Cigams Sündenfall
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 151 von Jason Dark, erschienen am 26.10.1993, Titelbild: Joe und ...
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Cigams Sündenfall
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 151 von Jason Dark, erschienen am 26.10.1993, Titelbild: Joe und Vito de Vito
Sie war perfekt. Sie war genau die Frau, von der jeder Mann träumte. Es gab nichts an ihr auszusetzen - aber sie war nicht echt. Kein Mensch, sondern der Teufel hatte sie geschaffen. Sie war sein Kunstgeschöpf, denn unter der glatten Haut verbarg sich ein durch Magie angetriebenes Räderwerk der Hölle. Schon einmal hatte der Teufel ein Kunstgeschöpf erschaffen, Cigam. Nun hatte er in Altea eine Schwester bekommen, und gemeinsam gingen sie nach Prag. Sie wollten die Stadt des Golam zu einer Hochburg der von Satan abhängigen Menschen machen...
Die Frau stand vor der Tür und schaute sich um! Es war ihr nicht anzusehen, ob ihr diese auf elegant und vornehm getrimmte Bar gefiel. In ihrem glatten, von keinem Fältchen gezeichneten Gesicht rührte sich nichts. Nicht mal die Lippen zuckten. Die Augenbrauen wirkten wie gemalt, und ihre Nase sah aus, als wäre sie künstlich geschaffen worden. In den Höhlen lagen sehr dunkle Augen mit farblosen Pupillen. Das lange, rötlichschwarze Lockenhaar umschmeichelte ihr Gesicht, doch auch diese Flut schaffte es nicht, dem Gesicht einen weichen Ausdruck zu verleihen. Es blieb kalt, glatt und eben völlig emotionslos. Die Frau tat nichts, sie schaute nur. Der Betrieb hielt sich in Grenzen. Pärchen hockten in den weichen Sesseln, wobei wohl kein Paar miteinander verheiratet war. Die Mädchen waren allesamt jung und sahen toll aus. Sie wirkten keineswegs ordinär, sondern machten die Gäste auf eine Art und Weise an, daß diese sich durchaus als Freunde fühlen konnten. Und für Freunde zahlte man eben gern. Da die Frau im Schatten stand, wurde sie zunächst nicht gesehen. Für sie war das auch wichtig. Sie mußte sich einen Eindruck verschaffen, bevor sie ihre eigentliche Aufgabe in Angriff nahm. Sie trug ein dunkles Kleid, das sehr eng geschnitten war. Der tiefblaue Stoff glänzte seidig, er hob sich von dem nicht geschlossenen hellen Mantel kontrastreich ab. Der Ausschnitt des Kleides war rund, normal, die Frau zeigte keinen Körper und auch nicht viel Bein, denn der Saum umspielte die Knie der perfekt gewachsenen Beine. Gerade weil sie angezogen war, strömte dieser Körper einen unwiderstehlichen Sex aus. Besonders zu erkennen, wenn sie ging. Dann geriet auch der Kleiderstoff in Bewegung und strich über die Haut wie eine Liebkosung. Es war nun schwer vorstellbar, daß diese Person unter dem Kleid noch etwas trug. Sie hatte lange genug an der Tür gestanden, um sich den Weg zur Bartheke genau einprägen zu können. Die Drei-Mann-Combo hatte eine Pause eingelegt. Aus den Lautsprechern drang zwar leise Musik, aber niemand bewegte sich auf der runden Tanzfläche, die von unten her in zahlreichen Farben beleuchtet wurde und aussah wie ein bunter Kreisel, dessen Farben bei jeder Drehung wechselten. Der neue Gast schritt auf die Tanzfläche zu. Er wollte sie überqueren, um sich anschließend an der Bartheke niederzulassen. Das jedenfalls ließ seine Absicht vermuten. Nach vier Schritten, den Rand der Tanzfläche hatte sie noch nicht erreicht, wurde sie zum erstenmal richtig wahrgenommen und gesehen. Es glich tatsächlich dem Auftreten einer Diva oder eines großen Filmstars, denn plötzlich erwischte die Gäste das große Aha- und Oho-
Erlebnis. Besonders die Männer saßen plötzlich still auf ihren Plätzen und vergaßen ihre Begleiterinnen. Sie alle gehörten quasi zu den Stammgästen, aber einen derartigen Auftritt hatten sie noch nie erlebt. Jede Bewegung sprühte vor knisternder Erotik. Einigen Gästen standen die Münder offen, andere schwitzten leicht, und jeder gierte danach, diese Superfrau in die Arme schließen zu können. Ein fetter Mann im weißen Dinnerjacket winkte eines der Serviermädchen heran. Die Kleine trug Stöckelschuhe, eine kurze, schwarze Flatterhose und ein weißes Seidenshirt. Ein rotes Herz war darauf abgebildet. »Ja, Sir…« Der fette Knabe neigte sich zur Seite. Er legte seine Hand gegen den Mundrand, damit die Worte nur von der Bedienung verstanden werden konnten. »Sag mal, Süße, wer ist das?« »Sir, ich habe keine Ahnung.« »Erzähl doch nichts! Hat der Chef die eingestellt, um sie uns als Überraschung zu präsentieren?« »Nein, Sir, die ist neu. Ich sehe sie heute auch zum erstenmal, das müssen Sie mir glauben.« Der Mann winkte beinahe wütend ab, und das Serviermädchen zog sich wieder zurück. Der Mann war noch nicht zufrieden. Er wandte sich an seine Gespielin, deren Haar wie Silber glänzte. Auch sie mußte passen, niemand hatte die Frau bisher in der Bar gesehen. Das störte die Unbekannte wenig. Es machte ihr überhaupt nichts aus, daß sie angestarrt wurde. Auch weiterhin ging sie ihren Weg und hatte die runde Tanzfläche längst erreicht. Unter ihr drehte sich das Licht. Bei jeder Umdrehung wurden die Farben neu gemischt, und sie trafen auch die über ihnen stehende Gestalt, so daß die Frau immer wieder anders aussah, mal dunkelbunt, mal hellbunt, und die einzelnen Muster glitten lautlos an ihrem Körper hoch, um ihn nachzuzeichnen. Sie schien sich jedesmal in ein anderes Wesen zu verwandeln. Die Gäste hatten Vorstellungen von Schlangen oder Spinnenfrauen, aber niemand sprach darüber. Alle spürten sie das Besondere dieser Person, die ihnen wie ein Wesen aus einer anderen Welt vorkam. Die Unbekannte schaute weder nach rechts noch nach links. Sie ging nur ihren Weg und steuerte dann zielsicher die Bar an. Dahinter war Fernando Diaz, der Chef, ein heißblütiger und glutäugiger Spanier, der als Weiberheld ebenso bekannt war wie für seine immerwährende Bräune, die ihn aussehen ließ, als würde er jeden Tag mindestens zwei Stunden in der Sonne liegen. Das tat Diaz nicht, er benutzte ein Solarium und die entsprechenden Cremes.
Er war der Chef der drei Barmädchen, aber die hatte er in diesem Augenblick vergessen. Er konnte nur immer die fremde Frau ansehen, die zu ihm kommen würde, und der schmale Bart auf seiner Oberlippe bewegte sich wie ein zuckender Finger, ein Zeichen dafür, daß er nervös war. Zweimal strich er mit der rechten Handfläche über das schwarz gefärbte Haar, bei dem doch die grauen Strähnen immer wieder durchkamen, und unter den Achselhöhlen bildete sich Schweiß. Sein Deo mußte jetzt zeigen, ob es den Versprechungen der Werbung standhielt. Diaz hatte seine Hände flach auf die polierte Theke gelegt. So konnte er wenigstens ein Zittern vermeiden. Diese Frau brauchte keine Barbeleuchtung, um top auszusehen, sie war es einfach. Wenn sie zwei Schritte weiterging, hatte sie die Bar erreicht, und die letzten beiden legte sie auch noch zurück. Sie hatte sich einen Hocker direkt vor Diaz ausgesucht. Auf dem cremefarbenen Leder nahm sie Platz und war somit der einzige Gast an der halbkreisförmigen Bartheke. Bei jedem anderen Gast hätte Diaz schon sein bekanntes Verführerlächeln aufgesetzt, bei diesem hier verspürte er nie gekannte Hemmungen. Er wußte, daß diese Frau auf sein Lächeln nicht hereinfallen würde und hielt sich lieber zurück. Sie nickte ihm zu. Er dachte über dieses Nicken nach. So nickte eigentlich nur eine Königin, und ihm fiel der Begriff huldvoll ein. Ja, so hatte sie ihn begrüßt. Irre, aber wahr. »Was kann ich für Sie tun?« Verdammt, er schimpfte sich selbst aus, weil er seine eigene Stimme nicht mehr erkannte. »Die Karte.« »Sehr wohl.« Diaz griff nach unten, wo die Getränkekarte lag, und reichte das kleine, in Leder gebundene Büchlein herüber. Sie bedankte sich mit einem Nicken, schlug eine Seite auf, schaute aber kaum hin und bestellte einen Wodka. »Aber einen Doppelten, bitte«, fügte sie hinzu. »Natürlich, gern.« Diaz holte die Flasche hervor. Er war routiniert, in diesem Augenblick jedoch kam er sich vor wie ein Lehrling, denn als er den Wodka in das Glas rinnen ließ, da zitterte seine Hand, und das Glas lief über. Er ärgerte sich darüber. Das Blut stieg in seinen Kopf, aber er konnte nichts machen. Zum Glück schaffte er es, das Glas halbwegs sicher auf die Theke zu stellen. Die Frau nickte. Ihre schlanken Finger schoben sich schlangengleich über den Rand der Theke hinweg und umfaßten das kleine Glas. Diaz sah, daß die Nägel in einem sanften Grün lackiert waren, aber nur am kleinen Finger. Bei den anderen Nägeln verstärkte sich die Farbe, und sie endete mit einem satten Grün auf dem Daumennagel.
Die Frau hob das Glas an, sie probierte erst, dann leerte sie es mit dem zweiten Schluck. Spätestens jetzt hätte Fernando Diaz jede andere Frau angesprochen, hier traute er sich nicht und schaute statt dessen zu, wie sie das Glas absetzte. Die Unbekannte hob den Kopf und starrte Diaz an. Dieser Blick irritierte ihn, weil ihn noch nie jemand so angesehen hatte. Er konnte diesen Blick nicht beschreiben, er war leer und gleichzeitig prall gefüllt, aber er hätte auf keinen Fall sagen können, welches Gefühl dahintersteckte. Wahrscheinlich nichts, und plötzlich kam ihm ein Vergleich in den Sinn. Die Augen sahen künstlich aus, als wären sie kleine, halbrunde Metallplättchen, die jemand anstelle der Pupillen auf die Hornhaut gesetzt hatte. »War es gut?« Er kam sich nach dieser Frage selbst blöd vor, aber die Frau hob nur die Schultern. »Noch einen?« »Nein!« Erst jetzt fiel dem Barkeeper die Stimme auf. Auch sie hatte einen künstlichen Klang. Wie ein Roboter sprach sie. Es war überhaupt keine Modulation zu hören gewesen, und die Unsicherheit des Mannes verstärkte sich immer mehr. Er versuchte krampfhaft, dem Blick der Person auszuweichen und schielte mal über die eine, dann über die andere Schulter des weiblichen Gastes hinweg in die Bar, wo die Gäste saßen und nichts anderes taten, als ihn und die Frau zu beobachten. Sie redeten auch nicht miteinander. Obwohl noch leise Musik klang, kam es dem Mann so vor, als wäre eine Glocke des Schweigens über die Bar gestülpt worden. So etwas hatte Fernando Diaz noch nicht erlebt, und er schüttelte sich, was ihn auch ärgerte. »Du kannst mir einen Gefallen tun!« Die Stimme der Frau riß ihn aus seinen Gedanken. »Ja bitte, was wünschen Sie?« Kurzes Überlegen und gleichzeitig ein Abschätzen des Mannes, wobei sich ihre glattrasierten Augenbrauen etwas in die Höhe schoben. »Ich will deinen Chef sprechen.« Er nickte. »Den… ahm… wen sollen Sie sprechen?« Seltsamerweise brachte er es nicht über sich, die Person zu duzen. »Den Boß!« »Das geht nicht.« Eine Sekunde später bereute er die Antwort schon, denn die Person schaute ihn an, als wollte sie ihn hypnotisieren. In ihren Augen tanzte ein kaltes Licht, das ihm ein starkes Unbehagen einflößte. »Warum geht das nicht?« Jetzt hätte er eigentlich standhaft bleiben müssen. Diaz schaffte es nicht. Er wich aus und meinte: »Ich kann ja mal nachhören, was Sache ist,
Lady. Viele Hoffnungen kann ich Ihnen aber nicht machen. Das müssen Sie mir glauben.« Sie nickte irgendwie gottergeben. »Ja, versuchen Sie es.« Diaz brauchte sich nur umzudrehen. Er tat es langsam. Bevor er den Hörer abnahm, wollte er sich eine Ausrede zurechtgebastelt haben. Es war unmöglich, den Boß zu stören. Der drehte durch, wenn dies passierte. Dafür kannte ihn Diaz gut genug. Es gab eben gewisse Regeln, an die sich die Angestellten halten mußten. Die Unbekannte konnte nicht sehen, wie er den Hörer abnahm. Er tippte drei Tastenfelder und tat wenig später so, als würde er mit einem anderen sprechen. Er gab sich zehn Sekunden, die ihm verflixt lange vorkamen. Danach drehte er sich aufseufzend um und hob gleichzeitig bedauernd die Schultern. »Nichts?« fragte die Frau mit ihrer kalten Stimme. »So ist es.« Sie leckte kurz über ihre Lippen. Diaz sah die Zunge. Sie schimmerte wie feuchtes, graues Metall. »Ich wollte auch nicht mit diesem Frank Rawlins reden, sondern…« »Moment, er ist der Chef!« »Für Sie vielleicht. Für mich ist er nur eine Marionette. Es gibt da noch einen anderen.« »Nein, nicht daß ich wüßte.« »Lügen Sie nicht!« zischte die Frau. »Es gibt jemand. Und ich kenne auch seinen Namen.« »Tatsächlich?« »Costello. Logan Costello, Mister.« Fernando Diaz hatte in den letzten Sekunden einen großen Teil seiner Sicherheit wiedergefunden. Das änderte sich nach den Worten radikal. Nicht daß er Furcht gehabt hätte, aber den Namen aus dem Mund dieser Person zu erfahren, glich beinahe einer Gotteslästerung, denn Costello war so etwas wie ein Gott in der Londoner Unterwelt. Ein Mafia-Gott zumindest. Er hielt die Fäden in den Händen. Mit seinen Leuten kontrollierte er ein gewaltiges Imperium, das sich nicht allein auf London beschränkte, sondern tiefer griff. Der Südwesten der Insel stand unter seiner Kontrolle, und seine Verbindungen erstreckten sich zudem bis ins Ausland. Gerade in letzter Zeit hatten sie dort zugenommen. Da hatte nicht nur Italien auf dem Plan gestanden, sondern neuerdings auch der Osten. Polen und Rußland waren Märkte. Costellos Macht wuchs, und ausgerechnet einen derartigen Mann wollte die Besucherin sprechen. »Unmöglich«, flüsterte Diaz, obwohl er eigentlich nichts hatte sagen wollen. »Was ist unmöglich?« »Daß Sie ihn sprechen.«
»Sie kennen Costello aber?« »Ja, sein Name ist mir nicht unbekannt, aber für einen normal Sterblichen ist es unmöglich, an ihn heranzukommen. Ich weiß nicht, welcher Teufel Sie geritten hat, hierherzukommen und mir dies ins Gesicht zu sagen.« »Teufel ist gut«, murmelte sie. Diaz ignorierte ihre Antwort. Mit einem blütenweißen Tuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn und beugte sich dem weiblichen Gast dann entgegen. »Wissen Sie was? Der Wodka geht auf meine Kosten. Rutschen Sie vom Hocker und verschwinden Sie, bitte! Das ist alles, was ich Ihnen noch raten kann.« Die Frau reagierte kaum. Sie blieb sitzen, hob die Augenbrauen an und fragte dann: »Sie glauben nicht, daß Sie einen Fehler begangen haben, wenn Sie mir das vorschreiben?« »Das war ein Rat, kein Fehler.« »Ich denke darüber anders.« Sie schaute ihn kalt an. Diaz fröstelte. Er ahnte, daß etwas auf ihn zukommen würde, aber er wußte nicht, was es war. Etwas stimmte mit dieser Person nicht, und auch deren nächste Frage erschreckte ihn. »Halten Sie mich für normal sterblich?« Diaz wollte grinsen. Es mißlang. Nur mehr die Lippen bewegten sich zuckend. »Wie bitte?« »Halten Sie mich für normal sterblich?« »Ja, verdammt! Was sonst?!« Die Frau nickte und sagte: »Dann geben Sie mal acht, mein Lieber. Schauen Sie genau hin.« Den Gefallen wollte er ihr noch tun. Er überlegte, mit welchem Trick sie jetzt wieder herausrücken würde, und er sah, wie sie ihren rechten Arm anhob. Daumen und Zeigefinger hielt sie etwas abgespreizt. Mit beiden faßte sie an eine bestimmte Stelle ihrer Stirn. Dicht unter dem Haaransatz, an der rechten Seite. »Schauen Sie genau hin!« Diaz schaute hin. Und er hatte das Gefühl, einen perfekten Horror-Film zu erleben. Er tauchte hinein in das Szenario des Schreckens, denn was er hier an der Bar zu sehen bekam, das glich schon einem irrwitzigen Alptraum. Die Frau hatte ein Stück Haut zwischen die Finger geklemmt. Sie schob und zog es von ihrem Gesicht weg. Sie schuf eine kleine Lücke, in der das graue Räderwerk einer Mechanik schimmerte… »O Gott«, sagte der Keeper nur, »o Gott…« Genau die gleichen Worte benutzte ich auch, als ich in der großen Duschkabine neben der Frauenleiche stehenblieb und auf sie niederschaute. Suko hielt sich neben mir auf, die Männer der Mordkommission waren zurückgetreten und hatten sich abgewandt. Die
dünnen Plastikhandschuhe über ihren Händen schimmerten wie eine hauchzarte Eisschicht auf rosigem Fleisch. Die Frau lag auf dem Rücken. Mehrere Duschtassen glotzten auf sie nieder wie Augen aus Metall. Der Raum hier gehörte zu einem städtischen Freibad, doch das interessierte uns nur am Rande. Die Frau war für uns einfach wichtiger. Sie war tot. Darauf kam es uns – so schlimm dies auch sein mochte – nur in zweiter Linie an. Es ging uns darum, wie sie gestorben war, und nur deshalb hatte man uns geholt. Sie hatte keine Haut mehr! Ja, es war so. Man hatte ihr die Haut vom Körper gezogen. Aber hier erlebten wir nicht den Film >Das Schweigen der LämmerErklärung< hinzu. »Es mußte sein.« »Warum?« »Weil er mich nicht zu dir lassen wollte.« Rawlins stand kurz vor dem Durchdrehen. Diese Antworten waren so normal, und trotzdem redete dieses glatte Weibsbild hier von einem Mord, als hätte sie sich in einem Schnell-Imbiß eine Suppe bestellt. Das überriß er nicht. Er war auch nicht in der Lage, den Bogen weiter zu spannen, denn irgendwo war sein Denken blockiert. »Wo und wie komme ich an Costello heran?« Bei Rawlins brach der Damm. »Verdammt noch mal, du killende Nutte. Ich bin es leid. Es gibt für dich keinen Costello, und es wird für dich nie einen geben.« Er sprang in die Höhe, ohne seine Waffe aus der Hand zu legen. »Für dich gibt es einzig und allein nur den Tod. Hast du verstanden?« Sie reagierte nicht.
