BOB DYLAN CHRONICLES VOLUME ONE Deutsch von Kathrin Passig und Gerhard Henschel
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BOB DYLAN CHRONICLES VOLUME ONE Deutsch von Kathrin Passig und Gerhard Henschel
HOFFMANN UND CAMPE
INHALT 1. Markinʹ Up the Score .....................................................................................5 2. The Lost Land ...............................................................................................26 3. New Morning..............................................................................................110 4. Oh Mercy.....................................................................................................148 5. River of Ice ..................................................................................................231
Bob Dylan räumt auf mit den Mythen und Legenden, die sich um sein Leben und Werk ranken, und erzählt seine Geschichte selbst. Wie er Anfang der sechziger Jahre nach New York kam, wo seine Karriere in den Folkclubs begann. Wie er zur Zeit der großen Unruhen in Amerika um seine künstlerische Identität kämpfen und seine Familie vor der Öffentlichkeit schützen mußte. Wie ihm ein alter Jazzsänger 1987 half, eine große musikalische Krise zu überwinden. Er blickt auf seine Kindheit zurück und schreibt leidenschaftlich über seine Musik, auch über die Einflüsse, die ihn geprägt haben, von Woody Guthrie bis hin zur Dreigroschenoper.
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Chronicles. Volume One« im Verlag Simon & Schuster, New York
Der Verlag und die Übersetzer danken Günter Amendt für seine Mitarbeit. 1. Auflage 2004 Copyright © 2004 by Bob Dylan All Rights Reserved Für die deutschsprachige Ausgabe Copyright © 2004 by Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg
www.hoffmann‐und‐campe.de Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster, Inc. Schutzumschlaggestaltung: Büro Hamburg/Stefanie Liceni Foto auf der vorderen Umschlagseite: Don Hunstein Typographie und Layout: Prill Partners | producing Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Mohn Media GmbH, Gütersloh Printed in Germany
ISBN 3‐455‐09385‐X
Ein Unternehmen der
GANSKE VERLAGSGRUPPE
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1. Markinʹ Up the Score
Lou Levy, der Boss der Plattenfirma Leeds Music, fuhr mit mir im Taxi zum Pythian Temple an der West 70th Street, um mir das winzige Tonstudio zu zeigen, in dem Bill Haley and His Co‐ mets »Rock Around the Clock« aufgenommen hatten — dann weiter zu Jack Dempseys Restaurant Ecke 58th und Broadway, wo wir uns in eine Nische mit roten Lederpolstern und Blick aus dem Fenster setzten. Lou stellte mir Jack Dempsey vor, den berühmten Boxer. Jack drohte mir mit der Faust. »Du siehst zu leicht aus für ein Schwergewicht, du mußt ein paar Pfund zulegen. Und dich ein bißchen besser anziehen, biß‐ chen mehr aus dir machen — auch wenn du im Ring nicht viele Klamotten brauchst. Und du darfst keine Angst haben, daß du den anderen zu hart erwischst.« »Er ist kein Boxer, Jack, er ist ein Songwriter, und wir bringen seine Songs raus.« »Ach so, na, die höre ich dann ja hoffentlich bald mal. Viel Glück, Junge.« Draußen riß der Wind Wolkenfetzen auf, Schnee wir‐ belte durch die Straßen mit ihren roten Laternen, einge‐ mummte Stadtmenschen schlurften umher, Straßenverkäu‐ fer mit Ohrenschützern aus Kaninchenfell boten Schnick‐ 5
schnack und heiße Maroni feil, aus den Gullydeckeln stieg Dampf auf. Das alles erschien mir unwichtig. Ich hatte gerade einen Ver‐ trag mit Leeds Music unterschrieben, der sie zur Veröffent‐ lichung meiner Songs berechtigte — nicht daß es davon sonder‐ lich viele gegeben hätte. Ich hatte erst wenige geschrieben. Lou hatte mir bei Vertragsabschluß hundert Dollar Vorschuß auf die künftigen Tantiemen gezahlt, und damit war ich zufrieden. John Hammond, durch den ich zu Columbia Records gekom‐ men war, hatte mich Lou vorgestellt und ihn gebeten, sich um mich zu kümmern. Hammond kannte nur zwei meiner eigenen Stücke, aber er ahnte, daß es mehr werden sollten. In Lous Büro öffnete ich meinen Gitarrenkoffer, nahm die Gi‐ tarre heraus und zupfte an den Saiten. Das Zimmer war vollge‐ stopft — gestapelte Kartons mit Noten, Pinnwände mit den Auf‐ nahmeterminen von Musikern, schwarzglänzende Scheiben, verstreute Azetatplatten mit weißen Labels, signierte Fotos von Entertainern, Hochglanzporträts, Jerry Vale, Al Martino, The Andrews Sisters (Lou war mit einer von ihnen verheiratet), Nat King Cole, Patti Page, The Crew Cuts, ein paar große Tonband‐ geräte, ein großer Schreibtisch aus dunkelbraunem Holz, voller Krimskrams. Lou stellte ein Mikrofon vor mich auf den Tisch, schloß es an einen der Recorder an und kaute dabei unablässig auf einem dicken, exotischen Stumpen. »John setzt große Hoffnungen in dich«, sagte er. John war John Hammond, der bekannte Talentscout und Ent‐ decker großer Musiker, imposanter Persönlichkeiten in der Ge‐ schichte der Musik auf Schallplatte — unter anderem Billie Ho‐ liday, Teddy Wilson, Charlie Christian, Cab Calloway, Benny Goodman, Count Basie und Lionel Hampton; Künstler, deren Musik im Leben Amerikas widerhallte. Und er hatte den Blick der Öffentlichkeit auf sie gelenkt. Hammond hatte sogar die 6
letzten Aufnahmesessions von Bessie Smith geleitet. Er war eine Legende, echte amerikanische Aristokratie, seine Mutter eine Original‐Vanderbilt. John war in allem Komfort als Oberschicht‐ kind aufgewachsen. Aber das stellte ihn nicht zufrieden, und er folgte seiner eigentlichen Liebe, der Musik, vorzugsweise Spirituals, Blues und den vibrierenden Rhythmen des Hot Jazz‐ Musik, die er verehrte und die er mit seinem Leben verteidigt hätte. Er war nicht zu bremsen, und er hatte keine Zeit zu verlieren. In seinem Büro hatte ich kaum glauben können, daß ich nicht träumte, so unfaßbar war es, daß er mich bei Columbia Records unter Vertrag nahm. Es klang wie erfunden. Columbia war eines der allerersten Labels im Lande, und daß ich dort einen Fuß in die Tür bekommen hatte, war ein Ereignis. Zum einen galt Folk als Schund und zweite Wahl und wurde nur von kleinen Labels veröffentlicht. Große Plattenfirmen wa‐ ren einzig und allein der Elite mit ihrer desinfizierten und pa‐ steurisierten Musik vorbehalten. Leuten wie mir gewährte man dort nur unter außergewöhnlichen Umständen Einlaß. Aber John war ein außergewöhnlicher Mann. Er machte keine Platten für Schuljungen oder mit Schuljungen als Künstlern. Er war umsichtig und vorausschauend, er hatte mich gesehen und gehört, er hatte Gespür und vertraute auf die Zukunft. Er er‐ klärte, daß er mich in einer langen Tradition stehen sehe, der Tradition von Blues, Jazz und Folk, und nicht als neumodisches Wunderkind oder große Innovation. Nicht daß es irgendwo große Innovationen gegeben hätte. In den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren ging es in der amerikanischen Musikszene reichlich verschlafen zu. Die populären Radiosender traten mehr oder weniger auf der Stelle und dudelten nichtssagenden Kitsch. Es sollte noch Jahre dauern, bis die Beatles, The Who oder die Rolling Stones wieder für Spannung sorgten und der Szene 7
neues Leben einhauchten. Ich spielte damals gestrenge Folk‐ songs mit einer Portion Feuer und Schwefel, und man brauchte keine Marktforschung, um zu merken, daß sie nicht ins Radio‐ programm paßten und schwer zu vermarkten waren. Aber John sagte, das sei ihm nicht besonders wichtig. Er verstand, was es mit meiner Musik auf sich hatte. »Ehrlichkeit versteh ich«, sagte er. John hatte eine ziemlich direkte, ungehobelte Art, aber er zwinkerte dabei anerkennend. Vor kurzem hatte er Pete Seeger unter Vertrag genommen; entdeckt hatte er ihn allerdings nicht. Pete war schon seit Jah‐ ren im Geschäft. Er war Mitglied der bekannten Folkband The Weavers gewesen, hatte in der McCarthy‐Ära auf der Schwarzen Liste gestanden und es nicht leicht gehabt, aber seine Arbeit nie unterbrochen. Hammond geriet in Rage, als er über Seeger sprach, und er erzählte, Petes Vorfahren seien auf der Mayflower nach Amerika gekommen, und seine Verwandten hätten in der Schlacht am Bunker Hill gekämpft, Herrgott noch mal. »Und diese Arschlöcher haben ihn auf die Schwarze Liste gesetzt, kannst du dir das vorstellen? Teeren und federn sollte man die.« »Ich gebʹs dir schwarz auf weiß«, sagte er zu mir, »du bist ein talentierter junger Mann. Wenn du dein Talent gezielt einsetzt und beherrschst, kommst du schon zurecht. Ich hol dich ins Boot, und wir nehmen was auf. Dann sehen wir weiter.« Und das genügte mir vollkommen. Er legte mir einen Vertrag vor, den Standardvertrag, und ich unterschrieb auf der Stelle, ohne mich mit den Details aufzuhalten — ich brauchte keinen Anwalt, keinen Berater, niemanden, der mir über die Schulter sah. Ich hätte mit Freuden alles unterschrieben, was er mir vor‐ legte. Er sah auf den Kalender, entschied sich für einen Termin, an dem ich mit den Aufnahmen beginnen sollte, deutete darauf 8
und malte einen Kreis um das Datum, sagte mir, wann ich mich einfinden solle und daß ich mir überlegen müsse, was ich spielen wolle. Dann rief er Billy James herein, den Chef der Presse‐ abteilung, und wies ihn an, einen PR‐Text über mich zu schrei‐ ben, Angaben zur Person für eine Pressemeldung. Billy war mittelgroß mit krausem schwarzem Haar und wie ein Yale‐Absolvent gekleidet. Er sah aus, als sei er noch nie in seinem Leben stoned oder in Schwierigkeiten gewesen. Ich schlenderte in sein Büro und setzte mich vor seinen Schreibtisch, wo er mir ein paar Fakten aus der Nase zu ziehen versuchte, offenbar in der Annahme, daß ich jetzt auszupacken hätte. Er holte Block und Stift heraus und fragte, wo ich herkäme. Aus Illinois, sagte ich, und er schrieb es auf. Er fragte, ob ich schon andere Jobs gehabt hätte, und ich sagte, ich hätte schon ein Dutzend Jobs gehabt, unter anderem als Auslieferungsfahrer für eine Bäckerei. Das schrieb er auf und fragte mich nach anderen Jobs. Ich sagte, ich hätte auf dem Bau gearbeitet, und er wollte wissen, wo. »Detroit.« »Bist du rumgereist?« »So isses.« Er fragte nach meiner Familie, wo die wohne. Keine Ahnung, sagte ich, wir hätten längst den Kontakt zueinander verloren. »Wie warʹs bei dir zu Hause?« Ich sagte, ich sei rausgeflogen. »Was war dein Vater von Beruf?« »ʹlektriker.« »Und deine Mutter, was hat die gemacht?« »Hausfrau.« »Was für Musik spielst du?« »Folk.« »Was ist das für Musik?« 9
Überlieferte Songs, sagte ich. Ich konnte diese Fragen nicht leiden. Ich dachte, ich könnte ihnen ausweichen. Billy schien nicht genau zu wissen, wo er mich einordnen sollte, und das paßte mir ganz gut. Ich hatte sowieso keine Lust, seine Fragen zu beantworten, kein Bedürfnis, irgendwem irgendwas zu er‐ klären. »Wie bist du hierher gekommen?« fragte er mich. »Mit einem Güterzug.« »Du meinst, mit einem Personenzug?« »Nein, mit dem Güterzug.« »Also so was wie ein Güterwaggon?« »Ja, so was wie ein Güterwaggon. So was wie ein Güterzug.« »Okay, ein Güterzug.« Ich blickte an Billy vorbei, durch das Fenster hinter seinem Sessel in ein Bürogebäude auf der anderen Straßenseite, wo ich eine geschäftige Sekretärin sehen konnte, die tief in ihre Arbeit versunken war — in meditativer Versunkenheit kritzelte sie eifrig vor sich hin. Daran war gar nichts Komisches. Ich hätte gern ein Fernrohr gehabt. Billy fragte mich, mit wem ich mich in der aktuellen Musikszene identifizierte. Mit niemandem, sagte ich. Das stimmte sogar, ich erkannte mich wirklich in niemandem wieder. Der Rest war allerdings reiner Blödsinn — Kiffergerede. Ich war gar nicht mit einem Güterzug angereist. Ich war in einem viertürigen 57er Chevy Impala quer durchs Land gefahren — raus aus Chicago, als sei der Teufel hinter mir her — mit Höchstgeschwindigkeit in einer Tour durch die ver‐ qualmten Städte, über gewundene Straßen, an grünen und schneebedeckten Feldern vorbei und weiter nach Osten über die Staatsgrenzen, Ohio, Indiana, Pennsylvania, vierundzwanzig Stunden lang, die meiste Zeit hatte ich auf dem Rücksitz ver‐ döst oder Smalltalk gemacht. Ich hing meinen eigenen Gedan‐ 10
ken nach, bis wir schließlich die George Washington Bridge überquerten. Der große Wagen kam auf der anderen Seite zum Stehen, und ich stieg aus. Ich schlug die Tür hinter mir zu, winkte zum Ab‐ schied und stapfte durch den harten Schnee. Beißender Wind fuhr mir ins Gesicht. Endlich war ich angekommen, in New York City, einem Stadtgebilde, das zu undurchdringlich ist, als daß man es durchschauen könnte. Und das wollte ich auch gar nicht versuchen. Ich wollte hier die Sänger finden, deren Platten ich gehört hatte — Dave Van Ronk, Peggy Seeger, Ed McCurdy, Brownie McGhee und Sonny Terry, Josh White, The New Lost City Ramblers, Reverend Gary Davis und noch ein paar andere — aber vor allem wollte ich Woody Guthrie ausfindig machen. New York City, die Stadt, die mein Schicksal bestimmen sollte. Das moderne Gomorrha. Ich stand ganz am Anfang, aber ich war keineswegs ein unbeleckter Neuling. Ich war im tiefsten Winter eingetroffen. Die Kälte war brutal, und der Schnee verstopfte alle Arterien der Stadt, aber ich kam aus dem frostgeplagten Norden, aus einer Gegend, in der man sich von dunklen, erstarrten Wäldern und eisglatten Straßen nicht schrecken läßt. Über solche Widrigkeiten konnte ich leicht hinwegkommen. Ich suchte nicht nach Geld oder Liebe. Ich hatte geschärfte Sinne und feste Gewohnheiten, ich war unpraktisch und obendrein ein Visionär. Ich hatte einen klaren Kopf und brauchte keinen Fleischbeschauerstempel. Ich kannte keine Menschenseele in dieser dunklen, frostigen Metropole, aber das sollte sich ändern — und zwar bald. Das Café Wha? war ein Club in der MacDougal Street mitten in Greenwich Village. Es war eine schummrige, unterirdische Höhle ohne Alkoholausschank und wirkte mit seiner niedrigen Decke wie ein großer Speisesaal mit Stühlen und Tischen. Es öff‐ 11
nete mittags und schloß um vier Uhr morgens. Jemand hatte mir geraten, hinzugehen und nach einem Sänger namens Freddy Neil zu fragen, der tagsüber die Auftritte im Wha? moderierte. Ich fand den Laden, und man teilte mir mit, Freddy sei unten im Keller, wo man Mäntel und Hüte abgeben konnte. Dort traf ich ihn auch an. Neil war der MC des Schuppens und der für alle Entertainer zuständige Impresario. Er war die Freundlichkeit in Person. Er wollte wissen, was ich machte, und ich antwortete, daß ich sang und Gitarre und Mundharmonika spielte. Er bat mich, ihm etwas vorzuspielen. Nach einer guten Minute sagte er, ich könne ihn bei seinen Auftritten auf der Mundharmonika begleiten. Ich war im siebten Himmel. Jetzt mußte ich schon mal nicht mehr draußen frieren. Das war gut. Fred spielte ungefähr zwanzig Minuten lang und kündigte dann den Rest des Programms an. Später kam er zurück und spielte weiter, wenn er Lust hatte und der Laden voll war. Die Auftritte waren zusammenhanglos und unbeholfen wie in Ted Macks Amateur Hour, einer populären Fernsehshow. Das Publikum bestand überwiegend aus Collegestudenten, Vorstäd‐ tern, Sekretärinnen in der Mittagspause, Matrosen und Touri‐ sten. Alle Auftritte dauerten zehn bis fünfzehn Minuten. Fred spielte immer, solange er Lust hatte und sich inspiriert fühlte. Freddy wußte, wo es langging, er kleidete sich konservativ, war düster und grüblerisch und hatte einen undurchdringlichen Blick, Pfirsichhaut, lockiges Haar und eine zornige, kräftige Baritonstimme, mit der er die Blue Notes traf und bis unters Dach schmetterte, mit oder ohne Mikro. Er war der König des Clubs und hatte sogar seinen eigenen Harem, sein Gefolge. Er herrschte unangefochten. Alles drehte sich um ihn. Jahre später sollte er den Hit »Everybodyʹs Talkinʹ« schreiben. Ich spielte nie eigene Sets. Ich begleitete nur Neil, und so kam ich zu re‐ gelmäßigen Auftritten in New York. 12
Die Nachmittagsshow im Café Wha? war ein wildes Sammel‐ surium — es gab einen Komiker, einen Bauchredner, eine Steel‐ drum‐Band, einen Dichter, einen Frauendarsteller, ein Duo, das Broadway‐Stücke sang, einen Zauberer mit Kaninchen im Hut, einen Typen mit Turban, der Leute aus dem Publikum hypno‐ tisierte, einen Menschen, dessen ganze Nummer aus Gesichts‐ akrobatik bestand— jeder, der einen Fuß in die Tür des Show‐ business bekommen wollte, konnte hier mitmachen. Es war nichts dabei, was einen dazu brachte, die Welt mit anderen Au‐ gen zu sehen. Freds Job hätte ich auf keinen Fall haben wollen. Gegen acht Uhr abends war Schluß mit der Tagesroutine. Dann begann die professionelle Show. Komiker wie Richard Pryor, Woody Allen, Joan Rivers, Lenny Bruce und kommer‐ zielle Folkbands wie die Journeymen übernahmen die Bühne. Wer tagsüber aufgetreten war, packte seine Sachen und ver‐ schwand. Nachmittags trat unter anderem Tiny Tim auf, der im Falsett sprach. Er spielte Ukulele und sang mit Mädchenstimme Evergreens aus den Zwanzigern. Ich hatte mich ab und zu mit ihm unterhalten und ihn gefragt, wo man hier sonst noch ar‐ beiten könne, und er hatte erwähnt, daß er hin und wieder am Times Square in einem Club namens Hubertʹs Flea Circus Mu‐ seum auftrat. Den Laden sollte ich später noch näher kennen‐ lernen. Fred wurde ständig von irgendwelchen Knallköpfen behelligt und unter Druck gesetzt, die bei ihm auftreten wollten. Die traurigste Gestalt war ein Typ namens Billy the Butcher. Er sah aus, als sei er einem Alptraum entsprungen. Er spielte nur einen einzigen Song — »High‐Heel Sneakers« —, nach dem er süchtig war wie nach einer Droge. Fred ließ ihn normalerweise irgendwann im Laufe des Tages auf die Bühne, meistens dann, wenn der Laden leer war. Billy kündigte seinen Song jedesmal mit den Worten an: »Der ist für euch, Mädels.« Der Butcher 13
trug einen Mantel, der ihm zu klein war und über der zu‐ geknöpften Brust spannte. Billy war ruhelos. Er hatte früher irgendwann in Bellevue in einer Zwangsjacke gesteckt und auch schon mal in einer Gefängniszelle die Matratze ange‐ zündet. Er hatte jede Menge Pech gehabt und stand mit der ge‐ samten Menschheit auf Kriegsfuß. Den einen Song sang er aber ganz gut. Ein anderer beliebter Typ trug eine Priesterkutte und rote Stiefel mit Glöckchen und gab verdrehte Bibelgeschichten zum besten. Auch Moondog trat hier unten auf. Moondog war ein blinder Dichter und meistens obdachlos. Sein Kostüm bestand aus einer Decke, einem Wikingerhelm und hohen Pelzstiefeln. Moondog hielt Monologe und spielte auf Bambusflöten und Pfeifen. Meistens trat er auf der 42nd Street auf. Meine Lieblingssängerin in diesem Laden war Karen Dalton. Sie war eine hochaufgeschossene weiße Bluessängerin und Gi‐ tarristin, funky, schlaksig und temperamentvoll. Wir kannten uns sogar schon; ich war ihr im letzten Sommer in einer Klein‐ stadt an einem Gebirgspaß bei Denver in einem Folkclub über den Weg gelaufen. Karen hatte eine Stimme wie Billie Holiday, spielte Gitarre wie Jimmy Reed und zog ihr Programm konse‐ quent durch. Ich trat ein paarmal mit ihr zusammen auf. Fred versuchte grundsätzlich, möglichst viele Künstler un‐ terzubringen, und er war dabei so diplomatisch wie irgend mög‐ lich. Manchmal war der Club unerklärlich leer, manchmal halb‐ voll, und dann platzte er aus unerfindlichen Gründen plötzlich aus allen Nähten, so daß die Leute auf der Straße Schlange ste‐ hen mußten. Fred war die Zugnummer hier unten, die Haupt‐ attraktion, und sein Name stand draußen angeschrieben, also kam womöglich ein Großteil der Besucher seinetwegen. Ich weiß es nicht. Er spielte eine große Dreadnought‐Gitarre, sehr per‐ kussiv, mit einem durchdringenden, drängenden Rhythmus — 14
er war eine Ein‐Mann‐Band mit einer Stimme wie ein Tritt in die Fresse. Er trug wilde Bearbeitungen von Sträflingsliedern vor und brachte das Publikum zur Raserei. Ich hatte einiges über ihn gehört, er war angeblich ein heimatloser Matrose, hatte eine Jolle vor Florida liegen, war ehemaliger Undercover‐ bulle, hatte Huren als Freundinnen gehabt und insgesamt eine recht zwielichtige Vergangenheit. Er fuhr nach Nashville, lie‐ ferte dort Songs ab, die er geschrieben hatte, und machte sich dann auf den Weg nach New York, wo er sich nicht von der Stelle rührte und darauf wartete, daß ihm irgend etwas pas‐ sierte, was ihm die Taschen mit Zaster füllte. Egal, womit er sein Geld verdiente — viel war es jedenfalls nicht. Ihm fehlte offenbar jeglicher Ehrgeiz. Wir paßten gut zusammen und sprachen nie über Persönliches. Er war mir sehr ähnlich, höf‐ lich, aber nicht übermäßig freundlich. Wenn der Club seine Pforten schloß, gab er mir Kleingeld und sagte: »Hier ... damit du nicht in Schwierigkeiten kommst.« Der größte Vorteil an der Zusammenarbeit mit ihm war aber rein gastronomischer Natur— es gab so viele Pommes und Hamburger, wie ich essen konnte. Im Laufe des Tages tauchten Tiny Tim und ich in der Küche auf und hingen dort ab. Norbert, der Koch, hatte meistens einen fettigen Burger für uns übrig, oder wir durften uns eine Dose Schweinefleisch mit Bohnen oder Spaghetti in die Pfanne kippen. Norbert war eine Marke für sich. Er hatte eine Schürze mit Tomatenflecken um, ein fei‐ stes, mitgenommenes Gesicht mit Pausbacken und Narben wie von Krallenspuren. Er hielt sich für einen Frauenhelden und sparte für eine Reise nach Verona, wo er das Grab von Romeo und Julia besichtigen wollte. Die Küche war wie eine Höhle un‐ ter einer Klippe. Eines Nachmittags goß ich mir dort gerade ein Glas Cola aus einem Milchkrug ein, als eine coole Stimme aus dem Radio an 15
mein Ohr drang. Ricky Nelson sang seinen neuen Song »Tra‐ velinʹ Man«. Ricky hatte etwas Geschmeidiges, er sang gefühl‐ voll, schnell und rhythmisch mit einer eigenwilligen Intona‐ tion. Er war anders als die anderen Teenie‐Idole, und er hatte einen geilen Gitarristen, der wie eine Mischung aus Honky‐ Tonk‐Hero und Bauernhochzeitsgeiger spielte. Nelson hatte nie mutig Neuland beschritten wie die frühen Sänger, die gesungen hatten, als stünden sie am Steuer eines brennenden Schiffs. Er sang nicht verzweifelt, richtete nicht viel Schaden an und trat nicht auf wie ein Schamane. Man hatte nicht das Ge‐ fühl, daß seine Belastbarkeit je auf eine harte Probe gestellt wurde, aber das machte nichts. Er sang seine Lieder ruhig und gleichmütig wie im Auge des Sturms, der alle anderen fortfegt. Seine Stimme hatte etwas Geheimnisvolles und versetzte einen in eine besondere Stimmung. Ich war früher ein großer Fan von Ricky gewesen und mochte ihn immer noch, aber diese Art Musik war auf dem absteigen‐ den Ast. Sie hatte keine Chance, irgendeine Bedeutung zu ent‐ wickeln. In der Zukunft hatte so was keine Zukunft. Es war al‐ les ein Irrtum. Kein Irrtum war der Schatten von Billy Lyons, rootinʹ the mountain down, Standing ʹround in East Cairo, Black Betty bam be lam. Das war kein Fehler. Hier spielte jetzt die Musik. Das war der Stoff, der einen in Frage stellen ließ, was man immer hingenommen hatte, der Stoff, der von einem kraftvollen Geist beseelt war und gebrochene Herzen am Stra‐ ßenrand zurückließ. Wie immer sang Ricky abgegriffene Texte, die ihm wahrscheinlich auf den Leib geschrieben worden waren. Trotzdem hatte ich mich ihm immer nahe gefühlt. Wir waren ungefähr gleich alt, hatten vermutlich die gleichen Vorlieben und stammten aus derselben Generation, auch wenn unsere Le‐ benserfahrung sehr unterschiedlich war; er hatte im Westen in einer TV‐Familienshow seiner Eltern angefangen. Es war, als 16
sei er am Waiden Pond aufgewachsen, wo alles Friede, Freude, Eierkuchen war, während ich aus dem finsteren Dämonenwald kam. Die gleiche Gegend, aber aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Rickys Kunst erschloß sich mir problemlos. Ich fand, daß wir viel gemeinsam hatten. Wenige Jahre später sollte er ein paar Songs von mir aufnehmen, die klangen, als stammten sie von ihm, als habe er sie selbst geschrieben. Schließlich schrieb er auch selbst einen und erwähnte meinen Namen darin. Un‐ gefähr zehn Jahre danach sollte Ricky sogar auf der Bühne ausgebuht werden, weil er musikalisch eine neue Richtung ein‐ schlug. Es stellte sich heraus, daß wir tatsächlich viel gemein‐ sam hatten. Das konnte ich nicht wissen, als ich in der Küche des Café Wha? stand und seinem sanften, eintönigen Singsang lausch‐ te. Die Sache war die, daß Ricky immer noch Platten aufnahm, und das wollte ich auch. Ich sah mich schon bei Folkways Re‐ cords unter Vertrag. Das war das Label, zu dem ich hinwollte. Es war das Label, bei dem die ganzen großartigen Platten her‐ auskamen. Als Rickys Song zu Ende ging, gab ich meine restlichen Pommes Tiny Tim und ging zurück in den Vorraum, um zu se‐ hen, was Fred gerade machte. Ich hatte Fred einmal gefragt, ob es Platten von ihm gebe, und er hatte gesagt: »Das ist nicht mein Ding.« Er verwendete Düsterkeit als eine musikalische Waffe, aber so begabt und so stark er auch war, auf der Bühne fehlte ihm irgend etwas. Ich kam nicht dahinter, was es war. Erst als ich Dave Van Ronk sah, wußte ich Bescheid. Van Ronk trat im Gaslight auf, einem geheimnisvollen Club, der die Straße dominierte und mehr Prestige besaß als alle an‐ deren Läden. Es strahlte einen besonderen Zauber aus, hatte ein 17
großes buntes Banner an der Fassade und zahlte Wochengagen. Es lag im Parterre neben einer Bar namens Kettle of Fish und hatte keine Genehmigung zum Alkoholausschank, aber man konnte sich eine Flasche in einer Papiertüte mitbringen. Tags‐ über hatte der Schuppen geschlossen und öffnete erst am frü‐ hen Abend, rund ein halbes Dutzend Musiker, die sich die ganze Nacht lang abwechselten, ein exklusiver Kreis, in den Unbe‐ kannte nicht eindringen konnten. Gelegenheiten zum Vorspie‐ len gab es nicht. In diesem Club wollte ich, mußte ich auftreten. Van Ronk trat dort auf. Ich hatte Van Ronks Platten schon da‐ mals im Mittleren Westen gehört, ihn ziemlich großartig gefun‐ den und manche Aufnahmen bis ins Detail nachgeahmt. Er hatte Leidenschaft und Biß — er sang wie ein Glücksritter, und man hörte, daß er sein Lehrgeld bezahlt hatte. Van Ronk konnte heu‐ len und flüstern, aus Blues Balladen machen und aus Balladen Blues. Ich war begeistert von seinem Stil. Das waren die Leute, die New York ausmachten. In Greenwich Village war Van Ronk der König der Straße, ein souveräner Alleinherrscher. An einem kalten Wintertag, in einem leichten Schneegestöber, als das matte Sonnenlicht sich seinen Weg durch den Dunst bahnte, kam er mir nicht weit von der Ecke Thompson und 3rd in eisigem Schweigen entgegen. Es sah aus, als wehe der Wind ihn auf mich zu. Ich wollte ihn ansprechen, aber irgend etwas stimmte nicht. Ich sah ihn vorübergehen, sah seine Augen auf‐ blitzen. Es war ein flüchtiger Moment, und ich hatte ihn ver‐ patzt. Ich wollte aber für Van Ronk spielen. Genaugenommen wollte ich für jeden spielen. Ich hatte noch nie in meinem Zim‐ mer sitzen und nur für mich selbst spielen können. Ich mußte für andere spielen, und zwar immer. Man kann sagen, daß ich öffentlich übte, daß mein ganzes Leben zu einer öffentlichen Probe wurde. Ich hatte es weiter auf das Gaslight abgesehen. Wie denn auch nicht? Verglichen mit dem Gaslight waren die 18
anderen Clubs in der Gegend namenlose Kaschemmen, billige Basket Houses, wo die Musiker sich die Einnahmen aus einem herumgegebenen Korb teilten, oder kleine Cafés, wo der Musi‐ ker mit dem Hut herumging. Ich spielte aber in möglichst vielen davon. Ich hatte keine Wahl. Sie drängten sich in den schmalen Gassen und waren von ganz unterschiedlichem Format, aber alle klein, lärmig und auf den Geschmack der Touristen zugeschnit‐ ten, die nachts durch die Straßen zogen. Alles ging als Club durch — Saloons mit Flügeltüren, Ladengeschäfte, Kneipen im zweiten Stock, Kneipen im Keller, jedes noch so winzige Loch. Es gab eine ungewöhnliche Bier‐ und Weinkneipe in der 3rd Street, vormals Aaron Burrs Mietstall, jetzt das Café Bizarre. Es wurde vor allem von Arbeitern besucht, die herumsaßen, lachten, fluchten, Fleisch aßen und sich Fickgeschichten erzähl‐ ten. Hinten gab es eine kleine Bühne, wo ich ein‐, zweimal auf‐ trat. Ich schätze, ich bin früher oder später überall mal aufge‐ treten. Die meisten Lokale hatten bis Tagesanbruch geöffnet, im Licht der Petroleumlampen, Sägemehl auf dem Fußboden, manche hatten Holzbänke, einen Rausschmeißer an der Tür, es wurde kein Eintritt verlangt, und die Inhaber versuchten, die Gäste bis zum Anschlag mit Kaffee abzufüllen. Beim Auftritt saß oder stand man beim Fenster, so daß man von der Straße aus zu sehen war, oder man wurde ans andere Ende der Kneipe dirigiert, gegenüber dem Eingang, und man sang, so laut man konnte. Mikrofone gab es nicht. Talentsucher verirrten sich nicht in solche Löcher. Sie wa‐ ren dunkel und schäbig und die Atmosphäre war chaotisch. Wer auftrat, sang und ließ den Hut herumgehen oder sah beim Spielen den vorbeiziehenden Touristen zu und hoffte, daß sie ein paar Münzen in einen Brotkorb oder den Gitarren‐ koffer warfen. Wenn man am Wochenende die ganze Nacht hindurch in den Kneipen auftrat, verdiente man um die zwan‐ 19
zig Dollar. An Werktagen war es ganz unterschiedlich. Manch‐ mal kriegte man nur wenig, weil die Konkurrenz so groß war. Man mußte ein paar Tricks draufhaben, wenn man sich durch‐ schlagen wollte. Ein Sänger, dem ich oft über den Weg lief, Richie Havens, hatte immer ein hübsches Mädchen dabei, das den Hut herum‐ reichte, und ich merkte, daß sein Geschäft gut lief. Manchmal ließ das Mädchen gleich zwei Hüte durchs Publikum wandern. Wenn man keinen dieser Kniffe kannte, war man praktisch Luft für die Leute, was nicht gut war. Ein paarmal tat ich mich mit einem Mädchen zusammen, das ich aus dem Café Wha? kannte, einer attraktiven Kellnerin. Wir zogen herum, ich spielte, und sie sammelte, wobei sie ein komisches Häubchen, dickes schwar‐ zes Mascara und eine tief ausgeschnittene Spitzenbluse trug. Vom Nabel aufwärts wirkte sie unter ihrem umhangartigen Mantel fast nackt. Danach teilten wir uns das Geld, aber als Dauerlösung war das zu umständlich. Jedenfalls verdiente ich in ihrer Begleitung mehr, als wenn ich allein unterwegs war. Was mich damals wirklich von den anderen unterschied, war mein Repertoire. Es war umfangreicher als das der ande‐ ren Kaffeehausmusiker und bestand aus Hardcore‐Folksongs, die ich mit unermüdlichem lautem Geschrammel begleitete. Entweder vergraulte ich damit die Leute oder sie kamen näher und wollten wissen, was da vor sich ging. Nur diese beiden Re‐ aktionen, dazwischen gab es nichts. Es gab viele bessere Sänger und Musiker in der Gegend, aber keiner machte etwas Ähn‐ liches wie ich. Durch Folksongs erforschte ich das Universum, sie waren Bilder, und die Bilder waren wertvoller als alle meine Worte. Ich hatte den Kern der Sache erfaßt. Es fiel mir leicht, die Einzelteile zusammenzufügen. Ich konnte locker Stücke wie »Columbus Stockade«, »Pastures of Plenty«, »Brother in Ko‐ rea« und »If I Lose, Let Me Lose« hintereinander herunterrei‐ 20
ßen wie einen einzigen, langen Song. Die meisten Performer nahmen sich selbst wichtiger als ihre Songs, aber das lag mir nicht. Mir ging es nur um den Song. Nachmittags ging ich nicht mehr ins Café Wha? Ich setzte keinen Fuß mehr hinein. Auch Freddy Neil verlor ich aus den Augen. Statt dessen verbrachte ich meine Zeit jetzt im Folklore Center, der Hochburg des amerikanischen Folk. Es lag ebenfalls in der MacDougal Street, zwischen Bleecker und 3rd. Der klei‐ ne Laden im ersten Stock war auf charmante Weise altmodisch. Er wirkte wie eine uralte Kapelle, eine altehrwürdige Einrich‐ tung im Schuhschachtelformat. Das Folklore Center verkaufte und verbreitete alles, was mit Folk zu tun hatte. Es hatte ein großes Schaufenster, wo Platten und Instrumente ausgestellt wurden. Eines Nachmittags stieg ich die Treppe hinauf und trat ein. Ich stöberte herum und begegnete Izzy Young, dem Be‐ sitzer. Young war ein sardonischer Folk‐Enthusiast der alten Schule mit einer dicken Hornbrille. Er sprach mit einem schwe‐ ren Brooklyn‐Akzent und trug weite Wollhosen mit einem schmalen Gürtel und Arbeitsstiefel; die Krawatte saß nachläs‐ sig schief. Er hatte eine Stimme wie ein Bulldozer, viel zu laut für den kleinen Raum. Aus dem einen oder anderen Grund war Izzy immer ein bißchen aufgeregt über irgend etwas. Er war ein gutmütiger Kauz, im Grunde ein Romantiker. Für ihn war Folk ein glitzernder Goldschatz. Das ging mir genauso. Der Laden war ein Dreh‐ und Angelpunkt für alle möglichen Folkaktivitä‐ ten, und man konnte dort jederzeit eingefleischte Folksänger treffen. Manche Leute ließen sich ihre Post dorthin schicken. Young veranstaltete gelegentlich Folkkonzerte mit unver‐ wechselbar authentischen Folk‐ und Bluesmusikern. Er lud sie von außerhalb ein, in der Town Hall oder einer Universität auf‐ zutreten. Dann und wann sah ich Clarence Ashley, Gus Can‐ 21
non, Mance Lipscomb, Tom Paley oder Erik Darling im Laden. Es gab auch jede Menge entlegener Folkplatten, die ich alle gern hören wollte, Manuskripte vergessener Songs aller Arten — Seemannslieder, Songs aus dem Bürgerkrieg, Cowboysongs, Klagelieder, Kirchenlieder, Anti‐Jim‐Crow‐Songs, Gewerkschafts‐ lieder, steinalte Bücher mit Volkssagen, Zeitschriften der Wob‐ blies, Propagandaheftchen über alle möglichen Themen, von Frauenrechten bis zu den Gefahren der Trunksucht, sogar eines von Daniel Defoe, dem Verfasser von Moll Flanders. Ein paar Instrumente standen zum Verkauf, Dulcimer, fünfsaitige Ban‐ jos, Kazoos, Penny Whistles, Akustikgitarren, Mandolinen. Wenn man herausfinden wollte, worum es beim Folk eigentlich ging, dann war dies der Ort, an dem man mehr als eine schwa‐ che Ahnung davon bekommen konnte. Izzy hatte ein Hinterzimmer mit einem bauchigen Holz‐ ofen, schief aufgehängten Bildern und wackeligen Stühlen. Alte Patrioten und Helden an der Wand, Tongefäße mit Kreuzstich‐ mustern, schwarzlackierte Kerzenhalter ... viel Kunsthandwerk. Das kleine Zimmer enthielt Unmengen amerikanischer Platten und einen Plattenspieler. Izzy ließ mich hinten sitzen und Musik hören. Ich hörte mir an, soviel ich konnte, und blätterte sogar ei‐ nen Großteil seiner vorsintflutlichen Folk‐Rollbilder durch. Die irrsinnig komplizierte moderne Welt interessierte mich wenig. Sie hatte keine Bedeutung, kein Gewicht. Sie konnte mich nicht verführen. Für mich waren andere Themen fesselnd, aktuell und angesagt — der Untergang der Titanic, die Flut von Galveston, John Henry, der Schienenleger, der es mit bloßer Muskelkraft mit einem Dampfhammer aufnahm, oder John Hardy der an der West Virginia Line einen Mann erschossen hatte. Das alles war gegenwärtig und lag offen zutage. Das waren die Nachrichten, die mich interessierten, die ich verfolgte und im Auge behielt. Um seinerseits die Dinge im Auge zu behalten, führte Izzy 22
Tagebuch. Es war eine Art Hauptbuch, das offen auf seinem Schreibtisch lag. Er stellte mir immer wieder Fragen, etwa, wo ich aufgewachsen sei und woher mein Interesse am Folk rühre, wo ich den Folk entdeckt hätte und so weiter. Dann trug er Notizen über mich in sein Tagebuch ein. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte. Seine Fragen gingen mir auf die Nerven, aber ich mochte ihn, weil er freundlich zu mir war, und ich versuchte, rücksichtsvoll und entgegenkommend zu sein. Wenn ich mit Fremden sprach, war ich immer sehr vor‐ sichtig, aber Izzy war okay, und ich beantwortete seine Fragen offen und ehrlich. Er fragte nach meiner Familie. Ich erzählte ihm von meiner Großmutter mütterlicherseits, die bei uns wohnte. Sie war gut‐ herzig und voller Würde und hatte mir einmal erklärt, daß das Glück nicht irgendwo am Wegrand liege. Der Weg selbst sei das Glück. Sie hatte mir auch aufgetragen, immer nett zu sein, weil jeder, dem man begegne, seine eigenen Kämpfe auszutragen habe. Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Kämpfe Izzy zu be‐ stehen hatte. Innere, äußere, wer weiß? Young befaßte sich mit sozialer Ungerechtigkeit, Hunger und Obdachlosigkeit und hielt damit nicht hinterm Berg. Seine Helden waren Abraham Lincoln und Frederick Douglass. Moby‐Dick, das ultimative Anglerlatein, war sein Lieblingsschmöker. Young wurde von Geldeintreibern und seinem Vermieter bedrängt. Ständig waren irgendwelche Leute wegen offener Rechnungen hinter ihm her, aber das machte ihm offenbar nicht viel aus. Er besaß ein dickes Fell und hatte sogar der Stadtverwaltung das Zugeständnis abgerungen, daß im Washington Square Park Folkkonzerte gestattet wurden. Alle waren auf seiner Seite. Er suchte Platten für mich aus. Er gab mir eine Platte von den Country Gentlemen, damit ich mir »Girl Behind the Bar« an‐ 23
hören konnte. Er spielte mir »White House Blues« von Charlie Poole vor, sagte, das passe perfekt zu mir, und wies mich darauf hin, daß die Rambiers genau diese Version gespielt hatten. Er spielte mir Big Bill Broonzys Song »Somebodyʹs Got to Go« vor, der auch ganz nach meinem Geschmack war. Ich war gern bei Izzy. Bei ihm knisterte immer das Feuer. An einem Wintertag betrat ein großer, stämmiger Kerl den Laden. Er sah aus, als komme er direkt aus der russischen Bot‐ schaft, schüttelte sich den Schnee von den Ärmeln, zog die Handschuhe aus, legte sie auf den Tresen und wollte eine Gib‐ son‐Gitarre sehen, die an der Wand hing. Es war Dave Van Ronk. Er war schroff, struppig und von arroganter Gleichgültigkeit — ein selbstbewußter Jäger. Meine Gedanken überstürzten sich. Jetzt stand nichts zwischen uns. Izzy nahm die Gitarre herunter und reichte sie ihm. Dave zupfte die Saiten an, spielte eine jazzige Walzermelodie und legte die Gitarre auf den Tresen zu‐ rück. In dem Moment trat ich zu ihm, griff nach der Gitarre und fragte gleichzeitig, wie man an einen Auftritt im Gaslight komme und wen man dazu kennen müsse. Ich wollte mich nicht an ihn ranmachen, ich wollte es nur wissen. Van Ronk sah mich verwundert an und fragte mich kurz an‐ gebunden und bärbeißig, ob ich im Gaslight putzen wolle. Ich sagte, nein, das könne er vergessen, aber ob ich ihm was vorspielen dürfe? »Klar«, sagte er. Ich spielte »Nobody Knows You When Youʹre Down and Out« für ihn. Das gefiel Dave, und er fragte mich nach meinem Namen und wie lange ich schon in der Stadt sei. Dann sagte er, ich könne um acht oder neun Uhr abends kommen und bei sei‐ nem Auftritt ein paar Songs spielen. So lernte ich Dave Van Ronk kennen. Ich verließ das Folklore Center und ging wieder hinaus in den klirrenden Frost. Gegen Abend fand ich mich in der Mills 24
Tavern an der Bleecker Street ein, wo die Musiker aus den Bas‐ ket Houses zusammenhockten, palaverten und abhingen. Mein Freund Juan Moreno, der Flamencogitarre spielte, erzählte mir von einem neuen Café namens Outré, das gerade in der 3rd Street eröffnet worden sei, aber ich hörte kaum hin. Juans Lip‐ pen bewegten sich fast lautlos. Ich würde nie im Outré spielen, denn das hatte ich nicht nötig. Bald würde ich im Gaslight an‐ heuern und die Basket Houses nie wieder betreten. Draußen waren die Temperaturen unter zwanzig Grad minus gefallen. Mein Atem gefror in der Luft, aber ich spürte die Kälte nicht. Ich war unterwegs zu den Sternen. Kein Zweifel. Oder gab ich mich einer Illusion hin? Wohl kaum. Ich glaube nicht, daß ich genug Phantasie aufbrachte, um mir Illusionen zu machen, und ich hegte auch keine falschen Hoffnungen. Ich hatte einen wei ‐ ten Weg hinter mir, und ich hatte ganz unten angefangen. Aber jetzt sollte sich mein Schicksal erfüllen. Ich spürte, wie es mir zuwinkte — mir allein.
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2. The Lost Land Ich setzte mich im Bett auf und sah mich um. Das Bett war ein Sofa im Wohnzimmer, und heißer Dampf stieg aus dem guß‐ eisernen Heizkörper auf. Über dem Kamin starrte mich das ge‐ rahmte Porträt eines Kolonialherrn mit Perücke an, neben dem Sofa standen ein hölzernes Schränkchen auf kannelierten Beinen, ein ovaler Tisch mit abgerundeten Schubladen, ein schub‐ karrenartiger Sessel, ein kleiner, königsholzfurnierter Schreib‐ tisch mit Klappfächern, eine Couch aus einem Autorücksitz mit Federkernpolsterung, ein niedriger Stuhl mit runder Lehne und volutierten Armlehnen; ein dicker französischer Teppich lag auf dem Boden. Silbernes Licht fiel durch die Jalousien, gestrichene Balken betonten die Linien des Dachstuhls. Das Zimmer roch nach Gin Tonic, Fusel und Blumen. Die Wohnung hatte keinen Aufzug und lag im Dachgeschoß eines Gebäudes im Federal Style nahe der Vestry Street unterhalb der Canal Street, nicht weit vom Hudson River entfernt. Im glei‐ chen Block befand sich auch das Bullʹs Head, eine Kellerkneipe, wo John Wilkes Booth, der amerikanische Brutus, zu trinken pflegte. Ich war einmal dort gewesen und hatte seinen Geist im Spiegel gesehen — einen bösen Geist. Mit Ray Gooch und Chloe Kiel, die in dieser Wohnung lebten, hatte mich Paul Clayton be‐ kannt gemacht, ein Folksänger und Freund von Van Ronk, gut‐ 26
mütig, einsam und melancholisch; er hatte mindestens dreißig Platten veröffentlicht, war der amerikanischen Öffentlichkeit aber unbekannt — ein Intellektueller mit enzyklopädischen Kenntnissen der Balladenkunst. Ich ging zum Fenster, sah auf die grauweißen Straßen hinaus und ließ meinen Blick zum Fluß schweifen. Die Luft war bitter kalt, das Thermometer zeigte nie über fünfzehn Grad minus, aber mein inneres Feuer ging nie‐ mals aus, wie eine Wetterfahne, die sich ständig drehte. Es war mitten am Nachmittag, und Ray und Chloe hatten beide die Wohnung verlassen. Ray, ungefähr zehn Jahre älter als ich, kam aus Virginia und war wie ein alter Wolf, hager und narbig. Er entstammte einer langen Ahnenreihe von Bischöfen und Generälen; sogar ein Kolonialgouverneur kam darin vor. Er war ein Nonkonformist, ein Einzelgänger und ein Südstaaten‐Nationalist. Chloe und er lebten in dieser Wohnung wie in einem Versteck. Ray ähnelte den Figuren in manchen meiner Songs, er hatte das Leben ge‐ sehen, sich eingemischt und Herzen gebrochen — er hatte sich umhertreiben lassen und ein umfassendes Verständnis von die‐ sem Land und seinen Lebensbedingungen entwickelt. Obwohl sich die Umwälzungen bereits ankündigten, unter denen Ame‐ rikas Städte in wenigen Jahren erzittern sollten, interessierte sich Ray kaum dafür. »Nur im Kongo«, sagte er, sei wirklich was los. Chloe hatte rotgoldenes Haar, braune Augen, ein rätselhaftes Lächeln, ein Gesicht wie eine Puppe und eine Figur, auf die Puppen hätten neidisch werden können. Ihre Fingernägel waren schwarzlackiert. Sie arbeitete an der Garderobe im Egyptian Gardens, einem Bauchtanzrestaurant an der 8th Avenue, und nebenbei als Model für die Zeitschrift Cavalier. »Ich hab mein Leben lang gearbeitet«, sagte sie. Ray und Chloe lebten zusam‐ men wie Mann und Frau oder Bruder und Schwester, Cousin 27
und Cousine, schwer zu sagen, sie wohnten dort einfach, und das warʹs. Chloe hatte ihre eigene schlichte Weltsicht und re‐ dete immer verrücktes Zeug, das mir auf unerklärliche Weise einleuchtete; einmal sagte sie mir, ich solle Lidschatten tragen, das schütze vor dem bösen Blick. Vor wessen bösem Blick, frag‐ te ich, und sie sagte: »Joe Blows oder Joe Schmoes.« Ihrer An‐ sicht nach regierte Dracula die Welt, und er war der Sohn von Gutenberg, dem Typen, der die Druckerpresse erfunden hatte. Als Erbe der Kultur der vierziger und fünfziger Jahre hatte ich nichts gegen solches Gerede. Der alte Gutenberg hätte ohne weiteres aus einem alten Folksong stammen können. Die Kul‐ tur der Fünfziger war wie ein Richter, der seine letzten Tage im Gericht absitzt. Sie sollte bald abdanken und nach zehn Jahren Kampf um ihre Stellung endgültig zusammenbrechen. Dank der Folksongs, die in mein Empfinden und Denken eingebettet waren wie eine Religion, berührte mich das nicht. Folksongs führten über die Kultur der Gegenwart hinaus. Bevor ich in eine eigene Wohnung zog, hatte ich schon fast überall im Village mal gewohnt. Manchmal nur für eine Nacht oder zwei, manchmal mehrere Wochen oder länger. Oft wohn‐ te ich bei Van Ronk. In der Vestry Street blieb ich insgesamt wahrscheinlich länger als irgendwo sonst. Es gefiel mir bei Ray und Chloe. Ich fühlte mich wohl bei ihnen. Ray kam aus den be‐ sten Kreisen und war sogar an der Camden Military Academy in South Carolina eingeschrieben gewesen, der er »mit hefti‐ gem und ehrlichem Haß« den Rücken gekehrt hatte. Auch aus der Wake Forest Divinity School, einem religiösen College, war er »dankbar rausgeflogen«. Er konnte ganze Passagen aus Byrons Don Juan auswendig aufsagen— wie auch ein paar schöne Verse aus Longfellows Gedicht »Evangeline«. Er arbei‐ tete in einer Werkzeugbaufirma in Brooklyn, hatte aber vorher schon dieses und jenes gemacht — er hatte im Studebaker‐Werk 28
in South Bend und auf einem Schlachthof in Omaha im Schlacht‐ raum gearbeitet. Ich fragte ihn einmal, wie es dort gewesen sei. »Schon mal von Auschwitz gehört?« Selbstverständlich, wer hatte das nicht? Es war ein Vernichtungslager der Nazis, und Adolf Eichmann, der hauptverantwortliche SS‐Offizier, der die Deportationen dorthin organisiert hatte, war vor kurzem in Je‐ rusalem vor Gericht gestellt worden. Nach dem Krieg war er ge‐ flohen und später von den Israelis an einer Bushaltestelle in Ar‐ gentinien geschnappt worden. Sein Prozeß hatte viel Aufsehen erregt. Im Zeugenstand behauptete Eichmann, er habe lediglich Befehle befolgt, aber es fiel der Anklage nicht schwer zu be‐ weisen, daß er seine Mission mit monströsem Eifer ausgeführt hatte. Eichmann war verurteilt worden, und nun wurde über sein Schicksal entschieden. Es war viel davon die Rede, daß man ihn mit dem Leben davonkommen lassen und womöglich sogar nach Argentinien zurückschicken solle, aber das wäre schwach‐ sinnig gewesen. Selbst in Freiheit hätte er wahrscheinlich keine Stunde überlebt. Der Staat Israel beanspruchte für sich das Recht, als Erbe und Vollstrecker derer aufzutreten, die durch die »Endlösung« umgekommen waren. Das Verfahren führte der ganzen Welt noch einmal vor Augen, warum der Staat Israel ge‐ gründet worden war. Ich kam im Frühjahr 1941 zur Welt. In Europa wütete bereits der Zweite Weltkrieg, in den bald auch Amerika eintreten soll‐ te. Die Welt war aus den Fugen geraten, und das Chaos schlug allen Neuankömmlingen entgegen. Wer um diese Zeit geboren wurde oder am Leben war, der konnte spüren, wie ein Zeitalter verging und ein neues anbrach. Als sei die Uhr bis zu dem Mo‐ ment zurückgestellt worden, als aus v. Chr. n. Chr. wurde. Alle, die um mein Geburtsjahr herum auf die Welt kamen, gehör‐ 29
ten beiden Zeitaltern an. Hitler, Churchill, Mussolini, Stalin, Roosevelt — hoch aufragende Gestalten, wie die Menschheit sie kein zweites Mal kennenlernen würde, Männer, die sich auf ihre eigene Entschlossenheit verließen, komme, was da wolle. Sie waren alle bereit, einsame Entscheidungen zu treffen, ob sie Zustimmung fänden oder nicht. Reichtum oder Liebe waren ihnen gleichgültig, sie bestimmten über das Schicksal der Menschheit und schlugen die Welt in Stücke. Als Nachfahren von Alexander, Julius Cäsar, Dschingis Khan, Karl dem Großen und Napoleon teilten sie die Welt unter sich auf wie einen Fest‐ tagsbraten. Ob sie Mittelscheitel trugen oder Wikingerhelm, sie setzten sich durch und ließen nicht mit sich reden — rohe Barbaren, die den Erdball überrannten und ihm ihre eigenen Vorstellungen von Geographie aufzwangen. Mein Vater litt an den Folgen einer Kinderlähmung und wurde ausgemustert, aber meine Onkel waren alle in den Krieg gezogen und heil zurückgekehrt. Onkel Paul, Onkel Maurice, Jack, Max, Louis, Vernon und andere waren auf den Philippi‐ nen, in Anzio, Sizilien, Nordafrika, Frankreich und Belgien gewesen. Sie hatten Souvenirs mitgebracht— ein japanisches Zigarettenetui aus Stroh, einen deutschen Brotbeutel, eine bri‐ tische Emailletasse, eine deutsche Staubbrille, ein britisches Kampfmesser, eine deutsche Luger — einen Haufen Ramsch. Sie kehrten ins Zivilleben zurück, als wäre nichts gewesen, und lie‐ ßen nie ein Wort darüber fallen, was sie getan oder gesehen hatten. 1951 ging ich in die Grundschule. Wir lernten unter an‐ derem, wie man unter dem Schultisch in Deckung ging, wenn die Sirene zum Luftalarm aufheulte, weil die Russen uns mit Bomben angreifen könnten. Man erzählte uns auch, die Rus‐ sen könnten jederzeit über unserer Stadt Fallschirmjäger abset‐ zen. Die gleichen Russen, an deren Seite meine Onkel nur we‐ 30
nige Jahre zuvor gekämpft hatten, waren jetzt zu Monstern geworden, die kommen würden, um uns die Kehle durchzu‐ schneiden und uns zu verbrennen. Das war doch seltsam. Ein Kind, das unter einer solchen Wolke der Furcht aufwachsen muß, verliert seinen Lebensmut. Sich vor einer nicht ganz realen Bedrohung zu fürchten ist etwas anderes als Angst zu haben, weil jemand eine Schrotflinte auf einen gerichtet hält. Trotzdem gab es viele Leute, die diese Bedrohung ernst nahmen, und das färbte ab. Man konnte solchen abwegigen Phantasien leicht zum Opfer fallen. Ich hatte dieselben Lehrer wie meine Mutter. Zu deren Schulzeit waren sie jünger gewesen, zu meiner inzwischen in die Jahre gekommen. In Amerikanischer Geschichte lernten wir, daß die Kommunisten die Vereinigten Staaten nicht einfach mit Waffen oder Bomben zerstören konnten, sondern daß sie auch die Verfassung vernichten müßten, die Gründungsurkunde unseres Landes. Darauf kam es aber gar nicht an. Wenn der Probealarm ertönte, mußte man sich mit dem Gesicht nach unten unter den Tisch legen, sich totstellen, und man durfte keinen Laut von sich geben. Als ob das irgendeinen Schutz vor ab‐ geworfenen Bomben geboten hätte. Die Drohung, daß wir ver‐ nichtet werden sollten, machte uns angst. Wir wußten nicht, womit wir diese Leute so gegen uns aufgebracht hatten. Die Ro‐ ten seien überall, hörten wir, und sie lechzten nach Blut. Wo wa‐ ren meine Onkel, die Landesverteidiger? Sie hatten genug mit ihrer Arbeit zu tun, kratzten Geld zusammen und streckten sich nach der Decke. Woher sollten sie wissen, was in den Schulen vor sich ging und welche Ängste dort geschürt wurden? Das war jetzt alles vorbei. Ich lebte in New York City, Kom‐ munisten hin oder her. Wahrscheinlich liefen sie hier rudel‐ weise herum, genau wie die Faschisten. Massenweise linke und rechte Möchtegerndiktatoren, Radikale jeder Couleur. Es hieß, mit dem Zweiten Weltkrieg sei das Zeitalter der Aufklärung 31
zu Ende gegangen, aber davon hatte ich nichts mitbekommen. Ich lebte immer noch mittendrin. Ich konnte mich noch eini‐ germaßen an ihr Licht erinnern, ihr fernes Feuer spüren. Ich hatte das ganze Zeug gelesen. Voltaire, Rousseau, John Locke, Montesquieu, Martin Luther — Visionäre, Revolutionäre ... sie waren wie alte Freunde, als hätten sie gleich nebenan ge‐ wohnt. Ich ging durch das Zimmer zum Fenster mit seinen cremefar‐ benen Gardinen und zog die Jalousie hoch. Von hier aus konnte man die verschneiten Straßen sehen. Die Möbel waren schön, zum Teil sogar handgefertigt. Auch das war schön — Frisier‐ kommoden mit Intarsien, stilisierten Schnitzereien und ver‐ schnörkelten Griffen, verzierte Bücherregale, die bis zur Decke reichten, ein langer, schmaler rechteckiger Tisch mit Metall‐ elementen, deren Geometrie ihren eigenen Regeln zu folgen schien, und noch ein witziges Möbelstück, ein organisch geform‐ ter Abstelltisch, der einer großen Zehe glich. Es gab raffiniert in Schrankfächer eingelassene Kochplatten. Die kleine Küche war wie ein Wald. Küchenkräuterdosen mit Frauenminze, Wald‐ meister, Fliederblättern und anderem Zeugs. Chloe, ein Süd‐ staatenmädchen mit ein paar Vorfahren aus dem Norden, wußte, wie man Wäscheleinen im Badezimmer anbringt. Manchmal sah ich eines meiner Hemden dort hängen. Meistens kam ich kurz vor dem Morgengrauen zurück und ließ mich im Wohnzimmer, das eine hohe Decke und Stützbalken hatte, aufs Ausziehsofa fallen. Oft schlief ich zu den Geräuschen des Nacht‐ zugs ein, der sich rumpelnd und grummelnd seinen Weg durch Jersey bahnte, das eiserne Pferd mit Dampf in den Adern statt Blut. Seit meiner frühesten Kindheit hatte ich Züge gesehen und gehört und mich bei ihrem Anblick und ihren Geräuschen im‐ mer geborgen gefühlt. Die großen Güterwaggons, die Eisenerz‐ 32
transporte, Passagierzüge, Schlafwagen. In meiner Heimatstadt kam man nirgendwohin, ohne ständig an Bahnübergängen dar‐ auf warten zu müssen, daß die langen Züge vorüberfuhren. Die Gleise liefen neben den Landstraßen her oder kreuzten sie. Beim Rattern ferner Züge fühlte ich mich mehr oder weniger zu Hause, als ob es mir an nichts mangele, als ob ich auf der si‐ cheren Seite sei, wo mir keine besondere Gefahr drohte und sich alles ineinanderfügte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand eine Kirche mit Glockenturm. Auch das Läuten der Glocken vermittelte mir ein Gefühl der Geborgenheit. Ich hatte ihnen schon immer gern gelauscht. Eisernen Glocken, Messingglocken, Silberglocken — die Glocken sangen. Zum Sonntagsgottesdienst, an Feiertagen. Sie erklangen, wenn jemand Wichtiges starb und wenn gehei‐ ratet wurde. Bei allen besonderen Anlässen läuteten die Glok‐ ken. Es war ein schönes Gefühl, sie zu hören. Ich mochte sogar Türglocken und die NBC‐Glockenmelodie im Radio. Ich sah durch das Bleiglasfenster zur Kirche hinüber. Jetzt schwiegen die Glocken, und von den Dächern stob Schnee. Ein Blizzard hatte die Stadt im Griff, das Leben drehte sich träge im Kreis. Eisige Kälte. Auf der anderen Straßenseite kratzte ein Mann in einer Lederjacke den Reif von der Windschutzscheibe eines schnee‐ bedeckten schwarzen Mercury Montclair. Hinter ihm lief ein Priester in einem purpurnen Gewand über den Hof der Kirche und durch ein offenes Tor, unterwegs zu irgendeiner heili‐ gen Pflicht. Ein Stück weiter schleppte sich eine barhäuptige Frau in Stiefeln mit einem Wäschesack ab. Eine Million Ge‐ schichten gingen vor sich, alltägliche New Yorker Angelegen‐ heiten, falls man den Blick auf sie richten wollte. Man hatte das ganze Durcheinander immer unmittelbar vor Augen, und wenn man irgend etwas davon begreifen wollte, mußte man es 33
erst zerlegen. Valentinstag, der Tag der Liebenden, war gekom‐ men und gegangen, ohne daß ich es bemerkt hatte. Mir blieb keine Zeit für Romanzen. Ich wandte mich vom Fenster und der Wintersonne ab, ging zum Herd und machte mir eine Tasse heiße Schokolade, und dann stellte ich das Radio an. Im Radio war ich immer auf der Suche. Wie Züge und Glok‐ ken gehörte auch das Radio zum Soundtrack meines Lebens. Ich drehte den Regler auf auf und ab, und Roy Orbisons Stimme schmetterte aus den kleinen Lautsprechern. Sein neuer Song »Running Scared« brachte die Wände zum Wackeln. In letzter Zeit hatte ich nach Songs mit Folkanklängen gesucht. Es hat‐ te schon einige gegeben: »Big Bad John«, »Michael Row the Boat Ashore«, »A Hundred Pounds of Clay«. Brook Benton hatte »Boll Weevil« zum modernen Hit gemacht. Auch das Kingston Trio und Brothers Four wurden im Radio gespielt. Ich mochte das Kingston Trio. Obwohl ihr Stil geschniegelt und eher was für Collegestudenten war, gefielen mir die meisten ihrer Stücke. Songs wie »Getaway John«, »Remember the Alamo« oder »Long Black Rifle«. Immer wieder gelang einem Song mit Folkeinschlag der Durchbruch. Selbst »Endless Sleep«, das Lied von Jodie Reynolds, mit dem sie vor Jahren Erfolg ge‐ habt hatte, war auf seine Weise eine Art Folk gewesen. Orbison aber hatte alle Genres transzendiert ... Folk, Country, Rock ʹnʹ Roll, einfach alles. In seinen Stücken vermischten sich sämt‐ liche Stile, sogar einige, die noch gar nicht erfunden waren. Er konnte im einen Moment fies und gemein klingen und im nächsten mit einer Falsettstimme wie Frankie Valli singen. Bei Roy wußte man nie, ob man gerade Mariachi oder Oper hörte. Er hielt einen immer in Atem. Bei ihm gingʹs immer ums Ganze. Er hörte sich an wie jemand, der von einem olympischen Gipfel herab singt, und es war ihm ernst. Mit einem seiner frü‐ hen Songs, »Ooby Dooby«, hatte er einen Hit gelandet, aber 34
der neue Song war vollkommen anders. »Ooby Dooby« war von trügerischer Schlichtheit gewesen, aber Roy hatte sich wei‐ terentwickelt. Er sang seine Kompositionen jetzt über drei oder vier Oktaven, so daß man sich mit dem Auto von der nächsten Klippe stürzen wollte. Er sang wie ein Berufsverbrecher. Ge‐ wöhnlich fing er auf einer tiefen, kaum vernehmbaren Ebene an und hielt sich dort eine Weile, und dann steigerte er sich auf einmal in eine überraschende Theatralik. Seine Stimme konnte Tote zum Leben erwecken und entlockte einem unwillkürlich ein gemurmeltes »Mann, ich glaubʹs nicht« oder etwas in der Art. Seine Songs enthielten Songs in Songs. Sie sprangen ohne jede Logik von Dur nach Moll. Orbison meinte es todernst — er war kein Gimpel und kein Grünschnabel. Es gab niemand im Radio, der sich mit ihm hätte messen können. Ich wartete auf mehr, aber neben Roy war alles, was sonst noch lief, öder Schrott ... feige und schlapp. Das war alles was für Gehirnam‐ putierte. Vielleicht mit Ausnahme von George Jones vielleicht mochte ich auch keine Countrymusik. Bei Jim Reeves und Eddy Arnold war ohnehin schwer zu verstehen, was daran Country sein sollte. Die Countrymusik hatte ihre ganze Wildheit und Verrücktheit eingebüßt. Auch Elvis Presley hörte keiner mehr. Es war Jahre her, daß er mit den Hüften gewackelt und Songs wie Raketen in den Himmel hatte steigen lassen. Ich machte trotzdem immer wieder das Radio an, wahrscheinlich vor al‐ lem aus gedankenloser Gewohnheit. Leider beschäftigte sich das ganze Programm nur mit Zuckerwasser und nicht mit den eigentlichen Jekyll‐und‐Hyde‐Themen der Zeit. Den von der Straße geprägten Geist von Kerouacs Unterwegs, Gins‐ bergs Geheul und Gregory Corsos Gasoline, der eine neue Lebensweise verhieß, gab es hier nicht, aber was hätte man auch anderes erwarten sollen? Für so etwas war auf Singles kein Platz. 35
Ich dachte ständig über eine eigene Platte nach, aber ich hätte keine Singles aufnehmen wollen, keine 45er, keine Songs von der Sorte, die im Radio lief. Folksänger, Jazzkünstler und klas‐ sische Musiker nahmen LPs auf, Langspielplatten voller Songs in den Rillen — mit LPs konnte man sich eine neue Identität zu‐ legen; sie brachten mehr auf die Waage und zeigten einen grö‐ ßeren Ausschnitt von der Welt. LPs waren wie die Schwerkraft. Sie hatten ein Cover mit einer Vorder‐ und einer Rückseite, die man stundenlang betrachten konnte. Im Vergleich dazu waren 45er lächerlich und unausgegoren. Sie türmten sich zu Bergen und sahen nach nichts aus. Ich hatte sowieso keine Songs für kommerzielle Sender in meinem Repertoire. Songs über heruntergekommene Schmuggler, Mütter, die ihre eige‐ nen Kinder ersäufen, Cadillacs, die auf hundert Kilometer fünf‐ zig Liter schlucken, Überschwemmungen, Feuersbrünste im Gewerkschaftssaal, Dunkelheit und Kadaver am Grunde von Flüssen ... das war nichts für Radioliebhaber. Meine Folksongs hatten nichts Eingängiges. Sie wollten nicht heiter und lecker zum Weghören sein. Sie plätscherten nicht sanft ans Ufer. Man kann durchaus sagen, daß sie nicht kommerziell waren. Und nicht nur das, mein Stil war auch zu unberechenbar und zu schwer einzuordnen fürs Radio, und Songs bedeuteten für mich mehr als nur leichte Unterhaltung. Sie waren mein Leitstern und mein Reiseführer auf dem Weg zu einer anderen Wahrneh‐ mung der Wirklichkeit, in ein anderes Land, ein befreites Land. Der Musikhistoriker Greil Marcus sollte es dreißig Jahre spä‐ ter die »Invisible Republic« nennen, das unsichtbare Land. Wie auch immer, es lag jedenfalls nicht daran, daß ich gegen die Popkultur gewesen wäre oder dergleichen, und ich hatte keine Ambitionen, alles aufzumischen. Mir kam nur die Mainstream‐ kultur erschreckend lahm vor und wie ein Riesenschwindel. Sie war wie das ewige Eismeer vor der Tür, und man brauchte spe‐ 36
zielles Schuhwerk, wenn man sich darauf hinauswagen wollte. Ich wußte nicht, in welchem Zeitalter der Geschichte wir lebten oder worin dessen Wahrheit bestand. Wen interessierte das schon? Wenn man die Wahrheit sagte, war das schön und gut, und wenn man die Unwahrheit sagte, war das immer noch schön und gut. Das hatte ich aus Folksongs gelernt. Was die Zeit anging, stand man immer gerade erst am Anfang, und ich wußte auch ein bißchen über Geschichte — die Geschichte einiger Nationen und Staaten —, und es war immer das gleiche Muster. Ein frühes, archaisches Zeitalter, in dem die Gesellschaft entsteht, sich entwickelt und gedeiht, dann ein klassisches Zeit‐ alter, in dem die Gesellschaft zur höchsten Blüte gelangt, und schließlich ein Zeitalter der Erschlaffung, eine dekadente Ver‐ fallsperiode, in der alles auseinanderbricht. Ich hatte keine Ah‐ nung, in welchem dieser Stadien Amerika sich gerade befand. Wen hätte ich fragen sollen? Und doch schwang alles in einem bestimmten primitiven Rhythmus. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Alles, woran man glaubte, konnte ebensogut grundfalsch sein. Ich stellte das Radio aus, wanderte im Zimmer umher und blieb einen Moment lang stehen, um den Schwarzweißfernseher ein‐ zuschalten. Es lief Wagon Train. Die Sendung flimmerte wie aus einem fremden Land ins Zimmer. Ich schaltete auch den Fernseher wieder aus und ging nach nebenan, in einen fenster‐ losen Raum mit bunt bemalter Tür — eine dunkle Höhle mit Bü‐ cherregalen vom Boden bis zur Decke. Ich machte Licht. Hier spürte man die Gegenwart der Literatur mit einer Macht, vor der auch der verstockteste Ignorant kapitulieren mußte. Das kulturelle Spektrum, in dem ich groß geworden war, hatte mei‐ nen Verstand mit Ruß geschwärzt. Brando. James Dean. Milton 37
Berle. Marilyn Monroe. Lucy. Earl Warren und Chruschtschow. Castro. Little Rock und Peyton Place. Tennessee Williams und Joe DiMaggio. J. Edgar Hoover und Westinghouse. Die Nelsons. Holiday Inns und heiße Chevys. Mickey Spillane und Joe McCarthy. Levittown. Wenn man in diesem Zimmer stand, war das alles ein Witz. Hier gab es von allem etwas — Bücher über Typographie, In‐ schriftenkunde, Philosophie und politische Ideologien. Lauter Zeug, bei dem man mit den Ohren schlackerte. Bücher wie Foxʹs Book of Martyrs, The Twelve Caesars, Tacitusʹ Schriften und Briefe an Brutus. Periklesʹ Werk über den idealen Staat, Thukydidesʹ Der athenische Feldherr. Ein Text, von dem man Gänsehaut bekommt. Er ist vierhundert Jahre vor Christus entstanden und handelt davon, wie sich die menschliche Na‐ tur grundsätzlich gegen alles Überlegene zur Wehr setzt. Thukydides läßt sich darüber aus, wie Worte in seiner Lebens‐ zeit einen Bedeutungswandel durchlaufen haben, wie sich Handlungsweisen und Meinungen über Nacht ändern kön‐ nen. Als sei seit seiner Zeit bis zu meiner alles beim alten ge‐ blieben. Ich fand auch Romane von Gogol und Balzac, Maupassant, Hugo und Dickens. Meistens schlug ich ein Buch in der Mitte auf, las ein paar Seiten und fing vorn an, wenn es mir zusagte. Materia Medica (über die Ursachen und die Heilung von Krank‐ heiten) — das war ein gutes Buch. Ich war auf der Suche nach dem Teil meiner Bildung, den ich nie erhalten hatte. Manchmal fand ich auf dem Vorsatz oder der Titelseite eines Buches eine handschriftliche Notiz; in Machiavellis Der Fürst stand zum Beispiel »Der Geist des Wühlers« und in Dantes Inferno »Der Kosmopolit«. Die Bücher waren nicht nach einem bestimmten System oder nach Themen geordnet. Rousseaus Gesellschafts‐ vertrag stand neben der Versuchung des Heiligen Antonius und 38
Ovids düstere Metamorphosen neben der Autobiographie von Davy Crockett. Bücher in endlosen Reihen — Sophoklesʹ Werk über das Wesen und Walten der Götter — warum es nur zwei Geschlechter gibt. Alexander der Große und sein Feldzug gegen Persien. Als er Persien erobert hatte, befahl er allen sei‐ nen Männern, einheimische Frauen zu heiraten, um seine Vor‐ machtstellung zu sichern. Danach hatte er keine Schwie‐‐ rigkeiten mehr mit der Bevölkerung, keine Aufstände, nichts dergleichen. Alexander wußte, wie man für absolute Kontrolle sorgt. Auch eine Simon‐Bolivar‐Biographie war zur Hand. Ich wollte alle diese Bücher lesen, aber dafür hätte ich in ein Alters‐ heim ziehen müssen. Ich las in Schall und Wahn und verstand nicht viel, aber Faulkner war stark. Ich las auch in dem Buch von Albertus Magnus, einem Mann, der Naturwissenschaft mit Theologie verband. Verglichen mit Thukydides war es ein leichtgewichtiges Werk. Albertus wirkte wie ein Schlafloser, der seine Sachen tief in der Nacht geschrieben hatte, während ihm die Kleidung am klammen Körper klebte. Viele Bücher wa‐ ren zu groß zum Lesen, wie riesige Schuhe für Leute mit Qua‐ dratlatschen. Ich las vor allem Gedichtbände. Byron, Shelley, Longfellow und Poe. Ich lernte Poes Gedicht »Die Glocken« auswendig und spielte auf der Gitarre dazu. Es gab ein Buch über Joseph Smith, den wahren amerikanischen Propheten, der sich mit Enoch aus der Bibel identifiziert und sagt, Adam sei der erste Halbgott gewesen. Auch das verblaßt neben Thukydides. Die Gewalt der Bücher brachte das Zimmer zum Schwanken, bis mir übel wurde. Die Worte von Leopardis »La Vita Solitaria« schienen aus einem Baumstamm zu dringen, hoffnungslose, unzerstörbare Empfindungen. Es gab ein Buch von Sigmund Freud, dem König des Unbe‐ wußten: Jenseits des Lustprinzips. Ich blätterte einmal darin, als Ray hereinkam. Er warf einen Blick auf das Buch und sagte: 39
