H.C. Nagel
Canyon der Verratenen
… und Lester tappte in die Falle
Lester Sundance erkennt die Kavalleriepatrouille ...
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H.C. Nagel
Canyon der Verratenen
… und Lester tappte in die Falle
Lester Sundance erkennt die Kavalleriepatrouille erst, als sie dicht vor ihm aus einer Hügelfalte kommt. Er sieht die Schwenkung, die die Patrouille vollführt, und hält an. Achtzig Pferdehufe trommeln auf den Boden und wirbeln eine Staubwolke auf, die wie eine graue Fahne hinter der Kolonne hängt. Lester tätschelt seinem Grauschimmel den Hals, legt dann die Hände über das Sattelhorn und wartet ruhig ab. Wie ein Indianer sitzt er im Sattel, mit langherabhängenden Beinen und eingesunkener Brust. Aber diese lässige, vollkommen gelöste Haltung kann nicht über die Kraft seines hageren Körpers hinwegtäuschen. In seinem scharfgeschnittenen, lederhäutigen Gesicht blitzen Augen, die so grau sind wie der Bodennebel an einem Herbstmorgen und so hart wie Obsidian. Dreißig Meter von dem einsamen Reiter entfernt hebt der Offizier der Patrouille die Hand. Zwanzig Pferde kommen hinter ihm zum Stehen. Lester Sundance blickt auf den blau-weißen Wimpel. Mit einiger Mühe kann er die gelbe Zahl 4 und dahinter ein großes C entdecken. Der Offizier kommt herangetrabt. »Leutnant MacKinnan…« Der Offizier hebt grüßend die behandschuhte Rechte an die Hutkrempe und pariert dicht vor Lester sein Pferd. »Von der vierten Kavallerie, C-Kompanie«, ergänzt Lester. »Ich weiß schon, Leutnant. Ich bin Lester Sundance. Was kann ich für Sie tun?« »Was Sie für uns tun können ist gut«, sagt MacKinnan sarkastisch. »Seien Sie froh, wenn wir nichts für Sie zu tun brauchen. Wenn Sie es noch nicht wissen sollten, Sie befinden sich hier im Indianergebiet. Die Cheyennes gehen nicht gerade sehr
rücksichtsvoll mit Leuten um, die die Grenzen ihres Territoriums mißachten.« »Das habe ich mir fast gedacht, Leutnant MacKinnan«, entgegnete Lester ungerührt. »Leider muß ich aber eine Verabredung einhalten. Und außerdem werden Sie mir nicht erzählen wollen, daß ich der einzige Weiße bin, der im Indianerland herumreitet. Ich bin nicht ganz unerfahren im Umgang mit unseren roten Brüdern. Machen Sie sich also keine Sorgen um mich.« »Trotzdem muß ich darauf hinweisen, daß Sie auf eigene Gefahr weiterreiten, Mister«, beharrt der Offizier. »Leider habe ich keine Möglichkeit, Ihnen das Eindringen in dieses Gebiet zu verbieten, aber glauben Sie nicht, daß die Armee Ihretwegen eine Strafexpedition unternimmt, wenn die Cheyennes Ihnen mit dem Tomahawk den Scheitel ziehen.« »Vielen Dank für die freundliche Aufklärung, Leutnant.« Lester Sundance lächelt sanft. »Ich nehme an, daß ich Ihnen keine Mühe bereiten werde. Wenn Sie mir allerdings mit einer Auskunft behilflich sein könnten…« »Fragen Sie schon!« »Ich suche einen Canyon, dessen Eingang durch einen nadelspitzen hohen Felsen markiert ist. Er soll sich etwa dreißig Meilen östlich von Livingstone in den Fork Mountains befinden.« Das Gesicht des Offiziers legt sich in bittere Falten. Er schnauft durch die Nase und knurrt: »Auch das noch! Was wollen Sie im Needle-Canyon?« »Ich sage es schon – eine Verabredung.« Mißtrauisch mustert MacKinnan das Gesicht seines Gegenübers. »Das muß eine seltsame Verabredung sein.« Er schüttelt verwundert den Kopf. »Aber wenn Sie unbedingt Ihren Skalp los-
werden wollen, dann reiten Sie ruhig weiter nach Osten. Immerhin sollte es Ihnen eine Warnung sein, daß wir vor drei Wochen in diesem Canyon ein paar Männer begraben haben, die wohl ebenso große Narren waren wie Sie. Es waren Prospektoren, die nach Gold suchten. Aber die Cheyennes haben sie mit Blei bedient.« Lester Sundance horcht auf. Unruhe zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. »Es waren Digger, sagten Sie?« fragt er betroffen. »Ja«, sagt der Offizier. »Wir haben zwar im weiten Umkreis keine Schürfstelle gefunden, aber sie hatten Hacken und Schaufeln bei sich, Waschpfannen und auch Dynamitpatronen. Wahrscheinlich haben sie nur im Needle-Canyon campiert und sind von den Rothäuten überrascht worden. Wollen Sie es sich nicht doch anders überlegen, Mister?« Lester Sundance preßt die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. »Ich muß Sie enttäuschen, Leutnant. Jetzt erst recht nicht. Vielen Dank für Ihre Auskunft.« Damit zieht er seinen Grauschimmel herum, nickt dem Offizier noch einmal zu und reitet an. »Wieder einer von diesen unbelehrbaren Starrköpfen«, knurrt MacKinnan vor sich hin, während er langsam zu seinem Trupp zurückreitet. Von der Spitze der kleinen Kolonne her blickt ihm ein ergrauter Sergeant gespannt entgegen. »Ärger, Leutnant?« fragt der Sergeant. »Was sonst! Diese Narren werden alle verrückt bei der Aussicht, irgendwo hier im Westen von Montana auf eine ergiebige Goldader zu stoßen. Dafür nehmen sie jedes Risiko in Kauf. Zum Teufel, daß wir für solche Fälle keine größeren Vollmachten haben!« »Es wäre nutzlos, Leutnant«, sagt der Sergeant. »Oder wol-
len Sie mit einem einzigen Zug Kavallerie eine Grenze von mehr als hundert Meilen Länge abriegeln und überwachen? Ich glaube eher, daß die hohen Herren gar kein Interesse daran haben, das Indianergebiet zu schützen. Heute wird den Rothäuten ein Gebiet für alle Zeiten zugesichert, aber schon im nächsten Jahr entdecken ein paar Glücksritter irgendwelche Bodenschätze, und schon fühlt sich der große Vater in Washington berechtigt, seine roten Söhne wieder zu verpflanzen. Natürlich wehren sie sich dagegen, und das ist dann ein Grund zu einer großen ›Strafexpedition‹. Es kann einem speiübel werden, wenn man bedenkt, für welchen Dreck die Armee herhalten muß.« MacKinnan sieht die angewiderte Grimasse, die der Sergeant schneidet, und sagt: »Ich würde diese Ansicht nicht zu laut werden lassen, Gannaway. Höheren Ortes sieht man die Dinge anders.« »Ja, immer durch die Brille, die zu der jeweiligen Sitaution paßt! Was kann mir schon passieren, Leutnant? Ich bin der älteste Sergeant dieser Armee, aber weil ich nicht lesen und schreiben kann, werde ich es nicht weiterbringen. Da nützt es auch nichts, wenn man die Dienstvorschriften auswendig kennt und mit den Indsmen besser Bescheid weiß als jeder andere.« Sergeant Hiob Gannaway schweigt voller Erbitterung. Die Kolonne setzt sich wieder in Bewegung, und erst eine halbe Stunde später nimmt Gannaway den Faden wieder auf. »Ist Ihnen an dem Gaul des Fremden nichts aufgefallen, Leutnant? Er sah so aus, als ob er geradewegs aus Captain Bensons Greyhorse-Schwadron stammte.« »Ja, das fiel mir auch auf«, bestätigt MacKinnan. »Der Wallach war ziemlich vernarbt. Diesem Burschen glaube ich es sogar, daß er sich mit Rothäuten auskennt, denn bestimmt rüh-
ren einige der Narben von Indianerpfeilen her. Das linke Ohr des Pferde ist so gespalten, daß es praktisch nur noch aus ein paar Fransen besteht.« »Ich werde verrückt! Hat Ihnen der Mann seinen Namen genannt, Leutnant?« MacKinnan überlegt einen Augenblick. »Warten Sie mal, ich glaube, es war Lester – und dann kam ein Name mit S.« »Lester Sundance! Leutnant, es gibt keinen Zweifel. Das war Lester Sundance mit seinem ›Fransenohr‹. Der Gaul ist doch in der halben Armee bekannt. Haben Sie denn nie davon gehört?« »Ich weiß nicht recht«, sagt MacKinnan unsicher. »Daß ich diese Gelegenheit versäumen mußte, den Mann kennenzulernen, der noch vor ein paar Jahren der beste Scout der Armee war!« sagt Gannaway und fummelt dabei mit seiner Hand aufgeregt am stoppeligen Kinn herum. »Sie haben ja keine Ahnung, Leutnant, was ein solcher Mann für einen alten Nußknacker wie mich bedeutet. Er hatte den Mut, nach seiner Überzeugung zu handeln. Ich habe immer zu sehr an meine Pension gedacht.« »Los, erzählen Sie schon, Mann!« drängt MacKinnan. »Sie machen es verdammt spannend.« »Ich will Ihnen keine Legenden erzählen, obwohl es eine ganze Menge davon gibt«, beginnt Gannaway zu berichten. »Hören Sie nur die Tatsachen: Anno 1876, vor sechs Jahren also, war er bei Bensons Greyhorse-Schwadron. Er kann damals erst zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt gewesen sein. Die Erfolge der Schwadron in den Indianerkämpfen waren nicht zuletzt seiner Kundschafterarbeit zuzuschreiben. General Terry wurde auf ihn aufmerksam und machte ihn zum Chefscout. Sie kennen die Geschichte, wie Custer mit sei-
nem Regiment den vereinigten Teton-Stämmen am Little Big Horn in die Falle lief. Lester Sundance hatte gewarnt. Auf sein Drängen hin stieß auch Terry mit seiner Kolonne in Eilmärschen zum Little Big Horn vor. Aber außer Bensons GreyhorseSchwadron bestand seine Einheit nur aus Infanterie. Sie kam zu langsam vorwärts. Als sie auf dem Schlachtfeld eintraf, war es schon zu spät. Die Dakotas hatten zweihundertsiebenundsiebzig Mann abgeschlachtet. Lester Sundance fand das einzige Lebewesen, das dieses Massensterben überstanden hatte. Es war Comanche, das Pferd von Captain Keogh. Wenn man auf Sundances Warnung gehört hätte, wäre das alles vermieden worden. Nun, Sie wissen ja, welches Kesseltreiben dann gegen die Indsmen in Gang gebracht wurde. Sundance hatte seine eigene Meinung darüber. Er kämpfte gegen die Rothäute, wenn es nötig war, aber er sprach ihnen nicht die Existenzberechtigung ab. Eine glänzende Karriere in der Armee stand ihm offen. Er verzichtete darauf und nahm seinen Abschied, weil er mit den Methoden der hohen Herren nicht einverstanden war. Sehen Sie, Leutnant, das ist der Mut, der mir immer gefehlt hat. Er fragte nicht nach den Folgen, sondern er ging den Weg, den seine Überzeugung ihm eingab. Nach seinem Abschied von der Armee tauchte er in Kansas und Arizona auf. Er hat wilde Camps zur Ruhe gebracht und noch rauhere Städte gebändigt. Überall hat er seine Zeichen hinterlassen, und auf jedes davon kann er stolz sein. Was hinterlassen wir, Leutnant? Worauf können wir stolz sein? Wie mich dies alles ankotzt. Könnten Sie nicht einen Augenblick in eine andere Richtung sehen, damit ich diesen schalen Geschmack aus dem Mund spülen kann, Leutnant?« Und Leutnant Scott MacKinnan tut seinem alte Sergeant den Gefallen und wendet den Kopf so lange zur Seite, bis Hiob
Gannaway die flache Flasche mit dem im Dienst verbotenen Whisky wieder in seiner Satteltasche verstaut hat. * Gegen Nachmittag erreicht Lester Sundance die ersten Hänge der Fork Mountains. Unermüdlich trabt sein Wallach in einem raumgreifenden Trott dahin. Wie ein riesiger grauer Präriewolf wirkt der Grauschimmel. Er ist gewiß nicht schön und hat eckige Bewegungen. Dazu läßt er den Kopf zu tief hängen und hebt seine Hufe zu wenig vom Boden. Aber Lester kennt die Vorzüge dieses Trotts. Er weiß, daß der Wallach stundenlang dieses Tempo beibehalten kann, ohne zu ermüden. Er weiß auch um die anderen Vorzüge seines vierbeinigen Kameraden, und deshalb ist ›Fransenohr‹ für ihn das prächtigste Pferd der Welt. Die Instinkte des Pferdes sind so ausgeprägt, daß es weder bei Nacht noch im dicksten Schneesturm die Richtung verliert, in die es sein Reiter einmal gelenkt hat. Die Geschichte des Leutnants MacKinnan will ihm nicht aus dem Kopf. Kann es Zufall sein, daß ausgerechnet im NeedleCanyon, wie der Offizier ihn nannte, mehrere Digger den Rothäuten in die Hände gefallen sind? Schon jetzt ist Lester Sundance von dunklen Vorahnungen erfüllt. Aber seine Aufmerksamkeit ist deshalb nicht weniger als sonst auf seine Umgebung gerichtet. Er verläßt sich nicht allem auf die feine Witterung des Wallachs. Cheyennes, die sich auf dem Kriegspfad befinden, haben nämlich die Angewohnheit, sich meistens gegen den Wind zu nähern. Da würde selbst die Nase eines Spürhundes nichts nützen. Weit zu seiner Rechten sieht Lester schließlich eine spitze Felsnadel emporragen. Fast eine halbe Stunde muß er sich noch seinen Weg durch das zerklüftete Gelände suchen, bis
sich das dunkle Maul eines Canyons vor ihm auftut. Es gibt keinen Zweifel, das muß der Needle-Canyon sein. Die gespannte Wachsamkeit des Reiters überträgt sich auch auf das Pferd. Der Wallach setzt seine Hufe nun vorsichtiger. Es gibt nur einen Umstand, der diesen trostlosen Canyon für ein Camp geeignet erscheinen läßt: Er bietet ein ziemlich sicheres Versteck und gute Verteidigungsmöglichkeiten gegen einen Überraschungsangriff. Hohl werfen die Felswände das Klappern der Pferdehufe zurück. Endlich, schon über zwei Meilen ist Lester dem gewundenen Lauf des Canyons gefolgt, erblickt er vor sich eine kesselartige Erweiterung. Der Bodenbewuchs wird wieder dichter. Lester Sundance ist am Ziel seines langen Rittes. Vergebens hält er nach einem lebenden Wesen Ausschau. Er sieht nichts als bizarr geformte Steinbrocken, ragende Felswände und ein paar Büsche. Aber halt, was ist das dort drüben? Geschmeidig gleitet er aus dem Sattel und geht zu der Stelle hinüber, an der er den hellen Fleck entdeckt hat. Er ist ein hochgewachsener und breitschultriger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und den schmalen Hüften des Reiters. Hochbeinig gleitet er mit zähen, weichen Schritten vorwärts. Noch bevor er die Inschrift auf dem hellen Brett entziffert hat, das in dem steinigen Erdaufwurf steckt, entdeckt er weiter hinten noch zwei andere Grabhügel. Sie alle sind mit rohen, hellen Kistenbrettern gekennzeichnet, auf die eine ungelenke Hand einige Buchstaben und Ziffern gemalt hat. Lester hockt sich nieder und entziffert die Inschrift des ersten Brettes. Der Name sagt ihm nichts. Das Todesdatum liegt drei Wochen zurück. Voller Unruhe geht er hastig zu den beiden anderen Hügeln. Und da springt ihm der Name förmlich in die Augen: Don Avery, gest. 18. Juni 1882.
Lesters Schultern sinken für einen Augenblick herab. Seine Lippen werden zu einer bitteren Kerbe. Er hockt sich auf einen großen Steinbrocken und starrt düster auf den schmucklosen Grabhügel. Und aus dem steinigen Boden scheint vor ihm eine Gestalt emporzuwachsen: Ein dunkelhaariger Mann, groß und breitschultrig. Sein kantiges Gesicht mit den weit herabgezogenen Bartkoteletten ist in einem leichtsinnigen Grinsen erstarrt. Es ist eine Art stumme Zwiesprache, die Lester Sundance mit diesem Mann hält. Und dabei wird er sich darüber klar, daß Don Avery niemals im eigentlichen Sinne sein Freund war. Dazu waren ihre Charaktere zu verschieden. Und dennoch hatte er den dunkelhäutigen, hübschen Don irgendwie gerngehabt. Immer war er von dem undeutlichen Gefühl erfüllt gewesen, den Leichtsinn dieses Burschen im Zaum halten zu müssen. Und dann ging es doch eines Tages schief, weil Don Avery zu rasch mit seinem Revolver bei der Hand war. Es war dank Lesters Bemühungen keine Staatsaktion daraus geworden. Er hatte dem Gemeinderat und dem Richter der Stadt, deren Marshalstern er trug, klargemacht, daß es Übermenschliches zu fordern hieße, wenn man von einem Gesetzesbeamten erwartete, daß er auch in Augenblicken höchster Gefahr alle Folgen seiner Handlungsweise vorausberechnen sollte. Ja, Don Avery hatte im Dienst einen Mann erschossen – unnötig, wie sich später herausstellte. Und obwohl Lester von seiner eigenen Argumentation nicht ganz überzeugt war, hatte er schlimmere Folgen von seinem Deputy-Marshal Don Avery abwenden können. Aber er konnte nicht verhindern, daß Don den Stern des Hilfsmarshals ablegen mußte. Als geborener Glücksritter ging Don mit seinem ewigen leichtsinnigen Grinsen darüber hinweg. Auch Lester hatte einige Zeit später den Stern abgelegt, weil seine Handlungsfreiheit
als Marshal zu sehr eingeschränkt wurde. Aber ihm war es wirklich nicht leichtgefallen. Er hatte Don aus den Augen verloren. Aber dann war ihm eines Tages ein Brief nachgeschickt worden, der jetzt noch in seiner Brusttasche knistert. In seiner eleganten, steilen und selbstbewußten Handschrift schrieb ihm Don, daß er endlich die große Chance gefunden habe. Er besitze zwar nur ein Viertel Anteil, aber auch dieser Bruchteil werde ihm zum reichen Mann machen. Nur wenige Schwierigkeiten gelte es noch zu überwinden, aber dazu sei ein Mann erforderlich, der in Indianerfragen bewandert sei. Deshalb werde er, Lester Sundance, in einem Canyon dreißig Meilen östlich von Livingstone erwartet. Er könne den Ort nicht verfehlen, weil der Eingang des Canyons durch einen spitzen Nadelfelsen gekennzeichnet sei. Vier Wochen bleibe dieses Angebot offen, und wenn er, Lester Sundance, es annehmen sollte, sei er aller Sorgen auf Lebenszeit enthoben. Dies alles ergibt für Lester ein glattes Bild. Natürlich handelte es sich bei der großen Chance um eine Goldader oder etwas Ähnliches. Um sie auszubeuten, waren Sprengungen erforderlich, die den Diggern sämtliche Cheyennes in zwanzig Meilen Umkreis auf den Hals geholt hätte. Es galt also mit den Indsmen ein Abkommen zu treffen. Gewöhnlich gab es eine ganze bestimmte Basis für dieses Geschäft: Die Rothäute gestatteten ihnen Arbeit auf ihrem Gebiet und erhielten dafür Whisky oder auch Waffen und Munition. In allen Fällen war es ein schmutziges Geschäft. Es ist ganz klar, daß die Digger einen Mann brauchten, um diese Partnerschaft mit den Cheyennes anzubahnen. Schließlich konnte man nicht einfach in das Tipi eines Häuptlings treten, um zu sagen: Hallo, wir haben einen Claim auf deinem Gebiet und wollen ihn ausbeuten.
Je mehr Lester darüber nachgrübelt, um so sicherer ist er, daß es so gewesen sein muß. Aber irgendwie wird er einen Rest von Unbehagen nicht los. Er hat das Gefühl, einen Denkfehler gemacht zu haben. Er wirft einen sichernden Blick in die Runde, bevor er sich erhebt und suchend umherzuschlendern beginnt. Es ist eine routinemäßige Suche, ohne daß er sich dabei eine wirkliche Erfolgschance ausrechnet. Seine Ausbeute ist dementsprechend mager. Er findet ein deformiertes Stückchen Blei, ein Geschoß, das sich an den Felsen abgeplattet hat. Bei einem zufälligen Blick auf einen Busch entdeckt er unter den Ästen am Boden einen alten, verbeulten Steton. Was kann ihm ein alter Hut schon helfen, den nicht einmal die Rothäute des Mitnehmens für wert befanden? Gedankenlos schlenkert er ihn in der Hand und kehrt zu seinem alten Platz zurück. Wo steckt der Fehler, den er gemacht hat? Seine instinktive Wachsamkeit bringt ihn auf den richtigen Gedanken. Er mustert die umliegenden Felswände. Ein Mann, der daran hinauf- oder herunterklettern wollte, müßte sich vorkommen wie eine Fliege im Milchtopf. Und der Canyon bietet einem Feind ebenfalls keine Gelegenheit, sich ungesehen zu nähern. Lester trifft diese Feststellungen zu seiner eigenen Sicherheit. Plötzlich ist dann die Gedankenverbindung da. Wenn es für die Cheyenne keine Möglicheit unbemerkter Annäherung gab, wie ist dann ihr überraschender Überfall zu erklären? Die Lösung ist einfach: Sie mußten bereits einen Hinterhalt vorbereitet haben, als die Digger hier anlangten. Das wiederum setzte voraus, daß sie über den Weg unterrichtet waren, den die Männer einschlagen würden. Lester sträubt sich vor der letzten Konsequenz, sucht nach anderen Lösungen und kommt doch immer wieder zum glei-
chen Schluß: Hier muß Verrat im Spiel gewesen sein. Und da bricht sofort eine neue Erkenntnis über ihn herein. Don Avery hatte von einem Viertel Anteil geschrieben. Das bedeutet, daß vier Männer an dem Geschäft beteiligt waren. Aber es gibt nur drei Gräber in diesem Canyon, den Lester Sundance bereits den ›Canyon der Verratenen‹ nennt. Drei Männer mußten ihr Leben lassen, weil ein vierter die große Chance allein ausnutzen wollte. Er wird diesen Verräter finden und zur Rechenschaft ziehen. Nicht nur deshalb, weil Don Avery unter den Verratenen war. Nein, es läuft seiner ganzen Wesensart zuwider, einem Unrecht tatenlos zuzusehen, oder ein Verbrechen ungesühnt zu lassen. Unbewußt knetet er den alten Hut zwischen den Händen, zerrt daran herum und hält schließlich ein Stück des Schweißleders in der Hand. Seine Finger berühren etwas Hartes. Es ist ein dünner Knopf mit den Initialen des Besitzers. EL steht auf dem dünnen Metallplättchen, zweifellos die Anfangsbuchstaben des Namens einer dieser armen Kerle, die hier unter den Kugeln der Cheyennes ihr Leben lassen mußten. Schon wenden sich Lesters Gedanken anderen Dingen zu, als er plötzlich zusammenzuckt. Er ist mit einem Schlag von einer unheimlichen Spannung erfüllt. Don Avery – das wäre DA, der andere hieß Mike O'Flannagan, stimmt also auch nicht. Mit wenigen Sätzen ist Lester bei dem dritten Grab. Auch hier sind die Anfangsbuchstaben ganz andere. Gibt es tatsächlich so viel Glück auf der Welt? Spielt ihm der Zufall hier den Anfang des Fadens in die Hand, der ihn zu dem Verräter führen soll, der aus Habgier und Gewinnsucht zum Mörder seiner Partner wurde? Denn wenn es auch die Indianer waren, die die tödlichen Schüsse abfeuerten, schuldig ist dieser EL, der seine Kameraden ans Messer lieferte. Lester zieht ein abgegriffenes Notizbuch aus der Tasche und
legt sein Beweisstück sorgfältig zwischen zwei Seiten. Noch einmal geht er die Gräber entlang. Vor dem Grabhügel Don Averys verharrt er einen Augenblick und nickt der primitiven Holztafel zu. Es liegt ein Versprechen in dieser stummen Geste, das nicht nur Don Avery allem, sondern auch seinen toten Partnern gilt. Mit ruhigen und sicheren Schritten geht er zu dem Wallach, der mit seiner viel zu lang geratenen Oberlippe an den Gräsern herumzupft. »Auf, mein Alter!« Er knufft dem Grauschimmel in die Rippen. »Laß uns zusehen, daß wir diese Mausefalle rasch hinter uns bringen.« Noch einmal wendet Lester den Kopf zurück. Eine Kerbe zwischen zwei Felswänden gibt den Blick auf die darunterliegenden Berge frei. Und da entdeckt er das weiche weiße Wollknäuel, das sich dort oben federleicht vom Boden löst und emporschwebt. Andere folgen, bis sich eine ganze Kette von Wattebäuschen gebildet hat, die in der klaren Luft weithin sichtbar ist. Es wäre ein hübsches Bild, wenn nicht dahinter die Gefahr lauerte. Lester Sundance ist die Bedeutung indianischer Rauchsignale vertraut. Er weiß, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis sich ein Rudel rothäutiger Teufel einfinden wird, um den Eindringling in eine höllische Zange zu nehmen. Mit einem Satz ist er im Sattel, ohne die Steigbügel zu berühren. »Lauf, Junge, es wird Zeit!« ruft er und legt dem Wallach die Schenkel an. Und obwohl das steinige Gelände eine rasche Gangart geradezu halsbrecherisch erscheinen läßt, rast der Grauschimmel im Galopp davon. Geschickt wie eine Bergziege setzt er die Hufe, vermindert das Tempo nur für wenige Augenblicke, wenn er keinen rech-
ten Halt findet, und stürmt im nächsten Moment schon wieder in gestrecktem Galopp dahin. Bald taucht der Canyoneingang wieder vor ihnen auf. An der linken Seite ragt die Felsnadel empor wie ein zum Himmel weisender Zeigefinger. Eine Meile noch durch zerklüftetes Gelände, dann haben sie das freie, grasige Hügelland erreicht und sind vor jeder Überraschung sicher. Es ist nicht gut, die Gedanken so weit vorauseilen zu lassen. Lester Sundance bemerkt das in dem Augenblick, als er gleichzeitig mit dem peitschenden Mündungsknall eines Gewehrschusses inmitten eines Gewirrs gigantischer Felsbrocken ein weißes Rauchwölkchen aufsteigen sieht. Zwischen dem Hals des Wallachs und seinem eigenen Oberkörper pfeift das Geschoß hindurch. Und wieder bellt ein Schuß. Da wirft sich Lester in vollem Galopp aus dem Sattel, federt auf den Boden und wird vom eigenen Schwung vorwärts getragen, bis er hinter einem Steinbrocken hart in Deckung kracht. * Nach wenigen Sprüngen bleibt der Grauschimmel stehen und wendet den Kopf. Lester hat seinen Colt mit dem narbigen Teakholz-Kolben herausgewirbelt und späht über eine Kante seiner Brustwehr hinweg. Aber die Entfernung ist für einen Coltschuß viel zu weit. Sein 73er Winchestergewehr aber steckt im Scabbard am Sattel des Pferdes. Lester hebt die Hand zum Mund. Sein schriller Pfiff findet ein Echo in einem erneuten Schuß. In einem Blitzstart fegt der Wallach heran. Lester aber hat noch im letzten Augenblick den Kugeleinschlag dicht hinter dem Pferd erkannt. Dieser heimtückische Bursche hatte es also nicht nur auf den Reiter, son-
dern auch auf den Grauschimmel abgesehen. Nur ›Fransenohrs‹ rasche Bewegung hatte das Pferd davor bewahrt, von dem Heckenschützen abgeknallt zu werden. Im Galopp fegt der Wallach heran. Er weiß, daß dieser Pfiff ein Signal ist, das sein Herr nur in äußerster Gefahr anwendet. Sein Verstand reicht nicht aus, um zu begreifen, daß diese Gefahr ihm selbst droht, aber er gehorcht. Lester reißt das Gewehr aus dem Sattelschuh und klatscht dem Grauschimmel mit aller Kraft die Hand auf den Hals. »Lauf!« keucht er. »Vorwärts, weg hier!« Und der Wallach wirbelt herum, als ob er jedes Wort verstanden hätte. Die Hufe trommeln in einem rasenden Stakkato über das Gestein. Langgestreckt und geduckt fegt er dahin, von weiteren Schüssen verfolgt. Schließlich verschwindet er hinter einer Felswand. Der prasselnde Hufschlag verklingt. Lester weiß, daß der Grauschimmel jetzt mit seinem geschulten Instinkt eine Mulde oder irgendeine gedeckte Stelle suchen wird, um dort auf einen neuen Pfiff zu warten. Es ist nicht das erste Mal, daß sich ›Fransenohr‹ in einer solchen Situation bewährt. Lester ist überzeugt, es mit einem indianischen Späher zu tun zu haben, der ihn hier bis zum Eintreffen seiner roten Brüder festnageln will. Das ist auch die einzige Erklärung dafür, daß dieser Bursche es auch auf den Wallach abgesehen hatte. Er hatte Angst, daß ihm sein Wild noch mit Hilfe des Pferdes entkommen könnte. Nun, diese Chance war für Lester zu winzig, als daß er sie ergriffen hätte. Kaum fünfzig Yards weiter wäre er auf eine freie und ungedeckte Fläche geraten. So schlecht kann überhaupt kein Schütze sein, daß er ihn dort nicht erwischt hätte. Es gibt also nur die einzige Möglichkeit, mit dieser Rothaut fertigzuwerden, bevor die Verstärkung eintrifft.
