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Version 1.0 Wir wünschen viel Spaß beim Lesen ☺
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Ein Rabe namens Max......................................... 4 Der Geist vom Finsterwald.................................. 8 Ein Katastrophenritt........................................... 13 Verirrt ................................................................ 17 Vermißt.............................................................. 21 Ein Retter namens Max ..................................... 24 Kobalt ist krank ................................................. 27 Hilfe, mein Traktor!........................................... 31 Die Hütte ........................................................... 34 Der Fremde........................................................ 38 Alexanders Geschichte ...................................... 42 Das Geheimnis des Finsterwaldes ..................... 49 Der Unfall.......................................................... 55 Das Tagebuch .................................................... 60 Der Schatz ......................................................... 64 Abschied vom Finsterwald ................................ 68 Wer ist Alexander? ............................................ 72 3
1. Kapitel Ein Rabe namens Max Mit hohem Sprung setzte Kobalt über einen Weidezaun und galoppierte über einen Feldweg weiter. Conny liebte es sehr, mit ihrem Pferd früh morgens durch die Natur zu streifen. Es war ein märchenhaft schöner Sommermorgen. Die Wiesen schimmerten bunt von Gänse- und Butterblumen. Zitronenfalter statteten den Blumen Besuche ab und saugten ihren taufrischen Nektar. Am Waldrand entdeckte Conny einen Wurf Junghasen. Beinahe hätte sie die winzigen Wollknäuel übersehen. Sie lagen ganz still, die Löffel angelegt, tief ins Gras geduckt. Um den kleinen Wuschelhäschen nicht unnötig Angst zu machen, verharrte Conny nur einen kurzen Moment. Dann lenkte sie Kobalt in den Wald. Obwohl Conny erst seit vier Monaten bei ihren Großeltern auf dem Alderhof lebte, konnte sie sich kaum noch vorstellen, woanders zu wohnen. Ihr machten das Leben und die Arbeit auf dem Reiterhof große Freude. Für ein fünfzehnjähriges Mädchen gab es hier reichlich zu tun. Da Connys Mutter nicht mehr lebte, und ihr Vater in Brasilien den Bau eines Staudammes leitete, hatte sie nur noch ihre Großeltern Graf und Gräfin Alder-hof. Bei ihnen fühlte sich Conny geborgen und wohl. Die Sonne stand an diesem Tag noch nicht hoch genug, um das Dickicht des Unterholzes zu durchdringen. Dämmerlicht hüllte Conny ein. Conny hatte mehrere Leinenbeutel in die Satteltaschen gesteckt. Es ging nichts über frische Waldbeeren zum Frühstück. Vielleicht fand sie auch ein paar schmackhafte Pilze. Champignons, Pfifferlinge, ja selbst Steinpilze waren auf den Wiesen und in den Wäldern um den Alderhof keine Seltenheit. Es war ganz still im Forst. Ab und zu hallte das Klopfen eines Spechtes durch den Wald. Conny ritt langsam über den Reitweg und 4
genoß die Ruhe. „Pfrchhh!" schnaubte Kobalt plötzlich und spitzte die Ohren. Verblüfft spähte Conny in die Richtung, in die das Pferd schaute. Kobalt mußte etwas Ungewöhnliches bemerkt haben. Da! Im Schatten der Tannenschonung bewegte sich plötzlich etwas auf und nieder! Conny packte die Zügel ganz fest. Am Boden lag ein großer Vogel und schlug mit seinen Flügeln. Zuerst dachte Conny, es sei ein Bussard, der eine Maus geschlagen hatte. Doch der Vogel stieß ein merkwürdiges Fiepen aus. Conny stieg von Kobalt und näherte sich vorsichtig dem Vogel. Als sie herangekommen war, erkannte sie einen Raben, der von einem Habicht attackiert wurde. Es war ein großer Raubvogel. Seine Flügelspannweite betrug fast einen Meter. Immer wieder stieß er auf sein Opfer ein. Noch hatte er Respekt vor dem spitzen Schnabel des Raben, der gefährlich vorstieß. Lange würde der Rabe sich gegen das weitaus stärkere Tier jedoch nicht mehr halten können. Im Laufen hob Conny einen abgebrochenen Zweig vom Boden auf und schwenkte ihn durch die Luft. „HOOOOOO! HOOOOOO!" schrie Conny dabei. Über die Störung war der Habicht alles andere als erfreut. Blitzartig schoß er auf Conny zu. Seine messerscharfen Krallen hatte er bedrohlich vorgestreckt. Ein furchtbarer Schreck fuhr Conny in die Glieder, als sie den Raubvogel heranfliegen sah. Sie konnte sich gerade noch zu Boden werfen. Im Tiefflug pfiff der Habicht über sie hinweg, zog hoch und verschwand in den Baumkronen. Er flog eine Schleife und sauste erneut gegen den Menschen, der ihm seine Beute streitig machen wollte. Conny lag immer noch am Boden. Bei seinem Sturzflug kam der Habicht Kobalt gefährlich nahe. Der Raubvogel hatte das Pferd bisher überhaupt nicht beachtet. Das hätte schlimm für ihn enden können. Kobalt wieherte und stellte sich auf die Hinterhufe. Er schnappte 5
sogar mit den Zähnen nach dem vorbeifliegenden Habicht. Vor Schreck verlor der Raubvogel die Kontrolle über seinen Anflug. Äußerst knapp segelte er an einem Baumstamm vorbei. Mit so einem großen Tier wie Kobalt wollte sich der Habicht nun doch nicht anlegen. Er flog davon. Conny rappelte sich vom Boden auf und atmete tief durch. Vor Schreck zitterte sie am ganzen Körper. Sie nahm es als gerechte Strafe dafür, daß sie den Kreislauf der Natur - fressen und gefressen werden - gestört hatte. Aber Conny stand nun mal immer auf Seiten der Schwächeren, egal ob Mensch oder Tier. Vorsichtig ging Conny weiter. Immer wieder schaute sie zurück. Hatte der Habicht wirklich aufgegeben? „Ist ja gut", flüsterte Conny sanft und beugte sich zu dem Raben herab. „Was hast du denn, mein Armer?" Der Rabe merkte, daß Conny ihm nichts Böses wollte und beruhigte sich langsam. Er preßte sich mit dem Bauch flach auf den Boden und breitete seine Flügel weit aus. Einen Augenblick lang blieb Conny unschlüssig stehen. Was sollte sie machen? Wenn sich der Vogel einen Flügel gebrochen hatte, würde er hier mit Sicherheit sterben. Conny beschloß, den Raben mitzunehmen. Langsam zog sie ihre Jacke aus und breitete sie sanft über dem Vogel aus. Vor Schreck zuckte das Tier einen Augenblick auf. Dann versuchte es zu fliehen. Mit sanfter Gewalt hielt Conny den Raben fest, ohne ihm weh zu tun. „Ist ja gut", flüsterte sie. „Ich bring dich zum Alderhof. Dort wird dir Hugo helfen. Hugo kennt sich mit Tieren besser aus als sonst jemand." Hugo arbeitete als Hausmeister auf dem Alderhof. Sein Leben lang hatte er mit Tieren zu tun gehabt. Manchmal 6
schien es Conny, als könne Hugo sogar mit den Tieren sprechen. Jedenfalls schienen sie vieles zu verstehen, was er ihnen sagte. Der Rabe zappelte noch ein bißchen. Als er jedoch merkte, daß Gegenwehr zwecklos war, ergab er sich in sein Schicksal. Conny schwang sich auf Kobalt und ritt zum Alderhof zurück. Hugo stapelte gerade Scheite im Holzschuppen, als Kobalt auf den Hof trabte. „Hugo!" rief Conny und zügelte Kobalt vor dem Schuppen. „Ich hab' hier einen verletzten Raben." Conny stieg mit dem Vogel vom Pferd. „Laß mal sehen!" Hugo nahm ihr den Raben ab und wickelte ihn vorsichtig aus der Jacke. Der Rabe muckste sich kein bißchen. Behutsam untersuchte Hugo die Flügel. Eine Stelle im Gefieder war blutverkrustet. „Ja, er ist wirklich am Flügel verletzt", bestätigte Hugo Connys Vermutung. „Zum Glück ist er nicht gebrochen. Die Wunde stammt wohl von einem Stein. Sie ist ziemlich tief. Ich nehme an, jemand hat mit einer Steinschleuder auf das arme Tier geschossen." „Wie gemein!" empörte sich Conny. „Wahrscheinlich war das ein Dummerjungenstreich. In einer Woche ist der Flügel wieder geheilt. Bis dahin kann der Rabe in der alten Voliere bleiben, die auf dem Speicher vor sich hinstaubt. Du kannst mir beim Reinigen des Altertümchens helfen. Am besten, wir stellen es hinter den Stall, dann hat unser Patient immer frische Luft." „Prima!" freute sich Conny. Nachdem sie Kobalt im Stall versorgt hatte, machte sie sich mit Hugo an die Arbeit. Zwei Stunden später hockte der Rabe in der Voliere und beäugte mißtrauisch seine neue Umgebung. „Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich auch mal einen Raben", erzählte der Graf. „Ich hatte ihn gezähmt. Er konnte sogar sprechen." „Wirklich?" staunte Conny. „Ja", nickte der Graf. „Er hieß Max." „Dann soll der Rabe auch Max heißen", lachte Conny. „Na, wie findest du deinen neuen Namen, Max?" Max fand es offensichtlich unangenehm, daß ihn die Menschen 7
aus nächster Nähe anstarrten. „Hat er schon etwas gefressen?" fragte der Graf. „Nein", antwortete Hugo, der wußte, was der Graf meinte. „Tja, wenn er nicht frißt, müßt ihr Max wieder freilassen", sagte der Graf. „Aber wieso denn?" erschrak Conny. „Dann schlägt ihn der Habicht vielleicht doch noch!" „Wenn ein Tier in Gefangenschaft nicht am ersten Tag frißt, dann frißt es auch in den nächsten Tagen nicht", erklärte der Graf. „Das heißt, Max würde verhungern." „Was fressen Raben denn?" wollte Conny wissen. „Raben fressen alles, was in ihren Schnabel paßt", lachte Hugo. Conny lief gleich in die Küche und ließ sich von Else ein paar saftige Fleischstückchen schneiden. Vorsichtig hielt sie die Leckerbissen durch die Käfigstangen. Doch Max zeigte kein Interesse. „Bitte, Max", bettelte Conny, „friß doch etwas!" Doch Max drehte den Kopf von ihr weg. Schon wollte Conny das Fleisch sinken lassen, da schnaubte ein Pferd hinter ihr. „Kobalt staunte Conny. In der Eile hatte Conny die Boxentür nicht richtig verschlossen. Kobalt ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, nach ihrem Patienten zu schauen. Max begrüßte Kobalt mit aufgeregtem Krächzen. Anscheinend hatte er das Pferd als Lebensretter und Freund ins Herz geschlossen. Sanft stieß Kobalt mit seiner Nase gegen das Gitter der Voliere. Max deutete das wohl als Aufforderung zum Fressen. Gierig verschlang er nun das dargebotene Fleischstück. „O Max", strahlte Conny. „Ich freue mich ja so. Jetzt wirst du ganz bestimmt wieder gesund."
2. Kapitel Der Geist vom Finsterwald Eine Woche später war Max wieder völlig genesen. „Du kannst Max heute fliegen lassen", sagte Hugo. Schweren Herzens öffnete 8
Conny den Käfig. In der einen Woche hatten alle Bewohner des Alderhofs Max in ihr Herz geschlossen. „Na, komm schon, Max!" Conny trat einen Schritt von der Voliere zurück. Max hüpfte aus dem Käfig und flatterte auf den Boden. Verwundert legte er den Kopf schief und schaute zu Conny hoch. „Flieg, Max!" rief Conny. „Auch wenn's dir schwer fällt, es ist besser so für dich." Max probierte erst mal seinen geheilten Flügel aus. Er schlug ihn auf und nieder. Dann sprang er hoch und flog. Rasch gewann er an Höhe. Während Conny hinter ihm herschaute, stahlen sich Tränen in ihre Augen. Max drehte zwei Schleifen über dem Alderhof. Es sah aus, als suche er irgendwas. Im Park hinter dem Gutshaus saßen Graf und Gräfin Alderhof und frühstückten. Plötzlich landete Max vor ihnen auf einer Gartenbank. „Nanu?" staunte der Graf. „Wen haben wir denn da?" Nein, hier war Max auch nicht richtig. Er breitete die Flügel aus und flog weiter. Es dauerte noch eine Weile, bis Max fand, was er suchte. Erst als er sich auf den Rand eines Boxenfensters niederließ, hatte er seinen Freund gefunden. Kobalt stand direkt vor dem Raben in seiner Box und schnaubte leise. Ein Lächeln breitete sich über Connys Gesicht aus, als sie Max an Kobalts Boxenfenster hocken und sich sein Gefieder putzen sah. Da wußte sie, daß der Alderhof einen Bewohner mehr hatte. Sie hatten sozusagen einen Raben adoptiert. Max und Kobalt waren schier unzertrennlich. War Kobalt mal mit Conny unterwegs, hockte Max meistens traurig auf dem Stalldach. Doch kaum kehrte Kobalt zurück, blühte der Rabe regelrecht auf. Dieses Pferd hatte Max' Vertrauen und Freundschaft erworben. Der Vogel und das Pferd waren unzertrennlich und gute Freunde. Doch heute sollte die Idylle auf dem Alderhof nicht lange anhalten. Sie endete spätestens in dem Augenblick, als Connys heimlicher Verehrer, Alexander Schlöderblohm, auf seinem 9
knatternden Mofa in den Hof brauste. Dort stand Ewald, lässig gegen ein Rad seines Traktors gelehnt, und bewunderte selbstgefällig die blitzende Chromkarosserie des Fahrzeugs. Den ganzen Morgen hatte er gewienert, damit der Traktor so sauber aussah. Dafür klebte der Ölschmutz jetzt an Ewalds Fingern. Ein frisch gespülter Teller war im Vergleich zu Ewalds Traktor schmutzig. In Ewalds Augen erstickte die Welt im Schmutz. Da sollte sein heißgeliebter Traktor eine rühmliche Ausnahme sein. Getreu seiner Lebensphilosophie „Wenn schon, denn schon", bretterte Alexander Schlöderblohm wie ein wildgewordener Handfeger auf seinem Mofa in den Hof. Ewald meditierte gerade über seinen funkelnden Rübenhobel, als Alex haarscharf an ihm vorbei, jedoch mitten durch eine Wasserpfütze zischte. -Der hoch aufspritzende Morast verwandelte den funkelnden Traktor in eine Schlammplastik. Ewald erstarrte bei diesem Anblick. Ein rotgrün kariertes Pferd auf Rollschuhen hätte keine größere Fassungslosigkeit bei Ewald auslösen können. Nach Überwindung des ersten Schocks richtete sich Ewald starr auf, holte tief Luft und rang sichtlich nach Fassung. Mit übermenschlicher Selbstbeherrschung unterdrückte er einen gigantischen Wutausbruch. Vor Zorn fuhr sich Ewald über sein lichtes Haar, ohne an seine ölverschmierten Finger zu denken. So kam es, daß Ewald den Rest des Tages mit Rallye-Streifen auf dem Haupt seiner Arbeit nachging. Alex bremste vor Conny und ihrer Freundin Steffi, die aus dem Stall kamen. Conny staunte über Alexanders Ausrüstung. An seinem Hals baumelten zwei Kameras, ein Camcorder und ein Fernglas. „Hallo, Alex", grüßte Conny. „Was hast du vor? Du siehst aus, als wolltest du auf eine einjährige Nordpolexpedition gehen." „Expedition stimmt", gab Alex zu. „Allerdings versuche ich mein Glück in unseren Breitengraden. Ich bin auf GPJ." Steffi überlegte kurz. Dann fragte sie: „Was ist denn GPJ?" „Geister-Pferd-Jagd", antwortete Alex, als sei das die größte Selbstverständlichkeit der Welt. „Eine was ...?" Conny glaubte, sie hätte nicht richtig gehört. 10
„Noch nie was vom Finsterwald gehört?" Ungläubig blickte Alex die Mädchen an. „Der Forst ist verhext. Da soll ein Geisterpferd umgehen. Und Fotos von Geisterpferden sind bei Zeitungen und Zeitschriften echte Mangelware. Ich hab' gelesen, eine Illustrierte spuckt tausend Märker aus, wenn man den Beweis für ein übernatürliches Wesen bringt. Tausend Mark könnten ich und meine Kasse gut brauchen." „Wer hat dir bloß die Flausen von dem Geisterpferd in den Kopf gesetzt, Alex?" seufzte der Graf, der zufällig Alexanders Vortrag mitgehört hatte. „In unserem Forst hat noch nie jemand dieses sagenumwobene Geisterpferd gesehen. Es ist bloß ein Hirngespinst, das sich irgend so ein Spaßvogel vor Jahren mal ausgedacht hat." „Wenn es dieses Geisterpferd aber trotzdem gibt?" Alex war einfach nicht zu bremsen. „Es hat doch noch keiner bewiesen, daß dieses Pferd nicht existiert? Seht ihr! Dann muß es einem Schlöderblohm doch möglich sein, es zu fotografieren!" Alex schaute sehnsüchtig Richtung Finsterwald, wo dieses Geisterpferd angeblich zu Hause war. „Ich rate dir, den Finsterwald zu meiden, mein Junge!" Der Graf runzelte die Stirn. „Der Forst trägt seinen düsteren Namen nicht umsonst. Die Bäume stehen dort so dicht, daß kaum ein Lichtstrahl durch die Wipfel dringt. Du wärst nicht der erste, der sich in diesem Urwald verirrt." „Herr Graf", rief Else vom Haus herüber. „Das Essen ist fertig und der Tisch gedeckt!" „Wir kommen sofort, Else", antwortete der Graf und wandte sich dann wieder Alex zu. „Am besten, du vergißt den Unsinn, mein Junge", sagte Graf Alderhof und legte Alex freundschaftlich seine Hand auf die Schulter. 11
„Laßt uns zum Essen gehen!" Alex nahm die Einladung gerne an. Und er wäre nicht Alexander Schlöderblohm, wenn er dabei nicht vollmundig seine zukünftige Fotojagd auf das Geisterpferd in den blühendsten Farben ausgemalt hätte. „Ihr wollt in den Finsterwald?" erschrak Ewalds Frau Else, die das Essen auftischte. „Wißt ihr denn nicht, daß dort der Teufel haust?" „Im Volksmund heißt es, daß Geisterpferde Unglück bringen", wußte Hugos Frau Gerlinde zu berichten. „Wer ein Geisterpferd sieht, bringt Unglück, das steht nun einmal fest." „Glaubst du wirklich, daß an dem Geisterpferd etwas Wahres ist, Gerlinde?" staunte Conny ungläubig. „Unbedingt", erwiderte Gerlinde, die Else beim Servieren half. „Verdreht den Kindern nicht den Kopf mit diesem absurden Gewäsch", forderte der Graf energisch von den beiden Frauen. „Absurdes Gewäsch?" empörte sich Gerlinde. „In der Zeitung hab' ich von einer Frau gelesen, die einen leibhaftigen Geist gesehen hat." „Du mußt nicht immer alles glauben, was die drucken, Gerlinde", mischte sich Cornelia, die Verwalterin des Alderhofes ein. „Papier ist geduldig, heißt es. Da ist schon viel Wahres dran." Alex blieb von diesem Einwand unbeeindruckt. Nach dem Essen, das vorzüglich geschmeckt hatte, ging er mit Conny und Steffi nach draußen. „Kommt ihr mit?" fragte er die beiden. „Ich reite jetzt auf Helmuth in den Finsterwald." „Gern", antwortete Conny. „Etwas Bewegung tut unseren Pferden und uns gut. Nicht wahr, Steffi?" Steffi nickte und grinste. Was Conny nicht sagte, war, daß sie vor allem mitkamen, weil Alex auf seinem Esel Helmuth ritt. Das versprach einen ereignisreichen und lustigen Nachmittag. Als Conny Kobalt aus dem Stall holte, flatterte Max auf den höchsten Giebel des Gutshauses. Von hier aus sah die Welt wunderschön aus. Der Sommer neigte sich allmählich dem Ende zu. Einige Blätter hatten bereits bunte Tupfer. Max fragte sich, wohin dieses blonde Mädchen seinen Freund 12
Kobalt wohl lenken mochte. Schade, daß er noch nicht ganz genesen war, sonst hätte er die beiden gerne begleitet. „Also, wenn es in dem Forst wirklich ein Geisterpferd gibt, dann möchte ich da lieber nicht hinreiten", meinte Steffi. Sie fröstelte schon bei dem Gedanken, Bekanntschaft mit einem Geisterwesen oder einer anderen Spukgestalt zu machen. „Ach was", lachte Conny, „wir haben doch Alexander Schlöderblohm bei uns. Vor dem Chaoten nimmt selbst das ausgebuffteste Gespenst Reißaus. Das darfst du mir glauben."
