MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 118
Countdown in Moskau von Bernd Frenz
Eingehüllt in weiße Dampfschwaden, d...
101 downloads
1231 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 118
Countdown in Moskau von Bernd Frenz
Eingehüllt in weiße Dampfschwaden, die aus den Überdruckventilen zischten, stand die Lokomotive auf dem Gleis. In der flachen Tundra wäre sie bei Tage Kilometer weit zu sehen gewesen, jetzt aber schälten sich ihre Umrisse nur undeutlich aus dem Dunkel der Nacht. Der von Ruß geschwärzte Aufbau und die vier angekoppelten Waggons reflektierten keinen einzigen Mondstrahl. Nur der gelbliche Schein einiger Fackeln gewährte kurze Blicke auf den rostigen, vielfach übereinander genieteten und geschweißten Stahl. Die Gestalten, die sich innerhalb des Zuges zu schaffen machten, störten sich nicht an der schlechten Sicht. Im Gegenteil, sie schraken zusammen, als plötzlich zwei Dutzend Scheinwerfer das Gelände in ein kaltes, blendendes Licht tauchten.
WAS BISHER GESCHAH
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa'muren, damals mit dem Kometen zur Erde kamen. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Nun drohen sie zur dominierenden Rasse des Planeten zu werden... Auf der Suche nach Verbündeten versorgen Matt & Co. die Technos in Europa und Russland mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist ein Mann, den die Aliens in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Smythe. Er kennt ihre Herkunft, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre Fähigkeiten. Sie streben eine Kooperation mit ihm an. Eines ihrer Hauptziele ist aber die Neutralisierung von Matthew Drax, den sie als den »Primärfeind« betrachten. Sie beeinflussen mit einem Virus den Neo-Barbaren Rulfan, Sohn des Prime der Community Salisbury, und machen ihn zu ihrem Sklaven. Als Matt & Co.
Gerüchten um einen »König im Westen« nachgehen, der eine Armee um sich scharen soll, richtet es Rulfan so ein, dass die Daa'murin Aunaara in Gestalt einer Barbarin an der Expedition teilnimmt. Doch bevor sie zuschlagen kann, wird sie enttarnt und flieht. Der König selbst, der sich für den wiedergeborenen Artus hält, wird von Rulfan erschossen. Im nachfolgenden Machtkampf der Heerführer zerbrechen seine Armeen. In Meeraka stirbt Präsident Victor Hymes beim Angriff eines Stoßtrupps, den Miki Takeo geschickt hat. Doch er fällt nicht den Androiden zum Opfer, sondern General Crow, der seinen Posten übernimmt und einen Rückschlag gegen Takeo führt. Zwar können die Allianz und Aiko das Schlimmste verhindern, doch fällt mächtige Technik in die Hände des Weltrats... Die Explosion einer japanischen Rakete offenbart den Daa'muren einen überraschenden Effekt: Der Antrieb ihrer Kometen-Raumarche wird für den Bruchteil einer Sekunde reaktiviert! Um das »Projekt Daa'mur« zu verwirklichen, beginnen sie nukleare Sprengsätze aus alten Waffenlagern, AKWs und Bunkern zu sammeln. In der Slowakei wird die Allianz darauf aufmerksam, doch die Daa'muren entkommen mit 41 Raketenköpfen Richtung Osten.
Den scharf umrissenen Lichtkegeln folgten rasch anwachsende, klobige Schatten. Tiefes, von metallischem Rasseln untermaltes Grollen erfüllte die Nacht. Ein Lärm, der Gefahr verkündete, auch für jene, die nie zuvor ein Kettenfahrzeug gesehen oder gehört hatten. Die Fackelträger reagierten entsprechend verstört. Eilig sprangen sie aus den offenen Schiebetüren, rannten aufeinander zu und verständigten sich mit kehligen, von Panik erfüllten Lauten. Dann, als sie sahen, dass sich der Ring immer enger schloss, rannten sie ziellos umher, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Doch wohin sollten sie sich wenden? Sie waren längst eingekesselt! Als Gruppe gab es keine Chance, deshalb stoben sie auseinander, in der vagen Hoffnung, den anrückenden Stahlmonstern einzeln zu entschlüpfen. Die meisten warfen einfach ihre Fackel fort, zogen den Kopf zwischen die Schultern und stürmten wild drauflos. So wie der hagere Barbar mit dem flachsblonden Haar, der eine Lücke zwischen Ramenki 3 und Rasputin 5 ansteuerte. Im Lichtermeer aus sich kreuzenden Scheinwerferkegeln konnte er die breiten Reifen der Radpanzer sehen, aber auch die alles zermalmenden Kettenbänder der AMOTs. Wie schwach und verletzlich er doch war angesichts so großer mechanischer Gewalt, die ihn blitzschnell zu erfassen und niederzuwalzen drohte. Trotzdem rannte er weiter, getrieben von dem Wissen, dass jedes Zögern erst recht ins Verhängnis führte. Für Sekunden schöpften er und seine Freunde wohl Hoffnung, weil die Panzer den Abstand zueinander beibehielten. Aber natürlich! Wenn die Kolosse zu dicht aneinander rückten, liefen sie Gefahr, miteinander zu kollidieren. Also musste ein gewisser Sicherheitskorridor
gehalten werden, zweifellos breit genug, um gefahrlos hindurch schlüpfen zu können. Allerdings rückte keiner der Barbaren weit genug vor, um diese Theorie zu überprüfen. Blassgelbe Strahlen aus aufmontierten Energiewerfern beendeten die Treibjagd, lange bevor der tote Winkel der Bordwaffen erreicht war. Eingehüllt in ein Netz aus sich verästelnden Energiefasern brach ein Barbar nach dem anderen zusammen. Der Blondschopf entging zwar einem Treffer, indem er in letzter Sekunde einen Haken schlug, geriet durch das Ausweichmanöver aber direkt in die Bahn des anrollenden AMOTs. Um nicht unter den Kettenbändern zu enden, brach er abermals nach links aus und hetzte mit weit ausgreifenden Schritten zum Zug zurück. Links und rechts von ihm sanken die letzten Kameraden zu Boden. Nur er stand noch aufrecht. In Erwartung des Fangschusses blickte er gehetzt über die Schulter, genau in die drohend auf ihn gerichteten Kanonen – ohne dass sich einer der Abstrahlpole entlud. Das Gesicht zu einer Maske blanken Entsetzens erstarrt, sah der Blonde wieder nach vorn und rannte weiter. Schaum flockte von seinen Lippen, während er eine aufgeschobene Waggontür ansteuerte. Dass der Zug keine Deckung mehr bot, wusste er, trotzdem hielt er darauf zu, ganz einfach weil es keine andere Alternative mehr gab. Erst ein seitlich heran schießender ARET machte ihm die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen klar. Der Blonde stoppte, starrte auf das anwachsende Scheinwerferpaar, das ihn kalkweiß erscheinen ließ, und warf sich zitternd zu Boden. Der parallel zu den Gleisen fahrende ARET bremste abrupt ab, doch so ein tonnenschweres Gefährt ließ sich nicht von einer Sekunde auf die andere stoppen. Die blockierten Räder rutschten auf dem feuchten Gras weiter.
Statt aufzuspringen und in Sicherheit zu hechten, verschränkte der am Boden kauernde Krieger die Hände im Nacken und ergab sich wimmernd seinem Schicksal. Er sah auch nicht auf, als der anrutschende ARET so weit an Geschwindigkeit verlor, dass er zwei Meter von ihm entfernt zum Stehen kam. Obwohl ihn kein einziger Energiestrahl getroffen hatte, kniete der Barbar wie paralysiert da. Nicht einmal das Zischen der sich öffnenden Schleusen und das Aufstampfen der herausspringenden Soldaten entlockten ihm eine Regung. Zitternd presste er das Gesicht noch tiefer ins Gras, als ob nichts geschehen könnte, solange er den Gegner nicht sah. *** »Den Mann auf keinen Fall betäuben«, wiederholte Mr. Black mehrmals über Funk, bevor er das Seitenschott des Führerhauses öffnete und sich ins Freie schwang. Mit der ihm eigenen kraftvollen Geschmeidigkeit kam er neben dem ARET auf und eilte zu dem wenige Meter entfernt zitternden Barbaren, der weiterhin keine Anstalten zur Gegenwehr machte. Black war Individualist, das belegte schon seine Kleidung. Mit seiner schwarzen Hose und der hellbraunen Lederjacke unterschied er sich deutlich von den blauen Allzweckanzügen der russischen Sicherheitskräfte, die rundum ausschwärmten. Sershant Hansen und zwei weitere Mitglieder der ISR (Interne Sicherheit von Ramenki) rückten sofort auf, um Black vor möglichen Attacken zu schützen. Andere stürmten den Zug mit gezogenen Waffen oder durchkämmten die Umgebung. Der Barbar zu ihren Füßen krümmte sich zusammen, bis seine bebenden Schulterblätter, die deutlich unter der Fellweste
hervorstachen, auf einen Schlag erstarrten. Leise schluchzend erwartete er den Gnadenstoß. »Solange du niemanden angreifst, geschieht dir nichts«, beruhigte ihn Black, dessen Worte von einem kleinen Gürtellautsprecher in die Sprache der Ruländer übertragen wurde. »Steh auf und zeig uns dein Gesicht!« Der Blonde reagierte sehr zögerlich, bis sich die Stiefelspitze eines Infanteristen in seine Rippen bohrte. Daraufhin schnellte er herum, griff mit beiden Händen nach hinten ins Gras und sah gehetzt in die Runde. Die Waffenläufe, die ihm von allen Seiten entgegen starrten, waren nicht gerade dazu angetan, seine Panik zu dämpfen. Sershant Hansen, der Mr. Black zur Linken flankierte, wies den übereifrigen Treter zurecht, um die Lage zu entspannen. Der Barbar, einigermaßen erstaunt, noch am Leben zu sein, fand denn auch seine Sprache wieder. »Keine Blitze schleudern!«, bettelte er. »Ontacas Männer wussten nicht, dass die Dampfschlange euch gehört! Sonst hätten sie nie geguckt, ob es darin etwas Brauchbares gibt. Wirklich, das ist wahr, das schwört euch Jiinszi!« Im Zuge seiner Namensnennung schlug er sich mit der Faust auf den Brustkorb, um zu unterstreichen, dass er von sich selbst redete. »Jiinszi hat bestimmt nichts genommen«, fuhr er dann fort. »Es gab ja auch nichts, was zu gebrauchen war!« Erste Meldungen bestätigten die gähnende Leere, die im Inneren der Waggons herrschte. »Nur ein wenig Feuerholz habe ich genommen!« Jiinszi geriet langsam in Fahrt, denn jedes Wort, das er sprach, bedeutete gewonnene Lebenszeit. »Ich habe es auf die Glut geworfen, um uns bis zum Morgen zu wärmen. Mehr nicht. Der Schlangenkopf war schon kaputt. Ehrlich. Der fing von ganz alleine an zu dampfen.« Sein Blick irrte in die Runde, um die Wirkung seiner Worte
zu prüfen. Das allgemeine Schweigen gab Hoffnung und verunsicherte ihn zugleich. Am Ende sah er deshalb wieder zu Mr. Black, den er instinktiv als Anführer erkannte. Ängstlich auf der Unterlippe kauend dachte Jiinszi einen Augenblick nach, bis ihm eine Idee kam. »Ich könnte neues Feuerholz fällen«, bot er hoffnungsvoll an. »Nicht weit von hier stehen Bäume, die ein paar gute Scheite abgeben. Viel mehr, als ich verbrannt habe.« Mr. Black zeigte keine Begeisterung über diesen Vorschlag, sondern runzelte die Stirn. Beide Hände in die Hüften gestemmt, sah er auf Jiinszi herab und fragte streng: »Du behauptest also, kein Daa'mure zu sein. Sehe ich das richtig?« »Darr-muuure?«, wiederholte der Barbar unbeholfen. »Nein, nein, du irrst dich, Herr. Meine Brüder und ich sind Krieger von Ontacas Stamm! Keine Darr-muuuren!« »Tatsächlich?«, bohrte Arne Hansen nach. »Du weißt also nichts von den Atomsprengköpfen, die mit diesem Zug transportiert wurden?« Die frisch gewonnene Zuversicht auf Jiinszis Gesicht zerbröckelte. »Atom-Peng-Köpfe? Nein, ich sage doch, es war schon alles leer, als wir kamen!« Seine letzten Worten mutierten zu einem hohen Jaulen, das noch weiter anschwoll, als er sah, wie Arne nach dem Kampfmesser in seinem Stiefel langte. Die breite, in leichtem Bogen zulaufende Klinge funkelte unheilvoll, während er zu Mr. Black sah, der sein weiteres Vorgehen mit einem kurzen Nicken absegnete. Der angebliche Barbar zu ihren Füßen versuchte aufspringen, doch plötzlich gab es ein Dutzend Hände, das ihn packte und niederrang. Sershant Hansen, Nachfahre eines schwedischen Physikers, den es zu Zeiten des Kometeneinschlags in die wissenschaftliche Führung von Ramenki verschlagen hatte, packte den Gefangenen am rechten
Arm und zerrte ihn in die Höhe. Den jämmerlichen Protest des Wehrlosen ignorierend, schob er dessen Leinenärmel zurück, setzte die scharfe Schneide auf den nackten Oberarm und zog sie blitzschnell über die Haut. Jiinszi schrie auf, als ob er amputiert würde, dabei handelte es sich nur um einen stark blutenden, aber sonst völlig harmlosen Schnitt. Alle Augen richteten sich auf die Wundränder, zwischen denen es rot hervor quoll. Selbst Mr. Black beugte sich vor, um besser sehen zu könne. »Da dampft nichts«, kommentierte er nach einigen Sekunden verdrossen. Arne war der gleichen Ansicht, gab aber zu bedenken, dass es dem Schnitt vielleicht nur an Tiefe mangelte. »Nein«, entschied Black mit einer Gewissheit, die ihn vom einfachen Soldaten unterschied. »Commander Drax sprach von Veränderungen der offenen Hautlappen und von glühenden Fleischschichten. Außerdem tritt auch bei kleinen Verletzungen Dampf aus. Nein, das hier ist nur ein Herumtreiber, der den leeren Zug ausplündern wollte.« Mit einem Wink befahl er, von dem Barbaren abzulassen. Jiinszi zeigte sich daraufhin mehr verwirrt als erleichtert, vielleicht weil er mit noch Schlimmerem rechnete. Seine freie Hand auf die Wunde gepresst, suchte er gehetzt nach einer Fluchtmöglichkeit, musste aber schließlich die erdrückende Übermacht anerkennen. »Verarztet den Kerl, aber lasst ihn nicht aus den Augen«, ordnete Mr. Black an. »Stellt vor allem sicher, dass seine Stammesbrüder wirklich Menschen sind. Möglichst noch, bevor die Paralyse abklingt.« Die angesprochenen Sicherheitskräfte führten Jiinszi zu einem AMOT, von der gerade eine Sanitätseinheit absaß. Der zuständige Arzt organisierte als erstes, dass die überall verstreut liegenden Barbaren auf Tragen gebettet und herbei
geschafft wurden. Die Energiewerfer der ARETs dienten zwar nur der Betäubung, trotzdem kam es manchmal zu Komplikationen. »Wir müssen uns eine bessere Methode der Überprüfung einfallen lassen«, regte Arne an. »Wir können nicht ständig anderen Leuten ins Fleisch schneiden, nur um sicher zu stellen, dass wir es nicht mit Daa'muren zu tun haben.« Mr. Black zupfte das schwarze T-Shirt unter der Lederjacke zurecht, bevor er antwortete: »Natürlich wäre ein freundlicherer Umgang wünschenswert, aber bevor wir nicht mehr über diese Gestaltwandler wissen, müssen wir uns mit dem begnügen, was möglich ist. Auch wenn es zuweilen brutal erscheint.« Seine Worte klangen ungewohnt erschöpft, fast ein wenig mutlos. Zumindest für einen Mann, dessen Tatkraft und Opferwille in ganz Moska Anlass zur Legende bot. Doch die Anspannung der letzten Tagen zerrte auch an den stärksten Nerven. Im gleichen Moment, da die nächste Meldung eintraf, straffte sich die Gestalt des Kommandeurs, der den zivilen Rang eines Sonderbeauftragten für Sicherheitsfragen einnahm, wieder. Sein entschlossener Gesichtsausdruck kehrte zurück, als wäre er nie fort gewesen. Unbewegt nahm er zur Kenntnis, das sich der erste Eindruck auf ganzer Linie bestätigte. »Alle vier Waggons enthalten Bleikammern«, klärte sie Stanislav Ogareff, ein junger Wissenschaftler, der auf Arnes Anraten hin ins Kollektiv beordert wurde, auf. »Die Reststrahlung lässt keinen Zweifel daran, dass dort radioaktives Material gelagert wurde.« Mr. Black wollte sich selbst ein Bild von der Situation machen, und so marschierten sie zu dritt los. Ein Blick durch die nächstgelegene Schiebetür offenbarte einige aus schlichten
Bleiplatten zusammengesetzte Truhen. Bis vor kurzem hatten die Behälter noch spaltbares Material enthalten. Nicht nur einen Waggon voll, wie ihnen Commander Drax über Funk gemeldet hatte, nein, von der ehemaligen Slowakei bis hierher, knapp zweihundert Kilometer vor Moskau, war der Transport auf vier volle Wagenladungen angewachsen. Was für eine Menge, welche Vernichtungskraft! Nur Orguudoo mochte wissen, wo das gefährliche Material inzwischen aufbewahrt wurde. Der Höchste Dämon, oder die Fährtenleser, die gerade von den ersten Erkundungen zurückkehrten. »Der Zug wurde bereits seit Tagen erwartet«, meldete ein schmalgesichtiger Fähnrich mit üppig sprießendem Haar, das seinen einstmals kahlen Technoschädel mit schwarzen Stoppeln bedeckte. »Gut zweihundert Meter von hier, in einem kleinen Waldhain, gibt es Spuren eines Lagerplatzes. Dort haben sich mehrere Dutzend Frekkeuscher und Andronen aufgehalten.« Mr. Black antwortete mit keinem Wort, doch seine angespannten Halsmuskeln wiesen auf seinen Gemütszustand hin. Die schwerfällige Bürokratie in Ramenki hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, so viel stand fest. Es hatte einfach zu lange gedauert, eine ausreichend große Eingreiftruppe aufzustellen. Nun standen sie hier, gut vierundzwanzig Stunden zu spät, während der Transport der Sprengköpfe auf verschlungenen Wegen im Lande versickerte. »Gibt es noch eine Möglichkeit, Spuren anhand erhöhter Strahlungswerte auszumachen?«, fragte er ohne große Hoffnung. »Ausgeschlossen«, lautete die prompte Antwort. »Jenseits der Bäume schweigen die Geigerzähler. Unser Gegner weiß genau, was er tut. Seine Lasttiere sind vermutlich mit Bleiboxen ausgerüstet.«
Mr. Black nickte, als ob nichts anderes zu erwarten gewesen wäre. Arne Hansen tat sich dagegen schwer, die Misere stillschweigend zu akzeptieren. »Das kann doch alles nicht wahr sein!«, brauste er auf, um seiner Anspannung Luft zu machen. »Was haben die Daa'muren mit diesem gefährlichen Zeug nur vor? Und wohin schaffen sie es jetzt?« Mr. Black lächelte bitter. »Wenn wir Pech haben, an irgendeinen geheimen, schwer zugänglichen Ort mitten in Moska.« *** Irgendwo in Moska, an einem geheimen, schwer zugänglichen Ort »Da sind sie ja endlich!« Kosmur atmete erleichtert auf, als sich, rund fünfhundert Schritte entfernt, zwei Lastandronen zwischen überhängenden Ranken hervor schoben. »Ein Glück, das sind die beiden letzten.« Die mannshohen Tiere mit den langen chitingepanzerten Beinen hatten einen langen Weg hinter sich, trotzdem überwanden sie mühelos einige Trümmerreste und schlängelten sich aus der zugewucherten Gasse hervor. Über der nur partiell bewohnten Ruinenstadt spannte sich ein blutroter Himmel, der zum Osten hin bereits ins Gelbe verlief. Moskas Dächer verdeckten noch die aufgehende Sonne, doch es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihr strahlendes Haupt so weit erhob, dass sie die Menschen ins Freie lockte. Kosmur trat aus dem Schatten der Arkade und winkte den Reitern zu, um ihnen die Orientierung zu erleichtern. Dabei schimpfte er leise: »Die sollen sich gefälligst beeilen, es ist schon beinahe taghell.« »Nur die Ruhe«, mischte sich Sergiuz aus dem Hintergrund
ein. »Wen kümmert schon, wer in diese verlassene Ecke reitet?« Kosmur verkniff sich den Einwurf, bereits die Anwesenheit des Zaritsch würde beweisen, dass hier mehr vorging als nur ein normaler Handel. Aber in diesem Punkt war mit Sergiuz einfach nicht zu reden. Selbstsicher wie eh und je bestand er darauf, mit anwesend zu sein. Vermutlich auf die Einflüsterung von Luura hin, seiner derzeitigen Favoritin. Kosmur warf dem Pärchen einen giftigen Blick zu. Jedem anderen hätte diese Respektlosigkeit den Kopf kosten können, doch er durfte sich das herausnehmen. Er war schon eine Ewigkeit mit Sergiuz befreundet. Genau genommen seit sie im »Plastiflex« zum ersten Mal ein paar tumbe Waldläufer beim Kartenspiel ausgenommen hatten. Ach ja, das Plastiflex! Wie sehr er die alte Spelunke doch manchmal vermisste. Dort hatten sie auch die Aufrührer kennen gelernt, die die Macht der Bluttempler und deren Vasallen brechen wollten. Zuerst hatten Sergiuz und Kosmur nur an ihnen verdient, etwa durch Waffenverkäufe oder Spitzeldienste. Am Ende hatte der gewitzte Sergiuz aber die Gunst des Augenblicks genutzt und sich selbst an die Spitze des Aufstandes geschwungen, in der festen Absicht, Zaritsch anstelle des alten Zaritsch zu werden. Kosmur hatte bei dem Sturm auf den Kreml an seiner Seite gefochten, das hatte ihn bis heute zum zweitmächtigsten Mann der Stadt gemacht – zumindest solange es keine Lustdame gab, die Sergiuz den Kopf verdrehte. So wie Luura, die sich schon seit überraschend vielen Monden an der Seite des sonst so sprunghaften Herrschers hielt. Wenn man seinem verklärten Blick glauben durfte, war Sergiuz ihr noch lange nicht überdrüssig. Dabei war es sicher keine Liebe, die aus ihm sprach. Zu diesem Gefühl war er gar nicht fähig. Nein, die Art, in der er Luura ständig angaffte, besaß eher etwas Unterwürfiges, Beflissenes, das überhaupt
nicht zu seinem Charakter passte. Vielleicht war das der Grund, warum Kosmur dieser Frau misstraute, obwohl sie ihm stets freundlich begegnete und ihm auch jetzt wieder ein verschmitztes Lächeln schenkte. Die Andronen trabten näher. Wenigstens das lief nach Plan. Während Kosmur auf sie wartete, blickte er erneut zu dem ungleichen Pärchen, das auf einer aus Trümmerstücken geformten Bank weilte. Der Zaritsch trug wie üblich weit ausgestellte Lederhosen und eine knappe Fellweste, die einen Blick auf die goldenen Ringe zuließ, die an seinen Brustwarzen baumelten. Dieses Exemplar war wesentlich weiter geschnitten als frühere Westen, trotzdem quollen zwischen Saum und Hosengürtel dicke Speckrollen hervor. Das bequeme Leben hatte Sergiuz verfetten lassen, und das Alter machte ebenfalls nicht vor ihm Halt. Sein schulterlanges schwarzes Haar, auf das er so stolz war, begann sich bereits zu lichten. Am Hinterkopf wuchs schon eine kreisrunde kahle Stelle heran, und auch die Stirn reichte viel höher als noch im letzten Winter. Luura, die gerade eine seiner dünnen Strähnen um den Zeigefinger wickelte, schien dieses Manko nicht zu stören. Dabei verkörperte sie selbst ein Maß an Perfektion, wie es in diesen harten Zeiten nur sehr junge Frauen besaßen, die jedoch meist genauso rasch verblühten, wie sie sich entfalteten. Luura aber verfügte über Reife und Selbstsicherheit, die bewiesen, dass sie viel älter war, als sie nach außen hin wirkte. All ihre sichtbaren Attribute entsprachen dem Idealmaß. Sie war nicht zu mager, wie eine, die hungern musste, sondern gut genährt und an den richtigen Stellen gerundet. Gleichzeitig wucherten ihre Formen nicht zu üppig, wie bei vielen, die alles in sich hinein stopften, aus Furcht, dass der nächste Tag vielleicht wieder einen leeren Teller bereit halten könnte. Ihre geschwungenen Hüften und die wogenden Brüste
zogen immer wieder die Blicke der Männer auf sich. Vor allem, weil sie meist – so wie heute – ein eng anliegendes Kleid aus brünierten Plättchen trug, das jede ihrer Kurven geräuschlos nachzeichnete, als ob es fest mit ihrem Leib verwachsen wäre. Der tiefe, schulterfreie Ausschnitt und die nackten Unterarme gewährten dabei einen Blick auf ihren weißen, an frische Milch erinnernden Teint. Das tief in den Rücken fallende brünette Haar besaß einen seidigen Glanz, der im Sonnenschein silbern schimmerte. Ein Phänomen, das Kosmur ebenso irritierte wie die feine Maserung, die er manchmal auf ihrer Haut auszumachen glaubte. Im gleichen Moment, da diese Erinnerung in ihm aufstieg, fasste Luura an die eng um ihren Hals laufende Bernsteinkette – bei der es sich selbstverständlich um ein Geschenk von Sergiuz handelte – und sagte: »Kosmur hat Recht, wir sollten uns beeilen, bevor sich noch ein Wanderer in diese Gegend verirrt.« Es gab Zeiten, da hätte Sergiuz eine Herzensdame, die es wagte, Vorschläge zu unterbreiten, grob zur Seite gestoßen. In diesem Fall sprang er jedoch auf, strich tatendurstig über seine Weste und trat einige Schritte vor. Wie auf ein geheimes Kommando lösten sich daraufhin mehrere Männer der Leibgarde aus ihren Verstecken und rückten zu seinem Schutz auf. Mit ihren rotblauen Waffenröcken, den Schwertern, Spießen und Bögen machten sie einen bedrohlichen Eindruck auf die Andronenreiter, die erschrocken ihre Tiere zügelten und nervös über die Schulter schauten, um zu sehen, ob sich hinter ihnen noch mehr Überraschungen abzeichneten. »Nur die Ruhe!«, rief Kosmur rasch und sprang vom Säulengang herab. »Unsere Männer wollen euch bloß beim Abladen helfen.« Dabei setzte er sein harmlosestes Lächeln auf und winkte die beiden näher.
Kosmur war gut einen Kopf kleiner als der Durchschnitt. Deshalb rasierte er auch sein Haar über den Ohren ab und schmierte den verbliebenen Mittelstreifen mit Tierfett ein, um die Strähnen zu spitz aufragenden Stacheln zu verdrehen. Diese Frisur ließ ihn größer wirken und verlieh ihm gleichzeitig eine witzige Note, die dafür sorgte, dass ihn die meisten Menschen unterschätzten. Wenn andere stärker sind als du, musst du eben verschlagener sein, hatte sich einst sein Vater, ebenfalls kein Riese, zum Lebensmotto erkoren. Kosmur hatte das versoffene Stück Dreck, das ihn bis zum vierzehnten Lebensjahr beinahe täglich durchgeprügelt hatte, zwar stets wie die Pest gehasst, aber dieser Ratschlag erwies sich bis heute als sein wertvollstes Erbe. Auch jetzt gelang es ihm wieder, die Gegenseite von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen. Die Andronenreiter stimmten sich kurz ab und lenkten ihre Tiere näher. »Seht doch, der Zaritsch selbst bürgt für eure Sicherheit«, redete Kosmur weiter auf sie ein. »Außerdem habe ich jede Menge Ruubel für eure Mühen.« Er zog zwei Ledersäckchen unter seinem Wams hervor und klimperte mit den Münzen darin. Als die beiden nahe genug waren, warf er ihnen den Lohn zu, um ihr Vertrauen weiter zu festigen. Die links und rechts aufragenden Andronen wussten diese Bewegungen nicht richtig zu schätzen. Wild mit ihren langen behaarten Fühlern wackelnd, warfen sie die schwarz glänzenden Köpfe zur Seite. Die Reiter zeigten sich nach einem Blick auf die Summe umso zufriedener. Derart lohnende Transporte gab es nur selten. »Wo sollen die schweren Truhen hin?«, fragte der Ältere der beiden, ein rothaariger Koloss mit grobporiger Haut, dem die Haare nicht nur vom Kopf und im Gesicht wucherten, sondern auch auf den Handrücken und aus der Nase sprossen.
