Nr. 337
Chaos über Atlantis Der Tod naht aus dem Korridor der Dimensionen von Hans Kneifel
Die Erde ist wieder einmal...
11 downloads
215 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 337
Chaos über Atlantis Der Tod naht aus dem Korridor der Dimensionen von Hans Kneifel
Die Erde ist wieder einmal davongekommen. Pthor, das Stück von Atlantis, dessen zum Angriff bereitstehende Horden Terra überfallen sollten, hat sich dank Atlans und Razamons Eingreifen wieder in die unbekannten Dimensionen zurückgezogen, aus denen der Kontinent des Schreckens urplötzlich materialisiert war. Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem neuen Start zu verlassen. Zusammen mit dem Kontinent und seinen seltsamen Bewohnern befinden sie sich auf einer ungesteuerten Reise ins Ungewisse. An eine Kursbestimmung von Pthor ist noch nicht zu denken, und so werden es Al gonkin-Yatta und seine exotische Gefährtin, die beiden Reisenden durch Zeit und Raum, die seit langem nach Atlan suchen und die den Arkoniden, als er noch auf der Erde weilte, nur knapp verfehlten, es schwer haben, sich weiter an seine Fersen zu heften. Der Arkonide ist jedoch kein Mann, der in Tatenlosigkeit verharrt. Während Odins Söhne nach dem Tod der Herren der FESTUNG ihre Herrschaftsansprüche auf Pthor geltend machen, beginnt Atlan, nach dem verborgenen Steuermechanismus des »Dimensionsfahrstuhls« zu suchen. Und während der Arkonide und der Roboter Elkohr sich durch die mannigfaltigen Gefahren der Hades-Zone kämpfen, naht das Unheil aus dem Korridor der Dimensio nen. Es bringt das CHAOS ÜBER ATLANTIS …
Chaos über Atlantis
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide sucht die »Seele von Pthor«.
Elkohr und Kortmikel - Atlans Weggefährten.
Pegallu - Herrscher der Verstoßenen.
Urtyn - Ein Zyklop kämpft seinen letzten Kampf.
Thalia, Razamon und Kolphyr - Atlans Freunde brechen auf.
1. Der Schock des phantastischen Bildes traf die drei Fremden voll. In einer großen Halle mit tief heruntergezogenen Deckenteilen be fanden sich Hunderte schwarzer Würfel; rie sige Maschinen oder Geräte, die in verwir renden Gruppen zusammengestellt waren. Fetzen aus irgendwelchem Stoff hingen wie Girlanden zwischen den Umformern. Aus den freien Gassen zwischen den Geräte blöcken schoben sich gelbhäutige, fast nack te Gestalten hervor. Sie kamen einzeln oder in kleinen Gruppen. Keiner von ihnen sprach, jeder war mit blitzenden Sicheln, Schwertern oder Dolchen bewaffnet. Sie sammelten sich an beiden Seiten einer S förmig gekrümmten Gasse zwischen den Würfeln. Ihre gelben Gesichter starrten alle in eine Richtung: dorthin, wo Atlan, Kortmi kel und Elkohr aus dem Tunnel über eine flache Rampe kamen. »Das Rätsel der Fußspuren ist gelöst. Hier leben Dellos oder die Nachkommen von sol chen Züchtungen«, sagte der silberschim mernde Roboter mit seiner hellen Stimme. »Waffen. Noch mehr Terror. Wir ster ben«, schnatterte Kortmikel, das Vogelwe sen, und erzeugte mit seinem hornigen Mund ein verdrossenes Knattern. »Der Eindruck von Grausamkeit und Dü sternis, den uns das Mosaikbild vermittelt hat, bleibt bestehen«, murmelte Atlan und ballte die Fäuste. Hunderte der mittelgroßen, breit gebau ten, aber dennoch unterernährt wirkenden Dellos hatten sich entlang des Mittelgangs versammelt. Sie warteten auf irgendein Er eignis. Mit elementarer Wucht setzte ein rhyth
mischer Lärm ein. Er kam von der Decke und aus allen Ecken und bestand aus Trom melschlägen, aus Fanfarensignalen und dem klirrenden Scheppern zusammengeschlage ner Bleche. Starkes Scheinwerferlicht durch schnitt das Halbdunkel und leuchtete eine breite Bahn zwischen der Rampe und dem Ende der Halle aus. Eine Batterie von un sichtbaren Tiefstrahlern richtete sich auch auf ein seltsames Bauwerk, das sich an stra tegisch bester Stelle, nämlich am höchsten Punkt dieser Maschinenhalle erhob. Es war ein Haus, aus Metallstücken, hölzernen Bal ken, Tauwerk und Platten in allen Farben, Formen und Größen zusammengesetzt. »Lärm! Widerlich!« schimpfte Kortmikel. Die Fächerfedern über seinen Ohren zitter ten. Ein Auftritt bereitet sich vor! flüsterte der Logiksektor des Arkoniden. Das Haus war hoch und schmal. Es schien zu schwanken, war aber nach mehreren Sei ten mit straff gespannten Tauen gesichert. Eine leichte Tür flog auf, auf einen winzigen Vorsprung trat ein schlanker Dello heraus und breitete die Arme aus. Von den Handge lenken bis weit über die Ellbogen zogen sich blitzende Stulpen, die in nadelfeine Spitzen ausliefen. »Der Oberdello! Geschickt inszeniert«, sagte Elkohr abfällig. »Die Riten und Schau spiele einer unterweltlichen Subzivilisati on.« Etwa fünf Minuten lang hielt die dröhnen de und krachende Musik an, dann knackten die unsichtbaren Lautsprecher. Eine Stimme in scharfem, zischendem Pthora begann zu sprechen. »Ich, Vater Pegallu, grüße euch. Ich bin der Herrscher dieses Reiches und heiße euch willkommen. Wir werden euch zu Ehren ein
4 Fest rüsten!« Das Mikrophon, das jener schlanke Dello trug, war vom Standort der drei Fremden aus nicht wahrzunehmen. Vermutlich hing es um seinen Hals. Jedenfalls war der Auftritt sehr dramatisch und wirkungsvoll. Aber of fensichtlich war auch Elkohr der Ansicht, daß der Empfang keineswegs harmlos war. Hier schienen sich Gefahren abzuzeichnen, die noch nicht erkannt werden konnten. »Ausgerechnet Vater Pegallu nennt er sich!« sagte Atlan verblüfft. Nach dem er sten Satz des Herrschers ertönten wieder schrille Fanfarenstöße und Trommelwirbel von drohender Eindringlichkeit. Dann sprach Vater Pegallu weiter. »Mein Volk, das tief unter der Kruste Pthors lebt, ist teilweise vor Zeiten von den Pfisters gerettet worden. Auch finden sich viele von den Kelotten freigelassene Freun de hier. Wir alle stammen letzten Endes aus Aghmonth und haben uns hier getroffen, nachdem unzählige von uns bei den Versu chen, einen Weg hierher zu finden und die ses Reich zu gründen, umgekommen sind.« »Nicht verstehen. Angst und Furcht!« rief Kortmikel. Dann redete er leise auf den Ro boter ein. Langsam gingen die drei Neuan kömmlinge die Rampe abwärts. Sie waren von dieser Art Überraschung mehr als nur verblüfft. Schon der letzte Fund hatte ihre Vorstellungen und Gedanken in eine be stimmte Richtung gelenkt. Sie sahen ihre Befürchtungen bestätigt. Atlan flüsterte warnend: »Das Reich von Vater Pegallu ist nichts anderes als eine Gemeinschaft von Ausge stoßenen und Verunglückten.« »Ich sehe die Freundlichkeit dieses Herr schers nicht in hellem Licht«, sagte Elkohr rätselhaft. Atlan drehte sich um und warf einen Blick auf das zuckende, sich drehende Ding, das in der Mitte des Verbindungsgangs schwebte. Die schreckliche Musik aus unbe greiflichen Instrumenten hielt an. Sie unter strich die Wirkung der Rede, die Vater Pe gallu hielt. Jetzt wußten Atlan, Elkohr und
Hans Kneifel Kortmikel, woher die Fußspuren auf dem Boden des Ganges kamen. Zwar waren sie jetzt, nach der Ruhepause in diesem winzi gen Kämmerchen, bei neuen Kräften, den noch ahnten sie die Gefahren, die in dieser Szene verborgen waren. Die Klänge der Mu sik rissen ab, und diesmal sprach Vater Pe gallu bereits von den Stufen seiner Behau sung. »Wir freuen uns, Wesen von der Oberflä che begrüßen zu dürfen. Sie bringen stets Essen, Nachrichten und neue Ideen hierher. Kommt näher, meine Freunde. Wir werden euch nichts antun. Seid unbesorgt.« »Letzteres wohl kaum«, brummte Atlan und näherte sich den ersten der gelbhäutigen Dellos. Sie starrten ihn in seinem Goldenen Vlies mit großen Augen an. Elkohr hob einen Arm und rief laut: »Danke für die Begrüßung. Wir sind überrascht, euch zu finden, Vater!« »Das ist wohl jeder, der hierher kommt«, donnerte es aus den Lautsprechern. »Aber es sind nicht viele, die sich in mein Reich wa gen.« Atlan musterte den ersten Mann, den er aus der Nähe sah, ganz genau. Die gelbe Haut sah ungesund und ungepflegt aus. Der Dello machte den Eindruck, als habe er sich seit unendlicher Zeit niemals sattessen dür fen. Aber der Fetzen Metall, der wie eine Sense geformt war, mit Griff und flammen förmigen Zacken an beiden Seiten der ge krümmten, spitz zulaufenden Schneide, war geschliffen und blitzte. »Warum Waffen? Wen bekämpfen?« schnatterte Kortmikel. Eine sehr interessante Frage, fand der Arkonide. Wozu brauchten die Dellos eine derartige Bewaffnung? Ge gen wen kämpften sie? Oder war es nur De koration? Du wirst es schneller erfahren, als dir lieb ist, warf der Extrasinn ein. Vermutlich, wie meist, dachte Atlan. Das Geschehen erinnerte ihn an Theaterauffüh rungen. Von der einen Seite kamen sie, von der anderen näherte sich hoheitsvoll Vater Pegallu, dessen Armschützer im Scheinwer
Chaos über Atlantis ferlicht schimmerten. An beiden Seiten der Gasse standen die Untertanen und hoben sa lutierend ihre Waffen. Schweigend folgten Elkohr und Kortmikel dem Mann im Anzug der Vernichtung. Auf den oberen Flächen der Maschinen wuchsen binsenartige Pflanzen und Ranken, die an allen vier Seiten herunterhingen. Die Binsen trugen rote, zylindrische Früchte, an den Ranken hingen handtellergroße Beeren von stechend grüner Farbe, aus denen honig artiger Saft oder Harz tropfte. Und: an Schrauben, Verstrebungen und Vertiefungen waren Netze und Hängematten zwischen den Umformern gespannt. Von den Maschi nen selbst ging eine dumpfe Wärme aus. »Ich verstehe!« sagte Atlan leise und lä chelte in die stumpfen gelben Gesichter. »Sie leiden Not und sind um jede Abwechs lung mehr als dankbar. Warum dann kein Jubel?« »Ich bin bereit, meine Waffen einzuset zen«, flüsterte der Roboter schräg hinter ihm. Der Herrscher und die Fremden waren sich bis etwa hundert Meter nähergekom men. Nicht ein einziger Dello bewegte sich auffällig. Zwischen beiden Parteien, die sich mit entsprechendem Mißtrauen betrachteten, breitete sich Leere aus. Atlan fand dies alles zu theatralisch, zu unecht, und gerade des wegen war er im höchsten Maß mißtrauisch. »Gut. Halte dich bereit«, erwiderte Atlan. Sie setzten Schritt vor Schritt. Die Dellos starrten sie an und rührten sich nicht. Die Waffen waren alle von derselben Länge, aber ihre Formen differierten. Der Abstand betrug jetzt nur noch neun zig Meter. Vater Pegallu hob beide Arme hoch und rief: »Und damit das Fest ein Erfolg wird, wür dig unserer Gäste, werde ich versuchen, uns etwas zu verschaffen, das wir unbedingt brauchen. Aber … ich weiß nicht, ob ich den Ort wiederfinde.« Er blieb stehen. Atlan sah, daß er sich genau im Zentrum eines Kreises befand. Der Kreis wies einen
5 Durchmesser von weniger als fünfzehn Me tern auf und bestand aus glänzenden Metall vierecken, die auf den grauen Boden geklebt oder genietet waren. Atlan musterte den Herrscher, der sich von seinen Untertanen nicht sehr unterschied. Er war größer, schlanker und schien besser genährt zu sein. Auf seiner Brust funkelte ein riesiges Amu lett, in dessen Mitte eine gläserne Kugel an gebracht war. Mehr erkannte der Arkonide nicht. Aber er sah, daß sich der Herrscher scharf konzentrierte und außerordentlich an strengte. Dann deutete er mit beiden Händen in ei ne bestimmte Richtung. Er schloß die Augen und atmete schwer und keuchend. Seine Ge stalt schien zu flimmern und sich in dersel ben Weise zu bewegen wie das schauerliche Bildwerk im Korridor. Dreißig Sekunden vergingen in atemloser Stille und steigender Spannung. Dann bildete sich ein fahler Ne bel um diese Gestalt. Vater Pegallu begann zu zittern, der Schweiß strömte förmlich über seinen Körper. Zusammen mit dem grellen, senkrecht einfallenden Licht bekam die Gestalt etwas Mythisches. Die Finger krümmten sich, als ob sie einen unsichtbaren Gegenstand umklam mern würden. Gebannt sahen nicht nur sämtliche Dellos, sondern auch die drei Fremden zu, die lang sam näherkamen. Alles wurde deutlicher und schärfer. Die Fingerspitzen des Dellos verschwanden, wurden unsichtbar. Dann die Finger, das Handgelenk und ein Teil der Un terarme. Binnen weniger Sekunden waren die Arme bis zur Mitte der Oberarme nicht mehr sichtbar. »Dimensionsrüssel!« schnatterte Kortmi kel leise. »Ich kennen.« Der Roboter aus Wolterhaven fragte kühl: »Was tut er?« »Er verschwindet«, flüsterte der Arkoni de. Er war wirklich gebannt und erschrocken über das, was er sah. Er zweifelte nicht dar an, daß er Zeuge eines erstaunlichen Vor gangs war. Vater Pegallu stand zitternd und schwit
6 zend da, bis zu den Schultern im Nichts ver schwunden. Dann, ganz plötzlich, ruckte sei ne gesamte Gestalt nach vorn, er spannte seine Muskeln. Seine Finger schienen »dort« etwas ergriffen zu haben, das sich wehrte. Er stemmte sich nach hinten, zog und zerrte und warf sich schließlich mit einer gewalti gen Anspannung nach hinten. Seine Arme erschienen wieder. Sie wurden in umgekehrter Reihenfolge wieder sichtbar. Zuerst die Ellenbogen, dann die Unterarme, schließlich die Hände. Sie hielten etwas umklammert, das wie die Läu fe eines Tieres aussah. Noch einmal strengte sich Vater Pegallu an und stemmte sich ge gen den erbitterten Widerstand dessen, das er dort ergriffen hatte. Dort? Wo? In einer anderen Dimension? Der letzte Ruck brachte die Entscheidung. Ein Tier kam durch die unsichtbare Öff nung. Es war offensichtlich so groß wie ein terranischer Hirsch. Das Fell war von dun kelbrauner, fast rötlicher Farbe. Die Hinter läufe wurden in diesen Saal hineingezogen, in dieses andere Kontinuum, dann kamen die Schenkel, der Hinterleib, der Körper, schließlich die zuckenden Vorderläufe und der Hals mit dem runden Kopf, den zwei korkenzieherartig gedrehte Hörner zierten. Das Tier schrie kreischend auf und begann sich zu verformen. »Das ist die … Erklärung!« keuchte der Arkonide auf. Plötzlich begriff er fast alles. Als zwei Dutzend Dellos mit ihren phan tastischen Waffen vorstürmten, um Vater Pegallu zu helfen, geschahen merkwürdige Dinge. Das Tier veränderte sein Aussehen. Die braune Haut verschwand. Rohes Fleisch und Organe von bekanntem Aussehen erschienen an der Außenseite eines sich drehenden, wendenden Körpers. Knochen stießen durch das rosa Muskelfleisch. Der Körper stülpte sozusagen gleichzeitig an mehreren Stellen sein Inneres nach außen. Die scharfen, drei eckigen Hufe verschwanden in Därmen, die wie dicke Spiralen aussahen. Ein begeistertes Heulen erscholl, als sich
Hans Kneifel mindestens zwanzig Schwerter in den Kör per bohrten. Vater Pegallu überschlug sich nach hinten, ohne die Läufe loszulassen, um die sich seine Finger gekrallt hatten. Eine kleine Gruppe Dellos war um ihn, tötete das Tier, das wahrscheinlich schon beim Eintre ten in die andere Bezugsebene umgekom men war, und half Vater Pegallu wieder auf die Füße. »Hast du begriffen, was diese Darbietung zu bedeuten hatte?« fragte Atlan scharf. Er meinte Elkohr, denn er ahnte, daß Kortmikel mit dieser Praktik vertrauter war als jeder von ihnen. »Nicht ganz«, murmelte Elkohr mit deut lichem Erstaunen. »Vater Pegallu griff in den Bereich einer anderen Dimension hinein und holte daraus etwas Eßbares hervor. Ich bin absolut sicher, daß er es war, der auf ebensolche Weise die Fundgegenstände hierher brachte.« Atlan sprach von dem grauenerregenden Bildmosaik des Korridors und den verform ten Funden, die sie auf dem Weg hierher ge macht hatten. Bisher waren sie erfolgreich vor Urtyn, dem letzten Zyklopen, geflohen – er hatte sie nicht verfolgt. Vielleicht aber gab es andere Verbindungsgänge, die ihm, nicht aber Elkohr bekannt waren. »Ich verstehe. Allerdings bin ich nicht da zu geeignet, derlei Überlegungen anzustel len. Aber … ich werde es Kortmikel über setzen«, meinte Elkohr. Inzwischen tobte wieder die wilde Musik. Der Kreis um Vater Pegallu wurde dichter, und das Tier, durch die blitzenden Flam menschwerter in große Brocken zerlegt, lös te sich förmlich auf. Elkohr sprach leise mit Kortmikel. Das Vogelwesen nickte schweigend immer wie der und gestikulierte mit seinen Ärmchen und Fingerchen. Dann, nachdem er seiner seits dem Roboter seine Mutmaßungen mit geteilt hatte, sagte Elkohr übersetzend zu Atlan: »Auch Kortmikel ist deiner Ansicht. Va ter Pegallu hat sicherlich die Fähigkeit, Ver bindung zwischen den Dimensionen herbei
Chaos über Atlantis zuführen. Kortmikel will, wenn es sich ma chen läßt, mit ihm sprechen, denn er sieht hier eine Möglichkeit, nach seiner Heimat zurückzukehren.« »Der Optimist!« meinte der Arkonide. Vater Pegallu löste sich aus dem Kreis seiner Untertanen und kam mit ausgebreite ten Armen auf die drei Fremden zu. Sein Amulett funkelte, die ausgeschliffenen Spit zen der Armschützer bewegten sich wie fe dernde Klingen. Vater Pegallu lachte breit, als er vor Kortmikel stehenblieb und in sei nem merkwürdigen Pthora rief: »Willkommen!« Die Lautsprecher gaben jetzt seine Stim me, nicht mehr die Musik wider. Atlan mu sterte den Dello genau, aber sein erster Ein druck brauchte nicht mehr korrigiert zu wer den. Ganz offensichtlich war auch dieser selbsternannte Dello-Herrscher ein Produkt aus Aghmonth, das den Anforderungen der FESTUNG nicht genügt hatte. Oder einer je ner, die eigene Meinung und ein zu starkes Ichbewußtsein entwickelt und sich abgesetzt hatten. Dieser Dello schien ein wenig hinter hältig zu sein, sagte sich der Arkonide, aber er antwortete offen: »Wir danken dir, Vater Pegallu. Wir wer den nur ganz kurz deine Gäste sein, denn wir sind auf dem Weg an ein anderes Ziel.« »Nichts davon!« wehrte der schlanke Del lo ab. »Wir, die Ausgestoßenen, werden euch und uns ein Fest geben. Wir freuen uns, Neuigkeiten von oben zu hören.« »Wohin greifst du, wenn du die Dinge holst?« Elkohr deutete auf die Reste, die sich am Armschutz des Herrschers befanden. Es mochten Teile des Tieres gewesen sein und solche aus der Umgebung, in der dieses Wild gelebt hatte. »Ich weiß es selbst nicht genau. Aber es sind mehr oder weniger immer andere Wel ten. Ich warte, bis etwas vorbeitreibt, das sich zu ergreifen lohnt.« Vater Pegallu faßte den Robot und Atlan an den Oberarmen und zog sie mit sich in Richtung auf sein Haus. Kortmikel folgte
7 und wandte sich nach rechts und links. Die anderen Dellos hoben die Arme und die fürchterlichen Waffen, aber sie sprachen nicht. Unangefochten erreichten die Frem den den freien Platz vor dem Eingang dieses zusammengewürfelten Hauses. »Jene Fundstücke in der Spirale draußen … von dir aus anderen Welten geholt?« Das Lächeln des Dellos war voll echter Traurigkeit. »Ja. Es sollten Waffen sein. Aber sie alle veränderten sich beim Durchgang durch die Grenzen. Eigentlich bin ich Spezialmechani ker. Dafür wurde ich geschaffen.« Elkohr war interessiert. »Du solltest hier in der Unterwelt die An lagen reparieren? Ist es so?« »Nein. Technische Geräte aller Art. Aber ich war nicht gut genug. Ich zerstörte alles, was ich mit meinen Händen anfaßte.« Er streifte Blattreste und andere, völlig unkenntlich gewordene Dinge von den me tallenen Röhren. »Also kein Mechaniker. Und woher hast du diese seltsame Begabung, durch die Dimensionen zu greifen?« »Auch das weiß ich nicht!« Vater Pegallu, der nach Schweiß roch, winkte einigen seiner Untertanen. Sie brach ten einfache Sessel herbei, die aus den ge schälten Ranken der Pflanzen geflochten waren, die hier zwischen und auf den Ma schinen wucherten. Die Fremden und der Herrscher setzten sich auf eine Art Terrasse, die sich neben der unsauberen Treppe er streckte. Atlan, der an Vater Pegallus Kopf vorbeischaute, sah zu seinem Entsetzen eini ge Körperteile von Dellos an dicken Schnü ren von den Maschinenwänden hängen wie andernorts Würste oder Schinken. Die Pthor-Version von Kannibalismus. Vermutlich zwingt Nahrungsmangel sie zu diesem Notbehelf, sagte der Logiksektor. »Das kann ich nicht glauben«, erwiderte Elkohr und übersetzte Kortmikel den Inhalt des Dialogs. Wieder winkte der Dello und vollführte mit seinen Fingern dabei seltsame Bewegungen.