3. Kapitel Ein Katastrophenritt Wir sollten nicht zu tief in den Finsterwald reiten!" Conny erinnerte sich an die Warnung ihres Großvaters. „Man erzählt sich die unheimlichsten Sachen über den Forst." „Du meinst die Geschichte, in der sich ein kleiner Junge darin verirrt hat?" fragte Alex. „Der dann jahrelang immer und immer wieder im Kreis lief und erst als uralter Mann zurück ins Freie fand? Das sind doch Kleinkindermärchen!" „Also, ich hab' keine Lust, mich zu verirren!" Energisch schüttelte Steffi den Kopf. „Vielleicht sollten wir eine Schnipselspur legen, damit wir ganz sicher wieder zurückfinden." „Die Idee ist nicht übel", gab Alex zu. „Jedenfalls solange nicht, wie kein Wind weht. Außerdem dürfte wohl keiner von uns genügend Papiervorräte dabei haben, oder? Ihr könnt euch ganz auf mich verlassen. Ich habe den Orientierungssinn einer preisgekrönten Brieftaube. Damit war das Thema „Wegmarkierung" endgültig vom Tisch. Während sie über Reitwege durch den bekannten Wald ritten, unterhielt Alex die Mädchen mit einer Ballade vom reitenden Knochenmann. „Im dunklen Forst, bei Tag und Nacht, reitet der Knochenmann und lacht", grölte Alexander Schlöderblohm schaurig-schön. „Könntest du bitte damit aufhören, Alex", bat Conny schließlich. 13
„Wir werden noch früh genug eine Gänsehaut bekommen." Mit jedem Kilometer verdichtete sich der Wald. Im Schatten der Bäume wurde es merklich kühler. Schließlich verließen sie den Reitweg und kamen an die Grenze des Finsterwaldes. Eine verfallene Holzbrücke führte über einen kleinen Bach zu dem dunklen Forst. „Kennt ihr auch die Geschichten über die Tiere, die es hier noch geben soll?" fragte Alex, als sie die Pferde über die Brücke führten. „Was für Tiere?" fragte Conny verblüfft. „Na, den Bären und Wölfen, die im Finsterwald noch umherstreifen sollen." „Wölfe und Bären?" stotterte Steffi und wurde ganz blaß. „Also, das ist mir zuviel. Den einzigen Bär, den ich in meiner Nähe haben will, ist mein Plüschteddy. Mir reicht's! Also, ich passe, reite nach Hause und gönne mir ein paar Stunden abhängen vor der Glotze!" „Glaub doch nicht so einen Blödsinn, Steffi", sagte Conny. „Alex verkohlt uns nur. Oder hast du hier schon mal einen Bären gesehen, Alex?" „Das nicht", gab Alex zu. „Aber ..." „Na siehst du", lachte Conny. „Laß dich doch nicht von den haarsträubenden Lügengeschichten ins Bockshorn jagen oder dir von Alex einen Bären aufbinden." Steffi ritt weiter hinter Conny und Alex her. Aber ganz geheuer war ihr dabei nicht. Vor etlichen Jahren mochte der Weg, den die Freunde einschlugen, einmal ein breiter Waldweg gewesen sein, jetzt aber war er so mit Brombeeren und Farnen zugewachsen, daß 14
sie kaum noch einen Pfad erkennen konnten. Einmal war das Dornengestrüpp derart dicht, daß die Gruppe einen weiten Bogen reiten mußte. Doch das Gelände war fast noch schlimmer als der von Dornenranken überwucherte Weg. Der Boden war weich und morastig. Bei jedem Schritt sanken die Pferde knöcheltief mit den Waden ein. Conny fürchtete, daß sie auf dem glitschigen Untergrund ausrutschen könnten. Sie war wirklich sehr froh, als sie hinter dem Dornengestrüpp auf den Pfad zurückkehrten. Die Farne, die hier wuchsen, reichten den Tieren bis zum Bauch. Den Pferden machte das nichts aus. Doch Helmuth wurde von den Farnspitzen arg gekitzelt. Urplötzlich sprang Helmuth mit allen Vieren in die Luft und bockte wild. Wie Alex es schaffte, nicht runterzufallen, wußte Conny nicht. Nichts und niemand konnte Helmuth jetzt bremsen. Je schneller er lief, desto mehr kitzelte der Farn. Und je mehr es kitzelte, desto schneller lief Helmuth. Wie durch ein Wunder hielt sich Alex auf dem Rücken des durchgehenden Esels. „Was ist denn in Helmuth gefahren?" rief Conny. „Ein wahrer Wahnsinnsritt", staunte Steffi mit offenem Mund. Halsbrecherisch schoß Helmuth zwischen den Bäumen vorbei. Dann verschwanden er und sein Herrchen im hohen Gebüsch. Conny und Steffi lenkten ihre Pferde hinterher. Fünf Minuten später sahen sie Helmuth auf einer kleinen Lichtung stehen. Zwei Meter daneben wogte hohes Schilfrohr sanft im Wind. Aus ihm wankte der abgeworfene Alex aus dem Moor. Conny und Steffi mußten über Alex' Anblick grinsen. Von Kopf bis Fuß mit Schlamm besudelt, machte Alex wirklich keinen Staat. Die Brille hing nur noch an einem Bügel schief in seinem bekleckerten Gesicht. „Nächstes Mal nehme ich ein Beil mit", schimpfte Alex. „Noch so ein Ausrutscher, und ich verarbeite dich zu Salami, Helmuth!" „Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß es für uns ein nächstes Mal gibt?" Steffi hatte alle Hände voll zu tun, einen Mückenschwarm auf Distanz zu halten. Alex antwortete nicht. Er schwang seinen zerschun-denen Körper auf Helmuths Rücken. Dabei stieß er ein paar nicht druckreife 15
Verwünschungen zwischen den Zähnen hervor. Wenig später zügelte Alex seinen Esel und verharrte mucksmäuschenstill. „Was ist?" wunderte sich Conny. „Hast du das Rascheln in dem Gebüsch da vorne nicht gehört?" Alex deutete auf einen dichten Haselnußstrauch. „Das ist bestimmt das Geisterpferd." „Unsinn, Alex", erwiderte Conny. „Du glaubst doch nicht im Ernst, daß Geisterpferde bei Tag und im hellen Sonnenschein herumspuken!" Aber den Einwand hörte Alex gar nicht mehr. Schon war er aus dem Sattel, huschte zu dem Gebüsch und umkreiste es zweimal. Besorgt beobachtete Conny, wie Alex in dem Gebüsch verschwand. Eine Minute lang passierte nichts, dann kam Alex wieder zum Vorschein. „Schaut mal, was ich hier habe", rief Alex, der ein strampelndes Fellknäuel hochhielt. „Ist das nicht ein niedliches Kerlchen?" Im ersten Moment glaubte Conny, der Schlag würde sie treffen. Als Alex näherkam, erkannte sie nämlich, daß der einen Frischling in den Händen hielt. Das Wildschweinjunge quiekte laut. „Ein Frischling um diese Jahreszeit ist außerordentlich ungewöhnlich", dozierte Alex und streichelte das Borstenvieh. „Das ist bestimmt so ein Frühentwickler, wie ich einer war." „Am besten, du fragst seine Eltern, was mit ihm los ist", schlug Conny vor und riß Kobalt herum. Aus dem Gebüsch schoß eine wutschnaubende Bache hervor. Alex erschrak heftig. Er hatte 16
nicht die geringste Lust, sich mit der Wildschweinmama anzulegen. Sie würde ihn platt wie eine Flunder walzen. Blitzschnell setzte Alex den Wildschwein-Sprößling ab und schwang sich auf Helmuth. Im Galopp entfernten sich Conny und ihre Freunde von der wutschnaubenden Bache. Zum Glück blieb sie bei ihrem Jungen zurück und leckte ihm das Fell. „Alles unter Kontrolle", meinte Alex zweihundert Meter weiter. „Ein erfahrener Waldläufer wie ich kennt keine Angst." Conny sagte nichts und ritt weiter. Mit jedem Meter wurde der Forst dunkler. Feine Nebelschwaden stiegen aus dem Gras auf. Der Boden war feucht und schwer. Er schluckte die Schritte der Pferde. Nur das leise Rauschen der Bäume im Wind war zu hören. „HUUUHUUU", hallte unheimlich der klagende Ruf eines Käuzchens durch den Wald. Vor Schreck wäre Alex beinahe aus dem Sattel gerutscht, ein etwas ungewöhnliches Verhalten für einen furchtlosen Waldläufer und Naturburschen.
4. Kapitel Verirrt Wir sollten langsam zurückreiten", schlug Conny vor. Wegen ihrer Flucht vor dem Wildschwein waren sie ziemlich weit vom Weg abgekommen. Steffi war der gleichen Ansicht. Also fügte sich Alex der Mehrheit. Dabei hätte er den Wald am liebsten wohl ein paar Stunden länger durchstöbert. „Ich glaube, wir müssen uns weiter nach links halten!" Alex deutete in die Richtung, wo seiner Ansicht nach der schmale Waldweg verlief. Es war ein beschwerlicher Ritt quer durch den dichten Forst. Dauernd mußten sie herabhängende Zweige oder Dornenranken zur Seite biegen. Der Weg wurde immer schmaler. Plötzlich zügelte Alex Helmuth und schaute sich prüfend um. „Was ist?" fragte Conny. 17
„Ich glaube, wir reiten in die falsche Richtung", gab Alex reumütig zu. „Auch das noch!" stöhnte Conny. „Wo war denn dein Orientierungssinn einer Brieftaube? Du hast wohl eher den einer tauben Nuß!" „Super!" schimpfte Steffi. „Wir sind nicht die ersten, die jahrelang durch diesen Forst irren werden." Conny sagte nichts mehr. Sie übernahm nun die Führung. Als erstes ritten sie zurück. Aber sie fanden noch nicht einmal die Stelle wieder, wo Helmuth Alex abgeworfen hatte. „Der reinste Urwald", stöhnte Conny. Sie kamen in dem Gestrüpp nur im Schneckentempo voran. Mit verbissenem Schweigen kämpften sie sich eine Weile durch das Dickicht. „Na, zu Hause werden wir eine Menge zu erzählen haben", versuchte Alex die Mädchen aufzuheitern. „So ein Abenteuer gibt einem ein tolles Gefühl." „Wenn du nicht augenblicklich still bist, bereitet meine Faust deinem Magen ein tolles Gefühl", zischte Steffi wütend. Conny versuchte, sich zu orientieren, doch sie wurde das Gefühl nicht los, daß sie im Kreis ritten. Wenn sie wenigstens die Sonne als Orientierungshilfe hätten sehen können! Aber durch das dichte Blätterdach der Bäume drang kaum ein Sonnenstrahl. So verging Stunde um Stunde. „Ich hab' Hunger", jammerte Alex schließlich. „Sollte ich vor Schwäche umkippen, benachrichtigt bitte meine Mutter von meinem Dahinscheiden. Dir vermache ich meine Briefmarkensammlung, 18
Conny; und Steffi meinen Pfadfinderhut." Doch diesmal gelang es Alexander nicht, die Mädchen aufzuheitern. Alle wußten es, doch keiner wollte es offen aussprechen: Sie hatten sich verirrt! Was, wenn der Weg einfach im Nichts enden würde? Dann müßten sie ihn viele Stunden lang wieder zurückreiten. Hinzu kam, daß der Boden immer schwammiger wurde. Womöglich führte der Pfad schnurstracks in ein tückisches Moor! Das waren alles keine sehr ermutigenden Aussichten. Was den Reitern jedoch am meisten auf die Nerven ging, war die unheimliche Stille, die in dem düsteren Forst herrschte. Es war, als hielte die ganze Welt den Atem an. „Ich habe so einen Wald noch nie gesehen", meinte Conny schließlich. „So ähnlich muß der Dschungel in Brasilien sein, wo mein Vater arbeitet." „Ich möchte nicht wissen, was hier um Mitternacht los ist", meinte Alex. „Dann ist nämlich die Stunde der Geister. HUUUUHUUUU." Das Echo seines Geistergeheuls wurde mehrfach aus den Tiefen des Waldes zurückgeworfen. „Soll ich euch mal 'ne tolle Geistergeschichte erzählen?" versuchte Alex die Stimmung aufzulockern. „Das ist 'ne Story mit Gänsehautgarantie." „Lieber nicht", seufzte Steffi. „Mir ist es hier auch ohne Gespenst gespenstisch genug." „Ach, ich liebe Gespenstergeschichten", fuhr Alex beharrlich fort. „Du möchtest doch bestimmt eine Spukgeschichte hören, Conny, oder?" „Hör auf, den Mutigen zu spielen, Alex!" erwiderte Conny. „Du weißt genauso gut wie wir, daß es keine Gespenster gibt." „HUUHUUU!" „HUUHUU!" schallte es in diesem Augenblick direkt über Alexanders Kopf. „WAAA!" kreischte Alexander und purzelte vor Schreck aus dem Sattel. „Das war doch nur eine Eule", beruhigte ihn Conny, die nun doch lachen mußte. Alex kam sich ziemlich albern vor, weil ihn der Eulenruf so 19
erschreckt hatte. „Ich bin bloß abgesprungen, weil mich eine Wespe ins Visier genommen hat", flunkerte er dreist. In diesem Moment zügelte Conny Kobalt und lauschte. Steffi und Alex erstarrten vor Schreck. Sie vernahmen ein dumpfes Klopfen. Es klang wie der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes. Das Geräusch wurde rasch lauter. „D-D-Das Geisterpferd", stotterte Alex. „Laß uns abhauen", schlug Steffi vor. „Findet ihr nicht, daß es etwas zu früh zum Spuken ist?" fragte Conny. Die Sonne stand zwar schon tief am Himmel, aber noch erfüllte dämmriges Tageslicht den Forst. „Sehen wir nach, woher das Geräusch kommt. Vielleicht ist es ein Reiter, der uns den Weg zeigen kann", vermutete sie. Doch dann wurde das Klopfen leiser und leiser. Als Conny und ihre Freunde einen Knüppeldamm erreichten, hörten sie gar nichts mehr. „Wenigstens haben unsere Pferde jetzt endlich wieder festen Boden unter den Füßen", stellte Conny fest. „Wohin reiten wir?" Alex' Frage war gar nicht so unberechtigt. Der Knüppeldamm führte in einer Richtung ins Moor, und da wollte keiner der Freunde hin. Conny lenkte Kobalt in die entgegengesetzte Richtung. Sie hofften alle auf ihr Glück und daß dieser Weg sie endlich aus dem Forst herausführte. Wenn nicht, dann ... Laut klackten die Hufe der Pferde über das morsche Holz des Knüppeldammes. „Jede Wette, eben haben wir ein Pferd gehört, das über diesen Holzweg lief", sagte Alex. „Ich weiß nicht, ob es ein Geisterpferd war, aber das werde ich rauskriegen, so wahr ich Schlöderblohm heiße." Die Freunde hatten Glück. Der Weg führte nicht in das Moor. Irgendwann endete der Knüppeldamm, und es begann wieder der mühselige Ritt durch das nicht endenwollende Dickicht. Plötzlich schwoll das leise Wispern des Windes zu einem unheimlichen Wehklagen an. Er pfiff durch einen hohlen Baum und 20
verursachte bei Conny und ihren Freunden eine Gänsehaut nach der anderen. Obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, wurde es in dem Forst plötzlich dunkler. „Es wäre besser gewesen, wir hätten auf dem Al-derhof Bescheid gesagt, wohin wir reiten", sagte Steffi. „Viel hätte uns das nicht genutzt", entgegnete Conny. „Der Forst ist riesig. Wo sollten sie uns suchen?" „Meiner Meinung nach wäre es jetzt das Vernünftigste, laut um Hilfe zu rufen", schlug Alex vor. Plötzlich bewegte sich etwas im Unterholz. Es raschelte und knackte immer lauter. Wie angewurzelt verharrten die Pferde. Alle Blicke hingen wie hypnotisiert an dem Gebüsch. An einer freien Stelle zwischen dem dichten Laub sah Conny etwas Weißes schillern. „Da!" stieß Alex aus. „Das Geisterpferd!" Der Wind pfiff einen hohlen Seufzer durch den Wald, als ein prächtiger Schimmel auf den Pfad hinaustrat. Er verharrte einen kurzen Moment. Mit gespitzten Ohren schaute er in Richtung der Reiter. Schlagartig nahm Alexanders Gesicht die Farbe des Schimmels an. „E-Ein G-G-G ...", stammelte Alex. Mehr brachte er vor Schreck nicht hervor ... Dann verschwand der geheimnisvolle Schimmel genauso schnell im Gebüsch, wie er gekommen war. „Habt ihr es auch gesehen?" flüsterte Conny. „Das war das ... Geisterpferd!"
