Chimären von Adrian Doyle
Als der Zoo von Sydney eines Morgens seine Pforten öffnet, wartet das Grauen auf die Besuche...
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Chimären von Adrian Doyle
Als der Zoo von Sydney eines Morgens seine Pforten öffnet, wartet das Grauen auf die Besucher! Über Nacht wurde unter den Tieren ein Massaker angerichtet – doch die bedauernswerten Opfer sind nicht tot! Obwohl dies eigentlich unmöglich ist. Denn jemand – ein begnadeter, aber wahnsinniger Chirurg? – hat sich als neuer Frankenstein betätigt und Mischwesen geschaffen, schreckliche Zerrbilder der Natur. Auch Lilith Eden wird auf diese Chimären aufmerksam. Sie ahnt noch nicht, daß sie auf schreckliche Weise ein Teil der Untat ist – dank ihres vampirischen Erbes …
Was bisher geschah … Vor nunmehr vier Jahren gingen in einem Haus an der Paddington Street in Sydney, Australien, mysteriöse Dinge vor. Dort schlief ein Kind zweier Welten, die Halbvampirin Lilith Eden, 98 Jahre lang, um auf eine ganz besondere Aufgabe vorbereitet zu werden: Sie sollte die Ur-Lilith, Adams erste Frau im Garten Eden, die bei Gott in Ungnade gefallen war und deren Kinder die ersten Vampire wurden, mit dem Schöpfer versöhnen. Doch Lilith war zwei Jahre zu früh erwacht. So dauerte es lange und barg viele Gefahren, die ihr gestellte Aufgabe zu erfüllen. Das Haus indes wurde von der Sydneyer Vampirsippe abgerissen. Die Magie der UrLilith jedoch, die es beseelt hatte, bestand weiterhin. Jahre später will der Polizei-Pathologe Darren Secada das Geheimnis des verschwundenen Hauses lüften. Inzwischen hat Lilith nicht nur die Versöhnung herbeigeführt, sondern auch den Plan des gefallenen Engels Luzifer vereitelt, Gott selbst zu vernichten und die Herrschaft über die Schöpfung an sich zu reißen. Als Dank entläßt Gott die Halbvampirin in die Freiheit und legt sie die fehlenden Jahre zur Ruhe, während er alle Vampire von der Erde tilgt. Nach Ablauf der zwei Jahre materialisiert sich das Haus an der Paddington Street wieder. Dies ist Darren Secadas Stunde! Er dringt in das Gebäude ein und findet Lilith. Sie hypnotisiert ihn, damit er ihr hilft, unterzutauchen, denn natürlich hat das Phänomen schon Polizei und Presse angelockt. Secada bringt sie in seine Wohnung, verfolgt von einem Polizisten und Seven van Kees, Reporterin beim Sydney Morning Herald. Sie wird Zeuge, wie zwei unheimliche Gestalten in die Wohnung eindringen, den Polizisten niederschlagen
– und von der Frau aus dem Haus, die sich plötzlich in eine Fledermaus verwandelt, zur Strecke gebracht werden. Es sind Vampire! Doch dies ist unmöglich – denn die Alte Rasse wurde doch vom Antlitz der Erde getilgt! Darren stellt fest, daß diese Wesen seit Jahren tot sind; sie verschwanden damals aus ihren Gräbern. Und nun zerfallen sie nicht zu Staub, sondern setzen den aufgehaltenen Verwesungsprozeß fort. Was ist geschehen in den zwei Jahren, die Lilith schlief? Doch bevor sie sich um diese Frage kümmert, braucht sie ein Zuhause – das Haus in der Paddington Street. In dessen Kellergewölben hat sich eine monströse Gefahr eingenistet: durch Magie mutierte Ratten, die viele der eindringenden Polizisten töten. Lilith wirft sich der Gefahr entgegen. Es gelingt ihr nicht nur, die Ratten zu vernichten, sie gewinnt auch das (vorsichtige) Vertrauen des Einsatzleiters, Chefinspektor Chad Holloway. Durch ihn kommt sie an den Polizeichef von Sydney heran und kann ihn hypnotisch »überzeugen«, die Truppen vom Haus abzuziehen.
»… seht und erkennt die Zeichen! Das Ende der Alten Zeit ist nah. Zum Millenium hält das Böse Einzug in unsere Welt und unsere Köpfe. Nicht Sünder noch Heilige sind dagegen gefeit. Der Dämon des Niedergangs verführt Fromme und Frömmelnde, Philister und Kardinäle! Achtet die Zeichen! Sieben Mal wird die Welt erbeben unter dem Hammer, der die Glocke des Untergangs läutet. Sieben Schatten werden fallen über die Erde – und sich am Ende vereinen zu dem, der Ende und Anfang verkörpert! Danach wird es nie mehr sein, wie es war …« Fragment der dritten Weissagung
Ryder Maguire erinnerte sich nicht mehr im Detail an seinen Tod, der schon über ein Jahr zurücklag. Sehr präzise erinnerte er sich hingegen an diejenige, die ihm das Leben zurückgegeben hatte. Und an die Regeln, nach denen dieses zweite Leben funktionierte. Denn er war nicht als Mensch wiedererwacht, sondern als eine gepeinigte, in einem steten Alptraum gefangene Kreatur, die sich ihre Existenz nur erhalten konnte, indem sie die Existenzen anderer beendete. Maguire war zu dem geworden, was gemeinhin als Vampir bezeichnet wurde: ein Unhold, ein blutsüchtiges Scheusal, das sich an unschuldigen Opfern verging, um das Elixier zu trinken, das in ihren Adern floß … »Woran denkst du?« Die Stimme drang wie ein Schnitt in sein Bewußtsein. Maguire verkrampfte – aber nur innerlich. Er drehte den Kopf und sah in das Gesicht, das vom Schimmer einer einsamen Kerze erhellt wurde. Das Gesicht, das ihn verzaubert hatte. Und ihn vernichten würde. »An uns«, sagte er rauh. Nachdem er sich geräuspert hatte, fand seine Hand die Wange der Frau, die ihn das Leben kosten würde,
und streichelte sie so zart, daß er für ein paar Augenblicke die Illusion aufrechterhalten konnte, sie wirklich zu lieben. Aus tiefstem Herzen und ohne Falsch … Doch schon nach wenigen Sekunden entglitt ihm wieder das Gefühl, an dem er sich festzuhalten versuchte. Er hatte nicht nur Sehnsucht nach Liebe, er gierte förmlich danach. Der Trieb jedoch würde alles zerstören. Der Trieb, der nun, da Maguire sich innerlich entschieden hatte, nicht mehr zu zügeln war. Diese Frau war es. Sie entsprach dem Bild, das seinen Untergang besiegelte. Die Frist, die ihm nun noch blieb, war verschwindend gering. Jede Minute, die er erkämpfte, war ein Sieg über das Verlangen, das in ihm zehrte und das sogar stärker war als die Anziehungskraft, die warmes, beseeltes Blut auf ihn ausübte. Die Hand, die Seven van Kees gestreichelt hatte, ballte sich zur Faust. Wie im Krampf. Ihre Finger schlossen sich um seine Faust, zogen sie an die Lippen der attraktiven Reporterin. Nach einem Kuß, der Maguire durch Mark und Bein ging, fragte sie mit unüberhörbarer Sorge: »Was bedrückt dich? Hast du Angst, mich zu bedrängen? Wir haben uns geküßt und gestreichelt. Aber mich hast du nicht wirklich an dich herangelassen. Ich weiß nicht, was für ein Bild du dir von mir machst. Aber ich bin weder unerfahren, noch aus Eis. Ich habe mich in dich verknallt. So sicher wie bei dir war ich mir noch bei keinem Mann – und keiner Frau …« »Keiner Frau?« »Ich hatte auch schon mal was mit meinen Geschlechtsgenossinnen. – Entsetzt?« Er schüttelte den Kopf. Es war ihm tatsächlich egal. Er klammerte sich an die Sätze, die sie wechselten, um nicht von ihrer Nähe um den Verstand gebracht zu werden und dem wuchernden Wunsch nachzugeben, endlich über sie herzufallen.
Er fieberte danach, aber er wollte es nicht. Noch nicht. Jede Minute, die er hinauszögerte, verlängerte sein Leben. Denn er war verdammt, hatte monatelang ein beispielloses Schattendasein geführt. Es ist Betrug, rann es wie Säure durch sein Gehirn. Ich bin nur die Raupe, die häßliche Raupe, nicht der Schmetterling. O Gott, was habe ich getan, daß ich dafür noch einmal aufstehen mußte …? »Du bist so verständnisvoll …« »Ich habe noch nie eine Frau getroffen wie dich.« Es war die Wahrheit – die grauenvolle Wahrheit. Damit hatte er nicht gerechnet, als er Darren Secadas Apartment durchstöbert hatte und dabei von ihr überrascht worden war. Er hatte sich als Freund Secadas ausgegeben, ihr vorgegaukelt, nur in der Wohnung zu sein, um etwas für Secada abzuholen – einen bestimmten Ordner voll mit Material über 333, Paddington Street, das Anwesen, das Secadas Vater vor Jahren um den Verstand gebracht hatte. Seven hatte es geglaubt. Sie hätte alles geglaubt, was über seine Lippen kam, denn die Faszination, die sie auf Maguire ausübte, schlug dutzendfach verstärkt auch auf sie zurück. Sie stand in seinem Bann. Ihr gesunder Menschenverstand war getrübt – und würde getrübt bleiben, bis … … der Zauber erlosch. Gleich. Das Licht der Kerze schien schwächer zu werden, als schöbe sich eine Wolke zwischen sie und die tödlich Verliebten auf dem Futon. Dies war Seven van Kees’ Loft-Wohnung. Dies war der Ort, an dem sich ihr Schicksal erfüllen würde – ihre beiden Schicksale! »Ich möchte es«, flüsterte sie heiser. »Ich möchte es, wie ich es noch bei keinem gewollt habe …! Du brauchst dich nicht mit Küssen zu begnügen. Du kannst alles von mir haben. Alles! Warum warten?
Warum nur eine Stunde vergeuden? Sag, ob du es auch willst! Sag, ob du genauso fühlst, und wenn ja …« Oh, nein! Warum stößt sie mich nicht von sich? Warum sagt sie nicht, daß es ihr zu schnell geht? Ich will noch nicht – Seine Hand schob sich zwischen ihre Beine. Er zitterte. Er spürte die lockende Wärme ihres Schoßes, die auch den letzten Widerstand in ihm schmolz. Ergeben glitt er auf sie. Seven hatte sich auf den Rücken gerollt und die Beine weit geöffnet. Sie lächelte. Ein glückseliger Glanz lag auf ihrem Gesicht. Maguire versank im Sog ihrer Augen. Sie wollte es! Sie wollte es mehr als ihr Leben! Und meines … Hart pochte er gegen ihre Pforte, in die er nur zu bereitwillig Einlaß erhielt. Seven brauchte nicht lenkend einzugreifen, um ihn den Weg finden zu lassen. Leicht drang er in sie ein. Maguire stammelte Worte, die ihm selbst weder ins Bewußtsein drangen, noch im Gedächtnis haften blieben. Seine Fingernägel gruben sich in die Schulterblätter der gertenschlanken, aber überaus fraulich proportionierten Frau, die all seine Pläne für die Zukunft zunichte machte. Die dafür sorgte, daß es keine Zukunft für Ryder Maguire gab. »Ja! Jaaa …!« Die Welt versank im Rausch der Ekstase. Wie von Sinnen stieß Maguire zu. Seven bäumte sich ihm verlangend entgegen, um ihn noch intensiver, noch tiefer zu spüren, während sein Mund ihre üppigen Brüste liebkoste. Er saugte daran und dachte zum erstenmal in diesem Leben nicht an Blut, sondern durchlebte nur Himmel und Hölle jenes Höhepunkts, den er so lange vermieden, dem er so lange wie irgend möglich aus dem Weg gegangen war … Der Schrei, der sich aus seiner Kehle löste, als er sich schließlich in
Seven verströmte, trug mehr als die ersehnte Erlösung in sich. Auch die Furcht vor dem nun unerbittlich folgenden Dunkel glomm darin. Die Furcht vor dem nicht mehr aufzuhaltenden Abschied … Sevens Stöhnen ging in seinem Schrei unter. Mit einem Röcheln wälzte sich Maguire von ihr herunter. Verdutzt lag sie da. Dann streckte sie ihre Hand aus, um ihn zurückzuholen – zurückzufordern. Mit einem gequälten Grinsen schwang er die Beine vom Bett und auf den Boden, der nur unwesentlich tiefer als das Futon lag. »Ryder …« Er bot ihr die Schulter. Die kalte Schulter, dachte er und ertrank schier in der jäh auf ihn einstürzenden, bizarren Erinnerung, die das Wissen mitbrachte, schon einmal still und stumm und kalt in einem Sarg gelegen zu haben – versenkt im Schoß der Erde. »Laß mich!« Sie zuckte zurück. Die nach ihm ausgestreckte Hand fiel auf das Laken zurück, als wäre auch sie gerade von einer Schwäche überwältigt worden, die mit Zentnergewichten an ihren Muskeln zerrte. So wie an ihm. Maguire fühlte sich erledigt, als läge ein mehrstündiger Gewaltmarsch mit schwerstem Gepäck hinter ihm. Mühsam gelangte er zu seinen Kleidern. Er machte sich nicht die Mühe, alles anzuziehen. Nur die Hosen. Und während er dies tat, begriff er, wie absurd es war, sich überhaupt noch diesen Regeln zu unterwerfen. Was er getan, was er zugelassen hatte, stellte ihn außerhalb der Gesellschaft, in der er sich noch einmal für eine letzte Frist hatte bewegen dürfen. Vorzugsweise bei Dunkelheit, die sich wie ein wohliger Mantel um ihn gelegt hatte … Auch jetzt war es Nacht. Aber selbst die Finsternis hatte aufgehört, ihm Heimat zu sein. Nun bin ich endgültig verstoßen aus Licht und Schatten … und verloren. Ich werde die Sonne nicht mehr aufgehen sehen … Wenigstens das bleibt mir erspart. Wenn ich mich beeile …
Eile trieb ihn von der Matratze und von ihr fort. Das Gefühl aber, weiter untrennbar mit Seven van Kees verkettet zu sein, blieb. Es begleitete Ryder Maguire, als er überstürzt aus der Wohnung der Reporterin flüchtete, begleitete ihn durch die Stadt, die auch nachts nie völlig schlief. Er hörte nicht, ob Seven ihm etwas nachrief. Ob sie Anstrengungen unternahm, ihn aufzuhalten. Wahrscheinlich war sie viel zu geschockt. Wahrscheinlich lag sie unter Krämpfen auf dem Bett. Krämpfe, die mit der Erkenntnis kamen, was sie getan hatte. Mit wem sie es getan hatte. Die Liebe, die zu geben und zu empfinden Maguire noch ein einziges Mal in der Lage gewesen war, war mit seinem Samen aus ihm verschwunden. Allmächtiger Gott im Himmel, ich wollte das nicht! Ich wollte sie nicht damit strafen …! Allmächtiger … Er war nie weiter von seinem Schöpfer entfernt gewesen als in dieser schwärzesten Stunde, in der das Bewußtsein der Schuld, die er auf sich geladen hatte, ihn niederdrückte und zu zermalmen begann …
* Seven van Kees lag da, als hätte sich ein eisiger Sturzbach über sie ergossen – sekundenlang war sie außerstande, auch nur einen Finger zu rühren. Sie hörte, wie sich die Schritte über den Flur entfernten. Sie hörte, wie die Wohnungstür schlug. Dann betäubte Stille ihre Ohren, und sie meinte, an der Scham, die sie knebelte, ersticken zu müssen. Tränen schossen aus ihren Augen, rollten über ihre noch erhitzten Wangen und gelangten in ihren Mund. Das Salz milderte die Erinnerung an Ryders Küsse. Seven fuhr schaudernd zusammen. Die erfahrene Demütigung,
aber auch die eigene Verwirrung lähmten sie regelrecht. Endlich löste sich die Starre, wich einer genauso unnormalen Hyperaktivität. Seven erhob sich vom Futon und sammelte in Windeseile ihre nötigste Kleidung ein. Auf was für ein Arschloch bin ich da reingefallen? Sie stürzte förmlich aus ihrer Wohnung, um Ryder Maguire einzuholen und zur Rede zu stellen. Ein ungutes, aber undefinierbares Gefühl begleitete sie. Ryder Maguire … Vergeblich fahndete sie nach Resten des Gefühls, das sie in seiner Nähe empfunden hatte, diese fast trunkene Glückseligkeit. Ernüchtert und entsetzt, wie schnell und bedenkenlos sie sich diesem eigentlich völlig Fremden hingegeben hatte, verließ sie wenig später das Apartmenthaus. Im ersten Moment schien es, als hätte sie ihren Liebhaber aus den Augen verloren, als wäre er bereits in den nächtlichen Dschungel der Metropole abgetaucht. Dann aber sah sie eine schattenhafte Gestalt auf das Gebüsch einer nahen Parkanlage zutaumeln. Der Statur nach hätte es der Gesuchte sein können. Dennoch zögerte Seven. Sydney mochte eine saubere Stadt sein – aber sie war bestimmt nicht ungefährlich. Nicht um diese Uhrzeit, und nicht für eine Frau, deren Anblick Männer unweigerlich auf dumme Gedanken brachte. Sie stand sich durchaus selbstkritisch gegenüber, dennoch wußte sie, daß sie nicht häßlich war. Im Gegenteil. An Komplimenten, auch von Kollegen des Sydney Morning Herald, herrschte kein Mangel. Sie war groß und schlank, hatte bis auf die Schulterblätter fallendes, blondes Haar (das Ideal vieler Männer), und ihre gazellenhaften Beine schienen zwar irgendwo in Bodennähe anzufangen, aber nirgendwo aufzuhören. Zweifellos war sie … … von allen guten Geistern verlassen!
Scher dich heim, du Verrückte! Für eine Nacht hast du dich schon genug der Lächerlichkeit preisgegeben! Sie hätte Ryder Maguire die Augen auskratzen können. Sie war auf sein weltmännisches Gebaren hereingefallen wie ein naiver Teenager. Wie hatte ihr das passieren können, ausgerechnet ihr …? Erst als dünne Zweige über ihr Gesicht kratzten, merkte sie, daß sie es getan hatte. Daß sie ihm gefolgt war. Ryder war nicht die erste Enttäuschung, die sie erfahren hatte. Schon andere Männer hatten sie nur ins Bett bekommen wollen und sich, nachdem sie zum Zug gekommen waren, rasch wieder verzogen. Aber so erbärmlich davongestohlen wie Maguire hatte sich noch keiner! »Wehe dir, wenn ich dich in die Finger kriege!« Seven bahnte sich den Weg durch einen schmalen Streifen Gestrüpp. Dahinter öffnete sich eine weite, wellige Rasenfläche, über die sich unter dem schimmernden Sternenhimmel eine wankende Gestalt entfernte, die sich dem Anschein nach kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte. Zum ersten Mal zog Seven in Betracht, daß es dem Mann, den sie in Darren Secadas Wohnung kennengelernt hatte, nicht gut gehen könnte. »Bleib stehen!« rief sie und scheuchte einen Schwarm Kookaburras aus den umliegenden Bäumen. Das Geschrei, das sie dabei ausstießen, erinnerte an heiseres menschliches Gelächter. Zum Lachen war Seven nicht zumute. Sie sah, wie die vorauseilende Gestalt zusammenzuckte, als ihr Ruf sie erreichte. Abrupt blieb der Mann stehen. Abwehrend und beschwörend hob er die Hände. »Verschwinde! Geh weg! Laß mich in Frieden, sonst …« »Sonst?« Seven rannte nicht mehr, ging aber zielstrebig auf Maguire zu.
»Was willst du?« Wie ein verzweifeltes Kind, das den Stock eines Erwachsenen über sich drohen sieht, klang Maguires Stimme. Schrill und erbärmlich, so erbärmlich, daß sich Seven innerlich krümmte. Ryder sah immer noch aus wie Ryder. Aber er hatte nichts mehr, gar nichts mehr, was sie hätte verzaubern können. Er weckte nur noch … Mitleid. Sie holte auf, und je näher er kam, desto hilfloser duckte er sich. »Geh! Geh fort!« Fünf Schritte von ihm entfernt blieb Seven stehen. Sie wußte nicht mehr, was sie von ihm wollte. Es gab nichts mehr, was sie ihm an den Kopf werfen, nichts mehr, woran sie ihm die Schuld geben konnte. Man müßte mich verprügeln. Wie konnte ich diesen Mann mit zu mir nach Hause nehmen? Ich muß völlig den Verstand verloren haben! Wahnsinn … Ryder Maguire, wie er hier in der hellen Nacht vor ihr stand, entsprach nicht einmal entfernt ihrem Bild von einem Traummann. Und selbst das Aussehen außer acht gelassen, ließ er alles vermissen, was Seven je an einem Menschen anziehend oder auch nur interessant empfunden hatte. Ryder Maguire stand einfach nur da wie ein todtrauriges Gespenst, das sich am liebsten in den Schlupflöchern der Nacht verkrochen hätte. »Warum soll ich weggehen? Und warum bist du weggelaufen, als säßen dir sämtliche Teufel der Hölle im Genick?« »Teufel? Wenn du ahnen könntest, wie dicht du an der Wahrheit bist … Aber wie solltest du? Du hast – nicht die geringste Vorstellung …« »Vorstellung wovon?« Einfach nur zu reden, Worte in die bodenlos gähnende Kluft zu streuen, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte, half. Ein wenig. Letztlich aber blieb die Wiederbegegnung im Park seltsam und un-
wirklich, und Seven mußte sich fragen, ob die Ursache des Realitätsschwunds, den sie an sich feststellte, bei ihr selbst oder bei Maguire zu suchen war. »Laß mich! Laß mich in Ruhe ster-!« Seine Stimme brach ab. Tausend Gedanken stoben durch Sevens Hirn, gerade so, als würden sie von einem jenseitigen Wind gepeitscht. War Ryder etwa todkrank und hatte nur ein letztes Mal mit einer Frau Zusammensein wollen? Welche Tragik verbarg sich hinter seinem unentschuldbaren Verhalten? Sie seufzte kaum hörbar. Seit sie in dieser Stadt lebte – geboren war sie auf einer kleinen Outback-Farm bei Quilpie –, hatte sie versucht, ein Teil von ihr zu werden. Eine Mitbewohnerin, eine, die diesen Moloch aus Stahl, Glas, Holz und Kunststoff mit prägte – keine Außenseiterin. Maguire aber, der wie ein Häufchen Elend vor ihr stand, erweckte den Eindruck, als besäße er keinerlei Bindung zu irgend etwas. »Was ist los mit dir? Was faselst du vom Sterben?« Sie kämpfte gegen das diffuse Verlangen an, ihn noch einmal in die Arme zu schließen und dadurch vielleicht den verflogenen Zauber zurückzuholen. Ging es ihm wirklich so dreckig, wie er vorspiegelte, oder machte er ihr nur etwas vor? Was konnte ihn derart quälen? »Du sollst gehen, mich in Ruhe lassen … Zur Hölle mit dir und deiner Brut!« Sevens Zorn schäumte über. »Laß meine Familie aus dem Spiel! Idiot! Scher du dich zum Teufel! Häng dich auf, wenn du lebensmüde bist!« Sie wandte sich ab. Erst an ihrem Ausbruch merkte sie, wie tief verletzt er sie wirklich hatte. Er versuchte nicht einmal, sich zu rechtfertigen. Sie hörte, wie er sich entfernte. Seine Schritte auf dem taunassen Gras … Durch Sevens Bewußtsein blitzte noch einmal eine Serie von Bil-
dern: von der ersten Begegnung mit Ryder Maguire in Darren Secadas Apartment angefangen, über die leidenschaftlichen Minuten auf dem Futon, bis hin zu dem Moment, da sie dem veränderten Ryder Maguire den Rücken gekehrt hatte. Fleckig hatte das Gesicht, das sie aus dunkel umränderten Augen angestarrt hatte, ausgesehen. Fleckig und bleich, zu Tode erschöpft … Das Gefühl, nein, die Überzeugung, daß mehr hinter ihrer gerade abrupt zu Ende gegangenen Affäre steckte als nur ein gewissenloser Schuft oder verkappter Frauenheld, senkte sich schwer und glühend wie kochendes Blei in ihren Verstand. Sie dachte nicht über die Konsequenzen nach, als sie die unsichtbaren Wurzeln, die sie an die Stelle gefesselt hatten, kappte und loslief. Hinter dem Mann her, der – das begriff sie plötzlich – nicht nur ihr Herz verletzt hatte, sondern fast mehr noch ihre … Eitelkeit. Daß Liebe blind machte, war ihr bekannt. Aber wie sie sich überhaupt in einen abtörnenden Typen wie Ryder Maguire hatte verlieben können, war und blieb ihr ein Rätsel. Und während sie die Grünanlage hinter sich ließ und durch nächtliche Straßen irrte, wie von einem Magneten gezogen, wußte sie noch nichts von dem Schrecken, der sie am Ende dieser Nacht, im fahlen Morgengrau erwartete. Ein Schrecken, der alles in den Schatten stellte, was sie in dieser Nacht bereits erlitten hatte …
* Als steige das Licht aus der Erde und krieche nicht, wie sonst, über den Wall des östlichen Horizonts hinweg, leckte triste Helligkeit über die neogotische St. Marys Cathedral am Rande des Philipp Parks. Während Seven noch schnurgerade auf die Südfassade mit
den imposanten Rosettenfenstern zulief, bog Ryder Maguire bereits um die Ecke der katholischen Kirche und verschwand aus ihrem Blickfeld. Seven riskierte lieber, ihn aus den Augen zu verlieren, als von ihm entdeckt zu werden. Sie wollte nicht, daß er merkte, wie sie ihm nachlief. Sie hätte es nicht ertragen, wenn er falsche Schlüsse daraus gezogen hätte. Die Füße taten ihr weh, aber in den zwei, drei Stunden, die sie ihm schon an den Fersen hing, war ihr klar geworden, daß auch verletzte Eitelkeit nicht der wahre Grund war, der sie davon abhielt, die Sache auf sich beruhen zu lassen und einfach nur froh zu sein, daß es vorbei war. Einerseits fühlte sie sich von Maguire regelrecht beschmutzt und mißbraucht (obwohl er ihr keinerlei körperliche Gewalt angetan hatte), andererseits lenkte sie viel mehr als ihr bewußter Verstand durch die Straßen der schläfrigen Stadt. Intuition gehörte unabdingbar zu ihrem Job. Ohne diese Intuition wäre sie über das Volontariat beim Herald wahrscheinlich nie hinausgekommen. Moe Marxx scharte keine Versager um sich. Der zynische Chefredakteur des SMH hatte ein Auge, aber kein Herz für gute Journalisten … Seven merkte, wie sie sich an Überlegungen klammerte, die nichts, absolut gar nichts mit dem eigentlichen Grund ihrer nächtlichen Odyssee zu tun hatten. Von Marxx und ihrer Arbeit für den Herald schweiften ihre Gedanken ab zu Dingen, die durch die fast magische Begegnung mit Maguire in den Hintergrund gerückt waren, sich nun aber wieder drängend zu Wort meldeten. Leslie Bentwick, ihre »Lebensabschnittsgefährtin«, zum Beispiel, die die gemeinsame Loft-Wohnung gekränkt verlassen hatte, als Seven ohne Vorwarnung mit Maguire dort angetanzt war. Wie konnte ich ihr das antun? Bei aller Unberechenbarkeit, die Seven sonst an den Tag legte, die-
sen Ausrutscher würde Leslie ihr nicht verzeihen … Die Reporterin bog um die gleiche Ecke wie Maguire eine Minute zuvor. Keine Menschenseele hielt sich im Umkreis der Kathedrale auf. Auch Maguire nicht. Sie blieb stehen. Der Weg führte zwischen niedrigen Mauern, die mit schwarzen, gußeisernen Ziergittern versehen waren, auf den zu der Kirche gehörenden Friedhof zu, dessen Pforte nachts verschlossen war. Das Tor war doppelt mannshoch und ebenfalls aus schwarzen Eisenstäben gefertigt, deren vertikale Streben in lanzenartigen Spitzen endeten. Niemand sollte auf den Gedanken kommen, das Tor oder die Friedhofsmauer, die ebenfalls gesichert war, überklettern zu wollen. Kein vernünftiger Mensch hätte dies auch versucht, und dennoch …. … flatterte an einer der eisernen Zinnen ein Stoffetzen von derselben Farbe, wie Ryder Maguires Hose sie hatte … Benommen ging Seven auf die Pforte zu. Erst unmittelbar davor blieb sie stehen. Als sie hochblickte, sah es aus, als winke ihr jemand mit einem Taschentuch. Sie war nicht wirklich sicher, ob der Fetzen von Maguire stammte. Fakt war jedoch, daß er wie vom Erdboden verschwunden und dies eine Sackgasse war, die zum Friedhof hin führte. Eine Möglichkeit, die Kathedale zu umrunden, gab es nicht. Hohe Mauern verhinderten dies nach allen Richtungen. Wenn er nicht auf dieser Seite des Tores ist, kann er nur auf der anderen sein. Hier gibt es keine Versteckmöglichkeiten … Aber was, um alles in der Welt, veranlaßte ihn, ausgerechnet einen Friedhof aufzusuchen? Sevens Gedanken gerannen, als der schaurigste Schrei, den sie je in ihrem Leben gehört hatte, sie von jenseits des Tores erreichte. Ein schrecklicher Schrei, dem nichts Menschliches anhaftete, außer daß
Todesangst darin vibrierte! Beinahe so schnell, wie er erklungen war, erstarb der entsetzliche Ton auch wieder. Sevens Lähmung hielt länger an. Das war nicht Maguire gewesen – das konnte er nicht gewesen sein … Was war geschehen, drüben auf dem Totenacker? Seven schauderte. Dann tat sie erneut, was kein Mensch bei Verstand getan hätte: Sie hinterließ neben dem bereits vorhandenen Stoffetzen einen zweiten – von ihrer Kleidung. Und landete federnd auf dem Steinweg eines Friedhofs, von dessen Friede nur noch das trügerische Wort geblieben war. Seven ging weiter – – und begegnete dem Tod.
