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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
THE VAMPIRE'S ASSISTE...
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Scan by VCNeno
Layout by 2242Panic
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
THE VAMPIRE'S ASSISTENT
bei HarperCollins, London
Besuchen Sie uns im Internet: www.droemer-weltbild.de
ISBN 3-7951-1760-7
©2001 by Darren Shan
© 2001 für die deutsche Ausgabe by
Verlag der Vampire im Schneekluth Verlag GmbH, München
Ein Unternehmen der
Verlagsgruppe Droemer Weltbild, München
Gesetzt aus der 10,5/13 Punkt Stempel Garamond
Printed in Germany 2001
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Für: Oma und Opa - die zähen alten Knacker
die beiden vom OBE (Orden der Blutigen Eingeweide): Caroline »die Spürnase« Paul
Paul »der Plünderer« Litherland
Außerdem lüfte ich hochachtungsvoll
die Schädeldecke vor:
Biddy »Jekyll« und Liam »Hyde«
Gillie »die Grabräuberin« Russell
der gruseligen, grässlichen HarperCollins- Gang
sowie
Emma und Chris (von der »Leichenfresser-GmbH«).
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Ich heiße Darren Shan. Ich bin ein Halbvampir. Aber ich bin nicht so auf die Welt gekommen. Früher war ich ein ganz normaler Junge. Ich wohnte mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester Annie zusammen. Ich ging gern zur Schule und hatte jede Menge Freunde. Ich war ein Fan von Gruselgeschichten und sah mir gern Horrorfilme an. Als ein Abnormitätenkabinett, eine so genannte Freak Show, in unsere Stadt kam, ergatterte mein bester Freund Steve Leopard zwei Eintrittskarten, und wir gingen hin. Es war super, richtig verrückt und unheimlich. Ein phantastischer Abend. Aber das Verrückteste passierte, nachdem die Vorstellung zu Ende war. Steve erkannte einen der Mitwirkenden: Er hatte in einem alten Buch ein Porträt von ihm gesehen und wusste, dass er ... ein Vampir war. Nach der Vorstellung versteckte Steve sich und flehte den Vampir an, ihn ebenfalls in einen Vampir zu verwandeln! Mr. Crepsley, der Vampir, hätte ihm diesen Wunsch auch gern erfüllt, fand jedoch ziemlich schnell heraus, dass Steve schlechtes Blut hatte, und damit war die Sache erledigt. Das heißt, sie wäre erledigt gewesen, wenn ich mich nicht ebenfalls versteckt hätte, um zu beobachten, was Steve im Schilde führte. Mit Vampiren wollte ich nie etwas zu tun haben, aber ich war schon immer ganz wild auf Spinnen, die ich mir gelegentlich als Haustiere hielt. Und Mr. Crepsley besaß eine dressierte Giftspinne namens Madame Octa, die alle möglichen tollen Kunststücke beherrschte. Ich klaute sie und hinterließ dem Vampir eine Nachricht, in der ich ihm androhte, den Leuten die Wahrheit über ihn zu verraten, wenn er mich verfolgte. Um es kurz zu machen: Madame Octa biss Steve, und er landete im Krankenhaus. Mein bester Freund wäre fast gestorben, und deshalb ging ich zu Mr. Crepsley und bat ihn, Steve wieder gesund zu machen. Er willig te ein, aber als Gegenleistung musste ich ein Halbvampir werden und als sein Gehilfe mit ihm ziehen. Nachdem er mich in einen Halbvampir verwandelt (indem er mir ein wenig von seinem eigenen grässlichen Blut übertrug) und Steve gerettet hatte, lief ich von ihm weg. Aber schon bald merkte ich, dass ich plötzlich Appetit auf Blut verspürte, und bekam Angst davor, etwas Schreckliches zu tun, wenn ich weiterhin bei meiner Familie wohnte - zum Beispiel meine Schwester zu beißen. Deswegen half mir Mr. Crepsley, meinen eigenen Tod vorzutäuschen. Ich ließ mich lebendig begraben, und um Mitternacht, als niemand mehr auf dem Friedhof war, befreite Mr. Crepsley mich wieder, und wir gingen zusammen weg. Meine Tage als gewöhnlicher Mensch waren zu Ende. Jetzt nahmen meine Nächte als Vampirgehilfe ihren Anfang.
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Die Nacht war warm und trocken, und so beschloss Stanley Collins, nach dem Pfadfindertreffen zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war nicht weit, kaum zwei Kilometer, und trotz der Dunkelheit war ihm jeder Fußbreit des Weges so vertraut wie die Schlinge eines Kreuzknotens. Stanley war Pfadfinderführer. Er war begeistert von der Pfadfinderei. Als Junge war er selbst ein Wölfling gewesen und hatte, auch als er älter wurde, die Verbindung zu dieser Organisation nicht abgebrochen. Er hatte seine drei Söhne zu vorbildlichen Pfadfindern er zogen, und jetzt, nachdem sie selbst erwachsen und aus dem Haus waren, kümmerte er sich um die Kinder der Umgebung. Um sich warm zu halten, schlug Stanley ein flottes Tempo an. Er trug nur ein T-Shirt und eine kurze Hose, und obwohl die Nacht lau war, bekam er bald Gänsehaut an Armen und Beinen. Es störte ihn nicht. Seine Frau hatte ihm bestimmt schon eine schöne Tasse heißen Kakao und einen Teller mit Rosinenbrötchen bereitgestellt. Nach einem zügigen Marsch würden sie ihm um so besser schmecken. Die Straße war von Bäumen gesäumt, die den Weg für jeden, der sich nicht auskannte, dunkel und gefährlich machten. Aber Stanley hatte keine Angst. Im Gegenteil: Er war gern bei Nacht unterwegs und lauschte vergnügt dem Rascheln seiner Schritte im hohen Gras und Unterholz. Raschel. Raschel. Raschel. Er lächelte. Als seine Söhne noch klein waren, hatte er ihnen auf dem Heimweg immer vorgeflunkert, dass hinter den Bäumen Ungeheuer lauerten. Er hatte unheimliche Geräusche von sich gegeben und tief hängende Zweige geschüttelt, wenn die Jungen gerade nicht hinsahen. Manchmal hatten sie angefangen zu kreischen und waren im Galopp nach Hause gerannt. Stanley war ihnen dann lachend gefolgt. Raschel. Raschel. Raschel. Falls er heute Nacht Einschlafschwierigkeiten hätte, würde er sich das Geräusch seiner Schritte auf dem Heimweg ins Gedächtnis rufen. Das hatte ihm schon immer geholfen, sanft ins Land der Träume zu entschlummern. Nach Stanleys Ansicht war es das schönste Geräusch auf der ganzen Welt, besser als sämtliche Kompositionen von Mozart und Beethoven. Raschel. Raschel. Raschel. Knack. Stanley blieb stehen und runzelte die Stirn. Das Knacken hatte sich nach einem zerbrechenden Ast angehört, aber das war eigentlich unmöglich. Er hätte doch gespürt, wenn er einen Zweig zertreten hätte. Und auf den angrenzenden Feldern gab es weder Kühe noch Schafe. Stanley stand etwa eine halbe Minute ganz still und lauschte aufmerksam. Als nichts weiter zu hören war, schüttelte er lächelnd den Kopf. Seine Einbildungskraft hatte ihm wohl einen Streich gespielt. Er würde seiner Frau davon erzählen, wenn er wieder zu Hause war, und sie würden beide herzlich darüber lachen. Er ging weiter. Raschel. Raschel. Raschel. Na also. Das vertraute Geräusch. Niemand sonst schlich hier herum. Dann hätte er schließlich mehr als nur das Knacken eines vereinzelten Zweiges hören müssen. Niemand konnte sich Stanley J. Collins unbemerkt nähern. Er war schließlich ausgebildeter Pfad finderführer. Sein Gehör war so scharf wie das eines Fuchses. Raschel. Raschel. Raschel. Raschel. Rasch... Knack , Wieder blieb Stanley stehen. Nun schloss die Angst ihre Klauen um sein wild pochendes Herz. Diesmal war es keine Einbildung gewesen. Er hatte es klar und deutlich gehört. Irgendwo über seinem Kopf hatte ein Ast geknackt. Und davor: War da nicht ein leises Rauschen gewesen, als bewegte sich etwas? Stanley reckte den Hals und spähte in die 6
Baumkronen, aber es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Ein Ungeheuer, so groß wie ein Auto, hätte dort oben hocken können, und er hätte es nicht gesehen. Zehn Ungeheuer. Hundert! Tau... Was für ein Unsinn. Ungeheuer hockten nicht auf Bäumen. Es gab überhaupt keine Ungeheuer. Sie existierten nicht in Wirklichkeit. Bestimmt war es ein Eichhörnchen oder eine Eule gewesen, irgendetwas ganz Gewöhnliches. Stanley hob einen Fuß und senkte ihn im Zeitlupentempo. Knack. Sein Fuß hing mitten in der Luft, und sein Herz pochte schneller. Das war kein Eichhörnchen! Das Knacken war zu laut. Dort oben war etwas Großes. Etwas, das dort nicht hingehörte. Etwas, das normalerweise nicht da war. Etwas, das... Knack! Diesmal klang das Geräusch näher, es kam von weiter unten, und plötzlich hielt Stanley es nicht länger aus. Er rannte los. Stanley war ein stämmiger Mann, aber für sein Alter gut in Form. Trotzdem war es lange her, seit er zuletzt derartig gerannt war, und nach hundert Metern hielt er sich keuchend die stechenden Seiten. Er kam zum Stehen und beugte sich nach Luft schnappend nach vorn. Raschel Er riss den Kopf hoch. Raschel. Raschel. Raschel. Schritte bewegten sich auf ihn zu. Langsame, schwere Schritte. Stanley lauschte ängstlich, wie sie näher und näher kamen. War das Ungeheuer aus einem der Bäume vor ihm gesprungen? Oder war es heruntergeklettert? Wollte es ihm an den Kragen? Wollte es ... Raschel. Raschel. Die Schritte verstummten, und Stanley konnte eine Gestalt ausmachen. Sie war kleiner, als er erwartet hatte, nicht größer als ein Kind. Stanley richtete sich hoch auf, nahm all seinen Mut zusammen und trat vor, um besser sehen zu können. Es war tatsächlich ein Junge! Ein kleiner, verängstigt wirkender Junge in einem schmutzigen Anzug. Stanley lächelte kopfschüttelnd. Wie dumm von ihm! Seine Frau würde sich köstlich amüsieren, wenn er ihr die Geschichte erzählte. »Alles in Ordnung, mein Junge?«, fragte Stanley freundlich. Der Junge antwortete nicht. Stanley hatte ihn noch nie gesehen, aber erst kürzlich waren mehrere Familien neu in die Gegend gezogen. Deshalb kannte Stanley nicht mehr alle Kinder der Nachbarschaft. »Kann ich dir helfen?«, erkundigte er sich. »Hast du dich verirrt?« Der Junge schüttelte langsam den Kopf. Irgendetwas an ihm war Stanley unheimlich. Vielleicht lag es nur an der Dunkelheit und den Schatten, aber der Junge sah merkwürdig aus: blass, sehr dünn und sehr - hungrig. »Alles in Ordnung mit dir?«, wiederholte Stanley und trat noch näher. »Kann ich ...« KNACK! Das Geräusch ertönte jetzt direkt über Stanleys Kopf, laut und bedrohlich. Blitzschnell sprang der Junge beiseite. Stanley konnte gerade noch hochblicken und sah einen großen roten Umriss, wie von einer Fledermaus, der durch die Zweige auf ihn zustürzte. Dann war das rote Ungeheuer auch schon über ihm. Stanley wollte schreien, aber wie aus dem Nichts schoss die Hand - die Tatze? - des Ungeheuers vor und presste sich auf seinen Mund. Es gab ein kurzes Handgemenge, dann sank Stanley bewusstlos und ohne noch etwas zu sehen oder zu fühlen zu Boden. Die beiden Geschöpfe der Nacht kauerten sich neben den ohnmächtigen Mann und machten sich über ihn her.