5. Kapitel Vermißt Als Else das Geschirr vom Abendessen abgewaschen hatte, war Conny immer noch nicht von ihrem Ausritt zurück. Besorgt betrat Else das Kaminzimmer. Vor dem offenen Kamin, 21
in dem ein paar Holzscheite glimmten, saßen Graf und Gräfin Alderhof und lasen. „Bestimmt sind Conny, Steffi und Alexander in den Finsterwald geritten. Dabei habe ich ihnen doch gesagt, daß es gefährlich ist," jammerte Else. „Bloß, weil sie noch nicht zurück sind, heißt das nicht unbedingt, daß sie wirklich in dem Forst sind", erwiderte der Graf. „Wie ich meine Enkelin kenne, hätte sie mich außerdem von ihrem Vorhaben informiert!" fuhr der Graf fort. „Vielleicht hat sie es in der ganzen Aufregung vergessen!" Gräfin Alderhof war auch besorgt. „So spät kommt Conny doch nie zurück. Und für einen Nachtritt sind sie und ihre Freunde nicht ausgerüstet." „Wenn meine Enkelin wirklich in den Finsterwald geritten ist, dann wohl nur so weit, daß sie auch wieder herausfindet", brummte der Graf, „oder sie war so klug, den Weg zu markieren." „Im Finsterwald soll es Raubtiere geben", meinte Else und blickte sich vielsagend um. „Unsinn!" Sorgfältig faltete der Graf die Zeitung zusammen und legte sie auf den kleinen Tisch neben sich. „Der Finsterwald ist ein Forst wie jeder andere. Lediglich, daß er im Gegensatz zu den sonstigen Wäldern in der Umgebung ziemlich verwildert ist. Früher bin ich oft durch den Forst geritten. Es war immer wieder grandios. Dort ist die Natur noch unberührt." „Ich weiß nicht." Else ließ nicht locker. „Man erzählt sich allerlei Geschichten über diesen Wald. Darin soll es umgehen!" „Nun verschon uns bitte mit deinen abergläubischen Ammenmärchen, Else", seufzte der Graf genervt. „Gut, der Wald ist vielleicht ein wenig dunkel und unheimlich, aber daß es dort ein Geisterpferd geben soll, das ist doch absolut lächerlich!" „Aha!" Triumphierend stieß Else den Zeigefinger vor. „Sie kennen die Geschichte von dem Geisterpferd also auch!" „Natürlich", brummte der Graf. „Jeder, der hier lebt, kennt sie. Daß ein erwachsener Mensch so etwas für bare Münze nehmen kann, will mir aber einfach nicht in den Kopf. „Hören Sie das auch?" Else zuckte zusammen. Der Wind pfiff klagend ums Gutshaus. „Das klingt wie das 22
Seufzen einer verlorenen Seele." Else huschte hinaus, um schnell die Küche mit geweihtem Waser zu besprengen, damit sie dort sicher vor dem Spuk war. „Irgend etwas ist wirklich nicht in Ordnung!" Besorgt runzelte die Gräfin die Stirn. „Conny und ihren Freunden wird doch wohl nichts zugestoßen sein?" Über das Gesicht des Grafen huschte ein Schatten. Insgeheim machte er sich auch schon schlimme Sorgen. Er blickte zum Tisch, wo ein gerahmtes Foto von Conny stand. Conny, mit ihren langen, honigblonden Haaren und den klaren, blauen Augen, die so fröhlich dreinblicken konnten ... Der Graf stand auf. „Wohin gehst du?" Gespannt fragte die Gräfin ihrem Mann ins Gesicht. „Ich vertrete mir nur etwas die Beine", antwortete er. „Vielleicht treffe ich Conny unterwegs." Der Graf trat auf den Hof hinaus. Wo sollte er mit der Suche nach Conny beginnen? „Na, machen Sie noch einen ...?" fragte Ewald, der vor dem Schuppen seinen Traktor mal wieder auf Hochglanz polierte. „Ewald, hast du vielleicht irgendwo Conny gesehen?" erkundigte sich der Graf. „Conny?" wiederholte Ewald. „An ... nein. Ist sie denn immer noch nicht... äh ..." „Ja!" Der Graf machte sich allmählich große Sorgen. „Das Schlimmste ist, ich weiß nicht, wo ich sie suchen soll. Je mehr ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor, daß meiner Enkelin und ihren Freunden etwas passiert ist." „Ich sage Hugo äh ...!" schlug Ewald vor. „Conny wollte doch in den ... äh ...In einer halben Stunde brechen wir auf und dann ... äh ..." Ewald schloß seine vieldeutige Rede und ging zum Stall hinüber. „Danke", antwortete der Graf höflich. „Ich komme natürlich mit." Im Stall machte sich noch jemand große Sorgen. Unruhig wippte Max auf der Fensterbank von einer Kralle auf die andere. Wo blieb Kobalt nur, sein großer vierbeiniger Freund? 23
Der Rabe hielt die Warterei schließlich nicht mehr aus. Er flatterte aus dem Fenster und landete erst mal auf dem Dach. Der Hof lag still und leer unter Max. Es war bereits dunkel geworden. Die Sterne waren erwacht und glitzerten am Himmel. Eigentlich flog Max nicht bei Dunkelheit umher. Aber der Rabe sorgte sich so um Kobalt, daß er heute eine Ausnahme machen wollte. Max breitete die Flügel aus und flog los. So schnell und weit war er seit seiner Verletzung nicht mehr durch die Luft gereist. Unter ihm glitt der Wald daher. Max spürte, wie die geschwächten Flügel müde wurden. Am liebsten wäre er irgendwo gelandet und hätte sich für den Rest der Nacht ausgeruht. „KRAAAAXXXX!" krächzte Max, was in der Menschensprache soviel wie „Kobalt" bedeutete. Zwischen den dunklen Baumwipfeln erkannte der Rabe kaum etwas. Schließlich konnte Max nicht mehr. Er segelte auf eine kleine Lichtung hinab und landete im hohen Gras. Nicht mal ein müdes Flattern wollte ihm noch gelingen. Wenn jetzt ein Fuchs kam, wäre Max todsicher bald im Krähenhimmel. Eine Stunde lang verharrte Max regungslos am Boden. Dann fühlte er sich wieder kräftig genug zum Weiterfliegen. In diesem Augenblick knackte etwas. Erschrocken fuhr Max zusammen. Das Knacken wurde lauter und bedrohlicher. Ein Schatten löste sich aus der Finsternis und kam genau auf Max zu.
6. Kapitel Ein Retter namens Max Wir sind im Kreis geritten", stellte Conny resigniert fest, als sie nach einer halben Stunde wieder auf dem Knüppeldamm anlangten. Wie erstarrt saßen Alex und Steffi im Sattel. Der Wind wehte Moderdüfte vom nahen Moor herüber. „Und was jetzt?" fragte Steffi ratlos. „Wenn wir Papier und Bleistift hätten, könnten wir unser Testament schreiben", antwortete Conny und warf Alex vernichtende 24
Blicke zu. „Aha", erwiderte Alex beleidigt, „jetzt bin ich's also wieder mal gewesen." „Jetzt wirst du wenigstens erleben dürfen, was um Mitternacht in diesem Wald los sein wird", erwiderte Conny. „Denn dann irren wir hier bestimmt immer noch durch die Gegend." Der Gedanke, die Geisterstunde in dem unheimlichen Forst verbringen zu müssen, behagte Steffi ganz und gar nicht. Groß und bernsteinfarben ging der Mond auf und goß sein fahles Licht über die Baumwipfel. Jetzt konnten die Freunde wenigstens ihre allernächste Umgebung erkennen. Plötzlich schnaubte Kobalt und schlug mit dem Schweif. Er witterte etwas. Conny konnte ihr Pferd kaum noch mit den Zügeln bändigen. „Was hast du denn?" fragte Conny ratlos. „Vielleicht findet er den Weg nach Hause!" Steffi hatte neuen Mut geschöpft. „Gib Kobalt doch einfach die Zügel frei und laß ihn laufen! Wir haben nichts mehr zur verlieren!" Das stimmte. Also gab Conny Kobalt die Zügel frei. So schnell es in dem Dämmerlicht möglich war, galoppierte Kobalt los. Sie kamen auf eine Lichtung. Plötzlich bremste Kobalt aus vollem Lauf und schnaubte. „KRRRÄÄÄXXXXX", antwortete Max, der vor ihm im Gras hockte. Wegen seiner schwarzen Rabenfedern konnte Conny Max erst gar nicht sehen. 25
„Das ist ja Max", staunte Steffi. „Wie sollte der denn hierherkommen?" Für Alexander sah der Rabe wie jeder andere aus. „Ist doch egal!" Conny hob Max vorsichtig auf. „Wenn er hergefunden hat, findet er auch wieder auf den Alderhof zurück!" Conny warf Max in die Luft. Max breitete die Schwingen aus und flog davon. Kobalt lief ihm als erster hinterher. Das Pferd war froh, daß es einen Führer gefunden hatte, der sich im Forst auskannte. Sobald Max merkte, daß die anderen nicht so schnell vorankamen wie er, wartete er auf einem Ast. Erst als die Reiter ihn erreichten, flatterte er weiter. „Da vorn ist die Brücke!" Conny deutete auf den morschen Holzsteg. „Dahinter kenn' ich mich aus. Das ist unser Forst mit den ausgewiesenen Reitwegen. Wir haben es geschafft!" Hinter der Brücke war der Ritt ein Kinderspiel. Als sie den Wald verließen, krochen die Scheinwerfer von Ewalds Traktor auf sie zu. Geschickt landete Max auf dem Kühler des Traktors. Ewald erschrak fast zu Tode. „Da seid ihr ... äh ...", rief Ewald, neben dem Hugo auf dem Traktor saß. „Dein Großvater hat sich schon große Sorgen wegen euch gemacht ... äh, Conny." „Wir uns auch", erwiderte Conny. „Wenn man mit Alexander einen Ausritt macht, dann muß man sich immer große Sorgen machen." „He! He!" protestierte Alex. Ewald wendete seinen schmucken Traktor und fuhr vor den Reitern her. Die Gräfin saß immer noch im Kaminzimmer. Ihre ganze Sorge galt Conny. Hoffentlich kam sie bald. Dieses Warten war furchtbar. Die Minuten dehnten sich unerträglich. Wo war Conny nur? Im Finsterwald? Sich vorzustellen, daß ihre Enkelin irgendwo in dem Urwald umherirrte oder ihr gar etwas Schlimmes passiert war, raubte der Gräfin beinahe die Fassung. Conny fühlte sich echt sterbensmüde, als sie den Alderhof erreichten. 26
Morgen würde sie ihrem Großvater alles von dem Abenteuer im Finsterwald erzählen. Vor allem würde sie ihm von der Begegnung mit dem Geisterpferd berichten. Dazu war sie heute zu müde. Selbst zehn Geisterpferde würden sie nicht davon abhalten können, schnurstracks ins Bett zu wanken. „Ich hoffe, damit ist das Kapitel Finsterwald für dich abgeschlossen", seufzte Conny, als sie sich erschöpft von Alex verabschiedete. „Wo denkst du hin?" erwiderte Alex entrüstet. „Meinst du, jetzt, wo ich weiß, daß es da wirklich ein Geisterpferd gibt, gebe ich auf? Ich fotografiere dieses Geisterpferd, und wenn es das letzte ist, was Alexander Schlöderblohm auf dieser Welt tun wird!"
7. Kapitel Kobalt ist krank Noch am Abend mußte Conny die berechtigte Standpauke ihres Großvaters über sich ergehen lassen. Nachdem sie aber erzählt hatte, wieso sie sich verirrt hatten, waren Graf und Gräfin Alderhof heilfroh, daß Conny nichts passiert war. Die schlimmsten Folgen des Ausfluges aber bekam Kobalt zu spüren. „Ich habe Dr. Münster angerufen", teilte Hugo Conny am anderen Morgen mit. „Ich fürchte, Kobalt hat eine Kolik." Kobalt hatte bereits am letzten Abend erste Symptome einer Kolik gezeigt. Seine Appetitlosigkeit führte Conny aber auf Übermüdung zurück. Bis der Veterinär eintraf, blieb Conny bei Kobalt in der Box. Sein Fell war völlig verschwitzt, und er stampfte mit den Hufen. Seine Schmerzen waren so schlimm, daß Kobalt versuchte, sich hinzuwerfen und sich zu wälzen. Conny achtete darauf, daß ihm das nicht glückte. Für ein fünfzehnjähriges Mädchen war es gar nicht so einfach, ein ausgewachsenes Pferd zu bändigen. Einmal drohte Kobalt sie mit seinem ganzen Gewicht zu erdrücken. Schließlich führte Conny Kobalt draußen herum. 27
Eine Viertelstunde später kam endlich Dr. Münster. Er verabreichte Kobalt eine schmerzstillende, krampf-lösende Injektion. „Wenn das nicht hilft, muß ich ihm zusätzlich ein Beruhigungsmittel oder Antibiotika geben", sagte Dr. Münster. „Hast du Kobalt kaltes Wasser gegeben, als er nach einem Ritt überhitzt war?" „Nein, bestimmt nicht", erwiderte Conny. „Er hat auch kein falsches Futter bekommen. Ich kann mir einfach nicht erklären, woher ..." Conny stutzte plötzlich. Natürlich hatte Kobalt im Finsterwald Grünzeug gefressen. Vielleicht war etwas Giftiges darunter. „So, jetzt können wir nur noch abwarten und hoffen, daß die Mittel gut anschlagen", meinte Dr. Münster. „Wenn das nicht der Fall ist, wiederhole ich die Anwendung noch einmal." Die Medikamente zeigten bereits Wirkung. Kobalt beruhigte sich zusehends. Conny brachte ihn in die Box zurück. Da Kobalt keine Schmerzen mehr spürte, würde er sich auch nicht mehr wälzen wollen. Dr. Münster nahm Graf Alderhofs Einladung zum Frühstück dankbar an. Conny setzte sich zu ihnen. „Es könnte sein, daß Kobalt im Wald etwas Giftiges gefressen hat", sagte Conny. „Es gibt so viele Giftpflanzen. Wenn man sie doch nur alle ausrotten könnte!" „Dann würdest du die vielen Heilpflanzen vermutlich mit ausrotten", erklärte Dr. Münster. „Früher, als es noch keine chemischen Arzneimittel gab, wurden die Pferde ausschließlich mit Heilkräutern behandelt. Man kann diese füttern oder zu Salben verarbeiten. Knoblauch beispielsweise ist gut gegen Erkältung. Außerdem vertreibt der intensive Knoblauchgeruch die gefährliche Dasselfliege. Die legt nämlich ihre Eier gerne in der Pferdehaut ab, was zu Infektionen führt. Bei Verstauchungen und Zerrungen verwende ich noch heute die Schwarzwurz. Ich zerkoche sie zu einer Masse und streiche diese auf die Verletzung. Die Brennessel besitzt große Mengen an Mineralstoffen. Löwenzahn ist ein Mittel gegen Schwellungen, und Hagebutten besitzen viel Vitamin C zur Vorbeugung gegen Erkältungen." „Guten Morgen, Herr Münster!" Steffi trat ein und unterbrach den 28
Vortrag des Veterinärs. Sie setzte sich mit an den Tisch und schmierte sich ein Brötchen. „Wenn ich groß bin, möchte ich Tierärztin werden", verkündete Steffi kauend. „Das ist mein Traumberuf." „Stell dir das nicht zu einfach vor", lächelte Dr. Münster. „Bevor du dich auf deine Pferde stürzen kannst, mußt du erst mal allgemeine Tiermedizin studieren. Du mußt über einen Wellensittich genauso Bescheid wissen wie über ein Fohlen. Wenn du einmal eine eigene Praxis hast, bist du meist den ganzen Tag für deine Patienten unterwegs. Und wenn du dann abends todmüde nach Hause kommst, wartet noch die Büroarbeit auf dich. Die Kartei, in der die Befunde und die verabreichten Medikamente jedes Patienten enthalten sind, muß auf den neusten Stand gebracht werden, ganz zu schweigen von der Buchhaltung und jeder Menge Versicherungs Papierkram." „Na und?" meinte Steffi mit jugendlicher Unbekümmertheit. „Hauptsache, ich kann Tieren helfen. Zu den schönsten Dingen gehört wohl, zu helfen, ein Fohlen zur Welt zu bringen." „Na, vielleicht übernimmst du eines Tages meine Praxis", lachte Dr. Münster und stand auf. „So, ich muß weiter. Die Pflicht ruft." Conny und Steffi begleiteten Dr. Münster zu seinem Auto. Es war ein Kombiwagen, der beinahe wie ein fahrender Operationssaal aussah. Hinten auf der Ladefläche befand sich ein ausfahrbarer Operations tisch. Daneben standen Kästen mit Medikamenten und Verbandsmaterial. Dr. Münster konnte an Ort und Stelle eine Notoperation durchführen. „Macht's gut, Mädels!" Dr. Münster winkte kurz aus dem Seitenfenster und fuhr los. Den Rest des Tages blieb Conny bei Kobalt in der Box. Max saß derweil neugierig auf der Fensterbank. Kobalt schnaubte und spitzte bei jedem Geräusch von Max die Ohren. Manchmal schien es Conny, als ob sich die Tiere tatsächlich in einer ihr unbekannten Zeichensprache unterhielten. Selbst am Abend konnte sich Conny nicht von Kobalt losreißen. Nach Sonnenuntergang wurde es schon empfindlich kalt. Die Hoflaternen durchdrangen nur schwach den aufkommenden Nebel. Hinter Conny, im Halbdunkel des Stalles, standen die übrigen 29
Pferde des Alderhofes in ihren Boxen. Endlich, kurz nach zweiundzwanzig Uhr, war Kobalt über den Berg. Er fraß wieder. In diesem Augenblick ertönte draußen ein Schrei. „AAAAAARRGHHH!" Kein Zweifel, das war Ewalds Stimme. Das Schlimmste befürchtend, rannte Conny nach draußen. Fassungslos stand Ewald vor seinem Traktor. Seine Augen quollen hervor. Ewald hoffte inständig, daß das, was er da auf der blitzenden Karosserie seines Traktors sah, nur ein Produkt seiner überreizten Nerven wäre. Aber auch Conny sah den kleinen, dunklen Fleck auf dem ansonsten makellosen Chrom. „Tja, Ewald", lachte sie. „Max hat deinen Traktor wohl mit einer öffentlichen Toilette verwechselt. Aber ich kann mir Schlimmeres vorstellen ..." Wie besessen raste Ewald ins Haus. Conny sah ihm vergnügt nach. Endlich nahm das Leben auf dem Alderhof wieder seinen gewohnten Gang. Beruhigt konnte Conny zu Bett gehen. Für Ewald war die nächste Stunde mit äußerst hektischen Aktivitäten ausgefüllt. Er holte sämtliche Putzmittel, die er nur tragen konnte, aus dem Haus. Damit massierte er seinen Traktor ein. Mit Vehemenz löschte er den Fleck der Schande aus, den Max auf seinem Traktor hinterlassen hatte. Vom Stallfenster aus schaute Max Ewalds sonderbarem Treiben zu. Zwar wunderte sich der Vogel ein bißchen, aber nicht zuviel. Dafür hatte der Rabe auf dem Alderhof schon zu viel Verwunderliches erlebt. So registrierte der Vogel auch gelassen, daß Waldi, der Dackel des Grafen, aus dem Gemüsegarten stromerte und schnüffelnd seinen Weg in Richtung Traktor nahm. Dort hob er das Bein und tat das Unsägliche, was Hunde zu tun pflegen. Ewald, dessen Nerven aufs äußerste angespannt waren, hätte auch eine Ameise husten hören. Als es zu seinen Füßen plätscherte und er Waldi sah, der an seinen Traktor pinkelte, war er einer Ohnmacht nahe. Wortlos rang er die Hände, rannte los und kehrte mit einem Wasserschlauch an den Tatort zurück. Waldi hatte jedoch schon 30
längst das Weite gesucht. Dann verspritzte Ewald soviel Wasser, daß es ausgereicht hätte, einen Großbrand zu löschen.
