Buchkultur im Mittelalter
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Buchkultur im Mittelalter Schrift - Bild - Kommunikation
Herausgegeben von Michael Stol...
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Buchkultur im Mittelalter
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Buchkultur im Mittelalter Schrift - Bild - Kommunikation
Herausgegeben von Michael Stolz und Adrian Mettauer In Verbindung mit Yvonne Dellsperger und Andre´ Schnyder Redaktion: Hendrik Kuschel
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Bern, des Lotteriefonds des Kantons Berns und der Stiftung Faksimileverlag Luzern.
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018922-3 ISBN-10: 3-11-018922-4 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2005 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
PROF. DR. HUBERT HERKOMMER Ordinarius für Ältere deutsche Literatur an der Universität Bern und Gründungsmitglied des Berner Mittelalterzentrums zu seinem 65. Geburtstag gewidmet
Bern im Januar 2006
Inhalt Einleitung
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I. Memoria und Fama. Das Buch in Liturgie und Herrschaftsrepräsentation Therese Bruggisser-Lanker: Ritus und Memoria. Die Musik im liturgischen Buch Adrian Mettauer: Orthokratie und Orthodoxie. Der Dagulf-Psalter als Geschenk Karls des Grossen an Papst Hadrian I.
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II. Autorschaft und Autorfiktion. Das Buch als ›Bürgschaft gelebter Realität‹ Michael Stolz: Die Aura der Autorschaft. Dichterprofile in der Manessischen Liederhandschrift
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III. Objekt und Symbol. Das Buch im Buch Margaret Bridges: Mehr als ein Text. Das ungelesene Buch zwischen Symbol und Fetisch André Schnyder: Das Buch im Buch. Von lehrreicher, erfreulicher und gefährlicher Lektüre in mittelalterlichen Texten
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IV. Archiv und Gebrauch. Das Buch in der Bibliothek Anke von Kügelgen: Bücher und Bibliotheken in der islamischen Welt des ›Mittelalters‹
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VIII
Inhalt
Klaus Oschema: Des Fürsten Spiegel? Anmerkungen zu den Bibliotheken der burgundischen Herzöge im 14. und 15. Jahrhundert
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V. Abschrift und Reproduktion. Das Buch im technischen Wandel Karénina Kollmar-Paulenz: Buchdruck und Buchkultur in Tibet und der Mongolei Hans E. Braun: Von der Handschrift zum gedruckten Buch Yvonne Dellsperger: Sebastian Franck und der Buchdruck
195 215 243
VI. Bild und Buch. Kulturen des Sehens Norberto Gramaccini: Dürer und das Bilderbuch Edgar Bierende: Die Warnung vor dem Bilde. Medienkritik im frühen Buchdruck? Andreas Kotte und Stefan Hulfeld: Ein Buch mit fünf Siegeln. Überlegungen zum Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection Literaturverzeichnis Biobibliographien der Beiträgerinnen und Beiträger Personenregister Handschriftenregister Bildteil
263
275
295 313 357 365 373
Einleitung Die Erforschung der mittelalterlichen Buchkultur fusst auf einer langen Tradition, deren Grundlagen bis in das Zeitalter des Humanismus zurückreichen; zugleich hat sie in den letzten Jahrzehnten entscheidende Anstösse durch ein verstärktes Interesse an überlieferungs- und mediengeschichtlich orientierten Fragestellungen erfahren. Der vorliegende Sammelband, der im Kern seiner Beiträge auf einen Vortragszyklus des »Berner Mittelalterzentrums« 1 zurückgeht, greift diese Fragestellungen auf und verfolgt dabei eine entschieden interdisziplinäre Perspektive. Er widmet sich der Buchkultur des Mittelalters anhand der materiellen Erscheinungsweisen der Handschrift, ihrer Inhalte und Gebrauchsformen sowie der damit verbundenen kulturellen Vorverständnisse. Die Handschrift gerät dabei als Medium unter kodikologischen, paläographischen und buchgeschichtlichen Aspekten in den Blick. Gezielt werden die Voraussetzungen der europäischen Buchkultur, etwa im antiken Schriftwesen, sowie ihre Beziehung und Abgrenzung gegenüber Nachbarkulturen wie der islamischen Welt berücksichtigt. Ein besonderes Augenmerk gilt ferner Übergangsphänomenen in der Entwicklung zur neuzeitlichen Druckkultur, so dem Anstieg der Schriftlichkeit im Spätmittelalter und den im 15. Jahrhundert anzutreffenden Mischformen handschriftlicher und gedruckter Textüberlieferung. Der gewählte Zugriff bedarf, will er nicht im Unverbindlichen verharren, der Orientierung an vorliegenden Forschungsarbeiten und den darin sichtbar werdenden Forschungstendenzen. Ohne im Rahmen dieses Vorworts den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können, seien einige wichtige Leitlinien aufgezeigt (wobei hier die mit dem Buchwesen eng verwobenen Aspekte der Textkritik und Edition ausgespart bleiben müssen): Den Ausgangspunkt der modernen Erforschung der mittelalterlichen Buchkultur bietet die ebenso materialreiche wie auf Materialerschliessung ausgerichtete Monographie von WILHELM WATTENBACH über die »Buchkultur des Mittelalters«.2 WATTENBACH behandelte 1 2
Ringvorlesung im Wintersemester 2003/04 unter dem Titel »Die Buchkultur im Mittelalter«. W[ilhelm] Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. Nachdruck der 3. Auflage. Leipzig 1896. Graz 1958.
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darin ›Realien‹ wie Schreibstoffe, Buchformen, Schreibgeräte, Buchschmuck, widmete sich aber auch lebensweltlichen Aspekten wie den Existenzbedingungen der Schreiber, dem Aufkommen des Buchhandels und der Verwahrung der Bücher in Bibliothek und Archiv. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein galten diese buchkundlichen Belange Historikern und Philologen als eine Domäne der ihren eigentlichen (auf die Rekonstruktion von Originaltexten konzentrierten) Beschäftigungen untergeordneten Hilfswissenschaften. Erst in den sechziger und siebziger Jahren setzte hier mit einem damals neuen Interesse an der Überlieferungsgeschichte und den Rezeptionsphänomenen mittelalterlicher Texte eine Trendwende ein. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang namentlich KURT RUH, der gemeinsam mit seinen Schülern Überlieferungsgeschichte und das damit verbundene Handschriftenstudium als eine »erweiterte Konzeption von Literaturgeschichte« betrieb.3 Dieser Ansatz wurde begleitet von einer intensivierten Erforschung der Schrift und der Schriftkultur, die zunächst von BERNHARD BISCHOFF für den lateinischen Bereich und danach von anderen Forschern zunehmend auch für das volkssprachige Schrifttum betrieben wurde (so etwa von KARIN SCHNEIDER für deutschsprachige Texte).4 Etwa zur selben Zeit begannen Gelehrte wie der Romanist PAUL ZUMTHOR die volkssprachige Schriftlichkeit des Mittelalters in ihrer Spannung zu Vollzugsformen des vorneuzeitlichen Literaturbetriebs zu beschreiben: In Zeiten, da nur ein geringer Prozentsatz des Publikums volkssprachiger Texte des Lesens und Schreibens kundig ist, liegt ein Schwerpunkt der Literaturvermittlung auf mündlichen und gestischen Ausdrucksweisen im Rahmen von ›Aufführungssituationen‹.5 3
4
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Vgl. den programmatischen Aufsatz von Kurt Ruh: Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte. In: Ders. (Hg.): Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte; 19), S. 262-272. Ferner den Forschungsüberblick von Werner Williams-Krapp: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), S. 1-21. Vgl. Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Berlin 1979. 2. Auflage Berlin 1986 (Grundlagen der Germanistik; 24); Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Bd. 1: Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband/ Tafelband. Wiesbaden 1987. Vgl. Paul Zumthor: La Poésie et la voix dans la civilisation médiévale. Paris 1984 (Collège de France. Essais et conférences). Dt. Übers. v. Klaus Thieme: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. München 1994 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur; 18); Ders.: La Lettre et la voix. De la ›littérature‹ médiévale, Paris 1987. Der Ansatz wurde aufgegriffen in dem Sammelband von Jan-Dirk Müller (Hg.): ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Stuttgart/ Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände; 17).
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Dieses auf stimmliche Qualitäten und körperliche Gebaren gerichtete Interesse am mittelalterlichen Literaturbetrieb konzentrierte sich alsbald auch auf ›körperhafte‹ Eigenarten der mittelalterlichen Schrift und ihrer Schriftträger: Seit den achtziger und neunziger Jahren setzten Untersuchungen zur Materialität und Medialität der mittelalterlichen Buchkultur ein, in welchen den Handschriften neben ihrer Eigenschaft als Textträger ein Wert eigenen Rechts zuerkannt wurde: So beschrieben etwa MARY und RICHARD ROUSE die mittelalterlichen Codices als authentische, in konkreten Gebrauchszusammenhängen stehende Textzeugen (»authentic witnesses«), während HENRI-JEAN MARTIN und JEAN VEZIN aufzeigten, wie eng die Texteinrichtung (»mise en texte«) mit Verfahren der Seitengestaltung (»mise en page«) verknüpft ist.6 Zugleich wurde das Bewusstsein für den ›Kultcharakter‹ des Buches in vorliterarischen Gesellschaften geschärft, so etwa in einem Wolfenbütteler Tagungsband, der das »Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt« in Augenschein nahm.7 Jüngere Symposien griffen diese Ansätze auf, etwa indem sie die »Schriftlichkeit im frühen Mittelalter« (also jener Phase, in der die Schriftkompetenz besonders stark – hier auf das Monopol der Kirche – beschränkt ist) behandelten,8 indem sie die bis heute wirksame »Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften« oder allgemeiner noch die hauptsächlich im Spiegel literarischer Texte eruierten »Kulturen des Manuskriptzeitalters« zu ihrem Thema machten.9 Der vorliegende Band knüpft an diesem Punkt an, versucht aber zugleich, einen eigenen Weg zu beschreiten. Er situiert die Buchkultur des Mittelalters nicht nur in Konzentration auf einzelne Zeugnisse oder 6
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8 9
Vgl. Mary A. Rouse u. Richard H. Rouse: Authentic Witnesses. Approaches to Medieval Texts and Manuscripts. Notre Dame (Indiana) 1991 (Publications in Medieval Studies; 17); Henri-Jean Martin u. Jean Vezin (Hg.): Mise en page et mise en texte du livre manuscrit. Paris 1990. Verwiesen sei ferner auf die Sammelbände von Linda L. Brownrigg (Hg.): Medieval book production. Assessing the evidence. Proceedings of the second conference of The Seminar in the History of the Book to 1500. Oxford. July 1988. Los Altos Hills (California) 1990; und: Making the Medieval Book. Techniques of Production. Los Altos Hills (California) 1995. Peter Ganz (Hg.): Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt. Vorträge gehalten anlässlich des 26. Wolfenbütteler Symposions vom 11. bis 15. September 1989 in der Herzog-August-Bibliothek. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler MittelalterStudien; 5). Vgl. Ursula Schaefer (Hg.): Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Tübingen 1993 (Script Oralia; 53). Vgl. Hans-Jochen Schiewer u. Karl Stackmann (Hg.): Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz. 6.-8. April 2000. Tübingen 2002; Arthur Groos u. HansJochen Schiewer: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit; 1).
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literarische Texte, sondern im engen Verbund mit zugehörigen, jeweils zu bestimmenden kulturellen Funktionen und Kontexten. Methodisch wegweisend waren dabei unter anderem die Forschungsarbeiten von Hubert Herkommer, dem der vorliegende Band gewidmet ist. In ihnen werden grundlegende Einstellungen gegenüber dem mittelalterlichen Buch (als allegorischem Bedeutungsträger, als Therapeutikum, als heilsgeschichtlichem Entwurf) transparent.10 Vor diesem Hintergrund erörtern die hier versammelten Beiträge in einem interdisziplinären Zugriff unterschiedliche Problemfelder der mittelalterlichen Buchkultur. Das Buch wird dabei in seiner Eigenschaft als singulärer, von bestimmten Ausstattungsformen geprägter Textträger dargestellt, zugleich aber in seinen je spezifischen Umfeldern profiliert: Erörtert werden Reihenbildungen (Überlieferungstraditionen, Textgeschichten, Produktionsweisen), Besonderheiten der Verwendung (etwa in Lektüre- und Vortragsformen, in Liturgie und Andacht) und der Aufbewahrung (Sammelverfahren, Konservierungsmassnahmen, Institutionalisierung in Bibliothek und Archiv) sowie rituell-symbolhaft orientierte Einstellungen (das Buch als Funktionsträger bis hin zur Zweckentfremdung, aber auch Erscheinungen wie Bibliophilie). Schliesslich wird das Buch in seiner an schriftliche Wissensvermittlung gebundenen Medialität erfasst, wobei hier Nähe und Distanz zu anderen Medien eine Rolle spielen (Buch und Schrift vs. mündliche Rede – Bild – Musik – theatralische Inszenierung; mechanische Reproduktion der Schrift im Druckzeitalter). Mit einbezogen wird die selbstreferenzielle Thematisierung der Schriftlichkeit (Buch im Buch, Darstellung von Lese- und Schreibszenen in handschriftlichen Miniaturen, Medienkritik).
10 Vgl. Hubert Herkommer: Buch der Schrift und Buch der Natur. Zur Spiritualität der Welterfahrung im Mittelalter, mit einem Ausblick auf ihren Wandel in der Neuzeit. In: Liselotte E. Stamm u.a. (Hg.): Nobile claret opus. Festgabe für Ellen Judith Beer zum 60. Geburtstag. Zürich 1986 (= Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 43 [1986]), S. 167-178; Ders.: Der St. Galler Kodex als literarhistorisches Monument. In: Kantonsbibliothek (Vadiana) St. Gallen und die Editionskommission (Ellen J. Beer u.a.) (Hg.): Rudolf von Ems Weltchronik. Der Stricker Karl der Grosse. Kommentar zu Ms 302 Vad. Luzern 1987, S. 127-273; Ders.: Das Buch als Arznei. Von der therapeutischen Wirkung der Literatur. In: Henriette Herwig u.a. (Hg.): LeseZeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Rusterholz zum 65. Geburtstag. Tübingen/ Basel 1999, S. 87-111; Ders. (Hg.): Das Buch der Welt [Faksimile und Kommentarband]. Kommentar und Edition zur Sächsischen Weltchronik. Ms. Memb. I 90 Forschungs- und Landesbibliothek Gotha. Luzern 2000.
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Die versammelten Beiträge liefern zu den genannten Themen sowohl Überblicksdarstellungen wie Fallstudien anhand ausgewählter Objekte bzw. Aspekte. Sie gruppieren sich unter folgenden Leitthemen:
Memoria und Fama – Das Buch in Liturgie und Herrschaftsrepräsentation Die in der Zeit verklingende Musik kann immer nur rudimentär in eine visuell fassbare Gestalt gebracht werden. Der Beitrag von Therese Bruggisser-Lanker zeigt, dass bereits in den ersten Phasen der Verschriftlichung von Musik in liturgischen Handschriften deutlich wird, dass diese Reduktion auf selektive Elemente stets auch abhängig ist vom Kontext ihrer Entstehung. Die schriftliche Kodifizierung der heiligen Gesänge ist nicht ohne die Initiative der Karolinger zu begreifen, die den römischen Gesang für ihr Reich verbindlich erklärten. Die Neumennotation war eine Memorierschrift, welche die Textartikulation spiegelte; sie machte jedoch im Notat die klangliche Ebene sichtbar und regte damit kreative Prozesse an, die zu neuen artifiziellen Formen führte. Unter den Aspekten des Ritus und der Memoria – als Gedächtnis, Erinnerung oder Fama – lassen sich an der Geschichte des liturgischen Buches vielschichtige Entwicklungen, wie die Herausbildung eines Bewusstseins für Tradition, die Objektivierung von Musik als eigenständigem Medium und ihre Emanzipation zur autonomen Kunst, darstellen. Der Psalter war das erste und auch für das Mittelalter grundlegende Gebetbuch. Der von Adrian Mettauer näher untersuchte DagulfPsalter (um 790) ist die einzige vollständig überlieferte Psalmenhandschrift aus dem Umkreis Karls des Grossen. Von Karl in Auftrag gegeben und als Geschenk für Papst Hadrian I. bestimmt, kommt dem Psalter als Andachtsliteratur hier die Funktion der an die geistliche Machtspitze gerichteten Repräsentation idealer weltlicher Herrschaft zu. Darin von zentraler Bedeutung ist die auf dem Elfenbeineinband sowie in den Widmungsgedichten in Text und Bild greifbare DavidFigur als frühes Beispiel typologischer Anbindung fränkischer Herrschaft an die alttestamentliche Vergangenheit. Im zeitgleich mit der Verfassung des Dagulf-Psalters ausgefochtenen Kampf gegen die Irrlehre des spanischen Adoptianismus agiert Karl der Grosse als Hüter der Orthodoxie und novus David, rex et propheta. Nur in der so verteidigten orthodoxen Christologie kann das Verfahren der Typologie grundgelegt werden, in dessen Rahmen sein
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Herrschertum auf David und Christus beziehbar und im heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Verheissung und Erfüllung verortenbar wird. Vor dem Hintergrund seiner Entstehung sowie im Blick auf seinen Verwendungszweck erscheint der Dagulf-Psalter als Zeugnis fränkischen Bemühens um Orthodoxie und Orthopraxie.
Autorschaft und Autorfiktion –Das Buch als ›Bürgschaft gelebter Realität‹ Komponenten der im mittelalterlichen Buchwesen fassbaren Konzeption von Autorschaft sind Gegenstand der Ausführungen von Michael Stolz. Am Beispiel der Manessischen Liederhandschrift aus dem frühen 14. Jahrhundert stellt sich der Beitrag dem Problem des mitunter beträchtlichen zeitlichen Abstands zwischen der Entstehung und Aufzeichnung der überlieferten Texte: Insbesondere im Bereich der volkssprachigen Lyrik, für den der Codex Manesse hier paradigmatisch einsteht, ist eine Diskrepanz zwischen der an Aufführungssituationen gekoppelten Existenz der Texte und deren Erstarrung in der Schriftlichkeit festzustellen. Die in der schriftlichen Überlieferung nur unzureichend dokumentierbare Eigenart lyrischer Vortragsformen und deren Einbindung in ›gelebte Realität‹ werden kompensiert durch Modelle von Autorschaft, die der Codex Manesse vor dem Hintergrund einer wirkmächtigen, besonders an romanischen Vorbildern orientierten Tradition entwirft. Der Beitrag macht sich zur Aufgabe, diese Modelle an ausgewählten Dichtern zu beschreiben und zu dechiffrieren.
Objekt und Symbol – Das Buch im Buch Bücher können eine Vielzahl von sozialen Zwecken erfüllen, die mit Lesen und Schreiben wenig zu tun haben. Vor diesem Hintergrund beschreibt der Aufsatz von Margaret Bridges die vielfältigen materiellen Erscheinungsformen des Buches in der englischsprachigen Literatur des Mittelalters: In literarischen Texten kann Materialität dargestellt werden, indem der Herstellungsprozess von Büchern beschrieben oder die Beziehung des lesenden Schriftstellers zu seinem Quellenmaterial zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem Fetischierungspotential des Buches. Mittelalterliche Texte geben Auskunft über Bücher, die als Objekte spiritueller Liebe angebetet wurden, als wären sie stellvertretender Fetisch. Thematisiert wird auch der Gebrauch von Büchern für die Durchführung
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religiöser und quasi-magischer Rituale. Abschliessend werden Überlegungen zum Buch als mögliches Statussymbol oder als Objekt von bibliophilem Begehren angestellt. Eine grosse Vielfalt unterschiedlicher Gestaltungsformen und Funktionen des in Texten und in Buchillustrationen dargestellten Buches werden im Beitrag von André Schnyder untersucht. Als Textbelege dienen die Divina commedia Dantes, namentlich die Szene mit Francesca und Paolo (Inferno, 5. Gesang) und die legendenhafte Erzählung vom guoten sündære Gregorius Hartmanns von Aue; die Bildzeugnisse sind den Miniaturen der Manessischen Liederhandschrift entnommen. Indem der Begriff ›Buch‹ weit gefasst wird, öffnet sich der Blick auf die unterschiedlichen medialen Formen des skriptographischen Zeitalters. Die genaue Betrachtung der Bilder und Texte fördert eine reizvolle Fülle von Einsichten über die materiale und symbolische Bedeutung des beschriebenen und gemalten Buches zu Tage.
Archiv und Gebrauch – Das Buch in der Bibliothek In die faszinierende Welt orientalischer Buchkultur führt Anke von Kügelgen mit ihrem Beitrag über Bücher und Bibliotheken im Islam. Der berücksichtigte Zeitraum von den Anfängen des Islams im 7. Jahrhundert bis zum sogenannten Mongolensturm im 13. Jahrhundert lehnt sich dabei an die europäische Periodisierung des Mittelalters an, ohne dass damit auch die Kennzeichen und Klassifikationsparameter der europäischen Geschichtsentwicklung auf die in ihrer Eigenart völlig anders gearteten Verhältnisse der islamischen Welt übertragen wären. Ausführlich gewürdigt werden Aspekte der orientalischen Buchkultur, wie die religiöse Hochschätzung des Schriftlichen, die Bemühungen um die Authentizität des in den Büchern fixierten Wissens, diverse Abschreibe-, Korrektur- und Kollationsmethoden, unterschiedliche Distributions- und Bibliothekstypen, Erscheinungen der Bibliophilie sowie die verzögerte Einführung der Drucktechnik. Die Handschriftenbestände im Besitz der Valois-Herzöge von Burgund gelten weithin als eine der bedeutendsten und reichsten Sammlungen des späten Mittelalters. Der vorliegende Beitrag von Klaus Oschema unterstreicht die geringe Institutionalisierung der sog. ›Bibliothek der Herzöge‹, die in mehrere Bestände zerfiel, welche an unterschiedlichen Orten gelagert wurden. Im Gegensatz zur anderen zeitgenössischen Sammlungen war weder ein bestimmter Bibliotheksraum vorgesehen,
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noch das Amt eines speziell zuständigen Bibliothekars. Trotz der bekannten Vorliebe der Herzöge für die Lektüre, ihrer Identifizierung mit heldenhaften Charakteren der Literatur und der propagandistischen Nutzung prächtiger Luxushandschriften bleibt der Umgang mit dem Buchbesitz daher hinter den gebrauchsorientierten Massstäben humanistischer Kriterien zurück.
Abschrift und Reproduktion – Das Buch im technischen Wandel Die Technik des Buchdrucks wurde in China 700 Jahre vor Gutenberg erfunden. Das erste uns überlieferte gedruckte tibetische Buchfragment stammt aus dem 9. Jahrhundert, der erste mongolische Blockdruck aus dem Jahr 1312. In einem ersten Teil schildert der Beitrag von Karénina Kollmar-Paulenz die Entwicklung von Schriftlichkeit in Tibet und der Mongolei, wobei besonderes Gewicht auf die Relation von schriftlichen und mündlichen Medien der Text-Überlieferung in den tibetischen und mongolischen Gesellschaften der Vormoderne gelegt wird. Darüber hinaus werden die Einführung des Buchdrucks und seine Rolle für die Verbreitung kulturellen Wissens behandelt. Die Technik des Buchdrucks und der handschriftlichen Produktion von Texten in Tibet und der Mongolei steht im Zentrum eines zweiten Teils. Zuletzt wird auf einen weiteren, bedeutenden Aspekt der Buchkultur in den buddhistischen Kulturen Tibets und der Mongolei eingegangen: Das Buch wird rituell verehrt, da es das Buddha-Wort symbolisch vergegenwärtigt. Dieser ›Kult des Buchs‹ ist schon für die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung in indischen buddhistischen Gemeinschaften belegt. Der Beitrag von Hans E. Braun ist den Entwicklungen der abendländischen Buchgeschichte gewidmet. Er skizziert summarisch den Wandel von der frühmittelalterlichen, auf Theologie und pragmatisches Schrifttum zentrierten Chirographie zu der seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sich durchsetzenden Typographie und verweist auf die damit verbundene Veränderung der Mentalität bei den Herstellenden und der Funktion des Buches. Die vornehmlich in renommierten Skriptorien arbeitsteilig organisierten Schreiber vollbrachten im Umfeld der karolingischen Renaissance eine, qualitativ und quantitativ gesehen, stupende Leistung. Im 12./13. Jahrhundert erfolgte mit der Verlagerung der Buchproduktion in die Städte und Universitäten ein grosser Einschnitt. Radikal war die Wende dank Gutenbergs Erfindung, welche nach einer Phase fliessender Übergänge zwischen Manuskript und
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Druck das technisch hergestellte Buch zum beherrschenden schriftgebundenen Kommunikationsmedium etablierte. Umfassende konzeptionelle und distributive Neuerungen waren die Folge, nicht nur in der Buchgestaltung, sondern auch in Bezug auf politische Propaganda, religiöse Massenbeeinflussung und die Schaffung neuer Formen darstellender Kunst. Die eben erst entstandenen Berufe der Drucker und Verleger gerieten im Unterschied zu den Schreibern unter unerbittlichen wirtschaftlichen Erfolgszwang und sahen sich mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert. Im Mittelpunkt des Beitrags von Yvonne Dellsperger steht die Haltung Sebastian Francks (1499-1542) zur Erfindung des Buchdrucks, wie sie seinen eigenen Äusserungen entnommen werden kann. Nach einer kurzen Darstellung seines unsteten Lebenslaufs und seines Werdgangs als Buchdrucker steht ein bekannter, oft zitierter Abschnitt aus der Chronica, Zeitbuoch vnnd Geschichtbibell im Zentrum einer neuen FranckLektüre. Die bisherige Forschung hat die entsprechende Textpassage als eine Stellungnahme Francks zur medialen Revolution interpretiert, dabei aber übersehen, dass beinahe der gesamte Wortlaut der Schedelschen Weltchronik (1493) entnommen ist. Francks Selbstverständnis als ›Autor‹ und ›Buchdrucker‹ lässt sich in besonderer Weise vor dem Hintergrund seiner zahlreichen und ausführlichen Überlegungen zu den menschen kunsten näher beschreiben. Die mystische Grundtendenz seiner Schriften, die auch die Wurzel seiner unparteilichen und toleranten Haltung gegenüber Heiden, Türken oder ganz allgemein der ›Ketzer‹ darstellt, spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle.