Lester schmiegt sich eng an den Boden und schiebt sich dicht an den linken Fußpunkt seiner Deckung heran. Sicherheitshalber lädt er das Gewehr einmal durch. Dann nimmt er seinen Hut und schleudert ihn zur anderen Seite. Sofort kracht ein Schuß. Und schon – bevor sein Gegner durchladen kann – schnellt sich Lester hervor und reißt das Gewehr in Anschlag. Das weiße Rauchwölkchen zeigt ihm sein Ziel. Er feuert, lädt durch und schießt wieder. Peitschend fetzen die Schüsse aus dem Lauf. Die Geschosse klatschen oben gegen die Felsen, lassen Steinsplitter aufspritzen und jaulen als Querschläger davon. Sieben-, achtmal schießt Lester rasch hintereinander. Er hat keine Hoffnung, den Gegner mit einem dieser hastig hinausgejagten Schüsse zu treffen, aber er weiß, daß dieser Bursche dort oben Nerven aus Stahl besitzen müßte, wenn er bei diesem Geschoßhagel nicht den Kopf einzöge. Lester zwingt seinen Gegner in Deckung. Das hat er erreichen wollen. Noch rollt das Echo des letzten Schusses, als er hinter dem Steinbrocken aufschnellt und vorwärts hetzt. Eine freie Fläche von dreißig Yards gilt es zu überwinden, bis er sich am Fuß der Felsen im toten Winkel befindet. Es ist eine einfache Rechnung, in der es nur einen einzigen, dafür aber vielleicht tödlichen Unsicherheitsfaktor gibt: Die Reaktionsgeschwindigkeit des Gegners. Etwa acht Sekunden braucht Lester, um die Geröllstrecke hinter sich zu bringen. Dagegen benötigt der andere schätzungsweise zwei Sekunden, bis er erkennt, daß das Feuer aufgehört hat, eine weitere, um den vorwärtsjagenden Gegner zu sehen und noch drei Sekunden, um das Gewehr in Anschlag zu bringen und zu visieren. Es bleibt eine Differenz von zwei Sekunden – ein winziger Zeitraum, der über Leben und Tod entscheiden kann. Lester stolpert über Geröll, fängt sich und hetzt weiter. Zehn Schritte noch, da peitscht ein Schuß. Aber die Kugel wirbelt
nur dicht vor seinen Füßen eine Fontäne von Staub und Steinsplittern hoch. Und dann hat Lester Sundance die leicht überhängende Felswand erreicht, fängt den Anprall auf und preßt sich keuchend an den kühlen Fels. Nur wenige Augenblicke verschnauft er so, bevor er weiterhastet. In diesem Kampf werden auch weiterhin Sekunden entscheiden. Schon poltern von oben Steine herab und zeigen ihm, daß sein Gegner die Stellung wechselt und sich zu einem heißen Empfang bereitmacht. Nur vereinzelt kollern noch Brocken herab. Der Mann dort oben scheint vorsichtiger zu werden. Aber trotz der Achtsamkeit kann er nicht verhindern, daß sich auch weiterhin winzige Steinchen unter seinen Füßen lösen. Diese winzigen Anzeichen aber zeigen Lester, daß der Bursche sich weiter nach links bewegt. Natürlich hat sich Lester zuvor die Felsen angesehen. Er weiß, daß sich dort eine Kerbe in der Felswand befindet, ein sich nach oben hin immer mehr verengender Einschnitt, ausgefüllt mit Geröll und Steinbrocken. Dort wäre ein Aufstieg leicht – zu leicht. Denn natürlich kennt der Gegner das Gelände. Dort rechnet er mit einem Angriff. Lester zögert keine Sekunde mehr. Er streift sich die Stiefel von den Füßen und wendet sich nach rechts. Wie ein Puma bewegt er sich vorwärts, geduckt, angespannt und geschmeidig. Und was dem Cheyenne dort oben nicht gelang, gelingt ihm: Er verursacht keinen Laut. Er weiß, dort an der rechten Seite befindet sich ein Felsspalt, den ein Bergsteiger vielleicht als Kamin bezeichnen würde. Es muß einfach eine Möglichkeit des Aufstiegs geben. Nur etwa fünf Yards ist die Passage hoch, aber schon beim ersten Hinsehen stellt Lester bitter fest, daß sie ohne Hilfsmittel nicht zu überwinden ist. Wenn er jetzt ein Lasso hätte. Der Fels ist so glattgewachsen wie eine Tischplatte. Kein Riß,
kein Vorsprung, nichts, woran seine bestrumpften Füße Halt finden könnten. Lester schiebt sich in den Spalt hinein und sucht weiter hinten eine Aufstiegsmöglichkeit. Immer höher werden die Wände hier. Aber dafür erlebt er eine andere Überraschung. Zunächst glaubt er, daß sich hinter dem kümmerlichen Strauch das Ende der Spalte befände. Es erweist sich jedoch nur als ein Knick, hinter dem ein Sturzbach eine weite Höhlung ausgewaschen hat. Und in dieser Höhlung entdeckt Lester ein angepflocktes Pferd, einen Sattel, eine Decke und ähnliche Utensilien. Die Asche eines Feuers zeigt deutlich, daß hier ein Mann sein Camp aufgeschlagen hat, und das zweifellos schon seit einigen Tagen. Lester hält sich nicht lange mit dieser Feststellung auf. Es gibt nur eines, was für ihn wichtig gewesen wäre: Ein Lasso. Gerade das aber ist nicht da. Vermutlich hat der Bursche es selbst zum Aufstieg durch den Spalt benutzt und es zu sich emporgezogen. Jetzt ist natürlich klar, daß es keine Rothaut ist, die im Canyon ihre Schießübungen veranstaltet. Das hier ist zweifellos das Camp eines weißen Mannes. Ziemlich ratlos kehrt Lester zum Eingang der Spalte zurück. Und hier kommt ihm der rettende Einfall. Fünf Yards entsprechen ungefähr seiner doppelten Körperlänge, zumindest dann, wenn er die Arme ausstreckt. Und die Entfernung der Felswände voneinander ist nicht größer als die Länge seines Gewehres. Schon reckt er sich hoch empor, reckt sogar noch die Fingerspitzen, um die größtmögliche Höhe zu erreichen. Und dann klemmt er sein Gewehr zwischen die Felswände. Die Winchester ist nur ein winziges Stückchen zu lang, gerade richtig, damit sie sich fest verkeilen kann. Er spring hoch und packt dieses improvisierte Reck.
Nur eine Kleinigkeit gibt es nach, bis sich der Lauf fest verklemmt hat. Lester wagt den Aufschwung, muß rasch nachgreifen, damit ihm sein Colt nicht aus dem Halfter rutscht. Vorsichtig hebt er ein Knie, setzt es auf den Schaft des Karabiners und spürt, wie dieser sich unter seinem Körpergewicht bedenklich biegt. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Seine tastenden Hände finden Halt an der linken Felswand. Immer höher schiebt er sich empor, bis er schließlich auf dem vom Gewehr gebildeten Querbalken steht. Wieder reckt er sich empor, nun gewissermaßen eine Etage höher. Aber sosehr er seinen Körper auch dehnt, die obere Felskante ist immer noch zehn Zoll von seinen Fingerspitzen entfernt. Trotz seiner bedenklich wackelnden Lage entschließt sich Lester, den Sprung zu riskieren. Wenn er fehlgreift, kracht er die fünf Yards hinab. Das ist kein tiefer Sturz, dennoch wird er nicht ohne Lärm vor sich gehen. Und gerade das ist es, was er vermeiden muß. Es bleibt ihm jedoch keine andere Wahl. Er streckt die Arme hoch und springt. Nur mit einer Hand erreicht er die Leiste und krallt die Finger fest in das Gestein. Wie ein Pendel schwingt er hin und her, bis er auch mit der Linken nachfassen kann. Aber das schwerste Stück Arbeit steht ihm noch bevor. Mit zäher Verbissenheit kämpft Lester Sundance um jeden Zoll. Die ganze Kraft seines geschmeidigen, stählernen Körpers muß er aufbieten, bis er endlich einen Fuß über die Kante schieben und sich hinaufziehen kann. So bleibt er zunächst liegen. Sein Atem geht rasch, und seine Arme scheinen lahm zu sein. Die zerschundenen Fingerspitzen brennen wie Feuer. Doch trotz aller Ermattung benutzt er die Zwangspause, um sich zu orientieren. Es ist ein geneigtes Felsplateau, das über und über mit Steinbrocken bedeckt ist. Und drüben, noch etwas höher als sein eigener Standpunkt,
befindet sich die Stelle, von der aus geschossen wurde. Leider ist es ziemlich sicher, daß der Schütze sich nicht mehr dort befindet. Ist er noch an dem Einschnitt an der anderen Seite? Oder ist ihm die Zeit zu lang geworden? Wieviel Zeit ist überhaupt vergangen? Fünf Minuten mögen vergangen sein, schätzt Lester. Er zieht den Colt und kriecht weiter. Die Steifheit weicht schon mit den ersten Bewegungen aus seinen Gliedern. Wie ein Indianer tastet er den Boden mit den Blicken ab, um die richtigen Stellen zu erspähen, auf die er Hände und Knie aufsetzen kann, ohne sich durch ein Geräusch zu verraten. Trotz aller Vorsicht kommt er überraschend schnell vorwärts. Bald ist er im Gewirr der Felsblöcke verschwunden. Wenig später erreicht er die Stelle, von der die Schüsse abgefeuert wurden. Einige Patronenhülsen liegen herum. Seine vorherige Vermutung bestätigt sich, als er auch ein zusammengerolltes Lasso sieht. Von dem Schützen selbst jedoch keine Spur. Oder doch? Dort drüben sehen einige Steinbrocken etwas dunkler aus. Ihre der Sonne zugewandte Oberseite ist normalerweise trocken und hell. Die etwas feuchtere Unterseite hingegen ist von einem dunkleren Grau. Diese Brocken müssen erst vor wenigen Minuten aus ihrer ursprünglichen Lage gebracht worden sein. Zu allem Überfluß hört er auch noch von dort, wo er den Burschen vermutet, einen Stein in die Tiefe kollern. Lesters Mund verzieht sich zu einem harten Grinsen. Wie hatte er auch nur eine Sekunde an einen Indianer glauben können. Einem Cheyenne wären solche Fehler nicht unterlaufen. Schon macht Lester sich auf ein langwieriges und mühseliges Anschleichen gefaßt, um den Burschen vor den Lauf zu bekommen, als er plötzlich eine Bewegung zwischen den Felsen
bemerkt. Gleich darauf sieht er für einen kurzen Augenblick einen untersetzten, stoppelbärtigen Mann in abgenutzter, verstaubter Kleidung auftauchen. Offenbar ist er unsicher geworden, weil sich so lange Zeit unter ihm nichts mehr rührte. Er schleicht sich dicht an der Kante des Plateaus entlang und versucht immer wieder über den Rand hinabzublicken. Er kommt nicht auf den Gedanken, daß sein Gegner an einer anderen Stelle den Aufstieg geschafft haben könnte. Das Gewehr schußbereit in der Hand, kommt er geduckt immer näher, nicht ahnend, daß die Gefahr in seinem Rücken lauert. Lester wartet ruhig ab. Er kauert im Schlagschatten eines großen Steinbrockens und hält den Colt in der Hand. Noch zwanzig Yards schleicht der Mann an der Felskante entlang, und immer wieder poltern kleine Steinlawinen in die Tiefe. Wahrscheinlich hält er diesen Lärm für unvermeidlich und ist deshalb so sicher, den Gegner noch vor sich zu haben. »Jetzt ist es weit genug! Laß fallen!« Die klirrende Summe läßt den Mann herumwirbeln. Noch in der Bewegung und ohne den Feind erkannt zu haben, reißt er den Abzug durch. Lesters Schuß prellt ihm das Gewehr aus der Hand, aber er gibt dennoch nicht auf. Seine Hand zuckt zum Colt. Er wirft sich zur Seite, um irgendwo Deckung zu finden. In der Hast übersieht er den Steinbrocken, der ihm im Wege liegt. Er stolpert, taumelt und stößt einen gellenden Schrei aus. Und plötzlich ist er hinter der Kante des Plateaus verschwunden. Nun läuft Lester Sundance vorwärts. Bei der geringen Tiefe könnte der Bursche durchaus heil unten angekommen sein. Dieser Heckenschütze soll ihm nicht entkommen. An der Kante des steilen Abfalls bremst er jäh seinen Lauf und starrt mit schußbereitem Revolver hinab. Ein einziger Blick genügt ihm, um die Waffe wieder in das Halfter zu schie-
ben. Dort unten, zum Greifen nahe, liegt der Mann mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken. Genau unter seinem Kreuz befindet sich ein kantiger Felsblock. Lester weiß, daß es da keine Hilfe mehr gibt. Er geht an der Kante entlang bis zu dem geröllausgefüllten Einschnitt. Inmitten einer kleinen Lawine aus Steinen und Staub langt er unten an. Sein erster Weg führt ihn zu der Stelle, an der er seine Stiefel gelassen hat. Mit raschen Bewegungen zerrt er sie an die Füße und läßt sich kaum die Zeit, sich den Toten aus nächster Nähe anzusehen. Der Mann ist zweifellos tot. Lester Sundance aber lebt, und wenn er diesen Zustand noch eine Weile erhalten will, wird er sich etwas beeilen müssen. Dieses ganze Intermezzo hat zwar nur eine Viertelstunde oder noch weniger in Anspruch genommen, aber dieser Zeitraum ist für einen Reiter ausreichend, um eine Strecke von drei Meilen zurückzulegen. Und die Cheyennes sind gute Reiter. Lesters Pfiff ruft ›Fransenohr‹ herbei. Schon will Lester in den Sattel steigen, als er es sich noch einmal überlegt. Dort hinten steht ein angepflocktes Pferd im Felsspalt. Es dort zu lassen, würde bedeuten, es dem Tode des Verdurstens preiszugeben. Und hier liegt ein Toter. Es widerstrebt Lester Sundance, ihn den Skalpiermessern der Cheyennes zu überlassen. Kaum drei Minuten braucht er, um das Pferd zu satteln und herauszuführen. Sein Gewehr packt er nach einer kurzen Musterung am Lauf und zerschmettert den Kolben an der Felswand. Zu einem genauen Schuß hätte es ohnehin nicht mehr getaugt. Noch einmal muß er alle Kraft zusammennehmen, um den schwergewichtigen Toten über den Sattel seines Pferdes zu legen. Mit seinem eigenen Lasso bindet er ihn fest und verlän-
gert die Zügel des Pferdes zu einem langen Leitseil. Aber dann verliert er keine Sekunde mehr, sitzt auf und taucht in dem Gewirr von Klüften und Schrunden, Bodenspalten und kleinen Canyons unter. Eine halbe Stunde später erreicht er das freie Hügelland, ohne auch nur einen einzigen Cheyenne zu Gesicht bekommen zu haben. Es ist ein seltsamer Einzug, den Lester Sundance viele Stunden später in Livingstone hält. Er sitzt wie schlafend im Sattel. ›Fransenohr‹ trottet daher, als ob er jeden Augenblick über seine eigenen Beine stolpern und zusammenbrechen wollte. Kein Mensch würde in diesem Zustand auch nur einen einigen Dollar für den Wallach bieten, weil niemand ahnt, welche Kraftund Schnelligkeitsreserven noch immer in dem zähen und ausdauernden Körper stecken. Der Braune stolpert am Leitseil hinterdrein. Er ist restlos fertig und ausgepumpt. Die traurige Last auf seinem Rücken weckt die Aufmerksamkeit der herumflanierenden Männer. Fragende Zurufe werden laut, auf die Lester nicht antwortet. Er reitet unbeirrt im Schritt weiter. Er hält Ausschau nach dem Stadthaus und entdeckt schließlich auch ein Schild, aus dessen Inschrift hervorgeht, daß dieser niedrige Backsteinbau das Marshaloffice und das Gefängnis beherbergt. Er lenkt den Wallach an die Haltestange, wickelt das Leitseil des Braunen um das Sattelhorn und steigt steifbeinig ab. Die Blicke aus wohl zwei Dutzend Augenpaaren folgen ihm, als er in das Office tritt. Kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen, als sich auch schon einige Männer an den Toten herandrängen, um sein Gesicht zu erkennen. Zwei Männer wechseln daraufhin einen vielsagenden Blick und haben es plötzlich sehr eilig, sich aus der Menge zu lösen und davonzuhasten. Lester Sundance steht derweilen im großen Raum des Office,
der an der Rückseite von den Stäben eines Eisengitters abgeschlossen wird, hinter dem sich eine ganze Reihe von Zellen befindet. Die meisten davon sind leer, nur im hintersten Winkel hocken zwei finster aussehende Burschen vor dem trennenden Gitter, mit dem ihre Zellen abgeteilt sind, und spielen Karten. Der Raum ist von sägenden Geräuschen erfüllt, die durch Mark und Bein dringen. Sie rühren von einem wahren Fleischberg her, der auf der Pritsche der vordersten Zelle liegt und schnarcht. »He, Wirtschaft! Keiner zu Hause?« fragt Lester. »Wecken Sie das Walroß da vorn auf, Mister«, sagt einer der Kartenspieler. »Der Kerl macht mich sowieso mit seinem Schnarchen wahnsinnig.« Der Sinn dieses Ratschlages bleibt Lester so lange verborgen, bis er bemerkt, daß die Zelle, in der der Fleischkoloß in seligen Träumen liegt, unverschlossen ist. Daraufhin öffnet er die Gittertür und rüttelt ihn am Bein. Mit einem grotesken Ton bricht das Schnarchkonzert ab. »Was soll das?« fragt eine wütende Stimme. »Ist man denn nicht einmal im Dienst ungestört?« »Sind Sie der Marshal, Mister?« fragt Lester unbeeindruckt. »Nein, ich bin nicht der Marshal«, sagt er. »Ich bin nur Fatty Kingsley, Gefängniswärter, Putzfrau, Schreiber eben alles, was gerade gebraucht wird. Wenn Sie Tom Warden suchen, werden Sie sich einen Augenblick gedulden müssen, Fremder.« »Zum Teufel, holen Sie den Marshal, Freund! Meine Sache verträgt keinen Aufschub.« »Nicht so hastig, Fremder. Nur Geduld. Wo soll ich Tom Warden denn aufgabeln? Er macht seine Runde durch die Lokale der Stadt. Da könnte ich unter Umständen lange suchen. Und außerdem kann ich hier nicht weg, weil ich das Office und die Gefangenen zu bewachen habe.«
Höhnisches Gelächter aus den hinteren Zellen ist der Erfolg dieser kühnen Behauptung. Lester murmelt sarkastisch: »Ja, das habe ich bemerkt, Fatty. Sie widmen sich Ihrer Aufgabe mit großem Eifer. Aber ich sage Ihnen noch einmal, daß meine Sache eilig ist. Also schaffen Sie den Marshal herbei. Wie, das soll mir verdammt egal sein!« Schon an Fattys Bemühen, sich plötzlich eine würdige Haltung zu geben, kann Lester erkennen, daß hinter seinem Rücken etwas vorgeht. Und da hört er auch schon eine krächzende Stimme: »Falls Sie mit Ihrer eiligen Sache den Toten meinen, der draußen über dem Sattel hing, Mister, so kann ich Sie beruhigen. Ich habe Sie soeben gesehen, als Sie in die Stadt ritten, und das Nötige veranlaßt. Unser Leichenbestatter hat den Mann schon längst fortgeschafft. Aber ich nehme an, daß Sie mir jetzt einiges zu erzählen haben.« Bedächtig wendet Lester sich um. Er sieht sich einem mittelgroßen grauhaarigen Mann gegenüber, dessen Gesicht von einem ebensolchen Walroßbart beherrscht wird. Er trägt eine verschossene Cordjacke, auf der der Marshalstern blitzt. Forschende Augen blicken Lester aus einem ziemlich verwitterten Gesicht an. »Sicher!« sagt dieser. »Deshalb bin ich hergekommen, Marshal.« Einen Augenblick verharrt Marshal Tom Warden noch in seiner Stellung. In aller Ruhe beendet er die eingehende Musterung des Fremden und nickt schließlich ebenfalls. Zweifellos ist er ein alter Mann, über die sogenannten besten Jahre schon weit hinaus. Seine Schultern sind gebeugt, seine Gestalt ist hager. Aber die Schärfe seiner Augen hat das Alter nicht zu trüben vermocht. Sie blicken klar und durchdringend. Er hat die Begutachtung Lesters abgeschlossen, und er scheint zufrieden zu sein.
Er geht zu einem an der Wand stehenden Schreibtisch und läßt sich in einen hölzernen Drehsessel fallen. »Setzen Sie sich, Fremder, und erzählen Sie. Was hat es mit dem Toten auf sich? Wo haben Sie ihn gefunden?« Bevor Lester antworten kann, spürt er in seinem Nacken einen Luftzug von der Tür her. Gleichzeitig erstarrt das Gesicht des Marshals zu einer zwar höflichen, aber dennoch eisigen Grimasse. Auch Lester wendet den Kopf der Tür zu. Er sieht einen Mann, dessen Gesicht an die Physiognomie eines Geiers erinnert. Seine Haut ist von gelblich-bleicher, ungesunder Farbe. Eng beieinanderstehende dunkle Augen fixieren Lester für einen kurzen Moment, dann tritt der Mann näher. Er ist schwarz gekleidet, und Lester glaubt, einen Berufsspieler vor sich zu haben. »Guten Abend, Gentlemen!« Der Fremde lächelt mit falscher Höflichkeit. »Ich hoffe, ich störe nicht.« »Ganz im Gegenteil, King Bennet«, sagt der Marshal sarkastisch. »Wir haben nur noch auf Sie gewartet, damit wir anfangen konnten.« Wirkungslos prallt die Ironie von dem Schwarzgekleideten ab. In den Augen des Marshals Tom Warden glitzert der Zorn. Seine Schnurrbartenden beginnen zu beben. »Zum Teufel, was wollen Sie hier, King Bennet?« fragt er. »Ich habe Sie nicht eingeladen!« Diese Worte lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Bennet jedoch behält sein überfreundliches Lächeln bei. Mit lässiger Bewegung greift er in die Innentasche seine Jacketts, zieht ein Papier heraus und faltet es auseinander. »Hier sehen Sie meine Vollmacht, Marshal. Sie ist…« »… vom Richter unterzeichnet. Ich weiß schon!« wehrt Warden mit angewiderter Gebärde ab.