8. Kapitel Hilfe, mein Traktor! Als Conny über den Hof zum Haus ging, sah sie in der kleinen Schmiede des Alderhofes noch Licht. Hugo machte die alte Sense für morgen einsatzbereit. Mit einem Schleifstein strich er über ihre Schneidfläche. „Noch fleißig, Hugo?" grüßte Conny und trat ein. „Na, ist dein Großvater immer noch böse wegen eures Ausfluges?" schmunzelte Hugo und tastete fachmännisch über die Schneide der Sense. „Ach wo", lachte Conny. „Mein Großvater ist wie ein Sommergewitter. Nach einem kräftigen Rumms herrscht wieder eitel Sonnenschein. Er trägt einem nichts nach." Conny wollte schon gehen. Da hielt sie inne und blickte Hugo nachdenklich an. „Was hältst du von der komischen Geschichte über dieses Geisterpferd?" fragte Conny. Ihr ging der Schimmel, den sie im Wald gesehen hatte, einfach nicht aus dem Kopf. „Nun, was an so alten Geschichten eben dran ist", antwortete Hugo, während er die Sensenklinge weiter mit kreisenden Bewegungen abzog. „Die Leute übertreiben dabei natürlich. Vor hundert Jahren sollen Banditen einen Kurierreiter im Wald übrfallen haben. Es heißt, daß das Pferd des Kuriers seinen getöteten Herrn gerächt hätte. Angeblich soll der Schimmel die Verbrecher so lange durch den Finsterwald gejagt haben, bis diese sich hoffnungslos verirrten. Nur einer von ihnen ist aus dem Wald entkommen. Weil seine Rache noch nicht ganz erfüllt sei, gehe deshalb der Geist des Pferdes noch heute ruhelos in dem Tann um. Das ganze ist bloß eine Legende ..." „Wir haben im Wald einen Schimmel gesehen", flüsterte Conny. Hugo sagte nichts darauf. Schweigend schliff er die Sense weiter. 31
Endlich legte er die Sense und den Schleifstein zur Seite. „Ich weiß nicht, was ihr da gesehen habt", sagte er mit tiefer Stimme. „Ich weiß nur, daß solche Spukgeschichten unausrottbar sind. Hinzu kommt, daß es in einem Forst wie dem Finsterwald bestimmt eine Reihe von Dingen gibt, die nicht leicht zu erklären sind. Aber wenn's mit Gespenstern zu tun hat, hört's bei mir auf. Bevor mir nicht jemand ein leibhaftiges Gespenst zeigt, glaube ich nicht daran!" Conny stimmte Hugo zu. Sie gingen miteinander raus. Auf dem nebelfeuchten Boden lagen bereits die ersten gelben Blätter. „Es läßt sich nicht mehr leugnen", seufzte Hugo. „Der Sommer neigt sich seinem Ende entgegen." Als Conny das Haus betrat, putzte Else den Flur. „Der Finsterwald ist verhext", flüsterte sie Conny zu, wobei die Augen der Haushälterin groß vor Angst wurden. „Da hausen Gespenster." „Jetzt fang' bitte nicht schon wieder damit an", lachte Conny. „Mit dem Thema hat mich Alex schon genug genervt." In dieser Nacht suchten Conny eine Reihe wirrer Träume heim, in denen sie auf einem Geisterpferd durch den Finsterwald ritt. Am nächsten Morgen dachte Conny nicht mehr an irgendwelche Geisterpferde. Fröhlich ging sie aus dem Haus, um mit Kobalt auszureiten. Steffi war schon da. Aber nicht allein. Sie hatte ihre Geschwister Hanne (zarte fünf Jahre), Klaus (stramme acht Jahre) und Herbert (stolze zwölf Jahre) mitgebracht. Die Schattenseite im Dasein einer großen Schwester war, daß sie häufig für ihre jüngeren Geschwister Babysitter spielen mußte. Dagegen war ein Sack Flöhe zu hüten ein Kinderspiel. Conny und Steffi sattelten ihre Pferde und führten sie aus dem Stall. Draußen erlebten sie ein besonderes Schauspiel. Im Hof hopste Herbert auf dem Sitz von Ewalds Traktor herum und spielte Luftgitarre. Hanne und Klaus standen davor und hörten gebannt zu, wie ihr Bruder eine Reihe entnervender Quietschgeräusche aus stieß, die Rückkoppelungen bei einer Elektrogitar-re darstellen sollten. Immer höher hopste Herbert auf dem gut gefederten Sitz hoch. Er imitierte „Slash" von „Guns 'n Roses." 32
. Das Knarren der Sprungfedern scheuchte Ewald auf den Hof. Ewalds wildeste Befürchtungen wurden von der Wirklichkeit weit übertroffen. Sein kostbarer Traktor wurde als Kinderparadies mißbraucht. „Wollt ihr das wohl sein ... äh ...!" tobte Ewald und sprintete Richtung Traktor. Die Geschwister kümmerte das absolut nicht. Sie tobten weiter auf und um den Traktor. Klaus und Hanne spielten jetzt Publikum, das die Bühne stürmte. Flink hangelten sie an der Traktorseite hinauf und griffen nach Herbert. „Reg dich doch nicht so auf, Ewald", lachte Cornelia. Sie trat neben den Traktor und lächelte Ewald an. Mit hochrotem Kopf blieb Ewald bei ihr stehen. „Sie bringen meinen schönen ... äh ... noch zum ... äh ...!" stöhnte der geplagte Mann. „Stimmt es, daß der Traktor ein eingebautes chemisches Klo hat, Ewald?" fragte Klaus interessiert, der den Lenker mit einem Karussell verwechselte. „Quatsch", warf Herbert ein, bevor Ewald den Mund öffnen konnte. „Der hat 'n Plumpsklo. Riech doch mal, wie das hier stinkt." „Mein Traktor stinkt... äh, nicht!" kreischte Ewald mit überschnappender Stimme. „Er duftet nach ... äh, Politur." „Quatsch", widersprach Herbert. „Das stinkt schlimmer als 'ne Sumpfpumpe." Ewald überlegte, was er darauf antworten könnte. Conny, Steffi und Cornelia griemelten sich eins, als sie Ewald verzweifelt nach Worten ringen und dabei wie einen Derwisch um den Traktor hüpfen sahen. „Wenn Onkel Ewald ein eingebautes Klo in seinem Traktor hätte, brauchte er auch eine Wasserspülung", schlußfolgerte Hanne. „Bei einem chemischen Klo braucht man keine Spülung", widersprach Herbert. „Ätsch!" „Ich will aber kein Klo auf meinem ... äh, Traktor", stöhnte Ewald. Zum ersten Mal, seit sie Ewald kannte, sah Conny Tränen der Verzweiflung in seinen Augen. 33
„Kommt sofort da ... äh ...", brachte Ewald das Gespräch schroff wieder an seinen Ausgangspunkt. „Das ist ein freies Land", konterte Herbert und hüpfte nur noch toller. „Wir haben ein Recht darauf, das zu tun, was wir wollen." „Aber nicht auf meinem ... äh, Traktor!" schrie Ewald erbost. „Du darfst das den Kleinen nicht übelnehmen, Ewald", mischte sich Conny ein. „Sie spielen doch nur ein bißchen. Das ist doch nicht weiter schlimm." Ewalds Meinung nach konnte sowas nur jemand sagen, der selbst keinen Traktor besaß. Der gute Ewald sah so aus, als beginge er gleich einen Massenmord. „Kommt sofort da runter", befahl Steffi ihren Geschwistern und verhinderte so das Schlimmste. Murrend kletterten Steffis Geschwister von ihrem fahrbaren Spielplatz herab. „IIIII-AAAAA!" schallte es plötzlich über den Hof. Wie auf Kommando drehten Conny und Steffi ihre Köpfe in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Helmuth galoppierte auf sie zu. Alexander war jedoch nirgends zu sehen. Helmuth trug einen Sattel, was bedeutete, daß er geritten worden war. Conny vermutete, daß der gestürzte Alexander irgendwo in der Prärie seine Knochen sortierte. Aber wo? Wo mochte Alexander in diesem Augenblick sein? Helmuth kam aus Richtung Wald. Da schoß es Conny und Steffi gleichzeitig durch den Kopf: ,Alex ist im Finsterwald!'
9. Kapitel Die Hütte Zehn Minuten später ritten Conny und Steffi an Feldern mit abgeerntetem Getreide vorbei. Auf der Weide am Waldrand grasten einige Alderhof Stuten mit ihren niedlichen Fohlen. „Ist das nicht drollig, wie die Kleinen herumstaksen?" lachte 34
Steffi. Das Lachen verging ihr ziemlich schnell, als sie in den dunklen Wald hineinritten. Der Gedanke an einen erneuten Besuch im unheimlichen Finsterwald war nicht besonders angenehm. „Meinst du nicht, wir hätten diesmal Cornelia oder deinem Großvater Bescheid sagen sollen?" fragte Steffi sorgenvoll. „Sie hätten uns bestimmt nicht erlaubt, nach Alex zu suchen", antwortete Conny. „Und irgendwie habe ich das mulmige Gefühl, daß Alex dringend unsere Hilfe braucht." „Wenn er wirklich Hilfe braucht, hätten wir die Polizei verständigen sollen", konterte Steffi. „Und wenn nichts passiert ist?" entgegnete Conny. „Stell dir vor, die Polizei startet eine Suchaktion mit Hundertschaften und Hubschraubern. Dann kommt Alex putzmunter aus dem Wald und ist bloß hingefallen. Das wäre vielleicht eine Blamage!" „Wir verirren uns bestimmt wieder", befürchtete Steffi nicht ohne Grund. „Diesmal nicht!" Conny zeigte Steffi ein Schächtelchen Kreide, das sie vorsorglich eingesteckt hatte. „Damit markieren wir unseren Weg." Hinter der morschen Holzbrücke wucherte das Unterholz undurchdringlich dicht. Conny hatte aus ihrem ersten Besuch gelernt. Diesmal ritt sie gleich vom Weg ab; in den Schatten der großen Bäume. Hier kam weniger Sonne hin, also war die Vegetation bei weitem nicht so üppig. 35
„Alexander!" riefen Conny und Steffi abwechselnd alle paar Minuten. Jedesmal, wenn sie die Richtung änderten, markierte Conny dies mit einem kleinen Pfeil an einem Baumstamm. Conny und Steffi drangen tief in den Forst ein. Aber nirgends fanden sie die geringste Spur, die auf Alexander hätte schließen können. „Sollen wir nicht aufgeben?" fragte Steffi nach zwei Stunden. Sie befürchtete, daß die Dunkelheit sie noch einmal im Wald überraschte. „Ich kehre erst um, wenn ich weiß, was mit Alex ist", gab Conny zurück. „Na schön", seufzte Steffi und ritt weiter. Plötzlich kreuzte ein schmaler Pfad den Weg. „Irgendwie sieht der Pfad aus, als ob ihn vor kurzem jemand benutzt hätte", stellte Conny fest. „Alexander?" hoffte Steffi. „Vielleicht", antwortete Conny. Sie folgten dem Pfad. Je tiefer sie in den Forst ritten, desto mehr hüllte sie die Stille ein. Schon bei ihrem ersten Ritt war den Mädchen diese Ruhe aufgefallen. Als ob der Wald die Luft anhielt... „ALEXANDER!" rief Conny und lauschte. Sie erhielt keine Antwort. Die Bäume wurden dichter und tauchten den Pfad in dunkles Dämmerlicht. Plötzlich klang wieder Hufschlag durch den Forst. „Das Geisterpferd", flüsterte Steffi, der das Herz bis zum Hals schlug. „Das Hufgetrappel verlor sich in der Ferne. Nur noch das leise Plätschern einer Quelle durchbrach die gespenstische Stille. Der Pfad wurde etwas breiter. Er schlängelte sich durch hohen Farn. Langsam folgten die Mädchen seinen Windungen. Sie erreichten eine Lichtung, auf der Windbruch die Bäume geknickt hatte. Hinter hohen Tannen ragte eine steile Felswand auf. Von oben stürzte ein schmaler Wasserfall herab, der sich als kleiner Bach durch die Lichtung schlängelte. Im Gras tummelten sich ein paar junge Kaninchen. Sie ließen sich 36
durch die Mädchen nicht stören und hoppelten weiter. Conny vergaß vor lauter Staunen über die Schönheit der Natur beinahe, weshalb sie überhaupt hier waren. Die Mädchen folgten dem Bachlauf und erreichten eine Holzhütte. Sie war noch erstaunlich gut intakt. Neben der Hütte bildete ein Nebenarm des Baches einen kleinen Teich. Ein Frosch schwamm zwischen Seerosen. Neugierig schaute er zu den beiden Reiterinnen, die von ihren Pferden stiegen. „Vielleicht steckt Alex in der Hütte", hoffte Conny. „Wie kommst du denn darauf?" staunte Steffi. „Na, wenn er zufällig die Hütte entdeckt hat, wäre er schön dumm, wenn er die Nacht im nassen Gras verbringen würde", erklärte Conny. „Hallo!" rief Conny und klopfte gegen die verwitterte Eingangstür. Als Conny keine Antwort erhielt, drückte sie vorsichtig die Klinke runter. Quietschend sprang die Tür auf. Modergeruch drang ihnen in die Nase. Mit sichtlichem Unbehagen folgte Steffi ihrer Freundin in die Hütte. Drinnen war es ziemlich düster. Die Fensterläden waren alle geschlossen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich die Augen der Mädchen an das Zwielicht gewöhnt hatten. Allmählich zeichneten sich die Umrisse einiger Möbel ab. An der Wand stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf der gegenüberliegenden Seite füllte ein klobiger Klei-derschrank die halbe Wand aus. An der Decke hing eine Petroleumlampe. Als Conny sich umdrehte, entdeckte sie neben der Tür ein Bett. Die Hütte besaß nur diesen einen Raum. „Fällt dir was auf?" fragte Conny. „Alexander ist nicht hier", antwortete Steffi. „Nein, etwas anderes ..." Conny ließ ihren Blick schweifen. „Es gibt nirgendwo Staub." „Na und?" Steffi wußte nicht, worauf ihre Freundin hinauswollte. „Frag Else mal, wie eine Wohnung aussieht, in der vier Wochen lang kein Staub geputzt wurde", fuhr Conny fort. „Und diesen Wald soll doch schon seit Jahren kein Mensch mehr betreten haben." 37
„Ach so!" Langsam fiel bei Steffi der Groschen. „Ach so", wiederholte Conny spöttisch. „Auf den ersten Blick würde ich sagen, die Hütte ist bewohnt. Und zwar von jemandem, der Ordnung hält!" „Aber wer soll denn mitten in dieser Wildnis hausen?" staunte Steffi. „Das möchte ich allerdings auch gerne wissen", gab Conny zu. „Vielleicht ein entflohener Sträfling?" Steffi erschrak richtig bei diesem Gedanken. „Bestimmt jemand, der sich aus irgendwelchen dunklen Gründen verstecken muß." „Ja, wer hier lebt, der versteckt sich vor irgendwas", stimmte Conny mit ihrer Freundin überein. „Stellt sich die Frage, wegen was, und vor wem." „Wir sollten deinen Großvater informieren", drängte Steffi. Conny nickte stumm. In einer Ecke des Zimmers standen allerlei Geräte wie Schaufeln, Spitzhacken und Spaten. Daneben lagen Seile der verschiedensten Länge und Dicke. Conny ließ ihre Blicke noch einmal durch den Raum schweifen. Außer einem rostigen Klappmesser konnte sie keine Waffen entdecken, die auf kriminelle Tätigkeiten des Bewohners hätten schließen lassen. Aber wenn der Mann eine Pistole hatte, war er sicherlich nicht so dumm, sie hier offen herumliegen zu lassen. „Komm, laß uns lieber verschwinden!" drängelte Steffi, die ähnlichen Gedanken wie ihre Freundin nachgehangen hatte.