Sein Begleiter besaß ein ähnlich flammendes Haupt, war jedoch wesentlich schlanker und feingliedriger. Falls es sich trotzdem um Vater und Sohn handelte, überwogen bei ihm die Attribute der Mutter, und dafür konnte er sich glücklich schätzen. »Dort rein.« Kosmur deutete auf die weitläufige Ruine, aus deren Schatten er gerade getreten war. Er wusste nicht, dass es sich dabei um das ehemalige Puschkin-Museum handelte, nur dass die leeren Räumlichkeiten genügend Platz für die Riesenameisen boten. »Kein Problem«, versicherte der Alte denn auch und lenkte sein Tier voran. Über die verwitterten Stufen ging es zum Eingang hinauf. Die Säulen am oberen Absatz, auf denen einmal das Vordach geruht hatte, waren schon längst eingestürzt. Nur noch einige abgebrochene Stummel ragten dort in die Höhle, ohne ein ernsthaftes Hindernis für die langbeinige Androne zu bilden. Kosmur eilte ihm nach, um den Weg zu weisen. Die Leibwächter flankierten dafür die zweite Androne. Durch eine große Halle ging es tiefer in das Gebäude hinein. Boden und Wände bestanden aus Marmor, an einigen Stellen hatte sich jedoch eingedrungener Flugsand zu kleinen Haufen gesammelt, sodass auch hier drinnen Gräser, Flechten und Kräuter wuchsen. Den großen Aufgang, der ins obere Stockwerk führte, ließen sie links liegen. Ihr Ziel lag im Mitteltrakt, dort wo es in die gepanzerten Kellerräume hinab ging, die einmal zur Lagerung von wertvollen Exponaten gedient hatten. Auf halbem Wege scheute eine der Andronen, vermutlich weil sie den in der Luft hängenden Geruch von frisch vergossenem Blut roch. Der alte Andronenreiter wurde misstrauisch und langte zu der Klinge an seiner Seite. Daraufhin schlugen die Leibwächter zu.
Fein geknüpfte Hanfschlingen sausten durch die Luft, landeten über beiden Köpfen und zogen sich blitzschnell zusammen. Röchelnd griff der Alte nach dem Strang, der in seinen Hals schnitt und ihm den Atem raubte. Dabei vernachlässigte er zwangsweise seinen Halt und wurde prompt aus dem Sattel gezerrt. Als er krachend auf den Boden schlug, tippelte die Androne hektisch zur Seite. Mit ihrem langen, mehrgliedrigen Leib schob sie einige der herbei eilenden Wachen zur Seite und trat mit ihren Läufen auf sie ein. Mit einem raschen Sprung gelang es Kosmur, sie am Zaumzeug zu packen. Auf den Druck der Zügel abgerichtet, blieb sie sofort regungslos stehen, während der Reiter von mehreren Händen gepackt, gefesselt und anschließend auf die Füße gezerrt wurde. Seinem Sohn erging es nicht anders. »Nur die Ruhe«, forderte Kosmur. »Andronen sind nicht leicht zu lenken, ihr beide werdet also noch gebraucht.« »Was soll das alles?«, schnaufte der Alte, sobald er wieder zu Atem kam. »Zwischen uns gibt es eine Abmachung!« »Die hat auch weiter Bestand. Wie du siehst, dürft ihr eure Ruubel behalten. Allerdings darf über unseren Handel nichts bekannt werden, deshalb bieten wir euch beiden, bis zum nächsten Transport, ein sicheres und trockenes Quartier an.« »Auf solche Gastfreundschaft können wir gerne verzichten!« Nun, da er nicht mehr unmittelbar bedroht wurde, gewann der Alte seinen Mut wieder. Kosmur antwortete nicht darauf, sondern packte den Kerl an der um seinen Hals liegenden Schlinge und zerrte ihn hinter sich her. Dreißig Schritte weit, bis zu dem bewachsenen Trümmerhaufen, hinter dem ein anderer lag, der seinen Widerstand nicht hatte aufgeben wollen. Trotz der klaffenden Wunde, die sich über die Stirn zog, war das Gesicht zu
erkennen. Es gehörte Staii, einem Frekkeuscher-Lenker, der bereits in der Nacht zurückgekehrt war. Der Anblick des Toten zeigte rasch Wirkung. Der Andronenreiter verstummte mit entsetzter Miene. »Sieh ihn dir gut an«, forderte Kosmur. »Und merk dir, dass in Moska immer noch der Zaritsch herrscht. Jedem, der sich nicht fügt, wird es so wie Staii ergehen.« *** Von da an gaben sich der Alte und sein Sohn geschlagen. Gefesselt und scharf bewacht trotteten sie neben ihren Andronen her, die noch tiefer ins Gebäude geführt wurden. Sergiuz und Luura gingen bereits voraus und verschwanden durch ein großes, im Boden klaffendes Loch hinab in die alten Gewölbe. Die breite Treppe bot auch den Andronen, die von Natur aus gewohnt waren, sich durch enge Gänge und Höhlungen zu zwängen, genügend Platz. Mit ihren unablässig umher tastenden Kopffühlern fanden sie sich sogar bei absoluter Finsternis zurecht. Die Menschen in ihrer Begleitung griffen dagegen zu brennenden Pechfackeln, die in einigen eisernen Wandhalterungen für sie bereit steckten. Modriger Geruch reizte die Nasenflügel, je tiefer sie unter der Erde vorstießen. Überall dort, wo die knisternden Flammen das Dunkel verdrängten, glänzten Wände und Boden vor Feuchtigkeit. An einigen Stellen stand das Wasser knöcheltief, an anderen hing Wurzelgeflecht von der Decke herab. Einige hundert Meter ging es den breiten Mittelgang entlang, denn das Museum war auf ganzer Länge unterkellert. Danach stiegen sie durch einen Durchbruch, dem sich ein mit Balken und Trümmerstücken abgestützter Stollen anschloss, der in das nahe liegende Bunkersystem des Außenministeriums führte.
Kurz nachdem die erste Biegung hinter ihnen lag, gleißte am Tunnelende heller Funkenflug auf. Aufgeregte Stimmen und Hammerschläge untermalten das Schauspiel, das an ein Feuerwerk am Nachthimmel erinnerte. Kosmur und die Wachen wussten natürlich, dass dort Bleiplatten gegossen wurden; die Gefangenen erkannten es erst, als sie die unterirdische Schmiede erreichten. Die beiden großen Schmelzkessel, in denen flüssiges Blei brodelte, verbreiteten eine unangenehme Hitze. Dort wo das Metall gerade in seinen rechteckigen Bodenformen erstarrte, flirrte die Luft. Gelborangener Schein leuchtete den großen Raum bis in den letzten Winkel aus. Die Hitze brannte sich in die Atemwege, der Rauch machte ihnen dagegen wenig zu schaffen. Der zog nahezu perfekt durch einen alten Lüftungsschacht ab, dessen geschnitzter Holzventilator von Muskelkraft angetrieben wurde. Die Schmiedemeister, die hier Bleiplatten der unterschiedlichsten Größe gossen, schenkten den Neuankömmlingen kaum Beachtung. Selbst das Erscheinen des Zaritsch löste keine große Überraschung aus. Bemüht, niemanden bei der Arbeit zu stören, passierte die Gruppe den aufgeheizten Bereich und tauchte in einen angrenzenden Gang ab. Überall standen Meterdicke Stahltüren offen. Hinter den meisten von ihnen lagen leere Räume oder Abstellflächen für Gerümpel. Unangenehmer Geruch kündigte aber schon die ersten Stallungen an, die dringend einmal ausgemistet gehörten. Im Anschluss daran folgten die Kerker für die Gefangenen. Der zuständige Posten sperrte eines der eingesetzten Gitter auf, hinter dem die beiden Andronenreiter ohne zu Murren verschwanden. Für ihre Tiere ging es noch weiter, durch Gänge, die gerade breit und hoch genug waren, um sie noch aufzunehmen. Feuerschalen und Wandfackeln sorgten längst
für durchgehende Beleuchtung. Ab und an begegneten ihnen einige Wachen oder Handwerker. Die Aktivitäten in dieser alten Anlage hatten längst Ausmaße angenommen, die sich nur noch schwer geheim halten ließen, doch bisher waren sie noch nicht von Außenstehenden entdeckt worden. Das alte Ministerium über ihnen lag in Trümmern, in den direkten Zugängen stapelte sich der Schutt. Um hierher zu gelangen, musste jeder Besucher weite unterirdische Wege auf sich nehmen. Das half, von oben alles wie ausgestorben wirken zu lassen. Rauch, Dampf und anderen Dünste wurden in die Lüftungsschächte eines zwei Straßen entfernt stehenden Gebäudes geleitet, wo sie sich ungesehen über mehrere Stockwerke ausbreiten konnten. Die Einzigen, die ihnen von Zeit zu Zeit zu nahe kamen, waren neugierige Taratzen, doch die mit Fauststrahlern bewaffneten Eingangswachen hatten ihnen schon so oft eins auf den Pelz gebrannt, dass sie sich kaum noch blicken ließen. In der leer geräumten Zeugkammer, in der keine einzige Schraube mehr in der Wand steckte, stand eine dritte Androne mit ledernem Geschirr, die eine aus Holz gezimmerte Plattform auf und ab ziehen konnte. Hier lösten sie die Bleibehälter mit dem nuklearen Material aus den Tragegestellen und luden sie auf den primitiven Lastenaufzug. Ächzend stapelten die Leibwächter die grauen Kästen nebeneinander. Insgesamt einundvierzig Stück. Danach entfernten sie die Stützbalken, sodass die Androne mit dem gesamten Gewicht belastet wurde. Unwillig mit dem Kopf schüttelnd, ging sie daraufhin Schritt für Schritt zurück, bis der Lastenaufzug ein Stockwerk tiefer aufsetzte und dort entladen wurde. Als einige Minuten später eine Glocke klingelte, wussten sie, dass sie folgen konnten. Die angeschirrte Androne wurde
nach vorn getrieben, während die anderen beiden in Richtung Stallungen verschwanden. Nachdem der Fahrstuhl wieder auf ihrer Höhe war, stiegen Sergiuz, Luura, Kosmur und zwei Leibwächter auf die Plattform und ließen sich in die Tiefe befördern. Sie hätten auch eine zwei Räume weiter befindliche Notstiege benutzen können, aber für den Zaritsch ziemte es sich nun einmal nicht, über Eisensprossen hinab zu steigen. Unten, im Hort des Feuers, wurden sie bereits von Daanar erwartet, einem der sechs Fremden, die seit geraumer Zeit für Sergiuz arbeiteten. Die ihm schmeichelten und Macht versprachen und dafür jede Unterstützung erhielten, die sie forderten. Kosmur fühlte stets ein kaltes Prickeln im Nacken, wenn er einem der großen, ganz in Schwarz gekleideten Magier gegenüber stand. Von der Statur her wirkten die sechs wie gefährliche Krieger, doch sie benutzten Fauststrahler und Pistolen statt Schwerter, und sie riefen auch nicht Wudan an, um einen Zauber zu wirken, sondern bedienten sich der gleichen Mittel, wie sie den Technos aus Ramenki zur Verfügung standen. Während es das Oberste Gremium jedoch stets ablehnte, seine mächtigen Waffen mit dem Zaritsch zu teilen, hatte Daanar ihnen schon zur Begrüßung eine Strogoff geschenkt und sie alle in deren Gebrauch unterwiesen. Das hatte ihm Sergiuz' Wohlwollen eingebracht, und seitdem er auch noch versprochen hatte, ein mächtiges Feuer zu entfachen, dessen Flamme ganz Moska zu unterjochen vermochte, war ihm der Zaritsch geradezu verfallen. »Dein Besuch ehrt uns, Herrscher von Moska«, grüßte Daanar und deutete dabei den Hauch einer Verbeugung an, die nicht sonderlich unterwürfig wirkte. Kosmur erschien sie sogar ein wenig spöttisch, aber Sergiuz, der diesen Kerlen ohnehin alles durchgehen ließ, dankte sogar lächelnd, ohne sich nur einen Moment von Luura zu lösen.
Daanar registrierte das verliebte Geplänkel mit einem Funkeln seiner stahlblauen Augen. Es passte ihm wohl nicht, dass es jemanden gab, der dem Zaritsch so offensichtlich näher stand als er. Trotzdem blieb er ruhig und ausgesucht höflich, während er die Gäste näher bat, um ihnen die Fortschritte zu zeigen. Die beiden Leibwächter blieben unaufgefordert am Aufzug zurück. Sie wussten, dass sie hier unten besser weder etwas sahen noch hörten. Kosmur wich seinem alten Freund dagegen nicht von der Seite. Trotz seiner kräftigen Statur bewegte sich Daanar leicht und gewandt. Sein kurzes honigblondes Haar klebte exakt ausgerichtet am Kopf, ganz so, als hätte er es gerade erst mit Kamm und Fett in Form gebracht. Über seinen weichen Hosen, dem Schnürhemd und dem Lederharnisch trug er noch einen braunen Kapuzenumhang. »Hier entlang«, bat er und deutete auf einen Raum, in dem zwei seiner Getreuen, Skraja und Xaanda, gerade die letzten Bleikisten verstauten. Zwei weitere Magier, die ihnen entgegen kamen, nickten nur knapp, stellten sich in den Aufzug und schlugen mit dem Klöppel gegen die Wandung der Glocke, damit der Dompteur im darüber liegenden Stock wusste, dass die Lastandrone sie hochziehen sollte. Die beiden trugen dunkelbraunes und schwarzes Haar, exakt auf die gleiche Weise geschnitten und ausgerichtet wie das von Daanar und den anderen. Obwohl absolut geruchlos, mussten sie Tierfett oder etwas anderes zur Fixierung benutzen, denn selbst starke Windböen vermochten diese Frisuren nicht zu zerwühlen. Wohin die beiden so plötzlich verschwanden, hätte Kosmur sehr interessiert, doch da Sergiuz dem Abgang keinerlei Bedeutung beimaß, konnte er selbst schlecht danach fragen. Außerdem lenkte ihn bereits der Blick in einen angrenzenden, nur nachlässig mit einer Türdecke verhängten Raum ab.
Zwischen Beton und Stoff konnte er einen der Kranken sehen, die im Laufe der Nacht angekommen waren. Begleiter des magischen Feuers, angeblich völlig entkräftet von den langen Strapazen des Transports. Für Kosmur sahen diese Kerle allerdings eher aus, als ob sie an einer wirklich lebensbedrohlichen Krankheit litten. »Das ist hoffentlich nicht ansteckend«, platzte er heraus, einfach leid, alles schweigend hinzunehmen. Was ihm an den Siechenden am meisten missfiel, war allerdings die Kleidung. Aus irgendeinem Grund trugen sie alle eng anliegende Lederhosen und -hemden der Nosfera. Einige sogar deren Kapuzenumhänge. Ihre Gesichter waren allerdings die von Menschen, obwohl... Kosmur blieb abrupt stehen und fixierte den Kranken auf der Liege, die sich genau hinter dem Vorhangspalt abzeichnete. Die Konturen des Kinns, das er dort gerade noch erkennen konnte, wirkte irgendwie falsch. Viel zu breit und kantig, vor allem sehr rissig, ja beinahe geschuppt! Der Teint gab ebenfalls Anlass zur Sorge. Er schimmerte längst nicht nur totenbleich, sondern geradezu silbern. Aber das mochte auch vom unsteten Fackelschein herrühren. Kosmur trat auf die Tür zu, um seinen Sichtwinkel zu vergrößern, doch ehe er die Chance bekam, einen genaueren Blick zu erhaschen, versperrte ihm Daanar mit seinem breiten Rücken die Sicht und zog den Vorhang zurecht. Als er sich umwandte, schloss der Stoff haargenau mit dem Beton ab und ließ keine Einblicke mehr zu. Sein Lächeln wirkte vielleicht eine Spur eisiger als gewöhnlich, doch seine Stimme blieb ruhig und bescheiden, als er zu einer Erklärung ansetzte. »Die Kranken brauchen absolute Ruhe«, bat er, und ließ dabei die Mundwinkel nach oben wandern, als würde er etwas Erfreuliches verkünden. »Außerdem besteht überhaupt kein Grund zur Besorgnis. Die vorübergehende Schwäche meiner
Kameraden ist keinesfalls ansteckend.« Geschliffene, gut ausgewählte Worte, gegen die sich kaum etwas einwenden ließ. Beinahe genauso elegant wie die Geste, mit der er Kosmur freundlich aber bestimmt zum Weitergehen drängte. Daanar verstand es, eine Situation so zu gestalten, dass sie nur noch in eine vernünftig erscheinende Richtung führte. Und zwar in die ihm genehme. Genau das störte Kosmur an ihm. Daanar war einfach zu perfekt. In der Art, wie er sich bewegte, wie er sprach, und wie er die Leute für sich einnahm. Menschen, die sich nie eine Blöße gaben, war nicht zu trauen. In der Regel hatten sie doch etwas unter ihrer glatt polierten Oberfläche zu verbergen. Kosmur stand kurz davor, sich einfach an dem arroganten Dauergrinser vorbei zu drängen und in das verhängte Zimmer zu treten. Einfach nur so, um die Reaktion des Magiers zu testen. »Nun komm schon und sieh dir das hier an!«, forderte Sergiuz, bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. »So was hast du noch nie gesehen!« Der Zaritsch stand bereits vor dem Raum, in dem die letzten Bleikisten verschwunden waren, und klatschte vor Begeisterung in die Hände. Dieser Aufforderung konnte sich Kosmur schlecht entziehen. Nach einem letzten wütenden Funkeln schloss er zu Sergiuz und Luura auf, die beide mit großen Augen in die angrenzende Kammer starrten. Der Flammenhort, wie er von den Technomagiern genannt wurde, hatte in Wirklichkeit keinen einzigen Funken Glut vorzuweisen. Stattdessen war er rundum mit Bleiplatten aus der Gießerei verkleidet, angeblich um vor den negativen Auswirkungen des darin gewirkten Zaubers zu schützen. Bisher gab es dort aber nur Dutzende unterschiedlich großer Kisten zu sehen, sorgsam übereinander geschichtet und mit
langen Kabeln untereinander verbunden. Skraja und Xaanda nahmen gerade einen Stahlzylinder aus einem der neu eingetroffenen Bleikästen und begannen damit, ihn ebenfalls zu verdrahten. Kosmur verstand beim besten Willen nicht, wozu das gut sein sollte. Enttäuschung breitete sich in ihm aus. »Und dafür der ganze Aufwand?«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Dafür schuften unsere Männer seit drei Halbmonden, um alles herzurichten? Dafür pferchen wir die ganzen Gefangenen und Tiere ein? Wozu das alles? Kannst du mir das erklären?« Zuerst schien es, als ob seine Worte den Zaritsch gar nicht erreichen würden, doch dann, mit einigen Sekunden Verzögerung, wandte Sergiuz den Kopf. »Ja, verstehst du denn nicht, alter Freund?«, fragte er mit entrücktem Lächeln. »Das ist der Schlüssel zur Macht! Der größten Macht, die Moska je gesehen hat!« *** Als die Gittertür hinter ihnen ins Schloss fiel, fühlte sich Roon einige Atemzüge lang wie betäubt, stieß dann aber doch einen herzhaften Fluch aus und wandte sich zu seinem Sohn um. Raaha sah ihn nur niedergeschlagen an und sprach kein Wort. »So ein Dreck!« Roon konnte sich einfach nicht beruhigen. »Was denkt sich der Zaritsch nur dabei, uns hier einfach so festzusetzen? Wenn er will, dass niemand von dem Transport erfährt, braucht er es doch bloß zu verlangen. Verschwiegenheit gehört schließlich zu unserem Geschäft!« Sein Sohn langte unter seinen Wams, an die Stelle, wo er den Beutel mit den Ruubeln verbarg. »Wahrscheinlich kommt alles nur halb so schlimm«, hoffte er. »Sonst hätten sie uns nicht das Geld gelassen.«
»Nicht so laut«, warnte Roon, doch die anderen Gefangenen nahmen kaum Notiz von ihrem Gespräch. Mehr oder minder apathisch hockten sie einzeln oder in Gruppen beieinander. Insgesamt vierzehn Männer und Frauen, die noch bis vor kurzem mit ihnen auf die Lok gewartet hatten. Einst eine muntere Truppe, die mit Andronen und Frekkeuschern umzugehen wusste, wirkten sie in dem durch herunter gebrannte Fackeln geschaffenen Zwielicht wie ein geschlagener Haufen. Roon knurrte verächtlich. Ihm hatten schon viele ans Leder gewollt, doch so leicht ließ er sich nicht unterkriegen. Entschlossen trat er zu einem offenen Wasserfass, nahm die daran festgebundene Schöpfkelle und löschte seinen Durst. Gleichzeitig beobachtete er die allgemeine Apathie in der Zelle. Keine Begrüßung durch die anderen, keine Flüche, nicht einmal ein leises Wimmern. Nur bedrücktes Schweigen. Abseits der halbrunden Lichtinseln lehnten die Gefangenen an den Wänden. Sie mieden den erleuchteten Bereich, als könnten sie ihren eigenen Anblick nicht ertragen. »Wie sieht's aus?«, fragte er den, der am nächsten saß. »Habt ihr euch schon Gedanken über eine Flucht gemacht?« Roon dämpfte seine Stimme, um die draußen postierten Wachen nicht zu alarmieren, doch er sprach laut genug, dass ihn die Häftlinge verstehen konnten. Trotzdem erhielt er nur vereinzeltes Schniefen zur Antwort. Schließlich wurde es ihm zu dumm. Er reichte die Kelle an seinen Sohn weiter und trat zu der nächstbesten Schattengestalt. Sobald sich seine Pupillen an die veränderten Verhältnisse gewöhnt hatten, erkannte er, wer da vor ihm saß. »Warum so mutlos, Huurak?«, fragte er. »Du sitzt noch keinen ganzen Tag fest und hast schon alle Hoffnung aufgegeben?«
Der blonde Barbar sah in die Höhe. Licht reflektierte auf seinen feuchten Netzhäuten, während er sich ein Ohr rieb, das scheinbar schmerzte. Sein Atem begann zu rasseln, als ob die Lungen verklebt wären, bevor er endlich antwortete: »Hoffnung? Hoffnung worauf?« Eine Reaktion! Nur kurz, aber immerhin. Roon atmete auf. Da sich sonst niemand zu Wort meldete, ging er in die Hocke, beugte sich verschwörerisch nach vorne und flüsterte: »Na hör mal, unsere Andronen stehen gleich nebenan. Meine kann ich schon bis hierher riechen. Es müsste doch mit Orguudoo zugehen, wenn wir nicht eine Möglichkeit finden...« »Nein«, unterbrach Huurak überraschend heftig. »Wir dürfen nicht gehen. Skraja und Xaanda haben es verboten.« Mehrere Stimmen murmelten Zustimmung. Auf einmal verstanden also alle, was gesprochen wurde. Roon schnaubte verächtlich. »Skraja und Xaanda? Wer sind die schon? Noch nie von denen gehört. Ich wüsste auch nicht, warum wir auf deren Geschwafel hören sollten.« »Sie sind Berater des Zaritsch.« »Ja, und? Deshalb darf er uns trotzdem nicht in den Kerker werfen! Wir haben nichts Unrechtes getan!« Huurak, ein ganz normaler Kerl, mit dem er schon manchen Humpen geleert hatte, blickte nur verständnislos drein. »Aber sie sagen, dass wir nicht fliehen dürfen. Also dürfen wir es auch nicht.« Mehr war ihm nicht zu entlocken. Statt auf weitere Fragen zu antworten, kratzte er sich lieber erneut hinter der Ohrmuschel. Scheinbar plagten ihn bereits kleine Krabbeltierchen, von der Sorte, die sich bekanntlich gerne in feuchten Kerkern aufhielt. Roon ging auf Abstand, um eine Ansteckung zu vermeiden. Für eine weitere Suche nach Verbündeten war es ohnehin zu spät. Die Gittertür schwang auf und zwei kräftige Männer
traten ein. Beide von gleicher Statur, mit nahezu identischem Kurzhaarschnitt, in schwarzen Hosen, schwarzem Hemd und braunem Lederharnisch. Roon wusste sofort, dass es sich um Skraja und Xaanda handelte. »Was wollt ihr?«, fragte er, ein flaues Gefühl im Magen. Die beiden antworteten nicht, sondern kamen einfach näher. Zuerst in normalem Tempo. Dann sprangen sie auseinander und schlugen blitzschnell zu. Roon sah noch, wie Skraja auf seinen Sohn losging, dann musste er sich schon der eigenen Haut wehren. Beide Hände zu Fäusten geballt, schlug er mit der Rechten zu, in dem festen Willen, Xaandas Gesicht mit einem einzigen Hieb zu zertrümmern. Der Angriff verfehlte allerdings das Ziel, weil Xaanda zur Seite pendelte und den Hieb an sich vorüber gleiten ließ. Des erwarteten Widerstandes beraubt, geriet Roon ins Taumeln. Noch ehe er seinen festen Stand wieder fand, fühlte er sich bereits am ausgestreckten Arm gepackt und herumgewirbelt. Die übrigen Zelleninsassen rührten keinen Finger, um ihm zu helfen. Roon war ganz auf sich allein gestellt. Gewaltige Kräfte wirkten auf ihn ein, denen selbst seine durch harte Arbeit gestählten Muskeln nichts entgegenzusetzen hatten. Eine Stiefelspitze, die sich in seine Kniekehle bohrte, ließ ihn einknicken. Der Arm wurde ihm brutal auf den Rücken gedreht, bis er sich keinen Daumen breit mehr rühren konnte. »Wir nehmen wieder die doppelte Dosis«, befahl Skraja aus dem Hintergrund. »Es macht ja nichts, wenn die beiden eine Weile groggy sind.« Roon verstand nicht, was die Worten bedeuten mochten. Dafür spürte er kurz darauf ein unangenehmes Brennen hinter dem linken Ohr, gefolgt von einer dunklen Woge der Übelkeit.