»Die führenden Leute auf dem Gebiet arbeiten in Werbeagen‐ turen. Sie verkaufen Luft.« Ich stellte das Buch zurück ins Regal und nahm es nie wieder in die Hand. Aber ich las eine Biographie von Robert E. Lee und erfuhr, wie sein Vater bei einem Aufstand entstellt worden war, wie man ihm Lauge in die Augen gegossen und wie er danach seine Familie verlassen hatte und auf die Westindischen Inseln gezogen war. Robert E. Lee war ohne Vater aufgewachsen. Lee hatte trotzdem etwas aus sich gemacht. Und nicht nur das, es ist auch einzig und allein ihm zu verdanken, daß Amerika sich nicht in einen Guerillakrieg gestürzt hat, der wahrscheinlich bis heute andauern würde. Die Bücher waren eine Sache für sich. Sie bedeuteten mir wirklich etwas. Ich las viele Seiten laut und genoß den Klang der Worte, die Sprache. Miltons Protestgedicht »Massaker in Piedmont«. Ein politisches Gedicht über den Mord an Unschuldigen durch den Fürsten von Savoyen in Italien. Es war wie ein Folksongtext, sogar noch eleganter. Von den russischen Titeln im Regal ging etwas besonders Düsteres aus. Da waren die politischen Gedichte Puschkins, der als Revolutionär galt. Puschkin war 1837 bei einem Duell ums Leben gekommen. Es gab ein Buch von Leo Graf Tolstoi, dessen Landgut ich über zwanzig Jahre später besuchen sollte. Er hatte dort eine Schule für Bauernkinder gegründet und geleitet. Das Familiengut lag südlich von Moskau, und im Alter zog er sich dorthin zurück, verwarf sein gesamtes bisheriges Werk und sprach sich gegen jede Form des Krieges aus. Als er zwei‐ undachtzig Jahre alt war, hinterließ er eines Tages einen Zettel für seine Familie mit der Nachricht, daß man ihn in Frieden lassen solle. Er ging in den verschneiten Wald hinaus, und nach ein paar Tagen fand man seine Leiche. Er war an Lungen‐ entzündung gestorben. Ein Fremdenführer ließ mich mit sei‐ 40
nem Fahrrad fahren. Auch Dostojewski hatte ein trauriges und schweres Leben geführt. Der Zar verbannte ihn 1849 in ein sibirisches Straflager. Dostojewski wurde vorgeworfen, er habe Propagandaschriften für die Sozialisten verfaßt. Schließ‐ lich wurde er begnadigt, und er schrieb Geschichten, um sich seine Gläubiger vom Leib zu halten. So wie ich, als ich in den frühen Siebzigern Alben veröffentlichte, um mir meine Gläu‐ biger vom Leib zu halten. Früher war ich nie so scharf auf Bücher und Schriftsteller gewesen, aber Geschichten hatte ich immer gemocht. Geschich‐ ten von Edgar Rice Burroughs, der über das mythische Afrika schrieb, Luke Short, die mythischen Western‐Geschichten, Jules Verne, H. G. Wells. Das waren meine Lieblingsautoren, aber damals hatte ich die Folksänger noch nicht entdeckt. Die Folksänger konnten in wenigen Strophen den Inhalt eines gan‐ zen Buchs erzählen. Es ist schwer zu beschreiben, was Menschen oder Ereignisse auszeichnet, die sich als Gegenstand eines Folksongs eignen. Wahrscheinlich kommt es darauf an, ob je‐ mand gerecht, ehrlich und offen ist. Eine abstrakte Tapferkeit. Al Capone war ein erfolgreicher Gangster und beherrschte die Unterwelt von Chicago, aber niemand schrieb je einen Song über ihn. Er ist in keiner Hinsicht interessant oder heldenhaft. Er ist kalt. Ein Blutsauger. Er wirkt wie ein Mann, der in seinem ganzen Leben keine Minute allein draußen in der Natur ver‐ bracht hat. Man sieht einen Kriminellen oder einen Schläger vor sich, wie in dem Song »Looking for that Bully of the Town«. Er hat sich nicht einmal einen Namen verdient — er kommt wie ein herzloser Vampir daher. Pretty Boy Floyd dage‐ gen macht Lust auf Abenteuer. Schon sein Name ist klangvoll. Er hat etwas Freies, er steckt nicht im Morast fest. Er wird nie eine Stadt regieren, er kann die Maschine nicht manipulieren und sich niemanden gefügig machen, aber er ist aus echtem 41
Fleisch und Blut, er verkörpert Menschlichkeit und zeigt einem, was Stärke ist. Jedenfalls, bis sie ihn irgendwo in der Provinz in die Falle gelockt hatten. Bei Ray gab es keinen Lärm, außer wenn ich das Radio an‐ machte oder Platten hörte. Wenn nicht, herrschte Grabesstille, und ich wandte mich wieder den Büchern zu ... ich wühlte mich hindurch wie ein Archäologe. Ich las die Biographie von Thad‐ deus Stevens, dem radikalen Republikaner. Er hat im frühen 19. Jahrhundert gelebt und war eine eigenwillige Gestalt. Er kam aus Gettysburg und hatte einen Klumpfuß wie Byron. Er wuchs in armen Verhältnissen auf und verdiente ein Vermögen, und von da an stand er denen zur Seite, die schwächer waren als er oder sich aus anderen Gründen nicht selbst für ihre Rech‐ te einsetzen konnten. Stevens hatte einen grimmigen Humor und eine spitze Zunge, und er hegte einen glühenden Haß auf die saturierten Aristokraten seiner Zeit. Er wollte das Land der Sklavenbesitzerelite beschlagnahmen und sagte einem Kolle‐ gen in der Senatskammer einmal nach, er schmore »in seinem eigenen Schleim«. Stevens war ein Gegner der Freimaurer und beschimpfte seine Feinde als Leute, die aus dem Maul nach Menschenblut stänken. Er nahm kein Blatt vor den Mund und bezeichnete seine Widersacher als einen »armseligen Haufen niederer Reptilien, die in ihren Höhlen lauern und das Tages‐ licht scheuen«. Stevens war einer, den man nicht so schnell ver‐ gaß. Auf mich machte er großen Eindruck, er inspirierte mich. Er und Teddy Roosevelt, der vielleicht stärkste US‐Präsident aller Zeiten. Auch über Teddy hatte ich etwas gelesen. Er war Rinderzüchter und kämpfte gegen das Verbrechen, hatte unbe‐ dingt Kalifornien den Krieg erklären wollen und mußte davon abgehalten werden. In großem Stil geriet er mit J. P. Morgan 42
aneinander, einem Halbgott, dem damals der größte Teil der Vereinigten Staaten gehörte. Roosevelt gab ihm Zunder und drohte ihm an, ihn ins Gefängnis zu stecken. Sowohl Stevens als auch Roosevelt und selbst Morgan hät‐ ten aus einer Folkballade stammen können. Aus Songs wie »Walkinʹ Boss«, »The Prisonerʹs Song« oder sogar aus »Ballad of Charles Guiteau«. Sie stecken da drin, auch wenn sie sich nicht auf den ersten Blick zu erkennen geben. Wenn man sich noch Strom und Schlagzeug dazudenkt, tauchen sie sogar in frühen RockʹnʹRoll‐Songs auf. In den Regalen standen auch Kunstbände, Bücher über Mo‐ therwell und den frühen Jasper Johns, Broschüren über deutsche Impressionisten, Grünwald, Adolf von Menzel. Ratgeber — wie man ein überdehntes Knie behandelt, wie man ein Baby auf die Welt holt, wie man im eigenen Schlafzimmer eine Blind‐ darmoperation durchführt. Von solchem Zeug konnte man wil‐ de Träume kriegen. Es lagen noch andere Sachen herum, die einem ins Auge fielen — Kreideskizzen von Ferraris und Duca‐ tis, Bücher über Amazonen, Ägypten unter den Pharaonen, Fo‐ tobände über Zirkusakrobaten, Liebende, Friedhöfe. In der Ge‐ gend gab es keine großen Buchhandlungen, deshalb wäre es schwierig gewesen, diese vielen Bücher anderswo aufzutreiben. Die Biographien gefielen mir sehr, und ich las in einer über Friedrich den Großen, der nicht nur König von Preußen gewesen war, sondern zu meiner Überraschung auch Komponist. Ich blätterte auch in Clausewitzʹ Buch Vom Kriege. Es hieß, Clau‐ sewitz sei der wichtigste Kriegsphilosoph. Dem Klang des Na‐ mens nach möchte man annehmen, daß er ausgesehen hat wie von Hindenburg, aber das stimmt nicht. Auf seinem Porträt im Buch ähnelt er dem Dichter Robert Burns oder dem Schauspie‐ ler Montgomery Clift. Das Buch erschien 1832. Clausewitz war seit seinem zwölften Lebensjahr beim Militär gewesen. Seine 43
Armeen bestanden aus gut ausgebildeten Berufssoldaten, nicht aus jungen Männern, die nur ein paar Jahre lang dienten. Seine Männer waren schwer zu ersetzen, und er läßt sich eingehend darüber aus, wie man sie so in Position bringt, daß die gegneri‐ sche Seite ihre Unterlegenheit erkennt und sich ergibt. Zu seiner Zeit gab es in einem Kampf auf Leben und Tod wenig zu ge‐ winnen und viel zu verlieren. Für Clausewitz war Steinewerfen kein Krieg — jedenfalls kein Krieg im idealisierten Sinne. Er schreibt viel über die Rolle, die psychologische und Zufalls‐ faktoren wie das Wetter und die Windverhältnisse auf dem Schlachtfeld spielen. Ich fühlte mich von diesem Zeug auf eine morbide Art an‐ gezogen. Einige Jahre zuvor, als mir noch nicht klar war, daß ich Sänger werden wollte, und meine Phantasie auf Hochtouren arbeitete, hatte ich sogar nach West Point auf die Militärakade‐ mie gehen wollen. Ich hatte mir oft ausgemalt, wie ich in einer heroischen Schlacht starb statt im Bett. Ich wollte ein Gene‐ ral mit einem eigenen Bataillon werden und rätselte, welcher Schlüssel einem wohl das Tor zu diesem Wunderland öffne. Ich fragte meinen Vater, wie man in West Point aufgenommen werden könne. Er sah mich schockiert an und sagte, mein Nach‐ name fange nicht mit »de« oder »von« an und man brauche Be‐ ziehungen und makellose Papiere, wenn man es dort zu etwas bringen wolle. Er schlug vor, wir sollten uns darauf konzentrie‐ ren, diese Papiere zu beschaffen. Mein Onkel war erst recht kei‐ ne Hilfe. Er sagte: »Für die Regierung willst du bestimmt nicht arbeiten. Soldaten sind Hausfrauen. Sie sind Versuchskanin‐ chen. Such dir Arbeit im Bergwerk.« Bergwerk oder nicht, die Sache mit den Beziehungen und den Papieren ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Das hörte sich gar nicht gut an; es gab mir das Gefühl, daß mir irgend etwas fehlte. Es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, was damit gemeint 44
war und wie einem so etwas die Pläne durchkreuzen kann. Meine frühen Bands wurden mir gewöhnlich von anderen Sängern aus‐ gespannt, die gerade eine brauchten. Es hatte ganz den Anschein, als passiere das jedesmal, wenn ich gerade eine Band beisammen‐ hatte. Ich verstand nicht, wie das möglich war, wo doch die ande‐ ren Jungs auch nicht besser sangen oder spielten als ich. Aber dafür hatten sie Zugang zu Gigs, bei denen es um richtiges Geld ging. Jeder, der eine Band hatte, konnte in Pavillons im Park, bei Talentshows, Volksfesten, Auktionen und Geschäftseröffnungen auftreten, aber bei solchen Gigs bekam man höchstens die Spe‐ sen erstattet und manchmal noch nicht einmal das. Die anderen Crooner durften bei Tagungen auftreten, auf Hochzeitsfeiern, bei Goldenen Hochzeiten in Hotel‐Ballsälen, bei Veranstaltun‐ gen des Wohltätigkeitsvereins »Knights of Columbus« und so weiter — und da gab es Cash. Immer machte mir die Aussicht auf Gage meine Band abspenstig. Ich beklagte mich regelmäßig bei meiner Großmutter, die bei uns wohnte, meiner einzigen Ver‐ trauten, und sie sagte, ich solle das nicht persönlich nehmen. Sie meinte zum Beispiel: »Manche Leute kann man eben nicht über‐ zeugen. Laß einfach gut sein — das gibt sich von selbst.« Klar, das sagt sich leicht, aber ich fühlte mich trotzdem elend. Es war eben so, daß die Jungs, die mir meine Bands wegnahmen, verwandt‐ schaftliche Beziehungen zu einem hohen Tier in der Handels‐ kammer, im Stadtrat oder in den Handelsverbänden hatten. Diese Riegen hatten Kontakt zu verschiedensten Kreisen im ganzen Bundesstaat. Die Sache mit den Familienbeziehungen machte mir schwer zu schaffen, und ich kam mir nackt vor. Es war so eine fundamentale Ungerechtigkeit. Den einen ver‐ schaffte sie einen unfairen Vorteil, und die anderen blieben im Regen stehen. Wie sollte man unter solchen Bedingungen je‐ mals nach oben kommen? Es sah ganz nach einem Naturgesetz aus, aber selbst wenn es so war, wollte ich mich nicht in den 45
Schmollwinkel verziehen oder das Ganze, wie meine Groß‐ mutter sagte, persönlich nehmen. Familienbeziehungen waren legitim. Man konnte sie niemandem zum Vorwurf machen. Nach einiger Zeit hatte ich mich an den Gedanken gewöhnt, meine Band zu verlieren, und es brachte mich nicht mehr aus der Fassung, wenn es passierte. Ich gründete trotzdem immer neue Bands, weil ich unbedingt spielen wollte. Es gab viel Stok‐ ken und Stillstand, wenig Ermunterung, wenig Zuspruch, aber manchmal reicht ein Zwinkern oder ein Nicken aus einer uner‐ warteten Richtung, um die Ödnis eines unergründlichen Da‐ seins zu lindern. Das geschah, als der berühmte Ringer Gorgeous George in unsere Stadt kam. Mitte der Fünfziger trat ich in der Lobby der National Guard Armory auf, im Veterans Memorial Building, wo alle großen Veranstaltungen stattfanden — die Viehausstel‐ lungen und Hockeyspiele, Zirkusse, Boxkämpfe, Erweckungs‐ gottesdienste von Wanderpredigern und Country & Western‐ Jamborees. Ich hatte Slim Whitman, Hank Snow, Webb Pierce und viele andere dort auftreten sehen. Etwa einmal jährlich kam Gorgeous George mit seiner Truppe in die Stadt: Goliath, The Vampire, The Twister, The Strangler, The Bone Crusher, The Holy Terror, ringende Zwerge und Frauen und viele andere. Ich spielte auf einer improvisierten Bühne in der Lobby des Gebäudes, während um mich herum das übliche Chaos tobte und niemand mir viel Aufmerksamkeit widmete. Plötzlich wurden die Türen aufgerissen, und herein trat Gorgeous George persönlich. Er kam hereingefegt wie ein Wirbelsturm und lief nicht durch den Backstagebereich, sondern direkt durch die Lobby. Er schritt einher wie vierzig Mann. Es war Gorgeous George in all seiner atemberaubenden Pracht, mit aller Glorie und Vitalität, die man erwarten durfte. Er hatte Diener dabei, war umringt von Frauen mit Rosen in den Händen, trug ein 46
majestätisches Goldcape mit Pelzbesatz, und seine langen blon‐ den Locken tanzten um ihn her. Er stürmte auf meine improvi‐ sierte Bühne zu und horchte auf. Ohne seinen Schritt zu ver‐ langsamen, sah er mich an, und in seinen Augen blitzte das Mondlicht. Er blinzelte, und es sah aus, als formten seine Lippen den Satz: »Du machst die Musik lebendig.« Ob er das wirklich gesagt hat, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß ich dachte, ich hätte es gehört, und ich habe es nie ver‐ gessen. Mehr Anerkennung und Ermutigung brauchte ich für die nächsten Jahre nicht. Manchmal reicht ja die Anerkennung, die man bekommt, wenn man eine Sache um ihrer selbst willen tut und dabei auf dem richtigen Weg ist, auch wenn es noch keiner merkt. Gorgeous George. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen. Vielleicht stimmte das. Natürlich büßte ich bald auch die Band ein, die mit mir in der Lobby des Veterans Building aufgetreten war. Jemand hatte sie gesehen und sie mir ausgespannt. Ich mußte an meinen Be‐ ziehungen arbeiten. Allmählich dämmerte mir, daß ich lernen mußte, allein zu spielen und zu singen, und mich nicht auf eine Band verlassen durfte, bis ich es mir leisten konnte, eine zu bezahlen und zu behalten. Der Tag, an dem Beziehungen und Papiere keine Rolle mehr spielen würden, lag noch in weiter Ferne, aber vorläufig war ich zufrieden. Eine Begegnung mit Gorgeous George, das war wirklich ein Erlebnis. Clausewitzʹ Buch wirkt überholt, aber es steht viel Wahres darin, und man kann daraus viel über das gewöhnliche Leben und den Zwang zur Anpassung lernen. Wenn er behauptet, Politik habe die Moral abgelöst und sei nackte Gewalt, meint er das ernst. Man muß ihm glauben. Egal, wer man ist, man befolgt Befehle. Unterwirf dich, oder du bist tot. Erzählen Sie mir kei‐ nen Quatsch über Hoffnung und kein Gewäsch über Recht‐ schaffenheit. Kommen Sie mir nicht mit dem Schmu, daß Gott 47
auf unserer Seite ist oder uns hilft. Reden wir Klartext. Es gibt keine moralische Ordnung. Die kann man vergessen. Moral hat nichts mit Politik zu tun. Man kann sich nicht an der Moral ver‐ sündigen. Entweder ist man im Recht oder nicht. So sieht es aus in der Welt, und daran wird sich auch nichts ändern. Es ist eine verrückte, konfuse Welt, und dieser Tatsache muß man ins Auge blicken. Clausewitz ist in mancher Hinsicht prophetisch. Ohne daß man es merkt, können einen manche Gedanken in seinem Buch beeinflussen. Wer sich für einen Träumer hält, kann das Buch lesen und wird feststellen, daß er zum Träumen gar nicht imstande ist. Träume sind gefährlich. Wenn man Clausewitz liest, nimmt man die eigenen Gedanken etwas weniger ernst. Ich las auch Die weiße Göttin von Robert Graves. Von der Anrufung der Muse der Poesie hatte ich bis dahin noch nichts gewußt; jedenfalls nicht genug, um mich damit abzuquälen. Ein paar Jahre später sollte ich Robert Graves in London persönlich kennenlernen. Wir machten einen zügigen Spaziergang um den Paddington Square. Ich wollte ihn nach ein paar Einzelheiten seines Buches fragen, konnte mich aber kaum noch daran erin‐ nern. Den französischen Schriftsteller Balzac mochte ich sehr, ich las Das Chagrinleder und Vetter Pons. Balzac war ziemlich lustig. Seine Philosophie ist schlicht; sie besagt im Grunde nur, daß der reine Materialismus einen in den Wahnsinn treibt. Für Balzac scheint das einzige sichere Wissen im Aberglauben zu liegen. Alles wird analysiert. Man muss Energie sparen. Das ist das Geheimnis des Lebens. Von Herrn B. kann man eine Menge lernen. Er ist ein lustiger Begleiter. Er trägt eine Mönchskutte und trinkt eine Tasse Kaffee nach der anderen. Zuviel Schlaf lähmt seinen Verstand. Wenn ihm ein Zahn ausfällt, sagt er: »Was bedeutet das?« Er stellt alles in Frage. Seine Kleidung fängt an einer Kerze Feuer. Er fragt sich, ob Feuer ein gutes Zei‐ chen ist. Balzac ist unglaublich komisch. 48
Das Gaslight war nicht gerade ein feiner Laden — es gab zum Beispiel keine reservierten Tische vor der Bühne —, aber es war immer vom Anfang bis zum Ende gerammelt voll. Manche Leute saßen an Tischen, manche standen und drängten sich im Schummerlicht an den Wänden mit ihrem nackten Ziegelmau‐ erwerk und den bloßliegenden Rohren. Selbst in kalten Winter‐ nächten bildeten sich draußen Schlangen; im Eingangsbereich mit der Doppeltür unten im Keller wimmelte es von Menschen. Drinnen waren immer so viele Gäste, daß man kaum Luft be‐ kam. Ich weiß nicht, wie viele Leute das Gaslight faßte, aber es sah immer aus, als seien es zehntausend oder mehr. Feuerwehr‐ leute liefen pausenlos rein und raus, und permanent lag eine gespannte Erwartung in der Luft, etwas Gewagtes. Man hatte immerzu das Gefühl, daß irgendwas, irgendwer erscheinen werde, um den Nebel zu verscheuchen. Meine Sets dauerten zwanzig Minuten. Ich spielte mein Folksong‐Repertoire und nahm alles um mich herum aufmerk‐ sam wahr. Es war heiß und viel zu eng, um nach dem Auftritt noch dazubleiben, deshalb hingen die Musiker oft oben in einem Hinterzimmer ab, das man erreichte, indem man hinten durch die Küche in den Hof ging und die eisige Feuertreppe hochstieg. Es war immer ein Kartenspiel im Gang. Van Ronk, Stookey, Romney, Hal Waters, Paul Clayton, Luke Faust, Len Chandler und eine Handvoll andere Leute pokerten die ganze Nacht. Man konnte nach Belieben kommen und gehen. Über einen kleinen Lautsprecher im Zimmer hörte man, wer unten gerade auftrat, so daß man wußte, wann man wieder an der Reihe war. Gespielt wurde meist um Einsätze von fünf, zehn und fünfundzwanzig Cent, aber manchmal waren auch bis zu zwanzig Dollar im Pott. Ich stieg normalerweise aus, wenn ich bei der zweiten oder dritten neuen Karte noch kein Paar bei‐ sammen hatte. Chandler sagte mir mal: »Du mußt bluffen 1er‐ 49
nen. Beim Poker bringst du es nie zu was, wenn du das nicht lernst. Manchmal mußt du dich sogar beim Bluffen erwischen lassen. Das hilft dir später, wenn du ein gutes Blatt hast und willst, daß die anderen denken, du bluffst nur.« Ich war nicht oft unten, weil es zu voll und zu stickig war. Ich saß entweder im Hinterzimmer oder nebenan im Kettle of Fish. Auch dort war es fast immer voll, und zwar jede Nacht. Eine hektische Atmosphäre: Alle möglichen Leute redeten schnell und bewegten sich schnell— die einen lässig, die anderen verwegen. Literaten mit schwarzen Barten, grimmig dreinblik‐ kende Intellektuelle, die unterschiedlichsten Mädchen, nur nicht der Typ Hausfrau. Menschen, die aus dem Nichts kommen und auch gleich wieder im Nichts verschwinden — ein Rabbi mit Pi‐ stole, ein Mädchen mit schiefen Zähnen, das ein großes Kruzifix zwischen den Brüsten trägt — alle möglichen Gestalten auf der Suche nach dem inneren Feuer. Ich kam mir vor wie jemand, der auf einem Felsen sitzt und das ganze Treiben beobachtet. Man‐ che Gäste führten sogar Titel — »The Man Who Made History«, »The Link between the Races«, so wollten sie angesprochen werden. Auch professionelle Komiker wie Richard Pryor waren dort Stammgäste. Man konnte auf einem Barhocker sitzen, aus dem Fenster auf die verschneite Straße hinausschauen und ge‐ wichtige Gestalten vorbeigehen sehen, David Amram in Win‐ terklamotten, Gregory Corso, Ted Joans, Fred Hellerman. Eines Abends kam ein gewisser Bobby Neuwirth mit ein paar Freunden zur Tür herein und stiftete erheblichen Aufruhr. Bobby und ich trafen uns später bei einem Folk‐Festival wie‐ der. Man merkte gleich, daß Neuwirth Geschmack an Provo‐ kationen fand und sich von niemandem den Mund verbieten ließ. Gegen irgend etwas lehnte er sich mit aller Kraft auf. Wenn man mit ihm redete, mußte man sich festhalten. Neu‐ wirth war ungefähr in meinem Alter, kam aus Akron, Ohio, 50
spielte Clawhammer‐Banjo, das man nicht zupft, sondern schlägt, und kannte ein paar Songs. Er studierte Kunst in Boston und konnte auch malen; er sagte, im Frühling werde er zurück nach Ohio fahren, um am Haus seiner Eltern die Winterfenster abzunehmen und die Fliegengitter anzubrin‐ gen. Das hatte er seit jeher so gehalten, genau wie ich bis dahin auch. Aber ich hatte nicht die Absicht zurückzukehren. Spä‐ ter wurden wir gute Freunde und reisten zusammen herum. So wie Kerouac Neal Cassady in Unterwegs ein Denkmal gesetzt hat, hätte irgendwer auch Neuwirth verewigen sollen. Verdient hätte er es. Er konnte so lange auf einen einreden, bis man nicht mehr wußte, wo oben und unten war. Mit seinem unbarmher‐ zigen Mundwerk konnte er jeden fertigmachen, sich aber auch aus jeder Situation herausreden. Niemand wurde aus ihm schlau. Wenn es je einen Renaissance‐Menschen gegeben hat, der von einer Sache zur anderen eilte, dann Neuwirth. Er war eine Bulldogge. Mich provozierte er aber nicht im geringsten. Ich fand alles aufregend, was er machte, und ich konnte ihn gut leiden. Neuwirth hatte Talent, aber er war nicht ehrgeizig. Wir hatten fast durchweg den gleichen Geschmack bis hin zu den‐ selben Songs in der Jukebox. Die Jukebox dort enthielt vor allem Jazzplatten. Zoot Sims, Hampton Hawes, Stan Getz, und einige Rhythm & Blues‐ Platten — Bumble Bee Slim, Slim Galliard, Percy Mayfield. Die Beatniks tolerierten Folk, hatten aber nichts für ihn übrig. Sie hörten ausschließlich Modern Jazz und Bebop. Hin und wieder warf ich eine Münze ein und wählte »The Man That Got Away« von Judy Garland. Der Song hatte es mir ange‐ tan, wenn ich auch nicht gerade hingerissen und mit offenem Mund lauschte. Er löste keine seltsamen Gedankengänge aus. Ich hörte ihn nur einfach gern. Judy Garland kam aus Grand Rapids, Minnesota, ungefähr dreißig Kilometer von Hibbing 51
entfernt. Judy hören war wie das Mädchen von nebenan hören. Sie war deutlich älter als ich und, wie es in dem Song von Elton John heißt: »I would have liked to have known you, but I was just a kid.« »The Man That Got Away« und den kosmischen Song »Somewhere Over the Rainbow« hatte Harold Arien für Judy Garland geschrieben. Von ihm stammten auch viele andere bekannte Songs — der mitreißende »Blues in the Night«, »Stormy Weather«, »Come Rain or Come Shine«, »Get Happy«. Aus Harolds Songs konnte ich ländlichen Blues und Folk her‐ aushören. Ich spürte eine emotionale Verwandtschaft. Es fiel mir einfach auf. Woody Guthries Songs regierten meinen Kosmos, aber vorher war Hank Williams mein Favorit als Songwriter gewesen, auch wenn ich ihn in erster Linie als Sänger be‐ trachtete. Danach kam gleich Hank Snow. Doch Harold Ariens bittersüße Welt der einsamen Leidenschaft ließ mich nie wieder los. Van Ronk konnte diese Songs singen und spielen. Das konnte ich zwar auch, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen. Das stand nicht in meinem Drehbuch. Das war nicht meine Zu‐ kunft. Was war die Zukunft? Die Zukunft stand wie eine un‐ durchdringliche Mauer vor mir, weder vielversprechend noch bedrohlich — alles Quatsch. Es gab keine Garantien, nicht einmal die Garantie, daß das Leben nicht nur ein schlechter Witz ist. Man konnte nie wissen, wem man im Kettle of Fish so über den Weg lief. Alle Gäste wirkten gleichzeitig bekannt und un‐ bekannt. Einmal saßen Clayton und ich mit ein paar anderen Leuten am Tisch und tranken Wein, und einer von ihnen hatte früher mal Soundeffekte fürs Radio produziert. Damals, im Mittleren Westen, als noch kein Ende meiner Jugend in Sicht gewesen war, hatten mich Radioserien sehr beschäftigt. Inner Sanctum, The Lone Ranger, This Is Your FBI, Fibber McGee and 52
Molly, The Fat Man, The Shadow, Suspense. Bei Suspense gab es in jeder Folge eine unvorstellbar schauerlich quietschende Tür — Woche für Woche nervenzerfetzende Geschichten, bei denen sich einem der Magen umdrehte. Inner Sanctum, eine Mischung aus Horror und Humor. Bei Lone Ranger tönten Kutschengequietsche und Sporengeklirr aus dem Radio. The Shadow, der betuchte Student der Naturwissenschaften, der das Böse in der Welt bekämpfte. Dragnet war eine Cop‐Serie mit einer Titelmelodie, die sich anhörte, als stamme sie aus einer Sinfonie von Beethoven. Bei der Colgate Comedy Hour lachte man sich scheckig. Nichts war mir zu entlegen. Ich konnte mir alles genau vor‐ stellen. Über San Francisco mußte ich nichts weiter wissen, als daß Paladin aus Have Gun, Will Travel dort in einem Hotel lebte und daß man ihn als Revolvermann anheuern konnte. Ich wußte, daß »Steine« Juwelen waren, daß Bösewichter Cabrio fuhren und daß man einen Baum am besten im Wald versteckte, wo ihn niemand finden konnte. Damit war ich groß geworden, diese Serien hatte ich zitternd vor Erregung angehört. Sie er‐ schlossen mir die Welt. Sie beflügelten meine Tagträume und ließen meine Phantasie auf Hochtouren arbeiten. Radioserien waren mein fliegender Teppich. Schon bevor ich zum ersten Mal ein Kaufhaus betreten hatte, war ich ein imaginärer Konsument gewesen. Ich wusch mich mit Lava‐Seife, rasierte mich mit Gillette Blue Blades, lebte nach der Boliva Time, schmierte mir Vitalis ins Haar, schluckte Abführmittel und Tabletten gegen Magenübersäue‐ rung, nahm Feenamint und Lyonʹs Zahnpulver. Ich war so hart wie Mike Hammer und hatte meinen eigenen Sinn für Gerech‐ tigkeit. Die Mühlen der Gerichte mahlten zu langsam und zu kompliziert, auf die konnte man sich nicht verlassen. Das Gesetz war eine feine Sache, fand ich, aber diesmal war ich 53
selbst das Gesetz — die Toten können nicht für ihre Interessen eintreten. Das erledige ich für sie. Okay? Ich fragte den Mann, der die Soundeffekte für Radioserien gemacht hatte, wie man das Geräusch des elektrischen Stuhls erzeugte, und er sagte, das sei brutzelnder Schinkenspeck. Und die Knochenbrüche? Er wickelte ein Bonbon aus und zermalmte es zwischen den Zähnen. Ich kann nicht mehr sagen, wann ich auf die Idee gekom‐ men bin, meine eigenen Songs zu schreiben. Um auszudrücken, wie ich die Welt empfand, hätte ich nichts schreiben können, was den Texten der Folksongs, die ich sang, auch nur halb‐ wegs nahegekommen wäre. Ich glaube, das ist ein schleichender Prozeß. Man wacht nicht einfach morgens auf und beschließt, Songs zu schreiben, schon gar nicht, wenn man viele Songs be‐ herrscht und täglich neue lernt. Vielleicht ergibt sich die Gele‐ genheit, etwas umzuwandeln — man formt aus altbekanntem Material einen Song, den es so noch nicht gegeben hat. Viel‐ leicht ist das der Anfang. Manchmal will man einfach seiner eigenen Nase folgen, man will selbst erkunden, was hinter dem Schleier liegt. Man sieht die Songs nicht kommen und bittet sie zur Tür herein. So simpel ist das nicht. Man will Songs schrei‐ ben, die größer sind als das Leben. Man will berichten, was einem Seltsames zugestoßen ist, was man Seltsames gesehen hat. Man braucht Wissen und Verständnis und muß über die Alltagssprache hinauswachsen. Die eiskalte Präzision, mit der die Altmeister in ihren Songs zu Werke gingen, war keine Klei‐ nigkeit. Manchmal hört man ein Lied und gerät auf völlig an‐ dere Gedanken. Man erkennt ähnliche Muster in der eigenen Denkweise. Für mich waren Songs nie »gut« oder »schlecht«, ich kannte nur gute Songs unterschiedlicher Art. 54
Manche überliefern wahre Lebensgeschichten. Ich hatte einen Song aufgeschnappt, »I Dreamed I Saw Joe Hill«. Ich wußte, daß Joe Hill wirklich gelebt hatte und jemand Wichtiges war. Ich wußte nichts Genaueres über ihn und fragte Izzy vom Folklore Center. Izzy holte ein paar Heftchen über Hill aus dem Hinterzimmer und gab sie mir. Was ich da las, hätte aus einem Kriminalroman stammen können. Joe Hill war ein schwedischer Einwanderer, der sich an der mexikanischen Revolution betei‐ ligt hatte. Er hatte ein karges und ärmliches Leben geführt und um 1910 im Westen Gewerkschaften gegründet; eine messiani‐ sche Gestalt, die das kapitalistische Lohnsystem abschaffen wollte, ein Mechaniker, Musiker und Dichter. Man nannte ihn den Robert Burns der Arbeiterklasse. Joe schrieb den Song »Pie in the Sky« und war ein Vorläufer von Woody Guthrie. Mehr mußte ich nicht wissen. Er war aufgrund von Indizienbeweisen wegen Mordes verurteilt und in Utah von einem Erschießungskommando hingerichtet wor‐ den. Seine Lebensgeschichte ist vielschichtig und bewegend. Er organisierte die Gewerkschaft Industrial Workers of the World, kurz Wobblies, die Speerspitze der amerikanischen Ar‐ beiterklasse. Hill wird angeklagt, einen Lebensmittelhändler und dessen Sohn bei einem Raubüberfall ermordet zu haben, und seine einzige Verteidigung ist: »Das müßt ihr mir erst be‐ weisen!« Bevor der Sohn des Lebensmittelhändlers stirbt, feuert er einen Schuß ab, doch es gibt keinen Beweis dafür, daß die Kugel irgend etwas getroffen hat. Aber Joe hat eine Schußwunde, und es sieht nicht gut für ihn aus. In derselben Nacht werden fünf andere Leute im selben Krankenhaus we‐ gen Schußverletzungen behandelt und verschwinden nach der Entlassung allesamt von der Bildfläche. Joe gibt an, er sei zur Tatzeit woanders gewesen, sagt aber nicht, wo oder mit wem. Er nennt keine Namen, nicht einmal, um seine Haut zu retten. 55
Man nimmt allgemein an, daß eine Frau im Spiel war, die Joe nicht bloßstellen wollte. Und es wird noch seltsamer und vertrackter. Ein guter Freund von Joe verschwindet am folgen‐ den Tag. Es ist alles reichlich verwickelt. Joe wird von den Arbeitern im ganzen Land verehrt — von Bergarbeitern und Fleischhau‐ ern, Schildermalern und Schmieden, Stukkateuren, Rohrverle‐ gern, Metallarbeitern — er hat sie alle vereinigt und für ihre Rechte gekämpft, er riskierte sein Leben für die Interessen der Unterprivilegierten, für die Benachteiligten, die unterbezahl‐ ten und gedemütigten Arbeiter im Lande. Wenn man die Ge‐ schichte seines Lebens liest, steht er einem deutlich vor Augen, und man weiß, daß er nicht einfach so mir nichts, dir nichts einen Lebensmittelhändler ausgeraubt und ermordet hätte. Das hätte er nicht fertiggebracht. Es ist ausgeschlossen, daß er eine solche Tat für eine Handvoll Kleingeld begangen hätte. Sein ganzes Leben zeugt von Ehre und Gerechtigkeit. Er war ein Vagabund, ein Schutzgeist von unermüdlicher Wachsamkeit. Aber in den Augen der Politiker und Industriellen, die ihn haß‐ ten, war er ein abgebrühter Krimineller und ein Feind der Ge‐ sellschaft. Jahrelang hatten sie auf eine Gelegenheit gewartet, ihn loszuwerden. Sein Schuldspruch stand schon fest, bevor der Prozeß begann. Es ist eine erstaunliche Geschichte. 1915 gab es Protestmär‐ sche für Joe Hill, die in allen großen Städten Amerikas die Mas‐ sen auf die Straße brachten — in Cleveland, Indianapolis, St. Louis, Brooklyn, Detroit und vielen anderen Städten—, überall, wo es Arbeiter und Gewerkschaften gab. So bekannt und so beliebt war er. Selbst Woodrow Wilson, der Präsident der Vereinigten Staaten, versuchte die Verantwortlichen in Utah zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens zu bewegen, aber der Gouverneur von Utah drehte dem Präsidenten eine lange Nase. 56
In seiner letzten Stunde sagte Joe: »Verstreut meine Asche, wo ihr wollt, bloß nicht in Utah.« Einige Zeit danach entstand der Song »Joe Hill«. Ich hatte ja schon einige Protestsongs gehört, »Bourgeois Blues« von Leadbelly, Woodys »Jesus Christ« und »Ludlow Massacre«, »Strange Fruit« von Billie Holiday und noch ein paar — und alle waren besser als »Joe Hill«. Es ist schwer, Protestsongs zu schreiben, die nicht moralinsauer und eindimensional wirken. Man muß den Leuten eine Seite ihrer selbst zeigen, von der sie noch nichts wissen. Dem Song »Joe Hill« gelingt das nicht im mindesten, aber wenn irgendwer Inspiration für einen Song liefern konnte, dann Joe. Er hatte ein Leuchten in seinen Augen. Wenn ich den Song geschrieben hätte, stellte ich mir vor, hätte ich Joe Hill auf eine andere Art unsterblich gemacht — so wie Casey Jones oder Jesse James. Anders wäre es gar nicht ge‐ gangen. Ich überlegte in zwei Richtungen. Man hätte den Song »Scatter My Ashes Anyplace but Utah« nennen und die Zeile als Refrain verwenden können. Oder aber so wie in »Long Black Veil«. In diesem Song spricht ein Mann aus dem Grab ... es ist ein Song aus der Unterwelt. Die Ballade handelt davon, daß ein Mann sein Leben opfert, um die Ehre einer Frau zu schützen, und für das Verbrechen eines anderen büßen muß, weil er sein Schweigen nicht bricht. Je länger ich darüber nachdachte, desto stärker wurde mein Eindruck, daß »Long Black Veil« von Joe Hill selbst hätte stam‐ men können, sein allerletzter Song. Ich komponierte keinen Song für Joe Hill. Ich dachte darüber nach, aber ich ließ es bleiben. Der erste nennenswerte Song, den ich schrieb, war Woody Guthrie gewidmet. 57
Es war ein eisiger Winter, die Luft knisterte vor Kälte, die Nächte waren blau verschleiert, und es kam mir vor, als hätte ich vor einer Ewigkeit zuletzt im grünen Gras gelegen und den Duft des Sommers gerochen, wenn das Licht auf den Seen funkelt und gelbe Schmetterlinge über dem schwarzen Asphalt der Landstraßen tanzen. Wenn man frühmorgens die 7th Avenue in Manhattan entlangging, sah man hin und wieder Leute auf den Rücksitzen von Autos schlafen. Ich konnte von Glück sa‐ gen, daß ich den einen oder anderen Unterschlupf hatte — sogar Leute, die in New York lebten, hatten manchmal keinen. Ich hatte vieles nicht, noch nicht einmal so etwas wie eine klar um‐ rissene Identität. »Iʹm a rambler — Iʹm a gambler. Iʹm a long way from home.« Das faßte es ganz gut zusammen. In den Nachrichten hieß es, Picasso habe mit neunundsiebzig Jahren gerade sein fünfunddreißigjähriges Modell geheiratet. Wow. Picasso lungerte nicht auf überfüllten Gehwegen herum. Das Leben war noch nicht an ihm vorübergezogen. Picasso war in die Welt der Kunst eingebrochen und hatte ihre Grenzen ge‐ sprengt. Er war ein Revolutionär. Ich wollte auch so werden. In einem Kunstfilmkino im Village an der 12th Street konnte man ausländische Filme sehen — Filme aus Frankreich, Italien, Deutschland. Das lag nahe, schließlich hatte sogar der große Folk‐Archivar Alan Lomax selbst irgendwo gesagt, wenn man Amerika verlassen wolle, sei man in Greenwich Village richtig. Ich hatte dort ein paar italienische Filme von Fellini gesehen — einer hieß La strada, und ein anderer La dolce vita. Er handelt von einem Typen, der seine Seele verkauft und sich als Klatsch‐ reporter durchschlägt. Der Film zeigt das Leben wie in einem Zerrspiegel, aber man sieht keine bizarren Freaks, sondern nur normale Menschen, die auf bizarre Weise dargestellt werden. Ich verfolgte den Film mit gespannter Aufmerksamkeit, weil ich ihn vielleicht kein zweites Mal zu sehen kriegte. Einer der 58
Schauspieler, Evan Jones, war auch Dramatiker. Ich sollte ihm ein paar Jahre später begegnen, als ich in London in einem Stück mitspielte, das er geschrieben hatte. Als ich ihn sah, kam er mir gleich bekannt vor. Gesichter vergesse ich nie. In Amerika war vieles im Umbruch. Soziologen sagten, das Fernsehen habe schlimme Folgen, ruiniere den Verstand und die Phantasie der jungen Zuschauer und schade ihrer Konzentra‐ tionsfähigkeit. Das mag stimmen, aber mit dem Drei‐Minuten‐ Song war es nicht anders. Sinfonien und Opern sind unglaub‐ lich lang, und doch scheint das Publikum nie ungeduldig zu werden oder den Faden zu verlieren. Beim Drei‐Minuten‐Song braucht sich der Zuhörer an nichts zu erinnern, was zwanzig oder auch nur zehn Minuten vorher stattgefunden hat. Es geht nie um komplexe Zusammenhänge. Man braucht sich an nichts zu erinnern. Viele Songs, die ich sang, waren allerdings lang, vielleicht nicht ganz so lang wie Opern oder Sinfonien, aber trotzdem lang ... jedenfalls hatten sie viel Text. »Tom Joad« hatte mindestens sechzehn Strophen, »Barbara Allen« um die zwanzig, »Fair Eilender«, »Lord Lovell«, »Little Mattie Groves« und andere hatten auch eine Menge Strophen, und es fiel mir überhaupt nicht schwer, sie mir zu merken und sie zu singen. Ich hatte mir das Denken im Spannungsbogen kurzer Songs abgewöhnt und las immer längere Gedichte, um zu sehen, ob ich mich hinterher noch an den Anfang erinnern konnte. Damit schulte ich mein Gedächtnis. Den Hang zum Trübsalblasen hatte ich abgelegt und gelernt, alles langsam und beharrlich an‐ zugehen. Ich las Lord Byrons Don Juan vollständig und kon‐ zentrierte mich vom Anfang bis zum Ende. Und auch Colerid‐ ges Kubla Khan. Ich fing an, mein Gehirn mit tiefsinnigen Gedichten vollzustopfen. Es war, als hätte ich lange Zeit einen leeren Wagen gezogen, der sich jetzt allmählich füllte, so dass 59
ich mich mehr ins Zeug legen mußte. Ich fühlte mich, als käme ich aus den schwarzen Wäldern. Ich änderte mich auch in ande‐ rer Hinsicht. Einiges, was mich früher berührt hatte, war mir jetzt gleichgültig. Ich kümmerte mich nicht allzusehr um Men‐ schen und ihre Motive. Ich hatte nicht das Bedürfnis, jeden Fremden, der mir über den Weg lief, unter die Lupe zu nehmen. Ray hatte mir geraten, Faulkner zu lesen. »Was Faulkner macht, ist harte Arbeit«, sagte er. »Tiefe Empfindungen lassen sich nur schwer in Worte fassen. Das Kapital schreibt sich leichter.« Ray rauchte Opium aus einer Bambuspfeife mit pilzförmigem Kopf. Sie hatten es mal in der Küche hergestellt, kleine Brocken Roh‐ opium kiloweise gekocht, bis es gummiartig wurde. Kochen, noch einmal kochen und die Flüssigkeit durch Tücher filtern — die Kü‐ che stank wie Katzenpisse. Sie bewahrten es in einem Tontopf auf. Aber Ray war kein heruntergekommener Junkie aus der Gosse; er brauchte keine Drogen, um normal zu funktionieren, er war kein Teilzeitjunkie, nicht einmal abhängig. Er hätte nie‐ manden ausgeraubt, um eine Sucht zu finanzieren, das hätte nicht zu ihm gepaßt. Ich wußte nicht viel über Ray. Ich wußte auch nicht, was ihn davor bewahrte, geschnappt zu werden. Einmal kamen Clayton und ich spät zurück, und Ray schlief in einem großen Sessel —jedenfalls sah er aus, als schlafe er. Das Licht schien ihm ins schweißnasse Gesicht, und unter den Au‐ gen hatte er dunkle Ringe. Er sah aus, als träume er einen To‐ tentraum. Wir standen vor ihm. Paul ist groß und dunkelhaa‐ rig, trägt einen Spitzbart und ähnelt dem Maler Gauguin. Er atmete tief ein und hielt die Luft an, als wolle er nie wieder aus‐ atmen. Dann drehte er sich um und ging. Ray kleidete sich sehr abwechslungsreich. Manchmal tauchte er im gestreiften Anzug mit Kläppchenkragen und eng zulau‐ 60
fender Bundfaltenhose auf. Manchmal trug er Pullover, Cord‐ hosen und Wanderstiefel, häufig einen Overall wie ein Auto‐ mechaniker, und seinen langen, sandfarbenen Kamelhaarmantel kombinierte er mit allem. In den ersten paar Monaten, die ich in New York verbrachte, verlor ich mein Interesse am Hipster‐Ideal der ständigen Suche nach neuen Kicks, das Kerouac in Unterwegs so gut beschrieben hatte. Das Buch war für mich wie eine Bibel gewesen. Das war vorbei. Die atemlose, dynamische Bop Poetry, die Jack aus der Feder floß, gefiel mir zwar immer noch, aber jetzt wirkte die Romanfigur Moriarty deplaziert und sinnlos— wie jemand, der zur allgemeinen Verblödung beiträgt. Er stolpert und taumelt durchs Leben, als ob ihm der Teufel im Nacken sitze. Ray war anders. Er war kein Mensch, der Spuren im Sand der Zeit hinterlassen würde, aber es ging etwas Besonderes von ihm aus. Er hatte ein entschlossenes Gesicht, das Gesicht eines Mannes, der nichts falsch machen konnte— es lag keinerlei Bos‐ haftigkeit, Verschlagenheit oder gar Lasterhaftigkeit darin. Er wirkte wie ein Mann, der jederzeit das Ruder herumreißen und das Kommando übernehmen konnte. Ray war mir ein absolutes Rätsel. Von dem schmalen Flur, der an zwei, drei Zimmern in vikto‐ rianischem Stil vorbeiführte, zweigte ein weiteres, geräumigeres Zimmer ab, dessen großes Fenster auf eine Gasse hinausging. Hier war eine Werkstatt eingerichtet, in der sich aller erdenk‐ liche Krempel türmte, das meiste Zeug auf einem langen Holz‐ tisch und einem zweiten mit Schieferplatte. In der Ecke lehnte eine weißlackierte Blumenranke aus Metall. Alles mögliche Werkzeug lag herum — Hämmer, Metallsägen, Schraubenzie‐ her, Kombizangen, Drahtzangen und Hebel, Zahneisen, Kisten mit Zahnrädern —, und alles glänzte im gedämpften Sonnen‐ licht. Lötkolben und Skizzenblöcke, Farbtuben und Meßgeräte, 61
eine Bohrmaschine, Dosen voller Substanzen, mit denen man Sachen wasserdicht oder feuerfest machen konnte. Alles lag offen da, auch jede Menge Schußwaffen. Man hätte meinen können, Ray arbeite für die Polizei oder sei Waffen‐ hersteller. Einzelteile großer und kleiner Pistolen, eine Taurus‐ Tracker‐Pistole, eine Taschenpistole, Abzugsbügel stapelten sich wie auf einem Komposthaufen. Umgebaute Schußwaffen, Ge‐ wehre mit abgesägtem Lauf, diverse Marken — Ruger, Browning, eine Single‐Action‐Pistole der Navy, alles blankpoliert und gut in Schuß. Man betrat das Zimmer und kam sich vor, als werde man von einem Auge überwacht, das niemals schläft. Es war sehr eigenartig. Ray war alles andere als ein harter Macho. Ich fragte ihn einmal, wofür er das ganze Zeug brauche. »Für den Gegenschlag«, sagte er. Ich hatte schon früher Schußwaffen gesehen. Meine alte Ju‐ gendfreundin, meine Becky Thatcher, hatte einen Vater, der ganz anders war als Richter Thatcher. Auch bei ihm lagen eine Menge Waffen herum, vor allem Jagdgewehre und Schrotflin‐ ten und ein paar Pistolen mit langem Lauf, was ziemlich un‐ heimlich war. Becky wohnte in einem Blockhaus außerhalb der Stadt, wo die asphaltierte Straße endete. Es roch immer ein bißchen nach Gefahr da draußen, weil der Alte im Ruf stand, bösartig zu sein. Das war komisch, denn seine Frau war die Lie‐ benswürdigkeit selbst— eine richtige Erdmutter. Beckys Vater dagegen war ein schwieriger Mensch mit wettergegerbtem, un‐ rasiertem Gesicht, schwieligen Händen und einer Jägerkappe. Wenn er was zu tun hatte hatte, war er ganz umgänglich, aber sonst ging man besser in Deckung. Man wußte nie, in welcher Laune man ihn gerade antraf. Er war so einer, der immer dachte, daß ihn alle aufs Kreuz legen wollten. Wenn er nicht arbeitete, ließ er sich vollaufen, und dann war das böse Ende abzusehen. Er kam rein und brabbelte irgendwas vor sich hin, ohne die 62
Zähne auseinanderzunehmen. Einmal verjagte er mich und ei‐ nen Freund mit einer Schrotflinte. Er schoß auf uns, während wir im Dunkeln einen Kiesweg hinabflüchteten. Aber er konnte auch rücksichtsvoll sein. Man wußte eben nie, woran man war. Ich ging nicht nur wegen meiner Jugendliebe gern dorthin, son‐ dern auch, weil sie alte 78er‐Platten von Jimmie Rodgers hatten. Ich saß da wie hypnotisiert und lauschte dem Blue Yodeler, wie er »Iʹm a Tennessee hustler, I donʹt have to work« sang. Nicht arbeiten müssen, das klang gut. Ich musterte Rays Waf‐ fensammlung, dachte an meine Freundin aus vergangenen Ta‐ gen und überlegte, was sie jetzt wohl machte. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie auf dem Weg nach Westen ge‐ wesen. Alle hatten gesagt, sie sehe aus wie Brigitte Bardot, und das stimmte. In dem Zimmer gab es noch andere Dinge, die Freude mach‐ ten. Eine Remington‐Schreibmaschine, den S‐Bogen eines Sa‐ xophons, einen Aluminiumfeldstecher mit einem Überzug aus Maroquin‐Leder, Wunder über Wunder— eine winzige Ma‐ schine, die vier Volt erzeugen konnte, ein kleines Mohawk‐ Diktiergerät, sonderbare Fotos, darunter eines von Florence Nightingale mit einer gezähmten Eule auf der Schulter, ausge‐ fallene Postkarten — eine Ansichtskarte aus Kalifornien mit einer Palme im Vordergrund. Ich war noch nie in Kalifornien gewesen. Dort schien ein besonderer, glamouröser Menschenschlag zu leben. Ich wußte, daß dort Filme herkamen und daß es in Los Angeles einen Folk‐ club namens Ash Grove gab. Im Folklore Center hatte ich Po‐ ster gesehen, die Folkveranstaltungen im Ash Grove ankündig‐ ten, und ich träumte davon, dort aufzutreten. Es war so weit weg. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich jemals dorthin ge‐ langen sollte. Wie sich später zeigte, kam ich nicht nur nach Los Angeles, sondern übersprang das Ash Grove gleich ganz. Als 63
ich endlich in Kalifornien eintraf, waren mir meine Songs und mein Ruf bereits vorausgeeilt. Ich hatte Platten bei Columbia veröffentlicht, und ich sollte im Santa Monica Civic Auditorium auftreten und all die Musiker treffen, die meine Songs gecovert hatten — Künstler wie die Byrds mit »Mr. Tambourine Man«, Sonny and Cher mit »All I Really Want to Do«, die Turtles mit »It Ainʹt Me, Babe«, Glen Campbell mit »Donʹt Think Twice« und Johnny Rivers, der »Positively 4th Street« aufgenommen hatte. Von allen Coverversionen meiner Songs gefiel mir die von Johnny Rivers am besten. Offensichtlich kamen wir aus der glei‐ chen Ecke, hatten die gleichen Sachen aufgeschnappt, stamm‐ ten musikalisch aus der gleichen Familie und waren aus glei‐ chem Holz geschnitzt. Als ich Johnnys Fassung von »Positively 4th Street« hörte, fand ich sie besser als meine eigene. Ich hörte sie immer wieder. Die meisten Coverversionen meiner Songs kamen mir eher abwegig vor, aber Riversʹ Fassung hatte Hand und Fuß — die Interpretation und der Sinn für die Melodie er‐ gänzten und übertrafen sogar das Gefühl, das ich selbst in den Song hineingelegt hatte. Aber das hätte mich nicht überraschen sollen. Das gleiche hatte Johnny mit »Maybellene« und »Mem‐ phis« gemacht, zwei Songs von Chuck Berry. Als ich ihn mei‐ nen Song singen hörte, wurde mir klar, daß uns das Leben auf die gleiche Weise geprägt hatte. Es sollte aber noch ein paar Jahre dauern, bis ich in Sunland an‐ kam. Ich ließ den Blick durchs Zimmer schweifen und sah durch das hintere Fenster nach draußen, wo es zu dämmern begann. Auf dem Geländer der Feuertreppe hatte sich eine dicke Eisschicht ge‐ bildet. Ich starrte in die Gasse hinunter und dann zu den Dächern hinauf, von Haus zu Haus. Es fing wieder an zu schneien, und der Schnee bedeckte die zementbedeckte Erde. Wenn ich mir hier ir‐ gendein neues Leben schuf, dann war davon nicht viel zu spüren. 64
Es war ja nicht so, als hätte ich irgendein altes Leben dafür aufge‐ geben. Wenn ich überhaupt etwas wollte, dann war ich darauf aus, das Geschehen um mich herum zu verstehen und mich dann davon zu befreien. Ich mußte lernen, Sachverhalte und Gedanken zu komprimieren. Das Panorama war zu groß, als daß man es auf einen Blick hätte erfassen können, so wenig wie die vielen Bücher in der Bibliothek, die sich überall auf den Tischen stapelten. Wenn man das alles in den Griff bekam, paßte es womöglich in einen Absatz oder in eine Strophe eines Songs. Manchmal weiß man, daß sich etwas ändern muß, ändern wird, aber es ist nur eine Ahnung, so wie in Sam Cookes Song » A Change Is Gonna Come« — man hat es nicht klar und ziel‐ sicher vor Augen. Unscheinbare Vorzeichen kündigen einen Wandel an, doch sie sind nicht leicht zu erkennen. Und dann ge‐ rät auf einmal alles in Bewegung, man springt ins Unbekannte und findet sich in einer anderen Welt wieder, die man instinktiv versteht — man ist befreit. Man muß keine Fragen stellen, denn man weiß schon, wo es langgeht. Wenn so etwas geschieht, dann kommt es einem vor, als gehe es rasend schnell vor sich, wie von Zauberhand, aber in Wirklichkeit verhält es sich ganz anders. Es ertönt kein dumpfer Gongschlag, und dann ist der große Mo‐ ment da — es fällt einem nicht wie Schuppen von den Augen, und man ist sich plötzlich seiner Sache ganz sicher. Es passiert nach und nach. Es ist eher so, als arbeite man bei Tageslicht, und dann merkt man eines Tages, daß es früh dunkel wird, daß es nicht darauf ankommt, wo man ist — es nützt nichts. Es hat mit Refle‐xion zu tun. Jemand hält den Spiegel hoch, schließt die Tür auf — die Tür wird aufgerissen, man wird hindurchgeschubst und muß sich völlig neu orientieren. Manchmal braucht man eine helfende Hand, wenn man sich zurechtfinden will. 65
In meinem Fall war es die Hand von Mike Seeger. Ich hatte ihn kurz zuvor bei Camilla Adams gesehen. Camilla war eine exotische, dunkelhaarige Dame, eine üppige Frau, die Ava Gardner ähnlich sah. Ich kannte sie aus Gerdeʹs Folk City, dem berühmtesten Folkclub Amerikas. Gerdeʹs lag an der Mercer Street in der West‐Broadway‐Gegend am Rand von Greenwich Village, ein schicker Laden, so wie das Blue Angel, nur eben downtown. Gebucht wurden vor allem überregional bekannte Folksänger, die Platten herausgebracht hatten, und man mußte Gewerkschaftsmitglied sein und eine Cabaret Card haben, wenn man dort auftreten wollte. Jeden Montagabend war »Hoote‐ nanny Night«, in der auch unbekannte Folksänger auf die Bühne durften. An einem solchen Abend war ich Camilla begegnet. Daher kannten wir uns flüchtig. Sie tauchte meistens in Beglei‐ tung von Männern auf, die wie Privatdetektive aussahen. Sie war eine bildschöne Frau, eng befreundet mit Josh White und Cisco Houston. Cisco litt an einer unheilbaren Krankheit und hatte seine letzten paar Auftritte im Folk City, wo ich ihn hören wollte. Ich hatte auf Woody Guthries und seinen eigenen Plat‐ ten viel von ihm gehört, seine ganzen Cowboysongs, Holz‐ fäller‐ und Eisenbahnarbeitersongs und Gangsterballaden. Er paßte perfekt zu Woody und hatte eine sanfte Baritonstimme. Er war weit gereist und mit Woody in vielen Städten aufgetre‐ ten, hatte Platten mit ihm aufgenommen und war während des Zweiten Weltkriegs mit ihm auf einem Schiff der Handelsma‐ rine zur See gefahren. Mit seinem bleistiftdünnen Schnurrbart sah Cisco gut und verwegen aus, wie ein Glücksspieler auf einem Vergnügungsdampfer, wie Errol Flynn. Es hieß, er hätte ein Kinostar werden können und habe einmal eine Hauptrolle an der Seite von Myrna Loy abgelehnt. Gemeinsam mit Burl Ives, der sich später als Filmschauspieler einen Namen machte, war Cisco während der Wirtschaftskrise in Wanderarbeiter‐ 66
lagern aufgetreten. Er hatte auch eine eigene Fernsehshow auf CBS gehabt, aber das war in der McCarthy‐Ära gewesen, und der Sender hatte Cisco an die Luft gesetzt. Ich wußte alles über ihn. Cisco saß in der Pause zwischen zwei Auftritten bei Camilla, und sie stellte mich ihm vor und erzählte Cisco, ich sei ein junger Folksänger war und hätte viele Songs von Woody in meinem Repertoire. Cisco war freundlich, er hatte etwas Würdevolles an sich und redete so, wie er sang. Er brauchte nicht viel zu sagen; man wußte, daß er allerhand durchgemacht und Großes und Verdienstvolles vollbracht hatte, auch wenn er nicht damit hausieren ging. Ich hatte ihn auf der Bühne gesehen, und man merkte ihm nicht an, daß er bereits mit einem Bein im Grab stand. Camilla hatte zum Wochenende hin ein Treffen für ihn organisiert, eine Abschiedsparty, zu der sie mich einlud. Sie lebte in einer großen Wohnung in der 5th Avenue nahe dem Washington Square Park im obersten Stock einer Villa im romanischen Baustil. Möglicherweise — mir war das damals nicht klar — hatte ich es Camillas Einfluß auf die Betreiber von Gerdeʹs Folk City, Mike Porco und seinen Bruder John, zu verdanken, daß ich dort spä‐ ter zusammen mit John Lee Hooker für zwei Wochen unter Vertrag genommen wurde. Weil ich noch minderjährig war, un‐ terschrieb Mike als Vormund meine Cabaret Card und meinen Gewerkschaftsausweis und wurde so zu einem Vater für mich — der sizilianische Vater, den ich nie gehabt hatte. Zu Camillas Party ging ich mit meiner Teilzeitfreundin Delores Dixon, der Sängerin der New World Singers, mit denen ich mich ange‐ freundet hatte. Delores kam aus Alabama und war früher Re‐ porterin und Tänzerin gewesen. Als wir zur Tür hereinkamen, sah ich, daß schon viele Leute durch die Räume flanierten; die gesamte Bohème, darunter auch viele Veteranen. Durch die Luft zogen Parfumdüfte, 67
Rauch, der Geruch von Whiskey und vielen Menschen. Die Wohnung war durch und durch viktorianisch und liebevoll mit schönen Gegenständen eingerichtet — Jugendstillampen, ge‐ schnitzte Boudoirstühle, Samtsofas, schwere, mit Ketten ver‐ bundene Kaminböcke; das im Kamin lodernde Feuer, in dessen Nähe ich mich setzte, ließ mich an Hot Dogs und Marshmal‐ lows denken. Delores und ich fühlten uns nicht allzu fehl am Platz. Ich trug ein dickes Flanellhemd unter einer Jacke aus Schafsfell, eine Schirmmütze, Khakihosen und Motorradstiefel, Delores einen langen Biberpelzmantel über einem Nachthemd, das wie ein Kleid wirkte. Ich sah eine Menge Leute, denen ich schon bald wieder begegnen würde, viele aus der Aristokratie der Folk‐Community, die sich mir gegenüber damals alle ziem‐ lich gleichgültig verhielten und sehr wenig Enthusiasmus zeig‐ ten. Sie wußten, daß ich nicht aus den Bergen von North Carolina kam und auch kein besonders kommerzieller oder kosmopoliti‐ scher Musiker war. Ich paßte einfach nicht ins Bild. Sie wußten nicht, was sie von mir halten sollten, mit Ausnahme von Pete Seeger, der mich begrüßte. Er war mit Harold Leventhal da, der die Weavers managte. Harold sprach in einem leisen, kehligen Flüsterton. Wenn man ihn verstehen wollte, mußte man sich dicht zu ihm beugen. Später sollte er eines meiner Konzerte in der Town Hall promoten. Ein anderer Gast, Henry Sheridan, war früher einmal mit Mae West liiert gewesen. Mae West nahm später einen mei‐ ner Songs auf. Alle waren sie erschienen — Avantgardekünstler wie Judith Dunne, eine Choreographin, deren Tanzstücke auf Sportarten wie Wrestling und Baseball basierten, Ken Jacobs, der Undergroundfilmer, der Blonde Cobra gedreht hatte. Peter Schumann vom Bread and Puppet Theatre — in seinem Stück Christmas Story trat König Herodes mit einer dicken Zigarre auf, und eine Handpuppe mit drei Gesichtern spielte alle drei 68
Könige. Moe Asch, der Gründer von Folkway Records, war ge‐ kommen, ebenso wie Theodore Bikel, der in Flucht in Ketten den Sheriff Max Muller gespielt hatte. Theo war ein erfahrener Schauspieler, der auch Folksongs in fremden Sprachen sang. Ein paar Jahre danach fuhr ich mit ihm und Pete nach Mississippi und trat dort bei einer Veranstaltung zur Wählerregistrie‐ rung auf. Bei Camilla traf ich Harry Jackson wieder, den ich schon aus dem Folk City kannte— Harry, den Cowboy, Bild‐ hauer, Maler und Sänger aus Wyoming. Er hatte ein Atelier in der Broome Street und malte später ein Porträt von mir, für das ich ihm Modell saß. Er hatte auch ein Atelier in Italien, wo er Statuen für Marktplätze schuf. Er war ungehobelt und ruppig, sah aus wie General Grant, sang Cowboysongs und soff wie ein Loch. Cisco brachte alle möglichen Leute zusammen. Es gab Ge‐ werkschaftsleute, Ex‐Gewerkschaftsleute, Arbeiterführer. Vor kurzem war eine Vorstandstagung der Arbeiterorganisation AFL‐CIO durch die Medien gegangen. Das Ganze hatte in Pu‐ erto Rico stattgefunden, eine Woche gedauert und war ziemlich lustig gewesen. Auf Fotos waren die Gewerkschaftsbosse mit bombastischen Rum‐Cocktails zu sehen, beim Besuch von Casi‐ nos und Nightclubs, in wallenden Bademänteln an Hotel‐Swim‐ mingpools, beim Schwimmen in der Brandung, mit Hollywood‐ Sonnenbrillen und im Handstand auf dem Sprungbrett. Es sah ganz schön dekadent aus. Eigentlich hätten sie den Marsch auf Washington besprechen sollen, mit dem man die Arbeitslosig‐ keit anprangern wollte. Daß sie fotografiert wurden, war ihnen offenbar entgangen. Bei Camilla machten diese Leute einen anderen Eindruck. Sie sahen eher wie Schlepperkapitäne, Baseballspieler in weiten Hosen oder Hilfsarbeiter aus. Mack Mackenzie war Gewerk‐ schaftsvertreter im Hafen von Brooklyn gewesen. Ich lernte 69
ihn und seine Frau Eve kennen, eine ehemalige Martha‐Graham‐ Tänzerin. Sie wohnten in der 28th Street. Später war ich auch bei ihnen mal zu Gast ... ich übernachtete auf ihrem Wohn‐ zimmersofa. Dann waren noch einige Leute aus der Kunstszene gekommen — Leute, die wußten, was in Amsterdam, Paris und Stockholm los war, und ihre Kommentare dazu abgaben. Eine von ihnen, die Outlaw‐Künstlerin Robyn Whitlow, kam wie in Zeitlupe angetanzt. Ich fragte: »Was ist los?«, und sie erwi‐ derte: »Ich bin wegen dem großen Abendessen da.« Einige Jahre später wurde sie wegen Einbruchdiebstahls festgenommen. Sie verteidigte sich damit, daß sie Künstlerin sei und daß es sich bei der Tat um eine Performance gehandelt habe, woraufhin — kaum zu glauben, aber wahr — das Verfahren eingestellt wurde. Mit von der Partie war auch Irwin Silber, der Herausgeber des Folkmagazins Sing Out!. Ein paar Jahre später geißelte er mich öffentlich in seiner Zeitschrift, weil ich mich von der Folk‐ szene abgewandt hatte. Es war ein wütender Brief. Ich moch‐ te Irwin, aber ich konnte nichts damit anfangen. Miles Da‐ vis mußte sich ähnliche Anschuldigungen anhören, als er das Album Bitches Brew veröffentlichte, das nicht den Regeln des Modern Jazz gehorchte. Modern Jazz hatte kurz vor dem Durch‐ bruch beim Massenpublikum gestanden, bis Milesʹ Platte her‐ auskam und diese Chance vereitelte. Miles wurde von der Jazz‐ Community abgekanzelt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er sich groß darüber aufregte. Auch lateinamerikanische Musiker brachen die Regeln. Künstler wie João Gilberto, Roberto Menescal und Carlos Lyra verabschiedeten sich vom trom‐ mellastigen Samba und kreierten einen abwechslungsreichen, melodischen brasilianischen Musikstil, den sie Bossa Nova nannten. Ich selbst betrat Neuland, indem ich einfache Folk‐ Akkordfolgen mit neuen Bildern und einer neuen Einstellung versah. Ich verwendete Schlagworte und Metaphern und kom‐ 70
binierte sie mit einem neuen Regelsystem, so daß sich etwas Eigenes ergab, das man zuvor noch nicht gehört hatte. Silber prangerte das in seinem Brief an, als hätten er und ein paar an‐ dere die Wahrheit ganz allein für sich gepachtet. Aber ich wußte, was ich tat, und hatte nicht vor, einen Rückzieher zu machen oder vor irgendwem klein beizugeben. Auch allerlei Broadway‐ und Off‐Broadway‐Schauspieler hatten sich bei Camilla eingefunden — zum Beispiel Diana Sands, eine unwiderstehliche Aktrice, in die ich wohl heimlich verliebt gewesen bin, und einige andere. Viele Musiker und Sänger — Lee Hayes, Erik Darling (Erik hatte gerade eine Band gegründet, The Rooftop Singers, und sie sollten bald einen alten Song von Gus Cannon aufnehmen, »Walk Right In«, der es in die Pop‐Charts schaffte), Sonny Terry, Brownie McGhee und Logan English. Auch Logan kannte ich aus dem Folk City. Er stammte aus Kentucky, trug ein schwarzes Halstuch und spielte Banjo ... meisterlich interpretierte er Songs von Bascom Lamar Lunsford wie »Mole in the Ground« oder »Grey Eagle«. Logan wirkte wie ein Psychologieprofessor; seine Auftritte wa‐ ren gut, aber Originalität war nicht seine starke Seite. Etwas äußerst Förmliches und Orthodoxes ging von ihm aus, aber er hatte Mutterwitz und eine Leidenschaft für die Musik vergan‐ gener Tage. Sein Gesicht war gerötet, und man sah ihn nur sel‐ ten ohne einen Drink in der Hand. Mich nannte er Robert. Auch Millard Thomas, der bei Harry Belafonte Gitarre gespielt hatte, lief mir über den Weg. Keiner zweifelte daran, daß Harry ein phantastischer Musiker war und der beste Balladensänger Amerikas. Er sang von Liebenden und Sklaven, von Kettensträf‐ lingen, Heiligen, Sündern und Kindern. Sein Repertoire um‐ faßte viele alte Folksongs wie »Jerry the Mule«, »Toiʹ My Cap‐ tain«, »Darlinʹ Cora«, »John Henry«, »Sinnerʹs Prayer« und außerdem eine Menge Folksongs aus der Karibik, die er so ar‐ 71
rangiert hatte, daß sie ein großes Publikum ansprachen, ein viel größeres als das des Kingston Trio. Harry hatte manche Songs direkt von Leadbelly und Woody Guthrie gelernt. Er stand bei RCA unter Vertrag, und seine Platte Belafonte Sings of the Ca‐ ribbean hatte sich eine Million Mal verkauft. Außerdem war er ein Filmstar, aber nicht so wie Elvis. Harry war ein authenti‐ scher tough guy, ähnlich wie Brando oder Rod Steiger. Im Film war er stark und temperamentvoll, er hatte ein jungenhaftes Lächeln und konnte äußerste Feindseligkeit ausstrahlen. Wenn man ihn in Wenig Chancen für morgen sieht, vergißt man, daß er Schauspieler ist, man vergißt, daß er Harry Belafonte ist. So eindrucksvoll ist seine Präsenz, seine Grandeur. Harry war wie Valentino. Bei seinen Auftritten brach er alle Zuschauerre‐ korde. Er konnte abends in der ausverkauften Carnegie Hall auftreten und am nächsten Tag bei einer Gewerkschaftskund‐ gebung von Arbeitern aus der Textilindustrie. Für Harry machte das keinen Unterschied. Publikum war Publikum. Er hatte Ideale und gab einem das Gefühl, der Menschheit anzugehören. Nie zuvor hatte ein Musiker so viele Brücken geschlagen wie Harry. Er kam überall an, ob bei Stahlarbeitern, Klassikkonzertabon‐ nenten oder Backfischen, sogar bei Kindern — bei jedermann. Es war eine seltene Gabe. Er hatte einmal gesagt, daß er nicht gern im Fernsehen auftrete, weil sich seine Musik nicht gut mit ei‐ nem kleinen Bildschirm vertrage, und damit hatte er wahr‐ scheinlich recht. Er war in jeder Beziehung ein Gigant. Die Folkpuristen kamen nicht mit ihm klar, aber Harry, der sie alle miteinander in die Tasche stecken konnte, ließ das vollkommen kalt. Er sagte, alle Folksänger seien Interpreten, und er sagte das öffentlich, so als habe man ihn darum gebeten, für klare Verhältnisse zu sorgen. Er erklärte sogar, daß er Popsongs hasse und sie für Schrott halte. Ich konnte mich in jeder Hinsicht mit Harry identifizieren. Früher war er wegen seiner Hautfarbe 72
nicht in den weltberühmten Nightclub Copacabana eingelassen worden, und später war er dort der Star des Abends. Man fragt sich, wie man sich dabei wohl fühlt. Damals hätte ich nicht daran zu glauben gewagt, aber meine erste professionelle Auf‐ nahme machte ich mit Harry. Ich spielte Mundharmonika auf seinem Album Midnight Special. Seltsamerweise war das die einzige Aufnahmesession, an die ich mich noch viele Jahre spä‐ ter in allen Einzelheiten erinnern konnte. Selbst meine eigenen Sessions sind mir nur schemenhaft im Gedächtnis geblieben. Es kam mir vor, als sei ich durch den Kontakt mit Belafonte auf ir‐ gendeine Art gesalbt worden. Er hatte die gleiche Wirkung auf mich wie seinerzeit Gorgeous George. Harry war einer der sel‐ tenen Menschen, die Größe ausstrahlen; man hoffte, ein wenig davon möge auf einen selbst abfärben. Dieser Mann flößt ei‐ nem Respekt ein. Man weiß, daß er niemals den bequemen Weg gewählt hat, obwohl ihm alle Wege offengestanden haben. Es war schon spät, und Delores und ich wollten gerade gehen, als ich plötzlich Mike Seeger entdeckte. Er war mir vorher gar nicht aufgefallen, doch jetzt sah ich, wie er sich von der Wand löste und auf den Tisch zuging. Als ich ihn erblickte, war ich wieder hellwach und schlagartig guter Laune. Ich hatte Mike einmal mit den New Lost City Rambiers in einer Schule an der East 10th Street auftreten sehen. Er war eine Klasse für sich und mir geradezu unheimlich. Mike war unvergleichlich. Er war wie ein Adeliger, ein fahrender Ritter. Er war der absolute Archetyp aller Folkmusiker. Er konnte Dracula einen Pfahl durch sein schwarzes Herz treiben. Er war gleichzeitig ein Romantiker, ein Kämpfer für die Menschenrechte und ein Revolutionär — Rit‐ terlichkeit lag ihm im Blut. Wie eine Gestalt aus einem wieder‐ erstandenen Königreich war er gekommen, um die Kirche einer Reinigung zu unterziehen. Man konnte sich nicht vorstellen, daß er sich jemals aus der Ruhe bringen ließ. Ich hatte ihn auch 73
schon allein in Alan Lomaxʹ Loft in der 3rd Street spielen hören. Lomax veranstaltete zweimal monatlich Partys, zu denen er Folksänger einlud. Es waren keine richtigen Partys oder Kon‐ zerte. Ich weiß nicht, wie man das nennen soll ... Soireen? Man konnte dort Roscoe Holcomb, Clarence Ashley, Dock Boggs, Mississippi John Hurt, Robert Pete Williams, selbst Don Stover und den Lilly Brothers begegnen — manchmal sogar echten Knastbrüdern, denen Lomax Freigang aus ihren Staatsgefäng‐ nissen verschafft und die er nach New York gebracht hatte, damit sie in seinem Loft Feldarbeiterlieder sangen. Zu diesen Veranstaltungen wurden vor allem Ärzte, Honoratioren und Anthropologen eingeladen, aber es kamen auch immer ein paar normale Leute. Ich war ein‐, zweimal dabeigewesen und hatte miterlebt, wie Mike ohne die Rambiers auftrat. Er spielte »The Five Mile Chase«, »Mighty Mississippi«, »Claude Allen Blues« und noch ein paar andere Songs. Er spielte alle Instrumente, die der je‐ weilige Song erforderte ... Banjo, Geige, Mandoline, Autoharp und Gitarre, sogar Mundharmonika im Gestell. Mike ging einem unter die Haut. Er war immer bei der Sache, ließ sich nicht in die Karten schauen und hatte etwas Telepathisches an sich. Zu seinem schneeweißen Hemd trug er silberne Ärmelhalter. Er war in allen Spielarten zu Hause, im gesamten Spektrum der traditionellen Stile, und er beherrschte alle Genres in allen Nuancen — Delta‐Blues, Ragtime, Balladen, Buck‐and‐Wing, Reels, Play Party, Kirchenlieder und Gospels. Als ich da stand und ihn aus der Nähe sah, traf es mich wie ein Schlag. Er spielte nicht nur alles gut. Er spielte die Songs so gut, wie man sie überhaupt nur spielen konnte. Ich lauschte ihm so versunken, daß ich die Welt um mich herum vergaß. Alles, woran ich noch arbeiten mußte, steckte Mike bereits in den Genen, in seiner ge‐ netischen Grundausstattung. Diese Musik mußte ihm schon 74