10. Kapitel Der Fremde Eine unheimliche Gestalt schlurfte auf die Waldhütte zu. Es war ein vierzigjähriger Mann von kräftiger Statur. Er trug verwaschene, abgewetzte Arbeitskleidung. In seinen Händen hielt er eine Spitzhacke und einen schweren Spaten. Der Mann erstarrte, als er die beiden Mädchen in seiner Hütte entdeckte. 38
Genauso erschrocken wirbelten Conny und Steffi herum, als der breitschultrige Mann plötzlich in der Hüttentür stand. Dadurch war den Mädchen jede Fluchtmöglichkeit genommen. Der Fremde verzog wütend sein Gesicht. „Was habt ihr hier zu suchen?" polterte er mit Donnerstimme los. Steffi schluckte. Vor lähmender Angst bekam sie keinen Ton heraus. „W-Wir suchen einen Freund", stammelte Conny. „Er irrt hier irgendwo im Forst umher." „Ihr lügt", blaffte sie der Mann an. „Ihr spioniert mir nach. Gebt es zu!" „Nein, ganz bestimmt nicht", beteuerte Conny. „Wir wollten nur sehen, ob unser Freund in der Hütte ist und dann wieder nach Hause reiten." „Nach Hause?" schnauzte der Mann. „Wo ist denn euer Zuhause?" „Nur ein paar Stunden von hier," erwiderte Steffi. „Auf dem Alderhof." „Ja, und dahin ist auch Helmuth ganz allein zurückgekehrt!" ergänzte Conny. „Helmuth? Ich denke, den sucht ihr?" giftete der Mann die Mädchen an. „Wollt ihr mich etwa verkohlen? Das würde ich euch nicht raten!" „Nein", antwortete Conny blitzschnell. „Helmuth ist nicht unser vermißter Freund, sondern der Esel, den er geritten hat; wahrscheinlich ist Alexander von Helmuth abgeworfen worden." „Alexander?" Die Gesichtszüge des Mannes entspannten sich. „Alexander Schlöderblohm?" „J-Ja!" Conny kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Kennen Sie den etwa?" „Na und ob!" Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Mannes. „Der Junge ist eine wandelnde Katastrophe. Wo der hintritt, wächst kein Gras mehr!" „Genau das ist unser Alex", warf Steffi ein. „Wissen Sie, wo er ist?" „Nein!" Grimmig schüttelte der Mann den Kopf. „Vor drei 39
Stunden ist er zu Fuß los. Ich hab' ihm den Weg gezeigt. Wahrscheinlich ist er schon wieder daheim bei seiner Mutter!" „Wir müssen nach Hause", drängte Steffi. Doch der Mann verstellte ihnen immer noch den Ausgang. „Momentchen, Fräuleins", knurrte er drohend. „Ihr dürft keinem sagen, daß ihr mich hier getroffen habt, klar?" „Klar", wiederholten Conny und Steffi wie aus einem Mund. „So, verschwindet endlich", blaffte der Mann sie an. „Und laßt euch hier ja nicht wieder blicken, verstanden?" Conny und Steffi wußten nicht, was sie lieber tun würden. Keine zehn Pferde würden sie mehr hierher zu diesem ungehobelten Klotz bringen. Endlich wich der Mann zur Seite und gab den Aus-gang frei. Schnell huschten die beiden Mädchen hinaus ins Freie. So flink wie heute waren Conny und Steffi selten im Sattel gewesen. Ohne zurückzusehen, ritten sie im scharfen Galopp davon. „Hoffentlich halten sich die beiden an ihr Versprechen", knurrte der Mann, als er ihnen nachschaute. „Ansonsten werd' ich bei einer zweiten Begegnung ziemlich ungemütlich!" Die Sonne war schon halb hinter den Bergen versunken, als Conny und Steffi aus dem Tal ritten. Lange Schatten bedeckten den Waldboden. Die Zeit drängte, denn bald würde es nicht mehr hell genug 40
sein, um die Kreidemarkierungen an den Bäumen erkennen zu können. Plötzlich - Conny und Steffi wollten ihren Augen kaum trauen versperrte ein Schimmel den Weg. „D-Das Geisterpferd!" stotterte Steffi, halb gelähmt vor Entsetzen. Conny hielt automatisch den Atem an. Mit gespitzten Ohren blickte der Schimmel zu den Mädchen. Dann wirbelte das Pferd herum und verschwand im Dunkel der Büsche. „Das Pferd war nie und nimmer ein Geist!" Conny wehrte sich gegen die unsinnige Vorstellung, daß in diesem Wald etwas Übersinnliches existierte. „Da bin ich mir nicht so sicher." Mißtrauisch blickte Steffi in die Richtung, in die das Pferd mit ein paar weiten Sprüngen verschwunden war. Dank der Wegmarkierungen fanden Conny und Steffi leicht zurück. Ein leeres Gefühl in der Magengegend erinnerte die Mädchen daran, wie lange sie schon unterwegs waren. Seit heute morgen hatten sie nichts mehr gegessen. „Wahrscheinlich ist Alex schon auf dem Alderhof', glaubte Steffi. „Hoffentlich vermißt man uns nicht bereits", entgegnete Conny. „Ich möchte meinen Großeltern nicht wieder unnötige Sorgen machen." Ohne große Schwierigkeiten erreichten Conny und Steffi die morsche Brücke, die in ihren heimischen Wald führte. Der Forst lag höher als das Tal im Finsterwald. Hier spiegelten sich die goldenen Sonnenstrahlen in den Baumwipfeln. Der Himmel bildete ein tiefblaues Gewölbe über den Reiterinnen. Plötzlich zügelte Conny Kobalt und rieb sich ungläubig die Augen. „Da ist Alex!" Mit ausgestrecktem Arm deutete Conny auf die nächste Biegung. Dort hockte Alexander Schlöderblohm auf einem Baumstumpf. Zwei Eichhörnchen flitzten an ihm vorbei und zum nächsten Baum. Alex blinzelte müde hinter den Eichhörnchen her, die den Stamm rauf- und runtersausten. Sie brachten Eicheln in ihr Nest. Immer wieder hielten sie ruckartig inne und äugten skeptisch auf den bebrillten Menschen, der da im Gras saß. 41
Alex traten fast die Augen aus den Höhlen, als er Conny und Steffi sah. „W-Was macht ihr denn hier?" Nach der ersten Verwunderung riß sich Alex zusammen, um sein schlechtes Gewissen nicht allzu deutlich zu zeigen. „Wir haben dich gesucht!" Conny zügelte Kobalt neben Alex. „Als Helmuth alleine auf den Alderhof zurückkehrte, fürchteten wir schon das Schlimmste. Du hättest dir ja auch den Hals brechen können." „Helmuth ist in Sicherheit?" Alex atmete erleichtert auf. „Und ihr habt euch tatsächlich Sorgen um den guten, alten Alex gemacht?" „Ein bißchen", spielte Conny die Suche herunter, damit Alex nicht dem Größenwahn zum Opfer fiel und sich falsche Hoffnungen machte. „Ich möchte wissen, wieso es kommt, daß mir das Pech immer an den Füßen klebt", stöhnte er, erhob sich und humpelte zu Conny. „Das muß an deinen Füßen liegen", entgegnete Conny vielsagend. „Ach, weißt du, ich glaube, als ich geboren wurde, hatte das Glück gerade ein paar Schlaftabletten genommen", jammerte Alexander und zwinkerte Conny mitleidheischend zu. „Egal, woran es liegt, wenn Alexander eines meiner Geschwister wäre, würde ich Selbstmord begehen", meinte Steffi, die bei der Vorstellung stärker erschauerte, als sie es bei dem gespenstischsten Geisterpferd getan hätte.
11. Kapitel Alexanders Geschichte Nachdem die Pferde im Alderhof versorgt waren, erzählte Alexander, was ihm im Finsterwald zugestoßen war. In aller Herrgottsfrühe war Alexander aufgebrochen, um den Spuk im Finsterwald auf Film zu bannen und den Beweis für das GeisterPferd zu haben. „Ha!" unterbrach Conny Alexanders Erzählung. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du mich auf Kobalt im 42
Sonnenuntergang fotografieren wolltest. Als du endlich mit den Vorbereitungen fertig warst, herrschte bereits stockfinstere Nacht, und alles war umsonst!" Alexander hielt es für angebracht, die peinliche Bemerkung zu überhören. Unbeirrt erzählte er weiter, wie er auf Gespensterjagd gegangen war. Mürrisch hatte ihn ein unausgeschlafener Helmuth durch die kalten Morgennebel getragen. Bestückt mit zwei hypermodernen Kleinbildkameras, die an seinem Hals baumelten, fühlte sich Alex für alle Überraschungen gerüstet. Als endlich die Morgensonne über den Horizont hervorlugte, ritt Alex bereits durch den Finsterwald. Vorsichtshalber hatte er diesmal einen zuverlässigen Kompaß mitgenommen. Eine geschlagene Stunde stromerte Alex durch den Finsterwald, ohne daß etwas passierte. Trotz - oder vielleicht wegen - des Kompasses geriet Alex in das tückische Moor. „Wenn wir hier versinken, berichtet morgen das Fernsehen über uns", munterte Alex seinen Esel auf. „Wir werden berühmt, Helmuth!" Helmuth ließ der bevorstehende Ruhm kalt. Über mangelnde Gesellschaft und Langeweile brauchte sich Alex auch nicht zu beklagen. Mehrere Schwärme Mücken hatten den Schlöderblohm als Frühstück auserkoren. 43
Obwohl Alex wie ein Irrer mit den Armen fuchtelte, sah sein bläßliches Gesicht bald wie eine doppelt belegte Pizza aus. Mit Stichen und Schwellungen verziert, erreichte er schließlich den Knüppeldamm, über den er mit Conny und Steffi schon geritten war. Gesättigt gönnten die Mücken Alex jetzt eine Atempause. Dafür knurrte nun unüberhörbar der Schlöderblohm-Magen. Außer ein paar versehentlich verschluckten Mücken hatte Alex heute noch nichts gegessen. Und es bestand weit und breit keine Aussicht, daß er in nächster Zeit etwas zu essen bekommen würde. Vor Alex' geistigem Auge verwandelten sich simple Blätter in leckere Eierkuchen. Alex' Magen rumpelte wie eine Trockenschleuder. In diesem Augenblick war der geheimnisvolle Schimmel vor Alexanders Linse getrottet. Keine sechs Meter entfernt stand das herrliche Tier auf dem Knüppeldamm und starrte den bebrillten Jungen aus großen Augen an. Allerdings stand das Pferd im Schatten. Ein Fotograf wie Schlöderblohm fotografierte nicht einfach drauflos. In der Hinsicht hatte er seinen Stolz. Alex schwang sich von Helmuth, nahm seine Kamera vom Hals und stellte die Belichtung ein. Dann versuchte er vorsichtig, das Geisterpferd in die Sonne zu dirigieren. Aber irgendwie mußte das Geisterpferd Alexanders ulkige Armbewegungen mißverstanden haben. Statt zurückzugehen, stürmte es plötzlich vorwärts. Schnellfüßig wie ein Iltis brachte Alex sich in einem Brennesselgestrüpp in Sicherheit. Davor kapitulierte selbst der Schimmel. Er gab die Verfolgung auf und graste ruhig auf dem Weg. Jeder andere hätte sich jetzt klammheimlich aus dem Staub gemacht. Aber die Welt kannte Alexander Schlöderblohm als einen Teenager, der vollendete, was er sich einmal vorgenommen hatte. Auf leisen Sohlen pirschte sich Alex erneut an das Objekt seiner fotografischen Begierde heran. Diesmal ging er anders vor. Statt das Pferd zu dirigieren, suchte er sich den besten Aufnahmewinkel selbst. Er ging einen Schritt zurück und noch einen und ... dann fiel der Meisterfotograf der Länge nach in das Sumpfloch, das die Natur tückischerweise dort geschaffen hatte. Für einen Augenblick versank er in dem grünbraunen Matsch, dann tauchte er bis zur Brust wieder auf und schüttelte sich wie ein 44
nasser Hund. Japsend versuchte Alex, sich aus dem zähen Morast zu ziehen. Aber je mehr er strampelte, desto tiefer sank er natürlich ein. „Hilfe! Hilfe!" schallten Alex' gellende Schreie durch den Wald. Vor Schreck sprang Helmuth zweimal um die eigene Achse und rannte dann davon. „Hilfe! Hilfe!" Allmählich stand Alex der Schlamm bis zum Hals. „Plötzlich hat mir dann irgend so ein Kerl ein Seil zugeworfen und mich mit Hilfe des Schimmels aus dem Morast herausgezogen", beendete Alex seine Erzählung. „Das war's." „Wie, das war's?" fragte Conny enttäuscht. „Wer war der Mann? Wohin hat er dich gebracht? Und was ist jetzt mit dem Geisterpferd?" „Also, der Typ wohnt in so 'ner abgewrackten Hütte im Wald", erzählte Alex weiter. „Fragt mich aber nicht, was er dort macht! Jedenfalls macht er dort irgendwas, wobei ihm das Pferd hilft. Und nach getaner Arbeit läßt er das Pferd frei rumlaufen. Es findet stets alleine zurück. Eigentlich sollte ich es keinem sagen, aber das Pferd heißt Calypso, und der Mann ist Frank Bruckner. Ich glaube, er fand mich ganz nett. Jedenfalls hat er ziemlich viel über mich gelacht." „Das muß der Mann sein, dem wir in der Hütte begegnet sind", vermutete Steffi und schauderte bei dem Gedanken an den Fremden. „Bestimmt", sagte Conny. „So viele Leute werden ja nicht im Finsterwald in Hütten hausen." „Vielleicht ist er ja doch 'n ausgebrochener Sträfling, der sich dort versteckt", mutmaßte Steffi. „ Womöglich haben wir mit einem Mörder gesprochen." „Bestimmt ist der Mann ganz harmlos", beendete Conny gleich jede Spekulation. „Was für Katastrophen hast du denn sonst noch angerichtet, Alex?" „Ich?" Alex tat furchtbar entrüstet. „Wie kommst du denn darauf?" „Na, dieser Herr Bruckner machte so Andeutungen", grinste Conny. „Ach, das ..." Alex machte eine abfällige Handbewegung. „Das war doch bloß eine Kleinigkeit." 45
Alex erzählte, wie er schlammtriefend und würgend ans Ufer taumelte. Bruckner nahm ihn mit zu seiner Hütte, wo er sich im Teich waschen konnte. Seine Kleider trockneten rasch in der Sonne. Bis dahin war Bruckner unwirsch zu Alex. Als Alex in seiner Unterhose aus dem Teich kletterte, waren seine gewaschenen Sachen im Gras bereits getrocknet. In diesem Augenblick packte Calypso Alexanders Hemd zwischen die Zähne und wirbelte es duch die Luft. Alexander - nicht faul griff sein Hemd, um es dem Pferd zu entreißen. Hinter der Hütte hackte Bruckner Brennholz, als Calypso mit dem Hemd im Maul herantrabte. Tapfer hielt Alex einen herunterhängenden Hemdärmel fest und wurde so durch das hohe Gras geschleift. Calypso umrundete mit Alex im Schlepptau mehrmals die Hütte. Dann wurde es dem Pferd zu bunt, und es ging zum Angriff über. Alex sprang auf, wich zurück, wirbelte herum und rannte schreiend vor dem Pferd weg. Calypso trieb Alex zielstrebig auf den Teich zu. Am Ufer bremste Alex ab. Sein Bedarf an Bädern war für heute gedeckt. Im nächsten Augenblick spürte Alex Calypsos Stirn zwischen den Schulterblättern und flog der Länge nach ins Wasser. Ohne noch einen Blick auf diesen Schlöderblohm zu verschwenden, trottete der Schimmel davon. Prustend kroch Alex ans Ufer und betrachtete die zerrupften Überbleibsel seines Hemdes. Herr Bruckner meinte, er habe noch nie in seinem Leben so gelacht wie über Alex. 46
Deshalb schenkte er ihm ein altes Hemd. Das war Bruckner die Vorstellung wert. Als Bruckner das Hemd im Haus holte, äugte Calypso vorsichtig um die Hüttenecke. Alex strafte das Tier mit Verachtung. Er tat so, als sehe er den Schimmel nicht, und pfiff ein Liedchen. Dröhnende Hufschläge veranlaßten Alex, doch einen Blick nach hinten zu werfen. Calypso galoppierte schnaubend und pfeilschnell auf ihn zu. Im ersten Moment sank Alex das Herz in die Hose. Dann rannte er um sein Leben. Calypso war ihm hart auf den Fersen. Einzige Rettung versprach eine Regentonne direkt neben der Hütte. Alex ergriff den Tonnendeckel, der daneben lehnte und sprang in das Faß. Zum Glück war es leer. Blitzschnell zog Alex den Deckel über sich und fühlte sich erst mal sicher. Calypso wandte der Tonne die Rückseite zu und keilte aus. Ein fürchterlicher Tritt traf das Faß. Mit einem dumpfen Knall kippte es um und rollte die abschüssige Wiese hinunter. „HÜLFÜÜÜ!" drang es jämmerlich aus dem Faß. Bruckner ließ alles stehen und liegen und rannte hinter dem Faß her. Mit Schwung landete die Tonne im Bach, und so hatte Alexander an diesem Tag sein drittes Bad. Bruckner zog das Faß ans Ufer und versuchte vergeblich, den Deckel zu öffnen. Alex hielt ihn von innen mit aller Kraft fest. „Laß den Deckel los", rief Bruckner. „Auf keinen Fall", ertönte es entschlossen aus der Tonne. „Ich hab' keine Lust, als Pferdefutter mein junges Leben zu beenden." „Calypso tut dir nichts", beteuerte Bruckner. „Er ist ein ganz liebes Pferd und spielt nur." 47
„Ha!" schallte es aus der Tonne. „Das ist eine Bestie. Wenn der Gaul mich erwischt, bin ich so platt wie 'ne Zigarettenkippe in 'ner Fußgängerzone." Bruckner verlor die Geduld. Er suchte einen dicken Stein und schmetterte ihn auf den Deckel. Splitternd und krachend brach der Tonnendeckel auseinander. Vorsichtig hob Alex den Kopf über den Tonnenrand und blinzelte ins Sonnenlicht. Da weit und breit nichts von dem Pferd zu sehen war, wagte er sich ins Freie. Alex hatte einen fürchterlichen Drehwurm. Erst torkelte er nach links, dann nach rechts. Die Welt drehte sich wie ein Karussell vor seinen Augen. „Dich sollte man zu Sauerbraten verarbeiten", drohte Alexander dem Pferd, als er nicht nur sein körperliches, sondern auch sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Nachdem Alexander hoch und heilig versprochen hatte, nicht mehr herzukommen, zeigte Bruckner ihm bereitwillig den Heimweg. Während Alex durch den Finsterwald stapfte, hatte er immer wieder angstvolle Blicke zurückgeworfen. Aber diese Bestie Calypso ließ sich zum Glück nicht mehr blicken. „Calypso ist ein schöner Name", fand Steffi. „Klingt so südamerikanisch." „Sag mal, wo steckt eigentlich Helmuth?" Verwundert stand Alex vor Helmuths leerer Box. „Bevor wir losgeritten sind, haben wir ihn versorgt und in seine Box gebracht", beteuerte Conny. „Hoffentlich hat er nichts angestellt." „Der Esel stellt immer was an", seufzte Steffi. „In der Beziehung passen er und sein Herrchen Alexander hervorragend zueinander." „He!" protestierte Alex, der nicht ganz sicher war, ob Steffi gerade eine Beleidigung oder ein Kompliment ausgesprochen hatte. Ihr Spott machte ihn manchmal ganz unsicher. Zur gleichen Zeit entdeckten Gerlinde und Else, daß die Haustür sperrangelweit offenstand. Als nächstes bemerkten sie schmutzige Hufspuren auf dem frisch geputzten Kachelboden im Flur. Im ersten Augenblick dachte Else, sie würde vom Schlag getroffen. 48
„Das darf doch wohl nicht war sein ...", stöhnte sie und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Vorsichtig folgten die beiden Frauen den Spuren, die in der Küche endeten. „Helmuth!" kreischten Else und Gerlinde wie aus einem Mund. Doch Helmuth ließ sich auch von dem Geschrei nicht stören. Sein Kopf war tief im Vorratsschrank vergraben, wo er in Würsten und Gemüsen schwelgte.