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»Ein Mann seines Alters in Pfadfinderuniform!«, schnaubte Mr. Crepsley verächtlich, als er unser Opfer umdrehte. »Waren Sie denn bei den Pfadfindern?«, fragte ich. »Zu meiner Zeit gab es so etwas nicht«, antwortete er. Er tätschelte die fleischigen Waden des Mannes und brummte beifällig. »Hat 'ne Menge Blut, der Kerl.« Ich sah zu, wie Mr. Crepsley das Bein nach einer Vene abtastete und sie öffnete, indem er sie mit dem Fingernagel ein wenig einritzte. Sobald die ersten Blutstropfen austraten, presste er die Lippen auf den winzigen Schnitt und saugte daran. In seinen Augen war es eine Sünde, auch nur einen Tropfen des »kostbaren roten Elixiers«, wie er es manchmal nannte, zu vergeuden. Während er trank, stand ich daneben und fühlte mich gar nicht wohl in meiner Haut. Es war schon der dritte Überfall, an dem ich teilnahm, aber ich hatte mich noch immer nicht an den Anblick des Vampirs gewöhnt, der einem hilflosen Menschen Blut aussaugte. Mein »Tod« lag jetzt fast zwei Monate zurück, aber es war mir sehr schwer gefallen, mich an die Umstellung zu gewöhnen. Ich konnte noch immer nicht richtig glauben, dass mein altes Leben unwiderruflich zu Ende war und dass ich jetzt ein Halbvampir war, für den es kein Zurück gab. Ich wusste, dass ich meine menschliche Natur endlich ablegen musste. Aber das war leichter gesagt als getan. Mr. Crepsley hob den Kopf und leckte sich die Lippen. »Guter Jahrgang«, witzelte er und rückte von dem reglosen Körper ab. »Jetzt bist du dran.« Ich trat einen Schritt vor, blieb dann stehen und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, murmelte ich. »Stell dich nicht so an«, knurrte Mr. Crepsley. »Du hast dich jetzt schon zweimal geweigert. Du musst endlich etwas trinken!« »Ich kann einfach nicht!«, rief ich. »Du hast doch auch schon Tierblut getrunken«, wand te er ein. »Das ist etwas anderes. Das hier ist ein Mensch.« »Na und?«, fauchte Mr. Crepsley. »Wir sind keine Menschen. Du musst endlich lernen, zwischen Menschen und Tieren keinen Unterschied mehr zu machen, Darren. Ein Vampir kann sich nicht ausschließlich von Tierblut ernähren. Wenn du nicht bald anfängst, Menschenblut zu trinken, wirst du immer kraftloser werden. Wenn du dich weiter so anstellst, stirbst du.« »Ich weiß«, seufzte ich. »Sie haben es mir bereits erklärt. Ich habe schon verstanden, dass wir den Menschen, deren Blut wir trinken, nicht schaden, es sei denn, wir trinken zu viel. Aber ...« Ich zuckte hilflos die Achseln. Mr. Crepsley seufzte. »Wie du meinst. Ich gebe ja zu, dass es nicht einfach ist, besonders für einen Halbvampir, dessen Hunger noch nicht so groß ist. Für diesmal will ich es gut sein lassen. Aber du musst bald etwas zu dir nehmen. Um deiner eigenen Gesundheit willen.« Er beugte sich wieder über den Schlitz und wischte das Blut, das während unserer Unterhaltung herausgeflossen war, vom Bein des Mannes. Dann sammelte er einen Mund voll Spucke und ließ sie langsam auf den Schnitt tropfen. Er rieb den Speichel mit dem Finger in die kleine Wunde, hockte sich auf die Fersen und wartete ab. Die Wunde schloss sich und verheilte. Nach kaum einer Minute war nichts mehr zu sehen außer einer kleinen Narbe, die der Mann wahrscheinlich nicht einmal bemerken würde, wenn er wieder zu Bewusstsein kam. So schützen sich die Vampire. Anders als im Film töten sie die Menschen nicht, denen sie Blut aussaugen, es sei denn, sie sind vö llig ausgehungert oder verlieren die Kontrolle über sich und gehen zu weit. Sie trinken immer nur kleine Mengen, mal hier ein bisschen, mal dort ein bisschen. Mitunter greifen sie Menschen im Freien an, so wie wir eben. Ein andermal schleichen sie sich spät in der Nacht in Schlafzimmer, Krankenhäuser oder Gefängniszellen. Die Leute, deren Blut sie trinken, merken fast nie, dass ein Vampir sich an ihnen vergriffen 8
hat. Wenn dieser Mann hier wieder aufwachte, würde er sich höchstens an einen herabstürzenden rötlichen Schatten erinnern. Er würde nicht erklären können, warum er plötzlich ohnmächtig geworden oder was während seiner Be wusstlosigkeit mit ihm passiert war. Falls er die Narbe tatsächlich entdeckte, würde er eher an Außerirdische als an einen Vampirbiss denken. Ha! Außerirdische! Kaum jemand weiß, dass die Vampire die ganzen UFO-Geschichten verbreitet haben. Sie sind die perfekte Tarnung. Überall auf der Welt erwachen Menschen mit merkwürdigen Narben am Körper und schreiben irgendwelchen Außerirdischen die Schuld zu. Mr. Crepsley hatte den Pfadfinderführer mit seinem Atem betäubt. Vampire können ein spezielles Gas aus hauchen, das Menschen ohnmächtig macht. Wenn Mr. Crepsley jemanden einschläfern wollte, blies er kurz in die hohle Hand und presste sie dann auf Mund und Nase des Opfers. Sekunden später ging derjenige zu Boden und wachte erst zwanzig oder dreißig Minuten später wieder auf. Mr. Crepsley inspizierte die Narbe und vergewisserte sich noch einmal, dass die Wunde vollständig verheilt war. Er kümmerte sich immer sehr fürsorglich um seine Opfer. So weit ich ihn bis jetzt kennen gelernt hatte, schien er ein netter Kerl zu sein - abgesehen von der Tatsache, dass er ein Vampir war! »Komm«, sagte er und stand auf. »Die Nacht ist noch lang. Wir suchen dir ein Kaninchen oder einen Fuchs.« »Sind Sie auch nicht böse auf mich, weil ich nicht von ihm getrunken habe?«, fragte ich. Mr. Crepsley schüttelte den Kopf. »Das kommt schon noch«, meinte er. »Wenn du richtig hungrig bist.« »Nein», flüsterte ich, als er mir den Rücken zuwandte. »Kommt nicht infrage. Nicht von einem Menschen. Niemals!«
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Wie gewöhnlich wachte ich am frühen Nachmittag auf. Genau wie Mr. Crepsley war ich kurz vor Sonnenaufgang ins Bett gegangen. Aber im Gegensatz zu ihm, der weiterschlafen musste, bis es wieder Nacht wurde, konnte ich aufstehen und mich auch bei Tageslicht frei bewegen. Das ist einer der Vorteile, wenn man bloß ein Halbvampir ist. Als spätes Frühstück schmierte ich mir einen Marmela dentoast. Auch Vampire müssen normales Essen zu sich nehmen und können sich nicht ausschließlich von Blut ernähren. Dann hockte ich mich vor den Hotelfernseher. Mr. Crepsley mochte keine Hotels. Meistens übernachtete er im Freien, in alten Scheunen, Abbruchhäusern oder einer geräumigen Gruft, aber davon hielt ich nichts. Nach einer Woche unruhig verbrachter Nächte hatte ich ihm unumwunden mitgeteilt, dass ich von dieser Lebensweise die Nase voll hatte. Er grummelte ein bisschen, gab aber schließlich nach. Die letzten beiden Monate waren wie im Flug vergangen, weil ich mich ganz darauf konzentriert hatte, alles zu lernen, was man als Vampirgehilfe können muss. Mr. Crepsley war kein besonders guter Lehrer und wiederholte sich nicht gern, deshalb musste ich gut aufpassen und schnell lernen. Inzwischen war ich körperlich sehr kräftig geworden. Ich konnte enorme Gewichte stemmen und Glasmurmeln mit meinen bloßen Fingern zu kleinen Splittern zerdrücken. Wenn ich einem gewöhnlichen Menschen die Hand schüttelte, musste ich aufpassen, dass ich ihm dabei nicht die Finger brach. Ich konnte die ganze Nacht lang Liegestütze machen und eine Metallkugel weiter schleudern als jeder Erwachsene. (Eines Tages maß ich meinen Wurf, schlug dann in einem Buch nach und stellte fest, dass ich einen neuen Weltrekord aufgestellt hatte! Zuerst war ich ganz aufgeregt, aber dann fiel mir ein, dass ich es niemandem erzählen konnte. Trotzdem war es schmeichelhaft zu wissen, dass ich der neue Weltmeister war.) Auch meine Fingernägel waren nun erstaunlich dick, und ich konnte sie nur mit den Zähnen stutzen: Sche ren richteten gegen meine scharfen neuen Nägel nichts aus. Sie waren allerdings ziemlich lästig: Ständig zerriss ich mir beim An- und Ausziehen die Kleidung oder bohrte Löcher in meine Taschen, wenn ich die Hand hineinsteckte. Seit jener Nacht auf dem Friedhof hatten wir eine große Entfernung zurückgelegt. Erst waren wir mit Vampir-Höchstgeschwindigkeit geflohen. Unsichtbar für das menschliche Auge saß ich auf Mr. Crepsleys Rücken, und wir waren wie ein Gespensterpaar mit Düsenantrieb durch das Land geglitten. Diese Art der Fortbewegung wird »Huschen« genannt. Aber Huschen ist sehr anstrengend, deshalb zogen wir es nach ein paar Nächten vor, Bahnen und Busse zu benutzen. Ich weiß nicht, woher Mr. Crepsley das Geld für unsere Reise, die Hotels und das Essen nahm. Ich fand bei ihm weder Brieftasche noch Scheckkarte, aber jedes Mal, wenn er etwas bezahlen musste, hatte er plötzlich Geld in der Hand. Mir waren allerdings immer noch keine spitzen Eckzähne gewachsen. Ich hatte sehnsüchtig darauf gewartet und meine Zähne drei Wochen lang jeden Abend im Spiegel inspiziert, bis mich Mr. Crepsley eines Tages dabei ertappte. »Was machst du denn da?«, hatte er gefragt. »Ich sehe nach, ob ich schon Fangzähne bekomme«, erklärte ich. Er starrte mich einen Augenblick lang an und brach dann in brüllendes Gelächter aus. »Uns wachsen keine Fangzähne, du Dummkopf!«, prustete er. »Aber ... wie beißen wir dann die Menschen?«, stammelte ich verwirrt. »Wir beißen sie nicht«, erklärte er. »Wir schlitzen ihnen mit den Fingernägeln die Adern auf und saugen sie aus. Die Zähne benutzen wir nur im Notfall.« »Also kriege ich gar keine Fangzähne?« »Nein. Deine Zähne werden härter als die von anderen Menschen, und du kannst damit, wenn es sein muss, Haut und Knochen durchbeißen, aber das ist Pfusch. Nur 10