8 »Alles, was ich anpackte, ging kaputt oder verdrehte sich. Ich habe wohl zwei ungeeig nete Hände erhalten. Erst hier in der Unter welt erkannte ich, daß ich damit in andere Welten und Räume vorstoßen konnte.« Kortmikel rief aufgeregt: »Vielleicht er mich geholt. Dimensionsrüssel gepackt?« Es stellte sich heraus, daß in diesem Fall Vater Pegallu völlig unschuldig war. Jetzt näherte sich ein recht gutgewachsenes Del lomädchen und bot einen gläsernen Krug und vier Gläser an. Sie waren einmal unver kennbar Teile von Maschinen oder Labor einrichtungen gewesen. Pegallu packte den Krug und goß nacheinander die Gläser voll. Es war eine blaßrote, schäumende Flüssig keit. Gift? dachte sich der Arkonide. Sein Ex trasinn schaltete sich ein. Noch nicht jetzt, vermutlich aber später – er trinkt selbst mit! »Es ist eine Art Wein aus den Beeren, die ihr gesehen habt«, erläuterte der Herrscher mit seinem milden Gesichtsausdruck. »Und, um eure Frage ganz zu beantworten: Ich la de mitunter meinen Körper mit den fremden Energien auf. Dann vermag ich, Dinge mit größerer Kraft zu tun. Zum Beispiel …« Er deutete mit einem Finger auf den Stoß trockener Ranken, die von den anderen auf einem Haufen zusammengetragen wurden. Aus dem Finger zuckte knatternd ein langer Blitz und setzte ein dickes Stück in Flam men. Von allen Seiten erschollen begeisterte Rufe. »Eine Fähigkeit, die sicherlich dann und wann ihre Vorteile hat«, bekannte Elkohr. Kortmikel sprang auf, bedeckte seine Ohren und die heftig zitternden Antennenfedern mit den Klauen und schrie: »Terror! Feuer! Überall Gewalt.« Atlan packte in sein Gefieder und zog ihn wieder auf den Sessel nieder. »Kannst du dir und auch uns erklären, woher du diese eigenartigen Kräfte hast?« fragte der Arkonide. Der Dello schüttelte den Kopf und betrachtete sinnend sein Amu lett.
Hans Kneifel »Nein. Absolut nicht. Aber sie haben mich zum wohltätigen und energischen Herrscher über diesen Haufen der Ver dammten gemacht. Sie lieben mich alle. Ich lehrte sie viel und bringe ihnen immer wie der Essen. Nur nützliche Werkzeuge … sie verformen sich. Sie haben Schwerter daraus gemacht und anderes.« »Und du vermagst dies ununterbrochen zu tun?« war Elkohrs nächste Frage. Er wollte die Kräfte dieses potentiellen Gegners ab schätzen. »Nicht ununterbrochen. Es erfordert viel Kraft. Es ist die Konzentration, die mich schwächt. In einigen Stunden kann ich es wieder versuchen.« »Verstehe.« Die etwa zweihundert Dellos, die Unterta nen dieser unbegreiflichen Kreatur, häuften eine Menge Brennmaterial auf. Sie schlepp ten Sitzgelegenheiten herbei, die sie in ei nem mehrfach gestaffelten Kreis aufstellten. Dann setzte ein weiterer, etwas schwächerer Blitz aus Vater Pegallus Finger das zunder trockene Material in Brand. Die Scheinwer fer erloschen nacheinander, nur noch hinter einigen Maschinen brannten indirekte Leuchtkörper. Gespenstisch beleuchteten die Flammen des riesigen Feuers die Szene: die Stufen, das schiefe und baufällige Haus, die blitzenden Schneiden der vielen Waffen und die Schatten auf den Körpern und Gesich tern der Dellos. Aus den Lautsprechern kam wieder Musik. Auf einigen Schwertern steckten die Fleischbrocken aus dem Beute tier der anderen Dimension. Diese Gruppen führer saßen am innersten Ring des Feuers und hielten die Fleischstücke in die Glut hinein. Es begann nach Braten zu riechen. Wieder schenkte Vater Pegallu ein und hob seinen gläsernen Becher. »Berichtet uns etwas. Was tun die Herr scher der FESTUNG?« Mit harter Stimme erklärte Elkohr: »Die Zeit Ragnaröks kam näher, die vie len Gegner der FESTUNG erhoben sich, und jetzt ist die FESTUNG nach harten Kämpfen gestürmt worden. Die Herrscher
Chaos über Atlantis leben nicht mehr. Du wirst gemerkt haben, daß Pthor wieder auf der Reise ist.« Vater Pegallu ließ den Becher fallen. Ein Stöhnen der Überraschung kam aus der Keh le des Dellos. »Die FESTUNG beherrscht nicht mehr Pthor?« flüsterte er. »So ist es. Jetzt sind die Söhne Odins un ter den Herrschern. Aber es wird weitere Änderungen geben. Wir sind hier, um einige davon herbeizuführen. Änderungen, die auch euer Leben beeinflussen können. Ihr braucht euch nicht länger als Ausgestoßene zu fühlen.« Schweigend blickte der Herrscher von ei nem zum anderen. Schließlich, nach langem Nachdenken, murmelte er unschlüssig: »Wir sind zu lange schon hier. Keiner von uns kann sich an ein Leben an der Oberflä che gewöhnen. Wir werden darüber lange beraten. Aber ich ahne bereits, wie unser Entschluß lauten wird.« Wieder schwieg er, dann schlug er sich auf die Schenkel und rief: »Das alles später! Jetzt ist ein Fest ange setzt, und ihr seid die Ehrengäste. Wir wer den trinken, essen und tanzen. Hört, die Mu sik!« Vorsicht! Es wird ernst, flüsterte der Lo giksektor warnend. »Sie sind alle in einer Art Netz gefan gen«, flüsterte Elkohr und drehte wachsam den silbernen Schädel. »Sie sind introver tiert, sie bewohnen nur ihre kleine, heile Welt. Sonst wären sie schon längst ausge brochen und hätten sich mehr Raum ver schafft. Aber sie wagen es nicht, denn sonst wäre ihre erste Frage an uns gewesen: ›Was tut ihr hier?‹ Sie akzeptieren die Umstände und versuchen, in ihrem beschränkten Den ken eingeschlossen, nicht einmal, den Zu stand zu verändern. Ganz sicher werden sie versuchen, uns zu verzehren.« Atlan wisperte zurück: »Wieder einmal haben wir beide dieselbe Meinung. Du bist gegen Gifte immun, denke ich?« »Mit Sicherheit. Ich neutralisiere die
9 Speisen in einem Hohlraum meines Körpers. Aber wie steht es mit dir?« Atlan erinnerte sich an einige Versuche, ihn mit Gift töten zu wollen. Stets hatte der Zellschwingungsaktivator die Gifte neutrali sieren und schnell abbauen können. Aber dies waren Gifte gewesen, die nicht von At lantis stammten; möglicherweise veränderte dieser Brocken auf seiner Reise durch Zeit und Raum auch die Eigenschaften von der artigen Mitteln. Er hob die Schultern und gab leise zurück: »Ich werde vermutlich damit fertig. Sor gen macht mir nur Kortmikel. Er ist hung rig.« »Ich passe auf ihn auf«, versicherte El kohr. Das »Fest« nahm seinen Fortgang. Aus den Lautsprechern kam andere Musik. Sie klang weicher und einschläfernder als die barbarischen Takte von vorhin. Die Dellos kamen aus ihren Winkeln hervor und setzten sich um das Feuer. Immer wieder wurden Becher und Gläser vollgeschenkt. Atlan trank kaum einen Schluck, stellte sein Glas neben seinen Fuß auf den Boden und goß hin und wieder große Teile des Inhalts um. Kortmikel hielt sich ebenfalls zurück, aber er schielte sehnsüchtig nach den Platten, die voller Fladen waren. Der Arkonide wagte einen Vorstoß und wandte sich an Vater Pegallu. »Ich denke, daß das Problem der Nah rungsmittelbeschaffung bei euch hier nur ungenügend gelöst ist. Warum brecht ihr nicht ein paar Tore zu anderen Räumen auf? Wir kennen einige Plätze, an denen ihr gute Nahrung finden werdet!« Pegallu schüttelte langsam den Kopf und rieb die Unterarme mit ihren metallischen Schutzhülsen verlegen gegeneinander. »Wir fühlen uns hier wohl – nach all dem, was wir damals an der Oberfläche durchma chen mußten. Mehr Raum, mehr Gefahren, mehr Wahrscheinlichkeit, von den Herren der FESTUNG entdeckt zu werden.« Kortmikel unterhielt sich mit Elkohr in seiner eigenen Sprache und schüttelte immer
10 wieder seinen Eulenkopf. Die Fleischstücke bekamen langsam eine leckere Kruste. Je mand kam und streute bräunliche Kräuter darüber, die in den Flammen aufleuchteten und einen harzigen Geruch verbreiteten. Der Roboter nahm einen Fladen von der dargebotenen Platte und begann zu essen. Kortmikel aß ebenfalls. Atlan hob, als das Mädchen mit der Platte an ihm vorbeikam, demonstrativ und ablehnend den Becher. Trotzdem rief Vater Pegallu dröhnend: »Eßt, meine Gäste. Wir haben die lecker sten Dinge vorbereitet.« Von echter Vorbereitung war keine Spur gewesen. Nur die Fleischbrocken und das Feuer waren nicht schon zwischen den Um formerschränken vorhanden. Es war sicher, daß die Ausgestoßenen drei Opfer haben wollten. Lange, hungrige Blicke trafen El kohr, Kortmikel und Atlan. Der Arkonide spürte, wie die Nervenanspannung von ihm Besitz ergriff. Wie würde Vater Pegallus Dellohorde vorgehen? Würde man sie sofort zerfleischen und in Stücke reißen? Das Feu er loderte noch einmal auf, dann sanken die Flammen zusammen. Das Fleisch aus der anderen Dimension roch verlockend und ließ Kortmikel und Atlan spüren, daß sie tat sächlich Hunger hatten. »In der Tat«, sagte Atlan. »Das Fleisch und die Fladen sehen lecker aus. Aber meine Zunge spürt einen fremden Geschmack.« Der Herrscher machte ein unbestimmte Handbewegung. »Natürlich sind unsere Möglichkeiten sehr eingeschränkt. Aber wir tun unser Be stes.« »Auch wir versuchen dies«, wandte El kohr ein. »Und aus diesem Grund müssen wir versuchen, weiter vorzudringen. Dort hin, in diese Richtung.« Er deutete an dem phantastischen Bau werk der herrscherlichen Residenz vorbei. »Nicht sofort. Bleibt hier, genießt das Fest!« drängte Vater Pegallu und hob die Hände. Mehrere Mädchen schlängelten sich durch die Menge der Dellos. Sie alle warte ten unverkennbar auf ein Ereignis, das of-
Hans Kneifel fensichtlich bald eintreten sollte. »Noch bleiben wir!« versprach der Robo ter. Atlan lehnte sich zurück und schloß die Augen. Der Extrasinn hatte ihn gewarnt – die Situation trieb einem Höhepunkt entge gen. Die Klangfülle aus den Lautsprechern umgarnten die Sinne. Die Kräuter, die in der Glut verbrannten und das Fleisch würzen sollten, erzeugten einen fahlen Rauch und einen betäubendem Geruch. Der Geschmack der Fladen war streng und fremd, aber nicht unangenehm. Wieder versuchte der Arkoni de einen Schluck dieses merkwürdigen Wei nes. In seinem Magen begann das Betäu bungsgift bereits zu wirken, aber es schien eine sehr kleine Dosis zu sein. Nichts mehr essen! Hör auf zu trinken! schrie warnend der Logiksektor. Atlan merkte, daß es ihm schlecht wurde. Ein gräßliches Gefühl stieg die Speiseröhre aufwärts, die Zunge brannte. Mit einem krächzenden Laut sprang Kortmikel auf. Das Vogelwesen schlug mit seinen Ärmchen um sich und strampelte mit den schwächlichen Füßen. Dann stolperte Kortmikel und fiel ra schelnd auf den Rücken. Alle seine Federn sträubten sich und verliehen dem kleinen Wesen das Aussehen eines schwarzen Bal les. »Mir wird übel. Ich sterbe!« röchelte der Roboter in falscher Dramatik. Dann kippte Elkohr zur Seite und schlug mit wild herum wirbelnden Armen einige Dellos zur Seite, ehe er zuckend liegenblieb. Jetzt handelte Atlan. Er krümmte seinen Körper, als die Ma genschmerzen einen Moment nachließen. Dann sprang auch er auf, stieß einen gellen den Schrei aus und taumelte mit schmerz verzerrtem Gesicht zur Seite. Rund um ihn schwoll das Murmeln der Dellos zu einem Chaos begeisterter Schreie an. Atlan sank in die Knie, blickte mit leeren Augen in die Runde und brach nieder. Er lag unmittelbar neben Elkohr und wartete darauf, was nun passieren würde. Der Zellschwingungsakti vator begann mit aller Kraft, das Gift zu
Chaos über Atlantis neutralisieren, trotzdem breitete sich in At lans Glieder eine deutliche Schwäche aus. »Das war überzeugend«, flüsterte Elkohr durch den Lärm. »Wir versuchen, zu entkommen«, gab At lan zurück. »Fast unmöglich.« Um das Feuer herum gab es Aufregung und eine deutlich ausbrechende Gier. Noch immer war Atlan nicht ganz sicher, ob auch Kortmikel und er zu den Opfern des Kanni balismus zählen sollten. Das Ganze schien ihm nicht wirklich derart gefährlich zu sein, wie es tatsächlich war. Aber sein Instinkt sagte ihm, daß er unrecht hatte. Kortmikel war wirklich bewußtlos. Atlan und Elkohr stellten sich besinnungslos und warteten. Um sie herum drängten sich die Dellos. Vater Pegallu gab Befehle und schob sich durch die hektische Menge. Man hob die drei »Bewußtlosen« auf und schleppte sie im Triumph die Stufen hinauf und legte sie im untersten Raum des Hauses nebeneinander auf den Boden. »Bringt die langen Messer! Holt die Spie ße! Facht das Feuer an!« ertönte draußen die Stimme des Herrschers. Aber sie klang kei neswegs begeistert. Es schien, als verab scheue der Dello, was er tat. Trotzdem än derte es nichts. Durch den Schleier der Schmerzen fühlte Atlan nun tatsächlich die würgende Furcht vor dem zugedachten Schicksal. »Flucht! Kennst du den Weg?« flüsterte er Elkohr zu. Die Tür, aus Binsengeflecht und dünnem Gespinst hergestellt, stand weit offen. Un deutlich erkannte Atlan, daß die Dellos in ei ne starke Erregung geraten waren. Sie rann ten durcheinander, holten Geräte aus den verschiedenen Winkeln, schleppten trockene Strünke herbei und riesige Krüge aus rosti gem Blech. Die fremdartige Musik verän derte sich abermals und wurde härter und hektischer. »Ich kenne ihn. Genau geradeaus, über ei ne Treppe, über Rampen. Mehrere Pforten,
11 die vermutlich nicht leicht zu öffnen sind.« Atlan registrierte, daß die Krämpfe in im mer größeren Abständen auftraten. »Versuchen wir es jetzt«, flüsterte er drängend. »Die Zeit eilt.« »Wir müssen Kortmikel mit uns schlep pen«, murmelte der Roboter. »Für mich kei ne wirkliche Last. Aber ich falle dadurch als Kämpfer aus.« »Wir müssen es riskieren.« Die große Menge der Dellos befand sich in der Nähe des Feuers und somit vor dem Bauwerk. Aber jeder Versuch war besser als das sichere Ende über dem Feuer. Atlan hol te tief Luft und versuchte sich zu entspan nen. Der Lärm draußen unterhalb der Stufen nahm zu, flackernder Schein des neu ange fachten Feuers fiel ins Innere des Hauses. Der Roboter bewegte sich und sagte leise: »Du folgst mir, ja? Ich zeige dir den Weg und schleppe Kortmikel.« Atlan hob den Kopf und entdeckte an den Seitenwänden eine Sammlung der merkwür digen Waffen dieser ausgestoßenen Dellos. Aufmerksam spähte Atlan durch den Ein gang in die Richtung des Feuers. Pegallu stand dort, schrie Befehle, deutete hierhin und dorthin und schwenkte seine Ar me. Zwischen den Stufen und dem Feuer hatte sich das Aussehen der Szene drastisch geändert. Schaudernd erkannten sie, daß dort alles für ihre Zerstückelung vorbereitet war. »Los!« Atlan und Elkohr sprangen auf. Mit einem Satz war Atlan an der linken Wand, riß zwei der sichelförmigen Schwerter aus den dün nen Befestigungen und sah aus dem Augen winkel, wie sich der Robot mit spielerischer Leichtigkeit Kortmikels regungslosen Kör per über die Schulter warf und losrannte. Dann krachte Elkohr durch die hintere Wand des Raumes, riß ein Loch und rannte ge duckt hinaus. Atlan folgte ihm und hielt die funkelnden Waffen dicht an den Körper ge preßt. Der Boden der Umformerhalle hinter dem Bauwerk war dunkel, aber über die Wände und die Decke flackerte der Wider
12 schein des Feuers. Noch immer war die Flucht nicht entdeckt. Während sie auf die erste, flache Rampe zurannten, warteten sie auf eine deutliche Reaktion der Dellos. »Schneller. Jeder Meter Vorsprung ist le benswichtig!« flüsterte Elkohr und rannte immer schneller, obwohl die Rampe eine starke Steigung aufwies. Sie bewegten sich noch immer innerhalb des wuchtigen Schat tens, den der »Palast« Pegallus warf. »Du hast recht«, gab Atlan zurück und ignorierte lautlos fluchend einen neuen Ma genkrampf. Eine Minute verstrich quälend langsam. Ihre Flucht war noch immer nicht bemerkt worden! So schnell er konnte, lief Atlan schräg hinter Elkohr die Steigung hoch und blickte immer wieder nach links. Aus der neuen Perspektive sah er, daß die Dellos sich formierten und die ersten von ihnen un ter Führung Pegallus die Stufen zum Gebäu deeingang hinaufkamen. Es würde nur noch Sekunden dauern, dann brach die Verfol gung an. »Achtung. Gleich wissen sie, daß wir flie hen«, rief der Arkonide leise. »Wir haben noch genau siebenhundert Meter Weg vor uns. Allerdings meist Stufen und …« gab der Robot zurück, aber die letz ten Worte gingen in dem Lärm unter, der sich hinter ihnen erhob. In diesem Moment kamen Atlan und der silbernschimmernde Robotkörper aus dem Schatten hervor und erschienen deutlich sichtbar etwa fünfzehn Meter oberhalb der Szene. Inzwischen hatten sie die erste Ram pe verlassen und kletterten auf einer Treppe in die entgegengesetzte Richtung. Vater Pegallu riß einem seiner Untergebe nen ein Schwert aus der Hand und machte sich an die Verfolgung. »Bleibt stehen!« schrie er über die Laut sprecheranlage. Mehr als hundertfünfzig aufgeregt in der Luft herumgewirbelte Waf fen zeigten deutlich, was die Dellos vorhat ten. »Spare deinen Atem«, empfahl der Robo ter und turnte mit nicht nachlassender Kraft
Hans Kneifel die Stufen hinauf. Atlan mußte stehenblei ben und lehnte sich über das Geländer. Kal ter Schweiß sickerte aus den Poren. Ihm war grauenerregend übel, vor seinen Augen be wegten sich Kreise und Spiralen. Der Magen hatte sich in einen glühenden Ball verwan delt. Im Rhythmus seines Herzschlags sand te der Aktivator seine heilende und beruhi gende Strahlung aus. Keuchend sog der Ar konide die abgestandene, nach Rauch und Gewürzen stinkende Luft ein und lief end lich weiter. Der Herrscher und etwa zwei Dutzend seiner Dellos hatten den Anfang der Rampe erreicht und kamen waffenschwingend und schreiend näher. Atlan blickte nach oben – dort wurden die Treppen anscheinend immer schmaler. Ein Vorteil für sie, falls man sie tatsächlich einholte. Etwa fünf Minuten lang änderte sich nicht allzu viel. Die Dellos, etwa hundertfünfzig mochten es sein, strömten in zwei breiten Schlangen formationen am Haus vorbei. Die Gruppen vereinigten sich am Fuß der untersten Ram pe und drängten nach oben. Die erste Grup pe der Verfolger, zu der einzelne Ausgesto ßene vordrangen, kam unbarmherzig näher. Wieder wechselte die Treppe ihre Rich tung und führte weiter auf einen schmalen Platz. Elkohr hatte Kräfte, die Atlan nicht überraschten; er kannte einige davon aus ei gener Erfahrung. Trotzdem war abzusehen, daß spätestens die erste Tür die Situation drastisch ändern konnte. Schwer atmend überwand der Arkonide eine Stufe nach der anderen. Der Anzug der Vernichtung wird dich schützen! Denke an die Böse Stimme El kohrs! sagte der Logiksektor. »Wo ist diese verdammte Pforte?« schrie Atlan keuchend. Elkohr befand sich etwa hundert Stufen über ihm. »Wir haben sie bald erreicht!« Die unbeteiligte, kühle Knabenstimme dieses unbegreiflichen Maschinenwesens aus Wolterhaven reizte Atlan. Er unter drückte auch diesen Impuls der wütenden
Chaos über Atlantis Verzweiflung und versuchte seinerseits, den Abstand zu seinem Kampfgenossen zu ver ringern. Zehn Stufen später stolperte er und schlug schwer auf. Die Waffen, die er umklammer te, klirrten laut und bogen sich halb durch. Von unten erscholl ein höhnisches und er wartungsvolles Geschrei. Fluchend richtete sich Atlan wieder auf, zog mit einer Hand die Kappe des Goldenen Vlieses wieder über den Kopf und stolperte mit schmerzenden Knien und Ellenbogen weiter. »Nur noch einige Stufen!« rief Elkohr an feuernd. »Ich kann es nicht glauben«, gab der Ar konide zurück. Die Schreie und die Wutaus brüche der Dellos waren leiser geworden. Aber es gab ein neues Geräusch, ein dump fes Brüllen. Atlan riskierte es, stehenzubleiben und zu versuchen, das Gewimmel in der Halle und zwischen den schwarzen Würfeln zu durch dringen. Nein! Das ist nicht faßbar! dachte er und rannte plötzlich mit neu erwachenden Kräf ten die nächsten vierzig Stufen aufwärts. »Elkohr! Wir haben Verstärkung bekom men!« schrie er. »Unsinn. Wer ist es?« »Der Zyklop. Urtyn, der Einäugige!« Atlan hatte deutlich den riesenhaften Kör per des Zyklopen gesehen. Er stolperte eben die letzten Stufen auf der anderen Seite der Umformerhalle herunter und schrie. Auf rät selhafte Weise hatte er seinen Knüppel ge funden und schwang ihn drohend. Noch hat ten ihn die Dellos nicht gesehen. Ihr Interes se konzentrierte sich auf die beiden winzi gen Gestalten, die im Zickzack an der ande ren Hallenwand hinaufturnten. Noch immer stürmte als erster Vater Pe gallu hinter den Fremden her. Er schien ra send vor Wut und Enttäuschung zu sein. Jetzt schrien er und die kleine Gruppe, die ihm auf den Fersen folgte, nicht mehr; auch sie rangen nach Atem. »Tatsächlich! Er ist es«, rief der Robot. Atlan erreichte ihn gerade in dem Moment,
13 als Elkohr den Körper Kortmikels vorsichtig absetzte und an die Felswand lehnte. Dann wirbelte er herum und machte sich daran, den komplizierten Verschluß einer so gut wie unsichtbaren Tür zu öffnen. Atlan blieb stehen und drehte sich keu chend herum. Das Brennen in seinem Ma gen hatte aufgehört, aber die Schwäche in den Gelenken überfiel ihn jetzt mit doppelter Wucht. Die Verfolger waren nur noch drei Treppen unter ihnen. Du wirst so lange kämpfen müssen, wie Elkohr braucht! Atlan ging langsam und mit zitternden Knien einige Stufen hinunter und blieb ste hen. In jeder Hand hatte er eines der furcht baren, dünnen Schwerter. Er hoffte inbrün stig, daß er von dem Anzug der Vernichtung geschützt werden würde – so wie schon an anderen Stellen. Aber er konnte nicht sicher sein. Wieder brüllte Urtyn auf. Der Zyklop tappte verblüffend zielsicher durch die Hal le. Dann erst sah Atlan den Pilotfisch, dieses schwebende Wesen, das den Zyklopen leite te. Es schwebte direkt vor seinem Kopf. At lan glaubte, einige dehnbare Fäden zu sehen, die sich zwischen der Kreatur und Urtyns Schädel spannten, aber er war nicht sicher. Ein Dello prallte gegen Vater Pegallus Schulter, als der Herrscher zwanzig Stufen unterhalb Atlans stehenblieb und die Arme ausbreitete. »Ihr habt das Gastrecht verletzt. Dafür werdet ihr sterben und geröstet werden!« sagte Pegallu. »Wenn das die einzige Legitimation ist, die du brauchst – komm, hole dir, was du haben willst«, sagte Atlan ruhig. »Aber zu erst solltest du dich um unseren Freund kümmern. Er hat gerade einige deiner Unter tanen an den Maschinen zerschmettert.« Das Auge des Zyklopen oder vielmehr die Stelle, an der es sich befunden hatte, war ei ne gräßliche Wunde. Und dennoch fanden die Pranken des Titanen und seine Keule ih re Ziele. Er hatte eben mit einem einzigen Schlag einen Dello durch die Luft gewirbelt