12. Kapitel Das Geheimnis des Finsterwaldes In der folgenden Woche war der Finsterwald kein Thema mehr auf dem Alderhof. Das Leben auf dem Gestüt nahm wieder seinen normalen Gang. Bei passender Gelegenheit wollte Conny ihrem Großvater von Bruckner erzählen. Vielleicht hatte Steffi ja recht, und er war wirklich ein ausgebrochener Sträfling oder ein gesuchter Gangster. Eines Morgens versorgten Conny und Steffi die Pferde mit Futter. In der Futterkammer mischten sie Hafer, Kleie und Sojaschrot zusammen und versetzten alles mit Mineralstoffen und Vitaminen. Auf dem Alderhof wurden die Pferde gesund ernährt. Die Ausgewogenheit der Mischung war wichtig. Getreide enthielt aber wenig Vitamine und Mineralstoffe. Zuviel Getreide, und das Pferd ging ab wie die Post. Daher stammte auch die Redewendung: Dich sticht wohl der Hafer. Zur pferdegerechten Mischung gehörten Zuckerrübenschnitzel, Mohren, Melasse und andere Rübenarten. Jedes Pferd erhielt seine spezielle Futterration in mehreren kleinen Mahlzeiten, über den ganzen Tag verteilt und nicht alles auf einmal. Zu Mittag ließ Gerlinde alle Bewohner des Alder-hofes an ihrer Kochkunst teilhaben. Hirschrücken mit Preiselbeeren und Steinpilzen war eine ihrer Spezialitäten. Als ob Alex es gewittert hätte, trudelte er schon vor dem Mittagessen auf dem Alderhof ein. Natürlich ließ er sich nicht zweimal bitten, an dem köstlichen Mahl teilzunehmen. Hirschrücken mit Preiselbeeren und Steinpilzen war nämlich zufällig eine seiner vielen Leibspeisen. 49
Friedlich saßen die Bewohner des Alderhofes im Eßzimmer des Gutshauses und genossen das Mahl. Plötzlich sauste eine Wespe durchs offene Fenster herein und stürzte sich zielsicher auf Alexander. Dank einer blitzschnellen Reaktion zog Alex das Insekt mit einem knallharten Kinnhaken aus dem Verkehr. Doch da summten drei, vier, fünf weitere Wespen herein. Alexander Schlöderblohm kämpfte zäh und tapfer. Als jedoch noch zwei weitere Wespen in das Geschehen eingriffen, ergriff Alex die Flucht. In eleganten Schlängellinien durchkurvte er das Eßzimmer. Wortlos starrten die anderen am Tisch hinter Alex her, den die Wespen nach draußen trieben. Erst eine Stunde später hatte Alex die widerspenstigen Viecher abgehängt. Ermattet wankte er in die Küche. Zu seinem Trost hatte ihm Else ein Töpfchen Vanilleeis vom Nachtisch in der Kühltruhe aufbewahrt. Nachmittags kamen Steffis Geschwister auf den Reiterhof und sorgten mal wieder für Unruhe. „Ich dulde nicht, daß ihr ... äh, meinen Traktor auch nur ...", ermahnte Ewald die Geschwister. Ewald brüllte dies so laut, daß Kobalt vor dem Stall erschrak. Conny hatte Mühe, das Pferd so zu beruhigen, daß sie es weiter striegeln konnte. „Pah!" stieß Herbert verächtlich aus, „dein Traktor stinkt wie'n Dachs." „Was?" Ewald schnappte nach Luft wie ein Hering auf dem Trockenen. „Mein Traktor stinkt... äh, nicht! Ich putz' ihn jeden ... äh ...!" „Das hat er aber auch bitter nötig", stellte Klaus 50
fest. „Bei all dem Dreck, den der Rübenhobel täglich durchkreuzt." „Rübenhobel?" zischte Ewald. „Wehe, du wagst es, mein ... äh, Luxusmobil, noch einmal so ... äh, dann setzt es ... äh ...!" „Leute etwas setzen zu lassen, finde ich aber nicht nett", mischte sich die kleine Hanne ein. „Das ist ganz böse." Steffi und Conny hatten schon vor geraumer Zeit mit Pferdestriegeln aufgehört. Amüsiert verfolgten sie die Auseinandersetzung zwischen Ewald und seinen kleinen Widersachern. „Natürlich", lenkte Ewald ein. „Du hast ja ... äh ... recht. Aber ... äääh ..." „Nun, Ewald", meinte Graf Alderhof, ging zu Ewald hin und mischte sich in das Gespräch ein, „sag' bloß, du hast Angst, daß dir diese netten, guterzogenen Kinder einen Streich spielen?" „Einen?" japste Ewald. „Äh ... Unmengen!" Das sind keine ... äh Kinder, sondern äh ... äh ...!" Ewald knirschte mit den Zähnen. Er konnte sich eine Unzahl schrecklicher Folgen ausmalen, wenn er seinen geliebten Traktor unbeaufsichtigt hier zurückließ. Wie von der Tarantel gestochen, schwang sich Ewald deshalb auf seinen Traktor, fuhr los und brachte ihn außer Reichweite dieser kleinen Monster. Graf Alderhof ging zu den Weiden, um nach den Fohlen zu schauen. Kurz darauf brachte Conny ihren Kobalt auf die Weide. „Reitet ihr heute nicht aus?" wunderte sich der Graf. „Das wäre doch eine Schande bei einem so schönen Tag. Rüber zur Wetterspitze ist der schönste 51
Reitweg. Von der Bergseite habt ihr bei dem klaren Wetter bestimmt eine schöne Aussicht." „Sag mal", schwenkte Conny auf ein anderes Thema um, „kennst du einen gewissen Herrn Bruckner?" „Heinz Bruckner?" fragte der Graf überrascht. „Nein", erwiderte Conny. „Frank Bruckner." „Nie im Leben gehört!" Nachdenklich runzelte der Graf die Stirn. „Wie kommst du denn darauf?" „Im Finsterwald haben wir diesen Frank Bruckner getroffen", erzählte Conny. „Er haust dort in der tiefsten Wildnis in einer Hütte. Meinst du, der Mann hat etwas zu verbergen?" „Ich weiß nicht", murmelte der Graf nachdenklich. „Auf alle Fälle nehme ich an, daß dieser Herr mit den Bruckners verwandt ist, denen früher der Finsterwald gehört hat." „Das erklärt aber immer noch nicht, was dieser Mann dort macht", meinte Conny. „Niemand wohnt freiwillig in so einer gottverlassenen Wildnis." „Freiwillig nicht", bestätigte der Graf. „Aber wenn es wirklich ein Nachfahre von Heinz Bruckner ist, dann sucht er dort bestimmt den sagenumwobenen Familienschatz." „Einen Schatz?" Conny kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Aber ... wie soll denn ein Schatz in den Finsterwald kommen?" „Das ist eine lange Geschichte ..." Der Graf setzte sich auf eine Holzbank neben der Weide. „Der alte Bruckner besaß eine gutgehende Pferdezucht. Er verstand es wie kein anderer, sein Gestüt immer wieder in die Schlagzeilen zu bringen. Der Mammutritt mit seinem Pferd Calypso hat ihn wirklich berühmt und zu einem unglaublich reichen Mann gemacht." „Calypsol" staunte Connny. „Genauso heißt der Schimmel, den dieser Bruckner im Finsterwald bei sich hat." „Dann besteht wohl kein Zweifel mehr, daß es ein Nachkomme des alten Bruckner ist", sagte der Graf. „Allerdings ist es wohl kaum der Calypso von damals. So alt kann ein Pferd nie und nimmer werden!" „Was war das für ein Ritt?" wollte Conny wissen. „Es war die längste Strecke, die bis dahin ein Pferd in Europa in 52
einem Stück gelaufen war", erzählte der Graf. „Der Ritt begann an der Südspitze Italiens. Er endete am nördlichsten Punkt Europas, in Hammerfest. Die erste schwere Hürde waren die Alpen. Damals gab es noch keine Tunnel. Calypso quälte sich schmale, gefährliche Wege hinauf. Zu dieser Zeit gab es in den Alpen auch noch vereinzelt Wölfe, die immer wieder angriffen. Pferd und Reiter setzten in Schnee und Eis mehr als einmal ihr Leben aufs Spiel. Nachdem sie endlich das Gebirge überquert hatten, führte ihr Weg quer durch Deutschland über Finnland und Schweden nach Norwegen. Dort schlief Bruckner eines Nachts in einer einsam gelegenen Hütte. In der Nacht stahl ein Dieb Calypso. Verzweifelt machte sich Bruckner am nächsten Tag auf die Suche nach seinem Pferd. Die Chancen, es in dieser riesigen Wildnis zu finden, waren gleich Null. Bruckner wollte schon aufgeben, als ihm Calypso entgegengetrabt kam. Wenig später fand Bruckner den Dieb. Calypso hatte ihn abgeworfen. Bruckner verarztete das gebrochene Bein des Diebes und setzte seinen Ritt fort. Jeden Tag berichteten die Zeitungen von Bruckners Abenteuern. Viele Leute kamen nach Hammerfest, wo ein Überwältigeoder Empfang Bruckner und Calypso für die entbehrungsreichen Wochen entschädigte. Für sein Gestüt war dies die beste Werbung, die man sich wünschen konnte. Die Züchter zahlten für Calypso als Deckhengst Unsummen. Als der Krieg ausbrach, hieß es, daß Bruckner sein Vermögen in Gold umgetauscht hätte. Es gab immer wieder Abenteurer, die danach suchten, doch stets vergebens." „Das ist richtig spannend", gab Conny zu. „Meinst du, daß dieser Frank Bruckner eine echte Chance hat, den Schatz zu heben?" „Wenn es wirklich ein Nachkomme des alten Bruckner ist, dann ja", antwortete der Graf. Den größten Teil dieses Nachmittags verbrachte Max in einer Pfütze und bespritzte mit dem Schnabel sorgfältig sein Gefieder. Nach der Schönheitspflege zog es ihn zu seinem Freund Kobalt. Munter flatterte der Rabe über die Weiden, bis er sein Lieblingspferd erspähte. Gerade als Conny und ihr Großvater von der Bank aufstanden und gingen, leitete Max den Lande-anflug ein. Geschickt 53
setzte er sich direkt neben Kobalt auf den Holzzaun und krächzte zufrieden. Conny und ihr Großvater gingen zum Alderhof zurück. Der angenehme Geruch von Streuselkuchen wehte ihnen über dem Hof entgegen. Gerlinde hatte ihn soeben frisch gebacken. Conny und der Graf betraten zeitgleich mit Ewald den Hof. Es kam nicht oft vor, daß Ewald zu Fuß und nicht mit dem Traktor unterwegs war. „Hallo, Ewald!" rief Herbert grinsend, der mit seinen Geschwistern auf einem Mäuerchen saß. „Wo hast du denn deinen Traktor gelassen?" „Das geht euch gar nichts ... äh ..." Ewald versuchte, möglichst rasch an den Kindern vorbeizugehen, und tat so, als habe er etwas furchtbar Wichtiges und Unaufschiebbares zu erledigen. „Jetzt stell dich doch nicht wegen dieses Schrotthaufens so an", beschwichtigte Klaus. „Mein ... Traktor ... äh ... ist... äh ... kein ... äh ...!" Wenn Ewald sich besonders aufregte, kamen seine „ähs" noch viel öfter als sonst. „Bring Ewald nicht auf hundertachtzig", warnte Herbert seinen Bruder. „Nachher explodiert er noch und legt den ganzen Alderhof in Schutt und Asche." Daraufhin prusteten die drei Geschwister los. Ewald stieg das Blut in den Kopf. „Äh ... äh ... äh ...", stotterte er, weil das, was er sagen wollte, vor Wut nicht herauskam. „Laß doch die Kinder, Ewald!" schmunzelte der 54
Graf. „Komm, trink einen Kaffee mit uns." Die Sonne ging nun schon merklich früher unter als noch vor ein paar Wochen. Ihre Strahlen tauchten das Eßzimmer des Alderhofes in goldenes Licht. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein", zitierte Alex feierlich bei Tisch. „Es darf auch ruhig Kuchen sein." Alle lachten. „Ich finde, Ewald riecht wie sein Traktor", stichelte Herbert, als sich Ewald an den Tisch setzte. Ewald warf Herbert eine Serie vernichtender Blicke zu, entgegnete aber nichts. „Ich dulde nicht, daß ihr den guten Ewald immer auf die Schippe nehmt", sagte der Graf, obwohl es ihm schwer fiel, dabei ernst zu bleiben. „Laßt uns jetzt in Frieden essen." Herbert murrte zwar, hörte aber mit den Sticheleien auf. Während die Alderhofbewohner um den Eßtisch saßen und Kuchen aßen, warf Conny einen Blick zum Fenster hinaus. Sie schaute zum Wald, wo ein richtiger Schatz darauf wartete, daß ihn jemand fand. Conny erinnerte sich an einen ihrer Nachbarn; damals, als sie noch mit ihrem Vater in der Stadt gelebt hatte. Der hatte einen Metalldetektor besessen, ein Gerät, das aussah wie ein Staubsauger und das piepste, wenn in der Erde Metallgegenstände versteckt waren. Dieser Nachbar sagte von sich selber, er sei ein Schatzsucher. Und er fand mit seinem Detektor auch allerhand, von rostigen Nägeln bis zu verbogenen Fahrradspeichen ... Aber einen richtigen Schatz, den hatte er noch nie gefunden.
