo«, sagte Gersen. »Hier geht's zur Ortschaft.« Vom Gesellschaftshotel aus rief Ger sen gleich Tuty Cleadhoe im Einkaufszentrum an. »Ich bin zurück. Alles verläuft nach Plan. Haben Sie schon von, sagen wir: jemand anderem gehört?«
»Noch nichts«, antwortete Tuty heiser. »Wir kön nen es kaum erwarten. Haben Sie das Buch?« »Ich bringe es zu Ihnen nach Hause. Würde es Ih nen in einer halben Stunde passen?« Tuty machte »Tsk tsk. Wir haben unsere Bestim mungen, ich kann meine Arbeit nicht einfach nach Belieben verlassen!« Und nach kurzem Überlegen. »Aber wenn es sein muß, muß es eben sein. Mir wird schon eine Ausrede einfallen.« Gersen wandte sich an Alice. »Mrs. Cleadhoe hat ihre eigenen Ansichten, um genauer zu sein, sie ist starrköpfig und mißtrauisch.« Er begutachtete Alice kritisch. »Du solltest lieber etwas Farbloseres und Unauffälligeres anziehen.« Alice blickte an sich hinunter. Sie trug eine graue Raumfahrerhose, schwarze knöchelhohe Stiefel und ein dunkelgrünes Hemd. »Was könnte noch farbloser und unauffälliger sein als das?« »Zieh zumindest den Hut übers Haar und versuch wie ein Junge auszusehen!« »Das könnte Mrs. Cleadhoes Mißtrauen leicht noch erhöhen«, gab Alice zu bedenken. »Ich habe eigentlich mehr an Howard Treesong ge dacht«, sagte Gersen. »Wenn er rotes Haar sieht, wirst ihm du einfallen. Es wäre besser, du bliebst im Ho tel.« »Ich dachte, das hätten wir inzwischen hinter uns gebracht!« »Na schön. Halt dich im Schatten und sprich mit rauher Stimme!« »Ich werde mein Bestes tun!« Gersen holte diverse Kleinigkeiten aus seiner Rei setasche und verstaute sie an seiner Person. Alice be
obachtete ihn schweigend. Schließlich erklärte Ger sen. »Das sind alles Waffen – Giftwaffen. Nimm diese hier, aber sei vorsichtig damit!« Er gab ihr ein etwa zehn Zentimeter langes Glasrohr. »Wenn dir jemand, von dem du glaubst, etwas zu befürchten zu haben, zu nahe kommt, dann richte das Rohr auf sein Ge sicht und blas in dieses Ende! Danach mußt du so weit wie möglich zurückspringen.« Ernst steckte Alice die Röhre in die Brusttasche ih res Hemdes. Sie verließen das Hotel und gingen zu Tuty Clead hoes Haus. Tuty hatte sie schon erwartet und öffnete bei ihrem Näherkommen die Tür. Tutys grobes Gesicht wirkte bei Alices Anblick überrascht. »Wer ist das? Und was soll das?« »Das ist Alice Wroke. Sie ist meine Kollegin.« »Hmm. Nun, es geht mich nichts an. Treten Sie ein!« Das Wohnzimmer hatte sich seit Gersens letztem Besuch in einer Einzelheit verändert: Nimpys Marmol stand nicht mehr anklagend auf dem Podest. Tuty nickte grimmig. »Nimpy ist eine Zeitlang fort. Also, wo ist das Buch?« Gersen gab ihr das rote Notizbuch mit dem Titel Das Buch der Träume in fein säuberlichen Blockbuch staben. Tuty blätterte es durch. Verärgert blickte sie hoch. »Es ist ja leer!« »Natürlich. Sie hatten doch nicht gedacht, ich wür de das Risiko eingehen, das echte Buch zu verlieren? Es ist nichts weiter als ein Köder.« »Das genügt«, sagte Tuty hart. »Sie brauchen nichts weiter zu tun! Otho und ich haben unsere Pläne ge macht. Es ist nichts dem Zufall überlassen. Sie sollten
nach Tanaquil zurückkehren und warten. Wenn ge tan ist, was getan werden muß, benachrichtigen wir Sie.« Gersen lachte. »Sie mögen Ihre Pläne geschmiedet haben, aber das hat Howard auch getan, und er hat Erfahrung.« »Daran zweifeln wir nicht. Wie würden Sie es denn angehen?« »Früher oder später wird er hier auftauchen, dann töte ich ihn.« Tuty stemmte die Hände auf die breiten Hüften. »Oh, tatsächlich? Und wie wollen Sie das ohne Waffe anstellen?« »Das gleiche könnte ich Sie fragen.« »Ich habe eine Waffe, einen Modell J Projac. Damit kann man einem Thrombodaxus den Schädel zer schmettern.« »Würden Sie mir diese Waffe leihen?« »Ganz sicher nicht. Das ist gegen die Bestimmun gen hier. Es wäre auch Otho nicht recht... Wie lange werden wir auf Howard warten müssen?« »Ich weiß es nicht. Ich kam, so schnell es ging. Er dürfte bald hier sein.« Alice deutete durchs Fenster. »Er ist es schon! Se hen Sie?« Schahar kam die Straße hoch, gefolgt von einem kleinen dicken Mann mit kräftigen Schultern und ei nem fast halslosen Kopf. »Das sind zwei von Howards Leuten«, erklärte Gersen. »Glauben Sie immer noch, daß Sie mit ihnen fertig werden?« »Ganz sicher. Ah, da kommen sie. Ins Hinterzim mer mit Ihnen! Und keinen Laut, wenn ich bitten
darf!« Sie drängte sie in eine Kammer und schloß eilig die Tür. Ein Sonnenstrahl, der durch ein kleines Fen ster spitzte, fiel auf die Fotografie des jungen Nimpy in einem Silberrahmen auf einem Lesetischchen. Gersen probierte die Tür. Sie ließ sich nicht öffnen. »Diese alte Torin hat uns eingesperrt!« fluchte er zwi schen den Zähnen. Alice betrachtete das Fenster. »Ich glaube, ich könnte mich hindurchzwängen.« »Ah, die Tür ist nicht so fest. Wir können sie im Notfall aufbrechen.« »Psst! Horch!« Stimmen waren zu hören. »Sind Sie Tuty Cleadhoe?« Das war Schahar. »Und wenn? Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht.« »Mrs. Cleadhoe, ich bin der Sekretär...« »Gehen Sie ins Hotel! Ich hab' nicht gern Fremde um mich. Ich bin auch nicht allein, ich habe einen Projac gegen Eindringlinge. Gehen Sie!« »... eines hochangesehenen und prominenten Gen tlemans, der sich gern mit Ihnen unterhalten würde, und nicht zu Ihrem Schaden.« »Ein prominenter Mann? Mit seinesgleichen bin ich nicht bekannt. Wie heißt er? Und wenn er sich mit mir unterhalten möchte, warum kommt er dann nicht selbst her, statt Sie zu schicken?« »Genau wie Sie, Mrs. Cleadhoe, hat er nicht gern mit Fremden zu tun. Außerdem ist er ein wenig ner vös und schüchtern. Waffen erschrecken ihn, also bitte...« »Hinweg mit Ihnen und Ihren Beleidigungen! Und beeilen Sie sich, ehe ich nervös werde und versehent lich Ihre Beine verkrüpple. Ich bin alt und allein, aber
ich lasse mich nicht von kahlköpfigen Touristen är gern!« »Verzeihen Sie, Mrs. Cleadhoe, aber ich wollte Sie bestimmt nicht kränken. Und bitte wackeln Sie nicht so mit Ihrem Projac herum. Eine Frage, wenn Sie ge statten: sind Sie die Tuty C., die vor kurzem an das Journal Cosmopolis geschrieben hat?« »Na und? Warum sollte ich nicht schreiben was und an wen ich will? Ich hab' doch nichts Schlimmes getan.« »Durchaus nicht. Im Gegenteil, es wird sich als Se gen für Sie erweisen. Das werden Sie sehen, sobald Sie ihre Waffe weglegen und sich ein wenig entspan nen, denn dann werde ich meinem Chef sagen kön nen, daß er unbesorgt eintreten kann.« »Ha, und dann wären es zwei gegen einen! Daß ich nicht lache! Schicken Sie diesen angesehenen schüchternen Herrn herein, aber dafür will ich Sie nicht mehr sehen! Die Waffe? Ich werde sie zur Seite legen, bis ich sie brauche.« »Sie werden feststellen, daß dafür kein Anlaß ist, Mrs. Cleadhoe, sondern daß Sie im Gegenteil jeden Grund haben werden, sich zu freuen.« »Ich kann mir nicht vorstellen wie und warum.« Von Schahar kam keine Antwort. Offenbar hatte er das Wohnzimmer schon verlassen. Gersen drückte die Schulter an die Tür, die daraufhin krächzte und knarrte. Sofort antwortete ein heftiges Klopfen. »Halten Sie sich ruhig! Mischen Sie sich nicht in unse re Pläne ein. Und jetzt kein Laut mehr! Jemand ist an der Tür!« Gersen murmelte etwas Unverständliches. »Psst!« mahnte Alice. »Horch! Ich glaube, es ist Howard.«