14 und gegen einen Maschinenwürfel ge schmettert. Ein anderer wurde von der sau senden Keule getroffen und starb mit einem lauten Schrei. Vater Pegallu achtete nur auf Atlan. Er schrie wütend auf, schwang sein Schwert und stürzte die Stufen hoch. Atlan schaute blitzschnell über die Schulter. Noch immer hatte Elkohr Schwierigkeiten, das Portal zu öffnen. Vermutlich hatten einst dies auch die Dellos versucht. Aber sie besa ßen nicht seine Informationen und nicht die Kräfte des Robots. Atlan führte einen waagrechten Hieb. Das Schwert fuhr mit einem leisen Heulen durch die Luft. Dann drangen gleichzeitig zwei an dere Dellos und Pegallu auf ihn ein. Der Ar konide glitt schnell auf der Stufe hin und her und parierte die Hiebe. Klirrend und mit me tallischem Rasseln schlugen die Schwerter gegeneinander. Aus ihren Zacken sprühten lange Funken. Vater Pegallu stolperte, trat schnell ein paar Stufen rückwärts und fing sich wieder. Sein Schwert hätte beinahe den Arm eines anderen Dellos durchgeschnitten. Atlan schlug zu, prellte ein Schwert aus der Hand eines Angreifers und warf den Mann mit einem wuchtigen Fußtritt die Treppe hinunter. Andere drangen auf ihn ein. Vor ihm blitzte eine Barriere aus fun kelnden Schwertern auf. Immer wieder schlug er zu und wehrte die Angriffe ab. Der erste Schlag durchschnitt seine Ver teidigung und traf ihn unweit des Stachels an der Schulter. Ein prasselnder Laut ertön te, das Schwert wurde in die Höhe zurückge schleudert. Aber der Schmerz des Schlages durchzuckte den Arkoniden und lähmte ihn vorübergehend. Er versuchte schwach, den Arm zu bewegen und wich langsam zurück. Wenn du jetzt stolperst, bist du verloren! warnte der Logiksektor. Vater Pegallu schob sich wieder heran. Sein Schwert beschrieb Kreise und Haken. Er hob die linke Hand und deutete auf den Arkoniden. Atlan ahnte und fürchtete, was jetzt kommen würde. Aus dem Finger zuck te ein dünner, blendender Lichtstrahl. Im
Hans Kneifel letztmöglichen Augenblick hatte sich Atlan geduckt, zur Seite geworfen und das Schwert hochgerissen. Der Strahl traf auf das Metall, ein kristallweißes Funkenbündel sprühte nach allen Seiten. Als der Arkonide die Waffe wieder senkte und einen schnellen Ausfall in die Richtung des linken Arms Pe gallus machte, sah er, daß ein zwei Finger großes Loch hineingeschmolzen war. Atlan schlug nach rechts und durchbohrte einen Dello. Der nächste Gegner, der sich zwischen ihn und den Herrscher schob, wur de plötzlich von einer unsichtbaren Kraft ge troffen und meterweit die Treppe hinunter geschleudert. Elkohrs Hammer! Nacheinander verschwanden die Dellos von der Treppe. Sie drangen vor, der un sichtbare Hammer schlug zu, schlug ihren Arm in die Höhe und das Schwert zur Seite oder an ihren Körper. Die Körper wurden waagrecht vom Boden gerissen, mehrere Meter mit äußerster Wucht zurückgeschleu dert und durch die Luft gewirbelt. Irgendwo weiter unten krachten sie zu Boden, koller ten über die Stufen und blieben mit gebro chenen Gliedern liegen. Die Verteidigung war lautlos, aber die Opfer schrien und wim merten. Das Klirren der Waffen auf dem Stein war eine schauerliche Untermalung. Nur bei Vater Pegallu wirkte diese Waffe nicht. Oder nicht deutlich erkennbar. Er stand binnen kurzer Zeit allein auf den Stufen und drang mit einem wilden, klirren den Schlaghagel auf Atlan ein. Dort, wo die Spitze des zackigen Schwertes das Goldene Vlies berührte, breitete sich auf Atlans Haut und in seinen Muskeln eine schmerzende Schwäche aus. Aber diese goldene Rüstung wurde nicht einmal angekratzt. Atlan wehrte sich mit schwindenden Kräften und hoffte, daß der Angriff des brüllenden Zyklopen seine Lage erleichtern würde. Aber es war nur Elkohr, der ihm half. Als eine neue Schar sich über den zucken den und schreienden Haufen gekämpft hatte, trieb der Robot sie mit dieser unheimlichen und lautlosen Waffe wieder zurück. Jetzt be
Chaos über Atlantis deckte ein Berg von ineinander verkeilten Körpern die Treppe. Die Schwerter bohrten sich in die Dellos, wenn wieder ein Angrei fer in diesen Haufen hineinkrachte. »Gib auf, Pegallu!« schrie Atlan zornig. Seine Magenschmerzen waren vergangen, oder er beachtete sie in der Anstrengung des Kampfes nicht. Aber er merkte, wie seine Kräfte rasend schnell verfielen. »Ich kriege euch alle. Und dann dreht ihr euch auf unseren Spießen über dem Feuer!« gab Pegallu zurück. Atlans Schwert krachte mit äußerster Wucht auf den linken Arm schutz, zerfetzte einen Teil des Metalls und drang in die Haut ein. Wieder zuckte ein Strahl hervor und hämmerte gegen das Knie des Arkoniden. Atlan stand schwankend da und versuchte, sein Gleichgewicht wieder zu finden. Pegallus linker Arm hing blutend und handlungsunfähig am Körper herunter. Aber der rechte Arm, der die Waffe führte, schien auf einmal doppelte Kräfte zu besitzen. Lan ge Funken von purpurroter Farbe zuckten aus der Spitze. Die Schneide hüllte sich in ein grelles, weißes Licht und verschwand immer wieder für Sekundenbruchteile oder längere Zeit. Mit dieser flimmernden Waffe kämpfte der Dello gegen Atlan. Noch immer gelang es ihm, die Schläge zu parieren. Kur ze Zeit sah es so aus, als habe Atlan sogar einen kleinen Vorteil. Er sprang drei Stufen hinauf und schrie: »Noch nicht fertig, Elkohr?« »Dauert nicht mehr lange!« Wieder durchzuckte stechender Schmerz Atlans Unterarm. Das Schwert seines Geg ners glitt vom Goldenen Vlies ab. Die seltsa me Kraft in den Armen des Dellos, die Kräf te aus anderen Dimensionen, waren furcht bar. Atlan schmetterte keuchend das flim mernde Schwert seines Gegners zur Seite und deutete blitzschnell in die Tiefe. Dort griffen die Dellos den Zyklopen an, aber sie richteten kaum etwas gegen ihn aus. Selbst ihre Schwerter erreichten ihn nicht; seine Keule beschrieb schnelle Kreise. »Atlan! Hierher!«
15 Der Schrei des Roboters war für Atlan ei ne Erlösung. Er fintierte mehrmals, schlug auf die Klinge und beim Rückschlag gegen den rechten Arm des Dellos, dann gelang es ihm, mit der Ferse die Brust Pegallus zu treffen. Während Atlan so schnell wie mög lich halb rückwärts die Stufen hinaufsprang, überschlug sich der Herrscher und fiel gegen die Leiber der verwundeten und toten Dellos weit unter sich. Atlan blieb neben Elkohr stehen und stieß hervor: »Geschafft. Ich möchte niemals mehr mit ihm kämpfen …« In der scheinbar glatten Felswand hatte sich eine mindestens sechs Quadratmeter große Platte geöffnet. Mächtige stählerne Riegel und eine aufwendige Verschlußauto matik waren sichtbar. Elkohr bückte sich und hob Kortmikels Körper auf. Er warf einen langen Blick nach unten und sagte: »Sie werden den Zyklopen töten müssen. Schnell, Atlan – wir sind in Sicherheit.« Atlan folgte dem Roboter. Er interessierte sich nicht dafür, wie Elkohr dieses Portal hatte öffnen können. Hinter ihnen schloß sich die riesige Steinplatte mit einem dump fen Krachen. Atlan lehnte sich gegen die Wand und zerrte die Kappe des Goldenen Vlieses von seinem schweißnassen Haar. Er war restlos erschöpft. Sein Atem ging ras selnd, eiskalte und kochendheiße Wellen zo gen abwechselnd über seine Haut, sein Ge sicht war fahlweiß und schweißüberströmt. Seine Knie schlotterten, und die Finger zit terten. Sein Magen begann wieder zu schmerzen. Leise und stockend sagte er: »Das war knapp, Elkohr. Haben wir es jetzt hinter uns?« Der Roboter ging langsam einen überra schend sauberen und hell erleuchteten Gang entlang. Kortmikel bewegte sich noch im mer nicht. Das Gift hatte bei der geringen Masse seines Körpers eine verheerende Wir kung entfaltet. »Ja. Das Gebiet vor uns muß sicher sein, ohne größere Gefahren.« »Und hinter uns schlagen sich die Dellos
16
Hans Kneifel
mit Urtyn.« »Nicht von Belang für uns.« Atlan wartete müde und lustlos, bis der Roboter das andere Ende des Ganges er reicht hatte, dann folgte er ihm. Gedanken los stellte er fest, daß er noch immer das stark strapazierte Schwert mit sich schlepp te. Zunächst wollte er es wegwerfen, dann zuckte er die Schultern und zog es hinter sich her. Als er Kortmikel und Elkohr er reichte, sah er, daß sich das Vogelwesen langsam zu bewegen begann. »Eines weiß ich jetzt mit Sicherheit«, murmelte er. »Ja?« »Der Weg zur Schaltstation ist wirklich eine Tortur.« Das mächtige Steintor schloß die Ge räusche der Halle völlig von ihnen ab. Ein anderer Effekt trat auf: Er ließ auch ganz langsam, fast unmerklich, das Entsetzen und die Gefahren vergessen. Jedenfalls erging es Atlan nicht anders. Er starrte Elkohr von der Seite an und fragte leise: »Was jetzt? Dort entlang?« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf einen Durchgang. Ein rechteckiger Durch gang, aus den Felsen gebrannt oder ge schnitten, wie die meisten anderen Höhlen, Korridore und Öffnungen hier in der Unter welt von Atlantis. Dahinter schien es dunkel zu sein. »Richtig. Dort entlang. Wir sind dicht vor den Räumen, die wir suchen. Allerdings ha be ich noch einige Informationen …« Er hob Kortmikel wieder auf und nickte ruhig, als er sah, wie sich das Vogelwesen rührte und keuchend zu atmen anfing. »… die auf eine Schleuse, ein Hindernis hinweisen, das unmittelbar vor der Schalt station liegt. Aber auch diese Schleuse wer den wir überwinden, Atlan.« »Sehr viel schlimmer kann es nicht kom men«, tröstete sich der Arkonide.
* Urtyn wütete inmitten eines dichten Krei-
ses von Ausgestoßenen. Er war blind, aber ein mehräugiger Dämon schien ihn zu len ken. Die Wut und die Schmerzen hatten den Zyklopen rasend gemacht, und er hatte nichts anderes im Sinn, als sich an den Fremden zu rächen. Aber die Fremden waren anscheinend verschwunden. Oder waren sie hier, in der Menge ver steckt? Seine Gedanken waren ein wirres Muster eigenen Zorns und fremder Impulse. Er war müde und hungrig und erschöpft, aber von außen fluteten Haß und Wut in sein Inneres. Er sah mit den riesigen Augen seines einzi gen Freundes, des Pilotfisches, der einen Meter über seinem Kopf schwebte. Er erledigte mit seinen ungestümen Kräf ten einen Gegner nach dem anderen. Die metallenen Waffen schnitten tiefe Kerben in seinen Zerstörer. Andere rissen lange Split ter aus dem Schaft und wurden verbogen, geknickt und zerbrochen, als sich diese rie senhafte Waffe bewegte. Dann erkannte Ur tyn, daß sich in der Masse derer, die sich zwischen seinen Haß und die flüchtenden Fremden geschoben hatten, eine breite Gas se öffnete. Ein einzelner Gegner kam auf ihn zu und stellte sich zum Kampf. Der Dämon über ihm leitete und steuerte die Kräfte des Zyklopen. Der Gegner war nur ein Drittel so groß wie Urtyn selbst. Aber eine dunkle, drohen de Aura strahlte von ihm aus. Etwas war fremd und ließ den Zyklopen erschauern. Durch den glühenden Haß hindurch machten sich erste Anzeichen von Angst bemerkbar. Er stieß mit dem Kolben des Zerstörers nach vorn, aber der Gegner sprang geschickt zur Seite und unterlief den Hieb. Dann zuckte sein Schwert aufwärts und riß den Unterarm des Zyklopen weit auf. Wilder Schmerz fuhr durch Urtyns Körper. Die Raserei kehrte schlagartig zurück, und er stürzte sich mit aller Kraft auf den Angreifer. Ein schneller, rücksichtsloser Kampf brach an. Beide Gegner schienen gewaltige Reser
Chaos über Atlantis
17
ven an Kraft zu haben. Sie waren blitz schnell, griffen an, schlugen zu und wichen aus. Die kannibalischen Dellos zogen sich zu rück und sahen schweigend zu, wie ihr Herr scher gegen den Zyklopen kämpfte. Ein solch riesiges Wesen hatten sie noch niemals gesehen. Wenn es tot wäre, würde es eine Menge Fleisch geben, das man der Ernäh rung der Kolonie der Ausgestoßenen zufüh ren konnte. Die Halle dröhnte und klirrte un ter den Lauten der wirbelnden Waffen, das Keuchen der Kämpfer klang zischend. Über allem schwebte mit zuckenden schwarzen Schwingen der Pilotfisch des Zyklopen, sein böser Dämon. Der Kampf würde lange dau ern …
2. Thalia schüttelte langsam den Kopf und sagte leise, aber bestimmt: »Ich habe mich erholt. Meine Kräfte sind wieder groß, und außerdem habe ich euch allen bewiesen, wie schnell und gut ich kämpfen kann, nicht wahr?« Sigurd schenkte ihr ein zerstreutes, aber wohlwollendes Lächeln. Heimdall und Bal duur nickten düster. »Atlan ist verschleppt worden. Ich weiß, daß er lebt!« beharrte Thalia. Thalia hatte vor kurzem den bewußtlosen Riesenwolf Balduurs in die FESTUNG zu rückgebracht. Entsetzt hatten Razamon und Kolphyr gehört, was ihrem Freund zugesto ßen war. Noch jetzt hatten sie sich nicht wirklich gefangen, obwohl sie ruhiger wa ren. »Woher willst du das wissen, Schwe ster?« erkundigte sich Sigurd halblaut. Er war ebenfalls zufrieden, wenn auch nicht be geistert darüber gewesen, daß sich das Pro blem namens Atlan so leicht hatte lösen las sen. »Ich fühle es!« sagte sie hartnäckig. »Meinetwegen. Und was hast du vor?« fragte Balduur schleppend. »Ich werde Kolphyr und Razamon mit der
Windrose dorthin bringen, wo ich Atlan das letztemal lebend gesehen habe. Man hat ihn verschleppt, und wir kämpfen ihn frei. Er ist für Pthor unersetzlich!« »Für dich auf alle Fälle«, knurrte Heim dall finster. Im Innern der FESTUNG herrschte, we nigstens was die Söhne Odins betraf, keine gute Stimmung. So vieles war fremd, so vie les war schwierig zu lösen, und sie wurden noch immer mit ihrer neuen Würde nicht fertig. Je mehr Probleme sie lösten, je mehr Fragen sie sich und anderen beantworteten, desto mehr tauchten auf. Das Regieren über Pthor war alles andere als leicht oder ein fach. Ununterbrochen mußten sie versuchen, die einzelnen Gruppen dieser Welt unter Kontrolle zu bringen. Und dabei mußten sie sich hüten, jene Fehler zu begehen, die die Herren der FESTUNG so verhaßt gemacht hatten. Sigurd holte tief Atem, richtete sei nen Blick in unbestimmte Ferne und sagte: »Meinetwegen. Nimm deine Windrose und versuche, deinen Geliebten zu befreien. Für uns bedeutet es ein Problem weniger.« Thalia richtete sich auf. Sie blickte an ih rer Rüstung herunter. Noch immer schlotter ten die Teile um ihren schlanken Körper. Noch nicht einmal dazu hatte sie Zeit gefun den, diesen Umstand zu ändern. »Eure Meinung?« fragte sie Balduur und Heimdall herausfordernd. »Einverstanden. Aber auf keinen Fall dürft ihr versuchen, in das tiefe Innere ein zudringen. Jeder Handgriff kann eine unvor stellbare Katastrophe auslösen!« rief Heim dall. »Wir möchten das Reich, das wir eben gewonnen haben, nicht durch deinen Überei fer verlieren, Schwester.« Razamon warf ein: »Ich verstehe ein wenig von allerlei Tech niken. Wir haben keineswegs vor, uns und euch umzubringen. Aber sicher ist es ver ständlich, wenn ich meinen einzigen wahren Freund auf Atlantis suche.« Ein wilder Tatendrang erfüllte ihn. Trotz dem blieb er skeptisch. Zwar kannte er eini ge Wirkungen des Goldenen Vlieses, aber er
18 mußte damit rechnen, daß Atlan tot oder verwundet war. Er wehrte sich gegen solche Gedanken, aber sie kamen immer wieder. Er würde an den Tod erst dann glauben können, wenn er die Leiche des Unsterblichen sah. Nicht eher. »Verständlich. Fahrt hinaus zu den Step penseen und taucht nach ihm. Und nimm Kolphyr mit!« empfahl ihm Balduur. Sigurd schwieg. Er spürte die Feindschaft, die seine Brüder der Schwester entgegenbrachten. Er verstand diese Enttäuschung und teilte sie – mit Einschränkungen. Razamon und Thalia wechselten einen Blick voller Einverständnis. Der Atlanter kannte das Problem der jungen Frau … es war alles andere als einfach. Sie hatte sich in Atlan verliebt. Es schien der erste wirklich wichtige Mann in ihrem unvorstellbar langen Leben zu sein. Er, der nur an einen Teil seines Lebens deutliche Erinnerungen hatte, empfand dieses starke Gefühl mit ihr. Daß er, Razamon, und natür lich auch Kolphyr, den drei Brüdern außer ordentlich lästig waren, verstand sich am Rand. Aber Thalia oder Honir, wie man sie oft noch immer nannte, mußte so und nicht anders handeln. Sie verzehrte sich in der Sorge um ihren Geliebten. Andererseits: War Atlan wirklich ihr Geliebter, oder han delte es sich nur um eine Schwärmerei? Razamon hob die Schultern; bei dem Ge danken, Atlan in den geheimnisvollen See zu folgen, schauderte es ihn. Da war der Ge danke, durch die Gänge und Treppen der FESTUNG nach unten vorzudringen, schon viel verlockender, auch wenn er eine Kette von Gefahren versprach. Razamon hatte sich aus den Vorräten neu eingekleidet. Die neue, saubere Kleidung und die Ruhepause hatten viel zu seinem au genblicklichen Wohlbefinden beigetragen. Und vor allem hatte er eine Waffe gefunden, die ihn begeisterte. Eine Strahlenwaffe mit langem Lauf, der hohe Zielgenauigkeit ver sprach. Er wandte sich an Thalia. »Gehen wir? Es wird vielleicht bald ganz
Hans Kneifel dunkel.« Thalia nahm die Vars-Kugel an sich und nickte entschlossen ihren Brüdern zu. »Ich weiß«, sagte sie leise, »daß ihr un entschlossen seid, meine Brüder. Einerseits könnt ihr nichts an der Tatsache ändern, daß auch mein Vater Odin war. Andererseits bin ich für euch ein Problem, weil Odin mich verabscheut. Und weil der Vater dies tut, verabscheut ihr mich auch. Ich gebe zu, daß es schwierig für euch sein muß. Trotzdem bin und bleibe ich ein Kind Odins. Und ich werde Atlan suchen und befreien. Wenn er noch lebt.« Sigurd dachte an Fongerreilson und schwieg. Er nickte seiner Schwester zu und sah, wie Razamon seine braune Felljacke zuknöpfte. Im breiten Gürtel steckte eine dieser Waffen, die aussah wie der Waggu ei nes Technos. »Fenrir bleibt hier!« sagte Balduur hart. »Er ist auch noch zu schwach«, sagte Razamon. »Für uns wäre er nur eine Behin derung. Und ich weiß von keinem Wolf, der schwimmen kann wie ein Fisch.« »Nützt das wenige Licht aus, um die Seen zu erreichen«, empfahl Heimdall und stützte sich auf seine wuchtige Waffe. »Keine Sorge. Ich weiß, was wir zu tun haben!« schloß Thalia und verließ an der Seite des Schwarzhaarigen den Raum. Don nernd fiel hinter ihr die metallbeschlagene Tür ins Schloß. Razamon lächelte kaum wahrnehmbar und fragte mit veränderter Stimme: »Es ist dir ernst, nicht wahr?« »Ja. Und ich bin ebenso wütend wie trau rig, daß sich meine Brüder derartig merk würdig verhalten.« »Auch sie können nicht über ihren Schat ten springen. Du mußt zugeben, daß dieser Schatten ziemlich gewaltig ist.« Die mehr oder weniger lange Ruhe hatte nicht nur Thalia, sondern auch Kolphyr er frischt und gestärkt. Die verschiedenen Ge spräche mit den drei Brüdern lagen hinter ihnen. Razamon spürte noch den Geschmack von Kolphyrs Wein auf der Zunge. Welchen
Chaos über Atlantis Plan verfolgte Thalia? Warum war sie so si cher, daß Atlan noch lebte und es sich tat sächlich lohnte, ihn zu suchen? »Über große Schatten kann man gehen«, gab Thalia zurück. »Wo ist Kolphyr?« »Er rüstet sich aus. Komm, wir holen ihn.« Razamon bemerkte mit Erstaunen, daß ei ne ganz neue Art von Selbstsicherheit diese junge Frau erfüllte. Sie war entschlossen, ihr Vorhaben schnell durchzuführen. War es ihr geglückt, sich unter Atlans Einfluß von dem Einfluß ihrer Brüder und dem dunklen Schatten des Vaters loszureißen? Schwei gend folgte Razamon ihr in die Richtung auf Kolphyrs Quartier. Zwanzig Schritte, bevor sie die Tür erreichten, öffnete sie sich, und Kolphyrs wuchtige Gestalt schob sich in den Korridor. »Ich wußte es doch! Ihr brecht auf«, dröhnte er. »Wir waren dabei, dich zu holen. Wie steht es mit den Vorräten?« Kolphyr, dessen eng anliegender Schleier glänzte, drehte ih nen kurz den Rücken zu. An breiten Riemen hingen verschiedene Beutel und Säcke. Raz amon registrierte mit schweigender Zufrie denheit, daß auch zwei prall gefüllte Wein schläuche dabei waren. »Komm!« sagte er nur. »Wohin?« »Mit Thalia zusammen Atlan suchen. Je denfalls scheint ihre Sicherheit, daß er lebt, geradezu gigantisch zu sein«, bemerkte der Atlanter in gutmütigem Spott. »Nicht gigantisch. Ich weiß es. Eine inne re Stimme sagt es mir«, erwiderte Thalia. Sie verließen den Korridor und fanden ohne Schwierigkeiten den Weg in das parkähnli che Reich der Fallen rund um die Gebäude der FESTUNG. »Dort ist die Windrose. Ich habe sie ste hengelassen, und niemand scheint sie ange rührt zu haben«, murmelte Razamon und deutete durch das Zwielicht auf einen Baum mit mächtigen Zweigen und knorrigem Wurzelwerk. »Ich sehe es.«
19 Razamon nahm links Platz, die Tochter Odins setzte sich vor die Steuerung und war tete, bis sich Kolphyr neben sie gezwängt hatte. Dann bewegte sie die Hebel des großen Doppelrings und schaltete die Scheinwerfer an. Einige Augenblicke später kippte sie den Schalter wieder zurück; die breiten Lichtbalken erloschen. »Warum das?« knurrte Razamon. Sie lachte kurz. »Es paßt nicht in meine Überlegungen. Außerdem könnten meine lieben Brüder un seren Weg einfacher verfolgen.« Kolphyr meinte entgeistert: »Was hat sie vor, Razamon?« Razamon zuckte zusammen; er hatte eben mit ängstlicher Dankbarkeit registriert, daß weder sein Zeitklumpen seinem Bein Schmerzen zufügte, noch, daß er auch nur entfernt die Spuren eines dieser berserkerar tigen Anfälle spürte. Er musterte die dunklen Büsche mit den streng riechenden großen Blüten und die Baumstämme, die ganz langsam vorbeiglitten, als sich die Windrose zu drehen begann. »Frage sie selbst! Offensichtlich nicht, Atlan bei den unergründlichen Seen zu su chen. Oder habe ich mich sehr geirrt, Tha lia?« »Keineswegs. Ihr werdet es gleich erfah ren.« Thalia steuerte die Windrose langsam und im Zickzack über die dunklen Wege des Parks. Die Stimmung trog; obwohl die Blü ten rochen, die Zweige und Gräser sich weich bewegten und die Bäume sich in ei nem warmen Wind regten, wußten die drei Insassen der Windrose, daß der Park noch immer Fallen enthielt. Thalia steuerte einen großen Kreis und hielt an, als sich wieder die Flanke der FESTUNGS-Pyramide näher te. Der Antrieb wurde abgeschaltet. »Ich bin ganz sicher, daß wir kein Glück mit der Suche haben werden, wenn wir zu den eiskalten Seen hinausfahren«, sagte Thalia und blickte Razamon in die Augen. Der Atlanter strich das Haar aus der Stirn und wartete schweigend.