vor seiner Geburt im Blut gelegen haben. So etwas konnte man nicht erlernen, und es dämmerte mir, daß ich vielleicht meine Denkgewohnheiten ändern mußte ... daß ich anfangen mußte, an Möglichkeiten zu glauben, die ich früher nicht zugelassen hätte ... daß sich meine Kreativität auf einen sehr engen, über‐ schaubaren Abschnitt beschränkt hatte ... daß ich mich dort zu wohnlich eingerichtet hatte und vielleicht meinen eigenen Weg finden mußte, auch wenn es ein Irrweg war. Ich wußte, daß ich alles richtig machte, daß ich auf dem rich‐ tigen Weg war und mir das ganze Wissen direkt und aus erster Hand aneignete — ich lernte Texte, Melodien und Akkordfolgen, aber jetzt erkannte ich, daß die praktische Umsetzung dieses Wissens den Rest meines Lebens in Anspruch nehmen konnte, während Mike das nicht nötig hatte. Er war einfach da. Er war zu gut, und man kann nicht »zu gut« sein, jedenfalls nicht in dieser Welt. Wenn man so gut sein wollte, mußte man im Grunde er sein und kein anderer. Folksongs lassen sich nicht festnageln — sie sagen die Wahrheit über das Leben, und das Le‐ ben ist mehr oder weniger eine Lüge, aber andererseits wollen wir es genau so und nicht anders haben. Wäre es anders, wür‐ den wir uns nicht wohl fühlen. Jeder Folksong hat über tausend Gesichter, die man alle kennen muß, wenn man solche Musik spielen will. Ein Folksong kann in der Bedeutung variieren und sich vom einen Moment zum anderen verändern. Das hängt da‐ von ab, wer ihn spielt und wer zuhört. Mir kam der Gedanke, daß ich vielleicht meine eigenen Folk‐ songs schreiben mußte, Songs, die Mike nicht kannte. Das war eine erschreckende Vorstellung. Bis dahin hatte ich schon das eine oder andere zustande gebracht und geglaubt, ich würde mich ganz gut auskennen. Und dann wurde mir klar, daß das alles Neuland für mich war. Man öffnet die Tür zu einem dunk‐ len Raum und glaubt, man weiß, was einen erwartet, wo alles 75
steht, aber in Wirklichkeit weiß man gar nichts, bis man ein‐ tritt. Ich kann nicht sagen, daß ich bis zu diesem Abend in Lo‐ maxʹ Loft irgendwelche Auftritte gesehen hätte, die wie spi‐ rituelle Offenbarungen für mich gewesen waren. Ich dachte darüber nach. Ich war noch nicht so weit, zur Tat zu schreiten, aber mir war klar: Wenn ich weiter Musik machen wollte, mußte ich ihr einen größeren Platz in meinem Leben einräu‐ men. Ich würde über vieles hinwegsehen müssen — über vieles, das eigentlich meine Aufmerksamkeit erforderte —, aber das nahm ich in Kauf. Wahrscheinlich handelte es sich sowieso nur um Dinge, aus denen ich nicht schlau geworden wäre. Ich hatte einen Plan, den ich bei Bedarf sogar aus dem Kopf hätte nach‐ zeichnen können. Jetzt wußte ich, daß ich den Plan verwerfen mußte. Nicht heute, nicht morgen, aber bald. In Camillas Wohnung plauderte Moe Asch mit Mike. Sie standen da wie Leute, die wissen, wovon sie reden. Bei Moes Folkways Records kamen die ganzen Ramblers‐Platten heraus; das war das Label, das mich am meisten interessierte. Wenn Moe mich unter Vertrag genommen hätte, wäre für mich ein Wunschtraum in Erfüllung gegangen. Delores und ich mußten gehen, also verabschiedete ich mich von Cisco, und wir unter‐ hielten uns noch kurz. Ich erzählte ihm, daß ich Woody Guthrie im Krankenhaus besucht hatte. Cisco lächelte. Er sagte, Woody habe ja nie irgendwas zu verbergen versucht, und er trug mir auf, ihn beim nächsten Mal zu grüßen. Ich nickte, verabschie‐ dete mich und ging hinaus in den Flur, die Treppen hinunter ... und durch die Lobby nach draußen. Auf der Straße blieben Delores und ich stehen und sahen zu den romanischen Säulen hoch, auf denen aus Stein gehauene Fabelwesen hockten. Es war eiskalt. Ich steckte die Hände in die Taschen, und wir gingen in Richtung 6th Avenue. Auf der Straße war viel Betrieb, und ich sah die Leute vorüberge‐ 76
hen. Von T. S. Eliot gibt es ein Gedicht, in dem Leute hin und her laufen, und alle, die die Gegenrichtung einschlagen, sehen aus wie auf der Flucht. So erschien es mir in dieser Nacht, und so sollte es mir noch lange Zeit erscheinen. In sei‐ nem Buch Jenseits von Gut und Böse sagt Nietzsche, er habe sich schon zu Beginn seines Lebens alt gefühlt ... Mir ging es genauso. Ein paar Wochen später erfuhr ich, daß Cisco gestor‐ ben war. Amerika wandelte sich. Ich ahnte eine schicksalhafte Wendung voraus und schwamm einfach mit dem Strom der Veränderung. Das ging in New York genausogut wie anderswo. Auch mein Bewußtsein veränderte sich allmählich, es wandelte und weitete sich. Eines war klar: Wenn ich Folksongs komponieren wollte, brauchte ich irgendeine neue Vorlage, eine philosophische Identität, die Bestand hatte. Sie mußte mir von allein zufallen, ohne mein Zutun. Und bevor ich es richtig gemerkt hatte, ging es auch schon los. Manchmal unterhielten sich Paul Clayton und Ray die ganze Nacht. Sie sagten, New York sei die Hauptstadt der Welt. Sie saßen an zwei Tischen, lehnten sich an die Wand oder beugten sich über den Tisch und tranken Kaffee und das eine oder andere Glas Brandy. Clayton war ein guter Freund von Van Ronk und kam aus New Bedford, Massachusetts, der Walfängerstadt — er kannte viele Seemannslieder und hatte puritanische Vorfahren, aber einige seiner älteren Verwand‐ ten stammten aus alteingesessenen Familien in Virginia. Clay‐ ton besaß auch eine Blockhütte bei Charlottesville, wo er manchmal hinfuhr. Später war ich einmal mit ein paar Freun‐ den dort, und wir machten eine Woche Urlaub in den Bergen. Es gab keinen Strom, kein fließend Wasser, nichts dergleichen. 77
Nachts erhellten Petroleumlampen mit Reflektoren das Zim‐ mer. Ray stammte aus Virginia; seine Vorfahren hatten im Bür‐ gerkrieg auf beiden Seiten gekämpft. Ich lehnte mich an die Wand und schloß die Augen. Die Stimmen waberten durch meinen Kopf wie Stimmen aus einer anderen Welt. Sie redeten über Hunde, das Angeln, Waldbrände — über Liebe und Monar‐ chien und über den Bürgerkrieg. Ray hatte gesagt, New York City sei als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen — die auf der falschen Seite hätten verloren, Sklaverei sei ein Übel gewesen, das so oder so nicht mehr lange Bestand gehabt hätte, ob mit oder ohne Lincoln. Ich empfand das als mysteriöse und böse Behauptung, aber wenn er es gesagt hatte, dann war es eben so, und damit gut. Als ich später am Tag aufwachte, war niemand mehr da. Nach einer Weile ging ich raus, um mich mit dem Sänger Mark Spoelstra zu treffen, einem alten Freund. Wir waren in einem schaurigen, aber günstig gelegenen kleinen Café in der Bleecker Street, Nähe Thompson, verabredet, das von einer Gestalt na‐ mens »the Dutchman« betrieben wurde. Der Dutchman ähnelte Rasputin, dem irren sibirischen Mönch. Er hatte das Café ge‐ pachtet. Es war in erster Linie ein Jazzcafé, in dem Cecil Taylor oft auftrat. Ich hatte mal mit Cecil dort gespielt. Wir hatten den alten Folksong »The Water Is Wide« vorgetragen. Wenn er wollte, konnte Cecil auch ganz konventionell Klavier spielen. Ich hatte dort schon mit Billy Higgins und Don Cherry auf der Bühne gestanden. Danach wollten Mark und ich im Gerdeʹs Folk City mit Brother John Seilers ein paar Songs durchgehen. Seilers war ein Gospel‐Blues‐Sänger aus Mississippi, der im Gerdeʹs Folk City als MC arbeitete. Ich ging die Carmine Street entlang zu meinem Treffen mit Mark, vorbei an Autowerkstätten, Friseursalons, Reinigungen 78
und Eisenwarenhandlungen. Aus den Cafés wehte Radiomusik herüber. Verschneite Straßen voller Schutt, Niedergeschla‐ genheit und Benzingeruch. Die Cafés und Folkläden waren nicht weit entfernt, aber mir kam es so vor, als lägen Welten da‐ zwischen. Als ich ankam, war Spoelstra schon da — und der Dutchman auch. Der Dutchman lag tot im Eingang seines Ladens. Auf dem Eis sah man Blutspritzer und im Schnee rote Linien wie Spin‐ nennetze. Der alte Mann, dem das Haus gehörte, hatte ihm auf‐ gelauert und ihn mit einem Messer erstochen. Der Dutchman trug noch seine Pelzmütze, seinen langen braunen Mantel und seine Reitstiefel, und sein Kopf lag auf der Türschwelle unter dem perlgrauen Himmel. Der Konflikt hatte irgendwie damit zu tun, daß der Holländer die Miete schuldig geblieben war und deshalb Streit angefangen hatte. Er hatte den alten Mann oft gewaltsam vor die Tür gesetzt. Der kleine alte Mann hatte genug davon gehabt und war durchgedreht; er muß ihn angesprungen haben wie Houdini. Um eine Messerklinge durch den schweren braunen Mantel zu stoßen, brauchte man einige Kraft und Gewandtheit. Hingestreckt, mit seinem langen, strähnigen braunen Haar und dem Rauhreif im Bart, wirkte der Holländer wie ein Söldner, der in der Schlacht von Gettysburg gefallen war. Die Tür stand offen; drinnen saß der alte Mann, umringt von ein paar Cops, und sah auf den Gehweg hinaus. Sein Ge‐ sicht war mißgestaltet, es wirkte unförmig, fast verstümmelt — wie farbige Knetmasse. Seine Augen waren tot, und er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Ein paar Leute kamen vorbei und sahen nicht einmal hin. Spoelstra und ich zogen davon, in Richtung Sullivan Street. »Traurig. Das tut mir so leid, aber was soll man machen?« sagte er, und es klang nicht so, als erwarte er eine Antwort. »Stimmt«, sagte ich. Aber mir tat es nicht leid. Ich dachte nur daran, dass 79
das Ganze unerfreulich und krank war und daß ich das Café vielleicht nie mehr betreten würde. Die Gewalt der Szene erschütterte mich aber doch irgend‐ wie — vielleicht weil ich gerade erst am Vorabend jemanden da‐ von sprechen gehört hatte; jedenfalls erinnerte sie mich an ein paar alte Fotos aus dem Bürgerkrieg. Wieviel wußte ich über dieses verhängnisvolle Ereignis? Wahrscheinlich so gut wie gar nichts. Wo ich aufgewachsen war, hatten keine großen Schlach‐ ten stattgefunden. Kein Chancellorsville, kein Bull Run, kein Fredericksburg, kein Peachtree Creek. Ich wußte nur soviel, daß es ein Krieg um die Rechte der Bundesstaaten und das Ende der Sklaverei gewesen war. Seltsam, aber ich wollte mehr darüber wissen, und ich fragte Van Ronk, der sich mehr als die meisten für Politik interessierte, was er über die Rechte der amerikani‐ schen Staaten wußte. Van Ronk konnte den ganzen Tag über sozialistische Himmelreiche und politische Utopien, bourgeoise Demokratien, Trotzkisten, Marxisten und internationale Ar‐ beitervereinigungen reden — das hatte er alles parat, aber meine Frage nach den Rechten der Staaten irritierte ihn etwas. »Im Bürgerkrieg ging es um die Befreiung der Sklaven«, sagte er, »sonst ist da nichts dran.« Aber Van Ronk ließ keine Gelegenheit aus, einem seine eigene Sicht der Dinge nahezubringen. »Paß mal auf, mein Lieber, selbst wenn die vornehmen Herrschaften aus dem Süden ihre Gefangenen freigelassen hätten, wären sie nicht besser dran gewesen. Wir wären trotzdem hingegangen und hätten sie in Klump gehauen und ihnen ihr Land weggenommen. Das nennt man Imperialismus.« Van Ronk war dem marxistischen Standpunkt verpflichtet. »Das war eine große Schlacht zwischen zwei rivalisierenden Wirtschaftssy‐ stemen und sonst gar nichts.« Eines mußte man Van Ronk lassen: Was er sagte, war nie lang‐ weilig oder schwammig. Wir sangen ähnliche Songs, und diese 80
Songs waren alle ursprünglich von Sängern vorgetragen worden, die um jedes Wort zu ringen schienen, fast wie in einer Fremd‐ sprache. Ich ahnte jetzt, daß die Sprache vielleicht etwas mit Ursachen und Idealen zu tun hatte, die auf die Umstände und die blutige Realität dessen zurückgingen, was sich vor über hundert Jahren anläßlich der Sezession der Südstaaten zugetra‐ gen hatte—jedenfalls für jene Generationen, die davon betrof‐ fen waren. Plötzlich hatte es den Anschein, als sei das alles noch gar nicht so lange her. Einmal rief ich zu Hause an, und mein Vater ließ sich den Hörer geben, um mich zu fragen, wo ich steckte. Ich sagte, ich sei in New York, der Hauptstadt der Welt. Er sagte: »Guter Witz.« Aber es war kein Witz. New York war der Magnet — die Kraft, die alles anzieht, aber wenn man den Magneten weg‐ nimmt, zerfällt alles. Ray hatte langes, wallendes blondes Haar wie Jerry Lee Lewis oder der Evangelist Billy Graham— eine Frisur wie ein Prediger. Eine Frisur, wie die frühen RockʹnʹRoller sie imitierten, die gern so ausgesehen hätten. Eine Frisur, die das Zeug zum Kult hatte. Ray war zwar kein Prediger, aber er konnte predigen, und er war oft witzig. Er sagte, wenn er vor Farmern predige, er‐ kläre er ihnen, wie man den Acker mit dem Samen der Liebe bestelle und dann die Ernte der Erlösung einfahre. Er konnte auch vor Geschäftsleuten predigen. Dann sagte er so was wie: »Schwestern und Brüder, der Handel mit der Sünde wirft kei‐ nen Gewinn ab! Das ewige Leben läßt sich nicht kaufen und weiterverkaufen.« Er hatte für jeden eine Predigt auf Lager. Ray war ein Südstaatler und machte daraus keinen Hehl, aber er hätte ebenso überzeugt gegen die Sklaverei gekämpft wie ge‐ gen die Nordstaaten. »Die Sklaverei hätte von Anfang an ver‐ 81
boten werden sollen«, sagte er. »Eine teuflische Sache. Solange es Sklavenarbeit gibt, können sich freie Arbeiter unmöglich ihren Lebensunterhalt verdienen — die Sklaverei mußte ver‐ schwinden.« Ray war ein Pragmatiker. Manchmal war es, als habe er weder Herz noch Seele. Die Wohnung hatte fünf oder sechs Zimmer. In einem stand ein herrschaftlicher Schreibtisch mit Rollaufsatz, ein unzerstörbar wirkender Klotz aus Eiche mit Geheimfächern und einer doppelseitigen Uhr auf der Zierleiste, geschnitzten Nymphen und einem Minerva‐Medaillon, mechanischen Vor‐ richtungen, mit denen sich die Geheimfächer öffnen ließen, seitlichen Aufbauten und vergoldeten Bronzeornamenten mit mathematischen und astronomischen Emblemen. Es war un‐ glaublich. Ich setzte mich kurz entschlossen davor, nahm ein Blatt Papier heraus und schrieb einen Brief an meine Cousine Reenie. Reenie und ich hatten uns als Kinder recht nahe ge‐ standen— wir hatten uns ein Fahrrad geteilt, ein Schwinn mit Rücktrittbremse. Manchmal kam sie mit, wenn ich irgendwo spielte— sie hatte mir sogar ein ziemlich schrilles Hemd für meine Auftritte bestickt und Bänder an die Seitennähte meiner Hose genäht. Einmal fragte sie mich, warum ich unter einem anderen Na‐ men auftrat, vor allem in den Nachbarorten. Sollten die Leute denn nicht wissen, wer ich war? »Wer ist Eiston Gunn?« fragte sie. »Das bist doch nicht du, oder?« — »Ah«, sagte ich, »wartʹs ab.« Das mit Eiston Gunn war nur vorübergehend. Wenn ich erst einmal zu Hause ausgezogen war, wollte ich mich einfach Robert Allen nennen. Für mich war das mein Name — so hatten meine Eltern mich genannt. Er klang wie der Name eines schot‐ tischen Königs, und das gefiel mir. Fast meine ganze Persönlich‐ keit schwang in diesem Namen mit. Später war ich leicht verunsichert, als ich in Downbeat einen Artikel über einen 82
Saxophonspieler von der Westküste namens David Allyn las. Ich hatte den Verdacht, daß der Musiker aus Allen Allyn ge‐ macht hatte, was mir einleuchtete. Es wirkte exotischer, un‐ durchschaubarer. Genauso wollte ich es auch machen. Statt Ro‐ bert Allen würde ich Robert Allyn heißen. Einige Zeit später stieß ich dann zufällig auf ein paar Gedichte von Dylan Thomas. Dylan und Allyn klangen ähnlich. Robert Dylan. Robert Allyn. Ich konnte mich nicht entscheiden— der Buchstabe »D« machte mehr her. Aber Robert Dylan sah nicht so gut aus wie Robert Allyn und klang auch nicht so gut. Ich war immer Robert oder Bobby genannt worden, aber Bobby Dylan klang mir zu nek‐ kisch, und außerdem gab es schon einen Bobby Darin, einen Bobby Vee, einen Bobby Rydell, einen Bobby Neely und einen Haufen anderer Bobbys. Bob Dylan sah besser aus als Bob Allyn und klang auch besser. Als ich in Minneapolis zum ersten Mal nach meinem Namen gefragt worden war, hatte ich instinktiv und ohne nachzudenken einfach »Bob Dylan« geantwortet. Jetzt mußte ich mich daran gewöhnen, daß man Bob zu mir sagte. Ich war noch nie Bob genannt worden, und es dauerte eine Weile, bis ich auf den Namen reagierte. Was Bobby Zim‐ merman angeht, sage ichʹs, wieʹs ist, und das kann man jederzeit nachprüfen. Einer der ersten Präsidenten der San Bernar‐ dino Angels war Bobby Zimmerman, und er kam 1964 beim »Bass Lake Run« ums Leben. Sein Motorrad hatte den Schall‐ dämpfer verloren — um ihn aufzuheben, hatte Zimmerman vor den übrigen Teilnehmern kehrtgemacht und war auf der Stelle überfahren worden. Jetzt gibt es keinen Bobby Zimmerman mehr. Das war sein Ende. Ich unterschrieb meinen fertigen Brief an Reenie mit »Bobby«. Unter diesem Namen kannte sie mich, und dabei sollte es auch bleiben. Auf die Schreibweise kommt es an. Wenn ich vor der Wahl zwischen Robert Dillon und Robert Allyn gestanden 83
hätte, hätte ich mich für Robert Allyn entschieden, weil das gedruckt besser aussah. Der Name Bob Allyn hätte nie funk‐ tioniert, so hießen nur Gebrauchtwagenhändler. Ich hatte den Verdacht, daß Dylan auch einmal Dillon geheißen und die Schreibweise geändert hatte, aber das konnte ich nicht be‐ weisen. Apropos Bobbys: Mein alter Freund und Musikerkollege Bobby Vee hatte einen neuen Song in den Charts, »Take Good Care of My Baby«. Bobby Vee stammte aus Fargo in North Dakota — war also nicht allzu weit von mir aufgewachsen. Im Sommer ʹ59 hatte er bei einem kleinen Label vor Ort die Platte »Suzie Baby« herausgebracht und einen regionalen Hit damit gelandet. Seine Band hieß The Shadows, und ich war per An‐ halter hingefahren und hatte ihn dazu überredet, mich als Pia‐ nisten zu ein paar Gigs in der näheren Umgebung mitzuneh‐ men. Einer davon fand im Keller einer Kirche statt. Ich trat ein paarmal mit ihm auf, aber eigentlich brauchte er gar keinen Pianisten, und außerdem gab es in den Sälen, in denen er spielte, nur selten ein gestimmtes Klavier. Bobby Vee und ich hatten vieles gemeinsam, auch wenn wir später ganz unterschiedliche Wege einschlagen sollten. Wir hatten die gleiche musikalische Vergangenheit und waren zur gleichen Zeit in der gleichen Gegend aufgewachsen. Er verab‐ schiedete sich ebenfalls vom Mittleren Westen und schaffte es nach Hollywood. Bobbys Stimme hatte einen metallischen, rauhen Unterton und doch den Wohlklang einer Silberglocke, wie Buddy Hollys Stimme, nur tiefer. Als ich ihn kennenlernte, war er ein großer Rockabilly‐Sänger gewesen, und jetzt hatte er die Lager gewechselt und war ein Popstar. Er hatte für Li‐ berty Records Platten aufgenommen und war ständig in den Top 40 vertreten. Seine Songs konnten sich selbst dann noch in den Charts halten, als die Beatles das Land eroberten. Sein ak‐ 84
tueller Song »Take Good Care of My Baby« war eingängig wie eh und je. Ich wollte ihn wiedersehen, und so fuhr ich mit der Linie D zum Brooklyn Paramount Theater in der Fiatbush Avenu, wo er zusammen mit den Shirelles, Danny and the Juniors, Jackie Wilson, Ben E. King, Maxine Brown und anderen auftreten sollte. Er war jetzt ganz oben angekommen. Bei ihm hatte sich in der kurzen Zeit anscheinend einiges getan. Bobby kam zu mir nach draußen, war so normal wie immer, trug einen glän‐ zenden Seidenanzug und eine schmale Krawatte, freute sich of‐ fenbar wirklich, mich zu sehen, und wirkte nicht einmal über‐ rascht. Wir unterhielten uns eine Weile. Er fragte mich über New York aus, wie es hier so sei. »Viel Lauferei. Gesunde Füße braucht man«, sagte ich. Ich erzählte ihm, daß ich in Folkclubs spielte, aber es war un‐ möglich, ihm zu vermitteln, worum es dabei ging. Er hätte doch nur das Kingston Trio, Brothers Four und dergleichen gekannt. Er bediente jetzt den Massengeschmack der Popfans. Ich hatte selbst nichts gegen Popsongs, aber die Definition von Pop ver‐ änderte sich gerade. Die Songs waren einfach nicht mehr so gut wie früher. Songs wie »Without a Song«, »Old Man River«, »Stardust« und ein paar hundert andere mochte ich sehr. Mein Favorit unter den neuen Songs war »Moon River«. Den konnte ich im Schlaf singen. Mein »Huckleberry friend« war auch da oben, »waiting ʹround the bend«, auf der 14th Street vielleicht. Bei Ray, wo es nicht viele Folkplatten gab, legte ich oft Frank Sinatras phänomenalen Song »Ebb Tide« auf, der mir immer wieder Ehrfurcht einflößte. Der Text war so rätselhaft und ver‐ wirrend. Wenn Frank »Ebb Tide« sang, konnte ich in seiner Stimme alles hören — den Tod, Gott und das Universum, alles. Aber ich hatte anderes zu tun und nicht viel Zeit, mir solche Musik anzuhören. 85
Ich wollte Bobbys Zeit nicht egoistisch für mich in Anspruch nehmen, also verabschiedeten wir uns voneinander, und ich verließ den Saal durch eine Seitentür. Vor dem Gebäude dräng‐ ten sich junge Mädchen, die in der Kälte auf Bobby warteten. Ich arbeitete mich durch die Menge zu dem Stau aus Taxis und anderen Autos vor, die auf den vereisten Straßen dahin‐ schlichen, und machte mich auf den Weg zurück zur U‐Bahn. In den nächsten dreißig Jahren würde ich Bobby Vee nicht mehr begegnen, und obwohl sich vieles ändern sollte, habe ich ihn immer als einen Bruder betrachtet. Ich muß nur irgendwo auf seinen Namen stoßen, und schon ist es, als stehe Bobby neben mir. Greenwich Village war voller Folkclubs, Bars und Cafés, und wer von uns dort regelmäßig auftrat, spielte die alten Folk‐ songs, ländlichen Blues und Tanzmelodien. Ein paar Leute schrieben ihre eigenen Songs, Tom Paxton und Len Chandler zum Beispiel, und weil sie alte Melodien für ihre neuen Texte verwendeten, kamen sie ganz gut an. Sowohl Len als auch Tom schrieben Songs über aktuelle Geschehnisse, auf die man in Zeitungsartikeln stieß, kaputtes, wahnwitziges Zeug — Nonne heiratet, Highschool‐Lehrer stürzt sich von der Brooklyn Bridge, Touristen überfallen eine Tankstelle, Broadway‐Schönheit wird zusammengeschlagen und im Schnee liegengelassen. Und so weiter. Len fand fast immer irgendeinen Ansatzpunkt, um einen Song daraus zu basteln. Obwohl Toms bekanntester Song, »Last Thing on My Mind«, eine sehnsuchtsvolle romantische Ballade war, ging es auch in seinen Texten um zeitgenössische Themen. Ich schrieb selbst ein paar in dieser Art und nahm sie in mein Repertoire auf, aber mir war schon klar, daß sich damit nicht viel anfangen ließ. 86
Ich sang sowieso viele Songs mit aktuellen Bezügen. Songs über wahre Begebenheiten waren immer aktuell. Aber es steckte meistens irgendeine Aussage darin, aus der sich etwas machen ließ, und man brauchte sich beim Schreiben nicht an die Wahr‐ heit zu halten. Der Verfasser konnte alles mögliche behaupten, man würde es ihm schon abnehmen. Wenn man Billy Gashade Glauben schenkt, dem Mann, der die Jesse‐James‐Ballade geschrieben haben soll, denkt man, daß Jesse die Reichen bestohlen und das Geld den Armen gegeben hat und von einem »dreckigen kleinen Feigling« erschossen worden ist. Im Song überfällt Jesse Banken, schenkt das Geld den Bedürfti‐ gen und wird am Ende von einem Freund verraten. Dabei war er nach allem, was man weiß, ein blutrünstiger Killer und alles an‐ dere als der im Song gefeierte Robin Hood. Aber das letzte Wort hat Billy Gashade, und er krempelt die Geschichte um. Songs zu aktuellen Themen waren keine Protestsongs. Die Bezeichnung »Protestsänger« gab es genausowenig wie die Be‐ zeichnung »Singer/Songwriter«. Man war Musiker oder man war keiner, das warʹs ... man war Folksänger oder eben nicht. Manche Leute sagten »songs of dissent« dazu, »Widerstands‐ lieder«, aber auch dieser Begriff war nicht sehr gebräuchlich. Ich versuchte später klarzustellen, daß ich mich nicht für einen Protestsänger hielt, daß das ein Mißverständnis sei. Ich hatte nicht den Eindruck, daß ich gegen irgendetwas protestierte, ge‐ nausowenig wie Woody Guthrie in seinen Songs. Für mich war Woody kein Protestsänger. Wenn er einer war, dann waren auch Sleepy John Estes und Jelly Roll Morton welche. Dafür hörte ich ziemlich regelmäßig Rebellenlieder, die mich wirklich aufwühlten. Die Clancy Brothers — Tom, Paddy und Liam — und ihr Freund Tommy Makem sangen sie ständig. Ich freundete mich mit Liam an und ging nach Feierabend gern mit ihm in die White Horse Tavern in der Hudson Street, 87
eine durch und durch irische Bar, die überwiegend von Emi‐ granten besucht wurde. Die ganze Nacht lang sangen sie Sauf‐ lieder, Countryballaden und aufrüttelnde Rebellenlieder, bis die Wände wackelten. Diese Rebellenlieder hatten es in sich. Die Texte waren kraß und provozierend, in jeder Zeile ging es hoch her, und alle wurden mit großem Gusto geschmettert. Der Sän‐ ger sang immer mit munter funkelnden Augen, das gehörte sich so. Ich war begeistert von diesen Songs und hatte sie noch lange im Ohr, noch bis zum nächsten Tag. Aber das waren keine Protestsongs, es waren Rebellenballaden ... selbst in einer ein‐ fachen, melodischen Schnulze lauerte unter der Oberfläche die Rebellion. Es gab kein Entkommen. Ich hatte selbst solche Songs im Repertoire, in denen irgend etwas Liebliches unver‐ mutet umgekrempelt wurde, aber statt eines Aufstands trat der Tod selbst auf den Plan, der Sensenmann. Für die Rebellion hatte ich mehr übrig. Der Rebell war gesund und munter, ro‐ mantisch und ehrenhaft. Der Sensenmann nicht. Ich spielte mit dem Gedanken, das Lager zu wechseln. Das irische Revier war dem amerikanischen leider nicht sehr ähn‐ lich, also würde ich ein paar Keilschrifttafeln finden müssen, einen uralten Gral, der mir den Weg wies. Ich hatte eine Vor‐ stellung von den Songs, die ich schreiben wollte, aber ich wußte noch nicht, wie ich das zustande bringen sollte. Ich machte alles schnell. Ich dachte schnell, aß schnell, redete schnell und ging schnell. Sogar meine Songs sang ich schnell. Wenn ich ein Komponist werden wollte, der etwas zu sagen hatte, mußte ich geistig einen langsameren Gang einlegen. Ich konnte nicht genau in Worte fassen, wonach ich Ausschau hielt, aber ich begann schon einmal grundsätzlich danach zu suchen, und zwar in der New York Public Library, einem 88
monumentalen Gebäude mit Marmorböden und Marmorwän‐ den, öden und weitläufigen Höhlensälen und Gewölbedecken. Ein Gebäude, das Triumph und Ruhmesglanz verströmt. In ei‐ nem der oberen Lesesäle fing ich an, Zeitungsartikel von 1855 bis ungefähr 1865 auf Mikrofilm zu lesen, weil ich herausfinden wollte, wie das Alltagsleben damals ausgesehen hatte. Die Themen interessierten mich nicht so sehr wie die Sprache und die Rhetorik jener Epoche. Zeitungen wie die Chicago Tribune, die Brooklyn Daily Times und den Pennsylvania Freeman. Den Memphis Daily Eagle, den Savannah Daily Herald und den Cincinnati Enquirer. Mir trat keine fremde Welt entgegen, son‐ dern die gleiche, nur mit größeren Nöten, und Sklaverei war nicht das einzige Thema. Es gab Beiträge über Reformbewe‐ gungen, Vereine gegen das Glücksspiel, über steigende Ver‐ brechensraten, Kinderarbeit, die Abstinenzbewegung, Sklaven‐ fabrikarbeit, Loyalitätseide und religiöse Erweckungen. Man erwartet förmlich, daß die Zeitungen selbst explodieren, daß Blitze einschlagen und die Welt untergeht. Alle berufen sich auf den gleichen Gott, zitieren aus der gleichen Bibel, dem glei‐ chen Gesetz und der gleichen Literatur. Sklaventreiber aus den Plantagen von Virginia werden beschuldigt, ihre eigenen Kin‐ der zu verkaufen. In den Städten im Norden herrscht große Un‐ zufriedenheit, die Verschuldung ist astronomisch und allem Anschein nach völlig außer Kontrolle geraten. Die Aristokratie der Plantagenbesitzer regiert ihre Plantagen wie Stadtstaaten. Es geht dort zu wie in der römischen Republik. Eine Elite be‐ stimmt die Regeln, angeblich zum Wohle aller. Ihre Mitglieder besitzen Sägemühlen, Schrotmühlen, Schnapsbrennereien, Ge‐ mischtwarenläden und so weiter. Zu jeder Meinung gibt es eine Gegenmeinung ... christliche Frömmigkeit und philosophische Ausgeburten von Spinnern werden auf den Kopf gestellt. Flam‐ mende Redner wie William Lloyd Garrison, ein entschiedener 89
Sklavereigegner aus Boston, der sogar seine eigene Zeitung hat. Aufstände in Memphis und in New Orleans. Ein Aufstand in New York, bei dem zweihundert Leute vor dem Metropolitan Opera House sterben, weil ein amerikanischer Schauspieler durch einen englischen ersetzt worden ist. Gegner der Sklaven‐ arbeit stacheln die Massen in Cincinnati, Buffalo und Cleveland auf: Wenn man den Südstaaten die Macht überlasse, würden die Fabrikbesitzer im Norden gezwungen, ihre freien Arbeiter zu entlassen und Sklaven einzustellen. Auch das führt wieder zu Tumulten. Lincoln kommt in den späten Fünfzigern ins Spiel. In der Presse des Nordens wird er als Pavian oder Giraffe be‐ zeichnet und oft karikiert. Niemand nimmt ihn ernst. Un‐ denkbar die Vorstellung, daß er einmal die Vaterfigur werden könnte, die er heute ist. Man fragt sich, wie Menschen, die ein‐ ander durch ihre Nachbarschaft und ihre religiösen Ideale so eng verbunden waren, derart erbitterte Feinde werden konn‐ ten. Und nach einer Weile sieht man nur noch einen Aufruhr der Gefühle, eine Abfolge unheilschwangerer Tage — Zwietracht herrscht, Böses wird mit Bösem vergolten, und man kann ver‐ folgen, wie die Menschheit vom Kurs ihrer Bestimmung ab‐ kommt. Es ist ein einziges langes Klagelied, aber mit einer bestimmten thematischen Unvollkommenheit, einer Ideologie von hoher Abstraktion, mit vielen heldenhaften bärtigen Ge‐ stalten, erhabenen, aber nicht unbedingt guten Männern. Keine einzige Idee stellt einen langfristig zufrieden. Auch nach den neoklassischen Tugenden kann man lange suchen. Die ganze Rhetorik von Ritterlichkeit und Ehre muß eine neuere Erfin‐ dung sein. Bis hin zur Lebenswelt der Südstaatenfrauen. Was ihnen widerfuhr, ist eine Schande. Die meisten wurden mit ih‐ ren Kindern hungernd auf Farmen zurückgelassen, wo sie auf sich allein gestellt und den Elementen schutzlos ausgeliefert waren. Das Leiden nimmt kein Ende, und die Bestrafung wird 90
bis in alle Ewigkeit fortdauern. Alles ist so unrealistisch, hoch‐ trabend und scheinheilig zugleich. Auch der Zeitbegriff war nicht der gleiche. Im Süden lebte man nach der Sonne — Son‐ nenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang, Frühling, Sommer. Im Norden lebte man nach der Uhr. Die Fabriksirene, die Pfeife, die Glocke. Nordstaatenbewohner mußten »pünktlich« sein. Der Bürgerkrieg war in mancher Hinsicht ein Krieg zwischen zwei Zeitkonzepten. Als in Fort Sumter die ersten Schüsse fie‐ len, stand die Abschaffung der Sklaverei offenbar noch gar nicht auf der Tagesordnung. Es ist alles ziemlich gruselig. Die Zeit, in der ich lebte, war eine ganz andere, und doch ähnelte sie jener Vergangenheit auf rätselhafte Weise. Und zwar nicht nur ein bißchen ... Mein Leben baute auf einem breitgefächer‐ ten Spektrum auf, einem Gemeinwesen, in dem die psychologi‐ schen Grundlagen dieser vergangenen Zeiten sehr wohl eine Rolle spielten. Wenn man sein Augenmerk darauf richtete, konnte man die menschliche Natur in ihrer ganzen Komplexität erkennen. Damals ist Amerika gekreuzigt worden, gestorben und wiederauferstanden. Daran war nichts Künstliches. Diese furchtbare Wahrheit sollte den allumfassenden Rahmen mei‐ ner künftigen Texte bilden. Ich stopfte soviel wie möglich von diesem Stoff in mich hin‐ ein, sperrte alles in eine verborgene Hirnkammer und küm‐ merte mich nicht mehr darum. Später konnte ich immer noch den Umzugswagen kommen lassen. Im Village ging alles seinen ungestörten Gang. Das Leben war unkompliziert. Alle warteten auf Gelegenheiten. Mancher er‐ wischte eine beim Schopf und ward nicht mehr gesehen; bei an‐ deren klappte es nie. Meine Chance sollte kommen, aber noch war es nicht soweit. 91
Len Chandler, ein klassisch ausgebildeter Musiker aus Ohio, trat mit mir im Gaslight auf, und wir freundeten uns an. Die Zeit zwischen den Auftritten verbrachten wir gewöhnlich im Pokerzimmer und manchmal auch im Metro Diner in der Nähe der 6th Avenue. Len war gebildet und nahm das Leben sehr ernst; zusammen mit seiner Frau arbeitete er sogar downtown an der Gründung einer Schule für unterprivilegierte Kinder. Er schrieb Songs zu aktuellen Themen und holte sich seine Inspi‐ ration aus der Tageszeitung. Meistens schrieb er neue Texte zu alten Melodien, aber manchmal dachte er sich auch seine eige‐ nen Melodien aus. Einer seiner schillerndsten Songs handelte von einem nach‐ lässigen Schulbusfahrer aus Colorado, der einen Bus voller Kin‐ der versehentlich in einen Abgrund gesteuert hatte. Die Melo‐ die stammte von Len selbst, und weil sie mir so gut gefiel, schrieb ich meinen eigenen Text dazu. Len machte das anschei‐ nend nichts aus. Wir tranken Kaffee und blätterten auf der Su‐ che nach Songmaterial liegengebliebene Tageszeitungen durch. Seit ich die Zeitungen in der New York Public Library gesehen hatte, wirkten diese hier seltsam dürftig und abgeschmackt. Frankreich hatte in der Sahara eine Atombombe gezündet und war in die Schlagzeilen geraten. Nach einhundert Jahren Kolonialherrschaft waren die Franzosen gerade von Ho Chi Minh aus Nordvietnam vertrieben worden. Ho hatte genug von ihnen. Sie hatten aus der Hauptstadt Hanoi »das Puff‐Paris des Orients« gemacht. Ho warf sie raus und wollte künftig mit Bul‐ garien und der Tschechoslowakei kooperieren. Die Franzosen hatten das Land jahrelang ausgeplündert. In den Zeitungen stand, Hanoi sei dreckig und freudlos, man kleide sich dort in unförmige chinesische Jacken, und Männer und Frauen seien nicht voneinander zu unterscheiden. Alle würden Fahrrad fah‐ ren und dreimal täglich öffentlich Gymnastik machen. Den Be‐ 92
richten zufolge war Vietnam ein sonderbares Land. Man mußte den Vietnamesen wohl mal auf die Sprünge helfen — ein paar Amerikaner hinschicken vielleicht. Jedenfalls war Frankreich jetzt im Atomzeitalter angelangt, und es bildeten sich erste Bewegungen mit dem Ziel, Atom‐ waffen zu ächten, seien es französische, amerikanische, russische oder andere, aber diese Bewegung hatte auch ihre Kritiker. Angesehene Psychiater erklärten, manche Leute, die so vehe‐ ment gegen Atomtests protestierten, seien Apokalyptiker — die Ächtung von Atomwaffen würde sie ihrer unheimlich wohli‐ gen Erwartung des kommenden Weltuntergangs berauben. Len und ich trauten unseren Augen nicht. Es gab Artikel über mo‐ derne Phobien mit schicken lateinischen Namen: Angst vor Blumen, Angst vor dem Dunkeln, Höhenangst, Angst vor dem Überqueren von Brücken, vor Schlangen, vor dem Alter, Angst vor Wolken. So ziemlich alles konnte einem Angst einjagen. Meine große Angst war, daß sich meine Gitarre verstimmen könnte. Auch Frauen meldeten sich in den Nachrichten zu Wort und rüttelten am Status Quo. Manche beklagten sich, erst rede man ihnen ein, daß sie gleiche Rechte brauchten und verdien‐ ten, und dann werfe man ihnen vor, sie seien Mannweiber. Manche wollten mit einundzwanzig Jahren nicht mehr als Mäd‐ chen bezeichnet werden, sondern als Frau. Manche Mäd‐ chen oder Frauen, die als Verkäuferinnen arbeiteten, wollten nicht mehr »Salesladies« genannt werden. Auch in den Kirchen war einiges in Bewegung geraten. Manche weißen Pfarrer wollten nicht mehr als »the Reverend« tituliert werden. Sie wollten schlicht und einfach »Reverend« heißen. Wortklaubereien und Etikettierungen konnten einen in den Wahnsinn treiben. Das Geheimnis des Erfolges bestand darin, daß man erst einmal zum robusten Individualisten wer‐ den mußte, sich dann aber hier und da anzupassen hatte. Da‐ 93
nach mußte man sich konform verhalten. Man konnte im Handumdrehen vom robusten Individualisten zum Konformi‐ sten werden. Len und ich fanden das Ganze idiotisch. So einfach war die Wirklichkeit nicht gestrickt, und Einigkeit war darüber sowieso nicht zu erzielen. Jean Genets Stück Der Balkon, das im Village aufgeführt wurde, zeigte die Welt als gigantisches Bordell; Chaos regiert das Universum, und der Mensch lebt allein und verlassen in einem sinnlosen Kosmos. Das Stück brachte es haargenau auf den Punkt, und nach allem, was mir über die Bürgerkriegszeit bekannt war, hätte es auch vor hundert Jahren entstanden sein können. So stellte ich mir die Songs vor, die ich schreiben wollte. Sie würden nicht mit den gegenwärtig gelten‐ den Ideen konform gehen. Die Songs sprudelten noch nicht aus mir heraus wie später, aber Len war sehr produktiv, und um uns herum wirkte alles absurd — es war ein bestimmter Wahnsinn am Werk. Selbst die Fotos von Jackie Kennedy mit Einkaufstüten voller Kleidung in der Drehtür des Carlyle‐Hotels uptown hatten etwas Verstörendes. Im Biltmore, nicht weit entfernt, tagte der kubanische Revolutionsrat, die kubanische Exilregie‐ rung. Die Regierungsmitglieder hatten erst kürzlich eine Pres‐ sekonferenz abgehalten, in der sie erklärten, sie brauchten Pan‐ zerfäuste, rückstoßfreie Gewehre und Sprengstoffexperten, und so etwas koste Geld. Mit genügend Spenden könnten sie Kuba zurückerobern, das alte Kuba, seine Plantagen, das Zuckerrohr, den Reis und den Tabak — Patrizier. Die römische Republik. Im Sportteil stand, die New York Rangers hätten die Chicago Blackhawks zwei zu eins geschlagen, und beide Tore seien auf Vic Hadfields Konto gegangen. Eine einprägsame Gestalt war luch unser hochgewachsener texanischer Vizepräsident Lyndon Johnson. Er war durchgedreht und dem Geheimdienst ge‐ genüber ausfällig geworden— sie sollten ihn nicht mehr gän‐ 94
geln, beschatten und verfolgen. Johnson hielt andere Leute am Revers fest und packte sie am Hinterkopf, wenn er sich ver‐ ständlich machen wollte. Er erinnerte mich an Tex Ritter; er wirkte so schlicht und bodenständig. Als er später Präsident wurde, machte er in einer Rede ans amerikanische Volk Ge‐ brauch von der Formel »we shall overcome«. »We Shall Over‐ come« war bei Demonstrationen der Bürgerrechtsbewegung die Hymne schlechthin und seit vielen Jahren der Schlachtruf der Unterdrückten. Statt das Konzept vom Tisch zu wischen, interpretierte Johnson es so, wie es ihm in den Kram paßte. Er war nicht so hausbacken, wie er wirkte. Der vorherrschende Mythos der Zeit war anscheinend die Auffassung, daß jeder Mensch alles zustande bringen konnte, sogar zum Mond fliegen. Man konnte tun und lassen, was man wollte, Anzeigen und Artikel forderten den Leser auf: Vergiß deine Grenzen — setz dich über sie hinweg. Auch wenn du eine unentschlossene Person bist, kannst du ein Führer werden und Lederhosen tragen. Auch Hausfrauen können Schönheitsköniginnen mit Glitzersonnenbrille werden. Du bist schwer von Begriff? Sei unbesorgt — du kannst dich zu einem intellektuellen Genie ent‐ wickeln. Wer alt ist, kann wieder jung werden. Alles war mög‐ lich. Es war so etwas wie ein Krieg gegen das Selbst. Auch die Kunstwelt veränderte sich— sie wurde vollkommen umgekrem‐ pelt. Abstrakte Malerei und atonale Musik traten auf den Plan und drehten die Wirklichkeit durch den Wolf, bis sie nicht mehr wiederzuerkennen war. Selbst Goya wäre ins Seenot geraten, wenn er versucht hätte, auf der neuen Kunstwelle zu segeln. Len und ich schenkten dem ganzen Zeug die Aufmerksamkeit, die es verdiente, aber auch keinen Deut mehr. Wer immer wieder in den Nachrichten auftauchte, war Caryl Chessman, ein notorischer Triebtäter, bekannt unter dem Na‐ men Red Light Bandit. Er war angeklagt und verurteilt worden, 95
weil er junge Frauen vergewaltigt hatte, und jetzt saß er in Ka‐ lifornien in der Todeszelle. Seine Methode war recht originell gewesen — er hatte ein rotes Streifenwagenblinklicht auf sein Auto montiert und die Mädchen aus dem Straßenverkehr her‐ ausgewinkt, sie zum Aussteigen aufgefordert, in den Wald ge‐ schleppt und dort ausgeraubt und vergewaltigt. Er saß schon eine ganze Weile in der Todeszelle und reichte ein Gnaden‐ gesuch nach dem anderen ein, aber auch das letzte war abge‐ wiesen worden, und der Termin seiner Hinrichtung in der Gas‐ kammer stand bereits fest. Chessman war zur Cause Célèbre geworden, und viele Prominente setzten sich für ihn ein. Nor‐ man Mailer, Ray Bradbury, Aldous Huxley, Robert Frost und sogar Eleanor Roosevelt erklärten, man solle ihm das Leben schenken. Eine Organisation, die für die Abschaffung der To‐ desstrafe eintrat, hatte Len gebeten, einen Song über Chessman zu schreiben. »Wie schreibt man einen Song über einen Unmenschen, der junge Frauen vergewaltigt, wie geht man da ran?« fragte er mich, als sei er in Gedanken schon mit Feuereifer bei der Sache. »Ich weiß nicht, Len, an deiner Stelle würde ichʹs langsam angehen lassen ... fang doch mit dem roten Blinklicht an.« Len hat den Song nie geschrieben, aber ich glaube, jemand anders hat es getan. Eines mußte man Chandler lassen: Er war furchtlos. Er ließ sich von Idioten nichts gefallen, und kei‐ ner konnte ihm in die Quere kommen. Er war kräftig wie ein Linebacker und konnte einem den Arsch aufreißen von hier bis Chinatown; wahrscheinlich hätte er jedem das Nasenbein brechen können. Er hatte auch Ökonomie und Naturwissen‐ schaften studiert und kannte sich aus. Len war brillant und hatte die allerbesten Absichten, er war so jemand, der glaubt daß ein einziger Gerechter die ganze Gesellschaft verändern kann. 96
Er war nicht nur Songwriter, sondern auch Draufgänger. In einer eiskalten Winternacht bretterten wir auf seiner Vespa mit Vollgas über die Brooklyn Bridge, und mir schlug das Herz bis zum Hals. Der Roller jagte bei starkem Wind über den Gitter‐ rost, und ich dachte, ich würde jeden Moment über Bord gehen — ich stand Todesängste aus, als wir uns durch den nächtlichen Verkehr schlängelten und über den vereisten Stahl schlitterten. Ich war sehr angepannt, aber ich spürte, daß Chandler alles un‐ ter Kontrolle hatte. Er zuckte nicht mit der Wimper und hielt den Blick unerschütterlich geradeaus auf die Straße gerichtet. Kein Zweifel, die Götter waren auf seiner Seite. Dieses Gefühl habe ich in meinem Leben nur bei ganz wenigen Menschen gehabt. Wenn ich nicht bei Van Ronk wohnte, war ich meistens bei Ray; irgendwann vor der Morgendämmerung kam ich zurück, stieg die dunkle Treppe hinauf und schloß vorsichtig die Tür hinter mir. Ich ließ mich in das ausgeklappte Sofa fallen wie in eine Gruft. Ray gehörte nicht zu den Leuten, die kein Ziel im Le‐ ben haben. Er wußte, was er wollte, und er konnte es auch aus‐ drücken; er erlaubte sich nicht den kleinsten Fehler. Das Alltäg‐ liche drang nicht zu ihm vor. Er hatte eine glückliche Hand bei allem, was er sich vornahm, machte sich keine Sorgen über Kleinigkeiten, zitierte die Psalmen und hatte immer eine Pi‐ stole neben dem Bett liegen. Manchmal lehnte er sich eindeutig zu weit aus dem Fenster. Einmal sagte er, Präsident Kennedy werde seine Amtszeit nicht durchstehen, weil er katholisch sei. Bei diesen Worten mußte ich an meine Großmutter denken, die mir gesagt hatte, der Papst sei der König der Juden. Sie lebte da‐ mals in Duluth im oberen Stockwerk eines Zweifamilienhauses in der 5th Street. Aus einem Fenster im Hinterzimmer sah man 97
den Lake Superior, unheilvoll und bedrohlich, in der Ferne zogen Eisenfrachter und Schleppkähne vorbei, und von überall‐ her ertönten Nebelhörner. Meine Großmutter hatte nur ein Bein und war Näherin gewesen. Manchmal fuhren meine El‐ tern am Wochenende von der Iron Range nach Duluth und setzten mich für ein paar Tage bei ihr ab. Sie war eine Lady von dunklem Typ und rauchte Pfeife. Die andere Seite meiner Fa‐ milie war hellhäutiger und blonder. Meine Großmutter sprach mit einem grausigen Akzent, und auf ihren Zügen malte sich ständig halbe Verzweiflung. Sie hatte kein leichtes Leben gehabt. Sie war aus Südrußland nach Amerika eingewandert, aus Odessa, einer Stadt, die Duluth in Temperament, Klima und Landschaft ähnelte, und auch unmittelbar an einem großen Ge‐ wässer lag. Ursprünglich kam sie aus der Türkei und hatte von der Ha‐ fenstadt Trabzon aus das Schwarze Meer überquert— das Meer, das die alten Griechen Euxinos nannten, das Meer, das Lord Byron im Don Juan besungen hatte. Ihre Familie stammte aus Kagizman, einer türkischen Stadt in der Nähe der armenischen Grenze, und ihr Mädchenname war Kirghiz gewesen. Die El‐ tern meines Großvaters stammten aus der gleichen Gegend, wo sie vorwiegend als Schuhmacher und Lederhandwerker gear‐ beitet hatten. Die Vorfahren meiner Großmutter kamen aus Konstantino‐ pel. Als Teenager sang ich Ritchie Valensʹ Song »In a Turkish Town« mit seiner Zeile über die »mystery Turks and the stars above«, und das war schon eher meine Kragenweite als Richies Song »La Bamba«, den alle sangen, keine Ahnung, warum. Meine Mutter hatte sogar eine Freundin namens Nellie Turk, die in meiner Kindheit immer um mich gewesen war. Bei Ray gab es keine Ritchie‐Valens‐Platten. Er besaß haupt‐ sächlich klassische Musik und Jazz. Ray hatte seine ganze Plat‐ 98
tensammlung einem Rechtsverdreher abgekauft, der sich hatte scheiden lassen wollen. Es gab Fugen von Bach und Sinfonien von Berlioz, Händeis Messias und Chopins Polonaise in A‐Dur. Madrigale und geistliche Musik, Violinkonzerte von Darius Milhaud, sinfonische Dichtungen, gespielt von Klaviervirtuo‐ sen, Streicherserenaden, deren Motive mich an Polkas erinner‐ ten. Polkas brachten mein Blut in Wallung. Sie waren die erste laute Livemusik, die ich gehört hatte. An Samstagabenden wa‐ ren die Kneipen voll mit Polkabands. Ich mochte auch die Musik von Franz Liszt; es gefiel mir, wie ein Klavier ein ganzes Orchester imitieren konnte. Einmal legte ich Beethovens Kla‐ viersonate Pathétique auf— sie war melodisch, klang aber auch oft nach Aufstoßen, Rülpsen und anderen körperlichen Ver‐ richtungen. Es war komisch, fast wie ein Trickfilmsoundtrack. Ich las den Text auf der Plattenhülle und erfuhr, daß Beethoven ein Wunderkind gewesen und von seinem Vater ausgebeutet worden war, und daß er danach sein Leben lang allen Menschen mißtraut hatte. Aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, Sin‐ fonien zu schreiben. Ich hörte auch viel Jazz und Bebop. Platten von George Russell oder Johnny Cole, Red Garland, Don Byas, Roland Kirk, Gil Evans— Evans hatte eine Version von Leadbellys »Ella Speed« aufgenommen. Ich versuchte Melodien und Strukturen zu er‐ kennen. Zwischen Folk und manchen Spielarten des Jazz gab es viele Ähnlichkeiten. »Tattoo Bride«, »A Drum Is a Woman«, »Tourist Point of View« und »Jump for Joy« von Duke Elling‐ ton klangen wie raffinierter Folk. Die Welt der Musik wuchs mit jedem Tag. Es gab Platten von Dizzy Gillespie, Fats Na‐ varro, Art Farmer und Erstaunliches von Charlie Christian und Benny Goodman. Wenn ich schnell wach werden mußte, legte ich »Swing Low Sweet Cadillac« oder »Umbrella Man« von Dizzy Gillespie auf. Auch »Hot House« von Charlie Parker eig‐ 99
nete sich gut zum Aufwachen. Ich kannte ein paar Leute, die ein Konzert von Parker miterlebt hatten, und es war, als habe er ihnen eine geheime Lebenskraft übertragen. »Ruby, My Dear« von Monk war auch so ein Fall. Monk trat im Blue Note an der Third Street mit John Ore am Baß und dem Schlagzeuger Fran‐ kie Dunlop auf. Manchmal saß er dort nachmittags ganz allein am Klavier und spielte Stücke, die sich nach Ivory Joe Hunter anhörten. Auf seinem Klavier lag ein großes angebissenes Sandwich. Ich ging einmal am Nachmittag nur zum Zuhören hin und erzählte Monk, daß ich ein paar Häuser weiter Folk spielte. »Folk spielen wir alle«, sagte er. Monk lebte in seinem eigenen dynamischen Universum, selbst wenn er nur vor sich hin klimperte. Sogar dann erweckte er geheimnisvolle Schatten zum Leben. Ich mochte Modern Jazz sehr und hörte ihn oft in den Clubs ... aber ich hielt mich nicht auf dem laufenden und ließ mich nicht von ihm gefangennehmen. Es gab im Modern Jazz keine normalen Wörter mit konkreten Bedeutungen, und ich wollte alles schlicht und einfach in anständigem Englisch hören, und Folksongs sprachen mich am unmittelbarsten an. Tony Bennett sang in anständigem Englisch; eine seiner Platten lag bei Ray herum— sie hieß Hit Songs of Tony Bennett und ent‐ hielt Stücke wie »In the Middle of an Island«, »Rags to Riches« und Hank Williamsʹ »Cold, Cold Heart«. Zum ersten Mal hörte ich Hank in der »Grand Ole Opry« singen, einer Samstagabend‐Radioshow aus Nashville. Roy Acuff, der die Sendung moderierte, wurde vom Ansager als »König der Countrymusik« angekündigt. Irgendwer wurde immer als »Tennessees nächster Gouverneur« vorgestellt, und die Sendung warb für Hundefutter und Altersversicherungen. Hank sang »Move It on Over«, einen Song über das Leben in einer Hundehütte, den ich sehr witzig fand. Er sang auch Spiri‐ 100
tuals wie »When God Comes and Gathers His Jewels« und »Are You Walking and a‐Talking for the Lord«. Seine Stimme ging mir wie ein Elektroschock durch und durch. Ich beschaffte mir ein paar von seinen 78er‐Platten — »Baby, Weʹre Really in Love«, »Honky Tonkinʹ« und »Lost Highway« — und hörte sie immer und immer wieder. Man nannte ihn einen »Hillbilly‐Sänger«, aber ich wußte nicht, was das war. Homer and Jethro kamen meiner Vorstel‐ lung von Hillbillys näher. Hank war kein Krauskopf; er hatte auch nichts von einem Clown an sich. Schon in jungen Jahren hatte ich mich voll und ganz mit ihm identifiziert. Ich mußte nicht das gleiche erlebt haben wie Hank, um zu wissen, wovon er sang. Ich hatte noch nie erlebt, wie ein Rotkehlchen weint, aber ich konnte es mir vorstellen, und es machte mich traurig. Wenn er sang »The news is out all over town«, wußte ich, wel‐ che Neuigkeiten das waren, obwohl ich keine Ahnung hatte, was er meinte. Bei der ersten Gelegenheit wollte ich ebenfalls »go to the dance and wear out my shoes«. Später sollte ich er‐ fahren, daß Hank am Neujahrstag auf dem Rücksitz eines Au‐ ‐ tos gestorben war. Ich hoffte sehr, daß es nicht stimmte. Aber es stimmte doch. Es war wie der Sturz eines mächtigen Baums. Die Nachricht von Hanks Tod war ein harter Schlag für mich. Die Stille des Weltalls war noch nie so laut gewesen. Doch Hanks Stimme würde nie verschwinden oder verklingen; das wußte ich intuitiv. Es war eine Stimme wie der schöne Klang eines Horns. Viel später erfuhr ich, daß Hank sein Leben lang unter schwe‐ ren Wirbelsäulenproblemen gelitten und furchtbare Schmerzen gehabt hatte — daß die Schmerzen mörderisch gewesen sein mußt‐ en. In diesem Lichte wirken seine Platten noch erstaunlicher. Es ist, als habe er die Gesetze der Schwerkraft besiegt. Luke the Drifter hörte ich so oft, bis sie fast den Geist aufgab. Das ist das 101
Album, auf dem er Gleichnisse rezitiert und singt, zum Beispiel die Seligpreisungen. Ich konnte mir die Platte den ganzen Tag anhören und mich darin verlieren, bis ich fest davon überzeugt war, daß der Mensch gut sei. Wenn ich Hank singen höre, steht die Erde still. Das leiseste Flüstern ist wie ein Sakrileg. Nach und nach merkte ich, daß in den Aufnahmen der Songs von Hank die archetypischen Regeln der Kunst zu finden wa‐ ren, wie man einen poetischen Song schreibt. Die architekto‐ nischen Formen sind wie Marmorsäulen, und sie waren un‐ verzichtbar. Sogar in seinen Texten ist die Silbenaufteilung mathematisch perfekt. Man kann viel über die Grundlagen des Songschreibens lernen, wenn man seine Platten hört, und ich hörte sie oft und hatte sie verinnerlicht. Ein paar Jahre später sollte Robert Shelton, der Folk‐ und Jazzkritiker der New York Times, einen meiner Auftritte sinngemäß mit den Worten kommentieren: »Gleichsam eine Mischung aus Chorknabe und Beatnik — er bricht alle Regeln des Songschreibens außer der, daß man etwas zu sagen haben sollte.« Die Regeln stammten von Hank, was Shelton vielleicht nicht wußte, aber ich hatte nie vorgehabt, sie zu brechen. Ich wollte nur etwas ausdrücken, das jenseits der gewohnten Grenzen lag. Eines Abends kam Albert Grossman, der Manager von Odetta und Bob Gibson, ins Gaslight, um sich mit Van Ronk zu unter‐ halten. Seine Anwesenheit war nicht zu übersehen. Er sah aus wie Sidney Greenstreet aus Der Malteser Falke, stand überall im Mittelpunkt, trug immer einen klassischen Anzug mit Kra‐ watte und saß jetzt an einem Ecktisch. Wenn er redete, dann meist mit einer Stimme so laut wie dröhnende Kriegstrom‐ meln. Allerdings knurrte er mehr, als daß er redete. Grossman stammte aus Chicago und kam nicht aus dem Showbusiness, 102
ließ sich dadurch aber nicht beirren. Er war kein normaler Ge‐ schäftsmann; er hatte einen Nightclub in Chicago besessen und sich gegen Mafiabosse und allerlei Widrigkeiten und Verord‐ nungen durchsetzen müssen. Er trug immer eine .45er bei sich. Grossman war kein Kulturbanause. Van Ronk erzählte mir spä‐ ter, Grossman wolle eine neue Superfolkband zusammenstellen und habe ihn gefragt, ob er einsteigen wolle. Grossman habe keinen Zweifel daran, daß die Band es an die Spitze bringen und sich der größten Beliebtheit erfreuen werde. Schließlich lehnte Dave das Angebot ab. Es lag ihm einfach nicht, aber Noel Stookey sagte zu. Grossman benannte Stookey in Paul um, und so entstand die von Grossman aus der Taufe ge‐ hobene Gruppe Peter, Paul and Mary. Ich hatte Peter einige Zeit zuvor in Minneapolis kennengelernt — er war damals Gitarrist in einer Tanztruppe, die durch die Städte zog —, und Mary kannte ich schon seit meiner Ankunft im Village. Interessant wäre es gewesen, wenn Grossman mich gefragt hätte, ob ich mich der Gruppe anschließen wolle. Ich hätte mich ebenfalls in Paul umbenennen lassen müssen. Grossman hörte mich ab und zu spielen, aber ich wußte nicht, was er von mir hielt. Dafür war es ohnehin noch zu früh. Ich war noch nicht der Dichter und Musiker, der ich werden sollte, und Grossman konnte mich noch nicht fördern. Aber das sollte noch kommen. Ich wachte gegen Mittag auf und roch gebratenes Steak und Zwiebeln. Chloe stand am Herd; über einem roten Flanellhemd trug sie einen Kimono. In der Pfanne brutzelte es, und der Ge‐ ruch war ein Sturmangriff auf meine Nase. Jetzt hätte ich eine Sauerstoffmaske brauchen können. Ich hatte vorgehabt, Woody Guthrie zu besuchen, aber als ich erwachte, war es draußen zu stürmisch. Ich hätte Woody gern 103
regelmäßig besucht, aber das wurde immer schwieriger. Woody durfte das Greystone Hospital in Morristown, New Jersey, nicht mehr verlassen, und ich nahm normalerweise den Bus vom Port‐Authority‐Terminal, fuhr anderthalb Stunden und ging dann zu Fuß den letzten Kilometer bergauf zum Krankenhaus, einem düsteren und bedrohlich aufragenden Granitgebäude, das wie eine mittelalterliche Festung aussah. Woody bat mich immer, Zigaretten mitzubringen, Raleigh war seine Marke. Meistens spielte ich ihm nachmittags seine eigenen Songs vor. Manchmal wünschte er sich welche — »Rangers Command«, »Do Re Me«, »Dust Bowl Blues«, »Pretty Boy Floyd«, »Tom Joad«, den Song, der entstanden war, nachdem er den Film Die Früchte des Zorns gesehen hatte. Die Songs kannte ich alle, und noch viele andere. Woody galt hier nicht viel, und es war ein be‐ fremdlicher Ort für eine Begegnung, vor allem für eine Begeg‐ nung mit der wahren Stimme Amerikas. Genaugenommen war es eine psychiatrische Anstalt, in der es nicht die geringste Hoffnung auf Erlösung gab. In den Gängen hörte man Geheul. Die meisten Patienten trugen schlecht‐ sitzende gestreifte Uniformen, gingen rein und raus und liefen ziellos umher, während ich Woodys Songs spielte. Ein Patient ließ ständig den Kopf auf die Knie sinken. Dann richtete er sich auf und kippte wieder nach vorn. Ein anderer fühlte sich von Spinnen verfolgt, drehte sich unablässig im Kreis und schlug sich dabei auf Arme und Beine. Wieder ein anderer hielt sich für den Präsidenten und trug einen Uncle‐Sam‐Zylinder. Die Patienten verdrehten die Augen und die Zunge und schnüffel‐ ten. Einer leckte sich pausenlos die Lippen. Ein Pfleger im wei‐ ßen Kittel erklärte mir, daß dieser Patient Kommunisten zum Frühstück verspeise. Es war eine unheimliche Szenerie, aber Woody Guthrie ließ das alles kalt. Meistens brachte ein Kran‐ kenpfleger ihn zu mir, wenn ich zu Besuch kam, und führte ihn 104
nach einer Weile wieder fort. Es war eine ernüchternde Erfah‐ rung, die mich psychisch auslaugte. Bei einem meiner Besuche hatte Woody ein paar Kisten mit selbstgeschriebenen Songs und Gedichten erwähnt, die nie ver‐ öffentlicht oder vertont worden waren. Sie lagerten im Keller seines Hauses auf Coney Island, und er bot sie mir an. Er sagte, wenn ich irgend etwas davon haben wolle, solle ich seine Frau Margie besuchen und ihr erklären, worum es ging. Sie werde die Kisten für mich auspacken. Er beschrieb mir den Weg zu seinem Haus. Ein oder zwei Tage später fuhr ich mit der U‐Bahn von der West 4th Street bis zur Endstation in Brooklyn, wie er es mir er‐ klärt hatte, stieg aus und machte mich auf die Suche nach dem Haus. Woody hatte behauptet, es sei ganz leicht zu finden. Auf der anderen Seite eines Feldes sah ich eine Häuserzeile, wie er sie beschrieben hatte, und ich ging darauf zu und merkte, daß ich geradewegs in einen Sumpf geriet. Ich versank bis zu den Knien im Wasser, ging aber trotzdem weiter — ich konnte die Lichter vor mir sehen, und ein anderer Weg war nicht zu erkennen. Als ich den Sumpf am anderen Ende wieder verließ, waren meine Hosenbeine von den Knien abwärts durchweicht und steifgefro‐ ren und meine Füße fast taub, aber ich fand das Haus und klopfte an die Tür. Eine Babysitterin öffnete sie einen Spaltbreit und sagte, Woodys Frau Margie sei nicht zu Hause. Eines von Woodys Kindern, Arlo, der später selbst ein professioneller Sänger und Songwriter werden sollte, sagte der Babysitterin, sie solle mich hereinlassen. Arlo war um die zehn oder zwölf Jahre alt und wußte nichts von Manuskripten im Keller. Ich wollte nicht insi‐ stieren — der Babysitterin war mein Besuch nicht geheuer, und ich blieb nur so lange, bis ich mich aufgewärmt hatte, dann ver‐ abschiedete ich mich schnell und stapfte in meinen klatschnassen Stiefeln wieder zurück durch den Sumpf zur U‐Bahn. 105
Vierzig Jahre später wurden diese Texte von Billy Bragg und der Band Wilco, denen sie in die Hände gefallen waren, vertont und zum Leben erweckt und schließlich aufgenommen. Das ge‐ schah unter der Regie von Woodys Tochter Nora. Diese Musiker waren vermutlich noch gar nicht geboren, als ich meinen Ausflug nach Brooklyn unternahm. Heute hatte ich nicht vor, Woody zu besuchen. Ich saß in Chloes Küche, und vor dem Fenster heulte und pfiff der Wind. Von hier aus konnte ich die Straße überblicken. Der Schnee fiel wie weißer Staub. Oben an der Straße Richtung Hudson River sah ich eine blonde Frau im Pelzmantel mit einem hin‐ kenden Mann im dicken Mantel. Ich schaute den beiden eine Weile hinterher und warf dann einen Blick auf den Wand‐ kalender. Der März näherte sich mit Riesenschritten, und ich fragte mich zum wiederholten Mal, wie ich es wohl ins Aufnahmestudio schaffen und es zu einem Vertrag mit einem Folk‐Platten‐label bringen sollte — kam ich diesem Ziel überhaupt näher? In der Wohnung lief »No Happiness for Slater« vom Modern Jazz Quartet. Es war eins von Chloes Hobbys, alte Schuhe mit eleganten Schnallen zu versehen, und sie bot mir an, auch meine zu ver‐ zieren. »Deine Galoschen könnten Schnallen vertragen«, sagte sie. Nein, danke, sagte ich, ich brauchte keine Schnallen. Sie sagte: »Du hast achtundvierzig Stunden Bedenkzeit.« Aber da gab es nichts zu bedenken. Manchmal wollte Chloe mir mütterliche Ratschläge erteilen, vor allem, was das weibliche Geschlecht anging ... daß jedermann für sein Unglück selbst verantwortlich sei und daß ich mir die Angelegenheiten ande‐ rer nicht mehr zu Herzen nehmen solle als sie selbst. Die Woh‐ nung war ein guter Ort zum Überwintern. 106
Einmal saß ich in der Küche und hörte Malcolm X im Radio. Er hielt einen Vortrag darüber, warum man kein Schweine‐ fleisch und keinen Schinken essen solle. Er sagte, das Schwein sei in Wirklichkeit ein Drittel Katze, ein Drittel Ratte, ein Drittel Hund — es sei unrein, und man solle es nicht essen. Komisch, was einem so alles im Gedächtnis bleibt. Ungefähr zehn Jahre später war ich zum Abendessen bei Johnny Cash in der Nähe von Nashville eingeladen, zusammen mit vielen anderen Song‐ writern. Joni Mitchell, Graham Nash, Harlan Howard, Kris Kri‐ stofferson, Mickey Newbury und noch ein paar andere Leute. Auch Joe und Janette Carter waren gekommen, der Sohn und die Tochter von A. P. und Sarah Carter und Cousin und Cousine von June Carter, Johnnys Frau. Sie waren so etwas wie die Kö‐ nigsfamilie der Countrymusik. In Johnnys großem Kamin loderte und prasselte das Feuer. Nach dem Essen saßen alle im rustikalen Wohnzimmer mit seiner hohen Balkendecke und den großen Fenstern, durch die man auf einen See blickte. Wir saßen im Kreis, und jeder Songwriter spielte ein Stück und reichte die Gitarre dann an den nächsten weiter. Meistens gab es Kommentare wie »Das hast du echt perfekt hingekriegt« oder »Mann, in den paar Zei‐ len hast du alles gesagt«. Oder vielleicht so was wie: »In dem Song steckt eine Menge Geschichte.« Oder: »Da ist viel von dir selbst drin.« Meistens nur Schmeicheleien. Ich spielte »Lay, Lady, Lay«, gab die Gitarre an Graham Nash weiter und war gespannt auf die Reaktionen. Ich mußte nicht lange warten. »Du ißt kein Schweinefleisch, oder?« fragte Joe Carter. Das war sein Kommentar. Ich wartete einen Moment mit meiner Antwort. »Äh, nein, Sir, stimmt«, sagte ich dann. Kristoffer‐ son verschluckte fast seine Gabel. »Wieso nicht?« fragte Joe. Da fiel mir wieder ein, was Malcolm X gesagt hatte. »Na ja, Sir, es ist irgendwie was Persönliches. So was eß ich nicht. Ich will 107
nichts essen, was ein Drittel Ratte, ein Drittel Katze und ein Drittel Hund ist. Das schmeckt mir einfach nicht.« Ein kurzes peinliches Schweigen setzte ein, das man mit einem Besteck‐ messer hätte schneiden können. Dann platzte Johnny Cash vor Lachen. Kristofferson schüttelte nur den Kopf. Joe Carter war eine Nummer für sich. Es gab auch von den Carters keine Platten in Rays und Chloes Wohnung. Chloe warf mir ein Steak mit Zwiebeln auf den Teller und sagte: »Hier, das ist gesund.« Sie war cool bis ins Mark, hip vom Scheitel bis zur Sohle, ein Malteserkätzchen, eine ausgewachsene Giftschlange — und sie traf den Nagel im‐ mer auf den Kopf. Ich weiß nicht, wieviel Gras sie rauchte, aber es war nicht wenig. Sie hatte auch ihre eigenen Vorstellungen über Gott und die Welt und erklärte mir, daß der Tod ein Imi‐ tator sei und die Geburt eine Verletzung der Privatsphäre. Was sollte man dazu sagen? Man konnte ihr nichts entgegnen, wenn sie so daherredete. Man konnte ihr ja schlecht das Ge‐ genteil beweisen. New York City beeindruckte sie überhaupt nicht. »Eine einzige Affenhorde ist das hier«, sagte sie. Wenn man ihr so zuhörte, leuchtete einem das unmittelbar ein. Ich setzte meinen Hut auf, zog meinen warmen Mantel an und griff mir meine Gitarre. Chloe wußte, daß ich große Pläne hatte. »Vielleicht geht dein Name eines Tages wie ein Lauf‐ feuer durchs Land«, sagte sie. »Wenn du mal ein paar hundert Dollar hast, kauf mir was Schönes.« Ich schloß die Wohnungstür hinter mir, ging über den Flur und die Wendeltreppe hinunter bis zum Absatz mit dem Mar‐ morfußboden und verließ das Haus durch den schmalen Hof‐ gang. Die Wände rochen nach Chlor. Ich schlenderte durch die Tür und das Gittertor hinauf auf den Gehsteig, wickelte mir einen Schal ums Gesicht und machte mich auf den Weg zur Van Dam Street. An der Ecke kam ich an einem Pferdewagen voller 108
Blumen vorbei, alle in Plastik eingewickelt, kein Kutscher in Sicht. So etwas gab es oft in dieser Stadt. In meinem Kopf hörte ich Folksongs, wie immer. Folksongs waren die Underground‐Nachrichten. Wenn jemand gefragt hätte, was los sei, hätte er zur Antwort bekommen: »Mr. Gar‐ fieldʹs been shot down, laid down. Da kann man nichts ma‐ chen.« Das war los. Niemand mußte nachfragen, wer Mr. Gar‐ field war, alle nickten, alle wußten Bescheid. Im ganzen Land redete man darüber. Alles war einfach und leuchtete mir in sei‐ ner grandiosen, formelhaften Art ein. New York City war kalt, vermummt und rätselhaft. Die Hauptstadt der Welt. Auf der 7th Avenue kam ich an dem Haus vorbei, in dem Walt Whitman gewohnt und gearbeitet hatte. Ich blieb kurz stehen und stellte mir vor, wie er das wahre Lied sei‐ ner Seele druckte und sang. Auch vor Poes Haus in der 3rd Street hatte ich schon gestanden und schwermütig zu den Fenstern em‐ porgeblickt. Die Stadt war wie ein unbehauener, namen‐ und formloser Klotz, der keinem die Hand reichte. Alles war immer wieder neu, alles änderte sich ständig. Auf den Straßen sah man nie zweimal dieselbe Menschenmenge. Ich bog von der Hudson in die Spring Street ab, kam an einer Mülltonne voller Ziegelsteine vorbei und setzte mich in ein Café. Die Bedienung am Imbißtresen trug eine enganliegende Seidenbluse, die ihre wohlgerundeten Kurven betonte. Unter ihrem Kopftuch schaute blauschwarzes Haar hervor, und ihre Augen leuchteten durchdringend blau unter den klar kontu‐ rierten Augenbrauen. Hätte sie mir eine Rose überreicht, ich hätte nicht nein gesagt. Sie goß mir den dampfenden Kaffee ein, und ich sah wieder aus dem Fenster. Vor mir lag die ganze Stadt. Ich hatte eine lebhafte Vorstellung davon, wo alles war. Die Zu‐ kunft bereitete mir keine Sorgen. Sie stand vor der Tür.