Sie hörten, wie die Haustür sich öffnete, und dann Tutys Stimme. »Mein Herr, wer sind Sie?« »Aber Mrs. Cleadhoe, erkennen Sie mich denn nicht mehr?« »Nein. Warum sollte ich? Was wollen Sie?« »Darf ich Ihnen einen kleinen Tip geben? Sie schrieben an ein Journal über vergangene Tage in Gladbetook und einen bestimmten Freund Ihres Nymphotis.« »Sie sind doch nicht etwa gar Howard Hardoah? Doch ja, jetzt erkenne ich die Ähnlichkeit. Wie Sie sich herausgemacht haben! Als Junge waren Sie so schmächtig! Na so was! Ich muß Otho anrufen! Wie schade, daß er nicht hier ist!« In der Kammer biß Gersen frustriert die Zähne zu sammen und legte die Hand auf die Klinke. Alice zog ihn zurück. »Mach keine Dummheiten! Tuty würde ohne Zögern auf dich schießen! Sie weiß genau, was sie will.« »Ich auch. Aber das ist es nicht!« »Psst! Sei vernünftig!« Gersen drückte ein Ohr an die Tür. »... erstaunlich, wie die Zeit vergeht! Es scheint mir eine Ewigkeit her zu sein! Aber wie Sie sich verändert haben! Wie gut Sie aussehen! Und wie vornehm Sie geworden sind! Treten Sie doch bitte ein, dann trin ken wir ein Schlückchen miteinander... Ich hätte ein feines Obstwässerchen – oder möchten Sie lieber eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen?« »Wie freundlich von Ihnen, Mrs. Cleadhoe. Ein Schluck Obstwässerchen wäre mir sehr recht... Halt, das ist mehr als genug!« »Greifen Sie doch bitte zu, die Törtchen habe ich
selbst gebacken. Ich kann mir weder vorstellen, wie Sie mich hier gefunden haben, noch was ich Ihrem Besuch verdanke... Aber natürlich! Mein Brief an das Magazin!« »Genau! Es frischte alte Erinnerungen auf, rief mir vieles ins Gedächtnis, das ich schon lange vergessen hatte. Wie das Notizbuch, das Sie erwähnten.« »O ja! Das komische kleine rote Buch! Was Sie doch für ein phantasiebegabter Junge waren, so voller Träume und Zauber. Das Buch der Träume, so nannten Sie Ihre Phantastereien!« »Stimmt. Ich erinnere mich wieder ganz genau. Ich kann es kaum erwarten, es nach so langer Zeit durch zublättern.« »Und das dürfen Sie auch. Ich werde es gleich her vorsuchen, aber erst müssen Sie mir beim Abendes sen Gesellschaft leisten. Ich wollte mir gerade einen Eintopf nach Gladbetooker Art zubereiten und dazu eine Schale Lessamie. Das heißt, wenn Ihnen so was auch jetzt noch schmeckt.« »Schmecken würde es mir sogar sehr, aber ich habe leider Schwierigkeiten mit meinem Magen und muß strenge Diät halten. Doch lassen Sie sich von mir bitte nicht stören! Kochen Sie Ihr Abendessen, inzwischen lese ich ein bißchen in meinem alten roten Buch!« »Lassen Sie mich überlegen, wo ich es hingeräumt habe... Ach ja, ich erinnere mich. Es ist im Lager, wo Otho arbeitet. Er muß ständig Überstunden machen, es ist eine Schande! Aber es gibt so wenige wirklich tüchtige Facharbeiter heutzutage, daß man ihn Tag und Nacht einspannt. Er wird sich ja so freuen, Sie wiederzusehen. Sie bleiben doch die Woche über hier als mein Gast, bis er aus dem Dschungel zurück
kommt? Er würde es mir nie verzeihen, wenn ich Sie fortließe, ohne daß er sie gesehen hat.« »Eine Woche? Oh, Mrs. Cleadhoe, soviel Zeit habe ich leider nicht.« »Eine Woche vergeht schnell. Wir haben ein hüb sches Gästezimmer, und es wird Ihnen bestimmt nicht schaden, wenn Sie sich ein bißchen ausruhen. Dann werden Sie meinen Mann wiedersehen, und ich sag' ihm, er soll Ihr Buch mit heimbringen, wenn er kommt. Wir können uns inzwischen über alte Zeiten unterhalten.« »Wie gern ich das täte, Mrs. Cleadhoe, aber ich kann bedauerlicherweise wirklich nicht so lange blei ben. Mr. Cleadhoe möchte ich allerdings recht gern sehen. Wo ist denn dieses Lager?« »Eine gute Stunde von hier mit dem Schienenwa gen durch den Dschungel. Touristen dürfen natürlich nicht einmal in die Nähe.« »O wirklich? Warum denn nicht?« »Sie stören die Tiere oder füttern sie mit irgend et was, das sie nicht vertragen. Einige dieser Tiere sind unter Beobachtung und werden experimentell gefüt tert. Auch das gehört zum Job meines Mannes.« »Wie schade, daß er nicht heute abend nach Hause kommen kann. Könnten Sie ihn nicht anrufen?« »Anrufen schon, aber weg kann er nicht. Außer dem gäbe es heute gar keine Verbindung mehr.« »Wieso?« »Nachmittags fährt immer ein Zug mit Futter für kranke Tiere zum Lager, aber er kehrt erst am näch sten Morgen zurück. Das ist Routine, die sich nicht ändern läßt. Manchmal fahre ich ihn hinaus und bleib über Nacht, wenn der reguläre Lokomotivführer mal
eine Nacht für sich haben möchte. Er ersetzt mir im mer den Lohn, den ich dadurch im Einkaufszentrum verliere.« Es setzte eine kurze Pause ein, dann erklang Tree songs Stimme leicht und scheinbar gleichmütig: »Wie wär's, wenn Sie uns heute nacht hinausfahren wür den? Das wäre ein wunderbares Erlebnis für uns. Natürlich würde ich Ihnen den Ausfall und die Un kosten ersetzen.« »Wen meinen Sie denn mit ›uns‹?« »Sie, ich, Umps und Schahar. Wir würden alle gern das Lager sehen.« »Das müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen. Im Lager sind keine Touristen erlaubt. Eventuell könnte sich eine Person neben dem Lokomotivführer in der Lokomotive verstecken, aber nie drei.« »Könnten sie nicht in einem anderen Wagen mit fahren?« »Beim Saufutter und den lebenden Mäusen? Das würde Ihren Freunden bestimmt nicht gefallen. Und was glauben Sie, was passiert, wenn sie erwischt würden!« Wieder setzte eine kurze Pause ein, dann sagte Treesong: »Würden fünfzig SVE für Ihren Ausfall im Einkaufzentrum reichen?« »Natürlich. Sie bezahlen uns dort schon nicht zu viel, das ist traurig aber wahr. Doch wir haben keinen Grund, uns zu beklagen. Unser Häuschen ist hypo thekenfrei, und ich bekomme für meine Einkäufe im Zentrum einen schönen Rabatt. Schauen Sie doch morgen mal herein. Wenn Ihnen was gefällt, kann ich es unter dem ausgezeichneten Preis für Sie besorgen. Sind Sie sicher, daß Ihnen die Fahrt zum Lager ohne
Ihre Freunde überhaupt Spaß machen würde? Viel leicht sollten Sie doch lieber die Woche hierbleiben, bis Otho zurückkommt.« »Wirklich, Mrs. Cleadhoe, ich habe dringende Termine. Hier sind fünfzig SVE, fahren wir gleich noch heute.« »Viel Zeit, es zu arrangieren, bleibt mir da aber nicht. Ich muß da anrufen und dort, wie eine Wilde. Und vielleicht wäre es ganz gut, wenn ich auch Jo seph etwas geben würde, damit es ihm leichter fällt, von seiner Routine abzuweichen. Joseph ist der ei gentliche Lokomotivführer. Ich meine nur, es wäre vielleicht besser, damit er seinen Mund hält. Könnten Sie eventuell noch zwanzig SVE entbehren?« »Ich glaube schon.« »Das müßte wohl reichen. Also, dann bringen Sie Ihre Freunde ins Hotel zurück und treffen mich mit einer Zahnbürste und den paar Kleinigkeiten, die Sie für über Nacht brauchen, am Bahnhof – er ist etwa hundert Meter von hier direkt an der Straße – und warten Sie unauffällig, bis ich Ihnen zuwinke, denn es könnte ja sein, daß Inspektor Kennifer sich dort ir gendwo herumtreibt... O ja, dann muß ich auch noch meinen Mann anrufen und ihm sagen, daß wir kom men, und daß er im Gästezimmer ein bißchen lüften soll. Wenn Sie am Dschungel interessiert sind, den haben Sie dort direkt. Vielleicht sehen wir heute abend noch einen Luzifer oder einen Skorposaurier. Also, beeilen Sie sich. In einer halben Stunde sehen wir uns am Bahnhof.« Das Öffnen und Schließen der Haustür war zu ver nehmen, dann Tutys sich nähernder Schritt. »Sie, da drinnen, haben Sie zugehört?«