Bild und Buch – Kulturen des Sehens Grundlage der grossen Veränderung im Bereich des neuen Buchwesens, deren Ursprünge in der Nürnberger Werkstatt Anton Kobergers zu suchen sind, ist eine neue Wertigkeit des Bildes gegenüber dem Text. Spezialisierte Ateliers von künstlerisch hochstehenden Vorzeichnern und Holzstechern bewältigen die anfallenden Illustrationen. In diesem Ambiente wuchs der junge Dürer auf. Der Aufsatz von Norberto Gramaccini untersucht die Anfänge von Dürers künstlerischer Karriere unter einem medientheoretischen Aspekt. Dürer erzielte seinen ersten beruflichen Durchbruch auf der Wanderschaft, in Basel, wo er 1492 das Titelblatt zu einer Gesamtausgabe von Hieronymus Schriften schuf. An dem Holzschnitt des Hieronymus lässt sich zeigen, dass Dürer dank
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Einleitung
einer neuen Technik und eines neuen Selbstbewusstseins als peintre graveur seine Konkurrenten hinter sich liess. Das Bild steht über der Schrift – so auch bei Sebastian Brants Narrenschiff von 1494. Dürer selbst perfektionierte seine Technik und brachte (mit der Apokalypse von 1498) das erste, autonom von einem Künstler gestaltete und verlegte Bilderbuch auf den Markt. Um 1500 wird die Ambiguität des Bildes in einigen Holzschnitten thematisiert. Das Medium Bild wird sowohl witzig als auch kritisch hinterfragt, etwa in Äsops Fabeln, der Ritter vom Turn, Narrenschiff und Lob der Torheit. Der Beitrag von Edgar Bierende zeigt auf, wie diese Holzschnitte und Texte den richtigen oder falschen Umgang mit dem Bild, das heisst also die richtige oder falsche Wahrnehmung und Auslegung, ausloten. Der Betrachter erblickt in den Holzschnitten zwei Seiten des Sehens, das in Spiegelbild und ›Bild im Bild‹ verdeutlicht wird. Betrachter und Leser erfahren an didaktischen Fallbeispielen, dass Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Innen- und Aussenwelt, richtiges und falsches Handeln so dicht beieinander liegen, dass sie leicht zu vertauschen sind. Daher sollen Betrachter und Leser ihre eigenen Erkenntnis- und Entscheidungskompetenzen mittels Bild und Text zu entwickeln lernen. Wenn Gut und Böse bzw. Innen- und Aussenwelt in einem Bild simultan gezeigt werden können, dann spricht dies für die besondere Qualität des Mediums, für dessen Ambiguität. Aufgrund dieser Mehrdeutigkeit haftet dem Bild in besonderer Weise ein Rätselcharakter an, der nach Interpretation und damit nach Text bzw. Kommentar verlangt. Das rhetorische Verfahren der commutatio (Veränderung, Vertauschen) trägt dem Medium Bild in besonderer Weise Rechnung, da trotz oder gerade wegen des augenscheinlichen Widerspruchs von ›Bild im Bild‹ oder Spiegelbild der Betrachter zu einer tieferen Einsicht gelangt. Die ausgewählten Beispiele markieren den Beginn der Emblematik und damit die Entstehung eines spezifisch christlich humanistischen Bildverständnisses. Um 1500 wird ein Bild-Problembewusstsein in ersten Ansätzen erkennbar, das zumeist erst mit der Reformationszeit in Verbindung gebracht wurde. Bereits hier liegen die Anfänge zu einer im heutigen Sprachgebrauch gemeinhin mit dem Begriff der ›Medientheorie‹ bezeichneten Reflexion über Bild und Text begründet. Bei dem von Andreas Kotte und Stefan Hulfeld so bezeichneten »Buch mit fünf Siegeln« handelt es sich um den Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection, der zwischen 1569 und 1591 entstanden ist. Das ›Buch ohne Worte‹ umfasst insgesamt 23 Bildserien, die in strenger
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Abfolge immer die gleichen fünf Themen behandeln: 1. Turniere und Schlachten 2. Landschaften mit Architektur 3. Teufel, Verdammte und Tod 4. Spiele und Spielszenen Buckliger 5. Musik und Tanz. Nach einer in der romanistischen Forschung aufgestellten These sind die Bildkategorien in einen theaterpraktischen Zusammenhang zu stellen. Kotte und Hulfeld erwägen ganz andere Funktionen. Könnte es sich bei dem Bildcodex nicht auch um ein Erinnerungsbuch, Skizzenbuch, Stammbuch oder Musterbuch handeln? Aufgrund der sondierenden Erörterungen gelingt es, die Benennung des Ms. 180 als »Repertorio di una compagnia della Commedia dell’Arte« zu falsifizieren. Zudem wird klar, dass sich nicht alle Bildkategorien des Buches a priori auf theatrale Praktiken beziehen lassen. Die Situierung des Unikats innerhalb der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Buchkultur bleibt vorläufig offen. Die Rechte zum Abdruck von Abbildungen wurden von den Beiträgern bei den betroffenen Bibliotheken eingeholt. In Fällen, in denen ein Abdruck aus sekundären Quellen erfolgt, ist dies vermerkt.
I.
Memoria und Fama Das Buch in Liturgie und Herrschaftsrepräsentation
Therese Bruggisser-Lanker
Ritus und Memoria. Die Musik im liturgischen Buch Dass die Musik ein flüchtiges Medium ist, hat schon Isidor zu Beginn des 7. Jahrhunderts festgehalten: Wenn die Klänge vom Menschen nicht im Gedächtnis aufbewahrt werden, vergehen sie, da sie nicht aufgeschrieben werden können. Zuvor hatte er den Zeitcharakter von Musik beschrieben: Der Klang der Lieder und der Stimme, der eine wahrnehmbare Sache ist, fliesst durch die vergangene Zeit und wird im Gedächtnis eingeprägt. Deshalb hätten die Dichter die Musica den Musen, den Töchtern des Jupiter und der Memoria oder (griech.) Mnemosyne zugeschrieben. Für Isidor war die Musik in erster Linie eine Disziplin, die sich im Gesang bekundet, den er als inflexio vocis – Bewegung der Stimme – bezeichnet.1 Zu seiner Zeit stand jedoch noch kein Zeichensystem zur Verfügung, das den musikalischen Anteil eines gesungenen Textes in einer kodierten Form ausserhalb des menschlichen Gedächtnisses festhalten konnte. Die Gesänge wurden oral tradiert, im täglichen Training dem Gedächtnis einverleibt, und dies noch weit ins Mittelalter hinein, als es längst Aufzeichnungsmöglichkeiten gab. Bischof Nicetius aus dem merowingischen Trier des 6. Jahrhunderts stellt bescheiden fest, dass die Psalmen leicht im Gedächtnis zurückbehalten werden könnten, wenn häufig psalliert würde. Für ihn waren die Psalmen, ein vom Sängerfürsten David ans Licht gebrachter Schatz von Gesängen, eine Arznei Gottes: Sie sind ›süss‹ anzuhören, wenn sie gesungen werden und: Sie durchdringen das Herz, da sie erfreuen.2 Die Süssigkeit 1
2
Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive Originum Libri XX. Hg. v. W[allace] M[artin] Lindsay. 2 Bde. 6. Nachdruck der Ausgabe Oxford 1911. Oxford 1985 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), Bd. 1, Buch 3, Kap. 15,2: Quarum sonus, quia sensibilis res est, et praeterfluit in praeteritum tempus inprimiturque memoriae. Inde a poetis Iovis et Memoriae filias Musas esse confictum est. Nisi enim ab homine memoria teneantur soni, pereunt, quia scribi non possunt. Buch 3, Kap. 20,8: Cantus est inflexio vocis, nam sonus directus est; praecedit autem sonus cantum. Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum. Hg. v. Martin Gerbert. 3 Bde. St. Blasien 1784, Bd. 1, S. 10-11: Dominus itaque Deus noster per David servum suum confecit potionem, quae dulcis esset gustu per cantionem, & efficax ad curanda vulnera
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Therese Bruggisser-Lanker
(dulcedo) der Musik – ein Topos des Mittelalters – befördert wie die stete Wiederholung die Merkfähigkeit. Im Zusammenhang mit der affektiven Wirkungsmacht der Musik wird noch im 13. Jahrhundert von einem unbekannten Mönch aus St. Gallen angeführt: Wir wissen und erkennen alle, dass süsser Gesang das menschliche Herz erfreut und ihm seine Freude wiederum ins Gedächtnis bringt, in welchem eines jeglichen Liebe das Gemüt härter trifft und die äusseren Begierden mit süssen Harmonien oder lieblichem Gesang ergötzet und erquickt. Davon [wird] das Gemüt von viel Sorgen und Unruhe erlöst. […] Je inniger das Herz durch die Liebe berührt wird, desto tiefer berührt die gehörte Harmonia den äusseren Affekt und führt jene innere geistliche Harmonie ins Gedächtnis zurück. Durch die gehörte Melodie wird die Seele des Hörenden zur gewohnten Freude gestärkt und erhoben.
Erst durch das Immer-und-immer-wieder-Hören kann die äussere zu jener inneren geistigen Harmonie werden, erst durch die vollständige Inkorporation der akustischen Wahrnehmung ins Gedächtnis wird Musik ganz zu eigen gemacht und kann in ihrer stetigen Vergegenwärtigung zum Mittel seelischer Stabilität werden. Die Argumentation ist aber in ihrer letzten Bedeutung eine theologische: Mit der im Mittelalter geläufigen Metapher des Ohrs als Tür zur Seele – Gott wird durch das Ohr empfangen – wird das Ohr zum wichtigsten Organ der Gotteserfahrung, das Gotteslob demnach zur Quelle der höchsten Freuden: Im Psalmengesang oder im Gotteslob bereiten wir Gott den Weg, den er mit jenen wunderbaren Mysterien seiner Offenbarung zu uns zu kommen wünscht.3 Bei Alkuin war dies noch schöner in ein Bild gefasst: Wird die Stimme der Psalmodie durch die Rührung des Herzens bewegt, wird durch sie dem allmächtigen Gott der Weg bereitet, damit er in die aufmerksamen Seelen das Mysterium der Prophetie und die Gnade der tränenreichen Reue [compunctio] hineingiesse.
Der Geist solle sich frei machen von der gegenwärtigen Welt und sich auf die heiligen und göttlichen Gesänge richten, damit ihm das Himmlische offenbart wird.4
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peccatorum per suam virtutem; suaviter enim auditur psalmus, dum canitur; penetrat animum, cum delectat. Facile psalmi memoria retinentur, si frequenter psallantur […]. Therese Bruggisser-Lanker: Musik und Liturgie im Kloster St. Gallen in Spätmittelalter und Renaissance. Göttingen 2004 (Abhandlungen zur Musikgeschichte; 13), S. 1f. u. Anm. 1 (Zitate aus der Vita Notkeri cognomento Balbuli aus Cod. Sang. 556, um 12301240). Margaretha Landwehr von Pragenau: Schriften zur Ars musica. Ausschnitte aus Traktaten des 5.-11. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. Wilhelmshaven 1985 (Taschenbü-
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Die Verinnerlichung der heiligen Worte Gottes, bei dem laut Augustinus nicht nur der Körper, sondern auch der Geist (intellectus) beteiligt ist,5 und der Vollzug im gemeinsamen, einträchtigen Gesang andererseits waren die Voraussetzung für die Gestaltung des christlichen Ritus, in dem der liturgische Gesang als Lobopfer Gottes (sacrificium laudis) dargebracht wird. Ja er bildet, zusammen mit den rezitierten Texten, die Basis des Kults, in welchem im Ablauf des Kirchenjahres rememorativ die Historia Christi wie die Heilszeiten von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht rituell nachgestaltet werden.6 Die Messe feiert die Memoria des Lebens und Sterbens und der Wiederauferstehung Christi, durch die rituelle Erinnerung soll das historisch vergangene Erlösungsereignis als erneute Erfahrung göttlichen Waltens wiederhergestellt werden. In der ästhetischen Inszenierung der Messe, die den Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufhebt in einer zeitlosen Präsenz des Geschehens, werden sämtliche Sinne angesprochen: multimedial wirken alle Künste mit, um sie als Fest vom Alltag abzugrenzen. Der Gläubige tritt ein in das Haus Gottes, ein Abglanz des himmlischen Jerusalem, und wird sofort umfangen von einer Atmosphäre, die geprägt ist von feierlicher Musik, eindrucksvollen Malereien, den prunkvollen Messgewändern, gemessenen Gebärden und Wohlgerüchen, die im Höhepunkt der Eucharistie, der »sakramentalen Schau« in der Feier des heiligen Mahles, gipfelt.7 Die Liturgie als Spiel der Schönheit und Heiligkeit wird oft als (Gesamt-)Kunstwerk, als Drama in verschiede-
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cher zur Musikwissenschaft; 86), S. 78f.: Vox enim psalmodiae cum per intentionem cordis agitur, per hanc omnipotenti deo ad cor iter paratur, ut intentae menti vel prophetiae mysteria, vel compunctionis gratiam infundat. […] Dignum quippe est, ut mens a praesentibus universis, in quantum valet, se mundet, et divinis laudibus atque spititualibus inhaeret, ut coelestia ei revelentur. Aurelius Augustinus: De musica. Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur metaphysischen Erkenntnis. Eingel., übers. u. mit Anm. vers. v. Frank Hentschel. Lateinisch-deutsch. Hamburg 2002 (Philosophische Bibliothek; 539). Zur Memoria s. Einleitung, S. XIV, 1. Buch, 4. Kap., bes. S. 24f. »Die christliche Lehre ist Erinnerung, der christliche Kultus Gedenken.« Jacques Le Goff: Geschichte und Gedächtnis. Aus dem Französischen übers. v. Elisabeth Hartfelder. Berlin 1999, S. 104. In der Bibel wird die Memoria mehrmals direkt thematisiert, Beispiele ebd., S. 102f. oder aber auch in Psalm 111 Confitebor tibi domine: Den Herrn will ich preisen von ganzem Herzen im Kreis der Frommen, inmitten der Gemeinde. Gross sind die Werke des Herrn, kostbar allen, die sich an ihnen freuen. Er waltet in Hoheit und Pracht, seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich (in saeculum saeculi). Und: Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder – memoriam fecit mirabilium suorum, misericors et miserator Dominus. Oder im nächsten Vesperpsalm 112 (Beatus vir): In memoria aeterna erit justus – im ewigen Gedächtnis bleibt der Gerechte. Er fürchtet sich nicht vor Verleumdung, sein Herz ist fest, er vertraut auf den Herrn. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 114-126.
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nen Akten, aber auch insgesamt als kollektives Gedächtnis beschrieben, in dem die Geschichte des Abendlandes bewahrt wird.8 Tatsächlich erfüllt sie alle Bedingungen, wie sie in der interkulturellen Ritualforschung formuliert werden: 9 Sie ist ein Zeremoniell, ein stabiler, immer wiederkehrender Handlungsvollzug mit eigener Dramaturgie und künstlerischer Ausgestaltung, welche die emotionale und intellektuelle, die körperliche und seelische Partizipation der Teilnehmenden gewährleistet. »Das Heilige muss stattfinden und dargestellt werden, um Wirklichkeit zu werden.« Im Vollzug der Liturgie wird Sinn subjektiv erfahren, sie durchbricht und rhythmisiert die Zeit in zyklischer Wiederkehr, sie ist Ort der ›anderen‹ Zeit und Inbegriff zeremonieller Kommunikation. In ihren symbolischen Handlungen werden symbolische Bedeutungsordnungen ›vom‹ und ›für‹ das Leben der Gläubigen ritualisiert, die gerade da als Heilsversprechen bedeutsam werden, wo die eigenen Interpretationen angesichts von krisenhaften Situationen versagen. Als Gedächtnisritual hat sie aber auch ein erfahrbares kollektives Fundament und dient der Herstellung bzw. der Erinnerung und Vergewisserung der sozialen Ordnung. Ritus und Memoria sind also in vielfältiger Weise miteinander verknüpft. Die liturgische Musik wiederum ist untrennbar mit beiden Ebenen verbunden, insbesondere da, wo sie in kostbaren, mit wertvollen Illuminationen ausgestatteten Büchern kodifiziert wird, die selbst zum sakralen Memorialzeichen werden. Dies gilt zwar in erster Linie für das meist nur Texte enthaltende Evangeliar, in dem die kalligraphierte Heilsbotschaft wie eine Reliquie häufig von Einbänden umschlossen ist, die mit Silber, Gold und Edelsteinen verschwenderisch verziert sind. In ihnen ist das Wort Gottes wie in einer Schatulle geborgen, so dass das Buch an sich in der rituellen Verehrung in den Augen der meist der Schrift und Sprache unkundigen Gläubigen magische Bedeutung gewann. Bei den eigentlichen für die Sänger bestimmten Büchern ist es zunächst das Cantatorium mit den solistischen Gesängen der Messe und später das grossformatige Chorbuch, um das sich die Schola cantorum oder die Berufssänger einer fürstlichen Kapelle gruppierten, welche fast ebenso aufwendig gestaltet sein konnten und die uns heute die zunächst einstimmigen, später mehrstimmigen Gesänge des Mittelalters und der Renaissance überliefern. Anhand der beiden Aspekte 8
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Ebd., S. 115. Vgl. auch Otto von Simson: Das abendländische Vermächtnis der Liturgie. In: Ders.: Von der Macht des Bildes im Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Kunst des Mittelalters. Berlin 1993, S. 11-54; Bernhard Lang: Heiliges Spiel. Eine Geschichte des christlichen Gottesdienstes. München 1998. Zum Folgenden u.a. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 53), S. 51 u. S. 57-118, Zitat S. 59.
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Ritus und Memoria möchte ich zu zeigen versuchen, wie die Musik überhaupt ins Buch kam und wie sie – am Ende des Zeitalters der handschriftlichen Buchkunst – als eigenständige Kunst sich emanzipierte und aus dem Bereich des Heiligen heraustrat. Erstmals im Bild fassbar wird frühmittelalterlicher liturgischer Gottesdienst auf einer Elfenbeintafel, die vermutlich im 10. Jahrhundert in Lothringen (Metz?) entstanden ist (vgl. Abb. 1).10 Der Zelebrant in der Mitte trägt Pallium, Alba und Stola, stellt also vermutlich einen Bischof dar, man hat ihn schon mit Chrodegang von Metz in Verbindung gebracht. Er steht in einer mit einem Muschelbogen verzierten halbrunden Nische, die den Innenraum einer Kirche andeutet. Über ihm sieht man die Diakone, neben und unter ihm die Sänger. Im aufgeschlagenen Buch lässt sich erkennen, was die Sänger singen: Ad te levavi animam meam – Zu dir Herr, erhebe ich meine Seele etc., die Verse 1-3 aus Psalm 24. Damit ist der liturgische Ort definiert: Es handelt sich um den Introitus, den Einleitungsgesang zur Messe am ersten Adventssonntag, dem Tag, an dem das Kirchenjahr beginnt. Mit diesem Introitus beginnen auch die Bücher, in welchen die Messgesänge aufgezeichnet sind, das Antiphonarium missae oder Graduale. Leider weiss man nicht, zu was für einem Buch diese Elfenbeinplatte bestimmt war, dem oblongen Format nach ist anzunehmen, einem Sakramentar oder einem Cantatorium, die häufig damit ausgestattet waren. Das berühmteste Beispiel ist wohl das Cantatorium aus dem Kloster St. Gallen (Cod. Sang. 359), das als eines der ältesten neumierten Gesangbücher für die solistischen responsorialen Gesänge des Graduale, Alleluia und des Tractus gilt.11 Auch dieses Buch ist in ein Holzkästchen mit Elfenbeintafeln eingebunden. Sie stellen, gänzlich unchristlich, heidnische Kampfszenen des Dionysos gegen die Inder dar und dürften von einem fünfteiligen Diptychon des oströmischen Kaisers Anastasius (491-518) 10 Cambridge, Fitzwilliam Museum, Inv.Nr. M 12-1904. Das Gegenstück dazu, eine Elfenbeintafel mit der Darstellung des Sanctus vor der Segnung von Wein und Brot (Te igitur), befindet sich in Frankfurt a.M. (Stadt- und Universitätsbibliothek, Ms. Barth. 181). Zu den beiden Tafeln (mit Abb.) vgl. Christoph Stiegemann u. Matthias Wemhoff (Hg.): 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Grosse und Papst Leo II. in Paderborn. 2. Bd: Katalog der Ausstellung Paderborn 1999. Mainz 1999, S. 829-831. 11 Etwas älter dürfte das Cantatorium aus Laon sein (Laon, B.M. 266, Ende 9. Jh.), etwa gleich alt Exemplare aus Bamberg und St. Emmeram. Die beiden ältesten Cantatorien (heute in Monza bzw. in Berlin/ Cleveland/ Trier) sind nicht neumiert. Vgl. die Zusammenstellung der überlieferten Hss. bei Michel Huglo: The Cantatorium. From Charlemagne to the Fourteenth Century. In: Peter Jeffrey (Hg.): The Study of Medieval Chant. Woodbridge 2001, S. 96. Er hält auch fest (S. 93): »The Cantatorium, decorated with ivory plaques, like the Gospel Book and the Sacramentary, was considered the honorific symbol of the cantor’s function, not a book used for singing chant or as a memory aid.«
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stammen.12 Auf dieses Rätsel werde ich zurückkommen. Vom selben Schnitzer oder aus derselben Werkstatt wie die Gottesdienstdarstellung mit dem Introitus stammt eine Elfenbeinplatte mit dem schreibenden Gregor, die als Bildtypus weite Verbreitung erlangte und den Mythos von Gregors Urheberschaft des liturgischen Gesanges, des Cantus Gregorianus, wie er später genannt wurde, etablierte (vgl. Abb. 2).13 Der heilige Gregor sitzt in dieser realistisch gestalteten Szenerie, die durch Vorhänge und eine Lampe als Innenraum angedeutet wird, tief über das Schreibpult gebeugt, auf der Schulter die Taube, Symbol des Heiligen Geistes, welche ihm die heiligen Gesänge ins Ohr eingibt, während unter ihm drei Schreiber das von ihm Niedergeschriebene fleissig kopieren. Auch hier lässt sich entziffern, was er gerade schreibt: Vere dignum et iustum est aequum et salut[are]…, die ersten Worte zur Präfation der Messe, die den Canon missae einleitet, der im Sakramentar festgehalten wird.14 Parallel zu dieser künstlerischen Bildtradition berichtet die schriftliche Überlieferung, deren verschiedene Stränge nicht so einfach in Übereinstimmung zu bringen sind, über die Ausbreitung des römischen Gesanges. So heisst es im zweiten Buch der Lebensbeschreibung Papst Gregors des Grossen (590-604) von Johannes Diaconus (gest. um 880): Alsdann stellte er [Gregor] im Hause des Herrn nach dem Vorbild des allerweisesten Salomon und als Mass für die musikalische Schönheit [propter musicae compunctionem dulcedinis] mit grossem Eifer und höchst nützlich das Antiphonar als Gedichtsammlung für Sänger [centonem cantorum] zusammen. Auch gründete er eine Sängerschule, die er in den dazu eingerichteten Räumen der heiligen römischen Kirche dirigierte. Dafür erbaute er aus seinem Vermögen zwei Wohnungen, die eine an den Stufen der Basilika des seligen Apostels Petrus, die andere unter den Papstgebäuden des Laterans.15
Und zum Beweis führt Johannes Diaconus an, dass dort heute noch sein Bett und seine Geissel bewahrt würden, mit der er den Knaben drohte. Das Wichtige sagt er erst danach: Zusammen mit dem authentischen Antiphonar wurden sie dort aus gleicher Verehrung bewahrt. Dann 12 Vgl. (u.a.) die Abb. bei Anton von Euw: Karl der Grosse als Förderer des Kirchengesanges. Das Gregorianische Antiphonar, seine Überlieferung in Wort und Bild. In: Therese Bruggisser-Lanker, Bernhard Hangartner (Hg.): Congaudent angelorum chori. Fs. P. Roman Bannwart OSB zum 80. Geburtstag. Luzern 1999 (Schriftenreihe der Musikhochschule Luzern; 1), S. 15-40, hier S. 33, dazu S. 34f. 13 Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer, Inv.Nr. 8399. Vgl. Stiegemann u. Wemhoff: Kunst und Kultur der Karolingerzeit [Anm. 10], S. 826-828. 14 Zur Geschichte des Sakramentars s. Eric Palazzo: A History of Liturgical Books. From the Beginning to the Thirteenth Century. Minnesota 1998, S. 21-61. 15 Nach von Euw: Karl der Grosse [Anm. 12], S. 20-22.