* Der Kadaver hatte nur noch zwei Beine. Zu Lebzeiten waren es vier gewesen, graugelb und großporig wie Elefantenhaut, die den Eindruck erweckte, in eine um viele Nummern zu große Haut hineingeboren worden zu sein. Ein Skink, erkannte Seven. Die Gecko-Art wurde etwa unterarmlang, aber dieses Exemplar maß nur noch knapp die Hälfte. Etwas hatte es förmlich in der Mitte auseinandergerissen. Gedärm quoll hervor, aber kaum Blut. Seven schauderte. Dennoch starrte sie eine Weile auf die halbe Echsenleiche, als müßte sie jedes grausige Detail in sich aufnehmen. Was hatte dieses Tier aus seinem Nachtversteck geschreckt? Wer oder was hatte es gefunden? Nach Sevens Wissen gab es – zumindest in Städten wie Sydney – keine natürlichen Feinde für einen Skink. Draußen im Outback
mochten verwilderte Dingos auch keine Echse verschmähen. Aber hier …? Ohne sich dessen richtig gewahr zu werden, folgte Seven den Blutstropfen, die die verschwundene Skinkhälfte als unübersehbare Spur auf dem Steinweg hinterlassen hatte. Keines der Gräber im Schatten der Kathedrale sah aus wie das andere. Alle besaßen ihre persönliche Note, die Rückschlüsse auf die Verstorbenen, zumindest aber auf die Hinterbliebenen zuließen. Mitunter versuchten Menschen an den Ruhestätten ihrer Nächsten an Hingabe nachzuholen, was sie zeitlebens versäumt oder ihnen verweigert hatten … Seven blieb stehen, als sie ein schmatzendes Geräusch hörte. Es kam aus unmittelbarer Nähe. Das Tier, das den Skink getötet hatte und nun die mitgenommene Beute verspeiste? Seven ging dem Geräusch nach und kam zu einem Grab, das deutlich schlichter gehalten war als die umgebenden. Du wirst niemandem fehlen, lautete die ungewöhnliche Inschrift. Darunter stand der Name des hier Begrabenen. Und dieser Name … Seven schrie auf. Ryder Maguire? Was für einen makabren Scherz hatte sich ihr Liebhaber dieser Nacht geleistet? Oder lag ein Namensvetter von ihm unter der Erde des St. Mary-Friedhofs? Seven hielt vergeblich Ausschau nach Maguire. Sie hörte nur ein trauriges Wimmern oder Winseln – das Schmatzen war erstorben –, das wie ein verzerrtes Echo ihres eigenen Aufschreis zu ihr herüberwehte. Langsam umrundete sie das Grab. Die Gestalt, die dahinter kauerte, den Rücken gegen das steinerne Mal gelehnt, war unverkennbar Ryder Maguire.
Seine Augen glommen fahl. Sein Atem wurde rasselnd, als er Seven neben sich auftauchen fühlte – denn sehen konnte er sie nicht. Die Augen, die in Sevens Richtung glotzten, waren trüb wie eine von innen beschlagene Fensterscheibe. Als wäre er innerhalb von Stunden vollständig erblindet. »Ryder …« Sein Gesicht war naß, als hätte er geweint. Das aufsteigende Mitgefühl war diesmal stärker als die Abneigung, die sich in Seven angestaut hatte. Sie wollte auf Ryder Maguire zugehen und – Da sah sie, was er in seiner Faust hielt, die neben ihm am Boden lag. Der aufflammende Ekel ließ sie zurückprallen. »Wie – konntest du …?« Seine klauenartig verkrümme Hand hielt den Kopf des Geckos umspannt, und noch während Seven sprach, erreichte sie das häßliche Knirschen, mit dem Ryder Maguire den Schädel der Tierleiche zerquetschte. Maguire seufzte dazu beinahe wie erleichtert, bevor der eigene Kopf haltlos zur Seite sank. Erst in diesem Moment bemerkte Seven die krustigen Schatten um die Lippen des Mannes, der sich nicht mehr rührte. Die Haltung, in der er gegen den Grabstein lehnte – die Augen weit offen und starr –, ließ kaum Zweifel, daß er gerade und zum Greifen nah … gestorben war. Seven hielt noch ein paar Herzschläge lang an Ort und Stelle aus. Denn das Grauen lähmte sie. Zu einem klaren Gedanken war sie lange nicht mehr fähig. Doch unterbewußt registrierte sie den herbsüßen Duft, der in ihre Nase stieg, und auch die wie Schimmel fluoreszierende Patina, die sich wuchernd über Ryder Maguires Haut auszubreiten begann … Irgendwann kehrten Sevens Lebensgeister zurück, und sie rannte wie von Sinnen zum Ausgang des Friedhofs. Als sie das verschlossene Tor erreichte, fehlte ihr vorübergehend die nötige Kraft, es neuer-
lich zu erklettern. Sie zitterte wie Espenlaub. Ryder Maguire, hatte auf dem Grab gestanden. Zufall? Kaum! Und der Skink in Maguires Faust … er war ausgesaugt worden wie … wie von einem Vampir! Plötzlich erinnerte sich Seven wieder, wo sie diesen süßverdorbenen Geruch schon einmal gerochen hatte – und wo sie Leichen gesehen hatte, die von einer ähnlichen Patina umhüllt gewesen waren. Das noch tiefere Grauen dieser Erkenntnis mobilisierte alle verfügbaren Energien. Seven entfloh dem Ort der Wahrheit – – dem Alptraum aber, der sie von Stund’ an nicht mehr losließ, nie mehr, konnte sie nicht entrinnen …
* In einem anderen Teil der Stadt Paddington Street Es war die Stunde nach der Schlacht. Die Stunde, nachdem Lilith die Rattenbrut, die im Keller ihres Geburtshauses zu etwas Abscheulichem und Tödlichem entartet war, ausgemerzt hatte. * Doch auch unter den Menschen hatte es Tote gegeben. Von denen, die das Haus unbefugt betreten hatten, war nur noch ein einziger am Leben: der Chefinspektor des Sydney Police Departments, Chad Holloway. Die Kugel eines wahnsinnig gewordenen Polizisten hatte ihn schwer verletzt. Aber er würde durchkommen … wenn sein Schutzengel auf Draht war. Lilith hoffte es. Sein Blut netzte noch immer ihre Kehle. Er hatte ihr aus großer Bedrängnis geholfen und ihren unbändigen Durst gestillt. Aus ihm hatte sie neue Kraft tanken und das Heft des Handelns wieder in die Hand nehmen können. *siehe VAMPIRA T52: »Die kalte Brut«
Nachdenklich sah sie dem Rettungswagen hinterher, der sich unter Einsatz der Lichtsirene im Slalom zwischen anderen, geparkten Fahrzeugen hindurchschlängelte und entfernte. In der Paddington Street herrschte Belagerungszustand. Polizei und Medienvertreter balgten sich um die »besten Plätze«. Ein Wunder war das nicht. Ein Wunder war nur das Haus selbst, das magische Haus, das gerade – und endgültig – seine Unschuld verloren hatte. Dennoch fühlte sich Lilith zu dem im altenglischen Stil gehaltenen Gebäude stärker hingezogen als zu jedem anderen in dieser Stadt. Es war ihre Wiege. Und das Nest, in das Gott sie gebettet hatte, nachdem eine andere, ungleich größere und bedeutendere Schlacht als diese hier siegreich geschlagen worden war. Nahe Uruk. Beim Korridor der Zeit. Vor zwei Jahren. Zwei Jahre lang (die fehlenden zwei Jahre ihrer Entwicklung) hatte sie geschlafen und geträumt. Fähigkeiten entwickelt, die die Lilith, die sie gewesen war, nicht besessen hatte. Fähigkeiten, die sie nun praktisch erproben wollte und mußte. Die Nestwärme fehlte ihr. Dort unten im Labyrinth der Rattengänge war sie nicht spürbar gewesen. Nur das Haus selbst strahlte sie aus. Sie hatte nicht viele Erinnerungen an ihre Zeit im Haus, einen Großteil davon hatte sie in Schlaf und Traum verbracht. Die wenigen wachen Momente hatte sie mit ihrer Freundin Marsha geteilt.* »Sind Sie nicht die Frau, die von Secada aus dem Haus getragen wurde?« Nun blieb sie doch stehen. Jeden einzelnen Beobachter vor Ort hypnotisch zu beeinflussen, wäre nicht nur umständlich, sondern extrem zeitaufwendig gewesen. Es gab einen schnelleren und erfolgversprechenderen Weg … »Und wenn? Ist Ihre Anmache immer so plump?« *siehe VAMPIRA H01
Sie wollte ihn irritieren. Er sah gut aus in seiner Uniform. Aber er war augenscheinlich noch nicht lange bei der Polizei. Taufrisch sozusagen. Lilith überlegte, ob sie die Gelegenheit beim Schopf packen sollte, um den Geschmack von Holloways Blut wegzuspülen. Der Geschmack, der sie daran erinnerte, daß sie einem Menschen, der ohnehin schon mit dem Tod gerungen hatte, noch zusätzliche Not bereitet hatte … Aber sie hatte es tun müssen. Anders hätte sie auch Holloway nicht zur Oberfläche zurückschleppen können, weil ihr die Kraft dazu gefehlt hätte! »Anmache? Ich muß doch sehr …« Seine Zunge erlahmte, als sich Lilith seiner annahm. Hier draußen konnte sie nicht weiter gehen. So nahm sie ihn an der Hand und ließ es für einen zufälligen Beobachter so aussehen, als würde der Polizist sie zum Haus hinführen. Sie wehrte sich ein bißchen, um es echter aussehen zu lassen. Niemand reagierte. Alle schienen beschäftigt zu sein. Händeringend wurde ein neuer Einsatzleiter gesucht, der den Dingen auf den Grund ging und Ideen hatte, wie man die toten Kameraden aus dem Haus bergen konnte, ohne weitere Menschen in Lebensgefahr zu bringen. Lilith war bereit, sich darum zu kümmern. Sobald sie ihre eigenen Bedürfnisse befriedigt hatte. »Wie heißt du?« wisperte sie dem breitschultrigen Sergeant zu, als sie sich durch die immer noch offene Tür ins Haus stahlen. »Leary. Paul Leary.« Lilith zog ihn über die Schwelle und schloß die Tür. Augenblicklich entrückten die Geräusche und Stimmen von draußen. Dunkelheit schlug über ihnen zusammen. Lilith lächelte, unsichtbar für Leary. Es gehorcht mir, dachte sie zufrieden. Es funktioniert tatsächlich … Weiter ging sie nicht auf den Gedanken ein.
Die Dunkelheit, um die sie das Haus gebeten hatte, war für ihren vampirischen Blick eben noch zu durchdringen. Für sie sah alles aus wie mit einem Schleier von Blut überzogen, mit roten, zerfaserten Konturen. Paul Learys Lippen waren versiegelt. Er folgte stumm, als Lilith ihn weiter mit sich zog. Ein Opfer … Ich habe die Erlaubnis, beruhigte sich Lilith selbst, während sie das leere Kaminzimmer betraten. Wo plötzlich – wie aus dem Nichts – eine Couch erschien! Der Vorgang erinnerte an die Wandlungsfähigkeit des Kleides, das sie am Leib trug. Des lebendigen Gewebes, das sie in jeden gewünschten Stoff kleidete – und sich im Gegenzug von ihr ernährte! Der Symbiont vermochte sich haarfein in seinem Wirt zu verwurzeln und über diese Wurzeln Liliths Blut als Nahrung aufzunehmen. Geringe Dosen reichten ihm aus. Er war sehr genügsam. So hatte er die zwei Jahre, in denen Lilith geschlafen hatte, überstehen können. Und ich? dachte Lilith. Wovon habe ich mich in dieser Zeit ernährt? Ganz ohne Blut hätte ich nicht auskommen können. In diesem Moment glomm diffuse Furcht in ihr auf, daß noch andere, ebenso unangenehme Überraschungen wie die Ratten in diesen Mauern auf sie warten könnten. Die einzige Möglichkeit, es herauszufinden, war ihr bekannt. Aber zuerst … … widmete sie sich Paul Leary. Sanft zog sie ihn hinab auf die Polster, die eine Minute vorher noch nicht dagewesen waren. Nicht nur, was die bewußte Aufnahme von Blut anging, hatte sie zwei Jahre abstinent gelebt. Auch ihre sexuellen Bedürfnisse waren unterdrückt worden. Träume konnten reale Leidenschaft nicht ersetzen. Sie knöpfte seine Uniformjacke und das weiße Hemd auf, das unter ihrem Blick wie mit Blut getränkt schien, und ließ einen Finger in
kreisenden Bewegungen über seine unbehaarte Brust gleiten. Die andere Hand öffnete derweil seinen Gürtel und verschwand unter dem Bund. Sie verhielt kurz, als sie auch dort keine Behaarung fand. So jung war Paul Leary nun auch nicht; wahrscheinlich hatte er sich rasiert. Nicht übel … Auch was sie anschließend ertastete, gefiel Lilith. Sein Glied wuchs ihr regelrecht entgegen und drängte sich mit seiner samtenen Eichel in die Fläche ihrer Hand. Sie umfaßte und stimulierte es weiter. Der Polizist stöhnte leise. Sein Blut geriet in Wallung. Lilith leckte sich die Lippen. Sie konnte seine Erregung spüren wie das Beben eines Vulkans; lange würde es nicht mehr dauern bis zum Ausbruch. Auch in dieser Hinsicht war er noch mehr Knabe als Mann. »Paul«, sagte sie heiser, »du bist ein hübscher Junge. Darf ich von dir kosten?« Er murmelte Unverständliches. Seine Abwehr war ausgeschaltet. Lilith zog die Zügel noch straffer, um ihn so wenig wie möglich leiden zu lassen. Zart tasteten erst ihre Finger, dann ihre Lippen nach der Stelle, die sie suchte. Die Dunkelheit verstärkte das Prickeln, das ihren ganzen Körper erfaßt hatte. Die Erregung versuchte ihren Verstand zu ersticken – aber ganz ließ sie es nicht zu. Sie durfte sich nicht in einer Weise gehen lassen, die sie hinterher bereut hätte … Paul schrie leise auf, als sie zubiß. Gleichzeitig bäumte sein Becken sich auf, und seine Hose wurde feucht. Perfektes Timing … Im Gegensatz zu ihren Feinden, den Vampiren der Alten Rasse, zerfetzte Lilith nicht die Adern ihrer Spender, sondern begnügte sich damit, die nadelspitzen Augzähne mit beinahe chirurgischer Präzision durch die Haut eines Menschen zu treiben. Nachdem die elfenbeinweißen Zähne Paul Learys Halsschlagader angestochen hatten, ging alles andere wie von selbst. Lilith schloß
die vollen Lippen um die geschaffene Wunde und gab sich dem überaus sinnlichen Verlangen hin, von dem letztlich ihr Leben abhing. Ein Funke Verstand blieb stets wach. Schluck um Schluck rann der rote Nektar durch ihre Kehle und entfaltete seine unglaubliche Vitalität. Nichts vermochte dieses Elixier zu ersetzen. Das Blut von Tieren war schal und erfüllte die Ansprüche, die ein Vampir (oder eine Halbvampirin) an ihre Nahrung stellte, in keiner Weise. Nachdem Lilith einen knappen Liter aus dem Körper des Polizisten getrunken hatte, hielt sie inne. Über ihren Speichel gelangte ein Enzym in Learys Körper, das die Selbstheilungskräfte des Mannes für kurze Zeit ausschließlich auf die beiden nadelfeinen Einstiche am Hals konzentrierte. Das Rinnsal, das in Lilith Mund strömte, versiegte. Sie löste die Lippen. Nicht nur Glücksgefühl, auch Entdeckungsdrang hatten sich ihrer bemächtigt. Ein Gedanke beendete die Dunkelheit. Sie ließ Leary schlafend auf dem Sofa zurück. Später, nach getanem Werk, würde sie sich seiner wieder annehmen.
* Das Haus mit der Nummer 333 besaß zwei Stockwerke. Und einen Keller. Aber diesen erklärte Lilith zur Tabuzone. Sie wollte ihn nie mehr aufsuchen – und dafür sorgen, daß auch kein anderer ihn je wieder betrat. So wie sich das Gebäude momentan präsentierte, leer und verlassen, von keinem Möbel (außer einem Sofa), keiner Farbe und keinem Belag für Wände und Fußböden verschönt, wirkte es selbst auf die Herrin des Hauses kühl und abweisend. Daß sich Lilith dennoch heimisch darin fühlte, war kein Wider-
spruch. Dieses Gefühl hatte tiefschürfendere Gründe. Noch während sie die kulissenhafte Treppe ins Obergeschoß hinaufstieg, veränderten sich die fahlweißen Stufen, bei denen nicht einmal zu erkennen war, ob sie aus Holz, Stein oder irgendeinem anderen Material bestanden. Als Lilith oben anlangte, hatte sich das Bild verändert. Kein geschickter Handwerker, sondern ein begnadeter Künstler schien die Treppe, die nun – aus dunklem Eichenholz gefertigt und mit weinrotem Teppich belegt – wie ein Anachronismus wirkte, ins graue Einerlei des übrigen Hauses gestellt zu haben. Aber nicht lange, dann begann auch der Korridor, der sich vor Lilith erstreckte, sein Gesicht zu verändern. Aus dem Nichts erschien ein Läufer mit ägyptischen Motiven in kräftigen Naturfarben. Lilith setzte ihren Fuß darauf, und während sie langsam den Gang entlangschlenderte, bildete sich rauher Putz an den Wänden, und darauf … Gemälde. Die Bilder erweckten den Eindruck, gemalt worden zu sein, aber bei näherem Hinsehen wurde klar, daß kein noch so großer Meister in der Lage gewesen wäre, mit einem Pinsel diesen Realismus und diese Detailfreude wiederzugeben. Lilith blieb kurz vor einer leeren Wandfläche stehen. Ein Rahmen entstand, der sich im nächsten Augenblick mit … Glas füllte. Spiegelndem Glas. So konnte sie sich selbst betrachten, wie andere Menschen sie sahen. Normale Spiegel leugneten sie, aber dieser hier war ein Spiegel, der seine Idee aus ihr selbst nahm. Ein paarmal hatte sie in der Vergangenheit Gelegenheit gehabt, ihr Erscheinungsbild auf diese Weise zu prüfen. Stets waren es magische Spiegel gewesen, die ihr dies ermöglicht hatten. Sie forschte nach offensichtlichen Veränderungen, die die vergangenen zwei Jahre hinterlassen hatten. Aber ihr Antlitz war jung und attraktiv wie ehedem. Das einzige,
was vielleicht anders geworden war, waren ihre Augen. Der Ausdruck darin. Nicht mehr groß und ewig fragend blickten sie in die Welt, sondern vom Vertrauen in das eigene Wissen und die eigenen Fähigkeiten beseelt. Nur die Sehnsucht war immer noch die alte. Die Sehnsucht nach einem Partner wie – – die, die sie verloren hatte. In ihrem zurückliegenden Leben. Sie blickte zur Seite und sah ein Bildnis von Beth. Von der Frau, mit der sie die tiefste und innigste Freundschaft überhaupt verbunden hatte. Und mit der sie immer noch etwas verband, weil ein Teil von Beth (ein sehr intimer Teil, ihre Erinnerungen und ihr Wissen nämlich) in ihr weiterexistierte, seit die Seele dieser unersetzlichen Freundin in Lilith eingegangen war. Beth MacKinsey als Individuum existierte nicht mehr. Aber sie hatte ihren Abdruck hinterlassen. Ihre Signatur. Lilith erinnerte sich, Gott darum gebeten zu haben, sich Beth anzunehmen. Ein Frösteln ließ sie zusammenschaudern. Sie war schuld daran, daß Beth gestorben war. Davon würde sie nichts und niemand je reinwaschen. Sühne für die Sünde, dachte sie. ER hat mich nicht von aller Last erlöst … zum Glück hat er mir mein Gefühl für Schuld gelassen … Links neben dem Bild, das Beth so wiedergab, wie Lilith sie in ihrer Erinnerung bewahrt hatte – ernst, aber voller Lebensmut und Optimismus –, hing das Porträt eines anderen Freundes: Duncan Luther. In dem Augenblick, als Lilith den Priesteranwärter ansah, der seine Freundschaft zu ihr ebenfalls mit dem Leben bezahlt hatte, wurde ihr bewußt, wie sehr sich Duncan und Darren ähnelten. Darren Secada, der sie drei Nächte zuvor aus dem Haus herausge-
tragen hatte. Sie war quasi in seinen Armen aufgewacht, nachdem er in das Haus eingedrungen war, in dem vier Jahre zuvor sein Vater, Brian Secada, den Verstand verloren hatte … Nach einer Weile löste sie den Blick auch von Duncan. Weiter! gemahnte sie sich selbst zu etwas mehr Eile. Sie ging weiter durch das Haus – und hinterließ ihre Einfälle auf Schritt und Tritt. In dem Zimmer, in dem sie einst ihre zu Greisin gewordene Spielgefährtin Marsha getroffen hatte, schuf sie aus der Erinnerung heraus ein Inventar, das – ihrem Gefühl nach – fast identisch mit dem damaligen war. Auch Marsha hatte sie damit ein Denkmal gesetzt. Ich wußte gar nicht, daß ich so sentimental sein kann. Lächelnd füllte sie auch die anderen Räume mit Ideen. Im Erdgeschoß setzte sie ihr Wirken fort. Gänzlich zufrieden war sie am Ende jedoch nicht. Wahrscheinlich würde sie nie mehr aufhören, Korrekturen vorzunehmen, solange sie in diesem Haus lebte. Als letzte Tat, bevor sie ins Kaminzimmer zurückkehrte, schuf sie die Skulptur zweier Liebender, die sich eng, wie vor einem langen Abschied, in der Eingangshalle umschlangen und küßten, eine blonde Frau und einen Mann, dessen schottisches Erbe man unschwer erkennen konnte: Creanna und Sean Lancaster. Liliths Mutter, die bei der Geburt ihres einzigen Kindes gestorben war, und Liliths Vater, der durch Landrus Hand gemeuchelt wurde … Landru hat seine gerechte Strafe erhalten. Spät, aber nicht zu spät. Die alten Vampire waren von der Erde getilgt worden. So hatte es der Schöpfer ihr versichert, bevor er sie zur Ruhe bettete. Und doch, es gab neue … seltsame Nachfolger, die in die Fußstapfen des alten Feindes getreten waren. Vampire, die nicht mehr zu Staub und Asche zerfielen, wenn ihnen das Genick gebrochen wurde, die sich statt dessen in verweste Tote verwandelten. Die Fälle, von denen Lilith bislang durch Darren Secada gehört
hatte, betrafen Leichen, die alle vor etwa anderthalb Jahren aus ihren Gräbern, Grüften oder Leichenschauhäusern verschwunden waren. Nach ihrem Verschwinden hatten sie offenbar ein untotes Dasein in der Maske normaler Menschen geführt und sich in dieser Zeit von Menschenblut ernährt. Aber wer sie »erweckt« und zu dieser speziellen Art Vampir gemacht hatte, darüber gab es noch keinerlei Anhaltspunkt. Lilith ließ sich neben den schlafenden Polizisten auf die Couch sinken. Der Friede, den er ausstrahlte, senkte sich tief in ihren Geist. Eine Hand stahl sich zu seiner warmen, nackten Haut und legte sich auf seinen Bauch. Dann schloß Lilith die Augen. Während ihrer Wanderung durch das Haus hatte sie den Räumen ihren Stempel aufgedrückt, eine persönliche Note verliehen. Nun ging sie einen Schritt weiter. Sie wurde das Haus.