Gersen warf sich mit einer Schulter gegen die Tür. Sie sprang auf. Tuty Cleadhoe hielt den Projac mit beiden Händen, und stand breitbeinig mit einem schiefen Grinsen vor der Tür. »Bleiben Sie, wo Sie sind! Noch eine Bewegung und ich erschieße Sie! Ihr Wohl und Wehe interessiert mich nicht. Also, halten Sie sich zurück!« Kopfschüttelnd sagte Gersen: »Ich dachte, wir seien in dieser Sache Partner.« »Das sind wir auch. Sie haben Howard hierherge bracht, und ich schaffe ihn zu meinem Mann, dann sehen wir weiter. Setzen Sie sich dort drüben hin, während ich meine Vorbereitungen treffe.« Sie deu tete mit der Waffe auf eine Couch. Alice zog den wi derstrebenden Gersen mit sich, und beide setzten sich. Tuty nickte und ging zum Fon. Sie machte mehrere Anrufe, dann wandte sie sich Gersen und Alice zu. »Nun zu Ihnen...« »Mrs. Cleadhoe, hören Sie mir zu! Unterschätzen Sie Howard Treesong nicht. Er ist gerissen und auch gefährlich!« Tuty schwang verächtlich den Arm. »Pah! Ich kannte ihn gut. Er war ein eingebildeter Schwächling der kleine Mädchen und Jungen schikanierte und schließlich meinen Nimpy umbrachte. Er hat sich nicht geändert. Mein Mann und ich, ha ha, sind über glücklich, daß er hier ist. So und jetzt hoch – und denken Sie daran, daß Sie mir völlig egal sind.« Mit der Waffe dirigierte sie sie in die Küche und öffnete eine Tür. »Marsch, in den Keller mit Ihnen!« Alice faßte nach Gersens Arm und zog ihn durch die Tür und die steile Treppe hinunter in einen Raum
mit Betonwänden, in dem es nach Moder, altem Pa pier und undefinierbarem anderen roch. Die Tür wurde zugeschlagen, der Riegel vorge schoben. Gersen und Alice blieben im Dunkeln zu rück. Gersen schlich die Treppe hoch, um an der Tür zu lauschen. Tuty hatte sich offenbar nicht von der Stelle gerührt. Er malte sich aus, wie sie mit dem Projac schußbereit die Tür beobachtete. Eine Minute verging dann knarrte der Holzboden, als Tuty sich entfernte. Gersen tastete an den Wänden neben der Tür nach einem Lichtschalter herum, entdeckte jedoch keinen. Er drückte gegen die Tür. Sie ächzte ganz leicht, hielt aber dem nur leichten Druck, den er in seiner unsi cheren Haltung ausüben konnte, ohne weiteres stand. Gersen tastete weiter in der Finsternis herum. Über seinem Kopf waren Deckenbalken, weiter nichts. Er stieg die Stufen wieder hinunter. Alices Stimme klang gedämpft durch die Dunkelheit. »Es gibt offenbar nicht sehr viel hier unten – keine Türen, nur Kisten und Körbe mit altem Kram.« »Ich brauche ein festes Brett. Sind denn keine Re gale hier?« »Nichts als die Kisten, Schachteln, Körbe und alte Teppiche.« Gersen durchstöberte die Kisten. »Werfen wir das Zeug heraus und stapeln wir die Kisten auf, damit ich den Rücken gegen die Tür lehnen und die Beine ge gen die Balken stemmen kann...« Zehn Minuten später kletterte er den wackligen Aufbau hoch. »Geh vorsichtshalber aus dem Weg!« riet er Alice. »Es könnte leicht alles zusammenkra chen...« Er legte sich zurück, drückte die Schultern an
die Tür und fand mit den hochtastenden Füßen einen Deckenbalken. Er streckte die Beine aus und stemmte. Die Tür sprang auf, und er fiel rückwärts in Tuty Cleadhoes Küche. Eilig sprang er auf und half Alice die schmalen Stu fen herauf, dann suchte er in den Schubläden nach etwas Brauchbarem und fand zwei große Küchen und ein schweres Hackmesser. Alice hatte eine Leinentasche entdeckt. »Gib das Zeug hier herein!« riet sie ihm. »Ich werde es tragen.« Sie gingen zur Haustür und blickten die Straße entlang. Als sie niemanden sahen, traten sie hinaus in den schwülen Nachmittag. Im Schatten der Bäume machten sie sich auf den Weg zum Bahnhof: ein paar heruntergekommene Bauten, etwa hundert Meter voraus. »Tuty wird wütend sein, wenn etwas schiefgeht«, sagte Alice. »Sie ist eine hitzköpfige Frau.« »Eine heimtückische alte Hexe ist sie«, knurrte Ger sen. »Vorsicht, jetzt! Wir wollen schließlich nicht ge sehen werden.« Ein penetranter, fremdartiger Gestank schlug ihnen entgegen. Sie spähten durch das dichte Laubwerk und sahen, woher er kam. Neben einem hohen Silo stand ein korpulenter weißhaariger Mann und über wachte gelassen den Fluß einer grau-rosa breiartigen Masse vom Silo in einen tankartigen Güterwagen. Er drückte auf einen Hebel und der Zustrom endete. Ei ne kleine Lokomotive fuhr rückwärts an den Wagen heran und koppelte ihn an. Tuty bediente die Hebel in der Lokomotive. Der Mann am Silo winkte ihr zu, dann drehte er sich um und ging in eine Werkstatt. Tuty fuhr nun
vorwärts und nahm den Wagen mit. Howard Tree song sprang zur Lokomotive hoch und war nicht mehr zu sehen. Hinter einem Busch tauchten zwei Männer auf: Schahar und Umps. Sie rannten dem Tankwagen nach und schwangen sich auf die schmale hintere Plattform. Der Zug bog um eine Kurve und kam außer Sicht. Gersen betrat die Werkstatt. Der korpulente Weiß haarige blickte auf und erklärte mit einem heftigen Daumenzucken: »Mein Herr, das Betreten ist für Un befugte nicht gestattet!« »Ich bin nicht unbefugt«, versicherte ihm Gersen. »Ich bin ein guter Freund der Cleadhoes.« »Sie haben Mrs. Cleadhoe um wenige Minuten ver fehlt. Sie bringt mit ihrem Neffen das Futter zum La ger.« »Es war abgemacht, daß wir mitkommen, doch of fenbar hat sie durch unsere Säumnis nicht mehr mit uns gerechnet. Gibt es noch eine zweite Lokomotive, mit der wir ihr folgen könnten?« Joseph deutete auf eine rostige alte Maschine, ein gebeult und verbogen, die ohne Räder aufgebockt war. »Da ist die alte Nummer siebzehn, die darauf wartet, daß sie repariert wird. Wenn das nötige Geld dafür da ist und meine Zeit es erlaubt, werde ich sie wieder instand setzen.« »Wie weit ist es denn bis zum Lager?« »Etwa hundert Schienenkilometer, Luftlinie weni ger, aber Flugwagen gibt es keine im Ort. Sie sind verständlicherweise aus ökologischen Gründen ver boten und weil sie die Tiere erschrecken.« »Hundert Kilometer, zehn Stunden, wenn man tüchtig läuft.«
»Ho ho!« lachte Joseph. »Viel weiter als einen Ki lometer würden Sie nicht kommen, ehe ein Auge aus dem Schlamm spritzt, dem gleich darauf ein Fangarm von zwanzig Metern Länge folgt, der in Greifklauen endet – und schon würden Sie durch die Luft schwingen und schließlich im Schlamm verschwin den. Wer weiß, was dann mit Ihnen passierte? Es ist bisher noch keiner zurückgekommen.« Alice deutete an der Werkstatt vorbei. »Was ist denn das?« »Der Streckenwagen des Inspektors. Er kann zwar keine Fracht schleppen, aber auf flachem Gelände saust er ganz schön dahin.« Gersen ging darauf zu und betrachtete ihn einge hend. Es war eine Plattform auf vier Rädern mit ei nem Doppelsitz unter einer Plastikkuppel, die mit den Überresten zerquetschter Insekten über und über beschmutzt war. Die Bedienung war einfach, es gab nur zwei Hebel, zwei Schalter und einen Anzeiger. »Er ist keine Schönheit«, sagte Joseph mit beschei denem Stolz, »aber zuverlässig. Ich habe ihn selbst zusammengebastelt.« Gersen holte einen höheren Schein aus der Tasche und drückte ihn Joseph in die Hand. »Ich würde den Wagen gern benutzen. Mr. Cleadhoe wartet zweifel los auf uns. Ist der Wagen betriebsbereit?« Joseph begutachtete die Banknote. »Unsere Ver ordnungen...« »Sie bekommen weitere zwanzig SVE, wenn wir morgen zurückkehren. Die Cleadhoes würden es sehr bedauern, wenn sie uns nicht sähen – ist das nicht wichtiger als Verordnungen?« »Sie arbeiten ja nicht für die Gesellschaft! Für sie
gibt es nichts Wichtigeres als Verordnungen.« »Aber für alle anderen bestimmt Leben und Geld.« »Da haben Sie recht. Nun, ich verbiete Ihnen jeden falls, den Wagen zu benutzen! Der schwarze Hebel ist für die Geschwindigkeitsregulierung der rote die Bremse. Die Schalter gehören zum Weichenstellen. Die erste Abzweigung links führt nordwärts zur Be obachtungsstation im Salmisumpf. Die zweite rechts zu den Aufzuchtsuhlen der roten Affen; die dritte durch die Weiden und zurück um das Lager herum. Also rechts, links, dann entweder oder. Ich gehe jetzt heim und werde mich nicht umdrehen. Aber denken Sie daran, daß ich Ihnen die Benutzung nicht gestattet und Sie gewarnt habe, das Bahnhofsgelände zu ver lassen!« Joseph drehte sich um und marschierte davon. Gersen kletterte auf den Streckenwagen, schnell sprang Alice zu ihm hoch. Gersen zog den Hebel, der Wagen rollte aus dem Bahnhof und in den Dschun gel.