* * *
Portal B, Oberflächenresidenz der Bunkerstadt Ramenki, 22. Juli 2520 Seit ihrem letzten Besuch in Moska hatte sich viel verändert. Der freie Platz vor dem Bolschoi und die umliegenden Gebäude glichen inzwischen einer einzigen großen Baustelle. Überall wurde gehämmert, gemauert und verputzt, um Wohnraum für die immunisierte Bunkerbevölkerung zu schaffen. Techniker und Handwerker in blauen Monturen arbeiteten Hand in Hand mit einheimischen Barbaren, ohne deren Hilfe es längst nicht so schnell voran gegangen wäre. Die bewaffneten Sicherheitskräfte, postiert an allen strategisch wichtigen Punkten, bestanden dagegen ausschließlich aus Technos. In diesem Punkt reichte das Vertrauen noch nicht aus. Matt und Aruula waren den Russen zum Glück gut bekannt, und da sie die Ankunft des EWATs über Funk angekündigt hatten, verursachte ihre Landung auf dem ehemaligen Theaterplatz auch keine unnötige Aufregung. Selbst die Barbaren, die sich einige Häuser entfernt in großer Zahl versammelt hatten, nahmen kaum Notiz von dem Flugpanzer. Ihre Blicke galten einzig und allein einer Filmprojektion, die über eine weiß gestrichene Fassade flimmerte. Nicht nur hier; während des Anflugs hatten sie noch weitere solcher Freilichtaufführungen gesehen. Bei der überall gleich ablaufenden Endlosschleife handelte es sich um einen Zusammenschnitt von Archivaufnahmen, die Atombombentests und deren Auswirkung auf die Umgebung zeigten. »Alle Achtung, Mr. Black legt sich ja ganz schön ins Zeug«, zeigte sich Selina McDuncan, die Kommandantin der Explorer,
vom Einfallsreichtum des Ex-Rebellen beeindruckt. Die Macht der Bilder zu beschwören war tatsächlich ein kluger Schachzug. Mit ihnen ließ sich das Ausmaß der Vernichtungskraft wesentlich eindringlicher beschreiben als mit Worten. »Hoffen wir nur, dass die Bevölkerung dadurch nicht unnötig in Panik versetzt wird«, gab Matt zu bedenken. Auf den ersten Blick schien die Befürchtung jedoch unbegründet. Die gaffenden Barbaren, die sich am Fuße der betreffenden Fassade drängten, wirkten eher fasziniert als verängstigt. Aber das mochte sich rasch ändern, sobald sie erfuhren, dass aus dem unterhaltsamen Schauspiel tödlicher Ernst wurde. Unter den Zuschauern tummelte sich auch ein Dutzend in Kapuzenumhänge gehüllte Bluttempler, die mit großen Gesten auf umstehende Barbaren einredeten. Vermutlich um von der Prophezeiung zu berichten, die vor der Zeit der anwachsenden Sonne warnte und die sie nun in den immer wieder aufsteigenden Atompilzen zu erkennen glaubten. Nicht wenige der Moskawiter hörten den Nosfera gebannt zu; das war neu, auch wenn sie sich ein Jahr zuvor bei der Schlacht um Moska verdient gemacht hatten. Ob unbeabsichtigt oder nicht, Mr. Blacks kleine Horrorshow stärkte das Ansehen des Ordens in der Bevölkerung. Während der Flugpanzer langsam über das freie Areal rollte, das von den Barbaren Toter Platz genannt wurde, verlor Matt die Filmaufführung aus den Augen. Das Bolschoi rückte näher. Wie über Funk abgesprochen, fuhr Captain McDuncan links daran vorbei und hielt in der Seitenstraße. Ein fünfköpfiges Empfangskomitee unter Führung von Sershant Hansen eilte an die Seitenschleuse, um sie zu Mr. Black zu führen. Nur Graz, die Taratze, blieb im Laderaum, um
unnötige Verwirrung zu vermeiden, und Corporal Bolton besetzte die Kanzel. Sicherheit ging vor, auch bei Freunden. Ansonsten traten sie komplett zur Begrüßung an. Neben Matt und Aruula waren das nicht nur Captain McDuncan und Corporal Farmer, sondern auch Navok, der Nosfera, der nach Jahren des Exils erstmals wieder heimatlichen Boden betrat. Schon von außen erstrahlte das Bolschoi in neuem Glanz. Von den Spuren des Verfalls war nichts mehr zu erkennen. Das Dach bestand jetzt aus einem Mix aus Kunststoffplatten, Sonnenkollektoren und großzügig bemessenen Glassegmenten, die das so lange entbehrte Sonnenlicht einließen. Risse und schadhafte Stellen in der Fassade hatte man ausgebessert und dem bestehenden Material angeglichen. Die acht Eingangssäulen ragten mächtig wie ehedem empor, und auf der Spitze des vorgezogenen Giebels stand jetzt wieder eine Nachbildung des Apoll im Sonnenwagen, der Moskauer Quadriga, die Matt noch von Fotos aus seiner eigenen Zeit kannte. Kein Zweifel, die Führung von Ramenki wollte an dieser Stelle, die viele Jahre lang als wichtige Oberflächenschleuse gedient hatte, Macht und technische Leistungsfähigkeit demonstrieren. Das wahre Ausmaß der Arbeiten wurde allerdings erst im Inneren sichtbar. Dort, wo einst Foyer und Theatersaal das Bild bestimmt hatten, lagen nun von Licht durchflutete Großraumbüros, in denen für die Zukunft geplant, aber auch die Gegenwart koordiniert wurde. Mit Headsets ausgerüstete Männer und Frauen saßen vor Bildschirmen und Holoprojektionen, um Einsatzfahrzeuge und Mannschaften zu dirigieren oder die allgegenwärtigen Sicherheitskameras zu überwachen. Nur durch eine Glaswand getrennt, folgte der nächste Bereich, in dem Berechnungen angestellt und logistische Abläufe geplant wurden. Alles wirkte
offen und fließend ineinander übergehend, doch Matt zweifelte keine Sekunde daran, dass der Sicherheitsaspekt nicht zu kurz kam. Die transparenten Dachsegmente bestanden jedenfalls ebenso aus Panzerglas wie die Zwischenwände. Außerdem konnte niemand eindringen, ohne von der Internen Sicherheit erfasst zu werden. Die Wachen am Haupteingang ließen sie zwar lächelnd passieren, aber das war nur Sershant Hansen und seiner Eskorte zu verdanken. Unangemeldete Besucher erfuhren sicher eine andere Behandlung. Über eine alte Marmortreppe ging es in den ersten Stock, der auf einer neu eingezogenen Zwischendecke ruhte. Über einen grau gesprenkelten Kunststoffbelag marschierten sie an verschiedenen Tischgruppen vorbei, bis sie zu einem abgetrennten Bereich gelangten, hinter dessen Glasfront Mr. Black bereits freundlich herüber winkte. »Unglaublich«, staunte Selina. »Der Kerl hat ein größeres Büro als der Stabschef der Community-Force London.« »Bloß gut, dass General Yoshiro nichts davon ahnt«, feixte Farmer sofort, »der bringt's fertig und macht deshalb der Prime die Hölle heiß.« Für einen Rebellen, der viele Jahre im Untergrund von Washington verbracht hatte, war die Position als Sonderbeauftragter für Sicherheitsfragen mit all ihren Privilegien natürlich ein immenser Aufstieg, aber jeder, der Mr. Black näher kannte, wusste, dass er keinen Wert auf Ränge und Annehmlichkeiten legte. Die forsche Art, in der er sein Schreibpult umrundete, um sie alle zu begrüßen, ließ dann auch gar nicht erst den Verdacht aufkommen, er könnte sich in den letzten Wochen und Monaten verändert haben. »Commander! Miss Aruula!«, rief er laut aus und schüttelte ihre Hände. »Ich freue mich, Sie beide gesund und munter wiederzusehen!«
In Momenten wie diesen zeigte sich, wie gut sie einander wirklich kannten und was sie schon alles miteinander erlebt hatten. Aruula ließ es sich deshalb nicht nehmen, ihn kurzerhand in die Arme zu schließen und fest an sich zu drücken, worauf Blacks Wangen an Farbe gewannen. Als Befehlshaber der Running Men hatte er stets Distanz zu seinen Untergebenen gewahrt, die ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen war, dass es ihm inzwischen schwer fiel, körperliche Nähe zuzulassen. Trotzdem fiel der Handschlag für Captain McDuncan und Corporal Farmer nicht weniger herzlich aus, schließlich kannte er die beiden von diversen gemeinsamen Flügen. Erst bei Navok, dem er zum ersten Mal gegenüber trat, sank seine Stimme auf ein normales Maß herab, ohne dabei an Freundlichkeit einzubüßen. Nachdem sich die erste Wiedersehensfreude gelegt hatte, bat er seine Gäste auf einigen bereit gestellten Drehstühlen Platz zu nehmen. Die Eskorte zog sich aus dem Raum zurück. Sershant Hansen kehrte jedoch wenige Minuten später mit einem Tablett voller Tassen und zwei Isolierkannen zurück, die wahlweise Tee oder Kaffee enthielten. Auch nachdem er eingeschenkt hatte, blieb er, einen ungesüßten Kaffee in Händen, in der Nähe des Computertisches stehen. Mr. Black stellte ihn als seinen wichtigsten Verbindungsmann vor, der Matt und den anderen in den nächsten Tagen zur Seite stehen sollte. »Der Sershant hat den Trupp geleitet, der mich nach meiner Verletzung geborgen und nach Ramenki gebracht hat«, erklärte er dazu. »Während dieses Einsatzes konnte ich mich von seiner Motivation und seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten überzeugen. Und glauben Sie mir, wir alle werden unser Bestes geben müssen, wenn wir die nächsten Tage, Wochen und Monate überleben wollen.«
»Der Zug, mit dem die Daa'muren das nukleare Material transportiert haben, war also schon leer, als Sie eingetroffen sind?«, nutzte Matt die Gelegenheit, um zu dem Thema überzuleiten, das ihnen allen unter den Nägeln brannte. Mr. Black stellte die Tasse ab, ließ beide Ellenbogen auf der Tischplatte nieder und verschränkte seine Hände unterhalb des Kinns, bevor er schweren Herzens bestätigte. Sein niedergeschlagener Eindruck hielt jedoch nicht lange an. »Unsere Gegner planen weit im voraus«, erklärte er mit leisem Grimm in der Stimme. »Sie sind gut organisiert und operieren vermutlich schon seit geraumer Zeit in unserem Einflussgebiet, sonst hätten sie niemals die nötige Anzahl Lasttiere zusammen bekommen.« Matt wechselte einen raschen Blick mit Aruula und den anderen Explorer-Gefährten, denn jeder Einzelne von ihnen hatte bereits den gleichen Verdacht geäußert. »Gut möglich«, sprach er für alle. »Da die Wirtskörper der Daa'muren menschliche Formen annehmen können, sind sie in der Lage, sich absolut unauffällig unters Volk zu mischen. Möglicherweise verfügen sie sogar über menschliche Helfer, die nichts von ihrer wirklichen Herkunft ahnen.« »In diesem Punkt bin ich mir sogar ziemlich sicher.« Blacks Miene verfinsterte sich zunehmend. »Klingt, als hätten Sie bereits einen Verdacht.« »Verdacht ja, nur leider keine Beweise.« Black überlegte einen Moment, ob es lohnte, die Vermutung auszusprechen, fuhr dann aber fort: »Fakt ist auf jeden Fall, dass Sergiuz, der Zaritsch von Moska, seit geraumer Zeit die Bauarbeiten in den umliegenden Gebäuden sabotiert, indem er viele Einheimische, vor allem Schmiede, aber auch Frekkeuscherlenker und Andronenreiter, von der Arbeit abhält. Bislang gingen wir davon aus, dass er nur um seine Macht fürchtet und uns deshalb in der Ausbreitung beschneiden will. Seit die
nuklearen Elemente von einer ganzen Karawane abgeholt wurden, frage ich mich allerdings, ob nicht mehr dahinter steckt. Vielleicht hat er diesen Coup ja schon von langer Hand vorbereitet.« »Haben Sie schon an eine Überprüfung des Kreml gedacht?« »Der wird seit Monaten von uns observiert«, mischte sich Hansen ein. »Wenn dort eine so große Ladung angeliefert worden wäre, hätten wir es mit Sicherheit gemerkt.« In wie weit Sergiuz noch über andere Besitztümer verfügte, die sich als Verstecke eigneten, darüber konnte Hansen jedoch keine Auskunft geben. Die Ressourcen der ISR reichten nicht aus, um alle im Kreml ein- und ausgehenden Personen zu verfolgen, zumal die große Feste über unterirdische Gänge verfügte, die nur Eingeweihte kannten. Allzu viel ließ sich damit nicht anfangen, aber angesichts der spärlichen Informationslage mochte sich jedes noch so kleine Detail später als wichtig erweisen. »Leider zeigen die bisherigen Suchmethoden keinen Erfolg«, fügte Mr. Black an. »Wenn das radioaktive Material irgendwo in der Stadt gesammelt wird, und davon gehe ich aus, dann ist es zu gut abgeschirmt, um es mit dem Geigerzähler aufzuspüren. Wir finden das Versteck nur, wenn wir andere Hebel ansetzen. Sergiuz könnte einer davon sein.« »Falls die Daa'muren tatsächlich Anschläge auf unsere Allianz planen, arbeiten wir von nun an gegen die Uhr«, mahnte Matt zur Eile, bevor er fragte: »Wie sehen die derzeitigen Maßnahmen von Ramenki aus?« Mr. Black lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein kantiges Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. »Die Stadt wird ringsum von starken Kräften abgeriegelt«, erklärte er. »Da kommt niemand mehr ungesehen rein oder raus. Aber was nützt das, wenn die Bomben vor Ort
explodieren sollen? Mit der richtigen Ausrüstung ist es wohl nur eine Frage von Tagen, bis unser Gegner über genügend kritische Masse verfügt, um ganz Moskau in die Luft zu jagen.« In dem Büro breitete sich eine unangenehme Spannung aus. Mr. Black hatte Recht. Dass die Daa'muren über das nötige Wissen verfügten, eine atomare Explosion auszulösen, hatten sie in der Slowakei bewiesen. Sie saßen also alle auf einem Pulverfass, das jeden Augenblick in die Luft fliegen konnte. Um das Unglück zu verhindern, mussten sie so schnell wie möglich das Depot der Daa'muren orten. »Jedes Gebäude, jeden Keller und Kanal in Moskau zu durchkämmen kann Monate, wenn nicht Jahre dauern«, malte Black ihre Situation in düsteren Farben aus. »Wir informieren zwar schon die Bevölkerung und fordern sie zur Mithilfe auf, trotzdem läuft uns die Zeit davon. Wir brauchen dringend neue Ideen.« »Mit dem EWAT könnten wir eine Luftüberwachung organisieren«, bot Captain McDuncan an. »Das ist etwas, was wir den russischen Fahrzeuge voraus haben.« Ob sich damit ein gut abgeschirmtes Depot aufspüren ließ, zweifelte sie zwar selbst an, trotzdem durften sie nichts unversucht lassen. Mr. Black beauftragte die Kommandantin umgehend damit, eine entsprechende Suche zu organisieren. »Hat sich eigentlich schon jemand Gedanken darüber gemacht, wo die ganzen Bleiplatten herkommen, mit denen der Zug verkleidet war?«, warf Matt ein. »Da sind doch große Mengen verarbeitet worden, die nicht einfach so aus dem Nichts auftauchen können. Die muss irgendjemand zuvor abgebaut und dann verarbeitet haben. Finden wir diese Person, haben wir zumindest jemanden, der in Kontakt zu den Daa'muren steht.« »Gute Idee«, stimmte Mr. Black zu, »vor allem, weil uns
das wieder zu Sergiuz bringt. Neben Andronen und Frekkeuschern hat er uns vor allem Schmiede abspenstig gemacht. Viele von ihnen sind seit Wochen wie vom Erdboden verschwunden. Aber niemand weiß Genaueres darüber – oder die Leute haben einfach zu viel Angst, mit uns zu reden.« »Da muss stärker nachgeforscht werden«, verlangte Matt. »Jetzt geht es nicht mehr nur um die Behinderung eurer Bauarbeiten, sondern um die Zukunft der ganzen Stadt. Außerdem sollten wir dem Kerl kräftig auf den Zahn fühlen. Kannst du nicht einen Besuch im Kreml organisieren?« »Sicher, allerdings können wir Sergiuz nicht einfach offen unter Druck setzen. Der Kerl ist immer noch der Zaritsch von Moska und außerdem ein geborener Lügner.« Matt lächelte über den letzten Einwand, denn er hatte längst eine Lösung parat. »Das macht nichts«, erklärte er. »Der Kerl kann uns ruhig das Blaue vom Himmel lügen...« »... schließlich haben wir einen starken Telepathen in unseren Reihen«, ergänzte Navok, der bisher noch kein einziges Wort verloren hatte. Als sich alle Blicke auf ihn richteten, entblößte er die Lippen zu einem breiten Grinsen, das selbst den Schatten seiner Kapuze durchdrang, bevor er an Matt gewandt fortfuhr: »Oh, entschuldige. Das wolltest du ja gerade sagen.« *** Bunkeranlage des Außenministeriums, 09:21 Uhr Der seltsame Metallknopf, den sie Sergiuz oberhalb der linken Brustwarze eingepflanzt hatten, lugte mit einer kleinen, nadelfeinen Spitze zwischen den Fäden der Naht hervor. Das war deutlich zu sehen, wenn seine knappe Weste bei einer heftigen Armbewegung zur Seite rutschte. »Alles zu deiner Zufriedenheit erledigt, Herr«, versprach
Daanar gerade und wies in den mit Kisten, Zylindern und Drähten vollgestopften Raum. »Der Empfänger ist über mehrere Relais auf deinen Herzrhythmus eingestellt. Sollte dieser aussetzen, wird die Kettenreaktion sofort ausgelöst. Das macht dich von nun an unangreifbar. Ansonsten läuft der abgesprochene Countdown.« Dabei deutete er auf ein rot blinkendes Ding, das sich Digitaluhr nannte. »Du wirst sehen. In spätestens acht Stunden liegt dir ganz Moska zu Füßen.« »Acht Stunden?«, fragte Kosmur missmutig. »Was soll das sein?« Daanar schenkte ihm ein Lächeln, indem er seine schmalen Lippen gerade weit genug öffnete, dass zwei Reihen perfekt geformter Zähne dahinter hervor blitzten. Dafür hätte ihm Kosmur gerne perfekt aufs Maul geschlagen. Dieser Wunsch wurde noch umso drängender, als der Blonde zu einer geheuchelten Entschuldigung ansetzte. »Oh, natürlich, wie ungeschickt von mir. Den Ausdruck Stunden kennst du ja gar nicht. Nun, acht Stunden, das ist exakt ein Drittel eines Tages, verstehst du?« »Klar«, stieß Kosmur hervor, obwohl er nicht das Geringste verstand. Am allerwenigsten, was der faule Zauber hier sollte. Er sah nur rote, flimmernde Striche, die wie zappelnde Spinnenbeine hin und her schlugen und dabei ständig wiederkehrende Symbole bildeten, die keinen Sinn ergaben. »Und dieses Geflacker soll die Technos davon überzeugen, uns all ihre Waffen und wertvollen Güter abzutreten?«, fragte er ärgerlich. »Bis heute Abend?« »Mit absoluter Gewissheit«, versicherte der Magier. Sergiuz sagte hingegen nichts. Er grinste nur entrückt, als hätte er zu viel Rauschkraut geraucht. Ein wenig seltsam benahm er sich ja schon lange, aber in den letzten Tage war es immer schlimmer geworden. Selbst Luura hielt sich heute von
ihm fern. Zum ersten Mal, seit sie im Kreml weilte. Wahrscheinlich, weil sie nicht mit ansehen mochte, wie ihn die Magier aufschnitten und ein Metallstück einsetzten. Kosmur spürte eine rätselhafte Unruhe, die sich einfach nicht abstreifen ließ. Vielleicht lag es an der unangenehmen Wärme, die im Flammenhort herrschte und die er sich durch nichts erklären konnte. Oder es stank ihm ganz einfach, dass er immer weniger von dem verstand, was eigentlich vor sich ging. Früher hatte Sergiuz alles mit ihm besprochen und seinen Rat eingeholt, doch diese Position hatte längst Daanar übernommen. Was Kosmur daran am meisten störte, war die teilnahmslose Art, mit der Sergiuz neuerdings alles abnickte, was ihm die Magier vorbeteten. Verdammt, er hatte schließlich die bewegten Bilder gesehen, die überall in der Stadt flimmerten. Dieses magische Feuer war eine verdammt gefährliche Sache, mit der man besser nicht spielen sollte. Sagte zumindest Mista Black, und der schien sich in diesem Punkt auszukennen. »Weiß du wirklich, was du da tust?«, brachte Kosmur seine Zweifel auf den Punkt. »Ist das Ultimatum erst mal überbracht, gibt es kein Zurück mehr. Das Oberste Gremium wird das vielleicht zum Anlass nehmen, gegen dich vorzugehen. Besonders Mista Black wartet doch nur darauf, dass...« »Keine Sorge, unser Zauber ist erprobt«, unterbrach Daanar. »Dem kann niemand widerstehen. Weder Black noch der Mefju'drex!« »Halt dein Maul!«, brauste Kosmur auf. »Ich rede mit dem Zaritsch, nicht mit dir!« Seine Stimme hallte laut durch die Gewölbe, aber das störte ihn nicht. Sollten ruhig alle wissen, was er von diesem Klugscheißer hielt. Selbst Sergiuz erwachte aus seiner Lethargie. Mit glänzenden Augen betrachtete er Kosmur von oben bis unten, als ob er ihn zum ersten Mal im Leben sähe.
»Warum so schlecht gelaunt, alter Freund?«, fragte er, mit einer widerlich weichen Stimme, die einfach nicht zu ihm passte. »Zweifelst du an Daanars Zauberkraft?« »Allerdings!« Es kostete Kosmur große Mühe, ein von Schulter zu Schulter laufendes Zittern zu unterdrücken. »Daanar erzählt zwar immer von der Kraft des magischen Feuers, aber bisher haben wir noch keinen einzigen Funken davon gesehen! Gäbe es nicht Blacks Zauberbilder, wüssten wir gar nicht, wovon die Rede ist.« Statt zu antworten, hustete der Zaritsch so heftig, dass ihm der Speichel in dichten Fontänen zwischen den Lippen hervor quoll. Am Ende hing ein dicker Schleimfaden aus seinem Mundwinkel. Statt ihn abzuwischen, ließ er ihn einfach auf die Weste tropfen. Entweder war er schon so weggetreten, dass er diesen ekligen Vorgang gar nicht mehr bemerkte, oder es war ihm schlicht egal. Grinsend drohte er Kosmur mit dem Finger, bevor er endlich erklärte: »Aber das ist doch das Geniale an unserem Plan. Dass wir nur mit dem Zauber drohen müssen, um die Technos gefügig zu machen. Komm mit nach oben, dann erklären wir es dir.« Bei diesen Worten stützte sich Sergiuz schwer auf Kosmurs Schulter und nötigte ihn, gemeinsam zum Aufzug zu gehen. Daanar verriegelte die Feuerkammer und schloss sich ihnen an. Nach einem kurzen Glockenschlag ging es in die Höhe. Kaum dass die Plattform arretiert war, begann der Gardist, der hier Wache hielt, auch schon die Androne von dem Ledergeschirr zu befreien. Von nun an brauchte niemand mehr in die Tiefe fahren. Der Bannspruch war gesprochen, der Zauber der Radoaggtivität entfaltete von ganz alleine seine Wirkung. Zu dritt ging es in Richtung Schmiede, vorbei an den Zellen mit den Andronenreitern, die sich ungewöhnlich ruhig in ihr
Schicksal fügten. All die Schmelzer, Eisenbieger und Bleigießer, die dem Zaritsch in den letzten Viertelmonden treu gedient hatten, warteten schon auf ihre Entlassung. Die Lederschürzen noch am Leib, hatten sie sich brav in Reih und Glied aufgestellt. Die Gesichter noch mit Ruß und Schweiß beschmiert, erwarteten sie Sergiuz, wie kleine Kinder den Vater erwarteten, wenn er vom Markt kam und zuvor ein Holzspielzeug in Aussicht gestellt hatte. Fürwahr, ihre Augen glänzten vor Freude, weil es jetzt endlich, nach all den Mühen und der Plackerei, reich belohnt nach Hause gehen sollte. Eisenschmiede! Lauter kräftige, meist gutmütige Kerle, aber wenn es um etwas anderes als Hammer und Amboss ging, nur Luft im Kopf. Wenn sie auch nur einen Funken Verstand besessen hätten, wäre ihnen wohl aufgefallen, dass nicht nur sie, sondern auch fünfzig Männer der Leibgarde angetreten waren. Kosmur spürten sofort ein Kribbeln im Nacken, als er die bewaffnete Horde sah, die sich rings um die nutzlos gewordenen Arbeiter gruppiert hatte. Verdammt, was ging hier vor? Fünf der sechs Magier stand ebenfalls beieinander. Nur Xaanda fehlte. Da er das Ultimatum überbringen sollte, hatte er sich wohl schon auf den Weg gemacht. Wird höchste Zeit, sich abzusetzen!, schoss es Kosmur, der mit jeder Faser seines Körpers spürte, dass hier gerade etwas gewaltig schief ging, durch den Kopf. Ehe er Sergiuz mit weiteren Fragen behelligen konnte, strich sich der Zaritsch das schütter gewordene Haar zur Seite, fuhr über seinen sauber ausrasierten Kinnbart und setzte zu einer kleinen Rede an. »Schmiede von Moska!«, rief er. »Eure Arbeit ist getan, ich brauche euch nicht mehr.«
Hochrufe kamen auf, doch Sergiuz sprach noch weiter: »Damit seid ihr nicht nur unnütz, sondern auch zu einem Sicherheitsrisiko geworden. Die Vorsicht gebietet, euch deshalb alle zu töten.« Die Hochrufe wichen absolutem Erstaunen, das sich auf den eben noch so beglückten Gesichtern abzeichnete. Vielleicht mochten einige darüber rätseln, was Sicherheitsrisiko bedeutete, aber den meisten dämmerte wohl bereits, dass gerade ihr Todesurteil gesprochen wurde. Bevor auch nur einer reagieren konnte, hielten Daanar und seine Getreuen bereits Fauststrahler in der Hand, mit denen sie unbarmherzig das Feuer eröffneten. Lichtstrahl um Lichtstrahl fauchte aus den Waffen, und die Schmiede fielen wie vom Blitz getroffen zu Boden. Jene, die noch zu fliehen versuchten, scheiterten an den Schwertern der Wachen, die sie zurück trieben, zurück in die Mitte, wo das Strahlengewitter wütete. *** Glücklicherweise dauerte das Gemetzel nicht allzu lange. Nach sieben oder acht Atemzügen war alles vorbei. Widerwärtiger Gestank breitete sich aus, wie eine massive Woge, die alle Zeugen umspülte. Einige der Gardisten, die eben noch geholfen hatten, das Massaker durchzuführen, bedeckten nun Mund und Nase mit der Hand, um sich zu schützen. Selbst Kosmur, der in seinem Leben schon manche Schandtat ausgeführt hatte, fühlte einen stachligen Kloß im Hals, der das Atmen zur Qual werden ließ. »Warum?«, würgte er unter großen Mühen hervor. »Warum habt ihr das getan? Diese Männer besitzen alle Familien, die sie vermissen werden!« Mit moralischen Werten zu argumentieren, war ohnehin