* Mit geschlossenen Augen erhielt Lilith Einblick in jedes Zimmer, jede Nische, jeden noch so abgelegenen Winkel des Gebäudes, in dem die Vampirin Creanna 1896 ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Sydney war damals die Anlaufstelle für Schiffe aus der Alten Welt gewesen; Schiffe, in deren Frachträumen Kriminelle schmachteten, die man fern der Heimat zwang, sich zu Tode zu schuften, um unbescholtenen Bürgern im zu eng gewordenen England eine neue Zukunft zu eröffnen. Wie Vieh waren Menschen damals entwurzelt und verpflanzt worden. Und wie Vieh waren auch die Ureinwohner des in Besitz genommenen Kontinents behandelt und ausgebeutet worden! Lilith verdrängte die Gedanken, die es unmöglich machten, den gewünschten Kontakt herzustellen. Als sie zum ersten Mal in diesem Haus erwacht war, war dies um
zwei Jahre zu früh geschehen. Sie hatte die volle Reife, die einen »vorprogrammierten« Schlaf von genau einhundert Jahren benötigt hätte, noch nicht erlangt. Damals hatte sie das Haus sogar als Feind angesehen – und das Haus sie. Wie hätte sie ahnen sollen, was sie von der »Vollkommenheit« trennte? Welches Wissen und Können ihr fehlte …? Lilith merkte nicht, wie sich ihre Lungen mit tiefen, beinahe gierigen Atemzügen füllten, wie sich ihr Busen hob und senkte. Im ersten Moment versank sie buchstäblich im Adernetz des Hauses, das kein normales Haus war, sondern durchdrungen von einer Magie, die Gott erstaunlicherweise geduldet hatte. Nach einer Weile lernte sie, ihr geistiges Auge zu beeinflussen, zu lenken. Fortan reiste sie durch den »Körper« ihres Zuhauses, suchte Orte und Räumlichkeiten gezielt auf. Die Sorge, etwas Verborgenes zu entdecken, was erklärt hätte, wovon sie sich in den vergangenen zwei Jahren ernährt hatte, erfüllte sich nicht. Erleichtert fing Lilith an, ihr dringlichstes Vorhaben in die Tat umzusetzen: Sie versiegelte den Keller mit der Magie, die jedem Staubkorn in diesem Haus innewohnte! Als sie fertig war, existierte nicht einmal mehr eine Tür, die verraten hätte, wo es früher in das Gewölbe – und in noch geheimnisvollere Tiefen – hinabgegangen war. Das Haus besaß keinen Keller mehr. Nichts, von wo neues Grauen auf die ahnungslosen Menschen hätte übergreifen können … Die Menschen … Als wären es ihre echten Augen, warf Lilith einen Blick durch die Fenster hinaus auf die Belagerer. Niemand hatte den Medien einen Maulkorb verordnet. Die Berichterstatter erhielten stündlich Zulauf. Das Spukhaus in der Paddington Street war schon in aller Munde – und so würde es bleiben, wenn nicht schnelle und umfassende Gegenmaßnahmen ergriffen wurden.
Lilith war dazu bereit und entschlossen. Noch intensiver als bisher wurde sie eins mit dem Haus, das ihr als Verstärker der eigenen Fähigkeiten diente. Wenig später verließ eine unsichtbare Flut von Willenskraft die Grenzen des Gebäudes. Eine Flut, die sich über alles und jeden ergoß, der sich in unmittelbarer Nähe des Anwesens aufhielt. Schon Sekunden, nachdem Liliths Eingriff beendet war, zeigten sich die ersten Auswirkungen. Bewegung kam in das bis dahin auffallend statisch und nach Holloways Abtransport überaus zögerlich gewordene Szenario. Kamerateams und Übertragungswagen zogen ab, Polizisten bestiegen ihre Dienstfahrzeuge, Anlieger gingen benommen nach Hause … Eine halbe Stunde später lag die Paddington Street verlassen da. Wiederum Minuten danach kam allmählicher Verkehr auf. Die Sperren beiderseits des Hauses 333 waren aufgehoben worden, die Straße wieder normal befahrbar. Die Menschen hatten sich mit der Überzeugung verabschiedet, daß sie einer Massenhalluzination zum Opfer gefallen waren. In der Paddington war kein Haus aus dem Nichts entstanden – dort hatte immer schon ein Haus existiert. Ein zugegebenermaßen merkwürdiges Haus, mehr aber auch nicht. Selbst daß ein paar ihrer Kollegen fehlten – für immer fehlen würden –, fand in dieser Stunde kein Polizeibeamter auch nur sonderbar. Irgendwann würde die Ernüchterung folgen. Irgendwann, das wußte auch Lilith, würden Frauen und Kinder anfangen, unangenehme Fragen zu stellen, die neue Anstrengungen nötig machten, das Geheimnis des Hauses in der Paddington Street zu wahren … Nachdenklich schürzte sie die Lippen, kappte die Verbindung zu ihrem Heim, öffnete die Augen und widmete sich noch einmal sehr ausgiebig ihrem unfreiwilligen Gast.
* Drei Tage später Sydney, Memorial Hospital Chad Holloway schlug die Augen auf. Und wunderte sich. Mehr noch, er war völlig baff! In dem seltsamen Wirrwarr von Gedanken, die während der Ohnmacht wie die Splitter morscher Knochen durch sein Unterbewußtsein gestoben waren, hatte die Frau, die neben ihm stand, schon einmal eine Rolle gespielt. Eigentlich sogar die Rolle. Ich verdanke ihr mein Leben! Wirklich? Was war – wirklich? Er stöhnte. Die Ereignisse im Keller des Hauses fielen ihm ein. Der Kampf gegen die mutierten Ratten … Nach einer Weile flüsterte er ein gepreßtes: »Hallo!« »Nett, Sie wiederzusehen«, sagte die Schwarzhaarige. »Und hier gleich die gute Nachricht: Sie sind über den Berg!« Trotz des Schmerzes, der in seinem Körper hauste, gelang Holloway ein Lächeln. Kurz blitzte sogar seine gewohnte Bissigkeit auf. »Daß Sie sich aufs Töten verstehen, wußte ich. Aber daß Sie auch in medizinischen Fragen eine Koryphäe sind, hätte ich nicht gedacht.« »Wir hatten noch nicht viel Zeit, uns wirklich kennenzulernen.« »Wo bin ich?« »Im Memorial Hospital.« »Wie lange war ich ohne Bewußtsein?« »Knapp drei Tage. Die Ärzte hatten Sie in ein künstliches Koma versetzt, um Ihrem Körper die Ruhe zu geben, die er brauchte.« »Und Sie haben mich daraus geweckt?«
Leuchtend grüne Augen sahen ihn an – voller Unverständnis. »Ich hätte mir nicht soviel Mühe mit Ihnen machen müssen, wenn ich Sie hinterher hätte umbringen wollen.« Holloway lachte bellend auf. Die Erschütterung bohrte den Schmerz wie eine Lanze durch seinen Körper und trieb ihm Tränen in die Augen. »Nein, wahrscheinlich nicht. – Warum sind Sie also hier?« »Zum einen, weil ich wissen wollte, wie es Ihnen geht. Und um Sie zu fragen, was Sie veranlassen werden.« »Veranlassen?« »Ich glaube, Sie wissen, was ich meine.« Holloway schwieg kurz, dann nickte er. »Sie meinen sich. Sie wollen wissen, was ich in Bezug auf Sie unternehmen werde – wenn ich erst wieder in der Lage bin, überhaupt irgend etwas zu unternehmen.« »Richtig.« Sie nickte ihm auffordernd zu. »Also? Was werden Sie unternehmen?« Das Lächeln kehrte auf seine Züge zurück. Ein Lächeln, das zwischen Zynismus und Galgenhumor schwankte. »Es gibt«, sagte er, »kein Gesetz, das es einer Frau verbietet, sich in eine Fledermaus zu verwandeln – und wieder zurück. Gerade wie es ihr beliebt.« »Sie halten mich nicht für gefährlich?« »Gefährlich? Oh, doch!« »Was werden Sie also tun?« Holloways Lächeln gefror, als er es fühlte. Er wußte nicht, was es war, aber er hatte es schon ein, zwei Mal vorher gespürt – jedesmal, wenn diese Frau sich in seiner unmittelbaren Nähe aufgehalten hatte. »Hören Sie auf!« Sie zuckte unmerklich zusammen. »Sie spüren es – aber Sie reagieren nicht. Respekt, Chief. Es gibt nicht viele, die dem widerstehen.«
Ihre Worte bestätigten seinen Verdacht, daß sie dahintersteckte. »Was haben Sie getan?« »Getan? Nichts. Ich habe etwas versucht. Leider ist es erneut mißlungen. Es hätte alles ein bißchen leichter gemacht.« »Wollten Sie …?« »Ich wollte Ihnen meinen Willen aufzwingen, ja. Hypnotisieren könnte man es auch nennen. Aber leider gehören Sie zu den seltenen Menschen, die sich erfolgreich dagegen zur Wehr setzen.« »Ein Jahrmarktsgaukler, der von sich behauptete, ein großer Hypnotiseur zu sein, sagte einmal etwas ganz Ähnliches zu mir. Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich hielt ihn für einen Scharlatan.« »Ich könnte mir vorstellen«, erwiderte Lilith, »daß er im Gegenteil ein Meister seines Fachs war.« »So wie Sie? Aber wer sind Sie? In welcher Beziehung stehen Sie zu dem Haus in der Paddington Street? Was haben Sie darin zu suchen gehabt?« Für einen Moment legte sie die Stirn in Falten. »Es gehört mir.« »Wir haben alles Erdenkliche unternommen, um den Eigentümer zu ermitteln. Umsonst.« »Das wundert mich nicht. Es gab eine Zeit, da war den Behörden daran gelegen, alle Unterlagen, die mit 333 Paddington zusammenhängen, zu vernichten.« Holloway richtete sich ein Stückweit im Bett auf. »Sie behaupten, die Behörden hätten –?« »Wie heißt der Polizeipräsident dieser Stadt?« unterbrach sie ihn und wechselte scheinbar zusammenhanglos das Thema. »Boyd Scone.« »Und sein … Vorgänger?« »Codd. Virgil Codd.« Sie nickte, als würde sie zumindest den Letztgenannten kennen. »Codd war derjenige, der unter einer Decke steckte mit Al Weinberg.«
»Dem Ex-Bürgermeister?« »Ex-Polizeipräsident und Ex-Bürgermeister … Betonung auf Ex. Verschwanden sie nicht beide ungefähr zur selben Zeit? Und wurde ihr Schicksal je geklärt?« Trotz der pochenden Schmerzen versuchte sich Holloway noch weiter aufzurichten. »Haben Sie etwa …?« »Nein. Aber ich stehe auf derselben Seite wie das, was sie umgebracht hat.« »Umgebracht?« »Sie wissen, daß ich … nun, daß ich kein Mensch bin. Sie haben mir erlaubt, Ihr Blut zu trinken.« Stöhnend sank Holloway in sein Kissen zurück. Seine Hand ging zu der dick bandagierten Wunde, aus der das Blut geflossen war, das Lilith sich einverleibt hatte. »Erinnern Sie mich bloß nicht daran.« »Es gibt andere, die weniger … hm, genügsam gewesen wären als ich. Solche, die nicht zögern, Menschen zu töten, um an deren Blut zu gelangen …« »Vampire.« Fast tonlos kam das Wort über die Lippen des Chief Inspectors. Holloways Lider waren zur Hälfte herabgesunken. Seine Pupillen lugten darunter hervor wie unter fleischfarbenen Jalousien. »Codd und Weinberg waren im weitesten Sinne auch Vampire.« »Haben Sie noch mehr solcher Märchen auf Lager?« »Ich könnte Sie spannender unterhalten als Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht. Und der Clou dabei wäre: Meine Geschichten sind wahr!« »Ich muß wahnsinnig sein, daß ich Ihnen überhaupt zuhöre.« »Ich setze meine ganze Hoffnung darauf, daß Sie das nicht sind.« »Ich weiß wirklich nicht, was Sie erwarten …« Lilith zögerte. Dann sagte sie fast beschwörend: »Reden Sie mit Darren Secada – reden Sie ruhig und sachlich mit ihm. Fragen Sie
ihn nach den Toten, die ihm in jüngster Zeit unters Messer gekommen sind. Verlangen Sie Einblicke in seine Berichte zu diesen höchst merkwürdigen Fällen!« »Und dann?« »Dann werden – zusammen mit dem übrigen Background, den Sie sich bei Ihrem Aufenthalt in der Paddington angeeignet haben – Ihre letzten Zweifel schwinden. Sie werden erkennen, daß die Gefahr, von der wir reden, real ist, kein Hirngespinst. Und vielleicht …« Sie stockte, aber als Holloway fragend die Augenbrauen nach oben zog, fuhr sie fort: »Und vielleicht werden Sie sich entschließen, gegen diese Bedrohung vorzugehen. Gemeinsam mit mir. Mit … uns.« »Heißt das, Secada haben Sie schon um den Finger gewickelt?« »Das war nicht nötig. Spätestens seit dem Überfall auf sein Apartment weiß auch er, daß es auf dieser Welt Wesen gibt, die man fürchten sollte. Und gegen die man ankämpfen muß.« »Was wäre, wenn ich Ihnen nicht glaube? Wenn ich es mir überlegt habe und den einzigen Feind, die einzige Bedrohung in Ihnen sähe?« Achselzuckend trat sie einen Schritt zurück. »Dann hätte ich einen Gegner mehr – einen, der mir den Kampf gegen den wahren Feind unnötig erschweren würde.« Holloway kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Sie würden sich einfach umdrehen und zur Tür hinausmarschieren, wie Sie gekommen sind – ohne dafür zu sorgen, daß ich Ihnen keine Knüppel mehr zwischen die Beine werfen kann?« Sie nickte. Es wirkte aufrichtig. Aber Holloway konnte nicht vergessen, wie sie ausgesehen hatte, als sie gegen die Monster im Kellerlabyrinth unter ihrem Haus vorgegangen war … »Um Vertrauen aufzubauen braucht es Zeit. Ich bin bereit, Ihnen Kredit einzuräumen. Nehmen Sie Kontakt zu Secada auf! Sehen und begreifen Sie, was in dieser Stadt vorgeht. Was schon geschehen ist.
Und versuchen Sie sich vorzustellen, was noch geschehen könnte, wenn wir dem nicht rechtzeitig Einhalt gebieten!« Holloway räusperte sich unbehaglich. »Sie könnten mich hier und jetzt ohne Probleme unschädlich machen, stimmt’s?« Er nickte zu den Geräten hin, an die er angeschlossen war und die permanent seinen Gesundheitszustand überwachten. »Daß Sie hier hereingekommen sind und niemand unsere Plauderei stört, beweist, daß Sie Ihren Willen im allgemeinen durchzusetzen vermögen …« Sie lächelte. Für einen Moment wirkten ihre Züge bizarr, abseits des üblichen Lächelns eines Menschen. Aber es machte sie nicht abstoßend, sondern interessant. Ihrer Glaubwürdigkeit tat es keinen Abbruch. »Ich erwähnte bereits, daß es sehr wenige Menschen gibt, die mir eine Bitte oder einen Befehl verweigern können.« Holloway schloß kurz die Augen. »Selbst wenn ich beginnen würde, an Ihre lauteren Absichten und an all das zu glauben, was Sie gerade erzählt haben: Ich bin nur ein winziges Rädchen im Getriebe. Das Haus in der Paddington ist so unglaublich und sensationell, daß es die Leute weiter beschäftigen wird. Nicht nur die Sensationslüsternen, sondern auch und erst recht diejenigen, die für die Sicherheit der Bewohner dieser Stadt verantwortlich sind. Ich bin ein kleiner Chefinspektor, mehr nicht.« Er sah fast betrübt zu der Frau hinüber, die ihm schweigend zuhörte. »Über mir gibt es andere, die die Ermittlungen fortführen und nicht eher ruhen werden, bis sie Licht ins Dunkel gebracht haben. Nicht zu vergessen die Medien, die die Suche nach Antworten kräftig anheizen werden …« Er verstummte und versuchte sich zu beruhigen. Die Begegnung mit der geheimnisvollen Frau brachte sein Blut heftiger in Wallung, als gesund sein konnte in seiner Lage. »Ich habe bereits Vorkehrungen getroffen, um das Interesse an meinem Haus in der Paddington zum Erliegen zu bringen«, sagte Lilith. »Es bedarf jedoch noch einiger Anstrengungen, um dort wirk-
liche Ruhe einkehren zu lassen.« »Das werden nicht einmal Sie schaffen!« »Doch – und um so schneller, wenn Sie mir dabei helfen.« »Ich? Sie überschätzen meine Möglichkeiten.« »Das glaube ich nicht. Es ist ganz leicht.« »Wie leicht?« fragte er mißtrauisch. Aber nicht ablehnend. »Vielleicht wissen Sie, wo ich Boyd Scone finde? Ich müßte mich einmal dringend mit ihm unterhalten …« Holloway riß die Augen auf. Ihr unschuldsvoller Blick verursachte ihm eine solche Gänsehaut, daß er sich fast wieder ins Koma zurückgewünscht hätte.
* Taronga-Zoo, Sydney Als er zu seiner mitternächtlichen Runde aufbrach, fragte sich Sam Leywin, ob die Unruhe, die ihn befallen hatte, von außen kam, oder ob ihre Ursache in ihm selbst zu suchen war. Vermutlich letzteres. Seine Nerven waren nicht mehr die besten. Die Hände schweißnaß, lauschte er seinem Herz, das unkontrolliert und hektisch bis in seinen Hals hinauf schlug. Er kannte die Symptome. Hölle und Verdammnis, er kannte sie gut …! Auch nach einem halben Jahr war er noch nicht darüber weg, noch nicht annähernd. Die Gruppengespräche halfen, aber der Krieg, den er führte, der Krieg gegen sich selbst und den inneren Schweinehund, flammte immer wieder neu auf. Am schlimmsten war es, wenn er allein war. Aber das durfte die Zooverwaltung nicht wissen. Man hätte ihn sofort gefeuert, wenn durchgesickert wäre, was mit ihm los war. Kein Boß duldete einen Säufer, auch keinen »trockenen« … Leywin schnaubte. Seine zittrige Hand suchte das Päckchen, das er
erst vor fünf Minuten weggesteckt hatte. In welche Tasche, wußte er schon nicht mehr. Routiniert klopfte er seine Kleidung ab, bis er das Geräusch hörte, das seine Handfläche auf der halbleeren Schachtel erzeugte. Brusttasche. Unbeholfen fingerte er die Packung heraus und klemmte sich eines der Stäbchen zwischen die Lippen. Sekunden später entzündete sich fauchend ein Schwefelholz, das Leywin an die Zigarette hielt. Gierig sog er den Rauch ein. Seine Lungen dankten es ihm mit einem harten Husten. Leywin klaubte die Zigarette aus dem Mundwinkel, drehte die Hand und hustete hinein. Nach einer Weile beruhigte sich sein Körper. Leywin fluchte. Feuer bekämpft man mit Feuer, dachte er dumpf, und ich bekämpfe Sucht mit Sucht … Was für ein beschissenes Leben! Er bewegte sich ein paar Schritte von seinem Wärterhäuschen weg. Eingang Süd. Gleich hinter der Kasse. Das Licht, das drinnen brannte, fiel ein paar Yards weit in die sternflimmernde Nacht. Die Zigarette steckte wieder zwischen den Lippen, so daß Leywin die Hände frei hatte und die Stablampe von seinem Gürtel lösen konnte. Sie gehörte zu seiner Ausrüstung. Jeder der vier Nachtwächter war in gleicher Weise ausgerüstet: Handy, Lampe, Universalschlüssel zu den Stallungen, ein kleines Buch, in dem die wichtigsten Telefonnummern und Maßregeln für Notfälle zu lesen standen – und neuerdings auch eine Knarre. Seit Tiere abhanden kamen. Erstmals am vergangenen Sonntag. Montag früh hatte man den verwaisten Löwenkäfig entdeckt, aus dem drei Raubtiere, darunter eine Löwin, die erst kürzlich Junge geworfen hatte, spurlos verschwunden waren. Ein sofortiger Großalarm hatte nichts ergeben. Der Zoo war an diesem Tag geschlossen geblieben und hatte erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Zumal auch eine ausgedehnte Suche, an der sich die Polizei
beteiligte, zu keinem Ergebnis geführt hatte. Die drei Löwen waren auch heute, drei Tage später, unauffindbar. Nach menschlichem Ermessen konnten sie sich nicht mehr auf dem Gelände aufhalten. Alle in Frage kommenden Bereiche waren abgesucht worden, und so waren Gerüchte aufgekommen, Angestellte des Tierparks würden dahinterstecken. Sie hätten die Tiere heimlich aus dem Zoo verschleppt, um sie lukrativ auf dem Schwarzmarkt zu verhökern. Seltsam war nur, daß sie die Jungen der Löwenmutter zurückgelassen hatten, die sicher einen Haufen Geld eingebracht hätten. Das Ganze war absolut irrwitzig. Aber es gab immer wieder spleenige Superreiche, die weder Geld noch Mühen scheuten, illegal an solche »Schoßtierchen« zu gelangen. Offiziell war der Handel mit Großkatzen für private Interessenten verboten. Montags war es zu einem zweiten ungeklärten Fall von »Tierschwund« gekommen. Drei Großwarane aus dem Terrarienkomplex waren als abgängig gemeldet worden. Auch von ihnen fehlte jede Spur, dafür hatte der Park einen weiteren Tag lang von Polizeibeamten und Beauftragten der Stadt gewimmelt. Ergebnislos. Sam Leywin war heilfroh, daß beide Vorkommnisse weitab seines Arbeitsbereiches stattgefunden hatten und man ihm deshalb auch keine Schuld in die Schuhe schieben konnte. Er verrichtete diesen Job erst seit knapp acht Wochen. Davor war er lange arbeitslos und in Behandlung gewesen, denn etwas »Richtiges«, etwas, wonach stete Nachfrage herrschte, hatte er nicht gelernt. Mit harter Knochenarbeit hatte er sich und seine Familie über Wasser gehalten – oder mit der geringen Stütze, die der Staat ausspuckte. Auch Leywin spuckte aus. Familie, dachte er angewidert. Staat! Für seine Frau empfand er nicht mehr das Geringste (sie hatte ihn in seiner schlimmsten Zeit im Stich gelassen), und sein Sohn, den er liebte, im tiefsten Grund seines Herzens abgöttisch liebte, haßte und
verachtete ihn. Nur weil er ein paarmal besoffen ausgeflippt und seiner Frau, dieser Schlampe, aufs Maul gehauen hatte. Hölle, sie hatte es verdient gehabt! Sie hatte es jedesmal verdient gehabt …! Leywin zog die Luft ein und rauchte die Zigarette bis in den Filter hinein auf. Ein rußiger Geschmack breitete sich in seiner Mundhöhle aus. Er schleuderte die Kippe in die Nacht hinein. Als er den Bereich verließ, der vom Wächterhäuschen erhellt wurde, knipste er die Lampe an. Dunkel und an die Zufallsmuster erinnernd, die eine geronnene Flüssigkeit hinterläßt, lag der Tierpark vor ihm in der Nacht. Ganz still wurde es in der Anlage nie, aber Leywin hatte das Gefühl, daß die Unruhe heute größer als sonst war. In der Nähe heulten ein paar Wölfe. Weiter weg patschte das Wasser des Krokodilbeckens. Und auch aus der Volière der Papageien drangen immer wieder heisere Schreie. Leywin lenkte den Strahl seiner Lampe mal hierhin, mal dorthin, während er den breiten Besucherpfad entlangmarschierte. Er überlegte, ob er Kilroy vom nächstgelegenen Wachpunkt anrufen und ihn fragen sollte, ob bei ihm ähnliche Unruhe herrschte. Doch dann ließ er den Gedanken wieder fallen. Kilroy war halb so alt wie er und ein arrogantes Arschloch, das ständig anzügliche Bemerkungen über Leywins Aussehen machte. »Komm du mal in mein Semester«, grunzte er leise. »Wer weiß, ob du dann überhaupt noch Haare und Zähne hast …« Das gebündelte Licht hielt kurz am Eingang zum Schlangenhaus inne, weil Leywin selbst daraus ein aufgeregtes, aber von den Mauern gedämpftes Fauchen zu hören meinte. Er war nicht sicher. Vielleicht narrten ihn seine Sinne. Vielleicht gaukelten sie ihm Dinge vor, die gar nicht existierten. Vielleicht – – bildete er sich die ganze Aufregung nur ein! Das wäre ein gefundenes Fressen für euch, dachte er und ließ die Gesichter seiner Kollegen, seiner Frau und seines Sohnes Revue vor
seinem geistigen Auge passieren. Wenn ich mir auch diesen Job wieder versauen würde. Er hatte keine Freunde. Keinen einzigen. Früher, aber das war schon unendlich lange her, war das anders gewesen. Der Alkohol hatte sie verjagt, und am Ende war ihm als einziger Freund die Flasche geblieben. Das ist vorbei. Hölle, ich bin seit einem halben Jahr trocken und gehe jeder Versuchung aus dem Weg! Ich werd’s allen zeigen! Ich bin kein Versager. Ich krieg mein Leben wieder in den Griff! Der Anfang war gemacht, Leywin fühlte sich – abgesehen von den Panikattacken und Anflügen von Verfolgungswahn – hier wohler als in jedem Job davor. Man ließ ihn in Ruhe, er brauchte sich nicht zu verstellen, weil ihn in der Regel niemand zu Gesicht bekam, und außerdem war er schon immer mit einem Minimum an Schlaf ausgekommen. Idealere Bedingungen würde er nirgends mehr finden … Verunsichert setzte er seine Runde fort. Auf den Überwachungsmonitoren, die Einblicke in die Stallungen der wichtigsten und sensibelsten Tierarten gewährten, waren keine Anzeichen außergewöhnlicher Unruhe zu erkennen gewesen. Nur hier draußen im Freien, beim Gang an den Gehegen, Bassins und Käfigen vorbei, wurde Leywins Instinkt regelrecht mit Warnsignalen bombardiert. Irgend etwas stimmt nicht. Irgend etwas geht hier vor … »Idiot!« beschimpfte er sich selbst. Selbst im größten Suff hatte er nie weiße Mäuse gesehen. Aber seit er abstinent lebte, häuften sich die Momente, da er das Gefühl hatte, aus der Realität herauszufallen. In bodenlose Tiefen zu stürzen. Sein Therapeut betete Durchhalteparolen herunter und nannte diese Übergangsphase »normal«. In ein paar Wochen würde er drüber weg sein … … aber jeder Tag, jede Stunde war eine nicht enden wollende Marter!