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kommt er auf die Schwierigkeiten zu sprechen, die sich den römischen Sängern, welche die Barbaren zu unterrichten gehabt hätten, in den Weg stellten: Den Wohlklang musikalischer Gestaltung (modulationis dulcedinis) konnten unter anderen Völkern Europas auch die Germanen und Gallier erlernen und öfters wiedererlernen. War er doch wahrlich sowohl wegen des Leichtsinns, den gregorianischen Gesängen Eigenes hinzuzumischen, als auch wegen des rauhen Naturells (dieser Leute) keineswegs bewahrt worden, weil ja schon die alpenländischen Körper mit ihren wie Gewitter tosenden Stimmen der musikalischen Milde widerstreben. Die Wildheit (feritas) ihrer trinkfreudigen Kehlen ist barbarisch. Mit Hängen und Würgen und lautem Gekrächze meint sie, eine feine Kantilene herausbringen zu müssen und wirft dabei die rauhen Stimmen im Durcheinander der Töne gleichsam wie eine Wagenladung die Stufen hinunter. So verwirrt sie das Gemüt der Zuhörer durch Übertreiben und Überschreien mehr, als dass sie es besänftigt.
Auch Karl, König der Franken, hätte in Rom den Missklang (dissonantia) zwischen römischem und gallischem Gesang als verletzend empfunden. Dreiste Gallier hätten aber argumentiert, die Korruption ihres Gesanges läge höchstens im Einbringen einheimischer Kantilenen. Die Seinigen zeigten zum Beweis das authentische Antiphonar vor, worauf Karl fragte, wer das reinere Wasser zu bewahren pflege, der Bach oder die Quelle? Den Antwortenden sei er dann klug mit ›die Quelle‹ zuvorgekommen und habe gesagt: Daher müssen auch wir, die wir bis jetzt aus dem Bach das trübe Wasser trinken, zum Born der unvergänglichen Quelle zurückkehren! Bald danach, (noch) zur Zeit des Papstes Hadrian, liess er (in Rom) zwei seiner fleissigsten Kleriker zurück. Mit diesen nun ausreichend und elegant Unterrichteten erweckte er die Hauptstadt Metz zum alten musikalischen Wohlklang, und über sie korrigierte er sein ganzes Gallien. Die Kernaussage dieser farbig ausgeschmückten Gregor-Biographie betrifft die Einführung des Cantus Romanus im Frankenreich, eine Kulturinitiative der Karolinger, welche im Sinne ihrer Zentralisierungstendenz eine einheitliche Liturgie für alle Kirchen und Klöster des Reiches vorschrieb. Gregor, dem die heutige Forschung keine immer auch wie geartete musikalische Aktivität zuschreiben kann, wurde erst in diesem Moment zur Legitimationsfigur, die den ›authentischen‹ Gesang verbürgte. Durch die Berufung auf Gregor konnte der neu eingeführten römischen Liturgie zum Durchbruch verholfen werden, welche die alteingesessenen liturgischen Traditionen und die verschiedenen Repertoires des Gallikanischen Gesangs zusehends (jedoch nicht vollständig) verdrängte. Dass dies nicht ohne Friktionen geschah, wird aus der Er-
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zählung ebenfalls deutlich. Die altrömische Gesangsart basierte auf einer eher linearen Musikauffassung, die auf kleinschrittige Umspielungen, Ornamentierungen strukturell wichtiger Töne, Mikrointervalle und eine eher wenig plastisch ausgeprägte Melodielinie hin orientiert ist, während die fränkisch-gregorianische die häufiger auftretenden Intervallssprünge, also die räumliche Entfaltung der Melodie betont. Die Tradierung erfolgte durch von den Karolingern aus Rom bestellte Sänger, welche die Gesangsweise in erster Linie mündlich weitergaben, was die vielen Anläufe erklärt, da das Wissen um den ›richtigen‹ Vortrag jeweils nach einiger Zeit wieder vergessen ging. Das ›notierte‹ Buch fungierte als Kontrollinstanz, um sich des korrekten Vortrags zu versichern.16 Auch jenes frühe Cantatorium in St. Gallen hielt man für ein solch authentisches Buch, das der klostereigenen Chronistik gemäss von einem sangeskundigen Römer namens Romanus, der, von Papst Hadrian I. (772-795) geschickt, auf seiner Reise nach Metz krank in St. Gallen zurückgeblieben war, mitgebracht und auf das Gesangspult neben dem Apostelaltar gelegt worden war, wie es auch in Rom ist. In der Forschung wurde diese Vorstellung noch bis ins 19. Jahrhundert tradiert, erst als eine Datierung auf etwa 922-925 gelang, wurde die Distanz von weit über 100 Jahren zur legendenhaften Erzählung deutlich. Aber das byzantinische Elfenbeindiptychon auf dem Einband aus dem 6. Jahrhundert ist wahrscheinlich authentisch und könnte – dies nur eine Hypothese – die originale Vorlage eingefasst haben. Es bürgt für jene alte Botschaft, wie ja viele antike Zeugnisse als Spolien der Erinnerung in christliche Kunst eingepasst wurden, um mit dem Altehrwürdigen das Neue zu legitimieren und bewusst die Kontinuität zu wahren. Das für die Gregorianikforschung Irritierende an der Verschriftlichung der Musik ist die Tatsache, dass uns erste Zeugnisse erst Ende des 9. Jahrhunderts erhalten sind, als der Umformungsprozess weitgehend abgeschlossen war, und eine breitere Überlieferung erst im 10. Jahrhundert gleichzeitig an mehreren Punkten mit verschiedenen Schriftformen einsetzte. Trotz heftiger Kontroversen herrscht heute eher die Meinung vor, dass die neuartige musikalische Aufzeichnungsweise der Neumen durchaus auf die Jahre um 800 zurückgehen könn-
16 Zur Betonung der liturgischen Korrektheit bei der Kodifizierung, die zu einem ausgeprägten Ritualismus führte (›Nur wenn Gott das richtig gesprochene Wort hört, öffnet sich sein Ohr‹), s. Arnold Angenendt: Libelli bene correcti. Der ›richtige‹ Kult als ein Motiv der karolingischen Reform. In: Peter Ganz (Hg.): Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; 5), S. 117-135, Zitat S. 129.
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te,17 dass der Text bei der Kodifizierung jedoch Vorrang hatte, die mündliche Überlieferung der Melodien demnach stabiler als die des Textes war. Die Neumennotation ist ›nur‹ eine Memorierschrift, ein Zusatz zur geschriebenen Sprache, nicht ein melodisches Notat. Sie spiegelt den besonderen sprachlichen Vollzug des liturgischen Textes, die Textartikulation, sie gibt spezielle Hinweise für das idealiter ohnehin bereits Gewusste. ›Lesen‹ im modernen Sinn können wir sie nicht, da die Neumen zwar etwas aussagen zu Tonqualitäten und Stimmbewegungen, nicht aber den genauen Tonhöhenverlauf angeben.18 Lange Zeit hat man ›neuma‹ mit ›Wink‹ übersetzt und mit cheironomischen Bewegungen des Kantors in Verbindung gebracht. Die neuere Forschung kann auf Grund des Vergleichs verschiedener, zum Teil schwer interpretierbarer Textstellen zeigen, dass es eher ein umgekehrter Vorgang war: Es geht um eine Schreibbewegung, die eine melodische Erinnerung abzurufen hilft. Erst die Bewegung der Hand, der Schreiboder Lesevorgang mit einem Stilus, ruft die in den Tiefen des Gedächtnisses verborgenen sprachmelodischen Bewegungen ab. Erinnerung ist demnach nicht als Ganzes und von vornherein gegeben, sondern muss sich nach und nach in der Bewegung von Auge und Hand aktualisieren. Schreiben und Lesen versammeln integrativ die latenten sprachmelodischen Erinnerungen in eine zusammenhängende Vorstellung.19 17 Vgl. die ausführliche Diskussion der Forschungsdebatte bei James Grier: Adémar de Chabannes. Carolingian Musical Practices and Nota Romana. In: Journal of the American Musicological Society 56 (2003), S. 43-98. Der entscheidende Passus in Adémars Chronicon (1025-1028), der auf eine frühe Verschriftlichung hindeutet, lautet: At ille [Adrianus papa] dedit ei [rex Karolus ] Theodoricum et Benedictum Romanae ecclesie doctissimos cantores qui a sancto Gregorio eruditi fuerant, tribuitque antiphonarios sancti Gregorii quos ipse notaverat nota romana [!]. […] Correcti sunt ergo antiphonarii Francorum quos unusquisque pro arbitrio suo viciaverat vel addens vel minuens, et omnes Franciae cantores didicerunt notam romanam, quam nunc vocant notam franciscam [!], excepto quod tremulas vel vinnolas sive collisibiles vel secabiles voces in cantu non poterant perfecte exprimere Franci, naturali voce barbarica […] (S. 4748). Eine weitere Problematik liegt für die Forschung darin, dass der altrömische Gesang in (nur fünf) Handschriften erst des 11. und 12. Jahrhunderts greifbar wird. Der ursprünglich nicht notierte, gestaltenreichere Gallikanische Gesang, der teilweise in den fränkischen Kult einging, kann nur aus gregorianischen Handschriften im Vergleich mit der römischen Version rekonstruiert werden. 18 Michael Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters. Schrift – Zeit – Raum. Stuttgart/ Weimar 1994, S. 80. Eine Zusammenfassung der Neumenforschung und der besonderen Implikationen ihrer Intention und verschiedenartigen Ausprägung vgl. Max Haas: Neumen (unter Notation). In: 2MGG. Sachteil 7 (1997), Sp. 296-317. 19 Achim Diehr: Speculum corporis. Körperlichkeit in der Musiktheorie des Mittelalters. Kassel u.a. 2000 (Musiksozioloigie; 7), S. 192-193. Wie wichtig für das Memorieren musikalischer Abläufe das rhythmische Element ist, hat in sehr ausführlicher Argumentation Augustin vor allem im VI. Buch seiner ästhetische und metaphysische Dimensionen verbindenden Schrift De musica zu erklären versucht: Die hervorgehenden
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Am besten lässt sich die graphische Notation von Neumen jedoch als Diktat denken wie in einer Gregor-Darstellung aus dem St. Galler Codex Nr. 390 (um 1000; vgl. Abb. 3), welcher dem Reklusen Hartker zugeschrieben wird, der sämtliche Gesänge für das Stundengebet des ganzen Kirchenjahres in feinster Neumierung aufgezeichnet hat (Cod. 390/391): Gregor schreibt hier nicht selbst, sondern diktiert mit gestischen Handzeichen die göttlichen Gesänge seinem Schreiber Petrus Diaconus, der die Neumen mit einem Metallgriffel in eine Wachstafel ritzt.20 Wie sehr sich die späteren Schreiber bewusst in diese Traditionslinie stellten, zeigt ein Dedikationsbild aus dem (unvollständig überlieferten) Ms. 292 der Kantonsbibliothek St. Gallen (um 1100; vgl. Abb. 4): Prior Eberhart überreicht sein mit Beschlägen und Schliessen versehenes Buch, ein Hymnar, auf einem Teppich knieend, dem im oberen, ›überirdischen‹ Bildteil thronenden hl. Gallus, der es huldvoll hinabgeneigt entgegennimmt.21 Dabei weist er mit der linken Hand auf den eigentlichen Urheber dieser Gesänge, den hl. Gregor. Schöner könnte man die Beziehung zwischen dem als von göttlichem Ursprung angesehenen Gregorianischen Gesang, dem irdischen Schreiber des Buches, das diesen Gesang enthält, und seinem Widmungsträger, der die Gott geweihte Klostergemeinschaft verkörpert, wohl kaum ins Bild setzen. Über dem Bildrahmen ist die Widmung Eberhards angebracht: Librum, Galle, tibi prior hunc Eberhart operatur,/ ut per te scribi libro vitae mereatur – Dieses Buch bringt dir, Gallus, der Prior Eberhart als Opfer dar, damit ich durch dich verdiene, ins Buch des heiligen Lebens eingeschrieben zu werden.22 Damit hoffte er auf ewiges Heil, denn nach der Johannes-Offenbarung (20, 11-15) wird in der Stunde des Weltge(wahrnehmbaren) Rhythmen bewirken, »indem sie Körper bewegen, die sinnlich wahrnehmbare Schönheit der Zeiten. Und so werden, den klingenden begegnend, auch die entgegnenden Rhythmen hervorgebracht; und indem die Seele all ihre eigenen Einflüsse aufnimmt, vermehrt sie sie sozusagen in sich selbst und erzeugt die erinnerbaren Rhythmen. Diese ihre Fähigkeit wird memoria genannt, und sie ist eine grosse Hilfe bei den geistigen Tätigkeiten dieses Lebens.« (Augustinus, De musica [Anm. 5], S. 131) Dass die der Sprache zugehörigen musikalischen Eigenschaften wie Rhythmus, Akzent und Melodie fundamentale Informationen enthalten, die für das Erlernen von Sprache unerlässlich sind, bestätigt auch die moderne Hirnforschung. 20 Johannes Duft: Die Abtei St. Gallen. Ausgewählte Aufsätze in überarb. Fassung. Hg. zum 75. Geburtstag des Verfassers v. Peter Ochsenbein u. Ernst Ziegler. Bd. 1: Beiträge zur Erforschung ihrer Manuskripte. Sigmaringen 1990, Abb. 13 u. S. 250. 21 Die Heiligen galten im Mittelalter als Rechtssubjekte mit Rechts- und Handlungsfähigkeit, der Klosterpatron als wirklicher Eigentümer des Klosterbesitzes, weshalb viele Schenkungen sich direkt an ihn richteten. Vgl. Dieter Geuenich: »Dem himmlischen Gott in Erinnerung sein…« – Gebetsgedenken und Gebetshilfe im frühen Mittelalter. In: Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff (Hg.): Erinnerungskultur im Bestattungsritual. München 2003 (Mittelalter-Studien; 3), S. 31. 22 Duft: Die Abtei St. Gallen. Bd. 1 [Anm. 20], Abb. 14 u. S. 250-251.
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richts das Buch des Lebens geöffnet, und es werden die Toten jeder nach seinen Werken gerichtet. Wer nicht dort aufgezeichnet ist, wird in den Feuersee geworfen. Die mühselige Schreibarbeit wird als eine Art Gottesdienst betrachtet, die – in der Waagschale der guten Werke gewogen – dem Schreiber zu ewigem Gedenken verhilft, die seiner Würde als Notator göttlicher Geheimnisse entspricht.23 Etwa zur gleichen Zeit (um 1135) hat sich ein Schreiber des Gallusklosters namens Luitherus auf einer nicht aufgefüllten Seite verewigt, wie er in einer ehrfurchtsvollen Geste mit (vielleicht) von Stolz geröteten Wangen das vollendete Werk Gallus übergibt (vgl. Abb. 5). In diesem Falle ist es ein Graduale mit Sequentiar (Cod. 375), das zusammen mit Cod. 376 zu den schönsten Zeugnissen einer zweiten Generation der berühmten St. Galler Neumentradition gehört. Ob es nur Zufall ist, dass diese Miniatur unter einer Serie von Alleluia-Gesängen steht, welche Gott preisen mit sich in unendlicher Jubilation ergehenden Melismen, die nach Augustin das ausdrücken, was das Herz nicht mehr mit Worten sagen kann – diese mit der himmlischen Liturgie verbundenen Gesänge, die zum Zeichen der Freude und Auferstehung gesungen werden – ad memorandam laetitiam futurae resurrectionis?24 ›Neuma‹ wird von Hermannus Contractus von ›Nouemane‹ abgeleitet, was soviel wie aufsteigender Atem bedeute. Er verknüpft zwar Arsis und Thesis, gesteht aber dem Aufstieg oder der Erhöhung den besseren Teil zu: Auf diese Weise mögen wir uns von der Süsse des Gesangs, der durch den Atem erzeugt wird, welcher den Ton von der Tiefe zur Höhe treibt, ermahnen lassen, dass wir das Herz vom Irdischen zum Himmlischen erheben mögen; […]. 25
In der Praxis aber stellt ein ausgedehntes Melisma, der ›gefärbte‹ Hauch Gottes, die Ausführenden vor das Problem der Memorierbarkeit, 23 Vgl. Hans E. Braun: Schreiberlob. In: Therese Bruggisser-Lanker, Bernhard Hangartner (Hg.): Congaudent angelorum chori. P. Roman Bannwart OSB zum 80. Geburtstag. Festschrift. Luzern 1999 (Schriftenreihe der Musikhochschule Luzern; 1), S. 53-98, hier S. 57 (am Beispiel des dank seinem Schreibeifer geretteten Prüfeninger Kopisten Swicher). 24 So Amalar von Metz (um 775-852/3) in seiner Liturgieallegorese, der das Alleluia als anagogisches Zeichen des ewigen Gotteslobes der Engel auffasst. Vgl. Anders Ekenberg: Cur cantatur? Die Funktionen des liturgischen Gesanges nach den Autoren der Karolingerzeit. Stockholm 1987 (Bibliotheca Theologiae Practicae; 41), S. 173. Zu den verschiedenen, dem Alleluia zugeschriebenen Bedeutungen vgl. Reinhold Hammerstein: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters. 2., durchges. Auflage. Bern 1990, S. 39-44. 25 Diehr: Speculum corporis [Anm. 19], S. 217.
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da er nur in den Auf- und Abwärtsbewegungen und ihren Atemgrenzen erfassbar ist. Es wurde schon früh versucht, Melismen in der Schrift durch Gruppenneumen zu strukturieren, aber das Problem löste sich erst, indem man den einzelnen melodischen Bewegungen Worte, einzelne Silben unterlegte. Dadurch wurde die Melodie, die ja noch nicht als Abfolge einzelner Töne gedacht wurde, stabilisiert und gegliedert, es entstand eine neue Gattung, die im Anschluss an das Alleluia Sequenz genannt wurde. Das Unterlegen von Text, das tropierende Verfahren, war eine Form des kreativen Umgangs mit dem vorgefundenen Material, das wiederum weitere künstlerische Prozesse auslöste, indem man selbst neue iubilos, neue Melodien erfand. Heute werden viele Sequenzmelodien als freigeschaffene Kompositionen betrachtet, die weder aus einem Alleluia hervorgegangen sein müssen, noch von Anfang an mit einer bestimmten Dichtung verbunden waren.26 Diese bahnbrechende Neuerung, der Beginn von artifizieller Musik, ist in der Musikgeschichte vor allem mit dem Namen Notker verbunden, dessen Schöpfungen auch in diesem Cod. 375 enthalten sind, sich aber über das ganze Abendland verbreiteten. Die Ebene der Musik, die jetzt in Einzeltöne aufgelöst wurde, hat sich vom Text gelöst, was ja bereits in der Schrift durch die optische Trennung von Text und Neumen sichtbar geworden war. Als es mit der Erfindung der Liniennotation durch Guido von Arezzo mit ihrer Festlegung unterscheidbarer Tonhöhen und Intervallen möglich wurde, Gesänge ohne Hilfe eines vorsingenden Lehrers allein auf der Basis der Schrift zu erlernen, war die notationstechnische Objektivierung der Melodie endgültig besiegelt, auch wenn man dies mit dem Verlust des Wissens um die rhythmischen und interpretatorischen Feinheiten in der Ausführung bezahlte.27 Musik war nun ›Menschenwerk‹ geworden, die Vorstellung vom natürlich-göttlichen Charakter der Musik gebrochen, die unmittelbare Bindung an Gott, die sich in der Musik manifestierte, endgültig verloren.28 Das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit neigen in ihren kulturellen Äusserungen vermehrt zu retrospektiven Bezügen, einer spezifischen Form von Memoria als Versuch einer bewussten Konstruktion von Geschichtlichkeit, die auch in den liturgischen Büchern – einer Spätblüte der Buchkunst – in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
26 Vgl. u.a. Andreas Haug: Der Sequentiarteil des Codex Einsiedeln 121. In: Odo Lang (Hg.): Codex 121 Einsiedeln. Kommentar zum Faksimile. Weinheim 1991, S. 242. 27 Vgl. Walter: Grundlagen [Anm. 18], S. 260-271. 28 Vgl. Michael Walter: Der Teufel und die Kunstmusik. Zur Musik der Karolingerzeit. In: Martin Kintzinger u.a. (Hg.): Das Andere wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte. Köln u.a. 1991, S. 73.
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sichtbar wird.29 Obwohl immer noch im Dienste des Kults, werden ihnen nun weitere, nicht nurmehr sakrale Funktionen eingeschrieben. Erwähnung finden Autornamen, so etwa in einem Graduale aus dem Kloster Lorch von 1512 (vgl. Abb. 6), wo Notker genau 600 Jahre nach seinem Tod in der Titelzeile zu seiner Weihnachtssequenz Natus ante saecula, die eigentlich der liturgischen Rubrik vorbehalten ist, als compositor aus der Anonymität ausdrücklich herausgehoben wird: Ad summam missam Sequentia beati Notkeri monachi sancti Galli et compositoris sequentiarum.30 Selbstbewusst haben sich darunter der eine Brille tragende Schreiber L.W. (Leonhard Wagner) und der Buchmaler Nicolaus Bertschi mit Ehefrau dargestellt, für diese Zeit ein seltenes Dokument. Beide waren sozusagen als fliegende Schreib- und Malkünstler für mehrere Klöster im süddeutschen Raum, darunter auch für das Kloster St. Gallen, tätig; Bertschi als weltlicher Illuminist stammte aus Rorschach, Schreibmeister Wagner war Konventuale an St. Ulrich und Afra in Augsburg. In St. Gallen hatte er auch Texte von Notker, Tuotilo u.a. aus den alten Handschriften exzerpiert, ihre Tropen und Sequenzen waren ihm also vertraut. Ziel war jeweils der Wiederaufbau eines klostereigenen Skriptoriums, das durch Wagner neue Impulse erhalten sollte. Man entdeckte als mönchisches Ideal die Schreibkunst neu, die nach langen Zeiten des Niedergangs ebenso in Vergessenheit geraten war wie die Kunst des Gregorianischen Gesangs, den man im 15. Jahrhundert sich von Grund auf wieder aneignen musste. In dieser Phase der Rückbesinnung auf die vergangenen glanzvollen Zeiten kam 1513 die unter Fürstabt Franz Gaisberg energisch betriebene Seligsprechung Notkers zustande. Der Konventuale Joachim Cuontz versuchte die Rekonstruktion seiner Sequenzen (Cod. Sang. 546), oftmals ob der Schwierigkeit der Aufgabe der schieren Verzweiflung nahe,31 die dann 29 Vgl. z.B. Klaus Graf: Retrospektive Tendenzen in der bildenden Kunst vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. In: Andrea Löther u.a. (Hg.): Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner. München 1996, S. 389420. 30 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Mus. I 2˚ 65. Vgl. dazu und zum Folgenden Felix Heinzer: Die Lorcher Chorbücher im Spannungsfeld von klösterlicher Reform und landesherrlichem Anspruch. In: Ders. u.a. (Hg.): 900 Jahre Kloster Lorch. Eine staufische Gründung vom Aufbruch zur Reform. Beiträge einer Tagung des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins am 13. und 14. September 2002 in Lorch. Stuttgart 2004, S. 133-148, Taf. 59, sowie Bruggisser-Lanker: Musik und Liturgie im Kloster St. Gallen [Anm. 3], S. 39, S. 43, S. 57, S. 77-81 u. S. 84f. 31 Er verstand die Neumen nicht mehr zu lesen, denen er ja auch nicht den genauen Melodieverlauf hätte entnehmen können, und war so auf spätere Aufzeichnungen mit Linien angewiesen. Bei vielen Sequenzen fehlt deshalb die Melodie. Vgl. Frank Labhardt: Das Sequentiar Cod. 546 der Stiftsbibliothek von St. Gallen und seine Quellen. Teil 1: Textband. Bern 1959 (Publikationen der Schweiz. Musikforschenden Gesellschaft. Se-
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vom Team Wagner-Bertschi unmittelbar vor ihrem Lorcher Projekt in eine Prachthandschrift übertragen wurden, welche heute leider bis auf zwei Blätter als verloren gelten muss. Die Vita Notkeri Balbuli, die Prozessakten und die Mirakelberichte sind im parallel entstandenen Codex Gaisbergianus (Nr. 613) verzeichnet, in dem auch die Klostergeschichte mit einer Äbtechronik rekapituliert wird, versehen mit einem reichhaltigen heraldischen Bildprogramm. Und Wappen erscheinen als Ausdruck der historisierenden Selbstvergewisserung auch in den eigens für den gemeinsamen Gottesdienst aufwendig hergestellten Chorbüchern. Man beruft sich vornehmlich auf Autoritäten, etwa wenn in roter Schrift in der Chronik die Taten und künstlerischen Werke der alten Väter, darunter auch Notkers und Tuotilos, zur Nachahmung empfohlen werden.32 Als Kollektiv versicherte man sich des Archivs der eigenen Symbole und Traditionen, um Identität und Zusammengehörigkeit neu zu festigen. Das liturgische Buch demonstrierte die religiöse Beglaubigung des eigenen Anspruchs, die in der Vergangenheit erworbene Ehre auch für die Zukunft zu garantieren. Die retrospektive gelehrte Erinnerungskultur, die sich auf verschiedenen Ebenen spiegelt, hatte von der Intention her jedoch durchaus prospektiven Charakter, es war »Erneuerung durch Erinnerung«.33 Sie diente herrschaftlicher Legitimation34 – in Lorch der landesherrlichen des Hauses Württemberg, in St. Gallen der des eigenen Klosterstaats –, die reiche künstlerische Produktion, die rege bauliche Tätigkeit und der keinen Aufwand scheuende Kult waren unübersehbar Zeichen politischer Repräsentation. Letztes Glanzstück sind die beiden unter Abt Diethelm Blarer nach der Reformation entstandenen grossformatigen Codices 542 und 543 (1562/64), in denen sich die sanktgallische Liturgie für die Festtage, der Gregorianische Choral erstmals in mehrstimmigem Gewande, verbindet mit aufwendiger Buchmalerei zum Ruhm der höchsten Majestät und zu Ehren des
rie 2; 8,1), S. 148-165. Die ästhetische Qualifizierung der Sequenzen in Cod. Sang. 546 (1507-1514) durch Joachim Cuontz ist singulär und zeugt ebenfalls von einem geschärften historisch-ästhetischen Bewusstsein (ebd. S. 124). 32 Raphael Sennhauser: »Hören sollen es die Äbte« – Bild und Text im Codex Gaisbergianus von 1513-26. In: Kunst+Architektur in der Schweiz 51 (2000), S. 46-52. 33 Ein von Klaus Schreiner geprägter Begriff, diskutiert bei Graf: Retrospektive Tendenzen [Anm. 28], S. 389. 34 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 138-139: »Legitimation ist das vordringliche Anliegen des offiziellen oder politischen Gedächtnisses. […] Herrschaft legitimiert sich retrospektiv und verewigt sich prospektiv.« Für sie gehört dies zu den Aufgaben des ›Funktionsgedächtnisses‹.