13. Kapitel Der Unfall Am anderen Morgen ritten Conny, Steffi und Alexander wieder durch den Wald. Auf dem Reitweg trafen sie den Förster Keller. „Na, Conny," fragte er freundlich, „macht ihr wieder den Forst unsicher?" „Keine Sorge, Herr Förster", zwinkerte Conny ihm zu, „solange 55
wir auf Alex und Helmuth aufpassen, besteht keine Gefahr für den Wald." „Pöh!" machte Alex und ritt als beleidigte Leberwurst weiter. Der Reitweg führte direkt zum Waldsee. Die Freunde stiegen ab und setzten sich ins warme Moos. „Stellt euch vor, wir würden den Schatz finden", schwärmte Alex. Seit Conny ihnen die Geschichte über den Bruckner-Schatz erzählt hatte, ging Alex die Sache nicht mehr aus dem Kopf. „Vergiß es", meinte Conny. „Da haben sich schon professionelle Schatzsucher die Zähne dran ausgebissen. Wir ahnungslosen Amateure haben keine Chance, ihn zu finden. Außerdem sucht der rechtmäßige Eigentümer im Augenblick nach dem Gold." Plötzlich schnaubte Kobalt. Er spitzte die Ohren und schaute zum dichten Schilf hinüber. Conny bemerkte auch, daß etwas nicht stimmte. Sie setzte sich auf und lauschte. Etwas plätscherte im Schilf. Es wurde lauter. Die Schilfhalme schwankten jetzt sehr stark, und heraus trottete ein prächtiger Schimmel. „Calypsol" entfuhr es Conny, als sie das Pferd in seiner ganzen Pracht vor sich sah. „Was macht der denn hier?" staunte Steffi. „Vielleicht hat er sich verlaufen", vermutete Alexander. „Der Teich hier liegt noch etliche Kilometer vom Finsterwald entfernt." Calypso blieb vor Kobalt und Steffis Pferd Pearl stehen. Neugierig beschnupperten sich die Tiere. „Was jetzt?" fragte Steffi. „Sollen wir Calypso etwa zu seinem unfreundlichen Besitzer zurückbringen?" „Wir können das Pferd schlecht weiter hier allein umherirren lassen", erwiderte Conny. „Ohne unsere Hilfe findet Calypso bestimmt nicht nach Hause zurück. Bruckner wird uns schon nicht fressen, wenn wir ihm sein Pferd zurückbringen." Alex schaute Conny ungläubig an. „Ist das wirklich dein Ernst?" „Meinst du, wir finden überhaupt den Weg zu Bruckners Hütte wieder?" Steffi hatte wenig Lust, erneut in den dichten Forst zu reiten. „Natürlich!" Conny stand auf und ging zu Kobalt. 56
„Seit unserem letzten Ritt hat es nicht geregnet. Die Kreidemarkierungen sind noch gut sichtbar." Eine halbe Stunde später überquerten die Freunde die morsche Holzbrücke und traten in das dunkle Reich des Finsterwaldes ein. Seltsamerweise folgte Calypso Conny und ihren Freunden nicht, sondern er lief voraus. „Das sieht mir aber gar nicht danach aus, als ob Calypso seinen Heimweg nicht kennen würde," meinte Steffi erstaunt. „Du hast recht", gab Conny zu. „Und irgendwie beunruhigt mich das. Ich glaube nicht, daß Calypso schon oft sein Revier verlassen hat." Wieder umfing die kleine Reitergruppe der Zauber der Stille, die in diesem Forst herrschte. Längst hatten die Reiter sich an die tiefhängenden Zweige gewöhnt, unter denen sie sich immer wieder ducken mußten. Der dicke Nadelteppich auf dem Boden verschluckte fast alle Schrittgeräusche der Pferde. Conny hatte recht. Die Kreidemarkierungen waren noch klar und deutlich erkennbar. Bald schon vernahmen sie das Plätschern des kleinen Wasserfalles ganz in der Nähe. Die Sonne blendete Conny und ihre Begleiter, als sie aus dem Schatten des Waldes auf die Lichtung ritten. Vor ihnen ragte die alte Holzhütte auf. „Herr Bruckner?" rief Conny und ließ ihre Blicke schweifen. Kein Mensch war zu sehen oder zu hören. Die Lichtung wirkte wie ausgestorben. Die Freunde stiegen von den Pferden. Conny klopfte zweimal, dann betrat sie die Hütte. Drinnen war jedoch niemand. „Bestimmt sucht er irgendwo im Wald nach seinem Schatz", meinte Steffi. „Kommt, wir binden Calypso einfach hier an und verschwinden wieder." „Nein, wartet!" Conny spürte, daß irgendwas nicht stimmte. „Wir sollten ihn suchen." „Was?" Alex glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Der Kerl kann überall in diesem Urwald sein. Den können wir bis zum Sankt Nimmerleinstag suchen, ohne ihn zu finden." „Ich fürchte, du hast recht", gab Conny zu und trat wieder ins 57
Sonnenlicht hinaus. Nach ein paar Schritten hielt Conny inne. Calypso stand auf der anderen Bachseite am Waldrand. Er blickte zu Conny herüber, als warte er nur darauf, daß sie ihm folgte. „Kommt mit!" Conny schwang sich auf Kobalt und ritt durch das aufspritzende Wasser. Widerstrebend ritten Steffi und Alexander hinter Conny durch einen dichten Fichtenwald. Er endete vor einer steilen Felswand. „Wo ist CalypsoT' fragte Steffi, als sie Pearl neben Conny zügelte. „Er ist da hineingelaufen!" Conny deutete auf eine drei Meter hohe und fünf Meter breite Höhle in der schroffen Felswand. Calypso blieb im Höhleneingang stehen. Viel tiefer traute er sich nicht mehr in die undurchdringliche Finsternis hinein. Conny und ihre Freunde stiegen von ihren Pferden und gingen zu dem Schimmel. „Und was jetzt?" fragte Alex, der wenig Lust verspürte, noch weiter in dieses dunkle, feuchte Loch vorzudringen. Am liebsten wäre er umgekehrt. Ehe Conny etwas sagen konnte, drang ein schwacher Hilferuf an ihre Ohren. Calypso zitterte, öffnete die Nüstern und witterte ins Höhleninnere. „Da ist jemand in Gefahr", rief Conny und rannte auch schon los. „Warte, ich hab' ...", entgegnete Alex, aber Conny beachtete ihn nicht. Steffi folgte ihr in die Finsternis. Als es dunkel wurde, daß man die Hand nicht mehr vor Augen sah, verlangsamte Conny ihre Schritte. Schließlich tastete sie sich vorsichtig mit dem Fuß weiter. Das war gut so, denn plötzlich trat sie ins Leere. Um ein Haar wäre Conny vornübergestürzt. Sie konnte sich gerade noch an einem vorspringenden Felsen festhalten. „Nicht weitergehen!" rief Conny nach hinten. „Was ist denn los?" wunderte sich Steffi, die direkt hinter ihr stand. „Bleib stehen!" meinte Conny. „Keinen Schritt mehr weiter!" „HILFEEEEE!" erschallte es wieder. Der Ruf drang aus der Tiefe direkt vor Conny. 58
„Ich hab' doch gesagt, ihr sollt warten!" keuchte Alexander. „Ich mußte bloß noch mein Feuerzeug suchen, das ich irgendwo verkramt hatte." Alex hatte die größte Flammenstärke eingestellt. Das Licht war hell genug, um die nächste Umgebung zu erkennen. Direkt vor Connys Füßen fiel ein Erdspalt ab. Etwa vier Meter tiefer klammerte sich Bruckner verzweifelt an einem Vorsprung fest. Höher klettern konnte er aber nicht, dazu waren die Wände-viel zu glatt. „Helft mir", keuchte er. „I-Ich kann mich nicht mehr lange halten." „Bin schon unterwegs", bestätigte Alex und rannte im Eiltempo zurück. „Halten Sie durch", rief Conny Bruckner zu. „In einer Minute ziehen wir Sie hoch." „Beeilt euch ...", hallte es gequält aus der Tiefe. „Ich versteh' das nicht." Steffi zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich meine, der Mann ist bestimmt nicht zum ersten Mal in dieser Höhle. Er hätte doch wissen müssen, daß hier ein Erdspalt ist." Das verstand Conny allerdings auch nicht. In diesem Augenblick kam Alex zurück. „Wenn das kein neuer Rekord war!" keuchte er und drückte Conny das zusammengerollte Seil in die Hände. Conny warf ein Seilende in den Schacht, das andere packten sie und ihre Freunde. „Wir halten den Strick", rief sie. „Versuchen Sie daran hochzuklettern!" Das Seil zog sich straff. Beinahe hätte Bruckners Gewicht die Freunde nach vorne gezogen. Sie stemmten sich mit aller Kraft gegen den steinigen Boden. Schweratmend kletterte Bruckner über den Rand und blieb schwer atmend vor den Freunden liegen. „Er ist offenbar verletzt", stellte Conny sofort fest. „Wahrscheinlich ist er ganz in den Schacht gestürzt und dann hochgeklettert." „Bleibt ihr hier! Ich reite zum Alderhof und hole Hilfe." Alex sprang auf und rannte weg. Normalerweise war es nicht einfach, Helmuth auf Trab zu 59
bringen. Doch diesmal spürte der Esel, daß es ernst war. Deshalb gab er alles, was in ihm steckte. Helmuth lief, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Conny und Steffi knieten neben Bruckner und drehten ihn vorsichtig in eine stabile Seitenlage. „Der Stollen ...", stöhnte Bruckner. „Eingestürzt! Überall haben sich ... durch ... Erschütterungen ... Erdspalten geöffnet. Vorsicht...!" „Sprechen Sie nicht", bat Conny den Verletzten. „Sparen Sie Ihre Kräfte." „Der Schatz ..." Das Sprechen bereitete Bruckner sichtlich Mühe. „Er ist ... in der Nähe." „Der Schatz läuft Ihnen ja nicht weg", beruhigte Conny den Mann. „Ihr müßt ihn heben!" Bruckner spie jedes Wort einzeln aus. „Versprecht... es ... mir ..." „Aber ..." Conny wußte nicht, was sie darauf sagen sollte. „Versprecht es ...!" Bruckner stand am Rande einer Ohnmacht. „Wenn ... wenn ich sterbe, sorgt mit dem Gold für ... Calypso ..." Bruckners Stimme erstarb zu einem Flüstern. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. „Hoffentlich kommt bald Hilfe." Ungeduldig und sorgenvoll blickte Conny zum Höhleneingang. „Hast du dir schon mal überlegt, wie ein Rettungswagen durch so einen Dschungel hierher kommen soll?" fiel Steffi in diesem Augenblick siedendheiß ein. „Es gibt doch keine Straße und keine Wege." „Stimmt!" Conny erbleichte vor Schreck. „Auweia, daran hab' ich gar nicht gedacht."
14. Kapitel Das Tagebuch Kobalt, Pearl und Calypso standen vor der Höhle und grasten rund zweieinhalb Stunden, nachdem Alexander Schlöderblohm losgeritten war. Plötzlich spitzte Kobalt die Ohren. Bis eben war es in dem Forst 60
mucksmäuschenstill gewesen. Nun vernahmen die Pferde ein leises Brummen. Kein Zweifel, es war ein Laut, der von Menschen stammte. Es waren die Geräusche eines Motors, die rasch näherkamen. Am Himmel erschien ein Helikopter des Rettungsdienstes. Alexander Schlöderblohm saß auf dem Co-Pilotensitz und gab dem Piloten Anweisungen, wo er landen sollte. Langsam senkte sich der Hubschrauber auf die Lichtung neben der Hütte. Ein Notarzt und zwei Pfleger mit einer Bahre folgten Alexander rasch in die dunkle Höhle. Der Notarzt untersuchte Bruckner im Licht einer Taschenlampe, so gut es eben ging. Einige Muskelquetschungen und Prellungen waren auf den ersten Blick zu sehen. „Ist es denn sehr ernst, Herr Doktor?" fragte Conny mit besorgter Stimme. „Ach, das heilt wieder", beruhigte sie der Arzt. Allerdings würden erst die Röntgenaufnahmen zeigen, ob Bruckner innere Verletzungen hatte. Bruckner stöhnte auf, als die Pfleger ihn vorsichtig auf die Bahre legten. Behutsam trugen sie den Verletzten zum Hubschrauber. Der Arzt stieg vorne ein. Sekunden später startete der Helikopter und verschwand über den Baumwipfeln. Alexander trat neben Conny und Steffi vor die Höhle. Lange schauten sie dem Hubschrauber nach. „UFF!" atmete Conny erleichtert durch. „Wir beide befürchteten schon, ein Rettungswagen würde im Wald steckenbleiben." „Ich bin vielleicht manchmal 61
etwas chaotisch", gab Alex zu, „aber nicht blöd. War doch klar wie Kloßbrühe, daß nur ein Hubschrauber als Rettungsmittel hier in Frage kam." „Und was machen wir jetzt?" fragte Steffi. „Wir haben Herrn Bruckner versprochen, den Schatz für ihn zu heben", antwortete Conny. „Und wir werden unser Versprechen halten." „Glaubst du tatsächlich, wir könnten ihn finden?" Ungläubig schüttelte Steffi ihren Kopf. „Wer weiß, wie lange Bruckner schon sucht. Wo willst du überhaupt mit der Suche anfangen? Etwa in der Höhle?" „Später", erwiderte Conny. „Zuerst einmal schauen wir uns in der Hütte um. Wenn Bruckner Aufzeichnungen oder Lagepläne besitzt, dann finden wir sie dort." „Aha! Dafür hat Bruckner also Calypso gebraucht!" Alex deutete mit dem Daumen neben die Höhle. Ein Gleisstrang führte in das Innere der Höhle. „Das glaub' ich auch", sagte Conny. „Calypso hat die Lore mit dem Abraum aus der Höhle gezogen." „Das arme Pferd", empörte sich Steffi. „Calypso ist kein Arbeitspferd und überhaupt nicht dafür gebaut!" „Na, er hatte doch auch eine Menge Freizeit und Auslauf', entgegnete Alex, während sie sich Bruck-ners Hütte näherten. In der Hütte brauchten sie nicht lange zu suchen. Im großen Schrank fanden sie einige Kleider und eine kleine Schatulle. Darin lag ein Buch. Es war schon alt und stockfleckig. Die Seiten rochen stark nach Moder. Conny setzte sich mit ihren Freunden an den Tisch und schlug das Buch auf. Das Papier war stark vergilbt, die Tinte ausgebleicht und kaum noch lesbar. Auf der ersten Seite stand der Name des Besitzers: Heinz Brackner. „Das ist der Mann, der den Schatz versteckt hat", erklärte Conny ihren Freunden. Das Buch war ein Tagebuch. Auf einer mit einem Lesezeichen markierten Seite lasen sie folgendes: 18. Oktober: Heute habe ich 62
mein gesamtes Vermögen in Gold angelegt. Die Barren sind in einer wasserdichten Kiste verstaut. Ich sehe den folgenden Monaten und Jahren mit größter Sorge entgegen. Sobald es dunkel wird, verstecke ich das Gold in meinem alten Forst. „Damit meint er bestimmt den Finsterforst", warf Alex ein. „Genau!" stimmte ihm Conny zu und blätterte die vergilbte Seite um. 19. Oktober: Das Gold ist an einer Stelle versteckt, wo es niemand außer mir finden kann; jenseits des Baches entdeckte ich eine Höhle in der Felswand. Sie ist ein ideales Versteck. „Donnerwetter!" Alex konnte seine Begeisterung nicht mehr zähmen. „Das muß die Höhle sein, in der wir Bruckner fanden. Wir haben den Schatz!" „Freu dich nicht zu früh", beruhigte Conny ihren Freund. „Wenn es so einfach wäre, hätte Bruckner den Schatz doch längst, oder?" Alex mußte zugeben, daß Conny recht hatte. Diese Erkenntnis dämpfte seine Begeisterung gehörig. Conny blätterte weiter. Die restlichen Seiten waren jedoch durch Stock- und graue Schimmelflecke nicht mehr zu entziffern. „In Mathe bin ich zwar keine Leuchte", gab Steffi zu, „aber wenn ich richtig rechne, dann muß der Bruckner, den wir heute retteten, ein Enkel oder gar Urenkel des Verfassers dieses Buches sein." „Da kannst du recht haben." Conny klappte das Buch zu und seufzte ratlos. „Na, ja", fuhr Steffi fort, „dann frage ich mich, wieso die anderen Bruckners vor ihm nicht anhand des Buches nach dem Schatz gesucht haben." „Vielleicht haben sie das ja", warf Alex ein. „Vielleicht haben sie jeden Winkel der Höhle auf den Kopf gestellt und nichts gefunden, weil gar nichts da war", fuhr er fort. „Du meinst, es hat diesen Schatz nie gegeben?" staunte Steffi. „Glaubst du, das ist alles frei erfunden?" „Nicht unbedingt!" Alex lehnte sich lässig im Stuhl zurück. „Eine Höhle ist doch kein so schweres Versteck. Vielleicht hat vorher jemand aus Zufall das Gold gefunden und mitgenommen." „Es gibt noch eine andere Möglichkeit." Conny blickte ihre 63
Freunde durchdringend an. „Es wäre doch gut möglich, daß dieses Tagebuch jahrzehntelang verschollen war und erst vor kurzem entdeckt wurde." „Das könnte gut möglich sein", stimmte Steffi ihrer Freundin zu. „Aber wieso hat Bruckner den Schatz bisher noch nicht gefunden?" „Na, entweder hat Alex recht", ratlos zuckte Conny mit den Schultern. „Oder ..." „Oder was?" fragten Steffi und Alex. „Oder der Schatz ist so gut versteckt, daß es einiger Zeit bedarf, ihn zu finden", ergänzte Conny. Im Schrank fand Conny auch eine Taschenlampe. Die nahmen sie mit, als sie zur Höhle zurückgingen. Vorsichtig leuchtete Conny mit der Lampe auf den Boden. Sie hatte keine Lust, in eine dieser tückischen Erdspalten zu fallen. „AUAAAA!" schrie plötzlich Alexander. „Was ist?" Erschrocken fuhr Conny herum. „Oooooh, mein Schienbein", jammerte Alex und hüpfte wie wild auf einem Bein herum. Der Lichtkegel von Connys Taschenlampe erfaßte eine Kiste, die am Boden stand. Alex war dagegengestoßen. Auf dem Deckel der Kiste stand: DYNAMIT.