Sehen Sie mögliche Verführungen voraus, hatte der Doc ihm geraten. Wenn eine Spirituosenwerbung im Fernsehen läuft, schalten Sie um, bevor sie fatale Sehnsüchte in Ihnen weckt. Wenn Sie in Illustrierten blättern, ignorieren Sie die Hochglanzfotos, die Bier, Wein oder Hochprozentiges anpreisen. Meiden Sie einschlägige Schaufenster … Leywin kannte jeden Tip. Besser fühlte er sich deshalb nicht. Sobald der Gedanke auf Alkohol kam, zog er die Bremse – es tat verdammt weh. Aber bislang hatte er immer die Kurve gekriegt. Er zündete sich eine neue Zigarette an. Während das Streichholz brannte, stellte sich Leywin vor, daß ein geheimer Beobachter wegen des wächsernen Gesichts dahinter wahrscheinlich erschrocken wäre. Ich sehe aus wie der leibhaftige Tod. Wie ausgekotzt … Er hatte überlegt, sich scheiden zu lassen. Seiner Frau zuliebe. Sie erstickte in seiner Nähe. Sie verkümmerte wie ein Pflänzchen, dem man dauerhaft die Sonne entzogen hatte. Auch jetzt rutschte ihm manchmal noch die Hand aus. Die Reue kam immer erst hinterher. Genau wie die guten Vorsätze, die vergessen waren, sobald er die Füße daheim über die Schwelle setzte. Ich bin ein Ungeheuer, dachte Leywin. Für Freda bin ich nicht mehr als ein wildes Tier, das über sie herfällt, wann immer es seine Aggressionen abreagieren muß. Er verstand, daß sie sich vor ihm ekelte. Er verstand, daß sie weinte, wenn er sich zu ihr legte und gar nicht erst fragte, ob sie es auch wollte. Es hinderte ihn nicht, das Familienmonster zu sein. Was zwischen ihnen zerbrochen war, war nicht mehr zu kitten! Großer Gott … Er versuchte die Gedanken wegzuschieben. Kurz bevor er seine Runde beendete, steuerte Leywin auf eine Umzäunung zu, hinter der sich seine persönlichen Lieblinge aufhiel-
ten. Der Lichtstrahl wanderte suchend über den braunen Boden, bis er einen von ihnen erfaßte. Der Echidna erstarrte einen Augenblick lang zur völligen Regungslosigkeit. Dann verwandelte er sich in einen stacheligen Blitz, der sich binnen Sekunden ins Erdreich wühlte und jedem Blick entzog! Leywin lächelte matt. Er beneidete die armlangen Schnabeligel, von denen sich ein Dutzend dieses Revier teilten. Sie ernährten sich von Ameisen und Termiten, und ihr Stachelpanzer schreckte jeden potentiellen Feind ab. Niemand kam ihnen zu nahe. Und wenn doch einmal, bereute er es. Nachdenklich wandte Leywin sich ab und kehrte zum Wachhäuschen zurück. Die Unruhe unter den Tieren schien sich etwas gelegt zu haben. Eine Ursache hatte er nicht entdecken können. Vielleicht schlug das Wetter um. Menschen hatten das Gespür für die Wechsel der Natur verloren. Was das anging, waren ihnen die Kreaturen weit überlegen … Leywin öffnete die Tür und trat in den kleinen Raum. Die Überwachungsschirme streuten weißes Licht über das Mobiliar. Das übliche leise Summen lag in der Luft. Leywin hakte die Lampe wieder an den Gürtel und wollte sich auf seinen Stuhl fallen lassen. Wollte. Bis er bemerkte, was geschehen war. Was sich seit Verlassen des Häuschens verändert hatte. Jemand war hier gewesen! Aber wer? Leywins Gedanken verwehten. Er war nicht mehr in der Lage, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf die beiden Gegenstände, die jemand in seiner Abwesenheit auf den Tisch gestellt hatte, an dem er die meiste Zeit seiner Schicht saß und die Zeit mit Lesen oder Radiohören totschlug. Ein Uneingeweihter hätte meinen können, jemand habe es beson-
ders gut mit Leywin gemeint. Aus seiner Sicht verhielt es sich anders. Grausamer. Er merkte gar nicht, wie das schwache Zittern, das ihn auf jedem Schritt begleitete, plötzlich in Zuckungen ausartete, die einen zufällig Anwesenden erschreckt hätten. Langsam ging er auf den Tisch zu. Er wollte es nicht, und wäre die »Aufmerksamkeit« verschlossen gewesen, hätte er vielleicht widerstehen können. Doch neben der offenen Flasche stand ein randvoll eingeschenktes Glas mit bernsteinfarbenem, verführerischem Inhalt. Es zog Leywins Hand wie magisch an. Das hat mir der Teufel hingestellt, war sein letzter Gedanke, ehe er den Rand des Glases an die Lippen setzte. Er tröstete sich damit, daß er es ohnehin nicht auf Dauer geschafft hätte. Dann eröffnete er den lustigen Teil der Nacht.
* »Was macht dich so sicher, daß es funktioniert? Er könnte es genauso gut in den Ausguß leeren …« »So kann nur einer reden, der meinen Vater nicht kennt!« Craig Leywin zog mürrisch die Nase hoch und versetzte Sailor einen Schlag auf den Rücken. Der Sohn aus reichem Hause schrie unterdrückt auf und versuchte Craig von sich wegzustoßen. »Hört auf, ihr Blödmänner!« zischte Pierce ihnen zu. Er war mit Schmuck behängt wie ein Weihnachtsbaum. Jedes Ohr war ein halbes Dutzend Mal durchstochen, dazu Brauen, Nase und Zunge. Seine Kleidung verhüllte, daß er auch Brustwarzen, Bauchnabel und den Hodensack gepierct hatte. »Wollt ihr alles versauen?« »Keine Sorge«, beruhigte Craig den schmerzversessenen Kumpel. »Er kann uns nicht hören. Die Scheiben sind dick. Und seht euch nur
an, wie er vor der Flasche steht. Wie das hypnotisierte Kaninchen vor der Schlange. Den können wir abhaken. Los, weiter! Ich weiß, wo wir das Spielzeug finden, nach dem wir suchen! Oder geht euch plötzlich die Muffe? Wollt ihr kneifen?« »Heb dir den großmäuligen Helden auf, bis wir anfangen«, fauchte Pierce und schabte versonnen mit der Perle in seinem Mund gegen die Unterseite der oberen Zähne. Der Zufall hatte sie zusammengewürfelt. In einem Schuppen, den sie alle drei regelmäßig besuchten. So unterschiedlich sie waren, eines war ihnen allen dreien gemeinsam: Sie wußten nicht wohin mit ihren überschüssigen Energien. Sie waren keine Typen, auf die die Weiber standen, gingen keinem Streit aus dem Weg und waren darüber hinaus notorisch pleite. Aus purer Langeweile zettelten sie Schlägereien an, selbst wenn sie daraus als Verlierer hervorgingen. Sie prügelten ohne Sinn und Verstand, klauten alten Omas die Handtaschen oder begingen Einbrüche. Jeder von ihnen war schon mal erwischt worden. Und bei allen waren die Urteile zur Bewährung ausgesetzt worden. Sie wußten, daß sie auf der Kippe standen. Sie wußten, daß die rasende Talfahrt beginnen würde, wenn sie sich nur noch ein einziges Mal etwas zuschulden kommen lassen würden … Es war ihnen egal. Nein, ganz egal war es ihnen auch nicht: Sie hielten sich einfach für schlauer als das System. Sie waren überzeugt, es nur clever genug einfädeln zu müssen, um sich alles erlauben zu können. Eine Weile beobachteten sie noch, wie dankbar Craigs Vater mit seinem Geschenk umging. Dann schlichen sie zügig in Richtung des Gebäudes, von dem sie sich den größten Unterhaltungswert versprachen. Den meisten »Spaß«. So abartig er auch sein mochte. Sie waren gekommen, um Schwächere zu quälen.
Wehrlose Tiere …
* Seit der Nacht, in der seine Wohnung von Toten überfallen worden war, hatte Darren Secada nicht mehr richtig geschlafen. Erst recht nicht, nachdem ihn zwei Verhörspezialisten des Sydney Police Departments in die Mangel genommen – und jede kollegiale Nachsicht hatten vermissen lassen. Ich bin für sie ein Wolf im Schafspelz … Begonnen hatte alles damit, daß er die nicht nur beunruhigend schöne, sondern generell beunruhigende Lilith Eden aus ihrem Haus in der Paddington getragen und einer dort wartenden Ambulanz übergeben hatte. Er war mit der Frau und mit dem notärztlichen Team vom Schauplatz weggefahren – aber nie mit ihr im avisierten Krankenhaus angekommen. Statt dessen hatte die Ambulanz sie zu Secadas Apartment gefahren, hatte die scheinbar ohnmächtige Lilith dort abgeladen und war leer zum Klinikum gefahren. So hatte der Ärger angefangen. Denn kurz nachdem der leere Krankenwagen das Hospital erreicht hatte, klingelte ein Polizist an Secadas Tür und stellte unangenehme Fragen. Angeblich erinnerten sich die Insassen der Ambulanz nicht einmal an eine Frau, die sie transportiert hatten, geschweige denn an Secada … Weitergegangen war es damit, daß zwei Gestalten, die Darren zunächst auch für Polizisten in Zivil gehalten hatte, erst den echten Cop schachmatt gesetzt und dann gewaltsam die Wohnung gestürmt hatten. Nicht Secada, sondern Lilith Eden war das Ziel ihres Überfalls gewesen. Und während er, Secada, über die Feuerleiter zu flüchten versuchte, hatte diese Lilith Eden die beiden Gewalttäter mit sich durch das
Fenster aus dem 8. Stockwerk des Apartmenthauses in die Tiefe gerissen! Unten angekommen waren nur die beiden Männer. Sie waren förmlich am Boden zerschellt, während Lilith … (Darren hatte immer noch Mühe, das Geschehen als Realität zu akzeptieren) … sich in eine Fledermaus verwandelt hatte und sicher neben den Toten gelandet war. Neben den Leichen der Männer, die schon anderthalb Jahre früher gestorben waren, wie die von Darren durchgeführte Autopsie und seine sonstigen Recherchen inzwischen ergeben hatten! Tote, die zweimal starben und zwischendurch noch ein bißchen lebten …? Ein ähnlicher Fall war schon kurz vor dem Überfall, den er aus nächster Nähe erlebt hatte, auf seinem Tisch in der Gerichtsmedizin gelandet. Marvin Max Manson, ein Medien-Tycoon, war vor knapp anderthalb Jahren in Sydney verstorben und in der Familiengruft beigesetzt worden. Kurz darauf hatten Unbekannte seine letzte Ruhestätte geschändet und den Leichnam entwendet. Anderthalb Jahre später war er auf dem Friedhof vor seiner Gruft wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht – neben einem toten Küster. An Mansons Lippen und in Mansons Verdauungstrakt waren Reste von Blut gefunden worden, das aus dem Körper des toten Friedhofsangestellten stammte. Und Manson selbst war nicht etwa in dem Zustand, der ihm anderthalb Jahre nach seinem Tod gebührt hätte, sondern wies lediglich das Verwesungsstadium einer wenige Tage alten Leiche auf! Anders ausgedrückt: Die anderthalb Jahre, die er verschwunden gewesen war, schienen spurlos an ihm vorbeigegangen zu sein …! Wahnsinn. Und derselbe Wahnsinn hatte sich bei den beiden Toten vor Secadas Apartment wiederholt. Auch sie waren im ungefähren Zeitraum wie Manson verschwunden, und ihr Zellverfall hatte nahtlos genau
dort wieder eingesetzt, wo er am Tag ihres Verschwindens gestoppt worden war. Gestoppt wovon? Das ist der Stoff, aus dem Alpträume gewoben werden, dachte Darren. Und wälzte sich auf die andere Bettseite. Für den kommenden Tag stand ihm ein Gang nach Canossa bevor, im Büßerhemd. Wahrscheinlich würde man ihn von höchster Stelle vom Dienst suspendieren, weil er – »Darren?« Der Atemzug, den er gerade nahm, entwich aus seinen Lungen, als wären sie löchrig wie ein Sieb. »Schläfst du …?« Lieber Gott, dachte er, kneif mich. Sie ist es. Sie ist tatsächlich zurückgekehrt …
* »Wie bist du hereingekommen?« »Das Fenster im Bad war offen.« Darren setzte sich im Bett auf und blinzelte gegen das Licht, das Lilith angeknipst hatte. »Vor unserer Bekanntschaft bin ich auch nie auf die Idee gekommen, im achten Stock ungebetene Besucher empfangen zu müssen, weil diese durchs Fenster einsteigen … Ich fürchte, ich muß da langsam umdenken.« »Sagtest du ungebetene Besucher?« Er war nicht bereit, sich in die schwächere Position treiben zu lassen. »Wo warst du die letzten zwei … oder sind’s schon drei Tage? Verdammt, ich verliere völlig den Überblick! Mein Leben ist plötzlich so –« »– interessant geworden?« Lasziv wie ein Vamp bewegte sie sich auf ihn zu. Sie lächelte. Es wirkte bizarr wie die hautenge Kleidung (Darren fröstelte, wenn er
daran dachte, was für eine Art Kleidung es war), unter der sich abzeichnete, was jeden Mann um den Verstand gebracht hätte. Und er war ein Mann. Lilith Eden entsprach so stimmig seinem Ideal von einer Frau (ohne daß er es vor der Begegnung mit ihr in Worte zu packen vermocht hätte), daß es ihm jedesmal aufs Neue den Atem verschlug. Ihre bloße Gegenwart erstickte sämtliche Vorbehalte, sämtliches Mißtrauen, das ihn eigentlich hätte quälen müssen. Sie war kein Mensch! Sie trank Blut. Sie war – – wie die obskuren Toten, die hinter ihr her waren! Zumindest ein ganz klein wenig. »Was hast du gemacht? Ich hätte nicht mehr geglaubt, dich wiederzusehen.« »So schnell wird man mich nicht los. Aber ernsthaft: Ich wurde aufgehalten. Erst mußte ich mich als Kammerjäger verdingen, dann ein Haus komplett neu einrichten, und schließlich ein paar Besuche absolvieren.« »Wen mußtest du besuchen? Oder fangen wir sinnvollerweise damit an, daß du mir endlich erzählst, wer du bist, wie du in dieses verfluchte Haus gelangt bist – und wie du dir die Zukunft vorstellst?« »Unsere?« »Wir haben keine gemeinsame Zukunft.« »Warum nicht?« Sie setzte sich neben ihn aufs Bett. Daß er nur kurze Shorts trug schien sie nicht zu stören. »Weil ich keine Zukunft habe.« »So jung und schon so ein Schwarzseher.« Er rutschte zur Wand, an die sein Singlebett angrenzte, hockte sich aufrecht und lehnte mit dem Rücken gegen die Tapete. »Wenn du wüßtest, was hinter mir liegt – deinetwegen.« Er seufzte. »Wenn du wüßtest, was hinter mir liegt. Wollen wir tauschen?«
Er verzog das Gesicht. »Kein Bedarf, danke. Mein eigenes Leben ist schon kompliziert genug.« »Das sagt ausgerechnet der, der nichts über mein Leben weiß, aber ständig darauf drängt, mehr zu erfahren.« »Es wäre die Basis.« »Wofür?« »Für mehr Vertrauen.« Nickend kam sie zu ihm und setzte sich auf ihre Fersen. Für einen flüchtigen Moment wirkte sie wie das totale Gegenteil dessen, was sie war: Wie ein kleines, Schutz und Nähe suchendes Mädchen hockte sie da. Sie trägt keine Schuhe, lenkte er sich ab. Dieser … Stoff, der sie kleidet, bindet ihre Füße mit ein. Er wußte nicht, woraus ihr hautenges Catsuit bestand, wohl aber, daß sie es allein ihres Willens jeder beliebiger Mode anpassen konnte. Verrückt. »Vertrauensbildende Maßnahmen …« Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Darren spürte, wie ihm ein Schauer durch sämtliche Glieder fuhr. »Ich …« »Ich mag dich«, unterbrach sie ihn. »Ich hatte andere Freunde, bevor ich mich zurückzog und … Kraft schöpfte. Aber keiner von ihnen ist mehr am Leben. Es wird dich erschrecken, vielleicht sogar schockieren, aber ich bin nicht schuldlos an ihrem Tod. Deshalb fällt es mir auch schwer, neue Freundschaften zu knüpfen. Es ist, als würde ich, wenn ich mich mit Menschen einlasse, sie gleichzeitig mit einem Fluch belade.« Sie schwieg, sah ihn an aus ihren jadegrünen Augen, die aussahen wie Perlen, von einer dünnen Schicht Wasser bedeckt. Darren spürte den Wunsch, darin zu versinken. Einfach zu vergessen, was außerhalb dieser Wohnung auf ihn – und auch auf sie – lauerte.
Er war außerstande, etwas zu erwidern. Im Grunde, begriff er, hatte sie ihm gerade ihre tiefe Sympathie bekundet. Vielleicht sogar mehr als das. Ganz sicher aber hatte sie ihm ihre Freundschaft angeboten – verbunden mit der Warnung, sie auszuschlagen, wenn ihm sein Leben lieb war … Verrückt, auch das. »Du bist kein Mensch«, sagte er, schluckte und fügte, wie um die eigene Aussage abzuschwächen, hinzu: »Was bist du dann? Ich bilde mir ein, daß du vertrauenswürdig bist. Aber es ist schwer. Ich habe in zu kurzer Zeit zuviel gesehen, was mich zweifeln läßt, überhaupt noch irgend jemandem vertrauen zu können.« »Das verstehe ich.« »Ja. Genau! Du verstehst es, und ich fühle, daß du es ehrlich meinst, aber ich habe gesehen, wie du …« Er verstummte. »Wie ich mich verwandelte? Wie ich meine zweite, die dunkle Seite zum Vorschein brachte?« Sie legte ihm eine Hand aufs Knie. Eine warme, mitfühlende Hand. Darren sehnte sich danach, sie zu ergreifen und sich daran festzuhalten. Er schaffte es nicht. Unsichtbare Fesseln verhinderten es. »Irgendwann …«, er räusperte sich, »bald, vielleicht schon morgen, werden sie mich wieder fragen, wo du geblieben bist. Sie werden nicht aufhören zu fragen. Wahrscheinlich werden sie mich vom Dienst suspendieren, und dann –« »Das ist alles geregelt.« »– werde ich Klinken putzen müssen, um überhaupt wieder irgendwo eine Anstellung in meinem Beruf zu finden …« Erst Sekunden, nachdem er den Satz zu Ende gesprochen hatte, wurde ihm bewußt, was sie eingeworfen hatte. »Geregelt?« Er weitete die Augen. »Was meinst du damit?« »Mit geregelt …«, sie streichelte sein Knie, und er war ein Idiot, der so tat, als merke er es gar nicht, »… meine ich, daß ich Holloway besucht und mit ihm gesprochen habe.«
»Holloway?« »Von Holloway bekam ich die Adresse von Scone. Boyd Scone. Du weißt, wen ich meine?« Er wußte, wen sie meinte. Sein Hals wurde plötzlich pulvertrocken. »Bevor ich herkam, stattete ich Scone einen kurzen Besuch ab. Er ist wesentlich … nun, lebendiger als sein Vorgänger Codd. Man konnte mit ihm reden. Er war Argumenten zugänglich. Dein und mein Glück, daß er keine Dienerkreatur ist …« »Dienerkreatur …?« »Ich merke, wir müssen ganz von vorn anfangen. Aber bevor ich aushole, interessiert mich etwas. Vielleicht kannst du mir ersparen, in alten Zeitungsartikeln zu stöbern.« Ihm schwirrte der Kopf. Dennoch fragte er: »Was willst du wissen?« Der kurze Anflug von Heiterkeit verschwand aus ihrem Gesicht, als sie sagte: »Jerusalem. Kannst du mir sagen, was aus Jerusalem … aus der Stadt und ihren Menschen … geworden ist?«
* Taronga-Zoo, Tierärztliche Station Douglas Firesinger knipste die Glotze via Fernbedienung aus. Er war müde, wollte sich aufs Ohr legen. Den Pieper stellte er auf das Tischchen neben dem Ruhesofa. Das Licht ließ er brennen. Es störte ihn nicht. Sobald der erste Signalton erklang, würde er wieder hellwach sein. Viele – allen voran seine feste Freundin – beneideten ihn um diese Fähigkeit. Er konnte aus tiefstem Schlaf schrecken, ohne erst die Desorientierung niederkämpfen zu müssen. Der Tierpark besaß drei festangestellte Ärzte und ein gutes Dutzend Pfleger. Firesinger war der jüngste Arzt und hatte diese Nacht
Bereitschaft. Normalerweise gehörte auch ein Angehöriger des Pflegepersonals dazu, mit dem man Karten spielen oder sich einfach nur unterhalten konnte. Aber Cara Myer, ein bildhübsches Mädchen, auf dessen nette Gesellschaft Firesinger sich schon gefreut hatte, war nicht zum Dienst erschienen. Unentschuldigt. Solange es ruhig blieb, war dies nicht weiter tragisch. Dennoch hatte sich Firesinger anfänglich über Caras mangelndes Pflichtbewußtsein geärgert. Eine Möglichkeit, sie anzurufen, bestand nicht. Cara war gerade in eine neue Wohnung an der North Ryde gezogen und besaß noch keinen funktionstüchtigen Anschluß. Vielleicht hatte es wegen des Umzugs Schwierigkeiten gegeben. Firesinger beschloß, gnädig mit ihr zu sein, falls sie ehrliche Reue zeigte. Mit dem Gedanken an Cara – nicht an Louise, die zu Hause brav im Bett lag und später wieder einmal behaupten würde, während seiner Abwesenheit kein Auge zugetan zu haben – schlief er schon nach wenigen Atemzügen ein. Das Erwachen verlief anders als sonst. Ungewohnt … zögerlich. Als sträube sich etwas tief in Firesingers Seele, die Augen zu öffnen und die Geborgenheit von Orpheus’ Armen zu verlassen. Schließlich tat er es doch. Und sah mit offenen Augen so wenig wie mit geschlossenen. Das Licht war aus! Stromausfall? Benommen richtete er sich von seinem Ruhelager auf. Es war kühl im Raum. Ihn fror. Er verschränkte die Arme und rieb sich die Haut mit den Handflächen warm. Beim Aufstehen stieß er gegen den niedrigen Tisch neben dem Sofa. Ein kurzer Schmerz grellte auf. Fluchend umrundete er das Hindernis und tappte mit ausgestreckten Armen durch die Dunkelheit zur Wand, wo der Lichtschalter war. Er fand ihn und . drückte
mehrere Male darauf, ohne daß sich an der Finsternis etwas änderte. Endlich fiel ihm ein, daß er ein Feuerzeug in der Hosentasche stecken hatte. Sekunden später flammte es auf. Eine gelbrote Zunge leckte in die zurückweichende Schwärze. Das Zimmer sah aus, wie Firesinger es in Erinnerung hatte. Nur der Tisch war ein kleines Stück verrückt, vorhin, als er sich daran gestoßen hatte. Sein schweifender Blick fand den Radiowecker auf dem Fernseher. Das Display war erloschen, genau wie die rote Bereitschaftsanzeige des Fernsehers. Mist, dachte Firesinger, während das Metallfeuerzeug in seiner Hand ungemütlich heiß wurde. Es muß die Hauptsicherung rausgehauen haben … Er war technisch so unbegabt, wie ein Mensch es nur sein konnte. Außerdem wurde ihm klar, daß er nicht einmal wußte, wo der Sicherungskasten war. In diesem Moment klopfte es an der Tür. Vor Schreck ließ er den Regler für die Gaszufuhr los. Die Flamme sank in sich zusammen. Die Finsternis kehrte zurück. »Ja?« Er räusperte sich. »Wer ist da?« »Ich bin’s, Cara … Es tut mir wahnsinnig leid, daß ich Sie habe warten lassen … Machen Sie bitte auf; ich habe meinen Schlüssel vergessen.« Wie Tropfen sanken ihre Worte in sein Bewußtsein. »Cara … Wir haben Stromausfall. Moment, ich komme …« Er ging auf die Tür zu, entriegelte sie und sah die vertraute Kontur. Die Nacht war heller als das Innere der lahmgelegten Station. Erst als sie einander gegenüberstanden, knipste Firesinger das Feuerzeug erneut an und hielt es in den Raum zwischen ihnen. Cara sah aus, als wäre sie eine größere Strecke gerannt. Sie war ganz außer Atem. »Ist Ihnen was dazwischengekommen? Na, egal, das können Sie mir auch später noch erzählen. Zuerst brauchen wir wieder Strom.