Dafür Rawlins. Er war allein. Sie war hier eingedrungen. Wenn er sie erschoß, war es Notwehr. Daran würden selbst die Bullen nichts mehr finden, aber die wollte er aus dem Spiel lassen. Gelassen stand die Person vor seinem protzigen Schreibtisch. Und dann drückte er ab! *** Was anschließend passierte, war so ungeheuerlich, daß sich Rawlins vorkam wie ein Zuschauer, der auf der Leinwand einen im Zeitlupentempo ablaufenden Film verfolgte. Er hatte nur ein leises Geräusch gehört, aber er sah, wie die Kugel in die Brust der Frau einschlug. Sie jagte durch den Stoff, sie jagte durch die Haut, er vernahm einen schmatzenden Laut und danach ein helleres Singen. Jetzt mußte sie fallen, jetzt würde möglicherweise Blut spritzen, wenn er eine Arterie getroffen hatte. Nichts von dem geschah. Sie blieb stehen. Nur ihre Augenbrauen zogen sich etwas zusammen. Sie senkte den Kopf und schaute nach links. »Du hast mir ein Loch ins Kleid geschossen, Mister.« Ein Loch ins Kleid geschossen! Ein Loch! Ich werde noch verrückt, verdammt! Er feuerte noch einmal. Diesmal traf er die rechte Seite des Körpers. Wieder hieb die Kugel hinein, und die Frau… ja, die stand noch immer, als wäre nichts geschehen. Sie schüttelte etwas unwillig den Kopf. »Schade«, sagte sie dann. »Sehr schade. Ich hatte eigentlich vorgehabt, dich am Leben zu lassen. Nun nicht mehr.« Rawlins hatte alles gehört. Keuchend holte er Luft. Er faßte es nicht, aber er begriff doch, daß er sich in einer verdammten Gefahr befand. Diese Person war ihm über. Wer immer sie auch sein mochte, sie… sie war kein Mensch mehr. Er schwitzte wie nie in seinem Leben und bekam kaum mit, daß er seinen rechten Arm und damit auch die Waffe senkte. »Wer bist du?« keuchte er. »Wie heißt du, verdammt?« »Altea…« Er schnappte nach Luft. »Wie heißt du?« Sie wiederholte den Namen und fügte dann noch etwas hinzu, das er nicht verstand. »Ich bin Cigams Sündenfall…« Rawlins lachte, obwohl er es nicht wollte. Mit diesen Antworten kam er nicht zurecht. Sie hätte auch in einem altägyptischen Dialekt sprechen können, es wäre auf das gleiche rausgekommen. Dann preßte er seine
ihm alles bedeutende Frage hervor. »Warum bist du nicht tot? Ich habe dich zweimal getroffen. Du müßtest tot sein.« Sie schenkte ihm ein eisiges Lächeln, als würde sie über den Dingen stehen. Kalt und arrogant. »Ich bin nicht tot, weil ich Cigams Sündenfall bin.« »Scheiße, das ist…« »Ich werde immer leben. Ich bin das, von dem die Menschen schon im Mittelalter träumten.« Er wollte es nicht glauben, aber Altea zeigte es ihm. Gelassen hob sie einen Arm und legte die Stirn in Falten. Mit zwei Fingern hielt sie eine Falte für einen Moment fest, dann zog sie an der Haut, und Frank Rawlins schaute zu, wie die Haut, einem Stück weichen Papier ähnlich, nach unten glitt. Sie hätte Knochen, Sehnen, dünnes Fleisch und Blut freilegen müssen, damit rechnete er. Statt dessen sah er etwas, das ihn beinahe um den Verstand brachte. Räder, kleine Riemen, dünne, glänzende Stangen, die verschiedene Räder miteinander verbanden, und er sah auch, daß sich diese Dinge in ihrem Kopf zitternd bewegten. Darin arbeitete es, ein funktionierendes Gehirn einer Puppe, eines Roboters… »Mein Gott«, stöhnte er nur und spürte das Entsetzen noch stärker in sich hochsteigen. Das war kein Film, er saß auch nicht da und las ein Buch, er sah es einzig und allein mit seinen eigenen Augen, und er begriff die Welt nicht mehr. Sie war der Tod, sie war ein Sündenfall, sie war die Vernichtung, und er war bewaffnet. Lächerlich, es nutzte ihm nichts. Er mußte weg, das stand fest, aber wie sollte er das schaffen? Verzweifelt suchte er nach einem Plan. Er wollte die Trommel leerschießen und dieses Weibsstück damit in Deckung zwingen, aber würde es sich überhaupt von der Stelle bewegen? Nein, auf die Waffe war kein Verlaß mehr. Dann eben anders, dachte er sich und war froh darüber, nicht durchzudrehen. Blitzschnell ließ er den Revolver wieder in der Schublade verschwinden, und ebenso schnell riß er seinen Schreibtischstuhl in die Höhe. . Damit stürmte er auf die Frau zu. Er schrie dabei wild auf und drosch mit dem Stuhl zu. Dabei sah er nicht einmal, ob Altea zur Seite tauchte oder einfach stehenblieb, sein Augenmerk galt einzig und allein der Tür, auf die er zurannte. Er hatte dieses Wesen passiert, es befand sich jetzt in seinem Rücken, und er sah nicht, was sie tat. Dafür gelang es Rawlins, die Tür aufzureißen. Fast hätte er sie sich noch gegen das Kinn geschlagen, doch er nahm den Kopf zurück, wollte
durch die Öffnung huschen, als sich etwas Hartes auf seine rechte Schulter legte und sich festdrückte. Die Jacke lag am Boden, er trug nur sein weißes Hemd, drehte den Kopf und sah, daß es die Hand der Frau war, die auf seiner Schulter lag. Der Druck verstärkte sich, er spürte jeden einzelnen Finger, dann riß der Stoff und kurz danach auch die Haut. Die Tür klappte wieder vor seinen Augen zu, und er schrie schrecklich. Es waren so fremde Leute, da schien ein anderer unter diesen Qualen zu leiden, doch als er wuchtig gegen die Wand prallte, wohin ihn die Frau geschleudert hatte, da verstummten die Schreie, und Frank wußte, daß er sie ausgestoßen hatte. Der Aufprall war wuchtig gewesen. Frank Rawlins kriegte keine Luft mehr. Etwas hatte sich in seinem Körper zusammengedrückt oder verschoben. Er schnappte nach Luft, und auch seine rechte Schulter schien von einem Flammenmeer umhüllt zu sein. Tränen verschleierten seinen Blick. Frank Rawlins hatte sich bisher für einen harten Burschen gehalten, wenn er an seinen Weg durch das >Berufsleben< dachte. Körperliche Gewalt hatte er in letzter Zeit nicht einsetzen müssen, da hatte er seine Leute gehabt, seine Form war nicht mehr die beste, aber er schaffte es trotz allem, wieder auf die Füßen zu kommen. Er sah auch, daß er seine Waffe verloren hatte. Sie mußte ihm aus der Hand gerutscht sein. Sie war sowieso unwichtig geworden. Dieses Weib – oder war es keines, sondern ein Roboter – schluckte die Kugeln, fing sie mit ihrem Körper auf. Nur ihr verdammtes Kleid habe ich zerschossen, dachte er, nur ihr verdammtes Kleid… Sie kam. Kalt, berechnend. Starre Augen fixierten ihn, maßen jede Körperstelle ab. Der Mund war leicht verzogen und zeigte einen arroganten Ausdruck. Sie würde ihn töten, das stand für Rawlins fest. Bei Ronco hatte sie auch keine Gnade gekannt. Sein Körper lag da, als hätte man ihn weggeworfen. Erst jetzt stellte er fest, daß an seinem linken Arm etwas Warmes herabrann. Es war sein eigenes Blut, das aus den kleinen Rißwunden an der Schulter sickerte. Finger hatten sie dort hinterlassen, Finger, lang und sehr hart. Fast wie Eisen… Die Gedanken huschten intervallweise durch seinen Kopf. Die Angst steigerte sich mit jedem Schritt, den diese schöne, kalte Bestie näher kam. Dann war sie da. Rawlins wäre am liebsten vor ihr zu Boden gesunken, auf die Knie gefallen und hätte um sein Leben gebettelt, nur wußte er, daß dies alles nichts nutzen würde. Seine Angst war hündisch. Dann schlug sie zu.
Sie sagte nichts mehr, sondern handelte mit der rechten Hand. Rawlins erwischte es auf dem Kopf. Die Welt explodierte in einem irren Schmerz, und den zweiten Treffer bekam er nicht mehr mit. Da lag er bereits vor den Füßen der Frau, die mit ihren leblosen Augen auf das erneute Opfer niederblickte. Geschafft… Sie drehte sich um. Ärger zeichnete ihr Gesicht. Ihr Vorhaben war nicht ganz geglückt. Sie hatte an Costello herangewollt, der aber war wieder verschwunden. Was tun? Sie blieb nicht mehr in Rawlins’ Büro. Auch durch die Bar ging sie nicht. Es gab noch andere Wege, um aus dem Haus in die Nacht hineintauchen zu können… *** Ich kannte Fernando Diaz nicht als Barkeeper und in seiner Berufskleidung. So wie er allerdings vor uns hockte, sah er in seinem Nachtclub bestimmt nicht aus. Er trug nur ein Unterhemd, eine schwarze Hose, war unrasiert und hatte Ringe unter den Augen. Sein Oberlippenbart wirkte wie ein schmutziger Strich. Die Bude, in der er hauste, war auch nicht die beste. Sie lag in einem kastenförmigen Bau mit Blick auf die Themse, wo sie nicht gerade am schönsten war. Als wir eintraten, aß er. Seine Schwester hatte uns geöffnet, sich sofort verzogen, weil sie zu ihrer Arbeit mußte. Sie hatte ihrem Bruder etwas zu essen gemacht. Er aß Brot und Käse, dazu trank er Wasser und Rotwein. Zuerst hatte er Angst, dann erkannte er den Chiefinspector und nickte ihm zu. »Ah, Sie sind es.« »Ja, ich bin es. Ich hatte Sie ja angerufen und habe noch zwei Kollegen mitgebracht.« Er stellte uns vor. Diaz nickte, ließ das Messer sinken und bat uns dann, Platz zu nehmen. Wir mußten uns die Stühle suchen. Ich holte zwei aus dem Nebenzimmer, für Tanner war einer vorhanden. »Wohnen Sie hier allein?« fragte ich ihn. »Nein, mit meiner Schwester. Früher haben hier noch meine Eltern gewohnt, aber die sind tot. Ist ein beschissenes Loch, aber was soll man machen? Andere wohnen noch mieser.« Das stimmte. Wir saßen in einem Raum, der als Küche und Wohnzimmer diente. Irgend jemand aus der Familie mußte sehr gläubig gewesen sein, denn an den Wänden hingen Heiligenbilder. Auch kleine Heiligenfiguren waren aufgestellt worden. In der Ecke sahen wir einen Altar, und Diaz grinste, als er unsere Blicke bemerkte. »Das habe ich
alles meiner Mutter zu verdanken, und die Schwester hat es dann übernommen.« Er trank glucksend einen Schluck Wein, wischte sich die Lippen ab und nickte. »Gesagt habe ich ja schon alles. Mehr ist mir beim besten Willen nicht eingefallen. Ich habe die Leichen entdeckt…« »Das wissen wir«, sagte Tanner. »Uns geht es auch um etwas anderes. Wir suchen ja den Mörder.« »Nicht die Mörderin.« »Wunderbar, Mister Diaz, da kommen wir der Sache schon näher. Sie sind also davon überzeugt, daß es die Frau getan hat.« »Klar, wer sonst?« Auch hier hatte Tanner den Hut nicht abgenommen. Es war warm in der Bude, aber Tanner zeigte sich eisern. Er war eben derjenige, der sich selten änderte. »Wissen Sie, was mich wundert, Mister Diaz?« »Nein.« »Daß Sie mit einer so großen Bestimmtheit von dieser Frau gesprochen haben. Die muß Sie ja ungemein beeindruckt haben, denke ich mir. Oder irre ich mich da?« »Nein, Sir, gar nicht. Das war ein Weib«, er schüttelte den Kopf und kriegte im nachhinein noch eine Gänsehaut. »Also, das war eine Person… ich habe ja schon viele Frauen in meinem Leben gesehen und erlebt. So eine allerdings nicht.« »In den Akten lasen wir etwas von ihrer Gesichtshaut«, sagte Suko. »Was ist da genau geschehen?« Diaz drehte den Kopf, um Suko anschauen zu können. »Die hat sie abgezogen. Stellen Sie sich das mal vor! Die hat doch tatsächlich ihre Gesichtshaut abgezogen. Ein Irrsinn, wie?« »Genauer bitte.« Fernando Diaz schüttelte sich. »An der Seite«, flüsterte er. »Sie zog sie einen Spalt nach unten. Da entstand eine Lücke, in die ich hineinschauen konnte.« »War sie groß?« »Nein, aber ich sah die Mechanik.« Das war die Antwort gewesen, bei der wir aufhorchten. Der Begriff Mechanik hörte sich nach einer Puppe an, nach einem künstlich geschaffenen Gegenstand, wie man es schon in der Literatur des öfteren hatte lesen können, und auch die Bühne hatte sich dieses Problems angenommen. Ich dachte dabei an die Figur der Olympia aus >Hoffmanns Erzählungen Interessenten< davon ab, sich näher um die Fahrzeuge zu kümmern. Wir standen und wußten kaum mehr als zuvor. »Eines steht fest«, faßte Tanner zusammen. »Wir werden jetzt eine namenlose Mörderin jagen müssen. Einen Roboter mit Menschenhaut. Nicht daß ich schadenfroh wäre, aber dabei wünsche ich euch beiden viel Spaß. Ich denke zumindest, daß mir der Fall aus den Händen gleiten wird, denn so weit ist die Technik noch nicht, daß sie einen perfekten Menschen nachbauen kann, der sich auch unterhält. Da spielt Magie eine große Rolle.« »Unterhalten schon«, sagte ich. »Aber nur innerhalb bestimmter Grenzen, und wenn die Fragen vorgegeben worden sind.« »Das ja.« »Es war eine Mechanik, John.« Suko hob einen Finger. »Keine Elektronik, nichts mit Chips und so…« »In der Tat.« »Wäre das auch eine Spur?« Ich hob die Schultern. »Das steht nicht fest. Einen richtigen Anhaltspunkt haben wir ja nicht. Ich denke, wir müssen es auf einem Umweg versuchen.« »Hat der auch einen Namen?« wollte Tanner wissen. »Klar, Logan Costello.« Tanner rückte seinen Hut zurecht und wischte eine Schweißbahn von seiner Wange. »Das hatte ich mir gedacht. Wunderbar, Logan Costello. Ihm wollte ich schon immer ans Leder.« »So leicht werden wir das nicht schaffen. Costello sagt nur, was er sagen will. In diesem Fall wird er alles abstreiten. Ich glaube nicht einmal, daß er sich in London aufhält.« »Wo dann?« »Prag!« »Ja, stimmt.« Tanner war ärgerlich. »Aber das werden wir noch herausfinden.« »Am besten jetzt«, sagte ich und gab Suko einen Wink, damit er den BMW aufschloß. In dem Wagen war ein Telefon. Es gibt Nummern, die habe ich im Kopf. Zwar würde ich nie und nimmer direkt zu Costello durchkommen, aber einen seiner aalglatten Vasallen würde ich schon erwischen, denn er betrieb so etwas wie ein Vorzimmer, besetzt mit Juristen und Betriebswirten. Schließlich besaß er mehrere legale Firmen und war groß in der Lebensmittelbranche tätig. Daß er Nudeln aus seiner Heimat importierte, dagegen hatte ich ja nichts. Leider war es dabei nicht geblieben. Ich hatte auf dem Beifahrersitz meinen Platz gefunden, Tanner war neben der offenen Tür stehengeblieben. So konnte er dem Gespräch folgen. Ich bekam auch eine Verbindung, und es meldete sich eine Stimme, die ich noch nie gehört hatte. Sie klang richtig dynamisch, und
als die Person meinen Namen hörte, da sackte die Männerstimme etwas ab. »Wer spricht da?« »Oberinspektor Sinclair.« »Ach so. Was wollen Sie?« »Ihren Herrn und Meister sprechen, Logan Costello, und keine Ausreden, bitte.« »Wieso Ausreden? Und wenn Sie der Queen-Gemahl wären, Mister Costello ist nicht da.« »Wo steckt er denn?« »Ich bin darüber nicht informiert.« Die Lüge nahm ich ihm nicht ab. »Dann geben Sie mir jemand, der darüber Bescheid weiß.« »Sorry, aber ich kenne keinen. Der Chef ist niemandem Rechenschaft über sein Tun und Lassen schuldig. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe zu tun.« Aufgelegt, worüber ich mich ärgerte. Es hatte keinen Sinn, es noch einmal zu versuchen. In der Tat brauchte uns niemand zu sagen, wo Costello hingefahren war. Obwohl sicherlich einige Bescheid wußten, sie würden es nicht tun. »Sollen wir hinfahren?« fragte Tanner. »Nein, das wird keinen Sinn haben.« »Also Prag?« »Ich denke schon.« »Aber ohne mich.« Das hatte ich mir auch gedacht. Noch einmal stieg ich aus und blieb vor dem Chiefinspector stehen. »Ich denke, daß sich unsere Wege hier wieder trennen werden, Tanner. Wir werden fahren und versuchen, Costello in Prag aufzustöbern.« Tanner strich mit dem Finger über den Hutrand. »Glaubst du denn, daß er dir den Weg zu dieser Roboterfrau zeigen kann?« »Ich hoffe es, wobei ich mir natürlich nicht sicher bin, wie er zu ihr überhaupt steht. Ist er ihr Feind, ihr Freund, oder steht er ihr neutral gegenüber?« »Das müßt ihr herausfinden. Weißt du denn schon, wann du ungefähr fliegen wirst?« »Nein, noch nicht. Heute bestimmt nicht mehr.« »Dann wünsche ich euch viel Glück.« »Danke, Tanner, das können wir brauchen…« *** Prag – Perle an der Moldau!