sinnlos, also wies er auf den taktischen Nachteil der Tat hin. »Nur keine Sorge.« Sergiuz entrücktes Grinsen erhielt eine dämonische Note. »Das magische Feuer macht mich so stark, dass ich keine Rache zu fürchten habe. Die Technos selbst werden mit ihren Eisenwagen auffahren, um mich zu schützen, weil nur mein Überleben die Stadt vor dem Untergang bewahren kann. Sollte mir etwas geschehen«, dabei schlug er auf den Sender, den er über seinem Herzen trug, »wird jeder, der sich in oder um Moska aufhält, bei lebendigem Leibe verbrennen.« Er warf den angetretenen Wachen einen strengen Blick zu, um klar zu machen, dass auch sie ihm von nun an auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. »Denkt an die laufenden Bilder, die überall flimmern! Dort ist zu sehen, welche Macht das Feuer in sich birgt. Selbst die Bluttempler fürchten es, als die Zeit, in der die Sonne wieder wächst! Doch das Feuer, das wir in diesen Kellern horten, ist noch viel, viel mächtiger als das auf der Hauswand am Toten Platz. Ganz Moska wird untergehen, falls mir ein Leid geschehen sollte.« Ein mit Speichelflocken durchsetzter Hustenanfall unterbrach seine Ansprache. Sergiuz litt unter Fieber, dafür sprachen die dicken Schweißtropfenauf seiner Stirn. Kein Wunder, dass er schon die ganze Zeit so entrückt wirkte. Trotzdem brachte er noch die Kraft auf, die Gardisten zurück auf ihre Posten zu schicken. Zurück blieben nur die Magier und Kosmur. »Aber was, wenn du krank wirst?«, fragte er, die drohende Möglichkeit direkt vor Augen. »Oder dir auf der Treppe den Hals brichst?« »Dann geht eben ganz Moska mit mir unter!«, geiferte Sergiuz. »Was schert es mich noch, wenn ich sowieso schon in Wudans Reich wandle?« »Aber, das ist doch...«
»Was? Verrückt?« Die Augen des Zaritsch wurden schmal. »Nun, darüber brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, alter Freund. Jetzt, wo ich alle Macht auf mich vereinigt habe, bist du so nutzlos wie ein Schmied geworden!« Daanar, der die ganze Zeit schweigend neben ihnen gestanden hatte, als würde ihn das Gespräch nichts angehen, hob plötzlich die Hand mit dem Fauststrahler. Das konnte nur eins bedeuten: Er sollte tatsächlich sterben. Einfach so, weil es dem fiebrigen Wunsch des verrückten Zaritsch entsprach. Die schreckliche Erkenntnis lähmte Kosmur einen Lidschlag lang. Dann handelte er so, wie er es schon lange hätte tun sollen. Er schlug Sergiuz nieder. Einfach so, aus dem Handgelenk, ohne groß auszuholen. Blitzschnell brach er bis zum Kinn durch und wischte es machtvoll zur Seite. Sergiuz wurde förmlich von den Füßen gerissen und stolperte mitten in Daanars Schussfeld. Gerne hätte Kosmur den beiden eine ordentliche Abreibung verpasst, doch dafür fehlte die Zeit. Die anderen Magier hoben ebenfalls die Waffen. Kosmur sprang zur Seite, tauchte hinter einem noch Wärme abstrahlenden Schmelzkessel unter und hetzte davon. Blassgelbe Lichtstrahlen zerschnitten hinter ihm die Luft. Alle viel zu hastig gezielt, um wirklich zu treffen. Er war kein dummer Schmied, der sich zur Schlachtbank führen ließ. Nein, er war ein Läufer, der Haken schlagen und sich ducken konnte. Als er hinter dem Kessel hervor kam, lagen die Einschläge schon dichter. Die Magier begannen sich zu verteilen, um sich nicht gegenseitig zu behindern. Besaßen erst mal alle freies Schussfeld, sah es schlecht für ihn aus. Bis dahin musste er verschwunden sein. Kosmur riss einige Schaufeln und Greifzangen um, in der Hoffnung, damit ein wenig Verwirrung zu stiften. Dann rannte er, so weit vornüber gebeugt wie möglich, auf den hinteren
Ausgang zu. Eine andere Möglichkeit blieb gar nicht. Heranrasendes Fauchen ließ ihn zur Seite springen. Gerade noch rechtzeitig, um dem Strahl zu entgehen, der seinen Oberschenkel so knapp verfehlte, dass er die Hitze noch durch die Hose spüren konnte. Er rannte weiter. Die rückwärtige Wand kam näher, und ebenso die Einschläge der fehlgegangenen Strahlen, die, in aufquellenden Lichtblasen endend, faustgroße Krater im Beton hinterließen. Nur noch drei Meter bis zur rettenden Ecke, beinahe geschafft. Seine Hoffnung wuchs – und wurde einen Atemzug später jäh zerstört, als ein weiteres Fauchen nahte, bei dem er sofort wusste, dass es diesmal zum Ausweichen zu spät war. Glühender Schmerz bohrte sich in seine Seite, knapp über der linken Hüfte, und pflanzte sich von dort aus durch den ganzen Körper fort. Es fühlte sich an, als ob man ihn mit kochendem Blei übergießen würde. Er schrie vor Qual und hätte sich am liebsten zu Boden geworfen, aber das wäre sein Ende gewesen. Mehr stolpernd als laufend rettete er sich bis zu dem Mauervorsprung, fing sich mit beiden Händen ab und schwang sich daran herum. Strahlenkaskaden prasselten gegen den Beton, ohne ihn zu durchdringen. Die Magier mussten schon nachrücken, um ihn zu töten. Kosmur schleppte sich weiter. Rechts von ihm klaffte der Stollen, der in die Museumskeller führte. Dessen Eingang wurde jedoch von gerade frisch eingeschworenen Gardisten bewacht, deshalb wandte er sich nach links, in die Dunkelheit, von der er wusste, dass sie einen verschütteten Taratzengang beherbergte. Wenn er sich darin verkroch, besaß er vielleicht noch eine winzige Chance. Die Dunkelheit verstärkte sich, bis er nichts mehr sehen konnte. Ein Hand auf die Verbrennung gepresst, die andere
nach vorne gestreckt, schleppte er sich weiter, bis er auf Widerstand stieß. Er musste sich auf die Lippen beißen, um nicht vor Schmerz zu stöhnen, während er hektisch über die Wand tastete, bis er ins Leere griff. Da war es endlich, das gesuchte Loch. Höchste Zeit; hinter ihm wurden schon Schritte laut. Leise vor sich hin wimmernd krabbelte er hinein, doch mittlerweile fielen ihm die Bewegungen mit jedem Handbreit schwerer. Er wollte sich schon entkräftet nach vorne fallen lassen, als er eine Stimme hörte. »Jetzt gib nicht auf, du hast es schon fast geschafft.« Verwirrt blickte er hoch und nahm zu seiner Überraschung einen schwachen Lichtschimmer wahr, der schräg vor ihm aus der Decke drang. Sein Erstaunen wurde noch größer, als sich ihm eine schmale, feingliedrige Hand entgegen streckte. Unsicher, ob er nicht vielleicht halluzinierte, krabbelte er trotzdem weiter, bis er direkt unter dem Durchbruch saß, den irgendwelche Taratzen unbemerkt neu gegraben hatten. Die schmale Hand, die ihn daraufhin am Kragen packte und nahezu mühelos in die Höhe hob, gehörte Luura. Das erkannte er an den sechseckigen Metallplättchen ihres Kleides, lange bevor sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber saßen. Woher sie die Kraft nahm, ihn mühelos zu heben, wusste er nicht. Angesichts seiner tobenden Schmerzen war es ihm auch herzlich egal. In ihrer Rechten hielt Luura eine brennende Talglaterne, zu drei Seiten hin abgeblendet, sodass der Schein nur nach vorne in den Gang fiel. Den Stimmen, die hinter ihnen laut wurden, blieb der Schimmer verborgen. »Im alten Taratzenloch ist er nicht!«, rief gerade einer; der Stimme nach musste es Skraja sein. »Bist du sicher?«, fragte ein anderer. »Ja, ich kann bis zu der eingestürzten Stelle sehen. Er
versucht also zum Museum durchzubrechen.« Kosmur entspannte ein wenig, doch Luura zog ihn weiter. »Keine Pause«, mahnte sie leise. »Die werden ihren Irrtum schnell bemerken und dann genauer nachsehen.« »Was machst du eigentlich hier?«, fragte er und versuchte dabei, so gut wie möglich mitzuhalten. Da hielt sie inne, drehte sich um und sah ihn an, die Augen unnatürlich geweitet, wie jemand, der seinem eigenen Tod ins Antlitz geschaut hatte. »Heute Morgen habe ich ein Gespräch zwischen den Magiern belauscht«, flüsterte sie. »Sie wollen Moska so oder so vernichten. Sergiuz weiß es, aber er stört sich nicht daran.« »Ja, er steht völlig unter ihren Bann«, stöhnte Kosmur leise. Sie nickte, ernst und entschlossen. In ihrem Blick stand zu lesen, dass sie lange über die verfahrene Lage nachgedacht hatte und zu einem Ergebnis gekommen war. Einen Moment später teilte sie es ihm auch schon mit. »Wir müssen Mista Black warnen«, sagte sie. »Er ist der Held von Moska, nur er kann noch helfen.« Eine gute Idee; warum war er nicht selbst darauf gekommen? Schon vor Tagen oder Viertelmonden? »Geh alleine«, befahl er in einem Anflug von Selbstaufopferung. »Ich halte dich nur auf.« »Nein.« Luura schüttelte den Kopf. »Mich kennt niemand, mir wird keiner glauben. Aber du bist die rechte Hand des Zaritsch, dir werden sie zuhören.« Ehe er etwas darauf erwidern konnte, griff sie ihn schon unter den Achseln und zog ihn weiter, der Oberfläche entgegen. *** Oberflächenresidenz, 10:12 Uhr
Aufgeregt diskutierten sie miteinander, wie sich Sergiuz am besten mit Hilfe von Navoks PSI-Kräften austricksen ließe. Gleichzeitig beschloss man, intensiv nach den vermissten Schmieden, Andronen und Frekkeuschern zu fahnden, für die sich der Zaritsch in der Vergangenheit verdächtig stark interessiert hatte. Nachdem die wichtigsten Dinge geklärt waren, schenkten sich alle noch einmal die Tassen voll und das Gespräch driftete in angrenzende Gefilde ab. »Wurde eigentlich schon geklärt, wie die Daa'muren in den Besitz der ARETs und AMOTs aus Helsinki gekommen sind?«, fragte Matt und erhielt zur Antwort, dass die Community St. Petersburg eine Expedition ausgesandt hatte, um in dem betroffenen Stützpunkt nach dem Rechten zu sehen. Mr. Black erkundigte sich im Gegenzug nach dem Befinden von Aiko. »Seit sich Crow wieder in seine Höhle in Washington zurückgezogen hat, habe ich nichts mehr aus Amarillo gehört«, sagte er bedauernd. Ihm war anzumerken, wie gerne er selbst in der alten Heimat nach dem Rechten gesehen hätte. »Ich hoffe, die Lage hat sich inzwischen wieder beruhigt.« »Lady Warrington hat eine Delegation entsandt, die die Lage sondieren soll«, antwortete Matt. »Nach allem, was man so hört, gehen sich alle Parteien so gut es geht aus dem Wege. Crow hat wohl erreicht, was er wollte. Und die neue Serumsformel, die die Folgen der Unfruchtbarkeit aufhebt, trägt ebenfalls zur Entspannung bei.« Blacks Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Der Weltrat hat sie aus London bekommen?«, fragte er. »Als Zeichen des guten Willens?« »Yep«, bestätigte Matt. »Da das ursprüngliche Serum aus Washington stammt, halte ich das auch nur für fair. Sie nicht?« Mr. Black blieb eine Antwort schuldig, denn im gleichen
Moment, als er dazu ansetzen wollte, brach in den vorgelagerten Großraumbüros Unruhe aus. Gardisten, Wissenschaftler und Bedienungspersonal erhoben sich von den Plätzen und reckten die Köpfe. Aufgeregt machten sie sich gegenseitig auf etwas aufmerksam, bis der anschwellende Lärm durch die gläserne Abtrennung drang. Matt war der Erste, der Mr. Blacks starrem Blick folgte und sich umwandte. Die anderen machten es ihm rasch nach, doch es dauerte noch einige Sekunden, bis sie die Ursache des Trubels ausmachen konnten. Dann tauchten die ersten Bluttempler auf. Flankiert von russischen Gardisten, schritten sie mit forschem Tempo auf Blacks Büro zu. Die Waffengehänge hatte man ihnen am Eingang abgenommen, doch mit ihren wallenden Umhängen und den tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen machten sie trotzdem einen bedrohlichen Eindruck. Hinter den beiden, die voraus eilten, folgte eine Prozession, bestehend aus vier Trägern, die eine mit detaillierten Schnitzereien verzierte Sänfte schulterten, auf der eine Gestalt in roter Robe thronte. Erzvater persönlich. Hinter ihnen folgten zwei weitere waffenlose Leibwächter. Die ersten beiden hatten inzwischen die gläserne Trennwand erreicht. Ausgelöst durch einen Bodenkontakt, glitt die transparente Tür zur Seite und sie traten ein. Navok erhob sich aus seinem Sessel, ging ein paar Schritte zur Seite, um sich Platz zu verschaffen, und legte die Rechte auf den Degenknauf an seinem Gürtel. »Bitte keine Drohgebärden«, wies ihn Mr. Black zurecht, bevor er sich ebenfalls erhob. »Erzvater besucht uns auf meinen persönlichen Wunsch. Dass wir derzeit auf jede sich bietende Unterstützung angewiesen sind, brauche ich wohl niemanden zu erklären. Seine Heiligkeit hat mir im Übrigen ein friedliches Treffen zugesichert, obwohl er von Ihrer Ankunft
wusste.« Navok stieß ein verächtliches Schnaufen aus, nahm jedoch die Hand zur Seite. Vielleicht weil er Radek als einen der beiden eingetretenen Ordensbrüder erkannt hatte. Black genügte diese Geste. Mit einem kurzen Wink teilte er den Gardisten mit, dass sie draußen warten könnten. Sekunden später wurde der Tragstuhl hereingebracht und abgesetzt. Die Gestalt im roten Ornat, die sich die ganze Zeit über nicht bewegt hatte, hob plötzlich die dürren feingliedrigen Hände und winkte seine Begleitung nach draußen. Erst als sich die Tür hinter ihnen zischend geschlossen hatte, legte Erzvater sein hässliches Totenkopfgesicht frei, indem er die Kapuze ein Stück nach hinten zog. Runzlige, mit Altersflecken übersäte Pergamenthaut spannte sich um fleischlose Züge. Kein Nosfera brachte viel Gewicht auf die Waage, doch selbst für einen Vertreter dieses Mutantenvolkes wirkte Erzvater extrem dürr und asketisch. Links und rechts seiner Nasenwurzel schimmerte ein Streifen rötlichen Narbengeflechtes, in das zwei milchig angelaufene Pupillen eingebettet waren. Obwohl er mit ihnen nichts mehr sehen konnte, wusste er doch genau, wer ihm gegenüber saß. Sein leerer Blick richtete sich zuerst auf Matt und wanderte dann langsam nach rechts, über Aruula, die Explorer-Besatzung, Mr. Black und Sershant Hansen, um schließlich an Navok hängen zu bleiben. Obwohl beide Nosfera ihre Emotionen weder durch Worte noch durch Gesten zum Ausdruck brachten, war der zwischen ihnen gärende Hass deutlich spürbar. Matt überlief ein unangenehmes Prickeln, als ob er sich in einem starken elektrischen Spannungsfeld aufhalten würde. »Der, dessen Name nicht genannt werden soll«, durchbrach Erzvater das Schweigen. »Ich würde ja gerne behaupten, wie sehr es mich freut, dich wiederzusehen, aber leider hast du
mich ja geblendet.« »Tut mir aufrichtig Leid«, knurrte Navok aus tiefer Kehle. »Ich habe damals wirklich versucht, dir die Kehle aufzuschlitzen.« »Bitte, meine Herren, das führt doch zu nichts«, versuchte Mr. Black eine weitere Eskalation zu verhindern. Daraufhin warf Erzvater den Kopf zurück und lachte ihn aus. Mit einem krächzenden, schaurigen Laut, der fast wie eine Drohung klang und der genauso schnell abbrach, wie er begonnen hatte. »Ach, lassen Sie doch zwei alten Feinden die Freude, kleine Spitzen auszuteilen«, bat er mit vor Hohn triefender Stimme. »Schließlich fällt es uns beiden schwer, die Vergangenheit zu begraben, oder?« Die angehängte Frage richtete sich an Navok, dessen Schulterblätter – Meister der Selbstbeherrschung hin oder her – unter dem Umhang bebten. Das Leder seiner Handschuhe begann leise zu knacken, als er die geballten Finger noch fester zusammen presste. »Ich werde nie vergessen, dass wegen dir mein Sohn im Blutturm sterben musste«, antwortete er mit einem Zittern in der Stimme. »Und ich nicht, dass du mich zum Krüppel gemacht hast!« Erzvaters Kopf stieß vor wie eine angreifende Schlange. »Trotzdem müssen wir ruhen lassen, was uns beiden die Seele zerfrisst. Weil die Vorsehung es von uns verlangt.« Navok schwieg dazu, und das war Seiner Heiligkeit Antwort genug. »Es naht die Zeit, in der die Sonne wieder wächst«, wiederholte Erzvater die legendäre Prophezeiung der Bluttempler. »Wie ich hörte, hast du das Fanal, das uns droht, mit eigenen Augen gesehen und so deinen Glauben zurückerhalten. Nun, angesichts solch eines Wunders darf ich
Murrnaus Willen nicht übersehen.« »Bah!« Navok warf seine Hände in einer verächtlichen Geste empor. »Versuch bloß nicht, mich in dein Lügengespinst einzubinden. Alles woran ich glaube, ist die Schlagkraft meiner Klinge. Und daran, dass es ein Schicksal gibt, das unser Volk mit Maddrax verbindet. Aber das hat dann nichts mit dir oder Murrnau zu tun.« Im Gegensatz zu dem aufbrausenden Navok schien Erzvater völlig zu erstarren. Seine hohen Wangenknochen traten so stark hervor, dass die darüber gespannte Pergamenthaut zu reißen drohte. »Ich bin hier, weil mich Mr. Black um die Hilfe des Ordens bat«, erklärte er vollkommen ruhig und beherrscht. »Und ich bin bereit, unsere Kräfte in den Dienst dieser Stadt zu stellen, trotz der Prüfung, die mir durch deine Anwesenheit auferlegt wird. Doch wenn du Murrnau lästerst, oder gar hier bist, um dem Glauben an ihm Schaden zuzufügen, dann werde ich alle Abmachungen brechen und dich töten lassen, auch auf die Gefahr hin, dass wir danach im Licht der neuen Sonne verbrennen. Denn ein Leben ohne Glauben wäre eine viel größere Schmach als der ehrenvolle Tod.« Matt entging bei diesem Schlagabtausch nicht, dass Blacks Hilfeersuchen stark herausgestrichen, seine Stellung als Sohn der Finsternis aber mit keinem Wort erwähnt wurde. Deutscher konnte gar nicht zum Ausdruck gebracht werden, wie wenig Erzvater derzeit an seiner Meinung lag. Deshalb hielt er für das Klügste, sich vorläufig nicht einzumischen. Mr. Black, der das Gespräch mit bleichem Gesicht verfolgte, hielt sich ebenfalls mühsam zurück, wohl wissend, dass alles von Navoks nächster Antwort abhing. Der Nosfera, auf den sich nun alle Blicke konzentrierten, schien dabei nicht den geringsten Druck auf seinen Schultern zu fühlen. Lässig stemmte er die Hände in die Hüften, fixierte
seinen Kontrahenten und spöttelte: »Darum die ganze Aufregung? Weil du Angst hast, ich könnte erzählen, was ich damals herausgefunden habe?« Er stieß ein verächtliches Zischen aus. »Als ob mir nur einer von deinen verblendeten Idioten glauben würde. Nein, du kannst ganz beruhigt sein. Ich habe Besseres zu tun, als meine Zeit mit Missionieren zu vergeuden. Die Belange des Ordens interessieren mich nicht mehr, wir sind geschiedene Leute.« »Gut.« Erzvaters Miene entspannte sich. »Das werte ich als einen Schwur auf Gegenseitigkeit. Wir lassen beide die Vergangenheit ruhen, um zu verhindern, das die Sonne wieder wächst. Ich halte das für eine Prüfung Murrnaus, die schwerste wohlgemerkt, die ich je bestehen musste. Und du, du kannst es von mir aus werten wie du willst.« Navok akzeptierte mit einem Nicken, und die allgemeine Anspannung wich. Mochten auch beide Nosfera vor Hass aufeinander zerfressen sein, das hier vor Zeugen gegebene Wort würden sie nicht brechen, das verbot der Ehrenkodex, in dem sie beide erzogen waren. »So hört denn meine Entscheidung«, hob Erzvater mit salbungsvoller Stimme an. »Unser Orden verfügt noch über viele Getreue in den Reihen der Moskawiter. Sie sollen weiter die Gefahr verkünden, in der wir alle schweben. Nosfera, Barbaren und Technos. Die Menschen sollen wissen, dass sich unsere Prophezeiung erfüllt und dass unser Sohn der Finsternis zusammen mit Mr. Black, dem Held von Moska, gegen die Bedrohung vorgeht.« Da war es wieder, das alte Schlitzohr, das vor allem an den eigenen Vorteil dachte. Mit diesem Vorhaben wertete Seine Heiligkeit vor allem den Ruf der Bluttempler auf, ohne etwas zur konkreten Problemlösung beizutragen. »Außerdem lasse ich jeden verfügbaren Krieger
ausschwärmen, um nach den Bleikisten zu suchen«, fügte er hinzu, als ob er den kritischen Gedanken gelesen hätte. »Wir Bluttempler sehen bei Nacht so manches, was anderen verborgen bleibt. Außerdem kennen wir jeden Schlupfwinkel, in den sich Andronenreiter oder Schmiede nach getaner Arbeit zurückziehen. Diese Legionen der Finsternis unterstelle ich Maddrax, ebenso ein Dutzend meiner besten Degenmeister, die ihm als persönliche Leibgarde dienen sollen, bis die Gefahr vorüber ist.« Klang fast so, als ob er rehabilitiert wäre. Matthew rang sich ein Lächeln ab, denn Erzvaters Unterstützung mochte das entscheidende Zünglein an der Waage sein. Matt wusste aus Erfahrung, dass ein Ordenskrieger ein halbes Dutzend normaler Barbaren aufwog. Erzvater rief seine Begleiter herein und betraute Radek mit den Einzelheiten. Danach wollte er in sein Domizil im alten Jungfrauenkloster zurückkehren, doch dafür war es längst zu spät. Draußen eilte bereits der regierende Kommissar Konstantin Fedjajewski herbei, um den einstigen Gegner und neuen Verbündeten mit allen diplomatischen Ehren zu begrüßen. Moskau musste in diesen schweren Zeiten befriedet werden. Selbst wenn es dazu des Bruderkusses mit einem Nosfera bedurfte. Für den nun entstehenden Menschenauflauf war selbst Mr. Blacks Büro zu klein, deshalb einigte man sich darauf, in einen größeren Konferenzraum auszuweichen. Captain McDuncan wurde dabei, als Vertreterin der Community London, mit vereinnahmt. Matt und Aruula erging es nicht anders. Navok und Andrew Farmer signalisierten dagegen, dass sie sich Richtung EWAT absetzen wollten. Der Corporal ging schon vor, Navok wartete allerdings, bis nur noch Matt, Aruula und Mr. Black zugegen waren. Bevor
sie ebenfalls verschwinden konnten, trat er in die Tür, um sie aufzuhalten. Sein Blick galt dabei Mr. Black, und auch die folgenden Worte. »Es gibt eine geheime Abmachung zwischen Ihnen und Erzvater, sehe ich das richtig?« Der Rebell mit dem kurzen blonden Haar blieb überrascht stehen und strich über sein schwarzes T-Shirt, das er Zentimeter für Zentimeter mit einem durchtrainierten Körper ausfüllte, der dem seines genetischen Vaters, Arnold Schwarzenegger, kaum nachstand. »Was heißt hier geheim?«, fragte er nach einigem Zögern. »Ich habe ganz offiziell um Hilfe gebeten, Sie waren doch selbst dabei.« »Das ist nicht alles«, beharrte Navok. »Erzvater vermag sich abzuschirmen, ich kann ihn nicht durchschauen. Doch bei Ihnen spüre ich ganz deutlich, dass Sie sich alle Mühe geben, um an bestimmte Dinge nicht zu denken.« »Also, das ist doch wohl...«, empörte sich Black heftig. »Geschenkt«, blockte Navok ab. »Sie sind alt genug, um zu wissen, worauf Sie sich einlassen. Trotzdem will ich Ihnen die gleiche Warnung zukommen lassen, die sich auch Maddrax anhören musste: Hüten Sie sich vor Erzvater und seinen Ränken, denn er kann sie so geschickt schmieden wie kein anderer. Im Moment mag seine Hilfe sehr vorteilhaft wirkten, doch am Ende wird er Sie benutzten, und nicht umgekehrt.« *** Stoßtrupp Petersburg, in Anmarsch auf die Außenbasis Helsinki, 12:28 Uhr Flache, nur mit Gräsern und Büschen bewachsene Tundra, so weit das Auge reichte. Der Winter in dieser Region dauerte zu lange und war zu hart, um eine ausgeprägtere Vegetation zuzulassen. Sieben Monate im Jahr drückten gewaltige
Schneemassen alles nieder, das überstanden nur robuste und genügsame Pflanzen. Obwohl zur Zeit alles ergrünte, ließ sich die Schneewüste erahnen, die hier den Winter über herrschte. Das ursprüngliche Helsinki war schon vor langer Zeit der unerbittlichen Witterung zum Opfer gefallen. Dort stand kein Stein mehr auf dem anderen. Nur einige überwachsene Fundamente zeigten den früheren Standort der Häuser an. Entsprechend ragten die halbkugelförmigen Bauten der Außenbasis weithin sichtbar auf. Vier großen, mittig aufgeschnittenen Bällen gleich, lagen sie da. Hauptmann Vukow ließ den ARET anhalten, sobald er die Wabenstruktur der Außenhüllen mit bloßem Auge erkennen konnte. Die von ihm aus gesehen vorderste Sphäre war im Sommer 2435 errichtet worden, zuerst als Provisorium, das anschließend neunzehn Jahre leer gestanden hatte. Erst als Petersburg verstärkt Anstrengungen unternahm, sich an der Oberfläche zu etablieren, folgten im Laufe der Jahrzehnte die Erweiterungen, die sich nördlich, südlich und westlich der Ursprungszelle anschlossen. Heute gehörte Helsinki zu den größten Vorposten der russischen Liga. Die Turmluke, mit der immer mehr ARETs nachgerüstet wurden, öffnete sich zischend über dem Beifahrersitz. Vukow nahm den Feldstecher von der Ablage und stand auf. Eine frische Brise zerwühlte sein Haar, als er den Kopf nach draußen streckte. Salzige Luft kitzelte die Nasenflügel, die Küste lag nur wenige Kilometer entfernt. Mit etwas Glück sah man schäumende Wellenkämme, bevor sie sich am Strand brachen und ausliefen. Vukow besaß jedoch keinen Sinn für dieses Naturschauspiel, sondern presste die Gummilinsen gegen Augenbrauen und Jochbein, um sich die Basis genauer anzusehen. Surrend stellten sich die Linsen auf das angepeilte Objekt ein. Die Sphären lagen plötzlich zum Greifen nahe.