Wissen Sie, wo sich der Sicherungskasten befindet?« Der Ärger vom frühen Abend war verflogen. Cara Myers Augen weckten in Firesinger das Bedürfnis, sich ihre Sympathie zu sichern. Er mochte sie, seit sie im Taronga angefangen hatte. Sie war noch in der Ausbildung, aber durch ihre frische, frech-fröhliche Art hatte sie schnell die Akzeptanz der »Längerdienenden« errungen. »Tut mir echt leid, Doktor! Ich hatte eine Panne, mußte mich erst um mein Auto kümmern, ehe ich mit dem Taxi herkam.« Sie klang noch völlig aufgewühlt. »Wer hat Sie reingelassen?« Ihr Lächeln erlosch für einen Augenblick. »Kilroy. Dieses Ferkel …« Zwischen Firesingers Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. »Ferkel? Wieso?« »Der versucht immer, an einem rumzutatschen.« »Das müssen Sie melden!« »Ach was. Das bin ich gewohnt. Ich werd’ ganz gut allein damit fertig. Außerdem …« »Ja?« Sie machte einen Schritt nach vorn und berührte fast die Flamme – als wäre sie sich der Gefahr gar nicht bewußt. Firesinger wich gedankenschnell aus. Die Flamme erlosch. »Außerdem ist es manchmal ganz schön, angefaßt zu werden.« Ihre Stimme hatte sich verändert. Kurzatmig war sie immer noch, aber das Timbre darin elektrisierte Firesinger regelrecht. Freda … Er biß sich auf die Lippe. Freda war weit weg. Cara ganz nah. Die Mischung aus Naivität und Verruchtheit, die sie gerade zur Explosion brachte, raubte ihm den Atem. Er war nicht fähig, die Hände abzuwehren, die über seine Brust strichen. Gleichzeitig fühl-
te er etwas Warmes, Weiches, das nur ihre Lippen sein konnte. Sie berührten sein Kinn und rutschten höher zu seinem Mund. Vor Aufregung biß Firesinger heftiger zu als gewollt. Ein Blutstropfen quoll aus der Unterlippe – im selben Moment, in dem sich Cara damit vereinigte. Firesinger erwartete, daß sie zurückzucken würde. Das geschah nicht. Im Gegenteil, sie kam ihm noch näher. Ihre Zunge bohrte sich zwischen seinen Zähnen hindurch und leckte über seine Zunge. Firesinger platzte fast die Hose. Er war entschlossen, nicht über die Konsequenzen dieser unerwarteten Entwicklung nachzudenken, nicht solange die Situation noch andauerte. »Du schmeckst wunderbar.« Sie hatte sich von ihm gelöst, ohne ihn loszulassen. Von hinten preßten sich jetzt ihre Hände gegen seinen Rücken, von vorn ihr Venushügel gegen Firesingers schmerzhaft hartes Geschlecht. Freda bringt mich um, wenn sie erfährt – Es war der letzte abgehackte Gedanke, den er an sie verschwendete. Er zog Cara ins Innere der Station und warf die Tür ins Schloß. Die Finsternis kam ihm gelegen. Sie half ihm, seine Verlegenheit abzustreifen. Unbeherrscht suchte er einen Weg unter Caras Bluse. Knöpfe rissen ab. Aber sie bremste ihn nicht. Sie wollte es. Das kleine Biest legte es darauf an …! Eine Hand an ihrer Brust, wanderte Firesingers andere Hand hinab und raffte ihren knielangen Rock hoch, bis der Weg frei war. Fast. Er mußte noch das Stringband eines Slips beiseite schieben, dann konnte er mit dem Finger eintauchen in ihr Schatzkästlein. Schatzkästlein … So nannte – Nein! Er weigerte sich, den Zauber zu zerstören. Seine Beziehung mit Freda war eingefahren. Der Reiz, der übermächtige Reiz des Neuen
fehlte. Sie liebten sich. Sie würden einander heiraten, weil sie in so vielem übereinstimmten … aber der Sex war kaum noch mehr als eine Pflichtübung. Jede Bewegung, jedes Gestammel, jeder Stellungswechsel war vorhersehbar geworden. Hier war es anders. Hier wußte Firesinger nicht, was auf ihn zukommen würde. Wußte nicht, was Cara ihm erlauben würde. Darüber hinaus fühlte sie sich anders, weicher an als Freda. Er … »Stopp!« »Stopp?« Bevor sich die knisternde Erregung verabschieden konnte, erklärte sie ihm: »Öffne meine Handtasche. Dort findest du etwas, ohne das wir es nicht machen sollten …« Natürlich! Einen Moment war Firesinger entsetzt, daß er die simpelsten Gebote der Vor- und Rücksicht außer acht gelassen hatte und bereit gewesen wäre, sie ungeschützt zu nehmen. Er hatte gar nicht bemerkt, daß sie eine Handtasche bei sich trug. Doch jetzt nahm sie seine Hand und führte sie im Dunkeln zu einem Beutel aus weichem Leder. Sie öffnete den Verschluß und ließ ihn dann nach dem Kondom suchen, das er darin zu finden erwartete. Doch seine tastenden Finger fanden etwas ganz anderes … Firesinger brüllte auf wie ein waidwundes Tier. Dann war es um ihn geschehen.
* »Was … war das?« Am veränderten Klang seiner Stimme erkannte Cara Myer, daß die Wandlung vollzogen war. »Ein furchtbarer Moment, ich weiß«, sagte sie kehlig. »Aber jetzt ist es gut, nicht wahr? Es ist, als sähe man die Welt zum ersten Mal richtig …« »Ich sehe gar nichts«, erwiderte Firesinger abweisend. Er stand da
wie erstarrt. »Was war das?« »Hat es nicht zu dir … gesprochen?« Er schwieg. Dann wurde er unruhig, entfernte sich ein paar Schritte weit in die Dunkelheit. »Diese Bilder … Diese Bilder in meinem Kopf …« »Sie werden sich ordnen wie die bunten Steinchen eines Kaleidoskops. So war es jedenfalls bei mir. Und dann wirst du das Muster erkennen. Dann wirst du begreifen, was es von dir will … von uns allen, die wir es berührt haben!« Sie bewegte sich vorsichtig zur Tür zurück und öffnete sie. Ohne abzuwarten, ob er ihr folgte, trat sie ins Freie. Schrittgeräusche verrieten, daß er nachkam. Cara sah seinen Schemen neben sich aufwachsen. »Du weißt mehr als ich«, sagte er. »Nur, weil ich schon vor Stunden erleuchtet wurde. Es ist der Grund für meine Verspätung. Sie fingen mich auf dem Weg hierher ab.«. »Sie?« »Die auf uns warten. Die mich schickten.« »Du wurdest geschickt …« Firesingers Stimme verebbte wie eine Welle, die auf einem bleichen Strand ausrollte. »Ich verstehe nicht …« »Du wirst verstehen. Sie haben schon alles vorbereitet. Sie warten nur noch auf dich.« »Auf mich …?« »Sie brauchen deine Hilfe. Du wurdest auserwählt, um die Visionen zu realisieren. Um dazu beizutragen, die Prophezeiung wahr werden zu lassen.« Cara umfaßte den Riemen der Handtasche, so fest, daß ihre Knöchel hervortraten. »Komm«, forderte sie den Mann auf, der keinen Gedanken mehr an die Befriedigung seiner sexuellen Phantasien verschwendete. Sein ganzes Denken drehte sich nur noch um das Chaos, das in ihm tobte. Die Stimmen und Szenen, die
nicht in seinem eigenen Kopf geboren worden, sondern hineingeschlichen waren … »Wohin führst mich? Zu ihnen?« Firesinger so hilflos zu sehen, erregte Cara. Sie war ihm ein paar Schritte voraus. Sie konnte auch wieder an andere Dinge denken. Dennoch besaß alles, was mit dem Plan zusammenhing, absolute Priorität. »Ja, zu ihnen. Komm jetzt.« Sie winkte ihn zu sich, nahm seine Hand. Die Handtasche schlug bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte. Plötzlich hielt Firesinger inne und fragte: »Darf ich es sehen? Bitte!« Sie schüttelte den Kopf und drängte zum Weitergehen. »Vielleicht erlauben sie es dir. Wenn deine Arbeit erledigt ist.« »Welche Arbeit?« »Hast du solche … Wesen, wie sie durch deinen und meinen Kopf geistern, schon einmal gesehen?« Er stöhnte leise auf. »Solche Mißgeburten gibt es nicht!« »Noch nicht«, stimmte sie ihm zu. »Aber es wird sie geben. Sehr bald. Dank dir … und uns …«
* Darren Secadas Züge vereisten. Er ballte die Fäuste und preßte hervor: »Jeder weiß, wie Jerusalem untergegangen ist.« Er schwieg kurz und kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Nach einer Weile schien er seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Lilith wartete es ab, ohne nachzuhelfen, ohne ihn auf ihre spezielle Art und Weise zu drängen. »Was soll das?« fauchte er. »Jedes kleine Kind weiß es, und du tust, als hättest gerade du keine Ahnung …? Aber einen Grund wird es schließlich haben, warum du ausgerechnet nach Jerusalem fragst … Welchen?«
Sie zögerte. Wie hätte sie ihm in wenigen Worten erklären können, welche Bedeutung die Stadt in ihrem Kampf gegen den leibhaftigen Satan, gegen Gabriel und den gefallenen Erzengel Luzifer, gehabt hatte? »Ich war dort, als die Stadt … unterging.« Er lachte gallebitter auf und schüttelte den Kopf. »Niemals! Wärst du dort gewesen, würdest du es jetzt nicht mehr behaupten können.« »Warum nicht?« »Weil …«, Darren schürzte die Lippen, wobei sich seine angespannten Züge kaum lockerten, »… es keine Überlebenden gibt. Niemand, der sich zum Zeitpunkt der Katastrophe in Jerusalem aufhielt, hat es überlebt! Es ist eine der größten Tragödien in der Geschichte der Menschen. Vergleichbar höchstens mit Pompeji oder Hiroshima …« Er ahnte nicht, was seine Worte in ihr auslösten. »Wie? Wie sind sie gestorben?« Ihr Gegenüber schien mit sich zu hadern, kam aber zu dem Schluß, daß ihre Neugierde echt, nicht gespielt war. »Die Große Katastrophe«, sagte er. »Es gibt Unmengen von Literatur darüber, aber widersprüchliche Thesen. Klar ist nur, daß ein Erdbeben, verheerende Erdverwerfungen die Sache ins Rollen brachten. Jerusalem ist zerstört, kein Stein steht mehr auf dem anderen. Flüsse von Lava haben sich durch die Stadt gewälzt und alles, was nach dem Beben noch übrig blieb, überrollt. Alles ging so schnell, daß keine Hilfe von außen geleistet werden konnte. Wer in der Stadt war, starb in den ersten drei Minuten. So lange dauerte das Beben mit der Stärke zwölf auf der Richterskala.« »Zwölf?« Darren nickte mit traurigem Blick. »Seit Jerusalem ‘98 ist Seismologie eine ins Abseits gerückte Wissenschaft. Kein Mensch nimmt sie mehr ernst. Was in Jerusalem, was in der tektonisch beruhigten Zone
des Sinai passierte, stellt die Forschung vor Rätsel, die bis heute nicht gelöst sind. Und daß ausgerechnet Jerusalem auf diese Weise von den Landkarten getilgt wurde, kommt einigen pseudoreligiösen Strömungen nicht ungelegen. Sie wittern darin Anzeichen für den bevorstehenden Weltuntergang. Du weißt schon: Die Schwelle zum dritten Jahrtausend gilt in vielen Kulturkreisen als unüberwindlich …« Lilith hörte kaum noch zu. Jerusalem. All die Menschen. Sind sie wirklich gestorben? hatte sie den Schöpfer in der Agonie ihrer Erschöpfung, unmittelbar nach dem kräfteaufreibenden Sieg über Luzifers Gesandten Gabriel gefragt. * Und geantwortet hatte Er: WAS TOT IST, SOLL TOT BLEIBEN. Was tot ist, soll tot bleiben … Jerusalem, seine Bewohner, waren durch Satans Armee aus Werwölfen und Archonten vernichtet worden – und Gott hatte danach alle Spuren verwischt, die den überlebenden Menschen dies hätten verraten können. Pompeji, Hiroshima, Jerusalem … Ihr wurde übel. Sie wollte nichts mehr davon hören. Später vielleicht, aber nicht jetzt. »Warum ich eigentlich gekommen bin …« »Ja?« »Ich wollte dir zeigen, womit ich meine ›Freizeit‹ der letzten Tage verbracht habe.«
* Taronga-Zoo, Sektion Süd, Schildkrötenhaus Craig Leywin wußte, daß die meisten elektronischen Türverriegelungen der Tierunterbringungen mit einem extrem simplen Zahlencode zu öffnen waren. Sein Vater hatte es erwähnt, als er sich seines *siehe VAMPIRA T50: »Armageddon«
neuen Jobs gebrüstet hatte. Die Zahlenkombination für das Schildkrötenhauses hatte er gleich mitgeliefert. Als Beispiel und ohne sich etwas dabei zu denken: 007. Craig stieß Sailor, der sich so dicht an ihn gedrängt hatte, daß er dessen Schweiß riechen konnte, weg und richtete sich wieder auf, nachdem er sich sekundenlang über das wettergeschützte Tastaturpad neben der Außentür gebeugt hatte. Dann trat er einen Schritt zurück, machte einen Knicks wie die coolen Jungs in den alten Musketierfilmen, und wies einladend zur Tür. Und dachte dabei: Verdammt, eigentlich will ich das doch gar nicht. Wie habe ich mich nur in diesen Schlamassel geritten? Aber ein Zurück gab es nicht mehr. Im Grunde hatte er seine Freunde erst auf die Idee gebracht, spät nachts in den Zoo einzubrechen und sich dem perversem Zeitvertreib zu widmen, Tiere zu quälen. Angefangen hatte es vor zwei Jahren. Sein Vater hatte einen kleinen Hund mit nach Hause gebracht, einen Welpen, den er von irgendeinem Saufkumpan aufs Auge gedrückt bekommen hatte. Richtig putzig hatte er ausgesehen. Sam Leywin hatte ihn seinem Sohn in die Arme gelegt und gesagt: »Für dich! Du wolltest doch immer einen Köter!« »Das war, als ich sechs war.« »Na und? Er heißt Sam. Wie ich. Damit du immer an mich denkst!« Mit diesen Worten war er hoch ins Schlafzimmer gewankt, wo Craigs Mutter gerade staubsaugte. Das Geräusch lief weiter, aber wenig später hatten sich andere Laute hineingemischt. Gequälte Schreie, Weinen – und ein fast animalisches Schnauben. Craig hatte überlegt, ob er in die Küche gehen, ein Fleischmesser holen und seiner Mutter zu Hilfe eilen sollte. Er war in die Küche gegangen. Und dann mit »Sam« in den Gar-
ten, wo der alte Geräteschuppen stand. Allmächtiger, diese Augen … die Augen des Welpen, der bis zuletzt nicht verstanden hatte, was mit ihm passierte, suchten ihn noch heute manchmal in seinen Träumen heim. Sein Vater hatte nie mehr nach dem Hund gefragt. Aber so hatte es angefangen. So hatte Craig die spezielle Lust entdeckt, die böse Lust am Quälen und am Töten. Und erst viel später war ihm klar geworden, daß die unschuldigen Tiere nur Ersatz waren – Ersatzopfer für ihn … »Was ist? Willst du Wurzeln schlagen?« Pierce’ gehässiges Organ riß Craig aus der gedanklichen Abwesenheit. Craig und Sailor trugen Jeanshosen- und Jacken, Pierce Lederklamotten. Schwarze Lederklamotten. Er war ganz vernarrt in alles Schwarze. »Ich komm’ ja schon …« Craig tauchte durch das Türviereck. Seine Hand klatschte gegen den Lichtschalter. Sailor schrie protestierend auf: »He!« »Wovor hast du Angst?« knirschte Pierce abfällig. Er hatte die Daumen in seine Hosentaschen gehakt. »Craigs Alter ist im Delirium tremens. Und sonst stiefelt nachts keiner durch den Park.« »Hoffentlich.« Craig senkte kurz das Haupt. »Mein beschissener Erzeuger sagte, daß die letzten Tage ein paar Tiere verschwunden wären. Keiner weiß, wo sie abgeblieben sind. Die Bullen haben sich eingeklinkt …« Pierce spuckte etwas Undefinierbares auf den gefliesten Boden. »Ihr klingt beide, als hättet ihr die Hosen gestrichen voll. Ich frage mich, welche Gehirnwäsche mich dazu gebracht hat, mit euch um die Häuser zu ziehen. Spaß, ey! Hattest du mir nicht Spaß versprochen?« Craig richtete sich kerzengerade auf. »Schon gut. Arschloch. Von wem stammt denn die Idee, hierher zu kommen?« »Hört auf zu streiten!« Sailor trat zwischen sie. Sein Mund war so
weich und fraulich geschwungen, daß er häufig als Tunte verhöhnt wurde. Selbst Pierce hatte Craig einmal sturzbetrunken ins Ohr geflüstert, daß er nichts dagegen hätte, wenn Sailor ihm mal ein paar Kunststückchen mit diesen Lippen zeigen würde – unter vier Augen. Pierce war vermutlich der Abartigste von ihnen. Noch abartiger als ich. Craig gab Sailor einen Wink, der Zustimmung bedeutete. Auch Pierce hielt sein Schandmaul, und zu dritt gingen sie durch einen kurzen, neonerhellten Flur zu einer Eisentür, die unverschlossen war. Dahinter lagen die Schildkrötennester. Das aufflackernde Licht mußte die Tiere erschrecken, aber sie rührten sich nicht. Phlegmatisch starrten sie zu dem Trio, von dessen Absichten sie nichts ahnten. »Kochen wir uns eine schöne Schildkrötensuppe?« kicherte Pierce. Er zeigte auf einen Behälter, in dem vermutlich Futter aufbereitet wurde. »Mir knurrt der Magen.« Das Licht hatte sich inzwischen stabilisiert. Craig sah sich um. Der Drang, der beim Anblick der trotz ihrer dicken Hornschilde wehrlosen Kröten in ihm erwachte, verursachte ihm Übelkeit. So war es immer. Anfangs. »Laßt uns –«, setzte er an. In diesem Augenblick stürzte Dunkelheit über sie herein. Überraschte Rufe wurden laut. In der Luft lag plötzlich ein brenzliger Geruch, als wären Kabel durchgeschmort. »Verdammt! Mach mal einer Licht!« »Wie denn?« »Nimm dein Feuerzeug.« Rascheln, dann: »Hab’s nicht dabei. Muß in der anderen Jacke stecken. Oh, Shit! Was ist mit euch? Craig? Pierce?« Pierce fluchte nur wie ein Kombüsenmaat. Craig gab zunächst überhaupt keinen Ton von sich. Er war wie benommen, mußte die
Gefühle, die sich wie ein kalt glitzernder Nebel über sein normales Ich gelegt hatten, erst wieder zurückdrängen. Rauh sagte er schließlich: »Wir gehen. Schildkröten sind doch sowieso langweilig. Laßt uns zu den Freigehegen. Laßt uns etwas Großes in die Mangel nehmen.« Tastend verließen sie das Haus. Und prallten fast gleichzeitig vor dem Anblick zurück, der sich ihnen bot. Der Himmel … Die – die Sterne …! »Gott, der Allmächtige …«, hauchte Sailor, dem ebenso wie den beiden anderen dämmerte, daß nicht nur das elektrische Licht schlagartig und eigentlich unerklärlich erloschen war.