18
Aus Life, Band 2, von Unspiek, Baron Bodissey: Das Wort »Intelligenz« bedarf der genauesten Definition, da es oft und leicht mißbraucht wird. Intelligenz ist dem gaeanischen Menschen zugeschrieben, der sich die Umwelt anpaßt, oder allgemeiner gesagt: der fähig ist, Probleme zu lösen. Daraus ergeben sich mehrere Folgerungen. Eine da von: wo es keine Probleme gibt, läßt sich auch die Intelli genz nicht messen. Ein Geschöpf mit großem komplexen Gehirn muß nicht unbedingt intelligent sein. Rohe abstrak te Intelligenz ist bedeutungslos. Zweitens, Intelligenz ist ein dem gaeanischen Menschen eigenes Attribut. Bestimm te Fremdrassen benutzen verschiedene Mechanismen und Vorgänge, um ihre Umwelt zu verändern. Durch dieses Wirken beweisen sie menschenähnliche Intelligenz. Den Erfolgen nach zu schließen, scheinen die wesentlichen Or gane vergleichbaren Zwecken zu dienen. Diese Ähnlichkei ten sind fast immer täuschend und können nur als ober flächlich erachtet werden. In Ermangelung eines präziseren und universalen Ausdrucks ist die Versuchung, das Wort »Intelligenz« unrichtig zu benutzen, fast unwiderstehlich, es ist jedoch nur entschuldbar, wenn es in Anführungszei chen gesetzt wird, wie ich in meiner Monographie (Sie fin den Sie im Anhang zu Band 8 meiner keineswegs abge schlossenen Studie). Ernsthaft an dieser Materie Interes sierten ist diese Monographie zu empfehlen. Ihr Titel: EIN VERGLEICH MATHEMATISCHER VERFAHREN DER SECHS »INTELLIGENTEN« FREMDRASSEN. Der Streckenwagen war geschickt aus allem möglichen
zusammengebastelt. Der rechte Tragbalken war ein Wolframfaserrohr, und der linke war aus Dschungel hartholz. Eine Platte aus Magnesiumhexaschaum trug die Sitze – ursprünglich ein Sofa mit orange-blauer Polsterung. Die kuppelförmige Windschutzscheibe war einmal ein Dachfenster gewesen. Die Räder wa ren normale Gebrauchsräder, wie sie für Schubkar ren, Leiterwagen und dergleichen verwendet wur den, nur waren sie innen noch mit Flanschen verse hen worden. Aber der Wagen fuhr zuverlässig und schnell lag das Blauwaldlager hinter Gersen und Alice. Die ersten paar Kilometer verliefen die Schienen unter Blütentunnel in zahllosen Farben, durch das die Nachmittagssonne sickerte. Hängende Wedel, die an ihrer Spitze stumpfschwarz waren, strahlten ein ru binrotes Leuchten aus, andere Wedel und Blätter glänzten in abgestumpften Blau-, Grün- und Gelbtö nen. Schwarz-weiße Hohlstengel wiegten sich und trugen ihre runden schwarzen Blätter von Seite zu Seite und gestatteten so dem Sonnenschein immer wieder Einlaß. Wo das Blütendach weiter offen stand, flatterten Schmetterlinge mit vielschichtigen Schleier flügeln in Schwarz, Rot und Zitronengelb von Zweig zu Zweig. Andere geflügelte Geschöpfe von ver schwommenem Gold schwirrten umher. Der Dschungel lichtete sich. Das Gleis führte durch Lichtungen und Wiesen mit Teichen, in denen Was serbullen hausten: kräftige gefleckte Kreaturen mit Hörnern und Schaufelschnauzen, mit denen sie ihre Tümpel vergrößerten. Eine Brücke mit Betonpfosten und Holzbalken trug die Schienen über eine Reihe von Sümpfen, auf denen Blasen blaßblauen Schaumes blubberten oder auf denen grellorange Stiele mit run
den Sporenkapseln einen dichten Teppich bildeten. Am Ende dieses Sumpfgebiets stieg das Terrain leicht an und wurde zur Savanne. Nager mit Rückenschilden, Hörnern und Stacheln grasten in Herden von jeweils zwanzig oder dreißig, und manche wurden von drei Meter großen Baltaffen gehütet. Geschmeidige schwarze Printhenen schli chen auf Spreizbeinen durch die Weiden. Sie waren gefräßige, schlaue Raubtiere von bemerkenswerter Wildheit, trotzdem gingen sie den abscheulich stin kenden Baltaffen aus dem Weg. Das Gleis führte einen Schräghang hoch und dann durch eine Ebene mit dickem schwarzen und grünen Gras und Gruppen von Dornbäumen. Kleinere Rudel langbeiniger Wiederkäuer grasten mit wachsam ge spitzten Ohren, um rechtzeitig vor Printhenen und Meuten von Nichtsnutzen – gierige, jaulende Kreatu ren, halb Hund, halb Echse – die Flucht zu ergreifen. Dutzende verschiedene Arten von Wiederkäuern streiften auf der Savanne herum, die größte ein ge panzertes Ungeheuer, sechs Meter lang mit zwölf kurzen Beinen. In dunstiger Entfernung blickten zwei affenähnliche Saurier, zehn Meter groß, mit gespen stisch intelligent wirkendem Ausdruck in die Weite. Etwa einen Kilometer im Süden rannte eine Schar vo gelähnlicher Zweibeiner, gut vier Meter hoch, mit scharlachrotem Kamm und grellblauem Schwanz hinter einem verstörten Riesentausendfüßler her und zerstückelten ihn mit ihren Schnäbeln und Krallen. Das Gleis führte gerade durch die Ebene und tauchte in Abständen von einem dreiviertel Kilometer unter Wildwechselüberleitungen hindurch. Der elek trische Zaun wurde hier durch einen zweiten, fünf
zehn Meter links und rechts des Gleises, verstärkt. Die Sonne stand tief am Himmel und verlieh der Landschaft mit ihrem jetzt gedämpften Schein einen Eindruck der Unwirklichkeit, so daß die Tiere nun nicht mehr als schreckliche Realität erschienen, son dern eher die Geschäfte eines phantastischen, wenn auch makaberen Zoos zu sein schienen. So weit der Blick reichte, war das Gleis voraus leer. Der Futterzug hatte einen größeren Vorsprung. Ger sen zog den Hebel ganz herunter. Der Wagen schoß nun voran und wackelte und hüpfte bei jeder Un ebenheit des Gleises. Widerwillig zog Gersen den Hebel ein Stück zurück. »Ich möchte nicht unbedingt, daß wir entgleisen«, sagte er. »Der Wagen ist zu schwer, als daß wir ihn ohne Hilfe wieder aufrichten könnten, und zu Fuß ist es noch zu weit.« Kilometer um Kilometer blieb zurück, noch immer war nichts vom Futtertransport zu sehen. Rechts und links breitete sich die Savanne aus. Vier doppelköpfi ge Äser beobachteten sie mit ihren aus dem Kamm des Buckels wachsenden Sensoren. Eineinhalb Kilometer weiter tauchte das Gleis in dunklen Wald. Am Rand des Schattens glitzerte die Sonne kurz auf dem Gehäuse der Lokomotive. »Wir holen auf«, murmelte Gersen. »Und was tun wir, wenn wir sie eingeholt haben?« fragte Alice. »Ich habe nicht die Absicht sie einzuholen«, versi cherte ihr Gersen und schätzte die Entfernung ab. »Wir sind nur wenige Minuten hinter ihnen, trotz dem möchte ich noch ein bißchen näher an sie heran. Howard wird keinen triftigen Grund angeben kön nen, weshalb er Schahar und Umps doch mitgebracht