20 »Ich schlage vor, wir versuchen, ins Inne re der FESTUNG einzudringen. Es wird dort zwar viel verschüttet sein, aber wir finden sicher einen Zugang.« »Wir suchen Atlan. Und Atlan sucht die Steuerzentrale«, sagte Kolphyr und lehnte sich an einen dicken Baumstamm. »Richtig. Wir dringen in die FESTUNG ein, suchen einen Weg in die Tiefe und wer den Atlan finden. Ich bin sicher«, stieß die Tochter Odins hervor, »daß Atlan noch lebt.« »Ich wünschte, ich könnte deine Sicher heit teilen«, erklärte Razamon. »Aber … ich mache mit.« »Niemand hat geglaubt, daß du mit Fenrir und meinen Brüdern zusammen in der FE STUNG ruhig warten würdest. Wenn ich nur wüßte, wo wir zu suchen haben?« Kolphyr stieß ein kurzes Gelächter aus und brummte: »Erst einmal so tief hinunter wie es geht. Dann sehen wir weiter. Ich habe Fackeln und Lampen eingesteckt.« Nacheinander gingen sie auf einen aufge sprungenen Eingang zu und zwängten sich hindurch. Tiefes Dunkel empfing sie. Als sie möglichst leise eine lange Stahltreppe hin untergestolpert waren, mehr tastend und stolpernd, zischte Razamon plötzlich: »Halt! Still!« Über ihnen waren Stimmen. Ein winselndes Geräusch ertönte, dann hörten sie wuch tige Schritte und das Klirren einer Rüstung oder anderer Metallteile. Die Laute kamen näher und wurden deutlicher und schärfer. Dann schienen die Brüder stehenzubleiben und zu beraten. Es war nicht zu verstehen, worüber sie sprachen. Aber ihre Erregung wuchs, schließlich heulte Fenrir auf. Wieder ertönten die Schritte und entfernten sich. Nach einer Minute murmelte Razamon: »Deine Brüder, Thalia. Kann es sein, daß sie uns suchen?« Thalia flüsterte durch die Dunkelheit: »Es ist möglich, aber unwahrscheinlich. Weiter! Je mehr wir uns nach unten entfernt haben, desto sicherer sind wir. Ich glaube
Hans Kneifel nicht, daß sie uns verfolgen.« »Aber ich glaube es fest«, widersprach Kolphyr. Wieder blitzten die Lampen auf. Thalia führte mit klappernder Rüstung die kleine Gruppe an. Ab und zu krachte die VarsKugel gegen ein Stück Metall oder die Wan dung der Treppenanlage. Jedesmal zuckte Razamon zusammen, aber offensichtlich verfolgte sie wirklich niemand. Stufe um Stufe, Absatz um Absatz, tiefer und tiefer. Von allen Seiten schoben sich wuchtige Me tallwände heran, dann tauchten die ersten Quadern auf, die dieses ehemalige Raum schiff stützten. Sie waren uralt, bemoost und an den Kanten abgeblättert. Stählerne Säulen unterbrachen sie. Die Treppen bestanden nach wenigen Metern Höhenunterschied auch aus Stein. Eine feuchte Kälte umfing die drei Eindringlinge. »Hier war seit Odins Geburt niemand mehr!« sagte Thalia in fast ehrfürchtigem Tonfall. Razamon und Kolphyr merkten, daß sie erregt und fremdartig berührt war. »Verständlich. Es ergab sich für nieman den die Notwendigkeit«, schränkte Razamon ein und bemerkte, daß der Geruch dieser Anlagen sogar Kolphyrs strengen Zimtge ruch übertönte. »Ich habe befürchtet, alles sei eingestürzt und zusammengebrochen«, meinte der Riese in dem grünlich schimmernden VelstSchleier. »Kommt sicher noch«, entgegnete Raza mon lakonisch. Der Bera leuchtete mit seiner Lampe die Treppenstufen an. Gestochen scharf waren die verschiedenen Fußabdrücke zu erken nen. Der feuchte Staub, der hier mehr als einen Finger dick lag, war an diesen Stellen zusammengedrückt und ließ den richtigen Schluß zu, daß drei verschiedene Wesen hier die Treppen benutzt hatten. »Nicht zu ändern«, meinte Thalia und ging weiter. Riesige Trennwände aus Metall und Ge stein tauchten auf. Razamon schätzte, daß sie sich gute hundertfünfzig Meter tief ins
Chaos über Atlantis Innere Pthors bewegt hatten. Er blieb stehen und strahlte die Quadern, den gewachsenen Felsen und die stählernen Verbindungen und Röhren an. Endlich entdeckte er eine Schalt tafel, die als Endpunkt dicker, von Spinnwe ben und seltsamen Gewächsen verborgener Kabelstränge erschien. Er ging näher, wisch te Staub und Flechten von den Beschriftun gen und murmelte schließlich: »Ich glaube, ich kann es uns ein wenig bequemer machen.« Langsam kippte er einen wuchtigen Schalter. Zuerst geschah nichts, dann hörten sie klickende Geräusche aus allen Richtun gen. Schließlich begannen Leuchteinheiten zu strahlen. Sie waren regellos verteilt und bestanden nur aus einem einzigen Typ, einer zylindrischen Platte, die ein kalkweißes Licht verströmte. Schlagartig sahen die schmalen und engen Kavernen anders aus. »Bisher haben wir weder den Schmutz ge sehen noch das hohe Alter erkannt«, sagte Thalia schaudernd und schüttelte sich. »Jedenfalls gibt es hier keine einzige Spur. Atlan war vor uns nicht hier«, behaup tete der fast zweieinhalb Meter hohe Koloß und schob sich weiter abwärts. Röhrenförmige Belüftungsanlagen, die einmal irgendwelche Teile des PyramidenRaumschiffs versorgt hatten, tauchten auf. Sie wirkten wie abgeschnittene Finger. Die Metalltreppe endete. Sie entließ die drei Freunde auf einer run den Plattform. Die Ebene, abgegrenzt durch ein Geländer aus mehreren röhrenförmigen Streben, war aus Metall. Es dröhnte leicht, als sie durch den hohen Staub in die Mitte gingen und stehenblieben. Die Treppe war nur ein schmaler Schacht; von allen Seiten schoben sich riesige Kugelbehälter heran. Sie wirkten wie Tanks. Razamon holte Luft und versuchte, einen Ausgang zu erkennen. »Ich habe ein schlechtes Gefühl«, sagte er nachdenklich. Seine Züge wirkten in dem harten Licht verschlossen und konzentriert. Er war mißtrauisch geworden. Etwas hatte sich verändert – was? »Ich habe wohl etwas gegessen, das mir
21 nicht bekommt«, sagte Thalia einige Zeit später und blickte Kolphyr und Razamon mit ihren ausdrucksvollen Augen starr an. »Übelkeit?« erkundigte sich der schup penbedeckte Koloß und zog seinen riesigen Mund nach oben. Das Bündel der Sinnesor gane auf seinem Schädeldach bewegte sich aufgeregt. »Etwas anderes. Ein starkes Gefühl, das mich erfaßt hat. Ich denke an geheimnisvol le Angreifer, an lauernde Gefahren.« Razamon dachte praktisch und entgegnete laut: »Die Luft hier ist zweifellos schlecht und abgestanden. Die Klimaanlage läuft seit Jahrtausenden nicht mehr. Uns allen wird übel werden, vermutlich sehen wir auch un unterbrochen eingebildete Gefahren. Wir müssen einander helfen, wenn es zu schlimm wird. Je schneller wir diese Zone durchschreiten, desto besser für uns.« »Leicht gesagt!« rief Kolphyr mit schril ler Stimme. Sie näherten sich an verschiedenen Stel len dem Rand der Plattform. Die Kugeltanks umgaben sie wie merkwürdige Tiefseetiere. Zwischen ihnen war kaum Platz zum Durch kommen, und es gab auch weder Verstre bungen noch sonst irgendwelche Hinweise, wie und wo sich der Weg nach unten fort setzte. Anscheinend befanden sie sich in ei ner Sackgasse. Aber der einstige Zweck die ser schwebenden Plattform war nicht zu er kennen. Langsam ging Razamon entlang des Geländers und spähte in die Tiefe. Auch dort waren Tanks und Kugeln. Razamon fluchte unterdrückt und sprang die Treppe wieder aufwärts. Die Plattform wurde von eben denselben Beleuchtungskör pern angestrahlt, die es überall gab. Deren Licht schimmerte auch jenseits der etwa fünfzig Kugeln in dieser hallenförmigen An lage. Dann, nach zwanzig Stufen, blieb er stehen und sagte wütend: »Glatt daran vorbeigerannt! Hierher, Freunde!« Er öffnete das Gitter, das die Treppe links abgrenzte. Dahinter befand sich der Anfang
22 eines Steges, der stufenlos in einer sich öff nenden Spirale nach unten führte. Kolphyr und Thalia stürmten heran und folgten ihm. Sie liefen rund fünfhundert Schritte auf der Spirale abwärts, ließen die Kugeltanks hinter sich und befanden sich dann auf einer Me tallplatte, die in die Felsen hineinführte. Zu nächst gab es noch sichtbare Quadern, dann verschoben sich die Linien, die Quadern ruhten nicht mehr exakt aufeinander, son dern bildeten, je weiter die Freunde vordran gen, immer mehr die Zeichen der Zerstö rung. Nach dreißig Metern lag der erste halb zertrümmerte Stein auf dem Boden, ihm folgten kleinere und größere Anhäufungen von eckigen Steinen und unregelmäßigen Felsbrocken. »Jetzt kommen die ersten Schwierigkei ten«, meinte Thalia und wischte über ihr Ge sicht. »Nicht für mich!« kicherte Kolphyr und stürzte nach vorn. Zuerst kletterte er trotz seines wuchtigen Körpers mit äußerster Geschicklichkeit über die Trümmer des eingestürzten Ganges. Hin und wieder hob er einen der schweren Brocken hoch und kippte ihn scheinbar mü helos zur Seite. In vorsichtigen Abständen folgten Thalia und Razamon. Vor ihnen leuchteten noch immer jene dicken weißen Scheiben. Abgerissene Kabel wanden sich durch die Trümmer. Staub wallte auf, wenn der Bera mit seinen gewaltigen Kräften rie sige Brocken zur Seite räumte und ihnen den Weg freimachte. »Bist du sicher, daß wir den richtigen Weg eingeschlagen haben?« fragte Razamon und wunderte sich über die Tatsache, daß die einzelnen Teile des Raumschiffs auf die se erstaunliche Weise in den Felsen von At lantis übergingen oder Teil dieser Steinmas se zu sein schien. »Es war der einzig mögliche Weg, nicht wahr?« gab Thalia mit großer Selbstsicher heit zurück. »Soweit wir es erkennen konnten, ja«, meinte Razamon. Sie kamen nur langsam voran. Einmal
Hans Kneifel war die Strecke frei, abgesehen von einzel nen Quadern oder Felstrümmern oder metal lenen Platten, die geknickt und zusammen gepreßt waren. Dann wieder befanden sich Massen aus Felsen, aus unbekanntem Pla stikmaterial und aus feinem Sand wie Kor ken in dem schmalen, engen Korridor. Kol phyr arbeitete unermüdlich. Sie kämpften sich Meter um Meter durch den verstopften Stollen. Es war erstaunlich, daß die Beleuch tung hier noch funktionierte. Razamon lehnte sich an ein glattes Stück Wand und spähte durch den treibenden Staub nach vorn. Treibender Staub? Jetzt erst merkte er, daß die Schleier und Wolken des aufgewirbelten Staubes ihm ent gegenschwebten. Es herrschte in diesem Korridor ein starker Zugwind, der ihn freib lies und Luft herbeiführte, die aus anderen Bezirken der Pyramide stammte. Weit vor Kolphyr, perspektivisch verändert und wie ein fernes Bild, erkannte Razamon den Kopf einer schwarzen, staubbedeckten Schlange. Sie kam näher; das Licht brach sich an ihren muskelstrotzenden Flanken. Weder Thalia noch er hörten einen Laut. Schlagartig ergriff eine starke, unüber windliche Übelkeit den Atlanter. Er hob den Kopf und hustete, dann krümmte er sich nach vorn und merkte, daß die Angst ihn packte und schüttelte. »Dort vorn …«, keuchte er würgend. »Die Schlange … ich werde mit meiner Waffe …« Als er Thalia zur Seite schob und auf Kol phyr und den Berg aus Felsbrocken zuwank te, schlugen seine Schultern links und rechts abwechselnd gegen die Wände. Er schwank te, als sei er betrunken. Über seine Haut fuh ren Fieberschauer. Das Ziel verschwamm vor seinen Augen. »Schlange?« schrillte Kolphyr. »Wo? Ich sehe nichts.« »Du Narr«, stöhnte Razamon auf. Sie wa ren verloren. Vier Reihen riesiger, im kalten Licht weißschimmernder Zähne näherten sich mit der Geschwindigkeit eines Truv
Chaos über Atlantis mers. Sie befanden sich im Reich der Schlange, und sie verteidigte ihr Territorium gegen die Eindringlinge. »Sie greift an!« schrie Razamon. Die Schlange hatte ihren Kopf bis auf zwanzig Meter an den Geröllhaufen herangeschoben, den Kolphyr wegräumte. Thalia war plötz lich neben ihm und wimmerte auf. »Hinter uns sind die Algaretten!« Razamon fuhr herum. Im treibenden Staub sah er deutlich Hunderte, nein Tau sende doppelt handgroße Tiere. Sie kamen wie eine Woge heran, purzelten in ihrer Gier übereinander und sahen aus wie verkleinerte Ausgaben einer Kreuzung zwischen Fenrir und Alligatoren. Razamons Hand fuhr zum Gürtel. Er zog die Waffe heraus, richtete sie in den Korridor und feuerte lange Glutstrah len in die quirlende Masse der Tiere. Zwi schen den Tieren detonierten Feuerkugeln. Überladungsblitze zuckten nach den Seiten und zerfetzten die Angreifer. Und … Plötzlich war der Korridor leer und nur von schwelendem Rauch erfüllt. »Nein! Das kann nicht …«, schrie Raza mon auf. Er wirbelte herum. Thalia hatte die VarsKugel gepackt und schlug wie eine Besesse ne auf die Wand ein. Steinsplitter sirrten nach allen Seiten. Das Gesicht der jungen Frau war eine Maske des Schreckens und der Wut. Sie war schweißüberströmt und kämpfte wie ein Berserker. »Seid ihr wahnsinnig geworden?« schrie Kolphyr schrill. »Hört auf! Da ist absolut nichts!« Wieder blickte Razamon nach vorn und nach hinten. Dort, wo die Feuerschläge seiner Waffe aufgetroffen waren, war der Gang leer und ohne die geringsten Spuren der kleinen Tie re. Algaretten? Wo waren diese dunkelroten Ratten? Niemals dagewesen? Und auf der anderen Seite, an der grünlich strahlenden Gestalt des Riesen vorbei … auch dort gab es keinen Schlangenkopf mehr, keine Zähne, keine riesigen Facetten
23 augen. Er wandte abermals den Kopf und fühlte, wie der Wahnsinn nach ihm griff. Er starrte die Stelle der Gangwand an, auf die eben wieder die Kugel einschlug wie ein Hammer. Nichts. Absolut nichts. »Thalia!« schrie er laut. Die Frau zuckte zusammen und starrte die Wand, dann ihn mit hohläugigem Blick an. »Was ist los?« Klirrend fiel die Vars-Kugel auf den Bo den. Thalia war ebenso verwirrt wie Raza mon. Der Bera fuhr fort, die Brocken weg zuräumen und bahnte ihnen eine Gasse durch den Gesteinshaufen. »Wir haben Halluzinationen! Wir sehen gefährliche Dinge und Angreifer, die es gar nicht gibt!« stieß Razamon hervor. »Aber hier – die Tentakel aus Stein, die nach dir griffen, Razamon!« Mit zitternden Fingern deutete Thalia auf die Felswand, die nur die vernichtenden Ein schläge der gräßlichen Waffe, sonst aber nichts zeigte. Razamon fühlte keinerlei Übelkeit mehr. Aber er mußte sich eingestehen, daß dieser Schrecken ihn ernüchtert und ermattet hatte. »Vielleicht gibt es hier giftige Gase. Oder Strahlungen, die aus einer zerstörten Trieb werkskammer der Pyramide kommen mö gen. Wir haben Dinge gesehen, die nicht existieren. Wir haben gekämpft. Nur gegen Schemen und Gespenster. Mir war schlecht.« »Ich habe nichts gesehen. Kommt end lich!« schrie Kolphyr. Er schleuderte einige Brocken zur Seite, sprang mit scheinbar plumpen Bewegungen von dem kleiner gewordenen Haufen herun ter und blieb zwischen Thalia und Razamon stehen. Tatsächlich gab es jetzt keinerlei sichtbare Gefahren mehr. Aber sowohl Tha lia als Razamon spürten deutliche Übelkeit. Razamon streckte die Hand aus und sagte fordernd: »Gib den Schlauch her, Kolphyr. Ein Schluck Wein sollte uns nicht schaden.« »Gern.« Das Wesen mit dem unbegreiflichen Me
24 tabolismus nestelte einen kleinen Wasser sack von dem Rückenriemen herunter und reichte ihn Razamon. Der Sack war mit star kem, dunklem Wein gefüllt. Razamon löste den Verschluß und ließ mehrere große Schlucke durch seine Kehle rinnen. Dann wischte er das Mundstück ab und reichte Thalia den Schlauch. »Es ist tatsächlich eine Erholung. Hilft kurzzeitig gegen die Gespenster der Pyrami de. Trink, Tochter Odins.« Thalia nahm einen langen Schluck und reichte den Sack zurück an den Bera. »Gehen wir weiter. Ich glaube, wir haben erst ein kurzes Stück der Strecke hinter uns gebracht. Außerdem glaube ich, daß solche Zwischenfälle sich häufen werden.« Razamon nickte und sicherte die langläu fige Waffe wieder. »Du magst recht haben. Danke, Gloo phy!« »Kolphyr, du Dummer!« Sie grinsten sich kurz an und kletterten schweigend über den Gesteinshaufen. Die nächsten hundertfünfzig Schritte war der fast gerade Gang so gut wie leer. Einzelne herausgebrochene Quadern hielten sie nicht auf. Keiner von ihnen begriff das System, nach dem man hier irgendwann in grauer Vorzeit eine Verbindung zwischen Schiff und Gestein hergestellt hatte. Aber unver drossen gingen sie durch die erleuchteten Bezirke unterhalb der FESTUNG weiter und kamen schließlich wieder in eine Zone, die weitestgehend aus Metall bestand. Sie wirk te tatsächlich wie der unglaublich verwin kelte Teil eines Raumschiffs. Überall zweig ten von einem flachen, breiten Korridor Räume und Gänge, Rampen und Treppen ab. »Alles ist voll feuchtem Staub. Hier war Atlan nicht.« »Aber auch niemand anderer«, ergänzte Razamon den Hinweis der Frau. »Es gibt keine Spuren.« »Außer unseren. Wenn sie uns verfolgen, dann finden sie einen leicht zu gehenden Weg«, sagte der Bera verdrossen.
Hans Kneifel »Es hilft nichts.« Sie versuchten, den richtigen Weg heraus zufinden. Sie nahmen immer die breitesten und geradesten Wege. Hin und wieder ver suchten sie, einen der abzweigenden Räume zu betreten, aber keines der Schotte oder Portale ließ sich öffnen. Eine Stunde verging. Sie bewegten sich nach rechts und links, schritten zögernd über Rampen abwärts und drangen in ein Gebiet ein, das völlig dunkel war. Wieder suchte der Atlanter nach einem Schalter und fand ihn schließlich. Diesmal waren die noch funktionierenden Beleuch tungskörper von einem intensiven Rot. Die Farbe erfüllte die Gänge und Abteile mit dem düsteren Licht der Gefahr. Nichts rühr te und bewegte sich in diesem Teil des Wracks. Überall lag dicker Staub. Ihre Spu ren waren die einzigen, die es gab. »Ein endloses Labyrinth«, sagte Razamon brummend. »Wir haben inzwischen eine be trächtliche Strecke zurückgelegt.« »Vermutlich werden wir noch lange un terwegs sein«, erklärte Thalia. »Ich spüre es. Atlan befindet sich hier irgendwo.« »Wenn er hier ist, werden wir ihn fin den!« meinte Kolphyr und legte den Arm um Razamons und Thalias Schultern. Er drückte zärtlich zu und brach ihnen beinahe die Gelenke. Wieder fanden sie eine rostige Metalltrep pe und betraten die ersten Stufen. Das Me tall knirschte und knisterte, als Kolphyr sei nen Fuß darauf setzte. »Scheint gefährlich zu sein«, sagte er mit schriller Stimme. Er spannte seine wuchtigen Muskeln und stützte sich mit beiden Händen ab, als er die steile Treppe abwärts trampelte. Razamon und Thalia folgten ebenso schnell. Die Kon struktion zitterte und schwankte beängsti gend. Kreischend rissen Nieten und Verbin dungen auf. Rostwolken erhoben sich, als die ersten Stufen auseinanderbrachen und in polternden Teilen in die rötlich-schwarze Tiefe fielen. »Vorsicht!« rief Kolphyr aufgeregt.