dumme Vampire benutzen ihre Zähne. Und dumme Vampire leben meist nicht lang. Sie werden gejagt und schließlich umgebracht.« Ich war ein bisschen enttäuscht. Das hatte mir an diesen alten Vampirfilmen immer am besten gefallen: Die Vampire sahen so cool aus, wenn sie ihre Eckzähne entblößten. Aber nach einigem Nachdenken fand ich, dass ich ohne Fangzähne besser dran war. Die Fingernägel, mit denen ich mir Löcher in die Klamotten bohrte, machten mir schon genug zu schaffen. Was für Ärger stünde mir erst bevor, wenn meine Zähne wachsen und ich mir damit Fleischfetzen aus den Innenseiten meiner Wangen reißen würde! Die meisten alten Vampirgeschichten sind reine Erfindung. Wir können weder unsere Gestalt verändern noch fliegen. Kreuze und Weihwasser können uns nichts anhaben. Von Knoblauch bekommen wir höchstens Mundgeruch. Unser Bild ist in jedem Spie gel zu erkennen, und einen Schatten werfen wir auch. Einige Legenden sind allerdings auch wahr. Einen Vampir kann man weder fotografieren noch mit einer Videokamera filmen. Irgendetwas verhält sich mit den Atomen von Vampiren anders als mit denen von Menschen, sodass auf dem Film nur ein dunkler, verschwommener Umriss erscheint. Mich konnte man noch fotografieren, aber das Bild würde unscharf werden, egal wie gut das Licht war. Vampire sind gut Freund mit Fledermäusen und Ratten. Wir können uns zwar nicht in sie verwandeln, wie manche Bücher und Filme behaupten, aber sie mögen uns — sie erkennen am Geruch unseres Blutes, dass wir keine Menschen sind - und kuscheln sich oft an uns, wenn wir schlafen, oder gesellen sich zu uns, um nach Resten unserer Mahlzeiten zu suchen. Hunde und Katzen dagegen verabscheuen uns aus irgendeinem Grund. Das Sonnenlicht tötet einen Vampir tatsächlich, aber nicht auf der Stelle. Ein Vampir kann durchaus tags über herumlaufen, wenn er mehrere Schichten Kleidung übereinander zieht. Er wird sehr schnell braun und innerhalb einer Viertelstunde krebsrot. Vier oder fünf Stunden Sonnenlicht bringen ihn um. Ein Pfahl durch das Herz tötet uns natürlich, aber Ge wehrkugeln, Messer oder Stromschläge genauso. Wir können ertrinken, erschlagen werden oder uns mit bestimmten Krankheiten anstecken. Wir sind zäher als Menschen, aber nicht unverwundbar. Aber ich hatte noch mehr zu lernen. Viel, viel mehr. Mr. Crepsley sagte, es würde noch Jahre dauern, ehe ich alles wisse und allein zurechtkäme. Er warnte mich, dass ein Halbvampir, der nicht wisse, was er tut, nur wenige Monate überleben könne, und deshalb solle ich mich lieber wie eine Klette an seine Fersen heften, selbst wenn ich keine Lust dazu hätte. Nachdem ich den Marmeladentoast aufgegessen hatte, saß ich ein paar Stunden nur herum und kaute an den Fingernägeln. Im Fernsehen gab es nichts Spannendes, aber ich traute mich nicht, das Hotel ohne Mr. Crepsley zu verlassen. Wir befanden uns in einer Kleinstadt, und die Leute machten mich nervös. Ich hatte ständig Angst, dass sie mich durchschauten und merkten, wer ich wirklich war, um dann mit spitzen Pfählen auf mich loszugehen. Gegen Abend stand Mr. Crepsley auf und rieb sich den Magen. »Ich sterbe vor Hunger«, ächzte er. »Es ist noch früh, ich weiß, aber lass uns trotzdem aufbrechen. Ich hätte diesem blöden Pfadfinderführer mehr Blut abzapfen sollen. Ich glaube, ich suche mir noch einen Menschen.« Er blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Vielleicht entschließt du dich ja diesmal, das Mahl mit mir zu teilen.« »Vielleicht«, erwiderte ich, obwohl ich nicht vorhatte, seine Einladung anzunehmen. Das war das Einzige, was ich mir geschworen hatte. Vielleicht musste ich Tierblut trinken, um am Leben zu bleiben, aber ich würde mich niemals an einem Geschöpf meiner eigenen Abstammung gütlich tun, ganz gleich, was Mr. Crepsley sagte oder wie laut mein Magen knurrte. Ja, ich war ein Halbvampir, aber ich war auch zur Hälfte ein Mensch, und der Gedanke daran, einen lebendigen Mitmenschen anzugreifen, erfüllte mich mit Abscheu und Entsetzen.
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BLUT... Mr. Crepsley verbrachte den überwiegenden Teil seiner Zeit damit, mir alles Wissenswerte über Blut beizubringen. Für Vampire ist Blut lebensnotwendig. Ohne Blut werden wir schwach, altern schneller und sterben. Blut hält uns jung. Vampire können zehnmal so alt werden wie Menschen (in zehn Jahren altert ein Vampir nur ein einziges Jahr), aber ohne Menschenblut verfallen wir wesentlich schneller als andere Leute, vielleicht um zwanzig oder dreißig Jahre im Verlauf eines oder zweier Jahre. Als Halbvampir, der etwa fünfmal so alt wird wie ein gewöhnlicher Mensch, brauchte ich zwar nicht so viel davon zu trinken wie Mr. Crepsley - aber ganz ohne Menschenblut konnte auch ich nicht leben. Mit Hilfe von Tierblut - von Hunden, Kühen oder Schafen — können sich Vampire eine Zeit lang über Wasser halten, aber es gibt auch einige Tiere, deren Blut sie - wir — nicht vertragen: Katzen zum Beispiel. Anstelle von Katzenblut könnte ein Vampir genauso gut Gift in sich hineinschütten. Auch das Blut von Affen, Fröschen, Schlangen und den meisten Fischen bekommt uns nicht. Mr. Crepsley hatte mir noch längst nicht alle gefährlichen Tierarten aufgezählt. Es gab unendlich viele, und es würde lange dauern, bis ich unterscheiden konnte, welche Tiere für mich ungefährlich waren und welche nicht. Mr. Crepsley riet mir, ihn immer erst zu fragen, bevor ich etwas Neues ausprobierte. Ungefähr einmal im Monat muss ein Vampir Men schenblut zu sich nehmen. Die meisten laben sich jedoch einmal pro Woche daran. Auf diese Weise brauchen sie nie sehr viel aus einem einzelnen Menschen zu saugen. Wenn man dagegen nur einmal pro Monat Menschenblut trinkt, braucht man eine zu große Menge auf einmal. Mr. Crepsley behauptete, es sei gefährlich, das Trinken zu lange hinauszuzögern. Er warnte mich davor, dass der Durst mich dann so überwältigen könnte, dass ich mehr als beabsichtigt trank und den betroffenen Menschen tötete. »Ein Vampir, der ab und zu einen kleinen Schluck nimmt, hat sich im Griff«, pflegte er zu sagen. »Einer, der erst dann trinkt, wenn er es gar nicht mehr aushält, verliert leicht den Kopf. Wir müssen unserem Hunger ab und zu eine Kleinigkeit gönnen, um ihn unter Kontrolle zu haben.« »Frisches Blut ist das beste. Wenn du einen lebendigen Menschen aussaugst, besitzt das Blut seine volle Kraft, und du brauchst nur wenig davon. Aber bei Toten wird das Blut sauer. Wenn du eine Leiche aussaugst, musst du daher viel mehr trinken.« »Merk dir eine Grundregel: Trink nie aus einem Menschen, der länger als einen Tag tot ist«, schärfte Mr. Crepsley mir eines Tages ein. »Woher soll ich denn wissen, wie lange er schon tot ist?«, fragte ich. »Du schmeckst es«, erklärte er. »Du wirst schnell lernen, gutes Blut von schlechtem zu unterscheiden. Schlechtes Blut schmeckt wie verdorbene Milch, nur noch ekelhafter.« »Ist es schädlich, schlechtes Blut zu trinken?«, fragte ich weiter. »Ja. Dir wird schlecht, und du kannst davon verrückt werden oder sogar daran sterben.« Brrrr! Allein beim Gedanken an unsere Unterhaltung wird mir noch heute übel. Für Notfälle können wir uns aber frisches Blut abfüllen und aufbewahren, so lange wir wollen. Mr. Crepsley hatte immer mehrere Flaschen in seinem Umhang verstaut. Manchmal öffnete er eine davon zu den Mahlzeiten, als wäre es ein guter Schluck Wein. »Könnten Sie sich eigentlich auch ausschließlich von Flasche nblut ernähren?«, wollte ich eines Abends wissen. »Eine Weile schon«, gab er zurück. »Aber nicht auf Dauer.« »Und wie füllen Sie es ab?«, fragte ich neugierig und musterte eine der Flaschen. Sie sah aus wie ein Reagenzglas, nur etwas dunkler und dickwandiger. »Das ist ziemlich 12
kompliziert«, erwiderte er. »Nächs tes Mal lasse ich dich zusehen.«
Blut...
Blut war das, was ich am dringendsten brauchte und zugleich am meisten fürchtete. Wenn
ich erst einmal einen Tropfen Menschenblut getrunken hatte, gab es kein Zurück mehr.
Dann musste ich für den Rest meines Lebens Vampir bleiben. Wenn ich es schaffte, mich
davor zu drücken, konnte ich vielleicht irgendwann wieder ein richtiger Mensch werden.
Vielleicht verbrauchte sich das Vampirblut in meinen Adern eines Tages. Vielleicht musste
ich sterben. Vielleicht starb dann nur der Vampir in mir, und ich selbst konnte zu meiner
Familie und meinen Freunden zurückkehren.