hat. Und wenn er sich nicht ganz geschickt herausre den kann, gibt es vielleicht gleich Schwierigkeiten.« Am Rand des Waldes verlief das Gleis in Schlan genlinien, um größeren Felsblöcken auszuweichen. Gersen bremste ein wenig ab und beschleunigte wie der, als das Gleis leer vor ihnen lag. Ein Mast mit einem weißen Dreiecksignal kündigte eine Gabelung an. Das linke Gleis führte nordwärts, das andere, für das die Weichen gestellt waren – wor aus hervorging, daß der Futterzug es genommen hatte – weiter in östlicher Richtung. Eineinhalb Kilometer später führte eine weitere Abbiegung nach Süden. Wie zuvor war der Futterzug ostwärts weitergefahren. Gersens Wachsamkeit er höhte sich. Der Futterzug konnte nun nicht mehr weit voraus sein. Wie bisher beschleunigte er auf geraden Strecken und bremste an unübersichtlichen ab. Ein zweiter Signalmast mit weißem Dreieck erhob sich voraus. »Die dritte Abzweigung«, sagte Alice. »Das Lager ist rechts, der Futterplatz links.« Gersen hielt den Wagen an. »Der Futterwagen hat die linke Abzweigung genommen, die Weiche ist noch eingestellt. Wir folgen ihm besser.« Etwa einen dreiviertel Kilometer führte das Gleis durch einen Wald. Lücken im Laubwerk offenbarten eine weite Savanne, die sich ostwärts erstreckte. Das Gleis beschrieb einen Bogen nach Osten und verlief schräg abwärts zur Savanne. Alice deutete. »Dort ist der Futterzug!« Wieder hielt Gersen den Wagen an. Der Zug fuhr zu einer Entlademaschinerie in ein Gebiet, das nicht durch einen elektrischen Schutzzaun gesichert war. Tuty hielt die Lokomotive an, koppelte den Tankwa
gen ab und fuhr weiter. Ein Ventil am Boden des Futterwagens öffnete sich und der Brei floß in einen gewaltigen Trog. Schahar und Umps auf der Plattform richteten sich auf und starrten der verschwindenden Lokomotive entgeistert nach. Dann drehten sie sich den Tieren zu, die sich von allen Richtungen dem Trog näherten. Ein sieben Meter großer Baltaffe mit einem Kopf wie eine Mischung aus dem eines Bären und eines In sekts stapfte mit leicht wiegendem Gang näher. Scha har und Umps sprangen auf den Boden und rannten zu einem Baum. Der Affe packte Umps an einem Bein und hob ihn in die Luft. Verzweifelt stieß Umps mit dem anderen Bein um sich und schlug auf den kur zen Rüssel des Affen. Erbost schleuderte der Affe Umps auf den Boden, hüpfte auf ihm herum und hieb mit den Fäusten auf ihn ein. Dann drehte er sich um und starrte Schahar an, der sich auf den untersten Ast des Baumes geschwungen hatte. Dort allerdings lenkte er die Aufmerksamkeit eines spinnenartigen Reptils auf sich, das in den oberen Zweigen hauste. Es schnellte einen langen grauen Arm nach ihm. Schahar brüllte entsetzt auf. Er zog sein Messer und hackte nach dem grauen Arm. Als das Spinnenreptil mit akrobatischen Sprüngen herunterkam, hüpfte Schahar auf den Boden und rannte davon, um dem Baltaffen zu entkommen, der nun am Tentakel des Spinnenreptils zog. Das Spinnenreptil sprang vom Baum, wand sich um den Kopf des Baltaffen, holte mit dem Stachel aus und stieß ihn ihm in den Schä del. Der Baltaffe schrie gellend vor Schmerzen und zerrte mit den gewaltigen Armen an den Tentakeln. Sie wickelten sich noch fester um ihn, und erneut
stieß der Stachel zu. Der Affe schmetterte das Spin nenreptil gegen den Baumstamm, immer und immer wieder, bis es zur breiigen Masse zerquetscht war, und nun gelang es ihm endlich, sich aus den wür genden Tentakeln zu lösen. Der Affe taumelte davon, bis er krampfhaft zu zucken anfing und zusammen sackte. Eine Meute Aasfresser, von den Schreien an gelockt, lief herbei. Sie sahen Schahar und umzingel ten ihn brüllend, hüpfend, beißend. Schließlich war fen sie ihn zu Boden, und er verschwand unter einer wirren Masse von Leibern. Alice war ihrer Stimme kaum noch mächtig, als sie fragte: »Glaubst du, Tuty wußte, daß die beiden auf der Plattform mitfuhren?« »Ich möchte lieber nicht darüber nachdenken.« Der Zug mit Tuty und Howard Treesong war auf der gegenüberliegenden Seite der Grasfläche in den Dschungel getaucht. Der Futterwagen blockierte jetzt das Gleis. »Wir müssen zur Gabelung zurück«, sagte Gersen. Er versuchte die Hebel und Schalter. »Wo ist nur der Rückwärtsgang«, brummte er. Er suchte vergebens danach. Er sprang vom Wagen und plagte sich, die Hinterräder hochzustemmen, aber der Ballast hielt sie auf dem Gleis fest. Dann ver suchte er ihn zurückzuschieben, aber die Neigung des Hangs war dafür zu steil. »Das ist absurd«, knurrte Gersen. »Es muß doch ei ne Möglichkeit geben, rückwärts zu fahren... Wenn ich einen entwurzelten Stamm hätte, könnte ich den Wagen vom Gleis stemmen, aber ich habe Angst, in den Wald zu gehen.« »Es wird dunkel«, sagte Alice. »Die Sonne geht unter.«
Gersen trat an den Rand des Gleisbetts und schaute in den Wald, links, rechts, hinauf und hinunter. »Ich sehe nichts... Also dann werde ich es wohl wagen müssen.« »Warte!« Alice hielt ihn zurück. »Wozu gehört denn das Dingsda hier?« Gersen kehrte zum Wagen zurück. In der Mitte der Plattform drehte eine Kurbel ein Schneckengewinde. »Du bist ein kluges Mädchen, Alice«, lobte er. »Das ist ein Wagenheber, mit dem wir die Plattform so weit heben können, daß sie sich umdrehen läßt.« Bescheiden murmelte Alice: »Ich hatte mir schon gedacht, daß ich eine Hilfe oder sogar unentbehrlich sein würde.« Fünf Minuten später kehrten sie die letzte Strecke zurück bis zur Gabelung, wo sie ostwärts abbogen und nun mit Höchstgeschwindigkeit durch die Dämmerung brausten. Einen Kilometer, zwei Kilo meter, fünf Kilometer... Der Wald machte abrupt schlammigem Moor Platz. Voraus spiegelte der Son nenuntergang sich auf einer breiten Krümmung eines Flusses. Das Gleis führte über eine Brücke aus Eisen streben- und -trägern, die vermutlich elektrisch gela den waren, um die Sumpfkreaturen abzuwehren. Im Lager führte das Gleis an einem Warenhaus, ei ner Drogerie und einer Reihe von sechs Blockhütten vorbei. Ein paar Meter abseits stand das Laborgebäu de, das den Sumpf überblickte und den Gorgonenfluß dahinter. Die Weichen waren zu einem Rangiergleis gestellt. Gersen fuhr hinter die Lokomotive und hielt an. Kurz blieben die beiden lauschend sitzen. Es war nichts zu hören.