Chaos über Atlantis Der obere Teil der Treppe riß sich los, kippte und schwankte und fiel dann wie eine Schranke um. Kolphyr reagierte ebenso schnell wie Razamon. Der Atlanter packte Thalia am Arm und riß sie in den Schutz ei ner Wand zurück. Aber das Gerüst schrammte funkensprühend an der Wand entlang. »Weg da!« Kolphyr hob beide Arme und fing die Metallmasse auf, drehte sich halb herum und schleuderte sie zur anderen Seite. Dröhnend fiel das Gerüst in mehreren Teilen auf die Basisfläche. »Offensichtlich nähern wir uns interessan ten Teilen der Anlage«, sagte der wuchtige Fremde und schüttelte sich. »Alles in Ord nung mit euch?« »Ja.« Sie liefen, um dem Staub zu entkommen. Durch den braunroten Nebel leuchteten die stechenden roten Lampen. Der Metallboden federte trügerisch unter ihren Schritten. Die Übelkeit, die ihn schon einmal befallen hat te, kam wieder und nahm zu. Razamon tau melte und dachte wieder an lauernde Gefah ren. Thalia fiel schwer gegen ihn, die VarsKugel schlug gegen sein Bein. »Du fühlst dich auch schlecht, Thalia?« keuchte er und heftete seinen Blick auf den breiten Rücken Kolphyrs. »Ja. Sie sind überall, die Geister der Pyra mide. Sie werden uns umzingeln und anfal len. Mein Körper brennt wie im Feuer.« Stolpernd flüchteten sie aus dem Bereich der Trümmer und der Wolke aus Roststaub. Kolphyr sprang mit flinken Bewegungen durch das Halbdunkel. Rechts und links des Fluchtwegs krachten mit donnerndem Getö se große Portale auf und schlugen gegen die Platten. Die Lampen begannen zu zucken, das Licht flackerte. Razamon sah grelle, schwebende Augenpaare aus dem dahinter liegenden Dunkel auftauchen und näher kommen. Er riß die Waffe heraus und schrie: »Gloophy! Hilf der Frau!«
25 Aus den schweren Rahmen der aufge sprengten Tore kamen eckige Gestalten her vor. Sie bewegten sich lautlos auf schwarzen Pranken. Über den riesigen Insektenaugen, die hellgrün und schwefelfarben glühten, er schienen lange Fühler. Sie wippten und ziel ten nach den Eindringlingen. Von allen Sei ten drangen die Bestien auf Thalia und Raz amon ein. Der Atlanter sprang hinter Kol phyr her, wirbelte noch im Sprung herum und feuerte schnell hintereinander auf drei der rätselhaften Bestien. Als er schoß, zuck ten lange Blitze aus den Fühlern der schwar zen Gestalten und badeten den Fluchtweg in gleißende Helligkeit. Aber dort, wo die Feu erstrahlen aus Razamons Waffe einschlugen, lösten sich die Gestalten in Nichts auf. Kolphyr drehte sich um, streckte einen Arm aus und riß Razamon zu sich heran. »Falsche Bilder! Niemand ist da. Ihr seht wieder Gespenster.« Er hob Thalia und Razamon hoch, nahm beide einfach unter den Arm und machte ei nige Schritte geradeaus. Als er den nächsten Absatz dieses Schiffsbereichs betrat, stöhnte Thalia auf und flüsterte: »Loslassen!« Behutsam stellte Kolphyr die beiden auf die Beine und hielt sie um die Hüften fest. »Ich habe nichts gesehen«, sagte er be schwichtigend. »Wieder die Halluzinatio nen. Ihr benehmt euch wie die Verrückten.« Razamon schüttelte wild seinen Kopf und schob die Waffe wieder zurück in den Gür tel. Er begann daran zu zweifeln, ob ihr Vor satz noch immer sinnvoll war oder nicht. Dann wand er sich aus Kolphyrs Umklam merung und murmelte: »Keiner von uns ist verrückt. Aber diese Erscheinungen … sie sind außerordentlich wirksam.« »Sie sind teuflisch. Alles unterhalb des Bodens von Pthor ist teuflisch. Ragnarök hat keine Gespenster beseitigt.« Sie blieben stehen und schauten zurück. Die Rostwolke senkte sich langsam, an meh reren Stellen brannte und rauchte der Belag der Plattform. Die Türen waren, soweit zu
26
Hans Kneifel
erkennen, verschlossen und niemals geöffnet worden. Mit überraschender Einsicht sagte der Bera plötzlich: »Wir sind erst am Anfang des Weges. Viele andere Gefahren warten auf uns. Hof fentlich lebt Atlan. Kommt, meine Freun de.«
3. Sigurd schüttelte schweigend den Kopf und betrachtete die seltsamen Gestalten, die vor ihm und seinen Brüdern im Halbkreis Aufstellung genommen hatten. Merkwürdi ge Formen, allerlei metallisch leuchtende Farben und der Eindruck von Gewalt, Kraft und Seelenlosigkeit vereinigten sich zu ei nem bizarren Bild. »Ich habe niemals Grund gehabt, an der Ergebenheit der Robotbürger von Wolterha ven zu zweifeln«, dröhnte Heimdalls dunkle Stimme durch den Saal. »Daran soll sich nichts ändern, Sohn Odins«, sprach einer der zwölf Robots. Sie wa ren vor wenigen Minuten hier eingetroffen; eine Delegation aus Wolterhaven, die den langen Weg bis zur FESTUNG anscheinend völlig wohlbehalten hinter sich gebracht hat te. »Ihr wollt uns dienen?« erkundigte sich Balduur und erinnerte sich an seine Zeit mit dem kleinen, flinken Deckenwiezel. »Das ist erklärtermaßen unser Zweck und somit auch unsere Absicht«, sagte eine an dere metallische Stimme. Verständigten sich die zwölf einzelnen Roboter aller Größen, aller Formen und somit verschiedener Ver wendungszwecke lautlos miteinander? Bal duur beugte sich auf seinem prächtigen Ses sel vor und fragte: »Was könnt ihr?« Wieder eine andere, summende Stimme erläuterte: »Jeder von uns besitzt einige grundsätzli che Fähigkeiten. Wir alle sind beweglich und verfügen über einige Systeme der sinnli chen Wahrnehmung. Aber darüber hinaus ist ein jeder von uns in mindestens einem Ge-
biet ein Spezialist.« Balduur betrachtete die Roboter aufmerk sam. Große Linsen richteten sich erwar tungsvoll auf ihn und seine Brüder. In eini gen Teilen ihres Bewegungsmechanismus sahen die Maschinen menschlich aus, in an deren erinnerten sie an Teile von Tieren. Aber von den metallenen, kunststoffüberzo genen und schuppenbedeckten Körpern strahlten Kraft und Schnelligkeit aus, auch wenn sich diese Wesen jetzt kaum beweg ten. Balduur verwarf den Gedanken, eine Demonstration einzelner Fähigkeiten zu ver langen. »Wir sind sicher, daß wir für euch einen guten Verwendungszweck finden werden«, sagte Balduur laut und blickte mißtrauisch den schweigenden Sigurd an. »Nicht nur einen Zweck! Mehrere!« rief Heimdall begeistert. Eines der Portale öffnete sich einen Spalt. Die Gestalt eines dienenden Dellos wurde sichtbar. »An welchen Zweck dachtet ihr?« fragte Sigurd skeptisch und lehnte sich zurück. Er entdeckte den wartenden Diener und winkte ihn heran. »Was gibt es?« »Gewisse Spuren sind im Garten der Fal len entdeckt worden, Sohn Odins!« erklärte der Dello und kam zögernd näher. Heimdall sprang auf und packte die Khyl da mit beiden Fäusten. »Spuren?« schrie er aufgebracht. »Welche Spuren?« Der Dello schob sich unterwürfig zwi schen den ausweichenden Robotern heran. »Einige von uns fanden die Windrose. Sie war im Gebüsch zwischen zwei Bäumen verborgen. Niemand war in der Nähe, auch Honir nicht.« Sigurd stand langsam auf und blickte sei ne Brüder verblüfft an. Dann begriff er. »Die Windrose war also verlassen. Was fandet ihr noch heraus?« »Die Spuren von drei Lebewesen. Sie führten zu einem aufgesprengten Tor der FESTUNGS-Pyramide. Wir haben die Spu ren nicht weiter verfolgt, sondern sofort das
Chaos über Atlantis Geschehene gemeldet.« »Dies war klug und einsichtig von euch«, bemerkte Sigurd und deutete nacheinander auf die einzelnen Roboter. »Gibt es unter euch einen Spezialisten, der Spuren verfol gen kann?« Die zirpende Stimme eines der kleinsten Roboter sagte deutlich: »Spuren aller Art, unter fast jeder Bedin gung.« Heimdall stöhnte auf und rief: »Thalia und ihre Freunde. Sie sind nicht zu den Seen gefahren, sondern umgekehrt und hier eingedrungen. Sie werden wichtige Dinge finden und aus Dummheit zerstören. Sie sind verrückt geworden – aber ich habe unserer Schwester niemals richtig getraut.« Sigurd winkte ab und sprach weiter. Ein listiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Wir sind in der glücklichen Lage, eure Bereitwilligkeit festzustellen. Wir haben ei ne Aufgabe für euch. Ihr sucht die drei Ein dringlinge, verfolgt sie und haltet sie fest. Und wenn ihr sie habt, dann bringt ihr sie auf dem schnellsten Weg wieder hierher. Habt ihr verstanden?« Ein mehrstimmiges »Ja« war die Antwort. »Einverstanden, meine Brüder?« Heim dall und Balduur nickten. Sigurd wandte sich an den Dello. »Dein Name?« »Ich bin Josiit, Herr.« »Nun, Josiit, zeige diesen zwölf neuen Freunden den Weg, den Honir und Razamon und dieses Monstrum genommen haben. Und ihr, unsere Mitkämpfer aus Wolterha ven, fragt Josiit, wie die drei aussehen, die ihr suchen und zurückbringen sollt. Ihr könnt jetzt gehen, und wir sind sicher, daß ihr bald erfolgreich sein werdet.« Mit Staunen sahen die drei Söhne Odins, wie die Roboter schwebend, rollend und tap pend dem Dello folgten und den Saal verlie ßen. Eine metallene, bronzefarbene Hand mit neun verschieden langen Werkzeugfort sätzen schloß behutsam die große Tür. Sigurd drehte sich um und sagte: »Ich habe eigentlich nichts gegen Raza mon und diesen Kolphyr. Sie haben uns viel
27 geholfen. Aber dieser Vorstoß ins Innere der Pyramide kann unermeßlichen Schaden an richten. Keiner von ihnen weiß, was sie aus lösen können.« »Das ist der Grund. Sie müssen schnell gefunden werden.« Balduur stützte seinen Kopf in beide Hän de und stöhnte auf. »Was wird noch geschehen? Die furcht baren Wunder nehmen kein Ende. Ragnarök zeugt immer neue Gefahren!« Sie blickten sich an und begannen zu ah nen, daß ihr Sieg über die Herren der FE STUNG nur der Anfang einer Entwicklung war, die selbst für die Söhne Odins zu groß und unüberschaubar war. Die Zukunft war ebenso düster wie das Licht draußen vor den Fenstern.
4. Als vor ihnen der Würfel auftauchte, der wie eine Kanzel aus der Felswand heraus ragte und von einem röhrenförmigen Stück Material getragen wurde, blieben sie wieder stehen. Sie hatten sich, soweit möglich, wie der erholt. Zwar taumelte Kortmikel immer noch ein wenig, aber Atlan und Elkohr stütz ten ihn mit Leichtigkeit. Elkohr brachte es auf merkwürdige Weise fertig, seiner hellen Knabenstimme eine Spur von Traurigkeit zu verleihen. »Das ist die letzte Schleuse, Atlan. Schon an der Farbe kannst du ersehen, daß wir uns im harmlosen Teil der Anlage befinden.« Der letzte Stollen hatte sie in eine Höhle entlassen. Sie wirkte wie ein natürlich ent standener Hohlraum tief in der felsigen Kru ste von Atlantis, aber auch das Gegenteil konnte richtig sein. Rings um die Kanzel leuchtete indirekte Helligkeit. Das Material der Schleuse war kristallweiß, ebenso die schmale Rampe, die zu der Doppeltür hin aufführte. »Hoffentlich hast du recht, Elkohr«, meinte Atlan. »Was hält uns noch auf?« Vielleicht lagen die größten Gefahren tat sächlich schon hinter ihnen. Wenn die Infor
28 mationen richtig waren, dann breiteten sich hinter der Schleuse nur die Einrichtungen ei ner Schaltzentrale aus, ohne verrückte Höh lenwesen, schreiende Zyklopen und kanni balische Dellos. »Nichts hält uns auf.« In der Mitte der Rampe angekommen, fragte der Arkonide seinen silberschimmernden Kampfgefährten: »Ich glaubte, in deiner Stimme Traurig keit zu hören. Habe ich recht?« Elkohr zögerte nicht mit der Antwort. »Ich glaube zu wissen, daß unser Weg nicht mehr lange miteinander verlaufen wird. Mehr weiß ich nicht.« Die Tore, etwa vier Meter hoch und eben so breit, waren bronzefarben, aber weder schmutzig noch oxydiert. Linien und Kurven befanden sich darin. Drei Schritte näher, und Atlan war sicher, daß es sich um eine Schrift handelte. Er vermochte sie nicht zu erken nen. Ein wenig ähnelten sie den Zeichen auf dem Parraxynth. Elkohr ging näher heran und ließ den Arm des Vogelwesens los. »Ich finde plötzlich Speicherimpulse. Warte … ich denke, ich kann den Text ent ziffern«, sagte er zu Atlans Verblüffung. Anscheinend wußte er selbst nicht, welche Informationen er wirklich besaß. Oder der Anblick hatte einen Schaltvorgang ausge löst, der … Atlan unterbrach seine müßigen Überlegungen, als Elkohr langsam und stockend zu sprechen anfing. »Dies ist der Eingang zur innersten Seele von Pthor. Nur derjenige, der rein und ge läutert ist, soll ihn durchschreiten. Wer die Pforte hinter sich läßt und zu den nicht ge läuterten Wesen zählt, wird sein Leben ver lieren. Nur der Tod ist die Sühne für diesen Frevel.« Atlan dachte über den Text der Überset zung nach und fragte: »Du bist sicher, daß es das heißt, was du übersetzt hast?« »Ja. Ich bin sicher. Aber ich kann die Be deutung nicht interpretieren. Es scheint aber so zu sein, daß nur bestimmte Wesen die Schleuse passieren dürfen.«
Hans Kneifel Das ist symbolisch zu verstehen. Nur der Antrieb und die Steuerung des Dimensions fahrstuhls können damit gemeint sein, er klärte trocken der Extrasinn. »Wir gehören zu den Ausgewählten und Geläuterten«, meinte der Arkonide mit Be stimmtheit. »Ausgewählt hat uns unsere Ab sicht, und durch die überstandenen Gefahren sind wir zweifellos geläutert worden.« »Du magst recht haben.« Kortmikel schwieg, aber sein Körper zit terte schon wieder. Voller Spannung legten sie die letzten Schritte bis zu den mattschimmernden Me tallplatten zurück. Die Schriftzeichen ver schwammen vor Atlans Augen. Er hob den Arm und streckte die Hand im Fäustling des Goldenen Vlieses aus, um einige der Linien nachzufahren, aber die Torflügel wichen aus und schwangen lautlos nach innen. »Ich bin ganz sicher«, flüsterte Atlan ge bannt. Er war wirklich absolut sicher, daß die Schrift symbolischen Charakter hatte. So wie der Bannfluch eines Pharaonengrabs den Archäologen nicht tötete, würde auch diese Warnung ihn nicht umbringen. »Furcht. Schrecken!« krächzte Kortmikel, offensichtlich am Ende seiner Beherrschung. Die Schleusenkammer war, wie erwartet, ebenfalls würfelförmig, mit einer Kantenlän ge von etwa vier Metern. Nebeneinander gingen sie hinein, wichen den langsam zu schwingenden Toren aus und standen vor ei ner weißen Wand. Das Innere der Schleuse war in Licht getaucht, das aus Boden, Decke und den vier Wänden kam. »Wir sind durch die Pforte gegangen …«, sagte Elkohr leise und ehrfürchtig. Schlagartig verschwand die feste Fläche vor ihnen. Ein leuchtender Nebel hüllte sie ein. Keiner hatte gesehen, wie der Nebel entstand. Atlan machte einen Schritt vor wärts und fühlte sich wie blind. Der Boden wollte unter seinen Sohlen davonrutschen. Ihm war, als ob nasse, ölige Finger nach ihm griffen. Kortmikel links neben ihm stieß ein hysterisches Wimmern und Röcheln aus. At lan merkte, daß die beiden anderen ebenfalls
Chaos über Atlantis bestrebt waren, dem leuchtenden, zuckenden Nebel zu entkommen und vorwärts gingen. Kalte Dinge berührten wieder Atlans Rücken, seine Brust, den Kopf und die Schenkel. Er merkte, wie die Panik in ihm wieder hochkam. Automatisch setzte er Fuß vor Fuß. »Elkohr?« fragte er lauernd. »Ich bin hier«, kam es aus der vermuteten Richtung. Der Nebel verschwand schlagartig. Sie hatten nebeneinander die Entfernung bis zur Wand zurückgelegt. Aber da war keine Wand mehr. Die Schleuse war offen, und das Bild, das vor ihrem inneren Auge ge schwebt hatte, breitete sich vor ihnen aus. Eine gigantische Maschinenanlage. Ohne Elkohr und Kortmikel zu beachten, ging der Arkonide weiter. Jenseits der Schleuse begann eine ebene Fläche. Sie war hell und sauber. Alles war hell, funkelte und summte. Der totale Gegensatz zu allem an deren bisher. »Das ist es!« rief Atlan. Es gibt keinen Zweifel, meldete sich der Logiksektor. Hinter ihm kamen Elkohr und Kortmikel in die Halle, die, nachdem sich der Boden ein wenig nach unten senkte, amphitheatra lisch anstieg und immer neue Wunder an Helligkeit, Sauberkeit und funktioneller Schönheit offenbarte. Atlan war hingerissen, und darüber hinaus strahlte dieser große Saal den friedlichen, ruhigen Eindruck einer aus gesprochen positiven Technik aus. Wie die Zentrale eines riesigen neuen Raumschiffs. Als hinter ihm ein helles, auffälliges Sum men ertönte, löste sich Atlan aus der Starre seiner bewundernden Blicke und Überlegun gen und drehte sich schnell herum. »Elkohr!« schrie er auf. »Was passiert … mit dir?« Der Roboter zerfiel. Es war ein gespensti scher Anblick, der Atlan mit eisigem Schrecken erfüllte. Langsam hob der kleine Roboter den rechten Arm, der von einem Netz haarfeiner Sprünge durchzogen war wie der gesamte Rest des zierlichen Kör
29 pers. Atlans Gedanken vollführten einen wilden Tanz, aber er war wie gelähmt vor Angst und dem Gefühl, wieder einmal etwas zu erleben, das sein Verstehen überforderte. »Ich gehe«, konnte Elkohr noch flüstern. Die Sprünge wurden mehr und mehr, die Linien verbreiterten sich, aus der festen Form lösten sich kleine, kristallen wirkende Splitter und Teilchen und rieselten lautlos zu Boden. Es wurden immer mehr. Das Gerüst des Körpers löste sich auf, Elkohr fiel in sich zusammen wie ein Schemen aus feiner Asche oder leichtem Staub. Die Kristall klümpchen fielen federleicht zu Boden, ver wandelten sich dort in winzige Tropfen und rollten, der Neigung des Bodens folgend, da von. Atlan stand gelähmt da und sah zu, wie Elkohr verging. Die Kügelchen zerteilten sich abermals und verschwanden oder verschmolzen mit der Luft oder dem Boden. Kortmikel preßte die dünnen Fingerchen vor seinen Schnabel mund. Seine Augen hatten sich geschlossen, er zitterte wie im Fieber und tappte auf At lan zu, schwankte hin und her und ging haarscharf am Arkoniden vorbei, dem Zen trum der Maschinenhalle zu. Klirrend fiel das zerfetzte Schwert aus der Hand Atlans. Fasse dich! schrie der Extrasinn. Innerhalb von zwanzig Schritten wurde das schwarze Gefieder dunkelgrau, hellgrau und milchig, schließlich durchsichtig. Ein kalter Hauch fuhr durch die Halle und erfaß te Atlan. Zurück nach Dellop! War es tatsächlich ein echohafter, leise verwehender Schall? Oder bildete sich Atlan das alles nur ein? Kortmikel verschwand. Es wirkte so, als habe ihn eine unerklärliche Kraft wieder aus diesem Kontinuum herausgerissen und in andere Dimensionen entführt. Auch er löste sich ohne die winzigste Spur auf. Atlan zuckte zusammen. Er war allein. Kortmikels Verschwinden, spürte er, er schien ihm logisch und schmerzte kaum. Es
30 hinterließ nur eine bestimmte Menge von Verwunderung oder besser: Verblüffung. Aber um den kleinen silberfarbenen Roboter mit der ironischen Knabenstimme trauerte er irgendwie. Nicht deswegen, weil Elkohr über wirksame Kräfte der Verteidigung und über ein wohltuend großes Wissen verfügt hatte, sondern deswegen, weil er dem Bild eines Kampfgefährten entsprach. Dem be sten Bild. Mit ihm hätte Atlan auch das Ge heimnis dieser Halle überwunden. Als er sich gedankenlos bückte, um das Schwert aufzuheben, sah er bewußt die Ma schen des Anzugs der Vernichtung. »Das ist es!« rief er leise. Vermutlich wäre er ebenso in eine andere Dimension geschleudert worden wie Kort mikel. Oder er hätte sich aufgelöst wie der Roboter. Ihn schützte das Goldene Vlies. Staunen und Verwirrung überfielen ihn abermals, als er weiterging, auf das Zentrum dieser herrlichen Anlage zu. Je mehr seine staunenden Augen sahen, desto sicherer wurde in ihm die Überzeu gung, daß die Technik auf keinen Fall von den Herrschern in der FESTUNG erschaffen worden war, auch nicht damals, vor undenk lich lang zurückliegenden Zeiten. Es war eine Art von Technik, die positi ven Zwecken gedient haben mußte. Wem aber diente sie jetzt? Er schwang sich auf eine niedrige Rampe hinauf und betrachtete schweigend die An ordnung seltsamer Ausstülpungen und unre gelmäßiger Vertiefungen. Alle Farben waren vorhanden. Flüssigkeiten stiegen und fielen in schalenförmigen Dingen, die von feinen Linien durchzogen waren. Es gab keine Schalter, Regler und Knöpfe, wie immer sie auch in einer anderen Technik aussehen mochten. Langsam ging er weiter. Er umrundete Geräte, die wie phantasti sche Skulpturen wirkten und aus dem Boden gewachsen zu sein schienen. Hier hörte er ein feines, silbernes Ticken, dort ein ge hauchtes Summen, an anderer Stelle klang es im Innern einer Schaltbank wie winzige
Hans Kneifel Glocken. Diese Art der Technik strahlte einen – Atlan weigerte sich fast, den Gedan ken zu beenden – bestimmten souveränen Humor aus, ein gewaltiges, spielerisch ange wandtes Raffinement, das sich in schwellenden Formen und ununterbrochen spielenden und schimmernden Farben äußerte. Er setzte sich schließlich auf eine Kante und lehnte sich gegen den warmen Sockel eines nicht identifizierbaren Geräts. Jetzt fiel ihm auf, daß es hier nicht ein einziges Staubkörnchen gab. Die Sauberkeit überraschte ihn nicht mehr, denn sie paßte zu dem eigenartigen, aber schönen und beru higenden Gesamteindruck. »Atlan«, sagte er und lauschte auf den Klang seiner Stimme, »es ist ziemlich si cher, daß du am gesuchten Ziel bist. Ebenso sicher scheint, daß du verhungert und ver durstet sein wirst, ehe du die ersten wirklich wichtigen Funktionen erkannt haben wirst. Die Mühe scheint umsonst gewesen zu sein.« Er grinste sarkastisch und begann zu ah nen, daß er verloren hatte. Wieder einmal. »Aber … ich gebe nicht auf!« schwor er sich laut. Er ließ das Schwert liegen und setzte sei ne Wanderung fort. Immer wieder versuchte er in der nächsten Stunde, irgendwelche Zu sammenhänge oder eine bestimmte Syste matik zu erkennen. Es gelang ihm nicht. Als er die obersten Ränge durchwanderte und immer neue, andere und fremdartigere Anordnungen sah, spürte er, daß er nicht al lein war. Er blieb stehen und suchte mit den Augen die Halle ab. Es gab keinerlei Bewegungen, abgesehen von den Farben und den Formen, die er be reits kannte. Aber seine geschärften Sinne sagten ihm, daß es hier etwas gab, das ver suchte, einen bestimmten Einfluß auf ihn auszuüben. Es war fremd, aber mächtig. Eine besondere Art von hypnotisierender Strahlung etwa. Oder der überlegene telepa thische Verstand eines Wesens, das an ihn
Chaos über Atlantis dachte, seine Gedanken in Atlans Richtung abstrahlte. Eine Fremdintelligenz von be achtlicher Stärke. Er hob den Kopf und schloß die Augen. Du hast recht. Etwas ruft dich! sagte über zeugend der Logiksektor. »Also doch!« Der Hall seiner Stimme löste sich ebenso auf wie Kortmikel. Es kam keine Antwort auf akustischem Weg, aber der schweigende Ruf wurde stärker und fordernder. Konnte es sein, daß der Fremde ihn be merkte? Zweifellos. Zeichnete ihn womöglich der Anzug der Vernichtung aus? War er einer der Reinen und Geläuterten? Wahrscheinlich. Er erinnerte sich wieder an den Wortlaut der Schrift an den Schleusentüren. Die Seele von Pthor. Hatte diese fremdartige Maschinerie die ses Bewußtsein entwickelt, vergleichbar den Ego-Reflexen eines riesigen Computers? Vorstellbar. Wenn er, so sagte er sich nach einer Wei le, sich tatsächlich in der »Seele von Pthor« befand und bisher überlebt hatte, dann wür den sie es zusammen schaffen. Die »Seele« würde ihm mitteilen, daß er als Berufener hier etwas tun konnte. Seine Skepsis sagte ihm, daß dieser Gedanke einigermaßen ver messen war, seine Erfahrung aber und die Hoffnung sagten ihm, daß die Wahrschein lichkeit nicht gering war. Er setzte sich wie der und wartete auf einen ersten deutlichen Impuls, auf einen Hinweis oder eine Art Traum, in dem er Regieanweisungen erhal ten würde. Er war müde und streckte sich auf dem fe dernden, weichen Boden der obersten Ram pe aus. Er schlief nicht, aber er entspannte sich. Erfahrungsgemäß war dies der beste und einfachste Weg, fremde Dinge auf sich einwirken zu lassen. Natürlich schlief er ein. Es war ein fla cher, unruhiger Schlaf, der nicht in die Tie fen der Bewußtlosigkeit hinuntertauchte,
31 sondern sich an der Oberfläche entlangbe wegte. Ihm war, als befände er sich bewußt noch immer in der rätselvollen Welt dieser Schaltstation, aber sein Körper würde sich der ersehnten und lebensnotwendigen Ruhe hingeben. Etwas rief ihn. Etwas war da, das versuchte, einen Weg zu finden, um mit ihm zu sprechen, ihm et was zu zeigen und zu offenbaren – etwas von größter Bedeutung. Er wartete geduldig und regungslos. Langsam verstrich die Zeit, und der Zellaktivator in seiner Brust besei tigte die schlimmsten Eindrücke von Durst, Schlafmangel und Hunger.