Viel Hoffnung hatte ich nicht, denn Mr. Crepsley hatte behauptet, es sei unmöglich, wieder
ein normaler Mensch zu werden, und ich glaubte ihm. Aber es war der einzige Traum, an
den ich mich noch klammern konnte.
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Die Tage und Nächte vergingen, und wir wanderten immer weiter, durch Kleinstädte, Dörfer und größere Städte. Mit Mr. Crepsley kam ich nicht besonders gut klar. Obwohl er nett war, konnte ich nicht vergessen, dass er derjenige gewesen war, der Vampirblut in meine Adern geschleust und mich dadurch gezwungen hatte, meine Familie zu verlassen. Ich hasste ihn. Bei Tag erwog ich manchmal, ihm im Schlaf einen Pfahl durchs Herz zu treiben, und mich dann allein durchzuschlagen. Vielleicht hätte ich das auch geschafft, aber im Grunde wusste ich, dass ich auf ihn angewiesen war. Im Moment brauchte ich Larten Crepsley noch. Aber wenn erst der Tag gekommen war, an dem ich mich allein zurechtfand ... Ich war inzwischen für Madame Octa verantwortlich, musste Futter für sie besorgen, mit ihr trainieren und ihren Käfig sauber halten. Ich tat es nur widerwillig, denn ich verabscheute die Spinne fast genauso sehr wie den Vampir, aber Mr. Crepsley fand, da ich sie damals gestohlen hatte, könnte ich mich jetzt auch um sie kümmern. Ab und zu übte ich ein paar Kunststücke mit ihr, aber ich war nicht mit dem Herzen dabei. Die Spinne interessierte mich einfach nicht mehr, und je mehr Zeit verging, umso weniger beschäftigte ich mich mit ihr. Das einzig Gute an unserem Zigeunerleben war, dass ich an Orte kam, an denen ich noch nie gewesen war und wo es jede Menge Sehenswürdigkeiten zu besichtigen gab. Ich reiste gern. Aber da wir immer nur nachts unterwegs sein konnten, bekam ich nicht viel von der Umgebung zu sehen! Eines Tages, als Mr. Crepsley schlief, hatte ich es plötzlich satt, immer nur im Zimmer herumzuhocken. Für den Fall, dass ich noch nicht zurück war, wenn er aufwachte, hinterließ ich einen Zettel auf dem Fernseher, dann machte ich mich aus dem Staub. Ich hatte kaum Geld und keine Ahnung, wohin ich eigentlich wollte, aber das spielte keine Rolle. Einfach nur das Hotel zu verlassen und ein paar Stunden allein zu sein, war schon ein herrliches Gefühl. Wir weilten in einer großen, aber ziemlich verschlafenen Stadt. Ich entdeckte ein paar Spielzeugläden, in denen man umsonst Computerspiele ausprobieren durfte. Ich hatte nie besonders gut mit Computern umgehen können, aber mit meinem verbesserten Reak tionsvermögen und den anderen neuen Fähigkeiten schaffte ich fast alles, was ich mir vornahm. Ich erreichte im Nu die höchsten Level bei Autorennen, machte in Kriegsspielen sämtliche Gegner kampfunfähig und ballerte bei Science-Fiction- Abenteuern auch den allerletzten Alien im Universum ab. Danach streifte ich durch die Stadt. Es gab massenhaft Brunnen, Standbilder, Parks und Museen, die ich alle interessiert besichtigte. Allerdings erinnerten mich die Museumsbesuche an Mama; sie war so gern mit mir ins Museum gegangen. Das stimmte mich traurig. Auch sonst fühlte ich mich immer ganz elend und verlassen, wenn ich an Mama und Papa oder Annie dachte. Ich entdeckte eine Gruppe Jungen in meinem Alter, die auf einem rechteckigen Teerplatz Hockey spielten. Jede Mannschaft bestand aus acht Spielern. Die meisten hatten nur Plastikschläger, ein paar allerdings auch welche aus Holz. Als Puck benutzten sie einen alten weißen Tennisball. Ich blieb stehen, um ihnen zuzuschauen, und nach ein paar Minuten kam einer der Jungen auf mich zu. »Woher kommst du?«, fragte er. »Von außerhalb«, antwortete ich. »Ich wohne mit meinem Vater im Hotel.« Ich nannte Mr. Crepsley nicht gern so, aber es war die einfachste Erklärung. »Er kommt von außerhalb!«, rief der Junge seinen Kameraden zu, die ihr Spiel unterbrochen hatten. »Ist er einer von der Addams Family?«, brüllte einer von ihnen zurück, und die anderen lachten. »Was soll das denn heißen?«, fragte ich beleidigt. »Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen?«, kicherte der Junge. 14
Ich blickte an meinem staubigen Anzug herunter und wusste plötzlich, warum sie lachten: Ich sah aus wie eins der Waisenkinder aus Oliver Twist. »Ich hab die Tasche mit meinen normalen Klamotten verloren«, log ich. »Das ist mein einziger Anzug. Aber ich kriege bald was Neues zum Anziehen.« »Na hoffentlich«, erwiderte der Junge grinsend und erkundigte sich dann, ob ich Hockey spielen könne. Als ich bejahte, forderte er mich auf mitzuspielen. »Du kannst in meine Mannschaft kommen«, sagte er und reichte mir einen überzähligen Schläger. »Wir liegen sechs zu zwei im Rückstand. Ich heiße Michael.« »Darren«, antwortete ich knapp und probierte den Schläger aus. Ich krempelte die Hosenbeine hoch und vergewis serte mich, dass meine Schuhe richtig zugebunden waren. Währenddessen erzielte die gegnerische Mannschaft ein weiteres Tor. Michael fluchte laut und trieb den Ball in die Feldmitte. »Machen wir den Anstoß?«, fragte er. »Klar.« »Dann los«, ermunterte er mich, spielte mir den Ball zu, stürmte vor und wartete darauf, dass ich ihn zurückschlug. Es war lange her, seit ich zum letzten Mal Hockey gespielt hatte, denn im Sportunterricht in der Schule durften wir normalerweise zwischen Hockey und Fußball wählen, und ein gutes Fußballspiel ließ ich mir nie entgehen. Aber als ich nun den Schläger in der Hand hielt und den Ball vor mir herschob, kam es mir wie gestern vor. Ich machte ein paar kurze Schläge von links nach rechts, um sicherzugehen, dass ich nicht verlernt hatte, den Ball zu führen, hob dann den Kopf und visierte das Tor an. Zwischen mir und dem Torwart standen sieben Spieler. Keiner von ihnen versuchte, mich anzugreifen. Wahrscheinlich hielten sie es bei einem Vorsprung von fünf Toren für überflüssig. Ich rannte los. Ein großer Kerl, der Kapitän der Gegenmannschaft, versuchte, mir den Weg zu verstellen, aber ich wich ihm geschickt aus. Ich rannte an zwei weiteren Verteidigern vorbei, bevor sie reagieren konnten, und schob den Ball dann um einen vierten herum. Der fünfte Spieler streckte seinen Schläger auf Kniehöhe vor, aber ich sprang mühelos darüber hinweg, bluffte den sechsten und schoss, bevor der siebte und letzte Verteidiger sich mir in den Weg stellen konnte. Obwohl ich den Ball nur leicht antippte, war der Schlag härter, als der Torwart erwartet hatte, und der Ball flog in die obere rechte Ecke des Tors. Als er von der Wand zurückprallte, fing ich ihn im Flug auf. Lächelnd drehte ich mich zu meinen Mannschaftskameraden um. Sie standen noch immer auf ihrer Seite des Spielfeldes und starrten mich entgeistert an. Ich trug den Ball zurück zur Mittellinie und legte ihn wortlos auf den Boden. Dann wandte ich mich an Michael und sagte bloß: »Sieben zu drei.« Er blinzelte verwirrt, erwiderte dann aber mein Lächeln. »Stimmt genau!«, gluckste er vergnügt und zwinkerte seinen Mannschaftskameraden zu. »Ich glaube, da haben wir einen guten Fang gemacht!« Eine Zeit lang amüsierte ich mich prächtig, dirigierte den Angriff, rannte zurück, um unser Tor zu verteidigen, und trickste die gegnerischen Spieler mit supergenauen Pässen aus. Ich erzielte noch zwei Tore und bereitete vier weitere vor. Wir führten neun zu sieben, und das, ohne uns groß anzustrengen. Die andere Mannschaft war stinksauer, und wir mussten unsere beiden besten Spieler herausrücken, aber auch das machte sich nicht im Geringsten bemerkbar. Ich hätte ihnen jeden Spieler außer dem Torwart überlassen und trotzdem noch die Hölle heiß machen können. Dann allerdings wurde die Sache brenzlig. Danny, der Kapitän der gegnerischen Mannschaft, hatte schon die ganze Zeit versucht, mich zu foulen, aber ich war zu schnell für ihn und tänzelte jedes Mal um seinen erho benen Schläger und die vorgestreckten Beine herum. Schließlich begann er, mich in die Rippen zu boxen, mir auf die Zehen zu treten und die Ellenbogen in die Oberarme zu rammen. Es tat nicht weh, aber es nervte mich. Ich hasse schlechte Verlierer. Der Gipfel war, als er mich an einer sehr schmerzhaften Stelle erwischte. Auch die Geduld eines Halbvampirs hat irgendwann ihre Grenzen. Ich brüllte wie ein Stier, 15
krümmte mich und fiel auf die Knie. Danny lachte bloß hämisch und flitzte mit dem Ball davon. Nach wenigen Sekunden rappelte ich mich blind vor Wut auf. Danny hatte schon das halbe Spielfeld überquert. Ich schubste die Spieler zwischen uns beiseite, egal, ob sie zu meiner oder seiner Mannschaft gehörten, stürzte mich auf ihn und drosch mit dem Ho ckeystock auf seine Waden ein. Hätte ein gewöhnlicher Mensch einen solchen Angriff ausgeführt, wäre er schon nicht ganz ungefährlich gewesen. Aber erst ein Halbvampir ... Ein scharfes Knacken ertönte. Danny schrie auf und ging zu Boden. Sofort unterbrachen alle anderen ihr Spiel. Jeder auf dem Feld kannte den Unterschied zwischen dem üblichen Schmerzensgeheul und einem Schrei in höchster Pein. Ich bedauerte meine Tat bereits, als ich aufstand, und wünschte fast, ich könnte sie ungeschehen machen. Ich sah mich nach meinem Schläger um, in der Hoffnung, dass er das knackende Geräusch verursacht hatte, als er zersplitterte. Aber das war nicht der Grund gewesen. Ich hatte Danny beide Schienbeine gebrochen. Seine Unterschenkel waren beängstigend verdreht, und an den Schienbeinen war die Haut aufgeplatzt. Ich konnte das Weiß der Knochen inmitten von blutig rotem Fleisch erkennen. Michael beugte sich zu Danny herunter, um die Verletzung zu begutachten. Als er sich wieder aufrichtete, sah er verstört aus. »Du hast ihm die Beine zertrümmert!«, keuchte er. »Das wollte ich nicht!«, rief ich. »Er hat mir in ...« Ich deutete auf die Stelle zwischen meinen Beinen. »Du hast ihm beide Beine gebrochen!«, brüllte Michael mich an und wich vor mir zurück. Die anderen Jungen taten es ihm nach. Sie hatten Angst vor mir. Seufzend ließ ich den Hockeyschläger fallen und verließ das Spielfeld. Ich wusste, wenn ich blieb und auf das Eintreffen irgendwelcher Erwachsener wartete, machte ich alles nur noch schlimmer. Keiner der Jungen unternahm einen Versuch, mich aufhalten. Ihre Angst war zu groß. Sie hatten panische Angst vor mir. Vor Darren Shan. Vor einem Ungeheuer.