* »Macht sieben Dollar achtzig.« Die Stimme des Taxidrivers veranlaßte Darren Secada, seinen Blick kurz aus der Umgebung zurückzuziehen und tief in die Tasche seiner Jacke zu greifen. Er ließ einen Zehndollarschein in die riesige Hand des Fahrers sinken. »Stimmt so, Meister.« »Untertänigsten Dank, Sie Glückspilz.« »Glückspilz?« Der Mann, ein Maori, der offenbar eine der raren Aufenthaltsgenehmigungen für Australien ergattert hatte, nickte in Richtung seines weiblichen Fahrgastes, der bereits ausgestiegen war. Darren verstand. Wortlos verließ auch er das Taxi, das sich kurz darauf entfernte. Lilith stand bereits auf dem Grund und Boden ihres Anwesens. Unbehaglich, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, schloß Darren zu ihr auf. »Wie hast du das gemacht?« »Was meinst du?« Unschuldsvoll blickte sie an ihm vorbei zu dem
Ort, wo sie ihm »etwas zeigen« wollte. Scheinheilig trifft es besser, dachte Darren. »Ich meine die Bullen …«, er grinste düster, immerhin war er im weitesten Sinn selbst ein »Bulle«, »… und die Medien. Wo hast du sie verscharrt?« Sie ignorierte seinen groben Scherz. Schulterzuckend erklärte sie: »Offenbar haben sie eingesehen, daß ihre Arbeit hier erledigt ist.« »So wie Scone eingesehen hat, daß er das interne Ermittlungsverfahren gegen mich einstellen soll?« Sie ging auf das Haus zu und zog ihn wie an einem unsichtbaren Band hinter sich her. »Denk nicht länger darüber nach.« »Du kannst nicht die ganze Welt bescheißen«, stöhnte er. »Die Bilder sind doch längst um den Globus gegangen. Wie kannst du nur glauben –« »Laß es meine Sorge sein, ja?« Eingeschnappt zerbiß er einen Fluch zwischen den Zähnen. Dann standen sie vor der Haustür. »Würdest du mich über die Schwelle tragen?« Perplex starrte er sie an. »Schon gut, war ein Scherz. Sei locker. Die Gefahren, die es einmal zu fürchten gab, sind beseitigt.« »Bist du sicher?« Darrens Gedanken kreisten immer noch um ihren Scherz. Weil ihm inzwischen klargeworden war, daß er alles tun würde, was diese Frau von ihm wollte – wenn sie es ihm auf ihre ganz eigene Art und Weise befahl. Seine Nackenhärchen sträubten sich, und eine innere Stimme drängte ihn, sich umzudrehen und fortzulaufen, ohne ein einziges Mal zurückzublicken. Die Chancen, daß sie es zugelassen hätte, standen gering, aber wahrscheinlich war es eine Chance. Je länger er hingegen bei ihr blieb, desto trüber wurden die Aussichten, je wieder von ihr loszukommen …
Er schluckte, als er begriff, welches Bild er sich von ihr machte: Eine Spinne war sie, in deren Netz er sich verfangen hatte – eine Hydra, die ihn mit unzähligen Armen und verführerischen Zungen umschlungen hielt! Krampfhaft versuchte er diese Vorstellung zurückzudrängen. Denn er hatte längst gemerkt, daß sie das Zerrbild, das sein Unterbewußtsein von ihr entworfen hatte, um ihn gegen sie aufzuwiegeln, eben auch nicht war. Sie – »Darren?« Sie stand bereits hinter der Schwelle. In dem Haus, von dem Secada in diesem Augenblick begriff, daß es die meiste Schuld daran trug, wenn er gern einen Rückzieher gemacht hätte. Als er es vor Tagen allein und aus einer spontanen Eingebung heraus betreten hatte, war ihm gewesen, als hätte er die Nähe seines Vaters darin gespürt. Seines Vaters, der im Bitter Blue Asylum, einer psychiatrischen Anstalt, einsaß, seit sein Verstand vor knapp vier Jahren während einer Untersuchung in diesem Haus heillos zerrüttet worden war. Sein Vater hatte als Parapsychologe gearbeitet. Darren selbst hatte Medizin studiert und sich dann für die Fachrichtung Pathologie entschieden. Ein Detektiv war er geworden, der die Hintergründe mutmaßlich gewaltsam herbeigeführter Tode erforschte. Das Geheimnis dieses Hauses hatte er noch immer nicht ergründen können … »Ich komme.« Es gelang ihm, die innere Blockade niederzureißen, die ihn hinderte, ihr zu folgen. Im Grunde hatte er überhaupt keine Wahl. Zu tief war er bereits in die Ereignisse verstrickt, die nicht nur mit diesem Haus und dieser Frau zusammenhingen. In Sydney tat sich auch sonst einiges, was dem gesunden Menschenverstand hohnsprach … Darren betrat das veränderte Haus. Und mußte an sich halten, um seine Betroffenheit nicht offen zum
Ausdruck zu bringen. »Das … hast du gemacht?« Sie wirkte völlig arglos und stolz auf ihr Schaffen. »Gefällt es dir?« »Es ist …« Beängstigend. »… außergewöhnlich …« Sie trat einen Schritt auf ihn zu und führte ihn zu einer »Kommode«, über der ein »Bild« hing. Darren wagte nicht, es anzuschauen. Das »Gemälde« machte ihm fast mehr Angst als das vermeintliche Mobiliar. »Außergewöhnlich sagt nicht, ob es dir gefällt.« »Es – gefällt mir.« »Du lügst. Und das auch noch ziemlich schlecht.« »Was soll ich sagen?« »Die Wahrheit!« »Ich habe kaum etwas gesehen. Zeig mir alles. Dann sag ich dir meine Meinung.« Es war nur ein Aufschub, den er aushandeln wollte. Er hatte keine Hoffnung, daß die anderen Bereiche des Hauses anders aussahen. Echter. Wirklicher. Wahrscheinlich spürte sie, daß er sich herausreden wollte. Und vielleicht würde sie ihn in ihrer Enttäuschung zwingen, ihr hier und jetzt sein wahres Urteil zu eröffnen … Aber das tat sie nicht. Sie wandte sich ab und durchquerte die Vorhalle. Darren folgte ihr in ein Zimmer, das sich, wie erwartet und befürchtet, nicht von dem unterschied, was er bereits gesehen hatte. Als er das Haus zum ersten Mal betreten hatte, war es leer und öde gewesen und hatte einen kulissenartigen Eindruck auf ihn gemacht. Zumindest die Leere war gewichen. Überall standen oder hingen nun … Dinge. Aber Dinge, die immer noch seltsam unecht, attrappenhaft wirk-
ten. Die Möbel waren vom selben Grau wie Wände, Böden und Decken. Sie sahen aus, als wären sie aus Pappmaché gefertigt – Bestandteile für ein Bühnenbild … Selbst das Feuer, das im Kamin flackerte, sah aus wie ein Trick. Wie gemalt. Und von Geisterhand bewegt. Es strömte keine Wärme aus. Nichts hier strömte Wärme aus, mit Ausnahme von – ihr. Lilith. Wir müssen reden. Wir müssen DRINGEND REDEN. Über alles. Darren nestelte an seinem Kragen. Er bekam nicht genug Luft. Alles hier drinnen schien verbraucht. Jedes Molekül schien schon einmal geatmet worden zu sein. Er trat hinter sie und legte eine Hand auf ihre Schulter. Er überwand sich, es zu tun. Und dann schauderte ihn noch tiefer als ohnehin schon. Denn der Stoff auf ihrer Haut schien ihn von sich wegstoßen zu wollen. Er begegnete ihm so ablehnend wie das ganze Haus … »Warum …«, er räusperte sich, »… warum legst du so großen Wert darauf, daß es mir gefällt? Die Geschmäcker sind verschieden. Wenn du dich hier wohl fühlst, ist es in Ordnung.« Für dich. Sie drehte sich langsam zu ihm um. »Es wäre mir wichtig, daß du dich ebenso wohl fühlst.« Ohne den Ausdruck auf seinem Gesicht zu verändern, fragte er: »Warum?« Sie zögerte. Schließlich sagte sie: »Weil du dort, wo du jetzt wohnst, nicht mehr sicher bist. Ich wollte dir anbieten …« Das fast panische Entsetzen, das sich auf seine Züge malte, hätte niemand übersehen können – am wenigsten eine Frau wie sie. »Du sagtest, du hättest mit Holloway und Scone gesprochen. Demnach hätte ich nichts mehr –« »– zu befürchten?« Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar glänzte wie mit schwarzem Lack überzogen. »Ich wünschte, es wäre so einfach.
Aber die, von denen die wahre Gefahr ausgeht, sind mit Appellen nicht zu beeindrucken. Und sie haben schon bewiesen, daß sie deine Adresse kennen.« »Du meinst die …« »Ich meine die Vampire, ja.« Er vermied das Wort noch immer, so gut er eben konnte, während es für Lilith der gebräuchlichste Begriff ihres Wortschatzes zu sein schien. »Du glaubst, sie werden es wieder versuchen?« »Wenn sie zu dem Schluß kommen, daß wir noch Kontakt zueinander haben. Ich bin überzeugt, daß ich das Ziel ihrer Attacke war – nicht du.« Diese Überzeugung teilte Darren. Zumindest versteckte er sich hinter der Hoffnung. »Was hast du ihnen getan?« »Nichts. Ihren Vorgängern habe ich einiges angetan, aber dieser Sorte Blutsauger … Sie ist so neu für mich wie für dich.« »Es wäre ein guter Zeitpunkt, darüber zu sprechen, worin sie sich von ihren ›Vorgängern‹ unterscheiden. Und was du denen angetan hast …« »Hier? Ich dachte, du fühlst dich … unwohl in diesen Wänden.« »Ich könnte darüber hinwegsehen.« »Ist es wirklich so schlimm?« »Es … Nein. Es ist auszuhalten.« »Das klingt gar nicht gut. Jedenfalls nicht so, als könnte ich dich überreden, mein Asylangebot anzunehmen.« »Nein, ich schätze nicht, daß dir das gelingt. Aber laß uns über andere wichtige Dinge reden …« Er schwieg. Weil er es nicht länger ertrug. Worte! Nur wenige Zentimeter trennten diese unglaubliche Frau von ihm, und das einzige, was ihm einfiel, war dieses sinnlose Gerede!
»Was –?« Verblüffung malte sich auf ihr Gesicht, als er sie an den Schultern faßte und zu sich umdrehte. Dann vereinigte er auch schon seine Lippen mit den ihren. Sie überwand ihre Verblüffung, bevor er wieder kalte Füße bekommen konnte, und erwiderte dieses Eingeständnis seiner Gefühle. »Endlich …« Er hätte nicht einmal sagen – jedenfalls nicht beschwören – können, ob ihr oder ihm dieser Seufzer herausrutschte. »Komm!« Sie zog ihn zur Couch … oder zu dem, was auf Darren Secada wie der Platzhalter für eine Couch wirkte. Als sie zusammen darauf niedersanken, ließ auch die Bequemlichkeit zu wünschen übrig. Zumindest für ihn. Lilith schien sich in den »Polstern« dieses Möbels wohl zu fühlen. Sie schnurrte wie ein zufriedenes, von großer Anspannung erleichtertes Kätzchen. Minutenlang tauschten sie nur Zärtlichkeiten aus, streichelten und küßten sich, ohne daß die Leidenschaft abflaute. Zum letzten allerdings wollte Darren es nicht kommen lassen. Noch nicht. Als ihre Hand nach unten glitt, griff er zu und hielt sie zurück. Sie sah ihn aus großen Augen an, und er begriff, wie normal und natürlich es für sie gewesen wäre, auch diesen Schritt mit ihm zu vollziehen. Bevor sie etwas Erklärendes sagen konnte, erstarrte sie. Ihre Augen weiteten sich. »Was ist?« »Ich … weiß nicht. Aber ich werde es herausfinden …« Sie löste sich aus seiner Umklammerung. Im nächsten Moment schienen die Wände des Hauses – sämtliche Wände – transparent wie Glas zu werden. Darren hatte das Gefühl, plötzlich in dunkler Nacht zu stehen. Auf einem Grundstück, auf dem das »Spukhaus« wieder aufgehört hatte zu existieren.
»Da!« Liliths Arm hob sich in die Dunkelheit, als wäre es ein Leib, den sie durchbohren wollte. Darren folgte ihrem Fingerzeig. Und spürte, wie nichtig das war, was eben noch sein ganzes Fühlen und Denken ausgefüllt hatte … nichtig im Vergleich zu dem, was sich dort oben, in der sternflimmernden Nacht, im Himmel über Sydney zusammenbraute. »Gütiger Himmel, was ist das?« Lilith wiederholte ihre Aussage von vorhin beinahe wortgetreu. »Ich weiß es nicht. Aber ich finde es heraus … Warte hier auf mich! Bitte, warte hier und unternimm nichts Unüberlegtes!« Nach diesen Worten fand sich Darren wieder in dem kulissenhaften Zimmer vor dem Kamin, der seinen Sinnen wie eine Fälschung erschien. Er war allein. Wo war Lilith so schnell hin verschwunden? Und – wann würde sie wiederkommen? Wie lange wollte sie ihn in diesem Alptraum von Heim alleine lassen …? »Nein!« rief er ihr nach, und seine Worte hallten hohl von den Kulissen wider. »Komm zurück! Ich bleibe nicht hier! Keine Minute bleibe ich hier – allein …!«
* Was braute sich da am Himmel zusammen? Was ging dort vor …? Schwarze Schlieren schienen aus allen Richtungen zusammenzulaufen und sich kochend miteinander zu vereinen. Das Gebräu verdeckte bereits die Sterne, war in ständiger, wahnsinniger Bewegung, wirbelte, rotierte, blähte sich auf und sank wieder in sich zusammen wie Teerblasen, in die eine unsichtbare Nadel stach … Ununterbrochen ging das so. Der Nachthimmel hatte sich in einen Mahlstrom verwandelt, ein tobendes Verhängnis, in dessen Ausläufer …
… von Südwesten her gerade Lichter eindrangen. Ein Flugzeug. Craig, Sailor und Pierce beobachteten das gespenstische Schauspiel wie zu Salzsäulen erstarrt. »Geil!« entfuhr es Pierce, und er schnalzte mit der durchstochenen Zunge. »Habt ihr jemals so ein Unwetter gesehen?« Niemand antwortete ihm. Das Gebräu zog sich mehr und mehr zusammen, bis es eine Art Schlauch formte, der bis in Bodennähe reichte, sich in Spiralen drehte und immer wieder Auswüchse bildete, die aus der Bündelung auszubrechen versuchten … »Ein … Hurrican! Verschwinden wir! Hauen wir ab! Bevor uns alles um die Ohren fliegt!« Sailors Stimme kippte. Er trat zwischen Craig und Pierce und zerrte an ihren Ärmeln. »Es ist absolut windstill …«, murmelte Craig. Er war benommen. Wie betäubt. Die Vorgänge am Himmel erschienen ihm wie ein Spiegelbild des Dunkels, das in ihm selbst rumorte und brodelte, seit er … seit er den Welpen bestialisch zerstückelt hatte. Ein Teil der verschwundenen Gestirne und auch die Positionslichter des Flugzeugs, das vom nahen Brighton-Le-Sands-Flughafen gestartet war, tauchten unversehens wieder am Himmel auf. Letztere stürzten fast senkrecht, wie fallender Stern, zur Erde herab. »O Scheißeeeee!« Sailors Hysterie ließ Pierce völlig ungerührt. Und Craig … Craig dachte an seinen Dad. Den besoffenen Schweinehund, der nicht einmal merken würde, wenn ihm ein Flugzeug auf dem Kopf fiel! »Wir werden alle –« Sailors geschriene Worte brachen jäh ab. Den Piloten des Flugzeugs gelang es, den rapiden Sturz abzufangen. In einem steilen Bogen brachten sie die Maschine binnen Sekunden wieder in die Horizontale. Sailor schluchzte erleichtert und vergaß für ein paar Momente so-
gar den wie eine Mischung aus kochendem Blei und Quecksilber brodelnden »Schlauch«, der immer noch über dem Zoo rotierte, irgendwo an seinem südlichen Rand. Craig fror bis ins Herz. Er vermißte selbst das Gefühl von Angst, das Sailor fast um den Verstand gebracht hatte. Es wäre normal gewesen. Aber in ihm war nur eine klamme Kälte, eine Vorahnung, daß die Windhose – oder was immer es war – nur der Auftakt zu weit dramatischeren Vorgängen war. »Es wird die Stadt zerlegen«, kicherte Pierce. »Erst den Tierpark mit allen Bauten, und dann –« »Wir sind im Tierpark, du kranker Idiot!« blaffte Sailor. Er ließ Pierce’ Ärmel los und versetzte ihm einen Hieb mit der Faust gegen den Oberarm. Er wußte nicht, was er tat. Pierce war ihm in allen Belangen – sogar geistig – überlegen. Aber Pierce beachtete den Hieb noch nicht einmal. Eine Fliege, die auf seinem Arm gelandet wäre, hätte ihn vermutlich mehr gestört. »Na und? Könnt ihr euch einen geileren Abschied von der Welt vor –« In diesem Augenblick machte es leise Plopp. Keiner der drei wäre in der Lage gewesen, den Ursprung nur anhand des kurzen, trockenen Tons zu lokalisieren – am wenigsten Pierce. Pierce stand eine Sekunde nur stocksteif und stumm da. Dann kippte er rückwärts und schlug auf den gestampften Boden aus Sand und kleinen Steinen. Alles ging so schnell, daß für Craig und Sailor kaum Zeit zum Begreifen blieb. Als das zweite Plopp erklang, riß Sailor beide Arme in die Höhe … und landete unmittelbar neben Pierce auf der Erde. Craig bückte sich fast mechanisch. »He, ihr beiden Spinner. Hört auf mit dem Quatsch …«
Seine Hand berührte Sailors schmales Gesicht. Berührte etwas Warmes, Klebriges. Gleichzeitig nahm Craig neben sich, in unmittelbarer Nähe, eine Bewegung wahr. Ruckartig richtete er sich auf. »Wer –« Langsam kam die Gestalt näher. Sie schien das schwache Licht des Firmaments auf sich zu ziehen, ohne daß Details an ihr erkennbar wurden. Eine Frau, dachte Craig. Gleichzeitig begriff er, was sie in der Hand hielt und auf ihn gerichtet hatte. Eine Pistole. Der Lauf überlang … Ein Schalldämpfer! Scheiße, sie hat – Die personifizierte Drohung tauchte vor ihm auf. Das Gesicht nahm Konturen an. Die Augen. Craig konnte die Augen erkennen … und krümmte sich, als würde ihm ein glühendes Eisen in den Bauch geschoben. Im ersten Moment dachte er, sie habe geschossen und er hätte nur den dumpfen Knall überhört. Aber es war ihre Nähe, nur ihre Nähe, die ihn dazu brachte, sich in Schmerzen zu winden. »Was wolltet ihr hier?« Die Stimme klang hohl und schien aus allen Richtungen gleichzeitig auf Craig einzustürzen. Er war nicht in der Lage, zu antworten. Er mußte antworten. Ohne zu begreifen, welcher Wortschwall ihm über die Lippen kam, stand er zitternd und schwankend da und wartete darauf, daß ihn der Tod aus der Mündung der Pistole anspuckte. Es schien soweit, als die Frau noch einen Schritt näherkam und das kühle, metallische Rund gegen seine Stirn drückte. Die folgenden Worte der Unbekannten brannten sich wie ein Menetekel in sein Gehirn: »Du gefällst mir. Vielleicht kannst du uns ein wenig unterstützen. Aber wir müssen uns beeilen. Es ist bereits in vollem Gange …«
* Sie hat sie umgebracht. Sie hat sie kaltblütig abgeknallt …! Eine Weile kreisten Craigs Gedanken nur um den Tod seiner einzigen Freunde. Er verstand nicht, warum ausgerechnet er geschont worden war. WER WAR DIE FREMDE? Er spürte ihre bedrohliche Gegenwart in seinem Rücken, den schallgedämpften Lauf ihrer Waffe, der zwischen seinen Schulterblättern schwebte, und überlegte fieberhaft, wie er sein Leben retten konnte. Ihr Gerede hatte größte Verwirrung in ihm gestiftet, fast mehr noch als ihre Taten. Was meinte sie mit »uns unterstützen«? Was gab es in einem Zoo zu holen, das auch kaltblütigen Mord rechtfertigte? Schaudernd kehrte Craigs Blick zu dem unheimlichen Gebilde am Himmel zurück. Irgendwie gelangte er zu der Überzeugung, daß sie auch damit etwas zu tun hatte. »Wir … wir müssen fliehen!« krächzte er und wies in Richtung des Unheils, das sich in geringer Entfernung zusammenbraute. Ihr verächtliches Lachen schien seinen Verdacht zu bestätigen. »Du kannst das Zeichen nicht lesen. Nur wenige Auserwählte können das. Los jetzt, pack mit an! Du nimmst ihn!« Sie zeigte auf Pierce. »Ich kümmere mich um das Milchgesicht …« »Was haben Sie vor?« »Das wirst du sehen. Komm endlich, bevor ich die Geduld verliere!« Er sah, wie sie sich bückte und Sailor mit einer Hand am Kragen seiner Windjacke packte. Ohne die Waffe sinken zu lassen, schleifte sie den Körper über den gestampften Boden. Craig begriff, was sie vorhatte. Sie wollte ihre Opfer von der Bildfläche verschwinden lassen – und er sollte ihr dabei helfen. Danach würde er an der Reihe sein …
»Nein!« Sie hielt inne. »Nein …?« »Ich rühre keinen Finger. Erst soll ich Ihnen helfen, und dann werden Sie mich –« »Junge«, sagte sie gefährlich leise, »ich kann dich jederzeit umpusten. Sieh es ein, ich habe die Knarre. Und wer die Knarre hat, bestimmt!« Er schwieg. Und überlegte. Früher hatte er geglaubt, sich nicht vorm Tod zu fürchten. Aber die letzten Minuten hatten ihn vom Gegenteil überzeugt. »Wohin?« »Mir nach. Es ist gleich da vorne.« Craig blickte in die angegebene Richtung. Und erbleichte, als er das von einer Mauer umrandete Bassin der Alligatoren erkannte … Kurz darauf setzten sie, befreit von Ballast, ihren Weg fort. Selbst nach dieser neuerlichen grausamen Untat fühlte sich Craig auf einer Ebene, die ihn selbst entsetzte, zu der skrupellosen Fremden hingezogen. Und dieses abstruse Gefühl schwoll sogar noch an, mit jedem Schritt, den sie dem unheimlichen, schwärzer als die Nacht lohenden Fanal näherkamen …
* Nach minutenlangem Marsch blieb Craig stehen. Hätte er jetzt einen Stein vom Boden aufgehoben, wäre es ihm möglich gewesen, ihn mühelos bis zu den Rändern des Phänomens zu schleudern, das aus der Nähe betrachtet noch unwirklicher, zugleich aber auch atemberaubender und furchteinflößender wirkte als aus der Ferne. »Was – ist das? Sagen Sie mir, was das ist! Sonst gehe nicht weiter, keinen Schritt!« »Es gibt noch andere Tiere hier, die hungrig sind«, versetzte die
Frau. »Bist du mir wirklich brav bis hierher gefolgt, um nun doch noch alles aufs Spiel zu setzen? Wenn das dein erklärter Wille ist«, sie zuckte die Achseln, »dann beenden wir es hier.« Sie hob den Lauf der Pistole um eine Idee an. Craig begriff, daß sie nicht bluffte. Es hätte ihre Glaubwürdigkeit untergraben, und das würde diese Frau niemals zulassen. Rasch hob er die Hände. »Okay. Ich gebe mich geschlagen. Ich bin doch nur neugierig. Zeigen Sie mir, was hier vorgeht. Zeigen Sie mir, wer da los ist«, er nickte zum Gipfel des Felsens hinauf, an dem sie angelangt waren und aus dem der glitzernde Dorn aus wirbelnder Finsternis hervorzubrechen schien, »und wie es gemacht wird …« »Du glaubst, deswegen habe ich dich hergeführt?« Sie lachte. »Du hast keine Ahnung. Das Fanal dort oben zeigt den Wissenden lediglich, daß es geschieht. Aber es ist lediglich Beiwerk und wird nur so lange sichtbar sein, bis es vollbracht ist. Komm mit mir, und du wirst begreifen, was ich meine. Es wird dir gefallen.« Sie redet, als würden wir uns schon ewig kennen. Der Gedanke war Craig nicht unangenehm. Sein Körper schien die Gefahr, in der er schwebte, ohnehin zu ignorieren. Eine Erektion, wie er sie in dieser Heftigkeit selten erlebt hatte, quälte ihn, seit sie das Alligatoren-Bassin hinter sich gelassen hatten. Immer wieder hatte er verstohlen hinter sich geblickt und mehr als die Umrisse dieser Frau zu erkennen versucht. Ihr Alter schätzte er aufgrund seiner bisherigen Beobachtungen auf höchstens Mitte Zwanzig, nicht so viel älter also als er selbst. Sie hatte schmale Schultern und trug eine Kappe, die ihr Haar verbarg, so daß sich weder über die Farbe noch über die Länge ihrer Frisur etwas sagen ließ. Daß ihn dies überhaupt interessierte, war verblüffend. Er verstand es nicht. Nicht nach dem, was sie getan hatte – und vielleicht noch tun würde. Offenbar stimulierte der Nervenkitzel genau die Saite in
ihm, die er im Alltag stets unterdrückt hielt. Sie kennt mich besser, als ich mich selber kenne. Es war vollkommen verrückt. Ihm schien es, als wäre sie vorhin fest entschlossen gewesen, ihn ebenfalls ohne Wimpernzucken zu erschießen … … bis sie ihre Seelenverwandtschaft gespürt hatte. Das redest du Narr dir verdammt noch mal ein! Wahrscheinlich tat er das. Aber spielte es jetzt noch eine Rolle? Stumm und ergeben folgte er der brutalen Fremden, die keine moralischen Schranken zu kennen, zumindest aber nicht zu akzeptieren schien. Durch eine sperrangelweit offenstehende Tür, hinter der vage Helligkeit lockte, gelangten sie ins Innere des Berges, der künstlich angelegt worden war. Als Attraktion für Besucher und Touristen. Der Zweck, dem er momentan diente, war ein anderer – einer, der Craigs Herz noch höher schlagen ließ als ohnehin schon. Hätte er Prognosen für den weiteren Verlauf dieser Nacht abgeben sollen, wäre ihm wohl einiges Bizarre eingefallen. Aber kaum, daß er Doktor Frankenstein begegnen würde, dem wahnsinnigen Genie, das nur in einer Gruselerzählung existierte – und das dennoch soeben, vor den Augen von Craig und einer Schar anderer Zuschauer, wie besessen Gott spielte. Indem es die Schöpfung nach seinen Vorstellungen veränderte …
* Lilith landete zwischen Tiergehegen und üppiger Vegetation. Der Taronga-Zoo, erkannte sie intuitiv. Auch in dieser Hinsicht waren die beiden Jahre, die sie im Schoß des Hauses nachgeholt hatte, hilfreich gewesen. Das gewaltige Sydney war ihr vertraut geworden. In den 98 Jahren, die sie zuvor träumend in der magischen Obhut von 333, Paddington Street zugebracht hatte, waren andere Ta-
lente in ihr geweckt und gefördert worden. Bei ihrem ersten Erwachen hatte sie sämtliche irdischen Sprachen und Schriften beherrscht, ob noch gebräuchlich oder nicht. Aber sie hatte jedes Talent, jede Fähigkeit erst entdecken und für sich erschließen müssen. Diesmal war es anders. Diesmal war sie sich bewußt, was ihre persönlichen Anlagen in den vergangenen zwei Jahren vervollkommnet hatte. Nur an Gelegenheiten, jede neue Gabe zu erproben, mangelte es noch. Lilith bedauerte es nicht. Sie wußte, daß Gelegenheit auch Gefahr bedeuten würde. Als läge ein blutroter Schimmer darüber, nahm sie ihre Umgebung wahr. Das Dunkel der Nacht hatte für sie eine andere Qualität als für normale Menschen. In jeder Finsternis gab es noch genügend Restlicht, das ihre Augen aufspüren und verwerten konnten. Über einer kleinen Gruppe von Eukalypthen schien jenes Phänomen zu »stehen«, das sie aus der Paddington Street hierher gelockt hatte. Eine Art Wirbel, ein rotierender Schlauch aus brodelnder Schwärze, die selbst Liliths Augen nicht zu durchdringen vermochten. Einer Windhose ähnlich, aber nicht so beweglich, sondern auf einen Punkt fixiert und von keiner der üblichen Erscheinungen begleitet. Es herrschte Windstille … Die Ruhe vor dem Sturm? Was ging hier vor? Lilith versuchte sich einen Reim auf die Ereignisse seit ihrem zweiten Erwachen hier in Sydney zu machen. Es ist, als wäre ich erwartet worden, dachte sie, und für ein paar Sekunden wurde ihr das Herz eng, holten die Ereignisse vor dem Zweijahresschlaf sie noch einmal mit Macht und aller damit verbundenen Emotion ein. Sie versuchte eine Antwort auf die drängendste aller Fragen zu finden: Woher, aus welchem geheimen, nicht einmal von Gott ein-
sehbaren Schlupfloch, waren diese neuen Vampire gekrochen? Sie schüttelte den Kopf. Es wurde ihr selbst kaum bewußt. Starr blickte sie in die Lanze aus Finsternis, die sich von einem erhöhten Punkt des Zoogeländes aus in den mitternächtlichen Himmel bohrte. Lilith spürte untrüglich, daß Magie im Spiel war. Um ein natürliches Phänomen handelte es sich definitiv nicht. Aber wer hätte ein solches Schauspiel inszenieren können – und warum? Sie wollte der Sache auf den Grund gehen. Bevor es andere taten, die Magie nur aus Märchen und Legenden kannten. Denn lange würde das Phänomen, das wie ein drohend ausgestreckter Finger in die Nacht hineinragte, nicht unbemerkt bleiben. Auch wenn es in der Dunkelheit für menschliche Augen schwieriger zu erkennen war als für Lilith. Nachdenklich registrierte sie die seltsame Lähmung, die alles Getier des Zoologischen Gartens befallen zu haben schien. Nur aus einiger Entfernung hörte sie Geräusche, die auf Wasser schließen ließen. Zu Fuß ging sie in die Richtung, aus der die patschenden Laute kamen. Kurz darauf erreichte sie ein von einer Mauer umgebenes Bassin, in dem sich mehrere Alligatoren zu später Stunde noch um eine Mahlzeit balgten. Ein normaler Mensch hätte bei den herrschenden Lichtverhältnissen kaum erkannt, um was für eine Beute es sich handelte. Lilith jedoch blieb die Erkenntnis nicht erspart, weil einer der Alligatoren in diesem Moment das Wasser auf der gegenüberliegenden Uferseite verließ, um den Fleischbrocken, den er sich ergattert hatte, genüßlich an Land zu verzehren. Der Arm, der aus seinem langen Maul herausragte, steckte noch im Ärmel des Hemdes, welches das bedauernswerte Opfer bei seinem Sturz in das Becken getragen hatte.