5. Razamons Haß wuchs, je länger er sich hier in der staubigen Unterwelt befand. Er haßte die Herren der FESTUNG, die alles verschuldet hatten. Sie waren schuld daran, daß er sich durch Dunkelheit, Hallu zinationen und Übelkeit kämpfte. Er haßte die Pyramide mit ihren Tausenden Gängen, Ecken und Durchgängen. Er wußte, daß ihn nur die brennende Sorge um seinen Freund Atlan hierher geführt hatte. Selbst Kolphyr hatte das Zeitgefühl verlo ren. Wie lange sie wirklich schon ihren Weg in die Tiefe suchten, wußte keiner von ih nen. Es mochte ein halber Tag sein, vermut lich sogar mehr. Razamon hielt den Weinschlauch zwi schen seinen Knien fest und strich sein Haar mit beiden Händen nach hinten. Ruß, Staub und Rost blieben an seinen Händen haften. Er nahm einen tiefen Schluck und stierte in das Licht der Fackel, die zwischen ihnen in einem Bodenspalt steckte. »Wieder eine andere Umgebung. Mir er scheint es wie ein Verteilersystem. Energie, Hitze oder hydraulische Prozesse.« »Du magst recht haben«, sagte Thalia. Die Flammen zuckten und prasselten. Ihr Schein zitterte auf Röhren aller denkbaren Durchmesser, auf rechteckigen Leitungssy stemen und auf Kabel aller Stärken und
32 Querschnitte. Sie wanden sich ausnahmslos in senkrechter Anordnung. Sie kamen von oben und führten nach unten, oder umge kehrt. Jedenfalls bedeutete dies, daß sich die verschiedenen Leitungen in die Tiefe von Atlantis fortsetzten. Die drei Eindringlinge befanden sich jetzt auf der Plattform einer ehemaligen Repara turanlage. Der lange, hydraulische Arm war voll ausgefahren und hatte das Vorderteil ir gendwo auf dem Durchgangsweg abgesetzt. Zwei Sitze, eine Schaltapparatur und eine große Ersatzteilkiste befanden sich auf dem löffelförmigen Fortsatz. Kolphyr, der wie üblich nichts aß und trank, saß auf der Kiste. Der Deckel bog sich und knirschte bei jeder Bewegung. »Das heißt«, sagte er langsam, »daß wir noch immer nicht an der tiefsten Stelle ange kommen sind. Aber zweifellos haben wir uns weit vorangearbeitet.« »So ist es.« Hinter ihnen lag ein Zickzackweg in drei Dimensionen. Abwärts, geradeaus, nach den Seiten und wieder aufwärts, an anderer Stel le. Rote Notbeleuchtung hatte mit stechend gelbem Licht abgewechselt und, jetzt, mit vollkommener Dunkelheit. Die Fackel blak te und schickte einen langen Rußfaden durch die fast unbewegte Luft. »Da war eben ein Geräusch«, meldete sich Thalia. Razamon bewunderte inzwi schen den Mut und die Durchhaltekraft der Frau. »Wo?« Die winzige Zone aus Licht, von der kni sternden Fackel erhellt, war nur ein winziger Fleck zwischen der Ansammlung der ver schiedensten Leitungen. Von dort oben, wo her das Geräusch gekommen war, würde man die Plattform wie einen einzelnen Stern erkennen. Razamon setzte den Wein schlauch ab, verschloß ihn und fragte ein zweitesmal. »Bist du sicher, Thalia?« Ein scharfes und nachhallendes Krachen erübrigte eine weitere Antwort. Razamon schirmte die Augen mit der Hand ab und
Hans Kneifel starrte hinauf. Er sah einen scharfen Licht strahl wie suchend umherhuschen, dann folgten wieder eine Reihe von verschiede nen Geräuschen. Unverkennbar schlug Me tall gegen Stein. »Jemand ist hinter uns her. Das sind die Rüstungen und die Waffen deiner Brüder, Thalia!« stieß Kolphyr hervor. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er Razamon den Weinschlauch aus den Fingern und be festigte ihn wieder an den Riemen über sei nem grünlichen Anzug. »Das kann ich nicht glauben«, flüsterte Thalia und schloß das Band ihres Helmes. »Aber es ist sicher. Jemand ist auf unseren Spuren.« »Zweifellos. Wir müssen weiter!« drängte Razamon. Er nahm die Fackel und wandte sich zum Gehen. Vor der kurzen Rast hatten sie be reits einen Teil des weiteren Weges erkun det. Er führte durch eine seltsame Anord nung von Kammern und Hohlräumen. Sie wirkten wie die Wabenbauten unbekannter Rieseninsekten und bestanden aus einer Mi schung aus Metall und weichem Plastikma terial. In langsamem Lauf folgten Thalia und Kolphyr dem Atlanter. Bis jetzt war es ein riskanter Vorstoß gewesen, nun wurde eine Flucht daraus. »Meine Brüder! Sie werden uns einholen und zurückbringen!« rief Thalia unterdrückt und warf sich um eine Ecke. »Es muß wichtig für sie sein, wenn sie ih re sogenannten Regierungsgeschäfte deswe gen vernachlässigen«, gab Razamon zu und suchte verzweifelt nach einem Ausgang aus diesem verwinkelten Bereich. An den dump fen Geruch und den Staub hatten sie sich be reits lange gewöhnt. »Sie haben eine wahnsinnige Angst da vor, daß wir Atlan und die Schaltstation fin den!« meinte Kolphyr, der hinter Thalia ein herstapfte. Sie hatten vorübergehend vergessen, daß sich Atlantis auf unbekannte Weise durch die Dimensionen und die Zeit bewegte. Sie dachten auch nicht daran, daß dieser rasende
Chaos über Atlantis Flug nicht nur für fremde Welten, sondern noch mehr für Pthor selbst zur vernichten den Gefahr werden konnte. Genauer gesagt existierte die Gefahr bereits seit dem Start des Fragments während der Stunde von Rag narök. Die eigenen Probleme der drei Ein dringlinge waren wichtiger und existierten jetzt; sie mußten versuchen, den Verfolgern zu entkommen. Thalia warf zufällig einen Blick nach oben und blieb stehen. Kolphyr, der um die nächste Ecke sprang, walzte sie beinahe nie der. »Razamon! Sieh in diese Richtung!« Sie hielten an und blickten dorthin, wohin die Finger der jungen Frau deuteten. Jene wabenartigen Gänge und Ecken hatten keine Decke. Ungehindert sahen sie über sich eine Menge stechender Lichtstrahlen. Große Scheinwerfer blinkten nach allen Richtun gen. Zwischen den Röhren und Kabeln san ken erstaunliche Dinge aus der Finsternis. Razamon pfiff verblüfft durch die Zähne und knurrte: »Das sind einwandfrei nicht deine Brüder, Thalia.« Sie starrten erschrocken und verwirrt zwi schen den Wänden nach oben. Eine un glaublich aussehende Kombination von Ma schinenteilen schwebte langsam zwischen den Konstruktionsteilen nach unten. Die Verwirrung der Eindringlinge dauerte nur Sekunden, dann begriffen sie, daß es minde stens mehrere Roboter waren, die sich an einander festklammerten. Die Scheinwerfer strahlen bildeten wahre Spinnwebmuster und rissen die Verstrebungen und Kabel aus der Schwärze. »Roboter. Aus Wolterhaven«, sagte Tha lia. »Wir werden mit ihnen kämpfen müs sen.« »Sinnlos. Unsere Waffen sind geradezu lächerlich gegen ihre Bewaffnung oder Aus rüstung, wenn ich diese Verfolgung richtig interpretiere.« »Haben sie uns schon entdeckt?« »Auf alle Fälle sind sie auf unserer Spur!« »Dann können wir nichts anderes tun als
33 noch schneller flüchten und uns verstecken«, erklärte Kolphyr. »Los, Freunde. Es geht ums Ganze. Ich denke, mit den Maschinen werden wir schon fertig.« »Optimist«, gab Razamon zurück, schwenkte die Fackel und rannte weiter. Wieder begann ein neuer Teil des irren Ren nens. Hintereinander stolperten und liefen sie durch die engen Durchlässe der Waben. Hinter ihnen zuckte ein rubinroter Strahl aus der Dunkelheit herunter und schmolz einige der senkrechten Platten auseinander. Die zwölf Roboter aus Wolterhaven hat ten ihr Ziel längst entdeckt. Nur drei von ih nen, zufälligerweise die größten, konnten fliegen. Sie hatten es bereits auf dem Weg hierher perfekt ausprobiert. An die Arme, Laufbeine und Sensorträger dieser drei hängten und krallten sich die anderen, die dafür die Suchscheinwerfer bedienten und die verschiedenen Systeme, mit denen sie die Spuren der Verfolgten erkannten. Ohne sonderliche Eile sanken die Roboter jetzt durch den freien Raum, wichen den Leitun gen aus und zerschmolzen mit einem Hitze strahl einen möglichen Ausweg aus der An lage, deren logischen Aufbau sie augen blicklich erkannt und ausgerechnet hatten. Sie hatten einen Auftrag erhalten: klar und genau umrissen. Diesen Auftrag konnten sie ohne sonderli che Schwierigkeiten erfüllen. Genau dies würden sie tun. Und zwar in ganz kurzer Zeit. Aus einem der Roboter dieses Pulks löste sich ein zweiter Kampfstrahl. Diesmal war es nicht ein einziger, kurzer Feuerstoß, son dern eine präzise gesteuerte Linie, die ent lang des Fluchtwegs der drei Verfolgten brannte. Rauch, Flammen und Gestank wir belten entlang des wandernden Auftreff punkts, zuckten um die Ecke, schnitten durch Wände und rasten mit einem inferna lisch heulenden Geräusch weiter. Kurz bevor sich die Roboter trennten, er losch der Strahl. Dann setzten die schweren Maschinen auf, schoben die hydraulischen Arme zurück
34
Hans Kneifel
und in entgegengesetzte Richtung, klappten sie hoch und ließen zu, daß sich die kleine ren Roboter ablösten und davonschwebten. Summend, in verschiedenen Tonhöhen, machte sich ein Roboter nach dem anderen an die Verfolgung. Sie schwebten zunächst entlang der eingebrannten, noch immer hei ßen Spur, dann zeigten ihnen die Augen für die unsichtbare Strahlung warmer Lebewe sen den weiteren Weg. Ein bösartiges Summen begleitete ihren Vorstoß in diesen neuen Abschnitt der Pyra mide. Ihre Sensoren »sahen« die Flüchtenden nicht, wohl aber deren Spuren. Die Ge schwindigkeit nahm zu. Einer der größeren Roboter analysierte die Lage und schickte wieder seinen Kampfstrahl aus, der eine Reihe von Trennwänden auseinanderschnitt, als wären sie aus dünnem Papier. Dort vorn waren die drei Flüchtenden. Sie rannten in panischer Eile über Trep pen, Rampen und schräge Flächen abwärts. Immer wieder schoben sich massive Fels wände und dünne Metallstrukturen zwischen die Robots und ihre Beute, so daß die Lähm strahlen nicht einfach eingesetzt werden konnten. Die Dellos außerhalb der Pyramide hatte eine große Menge von Informationen gelie fert. Nach diesen zu urteilen, schien die Ver folgung eine leichte Sache und ein geringfü giges Problem zu sein. Die Wirklichkeit war anders.
* Razamon lehnte an einer Felswand, hielt seine Waffe in der rechten Hand und zischte Kolphyr zu: »Warum setzt du nicht deine Antimateriewaffe ein?« Mit schrillem Flüstern gab der Bera zu rück: »Die Schäden wären nicht abzusehen. Ich würde die gesamte Anlage in die Luft gehen lassen. Weißt du, ob wir uns in einem ener getisch ungefährlichen Bereich befinden?« »Nein!« sagte Razamon und feuerte eini-
ge Schüsse auf den ersten Roboter ab, der jenseits einer Biegung auftauchte. Es war ei ne kugelförmige Konstruktion mit vielen Armen, die ihr das Aussehen eines Tiefsee tiers verliehen. Auf der glatten Schale der Maschine detonierten die Blitze und schleu derten Funken und zuckende Helligkeit nach allen Seiten. Der Roboter wurde langsamer und summte wütend auf. Dann schob sich hinter ihm eine der schwereren Maschinen heran, richtete einen stachelartigen Projektor in die Richtung der Flüchtenden und feuerte. Eine Reihe von Wänden und ein Teil des Bodens lösten sich auf und fielen krachend gegeneinander, sackten durch und wirbelten hinunter in eine unbekannte, schwarze Tiefe. »Zurück!« Die Roboter teilten die Vorsicht Kolphyrs keineswegs. Sie gingen pragmatisch vor und schienen Schwierigkeiten zu haben, jetzt die Spuren weiter zu verfolgen. Sie waren be strebt, die Sichtverbindung nicht abreißen zu lassen und zerstörten deswegen die Wände und die Decken. Wieder rannten die Flüch tenden weiter. Die Fackel war längst erlo schen, und sie suchten sich den Weg im Licht der klobigen Scheinwerfer. Hinter ihnen donnerten und röhrten die zerstörenden Strahlen auf. Das Summen blieb und begleitete jeden ihrer Schritte. Der Gedanke, Atlan zu finden, geriet in den Hin tergrund. Das Überleben und die Flucht wa ren dringender und wichtiger. Furcht packte sie, denn sie waren in einer Lage, der sie auf die Dauer nicht gewachsen sein würden. Wieder hielt Razamon an und hob seine Strahlenwaffe. Er wußte genau, daß der Versuch der Ge genwehr bestenfalls einen Aufschub bedeu tete, keine Lösung. Das Licht der Schein werfer enthüllte einerseits einen Wirrwarr von dicken Kabeln, die sehr wichtig aussa hen. Es war undenkbar, was mit dem Flug oder der Steuerung Pthors geschehen würde, wenn hier größere Zerstörungen stattfanden. Andererseits sah es so aus, als ob sie wenig stens einen Teil der Pyramide erreicht hät
Chaos über Atlantis ten, der direkt auf der Kruste von Pthor auf saß. Die Roboter kamen näher. Vor ihnen sank abermals eine scheinbar massive Barriere aus Metall nieder und löste sich in grellen Lichterscheinungen und ei nem höllischen Lärm auf. Razamon schoß auf den ersten sichtbaren Roboter und sah mit einiger Befriedigung, daß die Kette der Maschinen zum zweitenmal in eine ernsthaf te Stockung geriet. Die Maschinen schienen unhörbar miteinander zu korrespondieren und sich die Lage auszurechnen. Thalia rief klagend: »Was ist los? Sollen wir aufgeben? Sie sind mächtiger als wir!« »Keineswegs«, gab Kolphyr zurück. »Ich habe noch immer die letzte Waffe. Ich muß nur ein Gebiet abwarten, das nicht entspre chend mit Zerstörung reagiert …« Er drückte sich ungeschickt aus. Er mein te, daß er sich nur in einer absolut ungefähr lichen Zone zu einem ernsthaften Kampf stellen würde. »Nicht aufgeben. Es geht noch weiter. Wir kommen jetzt zwischen die Felswände. Hier sind wir besser dran als die Maschi nen«, rief Razamon zurück und schoß aber mals. Er sah, daß er einen Projektor mit ei nem einzigen Schuß bis zur Unkenntlichkeit zerschmolzen hatte. »Weiter! Schneller!« drängte er. Wieder rannten sie dem Licht der Schein werfer nach. Ihre Schritte waren in dem Lär men und Tosen der Strahlschüsse unhörbar. Sie liefen durch einen breiten Korridor, der in den anscheinend massiven Fels geschnit ten war. Weder Nischen noch Seitengänge unterbrachen die rauhen Steinwände. Raza mons Sohlen waren lautlos, Thalias Rüstung klapperte und klirrte wie stets, und Kolphyrs breiter Rücken schützte sie wie das Gehäuse einer mächtigen Maschine. Sie rafften ihre letzten Kräfte zusammen und spurteten in größter Schnelligkeit durch den Korridor. Sie wußten, daß sie das perfekte Ziel abga ben, falls die gestoppten Roboter das hinter ihnen liegende Ende des Durchstichs er
35 reichten. Etwa zweihundertfünfzig Meter weit lie fen sie geradeaus. Dann hielten sie an, als wären sie gegen eine massive Mauer gerannt. Vor ihnen schalteten sich automatisch Hunderte von Lampen ein. Die Beleuch tungskörper ließen eine Art Saal erkennen, der sehr breit und sehr lang war, aber nur drei Meter hoch. Im Staub des Bodens er kannten sie unregelmäßige runde Löcher, die sich über die gesamte Fläche erstreckten. »Verdammt!« schrie Razamon. Er er kannte den Charakter der Falle. Hinter ihnen wurde das Summen lauter und drängender. Jede Sekunde würden die Verfolger auftau chen. »Bei Odin! Wir müssen uns wehren. Oder wir werden getötet und zurückgeschleppt!« stieß Thalia aus. »Hinter mir her!« schrie Kolphyr, der of fensichtlich eine weitere Fluchtmöglichkeit erkannte. Er warf seinen breiten Körper nach vorn und rannte mit riesigen Schritten auf das er ste Loch zu. Dort, am Rand, verharrte er ei ne halbe Sekunde lang, dann hob er einen Arm und sprang in das Loch hinein. Raza mon und Thalia, die nebeneinander gleich zeitig den Rand der Öffnung erreichten, sa hen ihn etwa vier Meter tiefer stehen und die Arme heben. Ohne zu zögern, sprangen sie hinterher. Er fing sie mit spielerischer Leichtigkeit auf und setzte sie neben sich ab. Sie blickten wild um sich und sahen, daß sie sich prak tisch im gleichen Raum befanden: Die Aus dehnung und die Höhe schienen identisch zu sein. Das von oben hereinfallende Licht zeichnete große runde Kreise auf den staubi gen Boden. »Die Roboter … der Boden zittert!« schrie Thalia auf. Durch weiter entfernte Öffnungen schnit ten wieder donnernde und heulende Strahlen hindurch. Teile des Felsens knisterten und fielen in riesigen Brocken herunter. Die Flüchtenden drängten sich dicht an die
36 Wand und schoben sich so schnell wie mög lich einer Öffnung in der Ecke dieser merk würdigen Zwischendecke entgegen. Wieder zuckte, aus einer anderen Richtung, ein Bün del Glutstrahlen herunter und zerstörte Teile der oberen Decke. Die Erschütterungen nahmen zu. Direkt vor Kolphyrs Füßen erschien in dem Felsen ein Riß. Er verbreiterte sich und wurde länger. Das Gestein begann zu kni stern und zu knirschen. Überall waren dichte Schwaden grauen Staubes. Durch die Schlei er zuckten kreuz und quer die Strahlen. Rie sige Scheinwerfer blinkten auf und erzeug ten große runde Leuchterscheinungen. Der Boden bewegte sich jetzt so stark, daß die Flüchtenden schwankten und sich nur müh sam auf den Beinen halten konnten. Ein zweiter Riß setzte sich mit scharfen, reißen den Geräuschen durch das Bodenmaterial fort. Thalia schrie auf und klammerte sich an Kolphyrs Arm. »Der Felsen bricht unter unseren Füßen!« Kolphyr versuchte, sich auf der schwan kenden Ebene zu bewegen, glitt aus und stolperte dem Loch entgegen. Dann ertönte ein knallendes Geräusch. Der Boden wurde ihnen unter den Füßen weggerissen. Kolphyr begriff augenblick lich, was vorgefallen war. Er streckte den Arm aus und ergriff Razamon am Gürtel. Als mit einem furchtbaren Getöse sich ein riesiges Stück der Ebene losriß und in der Mitte dieses Zwischengeschosses quer ab brach, kippte dieses Bruchstück langsam nach vorn. Hier, wo die Flüchtenden stan den, schien das Material gelagert zu sein, denn es bildete sich innerhalb einer Sekunde eine Schrägfläche. Noch bevor sie unten aufschlug, spreizte Kolphyr seine stämmigen Beine und warf sich auf den Rücken. Er rutschte durch den Staub und über den Schmutz des Bodens, immer schneller werdend, nach unten. Durch die Staubwolken und den Hagel der losgerissenen Splitter und Brocken folgten summend und feuernd die zwölf Roboter.