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ganzen himmlischen Hofstaates, zur Vermehrung unserer Religion und zur Zierde dieses unseres Klosters.35 Dennoch wirken diese Anstrengungen geradezu bescheiden gegenüber dem fürstlichen Mäzenatentum, wie es sich an den Renaissancehöfen präsentiert, an denen eigene Kapellen und Komponisten beschäftigt und kunstvolle polyphone Werke in Auftrag gegeben wurden, die man in wertvollen Handschriften aufzeichnen liess. Das liturgische Buch als Repräsentationsobjekt spielte auch hier weiterhin eine grosse Rolle, obwohl seit Petruccis erstem Typendruck von 1501 der Markt mit gedruckter mehrstimmiger Musik zu spielen begann. Fromme Andacht verband sich mit höchster Kunst, aber nicht mehr im frühmittelalterlichen Sinne eines sakral aufgefassten Herrschertums, in dem vorab dem biblischen König David, als Typus Christi zugleich Typus Regis, eine Vorbildfunktion zukam als einer Gestalt, an der die Herrscher gemessen wurden.36 Nun sah man den eigenen Ruhm im Vordergrund und scheute sich nicht, die Künste dafür zu instrumentalisieren, wie schon Huizinga feststellte: Die Kunst diente. Sie hatte an erster Stelle eine soziale Funktion, d.h. sie hatte vor allem Pracht zu entfalten und die persönliche Gewichtigkeit nicht des Künstlers, sondern des Stifters zu betonen. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass in der kirchlichen Kunst Prunk und Herrlichkeit dazu dienen, hei-
35 Bruggisser-Lanker: Musik und Liturgie im Kloster St. Gallen [Anm. 3], Zitat aus der Vorrede von Mauritius Enck (Cod. Sang. 443), S. 104. Die Choralmelodien hatten im Tenor unangetastet die Basis der vierstimmigen Sätze zu bilden, so die Vorgabe für den Komponisten Manfred Barbarini Lupus. 36 Hubert Herkommer: Typus Christi – Typus Regis. König David als politische Legitimationsfigur. In: Walter Dietrich, Hubert Herkommer (Hg.): König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. 19. Kolloquium (2000) der Schweiz. Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Freiburg (Schweiz)/ Stuttgart 2003, S. 382-436, bes. S. 397. Der letzte kaiserliche Vertreter, der sich in der Nachfolge König Davids gesehen und dies auch propagandistisch ausgenützt hat, war wohl Maximilian I. (1459-1519). Im »Weisskunig« heisst es: Einmal gedachte er [der junge Weisse König] König Davids, dass der allmächtige Gott ihm soviel Gnade erwiesen hätte. Und er las den Psalter, darinnen er fand: ›Lob Gott mit dem Gesang und mit der Harfe.‹Da erwog er, wie sehr gefällig Gott solches sein müsse. Auch König Alexander nahm er sich vor, der so viele Königreiche und Länder überwunden hat, und las seine Geschichte. Darin war also geschrieben: Der grosse König Alexander ist oftmals durch der Menschen lieblichen Gesang und durch fröhliches Saitenspiel so bewegt worden, dass er seine Feinde geschlagen hat. Das entzündete des jungen Weissen Königs Herz, in Gottes Lob König David und in der Streitbarkeit König Alexander nachzueifern. Er lernte mit emsigem Fleiss die Arten des Gesanges und des Saitenspiels kennen, denn er nahm sich zwei grosse Dinge vor: das Lob Gottes und die Überwindung seiner Feinde, was für einen König die beiden höchsten Tugenden sind. Zit. nach Elisabeth Theresia Hilscher: Mit Leier und Schwert. Die Habsburger und die Musik. Graz u.a. 2000, S. 34.
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lige Gedanken zu wecken und dass der Stifter seine Person aus frommem Sinn in den Vordergrund gestellt hat.37
Diesen Wünschen einer anspruchsvollen Kundschaft kam die AlamireWerkstatt, aus der 48 Handschriften mit über 850 Kompositionen erhalten sind, entgegen. Petrus Alamire (ein Pseudonym aus A-la-mi-re) verstand es nicht nur, schöne Bücher herzustellen, die engen Kontakte mit Fürstenhäusern machten ihn auch zum intimen Kenner fürstlicher Machtspiele, die er als beliebter Agent oder Spion – je nach Sichtweise – auszunützen verstand. 1518/19 weilte er mehrmals am Hofe Kurfürst Friedrichs des Weisen zu Sachsen-Wittenberg, um diesen für die Wahl Karls V. zum Kaiser zu gewinnen. Das prächtige Chorbuch Jena U 3 könnte ein Geschenk des Habsburger Hofs gewesen sein, um die Sache zu beschleunigen; denkbar wäre aber auch, dass es auf Bestellung des solch kostbare Bücher liebenden Kurfürsten angefertigt wurde.38 Im Kyrie der Missa Ave maris stella von Josquin des Prez, die den gleichnamigen Hymnus als Tenor-Cantus-firmus verarbeitet, ist der Discantus dem liturgisch-musikalischen Sujet gemäss ausgeschmückt mit einer grossen Initiale mit thronender Madonna und Kind, flankiert von zwei musizierenden Engeln. Die Vierstimmigkeit bot nun die Chance, auf der gegenüberliegenden Seite mit Contratenor und Bass die parallele Initiale mit einem Bild des in devoter Haltung betenden Herrschers zu versehen, der von der hl. Katharina beschützt wird, darüber steht Friedrichs Motto: Tant que je puis (vgl. Abb. 7). Im liturgischen Buch und damit im Ritus gegenwärtig zu sein, bedeutete auch Vorsorge für das eigene Seelenheil. In einer früheren Alamire-Handschrift, die für Kaiser Maximilian kopiert wurde, steht über einem ähnlichen Herrscherbild zu einer anderen Marienmesse: O mater dei, memento mei – O Mutter Gottes, erinnere dich meiner. Maria als Mittlerin wird hier ganz direkt angesprochen.39 Wie der Fürst in der Buchmalerei präsent sein konnte, konnte er auch in die sakrale Musik, ja in die im Zentrum des Ritus stehende 37 Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden. 11. Auflage. Stuttgart 1975 (Kröners Taschenausgabe; 204), S. 379. 38 Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. 3. Vgl. Herbert Kellman (Hg.): The Treasury of Petrus Alamire. Music and Art in Flemish Court Manuscripts 1500-1535. Ghent/ Amsterdam 1999, S. 87-89. Seine Sammlung umfasste elf solcher Pergamenthandschriften burgundisch-niederländischer Herkunft (Nr. 2, 3, 4, 5, 7, 8, 9, 12, 20, 21, 22), dazu kamen acht in Deutschland kopierte Chorbücher auf Papier mit liturgischem Repertoire für die Hofkapelle, Jena U 30-36 und Weimar A (S. 84-85). 39 Ebd., S. 13 u. S. 153 (Wien, ÖNB, Cod. 15495, zw. 1508-11, auf Bl. 2 zur Missa Salve diva parens von Obrecht). Schlusszeile einer im 15. Jahrhundert weit verbreiteten Dichtung (Ave Maria [...] virgo serena), die u.a. auch von Josquin vertont wurde.
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Messe eingehen. Der erste, der diese symbolisch verschlüsselte Form der Herrscherhuldigung umsetzte, die danach oft kopiert wurde, war Josquin: Er ersetzte den geistlichen (oder später weltlichen) Cantus firmus, eine Choralmelodie oder einen Ausschnitt daraus, durch ein sogenanntes soggetto cavato dalle vocale aus den Vokalen des Namens seines späteren Brotherrn Ercole d’Este I. von Ferrara (1431-1505), in dessen Diensten er 1503-04 stand.40 Aus ›Hercules dux Ferrarie‹ wurde die Tonreihe re–ut–re–ut–re–fa–mi–re. Diese anspruchslose achtsilbige Devise wird in meist langsamen Tonschritten durch alle Ordinariumssätze hindurch als Cantus firmus im Wechsel mit jeweils acht Mensuren Pause durchgeführt (insgesamt 47mal), mit einer Klimax im Agnus Dei, wo sie zuletzt im sechsstimmigen Satz in Superius und Tenor alternierend zum letzten Mal prägnant in Erscheinung tritt. Im Credo erscheint sie zwölfmal in Anlehnung an die zwölf Taten des Hercules, auf den der Stammbaum der Este zurückgeführt wurde. Von Ercole I. wird berichtet, dass er einmal dabei beobachtet wurde, wie er zusammen mit einigen Sängern aus einem Messenbuch sang, nicht jene Gesänge, sondern Solmisationssilben. Genauso könnte der vor allem in späteren Jahren als tief religiös bekannte Herzog, der jeden Tag die Messe hörte, in seiner eigenen den Tenorpart auf diese Weise intoniert haben,41 vielleicht um damit der in der Messe als Repräsentation des Heilsgeschehens verkörperten Erfahrung göttlicher Gnade noch intensiver teilhaftig zu werden. Nur nimmt er damit in geradezu provozie40 Weitere Messen dieses Typs sind: Cipriano de Rores Missa Vivat Felix Hercules, Jacquet von Mantuas Missa Hercules Dux Ferrarie und Missa Ferdinandus Dux Calabrie, Lupus’ Missa Carolus Imperator Romanorum quintus, Bartolomé de Escobedos Missa Philippus Rex Hispanie, Philippe Rogiers Missa Philippus secundus Rex Hispanie. Vgl. Willem Elders: Symbolic Scores. Studies in the Music of the Renaissance. Leiden u.a. 1994 (Symbola et Emblemata. Studies in Renaissance and Baroque Symbolism; 5), S. 78-81. Zum Problem der Datierung der Hercules-Messe lautet die neueste These, dass er sie 1480 komponiert haben dürfte und dass sie als Geschenk des kunstsinnigen Kardinals Ascanio Sforza (in dessen Diensten er stand) an Ercole I. zum 47. Jahrestag seines Ritterschlages durch Kaiser Sigismund gedacht war. Erstmals gedruckt wurde sie im Juni 1505. S. Ders.: New Light on the Dating of Josquin’s Hercules Mass. In: Tijdschrift van de Koninklijke Vereniging voor Nederlandse Musziekgeschiedenis 48 (1998), S. 112-149. Josquins kurze Dienstzeit in Ferrara (erste Gehaltszahlung am 13. Juni 1503, die letzte am 22. April 1504) dürfte mit dem Beginn der Pest zusammenhängen, an der sein Nachfolger Obrecht im Sommer 1505 verstarb. Dessen letzte Bezahlung datiert vom 12. Februar, genau eine Woche nach den Begräbnisfeierlichkeiten für Ercole I., bei denen eine Messe im canto figurato gesungen wurde. S. Lewis Lockwood: Music in Renaissance Ferrara 1400-1505. The Creation of a Musical Centre in the Fifteenth Century. Oxford 1984, S. 196-210. 41 Elders: Symbolic Scores [Anm. 40], S. 79 u. S. 81, Anm. 51. Dass das Motto vermutlich auf Solmisationssilben gesungen wurde, wird im Agnus deutlich, wo Josquin den Krebs verwendet, auf den man den Namen schwerlich applizieren kann.
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render Direktheit innerhalb des mehrstimmigen Satzes die gerüsttragende Hauptstimme für seine Person in Anspruch, welche ursprünglich dem heiligen, von Gott selbst gestifteten Gregorianischen Gesang vorbehalten war. Was wie ein Sakrileg wirkt, war nicht nur dynastischpolitische Absicht – da es gleichsam im Verborgenen geschah, war die propagandistische Wirkung nicht unmittelbar öffentlich wirksam – sondern auch der fromme Wunsch nach göttlicher Memoria, mithin über den Tod hinaus, wenn seine Sänger sie zu seinem Gebetsgedenken singen würden.42 Diese Messe wurde übrigens von Alamire, der bereits wie ein moderner Unternehmer dachte, in zwei seiner Handschriften noch auf andere Herrscher umgemünzt: einmal auf Friedrich den Weisen ›Fridericus dux Saxonie‹ in der bereits erwähnten Jenaer Handschrift, was zwar neun Silben ergibt (ein kleines Problem, das durch die Teilung einer Brevis in zwei Semibreven gelöst wurde) und zuvor schon auf Philipp den Schönen in der Handschrift BrusBR 9126 (um 1504-06).43 Die Signatur ›Philippus rex castillie‹, im Cantus und Tenor durch rote Tinte hervorgehoben, wird dadurch im Buch selbst sichtbar, genauso wie sie in der regelmässigen Deklamation in der erklingenden Musik für die Eingeweihten akustisch erfassbar war. Die Umwidmungen dieser von virtuosester Satzkunst geprägten Staatsmesse zeigen die Wertschätzung eines Komponisten, der seit den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts unangefochten als der bedeutendste seiner Zeit, als princeps musicae galt.44 Als Ausnahme-Genie konnte er 42 Diese Haltung kommt auch in Josquins Miserere zum Ausdruck, seinem einzigen Werk, von dem gewiss ist, dass es 1503 oder 1504 auf Bestellung Ercoles komponiert wurde, der diesen Busspsalm wahrscheinlich bei seinem Begräbnis gesungen haben wollte. Die Anfangsworte Miserere mei, Deus kommen litaneiartig nach jedem Vers und zweimal auch dazwischen, d.h. 21mal vor, vielleicht nicht zufällig, denn der Name Hercules Dux Ferrarie ergibt den gematrischen Wert 210. Vgl. Elders: New Light [Anm. 40], S. 134-135. Auch Ercole II. bekam ›seine‹ Messe, wahrscheinlich auf den ersten Jahrestag seiner Thronbesteigung am 1. November 1535. Diese Missa de omnes sancti stammt von Maistre Jhan und basiert auf folgendem Cantus firmus: Omnes sancti et sancte Dei: Intercedite pro Hercule secundo duce nostro, der die Fürsprache der Heiligen bei Gott aus der Allerheiligenlitanei konkret für ihn erbittet. Vgl. Joshua Rifkin: Ercole’s Second-Hand Coronation Mass. In: Jessie Ann Owens, Anthony M. Cummings (Hg.): Music in Renaissance Cities and Courts. Studies in Honor of Lewis Lockwood. Michigan 1997 (Detroit Monographs in Musicology. Studies in Music; 18), S. 381-389. 43 Man nimmt an, dass Philipp von Burgund – verheiratet mit Juana von Kastilien –, der nach dem Tode von deren Mutter Königin Isabella 1504 den Thron von Kastilien besteigen sollte, Josquin persönlich kennen gelernt haben dürfte. (Kellman: The Treasury of Petrus Alamire [Anm. 38], S. 73) Doch erkrankte er bei den Einsetzungsfeierlichkeiten am 19. September 1506 und verstarb eine knappe Woche darauf. 44 Jessie Ann Owens: How Josquin became Josquin. Reflections on Historiography and Reception. In: Dies., Anthony M. Cummings (Hg.): Music in Renaissance Cities and Courts. Studies in Honor of Lewis Lockwood. Michigan 1997 (Detroit Monographs in
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es sich leisten, zu komponieren, wie er es wollte und nicht, wie der Herr es verlangte – als solcher war er Ercole von einem Agenten empfohlen worden, der sich dann nicht für Heinrich Isaac, sondern für Josquin entschied und ihm das geforderte horrende Honorar zahlte.45 Glarean erklärte ihn in seinem Dodekachordon von 1547 zu seinem Lieblingskomponisten, der über die Schar grosser Geister an Geist, Sorgfalt und Fleiss weit herausreiche. Keiner habe wirksamer die Stimmungen des Gemüts im Gesange ausgedrückt als dieser Komponist, dessen Ingenium, das wir mehr bewundern als nach Verdienst darlegen könnten, unbeschreiblich sei.46 Musik wird nun verstanden als Erzeugnis des künstlerischen Hervorbringens und Vollzuges, die ihren Endzweck im vollendeten, seinen Autor überdauernden Kunstwerk hat (wenn auch noch nicht im emphatischen Sinne der romantischen Autonomieästhetik). Memoria als ›Fama‹, als Nachruhm, als säkulare Form der Selbstverewigung, wurde nicht mehr nur von den Auftraggebern, sondern auch vom Komponisten selbst in Anspruch genommen,47 was zum Beispiel symbolhaft im luxuriösen Medici-Codex (I-Fl, 666) aufscheint, in dem die Namen des Empfängers, des Herzogs Lorenzo II. de’ Medici, und derjenige Josquins durch goldene Lettern hervorgehoben sind. Im Inhaltsverzeichnis dieses Motettenbandes mit Werken Musicology. Studies in Music; 18), S. 271-279. Ein wichtiger Faktor war, dass seine Werke früh (und immer wieder nach-) gedruckt wurden, so waren bei Petrucci ihm allein schon 1502, 1505 und 1514 je ein Messeband gewidmet. 45 Vgl. die neueste Forschungsübersicht von Ludwig Finscher: Josquin de Prez. In: 2 MGG. Personenteil 9 (2003), Sp. 1210-1282. Er war der erste Komponist, über den solche Anekdoten zirkulierten. 46 Glareani Dodecachordon. Basileae 1547. Übers. u. übertr. v. Peter Bohn. Leipzig 1888 (Publikationen älterer praktischer und theoretischer Musikwerke; 16), 3. Buch, 24. Kap., S. 323-324. Unter den ›classici symphonetae‹ ragt er weit hinaus, wenn es heisst: Iodoci à Prato, ac aliorum Classicorum Symphonetaru[m] doctissimis illis cantionibus […]. Vgl. Lothar Schmidt: Theoretikerautorität und Komponistenautorität von Tinctoris bis Monteverdi. In: Laurenz Lütteken, Nicole Schwindt (Hg.): Autorität und Autoritäten in musikalischer Theorie, Komposition und Aufführung. Kassel u.a. 2004 (Trossinger Jahrbuch für Renaissancemusik; 3), S. 43. Mit diesem Begriff wird erstmals die Ausbildung eines vorbildlichen Kanons von Autoritäten und ihren Werken angesprochen. 47 Erstmals (im Rückbezug auf die Antike) thematisiert bei Tinctoris im Complexus effectuum musices (um 1473) unter Punkt 19 Die Musik bringt kundige Musiker zu Ruhm, wenn er zehn Komponisten nennt, darunter Dunstaple, Dufay, Binchois, Ockeghem, Busnois oder Obrecht, die unsterblichen Ruhm errungen hätten (fame immortali […] sibi extenderunt), der nicht eine Frucht des Zufalls, sondern ein Werk der virtus, der persönlichen Tüchtigkeit sei. Dazu zitiert er Vergil (10. Buch): Für jeden ist die letzte Stunde festgesetzt. Kurz und unwiederbringlich ist die Lebenszeit für alle. Doch durch Taten seinen Ruhm ausbreiten: das ist Sache der virtus. Vgl. Thomas A. Schmid: Der Complexus effectuum musices des Johannes Tinctoris. In: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 10 (1986), S. 156f.
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verschiedener Komponisten bilden die Anfangsbuchstaben der Werktitel ein Akrostichon folgenden Inhalts: Vivat semper invictus Laurentius Medices Dux Urbini – Möge der unbesiegte Herzog Lorenzo de’ Medici, Herzog von Urbino, ewig leben! Leben und Ruhm des jungen Adressaten waren vergänglicher als das wertvolle, in roten Samt gebundene Musikbuch: Nach heutigen Erkenntnissen dürfte es ein von politischen Erwägungen bestimmtes Hochzeitsgeschenk für Lorenzo und seine Braut Madeleine de la Tour d’Auvergne gewesen sein,48 die beide schon ein Jahr später verstarben. Von Josquin ist darin eine Nänie zum Gedenken an seinen Lehrer Johannes Ockeghem enthalten, eine von tiefer Trauer erfüllte Totenklage, in die er auch Komponistenkollegen einbezieht (vgl. Abb. 8).49 Sie ist gespickt mit Trauersymbolen, die für die Sänger teilweise bereits auf den ersten Blick deutlich wurden: die schwarze Notation, die Anweisung der Devise, dass alles einen halben Ton tiefer gesungen werden müsse (Prenes ung demy ton plus bas), die bekannte Choralmelodie, die im Tenor der eigentlich französischen Motetten-Chanson zugrunde liegt: Requiem aeternam, dona eis Domine: et lux perpetua luceat eis, der sicherlich allen Zuhörern bekannte Introitus der Totenmesse. Aber Symbolfunktion haben auch versteckte Zeichen: Aus Ehrerbietung für den verstorbenen Meister zitiert er zu Beginn dessen Anfangsmotiv aus der Missa Cuiusvis toni, die ohne Schlüsselung notiert ist, was auch Josquin nachahmt. Und esoterische Zahlensymbolik kann ihm gleichfalls nachgewiesen werden: Der von allen fünf Stimmen gemeinsam gesungene abschliessende Segenswunsch Requiescat in pace enthält total 64 Noten, dieselbe Zahl, die man nach den Gesetzen der Gematrie dem Namen Ockeghem unterlegen kann.50 Bis auf das Requiem-Zitat sind dies alles semiotische
48 Am 2. Mai 1518. Die Forschung streitet sich noch, ob von Frankreichs König Franz I. oder von Lorenzos Onkel, dem musikliebenden Papst Leo X.; die Nähe zu vatikanischen Hss., die Verbindungen der vertretenen Komponisten zur päpstlichen Kapelle sowie die Tatsache, dass einer der Schreiber auch für die Kurie arbeitete, lassen die zweite Variante als wahrscheinlicher gelten. Neben Josquin sind folgende Komponisten vertreten: Mouton, Willaert, da Silva, Festa, Moulu, de La Fage, Richafort, Boyleau, Bruhier, Brumel, Brunet, Divitis, Elimot, Erasmus (Lapicida?), Maistre Jhan, Jacotin, Le Santier, Lhéritier, Lupus, Therache. Vgl. dazu die grosse Faks.-Ausgabe (mit Transkriptionen und Kommentaren) von Edward E. Lowinsky (Hg.): The Medici Codex of 1518. A Choirbook of Motets Dedicated to Lorenzo de’ Medici. 3 Bde. Chicago 1968. 49 Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ms. Acquisti e doni 666, Bl. 125v. 50 Willem Elders: Struktur, Zeichen und Symbol in der alterniederländischen Totenklage. In: Klaus Hortschansky (Hg.): Zeichen und Struktur in der Musik der Renaissance. Ein Symposium aus Anlass der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Münster (Westfalen) Kassel u.a. 1989 (Musikwissenschaftliche Arbeiten; 28), S. 42-43.
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Zeichen, die nur innerhalb eines sozialen Kontexts, hier unter den Musikern als Kennern des Werkes von Ockeghem, verständlich werden. Nimphes des bois – Nymphen des Waldes, Göttinnen der Quellen, begabte Sänger aller Nationen, wechselt Eure klaren und luftigen Stimmen zu herben Schreien und Klagen. Denn [die Schicksalsgöttin] Atropos hat Euren Ockeghem unwiderruflich gefangen, der Musik wahren Schatz und Meister, der dem Tode von nun an nicht mehr entgeht. Dass nun die Erde ihn bedeckt, ist ein grosser Verlust. Legt Eure Trauerkleider an, Josquin, Brumel, Pierchon, Compère, und lasst grosse Tränen aus Euren Augen fliessen; verloren habt Ihr Euren guten Vater. Möge er in Frieden ruhen. 51
Die Memoria als Totengedenken in musikalischer Form war einerseits pietas im mittelalterlichen Sinne des ehrenden Andenkens für Verstorbene, aber andererseits wurde sie seit Ockeghems eigener Trauermotette für Binchois auch zur üblichen Huldigung unter Komponisten, man stellte sich in eine Tradition ›grosser‹ Autoren, an deren Können man sein eigenes Werk mass. Damit wollte sich der selbstbewusst gewordene compositor nicht mehr nur ins ›Buch des Lebens‹, sondern in das weltliche Andenken der Nachwelt, in die ewigen Annalen der Geschichtsschreibung (Girolamo Gardano, 1501-76) einschreiben.52 Ein Nonplusultra in dieser Hinsicht lieferte Jean Richafort, der für Josquin ein sechsstimmiges Requiem schrieb, in das er durchgehend einen zweistimmigen Kanon über einen Choral aus dem Totenofficium Circumdederunt me aus dessen Chanson Nimphes nappés integrierte, an einer Stelle (im zweiten Kyrie) sogar einen Ausschnitt daraus als ganzen Satz einmontierte und zudem noch eine Passage aus seiner Chanson Faulte d’argent zitierte (C’est douleur non pareille).53 Damit war die Totenklage in die Liturgie zurückgeführt, aus der Josquin, auch ein Zeichen autonom gewordener Kunst, einen ›heiligen‹ Choral ohne Skrupel hatte entnehmen können. Dieser war im Zusammenspiel mit den anderen Memorialzeichen zum Bestandteil einer verbindenden,
51 Text von Jean Molinet, vgl. Stanley Sadie u.a. (Hg.): Das Cambridge Buch der Musik. London/ Frankfurt a.M. 1999, S. 135. 52 Girolamo Cardano: De Sapientia: Ruhm ist die sicherste Form der Unsterblichkeit, und lange leben heisst in der Erinnerung der Menschen zu überleben. Das längste Leben ist eines, dessen grosse, ruhmreiche und hervorragende Taten in die ewigen Annalen der Geschichtsschreibung eingegangen sind. Zit. nach A. Assmann: Erinnerungsräume [Anm. 34], S. 38. 53 John Milsom: Sense and sound in Richafort’s Requiem. In: Early Music 30 (2002), S. 447-463.