Um den Rest stritten sich andere. Lilith sah mit einem Blick, daß jede Hilfe zu spät kam. Der schreckliche Unfall mußte schon vor einer geraumen Weile stattgefunden haben. Wenn es ein Unfall gewesen war … Erschüttert und voll diffuser Sorgen fand ihr Blick zu dem brodelnden Etwas am Himmel zurück, das noch mehr an bedrohlicher Substanz gewonnen hatte. Es sah aus, als würde es immer kompakter werden, als würde es sich immer dichter zusammenballen, um – Um was? Der einzige Weg, es – vielleicht – herauszufinden, war, sich zu ihm zu begeben. Lilith kehrte der makaberen Fütterung der Raubtiere den Rücken, verwandelte sich in ihre Fledermausgestalt zurück und strebte mit schnellem Flügelschlag dem Fanal aus schwärzester Magie entgegen. Sie erreichte es nie.
* Als Craig mit Shaye die Höhle betrat, wartete dort die Antwort auf all seine Fragen. Unterwegs hatte ihm die kaltblütige Mörderin ganz beiläufig ihren Namen genannt und sich auch nach seinem erkundigt. Ihre Schuhe erzeugten hallende Geräusche auf dem felsigen Untergrund. Die Menschen, die sich in der Höhle versammelt hatten, schenkten den Ankömmlingen zunächst keinerlei Beachtung, sondern konzentrierten sich ganz auf das, was vor ihren Augen geschah und auch Craigs Aufmerksamkeit sofort fesselte. Er sah wahllos auf dem Boden abgelegte Tiere, die er anfänglich für tot hielt, bis er an den schwachen Bewegungen unter dem Fell
erkannte, daß sie offenbar doch nur betäubt waren. Bis auf den Puma, der zusammen mit einem Löwen auf einer Wolldecke in der Höhenmitte lag. Dieser Puma war definitiv tot, denn sein Kopf und ein Teil der Brust mit dem rechten Vorderlauf ruhten abgetrennt neben dem zugehörigen Körper, aus dem das Blut in Strömen lief. Die Amputation konnte erst vor Sekunden stattgefunden haben. Qual und Schmerz und etwas, das Craig ähnlich in den Augen des Welpen gelesen hatte, war in den aufgerissenen Pupillen im Moment des Sterbens konserviert worden. Auch die Augen des Löwen auf der Decke waren offen, aber nicht so gläsern starr. Noch nicht. Denn der Mann, der daneben hockte, beugte sich gerade über das Tier, um … … eine Knochensäge anzusetzen. »Was …«, ächzte Craig fassungslos, »… was geht hier vor?« Das Licht einer tragbaren Lampe, die in der Höhlenmitte abgestellt war, brach sich in seinen weitaufgerissenen Pupillen. »Das vierte Zeichen«, erwiderte Shaye. »Dieser von uns erwählte Mann vollbringt gerade, was die Schrift verlangt.« »Zeichen? Schrift?« Benommen schüttelte Craig den Kopf. Plötzlich fragte eine Stimme: »Wer ist das? Warum hast du ihn mitgebracht?« Eine Gestalt hatte sich aus der Gruppe der Zuschauer gelöst und kam ihnen entgegen. Die Stimme des Mannes klang streng. Shaye antwortete: »Ich möchte, daß er einer von uns wird. Wir brauchen jede Unterstützung.« »Nicht, wenn es gelingt. Und das wird sich in kürzester Frist zeigen!« »Auch wenn es gelingt. Er hat etwas … das mir gefällt.« »Persönliche Vorlieben haben keinen Platz in unserem Plan.«
»Er wird einer von uns. Er muß nur –« Ein vielstimmiger Aufschrei unterbrach sie. Das Geräusch der Säge war verklungen. Craig sah, wie die Augen des Löwen brachen. Er achtete kaum auf Shaye und den Mann, der sie zur Rede stellte. Er stand völlig im Bann des eigentlichen Geschehens, das unaufhaltsam und seltsam distanziert wie ein Film vor ihm ablief. Wie sehr ihn das alles an früher erinnerte. An den Schuppen im schattigen Garten. An das Vertrauen, das er in den Hundeaugen gelesen hatte, bevor … »Zu spät!« Shayes Ausruf zerschnitt das Geflecht seiner Gedanken und Erinnerungen. Craig sah, wie der Arzt (es mußte ein Arzt sein) Haupt und Vorderlauf des Pumas nahm und an die Brust des Löwen ansetzte, ohne dem Blut, das die Decke tränkte und seine Kleidung besudelte, die geringste Beachtung zu schenken. »Zu spät?« echote er. »Was ist zu spät?« Im selben Augenblick begriff er schlagartig die Absicht, die hinter den Verstümmelungen steckte. Und er begriff auch, daß es Menschen gab, die noch mehr Probleme hatten als er – die noch abartiger veranlagt waren. Es ist keine Operation, du Idiot. Es ist ein RITUAL. Diese Arschlöcher haben sich hier versammelt, um eine Messe abzuhalten! »Komm! Vielleicht schaffen wir es doch noch!« Shaye packte ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich quer durch die Höhle. In diesem Moment hätte Craig ihr die Waffe aus der Hand winden können, so wenig achtete sie noch auf ihre eigene Sicherheit. Aber er verspürte überhaupt keinen Wunsch mehr zu fliehen. Er wollte wissen, was hier vorging. Was diese Menschen dazu bewog, sich an Tieren zu versündigen. Er war nicht länger allein mit seinen Abgründen. Sailor und Pierce … Er hatte sie angestiftet, ihm in den Zoo zu fol-
gen. Aber obwohl es sie gereizt hatte, das Verbotene zu tun, war die Triebfeder bei ihnen eine andere gewesen. Sie hatten nicht dieses dunkle Geheimnis in ihren Herzen getragen. Wie das in seinem Herzen. Bei den hier Versammelten hingegen, auch bei Shaye, schien es sich um Gleichgesinnte zu handeln. Warum sonst hätten sie ein solches Experiment betreiben sollen? Sogar um den Preis von Menschenleben? Shaye hielt abrupt vor einem Felsbrocken an, auf dem ein im ersten Moment unscheinbar wirkender Fetzen Papier lag. Craig löste den Blick kurz von dem Mann, der inzwischen begonnen hatte, den Kopf des Pumas mit dem Hals des Löwen zu vernähen. Er starrte zuerst auf das Papier, dann in Shayes Gesicht. »Berühre es!« forderte sie ihn auf und wollte seine Hand, deren Gelenk sie immer noch umfaßt hielt, auf das Papier drücken. Als die Schrift im selben Moment wie in gelblicher Glut aufleuchtete, leistete er instinktiv Gegenwehr. »Du Narr! Tu es, bevor es zu spät ist!« »Bevor was zu spät ist?« krächzte er. »Ich muß dich töten, wenn du einer von uns geworden bist, bevor es vorbei ist!« Es klang, als hätte sie ihn lieber geschont, könne sich aber den Zwängen letztlich nicht widersetzen. Craigs Hand schwebte Zentimeter über dem vergilbten Papier, dessen Schrift verblaßt gewesen war – bis vor wenigen Augenblicken. Nun erstrahlte sie in gelber Glut, fast, als wäre sie mit Feuer geschrieben. War sie es tatsächlich? Das Papier strahlte trotz des Leuchtens Kälte aus, nicht Wärme. In der Höhlenmitte hatte der Chirurg gerade das Haupt und Vorderlauf des Pumas am Torso des Löwen angenäht. Der fanatische Glanz in den Augen des einzigen Akteurs unter lauter Zuschauern
erschütterte Craig bis ins Mark. Plötzlich glaubte er nicht mehr, daß das Töten und Verstümmeln die einzige Absicht dieses Mannes und der ganzen Gruppe war. Er schändet sie nicht, er … transplantiert! Er glaubt sie zu transplantieren … »Ihr … Wahnsinnigen!« »Wir sind nicht wahnsinnig!« »Was tut ihr hier? Wollt ihr Tiere mit dieser absurden Methode kreuzen … oder nicht?« In ihren Augen glomm es auf. Sie hielt immer noch die Waffe in der Hand. Und erinnerte sich dieser Möglichkeit. Craig hörte einen trockenen Knall, als würde eine Sektflasche unter einem Handtuch entkorkt. Im selben Moment stach greller Schmerz durch die Muskulatur, die sich Shayes Versuchen widersetzte. Etwas zerriß in Craigs Arm, und dann sackte seine Hand nach unten. Auf das Papier – das in genau diesem Moment zu brennen begann! »Es ist vollbracht!« schrien ein Dutzend Kehlen hinter ihm, während fremde Gedanken, fremde Visionen wie fahle Blitze durch sein Gehirn zuckten. Im Zusammenbrechen drehte er sich noch einmal halb um seine Achse, und in der letzten Sekunde, bevor etwas Fremdes und Unbeschreibliches sein Bewußtsein erstickte, sah er noch einmal dorthin, wo sich die beiden miteinander vermählten Tiergestalten gerade erhoben … Puma-Löwe und Löwen-Puma. Sie lebten! Eine Verhöhnung der Schöpfung – eine schreckliche Chimäre …
*
Es geschah mitten im Flug. Das Phänomen am nächtlichen Himmel spaltete sich auf wie ein Baumstamm, in den der Blitz einschlug. Dann erlosch es, von einem Augenblick zum nächsten! Lilith wurde von einer unsichtbaren Schockwelle getroffen, verlor jede Kontrolle über ihren Körper. Und verwandelte sich zurück! Wie ein Stein stürzte sie bodenwärts. Ihre rudernden Arme fanden keinen Halt mehr in den Lüften. Der Aufprall löschte ihr Denken aus. Das letzte, was sie vor der Ohnmacht wahrnahm, war das Splittern ihrer Knochen … … und das erste, was sie beim Erwachen aus der Bewußtlosigkeit spürte, war ein Kitzeln in der Nase. Sie öffnete die Augen – und wollte nicht glauben, daß es heller Tag war. Aus allen Richtungen kamen Stimmen, sogar Kinderlachen … Nach und nach kehrte die Erinnerung zurück. Sie hatte das Haus und Darren verlassen, um die Ursache der magischen Erscheinung über dem Taronga-Zoo zu ergründen. Dann war sie von einem unsichtbaren Hammer getroffen und in die Tiefe geschmettert worden. Offenbar hatten ihre Selbstheilungskräfte mehrere Stunden gebraucht, um die erlittenen Verletzungen zu »reparieren«. Ein dumpfer Schmerz pochte noch unter ihrer Schädeldecke, und ein leichtes Ziehen in Armen und Beinen verriet, daß hier gerade erst wieder zusammengewachsen war, was bei einem normalen Menschen das Hundertfache an Zeit gebraucht hätte … Vorsichtig richtete sie sich auf. Und blickte ins Gesicht eines frech grinsenden Jungen, der neben ihr saß und einen Grashalm in der Hand hielt. »Hallo«, sagte er. »Hallo«, erwiderte Lilith. »Hast du mich geweckt?« »Du hast wirklich geschlafen?«
»Was dachtest du denn?« »Ausgeruht.« »Ausgeruht … Ja, so könnte man es auch nennen. Woher kommst du? Wo sind deine Eltern?« »Drüben bei den Alligatoren.« Lilith versteifte sich. Auch diese Erinnerung kehrte zurück. »Kannst du mir sagen, wie spät es genau ist?« »Kurz vor Mittag. Wir gehen gleich Fish and Chips essen … mmmh.« Der Junge rieb sich den Bauch. Lilith sortierte ihre Gedanken und Erinnerungen. Alles war so grotesk normal. Der Zoo hatte offenbar wie jeden Tag geöffnet, ungeachtet dessen, was vergangene Nacht geschehen war. Was ist denn geschehen? Wenn das Phänomen am Himmel das einzige Vorkommnis geblieben war, gab es auch gar keinen Grund, den Park nicht wie sonst üblich zu öffnen. Und sehr viel mehr als den seltsamen Wolkenwirbel hatte Lilith nicht gesehen. Plötzlich war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob das, was sie in den Fängen des Alligators erkannt zu haben glaubte, auch wirklich Leichenteile eines Menschen gewesen waren. Sie hatte keine Gelegenheit mehr, ihre Erinnerung zu hinterfragen. Aus der Nähe erklang ein schriller Schrei. »Meine Mom …!« Erschrocken sprang der Junge hoch und lief los. Lilith rappelte sich auf und folgte ihm. Kurz darauf wußte sie, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Und die Tierpfleger, die sich an diesem Morgen über den geringen Appetit der Alligatoren gewundert hatten, bekamen den Grund dafür nachgereicht. Fast unscheinbar lag die beringte Hand im Uferschlamm. Neben einer träge ins Licht blinzelnden Echse …
* In Sekundenschnelle hatte sich ein Pulk von entsetzten Menschen vor der Mauerumfassung gebildet. Lilith sah Bedienstete des Zoos heraneilen. Dann hörte sie Schreie aus einer anderen Richtung, ein gutes Stück entfernt – noch entsetzter. Nein, nicht nur entsetzt, sondern voller Todesangst! Das Idyll zeigt sein wahres Gesicht, dachte sie, während sie zu rennen begann. In dieselbe Richtung, die sie auch vergangene Nacht eingeschlagen hatte, bevor sie jäh abgestützt war. Im Taronga-Zoo waren viele gegensätzliche Landschaften zu finden: sanft ansteigende, grasbewachsene Hügel, auf denen Bänke zum Verweilen und Picknicken einluden, ebenso wie steil aufragende Felsstrukturen. Auf einem dieser künstlich erschaffenen »Berge« hatte letzte Nacht das Fanal geprangt. Und von dort ertönten jetzt die immer lauter, immer panischer werdenden Schreie, gemischt mit einem Gebrüll, das Lilith Schlimmstes vermuten ließ. Es hörte sich an, als wäre ein Raubtier aus seinem Käfig ausgebrochen und fiele nun bis dahin arglose Besucher an! Der tatsächliche Grund, mit dem sie wenig später konfrontiert wurde, verschlug selbst ihr den Atem.
* Was … war das? Ein Tier? So ein Tier gab es nicht! So ein Tier hat es früher nicht gegeben, korrigierte Lilith sich selbst. Aber an der Realität des Monstrums hegte zumindest der Mann, auf
dem es kauerte, keine Zweifel. Es mußte überraschend aufgetaucht sein und sich wahllos ein Opfer aus der Schar der Besucher herausgeklaubt haben … Der Mann war noch am Leben. Wer immer bei ihm gewesen war – falls ihn jemand begleitet hatte – war geflohen. Hatte angesichts dieses Zerrbilds der Natur nicht die Courage aufgebracht, ihm beizustehen. Er ist verloren, wenn ich nicht einschreite! Lilith handelte. Wechselte in die Metamorphose, die jede Anmut aus ihrem schmalen Gesicht mit dem sinnlichen Mund, den hoch angesetzten Wangenknochen und den verführerisch in Jadegrün leuchtenden Augen wischte. Röte schien in die Iris ihrer Augen zu laufen. Gleichzeitig veränderte sich die Struktur ihres Körpers in wichtigen Details. Die Metamorphose! Die Fratze einer zähnefletschenden Vampirin brach aus Liliths aparten Zügen hervor. Und nicht nur das Gesicht, auch die Hände, die Muskulatur und das Gewebe als solches veränderten sich! Der Symbiont formte sich zu einem Panzerkleid, gerade noch flexibel genug, um Liliths Beweglichkeit nicht einzuschränken. So stürmte sie der Bestie mit dem Puma- und Löwenkopf entgegen. Ihr aggressives Fauchen übertönte noch dessen Knurren. Alarmiert hob das hybride Wesen, die Chimäre, den Kopf, eine Pranke bereits erhoben, um dem wimmernden Bündel Mensch, das mit weit aufgerissenen, hervorquellenden Augen dem Tod entgegenstarrte, den entscheidenden Streich zu verpassen. Liliths Erscheinen ließ die Bestie voller Mordlust aufbrüllen. Gütiger Himmel, welcher Frankenstein hat sich hier versündigt? dachte die Halbvampirin entsetzt, und wie ein Blitz stob flüchtig die Erinnerung an die Genexperimente Heraks, des einstigen Oberhaupts der Vampirsippe von Sydney, durch ihr Hirn. Aber Heraks Ziel war
es nicht gewesen, Monstren zu »bauen«, sondern Nachwuchs für seine Rasse zu schaffen – Nachwuchs, der nicht mehr vom Lilienkelch in einem magischen Ritual gezeugt werden mußte. Die Chimäre führte den Streich gegen ihr Opfer doch noch aus, aber unkonzentriert, so daß die Pranke Kopf und Hals des Mannes verfehlte und nur die Schulter in eine blutige Masse verwandelte. In der nächsten Sekunde katapultierte sich die Bestie Lilith entgegen. Der Aufprall des Fleischberges riß sie zu Boden. Zähne schlossen sich um ihren linken Arm, vermochten den Symbiontenstoff aber nicht zu durchdringen. Was die Chimäre auch schnell erkannte, losließ und nach Liliths Kehle schnappte. Die zu Klauen gewordenen Hände der Halbvampirin zuckten hoch und legten sich wie ein knöcherner Ring um den mächtigen Hals des Pumalöwen. Sie vermochte die Kiefer von sich fernzuhalten, aber den Ring zu schließen und der Chimäre die Luft abzuschnüren, gelang ihr nicht. Verdammt! Während sie zunehmend verzweifelter nach einer Schwachstelle des Ungeheuers suchte, hörte sie hinter sich etwas, das sie kurz zu Stein erstarren ließ. Es gibt noch mehr von dieser Sorte … Mühsam gelang es ihr, an der Chimäre, mit der sie rang, vorbeizublicken und ihren Verdacht zu überprüfen. Tatsächlich entdeckte sie ein zweites Monstrum, das wie das Gegenstück zu diesem hier aussah: Lackschwarz und geschmeidig bewegte es sich auf den schwerverletzten Mann zu, dessen ausströmendes Blut es angelockt und die Gier in ihm entfacht zu haben schien. Glitzernd war der Blick der … Wolfsaugen. Wolf und Panther. Welcher Wahnsinnige hatte diese beiden Arten gekreuzt … und warum? Wie? Nur ein mächtiger Zauber, finsterste Magie konnte dies vollbracht
haben. Wer in Sydney kannte die dunkle Seite der Natur und vermochte sie sich nutzbar zu machen? Derselbe, der aus Toten neue Vampire schuf, als wollte er die Lücke, die durch das Verschwinden der Alten Rasse entstanden war, schließen …? Die Art und Weise, wie die zweite Chimäre sich dem bewußtlosen Mann näherte, machte Lilith klar, daß sie es unter allen Umständen vermeiden mußte, sich eine stark blutende Wunde einzuhandeln. Der Geruch hätte auch den Pumalöwen in einen noch unberechenbareren Gegner verwandelt! In zwei, drei Sekunden würde die andere Chimäre den Zoobesucher erreicht haben und sein Schicksal besiegeln. Das Wissen, daß ein Menschenleben von ihrer Stärke und ihrem Einfallsvermögen abhing, mobilisierte Liliths Reserven. Sie explodierte förmlich in der tödlichen Umarmung des Monstrums! Ein Glied ihrer messerscharfen Klaue fuhr nach oben und durchbohrte das Auge des Löwen, der sich aufbäumte und qualvoll brüllend von ihr ablassen wollte. Sofort stieß Liliths Kopf nach. Ihre Zähne gruben sich in das dünne Fell der Halspartie, und dann – – rann es kalt und widerlich in ihren Rachen. Ein Gemisch aus zweierlei Blut, wie die Natur es nie gebraut hätte …! Angeekelt, die Zähne immer noch zusammengebissen, zuckte ihr Kopf zurück. Lilith brachte die Füße zwischen sich und den Leib der Chimäre und hebelte sie von sich weg. Ihr nächster Blick galt der zweiten Bestie. War der Mann noch zu retten? Lüstern und gewaltdurstige Wolfs- und Pantheraugen funkelten in ihre Richtung, als hätten sie eine andere, ungleich stärkere Witterung als die des Menschen aufgenommen. Stärker als dessen Blut. Im nächsten Moment sah Lilith das Biest mit den zwei Köpfen auf
sich zuhetzen. Sie wartete den letztmöglichen Moment ab. Und leitete dann die Transformation ein. Flügelschlagend erhob sie sich von der auf einem Auge blind gewordenen, an ihrem eigenen Blut erstickenden Bestie und entfernte sich in Richtung des Mannes, von dem sich die zweite Mischkreatur abgewendet hatte. Lilith landete neben ihm und nahm ihre wahre Gestalt an. Ein Brüllen, noch furchtbarer als bisher, lenkte ihren Blick zurück zu den Chimären. Ihre Rechnung ging auf. Sie zerfleischten sich gegenseitig. Der Pumalöwe leistete kaum Gegenwehr. Liliths Angriff hatte ihn bereits zu sehr geschwächt. Es ist noch nicht vorbei, dachte sie, kümmerte sich aber dennoch zuerst um den Schwerverletzten, der von all dem gnädigerweise nichts mehr mitbekam. Eine tiefe Ohnmacht hatte sich über ihn gesenkt. Seine Schulter sah aus, als wäre sie in einen Fleischwolf gekommen. Er brauchte Hilfe. Dringend! Lilith ignorierte die Lockung, die menschliches Blut auch auf sie ausübte. Sie war stark genug, sich nicht erneut an einem im Sterben Liegenden vergreifen zu müssen … Ein tiefes Knurren – hinter ihr! Sie wirbelte herum. Sekunden nur hatte sie die Chimären außer acht gelassen, und nun stand sie hinter ihr: die Siegerin aus dem ungleichen Kampf! Lilith wollte sich zur Seite werfen, aber die Pantherpranke bohrte sich bereits in ihren Nacken, dort, wo kein Symbiont sie schützte. Nicht in diesem Moment. Die Klaue, die sich in ihr Fleisch bohrte, ließ ein wahres Feuerwerk von Schmerzen in Lilith detonieren. Für eine verlorene Sekunde hing sie wie an einem Fleischerhaken. Dann zog die Chimäre sie an sich heran, auf den aufgerissenen
Wolfsrachen zu … und Lilith fehlte die Kraft, es zu verhindern. Riesengroß wuchsen die gefletschten Reißzähne vor ihr auf, und der stinkende Odem des Wolfs nahm ihr den Atem. Es ist aus! Der Gedanke war ein brennendes Fanal in ihren Gedanken. Sie sah keinen Ausweg mehr. Und im Augenblick dieser Erkenntnis … … fühlte sie etwas in sich erwachen, was sie zuvor noch nie gespürt hatte. Eine animalische, an die Grenzen auch ihrer Natur gehende Kraft, die jeden Funken von Menschlichkeit in ihr erstickte und die Herrschaft über den Körper an sich riß. Ihn veränderte. Anders als jemals zuvor. Die Pranke der Chimäre hielt inne. Das Maul des Wolfs schloß sich. Die Irritation des Monstrums war Liliths Chance. Nichts hielt sie mehr fest. Und noch bevor sich die Chimäre von ihrer Überraschung erholen konnte, sprang Lilith sie an. Auf vier Pfoten, eingehüllt in schwarzglänzendes Fell, den Symbionten wie ein Halsband tragend, sprang Lilith vor. Lilith, die nun ebenfalls über lange, spitze Reißzähne verfügte und aus gelbglosenden Lichtern auf die Kreatur vor sich blickte. Im nächsten Moment schmeckte sie das Blut der Kreatur. Und wühlte in deren Fleisch, bis die letzte Bewegung darin erlahmt war.