»Sieht ziemlich ruhig aus«, kommentierte der Fahrer, der nervös mit den Händen auf dem Lenkrad zu trommeln begann. »Zu ruhig, wenn Sie mich fragen.« Vukow reagierte nicht auf die überflüssige Ansprache, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf seine Aufgabe. Alle Sinne angespannt, suchte er den Außenbereich nach etwas Verdächtigem ab. Das erste, was ihm dabei auffiel, waren zwei tief im Boden klaffende Furchen, deren Abstand zueinander exakt dem zweier AMOT-Laufketten entsprach. Abdrücke einzelner Glieder ließen sich nicht ausmachen. Die Spur musste schon vor Monaten entstanden sein, als noch alles verschneit gewesen war. Das einsetzende Tauwetter hatte die Einzelheiten verwischt. Trotzdem ließ sich nicht übersehen, dass die Spur in gerader Linie auf einen am Boden liegenden, zylindrischen Vorbau zulief, unten abgeflacht und vier Meter im Durchmesser. Die Hauptschleuse. Von den Fahrzeugen, die außerhalb der Basis parken sollten, fehlte jede Spur. Aber das verwunderte nicht. Aus diesem Grunde sahen sie ja nach dem Rechten. Weil Helsinki 5, einer der hiesigen ARETs, von Daa'muren in der Slowakei benutzt worden war. »Weiterhin keine Reaktion auf unsere Funksprüche«, meldete Donskoi, ein Ingenieur, den er schon seit Jahrzehnten kannte, über die Bordsprechanlage. »Dabei müssten sie uns auf diese Entfernung problemlos empfangen können. Meinen Messungen zufolge bewegt sich die örtliche CF-Strahlung auf normalem Niveau.« Vukow bedankte sich, ohne den Blick eine Sekunde von dem Außenschott zu nehmen, das aus irgendeinem Grund vom stahlgrauen Anstrich abwich und seltsam schwarz verfärbt schien. Es dauerte mehrere Sekunden, bis der Hauptmann seinen Irrtum begriff und wirklich verstand, was er da sah. Ein eisiger
Hauch, der nicht von der See, sondern aus seinem Innersten stammte, ließ ihn frieren. »Pennen die Brüder da drüben, oder was ist los?«, meldete sich der unruhig auf das Lenkrad eintrommelnde Fahrer erneut zu Wort. »Warum zum Teufel steht nicht längst ein Empfangskomitee vor der Tür? Die müssen uns doch kommen sehen.« Vukow ließ sich in den Sitz fallen, legte den Feldstecher geräuschvoller als nötig auf die Konsole und drückte den Schalter, der die Turmluke versiegelte. Seine Augen brannten, doch er weinte nicht. Er weinte nie, jedenfalls nicht in Gegenwart anderer Männer. »Da drüben kann uns keiner mehr empfangen«, erklärte er rau. »Die sind alle tot.« »Was?« Koskowo erstarrte mitten im Trommeln. Wenigstens kehrte dadurch etwas Ruhe ein. »Wie meinen Sie das, Hauptmann?« »Die äußere Schleusentür steht schon seit Monaten offen«, erklärte Vukow. »Hängt wohl mit einer AMOT-Spur zusammen, die direkt ins Innere führt.« Koskowos Haut bekam einen käsigen Teint. »Die Schleuse steht offen?«, stellte er sein Talent als menschliches Echo unter Beweis. »Aber Helsinki besitzt noch gar kein Serum. Das würde ja bedeuten...« ... dass alle tot sind, du Idiot. Das habe ich doch gerade gesagt. Vukow sprach nicht aus, was er dachte, doch es stand ihm wohl deutlich ins Gesicht geschrieben, denn Koskowos leichenblasse Wangen röteten sich plötzlich wieder. »Fahren Sie einfach«, befahl Vukow. »Wir werden bald sehen, was uns erwartet.« Im Außenbereich gab es nur die Fährten einiger Lupas und mehrere silberne, halb im Schlamm steckende Fetzen, die
eindeutig von Schutzanzügen stammten. Sobald sie in die Schleuse rollten, wurde jedoch das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Überall lagen Leichen auf dem Boden, zum Teil stark verwest, aber auch von Tieren angefressen. Izeekepire, Lupas, Bonta-Vögel – alles was Aas auf Hundert Kilometer riechen konnte, hatte hier reiche Nahrung gefunden. Zum Teil lagen die Knochen so weit auseinander, dass sich nicht mehr genau sagen ließ, was zu wem gehörte. Es bestand aber kein Zweifel, dass der größte Teil der Besatzung bereits hier im Eingangsbereich ums Leben gekommen war. Sie müssen völlig arglos gewesen sein, dachte Vukow und gab dem Fahrer ein Zeichen, dass er halten sollte. Der langsam rollende ARET blieb auf der Stelle stehen. Mitten in dem zylindrischen Vorbau, in einem Meer aus rotbraun eingetrockneten Flecken. Vukow spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Was dort am Boden klebte, war einmal Blut gewesen und hatte in den Adern und Venen von Freunden zirkuliert. Oberst Rastina Polnikow, Major Jellinezc und all die anderen, er hatte sie gekannt. Die Scheinwerfer des ARET tauchten den rückwärtigen Teil in ein buttergelbes Licht, das die Scherben der zerschlagenen Helme zum Glitzern brachte. Es sah aus, als würden kleine Feuer auf dem Boden brennen, doch in Wirklichkeit lag alles kalt und trostlos da. »Sie bleiben hier und besetzen den Kampfstand«, befahl Vukow dem Fahrer, bevor er durch die Kriechschleuse nach hinten robbte. Donskoi und die beiden Gardisten der ISSP (Interne Sicherheit St. Petersburg) warteten bereits auf ihn. »Wer auch immer die Basis überfallen hat, ist vermutlich längst wieder fort«, sagte er zu den Männern. »Wir müssen aber damit rechnen, dass sich hier in den letzten Monaten wilde Tiere oder andere Gefahrenquellen eingenistet haben.«
Er öffnete die Waffenkammer und verteilte vier Handfeuerwaffen vom Modell Strogoff, dessen ZwanzigSchuss-Stangenmagazin wahlweise Neun-Millimeter-Patronen oder Betäubungspfeile verschoss. Falls sie doch auf einen Daa'muren stießen, mochte es sich als nützlich erweisen, ihn lebend zu fangen. Nach ihrem Ausstieg wurde die Heckschleuse wieder versiegelt. Vukow spürte, wie sein Herz zu klopfen begann, trotzdem hätte er nicht mit dem Fahrer tauschen mögen, der alleine im Fahrzeug zurück blieb. Sie genossen zwar nicht den Schutz einer Panzerung, dafür waren sie zu viert und konnten sich gegenseitig Deckung geben. Einer der Gardisten begann nach den Toten zu schauen, doch Vukow rief ihn zurück. Zur Identifizierung war später noch genügend Zeit. Zuerst mussten sie die Gebäude sichern. Ein unangenehmer Geruch nach Verfaultem lag in der Luft, als sie auf die innere Personenschleuse zugingen. Das runde, exakt zwei Meter durchmessende Schott wies schwere Spuren von Strahlenbeschuss auf. Die Verriegelung geschmolzen, ließ es sich ganz einfach zur Seite rollen. Dahinter noch mal das gleiche Bild, nur dass das Schott bereits offen stand. Die sterile Basis enthielt normale Oberflächenluft. Damit war sie für immungeschwächte Technos verkeimt. Grelles Kunstlicht fiel ein. Energiezufuhr und Leuchtkörper funktionierten also noch. Sie durchquerten die Schleusenkammer und begannen mit der Durchsuchung. Immer in Sichtweite zueinander agierend, benötigten sie beinahe zwei Stunden, bis sie absolut sicher sein konnten, dass keine Gefahren in den Sphären lauerten. Fleggen und anderen Kleininsekten, mehr Lebensformen trafen sie nicht an. Bei ihrer Attacke hatten die Angreifer sämtliche Schleusen aufgebrochen und so auch jene aufgespürt, die nicht gleich dem
ersten Ansturm zum Opfer gefallen waren. Sie fanden fünf weitere Tote. Zuletzt einen verwesten Leichnam in der Krankenstation, der von Lupas und anderen Aasfressern verschont worden war. Es handelte sich um einen Patienten mit einem gebrochenen Bein. Er trug einen blaugrau gestreiften Pyjama und lag drei Meter neben dem zerwühlten Krankenbett. Seine Hand umkrampfte noch ein Skalpell, mit dem er sich hatte verteidigen wollen. Angesichts der Laserverbrennungen in Brust, Gesicht und Genitalbereich ein absolut hoffnungsloses Unterfangen. Nicht weit von ihm entfernt lag ein handlicher Audiorekorder auf dem Boden. Ganz so, als wäre er ihm aus der Hand geglitten. Zum Glück war er dabei nicht unters Bett gerutscht. Vermutlich hatten die Daa'muren seinen Wert nicht erkannt. Die Panzerfahrzeuge und viele weitere Geräte waren zwar geraubt worden, andere, ebenso nutzbringende Technik hatten sie dagegen verschmäht. Ganz so, als ob sie nur partielle Kenntnisse der menschlichen Wissenschaft besäßen. Der Rekorder lag jedenfalls noch da. Vukow hob ihn auf und aktivierte das Display. Ein Dutzend Musiktitel tauchte dort auf, aber auch eine Sprachaufnahme, die als letzte Aktivität aufgeführt wurde. Seine Daumenkuppe fuhr mit geübten Bewegungen über das sensitive Display und der Chip spielte die Aufnahme ab. Eine männliche Stimme erklang. Jung, geschwächt und in Panik. »Irgendwas stimmt hier nicht«, verkündete sie gleich zu Beginn. »Ich glaube, die Basis wird angegriffen. Das verstehe ich nicht. Vor einer halben Stunde waren noch alle guter Dinge. Die Ärztin meinte, eine Abordnung aus Perm hätte sich angemeldet. Es gäbe ein Serum, das gegen die Immunschwäche hilft, und sie brächten es uns vorbei. Alle sind zur Schleuse
gelaufen, um zu feiern. Selbst die Ärztin hat mich alleine gelassen. Nach einer Weile gingen dann die Sirenen los. Invasionsalarm!« Die Stimme stockte, und ein unterdrücktes Schluchzen erklang. Vukow sah auf das geschiente Bein und versuchte sich die Situation des Toten vorzustellen. Hier, allein im Krankenzimmer, mit einer Verletzung, die jede Flucht unmöglich machte. Als er zu der im oberen Drittel verglasten Flurtür sah, glaubte er für einen Sekundenbruchteil zu sehen, wie sich ein drohender Schatten hinter der Scheibe abzeichnete. Aber das war nur Einbildung. Einem beklemmenden Druck auf der Brust, hörte er weiter zu. »O Gott, da kommen welche! Ihre Schritte werden immer lauter! Die Tür ist zwar verschlossen, aber...« Der Satz endete in einem verzweifelten Schrei, ausgestoßen von einem geängstigten Menschen, der gerade die Ausweglosigkeit seiner Lage begriff. »Es schaut einer zu mir rein! O Gott, was ist das? Eben sah er noch aus wie ein Mensch, aber nun hat sich sein Kopf verändert, zu einem geschuppten Monstrum, das...« Helles Zischen überlagerte die Aufnahme. Vukow sah zu der von einem Fauststrahler aufgeschweißten Türverriegelung. »Sie brechen ein!«, dröhnte es aus dem Lautsprecher. Dann folgte helles Klirren, ausgelöst durch das medizinische Besteck, das gerade durchwühlt wurde. Gleich darauf klapperte es, weil das Aufzeichnungsgerät auf den Boden schlug. »Bleibt mir vom Leib, oder ich steche euch ab!« Lautes Surren erfüllte die Aufnahme. Drei Mal, vier Mal. Man hörte sogar, wie sich die Energiestrahlen durch Pyjama und Fleisch fraßen. Dann ein Poltern. Der Mann lag stöhnend am Boden. Es folgte ein weiterer
Strahl, obwohl er längst im Sterben lag. Danach Ruhe. Zumindest von seiner Seite aus. Dafür wurden die Schritte seiner Mörder hörbar. Menschlich klingende Schritte von Schuhsohlen, die auf Kunststoffboden traten. »Letzter Primärrassenvertreter eliminiert«, sagte eine Stimme, die ungelenk klang, aber eindeutig russisch sprach. »Die Sil wird zufrieden sein.« »Gehen wir«, antwortete eine andere. »Erstatten wir Est'sil'aunaara Bericht.« Die Schritte entfernten sich. Danach trat Stille ein. Siebenunddreißig Stunden lang, bis die Aufnahmekapazität des Chips erschöpft gewesen war. Sie überprüften es im Schnelldurchlauf. Danach legten sie das Gerät zur Seite und sahen sich erschüttert an. Vukow fühlte sich um Jahre gealtert. Kraftlos, mit einem bitteren Geschmack im Mund, griff er in die Beintasche seiner blauen Montur und zog einen silbernen Flachmann hervor. Er schraubte ihn auf und nahm einen kräftigen Schluck. Das scharfe Brennen, das der Vodka in der Speiseröhre hinterließ, verschaffte ihm ein Gefühl der Linderung. Seit die Vodkaexzesse in Perm II bekannt geworden waren, galt Alkohol im Dienst als verpönt, doch als er die Flasche kreisen ließ, gab es keinen, der abgelehnt hätte. Nicht mal Donskoi, der nur selten trank. »Ist euch überhaupt klar, was wir gerade gehört haben?«, fragte der Ingenieur nach dem Abwischen seiner Lippen. »Einen schrecklichen Mord?«, tippte Vukow auf das Nächstliegende. »Ja, das auch, aber ich meine das kurze Gespräch am Ende. Das sind die ersten Stimmaufzeichnungen, die sich zweifelsfrei den Daa'muren zuordnen lassen.« Die Begeisterung der übrigen Männer hielt sich in Grenzen.
»Ich weiß nur, dass mir schlecht ist«, sagte einer der Gardisten, hielt sich den Bauch und trat zur Seite, ohne sich tatsächlich zu übergeben. »Die Aufnahme ist auf jeden Fall Gold wert«, bestätigte Vukow, »und das in zweifacher Hinsicht. Der AMOT, mit dem die Daa'muren angereist sind, muss von den verschwundenen Truppen am Tura-Pass stammen. Es hat also keinen Kampf zwischen Subkommissarin Sem und dem Kommando unter Major Onopkos gegeben, wie bisher vermutet wurde. Diese Männer und Frauen sind ebenfalls Opfer der Daa'muren geworden.« Zwei Mysterien mit einer Mission gelöst. Normalerweise bedeutete das Orden und Beförderungen. Dinge, die Hauptmann Vukow gefielen und ihm wichtig waren. Trotzdem hätte er in diesem Moment alles dafür gegeben, nie nach Helsinki gekommen zu sein. *** Kreml, Innenhof, 13:32 Uhr Umgeben von zwei Dutzend Leibwächtern flegelte sich Sergiuz auf einem mit weichen Fellen bedeckten Diwan, um Audienz zu halten. Zwischen den Bäumen spannte sich ein blau gefärbter Baldachin, obwohl die Sonne hinter schmutzig gelben Wolken verborgen lag. Auf den Dächern des rückwärtigen Facettenpalastes saßen Bogenschützen, die jeden Fußbreit des Hofes mit ihren Pfeilen abdecken konnten. Mr. Black ließ das jedoch kalt. Angriffslustig marschierte er auf den Zaritsch zu, so schnell, dass Matt, Aruula, Navok und Graz Mühe hatten, ihm zu folgen. Die Stimmung war aufgeheizt, auch wegen der Menschen, die sich langsam vor der Kremlmauer, auf dem ehemals Roten
Platz, versammelten. Trotz dieser Hektik hatte Navok darauf bestanden, Graz mitzunehmen. Mit dem durchaus richtigen Hinweis, dass die Taratze es jederzeit mit einer Übermacht an Männern aufnehmen konnte. Zur ihrer Überraschung hatte man sie am Tor aber nicht entwaffnet, sondern ohne Durchsuchung durchgewunken, was ahnen ließ, wie sicher Sergiuz sich wähnte. »Was soll der Quatsch?«, rief Black schon von weitem und wedelte mit dem Pergament, das zur Aushandlung seiner Kapitulation einlud. »Bist du jetzt völlig übergeschnappt, oder was?« Normalerweise wäre der Sonderbeauftragte für Sicherheitsfragen erst gar nicht auf so eine Unverschämtheit eingegangen, aber da sie sowieso einen Grund zur Kontaktaufnahme gesucht hatten, wäre es dumm gewesen, die Einladung auszuschlagen. »Nur keine persönliche Fehde«, mahnte Matthew, obwohl er Blacks Zorn nachvollziehen konnte. »Wir müssen das Wohl der Stadt im Auge haben.« Seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Black wurde langsamer und ließ die anderen aufschließen. Gemeinsam näherten sie sich dem Diwan bis auf zehn Schritte, dann signalisierten die Wachen, dass sie stehen bleiben sollten. Sergiuz, der gerade auf einigen Brabeelen herumkaute, tat so, als ob er erst jetzt seine Gäste bemerken würde. »Oh, seht nur, der Wachhabende der Erdenburg und seine ausgesuchte Begleitung«, höhnte er mit Blick auf Graz, der sich gerade zwischen den Ohren kratzte. Die Gardisten lachten pflichtschuldig, nur ein athletischer Blondschopf hinter dem Diwan verzog keine Miene. Er gehörte nicht zu den Truppen des Zaritsch, das bewies schon seine schwarze Bekleidung mit dem braunen Kapuzenmantel, die sich deutlich von dem Rotblau der Uniformen unterschied.
Graz, der im Mittelpunkt des Spotts stand, reagierte weder auf Gelächter noch auf Schmähungen, sondern stocherte mit Hilfe seiner langen Krallen demonstrativ zwischen den Zähnen herum, um einige verbliebene Fleischfasern heraus zu pulen. »Erklär' mir endlich, was das Geschwafel von der Kapitulation soll«, forderte Mr. Black, bevor eine Diskussion zu diesen Tischmanieren ausbrechen konnte. Sergiuz stopfte sich einige weitere Brabeelen in den Mund. »Was ist daran so schwer zu verstehen?«, schmatzte er. »Du verkündest doch selbst überall in der Stadt, wie groß die Macht des gleißenden Feuers ist.« Mr. Black verschlug es glatt die Sprache, und auch Matt fühlte, wie ihm die Luft aus den Lungen wich. Trotzdem fand er zuerst die richtigen Worte. »Du gibst also zu, dass deine Männer das radioaktive Material aus dem Zug abtransportiert haben?«, fragte er. »Weißt du, was das heißt?« »Aber natürlich.« Die Mundwinkel des Zaritsch zuckten bis zu den Ohrläppchen empor. »Dass ich von nun an der mächtigste Mann der Stadt bin und ihr meinem Befehl untersteht. Als erstes liefern die Technos alle stählernen Karossen bei mir ab, auch die fliegende, die heute Morgen eingetroffen ist. Außerdem verlange ich alle Waffen. Die langen wie die kurzen, ob sie nun Blitze ausstoßen oder kleine Eisenkugeln. Das ganze Arsenal muss noch vor Einbruch der Dunkelheit im Kreml abgeliefert werden.« »Niemals«, versetzte Mr.Black kalt. »Was bildest du dir eigentlich ein?« »Falls diese Bedingungen nicht erfüllt werden, machen wir Moska dem Erdboden gleich«, antwortete der blonde Hüne für Sergiuz. »Das gesamte nukleare Potential wurde zusammengefasst und mit einem Zeitzünder versehen. Wenn der nicht vor 17:20 Uhr entschärft wird, kommt es zu einer
Detonation, die selbst Ramenki zermalmt.« Black langte nach der Pistolentasche, hielt jedoch auf halbem Weg in der Bewegung inne. Sein mächtiger Brustkasten bebte unter der hellbraunen Lederjacke, doch er bezähmte seinen Zorn. »Glaubt ihr wirklich, wir lassen uns einfach erpressen?«, fragte er stattdessen. »Sag mir sofort, wo die Bombe versteckt ist, damit ich sie entschärfen kann. Andernfalls kehre ich mit allen AMOTs und ARETs dieser Stadt zurück und lege den Palast in Schutt und Asche.« »Das wäre aber nicht sehr klug«, zeigte sich Sergiuz wenig beeindruckt. »Sollte mir etwas passieren, bricht das magische Feuer sofort aus.« Immer mehr Schweißperlen bedeckten sein bleiches Gesicht, trotzdem wirkte seine Selbstsicherheit nicht aufgesetzt. Sergiuz wirkte eher krank. Ein krächzender Hustenanfall bestätigte diesen Eindruck. »Heute Morgen wurde dem Zaritsch ein Sender über dem Herzen implantiert«, erklärte dafür sein Berater, mit modernen Worten, die kein Barbar kannte. »Die Herztöne sind direkt mit dem Zündmechanismus gekoppelt. Setzen sie länger als fünf Sekunden aus, löst das die Kettenreaktion aus.« »Sehr gut, Daanar«, lobte Sergiuz zwischen Luftholen und weiterem Husten. »Erkläre ihnen, wie aussichtslos ihre Lage ist.« Dabei schlug er die Weste zurück, um seine Operationsnarbe zu zeigen, aus der eine winzige Stummelantenne ragte, nicht größer als eine Brustwarze. Diese Drohung mussten erst mal alle verdauen. Trotz des Schocks nutzte Matt die Zeit, um einen kleinen Geigerzähler vom Gürtel zu ziehen, den er seit den Ereignissen in der Slowakai immer bei sich trug. Als er ihn auf den Zaritsch richtete, begann das Gerät zu knacken. Die digitale Anzeige schnellte bis auf zwölf Milli-Sievert empor. Das bedeute keine ernsthafte Gefahr für die Umwelt, bewies aber,
dass Sergiuz über längere Zeit großen Strahlenkonzentrationen ausgesetzt gewesen war, die gesundheitliche Schäden hinterlassen hatten. Die ausgefallenen Haare auf seinen Schultern, der Schweißausbruch und der Husten kamen nicht von ungefähr. Vermutlich litt er auch unter Übelkeit und Erbrechen, obwohl nur eine Blutuntersuchung das Ausmaß der Strahlenkrankheit belegen konnte. »Was auch immer du auf diesem Gerät abzulesen vorgibst, es nützt dir nichts«, warnte Daanar. »Deine Lügen werden keine Früchte tragen, denn der Zaritsch vertraut nur mir.« Matt sparte sich tatsächlich eine Ansprache und steckte den Geigerzähler zurück an den Gürtel. Daanar folgte der Bewegung mit hasserfülltem Blick. Matt hielt dieser Herausforderung gleichmütig stand. Ihm hatten schon ganz andere Gestalten das Leben schwer gemacht. »Wenn Aruula dich ansticht, versprühst du dann Dampf statt Blut?«, fragte er, um die Fronten zu klären. Daanar lächelte nur vielsagend und tippte Sergiuz von hinten gegen die Schulter. Der Zaritsch zog daraufhin die Augenbrauen zusammen, als ob er überlegen müsste. Kurz darauf hellte sich sein Gesicht wieder auf. Entspannt lehnte er sich zurück, als ob Fieber und Husten gewichen wären. »Ach ja, ich habe noch was vergessen«, sagte er, leise kichernd. »Wir fordern außerdem den Kopf von Maddrax, aufgespießt auf einer Lanze, vor den Toren des Kreml zur Schau gestellt. Noch vor Sonnenuntergang« Einige Sekunden lang glaubte sich der Pilot verhört zu haben. Die Wahrheit drang nur tröpfchenweise in sein Bewusstsein, aber als er sie im ganzen Umfang begriff, schnürte es ihm die Kehle zu. Sicher, er war schon oft bedroht worden, aber das hier war etwas anders. Sein Leben gegen das zweier Städte! Was für ein Tausch wurde da von ihm und
seinen Freunden verlangt? Matts Gesicht verlor alle Farbe, doch nach außen hin gab er sich so unbeeindruckt wie möglich. Ganz im Gegensatz zu Aruula, die knurrend zum Schwert griff, um auf den Daa'muren loszugehen, der hinter allem steckte. Ihre temperamentvolle Reaktion half Matt, das Gesicht zu wahren. Indem sie ihn dazu zwang, ihr in den Arm zu fallen, musste er sich bewegen und an etwas anderes denken. Sein Leben gegen das von Ramenki und Moska! Durfte er da überhaupt an sich selbst denken? Musste er sich nicht freiwillig für die anderen opfern? Aber er wollte doch leben, so wie jeder andere Mensch auf Erden. »Ganz ruhig«, forderte er von Aruula. »Unsere nächsten Schritte müssen wohl überlegt sein.« »Ganz richtig.« Sergiuz zeigte sich wieder ganz in seinem Element. »Hilf ruhig noch mit, Stahlkarossen und Waffen in den Kreml zu karren. Danach sehe ich gerne zu, wie du deinen Kopf verlierst.« Mr. Blacks Hand lag auf dem Griff seiner Strogoff, doch keiner der Gardisten machte Anstalten, das Schwert zu ziehen. Sergiuz breitete sogar die Arme aus, als ob er sagen wollte: Schieß doch, du Idiot. Wirst schon sehen, was du davon hast. Nach einem kurzen Seitenblick zu Matt löste Black die Hand und gab das vereinbarte Zeichen zum Rückzug. Begleitet vom Gelächter des Zaritsch verließen sie die Burg. Dass ihnen die Gardisten, die sie unterwegs passierten, mit leichenblassen Gesichtern entgegen starrten, als ob sie selbst von größter Furcht geplagt wurden, machte die Niederlage nur noch schlimmer. *** Roter Platz, 13:58 Uhr Der Rote Grund beherbergte den wichtigsten Markt von
Moska, sodass die Menschen nicht weit gehen mussten, um die Verkündungen des Zaritsch zu vernehmen. Rund vierhundert Männer, Frauen und Kinder drängten sich bereits rund um das Hauptportal, und laufend kamen neue hinzu. Dank Graz, der keinen Meter von Navoks Seite wich, öffnete sich jedoch rasch eine Gasse, die ihnen den Weg durch die Menge ermöglichte. Taratzen galten in Moska als schreckliche Monster, die Tunnel und Ruinen der Stadt beherrschten. Das je eine von ihnen gezähmt wurde, davon hatten die hiesigen Barbaren noch nie etwas gehört. Auch nicht, dass weiter westlich lebende Taratzen eine gewissen Grundintelligenz besaßen. Die zwei Meter großen Rattenwesen unterschieden sich nämlich von Kontinent zu Kontinent. Graz stammte aus Britana, wo die CFStrahlung zu einer geringfügig anderen Entwicklung seiner Art geführt hatte. »Mensss riechhht ssslecht«, brach er innerhalb der Gruppe als Erster das Schweigen. »Sergiuz?«, fragte Aruula, um sicher zu gehen, dass sie vom Zaritsch sprachen. »Na, das kannst du laut sagen. So ein Stinkstiefel!« »Neiiinsss.« Graz schüttelte den borstigen Rattenschädel, was für einigen Schrecken bei den dicht gedrängten Passanten sorgte. »Rieehtss wirklichhh ssschlechhht. Viiiel kranksss. Würdsss'nnn nichhh fresssen.« »War ja klar!« Aruula seufzte. »Jetzt hätte es mal einer verdient gehabt, und dann willst du nicht.« Als Sergiuz auf den Zinnen der Kremlmauer erschien, verloren die Gaffer das Interesse an ihrer Gruppe. So gelangten sie mühelos in den Schatten der Basiliuskathedrale, die den Süden des Rotes Grundes markierte. Hier, in der einstigen Bastion der Bluttempler, verschnauften sie einen Moment und hielten Kriegsrat. »Der elende Mistkerl blufft bestimmt nur«, polterte Mr.