»Sie sagen das nicht gerade sehr freundlich, Marshal«, entgegnet King Bennet, jetzt doch etwas gereizt. »Ich bin Anwalt, und der Richter ist ein alter Mann. Warum sollte er mich also nicht beauftragen, ihn über den Verlauf einer Voruntersuchung zu unterrichten? Haben Sie vielleicht etwas dagegen?« Tom Warden knurrt aufsässig: »Dagegen schon, wenn ich auch leider nichts dagegen machen kann.« Dieses Eingeständnis der Machtlosigkeit gegen eine Anordnung von Wardens Vorgesetzten scheint den Anwalt zu befriedigen. »Eben.« Er lächelt vielsagend. »Ich werde also dieser Vernehmung im Auftrag des Richters beiwohnen. Sollten sich daraus noch weitere Amtshandlungen Ihrerseits ergeben, muß ich Sie bitten, mich jeweils zu benachrichtigen. Sie wissen, daß ich zu diesem Verlangen berechtigt bin.« Tom Wardens Antwort ist ein unverständliches Grunzen. Mit starr lächelndem Gesicht lehnt sich King Bennet in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Er gibt damit deutlich zu erkennen, daß er sich als Sieger fühlt und jetzt nur noch die Rolle des stummen Beobachters spielen will. Der Marshal zögert noch einen Moment, aber dann greift er nach einem Formular, nimmt einen Federhalter und brummt: »Zuerst Ihr Name, Fremder, Ihr Geburtsdatum und Ihren Geburtsort.« Lester lächelt geduldig. Wie oft hat er selbst als Marshal diese Fragen an einen Zeugen gerichtet. »Sundance, Lester Cedreck«, murmelt er dann. »Geboren am 3. Oktober 1856 in Springfield, Illinois.« Tom Warden beginnt mit gerunzelter Stirn zu schreiben. Seine Bewegungen sind ungelenk. Zweifellos bereitet ihm dieser Schriftkram wenig Vergnügen. Als er die Feder absetzt, starrt er noch einen Augenblick auf das Blatt, blickt dann aus den
Augenwinkeln zu Lester hinüber und murmelt: »Ich will mein Leben lang auf einem Besenstiel reiten, wenn ich diesen Namen nicht schon einmal gehört habe. Können Sie mir auf die Sprünge helfen, Sundance?« Lesters Aufmerksamkeit ist für einen kurzen Augenblick abgelenkt. Er glaubte bei dem Anwalt ein leichtes Zusammenzucken zu bemerken, als er seinen Namen nannte. Aber dieser eiskalte Bursche hat sich schon wieder in der Gewalt. Lächelnd zeigt er sein blendendes Gebiß und blickt auf die polierten Fingernägel seiner linken Hand. »Tür mir leid, Warden«, erwidert Lester auf die Frage des Marshals. »Ich habe keine Ahnung, wo Sie meinen Namen gehört haben sollten. Vielleicht werden Sie durch eine Ähnlichkeit getäuscht.« Offensichtlich ist Tom Warden von dieser Argumentation nicht restlos überzeugt. Aber er schluckt seinen Zweifel herunter, wirft Lester noch einmal einen forschenden Blick zu und öffnet gerade den Mund zu einer erneuten Frage, als die Tür ziemlich heftig aufgerissen wird, ein Mann hereingehastet kommt und einen Zettel nebst einem Leinenbeutel auf den Schreibtisch legt. Sein zerknittert-trauriges Gesicht läßt Lester an einen Leichenbestatter denken. Es erweist sich auch sofort, daß er mit dieser Vermutung richtig tippt, als der Mann erklärt: »Der Doc hat ihn sich schon angesehen, Marshal. Sein Befund steht auf dem Zettel. Alle Gegenstände, die er bei sich hatte, sind in dem Beutel. Es ist ziemlich viel Geld dabei.« »Danke, Hyer, es ist in Ordnung. Ich sehe mir die Sachen sofort an«, sagt Warden und wartet ab, bis der Mann mit einem neugierigen Seitenblick auf Lester den Raum wieder verlassen hat. »Todesursache: Bruch des Rückgrats im dritten Lendenwir-
bel«, liest er dann vor. »Außerdem nur Hautabschürfungen und eine Prellung der Rippen. Keine Schußverletzung.« Er legt den Zettel beiseite, ergreift den Beutel und schüttelt den Inhalt vor sich auf den Schreibtisch. Die üblichen Utensilien: Ein Klappmesser, eine Tabakpfeife und ein dazugehöriger Beutel, ein Stück Bindfaden und ein zerbrochener Kamm. Er wirft alles sofort wieder in den Beutel zurück. Danach bleiben nur noch eine abgegriffene Brieftasche, aus der ein paar Banknoten und ein blauer Umschlag hervorlugen, einige Geldmünzen und ein kleines grünlich schimmerndes Stück Gestein übrig. Mit gierigen Augen starrt King Bennet auf diese Gegenstände. Auch Fatty Kingsley, der Gefängniswärter, der sich bisher in einer Ecke zu schaffen gemacht hat, kommt neugierig näher. Zunächst beginnt der Marshal das Geld zu zählen. »Dreihunderteinundachtzig Dollar«, sagt er. »Das ist wirklich eine Menge Geld für einen so abgerissenen Burschen.« Als nächstes kommt der Umschlag an die Reihe. Er ist leer. Das bringt Lester sofort auf den Gedanken, daß darin einmal das Geld gewesen sein könnte, zumal er trotz scharfen Spähens nur wenige verwischte Buchstaben darauf entdecken kann. Zweifellos war das nur der Name des Empfängers, ohne jede Anschrift oder sonst etwas. »Ja, das wird sein Name sein«, sagt der Marshal, beugt sich über die Schriftzüge und buchstabiert: »E-l-d-e-r L-a-n-s-b-u-ry.« Lester fährt zusammen. Eider Lansbury – da hat er ja schon die Initialen, die er sucht. Er verspürt eine grimmige Befriedigung. So schnell hat er also den Verräter gefunden. Er ahnt noch nicht, daß sich das Schicksal einen üblen Scherz mit ihm erlaubt. Ohne weiteren Erfolg durchsucht Tom Warden die Fächer
der Brieftasche. Elder Lansbury schien ein Mann gewesen zu sein, der nichts von der Aufbewahrung von Schriftstücken hielt. Es finden sich nur ein paar ausgeschnittene Bilder, die unzweifelhaft aus einem Warenhauskatalog stammen. So legt er die Sachen wieder zusammen und macht auf seinem Formular eine kurze Notiz, Namen und den vorgefundenen Bargeldbestand des Toten betreffend. Als Lester dem neben ihm sitzenden Anwalt wieder einmal einen kurzen Blick schenkt, stellt er fest, daß sich dessen soeben angespannte Miene wieder in fast heiterer Gelassenheit gelöst hat. Marshal Tom Warden lehnt sich zurück und sagt: »Das hätten wir also. Jetzt erzählen Sie uns, wo Sie den Mann gefunden haben, Sundance.« »Er hat mich gefunden«, murmelt Lester. »Und wenn er sich nicht das Kreuz gebrochen hätte, wäre er von mir erschossen worden.« Tom Warden ist für einen Augenblick sprachlos. Neben sich hört Lester das erregte Atmen des Anwalts. »Vorwärts, Sundance«, sagt der Marshal, »erzählen Sie den Hergang!« »Ich ritt durch das Indianergebiet«, beginnt Lester mit seinem Bericht. Dann schildert er in knappen Worten den Vorfall, ohne dabei jedoch die Örtlichkeit näher zu erwähnen. Schließlich legt er seine Beweggründe klar, weshalb er den Toten in die Stadt gebracht und nicht an Ort und Stelle begraben hat. Warden folgt seinen Worten mit gespannter Aufmerksamkeit, aber dennoch wie ein objektiver Zuhörer. Der Anwalt hingegen gleicht einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Ein paarmal öffnet er den Mund zu einer Bemerkung, klappt ihn aber jedesmal wieder zu. Als Lester dann jedoch mit den Worten schließt: »So war es, Marshal, und ich habe keine Ahnung, weshalb dieser Bursche es auf mich abgesehen hatte«, ist es
mit King Bennets Beherrschung vorbei. Er springt auf, krallt seine Hand in den Jackenärmel des Marshals und keucht: »Er lügt! Verhaften Sie diesen Mann, Warden, er ist ein Mörder!« Lester ist mit einem Satz dicht vor dem Anwalt, packt ihn bei den Aufschlägen seines Prince-Albert-Rockes und zerrt ihn mit einem Ruck zu sich herum. »Diese Worte sollten Sie noch einmal wiederholen, Mister – ganz langsam und deutlich! Und dann werde ich Ihnen Ihr verdammtes Maul mit Ihren eigenen Zähnen stopfen.« * »Stopp!« ruft der Marshal gereizt und streckt seine beiden Arme zwischen die erregten Kontrahenten. Sofort stellt sich jedoch heraus, daß sein Zorn in erster Linie King Bennet gut, als er faucht: »Steht das auch in Ihrer Vollmacht, Bennet, daß Sie sich mit unbegründeten Anschuldigungen in die Voruntersuchung einschalten können? Gehen Sie an Ihren Platz, Mann! Ich werde dem Richter von Ihren schlechten Nerven berichten. Vielleicht hält er Sie mir dann vom Hals.« Lester tritt ruhig einen Schritt zurück und mustert den Anwalt mit verkniffenen Lippen. Über den kleineren Marshal hinweg starrt dieser ihn aus haßvoll glitzernden Augen an und murrt: »Und ich sage Ihnen, dieser Bursche ist doch ein Mörder! Warum hat er mit keinem Wort erwähnt, wo er mit Lansbury zusammengeraten ist? Wollen Sie sich wirklich weismachen lassen, er wüßte nicht, weshalb es mit dem Getöteten zu einem Kampf gekommen ist?« Tom Warden geht gar nicht auf die Worte ein. »Sie sollen an Ihren Platz gehen, habe ich gesagt, Bennet!« Ein wegwerfendes Achselzucken des Anwalts ist die Ant-
wort. Immerhin bequemt er sich aber doch, zu seinem Stuhl zurückzukehren. Er schlägt ein Bein über das andere und wippt erregt mit der Fußspitze. Als schließlich auch Lester sich wieder hinsetzt, murmelt er mit tückischem Gesicht: »Es gibt keinen Mann, der mir ungestraft drohen könnte, Sundance.« Lester antwortet nicht, sondern verzieht nur den Mund zu einem geringschätzigen Grinsen. Dafür läßt sich Tom Warden vernehmen: »Wollen Sie jetzt endlich den Mund halten, oder ist es Ihnen Über, wenn ich Sie an die Luft setze, Bennet?« Der Anwalt schließt die Augen zu einem winzigen glitzernden Spalt und sagt tonlos: »Das werden Sie noch bereuen, Warden. Verlassen Sie sich darauf, es wird Ihnen noch einmal leid tun, so mit mir geredet zu haben.« »Geschenkt!« wehrt der Marshal ab. wendet ihm brüsk den Rücken zu und redet Lester an: »Sie haben wirklich keine Ahnung, weshalb dieser Lansbury es auf Sie abgesehen haben könnte, Sundance?« »Keinen blassen Dunst, Warden«, versichert Lester. »Vielleicht war es eine Verwechslung, vielleicht hatte er etwas zu verbergen, ich weiß es nicht.« »Und wo fand der Überfall statt?« Lester macht eine unbestimmte Handbewegung. »Irgendwo im Indianergebiet. Ich kenne mich da nicht aus. Es gab tausend kleine Canyons, Geländefalten und Schründe.« Der Marshal beginnt zu schreiben. Aus seiner Ecke schielt Fatty Kingsley herüber, und die beiden Spieler in den Zellen haben die Karten fortgelegt. Lester hat ohne besonderen Grund gelogen. Vielleicht will er nur diesen großspurigen Burschen ärgern. Jetzt aber überlegt er, welcher Art das Interesse des Anwalts sein könnte. »Falls Sie diesem Mann seine Geschichte ohne weiteres ab-
nehmen und im Protokoll festlegen, werden Sie Ärger bekommen, Warden«, durchbricht Bennets Stimme die Stille. »So, und warum werde ich das?« »Weil mehr dahintersteckt«, sagt der Anwalt. »Mir scheint, Sie werden alt, Warden.« »Reden Sie ruhig weiter, Freundchen«, erwidert Tom Warden gleichmütig. »Ich weiß ja, daß ich einigen Leuten in dieser Stadt – auch Ihnen, Bennet – im Wege bin. Es muß doch einen verdammt triftigen Grund geben, daß ich euch so unbequem bin. Aber bis zur nächsten Wahl habe ich einen festen Vertrag, und bis dahin werden Sie sich wohl oder übel mit dem alten Tom Warden abfinden müssen.« King Bennet bemerkt, daß er auf Glatteis geraten ist. »Das sind doch nur Ausgeburten Ihrer Phantasie, Warden – genau wie die Geschichte, die Sie da garade niederschreiben. So etwas gibt es doch gar nicht, daß ein Mann einen anderen angreift, ohne einen Grund dazu zu haben.« »Ganz meiner Meinung«, sagt Warden ernsthaft. »Sie sind wirklich nicht dumm, Bennet. Die Frage ist nur, was Sie daraus folgern.« Mit einem raschen Seitenblick vergewissert sich der Anwalt, daß Lester seinen Gleichmut bewahrt. Erst dann behauptet er: »An der ganzen Geschichte ist etwas faul. Sundance tischt uns eine faustdicke Lüge auf, und damit zeigt er, daß er etwas zu verbergen hat. Ich bleibe bei meinem Vorschlag, ihn vorerst wegen Mordverdachts in Ihren Käfig zu sperren. Den endgültigen Haftbefehl besorge ich Ihnen binnen einer halben Stunde.« »Ihre Ansicht zeugt von einer bemerkenswert logischen Denkweise, Bennet«, spottet der Marshal. »Passen Sie auf, Mann: Dieser Lansbury muß einen Grund gehabt haben, auf Sundance loszugehen, das ist klar. Daraus folgt aber noch
nicht, daß Sundance diesen Grund kennt und uns belügt. Er hätte ja die Möglichkeit gehabt, den Toten irgendwo im Indianergebiet zu vergraben. Kein Hahn hätte danach gekräht, weil niemand davon wußte. Sundance aber brachte den Mann, der nach Ihrer Meinung sein Opfer ist, hierher in die Stadt und hängte die Sache an die große Glocke. Er setzte sich der Gefahr aus, mit dem Lastpferd nur langsam vorwärts zu kommen und von den Indsmen erwischt zu werden. Dafür müßten Sie mir zunächst ein vernünftiges Motiv nennen, Bennet, bevor wir über Ihre verrückte Ansicht weiterreden könnten.« Lester schmunzelt. Bennet schweigt verbissen. Wahrscheinlich muß er trotz allen Widerstrebens einsehen, daß er sich mit jedem weiteren Wort nur lächerlich machen würde. Aus seiner Miene jedoch geht deutlich hervor, daß sein Groll darüber ihn fast zum Platzen bringt. Er gehört zu den Typen, die einfach keine Niederlage einstecken können. Während der Marshal weiterschreibt, fragt sich Lester, ob die Haltung des Anwalts nur aus einer solchen charakterlichen Einstellung zu erklären ist. Die Antwort darauf ist ganz eindeutig nein. Lester hat den Eindruck, daß dieser geiergesichtige Anwalt mehr von den Dingen weiß und sich hier vielleicht nur Gewißheit darüber verschaffen wollte, ob Lester Sundance die Wahrheit erkannt hat. »Fertig!« Tom Warden schnauft erleichtert und legt die Feder aus der Hand. »Lesen Sie das Zeug durch, Sundance, und setzen Sie Ihre Unterschrift darunter. Dann ist der Fall erledigt, und Sie können gehen. Es ist spät genug geworden.« Lester entledigt sich dieser Aufgabe im Stehen. »Ich glaube nicht, daß er gehen kann, Boß«, meldet sich Fatty Kingsley vom Fenster her. »Da steht nämlich eine ganze Meute, und sicherlich ist sie hungriger auf Neuigkeiten als ein Rudel Straßenköter auf einen Knochen.«
Grinsend geht der Marshal zur Tür, und Lester folgt ihm. Mit ruhigen Worten erklärt der Marshal, daß der Tote ein Bandit gewesen sei, der bei einem Überfall durch einen Sturz vom Felsen ums Leben gekommen sei. Der Mann, der ihn in die Stadt gebracht habe, sei über jeden Verdacht erhaben und es sei das beste, wenn sich jeder ohne weiteren Krawall verkröche, denn es sei schon verdammt spät. Lester will sich von Warden verabschieden. Dabei macht er eine seltsame Feststellung. King Bennet, der Anwalt, der soeben noch ruhig auf seinem Stuhl saß, steht plötzlich dicht neben dem Schreibtisch. In seiner unmittelbaren Nähe befindet sich der grobe Leinenbeutel, in dem die Hinterlassenschaft Lansburys verwahrt ist. Lester glaubt sich nicht zu täuschen, daß dieser Beutel nun ganz anders liegt, als es vorhin der Fall war. Sein erster Gedanke gilt dem Geld. Er verwirft ihn sofort wieder. Warden hat den genauen Betrag aufgeschrieben. Bennet müßte damit rechnen, daß der Verdacht an ihm hängenbliebe, wenn eine Unstimmigkeit festgestellt würde. Und was befindet sich sonst schon in dem Beutel, woran er Interesse haben könnte? Immerhin ist sich Lester seiner Sache so sicher, daß er seine Zähne entblößt und ein bedrohliches Grinsen zu Bennet hinüberschickt. Nur für eine Sekunde ist dieser unsicher, hat sich aber gleich darauf wieder in der Gewalt und wendet sich mit einem ärgerlichen Ruck zur Seite. Dabei wird Lester klar, daß der Schreibtisch vom Zellengang aus in einem toten Winkel liegt und von den beiden Gefangenen nicht beobachtet werden kann. Nur wenige Sekunden hat dieses Zwischenspiel in Anspruch genommen, und selbst der wachsame Tom Warden hat nichts davon bemerkt. Lester entschließt sich, seine Wahrnehmung vorerst für sich zu behalten, streckt dem Marshal die Hand entgegen und grinst.
»Vielen Dank, Warden. Sie sind ein fairer Bursche, und das ist mehr, als man von den meisten Menschen heute behaupten kann.« »Schon gut«, entgegnet der Alte. Er ergreift die dargebotene Hand, blickt Lester noch einen Moment überlegend an und murmelt: »Wollen Sie mir immer noch nicht verraten, woher ich Ihren Namen kennen könnte, Sundance?« Mit einem heiteren Lächeln schüttelt Lester den Kopf. »Geben Sie's auf, Warden. Sie sehen Gespenster.« »Bestimmt nicht«, beharrt der Marshal. »Und ich komme auch noch dahinter. Das einzige, was ich sicher weiß, ist, daß ich Sie bestimmt nicht von einem Fahndungsblatt kenne.« »Oh, das ist wirklich beruhigend«, spöttelt Lester. »Vielleicht sehen Sie doch vorsichtshalber mal die Sammelmappe und das Abgangsverzeichnis durch.« Der Alte bleibt ganz ernst. »Wollen Sie noch länger in der Stadt bleiben?« »Ein paar Tage vielleicht. Ich will mich ein wenig umsehen. Können Sie mir ein anständiges und nicht zu teures Hotel empfehlen?« »Nehmen Sie Clarks Boardinghouse – und ein Mietstall ist gleich hier um die Ecke«, sagt der Marshal, wendet sich um und geht in das Office zurück. Lester geht zu seinem Wallach, der an der Haltestange steht, und sitzt auf. Kaum zwei Minuten später findet er in der kleinen Nebenstraße den Mietstall, versorgt den Wallach, hängt sich die Satteltasche mit den nötigsten Dingen über die Schulter und schlendert wieder zur Hauptstraße zurück. Trotz der späten Stunde herrscht noch voller Betrieb. Die Vergnügungsetablissements speien Rudel von Männern aus, die prompt ihre Schritte zur nächsten Kneipe lenken. Lester weicht zwei Betrunkenen aus, die ihm entgegengestolpert
kommen. Dabei fällt sein Blick zufällig auf drei Männer, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit einer großen Holztafel hantieren. Es wird in Livingstone noch sehr spät gearbeitet, stellt Lester fest. Die Männer befinden sich vor einem Store, wo auf einer Tafel zu lesen ist: Sweeneys Bazar. Zwei Leitern werden aufgerichtet, und schließlich wird mit Stricken eine neue Holztafel emporgezogen. Eifriges Hämmern setzt ein. Das Schild wird angenagelt. Jetzt kann man lesen: Sweeney & Comp. General Merchandise. Das ist keine weltbewegende Umwälzung. Es zeigt nur, daß dieser Mr. Sweeney einen Teilhaber in seinem Geschäft aufgenommen hat, der Wert darauf legt, daß sein Name nicht in Erscheinung tritt. Das ist eine häufig geübte Geschäftspraxis, und es gibt nichts daran auszusetzen. Eigenartig daran ist nur, daß man es mit der Umbenennung so eilig hat, daß man nicht die alte Bezeichnung überpinselt und den neuen Namen darübermalt, sondern einfach ein neues Schild anbringt. Mit einem Achselzucken geht Lester weiter. Schon nach wenigen Schritten stößt er auf den Laden eines Barbiers. Zwar befindet sich kein Kunde mehr in dem Raum, aber er ist dennoch hell erleuchtet. Lester folgt einer Augenblickseingebung und tritt ein. Ein Bad ist genau das, was ihm jetzt fehlt, und sein Haar könnte eine Schere gut vertragen. Sofort taucht aus dem Hintergrund der Barbier auf, die Ärmel hochgeschlagen und mit gerötetem Gesicht. »Reicht es noch für einen Haarschnitt und ein Bad?« fragt Lester. Deutlich glaubt er im Gesicht des knochigen Mannes Angst zu erkennen. Aber wovor? Um eine Idee zu hastig nickt der Barbier und deutet auf einen Stuhl. Lester hängt Hut und Sat-
teltaschen an einen Haken und setzt sich. »Noch einmal heißes Wasser für ein Bad!« ruft der Mann durch die Hintertür, hängt Lester ein weißes Tuch um und beginnt schweigend seine Arbeit. Das eintönige Geklapper der Schere wirkt einschläfernd. Im Spiegel beobachtet Lester das Gesicht des Barbiers. Es ist mürrisch und verschlossen. »Sie arbeiten noch verdammt spät!« murmelt Lester. Das kurze Zögern des Mannes ist deutlich zu erkennen. Auch er blickt in den Spiegel. Ihre Augen treffen sich. »Das Hauptgeschäft liegt bei uns in den Abendstunden«, erwidert er dann. »Ich habe oft bis Mitternacht geöffnet.« Schon droht das Gespräch wieder einzuschlafen, als Lester erneut ansetzt: »Es gibt ziemlich viel Rummel in der Stadt – viel mehr, als ich bei der Größe von Livingstone erwartet habe. Es scheint hier viel Geld zu geben.« Der Barbier lacht bitter auf. Das Mißtrauen in seinen Augen verlischt. »Sie sind wohl neu hier, wie?« »Heute erst angekommen.« »Dann lassen Sie sich gesagt sein, daß dies alles nur eine Scheinblüte ist. Wir leben ohne festen Boden unter den Füßen. Im Augenblick gibt es eine Menge Digger, Miner und Prospektoren, die Geld in die Stadt bringen. Die Schürfstellen sind unbedeutend und werden bald ausgebeutet sein. Dann zieht das ganze Volk weiter, das heute wie ein Heuschreckenschwarm unser Land bevölkert, und es folgt das große Erwachen aus den hochfliegenden Träumen. Es gibt ein paar Burschen, denen ich es gönne…« Mit einem vielsagenden Achselzucken bricht er ab. Fast hat Lester den Eindruck, daß der Mann befürchtet, schon zuviel gesagt zu haben. »Und welche Burschen sind das, denen Sie es gönnen?«
Der Barbier drückt Lesters Kopf nach vom, um besser an die Nackenhaare heranzukommen. »Hören Sie, Mister«, kommt es dann über seine Lippen, »es gibt Dinge, über die man nicht reden darf. Ich habe nichts gesagt, verstehen Sie? Ich bin froh, daß ich meinen Laden allein führen kann.« Lester sieht im Spiegel, wie sich die Tür im Hintergrund öffnet. Ein dicker Mann kommt herein, nähert sich und drückt dem Barbier ein Dollarstück in die Hand. Sein spärliches Haar ist noch naß und dicht an den Kopf gepappt. Offensichtlich hat er gerade gebadet. Als Lester aber dann sein Gesicht erkennen kann, kneift er die Augen zusammen. Das ist kein Gesicht mehr, das ist eine zertrümmerte Grimasse. Beide Augen sind geschwollen und blau verfärbt, die Oberlippe steht wie ein dicker Wulst vor und weist einen breiten Riß auf, durch den man eine Zahnlücke sehen kann, die gewiß noch nicht lange vorhanden ist. Von der Schläfe über den Backenknochen bis zum Mundwinkel herab erstreckt sich eine verschorfte Schmarre. Mit einem Wort: Dieser Mann muß fürchterliche Prügel bezogen haben. Sobald der Mann Lesters Augen im Spiegel auf sich gerichtet sieht, wendet er hastig den Kopf ab. Er verschwindet mit einem gemurmelten Gruß, den der Barbier mit den Worten »Guten Abend, Mr. Sweeney«, erwidert. Wieder klappert die Schere. »War das Sweeney, der Inhaber des Stores gegenüber?« fragt Lester. »Ja.« »Ist er unter eine durchgehende Rinderherde geraten?« »Er spricht nicht darüber, deshalb kann ich es nicht wissen.« »Aber Sie haben gesehen, wie lange er schon in diesem Zustand herumläuft.«
»Seit zwei Ta…« Der Barbier verstummt, blickt finster auf Lesters Spiegelbild und knurrt: »Sie zeigen verdammt viel Interesse für Dinge, die hier in der Stadt vorgehen, Mister. Wenn ich Ihnen raten darf: Das ist sehr ungesund. Fragen Sie, was Sie wollen. Von mir werden Sie keine Antwort mehr bekommen. Mir ist es lieber, nicht so wie Sweeney herumzulaufen.« Dabei bleibt es dann. Nach zwei Minuten hat der Mann sein Werk vollendet, entfernt den weißen Umhang und deutet auf die Hintertür. In Gedanken versunken geht Lester hinüber. Das heiße Bad ist für Lester ein Fest. Mit wahrer Begeisterung seift er seinen gebräunten, sehnigen Körper ein, langt zur Bürste und scheuert sich mit Wonne ab, bis seine Haut krebsrot angelaufen ist. Eine Viertelstunde später tritt er fertig angekleidet wieder auf die Straße hinaus und hält Ausschau nach Clarks Boardinghouse, das der Marshal ihm empfohlen hat. Er findet es wenige Häuser entfernt auf der anderen Straßenseite. Es ist ein doppelstöckiger Bau, der im Erdgeschoß Speiseraum und Wirtschaftsräume beherbergt, während sich im ersten Stock die Fremdenzimmer befinden. Das Lokal hebt sich wohltuend von den lärmerfüllten Saloons und Vergnügungsetablissements ab. An der Querseite des Speiseraumes befindet sich eine lange Theke, dahinter eine Art Schalterfenster in der Wand, durch welches des Klappern von Geschirr zu hören ist. Ein weißhaariger Mann mit ruhigem, ausgeglichenem Gesicht wendet sich Lester entgegen. »Was steht zu Diensten, Fremder?« »Tom Warden hat Sie mir empfohlen, Mister. Ich möchte ein Zimmer und – wenn es möglich ist – noch etwas zu essen.« Der Alte lächelt. »Für Leute, die der Marshal schickt, ist das immer möglich
Warden wohnt hier schon seit zwei Jahren. Mein Name ist übrigens Clark. Tragen Sie sich in das Gästebuch ein, Mister…« »Sundance«, sagt Lester und greift nach einem Tintenstift, um sich einzutragen, während Clark einen Schlüssel vom Brett nimmt. Ein Holzbrettchen ist daran befestigt, auf dem deutlich und weithin sichtbar eine Sechs steht. »Es ist das Zimmer neben Warden«, flüstert Clark vertraulich und fügt lauter hinzu: »Setzen Sie sich nur, Mr. Sundance. Das Essen wird gleich kommen. Ich nehme an, ein Steak ist Ihnen recht?« »Sicher!« Lester nickt erfreut. Er wendet sich ab, um sich einen Platz zu suchen. Obwohl er das nicht sonderlich hastig tut, rennt er dabei mit einem Mann zusammen, der dicht hinter ihm vorbeistreicht und dem Ausgang zustrebt. Sie prallen hart aufeinander. Mit einer gemurmelten Entschuldigung greift der Fremde zum Hut und faßt die Krempe. Der Erfolg ist jedoch, daß ihm der Stetson noch tiefer in die Stirn rutscht, als er ohnehin schon gesessen hatte. Von dem beschatteten Gesicht ist nur ein kantiges Kinn und ein schmallippiger Mund zu erkennen. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzt ein Paar schwarzer Augen zu Lester herüber, dann ist der Fremde schon ausgewichen und steuert der Tür zu. Lester sieht eine breitschultrige Gestalt, die mit gleitenden Bewegungen hinausgeht. Lesters Blicke wandern zu den nächsten Tischen hinüber. Auf dem vordersten, nur wenige Schritte von der Theke entfernt, steht ein leeres Glas. Ein Zigarettenstummel qualmt noch im Aschenbecher. Lester murmelt etwas Unverständliches und sucht sich einen Platz. Minuten später hat er sein Essen vor sich stehen und den Vorfall schon fast vergessen, als der Marshal an der Tür auf-
taucht. Warden wechselt einige Worte mit dem weißhaarigen Clark, nickt zu ihm hinüber und geht zu einem Platz in einer Nische, den er offenbar als Stammplatz betrachtet und der für ihn reserviert ist. Infolge seines Appetits braucht Lester nicht lange, um mit seiner reichhaltigen Mahlzeit fertig zu werden. Eine Zigarettenlänge läßt er sich noch Zeit, aber dann greift er nach dem Schlüssel, den er zuvor vor sich auf den Tisch gelegt hat, nickt Warden und Clark zu und geht zur Treppe hinüber. Auf dem langen Gang im Obergeschoß brennen zwei Lampen. In ihrem Schein ist es nicht schwer, die Zimmernummer zu finden. Gerade steckt Lester den Schlüssel ins Schloß, als ein Mann mit Gepolter die Treppe heraufkommt. Sobald er in Lesters Blickfeld gerät, erweist sich der Krach als Folge seines verlorengegangenen Gleichgewichtssinnes. Er kichert vor sich hin und rülpst laut. »Hallo, Nachbar!« Lester grinst. Das gutmütige Gesicht des Angetrunkenen strahlt so viel freundliches Wohlwollen aus, daß er abwartet, um ihm nötigenfalls beizustehen. Das erweist sich jedoch als überflüssig. Der Mann weiß sehr genau, wo er wohnt. Es gibt lediglich noch ein kleines Gefecht mit dem Schlüsselloch, dann verschwindet er kichernd in seinem Zimmer, drei Türen von Lester entfernt. Durch den kleinen Zwischenfall erheitert, dreht Lester seinen Schlüssel, drückt die Klinke nieder und betritt den dunklen Raum. * Als sich Tom Warden in der Tür des Marshaloffices von Lester Sundance abwendet und in den Raum zurückgeht, fällt sein