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›konnektiven‹ Semantik geworden,54 durch welche sich die Komponisten in die übergreifende Solidarität einer ›Hohen Schule‹ stellten. Das Prestigestreben des Komponisten und des fürstlichen Mäzens konnten aber auch in Konflikt kommen, dieses Phänomen lässt sich an zwei alles Bisherige in den Schatten stellenden Musikhandschriften aufzeigen, die sowohl den Höhe- wie den Endpunkt der Geschichte des mittelalterlichen illuminierten Codex mit geistlicher Musik markieren: den Mielich-Codices aus München. Schon der Einband mit seinen emaillierten und vergoldeten Silberbeschlägen, Schliessen und Wappen ist beeindruckend, erst recht überwältigend ist der Inhalt: Insgesamt 412 Seiten sind verschwenderisch mit Buchmalereien gefüllt, auf feinstem, hauchdünnen Pergament zieren sie die Notenseiten mit den Busspsalmen von Orlando di Lasso. Sowohl der Komponist wie der Buchmaler Hans Mielich, ein Schüler Altdorfers, sind in Medaillons am Ende des 1. Bandes dargestellt und gewürdigt, darunter ist Herzog Albrecht V., der Auftraggeber, beim Besuch in der Werkstatt des Malers zu sehen, über dem fiktiven Epitaph Pallas Athene mit auf verschiedenen Instrumenten musizierenden Musen. Gleich zu Beginn ist im Text auch der Zweck festgehalten: ewiges Gedenken an den hochwürdigen bayerischen Fürsten Albrecht, den Liebhaber und Förderer der Musik und der Malerei. Dieser hat sich selbst einmal im Ornat des Ordens vom Goldenen Flies abbilden lassen, umgeben von allegorischen Darstellungen der Herrschertugenden, ein zweites Mal mit seiner ganzen Familie, auch hier wieder mit allegorischen Attributen: der Hund zu seinen Füssen steht für die Verlässlichkeit und Treue des Fürsten, der Löwe für seine Weisheit und Stärke (vgl. Abb. 9).55 Die Bilder sind, das drückt der letzte Satz unten aus, zum ewigen Ruhm des berühmten Bayerischen Hauses gemalt. Dieses künstlerische Grossprojekt, dessen Beginn auf (ca.) 1558 und dessen Ende auf 1570 anzusetzen ist, stand im Dienste der Verherrlichung einer gottgewollten Dynastie und ihrer frühabsolutistischen Kulturpolitik. Die Bücher gehörten recht eigentlich zu den Insignien eines religiös verankerten Staatswesens. Sie dienten indes in der Tradition des persönlichen Gebetbuches auch der geistlichen Erbauung. So paradox es erscheinen mag, Busse mit grösster Prachtentfaltung zu verknüpfen: Es ist dies Zeichen einer neu erstarkten 54 Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. München 2000, S. 22. 55 München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. A II, S. 3. Vgl. Horst Leuchtmann u. Hartmut Schaefer (Hg.): Orlando di Lasso. Prachthandschriften und Quellenüberlieferung. Aus den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek München. Tutzing 1994 (Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellungskataloge; 62), Taf. 3, Taf. 2 u. Taf. 26 (Taf. 27 zeigt den weiblichen Hofstaat).
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Frömmigkeit, machtvolles Ausdrucksmittel neuen Selbstbewusstseins der katholischen Kirche im Zeitalter der Gegenreformation. Seit dem Mittelalter sind die sieben Busspsalmen, denen der Komponist noch die Lobpsalmen 148 und 150 unter dem Titel Laudes Domini als krönenden Abschluss hinzufügte, als Texte für die private Andacht sehr beliebt gewesen. Tugenden und Laster, Gut und Böse, Licht und Dunkel, Sündhaftigkeit und Vergebung werden einander gegenübergestellt, der Mensch aufgerufen zu reuiger, bussfertiger Kontemplation. Den einzelnen Psalmtexten mit ihren auf abstrakt Allgemeines, Allumfassendes gerichteten Denkschemata werden hier nun parabelhaft aus den biblischen Geschichten auf die irdische Realität zielende Bilder zugeordnet, welche die täglich erfahrbare Welt darstellen. Eine Welt der Laster – der Habgier, des Geizes, der Dummheit, der Völlerei, der Trunksucht, des Mordes und Totschlags – wie andererseits der Triumphzug des Guten werden vor den Augen des Betrachters ausgebreitet (vgl. Abb. 10).56 Erläutert wird das theologische Bildprogramm in zwei Kommentarbänden durch den humanistischen Gelehrten Samuel Quickelberg. Ein Panorama voller symbolischer Bezüge (ohne Quikkelbergs Kommentare wären kaum alle aufzuschlüsseln) wird in leuchtenden Farben und in einem ungeheuren Detailreichtum im manieristischen Stile des fantastischen Realismus entfaltet, wie dies die Seite mit der Textstelle verumtamen in diluvio aquarum multarum ad eum [non approximabunt] – fluten hohe Wasser heran, ihn werden sie nicht erreichen zeigt: Oben ist das Strafgericht über die Hure Babylon wiedergegeben, in der Mitte der Untergang der Städte Sodom und Gomorra, die Gott durch Feuer- und Schwefelregen vernichtete, und unten die Sintflut, aus der er nur Noah und die Tiere errettete.57 Und die Musik? Auf dieser Seite sind zwei Stimmen des fünfstimmigen Satzes notiert (die übrigen drei Stimmen finden sich auf der gegenüberliegenden Doppelseite): Die übernatürlich grossen Noten waren eigentlich dazu gedacht, dass die Sänger, die um das Chorbuch gruppiert waren, sie aus der Distanz lesen konnten. Aus dieser Entfernung aber könnte man die feinen Miniaturen nicht mehr erkennen, sie würden zur Unkenntlichkeit verschwimmen, ein weiteres Paradoxon dieser Handschriften. Man nimmt heute an, dass diese gar nicht zum direkten Gebrauch gedacht waren, man hätte auch viel zu häufig umblättern müssen, und dazu war das Pergament mit den brüchigen Deckmalereien viel zu diffizil. Vielmehr zeigte sie der Herzog als seine Glanzstücke auserlesenen Gästen vor, die Musik dürfte aus schlichten Gebrauchsabschriften vor56 München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. A I, S. 66. 57 Ebd., Taf. 12 u. S. 173.
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getragen worden sein. Dann hätte er jedoch nur die Texte der Busspsalmen notieren lassen können – dies ein weiterer Widerspruch. Aber das Verhältnis zwischen dem Dienstherrn und seinem Hofkapellmeister war ein aus Musikliebe und eifersüchtigem Besitzstreben gleichermassen beherrschtes: Er behielt sich diese Werke vor, das heisst, er verbot Lasso die Publikation zu seinen Lebzeiten. Erst 1584 – fünf Jahre nach Albrechts Tode – wurden die Busspsalmen gedruckt, zu spät, wie sich herausstellte, der Markt war daran nicht mehr interessiert.58 Hier offenbart sich endgültig der Anachronismus der musikalischen Prunkhandschriften in einer Zeit musikalischer Öffentlichkeit: Sie wurden in der Kunstkammer als Teil eines riesigen ›Theatrum mundi‹ und nicht bei den übrigen Notenmaterialien in der Musikkammer aufbewahrt, aufbewahrt als Schatz höchsten Kunstverstands zum Gedächtnis eines regierenden Fürstenhauses. Der Komponist hatte in diesem Falle das Nachsehen. Es hat ihm aus dem Blickwinkel der Musikgeschichte insofern zum Vorteil gereicht, dass seine Busspsalmen dank dieser geheimnisumwitterten Prachtsbände im 19. Jahrhundert wiederentdeckt und schon 1838 von Siegfried Wilhelm Dehn erstmals in Partitur herausgebracht wurden. Jedenfalls ist sein Ruhm nicht durch seine vielen Drucke in spätere Zeiten getragen worden, Lasso geriet schon im 17. Jahrhundert in Vergessenheit. Heute kann dank der musikwissenschaftlichen Forschung diese Musik wieder aufgeführt werden: Wunderbar fliessender, höchst kunstvoll verwobener Kontrapunkt, durch welchen 58 Ebd., S. 30. Einzig Laudes Domini durfte bereits 1565 bei Le Roy & Ballard in Paris gedruckt werden. Der Notenschreiber Jan Pollet versuchte offenbar schon 1563, die Busspsalmen in die Niederlande zu schmuggeln, Joh. Jakob Fugger forderte sie aber im Namen des Herzogs in einem Brief an den Kardinal Antoine Perrenot de Granvelle von Brüssel sofort zurück und verlangte die Bestrafung Pollets. Kurz nach Albrechts Tod hat Lasso die Busspsalmen im Beisein von dessen Nachfolger Wilhelm und seines Hofstaats am Gründonnerstag 1580 nach der Fusswaschung (durch Wilhelm) öffentlich aufgeführt: »Der Congregationssaal im Gymnasialgebäude [des Jesuitenkollegiums] war an diesem Tage durchweg mit schwarzen Tüchern behangen, sämmtliche Fenster waren gegen das Eindringen des Tageslichtes verwahrt und nur einige wenige Lichter verbreiteten ihren Schein. Vorne am Altare war Christus am Oelberge abgebildet in eben dem Momente, wo ihm der Engel den Leidenskelch darbietet. Abends um 5 Uhr wurden daselbst von der herzoglichen Hofkapelle die vom Kapellmeister Orlando di Lasso in Musik gesetzten Busspsalmen aufgeführt, wornach der Präses der Congregation, Ferdinand Alber, die religiöse Feier mit einer Predigt beschloss.« (Maximilian Vincenz Sattler: Geschichte der Marianischen Congregationen in Bayern. München 1864). Damit sind die Busspsalmen wieder an ihren eigentlichen liturgischen Ort, besonders die Fastenzeit und die Karwoche, und in eine breitere Öffentlichkeit zurückgeführt. S. dazu David Crook: Performance of Lasso’s Penitental Psalms on Maundy Thursday 1580. In: Bernhold Schmid (Hg.): Orlando di Lasso in der Musikgeschichte. Bericht über das Symposium der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. München 4.-6. Juli 1994. München 1996 (Bayer. Akad. der Wisssenschaften. Phil.-hist. Klasse. Abhandlungen. NF; 11), S. 70-72.
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der Text in eindringlicher Deklamation und rhetorischer Emphase, die sich am einzelnen Wort entzünden kann, verdeutlicht wird, oder wie Quickelberg es zur Sprache brachte: Er schuf Werke, um Musik und Worte aufeinander einzurichten, um einzelne Affekte mit Kraft auszudrücken, um das Geschehen gleichsam vor den Augen auszubreiten – quasi ante oculos ponendo.59 Nicht nur ›Augenmusik‹ haben die Zeitgenossen in der Kunst Lassos gesehen, vielmehr betonen sie auch ihren ekstatischen, transzendierenden Charakter: »Lasso entrückt die Seele der Menschen fast unter die Sterne« (Jean Dorat).60 Die Mielich-Codices haben auf abenteuerliche Weise die Zeiten überdauert: 1632 waren sie vor den anrückenden Schweden in die salzburgische Festung Werfen ausgelagert worden; 1637 tauchen sie zwar in der Schatzkammer der Residenz wieder auf, doch nach 1707 sind sie endgültig verschollen. Um 1760 entdeckte man in einem der alten, bisher unbeachteten Schränke im Schloss eine eiserne Kiste und hoffte, einen Schatz gefunden zu haben. Grosse Enttäuschung machte sich breit, als man darin nur eine Menge alter, wenn auch augenscheinlich kostbarer Bücher fand.61 Heute, in einer Zeit eines hypertrophen Büchermarkts und der Flüchtigkeit aller Sinneseindrücke, beeindruckt uns ein solch einmaliges Buch (obwohl es unseren Augen seiner Empfindlichkeit wegen direkt nicht mehr zugänglich ist) durch seine aufwendige künstlerische Gestaltung, den Reichtum der gedanklichen Verbindungen, die Zusammenfassung der Künste auf ein Ziel. Es beeindruckt durch die geistlich-meditative Andacht und die Reflexion über die conditio humana im Gleichklang mit der christlichen Eschatologie, die den Betrachter wie ein Hauch jener noch selbstverständlichen Jenseitsbezogenheit anweht, die uns im Zeitalter der Säkularisierung abhanden gekommen ist. Die Schatztruhe als Behältnis für das Gedächtnis, die kostbaren Bücher als erinnerungswürdige Inhalte lassen sich ganz konkret als Emblem unseres modernen kulturellen Gedächtnisses, unseres Kunst- und Musikverständnisses als einem ›imaginären Museum‹ grosser Kunstschöpfungen verstehen (Malraux), einem Museum in seiner ursprünglichen Bedeutung als Kunst- oder Altertumssammlung, wie sie Albrecht V. als einer der ersten besass. War die bewusste Traditions59 Zit. nach Franzpeter Messmer: Orlando di Lasso. Ein Leben in der Renaissance. Musik zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1982, S. 135. 60 Horst Leuchtmann: Orlando di Lasso oder die beseelte Verrücktheit. Zeit und Unzeit einer humanistischen Musik. In: Orlando di Lasso. Musik der Renaissance am Münchner Fürstenhof. Ausstellung zum 450. Geburtstag. 27. Mai – 31. Juli 1982. Wiesbaden 1982 (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge; 26), S. 15. 61 Horst Leuchtmann: Orlando di Lasso. Bd. 1: Sein Leben. Versuch einer Bestandsaufnahme der biographischen Einzelheiten. Wiesbaden 1976, S. 131-133.
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pflege zu Beginn der Neuzeit eine die Vergangenheit integrierende Erinnerung, welche im Blick zurück auf die gloriosen Ursprünge Sinn stiftete und Kontinuität garantierte, ist unser heutiges Verhältnis zur Geschichte ein distanziertes, nüchternes, kritisches. Die Verkörperungen einer verloren geglaubten Erinnerung entzünden in uns aber immer wieder das Feuer, sie als Orte des Andenkens, der pietas, als Liebe zum Lebendigen und dessen Spuren in unser Leben miteinzubeiziehen.62
62 Gianni Vattimo: Abschied. Theologie, Metaphysik und die Philosophie heute. Aus dem Italienischen v. René Scheu u.a. Hg. u. eingel. v. Giovanni Leghissa. Wien 2003, S. 118.
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Orthokratie und Orthodoxie. Der Dagulf-Psalter als Geschenk Karls des Grossen an Papst Hadrian I. Papst Hadrian I. starb am ersten Weihnachtstag des Jahres 795. Mit seinem Tod endete nach 23 Jahren eines der längsten Pontifikate der Papstgeschichte. Eine ausführliche Aufnahme fand der Tod Hadrians in der Vita Karoli Magni des Cancellarius Einhard. Einhard lässt Karl den Grossen den Tod Papst Hadrians beweinen, als ob er seinen teuersten Sohn verloren habe.1 Mit dieser topischen Trauergeste Karls findet eine letzte Huldigung innerhalb des gut zwei Jahrzehnte dauernden intensiven und im diplomatischen Schriftverkehr als freundschaftlich bezeichneten Verhältnisses zwischen Papst und König statt.2 Das Todesdatum Hadrians I. ist traditioneller terminus ante quem des nach seinem Schreiber benannten Dagulf-Psalters. Das schmuckvolle Oktavbändchen, ein letzter Ausdruck der langjährigen diplomatischen Beziehung, lässt sich in doppelter Weise auf Karls ersten Rombesuch in der Osterwoche 774 beziehen. Die Belagerung Pavias innerhalb der fränkischen Eroberung des Langobardenreiches kurzzeitig verlassend, reiste Karl als erster König seines Volkes nach Rom, wo ihm der Papst einen feierlichen Empfang bereitete. Teil dieses Zeremoniells war die Übergabe eines Geschenks des Papstes an Karl: eine Kirchenrechtssammlung, welche bereits um das Jahr 500 von Dionysius Exiguus zusammengestellt und durch Hadrian überarbeitet und ergänzt worden war. Sie ist heute unter der Bezeichnung Collectio Dionysio*
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Lateinische Zitate im Haupttext wurden einer leichteren Lesbarkeit wegen in der Regel übersetzt. Eine Ausnahme bilden Zitate aus den Widmungsgedichten des DagulfPsalters. Faksimile, Transkription und Übersetzung dieser Gedichte finden als Abb. 11 und 12 Aufnahme im Bildteil dieses Bandes. Einhard: Vita Karoli Magni. In: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Hg. v. Reinhold Rau. Teil 1. Darmstadt 1977 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters; 5), S. 164-211, hier S. 190. Zur Compaternitas als wichtigen Bestandteil der Bündnispolitik zwischen Papst und König vgl. Arnold Angenendt: Das geistliche Bündnis der Päpste mit den Karolingern (754-796). In: Historisches Jahrbuch 100 (1980), S. 1-94.
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Hadriana bekannt. Buchgeschenke markieren somit Anfang und Ende des königlich-päpstlichen Verhältnisses. Der Dagulf-Psalter lässt sich jedoch noch anderweitig mit Karls erstem Rombesuch und dem dabei erhaltenen Codex in Verbindung bringen. Die Collectio DionysioHadriana diente nämlich als Vorlage für die wohl von Alkuin verfasste und an den fränkischen Klerus gerichtete Admonitio generalis von 789, in der mit besonderem Nachdruck die sorgfältige Überarbeitung der codices liturgici gefordert wird.3 Im ideellen und zeitlichen Umfeld dieses Bemühens um eine korrekte Tradierung und Praxis der Liturgie muss auch der von Dagulf verfasste Psalter gesehen werden.4 Der Ort des authentischen Kults und seiner richtigen Überlieferung war Rom, weshalb Karl in seinem Bemühen um eine möglichst genaue Übereinstimmung mit der römischen Kirche wiederholt beim Papst um codices authentici anfragen liess.5 Indem Hadrian I. die Wünsche Karls erfüllte, nahm er eine wiederholt belegte Praxis der Päpste auf, ihre kirchenpolitisch oder auch pastoral bedeutsamen Codices nach auswärts zu geben.6 Galt Rom einst als Quelle authentischer Schriftüberlieferung und liturgischer rectitudo, so drohte diese spätestens zur Zeit Hadrians I. nicht nur zu versiegen, sie war auch längst nicht mehr von ungetrübter Klarheit. So bezeichnet die jüngere Forschung das Sacra3
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Psalmos, notas, cantus, compotum, grammaticam per singula monasteria vel episcopia et libros catholicos bene emendate […]. Et si opus est, evangelium, psalterium et missale scribere, perfectae aetatis homines scribant cum omni diligentia. (Admonitia generalis. In: Capitularia regum Francorum. Hg. v. Alfred Boretius. Bd. 1. Hannover 1881 [Monumenta Germaniae Historica, Leges; 2], S. 52-62, hier S. 60 [Kap. 72], v. 37.) dazu auch Arnold Angenendt: Libelli bene correcti. Der ›richtige Kult‹ als ein Vgl. Motiv der karolingischen Reform. In: Peter Ganz (Hg.): Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; 5), S. 117-135. So erkundigte sich Karl der Grosse 784 nach einem Sakramentar und erhielt das wohl fälschlicherweise Papst Gregor dem Grossen zugeschriebene sog. Sacramentarium Gregorianum überreicht. Die päpstlichen Schreiber unterliessen es nicht, die Authentizität des Codex mit dem beglaubigenden Vermerk Ex authentico libro bibliothecae cubiculi scriptum auszuweisen (zitiert nach Rudolf Schieffer: Redeamus ad fontem. Rom als Hort authentischer Überlieferung im frühen Mittelalter. In: Roma – Caput et Fons. Zwei Vorträge über das päpstliche Rom zwischen Altertum und Mittelalter von Arnold Angenendt und Rudolf Schiefer. Opladen 1989, S. 45-70, hier S. 49). Das Briefregister Papst Gregors des Grossen bezeugt einen regen Bücherverkehr, der sich längst nicht nur auf seine eigenen Werke beschränkte und einen schier unermesslichen Reichtum an Bücherschätzen in Rom vermuten liess, zumal Quellen vom Anfang des 8. Jahrhunderts diese Einschätzung zu stützen scheinen. So schreibt Beda Venerabilis in seiner Vita des Abtes Benedikt, Gründerabt der beiden northumbrischen Nachbarklöster Wearmouth und Jarrow, der wiederholt den päpstlichen Sitz aufsuchte, dass er neben Reliquien von Aposteln und Märtyrern, Gemälden heiliger Bilder (picturas imaginum sanctarum) auch innumerabilem librorum omnis generis copiam nach England schaffte (Zitate nach Schieffer: Redeamus ad fontem [Anm. 5], S. 53).
Der Dagulf-Psalter
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mentarium Hadrianum als für die fränkischen Zwecke »unzulänglich«.7 Für das Ende des 8. Jahrhunderts und bis in die hochmittelalterliche Zeit hinein jedoch hielt sich das Bild des nie versiegenden reinen Quellstromes römisch-päpstlicher Schrifttradition. So konnte Johannes Diaconus in seiner Vita Gregorii Magni Karl im Zusammenhang mit Fragen um den richtigen Kirchengesang die Forderung in den Mund legen: Iterum redeamus ad fontem.8 Der offenbar als desolat zu bezeichnende Zustand der päpstlichen Bibliothek wird also nicht der Grund gewesen sein, weshalb die Richtung im päpstlich-königlichen Buchverkehr sich umkehrte. Auf jeden Fall aber liegt mit dem DagulfPsalter und der im Widmungsgedicht Karls an Hadrian geäusserten Schenkungsabsicht das erste gesicherte Zeugnis eines zumindest intendierten umgekehrten Buchflusses vor. Der Text des Dagulf-Psalters ist in seiner Gesamtheit nur in der Wiener Handschrift mit der Sigle W überliefert.9 Sie enthält 161 Pergamentblätter in der Grösse von 190 x 122 Millimeter. Durch die Erwähnung und Beschreibung von Elfenbeintafeln im Widmungsgedicht Dagulfs für Karl den Grossen (WD, v. 5-10)10 kann angenommen werden, dass die Handschrift als kostbaren Einband ursprünglich zwei Elfenbeintafeln besass, die in einen goldenen oder vergoldeten Rahmen gefasst waren (Abb. 13). Unter ungeklärten Umständen getrennt, liegt die Handschrift heute in Wien (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1861), während sich die Elfenbeintafeln in Paris (Louvre, Ivoires, 7
Horst Fuhrmann: Das Papsttum und das kirchliche Leben im Frankenreich. In: Settimana di studio sull’alto medioevo 27 (1981: Nascita dell’Europa ed Europa carolingia: un’equazione da verificare. 2 Bde.), Bd. 1, S. 419-456, hier S. 447. 8 Johannes Diaconus: Sancti Gregorii Magni vita. In: Migne: Patrologia latina; 75. Nachdruck der Ausgabe Paris 1849. Turnhout 1977, Sp. 41-462, hier Sp. 91C. 9 Der Psalmentext von Handschrift W ist einer der frühesten Belege für die Fassung des sog. Psalterium Gallicanum. Das Psalterium Gallicanum ist die Bearbeitung und Korrektur einer altlateinischen Übersetzung, die Hieronymus zwischen 389 und 392 nach dem Septuaginta-Text der Hexapla des Origines durchführte. Diese Version, nicht die von Hieronymus 392/93 nach dem hebräischen Urtext angefertigte Übersetzung (Psalterium iuxta Hebraeos), fand Eingang in die Vulgata. 10 Zitate aus den beiden Widmungsgedichten werden in der Folge nur noch mit Verszahlen im Klartext nachgewiesen, gegebenenfalls ergänzt durch die präzisierenden Abkürzungen WD (=Widmungsgedicht des Dagulf) und WK (=Widmungsgedicht Karls des Grossen). Der vollständige Text der beiden Widmungsgedichte mit Übersetzung ist den Abb. 11 u. 12 zu entnehmen. Die Widmungsgedichte wurden abgedruckt in: Poetae latini aevi Carolini. Hg. v. Ernst Dümmler. Bd. 1. Berlin 1880 (Monumenta Germaniae historica. Poetarum latinorum medii aevi; 1), S. 91f.; Kurt Holter: Der Goldene Psalter. Dagulf-Psalter. Kommentar zur vollständigen Faksimile-Ausgabe im Originalformat von Codex Vindobonensis 1861 der Österreichischen Nationalbibliothek. Graz 1980, S. 47f.; mit Übersetzung auch: Anton von Euw: Studien zu den Elfenbeinarbeiten der Hofschule Karls des Grossen. In: Aachener Kunstblätter 34 (1967), S. 36-60, hier S. 40f.