Im Blauwaldlager sagte Howard Treesong in kame radschaftlichem Ton: »Im Passagierabteil? Unsinn! Ich fahre vom mit Ihnen.« »Das würde auch mich freuen, aber es geht leider nicht«, bedauerte Tuty. »Angenommen Inspektor Kennifer schaut herein? Nein, Sie setzen sich schön brav in das Abteil und ducken sich, bis wir im Dschungel sind. Danach können Sie sich entspannen und die Landschaft genießen. Halten Sie Ausschau nach Buntschmetterlingen und Wasserblumen.« Treesong kletterte in das winzige Abteil im hinte ren Teil der Lokomotive und machte sich klein. Der Zug fuhr aus dem Bahnhof. Falls Tuty Schahar und Umps aus den Augenwinkeln gesehen hatte, als sie auf die Tankwagenplattform kletterten, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Durch den Dschungel ging es, über die Savanne, hinein in und heraus aus dem dunklen Wald. An der dritten Abzweigung bog Tuty nach Norden ab und fuhr hinaus auf die Futterwiese, die nur selten be sucht wurde, außer wenn die Biologen Experimente durchführten. Aber heute hatte Tuty beschlossen, die Tiere zu füttern. Fast ohne anzuhalten koppelte sie den Futterwagen ab. Howard Treesong sprang auf die Füße in seinem Abteil und starrte durch das Rückfenster. Tuty warf nicht einmal einen Blick über die Schulter. Mit hängendem Kopf und aschgrauem Gesicht ließ Howard Treesong sich wieder auf seinen Platz fallen. Der Zug fuhr langsam in die Station und rollte durch das Lager, um neben dem Laborgebäude ste henzubleiben. Tuty kletterte ächzend und stöhnend aus der Lo
komotive. Howard Treesong stieg auch aus und schaute sich um. Mit schallender Stimme erkundigte sich Tuty: »Nun, Howard, wie gefällt Ihnen unsere hübsche Ge gend?« »Sie ist so ganz anders als unser gutes altes Glad betook, aber ich muß sagen, sie ist malerisch.« »Stimmt. So, nun wollen wir mal sehen, ob Otho uns mit einem guten Abendessen erwartet. Ich hoffe, er hat sein Viehzeug hinausgeschafft. Er ist ein Tier narr und versteht mit den Viechern umzugehen. Kommen Sie, Howard, sonst haben wir die Nachtsummer auf dem Hals!« Tuty ging ihm voraus zum Labor. Sie schob die Tür auf. »Otho, wir sind hier! Hast du Ditsy schon hin ausgebracht? Howard hat sicher keine Lust, sich von deinen Lieblingen belästigen zu lassen. Otho? Bist du da, Otho?« Eine barsche Stimme antwortete: »Natürlich bin ich da. Nur herein... Ah, das also ist der junge Howard Hardoah!« »Na, hat er sich nicht herausgemacht? Du hättest ihn bestimmt nicht wiedererkannt!« »Das ist wahr.« Otho Cleadhoe kam auf langen dürren Beinen näher. Er war um gut fünfzehn Zenti meter größer als Howard Treesong. Cleadhoes ge waltiger Schädel wies um die Glatze am Oberkopf ei nen unordentlichen Kranz grauen Haares auf. Er hatte einen graumelierten Bart und die Augen lagen tief in bläulichen Höhlen. Er musterte Howard Tree song eindringlich, aber mit gleichmütigem Blick. Howard ignorierte die Musterung und schaute sich im Raum um. »Das ist also Ihr Labor? Ich hörte
schon, daß Sie jetzt ein bedeutender Wissenschaftler sind.« »Keineswegs. Ich übe immer noch mein altes Handwerk aus, nur sind jetzt meine Objekte und Methoden anders. Kommen Sie, ich zeige Ihnen ein bißchen was von meiner Arbeit, während Tuty den Tisch deckt!« Scherzhaft rief Tuty: »Aber nur zehn Minuten, nicht länger! Du hast noch den ganzen Abend, ihm deine Trophäen zu zeigen. Oh, diese Bogen! Sie sind nicht für große Leute gebaut. Geben Sie mir doch bitte Ihren Hut.« »Ich möchte ihn gern aufbehalten, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Treesong. »Ich bin sehr zu gempfindlich.« »Das tut mir aber leid... Nun denn, ich zeige Ihnen jetzt, was die hohen Herren von Tanaquil sich anse hen, wenn sie hierherkommen, um festzustellen, was wir mit den uns zugeteilten öffentlichen Geldern ma chen. Ich sollte hinzufügen, daß sie immer sehr zu frieden waren. Das hier ist die Astinchenabteilung.« Howard Treesong sah sich mit halbgeschlossenen Lidern um. Falls Otho Cleadhoe sein Desinteresse bemerkte, achtete er zumindest nicht darauf. »Hier haben wir alle Astinchenarten, das sind die bethuni schen Andromorphen, sie sind in ihrer Evolution schon ziemlich weit und vor allem in Shanar und ge rade hier in dieser Gegend besonders zahlreich ver treten. Ihre Größe ist sehr unterschiedlich. Der größte bisher war dieser 9-Meter-Riese, den Sie dort sehen.« Er deutete auf einen Alkoven. »Ich habe ihn so gut wie allein präserviert, mit nur minimaler Hilfe meiner Leute. Ich mußte in einer stark mit Argon angerei
cherten, absolut keimfreien Atmosphäre arbeiten. Ich häutete das Tier, marmolierte das weiche Gewebe, fe stigte das Knochengerüst und zog den Pelz wieder darüber, natürlich sorgfältig gegerbt.« »Bewundernswert«, lobte Treesong. »Eine erstaun liche Leistung.« »Es sind auch erstaunliche Tiere, sehr agil für ihre Größe. Wir sehen sie oft in der Ferne herumtollen... Diese hier sind seine nächsten Artverwandten, glau ben wir zumindest. Können Sie sich vorstellen, daß wir noch immer nicht alles über diese Gattung wis sen? Wir haben keine Ahnung, wie sie sich fortpflan zen, wie sie aufwachsen, wie die chemischen Vorgän ge ihres Körpers sind. Alles noch ungelöste Rätsel. Aber ich will sie nicht mit technischen Einzelheiten langweilen. Wie Sie sehen, gibt es sie in jeder Größe, jeder Farbe. Ob sie ›intelligent‹ sind. Wer weiß das schon? Manche sind schlau, manche...« Eine plötzlich unerwartete Bewegung und ein Auf schrei Howard Treesongs, als ein etwa zweieinhalb Meter großes Geschöpf mit dünnen Armen und Bei nen von einem Schrank heruntersprang, Treesong den Hut vom Kopf riß und damit aus dem Zimmer lief. Otho Cleadhoe lachte nachsichtig. »Ja, schlau: wahrhaftig; verspielt: und wie! Intelligent: wer weiß? Das ist Ditsy, er ist immer zu Dummheiten aufgelegt. Ich fürchte, Ihren Hut sehen wir nicht wieder. Ich werde ihn Ihnen ersetzen müssen.« Howard Treesong rannte zur Tür und schaute hin aus. »Was ist in dieses Tier gefahren? Es hat meinen Hut ins Feuer geworfen!« »Wie unangenehm! Ich weiß gar nicht, wie ich
mich entschuldigen kann. Ditsy, hinaus mit dir! Was bildest du dir ein, dich so zu benehmen! Ein Jammer um Ihren schönen Hut. Wenn Ihnen die Zugluft zu sehr zu schaffen macht, dann sagen Sie es bitte. Tuty kann Ihnen sicher einen Schal oder ein Kopftuch lei hen.« »Nicht so wichtig.« »Ditsy muß dafür bestraft werden, darum kümme re ich mich noch. Das Tier ist ganz verrückt nach leuchtenden Farben und spielt Gästen gern kleine Streiche. Ich hätte Sie warnen müssen.« »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken, ich habe Dutzende von Hüten.« »Aber bestimmt keinen zweiten wie diesen! Ich be dauere es wirklich sehr... Bitte hier hindurch. Wir verlassen jetzt die Astinchenabteilung und begeben uns zur Halle der Sumpfwandler.« Howard Treesong zeigte nur oberflächliches Inter esse an den zwanzig purpur-schwarzen Kreaturen mit ihren seltsamen Umhängen aus gewebten Pflan zenfasern. »Ein repräsentativer Querschnitt«, erklärte Otho Cleadhoe. »Man findet sie nur entlang dem Gorgonenfluß... Und nun ins Gruselkabinett, wie ich meinen Arbeitsraum nenne. Er hat noch jeden beein druckt.« Cleadhoe ging dem nun sichtlich gelangweilten und nur müde folgenden Howard Treesong voraus in einen hohen Raum mit gläsernem Kuppeldach, durch das noch Licht fiel. Auf einer Plattform in der Mitte des Raumes stand eine plumpe rotschwarze Kreatur mit sechs Beinen und angsteinflößendem gewaltigen Schädel. »Ein erschreckendes Tier!« bemerkte Treesong.
»Allerdings. Und keine leichte Arbeit – mein größ tes Projekt, bisher. Dort drüben ist mein Büro, eine armselige Kammer, aber die Gesellschaft findet, daß es mir genügen müßte. Ihr Büchlein ist dort. Wir werden es dann holen.« »Warum nicht gleich?« fragte Treesong. »Es sind doch nur ein paar Schritte.« »Wie Sie meinen. Es liegt auf meinem Schreibtisch. Wollen Sie es selbst holen? Hm, ich weiß nicht recht. Finden Sie nicht auch, daß die Haut am Bauch ein bißchen zu sehr hängt?« Howard Treesong war bereits in der kleinen Sei tenkammer verschwunden. Auf dem Schreibtisch lag ein rotes Notizbuch mit dem Blockbuchstabentitel Das Buch der Träume. Treesong griff danach. In der Werkstatt öffnete Otho Cleadhoe ein Ventil, wartete fünfzehn Sekunden, dann schloß er es wieder. Tuty Cleadhoe schaute herein. »Die Suppe ist fer tig. Möchtest du jetzt essen?« »Ich habe keine Zeit und auch keine Lust, jetzt et was zu essen«, antwortete Otho.