* Die Wölfin schüttelte sich. Aber das Blut der Chimäre klebte an ihrem Fell, klebte auch auf Liliths Haut, als sie aus der Wolfsmaske hervorstieg. Sofort floß der Symbiont an ihr herab, formte unauffällige Klei-
dung und bedeckte damit die Spuren verdorbenen Blutes. Lilith beugte sich über den Schwerverletzten, prüfte seinen Puls, der stotterte wie ein Motor und nicht mehr lange durchhalten würde. Ohne Zögern schulterte sie den Schwerverletzten und lief in die Richtung, in der sie die Versorgungsbauten des Zoos wußte. Schon nach einer Minute sah sie erste Menschen. Sie beeinflußte sie hypnotisch und übergab ihnen den Verwundeten mit dem Befehl, alles Menschenmögliche für ihn zu tun. Auch dem Verletzten selbst suggerierte sie etwas: absoluten Überlebenswillen und den Glauben, es zu schaffen! Dann schlug sie sich wieder ins Dickicht, verwandelte sich und kehrte dorthin zurück, wo die Chimären aufgetaucht waren. Am Fuß eines Felsens, der wie gewachsen in die Parklandschaft integriert war, wurde Lilith zum zweitenmal in ihrem Leben zum Wolf. Und nahm die Witterung der Bestien auf. Mühelos fand sie den Weg zu einem unter Gestrüpp verborgenen Höhlenschacht und folgte ihm, bis er in die eigentliche Höhle mündete. Sie befürchtete, daß noch mehr Alptraumgestalten auf sie warten könnten. Daß mehr als zwei Chimären die Besucher des Zoos, die Menschen dieser Stadt bedrohten. Doch in der Höhle erwartete sie ein Bild, das sie diese Sorge vergessen ließ. Ein Anblick, der ihr den Wolf austrieb und ihre Hände nach Halt suchen ließ. Gegen die Felswand gestützt, nahm sie erst das Massaker in seiner Gesamtheit wahr, bevor sie sich dem einzigen Überlebenden zuwandte …
* Überall lagen die Kadaver von Tieren, und dazwischen, nicht ohne Mühe als solche zu erkennen, die Leichen von Menschen.
Lilith beugte sich nach unten und versuchte den jungen Mann auf die Füße zu stellen, der zwischen den Leichenteilen kauerte, blicklos ins Leere stierte und Unverständliches vor sich hin brabbelte. »Was ist hier passiert? Wer hat das angerichtet?« Noch während sie sprach, ahnte sie schon, wer hier gewütet hatte. Es konnten nur die Chimären gewesen sein. Doch warum hatten sich diese Menschen hier aufgehalten? Hatten sie etwas mit der Entstehung der Bestien zu tun? Lilith wußte, daß sie das grausige Puzzle nur auflösen konnte, wenn sie zusätzliche Informationen erhielt. Als der Mann nicht antwortete, sie nicht einmal ansah, streckte sie ihre hypnotischen Fühler nach seinem Geist aus. Und prallte zurück, bevor der Strudel des Wahnsinns sie auch noch verschlingen konnte. So wie sie ihn verschlungen hatte. »Von dir werde ich keine Antworten mehr erhalten«, flüsterte sie. »Nicht einmal, warum die Bestien dich verschont haben, wirst du mir sagen können. Wahrscheinlich weißt du es selbst nicht.« Er war in seiner ganz persönlichen Hölle gefangen. Sie schauderte, als sie den glückseligen Ausdruck auf den Lippen des Mannes entdeckte. Und endgültig, als er sein Gebrabbel einstellte, den Mund öffnete und Laute von sich gab wie ein kleiner, wimmernder, kläffender Hund … Sie überließ ihn denen, die hier in Kürze auftauchen würden. Die Höhle hielt keine Antworten für sie bereit. Nur neue Fragen. Es hat wieder begonnen, dachte Lilith dumpf, und ihre Gedanken gingen zu Darren Secada, der – hoffentlich – noch in ihrem Haus auf sie wartete. Es hat wieder begonnen … Aber, bei Gott dem Allmächtigen, was hat begonnen …?
*
Der Welpe schleckte ihn mit rauher Zunge ab. Es fühlte sich an, als würde die Haut an der spröden Zunge hängenbleiben und Craig bei lebendigem Leib abgezogen werden. Er saß im Schuppen. Hinten im Garten. Er saß da und starrte auf den Griff des Messers, das er aus der Küche mitgenommen hatte. Der Knauf ragte aus der Mitte seiner Brust heraus. Aber es war gut. Es war in Ordnung. Auch daß er nackt war, gefesselt mit Schnüren, die er vorhin mühselig aus seinem Haar geflochten hatte. Wer ihn gefesselt hatte, wußte er nicht mehr. Nun lag er da, den Welpen neben seinem Gesicht. Er wurde nicht müde, es abzulecken. Haut um Haut abzureißen wie Heftpflaster. Es schmerzte nicht. Es tat weh bis auf den Grund seiner Seele! Aber es war gut. Es war in Ordnung. Er hatte es verdient. Über seinen Augen schwebte der Fetzen Papier. Brennend. Seine Hand hing noch daran, abgetrennt vom Stumpf, der neben ihm am Boden ruhte, während das Blut langsam durch die Ritzen der Dielen sickerte. Hinab zu den Würmern. Nicht das Papier selbst schien zu brennen, nur die Schrift darauf. Was war das: Spanisch? Craig verstand kein Spanisch. Aber er verstand die Flammen, die aus denen Buchstaben züngelten. Direkt in sein Hirn leckten sie, als wären auch dies … Zungen. Kurz hielt der Welpe inne, bleckte die kleinen Zähne, grinsend. Aber ohne Vergebung. Dann machte er weiter. Die Flammen der Schrift schlugen höher. Craigs ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Schließlich vereinigten sie sich zu einem Fanal. In dem er die Zukunft sah. Die Zukunft, die er hätte erleben können. Mit Shaye, die neben ihm lag und die er enthäutet hatte. Mit dem Messer, das jetzt in seiner Brust steckte.
Der Welpe mochte Shaye nicht. Wer war Shaye überhaupt? Das Papier … Das Papier weiß die Antwort, dachte Craig. Diese und andere Antworten schwebten über seinem Gesicht. Unerreichbar für immer. In dem kleinen Häuschen. Im schattigen Grund … … der Hölle. Epilog Sie kehrte heim. Müde und desillusioniert, geplagt von einer nicht zu bewältigenden Fülle neuer Rätsel und umkrustet von Schmutz, der es unmöglich machte, das Bild, das sie in der Höhle des Taronga-Zoos vorgefunden hatte, auch nur eine Sekunde zu verdrängen. »Darren?« Keine Antwort. Er war weg. Vielleicht hatte er bis zum Ende der Nacht auf sie gewartet, aber nun war er fort. Lilith verschmolz kurz auf mentaler Ebene mit dem Haus und fand ihre Vermutung bestätigt. Es war leer. Verlassen. Einsam. Sie war allein. Sie war müde. Erschöpft mehr von der Bürde, die unsichtbar auf ihr lastete, denn von ihren Taten, schleppte sie sich in das Obergeschoß, wo sie ihr Schlafzimmer gestaltet hatte. Und ein Bad, das ihr in diesem Augenblick wie eine Oase vorkam.
* Etwa zur gleichen Zeit, als sie das Bad betrat, kehrte Darren von der vergeblichen Suche nach ihr in die Mauern aus Stein und Magie zurück.
Er folgte dem Geräusch strömenden Wassers, fand die Hoffnung, daß Lilith zurückgekehrt war, bestätigt – – und prallte doch vor dem Anblick zurück, der sich ihm durch das dampfbeschlagene Glas der Kabine hindurch bot. Heißes Wasser spülte Ströme von Blut von dem Körper, dessen Perfektion Darren in diesem Augenblick schmerzhafter als je zuvor klarmachte, keinen Menschen vor sich zu haben. Sie sieht aus, sie spricht und benimmt sich wie die Frau, nach der ich mich immer gesehnt habe, rann es durch sein Denken. Aber sie ist ein … Er vermied das Wort, das darauf wartete, nicht nur gedacht, sondern ausgesprochen, hinausgeschrien zu werden. So unbemerkt, wie er gekommen war, ging er auch wieder. Floh aus dem Haus mit seinen Karikaturen von Möbeln und Bildern. Als er draußen im hellen Tageslicht stand, atmete er begierig ein und aus. Voller Angst, bereits das Gefühl für Realität, für die echte und lebendige Welt verloren zu haben. Stolpernd entfernte er sich von dem Haus und von der Frau, die er gerne geliebt und akzeptiert hätte, wie sie war. Aber solange er nicht einmal das wußte – wie sie war –, würde er bei ihrem Anblick immer nur das Blut sehen, das sie von ihrem Körper wusch. Wessen Blut? Wo war sie in den vergangenen Stunden, die er erfolglos nach ihr gesucht hatte, gewesen? Was hatte sie erlebt …? Ich kann dich nicht verlieren, weil ich dich nie besessen habe, dachte er. Seine Beine fanden wie von selbst den Weg in die nächste Kneipe. Der Rest war … Vergessen. Und ein mieses Gefühl, das auch nach dem Kater noch da sein würde. Im Gegensatz zu Lilith … ENDE
Die Jagd Leserstory von Marco Tesch Es ist wieder soweit. Terry sitzt mit einem jungen Mann in ihrem Auto. Der Weg führt zu einer Hütte im Wald. Hier wollen sie diese Nacht verbringen. Terry kennt ihren Beifahrer noch nicht lange, doch sie hält ihn für einen widerlichen Dreckskerl. Sie hat ihn gestern Abend in einer Bar aufgegabelt. Nach der Unterhaltung war sie von seinem miesen Charakter überzeugt, und dies prädestinierte ihn für dieses Wochenende. Sie lud ihn also ein, und nun sind sie auf dem Weg. Der Waldweg ist uneben, aber es geht trotzdem zügig voran. Beide haben während der Fahrt kein einziges Wort gesprochen. Doch Mick, so heißt ihr Beifahrer, hatte mehrmals versucht, Terry zu begrapschen. Sie hat ihn davon überzeugen können, zu warten, bis sie da wären. Die Hütte kommt in Sichtweite. Es ist eine Blockhütte im alten Trapperstil. Das kleine Gebäude übermittelt den Eindruck, in den Wald hineingewachsen zu sein. Der Wagen hält. Mick steigt aus und schaut sich um. Die junge Frau hingegen bleibt noch für einige Sekunden im Wagen sitzen. Dann steigt sie ebenfalls aus und sagt: »Drinnen ist es gemütlicher als hier draußen.« Ein Lächeln huscht vage über ihre Lippen, als Mick sie anschaut. »Das will ich doch wohl hoffen«, erwidert er. »Dann laß uns doch mal reinschauen.« Sein Tonfall ist überheblich und selbstsicher. Die Sonne verschwindet gerade hinter dem Horizont. Es verspricht eine klare Nacht zu werden. Terry merkt bereits, daß es nicht mehr lange dauern kann. Sie bittet Mick, vorzugehen.
Die massive Tür aus Eichenbohlen wird entriegelt und aufgestoßen. Terry geht an Mick vorbei in die Hütte. Zielsicher erreicht sie den großen Holztisch, der in der Mitte des Zimmers steht, und zündet eine Kerze an. Ein unruhiges, warmes Licht breitet sich im Raum aus. Die Hütte ist schlicht eingerichtet. Ein kleiner Ofen steht in der linken Ecke, in der rechten ein Bett. Weiterhin sind zwei kleine Schränke im Raum verteilt. Mick streift seine Jacke ab und wirft sie auf den Tisch; dabei bläst der Windzug die Kerze aus. Jetzt ist es finster in der Hütte, nur das Silberlicht des Vollmonds, das durch die Fenster sickert, erhellt das Dunkel. »Ups, wie unangenehm«, sagt Mick sarkastisch und fügt hinzu: »Dann können wir ja mit unserem kleinen Spielchen anfangen.« Terry spürt die Macht des Mondes. Sie riecht den Schweiß und die Arroganz des Mannes und beginnt sich ihrer Kleidung zu entledigen. Er kommt näher. Sein Atmen ist nicht zu überhören, sie spürt seine Erregung. Er spricht zu ihr, doch sie hört ihm nicht zu. Sich zurückhaltend, sondiert sie die Situation. Er faßt sie an, nicht zärtlich, sondern fordernd, fast grob. Sie läßt es noch geschehen, sie spielt mit ihm. Seine rauhen Hände fahren wie Sandpapier über ihre samtene, nackte Haut. Seine schmierigen Lippen pressen sich auf die ihren, und eine Hand faßt ihr zwischen die Beine. Nichts erinnert in dieser Situation an Romantik und Zärtlichkeit. Nun wird es ihr zuviel. Terry schlägt zurück – und sie beißt zu. Er schreit auf, und Terry läßt sich gehen. Die volle Macht der runden weißen Scheibe am Himmel fließt in den Körper der jungen Frau. »Du Miststück!« Zornig kommen die Worte aus dem Mund des schmierigen Kerles. Er holt schon mit der Hand aus, doch Terry ist schneller. Sie stößt ihn mit ganzer Kraft von sich. Mick scheint zu fliegen, dann bremst ihn die Wand. Stöhnend bleibt er auf dem Boden liegen. Terry spürt, daß SIE kommt. Sie läßt es mit sich geschehen, so wie
sie es alle 28 Tage tut. Ihre Knochen beginnen zu knirschen, die Metamorphose setzt ein. Mick ist wieder zum Stehen gekommen. Seltsame Geräusche veranlassen ihn, unsicher zur Tür zurückzuweichen. Sein Atem geht noch immer schnell, doch nun mischt sich Angst hinein. Terry ist nicht mehr sie selbst. Haare bedecken ihren ganzen Körper. Ihre Hände sind zu Pfoten geworden, ihr Gesicht verzehrt sich zu einer Fratze. Knochen bewegen sich unter der Haut. Die Mund-Nasen-Partie schiebt sich nach vorne und bildet eine Schnauze. Mick erreicht die Tür, reißt sie auf und beginnt zu rennen. Die Wölfin sieht ihr Opfer davonlaufen und schreit ihm, vermischt mit einem wölfischen Heulen, hinterher: »Die Jagd beginnt!«
* Mick rennt so schnell er kann. Der Wald ist dicht. Sein Atem rasselt jetzt, sein Blut rast durch die Arterien; Adrenalin wird in seinen Körper gepumpt. Angst, pure Angst hat seine Gedanken umzingelt. Er agiert nicht mehr, er reagiert nur noch. Zweige reißen seine Kleidung und seine Haut auf. Dann stolpert er und schlägt sich den Kopf auf. Blut entströmt den Wunden und hinterläßt eine verräterische Spur. Ein Heulen schallt durch den Wald. Dem verängstigten Mann ist jede Art von selbstherrlichen Gedanken abhanden gekommen. Er richtet sich schnell wieder auf, wischt kurz mit seinem Arm über das Gesicht. Schweiß hat sich wie eine zweite Haut auf seinen Körper gelegt. Dann rennt er weiter.
* Die Metamorphose ist vollendet, Terry existiert nicht mehr. Instinkt
und Triebe dominieren ihr Handeln. Die Wölfin verläßt die Hütte. Sie weiß, daß ihr Opfer nicht entkommen kann. Sie setzt sich auf die Hinterpfoten und schaut auf zum Himmel. Der Mond ist klar zu sehen. Ein Heulen, das noch weit im Wald zu hören ist, entweicht ihrer Kehle. Dann wendet sie sich dem Wald zu. Der Geruch von Schweiß strömt in ihre Nase. Der Schweißspur folgend, setzt sie sich langsam in Bewegung. Kein Knacken ist unter ihren Pfoten zu hören; lautlos schleicht sie dem Opfer hinterher. Die Witterung ist unverkennbar: Blut hat sich mit Schweiß vermischt. Die Wölfin erhöht das Tempo, verfällt in einen leichten Trab. Dann hat sie ihn eingeholt, doch sie greift nicht an, sondern überholt ihn in angemessener Distanz. Als sie vor ihm ist, beginnt sie zu heulen. Sie spielt mit ihrem Opfer.
* Das Heulen ist genau vor ihm! Mick bleibt abrupt stehen. Ist sie das? Hat sie mich überholt? geht es ihm durch den Kopf. Geradeaus kann er also nicht weiter. Er wendet sich nach rechts. Seine Beine schmerzen, der Atem kommt pfeifend aus seinem Mund. Dann plötzlich entflieht dem Wald ein Schatten. Eine Pranke reißt seinen Rücken auf. Durch den Hieb gerät er ins Stolpern und stürzt. Ein tiefer Schmerz scheint ihm den Rücken zu verbrennen. So plötzlich es gekommen war, so schnell verschwindet das Etwas wieder. Sie war es, kommt es ihm in den Sinn. Warum tötet sie mich nicht einfach? Resignierend steht er auf, streckt beide Arme in die Höhe und schreit in den Wald: »Worauf wartest du? Hol mich, bringe es hinter dich! Ich …« Weiter kommt er nicht, denn ein Schwall von Blut verwandelt sein Rufen in ein Röcheln. Scharfe Wolfszähne haben sich in seine Kehle gesenkt und sie zer-
rissen.
* Ihre Pranke hinterläßt ein tiefe Furche im Rücken. Der Blutgeruch wird stärker. Das Opfer erhebt sich schwerfällig, nachdem der Hieb es zu Fall gebracht hat. Mick steht, mit hochgestreckten Armen und ungeschütztem Hals, wenige Meter vor ihr. Seine Worte sind voller Zorn, aber auch bittend, fast auffordernd. Na, wenn er es so eilig hat, denkt die Wölfin. Nach zwei Sätzen hängt sie an der Kehle ihres Opfers. Blut fließt in ihr Maul; sie schmeckt das leicht metallene Aroma. Mick sinkt auf die Knie, seine Augen sind starr, dann kippt er nach vorne und fällt mit dem Gesicht auf den Waldboden. Die Wölfin stürzt sich wieder auf ihn und zerreißt seine Sachen, um das begehrte Fleisch freizulegen. Als er mit freiem Oberkörper vor ihr liegt, vollendet sie ihr Werk. Zum Schluß nimmt sie sich sein Herz, so wie sie es immer tut. Dann ist sie gesättigt, ihr Jagdtrieb befriedigt. Sie schaut wieder zum Himmel, und obwohl die Bäume ihn verdecken, spürt sie die Anwesenheit des vollen Mondes. Ein Heulen entflieht ihrem Rachen, ein Dank für diese Nacht. Dann macht sie sich auf den Weg zurück zur Hütte …
* Terry erwacht. Zitternd liegt sie vor dem Bett. Sie ist nackt. Kälte erzeugt eine Gänsehaut auf ihrem Körper. Terry erhebt sich und schaut sich um. Ihre Sachen liegen am anderen Ende der Hütte. Sie geht hinüber und kleidet sich an. An einem
kleinen Spiegel an der Innenseite einer Schranktür kämmt sie ihr Haar. Dann schaut sie sich nochmals um. Micks Jacke liegt noch auf dem Tisch neben der Kerze. Gut, daß die Arschlöcher nicht aussterben, denkt Terry, als sie die Jacke nimmt. Sie wird sie unterwegs in irgendeiner Mülltonne entsorgen. Um den Rest kümmern sich schon die Tiere des Waldes. Terry verläßt die Hütte und verriegelt die Tür von außen. Die frische, morgendliche Waldluft strömt in ihre Nase. Sie atmet mehrmals tief durch. Sie hat noch diesen metallischen Geschmack im Mund. Terry speit zweimal aus. Als sie den Wagen startet und losfährt, geht ihr Blick noch einmal über den Rückspiegel zur Hütte. Bevor sie ihren Blicken ganz verschwindet, sagt Terry: »Wir sehen uns wieder. In achtundzwanzig Tagen.« ENDE © Marko Tesch, Dorfstraße 37, 19386 Broock
Die Hauptpersonen des Romans Holloway, Chad – Der Chefinspektor der Sydneyer Mordkommission ist um die 40 Jahre alt und etwas untersetzt. Er war mit dem Einsatz an der Paddington Street betraut und kam so fast zwangsläufig mit Lilith Eden zusammen, die ihn von ihrem wahren Wesen und – nach seiner Rettung aus dem Haus – von ihrer guten Gesinnung halbwegs überzeugen konnte. Holloway unterstützt sie, bleibt aber trotzdem mißtrauisch. Sydney Morning Herald – Die Tageszeitung, für die Seven van Kees arbeitet, so wie schon ihre verschollene (und von Lilith getötete) Ex-Geliebte Beth MacKinsey. Der Chefredakteur des SMH, Moe Marxx, ist ein Zyniker und Choleriker, aber fair zu seinen Untergebenen. Vampirmagie – Über welche magischen Fähigkeiten verfügen Vampire? Hier müssen wir unterscheiden: In VAMPIRA werden die Blutsauger zum Teil anders dargestellt als zum Beispiel bei Bram Stoker, wo sie sich in Nebel verwandeln, sich unter einer Tür durchzwängen oder über die Natur gebieten, kein fließendes Gewässer überqueren können oder ins Haus des Opfers eingeladen werden müssen – Dinge, welche unsere Handlung verkomplizieren würden oder Vampire viel zu mächtig werden ließen. Die Kunst der Metamorphose ist ihnen aber geblieben: Vampire können sich in eine Fledermaus und mit fortgeschrittenem Alter auch in einen Wolf verwandeln. Sie haben hypnotische Macht über viele Menschen; nur wenige widerstehen aus ungeklärten Gründen der Beeinflussung (so wie Chad Holloway). Tötet der Vampir sein Opfer nicht, wird es ihm hörig; kommt es zu Tode, erwacht es als Dienerkreatur – zumindest war dies so, bis Gott die Vampire von der Erde tilgte. Die Fähigkeiten der neuen Vampire sind – wie ihre Herkunft – noch nicht erforscht.
Werwölfe – Eine fluchbeladene Rasse, die unerkannt unter den Menschen lebte und nur in den Tagen um den Vollmond ihr wahres Gesicht zeigte. Ihre Herkunft war lange ein Rätsel, ist seit Band 46 aber geklärt: Die Inkarnationen Luzifer initiierten um 1700 v. Chr. den Aufbau einer Armee, die der gefallene Engel zum Armageddon gegen Gott ins Feld führen konnte. Sie entschieden sich für einen Hybriden, eine Mischung aus Mensch und Wolf. Auch um die Werwölfe ist es nach Abschluß des letzten VAMPIRA-Zyklus schlecht bestellt: Luzifer opferte sie alle beim Kampf gegen seinen Widersacher. Ob der eine oder andere Wolf das Massaker überlebt hat, wird die Zukunft weisen.
Über den Tod hinaus von Timothy Stahl Seven van Kees war kein Kind von Traurigkeit. Und sie machte keinen Unterschied, ob sie mit einem Mann oder einer Frau ins Bett stieg. Die »wahre Liebe« war jedoch nicht dabei. Bis sie Ryder Maguire traf. Seine Gegenwart verzauberte sie auf nie gekannte Weise. Daß tatsächlich Magie im Spiel war – schwarze Magie! –, ahnte Seven nicht. Denn Maguire war tot, seit bereits anderthalb Jahren. Sein blendendes Aussehen war eine Maske, unter der das Grauen lauerte. Und sein Interesse an ihr diente nur einem Zweck. Als Seven die Wahrheit erkannte, war es zu spät. Etwas wuchs in ihr heran, und es würde sich nicht aufhalten lassen. Sie hatte längst die Kontrolle über ihren Körper verloren …