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3. New Morning Ich war gerade aus dem Mittleren Westen nach Woodstock zu‐ rückgekehrt — von der Beerdigung meines Vaters. Auf dem Tisch wartete ein Brief von Archibald MacLeish auf mich. Mac‐ Leish war Amerikas Poeta laureatus — oder jedenfalls einer da‐ von. Die anderen waren Carl Sandburg, der Dichter der Prärie und der Stadt, und Robert Frost, der Dichter düsterer Betrach‐ tungen. MacLeish war der Dichter der nächtlichen Steine und der lebenden Erde. Diese drei, der Yeats, der Browning und der Shelley der Neuen Welt, waren Giganten und hatten das Antlitz Amerikas im 20. Jahrhundert geprägt. Sie hatten Maßstäbe gesetzt. Auch wer keines ihrer Gedichte gelesen hatte, kannte doch zumindest ihre Namen. Die vergangene Woche hatte mich erschöpft. Eine solche Rückkehr in die Stadt meiner Jugend hätte ich mir niemals vor‐ stellen können — mit ansehen zu müssen, wie mein Vater zu Grabe getragen wurde. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, ihm zu sagen, was ich ihm bislang nicht hatte sagen können. In meiner Jugend waren die kulturellen Unterschiede und die Kluft zwischen den Generationen unüberwindlich gewesen — nur Stimmengeräusche, farbloses, unnatürliches Gerede. Mein Vater äußerte sich freimütig und nahm kein Blatt vor den Mund. Als einer meiner Lehrer ihm einmal eröffnet hatte, daß 110
ich künstlerisch veranlagt sei, hatte er erwidert: »Künstler, sind das nicht so Malerfritzen?« Irgendwie war ich immer auf der Jagd nach allem gewesen, was sich bewegte — nach Autos, Vö‐ geln, Blättern im Wind —, nach allem, was mich an einen lich‐ ten Ort führen konnte, in ein unbekanntes Land weiter unten am Fluß. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung von der kaput‐ ten Welt, in der ich lebte, und von dem, was die Gesellschaft einem antun konnte. Als ich zu Hause auszog, war ich wie Kolumbus, der sich auf den einsamen Atlantik hinauswagt. Das hatte ich hinter mir; ich war bis ans Ende der Welt gereist, an das fernste Ufer, und jetzt war ich wieder in Spanien, wo alles angefangen hatte, am Hof der Königin, mit einem halbbetäubten Gesichtsausdruck und sogar dem Anflug eines Bärtchens. »Was ist denn das für ʹne Dekoration?« hatte einer der kondolierenden Nachbarn gefragt und auf mein Gesicht gedeutet. In der kurzen Zeit, die ich dort verbrachte, fiel mir alles wieder ein, die vielen kleinen Schwindeleien, die traditionellen Spielregeln, die Einfaltspin‐ sel. Aber nicht nur das — auch, daß mein Vater der beste Mann der Welt gewesen war und wahrscheinlich soviel wert wie hun‐ dert von meiner Sorte; er hatte mich nur nicht verstanden. Wir hatten nicht in derselben Stadt gelebt. Aber davon abgesehen hatten wir jetzt mehr gemeinsam denn je — auch ich war drei‐ facher Vater, und ich wollte ihm so viel erzählen, so viel mit ihm teilen. Und ich hätte jetzt so viel für ihn tun können. In Archies Brief stand, daß er sich gern mit mir treffen und be‐ sprechen wollte, ob ich ein paar Songs für ein Stück schreiben könnte, an dem er arbeitete. Es hieß Scratch und basierte auf einer Kurzgeschichte von Stephen Vincent Benet. Für eines sei‐ ner Stücke, Spiel um Job, hatte MacLeish ein paar Jahre zuvor 111
am Broadway einen Tony Award gewonnen. Meine Frau und ich fuhren zu ihm nach Conway, Massachusetts, um mit ihm über sein neues Stück zu sprechen. Das gehörte sich so, fanden wir. MacLeish schrieb tiefempfundene Gedichte, er war der Mann der gottvergessenen Wüste. Er konnte einem mit fein‐ fühliger Schöpferhand reale Personen aus der Geschichte vor die Nase setzen, Leute wie Karl den Großen oder Montezuma und den Konquistador Cortez. Er besang die Sonne und den weiten Himmel. Es war nur angemessen, daß ich ihn aufsuchte. Was Tag für Tag vor sich ging, den ganzen kulturellen Irr‐ witz, empfand ich als seelische Freiheitsberaubung; es ekelte mich an — Bürgerrechte und erschossene Spitzenpolitiker, die Barrikaden, das Durchgreifen der Regierung, radikale Studen‐ ten und Demonstranten gegen Bullen und Gewerkschaften — Aufruhr auf den Straßen, überkochender Zorn— die Ausstei‐ gerkommunen— die plärrenden Lügenmäuler— die freie Liebe, die Leute, die das Geld abschaffen wollten— das ganze Pro‐ gramm. Ich hatte fest vor, alldem aus dem Weg zu gehen. Ich war jetzt ein Familienmensch; auf diesem Gruppenbild wollte ich nicht in Erscheinung treten. MacLeish wohnte am Ende eines malerischen Dorfs an einer stillen, von Berglorbeerbäumen gesäumten Straße; bunte Ahorn‐ blätter türmten sich am Wegrand auf. Ein bequemer Pfad führte über einen kleinen Steg zu einer schattigen Laube und einem renovierten Natursteinhäuschen mit moderner Küche — Mac‐ Leishs Dichterwerkstatt. Eine Haushälterin hatte uns herein‐ gebracht; seine Frau stellte uns ein Tablett mit Tee auf den Tisch und verabschiedete sich nach ein paar herzlichen Worten. Mei‐ ne Frau ging mit. Ich schaute mich um, sah Gartenstiefel in der Ecke, Fotos auf dem Tisch, gerahmte Bilder an den Wänden. Blumen mit Blüten wie Spitzenhäubchen und dunklen Sten‐ 112
geln, Blumenkörbe, Geranien, Blumen mit staubigen Blättern — weißes Tuch, Silberteller, im Kamin flackerte das Feuer — kreis‐ förmige Schatten ... vor dem Fenster ein Uferwald in seiner ganzen Pracht. Mit Hilfe der Fotos fand ich heraus, wie MacLeish aussah. Es gab einen Schnappschuß von ihm als Junge auf einem gesattel‐ ten Pony, dessen Zügel von einer Frau mit Käppchen gehalten wurden. Andere Fotos— Archie vor seinem Seminar in Har‐ vard, Aufnahmen von ihm in Yale, als Captain der Artillerie im Ersten Weltkrieg oder mit einer kleinen Gruppe vor dem Eiffel‐ turm. Fotos von ihm in der Library of Congress. Auf einem Bild saß er mit den Redakteuren der Zeitschrift Fortune am Tisch, auf einem anderen nahm er den Pulitzer‐Preis entgegen ... eine Aufnahme zeigte ihn mit ein paar Anwälten aus Boston. Ich hörte auf dem Steinweg seine Schritte, und dann trat er ein und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Er hatte die Aura eines Gouverneurs, eines Herrschers — je‐ der Zoll ein Offizier; er war ein Mann der Tat, dem unver‐ kennbares Machtbewußtsein im Blut lag. Er kam sofort zur Sache, ohne lange zu fackeln. Er wiederholte ein paar Einzel‐ heiten aus seinem Schreiben. (In seinem Brief hatte er einige Zeilen aus einem meiner Songs erwähnt, in denen T. S. Eliot und Ezra Pound einen symbolischen Zweikampf auf der Kom‐ mandobrücke austragen.) »Pound und Eliot waren zu akade‐ misch, oder?« sagte er. Über Pound wußte ich nur, daß er im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis sympathisiert und aus Italien Amerikafeindliches im Rundfunk verbreitet hatte. Ich habe nie etwas von ihm gelesen. T. S. Eliot dagegen mochte ich. Seine Bücher fand ich lesenswert. Dann sagte Archie: »Ich habe alle beide gekannt. Harte Männer. Da müssen wir durch. Aber ich weiß, was Sie damit meinen, daß die beiden auf der Kommandobrücke kämpfen.« Meistens redete MacLeish. Er 113
erzählte mir Bemerkenswertes über den Romanautor Stephen Crane, der Das rote Siegel geschrieben hatte. Er sagte, Crane sei ein kränklicher Reporter und immer auf der Seite der Be‐ nachteiligten gewesen — er habe für Zeitschriften Berichte aus der Gosse verfaßt, und einmal habe er eine Prostituierte verteidigt, die von der Sittenpolizei behelligt worden sei, wor‐ aufhin diese ihn selbst ins Visier genommen und vor Gericht gezerrt habe. Er besuchte keine Cocktailpartys oder Theater‐ premieren— er flog nach Kuba, um über den Krieg gegen Kuba zu berichten, trank viel und starb mit achtundzwanzig Jahren an Tuberkulose. MacLeish kannte Crane nicht nur vom Hö‐ rensagen; er sagte, daß Crane ein Mann gewesen sei, der sei‐ nen eigenen Weg verfolgt habe, und daß ich Das rote Siegel lesen solle. Offenbar war Crane der Robert Johnson der Lite‐ ratur gewesen. Auch Jimmie Rodgers war an TB gestorben. Ich fragte mich, ob sich die beiden wohl je über den Weg gelaufen waren. Archie sagte, ihm gefalle mein Song »John Brown«, ein Lied über einen Jungen, der in den Krieg zieht. »Ich finde nicht, daß es in dem Song um den Jungen geht. Es ist eher so eine Art grie‐ chisches Drama, oder? Es geht um Mütter«, eröffnete er mir. »Um verschiedene Mütter — leibliche Mütter, Mütter im Gei‐ ste ... alle Mütter in einer Person.« Darüber hatte ich noch nie nachgedacht, aber es klang plausibel. Er erwähnte eine Zeile aus einem meiner Songs, in der es heißt: »Das Gute hält sich gut versteckt«, und wollte wissen, ob ich das wirklich so sähe. Ich sagte, daß es manchmal den Anschein habe. Zwischendurch wollte ich ihn fragen, was er von Ginsberg, Corso und Kerouac hielt, die als hip und cool galten, aber diese Frage hätte reichlich hohl geklungen. Er wollte wissen, ob ich Sappho oder Sokrates gelesen hätte. Nein, hatte ich nicht. Dann fragte er mich nach Dante und Donne. Nicht viel, sagte ich. Er sagte, das wichtige 114
sei bei ihnen, daß man immer an der Stelle wieder heraus‐ komme, an der man eingestiegen sei. Dann verkündete er, daß er mich als ernst zu nehmenden Dichter betrachte und daß kommende Generationen sich an meinem Schaffen messen lassen müßten, daß ich ein Nach‐ kriegsdichter des Eisernen Zeitalters sei, aber offenbar et‐ was Metaphysisches aus vergangenen Zeiten ererbt hätte. Er schätze meine Songs, weil sie sich mit der Gesellschaft ausein‐ andersetzten, und er fand, daß wir charakterlich und gedank‐ lich viel gemeinsam hatten, daß uns vieles auf dieselbe Art kalt ließ. Einmal mußte er sich kurz entschuldigen und verließ das Zimmer. Ich sah aus dem Fenster. Die Nachmittagssonne brach durch die Wolken und warf einen matten Glanz auf die Erde. Ein Schneeschuhhase hoppelte an den Spänen beim Brenn‐ holzstapel vorbei. Als MacLeish zurückkam, fügte sich eins zum andern. Er nahm den Faden wieder auf, indem er mir er‐ zählte, Homer, der Autor der Was, sei ein blinder Balladen‐ sänger gewesen, dessen Name »Geisel« bedeute. Er sagte auch, daß es einen Unterschied zwischen Kunst und Propaganda gebe, und er erklärte mir ihre unterschiedlichen Auswirkun‐ gen. Er fragte mich, ob ich je den französischen Dichter Fran‐ çois Villon gelesen hätte, und als ich bejahte, sagte er, er habe einen leichten Einfluß in meiner Arbeit erkannt. Archie sprach über Blankverse, Reime, das elegische Versmaß, Balladen, Li‐ mericks und Sonette. Er fragte mich, was ich geopfert hätte, um meine Träume wahr werden zu lassen. Er sagte, der Wert der Dinge lasse sich nicht an ihrem Preis messen, sondern daran, was man opfern müsse, um sie zu bekommen. Wenn einen irgend etwas den Glauben oder die Familie koste, sei der Preis zu hoch, und manches werde niemals seinen Wert verlie‐ ren. MacLeish sprach über Douglas MacArthur, mit dem er im gleichen Jahrgang die Militärakademie in West Point besucht 115
hatte. Er erwähnte Michelangelo und sagte, Michelangelo habe überhaupt keine Freunde gehabt und auch keine gewollt, er habe mit niemandem gesprochen. Archie erzählte, daß sich viele Probleme aus seiner Jugendzeit inzwischen von selbst er‐ ledigt hätten. Er erzählte mir von J. P. Morgan, dem Finanzier — daß er einer von den sechs oder acht Leuten gewesen sei, denen Anfang des Jahrhunderts ganz Amerika gehört habe. Morgan habe gesagt: »Amerika ist mir gut genug«, und ein Sena‐ tor habe dazu bemerkt, wenn Morgan in diesem Punkt jemals seine Meinung ändere, solle er es zurückgeben. Die Seele eines solchen Menschen sei nicht auszuloten. MacLeish fragte mich nach den Helden meiner Kindheit, und ich sagte: »Robin Hood und der heilige Georg, der Drachen‐ töter.« — »Mit denen will man sichʹs nicht verscherzen«, sagte er kichernd. Bei vielen seiner frühen Gedichte habe er verges‐ sen, was sie bedeuteten. Ein authentischer Dichter schaffe im Laufe der Jahre seinen eigenen Stil, ein paar bleibende Meister‐ werke. Das Stück, für das ich die Songs schreiben sollte, lag auf dem Lesetisch. Er wollte Lieder, die die einzelnen Szenen ir‐ gendwie kommentieren sollten, und er fing an, ein paar Mono‐ loge laut vorzulesen und Songtitel vorzuschlagen — zum Beispiel »Father of Night«, »Red Hands« und »Lower World«. Nachdem ich eine Weile aufmerksam zugehört hatte, wurde mir intuitiv klar, daß das nicht meine Welt war. Schon nach ein paar Zeilen aus dem Manuskript konnte ich mir nicht mehr vorstellen, daß auf unserer Zusammenarbeit ein Segen lag. Das Stück war düster und zeichnete eine Welt der Paranoia, der Schuld und der Angst— es war rabenschwarz, stürzte sich mit Zähnen und Klauen auf das Atomzeitalter, und es roch nach fal‐ cchem Spiel. Es gab nicht viel dazu zu sagen oder hinzuzufügen. In dem Stück war die Gesellschaft am Ende, und alles Menschliche lag im eigenen Blut, mit dem Gesicht zur Erde. Was 116
MacLeishs Stück vermittelte, ging über eine apokalyptische Botschaft hinaus. Es wollte ungefähr darauf hinaus, daß es die Mission des Menschen sei, die Erde zu zerstören. MacLeish wollte durch den Flammenschein hindurch irgendeine Bot‐ schaft überbringen. Das Stück lief auf irgend etwas hinaus, von dem ich lieber nichts wissen wollte. Nachdem ich das klarge‐ stellt hatte, sagte ich MacLeish, ich würde es mir überlegen. 1968 waren die Beatles in Indien. Eine Welle des Zorns war über Amerika hinweggeschwappt. Studenten demolierten vor den Universitäten parkende Autos und schmissen Fenster ein. Der Vietnamkrieg stürzte das Land in eine tiefe Depression. Die Städte standen in Flammen, es hagelte Schläge mit dem Gum‐ miknüppel. Gewerkschafter mit Schutzhelmen droschen mit Baseballschlägern auf Jugendliche ein. Der fiktive Don Juan, ein geheimnisvoller mexikanischer Medizinmann, war zum neuen Selbsterfahrungsguru geworden; er hatte eine neue Ebene des Be‐ wußtseins oder der Lebenskraft ins Spiel gebracht und schwang seine Weisheit wie eine Machete. Bücher über ihn gingen weg wie warme Semmeln. »Acid Tests« hatten Hochkonjunktur; LSD verhalf den Leuten zur richtigen Einstellung. Die neue Weltsicht veränderte die Gesellschaft, und das alles passierte Hals über Kopf. Stroboskope, Schwarzlicht, Freakouts, die Zu‐ kunftswelle. Studenten versuchten, Universitäten zu überneh‐ men, Kriegsgegner erzwangen erbitterte Auseinandersetzungen. Maoisten, Marxisten, Castro‐Anhänger — linke Kids, die Che Guevaras Instruktionen für den bewaffneten Kampf lasen — sie alle wollten das Wirtschaftssystem umstürzen. Kerouac hatte sich zurückgezogen, und die Pressemeute stiftete noch mehr Unruhe und schürte das Feuer der Hysterie. Wenn man die Nachrichten sah, hatte man den Eindruck, das ganze Land 117
stehe in Flammen. Anscheinend gab es jeden Tag einen neuen Aufstand in einer anderen Stadt, überall lauerten Gefahren und Umsturz — Amerikas Dschungel wurden gerodet. Was traditio‐ nell schwarzweiß gewesen war, explodierte jetzt in satten, son‐ nigen Farben. Ich hatte einen Motorradunfall gehabt und mich verletzt, aber ich erholte mich. In Wahrheit wollte ich der Tretmühle den Rücken kehren. Meine Kinder hatten mein Leben verändert und mich mehr oder weniger von allen Leuten und allen aktu‐ ellen Ereignissen isoliert. Was nichts mit meiner Familie zu tun hatte, interessierte mich nur am Rande, und ich sah alles mit anderen Augen. Selbst die neuesten Schreckensmeldungen, die tödlichen Anschläge auf die Kennedys, auf Martin Luther King, auf Malcolm X ... aus meiner Sicht waren mit ihnen keine politischen Leitfiguren niedergeschossen worden, sondern vor allem Väter, in deren Familien jetzt eine Lücke klaffte. Ich war in Amerika geboren worden und aufgewachsen, im Land der Freiheit und der Unabhängigkeit, und ich hatte die Werte und Ideale der Freiheit und Gleichheit immer hochgehalten. Ich war entschlossen, meine Kinder im Geiste dieser Ideale zu erziehen. Ein paar Jahre zuvor hatte Ronnie Gilbert von den Weavers mich auf dem Newport Folk Festival mit den Worten vorge‐ stellt: »Und da ist er ... greift zu, ihr kennt ihn ja, er gehört euch.« Die düstere Prophezeiung, die sich in diesen Worten verbarg, war mir entgangen. Elvis war niemals so vorgestellt worden. »Greift zu, er gehört euch!« Was für ein Wahnsinn! Aber das konnten sie vergessen. Soweit ich wußte, gehörte ich damals niemandem— genausowenig wie jetzt. Ich hatte Frau und Kinder, die ich über alles in der Welt liebte. Ich versuchte, für sie zu sorgen und mich aus allem Ärger herauszuhalten, 118
aber die Schreihälse von der Presse verkündeten unermüdlich, daß ich das Sprachrohr einer Generation sei, ihr Wortführer oder sogar ihr Gewissen. Das war eigenartig. Ich hatte immer nur Songs gesungen, die ohne Umschweife zur Sache kamen, Stücke, in denen es um kraftvolle neue Wahrheiten ging. Ich hatte sehr wenig mit der Generation gemein, deren Stimme ich sein sollte, und ich wußte auch nichts über diese Generation. Ich hatte erst vor zehn Jahren mein Elternhaus verlassen und nie die Absicht gehabt, anderer Leute Meinung ins Mikro zu schreien. Mein Weg führte mich woandershin, und ich mußte dem folgen, wozu das Leben mich einlud, und das war sicher nicht die Vertretung irgendeiner Zivilisationsform. Ich wollte mir selbst treu bleiben, das war der springende Punkt. Ich war eher ein Kuhhirte als ein Rattenfänger. Die Leute glauben, daß Ruhm und Reichtum auch Macht bedeuten, daß sie Glück, Glanz und Gloria mit sich bringen. Das mag stimmen, aber manchmal stimmt es nicht. Ich saß in Woodstock fest, ich war verwundbar, und ich hatte eine Familie, die ich beschützen wollte. Aber in der Presse sah alles ganz anders aus. Der Rauch war erstaunlich dicht geworden. An‐ scheinend braucht die Welt immer einen Leithammel — einen, der sie im Kampf gegen das Römische Reich anführt. Aber Amerika war nicht das Römische Reich, da mußten sie sich einen anderen Freiwilligen suchen. Ich habe mich nie größer gemacht, als ich bin— ich war immer nur ein Folkmusiker, der mit tränenblinden Augen in den grauen Nebel hinausblickt und sich Songs ausdenkt, die im leuchtenden Dunst dahin‐ treiben. Jetzt war mir alles um die Ohren geflogen, und es gab kein Entkommen. Ich war kein Prediger, der Wunder vollbrin‐ gen konnte. Das hätte jeden fertiggemacht. 119
Anfangs war Woodstock sehr gastfreundlich zu uns gewe‐ sen. Ich hatte die Gegend schon lange Zeit vor unserem Um‐ zug entdeckt. Einmal hatte ich nachts auf der Heimfahrt nach einem Auftritt in Syracuse meinem Manager von der Stadt er‐ zählt. Sie lag direkt am Weg. Er sagte, er sei auf der Suche nach einem Landhaus. Wir fuhren durch die Stadt, er sah ein Haus, das ihm gefiel, und erwarb es auf der Stelle. Später kaufte ich mir auch eins, und das war das Haus, das bald darauf Tag und Nacht belagert wurde. Fast sofort eskalierte der Ärger, und um den Frieden war es geschehen. Das Haus war einmal ein stil‐ les Refugium gewesen, aber damit war es jetzt vorbei. In al‐ len fünfzig Bundesstaaten mußten Wegbeschreibungen aus‐ gehängt worden sein, die ganze Scharen von Aussteigern und Junkies darüber informierten, wie man zu uns fand. Selbst aus Kalifornien pilgerten die Schnorrer herbei. Die ganze Nacht über brachen schräge Vögel bei uns ein. Zuerst waren es nur die heimatlosen Nomaden, die sich ungebeten Zutritt ver‐ schafften. Das war ja noch fast harmlos, aber dann kamen die radikalen Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Pro‐ testbewegung — unzurechnungsfähig aussehende Gestalten, potthäßliche Mädchen, Vogelscheuchen und Vagabunden, die einen draufmachen und die Küche plündern wollten. Peter La‐ Farge, ein befreundeter Folksänger, hatte mir zwei einschüssige Colt‐Pistolen überlassen, und ich besaß auch ein Winchester‐ Gewehr mit Magazin, eine wahre Donnerbüchse, aber ich woll‐ te gar nicht darüber nachdenken, was man damit anrichten konnte. Die Obrigkeit in Gestalt des Polizeichefs (in Woodstock gab es ungefähr drei Cops) hatte mir zu verstehen gegeben, daß ich in den Knast käme, wenn irgendwer versehentlich erschos‐ sen oder auch nur ein Warnschuß abgegeben werde. Und damit nicht genug: Jeder Widerling, der über unser Dach trampelte, konnte mich verklagen, wenn er herunterfiel. Das beunruhigte 120
mich sehr. Ich wollte ihnen allen Feuer unterm Hintern ma‐ chen. Diese ungebetenen Gäste, Gruselgestalten, Eindringlinge und Aufwiegler waren ebenso Gift für mein Familienleben wie die Tatsache, daß ich sie nicht beleidigen und verjagen durfte, weil sie mich dann anzeigen konnten. Tag und Nacht gab es Probleme ohne Ende. Alles lief falsch, es war eine absurde Welt. Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Und auch Freunde und Vertraute waren keine Hilfe. In dieser Zeit des Irrsinns fuhr ich einmal im Hochsommer mit Robbie Robertson, dem späteren Gitarristen von The Band, im Auto mit. Ich fühlte mich, als hätte ich ebensogut in einer anderen Ecke des Sonnensystems leben können. Er sagte zu mir: »Und, was hast du weiter vor?« »Mit was?« fragte ich. »Na, mit der ganzen Musikszene.« Mit der ganzen Musikszene! Das Fenster stand vielleicht zwei Zentimeter weit offen. Ich kurbelte es ganz herunter, ließ mir den Wind ins Gesicht wehen und wartete darauf, daß Robbies Frage sich verflüchtigte — es war, als hätte ich es mit einer Verschwörung zu tun. Kein Zufluchtsort war entlegen genug. Ich weiß nicht, was sich die anderen alle erträumten — ich je‐ denfalls träumte von einem Job von neun bis fünf, einem Haus in einer baumbestandenen Straße mit weißem Lattenzaun und rosa Rosen im Garten hinterm Haus. Das wäre nett gewesen. Das war mein sehnlichster Wunsch. Nach einer Weile begreift man, daß man sein Privatleben zwar verkaufen, aber nicht zu‐ rückkaufen kann. Woodstock war ein Alptraum geworden, ein einziges Chaos. Es war an der Zeit, die Flucht zu ergreifen und nach neuen Horizonten zu suchen, und so geschah es. Wir zogen für eine Weile nach New York und hofften, meine Identität verheimlichen zu können, aber es erging uns dort nicht besser. Es war sogar noch schlimmer. Demonstranten machten unser 121
Haus ausfindig, paradierten unter Absingen von Sprechchören davor auf und ab, brüllten nach mir und verlangten, ich solle herauskommen und sie werweißwohin führen — statt mich weiter vor meinen Pflichten als Gewissen einer Generation zu drücken. Einmal wurde die Straße abgesperrt, vor unserem Haus hielten Fackelträger mit Genehmigung der Stadtverwal‐ tung eine Mahnwache ab, und die Demonstranten führten einen wahren Affentanz auf. Die Nachbarn haßten uns. Auf sie muß ich gewirkt haben wie eine Gestalt aus dem Wanderzir‐ kus, wie ein Ausstellungsstück aus dem Monstrositätenkabi‐ nett. Wenn sie mich zu Gesicht bekamen, starrten sie mich an wie einen Schrumpfkopf oder eine Riesenratte. Ich stellte mich taub. Schließlich zogen wir in den Westen und probierten ver‐ schiedene Orte aus, aber nach kurzer Zeit rückten die Reporter wieder an und schnüffelten um uns herum, in der Hoffnung, auf irgendwelche Geheimnisse zu stoßen — vielleicht würde ich ja mal ein Geständnis ablegen. Unsere Adresse erschien in der Lokalzeitung, und dann ging das Ganze von vorn los. Selbst wenn ich die Reporter ins Haus gelassen hätte, was hätten sie dort gefunden? Jede Menge Krempel — Bauklötze, Kinderspiel‐ zeug, Kindertische und Kinderstühle, große leere Kartons, Ex‐ perimentierkästen, Puzzles und Spielzeugtrommeln ... Ich hatte nicht vor, jemanden ins Haus zu lassen. Im Haus selbst gab es nicht viele Regeln. Wenn die Kinder in der Küche Basket‐ ball spielen wollten, spielten sie eben in der Küche Basketball. Wenn sie sich über die Töpfe und Pfannen hermachten, stellten wir alle Töpfe und Pfannen auf den Boden. Im Haus war das Chaos so groß wie draußen. Joan Baez nahm einen Protestsong über mich auf, der oft im Radio lief und in dem sie mich dazu aufforderte, wieder mitzu‐ spielen — ich solle herauskommen und das Ruder in die Hand 122
nehmen, die Massen anführen — ihr Fürsprecher sein und den Kreuzzug anführen. Der Song wandte sich aus dem Radio an mich wie eine öffentliche Durchsage. Die Presse ließ nicht lok‐ ker. Ab und zu mußte ich mich aufraffen und ein Interview ge‐ ben, damit sie mir nicht die Tür einschlugen. Meistens war die erste Frage so was wie: »Können wir weiter über aktuelle The‐ men diskutieren?« — »Na klar, über was denn?« Die Reporter feuerten ihre Fragen auf mich ab, und ich erklärte ihnen immer wieder, daß ich kein Wortführer für irgendwas oder irgend‐wen sei, sondern nur ein Musiker. Sie sahen mir in die Augen, als wollten sie Anzeichen dafür finden, daß ich Bourbon und schaufelweise Amphetamine konsumierte. Ich hatte keine Ah‐ nung, was sie dachten. Später erschien dann ein Artikel mit der Überschrift »Wortführer will kein Wortführer sein«. Ich kam mir vor wie ein Stück Fleisch, das man den Hunden zum Fraß vorwirft. Die New York Times druckte pseudowissenschaftliche Interpretationen meiner Songs. Die Zeitschrift Esquire erschien mit einem vierköpfigen Monster auf dem Titelbild, mit meinem Gesicht neben dem von Malcolm X, Kennedy und Castro. Was zum Henker sollte das jetzt wieder bedeuten? Ich kam mir vor, als stünde ich am Rand eines Abgrunds. Wenn Außenstehende irgendeinen guten Rat oder etwas Ermutigendes zu bieten hatten, dann behielten sie das jedenfalls für sich. Bei unserer Hochzeit hatte meine Frau nicht ahnen können, worauf sie sich einließ, genausowenig wie ich, und jetzt steckten wir in der Zwickmühle. Meine Texte hatten manchen Nerv getroffen, der noch nie zuvor getroffen worden war, aber wenn es in meinen Songs nur um den Text ging, warum hatte dann der große RockʹnʹRoll‐ Gitarrist Duane Eddy ein ganzes Album mit Instrumentalver‐ sionen meiner Songs aufgenommen? Musikern war immer klar, daß es in meinen Songs nicht nur um den Text geht, aber 123
die meisten Leute sind keine Musiker. Ich mußte den Kopf wie‐ der freibekommen und aufhören, äußeren Zwängen die Schuld zu geben. Ich mußte mich weiterentwickeln und Ballast über Bord werfen. Zeit für mich selbst gab es einfach nicht. Egal, worum es bei dieser Gegenkultur ging, ich hatte genug da‐ von. Ich hatte die Schnauze voll davon, daß ich zum Obermufti geweiht worden war, daß man alles mögliche in meine Texte hineingeheimniste, daß ihre ursprüngliche Bedeutung in etwas Polemisches verkehrt wurde — und daß ich zum Oberpopanz der Rebellion ernannt worden war, zum Hohepriester des Protests, zum Zaren der Andersdenkenden, zum Herzog der Befehlsver‐ weigerung, zum Chef der Schnorrer, zum Kaiser der Ketzer, zum Erzbischof der Anarchie, zum Großen Zampano. Weiß der Teufel, was das sollte. Wie man sie auch dreht und wendet, es sind scheußliche Titel. Alles nur Synonyme für »Outlaw«. Das viele Umziehen war hart, wie in dem Merle‐Haggard‐ Song: »... Iʹm on the run, the highway is my home.« Ich weiß nicht, ob Haggard je mit seiner Familie fliehen mußte; ich je‐ denfalls hatte keine andere Wahl. Es ist ein kleiner Unterschied, wenn man sich dazu gezwungen sieht. Hinter uns brannte die Luft. Die Presse hatte es nicht eilig, ihre Meinung zu ändern, und ich konnte nicht einfach stillhalten und abwarten, ich mußte den Stier selbst bei den Hörnern packen und mein Image umgestalten oder jedenfalls dafür sorgen, daß ich anders wahr‐ genommen wurde. Für solche Notfälle gibt es keine Verhal‐ tensmaßregeln. Mir war das alles neu, und ich war es nicht ge‐ wohnt, so zu denken. Ich würde Störsignale aussenden müssen, den Räumzug anwerfen — einen anderen Eindruck erwecken. Zuerst brachte ich nur Kleinigkeiten vor Ort zustande. Tak‐ tische Maßnahmen. Unerwartete Schachzüge — zum Beispiel goß ich mir eine Flasche Whiskey über den Kopf und stellte mich in einem Kaufhaus besoffen, weil ich wußte, daß man 124
anschließend hinter meinem Rücken über mich reden werde. Das würde sich hoffentlich herumsprechen. Vor allem wollte ich meiner Familie ein bißchen Bewegungsfreiheit verschaffen. Die ganze Geisterwelt konnte mich mal. Meine Außendarstel‐ lung würde ein bißchen verwirrender werden müssen, ein biß‐ chen verschnarchter. Es ist schwer, so zu leben. Man muß seine ganze Kraft aufbieten. Als erstes muß jede künstlerische Ausdrucksform dran glauben, die einem am Herzen liegt. Ver‐ glichen mit dem Leben ist die Kunst unwichtig, und man hat keine Wahl. Ich hatte sowieso keine Lust mehr dazu. Kreativität hat viel mit Erfahrung, Beobachtung und Vorstellungskraft zu tun, und wenn auch nur eines dieser zentralen Elemente fehlt, klappt es nicht mehr. Ich konnte jetzt nichts mehr beobachten, ohne selbst beobachtet zu werden. Selbst wenn ich nur zum Laden an der Ecke ging, entdeckte mich jemand und schlich zum nächsten Telefon. In Woodstock war ich draußen im Gar‐ ten, ein Auto fuhr vor, ein Typ sprang vom Beifahrersitz, deu‐ tete auf mich und ging dann weg — und ein Rudel Touristen kam den Berg herunter. Leute sahen mich kommen und wechselten die Straßenseite, weil sie nicht mit mir erwischt werden woll‐ ten — mitgefangen, mitgehangen. Mein Name war damals sehr bekannt, mein Gesicht weniger, und manchmal gingen in Re‐ staurants Gäste, die mich erkannten, zur Kasse, zeigten auf mich und flüsterten: »Da drüben ist er.« Der Kassierer erzählte es weiter, und die Nachricht verbreitete sich von Tisch zu Tisch. Es war, als hätte der Blitz eingeschlagen. Die Hälse wurden im‐ mer länger. Die Leute spuckten ihr Essen aus, sahen sich an und sagten: »Ist er das?« — »Du meinst den mit den vielen Kindern, der da drüben gesessen hat?« Es wäre leichter gewesen, einen Berg zu versetzen. Mein Haus wurde belagert, und die Raben vor unserer Tür krächzten unablässig üble Prophezeiungen. Ich fragte mich, mit welcher Alchemie sich ein Parfum herstellen 125
ließ, auf dessen Benutzer die Umwelt halbherzig, gleichgültig und teilnahmslos reagierte. So etwas hätte ich gut brauchen können. Ich hatte nie etwas tun wollen, was so drastische Fol‐ gen nach sich zog, und es ging mir auf die Nerven. Ich war nicht der Grüßaugust irgendeiner Generation— dieser Zahn mußte den Leuten gezogen werden. Ich mußte für meine Freiheit und die meiner Familie sorgen. Ich hatte keine Zeit zu verlieren und fand keinerlei Geschmack an dem, was man mir vor den Latz knallte. Dieses Hauptgericht aus Müll mußte mit etwas Butter und Pilzen verfeinert werden, und das würde mich einige Ar‐ beit kosten. Irgendwo mußte man anfangen. Ich flog nach Jerusalem und ließ mich mit einer Kipa vor der Klagemauer fotografieren. Das Bild wurde sofort weltweit ver‐ breitet, und alle großen Schundblätter machten über Nacht einen Zionisten aus mir. Das half ein bißchen. Nach meiner Rückkehr nahm ich schnell ein Album auf, das wie eine Coun‐ try &Western‐Platte daherkam, und ich achtete darauf, daß sich auch alles schön zahm und stubenrein anhörte. Die Musik‐ presse konnte nichts damit anfangen. Außerdem sang ich mit einer anderen Stimme. Die Leute kratzten sich am Kopf. Zu‐ sammen mit meiner Plattenfirma setzte ich das Gerücht in die Welt, ich wolle keine Musik mehr machen, sondern aufs Col‐ lege gehen, auf die Rhode Island School of Design — und schließlich bekamen die Kolumnisten Wind davon. »Das hält er keinen Monat durch«, hieß es. Journalisten fragten in der Presse: »Wo ist der alte Bob Dylan geblieben?« Auch die konn‐ ten mich mal. Es erschienen Storys darüber, daß ich versuchte, zu mir selbst zu finden, daß ich auf einer unendlichen Suche sei, daß ich irgendwelche inneren Qualen litte. Ich fand das alles gut. Ich stellte ein Doppelalbum zusammen, indem ich alles, was mir einfiel, an die Wand warf, und das veröffent‐ lichte, was klebenblieb. Dann kratzte ich alles zusammen, was 126
heruntergefallen war, und schob es hinterher. Woodstock ging ohne mich über die Bühne — ich war einfach nicht da. Alta‐ mont — Sympathy for the Devil — verpaßte ich genauso. Schließlich nahm ich ein ganzes Album auf, das auf Tsche‐ chows Erzählungen basierte — Kritiker hielten es für autobio‐ graphisch, was mir nur recht war. Ich spielte in einem Film mit, trug Cowboyklamotten und galoppierte die Straße hinunter. Keine große Herausforderung. Vermutlich war ich naiv. Was der Schriftsteller Herman Melville nach Moby‐Dick ver‐ öffentlicht hatte, war kaum noch wahrgenommen worden. Kri‐ tiker fanden, er habe literarisch den Bogen überspannt, und sie rieten dazu, Moby‐Dick zu verbrennen. Bis zu seinem Tod war Melville weitgehend in Vergessenheit geraten. Ich hatte angenommen, daß es mir genauso ergehen werde, daß die Öffentlichkeit mich vergessen werde, wenn die Kritiker meine Arbeit verrissen. Wie bescheuert man sein kann! Irgend‐ wann würde ich mich stellen müssen, wieder auf der Bühne ste‐ hen, die lang herbeigeredete Comeback‐Tour antreten, um die so ein großes Tamtam gemacht wurde, wieder auf Achse sein und die Ideologien wie Reifen, Schuhe oder Gitarrensaiten wechseln. Na und? Solange meine Selbstgewißheit intakt blieb, war ich keinem etwas schuldig. Ich würde mich für niemanden noch tiefer in die Dunkelheit begeben. Ich lebte ja bereits in der Dunkelheit. Meine Familie war mein Licht, und dieses Licht wollte ich um jeden Preis beschützen. Das war meine erste, meine letzte und überhaupt meine einzige Pflicht. Was war ich dem Rest der Welt schuldig? Nichts. Einen feuchten Dreck. Und die Presse? Ich war zu dem Schluß gekommen, daß man ihr am besten nur Lügenmärchen auftischte. Für die Öffentlichkeit stürzte ich mich, so gut es eben ging, auf das Bukolische und 127
Banale. Im wirklichen Leben konnte ich meinen Lieblingsbe‐ schäftigungen nachgehen, und nur darauf kam es an — Kinder‐ baseballturniere, Geburtstagspartys, die Kinder zur Schule bringen, Zelten gehen, Ruderboot, Schlauchboot und Kanu fah‐ ren, angeln ... ich lebte von den Tantiemen meiner Platten. Im wirklichen Leben war ich unauffällig geworden, jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung. Irgendwann vor langer Zeit hatte ich sehr originelle, sehr einflußreiche Songs geschrieben und gesungen. Ich wußte nicht, ob ich noch einmal dazu kom‐ men würde, und es war mir auch egal. Der Schauspieler Tony Curtis sagte einmal zu mir, daß Be‐ rühmtsein ein eigener Beruf sei, eine Sache für sich. Und damit hätte Tony nicht richtiger liegen können. Das alte Image ver‐ blaßte allmählich, und irgendwann stellte ich fest, daß ich nicht mehr im Schatten dieses unheilvollen Einflusses stand. Am Ende plagte man mich mit anderen — weniger problematischen — Anachronismen, auch wenn sie auf den ersten Blick gefähr‐ licher wirken mochten. Legende, Ikone, Rätsel (Buddha in eu‐ ropäischer Kleidung gefiel mir noch am besten) — und so weiter, aber das war kein Problem. Es waren milde, harmlose, abgenutzte Titel, mit denen sich gut leben ließ. Prophet, Messias, Retter— das sind die schweren Geschütze. Scratch, das Stück von Archibald MacLeish, war nach einer Figur benannt, die darin vorkam. Scratch sagt: »Ich weiß, daß es das Böse in der Welt gibt— das essentielle Böse, nicht das Gegenteil des Guten oder das fehlerhafte Gute. Für das Böse ist das Gute irrelevant, ein Hirngespinst. Keiner kann so lange gelebt haben wie ich, hören, was ich gehört habe, und die Augen davor ver‐ schließen. Ich weiß auch — genauer gesagt: Ich bin bereit, zu glauben —, daß es Kräfte in der Welt gibt — Personen, wenn 128
einem das lieber ist —, die das Böse bewußt im Schilde führen ... mächtige Nationen zerfallen plötzlich ohne Anlaß, ohne er‐ kennbaren Grund. Ihre Kinder wenden sich gegen sie. Ihre Frauen wollen keine Frauen mehr sein. Ihre Familien lösen sich auf.« Von da an wird es immer besser. Songs für ein Theater‐ stück zu schreiben, erschien mir nicht abwegig, und ich hatte schon ein paar Sachen für ihn verfaßt, weil ich ausprobieren wollte, ob ich das konnte. Ich hatte immer ein Faible für die Bühne gehabt, erst recht fürs Theater. Die Schauspielerei war doch die vornehmste aller Künste. Ob im Ballsaal, auf dem Geh‐ steig oder im Staub einer Landstraße, die Handlung spielte im‐ mer im ewigen Jetzt. Meine ersten öffentlichen Auftritte hatten auf der Schulbühne meiner Heimatstadt stattgefunden. Das war kein kleines Klappstuhltheater, sondern eine mit Bergbaugeldern von der Ostküste finanzierte professionelle Konzerthalle wie die Car‐ negie Hall, mit Vorhängen, Requisiten, Falltüren und einem Orchestergraben. Die ersten paar Male war ich im Black Hills Passion Play of South Dakota zu sehen, einem religiösen Drama über die letzten Tage Jesu. Die Theatergruppe, die das Stück aufführte, kam regelmäßig zur Vorweihnachtszeit in die Stadt und brachte professionelle Schauspieler für die Hauptrollen mit, einen Käfig voller Tauben, einen Esel, ein Kamel und einen ganzen Lkw mit Requisiten. Es gab jedesmal Rollen, für die Statisten gebraucht wurden. In einem Jahr spielte ich einen römischen Soldaten mit Speer und Helm, einem Brustpanzer und allem Drum und Dran. Es war keine Sprechrolle, aber das machte mir nichts aus. Ich fühlte mich wie ein Star. Das Kostüm gefiel mir. Es hatte eine belebende Wirkung ... als römischer Soldat gehörte ich dazu, ich stand im Mittelpunkt der Erde, ich war unbesiegbar. Das schien jetzt eine Million Jahre zurückzu‐ liegen, eine Million private Kämpfe und Schwierigkeiten. 129
Momentan fühlte ich mich nicht ganz so unbesiegbar. Trot‐ zig vielleicht. Alles andere als zufrieden. Umzingelt. Weit und breit war kein Land in Sicht. Nur meine eigene Küche. Nur die Hotdogs mit englischen Muffins und Nudeln, die Cheerios und Cornflakes mit Sahne — Polenta in großen Schüsseln anrühren und Eier schlagen, Windeln wechseln und Fläschchen abfüllen. Außerdem mußte ich mich unbehelligt draußen durchschlagen und den Hund ausführen, und irgendwann dazwischen hatte ich mich ans Klavier gesetzt und ein paar Songs für das Thea‐ terstück komponiert, die zu den vorgegebenen Titeln paßten. Das Stück selbst drückte eine vernichtende Wahrheit aus, aber davon wollte ich mich nach Möglichkeit fernhalten. Die Wahr‐ heit war das allerletzte, was mich interessierte. Selbst wenn es eine Wahrheit geben sollte, wäre mir so etwas nicht ins Haus gekommen. Ödipus hatte nach der Wahrheit gesucht, und als er sie fand, richtete sie ihn zugrunde. Es war ein grausamer Witz. Soviel zur Wahrheit. Ich redete heute dies und morgen das, und was bei den Leuten ankam, hing davon ab, auf welchem Fuß sie mich gerade erwischten. Sollte ich jemals auf irgendeine Wahrheit stoßen, würde ich sie hübsch unter Verschluß halten. Anfang der Woche war ich in New York gewesen und hatte mich mit Stewart Ostrow getroffen, dem Regisseur des Thea‐ terstücks. Ich hatte die Songs in sein Büro im Brill Building ge‐ bracht und dort aufgenommen. Dann schickte er die Azetat‐ mitschnitte an Archie. Als wir in New York waren, besuchten meine Frau und ich im Rainbow Room ganz oben im Rockefeiler Center einen Auftritt von Frank Sinatra Jr. mit großem Orchester. Warum ihn und nicht irgendwen aus den angesagten Kreisen? Weil es hier keinen Ärger gab und mich keiner verfolgte, darum ... und vielleicht, weil ich eine Verbindung spürte — wir waren schließ‐ lich ungefähr gleich alt, und er war mein Zeitgenosse. Jeden‐ 130
falls war Frank ein guter Sänger. Mir war es egal, ob er sich mit seinem Vater messen konnte oder nicht — er hörte sich gut an, und seine große, laute Band hatte es mir angetan. Hinterher setzte er sich zu uns an den Tisch. Er war offensichtlich über‐ rascht, daß jemand wie ich zu seinem Auftritt kam, aber als er merkte, daß ich Showtunes ehrlich mochte, taute er auf und entspannte sich. Er sagte, daß ihm ein paar von meinen Songs gefielen, »Blowinʹ in the Wind« und »Donʹt Think Twice«, und er wollte wissen, wo ich so auftrat (ich hatte mich aus dem Ge‐ schäft zurückgezogen und lebte wie ein Einsiedler, aber das ver‐ schwieg ich). Er redete über die Bürgerrechtsbewegung und sagte, sein Vater habe sich für die Bürgerrechte eingesetzt und immer für die Underdogs gekämpft— sein Vater habe das Ge‐ fühl gehabt, er sei selbst einer. Frank Jr. wirkte ziemlich smart und kein bißchen falsch, aufgesetzt oder protzig. Seine Arbeit hatte etwas Reelles, und er wußte, wer er war. Das Gespräch floß dahin. »Wie hättest du dich gefühlt«, fragte er, »wenn sich der Un‐ derdog als Schweinehund entpuppt?« »Keine Ahnung«, sagte ich, »nicht so toll wahrscheinlich.« Durch die Fensterfront hatte man eine spektakuläre Aussicht auf die Stadt. Von hier oben, aus dem sechzigsten Stock, sah die Welt anders aus. Nach einer Weile kaufte ich eine rote Blume für meine Frau, eines der anmutigsten Geschöpfe unter den Frauen, und wir standen auf, verabschiedeten uns von Frank und gingen. Schließlich kam ein Antwortschreiben von MacLeish mit ein paar Fragen. Das hatte ich erwartet. Er lud mich noch einmal zu sich ein — wir könnten an den Kompositionen feilen, sie ins Stück einarbeiten und weiter darüber sprechen. Ohne zu zögern, setzte ich mich ans Steuer unseres viertürigen Ford Kombi und fuhr durch die Landschaft von New England nach 131
Norden. Selbst beim Fahren, wenn ich die Augen fest auf die Straße gerichtet hielt, ließen mich die hallenden Echos in mei‐ nem Kopf nicht los. Ich fühlte mich wie ein Vogel im Käfig, wie ein Flüchtling, der dem Zickzack der gewundenen Highways folgt, wie jemand, der eine Leiche über die Bundesstaatsgren‐ zen schafft und jederzeit angehalten werden kann. Ich schaltete das Radio ein. Johnny Cash sang »A Boy Named Sue«. Vor langer Zeit hatte Johnny in Reno mal einen Mann umgelegt, nur weil er ihn sterben sehen wollte. Jetzt beklagte er sich, daß er einen Mädchennamen tragen mußte, den ihm sein Vater gegeben hatte. Auch Johnny wollte sein Image än‐ dern. Davon abgesehen konnte ich kaum Parallelen zwischen meiner Lage und der irgendwelcher anderen Leute erkennen; ich fühlte mich ziemlich isoliert. Ganz allein sah ich mich mit meiner kleinen, aber wachsenden Familie einer undurchschau‐ baren, verhexten Welt gegenüber. Interessant fand ich, daß Jerry Quarry in Oakland im Boxen gegen Jimmy Ellis angetreten war, ein Kampf, um den es einen Riesenwirbel gegeben hatte. Jimmy Ellis war jemand, der das Geld einsteckt und nach Hause geht— Boxen war für ihn ein Job, nicht mehr und nicht weniger. Er mußte eine Familie ernähren, und es war ihm egal, ob er zur Legende wurde oder irgendwelche Rekorde brach. Jerry Quarry, ein weißer Boxer, wurde als die nächste »große weiße Hoffnung« angepriesen — eine abscheuliche Bezeichnung. Jerry, dessen Vater auf einem Güterzug nach Kalifornien gekommen war, war dafür nicht zu haben. Um die weißen Bürgerwehren, die ihn anfeuerten, küm‐ merte er sich nicht. Auch die aufgeladene Atmosphäre war ihm egal— er wollte mit der fanatischen Loyalität dieser Leute nichts zu tun haben und widerstand dem Wahnsinn, der um ihn herum tobte. Er brauchte nicht zu tricksen. Ich identifi‐ zierte mich sowohl mit Ellis als auch mit Quarry; für mich gab 132
es manche Parallele zwischen unseren Situationen und unserer Reaktion darauf. Genau wie Quarry wollte ich mich nicht damit abfinden, daß ich ein Emblem, ein Symbol oder ein Wortführer sein sollte, und wie Ellis hatte ich eine Familie zu ernähren. Während ich durch den sonnigen Herbsttag rauschte, verlor die Landschaft langsam Farbe und Konturen. Für einen Au‐ genblick hatte ich das Gefühl gehabt, im Kreis zu fahren. Nach einer Weile erreichte ich Massachusetts, und wieder hielt ich bei Archies Haus. Genau wie beim letzten Mal wurde ich über die hölzerne Brücke und den Weg hinaufgeleitet; in der Ferne ein langer toter Baum, dessen Stamm von Ästen starrte— alles sehr friedlich, sehr pittoresk. Ich überquerte die ausgewaschene Rinne mit dem verrottenden Laub und den vereinzelten Licht‐ reflexen auf den Felsbrocken und ging den ausgedörrten, stei‐ nigen Bergrücken hinauf, der zu Archies Tür führte. Ich kam an einem Schild vorbei, das am Haus lehnte, einer mit Außenfarbe und Autolack grundierten Holzfaserplatte mit Plastikbuchstaben darauf. Wieder wartete ich und sah aus dem Fenster auf eine kühle Schlucht mit einem klaren Bach und wilden Blumen hinaus. Das Zimmer war immer noch reich mit Blumen ge‐ schmückt — Blumen von dunklem Purpur, farnartige Blumen, die sich rauh anfühlten, blaue Blumen mit weißer Mitte und geigenhalsförmig eingerollten Knospenspitzen ... Archie kam herein und begrüßte mich freundlich — es war wie ein Wieder‐ sehen mit einem alten Freund. Ich wußte nicht, ob er auch dies‐ mal gewichtige Themen anschneiden wollte, aber er war nicht zum Plaudern aufgelegt. Er war überrascht, daß die Songs nicht düsterer waren, und machte ein paar Vorschläge ... er ging noch einmal erläuternd auf bestimmte Figuren ein und erklärte, die Hauptfigur sei unter anderem ein neidischer, verleumderischer Hetzer, und diese Züge sollten stärker herausgearbeitet werden. Ich saß da 133
und spürte, wie ich immer mehr zum Flegel degenerierte, wie zwei Seiten meiner Persönlichkeit aneinander gerieten. Mac‐ Leish verlangte eindeutige Antworten. Er sah mich mit seinen klugen Augen an. Er wußte mehr über die Menschheit und ihre Launen, als die meisten Leute in ihrem ganzen Leben heraus‐ finden. Ich wollte ihm erzählen, daß alles drunter und drüber ging, daß der Mob mit Megaphonen bewaffnet unser Haus be‐ lagerte und mich bedrängte, auf die Straße zu treten und einen Marsch zum Rathaus, zur Wall Street, zum Kapitol anzufüh‐ ren ... daß mythische Schicksalsgestalten meinen Lebensfaden gesponnen hatten und ihn jetzt kappten ... daß in Washington hunderttausend Menschen demonstrierten und die Polizei das Weiße Haus mit Bussen umstellt hatte, Stoßstange an Stoß‐ stange, um das Regierungsgebäude zu schützen. Der Präsident saß drinnen und guckte Football. Wildfremde Leute forderten mich auf, herzukommen und die Sache in die Hand zu nehmen. Ich fand das alles zum Kotzen. In meinen Träumen sah ich Menschenmengen, die Sprechchöre skandierten, mich provo‐ zierten und mich anbrüllten: »Komm mit und reih dich ein!« Ich wollte ihm sagen, daß das Leben wie ein Löwe auf der Lauer lag, der es auf mich abgesehen hatte. Ich wollte ihm sagen, daß ich diesem Gewittersturm aus Bockmist entkommen mußte. Ich sah mich um. Die Regale waren voller Bücher, und mir fiel der Roman Ulysses ins Auge. Goddard Lieberson, der Präsident von Columbia Records, hatte mir eine Erstausgabe des Buchs zum Geschenk gemacht, und ich verstand nur Bahnhof. James Joyce wirkte auf mich wie der arroganteste Mensch aller Zeiten; er ging mit offenen Augen durch die Welt und konnte sich her‐ vorragend ausdrücken, aber was er schrieb, blieb mir schleier‐ haft. Ich wollte MacLeish bitten, mir James Joyce zu erklären und mir etwas verständlich zu machen, das offenbar komplett außer Kontrolle geraten war, und ich wußte, daß er meinem 134
Wunsch nachgekommen wäre, aber ich ließ es bleiben. Im Grunde meines Herzens wußte ich, daß ich der Botschaft seines Theaterstücks nichts hinzuzufügen hatte. Er brauchte meine Hilfe ohnehin nicht. Er wollte nur über die Songs für sein Stück reden, und deshalb war ich hier, aber es war hoffnungslos, da war nichts zu machen, wie sich bald zeigen sollte. Die Sonne war untergegangen, und die feierliche Nacht zog herauf. Ich wurde zum Abendessen eingeladen, doch ich lehnte höflich ab. Er hatte Geduld mit mir gehabt. Als ich ging, fiel mir auf einmal wieder ein, wie ich das Leopardenmädchen gesehen hatte. Manchmal denkt man plötzlich an Dinge, die man früher mal gesehen hat, alte Erinnerungen, die man aus dem Schutt seines Lebens hat bergen können. The Leopard Girl. Zur Erklärung hatte ein Jahrmarktsausrufer berichtet, daß die Mut‐ ter, als sie mit dem Mädchen schwanger gegangen war, nachts auf einer dunklen Straße in North Carolina einen Leoparden gesehen und daß das Tier ihr ungeborenes Kind gezeichnet habe. Dann sah ich das Leopardenmädchen, und es brach mir augenblicklich das Herz. Jetzt fragte ich mich, ob wir alle — MacLeish, ich und alle an‐ deren — schon vor der Geburt geprägt und gezeichnet worden waren, ob man uns einen Aufkleber verpaßt hatte, irgendein geheimes Mal. Wenn es so war, konnte keiner von uns irgend etwas daran ändern. Es ist ein wildes Wettrennen für uns alle. Wir spielen das Spiel nach den vorgegebenen Regeln oder gar nicht. Wenn das mit dem geheimen Mal stimmte, war es nicht fair, sich ein Urteil über andere Leute zu erlauben ... und ich hoffte, daß MacLeish kein Urteil über mich fällte. Es war Zeit aufzubrechen. Wenn ich noch länger bei Archie geblieben wäre, hätte ich mich häuslich bei ihm einrich‐ ten müssen. Ich fragte ihn aus reiner Neugier, weshalb er die Songs nicht selbst schreiben wolle. Er sagte, er sei kein 135
Songwriter und sein Stück brauche eine andere Stimme, einen anderen Blickwinkel — manchmal würden wir zu selbstgefäl‐ lig. Als ich auf dem Rückweg das Rinnsal überquerte, glaubte ich die flachen Wellen eines Flusses zu erkennen. Archies Stück war so bedrückend, so voller Mord und Totschlag. Es war mir unmöglich, auf seine Linie einzuschwenken, aber es war schön gewesen, ihn kennenzulernen, einen Mann, der bis zum Mond gelangt war, während die meisten anderen kaum die Füße hochkriegen. In mancher Hinsicht habe ich von ihm gelernt, wie man durch den Atlantik schwimmt. Ich wollte mich bei ihm bedanken, aber es fiel mir schwer. Wir winkten einander an der Straße zu, und ich wußte, daß ich ihn zum letzten Mal sah. Mein Plattenproduzent Bob Johnston war am Telefon. Er rief aus Nashville an und hatte mich in East Hampton erreicht. Wir hatten ein Haus an einer ruhigen Straße mit majestätischen alten Ulmen gemietet — ein Kolonialhaus mit Fensterläden im Plantagenstil. Hohe Hecken schirmten es zur Straße hin ab. Hinten gab es einen großen Garten und einen Zugang zu einer abgesperrten Düne, hinter der der unberührte Sandstrand des Atlantik lag. Das Haus gehörte Henry Ford. In East Hampton hatten früher Bauern und Fischer gelebt; jetzt war es ein Refu‐ gium für Künstler, Schriftsteller und wohlhabende Familien, weniger ein Wohnort als ein »Bewußtseinszustand«. Wer ganz aus dem Gleichgewicht geraten war, der konnte hier wieder zu sich finden. Es gab Nachbarn, deren Stammbäume dreihundert Jahre zurückreichten, und die Häuser waren zum Teil um 1700 errichtet worden — einst hatten hier Hexenprozesse stattge‐ funden. Wainscott, Springs, Amagansett — weite Grünflächen — Windmühlen im englischen Stil— winters wie sommers eine 136
charmante Gegend, in der ein einzigartiges Licht über den Wäl‐ dern und Meeren lag. Hier fing ich mit der Landschaftsmalerei an. Es gab viel zu tun. Wir hatten fünf Kinder und gingen oft an den Strand, ru‐ derten in der Bucht, gruben nach Venusmuscheln, verbrachten die Nachmittage an einem Leuchtturm bei Montauk, setzten nach Gardnerʹs Island über und suchten Captain Kidds vergra‐ benen Schatz — wir fuhren Fahrrad oder Go‐Cart oder zogen die Kinder im Karren hinter uns her— wir gingen ins Kino und auf die Märkte, machten Spaziergänge auf der Division Street — und wir fuhren oft ins Malerparadies Springs, wo de Kooning sein Atelier hatte. Wir hatten das Haus unter dem Mädchenna‐ men meiner Mutter gemietet und konnten uns frei bewegen. Mein Gesicht war nicht so bekannt, nur mein Name hätte die Leute verunsichert. Anfang der Woche waren wir aus Princeton, New Jersey, zu‐ rückgekommen, wo man mir einen Ehrendoktortitel verliehen hatte. Das war ein seltsames Abenteuer gewesen. Irgendwie war es mir gelungen, David Crosby zum Mitkommen zu überreden. Crosby war Mitglied einer neuen Superband, aber ich kannte ihn noch aus seiner Zeit bei den Byrds, als er zur Musikszene an der Westküste gehört hatte. Die Byrds hatten einen Song von mir ge‐ covert, »Mr. Tambourine Man«, und es damit auf Platz eins ge‐ schafft. Crosby war eine schillernde und unberechenbare Gestalt; er trug einen Zaubererumhang, kam nur mit wenigen Menschen gut aus und hatte eine wunderschöne Stimme— ein Architekt der Harmonien. Er stand damals schon mit einem Bein im Grab und konnte ohne fremde Hilfe ganze Häuserblocks das Gruseln lehren, aber ich mochte ihn sehr. Bei den Byrds war er fehl am Platz gewesen. Der Umgang mit ihm war oft anstrengend. An einem heißen, wolkenlosen Tag bogen wir in einem 69er Buick Electra von der Route 80 ab und schlugen uns zur Uni‐ 137
versität durch. Die Zuständigen brachten mich zügig in einen überfüllten Raum und steckten mich in eine Robe, und schon bald stand ich im Sonnenschein vor einer großen Menge gutan‐ gezogener Leute. Auf dem Podium bekamen noch andere die Ehrendoktorwürde verliehen, und ich brauchte meine genauso dringend wie sie, wenn auch aus anderen Gründen. Der liberale Kolumnist Walter Lippman, Coretta Scott King, noch ein paar andere — aber alle Blicke ruhten auf mir. Ich stand da in der Hitze und starrte die Menschenmenge an, in Tagträume ver‐ sunken, unfähig, mich zu konzentrieren. Als ich an der Reihe war, meine Ernennungsurkunde entge‐ genzunehmen, stellte mich der Redner vor und sagte so in etwa, ich hätte mich in carminihus canendi hervorgetan und würde jetzt in den Genuß aller diesbezüglichen Rechte und Privilegien der Universität gelangen. Aber dann fügte er hinzu: »Obwohl er einem Millionenpublikum ein Begriff ist, scheut er die Öf‐ fentlichkeit und Organisationen und zieht den Beistand seiner Familie und die Weltabgeschiedenheit vor, und obwohl er ge‐ fährlich auf die dreißig zugeht, bleibt er doch die authentische Stimme des ruhelosen und besorgten Gewissens des Jungen Amerika.« Herr Jesus! Es war wie ein Stromschlag. Ich erschau‐ derte und zitterte, ließ mir aber nichts anmerken. Das ruhelose Gewissen des Jungen Amerika! Schon wieder. Nicht zu fassen! Ich war ihnen wieder auf den Leim gegangen. Der Redner hätte so vieles sagen können, er hätte das eine oder andere Wort über meine Musik verlieren können. Als er den Zuhörern mitteilte, ich zöge die Weltabgeschiedenheit vor, war das, als habe er ih‐ nen erklärt, daß ich gern in einem Eisensarg lebe und mir das Essen durch eine Luke reichen lasse. Die Sonne blendete mich, aber ich konnte trotzdem die Ge‐ sichter sehen, die mich so seltsam angafften. Ich war so wütend, daß ich mich am liebsten selbst gebissen hätte. In letzter Zeit 138
hatte sich mein Bild in der Öffentlichkeit nach allerhand Berg‐ und‐Tal‐Fahrten langsam gewandelt, aber das hier konnte mich um tausend Jahre zurückwerfen. Wußten die nicht, was los war? Selbst die russische Tageszeitung Prawda hatte mich einen geldgierigen Kapitalisten genannt. Selbst die Weathermen, eine berüchtigte Bande, die in Kellern Bomben herstellte, um öf‐ fentliche Gebäude in die Luft zu jagen, hatten vor kurzem ihren Namen, der aus einem meiner Songs stammte, in The Weather Underground geändert. Meine Glaubwürdigkeit ging den Bach hinunter. Alles mögliche war in Bewegung geraten. Ich war trotzdem froh, daß ich nach Princeton gefahren war, um mir den Ehrendoktortitel verleihen zu lassen. Ich konnte ihn gut gebrauchen. Die Respektabilität, die er verströmte, war geradezu mit Händen zu greifen — es war ein Funken vom Geist des Universums darin. Nachdem ich mich durch die Zeremonie ge‐ flüstert und gemurmelt hatte, überreichte man mir die gerollte Urkunde. Wir quetschten uns wieder in den großen Buick und fuhren los. Es war ein seltsamer Tag gewesen. »Lauter eingebil‐ dete Arschlöcher«, sagte Crosby. Johnston wollte am Telefon wissen, ob ich an Aufnahmen dachte. Klar dachte ich daran. Warum auch nicht, solange sich meine Platten verkauften? Ich hatte nicht viele Songs, aber im‐ merhin doch die Stücke für MacLeish, denen ich sicher noch ein paar hinzufügen konnte, und bei Bedarf würde ich mir im Stu‐ dio was Neues ausdenken, wenn Johnston es eilig hatte ... die Arbeit mit ihm war wie eine besoffene Spritztour. Bob war ein interessanter Typ; er kam ursprünglich aus dem Westen von Texas, lebte in Tennessee und war gebaut wie ein Ringkämpfer: dicke Handgelenke, muskulöse Unterarme und ein Brustkorb wie ein Faß. Er war klein, wirkte aber dank seiner Persönlich‐ 139
keit viel größer. Er war Musiker und Songwriter und hatte sogar ein paar Songs für Elvis geschrieben. Johnston versuchte uns zu überreden, nach Nashville zu zie‐ hen, und behauptete jedesmal, wenn wir bei ihm waren, daß es dort höchst lässig zugehe und man nichts entbehren müsse. Jetzt ist alles ganz anders als früher, sagte er. Hier ziehen die Leute ihr eigenes Ding durch. Keiner kümmert sich darum, wer die anderen sind. Du kannst die ganze Nacht auf der Straße ste‐ hen, und keiner sieht dich. Ich war ein paarmal dort gewesen und hatte Platten aufge‐ nommen — zum ersten Mal 1966. In dieser Stadt lebte man wie in einer Seifenblase. Fast hätten sie AI Kooper, Robbie Robert‐ son und mich wegen unserer langen Haare aus der Stadt gejagt. Alle Songs, die damals in den Studios entstanden, handelten von untreuen Frauen, die ihre Ehemänner betrogen, oder um‐ gekehrt. Johnston fuhr uns in seinem roten Eldorado‐Cabrio lang‐ sam durch Nashville und wies auf die Sehenswürdigkeiten hin. »Das ist das Haus von Eddie Arnold.« Er zeigte auf ein anderes. »Und da wohnt Waylon. Das da drüben gehört Tom T. Hall. In dem da wohnt Faron Young.« Er bog um die Ecke und deutete woanders hin. »In der Straße wohnt Porter Wagoner.« Ich lehnte mich in dem geräumigen Ledersitz zurück und ließ den Blick von Ost nach West schweifen. In Johnstons Augen leuchtete ein Feuer. »Verve« nannten manche das. Man sah es ihm an, und er ließ andere freigebig an diesem Feuer, diesem Geist teilhaben. Er war der wichtigste Folk‐ und Country‐Pro‐ duzent bei Columbia und hundert Jahre zu spät geboren. Er hätte einen weiten Umhang und einen Hut mit Feder tragen und mit gezücktem Schwert dahingaloppieren sollen. Johnston ignorierte alle Warnungen. Seine Vorstellung von einer Plattenproduktion bestand darin, daß man die Maschinen ölt 140
und in Schwung bringt, und dann Vollgas voraus ... man wußte nie, wen er ins Studio schleppte, es herrschte immer Hochbetrieb, und trotzdem hatte Johnston offensichtlich Platz für alle. Wenn es mit einem Song nicht gut lief oder Hektik ausbrach, kam er ins Studio rüber und sagte so was wie: »Meine Herren, hier stehen einfach zu viele Leute rum.« So regelte er die Dinge. Johnston lebte von Low‐Country‐Barbe‐ cue und war ungemein charmant; er bezeichnete einen be‐ freundeten Richter aus Nashville als »Westentaschenpoliti‐ ker«. »Den mußt du kennenlernen«, sagte er. »Ich muß euch beide mal miteinander bekannt machen.« Johnston war nicht ganz von dieser Welt. Aber diesmal würden wir die Aufnah‐ men nicht in Nashville machen. Wir wollten in New York auf‐ nehmen, und er mußte die Musiker buchen und mitbringen oder vor Ort welche finden. Ich war gespannt, wen er diesmal zu den Sessions anschleppen würde, und ich hoffte auf Charlie Daniels. Er hatte Charlie auch früher schon gelegentlich mitgebracht, aber manchmal eben auch nicht. Ich fand, daß ich mit Charlie einiges gemeinsam hatte. Seine Redewendungen, sein Sinn für Humor, seine Arbeitseinstellung, seine Toleranz in manchen Fragen. Es kam mir so vor, als hätten wir einen gemeinsamen Traum geträumt, der an den gleichen abgelegenen Schauplätzen spielte. Seine Er‐ innerungen stimmten oft mit meinen überein. Charlie bastelte so lange herum, bis alles stimmte. Ich hatte damals keine Band und verließ mich darauf, daß der Artists & Repertoire‐Manager oder der Produzent eine zusammenstellte. Wenn Charlie dabei war, kam bei den Sessions meistens etwas Brauchbares zustande. Johnston hatte Daniels aus North Carolina nach Nashville geholt, wo er Gitarre spielte und als Studiomusiker anderen Künstlern bei ihren Plattenaufnahmen half. Charlie spielte auch Geige, aber bei meinen Sessions erlaubte Johnston ihm das 141
nicht. Vor Jahren hatte Charlie in seiner Heimatstadt eine Band namens The Jaguars gegründet, die ein paar Surf‐Rockabilly‐ Platten aufgenommen hatte — das war mir seinerzeit zwar nicht gelungen, aber eine Band hatte ich ungefähr zur gleichen Zeit auch gehabt. Mir schien, daß seine Vorgeschichte meiner eige‐ nen in vielen Punkten ähnelte. Charlie kam dann noch ganz groß raus. Als er die Allman Brothers und die geschmeidigen Lynyrd Skynyrd gehört hatte, fand er zu seinem Stil und bewies auf seine eigene, dynamische Art, was er konnte — er ent‐ wickelte einen neuen, absolut genialen Hillbilly‐Boogie mit Atomantrieb, surrealistischen Partien für zwei Geigen und ein‐ maligen Melodien wie »Devil Went Down to Georgia«. Eine Weile war Charlie ganz oben. Al Kooper, der Entdecker von Lynyrd Skynyrd, hatte auf einigen meiner besten Platten mitgespielt, und ich bat Johnston darum, ihn anzurufen. Das war mein einziger Vorschlag, was Johnstons Musikerauswahl anging. AI war vielleicht sowieso in New York. Er stammte aus Brooklyn oder Queens und hatte in jungen Jahren in der Teenie‐Band The Royal Teens gespielt. Mit »Short Shorts« hatte die Gruppe einen Hit gelandet. Koo‐ per spielte diverse Instrumente, und auf allen war er gut. Er brachte das richtige Gespür mit. Auch er war ein Songwriter aus der New Yorker Szene. Gene Pitney hatte einen Song von ihm aufgenommen. Kooper hatte Bands wie Blood, Sweat and Tears, The Blues Project und sogar eine Superband mit Stephen Stills und Michael Bloomfield zusammengestellt, aber von al‐ len hatte er sich wieder getrennt. Nebenbei war er Talentsu‐ cher; er war so etwas wie ein Ike Turner für Weiße. Ihm fehlte nur eine mitreißende Frontfrau. Janis Joplin wäre die perfekte Ergänzung für AI gewesen. Das erwähnte ich einmal Albert Grossman gegenüber, der mich gemanagt hatte und jetzt Janisʹ Karriere managte. Grossman sagte, er habe niemals etwas Blö‐ 142
deres gehört. Ich fand das gar nicht so blöd. Ich fand es visionär. Leider hauchte Janis kurze Zeit später ihr Leben aus, und Kooper trat musikalisch nur noch auf der Stelle. Ich hätte Ma‐ nager werden sollen. Keine Woche später arbeitete ich unter Johnstons Regie im New Yorker Columbia‐Studio, und er fand alles phantastisch, was ich aufnahm. Das war immer so. Jedesmal glaubte er, daß irgendwas ganz groß rauskommt, daß alles wunderbar glatt läuft. Das Gegenteil war der Fall. Nichts lief jemals glatt. Nicht einmal dann, wenn ein Song fertig und die Aufnahme unter Dach und Fach war. Für einen von den Texten spielte Kooper ein paar Riffs im Stil von Teddy Wilson am Klavier. Wir hatten drei Sängerinnen, die sich anhörten, als habe Johnston sie bei einem Chor ausgeborgt, und eine von ihnen improvisierte ein bißchen Seat‐Gesang. Das Ganze wurde in einem einzigen Take aufge‐ nommen und hieß »If Dogs Run Free«. Ich nahm ein paar von den älteren Sachen aus dem Mac‐Leish‐ Theaterstück auf, die schon Melodien hatten; das, schien mir, klappte ganz gut. Und dann alles, was sonst noch passte — Fragmente, Melodien, abwegige Wendungen. Es kam nicht darauf an. Ich hatte meinen Ruf im Griff‐ wenigstens würden diese Songs keine ekligen Schlagzeilen provozieren. Botschaf‐ ten? Gabʹs nicht. Wer Botschaften suchte, würde eine Enttäu‐ schung erleben. Auf dem Gebiet wollte ich weiß Gott keine Karriere machen. Trotzdem lag die Erwartung noch in der Luft. Wann kommt der alte Dylan zurück? Wann wird die Tür aufgerissen und mit einem Tusch die goldene Gans präsen‐ tiert? Heute nicht. Die Songs kamen mir so flüchtig wie Zi‐ garrenrauch vor, und das war mir ganz recht. Daß sich meine Platten immer noch verkauften, überraschte mich selbst. Viel‐ leicht waren gute Songs auf der Platte, vielleicht auch nicht — wer weiß? Jedenfalls waren es keine Songs, bei denen es einem 143
gewaltig in den Ohren braust. Ich wußte, wie sich solche Songs anhören — so jedenfalls nicht. Es war nicht so, daß ich kein Talent besessen hätte; ich hatte nur nicht den vollen Wind in den Segeln. Keine explodierenden Sterne. Ich lehnte am Mischpult und hörte mir ein Playback an. Es klang ganz okay. Johnston hatte mich vorher gefragt: »Weißt du schon, wie die Platte heißen soll?« Titel! Titel finden alle gut. Mit einem Titel kann man so viel sagen. Ich wußte aber keinen, ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht. Ich wußte allerdings genau, daß auf dem Cover ein Foto von mir und Victoria Spivey zu sehen sein sollte— das war mir schon vor den Aufnahmen klar gewe‐ sen. Es war vor ein paar Jahren in einem kleinen Tonstudio ent‐ standen. Vielleicht nahm ich die Platte nur deshalb auf, weil ich das Cover vor Augen hatte und etwas brauchte, was man in die Schutzhülle stecken konnte. Schon möglich. »Down and Out on the Scene, wie findest du das?« Johnston starrte mich an und machte sich seinen Reim darauf. »Scheiße, das zieht allen die Giftzähne.« Ich wußte nicht, wen er mit »allen« mein‐ te — wahrscheinlich die Manager von Columbia Records. Aus diversen Gründen lag er ständig mit denen im Clinch. Er hielt sie allesamt für Natterngezücht. »Welche Szene denn?« fragte er. »Was Großes wäre gut.« Johnston hatte ein Faible für Orte. Er hatte die Platte Johnny Cash at San Quentin produziert. Er nannte gern Ortsnamen, weil er annahm, das sorge für At‐ mosphäre. »Ach, weiß nicht, irgendwas Weltstädtisches. Paris, Barcelona, Athen ... so was in der Art.« Johnston sah auf. »Scheiße, Mann, ich muß mir ein Urlaubsposter besorgen. Spitze! « Aber es war nicht spitze. Es war sowieso noch zu früh, um über den Titel zu reden. Ich sah mich im Zimmer um, stand auf und ging nervös auf und ab, wobei ich die Uhr an der Wand im Auge behielt — sie lief 144
offenbar rückwärts. Ich setzte mich wieder hin und spürte, wie sich mein Gesicht in Falten legte und das Weiße in meinen Au‐ gen sich gelb verfärbte. AI Kooper alberte herum und erzählte lange Geschichten ohne Pointe. Ich hörte Daniels zu, wie er auf der Geige Tonleitern übte, und blätterte in ein paar Zeitschrif‐ ten, die auf dem Tisch lagen: Collierʹs, Billboard, Look. In der Zeitschrift Male fand ich einen Artikel über James Lally, einen Funker aus dem Zweiten Weltkrieg, der mit seinem Piloten über den Philippinen abgestürzt war. Ich ließ mich kurz ab‐ lenken. Es war ein haarsträubender Artikel, der nichts beschö‐ nigte. Armstrong, der Pilot, kam beim Absturz ums Leben, aber Lally wurde von den Japanern gefangengenommen, die ihn in ein Lager brachten, mit einem Samuraischwert enthaupteten und an seinem Kopf Bajonettstechen trainierten. Ich schob die Zeitschrift beiseite. Russ Kunkel, der Schlagzeuger, saß mit halb‐ geschlossenen Augen auf einem Sofa und klickte zwei Sticks aneinander — er starrte durch einen Spiegel in ein dunkles Bild. Ich mußte weiter an Lally denken, und mir war sterbenselend zumute. Buzzy Feiten, einer der Gitarristen, arbeitete eine Melodie aus, die wir vielleicht morgen oder übermorgen aufnehmen würden, vielleicht auch nie. Johnston kam rein, munter wie im‐ mer und voller Tatendrang. Bei den wenigsten Menschen hält Tatendrang lange vor, aber Johnstons Vorrat ist unerschöpflich und nicht nur vorgetäuscht. Ich hatte gerade den Song »New Morning« im Playback gehört und fand, daß er gut gelungen war. »Vielleicht ist New Morning ja ein guter Titel«, dachte ich und schlug es Johnston vor. »Mann, du liest meine Gedanken. Damit steckst du die Leute in den Sack — die brauchen so einen Gehirntrainingskurs, den man im Schlaf macht, wenn sie das begreifen wollen.« Genau. Und ich brauchte einen Gedanken‐ lesekurs, wenn ich verstehen wollte, was er da gerade gesagt 145
hatte. Es kam nicht drauf an, aber ich wußte, wo Bob das her hatte. Ich hatte ein Buch mit ins Studio gebracht, Secret of Mind Power von Harry Lorayne, und es auf einem Sofa liegen‐ gelassen. Ich dachte, das Buch könnte mir vielleicht helfen, mein neues Image zu festigen, und mir beibringen, wie ich es schaffen konnte, nur einen Schatten meiner inneren Verfassung nach außen dringen zu lassen. Aber Harry Lorayne konnte Machiavelli nicht das Was‐ ser reichen. Vor ein paar Jahren hatte ich Der Fürst gelesen und war begeistert gewesen. Was Machiavelli sagte, hörte sich größtenteils vernünftig an, aber manches ist einfach unüber‐ sehbar falsch— wenn er beispielsweise die Weisheit verbreitet, daß es besser sei, gefürchtet zu werden als geliebt, dann fragt man sich irgendwie, ob Machiavelli in den richtigen Dimen‐ sionen dachte. Ich weiß, was er gemeint hat, aber im Leben kommt es manchmal vor, daß ein Mensch, der geliebt wird, mehr Schrecken erregt, als Machiavelli sich je hat träumen lassen. Die Platte, an der wir arbeiteten, hieß am Ende tatsächlich New Morning (der Titel eines Songs, den ich für das Bühnen‐ stück von MacLeish geschrieben hatte), und auf dem Cover prangte das Foto von Vickie und mir. Die Platte, die zwölf Songs enthielt, wurde veröffentlicht, und die Rezensionen brachen über uns herein. Manche Kritiker fanden das Album stumpf und sentimental, weich in der Birne. Meinetwegen. Andere feierten es als Wiederkehr des alten Dylan. Na end‐ lich. Auch das wollte nicht viel heißen. Für mich waren das alles gute Zeichen. Das Album ging allerdings tatsächlich nicht weiter auf die Fesseln und Zwänge ein, die das Land im Griff hielten, es war keine Bedrohung für den Status quo. Das alles trug sich in einer Zeit zu, die die Kritiker später meine »mittlere Periode« nannten, und in vielen Kreisen wurde die 146
Platte als Comeback‐Album bezeichnet, was auch stimmte. Es sollte das erste von vielen sein. Scratch, das Stück von MacLeish, wurde am 6. Mai 1971 im St. James Theatre am Broadway uraufgeführt und zwei Tage später, am 8. Mai, wieder abgesetzt.