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Nr. 9 und 10) befinden. Der Inhalt des Dagulf-Psalters kann in fünf Text-Gruppen unterteilt werden: Bl. 4r-4v
WIDMUNGSGEDICHTE
Bl. 5r-21v
VORREDEN
Bl. 24v-145v Bl. 146r-156r
PSALMEN CANTICA
Bl. 156v158v
GLAUBENSBEKENNTNISSE
-Widmungsgedicht Karls des Grossen an Papst Hadrian I. -Widmungsgedicht des Schreibers Dagulf an Karl den Grossen -Glaubensbekenntnisse Nizänisches Glaubensbekenntnis Glaubensbekenntnis des Ambrosius von Mailand Glaubensbekenntnis Gregors des Grossen Glaubensbekenntnis des Gregor Thaumaturgos Glaubensbekenntnis des Hieronymus (Pelagius) -Erklärungen zu Ursprung und Wesen der Psalmen (Cassiodor) -(fiktiver) Briefwechsel des Papstes Damasus mit Hieronymus -Erklärungen zum Wesen des Psalters (Ps.-Isidor; Ps.-Augustin) -Prophetie des Jesaja (Is 12,1-6); Lied des Hiskijas (Is 38,10-20); Lobgesang der Hanna (I Sm 2,110); Siegeslied des Mose (Ex 15,1-19); Gebet des Habakuk (Hab 3,2-19); Lied des Mose (Dt 32,1-43); Lobgesang der drei Jünglinge (Dn 3,57-88); Tedeum; Lobgesang des Zacharias (Benedictus, Lc 1,68-79); Lobgesang Marias (Lc 2,46-55); Lobgesang des Simeon (Lc 2,29-32); Vaterunser (versifiziert) Apostolisches Glaubensbekenntnis; Glaubensbekenntnis des Ps.Athanasius
Der Dagulf-Psalter
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Paläographische Befunde deuten darauf hin, dass sich die von zwei Händen geschriebenen Psalmen und Cantica zeitlich näher stehen als die von gleicher Hand geschriebenen Prolegomena und die Psalmen.11 Es ist davon auszugehen, dass die Prolegomena zu einem späteren Zeitpunkt in den Codex aufgenommen wurden. Die Lagenkomposition des Dagulf-Psalters stützt diese Vermutung: die Prolegomena bestehen aus zwei Quaternionen und einem Binio. Der Psalmentext ist auf 15 Quaternionen geschrieben, auf die ein Quinternio folgt, von dem jedoch nur das erste Blatt noch zum Psalmentext gehört. Die beiden Widmungsgedichte finden sich auf einem Einzelblatt. Anzunehmen ist also, dass einer ursprünglichen Bindung von Psalmen und Cantica nachträglich die Prolegomena und zu einem späteren Zeitpunkt die Widmungsgedichte beigefügt wurden. Wieviele Jahre zwischen den Zusätzen liegen, lässt sich paläographisch oder lagentechnisch nicht genau erschliessen. Angesichts einer paläographisch nachweisbaren Schreibunterbrechung ist für den Dagulf-Psalter folgende Entstehungsgeschichte anzunehmen: er dürfte in den 80er Jahren des 8. Jahrhunderts in einem »Nebenzentrum« 12 des fränkischen Kulturbetriebs begonnen, nach dem Aufbau der Hofschule in Aachen zu Beginn der 90er Jahre dorthin gelangt und mit den Prolegomena und Widmungsgedichten ergänzt und abgeschlossen worden sein. Für die in Frage kommenden Jahre ist die Anwesenheit Alkuins, mit dessen Einfluss die Prolegomena in Verbindung gebracht werden, in Aachen belegt. Unabhängig davon, wie weit zurück in die 80er Jahre ein Beginn der Arbeit am Dagulf-Psalter gelegt wird, seine Vollendung fällt in die erste Hälfte der 90er Jahre13 und damit in eine Zeit, die von bildungs- und kultreformatorischen Bemühungen im Anschluss an die Admonitio generalis von 789 und der Verteidigung der recta fides im Kampf gegen den Adoptianismus im Vorfeld der Synode von Frankfurt 794 geprägt ist. Im Schnittfeld dieser Bestrebungen findet sich in den Jahren 794/95 auch zum ersten Mal die programmatisch von Alkuin eingeführte Bezeichnung Karls des Grossen als novus David. Die David-Figur in ihrer bildkompositorischen Gestaltung auf den Elfenbeintafeln und in ihrer rhetorisch-topischen Ausformung in den Widmungsgedichten erscheint so als Signatur und Kurzformel eines spezifischen Herrschaftsverständnisses, welches die 11 Kurt Holter stützt diese Vermutung auf die unterschiedliche Häufigkeit von Ligaturen, vgl. dazu Holter: Der Goldene Psalter [Anm. 10], S. 23. 12 Holter: Der Goldene Psalter [Anm. 10], S. 69. 13 Auch die Tatsache, dass sich Textauswahl und -reihenfolge der Prolegomena in einer von Bischof Leidrad von Lyon in Auftrag gegebenen und zwischen 795 und 800 in Aachen angefertigten Handschrift wiederfindet, stützt diese Datierung.
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kirchen- und kulturpolitische Bedeutung des Dagulf-Psalters als königliches Geschenk für den Papst erkennen lässt. Ihr gilt bei der Behandlung der Widmungsgedichte das Hauptaugenmerk. Der vermuteten Produktionslogik folgend, soll zuerst die Widmung Dagulfs (WD) an Karl den Grossen untersucht werden. Die summarische Schilderung von Vorder- und Rückseite des Elfenbeineinbandes in den Versen 5-10 ermöglichte die Zuordnung des heute getrennt von der Handschrift aufbewahrten Einbands zum Dagulf-Psalter. Sie ist ausserdem Hinweis darauf, dass zum Zeitpunkt der Abfassung der Widmungsgedichte die Elfenbeintafeln mit ihrer Bestimmung als Einband bereits vorlagen. Der Eingang des Widmungsgedichts inszeniert die Psalmen als Inhalt des Codex in der Art einer synästhetischen Erfahrung und (Re-)Präsentierung des davidischen Gesanges in Farbe, Schrift und Ton: In den ersten vier Versen nimmt Dagulf zweimal Bezug auf die goldenen Lettern der Handschrift (v. 1f.) und unterstreicht viermal den (auditiven) Aufführungsaspekt der Psalmen (cantus, melos, sonant, canunt). Die aurea verba verheissen im Sinne der 4. Ekloge Vegils aurea regna. Indem Dagulf nach den ersten vier Versen mit den klingenden goldenen Buchstaben des davidischen Gesangs im Zentrum in Vers 5 den Einband aus Elfenbein als dazu passenden Schmuck anfügt, führt er die beiden Materialien von Salomons Thron zusammen.14 So wie die materielle Präsenz des davidischen Gesanges in Vers 3f. in die Ewigkeit des himmlischen regnum verlängert wird, schafft die Beschreibung der Elfenbeintafeln in den Versen 5-10 eine zeitliche Ausdehnung in die Geschichte des Ursprungs und der korrigierenden Überlieferung der Psalmen. Je zwei Verse beschreiben den Autorvortrag durch den rex doctiloquax David (v. 7f.) auf der Vorderseite sowie die als Entdornung bezeichnete, die ursprüngliche Schönheit der Psalmen restaurierende Übertragung des Hieronymus auf der Rückseite (v. 9f.). Durch Wortkorrespondenzen mit Geschichte und Verheissung des davidischen Psalmengesanges verbunden, führt Dagulf Karl den Grossen als Adressaten des Widmungsgedichtes ein: Aurea progenies, fulvo lucidior auro,/ Carle, iubar nostram, plebis et altus amor (v. 11). Mit der Apostrophierung Karls als aurea progenies wird der Herrscher in Beziehung gesetzt zu den aurea regna […] mansurumque […] sine fine bonum sowie den diese verheissenden aurea littera und aurea verba des Psalters in den 14 Obwohl dem Throne Salomons in der Form nachgestaltet, besteht der Thron Karls des Grossen in Aachen aus Holz, vgl. dazu Percy Ernst Schramm: Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters. 4 Bde. in 5 Teilen. Stuttgart 1968-1971. Bd. 1: Beiträge zur allgemeinen Geschichte. Teil 1: Von der Spätantike bis zum Tode Karls des Grossen (814), S. 211.
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drei Anfangsversen. Zudem rekurriert progenies auf den genealogische Vergangenheit und Zukunft implizierenden Bildbereich des Stammbaums im Sinne der vornehmlich alttestamentlichen Verwendung des Begriffs.15 Die Karlsapostrophe erfolgt so in einem Kontext von Verheissung und Erfüllung, wobei der Aspekt der Erfüllung insofern unterstrichen wird, als die Strahlkraft des Königs in der Beschreibung den Glanz von Gold noch übersteigt. Als bildspendender Hintergrund für die Anrede Karls als iubar nostrum (v. 12) ist die Logos-Lux-Theologie der Ostkirche anzunehmen, welche mit dem Lukas-Kommentar des Ambrosius eine Aufnahme im Westen fand.16 An sie fügt Dagulf im selben Vers eine Variation des für das Mittelalter mit am zahlreichsten belegten David-Epithetons amor Dei an und bezeichnet den Herrscher als plebis […] altus amor. Damit findet sich in einem Vers traditionell byzantinischer Einfluss unmittelbar neben jener Form des vom Alten Testament beeinflussten Herrscherlobs, mit der sich das fränkische Königtum von Karl dem Grossen bis zu Ludwig dem Deutschen von der oströmischen Herrscherpanegyrik abzugrenzen versuchte.17 Sowohl antike Topik wie auch biblische David-Attribute mögen Vorbild für die Fortsetzung der Apostrophe in Vers 13 gewesen sein: Rex pie, dux sapiens, virtute insignis et armis. Die Beschreibung der Tugendhaftigkeit Davids in den Samuel-Büchern als Antwort eines 15 Vgl. etwa im Sinne genealogischer Vergangenheit: et ait ad eum [David] Saul de qua progenie es o adolescens (I Sm 17,58); im Sinne genealogischer Zukunft: regnum tuum regnum omnium saeculorum et dominatio tua in omni generatione et progenie (Ps 144,13); quoniam doctrinam quasi antelucanum inlumino omnibus […] adhuc doctrinam quasi prophetiam affundam et relinquam illam quaerentibus sapientiam et non desinam in progenies illorum usque in aevum sanctum (Sir 24,44/46). Zitate nach: Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Hg. v. Robert Weber. 2 Bde. 2. Auflage der Ausgabe Stuttgart 1969. Stuttgart 1975. 16 Ambrosius: Expositio evangelii secundum Lucam. Hg. v. Markus Adriaen. Turnhout 1957 (Corpus Christianorum. Series Latina; 14), S. 248: Ecclesia non potest tenebris et ruinis mundi huius abscondi, sed fulgens candore solis aeterni luce nos gratiae spiritalis inluminat. Daneben auch: Tyconius: Liber de septem regulis. In: Migne: Patrologia Latina; 18. Nachdruck der Ausgabe Paris 1848. Turnhout 1966, Sp. 13-66, hier Sp. 57f.: Sic et Dominus Deus noster Jesus Christus, Sol aeternus partem suam percurrit, unde et meridianum vocat. Aquiloni vero, id est, adversae parti non oritur. 17 Obwohl die Laudes Regiae in der Zeit Karls und Ludwigs des Frommen unter byzantinischem Einfluss standen, wurde das Kognomen novus Constantinus durch novus David bzw. novus Salomon ersetzt. Papst Hadrian I. bezeichnet Karl in einem Brief von 778 zum letzten Mal mit novus Constantinus (Epistolae Karolini aevi III. Hg. v. Ernst Dümmler. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1898/99. Berlin 1974 [Monumenta Germaniae historica. Epistolae; V], S. 587). Vgl. dazu Ernst Hartwig Kantorowicz: Laudes Regiae. A Study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship. 2. Auflage. Berkeley/ Los Angeles 1958 (University of California Publications in History; 33), hier S. 56-64, bes. Anm. 148.
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Jünglings auf Sauls Suche nach einem Zither-Spieler, und damit als – über einen Boten vermittelte – erste Einführung Davids am Hofe Sauls, antizipiert und expliziert die Formel rex et propheta: Ich kenne einen Sohn des Betlehemiters Isai, der Zither zu spielen versteht. Und er ist tapfer und ein guter Krieger, wortgewandt, von schöner Gestalt, und der Herr ist mit ihm. (I Sm 16,18) Wie stark die Tugend der sapientia als Einsicht in die sapientia divina für die Zeit des Dagulf-Psalters mit der Figur Davids (und Salomons) verbunden wurde, unterstreicht die Mahnung Cathwulfs an Karl den Grossen aus dem Jahre 775: Alle Tage Deines Lebens sollst Du lesen […], damit Du voll der göttlichen Wahrheit (sapientia divina) und auch weltlicher Schriften kundig bist, so wie es David und Salomon und weitere Könige waren.18 In der für die karolingischen Herrscher zahlreich verwendeten Doppelformel fortitudo et sapientia wird die Nachfolge Davids durch die fränkischen Könige zusammengefasst. Mit Ulrich Ernst könnte man sagen, dass der weltliche Herrscher als »ein[] ›rex et sacerdos‹ […] ›sub gratia‹ den ›rex et propheta sive psalmista David‹ nachahmt«.19 Wie zutreffend diese Einschätzung gerade für die erste Hälfte der 90er Jahre ist, unterstreicht der Dankesgesang der Bischöfe auf Karl den Grossen nach der Synode von 794: Sit dominus et pater, sit rex et sacerdos, sit omnium Christianorum moderantissimus gubernator.20 Der auf dieser Doppelformel basierende typologische Bezug zwischen Karl und David als rex doctiloquax (v. 8) wird in den Schlussversen des Gedichtes zweifach formuliert: zum einen in dem auf die Dichternennung folgenden Wunsch Dagulfs, Karl möge den Psalter docto mitis et ore lesen; zum anderen im zweiteiligen Segenswunsch, wonach der Herrscher noch viele (kriegerische) Siege erlangen und schliesslich Davids Chor beigesellt werden möge. Das Gedicht Dagulfs kann einerseits als topisch formierte, der antiken Rhetorik verpflichtete Widmung gelesen werden, die Inhalt und Ausführung des Psalters beschreibt, seinen Schöpfer in bescheidenen Worten nennt, um geneigte Aufnahme bittet und in einem Segenswunsch endet. An diesem Befund im Lichte der Tradition erschiene für das letzte Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts ein Aspekt bemerkenswert: die 18 Epistolae Karolini aevi II. Hg. v. Ernst Dümmler. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1895. Berlin 1974 (Monumenta Germaniae historica. Epistolae; IV), S. 503, v. 13-15. 19 Ulrich Ernst: Der Liber Evangeliorum Otfrids von Weissenburg. Literaturästhetik und Verstechnik im Lichte der Tradition. Köln/ Wien 1975, S. 157. 20 Concilia. Hg. v. Albert Werminghoff. Bd. 2. Hannover 1904 (Monumenta Germaniae historica. Leges; 33), S. 142; vgl. dazu auch Ernst: Der Liber Evangeliorum [Anm. 19], S. 157. So richtig der Hinweis Ernsts auf den Zusammenhang der Doppelformel mit David ist, so falsch ist sein Befund, dass in Vers 13 des Dagulf-Gedichtes König David direkt gemeint sei.
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namentliche Nennung des Autors. Mit Dagulf und seinem Psalter wird ein Dichtersubjekt greifbar, das aus dem Strom der anonymen literarischen Quellen jener Zeit herausragt. Sein literarischer Rang lässt sich ansatzweise daraus erschliessen, dass sein Widmungsgedicht in einem um 1140 im Fritzlarer Petersstift geschriebenen Codex, dessen Vorlage wohl eine karolingische Handschrift ist, als Einleitung zu den Psalmen wiederaufgenommen wurde. Es wird dort eingerahmt von zwei Vorreden zu nicht erhaltenen Psalterhandschriften aus der Karolingerzeit. Der Schreiber des ersten Gedichtes nennt sich Schüler eines sac[er] magist[er] Dagulfu[s].21 Andererseits aber erscheint das Widmungsgedicht als situative Aktualisierung der panegyrischen Topik. Zwar werden Anleihen bei der klassisch antiken Gattungstradition gemacht, doch erhalten diese im Kontext der traditio psalmorum sowie der zeitgenössischen Widmungsgedichts- und Herrscherlobpraxis ihre spezifische Bedeutung. Die über die Farbe Gold geschaffenen Korrespondenzen in Dagulfs Gedicht verweisen so nicht primär auf die 4. Ekloge Vergils, sie sind vielmehr vor dem Hintergrund des im Widmungsgedicht des Godescalc Evangelistars (781-783) dargelegten Sinnzusammenhangs der Offenbarung zu lesen. In den fünf ersten Versen dieses Widmungsgedichts wird die Allegorese der Schrift pretiosis metallis22 dargelegt. Obwohl in der Ausstattung weniger prunkvoll als das durchgängig mit Goldschrift auf purpur gefärbtem Pergament geschriebene Godescalc Evangelistar wird auch im Dagulf-Psalter durchweg goldene Schriftfarbe verwendet; die Anfangsseite des Psalmtextes (Beatus vir […], Bl. 25r) ist zudem ebenfalls purpurfarben. Die Eingangsverse des Dagulf-Gedichtes lesen sich als Kurzform der Edelmetallallegorese, wie sie im Godescalc Evangelistar dargelegt wird:
21 Holter: Der Goldene Psalter [Anm. 10], S. 50-54. Als ein weiterer Beleg dafür, dass nicht nur die glückliche Überlieferungslage Dagulf zu einer besonderen Stellung im karolingischen Kulturbetrieb verhalf, kann zudem ein zwischen 789 und 796 zu datierender Brief Alkuins an den amico Dogulfo scriniario angesehen werden, in dem Alkuin, gelegenliche Intrigen beiseite lassend (nec quolibet vento falsiloquii), sein gutes Andenken und seine Verbundenheit mit dem Schreiber im Hinweis auf gemeinsame Gespräche (collocutione nos iner habuimus) beteuert (Epistolae II [Anm. 18], S. 115 [Nr. 73]). 22 Godescalc: Widmungsgedicht zum Godescalc-Evangelistar. In: Poetae latini Bd. 1 [Anm. 10], S. 94f. (Nr. VII), hier S. 94, v. 12. Mit Übersetzung wieder abgedruckt in Bruno Reudenbach: Das Godescalc-Evangelistar. Ein Buch für die Reformpolitik Karls des Grossen. Frankfurt a.M. 1998, S. 98-101.
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Die goldenen Buchstaben werden auf purpurnen Blättern gemalt. Sie offenbaren das durch das rosenfarbige Blut Gottes eröffnete Himmelreich und die glänzenden Freuden des gestirnten Himmels, und das Wort Gottes, in würdigem Glanz schimmernd, verheisst den leuchtenden Lohn des ewigen Lebens.23
Die Materialität der Handschrift verkörpert den Offenbarungszusammenhang, in welchem der Kreuztod Jesu, die Schriftüberlieferung und das Ewige Leben aufeinander bezogen werden. Den von Gott gestifteten heilsgeschichtlichen Sinnzusammenhang macht auch das Schriftbild der ersten beiden Verse des DagulfGedichtes deutlich. Die ›A‹-Initiale von Aurea daviticos (v. 1) ist doppelt so gross wie die ›H‹-Initiale im ersten Vers der vorangestellten Widmung an Hadrian (Hadriano summo papae) und reicht bis auf die zweite Verszeile. Die Basis der ›A‹-Initiale kommt so direkt neben das ›o‹ von ornari decuit in der zweiten Verszeile zu stehen. Der Beginn der Dagulf-Widmung liest sich somit als Schriftbild gewordene Abbreviatur des Alpha et Omega-Themas, dessen häufigste Kontrafaktur, Arbiter omnipotens, für das 8. und 9. Jahrhundert zahlreich belegt ist.24 Über den anaphorischen Bezug der goldenen Prophetenworte auf das durch sie verheissene goldene Himmelreich und von beiden wiederum auf den goldenen Nachkommen Karl erhält die königliche Herrschaft auf der Basis der aufgezeigten Parallelen mit David in typologischem Sinne Erfüllungscharakter. Die auf den Elfenbeintafeln des Einbands ins Bild gesetzte und im Dagulf-Gedicht beschriebene Aufführung, Verschriftlichung und authentische Überlieferung der Psalmen wird durch die »Aachener Neuedition« – nach dem Vorbild des Hieronymus eine die ursprüngliche Gestalt restaurierende Correctio – wiederum in die Performanz von Schrift (aurea verba sonant [v. 3]) und Aufführung (dignanter, docto mitis et ore lege [v. 16]) überführt. In der Bild-Text-Kombination von Tafel und Widmungsgedicht erscheint durch die Hinführung alttestamentlicher Vergangenheit in die fränkische Gegenwart David als Vorbild idealer weltlicher Herrschaft neben seinem Abbild Karl. Überzeitlichen Bezugspunkt und herrschaftspolitische Legitimierung finden beide in Christus. Wenn Karl der Grosse als 23 Godescalc: Widmungsgedicht [Anm. 22], S. 94f. (Nr. VII), v. 1-5. 24 Vgl. dazu François Chatillon: Arbiter omnipotens et le symbolisme de l’Alpha et de l’Omega. In: Revue du moyen âge 11 (1955), S. 5-50 u. S. 319-345. So schliesst die junge englische Nonne Leobgytha ihren Brief (nach 732) an Bonifatius mit den Versen: Arbiter omnipotens, solus qui cuncta creavit,/ In regno patris semper qui lumine fulget,/ Qua iugiter flagrans sic regnat gloria Christi,/ Inlesum servet semper te iure perenni. (Epistolae Merowingici et Karolini aevi I. Hg. v. Ernst Dümmler. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1892. Berlin 1957 [Monumenta Germaniae historica. Epistolae; 3], S. 281 [Nr. 29], v. 15-18).
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Auftraggeber der korrigierenden Tradierung der Psalmen auftritt und so in einem typologieanalogen Verhältnis mit David und Hieronymus steht, ist dieses bildungsreformatorische Bemühen zugleich als ein Bewahren der mit dem Psalmentext überlieferten Legitimation zur Herrschaft zu bewerten. Die Unterstreichung des davidischen rex et sacerdos-Herrschaftsverständnisses im Widmungsgedicht ist vor dem Hintergrund der kirchenpolitisch brisanten 90er Jahre zu sehen, in welchen die Orthodoxie bedroht und in hohem Mass von weltlicher Seite geschützt wurde. In einem diese Sache betreffenden Brief Alkuins an Karl den Grossen von 794/95 wird die Doppelfunktion des Königs als rector et praedicator bzw. doctor im Verweis auf das typologische Verhältnis David– Christus–Karl zum ersten Mal für die Karolingerzeit eingehend expliziert: Selig ist das Volk (beata gens), das einen ebenso hervorragenden Lenker (rector) wie begnadeten Prediger (praedicator) hat und so beides zusammen besitzt: das siegreiche Schwert der Macht, welches er in seiner Rechten schwingt und die Posaune der katholischen Verkündigung, welche durch seine Zunge erklingt. Genau auf diese Weise hat einst David, von Gott erwählt und von Gott geliebt, das Volk Israel geführt: Mit dem Schwert der Macht hat der begnadete Psalmensänger alle möglichen Stämme unterworfen und als aussergewöhnlicher Verkünder des göttlichen Gesetzes stand er seinem Volk vor. Von seinen […] Nachfahren und der ›jungfräulichen Blume der Wiese und der Täler‹ (Maria; Ct 2,1) wurde Christus geboren. Es ist dieser Christus, der seinem Volk nun in der heutigen Zeit einen Lenker und Weisen (rector et doctor; Karl der Grosse) schenkt, der nicht nur den Namen, sondern auch die Macht und den Glauben Davids hat. 25
Im Kontext dieser zeitgleich mit den Widmungsgedichten des DagulfPsalters verfassten kurzen Herrschaftslehre Alkuins erhält die sapientia et fortitudo-Prädikation Karls (v. 13), welche im Heilswunsch sic tua per multos decorentur sceptra triumphos (v. 17) sowie der Assoziierung mit David im psalmierenden Chor gipfelt (v. 18), die konkrete Bedeutung der Verkündigung, Durchsetzung und Bewahrung des rechten Glaubens in lingua gegen die Häretiker sowie der kriegerischen Unterwerfung cum gladio von Heiden in der Nachfolge der Vorbildfigur König Davids.26 In den Jahren, in denen die Widmungsgedichte 25 Epistolae II [Anm. 18], S. 84 (Nr. 41), v. 12-24. 26 Als weitere Belegstellen für Variationen der sapientia et fortitudo-Prädikation sind u.a. anzufügen: Widmungsbrief Alkuins an Karl den Grossen zu seiner Trinitätsschrift von 802: Dum dignitas imperialis a Deo ordinata, ad nil aliud exaltata esse videtur, nisi populo praeesse et prodesse: proinde datur a Deo electis potestas et sapientia: pote-
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und Prolegomena den Psalmen hinzugefügt wurden, musste die fides catholica insbesondere gegen die Häresie des spanischen Adoptianismus verteidigt werden, auf den der anzitierte Brief Alkuins im weiteren Verlauf auch Bezug nimmt. Der Adoptianismus 27 stellte im letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts neben dem Bilderstreit die grösste Herausforderung für den weltlichen Hüter der Orthodoxie und Schutzherrn der christlichen Kirche dar. Sowohl die spanische wie auch die fränkische Seite gingen von zwei Naturen in der Person Jesu aus. Die Adoptianisten akzentuierten jedoch das Auseinanderhalten der beiden Naturen stärker als die fränkische Seite. Diese Trennung resultierte aus ihrer Behauptung, Jesus sei gemäss seiner göttlichen Natur natürlicher, nach seiner menschlichen Natur jedoch (nur) Adoptivsohn Gottes. Für die fränkischen Theologen dagegen stand die göttliche Einheit an erster Stelle. Diese Einheit war in kirchenpolitischem Sinne deshalb so zentral, weil der unversehrte Leib Christi und die Kirche als Einheit angesehen wurden.28 Die überragende Stellung Karls des Grossen in Fragen der Rechtgläubigkeit kann daran abgelesen werden, dass Felix von Urgel und Elipand von Toledo als Hauptvertreter des Adoptianismus an ihren theologischen Gegnern vorbei wiederholt direkt Karl den Grossen von ihrer Lehrmeinung zu überzeugen versuchten. Am fränkischen Hof trafen so mit Adoptianismus und Bilderstreit in den 90er Jahren zwei theologische Kontroversen zusammen, deren Ursprünge ausserhalb des fränkischen stas, ut superbos opprimat, et defendat ab inprobis humiles; sapientia, ut regat et doceat pia sollicitudine subiectos. (Epistolae II [Anm. 18], S. 414 [Nr. 257], v. 20-24); Die herrscherliche Kompetenz in Fragen der Orthodoxie wird unterstrichen in bescheidenheitstopischen Formulierungen: Non quo, imperator invicte et sapientissime rector, aliquid scientiae vestrae fidei catholicae incognitum esse, vel minus exploratum cogitarem, sed ut mei nominis, quo a quibusdam magister licet non merito vocabar, officium ostenderem. (Ebd., S. 415, v. 6-9); im Schlussgedicht des Widmungsbriefs schliesslich: O rex augusto clarissime dignus honore,/ Et dux, et doctor, et decus imperii. (Ebd., S. 415, v. 37f.) 27 Zum Adoptianisumus grundlegend: Wilhelm Heil: Der Adoptianismus, Alkuin und Spanien. In: Wolfgang Braunfels (Hg.): Karl der Grosse. Lebenswerk und Nachleben. 3 Bde. Düsseldorf 1965, Bd. 2: Bernhard Bischoff (Hg.): Das geistige Leben, S. 95155, hier bes. S. 103f., S. 105 u. S. 126; zuletzt auch: Matthias Theodor Kloft: Der spanische Adoptianismus. In: Johannes Fried (Hg.): 794 – Karl der Grosse in Frankfurt a.M. Ein König bei der Arbeit. Sigmaringen 1994, S. 55-61; Helmut Nagel: Karl der Grosse und die theologischen Herausforderungen seiner Zeit. Zur Wechselwirkung zwischen Theologie und Politik im Zeitalter des grossen Frankenherrschers. Frankfurt a.M. u.a. 1998 (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte. Studien und Texte; 12), S. 19-138. 28 Vgl. dazu Beatus’ Kapitelüberschrift in seinem Brief gegen Elipand: De Christo et ejus corpore, quod est Ecclesia, et de Diabolo et ejus corpore, quod est Antichristus (Beatus von Liebana: Ad Elipandum epistola. In: Migne: Patrologia Latina; 96. Nachdruck der Ausgabe Paris 1862. Turnhout 1968, Sp. 893-1030, hier Sp. 977f.).