19
Navarth saß beim Wein mit einem greisen Bekannten, der die Kürze des Lebens beklagte. »Mir bleiben im Höchstfall noch zehn Jahre«, jammerte der Greis. »Das ist absoluter Pessimismus«, rügte ihn Navarth. »Sehen Sie es doch optimistisch – denken Sie an die gut zehn Milliarden Jahre des Totseins, das vor Ihnen liegt!« aus Chronik des Navarths von Carol Lewis Navarth verabscheute moderne Lyrik, sofern sie nicht sei ner eigenen Feder und seinem Gehirn entsprungen war. »Was leben wir doch in einer faden Zeit«, sagte er. »Weis heit und Unschuld waren einst ein Paar, und hehre Lieder wurden gesungen. Ich erinnere mich an einen Zweizeiler, durchaus nichts Erhabenes – wohl eher das Gegenteil –, kurz und bündig und doch mit ungeheurer Aussage: Ein furzendes Pferd wird nie ermüden, Ein furzender Mensch hat viel zu bieten. Wo gibt es dergleichen heutzutage?« aus Chronik des Navarths von Carol Lewis Gersen und Alice rannten durch die Dunkelheit zum Labor. Es war eine klare, von Tausenden von Sternen schwach erhellte linde Nacht. Eine laue Brise trug Tierstimmen aller Art von Sumpf und Dschungel herbei. Ein schrilles Heulen, unangenehm nah, drang an ihre Ohren und ein wildes Brüllen. Hinter einem Fenster brannte Licht. Gersen und Alice schauten hinein. Tuty Cleadhoe hantierte in ei
ner Küche. Sie schnitt Brot, Wurst und Käse, dann rührte sie in einem Topf und deckte den Tisch. »Nur für zwei?« murmelte Gersen. »Wer bekommt denn nichts?« »Sie wirkt völlig entspannt«, flüsterte Alice. »Viel leicht könnten wir ganz einfach an der Tür klopfen und fragen, ob wir zum Essen eingeladen sind.« »Warum nicht?« Gersen drückte die Klinke, dann klopfte er. Tuty erstarrte kurz, dann rannte sie zu ei nem Hängeschrank und steckte hastig eine Waffe in ihre Rocktasche. Sie trat an einen Kommunikator, sprach ein paar kehlige Worte, dann erst drehte sie sich um und stapfte zur Tür. Mit der Hand nahe der Waffe riß sie sie auf. »Hallo, Mrs. Cleadhoe«, grüßte Gersen. »Haben wir uns zur Party verspätet?« Tuty Cleadhoe starrte grimmig von einem zum an deren. »Warum sind Sie nicht geblieben, wo ich Sie zurückgelassen habe? Sind Sie denn Vernunftgrün den unzugängig? Begreifen Sie nicht, daß Ihre Anwe senheit unerwünscht ist?« »Von all dem abgesehen, Mrs. Cleadhoe, muß ich Sie daran erinnern, daß Sie unsere Vereinbarung nicht eingehalten haben.« Tuty Cleadhoe lächelte flüchtig. »Vielleicht nicht – na und? An meiner Stelle hätten Sie es nicht anders gemacht.« Sie blickte über die Schulter. »Kommen Sie schon herein! Streiten Sie sich mit meinem Mann her um, wenn es sein muß!« Sie führte die beiden in die Küche. Otho Cleadhoe stand am Spülbecken und wusch sich sorgfältig die Hände. Er drehte sich um und musterte Alice und Gersen aus der Tiefe der bläulichen Augenhöhlen.
»Besucher, eh? Ich bin heute abend sehr beschäftigt, sonst hätte ich Sie gern herumgeführt.« »Deshalb sind wir nicht hier. Wo ist Howard Tree song?« Cleadhoe deutete mit dem Daumen. »Da hinten. Er ist gut aufgehoben. Und jetzt möchte ich zu Abend essen. Haben Sie Hunger?« »Setzen Sie sich!« sagte Tuty mit automatischer Höflichkeit, die nicht echt klang. »Es reicht für alle.« »Ja, essen Sie mit«, forderte Cleadhoe sie mit tiefem Baß auf. »Wir unterhalten uns dabei über Howard Hardoah. Wußten Sie, daß er unseren Nymphotis getötet hat?« Gersen und Alice setzten sich an den Tisch. »Er hat sehr viele Menschen auf dem Gewissen«, sagte Ger sen. »Was hätten Sie mit ihm gemacht? Ihn getötet?« »Ja.« Cleadhoe nickte schwer. »Das können Sie immer noch. Ich lockte ihn in eine stille Kammer und schal tete das Gas ein. Er wird in etwa sechs Stunden wie der aufwachen.« »Sie haben ihn also nicht getötet?« »O nein.« Cleadhoes Lächeln brach sich durch den dichten Bart. »Leben ist gleich Bewußtsein, und Howard Hardoah soll sich allem genauestens bewußt werden. Vielleicht wird er seine Untaten noch bereu en.« »Möglich«, sagte Gersen. »Aber Sie haben sich nicht an unsere Abmachung gehalten.« Cleadhoe blickte ihn verständnislos an, dann kaute er weiter. »Es kann sein, daß wir in unserer Ge fühlsaufwallung die übliche Höflichkeit vermissen
ließen. Aber ärgern Sie sich nicht länger. Sie werden ja am endgültigen Strafgericht teilhaben.« Tuty warf ein: »Sie sollten vielleicht auch beden ken, daß wir Sie vor möglichen Unannehmlichkeiten bewahrten! Howard brachte zwei seiner Killer mit. Ha, sie werden niemanden mehr morden!« Otho Cleadhoe lächelte beifällig als hätte Tuty ih nen das Rezept für ihre Suppe gegeben. »Howard ist ganz schön gerissen«, sagte er. »Stellen Sie sich vor, er hatte eine Waffe in seinem Hut! Ich wies Ditsy an, ihm den Hut wegzunehmen und zu vernichten. Wie meine Frau bemerkte, wir haben unseren Beitrag ge leistet.« Dazu wußten weder Gersen noch Alice etwas zu sagen. »Wir haben noch sechs Stunden, bis Howard wie der zu sich kommt«, sagte Cleadhoe. »Sie können sich inzwischen ausruhen oder schlafen, oder sich meine Menagerie ansehen, oder es sich in einem Sessel be quem machen und Tee oder Weinbrand trinken und uns erzählen, was Howard Hardoah Ihnen an Schlimmem zugefügt hat.« Gersen blickte Alice an. »Was willst du tun?« »Ich kann nicht schlafen. Bestimmt würden Mr. und Mrs. Cleadhoe gern über das Klassentreffen hö ren.« »Ja, das dürfte sie interessieren.« Gegen Mitternacht verließ Otho Cleadhoe die Küche. Zwanzig Minuten später kehrte er zurück. »Howard kommt zu sich. Wenn Sie möchten, können Sie mich jetzt begleiten.« Die kleine Gruppe ging im Gänsemarsch durchs
Labor und einen Korridor entlang. Cleadhoe blieb vor einer Tür stehen. »Hören Sie! Er redet!« Durch einen Lautsprecher war ein Gespräch zu hö ren. Zuerst kam Howard Treesongs Stimme, klar und fest, doch verwirrt und gereizt. »Ich sitze fest – ich kann weder vor noch zurück und auch seitwärts ist nichts zu machen... Die Sonne geht auf. Wir haben uns im Dschungel verirrt. Haltet euch dicht beisam men, daß wir keinen verlieren. Paladine? Wer hört mich?« Die Antworten kamen schnell, die Stimmen schie nen sich zu überschneiden, als sprächen mehrere gleichzeitig. »Mewness steht dir zur Seite!« Es war eine ruhige klare Stimme, präzise und leidenschaftslos. »Spangleway ist hier zwischen den Affen.« »Rhune Fader, der Blaue, und Hohenger und der schwarze Jeha Rais: alle sind hier.« Eine dünne kalte Stimme erklang: »Eia Panice ist hier.« »Und Immir?« »Ich bin hier bis zum Ende.« »Immir, du bist standhaft wie die anderen. Und nun müssen wir uns eine weise Strategie ausdenken. Jeha Rais, du wirkst ernst.« Die tiefe Stimme Jeha Rais', des schwarzen Pala dins, war zu hören: »Ich bin ernst, mehr denn ernst. Nach all diesen hehren Jahren hast du ihn nicht erkannt?« IMMIR (besorgt): »Er nannte sich Cleadhoe von der StiefmütterchenFarm.« JEHA RAIS:
»Er ist der Rächer.« Ein paar Sekunden herrschte Stille. IMMIR (leise): »Dann sind wir in einer schlimmen Lage.« RHUNE FADER: »Das wäre nicht das erstemal. Erinnert ihr euch an Ilkhad? Es entmutigte selbst den eisernen Riesen, und doch gingen wir als Sieger hervor.« SPANGLEWAY: »Ich entsinne mich des Hinterhalts in der Altstadt von Massilia. Es war eine schreckliche Stunde!« IMMIR: »Brüder, konzentrieren wir uns auf jetzt!« JEHA RAIS: »Der Rächer ist ein bösartiges Ungeheuer. Um seinem Gewicht zu widerstehen, brauchen wir ein Gegenge wicht. Können wir ihn mit Reichtum umstimmen?« IMMIR: »Ich werde unsere Schatzkammer öffnen. Meinetwe gen soll Sybaris sein eigen sein.« MEWNESS: »Es wird den Rächer nicht in Versuchung führen.« LORIS HOHENGER: »Biete ihm ein Dutzend Maiden, eine schöner als die andere. Kleide sie in hauchdünne Schleiergewänder und lasse sie ihn mit Blicken, weder fröhlich noch ernst, be trachten, als fragten sie: ›Wer ist dieser wunderbare Mann? Wer ist dieser Halbgott?‹« IMMIR (lacht traurig): »Guter Hohenger, allein diese Vorstellung! Ich glau be, du würdest nicht davor zurückscheuen, deine Pala dinbrüder in den Kaltsee zu werfen, nur um an diesem Schauspiel mit den Schönen teilhaben zu dürfen.«