Eine Stadt, die man eigentlich nicht beschreiben kann. Ich kannte sie ein wenig, denn vor Jahren hatte ich hier zusammen mit Wladimir Golenkow die schwebenden Leichen von Prag gejagt. Doch seit dieser Zeit hatte sich einiges verändert. Es gab den Eisernen Vorhang nicht mehr, die Grenzen waren durchlässig geworden, es existierte auch nicht mehr die Tschechoslowakei, man hatte sich in zwei Länder aufgespalten, zum einen in die Tschechische Republik, zum anderen in die Slowakei mit der Hauptstadt Bratislava. Es war nicht einfach gewesen, nach Prag zu fliegen. Zumindest nicht für uns, denn wir kamen ja nicht als Touristen. Man erinnerte sich nicht mehr an mich, denn die Kollegen bei der Polizei hatten gewechselt. Unsere Kontaktperson sollte ein Kommissar Novak sein, der uns auch vom Flughafen abholen und ins Hotel begleiten wollte, das direkt im Zentrum der Stadt am Wenzelsplatz lag. Sir James hatte diesen Weg für uns geöffnet, und wieder einmal konnten wir sein Organisationstalent bewundern. Der hatte wirklich die Gabe, alle Klippen zu umschiffen. War das Wetter über London schön gewesen, so konnte man es über Prag nur als herrlich bezeichnen. Ein wunderbarer blauer Himmel ohne Wolken lachte uns an. Er lag über uns wie ein gewaltiges Zelt, aus dem heraus sich unsere Maschine nach unten senkte und allmählich der Rollbahn entgegenschwebte. Der Pilot war gut, er brachte den Jet glatt nach unten, und einige Kinder klatschten sogar Beifall. Auch von den übrigen Passagieren fiel die Spannung ab, uns eingeschlossen. »Nun«, sagte Suko und grinste mir zu. »Dann wollen wir uns mal auf die Suche machen.« »Und sie finden.« »Die schöne Unbekannte.« »Die Künstliche«, sagte ich. Suko nickte. »Paßt ja auch zu Prag, wenn ich an den Golem denke, den ersten künstlichen Menschen, den der Rabbi Low hatte schaffen wollen. Das Judentum, die jüdische Mystik, die Kabbala, der Mensch aus Lehm, das paßt einfach alles in diese Stadt, obwohl das schon fünfhundert Jahre zurückliegt. Trotzdem…« Suko lächelte. »Du scheinst diese Stadt zu mögen.« »Das stimmt. Ich mag sie. Ich mag auch Wien und Budapest. Ich fühle mich eher mit diesen Städten verwandt als mit den kalten amerikanischen Burgen, aber das mag daran liegen, daß ich das Alte sehr mag. Die Gassen, die Häuser«, ich hob die Schultern, »eben alles.« »Das Bier nicht zu vergessen.«
»Das selbstverständlich auch.« Ich schnalzte mit der Zunge. »Ein leckeres Urquell ist schon was Besonderes. Wir müssen den Kommissar dazu kriegen, mit uns in einen der Bierkeller zu gehen.« »Und dort dann hängenbleiben.« »Du bist ja bei mir«, sagte ich und grinste. »Das ist auch nötig. Ich merke schon, diese Stadt läßt dich nicht zur Ruhe kommen.« Uns drängte nichts, deshalb ließen wir uns mit dem Aussteigen auch Zeit. Ich schaute über das Rollfeld und sah auch die hügelige Umgebung der Stadt. Die zahlreichen Bauten verschwammen in der Ferne zu kompakten Schatten, und nicht weit entfernt stieg ein silbrig schimmernder Metallvogel in die Höhe. Uns empfing ein sehr warmes Wetter. Der leichte Ostwind streichelte unsere Gesichter. Er brachte den Geruch von Blütenstaub mit. Keine gute Zeit für Allergiker. Ein alter Bus brachte uns zum Terminal. Da wir am Schluß der Reihe gingen, hatten wir einen guten Überblick. Beamte und Soldaten kontrollierten mit scharfem Blick, ansonsten verlief alles reibungslos, und wir konnten, nachdem die Ausweise kontrolliert worden waren, dorthin gehen, wo das Gepäck eintraf. Wir warteten am Band und wunderten uns beide, daß wir noch nicht begrüßt worden waren. Man war über unsere Ankunft informiert, aber ein Kommissar Novak hatte sich bisher noch nicht gezeigt. »Man wird uns doch nicht vergessen haben«, murmelte Suko. »Das glaube ich nicht.« Ich hatte recht. Denn kaum waren fünf Sekunden vergangen, da tippte mir jemand auf die Schulter. Auch Suko hatte dies gesehen, und gemeinsam drehten wir uns um. Ein dicker Mann in Uniform stand vor uns. Sein Gesicht sah aus wie das eines grinsenden Clowns. Die kleinen, schwarzen Augen funkelten. Er sprach uns in Deutsch an. »Sind die beiden Männer aus London? John Sinclair und auch dieser Suko, bitte sehr.« »Ja, das sind wir.« »Dann kommen Sie bitte mit. Kommissar Novak wartet schon auf Sie.« »Ah, Sie sind das nicht.« »Nein, Herr Sinclair.« Dabei grinste er noch stärker, als hätte er noch eine Überraschung für uns. Wir folgten ihm. Er war ein fröhlicher Mensch, denn er pfiff ein Liedchen, und ich mußte lächeln, als ich auf seinen Rücken schaute. Suko war die ganze Sache nicht geheuer. Er schaute ziemlich skeptisch aus der Wäsche. Wir nahmen einen anderen Weg als die anderen Passagiere und landeten in einem abgeschotteten Teil des Flughafens, wo es keine großen Panoramascheiben gab. Gänge, Türen, Beamte, die geschäftig
hin- und hereilten, klingende Telefone, Schreibmaschinengeklapper, das roch richtig nach Arbeit. »Hat der gute Kommissar Novak sich versteckt?« fragte ich. »Nein, nein, gleich sind wir da.« Vor einer schmalen Tür, die einen grünen Anstrich aufwies, blieb er stehen. Durch ein gegenüberliegendes Fenster drang Sonnenlicht und bedeckte die Türfläche mit einem hellen Schein. Sie sah aus wie frisch poliert. Ich schaute durch die Scheibe nach draußen. Mein Blick fiel auf große Hallen. Das Rollfeld sah ich nicht. Der freundliche Mann klopfte an die Tür, öffnete sie, stieß sie aber nicht auf, das überließ er uns. »Bitte sehr, die Herren, ich wünsche Ihnen viel Spaß.« »Werden wir wohl haben.« Suko hatte den Raum vor mir betreten. Da vor dem Fenster eine Jalousie nach unten gezogen war, herrschte ein dämmriges Licht vor. Nur auf dem Boden zeichneten sich helle und dunkle Streifen als schmales Muster ab. Und genau dort, wo das Muster endete, stand ein Schreibtisch, hinter dem unser Kommissar Novak saß. Nein, das war kein Kommissar, das war eine Kommissarin, die sich jetzt erhob und uns zulächelte. »Willkommen in Prag«, sagte sie in unserer Heimatsprache und genoß unser Staunen. Damit hatten wir wirklich nicht gerechnet, denn die Kommissarin war eine schlanke Frau um die Dreißig, die ein rehbraunes Kostüm trug, das auch zu ihren Haaren paßte. Im Ausschnitt des Kostüms schimmerte der weiße Stoff einer Bluse. Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln, als sie fragte: »Überrascht?« »Das kann man wohl sagen«, bemerkte ich. Lachend kam sie hinter ihrem Schreibtisch hervor und reichte uns zunächst die Hand. »Dann nehmen Sie bitte Platz, meine Herren.« Sie deutete auf zwei schmale Sessel und weidete sich noch immer an unseren überraschten Gesichtern. »Ich bin Milena Novak, Kommissarin.« »Ja, sehr erfreut«, sagte Suko. »Hat man Ihnen nicht gesagt, mit wem Sie es zu tun haben werden hier in Prag?« »Leider nicht.« »Ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht, Mister Sinclair.« »Nein, ganz im Gegenteil.« »Das freut mich.« Wir hatten gewartet, bis sie Platz genommen hatte, erst dann setzten wir uns auch. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einen Kaffee besorgen…« »Danke, nicht jetzt.« Suko hatte für mich mitgesprochen. »Ich denke, daß wir hier einiges zu tun haben.«
Milena Novak nickte. Sie strich ihr halblanges Haar zurück und schlug die Beine übereinander. Sehr schöne Beine. »Das glaube ich auch, Inspektor, aber es wird schwer sein, Spuren zu finden.« »Was wissen Sie?« fragte ich. »Nicht viel. Mein Chef hat mich eingeweiht. Sie sind hinter einem Mann her, der sich Logan Costello nennt und sich angeblich hier in der Stadt aufhalten soll.« »Stimmt.« Milena nickte. »Wir haben natürlich sofort nachgeforscht. In den Hotels und Pensionen, aber der Name ist auf keinem Meldezettel aufgetaucht. Tut mir leid.« »Was nicht heißen muß, daß sich Costello nicht hier aufhält. Es gibt doch zahlreiche Möglichkeiten, um unerkannt zu bleiben, denke ich.« »Jetzt ja.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Darf ich fragen, was Sie diesem Costello vorwerfen?« Die Antwort gab Suko. »Mafia, Kollegin, große Mafia, ganz oben.« »Ach, sagen Sie doch Milena, das hört sich nicht so steif an. Ich nenne Sie auch beim Vornamen.« Sie wartete unser Einverständnis nicht erst ab, sondern sagte: »Also ein hohes Tier.« »Richtig«, bestätigte Suko. »Costello ist in London der Boß aller Bosse. Er hat das Geschäft in der Hand. Er kontrolliert praktisch die gesamte Unterwelt…« Während der Worte hatte es einige Male in den Augen der Frau geblitzt. Suko mußte da wohl eine wunde Stelle getroffen haben, was auch ihr Nicken andeutete. »Ja, ich denke schon, daß dies eine Gefahr ist. Wir merken es ja auch. Die Mafia ist dabei, hier Fuß zu fassen. Erst vor sechs Wochen wurde ein Kollege von mir erschossen. Angeblich waren es Mafia-Leute. Wir haben den oder die Killer noch nicht ermitteln können. Man ging davon aus, daß sie aus dem Ausland kamen. Prag ist leider zu einer sehr wichtigen Stadt für das organisierte Verbrechen geworden. Von hier aus geht es schnell in den Osten, wobei ich an GUSStaaten denke. Es ist viel in den letzten Jahren geschehen, der Wenzelsplatz ist für Touristen unsicher geworden, es passieren leider viele Überfälle. Die Prostitution hat sich wahnsinnig ausgeweitet, aber das wissen Sie ja. Sie wollen also diesen Logan Costello hier finden.« »Unter anderem«, sagte ich. Milena Novak zeigte uns ein feines Lächeln. »Ja, ich habe mir schon gedacht, daß da noch etwas anderes dahintersteckt.« Ich erwiderte das Lächeln. »Was wissen Sie denn über uns? Darf ich das fragen?« »Darauf habe ich sogar gewartet, John. So blauäugig bin ich natürlich nicht. Ich weiß schon, daß mir hier keine heurigen Hasen gegenübersitzen. Wie ich hörte, John, waren Sie schon hier.« »Es liegt eine Weile zurück.«
»Nun ja, ich habe mich im Archiv umgesehen. Zwar hat sich bei uns vieles verändert, aber nicht alle Akten sind verschwunden, und die schwebenden Leichen von Prag sind deshalb nicht vergessen.« Ihr Blick wurde hart. »Könnte es sein, daß auch Ihr erneuter Besuch mit einem ähnlich gelagerten Fall zusammenhängt?« »Das könnte sein«, gab ich zu. »Dann stimmen meine Informationen doch.« »Welche Informationen?« »Die ich über Sie eingeholt habe. Man war, das sagte mir mein Vorgesetzter, in London ziemlich gesprächig. Ich weiß, daß Sie auch als Geisterjäger bezeichnet werden, und da sind Sie natürlich hier in Prag gerade richtig. Hier lebt man mit den Geistern, hier gibt es Spukhäuser und auch verfluchte Orte, da brauche ich nur an den alten jüdischen Friedhof zu denken. Unsere Geschichte hat ja auch, was Geister und Grusel angeht, einen gewissen Ruf. Denken Sie an den Golem des Rabbi Loew.« »Sicher…« Milena wunderte sich. »Sie sagen das mit einem so seltsamen Unterton in der Stimme.« »Bewußt, meine Liebe, bewußt. Es könnte sein, daß uns der in diese Richtung führt.« »Ach«, sagte sie nur und legte ihren Arm bequem auf das Rückenteil ihres Sessels. »Erzählen Sie doch mal.« »Wir suchen eine Frau«, sagte Suko. »Wie heißt sie?« »Das wissen wir nicht.« Milenas Gesicht verdüsterte sich. »Soll ich jetzt lachen? Wahrscheinlich nicht, dazu ist die Sache bestimmt zu ernst.« »Ja«, sagte ich. »Sie ist sehr ernst. Wie schon erwähnt, wir suchen eine Frau, deren Namen wir nicht kennen. Wir selbst haben sie auch nicht gesehen, wir können sie nur beschreiben. Es ist eine sehr schöne Frau. Man muß dabei von einer kalten Schönheit sprechen, Milena.« »Ho, das hört sich an, als hätten Sie sich in diese Person direkt verliebt.« »Gott behüte, das nicht. Aber hören Sie bitte zu. Diese Frau ist perfekt. Und noch einmal: Sie ist zu perfekt, um ein Mensch zu sein, obwohl sie so aussieht.« Den Satz ließ ich zunächst einmal im Raum stehen und wartete die Reaktion der Kollegin ab. Sie erwiderte nichts, aber sie dachte scharf nach. »Zu perfekt für einen Menschen«, murmelte sie. »Soll ich daraus folgern, daß diese Unbekannte ein Unmensch ist?« »Das könnte man sagen.« »Oder wäre der Begriff des weiblichen Golems besser.« »Genau.«
Milena Novak blieb relativ gelassen. Sie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Hände lagen auf den beiden Holzlehnen des Sessels, und wir stellten fest, daß sich ihre Finger leicht zuckend bewegten. »Akzeptieren Sie dies, Milena?« »Es fällt mir schwer…« »Kann ich mir denken. Aber ich werde Ihnen noch etwas sagen.« So gut wie möglich beschrieb ich die Frau und natürlich auch ihre Reaktionen, und Milena zeigte sich erschreckt. »Was sagen Sie da? Sie konnte sich die Haut vom Gesicht abziehen und präsentierte sich als Roboter?« »Ja, mit einer Mechanik.« »Aber der Golem war aus Lehm geformt.« »Man ist eben moderner geworden«, erwiderte ich, ohne daß meine Stimme spöttisch klang. »Ich denke, daß wir es hier auch mit einem magischen Phänomen zu tun haben. Ich weiß nicht, woher diese Person gekommen ist, wie sie entstand, ich weiß einfach gar nichts. Ich rechne nur damit, daß wir sie möglicherweise in dieser Stadt finden können.« »Sehr gut, aber wo?« »Keine Ahnung.« »Wissen Sie denn nicht Bescheid, Milena?« fragte Suko. »Oder sind Sie keine Pragerin?« »Doch, doch, ich kenne mich hier gut aus. Ich bin auch mit der Geschichte vertraut, aber ich weiß nicht, was diese seltsame Frau mit allem bezweckt.« »Das ist uns ebenfalls unbekannt.« »Und den Namen wissen Sie auch nicht?« »Es bleibt dabei – nein.« Milena Novak dachte nach. Sie ließ sich dabei Zeit. Nach einer Weile meinte sie: »Wenn alles stimmt, was Sie mir gesagt haben, dann hat sich diese unbekannte Person ja den richtigen Platz ausgesucht, denke ich.« Sie lachte schrill, als würde sie sich dabei an bestimmte Dinge erinnern. »Prag lebt mit seinen Toten, mit seinen Friedhöfen, mit seiner Geschichte. Der Golem ist allgegenwärtig, obwohl man ihn nicht sieht.« »Wie meinen Sie das?« »Es gibt hier das Haus des Dr. Faustus, wo es heute noch spuken soll. Wir haben Orte, wo es von Gespenstern nur so wimmeln soll, und es gibt auch den alten Jüdischen Friedhof, wie Sie sicherlich wissen.« »Den kenne ich sogar.« »Noch besser.« »Meinen Sie damit etwas Bestimmtes?« »Ja, John, das meine ich. Es gibt hier ein Jüdisches Viertel, wo man einfach gewesen sein muß, sonst kennt man Prag nicht.« »Es hört sich an, als sollten wir dorthin gehen«, meinte Suko.