Blick als erstes auf King Bennet, den Anwalt. »Was wollen Sie noch hier?« fragt er giftig. »Die Einvernahme ist beendet, es gibt nichts mehr zu spionieren!« »Schon gut, schon gut, Warden.« Ein völlig ungewohntes Grinsen geht über Bennets Gesicht. Warden ist von dem hinterhältigen Lächeln überrascht. In seinem Gehirn taucht der Gedanke auf, daß es einen Grund für die merkwürdig gute Laune des Anwalts geben müßte. Aber dann macht er ein paar Schritte vorwärts, baut sich vor dem einen Kopf größeren Bennet auf und knurrt: »Gehen Sie und erstatten Sie Ihren Auftraggebern Bericht. Hauptsache, daß Sie hier herauskommen, bevor ich auf die Idee verfalle, meinen Stern abzulegen und Ihnen von Mann zu Mann meine Auffassung von Gesetzmäßigkeit klarmache!« Bennet langt nach seinem Hut und schnippt ein imaginäres Stäubchen von der Krempe. »Als Mann in Ihren Jahren sollten Sie jede Aufregung vermeiden, Warden«, murmelt er mit drohendem Unterton. »Ihr Aussehen will mir gar nicht gefallen. Es wäre zu schade, wenn Sie plötzlich erkrankten und diese Stadt auf ihren prächtigen Gesetzeshüter verzichten müßte, finden Sie nicht auch? Sie sollten sich vor Übereifer hüten, Marshal Warden, in jeder Beziehung!« Vor Grimm ist Tom Wardens Gesicht bleich geworden, doch er findet keine Gelegenheit, seinen Groll loszuwerden, denn Bennet geht eilig hinaus. Für einen Mann kann es eine schlimme Sache sein, seinen ehrlichen Zorn nicht austoben zu können. Tom Warden versetzt einem Schemel einen Fußtritt, daß er gegen die Gitterstäbe des Zellenganges fliegt und dort sein hölzernes Dasein als Brennholz beendet. Anschließend stampft der Marshal zu seinem Schreibtisch, holt eine Flasche aus dem linken Fach und
nimmt einen kräftigen Schluck. Allerdings vergewissert er sich trotz aller Wut, daß die Gefangenen ihn bei diesem Tun nicht beobachten können. Leider hat er nicht mit dem feinen Gehör der beiden gerechnet. Das Gluckern dringt ihnen lieblich in die Ohren, und einer schreit: »He, Marshal, saufen Sie? Lassen Sie uns nicht verdursten!« Ein Grinsen geht über Wardens Gesicht, als er die Flasche absetzt. Sein Ärger ist fortgespült. Er geht zum Zellengang hinüber und fragt: »Wie lange sitzt ihr schon, Burschen?« »Drei Tage, Warden«, jammert der eine mit kläglicher Miene. »Und wir haben in dieser Zeit kein Auge zugetan, weil Ihr verdammtes Walroß schlimmer schnarcht als eine Sägemühle«, klagt der andere. Tom Warden bleibt davon scheinbar unbeeindruckt. »Wieviel Tage hatte ich euch wegen eurer Sauferei und der nachfolgenden Prügelei aufgebrummt?« fragt er kühl. »Ah, das wissen Sie doch ganz genau: Die Höchststrafe, die Sie als Marshal ohne den Richter verhängen können – sechs Tage.« »Wäre es euch lieber gewesen, wenn ich euch dem Richter vorgeführt hätte?« »Um Himmels willen – nein!« brüllen die beiden wie aus einem Mund, und einer fährt fort: »Dann hätten wir mindestens zwei Wochen brummen müssen. Wir sind nur arme Schweine und haben keine mächtigen Freunde, die beim Richter ein gutes Wort einlegen könnten.« Nachdenklich streicht sich Tom Warden über das Kinn. »Gut«, murmelt er nach einer ganzen Weile, »wenn ihr Tag und Nacht wach gewesen seid, ist das so gut, als ob ihr sechs Tage geschmort hättet. Packt eure Sachen und schert euch zum Teufel!«
Während die beiden glücklich das Marshaloffice verlassen, betritt Lester Sundance den Laden des Barbiers. King Bennet, der Anwalt, befindet sich in diesem Augenblick bereits im Spielsaal des Fairplay-Saloons und läßt seine Blicke über die Männer schweifen. Sehr bald entdeckt er an einem Tisch einen breitschultrigen, finster bilckenden Burschen mit dunklen Augen und kantigem Kinn. Er gibt ihm einen verstohlenen Wink und zieht sich in eine Ecke zurück. Nach wenigen Augenblick taucht der Mann neben ihm auf und brummt ärgerlich: »Muß das jetzt sein? Ich hatte gerade eine Glückssträhne!« »Hör zu, Chance Jagger«, zischt der Anwalt, scharf, »ich bezahle dich so gut, daß du auf eine Glückssträhne nicht angewiesen bist! Wenn ich dich brauche, hast du da zu sein, ist das klar?« »Ich bin nicht taub, Bennet! Also, was gibt es?« »Arbeit!« sagt der Anwalt lakonisch. »Es gibt einen Burschen, der mir im Weg ist. Ich habe mir die Sache genau überlegt. Er wird sich gegenüber in Clarks Boardinghouse ein Zimmer nehmen. Vielleicht ist er jetzt schon dort. Das mußt du herausfinden. Stelle außerdem seine Zimmernummer fest. Sämtliche Fremdenzimmer liegen im ersten Stock zur Straße hinaus. Es sind genau zehn Zimmer und zehn Fenster. Die Nummern beginnen von hier aus gesehen rechts. Der Kerl heißt Lester Sundance, merke dir den Namen. Wenn du weißt, wo er zu finden ist, gehst du mit einem Gewehr auf das Dach dieser Bude hier. Vom Hof her ist das mit einer Leiter ein Kinderspiel. Den Rest kannst du dir denken. Er geht in sein Zimmer, macht Licht und…« »Ich kenne mich aus«, unterbricht Chance Jagger seinen Boß. »Aber wozu diese Umstände? Ebenso könnte ich ihn mir direkt vor den Lauf holen. Eine kleine Auseinandersetzung, und
die Sache ist erledigt. Du brauchst nur ein paar Burschen als Zeugen bereitzuhalten, die mir bescheinigen können, daß er zuerst gezogen hat.« »An deiner Stelle würde ich mir die Siegesgewißheit abgewöhnen, Jagger«, murmelt der Anwalt. »Dieser Sundance ist der Bursche, der mit Lansbury fertiggeworden ist. Ich bezweifle, daß du ihm im offenen Kampf gewachsen wärst.« »Das lasse nur meine Sorge sein«, sagt der Revolvermann selbstsicher. »Lansbury war ein drittklassiger Revolverschwinger. Mit einer solchen Flasche stelle ich mich nicht auf eine Stufe, ich bin Chance Jagger!« »Genug von diesem Quatsch!« faucht King Bennet. »Wenn ich will, daß du mit offenem Visier arbeitest, werde ich es dir sagen. Vorläufig halte ich es für besser, das öffentliche Interesse möglichst wenig auf uns zu lenken. Es würde der Company nur schaden. Du wirst es also so erledigen, wie ich es dir gesagt habe.« Chance Jagger rückt mit einem Griff die Doppelhalfter seines Waffengurtes an seinen Schenkeln zurecht und geht mit geschmeidigen Bewegungen zum Ausgang. Mit einem raschen Blick vergewissert sich Bennet, daß ihre Unterredung in dem Gewühl unbeobachtet geblieben ist, dann steuert er auf eine Tür am hintersten Ende des Spielsaales zu, die so geschickt in der Holztäfelung angebracht ist, daß sie einem unbefangenen Betrachter kaum auffällt. Mit befriedigendem Lächeln greift er in die Tasche seines Rockes und spielt darin mit einem kleinen Gegenstand herum. Noch ist er einige Schritte von der Tür entfernt, als sich von der Seite her ein stiernackiger Bursche heranschiebt. Er ist zweifellos ein Rausschmeißer von Format. »Ich muß zu Logan!« raunt der Anwalt ihm zu. Verständnisinniges Grinsen und ein Nicken, dann geht der
Bulle zu der Tür und trommelt mit den Fingerknöcheln in einem bestimmten Rhythmus dagegen. Die Tür wird einen Spalt geöffnet. Ein paar leise Worte werden geflüstert, schließlich tritt der Schwergewichtige zur Seite und gibt Bennet gnädig einen Wink. Sobald der Anwalt verschwunden ist, lehnt sich der Rausschmeißer in selbstgefälliger Pose von außen gegen die Tür. * Bennet sieht sich einem Mann gegenüber, der im Typ eine gewisse Ähnlichkeit mit Chance Jagger aufweist. Auch er ist groß, breitschultrig und geschmeidig. Sein Gesicht jedoch ist nicht so grobgeschnitten wie das des Revolvermannes. Sein fliehendes Kinn verleiht dem Mann auf groteske Weise einen Ausdruck von Energielosigkeit. Die wäßrigen Augen jedoch sind brutal, hart und rücksichtslos. Wie Bennet, ist auch dieser Mann dunkel gekleidet. Er hat die weichen, langfingrigen und geschickten Hände eines Spielers. King Bennet weiß, daß Snipe Bacony diesen Beruf tatsächlich ausübte. Er kennt auch die Geschichten, die man sich von der Geschicklichkeit und Geschwindigkeit erzählt, mit der dieser ehemalige Kartenhai seine flache Pistole aus dem Schulterhalfter hervorzaubert. Aber seit einiger Zeit, genauer gesagt, seit Everett Logan ihn zu seinem Geschäftsführer machte, hat Snipe Bacony es nicht mehr nötig, sich an einen Spieltisch zu setzen. Durch ein hohes Gehalt und eine Gewinnbeteiligung ist dafür gesorgt, daß er auch so auf seine Kosten kommt. »Hallo, Bennet«, sagt er ausdruckslos, »was verschafft uns das Vergnügen, einen Geschäftspartner bei uns zu sehen? Gewöhnlich treiben sich doch nur Ihre starken Männer im Fairplay Saloon herum.«
»Ja, um von euch gerupft zu werden.« Der Anwalt grinst, wird aber sofort wieder ernst und erklärt: »Ich muß Logan sprechen – jetzt sofort. Eine wichtige Sache!« Der Kartenhai nickt bedächtig. »Everett Logan ist ein Gegner jeder Hast«, murmelt er. »Sie werden sich einen Augenblick gedulden müssen. Setzen Sie sich und bedienen Sie sich mit einem Drink. Ich werde den Boß benachrichtigen.« »Diese verdammte Geheimniskrämerei! Es gibt kaum ein Dutzend Leute in Livingstone, die den Boß schon einmal gesehen haben. Was bezweckt er mit dem Zirkus?« »Ich Weiß es nicht«, antwortet Snipe Bacony von der Tür her. »Die Geschäfte leiden nicht darunter, und alles andere interessiert mich nicht. Und Ihnen, mein lieber Bennet, bleibt nur die Möglichkeit, es zu schlucken!« In der Folge schluckt der Anwalt jedoch einige andere Sachen, die er in ein paar Flaschen vorfindet. So wird ihm die Zeit bis zur Rückkehr des Kartenhais nicht lang. Als Bacony nach einer Weile wieder erscheint, sind seine Augen bereits glänzend. »Der Boß wird gleich kommen«, verkündet der Geschäftsführer mit einem amüsierten Seitenblick auf die Flaschenbatterie, die Bennet bereits durchprobiert hat. »Es reicht aber sicher noch zu einem Drink. Dort drüben steht ein ausgezeichneter Chartreuse, den Sie sich nicht entgehen lassen sollten.« »Vielen Dank, Bacony«, sagt der Anwalt. »Meine kleine private Siegesfeier ist bereits beendet.« »Welchen Sieg feiern Sie denn, Bennet?« fragt in diesem Augenblick eine Stimme von der Tür her, durch die auch der Geschäftsführer den Raum wieder betreten hatte. Ein Mann kommt herein, groß, dunkelhäutig und hübsch. Sein schwarzes Haar formt sich zu glänzenden Wellen, die nur an einer
Stelle von einer hellen Strähne unterbrochen werden. Das ist genau dort, wo sich eine schmale Narbe von der Stirn zum Haaransatz hinaufzieht und darin verschwindet. Lester zieht sich einen Sessel heran und läßt sich mit einem Schnaufen hineinsinken. »Snipe sprach von einer wichtigen Sache«, erklärt er. »Fangen Sie also an, Bennet.« Der Anwalt leert zunächst sein Glas, leckt sich genießerisch die Lippen und fragt dann: »Sagt Ihnen der Name Lester Sundance etwas, Logan?« Er braucht keine Antwort mehr, als er sieht, wie sich das Gesicht Everett Logans jäh verändert. Die Hände Logans umkrampfen die Armlehnen seines Sessels, und aus seinen Augen blickt für einen Moment Ratlosigkeit. »Ich dachte es mir!« knurrt Bennet verächtlich. »Leider war ich mir nicht ganz sicher, ob es dieser Name war. Sie erzählten mir einmal, daß ein Brief an diesen Mann abgegangen sei.« »Ja, einer der Burschen hat an ihn geschrieben«, sagt Logan langsam und schwerfällig, als ob er jedes einzelne Wort überlegen müßte. »Was ist mit diesem Lester Sundance?« »Er ist hier!« verkündet Bennet triumphierend. »Fast könnte man dank meiner Bemühungen schon sagen: Er war hier.« Jetzt erst kehrt die Farbe in Logans Gesicht zurück. »Was soll das bedeuten, Bennet? Drücken Sie sich gefälligst deutlicher aus!« Der Anwalt rekelt sich genießerisch in seinem Stuhl, schenkt sich erneut ein Glas ein und prostet seinem erregten Gesprächspartner zu. In jedem Zoll seiner Haltung ist er ein Sieger. »Nun, dieser Bursche besaß die Frechheit, sich in meine Angelegenheit einzumischen. Er war draußen im Needle-Canyon und ist mit dem Posten aneinandergeraten, den ich dort aufge-
stellt hatte. Leider zog mein Mann dabei den kürzeren. Sundance brachte ihn tot in die Stadt. Ich habe alle Vorbereitungen getroffen, damit er erledigt wird.« Everett Logan hebt langsam den Kopf. Sein Blick ist düster, und seine Brauen bilden einen durchgehenden dunklen Strich. »Was hier in der Stadt geschieht, ist meine Angelegenheit«, murmelt er verbissen. »Dann wäre es Ihnen also lieber, er hätte weiterhin Gelegenheit, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen?« »Das habe ich nicht gesagt«, entgegnet Logan. »Sie sollten froh sein, daß ich Ihnen diese Arbeit abnehme, Logan. Schließlich waren Sie es, der diese Hypothek in unser gemeinsames Geschäft einbrachte. Sie hätten dafür sorgen müssen, daß Lester Sundance gar nicht erst herkam.« Nervös knetet Everett Logan seine Hände. Es dauert eine ganze Weile, bevor er antwortet: »Wie hätte ich das machen sollen? Ich habe Ihnen schon einmal erzählt, daß der Brief an ihn abgeschickt wurde, als es nur darum ging, den Claim auszubeuten. Er wäre der richtige Mann gewesen, um mit den Rothäuten über eine Ausbeutung der Ader zu verhandeln. Ich habe damals zugestimmt, weil ich einsah, daß es nur diesen Weg gab, ungestört an das Gold heranzukommen. Damals hatte ich ja keine Ahnung, daß es im Needle-Canyon ein noch viel größeres Geschäft gab, das ich ganz allein machen würde, und außerdem habe ich gehofft, daß er nicht kommen würde. Wie ich ihn kenne – aus den Erzählungen meines Partners –, ist ihm alles zuwider, was nicht offen und ehrlich geschieht.« »Das war eine hübsche Rede, Logan«, antwortet Bennet. »Jetzt frage ich Sie, was würden Sie tun, um ihn so rasch wie möglich loszuwerden?« »Gar nichts. Lester Sundance ist nicht der Mann, mit dem man auf Anhieb fertigwerden könnte. Und wenn es schiefgeht,
haben wir einen zweibeinigen Tiger auf dem Hals. Warum ihn also erst aufmerksam machen? Er hat den Ritt hierher unternommen und nichts vorgefunden. Deshalb wird er auch wieder verschwinden.« Bennet springt erregt auf, legt die Hände auf den Rücken und beginnt, im Zimmer herumzurennen. Schließlich bleibt er mit einem Ruck vor Logan stehen. »Wer garantiert nur, daß Sundance nicht das Geheimnis des Needle-Canyons entdeckt hat? Sie haben es ja auch gefunden. Wir haben jetzt die Trumpfkarten in der Hand. Sie wird in dem Augenblick stechen, da wir durch unsere Verbindungen in Washington eine Freigabe des Indianergebietes erreichen. Verstehen Sie, Logan, an dem Wissen, das ich Ihnen für zwanzigtausend Dollar abgekauft habe, steckt die Mining Company jede Konkurrenz in die Tasche. Aber vorläufig ist das alles noch illegal. Wir haben keine Möglichkeit, unsere Ansprüche auf gesetzlichem Wege zu schützen, weil das Gebiet noch zum Indianerterritorium gehört. Gut, wir haben andere Mittel gefunden, um lästige Burschen vom Needle-Canyon fernzuhalten. Aber im Falle Lester Sundance ist es danebengegangen. Was ist denn, wenn er ebenfalls das große Geschäft erkannt hat und sein Wissen an eine andere Gesellschaft verkauft?« »Aber das ist doch Quatsch, Bennet!« keucht Everett Logan. »Ich selbst habe es nur durch einen idiotischen Zufall entdeckt. Sie sehen Gespenster.« »Ich kann kein Risiko eingehen«, beharrt der Anwalt und gießt erneut ein Glas voll. »Meine Gesellschaft würde mir die Hölle heiß machen, wenn ich mich auf eine bloße Vermutung verließe. Andererseits ist mir ein Direktorenposten sicher, wenn ich diese Sache bis zum vollen Erfolg durchfechte.« Logans Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammenge-
preßt. Er erhebt sich mit mühsam bewahrter Beherrschung und baut sich dicht vor Bennet auf. »Passen Sie gut auf, Bennet«, sagt er gepreßt. »Wir haben eine Vereinbarung getroffen. Ich überlasse Ihnen und Ihrer Gesellschaft alle Rechte am Needle-Canyon für zwanzigtausend Dollar, weil ich selbst nicht stark genug bin, um die Chance wahrzunehmen. Aber unser Abkommen geht noch etwas weiter. Sie haben mir hier in der Stadt in allen Dingen freie Hand zugesichert. Lester Sundance ist in der Stadt. Es ist meine Angelegenheit, mit ihm fertigzuwerden. Ich traue Ihren Burschen einfach nicht zu, ihn auf Anhieb zu erwischen, und dann habe ich die Schweinerei am Halse. Pfeifen Sie Ihre Kreaturen zurück, Bennet, und zwar verdammt rasch! Ich verstehe keinen Spaß, wenn mir jemand in meine Sachen hineinreden will.« Ausdruckslos blickt der Anwalt seinen Gesprächspartner an, als ob er dessen Argumente gar nicht begriffen hätte. »Ihnen ist ein kleiner Fehler unterlaufen, Logan«, murmelt er sanft. »Sie haben nämlich übersehen, daß Lansbury als Toter in die Stadt gebracht wurde. Bestimmt ist er den Leuten der anderen Interessengruppen nicht unbekannt, wie sie auch längst ahnen, daß ich für die Mining Company arbeite. Sie brauchen Ihren Verstand nicht besonders anzustrengen, um auf die Idee zu kommen, daß Lansburys Tod mit einer großen Sache zusammenhängen könnte. Selbst wenn Sundance keinen blassen Dunst von den Hintergründen dieser Angelegenheit hat, brauchen sich die anderen nur an ihn heranzumachen und in Erfahrung zu bringen, wieso er mit Lansbury aneinandergeraten ist. Schon dieser kleine Hinweis würde ihnen genügen, um sofort Geologen und wilde Prospektoren zum Needle-Canyon zu schicken, und diese Burschen würden herausfinden, was es damit auf sich hat. Das sind Fachleute, die Erzvorkommen schon anhand weniger Ge-
steinsproben auf die Spur kommen. Sehen Sie, Logan, deshalb ist es nicht mehr allein Ihre Angelegenheit. Auch für mich steht eine Menge auf dem Spiel, so daß ich nichts dem Zufall überlassen kann. Im übrigen seien Sie unbesorgt, ich habe alles so arrangiert, daß nichts schiefgehen kann. Sundance ist jetzt schon so gut wie tot. Darauf sollten wir uns einen Schluck genehmigen.« Mit gönnerhafter Miene macht sich der Anwalt daran, ein paar Gläser einzuschenken. Logans Mißtrauen ist zwar noch nicht völlig beseitigt, aber immerhin macht Bennets zuversichtliches Gehabe doch so viel Eindruck auf ihn, daß er ebenfalls nach einem Glas greift. Auch Snipe Bacony, der der Auseinandersetzung schweigend gefolgt ist, kommt nun heran. »Auf ein weiteres Gedeihen Ihrer Geschäfte, Logan!« sagt der Anwalt. »Ich habe bemerkt, daß Sie sich eine weitere ertragreiche Partnerschaft gesichert haben. Vier Wochen noch, dann sind Sie Teilhaber dieser ganzen Stadt. Warum übernehmen Sie den Kram nicht ganz?« Logan grinst vielsagend, sie trinken, und dann antwortet er »Man muß wissen, wie weit man einen Bogen spannen kann, Bennet. Es gibt genügend Beispiele großer Burschen, die sich einfach überfressen hatten und mit ihren Erfolgen protzten. Ich bleibe lieber im Hintergrund und kassiere nur ab. Nehmen Sie das Beispiel Sweeney. Er war nicht sonderlich begeistert, als Snipe ihm erklärte, daß ich als Partner in sein Geschäft eintreten wollte, ganz besonders nicht, als er erfuhr, daß diese Partnerschaft sich keineswegs auf die Unkosten, sondern nur auf den Gewinn erstrecken sollte. Aber Snipe fand die richtige Methode, um ihn zu bekehren. Er unterschrieb den Vertrag. Darin steht, daß er von mir fünftausend Dollar als Geschäftseinalage erhalten hat und daß mir daraufhin zwei Fünftel des Gewinns zustehen. Natürlich hat
er das Geld niemals von mir erhalten. Ein halbes Dutzend weiterer Beteiligungen ist in Vorbereitung.« »Ich sagte es ja, noch ein paar Wochen, dann sind Sie Teilhaber der ganzen Stadt.« Der Anwalt kichert, erhebt sich und greift nach seinem Hut. »Hoffentlich kommen Sie nicht auf die Idee, Teilhaber der Mining Company zu werden. An diesem Brocken würden Sie nämlich ersticken.« Auch Everett Logan steht auf. »Keine Sorge, Bennet, zunächst werde ich mich auf Livingstone beschränken. Wenn ich abermals Appeltit auf ganz große Brocken verspüren sollte, dann verlassen Sie sich darauf, daß ich auch Sie verdauen kann.« Bennet geht, von Snipe Bacony begleitet, zur Tür. »Es ist erfreulich, daß wir gemeinsame Interessen haben«, sagt er. »Sobald die Sache mit Lester Sundance abgeschlossen ist, komme ich noch einmal herüber. Ich schätze, daß das im Laufe der nächsten zwei Stunden der Fall sein wird.« * Einer alten Gewohnheit folgend, geht Lester zunächst zum Fenster, um die Vorhänge vorzuziehen. Vom Gang her fällt gerade genügend Licht herein, damit er sich orientieren kann. Danach hängt er seine Satteltaschen über die Lehne seines Stuhles und reißt ein Zündholz an. Kaum ist das Zimmer von gelblichem Flackerschein erhellt, da peitscht ein Schuß auf. Gleichzeitig ertönt ein Klirren und ein lauter Schrei, kurz darauf ein dumpfer Fall. Lester hastet zum Fenster. Dort unten wogt das Leben der Hauptstraße. Den Schuß scheint man dort nicht bemerkt zu haben. Er blickt zu dem gegenüberliegenden Gebäude, in dem der Fairplay-Saloon ist. Es ist nur einstöckig, und das Dach be-
findet sich mit Lester etwa in gleicher Höhe. Dort oben nimmt er eine schattenhafte Bewegung wahr. Er zerbeißt einen Fluch zwischen den Zähnen und hastet zum Gang. Im gleichen Augenblick öffnet sich dort eine Tür in qualvoller Langsamkeit. Es ist der Betrunkene, der verkrümmt herauskommt. Lester erkennt sofort, daß es nicht mehr die Wirkung des Alkohols ist, die ihn schwanken läßt. Ein Zittern durchläuft den Mann. Ein Ächzen kommt aus seinem Mund, und dann kippt er zur Seite. Roter, blasiger Schaum zeigt sich auf seinen Lippen. Lester kniet neben ihm nieder und wirft nur einen einzigen Blick durch die geöffnete Tür in das Zimmer. Die Lampe steht blakend auf dem Tisch, die Flamme flackert im Luftzug, der durch eine zerstörte Scheibe hereinweht. Wie ein Spinnennetz ziehen sich die Sprünge durch das Glas, von einem winzigen Loch in der Mitte ausgehend. Nur ein Teil der Scheibe ist herausgefallen. Der Mann ist tot. Er hat seine letzte Kraft verbraucht, um sich bis in den Gang zu schleppen. Lester hört eilige Schritte mehrerer Männer auf der Treppe und erhebt sich mit eckigen Bewegungen. Aber da steht Marshal Tom Warden schon hinter ihm. »Verdammt, was war das?« fragt er und blickt auf den Toten hinab. Lester deutet auf die zertrümmerte Scheibe. Der Marshal versteht sofort. Er hastet in das Zimmer, löscht die Lampe und geht ans Fenster. Einen Augenblick starrt er hinaus, dann kommt er in den Gang zurück, wo inzwischen einige Männer um den Toten stehen. Er schließt die Tür hinter sich. Lester starrt auf die Tür. Groß und deutlich steht dort eine 9. »Welcher Hundesohn kann das getan haben?« fragt Clark, der Hotelbesitzer. »Andy war so harmlos, wie es ein Mensch nur sein kann. Überall war er gern gesehen, wenn er sich mit
Gelegenheitsarbeiten durchschlug. Die Pest über den verdammten Mörder!« Auch die letzten Zweifel Lesters werden durch diese Worte beseitigt. Wie Schuppen fällt es ihm von den Augen. Er weiß nicht, von wem Andy erschossen wurde, aber auf die Frage nach dem Warum kennt er die Antwort. Er sieht wieder den Fremden vor sich, der ihn beobachtet haben mußte, als er an der Theke mit Clark sprach. Dieser Bursche mußte auch gesehen haben, wie Clark den Schlüssel vom Brett nahm. Da hing der Anhänger mit der Zimmernummer noch herab. Die Zahl stand auf dem Kopf. So wurde aus einer 6 eine 9. Wenn es nach der Berechnungs dieses Bastards gegangen wäre, läge jetzt er, Lester Sundance, hier tot auf dem verschlissenen Teppich. »Der Schuß wurde vom Dach des gegenübediegenden Daches abgegeben«, sagt er. »Ich habe den Burschen noch gesehen, ihn aber nicht erkennen können. Natürlich ist er längst über alle Berge. Es gab keine Möglichkeit, ihn rechtzeitig einzuholen.« »Kommen Sie mit, Sundance!« faucht Tom Warden. Zu Clark sagt er »Du könntest mir rasch eine Blendlaterne besorgen, George.« Clark verschwindet eilig die Treppe hinab. »Bringt ihn zum Leichenbestatter hinüber«, sagt Warden dann zu den übrigen Männern. »Der Doc soll mir das Geschoß herschicken.« Lester schließt sich ihm schweigend an, als der Marshal die Treppe hinabgeht. Aus dem Keller taucht Clark mit einer brennenden Blendlaterne auf. Warden nimmt sie mit einem unverständlichen Grunzen entgegen und hastet quer über die Straße. Er steuert unbeirrt auf eine dunkle Toreinfahrt zu, die sich direkt neben
dem Fairplay Saloon befindet. Lester ist ständig dicht hinter ihm. Er bewundert den zähen Alten. Ohne daß er ihm gesagt hätte, daß der Mörder an der Hinterkante des Daches verschwunden ist, weiß der Marshal auch so ganz genau, wo er mit seinen Nachforschungen einsetzen muß. Der Schein der Laterne huscht wie ein Irrlicht über den dunklen Hofraum. Dort drüben befindet sich ein Schuppen. Undeutlich hebt er sich vom Nachthimmel ab. Warden lenkt den Lichtschein hinüber, schwenkt an der Holzwand entlang und erstarrt plötzlich, als ein Mann wie festgenagelt inmitten des hellen Kreises steht und abwehrend die Hand vor die Augen hebt. »Was soll der Blödsinn? Funzelt mir nicht ins Gesicht!« Mit langsamen Schritten geht Warden auf ihn zu. Seine Blicke tasten den Burschen ab und bleiben einige Sekunden auf das Schlüsselbund in dessen Hand gerichtet. »Wie lange sind Sie schon hier auf dem Hof, Freundchen?« Mit zusammengekniffenen Augen blinzelt der Mann gegen das Licht. Er hebt sein Schlüsselbund zur Erklärung empor und grollt: »Ich bin gerade herausgekommen, um eine Kiste Schnaps aus dem Schuppen zu holen. Ist das vielleicht ein Verbrechen, Marshal?« »Gehen Sie zum Teufel!« sagt Warden und geht weiter. Der Schern der Laterne streicht über leere Kisten und altes Gerumpel, bis er bei einer Leiter verharrt, die vor der Schuppenwand am Boden liegt. Mit deutlich vernehmbarem Brummen rumort der Barkeeper mit dem Schlüsselbund am Schuppen herum. Lester kniet neben der Leiter nieder und winkt den Marshal heran. Dicht hinter der Leiter ist deutlich eine lange dunkle Rinne zu erkennen. Asseln, Tausendfüßler und kleine weiße Würmer wimmeln darin herum. »Da hat das Ding mindestens vier Wochen lang gelegen«,
murmelt Lester »Der Bursche hat sich sogar die Zeit genommen, die Leiter wieder an ihren Platz zurückzubringen, aber er hat dabei nicht aufgepaßt. Er muß sich verdammt sicher gefühlt haben.« Tom Warden nickt mit einem grimmigen Knurren. »Wir gehen aufs Dach!« kommandiert er dann, aber da hat Lester die Leiter schon emporgehoben, trägt sie zur Hinterfront des Fairplay Saloons hinüber und lehnt sie gegen die vorspringende Kante des leicht geneigten Daches. Wie ein alter Eichkater turnt Tom Warden hinauf, gerade in dem Augenblick, als der Barkeeper wieder aus dem Schuppen auftaucht, um hinter sich verschließt und den Hof überquert. Nachdem Warden oben angelangt ist, folgt Lester ihm so gewandt und lautlos wie ein Schatten. Der Lichtschein tanzt über die grauen Holzschindeln, wandert bis zum First empor und kehrt langsam wieder zurück. Bei einem gelben Glitzern bleibt er plötzlich haften. Zwischen zwei Schindeln liegt die gelbe Messinghülse einer abgefeuerten Patrone. Lester überreicht sie Warden. »Ein Sharp-Mehrladegewehr«, stellt dieser fest. Nur durch die Straßenbreite getrennt, liegen auf der anderen Seite in gleicher Höhe die Fenster von Clarks Boardinghouse, einige davon sind erleuchtet. Soweit die Vorhänge nicht vorgezogen sind, kann man jeweils das ganze Zimmer überblicken. Selbst ein blutiger Anfänger hätte unter diesen Umständen sein Ziel nicht verfehlen können. Lester muß schlucken, als er daran denkt, daß er selbst um ein Haar das Opfer dieses heimtückischen Mordanschlages geworden wäre. Eine Minute später stehen sie wieder unten auf dem Hof. Wenn der Marshal damit gerechnet hatte, daß der Barkeeper seinen Boß benachrichtigen würde, sieht er sich enttäuscht.