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4. Oh Mercy Wir schrieben das Jahr 1987, und meine Hand, die ich mir bei einem idiotischen Unfall schwer verletzt hatte, erholte sich langsam. Sie war bis auf die Knochen zerfetzt und zerfleischt gewesen und noch lange nicht wieder gesund — sie fühlte sich an, als sei es gar nicht meine eigene. Ich wußte nicht, wie mir geschah; es war eine bizarre Laune des Schicksals. Alle meine Aussichten waren dahin. Vom Frühjahr an war ich für hundert Konzerte gebucht, und ob ich auftreten konnte, stand in den Sternen. Ein ernüchternder Zustand. Wir hatten erst Januar, aber meine Hand brauchte noch viel Zeit, um auszuheilen und sich zu regenerieren. Ich starrte durch die Glastüren in den überwucherten Garten hinaus, die Hand fast bis zum Ellbogen in Gips, und mir ging auf, daß meine Tage als Gitarrist gezählt sein konnten. In gewisser Hinsicht hätte das gepaßt, weil ich mir bis dahin selbst etwas vorgemacht und das Talent, das mir zur Verfügung stand, schon weit überstrapaziert hatte. Das war mir schon seit längerem klar. Aber in letzter Zeit hatte sich einiges getan, und jetzt machten mir die weitreichenden Kon‐ sequenzen meiner Lage Sorgen. Die Öffentlichkeit war seit Jahren häppchenweise mit allen meinen Studioaufnahmen versorgt worden, aber irgendwie wa‐ ren meine Live‐Auftritte dem Geist der Songs nie gerecht ge‐ 148
worden — es fehlte der richtige Dreh. Vieles war verschwunden, darunter nicht zuletzt die Intimität. Die Zuhörer mußten sich gefühlt haben, als gingen sie durch verlassene Obstgärten und totes Gras. Jetzt würde mein Publikum — oder mein künftiges Publikum — nie die Gelegenheit haben, das frisch gepflügte Terrain zu erkunden, auf das ich mich begeben wollte. Es gab diverse Gründe für diese Misere, Gründe, warum aus meinen Auftritten die Luft raus war. Ich war immer produktiv gewesen, aber nie exakt, und zu viele Umwege hatten aus meinem musi‐ kalischen Weg ein Rankengestrüpp gemacht. Ich war ausgetre‐ tenen Pfaden gefolgt, aber das hatte nichts gebracht. Die Fenster waren seit Jahren mit Brettern vernagelt und von Spinnweben überzogen, und das alles war mir längst klar. Schon vorher hatte sich alles geändert, und zwar in einem ganz konkreten Sinn. Vor ein paar Monaten war etwas Unge‐ wöhnliches passiert, und ich hatte eine Reihe dynamischer Prin‐ zipien erkannt, mit deren Hilfe ich meine Auftritte ganz neu gestalten konnte. Indem ich bestimmte technische Elemente kombinierte, die sich gegenseitig beflügeln, konnte ich das Wahrnehmungsniveau, die Strukturen des Zeitablaufs und die Rhythmussysteme beeinflussen und so meine Songs intensiver wirken lassen und wieder zum Leben erwecken, ihnen die Steif‐ heit nehmen, sie strecken und geradeziehen. Es war, als sprä‐ chen Engel zu Teilen meiner Psyche. Im Kamin brannte ein großes Feuer, und der Wind ließ es hell auflodern. Der Schleier hatte sich gehoben. Um Weihnachten herum hatte ein Tornado die ganzen falschen Weihnachtsmänner beiseitegeräumt und den Schutt weggefegt. Es war mir ein Rätsel, warum es bis da‐ hin so lange gedauert hatte. Jammerschade, daß das nicht frü‐ her passiert war. Ich wußte auch, daß ich Texte geschrieben hatte, die perfekt zu meinem Musikstil paßten. Die letzten zehn Jahre hatten mich beruflich ziemlich ausgelaugt und mitge‐ 149
nommen. Oft hatte ich mich, wenn ich vor Auftritten in die Nähe der Bühne kam, bei dem Gedanken ertappt, daß ich ein Versprechen brach, das ich mir gegeben hatte. Was ich mir ver‐ sprochen hatte, wußte ich nicht mehr genau, aber ich wußte, daß ich es irgendwo im Hinterkopf hatte. Ich ging in mich, aber offenbar gab es keine Faustregel. Wenn ich das Problem kom‐ men gesehen hätte, dann hätte ich vielleicht eingreifen können, aber ich war ahnungslos gewesen. Der hektische Treiben meiner Bühnentage hatte sich schon seit einiger Zeit verlangsamt und war nun fast zum Erliegen gekommen. Ich hatte mir zu oft selbst in den Fuß geschossen. Es ist schön, eine Legende zu sein, und die Leute zahlen Geld dafür, die Legende zu sehen, aber die meisten tun sich das nicht öfter als einmal an. Man mußte etwas zu bieten haben und durfte nicht die eigene Zeit und die aller anderen vergeuden. Ich war nicht völlig von der Bildfläche verschwunden, aber die Straße war schmaler geworden und fast gesperrt, obwohl sie doch eigentlich weit offen stehen sollte. Ich war noch nicht ganz abgetreten. Noch lungerte ich draußen vor der Tür herum. In mir selbst war jemand verschollen, den ich finden mußte. Ab und zu raffte ich mich auf und wollte eine Lösung erzwingen. Die Natur kann alles heilen, und in der Na‐ tur suchte auch ich gewöhnlich mein Heil. Ich fand mich auf einem Hausboot wieder, einem schwimmenden Wohnmobil, wo ich auf eine Stimme hoffte. Langsam kroch ich dahin — nachts lag ich an einem geschützten Strand in der Wildnis — um mich herum Elche, Bären, Rotwild, der scheue Timberwolf — an stil‐ len Sommerabenden lauschte ich dem Ruf des Seetauchers. Nachdenken. Aber es nützte nichts. Ich fühlte mich erledigt, ich war ein ausgebranntes Wrack. In meinem Kopf rauschte es zu laut, und ich konnte nicht abschalten. Wo ich auch hingehe, bin ich ein Troubadour der Sechziger, ein Folkrock‐Fossil, ein Verse‐ schmied aus vergangenen Tagen, ein fiktives Staatsoberhaupt 150
aus einem Land, das keiner kennt. Ich bin in den bodenlosen Abgrund der kulturellen Vergessenheit gestürzt. Das stimmt alles. Ich kannʹs nicht ändern. Wenn ich den Wald verlasse, er‐ kennen mich die Leute schon von weitem. Ich weiß, was sie denken. Ich darf mir nichts vormachen. Ich war achtzehn Monate lang mit Tom Petty and The Heart‐ breakers auf Tournee. Es sollte das letzte Mal sein. Ich war von jeglicher Inspiration abgeschnitten. Das bißchen, über das ich vielleicht noch verfügt hatte, war zusammengeschrumpft und verschwunden. Tom war auf dem Höhepunkt seiner Schaffens‐ kraft und ich auf dem Tiefpunkt der meinen. Ich konnte nichts dagegen tun. Alles lag in Trümmern. Meine eigenen Songs wa‐ ren mir fremd geworden. Ich hatte die Fähigkeit verloren, ihren Nerv zu treffen; ich konnte nicht einmal mehr die Oberfläche ankratzen. Mein historischer Moment war vorbei. In meinem Herzen tönte ein hohler Gesang, und ich konnte es kaum er‐ warten, mich zurückzuziehen und einzupacken. Noch einmal mit Petty groß absahnen, und dann Schluß. Ich war, wie man so sagt, auf dem absteigenden Ast. Wenn ich nicht aufpaßte, konnte ich leicht als Irrer enden, der die Wand anschreit. Der Spiegel hatte sich gewendet, und ich konnte in die Zukunft se‐ hen — einen alten Schauspieler, der die Mülltonnen hinter dem Theater nach vergangenen Triumphen durchwühlt. Ich hatte so viele Songs geschrieben und aufgenommen, aber ich spielte nur noch wenige. Ich glaube, ich war nur etwa zwan‐ zig davon gewachsen. Der Rest kam mir zu kryptisch, zu düster vor, und ich konnte nichts radikal Schöpferisches mehr mit ihnen anfangen. Sie waren wie eine schwere Last aus verrotten‐ dem Fleisch, die ich mit mir herumschleppen mußte. Ich ver‐ stand nicht, woher diese Songs gekommen waren. Die Glut war 151
erloschen und das Streichholz bis zum Ende heruntergebrannt. Ich trat nur noch pro forma auf. Der Motor wollte nicht an‐ springen, sosehr ich mich auch anstrengte. Benmont Tench, ein Musiker aus Pettys Band, fragte mich immer wieder fast flehentlich, ob wir andere Stücke ins Pro‐ gramm aufnehmen könnten. »Chimes of Freedom« — können wir das mal probieren? Oder vielleicht »My Back Pages«? Oder »Spanish Harlem Incident«? Und ich zog mich jedesmal mit einer lahmen Ausrede aus der Affäre. Im Grunde weiß ich gar nicht genau, wer sich da herausredete, weil ich die Tür zu mir selbst schon geschlossen hatte. Das Problem war, daß die Damen Intuition und Instinkt, auf die so lange Verlaß gewesen war, sich in Vampire verwandelt hatten und mir das Blut aussaugten. Selbst die Spontaneität war nur noch eine lahme Krücke. Ich hatte nicht für schlechte Zeiten vorgesorgt, und jetzt kam ein eisiger Wind auf. Mir schwömmen die Felle davon. Die Tournee mit Petty war in einzelne Abschnitte unterteilt, und für die Zeit dazwischen hatte einer der Organisatoren, El‐ liot Roberts, ein paar Auftritte mit den Grateful Dead für mich organisiert. Für diese Konzerte mußte ich mit der Band proben, also fuhr ich nach San Rafael und traf mich mit den Dead. Ich hatte mir das so einfach wie Seilspringen vorgestellt. Nach etwa einer Stunde wurde mir klar, daß die Band mehr und schwie‐ rigere Stücke proben wollte als die, die ich mit Petty gespielt hatte. Sie wollten alle Songs durchgehen — Songs, die ihnen ge‐ fielen, die selteneren. Ich fand mich in einer merkwürdigen Lage wieder und hörte die Bremsen kreischen. Wäre mir das vorher klar gewesen, hätte ich die Tour möglicherweise abgeblasen. Ich empfand nichts für diese Songs und wußte nicht, wie ich sie auch nur halbwegs glaubhaft zum besten geben sollte. Viele da‐ von waren womöglich sowieso nur ein einziges Mal gesungen worden, und zwar bei der Aufnahme. Es gab so viele, daß ich sie 152
nicht auseinanderhalten konnte — zum Teil brachte ich sogar die Texte durcheinander. Ich brauchte die Texte, um überhaupt zu verstehen, wovon die Rede war, und als ich sie dann sah, vor al‐ lem die der älteren, entlegeneren Songs, konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich ein Gefühl dafür entwickeln sollte. Ich fühlte mich wie ein Trottel und wollte nicht länger blei‐ ben. Vielleicht war das Ganze ein Fehler gewesen. Am besten zog ich mich zum Nachdenken in ein Sanatorium für Geistes‐ kranke zurück. Ich sagte, ich hätte etwas im Hotel vergessen, stapfte nach draußen und lief mit gesenktem Kopf im Niesel‐ regen die Front Street entlang. Ich hatte nicht vor, zurückzu‐ kommen. Wenn man lügen muß, soll man so schnell und so überzeugend wie möglich lügen. Ich war vielleicht vier, fünf oder sechs Blocks weit gekommen, als ich etwas weiter vorn eine Jazzcombo spielen hörte. Ich ging an der Tür zu einer win‐ zigen Bar vorbei, warf einen Blick hinein und sah die Musiker am anderen Ende der Kneipe spielen. Es regnete, und drinnen war nicht viel los. Jemand lachte über irgendwas. Das Ganze sah aus wie der Zug nach Nirgendwo an seiner Endhaltestelle, und die Luft war rauchgeschwängert. Irgend etwas zog mich da drinnen an, und ich trat ein und ging am langen, schmalen Tre‐ sen vorbei nach hinten, wo die Jazzer auf einer Bühne vor Zie‐ gelmauerwerk spielten. Kurz vor dem Podium blieb ich stehen, lehnte mich an die Bar, bestellte einen Gin Tonic und betrach‐ tete den Sänger. Er war ein älterer Mann im Mohairanzug mit glänzender Krawatte und Schirmmütze. Der Schlagzeuger trug einen Rancher‐Stetson; der Bassist und der Pianist waren fein angezogen. Sie spielten Jazzballaden wie »Time on My Hands« und »Gloomy Sunday«. Der Sänger erinnerte mich an Billy Eckstine. Er war nicht sehr temperamentvoll, aber das hatte auch nicht nötig; er stand entspannt da, sang aber mit einer selbstverständlichen Sicherheit. Plötzlich und ohne Vorwar‐ 153
nung war es, als habe er ein Fenster in meiner Seele aufge‐ stoßen. Es war, als sagte er zu mir: »So macht man das.« Mit einemmal verstand ich schneller, als ich je etwas verstanden hatte. Ich konnte spüren, wie er daran arbeitete, die Quelle sei‐ ner Energie zu erschließen, wie er sie anzapfte. Ich wußte, woher diese Kraft kam, und es lag nicht an seiner Stimme, obwohl sie mich unvermutet an meine eigene erinnerte. So habe ich das auch gemacht, dachte ich, vor langer Zeit, und es hatte ganz von allein funktioniert. Niemand hatte es mir beigebracht. Die Technik war so grundlegend, so einfach, und ich hatte sie ver‐ gessen. Als hätte ich vergessen, wie man sich die Hose zu‐ knöpft. Ich fragte mich, ob ich diese Technik noch beherrschte. Ich wollte es wenigstens ausprobieren. Wenn ich sie auch nur halbwegs in den Griff bekam, konnte ich aus diesem halsbre‐ cherischen Marathon aussteigen. Ich kehrte zurück in den Probenraum der Dead, als sei nichts gewesen, und nahm den Faden wieder auf. Ich konnte es kaum erwarten— ich fing mit einem Song an, den sie gern spielen wollten, um zu sehen, ob ich die gleiche Methode anwenden konnte wie der alte Sänger. Eine Vorahnung sagte mir, daß et‐ was geschehen werde. Zuerst war es harte Arbeit, als müsse ich mich durch eine Wand bohren. Ich schmeckte nur Staub. Aber dann löste sich auf wundersame Weise ein Knoten in meinem Innern. Anfangs brachte ich nur ein ersticktes Grunzen heraus, eine Entladung aus den tiefsten Schichten meiner selbst, ohne Umweg über das Gehirn. Das hatte ich noch nie erlebt. Es brannte, aber ich war wach. Das Ganze kam mir noch nicht richtig wasserdicht vor, und es konnte noch viel Arbeit vertra‐ gen, aber ich hatte begriffen, worum es ging. Ich brauchte irr‐ sinnige Konzentration, weil ich mehrere Kunstgriffe gleichzei‐tig anwenden mußte, aber jetzt wußte ich, daß ich jeden Song bringen konnte, ohne daß es nur leere Worte waren. Das war 154
eine Offenbarung. Ich trat mit den Dead auf und bereute es nie. Vielleicht hatten sie mir was in den Drink getan, ich kannʹs nicht sagen, aber ich war mit allem einverstanden, was sie spie‐ len wollten. Das hatte ich dem alten Jazzsänger zu verdanken. Der letzte Abschnitt einer langen Tournee begann. Ich stieß wieder zu Petty und sagte seiner Band, daß sie mir einfach Be‐ scheid geben sollten, wenn sie etwas Bestimmtes spielen woll‐ ten. Wir begannen diesen Abschnitt im Nahen Osten mit zwei Auftritten in Israel— einem in Tel Aviv und einem in Jerusa‐ lem—, dann ging es in der Schweiz und in Italien weiter. Bei die‐ sen ersten vier Auftritten sang ich achtzig verschiedene Songs, ohne mich je zu wiederholen, nur um herauszufinden, ob ich das konnte. Es war ganz einfach. Meine Methode war umständ‐ lich, aber sehr effektiv. Durch die neue Vokaltechnik mußte ich meine Stimme nie überstrapazieren und konnte ohne Ermü‐ dungserscheinungen ewig weitersingen. Jeden Abend sang ich wie auf Autopilot. Und trotzdem wollte ich immer noch aufhören ... mich aus der Szene zurückziehen. Ich hatte keine weiteren Pläne, ich hatte mir die Idee noch nicht aus dem Kopf geschlagen— ich glaubte sowieso nicht, daß ich noch ein nennenswertes Publikum hatte. Sogar auf dieser Tour‐ nee mit ihren großen Menschenmengen kamen die meisten Leute wegen Petty. Vor den Auftritten mit ihm war ich auch gar nicht regelmäßig auf Tournee gegangen. Es war so mühsam, für nur dreißig oder vierzig Konzerte eine Band zusammenzustellen und wieder aufzulösen. Monotonie hatte sich breitgemacht. Meine Auftritte waren reine Show, und die Rituale ödeten mich an. Selbst auf der Tour mit Petty wirkten die Menschen in der Menge wie Pappkameraden in einem Schießstand. Ich hatte keine Verbindung zu ihnen — es waren einfach irgendwelche 155
Gestalten. Ich hatte es satt — ich wollte nicht länger in einem Luftschloß leben. Es war Zeit aufzuhören. Die Vorstellung, mich zur Ruhe zu setzen, beunruhigte mich nicht im minde‐ sten. Ich hatte mich mit diesem Gedanken angefreundet und mich längst an ihn gewöhnt. Seither hatte sich nur geändert, daß die Auftritte mir jetzt nichts mehr abverlangten. Ich hatte Rückenwind. Doch dann, eines Abends in Locarno auf der Piazza Grande Locarno, zerfiel mir plötzlich alles unter den Händen. Für einen Augenblick stürzte ich in ein schwarzes Loch. Wir spielten auf einer Freilichtbühne, und der Wind wehte in heftigen Böen; es war so eine Nacht, in der einem alles um die Ohren zu fliegen droht. Ich setzte zum Singen an, und mir blieb die Luft weg — meine Stimme war wie erstickt, es kam nichts heraus. Meine Techniken versagten. Ich wollte es nicht glauben. Ich war so überzeugt gewesen, alles gut im Griff zu haben, und das ent‐ puppte sich jetzt doch wieder als Selbstbetrug. Es ist kein Ver‐ gnügen, wenn man so in der Klemme steckt. Das kann einem Panikattacken bescheren. Man steht vor dreißigtausend Leuten, die einen anstarren, und kriegt keinen Ton heraus. So etwas kann ziemlich peinlich ausgehen. Weil ich nichts zu verlie‐ ren hatte und keine Vorsichtsmaßregeln mehr zu beachten brauchte, schüttelte ich einen weiteren Kunstgriff aus dem Är‐ mel, der den anderen, fehlgeschlagenen Techniken Starthilfe geben sollte. Das machte ich automatisch, aus dem Handge‐ lenk — ich trieb den Teufel mit meiner eigenen Zauberformel aus. Im selben Augenblick war es, als presche ein Vollblü‐ ter zum Tor herein. Alles war wieder da, und zwar in völlig neuen Dimensionen. Ich war selbst überrascht. Danach stand ich leicht zittrig auf den Beinen. Jetzt lief auf einmal alles wie geschmiert. Diese Wandlung hatte sich vor aller Augen vollzo‐ gen. Vielleicht hatten manche einen Energiezuwachs wahrge‐ 156
nommen, aber das war auch schon alles. Es konnte niemandem aufgefallen sein, daß hier eine Metamorphose stattgefunden hatte. Jetzt sprudelte die Energie aus hundert verschiedenen, vollkommen unvorhersehbaren Richtungen. Ich hatte eine neue Fähigkeit erworben, die offenbar alle anderen Alltags‐ fähigkeiten übertraf. Wenn ich mir jemals eine andere Bestim‐ mung gewünscht hatte — hier war sie. Ich war ein ganz neuer Musiker, ein Unbekannter im wahrsten Sinne des Wortes. So etwas hatte ich noch nicht erlebt, das war Neuland für mich, auch nach mehr als dreißig Jahren auf der Bühne. Man hätte mich erfinden müssen, wenn es mich noch nicht gegeben hätte. Die Tournee mit Petty endete im Dezember, und ich merkte, daß ich nicht am Ende einer Geschichte gestrandet war, sondern ganz am Anfang einer neuen stand. Ich konnte meinen Ent‐ schluß, in den Ruhestand zu gehen, auf unbestimmte Zeit ver‐ schieben. Vielleicht war es ja ganz interessant, noch einmal von vorn anzufangen und sich in den Dienst des Publikums zu stel‐ len. Ich wußte auch, daß ich diese Ausdrucksform noch einige Jahre perfektionieren und verfeinern mußte, aber mit meinem Ruf und meiner Berühmtheit fehlte es mir ja nicht an Gelegen‐ heit dazu. Der Zeitpunkt schien mir günstig. Nach der Tournee saß ich im Londoner St. James Club mit Elliot Roberts zusam‐ men, der die Konzerte mit Petty und mit den Grateful Dead or‐ ganisiert hatte. Ich sagte ihm, daß ich im nächsten Jahr zwei‐ hundert Konzerttermine brauchte. Elliot blieb pragmatisch und sagte, ich solle mir ein paar Jahre freinehmen und dann wieder‐ kommen. »Das Bild ist perfekt«, sagte er. »Laß es einfach so.« »Nein«, sagte ich. »Es ist nicht perfekt. Ich muß es gerade‐ rücken.« Ich verteilte die letzte Flasche Bier auf zwei Gläser und hörte ihm zu, wie er mir darlegte, daß es praktischer wäre, wenigstens 157
bis zum Frühjahr zu warten. Dann hätte er mehr Zeit, alles in die Wege zu leiten. »Na dann«, sagte ich. »Auch gut.« »Ich kümmere mich auch um die Band«, sagte er. »Klar, meinetwegen gern.« Ich war begeistert. Daß jemand anders eine Band für mich zusammenstellen könnte, war mir gar nicht in den Sinn gekommen. Das entlastete mich sehr. Ich sagte ihm noch, er solle im Jahr darauf ähnlich viele Auftritte in denselben Städten buchen, und ein Jahr später abermals — ein Dreijahresplan, der mehr oder weniger die gleichen Städte umfaßte. Ich schätzte, daß es mindestens drei Jahre dauern werde, bis ich neu anfangen konnte, bis ich das richtige Pu‐ blikum gefunden hatte oder das richtige Publikum zu mir. Ich rechnete mit drei Jahren, weil ich dachte, daß sich nach dem er‐ sten Jahr viele ältere Leute ausklinken, aber jüngere Fans im zweiten Jahr ihre Freunde mitbringen würden, so daß es un‐ term Strich gleich viele blieben — und die würden im drit‐ ten Jahr wiederum ihre Freunde mitbringen und gemeinsam die Keimzelle meines künftigen Publikums bilden. Daß meine Songs zum Teil über zwanzig Jahre alt waren, spielte keine Rolle. Ich mußte ganz unten anfangen, und ich war noch nicht ganz unten angekommen. Was mir vorschwebte, war keine normale Weiterentwicklung; niemand konnte damit rechnen. Ohne daß es mir völlig bewußt war, spürte ich innerlich, daß ich ein neues Genre geschaffen hatte, einen Stil, den es noch nicht gab und der ganz und gar mein eigener sein sollte. Alle Zylinder liefen, und das Fahrzeug stand bereit. Ich brauchte ein neues Publikum, weil mein damaliges mehr oder weniger mit meinen Platten aufgewachsen war und mich nicht mehr als neuen Musiker akzeptieren konnte, was verständlich war. In vieler Hinsicht hatte dieses Publikum seinen Zenit überschrit‐ ten, und seine Reflexe waren hinüber. Sie wollten nicht teil‐ 158
nehmen, sondern zuschauen. Das war okay, aber das Publi‐ kum, das mich entdecken sollte, mußte eines sein, das nichts von gestern wußte. Ich war ungeheuer berühmt und konnte Footballstadien füllen, aber mein Ruhm war wie ein dubioses Zeugnis, das von keiner Hochschule akzeptiert wird. Auch Promoter wollten mich nicht einmal mit der Kneifzange anfas‐ sen. Sie hatten sich zu oft die Finger verbrannt, und ihre Wut war noch nicht verraucht. »Ich bin ja ganz auf deiner Seite«, sagten sie, »aber da kann ich nichts machen.« In Wirklichkeit war ich gerade gut genug für Club‐Konzerte. Ich konnte kaum kleinere Hallen füllen. Es gab keine geheimen Abkürzungen, die mich an mein Ziel führen würden — auch Kritiker konnten mich leicht verreißen, und es war kein Verlaß darauf, daß sie Stellung für mich bezogen. Die meisten Musikjournalisten waren ohnehin nur bessere PR‐Agenten. Ich mußte mich auf Mundpropaganda verlassen. Ich würde mich darauf verlassen, als hänge mein Leben davon ab. Mundpropaganda verbreitet sich wie ein Lauffeuer und läßt keinen Widerspruch gelten. Ich wäre gern mindestens zwanzig Jahre jünger gewesen, um noch einmal ganz neu anfangen zu können. Aber was nutzte das? Ich hätte ein wenig Beistand brauchen können, aber ich rech‐ nete nicht damit. Dafür war ich schon zu lange im Geschäft. Ich würde Robertsʹ Rat befolgen und bis zum Frühjahr warten. Ich würde in dem Bewußtsein nach Hause fahren, daß ich auf der Schwelle zu etwas Neuem stand— vielleicht war es nicht so rein wie frischgefallener Schnee, aber es war schon mal etwas, und im Laufe der Jahre würde es wachsen und gedeihen. Bis zum Frühling war es noch lange hin, aber ich konnte mich gedulden. Vielleicht mußte ich mich mit Lektüre versorgen. Wenn die Geschichte erst ins Rollen kam und sich alles von al‐ lein ergab, hatte ich immer noch alle Zeit der Welt. Mein Schick‐ sal leuchtete wie Silber in der Sonne. Das Leben war nicht mehr 159
vergiftet. Ich hatte keinen Grund zur Klage mehr ... und dann geschah es. Mit dem Arm in Gips kam ich aus der Notaufnahme und sackte auf einen Stuhl — mich hatte es schwer erwischt. Es war, als habe sich ein schwarzer Leopard in mein wundes Fleisch verbis‐ sen. Es schmerzte fürchterlich. Gerade hatte ich noch vor einem mutigen, innovativen und aufregenden Plan gestanden, und jetzt stand ich vor dem Nichts, ich war ruiniert. Vielleicht war damit alles besiegelt, der Weg zu Ende. Noch vor wenigen Stunden hatte alles ganz aussichtsreich und wohlgeordnet ge‐ wirkt. Ich hatte mich auf den Frühling gefreut und es kaum abwarten können, auf der Bühne zu stehen, wo ich Autor, Dar‐ steller, Souffleur, Inspizient, Publikum und Kritiker in einer Person gewesen wäre. Eine nette Abwechslung. Jetzt starrte ich in die Dunkelheit, aus der alles zu kommen schien. Wie Fal‐ staff war ich von einem Theaterstück zum nächsten unterwegs gewesen, aber jetzt hatte mir das Schicksal einen teuflischen Streich gespielt. Ich war nicht mehr Falstaff. Meine leuchtenden Augen waren stumpf, und ich konnte nichts tun. Ich konnte nur stöhnen. Und zwar aus folgendem Grund: Neben der neuen Stimmtechnik, in die ich mein Ver‐ trauen setzte, hatte mir noch etwas anderes bei der Neuerfin‐ dung meiner Songs helfen sollen. Ich hatte mich immer selbst auf der Gitarre begleitet. Ich spielte den Flatpicking‐Stil der Carter Family, und das Spiel war mehr oder weniger Gewohn‐ heit und Routine. Es war immer klar und verständlich gewesen, spiegelte aber nichts von meinem Innenleben wider. Das war auch nicht nötig. Es war ein pragmatischer Stil gewesen, von dem ich mich jetzt ebenfalls verabschieden wollte. Etwas Leben‐ digeres mit schärferen Konturen sollte an seine Stelle treten. 160
Dieser neue Stil war nicht meine eigene Erfindung. Lonnie Johnson hatte ihn mir Anfang der Sechziger gezeigt. Lonnie war ein herausragender Jazz‐ und Bluesmusiker der dreißiger Jahre, der in den Sechzigern immer noch auftrat. Robert John‐ son hatte viel von ihm gelernt. Lonnie nahm mich eines Abends beiseite und zeigte mir einen Spielstil, der auf einem System ungerader statt gerader Zahlen beruhte. Er ließ mich Akkorde spielen und zeigte mir, wie es ging. Es war nur so eine Technik, die ihm geläufig war, die er aber nicht unbedingt einsetzte, weil er so viele unterschiedliche Songs spielte. Er sagte: »Das könnte dir weiterhelfen«, und ich dachte, er weihe mich in ein Geheim‐ nis ein, obwohl ich damals nichts damit anzufangen wußte, weil ich mich nur mit Hilfe der Schlagtechnik verständlich machen konnte. Es ist ein sehr kontrolliertes System, das sich auf die Töne einer Tonleiter bezieht — wie sie sich numerisch kombi‐ nieren lassen, wie Melodien aus Triolen entstehen und nach welchen Gesetzmäßigkeiten die Noten den Rhythmus und die Akkordwechsel beeinflussen. Ich hatte diesen Stil nie verwen‐ det, weil mir nicht eingeleuchtet hatte, wozu er gut sein sollte. Aber jetzt fiel mir auf einmal alles wieder ein, und mir wurde klar, daß diese Art zu spielen frischen Wind in meine Welt brin‐ gen würde. Die Methode funktioniert abhängig von der Struktur und der Synkopierung eines Stücks mehr oder weniger gut. Nur wenige würden sich dazu bekehren lassen, weil sie nichts mit Technik zu tun hatte und Musiker ihr ganzes Leben an ihrer technischen Perfektion feilen. Reine Instrumentalisten hätte diese Methode wahrscheinlich überhaupt nicht inter‐ essiert. Für mich war sie leicht zu erlernen. Ich verstand die Regeln und die zentralen Elemente, weil Lonnie sie mir so un‐ mißverständlich vorgeführt hatte. Es war jetzt an mir, alles ab‐ zuwerfen, was nicht dazu paßte. Ich wollte mir den Stil aneignen und dazu singen. 161
Das System funktioniert zyklisch. Weil man in ungeraden Zahlen denkt statt in geraden, spielt man mit einem anderen Wertesystem. In der Regel basiert Unterhaltungsmusik auf der Zahl 2 und wird dann mit Strukturen, Farbe, Effekten und technischen Spielereien angereichert, bis man die gewünschte Wirkung erzielt. Aber der Gesamteindruck ist gewöhnlich der einer deprimierenden, bedrückenden Sackgasse, die später al‐ lenfalls noch von nostalgischem Interesse ist. Wenn man ein ungerades Zahlensystem anwendet, stellen sich automatisch Effekte ein, die einem Auftritt Kraft verleihen und ihn für alle Zeiten unvergeßlich machen. Man braucht nicht zu planen oder vorauszudenken. Eine diatonische Tonleiter hat acht Noten, eine pentatonische fünf. Wenn man erstere verwendet und die zweite, die fünfte und die siebte Stufe in einer Phrase anschlägt und das Ganze wiederholt, entsteht eine Melodie. Oder man nimmt dreimal die zweite Stufe. Oder einmal die vierte und zweimal die siebte. Man kann endlos viel damit anstellen, und jedesmal ergeben sich neue Melodien. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Ein Song läuft auf mehreren Ebenen wie von selbst, und man kann musikalische Konventionen links liegen lassen. Man braucht lediglich einen Schlagzeuger und einen Bassisten, und solange man sich an das System hält, treten alle Mängel in den Hintergrund. Wenn man das geringste bißchen Phantasie hat, kann man Töne in Intervallen und zwischen den Backbeats anschlagen, Kontrapunktlinien finden und als Basis für den Gesang benutzen. Dahinter steckt kein Geheimnis, und es ist auch kein technischer Trick. Es ist eine reelle Methode. Für mich hätte dieser Stil enorm viele Vorteile, wie ein fein ausgesponnener Bauplan, der die Struktur aller meiner Songs bestimmte. Der Zuhörer würde die Dynamik unmittelbar er‐ kennen und spüren. Man konnte jederzeit Gas geben oder bremsen, und die Ausdrucksform der einzelnen Songs war ganz 162
unberechenbar. Und weil das Ganze nach seinen eigenen ma‐ thematischen Gesetzen funktioniert, kann nichts schiefgehen. Ich verstehe nichts von Zahlendeutung. Ich weiß nicht, wa‐ rum die Zahl 3 metaphysisch mächtiger ist als die 2, aber es ist nun mal so. Leidenschaft und Enthusiasmus reichen manchmal schon aus, um ein Publikum mitzureißen, aber hier sind sie gar nicht erforderlich. Man kann aus dem Nichts eine tragfähige Grundlage erschaffen, und unendlich viele Strukturen und Li‐ nien verbinden die Tonarten miteinander — alle von trügeri‐ scher Schlichtheit. Mit denkbar geringstem Kraftaufwand ge‐ winnt man an Energie, und man kann sich darauf verlassen, daß die Zuhörer ihre eigenen Querverbindungen herstellen, was sie in aller Regel auch tun. Selbst wenn man sich verrechnet, hat das keine gravierenden Folgen. Sobald man den Fehler er‐ kannt hat, kann man den dynamischen Aufbau im Handumdre‐ hen korrigieren. Es ist zweifellos ein Stil, von dem man als Sänger profitiert. Perfekt eignet er sich für Songs, die sich am Folk orientieren, und für Jazz‐Blues‐Songs. Ich mußte so spielen, brauchte mich damit aber nicht in den Vordergrund zu drängen, weil ich in der Regel mit einer Band auftrat, und es dann naheliegt, alle In‐ strumentalstimmen einzubeziehen. Ich hatte keine Zeit, mich damit zu befassen. So schnell konnte ich das nicht hinbekom‐ men. Ich mußte subtiler vorgehen. Vielleicht, dachte ich, wäre der Effekt größer, wenn ich mein eigenes Instrument in der ab‐ gemischten Fassung verschwinden ließ, so daß nur ich es hören konnte. Ich wollte ja nicht Leadgitarre spielen; ich wollte nie‐ manden beeindrucken. Ich brauchte das Gitarrenspiel nur als Gerüst zur Unterstützung meiner Phrasierung beim Singen. Am liebsten hätte ich meine Songs einem Musikwissenschaftler mehrere Male vorgespielt, und der hätte dann die Grund‐ lagen einer Orchesterversion geschrieben. Das Orchester hätte 163
sogar die Vokalmelodie spielen können. Und ich selbst hätte überhaupt nicht mehr anwesend sein müssen. Der Unterschied bestand darin, daß es auf den Aufnahmen meiner bisherigen Songs keinerlei bewegliche Arrangements gab. Im Studio waren die Songs nur skizziert, aber nie ausgear‐ beitet worden. Es hatte immer zu viele Probleme gegeben — den Kampf mit der Textphrasierung, Textänderungen, Änderungen der Melodie, Tonarten, Tempi und so weiter, die unablässige Suche nach dem Stilcharakter eines Songs. Wer mir seit Jahren zugehört hatte und meine Songs zu kennen glaubte, den würde es vielleicht in gelindes Erstaunen versetzen, wie sie jetzt ge‐ spielt werden sollten. Der Gesamteindruck wäre ein körper‐ licher, und aus den Triolen würden sich immer neue Melodien ergeben. Das — und nicht primär der Text — wäre die eigentliche Triebfeder der Songs. Ich setzte mein ganzes Vertrauen in die‐ ses System und war mir sicher, daß es funktionierte. Ich spielte gern mit dieser Technik. Viele Leute würden sagen, daß die Songs umgemodelt worden seien, und andere, daß sie sich von Anfang an so hätten anhören sollen. Jeder nach seiner Façon. Als ich verstanden hatte, was ich da machte, wurde mir klar, daß ich nicht der erste war, daß Link Wray in seinem klassi‐ schen Song »Rumble« vor vielen Jahren genauso vorgegan‐ gen war. Der Song hatte keinen Text, aber Link hatte mit dem gleichen Zahlensystem gespielt. Ich wäre nie darauf gekom‐ men, mich zu fragen, woher der Song seine durchschlagende Wirkung bezog, weil ich zu sehr vom Klang des Stücks gefesselt gewesen war. Ich meinte dasselbe auch schon bei Martha Ree‐ ves erlebt zu haben. Vor ein paar Jahren hatte ich sie in New York mit der Motown Revue gehört. Ihre Band konnte nicht mit ihr Schritt halten, hatte keine Ahnung, was sie da vor dem Mikro veranstaltete, und mühte sich ab, ihr zu folgen. Martha spielte Triolen auf dem Tamburin, das sie dicht ans Ohr hielt, 164
und sie phrasierte den Song, als sei das Tamburin ihre ganze Band. Ein Tamburin ist kein Melodieinstrument, aber das Kon‐ zept war ganz ähnlich. Als Lonnie mir das alles vor so vielen Jahren auseinanderge‐ setzt hatte, war es mir vorgekommen, als spreche er eine fremde Sprache. Ich verstand die Etymologie, aber ich wußte nicht, wie man das Ganze anwenden sollte. Jetzt war der Groschen ge‐ fallen. Jetzt konnte ich mich damit befassen. Mit einer neuen Zauberformel, die meiner Stimme eine manifeste Präsenz ver‐ lieh, konnte ich neue Höhenflüge antreten und alle meine Lei‐ chen im Keller loswerden, ohne mich bewußt darum kümmern zu müssen. Hypnotisierende Triolenmotive. Ich konnte mich sogar selbst hypnotisieren. Und zwar jeden Abend. Keine Er‐ schöpfung, kein Überdruß. Mehr technische Theorie hatte ich nicht nötig. Ich brauchte nicht mehr vor einem Schattenheer gesichtsloser Massenmenschen aufzutreten. Natürlich würden manche sich weiterhin nur auf den Text konzentrieren und sich vielleicht überrumpelt fühlen, weil das Rhythmusgitarrenspiel mit seiner Two‐Beat‐Betonung, das sie so lange gewöhnt waren, jetzt gegen den Strich gebürstet war, andere Schwerpunkte setzte und die Songs in eine Sphäre beförderte, von der sich niemand etwas hatte träumen lassen. Aber egal, das würden die Leute schon aushalten. Ich war sowieso zu lange nur ein Ausstellungsstück im welt‐ lichen Tempel eines Museums gewesen. Das Ganze ist nicht weiter kompliziert. Es gibt Tausende, wenn nicht Millionen Va‐ riationen dieser Muster, so daß einem nie die Ideen ausgehen. Man gelangt ständig an neue, unerforschte Ausgangspunkte. Es ist kein schwieriges theoretisches Unterfangen, sondern reine Geometrie. Ich verstehe nicht viel von Mathe, aber ich weiß, daß das Universum mathematischen Prinzipien gehorcht, ob ich sie nun begreife oder nicht, und von diesen Prinzipien 165
wollte ich mich leiten lassen. Dann würde auch mein Gitarren‐ spiel im Gleichklang mit meiner Stimme zur treibenden Kraft werden, und ich wollte verschiedene Algorithmen zum Einsatz bringen, die dem Ohr unvertraut sind. Sie sollten ihm vertraut sein, aber sie sind es eben nicht. Das Ganze widerfuhr mir genau zur richtigen Zeit. Jetzt fügte sich eines zum anderen. Meine zum Teil zwanzig Jahre alten Texte würden musikalisch explodieren wie eine Eiswolke. Niemand arbeitete mit dieser Technik, die für mich ein neuer Musikstil war. Streng und orthodox. Kein bißchen improvisiert. Das Gegenteil einer Improvisation. Improvisation hätte mir nichts genützt, im Gegenteil, sie hätte mich in die falsche Richtung geführt. Man ist auch nicht auf eine bestimmte Ge‐ mütsverfassung angewiesen, wenn man so spielen will. Es geht dabei nicht um Gefühle. Das war ein weiterer Vorteil. Ich hatte viele Songs seit langer Zeit herumliegen lassen wie erlegte Ka‐ ninchen. Das würde nicht wieder vorkommen. Aber ich brauch‐ te beide Hände. Wenn ich nicht spielen konnte, dann konnte ich auch nichts besser machen als je zuvor. Dann konnte ich die Perfektion vergessen. Um die Mittagszeit schlurfte ich durch meinen altmodischen Garten. Quer über das leere Grundstück zu einer Böschung mit Feldblumen, zu meinen Pferden und Hunden; der Wind trug den erstickten Schrei einer Möwe herüber. Ich ging zum Haupt‐ haus zurück und erhaschte zwischen den dichten Zweigen der Kiefern hindurch einen Blick aufs Meer. Die Entfernung war groß, aber unter den Farben konnte ich seine Macht spüren. Es war, als sei ein Netz auf mich herabgefallen, und wenn ich wegzulaufen versuchte, würde ich mich nur noch weiter darin verheddern. Meine Hand war ziemlich mitgenommen und ganz 166
taub. Vielleicht heilte sie nicht, vielleicht würde sie nie wieder so werden wie zuvor, und je eher ich mich damit abfand, desto besser. Die teuflische Ironie des Schicksals. Ich hatte einen ganz gewaltigen Tritt in den Hintern bekommen. Wahrscheinlich hätte ich stählerne Unterwäsche tragen sollen. Gegen Ende der Woche verbesserte sich meine Stimmung ein wenig, als ich mir in der Schule ein Theaterstück ansah, in dem eine meiner Töchter mitspielte. Die kreative Energie auf der Bühne brachte mich wieder zur Vernunft. Mittendrin erreichte mich noch eine schlechte Nachricht: Meine Einundzwanzig‐ Meter‐Jacht war in Panama auf ein Riff gelaufen. In der Nacht hatte man die Hafenleuchtfeuer falsch gedeutet. Beim Zurück‐ setzen war dann das Ruder gebrochen. Die Jacht kam nicht frei und wurde vom Wind noch weiter auf das Riff geschoben. Eine Woche lang lag sie auf der Seite, aber es war zu spät. Beim Versuch, sie vom Riff zu ziehen, rissen viele Schleppleinen. Schließlich holte sich das Meer zurück, was ihm gehörte, und die Jacht war dahin. In den zehn Jahren, die ich sie besessen hatte, war ich mit meiner Familie durch die ganze Karibik ge‐ segelt und hatte auf allen Inseln von Martinique bis Barbados Station gemacht. Diesen Verlust konnte ich leichter verschmer‐ zen als den der Gesundheit meiner Hand, aber ich war dankbar für das Boot gewesen, und die Nachricht bereitete mir eine böse Überraschung. Eines Abends schaltete ich den Fernseher ein und sah den Soul‐Sänger Joe Tex in Johnny Carsons »Tonight Show«. Joe sang und verschwand. Johnny redete nicht mit ihm wie mit sei‐ nen anderen Gästen. Er saß nur hinter seinem Schreibtisch und winkte ihm nach. Carson redete gern mit seinen Gästen über Golf und alles mögliche, aber Joe hatte er nichts zu sagen. Ich nahm an, daß er mir genauso wenig zu sagen gehabt hätte. Seine Gäste wollten immer witzig sein, gute Miene machen, 167
nicht die Fassung verlieren und wie Gene Kelly auch im strö‐ menden Regen singen. Ich hätte mir dabei eine Lungenentzün‐ dung geholt. Man mußte so tun, als sei alles in bester Ordnung. Wie Joe Tex hatte ich nie so richtig zum Mainstream gehört. Ich dachte darüber nach, wieviel näher ich ihm stand als Carson. Ich schaltete den Fernseher wieder aus. Draußen hörte ich einen Specht im Dunkeln an einen Baum hämmern. Solange ich lebte, würde ich mich mit irgendwas be‐ schäftigen. Was sollte ich mit dem Rest meines Lebens anfangen, wenn meine Hand nicht heilte? Jedenfalls nicht im Musik‐ business arbeiten, soviel war sicher. Dazu würde ich so weit wie nur möglich auf Abstand gehen. Ich sann über die Businesswelt nach. Was konnte einfacher oder eleganter sein, als dort sein Glück zu versuchen? Vielleicht war es ja ganz interessant, zur Abwechslung mal ein konventionelles Leben zu führen. Ich plante voraus. Ich rief einen Freund an, und er stellte den Kon‐ takt zu einem Makler her, der unabhängige Unternehmen kaufte und verkaufte. Mit einem eigenen Unternehmen bei Null anzu‐ fangen, das kam nicht in Frage. Ich sagte ihm, ich dächte darüber nach, meine ganze Habe abzustoßen und mir etwas anderes dafür zuzulegen. Was denn so im Angebot sei, wollte ich wissen. Er kam vorbei und brachte Broschüren über alle nur er‐ denklichen Geschäfte mit — Zahlen und Daten bis ins allerklein‐ ste Detail ... unabhängige Unternehmen landauf, landab‐Zuk‐ kerrohr, Laster und Traktoren, eine Holzbeinfabrik in North Carolina, eine Möbelfabrik in Alabama, eine Fischfarm, Blu‐ menplantagen und so weiter. Ich war überfordert. Wenn ich mir das Zeug nur ansah, spürte ich schon einen Druck hinter den Augen. Wie sollte man sich da entscheiden, vor allem, wenn einen der ganze Plunder im Grunde nicht sonderlich interes‐ sierte? Mein zuverlässiger Gehilfe und Mechaniker, der mir in seiner praktischen Art immer zur Seite stand, sagte: »Laß mich 168
mal machen, Chef. Ich guck mir das mal an und such das Beste raus.« Ich wußte, daß er das konnte — in die Welt hinausziehen und etwas finden. Aber ich wollte nichts überstürzen, nichts tun, was ich später bereuen würde. Ich sagte dem Makler, ich würde mich ein andermal konkreter festlegen. Ich war nicht allzu scharf auf eine weitere Verabredung. Ich sah immer weniger Tageslicht. Ich lehnte mich in einem Stuhl zurück, nur für ein Viertelstündchen, und wachte zwei oder drei Stunden später wieder auf — ich ging irgend etwas ho‐ len und vergaß, was ich hatte holen wollen. Ich war froh, daß meine Frau da war. In solchen Zeiten ist es gut, wenn man mit jemandem zusammen ist, der die eigenen Wünsche kennt und teilt und offen ist für die eigene Energie, statt sich abzuschot‐ ten. Ich verdankte es meiner Frau, daß ich mich nicht wie von allen guten Geistern verlassen fühlte. Eines Tages trug sie eine verspiegelte Sonnenbrille, in der ich mich im Miniaturformat sehen konnte. Wie winzig doch alles geworden ist, dachte ich. Ich hatte nicht das geringste Bedürfnis danach, neue Songs zu komponieren. Es war sowieso schon lange her, daß ich die letzten geschrieben hatte. Damit war Schluß; ich riß mich ein‐ fach nicht mehr darum. Auf meinen letzten Platten waren nur wenige Kompositionen von mir selbst gewesen. Was das an‐ ging, hätte ich nicht gleichgültiger sein können. Ich hatte eine ganze Menge Songs geschrieben, und damit gut. Ich hatte alles getan, was man eben tun mußte, um nach oben zu kommen — ich hatte mein Ziel erreicht und keinen großen Ehrgeiz mehr. Das war längst vorbei. Wenn sich dann und wann eine Idee ein‐ stellte, versuchte ich gar nicht mehr, zu ihren Wurzeln vorzu‐ dringen. Ich konnte die Idee leicht abschütteln, konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, ihr zu folgen. Ich rechnete nicht damit, jemals wieder zu schreiben. Ich brauchte sowieso keine neuen Songs. 169
Das änderte sich eines Nachts, als alle schliefen und ich am Küchentisch saß, vor mir die Aussicht auf die schimmern‐ den Lichter auf dem gegenüberliegenden Berghang. Ich schrieb ungefähr zwanzig Strophen für einen Song, den ich »Political World« nannte, und ich glaube, das war der erste von zwan‐ zig Songs, die ich im Laufe des nächsten Monats schreiben sollte. Sie kamen einfach aus dem Nichts. Vielleicht hätte ich sie nicht geschrieben, wenn ich mich damals nicht so un‐ brauchbar gefühlt hätte. Kann sein, kann auch nicht sein. Sie schrieben sich leicht, sie trieben mit der Strömung den Fluß hinunter. Sie waren weder unklar noch entlegen— sie standen mir deutlich vor Augen, aber wenn ich sie zu genau fixierte, verschwanden sie. Songs sind wie Träume, die man wahrzumachen versucht. Sie sind wie fremde Länder, die man bereist. Man kann überall Songs schreiben, im Zug, auf einem Boot, beim Reiten — Bewe‐ gung ist hilfreich. Manchmal schreiben Leute mit dem größten Talent zum Songwriting keinen einzigen Song, weil sie sich nicht bewegen. Bei diesen Songs bewegte ich mich nicht, jeden‐ falls nicht äußerlich. Trotzdem brachte ich sie alle so zu Papier, als wäre ich unterwegs gewesen. Manchmal kann das, was man um sich herum sieht oder hört, einen Song beeinflussen. Viel‐ leicht war »Political World« vom aktuellen Geschehen inspiriert. Der heiße Wahlkampf, der um das Amt des Präsidenten tobte, konnte niemandem entgehen. Aber Politik als Kunstform interessierte mich nicht, daher glaube ich nicht, daß das schon alles war. Der Song ist zu breit angelegt. Die politische Welt, um die es geht, ist eher eine Unterwelt, nicht die Welt, in der Menschen leben, sich abrackern und sterben. Ich hatte das Ge‐ fühl, daß mir mit dem Song irgendein Durchbruch gelungen 170
war. Es schien, als sei ich aus einem tiefen, betäubten Schlaf er‐ wacht — jemand schlägt auf einen kleinen silbernen Gong, und du kommst wieder zu dir. Der Song hatte etwa doppelt so viele Strophen wie die Fassung, die später aufgenommen wurde. Strophen wie: »We live in a political world. Flags flying into the breeze. Comes out of the blue — moves towards you — like a knife cutting through cheese.« Am anderen Ende der Küche drang silberner Mondschein durch das bleigefaßte Fenster und illuminierte den Tisch. Mit dem Song ging es nicht mehr so richtig voran. Ich hörte auf zu schreiben und lehnte mich im Stuhl zurück. Mir war nach einer guten Zigarre und einem Vollbad zumute. Das war mein erster Song seit langem, und er sah aus wie von einer fremden Klaue niedergeschrieben. Ich wußte, daß ich ihn verwenden konnte, wenn ich je wieder eine Platte aufnehmen sollte. Mir war klar, daß ich selbst in dem Song keine Rolle spielte, aber das war mir recht; ich wollte gar nicht darin vorkommen. Ich legte den Text in eine Schublade — spielen konnte ich dazu ohnehin nicht — und erwachte aus meiner Trance. Auf der Straße neben der Garage hörte man das tiefe Brum‐ men eines Motorrads, und ich machte das Fenster weiter auf — der Wind trug den Geruch der Granatapfelblüten zu mir her‐ über. Ich ließ den Blick weithin über die urzeitliche Landschaft schweifen. Es war lange her, daß ich zuletzt einen Song ohne Unterbrechung von Anfang bis Ende geschrieben hatte. »Poli‐ tical World« erinnerte mich an einen anderen Song, den ich vor ein paar Jahren geschrieben hatte, »Clean‐Cut Kid«. Darin war ich auch nicht vorgekommen. Im Laufe derselben Woche gingen wir ins Theater und sahen Eugene OʹNeills Eines langen Tages Reise in die Nacht. Das Stück war schwer zu ertragen, Familienleben von seiner schlimmsten Seite, egozentrische Morphiumsüchtige. Ich war froh, als es vor‐ 171
bei war. Diese Leute taten mir leid, aber sie berührten mich nicht. Danach schauten wir bei Harvelleʹs vorbei, einem kleinen Blues‐ Club in der 4th Street, wo wir Guitar Shorty und J. J. »Badboy« Jones sehen wollten. Ein Auftritt von Shorty ist immer etwas Be‐ sonderes. Er spielt Gitarre mit allem, nur nicht mit den Händen. Das hätte ich auch gern gekonnt. Shorty hört sich an wie Guitar Slim, aber seine wilden Verrenkungen kann man sich bei Guitar Slim nicht vorstellen. Als wir auf der 4th Street zum Auto zu‐ rückgingen, vertrieben gerade ein paar Cops einen Obdachlosen, der sich die Hände vors Gesicht hielt. Ein kleiner Spaniel lag ihm zu Füßen und folgte mit seinen schwarzen Knopfaugen den ner‐ vösen Bewegungen seines Herrchens. Ich hatte nicht den Ein‐ druck, daß die Polizisten stolz auf ihre Arbeit waren. Später in dieser Nacht begann ich mit der Arbeit an »What Good Am I?« ... ich schrieb den Song in einem kleinen Atelier auf dem Grundstück. Es ist nicht nur ein Atelier. Es beherbergt auch ein Lichtbogenschweißgerät, und ich hatte in dem scheu‐ nenartigen Raum schon verschnörkelte Eisentore aus Altmetall hergestellt. Der nackte Zementboden ist teilweise mit Linoleum ausgelegt. Es gibt einen Tisch und ein Fenster mit herunterge‐ lassener Jalousie, das auf eine Schlucht hinausgeht. Der ganze Song flog mir auf einmal zu; ich weiß nicht, was der Auslöser war. Vielleicht hatten der Obdachlose, der Hund, die Cops, das trostlose Theaterstück und vielleicht sogar Guitar Shortys Ge‐ kasper etwas damit zu tun. Wer weiß das schon? Manchmal sieht man im Leben Dinge, die einem das Herz zerreißen und den Magen umdrehen, und man versucht das Gefühl festzuhal‐ ten, ohne in die Details zu gehen. Auch hier gab es zusätzliche Strophen. Eine ging so: »What good am I if Iʹm walking on eggs, if Iʹm wild with excitement and wet between the legs? If Iʹm right in the thick of it and I donʹt know why, what good am I?« Ich legte diesen Song zu »Political World« in die Schub‐ 172
lade — ich hätte gern gewußt, was sich die beiden Songs zu sagen hatten. Eine Melodie hatten sie beide nicht. Ich ging schlafen. Meine Mutter und meine Tante Etta waren zu Besuch, und weil sie vorhatten, früh aufzustehen, wollte ich auch früh wach sein. Am nächsten Tag war der Himmel grau, und Nebel hing in der Luft. Meine Tante war in der Küche, und ich setzte mich zum Reden und Kaffeetrinken zu ihr. Im Radio liefen die Mor‐ gennachrichten. Zu meiner Überraschung hörte ich, daß der Basketballspieler Pete Maravich auf einem Basketballplatz in Pasadena zusammengebrochen war — er war gestürzt und nicht wieder aufgestanden. Ich hatte Maravich einmal in New Orleans spielen gesehen, als die Utah Jazz noch New Orleans Jazz hießen. Er war sehenswert gewesen — brauner Haarschopf, Schlabbersocken — der Schrecken der Basketballwelt — ein schwereloser Magier des Spielfelds. An dem Abend, als ich ihn sah, dribbelte er den Ball mit dem Kopf, traf einmal rückwärts und ohne hinzusehen — dribbelte durch die ganze Halle, warf den Ball so, daß er vom Spielbrett abprallte, und fing seinen eigenen Paß. Er war phantastisch. Am Ende hatte er um die achtunddreißig Punkte gemacht. Er hätte blind spielen können. Pistol Pete spielte schon länger nicht mehr in der Profiliga und galt als vergessen. Aber ich hatte ihn nicht vergessen. Manche Leute verblassen ein bißchen, aber wenn sie dann wirklich ab‐ treten, ist es, als wären sie nie verblaßt. Am selben Tag, an dem ich die traurige Nachricht von Pistol Pete gehört hatte, fing ich mit »Dignity« an und brachte den Song von Anfang bis Ende zu Papier. Ich setzte mich am frühen Nachmittag an den Schreibtisch, um die Zeit, als die Morgen‐ nachrichten langsam in den Hintergrund traten, und brauchte den Rest des Tages dazu, bis in die Nacht. Es war, als hätte ich den Song vor mir gesehen und ihn überholt — als hätte ich alle Figuren des Songs gesehen und beschlossen, mein Glück mit 173
ihnen zu versuchen. Manchmal fällt es mir schwer, mir die richtigen Namen von Leuten zu merken, deshalb gebe ich ihnen andere Namen, die sie genauer beschreiben, und so verfuhr ich bei diesem Song mehr oder weniger durchgehend. Es gab noch mehr Strophen mit anderen Figuren in verschiedenen Konstel‐ lationen. The Green Beret, The Sorceress, Virgin Mary, The Wrong Man, Big Ben, The Cripple und The Honkey. Ich hätte ewig so weitermachen können. Alle möglichen Charaktere tauchten in dem Song auf, überlebten aber aus dem einen oder anderen Grund nicht. Ich hatte das gesamte Stück im Kopf— Rhythmus, Tempo, Melodie, alles. An diesen Song würde ich mich immer erinnern. Der Wind konnte ihn mir nicht aus dem Kopf wehen. Dieser Song war eine feine Sache. In einem sol‐ chen Song kann man immer wieder etwas Neues entdecken. Man hält jemandem eine Taschenlampe ins Gesicht und sieht sich alles an. Und doch ist für mich alles erstaunlich einfach, es gibt keine Komplikationen, alles läuft glatt. Solange das, was man sieht, nicht nur verschwommen und flackernd vorbeizieht, ist alles gut. Liebe, Angst, Haß, Glück — alles ganz unmißver‐ ständlich und mit unzähligen subtilen Verzweigungen. So ist dieser Song. Eine Zeile zieht die nächste nach sich, wie wenn man den linken Fuß nach vorn setzt und der rechte nachfolgt. Hätte ich diesen Song zehn Jahre früher geschrieben, wäre ich sofort damit ins Aufnahmestudio gegangen. Aber jetzt war vie‐ les anders, und mir war das alles nicht mehr so wichtig, ich fand es weniger dringend und zwingend. Ich hatte sowieso keine Lust auf Aufnahmen. Es war so mühsam, und der gegenwärtige Sound gefiel mir nicht— weder mein eigener noch der der an‐ deren. Ich wußte nicht, warum eine im Freien aufgenommene alte Platte von Alan Lomax sich in meinen Ohren besser an‐ hörte, aber es war so. Ich glaubte nicht daran, daß ich noch eine gute Platte machen konnte — nicht in hundert Jahren. 174
Eines Tages fuhr ich ins Krankenhaus, wo der Arzt meine Hand untersuchte und sagte, daß sie gut verheile und sich wo‐ möglich bald wieder etwas Gefühl in den Nerven einstellen werde. Das hörte sich ermutigend an. Ich fuhr zurück nach Hause, wo mein ältester Sohn mit seiner künftigen Frau in der Küche saß. Auf dem Herd köchelte ein dicker Eintopf aus Mee‐ resfrüchten. Ich nahm im Vorbeigehen den Deckel ab und schaute in den Topf. »Was meinst du?« fragte meine zukünftige Schwiegertochter. »Was ist mit der Whiskeysauce?« »Muß noch gemacht werden«, sagte sie. Ich legte den Deckel wieder auf den Topf und ging hinaus zur Garage. Der restliche Tag verging wie ein Windstoß. Der Song »Disease of Conceit« hat eindeutig Anklänge an Gospelsongs. Vielleicht inspirierten mich auch hier wieder äu‐ ßere Ereignisse zu dem Song — manchmal bringen sie den Mo‐ tor in Gang. Vor kurzem hatten die Oberhäupter der Assembly of God den bekannten Baptistenprediger Jimmy Swaggart aus dem Priesteramt verstoßen, weil er sich weigerte, mit dem Pre‐ digen aufzuhören. Jimmy war Jerry Lee Lewisʹ ältester Cousin, ein großer Fernsehstar, und die Nachricht schockierte viele Menschen. Man hatte ihm Kontakte zu einer Prostituierten nachgewiesen; er war gefilmt worden, wie er in Jogginghosen ihr Motelzimmer verließ. Man befahl Swaggart, die Kanzel vorerst zu räumen. Er vergoß öffentlich Tränen und bat um Vergebung, doch das änderte nichts daran, daß er bis auf wei‐ teres nicht predigen durfte. Aber er konnte nicht anders; schon bald predigte er wieder, als sei nichts geschehen, bis man ihn schließlich aus dem Priesteramt warf. Es war eine sonderbare Geschichte. Offensichtlich war Swaggart in keiner guten Ver‐ fassung; er hatte die Straße nicht im Blick gehabt. Ich wurde nicht schlau daraus. Die Bibel ist voll mit solchen Geschichten. 175
Die alten Könige und Herrscher hatten oft viele Frauen und Konkubinen gehabt, und der Prophet Hosea war sogar mit einer Prostituierten verheiratet gewesen, ohne daß es seiner Hei‐ ligkeit Abbruch getan hätte. Aber das waren andere Zeiten ge‐ wesen, und für Swaggart bedeutete es das Aus. Die Realität kann einen erdrücken. Sie kann auch ein Schatten sein, je nach‐ dem, wie manʹs nimmt. Ich für meinen Teil fragte mich, wie die Hure ausgesehen haben mochte, die diesen berühmten Pre‐ diger dazu verleitet hatte, sich mit ihr im Dreck zu wälzen. Eine junge Dame von unwiderstehlicher, statuengleicher Schönheit? Wahrscheinlich. Es mußte wohl so sein. Wenn man sich auch nur am Rande mit diesem ganzen Micky‐Maus‐Quatsch be‐ faßt, mit der Art, wie diese Leute aus dem Glashaus mit Steinen werfen, kann man im Irrenhaus landen. Vielleicht hatte dieser Zwischenfall mich irgendwie zu dem Song inspiriert, aber auch in diesem Fall bin ich mir nicht sicher. Selbstüberschätzung ist nicht unbedingt eine Krankheit, eher eine Schwäche. Ein dün‐ kelhafter Mensch tappt leicht in eine Falle und stürzt von seinem hohen Roß. Bei näherer Betrachtung hat ein eingebildeter Mensch ein trügerisches Selbstwertgefühl, eine übertrieben hohe Meinung von sich selbst. Solche Leute lassen sich voll‐ ständig kontrollieren und manipulieren, wenn man weiß, wel‐ che Knöpfe man drücken muß. Genau darum geht es in meinem Text in gewisser Hinsicht. Der Song gewann an Statur, bis ich ihm in die Augen sehen konnte. In der Abendstille brauchte ich nicht lange nach ihm zu suchen. Wie immer blieben ein paar Strophen auf der Strecke. »Thereʹs a whole lot of people dreaming tonight about the disease of conceit, whole lot of people screaming tonight about the disease of conceit. Iʹll hump ya and Iʹll dump ya and Iʹll blow your house down. Iʹll slice into your cake before I leave town. Pick a number — take a seat with the disease of conceit.« 176
Ich schrieb den Text zu Ende, verließ das Atelier und ging zurück zum Haupthaus. Der Wind strich durch den hohen Bambus. Die schwere verchromte Stoßstange meines mitge‐ nommenen alten Buick glänzte im Mondlicht. Ich hatte das Auto seit Jahren nicht mehr bewegt und überlegte, ob ich es zerlegen und Blechskulpturen daraus anfertigen sollte. In der dunklen Schlucht wucherte das Gestrüpp, und unten trieb sich ein Fuchs oder ein Koyote herum. Die Hunde kläfften und jag‐ ten irgendwas. Die Lichter des Haupthauses strahlten wie das Innere eines Spielcasinos. Ich ging hinein, schaltete sie aus und warf einen Blick auf eine meiner Gitarren, die ich schon länger nicht angerührt hatte. Es widerstrebte mir, sie in die Hand zu nehmen. Ein bißchen Schlaf kann nicht schaden, dachte ich, und dann kroch ich ins Bett. Auch der Song »What Was It You Wanted?« entstand sehr schnell. In meinem Kopf hörte ich den Text und die Melodie, und sie fanden von selbst in einer Molltonart zusammen. Wenn man so einen Song schreibt, muß man mit den eigenen Mitteln haushalten. Wer jemals ein Gegenstand der Neugierde anderer gewesen ist, wird wissen, worum es in dem Song geht. Da gibt es nicht viel zu erklären. Weichherzige, hilflose Menschen schla‐ gen manchmal den größten Krach. Sie können einem gründlich im Weg stehen. Es hat keinen Zweck, ihnen Widerstand zu lei‐ sten oder Gewalt entgegenzusetzen. Manchmal muß man sich einfach die Antwort verkneifen und eine Sonnenbrille aufset‐ zen. Solche Songs sind wie streunende Köter. Sie sind keine gu‐ ten Begleiter. Auch dieses Stück hatte überzählige Strophen. »What was it you wanted? Can I be of any use? Can I do some‐ thing for you? Do I have enough juice? Wherever youʹre off to, one thing you should know. You still got seven hundred miles yet still to go.« Der Song schrieb sich fast von selbst. Er stieg einfach zu mir herab. Ein paar Jahre früher hätte ich ihn viel‐ 177
leicht verworfen und ihn nie zu Ende geschrieben. Das war jetzt anders. Ein anderer Song, »Everything Is Broken«, war mit schnellen, abgehackten Strichen skizziert. Die Bedeutung der Wörter liegt allein in ihrem Klang. Man tanzt mit dem Text. Es geht um Mechanisches. Alles ist kaputt oder sieht zumindest so aus — angeschlagen, gesprungen, reparaturbedürftig. Die Dinge wer‐ den wieder und wieder zerbrochen, neu zusammengesetzt und abermals zerbrochen. Als ich einmal auf Coney Island am Strand lag, sah ich ein Kofferradio im Sand ... ein schönes auf‐ ladbares Modell von General Electric, robust wie ein Schlacht‐ schiff, aber kaputt. Mit diesem Bild aus der Erinnerung hätte ich den Song beginnen lassen können. Aber ich hatte auch sonst viel Kaputtes gesehen — Schüsseln, Messinglampen, Gefäße, Gläser und Krüge, Gebäude, Busse, Gehsteige, Bäume, Land‐ schaften — alles Dinge, deren Anblick einem Unbehagen ver‐ ursacht, wenn sie kaputt sind. Ich dachte an alles Schöne auf der Welt, an alles, was ich in mein Herz geschlossen hatte. Das konnte ein Ort sein, ein Ort, an dem man den Abend beginnen und die ganze Nacht über bleiben kann, aber auch diese Orte gehen kaputt und lassen sich nicht rekonstruieren. Möbel und Glas werden zerschlagen und zertrümmert. Ohne Vorwarnung zerbricht irgend etwas. Manchmal das, woran man am meisten hängt. Es ist verteufelt schwer, irgendwas zu reparieren. Auch hier gab es Zusatzstrophen. »Broken strands of prairie grass. Broken magnifying glass. I visited the broken orphanage and rode upon the broken bridge. Iʹm crossinʹ the river goinʹ to Ho‐ boken. Maybe over there, things ainʹt broken.« Das war der Schuß Optimismus, den ich dem Song mitgab. Am Ende packte ich diese Songs und noch ein paar andere zusammen und steckte sie in die Schublade, und da lagen sie fürs erste gut, aber ich konnte ihre Anwesenheit spüren. 178
Mit der Zeit heilte meine Hand, und — Ironie des Schicksals — ich hörte auf, Songs zu schreiben. Der Arzt redete mir zu, ich solle Gitarre spielen — es sei therapeutisch wertvoll, daß ich meine Hand dehnte, es sei sogar gut für die Hand, und nun spielte ich wieder viel. Im Frühling würde ich meine Konzertreise antreten, und wie es aussah, stand ich wieder ganz am Anfang. Eines Abends kam der U2‐Sänger Bono mit ein paar Freunden zum Dinner. Ein Essen mit Bono ist wie ein Essen im Zug‐ restaurant — man kommt sich dabei vor wie auf Achse, immer in Bewegung. Bono hat die Seele eines antiken Dichters, und man muß behutsam mit ihm umgehen. Er kann brüllen, daß die Wände wackeln. Außerdem ist er ein heimlicher Philosoph. Er brachte einen Kasten Guinness mit. Wir redeten über The‐ men, über die man redet, wenn man irgendwo gemeinsam überwintert — wir unterhielten uns über Jack Kerouac. Bono kennt sich mit Kerouac ziemlich gut aus. Kerouac, der amerika‐ nische Städte wie Truckee, Fargo, Butte und Madora besungen hat— Städte, von denen die meisten Amerikaner nie gehört ha‐ ben. Komisch, daß Bono mehr über Kerouac weiß als die meis‐ ten Amerikaner. Bono sagt Dinge, denen sich niemand entzie‐ hen kann. Er ist wie dieser Typ in den alten Filmen, der einen Verräter mit bloßen Fäusten zusammenschlägt und ihm ein Ge‐ ständnis entreißt. Wäre er zu Beginn des Jahrhunderts nach Amerika gekommen, wäre Bono Polizist geworden. Anscheinend weiß er viel über Amerika, und was er noch nicht weiß, das will er herausfinden. Wir unterhielten uns über das Berühmtsein und waren uns einig über den seltsamsten Aspekt des Berühmtseins: Niemand glaubt einem, daß man es wirklich und wahrhaftig ist. Auch Warhols Name ist durch den Schmutz gezogen worden. War‐ 179
hol, der König des Pop. Zu Warhols Zeiten schrieb ein Kunst‐ kritiker, er sei bereit, jedem eine Million Dollar zu zahlen, der auch nur eine Spur Hoffnung oder Liebe in Warhols Arbei‐ ten finden könne — als ob es darauf angekommen wäre. Namen tauchen in der Konversation auf und verschwinden wieder. Namen, die sich mit Bedeutung aufgeladen haben. Idi Amin, Lenny Bruce, Roman Polanski, Herman Melville, Mose Allison, der Maler Soutine, der Jimmy Reed der Kunstwelt. Wenn Bono oder ich uns bei irgendwem nicht ganz sicher sind, erfinden wir was. Wir können jedes Argument untermauern, indem wir uns über Reales oder Erfundenes auslassen. Wir sind beide nicht nostalgisch, von Nostalgie ist nicht die Rede, da passen wir auf wie die Luchse. Bono erwähnt die Engländer, die hierher ge‐ kommen sind und Jamestown besiedelt haben, und spricht da‐ von, daß die Iren New York gebaut haben— er redet über die In‐ tegrität, den Reichtum, die Pracht, die Schönheit, das Wunder und die Grandiosität Amerikas. Ich sagte ihm, wenn er Ameri‐ kas Geburtsstätte sehen wolle, dann solle er nach Alexandria in Minnesota fahren. Am Tisch saßen nur Bono und ich. Alle anderen hatten sich verzogen. Meine Frau kam vorbei und sagte, sie gehe jetzt zu Bett. »Geh schon mal hoch«, sagte ich, »ich komm gleich nach.« Es dauerte dann aber doch noch eine Weile, und der Kasten Guinness war fast leer. »Wo ist Alexandria?« fragte Bono. Ich erzähle ihm, daß sich dort im 14. Jahrhundert die Wikinger an‐ gesiedelt hatten, daß in Alexandria eine hölzerne Statue steht, ein Wikinger, der kein bißchen wie ein würdiger amerikani‐ scher Gründervater aussieht. Er ist bärtig und trägt Helm und Kilt, geschnürte kniehohe Stiefel, einen langen Dolch in einer Scheide; er hält einen Speer in der Hand und einen Schild, auf dem steht: »Die Geburtsstätte Amerikas«. Bono fragt mich nach dem Weg dorthin, und ich sage ihm, er soll dem Fluß 180
durch Winona, Lake City und Frontenac folgen und dann auf dem Highway 10 bis nach Wadena fahren, links abbiegen auf die 29 und dann immer geradeaus. Man kann es nicht verfeh‐ len. Bono fragte mich, woher ich stammte, und ich sagte ihm, vom Iron Trail, der Mesabi Iron Range. »Was heißt Mesabi?« fragte er. Ich erklärte ihm, das sei ein Ojibwa‐Wort und bedeute »Das Land der Riesen«. Die Nacht rückte vor. Draußen auf dem Meer zogen hin und wieder die Lichter eines Frachters vorbei. Bono fragte mich, ob ich irgendwelche neuen, noch nicht aufgenommenen Songs hätte. Rein zufällig hatte ich welche. Ich ging nach nebenan, holte sie aus der Schublade und zeigte ihm alle. Er blätterte darin und sagte, ich solle die Songs aufnehmen. Ich sagte, da sei ich mir nicht so sicher— und daß ich vielleicht besser Benzin drübergießen sollte. In letzter Zeit hätte ich mich mit Platten‐ aufnahmen schwergetan, es sei nicht sehr gut gelaufen. »Nein, nein«, rief er und erwähnte Daniel Lanois ... U2 hätten mit ihm gearbeitet, und Lanois sei ein hervorragender Partner gewesen — mir könne gar nichts Besseres passieren, als mit ihm ins Studio zu gehen, er habe selbst viel beizutragen. Lanoisʹ musikalische Ideen würden gut zu meinen eigenen passen. Bono griff zum Telefon, rief ihn an und reichte mir den Hörer, und wir unter‐ hielten uns kurz. Er arbeite in New Orleans, sagte Lanois, ich solle mal vorbeischauen, wenn ich in der Gegend sei. Das ver‐ sprach ich ihm. Mit den Aufnahmen hatte ich es jedenfalls nicht eilig. In erster Linie ging es mir ums Auftreten. Wenn ich in diesem Leben noch einmal eine Platte aufnehmen sollte, dann nur in Zusammenhang mit der Absicht, wieder auf der Bühne zu stehen. Ich hatte freie Bahn und wollte die Chance, meine musikalische Freiheit wiederzugewinnen, nicht verspie‐ len. Ich mußte den Dingen ihren Lauf lassen und wollte mich nicht mehr verzetteln. 181
In New Orleans war es Herbst, und ich wohnte im Marie Antoinette Hotel, wo ich im Innenhof mit G.E. Smith, dem Gitarristen meiner Band, am Pool herumsaß. Ich wartete auf Daniel Lanois. Die Luft war klebrig‐feucht. Neben einem höl‐ zernen Spalier an der Gartenmauer hingen über unseren Köpfen Zweige von den Bäumen herab. Seerosen schwammen in dem dunklen, viereckigen Brunnen, und der Steinfußboden war mit unruhig gemusterten quadratischen Marmorplatten ausgelegt. Wir saßen an einem Tisch neben einer kleinen Klio‐Statue mit kaputter Nase. Die Statue schien über unsere Anwesenheit Be‐ scheid zu wissen. Schwungvoll öffnete sich die Tür zum Hof, und Danny trat ein. G. E., der die Welt aus stahlblauen Augen betrachtete, ohne zu zwinkern, sah argwöhnisch auf und be‐ gegnete flüchtig dem Blick von Lanois. »Bis gleich«, sagte G. E., stand auf und ging. Durch den Innenhof schwebten gute Geister und vager Rosen‐ und Lavendelduft. Lanois setzte sich. Er war durch und durch noir — dunkler Sombrero, schwarze Reithosen, hohe Stiefel, Handschuhe — ganz Schatten und Silhouette, ganz verdunkelt, ein schwarzer Prinz aus den schwarzen Bergen. Er hinterließ keine schwarzen Bremsspuren auf dem Weg. Er be‐ stellte sich ein Bier und ich mir ein Aspirin und eine Cola. Er kam sofort zur Sache und fragte, was für Songs ich hätte und wie ich mir die Platte vorstellte. Es war eigentlich keine Frage — nur ein Versuch, das Gespräch zu eröffnen. Nach rund einer Stunde wußte ich, daß ich mit ihm zusam‐ menarbeiten konnte; ich fand ihn überzeugend. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Platte ich machen wollte. Ich wußte nicht einmal, ob die Songs etwas taugten. Ich hatte sie mir nicht mehr angesehen, seit ich sie Bono gezeigt hatte, und der hatte sie wunderbar gefunden, aber wer weiß, wie ernst es ihm damit gewesen war. Die meisten hatten noch nicht einmal Melodien. Danny sagte: »Also, wenn du wirklich willst, kannst du eine 182
phantastische Platte machen.« Ich sagte kurz und bündig: »Ich brauche natürlich deine Hilfe«, und er nickte. Er wollte wissen, ob ich an irgendwelche bestimmten Musiker gedacht hätte. Als ich verneinte, fragte er nach der Band, mit der ich am Vorabend aufgetreten war. »Diesmal nicht«, sagte ich. Er meinte, Hits seien ihm egal. »Miles Davis hat auch nie einen gehabt.« Das war mir ganz recht. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt noch keinen bestimmten Termin ins Auge gefaßt, wir steckten nur die Köpfe zusammen, weil wir herausfinden wollten, ob wir auf der gleichen Wellen‐ länge lagen. Wir redeten fast den ganzen Nachmittag lang, und der violette Schein der untergehenden Sonne verblaßte allmäh‐ lich. Danny fragte, ob ich die Platte hören wollte, die er gerade mit den Neville Brothers aufnahm, und ich sagte, gern. Wir gingen zu seinem improvisierten Aufnahmestudio, das er sich in einer viktorianischen Villa an der St. Charles Avenue einge‐ richtet hatte. Die St. Charles Avenue ist ein Boulevard mit rie‐ sigen Eichen, auf dem eine olivgrüne Straßenbahn eine Strecke von zwanzig Kilometern befährt. Die Neville‐Brothers‐Platte, Yellow Moon, war fast fertig, und wir setzten uns hin und hör‐ ten uns ein paar Playbacks an. Einer der Neville Brothers ruhte sich dort aus, die Hände im Schoß, den Kopf in den Nacken gelegt, die Mütze über die Augen gezogen und die Füße auf einem Stuhl. Zu meiner Überraschung hörte ich Aaron Neville zwei meiner Songs singen, »Hollis Brown« und »With God on Our Side«. Ein merkwürdiger Zufall! Aaron ist einer der besten Sänger der Welt, ein Mann von urwüchsiger Kraft mit einer Statur wie ein Panzer, aber mit einer engelsgleichen Sing‐ stimme, einer Stimme, die eine verdammte Seele erlösen könn‐ te. Es wirkte so widersinnig. Soviel zu Äußerlichkeiten. In seinem Gesang liegt soviel Spiritualität, daß er eine ganze Welt des Irrsinns wieder zur Vernunft bringen könnte. Es überrascht 183
mich immer, wenn ich meine Songs von so überragenden Künstlern höre. Im Laufe der Jahre können Lieder einem fremd werden, aber solche Versionen bringen sie einem immer wieder nahe. Nachdem ich Aarons Interpretation meiner Songs gehört hatte, erinnerte ich mich dunkel, warum wir hergekommen waren. Danny fragte mich, ob es unter meinen neuen Songs etwas Vergleichbares gebe. Wohl kaum, sagte ich, eher nicht, aber das würden wir dann sehen. Die Atmosphäre und das Set‐up gefie‐ len mir sehr. Lanois sagte, er könne noch ein anderes Haus in der gleichen Gegend mieten, das wir dann für die Aufnahmen nutzen könnten. Ich spielte auf dem Klavier ein paar Melodie‐ fragmente zu den Songs, und wir machten Feierabend. Mir war nicht klar, daß er sich diese spontanen Melodien gemerkt hatte und mir später damit in den Ohren liegen sollte. Wir verein‐ barten, daß wir versuchen wollten, uns im nächsten Frühjahr wiederzutreffen. Lanois gefiel mir. Er war nicht übermäßig von sich eingenommen, er wirkte diszipliniert, nicht im geringsten wie ein gerissener Geschäftemacher, und er hatte eine außerge‐ wöhnliche Leidenschaft für die Musik. Wenn irgendeiner die Fackel trug, dann wohl Danny, und vielleicht würde er sie ja an‐ zünden. Ich hatte den Eindruck, daß er so ein Typ war, der beim Arbeiten loslegt, als hänge das Schicksal der ganzen Welt vom Ergebnis ab. Im März würden wir uns wieder treffen, als sei es in den Schriften so geweissagt worden. Im Vorfrühling kam ich nach New Orleans und bezog ein gro‐ ßes Mietshaus in der Nähe vom Audubon Park. Es war ein ge‐ mütliches Haus mit Zimmern von angemessener Größe, recht einfach möbliert, mit Einbauschränken in fast jedem Raum. Eine bessere Unterkunft für mich hätten wir nicht finden kön‐ 184
nen. Das Haus war schlicht perfekt. Hier konnte man in Ruhe arbeiten. Im Studio warteten sie auf mich, aber ich hatte keine Lust, etwas zu überstürzen. Früher oder später würde ich zur Sache kommen müssen, aber morgen war auch noch ein Tag. Ich hatte einen Großteil der Songs mitgebracht und war zuver‐ sichtlich, daß sie sich ganz gut machen würden. Jetzt ging ich erst einmal im Dämmerlicht spazieren. Die Luft war dunstig und berauschend. An der Straßenecke kauerte eine riesige, hagere Katze auf einem Betonvorsprung. Ich trat näher und blieb stehen, und die Katze rührte sich nicht. Schade, daß ich keine Milch dabeihatte. Hellwach nahm ich alles um mich herum wahr. Als erstes fallen einem in New Orleans die Beer‐ digungsstätten auf, die Friedhöfe — sie sind eine kalte Mahnung und gehören zum Besten, was die Stadt zu bieten hat. Man geht so leise wie möglich daran vorbei, man läßt sie alle besser schla‐ fen. Griechische, römische Grabstätten— palastartige, indivi‐ duell gestaltete Mausoleen, gespenstische Zeichen und Sym‐ bole eines verborgenen Verfalls — die Geister der toten Sünder und Sünderinnen, die nun die Gräber bewohnen. Die Vergan‐ genheit verblaßt hier nicht so schnell. Hier kann man lange tot sein. Die Gespenster strömen zum Licht, fast kann man ihr schweres Atmen hören — lauter Geister, die ihrem Ziel ent‐ gegenstreben. Viele Orte haben ihre Magie eingebüßt, wenn man sie wieder aufsucht — nicht so New Orleans. Die Nacht kann einen verschlucken, aber das berührt einen nicht. Hinter allen Ecken warten Verheißungen des Gewagten und Vollende‐ ten, und alles kommt gerade erst in Schwung. Hinter jeder Tür findet entweder irgendwas obszön Vergnügliches statt, oder jemand stützt den Kopf in die Hände und weint. Ein träger Rhythmus liegt in der traumgeschwängerten Luft, und die At‐ mosphäre pulsiert von vergangenen Duellen, entschwundenen Liebschaften, Kameraden, die andere Kameraden um Beistand 185
bitten. Man sieht es nicht, aber man spürt es. Irgendwer geht immer gerade unter. Fast jeder scheint aus einer uralten Süd‐ staatenfamilie zu stammen. Entweder das, oder er ist Ausländer. Mir gefällt das. Mir gefallen viele Städte, aber New Orleans ist mir die liebste von allen. Jeder Augenblick bietet tausenderlei Perspektiven. Man kann jederzeit in ein Ritual zu Ehren irgendeiner entfernt bekannten Königin hineingeraten. Blaublütige Leute mit Adels‐ titeln lehnen wie irre Säufer matt an den Wänden und schlep‐ pen sich durch die Gosse. Und selbst sie erwecken den Eindruck, daß sie Einsichten gewonnen hätten, die man sich vielleicht gern anhören würde. Nichts, was man tut, wirkt unpassend. Die Stadt ist ein einziges langes Gedicht. Gärten voll Stiefmütter‐ chen, rosafarbener Petunien, Opiate. Blumengeschmückte Hei‐ ligenschreine, weiße Myrten, Bougainvillea und violetter Ole‐ ander beleben die Sinne, so daß man sich innerlich erfrischt und abgeklärt fühlt. In New Orleans ist alles eine gute Idee. Kleine Häuschen von tempelartiger Eleganz und märchenhafte Kathedralen stehen nebeneinander. Häuser und Villen, Bauten von wilder Anmut. Italienisches, Gotisches, Romanisches und im Greek‐Revival‐ Stil Erbautes hintereinanderweg im Regen. Römisch‐katho‐ lische Kunst. Weitläufige Vorbauten, Türmchen, gußeiserne Balkone, Säulengänge— zehn Meter hohe Säulen von überwäl‐ tigender Schönheit— Giebeldächer, Architekturstile aus der ganzen Welt, alles steht reglos vor einem. Und dazu ein Stadt‐ platz, auf dem öffentliche Hinrichtungen stattgefunden haben. Beinahe kann man in New Orleans andere Dimensionen er‐ schauen. Es gibt dort nur einen einzigen langen Tag, dann kommt die Nacht, und morgen ist es wieder heute. In den Bäu‐ men hängt chronische Melancholie. Man bekommt es niemals satt. Nach einer Weile fühlt man sich wie ein Geist aus einem 186
der Gräber, wie in einem Wachsfigurenkabinett unter purpur‐ nen Wolken. Geisterreich. Reich des Wohlstands. Lallemand, ein General Napoleons, soll einmal hiergewesen sein, als er nach der Niederlage von Waterloo eine Zuflucht für seinen Be‐ fehlshaber suchte. Er sah sich um und verabschiedete sich mit den Worten, hier sitze der Teufel seine Höllenstrafe ab, so wie alle anderen auch, nur noch schlimmer. Hierher kommt der Teufel, um zu seufzen. New Orleans. Auserlesen, altmodisch. Die beste Wahl für ein Leben aus zweiter Hand. Im Grunde än‐ dert sich nichts, und nichts kann einen erschüttern oder krän‐ ken— ein idealer Ort, um auf richtig gute Ideen zu kommen. Man kriegt irgend etwas vorgesetzt und kannʹs auch austrin‐ ken. Eine schöne Stadt, wenn man Vertrautheit sucht oder ein‐ fach überhaupt nichts tun will. Man kann herkommen und darauf hoffen, daß man schlauer wird — man kann Tauben füt‐ tern, die auf Brosamen warten. Eine schöne Stadt, um Musik aufzunehmen. Das kann gar nicht anders sein — dachte ich je‐ denfalls. Lanois hatte sich in einem seiner patentierten transportablen Studios eingerichtet — diesmal in einer viktorianischen Villa an der Soniat Street in der Nähe des Lafayette Cemetery No. 1: große Fenster mit Fensterläden, hohe gotische Decken, ein umfriedeter Innenhof, dahinter Bungalows und Garagen. Vor den Fenstern hingen dicke Wolldecken, die den Schall dämpfen sollten. Dan hatte eine Truppe sehr unterschiedlicher Musiker zu‐ sammengestellt. Dazu gehörte auch der Gitarrist und Sänger Mason Ruffner aus Fort Worth, der in Bourbon‐Street‐Clubs wie der Old Absinthe Bar auftrat. Ruffner hatte es zu regio‐ nalem Ruhm gebracht, trug die Haare hoch aufgetürmt, und 187
wenn er lächelte, sah man auf einem seiner Goldzähne ein win‐ ziges Bild einer Gitarre. Er hatte ein paar Platten veröffentlicht und beherrschte jede Menge explosiver Licks mit Ecken und Kanten, in denen sich ein Rockabilly‐Tremolo‐Einfluß bemerk‐ bar machte. Er schrieb auch Songs und sagte, er habe in Biblio‐ theken in Texas herumgehangen und Rimbaud und Baudelaire gelesen, um ein Gefühl für die Sprache zu bekommen. Er er‐ zählte mir auch, daß er als Teenager mit Memphis Slim aufge‐ treten sei. Mir schien, da hatten wir etwas gemeinsam. Ich hatte mit Big Joe Williams auf der Bühne gestanden, als ich noch ein halbes Kind gewesen war. Mason hatte ein paar schöne Songs im Repertoire. In einem kam die Zeile vor: »You do good things for people and it just makes them bad.« Vielleicht hätte ich er‐ wogen, den Song aufzunehmen, wenn ich nicht meine eigenen Originale dabeigehabt hätte. Auch der andere Gitarrist, Brian Stoltz aus Slidell, spielte funky und hemmungslos, aber er war entspannter und beherrschte die komplexeren Strukturen — schon seit Jahren trat er mit den Nevilles auf. Brians Licks wa‐ ren durchdacht wie Klavierstücke. Er konnte James‐Booker‐ Riffs vom Klavier auf die Gitarre übertragen. Der E‐Bassist war Tony Hall. Neben dem Schlagzeuger Cyril Neville gab es noch Willie Green an Bassdrum und Snare. Malcolm Burns, Lanoisʹ Toningenieur, spielte Keyboard, und Danny selbst spielte di‐ verse Instrumente— Mandoline, Mandola, eine Gitarre, die wie ein Cello aussah, und noch andere Saiteninstrumente, auch Pla‐ stikinstrumente, die wie Kinderspielzeug wirkten. Danny hatte alles, was man brauchte. Mit dieser Band konnte meiner Meinung nach nichts schief‐ gehen, wenn man keinen groben Unfug anstellte. Als ersten Song holte ich »Political World« heraus, und wir probierten auf die schnelle ein paar Möglichkeiten aus, den Song zu spie‐ len. Ich hatte selbst nichts mitgebracht, also nahm ich eine von 188