Milena antwortete nach einem Räuspern. »Ja, dafür bin ich auch. Sollte die Frau tatsächlich existieren, wird sie versuchen, die alten Plätze aufzusuchen. Letztendlich ist sie ja so etwas wie ein weiterentwickelter Golem, falls es stimmt, was Sie da annehmen.« »Ich möchte davon ausgehen.« »Hm.« Die Kollegin sah aus, als wollte sie aufstehen, sie blieb aber sitzen. »Da hätte ich noch eine Frage, John. Was steckt eigentlich dahinter? Wie bringen Sie diese Frau und Ihren Mafioso denn zusammen? Wo ist die Verbindung?« »Die suchen wir noch«, sagte Suko. »Haben Sie denn keine Spur?« »Leider nur eine sehr vage. Diese Frau hat sich in einer Londoner Bar nach Costello erkundigt, das ist alles. Da wir Grund zu der Annahme haben, daß er nach Prag gereist ist, gehen wir einfach davon aus, daß sie ihm folgte.« »Einfach und genial.« »Mit einem Zufallsfaktor.« »Den brauchen wir als Polizisten ebenso wie die Neugierde der Nachbarn.« »Da haben Sie recht.« Sie stand auf. »So, dann werden wir fahren.« »Zuerst ins Hotel«, sagte ich, »oder?« »Aber sicher.« »Und dann?« Sie lächelte wissend. Dabei entstanden Grübchen auf der glatten Haut an den Wangen. »Ich habe nicht grundlos von der Neugierde der Nachbarschaft gesprochen. Es gibt immer Augen, die offengehalten werden. Bei Tag und auch bei Nacht. Wir werden deshalb in die Nachbarschaft des Friedhofes gehen und dort eine alte Synagoge besuchen.« »Wie bitte…?« »Keine Sorge, das Lokal, eines der ältesten hier in Prag, heißt nur >Zur alten Synagoge Bruder< kam… Sie bewegte die Lippen. »Cigam«, flüsterte sie, und es hörte sich an wie ein leiser Hilfeschrei. Durch die sie umgebende und so schnell nicht abreißende Geräuschkulisse erreichte sie eine Botschaft besonders markant. Es war das Pferdegetrappel auf dem alten Kopfsteinpflaster und das darin tönende Rollen von Kutschenrädern. Das hatte etwas mit ihr zu tun. Für sie gab es einfach keine andere Möglichkeit. Altea schaute nach rechts und entdeckte den Schimmel, der die Kutsche zog. Über dem Körper des Tieres lag eine grüne Decke. Stoisch ging das Pferd weiter, es kümmerte sich nicht um den Betrieb, denn den war es gewöhnt. Auf dem Kutschbock saß ein junger Mann mit blonden Haaren. Er trug eine Art Uniform, eine blaue Jacke mit gelben Längsstreifen, hielt die Zügel locker in den Händen, und sein Körper bewegte sich im Rhythmus der Federung. Da war er. Sie wußte es genau, obwohl sie noch nicht sah, wer sich in der offenen Kutsche aufhielt. Bisher hatte sich Altea an der Laterne abgestützt gehabt, nun aber löste sie sich von ihr und ging zwei kleine Schritte vor, bis sie den Rand der Straße erreicht hatte. Durch die Lücke zwischen zwei geparkten Autos schob sie sich hindurch, ging noch einen Schritt nach vorn, ein Radfahrer mußte ihr dabei mit einer schnellen Schlenkerbewegung ausweichen, dann endlich sah sie das Pferd dicht vor sich, das plötzlich stoppte. Es bewegte unruhig den Kopf, stieß ein kurzes Wiehern aus, und der junge Mann auf dem Bock hatte Mühe, es ruhig zu halten. Irgend etwas störte das Tier. Wahrscheinlich spürte es die Ausstrahlung dieser
fremden Person, die so ganz anders war als die eines normalen Menschen. Es schnaubte, und Altea hob die Hand. Sofort war das Tier ruhig. Es senkte den Kopf und machte einen beinahe lethargischen Eindruck. Der Kutscher nickte ihr zu. Er lächelte dabei und wurde rot, weil er eine so perfekte Frau selten gesehen hatte. »Steigen Sie hinten auf. Sie werden schon erwartet.« »Ich weiß«, sagte Altea. Schwungvoll erklomm sie die Kutsche und setzte sich auf eine der beiden Bänke. Jetzt waren beide belegt. Vor ihr saß jemand, den sie kannte, den sie auch erwartet hatte – es war Cigam! *** Der Kutscher knallte mit der Peitsche, ohne den Pferderücken dabei zu berühren. Das Tier kannte das Signal, es schüttelte sich noch einmal und setzte sich dann in Bewegung. Die Hufe schrammten über das Kopfsteinpflaster, durch die Kutsche ging ein Ruck, dann rollten auch deren Räder. Altea sagte kein einziges Wort. Sie starrte nur die ihr gegenübersitzende Gestalt an. Cigam hatte sich in die rechte Ecke des Sitzes gedrängt. Er trug dunkle Kleidung, wobei die Jacke bis zu seinem Hals hoch geschlossen war. Sein graues Gesicht sah aus wie eine schiefe Maske, aber nicht, weil er den Kopf etwa schief gehalten hätte, bei ihm wirkten die Proportionen ebenso. Da hatte der Teufel etwas schlecht gemacht, denn das graue Gesicht sah aus, als wäre es aus blinden Spiegelscheiben zusammengesetzt worden. Die Augen standen schief, der lippenlose Mund war ein verzogener Strich, die Nase wirkte wie ein leicht abfallender Strich mit einer Kante, auch die Ohren paßten nicht so recht zu dieser Erscheinung, die Augen ebenfalls nicht. Sie waren kalte, tote Gewässer, ohne Leben, einfach blicklos. Sie strahlten nicht einmal Kälte aus, sie waren einfach nur da und wirkten wie gläserne Halbkugeln, die jemand in das schiefe Gesicht hineingedrückt hatte. Cigam war eine Gestalt ohne Gefühl, und diese Augen unterstrichen die Tatsache noch mehr. Altea sagte nichts. Sie schaute Cigam nur an, der für sie so etwas wie ein Bruder war, da beide auf denselben Schöpfer zurückblicken konnten. Sie schauten sich in die Gesichter, doch sie enthielten sich eines Kommentars. Altea blickte auf Cigams Hände. Sie lagen ausgestreckt über der grauen Decke, die die obere Hälfte seiner Beine und Schenkel bedeckte.
Erst als die Kutsche den Ort des Geschehens passiert hatte, begann er zu sprechen. »Du hast versagt!« Altea konnte nicht widersprechen. Es stimmte. Im Prinzip hatte sie versagt. »Warum?« »Sie waren schneller.« »Wer?« »Sie alle.« »Und jetzt?« »Wir werden einen erneuten Anlauf starten.« Zum erstenmal lächelte das Kunstgeschöpf des Teufels. Es war kein Lächeln, wie man es normalerweise kannte. Es glich mehr einem starren, bösen Grinsen, als sich der Spalt, der den Mund darstellen sollte, in die Breite zog und gleichzeitig in die Höhe, als sollte das schiefe Gesicht auf der rechten Wange einen erneuten Einschnitt bekommen, denn bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, wo sich die einzelnen Teile des Gesichts berührten, da zeigte die >Haut< hauchdünne Fäden. »Das ist schlecht. Du weißt, um was es geht.« »Ja.« »Du hast den Meister enttäuscht!« »Ich werde es wieder richten.« Cigam schwieg, auch Altea wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Das Pferd zog die Kutsche, und die unverwechselbare Lärmkulisse baute sich wieder auf. Sie sahen sich nur selbst, von der Umgebung bekamen sie nichts mit, und auf der Decke bewegte Cigam unruhig seine Hände. »Glaub es mir«, sagte Altea. »Er wird dich vielleicht bestrafen!« »Nein, er muß mir eine Chance geben. Du kennst die beiden Männer und weißt, wie gefährlich sie sind…« »Das stimmt.« »Ich habe es nicht geschafft. Ich war nahe dran, dann war das Schicksal gegen mich.« Cigam nickte, ohne überzeugend zu wirken. »Du wirst es dem Meister erklären müssen.« »Wartet er?« »Mit den anderen.« »Dann fahren wir jetzt zu ihm?« »Ja.« »Was wird Costello sagen?« »Ich weiß es nicht, aber er wird kaum Chancen haben. Er soll sich heraushalten. Diese Stadt gehört uns. Wir werden die neuen Golems schaffen, wir werden sie anders machen als der Rabbi. Wir werden sie nicht aus Lehm formen, sie werden sein wie du, und wenn uns Costello dabei hilft, kann er bleiben. Wenn nicht, werden wir ihn zerreißen und
fressen.« Für einen Moment schillerten seine Augen, und Altea nickte. Damit war sie voll und ganz einverstanden. »Wo wartet er?« »In dem alten Haus.« »Fährt der Kutscher hin?« »Ja.« »Was machen wir mit ihm?« »Ich weiß es nicht.« »Kann er uns verraten?« »Er ist eigentlich hirnlos. Wir haben ihn gekauft. Er soll uns fahren, wohin wir wollen. Ich habe ihm auch Geld gegeben.« Die schöne Kunstfrau nickte. Sie war zufrieden, sie vertraute Cigam. Es gab ihn schon länger als sie, denn sie mußte sich erst zurechtfinden. Da Cigam nicht mehr sprach, gab ihr dies Gelegenheit, sich umzuschauen. Der Kutscher kannte sich in Prag aus, er würde sein Ziel nicht verfehlen, und sie hatten bereits die Gasse verlassen, in der sich die beiden getroffen hatten. Eine noch engere Gasse hatte sie aufgenommen. Sie war so schmal, daß die Kutsche soeben hindurchpaßte, und sie war nur von einer Seite aus zu befahren. Häuser mit grauen, brüchig wirkenden Fassaden rahmten die Gasse ein. Wer sie verlassen wollte, konnte es nur durch schmale Lücken, die sich hin und wieder zwischen den Häusern auftaten und wo alte Steintreppen schräg und ausgetreten in die Höhe führten, zu anderen Häusern oder kleinen Plätzen in der Prager Altstadt. Über allem stand der blaue Himmel. Aber die Luft drückte, und der Wind schaffte es nicht, die Gerüche aus dieser sehr schmalen Gasse zu vertreiben. Aus allen Öffnungen und Nischen schien der unsichtbare Dampf zu fließen, der über das aufgerissene Pflaster wehte. Der Weg führte leicht bergauf. Am Ende der Gasse drängten sich einige Menschen um zwei Musiker zusammen, die wieder anfingen zu spielen, nachdem sie Münzen eingesammelt hatten. »Halte an!« rief Cigam. Er hatte so laut gesprochen, daß er auch von dem jungen Kutscher gehört worden war. Der Mann zerrte an den Zügeln, und der Schimmel stoppte. Die Geräusche erstarben. Nur die Klänge der Musik wehten den beiden aussteigenden Personen entgegen. Es waren böhmische Melodien, sehr fröhlich und zum Tanze einladend. Bezahlt worden war der Kutscher schon. Und er hatte Glück gehabt, daß die beiden ihn laufenließen. Als der Mann und die Frau sich einige Schritte von der Kutsche entfernt hatten, spürte der junge Mann auf dem Bock plötzlich die Kälte, die als Eishauch gegen ihn strömte und ihn wie ein Gefängnis umschloß. Die ganze Zeit über hatte er ein ungutes Gefühl gehabt. Er war mit seinen Fahrgästen nicht zurechtgekommen und war froh, trotz des hohen Salärs, verschwinden zu können. Er tat
etwas, was er nur in Ausnahmefällen machte. Er ließ die Peitsche kurz auf den Rücken seines Pferdes knallen, nicht sehr fest, dafür sorgte er schon, aber das Tier war es nicht gewohnt. Mit einem schrillen Wiehern startete es so rasch wie möglich. Die Kutsche rutschte und schwang. Sie polterte über das holprige Pflaster hinweg, wäre fast gegen eine Wand geprallt, aber sie fing sich wieder. Cigam und Altea schauten ihr nicht nach. Für sie war der Fahrer bereits vergessen. Cigam drehte sich einmal um. Seine Augen flackerten dabei, als würde kaltes Feuer in ihnen brennen. Er schaute auf die Versammelten und auch auf die Musiker, als wollte er sich im nächsten Moment auf sie stürzen und sie zerreißen. Er ging jedoch weiter. Sein Ziel war eine der schmalen und krummen Treppen, die zwischen den Häusern in die Höhe führten, als wollten sie erst dort enden, wo der blaue Himmel begann. Das traf nicht zu. Nach einem Knick waren noch genau vier Stufen zu gehen, um einen Platz zu erreichen, auf den die Sonne schien. An einigen Fensterbänken waren Blumenkästen angebracht worden. Aus ihnen schauten bunte Blumen hervor, als wollten sie die Besucher willkommen heißen. Er wartete ab und hörte, wie Altea ebenfalls die letzten Stufen nahm und in die Stille dieses Platzes hineintrat. Es war wirklich sehr still. Die Stadt schien weit entfernt zu sein. »Ist es hier?« Cigam nickte. Mit seinem haarlosen Schädel und der grauen, kalten, auch abstoßenden Haut sah er aus wie ein perfekter Nosferatu. Nur fehlten bei ihm die blutsaugenden Vampirzähne, ansonsten paßte einiges zu diesem Aussehen. Er drehte sich nach rechts und deutete dabei auf die Fassade eines dunklen Hauses. Selbst die Fenster wirkten düster. Das Haus sah unbewohnt aus. Es war klein, aber breit, es duckte sich gegen die anderen Häuser, und nicht eine Blüte verschönerte seine Fensterfront. »Dort sind sie.« »Was willst du tun?« »Ich werde einzig und allein nach den Anweisungen des Meisters handeln, falls sie nicht mitmachen, töten wir sie.« Altea nickte. »Wie viele sind es?« »Mehrere.« Cigam ließ sich nicht mehr aufhalten. Er steuerte auf dem direkten Weg die kleine Tür an, die den Eingang bildete. Sie saß schief und sah so aus, als könnte sie mit einem mittelschweren Tritt aus den Angeln gesprengt werden. Das hatte Cigam nicht vor. Er drückte sich dagegen und schaute in das Halbdunkel des Hauses, in dem es nach Staub ebenso roch wie nach einer nicht fortzubekommenden Feuchtigkeit.