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Es war dunkel, als ich ins Hotel zurückkam. Mr. Crepsley war schon aufgestanden. Ich erklärte ihm, wir müssten die Stadt sofort verlassen, erzählte ihm aber nicht, wieso. Er warf nur einen kurzen Blick auf mein Gesicht, nickte und fing an, unsere Habseligkeiten zusammenzupacken. In jener Nacht sprachen wir nicht viel. Meine Gedanken kreisten immer wieder darum, was für ein schreckliches Schicksal es doch war, ein Halbvampir zu sein. Mr. Crepsley merkte genau, dass mit mir etwas nicht stimmte, aber er stellte keine lästigen Fragen. Ich hatte gewiss nicht zum ersten Mal schlechte Laune. Er war inzwischen an meine unberechenbaren Stimmungsumschwünge gewöhnt. Wir entdeckten eine verfallene Kirche, in der wir schlafen konnten. Mr. Crepsley streckte sich auf einer langen Bank aus, und ich bereitete mir auf dem Fußboden ein Lager aus Moos und Gras. Früh am darauf folgenden Nachmittag erwachte ich und verbrachte den Tag damit, die Kirche und den kleinen Friedhof, der sie umgab, zu erkunden. Die Grabsteine waren schon alt, und viele waren geborsten und von Unkraut überwuchert. Ich beschäftigte mich ein paar Stunden damit, einige von ihnen zu säubern, indem ich die Pflanzen ausriss und die Steine mit Wasser aus dem nahen Fluss abwusch. Diese Tätigkeit lenkte meine Gedanken von dem Hockeyspiel ab. Auf dem Friedhof hatte auch eine Hasenfamilie ihren Bau. Nach einiger Zeit kamen die Tierchen neugierig heran, um zu sehen, was ich da tat. Es waren putzige Kerlchen, besonders die Jungen. Einmal stellte ich mich schlafend, und zwei von ihnen hoppelten immer näher, bis sie nur noch einen halben Meter von mir ent fernt waren. Als sie nah genug herangekommen waren, sprang ich auf und brüllte »Buh!«, und sie stoben auseinander, als wäre ihnen der Leibhaftige auf den Fersen. Ein Häschen stolperte sogar über die eigenen Läufe und schlug einen Purzelbaum, bevor es in der Öffnung seiner Höhle verschwand. Das besserte meine Laune beträchtlich. Am frühen Abend ging ich in einen Laden und kaufte etwas Fleisch und Gemüse. Dann machte ich in der Kirche ein kleines Feuer und holte die Tasche mit den Töpfen und Pfannen unter Mr. Crepsleys Bank hervor. Ich kramte darin herum, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte: einen kleinen Topf, nicht größer als eine Konservenbüchse. Vorsichtig stellte ich ihn mit dem Boden nach oben auf die Erde und drückte auf die gewölbte Unterseite. Der Topf entfaltete sich wie ein Fächer, der aufgeklappt wird, und war in Sekundenschnelle so groß wie ein normaler Topf. Ich füllte ihn mit Wasser und setzte ihn aufs Feuer. Alle Töpfe und Pfannen in der Tasche besaßen diese Eigenschaft. Mr. Crepsley hatte sie vor langer Zeit von einer Frau namens Evanna bekommen. Sie wogen genauso viel wie gewöhnliches Geschirr, aber sie waren bequemer zu tragen, weil sie sich so klein zusammen falten ließen. Ich bereitete einen Eintopf zu, so wie Mr. Crepsley es mir beigebracht hatte. Er fand, jeder sollte kochen können. Dann nahm ich die Gemüseabfälle mit nach draußen und streute sie vor dem Kaninchenbau auf die Erde. Mr. Crepsley war überrascht, beim Aufwachen ein fix und fertiges Abendessen vorzufinden - für ihn war es allerdings eher ein Frühstück. Er streckte schnüffelnd die Nase über den blubbernden Topf und leckte sich die Lippen. »Daran könnte ich mich glatt gewöhnen«, grinste er zufrieden, reckte sich und fuhr sich mit der Hand durch das orangefarbene Haar. Dann rieb er über die lange Narbe, die sich über seine linke Gesichtshälfte zog; das tat er häufig. Ich hatte ihn schon oft fragen wollen, wie er zu der Narbe gekommen war, hatte mich aber nie getraut. Eines Abends, wenn ich mutiger geworden war, würde ich es tun. 17
Tische gab es nicht, deshalb nahmen wir die Teller auf den Schoß. Mr. Crepsley wischte sich den Mund mit einer Seidenserviette ab und hüstelte gekünstelt. »Schmeckt ausgezeichnet«, lobte er. »Danke«, gab ich zurück. »Ich ... ähem ... also ...» Er seufzte. »Diplomatie war noch nie meine Stärke«, sagte er dann, »deshalb frage ich dich jetzt ohne große Umschweife: Was ist gestern schief gelaufen? Warum warst du so verstört?« Ich starrte auf meinen fast leeren Teller und wusste nicht, ob ich antworten sollte. Aber dann sprudelte plötzlich die ganze Geschichte aus mir heraus. Ich holte kaum Luft, ehe ich fertig war. Mr. Crepsley hörte aufmerksam zu. Als ich schwieg, dachte er erst ein oder zwei Minuten nach, bevor er sich dazu äußerte. »Daran wirst du dich gewöhnen müssen«, sagte er schließlich. »Es ist nun einmal eine Tatsache, dass wir stärker, schneller und ausdaue rnder sind als Menschen. Wenn du mit normalen Jungen Hockey spielst, bleiben Verletzungen nicht aus.« »Ich wollte ihn aber nicht verletzen«, protestierte ich. »Es war ein Unfall.« Mr. Crepsley zuckte die Achseln. »Hör zu, Darren, du kannst nicht verhindern, dass so etwas wieder passiert, nicht, wenn du dich in die Gesellschaft von Menschen begibst. Ganz gleich, wie sehr du dich bemühst, wie sie zu sein, du bist es nicht. Solche Unfälle werden sich immer wieder ereignen.« »Sie wollen damit sagen, dass ich nie wieder Freunde haben kann, nicht wahr?« Ich nickte bekümmert. »Das habe ich mir schon gedacht. Deshalb war ich auch so traurig. An den Gedanken, dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehren und mich nicht mehr mit meinen alten Freunden treffen kann, habe ich mich inzwischen gewöhnt, aber dass ich auch nie mehr neue Freunde finden werde, ist mir erst gestern klar geworden. Ich bin voll und ganz auf Sie angewiesen. Andere Freunde habe ich nicht zu erwarten, stimmt's?« Mr. Crepsley rieb wieder seine Narbe und schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Das ist nicht ganz richtig«, erwiderte er dann. »Du kannst durchaus Freunde finden. Du musst nur sehr vorsichtig sein. Du ...« »Das genügt mir aber nicht!«, schrie ich. »Sie haben es doch eben selbst gesagt: Ich muss ständig mit weiteren Unfällen rechnen. Sogar jemandem einfach nur die Hand zu schütteln, ist total riskant. Ich könnte demjenigen aus Versehen mit den Fingernägeln die Pulsadern aufschlitzen.« Ich wiegte den Kopf hin und her. »Nein«, sagte ich dann bestimmt. »Ich möchte kein Menschenleben in Gefahr bringen. Ich bin zu gefähr lich, um Freunde zu haben. Außerdem lassen die Umstände ohnehin nicht zu, dass ich eine richtige Freund schaft schließe.« »Warum nicht?« »Richtige Freunde haben keine Geheimnisse voreinander. Ich könnte einem normalen Menschen niemals erzählen, dass ich ein Halbvampir bin. Ich müsste ständig lügen und mich für jemanden ausgeben, der ich nicht bin. Und ich müsste trotzdem ständig Angst haben, dass er es herausfindet und mich dann verabscheut.« »Dieses Problem haben alle Vampire«, winkte Mr. Crepsley ab. »Aber nicht jeder Vampir ist ein Kind!«, rief ich. »Wie alt waren Sie, als Sie zum Vampir wurden? Waren Sie ein ausgewachsener Mann?« Mr. Crepsley nickte. »Für Erwachsene sind Freunde nicht so wichtig. Mein Papa hat mir erklärt, dass sich Erwachsene mit der Zeit daran gewöhnen, weniger Freunde zu haben. Stattdessen haben sie ihre Arbeit, ihre Hobbys und andere Dinge, mit denen sie sich beschäftigen. Aber für mich waren meine Freunde das Wichtigste im Leben, abgesehen von meiner Familie. Meine Familie haben Sie mir genommen, als Sie Ihr stinkiges Blut in mich hineingepumpt haben. Und jetzt haben Sie mir auch noch die Chance vermasselt, jemals wieder einen richtigen Freund zu finden. Verbindlichsten Dank«, schloss ich wütend. »Danke, dass Sie aus mir ein Ungeheuer ge macht und mein Leben zerstört haben.« Ich war den Tränen nahe, aber ich wollte vor Mr. Crepsley nicht losheulen. Also rammte ich meine Gabel in das letzte Fleischstück auf meinem Teller, stopfte es in den Mund und kaute wie wild darauf herum. Nach meinem Ausbruch schwieg Mr. Crepsley lange. Ich wusste nicht, ob er verärgert war oder ob ich ihm Leid tat. Ich befürchtete schon, dass ich zu weit gegangen war. Was sollte ich tun, wenn er sich 18
abwandte und sagte: »Wenn du so denkst, gehe ich wohl besser« ? Was sollte dann aus mir werden? Ich war kurz davor, mich zu entschuldigen, als er mit sanfter Stimme zu sprechen begann und seine Worte mich völlig verblüfften. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich hätte dich damals nicht anzapfen dürfen. Es war eine dumme Idee. Du bist noch zu jung. Meine eigene Jugend liegt schon so lange zurück, dass ich völlig vergessen habe, was in einem Kind vorgeht. Ich habe nie an deine Freunde gedacht und daran, wie sehr du sie vermissen würdest. Ich habe einen Fehler begangen. Einen verhängnisvollen Fehler. Ich ...« Seine Stimme brach. Er sah so zerknirscht aus, dass ich fast Mitleid mit ihm hatte. Aber dann fiel mir all das ein, was er mir angetan hatte, und ich hasste ihn wieder. Plötzlich sah ich einige verräterische Tropfen in seinen Augenwinkeln glitzern, und er tat mir von neuem Leid. Ich war ziemlich durcheinander. »Zum Jammern ist es sowieso zu spät«, lenkte ich schließlich ein. »Es gibt kein Zurück. Was passiert ist, ist passiert, oder?« »Stimmt«, seufzte er. »Wenn ich könnte, würde ich mein unheilvolles Geschenk zurücknehmen. Aber das ist unmöglich. Wer einmal Vampir ist, bleibt es für immer. Wenn die Verwandlung einmal vollzogen ist, kann keine Macht der Welt sie wieder rückgängig ma chen. Trotzdem«, fuhr er fort, »ist es nicht ganz so schlimm, wie du jetzt denkst. Vielleicht ...« Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Vielleicht was?«, fragte ich. »Wir können durchaus Freunde für dich finden«, erklärte er. »Du musst dich nicht die ganze Zeit nur mit mir begnügen.« »Das verstehe ich nicht.« Ich runzelte die Stirn. »Sind wir nicht eben zu dem Schluss gekommen, dass ich für Menschen ein zu großes Risiko bin?« »Ich spreche nicht von Menschen«, erwiderte Mr. Crepsley, und seine Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln. »Ich spreche von Leuten mit besonderen Fähigkeiten. Leuten wie uns. Leuten, denen du dein Geheimnis offenbaren kannst...« Er beugte sich vor und ergriff meine Hände. »Darren«, sagte er, »was hältst du davon, umzukehren und dich dem Cirque du Freak anzuschließen?«