Lanoisʹ alten Telecasters — sie hat einen teuflischen Sound, wenn man unter einem Wellblechdach auf einem Betonboden steht, aber manchmal klingt sie zu spröde. Ich spielte sie ganz gern, also blieb ich trotzdem bei meiner Wahl. Wir stellten ein paar Experimente mit »Political World« an, die aber zu nichts führten. Der Eindruck war immer der gleiche. Unser erster Ver‐ such war nicht besser als unser letzter, aber irgendwann im Laufe der Nacht legte sich Lanois auf einen Funk‐Stil fest — er hatte einen Lick von Mason gehört und beschlossen, den gan‐ zen Song darauf aufzubauen. Mittlerweile hörte ich den Song anders als zu Beginn. Beim Spielen war ich zu verschiedenen Schlußfolgerungen gelangt— daß der Text in fragmentierten Rhythmen vielleicht besser funktionierte und daß ich viele Strophen weglassen und einen anders arrangierten Teil einfü‐ gen konnte. Aber zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, was das hätte sein sollen. Ich versuchte dahinterzukommen, was Danny vorschwebte, und wie wir zusammenarbeiten konnten. Das ging nicht in einem Tag oder einer einzigen Session. Man kann durchaus irgendwo, irgendwann und mit irgendwem eine Platte aufneh‐ men, aber in der Praxis kommt das selten vor. Man braucht gleichgesinnte Musiker um sich herum. Bei einem solchen Song hätte ich früher instinktiv die eine oder andere Methode benutzt, aber hier hätte keine davon funktioniert. Früher mal: gut; jetzt: nicht gut. Nach einer Weile war ich nicht mehr bei der Sache, gähnte von Herzen und brach auf. Ich nahm eine Aufnahme von dem Song mit, um mich zu Hause damit zu beschäftigen, und machte mich auf den Heimweg. Als ich am Friedhof vorbeikam, war mir danach, an einem der Gräber zu beten. Später am Abend hörte ich mir an, was wir aufgenommen hatten, und dachte, ich wis‐ se jetzt, was daraus werden sollte. Am nächsten Tag kehrte ich 189
ins Studio zurück, und wieder wurde mir der Song vorgespielt, nur war er inzwischen noch funkiger geworden. Nachdem ich mich am Vorabend verabschiedet hatte, war die Arbeit noch lange weitergegangen. Ruffner hatte torpedoschnelle Licks über meine minimalistischen Telecaster‐Rhythmen gelegt. Meine Gitarre kam in der abgemischten Fassung gar nicht mehr vor. Meine Stimme schwebte irgendwo draußen im Niemandsland, in einem schmalen Grenzstreifen der akustischen Atmosphäre. Der Song war schanghait worden. Man konnte dazu mit dem Fuß wippen, in die Hände klatschen oder mit dem Kopf nicken, aber der Song öffnete einem nicht die Augen für die Tatsachen des Lebens. Es hörte sich an, als stünde ich mitten im Getüm‐ mel, mit jeder Menge Artillerie und Panzern im Hintergrund. Je länger man zuhörte, desto schlimmer wurde es. »O Gott, das ist alles passiert, während ich weg war?« sagte ich zu Lanois. Er sagte: »Was meinst du dazu?« »Ich glaube, es geht an der Sache vorbei.« Ich ging in die kleine Küche hinter dem Innenhof, holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Ein Assistent von Dan saß auf der Couch und sah fern. Das ehemalige Ku‐Klux‐Klan‐Mitglied David Duke aus Métai‐ rie im Jefferson Parish war ins Abgeordnetenhaus von Loui‐ siana gewählt worden und gab ein Interview. Duke sagte, daß Sozialhilfe nicht funktioniere und daß »Arbeitshilfe« besser wäre— Sozialhilfeempfänger sollten für das Gemeinwohl arbei‐ ten, statt sich kostenlos durchfüttern zu lassen. Er wollte auch die Insassen der Staatsgefängnisse zur Arbeit verpflichten. Sie sollten ebenfalls nichts geschenkt bekommen. Ich hatte Duke noch nie gesehen; er sah aus wie ein Filmstar. Ich riß mich zusammen und ging wieder zurück an die Arbeit mit Dan. Mann, dachte ich, wir sind gerade mal beim ersten 190
Song, das sollte doch wohl nicht so schwer sein. Lanois, dem der Klang des Songs gefiel, wollte wissen, was mir daran nicht passe. Ich sagte, so könne man das Stück nicht auf die Leute loslassen. Wir müßten es zurückstutzen. Mit Lanoisʹ Hilfe versuchte ich, dem Song Flügel zu verleihen, aber es half alles nichts. Als er‐ stes wurde Masons Part reduziert, aber jetzt waren die Kick‐ und die Snaredrum fehl am Platz, weil sie sich an ihm orientier‐ ten und nicht an mir. Als mein ursprünglicher Gitarrentrack wie‐ der eingemischt worden war, hing das Schlagzeug in der Luft. Wir verloren zwei oder drei Tage nur mit Herumdaddeln. Bei alldem ging mir allmählich auf, daß der Song mehr von einer lebhaften Ballade haben sollte. Wir nahmen den Song versuchs‐ halber auseinander und bauten chorartige Melodielinien ein, aber das kostete zuviel Zeit. Es half alles nichts. Danny glaubte fest an die Funk‐Version. Ich fand, daß wir aneinander vorbei‐ redeten, und das brach mir langsam das Herz. Einmal kochte er tatsächlich über. Er war so frustriert, daß er einen Tobsuchtsan‐ fall bekam, herumfuhr und eine Dobro mit Metallkorpus wie ein Spielzeug zu Boden schleuderte. Einen Moment lang war es ganz still im Zimmer. Ein junges Mädchen, das Tracks katalogi‐ siert und sich Notizen gemacht hatte, hörte auf zu grinsen und lief weinend hinaus. Das arme Ding. Es tat mir schrecklich leid. Alles ging in die Brüche, und dabei hatten wir noch nicht ein‐ mal angefangen. Wir mußten von dem Song ablassen. Es war entweder noch zu früh oder schon zu spät für »Political World«. Am besten legten wir den Song beiseite und hörten ihn uns spä‐ ter noch einmal an. Vielleicht klang er dann ja besser. So etwas kommt vor. Als nächstes versuchten wir uns an »Most of the Time«. Der Song hatte keine Melodie; ich würde also klimpern müssen, bis ich eine gefunden hatte. Mir fiel keine klare Melodie ein, nur unverbindliche Akkorde, aber Dan meinte, er habe etwas her‐ 191
ausgehört. Daraus entwickelte sich ein langsamer, melancho‐ lischer Song. Danny trug ebensoviel dazu bei wie die anderen Musiker. Er fügte verschiedene Schichten hinzu, und schon bald schien der Song an Haltung und Stoßrichtung zu ge‐ winnen. Das Problem war nur, daß der Text mich nicht dort hinbrachte, wo ich hinwollte, nämlich mitten in den Song. Er war nicht so explosiv, wie er sein sollte. Ich hätte mit Leichtig‐ keit fünf oder sechs Zeilen streichen können, wenn ich die Stro‐ phen anders phrasiert hätte. An und für sich war Dans Bearbei‐ tung goldrichtig, aber es lief genau wie bei dem anderen Song. Als wir weiter daran arbeiteten, fing ich an, das Stück in einem neuen Licht zu sehen. Es handelte offenbar eher von der Zeit selbst als von mir. Ich fand, daß eine Uhr wie Big Ben das ge‐ samte Stück hindurch ticken sollte. Eine Bearbeitung für eine Big Band wäre auch nicht schlecht gewesen. Innerlich hörte ich mich den Song schon zur Begleitung des Johnny Otis Orchestra singen. Ein Großteil des Textes mußte eigentlich umgestellt werden, und ich hatte mittlerweile das Gefühl, in einer Sack‐ gasse zu stecken. Danny legte so viel Stimmung in den Song, wie er nur konnte, und er verhinderte, daß alles auseinan‐ derfiel, aber ich hatte im Grunde keine Lust, den Song wesent‐ lich anders anzugehen. Den Text konnte man ändern, aber die Struktur stand fest. Mit jeder Minute gewann die Melodie an Gewicht und platzte aus allen Nähten. Alles war eingedeicht und zum Stillstand gekommen. Um daraus etwas zu machen, hätte Dan ein Schamane sein müssen. Der unfertige Song war im Laufe unserer Arbeit im‐ mer unfertiger geworden. Ich fragte mich, was ich mir da ein‐ gebrockt hatte. Ich hatte geglaubt, dieser ganze Ärger mit dem Aufnehmen liege hinter mir. Ich mußte mir das nicht antun. Es war nicht so, daß ich das Stück verabscheute, mir fehlte nur der Wille, weiter daran zu arbeiten. Der Text war von so wolkiger 192
Vieldeutigkeit, und der Song enthielt nichts, was sich von selbst verwandelte, da half auch alle Atmosphäre nicht weiter. Nachdem ich eine Weile mit Danny und Malcolm zusam‐ mengesessen und geredet hatte, nahm ich den Song »Dignity« nur mit Brian und Willie auf. Das war unser erster Song, der seine Versprechen einlöste und nicht nur davon träumte. Wir hörten uns das Playback an, und Dan war schwer begeistert. Er sagte, für ihn klinge der Song sehr vielversprechend, und er wollte ihn am nächsten Abend mit Rockinʹ Dopsie and His Cajun Band aufnehmen. So wie wir den Song gerade aufge‐ nommen hatten, mit einem Minimum an Instrumenten und dem Gesang im Vordergrund, fehlte ihm auch nichts, aber ich wußte, was Dan vorhatte, und ich wollte ihm dabei zusehen, deshalb fühlte ich mich nicht unter Druck oder im Stress, nur weil er das Stück noch einmal einspielen wollte. Für mich war das kein abwegiger Gedanke. Auf dem Nachhauseweg kam ich an einem kleinen Kino in der Prytania Street vorbei, wo The Mighty Quinn lief. Vor Jah‐ ren hatte ich einen Song mit dem Titel »The Mighty Quinn« geschrieben, der in England ein Hit gewesen war, und ich hätte gern gewußt, worum es in dem Film ging. Schließlich schlich ich mich einmal davon und sah ihn mir an. Es war ein jamai‐ kanischer Thriller mit Denzel Washington als Xavier Quinn, einem Kriminalbeamten, der Verbrechen aufklärt. Witzig, genau so hatte ich ihn mir beim Schreiben von »The Mighty Quinn« vorgestellt. Denzel Washington. Er muß ein Fan von mir gewesen sein ... Jahre später spielte er den Boxer Hurricane Carter, über den ich ebenfalls einen Song geschrieben hatte. Ich überlegte, ob Denzel wohl Woody Guthrie spielen könnte. In meiner Dimension der Wirklichkeit ganz bestimmt. 193
Im Haus am Audubon Place lief im Radio in der Küche immer WWOZ, der berühmte Sender von New Orleans, der überwie‐ gend frühen Rhythm & Blues und ländliche Gospels aus dem Süden spielt. Mit Abstand mein Lieblings‐DJ war Brown Su‐ gar, eine Frau. Sie legte in der Mitternachtsschicht Platten von Wynonie Harris, Roy Brown, Ivory Joe Hunter, Little Walter, Lightninʹ Hopkins und Chuck Willis auf, lauter große Namen. Sie leistete mir oft Gesellschaft, wenn alle anderen schliefen. Brown Sugar, wer sie auch sein mochte, hatte eine volle, be‐ dächtige, verträumte, honigsüße Stimme und hörte sich an, als habe sie das Format eines Büffels— sie erzählte, nahm Anrufe entgegen, gab Beziehungstips und legte Platten auf. Ich hätte gern gewußt, wie alt sie war und ob sie wußte, wie sehr ihre Stimme mich anzog, mit innerem Frieden und Abgeklärtheit erfüllte und meine Frustration linderte. Es war so entspan‐ nend, ihr zuzuhören. Ich starrte das Radio an. Ich konnte jedes ihrer Worte vor mir sehen. Ich konnte ihr stundenlang zuhö‐ ren. Wo sie war, wollte auch ich unterkommen, mit Haut und Haaren. Ähnlichen Sendern hatte ich als Heranwachsender spät‐ nachts gelauscht. WWOZ erinnerte mich an die Nöte meiner Jugendjahre und beschwor die Stimmung von damals wieder herauf. Wenn es seinerzeit Probleme gegeben hatte, konnte man sich vom Radio die Hand auflegen lassen, und alles war gut. Es gab auch einen Countrysender, dessen Programm in den frühen Morgenstunden anfing, bevor es hell wurde, und der lauter Songs aus den Fünfzigern spielte, viel Western‐Swing— Rhythmen wie Hufgeklapper, Songs wie »Jingle, Jangle, Jin‐ gle«, »Under the Double Eagle«, »Thereʹs a New Moon over My Shoulder«, Tex Ritters »Deck of Cards«, die ich seit gut dreißig Jahren nicht mehr gehört hatte, und Songs von Red Fo‐ ley. Diesen Sender hörte ich oft. Zu Hause hatte man ein ähn‐ 194
liches Programm empfangen können. Auf eine merkwürdige Art war mir zumute, als stünde ich wieder am Anfang, als beginne mein Leben noch einmal von vorn. Es gab auch einen Jazzsender, der überwiegend aktuelle Musik spielte — Stanley Clarke, Bobby Hutcherson, Charles Earland, Patti Austin und David Benoit. New Orleans hatte die besten Radiosender der Welt. Elliot Roberts, der meine Tourneen organisierte, besuchte mich in New Orleans. Er zeigte mir meinen Tourneeplan, und ich war enttäuscht. Der Plan sah ganz anders aus als besprochen. Er enthielt nur ganz wenige Städte, in denen ich im Vorjahr auf‐ getreten war. Die nächsten Konzerte sollten in Europa stattfin‐ den. Ich sagte, das hätten wir so nicht abgemacht und ich müsse in denselben Städten auftreten wie im letzten Jahr. »Du kannst nicht jedes Jahr in denselben Städten spielen, da‐ von kriegt keiner ʹne Erektion. Die Städte mußt du auch mal in Ruhe lassen«, sagte er. »Lass mal gut sein.« Ich verstand, was Elliot meinte, aber das konnte ich nicht hinnehmen. »Ich muß zweimal oder sogar dreimal im Jahr in denselben Städten spielen — das macht überhaupt nichts.« »Du hast dich da ein bißchen vergaloppiert. Du bist ein My‐ thos. Stell dir das so vor wie bei Jesse James. Damals gabʹs jede Menge Bankräuber, jede Menge ausgebrochene Sträflinge, Ban‐ diten, Zugräuber ... aber Jesse James ist der einzige, an den sich die Leute erinnern. Er war ein Mythos. Man spielt nicht jedes Jahr in denselben Städten, man überfällt nicht immer dieselben Banken.« »Hey, das hört sich gut an«, sagte ich. Die Auseinanderset‐ zung war zwecklos, und es hatte keinen Sinn, sich darin zu ver‐ beißen. 195
Ich nahm Robert mit ins Studio, wo Lanois Rockinʹ Dopsie and His Cajun Band schon im großen Salon einquartiert hatte. Gegen neun Uhr fingen wir mit »Dignity« an. Ich wußte, wie Lanois sich die Sache vorstellte, und ich dachte, daß er vielleicht nicht unrecht hatte. Die Kontrastwirkung, die sich ergab, wenn man diesen vom Text dominierten Song mit melodischen Wechseln und einer rockenden Cajun‐Band aufnahm, war mög‐ licherweise ganz interessant ... Probieren geht über Studieren. Kaum hatten wir angefangen, geriet der Song in einen regel‐ rechten Würgegriff. Mehr und mehr wurde der Text von dem stampfenden Rhythmus untergebuttert. Dieser Stil nahm of‐ fenbar gar keine Rücksicht darauf, daß es auch Texte gab. Nach einer Weile waren Dan und ich vollkommen ratlos. Unsere Energie schwand mit jedem Versuch. Wir machten viele Auf‐ nahmen, variierten das Tempo und sogar die Tonart, aber es war wie ein plötzlicher Abstieg in die Hölle. Auf der Demoversion waren nur Willie, Brian und ich zu hören, und sie floß ge‐ schmeidig und mühelos dahin. Natürlich hatte Danny recht, sie klang unfertig, aber welche Aufnahme klingt schon jemals fer‐ tig? Dopsie war fast so frustriert wie ich. Einen seltsamen Tiger hatten wir da am Schwanz gepackt. Dopsie und seine Band wa‐ ren aber nicht aus der Fassung zu bringen. Es ist nicht gerade ein Song nach dem Zwölf‐Takte‐Schema, und wenn er funktionieren sollte, mußte er den Eindruck hervorrufen, man höre etwas Altvertrautes. So aber wurde alles viel zu kompliziert und um‐ ständlich. Der Song brauchte ein Ambiente aus Struktur und Atmosphäre, und gerade darin ist Lanois besonders gut. Ich kam nicht dahinter, warum das nicht klappte. Wenn man stun‐ denlang an etwas arbeitet, wird einem schwindelig. Nach einer Weile verliert man sein Urteilsvermögen. Gegen drei Uhr morgens waren wir ausgebrannt und spielten einfach irgendwelche alten Sachen: »Jambalaya«, »Cheatinʹ 196
Heart«, »There Stands the Glass« — Country‐Klassiker. Wir spielten nur so zum Spaß, wie auf einem Partyboot. Zwei von Dans Toningenieuren hatten sich die ganze Zeit abgewechselt, und es war eine heiße und schweißtreibende Nacht gewesen. Ich trug ein blaues Flanellhemd, das völlig durchgeweicht war. Der Schweiß lief mir über das Gesicht. Mittendrin spielte ich noch einen neuen Song, den ich geschrieben hatte, »Where Teardrops Fall«. Ich zeigte ihn Dopsie, und wir nahmen ihn auf. Das dauerte vielleicht fünf Minuten, und wir hatten nicht geprobt. Am Ende spielte Dopsies Saxophonist John Hart ein schluchzendes Solo, bei dem mir schier die Luft wegblieb. Ich beugte mich vor und warf einen Blick auf das Gesicht des Musi‐ kers. Er hatte die ganze Nacht im Dunkeln gesessen und war mir gar nicht aufgefallen. Er war Blind Gary Davis, dem singenden Reverend, den ich vor Jahren gekannt hatte und dem ich hinter‐ hergezogen war, wie aus dem Gesicht geschnitten. Was machte der denn hier? Der gleiche Mann, die gleichen Wangen, das Kinn, der Hut, die dunkle Brille. Gleiche Statur, gleiche Größe, der gleiche lange schwarze Mantel— alles paßte. Es war unheim‐ lich. Reverend Gary Davis, ein Hexenmeister der modernen Musik ... als ob er wiederauferstanden sei, alles im Blick habe und unermüdlich über das Geschehen wache. Er spähte ganz merkwürdig zu mir herüber, als könne er hinter den Schleier des Augenblicks sehen, als habe er mir eine Schiffsleine zugewor‐ fen. Und mit einemmal weiß ich genau, daß ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige mache und mit Lanois auf das richtige Pferd gesetzt habe. Als sei ich um eine Ecke spaziert und erschaute nun die Vision vom Angesicht eines Gottes. Am nächsten Abend hörten wir uns die verschiedenen »Digni‐ ty«‐Takes an. Lanois hatte sie alle aufgehoben. Es müssen über zwanzig gewesen sein. Alles Verheißungsvolle, das Dan in dem Song gesehen haben mochte, war zu einem Scherbenhaufen zer‐ 197
schlagen worden. Wo wir angefangen hatten, waren wir nie wie‐ der hingekommen — ein Fischzug ins Leere. In keinem Take stell‐ ten wir die Uhr zurück. Wir zogen sie nur immer weiter auf. Jeder Take ein neues wirres Knäuel. Es waren Takes, die einen fast dazu bringen konnten, die eigene Existenz in Frage zu stellen. Dann kam mittendrin aus dem Nichts »Where Teardrops Fall«. Es war nur eine Drei‐Minuten‐Ballade, aber sie sorgte da‐ für, daß man die Ohren spitzte und sich nicht vom Fleck rührte — als habe jemand alles zum Halten gebracht. Der Song war schön und voller Zauber, er hatte Schwung — und er war fertig. Ich fragte mich, ob Danny dasselbe dachte wie ich, und so warʹs. »An die Aufnahme kann ich mich ja gar nicht erinnern«, sagte er. Na gut, dann legten wir »Dignity« eben eine Weile auf Eis. (Wir faßten den Song nie wieder an.) Lanois sagte, daß ihm die Ballade auch gefalle, daß sie etwas habe, aber — und das war ein großes Aber— er meinte, wir könnten es noch besser. Wie denn, fragte ich, und er sagte, das Timing hänge ein bißchen durch, und der Song habe etwas Unausgegorenes. Vielleicht stimmte das ... schließlich war er um drei Uhr morgens aufgenommen worden. Wir könnten Mason, Daryl und sonst noch irgendwen dazuholen und einen besseren Track aufnehmen. Klar, sagte ich und verließ das Studio durch die Hintertür, ging durch den Hof und hinüber zur Eisdiele in der Magazine Street und blieb dort eine Weile, ich wollte allein sein — ich zog den Stecker raus. Ich blätterte die lokale Musikzeitung durch und erfuhr, daß Mick Jones, der unersetzliche Gitarrist von The Clash, sich von einer Lungenentzündung erhole. In dem Artikel hieß es, er sei um ein Haar gestorben. Da wünschte ich mir, ich hätte an ihn gedacht, als es um die Zusammenstellung meiner Band gegan‐ gen war. Er wäre die perfekte Wahl gewesen, aber es war noch zu früh, um an so etwas zu denken. Auch Marianne Faithfull nahm eine neue Platte auf. Die Wege der legendären Grande 198
Dame hatten sich gelegentlich mit meinen eigenen gekreuzt. Ich hatte sie schon länger nicht gesehen. In der Zeitung stand, sie habe nach ihrem Entzug in Hazelton, einer Klinik in Min‐ nesota, eine neue Einstellung zum Leben gewonnen. Ich freute mich für sie. Elton John versteigerte alle seine Möbel und Ko‐ stüme. Die Nachricht war mit einem Foto von seinem Flipper‐ kasten illustriert. Der Flipper sah phantastisch aus, und ich hätte gern mitgeboten. Ich verließ die Eisdiele und trat wieder hinaus auf den Geh‐ steig. Ein feuchter Wind fuhr mir ins Gesicht. Mondlicht illu‐ minierte die glänzenden Blätter, und meine Schritte sorgten für Unruhe in einem Hof voller Katzen. Ein Hund knurrte drohend hinter einem schmiedeeisernen Zaun. Ein paar Säufer fuhren in einer schwarzen Limousine mit heruntergelassenen Fenstern vorbei; aus den Boxen dröhnte ein Song von Paula Abdul. Als der Wagen vorbei war, überquerte ich die Straße und ging durch den Audubon Park zurück zu jener Seitenstraße der St. Charles Avenue, in der ich wohnte. Trotz seiner vielen Kir‐ chen, Tempel und Friedhöfe fehlt New Orleans die spirituelle Aura heiliger Orte. Das ist eine unumstößliche Tatsache. Man braucht eine Weile, um dahinterzukommen. In vielen Städten muß man mit der Zeit gehen. Hier ist das nicht nötig. Ich kam wieder nach Hause, ging in die Küche und saß dort eine Weile herum und hörte Brown Sugar zu. Sie legte »Dangerous Wo‐ man« von Little Junior Parker auf. Dann ging ich nach oben und kroch zwischen die Laken. In den folgenden Tagen kamen ein paar Familienangehörige zu Besuch, und sie wollten im berühmten Antoineʹs zu Abend es‐ sen. Ich hatte keine Lust, ging aber trotzdem mit. Wir aßen im Hinterzimmer, und ich saß unter einem Porträt von Princess 199
Margaret auf demselben Stuhl, auf dem angeblich auch schon Franklin Delano Roosevelt gesessen hatte. Ich bestellte nur die Schildkrötensuppe. Ich wollte nichts essen, was mir schwer im Magen liegen würde. Später mußte ich wieder zu Lanois. Ich ging schon recht früh und geriet draußen in ein mörderisches Gewitter, aber ich war froh, daß ich mitgekommen war und das Restaurant mit eigenen Augen gesehen hatte. In den letzten drei oder vier Tagen hatte es ab und zu gereg‐ net, und jetzt regnete es gerade wieder. Danny hatte alles für die Neuaufnahme von »Where Teardrops Fall« vorbereitet. Wir saßen mit vier oder fünf Musikern im selben Salon wie beim letztenmal. In Nullkommanichts legten wir los. Wir nahmen einen Track auf, der musikalisch absolut perfekt war, aber ich fühlte mich trotzdem nicht wohl damit. Man konnte nicht gut dazu singen — irgendwie fehlte die Magie der ersten Version. Ich zuckte die Achseln, es haute nicht hin, ich hatte einfach kein Glück beim Versuch, zu dieser Version zu singen. Es war, als müsse man einen glitschigen Baum hinaufklettern. Insgeheim dachte ich: Warum nehmen wir nicht die andere Version? Der hat doch nichts gefehlt? Danny war mit dem anderen Track nicht zufrieden, und natürlich stimmte auch einiges nicht — jedenfalls unter dem technischen Aspekt. Das ließ sich nicht ändern, aber es störte auch nicht— es gab keinen Grund, an der bestehenden Fassung herumzupfuschen. Auf ihre Weise hatte sie eindeutig etwas Ehrfurchtgebietendes. Schließlich wurden Danny und ich uns einig. Wir hörten uns noch einmal Dopsies Version an und blieben dabei. Wir nahmen »Series of Dreams« auf, und Lanois gefiel der Song zwar, aber die Bridge fand er noch besser, und so wollte er den ganzen Song haben. Ich wußte, was er meinte, aber das ging einfach nicht. Ich dachte zwar kurz darüber nach, wie es wäre, mit der Bridge als Hauptteil anzufangen und den Hauptteil als 200
Bridge zu verwenden. Hank Williams hatte das mal gemacht, in dem Song »Lovesick Blues«, aber die Idee gab nicht viel her, bei aller Liebe, und man kriegte Kopfweh, wenn man so über den Song nachdachte. So, wie er war, fand ich ihn gut — ich wollte mich nicht damit verzetteln, daß ich zu lange über Änderungs‐ möglichkeiten nachdachte. Danny war mir nach Kräften bei meinen Versuchen behilflich, diesen Song ins Rollen zu bringen, und er hatte den Mut, alles auszuprobieren. Er war sehr gründlich. Manchmal fand ich, daß er es mit der Gründlichkeit übertrieb. Er hätte absolut alles getan, um einen Song zum Le‐ ben zu erwecken — Bettpfannen geleert, Geschirr gespült, den Boden geschrubbt. Egal, was. Ihm ging es ausschließlich um das gewisse Etwas, und ich konnte ihn verstehen. Lanois war ein Yankee aus der Gegend nördlich von Toronto — einer Schneeschuhgegend, in der das abstrakte Denken zu Hause ist. Die Leute aus dem Norden denken abstrakt. Wenn es kalt ist, stellt man sich nicht an, denn man weiß, daß es auch wieder warm wird ... und wenn es warm ist, macht man sich ebenfalls keine Sorgen, denn man weiß, daß es wieder kalt wird. Es ist anders als in den heißen Gegenden, wo das Wetter immer gleich bleibt und man nicht damit rechnet, daß sich irgendetwas ändert. Lanoisʹ Art zu denken kam meiner eigenen entgegen. Auch ich denke abstrakt. Lanois denkt wie ein Techniker und ist ein Musiker; er spielt auf den meisten Platten mit, die er pro‐ duziert. Zusammen mit dem englischen Produzenten Brian Eno hat er Theorien darüber entwickelt, wie man eine Platte macht, oie haben mit Overdubbing und Tonbandmanipulation zu tun. Und Lanois ist ein Mann mit festen Überzeugungen. Aber ich bin ebenfalls recht selbständig und lasse mir nicht gern sagen, as ich £u tun habe, wenn ich nicht verstehe, warum. Das war das Problem, mit dem wir fertigwerden mußten. An Lanois gefiel mir, dass er sich nicht an der Oberfläche treiben lassen 201
wollte. Er wollte auch nicht schwimmen. Er wollte sich ins Wasser stürzen und tief hinabtauchen. Er wollte eine Meer‐ jungfrau heiraten. Das war mir alles recht. Während wir »Se‐ ries of Dreams« aufnahmen, sagte er hin und wieder zu mir: »Wir brauchen Songs wie ›Masters of War‹, ›Girl from the North Country‹ oder ›With God on Our Side‹.« Er nörgelte fast jeden Tag, daß wir ein paar Songs von diesem Kaliber gebrau‐ chen könnten. Ich nickte. Das wußte ich selbst nur zu gut, aber ich hätte ihn gern angeknurrt. Ich hatte keine Songs von die‐ sem Kaliber. Als wir anfingen, an »What Good Am I?« zu arbeiten, mußte ich eine Melodie finden, und nachdem ich eine angemessene Zeit daran gearbeitet hatte, glaubte Danny, etwas Geeignetes herausgehört zu haben. Ich hatte das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, aber noch nicht am Ziel. Ich suchte zu ange‐ strengt. Wenn es paßt, muß man nicht danach suchen. Viel‐ leicht lag die Melodie nur einen halben Meter vor meiner Nase, keine Ahnung. Aber ich hatte meine Energie aufgebraucht und dachte, daß ich es ebensogut mit der Version versuchen könne, die Lanois vorzog, auch wenn sie für meinen Geschmack zu langsam war. Danny schuf mit Hilfe vielschichtiger Rhythmen eine Atmosphäre für diesen Song. Der Text gefiel mir, aber die Melodie war nicht reizvoll genug— sie löste keine starken Ge‐ fühle aus. Wir legten unsere persönlichen Differenzen bei, ar‐ beiteten eine Weile an dem Song und gaben ihm den letzten Schliff. Ich hatte gehört, daß schon seit ein oder zwei Wochen ein Tennessee‐Williams‐Literaturfestival stattfand, und ich wollte sehen, was noch davon übrig war. Deshalb betrat ich eines Abends in der Coliseum Street im Garden District eine von Säulen gesäumte Villa mit Giebeldach und mehrstöckigen höl‐ zernen Vorbauten, in der Hoffnung, etwas über Tom in Erfah‐ 202
rung zu bringen und mehr über die wundersame Wahr‐ heit herauszufinden, die in seinen Dramen liegt. Auf dem Pa‐ pier wirkten sie immer ein bißchen steif. Wenn man ihre ganze Wucht erleben wollte, mußte man sie live auf der Bühne sehen. Ich war Williams einmal in den frühen sechziger Jahren begeg‐ net, und er sah aus wie das Genie, das er ja auch war. Der von einer Stiftung geförderte Vortrag ging gerade zu Ende, als ich ankam. Ich wollte eintreten, aber die meisten kamen gerade heraus, also kehrte ich um und ging zurück ins Studio. Auf der Loyola Street kam ich am Lafayette Cemetery No. 2 vorbei. Es nieselte. Ratten huschten um die Telefonmasten. Später am Abend machten wir uns an die Aufnahme von »Ring Them Bells«. Eine Zeile in dem Song wollte ich die ganze Zeit ändern, aber es gelang mir nicht ... die letzte Zeile ... »breaking down the distance between right and wrong«. Die Zeile paßte, aber sie entsprach nicht dem, was ich empfand. »Right or wrong« wie in Wanda Jacksons Song, oder »right from wrong« wie bei Billy Täte, das leuchtet ein, aber nicht »right and wrong«. Dieses Konzept war meinem Unterbewußt‐ sein fremd. So etwas hat mich schon immer verwirrt; ich konn‐ te darin nie ein moralisches Ideal erkennen. Das Konzept, daß man moralisch im Recht oder im Unrecht sein kann, ist an‐ scheinend irgendwie falsch verdrahtet. Jeden Tag passiert ir‐ gendetwas, was im Drehbuch nicht vorgesehen ist. Wenn je‐ mand Leder stiehlt und daraus Schuhe für die Armen macht, mag das zwar moralisch gut sein, aber vor dem Gesetz ist es nicht richtig, also ist es falsch. Die moralische und die juristi‐ sche Beurteilung von Handlungen, so was beschäftigte mich. Es gibt gute Taten und böse Taten. Gute Menschen können Böses tun und böse Menschen Gutes. Aber ich bin nie dazu gekom‐ men, die Zeile zu korrigieren. Auf diesem Take klingt der Song geradlinig; der Sound ist natürlich und kommt ohne große Ex‐ 203
perimente aus. Mein Eindruck war, daß ich das Stück auch ohne Begleitung hingekriegt hätte. Aber davon abgesehen gelang es Lanois, die Essenz des Songs zu erfassen und seinen Herzschlag und seinen Rhythmus wie durch Zauberei zu beleben. Wir nah‐ men diesen Song genauso auf, wie er mir vorgeschwebt hatte ... zwei oder drei Takes mit mir am Klavier, Dan an der Gitarre und Malcolm Burn am Keyboard. Daniel hat diesen Augenblick per‐ fekt eingefangen. Vielleicht sogar ein ganzes Zeitalter. Er hat es genau richtig gemacht — das Ergebnis ist unüberhörbar eine präzise, dynamische Version. Der Song trägt sich vom Anfang bis zum Ende selbst — Lanois bringt die ganze eindringliche Harmonik darin zum Vorschein. So gesehen war Dan nicht nur ein Toningenieur. Er war eher ein Doktor mit naturwissen‐ schaftlichen Grundsätzen. Ich hatte ihn einmal gefragt: »Danny, bist du ein Doktor?« — »Ja, aber kein Mediziner«, hatte er grin‐ send erwidert. Lanois und seine Leute hatten diverse alte Harleys hin‐ ter dem Haus und im Hof des Studios stehen, hauptsächlich Panheads mit Hydra‐Glide‐Vordergabeln und verchromten Scheinwerfern, fast alles Einsitzer mit breiten Reifen und Tombstone‐Rücklichtern. Ich mußte unbedingt auch so eine Maschine haben. Einer von Dans Toningenieuren, der Motor‐ radliebhaber Mark Howard, trieb eine für mich auf — eine ʹ66er Harley Police Special aus Florida mit Pulverlackierung, Edel‐ stahlspeichen und pulverlackierter schwarzer Felge und Nabe. Es waren alles Originalteile, und die Maschine war in gutem Zustand. Ich gewöhnte mir an, in den Aufnahmepausen oder am frühen Morgen Ausflüge zu unternehmen. Meistens fuhr ich die Ferret Street bis zur Canal entlang, manchmal an die an‐ dere Küste nach East New Orleans, und manchmal parkte ich die Harley auch am Jackson Square bei der St. Josephʹs Ca‐ thedral. Einmal fuhr ich in die Wildlife Gardens um den Lake 204
Borgne mit ihrem Seeblick und ihren Bänken, wo Andrew Jack‐ son mit seiner Armee aus Piraten, Choctaws, freien Schwarzen, Anwälten und Kaufleuten die Elite der Briten besiegt und wieder aufs Meer hinausgejagt hatte. Großbritannien hatte an‐ geblich um die zehntausend Mann gehabt und Jackson nur vier‐ tausend, aber er hatte trotzdem gesiegt. So steht es in den Ge‐ schichtsbüchern. Jackson sagte, lieber wolle er New Orleans bis auf die Grundfesten niederbrennen, als die Stadt dem Feind zu übergeben. Jackson, Old Hickory, blutiger Schlachtenmei‐ ster — groß und grobknochig, mit blauen Augen und buschigem grauem Haar, ein streitsüchtiger Hinterwäldler, der sich der Bank of the United States widersetzte. Wenigstens hat er nicht zur höheren Ehre seiner Nation Bomben auf Zivilisten und schuldlose Kinder geworfen. Dafür schmort er schon mal nicht in der Hölle. Einmal fuhr ich mit dem Motorrad zur Spanish Plaza und parkte am Ende der Canal Street. In der Nähe lag ein Raddamp‐ fer auf dem Fluß; der Tschinka‐Tschinka‐Beat einer Cajun‐ Band auf dem Schiff hörte sich beinahe hysterisch an. Unter dem südlichsten Magnolienbaum kam mir zum erstenmal ein Song mit dem Titel »Shooting Star« in den Sinn, ein noch un‐ geschriebener Song. Ich konnte ihn wie von fern her in meinem Kopf hören. Es war ein Song von der Sorte, die man wahr‐ nimmt, wenn der Verstand hellwach ist und alles sieht und spürt, während der Körper schläft. Ich wollte den Song nicht vergessen. Bevor ich die Stadt verließ, wollte ich ihn aufschrei‐ ben und aufnehmen. Vielleicht war es ja das, wonach Lanois Ausschau hielt. »Everything Is Broken« hielt Lanois für Schrott. Ich teilte seine Meinung nicht, aber es gab nur eine Möglichkeit, heraus‐ zufinden, wer recht hatte, und auch nur eine Möglichkeit, das Stück aufzunehmen — es kam nur ein Stil in Frage, mit reichlich 205
Tremolo. Wir nahmen den Song in voller Besetzung auf. Tony Hall am Bass und Willie Green am Schlagzeug, live im großen Salon. Brian und ich spielten Gitarre. Ich spielte immer noch die Telecaster. Wenn man einen solchen Song mit mehreren Musikern aufnimmt, erwischt man nur selten einen Tag, an dem alle fünf oder sechs zur selben Zeit gleich gut in Form sind. Dan spielte selbst mit und trug zum Gelingen genausoviel bei wie alle anderen. Ich fand, daß der Song genau das machte, was er sollte, und ich hatte nicht ernsthaft vor, noch irgendetwas daran zu ändern. Danny brauchte ihn nicht allzusehr zu über‐ frachten, weil er schon von Anfang an ziemlich überfrachtet gewesen war. Es gefiel den Kritikern nur selten, wenn sie solche Songs von mir zu hören kriegten, weil sie nicht autobiogra‐ phisch wirkten. Kann schon sein, aber alles, was ich schreibe, hat autobiographische Wurzeln. Auch wenn Lanois keine Begeisterung zeigte, wußte er, daß der Track kein Hänger war. Mir war klar, was ihm vorschwebte. Er wollte Songs, die mich als Menschen zeigten, aber in meine Studioarbeit fließt nur selten etwas Persönliches ein. Dazu steht viel zuviel Kleingedrucktes auf Tausenden von Seiten. Beim Singen half er mir allerdings. Man ist als Sänger verloren, wenn man nicht die richtigen Mikrofone und Verstärker hat, und Lanois tat sein Möglichstes, um die passenden Kombinatio‐ nen zu finden. Meistens war ich in gereizter Stimmung, wenn ich nachts das Studio verließ. »Danny«, fragte ich manchmal, »sind wir noch Freunde?« Nach ungefähr einem Monat in New Orleans stand ich eines Tages früh auf und scheuchte meine Frau aus dem Bett. Bis zum Sonnenaufgang waren es noch zwei Stunden. »Stimmt irgend‐ was nicht?« fragte sie. Ich hatte aber nicht den Eindruck, daß ir‐ gendwas nicht stimmte. Ein paar Minuten später war sie ange‐ zogen und kochte Kaffee. Bei Tagesanbruch hatten wir auf der 206
Harley schon den Mississippi in Richtung Bridge City über‐ quert und waren auf der Route 90 auf dem Weg nach Thibo‐ daux. Wir hatten dort nichts Bestimmtes vor, es war einfach ein beliebiges Ziel. Bei Raceland fuhren wir auf die 308. Ich fühlte mich in die Enge getrieben und mußte einfach mal raus aus der Stadt. Irgendwas war falsch gelaufen— ich tastete mehr oder weniger im dunkeln nach einer Welt, die ich finden mußte. Wenn ich während der verbleibenden Sessions wach bleiben wollte, mußte ich ein Fenster öffnen und mich an etwas festhal‐ ten, und ich mußte mit hundertprozentiger Sicherheit wissen, daß es das Richtige war. Wir fuhren nach Thibodaux und am Bayou Lafourche ent‐ lang. Es war ein feuchtkalter Tag, hin und wieder nieselte es, die Wolkendecke riß auf, und Wetterleuchten zuckte über den Horizont. Die Stadt hat viele Straßen, die nach Bäumen be‐ nannt sind— Oak Street, Magnolia Street, Willow Street, Sycamore Street. Die West 1st Street verläuft parallel zum Bayou. Wir spazierten eine Strandpromenade entlang, die über die beklemmenden Sümpfe aufs offene Wasser hinaus‐ führte — in der Ferne kleine Grasinseln und Pontonboote. Es war still. Wenn man genau hinsah, konnte man eine Schlange auf einem Ast erkennen. Ich parkte das Motorrad bei einem alten Wasserturm. Wir stiegen ab, liefen herum und folgten den angrenzenden Wegen unter riesigen, archaischen Zypressen, die um die siebenhun‐ dert Jahre alt waren. Die Stadt rückte in weite Ferne — neben den unbefestigten Straßen wuchsen üppige Zuckerrohrfelder — überall bemooste, zerfallende Mauerlabyrinthe, Marschland und weicher Lehm. Wir stiegen wieder aufs Motorrad und fuh‐ ren die Pecan Street entlang und dann hinüber zur St. Josephʹs Church, die nach dem Vorbild einer Kirche in Paris oder Rom erbaut worden ist. In der Kirche wird angeblich der abgetrennte 207
Arm eines frühchristlichen Märtyrers aufbewahrt. An dersel‐ ben Straße liegt ein paar Meter weiter die Nichols State Uni‐ versity, das Harvard des kleinen Mannes. Auf der St. Patrickʹs Street fuhren wir an palastartigen Herrenhäusern und großen Plantagenvillen mit ihren riesigen Vorbauten und zahlreichen Fenstern vorbei. Ein Gerichtsgebäude aus der Zeit vor dem Bür‐ gerkrieg steht neben schindelverkleideten Herrenhäusern. Ur‐ alte Eichen und verfallene Hütten Seite an Seite. Es war schön, einmal nur zu zweit unterwegs zu sein. Inzwischen war es früher Nachmittag, und wir waren schon eine Weile unterwegs. Staub wehte durch die Luft, mein Mund war trocken und meine Nase verstopft. Wir hatten Hunger und hielten in der Nähe von Morgan City an der Route 20 bei Che‐ sterʹs Cypress Inn an, wo es Brathähnchen, Fisch und Frosch‐ schenkel gab. Ich wurde allmählich müde. Die Kellnerin kam an den Tisch und fragte: »Wollt ihr was essen?« Ich betrachtete die Speisekarte und dann meine Frau. Sie hatte noch nie zu den Menschen gehört, die glauben, daß jemand anders für ihr Glück verantwortlich sei— ich oder sonst irgendwer. Sie brachte ihr eigenes, selbstgemachtes Glück mit. Das hatte ich immer an ihr geliebt. Ihre Meinung war mir wichtig, und ich vertraute ihr. »Bestell du«, sagte ich. Bevor ich michʹs versah, standen ge‐ bratener Katzenwels, Okra und Mississippi Mud Pie auf dem Tisch. Die Küche lag nebenan in einem anderen Gebäude. Der Katzenwels und die Mud Pie wurden auf Papptellern serviert, aber ich war längst nicht so hungrig, wie ich gedacht hatte— ich aß bloß die Zwiebelringe. Später fuhren wir nach Süden in Richtung Houma. Im We‐ sten der Straße grasten Rinder, und in den flachen Buchten standen hochbeinige Silberreiher — Pelikane, Hausboote, Ang‐ 208
ler am Straßenrand, Austernboote, kleine Baggerschiffe — Trep‐ pen, über die man schmale Bootsstege erreichen konnte. Wir fuhren immer weiter, jetzt über verschiedene Brücken, Hänge‐ brücken, Hebebrücken ... auf der Stephensonville Road über‐ querten wir eine Kanalbrücke neben einem kleinen Gemischt‐ warenladen. Die Straße wurde hier zum Kiesweg und begann sich gefährlich durch die Sümpfe zu schlängeln. Die Luft roch modrig. Stehende Gewässer— feuchte Luft, übelriechend und faulig. Wir fuhren weiter nach Süden, bis Bohrtürme und Ver‐ sorgungsschiffe in Sicht kamen, dann machten wir kehrt und fuhren zurück in Richtung Thibodaux. Thibodaux war weder Fisch noch Fleisch, und ich fing an, mich nach etwas anderem zu sehnen. Ich dachte darüber nach, vielleicht in den Yukon zu fahren, irgendwohin, wo man sich richtig warm anziehen mußte. Als es dämmerte, hatten wir eine Unterkunft bei Napo‐ leonville gefunden. Wir quartierten uns ein, und ich stellte das Motorrad unter. Es war ein netter Ausflug. Wir übernachteten in einem Bed‐and‐Breakfast‐Cottage hinter einer Plantagenvilla mit Säulen und Gartenpfaden zwi‐ schen Bäumchen, die zu Skulpturen gestutzt waren, einem cremefarbenen, einstöckigen Stuckhäuschen mit einem ganz eigenen Charme— es stand da wie ein griechischer Miniatur‐ tempel. In unserem Zimmer gab es ein bequemes Himmelbett und einen antiken Tisch. Im übrigen war unsere Unterkunft wie ein Wochenendhaus eingerichtet, und wir hatten eine komplett ausgestattete Küchenzeile, aßen dort aber nichts. Ich legte mich hin und lauschte den Grillen und dem übrigen Ge‐ tier in der unheimlichen Schwärze vor dem Fenster. Ich moch‐ te die Nacht. Alles wächst über Nacht. In der Nacht ist mir meine Phantasie zu Diensten. Alle meine vorgefaßten Ansich‐ ten über die Welt lösen sich in Wohlgefallen auf. Manchmal sucht man den Himmel an den falschen Orten. Manchmal fin‐ 209
det man ihn unmittelbar vor der eigenen Nase. Oder im eigenen Bett. Am nächsten Tag wachte ich auf und hatte das Gefühl, der Antwort auf die Frage nähergekommen zu sein, warum ich bei den Aufnahmesessions kein gutes Gefühl gehabt hatte. Es war nämlich so, daß ich gar keine neue Ausdrucksform finden wollte. Meine alten Methoden waren völlig in Ordnung, wie seit Jahren schon. Ich hatte nicht viel zu gewinnen, wenn ich jetzt etwas daran änderte. Ich mußte nicht den nächsten Berg bezwingen. Wenn überhaupt, dann wollte ich den Platz be‐ haupten, auf dem ich stand. Ich war mir nicht sicher, ob Lanois das begriff. Ich hatte es vermutlich nie so klar ausgedrückt, es nicht in Worte fassen können. Im Laufe der Nacht hatte es ab und zu geregnet, und jetzt nieselte es wieder leicht. Am späten Vormittag verließen wir das Motel. Der kalte Wind strich mir übers Gesicht, aber es war ein schöner Tag. Der Himmel war von einem stumpfen Grau. Wir stiegen wieder auf die blaue Harley und fuhren um den Lake Verret, über hochgelegene Wege und vorbei an riesigen krummen Eichen, Pekannußbäumen — oben Schlingpflanzen und unten im Morast die Überreste von Sumpfzypressen. Wir fuhren fast bis Amelia, kehrten dann um und machten an einer Tankstelle an der Route 90 bei Raceland Rast. Auf der anderen Seite einer Brache fiel mir ein düsteres Gebäude neben der Straße auf, ein finsterer Schuppen namens King Tutʹs Museum. Nach dem Tanken fuhren wir langsam den Trampelpfad entlang und hielten neben dem Gebäude an. Es war eine Holzkonstruk‐ tion mit durchhängender Veranda, deren Stützpfosten schon lange weggefault waren; vor dem Haus parkte ein Pickup voller Gemüse, und ein schrottreifer Oldsmobile Golden Rocket aus den Fünfzigern stand aufgebockt im hohen Gras. Auf dem Bal‐ kon klopfte eine junge Frau den Staub aus einem Vorleger. Sie 210
trug pinkfarbene Gymnastikhosen, hatte lange schwarze, ölig glänzende Löckchen und um die Schultern ein Badehandtuch. Der Staub hing in der Luft wie eine rote Wolke. Wir stiegen die wenigen Stufen hinauf, und ich betrat den Laden. Meine Frau blieb draußen auf einer hölzernen Schaukelbank sitzen. Drinnen konnte man Modeschmuck erstehen, Zeitungen, Süßigkeiten, Kunsthandwerk und kompliziert gemusterte Bam‐ buskörbe, die in dieser Gegend geflochten wurden. Es gab Figu‐ rinen und Edelsteinimitate, ein paar Sachen in Vitrinen, Schirme, Pantoffeln, blaue Voodooperlen und Votivkerzen. Um den Ein‐ gang wanden sich schmiedeeiserne Verzierungen mit Eichen‐ zweigen und Eicheln, und ein paar Autoaufkleber waren auch ausgestellt. Auf einem stand: DER BESTE OPA DER WELT, und auf einem anderen: RUHE. Einer besagte: KEEP ON TRUCKINʹ. Nebenbei war der Laden ein Krebsrestaurant mit einem kleinen Tresen entlang der einen Wand. An Mauerhaken hingen Teile von Schweinen: Schweinebäckchen, Schweinsohren — zum Quie‐ ken. Geführt wurde der Laden von einem alten Hasen namens Sun Pie, einem Unikum. Wenn es merkwürdigere Menschen als ihn gab, wollte man sie wahrscheinlich lieber nicht kennenler‐ nen. Der Mann war klein und drahtig wie ein Panther, hatte ein dunkles Gesicht, aber slawische Züge, und er trug einen flachen Strohhut mit schmaler Krempe. Über seinen Knochen spannte sich die Haut wie eingetrockneter Lehm. Das junge Mädchen auf dem Balkon war seine Frau. Sie wirkte wie eine Schülerin. Innen war es ein bißchen zu hell, und die frischpolierten Tische glänzten. Sun Pie arbeitete an einem hohen Sessel mit Armleh‐ nen, der aussah, als stamme er aus einer Kathedrale. Er war in Einzelteile zerlegt und frisch verleimt worden; jetzt hielten ihn Schraubzwingen zusammen. Sun Pie schmirgelte ein sechskan‐ tiges Stuhlbein mit Sandpapier ab. »Suchen Sie ʹne gute Stelle zum Angeln?« 211
»Nee, wir sind nur auf der Durchreise.« »Auch nicht übel«, sagte er, und nach einer Pause fügte er hinzu: »So was hab ich selber mal gemacht.« Mit dem Kopf deutete er auf das blaue Cop‐Motorrad. »Schauen Sie sich um, wenn Sie wollen. Gibt ʹn paar ganz hübsche Sachen hier.« An den Wänden hingen Poster, von denen eines Bruce Lee zeigte und ein anderes den Großen Vorsitzenden Mao. Hinter dem Tresen klebte ein breitformatiges gerahmtes Foto der Chi‐ nesischen Mauer am Spiegel. An der anderen Ziegelmauer hing eine überdimensionierte amerikanische Flagge. Undeutlich war ein Radio zu hören, das irgendwo nebenan lief. Die Beatles sangen »Do You Want to Know a Secret«. Sie waren so leicht zu akzeptieren, so solide. Ich konnte mich noch an ihre Anfänge erinnern. Sie boten Vertrautheit und Freund‐ schaft wie keine zweite Band. Aus ihren Songs sollte ein Welt‐ reich entstehen. Es kam mir vor, als sei das eine Ewigkeit her. »Do You Want to Know a Secret«. Eine perfekte kitschige Liebes‐ ballade aus den Fünfzigern, und nur die Beatles konnten sie spie‐ len. Der Song hatte nichts Lauwarmes an sich. Die Beatles lärm‐ ten vor sich hin. Sun Pie legte sein Werkzeug nieder. Hinter ihm führte eine Doppeltür mit Fliegengitter zum Bayou. Sun Pie re‐ parierte Boote in einem vollgestopften Hinterhof voller Stemm‐ eisen, kaputter Ketten und bemooster Baumstämme. Meine Frau kam herein, und Sun Pie sah zur Tür und dann wieder zu mir. »Beten Sie?« fragte er. »Mhm.« »Gut, das ist auch nötig, wenn die Chinesen an die Macht kommen.« Das sagte er, ohne mich anzuschauen. Es war eigenartig, wie er redete. Ich wurde dabei das Gefühl nicht los, daß nicht ich bei ihm zu Besuch sei, sondern er bei mir — so als sei er gerade her‐ einspaziert. »Die Chinesen waren nämlich von Anfang an hier. 212
Die waren die Indianer. Der rote Mann, kapiert? Die Komant‐ schen, die Sioux, die Arapaho, die Cheyenne — das waren alles Chinesen. Die sind hier ungefähr zu der Zeit rübergekommen, als Jesus die Kranken geheilt hat. Die ganzen Squaws und Häuptlinge sind aus China gekommen— die sind von Asien rü‐ bergewandert, durch Alaska weiter nach Süden, bis sie das Land hier entdeckt haben. Indianer sind sie erst viel später geworden.« Irgendwo hatte ich schon mal gehört, daß die Beringstraße früher einmal eine Landmasse gewesen war, so daß man sie von Asien oder Rußland aus überqueren konnte. Es war also schon möglich, daß Sun Pie recht hatte. »Chinesen, ja?« »Ja, genau. Das Problem war nur, daß sie sich in Parteien und Stämme geteilt und mit dem Federntragen angefangen haben, und dann haben sie vergessen, daß sie Chinesen waren. Sie ha‐ ben grundlos Kriege gegeneinander angezettelt, ein Stamm ge‐ gen den anderen. Man hat sich leicht Feinde gemacht. Auch un‐ ter den besten Freunden. So war das mit dem Niedergang der Indianer. Deswegen sind sie so leicht eingeknickt, als die Wei‐ ßen aus Europa gekommen sind, um sie zu unterwerfen. Die waren wie reife Pfirsiche; ihre Zeit war abgelaufen.« Ich war neugierig, was Pie zu sagen hatte, und ließ mich auf einem der altersschwachen Stühle nieder. »Die kommen wieder, die Chinesen, und zwar zu Millionen. Das ist vorherbestimmt, und die wenden dann keine Gewalt an. Die kommen einfach rein und fangen da wieder an, wo sie aufgehört haben.« Bedächtig wählte Sun Pie einen Stechbeitel aus und schabte damit an der Rückenlehne des Stuhls. Die Beinverstrebungen zeigten Löwenköpfe, und das schwarze Holz war mit komple‐ xen, verschnörkelten Mustern verziert. Er ging ganz nah heran. Im Radio lief »Iʹm Leaving It Up to You« von Dale and Grace. Sun Pies Gesicht kam mir bekannt vor, aber ich konnte es ein‐ 213
fach nicht einordnen. Er hatte eine ungewöhnliche Art zu re‐ den ... langsam, aber seine Worte kamen direkt zur Sache. Er legte sein Werkzeug hin, lächelte und erzählte mir mit leiserer Stimme ein bißchen von sich selbst. Er war weder distanziert noch verschlossen. Er sagte, er sei mal im Gefängnis gewesen, weil er einen Mann aufgeschlitzt hatte — das habe ihm viel Ärger eingetragen, aber dem Mann sei das ganze recht gesche‐ hen. Er sagte, ich solle meine Diamanten, Smaragde und Ru‐ bine gegen Jade eintauschen, weil das die neue Währung werde, wenn die Chinesen mit Kind und Kegel hierher kämen. »Die Leute denken, ich bin verrückt, aber das macht mir nichts aus. Auf die Chinesen kann man sich verlassen — die nehmen kei‐ ne unanständigen Wörter in den Mund. In diesem Land wird die chinesische Nachtigall singen. Die haben auch keine Zehn Gebote, die brauchen keine. Von hier bis Peru nur Chinesen. Und Sie beten, ja? Wofür beten Sie denn? Beten Sie für die Welt?« Ich war noch nie auf die Idee gekommen, für die Welt zu beten. Ich sagte: »Ich bete darum, daß ich ein netterer Mensch werde.« Draußen nieselte es immer noch leicht, und man konnte den Regen leise auf das Blechdach fallen hören. New Orleans hatte mich an der Angel, und ich spürte, wie die Schnur sich straffte. Ich sah aus dem Fenster, an den Blumenampeln mit Farn und weißen Blumen vorbei, und versuchte, durch den rankenden Blauregen auf der Veranda etwas zu erkennen. Stellenweise hatte sich die Wolkendecke aufgelöst, aber das Licht hatte einen grünlichen Schimmer. Im Radio lief »Sea of Love«. Ich hatte das Gefühl, daß ich von irgendeinem Ufer abgelegt hatte, und jetzt war es Zeit für die Rückkehr. Alle Bitterkeit oder Feindseligkeit, die ich aus New Orleans mitgebracht haben mochte, sollte jetzt von mir abgefallen sein. »Hier gabʹs früher mal Pferderennbahnen und 214
Ställe«, sagte Sun Pie. »So vor hundert Jahren ist ein Hurrikan durchgezogen, das Wasser stand vier Meter hoch. Zweitausend Leute weg— alle gestorben. Wenn der Sturm kommt, bettelt man den Herrn an: ›Wenn du dafür sorgst, daß ich am Leben bleibe, mach ich alles, was du willst.‹« Er nahm eine Dose Firnis von einer alten Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Boden lag. »Wen der Herr umbringen will, den bringt der Herr um.« Er tauchte einen kleinen Pinsel in die klebrige Dose und fing an, eine Querstrebe des Stuhls zu streichen. Dann hielt er inne und legte den Pinsel quer über die Dose. Die Zeitung war über und über mit Firnis bekleckert, aber manches konnte man noch er‐ kennen, ein paar Gesichter im Nachrichtenteil. »Das ist eine Waffe«, sagte er und zeigte auf die Zeitung. »Die brauch ich nur, weil ich meinen Boden abdecken will. In den Händen von schlechten Menschen ist das eine Waffe. Elende Mistkerle. Einen feuchten Dreck wissen die.« Er nahm eine lange Feile mit Holzgriff zur Hand. »Hier unten gibtʹs keine Gleichheit. Man‐ che sind was Besonderes. Andere nicht. Manche Leute sind hier unten härter und schlauer als andere, und manche sind schwä‐ cher und wissen nicht so viel. Da kann man nichts machen. Man wird halt so geboren. Manche taugen hier unten besser zum Arzt und manche besser zum Opfer. Manche taugen eher zum Denken. Manche taugen eher zu Mechanikern und Herrschern. Als Tischler taugt hier unten keiner mehr als ich, aber ich war kein guter Anwalt. Von Gesetzen versteh ich nichts. Nicht mal innerhalb unserer eigenen Rasse sind wir gleich, weil die einen oben sind und die anderen unten.« Er hielt inne und griff nach einem ölverschmierten Lappen. »Ich glaube, vielleicht ist alles Gute auf der Welt schon getan.« Sun Pie drückte sich unmiß‐ verständlich aus. »Bruce Lee war aus guter Familie, und er hat sie alle besiegt, die ganzen Babys, die geldgeilen Kriminellen mit den gierigen Krallen, alles große Tiere, aber getaugt haben 215
sie nichts. Gegen Bruce Lee hatten sie keine Chance. Ihr Gewis‐ sen, Gott sei ihnen gnädig, war verdorben und verkommen.« Sun Pie war eine äußerst eigenwillige Gestalt, ein Mann von der Sorte, die bei einer Parade im Zentrum des Umzugs mitläuft oder vielleicht auch den Kern eines Pöbelhaufens bildet. Meine Frau hatte sich den Laden angesehen und sich dann auf die Veranda gesetzt und ein John‐le‐Carre‐Buch gelesen. Jetzt kam sie wieder herein und zog sich am Fenster die Augenbrauen nach. Wir brauchten keine Worte zu wechseln, wir wußten auch so, daß es Zeit zum Gehen war. Sun Pie war klar, daß wir zusammengehörten, und er sagte: »Was haben Sie vor? Wollen Sie zum Abendessen bleiben oder was?« In der Ferne pfiff ein Zug, und das holte mich auf die Erde zurück. Das Geräusch hatte etwas Angenehmes. Ich sagte, ich glaubte nicht, daß wir das einrichten könnten. Sun Pie trug eine goldgeränderte Brille. Von Zeit zu Zeit reflektierte sie das Sonnenlicht wie sprühende Funken — wie Kometen aus einem dunklen Himmel, die vom Gestell abprallten. »Vor ʹner Weile war die Queen of Country Music hier, hat ʹnen Aschenbecher aus Messing gekauft.« »Und wer ist das?« »Sweet Kitty Wells.« »Aha.« Eine kaum wahrnehmbare Veränderung ging mit Sun Pie vor. Er warf einen Blick auf das Mao‐Poster. »Krieg ist keine schlechte Sache. Dünnt die Bevölkerung aus. Man darf nicht alles unter den Teppich kehren.« Vor meinem inneren Auge sah ich, wie Blut verspritzt und vergossen wurde. Ich wußte nicht, worauf er hinauswollte, aber ich teilte seine Meinung nicht. »Haben Sie ein schlechtes Gewissen? Macht nichts, das Gewissen ist nutzlos, das 216
gute wie das schlechte, jedenfalls solange man am Leben ist.« Das mit dem Gewissen spukte mir noch lange im Kopf herum. Ich hielt einen Stock, um den sich meine Hand jetzt fester schloß. Ich ging zur Tür, warf einen Blick auf die dichtbelaubten Bäume und sah dann meine hübsche Frau an, die meinen Blick erwiderte. Wenn Sun Pie seine besten Jahre nicht hinter sich hätte, überlegte ich, dann würde ich ihm nach Möglichkeit aus dem Weg gehen. »Ich bin soweit«, sagte sie. Ich wollte einen Autoaufkleber kaufen, aber Sun Pie schenk‐ te ihn mir — es war der mit der Aufschrift DER BESTE OPA DER WELT. Der würde sich in ein paar Jahren als nützlich er‐ weisen, dann konnte ich mindestens ein Dutzend davon gebrau‐ chen. Sun Pie war eine Inspiration, er spielte keine gedanken‐ losen Kinderspiele. Er war der richtige Mann, dem ich zur richtigen Zeit über den Weg gelaufen war — jemand, der immer der eigenen Nase folgte. »Haben Sie dann alles, was Sie brauchen?« fragte er. »Ja, aber das reicht mir noch nicht«, sagte ich. Er lachte und sagte, das sei bei ihm auch nicht anders. Meine Frau und ich gingen über die Dielen der Veranda zu der blauen Harley hinüber. Die Sonne schien, und die Maschine war heiß wie ein Brandeisen. Wir stiegen auf‐ ich betätigte meine trom‐ petenartige Hupe und kickte die Kolben über den oberen Tot‐ punkt. Dann fuhren wir auf die Gleise zu. Wir hielten nur noch ein einziges Mal, in Jesuit Bend, aber vor Einbruch der Dunkel‐ heit waren wir wieder auf der St. Charles Avenue. Mit klarem Kopf kam ich nach New Orleans zurück. Ich brachte zu Ende, was ich mit Lanois angefangen hatte, und schrieb ihm sogar zwei Songs, die sonst nie entstanden wären. Der eine war »Man in the Long Black Coat«, der andere »Shoo‐ ting Star«. Das hatte ich erst ein einziges Mal getan — für den Produzenten Arthur Baker. Baker hatte mir vor ein paar Jahren 217
in New York dabei geholfen, das Album Empire Burlesque zu produzieren. Alle Songs waren abgemischt und fertig, nur Ba‐ ker beharrte darauf, daß am Ende der Platte ein akustischer Song stehen solle; erst der werde der Platte den letzten Schliff geben. Ich dachte darüber nach und wußte, daß Baker richtig lag, aber ich hatte nichts für ihn. An dem Abend, als die ferti‐ gen Songs zusammen gestellt wurden, sagte ich zu ihm, ich wolle sehen, ob mir irgendwas einfalle, weil ich wußte, daß es wichtig war. Ich wohnte im Plaza Hotel an der 59th Street und kam nach Mitternacht zurück, durchquerte die Lobby und fuhr nach oben. Als ich aus dem Aufzug trat, kam ein Callgirl im Flur auf mich zu— hellblondes Haar, Fuchspelzmantel und hoch‐ hackige Schuhe, mit denen man jemanden erdolchen konnte. Die Frau hatte blaue Ringe um die Augen, schwarzen Eyeliner, dunkle Augen. Sie sah aus, als sei sie verprügelt worden und als habe sie Angst, bald wieder verprügelt zu werden. In der Hand hielt sie ein Glas mit dunkelviolettem Wein. »Jetzt brauch ich dringend einen Drink«, sagte sie im Vorübergehen. Ihre Schön‐ heit war nicht ganz von dieser Welt. Die Arme war dazu ver‐ dammt, tausend Jahre lang in diesem Flur auf und ab zu gehen. Später saß ich an einem Fenster mit Aussicht auf den Central Park und schrieb den Song »Dark Eyes«. Ich nahm ihn am näch‐ sten Abend nur mit Akustikgitarre auf, und es war die richtige Entscheidung. Der Song rundete das Album tatsächlich ab. New York war aber nicht New Orleans. Es war nicht die Stadt der Astrologie. In seinen unüberschaubaren Winkeln lauerten keine Geheimnisse, keine Rätsel, deren Ursprung sich im Dun‐ keln verliert. New York war eine Stadt, in der man erfroren auf einer belebten Straße liegen konnte, ohne daß es jemandem aufgefallen wäre. New Orleans war anders. 218
Meine Frau würde bald abreisen; sie sollte in Baltimore bei einer Gospelaufführung mitsingen. Wir saßen auf der Veranda und tranken Kaffee. In der Ferne grollte leiser Donner. Sie steckte mir die Zunge ins Ohr. »Das kitzelt«, sagte ich. Meine Frau, die die Fähigkeit besaß, in nahezu allem ein Körnchen Wahrheit zu entdecken, war sich darüber im klaren, daß die Aufnahmesessions nicht ganz reibungslos verlaufen waren und daß es manchmal heiß hergegangen war. »Laß dich nicht völlig verrücktmachen«, ermahnte sie mich. Danach wollte ich ins Studio gehen, aber ich überlegte es mir anders und schlief ein. Als ich aufwachte, war es noch Nacht, also schloß ich die Augen und schlief weiter. Ich wachte auf. Ich hatte einen kompletten Tag verschlafen, und jetzt war es wieder Abend. Ich ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen, bevor ich das Haus verließ. Wie immer lief das Radio. Eine Sän‐ gerin sang, daß das Leben eintönig sei, eine einzige Plage. Es war Eartha Kitt. Ich dachte: »Du sagst es, Eartha. So siehtʹs doch aus. Ich bin auf deiner Seite. Komm, sing weiter.« Wir nahmen »What Was It You Wanted?« in voller Besetzung auf: Malcolm Burn am Baß, Mason Ruffner an der Gitarre, Wil‐ lie Green an den Drums, Cyril Neville an der Percussion. Ich spielte Gitarre und Mundharmonika. Auch Lanois spielte Gi‐ tarre. Die Zwischenspiele sind instrumental, aber wahrscheinlich hätte etwas Text ihnen gutgetan. Damals war es wichtiger, den Inhalt in eine verständliche Form zu bringen und den rhythmi‐ schen Pulsschlag nicht zu verlieren. Ich hatte schon merkwürdi‐ gere Songs aufgenommen. Durch die Verteilung der Mikrofone wirkt die Atmosphäre reich strukturiert, übernächtigt und auf‐ geladen — Tranquilizer, nebelig. Vom ersten Takt an brodelt alles wie ein Gumbo‐Gericht im eigenen Sud, verträumt und vieldeu‐ tig. Der Song mußte gleichmäßig und ausbalanciert bleiben. Durch die Klangatmosphäre, die Danny geschaffen hatte, hört er 219
sich an wie aus einem geheimnisvollen, stillen Land. Die Auf‐ nahme rotiert und wogt voller vielschichtiger Rhythmen, und ich glaube, Barry White hätte es nicht besser hingekriegt. Bei diesem Song hatten wir alle dasselbe Ziel vor Augen gehabt. Langsam wurde mir klar, daß die ganzen Kompressoren, Ef‐ fektgeräte, Vintage‐Instrumente, Vorverstärker und Hall‐Ef‐ fekte letztlich eine bestimmte Soundpoesie erzeugten, die Lanois vorgeschwebt hatte. Live hörte sich alles ziemlich genau so an wie auf dem Album. Dan setzte nur selten auf Overdubs. Es kam schon mal vor, daß er hier und da ein Instrument nachträglich neu aufnahm, aber Overdubbing war keine Krücke für ihn. Der Song war wie eine Spiegelschrift, die man zu entziffern versucht. Man inszeniert ein großes Ablenkungsmanöver, und die eigent‐ liche Action findet zwanzig Kilometer weiter statt. In manchen Takes war »Disease of Conceit« ein sentimentaler Blues mit einem eindringlichen Beat. Das b verleiht ihm etwas Düsteres. Ich spiele Klavier, aber nur Blockakkorde. Allen Toussaint hätte das besser gekonnt, und dann hätte ich Gitarre spielen können, aber dazu kam es nicht. Artur Rubinstein wäre die beste Wahl gewesen, die perfekte Besetzung. Ich konnte mir den Song auch als Marsch vorstellen. Man hätte ihn mit einer Hörnergruppe oder einer Beerdigungskapelle aufnehmen können. Das wäre vielleicht noch perfekter als perfekt gewesen. Wir nahmen unge‐ fähr vier oder fünf Versionen auf, die alles haargenau auf den Punkt brachten und nur einen unendlichen Augenblick dauer‐ ten. Keiner dieser Takes wirkte überfrachtet. Später hörten wir uns alles über die großen Boxen mit auf‐ gedrehtem Baß an, und Danny sagte, wir sollten die Finger da‐ von lassen — es sei gut so. »Meinst du?« — »Ja, das hat was.« Mehr war aus Lanois nicht herauszuholen. Er ließ sich selten Gefühle oder Aufregung über irgendetwas anmerken, wenn er nicht gerade in die Luft ging und Gitarren zertrümmerte. Aber 220
das kam nicht oft vor. Der Song war fertig, und es wurde nichts mehr daran geändert. In der Nacht, in der wir ihn aufnahmen, ging draußen ein Gewitterregen nieder, und man hörte, wie der Wind die Blätter an die Bananenbäume klatschte. Irgendjemand hielt seine Hand über diesen Song. Es war, als sei draußen Jeanne dʹArc zugange. (Oder Joan Armatrading.) Jedenfalls schuftete da irgendwo jemand wie ein Verrückter. Um wieder einmal einen klaren Gedanken fassen zu kön‐ nen, ging ich ins Kino um die Ecke, diesmal, um Homeboy mit Mickey Rourke zu sehen, der den schüchternen und linkischen Boxer Johnny Walker spielte. Christopher Walken hatte auch eine Rolle. Die Darsteller waren alle ziemlich gut, aber Mickeys Schauspielkunst suchte ihresgleichen. Ein einziger Blick von Mickey konnte einem das Herz brechen. Sobald er auf der Lein‐ wand erschien, ging die Sonne auf. Er stach alle anderen aus. Er war einfach da, er brauchte weder Hallo noch Auf Wiedersehen zu sagen. Seine schauspielerische Leistung inspirierte mich zu den letzten beiden Songs auf dem Album. »Shooting Star« gehörte zu den Songs, die ich in New Orleans schrieb. Ich hatte nicht so sehr das Gefühl, daß ich ihn selbst geschrieben hatte; er war eher ein Erbstück. Es wäre schön ge‐ wesen, wenn wir ein oder zwei Hornbläser gehabt hätten, ein pulsierendes Brummen, das sich in die Musik mischt, aber wir mußten mit dem Vorhandenen zurechtkommen: Brian an der Gitarre, Willie an den Drums, Tony am Baß und Lanois am Om‐ nichord, einem Plastikinstrument, das wie eine Autoharp klingt — ich selbst spielte Gitarre und Mundharmonika. Der Song war schon vollendet, als er mir ins Auge sprang wie ein Fundstück, das ich aufgelesen hatte, als ich den Gartenpfaden der Sonne ge‐ folgt war. Er leuchtete. Ich hatte eine Sternschnuppe gesehen, als ich im Garten unseres Hauses stand; vielleicht war es auch ein Meteorit gewesen. 221
Der große Salon, in dem wir den Song aufnahmen, hatte keine Klimaanlage, so daß wir zwischen den Takes immer nach draußen mußten. Mir war das ohnehin lieber. Ich hatte Kli‐ maanlagen noch nie gemocht. In klimatisierten Räumen mit verbrauchter Luft fallen die Aufnahmen schwer. Im Hof goß es wie aus Eimern. Bei »Shooting Star« hätte ich mich gern dem komplexeren Melodienspiel gewidmet und die Rhythmusakkorde jemand an‐ derem überlassen, aber so weit kamen wir nicht. Bei diesem Song waren die Mikrofone sonderbar plaziert. Die Band hatte einen satten Klang. Bei der Aufnahme gab es nur begrenzte Möglichkeiten. Ich hoffte, daß der fertige Song sich wenigstens wie aus einem Guß anhören werde; nach drei oder vier Instru‐ menten, die wie ein ganzes Orchester klingen. Aber wenn jeder Part getrennt aufgenommen wird, ist das schwierig. Auf einem der letzten Takes hatte Dan die Snare hervorgehoben und damit die Essenz des Songs eingefangen. Er war kalt und brennend, sehnsüchtig, einsam und verlassen. Viele hundert Meilen vol‐ ler Schmerzen sind in diesen Song eingeflossen. New Orleans heizte sich auf. Die einhundertprozentige Luft‐ feuchtigkeit hatte sich noch nicht eingestellt, aber man konnte schon spüren, wie sie heraufzog. Ich besuchte den Lionʹs Den Club in der Gravier Street, weil ich Irma Thomas singen hören wollte, eine meiner Lieblingssängerinnen. Sie hatte seit den sechziger Jahren keinen Hit mehr gehabt, aber sie war hier im‐ mer noch mit »Fever« in jeder Jukebox vertreten. Irma sang öf‐ ter im Lionʹs Den Club. Ich wollte ihren Auftritt sehen und Irma vielleicht darum bitten, mit mir »Shooting Star« zu sin‐ gen und etwas Ähnliches wie die Frau bei Mickey and Sylvia zu machen. Das hätte ganz interessant werden können. Vor dem Club stand ein Typ mit Baseballkappe und wusch ein Auto. Ein paar Leute saßen auf ihrer Veranda, und auf der 222
Straße waren Nachtschwärmer unterwegs. »Heute ist sie nicht da«, sagte der Mann mit der Baseballkappe. Die Stones hatten zu Beginn ihrer Karriere Irmas Version von »Time Is on My Side« aufgenommen. Ein Journalist hatte sie mal gefragt, ob sie darauf nicht ziemlich stolz sei. Das sei ihr egal, hatte sie geant‐ wortet, sie habe den Song nicht geschrieben. Nur Insider aus dem Musikbusiness konnten so etwas nachvollziehen. Auf dem Weg zurück ins Studio dachte ich darüber nach, daß ich jemanden nach New Orleans mitnehmen würde, wenn ich je wieder zu Aufnahmen hierher kommen müßte; jemanden, den ich schon lange kannte, den ich als Musiker schätzte, der Ideen hatte und sie umsetzen konnte und der eine ähnliche musikali‐ sche Vergangenheit hatte wie ich. In letzter Zeit hatte ich öfter an Jim Dickinson gedacht, den ihn gern hiergehabt hätte. Dickinson wohnte in Memphis. Er hatte ungefähr zur gleichen Zeit wie ich zu spielen angefangen, ʹ57 oder ʹ58, und die gleiche Musik gehört. Er spielte und sang ziemlich gut. Er stammte vom einen Ende des Mississippi, ich vom anderen. Damals haßte und verabscheute man Folk sogar noch mehr als RockʹnʹRoll, und Dickinson hatte sich auf bei‐ den Gebieten einen Namen gemacht. Seine Einflüsse waren Jug Band und früher RockʹnʹRoll‐Bebop, genau wie bei mir. Er hatte bei dem Stones‐Song »Wild Horses« und noch ein paar anderen Stücken mitgespielt, aber Platten nahm er schon viel länger auf. Er hatte als letzter Musiker bei Sam Phillipsʹ Sun Records eine Single veröffentlicht, den Song »Cadillac Man«. Jim war von manischer Zielstrebigkeit. Wir hatten viel gemein‐ sam, und es wäre schön gewesen, ihn hierzuhaben. Er hatte auch Kinder, die Musik machten, so wie ein paar von meinen eigenen. Aber ich hatte niemanden mitgebracht, ich hatte nicht daran gedacht und noch nicht einmal eigene Instrumente mit‐ genommen. Ich glaube, ich war von Anfang an skeptisch gewe‐ 223
sen. Ich wollte sehen, was Danny allein auf die Beine stellte. Ich wollte mich überraschen lassen. Und er hatte mich überrascht. Wir nahmen »Man in the Long Black Coat« auf, und eine seltsame Veränderung schlich sich in unsere Wahrnehmung. Ich merkte das und Danny auch. Die Akkordfolge, die Domi‐ nantakkorde und die Tonartwechsel verleihen dem Song von Anfang an seine hypnotische Macht — sie deuten bereits an, worauf der Text hinauswill. Das beklemmende Intro vermittelt etwas unablässig Drängendes. Die Aufnahme klingt nach Ver‐ wüstung, als habe die Stadt keine Zwischenräume mehr. Der Song wird aus einem finsteren Abgrund herausgelöst — Visio‐ nen eines Geistes, der dem Wahnsinn verfällt, ein Gefühl der Unwirklichkeit— das hohe Kopfgeld in Gold, das auf irgend je‐ manden ausgesetzt ist. Es gibt nichts Verläßliches, selbst der Verfall verfällt. Es ist bedrohlich und schrecklich. Der Song kam immer näher — er drängte sich in die kleinste Ritze. Wir probten ihn gar nicht erst, sondern fingen einfach an und ver‐ ständigten uns mit Mimik und Handzeichen. Noch bevor der Text einsetzte, wußte man, daß es jetzt zur Sache ging. Das ist Lanoisʹ ureigenes Reich; woanders hätte es dazu nicht kommen können. Der Text will von jemandem erzählen, dem sein eige‐ ner Körper nicht gehört, von jemandem, der das Leben geliebt hat, aber nicht mehr weiterleben kann, und es nagt an seiner Seele, daß andere leben dürfen. Jedes andere Instrument in die‐ sem Track hätte den Magnetismus zunichtegemacht. Nach ein paar Takes warf mir Danny einen Blick zu, als wollte er sagen: »Das warʹs.« Und das warʹs. Ich war mir nicht sicher, ob wir irgendwelche historischen Sachen aufgenommen hatten, wie er sie sich gewünscht hatte, aber ich hatte das Gefühl, daß wir mit diesen letzten beiden Stücken nahe dran waren. »Man in the Long Black Coat« war eine solide Angelegenheit. Auf eine verquere Art betrachtete ich 224
den Song als mein eigenes »I Walk the Line«, ein Stück, das für mich immer ganz weit oben gestanden hatte. Es ist einer der geheimnisvollsten und revolutionärsten Songs überhaupt, ein Song, der einen an den empfindlichsten Stellen packt — schnei‐ dende Worte eines Meisters. Ich war schon immer der Meinung gewesen, daß Sun Records und Sam Phillips persönlich die entscheidendsten, erhebendsten und stärksten Platten aller Zeiten produziert hatten. Neben Sams Platten klangen alle anderen weichgespült. Auf den Sun‐ Platten sangen die Musiker um ihr Leben und hörten sich an, als kämen sie aus der rätselhaftesten Ecke des Planeten. Kein Urteil hätte ihnen gerecht werden können. Sie waren so stark, daß sie einen die Wände hochtrieben. Wenn man sie hinter sich ließ und einen Blick zurück warf, konnte man zur Salzsäule erstarren. Johnny Cashs Platten bildeten keine Ausnahme, waren aber auch nicht das, was man erwartet hätte. Johnny schrie sich nicht die Seele aus dem Leib, aber er warf zehntausend Jahre Kultur ab. Er hätte ein Höhlenmensch sein können. Er klingt, als stehe er am Feuer, im Tiefschnee oder in einem Geisterwald— die Coolness bewußter, unübersehbarer Kraft; wuchtig und unheildrohend. »I keep a close watch on this heart of mine.« Allerdings. Ich ha‐ be mir diesen Text wohl eine Million mal aufgesagt. John‐ nys Stimme war so groß, daß die Welt neben ihr zusammen‐ schrumpfte, ungewöhnlich tief— dunkel und dröhnend, und er hatte auch die passende Band mit einem lebendigen Klick‐Klack‐ Rhythmus. Worte, die Gesetz waren, hinter denen göttliche Ge‐ walt stand. Als ich »I Walk the Line« vor so vielen Jahren zum er‐ stenmal gehört hatte, war es wie eine Stimme gewesen, die mir zurief: »Was machst du da, Junge?« Auch ich versuchte, mit weit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Ich weiß nicht, wie »Man in the Long Black Coat« ohne Lanois möglich gewesen wäre. Wie Sam Phillips treibt er Mu‐ 225
siker gern an den Rand des Nervenzusammenbruchs, und so hatte er es auch mit mir gemacht — aber bei diesem Song war das nicht nötig. Unsere gemeinsame Zeit neigte sich dem Ende zu. Danny und ich saßen wie bei unserem ersten Treffen im Hof. Der Wind fuhr zum offenen Tor herein, und ein weiterer schwerer Sturm näherte sich grollend. In hundertfünfzig Kilometern Entfer‐ nung tobte ein Hurrikan durchs Land. Der Tag hatte sich ver‐ düstert. In den Bäumen trillerte ein einsamer Vogel. Wir hatten alles so gemacht, wie es uns in den Kram paßte, und mehr gab es dazu nicht zu sagen. Wenn die Platte fertig war, würde sie sich hoffentlich im Leben behaupten können. Ich wollte mich bei Danny bedanken, aber manchmal muß man dazu den Mund nicht aufmachen, man kann den Dank auch schweigend aus‐ drücken. Ich war mit einer Ideenkakophonie angereist und hatte unter den wachsamen Augen der Götter alles gegeben, was mir zu Gebote stand. Von Zeit zu Zeit waren wir aneinan‐ dergeraten, aber unsere Auseinandersetzungen hatten nie zu erbitterten oder komplizierten Machtkämpfen geführt. Am Ende muß man immer ein paar Abstriche von den eigenen Vor‐ stellungen machen und Kompromisse schließen, und so war es auch gekommen, aber ich war zufrieden mit der Platte und Danny ebenfalls. Ich kann nicht sagen, ob es die Platte war, die wir uns jeweils gewünscht hatten. Die zwischenmenschliche Dynamik spielt eine zu große Rolle, und es ist ohnehin nicht immer das wichtigste im Leben, daß man bekommt, was man sich wünscht. Obwohl ich durch die Platte nicht wieder zum Liebling der Radiosender wurde, hatte ich durch eine Ironie des Schicksals zwei Platten in den Charts, eine davon sogar in den Top Ten, The Traveling Wilburys. Die andere war das Album Dylan & the Dead. Die Platte, die ich gerade mit Danny gemacht hatte, 226
erhielt gute Kritiken, aber gute Kritiken kurbeln den Platten‐ verkauf nicht an. Jeder, der eine Platte veröffentlicht, bekommt mindestens eine gute Kritik, aber es gibt ständig neue Platten und neue Rezensionen. Manchmal macht man Platten, die die Leute nicht einmal geschenkt haben wollen. Das Musikbusiness ist seltsam. Man hängt an ihm mit einer Art Haßliebe. Als wir mit den Aufnahmen fertig waren, hätte das Studio ebensogut abbrennen können, so intensiv war es dort in den letzten Monaten zugegangen. Lanois hatte ein beklemmendes Album geschaffen, das einen nicht losließ und das an keiner Stelle hakte oder klemmte. Er hatte gesagt, daß er mir helfen wolle, eine Platte zu machen, und er hatte Wort gehalten. Wir hatten einige Umwege in Kauf nehmen müssen, aber wir waren am Ziel. Wir verstanden uns, auch wenn ich glaube, daß die Platte sich für mich immer etwas schroffer anhörte als für ihn. Ich weiß, daß er sich bei der Arbeit in wachsendem Maße darum bemüht hatte, mich besser zu verstehen, aber das ist zwecklos, es sei denn, man löst gerne Rätsel. Ich glaube, am Ende hat er es aufgegeben. Ein großer Teil der Songs hielt sich ausgezeichnet, und viele von ihnen habe ich schon oft gespielt. Gern hätte ich ihm mehr Songs von der Sorte geliefert, die er sich wünschte, Songs wie »Masters of War«, »Hard Rain« und »Gates of Eden«, aber solche Songs waren unter anderen Um‐ ständen entstanden, und die Umstände wiederholen sich nie. Jedenfalls nicht in derselben Form. Ich hatte keinen Zugang zu solchen Songs, weder für ihn noch für irgendwen sonst. Dazu braucht man Kraft und die Gabe, Geister zu beschwören. Ein‐ mal war es mir gelungen, und das sollte genügen. Irgendwann würde wieder jemand mit dieser Gabe erscheinen — jemand, der die Dinge durchschauen konnte bis auf den Grund, und zwar nicht im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich — als bringe man Metall mit dem Blick zum Schmelzen — jemand, der ihr 227
wahres Wesen erkannte und es in ungeschönter Sprache und mit unbarmherziger Klarsicht enthüllte. Danny fragte mich, was für Musik ich in letzter Zeit gehört hätte, und ich sagte, Ice‐T. Er war überrascht, aber das hätte ihn eigentlich nicht überraschen dürfen. Ein paar Jahre zuvor hatte mich Kurds Blow, ein Rapper aus Brooklyn, von dem der Hit »The Breaks« stammte, gefragt, ob ich Lust hätte, ihn bei einer Plattenaufnahme zu begleiten, und er hatte mich mit Ice‐T, Public Enemy, N.W.A. und Run‐D.M.C. bekannt gemacht. Diese Jungs standen nicht herum und schwangen große Reden, das war klar. Sie hauten auf die Drums und auf den Putz und schmissen Pferde von den Klippen. Sie waren allesamt Dichter und wußten, was Sache war. Früher oder später würde wieder jemand kommen, der diese Welt kannte, jemand, der in sie hin‐ eingeboren und in ihr aufgewachsen war ... einer, der sie ver‐ körperte, und nicht nur das. Jemand, der einen Quadratschädel hatte und Rückhalt unter den Seinen. Er würde mit einem Bein auf dem Drahtseil balancieren, das sich quer durchs Universum spannt, und wenn er auftauchte, würde man ihn erkennen — es würde nur diesen einen geben. Die Menschen würden sich ihm zuwenden, und das konnte ich ihnen nicht verdenken. Die Mu‐ sik, die Danny und ich machten, kam mir archaisch vor. Das sagte ich ihm nicht, aber es war die Wahrheit. Nach Ice‐T und Public Enemy, die den Boden bereitet hatten, mußte ein neuer Musiker auf den Plan treten, einer, der nichts mit Presley zu tun hatte. Er würde nicht die Hüften schwingen und den Mä‐ dels schmachtende Blicke zuwerfen. Er würde mit harten Wor‐ ten zupacken und täglich achtzehn Stunden arbeiten. Sun Pie hatte Elvis erwähnt und behauptet, Elvis sei eine Amazone, ein Peind der Demokratie. Das klang in meinen Ohren wie das Ge‐ schwätz eines Schwachsinnigen, aber so ganz sicher war ich mir dann auch wieder nicht. 228
Manchmal sagt man in einem Song etwas, das vielleicht nur von fern der Wahrheit entspricht. Manchmal sagt man Dinge, die gar nichts mit dem zu tun haben, was man in Wahrheit sagen will, und manchmal sagt man auch Dinge, von denen jeder weiß, daß sie wahr sind. Aber gleichzeitig denkt man, die einzige Wahrheit auf der Welt sei die, daß es auf der Welt keine Wahrheit gibt. Ganz egal, was man sagt, es ist nur Gestammel. Man hat nie die Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Zusam‐ menflicken, drüberbügeln, rein damit, und ab geht die Post — so läuft das normalerweise. Auch Lanois war auf dem Sprung. Ein anderes transportables Studio wartete schon auf ihn. Lanois war ein lebendes Konzept. Er schlief, aß und lebte Musik. Vieles von dem, was er machte, war schlicht genial. Er hatte bei der Produktion dieser Platte mit harter Hand regiert, aber er hatte es geschafft. Er stand auf dem Glockenturm und ließ den Blick über Gassen und Dächer schweifen. Mein begrenztes Blickfeld hinderte mich daran, das ganze Panorama zu erfassen. Es waren viele Platten mit watti‐ gen, schmalzigen Lobliedern auf den Opportunismus im Um‐ lauf, und wir hatten beide keine Lust, noch mehr davon auf den Markt zu werfen. Anfangs war das so ziemlich alles gewesen, was uns verbunden hatte. Und dennoch geht ein gewisser Zau‐ ber von diesem Album aus. Man kann natürlich sagen, das habe am Haus oder am Salon gelegen, aber das Haus hatte nichts Verzaubertes an sich. Der Zauber kam erst durch das zustande, was Lanois, ich, Willie Green und Daryl und Brian Stoltz in das Haus mitgebracht hatten. Man macht das Beste aus den Karten, die einem das Leben austeilt. Wir müssen zusehen, wie wir da‐ mit zurechtkommen. Die Stimme auf der Platte würde nie die Stimme des gequälten Man of Constant Sorrow sein, und ich glaube, damit hatte Danny sich erst einmal abfinden müssen. Aber dann war die Sache ins Rollen gekommen. Nichts davon 229
war so geplant gewesen. Obwohl ich seine emotionalen Trips größtenteils nicht ernst nehmen konnte, waren wir doch in ge‐ wisser Weise Kinder desselben Geistes. Was würde das alles in ein paar Millionen Tagen, ein paar tausend Millionen Tagen be‐ deuten? Was bedeutet denn überhaupt irgendwas? Ich versu‐ che, mein Material so effektiv wie möglich einzusetzen. Die Songs sollten den Menschen selbst glorifizieren und nicht seinen Untergang, aber selbst zusammengenommen spiegelten die Stücke nicht annähernd meine Vorstellung vom Leben wi‐ der. Das, was einem am meisten am Herzen liegt und am mei‐ sten bedeutet, hat einem manchmal beim ersten Hören oder Se‐ hen noch rein gar nichts bedeutet. In die Kategorie fallen einige Songs auf diesem Album. Ich glaube, das ist alles einfach und selbstverständlich genug. Bei den Aufnahmen mußte ich Entscheidungen übers Knie brechen, die der tatsächlichen Situation vielleicht nicht ange‐ messen waren. Aber das schadete nichts. Es wäre gut gewesen, die Rhythmen zu variieren. Da gibt es so viele Möglichkeiten. Acht Schläge pro Takt — sechs — vier. Man kann in vier Takten vier Beats spielen, die Eins und die Drei betonen und die Zwei unter den Tisch fallen lassen — und so kann man ewig weitermachen und Tempo und Rhythmus endlos variieren. Es wäre gut gewe‐ sen, wenn sich jemand darum gekümmert hätte, um die rhyth‐ mischen Kombinationen innerhalb des Songs und nicht nur um den Song an sich— der konnte für sich selbst sorgen. Nichts‐ destoweniger bewunderte ich Lanoisʹ Leistung von ganzem Her‐ zen. Vieles daran war einmalig und würde noch lange Bestand haben. Danny und ich sollten uns zehn Jahre später wieder über den Weg laufen und noch einmal gemeinsam zur Sache kom‐ men, mit Pauken und Trompeten. Wir nahmen eine Platte auf und fingen von vorn an, genau da, wo wir aufgehört hatten.