Black. »Eine nukleare Explosion dieses Ausmaßes fegt ihn doch genauso von der Landkarte wie Moska.« »Vielleicht ist er sich dessen nicht bewusst«, gab Matt zu bedenken. »Mir scheint eher dieser Daa'mure die Fäden zu ziehen. Was meinst du, Navok?« Der Nosfera hob die Schultern, um seine Hilflosigkeit zu demonstrieren. »Ich muss eure hochgesteckten Erwartungen leider enttäuschen«, drang es unter seiner Kapuze hervor. »Dieser Daanar versteht es, sich gegen meinen Lauschsinn abzuschirmen. Und was Sergiuz angeht, da liegt Graz vollkommen richtig. Der Mann ist sehr krank und sein Denken entsprechend fiebrig. Viel zu wirr, um darin eindringen zu können. Manchmal konnte ich zwar einige Bilder erhaschen, aber das waren nur Dinge, die er gleich darauf ausgesprochen hat.« Enttäuschung machte sich breit, nur nicht bei Matt. »Die Krankheit des Zaritsch kommt von dem nuklearen Material«, sagte er, bevor er allen die Daten des Geigerzählers zeigte. »Sergiuz blufft also nicht, sondern besitzt wirklich eine Atombombe. Wenn nicht im Kreml, dann anderswo in der Stadt. Und zwar in Funkreichweite des implantierten Senders. Das grenzt den Radius, in dem wir suchen müssen, ziemlich ein.« Ein lautes, gemeinschaftliches Raunen drang vom Kreml herüber. Die Menge begriff wohl langsam, was in den nächsten Stunden drohte. Ironischerweise vor allem dank der Lehrfilme, die das Oberste Gremium überall zeigte. Matt und die anderen wagten sich ein Stück aus dem Versteck hervor, um zu sehen, was einige hundert Meter entfernt vor sich ging. Die ersten Barbaren verließen bereits fluchtartig den Platz. Andere schrien vor Empörung und Angst. Von dem, was Sergiuz verkündete, waren nur Wortfetzen zu hören, doch aus
denen ging eindeutig hervor, dass sich Ramenki nur entwaffnen müsse, damit alle weiter in Frieden und Freiheit leben könnten. Dass auch Matts Tod eingefordert wurde, verschwieg er geflissentlich. »Sergiuz hält sich wohl für unangreifbar, was?«, grollte Black. »Na, der soll was erleben. Wenn er verstrahlt ist, weiß er auch, wo die Bombe lagert. Wir überrollen einfach seine Wachen mit unserer geballten Streitmacht und greifen ihn lebend. Er wird schon reden, wenn ich ihn an einem Bein über die Kremlmauer halte.« Matt hob die linke Augenbraue. »So wie Arnold Schwarzenegger in Phantomkommando?« »Genau so!« Black schlug seine rechte Faust mit einem klatschenden Geräusch in die freie Handfläche, um Entschlossenheit zu demonstrieren. »Ich dachte, sie hätten noch keine Filme ihres genetischen Vorbildes gesehen?«, hakte Matt nach. Der ehemalige Rebellenführer errötete bis hinter beide Ohren. »Na ja«, druckste er herum. »In der Filmdatenbank von Ramenki sind einige Klassiker vorrätig. Sershant Hansen hat mir gezeigt, wo ich sie finde. Da konnte ich nicht widerstehen. Einige der Filme sind sehr... inspirierend.« »Vorsicht, das sind alles Actionfilme, die mit der Realität nichts zu tun haben«, warnte Matt. »Schwarzenegger hat in seinem Amt als Präsident ganz anders reagiert als in seinen Rollen. Nämlich weise und vorausschauend. Na ja, zumindest weiser und vorausschauender als sein Vorgänger, dem wir die Religionskriege zu verdanken hatten.« Vor dem Kreml strömten die Menschen auseinander. Die meisten von ihnen, um die gehörte Ansprache schleunigst weiter zu verbreiten. »Noch vor Einbruch der Dunkelheit werden alle sterben!«,
schrien einige ganz aufgelöst. Andere forderten: »Auf zum Toten Platz! Die Technos sollen ihre Stahlkarossen sofort dem Zaritsch übergeben!« »Geschickter Schachzug«, lobte Black widerwillig. »Damit setzt er uns noch weiter unter Druck.« »Wenn die Leute erst erfahren, dass er auch meinen Kopf will, werden sie den ebenfalls fordern«, ergänzte Matt bedrückt. »Schließlich bin ich hier für die meisten ein Feigling, der sich vor der Schlacht gedrückt hat.« Aruula verkündete sofort, dass sie jeden Angriff auf seine Person mit dem blanken Schwert verhindern würde. Black stellte ebenfalls klar, dass diese Option für ihn nicht in Fragen kam. »Nein«, erklärte der Ex-Rebell entschlossen. »Ich beordere sofort einen AMOT her, der uns sicher ins Bolschoi bringt. Dort stellen wir eine Streitmacht zusammen, die Sergiuz lebend fängt und solange bearbeitet, bis er uns das Versteck der Bombe nennt.« Matt war das zu unsicher. »Was ist, wenn er nicht redet?«, gab er zu bedenken. »Oder wenn du ihm so sehr zusetzt, dass sein Herz versagt? Immerhin stehen Tausende von Leben auf dem Spiel.« Der blonde Hüne in der Lederjacke biss sich wütend auf die Lippen. Zurückstecken oder kapitulieren lag ihm nicht, und angesichts eines Gegners wie Sergiuz war es auch nicht ratsam. »Wenn wir uns unterwerfen, erringen die Daa'muren ihren größten Sieg«, warf er zurecht ein. »Das müssen wir unter allen Umständen verhindern. Nicht nur um dein Leben, sondern auch das aller Moskawiter willen. Nenn mir einen besseren Plan, und ich helfe dir dabei.« Matt lächelte, um eine Zuversicht zu verbreiten, die er selbst nicht spürte, bevor er sagte: »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, das Nuklearlager ausfindig zu machen. Sergiuz
muss mehrmals dort gewesen sein, sonst hätte er nicht so schwere Strahlenschäden. Er muss regelmäßig einen Tunnel benutzt haben, um den Spähern der ISR zu entgehen. Mit etwas Glück haben er und seine Begleiter so viel Strahlung verbreitet, dass ich sie mit dem Geigerzähler aufspüren kann.« Black gab ein enttäuschtes Zischen von sich, das selbst Graz zusammenfahren ließ. »Das ist dein Plan? Durch dunkle Tunnel kriechen und hoffen, dass dein Geigerzähler piepst? Nein, tut mir Leid, da setzte ich lieber auf Überraschungsangriff.« Matt hielt das weiterhin für zu gefährlich, und so stritten sie eine Weile, obwohl ihnen die Zeit unter den Nägeln brannte. Es war schließlich Aruula, die vorschlug, dass sie einfach beides versuchen sollten, »Während Mr. Black den Angriff vorbereitet, versuchen wir das magische Feuer aufzuspüren«, sagte sie mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. »Wenn die Dämmerung näher rückt und wir noch nichts gefunden haben, kann er Sergiuz immer noch über die Kremlmauer halten.« Black erklärte sich damit einverstanden, bis 16:30 Uhr zu warten. Dadurch blieb Matt keine Zeit mehr, eine Mannschaft zur Unterstützung zusammen zu trommeln. »Das ist doch gar nicht nötig, Sohn der Finsternis«, sagte Navok mit einem dunklen Lachen. »Deine persönlichen Legionen stehen doch längst bereit.« Matt verstand zuerst nicht, was der Nosfera damit sagen wollte, denn sie befanden sich alleine in dem Innenhof. Zumindest solange, bis sich aus den umliegenden Schatten dunkle Schemen lösten, deren Umrisse zu Kapuzen, Umhängen und ledernen Hosen zerflossen. Schweigend traten die Bluttempler aus ihren Verstecken hervor und nahmen vor Matt Aufstellung. Erst drei zu seiner Linken, dann zwei rechts von ihm. Schließlich noch mehr, die über den rückwärtigen Hof
herbei eilten. Einer ließ sich sogar an seinem Kletterseil aus einem Turmfenster herab. Offensichtlich hatten sie sich schon vor geraumer Zeit genähert, ohne dass es einer ihrer Gruppe bemerkt hätte. Nicht mal Aruula. Nur Navok, der ihre Schliche so gut kannte wie kein zweiter. *** 14:19 Uhr Es war schon sonderbar anzusehen, wie Luura über die Dächer von Moska wandelte. Ein zufälliger Beobachter hätte sich bestimmt vor Verwunderung die Augen gerieben, denn trotz ihres schlanken Körpers trug sie den leise wimmernden Kosmur auf ihren Schultern, als wäre er so leicht wie eine Feder. Seine Beine links, die Arme rechts am Hals vorbei, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Vom Giebel des alten Akademischen Jugendtheaters aus sprang sie sogar auf das angrenzende Gebäude, ohne unter dem zusätzlichen Gewicht in die Knie zu gehen. Gewellte Zinnplatten verliefen abschüssig zum First, doch dank ihres ausgeprägten Gleichgewichtssinns eilte sie flink weiter, ohne eine einzige Sekunde inne zu halten. »Sind wir endlich da?«, flüsterte Kosmur heiser. »Ich halte es nicht mehr lange aus.« Die Verbrennung setzte ihm mittlerweile gehörig zu, aber das durfte niemanden verwundern. Vom Hüftknochen bis zum ersten Rippenbogen bestand seine linke Seite aus einem einzigen schwarzen Fleck. Kleidung und Fleisch waren untrennbar miteinander verschmolzen, sodass die Blutvergiftung nicht lange auf sich warten ließ. Von fiebrigen Wellen geschüttelt, konnte er längst nicht mehr alleine gehen.
Ohne Luura wäre er erledigt gewesen. Über die Dächer der östlich angrenzenden Gebäude hinweg konnte sie bereits sehen, dass auf dem Toten Platz alles ruhig verlief. Darum suchte sie sich einen geschützten Platz, wo sie Kosmur vorsichtig niederlegte. Der Himmel über ihnen war schmutzig gelb, weil noch immer ein Teil der Staubpartikel, die beim Einschlag von »Christopher-Floyd« aufgewirbelt worden waren, in der Luft hing und in Schwaden über die Kontinente zog. Immer mehr von den feinstofflichen Sedimenten sank ab und gab die Sicht frei, doch an Tagen wie diesen brachen sie die einfallenden Sonnenstrahlen und erzeugten so ein neues, völlig ungewohntes Farbspektrum. »Ich brauche Hilfe«, bettelte Kosmur. »Warum bringst du mich nicht zu den Technos? Nur sie können mich retten.« »Es dauert nicht mehr lange«, tröstete sie und strich dabei sanft über seine erhitzten Wangen. »Ich kann das Bolschoi schon sehen.« »Oh? Sind wir schon so nahe?« Seine Augen leuchteten vor Hoffnung. »Warum trägst du mich dann nicht weiter?« »Weil ich mich einen Moment ausruhen muss«, log sie. Fiebrig wie er war, glaubte er ihr und schloss beruhigt die Augen, um dem quälenden Schwindelgefühl zu entgehen. Luura zog aus dem Ausschnitt ihres Kleides einen flexiblen Metallreif, an dessen Vorderseite ein grüner Kristallsplitter funkelte. Sobald der Reif nicht mehr unter Druck stand, nahm er seine ursprüngliche runde Form an, die exakt Luuras Kopfdurchmesser entsprach. Sobald die Stirnplatte ihre Haut berührte, versank sie in eine kurze Trance, die knapp zwanzig Sekunden dauerte. Länger brauchte sie nicht, um über den im Orbit kreisenden Lesh'iye Thgáan Kontakt zu einem anderen Aurenverstärker aufzunehmen. Zufrieden mit den Informationen, die sie auf diese Weise
erhielt, setzte sie den Stirnreif ab und verbarg ihn wieder unter den Plättchen des Kleides. »Geht es endlich weiter?« Kosmur quengelte wie ein kleines Kind. »Gleich«, vertröstete sie ihn erneut. »Worauf wartest du denn noch?« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. Den flackernden Augenlidern nach zu urteilen, stand er kurz vor einer Ohnmacht. »Wir dürfen erst hinunter, wenn Mr. Black kommt«, erklärte sie geduldig. »Aber keine Sorge, gleich ist es soweit. Außerdem verlierst du bis dahin sicher dein Bewusstsein, das macht vieles einfacher.« Doch das hörte er schon nicht mehr. Die Augenlider geschlossen, hatte sich Kosmur in seinen Körper zurückgezogen. *** Nordwestlich des Kreml, 14:26 Uhr »Sind Sie völlig sicher?«, fragte Matt über die lokale Frequenz. »Kein Zweifel möglich«, funkte Corporal Farmer aus dem EWAT, der zwanzig Meter entfernt etwa zehn Meter hoch schwebte. »Der Zaritsch befindet sich noch im Hof, und nachdem wir das Signal erst mal geortet hatten, ließ es sich auch eindeutig zu ihm zurückverfolgen. Der Sender ist allerdings, seiner Größe entsprechend, nicht sonderlich leistungsstark. Den Messungen zufolge dürfte er höchstens in einem Radius von vier bis fünf Kilometern zu empfangen sein.« »Vielen Dank, das hilft uns schon weiter. Wie sieht es sonst aus?« »Fragen Sie lieber nicht«, lautete die deprimierte Antwort.
»So weit ich mit Hilfe der Kolkraben übersehen kann, bahnt sich unter uns die schönste Panik an. Das macht unsere Aufgabe nicht leichter.« Matt hatte leider keine Zeit, sich Einzelheiten erklären zu lassen, denn fünfzig Meter entfernt trat Radek aus einem Kellereingang und rief ihn zu sich. »Ein Kommando der Bluttempler hält sich bereits unerkannt im Kreml auf«, meldete er noch rasch, was ihm aufgetragen wurde. »Sie sind jederzeit bereit, Sergiuz auf meinen oder Blacks Befehl hin festzusetzen.« Ein letzter Gruß an die Explorer, dann eilte Matt auch schon auf Radek zu, der für ihn Moskas Untergrund durchforstet hatte. Gemeinsam setzten sie über mehrere verschüttete Stufen hinweg und schlüpften durch eine halb mit Trümmern und Erdreich blockierte Tür ins Innere des baufälligen Gebäudes. Matt brauchte etwas länger, um sich hindurch zu winden, denn er trug einen Rucksack, der einen zusammengelegten Strahlenschutzanzug nebst Vollglashelm enthielt. Drinnen fiel das Bodenniveau nach einigen Metern wieder ab, sodass sie aufrecht gehen konnten. Radek führte ihn tiefer in die Unterkellerung, bis zu einem Mauerdurchbruch, der in einen alten, längst trockenen Kanal mündete. Aruula und die übrigen Nosfera warteten schon. Einige von ihnen trugen nach vorne offene Blendlaternen, deren trübes Licht alles in einen wächsernen Schimmer tauchte. »Hier«, Radek deutete stolz in die Dunkelheit, »das ist der erste vom Kreml abzweigende Stollen, der von den Taratzen seit Monden gemieden wird.« »Tatsächlich?«, fragte Matt überrascht. »Woher willst du das wissen?« Radek, der hier unten die schützende Kapuze nach hinten geschlagen trug, tippte sich nur an den rechten Nasenflügel und sagte: »Das rieche ich.«
Matt zog den Geigerzähler vom Gürtelclip. »Und du meinst, die Radioaktivität könnte sie vertrieben haben?« »Das, oder der schlechte Geruch, den Graz gewittert hat.« Die Konturen des ausgezehrten Totenkopfgesichts traten für Sekunden deutlicher aus dem Zwielicht hervor. »Glaub mir, Taratzen riechen besser als sie sehen oder hören. Wenn ihnen ein Geruch auf den Magen schlägt, halten sie sich lieber fern.« Matt sah von der deaktivierten Anzeige auf. »Woher weißt du, was Graz über Sergiuz gesagt hat? Da waren wir noch unterwegs, gerade aus dem Kreml heraus!« Im nächsten Moment hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Schließlich kannte er das Talent der Ordensbrüder, sich unsichtbar im Hintergrund zu halten. Eine Menschenmenge bot fast genauso viele Möglichkeiten zum Verbergen wie das Dunkel der Nacht. Radek ging auch gar nicht auf seine Frage ein, sondern lächelte nur breit. Matt unterdrückte ein Seufzen. Es tat wirklich gut, die Nosfera auf seiner Seite und nicht gegen sich zu wissen. Als er den Geigerzähler aktivierte, ertönte ein einziges kurzes Knacken, dann trat Stille ein. Erst als er sich ein wenig von der Gruppe entfernte, schlug das Balkendiagramm aus und die Zahlen begannen zu tanzen. Sieben Milli-Sievert, das war nicht viel, aber doch ungewöhnlich für eine vom Erdreich abgeschirmte Rohre. »Sieht gut aus«, informierte er die anderen. »Wohin führt der Kanal?« »Ein gutes Stück nach Osten«, antwortete Radek. »Aber es gibt mehrere Abzweigungen, und schließlich spaltet er sich sogar auf.« »Dann können wir nur hoffen, dass uns deine Nase und der Geigerzähler weiter den Weg weisen.« Matt sah Aruula und die Nosfera entschlossen an. »Los, kommt, wir haben keine
Zeit zu verlieren.« *** Theaterplatz, in Sichtweite des Bolschoi, 14:42 Uhr Das Erste, was Mr. Black sah, als er aus der Heckschleuse des ARET trat, war eine gigantischer Atompilz, der über einen weiß getünchten Abschnitt des ehemaligen Hotel Metropol zuckte. Sekunden später wechselte das Bild und er selbst erschien in überdimensionaler Größe, um die Zuschauer aufzufordern, verdächtig erscheinende Vorkommnisse zu melden. Jeder Hinweis, der zum Auffinden der gehorteten Nuklearkraft führte, mochte die Stadt davor bewahren, vom Erdboden zu verschwinden. So verkündete er, mit einem eindringlichem Fingerzeig, der ihm längst peinlich erschien. Es mutete schon wie eine Ironie des Schicksal an, dass sich der gesuchte Nukleardieb selbst geoutet hatte und obendrein die Fahndungskampagne zur Unterstützung der Erpressung nutzte. Mr. Black hatte die Daa'muren unterschätzt, das musste er sich eingestehen. Statt sie in Grund und Boden zu bomben, versuchten die Außerirdischen ihren Widerstand durch Repressalien zu brechen. Auf der Leinwand folgte eine Spielfilmsequenz, in der die Druckwelle eines über Los Angeles aufsteigenden Atompilzes Tausende von Häusern zu Staub pulverisierte. »Die Spots müssen umgehend abgestellt werden«, befahl Black seinem Adjutanten, der aus dem Führerhaus sprang und an seine Seite eilte. »Sie schüren nur noch die Panik!« Erste Barbarenhorden, die sie auf dem Weg vom Roten Platz hierher überholt hatten, kamen am Theaterplatz an und begannen lautstark die Übergabe der AMOTs und ARETs an den Zaritsch zu fordern. Truppen der Internen Sicherheit eilten ihnen entgegen und versuchten sie zu beruhigen.
Rund um das Bolschoi wurden ARETs und mobile Dingis mit aufmontierten Paralysestrahlern aufgefahren. Mit einem Zusammenstoß zwischen Technos und Barbaren war zu rechnen, auch wenn das alle Bemühungen um ein friedliches Zusammenleben der letzten Monate zerstörte. Mr. Black stemmte beide Hände in die Hüften und sah in die Runde, um sich einen Überblick zu verschaffen. Ihm wurde warm unter der Lederjacke, doch er öffnete sie nicht. In dieser kritischen Lage hing alles von einer vorbildlichen Leitung ab. Schlampige Kleidung mochte für Hilfesuchende Desorientierung signalisieren. »Sie müssen zu den Moskawitern sprechen«, riet Navok, der nach ihm aus der Schleuse gestiegen war. »Sie sind der Held von Moska, der Mann, der in der Abwehrschlacht gegen die Mutantenarmeen siegreich war. Auf Sie werden die Menschen hören.« Eigentlich hätte Black den Nosfera und seine rattengesichtige Schoßkatze lieber bei Commander Drax in den Katakomben der Stadt gesehen, doch der Rat, den ihm dieser Einzelgänger gab, klang vernünftig. Natürlich, er musste Sergiuz mit seinen eigenen Waffen schlagen. Musste selbst die Barbaren ansprechen und zur Vernunft bringen. Entschlossen kletterte er über eine Seitenleiter auf das ARET-Dach, hob beide Hände und verschaffte sich mit dieser weithin sichtbaren Geste bei der Menge Aufmerksamkeit! »Nur die Ruhe, Leute, hört mich an!«, forderte er mit seiner markanten, volltönenden Stimme, die weit über die Köpfe der Barbaren hinaus trug. »Wir haben die Lage völlig im Griff! Ihr wisst doch selbst, dass wir seit Tagen vor einer drohenden Gefahr warnen!« Ausgerechnet in diesem Moment brach die Projektion auf der Hauswand ab. »Nun hat Sergiuz, der schon lange unter Verdacht stand, die Maske fallen lassen und sein
wahres Gesicht gezeigt! Wir sind auf dieses Vorgehen vorbereitet! Deshalb versichere ich euch hier und jetzt, dass er mit seinen unverschämten Forderungen nicht durchkommen wird!« »Heißt das, Moska wird nicht von aufsteigenden Sonnen verbrannt?«, rief eine einzelne Stimme aus der Menge. »Ganz bestimmt nicht«, behauptete Black und fühlte dabei ein flaues Gefühl in der Magengrube. »Derzeit werden alle Anstrengungen unternommen, das drohende Unheil abzuwenden.« »Aber wie?«, wollte ein anderer wissen. »Sergiuz behauptet, sein Zauber wäre zu stark für euch.« »Wir verfügen über Gegenzauber, von denen dieser Kretin nichts ahnt!«, hielt Black schweißgebadet dagegen. Ruhe bewahren, mahnte er sich innerlich, als ihm ein salziges Rinnsal ins Auge lief und beinahe die Sicht raubte. Wenn diese Menschen merken, dass du nervös bist, ist alles verloren. Mit dem Instinkt eines politisch denkenden Mannes spürte er sofort, dass die Menge noch nicht überzeugt war, deshalb suchte er rasch nach neuen Argumenten. Als sein umher irrender Blick auf einige Bluttempler fiel, die in den letzten Tagen die Prophezeiung ihres Ordens publik gemacht hatten, hielt er den Zeitpunkt für gekommen, mit seinen Verbündeten aufzutrumpfen. »Im Kampf gegen den Größenwahn des Zaritsch stehen Barbaren und Technos nicht allein!«, rief er, um erste Chöre, die eine Herausgabe der Fahrzeuge und Waffen forderten, zu übertönen. »Die Bluttempler, die über große Magier verfügen und dieses Unheil schon vor langer Zeit vorausgesehen haben, stehen mit uns Seite an Seite, wie bei der Schlacht gegen die Mutantenarmee! Ihr wisst, über welche Kräfte der Orden verfügt, und könnt euch sicher sein, dass er sie zu unser aller
Nutzen einsetzen will!« Die Menge verstummte. Schweigen breitete sich aus. Was für eine Wirkung! Viel besser, als er zu hoffen gewagt hatte. Der Respekt vor Erzvater und dem Orden, der über Jahrhunderte in Moska geherrscht hatte, war tief in der Bevölkerung verwurzelt. Alleine die Erwähnung der Bluttempler schüttelte die Menschen durch und brachte sie zur Besinnung. Teilweise wurden aber auch alte Ängste geschürt, und manch einem stand die Frage ins Gesicht geschrieben, ob die Herrschaft des Zaritsch nicht einer Rettung durch die Nosfera vorzuziehen sei. Mr. Black hätte dazu gerne ein paar Worte gesprochen, doch aus den Augenwinkeln sah er Sershant Hansen winken, der ihm etwas Wichtiges mitteilen wollte. Nach ein paar abschließenden Worten, in denen er noch einmal zu Ruhe und Besonnenheit aufrief, sprang er zurück auf den Platz und suchte seinen Adjutanten auf. »Kommen Sie mit«, bat Hansen aufgeregt. »Da ist eine Barbarin mit einem Verletzten, bei dem es sich um den Stellvertreter des Zaritsch handeln soll. Der Mann ist verstrahlt, also weiß er vermutlich wirklich, wo sich die Bombe befindet!« Neue Hoffnung flackerte in Black auf, während er im Laufschritt folgte. Hin zu einer zurückgezogenen DingiEinheit, in deren Sichtschutz der Mann am Boden lag und medizinisch betreut wurde. Navok kniete bereits bei ihm, während Graz den Rücken seines Herren deckte. Als Black dazu trat, stand der Nosfera auf. Seine tief herabgezogene Kapuze verhinderte einen Blick auf sein Gesicht, doch seine Körperhaltung drückte ungewohnte Betroffenheit aus. »Es ist tatsächlich Kosmur«, bestätigte er. »Hab mich schon gewundert, wo der Kerl steckt. Früher ist er Sergiuz nicht von
der Seite gewichen.« »Woher stammt die Verbrennung an seiner Seite?« Black deutete auf den schwarz angelaufenen Bereich des Bewusstlosen. Dunkelrotes Blut sickerte aus einige offenen Stelle hervor. Zeichen seiner schweren Verletzung, aber auch der eindeutige Beleg, es mit einem Menschen zu tun zu haben. Eine Frau trat zwischen den Dingis hervor. Groß, schlank, in einem eng anliegenden Paillettenkleid, das ihre Formen mehr betonte denn verhüllte. Ihr dunkles Haar schimmerte silbern in der Sonne. »Daanar hat ihn angeschossen«, erzählte sie, nervös an einer Bernsteinkette zupfend, die eng um ihren schlanken Hals verlief. »Zumindest hat mir das Kosmur erzählt.« »Weißt du, warum auf ihn geschossen wurde?« »Ja«, hauchte sie, sich ängstlich umblickend. »Sergiuz ist verrückt geworden. Er droht die ganze Stadt zu vernichten, wenn sich nicht alle seinem Diktat unterwerfen. Kosmur hat sich dagegen aufgelehnt und musste deshalb fliehen. Als ich ihn fand, bat er mich, ihn hierher zu bringen. Er wollte dir den Hort des magischen Feuers verraten, damit du es löschen kannst, bevor es alle verbrennt.« Mr. Black sah auf den Bewusstlosen hinab und unterdrückte einen Fluch, der ihm über die Lippen schlüpfen wollte. »Kann man ihn aus der Ohnmacht aufwecken?«, fragte er einen Sanitäter, der die Brandwunde gerade mit einer Spezialfolie abdeckte. »Ich kann's versuchen«, gab der Mann zurück. »Aber ob sich dann mit ihm vernünftig reden lässt...« Er zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, dass sich diese Frage nicht beantworten ließ. »Machen Sie es«, bat er und wandte sich an die Silberhaarige. »Was ist mit dir? Weißt du nicht, wo der Hort zu finden ist?«
»Nicht genau«, bedauerte sie, nervös nach allen Seiten schauend. »Aber ich kann dir beschreiben, wo ich Kosmur gefunden habe.« Noch während sie sprach, rückte sie näher an Mr. Black heran, bis sie ihm leise zuflüstern konnte: »Könnt ihr mich nicht an einen sicheren Ort bringen? Ich weiß, dass Daanar überall Spione hat. Auch in euren Reihen.« Das war ein harter Vorwurf, doch ehe jemand darauf eingehen konnte, spritzte der Sanitäter ein Aufputschmittel in Kosmurs Armbeuge. Wenige Sekunden später begannen die Augenlider des Barbaren zu flattern. Stöhnend wälzte er den Kopf hin und her und sah in die Höhe. Sein Blick wirkte gequält, als ob ihn etwas von innen heraus aufzehren würde, dann stellten sich seine Pupillen auf die Silberhaarige ein, und er stöhnte unter großen Schmerzen: »Luura! Du hast es geschafft. Sag... sag ihnen, wo der Keller mit den flackernden Symbolen ist.« »Er meint etwas, das Maddrax Zeitzünder nennt«, erklärte Navok. »In seinen Gedanken habe ich ein Bild erhascht, das dem Zeitzünder ähnelt, der am Ende des Sklavenspiels zur Explosion führte.« Der Countdown war also real! Obwohl Mr. Black keine Sekunde daran gezweifelt hatte, spürte er ein kaltes Prickeln im Nacken. Kosmur sprach noch mehr, doch seine Worte versanken bereits in leisem Gemurmel. Die Lider senkten sich, und obwohl die Augäpfel noch unter der dünnen Haut von links nach rechts ruckten, war er längst wieder ins geistige Abseits abgeglitten. Der Sanitäter sah in die Höhe. »Ich kann ihm noch eine stärkere Dosis geben, aber ich weiß nicht, ob er das übersteht.« »Nicht nötig«, wehrte Black ab. »Transportieren Sie den Mann ins Krankenrevier an der Oberfläche. Und sorgen Sie
dafür, dass er Tag und Nacht bewacht wird.« Der Sanitäter und zwei weitere Sicherheitskräfte führten den Befehl aus. Black wandte sich an Luura. »Du weißt also doch, wo der Flammenhort ist?« »Ungefähr«, bestätigte sie. »Bring mich an einen ruhigeren Ort, dann erzähle ich dir alles.« Black gab Sershant Hansen noch ein paar Anweisungen, wie der Platz gesichert werden sollte, dann nahm er die Frau an die Hand und führte sie in den Schutz der Eingangsgalerie des Bolschoi. Unterwegs sah er sich nach Navok und der Taratze um, doch die beiden Eigenbrödler schienen wie vom Erdboden verschwunden. Dafür drängten immer mehr Barbaren auf den Theaterplatz, um, zum Wohle der ganzen Stadt, die Erfüllung des Ultimatums einzufordern. Nosfera und Sicherheitskräfte wirkten so beruhigend wie möglich auf die Menge ein. Bisher verlief alles friedlich, doch sicherheitshalber schirmte ein Kordon aus Dingis und ARETs die Oberflächenresidenz ab. »Was ist nun?«, fragte Mr. Black, als sie den Blicken der Menge entzogen waren. »Weißt du, wie wir diesen Spuk beenden können, oder nicht? Die Zeit rennt uns davon.« »Ich bin nur eine Lustdame des Zaritsch«, antworte Luura. »Aber ein paar Mal war ich in der Nähe des Horts. Von den Dächern aus kann ich es dir zeigen, aber wir müssen alleine gehen. Nimmst du deine Truppen mit, werden die Spione die Magier warnen. Dann brennen sie alles nieder. Glaub mir, Daanar ist alles zuzutrauen. Er ist ein Eisklotz, kein Mensch.« »In dem Kerl brodelt es eher kochend heiß«, widersprach Black, musste ihr aber Recht geben. Unter den auflaufenden Barbaren befanden sich auch viele Gardisten in Uniform, die sicher nicht nur die Stimmung aufheizen, sondern auch spionieren sollten.