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Je länger wir über diese Idee beratschlagten, desto besser gefiel sie mir. Mr. Crepsley versicherte mir, dass die anderen Zirkusmitglieder meine neue Natur erkennen und mich als einen der Ihren akzeptieren würden. Die Zusammenstellung der Show wechselte häufig, und es war fast immer jemand in meinem Alter dabei. Vor diesen Leuten musste ich garantiert kein Blatt vor den Mund nehmen. »Und was ist, wenn es mir dort nicht gefällt?«, fragte ich. »Dann verschwinden wir eben wieder«, erwiderte Mr. Crepsley. »Ich bin gern mit dem Zirkus umhergezo gen, aber ich kann auch ohne ihn leben. Wenn es dir dort gefällt, bleiben wir. Wenn nicht, gehen wir unserer eigenen Wege.« »Werden die anderen denn nichts dagegen haben, dass Sie mich einfach so anschleppen?«, bohrte ich nach. »Du wirst natürlich deinen Beitrag leisten müssen«, erklärte er. »Meister Riesig besteht darauf, dass sich alle an der Arbeit beteiligen. Du wirst mithelfen müssen, Stühle und Scheinwerfer aufzubauen, Souvenirs zu verkaufen, nach der Vorstellung sauber zu machen oder für alle zu kochen. Du bekommst viel zu tun, musst dich aber auch nicht überarbeiten. Uns bleibt ge nug Zeit für deinen Unterricht.« Wir beschlossen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Wenigstens würden wir dann endlich wieder jede Nacht in einem richtigen Bett schlafen können. Von dem dauernden Übernachten auf der Erde war mein Rücken schon grün und blau. Bevor wir aufbrechen konnten, musste Mr. Crepsley erst einmal feststellen, wo der Zirkus sich derzeit aufhielt. Ich fragte ihn, wie er das herausfinden wollte. Er erklärte mir, dass er sich in Meister Riesigs Gedanken einschalten könne. »Meinen Sie damit, dass Meister Riesig telepathische Fähigkeiten besitzt?«, fragte ich, denn mir fiel plötzlich wieder ein, wie Steve Leute genannt hatte, die sich durch Gedankenübertragung verständigen konnten. »So ähnlich«, erwiderte Mr. Crepsley. »Wir können zwar nicht durch bloße Gedankenkraft miteinander sprechen, aber ich kann die Schwingungen seiner ... Aura, könnte man es nennen, empfangen. Wenn ich diese erst einmal lokalisiert habe, ist es kein Problem mehr, ihn selbst zu finden.« »Könnte auch ich seine Aura lokalisieren?«, erkundigte ich mich. »Nein«, antwortete Mr. Crepsley. »Die meisten Vampire - und nur wenige besonders begabte normale Menschen - können so etwas, aber Halbvampire nicht.« Er setzte sich mitten in der Kirche auf eine Bank und schloss die Augen. Fast eine Minute lang rührte er sich nicht. Dann schlug er die Augen wieder auf und erhob sich. »Hab ihn schon«, verkündete er. »So schnell?«, staunte ich. »Ich dachte, es würde länger dauern.« »Ich habe mich schon oft auf seine Aura konzentriert«, erklärte Mr. Crepsley. »Ich weiß gena u, wonach ich suchen muss. Es ist nicht schwieriger, als eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden.« »Aber gerade das soll doch besonders schwierig sein!« »Nicht für einen Vampir«, brummte er. Beim Zusammenpacken sah ich mich noch einmal in der Kirche um. Irgendetwas störte mich, aber ich war mir nicht sicher, ob ich es Mr. Crepsley gegenüber er wähnen sollte oder lieber nicht. »Nun mach schon«, forderte er mich plötzlich zu meiner Verblüffung auf. »Frag, was immer du auf dem Herzen hast.« »Woher wussten Sie, dass ich Sie etwas fragen wollte?«, stotterte ich. Mr. Crepsley lachte bloß. »Man muss kein Vampir sein, um einem Kind seine Neugier an der Nasenspitze anzusehen. Du bist ja schon seit Stunden kurz vor dem Zerplatzen. Also, worum geht's?« Ich holte tief Luft. »Glauben Sie an Gott?«, fragte ich. Mr. Crepsley blickte mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und nickte dann 20
bedächtig. »Ich glaube an die Götter der Vampire.« Ich runzelte die Stirn. »Haben Vampire denn Götter?« »Natürlich«, gab Mr. Crepsley zurück. »Jedes Volk hat seine Götter: die Ägypter, die Inder, die Chinesen. Vampire bilden da keine Ausnahme.« »Und wie steht es mit dem Himmel?«, fragte ich weiter. »Wir glauben an das Paradies. Es liegt hinter den Sternen. Wenn wir ein gutes Leben geführt haben, löst sich unsere Seele nach unserem Tod von der Erde, schwebt vorbei an Sternen und Milchstraßen und erreicht schließlich eine wundervolle Welt auf der anderen Seite des Universums - das Paradies.« »Und wenn man kein gutes Leben geführt hat?« »Dann bleibt man hier«, erwiderte er. »Dann ist man als Geist an diese Erde gebunden und dazu verurteilt, für immer ruhelos auf diesem Planeten umherzuirren.« Ich dachte nach. »Wann führt denn ein Vampir ein gutes Leben?«, fragte ich dann. »Wie schafft man es, ins Paradies zu kommen?« »Bleib anständig«, deklamierte er. »Töte nur im Notfall. Verletze niemanden. Nimm Rücksicht auf deine Mitmenschen.« »Blut zu trinken ist also nichts Böses?«, wunderte ich mich. »Nur, wenn du die Person, der du Blut aussaugst, dadurch umbringst«, erwiderte Mr. Crepsley. »Und selbst das kann unter gewissen Umständen eine gute Tat sein.« »Jemanden umzubringen, kann gut sein?« Ich schnappte nach Luft. Mr. Crepsley nickte ernst. »Alle Menschen haben eine Seele, Darren. Wenn jemand stirbt, wandert seine Seele entweder in den Himmel oder ins Paradies. Aber es ist möglich, einen Teil der Seele hier auf der Erde zurückzubehalten. Wenn wir jemandem nur eine kleine Men ge Blut aussaugen, nehmen wir nichts von der Seele desjenigen in uns auf. Aber wenn wir viel trinken, lebt ein Teil von ihm in uns weiter.« »Aber wie?«, fragte ich stirnrunzelnd. »Wenn wir einem Menschen Blut aussaugen, eignen wir uns damit auch seine Erinnerungen und Gefühle an«, erklärte Mr. Crepsley. »Sie werden ein Teil von uns, und wir können die Welt dann mit seinen Augen sehen und uns an Dinge erinnern, die sonst in Vergessenheit geraten würden.« »Zum Beispiel?« Mr. Crepsley dachte einen Augenblick nach. »Einer meiner besten Freunde heißt Paris Skyle«, erläuterte er schließlich. »Er ist schon sehr, sehr alt. Vor vielen hundert Jahren war er mit William Shakespeare befreundet.« »Mit dem William Shakespeare ... dem Typen, der die ganzen Theaterstücke geschrieben hat?« Mr. Crepsley nickte. »Theaterstücke und Gedichte. Aber nicht sämtliche Werke Shakespeares sind überliefert. Einige seiner berühmtesten Verse gingen verlo ren. Als Shakespeare starb, trank Paris von seinem Blut - der Dichter hatte ihn selbst darum gebeten - und konnte sich so an diese verlorenen Verse erinnern und sie niederschreiben lassen. Ohne sie wäre unsere Welt um einiges ärmer.« »Aber ...« Ich stockte. »Macht man das nur mit Leuten, die sowieso im Sterben liegen und einen darum bitten?« »Ja«, bestätigte Mr. Crepsley. »Einen gesunden Menschen zu töten, wäre böse. Aber das Blut von Freunden zu trinken, die dem Tode nahe sind, und auf diese Weise ihre Erinnerungen und Erfahrungen lebendig zu erhalten ...« Er lächelte. »Das ist wahrhaftig eine gute Tat.« »Jetzt komm aber«, sagte er dann. »Du kannst unterwegs darüber nachdenken. Wir müssen los.« Sobald wir reisefertig waren, sprang ich auf Mr. Crepsleys Rücken, und wir huschten mit rasender Geschwindigkeit davon. Er hatte mir noch immer nicht erklärt, wie er es anstellte, sich derartig schnell zu bewegen. Er rannte nicht einfach nur; es war eher, als glitte die Welt an uns vorüber, während er auf der Stelle lief. Er sagte, alle vollwertigen Vampire beherrschten diese Art der Fortbewegung. Es sah schön aus, wie die ländliche Umgebung an uns vorbeizog. Schneller als der Wind sausten wir über Hügel und kahle Ebenen. Wir bewegten uns absolut lautlos, und niemand bemerkte uns, als wären wir von einer magischen Luftblase umgeben. Ich grübelte über das nach, was Mr. Crepsley mir eben erzählt hatte: wie man die Erinnerungen anderer Menschen vor dem Vergessen bewahren konnte, indem man ihr Blut trank. Ich konnte mir nicht ganz erklären, wie das funktionieren sollte, und beschloss, ihn später noch einmal danach zu 21