MEWNESS: »Doch den Rächer wird es nicht berühren.« SPANGLEWAY: »Reichtum, Schönheit – was bleibt?« RHUNE FADER: »Hätten wir nur Walkaris' Kelch der ewigen Ju gend!« IMMIR (murmelnd): »Komplikationen! Komplexität! Ich spüre es, es ist ein teuflisches Komplott!« RHUNE FADER: »Seid still! Jemand steht vor der Tür.« Cleadhoe flüsterte: »Er ist halbwach. Er spricht, als träume er...« Er öffnete die Tür. »Treten Sie ein!« Eine Hälfte des Raums war kahl und dämmrig, die andere war bepflanzt und so hergerichtet, daß sie ei ner Dschungellichtung ähnelte. Licht sickerte durch Laubdächer aller Art. Von knorrigen Ranken hingen Blumen, Fleischfresserblüten und Samenkapseln. Ein Bach plätscherte durch ein steiniges Bett und bildete einen kleinen Teich, der sich in dunklem Schilf verlor. Neben dem Teich saß Howard Alan Treesong in ei nem Lehnsessel. Von einem kurzen Rock um seine Hüften abgesehen war er nackt. Seine Hände ruhten auf den Armlehnen. Die Beine im Gras waren von glänzendem Weiß. Sein Kopf war kahl geschoren worden. Auf der anderen Seite des Teichs, am gras überwucherten Ufer, lag Nymphotis' Marmol. In den Büschen sprangen mehrere kleine Astinchen herum. Ihre Gesichter waren aus rot-blau geflecktem Knor pel, und ihre Köpfe mit Kämmen, wie kleine schwar ze Hüte, gekrönt. Den Rest ihres Körpers bedeckte
dichtes schwarzes Fell. Sie interessierten sich sehr für Howard Treesong und beobachteten und belauschten ihn mit respektvoller Aufmerksamkeit. Die Bespre chung war zu Ende. Howards Augen glitzerten unter halb geschlossenen Lidern. Sein Atem ging normal. Cleadhoe wandte sich an Gersen und Alice. »Das hier war ursprünglich ein Schaukäfig für die kleinen Astinchen. Wir nennen sie ›Marionettenmandarine‹. Es sind seltsame kleine Geschöpfe. Gehen Sie nicht zu nah heran! Hier ist ein Zaun aus unsichtbaren Nadel strahlen, deren Berührung ziemlich schmerzhaft ist. Ich fand, daß Howard hier recht gut untergebracht ist.« »Sie haben seine Beine marmoliert.« »Ja, er kann sich nicht bewegen und muß immerzu Nymphotis anblicken, den er ermordet hat. Das ist unsere Strafe für ihn. Wie Sie und Alice Wroke ihn zusätzlich bestrafen wollen, ist Ihre Sache. Ich werde Sie nicht davon abhalten.« Gersen fragte: »Wie lange kann er so leben?« Cleadhoe schüttelte den Kopf. »Das ist schwer zu sagen. An seinen Körperfunktionen hat sich nichts geändert, aber er ist hier fest verankert. Sein Haar verbarg übrigens ein Schaltkreisnetz. Implantationen oder innere Waffen hat er keine, dessen vergewisserte ich mich.« Treesong hatte die Augen offen. Er betrachtete sei ne Beine, dann betastete er sie und spürte die kalte Substanz, die nun die Haut seiner Oberschenkel war. Cleadhoe wandte sich an ihn: »Howard Alan Tree song, wir unter all Ihren zahllosen Opfern rächen uns nun an Ihnen!« Tuty rief mit klangvoller Altstimme: »Dort ist er,
unser Sohn Nymphotis, und da sitzt du, Howard Hardoah, sein Mörder. Denk über deine Missetat nach!« Mit ruhiger Stimme sagte Howard Treesong: »Ich wurde mit viel Geschick in die Falle gelockt. Wer sind diese beiden anderen? Alice Wroke? Wie kommen Sie zu diesen Eiferern?« »Ich bin eine von ihnen. Haben Sie denn vergessen, was Sie von mir verlangten, um das Leben meines Vaters zu retten? Und das, nachdem Sie ihn bereits ermordet hatten!« »Meine teure Alice, wenn man sich mit hoher Poli tik beschäftigt, übergeht man manchmal Einzelheiten. Der Tod Ihres Vaters und Ihre Dienste waren beide wichtig für einen größeren Plan. Und Sie, Sir? Sie er scheinen mir auf undeutbare Weise vertraut.« »Ich müßte Ihnen auch vertraut sein. Wir sind uns schon einige Male begegnet. Sowohl am Voymont als auch in Gladbetook hatte ich das Vergnügen, auf Sie schießen zu können, leider ohne größeren Erfolg. Sie kennen mich auch als Henry Lucas von Sein! Ich sorgte dafür, daß Das Buch der Träume Sie hierher lockte. Doch möchte ich Sie auch noch an etwas viel länger Zurückliegendes erinnern. Entsinnen Sie sich des Überfalls auf Mount Pleasant?« »Ja, ich erinnere mich an diese Episode. Es war eine bemerkenswerte Leistung.« »Damals sah ich Sie zum erstenmal. Ich arbeitete mein ganzes Leben lang auf diesen Augenblick hin.« »Tatsächlich? Sie sind ja ein Fanatiker!« »Sie haben es so an sich, andere zu Fanatikern ge gen Sie zu machen.« Howard Alan Treesong machte eine gleichmütige
Gebärde. »Nun bin ich also Ihrer Gnade und Ungna de ausgeliefert. Was werden Sie mit mir machen?« Gersen lächelte säuerlich. »Was könnte ich denn noch mehr tun?« »Nun – es bleibt immer noch die Folter. Oder Sie könnten Freude daran finden, mich zu töten.« »Ich habe Sie als Mensch vernichtet, das genügt.« Howard Alan Treesong ließ den Kopf hängen. »Mein Leben hat seinen Verlauf genommen. Ich hatte beabsichtigt, über das Universum der Menschen zu herrschen, ich wollte der erste Kaiser der gaeanischen Welten werden. Fast hätte ich es geschafft. Doch jetzt bin ich müde. Ich kann mich nicht bewegen und wer de nicht mehr lange leben... Gehen Sie jetzt, ich möchte allein sein!« Gersen drehte sich um, nahm Alices Arm und ver ließ mit ihr den Raum. Die Cleadhoes folgten ihnen. Kaum hatte die Tür sich hinter ihnen geschlossen, ging die Besprechung weiter. IMMIR: »Jetzt ist alles bekannt. Der Rächer hat etwas Schreckliches getan. O meine Paladine, was nun? Was sagst du, Jeha Rais?« RAIS: »Es ist soweit.«
IMMIR:
»Wieso? Grüner Mewness, weshalb wendest du dich ab?« MEWNESS: »Es gibt noch viele Wege, die ich nicht gewandert bin, und viele Schenken, wo ich Rast machen kann.« IMMIR: »Weshalb blickt ihr alle dahin und dorthin? Sind wir
nicht alle Brüder und Paladine? Jeha Rais, überleg dir
eine große Strategie, damit sich diese Marmolbeine wie
der bewegen lassen!«
SPANGLEWAY:
»Lebe wohl, Immir!«
RAIS:
»Lebe wohl, Immir! Es ist soweit.«
IMMIR:
»Loris Hohenger, verläßt auch du mich?«
HOHENGER:
»Ich muß weiter, zu fernen Orten und neuen Schlach ten.« IMMIR: »Und du, lieber blauer Fader, was ist mit dir? Und mit dir, Eia Panice?« PANICE: »Ich werde meine brüderliche Pflicht erfüllen. Paladi ne, wendet euch ab! Eines bleibt noch zu tun. Lebe wohl, edler Immir! Und jetzt...« Die vier auf dem Korridor hörten einen dumpfen Schlag und ein Platschen. Cleadhoe rannte zur Tür und riß sie auf. Der schwere Sessel war nach vorn ge kippt. Howard Alan Treesong lag grotesk ver krümmt, mit dem Gesicht im Teich. Cleadhoe drehte sich mit geblähten Nasenflügeln und glitzernden Augen um. Er gestikulierte wild. »Der Sessel war fest verankert! Er kann ihn unmög lich allein umgekippt haben!« Gersen wandte sich ab. »Was immer auch gesche hen ist, ich habe genug!« Er legte den Arm um Alices Schultern. »Komm, wir wollen weg von hier!«
20
Als der Fantamikflitzer wieder im All warf griff Alice nach dem Buch der Träume, doch ohne hineinzuschau en, legte sie es wieder weg. »Was wirst du damit tun?« »Ich weiß nicht... Es Cosmopolis geben, vermutlich.« »Warum wirfst du es nicht einfach hinaus in den Raum?« »Das kann ich nicht.« Alice legte die Hände auf seine Schultern. »Was ist mit dir?« »Was soll mit mir sein?« »Du bist so unnatürlich ruhig so lustlos. Ich mache mir Sorgen um dich. Fühlst du dich nicht wohl?« »Nur abgeschlagen, vielleicht. Meine Feinde haben mich verlassen. Treesong ist tot. Damit ist alles zu Ende.«