Er ließ seinen Blick über den Platz schweifen. Alle verfügbaren Männer und Frauen der Internen Sicherheit waren unter Hochdruck im Einsatz. Bisher hatten sie die Lage fest im Griff, und auch die Vorbereitungen für einen Zugriff im Kreml liefen auf vollen Touren. Alles was ihnen noch fehlte, war der entscheidende Hinweis auf das Versteck der Megabombe. Der schneeweiße Fleck am Hotel Metropol, auf dem die letzten Tage der von ihm in Auftrag gegebene Spot gelaufen war, glänzte leer, wie ein kaltes Auge, das höhnisch auf ihn herabblickte. Mr. Black fühlte sich schuldig, weil er die anwachsende Panik durch seine Propaganda forciert wurde. Deshalb brannte er darauf, die Scharte wieder auszuwetzen. Und nun stand neben ihm eine Frau, die genau diese Möglichkeit offerierte. »In Ordnung«, fällte er eine einsame Entscheidung, wie früher, als Chef seiner eigenen Widerstandszelle. »Rauf auf die Dächer. Jede Minute zählt!« *** An Bord der Explorer, vierzehn Meter über der Stadt, 15:09 Uhr »Statusbericht?«, fragte die Kommandantin, während sie von hinten an den Platz des Aufklärers trat. Corporal Farmer gab ein langes Seufzen von sich, bevor er in einer ausholenden Geste auf die Monitore mit den Außenaufnahmen der Kolkraben deutete. »Es wird immer schlimmer«, bequemte er sich zu einer Meldung. »Hunderte von Barbaren fliehen in alle Richtungen, zu Fuß, auf Andronen, Frekkeuschern oder Wakudakarren. Gleichzeitig verlassen die im Einsatz befindlichen Panzerfahrzeuge ihre Positionen und kehren in die Stadt zurück, um Ramenki zu schützen. Das totale Chaos.«
Die Übertragungen belegten jedes einzelne seiner Worte. Wenn sich die Daa'muren rechtzeitig vor der Zerstörung der Stadt absetzen wollten, wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. Eine Kontrolle aller ausreisenden Moskawiter schien unter diesen Umständen unmöglich. Je länger sie die Vorgänge betrachtete, desto weniger glaubte Selina an einen Zufall. Die Daa'muren hatten schon in der Slowakei bewiesen, wie eiskalt und vorausschauend sie ihre Aktionen planten. »Wir konzentrieren uns auf Andronen und Frekkeuscher«, ordnete sie an. »Egal ob einzeln oder in Gruppen. Geben Sie mir die Koordinaten auf das Holoband, sobald sie welche ausgemacht haben.« Farmer sah zweifelnd in die Höhe. »Ich habe schon jetzt doppelt so viele ausgemacht, wie den Transport durchgeführt haben. Das ist ein Fass ohne Boden.« »Und?« Selina musterte den Corporal ungewohnt streng. »Heißt das, dass Sie neuerdings meine Befehle diskutieren wollen?« Farmer schoss auf einen Schlag so viel Blut in die Wangen, dass ihm heiß wurde. Schweiß rann von seiner Stirn, während er den Kopf schüttelte. Selina schenkte ihm noch einen warnenden Blick, bevor sie sich umwandte, um ins Cockpit zurückzukehren. »Captain«, hielt Farmer sie mit derart bedrücktem Tonfall zurück, dass sie einfach stehen bleiben musste. »Ja, was ist denn noch?« Er schien den Schreck, sie wütend zu erleben, bereits zu verdauen. Trotzdem kratzte sich der Corporal unbehaglich am Unterarm, unsicher, ob er die Frage, die ihm auf den Lippen brannte, wirklich stellen sollte. »Ich bin bis zum Ende meiner Kräfte bei allem dabei«, versicherte er, und sie zweifelte nicht daran, dass er diese
Worte ehrlich meinte. »Aber was ist, wenn Commander Drax das Versteck nicht findet und die Russen nicht nachgeben? Wäre es da nicht ratsam, beizeiten einen gewissen Sicherheitsabstand einzunehmen?« Farmer war jung, gerade Anfang zwanzig. Sie konnte ihm seine Angst nicht übel nehmen. Sie spürte ja selbst Angst, auch wenn sie das als Vorgesetzte nicht zeigen durfte. »Bis zu einem möglichen Rückzug ist es noch lange hin«, beschied sie ihm in festem Ton, denn mütterliches Verständnis war in dieser Situation fehl am Platze. »Wir leisten jetzt zusammen alle gute Arbeit, und wenn ich keinen Sinn mehr in unserem Aufenthalt sehe, erteile ich rechtzeitig entsprechende Befehle.« Mit dieser Aussicht auf eine ungewisse Zukunft ließ sie ihn zurück. Von Angst befallen, aber auch in dem Wissen, dass er mit allem rechnen musste und sich gefälligst zusammenzureißen hatte. Das tat er dann auch. Als sie im Pilotensessel Platz nahm, zeigte der Navigationsrechner einen neuen Kurs an, der zu einer Gruppe von drei Andronenreitern führte. *** Über den Dächern von Moskau, 15:34 Uhr »Wie weit ist es denn noch?«, fragte Mr. Black missmutig. »Wenn ich gewusst hätte, dass das so lange dauert, hätte ich uns vom EWAT abholen lassen.« Luura machte ein betretenes Gesicht. Vielleicht, weil sie sich mit der Dauer des Aufstiegs verschätzt hatte. Für dieses hohe Gebäude, das die anderen weithin überragte, waren eine Menge Stufen zu bewältigen. »Gleich ist es geschafft«, versprach sie leise und deutete auf
ein zusammengeschraubtes Geländer, das erst ein oder zwei Jahrzehnte alt sein konnte. »Dort oben kann ich dir alles zeigen.« Zu einer Zeit, als die mit Staub durchwirkte Atmosphäre die Sonne noch verdunkelt hatte, war hier ein schattenloser Dachgarten angelegt worden, der wirklich jeden einzelnen niedergehenden Strahl nutzte. Nun, da die Sonne bis in die Betonschluchten hinab reichte, war er verwaist. Nur noch das Geflecht der zusammengeschraubten Rohre, die das Wasser einer offenen Zisterne in verschiedene Beete geleitet hatte, erinnerte an vergangene Blütenpracht. Im Rücken ein Meer aus schmutziggelb beschienen Ruinen, an denen Moos, Ranken und Kreuzdorngewächse empor krochen, kämpfte sich Black die angedeutete Schräge empor. Der abschüssige Boden machte den Aufstieg gefährlich. Deshalb dienten die Rohre gleichzeitig als Gitter. Mr. Black packte eines von ihnen mit der linken Hand, um sich empor zu ziehen. Da er die Ärmel seiner Lederjacke aufgekrempelt hatte, war zu sehen, wie sich seine Unterarmmuskeln spannten. Luura, die neben ihm um die Balance kämpfte, umschlang er einfach mit der anderen Hand und zog sie an sich, um sie vor einem Sturz zu bewahren. Trotz ihres zusätzlichen Gewichts schwang er sich mit ihr auf den über ihnen liegenden Absatz, der tatsächlich in einer glatt auslaufenden Terrasse mündete. »Nur noch zur anderen Seite«, versprach Luura, die weiter fest an ihm klebte, obwohl er seine Hand längst wieder gelöst hatte. Er spürte, wie sie unter ihrem Kleid zitterte. Schutzsuchend drängte sie sich an ihn. Er ließ es zu, denn sie sollte sich wohl fühlen. Angst war schlecht fürs Gedächtnis, und als nächstes hing alles von ihrem Erinnerungsvermögen ab. »Da hinten!«, deutete sie auf eine tiefe Häuserschlucht, von der er wusste, dass es sich um den alten Tverskoi Bulwar
handelte. »Gleich rechts, neben dem Turm mit der abgebrochenen Spitze.« Ihr Arm langte über seine breite Schulter und deutete auf eine sich deutlich abhebende Kirche mit einem eingestürzten Glockenstuhl. »Das ist das Gebäude, in dem die radioaktiven Elemente lagern?«, fragte er ungläubig. »Nein«, wehrte sie ab. »Aber in einem Keller, drei Häuser weiter.« Sie nahm die ausgestreckte Hand zurück und platzierte sie auf seiner Schulter. Black war aber noch nicht zufrieden. Er stellte weitere Fragen und verlangte, dass sie ihm das betreffende Gebäude genauer beschrieb, in der Hoffnung, es doch noch ausmachen zu können. Luuras Busen presste sich jetzt nicht nur an seinen Rücken, sie ließ ihn auch sanft kreisen, als ob sie sich an einer sanften Massage versuchte. Als der Rebell noch eine Bewegung hinter seinem linken Ohr verspürte, schrillten bei ihm alle Alarmglocken. Mr. Black war ein Mann, der im Laufe der Jahre gelernt hatte, seinen Instinkten zu vertrauen. Deshalb wirbelte er blitzschnell herum und schlug Luuras Hand zur Seite. Etwas Grünes, Spitzes, wie eine Nadel, nur nach hinten breiter auslaufend, glitzerte zwischen ihren Fingern. Was auch immer es war, seine überraschende Gegenwehr prellte es der Barbarin aus der Hand. Ein kurzes Glitzern markierte die Flugbahn, bevor es mit leisem Klirren auf der Betonterrasse zersprang. »Was sollte das?«, fuhr er sie böse an. »Wolltest du mich vergiften?« Luuras Gesichtsausdruck durchlief innerhalb weniger Sekunden eine Metamorphose, die von unschuldigem Erstaunen in angrifflustiger Wut mündete.
Fauchend stieß sie ihm mit beiden Händen vor die Brust, so wuchtig, dass er zwei Schritte zurück taumelte. Die Luft wurde ihm aus den Lungen getrieben. Es fühlte sich an, als ob er zerstoßenes Glas einatmen würde. Ohne die dicke Jacke wären ihm wohl die Rippen geprellt worden. Sie wollte nachsetzen und ihn an der Kehle packen, doch nach Abklingen der Schrecksekunde war Black wieder voll da. Mit dem linken Unterarm wischte er ihre Attacke zur Seite, mit einer rechten Geraden setzte er zum Konter an. Skrupel, voll durchzuziehen, kannte er nicht. Die Kraft, mit der sie ihn attackiert hatte, besaß keinen menschlichen Ursprung. Nein, was da vor ihm stand, sah vielleicht aus wie eine Frau, doch in Wirklichkeit war es eines dieser Wechselbälger, in die die Daa'muren ihren Geist transferierten. Seine Faust hämmerte in Luuras Gesicht, ohne bei ihr eine Reaktion auszulösen. Im Gegenteil, es fühlte sich an, als hätte er gegen eine Felswand geschlagen. Ein scharfes Brennen jagte seinen Unterarm empor und verästelte sich bis in die letzte Faser seines Nervensystems. Mr. Black zuckte zurück und verbiss sich den Schmerz. Er war ein kühler Taktiker, der nicht blind drauflos drosch, deshalb erkannte er sofort, dass ihm körperliche Attacken nicht weiterhalfen. Geschickt tänzelte er zurück und hielt sich die Daa'murin mit einen Tritt in den Bauch vom Leib, als sie nachsetzen wollte. Es bereitete ihm Mühe, die Rechte zu öffnen, doch sein Wille triumphierte über das Fleisch. Er griff nach seiner Pistolentasche, um die Strogoff zu ziehen. »Schade«, sagte sie, ohne echtes Bedauern in der Stimme. »Es wäre nützlicher gewesen, dich in der Hand zu haben.« Während sie sprach, mutierten ihre schlanken Hände zu langen Taratzenklauen, deren scharfe Krallen jede Kehle problemlos aufzuschlitzen vermochten.
Black versuchte noch die Strogoff zu ziehen, aber seine pochende Hand reagierte zu langsam. Zurückweichen ging nicht mehr, dafür war es zu spät. In Gedanken sah er schon sein eigenes Blut übers Dach spritzen, als ein silberner Reflex seine Schulter passierte und Luura mitten in der Bewegung stoppte. Das Wurfmesser, das plötzlich aus ihrer Halsschlagader ragte, durchtrennte die Bernsteinkette, die zu beiden Seiten auseinander schwang und wie eine sich windende Schlange zu Boden fiel. Heißer Dampf ließ den Messergriff unter grauen, rasch aufwölkenden Schwaden verschwinden. Luura stolperte zurück und schlug beide Hände, die nun grau geschuppten Reptilienpranken glichen, vor die Wunde. Wütend entfernte sie den scharfen Stahl aus ihrer Kehle, doch obwohl sich der Riss rasch wieder schloss, schien sie angeschlagen. Vornübergebeugt, nahm sie eine klare Abwehrhaltung ein. Nur ihre Blicke aus funkelnden Augen spießten Navok und Graz auf, die links und rechts von Mr. Black traten, um ihn zu verteidigen. Die Taratze bleckte ihre Zähne, während Navok mit seinem beidseitig geschliffenen Degen auf ihre Herzgegend zielte. Mr. Black fragte in diesem Moment nicht, wo die beiden herkamen, sondern riss die Strogoff in die Höhe. Dieser dreifachen Übermacht ausgesetzt, verzichtete Luura auf eine weitere Auseinandersetzung. Fauchend wirbelte sie herum und hetzte über die Terrasse davon. Bereits nach zwei langen Sätzen ließ sie sich vornüberfallen, um eine vierbeinige Gangart anzunehmen. Und tatsächlich, noch ehe sie mit beiden Händen aufkam, verwandelten sie sich schon in Sebezaantatzen, so wie auch der Rest ihres Körpers die verkleinerte Form dieser Raubkatze annahm. Dabei zeigte sich, dass die Pailletten ihres Kleides zum Körper gehörten. Was
eben noch wie Metall gewirkt hatte, verästelte sich nun zu langen, hellen Borsten, die ein dichtes Fell ergaben. Mit langen Sätzen stob sie so über die abschüssige Rampe davon, viel schneller, als ein Zweibeiner folgen konnte. »Ssschrecklichess Weibsss«, befand Graz. »Da machhh ichhh Aruuuula viiiel liebasss.« Mr. Black legte noch an, um die Flucht mit ein paar Projektilen aus der Strogoff zu beenden, aber Navok fiel ihm in den Arm. »Nicht«, raunte der Nosfera leise. »Sie soll uns noch zum Versteck der Daa'muren führen.« »Wie denn?«, fragte der Hüne verärgert. »Einen fliehenden Sebezaan holt keiner von uns ein.« »Das wird auch nicht nötig sein.« Navok bückte sich und hielt Sekunden später eine Bernsteinkette in der Hand. »Die Daa'murin mag ihre Gestalt verändern können, doch sicher nicht den Geruch.« Die einzelnen Schmucksteine waren von beiden Seiten verknotet, um sie vor Verlust zu sichern. Aneinander gereiht an dem nun offenen Lederband, ergaben sie eine gut fünfunddreißig Zentimeter lange Geruchsprobe. Graz nahm sie sofort entgegen und schnupperte ausgiebig daran. Seine Schnauzhaare zitterten, ob vor Abscheu oder Behagen, ließ sich nicht erkennen. »Woher wusstet ihr, dass Luura eine Daa'murin war?«, fragte Black indessen. »Wussten wir nicht«, gab Navok trocken zurück. »Maddrax hat mich nur gebeten, dich im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass du keinen Unsinn machst. Er hat wohl eher einen Sturmangriff als so eine Extratour befürchtet, aber am Ende trotzdem Recht behalten.« Angesichts dieses Misstrauens fühlte Black ein Gefühl der Kränkung, obwohl er Navoks Eingreifen sein Leben verdankte.
»Du brauchst dich wegen der laufenden Bilder nicht schuldig zu fühlen«, riss ihn der Nosfera aus dem Gemütstal. »Fehler sind nie vorauszusehen, sonst würden wir sie ja nicht begehen. Und wenn du deine Scharte unbedingt auswetzen willst, unterstütz lieber die Technos und überlass die Verfolgung denen, die sich am besten darauf verstehen: Graz und mir.« Nach dieser Ansprache ließ der Nosfera die Bernsteinkette in einer Innentasche seines Umhangs verschwinden. Graz hatte lange genug daran geschnüffelt, um die Witterung aufzunehmen. Nur wenige Sekunden lang zog er die Schnauze kraus und blähte seine Nasenlöcher auf, danach flitzte er zur anderen Dachseite hinab, und Navok blieb ihm auf den Fersen. Der Sonderbeauftragte für Sicherheitsfragen von Ramenki blieb verblüfft zurück. Verdammt, musste er sich jetzt schon von einem Mutanten sagen lassen, was das Beste für ihn war? Offensichtlich ja. Müde steckte er seine Pistole ein und sah auf die Uhr. 15:46 Uhr.
Zeit, die Explorer zu rufen und zum Angriff zu rüsten.
*** Stadtteil Arbatskaja, zwischen Uliza Arbat und MelnikowHaus, 15:52 Uhr Die ganze Zeit über war alles gut gegangen, selbst am Übergang zur U-Bahn, der sie erst falsch herum gefolgt waren. Doch seit sie an die Oberfläche gelangt waren, verlor sich die Spur im Nichts. Die Abwesenheit von Taratzen bewies hier oben nicht das Geringste, und die Verstrahlung des Zaritsch und seiner Gefolgsleute verlor sich in den Weiten der Straßenschluchten. Vergeblich lief Matt mit seinem Geigerzähler umher und
achtete auf die kleinste Veränderung im Milli-Sievert-Bereich. Eine undankbare Aufgabe, die ihn immer wieder in die Sackgasse führte. Nervös sah er auf die Uhr. Keine vierzig Minuten mehr, und Black schritt zum Angriff. Dabei konnte das Versteck nicht mehr allzu weit entfernt sein, schließlich war der Radius des Herztonsenders beschränkt. Nachdem er eine Viertelstunde mit sinnlosem Umherirren vergeudet hatte, deaktivierte er den Geigerzähler und hängte ihn an seinen Gürtel. »Wir müssen anders vorgehen«, erklärte er seinen Begleitern, die sich sofort um ihn sammelten. »Die gesamte Tunnelstrecke führte grob Richtung Westen, also können wir davon ausgehen, dass das Versteck zwischen dem Einsturz, an dem wir an die Oberfläche mussten, und dem Ende der Senderreichweite liegt.« Spätestens beim Wort Senderreichweite verdrehte Aruula die Augen; die Mimik der Nosfera blieb in den Kapuzenschatten verborgen. »Sei's drum, wir schwärmen jetzt alle aus und arbeiten uns in diese Richtung vor.« Er deutete nach Westen. »Wenn einer etwas findet, das nach Zaritsch oder einem Versteck aussieht, informiert er unauffällig die anderen. Alles klar?« Aruula nickte zufrieden. Warum nicht gleich so?, schien ihr Lächeln zu sagen, denn diesmal hatte sie alles verstanden. Die Nosfera ebenso. *** Explorer im Anflug auf Portal B, 15:58 Uhr »Erzvaters Truppen stehen innerhalb des Kreml?« Mr. Black mochte diese Meldung kaum glauben, aber dann erinnerte er sich an die Bluttempler, die sie umzingelt hatten, ohne dass es einem von ihnen aufgefallen war. »So lässt es der Commander ausrichten«, bestätigte Captain
McDuncan. »Gut, wenigstens etwas Positives an diesem Tag.« Dass sich die Kontrollen der Andronen und Frekkeuscher allesamt als Reinfall erwiesen hatten, hatte ihm die Kommandantin schon berichtet. Als sie die letzten Gebäude, die noch die Sicht auf den Theaterplatz verdeckten, umrundeten, reckte Black den Kopf, um durch die transparente Cockpitkuppel nach draußen zu sehen. Was er dabei zu Augen bekam, entsprach den über Funk eingehenden Meldungen. Knapp ein- bis zweihundert Barbaren versuchten inzwischen mit Gewalt eine Übergabe der Panzertruppe zu erzwingen. Steine, Speere und Wurfäxte prasselten auf die präsenten AMOTs und ARETs nieder. Deren Panzerung ließ sich damit aber nicht durchdringen. Für die Besatzungen der offenen Dingis sah es schon gefährlicher aus, deshalb hatten sie sich bis kurz vor den Säulengang des Bolschoi zurückgezogen. Um die angriffslustige Menge auf Distanz zu halten, gaben sie immer wieder Störfeuer aus ihren Paralysatoren ab. Bisher reichte das einen Meter über dem Boden knisternde Geflecht aus, um die Menschen zu erschrecken. Doch es war nur eine Frage der Zeit, wann sie einen der Barbaren richtig betäuben mussten. Spätestens wenn der erste reglos am Boden lag, würde das Pulverfass explodieren. So weit durfte es nicht kommen. Er musste die Lage entspannen, und zwar sofort. »Verfügt der EWAT über Außenlautsprecher?«, wollte Black wissen. »Ja, selbstverständlich«, antwortete Selina leicht pikiert, »was denken Sie denn?« Black reagierte nicht darauf, dafür hing er zu sehr seinen eigenen Gedanken nach. Seine kräftigen Kiefer mahlten unentwegt, als würde er auf einer äußerst schwer fallenden
Entscheidung herumkauen. »Schalten Sie bitte ein Mikrofon für mich frei«, bat er schließlich. »Ich möchte der Menge meine Kapitulation verkünden.« *** In den Betonschluchten von Arbatskaja, 16:02 Uhr Die Frau, die hinter dem Andronenreiter im Sattel saß, trug ein weit über die Oberschenkel hochgerutschtes blaues Wildlederkleid. Ihr blondes, wohl nackenlanges Haar hing nicht herunter, sondern war mit Hilfe von Fetten oder Ölen in die Höhe gestriegelt worden. Wie die Strahlen einer Sonne liefen die einzelnen Strähnen zusammen. Ein wilder, gleichzeitig exakt ausgerichteter Anblick. Alles wirkte wie mit der Hand angedrückt. Nicht ein einziges Härchen ragte über die Ohrmuschel hinaus. »Bist du sicher, dass das Luura ist?«, fragte Navok leise, bevor er noch einmal zwischen den überhängenden Blättern eines Ahorns hindurch spähte, um den tiefen Rückenausschnitt zu bewundern. »Sssie riechtss zzzumindessst genaussso«, zischelte Graz zurück. Seine Nasenhaare bebten leicht aber beständig. Ein sicheres Zeichen, dass er sich beleidigt fühlte. Schließlich saßen sie gegen den Wind und bekamen alle Düfte aus Richtung der Androne zugeweht. »Zwei Daa'muren«, sinnierte Navok, der genau wusste, dass Graz seinen Groll bald wieder vergessen würde. »Lohnt kaum, sie niederzumachen.« »Der Reiterss riechtss ssslecht«, kommentierte die Taratze. »Genaussso ssslecht wie Sssergiuzss.« »Tatsächlich?« »Ja, Tsssatsssächlichhh!«
Navok kraulte die Taratze im borstigen Nacken, um sie wieder ein wenig freundlicher zu stimmen. Seltsam, dachte er dabei. Dieser Geruch muss irgendeine Bedeutung haben. Ein zweites Paar auf einer Androne tauchte auf. Diesmal zwei Männer, einer in Fellweste und Lederhosen, der die Zügel hielt und nach Graz' Aussage schlecht roch, und ein zweiter mit nackten Armen und Beinen, in eine Art Toga gehüllt, wie es sie in Moska nur selten zu sehen gab. Gemeinsam machten sich die beiden Reittiere auf den Weg und zogen Richtung Osten davon. »Bringsssen wir sssie nich umss?«, fragte die Taratze erstaunt. »Luura kann uns noch nützlich sein«, wehrte Navok ab. »Außerdem ist es wichtiger, den Flammenhort ausfindig zu machen. Glaubst du, du kannst die Fährten der Andronen zurück verfolgen?« Der leiseste Zweifel an den Fähigkeiten seines Geruchssinns trieb Graz stets dazu, ihn sofort unter Beweis zu stellen. Rasch schob er seinen Rattenschädel zwischen den Blättern vor, um sicherzustellen, dass die Daa'muren außer Sicht waren, dann hetzte er auf allen Vieren zu der Stelle, an der die Andronen gestanden hatten. Laut schnüffelnd nahm er die besonderen Eigenarten ihres Odeur auf und flitzte dann los, dem nahen Stall der Reittiere entgegen. *** Theaterplatz vor dem Bolschoi, 16:07 Uhr »Ist das Ihr Ernst?«, protestierte Sershant Hansen über Funk. »Sie wollen uns Sergiuz und seinen Spießgesellen kampflos ausliefern?« Mr. Black lächelte über den gerechten Zorn. »Nein«, beruhigte er dann alle, die auf der Frequenz zugeschaltet
waren, »das war nur ein Bluff, um für Ruhe zu sorgen. Sie sehen ja, dass die Menschen uns jetzt Platz für die Fahrt zum Kreml machen. Alles verläuft wie abgesprochen. Commander Drax hat bis halb fünf Zeit, die Bombe aufzuspüren und zu entschärfen. Ansonsten tritt unser Plan in Kraft.« *** Kreml, 16:14 Uhr Ein Netz aus dicht gedrängten Schweißperlen bedeckte die Stirn des Zaritsch, der ungeduldig zwischen den Bäumen umher wankte, wie ein Süchtiger, dem das letzte Rauschkraut ausgegangen war. »Wo ist Daanar?«, fragte er zum wiederholten Male, ohne eine befriedigende Antwort zu erhalten. »Was mache ich bloß?«, redete er zu sich selbst. »Was soll das alles nur?« Mit unnatürlich geweiteten Pupillen sah er in die Runde, als ob er aus einem Traum aufwachen würde und sich erst orientieren müsste. Geplagt von einer Hautreizung, strichen seine Hände hektisch über Arme, Brust und Bauch, ohne dem unangenehmen Gefühl Herr zu werden. »Was mach ich bloß? Was mach ich bloß?«, brabbelte er in einem fort. Bis er auf einmal erstarrte, mit angespannten Muskeln eine Weile auf der Stelle stand und sich dann wieder entspannte. »Ich werde Herr von ganz Moska sein!«, verkündete er dann mit neuer Zuversicht. »Ja, nicht mehr lange, und ich herrsche über die ganze Stadt.« Einige Gardisten in seiner Nähe runzelten bei diesem Schauspiel die Stirn und verzogen die eine oder andere Miene. »Was ist? Passt dir was nicht?«, ging der Zaritsch auf den nächstbesten los. Erschrocken wich der Mann zurück. »Nein, Herr, wie
kommst du darauf?« »Also ist alles in Ordnung, ja? Du bist mir weiter treu ergeben?« »Ja, Herr, natürlich. Ihr seid es, der uns von den Nosfera befreit hat!« »Richtig, das sollte keiner je vergessen.« Sergiuz lachte, bis er ein Reißen in der Lunge fühlte und husten musste. Roter Auswurf spritzte in seine Hand, doch er achtete nicht darauf. »Und falls einem meine Politik nicht passt, kann er mich gerne umbringen!« Dabei riss er die Weste auseinander, um allen Gardisten seine nackte Brust zu präsentieren. »Aber nein, das geht ja gar nicht«, fügte er an, über ihre dummen Gesichter lachend. »Dann löscht euch ja das magische Feuer aus, das mich zum Herrscher über Moska macht!« *** In den Betonschluchten von Arbatskaja, 16:22 Uhr Noch acht Minuten. Ein neuerlicher Blick auf die Uhr brachte Matt an den Rand der Verzweiflung. Bis alle Stockwerke und Keller der umliegenden Häuser durchsucht waren, mochten noch Stunden oder Tage vergehen. So viel Zeit stand nicht mehr zur Verfügung. Noch sieben Minuten, und Mr. Black würde den Marsch auf den Kreml befehlen. Aruula trat gerade aus einer bewachsenen Ruine und schüttelte traurig den Kopf. Wieder Fehlanzeige. Tröstend legte sie eine Hand auf seine Schulter und begleitete ihn schweigend die zugewucherte Gasse entlang. Er wollte der Barbarin gerade sein Versagen eingestehen, als sie zur Seite sprang und nach dem Schwert in ihrer Rückenkralle griff. »Lassss dasss«, zischte es aus dem von ihr anvisierten Gebüsch, zwischen dessen Blätter Sekunden später ein
borstiges Rattengesicht auftauchte. »Ich binsss, Grazsss.« Aruula senkte das Schwert, allerdings nicht so sehr, dass sie sich wehrlos fühlte. »Was machst du hier?«, fragte sie barsch. »Ihr solltet doch bei Mr. Black bleiben.« »Ichhh habsss die Fährtsse einer Daa'murrin verfolgtsss und den Hortsss desss Feuersss gefundenss«, antwortete die Taratze stolz. »Navok wartetsss ssschon auf euch. Ich sssolls euchh zu ihm bringensss.« Tapsig wendete er in dem Gebüsch und wandte ihnen sein borstiges Hinterteil zu. »Warte«, bat Matt. »Wir müssen erst die anderen verständigen.« »Das dauert zu lange«, warf Aruula ein. »Ich werde Radek und seine Ordensbrüder zusammenrufen. Geh du schon zu Navok und kläre die Lage. Wir warten hier.« Matt nickte dankbar. Nervös folgte er der Taratze, die ihm bedeutete, sich möglichst dicht hinter ihr zu halten. »Dortss drübenss im Keller gibtsss einen Zssugang«, sagte sie mit Blick auf das Puschkin-Museum. »Der wirdss aba bewacht, desssshalb nehmensss wir ihn nichtss.« Stattdessen führte sie Matt in leichten Bogen an dem Gebäude vorbei, weiter in Richtung eines großes Schuttberges, der einmal das Außenministerium gewesen war. Auf halben Weg dorthin blieb Graz an einer Dornenhecke stehen, deren Ranken er furchtlos beiseite drückte, um ein Erdloch freizulegen. »Dasss habss ich entssdeckt, weil ichs einss zweitesss Mal auf Luurasss Wittssserung gestossssen bin«, erklärte er dazu. Matt fragte nicht, wer Luurassss war, sondern legte den hinderlichen Rucksack ab, der den Strahlenschutzanzug enthielt. Derart erleichtert krabbelte er – im Vertrauen auf eine Taratze! – in den engen Gang hinein, in der Hoffnung, bald auf Navok zu stoßen. Dieser Wunsch wurde ihm leider nicht erfüllt. Dafür fand er