Hans Kneifel Mit einem donnernden Schlag, der sie alle taub machte, brach die Platte abermals, krachte zu Boden und löste sich in mehrere Bruchstücke auf. Die Flüchtenden landeten in einer stauberfüllten Helligkeit und glaub ten an Halluzinationen, als sie durch das Ge schrei fremder Kehlen, durch den furchtba ren Lärm und die Geräusche der Maschinen verfolger Musik zu hören glaubten. Stark rhythmische, barbarische Klänge, die durch das Inferno schmetterten. Kolphyr ließ Thalia und Razamon los und schrie: »Um uns herum sind Dellos!« Die Staubwolken trieben hin und her und senkten sich. Während die Roboter mit dro hendem Summen von oben herunterschweb ten und die kleineren Konstruktionen über die zerbrochene Schrägfläche kamen, er kannten die Flüchtenden mehr und mehr Einzelheiten der Szene um sie herum. Sie waren in einer riesigen Halle gelandet, deren Decke heruntergebrochen war. Schwarze, würfelförmige Maschinen stan den entlang der Wände. Scheinwerfer be leuchteten das Innere der Halle. Dort war, keine zwanzig Meter von Razamon entfernt, ein Kreis, der aus Dellokörpern gebildet war. Jetzt formierte er sich wieder, nachdem er durch den Zwischenfall zerrissen worden war. Innerhalb des Kreises kämpften zwei ungleiche Gegner. Einer war ein Dello, mit zwei langen, blattartigen Schwertern be waffnet, der andere ein über sechs Meter großer Koloß mit der leeren, blutverkruste ten Höhle eines einzigen Auges in der Stirn. »Ein Zyklop!« schrie Thalia auf. Beide Gegner waren in den Kampf verbissen. Sie schienen die Umwelt völlig vergessen zu ha ben. Der blinde Zyklop schlug mit einer rie sigen, zerfetzten Keule zu, und der Dello be nutzte seine Schwerter. Eine unverständliche Kraft ging von dem viel kleineren Mann aus. Der Körper des Zyklopen war von Wunden übersät. Kolphyr sah sich um und suchte nach ei ner weiteren Möglichkeit, die Flucht fortzu setzen. Er drängte Razamon und Thalia in
Chaos über Atlantis den Sichtschutz zwischen die schwarzen Würfel. Von oben fiel ein Gesteinsbrocken herunter, krachte auf einen der Maschinen blöcke und zerbarst in tausend Bruchstücke. Die Roboter kümmerten sich nicht um die Flüchtenden. Unbeobachtet von den Dellos kauerten sich Razamon, Thalia und Kolphyr hinter ei ner Barriere aus zertrümmerten Gegenstän den, Felsbrocken und in den Schatten eines der wuchtigen Würfel. Die Maschinen schwebten und liefen auf den Kreis zu, verteilten sich und schoben sich mühelos durch die Mauer aus Dellokör pern. Sie schienen vorübergehend die Ver folgung völlig vergessen zu haben, denn ihre Sensoren und Projektoren richteten sich auf den Zyklopen. Jetzt erkannte Razamon, daß eine Art schwarzer Fisch mit Flügeln über dem Kopf des Wesens schwebte. »Sie kämpfen gegen den Zyklopen!« flü sterte Razamon gebannt. Wieder zuckten gleichzeitig ein Dutzend Kampfstrahlen röhrend und peitschend aus den Projektoren der Roboter. Ein Glutstrahl vernichtete den schwebenden Fisch, die an deren zerrissen und verkohlten den Zyklo pen. Schreiend starb das riesige Wesen. Noch während der Zyklop zusammenbrach, zuckten weitere Vernichtungsstrahlen auf und zerstörten seinen Körper zur Gänze. Der Dello warf seine Schwerter zu Boden und wankte aus dem Kreis heraus. Er wand te sich an den größten Roboter und schrie mit rauher, stockender Stimme: »Ich bin Vater Pegallu. Ich danke euch, daß ihr den furchtbarsten Gegner, den wir je hatten, besiegt habt. Wer hat euch ge schickt?« Razamon schlug Thalia auf die Schulter, legte den Finger an die Lippen und deutete in den Hintergrund der Halle. Dort, jenseits eines merkwürdig provisorisch aussehenden Bauwerks, erkannten sie eine Treppenanla ge. Thalia nickte und zog Kolphyr mit sich. Sie versuchten, so schnell wie möglich ent lang der Hallenwand in der Deckung zu
37 kriechen. »Wir sind von den Söhnen Odins ge schickt worden«, erklärten die Roboter. Die Musik, die bisher den Kampf untermalt hat te, hörte mit erschreckender Plötzlichkeit auf. Von allen Seiten strömten Dellos zu sammen. »Wir haben drei Flüchtende bis hierher verfolgt. Aber in uns ist auch die Ausschaltung dieser Wesen programmiert. Deswegen haben wir dir geholfen, Pegallu.« »Welche Flüchtlinge?« wollte der schweißüberströmte und blutbespritzte Mann wissen. »Razamon, Thalia und Kolphyr.« Während die Gesuchten hinter der langen Reihe der Würfel dem Saallende entgegen hasteten, hörten sie die größten Teile der Unterhaltung. Sie wurden schneller, aber dann hörten sie zu ihrem Entsetzen: »Sie versuchen wieder zu fliehen. Wir ho len sie und nehmen sie mit uns an die Ober fläche zurück, wie der Auftrag lautete.« Sechs Roboter schwärmten in blitzartiger Schnelligkeit aus und umzingelten Thalias Gruppe. Mit einigen kurzen Schüssen, die Krater in die Wände rissen, machten sie ih nen die Aussichtslosigkeit ihrer Lage deut lich. Kurze Zeit standen Thalia, Razamon und Kolphyr vor einem Halbkreis, der aus Robotern und Dellos gebildet war. Vater Pegallu stemmte die Arme in die Seiten und blickte auf die Gefangenen. »Sie sind in mein Reich eingedrungen. Ich beanspruche sie.« Mit unnachgiebiger Stimme widersprach einer der Roboter. »Wir haben von den neuen Herrschern über Pthor den Auftrag, sie in die FE STUNG zu bringen.« »Die alten Herrscher haben uns verfolgt und ausgestoßen. Wir anerkennen auch die neuen Fürsten von Pthor nicht.« Razamon und Thalia hofften auf eine Wende, die ihnen mehr Chancen geben wür de. »Wir müssen auf unserer Forderung be stehen!« betonte ein anderer Roboter. Schweigen breitete sich aus. Unversöhn
38 lich standen sich die Roboter und der Herr scher gegenüber. Die Dellos, es mochten Hunderte sein, schlossen einen dichten Kreis um die kleine Gruppe. Sie schienen wahn sinnig oder blind zu sein; Angriffsstrahlen, die in der Lage waren, die Decke zu zer trümmern, konnten ein Heer fäusteschwin gender Dellos binnen Sekunden vernichten. Vater Pegallu sagte langsam: »Geht zurück zu den Söhnen Odins. Sagt ihnen, daß Vater Pegallu und seine Ausge stoßenen keinen Kampf wünschen. Aber die drei Gefangenen bleiben hier und werden nützlicher Verwendung zugeführt.« Wieder meldete sich ein anderer, kleiner Roboter und entgegnete unnachgiebig: »Ihr habt gesehen, wie mächtig unsere Waffen sind. Wollt ihr wegen der Gefange nen alle sterben?« »Wir wissen, wie wir unsere Forderungen durchsetzen können«, war die starrköpfige Antwort. Razamon überlegte, was er tun konnte. Eine unbestimmte Ahnung erfüllte ihn. Sein Haß auf Personen und Umstände war verflo gen und hatte einer großen, niederdrücken den Müdigkeit Platz gemacht. Etwas würde in Kürze passieren, und es konnte nur ge fährlich oder tödlich sein. Als sein Blick auf geschrumpfte und schwärzliche Gliedmaßen fiel, die an Lianen zwischen den Maschinen hingen, wußte er, welches Schicksal sie in der Halle der Ausgestoßenen erwartete. »Was nützt eine halsstarrig vorgebrachte Forderung, wenn sie mit Kampf, Tod und Auslöschung bezahlt wird?« fragte eine Ma schine. Thalia spürte, daß sie dem Geheimnis sehr nahe war. Atlan mußte sich irgendwo in erreichbarer Nähe befinden. Mit den Dellos würden sie fertig werden können; Kolphyrs ungeheure Kräfte und Razamons Waffe … aber gegen die Robots waren sie wehrlos. Und wenn Kolphyr seine Antimateriewaffe anwendete, sprengte er diesen Saal mit all der darin zirkulierenden Energie auseinan der. Noch zögerten die Roboter, aber schon in der nächsten Sekunde konnte die tödliche
Hans Kneifel Auseinandersetzung beginnen. Kolphyr stand schweigend da und wußte, daß ihm in ganz kurzer Zeit nur noch der letzte, unwiderrufliche Ausweg blieb. Vernichtung war das Stichwort. Der größte Roboter hob seinen Arm und sagte mit unüberhörbarer Schärfe: »Wir sind zu dem Entschluß gekommen, Vater Pegallu, deinem Wunsch nicht nach zugeben. Du hast zwischen Kampf und Nachgeben zu entscheiden.« Pegallu begann vor Wut zu zittern. Aber noch immer machte er keine Anstalten, den Kampf zu beginnen.
* Korridore durchschnitten das Gefüge der Dimensionen. Raum und Zeit und Entfernungen waren ineinander verzahnt wie die Vorstellung ei nes vierdimensionalen Weltraums. Das Nichts, erfüllt von Linien, Kurven und Spi ralen. Sie waren nach einem Muster ange ordnet, das niemand verstand und niemand kannte. Geleise durch Zeit und Raum, Lini en durch eine besondere Art der Unendlich keit. Viele Körper, gesteuert oder dem kosmi schen Zufall unterworfen, rasten entlang die ser Linien. Sie wurden auf den Kurven entlangge schleudert, die kein lebendes Wesen je gese hen und jemals errechnet hatte. Sie wichen auf den Kreuzungspunkten einander aus, indem sie beschleunigt wurden oder verlangsamten. Unter den vielen Objekten, die sich in die sem System kaum vorstellbarer Entfernun gen und Zusammenhänge bewegten, war ei ne gigantische Wassermasse. Niemand sah sie, keiner kannte den Zweck dieser unvor stellbar großen Zusammenballung von Was ser, die durch den Dimensionskorridor fegte. Geschwindigkeiten, Ausdehnungen und Sinn blieben verborgen. Niemand erwartete sie, denn niemand wußte, daß sie durch den Korridor auf einen der wichtigsten und häu
Chaos über Atlantis
39
figst angeflogenen Kreuzungspunkte mit kosmischer Geschwindigkeit zusteuerte. Es gab auch niemanden, der den Kreu zungspunkt kannte.
* Die Sekunden dehnten sich unerträglich, die Spannung unter allen Anwesenden er reichte einen schmerzenden Höhepunkt. Mit scharfem Summen glitten alle Roboter je weils einen Meter nach vorn und schoben sich dadurch aus der dichtgedrängten Menge der Körper. Waffen klirrten, jemand reichte Vater Pegallu ein funkelndes Schwert. Kolphyr spannte seine Muskeln und be rechnete seine nächsten Bewegungen. Er würde seine Freunde retten müssen. Vater Pegallu hob das Schwert. »Du wählst den Kampf?« fragte ein Ro boter. »Ich behalte sie!« schrie Pegallu in höch ster Wut und deutete mit der Spitze des Schwertes auf die Gefangenen. »Dann wählst du die Vernichtung«, rief hinter ihm der andere Robot. Von rechts kam der Zusatz: »Für dich und dein Volk.« Hundert Schwerter wurden hochgerissen und klirrten gegeneinander. Die Dellos schrien wie die Rasenden. Vater Pegallu wirbelte herum und schlug mit einem furcht baren Hieb auf den Projektorarm des ihm am nächsten stehenden Robots. Sofort zuckten Vernichtungsstrahlen in verschiedene Richtungen. Glühende Tropfen und brennende Gasfontänen zischten nach allen Seiten. Kolphyr packte, während er zur Seite sprang, mit zielsicheren Bewegungen seine Freunde und rammte einen breiten Korridor in die Masse der Dellos. Das wilde Angriffsgeschrei der Dellos, das Klirren und Rasseln der Schwerter, die Geräusche der Strahlen und des auseinan dergesprengten Felsens und die Warnrufe, von den Robotern ausgestoßen, vermischten sich zu einem entsetzlichen Geräuschorkan. Der Boden schien unter diesem wilden
Ansturm zu beben. Kolphyr drängte die Freunde in den Schutz eines schwarzen Maschinenwürfels und wirbelte wieder herum. »Der Fels! Die Höhle bricht ein!« schrie Thalia gellend. Eine schwere Erschütterung traf den Saal. Alles schwankte und zitterte. Roboter und Dellos wurden von den Beinen gerissen und fielen übereinander. Mit der Serie peitschender Knalle erloschen die Scheinwerfer. Maschinen wurden gegen die Felswand geschleudert. Blitzte zuckten kreuz und quer durch den Saal. Es war, als habe ein giganti scher, planetengroßer Hammer Pthor getrof fen und auf dem Flug durch die Dimensio nen förmlich in der Bewegung angehalten. Der letzte Scheinwerfer erlosch. Nur noch ein paar auftreffende Strahlen der Roboter erleuchteten die riesige schwarze Höhle, in die sich der Saal der Ausgestoßenen verwan delt hatte. Wieder griff Kolphyr nach den Armen seiner Freunde und zog sie mit sich. Sie tasteten sich zwischen Trümmern und über den schwankenden und aufbrechenden Boden vorwärts. Wohin? Sie waren einigermaßen sicher, daß sie sich in die Richtung auf die Treppenanlage fortbewegten. Rund um sie war das Chaos entfesselt. Eine Serie unbekannter Ge räusche durchbrach das Geschrei. Es hagelte ununterbrochen kleine und große Trümmer von der Decke. Sie schlugen wie Geschosse ein und zerplatzten. Der Hohlraum, dieser gewaltige Saal vol ler Maschinen, schwankte noch immer. Aber die Felsmasse brach nicht auseinander. »Was ist passiert?« schrie Thalia in die Dunkelheit. Razamon brüllte hustend zu rück: »Keine Ahnung. Es muß ganz Pthor erwi scht haben!« Endlich hatte Kolphyr einen Scheinwerfer hervorgeholt. Keuchend und hustend blieben sie stehen, obwohl sie nicht wissen konnten, ob sie in der nächsten Sekunde von einem Trümmerstück erschlagen werden würden.
40
Hans Kneifel
Das Lärmen hielt unverändert an und be täubte sie. Wieder wurde der Boden erschüt tert. Der Lichtstrahl zuckte ein paar Meter vor und löste sich in der Staubwolke auf. »Wo sind wir?« »Irgendwo in der Höhle. An ihren Rän dern sind wir sicherer als sonstwo.« Ein grauenhaftes Geräusch brach los. Die gewaltige Deckenplatte begann zu rutschen und brach auseinander. Staub rutschte nach, Trümmer schlugen nach unten. Das Ge schrei der getroffenen Dellos steigerte sich und wurde zu einem schrillen, gespensti schen Heulen. Die drei Verfolgten krochen weiter, blind und verzweifelt, von Schrecken erfüllt und gewärtig, den nächsten Moment nicht zu überleben. Irgend etwas war mit Atlantis geschehen. Der Flug durch Zeit und Raum führte ins Verderben.
6. Heimdall dachte an die Ruhe und Stille seines Wohnbezirks, draußen, weit entfernt in der Wüste. Wieder sehnte er sich danach zurück; der Aufenthalt der neuen Herrscher in der FESTUNG war viel mehr eine Qual als eine Demonstration der neuen Herrlich keit. Aber er drängte alle seine Gedanken an die Vergangenheit zurück und ließ seinen Arm schwer auf die Lehne des Sessels fal len. »Seit Ragnarök, seit der Stunde des Sie ges, kommen Delegationen aus allen Teilen Pthors und bieten uns ihre Dienste an. Mitt lerweile bin ich voller Mißtrauen, was diese Ergebenheitsbesuche betrifft.« »Beruhige dich, Heimdall«, unterbrach Sigurd. »Das sind keine Berserker. Es sind Technos.« »Das weiß ich selbst!« Die große Delegation der Technos, die al le wichtigen Gruppen dieser Klasse umfaßte, war kurz nach dem Aufbruch der Roboter von Wolterhaven hier in der FESTUNG ein getroffen. Die Technos hatten sich ausdrück lich bereit erklärt, für die neuen Herrscher
unter anderen Vorzeichen dieselben Dienste zu leisten, wie es in der vergangenen Zeit für die Herrscher der Fall gewesen war. »Heimdall, Sohn Odins«, erklärte einer der vielen Delegationsleiter und verneigte sich respektvoll, »du hast keinen Grund, uns mit Mißtrauen zu begegnen. Wir begrüßen die neue Entwicklung, weil wir sicher sind, daß sie sich nicht auf Gewalt, Zwang und Panik gründen wird.« Heimdalls Finger klopften unruhig auf dem Material des Sessels. Er war so lange unruhig, wie die Jagd unterhalb der FE STUNG im Gang war. Sie mußten einen Weg finden, den Flug von Pthor zu steuern! »Schon gut«, sagte er. »Ich glaube euch. Ihr habt mein Vertrauen.« Ein Anführer der Technos trat vor und meinte: »Pthor ist wieder auf der Reise.« »Ja. Wir werden vom Wachen Auge ge warnt werden, wenn unvorhergesehene Din ge geschehen sollten. Die Anlagen funktio nieren, und jene, die zerstört wurden, sind wieder in Ordnung gebracht worden.« Sigurd, Balduur und Heimdall saßen noch immer im Empfangssaal. Zwischen ihnen stand ein großer Tisch voller Speisen und Geschirr. Er war von den Dellos gebracht worden, nachdem die Roboter sich auf die Suche gemacht hatten. Sigurd spießte einen Brocken Käse auf, kaute und schluckte ihn hinunter. »Es kann sein, daß wir in kurzer Zeit alle verfügbaren Kräfte brauchen werden, ihr Technos«, sagte er. »Wir sind gern bereit, eine derartige Ver einbarung zu schließen. Wir leben durch die FESTUNG und für euch.« »Gut. Einverstanden. Und wie habt ihr …« Die Tischplatte wurde zur Seite geschleu dert. Die Schalen, Becher und Körbe polter ten und klirrten zu Boden. Die Technos wankten und fielen gegeneinander. Einige von ihnen brachen aufschreiend in die Knie. Die drei Söhne Odins sprangen mit klirren den Rüstungen auf. Der Boden schob sich
Chaos über Atlantis hin und her, die Wände der Pyramide schwankten und dröhnten. Die Geräte, mit denen die FESTUNG mit dem Wachen Auge verbunden war, schrill ten und heulten in der höchsten Alarmstufe. Die Portale des Saales bewegten sich don nernd in ihren Führungen. Ein riesiger, nicht eingeschalteter Bildschirm löste sich und zerbarst mit einem ohrenzerreißenden Ge räusch. Die Dellos, die sich innerhalb des Saales befanden, schrien vor Angst und ris sen bei dem Versuch, sich irgendwo festzu halten, wertvolle Ausrüstungsteile von den Instrumentenpaneelen. »Die FESTUNG schwankt! Was ist ge schehen?« brüllte Heimdall auf und wurde vom nächsten Stoß des gewaltigen Bebens wieder auf den Boden geschleudert. Das Klirren seiner Rüstung ging im allgemeinen Krachen unter. »Pthor ist kollidiert. Pthor ist kollidiert. Pthor …«, kam es aus einem Lautsprecher. Der Alarm des Wachen Auges kam zu spät. Voller Entsetzen dachten die Herrscher dar an, daß es keine Möglichkeit gab, irgendwie einzugreifen. Balduur riß Heimdall mit ei nem mächtigen Ruck auf die Beine. »In der Pyramide sind wir sicher. Das In nere des Raumschiffs schützt uns alle.« Die Erschütterungen waren schrecklich. Das Schwanken und Zittern, die federnden Bewegungen erfaßten jeden Gegenstand und jedes Wesen. Eine Trennwand beulte sich aus und zerriß. Instrumente und Kabel bra chen. Aus allen Bereichen des Schiffes ka men die lauten Alarmgeräusche. Auch Si gurd kam auf die Beine und stürzte mit schwankenden Schritten auf das Portal zu. »Bleibt hier!« donnerte er. Die Technos, die sich gefaßt hatten, flüch teten in wilder Panik an ihm vorbei, rempel ten ihn an und stürzten blind davon. »Eine Kollision!« schrie Heimdall. Das Schwanken und Beben war so heftig, daß keiner von ihnen daran dachte, über haupt etwas unternehmen zu wollen. Diese Kräfte waren zu groß für sie. Es gab nichts, das man ihnen entgegenstellen konnte. Ganz
41 Atlantis schien von diesem Beben erfaßt worden zu sein, denn es hörte nicht auf, setzte sich fort und vermittelte den Odins söhnen den ersten, flüchtigen Eindruck, auf der Oberfläche eines schwankenden Moores zu stehen, dessen Oberfläche in einzelne Schollen aufriß. »Womit können wir zusammengestoßen sein?« Von der Decke fielen in großen Flecken isolierende Materialien herunter. Aus den Nähten und Verbindungen der Wände riesel te Staub. Aus unbekannten Öffnungen drang Rauch. Einige Beleuchtungskörper zerplatz ten. »Das weiß ich nicht. Können wir denn nichts tun?« »Nein.« Die wenigen Dellos und der Rest der Technoabordnung rannten davon. Aus dem Innern der Pyramide erklangen seltsame Ge räusche, als ob große Teile der Einrichtung und der Pyramide selbst zerstört würden. Si gurd hielt sich mit aller Kraft an einem dicken Hebel fest und keuchte: »Das muß das Ende sein.« Das Dröhnen und das entsetzliche Schwanken hörten nicht auf. Die Brüder klammerten sich aneinander fest und starrten einander ungläubig und erschreckt in die Augen. Sie wußten nicht, was geschehen war. Es gab für sie keine Möglichkeit der Abhilfe. Vielleicht überlebte Pthor … Vielleicht beruhigte sich dieses riesige Stück Land wieder. Mit ständig wachsender Angst und Sorge wartete Sigurd, Balduur und Heimdall, daß dieses Beben aufhören würde.