fragen. Huschen war Schwerstarbeit. Der Vampir schwitzte, und ich merkte, dass er bald am Ende seiner Kräfte sein würde. Um ihm Erleichterung zu verschaffen, zog ich eine Flasche Menschenblut aus seinem Umhang, entkorkte sie und hielt sie ihm an die Lippen, damit er trinken konnte. Er nickte einen stummen Dank, wischte sich den Schweiß von der Stirn und huschte weiter. Als der Himmel allmählich heller wurde, kam Mr. Crepsley schließlich zum Stehen. Ich sprang von seinem Rücken und sah mich um. Wir befanden uns mitten auf einer Landstraße, umgeben von Feldern und Bäumen. Weit und breit war kein Haus zu sehen. »Wo ist der Cirque du Freak?«, fragte ich. »Ein paar Kilometer in diese Richtung.« Mr. Crepsley, der nach Luft schnappend in die Knie gegangen war, streckte den Zeigefinger aus. »Ist Ihnen die Puste ausgegangen?«, fragte ich und konnte ein Kichern nicht unterdrücken. »Nein«, knurrte er. »Ich hätte noch weiterhuschen können, aber ich wollte nicht mit knallrotem Gesicht dort ankommen.« »Ruhen Sie sich nicht zu lange aus«, warnte ich. »Es wird bald Morgen.« »Ich weiß selber, wie spät es ist!«, giftete er mich an. »Ich weiß mehr über Tagesanbruch und Morgendämmerung als jeder lebende Mensch. Wir haben noch massenhaft Zeit. Mindestens dreiundvierzig Minuten.« »Wenn Sie meinen.« »Ja, das meine ich.« Verärgert richtete er sich auf und ging in normalem Tempo weiter. Ich wartete, bis er ein paar Meter voraus war, und überholte ihn dann im Laufschritt. »Na los, Opa«, spottete ich, »Nicht so ein Schneckentempo!« »Mach nur weiter so«, brummte er. »Du wirst schon noch sehen, was du davon hast. Du handelst dir gleich eine Ohrfeige und einen Tritt in den Hintern ein.« Aber nach ein paar Minuten fiel auch er in Laufschritt, und wir trabten Seite an Seite die Straße entlang. Ich war bester Laune und fühlte mich so gut wie schon seit Monaten nicht. Es tat gut, endlich wieder ein Ziel zu haben. Wir kamen an einem Haufen zerlumpter Camper vorbei, die gerade beim Aufstehen waren. Ein Pärchen winkte uns zu. Es waren ulkige Typen: Sie hatten lange Haare, trugen merkwü rdige Kleidung und waren über und über mit auffälligen Ohrringen und Armreifen behängt. Ihr Lager hing voller Fähnchen und Spruchbänder. Ich versuchte, im Vorüberlaufen eins davon zu lesen, aber es gelang mir nicht, und anhalten wollte ich nicht. Nach den Bruchstücken, die ich aufgeschnappt hatte, zu schließen, ging es um eine Protestaktion gegen eine neue Umgehungsstraße. Die Straße war sehr kurvenreich. Nach der fünften Wegbiegung erspähten wir endlich auf einer kleinen Lichtung am Flussufer den Cirque du Freak. Alles war ruhig, wahrscheinlich schliefen sie noch. Wären wir mit dem Auto unterwegs gewesen und hätten nicht ge zielt nach Wagen und Zelten Ausschau gehalten, hätten wir ihn leicht übersehen können. Es war ein seltsamer Lagerplatz für einen Zirkus. Weder gab es ein Gebäude noch ein großes Zelt für die Vorstellung. Ich nahm an, dass der Zirkus hier zwischen zwei Städten Rast machte. Mr. Crepsley schlängelte sich zielsicher zwischen Lastwagen und Autos hindurch. Er wusste genau, wohin er wollte. Ich folgte ein wenig zögerlich, als mir die Nacht wieder einfiel, in der ich mich an den Freaks vorbeigeschlichen und Madame Octa gestohlen hatte. Vor einem langen, silbergrau gestrichenen Wohnwagen blieb Mr. Crepsley stehen und klopfte. Die Tür öffnete sich fast im selben Augenblick, und vor uns ragte die hohe Gestalt von Meister Riesig auf. Im Dämmerlicht wirkten seine Augen noch dunkler als sonst. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich schwören können, dass er keine Augäpfel besaß, sondern nur zwei leere, schwarze Augenhöhlen. »Ach, du bist es«, brummte er mit tiefer Stimme, fast ohne die Lippen zu bewegen. »Ich hatte schon so ein Gefühl, dass du nach mir suchst.« Er reckte den Hals und blickte über Mr. Crepsleys Schulter auf mich he runter. Ich zitterte. »Ich sehe, du hast den Jungen mit gebracht.« »Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Mr. Crepsley. »Selbstverständlich. Wie lautet doch 22
gleich die Begrüßungsformel für euch Vampire?« Er lächelte. »Tritt ein, nach deinem eigenen freien Willen.« »So ähnlich«, bestätigte Mr. Crepsley, und aus dem Lä cheln auf seinem Gesicht schloss ich, dass es sich um einen alten Scherz zwischen den beiden handelte. Wir kletterten in den Wohnwagen und setzten uns. Das Gefährt war nur spärlich eingerichtet: ein paar Regale mit Plakaten und Flugblättern für den Zirkus sowie dem hohen, roten Hut und den Handschuhen, die ich schon kannte, dazu ein paar Nippsachen und ein Klappbett. »Ich habe dich nicht so bald zurückerwartet, Larten«, bemerkte Meister Riesig. Sogar im Sitzen wirkte er unendlich lang. »Es entsprach auch nicht meinen Absichten, Hibernius.« Hibernius? Was für ein merkwürdiger Name. Aber er passte irgendwie zu ihm. Hibernius Riesig. Das klang seltsam. »Habt ihr Ärger bekommen?«, erkundigte sich Meister Riesig. »Nein«, erwiderte Mr. Crepsley. »Darren war unglücklich. Ich fand, er sei hier, bei Leuten seines Schlages, besser untergebracht.« »So, so.« Meister Riesig musterte mich neugierig. »Du hast eine lange Reise hinter dir, seit wir uns zuletzt begegnet sind, Darren Shan«, sagte er dann. »Ich wäre lieber da geblieben, wo ich war«, knurrte ich. »Warum bist du dann fortgegangen?«, konterte er. Ich starrte ihn wütend an. »Das wissen Sie genau«, erwiderte ich. Meister Riesig nickte bedächtig. »Dürfen wir hier bleiben?«, fragte Mr. Crepsley. »Gewiss«, erwiderte Meister Riesig rasch. »Ich freue mich sogar darüber. Wir sind im Moment etwas schwach besetzt. Alexander Knochen, Sive und Seersa und Bertha Beißer sind geschäftlich unterwegs oder haben Urlaub. Cormac Der Vielgliedrige ist auf dem Weg hierher, wird aber nicht vor heute Abend eintreffen. Larten Crepsley und seine dressierte Wunderspinne sind stets eine wertvolle Bereicherung unseres Programms.« »Danke«, erwiderte Mr. Crepsley. »Und ich?«, fragte ich dreist. Meister Riesig lächelte. »Du bist nicht ganz so wertvoll«, entgegnete er, »aber ebenso willkommen.« Ich schnaubte, aber ich schwieg. »Wo treten wir als Nächstes auf?«, erkundigte sich Mr. Crepsley. »Hier«, erklärte Meister Riesig. »Hier?«, japste ich verblüfft. »Überrascht dich das?«, fragte Meister Riesig. »Aber hier ist doch weit und breit nichts«, wandte ich ein. »Ich dachte, der Zirkus gastiert nur in Städten, wo ein großes Publikum zu erwarten ist.« »Unser Publikumsandrang ist immer groß«, erwiderte Meister Riesig. »Ganz gleich, wo wir spielen, die Leute kommen in Strömen. Normalerweise suchen wir uns dichter besiedelte Gegenden aus, aber in dieser Jahreszeit herrscht bei uns meistens Flaute. Wie schon gesagt, mehrere unserer besten Künstler sind abwesend, genau wie ... gewisse andere Mitglieder unserer Truppe.« Meister Riesig und Mr. Crepsley tauschten einen verschwörerischen Blick, und ich fühlte mich ausgeschlossen. »Und deshalb bleiben wir eine Weile hier«, fuhr Meister Riesig fort. »Wir werden ein paar Tage lang keine Vorstellung geben. Wir ruhen uns aus.« »Auf dem Weg hierher sind wir an einem Zeltlager vorbeigekommen«, bemerkte Mr. Crepsley. »Machen die Bewohner euch Schwierigkeiten?« »Die Fußtruppen der NSO.« Meister Riesig lachte. »Die haben viel zu viel damit zu tun, Bäume und Felsen zu beschützen, um sich mit uns zu befassen.« »Was ist die NSO?«, fragte ich. »Die Naturschutzopposition«, erklärte Meister Riesig. »Es sind Umweltkämpfer. Sie ziehen durchs Land und versuchen den Bau neuer Brücken und Straßen zu verhindern. Sie sind schon ein paar Monate in dieser Gegend, aber sie brechen ihre Zelte bald ab.« »Sind es richtige Soldaten?«, fragte ich. »Mit Gewehren und Handgranaten und Panzern?« Die beiden Erwachsenen lachten sich halb tot. »Manchmal ist er wirklich ein wenig schwer von Begriff«, stieß Mr. Crepsley zwischen zwei Lachsalven hervor, »aber er ist gar nicht so dumm, wie es den Anschein hat.« Ich spürte, wie ich rot wurde, aber ich hielt den Mund. Aus Erfahrung wusste ich, dass es 23