im letzten Schimmer der einfallenden Sonne eine Blendlaterne, von der er nur annehmen konnte, dass sie einmal besagter Luura gehört hatte. Mit Hilfe ihres Scheins arbeitete er sich weiter vor, während Graz die anderen nachholte. Der Weg durch die enge, von Krallen gegrabene Röhre kam ihm unendlich weit vor; nüchtern betrachtet legte er aber kaum mehr als zweihundertfünfzig Meter zurück. Mehr kriechend als gehend handelte es sich trotzdem um eine lange Strecke.. »Ich bin hier«, meldete sich Navok, bevor seine dunkle Kapuzengestalt den Weg versperrte. »Wie ist die Lage?«, fragte Matt ohne Umschweife. Der Nosfera erklärte ihm, dass sie wenige Schritte entfernt in einen tieferen, zu einer Seite zugeschütteten Tunnel wechseln mussten, dessen offenes Ende in einen bewachten Keller führte. »Es sind rotblau gewandete Gardisten«, versicherte Navok. »Das muss ganz einfach das gesuchte Versteck sein. Sonst wäre es auch nicht so gut abgesichert.« »Haben wir denn eine Chance, sicher hinein zu kommen?«, fragte Matt. Navoks Miene blieb unergründlich, doch seine Stimme besaß einen bedauernden Klang, als er antwortete: »Nicht ohne Verluste, fürchte ich.« *** Vor dem Taratzenloch, 16:38 Uhr »Sie haben also keinen schlüssigen Hinweis darauf, dass sich der Sprengsatz wirklich dort unten befindet?«, fragte Mr. Black über die lokale Frequenz. »Nein«, gestand Matt ein. »Aber ich habe einen Blick auf die bewaffneten Gardisten geworfen. Die werden sich da unten nicht aus Langeweile verschanzt haben.«
Eine unangenehme Pause entstand, die Matt bereits einen bitteren Vorgeschmack auf Mr. Blacks Entscheidung bescherte. »Tut mir Leid, Commander«, klang es dann wie erwartet aus dem Lautsprecher. »Wir befinden uns bereits im Anmarsch auf den Kreml. Dabei kann ich keinen Mann entbehren. Im Übrigen wüsste ich auch nicht, wer für den Tunnelkampf geeigneter wäre als ihre Nosfera.« »Aber hier stehen Degen gegen Strahlenwaffen«, beschwor Matt den Ex-Rebellen, obwohl ihm eine gehässige kleine Stimme zuflüsterte, dass er nur auf die Uhr schauen müsste, um zu sehen, dass es ohnehin zu spät war, um auf Verstärkung zu warten. Mr. Black schlug bei seiner nächsten Meldung in die gleiche Kerbe und fügte hinzu: »Wenn Sie wirklich glauben, das Versteck gefunden zu haben, müssen Sie jetzt eine Entscheidung fällen, Commander. Sie müssen sich zwischen einem Dutzend und Tausenden gefährdeter Leben abwägen, und das möglichst, ohne zu lange zu zögern.« Mit dieser Weisheit beendete er die Verbindung und überließ Matt sich selbst. Den einteiligen Schutzanzug schon bis zum Bauchnabel gezogen, den Vollglashelm in beiden Händen, sah Matt zu den anderen, die sich hier mit ihm versammelt hatten. Navok nickte sogleich, als teilte er Blacks Meinung, die anderen zogen es vor zu schweigen, bis Radek plötzlich meinte: »Wenn es darum geht, die prophezeite Sonnenglut zu verhindern, sind alle Bluttempler bereit, ihr Leben zu opfern. Für Erzvater, für Moska und für dich, Sohn der Finsternis.« Dass ihn die Ordensbrüder für eine Art Propheten hielten, machte es Matt besonders schwer, sie direkt ins feindliche Feuer zu führen. Doch wenn er es nicht tat, mussten sie vermutlich erst recht alle sterben, weil sie zu Fuß niemals mehr
dem Wirkungskreis der Megabombe entkommen konnten. »Gut, dann führe ich den Angriff an«, schlug er vor, scheiterte aber am versammelten Widerspruch. Da außer ihm niemand wusste, wie ein Zeitzünder zu entschärfen war, durften sie nicht das Risiko eingehen, ihn im Gefecht zu verlieren. Auf diese Weise kristallisierte sich bald heraus, dass er im Hintergrund bleiben musste, während die Bluttempler auf sein Geheiß gegen Strahlenwaffen anrannten. Missmutig schlüpfte Matt in die Ärmel und schloss den luftdichten Anzug, mit dem er an der Bombe arbeiten würde. Wenn sie so weit kamen. Nur seine Glaskuppel hielt er weiter in Händen. Derart ausgerüstet, ließ er allen anderen den Vortritt und schloss sich am Ende an. Beim zweiten Durchgang kam ihm der Stollen nicht mehr so lang vor, aber das war auch die letzte positive Feststellung dieses Tages. Nacheinander drangen sie durch das zweite Tunnelende in einen Vorraum ein, an den sich eine Gießerei anschloss, die nach Schweiß und verbranntem Fleisch stank. Einige kleine Feuer im Vorfeld machten es unmöglich, sich den Gardisten unbemerkt zu nähern. Alles, worauf sie hoffen konnten, war das Überraschungsmoment. Matt sah auf seine Uhr. Die Ziffern zeigten 16:47 Uhr an. Der Countdown in Moskau erreichte seine entscheidende Phase. Als er wieder aufsah, hatte er Navok, Radek und die anderen Nosfera schon aus den Augen verloren. Völlig mit der Finsternis verschmolzen, ihre geistigen Kräfte zur Ablenkung einsetzend, entfernten sie sich, ohne dass Matt auch nur einen einzigen Umriss wahrnehmen konnte. Nur Aruula blieb bei ihm zurück. Der unterirdische Komplex lag völlig ruhig da, nur
knackende Holzscheite sorgten ab und zu für ein Geräusch. Doch dann, ohne jede Vorwarnung, blitzen die ersten Klingen im Dunkeln auf. Matt wusste nicht, wie sie es machten, doch einigen Nosfera gelang es tatsächlich, ungesehen durch die Lichtfront zu kommen und die ersten Gardisten zu erstechen. Sobald aber Schmerzlaute erklangen, brach alle Tarnung in sich zusammen. Plötzlich wimmelte es überall von tanzenden Schemen, die auf alles losgingen, was sich versteckt hielt. Doch der Gegner war entschlossen und befand sich in der vielfachen Übermacht. Abstrahlpole glühten auf und erfüllten den Raum mit einem Stroboskop aus tödlichen Strahlen, in deren blitzartigem Zucken die Bewegungen der Nosfera zur Zeitlupe gefroren. Mit einer antrainierten Gewandtheit, die über normale Kampfkraft hinaus ging, stachen sie die Gardisten in atemberaubender Geschwindigkeit nieder, doch hinter jeder Linie, die sie aufrollten, lag eine weitere, die das Feuer eröffnete. Einschlagende Strahlen blähten sich zu weiß schimmernden Halbschalen auf, bevor sie ihre vernichtende Energie entfalteten. Matt hörte das widerliche Schmatzen, mit dem Haut, Fleisch und Gewebe im Bruchteil einer Sekunde verbrannten. Ascheflocken stoben in die Höhe, wenn die leblosen Körper zu Boden prallten. Schwarze, gewichtslose Rückstände, die wie Schnee herab sanken. Durch neue, vorbei jagende Strahlen der Dunkelheit entrissen. Wieder und wieder. Matt konnte nicht anders, er musste um die Ecke blicken, musste schauen, was dort vor sich ging. Es war ein abscheulicher Kampf, Mann gegen Mann, in dem sich die Reihen der Degenmeister immer stärker lichteten, aber auch die der Gardisten. Er sah noch, wie Graz mit dampfendem Fell einen Mann buchstäblich in der Luft zerfetzte, dann trat
endlich Stille ein. Gnädige Dunkelheit legte sich über das Schlachtfeld. Den Helm noch in Händen, eilte Matt los. Auf dem blutverschmierten Grund wäre er mit den profillosen Anzugssohlen beinahe ausgeglitten, doch Aruula sprang an seine Seite und gab ihm Halt. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich Navok und Radek neben einen röchelnden Gardisten knieten, der sie aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Der Flammenhort, wo ist er zu finden?«, verhörten sie ihn, obwohl das Leben in Strömen aus ihm heraus sprudelte. Beiden Mutanten wäre durchaus zuzutrauen gewesen, einen Sterbenden zu foltern, damit er seine letzten Geheimnisse verriet. Aber mochten sie auch die dafür nötige Kälte besitzen, mit ihren telepathischen Kräften kamen sie viel schneller ans Ziel. »Ein Raum, der durch einen Aufzug erreicht wird«, rief Navok zufrieden, »ein Stockwerk unter uns.« Der Gardist heulte gequält auf, als würde man ihm glühende Eisen in die Wunden drücken, dabei grämte er sich nur, nicht genügend Widerstand geleistet zu haben. Matt sah ihn mit klammen Herzen an, ihn und die anderen, die sich noch regten. Da gab es Graz, der sein verbranntes Fell mit Speichel löschte, und zwei, drei Bluttempler, die sich noch aufrecht hielten. Ansonsten nur Tod und Verderben. »Komm schon!«, riss ihn Radek aus seinen Selbstvorwürfen. »Denk jetzt an die, die du noch retten kannst! Das ist viel wichtiger.« Willig ließ er sich von Navok und Radek weiterziehen, durch Gänge und Keller, bis in den Aufzug, den sie mit Muskelkraft herabließen. Nur noch Aruulas Fackel vertrieb die Dunkelheit, als er endlich vor einer dicken Bleitür stand, die das monströse Unheil verbarg, das Moskas Untergang besiegeln sollte.
Matt sah auf die Uhr. Elf nach fünf, noch neun Minuten, das musste reichen. Er schickte die anderen zurück nach oben, damit sie keiner Strahlung ausgesetzt wurden, dann verriegelte er den Helm am Anzug und öffnete die Bleitür. Sobald sie einen Spalt weit offen stand, wusste er, dass er richtig war. Unzählige Röhren und Kästen mit radioaktivem Material häuften sich hier drinnen auf, in Reihe geschaltet und zu einem großen, kritischen Komplex verbunden, der nicht nur an einem Sender, sondern auch an einer rückwärts laufenden Digitaluhr hing. Noch acht Minuten und zwölf Sekunden! Endlich mal keine Rettung auf den letzten Drücker, endlich Zeit genug, das Richtige zu tun. Wenigstens das, dachte er und zog einen Seitenschneider aus dem mitgeführten Rucksack. Als er die Anschlüsse der Uhr untersuchte, um Moska mit einigen schnellen Schnitten vor dem Untergang zu bewahren, packte ihn jedoch kaltes Entsetzen. Das Werkzeug entglitt seinen Fingern. Keuchend taumelte er zurück und glaubte für Momente das Ionen-Bombardement zu spüren, das in Wirklichkeit von der Schutzkleidung abprallte. Dann wagte er sich wieder vor und sah noch einmal auf die Anschlüsse hinab. Alles sah noch so aus wie Sekunden zuvor Ein gequälter Schrei kam über seine Lippen, Man hatte ihn getäuscht, so schlimm wie noch nie zuvor in seinem Leben. *** An Bord der Explorer, im Anflug auf den Kreml, 16:50 Uhr Mr. Black wartete, bis der Panzerverband vor der Ostmauer Aufstellung bezogen hatte, in der Hoffnung darauf, dass Commander Drax noch seinen Erfolg durchgeben würde. Doch
als die Zeit knapp wurde, befahl er den Angriff. Sergiuz, der immer noch nervös auf dem Innenhof herum lief, eilte gerade auf das Haupttor zu, um die Gaben der Unterwerfung in Empfang zu nehmen, als der EWAT die Zinnen überquerte. Noch während er und seine Gardisten verblüfft in die Höhe starrten, kamen zwei Dutzend Schattengestalten aus ihren Verstecken und rannten auf ihn zu. In Erdlöchern, Büschen und in Mauerspalten hatten sie sich verborgen und stundenlang auf diesen Augenblick gewartet. Den flinken Klingen der Bluttempler hatten die Speere und Schwerter der Wachen nichts entgegen zu setzen. Dafür, das sich die Bogenschützen nicht einmischten, sorgte der EWAT, der einige wohlgezielte Warnschüsse über das Dach verteilte. Die Männer, die dort oben saßen, warfen ihre Waffen in die Tiefe und hoben die Hände hinter den Kopf. Und auch sonst schien die Bereitschaft, sich für den Zaritsch zu opfern, stark geschwunden zu sein. Die Bluttempler nahmen ihn lebend in Gewahrsam, trotzdem gab es keine herbei eilenden Truppen, die das Ruder noch einmal herumreißen wollten. Vorsichtshalber drängten sie zum Tor, das gerade von einem AMOT aufgerammt wurde. Als die Besatzung sah, wer da nahte, legte sie gleich den Rückwärtsgang ein und machte den Weg frei. Der EWAT folgte, blieb aber nahe des aufgebrochenen Portals stehen, um die Lage im Innenhof zu kontrollieren. Mr. Black stieg durch die Seitenschleuse aus und lief auf den Roten Platz, um die Lage in den Griff zu bekommen. Das war leichter gesagt als getan, denn sobald die wankelmütige Menge sah, dass sich Sergiuz in der Gewalt der Bluttempler befand, begannen die ersten seinen Kopf zu verlangen. Die Bluttempler schienen das zu genießen, denn sie zerrten den Kerl auf das Dach eines AMOTs, damit seine Niederlage
von allen Seiten begafft werden konnte. »Geht vorsichtig mit ihm um«, warnte Black im Näherkommen. »Wenn ihm etwas geschieht, muss dafür die ganze Stadt büßen.« Trotz aller Grobheiten, die Sergiuz erdulden musste, waren Blacks Sorgen unbegründet. Die Ordensbrüder achteten sehr wohl darauf, dass dem Zaritsch kein Leid geschah. Black kletterte gerade selbst auf den AMOT, um notfalls einzugreifen, als er aus den Augenwinkeln bemerkte, dass Erzvater per Tragestuhl herbeigeschafft wurde. Seine Heiligkeit musste in der Basiliuskathedrale gewartet haben, anders ließ sich nicht erklären, wie er so schnell aus der Versenkung kam. Die Menge rückte sofort näher, als sie den prominenten Aufmarsch sah, zurecht der Meinung, dass hier sicher noch etwas geboten würde. 17:13 Uhr zeigte Blacks Chronometer inzwischen an. Der Countdown lief ab, und noch immer keine Nachricht von Commander Drax. Black packte den Zaritsch am Hals. Die Menge schrie auf, zwischen Begeisterung und Entsetzen. »Los, sag schon, wie wir die Bombe stoppen können«, wollte er von Sergiuz wissen, doch der lachte nur irre und verkündete, dass ganz Moska mit ihm untergehen würde. Selbst Erzvater, der mitsamt des Stuhls heraufgehoben wurde, vermochte mit seinen geistigen Kräften nichts zu erkennen, was weiterhalf. Die letzten Minuten verrannen quälend langsam, bis ein Funkruf von Commander Drax einging. Black trat ein paar Schritte zur Seite, bevor er sich meldete und fragte: »Was ist los? Haben Sie es geschafft, Commander?« »Nein«, klang es aus dem Äther. Black verließ umgehend aller Mut, bis er hörte: »Das war gar nicht nötig. Weder Funksignal noch Countdown waren mit der kritischen Masse
verbunden. Die Daa'muren hatten nie vor, das Areal zu verseuchen. Acht Degenmeister sind vollkommen umsonst gestorben!« Mr. Black war wie vom Donner gerührt. Mit offenem Mund sah er zu Erzvater, der alles mit angehört hatte. Trotz der Nachricht vom Tod seiner Brüder formte sich ein Grinsen auf dem Gesicht des blinden Greises. »Sergiuz stellt keine Gefahr mehr da?«, fragte er nur. Black schüttelte den Kopf. »Nein, es ging nie eine von ihm aus. Ich verstehe auch nicht, warum.« Noch während er um weitere Worte und Erklärungen rang, richtete Erzvater das Wort an die Bevölkerung, die sich immer zahlreicher zwischen den AMOTs und EWATs drängte. »Männer und Frauen von Moska!«, verkündete er, mit einer weit tragenden Stimme, die gar nicht zu seinem schmächtigen Körper passte. »Seht, welches Wunder ich gewirkt habe! Sergiuz, der Tyrann, ist seiner Macht beraubt, und die Zeit, in der die Sonne wieder wächst, liegt in weiter Ferne!« Ein Raunen ging durch die Menge, wenn auch noch etwas verhalten, weil vielen der Beweis für diese tollkühne Behauptung fehlte. Erzvater lieferte ihn mit einem Fingerschnippen, das seinen Degenmeistern galt. Als ob sie nur auf das Signal gewartet hätten, zwangen sie Sergiuz daraufhin auf die Knie und traten zurück. Alles ging blitzschnell vonstatten. Mr. Black konnte nicht mehr verhindern, dass einer der Degenmeister seine scharfe Klinge schwang. Der Nacken des Zaritsch stand dem flirrenden Halbkreis im Wege, und so wurde er sauber durchtrennt. Der Kopf löste sich vom Rumpf und fiel in die Tiefe. Ein roter Regen benetzte das Deck des AMOTs bis hin zu Mr. Black. Einen Moment lang stand der Torso noch aufrecht, dann kippte er zur Seite. »Bist du wahnsinnig?!« Black sah Erzvater fassungslos an. »Das war glatter Mord!«
»Mord?« Erzvater lachte nur leise. »Ich halte das eher für ausgleichende Gerechtigkeit. Was ist schon ein größenwahnsinniger Tyrann gegen acht Degenmeister, die du in den Tod geschickt hast?« Mr. Black erbleichte bei diesem Vorwurf, und er war nicht der Einzige, dem Erzvaters harte Maßnahme an die Nieren ging. Auch die Menge, die Zeuge der Enthauptung geworden war, verstummte. Böse Erinnerungen an die Herrschaft der Bluttempler kehrten zurück. An Zeiten, in denen Aderlass und Willkür an der Tagesordnung gewesen waren. Doch auch dieser Stimmungsumschwung passte in das Kalkül Seiner Heiligkeit. »Volk von Moska!«, rief er, und diesmal hörte ihm wirklich jeder zu. »Ich habe nicht alleine die Gefahr gebannt! Ohne diesen Mann an meiner Seite, den ihr alle als Helden verehrt, wäre ich machtlos gewesen. Darum sage ich, vergesst den alten Zaritsch, der nur alle Macht an sich reißen wollte. Lang lebe ein neuer, gerechter Zaritsch, der sich um das Wohl dieser Stadt verdient gemacht hat. Krönt Mr. Black, vor dessen Weisheit sogar ich mein Haupt verneige!« Als er daraufhin tatsächlich die rote Kapuze bis tief über die Lehne des Tragestuhls senkte, auf dass es jeder auf dem Platz sehe, brach ein unbegreiflicher Jubel los. Die Erleichterung darüber, nicht nur der Vernichtung, sondern auch einem neuen Schreckensregiment entgangen zu sein, versetzte die Menschen geradezu in einen euphorischen Taumel. »Black! Black! Black!«, skandierten die Bluttempler auf dem AMOT und in der Menge, und der Ruf wurde sofort aufgegriffen und weitergetragen, bis er auch den letzten Winkel des Roten Platzes ausfüllte. Dem ehemaligen Rebellen wurde beinahe übel, angesichts der Blutspritzer auf seiner Lederjacke und der aufgepuschten Menge, die seine Königswürde skandierte. Mühsam
unterdrückte er den Wunsch, die Forderung abzulehnen, denn er glaubte zu wissen, wie die Menschen reagieren würden, wenn er sich nicht in Erzvaters Spiel fügte. Das zufriedene Grinsen unter der roten Kapuze war nur für ihn bestimmt und für sonst keinen der zwei- bis dreitausend versammelten Technos und Barbaren zu sehen. Blind oder nicht, Black warf dem Greis einen finsteren Blick zu, den dieser sehr wohl mit seinen übrigen Sinnen registrierte. »Glaub bloß nicht, dass du mich jetzt in der Hand hast«, warnte er noch, während er der tobenden Menge zuwinkte, um sie zu beruhigen. »In Zukunft bin ich vor deinen Schlichen gewarnt.« »Aber natürlich«, bestätigte Seine Heiligkeit mit geradezu melodiöser Stimme. »Wer hätte das je bezweifelt?« *** Als Matt am Kreml anlangte, war schon alles vorbei. Die Menge hatte sich längst zerstreut. Black saß im Schatten eines AMOTs, abgeschirmt von Hansen und weiteren Sicherheitsbeamten in blauen Monturen. Matt trug wieder seine grüne Uniform. Der kontaminierte Schutzanzug war von einer Spezialeinheit aus Ramenki entseucht worden, die mittlerweile auch das nukleare Material aus den Bunkern des Außenministeriums barg und an einen sicheren Ort brachte. »Sie sind also der neue Zaritsch«, sagte er zur Begrüßung. »Meinen Glückwunsch.« Obwohl er ein Mann war, der gerne Verantwortung suchte und übernahm, wirkte Mr. Black nicht besonders glücklich in seiner neuen Position. Die Übernahme seines ersten politischen Amtes hatte er sich wohl ganz anders vorgestellt. »Keine Ahnung, ob das Geschrei von vorhin offiziell gültig
ist«, stellte er klar. »Das werden die nächsten Tage zeigen. Falls ein Machtvakuum entsteht, bleibt mir aber gar nichts anderes übrig, als auf Erzvaters Spiel einzugehen... Wo ist Navok? Ich muss ihm noch für seine Warnung danken.« Matt ließ sich neben dem blonden Hünen nieder. Beide waren in ähnlicher Stimmung, denn beide hatten an diesem Tag gewonnen und gleichzeitig auch wieder verloren. »Graz und Navok ziehen nach Osten«, erklärte er müde. »Das sind zwei Einzelgänger, die ihre eigenen Wege gehen. Da lässt sich nichts machen.« »Wie, nach Osten? Zu den Daa'muren?« »Ich habe nur etwas von einer Luura verstanden, die ihre Halskette vermisst. Keine Ahnung, was das soll.« Beide Männer schwiegen eine Weile, dann brachten sie sich gegenseitig auf den gleichen Kenntnisstand, bis die Bemerkung über Luura auch für Matt einen Sinn ergab. Die Dämmerung brach schon herein, als sie erste Schlüsse aus dem Geschehenen zu ziehen versuchten. »Wozu nur das ganze Chaos?«, fragte Mr. Black. »Nur um unerkannt zu entkommen und alle Spuren zu verwischen?« Matt hatte sich inzwischen seine eigenen Gedanken gemacht. »Was das Nuklearmaterial angeht, das sie aus alten Kraftwerken und Raketensilos zusammengestohlen haben, so haben sie hier in Moska lediglich die Spreu vom Weizen getrennt. Alles konventionell spaltbare Material haben sie zurückgelassen. Doch die Hellfire-Sprengköpfe, die sich der Nuklearen Isomere bedienen, fehlen.« »Aber warum haben sie den Rest nicht gezündet? In der Wüste waren sie doch auch nicht so zimperlich.« »Da kann ich nur spekulieren. Vielleicht hatten sie mit Moskau noch andere Pläne – schließlich war der Zaritsch ihre Marionette. Oder sie haben doch Skrupel, den Planeten zu verseuchen, den sie übernehmen wollen. In der Slowakei haben
sie nur einen Sprengkopf benutzt, und die Gegend war menschenleer. Aber darauf sollten wir uns wohl nicht verlassen.« Beide Männer wären erstaunt gewesen zu erfahren, wie falsch sie doch lagen. Noch ahnten sie nichts von den Viren, die die Daa'muren zur Beeinflussung der Menschen verwendeten – eine weitaus gefährlichere Waffe als atomare Bomben. Und sie ahnten nichts von den Priorität der Daa'muren, ihrer von jeder Moral freien Unterteilung der Dinge in »nutzbringend« und »nutzlos«. So werteten sie Luuras Attacke auf Mr. Black als Entführungs- und nicht als Infiltrationsversuch. Ein Irrtum, der sich noch als verhängnisvoll erweisen sollte... »Wie auch immer – wir sollten froh sein, dass es vorbei ist«, sagte Matt. »Für heute!«, schränkte Black ein. Aber der Mann aus der Vergangenheit wollte endlich weg von den düsteren Vorahnungen kommender Katastrophen. »Kommen Sie«, schlug Matt vor. »Ich wette, es gibt hier irgendwo eine Spelunke, die etwas Ähnliches wie Bier ausschenkt. Ich lade Sie ein.«
Epilog Das gelbe Licht der Öllampen umgab Radeks Gesicht mit wandernden Schatten, die ihn noch grimmiger aussehen ließen, als er sich ohnehin schon fühlte. »Was ist mit dir, junger Bruder?«, fragte Erzvater, der sich nur ein Stück von ihm entfernt auf einen Gehstock stützte. »Ich spüre einen ungerechten Zorn in dir.« Es gab Zeiten, da wäre Radek zusammengezuckt, aus Furcht vor dem Tadel, der in solchen Ansprachen mitschwang. Doch
diese Zeiten waren vorbei. Die Erfahrungen der letzten Jahre hatten ihn härter und unerschrockener gemacht, und die Narbe des heutigen Tages saß einfach zu tief, um noch einen Tadel zu fürchten. »Der Sohn der Finsternis«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Er hat heute acht meiner Brüder in den Tod geführt, um die Zeit, in der die Sonne wieder wächst, zu verhindern. Dabei war alles umsonst, er hat es selbst zugegeben. Er ist nur ein Scharlatan.« Das kahle Haupt verständnisvoll geneigt, schlurfte Seine Heiligkeit näher, so schnell es seine Beine vermochten. »Du urteilst schnell und irrst deshalb, junger Bruder«, sagte er mit ungewohnt viel Milde in der Stimme. »Maddrax ist kein Scharlatan, sondern ein Werkzeug Murrnaus, so wie wir. Was heute geschehen ist, war nur eine Prüfung auf das, was kommen wird. Denn wisse, wenn der Tag anbricht, an dem die Sonne wieder wächst, müssen wir wirklich stark sein.« »Aber...« Radek brach erstaunt ab, fasste sich und begann noch einmal neu. »Heute war doch der Tag, an dem...« »Nein, doch nicht wirklich.« Erzvater lachte gutmütig. »Das haben wir nur den dummen Menschen erzählt, weil es so schön in unsere Pläne passte und weil wir deshalb wieder in der Stadt anerkannt sind.« Radek hörte, was Erzvater sagte, doch er verstand ihn nicht. Da nahm ihn der Alte an die Hand und führte ihn die Kellergewölbe der alten Feste, dorthin wo Wladov und die anderen Propheten ihre Zirkel bildeten. Schon von weitem hörte man, wie sie ihre Visionen empfingen, und was sie da im Chor wiedergaben, klang nur allzu vertraut. »Die Zeit der neuen Sonne ist zum Greifen nah!«, wiederholten sie gemeinsam eine Botschaft, die ihnen Murrnau sandte. Radek erschauerte bei diesen Worten, vor allem, als es weiter hieß: »Nur einer kann die neue Sonne verhindern. Es ist
Maddrax, der mit dem Feuervogel aus dem Süden kam. Ihn zu töten schlug heute fehl. Doch die Zeit der neuen Sonne ist trotzdem zum Greifen nah.« ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Mörderhirn von Jo Zybell Einst war er Doktor Nikati Rostow, verdienter Encephalorobotowitsch der Russischen Bunkerliga. Ein brillantes Gehirn... im wahrsten Sinne des Wortes. Denn dies – und das plastinierte Gesicht – war alles, was von dem ehemaligen Menschen Nikati Rostow übrig gewesen war. Man hatte seinen Verstand in einen Robot-Körper verpflanzt, damit er auch nach seinem organischen Tod der Liga dienen konnte. Doch nun beherbergt der mechanische Körper ein daa'murisches Hirn – mit Rostows Erinnerungen, seinem einzigartigen Wissen und einem klaren Auftrag: Finde Mefju'drex und vernichte ihn!