Wie ein breiter Schatten schlich Cigam in das Innere des schiefen Hauses. Er störte sich auch nicht daran, als er das typische Geräusch hörte, das entsteht, wenn eine Waffe durchgeladen wird. Kugeln machten ihm nichts aus, sie ärgerten ihn nur, wenn sie ihn trafen, und er wollte gleich die richtigen Zeichen setzen. Von rechts her näherte sich der Schatten. Es war ein Mann, der eine Maschinenpistole in der Hand hielt und den Fehler beging, durch die offene Tür zu schauen. Er wurde von dem hereinströmenden Licht etwas geblendet. Einen Augenblick später brüllte er auf. Cigam hatte zugeschlagen und sein Gesicht zerstört. Der Mann schoß noch. Die Garbe ratterte in den Boden, dann taumelte er an Cigam vorbei und fiel auf das alte Holz, wo er wimmernd liegenblieb. Altea hatte mittlerweile die Tür geschlossen. Cigam schlenkerte, seine rechte Hand und schüttelte die letzten Blutstropfen ab. Um den Verletzten kümmerte er sich nicht. Er betrat einen relativ großen Raum, der nur deshalb so groß sein konnte, weil die Zwischenwände entfernt worden waren. Es war Platz genug geschaffen worden für die wartenden Männer, und dazu gehörte jemand, der aussah, als wäre er aus altem Beton gegossen worden. Das war Logan Costello, der tatsächlich den Spitzoder Kampfnamen Betongesicht bekommen hatte. Costello war bei den Schüssen aufgesprungen. Er hatte miterlebt, wie brutal Cigam vorging, und er konnte sich jetzt nur auf zwei Leute verlassen, die ihn einrahmten und ihre schweren Revolver gezogen hatten. Sie trauten sich keinen Schuß mehr zu, denn jeder von ihnen hatte gespürt, daß ein Hauch Hölle zu ihnen gekommen war. Cigam ging vor. Er schaute nur nach vorn, er sah die Umrisse der Männer und fixierte Costello. Der ging einen Schritt zurück. Was er sah, hatte ihn erschaudern lassen. Das bleichsilbrige Gesicht des magischen Kunstgeschöpfes schien in der Luft zu schweben und sich ihm zu nähern wie ein flacher Ballon. Alles andere war verwischt und verschwommen und schien von der Dunkelheit des Bodens aufgesaugt worden zu sein. Die Frau hinter Costello war kaum zu sehen, aber der Mafiaboß wußte, wie sie aussah. Nur durfte er sich von deren Schönheit nicht blenden lassen. »Es war kein freundlicher Empfang, Costello!« sagte Cigam mit seiner flachen Stimme. »So etwas mag ich nicht. Ich hoffe, daß du und deine Männer Bescheid wissen, wer hier die Herren sind.« Er tippte ihm lässig gegen die Brust, und der große Costello fiel zurück in seinen Stuhl, der unter dem Gewicht des Mannes ächzte. Die beiden anderen Mafiosi, auch nur mehr Schattengestalten, hatten ihre Waffen verschwinden lassen. Sie waren eingeweiht, und sie, die
bisher mit Menschenleben nur gespielt hatten, sie hatten erlebt, was es heißt, dem Grauen zu begegnen. Die großen und abgebrühten Killer waren sehr ruhig geworden. Altea blieb hinter Cigam stehen wie eine Leibwächterin. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und überließ ihrem > Bruder< das Terrain. Der schaute sich um. Er sah, daß ihn nichts mehr störte und senkte seinen flachen Kopf. Von unten herauf schaute ihm Costello ins Gesicht. Eine Szene, die er nicht gewohnt war, denn normalerweise war es umgekehrt. Da schauten die anderen zu ihm hoch. Zumeist bettelten und winselten sie. Soweit war es bei Costello noch nicht, aber der mächtige Mafiafürst spürte, daß er hier nur zweiter Sieger werden würde. Er hatte sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen. Er hatte geglaubt, den Osten – dazu zählte er Warschau und Prag – überrennen zu können, doch da hatte sich Widerstand formiert. Nur war er kein Mensch, der schnell aufgab. Er hatte sich schon in früheren Zeiten mit der Hölle verbündet und wollte dies auch jetzt so halten. Nur mußten da noch einige Hindernisse überwunden werden, denn so leicht war es nicht zu schaffen. In dieser Stadt hatten sich andere schon ihre Pfründe ausgesucht. Er war Cigam in die Quere gekommen, ohne es zu wollen. Zuerst hatte er die Warnungen nicht beachtet und darüber gelacht. Dann war er den Behörden aufgefallen, und die hatten eine Agentin nach London geschickt, um dort zu recherchieren. Dazu war es nicht mehr gekommen. Jemand hatte sie getötet, ihr die Haut abgezogen und für sich genommen. Wahrscheinlich war Cigam der Häuter gewesen, aber er hatte mit des Teufels Hilfe seinen verdammten Sündenfall geschaffen, und nun mußte sich Costello zwei dieser Wesen stellen. Er suchte nach Möglichkeiten, sich zu arrangieren. So hatte er früher schon gehandelt, deshalb war ihm ein Kompromiß mit den Mächten der Finsternis nicht fremd. Ja, und dann war da noch etwas. Zwei Männer, die er in die tiefste Hölle verfluchte, weil sie ihm schon seit Jahren Ärger bereiteten und ihm auch, das mußte er eingestehen, einige Niederlagen beigebracht hatten. Sinclair und Suko hatten Blut geleckt und die Prager Spur aufgenommen. Sie waren da, Costello wußte es, und er wollte ihren Tod. Eigentlich war er froh, daß sie sich in der Stadt aufhielten. So konnten seine Probleme noch zurückgestellt werden, denn Cigam war Sinclair ebenfalls nicht unbekannt. Auch das magische Kunstgeschöpf hatte wegen des Geisterjägers schon Niederlagen einstecken müssen. Er war
ein Geschöpf des Teufels, und er brachte nicht nur dessen Brutalität mit, sondern auch die Menschenverachtung, denn er war darauf programmiert, sein teuflischmagisches Gift zu verspritzen. Wie bei Costello. Obwohl Cigam nur vor ihm stand, spürte der Mann, wie sehr ihn dessen Nähe verunsicherte. Von ihm strömte etwas aus, das er sich nicht erklären konnte. Costello hatte schon oft genug Kontakt mit dem Teufel gehabt, er war ihm in verschiedenen Gestalten begegnet, als Monster ebenso wie als falscher Mensch, doch der Eindruck von ihm war anders gewesen als der des vor ihm stehenden Cigam. Von ihm ging etwas aus, mit dem er nicht zurechtkam. Es war etwas Giftiges, das sich auch in seinem Hirn festfressen wollte. Menschenverachtend, böse, nur auf Tod programmiert, und beinahe kam ihm das Kunstgeschöpf des Teufels schlimmer vor als der Satan selbst. Kein feuriges Gesicht, keine glühenden Augen, sondern nur die kalte, widerliche Maske, die zu der Stadt paßte, in der der Golem entstanden war. Eine Stadt mit dem ersten Untoten, eine seelenlose Maschine auf magisch geladenem Boden. Es war klar, daß sich Geschöpfe wie Cigam und Altea hier wohl fühlten und keinen Zentimeter Terrain aufgeben würden. Daß Costello noch am Leben war, verdankte er im Prinzip dem Teufel, mit dem er damals zusammengearbeitet hatte, denn auf keinen anderen als ihn hörte Cigam. Normalerweise wäre er längst zerfleischt worden. Er kümmerte sich nicht um den wimmernden Schwerverletzten, der auf dem Boden lag und sich in eine Ecke verkrochen hatte. Der Mann jammerte nach einem Arzt, er mußte irrsinnige Schmerzen erleiden. Costello umklammerte die Lehnen des Stuhls hart wie einen Rettungsanker. Er spürte zwischen dem Holz und seinen Handflächen den dünnen Film aus Schweiß, der auch sein Gesicht bedeckte, denn in dieser Lage war er der Verlierer. Er redete nicht. Jedes Wort konnte falsch sein und Cigam zu einer unberechenbaren Reaktion verleiten. Deshalb mußte er die Ruhe bewahren. Nach einer Zeit, die ihm unendlich lang vorkam, sprach Cigam ihn an. Er stieß die Worte von oben auf ihn nieder und sagte nur: »Sie leben noch!« Costello blieb ruhig. Nur keine Reaktion zeigen. Die Hände allerdings umklammerten noch härter die Lehnen. Er wußte genau, wen Cigam damit gemeint hatte. Also hatte es Altea nicht geschafft. Costello wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Im Prinzip nicht, denn Sinclair war jemand, der ihn jagte. Aber er war auch berechenbar, weil er und Suko
sich an Recht und Gesetz hielten, was für eine magische Kunstfigur wie Cigam keinerlei Bedeutung hatte. Sie lebten noch! Dann würden sie auch kämpfen! Die Situation hatte einen Knick erfahren. Es würde zu einer weiteren Konfrontation kommen, um eine Entscheidung herbeizuführen. »Hast du gehört? Sie leben noch!« Costello nickte. »Was sagst du?« Der Mafioso ärgerte sich, daß er all seine Sicherheit verloren hatte. Er kam sich so verdammt klein vor. Er überlegte fieberhaft, welche Antwort Cigam genehm sein konnte, denn er durfte um Himmels willen nichts Falsches sagen. »Wir müssen sie töten!« Tat er was, tat er nichts? Nein, er reagierte nicht. Die Antwort schien ihm gefallen zu haben. »Ja, du hast recht.« »Soll ich dir helfen?« Cigam lächelte erst, dann lachte er hart. »Ja, du kannst mir helfen, aber was willst du schon tun? Du bist in dieser Stadt nicht einmal geduldet, du lebst hier von meiner Gnade. Du hast dich hier festsetzen wollen, ohne zu wissen, daß die Stadt mir gehören wird. Das hat mir der Teufel versprochen, denn ich bin die Fortsetzung des Golems. Was damals unfertig gewesen war, ist nun perfekt. Ich hatte meine Schwester zu dir nach London geschickt, um dich zu warnen, aber du hast sie nicht mal empfangen, obwohl du dich in der Stadt aufgehalten hast. So etwas können wir nicht verzeihen. Du hast meine Schwester abwimmeln lassen wollen. Beide, die es versuchten, sind tot, und du willst hier das Zepter an dich reißen, was dir nicht gelingen wird.« »Das weiß ich jetzt!« »Bettelst du?« »Nein, ich habe meinen Fehler eingesehen. Ich werde mich aus dieser Stadt zurückziehen und…« Cigam schlug Costello gegen den Mund. Es war ein blitzschnell geführter Schlag und ein harter Treffer. Der Mafioso hatte das Gefühl, als würden ihm die Zähne in den Rachen gestopft. Sein Kopf prallte zurück und stieß gegen das Ende der Lehne. Die beiden Leibwächter wollten in die Höhe springen und eingreifen, sie waren es einfach so gewohnt, aber Cigam ließ es nicht zu. Er packte den ersten noch in der Bewegung, schleuderte ihn herum und wuchtete ihn in den Raum hinein. »Er gehört dir, Schwester!« Der zweite wollte schießen.
Er feuerte auch, die Kugel erwischte Cigam und drang ihm in den Bauch. Bei einem Menschen wäre das Blut in einem Strom herausgeschossen, bei ihm geschah gar nichts. Er schaute nicht mal hin, sondern schnappte sich den Waffenarm des Mannes. Der Leibwächter, ein Bulle und ein ehemaliger Ringer, hatte das Gefühl, von einem mächtigen Schraubstock umklammert zu sein. Er konnte nichts dagegen machen, als sein Arm wuchtig herumgedreht wurde. Er spürte einen irren Schmerz und hörte auch das Knacken und Knirschen. Dann drosch ihn ein Faustschlag zu Boden. Mit dem Gesicht zuerst schlug er auf. Der Mann kam nicht mehr hoch. Cigam tötete ihn mit der rechten Hand, die er wie eine Lanze einsetzte. Er drehte sich um, weil er schauen wollte, wie Altea mit dem zweiten Mann fertig wurde. Währenddessen hockte Costello unbeweglich auf seinem Stuhl und konnte nicht fassen, was da mit seinen Männern geschah, in die er so viel Vertrauen gesetzt hatte. Einer lebte noch. Aber er hatte Altea als Gegnerin, und die sorgte dafür, daß er nicht zur Tür konnte. Sie versperrte ihm den Weg. Locker stand sie da, in der Düsternis wirkte sie wie eine starre Todesgöttin. Sie ließ ihn kommen, und der Mann hatte seine Waffe gezogen. Er stand kurz vor dem Durchdrehen. Sein Atem ging nicht mehr normal, er fauchte aus dem offenen Mund. Es hörte sich an, als wäre eine Dampflok unterwegs. Dann schoß er. Die Explosionen zerrissen die relative Stille innerhalb des Hauses. Die Wände zitterten, Scheiben klirrten in ihren Rahmen. Der Pulvergestank war sofort überall. Der Mafioso hatte getroffen. Er stand in einer relativ steifen Haltung auf der Stelle, den Oberkörper leicht zurückgedrückt, als traute er seinen eigenen Schüssen nichts mehr zu. Sie fing die Kugeln nicht nur auf, sie kam auch näher, ließ sich durch nichts davon abbringen. Die Geschosse steckten irgendwo in ihrem Körper, und der Mafioso drehte durch, als er sah, wie schwach er war. Er hatte die Trommel seiner Waffe leergeschossen, riß dann den Arm hoch und schleuderte den schweren Revolver auf die >Frau< zu. Er hatte dabei gut gezielt, denn die Waffe klatschte in das Gesicht des teuflichen Kunstgeschöpfs. Es entstand beim Aufprall zunächst ein dumpfer, danach ein etwas heller klingender Laut, weil die Haut das Geräusch, als Metall auf Metall traf, nur unzureichend dämpfte. Altea ging weiter. Sie spürte keinen Schmerz, sie war der Roboter, dessen Motor mit dem Treibstoff der Hölle betrieben wurde.
Und sie packte zu. An der Schulter erwischte sie den wegtauchenden Gangster. Der versuchte noch, sich loszureißen, doch gegen die irrsinnige Kraft dieses Wesens kam er nicht an. Altea zerrte den Mann, den sie zu einem Spielzeug degradiert hatte, in ihre unmittelbare Nähe. Dann streckte sie den Arm aus. Eine Kreiselbewegung mit genügend Schwung. Sie ließ ihn los. Als schreiendes Bündel Mensch flog er quer durch den Raum, bis eine der Wände ihn aufhielt. Costello schloß die Augen, als er das dabei entstehende Geräusch hörte. Es war einfach furchtbar, er wollte nicht mehr hinblicken und tat es schließlich doch. Da stand Altea bereits neben dem Mafioso. Sie schaute auf ihn herab. Sie stieß ihn an, sie bückte sich und rüttelte ihn, um sich danach umzudrehen und die Schultern zu heben. Costello wußte von der Bedeutung dieser Geste. Sie war eindeutig und besagte, daß Giovanni, so hieß der Mann, nicht mehr lebte. Cigam nickte zufrieden. Er sagte nichts, sondern schaute nur zu, wie sich seine >Schwester< um den Verletzten >kümmerteGeschwister verordnete klebte< ein niedriger Anbau mit einem schrägen Dach. An der Rückseite überragten Bäume das Haus, und sie standen bereits auf dem Gelände des alten Friedhofs. Milena hatte uns über die Funktion des Hauses einiges erklärt. In ihm befand sich jetzt ein jüdisches Museum, mit Ausstellungsstücken, die an sehr schlimme Zeiten dieses Volkes erinnerten. Um die Abendzeit verlor der Friedhof für Touristen, die ihn in Scharen besuchten, jegliches Interesse. Er war ein steinernes Meer und wurde von alten, wuchtigen Kastanien beschattet. Milena wußte, daß seit dem Jahre 1787 auf dem Friedhof keine Beerdigungen mehr stattgefunden hatten. Davor aber, man sprach von rund dreihundert Jahren, wurden auf diesem Friedensgrund zweihunderttausend Juden beerdigt. Und dies auf einer Fläche mit der ungefähren Größe eines Fußballfeldes. Das war kaum vorstellbar, deshalb hatte man sich etwas einfallen lassen. In zwölf Schichten hatte man die Toten übereinander bestattet. Aus Platzmangel wurden nur die alten Grabsteine nach oben gehievt, oder man stellte sie kurzerhand nebeneinander, so daß sie aussahen wie steinerne Bücher. »Man hat sie nicht genau gezählt«, sagte Milena, »aber rund zwölf tausend sollen es sein.« Ich schüttelte den Kopf. »Da können wir ja lange suchen, bis wir das Grab des Rabbi Loew finden.« Sie lächelte. »Das ist nicht zu übersehen. Es sticht deshalb hervor, weil auf ihm zusammengefaltete Zettel und Röllchen liegen. Die Pilger haben dort ihre Wünsche hinterlassen. Sie bringen so etwas als Ersatz für Blumen mit. Es entspricht einem alten jüdischen Brauch.« Sie hob die Schultern. »Wie gesagt, Prag ist reich an Geschichten, und auch dieser Friedhof bildete da keine Ausnahme.« Sie deutete nach vorn. »Auf dem Friedhof gibt und kann es keine Ruhe geben, wenn täglich Tausende von Touristen das Areal besuchen. Wenn schon die Toten keinen Platz haben, kann es hier einfach keine letzte Ruhe geben. Man erzählt sich, daß in der Nacht kleine Gestalten in weißen Totenhemden über den Friedhof geistern. Es sind die verstorbenen Kinder, die den Weg nicht ins Jenseits finden.« Sie wollte lächeln, das schaffte sie nicht, denn die Lage war einfach zu ernst. Ein jeder von uns wußte, daß der Besuch auf dem Friedhof kein Spaziergang werden würde. Wir würden sicherlich keine Kinder in Totenhemden sehen, sondern andere Gestalten, viel gefährlicher und darauf spezialisiert, auch zu töten. Cigam und sein Sündenfall! Ich schaute Suko an. Der hob die Schultern. »Meinetwegen können wir gehen, John.« »Sind alle Besucher verschwunden?« »Das kann keiner von uns mit Bestimmtheit sagen.«
Milena war anderer Ansicht. »Doch, wir können gehen. Ihr braucht keine Angst zu haben, daß wir von Menschen erdrückt werden. Welcher Tourist hält sich schon gern bei Anbruch der Dämmerung auf einem alten Friedhof auf, wo die mächtigen Grabsteine Schatten werfen, als würden diese aus dem Totenreich hervorkommen?« »Gut gesprochen«, lobte ich. »Man sagt uns Pragern auch Phantasie nach.« »Die haben Sie.« Milena Novak überquerte die Straße. Vor dem Museum blieben wir noch einmal stehen. Eine Gruppe Deutscher hatte den Friedhof wohl als letzte verlassen. Sie kamen auf uns zu, waren ziemlich schweigsam, und eine Frau sagte mit leiser Stimme. »Auf dem Totenfeld möchte ich keine Nacht allein verbringen.« Ich mußte lächeln, denn mit dieser Bemerkung hatte sie Milenas Ansichten bestätigt. Die Menschen überquerten die Straße. Als sie sich in meinem Rücken befanden, überkam mich der Eindruck, daß jetzt nur mehr die Toten auf uns warteten. Milena war vorgegangen. Sie schaute sich immer wieder um, ob wir ihr auch folgten. Den Weg allein zu gehen, erschien ihr ebenfalls nicht geheuer. Es war etwas Wind aufgekommen. Er wehte von den Bergen herab und spielte mit den Blättern der Kastanien. Wir mußten an einer alten Mauer vorbeigehen, die noch zum Museum gehörte, und nahmen bereits den Geruch wahr, der uns empfing. Er war seltsam, er war auch schwer erklärbar. Okay, da hatten Touristen ihren Geruch hinterlassen. Schweiß und Parfümreste mischten sich, aber der Wind brachte auch den Duft von einem frischen Grün mit, vermischt mit Feuchtigkeit. Noch etwas anderes drängte sich hinein, es war sehr schwer zu beschreiben, und man mußte dafür schon etwas Phantasie aufbringen. So kalt und auch auf gewisse Art und Weise rauchig rochen alte Steine, die vom Staub der Geschichte überdeckt waren. Das paßte auch, denn damit war der Friedhof gefüllt worden. Ein Weg führte um ihn herum, aber wir konnten ihn auch direkt betreten. Es hatte keinen Sinn, wenn wir kreuz und quer über den Friedhof irrten, wir mußten schon so etwas wie ein Etappenziel haben, und das war das berühmte Grab des Rabbis Loew. Bevor wir in den steinernen Garten eintauchten, blieb Milena noch einmal stehen und wandte sich uns zu. Ihr Gesicht zeigte einen ernsten Ausdruck, sie stand unter einer Spannung und sah so aus, als hätte sie sich am liebsten immer wieder umgedreht, damit sie von keiner Seite her unangenehm überrascht werden konnte. »Das ist jetzt eine historische Stätte.« Sie senkte ihre Stimme und zuckte zusammen, als dunkle Vögel durch das Blätterwerk der Kastanien tobten. »Was an den alten Geschichten alles stimmt und was nicht, das
weiß ich leider nicht. Knochen und Gebeine werden wir nicht sehen. Die sind längst zu Staub zerfallen, sie liegen zudem unter der Erde. Was den Friedhof auf der einen Seite so spannend und auf der anderen Seite so unheimlich macht, sind eigentlich die Grabsteine, die eben so dicht gestaffelt nebeneinander stehen. Es gibt Wege, an die wir uns halten sollten. Es führt auch einer zum Grab des Rabbis.« »Das ist wichtig«, sagte ich. Milena schaute mich aus ihren braunen Augen skeptisch an. »Warum wollen Sie eigentlich dorthin? Der Rabbi ist…« »Bitte, Milena«, sagte ich, »so dürfen Sie das nicht sehen. Wir sind zwar im weitesten Sinne auch Touristen, doch uns geht es um etwas anderes. Was er getan hat, war der Anfang. Er hat Gott versucht, er wollte der Schöpfung einen Streich spielen, der erste künstliche Mensch, das war die Sensation. Goethe hat aus diesem Thema seinen Faust geschaffen. Es ist eben einmalig, er ist der Beginn gewesen, und ich denke mir, daß es auch ein Ort ist, der von seinen Nachfolgern besucht wird.« »Sie wollen Cigam und Altea dort treffen?« »Ich könnte mir vorstellen, daß sie sich zumindest in der Nähe des Grabes aufhalten.« »Aber da gibt es nichts zu sehen für sie. Das ist alles längst vorbei, Geschichte, Legende…« »Gerade das hat es uns angetan. Suko und ich haben Altea zwar noch nicht zu Gesicht bekommen, Cigam ebenfalls nicht, aber wir glauben fest daran, daß das Grab eine große Rolle spielen wird. Deshalb werden wir uns überraschen lassen.« »Das meine ich auch.« Milena schüttelte den Kopf. »Beinahe kommen Sie mir vor, als könnten Sie sich genau in Ihre Gegner hineinversetzen. Das ist schon seltsam.« »Wir versuchen es. Das hat uns die lange Zeit unserer Arbeit gelehrt. Wir sind zwar keine Dämonen oder dämonische Geschöpfe, doch aus Erfahrung wissen wir, wie sie zumeist handeln werden, und danach können wir uns auch richten.« Unsere Kollegin schaute Suko an, als erwartete sie von ihm einen Widerspruch, mein Freund aber lächelte nur und stimmte mir durch sein zweimaliges Nicken zu. »Gut, dann gehen wir.« Ihre Stimme hatte etwas beklommen geklungen. Ich faßte sie unter und drückte sie noch für einen Moment an mich. »Keine Sorge, Milena, wir werden auf Sie achtgeben.« »Das möchte ich doch hoffen.« Wenig später hatten wir den Weg am Rand des Geländes verlassen und waren in diese andere Welt hineingegangen. Es war wirklich ein Reich für sich, und jeder Besucher mußte sich erst daran gewöhnen, natürlich auch wir.