* Fluchend bemerkte Razamon, daß er seine Waffe irgendwann auf den letzten zweihun dert Metern verloren hatte. Er richtete sich auf und hob schützend die Hand über seinen Kopf. »Es muß tatsächlich ein schweres Beben sein«, rief Thalia. Der Umhang ihrer Rü
42 stung war schmutzig und zerfetzt; Kolphyrs Lampe bewegte sich suchend durch den fast undurchdringlichen Staub. Thalia preßte ih ren Handschuh vor Mund und Nase und hu stete. »Vor allem ein langes Beben. Ganz At lantis hat es erwischt, scheint es mir«, gab der Bera zu. »Achtung.« Er schwang den Arm zur Seite und wisch te einen übermannsgroßen Felssplitter nach hinten. Der riesige Steinbrocken war genau auf Thalias Rücken zu gekippt. »Atlan … er hat die Steuerung also nicht gefunden«, murmelte Razamon. Die sterbenden Dellos, vielleicht auch ei nige zerschmetterte Verfolger aus Wolterha ven, hatten sie weit hinter sich gelassen. Als sich die Staubwolken etwas lichteten, riß der Scheinwerfer wackelnde und sich auflösen de Teile aus Holz und Geflecht aus der Fin sternis. »Wir sind neben dem Bauwerk!« schrie Kolphyr triumphierend. »Und noch immer am Leben.« Die schräge Platte war zerbrochen und in vielen Teilen heruntergefallen. Nur genau über dem Bauwerk lag noch immer ein lan ges Stück, das mit einem Ende den Boden und mit dem anderen den ehemaligen Win kel zwischen Treppenwand und Dach be rührte. Offensichtlich waren Spalten aufge brochen oder verborgene Tore, denn deut lich war das Rauschen einer großen, schnell bewegten Wassermasse zu hören. Ein Fluß unter der Oberfläche? Ein auslaufender See? »Zu den Treppen! Immer geradeaus, Kol phyr!« rief Razamon würgend. Sie kletterten über Steinbrocken, traten auf die Körper toter Dellos und tasteten sich hinter dem Licht in Kolphyrs Hand mehr oder weniger geradeaus. Mehrere Stufen hö her, dann mußten sie einem wahren Haufen toter Dellos ausweichen. Schließlich fanden sie heraus, daß der Aufgang einer breiten Treppe ebenfalls von einem Wall toter Dellos blockiert war. Es schien, als habe hier ein Teil des Kampfes zwischen Pegallu und dem Zyklopen gewü-
Hans Kneifel tet. »Wohin?« »Warten, bis das Beben nachläßt!« »Es scheint tatsächlich der sicherste Platz zu sein«, rief Razamon und versuchte, die schlimmsten Stöße mit den Knien abzufe dern. Er war von einem Schrecken in den anderen gestürzt worden, aber die Furcht, die er jetzt empfand, ging viel tiefer. Keine noch so große persönliche Schnelligkeit, kein tollkühner Mut und nicht einmal die größte Vorsicht konnten ihn und die Freunde davor retten, hier erschlagen, ertränkt oder lebendig begraben zu werden.
* Dhervay, der Techno aus Zbohr, schluchzte und wimmerte haltlos. Seine Fin ger umklammerten im Krampf die bloßlie gende Wurzel eines Baumes. Der Stamm fe derte hin und her und in alle Richtungen. Ununterbrochen prasselten riesige Nüsse oder andere Früchte mit sehr harten Schalen zu Boden, abgerissene Blätter und Aststücke schlugen auf die Schultern und in den Nacken des Mannes. Der Garten der FESTUNG hatte sich in ein Inferno verwandelt. »Nein! Ich will nicht sterben!« Sein Körper wurde hochgehoben und wie der auf den Boden geworfen. Aber seine Hände ließen nicht los. Das rauschende To sen, mit dem sich Pthor bewegte, hatte ent weder aufgehört oder war von den zahllosen anderen Geräuschen übertönt. Unter dem eintönig fahlen Himmel schwankten die kleineren Pyramiden nicht viel weniger als der Baum, der vielleicht umstürzen und Dhervay erschlagen würde. Die Büsche rauschten und schwankten wild. Tiere flüchteten kreischend und in of fener Panik. Vögel rasten flatternd durch die Luft, stießen zusammen und fielen tot auf den Boden. Ein Dello taumelte einen Pfad entlang, der sich wie eine Schlange auf bäumte und den Diener in einen aufgerisse nen Trichter schleuderte. Ein riesiger Was
Chaos über Atlantis sertropfen, so groß wie eine Faust, schlug zwei Handbreit von Dhervays Kopf entfernt in das Gras. Das Leben war nicht besonders schlecht gewesen, bis die FESTUNG erobert worden war. Aber es war zu ertragen gewesen. Als der Dello in Zbohr erschien und die lange, wohlklingende Botschaft der Odinssöhne mitbrachte, hatten sie alle an zerschnittene Fesseln und größere Freiheiten gedacht. Die Delegation machte sich augenblicklich auf den Weg, um die Zusammenarbeit anzubie ten. Mindestens dreißig Sekunden lang bebte Atlantis jetzt schon. Die Grashalme vor Dhervay bewegten sich wie hastige Wellen eines schäumenden Flusses. Ein Käfer krabbelte hilflos zwi schen den Halmen hin und her und versinn bildlichte das Schicksal des Technos. »Fliehen? Aber wohin?« Er bewegte entsetzt den Kopf. Das Schwanken der kleineren Pyramiden schien noch stärker geworden zu sein. Überall das Poltern und Krachen herunterfallender Stei ne und brechenden Mauerwerks. Und dazu dieses infernalische Grollen und die Schwin gungen, die direkt aus der Erde kamen. Wahrscheinlich wurde Atlantis auseinander gebrochen wie eine Scholle aus trockenem Lehm. Ein ferner Blitz zuckte auf. Der Donner schlag ging in dem allgemeinen Lärmen un ter. Dann rauschte ein furchtbarer Regen schauer über den FESTUNGS-Garten hin weg. Die Tropfen fielen so dicht, daß selbst das Grau des Himmels einer tiefen Schwärze wich. Riesige Tropfen hämmerten schmer zend auf den wehrlosen Körper und zer schlugen die Blätter über ihm. Ein Sturzbach rann den Stamm herunter und umspülte schon Sekunden später den Kopf des Tech nos. Dann, unvermittelt, hörte der peitschen de Regen wieder auf. Das hohle Fauchen und Winseln eines weiteren, trockenen Sturmstoßes fegte durch den ausgedehnten Garten und trieb Staub, Sand, Blätter und
43 anderen Abfall vor sich her und schleuderte ihn in einer hochwirbelnden Spirale gegen die Flanke der großen Pyramide. Unverändert hielt das Beben an. Der Techno verlor jedes Zeitgefühl. Das Beben konnte eine Minute lang dauern, län ger oder kürzer. Todesfurcht hatte jedes le bende Wesen auf Atlantis gepackt und schüttelte es im Rhythmus der Bebenstöße.
* Es ruft dich! Die Mitteilung des Extrasinns weckte At lan. Er blieb regungslos liegen, hielt die Au gen geschlossen und fühlte das silberne Ge spinst des Goldenen-Vlies-Helms. Deutlich erkannte er, daß der Ruf stärker und deutli cher geworden war. Keine exakten Gedanken. Mehr eine weiche, aber intensive Beein flussung in Form eines Dranges. Er begriff. Er sollte einem Wunsch nachgeben, einer deutlichen Aufforderung. Das Gefühl stellte sich ein, er solle aufstehen und den untersten Punkt der Steueranlage aufsuchen. Atlan öffnete die Augen, stand auf und fand die Anlage unverändert. Lichter brannten, For men glühten, und Farben bewegten sich auf ebenso mysteriöse Weise wie vorher. Wann vorher? Es mochten einige Stunden vergan gen sein. Er fühlte sich frisch und ausgeruht, aber das konnte nicht über das Gefühl von Hun ger und Durst hinwegtäuschen. Es war je doch noch auszuhalten. Auf halbem Weg blieb er stehen. Erst jetzt fielen ihm die länglichen Öffnungen an allen möglichen Stellen auf. Sie schienen Teile des Lufterneuerungssystems zu sein und vielleicht auch das Geheimnis dieser überraschenden Sauberkeit. Aber es wehte kein erkennbarer Lufthauch aus den Öffnun gen, auch gab es keinen Sog. Er hob die Schultern und ging weiter. Als er im Zen trum der Steueranlage auf der untersten Ebe ne stand – hierher waren die Kügelchen ge rollt, in die sich Elkohr aufgelöst hatte –,
44 schob ihn ein sanfter Zwang in die Richtung des länglichen Pultes mit den auffallenden Mulden in der ebenen Fläche. Er machte den vierten Schritt, als der Stoß ihn traf, von den Beinen riß und gegen die Sockel der Pulte schleuderte. In einer schnellen Reaktion rollte er den Körper zusammen und fiel relativ weich. Als er den Sturz abgefangen hatte und sich wieder aufrichten wollte, hörte er durch das Dröhnen und Poltern einer bebenartigen Er schütterung ein stechendes Pfeifen. Gleichzeitig kam direkt aus dem Schlitz neben ihm eine ölig wirkende, blauschwarz schimmernde Flüssigkeit. Unaufhörlich bebte der Boden und be wegte sich auf und ab. Hilflos wurde der Körper des Arkoniden herumgeschleudert. Das Pfeifen wurde stärker, und während er versuchte, sich irgendwo festzukrallen, muß te Atlan sehen, daß breite Ströme und Säu len dieses Öles nicht nur aus den Schlitzen in jedem Teil der Anlage kamen, sondern auch aus großen Öffnungen in der Decke schossen. Bemerkenswert. Eine Schutzeinrichtung. Wirkt schwingungsdämpfend und ist nicht klebrig. Sieh die Pulte! rief der Logiksektor. Atlan wurde von einer großen Welle mit gerissen, begann zu schwimmen und merkte mit Erleichterung, daß die Wirkungen des Bebens auf seinen Körper nachließen. Auch er wurde in das System des Vibrationsschut zes mit einbezogen. Binnen weniger Sekun den stand die Flüssigkeit etwa bis zur Hälfte des Raumes. »Tatsächlich verblüffend – aber was ist passiert?« Die fremde Stimme oder den behutsamen Zwang konnte er nicht mehr registrieren. Aber dafür schien sich die Kruste von Atlan tis zu verformen. Ein gewaltiger Schlag oder viele kürzere, nicht minder energiereiche Schläge schienen den kleinen Kontinent zu treffen und in tektonische Schwingungen zu versetzen. Atlan glaubte, durch die dicken Felsen hindurch zu spüren, wie Höhlen ein stürzten und Gänge verschüttet wurden.
Hans Kneifel Ein kalter Schrecken lähmte ihn vorüber gehend. Er hörte zu schwimmen auf, lag ganz starr in dem rasend schnell hochstei genden Öl. Die Decke kam näher, aber gleichzeitig auch die verschiedenen Öffnun gen darin. Es war eingetreten, was er befürchtet hat te. Kollision. Atlantis-Pthor war auf dem Flug durch den Dimensionstunnel mit einer Masse zusammengestoßen, die vermutlich weitaus größer war als Pthor selbst. Aber bei diesen unvorstellbar rasenden Geschwindig keiten war es an sich undenkbar. Wahr scheinlich war der fremde Körper viel klei ner gewesen, sonst wäre Pthor längst pulve risiert. Aber die noch immer anhaltende Be benbewegung bewies, daß es vermutlich die Einschläge vieler kleiner Objekte waren. Atlan wußte, daß der Anzug der Vernich tung ihn abermals gerettet hatte. Er schwamm jetzt nur noch wenige Meter un terhalb des höchsten Punktes der Decke. Zwar dämpfte die gewaltige Ölmenge die Geräusche aus anderen Teilen der Halle, aber aus dem Loch, dem er entgegengetrie ben wurde, erscholl das grauenhafte Ächzen und Knirschen, das Dröhnen und Poltern der geschundenen Felsmassen. Es war fast völlig dunkel geworden. Das Öl schluckte die Strahlen der vielen Licht quellen. Atlan holte tief Luft, als der glattge schliffene Rand des großen Loches näher kam. Ein Überlaufventil? warf der Logiksektor ein. Er war am Ziel gewesen. Eine Stunde frü her, und er hätte Pthor steuern können. Dann wäre der Kontinent nicht mit diesem rätsel haften Etwas zusammengestoßen. Der Druck der Ölmasse packte ihn, wir belte ihn herum und schob ihn, zusammen mit einigen hundert Tonnen dieser seltsamen Flüssigkeit, in die dunkle Öffnung. Atlan wurde völlig hilflos aufwärts gepreßt.
7.
Chaos über Atlantis Seit die Straße der Mächtigen wie eine gi gantische Peitsche sich in die Luft ge schwungen und vernichtend auf die FE STUNG niedergeschlagen hatte, zerstörten Unruhe, Einsamkeit und Zweifel das Leben Kröbels. Er kauerte in der Schatzkammer des Lett ro und hielt nachdenklich ein ParraxynthBruchstück in beiden Händen. Seit Wochen hatte er keine andere einigermaßen sinnvolle Arbeit, als die Stücke zu putzen, bis die er habenen Linien und Verzierungen glänzten. Das Geräusch, das an einen gewaltigen Wasserfall erinnerte, raubte ihm den letzten Rest der Beherrschung; nicht einmal dann, wenn er todmüde war, konnte er schlafen. Zweifellos war Pthor wieder zu einem neuen Ziel unterwegs. Soviel wußte er. Heimdall aber schien ihn vergessen zu ha ben. Wieder hob er die Bürste, tauchte sie ins Wasser und schüttete Reinigungsmittel über die kleinere Hälfte des Bruchstücks. Mit au tomatischen Bewegungen fing er an, zu scheuern und zu schrubben. Sicher hatten die Söhne des mächtigen Odin ihren Kampf gewonnen. Das Wasser war kalt geworden. Der skull manente Magier tauchte die Hand in den Ei mer und erhitzte das Wasser wieder auf die richtige Temperatur. »Aber was soll ich tun!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. Sein Geschrei hallte durch den großen Raum und bildete Echos. Aber niemand ant wortete. Die Einsamkeit und die Ungewiß heit, was nun mit Heimdall geschehen war, trieben ihn hin und her. Schon zwanzigmal hatte er daran gedacht, das Lettro zu verlas sen und direkt in der FESTUNG nachzuse hen, wie es mit Ragnaröks Erben aussah. Und dann hatte der Gedanke an die verbre cherischen Gordys ihn im letzten Augen blick abgeschreckt. Er war hier geblieben und hatte den unersetzlichen Schatz gehütet. Er kicherte in falscher Fröhlichkeit. »Aber angegriffen haben sie nicht mehr. Ich habe es ihnen gezeigt, wie, Kröbel?«
45 Er tauchte das Bruchstück in das heiße Wasser, wischte es sorgfältig mit einem Tuch ab und stand auf, um es wieder in das Gestell zu montieren. Es war eines der letz ten Teile – die anderen waren bereits gesäu bert und sahen funkelnd und ehrfurchtgebie tend aus. Kröbel befestigte die letzte Sicherung, ließ sein Putzzeug stehen und verließ die Kammer. Er holte sich aus der völlig ver wahrlosten Küche einen Becher Wein und kletterte dann auf das flache Dach des Haupttrakts hinauf. Schweigend stand er da und betrachtete den Himmel, der seit dem Start das matte, stumpfe Grau der Flugphase zeigte. »Trostlos«, murmelte er und nahm einen langen Schluck. Mäßig betrunken, sagte sich der Magier, ließ sich alles besser ertragen. »Ich glaube, ich schließe das Lettro wirk lich ab und marschiere zur FESTUNG. Die ser Heimdall!« Zufällig, als eines der wenigen Wesen in dieser »Nacht«, blickte er auf den wichtigen Punkt des Himmels. Gleichzeitig mit dem betäubenden Schlag, der den Weinbecher gegen die Zähne schlug, den Wein über seine Kleidung ver spritzte und Kröbel flach auf das Dach warf, spürte und sah er eine einmalige Erschei nung. Es war, als ob im letzten Sekundenbruch teil vor dem mächtigen Ruck ein riesen großer, wie ein glatter Mond geformter Ge genstand sich auf Atlantis senkte. Ein ande res Grau, gerundet und riesengroß, durch stieß das Grau der fremden Dimensionen. Dann verschwand die Erscheinung – einer seits deswegen, weil eine neue Schwankung den skullmanenten Magier auf den Bauch rollte, andererseits, weil eine unermeßliche Staubwolke die betreffende Stelle verhüllte. Oder war es etwas anderes, das von einigen spontanen Blitzentladungen kulissenhaft ausgeleuchtet wurde. Kröbel hatte keine Zeit mehr, Gedanken auf diese Erscheinung zu verschwenden, denn er bemühte sich instinktiv, am Leben
46
Hans Kneifel
zu bleiben. Die Mauern des Lettro wackel ten und barsten an einigen Stellen. Das Dach bewegte sich. Klirrend wurden in den Räu men irgendwelche Gegenstände zerstört. Auch aus dem Hof stieg eine Staubwolke hoch. Ein breiter Spalt riß auf und schloß sich sofort wieder. Die Bohlen des Tores hämmerten gegeneinander und erzeugten Laute, wie eine riesengroße Trommel. Krö bel rollte über das Dach, schlug gegen das splitternde Geländer der hölzernen Leiteran lage und klammerte sich an der schwanken den Konstruktion fest. Er wimmerte und verfiel gänzlich in Panik. Eine ferne Erinnerung sagte ihm, daß Be ben dieser Art niemals sehr lange dauern. Zehn, zwanzig Sekunden. Vielleicht etwas länger. Aber ihm kam die Dauer des aufund abschwellenden Schüttelns und Dröh nens unendlich lange vor. »Heimdall! Hilf mir!« schluchzte er und merkte, daß sein hilfloser Körper hin und hergeschleudert, gedreht und geprellt wurde. Die Wüste rund um das Lettro verwandelte sich in eine einzige riesige Staubwolke, die alles zudeckte und unsichtbar machte.
* Stormock handelte instinktiv. Der weiße Geier, der hungrig aufgestie gen war und noch immer hungrig flog, hörte und sah die Ereignisse fast gleichzeitig. Als er erkannte, daß sich sämtliche Bäume ent lang des Flußufers bewegten, sagte ihm sein Instinkt, daß es etwas anderes sein mußte als nur ein einziger wilder Sturmstoß. Noch während er die Schwingen bewegte, um höher zu steigen, hörte er das Dröhnen und Donnern. Hoch über ihm zuckten Bün del von vielfach verzweigten Blitzen auf und schlugen in den Boden und ins Wasser des Flusses. Mit kräftigen Schlägen der großen weißen Schwingen schraubte sich Stormock über die ersten Staubwolken und kletterte weiter. Nicht nur die Bäume bewegten sich, sondern auch das Wasser des Flusses. Es bildete an
völlig unerwarteten Stellen riesige Wellen und schoß an anderen Stellen so weit empor, daß der Vogel auf dem weißen Kies des Flußbettes die zuckenden Leiber großer Fi sche sah. Auch der Boden bewegte sich. Mehr Staub stieg auf. Das Dröhnen und Poltern wurde unerträglich laut. Dann fühlte Stormock eine Art Bewe gung. Als würde die Luft sich plötzlich abküh len. Ein Stoß traf ihn und schleuderte ihn vorwärts. Aus dem Nichts erschien eine graublaue Kugel, größer als alles, was er bisher gesehen hatte. Sie fiel aus dem Him mel hinter ihm, zugleich mit vielen anderen, kleineren und größeren Kugeln. Stormock beobachtete mit seinen scharfen Geieraugen nur die erste Kugel. Sie beschrieb, dem Erdboden entgegenfal lend, eine fast gerade Linie und verdeckte Teile des Gebiets unter ihm. Sie schlug in das leere Land ein und verlor ihre Form. Sie wurde flacher, zerriß in viele Arme, die nach vorn schossen und von der Masse der ande ren Materie überholt und verschlungen wur den. Wasser? Die Kugel löste sich auf und bildete eine kreisrunde Welle, die sich mit rasender Ge schwindigkeit in alle Richtungen ausbreite te. Dort, wo sie auftraf, gab es keinen Staub mehr. Noch immer flüchtete Stormock in die größere Sicherheit der Höhe, und er sah deutlich, was weiter geschah. Der Inhalt des riesigen Tropfens ergoß sich über Felsen, Wüstenstücke, durch aus getrocknete Bachbette und über den Sand, entwurzelte mächtige Bäume und schleppte sie mit sich, schleuderte Felsbrocken in die Höhe und bildete überall Wellen, Gischt streifen und Schaum. Wasser, wie im Fluß, wie im See. Der nächste Tropfen prallte in die Über schwemmung hinein, die sich nur langsam verlaufen hatte, und erzeugte eine neue Flut welle. Der trockene Boden saugte das Was ser nicht auf. Gewaltige Mengen Wasser
Chaos über Atlantis
47
breiteten sich unter Stormock aus. Er begriff nichts. Er sah nur, daß überall dort, wo eben noch Land gewesen war, Wassermassen die Szene beherrschten. Jede Senke wurde zu einem See, und der nächste Tropfen aus der grauen Halbdunkelheit ließ die Seen ineinanderfließen. Dort unten … Viele Tiere würden sterben. Wenn sie nicht ertranken, dann brach ihnen die Ge walt des Wassers das Genick. Wenn er lange genug wartete, dann verteilte sich zweifellos das Wasser, und er würde sich tagelang den Bauch vollschlagen können. Er und seine Artgenossen. Das Wasser begann das Land zu bedecken und unsichtbar zu machen. Eine solche Menge Wasser hatte er noch niemals erlebt. Der Fluß war nicht mehr zu sehen. Nur die Gipfel der Bäume sahen aus der strudelnden Flut hervor. Stormock dachte an die vielen Höhlen, an die tief gelegenen Teile des Kontinents und an die Täler der Berge. Dann ließ er sich fallen, schlug einen neuen Kreis ein und suchte nach der ersten, loh nenden Beute dieser Stunde. Er fand sie schnell.
* Sie flogen auf, als das Donnern lauter wurde. Der Turm, auf dem sie gewartet hatten, schwankte bedenklich unter dem Ansturm immer neuer Riesenwellen. Das Gebiet um die Straße hatte sich in ein Meer verwandelt. Auf ihre rätselhafte Mitteilungsart ver ständigten sie sich miteinander. Kein Regen, Hugin. Es ist ein Beben, und das Wasser steigt noch immer. Woher kam es? Der andere Rabe flatterte ebenso schnell in die Höhe und sah, wie der Turm aus höl zernen Stangen kippte, auseinanderbrach und in den treibenden Fluten versank. Ich weiß es nicht. Wir müssen zu Honir
und den anderen. Sie sind in der FESTUNG und werden unsere Hilfe brauchen. Was war lauter? Das Gurgeln des Wassers oder das Rumpeln und Krachen der schwan kenden Felsen und der wild bewegten Wü ste? Sie brauchen Odins Hilfe. Hugin und Munin kannten jede Einzelheit der Landschaft. Sie flogen in die Richtung der FESTUNG. Aber die Landschaft verän derte sich mehr und mehr, je höher das Was ser stieg. Atlantis bebt ununterbrochen. Was ist ge schehen? Weißt es du? Seite an Seite trugen ihre schwarzen Schwingen sie mit jedem Schlag etwas nä her an die FESTUNG heran. Vielleicht ist das hier das wirkliche Rag narök? Hugin und Munin ahnten, daß niemand wirklich wußte, welches Unheil sich hier ausbreitete und woher es kam. Sie wußten nur, daß Chaos und Tod über Atlantis ge kommen waren. Wenn es überall so bebte und überall aus dem Nichts jenes Meer von Wasser auftauchte, dann war Atlantis verlo ren. Aber die beiden Raben hatten schon entsetzlichere Katastrophen gesehen. Und immer hatte Pthor-Atlantis überlebt. Jede Katastrophe hatte neue Entwicklungen her vorgebracht, und diesmal waren die Söhne Odins, die Söhne und die Tochter, die Herr scher in der wichtigsten Zitadelle dieses überfluteten Weltenkörpers. Ich bin sicher. Du denkst an Odin? Ja. Odin läßt nicht zu, daß der Kampf ver geblich war. Odin selbst, ja. Aber seine Söhne …? Hugin krächzte und wurde schneller. Schweigend folgte ihm der andere Rabe.
E N D E
ENDE