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Reiches lagen. Die Kontroversen erlangten jedoch für das Frankenreich insofern reichskirchenpolitische Brisanz, als es nicht nur um die Vormachtstellung Karls in Fragen der Orthodoxie gegenüber Spanien und Byzanz ging, sondern in Bezug auf den Adoptianismus auch darum, Resonanzen der spanischen Heterodoxie im fränkisch gewordenen Septimanien und Katalonien sowie in einzelnen Städten des südgallischen Raums zu bekämpfen.29 Aus fränkisch-herrschaftspolitischer Sicht galt es, die göttliche Einheit Jesu, von dessen Königtum dasjenige Karls als ein Abbild erscheinen sollte, nicht gefährdet zu wissen. Mithin also stand das Verfahren der Typologie zur Disposition: der heilsgeschichtliche Rückbezug der Zeitgeschichte auf das Alte und Neue Testament, wofür die Widmungsgedichte in Kombination mit dem Elfenbeineinband des DagulfPsalters ein frühes karolingisches Beispiel sind. Die Anbindung an das Davidkönigtum und von da an Christus als König im Rahmen der Typologie bedurfte einer Person Christi, die als eine Inkarnation der unversehrten Göttlichkeit im unversehrten (perfectus) Menschen zu denken war. Die spanische Lehre von einer lediglich durch Gott adoptierten Menschennatur Christi konnte je nach Perspektive in polemischer Zuspitzung als unvollkommene Menschheit oder als unvollkommene Gottheit in Christus aufgefasst werden. In beiden Formen musste der Adoptianismus als Bedrohung für das typologische Denken erscheinen. Vor diesem Hintergrund kann es kein Zufall sein, dass Alkuin – wie oben gesehen – gerade im Vorspann eines den Adoptianismus behandelnden Briefs Karl zum ersten Mal in eine typologische Beziehung zu David setzt. Die vor 794 nur für den engeren Kreis der AlkuinSchüler belegte Sitte der Vergabe von Pseudonymen wurde im Falle Karls mit einer situativ bedingten Herleitung ergänzt und kann ob der typologischen Bezüge auch nicht mehr als reines Pseudonym bezeichnet werden. Der Dagulf-Psalter, zeitgleich mit dem zitierten Brief Alkuins durch Hinzufügung von Prolegomena und Widmungsgedichten vollendet, sichert die in Bild und Text geschaffene typologische Anbindung 29 Neben Narbonne rückte auch Lyon mit Erzbischof Leidrad ins Zentrum der Auseinandersetzungen. Dessen Verteidigung der Orthodoxie sowie sein entschiedenes Eintreten für die Bildungsreform verbanden ihn mit dem König. Von Leidrad ist mit einem auf die Jahre 813/14 zu datierenden Bericht an Karl den Grossen über die durch ihn angestrengten Liturgiereformen im Erzbistum Lyon überliefert, dass unter seiner Führung restauratus est ordo psallendi (Epistolae II [Anm. 18], S. 543 [Appendix, Nr. 30], v. 1). In einer zwischen 795 und 800 im Auftrag Leidrads wohl in Aachen angefertigen Handschrift finden sich – wie oben bereits erwähnt – auch die Prolegomena des Dagulf-Psalters als einzige Parallelabschrift in identischer Reihenfolge ausgeschrieben (Holter: Der Goldene Psalter [Anm. 10], S. 45).
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Karls an David und Christus über zwei Elemente der Vorreden: einerseits über fünf in den – wohl von Alkuin zusammengestellten30 – Vorreden ausgeschriebene Glaubensbekenntnisse und andererseits durch hauptsächlich aus Cassiodors Psalmen-Kommentar entnommene Erläuterungen zum Wesen der Psalmen, auf die weiter unten im Zusammenhang mit der Widmung Karls noch einzugehen sein wird.31 Damit findet die gegen den Adoptianismus verteidigte Christologie als Basis des typologischen Denkens direkten Eingang in den Psalter und so ein Medium, dem Papst den erfolgreich von Karl als novus David ausgefochtenen Kampf gegen die Häresie zu kommunizieren. Weshalb aber wurden gleich fünf Glaubenbekenntnisse in die Prolegomena aufgenommen? Die fünf Credos demonstrieren die Invarianz des Glaubenskerns in der historisch bedingten Varianz seiner Überlieferung. Damit erscheint die Gottheit Jesu Christi im kanonisch gewordenen Wortlaut des Glaubensbekenntnisses in ihrer Abgeschlossenheit und Unveränderlichkeit unbeschadet aller im Verlaufe der Geschichte aufgetretenen Anfechtungen durch die Häresie.32 Die Aktualität einer solchen Demonstration der recta fides beschreibt Walahfrid Strabo im Rückblick mit folgenden Worten: Unter den Galliern und Germanen begann das Bekenntnis in den Abendmahlsfeiern häufiger rezitiert zu werden nach der Absetzung des Ketzers Felix [von Urgel], der in der Regierungszeit Karls […] verurteilt wurde.33
Für die Franken war das Singen des Bekenntnisses Verteidigung und Vergewisserung der eigenen Rechtgläubigkeit. Die Reihe34 der Glaubensbekenntnisse im Dagulf-Psalter beginnt mit dem Nizänischen Glaubensbekenntnis von 325, an dessen Schluss die Belegung mit dem Anathema für all jene als Drohung ausgesprochen wird, welche die Göttlichkeit Christi leugnen. Das Bekenntnis 30 Ebd. 31 Bl. 12v-18r bzw. Cassiodor: Expositio Psalmorum. Hg. v. Markus Adriaen. 2 Bde. Turnhout 1958 (Corpus Christianorum. Series Latina; 47, 48), hier Bd. 1, S. 7-12 (Praefatio, Kap. I-IV). 32 Diese im Frankenreich konsequent durchgeführte Kanonisierung fand in den unter Mitwirkung Alkuins vorgenommenen liturgischen Neuerungen ihre Entsprechung. Die Abtrennung des Chores und der Eucharistie von den Gläubigen hatte eine »Abkapselung des Sanctissimum ganz allgemein [zur Folge:] Der Herr selbst wurde sichtbar erhöht und in seinen kirchlichen Erscheinungsweisen in sich und nach aussen abgeschlossen, die Formen als unveränderlich betrachtet, im Sakrament, im Kanon – und auch im Glaubensbekenntnis« (Heil: Der Adoptianismus [Anm. 27], S. 147). 33 Zitiert nach: John Norman Davidson Kelly: Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie. 3. überarb. Auflage. Göttingen 1972, S. 348f. 34 Vgl. dazu die schematische Darstellung des Inhalts des Dagulf-Psalters oben S. 44.
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bildet gleichsam die Folie, durch die hindurch die Zusätze der folgenden Bekenntnisse ersichtlich werden. Die Varianten unterstreichen in der Hauptsache die Göttlichkeit Jesu. Abgeschlossen wird die Reihe mit der Confessio seu Libellus fidei des Pelagius, welche im DagulfPsalter allerdings Hieronymus zugeschrieben wird und unter dem Titel Expositio fidei catholicae sancti Hieronimi firmiert. Es findet sich in dieser längsten Fassung des Glaubenskerns eine bedeutungsvolle Variante zum Nizänischen Glaubensbekenntnis und allen übrigen Credos, welche den Glaubenskern zwar nicht tangiert, aber den Anschluss an die Debatte um den Adoptianismus ermöglicht. Der zweite Glaubenssatz in der Formulierung des Pelagius lautet: Wir glauben an unseren Herrn Jesus Christus, durch den alles geschaffen ist, wahrhaftig Gott, einziggeborener und wahrhaftiger Sohn Gottes, weder geschaffen noch adoptiert [non factum aut adoptivum], sondern geboren und von ein und derselben Substanz wie Gott Vater. 35
Ein längerer Teil widmet sich der Widerlegung der arianischen Annahme von der unvollkommenen Gottheit in Christus sowie der apollinarischen Behauptung von der unvollkommenen Menschheit in Christus.36 Mit dieser Zuspitzung in der Formulierung des Credos durch Pelagius wird der Adoptianismus mitgetroffen und die Streitfrage zugleich historisiert. Auch bietet sie einer Folge der adoptianistischen Lehre Einhalt, die aus der Sicht einer negativen Theologie abzulehnen ist: dem vorschnellen Vergleich des Menschen mit Christus. In einem an Elipand und Felix gerichteten Brief fragt Beatus von Liebana, ein Mitstreiter Alkuins in der Auseinandersetzung mit den Adpotianisten: Und weshalb erläutern wir unsere Position [bezüglich des Adoptianismus]? Nur deshalb, damit niemand so vermessen ist, dass er die Christenmenschen mit Jesus Christus selber vergleiche, wie es Elipand macht, der behauptet: ›So wie Jesus Christus ist, so sind auch wir Christen; so wie er Diener ist, so sind es auch wir.‹37
Auch Alkuin argumentiert auf dieser Linie, wenn er die wörtliche Auslegung der typologischen Bezeichnung Christi als novus Adam im Sinne eines ›neuen Menschen‹ verurteilt.38 Mit Alkuin könnte man sagen, 35 36 37 38
Bl. 7r. Bl. 8v. Beatus von Liebana: Ad Elipandum epistola [Anm. 28], Sp. 929B. Alkuin: Contra Felicem Urgellitanum episcopum libri septem. In: Migne: Patrologia Latina; 101. Nachdruck der Ausgabe Paris 1863. Turnhout 1966, Sp. 119-230, hier Sp. 157C-158B.
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dass Christus für die fränkische Seite nur als novus Adam und novus David zu denken ist: als neuer Mensch und neuer König und Gott. Vor dem Hintergrund des nun im Kontext des Adoptianismus präziser situierten Verfahrens der Typologie soll im Folgenden die Zueignung Karls an Hadrian I. näher untersucht werden. Während das Widmungsgedicht Dagulfs Karl den Grossen – wie oben gesehen – in einem als typologieanalog zu bezeichnenden Verfahren als rex doctus in die Reihe David-Hieronymus stellt und ihn über Wortkorrespondenzen in Beziehung zum Königtum Davids setzt, führt das Widmungsschreiben Karls an Hadrian I. das typologische Verhältnis David-Christus ein. Der typologische Bezug zwischen David und Christus wird über die Clavis-David-Stelle in Vers 8 geschaffen: Haec tua, Christe, chelys miracula concinit alma,/ Qui clavem David, sceptra donumque tenes. Innerhalb einer das Alte auf das Neue Testament beziehenden, typologischen Lesart der Bibel verweist die Clavis-David-Formel auf Is 22,22 und Apc 3,7f.: Die Schlüsselgewalt Gottes im Einsetzen weltlicher Herrscher in der Nachfolge Davids (Is 22,22) wird auf das endzeitliche Geschehen der Heilsoffenbarung (Apc 3,7f.) bezogen. Ist die Clavis David in der Bibel und auch im Widmungsgedicht Karls eine Herrschaftsinsignie in der Hand Gottes, so wird sie in den im Verlaufe des 8. Jahrhunderts in die römische Liturgie aufgenommenen und in der Oktav vor Weihnachten gesungenen O-Antiphon39 zum Namen Gottes: O Clavis David, et sceptrum domus qui aperis, et nemo claudit, claudis, et nemo aperit. Alkuin legt die Clavis-David-Formel in seinen Commentariorum in Apocalypsin libri quinque wie folgt aus: Die Bedeutung des ›Schlüssels Davids‹ begreifen wir in der Inkarnation unseres Erlösers, hervorgegangen aus dem Samen Davids. Die Türe, welche dieser Schlüssel öffnet und schliesst, ist Christus selber.40 An zahlreichen Stellen seines Werks führt Alkuin die von David präfigurierten Eigenschaften Jesu aus. Grundgelegt und auf ihre genealogische Basis zurückgeführt wird die Typologie im Liber generationis Jesu Christi,41 in welchem die Patriarchen, per hos enim […] Christus veniebat in mundum,42 nach dem literalen, allegorischen und moralischen Sinne ausge39 Die O-Antiphone nehmen allesamt Bezug auf die Isaias-Prophetie und erbitten das Kommen Christi, indem der Erlöser mit sieben unterschiedlichen Titeln angesprochen wird: O Sapientia, O Adonai, O Radix Jesse, O Clavis David, O Oriens, O Rex Gentium, O Emmanuel. 40 Alkuin: Commentariorum in Apocalypsin libri quinque. In: Migne: Patrologia Latina; 100. Nachdruck der Ausgabe Paris 1863. Turnhout 1968, Sp. 1085-1156, hier Sp. 1111B. 41 Alkuin: Liber generationis Jesu Christi. In: Migne: Patrologia Latina; 101. Nachdruck der Ausgabe Paris 1863. Turnhout 1966, Sp. 723-734, hier Sp. 725-734. 42 Ebd., Sp. 725C.
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legt werden: Der literaliter als manu fortis, vel desiderabilis attribuierte David ist nach Alkuin allegorice auf die Tempelreinigung Christi zu beziehen: Mit genau derselben starken Hand […] warf Christus die ungeheure Menge an Verkäufern und Käufern aus dem Tempel hinaus.43 Davids Königtum verweist demnach insofern auf die Herrschaft Christi, als die Heilsgewissheit in der beständigen Sorge um die Reinheit des Glaubens zu bewahren versucht wird. Für die zeitgenössische exegetische Praxis ist die Clavis-DavidFormel neben Radix Jesse als Gottesnamen der bedeutungsvollste Ausdruck des typlogischen Verhältnisses zwischen David und Christus. In ihr erscheint der Psalmensänger David als Präfiguration von Christi göttlicher Herrschaft und dessen Erneuerung des Heilsversprechens. Von der Clavis-David-Formel wird in den Prolegomena die Authentizität der Psalmen im Sinne der alleinigen Autorschaft Davids abgeleitet: Die Psalmen können aufgrund sicherer Indizien allein auf den Propheten David [als Autor] zurückgeführt werden. Schliesslich wird ja auch an jener Stelle in der Offenbarung des Johannes, wo es um die Psalmen geht, mit folgenden Worten allein auf David verwiesen: ›So spricht der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat, der öffnet, so dass niemand mehr schliessen kann, der schliesst, so dass niemand mehr öffnen kann (Apc 3,7).‹ (Bl. 16r).
Mit der Clavis-David-Formel werden Authentizität der ProphetieÜberlieferung und legitime Königsherrschaft aufeinander bezogen. Wenn Karl der Grosse in Dagulfs Widmungsgedicht als novus David dargestellt wird, so erlangt er als solcher in der Widmung an Hadrian Davids göttlich autorisierten Status als weltlicher Regent. In seinem Bemühen um eine authentische Überlieferung der Psalmen Davids präsentiert er sich insofern als Heilsgarant, als er den mit der Schrift offenbarten Zusammenhang von Heilsversprechen und -erfüllung zu bewahren versucht. Eine vergleichende Betrachtung der beiden Widmungsgedichte in Bezug auf ihre Struktur zeigt eine identische, dreiteilige Bauform (v. 14; 5-10; 11-18/20), wobei sich die ersten beiden Abschnitte chiastisch zueinander verhalten. Während die Dagulfwidmung – wie gesehen – mit der Audiovisualität des davidischen Gesangs beginnt, um in den Versen 5-10 die Elfenbeintafeln zu beschreiben, hebt die Widmung Karls nach der begrüssenden Betitelung Hadrians mit einer bescheidenheitstopischen Relativierung des äusseren Schmucks des Psalters durch seinen Inhalt (v. 4) an. In struktureller Analogie zur Dagulfwidmung, ebenfalls in den Versen 5-10, wird in der Karlswidmung nun der Inhalt 43 Ebd., Sp. 726CD.
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des Psalters, die Gesänge Davids in ihrer Performanz, beschrieben. Nicht die Stimme Davids wie in Dagulfs Gedicht steht dabei im Zentrum, sondern die instrumentale Begleitung seines Gesangs. Die durch David mit einem Plektrum angeschlagenen Saiten verkünden die Wunder Gottes und Besitzers der Clavis David. Die musikalische Offenbarung des Wunderwerkes wurde nur möglich durch das Aufbrechen des mit siebenfachem Siegel verschlossenen Gesanges. Die Verse 9f. spielen auf Apc 5,5f. an: Gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross aus der Wurzel Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen. Die untere Hälfte der David-Tafel, in deren oberer Zierumrandung das Lamm Gottes eingelassen ist, kann im Kontext der Folgeverse aus der Offenbarung in allegorischer Betrachtung des historischen Sängers und Auftraggebers David als Anstimmen des canticus novus im Angesicht des geöffneten Buches ausgelegt werden. Der in der Offenbarung vom Chor der Patriarchen des Alten Testaments mit Kitharae begleitete ›Neue Gesang‹ ist ein Lobpreis der Erlösungstat Christi und seiner Einsetzung weltlicher und geistlicher Herrscher: Und sie sangen ein neues Lied: ›Würdig bist Du, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du wurdest geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erworben aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern, und du hast sie für unsern Gott zu Königen und Priestern gemacht; und sie werden auf der Erde herrschen.‹44
Die sowohl auf den Elfenbeintafeln (Abb. 13) als auch in den Widmungsgedichten hervorgehobene Performanz der Psalmen im Gesang mit instrumentaler Begleitung ist im Bedeutungszusammenhang der Clavis-David-Formel nicht nur als Zeugnis von Aufführungspraktiken einer an oral-visuellen Ausdrucksformen sich orientierenden Gesellschaft zu deuten. Die beiden auf dem Einband abgebildeten Haupttypen der Begleitinstrumente bedeuten nach dem Psalmenkommentar Augustins auch die sich in Christus vereinigenden zwei Naturen.45 Als textliche Grundlage des Bildprogramms des Psalters mag neben der ausführlichen Allegorese nach Augustin ein Abschnitt aus den Prolegomena mit dem Titel Quid sit psalterium, vel psalmi quare dicantur (Bl. 17r18r) gedient haben. Unter dieser Überschrift schreibt der Dagulf44 Apc 5,9f.; Mit dem Verweis der Verse 5-10 der Karlswidmung auf die zitierten Verse aus der Offenbarung des Johannes wird auch die Assoziierung Karls mit dem davidischen Chor zum Schluss der Dagulfwidmung vorbereitet. 45 Aurelius Augustinus: Enarrationes in Psalmos. Hg. v. Eligius Dekkers u. Johannes Fraipont. 3 Bde. Turnhout 1956 (Corpus Christianorum. Series Latina; 38, 39, 40), hier Bd. 2, S. 705f. (Kommentar zu Ps 56,16).
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Psalter das vierte Kapitel in Cassiodors Vorwort zu seinem Psalmenkommentar aus. Obwohl darin explizit auf die Psalterium-Auslegung nach Hieronymus verwiesen wird, weicht sie im Rückgriff auf Isidor46 entscheidend von dieser ab und entspricht stattdessen der augustinischen Allegorese: Nach Hieronymus ist das Psalterium ein in der Form des griechischen Buchstabens D aus Holz gefertigter klingender Hohlkörper, dessen ausladender Bauch sich oben befindet, da wo die Saiten befestigt sind. Durch die sorgfältige Berührung der Saiten mit einem Schlagstab soll dieses Instrument einen äusserst süssklingenden Ton wiedergeben. Der Aufbau der Kithara unterscheidet sich dagegen von dem des Psalteriums: was sich bei jenem nämlich unten befindet (= der Resonanzkörper), ist bei beim Psalterium oben angebracht. Diese Gattung von Begleitinstrumenten (= Kithara und Psalterium) bildet in einzigartiger Weise den Körper unseres Herrn und Erlösers ab, da genau so wie die Kithara von unten tönt, das Psalterium aufgrund seines glorreichen Aufbaus mit Tönen von oben lobpreist. So heisst es auch im Evangelium: ›Wer von der Erde stammt, ist irdisch und redet irdisch. Er aber, der aus dem Himmel 47 kommt, bezeugt, was er gesehen und gehört hat (Io 3,31).‹
Für die typologische Verknüpfung von David und Christus, wie sie in der Text-Bild-Kombination von David-Tafel und Karlswidmung angezeigt wird, ist diese christologische Auslegung von Psalterium und Kithara von Bedeutung. Sie beschreibt die Angemessenheit der Instrumente in ihrer Bauart bezüglich des Adressaten der von ihnen begleiteten Gesänge. Zusammen bilden Psalterium und Kithara die Einheit der zwei Naturen in Christus ab und liefern so eine Bildformel der im Streit mit dem Adoptianismus verteidigten orthodoxen Christologie. Auf der Bildebene schaffen zwei Aspekte der Harfensymbolik Anschlussmöglichkeiten für den weltlichen Herrscher und Schutzherrn der Gläubigen, Karl, an David; für den König an den rex et sacerdos. Auf dem vorderen Tafelbild ist David nicht allein als Sänger dargestellt. Seine frontale Zentralposition auf einem Thron ist den Repräsentationsbildern spätantiker Konsulardiptychen nachempfunden und weist David nachdrücklich als Herrscher aus.48 Die Harfe in seiner Linken 46 Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive Originum Libri XX. Hg. v. W[allace] M[artin] Lindsay. 2 Bde. 6. Nachdruck der Ausgabe Oxford 1911. Oxford 1985 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), hier Bd. 1, Buch 3, Kap. 22,7. 47 Bl. 17r+v des Dagulf-Psalters; vgl. dazu die im Wortlaut entsprechende Vorlage in der Praefatio zu Cassiodors Psalmenkommentar (Cassiodor: Expositio in Psalterium. In: Migne: Patrologia Latina; 70. Nachdruck der Ausgabe Paris 1865. Turnhout 1967, Sp. 9-1056, hier Sp. 15BC). 48 Anton von Euw: Studien zu den Elfenbeinarbeiten der Hofschule Karls des Grossen. In: Aachener Kunstblätter 34 (1967), S. 36-60, hier S. 55f.