Kein Mensch läßt sich sehen. Tom Warden beginnt vor Zorn zu kochen. »Wir gehen durch die Vordertür«, sagt er. »Everett Logan und sein Kartenhai sollen eine Vorstellung bekommen, daß ihnen die Augen übergehen. Wenn wir schon den Mörder nicht gleich erwischen, soll wenigstens etwas Nutzbringendes bei der Sache herausspringen.« Warden stößt die Pendeltür so hart auf, daß sie einem Mann in den Rücken knallt. Ohne dessen beleidigte Äußerung zu beachten, geht er zur Bar hinüber, stellt seine Blendlaterne darauf ab und pustet sie aus. Zufällig ist es der Barkeeper aus dem Schuppen, der ihm gerade gegenübersteht. »Heben Sie das Ding für mich auf«, sagt der Marshal und schiebt dem Mann die Laterne hinüber. Der Barkeeper stellt die Laterne unter die Theke. Lester und der Marshal durchqueren den qualmerfüllten Saloon und gelangen in den Speisesaal. Da es zu den Aufgaben des Townmarshals gehört, allabendlich die Runde durch die Lokale der Stadt zu machen, schenkt ihnen niemand besondere Aufmerksamkeit – bis auf einen Croupier an einem Roulettetisch. Lester bemerkt den Blick, mit dem dieser nach hinten signalisiert und sieht einen glatzköpfigen Bullen sich erheben und gegen die Wandtäfelung lehnen. Tom Warden steuert geradewegs auf den Burschen zu, der ihn um Haupteslänge überragt, baut sich wie ein kampfbereiter Terrier vor ihm auf und schnauzt: »Ich muß Logan sprechen! Los, Mann, öffnen Sie!« Erst jetzt sieht Lester die Türritzen in der Täfelung. Der Bulle schüttelt mit stumpfem Gesichtsausdruck den Kopf. »Der Boß ist nicht da, Marshal. Kommen Sie ein andermal wieder.« Tom Warden bebt vor Wut. Seine Hand liegt auf dem Kolben
des Revolvers. »Ich zähle bis drei, Freundchen, dann ist entweder die Tür offen, oder ich verschaffe mir gewaltsam Eingang!« Dumpfe Verwunderung zeigt sich in den Augen des Rausschmeißers. Offenbar war ein solcher Fall in seinen Anweisungen nicht vorgesehen. »Eins…«, beginnt Tom Warden zu zählen. Seine harte Stimme hat bei dem Glatzkopf einen Kurzschluß zur Folge. Er besinnt sich seiner Körperkräfte und packt zu. Wie Schraubstöcke umklammern seine Hände die Unterarme des Marshals, daß es Warden unmöglich ist, zur Waffe zu greifen. »Wirst du wohl loslassen, du verdammter Gorilla!« keucht Warden. Er kämpft wie ein Sumpfkater, doch seine Kräfte reichen nicht aus, um die Fesseln zu sprengen. Da greift Lester Sundance ein. Mit freundlichem Lächeln tippt er dem Bullen auf die Schulter. »Aber, aber«, murmelt er vorwurfsvoll, faßt mit der Linken ganz sanft unter das Kinn des maßlos verblüfften Burschen und hebt es sacht in die Höhe. Wie ein Dampfhammer wuchtet seine Rechte urplötzlich empor, trifft den Rausschmeißer genau auf den Punkt und läßt den Hinterkopf des Burschen gegen die Holztäfelung donnern. Es bedarf keines zweiten Schlages mehr. Das Opfer rutscht an der Wand hinab und bleibt mit verrenkter Kinnlade liegen. Lester faßt die Beine des Burschen, zerrt ihn zur Seite und deutet mit einladender Handbewegung auf die Tür. »Bitte, bedienen Sie sich, Marshal.« Tom Warden wirbelt mit einer für sein Alter zauberhaften Geschwindigkeit den Colt heraus. Zwei Schüsse krachen unmittelbar hintereinander und bringen jeden anderen Laut in dem großen Spielsaal zum Verstummen. Das kaum sichtbare
Schloß der Tür ist zertrümmert. Nur noch ein Ruck Wardens, dann springt sie auf und gibt den Blick auf den dahinterliegenden Raum frei. Zwei Männer stehen vor ihren Stühlen und starren dem Marshal mit bleichen Gesichtern entgegen: Snipe Bacony und King Bennet, der Anwalt. »Guten Abend, Gentlemen!« Tom Wardens Stimme trieft vor Hohn. Er schiebt den Colt in das Halfter zurück und tritt über die Schwelle. Lester bleibt in der Tür stehen und überblickt die Szene mit wachsamen Augen. Seine Blicke treffen sich mit denen King Bennets, und im gleichen Augenblick sieht er den Anwalt zusammenzucken und mit unsicherer Hand nach der Stuhllehne tasten. Da sagt Warden spöttisch: »Wenn Sie mich fragen, Bennet, so würde ich meinen, daß Sie sich zuviel in anrüchiger Gesellschaft aufhalten. Als Anwalt sollten Sie mehr auf Ihren Ruf achten.« Eine rote Welle schießt in Bennets Gesicht. »Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Warden!« ruft er. »Das ist glatter Hausfriedensbruch im Amt! Sie können schon jetzt getrost Ihren Stern ablegen.« Unter dem grauen Schnauzbart verzieht sich der Mund des alten Marshals zu einem breiten Grinsen. »Wenn Sie sich da nur nicht irren, mein Freund. Ich möchte Logan sprechen.« Snipe Bacony schiebt sich nach vorn. In seinen Augen glitzert der Haß. »Pech, Warden«, sagt er »Logan ist nicht da. Wenn Sie sich vielleicht selbst überzeugen wollen…« Der Marshal winkt wortlos ab. »Sie sind Geschäftsführer in diesem Laden, nicht wahr, Bacony?« »Haben Sie etwas dagegen?« »Ganz im Gegenteil, Bacony, es freut mich unsagbar. Dann sind Sie nämlich zur Entgegennahme meiner Erklärung be-
fugt. Ich verfüge hiermit die sofortige Schließung des Fairplay Saloons!« Der Kartenhai zuckt zusammen und ballt die Hände. Bennet legt ihm die Hand auf den Unterarm und zischt: »Nur langsam, Bacony! Diese Maßnahme wird unser guter Marshal uns sehr genau begründen müssen. Wir haben einen gesetzlichen Anspruch darauf. Nun, Warden, wie steht es damit?« »Sehen Sie, Bennet, das ist Ihr Irrtum. Ich hatte eine Amtshandlung vorzunehmen, und in diesem Falle bin ich befugt, mir gewaltsam Einlaß zu verschaffen, wenn er mir verwehrt wird. Und jetzt sollen Sie auch den Grund für die Schließung dieser Bude erfahren. Es ist ein Mann ermordet worden – vom Dach dieses Hauses aus. Das ist der Grund!« Bennet und Bacony blicken sich an. Der Kartenhai öffnet den Mund, aber da sagt der Anwalt: »Haben Sie Beweise dafür, Warden?« »Ich werde sie dem Richter vorlegen«, entgegnet der Marshal unbeirrt. »Der Mann ist aber nicht in diesem Lokal erschossen worden.« »Das ist auch nicht erforderlich, Bennet. Als Anwalt sollten Sie die Bestimmungen kennen. Es heißt: Auf dem Gelände eines der Vergnügung dienenden Unternehmens. Diese Voraussetzung ist erfüllt. Wenn Sie noch etwas vorzubringen haben, können Sie es dem Richter unterbreiten. Hier ist jetzt Feierabend. Da es bereits nach Mitternacht ist, bleibt das Lokal an den kommenden drei Tagen geschlossen. Dieser Abend rechnet nicht mit!« Ein zitternder Seufzer kommt aus dem Mund des Geschäftsführers. »Ich tue es nicht!« keucht er. »Das ist nämlich nichts weiter
als Schikane. Was haben wir denn damit zu tun, wenn ein Bursche auf das Dach klettert und von dort aus einen Mann abknallt?« Die angespannnte Haltung des Geschäftsführers läßt eine Katastrophe ahnen. Mit heftiger Bewegung schüttelt er die besänftigende Hand des Anwalts ab und schiebt die Hand in den Ausschnitt seiner Jacke. Wardens Hand umschließt mit nervigem Griff den Kolben des Dienstrevolvers. »Dann, mein lieber Bacony«, sagt er in die unheilvolle Stille, »zwingen Sie mich, Sie festzunehmen, ein halbes Dutzend Hilfsmarshals zu verpflichten und die Schließung mit Gewalt durchzusetzen. Leider ergibt das dann den kleinen Unterschied, daß Sie mindestens für einen ganzen Monat auf das Geschäft verzichten müssen. Sie haben die Wahl!« Ein Zittern durchläuft die Gestalt des Geschäftsführers. Vor lauter Haß wirkt sein Gesicht krank und eingefallen. »Hören Sie auf, mit dem Feuer zu spielen, Bacony«, stößt nun auch Bennet hervor. »Diesmal hat er die besseren Karten. Der Kummer wird nur größer, wenn Sie nicht die Ruhe bewahren.« Baconys Haltung lockert sich. Seine bleiche, langfingrige Hand kommt wieder aus der Jacke zum Vorschein und gleitet herab. »In Ordnung«, knurrt er heiser. »Diese Runde geht an Sie, Warden. Aber denken Sie daran, daß es Leute gab, die so lange gesiegt haben, bis sie tot waren.« Der alte Marshal schüttelt verwundert den Kopf. »Ich habe Sie immer für einen besseren Verlierer gehalten, Bacony. Zu Ihren Gunsten will ich annehmen, daß Sie Ihre Worte nicht als Drohung gemeint haben.« »Ah, nein, Marshal«, schaltet sich sofort der Anwalt ein, »es
war wirklich nur eine Warnung, die Sie beherzigen sollten, und keine Drohung.« Tom Warden stößt einen Laut aus, der wie heiseres Bellen klingt und seine ganze Verachtung für den aalglatten Burschen zum Ausdruck bringt. »Dann bringen Sie ihm bei, daß ich nur in einer halben Stunde den Laden ansehen komme. Wenn dann nicht alle Türen und Fenster verrammelt sind, brumme ich ihm weitere drei Tage auf – wegen Mißachtung der Befehle eines Marshals!« Ohne ein weiteres Wort wendet der Alte sich ab. Lester will ihm Platz machen, muß aber feststellen, daß er hoffnungslos eingekeilt ist. Mindestens ein halbes Hundert Männer drängt sich vor der Tür. Um kein Wort zu verlieren, haben sie sich mäuschenstill verhalten, und da auch Lester den Vorgängen gespannt folgte, hat er ihre Anwesenheit kaum bemerkt. Die ersten Reihen drängen jetzt zurück, sind aber selbst eingekeilt und kommen nicht vom Fleck. »Macht Platz, Leute!« ruft Lester über die Köpfe hinweg. »Platz für Marshal Warden!« Die Geschwindigkeit, mit der sich das Gewühl auflöst, ist das beste Zeichen dafür, welchen Respekt der Alte sich verschafft hat. Lester schiebt sich durch die Menge, und Tom Warden hält sich in seinem Kielwasser. Er vermittelt Lester noch einmal einen Eindruck von seiner gelassenen Ruhe und Geistesgegenwart, als er murmelt: »Moment, Sundance«, zur Bar geht und sich dort Clarks Blendlaterne zurückgeben läßt. Auf der Straße stehen trotz der späten Stunde erregt debattierende Gruppen beieinander. Offenbar hat sich die Nachricht von dem Mord an Andy wie ein Lauffeuer verbreitet. Von allen Seiten wird Warden mit achtungsvollen Blicken bedacht. Er nimmt sie kaum wahr.
»Kommen Sie noch auf einen Sprung mit in das Office, Sundance. Ich habe mit Ihnen zu reden«, murmelt er, und Lester folgt ihm bereitwülig. * Tom Warden setzt sich an seinen Schreibtisch, zündet sich bedächtig eine Pfeife an und sagt dann zu Lester »Also nun heraus mit den blanken Tatsachen!« Er fischt in seiner Hosentasche herum und stellt schließlich die gelbe Patronenhülse vor sich auf den Schreibtisch. »Wollen Sie mir etwa immer noch vormachen, daß Sie völlig ahnungslos sind? War es nach Ihrer Meinung etwa Zufall, daß Andy abgeknallt wurde?« Lester sieht die wachen Augen Tom Wardens auf sich gerichtet und gibt die Zurückhaltung auf. Er antwortet schlicht: »Der Mörder hat meine Zimmernummer mit der von Andy verwechselt.« Der Marshal atmet auf. »Na also! Spielen wir doch endlich mit offenen Karten! Warum hat man es auf Sie abgesehen, Sundance, und wer ist der Bursche, der dahintersteckt?« »Ich muß passen, Warden. Ich bin überfragt. Die Sache mit Lansbury hätte ich mir zur Not noch erklären können, aber diesmal reicht meine Phantasie nicht aus.« »Und was war mit Lansbury? Fangen wir doch ruhig ganz von vorn an.« Schweigend kramt Lester einen zerknitterten Briefumschlag aus der Tasche und legt ihn vor Warden hin. Der Marshal betrachtet stirnrunzelnd die Anschrift. Der Brief ist an Marshal Lester Sundance adressiert. »Damit sagen Sie mir nichts Neues mehr, Sundance«, sagt
Warden. »Ich habe längst herausbekommen, woher ich Ihren Namen kannte. Sie haben sich selbst verraten.« »Und wodurch?« »Sie sprachen von der Sammelmappe der Fahndungsblätter und dem Abgangsverzeichnis. Daran habe ich erkannt, daß Sie mit diesen Dingen vertraut sind, und da kam mir plötzlich die Erleuchtung. Was glauben Sie, weshalb ich Sie sonst mit in Logans Saloon genommen habe?« Es dauert kaum eine Minute, bis der Marshal das Schreiben überflogen hat. »Was ist mit diesem Don Avery?« »Er ist tot«, murmelt Lester rauh. »Drei Männer wurden von einer Kavalleriepatrouille im Needle-Canyon begraben. Er war darunter. Obwohl die Geländebeschaffenheit es unmöglich erscheinen läßt, sind sie von Rothäuten überrascht und getötet worden. Es gab aber noch einen vierten Mann, wie aus dem Brief einwandfrei hervorgeht. Ich bin sicher, daß er seine Partner an die Roten verraten hat, um den Fund allein auszubeuten. Ich fand seinen Hut. Hier ist ein Stück des Schweißleders.« Er legt das Beweisstück vor Warden hin. »E.L.«, sagt er. »Eider Lansbury meinen Sie also?« »Es wäre eine einleuchtende Erklärung. Dieser Bursche campierte am Eingang des Canyons, um ungebetene Besucher fernzuhalten. Als ich hineinritt, kam er vielleicht nicht zum Schuß. Als ich aber zurückkam, lag er auf der Lauer. Ich ritt sehr schnell, weil ich indianische Rauchsignale gesehen hatte. Das erweckte bei ihm den sicheren Eindruck, daß ich etwas entdeckt hätte. Sehen Sie, Warden, er hatte keine Möglichkeit, seinen Claim gesetzlich für sich zu beanspruchen. Es gibt keinen Schutz für Schürfstellen, die auf Indianergebiet liegen. Ihm blieb also nur
die Möglichkeit, sich selbst zu schützen, und deshalb wollte er mich erledigen.« »Das ist eine gute Erklärung, Sundance«, sagt der Marshal. »Für meine Begriffe ist sie sogar zu gut. Alles fügt sich lückenlos ineinander, aber trotzdem gibt es einen Haken, davon bin ich überzeugt.« Die Worte Wardens lassen auch Lesters Zweifel wieder erwachen. Er blickt den Rauchwolken nach, die als blauer Dunst zur Decke emporsteigen. Plötzlich bleiben seine Augen an den Garderobenhaken haften, auf denen Wardens und sein eigener Hut einträchtig nebeneinander hängen. Wie ein Blitz durchzuckt ihn die Erkenntnis. »Haben Sie zwei Hüte, Warden?« stößt er hastig hervor. »Wie kommen Sie auf solchen Blödsinn?« »Ich auch nicht«, sagt Lester. »Ich bin auch überzeugt, daß es in dieser ganzen Stadt höchstens ein halbes Dutzend Männer gibt, die über zwei Deckel verfügen – entweder würdige Bürger oder Gecken. Lansbury gehört zweifellos zu keiner dieser beiden Gruppen.« »Und weiter?« »Als ich mit Lansbury aneinandergeriet, hatte er einen Hut auf. Ich Narr habe es übersehen!« »Na also!« Der Marshal atmet auf, gleich darauf aber legt sich sein Gesicht wieder in finstere Falten. »Zum Teufel«, keucht er, »jetzt haben wir herausgefunden, daß Lansbury nicht der Bursche mit dem Hut gewesen sein kann, und nun wissen wir nicht, weshalb er dann auf Sie geschossen hat!« Lester hat die Augen geschlossen. »Lansbury schoß auf mein Pferd«, murmelt er nach einer Weile. »Er hatte es auch gar nicht eilig, obwohl auch er von seinem erhöhten Standpunkt aus die Rauchsignale gesehen haben mußte. Folgerung: Er hatte von den Rothäuten nichts zu fürchten, weil er mit ihnen un-
ter einer Decke steckte – genau wie der Verräter. Er wollte mich auf jeden Fall festnageln, indem er meinen Wallach erschoß. Die Cheyennes hätten dann den Rest besorgt. Aber warum, wenn er mit dem Goldfund nichts zu tun hatte? Ich komme immer wieder auf den Hut zurück. Wem kann er gehört haben, wenn nicht dem Verräter?« »Einem der Toten?« Lester schüttelt den Kopf. »Keiner ihrer Namen hatte die Anfangsbuchstaben wie die im Schweißleder.« »Auf diesem Weg kommen wir nicht weiter«, sagt Warden. »Lassen wir doch diesen verdammten Hut! Halten wir uns an beweisbare Tatsachen. Ich bin sicher, daß auch der Mordanschlag hier in der Stadt mit dem Needle-Canyon zusammenhängt.« »Vielleicht«, sagt Lester unbestimmt. »Bis jetzt steht nur fest, daß Andy mit mir verwechselt wurde, besser gesagt, unsere Zimmer verwechselt wurden, und daß er deshalb daran glauben mußte. Ein breitschultriger Bursche mit etwas kantigem Kinn hat unten im Speisesaal beobachtet, wie Clark mir den Schlüssel gab. Aber er las die Zahl auf dem Kopf, und deshalb wurde Andy im Zimmer neun erschossen.« »Ich habe es mir gedacht«, sagt Warden. »Wie Sie diesen Burschen beschreiben, muß es Chance Jagger gewesen sein. Ich habe ihn im Verdacht, daß er für Bennet arbeitet, aber mir fehlen die Beweise.« In diesem Augenblick betritt Fatty Kingsley das Office. »Hier ist die Kugel, mit der Andy erschossen wurde, Marshal, und der Bericht vom Doc ist auch dabei. Habe ich jetzt endlich Feierabend?« »Verschwinde, Dicker«, sagt Warden, und daraufhin verschwindet Fatty durch eine Tür in einen nebenanliegenden
Raum, der anscheinend für ihn hergerichtet ist. Als erstes entnimmt der Marshal einem Briefumschlag ein Geschoß. Es ist nur wenig deformiert und paßt noch jetzt genau in die Hülse. Darauf wirft er einen Blick auf den beigefügten Zettel. »Euer Doc arbeitet aber verteufelt prompt«, sagt Lester. »Eine Autopsie mitten in der Nacht, sogar innerhalb einer Stunde…« »Er ist noch ein junger Doktor«, entgegnete der Marshal. »Jede Leichenschau bringt ihm drei Dollar aus der Gemeindekasse. Er kann sie gut gebrauchen.« Da kommt ein sägendes Geräusch von nebenan gedämpft durch die Tür. »So macht Fatty es immer«, sagt Warden. »Allein deshalb ist mein Käfig mehr gefürchtet als das schlimmste Zuchthaus. Aber zurück zum Thema. Ich wollte Ihnen von den Verhältnissen in dieser Stadt erzählen. Sehen Sie, Sundance, es hat in den letzten Jahren eine Menge Mineralfunde hier im westlichen Montana gegeben. Minencamps schossen aus dem Boden. Männer wurden über Nacht zu Millionären, und das läßt tausend andere nicht schlafen. Überall ziehen Prospektoren und Digger herum, selbst bis in das Indianergebiet hinein. Ganz zu schweigen von den großen Gesellschaften, die Überall ihre Fühler haben. Diese Gesellschaften und Syndikate arbeiten mit allen Mitteln. Wenn es erst soweit ist, sind sie auch mächtig genug, um in Washington eine Verpflanzung der Rothäute durchzusetzen. Vorläufig ist Livingstone von dem wirklich großen Run verschont geblieben, wenn auch immer mehr dunkle Existenzen hier aufkreuzen und sich breitmachen. King Bennet gehört dazu und ebenfalls dieser Everett Logan. Alles deutet darauf hin, daß sie mit einem großen Fund in unserer Gegend rechnen und rechtzeitig Stellung beziehen, damit sie gleich am
Drücker sind, wenn das große Geschäft beginnt. Vor wenigen Wochen tauchten sie gemeinsam auf. Logan kaufte den Fairplay Saloon, und damit nahm aller Verdruß seinen Anfang. Eines Tages kam Lindsay, der Besitzer einer Futtermittelhandlung, zu mir und behauptete, Snipe Bacony habe ihn zwingen wollen, ohne jede Gegenleistung einen Teilhaber in sein Geschäft aufzunehmen. Ich stellte den Kartenhai zur Rede, aber er lachte mir ins Gesicht. Er habe Lindsay nur den Vorschlag gemacht, seinen Betrieb zu erweitern und zu diesem Zweck einen Partner zu suchen, der mit ein paar tausend Dollar einstiege. In der darauffolgenden Nacht brannte Lindsays Geschäft ab. Ich verhaftete Snipe Bacony und erhob Anklage. Bennet übernahm seine Verteidigung. Aber obwohl man Bacony kurz vor dem Brand in der Nähe von Lindsays Haus gesehen hatte, konnte sich weder der Richter noch die Geschworenen entschließen, ihn schuldig zu sprechen. Es war offensichtlich, daß sie unter Druck gesetzt worden waren. Bacony wurde freigesprochen. Lindsay war fertig. Ihm war nichts geblieben. Aber selbst das reichte den Burschen noch nicht. Er wurde in der folgenden Nacht erschossen. Von den Tätern keine Spur. Ich sprach mit dem Richter darüber, aber der wies mich schroff ab. Da wurde mir klar, daß Bennet den Richter irgendwie gekauft haben mußte. Kaum zwei Wochen sind seitdem vergangen. In dieser Zeit haben drei Geschäftsleute und ein Saloon-Wirt ihre Firmierung geändert. Jeder von ihnen nahm einen Teilhaber auf. Ich habe nachgeforscht, aber sie sind so eingeschüchtert, daß sie jede Auskunft über ihren neuen Geschäftspartner verweigern. Jeder in der Stadt weiß, was gespielt wird, aber niemand wagt auch nur ein einziges Wort zu sagen. Das ist Terror, Sundance, und ich kann nichts dagegen unternehmen, weil mir die Beweise fehlen.«
Überlegend wiegt Lester den Kopf. »Sie meinen also, daß Logan dahintersteckt? Was ist er für ein Bursche?« »Ich habe ihn nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Er ist groß, gewandt und dunkelhaarig. Das Grinsen scheint in seinem Gesicht festgefroren zu sein. Durch sein Haar zieht sich eine einzelne weiße Strähne. Aber geben Sie sich keine Mühe, Sundance. Ich habe schon sämtliche Fahndungsblätter vergeblich durchgestöbert. Nichts zu machen. Ich bin schon zu alt, Lester. Dieser Stadt fehlt ein Mann wie Sie, Sundance! Sie würden bestimmt die richtigen Töne finden. Wenn Sie wollen, mache ich Sie sofort zum Deputy. Ich werde Ihnen freie Hand lassen, Sundance, nehmen Sie den Stern.« Lester starrt nachdenklich auf seine staubbedeckten Stiefel, zieht ein paarmal an seiner Zigarette und schüttelt schließlich den Kopf. »So lange Sie da sind, wäre das falsch, Warden. Es gibt eine Verbindung zwischen den Geschehnissen im Needle-Canyon und King Bennet. Der Mordversuch vom Dach des Fairplay Saloons wiederum schafft einen Zusammenhang zwischen diesem und Logan. Das ergibt eine Menge offener Fragen. Ich werde mich um die Beantwortung kümmern, auch ohne den Stern zu tragen, denn ich habe eine Abneigung gegen Burschen, die durch Fenster auf andere Leute schießen. Meine Hilfe ist Ihnen auch so gewiß, Warden. Morgen werde ich mir den Burschen vorknöpfen, der mich bei Clark beobachtete.« Der Marshal erhebt sich gähnend und reckt die Schultern. Mit einem Blick auf die Uhr sagt er dann: »Sie meinen, daß Sie sich heute um ihn kümmern werden, Sundance. Es ist drei Uhr, mein Freund. Für mich lohnt es sich nicht mehr, ins Bett zu gehen. Ich werde hier auf einer Pritsche schlafen. Aber Sie sollten noch ein paar Stunden in die Federn kriechen.« »Das ist eine gute Idee, Marshal«, sagt Lester.
Sie verabschieden sich mit einem festen Händedruck. Lester geht hinaus und hört, wie Warden hinter ihm den Schlüssel im Schloß herumdreht. Erst wenige Schritte ist er entfernt, als hinter der großen Scheibe des Offices das Licht verlöscht. * Zu dem Zeitpunkt, als Lester auf sein Zimmer geht, sitzen in einem kleinen Raum im Anbau des Fairplay Saloons vier Männer beieinander. Das Zimmer ist blau vom Rauch der Zigaretten, deren Stummel einen überdimensionalen Aschenbecher füllen. »Verdammt, warum hackt ihr dauernd auf mir herum?« fragt Chance Jagger, Bennets Revolvermann. »Jedem anderen wäre es ebenso ergangen. Es war eine verdammte Verwechslung. Als ich erkannte, daß ich den Falschen aufs Korn genommen hatte, hatte ich schon abgedrückt.« Mit höhnisch-bitterem Grinsen lehnt sich Everett Logan zurück und blickt zu dem Anwalt hinüber. Offenbar in der Absicht, über das Mißgeschick hinwegzureden, sagt King Bennet: »Also, Logan, es tut mir natürlich leid, daß wir nichts erreicht haben. Beim nächsten Mal…« »Nur nicht so schüchtern, Bennet«, fährt Logan angriffslustig dazwischen. »Etwas haben Sie ja erreicht: Daß der Fairplay Saloon drei Tage geschlossen bleibt. Es ist genau das eingetreten, was ich befürchtet hatte. Jetzt haben wir nicht nur Warden, sondern auch Sundance auf dem Hals. Ich kenne ihn, glauben Sie nicht, daß er sich ins Bockshorn jagen läßt. Er wird nicht eher Ruhe geben, bis er genau weiß, was gespielt wird.« »Er ist kein Übermensch«, grollt der Anwalt. »Im Augenblick ist jedenfalls Warden für uns viel gefährlicher. Dieser Bursche besitzt die legalen Machtmittel. Knöpfen wir ihn uns doch
endlich vor.« »Leider wird uns nichts anderes übrigbleiben, dafür haben Sie schon gesorgt, Bennet« sagt Logan anzüglich. »Ich habe mich immer bemüht, unsere Geschäfte nicht mehr als unbedingt erforderlich an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Sie schaffen das Gegenteil im Handumdrehen. Wollen Sie auch Warden auf die gleiche geniale Weise ausschalten, wie Sie es bei Sundance versucht haben?« »Der Spott wird Ihnen noch vergehen, Logan«, entgegnet der Anwalt hinterhältig. »Tom Warden wird mit einem Donnerschlag zur Hölle fahren, der auf einmal Ruhe schafft. Verlassen Sie sich darauf, es gibt danach keinen Verdruß mehr für uns.« »Ich werde mich lieber nicht darauf verlassen, Bennet. Spucken Sie Ihren Plan aus, dann können wir weiterreden.« King Bennet wirft sich selbstgewußt in die Brust, und dann beginnt er seine Idee zu entwickeln. Danach blickt er sich beifallheischend um. Er wird nicht enttäuscht. Bacony nickt ihm zu, und auch Logan räumt ein, daß die Idee nicht schlecht ist. »Aber woher wollen Sie wissen, daß Warden tatsächlich die Nacht in dem Office verbringt?« »Ich kenne ihn«, sagt der Anwalt. »Wenn es so spät geworden ist, geht er nie mehr ins Hotel, sondern schläft auf einer Pritsche.« »Kein Irrtum möglich?« »Bestimmt nicht«, versichert Bennet. »Den erforderlichen Stoff habe ich in meinem Büro.« Logan überlegt noch einen Augenblick, trommelt nervös mit den Fingern auf die Tischplatte und richtet sich schließlich entschlossen auf. Seine Blicke suchen Snipe Bacony. »Du wirst ihm unser kleines Geschenk überbringen, und danach werden wir Warden einen hübschen Kranz spendieren. Und auf die Schleife schreiben wir: Unserem unvergeßlichen
Townmarshal von seinen dankbaren Mitbürgern.« * Durch unaufhörliches Pochen an seine Tür wird Lester Sundance geweckt. Es ist Clark, der Hotelbesitzer. Mit einem Satz fährt Lester in die Hose und öffnet hastig die Tür. »Sie sollen zu Tom Warden kommen«, sprudelt der Alte hervor. »Er ist beim Doc. Fatty war hier und sagte, daß es verdammt dringend sei.« Lester hat schon die Stiefel an den Füßen und streift sich gerade sein Hemd über, als er fragt: »Was ist passiert? Was macht Warden beim Doc?« »Ich weiß selbst nichts Genaues«, sagt Clark. »Die ganze Stadt ist voll von Gerüchten. Das Marshaloffice soll zertrümmert und Warden schwer verletzt sein.« Er endet in dem Moment, als Lester sich bereits den Revolvergurt um die Hüften legt und den Hut aufstülpt. Im Gehen streift er sich die Jacke über. Er eilt bereits über den Gang, als Clark ihm noch nachruft: »Nach rechts die Hauptstraße entlang. Der Doc wohnt auf dieser Seite!« Zuerst entdeckt er Fatty, der einen Verband um die Stirn trägt. Mit hilfloser Gebärde und gramzerfurchtem Gesicht deutet er auf den Eingang zum Haus des Doktors. Lester geht wortlos vorüber. Am Ende eines Ganges tritt ihm ein noch junger Mann entgegen. Lester mustert ihn blitzschnell, aber eingehend. Der Doc hat ein offenes, klares Gesicht, aus dem ernst Augen auf Lester blicken. »Ich bin Lester Sundance.« Lester streckt ihm rasch die Hand entgegen.