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5. River of Ice Hinter dem Chrysler Building ging der Mond auf. Es war schon spät am Tag, die Straßenbeleuchtung sprang flackernd an, und man hörte das dumpfe Grummeln schwerer Autos, die unten durch die engen Straßen krochen. Schneeregen tickte ans Büro‐ fenster. Lou Levy startete sein großes Bandgerät und stoppte es wieder. An seinem kleinen Finger glitzerte ein Diamantring; die Luft war blau vom Zigarrenrauch. Ein obstschalenartiger Lam‐ penschirm an der Decke und ein paar Messing‐Stehlampen auf dem Boden erweckten den Eindruck, daß der Raum sonst für Verhöre genutzt wurde. Unter meinen Füßen gemusterter Par‐ kettboden. Es war eine trostlose Bude voller Branchenzeit‐ schriften, Cashbox, Billboard, Radiostatistiken — in der Ecke ein Aktenschrank aus längst vergangenen Tagen. Neben Lous al‐ tem Metallschreibtisch standen ein paar Holzstühle, und auf ei‐ nem davon beugte ich mich über meine Gitarre und spielte ein paar Songs. Erst vor kurzem hatte ich zu Hause angerufen, aus einer der zahlreichen Telefonzellen in der Stadt, wie ich es jeden Monat ein paarmal tat. Telefonzellen waren ein Zufluchtsort — man tritt ein, zieht die Falttür zu und schließt sich in einer sauberen privaten Welt ein, abgeschirmt vom Lärm der City. Die Telefon‐ zelle war zwar privat, nicht aber die Verbindung nach Hause. 231
Damals hatten alle Haushalte Gemeinschaftsanschlüsse. Acht oder zehn Häuser hingen am selben Anschluß, nur eben mit un‐ terschiedlichen Nummern. Wenn man den Hörer abnahm, war die Leitung selten frei; man hörte immer fremde Stimmen. Nie‐ mand sagte am Telefon irgend etwas Wichtiges, und man faßte sich kurz. Wenn man mit jemandem reden wollte, unterhielt man sich lieber auf der Straße, auf unbebauten Grundstücken und Feldern oder im Café und nicht am Telefon. An der Ecke warf ich einen Dirne ein und wählte die Num‐ mer der Vermittlung, meldete ein R‐Gespräch an und wurde sofort durchgestellt. Ich wollte alle wissen lassen, daß es mir gutging. Meine Mutter brachte mich gewöhnlich erst einmal auf den neuesten Stand über alle Alltagsangelegenheiten. Mein Vater hatte seine eigenen Ansichten. Für ihn war das Leben harte Arbeit. Er stammte aus einer Generation mit anderen Werten, anderen Helden und anderer Musik, und er war nicht so leicht davon zu überzeugen, daß die Wahrheit uns alle be‐ freien werde. Er war ein Pragmatiker und hatte immer einen undurchschaubaren Ratschlag zur Hand. »Denk dran, Robert, im Leben kann alles passieren. Wenn du nicht alles hast, was du willst, dann sei dankbar für das, was du nicht hast und auch nicht haben willst.« Meine Ausbildung war ihm wichtig. Er hätte es gern gesehen, wenn ich Maschinenbauer geworden wäre. Aber ich hatte in der Schule nur mit Mühe auch nur halb‐ wegs anständige Noten bekommen. Ich war nicht zum Lernen geboren. Meine Mom — Gott segne sie — die sich immer für mich eingesetzt und in so ziemlich allen Fragen felsenfest zu mir gehalten hatte, trieb in erster Linie die Sorge um, daß »da draußen so viele krumme Dinger laufen«, und sie fügte stets hinzu: »Bobby, vergiß nicht, daß du Verwandte in New Jersey hast.« Ich war schon in Jersey gewesen, aber nicht, um Ver‐ wandte zu besuchen. 232
Lou schaltete das große Bandgerät aus, nachdem er konzen‐ triert einem meiner selbstkomponierten Songs gelauscht hatte. »Woody Guthrie, hm? Interessant. Wie bist du denn darauf ge‐ kommen, einen Song über den zu schreiben? Den hab ich öfter mit seinem Partner Leadbelly gesehen — die haben früher im‐ mer drüben in der Garment Workers Hall in der Lexington Avenue gespielt. Kennst du ›You Canʹt Scare Me‹ oder ›Iʹm Sticking to the Union‹?« Klar kannte ich die. »Was ist denn eigentlich aus dem geworden?« »Ach, der liegt im Krankenhaus. Drüben in Jersey.« Lou kaute an seinem Stumpen. »Hoffentlich nichts Ernstes. Was hast du sonst noch für Songs? Nehmen wir doch mal alle auf.« Ich hatte nicht viele Songs, aber ich erfand welche aus dem Stegreif, ich stellte den Text alter Bluesballaden um oder baute hier und da eine neue Zeile ein, die mir gerade in den Sinn kam, und dachte mir irgendeinen Titel dafür aus. Ich tat mein Bestes. Ich tat mein Möglichstes, um mir selbst das Gefühl zu geben, daß ich mein Geld wert war. Nichts hätte mich davon überzeu‐ gen können, daß ich tatsächlich ein Songwriter war, und ich war auch keiner, jedenfalls nicht im konventionellen Sinne. Ich war eindeutig nicht so wie die Arbeitstiere drüben im Brill Building, der Songfabrik, die nur ein paar Blocks entfernt war, aber genausogut am anderen Ende des Universums hätte liegen kön‐ nen. Da drüben produzierten sie wie am Fließband unfehlbare Hits fürs Radioprogramm. Junge Songwriter wie Gerry Goffin und Carole King, Barry Mann und Cynthia Weil, Pomus und Shuman, Leiber und Stoller — das waren die Großmeister der westlichen Hemisphäre, sie schrieben die ganzen bekannten Songs, die Hits, die mit ihren gewieften Melodien und schlich‐ ten Texten das Radio beherrschten. Zu meinen Favoriten ge‐ hörte Neil Sedaka, weil er seine eigenen Songs schrieb und 233
spielte. Meine Wege kreuzten sich nie mit denen dieser Leute, weil die erfolgreichen Songs nichts mit Folk oder der Downtown‐ Szene zu tun hatten. Was mich interessierte, war Tradition in Großbuchstaben, und ich stand der Teenie‐Szene so fern, wie es überhaupt nur ging. Vor Lous Bandgerät konnte ich aus dem Stegreif alle möglichen Songs improvisieren, die auf Folkmusikstrukturen beruhten; das fiel mir leicht. Was das ernsthafte Songwriting anging, waren die Songs, die ich vielleicht schreiben konnte, wenn ich begabt genug dafür war, auch die, die ich singen wollte. Außer von Woody Guthrie wußte ich von keinem Men‐ schen, daß er so etwas machte. Ich saß in Lous Büro und rasselte Songzeilen und Strophen herunter, die auf Altbekanntem beruhten— »Cumberland Gap«, »Fire on the Mountain«, »Shady Grove«, »Hard, Ainʹt It Hard«. Ich stellte den Text um und baute hier und da etwas Eigenes ein. Nichts Entscheiden‐ des, nichts richtig Ausformuliertes, alles in Dur, vielleicht auch mal ein typisches Mollstück wie »Sixteen Tons«. Wenn man die Melodie geringfügig änderte, konnte man daraus zwanzig Songs machen oder noch mehr. Ich konnte Strophen oder Zei‐ len aus alten Spirituals oder Bluesnummern einfließen las‐ sen. Das war kein Problem; andere machten das ständig. Man mußte nicht groß dabei nachdenken. Meistens fing ich mit ir‐ gend etwas an, einer in Stein gemeißelten Zeile, und gab ihr dann mit einer zweiten Zeile irgendeine Wendung, so daß da‐ bei etwas Neues entstand. Ich hatte das nie geübt, und es erfor‐ derte nicht allzuviel Konzentration. Auf der Bühne hätte ich diese Lieder nicht gesungen. Lou hatte noch nie etwas Vergleichbares gehört, und es gab daher nur sehr wenig Feedback von ihm. Hin und wieder stopp‐ te er das Band und ließ mich nochmal von vorn anfangen. »Ganz eingängig«, sagte er dann und wollte das gleiche noch 234
einmal hören. In solchen Fällen spielte ich fast immer etwas anderes, weil ich mir nicht gemerkt hatte, was ich gerade ge‐ sungen hatte, so daß ich den Song nicht exakt wiederholen konnte. Ich hatte keine Ahnung, was er mit dem ganzen Zeug vorhatte. Noch weiter konnte man sich unmöglich vom Main‐ stream entfernen. Bei Leeds Music waren Songs wie »Boogie Woogie Bugle Boy«, »Cʹest si bon«, »Under Paris Skies« und »All or Nothing at All« erschienen, Songs von Henry Mancini wie »Peter Gunn« und »Iʹll Never Smile Again« und alle Songs aus Bye Bye Birdie, einem großen Hit am Broadway. Der Song, der dazu geführt hatte, daß ich jetzt bei Leeds Music unter Vertrag stand, der Song, der John Hammond dazu bewegt hatte, mich überhaupt hierherzubringen, war gar kein hochambitioniertes Stück, sondern in Text und Melodie viel‐ mehr eine Hommage an den Mann, der mir den Ort gezeigt hatte, an dem meine Identität sich zu bilden begann und mein Schicksal seinen Lauf nahm — den großen Woody Guthrie. Ich hatte beim Schreiben an ihn gedacht und die Melodie eines al‐ ten Songs von ihm verwendet, ohne zu ahnen, daß das der erste von vielleicht tausend Songs war, die ich noch schreiben würde. Mein Leben hatte sich von Grund auf geändert, seit ich ein paar Jahre früher in Minneapolis vor einem Plattenspieler gesessen und zum ersten Mal Woody Guthrie gehört hatte. Dieses erste Mal war wie der Abwurf einer Millionen‐Megatonnen‐Bombe gewesen. Im Sommer ʹ59 lebte ich in Minneapolis, nachdem ich zu Frühlingsanfang bei meinen Eltern ausgezogen war. Ich kam aus dem Norden von Minnesota, von der Mesabi Range, dem Land der Eisenminen, Amerikas Stahlmetropole. Ich bin in Hibbing aufgewachsen, aber geboren worden bin ich in Duluth, einhundertzwanzig Kilometer weiter östlich am Lake Superior, dem großen See, den die Indianer Gitche Gumee nennen. Von 235
Zeit zu Zeit setzte mein Vater uns in einen alten Buick Road‐ master und fuhr mit uns übers Wochenende nach Duluth. Mein Vater war in Duluth geboren worden und aufgewachsen. Dort wohnten seine Freunde. Er hatte vier Brüder, und er hatte sein Leben lang gearbeitet, schon als Kind. Mit sechzehn hatte er ge‐ sehen, wie ein Auto einen Telegrafenmast rammte und zu bren‐ nen begann. Mein Vater war vom Fahrrad gesprungen, hatte ins Auto gegriffen, den in Flammen stehenden Fahrer herausgezo‐ gen und das Feuer mit dem eigenen Körper erstickt — er hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, um jemanden zu retten, den er gar nicht kannte. Schließlich hatte er Abendkurse in Buchhal‐ tung belegt, und als ich auf die Welt kam, arbeitete er für Stan‐ dard Oil of Indiana. Als Folge einer Kinderlähmung hinkte er unübersehbar und hatte Duluth verlassen müssen — er hatte seinen Job verloren, und so waren wir auf die Iron Range ge‐ kommen, wo die Familie meiner Mutter herstammte. In der Nähe von Duluth, auf der anderen Seite der Hängebrücke, in Superior, Wisconsin, einer Stadt, die für ihren Rotlichtbezirk und ihre Glücksspielclubs berüchtigt war, hatte ich auch Cou‐ sins, die ich manchmal besuchte. Was ich von Duluth am besten in Erinnerung behalten habe, sind der schiefergraue Himmel und die geheimnisvollen Nebel‐ hörner, heftige Stürme, die immer genau auf einen zuzuhalten schienen, und unbarmherzig heulende Winde, die über den großen schwarzen rätselhaften See mit seinen tückischen, drei Meter hohen Wellen herangefegt kamen. Es hieß, sich weit auf den See hinauswagen zu müssen komme einem Todesurteil gleich. Duluth liegt größtenteils an einem Abhang. Es gibt dort kein ebenes Gelände. Die Stadt ist an einem steilen Hang er‐ richtet worden, und es geht immer bergauf oder bergab. Einmal nahmen mich meine Eltern mit zu einer politischen Versammlung im Leif Erickson Park in Duluth, wo Harry Tru‐ 236
man eine Rede hielt. Leif Erickson war ein Wikinger, der in un‐ sere Gegend vorgestoßen sein soll, lange bevor die Pilgerväter in Plymouth Rock landeten. Ich muß damals sieben oder acht ge‐ wesen sein, aber ich kann mich bis heute erstaunlich gut erin‐ nern, was ich dabei empfunden habe. Ich weiß noch, wie aufre‐ gend ich es dort in der Menge fand. Ich saß auf den Schultern eines Onkels und trug meine kleinen weißen Cowboystiefel und meinen Cowboyhut. Das Ganze machte mir einen Riesenspaß — der Beifall, der Jubel, die gespannte Aufmerksamkeit, mit der die Leute jedem Wort lauschten, das Truman fallenließ ... Tru‐ man trug einen grauen Hut, war von zierlicher Statur und sprach mit dem näselnden Tonfall eines Countrysängers. Ich war gefesselt von seiner schleppenden Sprechweise, der Ernst‐ haftigkeit, die er ausstrahlte, und auch davon, wie die Men‐ schen an seinen Lippen hingen. Ein paar Jahre später sagte er, das Weiße Haus sei wie eine Gefängniszelle. Truman stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Einmal hatte er sogar Drohun‐ gen gegen einen Journalisten ausgestoßen, der das Klavierspiel seiner Tochter bemängelt hatte. In Duluth tat er aber nichts dergleichen. Der nördliche Teil des Mittleren Westens war eine extrem unbeständige, politisch rege Gegend— es gab die Farmer Labor Party, die Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten. Die Zuhörer machten es den Rednern nicht leicht und waren den Republikanern nicht sonderlich zugetan. Bevor Kennedy Präsident wurde, war er als Senator im Wahlkampf nach Hib‐ bing gekommen, aber das war etwa sechs Monate nach meinem Auszug gewesen. Meine Mutter sagte, daß achtzehntausend Leute herbeigeströmt seien, um Kennedy im Veterans Memo‐ rial Building zu sehen — daß sie von den Dachsparren gehangen und bis auf die Straße gestanden hätten, daß Kennedy ein Licht‐ blick sei und über die Gegend, aus der seine Zuhörer stammten, 237
gründlich Bescheid wisse. Er habe eine heroische Rede gehalten, sagte meine Mom, und den Menschen viel Hoffnung gemacht. Die Iron Range war eine Gegend, in die nur ganz wenige überregional bekannte Politiker oder Prominente jemals vor‐ drangen. (Woodrow Wilson hatte dort zu Beginn des Jahrhun‐ derts Station gemacht und seine Rede von einem Zug herab ge‐ halten. Auch meine Mutter, die damals zehn Jahre alt gewesen war, hatte ihn gesehen.) Wenn ich wählen gegangen wäre, hätte ich Kennedy schon allein deswegen gewählt, weil er dort hin‐ gefahren war. Es tat mir leid, daß ich ihn verpaßt hatte. Die Familie meiner Mutter stammte aus der Kleinstadt Leto‐ nia auf der anderen Seite der Gleise, nicht weit von Hibbing. Als sie jung gewesen war, hatte es in der Stadt nur eine Ge‐ mischtwarenhandlung, eine Tankstelle, ein paar Pferdeställe und eine Schule gegeben. Die Welt, in der ich aufwuchs, war ein bißchen anders, ein bißchen moderner, bestand aber immer noch überwiegend aus ungeteerten Straßen, Sümpfen, Eiswäl‐ len, schroffen Skylines aus Bäumen am Stadtrand, dichten Wäl‐ dern, großen und kleinen unberührten Seen, Erzgruben, Zügen und einspurigen Highways. Wintertemperaturen um die zwan‐ zig Grad unter Null— eher dreißig, wenn man den eisigen Wind einkalkulierte— waren nicht selten. Im Frühjahr taute es, und die Sommer waren heiß und schwül mit stechender Sonne und einem wahnwitzigen Wetter, bei dem die Temperatur bis an die vierzig Grad stieg. Im Sommer kamen Schwärme von Mücken, die durch die Stiefel stechen konnten— im Winter gab es Bliz‐ zards, in denen man erfrieren konnte. Und der Herbst war im‐ mer wieder prachtvoll. Meine Jugend verbrachte ich überwiegend mit Warten. Ich xvußte immer, daß es da draußen eine größere Welt gab, aber die, in der ich lebte, war auch nicht verkehrt. Es gab kaum Me‐ dien, so daß man mehr oder weniger nur das vom Leben kannte, 238
was sich vor der eigenen Haustür abspielte. Ich glaubte, daß alle anderen ihre Jugend mit den gleichen Beschäftigungen ver‐ brachten — bei Umzügen mitmarschieren, Fahrradrennen aus‐ tragen, Eishockey spielen. (Man erwartete nicht von jedem, daß er Football, Basketball oder gar Baseball spielte, aber Eislaufen und Eishockeyspielen — das mußte man können.) Dazu die üb‐ lichen Unternehmungen wie das Schwimmen in Flüssen und Fischteichen, Schlittenfahren und ein Sport namens Stoßstan‐ genfahren, bei dem man sich an der hinteren Stoßstange eines Autos festhielt und durch den Schnee ziehen ließ. Feuerwerk am 4. Juli, Baumhäuser — Freizeitbeschäftigungen ohne Ende. Man konnte auch problemlos auf einen Eisenerzzug aufspringen, wenn man sich an einer der metallenen Leitern festhielt, die es auf beiden Seiten gab, und zu zahllosen Seen rausfahren, Anlauf nehmen und reinspringen. Das machten wir oft. Als Kinder schössen wir mit Luftgewehren, Erbsenpistolen und echten .22ern auf Dosen, Flaschen oder vollgefressene Ratten auf der städtischen Müllkippe. Und wir trugen Kämpfe mit Gum‐ migewehren aus. Gummigewehre waren aus L‐förmig zuge‐ schnittenem Kiefernholz. Man hielt sie am kurzen Ende, an dem man mit Klebeband eine Wäscheklammer gut befestigt hatte. Wir schnitten das Gummi damals aus Reifenschläuchen; es war echtes, dickes Gummi, das wir in runde Streifen zerteil‐ ten, zusammenknoteten und vom Abzug, dem oberen Teil der Wäscheklammer, bis zum vorderen Ende des Laufs spannten. Wenn man die L‐förmige Waffe festhielt (wir stellten sie in verschiedenen Größen her) und abdrückte, schnalzte das Gummi schnell und heftig davon, und man konnte bis zu drei, vier Me‐ ter entfernte Ziele treffen. Man konnte jemanden verletzen. Wenn man vom Gummiband getroffen wurde, tat das höllisch weh, es brannte, und man trug Striemen davon. Das spielten wir den ganzen Tag lang, eine Runde nach der anderen. Mei‐ 239
stens teilte man sich anfangs in zwei Mannschaften auf und hoffte, kein Gummi ins Auge zu kriegen. Manche Kinder hatten drei oder vier Gummigewehre. Wer getroffen wurde, mußte an einer bestimmten Stelle unter einem Baum auf das nächste Spiel warten. Von einem Jahr zum nächsten änderte sich alles, als die Traktoren und Trucks der Minen auf synthetische Gummireifen umgestellt wurden. Synthetisches Gummi war nicht so gut und treffsicher wie echtes Gummi. Es schnickte mit einem müden Plopp vom Lauf oder flog einen Meter weit und fiel dann zu Bo‐ den. Das brachte nichts. Ich glaube, wenn man heute echtes Gummi nähme, wäre das wie ein Dum‐Dum‐Geschoß. Ungefähr gleichzeitig mit dem synthetischen Gummi kam das Autokino mit Großleinwand auf. Aber das war Familien‐ sache, weil man ein Auto brauchte. Es gab noch andere Frei‐ zeitbeschäftigungen. Rennen mit alten Autos auf unbefestigten Straßen in kühlen Sommernächten, meist mit ʹ49er oder ʹ50er Fords, Unfallautos, fahrenden Särgen, verbeulte Kisten mit Überrollbügeln und Feuerlöschern, ohne Sitze, die Türen zugeschweißt— so rumpelten und schleuderten sie krachend und scheppernd über die Rennstrecke, die einen Kilometer lang war, sie überschlugen sich und flogen von der Straße ... an der ganzen Strecke lagen Schrottautos verstreut. Drei Zirkusse ka‐ men mehrmals im Jahr in die Stadt, und wir hatten richtige Jahrmärkte mit Monstrositätenkabinett, Showgirls und sogar Schaustellern, die Hühnern den Kopf abbissen und lebendige Tiere auffraßen. Bei einem solchen Jahrmarkt habe ich eine der letzten Minstrelshows mit schwarz angemalten Gesichtern ge‐ sehen. Überregional bekannte Country & Western‐Stars spiel‐ ten im Memorial Building, und einmal trat Buddy Rich mit sei‐ ner Big Band in der Aula der Highschool auf. Der Höhepunkt des Sommers war erreicht, wenn das Fast‐Pitch‐Softballteam The King and His Court in die Stadt kam und die besten Spieler 240
der Gegend herausforderte. Wer Baseball mochte, durfte sich das nicht entgehen lassen. Zu The King and His Court gehörten vier Spieler: ein Pitcher, ein Catcher, ein First Baseman und ein flexibler Shortstop. Der Pitcher war beeindruckend. Mal warf er von der Second Base, mal mit verbundenen Augen, mal zwi‐ schen seinen Beinen durch. Nur ganz wenige Spieler erwisch‐ ten je seine Bälle, und The King and His Court verloren nie ein Spiel. Auch das Fernsehen war im Kommen, aber nicht alle Haushalte hatten ein Fernsehgerät. Runde Bildröhren. Norma‐ lerweise fing das Programm gegen drei Uhr nachmittags mit einem Testbild an, dann wurden ein paar Shows aus New York oder Hollywood übertragen, und um sieben oder acht war Schluß. Viel gab es nicht zu sehen ... Milton Berle, Howdy Doody, Cisco Kid, Lucy und ihren kubanischen Ehemann Desi, der Bandleader war, und die Father Knows Best‐Familie, wo alle immer schick aufgetakelt herumliefen, obwohl sie doch zu Hause waren. Es war nicht wie in der Großstadt, wo sich im Fernsehen sehr viel mehr tat. Wir hatten kein American Band‐ stand oder irgendwas Vergleichbares. Natürlich hatten wir andere Unterhaltungsmöglichkeiten. Und doch war alles Klein‐ stadtmuff— sehr beschränkt, provinziell, und jeder kannte jeden. Jetzt war ich endlich in Minneapolis, wo ich mich befreit und wie entronnen fühlte; ich wollte nie mehr zurückkehren. Meine Ankunft in Minneapolis war nicht weiter aufgefallen. Ich war mit dem Greyhound‐Bus angekommen; niemand nahm mich in Empfang, niemand kannte mich, und das gefiel mir. Meine Mutter hatte mir die Adresse einer Studentenverbindung in der University Avenue gegeben. Mein Cousin Chucky, den ich nur flüchtig kannte, war dort Vorsitzender. Er war vier Jahre älter als ich und ein rundum erfolgreicher Schüler in der Highschool — Captain des Footballteams, Abschiedsredner, Klassensprecher. 241
Es war nicht weiter überraschend, daß er Vorsitzender der Stu‐ dentenverbindung geworden war. Meine Mom sagte, sie habe meine Tante gebeten, Chucky anzurufen, so daß ich dort woh‐ nen konnte— wenigstens solange das Haus im Sommer leer stand und die meisten Mitglieder nicht da waren. Als ich an‐ kam, hingen dort ein paar Leute herum und sagten, ich könne mich oben am Ende des Flurs einquartieren. Dort fand ich ein nichtssagendes Zimmer mit einem Stockbett und einem Tisch unter einem Fenster ohne Vorhänge. Ich stellte mein Gepäck ab und sah hinaus. Wahrscheinlich suchte ich das, wovon ich in Unterwegs gele‐ sen hatte, die Großstadt, ihr Tempo und ihre Geräusche, das, was Allen Ginsberg »die Welt der Wasserstoff‐Jukebox« ge‐ nannt hatte. Vielleicht hatte ich schon mein ganzes Leben in dieser Welt verbracht, keine Ahnung, jedenfalls hatte niemand sie je so genannt. Lawrence Ferlinghetti, ein anderer Beat‐Poet, hatte sie »die kußechte Welt der Plastikklobrillen, Tampons und Taxis« genannt. Auch das war okay, aber Gregory Corsos Gedicht »Bomb« brachte es genauer auf den Punkt und erfaßte den Zeitgeist besser — eine wüste und hochtechnisierte Welt — hektisches Treiben — Regale putzen, Kisten stapeln. Darauf wollte ich meine Hoffnung nicht setzen. Man konnte nicht viel Kreatives damit anfangen. Ich lebte ohnehin schon in einem Paralleluniversum, in dem archaischere Prinzipien und Werte galten, einem Kosmos der Taten und Tugenden vom alten Schrot und Korn, wo man schnell mit einem Urteil bei der Hand war. Es war eine Kultur voller gesetzloser Frauen, Su‐ perschurken, dämonischer Buhlen und letzter Wahrheiten ... mit Straßen und Tälern, ergiebigen Torfmooren, voller Land‐ besitzer und Ölmagnaten, Stagger Lees, Pretty Pollys und John Henrys — eine unsichtbare Welt, die alles mit ihren hohen Mauern und gleißenden Wandelgängen überragte. Es war alles 242
da, und es war ganz klar — makellos und gottesfürchtig —, aber man mußte erst danach suchen. Es wurde nicht auf einem Papp‐ teller serviert. Folk war eine Realität von großartigeren Dimen‐ sionen. Sie überstieg das menschliche Begriffsvermögen, und wenn sie einen rief, konnte es passieren, daß man verschwand und von ihr verschluckt wurde. Ich fühlte mich heimisch in die‐ sem Mythenreich, das nicht so sehr von Individuen bevölkert wurde als vielmehr von Archetypen, anschaulichen Mensch‐ heits‐Archetypen von metaphysischer Statur — ungeschliffene Seelen, erfüllt von natürlicher Einsicht und innerer Weisheit. Und jeder gebührte ein gewisser Respekt. Ich konnte an das ge‐ samte Spektrum glauben und es besingen. Es war so real, so viel lebensechter als das Leben selbst. Es war das Leben unter einem Vergrößerungsglas. Folk war alles, was ich zum Leben brauchte. Das Problem war nur, daß es nicht genug davon gab. Folk war altmodisch und hatte nicht viel mit der Gegenwart zu tun, mit den aktuellen Trends. Es war ein riesiges Heldenepos, über das man aber nicht einfach so stolperte. Als ich erst einmal einen Blick hinter den Schleier geworfen hatte, wurde meine sechs‐ saitige Gitarre zu einem kristallenen Zauberstab, und mir wuch‐ sen völlig neue Fähigkeiten zu. Außer Folk bewegte und inter‐ essierte mich nichts. Mein ganzes Leben drehte sich darum. Mit Leuten, die anders gepolt waren, hatte ich wenig gemeinsam. Ich blickte aus dem Fenster im zweiten Stock des Studenten‐ wohnheims durch grüne Ulmen auf die University Avenue mit ihrem zähfließenden Verkehr hinaus, die Wolken hingen tief ... die Vögel sangen. Es war, als hebe sich ein Vorhang. Es war ein schöner Frühlingstag Anfang Juni. Außer meinem Cousin Chucky wohnten bloß noch ein paar andere Leute im Haus, und die hingen meistens im Speisesaal rum, einer Küche im Keller, die sich unter dem ganzen Haus hinzog. Sie hatten alle gerade ihren Uni‐Abschluß gemacht und arbeiteten den Sommer über 243
in Aushilfsjobs — sie warteten darauf, daß es weiterging. Ge‐ wöhnlich saßen sie in zerrissenen T‐Shirts und abgeschnittenen Jeans an den Tischen, spielten Karten und tranken Bier. Maul‐ helden. Sie kümmerten sich nicht um mich. Ich merkte, daß ich nach Lust und Laune kommen und gehen konnte und daß ich hier in Ruhe gelassen wurde. Als erstes ging ich meine E‐Gitarre, die mir nichts genutzt hätte, gegen eine akustische Martin Double‐0 eintauschen. Der Ladenbesitzer verlangte keinen Aufpreis, und ich trug die Gi‐ tarre in ihrem Koffer aus dem Laden. Auf dieser Gitarre sollte ich die nächsten paar Jahre spielen. Die Gegend um die Univer‐ sität hieß im Volksmund Dinkytown und war wie ein kleines Dorf, ganz anders als das konventionelle übrige Minneapolis. Dort reihten sich hauptsächlich viktorianische Häuser aneinan‐ der, in denen Studenten zur Miete wohnten. Es waren Seme‐ sterferien, so daß die meisten Wohnungen leerstanden. Ich machte den zentralen Plattenladen von Dinkytown ausfindig. Ich war auf der Suche nach Folkplatten, und die erste, die ich fand, war eine auf dem Label Tradition erschienene Platte von Odetta. Ich nahm die Platte mit in die Probehörkabine. Odetta war umwerfend. Ich hatte noch nie von ihr gehört. Sie sang mit tiefer Stimme und spielte mit kräftiger Schlagtechnik und Hammering. Ich lernte auf der Stelle fast alle Songs von der Platte und ahmte sogar den Hammering‐Stil nach. Mit meinem neu erworbenen Repertoire klapperte ich dann weiter die Straßen ab und betrat das Ten OʹClock Scholar, ein Beat‐Café. Ich war auf der Suche nach anderen Musikern mit ähnlichen Interessen. Dort saß der erste Geistesverwandte herum, den ich in Minneapolis kennenlernte. Es war John Koerner, und auch er hatte eine Akustikgitarre dabei. Koerner war groß und dünn und sah immer so aus, als ob er sich über ir‐ gendwas amüsiere. Wir verstanden uns auf Anhieb. Ein paar 244
Songs kannten wir alle beide, zum Beispiel »Wabash Cannon‐ ball« und »Waiting for a Train«. Koerner kam gerade aus dem Marine Corps und studierte Luftfahrttechnik. Er stammte aus Rochester, New York, war bereits verheiratet und beschäftigte sich schon ein paar Jahre länger als ich mit Folk; er hatte viele Songs von einem gewissen Harry Webber gelernt, vorwiegend Straßensängerballaden. Aber er spielte auch viel Blues, traditio‐ nelle Kneipenmusik. Wir saßen uns gegenüber, ich spielte meine Songs von Odetta und ein paar von Leadbelly dessen Platte ich schon vor Odetta gehört hatte. John spielte »Casey Jones«, »Golden Vanity« — er spielte vieles aus der Ragtime‐Richtung, Stücke wie »Dallas Rag«. Er sprach mit leiser Stimme, sang aber so laut wie ein Feldarbeiter. Koerner war ein mitreißender Sän‐ ger, und von da an machten wir oft zusammen Musik. Ich lernte viele Songs von Koerner, indem ich die zweite Stimme dazu sang, und er hatte Folkplatten von mir völlig un‐ bekannten Leuten zu Hause. Ich hörte sie oft, vor allem die New Lost City Rambiers, die ich sofort ins Herz schloß. Alles an ihnen sprach mich an— ihr Stil, ihr Gesang, ihr Sound. Mir gefiel auch ihr Aussehen, ihre Art, sich zu kleiden, und beson‐ ders ihr Name. Ihre Songs deckten die ganze Palette ab, von Balladen aus den Bergen bis hin zu Geigenmelodien und Rail‐ road‐Blues. In allen Songs schwang eine schwindelerregende, unheilvolle Wahrheit mit. Tagelang hörte ich nur die Rambiers. Damals wußte ich noch nicht, daß sie ihr gesamtes Repertoire von alten 78er‐Platten hatten, aber was hätte das auch für eine Rolle gespielt? Überhaupt keine. Für mich waren sie beispiel‐ los originell, in jeder Hinsicht geheimnisvolle Gestalten. Ich konnte mich gar nicht satthören. Koerner hatte noch andere herausragende Platten, vor allem solche, die bei Folkways erschienen waren — Focʹsle Songs and Sea Shanties konnte ich mir immer wieder anhören. Darauf 245
waren Dave Van Ronk, Roger Abrams und andere vertreten. Die Platte haute mich um. Ein ganzes Ensemble sang Songs mit unbarmherzig vorangetriebenen Harmonien wie »Haul Away Joe«, »Hanginʹ Johnny« und »Radcliffe Highway«. Manchmal sangen Koerner und ich ein paar davon im Duett. Außerdem besaß er den Folksongs‐Sampler von Elektra mit diversen Mu‐ sikern. Auf der Platte hörte ich erstmals Dave Van Ronk und Peggy Seeger und sogar Alan Lomax selbst mit dem Cowboy‐ song »Doney Gal«, den ich in mein Repertoire aufnahm. Koerner hatte noch mehr Platten— ein paar auf dem Arhoolie‐Label erschienene Blues‐Compilations, durch die ich zum ersten Mal Blind Lemon Jefferson, Blind Blake, Charlie Patton und Tommy Johnson zu hören bekam. Auch eine Platte von John Jacob Niles hörte ich oft. Niles war kein Traditionalist, aber er sang traditionelle Songs. Eine me‐ phistophelische Gestalt aus Carolina. Er hämmerte auf einem harfenartigen Instrument herum und sang mit einer Sopran‐ stimme, die einem durch Mark und Bein ging. Niles war un‐ heimlich, unlogisch und furchtbar eindringlich, und wenn er sang, bekam man Gänsehaut. Er war ganz unverkennbar jemand, der den Bogen raushatte, fast wie ein Zauberer. Niles kam aus einer anderen Welt, und in seiner Stimme dräuten fremdartige Beschwörungen. »Maid Freed from the Gallows« und »Go Away from My Window« hörte ich viele Male. Koerner sagte, ich müsse Harry Webber kennenlernen, und er stellte uns einander vor. Webber war ein Professor für Eng‐ lische Literatur, ein Intellektueller alter Schule im Tweedanzug. Und er kannte wirklich viele Songs, vornehmlich Bänkelsän‐ gerlieder, hartherzige Balladen, in denen es grausam zur Sache ging. Ich lernte eine Ballade namens »Old Greybeard«. Sie han‐ delt von einem jungen Mädchen, dessen Mutter ihm befiehlt, einen Mann zu küssen, den es heiraten soll. Die Tochter sagt 246
zur Mutter, sie solle ihn doch selbst küssen ... der alte Graubart sei jetzt glattrasiert. Der Song wird in der ersten, zweiten und dritten Person vorgetragen. Die ganzen Balladen gefielen mir von Anfang an. Sie waren unglaublich romantisch und stellten alle gängigen Liebeslieder in den Schatten, die ich je gehört hatte. Man konnte alle Kombinationen des eigenen Wortschatzes ausschöpfen, ohne auch nur ein einziges neues Wort lernen zu müssen. Durch den Text erreichten die Balladen ein geradezu übernatürliches Niveau und ergaben einen ganz eigenen Sinn. Man brauchte sich keine eigenen Deutungen zurechtzulegen. Auch einen anderen Song trug ich häufig vor, »When a Manʹs in Love«, in dem ein verliebter Junge die Kälte nicht spürt— er geht durch den eisigen Schnee, um seine Freundin zu sehen, er holt sie ab und bringt sie an einen verschwiegenen Ort. Langsam fühlte ich mich selbst wie eine Figur aus so einem Song, ich dachte sogar schon wie eine. In »Roger Esquire«, einem anderen Song, den ich von Webber lernte, geht es um Geld und Schön‐ heit, wie sie die Sinne reizen und das Auge blenden. Ich konnte alle Songs kommentarlos herunterrasseln, als stammten all die weisen und poetischen Worte von mir ganz al‐ lein. Die Songs hatten schöne Melodien und erzählten von all‐ täglichen Helden: Barbieren und Dienern, Mätressen und Sol‐ daten, Matrosen, Farmarbeitern und Fabrikarbeiterinnen und so weiter, ihrem Tun und Treiben — wenn sie in den Songs zu Wort kamen, schloß man mit ihnen Freundschaft fürs Leben. Aber dahinter steckte noch mehr ... sehr viel mehr. Ich beschäf‐ tigte mich auch eingehend mit ländlichem Blues, der meine an‐ dere Seite widerspiegelte. Er hing mit dem frühen Rockʹnʹ Roll zusammen, und ich mochte diesen Blues, weil er älter war als Muddy und Wolf. Der Highway 61, die wichtigste Verkehrsader des Country Blues, hat seinen Anfang dort, wo ich herkam ... in Duluth, um genau zu sein. Ich hatte immer das Gefühl, 247
daß ich dort aufgebrochen war und den Highway nie verlassen hatte, daß er mich überallhin führte, auch tief in den Süden ins Mississippi‐Delta. Es war die gleiche Straße mit ihren immer‐ gleichen Gegensätzen, es waren die gleichen Kuhdörfer, die gleichen geistigen Wurzeln. Der Mississippi, die Hauptschlag‐ ader des Blues, entspringt auch in den Wäldern meiner Heimat. Ich hatte mich nie besonders weit davon entfernt. Das war mein Schlupfwinkel im Universum; eine gewisse Blutsverwandt‐ schaft hatte ich immer gespürt. Durch die Twin Cities zogen auch Folksänger, und auch von ihnen konnte man Songs lernen — von Musikern der alten Schule wie Joe Hickerson, Roger Abrams, Ellen Stekert oder Rolf Kahn. Authentische Folkplatten waren schwerer aufzu‐ treiben als die Nadel im Heuhaufen. Man mußte Leute kennen, die welche hatten. Koerner und noch ein paar andere besaßen Folkplatten, aber das war nur ein kleiner Kreis. Plattenläden hatten nur wenige vorrätig, weil die Nachfrage zu gering war. Musikern wie Koerner und mir war kein Weg zu weit, wenn es eine Platte von jemandem zu hören gab, den wir noch nicht zu kennen glaubten. Einmal fuhren wir nach St. Paul zu jeman‐ dem, der angeblich eine 78er‐Platte besaß, auf der Blind Andy Jenkins »Death of Floyd Collins« sang. Dieser Jemand war nicht zu Hause, und wir bekamen die Platte nie zu hören. Aber ich hörte Tom Darby und Jimmy Tarleton bei einem Bekannten zu Hause, dessen Vater eine alte Platte von ihnen besaß. Ich hatte immer geglaubt, mit »A‐wop‐bop‐a‐loo‐lop a‐lop‐bam‐boo« sei alles gesagt, bis ich Darby und Tarleton mit »Way Down in Florida on a Hog« hörte. Darby und Tarleton waren ebenfalls nicht von dieser Welt. Koerner und ich spielten und sangen oft zusammen im Duett, aber wir machten auch jeder unser eigenes Ding. Ich spielte morgens, mittags und abends. Das war alles; meist schlief ich 248
mit der Gitarre in der Hand ein. So verbrachte ich den ganzen Sommer. Im Herbst saß ich einmal am Imbißtresen in Grayʹs Drugstore. Grayʹs Drugstore lag im Herzen von Dinkytown. Ich hatte ein Zimmer direkt über dem Laden bezogen. Das Se‐ mester hatte angefangen, und das Universitätsleben war wieder in Gang gekommen. Mein Cousin Chucky und seine Kumpel waren alle aus dem Studentenwohnheim ausgezogen, und bald waren die Mitglieder — oder künftigen Mitglieder — der Stu‐ dentenverbindung wieder aufgetaucht. Sie hatten mich gefragt, wer ich sei und was ich dort machte. Nichts, ich machte gar nichts dort ... ich schlief da nur. Natürlich hatte ich ge‐ wußt, was kam, und meine Sachen gepackt und eilig das Weite gesucht. Das Zimmer über Grayʹs Drugstore kostete dreißig Dol‐ lar im Monat. Es war nicht schlecht, und ich konnte es mir pro‐ blemlos leisten. Inzwischen verdiente ich jedesmal drei bis fünf Dollar, wenn ich in einem der umliegenden Cafés spielte oder drüben in St. Paul im Purple Onion Pizza Parlor. Die Bude über dem Grayʹs war nur ein leerer Lagerraum mit einem Waschbecken und einem Fenster mit Blick auf eine Gasse. Kein Wandschrank, gar nichts. Toilette auf dem Gang. Ich legte eine Matratze auf den Boden, kaufte eine gebrauchte Kommode, stellte eine Koch‐ platte darauf und benutzte das äußere Fensterbrett als Kühl‐ schrank, als es kalt wurde. Eines Tages saß ich im Greyʹs am Tresen— der Winter hatte früh eingesetzt, der Wind heulte draußen über die Central Avenue Bridge, und auf dem Boden bildete sich eine geschlossene Schneedecke. Flo Castner, die ich aus einem der Cafés kannte, dem Bastille, war hereingekom‐ men und hatte sich neben mich gesetzt^ Flo war eine Schauspie‐ lerin von der Theaterakademie, eine aufstrebende Mimin von seltsamem Äußeren, die aber auf eine befremdliche Weise auch schön wirkte. Sie hatte langes rotes Haar und helle Haut und 249
war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Sie benahm sich groß‐ bürgerlich, war aber umgänglich — eine Mystikerin und Trans‐ zendentalistin— sie glaubte an die geheimnisvolle Kraft der Bäume und so weiter. Sie war auch fest von der Wiedergeburt überzeugt. Wir führten eigenartige Gespräche. »In einem anderen Leben war ich vielleicht du«, sagte sie. »Ja, aber dann wäre ich ja in dem Leben nicht derselbe Mensch gewesen.« »Auch wieder wahr. Komm, daran sollten wir arbeiten.« An diesem Tag saßen wir nur rum und unterhielten uns, und sie fragte mich, ob ich schon mal von Woody Guthrie gehört hätte. Klar, sagte ich, denn ich kannte ihn von den Stinson‐Plat‐ ten mit Sonny Terry und Cisco Houston. Dann fragte sie mich, ob ich ihn schon mal solo auf seinen eigenen Platten gehört hätte. Daran konnte ich mich nicht erinnern. Flo sagte, ihr Bruder Lyn habe ein paar von den Platten; wir könnten zusam‐ men hingehen und sie uns anhören— Woody Guthrie dürfe ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Irgendetwas daran ließ mich aufhorchen, und mein Interesse war geweckt. Vom Drugstore war es nicht weit zum Haus ihres Bruders, einen knappen Kilometer vielleicht. Lyn war Anwalt bei den städtischen sozia‐ len Diensten— er hatte dünnes, schütteres Haar und trug eine Fliege und eine kleine James‐Joyce‐Brille. Wir waren uns im Laufe des Sommers hin und wieder begegnet. Ich hatte ihn ein paar Folksongs spielen hören, aber er redete nicht viel, und ich hatte ihn nie angesprochen. Er hatte mich nie dazu eingeladen, irgendwelche Platten bei ihm anzuhören. Er war zu Hause, als Flo mich vorbeibrachte. Seine Platten‐ sammlung dürfe ich ruhig durchgehen, sagte er und zog ein paar alte 78er‐Alben heraus, die ich mir anhören sollte. Eins davon war Spirituals to Swing Concert at Carnegie Hall. Das war ein Satz 78er‐Platten mit Count Basie, Meade Lux Lewis, 250
Joe Turner und Pete Johnson, Sister Rosetta Tharpe und vielen anderen. Die andere Sammlung war die, von der Flo mir er‐ zählt hatte — ein Woody‐Guthrie‐Set mit etwa zwölf doppelsei‐ tigen 78er‐Platten. Ich legte eine auf, und als sich die Nadel senkte, war ich wie vom Donner gerührt — ich wußte nicht, ob ich stoned oder nüchtern war. Was ich da hörte, war Woody, der viele seiner Kompositionen ganz alleine vortrug ... Songs wie »Ludlow Massacre«, »1913 Massacre«, »Jesus Christ«, »Pretty Boy Floyd«, »Hard Travelinʹ«, »Jackhammer John«, »Grand Coulee Dam«, »Pastures of Plenty«, »Talkinʹ Dust Bowl Blues« und »This Land Is Your Land«. Ich hörte diese Songs einen nach dem anderen, und mir wurde ganz schwindelig. Ich bekam kaum Luft. Es war, als habe sich die Erde aufgetan. Ich hatte Guthrie schon früher gehört, aber immer nur hier und da mal ein Lied — und nur selten solo. Im Grunde kannte ich ihn gar nicht; ich hatte ihn noch nie der‐ art das Unterste zuoberst kehren hören. Ich konnte es nicht glauben. Guthrie hatte alles so sicher im Griff. Er war so poe‐ tisch, so verwegen, und er hatte den Rhythmus im Blut. Er schlug einen sofort in seinen Bann, und seine Stimme war wie ein Sti‐ lett. Er war anders als alle Sänger, die ich je gehört hatte, und das gleiche galt für seine Songs. Seine Eigenheiten, sein ge‐ schmeidiger Gesang, der ihm mühelos von der Zunge ging, das alles haute mich schier um. Ich fühlte mich, als habe der Plat‐ tenspieler selbst mich gepackt und mich quer durch das Zim‐ mer geschleudert. Ich achtete auch auf Guthries Aussprache. Er hatte einen perfektionierten Singstil, auf den anscheinend noch nie zuvor jemand verfallen war. Wenn ihm danach war, legte er die Betonung auf den letzten Buchstaben eines Wortes, und das saß wie ein Hieb. Sein Repertoire ließ sich absolut nicht einordnen. Es deckte das ganze unendliche Feld des Mensch‐ lichen ab. Kein einziger mittelmäßiger Song war dabei. Woody 251
Guthrie walzte alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. Für mich war das eine Offenbarung, wie ein schwerer Anker, der gerade ins Hafenbecken gestürzt war. An diesem Tag lauschte ich den ganzen Nachmittag lang wie in Trance Woody Guthrie und hatte das Gefühl, etwas über das Wesen der Selbstüberwindung herausgefunden zu haben, in den innersten Kern der Dinge vorgedrungen und mehr bei mir selbst zu sein als je zuvor. In meinem Kopf sagte eine Stimme: »So ist das also.« Ich konnte das alles singen, Song für Song, und ich wollte nichts anderes mehr singen. Es war, als hätte ich im Dunkeln gesessen und jemand hätte den Hauptschalter eines Blitzableiters umgelegt. Außerdem hatte mich eine große Neugier gepackt, was die‐ sen Mann anging, und ich mußte herausfinden, wer Woody Guthrie war. Dazu brauchte ich nicht lange. Dave Whittaker, ein Beatnik mit ausgeprägtem Sendungsbewußtsein, besaß zufällig Woodys Autobiographie, Bound for Glory, und er borgte sie mir aus. Ich las sie in rasender Geschwindigkeit von der ersten bis zur letzten Seite durch und verschlang jedes Wort. Das Buch sprach zu mir wie Gesang aus dem Radio. Guthrie schreibt wie ein Wirbelwind, und allein schon der Klang der Wörter bringt einen auf den Trip. Man kann das Buch öffnen, wo man will, man wird augenblicklich in seinen Bann geschlagen. Wer ist er? Er ist ein ehemaliger Schilder‐ maler aus Oklahoma, der sich so durchschlägt, ein Idealist, der in der Zeit der Depression und der Dust‐Bowl‐Dürre großge‐ worden ist— er zog nach Westen und durchlebte eine tragische Kindheit. In seinem Leben hat es oft gebrannt — sowohl im übertragenen Sinne als auch buchstäblich. Er ist ein singender Cowboy, aber das ist noch nicht alles. Woody hat eine wilde Dichterseele — er ist der Dichter der kargen Erde und der schlammigen Sümpfe. Für Guthrie unterteilt sich die Welt in 252
Leute, die arbeiten, und Leute, die nicht arbeiten. Es geht ihm um die Befreiung der Menschheit; er will eine lebenswerte Welt schaffen. Bound for Glory ist ein verdammt gutes Buch. Es ist riesig. Fast zu groß. Aber Guthries Songs erzählen noch einmal eine ganz andere Geschichte, und selbst wenn man das Buch nie gelesen hat, er‐ fährt man aus seinen Songs, wer er war. Für mich kam durch seine Lieder alles andere zum Stillstand. Ich beschloß auf der Stelle, nur noch Guthries Songs zu singen. Es war, als bleibe mir gar keine Wahl. Mein Repertoire gefiel mir ganz gut, es enthielt Songs wie »Cornbread, Meat and Molasses«, »Betty and Dupree« und »Pick a Bale of Cotton«, aber das mußte ich vorübergehend alles auf Eis legen, ohne zu wissen, ob ich je darauf zurückkommen würde. Durch seine Kompositionen hatte ich überhaupt erst einen klaren Blick auf die Welt ge‐ wonnen. Ich sagte mir, daß ich Guthries bedeutendster Schüler werden wollte. Das schien mir die Mühe wert. Es kam mir so‐ gar so vor, als seien wir verwandt. Auch von weitem, und ob‐ wohl ich ihn nie gesehen hatte, stand mir sein Gesicht klar und deutlich vor Augen. Er ähnelt in mancher Hinsicht meinem Vater in dessen jungen Jahren. Ich wußte nur wenig über Woody. Ich wußte nicht einmal genau, ob er noch lebte. Das Buch erweckt den Eindruck, er sei eine Figur aus fernen, ver‐ gangenen Tagen. Aber Whittaker brachte mich auf den neue‐ sten Stand und sagte, daß Woody irgendwo an der Ostküste lebe und bei schlechter Gesundheit sei, und das machte mich nachdenklich. Im Laufe der nächsten Wochen ging ich noch ein paarmal zu Lyn und hörte mir die Platten an. Er war offenbar der einzige, der derartig viele hatte. Nach und nach lernte ich alle Songs auswendig, und ich fühlte mich ihnen auf jeder Ebene verbun‐ den. Sie waren göttlich. Eins war klar, Woody Guthrie hatte 253
mich weder gesehen noch je von mir gehört, doch ich hatte das Gefühl, daß er zu mir sagte: »Ich trete ab, aber bei dir ist mein Job in guten Händen. Ich weiß, daß ich auf dich zählen kann.« Jetzt, da ich die Grenze überschritten hatte, stürzte ich mich Hals über Kopf auf Guthries Songs und sang nichts anderes mehr — bei privaten Partys, in den Cafés, auf der Straße, mit und ohne Koerner; und hätte ich eine Dusche besessen, dann hätte ich die Songs auch beim Duschen gesungen. Es gab viele Aufnahmen von Woody, aber abgesehen von den wichtigsten waren sie nicht so leicht aufzutreiben. Seine älteren Platten wurden nicht neu aufgelegt, es gab nur die Originale, aber ich setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um sie zu finden; ich ging sogar in die öffentliche Bibliothek von Minneapolis und suchte in der Folkways‐Abteilung danach. (Aus irgendeinem Grund hatten öffentliche Bibliotheken die meisten Folkways‐ Platten.) Ich hörte mir das Repertoire aller durchreisenden Sänger an, um herauszufinden, ob sie Guthrie‐Songs spielten, die ich noch nicht kannte, und allmählich erahnte ich die phä‐ nomenale Vielseitigkeit von Woodys Musik — die Sacco‐und‐ Vanzetti‐Balladen, Dust Bowl, Kinderlieder, Songs über den Grand Coulee Dam, Songs über Geschlechtskrankheiten, Ge‐ werkschafts‐ und Arbeiterballaden und nicht zuletzt seine rau‐ hen, herzzerreißenden Liebesballaden. Jedes einzelne Stück wirkte wie ein hochaufragendes Gebäude voller vielfältigster Szenarien, die sich auf alle möglichen Lebenslagen übertragen ließen. Bei Woody zählte jedes Wort. Er malte mit Worten. Zu‐ sammen mit seiner stilisierten Art zu singen, seiner Phrasie‐ rung und der staubtrockenen, ungerührten und eines abgehalf‐ terten Cowboys würdigen, aber erstaunlich ernsthaften und melodischen Vortragsweise fraßen sich die Worte in mein Ge‐ 254
hirn wie eine Kreissäge, und ich versuchte alles nachzuahmen, so gut ich konnte. Viele mochten Woodys Songs überholt fin‐ den— ich nicht. Nach meinem Empfinden waren sie vollkom‐ men gegenwärtig und auf der Höhe der Zeit, wenn sie nicht so‐ gar die Zukunft vorwegnahmen. Ich fühlte mich überhaupt nicht mehr wie der schäbige junge Folksänger, der vor sechs Monaten bei Null angefangen hatte. Es war eher so, als habe man mich, einen Freiwilligen niederen Ranges, ohne Um‐ schweife in den Ehrenritterstand erhoben — mit Streifen und goldenen Sternen. So groß war die Wirkung, die Woodys Songs auf mich aus‐ übten; ihr Einfluß erstreckte sich auf alles, was ich unternahm, darauf, was ich aß, wie ich mich kleidete, wen ich kennenlernen wollte und wen nicht. Ende der Fünfziger und Anfang der Sech‐ ziger hauten die ersten rebellierenden Teenager auf den Putz, aber diese Szene hatte mich nie so richtig verlockt. Sie war formlos. Das »Rebel without a Cause«‐Ding war mir nicht handfest genug — selbst ein »lost cause«, eine verlorene Sache, war meiner Meinung nach immer noch besser als gar keine. Für die Beatniks waren die konventionelle, bourgeoise Lebens‐ weise, gekünstelte gesellschaftliche Umgangsformen und Män‐ ner in grauen Flanellanzügen des Teufels. Gegen all das richteten sich automatisch alle Folksongs, und Woodys Songs richteten sich sogar noch gegen diesen Automa‐ tismus. Verglichen damit wirkte alles andere eindimensional. Die Folk‐ und Bluesmelodien hatten mir bereits zu einer grundlegenden Vorstellung von Kultur verholfen, und Guth‐ ries Songs eröffneten mir jetzt einen ganz unbekannten Ort im Kosmos dieser Kultur. An den anderen Kulturen der Welt war nichts auszusetzen, aber was mich selbst betraf, ersetzte mir meine eigene, in die ich hineingeboren worden war, alle ande‐ ren, und Guthries Songs leisteten sogar noch mehr. 255
Jetzt lachte mir die Sonne. Ich hatte das Gefühl, eine Schwelle überschritten zu haben, und nichts stand mir mehr im Wege. Wenn ich Woodys Songs sang, war ich gegen alles andere ge‐ feit. Doch dieser Traum erwies sich als kurzlebig. Als ich noch der Meinung war, die schmuckste Uniform und die glänzend‐ sten Stiefel von allen zu tragen, kriegte ich aus heiterem Him‐ mel einen Dämpfer verpaßt und wurde abrupt in die Wirklich‐ keit zurückgeholt. So mußte es sich anfühlen, wenn man ausgeweidet wurde. Jon Pankake, ein puristischer Folk‐Enthu‐ siast, Teilzeit‐Literaturlehrer und Filmkenner, der mein Trei‐ ben in der Szene schon eine Weile verfolgt hatte, mischte sich ein und teilte mir mit, daß ihm nicht entgangen sei, was ich machte. »Was wird denn das, wennʹs fertig ist? Du singst nur Songs von Guthrie«, sagte er und piekte mir mit dem Finger in die Brust, als rede er mit einem armen Trottel. Pankake war eine Autorität, an der man nicht leicht vorbeikam. Es war weit‐ hin bekannt, daß er über eine riesige Sammlung der einzig wahren Folkplatten verfügte und sich endlos darüber auslassen konnte. Pankake gehörte zur Folk‐Polizei, vielleicht war er so‐ gar der Polizeipräsident selbst, und Neulinge beeindruckten ihn kein bißchen. In seinen Augen hatte es noch kein einziger Nachzügler zu irgendeiner nennenswerten Meisterschaft ge‐ bracht — niemand hatte auch nur im entferntesten das Recht, sich an irgendwelchem traditionellem Material zu vergreifen. Pankakes Einwände waren natürlich berechtigt, aber er machte auch keine Musik. Er selbst brachte sich nie in eine Lage, in der man der Kritik ausgesetzt war. Nebenbei war er auch Filmkritiker. Während andere Intellek‐ tuelle über die feinen Unterschiede zwischen T. S. Eliot und e. e. cummings diskutierten, konnte Pankake eine Debatte darüber vom Zaun brechen, warum John Wayne in Rio Bravo ein bes‐ serer Cowboy gewesen sei als in Stadt der Verlorenen. Er ver‐ 256
breitete sich über Regisseure wie Howard Hawks oder John Ford, darüber, daß sie Wayne verstanden hätten, was den ande‐ ren Regisseuren nicht gelungen sei. Vielleicht hatte Pankake recht, vielleicht auch nicht. Es war nicht so wichtig. Aber was Wayne betrifft — dem Duke sollte ich Mitte der sechziger Jahre begegnen. Damals war er der größte männliche Filmstar und drehte in Hawaii einen Kriegsfilm über Pearl Harbor, Erster Sieg. Bonnie Beecher, ein Mädchen, das ich aus Minneapolis kannte, war Schauspielerin geworden und spielte in einer Ne‐ benrolle mit. Ich machte auf dem Weg nach Australien mit mei‐ ner Band The Hawks Station in Pearl Harbor, und Bonnie lud mich an den Set ein, auf ein Kriegsschiff der Marine. Sie stellte mich dem Duke vor, der in vollem militärischem Gepränge er‐ schien und von einer halben Armee umringt war. Ich sah ihm beim Drehen einer Szene zu, und dann stellte Bonnie mich ihm vor. »Ich hab gehört, Sie sind Folksänger«, sagte er, und ich nickte. »Singen Sie was«, sagte er. Ich holte die Gitarre heraus und sang »Buffalo Skinners«. Er lächelte, warf einen Blick hin‐ über zu Burgess Meredith, der auf einem Stoff‐Klappstuhl saß, sah dann wieder zu mir und sagte: »Hübsch. ›Left that droverʹs bones to bleach‹, hm?« — »Genau.« Er fragte mich, ob ich »Blood on the Saddle« spielen könne. Ich kannte »Blood on the Saddle« einigermaßen, aber nicht so gut wie »High Noon«. Ich über‐ legte, ob ich »High Noon« singen sollte, und wenn ich neben Gary Cooper gestanden hätte, dann hätte ich es vielleicht getan. Aber Wayne war nicht Gary Cooper. Ich weiß nicht, ob ihm der Song gefallen hätte. Der Duke war eine mächtige Gestalt. Er wirkte wie ein riesenhafter, gefällter Baum, und es sah nicht so aus, als ob ihm irgendwer gewachsen sei. Jedenfalls nicht im Filmgeschäft. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu fragen, warum unter seinen Cowboyfilmen manche besser waren als andere, aber das wäre Irrsinn gewesen. Oder vielleicht auch 257
nicht ... ich weiß es nicht. Jedenfalls hätte ich mir nie träumen lassen, daß ich einmal auf einem Kriegsschiff im Pazifik stehen und dem großen Cowboy John Wayne etwas vorsingen sollte, als ich damals in Minneapolis Jon Pankake gegenübergestanden hatte, von Angesicht zu Angesicht ... »Du gibst dir alle Mühe, aber du wirst nie Woody Guthrie werden«, sagte Pankake zu mir, und zwar von sehr hoch oben herab, als sei ihm eine Laus über die Leber gelaufen. Pankakes Gesellschaft war kein Vergnügen. Er machte mich nervös. Er spuckte Feuer. »Laß dir lieber was anderes einfallen. So hat das gar keinen Zweck. Jack Elliott war längst dreimal da, wo du jetzt bist. Von dem schon mal gehört?« Nein, ich hatte noch nie von Jack Elliott gehört. Der Name begegnete mir zum ersten Mal, als Pankake ihn erwähnte. »Nein, nie gehört. Wie ist der so?« Jon sagte, er werde mir seine Platten vorspielen, und ich solle mich auf eine Überraschung gefaßt machen. Pankake hatte eine Wohnung über McCoshʹs Buchhandlung, einem Laden, der auf alte, antiquarische Bücher und Schriften spezialisiert war, auf bunt zusammengewürfelte philosophische und politische Pamphlete bis zurück ins frühe 19. Jahrhundert. Der Laden lag ein paar Blocks weiter im Parterre eines alten viktorianischen Hauses und war ein Treffpunkt für Intellektu‐ elle und Beat‐Typen aus der Gegend. Ich begleitete Pankake dorthin und stellte fest, daß er tatsächlich die ganzen unglaub‐ lichen Platten besaß— nie gesehene Platten, von denen man nicht wußte, wie man sie sich beschaffen sollte. Für einen, der weder sang noch spielte, besaß er erstaunlich viele. Die Platte, die er als erste herauszog und mir vorspielte, war Jack Takes the Floor vom Londoner Label Topic — eine sehr entlegene Im‐ portplatte. Vermutlich existierten davon in den gesamten Ver‐ einigten Staaten gerade mal zehn Stück; vielleicht besaß Pan‐ kake auch das einzige Exemplar im ganzen Land. Ich wußte es 258
nicht. Hätte er mir die Aufnahme nicht vorgespielt, dann hätte ich sie höchstwahrscheinlich niemals zu hören bekommen. Die Platte drehte sich, und Jacks Stimme dröhnte durchs Zimmer. »San Francisco Bay Blues«, »Olʹ Riley« und »Bed Bug Blues« sind viel zu schnell vorbei. Verdammt, denke ich, der ist wirk‐ lich großartig. Er klingt genau wie Woody Guthrie, nur schrä‐ ger und bösartiger, und er singt nicht mal Woody Guthries Songs. Ich war unversehens in die Hölle geraten. Jack war ein Meister der musikalischen Finten. Das Plat‐ tencover war rätselhaft, aber nicht düster. Es war eine lässige Gestalt von verwegenem Äußeren darauf zu sehen; ein gut aus‐ sehender Saddle Tramp in Cowboymontur. Der Klang seiner Stimme ist schneidend und konzentriert und geht einem durch und durch. Jack läßt sich beim Singen viel Zeit, und sein Selbst‐ bewußtsein macht einen fertig. Noch dazu spielt er einen mühe‐ los dahinfließenden, ausgefeilten Flatpicking‐Stil. Seine Stimme irrlichtert gelassen durchs Zimmer, und wenn er will, explo‐ diert er. Es war gut herauszuhören, daß er Woody Guthries Stil exakt kopieren konnte, und das war noch längst nicht alles. Er war außerdem ein brillanter Unterhalter— ein Aspekt, mit dem sich die meisten Folkmusiker gar nicht erst befaßten. Sie verlie‐ ßen sich darauf, daß das Publikum sich von allein einstellen werde. Jack kam selbst an und packte einen im Genick. Elliott, der zehn Jahre älter war als ich, war mit dem leibhaftigen Guth‐ rie unterwegs gewesen, hatte seine Songs und seinen Stil aus erster Hand gelernt und beherrschte ihn in höchster Voll‐ endung. Pankake hatte recht. Elliott war mir weit überlegen. Pankake besaß noch ein paar andere Platten von Ramblinʹ Jack — auf einer singt Elliott mit Derroll Adams, einem befreundeten Sän‐ ger aus Portland, der Banjo spielte wie Bascom Lamar Lunsford und dessen herber, von lakonischem Witz geprägter Gesangs‐ 259
stil ideal zu Jack paßte. Gemeinsam klangen sie wie galoppie‐ rende Pferde. Sie spielten »More Pretty Girls Than One«, »Worried Man Blues« und »Death of John Henry«. Jack als So‐ list, das war allerdings noch einmal eine ganz andere Sache. Auf dem Plattencover von Jack Takes the Floor waren seine Au‐ gen zu erahnen. Sie schienen etwas zu verraten, aber ich wußte nicht, was. Ich durfte Pankakes Platte mehrmals anhören. Es war erhebend, aber gleichzeitig niederschmetternd. Pankake hatte vorher gesagt, Jack sei der König der Folksänger oder je‐ denfalls der König der Folksänger aus der Stadt. Wenn man Jack so hörte, zweifelte man nicht mehr daran. Ich weiß nicht, ob Pankake mich weiterbilden oder fertigmachen wollte. Darauf kam es auch nicht an. Elliott war tatsächlich schon über Guthrie hinausgewachsen, und ich war noch nicht einmal bei Guthrie angelangt. Ich hatte nichts vorzuweisen, das sich auch nur an‐ nähernd mit der stolzen Haltung messen konnte, die auf dieser Platte zum Ausdruck kam. Beschämt verließ ich die Wohnung, ging wieder auf die kalte Straße hinaus und lief ziellos umher. Ich fühlte mich wie ein Vagabund, wie ein Toter, der durch Katakomben wandelt. Es würde mir nicht leichtfallen, mich nicht von dem Mann beein‐ flussen zu lassen, den ich da gerade gehört hatte. Aber ich mußte ihn verdrängen, ich mußte die ganze Sache vergessen und mir einreden, daß ich ihn nie gehört hatte, daß er über‐ haupt nicht existierte. Er lebte sowieso in Europa, in seinem selbstgewählten Exil. Die USA waren noch nicht reif für ihn gewesen. Gut. Ich hoffte, daß er blieb, wo er war, und suchte weiter nach Guthrie‐Songs. Ein paar Wochen später hörte Pankake mich abermals spielen und erklärte mir, ohne zu zögern, daß ich ihm nichts vorma‐ chen könne, daß ich vorher Guthrie imitiert hätte und jetzt El‐ liott imitierte— ob ich mir einbildete, ihm irgendwie das Wasser 260
reichen zu können? Pankake sagte, vielleicht solle ich wieder RockʹnʹRoll spielen; das hätte ich ja wohl früher schon ge‐ macht. Kein Ahnung, woher er das wusste — vielleicht war er im Nebenberuf auch noch Spion. Ich wollte jedenfalls niemandem etwas vormachen. Ich tat nur mein Bestes, mit den Mitteln, die mir zur Verfügung standen. Und trotzdem hatte Pankake recht. Man kann nicht ein paar Tanzstunden nehmen und sich dann für Fred Astaire halten. Jon war einer von den Snobs, die den klassischen Traditions‐ folk hochhielten. Sie rümpften die Nase über alles, was nach Kommerz roch, und machten keinen Hehl aus ihrer Meinung: Bands wie The Brothers Four, Chad Mitchell Trio, Journeymen, Highwaymen— in den Augen der Traditionsfolk‐Snobs schän‐ deten sie alle irgendein Heiligtum. Okay, ich kriegte davon auch keine multiplen Orgasmen. Aber der kommerzielle Folk stellte auch keine Bedrohung dar, und deshalb war mir das Ganze gleichgültig. Die meisten Folk‐Anhänger hätten den kommerziellen Folk am liebsten in die Tonne getreten. In der öffentlichen Wahrnehmung bestand Folk aus Songs wie »Waltz‐ ing Matilda«, »Little Brown Jug« und »The Banana Boat Song«, die mir alle vor ein paar Jahren noch gut gefallen hatten, so daß ich nicht das Bedürfnis hatte, sie schlechtzureden. Gerechter‐ weise muß man sagen, daß es auch im anderen Lager Snobs gab— Kommerzfolk‐Snobs. Sie sahen ein bißchen auf die tradi‐ tionellen Sänger herab, weil sie die für altmodisch und ver‐ sponnen hielten. Bob Gibson, ein glattgebürsteter Mainstream‐ Folksänger aus Chicago, hatte viele Fans, und er hatte auch ein paar Platten veröffentlicht. Wenn er vorbeikam und jemanden spielen hören wollte, saß er in der ersten Reihe. War man ihm nicht kommerziell genug, zu eckig und kantig, stand er nach dem ersten oder zweiten Song unter großem Getöse auf, veran‐ staltete ein Riesentheater und ging. Dazwischen gab es nichts, 261
und es sah ganz so aus, als sei jeder auf die eine oder andere Weise ein Snob. Ich bemühte mich, das Ganze unvoreingenom‐ men zu betrachten. Was ich die Leute — im guten wie im schlechten — reden hörte, war irrelevant, ich hielt mich damit nicht auf. Ich hatte sowieso kein Publikum mit vorgefaßter Meinung. Ich brauchte nur un‐ beirrt weiterzumachen, und das tat ich auch. Auf dem Weg, der vor mir lag, hatten schon immer irgendwelche schattenhaften Gestalten gelauert, mit denen ich fertig werden mußte, so oder so. Jetzt gab es eben eine mehr. Ich wußte, daß Jack irgendwo da oben thronte, und was Pankake über ihn gesagt hatte, war mir nicht entgangen. Es stimmte. Jack war der König des Folk. Die »Königin des Folk« war wahrscheinlich Joan Baez. Joan war im selben Jahr wie ich zur Welt gekommen, und eines Tages sollten sich unsere Wege kreuzen, aber damals wäre der bloße Gedanke daran absurd gewesen. Sie hatte auf dem Vanguard‐ Label die Platte Joan Baez veröffentlicht, und ich hatte sie im Fernsehen gesehen, in einer Folksendung, die CBS landesweit aus New York übertragen hatte. In derselben Show waren noch andere Musiker aufgetreten, darunter Cisco Houston, Josh White und Lightninʹ Hopkins. Joan trug ein paar eigene Balla‐ den vor und setzte sich dann neben Lightninʹ und sang ein paar Stücke mit ihm zusammen. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an ihr, ich wollte nicht einmal blinzeln. Sie sah teuflisch gut aus — glänzendes schwarzes Haar, das ihr bis über die Rundung der schlanken Hüfte reichte, geschwungene, halb gesenkte Wimpern; sie war alles andere als ein harmloses Püppchen. Ihr Anblick berauschte mich. Und dann erst ihre Stimme. Eine Stimme, die böse Geister austrieb. Es war, als sei sie von einem anderen Planeten herabgestiegen. 262
Ihre Platten verkauften sich gut, und das war auch kein Wun‐ der. Die Sängerinnen, die es im Folk gab, waren Musikerinnen wie Peggy Seeger, Jean Ritchie und Barbara Dane, die beim mo‐ dernen Massenpublikum nicht gut ankamen. Joan war nicht mit ihnen zu vergleichen. Sie war einzigartig. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis Judy Collins oder Joni Mitchell ins Rampen‐ licht traten. Ich mochte die älteren Sängerinnen — Aunt Molly Jackson und Jeanie Robinson —, aber sie hatten nicht Joans be‐ zwingende Art. In gewisser Weise ähnelte Joan eher einigen Bluessängerinnen wie Memphis Minnie und Ma Rainey von denen ich viel gehört hatte. Sie hatten nichts Mädchenhaftes, und auch an Joan war nichts mädchenhaft. Sie war halb Schottin, halb Mexikanerin und wirkte wie ein Heiligenbild, wie je‐ mand, für den man sich aufopfern wollte, und ihre Stimme sang unmittelbar zu Gott ... außerdem beherrschte sie ihr Instru‐ ment ausnehmend gut. Die Vanguard‐Platte war kein Leichtgewicht. Sie war gera‐ dezu furchteinflößend — ein makelloses Repertoire durch und durch traditioneller Songs. Joan wirkte sehr reif, verführerisch, kraftvoll, zaubermächtig. Was sie anfaßte, das funktionierte. Daß sie nicht älter war als ich, gab mir fast das Gefühl, ein Ver‐ sager zu sein. So unlogisch das scheinen mochte: Irgend etwas sagte mir, daß sie mein Spiegelbild war— daß sie diejenige war, mit der meine Stimme perfekt harmonieren könnte. Nur trenn‐ te uns beide damals ein weiter Abstand, es lagen Welten und tiefe Abgründe zwischen ihr und mir. Ich hing immer noch in der Provinz fest. Und doch sagte mir ein unbestimmtes Gefühl, daß wir einander unweigerlich begegnen mußten. Ich wußte nicht viel über Joan Baez. Ich wußte nicht, daß sie schon immer sehr einzelgängerisch gewesen war, ähnlich wie ich, aber sie war entwurzelt und viel umhergezogen, von Bagdad bis San Jose. Sie hatte wesentlich mehr von der Welt gesehen als ich. 263
Trotzdem schien die Vorstellung, daß sie mir womöglich ähn‐ licher war als ich selbst, ein bißchen übertrieben. Ihren Platten war nicht zu entnehmen, ob sie sich für gesell‐ schaftliche Veränderungen oder dergleichen interessierte. Ich fand, daß sie Glück gehabt hatte, Glück, schon früh mit der richtigen Sorte Folk in Berührung gekommen zu sein und ganz darin aufzugehen — ihn spielen und singen zu lernen, auf eine professionelle Weise, die über jede Kritik und alle Kategorien erhaben ist. Niemand konnte sich mit ihr messen. Sie war weit weg und unerreichbar — Kleopatra in einem italienischen Pa‐ last. Wenn sie sang, fielen einem die Zähne aus dem Mund. Wie John Jacob Niles war sie ein höchst ungewöhnlicher Mensch. Ich hätte mich vor ihr gefürchtet. Vielleicht würde sie mir ihre Reißzähne ins Genick schlagen. Ich wollte ihr nicht begegnen, aber ich wußte, daß es unausweichlich war. Mein Weg führte mich in die gleiche Richtung, auch wenn ich im Moment noch weit zurücklag. In ihr brannte ein Feuer, und das gleiche Feuer spürte ich auch in mir. Für den Anfang konnte ich ja schon mal ihre Songs singen ... »Mary Hamilton«, »Sil‐ ver Dagger«, »John Riley«, »Henry Martin«. Ich bekam sie so stimmig hin wie Joan selbst, nur anders. Nicht jeder kann diese Songs überzeugend vortragen. Wer singt, muß seine Zuhörer dazu bringen, daß sie glauben, was sie hören, und das konnte Joan. Ich glaubte ihr, daß ihre Mutter jemanden umbringen konnte, den sie liebte. Ich nahm ihr das ab. Ich glaubte ihr, daß sie aus so einer Familie kam. Man muß glauben können. Wenn schon sonst nichts, dann lehrt Folk einen doch wenigstens glauben. Ich glaubte auch Dave Guard vom Kingston Trio. Ich glaubte, daß er die arme Laura Foster umbringen wollte oder schon umgebracht hatte. Ich glaubte auch, daß er andere Leute umbringen konnte. Ich war nicht der Meinung, daß er nur Spaß machte. 264
Es gab noch andere Sänger in der Stadt, aber nicht viele. Da war Dave Ray, ein Junge von der Highschool, der Songs von Leadbelly und Bo Diddley zur zwölfsaitigen Gitarre sang; es war vermutlich die einzige zwölfsaitige Gitarre im gesamten mittleren Westen. Und dann gab es noch Tony Glover, einen Mundharmonikaspieler, der manchmal mit mir und Koerner auftrat. Er sang ein paar Songs, spielte aber meistens Mundhar‐ monika— er ließ sie in seinen Händen verschwinden und spielte wie Sonny Terry oder Little Walter. Auch ich spielte Mundhar‐ monika, aber ich benutzte ein Gestell ... damals vermutlich das einzige Mundharmonikagestell im mittleren Westen. Gestelle waren nicht aufzutreiben. Eine Weile verwendete ich einen schiefen Kleiderbügel, aber das funktionierte nur leidlich. Das echte Mundharmonikagestell fand ich im Keller einer Musika‐ lienhandlung in der Hennipen Avenue; es lag noch in seiner ungeöffneten Schachtel von 1948. Was das Mundharmonika‐ spiel anging, trieb ich keinen großen Aufwand. Ich konnte nicht annähernd so gut wie Glover spielen und versuchte es auch gar nicht erst. Meistens spielte ich wie Woody Guthrie, und das warʹs. Glovers Fähigkeiten waren allgemein bekannt und ein häufiges Gesprächsthema, aber über meine eigenen verlor niemand ein Wort. Den einzigen Kommentar hörte ich einige Jahre später in John Lee Hookers Hotelzimmer am Lower Broadway in New York. Sonny Boy Williamson war da und hörte mich spielen. »Junge«, sagte er, »du spielst zu schnell.« Schließlich war es Zeit für mich, Minneapolis zu verlassen. Wie Hibbing waren die Twin Cities etwas zu eng geworden, und es gab nicht mehr viel zu entdecken. Die Folkwelt schottete sich zu stark ab, und die Stadt kam mir allmählich wie ein Schlamm‐ loch vor. New York war die Stadt, in der ich leben wollte, und nach einer Nacht im Hinterzimmer des Purple Onion Pizza 265
Parlor in St. Paul, wo Koerner und ich gespielt hatten, stand ich eines verschneiten Tages in der Morgendämmerung mit einem Koffer voll abgetragener Sachen, einer Gitarre und einem Mundharmonikagestell am Stadtrand und trampte auf der Su‐ che nach Woody Guthrie nach Osten. Woody war immer noch mein Held. Es war eiskalt, und wenn ich auch in vieler Hinsicht nachlässig gewesen sein mag, war ich doch innerlich aufge‐ räumt und diszipliniert, und ich spürte die Kälte nicht. Bald fuhr ich zwischen den schneebedeckten Präriewiesen von Wis‐ consin dahin, die dräuenden Schatten von Baez und Elliott dicht auf den Fersen. Obwohl die Welt, in die ich aufbrach, sich noch in vielen Aspekten ändern sollte, war es im Grunde doch die Welt von Jack Elliott und Joan Baez. Ob das stimmte oder nicht— auch ich war wild entschlossen; ich mußte ausbrechen und einen Ort erreichen, wo das Leben größere Versprechun‐ gen bereithielt— ich wußte, daß meine Stimme und meine Gi‐ tarre der Herausforderung gewachsen waren. New York, tief im Winter 1961. Meine Pläne ließen sich ganz gut an, und ich wollte auch so weitermachen, denn mein Gefühl sagte mir, daß ich auf der richtigen Spur war. Im Village spielte ich zu festen Zeiten im Gaslight, dem angesehensten Club auf der turbulenten MacDougal Street. Als ich dort anfing, gehörte das Gaslight John Mitchell, einem Galgenvogel und Geschich‐ tenerzähler aus Brooklyn. Ich sah ihn nur ein paarmal. Er war dreist und kämpferisch, und seine exotisch wirkende Freundin spielte eine tragende Rolle in einem Roman von Jack Kerouac. Mitchell war schon damals eine Legende. Das Village war ita‐ lienisch dominiert, und Mitchell hatte den örtlichen Mafiosi keinen Fußbreit nachgegeben. Es war allgemein bekannt, daß er aus Prinzip kein Schutzgeld zahlte. Die Feuerwehr, die Polizei 266
und die Kontrolleure vom Gesundheitsamt stellten den Laden regelmäßig auf den Kopf. Aber Mitchell hatte Anwälte und trug den Streit bis ins Rathaus, und irgendwie blieb der Schup‐ pen geöffnet. Mitchell lief mit einer Pistole und einem Messer herum. Außerdem war er Schreinermeister. Während ich dort war, kauften irgendwelche Leute vom Mississippi den Laden ungesehen, nur aufgrund einer Geschäftsannonce in einer Zeit‐ schrift unten im Süden. Mitchell sagte keinem, daß er den Club verkaufen wolle oder daß der Besitzer wechseln werde. Er ver‐ kaufte einfach und verließ das Land. Dieser bizarre Folkclub lag im Keller unter dem Straßenni‐ veau, wirkte aber nicht wie ein Keller, weil der Fußboden tiefer gelegt worden war. Das Hauptprogramm bestritten sechs oder acht Musiker, die sich von Einbruch der Dunkelheit bis zur Morgendämmerung abwechselten. Dafür gab es sechzig Dollar die Woche bar auf die Hand, jedenfalls für mich. Andere Mu‐ siker mögen mehr bekommen haben. Verglichen mit der Bas‐ ket‐House‐Szene von Greenwich Village war das auf jeden Fall schon mal ein großer Fortschritt. Noel Stookey, der später bei Peter, Paul und Mary einstieg, moderierte den Abend. Noel war Imitator und Komiker, und er sang und spielte Gitarre. Tagsüber arbeitete er in einem Fotoge‐ schäft. Abends trat er makellos gepflegt im ordentlichen Drei‐ teiler auf. Er war groß und schlaksig, hatte eine römische Nase und ließ sich ein kleines Ziegenbärtchen stehen. Manche mögen ihn für unnahbar gehalten haben. Stookey sah aus, als sei er einer vergilbten Zeitschrift entsprungen. Er konnte so ziemlich alles nachmachen— verstopfte Wasserleitungen und Toiletten‐ spülungen, Dampfer und Sägewerke, Straßenverkehr, Geigen und Posaunen. Er konnte Sänger imitieren, die andere Sänger imitierten. Er war sehr witzig. Dean Martin, der Little Richard nachmacht, war eine seiner durchgeknalltesten Nummern. 267