Der Tag war warm gewesen, schon zu warm für diese Jahreszeit. Vom Morgen bis zum Abend hatte die Sonne geschienen und auch diesen alten Friedhof nicht ausgelassen. Dennoch atmeten die Steine eine Kühle aus, die unsere Gesichter streifte und zumindest mich an den Hauch der Toten erinnerte, als hätten sie uns einen Gruß aus dem Jenseits geschickt. Unter unseren Füßen war der Boden platt getreten worden. Nur hin und wieder schimmerten helle Steine auf dem Boden, als wollten sie ein bestimmtes Muster bilden. Irgendwo über uns schrie ein Vogel. Sein Krächzen erwischte uns wie eine unheimliche Begleitmusik. Wir hatten Milena die Führung überlassen. Suko folgte ihr auf dem Fuß, ich machte den Schluß. Es war schwer, sich an diese Welt zu gewöhnen. Ein Wirrwarr von dunklen Steinen umgab uns. Manche waren glatt, andere wiederum zeigten eine Schicht aus Moos und Pflanzenresten. Wieder andere wirkten verwaschen, und die Schriften waren längst verblaßt. Die Steine standen auch nie in einer Formation. Unterschiedliche Höhen, schiefe Lagen, viele waren auch gekippt und sahen aus, als hätten unsichtbare Hände sie festgehalten, bevor sie zu Boden fallen konnten. Dabei waren es nur die anderen Steine gewesen, die sie festhielten. Nicht ein Kreuz war zu sehen. Jeder Grabstein hatte eine rechteckige Form. Unterschiede gab es nur an ihren Dächern oder Enden. Manche waren spitz, andere abgerundet, und jeder Grabstein hatte dem Zahn der Zeit Tribut zollen müssen. Ich sah keinen, der noch völlig in Ordnung gewesen wäre. Es gab Risse und Spalten, an vielen Stellen war das Gestein gebrochen und abgesplittert. Bei einigen fehlten ganze Stücke, und sie standen so gebeugt, wie in stiller Qual verstummt. Nur unsere Schritte waren zu hören. Keine anderen Stimmen erreichten unsere Ohren. Wir gingen über einen menschenleeren Friedhof, aber begleitet von den Zeugen der jüdischen Totengeschichte. Ich versuchte, meine Gedanken von dem Geschehen abzulenken und mich auf Cigam und seinen Sündenfall zu konzentrieren. Waren sie hier – waren sie nicht hier? Bisher hatte ich sie nicht entdeckt. Es wäre auch leicht gewesen, sich irgendwo zu verstecken, denn Lücken, in die sie sich hätten hineindrängen können, gab es genug. Ich schaute zum Himmel. Über uns schützten die mächtigen Zweige der Kastanien den Besucher. Ich wunderte mich sowieso, daß sie hier auf dem alten Totenacker mit ihrem Wurzelwerk noch Halt hatten finden können und nicht mit der Zeit die Grabsteine umwarfen. Manchmal mußten wir uns regelrecht um sie herumwinden. Berührungen und Kontakte waren nicht zu vermeiden. Da schabte dann das rauhe
Gestein über unsere Kleidung, und es hörte sich an, als wären Totenhände dabei, die Haut mit ihren kratzigen Fingern zu berühren. Der Himmel war dunkler geworden. Im Westen schmückte ihn noch ein letzter tiefroter Schein. Der Wind erwischte unsere Gesichter und war weich wie Watte. Pollen wirbelten durch die Luft. Es war Heuschnupfenzeit, zum Glück hatte ich damit nichts zu tun. Der Mitte zu verdichtete und verengte sich der alte Friedhof noch weiter. Ein Durchkommen war oft sehr schwer, zudem ärgerte es mich, daß gewissenlose Touristen ihren Abfall kurzerhand auf den Boden geworfen hatten, so sahen wir Dosen, Papier und leere Keks- oder Schokoladenschachteln, die zwischen Platten klemmten. Licht war noch da, aber die Schatten überwogen. Beide Gegensätze hatten sich zu einem ungewöhnlichen Spiel vereint, sich getroffen und liefen an den Rändern ineinander über. Sie schufen eine graue, unwirkliche Farbe, und so traten die Konturen der Platten nicht mehr allzu deutlich hervor. Jetzt sahen einige Steine aus, als wären sie miteinander verschmolzen. Milena blieb stehen. Auch Suko stoppte. Beide hörten wir ihre leise gesprochene Bemerkung. »Wir sind nicht mehr weit vom Grab des Rabbi entfernt.« Ihre Stimme zitterte leicht. »Also aufgepaßt!« Und dann hörten wir den Schrei! Nein, es war eigentlich kein direkter Schrei, sondern mehr ein leiser Ruf, aus dem jedoch die Qual deutlich genug herauszuhören war. Mehr ein Wehlaut, als würde jemand unter Schmerzen leiden, der uns gleichzeitig gehört hatte und nun Hilfe erwartete. Wir dachten nicht mehr daran, die Frau vorgehen zu lassen. Da Suko denselben Gedanken gehabt hatte wie ich, schob er Milena zur Seite und übernahm die Führung. Ich hatte meine rechte Hand gegen den Rücken der Kollegin gelegt. »Wer kann das sein?« hauchte sie. Auf ihrem Gesicht sah ich eine Gänsehaut. »Ich weiß es nicht.« »Altea…?« Ich hob die Schultern. So recht nachvollziehen konnte ich es nicht, aber wir würden es sehen. Die Person, die sich bemerkbar gemacht hatte, konnte nicht mehr so weit von uns entfernt sein. Suko war bereits ein Stück vorgegangen. Wir sahen, wie er sich zwischen den Grabsteinen hindurchschlängelte. Milena erklärte mir, daß am Grab des Rabbi Loew Platz geschaffen worden wäre, damit die Touristen den alten Grabstein bestaunen konnten. »Ist er denn etwas Besonderes?« »Nein, ganz und gar nicht. Er sieht aus wie all die anderen auch. Vielleicht ist er etwas breiter.« Sie hob die Schultern.
Suko erwartete uns. Er ging nicht mehr weiter. Er mußte das Ziel erreicht haben. Wieder hörten wir das Stöhnen. Dann winkte unser Freund. Milena und ich gingen jetzt schneller. Wir ahnten beide, daß uns etwas Unerwartetes geboten werden würde, sonst hätte Suko nicht so hektisch Zeichen gegeben. Dann waren wir bei ihm. Milena öffnete den Mund. Sie hatte Mühe, den Laut der Überraschung wieder zu schlucken. Auch ich hatte damit nicht gerechnet, aber die Szene bewies uns, daß man uns bereits erwartet hatte, denn was wir sahen, war ein makabrer Willkommensgruß. An dem schief stehenden Grabstein war mit dünnen, reißfesten Nylonstricken ein Mann gebunden worden. Man hatte ihn verschnürt wie ein Paket, und ein Band spannte sich auf der Haut seines Halses. »Wer ist das?« fragte Milena. Wir kannten ihn beide, und ich überließ Suko die Antwort. Mit leiser Stimme sagte er: »Logan Costello…« *** Wären wir cool und locker gewesen, hätten wir eigentlich sagen müssen: »So trifft man sich wieder.« Aber wir waren weder cool noch locker, sondern standen unter einer gewaltigen Anspannung, besonders jetzt, wo wir das Grab des Rabbis erreicht hatten und nun diese Überraschung erleben mußten. Wir drei waren sprachlos, wir konnten nur staunen, besonders Milena, die auf der Stelle stand, sich aber einige Male umdrehte und nachsah, ob sich jemand in der Nähe aufhielt. Ich schaute mir Costello an. Es ging ihm nicht nur nicht gut, es ging ihm sogar verdammt schlecht, und ich dachte daran, daß er sich diesmal übernommen hatte. So allein hatte ich ihn selten gesehen, vor allen Dingen nicht in einer derartigen Lage. Er schien von Gott, der Welt und auch von seinen Leibwächtern verlassen zu sein. Wer diese relativ kleine, graue, aber kompakte Gestalt so sah, der konnte kaum glauben, daß es sich bei ihm um einen der mächtigsten Mafiachefs Europas handelte. Er war nicht mehr als ein gefesseltes hilfloses Bündel, das sich in den straff gespannten, dünnen Stricken nicht rühren konnte. Man hatte ihn fest gegen das alte Gestein gepreßt und dann die Stricke stramm gezogen. Von den Füßen bis zum Hals waren die dünnen Sehnen gezogen worden, und gerade die, die unter seinem Kinn entlanglief, nahm ihm einen Teil der Luft, so daß er nicht in der Lage war zu sprechen. Er konnte sich nur röchelnd oder winselnd bemerkbar
machen. Wahrscheinlich hatte er auch unsere Tritte gehört und deshalb nach uns gerufen. Jedenfalls hing er fest. Seine Augen standen weit offen. Das Gesicht war gerötet, auch den Mund hatte er nicht geschlossen. Aus dem rechten Winkel war Speichel gesickert und auf dem Weg zu seinem Kinn getrocknet, so daß sich dort eine helle Bahn abzeichnete. Er atmete stoßweise, aber nie tief. Er hatte uns erkannt, und jetzt versuchte er auch, mit uns zu sprechen. »Wenn Sie nicht können, lassen Sie es, Costello«, sagte ich. »Nein«, würgte er, »nein, ich kann wohl. Ich… ich will auch reden, versteht ihr?« »Okay. Worum geht es?« »Man will euch töten.« »Das wissen wir.« Das Betongesicht, wie er auch genannt wurde, schaffte es tatsächlich, zu lachen. »Aber sie sind stark, sehr stark«, keuchte er. »Dieser Cigam und seine Schwester haben alle umgebracht. Ich habe es gesehen, ich bin allein übriggeblieben.« »Wen töteten sie?« »Meine Leute. Ich hatte drei mitgenommen. Sie leben alle nicht mehr. Ich mußte zusehen, wie sie starben.« Das war hart, auch für einen Verbrecher wie Costello, denn irgendwo hatte auch er Gefühle. Ich senkte den Blick. Als ich zu Boden schaute, da sah ich auch die zahlreichen Zettel mit den Botschaften, die aus den Rissen und Spalten des Grabsteins hervorgerutscht waren, als man Costello daran gefesselt hatte. »Warum hat man Sie hier abgesetzt?« hörte ich Suko fragen. »Man will mich nicht mehr.« Suko war skeptisch. »Ist das der einzige Grund?« »Ich glaube schon.« »Was ist denn passiert?« »Ich habe es versucht, okay, ich habe es versucht«, brachte er abgehackt und keuchend hervor. »Aber es ist mir nicht gelungen, hier in Prag Fuß zu fassen. Ich wollte in den Osten, sie hatten etwas dagegen, denn sie wollten die Stadt für sich.« »Cigam?« »Und auch sie. Ihnen gehört Prag, haben sie mir gesagt. Was der Rabbi begonnen hat, wollen sie fortsetzen. Beide werden in seine Fußstapfen treten, deshalb ist Altea geschaffen worden. Sie ist Cigams Sündenfall, aber sie wird an seiner Seite stehen, das müßt ihr mir glauben, verdammt. Sie und keine andere. Sie ist ein Roboter mit Menschenhaut. In ihr steckt eine irrsinnige Kraft…« Er hörte auf zu sprechen. Es gab wirklich keinen Grund für ihn zu lachen, dennoch tat er es, und wir erfuhren nach dem Lachen auch sein Motiv. »Wir werden hier krepieren,
wir vier, darauf haben sie nur gewartet. Sie wußten, daß ihr kommen würdet. An historischer Stätte hat es begonnen, an historischer Stätte soll es auch enden. So sehen ihre Pläne aus, verdammt!« »Wo stecken die beiden?« fragte ich. »Keine Ahnung, Sinclair.« »Auf dem Friedhof?« »Bestimmt. Sie können auch sagen, überall und nirgends.« Das Reden hatte ihn angestrengt, er holte wieder Luft und bewegte dabei seinen Kopf. Mit dem hinteren Teil schabte er über das rauhe Gestein hinweg. Er hatte sich bereits einige Stellen aufgekratzt, wo krustige Wunden zu sehen waren. Er hatte recht. Wenn es einen Platz gab, der zahlreiche Verstecke bot, dann war es dieser Friedhof, auf den sich mittlerweile die Dämmerung schlich, erste Schatten produzierte, die in den Lücken zwischen den Grabsteinen klebten wie lange Schleier. Es hatte zwar nicht viel Sinn, ich versuchte es trotzdem und schaute mich auf der Stelle stehend um. Es war niemand zu sehen. Nur eben die Landschaft der unterschiedlich hohen Grabplatten, die mir mit düsteren Mauern vorkamen wie ein makabres Labyrinth. »Was haben sie sonst noch vorgehabt?« fragte Suko. »Ich weiß es doch nicht.« »Aber wir sollten Sie finden, Costello.« »Wahrscheinlich.« »Und dann?« »Ich kenne ihre Pläne nicht.« Da hatte er recht. Da er trotz seiner Vergangenheit nicht eben zu ihren Freunden zählte, mußten wir einfach davon ausgehen, daß man uns Logan Costello als Lockvogel präsentiert hatte. Nicht daß ich schadenfroh gewesen wäre, aber irgendwie gönnte ich diesem Mann eine derartige Niederlage. Ich dachte daran, wieviel Leid und Elend er über Menschen gebracht hatte. Allein durch seine Drogengeschäfte hatte er Hunderte oder Tausende von Menschen auf sein Gewissen geladen, da war diese Strafe hier ein Klacks. Er hatte wohl einen Teil meiner Gedanken erraten und flüsterte: »Es freut dich, mich so zu sehen, wie?« Ich hob nur die Schultern. Costello gab einen Laut von sich, der sich anhörte wie das Knurren eines Raubtiers. »Freu dich nicht zu früh, Sinclair, denn noch hast du nicht gewonnen, noch nicht. Das ist die Ouvertüre, das Hauptstück wird noch folgen.« »Ja, wir wissen es.« »Wollen Sie ihn denn losbinden?« frage Milena. Suko hob die Schultern. »Das wissen wir noch nicht. Eigentlich ist er hier ganz gut aufgehoben, finde ich.«
»Ihr Schweine!« keuchte Costello. »Ihr stellt immer hohe, moralische Ansprüche, doch wenn es darauf ankommt, kneift ihr. Das habe ich jetzt erlebt.« Ich wurde ärgerlich. »Vergessen Sie niemals, wer Sie sind, Costello. Vergessen Sie das nicht.« »Aber ich bin kein Dämon und auch kein Geschöpf des Teufels.« »Das stimmt«, gab ich ihm recht. »Wobei allerdings nicht feststeht, daß Sie auch auf unserer Seite stehen. Ich brauche da nur an die erlebte Vergangenheit zu denken. Auch jetzt werden Sie nicht gerade auf unserer Seite stehen.« »Doch, Sinclair, doch. Diesmal ja!« In seine harten Augen trat ein flehender Ausdruck, etwas ganz Neues bei ihm. »Hier ist alles anders gelaufen, ich habe mich geirrt, und ich will nur so schnell wie möglich weg von diesem verdammten Friedhof und auch weg aus dieser verdammten Stadt. Es hält mich nichts mehr.« »Doch, die Stricke.« »Sinclair, deinen Humor kann ich nicht vertragen und auch nicht nachvollziehen.« »Ich habe Ihren auch nie begreifen können, Costello. Das können Sie mir glauben.« Suko fragte: »Schneiden wir ihn los?« Ich nickte. »Mach du es.« Costello schwieg. Vielleicht hätte er triumphierend oder dreckig lachen wollen, das aber schminkte er sich besser ab, denn meine Wut steckte tief in mir. Während Suko sein kleines Taschenmesser aufklappte und sich mit den dünnen Stricken beschäftigte, kümmerte ich mich um die Umgebung. Ich ging davon aus, daß unsere anderen beiden Feinde in der Nähe lauerten, aber es war einfach nichts zu sehen. Der Friedhof lag unter einem düsteren Tuch begraben, nur über den Bäumen schimmerten noch hellere Flecken durch die anbrechende Dämmerung. Milena trat dicht an mich heran. »Ich habe Sie so hart noch nicht erlebt, John.« »Sie kennen Costello nicht. Er ist ein Schwein.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Vielleicht haben Sie recht, John, ich bin auch möglicherweise zu naiv, aber ich möchte Ihnen sagen, daß ich mit derartigen Gangstern noch keine Erfahrungen habe sammeln können. Der Sozialismus liegt noch nicht lange zurück, und in der damaligen Zeit haben wir es mit anderen Typen zu tun gehabt. Das war mehr politisch.« »Ich weiß.« »Also müssen wir umdenken, leider hat es die Mafia bereits geschafft. Zumindest einen Fuß hat sie in diese Stadt und auch in das Land
hineinsetzen können. Wir wollen verhindern, daß noch ein zweiter hinzukommt.« »Richtig, und deshalb können Sie meine Reaktion Costello gegenüber verstehen. Es gab Zeiten, da war er ein Verbündeter des Teufels und noch rücksichtsloser als heute.« »Wie das?« »Ich kann es Ihnen erzählen, wenn wir mehr Zeit haben.« Nach dieser Antwort drehte ich mich um, weil ich sehen wollte, wie weit Suko mit seiner Befreiungsaktion gekommen war. Er schnitt soeben die letzten dünnen Stricke durch. Costello stand zwar auf den eigenen Füßen, nur schaffte er es nicht, sich auch zu halten. Er schwankte, und er wäre auch gefallen, hätte Suko ihn nicht kräftig abgestützt. Auf ihn traf der Vergleich mit dem berühmten Häufchen Elend zu. Die dünnen Stricke hatten seine Blutzirkulation beeinträchtigt, er konnte auf seinen eigenen Beinen den Friedhof nicht verlassen und würde hier am Grab bleiben müssen. Deshalb drückte ihn Suko in die Knie. Zitternd und dabei keuchend setzte er sich hin. Mit dem Rücken lehnte er an der historischen Grabstätte, aber er war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Nur seine Augen bewegten sich, und in ihnen steckte die Furcht, denn auch er rechnete jeden Augenblick mit dem Erscheinen der beiden magischen Kunstgeschöpfe. Ich trat vor Costello. »Kommen wir mal zur Sache, Meister. Man hat Sie hierhergeschafft, nicht wahr?« »Sicher.« »Sie wurden gefesselt und dann? Was geschah dann? Ich möchte, daß Sie es mir genau erklären.« »Da gibt es nichts zu sagen«, flüsterte er, »sie sind verschwunden, verstehen Sie? Einfach weg. Sie haben sich umgedreht und sind gegangen, als wäre ich nicht vorhanden.« »Haben sie darüber gesprochen, wohin sie wollten?« »Nein!« »Aber sie lauern?« »Ich gehe davon aus.« Er wischte sich mit einer müden Bewegung über seine aufgeplatzten Lippen. Ich hatte mich bei meiner Unterhaltung mit ihm gebückt und richtete mich nun wieder auf. Suko sah so aus, als wollte er mich ansprechen, was er auch tat. »Sollen wir uns trennen und das Gelände hier einzeln durchsuchen?« Er hatte es nicht grundlos gesagt, Suko sprach da aus einer guten Erfahrung. Ich wäre auch im Prinzip einverstanden gewesen, doch hier hatte ich meine Bedenken.