»Ich bin Doc William Croyden. Nennen Sie mich Bill.« Ein verstehendes Nicken hinüber und herüber, dann deutet der Doc auf eine Tür und murmelt: »Machen Sie's so kurz wie möglich, Lester. Der starke Blutverlust hat ihn sehr geschwächt. Ich muß mich verdammt anstrengen, wenn ich ihn durchbringen will.« Die Tür öffnet sich vor Lester. Er steht in einem Krankenzimmer. »Da sind Sie ja, Sundance.« Der Marshal lächelt schwach und hebt mühsam die Hand. »Wie ist das passiert?« fragt Lester rasch. »Eine Sprengladung oder so was, denke ich«, kommt es von Wardens Lippen. »Bei Anbruch der Morgendämmerung wurde sie durchs Fenster geworfen. Ich hörte das Klirren und fuhr empor. Die Lunte sprühte. Sie war zu kurz, daß mir keine Zeit mehr blieb, das Ding wieder hinauszufeuern. Da habe ich mich hinter die Pritsche geworfen. Wenige Schritte vor der Zelle, in der ich mich befand, ist das Satanswerk explodiert. Ich hörte einen Knall und spürte einen unheimlichen Druck, dann war es aus. Erst hier wachte ich wieder auf. Fatty hat mich hergeschleppt. Er hat glücklicherweise nicht viel abbekommen.« Warden legt eine kleine Pause ein, bevor er fortfährt: »Sundance, noch heute nacht, als ich Ihnen anbot, Deputy zu werden, sagten Sie, das sei falsch, so lange ich da wäre. Für jene Burschen bin ich jetzt nicht mehr da, aber ich würde ihnen gern etwas Hübsches hinterlassen, woran sie sich die Zähne ausbeißen sollen. Können Sie sich vorstellen, was das ist, Lester Sundance?« Lester hat schon bei Wardens ersten Worten begriffen. Ein Blick auf den bandagierten Alten macht ihm den Entschluß leicht. Er geht zur Wand hinüber, wo die Jacke des Marshals
hängt. Sie ist zerfetzt und mit Blut beschmiert. Selbst der Marshalstern hat etwas abbekommen. Er löst ihn mit sicheren Griffen. Wardens Augen strahlen, als Lester wieder vor dem Bett steht. »Noch bin ich Marshal«, sagt er, und die grimmige Genugtuung ist ihm anzumerken. »Ich kann noch einen Deputy verpflichten. Weil Sie der einzige sind, Lester, werden Sie mein Nachfolger mit allen Befugnissen und Rechten, daran ist nicht zu rütteln. Nur durch eine neue Wahl könnten sie das ändern, und davor werden sie sich hüten, diese Bastarde. Holen Sie einen Zeugen zur Vereidigung, Sundance.« Lester geht zur Tür und winkt den Doc herein. Der Marshalstern blinkt auf Tom Wardens Bettdecke. Lester steht straff aufgerichtet. Es ist die alte Eidesformel. Lester kennt sie von vielen Verpflichtungen her, auch von solchen, die er selbst vorgenommen hat. Ruhig und unbewegt spricht er sie mit erhobener Rechten nach und nimmt den Stern aus Tom Wardens kraftloser Hand entgegen. Dann geht er hinaus. Im Flur wartet er, bis Croyden nachkommt und leise die Tür hinter sich schließt. »Es gibt etwas, was ich Ihnen nicht verschweigen darf, Bill«, erklärt er. »Die Gefahr für Tom Warden muß noch nicht unbedingt vorbei sein. Wenn seine Gegner erfahren, daß er noch lebt, könnten sie es wieder versuchen.« Bill Croyden langt wortlos hinter einen Schrank, der im Flur steht, und hält im nächsten Augenblick eine doppelläufige Schrotflinte in der Hand. »Nur über meine Leiche, Lester!« Da weiß der frischgebackene Marshal von Livingstone, daß er einen Freund und Verbündeten gewonnen hat. Fatty bemerkt den Marshalstern an Lesters Jacke auf Anhieb. Seine Augen beginnen zu glänzen.
»Old Tom hat mir erklärt, was der Name Lester Sundance bedeutet«, sagt er erfreut. »Geht es jetzt los, Marshal? Zeigen wir es diesen verdammten Schuften?« Lester grinst über den Eifer des Dicken. »Auch ein Marshal muß sich rasieren und frühstücken. Und danach werde ich mir von Richter Pembroke die Bestätigung meiner neuen Würde holen, weil alles seine Ordnung haben muß. In der Zwischenzeit kannst du dich um das Office kümmern, mein Freund. Hole die nötigen Handwerker zusammen und lasse alles herrichten. Spätestens heute mittag will ich ein anständiges Büro vorfinden.« Mit ruhigen Schritten geht Lester davon, um seine Morgentoilette nachzuholen. Er frühstückt ausgiebig und kümmert sich nicht um die anderen Gäste, die sich außer ihm im Speiseraum befinden. Er ist sicher, daß die Nachricht von dem Stern auf seiner Jacke auch ohne sein Zutun wie ein Lauffeuer die Stadt durcheilen wird. Erst im Hinausgehen erkundigt er sich bei Clark nach der Wohnung des Richters. Kurze Zeit später steht er vor dem Haus in einer Nebenstraße, an dessen massiver Tür ein glänzendes Messingschild besagt, daß hier Richter Benjamin Pembroke wohnt. »Guten Morgen, Euer Ehren«, sagt Lester respektvoll und nimmt seinen Hut ab. »Ich bin gekommen, um mich gleich bei Amtsantritt vorzustellen. Mein Name ist Lester Sundance.« »Amtsantritt – was soll das?« fragt Pembroke bissig. »Mir ist nichts davon bekannt. Nehmen Sie gefälligst den Stern ab, Mister…« »Sundance«, hilft Lester freundlich aus. Er hat deutlich das Erschrecken erkannt, das der Richter hinter einer bärbeißigen Miene zu verbergen sucht. »Was den Stern anbelangt, Sir, so trage ich ihn zu Recht. Vor ziemlich genau einer Stunde bin ich
vom amtierenden Marshal Warden vereidigt worden.« Pembroke kneift die Augen zusammen und brüllt dann: »Das ist eine Unverschämtheit! Wollen Sie mir Rechtsbelehrungen erteilen, Mann?« »Nur einen Irrtum richtigstellen, Sir«, entgegnet Lester mit unverändert höflicher Stimme. »Jetzt reicht's mir aber! Es gibt keine Ernennung ohne meine richterliche Zustimmung. Das ist Amtsanmaßung und wird Sie mindestens drei Monate kosten, wenn Sie nicht sofort das Ding da ablegen.« »Leider muß ich noch einmal widersprechen, Sir. Bei einer normalen Ernennung mag Ihre Meinung zutreffen. In Fällen drohender Gefahr jedoch ist der amtierende Marshal berechtigt, einen oder mehrere Deputys zu verpflichten. Im Falle der Verhinderung des Marshals rückt der dienstälteste an dessen Stelle auf und kann nur durch Neuwahl oder bei schwerer dienstlicher Verfehlung abgelöst werden. Bei einer Ablösung aus dem letzten Grunde ist jedoch die Beschwerde an den Gouverneur zulässig, der daraufhin einen Untersuchungsausschuß einzusetzen hat.« Langsam, als ob ihm die Luft wegbliebe, sinkt Pembroke in seinen Lehnstuhl. »Und was ist mit der drohenden Gefahr?« »Gestern wurde in der Stadt ein Mord verübt, gegen Morgen durch ein Sprengstoffattentat das Marshaloffice verwüstet und Tom Warden verletzt.« Pembroke braucht eine Atempause. Diese Entwicklung kommt für ihn ziemlich überraschend. Schließlich fragt er ratlos: »Was wollen Sie also hier – Marshal?« »Mich vorstellen.« Lester grinst. »Ich lege großen Wert auf eine gute und reibungslose Zusammenarbeit, bei der Mißverständnisse ausgeschlossen sind.«
Richter Pembroke ist geschlagen. »Es ist in Ordnung, Marshal« murmelt er bedrückt. »Ich nehme es zur Kenntnis. Sind Sie jetzt zufrieden?« Lester deutet eine kleine Verbeugung an und geht hinaus. Pembroke denkt: Diese Narren, sie haben nicht damit gerechnet, daß Warden doch am Leben bleiben könnte. Jetzt haben sie keinen alten Fuchs, sondern einen ganz jungen Tiger im Nacken. * Eine Stunde lang geht Marshal Lester Sundance durch die Stadt. Als er seinen Rundgang schließlich beendet, hat er den Grundriß von Livingstone im Kopf wie eine präzise Landkarte. Zehn Minuten später reitet Lester Sundance aus der Stadt. Etwa zwei Meilen folgt er der Straße entlang des Yellowstone River nach Osten, dann biegt er nach Süden ab. Er braucht nicht lange, um eine Furt durch den Fluß zu finden, und schlägt einen weiten Halbkreis in zunächst südwestlicher Richtung. Er überläßt nichts dem Zufall, sondern geht gründlich zu Werke. Zuviel kann eines Tages von seiner Kenntnis dieser Gegend abhängen. Etwa eine Stunde braucht er, um den südlichen Halbkreis zu vollenden und den Fluß in entgegengesetzter Richtung zu durchqueren, eine weitere, um sich auch im Norden die Geländeformationen einzuprägen und schließlich zum Ausgangspunkt seines Rittes zurückzukehren. Um ein Uhr findet er sich zum Mittagessen in Clarks Speisesaal ein und geht eine halbe Stunde später zum Office hinüber. Er kommt gerade hinzu, wie Fatty den verschiedenen Handwerkern ihre Arbeitszeit quittiert, damit sie bei der Stadtkasse
ihre Rechnungen vorlegen können. Bei seinem Erscheinen drängen die Männer mit scheuem Gruß hinaus. Es ist nicht schwer zu erraten, daß Fatty ihnen Wunderdinge über den neuen Marshal berichtet hat. »Prächtig!« stellt Lester fest und begutachtet das Office. Hier ist wirklich ganze Arbeit geleistet worden. »Es ist gut, Fatty.« Lester nickt anerkennend. »Du kannst jetzt zum Essen gehen. Halt, vorher will ich dich noch vereidigen. Du sollst mein Deputy werden.« Lester holt einen Deputy-Stern und sagt feierlich: »Fatty Kingsley, sprechen Sie mir nach…« »Nicht doch!« keucht der Dicke. »Fatty ist nur mein Spitzname, weil ich so viel Speck angesetzt habe. In Wirklichkeit heiße ich Alexander.« Lester nimmt die Verpflichtung vor und sucht an Fattys Vorderseite einen geeigneten Platz für den Stern. Er ist sich nicht schlüssig, wo der Bauch des Dicken anfängt und wo die Brust aufhört. Und dabei schielt Fatty ununterbrochen abwärts, vermutlich in der begründeten Angst, daß die Nadel mehr als nur seine Jacke durchbohren könnte. Immerhin bringt aber seine Miene den festen Entschluß zum Ausdruck, jeden Schmerz männlich zu ertragen. Als Alexander Kingsley dann endlich stolz den Raum verlassen hat, setzt sich Lester an den Schreibtisch und sieht die wichtigsten Papier durch. Es ist eine Routinearbeit für ihn. Da fällt ihm ein Blatt in die Hände, das mit der verschnörkelten Handschrift Tom Wardens bedeckt ist. Lächelnd blickt er auf die Niederschrift seiner eigenen Vernehmung vom Vortage. Es ist wirklich kaum zu fassen, daß seitdem nicht einmal vierundzwanzig Stunden vergangen sind. Er nimmt in Gedanken den Leinenbeutel aus einem Schubfach, in dem der Tascheninhalt des toten Elder Lansbury auf-
bewahrt ist, und schüttelt den Inhalt vor sich auf die Tischplatte. Wie ein elektrischer Schlag durchzuckt ihn plötzlich der Gedanke an seine Wahrnehmung am Vorabend, als King Bennet sich so auffallend dicht neben dem Schreibtisch aufgehalten hatte. Sofort breitet er die Gegenstände vor sich aus. Tom Warden ist dazu gekommen, ein genaues Verzeichnis aufzustellen, wie es die Vorschrift erfordert. Bisher hat er nur die Geldscheine mit einer Klammer gebündelt und einen Zettel angeheftet, auf dem der Betrag des Papiergeldes und der Münzen angegeben ist. Lester zählt das Geld. Wie nicht anders zu erwarten, stimmt der Betrag bis auf den letzten Cent. Auch Klappmesser, Pfeife und Tabaksbeutel sind vorhanden. Was war es noch gewesen? Richtig, ein kleiner grüner Stein. Lesters Hände wühlen die Gegenstände durcheinander, kehren sie um und um, schütteln noch einmal den Beutel aus und tasten ihn ab. Das kleine, kantige Gesteinsbröckchen, das so grün schimmerte, ist verschwunden. Lesters Gedanken wirbeln wild durcheinander. Tom Wardens Bericht von Erzfunden fällt ihm ein. Das ist der Ausgangspunkt, nach dem er gesucht hat. In plötzlichem Entschluß springt er auf, stülpt seinen Hut auf den Kopf und geht hinaus. Da Fatty noch nicht zu sehen ist, verschließt er das Office. Was er jetzt vorhat, ist schon der erste Erfolg seines morgendlichen Rundganges durch die Stadt. Er weiß, daß es in der ersten Nebenstraße das Büro eines Sachverständigen für Mineralien gibt. Als Lester das kleine Labor betritt, beginnt oben an der Tür eine Glocke zu bimmeln. Ein schmächtiger Mann mustert ihn über funkelnde Brillengläser hinweg. Er reibt sich die knochigen Hände und fragt: »Was gibt es, Mister?« Lester dreht sich ihm voll zu. Der Marshalstern auf seiner Jacke läßt den Mann sogleich seine Haltung verändern.
»Nur eine Auskunft«, sagt Lester freundlich. »Sie haben doch eine Lizenz als Prüfer für Mineralien, nicht wahr?« »So ist es«, knurrt der andere. »Was kann ich für Sie tun, Marshal?« »Ich möchte von Ihnen erfahren, worum es sich bei einem grüngeäderten Gestein handelt, das zackige Bruchflächen aufweist und in dieser Gegend vorkommt?« Es scheint, als ob der Mann erleichtert wäre, daß sich der Besuch des Marshals als so harmlos erweist. Er atmet tief durch. »Keine Probe?« »Leider nicht.« »Dann sind Ihre Angaben recht mager, Marshal. Es gibt mehr als ein Dutzend Gesteins- und Erzsorten, die grünliche Tönung aufweisen. War das Mineral auffallend schwer oder leicht, war es weich oder hart?« »Keine Ahnung«, murmelt Lester. »Ich habe es nicht in der Hand gehabt, sondern nur gesehen. Wenn es nicht anders geht, dann nennen Sie mir eben alle Sorten, die überhaupt in Frage kommen.« »Nun, nun.« Der Mann hebt beschwichtigend die Hand. »So rasch werfen wir die Flinte doch nicht ins Korn. Mehr als die Hälfte dieser Gesteine können wir von vornherein ausschließen, weil sie hier nicht vorkommen. Sie haben den Stein gesehen, sagen Sie? Würden Sie ihn wiedererkennen?« »Ich glaube schon.« Der Mann nickt und geht zu einem kleinen Schrank, dessen Vorderseite aus schmalen Schubfächern besteht. Eins nach dem anderen zieht er auf und nimmt aus mehreren kleine Schachteln mit Gesteinsproben. Er stellt sie der Reihe nach auf den Experimentiertisch und macht eine einladende Handbewegung. Lester tritt näher und unterzieht jede Schachtel einer eingehenden Betrachtung.
»Es gibt wirklich keinen Zweifel, dies da ist es!« Lester deutet auf eine der Proben. »Irren Sie sich bestimmt nicht, Marshal?« fragt der Mann. »Sie sagten, daß das Mineral aus dieser Gegend stammen soll.« Lester spürt die Erregung des Mannes und wird vorsichtig. »In diesem Punkt will ich mich nicht festlegen«, murmelt er. »Vielleicht ist es doch weiter weg gefunden worden. Aber daß es sich um diese Art von Gestein handelt, steht fest.« Der Mann nimmt die Schachtel auf und hält sie Lester dicht vors Gesicht. »Wissen Sie, was das ist, Marshal? Das ist kein Gestein, sondern Erz – das hochwertigste Kupfer, das es gibt. Diese Probe stammt aus Dalys Mine bei Anaconda, die jedes Jahr Millionenbeträge abwirft.« »Ich habe es geahnt«, flüstert Lester und läßt kein Auge von den kleinen Erzbröckchen. Dann erwacht er aus seiner Erstarrung. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie über unsere Unterredung strengstes Stillschweigen zu bewahren haben, Mister«, sagt er betont. Der Mann zuckt beleidigt die Achseln. »Wem sagen Sie das, Marshal? Ich bin vereidigt!« Lester hat es plötzlich sehr eilig. Er hastet zum Office zurück und findet Fatty wartend vor. Lester öffnet schweigend die Tür, geht hinein und sagt zu seinem Deputy: »Wir gehen sofort wieder. Nimm eine Waffe mit und Handschellen. Wir nehmen eine Verhaftung vor.« Fattys Gesicht wird zunächst bleich, um im nächsten Augenblick hochrot vor Freude zu strahlen. Mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit bewegt er seine Körpermassen, holt nickelglänzende Handschellen aus einem Schubfach, nimmt eine Schrotflinte aus dem Gewehrhalter und überprüft die Ladung.
Wenige Augenblicke später gehen sie über die Straße, Fatty immer einen halben Schritt hinter Lester. »Wer ist es, Marshal?« fragt er atemlos. »Du wirst es gleich sehen«, sagt Lester über die Schulter. »Ich bin sicher, daß du zufrieden sein wirst.« Drei Häuser vor dem Fairplay Saloon befindet sich das Büro King Bennets. Lester öffnet ohne anzuklopfen die Tür. Ein Mann lehnt in lässiger Haltung mit dem Ellenbogen auf der Oberkante eines Sekretärs. Er sieht den Marshal und richtet sich stocksteif auf. Ein scharfes Zischen kommt aus einem Mund. Es ist Chance Jagger. King Bennet sitzt mit dem Rücken zur Tür vor dem Schreibtisch. Bei dem warnenden Laut fährt er herum. Zweifellos ist er längst über Lester Sundances Ernennung zum Marshal unterrichtet, aber dennoch zeigt sich Überraschung in seinem Gesichtsausdruck. Seine Blicke werden etwas unsicher, als sich hinter Lester auch Fatty in den Raum schiebt und mit schadenfrohem Grinsen die Schrotflinte in Anschlag bringt. »Haben Sie noch mehr solche Scherze auf Lager, Sundance?« fragt der Anwalt giftig. »Sagen Sie diesem wabbeligen Fettklumpen, daß er seine Artillerie wegnehmen soll!« Lesters Gesicht bleibt unbewegt und kalt. »King Bennet«, sagt er schroff, »hiermit erkläre ich Sie für festgenommen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß jede Ihrer Äußerungen gegen Sie verwandt werden kann. Einen endgültigen Haftbefehl werde ich unverzüglich beim Richter erwirken.« Der Anwalt erbleicht. »Ich nehme nicht an, daß das ein Witz sein soll«, zischt er. »Darf ich also den Grund meiner Festnahme erfahren?« »Diebstahl eines Beweisstückes!« stellt Lester lakonisch fest. »Für einen Anwalt kann das eine schlimme Sache sein, Bennet.«
Das schrille, hysterische Lachen des Anwalts klingt gekünstelt und unecht. »Hirngespinste!« keift er. »Kein Mensch kann mir das beweisen! Sagen Sie mir doch, was dieses ominöse Beweisstück sein soll, Sundance!« Trotz seiner selbstsicheren Worte sind die Augen des Anwalts geweitet und starren fast angstvoll auf den Marshal. »Erz«, knurrt Lester. »Ein Stück hochwertiges Kupfererz, das bei Elder Lansbury gefunden wurde. Es ist ein wichtiges Indiz zur Aufklärung eines Mordversuchs an mir.« »Das ist lächerlich!« schrillt die Stimme des Anwalts. »Es ist unmöglich, mir eine Tat nachzuweisen, die ich nicht begangen habe.« Lester bleibt kühl und nüchtern. Er weiß, daß er jetzt lügen muß. »Geben Sie sich keine Mühe, Bennet«, sagt er scharf. »Ich selbst habe jeden Ihrer Handgriffe beobachtet. Jetzt Schluß mit der Tändelei, legen Sie dem Beschuldigten Handfesseln an, Hilfsmarshal Kingsley!« Fatty zögert einen Augenblick, was er mit seiner Schrotflinte anfangen soll. Aber da zieht Lester schon den Colt und übernimmt an seiner Stelle die Bewachung. Mit einem Seufzer weicht Bennet bis in die Ecke zurück. Seine Blicke wandern hilfesuchend zu seinem Revolvermann, der immer noch neben dem Schreibtisch steht, die Augen zu Schlitzen geschlossen und das kantige Kinn verkrampft. »Dummheiten machen sich nicht bezahlt«, sagt Lester. Locker hält er seinen Revolver in der Hand, so locker, wie es sich nur ein Könner im Umgang mit dem Colt erlauben kann. Chance Jagger erkennt das, und deshalb hütet er sich vor einer falschen Bewegung. Mit leisem Klicken schließen sich die Scheuen um die Handgelenke des Anwalts.