Auch Hugh Romney, aus dem später der psychedelische Clown Wavy Gravy wurde, trat hier unten auf. Als Hugh Romney war er der normalste Typ der Welt — er war immer elegant geklei‐ det; meistens trug er hellgraue Anzüge von Brooks Brothers. Romney monologisierte gern, schwang lange, persönliche Reden gegen das Establishment und blinzelte dabei durch seine Schlitzaugen. Man wußte nie, ob er die Augen offen oder ge‐ schlossen hatte. Es war, als sei er sehbehindert. Er kam auf die Bühne, sah mit zusammengekniffenen Augen in den blauen Scheinwerfer und fing an zu reden, als sei er gerade von einer langen Reise in ferne Gegenden zurückgekehrt — als komme er gerade extra aus Konstantinopel oder Kairo, um sein Publi‐ kum in ein archaisches Mysterium einzuweihen. Es war nicht so sehr das, was er erzählte, sondern einfach die Art, wie er es erzählte. Es gab noch ein paar andere im gleichen Metier, aber am bekanntesten war Romney. Er war von Lord Buckley beein‐ flußt, erreichte aber niemals dessen Niveau. Buckley war der Hipster‐Bebop‐Prediger, der in keine Schub‐ lade paßte. Er war kein schmollender Beat‐Poet, sondern ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, der über alles Mögliche improvisierte, von Supermärkten über Bomben bis zur Kreuzi‐ gung. Er ließ sich über Größen wie Gandhi und Julius Cäsar aus. Buckley hatte sogar die sogenannte Church of the Living Swing ins Leben gerufen (eine Jazz‐Religion). Er sprach lang‐ sam und gedehnt wie ein Zauberer. Auf die eine oder andere Art hatte Buckley alle beeinflußt, auch mich. Er war etwa ein Jahr vor meinem Umzug nach New York gestorben, so daß ich ihn nie zu sehen bekam, aber ich kannte seine Platten. Unter den anderen Musikern im Gaslight waren Hai Waters, der Folksongs auf raffinierte Art interpretierte, und John Wynn, der auf einer Gitarre mit Darmsaiten spielte und mit Opern‐ stimme Folksongs vortrug. Luke Fausts Lebensart lag mir 268
mehr; er spielte auf einem fünfsaitigen Banjo und sang Balla‐ den aus den Appalachen. Dann gab es noch Luke Askew, der später Schauspieler in Hollywood wurde. Luke kam aus Geor‐ gia und sang Songs von Muddy and Wolf und Jimmy Reed. Er spielte nicht selbst Gitarre, sondern trat zusammen mit einem Gitarristen auf. Luke war ein Weißer und hörte sich an wie Bobby Blue Bland. Auch Len Chandler trat im Gaslight auf. Len kam ursprüng‐ lich aus Ohio und war ein klassisch ausgebildeter Musiker, der zu Hause Oboe im Orchester gespielt hatte und Orchestermu‐ sik lesen, schreiben und arrangieren konnte. Er sang folkver‐ wandte Sachen mit kommerziellem Einschlag und war ein ener‐ giegeladener Mensch; er hatte das, was man Charisma nennt. Len trat auf wie jemand, der alles niedermäht. Seine Persön‐ lichkeit war größer als sein Repertoire. Len schrieb auch enga‐ gierte Songs, in denen er die aktuellen Schlagzeilen verarbei‐ tete. Auch Paul Clayton spielte hier gelegentlich einzelne Sets. Alle seine Songversionen waren Bearbeitungen von Abschrif‐ ten alter Texte. Er kannte Hunderte von Songs und muß ein fo‐ tografisches Gedächtnis gehabt haben. Clayton war einmalig — schwermütig, sehr nobel— halb Yankee‐Gentleman und halb verwegener Südstaatendandy. Er kleidete sich von Kopf bis Fuß in Schwarz und zitierte gern Shakespeare. Clayton reiste re‐ gelmäßig von Virginia nach New York und zurück, und wir freundeten uns an. Seine Freundesclique kam nicht aus New York und war wie er selbst eine »Kaste für sich« — alle richte‐ ten sich nach einem Verhaltenskodex, den nur sie selbst kannten; mit Folk hatten sie nicht viel zu tun. Authentische Non‐ konformisten— Faulenzer, aber nicht wie bei Kerouac, keine Penner, keine Leute, die sich auf der Straße herumtrieben, wo man erkennen konnte, was sie machten. Ich mochte Clayton, 269
und ich mochte seine Freunde. Durch Paul lernte ich immer wieder mal Leute kennen, die sagten, ich könne jederzeit bei ih‐ nen unterkommen und brauchte deshalb kein schlechtes Ge‐ wissen zu haben. Clayton war auch gut mit Van Ronk befreundet. Dave Van Ronk war der einzige Musiker, bei dem ich darauf brannte, Näheres über ihn zu erfahren. Auf Aufnahmen hörte er sich phantastisch an, aber persönlich war er noch phantastischer. Van Ronk stammte aus Brooklyn, hatte Seemannspapiere, einen dicken Walroßschnurrbart und langes glattes braunes Haar, das ihm halb übers Gesicht fiel. Er machte aus jedem Song ein surrealistisches Melodrama, ein Theaterstück, das bis zur letzten Minute spannend blieb. Dave ging den Dingen auf den Grund. Es war, als besitze er einen unerschöpflichen Gift‐ vorrat, von dem ich etwas abhaben wollte ... ganz ohne ging es nicht. Van Ronk wirkte uralt und kampferprobt. Jede Nacht fühlte ich mich, als säße ich einem altehrwürdigen Denkmal zu Füßen. Dave sang Folksongs, Jazzstandards, Dixieland‐Sachen und Bluesballaden ohne bestimmte Reihenfolge und ohne daß in seinem gesamten Repertoire auch nur eine Nuance überflüs‐ sig gewesen wäre. Es waren zarte, weit ausgreifende, persön‐ liche, historische und ätherische Songs — alles, was man sich nur vorstellen konnte. Er steckte alles in einen Zylinder und holte — abrakadabra— etwas Neues ans Licht. Dave beeinflußte mich stark. Als ich später mein erstes Album aufnahm, bestand die Hälfte der Aufnahmen aus Songs, die Van Ronk zu spielen pflegte. Das war nicht geplant, es hatte sich einfach so ergeben. Ohne daß es mir bewußt war, setzte ich mehr Vertrauen in sein Material als in mein eigenes. Van Ronks Stimme war wie ein rostiges Schrapnell, und er konnte ihr viele subtile Tönungen verleihen — empfindsam, sanft, rauh, explosiv, manchmal alles in einem einzigen Song. 270
Er konnte hervorzaubern, was er wollte — den Ausdruck des Entsetzens, das Antlitz der Verzweiflung. Außerdem war er ein exzellenter Gitarrist. Noch dazu hatte er einen sardonischen Humor. Van Ronk bedeutete mir mehr als alle anderen in der Szene, weil er mich in diese Kreise eingeführt hatte, und es war mir ein Vergnügen, Abend für Abend mit ihm im Gaslight auf‐ zutreten. Das Gaslight hatte eine richtige Bühne mit richtigem Publikum, und hier ging es richtig zur Sache. Van Ronk half mir auch in anderen Dingen. In seiner Wohnung am Waverly Place gab es ein Sofa, auf dem ich jederzeit übernachten durfte. Er zeigte mir auch die interessantesten Lokale in Greenwich Village — die anderen Clubs, überwiegend Jazzclubs wie Trudy Hellerʹs, das Vanguard, das Village Gate und das Blue Note, und so kriegte ich eine ganze Reihe berühmter Jazzmusiker von na‐ hem zu sehen. Auf der Bühne hatte Van Ronk noch eine andere Angewohnheit, die ich spannend fand. Zu seinen patentierten dramatischen Einlagen gehörte es, ir‐ gendwen aus dem Publikum eindringlich anzustarren. Er fi‐ xierte sein Opfer, als singe er allein für diesen Menschen, als gebe er flüsternd ein Geheimnis preis, als wolle er ihm eröff‐ nen, daß ihrer beider Leben auf dem Spiel stehe. Er phrasierte auch nie das gleiche Stück zweimal auf die gleiche Art. Manch‐ mal hörte ich ihn einen Song spielen, den er schon in einem vorangegangenen Set zum besten gegeben hatte, und er über‐ rumpelte mich mit einer völlig neuen Version. Er spielte ir‐ gendwas, und es war, als hätte ich es noch nie gehört; zumindest hatte ich es ganz anders in Erinnerung. Seine Stücke waren von perverser Komplexität und trotzdem ausgesprochen schlicht. Er hatte alles im Griff und konnte sein Publikum hypnotisieren oder außer Gefecht setzen, es aber auch zur Raserei treiben. Ganz wie er wollte. Er hatte die Statur eines Holzfällers, trank viel und redete wenig. Er hatte sein Revier abgesteckt — volle 271
Kraft voraus, alle Maschinen auf Hochtouren. David war der Grand Dragon. Wenn man abends auf der MacDougal Street unterwegs war und jemanden spielen hören wollte, war er die erste und einzige reelle Wahl für den Rest der Nacht. Er be‐ herrschte die Straße wie ein Berg, kam aber nie groß raus. Er sah sich einfach nicht ganz oben. Er wollte nicht zuviel aufge‐ ben. Er wollte nie wie eine Marionette an Schnüren baumeln. Er war groß, himmelhoch, und ich sah zu ihm auf. Er kam aus dem Land der Riesen. Van Ronks Frau Terri war definitiv alles andere als eine Rand‐ figur; sie organisierte Daves Auftritte, vor allem die außerhalb, und nach und nach versuchte sie auch mir auf die Beine zu hel‐ fen. Sie war genauso geradeheraus und eigensinnig wie Dave, insbesondere, wenn es um Politik ging — nicht so sehr um poli‐ tische Fragen, sondern mehr um die hochtrabenden theologi‐ schen Ideen hinter politischen Systemen. Politik nach Nietz‐ sche. Politik von bleiernem Gewicht. Intellektuell konnte man kaum mit ihr mithalten. Wer es versuchte, fand sich in unbe‐ kannten Gewässern wieder. Beide, Dave und Terri, waren gegen den Imperialismus und verachteten materielle Werte. »So was Albernes, ein elektrischer Dosenöffner«, sagte Terri einmal, als wir am Schaufenster einer Haushaltswarenhandlung in der 8th Street vorbeikamen. »Wer ist wohl bescheuert genug, sich so was zu kaufen?« Terri hatte Dave Auftritte in Städten wie Boston und Phi‐ ladelphia verschafft ... sogar im weit entfernten St. Louis in einem Folkclub namens Laughing Buddha. Für mich kamen sol‐ che Gigs nicht in Frage. Man mußte mindestens eine Platte ver‐ öffentlicht haben, und sei es bei einem kleinen Label, wenn man in so einem Club unterkommen wollte. Terri leitete ein 272
paar Auftritte für mich in die Wege, in Städten wie Elizabeth, New Jersey und Hartford — einmal in einem Folkclub in Pitts‐ burgh, ein andermal in Montreal. Mal hier, mal da. Meistens war ich in New York. Ich wollte die Stadt eigentlich nicht ver‐ lassen. Wenn ich mich aus New York fortgesehnt hätte, wäre ich gar nicht erst hingezogen. Ich war froh, daß ich regelmäßig im Gaslight auftreten durfte, und ich war nicht scharf darauf, anderswo meinem Glück hinterherzujagen. Ich konnte durch‐ atmen. Ich war frei. Ich fühlte mich nicht eingeengt. Zwischen den Sets hing ich meistens herum, trank Wild Turkey ohne al‐ les und eiskaltes Schlitz‐Bier im Kettle of Fish nebenan, oder ich spielte oben im Gaslight Karten. Alles lief gut. Ich lernte so‐ viel wie möglich, und ich hielt die Augen offen. Einmal bot Terri mir an, sie könne mich Jac Holzman vorstellen, dem Elek‐ tra Records gehörte, eine Plattenfirma, die ein paar Sachen von Dave herausgebracht hatte. »Ich kann dir einen Termin ma‐ chen. Willst du dich mal mit ihm zusammensetzen?« »Nein, ich will mich mit niemand zusammensetzen, besten Dank.« Ich fand die Idee wenig reizvoll. Etwas später, im Sommer, gelang es Terri, mich in einer Radio‐Live‐Übertragung einer großen Folk‐Veranstaltung in der Riverside Church am Riverside Drive unterzubringen. Wieder einmal sollte sich mein Leben ändern, das Neue und Fremde wartete schon. Im Backstage‐Bereich war es unerträglich schwül. Die Musiker kamen und gingen, warteten auf ihren Auftritt oder machten noch einen drauf. Wie immer spielte sich die eigentliche Show hier hinten ab. Ich unterhielt mich mit einem dunkelhaarigen Mädchen, Carla Rotolo, die ich flüchtig kannte. Sie war Alan Lomaxʹ persönliche Assistentin. Carla stellte mir ihre Schwe‐ ster vor. Sie hieß Susie, schrieb sich aber Suze. Schon vom er‐ 273
sten Moment an konnte ich den Blick nicht von ihr abwenden. Etwas Erotischeres hatte ich noch nie gesehen. Sie hatte helle Haut und goldenes Haar und war eine heißblütige Italienerin. Plötzlich erfüllte der Duft von Bananenblättern die Luft. Wir kamen ins Gespräch, und in meinem Kopf drehte sich alles. Cu‐ pidos Pfeil war schon oft an meinem Ohr vorbeigezischt, doch diesmal traf er mich ins Herz, und das Gewicht zog mich über die Reling. Suze war siebzehn und stammte von der Ostküste. Sie war in Queens in einer linksliberalen Familie aufgewach‐ sen. Ihr Vater hatte in einer Fabrik gearbeitet und war vor kur‐ zem gestorben. Sie hatte mit der New Yorker Kunstszene zu tun, malte und zeichnete für verschiedene Veröffentlichungen, arbeitete auch hier und da im Grafikdesign und bei Off‐Broad‐ way‐Theaterproduktionen und engagierte sich für die Bürger‐ rechte— sie war vielseitig begabt. Wer mit ihr Bekanntschaft schloß, lernte ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht ken‐ nen. Ihr Lächeln konnte einen ganzen Straßenzug erhellen, und sie war überaus lebhaft und von einer ganz besonderen Sinnlichkeit— wie eine zum Leben erwachte Skulptur von Ro‐ din. Sie erinnerte mich an eine freizügige Heldin. Sie war ge‐ nau mein Typ. Die nächste Woche über dachte ich viel an sie — ich konnte den Gedanken an sie nicht abschütteln und hoffte, wir würden uns über den Weg laufen. Ich fühlte mich wie zum allerersten Mal verliebt und konnte ihre Ausstrahlung noch aus fünfzig Kilometern Entfernung wahrnehmen— ich wollte ihren Körper neben meinem spüren. Jetzt. Sofort. Filme hatten mich immer verzaubert, und in den Kinos am Times Square, die orientali‐ schen Tempeln glichen, konnte man sie am besten genießen. In der letzten Zeit hatte ich »Quo Vadis« und »Das Gewand« ge‐ sehen, und jetzt ging ich hin, um mir »Atlantis, der verlorene Kontinent« und »König der Könige« anzuschauen. Ich musste 274
mich ablenken und an etwas anderes denken als immer nur an Suze. In »König der Könige« waren Rip Torn und Rita Garn zu sehen, außerdem Jeffrey Hunter als Christus. Aber die ganze mitreißende Action auf der Leinwand ließ mich kalt. Beim zweiten Film, »Atlantis, der verlorene Kontinent«, war es nicht besser. Lauter Todesstrahlkristalle, riesige Fisch‐U‐Boote, Erd‐ beben, Vulkane, Flutwellen und was nicht noch alles. Vielleicht war es der aufregendste Film aller Zeiten, wer weiß? Ich konnte mich nicht konzentrieren. Wie es das Schicksal so wollte, lief ich Carla wieder über den Weg und fragte sie nach ihrer Schwester. Carla fragte mich, ob ich sie gern wiedersehen würde. Ich sagte: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gern«, und sie sagte: »Tja, sie will dich auch wiedersehen.« Bald trafen wir uns und sahen uns von da an immer öfter. Schließlich wurden wir geradezu unzertrenn‐ lich. Neben meiner Musik war das Zusammensein mit Suze das Wichtigste in meinem Leben. Vielleicht waren wir Seelenver‐ wandte. Aber ihre Mutter Mary, die als Übersetzerin für medizi‐ nische Fachzeitschriften arbeitete, legte sich quer. Mary wohnte im obersten Stockwerk eines Mietshauses am Sheridan Square und behandelte mich, als hätte ich den Tripper. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte man mich hinter Gitter gesteckt. Sie war eine lebhafte kleine Frau— temperamentvoll, mit schwar‐ zen Augen wie zwei Kohlen, die ein Loch in einen hineinbren‐ nen konnten, und sie war sehr darauf bedacht, ihre Tochter vor mir zu beschützen. Es hing immer der unausgesprochene Vor‐ wurf in der Luft, daß ich etwas falsch gemacht hatte. Sie fand meinen Lebensstil indiskutabel und war davon überzeugt, daß ich nie irgendwen ernähren könnte, aber ich glaube, dahinter steckte noch etwas anderes. Ich glaube, ich war einfach zur fal‐ schen Zeit in ihr Leben getreten. 275
»Wieviel hat die Gitarre gekostet?« fragte sie mich einmal. »Nicht viel.« »Nicht viel, das hab ich mir gedacht, aber irgendwas hat sie doch gekostet.« »Fast nichts«, sagte ich. Sie starrte mich an, die Zigarette im Mund. Sie versuchte mich immer in irgendwelche Auseinandersetzungen zu ver‐ wickeln. Meine Gegenwart war ihr derart zuwider, und dabei machte ich ihr überhaupt keine Scherereien. Ich war nicht für den Tod ihres Mannes verantwortlich oder sonst irgendwas. Einmal sagte ich zu ihr, daß sie mir gegenüber ungerecht sei. Sie starrte mir unverwandt in die Augen, als betrachte sie ir‐ gendeinen weit entfernten Gegenstand, und dann sagte sie zu mir: »Tu mir einen Gefallen und laß in meiner Anwesenheit das Denken bleiben.« Suze sagte später, sie habe es nicht so gemeint. Aber sie hatte es so gemeint. Sie tat alles, was sie konnte, um einen Keil zwischen uns zu treiben, aber wir tra‐ fen uns trotzdem weiter. Es war eine beklemmende Situation, die immer problematischer wurde und mir die Augen dafür öffnete, daß ich eine eigene Wohnung mit Bett, Ofen und Tisch brauchte. Das wurde auch langsam Zeit. Ich hätte mich wohl schon eher darum küm‐ mern können, aber ich wohnte ganz gern bei anderen Leuten. Es war weniger umständlich und viel einfacher, und ich musste nur wenig Verantwortung auf mich nehmen — Wohnungen, in denen ich nach Belieben kommen und gehen konnte, zu denen ich manchmal sogar meinen eigenen Schlüssel hatte, Zimmer mit jeder Menge gebundener Bücher im Regal und stapelweise Schallplatten. Wenn ich sonst nichts zu tun hatte, blätterte ich in den Büchern und hörte Musik. 276
Die Tatsache, daß ich keine eigene Wohnung hatte, entwik‐ kelte sich zu einer Belastung für meine hochempfindlichen Nerven, und deshalb mietete ich nach knapp einem Jahr in New York für sechzig Dollar im Monat eine Wohnung im dritten Stock ohne Fahrstuhl in der West 4th Street 161. Es war nichts Großartiges, nur zwei Zimmer über Brunos italie‐ nischem Imbiß, zwischen dem Plattenladen des Viertels und einem Möbelgeschäft. Die Wohnung hatte ein winziges Schlaf‐ zimmer, das eher einem großen Einbauschrank glich, eine Kochnische und ein Wohnzimmer mit Kamin und zwei Fen‐ stern mit Blick auf Feuertreppen und kleine Hinterhöfe. Der Platz reichte gerade mal für eine Person, und nachts ging die Heizung aus, so daß man die Wohnung heizen mußte, indem man beide Flammen des Gasherds so hoch wie möglich lodern ließ. Sie war unmöbliert. Nach meinem Einzug baute ich schnell ein paar Möbel. Mit geliehenem Werkzeug schreinerte ich Tische, von denen einer bei Bedarf als Schreibtisch her‐ halten mußte. Ich zimmerte mir auch einen Schrank und ein Bettgestell. Das ganze Holz kam aus dem Laden unten im Haus, und ich montierte alles mit dem passenden Material zusammen— verzinkten Nägeln, Griffen und Scharnieren, Drei‐Achtel‐Zoll‐Beschlägen aus Schmiedeeisen, Messing und Kupfer und Holzschrauben mit runden Köpfen. Ich ging mit Bügelsäge, Stemmeisen und Schraubenziehern ans Werk und bastelte mir mit Hilfe einer alten Technik aus dem High‐ school‐Holzbearbeitungskurs sogar diverse Spiegel aus Glas, Quecksilber und Alufolie. Neben der Musik machte ich so was gern. Ich kaufte mir einen gebrauchten Fernseher, den ich auf ein Schränkchen stellte, und dann noch eine Matratze und einen Teppich, den ich auf den Dielenboden legte. Bei Woolworth holte ich mir einen Plattenspieler und stellte ihn auf einen Tisch. Das kleine Zim‐ 277
mer kam mir einwandfrei vor, und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, mein eigenes Reich zu besitzen. Suze und ich verbrachten immer mehr Zeit miteinander, und ich erweiterte fortlaufend meinen Horizont und lernte die Welt, in der sie lebte, genauer kennen, vor allem die Off‐Broad‐ way‐Szene ... darunter viel von LeRoi Jones, Dutchman, The Baptism. Ich sah auch Gelbers Junkie‐Drama The Connection, das Living‐Theater‐Stück The Brig und andere eindrucksvolle Aufführungen. Ich besuchte mit Suze die Treffpunkte der Künst‐ ler und Maler, das Caffe Cino zum Beispiel, die Camino Gallery und die Aegis Gallery. Wir gingen zur Comedia DelʹArte, einem zum Theater umgebauten kleinen Ladenlokal an der Lower Eastside mit riesigen, lebensgroßen Puppen, die zappel‐ ten und schaukelten. Dort sah ich ein paar Stücke; in einem wurden ein Soldat, eine Prostituierte, ein Richter und ein Rechtsanwalt alle von derselben Puppe gespielt. Durch ihre Größe und den eng begrenzten Raum wirkten die Puppen son‐ derbar, verwirrend und bedrohlich ... gar nicht wie Edgar Ber‐ gens witzige hölzerne Bauchrednerpuppe Charlie McCarthy mit ihrem Smoking, die wir alle kannten und liebten. Eine neue Welt tat sich mir auf, die Welt der Kunst. Manch‐ mal gingen wir früh am Tag Richtung Norden in die verschie‐ denen Museen und sahen uns riesige Ölgemälde von Velaz‐ quez, Goya, Delacroix, Rubens und El Greco an. Dann die Bilder aus dem 20. Jahrhundert — Picasso, Braque, Kandinsky, Rouault, Bonnard. Unter den zeitgenössischen modernen Künst‐ lern hatte Suze am meisten für Red Grooms übrig, der auch mein Favorit wurde. Ich war begeistert, wie sich in seinen Wer‐ ken alles in einer zerbrechlichen Welt aneinanderdrängte, lau‐ ter wackelig aufeinandergetürmte Einzelteile auf engstem Raum, und wie man das komplexe Ganze erkennen konnte, wenn man einen Schritt zurück trat. Groomsʹ Arbeiten sprachen für mich 278
Bände. Er war der Künstler, der mich am meisten interessierte. Was Red machte, war extravagant, seine Werke waren so scharf konturiert, als seien sie mit Säure ausgeätzt worden. Egal, in welcher Technik — Kreide, Aquarell, Gouache, Skulptur oder Mischtechnik — Collagen —, ich fand Gefallen daran, wie er alles zusammensetzte. Seine Arbeiten waren gewagt und sprangen mit ihren leuchtenden Details ins Auge. Zwischen Reds Arbei‐ ten und vielen meiner Folksongs gab es eine Verbindung. Sie spielten offenbar auf der gleichen Bühne. Was die Folksongs durch ihre Texte leisteten, führten Reds Sachen auf visueller Ebene vor— die Penner und Bullen, die irrsinnige Hektik, die beklemmend engen Gassen — die ganze jahrmarktsartige Vita‐ lität. Red war der Uncle Dave Macon der Kunstwelt. Er ver‐ schaffte noch dem kleinsten Detail einen Platz in seinen Wer‐ ken, wo es sich lautstark bemerkbar machte — alles stand ebenbürtig Seite an Seite — alte Tennisschuhe, Snackautoma‐ ten, Krokodile, die durch die Kanalisation krochen, Duellpisto‐ len, die Staten‐Island‐Fähre, die Trinity Church, die 42nd Street, Wolkenkratzersilhouetten. Brahma‐Stiere, Cowgirls, Rodeo‐Kö‐ niginnen und Mickey‐Maus‐Köpfe, Schloßtürmchen und Mrs. OʹLearys Kuh, Kotzbrocken, Schleimer und Spinner und grinsen‐ de, juwelengeschmückte nackte Models, melancholisch dreinblik‐ kende Gesichter, unbestimmbare Sorgen — alles sehr komisch, aber nicht albern. Auch bekannte Figuren aus der Geschichte — Lincoln, Hugo, Baudelaire, Rembrandt, alle mit grafischer Sorg‐ falt herausgearbeitet — waren hier leidenschaftlich entflammt. Ich war begeistert davon, wie Grooms das Lachen als teuflische Waffe nutzte. Insgeheim fragte ich mich, ob man wohl auch Songs in dieser Art schreiben konnte. Ungefähr zu dieser Zeit fing ich selbst an zu zeichnen. Das hatte ich mir von Suze abgeguckt. Was sollte ich zeichnen? Vielleicht erst mal das Naheliegende. Ich setzte mich an den 279
Tisch, nahm Papier und Stift zur Hand und zeichnete die Schreibmaschine, ein Kruzifix, eine Rose, Stifte, Messer und Reißzwecken, leere Zigarettenschachteln. Dabei verlor ich je‐ des Zeitgefühl. Eine Stunde oder zwei vergingen, und es kam mir vor, als sei nur eine Minute verstrichen. Nicht daß ich mich für einen großen Zeichner gehalten hätte, aber ich hatte doch den Eindruck, daß ich eine gewisse Ordnung in das Chaos um mich herum brachte — so ähnlich wie Red, nur auf einem viel weniger grandiosen Niveau. Bei mir stellte sich die son‐ derbare Empfindung ein, daß sich durch das Zeichnen meine Sehgewohnheiten klärten, und ich zeichnete noch viele Jahre lang weiter. Der Tisch war derselbe, an dem ich später auch Songs kom‐ ponierte. Aber das sollte noch eine Weile dauern. Irgendwer muß einen ja auf die Idee bringen, und ich kannte nur eine Handvoll Musiker, die Songs schrieben. Len Chandler war mir darunter am sympathischsten. Aber ich hielt das Songschreiben nur für seine private Schrulle, und das reichte noch nicht aus, um mich selbst dazu anzustacheln. Für mich hatte Woody Guthrie die besten Songs aller Zeiten geschrieben, Songs, die schlicht nicht mehr zu überbieten waren. Aber ohne daß ich weltbewegende Pläne gehegt hätte, schrieb ich schließlich einen ironisch angehauchten Song namens »Let Me Die in My Foot‐ steps«. Als Vorlage diente mir eine alte Ballade von Roy Acuff. Mein Song war von dem Atombunkerwahn inspiriert, der sich im Kalten Krieg entwickelt hatte. Mag sein, daß solche Songs auf manche Leute radikal wirkten, aber für mich hatte das über‐ haupt nichts mit Radikalität zu tun. Im nördlichen Minnesota hatten sich Atombunker nicht durchsetzen können; auf der Iron Range blieb man ungerührt. Kommunisten lösten dort keine Paranoia aus. Man fürchtete sie nicht, man hielt das Ganze für einen Sturm im Wasserglas. Kommunisten standen stellvertre‐ 280
tend für Außerirdische. Bergwerksbesitzer gaben mehr Anlaß zur Furcht, jedenfalls gaben sie schon weit eher ein Feindbild ab. Atombunkervertretern zeigte man, wo der Zimmermann das Loch gelassen hatte. Es gab keine Bunker zu kaufen, und niemand baute welche. Die Häuser hatten ja ohnehin Keller mit dicken Wänden. Außerdem paßte keinem die Vorstellung, daß jemand anders vielleicht einen Bunker hatte und man selbst nicht. Umgekehrt war es auch nicht viel besser. So etwas konnte Nachbarn und Freunde gegeneinander aufbringen. Niemand konnte sich vorstellen, wie ein Nachbar an die Tür klopft und sagt: »Also noch mal ganz langsam ... Es geht um Leben und Tod, und unsere Freundschaft ist dir einen Dreck wert. Hab ich dich da richtig verstanden?« Was sollte man einem Freund ent‐ gegnen, der sich in Wildwestmanier in den Hauseingang drängt und sagt: »Paß auf, ich hab kleine Kinder. Meine Tochter ist erst drei, und mein Sohn ist zwei. Bevor ich dir zusehe, wie du sie aussperrst, komm ich mit dem Gewehr rüber. Also laß den Scheiß.« Es gab keinen anständigen Ausweg. Atombunker ent‐ zweiten Familien und konnten Meutereien auslösen. Nicht daß man sich keine Sorgen über die pilzförmige Wolke machte — das schon. Aber Vertreter, die Atombunker anpriesen, begegneten nur ausdruckslosen Gesichtern. Im übrigen war es die vorherrschende Meinung, daß man für den Fall eines Atomangriffs eigentlich nur einen Gei‐ gerzähler aus Army‐Beständen brauchte. Der würde sich im Ernstfall als kostbarer Schatz entpuppen, denn man konnte daran ablesen, was eßbar und was gefährlich war. Geigerzäh‐ ler waren überall erhältlich. Ich hatte sogar einen in meiner New Yorker Wohnung, und das zeigt, daß es nicht übermäßig radikal war, den Song über die Nutzlosigkeit von Atombun‐ kern zu schreiben. Ich brauchte mich dafür keiner Doktrin zu unterwerfen. Aber der Song war gleichzeitig persönlich und 281
gesellschaftskritisch. Das war etwas Neues. Trotzdem riß der Song für mich keine Grenzen nieder, und er bewirkte auch keine Wunder. Das meiste, was ich ausdrücken wollte, fand ich normalerweise in alten Folksongs oder in Songs von Woody wieder. Anfangs wies ich auf der Bühne noch nicht einmal darauf hin, daß »Let Me Die in My Footsteps« mein eigener Song war. Ich schmuggelte ihn irgendwo dazwischen und gab ihn als Weavers‐Song aus. Meine Einstellung zu alledem sollte sich in Kürze wandeln. Schon bald würde sich das Klima aufheizen und neue Kräfte freisetzen. Aus meiner kleinen Hütte im Universum sollte demnächst eine prachtvolle Kathedrale werden, wenigstens was das Songschreiben anging. Suze hatte hinter den Kulissen an einer musikalischen Revue im Theatre de Lys an der Christo‐ pher Street mitgewirkt. Es war eine Zusammenstellung einiger Songs von Bertolt Brecht, dem antifaschistischen, marxistischen Dichter und Dramatiker, dessen Werke in Deutschland ver‐ boten gewesen waren, und Kurt Weill, dessen Melodien wie eine Mischung aus Oper und Jazz klangen. Mit der durch Bobby McDarin bekannt gewordenen »Moritat von Mackie Messer«, »Mack the Knife«, war den beiden einst ein großer Hit gelun‐ gen. Als Theaterstück konnte man das Ganze nicht bezeichnen; es war eher eine Abfolge von Songs, die von Schauspielern vor‐ getragen wurden. Ich ging hin, um auf Suze zu warten, und die rohe Kraft der Songs riß mich sofort vom Stuhl ... »Morning Anthem« (»Der Morgenchoral des Peachum«), »Wedding Song« (»Das Hochzeitslied für ärmere Leute«), »The World Is Mean« (»Über die Unsicherheit menschlicher Verhältnisse«), »Pollyʹs Song« (»Durch ein kleines Lied deutet Polly ihren El‐ tern ihre Verheiratung mit dem Räuber Macheath an«), »Tango 282
Ballad« (»Tangoballade«), »Ballad of the Easy Life« (»Die Ballade vom angenehmen Leben«). Songs in klarer, harter Sprache. Sie waren unberechenbar, arhythmisch und sprunghaft — ver‐ rückte Visionen. Die Sänger waren Diebe, Lumpensammler oder Taugenichtse und brüllten und knurrten durcheinander. Das gesamte Weltgeschehen spielte sich in vier schmalen Gas‐ sen ab. Auf der kleinen Bühne war nur wenig Konkretes auszu‐ machen— Laternenpfähle, Tische, Treppen, Fenster, Hausecken, der Mondschein in engen Höfen— eine trostlose Umgebung, die einem Gänsehaut verursachte. Die Songs schienen allesamt ei‐ ner finsteren Tradition zu entspringen, sie hatten Pistolen, Knüppel oder Pflastersteine dabei, oder sie kamen auf Krücken, in orthopädischen Gestellen und in Rollstühlen daher. Ihre Na‐ tur war die von Folksongs, aber dann auch wieder nicht, denn dazu waren sie zu raffiniert gebaut. Nach ein paar Minuten fühlte ich mich, als hätte ich dreißig Stunden weder geschlafen noch gegessen, so stark fesselte mich das alles. Am meisten beeindruckte mich eine atemberaubende Ballade, »A Ship the Black Freighter« (»Und ein Schiff mit acht Segeln«). Eigentlich hieß der Song »Pirate Jenny« (»Die See‐ räuber‐Jenny«), aber das kam im Text nicht vor, und deshalb er‐ fuhr ich den Titel nicht. Die Sängerin war eine etwas maskuline Frau im Gewand einer Putzfrau, die niedere Dienste versieht, die die Betten macht in einem heruntergekommenen Hotel am Meer. Der Song schlug mich sofort in seinen Bann, und zwar mit dem Refrain über das Schiff mit acht Segeln, der nach jeder Strophe kommt. Diese Stelle erinnerte mich an die Nebelhör‐ ner der Schiffe, die ich in meiner Jugend gehört und deren weit hallendes Röhren ich nie vergessen habe. Es war, als erklinge es direkt über uns. Obwohl Duluth dreitausend Kilometer vom nächsten Meer entfernt liegt, hatte es einen internationalen Seehafen. Schiffe 283
aus Südamerika, Asien und Europa legten ständig an und ab, und das tiefe Rumoren der Nebelhörner packte einen erbar‐ mungslos im Genick und schüttelte einen durch, bis einem die Sinne schwanden. Auch wenn man die Schiffe im Nebel nicht sehen konnte, wußte man doch, daß sie da waren, denn ihr schwe‐ rer Donner grollte wie Beethovens Fünfte — zwei tiefe Töne, der erste lang und dunkel wie ein Fagott. Nebelhörner klangen nach großen Verheißungen. Die mächtigen Schiffe kamen und fuhren davon, eiserne Ungeheuer aus der Tiefe — Schiffe, die alle ande‐ ren Spektakel in den Schatten stellten. Für mich als schmäch‐ tiges, introvertiertes, asthmakrankes Kind war das Geräusch so laut, so allumfassend, daß ich es im ganzen Körper spüren konnte und mich förmlich ausgehöhlt fühlte. Da draußen war etwas, das mich verschlingen konnte. Als ich den Song ein paarmal gehört hatte, dachte ich nicht mehr an die Nebelhörner und sah die Welt mit den Augen die‐ ser Frau. Wo sie herkommt, weht ein trockener, eiskalter Wind. Sie ist so stark und leidenschaftlich. Die »Herren«, für die sie die Betten macht, ahnen nichts von ihrer Feindseligkeit, und das Schiff mit den acht Segeln wirkt wie ein messianisches Symbol. Es kommt immer näher und näher, und vielleicht hat es sogar schon im Hafen angelegt. Die Putzfrau ist mächtig und verkleidet sich als Niemand— sie zählt die Köpfe. Ihr Lied spielt in einer abscheulichen Unterwelt, wo schon bald »die Mauern werden fallen hin, und die Stadt wird gemacht dem Erdboden gleich«. Nur ihr Haus nicht. Ihr Hotel wird verschont, und sie ist gesund und munter. Später fragen sich die Herren, wer wohl dort wohnt. Jetzt haben sie ein Problem, aber sie wissen nichts davon. Sie hatten schon immer ein Problem, von dem sie nichts wuß‐ ten. Menschen schwärmen am Hafen aus, die Herren werden in Ketten gelegt und der Seeräuber‐Jenny vorgeführt, und man stellt ihr die Frage, ob man den Herren jetzt oder später den 284
Garaus machen soll. Es ist ihre Entscheidung. Als das Lied zu Ende ist, leuchten die Augen der alten Putzfrau. Das Schiff feu‐ ert die Bugkanonen ab, und den Herren vergeht das Lachen. Das Schiff liegt noch im Hafen und wendet. Die alte Frau sagt: »Bringt sie alle um, dann lernen sieʹs vielleicht.« Womit haben die Herren dieses Los verdient? Das erfahren wir nicht. Es ist ein wilder Song. Der Text ist starker Tobak. Da geht es heftig zur Sache. Jeder Satz springt einen aus drei Metern Höhe an und huscht über die Straße, und gleich erwischt einen der nächste wie ein Kinnhaken. Und über allem lastet der gespen‐ stische Chorgesang von dem Schiff mit acht Segeln, der sich hereinschleicht, alles abriegelt und die Schotten dicht macht. Es ist ein gemeines Lied einer bösen Hexe, und wenn sie fertig ist, fehlen einem die Worte. Man ist sprachlos. Als die Aufführung in dem kleinen Theater ihr dramatisches Finale erreichte, war das gesamte Publikum wie vor den Kopf gestoßen; alle schraken zurück und griffen sich kollektiv an den Solarplexus. Und ich wußte auch, warum. Im Publikum saßen die »Herren« aus dem Lied. Es waren die Betten der Zuschauer, die die Piraten‐Jenny machte. In ihrem Postamt sortierte sie die Briefe, und an ihrer Schule unterrichtete sie. Das Stück warf einen um, und es wollte ernst genommen werden. Es ließ sich nicht so leicht ab‐ schütteln. Woody hatte nie so einen Song geschrieben. Es war kein Protestsong, es war kein Song, der sich mit aktuellen The‐ men befaßte, und es war keine Nächstenliebe darin. Später nahm ich das Lied auseinander, weil ich herausfin‐ den wollte, was sein Geheimnis war und warum es so gut funktionierte. Ich erkannte, daß alle seine Bestandteile offen zutage lagen, ohne daß es auf den ersten Blick auffiel. Alles war solide an der Wand verschraubt, aber die Summe der Ein‐ zelteile war nicht zu erkennen, es sei denn, man wartete aus großem Abstand das Ende ab. Es war wie Picassos Gemälde 285
Guernica. Dieser große Song sprach alle meine Sinne auf ganz ungewohnte Art an, ähnlich wie ein Folksong, aber ein Folk‐ song aus einem anderen Faß in einem anderen Hinterhof. Gern hätte ich mir die Schlüssel geschnappt und mir angesehen, wo der Song herkam und was man dort sonst noch so finden konnte. Ich zerlegte den Song und obduzierte ihn — es war die Form, es waren die freien Verse, die Struktur und die Mißach‐ tung der gewohnten, Sicherheit bietenden Melodieführung, die ihm seine Bedeutung und seine schneidende Schärfe ver‐ liehen. Außerdem paßte der Refrain ideal zu den Strophen. Das Geheimnis, das dem Song von der »Seeräuber‐Jenny« seine Spannung und seine unverschämte Gewalt verlieh, lag in sei‐ ner besonderen Struktur und Form, so viel war mir klar. Ich wollte herausfinden, wie man beides handhaben und in den Griff bekommen konnte. Darüber grübelte ich später in meiner schäbigen Wohnung nach. Ich hatte noch nichts zustande gebracht, ich war noch gar kein Songwriter, aber ich war nachhaltig beeindruckt von den physischen und ideologischen Möglichkeiten, die sich in‐ nerhalb der Grenzen des Textes und der Melodie boten. Ich er‐ kannte, daß solche Songs, wie ich sie gern gesungen hätte, nicht existierten, und ich fing an, mit der Form zu spielen, um auf den richtigen Dreh zu kommen — ich wollte einen Song schreiben, der über Inhalt, Figuren und Handlung hinaus‐ wuchs. Ich stand vollkommen unter dem Einfluß der »Seeräuber‐ Jenny«, auch wenn ich Distanz zur ideologischen Kernaussage des Songs wahrte, und ich fing an, mit Schnipseln zu experi‐ mentieren— ich nahm eine geschmacklose Meldung aus der Police Gazette über eine Hure aus Cleveland, eine Pfarrerstoch‐ ter namens Snow White, die einen Kunden auf groteske und scheußliche Weise umgebracht hatte. Das war mein Ausgangs‐ 286
material; den anderen Song benutzte ich als Vorlage und packte die Zeilen hinein, Zeilen in kurzen Feuerstößen ... fünf oder sechs Strophen in freiem Versmaß. Als Refrain nahm ich die er‐ sten beiden Zeilen der »Frankie & Albert«‐Ballade, in denen es heißt: »Frankie was a good girl. Everybody knows. Paid a hun‐ dred dollars for Albertʹs new suit of clothes.« Die Vorstellung, selbst einen Song zu schreiben, gefiel mir gut, aber aus dem Song wurde nichts. Irgend etwas fehlte mir noch. Wie sich herausstellte, war die Verbindung zwischen Suze und mir nicht gerade ein Sonntagsspaziergang. Letztendlich winkte uns das Schicksal an den Straßenrand, und unsere Beziehung kam zum Stillstand. Das Ende war unvermeidlich. Sie nahm die eine Abzweigung und ich eine andere. Wir verschwanden ein‐ fach aus dem Leben des jeweils anderen, aber vorher, als das Feuer noch nicht erloschen war, hatten wir viel Zeit gemeinsam in der Wohnung in der West 4th Street verbracht. Im Sommer herrschte dort drückende Hitze. Die kleine Bude war wie ein Ofen voll stickiger Luft, die man beinahe kauen und schlucken konnte. Im Winter gab es keine Heizung. Es war bitterkalt, und wir hielten uns warm, indem wir uns unter Decken aneinander‐ schmiegten. Suze war bei mir, als ich meine ersten Aufnahmen für Co‐ lumbia Records machte. Völlig unerwartete Ereignisse hatten dazu geführt; mit einer großen Plattenfirma hatte ich nie ernst‐ haft geliebäugelt. Ich hätte kein Wort geglaubt, wenn man mir gesagt hätte, daß ich eine Platte für Columbia Records auf‐ nehmen sollte, eines der wichtigsten Labels im ganzen Land, bei dem große Mainstream‐Musiker wie Johnny Mathis, Tony Bennett und Mitch Miller unter Vertrag standen. Ich hatte es John Hammond zu verdanken, daß ich in diese Kreise aufge‐ 287
nommen worden war. John hatte mich zum ersten Mal bei Ca‐ rolyn Hesters zu Hause gesehen und gehört. Carolyn war eine befreundete texanische Sängerin und Gitarristin, mit der ich schon in diversen Läden in der ganzen Stadt aufgetreten war. Sie war erfolgreich, und das wunderte mich nicht. Carolyn war ein Blickfang, ziemlich bodenständig und eine Schönheit von gro‐ ßem Kaliber. Daß sie Buddy Holly gekannt und mit ihm gearbei‐ tet hatte, beeindruckte mich nicht wenig, und ich war gern mit ihr zusammen. Buddy war ein König, und für mich verkörperte Carolyn eine Verbindung zu dieser Welt, zu dem Rock ʹnʹ Roll, den ich früher gespielt hatte, zum Geist dieser Musik. Carolyn war mit Richard Farina verheiratet, einem Teilzeit‐ Romancier und Abenteurer, von dem es hieß, er sei mit Castro in den Bergen der Sierra Madre unterwegs gewesen und habe an der Seite der IRA gekämpft. Was es damit auf sich hat, sei dahingestellt; jedenfalls hielt ich ihn für den glücklichsten Menschen der Welt, weil er mit Carolyn verheiratet war. Wir trafen uns in ihrer Wohnung — ich, der Gitarrist Bruce Lang‐ horne und der Kontrabassist Bill Lee, dessen damals vierjähri‐ ger Sohn Spike heute ein bekannter Regisseur ist. Bruce und Bill wirkten später bei meinen Plattenaufnahmen mit. Sie hat‐ ten mit Odetta zusammengespielt und beherrschten alles vom eingängigen Jazz bis zum rockigen Blues. Wer sie an seiner Seite hatte, dem konnte eigentlich nichts mißlingen. Carolyn hatte mich gebeten, sie bei ein paar Songs ihrer De‐ bütplatte bei Columbia auf der Mundharmonika zu begleiten und ihr noch ein paar Sachen auf der Gitarre beizubringen, die sie bei mir gehört hatte. Den Gefallen tat ich ihr gern. Ham‐ mond wollte sich mit uns treffen, alles in die Wege leiten, und wir sollten ihm die Songs vorspielen, die Carolyn aufnehmen wollte. Das war der Zweck des Treffens. Und bei dieser Gele‐ genheit hörte er mich zum ersten Mal. Er hörte mich Mundhar‐ 288
monika und Gitarre spielen und sogar bei ein paar Songs von Carolyn die zweite Stimme singen, doch mir fiel nicht auf, daß ich ihm aufgefallen war. Dafür hatte ich gar keinen Blick. Ich war nur ihretwegen da. Bevor er ging, fragte er mich, ob ich ir‐ gendwo unter Vertrag stünde. Er war die erste Autoritätsperson, die mir diese Frage stellte. Er sagte es so im Vorbeigehen. Ich schüttelte den Kopf und wartete nicht besonders gespannt auf seine Antwort. Es gab auch keine, und mehr passierte nicht. Zwischen diesem Treffen und dem nächsten geriet die Welt aus den Fugen — jedenfalls meine kleine Welt. Ich war im be‐ kanntesten Folkclub Amerikas aufgetreten, in Gerdeʹs Folk City, war zusammen mit einer Bluegrass‐Band angekündigt worden, den Greenbriar Boys, und in der Folk‐ und Jazz‐Rubrik der New York Times enthusiastisch gelobt worden. Das war un‐ gewöhnlich, weil ich nur im Vorprogramm gespielt hatte und die Greenbriar Boys kaum erwähnt wurden. Ich hatte schon einmal dort auf der Bühne gestanden, und das Konzert war gar nicht besprochen worden. Der Artikel erschien am Abend vor Carolyns Session, und Hammond sah die Zeitung am nächsten Tag. Die Aufnahmen verliefen problemlos, und als alle einpack‐ ten und gingen, bat Hammond mich in den Regieraum und sagte mir, er würde sich freuen, wenn ich bei Columbia eine Platte aufnehmen könnte. Ja, sagte ich — mich würde das auch freuen. Mein Herz hüpfte hoch in den Himmel, bis zu einem fernen Stern. Innerlich hatte ich die Balance verloren, aber das merkte man mir nicht an. Ich konnte es nicht glauben. Es war zu schön, um wahr zu sein. Nun würde mein ganzes Leben aus den Fugen geraten. Es kam mir so vor, als sei es schon viele Jahre her, daß ich in der Wohnung von Flo Castners Bruder im Südosten von Minnea‐ polis das Album Spirituals to Swing und die Songs von Woody Guthrie gehört hatte. Schwer zu glauben, aber jetzt saß ich im 289
Büro des Mannes, dem wir das Album Spirituals to Swing zu verdanken hatten, und er nahm mich bei Columbia Records un‐ ter Vertrag. Hammond hatte sich mit Leib und Seele der Musik verschrie‐ ben. Er redete schnell, in kurzen, abgehackten Wendungen, und er war immer nervös. Er sprach meine Sprache, er wußte alles über die Musik, die ihm am Herzen lag, über alle Musiker, mit denen er je Aufnahmen gemacht hatte. Er sagte, was er dachte, er meinte, was er sagte, und er ließ seinen Worten Taten folgen. Hammond machte keine leeren Versprechungen. Geld beein‐ druckte ihn nicht besonders. Warum auch? Einer seiner Vor‐ fahren, Cornelius Vanderbilt, hatte irgendwo geäußert: »Geld? Was kümmert mich Geld? Ich habe Macht!« Hammond war ein echter amerikanischer Aristokrat und scherte sich nicht um Plattentrends oder wechselnde musikalische Moden. Er konnte auf dem Gebiet, das ihm am Herzen lag, tun, was er wollte, und so hatte er es sein ganzes Leben lang gehalten. Er hatte den Ge‐ demütigten und Verletzlichen Türen geöffnet, und zwar schon so lange, daß man sich gar nicht mehr an eine Zeit ohne ihn er‐ innern konnte. Jetzt nahm er mich bei Columbia Records unter Vertrag — im Herzen des Labyrinths. Die Folk‐Labels hatten mich alle abgelehnt. Das machte mir jetzt nichts mehr aus. Ich war froh darüber. Ich sah mich in Mr. Hammonds Büro um und entdeckte auf einem Foto einen Freund, John Hammond Jr. John — oder Jeep, wie wir ihn in der MacDougal Street nannten — war ungefähr in meinem Alter, ein Bluesgitarrist und Sänger. Später wurde er selbst ein angesehener Musiker. Als ich ihm begegnete, kam er gerade aus dem College, und ich glaube, er spielte damals erst seit kurzem Gitarre. Manchmal gingen wir zu ihm nach Hause; er war in der MacDougal Street unterhalb der Houston Street aufgewachsen. Dort hörten wir eine Menge Platten aus einer eindrucksvollen Sammlung ... überwiegend 290
78er Bluesplatten und urwüchsigen RockʹnʹRoll. Mir war nie klar gewesen, daß Jeep der Sohn des legendären John Ham‐ mond war, bis ich das Foto sah; erst dann zählte ich eins und eins zusammen. Ich glaube, niemand wußte, wer Jeeps Vater war. Er redete nie darüber. John Hammond legte mir den Vertrag vor — den Standardver‐ trag, den sie jeden neuen Musiker unterschreiben ließen. Er fragte: »Weißt du, was das ist?« Ich betrachtete die erste Seite, auf der Columbia Records stand, und fragte: »Wo muß ich unterschreiben?« Hammond zeigte es mir, und ich setzte mei‐ nen Namen mit ruhiger Hand darunter. Ich vertraute ihm. Wer hätte das nicht getan? Auf der Welt gab es vielleicht tausend Könige, und er war einer davon. Bevor ich ihn an diesem Tag verließ, gab er mir ein paar Platten mit, die noch nicht im Han‐ del erhältlich waren und von denen er dachte, sie könnten mich vielleicht interessieren. Columbia hatte die Archive einiger kleinerer Labels aus den dreißiger und vierziger Jahren aufge‐ kauft— Brunswick, Okeh, Vocalion, ARC — und wollte das eine oder andere davon neu herausbringen. Eine Platte, die er mir gab, war von den Delmore Brothers und Wayne Rainey, eine andere hieß King of the Delta Blues und stammte von einem Sänger na‐ mens Robert Johnson. Wayne Rainey hatte ich oft im Radio gehört, er war einer meiner liebsten Mundharmonikaspieler und Sänger, und die Delmore Brothers schätzte ich auch sehr. Aber von Robert Johnson hatte ich noch nie gehört, der Name sagte mir rein gar nichts, er war mir auf keiner Blues‐Compila‐ tion begegnet. Hammond sagte, ich solle mir die Platte mal an‐ hören, der Mann könne »jeden alt aussehen lassen«. Er zeigte mir das Cover, ein ungewöhnliches Gemälde, auf dem der Ma‐ ler von der Decke herab ins Zimmer schaut und einen leiden‐ schaftlich konzentrierten Sänger und Gitarristen sieht, der ge‐ rade mal mittelgroß ist, aber Schultern hat wie ein Akrobat. Ein 291
elektrisierendes Cover! Ich starrte auf die Illustration. Wer der Sänger auf dem Bild auch sein mochte, ich war ihm bereits ver‐ fallen. Hammond erzählte, daß er ihn von ganz früher kenne und versucht habe, ihn nach New York einzuladen, wo er beim berühmten »Spirituals to Swing«‐Konzert auftreten sollte. Dann habe er jedoch feststellen müssen, daß Johnson tot war — er war unter mysteriösen Umständen in Mississippi gestorben. Er hatte nur um die zwanzig Plattenseiten aufgenommen, die sich alle im Besitz von Columbia Records befanden und jetzt zum Teil neu aufgelegt werden sollten. John legte ein Datum fest, an dem ich wiederkommen und mit den Aufnahmen beginnen sollte; er sagte mir, in welchem Tonstudio ich mich einzufinden hätte und so weiter, und ich verließ das Gebäude aufs höchste beflügelt, fuhr mit der U‐Bahn zurück nach Downtown und rannte zu Van Ronks Wohnung. Terri öffnete mir die Tür. Sie hatte in der Küche Hausfrau gespielt. In der kleinen Küche herrschte ein wüstes Durcheinander — Brotpudding auf dem Herd — ein trockenes Baguette auf einem Schneidebrett — überall Rosinen, Vanille und Eier. Terri rieb gerade eine Pfanne mit Margarine ein und wartete darauf, daß sich der Zucker auflöste. »Ich hab eine Platte dabei, die ich Dave gern vorspielen würde«, sagte ich, als sie mich einließ. Dave las die Daily News. Darin stand, daß die amerikanische Regierung in Nevada allerhand in die Luft spreng‐ te und Atomwaffen testete. Auch die Russen führten überall in ihrem Land Atomwaffentests durch. James Meredith, einem schwarzen Studenten aus Mississippi, wurde an der State Uni‐ versity der Zugang zum Hörsaal verwehrt. Es standen üble Nachrichten in der Zeitung. Dave blickte auf und sah mich über seine Hornbrille hinweg an. Ich hielt die dicke Robert‐Johnson‐ Azetatplatte in der Hand und fragte Van Ronk, ob er je von ihm gehört habe. Nein, sagte Dave, noch nie, und ich legte die Platte 292
auf, damit wir sie uns anhören konnten. Bereits beim ersten Ton ließ mir der Sound aus dem Lautsprecher die Haare zu Berge stehen. Der scharfe Klang der Gitarre konnte schier die Fenster zum Zersplittern bringen. Als Johnson anfing zu sin‐ gen, hatte ich den Eindruck, daß er in voller Rüstung der Stirn des Zeus entsprungen war. Ich erkannte sofort den Unterschied zwischen Johnson und allen anderen, die ich jemals gehört hatte. Seine Songs waren keine gewöhnlichen Bluesstücke. Sie waren perfekt — jeder Song hatte vier oder fünf Strophen, und jedes Reimpaar war in das nächste verschlungen, wenn auch nicht so, daß es einem gleich auffiel. Die Songs flössen so unglaublich ge‐ schmeidig dahin. Beim ersten Hören waren sie schnell vorbei, so schnell, daß man unmöglich alles mitkriegen konnte. Sie be‐ handelten die unterschiedlichsten Gegenstände und Gebiete; aus kurzen, kraftvollen Strophen entwickelte sich das Pan‐ orama einer Geschichte — auf diesem rotierenden Stück Plastik loderten die Feuer der Menschheit. »Kind Hearted Woman«, »Traveling Riverside Blues«, »Come On in My Kitchen«. Johnsons Stimme und seine Gitarre brachten das Zimmer zum Klingen, und ich steckte mittendrin. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es irgend jemandem anders erging. Aber Dave blieb ungerührt. Beharrlich wies er darauf hin, daß dieser Song sich von jenem Song ableite und ein dritter Song wiederum die exakte Kopie irgendeines anderen sei. Er fand Johnson nicht be‐ sonders originell. Ich wußte, was er meinte, aber mir ging es ge‐ nau umgekehrt. Ich fand, origineller als Johnson konnte man gar nicht sein; meiner Meinung nach war nichts und niemand mit ihm oder seinen Songs zu vergleichen. Dave spielte mir später ein paar Aufnahmen von Leroy Carr, Skip James und Henry Thomas vor und sagte: »Verstehst du jetzt, was ich meine?« Ich verstand durchaus, was er meinte, aber auch Woody hatte viele alte Carter‐Family‐Songs verwendet und ihnen sei‐ 293
nen Stempel aufgedrückt, deshalb beeindruckte mich das nicht besonders. Dave fand Johnson ganz brauchbar — stark, aber durchweg epigonal. Es war sinnlos, mit Dave zu diskutieren, je‐ denfalls auf einer intellektuellen Ebene. Ich hatte eine simple Sicht der Dinge und eine Schwäche für einfache Provinzpolitik. Ich konnte niemandem erklären, warum mein Lieblingspolitiker Barry Goldwater war, der Senator von Arizona, der mich an Tom Mix erinnerte. Wenn das polemische Psychogequatsche losging, fühlte ich mich nicht sonderlich wohl. Das war einfach nicht mein Bier. Sogar die Nachrichten vom Tage machten mich nervös. Alte Nachrichten waren mir lieber. Alle neuen Nach‐ richten waren schlecht. Es war ganz gut, daß man sie nicht den ganzen Tag vor Augen haben mußte. Aktuelle Nachrichten rund um die Uhr wären die reine Hölle gewesen. Ich überließ Dave wieder seiner Zeitung, verabschiedete mich und steckte die Azetatplatte in die weiße Papphülle zu‐ rück. Das Cover war unbedruckt. Worum es sich handelte, stand nur handschriftlich auf der Platte selbst, und dort war lediglich der Name Robert Johnson und eine Liste der Songtitel ver‐ merkt. Die Platte, die Dave so wenig beeindruckte, hatte mich so benommen gemacht wie ein Schuß aus einem Betäubungs‐ gewehr. Später legte ich sie in meiner Wohnung in der West 4th Street noch einmal auf und hörte sie mir ganz allein an. Ich wollte sie niemandem vorspielen. Im Laufe der nächsten Wochen hörte ich die Platte immer wieder, Track für Track, einen Song nach dem anderen; ich saß da und starrte auf den Plattenspieler. Dabei kam es mir jedes‐ mal vor, als habe ein Geist den Raum betreten, eine furchtein‐ flößende Erscheinung. Die zusammengestellten Songs waren Zeile für Zeile verblüffend exakt durchgearbeitet. Johnson war für sich beeindruckender als zwanzig Mann. Ich kon‐ zentrierte mich auf jeden Song und fragte mich, wie Johnson 294
das anstellte. Das Schreiben von Songs war für ihn ein aus‐ gesprochen raffiniertes Geschäft. Die Kompositionen schienen ihm einfach von den Lippen zu perlen und nicht aus seinem Ge‐ dächtnis zu kommen, und ich meditierte über den Aufbau der Strophen, die sich so stark von Woodys unterschieden. Unter Johnsons Worten vibrierten meine Nerven wie Klaviersaiten. Die Bedeutung dieser Worte und die Gefühle, die sie auslösten, waren von elementarer Wucht und gaben einem so viel Auf‐ schluß über das Wesentliche. Man kann nicht alle Einzelheiten auskosten, das ist unmöglich. Es gibt zu viele fehlende Begriffe, zu viel Doppelleben. Langweilige Beschreibungen, aus denen andere Bluestexter ganze Songs gemacht hätten, läßt Johnson einfach weg. Es gibt keine Garantie dafür, daß er in irgendeiner Zeile von etwas erzählt, das jemand erlebt, gesagt oder sich auch nur eingebildet hat. Wenn er über Eiszapfen singt, die von einem Baum hängen, überläuft es mich kalt, oder von Milch, die blau wird ... mir wurde ganz schwindlig, und ich fragte mich, wie er das schaffte. Außerdem hatten alle Songs etwas an sich, das mich auf irritierende Weise persönlich ansprach. Hin‐ geworfene Zeilen wie »If today were Christmas Eve and tomor‐ row were Christmas Day«, so etwas konnte ich bis ins Mark spüren — die Weihnachtszeit, wenn das Jahr sich dem Ende zu‐ neigte. Auf der Iron Range war Weihnachten genau wie bei Dickens gewesen, wie im Bilderbuch: Engel auf Weihnachts‐ bäumen, Pferdeschlitten auf verschneiten Straßen, Kiefern im Lichterglanz, Kränze über den Läden der Innenstadt, an der Ecke spielte die Heilsarmee, Chöre zogen von Tür zu Tür und sangen Weihnachtslieder, das Feuer züngelte im Kamin, Woll‐ schals um den Hals, das Läuten der Kirchenglocken. Wenn der Dezember kam, wurde alles langsamer, still und beschaulich und versank im weißen Tiefschnee. Ich hatte immer gedacht, so sei Weihnachten überall auf der Welt, für jedermann. Ich konnte 295
mir nicht vorstellen, daß es nicht immer so bleiben sollte. John‐ son beschwor diese Stimmung so behende herauf wie kein zwei‐ ter — da konnte nicht einmal das berühmte »White Christmas« mithalten. Johnson wildert, wo er will. Es gibt einen Fischersong, »Dead Shrimp Blues«, der sämtlichen Erwartungen zuwider‐ läuft — ein überdrehter Fischersong, dessen kühne Zeilen weit über bloße Metaphorik hinausgehen. Ein anderes Stück handelt von einem Terraplane, einer alten Rostlaube, und wahrscheinlich hat es nie einen besseren Song über ein Auto gegeben. Wer noch nie einen Terraplane gesehen hat und den Song hört, dem steht dabei wahrscheinlich ein stromlinienförmiges Geschoß vor Au‐ gen. Auch Johnsons Auto‐Song geht weit über einfache Meta‐ phorik hinaus. Ich schrieb Johnsons Worte auf Zettel ab, damit ich die Texte und Strukturen genauer untersuchen konnte, die Konstruktion seiner klassischen Sätze und die freien Assoziationen, mit denen er gearbeitet hatte, die funkelnden Allegorien, die nackten Wahrheiten in der harten Schale sinnfreier Abstraktion— seine Themen schwebten mit der größten Leichtigkeit dahin. Ich hatte keine solchen Träume oder Ideen, aber ich würde mir welche an‐ eignen. Ich grübelte viel über Johnson nach und fragte mich, wer wohl seine Zuhörer gewesen sein mochten. Man kann sich nur schwer vorstellen, daß Feldarbeiter oder einfache Farmer in ihren Kaschemmen mit diesen Songs etwas anfangen konnten. Man fragt sich, ob Johnson für ein Publikum spielte, das nur er selbst sehen konnte, ein Publikum aus der Zukunft. »The stuff I gotʹll bust your brains out«, singt er. Johnson ist so unbarmher‐ zig wie die verbrannte Erde. Weder er selbst noch seine Texte hatten irgend etwas Leichtfertiges an sich. So wollte ich auch werden. Schließlich erschien die Platte und schlug unter Bluesliebha‐ bern ein wie eine Bombe. Ein paar Forscher vertieften sich in 296
Johnsons Vita und machten sich auf die Suche nach seiner Ver‐ gangenheit, soweit sie sich rekonstruieren ließ; einige wurden auch fündig. Johnson hatte seine Platten in den dreißiger Jah‐ ren aufgenommen, und in den Sechzigern gab es im Delta im‐ mer noch ein paar Leute, die von ihm gehört hatten. Manche hatten ihn sogar gekannt. Nach einem Gerücht, das schnell die Runde machte, war er nur deshalb so gut, weil er seine Seele um Mitternacht an einer Wegkreuzung dem Teufel verkauft hatte. Ich weiß ja nicht. Wer ihn gekannt hatte, erzählte etwas ande‐ res — daß er sich in den ländlichen Gegenden von Mississippi ein paar älteren Bluesmusikern an die Fersen geheftet und Mundharmonika gespielt habe, daß er als lästiger Grünschna‐ bel weggescheucht worden sei und sich dann von einem Farm‐ arbeiter namens Ike Zinnerman das Gitarrespielen habe bei‐ bringen lassen. Zinnerman ist eine mysteriöse Gestalt, die in keinem Geschichtsbuch auftaucht. Vielleicht, weil dieser Mann keine Platten aufgenommen hat. Er muß ein unglaublich guter Lehrer gewesen sein. Insider sagten, Robert habe von Ike nur die Grundlagen des ganz normalen Spiels gelernt und sich den Rest selbst erarbeitet — er habe vor allem Platten gehört und ihnen seine ganzen Techniken abgelauscht. Man kann die Original‐ platten noch hören, die Songs, die bei Johnsons Werk Pate ge‐ standen hatten. Das klingt schon einleuchtender. Es gibt sogar einen Song von Johnson, der »Phonograph Blues« heißt, eine Hommage an einen Plattenspieler mit rostiger Nadel. John Hammond hatte mir gesagt, er glaube, daß Johnson Walt Whit‐ man gelesen habe. Mag sein, aber das war keine Erklärung. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie es Johnson gelungen war, sich in so viele verschiedene Situationen zu versetzen. An‐ scheinend kennt er sich überall aus, er streut sogar Weisheiten im Stil von Konfuzius ein, wenn es ihm paßt. Er ist weder ver‐ loren noch hoffnungslos oder befangen — nichts kann ihn auf‐ 297
halten. So groß die Großen auch waren — er geht noch einen Schritt weiter. Man kann sich nicht vorstellen, daß er »Wa‐ shingtonʹs a bourgeois town« singt. So etwas wäre ihm gar nicht aufgefallen, und wenn doch, hätte er es nicht für wichtig befunden. Mehr als dreißig Jahre später sah ich Johnson mit eigenen Augen auf einem acht Sekunden langen Acht‐Millimeter‐Film. Der Film war Ende der dreißiger Jahre von ein paar Deutschen gedreht worden, am hellichten Nachmittag auf einer Straße in Ruleville, Mississippi. Manche Leute bezweifelten, daß es sich wirklich um Johnson handelte, aber wenn man die acht Sekun‐ den so verlangsamt, daß sie eher achtzig Sekunden dauern, sieht man, daß es wirklich Robert Johnson ist; es geht gar nicht anders — das kann kein anderer sein. Er spielt mit riesigen, spin‐ nenfingrigen Händen, und sie gleiten über die Saiten seiner Gi‐ tarre, als wäre es Zauberei. Um den Hals trägt er ein Gestell mit einer Mundharmonika. Er sieht überhaupt nicht wie eine stei‐ nerne Gestalt aus, nicht wie jemand mit einem exaltierten Tem‐ perament. Er wirkt fast kindlich, eine engelhafte und denkbar unschuldige Gestalt. Er trägt einen weißen Leinenpullover, einen Overall und einen ungewöhnlichen goldverzierten Hut wie der Kleine Lord Fauntleroy. Er wirkt absolut nicht wie ein Mann, dem die Höllenhunde auf den Fersen sind. Er sieht aus, als sei er gegen menschliche Ängste gefeit, und das Bild löst im Betrachter ungläubiges Staunen aus. Ein paar Jahre später sollte ich Songs wie »Itʹs Alright Ma (Iʹm Only Bleeding)«, »Mr. Tambourine Man«, »Lonesome Death of Hattie Carroll«, »Who Killed Davey Moore«, »Only a Pawn in Their Game«, »A Hard Rainʹs A‐Gonna Fall« und noch ein paar von der gleichen Sorte schreiben und singen. Wenn ich nicht 298
ins Theatre de Lys gegangen wäre und die Ballade von der Seeräuber‐Jenny gehört hätte, wäre ich vielleicht gar nicht auf die Idee gekommen, diese Songs zu schreiben; ich hätte nicht geahnt, daß so etwas überhaupt möglich war. Um 1964/65 verwendete ich wahrscheinlich unbewußt auch fünf oder sechs Strukturen aus Robert Johnsons Bluessongs, aber das betraf eher die lyrische Metaphorik. Wenn ich damals nicht die Ro‐ bert‐Johnson‐Platte gehört hätte, wären vermutlich hunderte meiner Songzeilen nie entstanden— ich hätte mich nicht frei genug gefühlt oder nicht genug Auftrieb gehabt. Ich war nicht der einzige, der aus Johnsons Kompositionen so manches ge‐ lernt hatte. Johnny Winter, der glänzende texanische Gitarrist, der ein paar Jahre nach mir geboren wurde, schrieb Johnsons Stück über den Phonographen um und machte einen Song über einen Fernseher daraus. Johnnys Fernseher ist defekt und emp‐ fängt kein Bild. Robert Johnson wäre begeistert gewesen. Johnny nahm übrigens einen Song von mir auf, »Highway 61 Revisited«, der seinerseits von Johnson beeinflußt war. Merk‐ würdig, wie sich der Kreis schließt. Ein sprachliches Aus‐ drucksvermögen wie das von Robert Johnson hatte ich nie zuvor kennengelernt und auch nie mehr danach. Darüber hinaus hatte mich Suze irgendwann mit den Gedichten des französi‐ schen Symbolisten Arthur Rimbaud bekanntgemacht. Das war das nächste große Erlebnis. Ich stieß auf einen Brief von ihm, der »Je est un autre« überschrieben ist, was übersetzt soviel heißt wie »Ich ist ein anderer«. Als ich diese Worte las, klin‐ gelte es bei mir. Das leuchtete mir unmittelbar ein. Ich fand es schade, daß mir nicht schon früher jemand davon erzählt hatte. Es paßte gut zu Johnsons dunkler Nacht der Seele, zu Woodys überspitzten Predigten vor Gewerkschaftsversammlungen und zur Geschichte von der Seeräuber‐Jenny. Alles war im Um‐ bruch, und ich stand zwischen Tür und Angel. Bald würde ich 299
eintreten, schwer bepackt, springlebendig und voller Taten‐ drang. Aber dazu war es noch zu früh. Lou Levy hatte bei der Leeds Music Publishing Company freie Hand, genau wie John Hammond bei Columbia Records. Beide waren weder Bürokraten noch Egomanen. Beide entstammten einer älteren Welt, einer altehrwürdigeren Ordnung, die mehr Biß hatte. Sie wußten, wo sie hingehörten, und sie hatten den Mumm, zu allem zu stehen, woran sie glaubten. Man wollte sie nicht enttäuschen. Egal, wovon man träumte — Leute wie diese beiden konnten den Traum wahr werden lassen. Lou stellte sein Bandgerät ab und schaltete ein paar Lampen ein. Die Songs, die ich für ihn aufnahm, waren ganz anders als die fetten, swingenden Balladen, an die er gewöhnt war. Die Nacht brach herein. Bernsteinfarbenes Licht glomm in den Fen‐ stern auf der anderen Straßenseite. Eisiger Hagel prasselte wie Steeldrum‐Getrommel gegen die Außenmauer. Wenn man aus dem Fenster sah, wirkten die Hagelkörner wie Diamanten auf schwarzem Samt. Im Nebenzimmer hörte ich die hastigen Schritte von Lous Sekretärin, die ein Fenster schloß. Lous Plattenfirma würde meine besten Songs nie veröffent‐ lichen. Dafür sorgte AI Grossman. Grossman war der einfluß‐ reichste Manager von Greenwich Village. Er hatte mich schon öfter gesehen, mir aber keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Nachdem meine erste Platte bei Columbia erschienen war, än‐ derte sich seine Haltung merklich, und er wollte mich unter Vertrag nehmen. Das war eine willkommene Gelegenheit, denn Grossman hatte zahlreiche Klienten und verschaffte allen Ar‐ beit. Zu Beginn unserer Geschäftsbeziehung wollte er als erstes meinen Vertrag mit Columbia auflösen. Ich hielt das für unred‐ lich. Grossman teilte mir mit, ich sei bei der Unterzeichnung 300
noch keine einundzwanzig und damit minderjährig gewesen, so daß der Vertrag keine Gültigkeit habe ... ich solle zu Columbia gehen, John Hammond die Sachlage erklären und ihm ausrich‐ ten, daß Grossman mit ihm einen neuen Vertrag aushandeln werde. Na klar. Ich vereinbarte einen Termin mit Mr. Ham‐ mond, aber was Grossman vorgeschlagen hatte, kam gar nicht in Frage. Nicht einmal für viel Geld hätte ich das getan. Ham‐ mond hatte an mich geglaubt und diesem Glauben Taten folgen lassen, er hatte mir meine ersten Schritte auf der Bühne der Welt ermöglicht, und niemand, nicht einmal Grossman, hatte dabei eine Rolle gespielt. Auf gar keinen Fall wollte ich mich wegen Grossman mit Hammond anlegen — nicht in einer Mil‐ lion Jahren. Aber ich wußte, daß der Vertrag korrigiert werden mußte, also suchte ich Hammond auf. Als er nur den Namen Grossman hörte, traf ihn schon fast der Schlag. Er mochte ihn nicht; er sagte, Grossman sei einer von der übelsten Sorte, und es sei bedauerlich, daß dieser Mann mich vertrete, aber er ver‐ sicherte mir auch, daß er mich trotzdem unterstützen werde. Er meinte, wir sollten die Vertragsfrage auf der Stelle klären, be‐ vor sie sich zum Problem auswachse, und so geschah es. Ein neuer junger Berater der Plattenfirma kam herein, und Ham‐ mond stellte mich vor. Ein Nachtrag zum ursprünglichen Ver‐ trag wurde aufgesetzt, den ich sofort unterschrieb, denn ich war ja jetzt einundzwanzig. Der neue Berater der Plattenfirma war der aufstrebende Clive Davis. 1967 übernahm Clive Columbia Records komplett. Als ich Grossman später erzählte, was ich getan hatte, drehte er fast durch. »Das darf ja wohl nicht wahr sein«, sagte er. Das hatte er nicht erwartet. Aus meinem Vertrag mit Leeds Music half Grossman mir allerdings heraus. Ich war der Meinung, daß dieser Vertrag nicht richtig zählte, daß Lou Levy mich nicht entdeckt hatte und mit meinen Songs ohnehin nicht viel anfan‐ 301
gen konnte — jedenfalls nicht mit meinen damaligen Songs. Ich hatte mit ihm sowieso nur Kontakt aufgenommen, um Ham‐ mond einen Gefallen zu tun. Zur Vertragsauflösung hatte Grossman mir eintausend Dollar gegeben und mir gesagt, ich solle mit dem Geld zu Lou Levy gehen und ihm mitteilen, daß ich mich aus meinem Vertrag loskaufen wolle. Ich befolgte seine Anweisungen, und Lou willigte nur zu gern ein. »Kein Problem, Junge«, sagte er. Er rauchte immer noch diese scheuß‐ lichen Zigarren. »Deine Songs haben irgendwas Besonderes, aber ich steig einfach nicht dahinter.« Ich händigte Lou die ein‐ tausend Dollar aus, und er gab mir meinen Vertrag zurück. Grossman brachte mich später bei Witmark Music unter, einer traditionellen Plattenfirma — einem Flaggschiff des Mu‐ sikbusiness, wo die Klassiker »When Irish Eyes Are Smiling«, »The Very Thought of You«, »Jeepers Creepers« und unzählige andere große Hits erschienen waren. Mein Schicksal sollte sich nicht hier bei Leeds Music entscheiden, aber das konnte noch niemand wissen, als ich dort vor dem Bandgerät meine ersten Songs vortrug. Als Lou meine Hommage an Guthrie gehört hatte, fragte er mich, ob ich schon mal irgendwelche Songs über Baseballspie‐ ler geschrieben hätte. Ich verneinte, und er sagte, es gebe ein paar Spieler, über die es sich zu schreiben lohne. Lou war Base‐ ballfan und konnte mit Daten und Fakten zu einzelnen Spielern nur so um sich werfen. Unter den gerahmten Bildern auf seinem Aktenschrank war eines, das ihn Schulter an Schulter mit Ford Frick zeigte, dem Baseball‐Commissioner. Auf einem anderen saß er bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung neben Claire Ruth, Babes Witwe. Er wußte eine Menge über Baseball und fragte mich, ob ich schon mal von Paul Waner gehört hätte. 302
Lou sagte, Paul sei ein Hitter, der den Ball mit 250 Stundenkilo‐ metern zum Pitcher zurückschlagen und ihm das Gesicht de‐ molieren könne. So präzise sei er. Die gegnerischen Pitcher wollten ihn auf keinen Fall am Schlagmal erwischen, und bei Ted Williams sei es genauso ... Pitcher würden den Ball lieber in die Zuschauertribüne werfen, weil sie nicht riskieren wollten, einen der beiden zu treffen. Lou hielt nichts vom Homerun‐ Ball, er fand, das sei das Langweiligste am ganzen Spiel ... er sagte, er verlange sein Geld zurück, wenn jemand einen schla‐ ge. Dabei paffte er die ganze Zeit seinen großen Stumpen, der das Zimmer mit dichten wabernden Wolken füllte. Ich interes‐ sierte mich nicht besonders für Baseball, aber ich wußte, daß Roger Maris, der für die Yankees spielte, gerade dabei war, Babe Ruths Homerun‐Rekord zu brechen, und das wollte was hei‐ ßen. Maris kam ausgerechnet aus Hibbing, Minnesota. Natür‐ lich hatte ich dort nie von ihm gehört; kein Mensch hatte ihn gekannt. Aber jetzt hörte ich viel von ihm, und mit mir das ganze Land. In gewisser Hinsicht war ich wohl stolz darauf, aus der gleichen Stadt zu stammen. Es gab noch mehr Men‐ schen aus Minnesota, denen ich mich verbunden fühlte. Charles Lindbergh, der erste Flieger, der in den zwanziger Jahren non‐ stop den Atlantik überquert hatte. Er stammte aus Little Falls. F. Scott Fitzgerald, ein Nachfahre von Francis Scott Key, dem Autor von »The Star‐Spangled Banner«, kam aus St. Paul und hatte Der große Gatsby geschrieben. Fitzgerald wurde als »Pro‐ phet des Jazz‐Zeitalters« bezeichnet. Sinclair Lewis hatte als er‐ ster Amerikaner den Literaturnobelpreis erhalten. Es war der Autor des Romans Elmer Gantry und ein Meister des absoluten Realismus; er hatte ihn erfunden. Er stammte aus Sauk Center in Minnesota. Dann gab es noch Eddie Cochran, ein frühes Rockʹnʹ Roll‐Genie aus Albert Lee, Minnesota. Söhne des Lan‐ des — Abenteurer, Propheten, Schriftsteller und Musiker. Alle 303
kamen sie aus dem Norden. Sie alle folgten ihrer eigenen Vi‐ sion und kümmerten sich nicht um den Rest der Welt. Sie alle hätten verstanden, worum es in meinen vagen Träumen ging. Ich fühlte mich wie einer von ihnen oder wie alle zusammen. Die Folkszene war ein Paradies gewesen, das ich jetzt verlas‐ sen mußte wie Adam den Garten Eden. Sie war einfach zu per‐ fekt. In ein paar Jahren würde es Scheiße regnen. So manches würde Feuer fangen. BHs, Wehrpässe, amerikanische Flaggen, sogar Brücken — alle träumten davon, richtig loszulegen. Der Seelenzustand der Nation würde sich wandeln, und es würde in vieler Hinsicht zugehen wie in der Nacht der lebenden Toten. Die Straße, auf der ich weiterzog, war nicht ungefährlich, und ich wußte nicht, wohin sie führte, aber ich folgte ihr trotzdem. Vor mir sollte sich eine fremde Welt auftun wie eine große, von Blitzen durchzuckte Gewitterwolke. Viele Leute gerieten auf Abwege und fanden nie mehr zurück. Ich stürzte mich mitten hinein. Die Welt stand mir offen. Eines stand fest: Von Gott wurde sie zwar nicht regiert, aber auch nicht vom Teufel. Zentaur 2004‐12‐19
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