»Nein, wir werden uns nicht trennen. Du weißt, wie gefährlich Cigam ist, und hier hat er noch Hilfe bekommen. Wir können Altea ebenfalls nicht richtig einschätzen. Ich bin dafür, daß wir zusammenbleiben.« »Hier warten?« »Auch…« »Was heißt das?« Ich wußte es ja selbst nicht. »Wenn Costello ein Lockvogel gewesen ist, dann müssen wir einfach davon ausgehen, daß dieser Platz hier etwas Besonderes ist. Cigam und Altea haben uns hierher haben wollen, das steht fest, und sie werden sich zeigen. Vielleicht sind wir ihnen durch Costellos Befreiung bereits ein Stück entgegengekommen. Rechne also damit, daß sie bald kommen. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß sie nur abwarten, bis es ganz dunkel geworden ist.« Suko sah es lockerer. »Wir haben unsere Lampen.« Costello meldete sich. Er hatte unser Gespräch mitbekommen, und es war ihm persönlich gegen den Strich gegangen. »Scheiße, verdammte Scheiße! Ihr seid verrückt. Ihr seid doch nicht mehr richtig im Kopf. Wenn die hier erscheinen, werden sie euch killen. Sie… sie… sind einfach besser, das könnt ihr mir glauben.« »Sie haben Angst um Ihre Haut«, stellte Suko fest. »Habe ich auch.« »Bitte, Sie können gehen!« Costello prustete die Luft aus den Lungen. »Was hast du da gesagt, Chinese?« Er wurde schon wieder frech, aber Suko reagierte gelassen oder gar nicht. »Du kannst verschwinden!« erklärte ich kalt. Der Mafioso wußte nicht, wie er reagieren sollte. Er hockte noch auf der kühlen Erde, den Rücken gegen den alten Grabstein gepreßt, er schaute sich um, doch aus seiner Perspektive konnte er nichts Erhebendes erkennen, nur düstere Schatten, die wie blaue Tücher zwischen den Grabsteinen lagen und wie erstarrt wirkten. Für ihn war das Labyrinth auf dem Friedhof noch schlimmer als für andere, aber er wollte nicht dort gefangen sein. Das machte uns seine folgende Bewegung klar. Costello streckte seinen rechten Arm aus und stützte sich mit der Hand ab. Er bekam genügend Schwung, um sich in die Höhe zu stemmen. Es ging langsam, sehr langsam, er mußte einige Male innehalten, quälte sich dann wieder hoch, stand endlich auf den eigenen Beinen, streckte den Arm aus und hielt sich an der Kante der Grabplatte fest. So blieb er stehen. »Schaffen Sie es?« Sein Gesicht verzog sich in der unteren Hälfte. »Allein, um dir einen auszuwischen, Sinclair, werde ich es schaffen. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Dann verschwinden Sie!« Er ging den ersten Schritt, den zweiten. Er sackte dabei zusammen. Der Kreislauf spielte noch nicht so mit, wie er es sich gern gewünscht hätte. Beim dritten Schritt mußte er sich an einem anderen Grabstein festhalten, und plötzlich hielt er sich dicht neben der Kommissarin auf. Er hob den Kopf. Milena trat zurück. Costello grinste. »Du brauchst vor mir keine Angst mehr zu haben, Süße, du nicht.« »Na und?« »Prag ist für mich gestorben.« Mit diesen Worten nahm er Abschied. Uns gönnte er keinen Blick, und irgendwo ärgerte ich mich, als ich ihn weggehen sah. Ich hätte ihn gern in Handschellen zurück nach London gebracht, doch dazu hätte ich Beweise finden müssen, und die gab es gegen ihn leider nicht. Nicht hier in Prag und auch nicht in London. Costello hatte es immer verstanden, sich im Hintergrund zu halten und andere für sich arbeiten zu lassen. Er ging schwankend und konnte froh sein, die Grabsteine in der Nähe zu wissen, denn sie dienten ihm nach jedem zweiten Schritt als Stütze. Über uns bewegten sich die frischen Blätter der Kastanie im Wind, als wollten sie Costello verabschieden. »Ob er es schafft?« fragte Suko. »Nein.« »Warum hast du ihn dann laufenlassen?« »Er war für uns ein Köder. Jetzt soll er das gleiche für die anderen sein. Mal schauen, wie es läuft.« »Da komme ich nicht ganz mit.« »Ich auch nicht«, erklärte Milena. »Ist ganz einfach«, sagte ich und schaute der in der Dunkelheit verschwindenden Gestalt nach. »Altea und Cigam werden den Friedhof unter Kontrolle halten. Sie werden ihn sehen, und wenn dies geschehen ist, werden sie aus ihren Verstecken kommen.« »Bist du sicher?« »Ja.« »Was machen sie mit Costello?« Ich hob die Schultern. Unser Gespräch versickerte. Jeder hing seinen Gedanken nach. Zum erstenmal fiel mir die Stille auf diesem Gelände auf, denn es war so gut wie kein Laut zu hören. Obwohl in der Nähe des Friedhofs eine Straße entlanglief, drangen die Geräusche des Verkehrs kaum zu uns. Hin und wieder hörten wir mal das Knattern eines Motors, ansonsten lag die Glocke des Schweigens über dem Gräberfeld. Es war genau die Stille, die mir nicht gefiel. Ich sah sie als lauernd oder abwartend an. Es war damit zu rechnen, daß sie jeden Augenblick zerreißen würde, das trat nicht ein, und auch von Costello hörten wir nichts. »Ob er es geschafft hat?« hauchte Milena.
Ich hob die Schultern. »Zuzutrauen wäre es ihm schon«, murmelte ich und ging ein paar Schritte vor. Neben drei sehr dicht zusammenstehenden Grabsteinen blieb ich stehen. Sie sahen aus, als hätte man ein Buch aufgeblättert, wobei die zusammenklebenden Seiten während des Blätterns zur Ruhe gekommen waren. Die Zeit dehnte sich. Dort, wo die Straße herlief, gellte ein helles Lachen auf. Dann hörten wir Schritte, spannten uns, aber die Geräusche verstummten. Die Spannung steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Suko und ich blieben nie stehen, wir schauten uns immer wieder um, ob etwas Verdächtiges zu sehen war, aber das Schweigen blieb. Nur hin und wieder raschelten die Blätter, wenn der Wind sie bewegte und mit ihnen spielte. Ich spürte den Druck, aber ich blieb äußerlich gelassen. Nicht so Milena, sie wußte nicht, wie sie sich hinstellen sollte. Immer wieder bewegte sie sich im Kreis, schaute sich den Grabstein des Rabbi Loew an, und jedesmal sah es so aus, als wollte sie uns über diesen Magier einen Vortrag halten. Bis wir das Licht sahen. Es flackerte in einem kalten Blau über den Grabsteinen, tanzte wie ein Irrlicht zur Seite, geriet aus unserer Kontrolle, kehrte wieder zurück und färbte die Umgebung vor uns mit seinem kalten Schein ein. Gleichzeitig hatte es sich auch ausgeweitet, so daß es jetzt wie ein zitterndes, hauchdünnes Tuch über den Enden der Steine lag und ihnen einen leichenbleichen Schimmer verlieh. Milena klammerte sich an meinem Arm fest. »Das könnten sie sein, John, ja, das sind sie.« »Wer?« »Die Geister der toten Kinder…« Ich dachte anders darüber, sagte es ihr aber nicht, und dort, wo das Licht noch immer lag, hörten wir plötzlich einen dumpf klingenden Schrei. Ein Mensch hatte ihn ausgestoßen, und wir wußten sofort, wer da geschrien hatte. Costello! »Sie haben ihn«, sagte Suko. »Willst du hin?« »Nein, ich… verdammt, John, Deckung!« Ich zog den Kopf ein, riß Milena zur Seite, und auch Suko tauchte unter. Etwas flog aus der Dunkelheit auf uns zu, aber es kam dorther, wo auch das Licht geflackert hatte. Es war eine Gestalt. Langgestreckt, und ich dachte in diesem Moment an die schwebenden Leichen von Prag. Zumindest im kleinen wiederholte es sich, denn wer uns da entgegenflog, war Logan Costello.
Jemand hatte den Mafiaboß mit ungeheurer Kraft zurückgeschleudert. Er prallte während des Flugs gegen einen Grabstein, so daß selbst dieses alte Steingebilde ins Wanken geriet. Dann prallte er zu Boden. Ich lief hin. Costello war tot – oder? Es sah so aus, als wäre er nicht mehr am Leben, weil er sich nicht bewegte. Er mußte sich einiges verstaucht oder gebrochen haben, sein Mund stand offen, und als ich mich nach unten beugte und mein Ohr gegen die Lippen hielt, da hörte ich seinen keuchenden Atem. Das Schicksal hatte ihn nicht einmal bewußtlos werden lassen, aber er konnte sich nicht rühren und mußte unter irrsinnigen Schmerzen leiden. Costello schaute mich an, als trüge ich die Schuld an seinem Zustand, aber den Schuh zog ich mir nicht an. »Sie hätten bleiben sollen.« Er ging auf meine Bemerkung nicht ein. »Ich… ich… kann mich nicht mehr bewegen.« Das glaubte ich ihm sogar, und dann zog ich mich zurück und richtete mich gleichzeitig wieder auf. Ein scharfes Lachen hallte uns entgegen. Es war dort aufgeklungen, wo auch das kalte Licht lag. Wir schauten hin – und sahen zum erstenmal Cigams Sündenfall, die schöne Altea… Keiner von uns bewegte sich. Die Person oder das Wesen hatte sich einen guten Platz ausgesucht. Sie stand im vollen Lichtschein und zeigte sich zumindest bis zur Taille. Selbst aus dieser Distanz war ihre Perfektion nicht zu übersehen. Eine klare, aber auch eiskalte Schönheit und durch das blaue Licht noch stärker hervorgehoben. Sie wirkte wie eine Statue des Bösen, die vom klaren Licht der Hölle umflort war, und wie sie da stand, ließ darauf schließen, daß sie keine Angst verspürte. Ein unwahrscheinlich klares Gesicht, das von einer Haarflut umspielt wurde. Wer sie so sah, würde niemals auf den Gedanken kommen, es mit einer teuflischen Person zu tun zu haben. Sie war die Schönheit, aber sie war gleichzeitig auch die Kälte. Eine Frau wie aus dem Bilderbuch. Ein Weib ohne äußerlichen Fehl und Tadel, und ich wich ihrem Blick nicht aus. Wir starrten uns in die Augen. In den dunklen Pupillen rührte sich nichts. Sie waren glatt und kalt, sehr groß kamen sie mir vor, überhaupt war das Licht wohl dazu da, alles noch deutlicher bei Altea hervortreten zu lassen, damit dem fremden Betrachter nur nichts entging. Wäre sie eine normale Frau gewesen, hätte der fein geschwungene Mund zum Küssen eingeladen, aber ich wußte, was hinter ihr steckte und ließ mich nicht beirren. Sie wartete auf mich.