»Führe ihn ab, Fatty«, sagt Lester verächtlich. »Schön über die Straßenmitte, damit es alle sehen. Sperre ihn in eine Zelle und behalte ihn im Auge. Bis ich komme, bleibt er in Handschellen.« »Wird bestens erledigt, Marshal«, versichert Fatty, nimmt das Schlüsselbund entgegen und rammt Bennet den Lauf seiner Flinte ins Kreuz. Wie im Trancezustand trottet der Anwalt vor dem Gewehrlauf bis zur Tür. Dort reißt es ihn noch einmal herum. »He, Chance, benachrichtige Logan und verschließe das Büro. Bis heute abend bin ich wieder da.« »Ach, richtig, Bennet«, mischt sich der Marshal ein, »die Schlüssel zu Ihrem Büro bekomme ich! Ich werde es verschließen und später versiegeln, denn ich glaube nicht, daß Sie es jemals wieder eröffnen werden.« Mit einem wilden Aufschrei kommt der Anwalt zurückgestürzt, wenige Schritte nur, denn dann hat Fatty ihn beim Kragen seiner Jacke erwischt und legt ihn fast auf den Rücken. »Gib sie ihm nicht, Chance!« ruft Bennet. »Er hat keinen Durchsuchungsbefehl! Dieses Büro geht ihn nichts an!« Fatty erstickt Bennets Geschrei mit seiner Pranke, die Mund und Nase des Anwalts bedeckt, packt mit der Rechten nach und zerrt Bennet wie ein willenloses Kleiderbündel davon. Nur gurgelnde, halb erstickte Laute dringen noch in das Büro. »Die Schlüssel, Jagger!« Lester streckt dem muskulösen Revolvermann die Linke entgegen, während seine Rechte nach wie vor den Colt hält. Tückisch schielt Jagger auf die Waffe. »Ich habe sie nicht«, brummt er. »Drehen Sie sich doch um, sie stecken hinter Ihnen in der Tür.« Lester tut ihm den Gefallen nicht. Er geht rückwärts bis an die Tür, tastet mit der Linken und findet Jaggers Worte bestä-
tigt. »Gut, nun raus hier!« Jagger bewegt sich keinen Zoll. »Sie überschreiten Ihre Befugnisse. Mich bekommen Sie hier nicht heraus, damit Sie ungestört schnüffeln können.« »Wetten wir doch.« Lester grinst hart. »Ich zähle bis drei. Überlegen Sie es sich lieber noch einmal, Jagger. Wir haben noch eine ganz private Rechnung offen. Sie haben meine Zimmernummer ausspioniert. Wenn ich auch nur den Schatten eines Beweises hätte, daß Sie auch der Schütze waren, würden Sie Ihrem sauberen Boß Gesellschaft leisten. Also…« Chance Jagger muß schlucken. Zusammengeduckt steht er da, als ob er jeden Augenblick explodieren wollte. »Du dreckiger Hund!« keucht er. »Du fühlst dich nur so sicher, weil du dein Eisen schon in der Hand hast! Warum steckst du nicht die Kanone ein, damit wir es fair austragen können?« »Sieh da, Chance Jagger redet von Fairneß«, murmelt Lester mit abgrundtiefem Hohn. »Ich hatte geglaubt, es wäre für dich ein Fremdwort, Freundchen. Nein, so geht es nicht. Mein Leben als Marshal dieser Stadt ist zu wichtig, als daß ich es in einem provozierten Zweikampf mit einem schießwütigen Revolverhelden aufs Spiel setzen würde. Aber wie steht es mit deinen Fäusten?« Wortlos schnallt Chance Jagger seinen Revolvergurt ab und wirft ihn achtlos in eine Ecke. Da schnallt auch Lester ab, steckt die Waffe ins Halfter und hängt ihn an einen Wandhaken. * Chance Jagger geht los wie eine Pulverladung. Zwei Schritte
Anlauf genügen ihm, um in weitem Bogen durch die Luft zu hechten. Die geballten Hände rammt er vor – in den leeren Raum. Denn da, wo noch soeben Lester Sundance stand, ist jetzt nichts mehr als die geöffnete Tür. Vergebens sucht Jagger sich im Sprung herumzuwerfen. Es wird nur eine kleine seitliche Drehung daraus. In dieser Haltung segelt er auf den Gehsteig hinaus und kracht hart auf die Holzplanken. Auch Lester erscheint nun draußen, schließt sorgfältig die Tür hinter sich und grinst. »Hier haben wir mehr Platz, nicht wahr, Jagger?« Fauchend wirft Jagger sich herum und stürmt erneut vorwärts. Die Bohlen des Gehsteiges krachen unter seinen Schritten. Obwohl sie etwa gleich groß sind, wiegt er mindestens zwanzig Pfund mehr als Lester. Auf diese zwanzig Pfund vertraut Chance Jagger. Er läßt sich durch Lesters Hagerheit täuschen. Zum erstenmal bekommt er einen Begriff von dessen Schlagkraft, als er selbst einen Schwinger auf Lesters Rippen anbringen kann. Da rammt Lesters Rechte vor, kurz und trocken kommt der Haken, trifft Jaggers Backenknochen und jagt ihn einige Schritte zurück. Benommen schüttelt er noch den Kopf, als sein Gegner schon wieder einen linken Schwinger in seiner Magengrube landet. Chance Jagger bleibt nur noch die Flucht nach vorn. Er rettet sich in den Clinch und sucht Lesters Arme festzuklammern. Allerdings kann er dabei nicht vermeiden, daß der Marshal seinen linken Ellenbogen hochreißt und dieser ihm unter das Kinn kracht. Sobald der Griff sich lockert, tanzt Lester zurück. Mit blutunterlaufenen Augen drischt der Revolvermann wie ein Berserker drauflos, aber die meisten Hiebe treffen wirkungslos auf Lesters Deckung oder gehen daneben. Und der Marshal lauert
auf seine Chance. Sie bietet sich ihm, als Jagger von der Wucht seines eigenen Schwingers vorwärts gerisssen wird. Da sticht Lesters Linke nach vorn – so rasch wie ein Florett und mit der Wucht eines Rammbockes. Im ganzen Körper spürt er die Erschütterung, als Jagger mit dem Kinn auf dieses Hindernis prallt. Es ist das Zusammenwirken von Lesters Stoß und Jaggers Vorwärtstaumeln, das die Wirkung so erschreckend macht. Chance Jagger fällt zu Boden. Es gibt keine Zweifel mehr, daß dieser Kampf für Chance Jagger verloren ist, verloren auf offener Straße. Der Gehsteig ist die Bühne. Dort stehen die Zuschauer in sicherer Entfernung und sehen die Niederlage des gefürchteten Schlägers und Revolverhelden. Der Gedanke daran raubt Chance Jagger den letzten Rest von Besinnung. Er kommt hoch. Mit zwei verzweifelten Rundschlägen schafft er sich für einen kurzen Moment Luft. Seine Hand fährt in die Tasche und reißt einen länglichen Gegenstand hervor. Klick – schon steht die lange, dünne Klinge des Messers fest im Heft. Sie ist doppelseitig geschliffen. Eine tödliche Waffe in der Hand eines verzweifelten Mannes. Chance Jaggers Augen glitzern. Lauernd umkreist er seinen Gegner, immer auf der Suche nach einer schwachen Stelle in der Verteidigung. Aber Lester ist auf der Hut. Keine Sekunde läßt er die messerbewehrte Hand aus den Augen. Plötzlich stößt Jagger vor. Lester hechtet zur Seite. Das Messer schützt den Ärmel seiner Jacke auf, verfängt sich für den Bruchteil einer Sekunde in dem Stoff, und da hat Lester schon zugepackt. Mit beiden Händen ergreift er das Handgelenk des hinterhältigen Burschen, eine rasche Wendung und ein kraftvoller Schulterzug, dann fliegt Chance Jagger im hohen Bogen durch die Luft. Vier Yards weit schleudert ihn die Gewalt des Hebelgriffes, dann kracht er auf die Stufen, die von Bennets
Büro zum Gehsteig führen. Ein Ächzen noch, dann liegt er still. Lester weiß, daß Chance Jagger diesen Sturz mit dem Bruch einiger Rippen bezahlt hat. Der Arm, der noch soeben zum Angriff vorgereckt war, steht nun in einem grotesken Winkel vom Körper ab, auch er ist wahrscheinlich gebrochen, zumindest aber ausgekugelt. Für die nächsten Wochen wird der Bursche keinerlei Sehnsucht haben, auch nur die geringsten Bewegungen damit auszuführen. Lester starrt auf das Messer, das vor ihm auf den Bohlen liegt. »Schafft ihn zum Doc«, murmelt er angewidert und geht in Bennets Büro. Er dreht den Schlüssel im Schloß und geht mit müden Schritten zum Schreibtisch. Es ist weniger die körperliche Erschöpfung, die ihn mehrere Minuten still verharren läßt, als das Bewußtsein der grenzenlosen Einsamkeit. Jeder Mann, der den Stern trägt, ist allein. Wenn dieser Stern nicht zugleich Aufgabe und Verpflichtung wäre, dann… Er führt den Gedanken nicht ganz zu Ende. Er darf einfach nicht aufgeben, bevor er das Ende der Fährte erreicht hat. Und sofort wendet er sich etwas verbissen dann der neuen Aufgabe zu. Es besteht kein Zweifel daran, daß es sehr schwer sein wird, von Pembroke einen Haftbefehl zu erlangen. Vermutungen reichen nicht aus, Tatsachen müssen her. Bennets Sträuben gegen eine Durchsuchung hat deutlich gezeigt, daß solche Tatsachen hier zu finden sind. Lester durchsucht jeden Winkel des Raumes, jeden Schrank, jedes Schubfach. Er findet aber das kleine Stückchen Erz nicht. Dafür entdeckt er ein unscheinbares graues Heft, das seine Aufmerksamkeit dadurch erregt, daß ein blauer Umschlag dazwischen eingeklemmt ist. Elder Lansbury liest er, genau wie
bei einem anderen, das sich im Marshaloffice befindet. Anhand von Schriftproben auf anderen Dokumenten findet Lester sehr bald heraus, daß Bennet den Namen geschrieben haben muß. Das macht auch das Heftchen für ihn interessant. Auf der ersten Seite befindet sich eine Aufstellung von drei Posten. Sie sieht so aus: 19.6. M.C. Dollar 21.000 26.6. M.C. Dollar 1.000 3.7. M.C. Dollar 1.000 Die zweite Seite ist mit einer ähnlichen Buchführung ausgefüllt. Zwar sind ebenfalls Daten angegeben, aber ansonsten besteht die Aufstellung nur aus Zahlen. Lester steckt das Heft in seine Jackentasche und sucht weiter. Ein Aktendeckel gerät ihm in die Hände, der persönliche Papier Bennets enthält. Auf einem Dokument wird dem Anwalt seine erfolgreiche Mitarbeit in einer Indianeragentur bescheinigt. Das Dokument wandert zu dem Heft in Lesters Tasche. Damit scheint die Glückssträhne endgültig abgerissen zu sein. Das kleine Erzstückchen ist nicht zu finden. Er lehnt sich im Stuhl zurück. Unwillkürlich suchen seine Augen den Schreibtisch ab. Aber das ist natürlich Unfug. Niemals würde Bennet ein solches Beweisstück in der Federhalterschale aufbewahren, oder in der Dose mit den Büroklammern. Da fällt Lester ein seltsamer Umstand auf. Zu Bennets protzigem Schreibzeug gehört eine Federschale mit Tintenfaß. Es ist gefüllt. Wozu denn noch die kleine Flasche mit Tinte, deren abgeschraubter Deckel beweist, daß sie im Gebrauch ist? Hastig langt Lester nach einem Federhalter. Kaum hat er ihn in das Tintenfaß getaucht, als er auch schon den Widerstand spürt. Er fischt den Gegenstand aus der Tinte heraus. Es ist das
lange gesuchte Beweisstück. Schon wenige Minuten später steht der Townmarshal von Livingstone seinem Vorgesetzten gegenüber. »Es ist nicht zu fassen!« schnaubt Richter Benjamin Pembroke. »Auf diese dürftige Anschuldigung hin erwarten Sie von mir die Ausstellung eines Haftbefehls? Ausgerechnet gegen einen angesehenen Bürger und Anwalt? Ich denke nicht daran!« »Wir haben heute morgen genug über Irrtümer geredet, Pembroke«, knurrt Lester gereizt. »Ich habe keine Lust, weiterhin Zeit zu verlieren.« Benjamin Pembrokes Stimme schrillt: »Hinaus! Wie wagen Sie mit mir zu reden?« »Genauso, wie es bei einem korrupten Schurken angebracht ist!« sagt Lester. Seine Worte haben einen unerwarteten Erfolg. Der ganze Richter Benjamin Pembroke sinkt in sich zusammen. Lange Zeit starrt er schweigend auf ein Buch, das aufgeschlagen vor ihm liegt. Nur zögernd hebt er endlich den Kopf. »Sie müssen entweder ein sehr mutiger Mann sein, oder über ausgezeichnete Informationsquellen verfügen, Marshal Sundance«, murmelt er endlich. Dann greift er mit fahriger Hand in ein Fach seines Schreibtisches, entnimmt ihm ein Formular und füllt es mit nervösen Schriftzügen aus. »Und einen Durchsuchungsbefehl«, fordert der Marshal, als Pembroke die Feder absetzt. Dabei verschweigt er wohlweislich, daß er die Durchsuchung schon vorgenommen hat. Lester überfliegt die beiden Blätter, faltet sie zusammen, steckt sie ein und geht. Auf dem Weg zum Office überlegt er sich, daß es ein höchst zweifelhafter Friede ist, den er mit Pembroke geschlossen hat. Er muß wachsam sein. Die Dinge sind in Fluß geraten. Es wäre ganz falsch, jetzt ein zu großes Risiko einzugehen. Er hat die
beiden Dokumente in der Tasche und damit auch zwei weitere Trumpfkarten in diesem Spiel. Logans Hauptquartier ist lahmgelegt, King Bennet kaltgestellt. Er hätte allen Grund, mit sich zufrieden zu sein. Es kommt aber nicht darauf an, Bennet einen Strafprozeß anzuhängen, der ihm vielleicht den Verlust seiner Anwaltschaft und vier Wochen Gefängnis einbringen würde. Das wäre ein zu kleiner Erfolg für große Mühe. Drei Männer liegen im Needle-Canyon begraben, Andy ist ermordet worden und Tom Warden nur um Haaresbreite dem Tode entgangen. King Bennet ist vorläufig nicht mehr als ein Köder, mit dem die Füchse aus ihrem Bau gelockt werden sollen. Kaum im Office angelangt, nimmt der Marshal Bennets kleines Heftchen und betrachtet versonnen die Aufzeichnungen. Er kommt sehr rasch darauf, daß es sich um Einnahme- und Ausgabenotizen handelt. Leider ist er damit jedoch noch nicht viel weiter, bis eine Blicke endlich bei den Buchstaben M.C. verharren. Er denkt daran, daß Tom Warden von Minengesellschaften sprach, die überall ihre Fühler haben. Das ist der letzte winzige Anstoß, der ihm noch fehlte. M.C. – Mining Company. Und nachdem das erste Rätsel gelöst ist, fallen ihm die nächsten Entdeckungen nur so zu. Jetzt steht es für ihn schon fest, daß dieser Elder Lansbury in Bennets Sold stand, ebenso wie Chance Jagger und sicherlich noch einige anderen Burschen. Die zweite Seite des Heftchens stellt nichts weiter als eine Lohnliste dar. Unter dem gestrigen Datum ist ein Betrag von hundert Dollar verzeichnet und wieder durchgestrichen. Wenn man den leeren Umschlag mit dem Namen Lansbury hinzunimmt, ist der Zusammenhang klar. Dieser Umschlag wurde nicht mehr gebraucht, weil Lansbury inzwischen tot war. Deshalb auch der durchgestrichene Betrag.
Als Lester zu dieser Erkenntnis gelangt ist, umspielt ein befriedigtes Lächeln seinen Mund. Ein Vergleich der Handschrift auf beiden Umschlägen wird zu einem neuen Beweis gegen den Anwalt. Das große Kesseltreiben hat begonnen. Der Marshal greift zur Feder und beginnt zu schreiben. Zwei umfangreiche Briefe setzt er auf, während Fatty mit Eifer sämtliche im Ständer befindlichen Gewehre reinigt. Ziemlich zur gleichen Zeit werden sie fertig. Schweigend winkt Lester seinen dicken Deputy heran und zeigt ihm die Anschriften der beiden Briefe. Fatty strahlt wie ein frischgeprägter Golddollar. »Sorge dafür, daß sie noch mit der Abendpost nach Helena und Butte abgehen«, raunt Lester so leise, daß der Anwalt in seiner Zelle die Worte unmöglich verstehen kann. »Und dann erkundige dich beim Doc nach Wardens Befinden und frage, wie es mit Chance Jagger steht.« »Danach brauche ich erst nicht zu fragen«, sagt Fatty. »Ich habe beobachtet, wie einige Burschen ihn zum Doc hineingeschleppt haben. Eine halbe Stunde später kam er allein wieder heraus. Sein Arm war geschient und bandagiert, und er bewegte sich, als ob er jeden Augenblick auseinanderbrechen würde. Kurz darauf ritt er aus der Stadt. Ich glaube, wir können ihn abschreiben. Die Ratten verfassen das sinkende Schiff.« * Der Abend verläuft ohne weitere Vorkommnisse. Auch am folgenden Vormittag ist es ruhig. Lester scheint es jedoch die Ruhe vor dem Sturm zu sein. Gegen elf Uhr befindet er sich in der Nähe der Posthalterei und beobachtet die Ankunft der Vormittagspost aus Billings. Seine Aufmerksamkeit wird plötzlich geweckt, als ein Mädchen der Kutsche entsteigt. Sie
trägt ein graues Reisekostüm und einen kecken kleinen Hut. Sie wendet Lester zunächst den Rücken zu, und so muß er sich vorerst auf eine Begutachtung ihrer Figur beschränken. Sie ist hochgewachsen und doch zierlich. Jede Bewegung zeugt von Selbstsicherheit. Bestimmt steht sie mit beiden Beinen fest im Leben, aber dennoch wird Lester den Eindruck nicht los, daß sie sich in ihrer Kleidung unbehaglich fühlt, als ob sie es nicht gewohnt sei, in langen Röcken herumzulaufen. Sie läßt sich vom Beifahrer eine Reisetasche reichen und blickt sich suchend um. Als Lester plötzlich ihre grünlich schimmernden Augen auf sich ruhen sieht, muß er unwillkürlich schlucken. Vielleicht ist sie nicht im landläufigen Sinne hübsch, aber dennoch wirkt ihr etwas herbes Gesicht auf Lester geradezu atemberaubend. Er ist in diesen Anblick so versunken, daß er kaum bemerkt, daß sie geradewegs auf ihn zukommt. Bis sie dann vor ihm steht und ihre Blicke ineinander tauchen. Und gerade deswegen bringt er kein Wort hervor, sondern greift nur unsicher an seine Hutkrempe. Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht und läßt es für Lester Sundance womöglich noch hinreißender erscheinen. »Sie sind der Marshal von Livingstone, nicht wahr?« Lester muß sich heftig räuspern und verflucht sich selbst wegen seiner Unbeholfenheit, die das Mädchen offensichtlich erheitert. »Mein Name ist Sundance, Madam. Ja, ich bin der Marshal dieser Stadt.« »Bitte, nennen Sie mich nicht Madam, Mr. Sundance. Ich bin Jaqueline Logan. Ich möchte zu meinem Bruder, der sich hier oder in der Umgebung aufhalten soll. Vielleicht kennen Sie ihn, Marshal?« Lesters Gesicht ist plötzlich versteinert. So deutlich ist die Wandlung, daß sie auch dem Mädchen nicht verborgen bleibt.
»Everett Logan«, murmelt Lester. »Sie finden ihn wahrscheinlich im Fairplay Saloon, der ihm gehört, nur wenige Schritte hier entlang.« Seine Stimme klingt so verschlossen, daß das Mädchen verlegen errötet. »Bitte, haben Sie etwas gegen meinen Bruder, Marshal?« fragt sie schließlich leise. »Sie sagen das so eigenartig.« Ein bitteres Lächeln gräbt tiefe Furchen um Lesters Mundwinkel. »Es ist fast nichts«, murmelt er, »nur, daß Ihr Bruder die schmutzigsten Geschäfte dieser Stadt betreibt, Miß Logan. Das und vielleicht noch mehr.« »Das ist nicht wahr!« Impulsiv stößt sie diese Worte hervor und hebt im gleichen Augenblick die Hand vor den Mund. Lester zuckt bedauernd die Achseln. »Am besten überzeugen Sie sich selbst, Miß Logan.« »Genau das werde ich tun«, sagt sie. »Auch ein Marshal kann sich schließlich irren, wenn es auch für ihn besonders peinlich ist. Ich danke für die Auskunft, Mr. Sundance.« Sie nimmt ihre Reisetasche auf und geht mit festen Schritten davon. Lester blickt ihr lange nach, bevor er seine Gedanken abschüttelt und zum Office schlendert. * Lester hat gerade zum Mittagessen Platz genommen, als Jaqueline Logan den Speisesaal betritt. Sie hat sich inzwischen umgekleidet und trägt nun ein schlichtes Kleid, das ihre schlanke, biegsame Gestalt voll zur Geltung kommen läßt. Was dem Marshal jedoch am meisten an ihr auffällt, ist die Veränderung ihres Gesichtsausdruckes. Sie wirkt plötzlich bedrückt und unsicher, ganz anders als vor zwei Stunden bei ihrer An-
kunft. George Clark kommt hinter seiner Theke hervor. »Sind Sie mit Ihrem Zimmer zufrieden, Miß Logan?« Er deutet auf einen Tisch am Fenster. »Dort drüben wäre ein hübscher Platz.« Sie schüttelt entschlossen den Kopf. »Danke, Mr. Clark. Ich habe schon etwas gefunden.« Sie steuert auf Lester zu. Der Marshal erhebt sich und deutet eine Verbeugung an. »Darf ich mich an Ihren Tisch setzen, Mr. Sundance?« Wortlos rückt Lester einen Stuhl zurecht und wartet ab, bis sie sich niedergelassen hat. Wenige Augenblicke später taucht Clark mit dem Essen auf. »Mein Bruder hat mich nicht empfangen«, platzt sie ganz unvermittelt heraus. Lester langt nach dem Löffel, wünscht ihr guten Appetit und wartet, bis auch sie zu essen beginnt. »Hatten Sie zuvor Streit mit ihm?« fragt er dann beiläufig. »Niemals«, versichert sie. »Wir verstanden uns immer ausgezeichnet.« »Haben Sie einen anderen Anhaltspunkt?« Kopfschütteln. »Ich kann mir sein Verhalten nicht erklären.« »Hatten Sie von ihm Hilfe erwartet?« Eine unbestimmte Handbewegung ist die Antwort, und nach einer Weile sagt Jaqueline zögernd: »Sie sind der einzige Mensch in dieser Stadt, den ich kenne, Mr. Sundance, und zu dem ich Vertrauen habe.« Ein warmes Gefühl quillt in Lester empor. Er führt sich vor Augen, daß dieses Mädchen nichts mit den schmutzigen Methoden Everett Logans zu tun haben kann. Als er ihre rührende Hilflosigkeit sieht, gerät er einen Augenblick in Versu-
chung, seine Hand auf ihre Linke zu legen, die sich dicht neben ihm auf dem Tisch befindet. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll, Miß Logan«, sagt er nach einem Räuspern. »Ihr Bruder will Sie nicht sehen, sagten Sie. Nun gut, das ist seine Angelegenheit. Es gibt kein Gesetz auf der Welt, mit dem man ihn zwingen könnte, seine Meinung zu ändern.« »Gesetz?« Sie spricht das Wort geringschätzig aus. »Sie haben mich nicht richtig verstanden, Mr. Sundance. Eine Frau hat vielleicht mehr Gefühl für solche Dinge. Dieses Gefühl sagt mir, daß hier etwas nicht stimmt. Glauben Sie mir, Everett hat keinen Grund, mich auf so plumpe Art abzuweisen.« Lester wird nachdenklich. »Ich glaube, Sie sollten mir die Geschichte Ihres Bruders von Anfang an erzählen«, sagt er, und Jaqueline Logan beantwortet diesen Vorschlag sofort mit einem Nicken. »Everett war immer ein etwas leichtsinniger Junge. Das besserte sich auch nicht mit zunehmendem Alter. Und mein Vater war sehr streng. Er konnte nicht verstehen, daß Everett immer seinen Träumen von einer großen Chance nachhing. Dabei hätte er es nicht nötig gehabt, denn unsere Ranch in Wyoming ist ein großer Besitz. Aber Everett hielt nichts von der Arbeit auf einer Ranch. Einmal sagte er zu Vater, daß er nicht lebenslänglich ein Kuhtreiber bleiben wolle. Darüber kam es zwischen ihnen zu einem ernsthaften Zerwürfnis. Das war vor zwei Jahren. Everett ging fort, ohne Vater Lebewohl zu sagen. Vater starb kurz darauf. Ich konnte meinen Bruder nicht einmal benachrichtigen. Erst später hörte ich, daß er in Montana sei und schrieb ihm einen Brief. Aber er kam zurück. Everett war schon wieder weitergezogen. In der Zwischenzeit ging es mit unserer Ranch bergab. Vor
zwei Wochen hörte ich dann von einem Durchreisenden, daß Everett hier in Livingstone sein sollte. Um nicht noch einmal mit einem Brief einen Reinfall zu erleben, machte ich mich selbst auf den Weg. Die Ranch braucht einen Mann!« »Dieser Narr!« knurrt Lester. »Er hat ein Zuhause, eine Ranch, die sich tausend Männer ihr Leben lang vergebens wünschen, trotzdem weiß er nichts Besseres zu tun, als einem Hirngespinst nachzujagen. Wie kann ein Mann so verbohrt sein?« »Er war immer leicht zu beeinflussesn«, murmelt das Mädchen. »Er war eben der verwöhnte Sohn eines reichen Mannes, und bestimmt hatte er auch nicht die richtigen Freunde. Nur so kann ich es mir erklären.« »Und was geschah hier, als Sie den Fairplay Saloon aufsuchten?« fragt Lester. »Ich habe ihn gar nicht zu Gesicht bekommen. Der Saloon war geschlossen. Auf mein Klopfen erschien ein Mann mit stechenden Augen. Ich erklärte ihm, daß ich Everetts Schwester sei, und er ließ mich ein. Dann ging er allein nach hinten und kam erst nach einer Viertelstunde zurück. Er erklärte mir, daß mein Bruder weder mich noch sonst irgendein Familienmitglied jemals wieder zu sehen wünsche.« »Weder Sie noch irgendein Familienmitglied?« wiederholte Lester fragend. »Wen kann er außer Ihnen gemeint haben, Miß Logan?« »Außer meinem Vater bestand die Familie nur noch aus einer Tante, die in Boston wohnt. Seit meiner Jugend haben wir nichts mehr von ihr gehört.« Lester ist ratlos. »Es gibt keine Lösung«, sagt er. »Sie können ihn nicht zwingen, Sie anzuhören. Versuchen Sie es noch einmal mit einem Brief. Vielleicht wird er darauf antworten.« »Ja, das werde ich tun«, antwortet das Mädchen. »Ich gebe
die Hoffnung nicht auf. Ich danke Ihnen, Mr. Sundance.« Lester fällt die plötzliche Verabschiedung nicht leicht und greift erfreut zu, als Jaqueline ihm die Hand entgegenstreckt. Und diesmal ist es Jaqueline Logan, die dem hochgewachsenen, hageren Mann mit seltsamem Gesichtsausdruck nachblickt. * An diesem Nachmittag ist Lester von einer wahren Arbeitswut besessen. Er will um jeden Preis vorwärtskommen. Nacheinander sucht er vier Männer auf, die in letzter Zeit einen geheimnisvollen Partner in ihr Geschäft aufgenommen haben. Er sagt sich, daß jetzt endlich der Bann gebrochen werden muß. King Bennet sitzt im Gefängnis, und zweifellos ist auch die Flucht Chance Jaggers inzwischen in der ganzen Stadt bekannt. Diese Leute müssen einfach einsehen, daß sie nicht mehr schutzlos sind, daß es nur auf ihre Aussagen ankommt, um dem Terror endlich ein Ende zu bereiten. Bitter enttäuscht kehrt der Marshal nach zwei Stunden in das Office zurück. Nicht ein Wort hat er in Erfahrung gebracht. Das warnende Beispiel Lindsays, des getöteten Besitzers der Futtermittelhandlung, steckt den Leuten noch in den Knochen. Lester ist um eine Erfahrung reicher, was die Feigheit der Bürger dieser Stadt betrifft. Er macht sich daran, die Journalaufzeichnungen Tom Wardens sorgfältig durchzusehen. Sie vermitteln ihm ein eindrucksvolles Bild. Noch vor zwei Jahren enden die Berichte meist mit den lapidaren Worten: Keine besonderen Vorkommnisse. Danach aber geht es in dieser Statistik der Unruhe immer lebhafter zu. Aus einem kleinen Nest hat Livingstone sich zu einer wilden und rauhen Stadt entwickelt.