keinen Sinn hat, sich über Erwachsene aufzuregen, wenn sie einen auslachen; sie lachen dann bloß noch mehr. »Sie selbst nennen sich zwar Kämpfer«, erläuterte Meister Riesig schließlich, »aber eigentlich sind sie keine. Sie ketten sich an Bäume, schütten Sand in die Motoren von Schaufelbaggern und streuen Nägel auf Autobahnen. Solche Sachen eben.« »Warum ...«, fing ich wieder an, aber Mr. Crepsley fiel mir ins Wort. »Wir haben jetzt keine Zeit mehr für Fragen«, sagte er. »Es sind nur noch ein paar Minuten bis Sonnenaufgang.« Er erhob sich und schüttelte Meister Riesig die Hand. »Danke, dass du uns wieder aufnimmst, Hibernius.« »Mit Vergnügen«, erwiderte Meister Riesig. »Du hast doch gut auf meinen Sarg aufgepasst?« »Selbstverständlich.« Mr. Crepsley schmunzelte zufrieden und rieb sich die Hände. »Den vermisse ich unterwegs immer am schmerzlichsten. Es wird gut tun, wieder einmal darin zu schlafen.« »Was machen wir mit dem Jungen?«, fragte Meister Riesig. »Sollen wir ihm auch noch schnell einen Sarg zimmern?« »Ich denke ja nicht dran!«, rief ich aus. »In so ein Ding kriegen Sie mich nicht noch mal.« Schaudernd erinnerte ich mich daran, wie es gewesen war, lebendig begraben im Sarg zu liegen. Mr. Crepsley lächelte. »Darren kann bei einem der anderen Artisten schlafen«, schlug er vor. »Wenn's geht, bei jemandem in seinem Alter.« Meister Riesig dachte einen Augenblick nach. »Wie wär's mit Evra?« Mr. Crepsleys Lächeln wurde breiter. »Genau. Bei Evra. Eine ausgezeichnete Idee.« »Wer ist Evra?«, fragte ich nervös. »Das wirst du schon merken«, versprach Mr. Crepsley und öffnete die Wagentür. »Ich lasse dich jetzt in Meis ter Riesigs Obhut. Er wird sich deiner annehmen. Ich muss gehen.« Mit diesen Worten verschwand er, um seinen geliebten Sarg zu suchen. Ich warf einen Blick über die Schulter und merkte, dass Meister Riesig direkt hinter mir stand. Ich hatte keine Ahnung, wie er den Raum so schnell durchquert hatte. Ich hatte nicht einmal gehört, wie er aufgestanden war. »Gehen wir?«, fragte er. Ich schluckte und nickte. Meister Riesig geleitete mich über den Zeltplatz. Der Morgen brach an, und in einigen Wohnwagen und Zelten flammten Lichter auf. Der Direktor der Freak Show führte mich zu einem alten, grauen Zelt, in dem fünf oder sechs Leute Platz hatten. »Hier hast du ein paar Decken«, sagte er und reichte mir ein Bündel Wolldecken. »Und ein Kissen.« Ich habe keine Ahnung, wo er die Sachen plötzlich hernahm - als wir seinen Wohnwagen verließen, hatte er sie noch nicht in der Hand gehabt - , aber ich war zu müde, um zu fragen. »Schlaf, so lange du willst. Wenn du wach bist, komme ich und erläutere dir deine Pflichten. Bis dahin wird sich Evra um dich kümmern.« Ich schlug die Plane vor dem Zelteingang zurück und spähte ins Innere. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. »Wer ist Evra?«, fragte ich noch einmal und drehte mich nach Meister Riesig um. Aber er war längst mit der ihm eigenen lautlosen Schnelligkeit ver schwunden. Seufzend kroch ich in das Zelt, die Decken an die Brust gedrückt. Ich ließ die Plane zurückfallen und blieb reglos stehen, bis sich meine Augen an die Dunkelheit ge wöhnt hatten. Ich hörte jemanden leise atmen und konnte hinten im Zelt einen undeutlichen Umriss in einer Hängematte ausmachen. Dann sah ich mich nach einem geeigneten Platz für mein eigenes Nachtlager um. Ich wollte nicht, dass mein Zeltgenosse über mich stolperte, wenn er aufstand. Blindlings trat ich ein paar Schritte vor. Da glitt plötzlich etwas durch die Finsternis auf mich zu. Abrupt blieb ich stehen und starrte geradeaus. Ich wüns chte mir verzweifelt, besser sehen zu können, denn ohne Sternen- oder Mondlicht hat sogar ein Vampir Schwierigkeiten. »Hallo?«, rief ich leise. »Bist du Evra? Ich bin Darren Shan, dein neuer ...« Ich stockte. Das gleitende Geräusch war jetzt unmittelbar vor meinen Füßen angelangt. Während ich wie angewurzelt dastand, wand sich etwas Fleischiges, Glitschiges um meine Beine. Mit einem Schlag wurde mir klar, worum es sich handelte, aber ich traute mich nicht, nach unten zu 24
schauen, wo das Etwas inzwischen über die Hälfte meines Körpers umschlang. Erst, als es sich auch um meinen Brustkorb gewickelt hatte, brachte ich den Mut auf, den Blick zu senken, und fand mich Auge in Auge mit einer unglaublich langen, armdicken, zischenden ... Schlange!
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Über eine Stunde stand ich wie gelähmt vor Angst da, ohne mich zu rühren, starrte in die tödlich kalten Augen der Schlange und wartete darauf, dass sie zustieß. Als endlich die helle Morgensonne durch die Zeltleinwand drang, regte sich die schlafende Gestalt in der Hängematte, setzte sich gähnend auf und blickte um sich. Der Schlangenjunge, denn um den handelte es sich, bekam einen Riesenschreck, als er mich sah. Er ließ sich in die Hängematte zurückfallen und zog die Decke schutzsuchend bis ans Kinn. Erst dann bemerkte er die Schlange um meinen Leib und stieß erleichtert die Luft aus. »Wer bist du?«, fragte er ungehalten. »Was suchst du hier?« Ich schüttelte langsam den Kopf. Ich fürchtete, das Heben und Senken meiner Brust beim Sprechen würde die Schlange zum Angriff reizen. »Antworte«, herrschte er mich an, »oder ich befehle ihr, dir die Augen auszureißen.« »Ich ... ich ... ich bin Da-Darren Sh-Sh-Shan«, stotterte ich. »Meister Ri- Ri-Riesig hat m- mich in dein Z-Zelt geschickt. Er hat gesagt, ich b b-bin dein neuer Mm-M-Mitbewohner.« »Darren Shan?« Der Schlangenjunge runzelte nachdenklich die Stirn und zeigte dann auf mich, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. »Du bist Mr. Crepsleys Gehilfe, stimmt's?« »Ja«, hauchte ich. Der Schlangenjunge grinste. »Wusste Mr. Crepsley, dass Meister Riesig dich bei mir unterbringen wollte?« Als ich vorsichtig nickte, brach er in Gelächter aus. »Ich habe noch nie einen Vampir ohne einen ausge prägten Sinn für üble Scherze getroffen.« Er schwang sich aus der Hängematte, kam auf mich zu, packte die Schlange am Kopf und begann, sie von mir abzuwickeln. »Dir ist nichts passiert«, tröstete er mich. »Du warst keinen Augenblick ernsthaft in Gefahr. Die Schlange hat die ganze Zeit geschlafen. Du hättest sie wegzerren können, ohne dass sie sich gewehrt hätte. Sie hat einen sehr festen Schlaf.« »Sie schläft?«, quäkte ich. »Aber ... warum hat sie sich dann um meinen Körper geschlungen?« Der Junge lächelte. »Sie schlafwandelt.« »Schlafwandelt?« Ich starrte erst ihn und dann die Schlange an, die sich während der gesamten Abwickelprozedur kein einziges Mal gerührt hatte. Endlich löste sich ihre letzte Windung, und ich konnte einen Schritt beiseite treten. Meine Beine waren steif und prickelten wie von tausend Nadelstichen getroffen. »Eine schlafwandelnde Schlange.« Ich zwang mich zu einem Lachen. »Ein Glück, dass sie nicht auch im Schlaf frisst.« Der Schlangenjunge verstaute sein Haustier in einer Ecke des Zeltes und strich ihm liebevoll über den Kopf. »Sie hätte dich auch nicht gefressen, wenn sie aufgewacht wäre«, erklärte er. »Sie hat erst gestern eine Ziege verspeist. Schlangen ihrer Größe brauchen nur selten Futter.« Er warf einen letzten Blick auf das Tier, schlug die Pla ne vor dem Eingang zurück und trat ins Freie. Ich folgte ihm auf dem Fuße, denn ich wollte auf keinen Fall mit dem Reptil allein bleiben. Draußen bei Tageslicht betrachtete ich ihn von Kopf bis Fuß. Er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: ein paar Jahre älter als ich, sehr dünn mit langem gelb grünem Haar, schmalen Augen und seltsam zusammengewachsenen Fingern und Zehen; sein Körper war über und über mit grünen, goldenen und blauen Schuppen bedeckt. Außer einer kurzen Hose war er nackt. »Übrigens«, bemerkte er, »ich heiße Evra Von.« Er streckte mir die Hand hin, und ich schüttelte sie. Seine Handfläche fühlte sich glatt, aber trocken an. Ein paar Schuppen lösten sich und blieben an meinen Fingern haften, als ich sie wegzog. Sie sahen aus wie bunte Fet zen toter Haut. »Evra Von was?«, fragte ich. »Einfach nur Von«, gab er zurück und rieb sich den Magen. »Hast du Hunger?« »Ja«, sagte ich, und wir machten uns auf die Suche nach etwas Essbarem. Inzwischen war der Zeltplatz zum Leben erwacht. Weil am vergangenen Abend keine Vorstellung stattgefunden hatte, waren die meisten Freaks und ihre Helfer zeitig zu Bett 26
gegangen und auch früher als sonst wieder aufgestanden.
Das bunte Treiben fesselte mich. Mir war nicht klar ge wesen, wie viele Leute der Cirque du
Freak tatsächlich beschäftigte. Ich hatte gedacht, es seien nur die Artisten und ihre Gehilfen,
die in der Vorstellung, die ich damals mit Steve besucht hatte, aufgetreten waren, aber als ich
mich jetzt umsah, merkte ich, dass diese Leute nur die Spitze des Eisbergs waren.
Mindestens zwei Dutzend Personen, die ich noch nie gesehen hatte, liefen über den Platz,
unterhielten sich, wuschen Wäsche oder kochten.
»Wer sind all diese Leute?«, fragte ich. »Die wahren Stützen des Cirque du Freak«, erklärte
Evra. »Sie fahren die Lastwagen, bauen die Zelte auf, erledigen die Wäsche und das Kochen,
bessern unsere Kostüme aus und räumen nach der Vorstellung auf. Wir sind ein großes
Unternehmen.« »Und sind es normale Menschen?«, erkundigte ich mich.
»Die meisten«, bestätigte Evra. »Wie sind sie zum Cirque du Freak gekommen?« »Manche
von ihnen sind Verwandte der Artisten, andere Freunde von Meister Riesig. Einige sind
einfach vorbeigekommen und dageblieben, weil es ihnen bei uns gefallen hat.« »Darf man
das denn einfach so?« »Wenn Meister Riesig deine Nase passt, schon«, erwiderte Evra. »Im
Cirque du Freak gibt es immer eine Menge zu tun.«
Er blieb neben einem großen Lagerfeuer stehen. Hans Hände (der Mann, der auf den Händen
schneller laufen kann als der beste Sprinter der Welt) hockte auf einem Baumstumpf,
während Truska (die Bärtige Dame, die ihren Bart durch bloße Willenskraft wachsen lassen
kann) an einem Stock Würstchen über das Feuer hielt.
Weitere, ganz normal aussehende Menschen saßen oder lagen um das Feuer herum.
»Einen wunderschönen Guten Morgen, Evra Von«, grüßte Hans Hände. »Gleichfalls,
Hans«, erwiderte Evra. »Wer ist denn dein junger Freund da?«, fragte Hans und beäugte
mich misstrauisch. »Das ist Darren Shan«, stellte Evra mich vor. »Der Darren Shan?« Hans
zog die Augenbrauen hoch. »Genau der«, grinste Evra.
»Was meine n Sie mit >Der Darren Shan