Obwohl sie dies mit keinem Zeichen zu verstehen gab, wußte ich es genau. Ich spürte es einfach, doch ich dachte natürlich auch an Cigam. Von ihm war nichts zu sehen. Neben mir hörte ich Sukos Stimme. »Die Entfernung reicht im Prinzip. Du könntest schießen…« »Nein, noch nicht.« »Was hält dich davon ab!« »Ich spürte genau, daß sie etwas von mir will. Ich soll zu ihr kommen, verstehst du?« »Willst du das?« »Ich denke schon.« »Himmel, John, du weißt, was sie kann. Du wirst dich allein mit ihr nicht über…« »Bleib du mit Milena hier.« »Warum?« »Denk an Cigam.« »Verdammt, ja!« »Okay, Suko, ich verschwinde von hier. Wenn Cigam erscheint…« »Habe ich die Dämonenpeitsche für ihn parat.« »Das ist gut.« Er schlug mir kurz auf die Schulter, und dieser kleine Schlag war für mich so etwas wie ein Startsignal. Ich ließ Altea nicht aus den Augen, und als ich den ersten Schritt gegangen war, da entdeckte ich bei ihr die erste Regung. Sie spielte sich in Höhe des Mundes ab, denn dort zuckten plötzlich die Winkel. Lächelte sie? Wenn ja, dann war es kein warmes Lächeln, sondern vergleichbar mit einer teuflischen Vorfreude, denn ich, ein Feind und gleichzeitig ein Opfer, kam auf sie zu. Meine Schritte setzte ich sehr langsam. Ich übertrieb nichts, sie würde auf mich warten, und sie tat auch nichts, um dies zu ändern. Sie stand da, ließ die Arme zu beiden Seiten des Körpers herabhängen. Der Blick ihrer dunklen Augen war starr auf mich gerichtet, doch erst beim Näherkommen stellte ich fest, daß er so dunkel nicht war, denn das Licht spiegelte sich in den Pupillen wider. Es hatte ihnen einen fahlen, leicht grünlichsilbrigen Glanz verliehen, und mir kam der Vergleich mit Metall in den Sinn. Wahrscheinlich deshalb, weil ich an ihr Inneres dachte, das nicht aus Fleisch und Blut bestand. Rechts und links des Wegs standen die starren Gestalten. Steinerne Wächter einer längst vergangenen Zeit. In der Dunkelheit waren sie zu Schattenwesen geworden, und durch die Lücken wehte der Wind mit säuselnden Geräuschen. Mit Friedhöfen hatte ich meine Erfahrungen sammeln können. Ich wußte, daß auf diesem Friedhof kein Zombie aus der tiefen Erde klettern würde,
trotzdem war er ebenso unheimlich wie ein alter, mit Ghouls und Zombies >belebter< Totenacker. Natürlich blieb ich nicht unbeeindruckt, denn auch über meinen Körper wehten Schauer. Die Gänsehaut kroch hoch bis zur Stirn. Sie erwartete mich. Die Hälfte der Strecke hatte ich bereits zurückgelegt. Je näher ich dieser Gestalt und damit auch der Lichtzone kam, um so mehr spürte ich die magische Nähe der Hölle. Mein Kreuz, das die Brust berührte, erwärmte sich leicht. Es sandte Zeichen ab, denn es wollte mich warnen. Ich lächelte, als ich daran dachte. Es machte mir nichts aus, es noch verdeckt zu halten. Zum richtigen Zeitpunkt würde ich es hervorziehen. Noch konnte ich normal gehen, denn Altea traf keinerlei Anstalten, mich zu attackieren. Das Licht erreichte mich mit seinen vorderen Ausläufern. Ich war die letzten Schritte vielleicht zu schnell gegangen, und das Kreuz sandte Blitze aus. Ich blieb stehen. Nichts trennte uns mehr. Kein Grabstein, denn sie bildeten nach wie vor die Grenze des Pfads. Nur waren sie an dieser Stelle zu beiden Seiten etwas ausgebeult damit so etwas wie eine Lichtung zwischen den Steinen hatte entstehen können. Woher das Licht kam, war nicht festzustellen. Es war einfach da und umhüllte die Person wie eine Aura. Jetzt konnte ich erkennen, daß es ihr bis zu den Füßen reichte, aber dort verlor sich der Schein und wehte nur mehr wie ein hauchdünner Schleier über den Untergrund. »Okay«, sagte ich, »hier bin ich. Du bist Altea, du bist Cigams Sündenfall. Was willst du von mir?« »Deinen Tod!« erklärte sie schlicht und ergreifend. Ich lauschte dem Klang ihrer Stimme. Ich hatte keinen Haß darin zittern hören, auch keine Wut, überhaupt keine Gefühle, denn sie hatte völlig emotionslos gesprochen. »Soll ich hier sterben?« fragte ich. »Ja.« »Warum?« »Du störst meinen Bruder und mich. Du hast ihn schon öfter gestört!« Damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Es stimmte alles, und ich sagte: »Auch er hat mich gestört.« »Es wird nie mehr vorkommen.« »Ich hoffe es!« Sofort setzte ich die nächste Frage nach. »Da wäre noch etwas.« »Was?« »Wo befindet er sich?«
Sie schwieg, aber sie schaute mich an. Wieder erschien das dünne Lächeln auf ihren Lippen. Ich wartete darauf, daß sie etwas sagte, aber sie tat was ganz anderes, das mich überraschte, obwohl es hätte eigentlich keine Überraschung sein sollen. Sie hob ihre rechte Hand und berührte die Haut. Dabei blieb es nicht. Langsam, sehr langsam, zog sie die Haut von der Stirn ab… »Himmel, ich habe Angst um ihn, Suko!« Der Inspektor winkte ab. »Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. John hat schon andere Sachen geschaukelt.« »Aber nicht gegen Altea.« »Stimmt, nur mache ich mir um ihren Bruder viel größere Sorgen, denke ich.« »Cigam?« »Wer sonst?« »Er hat sich bisher nicht hier blicken lassen, Suko.« »Was auf keinen Fall bedeutet, daß er nicht hier ist.« Suko bewegte sich zur Seite und drehte sich so heftig um, als hätte er die Gestalt bereits entdeckt. Sie war nicht da. Sukos Blick glitt über die Kanten der Grabsteine hinweg, aber die Dunkelheit deckte alles zu. Nichts, auch gar nichts, bekam er zu Gesicht. Er holte tief Luft. Sie schmeckte feucht, alt und auch nach dem Staub der Steine. In seiner Nähe lag Costello. Er wimmerte leise und versuchte auch, Worte entstehen zu lassen, was ihm ziemlich schwerfiel. »Ich kann mich nicht bewegen. Ich spüre meinen Rücken nicht mehr, verdammt! Ich werde gelähmt sein, im Rollstuhl hocken und…« Er weinte plötzlich wie ein kleines Kind, doch Mitleid zu zeigen, war bei diesem Mann fehl am Platz. Milena Novak stieß Suko an. »Da war etwas.« »Und?« »Ein Geräusch, glaube ich.« Suko schaute kurz nach vorn und erkannte, daß John Sinclair sein Ziel beinahe erreicht hatte. Zumindest war es ihm gelungen, an den äußeren Rand des Lichtscheins heranzutreten, und genau dort blieb er auch stehen. Über die Gründe sah Suko nichts, denn etwas anderes lenkte ihn ab. Ein Kratzen… Auch Milena hatte das Geräusch vernommen. Gar nicht weit weg von ihnen, und sie hielt sich an Sukos Arm fest, als wäre dieser ein Rettungsanker. Der Inspektor befreite sich, um seine Dämonenpeitsche hervorholen zu können. Milena machte Augen, als sie diesen dunklen Griff sah. Sie schaute auch zu, wie Suko einmal einen kleinen Kreis über den Boden schlug. Mit
einem schleifenden Geräusch rutschten die drei aus Dämonenhaut bestehenden Riemen hervor und ringelten sich mit ihren Enden am Boden zusammen. »Was ist das…?« »Eine Waffe.« Nach dieser Antwort hörten beide abermals das Geräusch. Diesmal sogar näher, praktisch in Griffweite, und Suko drehte sich langsam nach rechts. Er stand ziemlich günstig, denn er konnte in eine Lücke zwischen den Grabsteinen schauen, wo sich die schwarze Fläche plötzlich bewegte und sich aus ihr eine Gestalt hervorschob. »Ein… ein Mensch…« »Nein«, erwiderte Suko leise, aber dennoch bestimmend. »Das ist kein Mensch, das ist Cigam…« *** Altea wollte mich schocken, wie sie schon andere Menschen durch das Abstreifen ihrer Haut geschockt hatte, doch ich war darauf vorbereitet gewesen und wartete ab. Ich zeigte überhaupt keine Reaktion, keine Spannung, auch keinen Schrecken, ich sah einfach nur zu, wie sie den größten Teil der Haut von ihrer Stirn löste und ihn nach unten zog, ohne daß dabei ein Tropfen Blut geflossen wäre. Das war Magie in Reinkultur! Angefangen hatte es mit der toten Anna Scoralla. Ihr fehlte die Haut, aber sie war über die Gestalt dieses Kunstgeschöpfs gezogen worden, denn nichts anderes verbarg sich darunter. Ein Räderwerk, wie einem Metallbaukasten entnommen. Ich sah Stangen, ich entdeckte laufende, tickende und zitternde Zahnräder, wobei das eine in das andere übergriff und dafür sorgte, daß diese gesamte Mechanik in Gang blieb. Es gab keine Elektronik, der Teufel, der dieses Geschöpf geschaffen hatte, hatte sich praktisch der alten Zeit angepaßt. Er war nur ein paar Jahrhunderte vorgesprungen und hatte auf den Lehm verzichtet, den einst der Rabbi Loew verwendet hatte. Ich hörte es auch. Ein leises Ticken drang an meine Ohren, als würden mehrere kleine Armbanduhren zugleich laufen und mir ihren Geräuschpegel entgegenschicken. Es gab eigentlich nichts, was sich hinter der Stirn nicht bewegte, dieses Räderwerk des Teufels lief ungebrochen. Ich würde es stoppen! Altea ließ den Hautlappen los, den sie bisher an der Spitze gehalten hatte. Er sank nach unten und klatschte mit seiner Außenseite auf ihren Nasenrücken. Dort blieb erliegen. Die >Wunde< an der Stirn war offen,
und ihr einst so perfektes Gesicht war durch das Abziehen der Haut zu einer monsterhaften Fratze geworden. Sie bestand aus einem Stück Mensch, aus einem Teil Magie, und aus einem Drittel Hölle. Sie lachte. Diesmal böse und furchteinflößend. Ich ließ mich nicht beirren, denn ich wußte genau, was ich zu tun hatte. Zuerst lockte ich sie, indem ich einen Schritt zurückging. Ich wollte, daß sie meine >Angst< bemerkte, und ich verstärkte meine schauspielerische Leistung dadurch, daß ich mich bückte. So war ich für einen Moment ihrem Blickfeld entschwunden, denn nichts anderes hatte ich gewollt. Sie sollte auf keinen Fall sehen, daß ich meinen Trumpf, das Kreuz, hervorholte. Hinter ihr stand der Teufel, er hatte sie geschaffen, und sie würde der Kraft des Kreuzes nichts entgegenzusetzen haben. Ich blieb noch immer geduckt. Dann hörte ich ihre Schritte. Mein Plan schien zu klappen. Altea kam näher. Ihre Füße schleiften dabei über den Boden, und mit Flüsterstimme gab sie ihr Versprechen ab. »Ich werde dich kriegen. Ich werde dich zerfleischen, Sinclair…« Aus meiner geduckten Haltung peilte ich nach vorn. Ich mußte den richtigen Zeitpunkt abpassen, und das würde nicht so einfach werden. Wenn sie mich einmal erwischte und mit ihren irrsinnigen Kräften gegen einen Grabstein schleuderte, konnte ich mir möglicherweise das Genick brechen. Costellos Flug hatte ich nicht vergessen. »Du hast Angst, Sinclair. Du hast eine verdammte, hündische Angst.« Von oben her klang mir ihre Stimme entgegen, und ich ließ sie reden. Sollte sie darin schwelgen. Sie ging wieder einen Schritt vor. Jetzt sah ich sie besser. Ihre Beine gerieten in mein unmittelbares Blickfeld. Sie bewegten sich wie zwei Stangen durch den Schatten. Wenn ich meine Hände ausgestreckt hätte, ich hätte sie erwischt. Ich tat es nicht. Dafür schnellte ich aus der Hocke hervor blitzartig in die Höhe. Meine Gestalt verwandelte sich in einen gestreckten Schatten. Ob ein Wesen wie Altea auch Schrecken empfinden konnte oder zumindest Erschrecken, es war mir nicht bekannt. Jedenfalls stand ich so dicht vor ihr, daß der Begriff hautnah gepaßt hätte. Innerhalb einer winzigen Sekunde nahm ich die Eindrücke voll auf. Ich sah ihre dunklen Augen, auch die Furcht darin, ich sah das durch den nach unten gezogenen Hautlappen verunstaltete Gesicht, und ich sah die Mechanik hinter der Stirn.
Genau das war mein Ziel. Aber nicht nur meines, auch das des Kreuzes. Und ich rammte meinen Talisman in die Lücke hinein! *** Cigam zu beschreiben, war kaum möglich. Man konnte ihn höchstens als das kalte Grauen ansehen. Er sah menschenähnlich aus, aber er war trotzdem nicht so gelungen, wie es sich der Teufel vielleicht vorgestellt hatte. Der Satan war nicht Gott, er mußte einen schlechten Tag bei Cigams Herstellung erwischt haben, denn in dessen Gesicht stimmten die Proportionen nicht. Alles, was nur schiefsitzen konnte, war dort aus den Fugen geraten. Das fing bei den Augen an, ging weiter über die Nase, auch den Mund und setzte sich an dem runden Kinn fort. Die Augen blinkten wie zwei Signale von einem fremden Raumschiff. Die Haut war fahl, aber in ihr lag ein silbriger Schimmer. Er sah Suko so dicht vor sich, und der sowieso schon schiefe Mund kippte noch weiter ab. Das alles hatte auch Milena gesehen. Zwar kannte sie Cigam aus Beschreibungen, doch das war etwas anderes, als ihn in voller Größe dicht vor sich zu sehen. Sie spürte die innere Angst, die diese Gestalt ihr gab, sie wollte weg, aber sie schaffte es nicht. Die verdammten Augen bannten sie auf der Stelle. Nicht bei Suko. Er besaß die Peitsche, und er glaubte fest daran, daß sie stärker als Cigam war. Leider war diese Kunstgestalt des Teufels ein wenig zu früh erschienen. Suko mußte erst noch ausholen, um die Riemen in der Gegenbewegung auf das Ziel zu dreschen. Er drückte den Arm nach hinten. Cigam reagierte! Wahrscheinlich konnte er nicht denken, es war einfach der reine Überlebensinstinkt, der ihn so handeln ließ, und er bewies den beiden, welch eine Kraft in ihm steckte. Bevor Suko die Peitsche und damit auch die drei Riemen in seine Richtung schlagen konnte, hatte Cigam eine der Grabplatten mit beiden Händen an den Rändern umklammert. Eine kurze Kraftanstrengung reichte, und er hatte die Platte aus dem Erdreich gerissen. Da schlug Suko zu. Cigam riß die Grabplatte hoch. Die Riemen erwischten das alte Gestein, aber nicht die Gestalt dahinter. Suko hörte das Klatschen, er wußte in diesem Augenblick, daß Cigam schlauer gewesen war, und plötzlich befanden sich beide in höchster Gefahr.
Cigam würde die Platte einsetzen. Suko schlug kein zweites Mal mehr zu. Er warf sich zur Seite. Dabei prallte er gegen Milena Novak und riß die Frau mit um. Daß sie in eine Lücke zwischen den Steinen fielen, war Glück, denn gleichzeitig sauste die Platte, von Cigam gewuchtet, nach unten. Sie hätte getroffen, und sie hätte ihnen auch einige Knochen gebrochen, wenn nicht noch mehr. So aber verfehlte die Platte sie und tickte mit ihrer Unterseite auf den harten Boden. Danach sprang sie noch einmal hoch, bevor sie zur Seite fiel und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete. Suko wollte an Cigam heran, als er einen irrsinnigen Schrei hörte und er auch sah, daß Cigam kein Interesse mehr an seinem Tod hatte und floh. Er fegte wie ein Irrwisch über die Grabsteine hinweg oder durch die Lücken, das war so genau nicht zu erkennen. Dafür erkannte Suko etwas anderes. Altea war es, die geschrien hatte, und der Inspektor bekam wie auf einer Leinwand ihr Ende präsentiert… *** Das Kreuz steckte in ihrem Kopf! Ich hatte es zwischen die Rädchen und Stangen gerammt und darauf gehofft, daß es festklemmte. Meine Hoffnung war nicht enttäuscht worden. Es hatte sich förmlich hineingedreht. Die seitlichen Arme waren zwischen den Mechanismus gedrückt worden, und nur das kurze obere Ende schaute hervor. Es steckte kein Rädchen im Getriebe, sondern ein Kreuz, und es hatte es tatsächlich geschafft, die Mechanik zu stoppen. Auch Altea bewegte sich nicht! Sie stand wie eine Hohepriesterin auf der Stelle, die Arme zu den Seiten ausgestreckt, als wollte sie irgendeinen Götzen anbeten. Den Kopf hatte sie leicht in den Nacken gelegt, die Augen waren verdreht, in ihnen strahlte ein eigentümliches Licht, das mehr dunkel als hell war und sehr schnell erlosch. Ihr Kopf kippte nach vorn. Er löste sich nicht von den Schultern, denn in diesem Augenblick entfaltete das Kreuz seine Kraft, weil es mit der teuflischen Magie in einen direkten Kontakt getreten war. Das Silber erstrahlte in einem grellen Licht, was sich nicht allein auf das Kreuz beschränkte, sondern seinen Weg in den Kopf des Wesens fand. Altea hatte ihren Mund aufgerissen. Über die Lippen drang ein kreischender Ton, als wäre irgendwo eine Säge angestellt worden. In ihrem Kopf leuchtete es stärker, sie wankte noch weiter nach vorn, wobei sie es nicht mehr schaffte, sich auf den Beinen zu halten.
Es sah so aus, als wollte sie mir entgegenkippen. Im letzten Augenblick drehte sie ab und fiel auf einen Grabstein zu, der eigentlich aus drei dünnen Platten bestand. Sie schleuderte ihre Arme vor. Die Hände klatschten auf den Stein, rutschten daran herab, dann umfingen sie die Steine, als wären sie der Körper des Geliebten. Noch immer behielt das Kreuz seinen Platz in ihrem offenen Schädel. Das Licht zerstörte die Mechanik. Das Metall schmolz wie unter glühender Hitze. Es breitete sich dabei aus und blieb nicht im Schädel, sondern quoll heraus und strömte über das Gesicht. Das Metall hatte sich erhitzt. Als leimige Flüssigkeit rann es aus dem Schädelloch über den Grabstein hinweg. Dampf zischte in Wolken auf, dann platzte plötzlich der Körper an der Brust auseinander, und in einer Woge quoll das flüssige Metall hervor. Es bedeckte den Grabstein, es rollte an ihm herab, und die beiden Arme, die ihn umklammerten, brachen ebenfalls auf, damit das Zeug freie Bahn hatte. Aus der Gestalt dieser Altea war ein flüssiger Metall geworden, das den Grabstein wie eine Schicht bedeckte. Die Haut verdampfte. Ich roch sie und drehte mich zur Seite. Ein Gegenstand aber war nicht verdampft. Wie ein Siegeszeichen lag das Kreuz auf der oberen Kante des Grabsteins, an dem noch immer Metall herablief wie ein nie abreißender Tränenstrom. Ich berührte das Kreuz. Es war kalt. Und mit einem guten Gefühl steckte ich es ein. Als ich mich umdrehte, standen Milena und Suko hinter mir. Auf beiden Gesichtern zeigte sich Erleichterung. Auch wenn der Grund zum Jubeln nicht sehr groß war, weil Cigam hatte entwischen können, über Milenas Küsse freute ich mich trotzdem… *** Blieb noch einer – Logan Costello! Ihn hatte es erwischt. Was immer mit seinem Rücken auch geschehen sein mochte, ich wußte es nicht. Zumindest konnte er sich zu diesem Zeitpunkt nicht bewegen. Wahrscheinlich war er gelähmt. Er würde fortan im Rollstuhl sitzen müssen, und das würde ihn, so vermutete ich, noch brutaler und menschenverachtender machen. Wir reagierten nicht so und trugen ihn vom Friedhof wie ein weinendes Kind…
ENDE