Der Abend bringt Lester Routinearbeit. Gegen zehn Uhr beendet er seinen ersten Rundgang in Clarks Boardinghouse. Und hier erlebt er keine Enttäuschung. Das Mädchen hat auf ihn gewartet. Sie essen gemeinsam, und erst hinterher rückt sie damit heraus, daß der Junge, dem sie den Brief anvertraut hat, diesen wieder zurückbrachte – ungeöffnet. Lester rät ihr von weiteren Versuchen ab, aber sie ist unbeugsam. Sie beharrt darauf, so lange in der Stadt zu bleiben, bis sie ihren Bruder gesprochen hat. Immerhin ist sie durch diese Dinge nicht mehr so bedrückt, daß sie nicht nachher noch zu einem unbefangenen Gespräch Zeit fände, viel mehr Zeit, als Lester mit seinen Dienstpflichten vereinbaren kann. Es ist kurz vor Mitternacht, als er sie bis zur Treppe begleitet. Und da nennen sie sich bereits Jaqueline und Lester. Als der Marshal seinen zweiten Rundgang mit einiger Verspätung beginnt, fühlt er sich seltsam leicht und beschwingt. Nicht einmal die Tatsache, daß Jaqueline die Schwester Everett Logans ist, kann dieses Glück trüben. * Am folgenden Morgen wacht er verhältnismäßig spät auf, beendet seine Morgentoilette in Rekordzeit und hastet in den Speisesaal hinab. George Clark kommt an seinen Tisch. »Miß Logan ist schon früh aufgebrochen, um sich die Stadt anzusehen«, sagt er. »Sie läßt Ihnen ausrichten, daß sie zum Mittagessen pünktlich erscheinen wird, Sundance.« Mißtrauisch beobachtet Lester die Regungen im Gesicht des Alten, bevor er zwischen zwei Bissen grunzt: »Wenn Sie sich verhaßt machen wollen, Clark, dann brauchen Sie nur weiterhin so zu grinsen.«
»Sie sind heute morgen so empfindlich, Marshal. Nun, vielleicht wäre ich das auch, wenn es um ein so hübsches Mädchen ginge. Man müßte zwanzig Jahre jünger sein.« »Alter Genießer!« Lester grinst nun auch, aber da wird Clark unversehens ernst. »Man kann es kaum glauben, daß sie Logans Schwester ist«, brummt er kopfschüttelnd. »Es gibt nicht die geringste Familienähnlichkeit zwischen ihnen.« »Dann gehören Sie also zu den wenigen Menschen in dieser Stadt, die Logan schon einmal zu Gesicht bekommen haben?« hakt Lester sofort ein. »Ich habe ihn zweimal gesehen. Obwohl es beide Male nur kurz war, würde ich ihn an seiner hellen Haarsträhne unter Tausenden herausfinden. Sie müssen sich vor ihm in acht nehmen, Sundance!« »Wem sagen Sie das?« fragt Lester bitter. »Er ist eine Pestbeule in dieser Stadt, und ich werde sie entfernen, so bald ich auch nur den Schimmer eines Beweises gegen diesen Burschen habe.« Lester erhebt sich vom Frühstückstisch und geht. Als er das Office betritt, gerät er in King Bennets Blickfeld. »In ein paar Stunden ist die Frist abgelaufen, Sundance, für die Sie einen Mann ohne richterlichen Befehl festhalten können. Ich verlange, Richter Pembroke vorgeführt zu werden!« »Sie sind sehr ungeduldig, Bennet«, erwidert Lester in rügendem Ton. »Vielleicht werde ich Sie morgen zum Richter bringen, oder übermorgen. Es hängt vom Verlauf der Untersuchung ab.« »Das ist gesetzwidrig!« brüllt der Anwalt. »Das wird Ihnen das Genick brechen, Sundance.« »Immer diese Übertreibungen!« Lester grinst und hält Bennet den Haftbefehl dicht vor die Zellentür, damit er ihn erken-
nen kann. Der Anwalt kommt herangestürzt und umklammert die Gitterstäbe. Seine Augen scheinen aus dem Kopf zu quellen. Mit einem Ächzen wankt er schließlich zu seiner Pritsche zurück. »Übrigens hat Seine Ehren mich auf einen guten Gedanken gebracht«, sagt Lester. »Er betrachtet es anhand Ihres Notizbuches für erwiesen, daß Lansbury auf Ihrer Lohnliste stand, Bennet. Damit taucht der Verdacht auf, daß er den Mordversuch an mir in Ihrem Auftrag beging. Ich werde also die Anklage ausdehnen, Bennet. Wenn Sie Ihre Verteidigung vorbereiten, würde ich mich an Ihrer Stelle nicht mit Kleinigkeiten befassen, wie zum Beispiel mit dem Inhalt eines Tintenfasses.« Bennet hebt schwerfällig den Kopf. »Das schaffen Sie nicht, Sundance«, murmelt er tonlos. »Das werden Sie mir niemals anhängen können.« Und plötzlich lebhafter werdend: »Bevor Sie diese Anklage auf die Beine bringen, liegen Sie fünf Fuß tief unter der Erde, Sie Bastard!« »Sie machen einen Fehler, Bennet«, kontert Lester. »Sie verlassen sich zu sehr auf Ihre Kumpane. Keiner von ihnen wird auch nur einen Finger rühren, um Sie hier herauszuholen. Weil sie ihre Finger dabei verbrennen könnten, liefert man Sie lieber ans Messer.« »Das nicht!« keucht Bennet. »Eher trete ich als Kronzeuge auf!« »Wenn Sie sich die Sache richtig überlegen, werden Sie dahinterkommen, daß das nicht geht, Bennet«, murmelt der Marshal. »Kein Mann kann Kronzeuge sein, der selbst eines Kapitalverbrechens beschuldigt wird. Denken Sie daran, die Anklage gegen Sie wird auf Anstiftung zum Mord lauten.« Lester wartet ab, bis der Anwalt den furchtbaren Sinn seiner Worte verschluckt hat. Dann erst lenkt er ein: »Aber Sie wissen selbst, daß ein rechtzeitiges Geständnis von
jedem Richter anerkannt wird. Sie könnten vielleicht Ihren Hals retten, wenn Sie sich damit zufriedengeben. Mehr kann ich Ihnen nicht in Aussicht stellen. Aber wie gesagt, es muß ein rechtzeitiges Geständnis sein. Wenn erst alle Beweise gegen Sie vorliegen, ist es zu spät.« Innerhalb von dreißig Sekunden wechselt Bennet mehrmals die Farbe. Schließlich gewinnt er die Fassung zurück und murmelt: »Sie bluffen, Sundance. Sie wollen mich nur zu einem Geständnis bringen, weil Sie Ihre Beweise nicht zusammenbekommen. Ich kenne diese Tricks.« »Gib ihm Papier und Bleistift in die Zelle, Fatty, falls er es sich doch noch überlegen sollte«, knurrt der Marshal. »Manche Leute brauchen sehr lange, bis sie ihre letzte Chance erkennen.« Während Fatty dieser Anweisung nachkommt, geht Lester zu seinem Schreibtisch und sieht hastig die Post durch. Die Antwort auf seine Briefe ist noch nicht darunter. Aber dann fällt sein Blick auf einen Umschlag, der das Siegel der Staatenkavallerie trägt. Er reißt ihn auf und überfliegt das Schreiben. Es ist ein Bericht über zwei Männer, die am gestrigen Tag am Eingang des Needle-Canyons von Indianern niedergemacht wurden. Eine Kavalleriepatrouille kam zu spät, um ihnen das Leben zu retten, wohl aber konnte sie zwei verwundete Cheyennes gefangennehmen und zur Militärstation bringen. »Wo befindet sich die Militärstation für die Überwachung der Indianergrenze, Fatty?« fragt Lester. »Zwanzig Meilen flußabwärts und dann zwei Meilen nach Süden auf die Berge zu«, kommt präzise die Antwort. »Kann ich mich jetzt hinlegen, Boß?« Fatty kann ein Gähnen nur mühsam unterdrücken. »Es tut mir leid, Fatty«, sagt Lester bedauernd, »ich muß dringend fort. Wahrscheinlich wird es bis heute nachmittag
dauern. So lange bist du amtierender Marshal von Livingstone. Ich hoffe, du bist dir dieser Ehre bewußt.« »Kein Auge werde ich zutun, Boß!« versichert Fatty ungefragt. Und leise fügt er hinzu: »Ein neuer Fischzug?« Lester beißt die Zähne aufeinander, um seine Freude nicht laut hinauszuschreien. »Vielleicht geht es danach in die Endrunde, Fatty«, knurrt er grimmig, »und da wirst du dabeisein.« * Die Sonne hat ihren höchsten Stand noch nicht erreicht, als Lester vor den Palisadenzäunen der kleinen Militärstation auftaucht. Vor dem Tor der Station wird gerade eine Wachablösung vollzogen. Ein grauhaariger Sergeant verfolgt mit Argusaugen die Bewegungen zweier junger Soldaten, die sich redlich abquälen, die Vorschriften des Dienstreglements nicht zu verletzen. Noch ist Lester etwa 50 Yards entfernt, als Sergeant Hiob Gannaway sich nach dem Hufschlag umdreht, eine Sekunde erstarrt und dann mit seiner kommandogewohnten Stimme losbrüllt: »Heiliges Kanonenrohr, das ist Lester Sundance!« Gannaways militärischer Gruß gerät so überschwenglich, daß sein Armeehut ihm mit einem Ruck bis in den Nacken rutscht. Lester lächelt und ruft herzlich: »Hallo, alter Knochen!« Lester hätte schwerlich einen besseren Ton finden können. Hiob Gannaway muß schlucken, als er Lester seine Hand hinaufreicht, dessen Rechte heftig schüttelt und ergriffen murmelt: »'n Tag, Kamerad. Ich habe dich doch richtig erkannt, nicht
wahr? Du bist doch Sundance von Bensons Greyhorse-Schwadron?« Er tätschelt ›Fransenohr‹ den Hals und setzt dann hinzu: »Der Gaul ist es auf jeden Fall, und wenn ich dein Gesicht sehe, dann weiß ich, daß ich mich auch bei dir nicht irre, obwohl wir uns noch nie im Leben begegnet sind. Ich bin Gannaway von der C-Kompanie.« Lester schwingt sich aus dem Sattel, nimmt den Wallach am Zügel und geht neben dem Sergeant durch das Tor. »Wir liegen hier nur mit zwei Zügen«, erklärt der Sergeant. »Der Rest der Kompanie sitzt volle hundert Meilen weiter im Süden.« Da taucht aus einer Unterkunft ein Offizier auf. Es ist Leutnant MacKinnan. »Hallo, Sundance«, grüßt er freundlich. »Gannaway hat mir inzwischen so viel von Ihnen erzählt, daß mir Ihr Name selbst in zehn Jahren noch fließend über die Lippen gekommen wäre.« Der Sergeant verzieht das Gesicht zu einem süßsauren Grinsen, während Lester den Leutnant begrüßt und ihn mit dem Grund seines Kommens bekannt macht. »Heute morgen habe ich Ihren Bericht erhalten, MacKinnan. Haben Sie die beiden gefangenen Rothäute schon vernommen?« »Wir haben es versucht«, entgegnet der Leutnant. »Gannaway kennt sich in ihrer Sprache aus. Aber leider sind sie schweigsamer als Ölsardinen.« »Wie wäre es, wenn Sie es mich versuchen ließen, Leutnant? Vielleicht fällt auch für Sie etwas Brauchbares dabei ab.« Der Offizier zuckt die Achseln. »Probieren können Sie es immerhin, Sundance. Kommen Sie!«
MacKinnan geht zu einem massiven Blockhaus und gibt einem Posten einen Wink. Der Soldat öffnet das Schloß und tritt zur Seite. Lester muß seine Augen erst an das Dämmerlicht gewöhnen, bis er die Indianer deutlich erkennen kann. Aber dann erschrickt er. Hohlwangig und stumpf blicken ihm zwei Gesichter entgegen. Der Funke der Erinnerung springt in ihm auf, aber er braucht geraume Weile, bis er in einem der beiden Gestalten Kleiner Elch erkennt. Aber was ist aus dem einst kraftstrotzenden Krieger und Unterhäuptling geworden? Er wirkt ausgemergelt und apathisch. MacKinnan hält sich im Hintergrund, während Sergeant Gannaway neben Lester tritt. »Arme Schweine!« murmelt er. »Der Whisky hat sie völlig fertiggemacht.« Lester bedient sich eines Dialekts der Dakota-Sprache, als er sagt: »Ich sehe dich, Kleiner Elch, aber dies ist nicht das Tipi eines Häuptlings. Vor vielen Jahren war Kleiner Elch ein tapferer Krieger, der niemals in die Hände der weißen Männer gefallen wäre. Wo ist dieser tapfere Krieger? Ich sehe ihn nicht.« Kleiner Elch lehnt mit dem Oberkörper an der Wand. Langsam und zögernd richtet er sich auf und bettet sein Bein um, das bis zum Knie von einem Verband bedeckt ist. »Schnelles Auge, ich erkenne dich«, murmelt er. »Alte Zeiten sind dahin. Deine Zunge ist scharf, aber mein Arm ist erlahmt. Viele Jahre haben ihn müde gemacht.« Lester bucht es als Pluspunkt, daß der Unterhäuptling ihm überhaupt geantwortet hat. Kleiner Elch hat ihn erkannt. Er gebrauchte den Namen, den die Hunkpapas Lester beigelegt hatten, als er noch Kundschafter im Dienst General Terrys war. Die Resignation des Indianers will Lester nicht gefallen. Frü-
her hätte Kleiner Elch auf eine spöttische Herausforderung anders geantwortet. »Es waren nicht die Jahre, die deinen Arm erlahmen ließen«, versucht Lester es auf andere Weise. »Ich sehe an dir die Zeichen des Feuerwassers, Kleiner Elch.« Selbst das geringe Interesse, das der Indianer bisher gezeigt hat, scheint zu erlöschen. »Ich sage nichts«, murmelt er dumpf. Als ob Lester und der Sergeant den gleichen Gedanken hätten, blicken sie sich an. Gannaway deutet heimlich auf seine Gesäßtasche, und Lester versteht. »Nun, was sagt er?« fragt der Leutnant aus dem Hintergrund. »Er will nicht in Gegenwart eines Mannes reden, der nicht seine Sprache spricht«, erklärt Lester. »Ah, und damit bin ich gemeint?« fragt MacKinnan. »Zweifellos, Leutnant.« »In Ordnung«, sagt der Offizier. »Da ich ohnehin kein Wort verstehe, ist es ja völlig gleichgültig, ob ich dabei bin oder nicht, Gannaway, Sie erstatten mir nachher Bericht.« »Jawohl, Sir.« Der Sergeant salutiert. Der Leutnant verschwindet, und die beiden Übeltäter grinsen sich an. »Denk nur nicht, er weiß nicht, was gespielt wird, Sundance«, kichert Gannaway. »Er weiß ganz genau, was wir vorhaben, er darf es nur nicht wissen. MacKinnan ist zwar in Indianerfragen keine große Leuchte, aber er ist in Ordnung. So, und jetzt fangen wir an.« Sergeant Hiob Gannaway zieht eine flache Flasche aus der Gesäßtasche. Er zieht den Korken heraus und reibt damit über das Glas. Zwitschernde Laute ertönen. Lester sieht das gierige Aufleuchten in den Augen von Kleiner Elch. »Gib ihm einen Schluck, Partner.«
Gannaway setzt dem Indianer die Flasche an den Mund und kippt sie ein wenig an. Bevor Kleiner Elch jedoch zufassen kann, hat er sie ihm schon wieder entzogen. »Mehr!« Nur dieses eine Wort kommt aus dem Mund des Roten, aber in dem gutturalen Laut kommt seine ganze hemmungslose Gier zum Ausdruck. Selbst der andere, offensichtlich schwerer verletzte Indianer stößt jetzt einen Laut aus, und Gannaway läßt ihm einige Tropfen in den Mund rinnen. Nun ist Lester wieder am Zuge. Er macht Kleiner Elch klar, daß der Flascheninhalt ihm gehört, wenn er die Zunge bewegt. In der bilderreichen Dakota-Sprache fordert er Auskunft über alle Dinge, die ihn interessieren. Und diesmal zeigt sich der Indianer zugänglicher. Lester bringt heraus, daß vor etwas mehr als drei Wochen ein weißer Mann, den Kleiner Elch den schwarzen Geier nennt, mit ihm Verbindung aufgenommen hat. Trotz aller Beschönigungsversuche des Indianers wird Lester klar, daß er der Anführer einer Horde ist, die aus dem Stamm wegen Trunksucht ausgestoßen wurde. Insofern mußte es also verhältnismäßig ungefährlich gewesen sein, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Dieser ›schwarze Geier‹, und noch ein weiterer Weißer, ›Streifenhaar‹, hatten ihnen viel Feuerwasser versprochen, wenn sie drei ›Grabe-viel-Männer‹ im Needle-Canyon töten würden. Gemeint waren natürlich die drei Digger, die von der Kavalleriepatrouille begraben wurden. Die Rothäute hatten ihren Teil des Abkommens erfüllt. Auch die beiden Weißen hielten ihr Wort. Aber sie verlangten, daß die Cheyennes einen Posten am Eingang des Needle-Canyons duldeten und ihm nötigenfalls Unterstützung gewährten, wenn er mit anderen weißen Männern oder auch Cheyennes in Konflikt geraten sollte. Dafür versprachen sie wiederum Whisky, jede Woche ein kleines Fäßchen.
Kleiner Elch ging auf den Handel ein. Vor einigen Tagen jedoch passierte insofern eine Panne, als der Posten am Canyon mit einem Weißen aneinandergeriet, die ganze Horde von Cheyennes aber gerade ihren Rausch ausschlief. Der Posten, der das Rauchsignal gegeben hatte, wartete vergebens. Damit war wohl sein Kampf mit Lansbury gemeint. Am nächsten Tag erschienen zwei weiße Männer als Posten am Canyon. Aber sie brachten noch keinen Whisky. Der hätte erst gestern kommen sollen. Diesmal blieb er aber aus. Er hatte einfach nicht kommen können, weil Bennet im Gefängnis war. Und da waren die Cheyennes schon seit zwei Tagen ohne Whisky. Sie fühlten sich betrogen. Als sie gegen Mittag noch nicht zu ihrem versprochenen Rausch gekommen waren, verfielen sie in Raserei und töteten die beiden Posten. Zu allem Unglück erschien dann eine Kavalleriepatrouille. Kleiner Elch und sein Begleiter wurden verwundet und gefangengenommen. Als der Indianer mit seinem Bericht bis hierher gekommen war, streckt er verlangend die Hand nach der Flasche aus. Lester hält Gannaway zurück. »Hör zu, Kleiner Elch«, murmelt er. »Kennst du die Namen, die der ›schwarze Geier‹ und ›Streifenhaar‹ als Bleichgesichter führen?« Der Indianer zieht in angestrengtem Nachdenken die Augenbrauen zusammen. »Hehett!« Es sind nur gutturale Leute, aber Lester erkennt sogleich die Ähnlichkeit. »War der Name Bennet?« Kleiner Elch nickt. »Bennet«, wiederholt er. »Und der andere?« »Ougänn!« kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Logan?« fragt Lester.
»Lougänn!« bestätigte Kleiner Elch. Glucksend und schmatzend nimmt der Inhalt der kleinen Flasche den Weg in die Kehle des Indianers. Dreimal schluckt er, dann ist sie fast leer. Den Rest kippt der Sergeant dem anderen in den Mund. »Hast du dir die Namen gemerkt, Partner?« fragt Lester. »Keine Sorge«, winkt Gannaway ab, »so sicher wie die Dienstvorschrift. Bennet und Logan hießen die Kerle.« »Dann wirst du aus dem Gedächtnis ein Protokoll der Aussagen aufstellen. Diese armen Teufel werden vor Gericht gestellt. Wenn dann klar ist, daß die Burschen, die sie getötet haben, Whiskyschmuggler waren, werden Kleiner Elch und sein Begleiter vielleicht mit einem blauen Auge davonkommen. Die wirklich Schuldigen sind die Weißen, die sie angestiftet haben.« »Und die wirst du dir jetzt vermutlich kaufen«, antwortet Hiob Gannaway. »Ich will gehängt werden, wenn ich das nicht tue!« knurrt Lester und denkt an Don Avery, der im Canyon der Verratenen begraben liegt. * Lester streckt nur seinen Kopf in das Office hinein und gibt Fatty einen Wink. Es ist um die Mitte des Nachmittags, als sie zusammen zum Fairplay Saloon gehen. »George Clark war im Office«, berichtet der Deputy. »Er macht sich Sorgen um eine Miß Jaqueline Logan. Sie wollte zum Mittagessen bestimmt zurück sein, kam aber nicht. Jemand will sie hinter dem Fairplay Saloon gesehen haben.« Lester stockt für einen Augenblick der Atem. Jaqueline ist also bei ihrem Bruder. Sie muß es doch irgendwie geschafft ha-
ben, zu ihm vorzudringen. Aber im nächsten Moment beißt Lester die Zähne zusammen. Er kann keine Rücksicht darauf nehmen, selbst wenn er Everett Logan in ihrer Gegenwart verhaften müßte. Everett Logan ist der Anstiftung zum dreifachen Mord überführt. Er hat seine Kameraden an die Indianer verraten, um allein einen großen Gewinn einstreichen zu können. Längst ist Lester klar, daß dieser Gewinn in einem großen Kupfervorkommen im Needle-Canyon liegen muß. Natürlich ist Bennet der Beauftragte der Mining Company, der die Aufgabe hat, bis zur Freigabe des Indianergebietes dafür zu sorgen, daß die Konkurrenz nichts davon erfährt. Deshalb die Posten am Canyoneingang. Als ob Fatty Gedanken lesen könnte, schnauft er in diesem Augenblick: »Sie waren schon fort, Boß, da kamen noch zwei Briefe. Ich habe sie geöffnet, weil ich doch amtierender Marshal war. Hier sind sie.« Im Gehen überfliegt Lester das erste Schreiben. Die Mining Company teilt ihm mit, daß ein gewisser King Bennet niemals für sie tätig gewesen ist. Jetzt wird der Anwalt also auch von seinen Auftraggebern im Stich gelassen. Dann ist da noch der Brief des Gouverneurs. In geschraubter Sprache enthält er die Bestätigung, daß ein beauftragter Richter nach Livingstone unterwegs ist, um Unregelmäßigkeiten in der Rechtsprechung zu überprüfen. Das ist das Ende für Benjamin Pembroke. Lester faltet die beiden Blätter zusammen und steckt sie in die Tasche. Und da sind sie auch schon vor dem Fairplay Saloon angelangt. Die Türen sind verschlossen und verriegelt, und vor allen Fenstern befinden sich Blendläden. Selbst auf anhaltendes Klopfen meldet sich niemand. Der Marshal gibt Fatty einen Wink. Sie gehen durch das Hof-
tor zur Hinterseite des Gebäudes. Lesters innere Unruhe wächst von Minute zu Minute. Befindet sich Jaqueline Logan in diesem Haus? Warum öffnet dann niemand? Nur einen einzigen Blick wirft Lester auf die Hintertür, dann macht er sich startbereit. Fatty erkennt seinen Plan sofort und nimmt neben ihm Aufstellung. Zur gleichen Zeit stürmen sie vorwärts und werfen sich mit den Schultern gegen die Tür. Ein Riegel und das Schloß werden aus dem Holz gefetzt. Mit schmetterndem Krach knallt die Tür gegen die Wand, während die beiden Männer in den Gang taumeln. Ohne Pause hastet Lester weiter. Alle Räume sind fast dunkel, nur durch die Ritzen der Läden dringt schwacher Lichtschimmer herein. Vor Lester tut sich der Spielsaal auf. Er sieht die Tür zum Büro, die merkwürdigerweise weit geöffnet ist. Da kracht ein Schuß. Die Kugel schrammt heiß über seinen Oberarm. Sofort wirft er sich hinter einem der Spieltische in Deckung. Nur für Sekundenbruchteile sieht er einen dunklen Schatten. Zweifellos ist das Snipe Bacony, der Geschäftsführer und Kartenhai. Er muß vorn durch die Ritzen gespäht haben, als Lester klopfte, und wurde durch das plötzliche Eindringen an der Hintertür überrascht. Aber sofort taucht die Frage auf, warum er ohne Anruf schießt. Lester hockt geduckt am Boden. Zweifellos lauert auch Snipe Bacony in irgendeinem Winkel des Raumes. Fieberhaft sucht Lester nach einer Idee, wie er diesen Burschen rasch erledigen könnte. Zoll für Zoll richtet er sich lautlos auf, hebt ein Knie auf die Kante des Tisches und zieht das andere nach. Die grüne Tuchbespannung kommt ihm sehr zustatten. Schließlich steht er aufrecht auf dem Tisch, den Kugeln seines lauernden Gegners ausgesetzt, wenn dieser auf die Idee kommen sollte, nach oben zu schießen.
»Fatty, dort in der Ecke!« Sofort blitzt ein Schuß auf, und nur den Bruchteil einer Sekunde später läßt der Marshal den Hammer seiner Waffe los. Das dumpfe Krachen des Schusses vermischt sich mit einem Schrei. Lester springt vom Tisch und hastet vorwärts. Beim Blitzen von Baconys Mündungsfeuer hatte er dessen Stellung erkannt. Der Kartenhai schoß nach dem Gehör, aber Lester nach Sicht. Und da hat er schon den Roulettetisch erreicht, hinter dessen Kante Snipe Bacony kauert. Mit dem Knie versetzt er ihm einen Stoß. Der Kartenhai kippt hintenüber. »Fatty, hierher! Ich habe ihn!« knurrt der Marshal und reißt ein Zündholz an. Im Schein der Flamme erkennt er Bacony, der mit verkrampftem Gesicht seinen rechten Oberarm hält. Das Blut sickert ihm durch die Finger. »Mach Licht und behalte ihn im Auge!« weist Lester den heranstampfenden Deputy an. Und an Bacony gewandt faucht er: »Wo ist Logan?« »Durchs Büro den Gang entlang«, krächzt der Kartenhai heiser. »Und das Mädchen?« »Es ist bei ihm.« Lester zögert keine Sekunde mehr. Er stürmt vorwärts, den Gang entlang, und bleibt vor einer Tür stehen. Er lauscht. Kein Laut. Da rammt er die Tür weit auf und hebt den Colt. Lächelnd starrt ihm ein Mann entgegen. »Everett Logan…«, sagt der Marshal, dann erstirbt ihm die Stimme. Er schluckt, und sein Atem geht hastig. Dieser Mann da vor ihm, der lässig an einem Schreibtisch lehnt, das ist Don Avery. Lesters Hand mit dem Colt sinkt langsam herab. Ihm ist, als habe er einen Schlag vor den Schädel erhalten, der sein ganzes
Bewußtsein ausgeschaltet hat. »Don…«, murmelt er schwerfällig, »… ich suche Everett Logan.« Im gleichen Augenblick sieht Lester die weiße Haarsträhne in Don Averys schwarzem Haar. Er zuckt zusammen, aber da ist es schon zu spät. Jetzt hält Don Avery den Colt auf ihn gerichtet. »Ich wußte, daß du darauf hereinfallen würdest, Lester«, sagt er. »Halte deine Hände hübsch ruhig, hörst du? Ich kenne deine Schnelligkeit, aber meine Kugel ist schneller.« Wie von fern dringen die Worte an Lesters Ohr. Er versucht Ordnung in seine wirbelnden Gedanken zu bringen. Da steht Don Avery vor ihm, der gleiche Don, dessen Grabtafel er gesehen hat. Außer der Haarsträhne, die wohl durch die Narbe hervorgerufen wurde, hat er sich kaum verändert. Aber wer ist dann Everett Logan, Jaquelines Bruder? Der Hut. Schon damals hatte Lester die Lösung des Rätsels in der Hand und fand sie nicht. Es war der Hut eines Toten. Everett Logan wurde als Don Avery begraben, während sich Don Avery den Namen des Toten zulegte. Dann ist er auch der Verräter seiner Partner. Und Jaqueline konnte er nicht empfangen, weil sie die einzige war, die sein falsches Spiel sofort hätte aufdecken können. »Ich glaube, es hat endlich bei dir gefunkt, Freund Lester«, spottet Don Avery. »Hast du endlich kapiert, wie mein Spiel aussah? Ich war mir nicht ganz sicher, ob mein eigener Name nicht auf einer Fahndungsliste stand, und mit dir mußte ich auch noch rechnen. Deshalb schien mir jeder Name besser als meiner. Ich wählte den von Everett Logan, weil er noch ein unbeschriebenes Blatt war.« Ein leises Schluchzen läßt Lester aufhorchen.
»Was hast du Hundesohn mit dem Mädchen gemacht?« Ohne die Augen von Lester zu lassen, geht Don Avery zu einem hohen Lehnsessel, dessen Rückseite der Tür zugewandt ist. Mit der Linken reißt er ihn herum. Da erkennt Lester Jaqueline Logan. Ihre Hände sind auf dem Rücken gefesselt und ihre Beine zusammengebunden. Ein Tuch vor dem Mund hindert sie am Sprechen, nur das Schluchzen dringt hindurch. Mit flehendem Ausdruck sind ihre tränenfeuchten Augen auf Lester gerichtet. »Du siehst, deinem Täubchen ist nichts geschehen, mein Freund«, knurrt Avery gehässig. »Sie wurde mir nur etwas unbequem, weil sie äußerte, sie würde so lange in der Stadt bleiben, bis sie mich gesehen hätte.« Lester nickt dem Mädchen zu, ohne dabei an seine eigene verzweifelte Lage zu denken. Er ist mit einem anderen Problem beschäftigt. »Warum hast du mir einen Brief geschrieben?« fragt er. »Das war doch widersinnig. Hast du jemals geglaubt, daß ich solche Geschäfte mitmache oder sie decken würde?« »Als ich dir schrieb, da hatte ich gerade mit den drei anderen eine Goldader entdeckt. In der ersten Freude hielten wir sie für einen enormen Fund, dessen Ausbeute jede Mühe lohnen würde. Wir hätten dich gebraucht, um uns die roten Affen vom Hals zu halten. Dann stellte sich aber nachträglich heraus, daß die Ader keineswegs eine solche Ausdehnung hatte, wie wir es erwarteten. Den anderen erschien es trotzdem als ein großer Fund, aber für mich waren es kleine Fische. Ich suchte heimlich in der Umgebung weiter und entdeckte Kupfererz. Da ritt ich…« »Den Rest kannst du dir sparen, Avery«, sagt Lester bitter. »Ich weiß, daß die Mining Company dir durch Bennet zwanzigtausend Dollar zahlte.«
Lester redet noch eine ganze Weile, aber seine Gedanken sind nicht dabei. Sein Reden ist nur ein Ablenkungsmanöver. Plötzlich kommen Schritte auf dem Flur herangetappt. Das kann nur Fatty sein. Lester erbebt bei dem Gedanken an die Waffe seines Deputys, die Schrotflinte. Fatty darf um keinen Preis schießen. Jaqueline befindet sich innerhalb des Streuungsbereiches. Da hat auch Avery die Schritte gehört. Sein Gesicht verzerrt sich. »Schick ihn zurück!« faucht er. Lester hat Jaquelines angestrengte Bewegung gesehen. Er möchte schreien, sie zurückhalten, aber er muß einsehen, daß es keine andere Lösung gibt als die, welche dieses tapfere Mädchen gefunden hat. Er wendet den Kopf zur Tür zurück und ruft heiser »Geh zurück, Fatty, er hat mich vor dem Lauf. So haben wir keine Chance!« »Du hast überhaupt keine Chance, du Narr!« zischt Don Avery, aber in diesem Augenblick hat Jaqueline es trotz der Fesselung geschafft, sich aufzurichten. Jetzt steht sie zwei Schritte von Avery entfernt schräg hinter seinem Rücken, wirft Lester einen warnenden Blick zu und wirft sich vorwärts. Im Sturz prallt sie gegen Don Avery und bringt ihn ins Wanken. Lester schnellt durch die Luft. Vor ihm peitscht der Schuß so dicht, daß die Mündungsflamme ihm fast das Gesicht versengt. Dann ist er über Don Avery und schmettert ihm den Lauf seines Colts auf den Kopf. Mit einem Röcheln wankt Avery rückwärts und hebt den Colt. Auch der Marshal hat seine Waffe schußbereit, um dem Mörder zuvorzukommen. Aber dann scheint das Dröhnen eines Schrotschusses den Raum sprengen zu wollen. Ein Schrotschuß bei einer Entfernung von kaum fünf Yards.
* Es ist auf den Tag zwei Wochen später, als ein junges Paar die Krankenstube bei Doc Croyden betritt und von Tom Warden mit mißtönendem, aber höchst erfreutem Krähen begrüßt wird. »Daß ihr euch doch noch einmal sehen laßt«, krächzt er. »Ich dachte, ihr hättet den alten Tom Warden völlig vergessen.« »Es gab eine Menge Arbeit, Old Tom«, entschuldigt sich Lester. »Drei Tage haben allein die richterlichen Vernehmungen Bennets und Baconys gedauert, die Untersuchung der Methoden Pembrocks zwei Tage. Plötzlich sind nämlich für alles genügend Zeugen da. Sogar Sweeney hat sich zur Verfügung gesteht, obwohl seine Augen noch violett und grün angelaufen sind.« Tom Warden schickt ein höchst vergnügtes Kichern herüber. »Du hast es also geschafft, was mir altem Knacker nicht möglich war«, sagt er schmunzelnd. »Das und noch einiges andere hast du geschafft. Wie steht es denn mit euch beiden?« Bei Jaqueline zeigt sich keine Spur von Verlegenheit. »Zuerst hat er mir nur seine Ersparnisse für den Ausbau der Ranch angeboten«, sie lächelt. »Da habe ich ihm zu bedenken gegeben, daß man doch gerade in Livingstone mit Beteiligungen schlechte Erfahrungen gemacht hätte und ob wir nicht einen anderen Weg finden könnten.« »Ich habe ihn gefunden.« Nun grinst auch Lester. »Weißt du, Tom, so einen richtigen Familienbetrieb mit allem Drum und Dran.« »Sagtet ihr nicht, die Ranch läge in der Nähe von Casper in Wyoming?« fragt der Alte. Und auf Lesters Nicken hin schmunzelt er. »Mein Bruder besitzt nämlich dort auch eine Ranch. Bei ihm werde ich meine alten Tage verbringen. In ei-
nem Jahr läuft mein Vertrag als Townmarshal ab, dann werden wir also Nachbarn.« »Laß dir nur Zeit, Old Tom«, sagt Lester. »Vorläufig macht sich Fatty ganz prächtig als amtierender Marshal. Es kommt also nicht darauf an, ob du zwei Wochen länger im Bett bleibst. Und jetzt müssen wir fahren. Wir freuen uns darauf, wenn du kommst.« Es wird ein herzlicher Abschied zwischen Menschen, die sich schätzengelernt haben. Als Lester es dann endlich fertigbringt, Jaqueline zur Tür zu bugsieren, kräht noch einmal Tom Wardens Stimme: »He, Lester, sagtest du nicht etwas von einem Familienbetrieb mit allem Drum und Dran? Beeilt euch ein bißchen damit, denn ich mag Babys für mein Leben gern. Ich finde, sie haben alle so große Ähnlichkeit mit mir.« Sein zerknittertes Gesicht mit dem Schnauzbart legt sich in vergnügte Falten, und so winkt er zum letzten Male hinter den beiden her. Als er aber kurz darauf das Rollen des leichten Wagens und Hufschlag hört, muß er heftig über die Augen wischen. »Verdammter Schnupfen!« knurrt er, als Doc Croyden hereinkommt. »Können wir nichts dagegen tun, Doc? Es ist eine ganz scheußliche Sache, wenn einem Marshal im unrichtigen Augenblick das Wasser in die Augen steigt.« ENDE
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