15. Kapitel Der Schatz Was wollte Bruckner denn mit so viel Dynamit?" wunderte sich Conny. „Damit kann man ja die ganze Höhle in die Luft sprengen." „Vielleicht war der Eingang zu der Höhle ja zugeschüttet ..." Nachdenklich runzelte Conny die Stirn. „Er mußte seinen Weg mühsam freisprengen." „Freisprengen?" wiederholte Alex skeptisch. „Wieso denn das?" „Um an den Schatz ranzukommen," mutmaßte Conny. „Womöglich ist der alte Bruckner auf Nummer sicher gegangen. Er hat die Höhle gesprengt, nachdem er sein Gold hier versteckte. Unter dem ganzen Schutt hätte bestimmt niemand das Gold vermutet." 64
„Hm ... wäre durchaus möglich", gab Alex zu. Immer tiefer drangen die Freunde in die Dunkelheit vor, die nur von Conny s Taschenlampe erhellt wurde. „Die Stützbalken sind ziemlich morsch", erkannte Alex richtig. „Der Boden ist hier brüchig", stellte Conny fest. „Deshalb mußte Bruckner ganz vorsichtig sprengen." „Beim letzten Mal war die Dosis Dynamit wohl zu groß gewesen. Durch die Erschütterungen riß an mehreren Stellen die Erde auf, fuhr sie fort. Der Gang wurde immer schmaler, je weiter sie in ihn eindrangen. In regelmäßigen Abständen stützten dicke Balken die Decke. „Schaut mal!" Conny deutete auf das Ende der Höhle. Eine Schutthalde versperrte den Gang in seiner gesamten Höhe und Breite. „Meinst du, dahinter ist der Schatz versteckt?" fragte Steffi. „Da oder nirgends", lautete Connys Antwort. „Vielleicht war Bruckner ja ganz dicht vor seinem Ziel." Alexander entdeckte im Geröll einen schmalen Spalt. Rasch räumte er etwas Schutt zur Seite und verbreiterte das Loch. „Gib mir mal die Taschenlampe", bat er Conny. Conny reichte sie ihm. Alexander leuchtete in den Spalt hinein. „Ich glaub', ich träume!" stieß Alex aus. Knapp einen Meter entfernt bemerkte er im Licht seiner Taschenlampe eine eisenbeschlagene Truhe. Mit vereinten Kräften verbreiterten die Freunde den Spalt, bis die Truhe freilag. „Das ist wie im Piratenfilm", schnaufte Alex, von Abenteuerromantik hin- und hergerissen. Conny und Steffi stemmten den Deckel der Truhe hoch. Zum Glück war sie unverschlossen. Alex lenkte den Lichtstrahl der Taschenlampe ins Innere. „Ich glaub', mein Esel bohnert!" entfuhr es Alex beim Anblick des goldenen Schimmers, der aus dem Truheninneren drang. „Der Schatz ...!" hauchte Steffi wie verzaubert. Es war unglaublich. Die Goldbarren in der Truhe glitzerten und blitzten im Licht. Weder Conny noch ihre Freunde hatten je so viel 65
Gold auf einmal gesehen. Die Kiste war bis zum Rand mit Goldbarren gefüllt. „Kommt, wir sagen meinem Großvater Bescheid", schlug Conny vor. „Er wird sich um einen sicheren Abtransport kümmern." „Einen nehm' ich aber wenigstens mit!" Alex packte einen Goldbarren. „Sollte wer den Schatz stehlen, während wir fort sind, habe ich wenigstens einen Beweis, daß der Schatz wirklich hier war." „Übernimm dich bloß nicht", lächelte Conny. „W-Was für ein Brocken!" stöhnte Alex, der unter dem Gewicht des Barrens ziemlich in die Knie ging. Sein Gesicht lief dunkelrot an, und die Halsadern traten stark hervor. „Ich glaube, wir lassen doch am besten alles hier", keuchte Alex und ließ den Barren zurück in die Schatztruhe fallen. „Können wir es wirklich risikieren, den Schatz unbeaufsichtigt zurückzulassen?" Steffi blickte sich nervös um, als sie die Höhle verließen. „Na klar!" Elegant schwang sich Conny in den Sattel. „Das Gold hat so lange hier unten gelegen, ohne daß jemand es gefunden hat da kommt es auf die paar Stunden auch nicht mehr an." Als sie in den Alderhof ritten, kam ihnen Cornelia schon aus dem Gutshaus entgegen. „Die Polizei hat uns schon verständigt", sagte sie. „Der Graf hat auch schon im Krankenhaus angerufen. Herrn Bruckner geht es den Umständen entsprechend gut." In diesem Augenblick kam Graf Alderhof mit Else um die Ecke. Beide hatten einen heftigen Streit. „Nein, nein!" sagte der Graf bestimmt. „Du kannst mir nicht beweisen, daß es Gespenster gibt. Auch wenn deine Großtante einmal eines gesehen haben will." „Wollen Sie damit behaupten, daß meine Großtante lügt?" fragte Else schnippisch. „Was weiß ich, was sich die gute Frau zusammenphantasiert hat", seufzte der Graf genervt. „Aber Gespenster gibt es nicht, weder im Finsterwald noch anderswo!" „Wir haben Herrn Bruckners Schatz gefunden", rief Conny mit leuchtenden Augen. 66
„Conny!" Der Graf atmete erleichtert auf, als er seine Enkelin sah. Jetzt konnte er endlich die Klette namens Else abschütteln. In aller Eile erzählte Conny von ihrer Schatzsuche. Der Graf, Cornelia und vor allem Else kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. „D-Das ist sicher ein G-Gespensterschatz", flüsterte Else, die plötzlich ziemlich blaß aussah. „Weißt du was, Else?" meinte der Graf fürsorglich. „Du gehst am besten in die Küche und machst für uns alle ein paar schöne Eierkuchen mit viel Sahne." „Diese Aufregung ist einfach zu viel für mein Herz!" jammerte Else, drehte sich um und schlurfte ins Haus. Conny und ihre Freunde setzten sich mit dem Grafen und Cornelia auf eine Bank im kleinen Park. Hier mußten sie in allen Einzelheiten erzählen, wie sie den Schatz gefunden hatten. „Es ist schon merkwürdig", meinte Conny, „Herr Bruckner stand so kurz vor dem Ziel, und dann passierte ihm so ein Unglück." „Else würde jetzt behaupten, das sei der Fluch des Gespensterschatzes", schmunzelte der Graf. „Ich dagegen behaupte, Herr Bruckner wurde das Opfer seiner eigenen Ungeduld." „Und was passiert mit dem Schatz?" fragte Alex. „Der gehört Herrn Bruckner", erwiderte der Graf. „Mann, das Gold muß mindestens eine Million wert sein", schwärmte Alex. „Das sind bei einem Finderlohn von zehn Prozent für jeden von uns ... äh, hunderttausend geteilt durch drei macht..." „Moment", unterbrach der Graf Alexanders Gehirnakrobatik und zerstörte gleich im Vorfeld dessen süße Luxusträume. „Ich fände es nicht richtig, wenn ihr Finderlohn verlangen würdet. 67
Schließlich hätte Herr Bruckner den Schatz auch ohne euch gefunden." Alex zeigte sich etwas enttäuscht, denn er hatte mit einer astronomischen Aufstockung seines Taschengeldes gerechnet. Conny hingegen wäre nie auf die Idee gekommen, Geld von Herrn Bruckner zu verlangen. Alles, was sie wollte, war ihm und Calypso helfen.
16. Kapitel Abschied vom Finsterwald Drei Wochen nach seinem Unfall wurde Herr Bruckner aus dem Krankenhaus entlassen. Sein erster Weg führte ihn zum Alderhof. Das Gold war inzwischen längst sichergestellt. Steffi und Alexander schauten Conny gerade auf der Koppel zu, wie sie ein dreijähriges Pferd einritt. Die Gewöhnungsphase hatte das Jungpferd bereits hinter sich. Jeden Tag zäumte Conny es im Stall auf und sattelte es auch. Und jeden Tag ließ Conny die Hartgummitrense etwas länger in seinem Maul. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen gewöhnte Conny das Fohlen an menschliche Nähe. Nachdem es sich von beiden Seiten führen ließ, war heute die erste Lektion im Longierzirkel fällig. Während Conny das Pferd an der Longe führte, rief sie ihm Kommandos zu. Sollte es stoppen, sagte Conny mit ruhiger Stimme „Haaaalt!" Das Pferd hatte die Bedeutung schon gelernt. Befehle wie „Trab" oder „Galopp" rief Conny bedeutend lauter. Bei jedem dieser Kommandos lag die Betonung auf der hinteren Silbe. Conny beendete gerade die Übung, als ihr Großvater mit Herrn Bruckner an den Koppelzaun trat. Sie löste die Longe und ließ das Pferd frei auf der Weide traben und grasen. „Es tut mir leid, daß ich euch so unfreundlich behandelt habe." Herr Bruckner blickte Conny entschuldigend an. „Aber bei so einem wichtigen Unternehmen wollte ich kein Risiko eingehen. Wenn sich erst mal rumgesprochen hätte, daß ich den Schatz meines Großvaters 68
suchte, dann würde es im Finsterwald sehr bald von Schatzsuchern nur so gewimmelt haben!" „Schon gut", winkte Conny ab. „Euer Großvater hat gesagt, daß ihr auf einen Finderlohn verzichtet", fuhr Herr Bruckner fort. „Das finde ich sehr nobel von euch, denn ich kann jede Mark des Schatzes dringend brauchen." „So? Was haben Sie denn mit dem vielen Gold vor?" fragte Alex etwas säuerlich. „Ich werde das machen, was mein Großvater mit dem Gold vorhatte", entgegnete Herr Bruckner. „Ich baue damit ein neues Gestüt auf. Und Calypso wird mein erster Zuchthengst sein. Einen besseren Neuanfang kann ich mir nicht wünschen." „Es ist ein Pferd mit edlem Stammbaum", bestätigte der Graf. „Na, dann wissen wir ja, von wo wir in Zukunft neue Pferde für den Alderhof beziehen können!" „Sie züchten doch selbst?" wunderte Bruckner sich. „Ja!" entgegnete der Graf. „Aber das reicht bei weitem nicht aus. Schließlich führe ich einen Reiterhof, und kein Gestüt." „Nochmals danke", wandte sich Herr Bruckner an Conny und ihre Freunde. „Obwohl ihr keine wollt, habe ich trotzdem eine Belohnung für euch." „So?" Alex schöpfte neue Hoffnung. „Was denn?" „Die ersten drei Fohlen, die bei mir zur Welt kommen, werden eure Namen tragen." Herr Bruckner zwinkerte verschmitzt und entfernte sich wieder mit dem Graf. _ „Was ist denn, Alex?" fragte Conny, als sie sein mürrisches Gesicht bemerkte. „Freust du dich denn gar nicht?" „Na klar", blaffte Alex entrüstet. „Ein Gaul wird demnächst meinen Namen tragen. Das ist wirklich das Allergrößte ..." 69
Am nächsten Morgen ritten Conny und ihre Freunde noch einmal zu Bruckners Hütte in den Finsterwald. Allmählich kannten sie den Weg auch ohne Markierungsstriche an den Bäumen. Das Rauschen des kleinen Wasserfalles und des Windes in den Bäumen waren die einzigen Geräusche in dem kleinen Tal. Herr Bruckner hatte die Hütte schon geräumt. Jetzt stand sie wirklich leer. Die Freunde sattelten Helmuth und die Pferde ab und ließen sie grasen. Sie selbst machten es sich im weichen Gras bequem. „Mann, was habe ich in diesem Wald für Nerven gelassen", stöhnte Alex. „Mich erschrickt hier kein Geist mehr!" Forschend sah er in die spöttischen Gesichter der Mädchen. „Im Grunde genommen hatte ich in dem Forst nie Angst. Ein Alexander Schlöderblohm mit seinem analytischen Verstand kennt keine Furcht vor dem Unnatürlichen." Heldenhaft warf sich Alex in Pose. Wie aufs Stichwort senkte sich in diesem Augenblick ein schwarzer Schatten auf sein Haupt nieder. „WAAAAA!" Alex sprang auf und schrie wie am Spieß. Wie ein aufgescheuchtes Huhn flitzte er dreimal um Helmuth herum. Dabei war es nur Max, der sich bei seinem Lande-anflug auf Kobalt ein wenig verschätzt hatte. Zwar glückte die Notlandung auf dem Kopf des bebrillten Jungen ganz gut, aber jetzt mußte sich Max mächtig in dessen Haaren festkrallen, um nicht abgeschüttelt zu werden. „Alex! Alex!" riefen Conny und Steffi. Dabei wälzten sie sich vor Lachen im Gras. Alex sauste wie irre über die Wiese und vernahm zu seiner größten Wut, wie hinter ihm die Mädchen ihn auslachten. Am Bachufer geriet Alex vor lauter Aufregung ins Straucheln und - PLATSCH - landete er der Länge nach im Wasser. Zu einem Bad hatte Max jetzt überhaupt keine Lust. Bevor der bebrillte Junge in den Fluten versank, flatterte der Rabe rasch hoch und landete neben Kobalt auf der Wiese. Prustend und Wasser spuckend, tauchte Alex auf und schimpfte: „Was gibt es denn da zu lachen?" Glucksend standen Conny und Steffi am Ufer und halfen ihrem triefend nassen Freund an Land. Alex nieste fünfmal hintereinander. 70
„Vor Geistern hast du vielleicht keine Angst, aber von einem Raben läßt du dich ganz schön ins Bockshorn jagen", kicherte Conny. „Der Vogel hat doch einen Vogel!" schimpfte Alex, ließ sich ins Gras plumpsen und knöpfte sein klatschnasses Hemd auf. „Innigsten Dank, daß ihr mich ausgelacht habt, statt mir zu helfen." „Ich kenne keinen anderen Wald mit so einer Flora!" Conny setzte sich neben Alex und versuchte, ihn abzulenken. „Flora?" wunderte sich Alex. „Wer ist denn das?" „Nicht wer, sondern was", korrigierte Conny. „Flora ist Latein und heißt Pflanzen." „Wenn es Pflanzen heißt, dann sag's doch gefälligst", knurrte Alex und wrang sein Hemd aus. „Ich bin doch hier nicht in der Schule, oder?" „Tja, nun wird es wieder einsam im Finsterwald werden", vermutete Steffi. „Jetzt, wo Herr Bruckner nicht mehr hier wohnt, werden die wenigen Wege bestimmt schnell zuwachsen." „Na und?" entgegnete Conny. „Dann sind die Tiere und Pflanzen wenigstens ungestört. Von solchen Orten gibt es leider viel zu wenige auf dieser Welt." Bis zum Abend saßen die Freunde im Gras und unterhielten sich angeregt. Als die Dämmerung langsam hereinbrach, quakten die Frösche und zirpten die Grillen ihr Abendlied. „Ich glaube, es wird Zeit für den Heimritt." Conny stand auf und holte Kobalts Sattel. Fünf Minuten später waren die Tiere gesattelt und trabten los. Kurz vor dem Waldrand blickten die Freunde noch einmal zu dem friedlichen Tal zurück. Es war kaum anzunehmen, daß sie noch einmal hierher zurückkommen würden. 71
Während die Sonne zwischen den Bäumen unterging, ritten die Freunde durch den Finsterwald nach Hause. Irgendwo heulte ein Käuzchen, und Alexander Schlöderblohm liefen mehrere Gänsehäute über den Rücken, und der Apfel, den er gerade kaute, fiel ihm aus dem Gesicht.
17. Kapitel Wer ist Alexander? Mit erhobenem Schnabel stolzierte Max durch den Stall. Wenn man ihn so sah, hätte man meinen können, der Alderhof gehöre ihm. Unter all den Tieren machte ihm nur eines diesen Ruf streitig, und das war Waldi. Max strafte den Dackel dafür mit totaler Verachtung. Im Lauf der nächsten Monate lachte sich Max ein hübsches Rabenmädchen an. In der alten Eiche, die in der Hofmitte des Alderhofs stand, gründete er eine Familie. Als es dann wieder Frühling wurde, bevölkerten eine ganze Reihe kleiner Mäxchen und Mäxin-chens den Reiterhof. Eines schönes Tages hielt ein Pferdetransporter vor dem Gutshaus. Herr Bruckner stieg aus. So ganz ohne Belohnung wollte er seine Helfer nun doch nicht lassen. Er rief Conny, Steffi und Alexander und öffnete den Verschlag des Transporters: Heraus staksten drei kleine Fohlen. „Die ersten Ergebnisse meines Gestüts", erklärte Herr Bruckner stolz. „Sie heißen Conny, Steffi und Alexander, und sie gehören euch." Vor Freude klappte den Freunden die Kinnladen herunter. Als Herr Bruckner im Haus den Grafen begrüßte, entbrannte im Hof eine heftige Diskussion darüber, welches Fohlen wem gehörte. „Wer davon ist denn jetzt Alexander?" wollte Alex wissen. „Such dir eins aus", schlug Conny vor. „Einen Alexander kann man nicht aussuchen", widersprach Alex energisch. „Zum Alexander wird man geboren." Conny und Steffi antworteten nichts, sondern rollten nur mit den Augen. 72
Während die Mädchen debattierten, schaute sich eines der Fohlen in dem offenen Schuppen nebenan um. Da stand ein mächtiges, glänzendes Ding, in dem das Fohlen sein verzerrtes Spiegelbild sah. Ewald hätte garantiert der Schlag getroffen, wenn er gesehen hätte, wie das Fohlen seinen Traktor beschnupperte und beschlabberte. Das deckenhohe Regal mit den bunten Töpfen neben dem Traktor interessierte das Fohlen aber noch mehr als das Fahrzeug. Ein leckerer, verführerischer Duft ging von den Farbtöpfen aus. Das Fohlen stupste gegen eines der Bretter, und es gab einen Knall, der Conny, Steffi und Alex draußen zusammenfahren ließ. Fluchtartig stürmte das Fohlen aus dem Schuppen heraus. Sein Fell war ganz übersät mit bunten Flecken. Vorsichtig schauten die Freunde nach, was in dem Schuppen passiert war. Der Anblick, der sich Conny bot, raubte ihr schier den Atem. Das ganze Regal war umgekippt. Die aufgeplatzten Farbeimer lagen kreuz und quer auf Ewalds Traktor und hatten ihn von oben bis unten besudelt. Neugierig lugte der Übeltäter zur Tür herein. Wie auf Kommando deuteten Conny und Steffi auf das farbbesprenkelte Fohlen neben Alex und riefen wir aus einem Mund: „Das ist Alexander!"
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