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nimmt den traditionellen Platz der Herrschaftsinsignien ein. Ihre Bedeutung als Zeichen weltlicher Macht erhält sie jedoch nicht nur über die Adaptation formaler Traditionselemente. Ein Blick auf die Herrscherinsignien der alttestamentlichen Könige in den Gens-JesseChristus-Darstellungen 49 zeigt die herrschaftssymbolische ›Gleichwertigkeit‹ von Saiteninstrument, mittelalterlichen Herrschaftszeichen (Reichsapfel, Zepter, Lanze) und dem von Christus gehaltenen Buch. Es findet sich dort in einem Bild vereint, was im Dagulf-Psalter auf die Tafeln und Widmungsgedichte verteilt ist und erst durch die Synopse des Lesers und Betrachters nebeneinander erscheint: Zepter (WD, v. 17), Harfe (Davidtafel, WD, WK) und Buch (David-, Hieronymustafel, WK). Ein zweiter Aspekt mag über eine bildkompositorische Parallele zwischen den beiden Hälften der Davidtafel angedeutet sein. Das untere Davidbild zeigt den thronenden König in der Bildmitte, umrahmt von seinen beiden Mitspielern sowie mit Schild und Lanze ausgestatteten Kriegern. In dieser Form unterscheidet es sich von den drei anderen Bildern insofern, als auf ihnen die Bildmitte mit einer Nebenfigur in der zweiten Reihe besetzt ist und jeweils zwei miteinander interagierende Hauptfiguren im rechten bzw. linken Vordergrund postiert sind. Die Darstellung des herrschaftlichen David nimmt in diesem Sinne eine Sonderstellung im Bildzyklus ein. Der thronende David der unteren Bildhälfte korrespondiert in seiner Zentralstellung mit dem im Hintergrund ebenfalls in die Bildmitte gesetzten Krieger auf der oberen Tafel, dessen gut sichtbarer Schild wiederum mit der von David gehaltenen Harfe. Die bildkompositorisch angezeigte Austauschbarkeit legt einen Vergleich von Harfe und Schutzschild nach der Psalterium-Auslegung des Hieronymus nahe, für den das Psalterium in modum clipei – in der Form eines Schildes – die ecclesia […] contra omnem heresim bedeutet.50 Im Kontext der zitierten Instrumentenallegorese aus den Prolegomena sowie unter Berücksichtigung von Bildkomposition und ikono49 Hugo Steger: David Rex et Propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, nach Bilddarstellungen des achten bis zwölften Jahrhunderts. Nürnberg 1961 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft; 6), hier S. 71-73. 50 Obwohl Cassiodor explizit auf Hieronymus verweist, basiert dessen Auslegung auf einem quadratischen Psalterium. Diese geometrische Form in Kombination mit der zehnsaitigen Bespannung und der Schildform erlaubt es Hieronymus, das Instrument in allegorischer Weise auf die biblischen Grundlagen für den Kampf gegen die Häresie zu beziehen: den Dekalog und die vier Evangelien. Vgl. dazu Reinhold Hammerstein: Instrumenta Hieronymi. In: Archiv für Musikwissenschaft 16 (1959), S. 117-134, hier S. 127.
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graphischer Tradition verweist die Harfe Davids in christologischer Lesart auf einen zentralen Glaubensinhalt der Orthodoxie; als Herrschaftszeichen bedeutet sie deren Verteidigung qua heilsgeschichtlich legitimierter weltlicher Macht. Als Spieler dieser Harfe repräsentiert David auf der Vorderseite des Einbands insofern den idealen christlichen Herrscher, als er im Nachvollzug dieser beiden Bedeutungsaspekte seines Instrumentes dargestellt wird: die Sorge um die Bewahrung des korrekten Kults in seinem Auftrag an die Schreiber, sein Psalmieren authentisch zu überliefern; die an Gott ausgerichtete weltliche Herrschaft in der thronenden Pose des psalmierenden Königs. Auf diese beiden Elemente idealer weltlicher Herrschaft beziehen sich – wie oben gesehen – auch die Attribuierungen Karls in Dagulfs Widmungsgedicht. Die Idealität des fränkischen Regenten konstituiert sich indes nicht allein aus der Nachfolge Davids. Sie ist mehr als ein Abbild des alttestamentlichen Vorbilds. Als Auftraggeber einer als historisch-kritisch zu bezeichnenden Ausgabe der Psalmen erscheint Karl in typlogieanaloger Art auch in einer Reihe mit David und Hieronymus. Alttestamentliche Vergangenheit wird als patristisch vermittelte Schrifttradition in die Gegenwart fränkischer Schriftproduktion überführt. Ins Bild gesetzt ist die Einholung der Vergangenheit auf den beiden oberen Tafeln mit gestischen Zeichen der Beauftragung zur Schriftüberlieferung in Form einer Erwählung der Schreiber durch David und als Briefübergabe zwischen dem Presbyter Bonifatius und Hieronymus. Die körpersprachlichen Ausdrucksmittel inszenieren die traditio im Sinne der Überlieferung und korrigierenden Bewahrung als Auftrag und Erwählung. Das Buch als Überlieferungsform und Träger der göttlichen Offenbarung wird sowohl auf der David- wie auch auf der Hieronymus-Seite ins Zentrum des Bildgeschehens gesetzt. Aufgeschlagen präsentiert es sich im dargestellten Diktierprozess auf der Rückseite des Psalters; als geöffnetes und geschlossenes Diptychon wird es auf der Vorderseite von zwei Schreibern unter dem linken Arm getragen, wobei das aus dem Bildfeld herausragende zentral positionierte Schreibpult mit Tintenfass sowie die drei identisch gehaltenen Griffel metonymisch auf den Vorgang der Verschriftlichung verweisen. Die Überführung der Vergangenheit in die Gegenwart erscheint demnach als in seiner Performanz dargestellter Akt der Berufung zur Verschriftlichung bzw. zur philologischen Textrekonstruktion. Letzte Instanz der Berufung, Quelle der Inspiration und bedeutungsstiftender Bezugspunkt für diese Tätigkeit ist Gott. Eingelassen in die Ornamentalleiste bilden das Lamm und die Hand Gottes jeweils den Bildmittelpunkt von Vorder- und Rückseite des Einbands. Die Psalmen Davids als Vortrag und Schriftstück erhal-
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ten in dieser bildkompositorischen Ausrichtung auf das Lamm ihre hermeneutische Transparenz im Sinne der Offenbarung durch den doppelten Bezug auf Erlösungstod und eschatologisches Heilsversprechen. Die Segenshand Gottes auf der Hieronymus-Seite bildet zusätzlich den göttlichen Auftrag zur Verbreitung des Glaubens ab. Indem die Widmungsgedichte als nachträgliche Auftragsbestätigung Karl auf diesem bildlich dargestellten Königsweg von traditio und correctio beschreiben, erscheint der fränkische Herrscher in der Nachfolge von David und Hieronymus. Die Psalmen Davids in der prachtvollen Überlieferungsform des Dagulf-Psalters sind im Kontext der Bild-TextProgrammatik Restauration des ursprünglichen Gesanges und Antizipierung des canticum novum aus der Apokalypse. Der Codex mit seinen Bedeutungsträgern Einband, Schrift und Text bündelt im typologischen Bedeutungsfeld biblische Heilsverheissung und endzeitliche Heilserfüllung. Karl als Auftraggeber der Handschrift ›repräsentiert‹ das in Christus erneuerte davidische Zeitalter. In dieser Funktion findet sich Karl direkt angesprochen in einem Briefgedicht Alkuins von 794: O mihi dulcis amor, dulcis praesentia Christi,/ Dulce tuum studium, et dulcis ab ore sonus.51 Die spezifische Form der Repräsentierung von Vergangenheit in Karl verleiht der Gegenwart einen besonderen Wert gegenüber der traditionell – und gerade am Hofe Karls durch Verleihung antiker Beinamen – hoch gelobten antiken Vergangenheit. In einem dem irischen Hofgelehrten Dungal zugeschriebenen Gedicht (um 800) wird diese Neubewertung der Gegenwart in der Weise einer typologischen Überbietung vollzogen: Unter einem neuen Gesetz stehend, überragt die Gegenwart die im Rahmen der laudatio temporis acti verklärte Vergangenheit. An der Spitze der neuen Ordnung steht Karl der Grosse, der in sich vereinigt, was im Geschichtsverlauf an vorbildlichen Eigenschaften auf einzelne Herrscher verteilt war.52 Wenn Dungal in seinem Lobgedicht auf Karl den Grossen die fama nova dem rumor veterum gegenüberstellt und bei der Aufzählung der in Karl vereinigten Tugenden die fama an erster Stelle aufführt, so mag der Dagulf-Psalter in besonderer Weise diesen neuen Ruhm des fränkischen Herrschers gefördert haben. Mit dem Dagulf-Psalter liegt eine Herrschaftsrepräsentation in Buchform vor. Seine spezifische Ausstattung historisieren die Psalmen Davids im Kontext karolingischer Reichs-, Kirchen- und Bildungspolitik. Die dabei geschaffenen typolo51 Alkuin: Carmina. In: Poetae latini. Bd. 1 [Anm. 10], S. 160-351, hier S. 237 [Nr. XIII], v. 1-8. 52 Dungal: Carmina. In: Poetae latini. Bd. 1 [Anm. 10], S. 393-413, hier S. 400f. [Nr. V], v. 1f. u. v. 9f.
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gischen Bezüge eröffnen sich erst in der Synopse der einzelnen Textund Bildteile des Psalters. Im Unterschied zum oben zitierten, direkt an den Herrscher gerichteten Brief Alkuins lässt sich Karl in diesem Geschenk für den Papst nicht mit David ansprechen oder im Sinne einer positiv-politischen Theologie als dulcis praesentia Christi bezeichnen. Der Dagulf-Psalter schafft indes im Rahmen eines als ›diplomatische Typologie‹ zu bezeichnenden Verfahrens mit Bild und Text ein heilsgeschichtliches Bedeutungsfeld, welches als herrschaftsideologische Legitimation für das politische Agieren Karls des Grossen im Schnittbereich weltlicher und geistlicher Macht dient. Im Schlussteil der Prolegomena des Dagulf-Psalters findet sich eine ps.-augustinische Schrift, welche die heilsbringende Wirkung des Psalmengebets beschreibt: Das Singen der Psalmen schmückt die Seele, […] es reinigt den Menschen, öffnet die Sinne, besiegt alles Übel, lehrt die Vervollkommnung [perfectionem instruit], verweist auf das göttlich Erhabene [excelsa demonstrat], und erweckt die Sehnsucht nach dem Himmelreich [desiderium regni caelestis dat] (Bl. 21v-22r).
Für das Anstimmen der Gesänge Davids im täglichen Gebet ist ihre philologische Sicherung in der Schrift die Grundlage. Der DagulfPsalter als Geschenk für den Papst ist auratisches Zeugnis für den dulcis sonus und das dulce studium53 des Königs. Der weltliche Herrscher wird vor der geistlichen Macht als weltlicher Heilsgarant präsentiert, nicht aber als Heilsbringer im Sinne einer ausgeprägt positivpolitischen Theologie. Die irdische Herrschaft Karls erscheint in der Aura des Psalters und im Kontext der bildungsreformatorischen Bestrebungen als in dem Sinne vollkommen, als sie excelsa demonstrat [et] desiderium regni caelestis dat. Sie ist folglich nur ›suboptimal‹. Aus der Differenz zwischen dem irdisch Perfekten und dem göttlich Erhabenen entsteht die Sehnsucht (desiderium). Es ist dieses negativtheologisch und antichiliastisch gedachte Herrschaftsverständnis, das narrativ mit der Figur Davids im Alten Testament vorgebildet ist, als Schatten (umbra) und Vorlage (figura) des erst mit Christus vollkommenen Gegenbilds (antitypus).
53 Die doppelte Süsse in der Beschreibung Karls ist jenem Gedicht Alkuins entnommen, in dem Karl auch mit dulcis praesentia Christi apostrophiert wird (vgl. dazu Anm. 51).
II.
Autorschaft und Autorfiktion Das Buch als ›Bürgschaft gelebter Realität‹
Michael Stolz
Die Aura der Autorschaft. Dichterprofile in der Manessischen Liederhandschrift Wa vunde man sament so manig liet? man vunde ir niet in dem künigrîche, als in Zürich an buochen stât. des prüevet man dike da meister sang; der Manesse rank darnâch endelîche, des er diu liederbuoch nu hât. [...] und wisse er, wâ guot sang noch wære, er wurbe vil endelîch darnâ.
›Wo könnte man so viele Lieder beisammen finden? Im ganzen Königreich fände man sie nicht, wie sie in Zürich in den Büchern stehen. Man kennt sich dort gut aus im Gesang der Meister. Der Manesse hat sich eifrig darum bemüht, deshalb besitzt er nun die Liederbücher. [...] Und wüsste er, wo es noch weitere gute Lieder gäbe, dann würde er sich eifrig darum bemühen.‹
Mit diesen Worten rühmt der Dichter Johannes Hadlaub1 in den Jahren um 1300 die Sammeltätigkeit des Zürcher Patriziers Rüdiger Manes1
Der mittelhochdeutsche Text ist zitiert nach: Johannes Hadlaub: Lieder und Leichs. Hg. u. komm. v. Rena Leppin. Stuttgart/ Leipzig 1995, S. 37, III,1, v. 1-6, 10f. Vgl. auch:
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se (gest. 1304). Wie es bei Hadlaub heisst, werden in Rüdigers Umkreis Lieder und Gesänge in Büchern – liederbuoch – aufgezeichnet. Und vieles spricht dafür, dass es sich dabei um Vorstufen jener Codex Manesse genannten Liederhandschrift handelt, die heute als Cod. Pal. Germ. 848 in der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbewahrt wird.2 Diese sogenannte Grosse Heidelberger Liederhandschrift (Handschrift C in der Minnesangphilologie) stellt hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Ausstattung das bedeutendste Zeugnis mittelhochdeutscher Lyriküberlieferung dar. Der Pergamentcodex hat Grossfolioformat und umfasst 426 Blätter, auf denen insgesamt 140 nach Autorennamen geordnete Textkorpora eingetragen sind. 137 dieser Korpora werden durch jeweils ganzseitige Autorenportraits eingeleitet, die aufgrund ihrer Farbenpracht und thematischen Vielfalt auch ausserhalb des engeren Kreises der Germanisten und Kunsthistoriker gut bekannt sind. Als Beispiel wäre das Bildnis des Keiser Heinrich zu nennen, das die Sammlung eröffnet und vermutlich den Staufer Heinrich VI. darstellt (Nr. 1, Bl. 6r).3 Typisch für die Bildkomposition sind die Rah-
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Johannes Hadloub: Die Gedichte des Zürcher Minnesängers. Hg. v. Max Schiendorfer. Zürich/ München 1986, S. 34. Zu Johannes Hadlaub die Einführungen in beiden Ausgaben sowie Günther Schweikle: Johannes Hadlaub. In: 2VL 3 (1981), Sp. 379-383 und Ursel Fischer: Meister Johans Hadloub. Autorbild und Werkkonzeption der Manessischen Liederhandschrift. Stuttgart 1996. Ausgaben: Codex Manesse. Die Grosse Heidelberger Liederhandschrift. FaksimileAusgabe des Codex Pal. Germ. 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Interimstexte v. Ingo F. Walther. Frankfurt a.M. 1975-1979; Die Grosse Heidelberger (›Manessische‹) Liederhandschrift. In Abbildungen hg. v. Ulrich Müller. Mit einem Geleitwort v. Wilfried Werner. Göppingen 1971 (Litterae; 1); Die Grosse Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse). In getreuem Textabdruck hg. v. Fridrich Pfaff. 2. verb. u. erg. Auflage bearb. v. Helmut Salowsky. Heidelberg 1984; Codex Manesse. Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift. Hg. u. erläutert v. Ingo F. Walther u. Mitarb. v. Gisela Siebert. Frankfurt a.M. 1988. Ein elektronisches Handschriftenfaksimile findet sich unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/cpg848. – Aus der umfangreichen Forschungsliteratur seien stellvertretend genannt: Gisela Kornrumpf: Heidelberger Liederhandschrift C. In: 2VL 3 (1981), Sp. 584-597; Walter Koschorreck u. Wilfried Werner: Codex Manesse. Die Grosse Heidelberger Liederhandschrift. Kommentar zum Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Kassel 1981; Elmar Mittler u. Wilfried Werner (Hg.): Codex Manesse. Katalog zur Ausstellung vom 12. Juni bis 4. September 1988. Universitätsbibliothek Heidelberg. O. O. o.J. [Heidelberg 1988], darin bes.: Lothar Voetz: Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik, S. 224-274, hier S. 227-232; Claudia Brinker u. Dione Flühler-Kreis (Hg.): edele frouwen – schoene man. Die Manessische Liederhandschrift in Zürich. Ausstellungskatalog. Zürich 1991; Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen/ Basel 1995 (Bibliotheca Germanica; 32), bes. S. 140-207. Vgl. dazu die Abbildung und die Ausführungen in: Codex Manesse. Die Miniaturen. Hg. u. erläutert v. Ingo F. Walther [Anm. 2], S. 2f.; ferner die Hinweise von André Schnyder im vorliegenden Band, S. 126.
Dichterprofile in der Manessischen Liederhandschrift
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mung des Portraits und die Namensnennung am oberen Blattrand. Der Kaiser ist hier in herrscherlicher Frontalhaltung, möglicherweise in Anlehnung an den Bildtypus des biblischen Königs und Psalmsängers David dargestellt.4 In der Verbindung der Autorenportraits mit den nachfolgenden Texten lässt sich ein spezifisches Verständnis von Autorschaft greifen, das die Germanistin Ursula Peters vor wenigen Jahren auf den Begriff einer »Aura persönlich-biographischer auctoritas«5 gebracht hat – einer im Medium der Handschrift konstituierten »Aura gelehrter Textproduktion«6 und Textreproduktion freilich, die mit den realen Lebensumständen der Autoren wenig bis gar nichts zu tun hat. Hinsichtlich ihrer Entstehungszeit erstrecken sich die im Codex Manesse aufgezeichneten Dichtungen über einen langen Zeitraum. Es finden sich Texte von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis hin zu solchen, die aus den Jahren der letzten Einträge um 1330 stammen. Das beobachtbare Sammelinteresse führt dazu, dass Texte von Autoren der höfischen Zeit wie etwa Heinrich von Morungen, Reinmar dem Alten oder Walther von der Vogelweide bereits eine etwa hundertjährige Rezeptionsgeschichte aufweisen, als sie in die Manessische Liederhandschrift Aufnahme finden. Diese Distanz gegenüber den ursprünglichen Entstehungszusammenhängen bedingt Veränderungen in der Textgestalt und im Textverständnis. Zugleich sind dabei mediale Aspekte von Belang: Die höfischen Dichtungen der Jahrzehnte um 1200 sind Produkte einer semioralen Kultur, die von einer in Kontakt mit Angehörigen der klerikalen Bildungsschicht stehenden Laiengesellschaft getragen wird. In ihr spielt die mündliche Vermittlung dichterischer Texte im Rahmen von Aufführungssituationen – etwa des höfischen Festes – eine wichtige Rolle. Der Codex Manesse dagegen ist ein Quellenzeugnis, das auf schriftlich geprägten Vermittlungsvorgängen basiert.7 Nicht zuletzt die Aussagen 4
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Vgl. Hugo Steger: David rex et propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, nach Bilddarstellungen des achten bis zwölften Jahrhunderts. Nürnberg 1961 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft; 6). Walter Dietrich u. Hubert Herkommer (Hg.): König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. 19. Kolloquium (2000) der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Freiburg (Schweiz)/ Stuttgart 2003. Vgl. Ursula Peters: Ordnungsfunktion – Textillustration – Autorkonstruktion. Zu den Bildern der romanischen und deutschen Liederhandschriften. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 130 (2001), S. 392-430, hier S. 399. Ebd., S. 421. Vgl. zu dieser in der jüngeren Forschung stark pointierten Polarität von ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ Paul Zumthor: La Poésie et la voix dans la civilisation médiévale. Paris 1984 (Collège de France. Essais et conférences). Dt. Übers. v. Klaus Thieme: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. München 1994 (Forschun-
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des Dichters Hadlaub legen davon Zeugnis ab, wenn es heisst, dass die Vorlagen der Handschrift auf buochen, also schriftlichen Aufzeichnungen beruhten. Die einstigen Aufführungszusammenhänge sind in diesem Vermittlungsprozess verschüttet und deuten sich allenfalls in versteckten oder indirekten Hinweisen an. Bezeichnenderweise sind im Codex Manesse auch keine Melodien überliefert, aus denen Eigenarten der Aufführungspraxis erschlossen werden könnten. Kaum besser ist es um die wenigen Parallelhandschriften des Codex Manesse aus etwa derselben Zeit bestellt, wo die Melodien ebenfalls fehlen. Auch sie gewähren mit relativ grosser zeitlicher Distanz nur einen ausschnitthaften Blick auf die lyrischen Dichtungen der Zeit um 1200. Dass aus dieser Überlieferungslage notwendig Verschiebungen und Verzerrungen im Hinblick auf die Wahrnehmung dieser Texte resultieren, muss kaum betont werden. Die »Aura der Autorschaft«, die der Codex Manesse als Zeugnis volkssprachiger Lyriküberlieferung in einem vielfältig vermittelten Tradierungsprozess entwirft, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Dazu sind vorab Angaben zu den überlieferungsgeschichtlichen Kontexten, zu Einrichtung und Geschichte der Handschrift zu machen. Danach sollen anhand einiger ausgewählter Beispiele ›Dichterprofile‹ in den Blick kommen, die in der Handschrift im Verbund von Text und Bild entworfen werden. Zuletzt ist der Frage nachzugehen, inwiefern sich die Distanz zwischen den semioralen Entstehungsbedingungen und der schriftlichen Überlieferung der Texte mit einem medientheoretischen Verständnis des ›Aura‹-Begriffs beschreiben liesse. Dass die Kategorie der Autorschaft im Codex Manesse eine so zentrale Rolle spielt, hängt mit den Einrichtungsprinzipien der Handschrift zusammen. Dabei wird das Autorprinzip mit dem Corpusprinzip kombiniert: Wie bereits erwähnt, werden zusammenhängende Liedeinheiten, sogenannte Corpora, nach Autorennamen geordnet.8 Dieses Verfahren teilt der Codex Manesse mit zwei weiteren zeitgenössischen Liederhandschriften: der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 357, MinnesangHandschrift A) und der Weingartner Liederhandschrift (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB XIII1, MinnesangHandschrift B).9 Nicht nur für den Minnesang sondern auch für die Spruchdichtung (d.h. didaktische Dichtung mit moralischen, religiösen
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gen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur; 18); Jan-Dirk Müller (Hg.): ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Stuttgart/ Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände; 17). Vgl. Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit [Anm. 2], S. 49. Vgl. ebd., S. 21-139.
Dichterprofile in der Manessischen Liederhandschrift
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und politischen Themen) gehören die drei Sammelhandschriften zu den wichtigsten Textzeugen. In sie ist »fast alles eingegangen [...], was es in Deutschland an höfischer Lyrik gab«.10 Erwähnenswert ist, dass neben dieser Art der Corpusüberlieferung auch die sogenannte Streuüberlieferung tritt. Es handelt sich dabei um eher beiläufige Aufzeichnungen auf freibleibenden Blättern und Rändern von Handschriften, die gegenüber den Sammelhandschriften einen relativ hohen Grad an Textabweichung aufweisen können, was später noch an einem Beispiel erläutert werden soll. Im Bereich der Corpushandschriften weisen die beiden Handschriften A und B gegenüber dem Codex Manesse eine bescheidenere Einrichtung auf: Die Kleine Heidelberger Liederhandschrift A11 wurde in der Gegend des Oberrheins, vielleicht im Elsass, um 1270 angefertigt, ist also etwa dreissig Jahre älter als der Codex Manesse. Sie enthält auf 45 Blättern Strophen von 34 namentlich genannten Dichtern sowie von einigen Ungenannten. An der Spitze stehen die Dichtungen Reinmars des Alten und Walthers von der Vogelweide, die beide im 13. Jahrhundert in hohem Ansehen standen. Ordnungsprinzip ist hier also offensichtlich der literarische Rang. Die Ausstattung der Handschrift ist vergleichsweise anspruchslos. Bilder fehlen. Die Strophen sind einspaltig eingetragen und werden nicht abgesetzt. Innerhalb der Zeilen verweisen farbige Initialen auf die Strophenanfänge. Am Seitenrand zeigen Paragraphenzeichen (von späterer Hand) den Wechsel eines Tons – d.h. den Beginn einer neuen metrischen Stropheneinheit – an. Mit ihrem Quartformat ist die Handschrift A nur etwa ein Drittel so gross wie der Codex Manesse. Noch etwas kleiner ist die Weingartner Liederhandschrift B,12 deren Schriftbild aber mit seinen abgesetzten und durch wechselnde Initialfarben bezeichneten Strophen von jenem in Handschrift A deutlich abweicht. Die Handschrift B stammt wie der Codex Manesse aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und dürfte im Bodenseeraum, vielleicht in Konstanz, entstanden sein. Auf 158 Blättern enthält sie in 10 So Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde. München 1986, Bd. 2, S. 764. 11 Vgl. das Faksimile: Die Kleine Heidelberger Liederhandschrift Cod. Pal. Germ. 357 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Einführung v. Walter Blank. Wiesbaden 1972. Dazu Voetz: Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik [Anm. 2], S. 232-234; Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit [Anm. 2], S. 89-120. 12 Vgl. das Faksimile: Die Weingartner Liederhandschrift. Faksimileband. Textband v. Otfrid Ehrismann u.a. Stuttgart 1969. Dazu Voetz: Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik [Anm. 2], S. 234-236; Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit [Anm. 2], S. 121-139.
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ihrem Kernbestand 25 mit Dichternamen bezeichnete Textkorpora, die wie im Codex Manesse durch Autorenportaits eingeleitet werden. Dies gilt etwa für die (auf S. 139 aufgemalte) Darstellung Walthers von der Vogelweide, dessen Dichtungen, anders als in Handschrift A, am Ende der Kernsammlung stehen. Diese Position hängt mit dem Ordnungsprinzip der Weingartner Liederhandschrift zusammen, welche die Autoren nicht nach ihrem literarischen Rang, sondern nach dem gesellschaftlichen Stand reiht. Am Beginn steht Kaiser Heinrich, danach kommen die Grafen wie Friedrich von Hausen, ihnen schliessen sich die Ministerialen wie Hartmann von Aue an, ehe die Fahrenden folgen, zu denen Walther von der Vogelweide gehört. Demselben Ordnungsverfahren folgt die Grosse Heidelberger Liederhandschrift C, allerdings mit dem Unterschied, dass hier die Anzahl der 140 Textkorpora gegenüber B um nahezu das Sechsfache angestiegen ist. Dabei deutet sich in Handschrift C neben der ständischen Reihung noch ein weiteres Prinzip an, das jedoch in gewisser Weise mit der gesellschaftlichen Ordnung zusammenhängt: Am Beginn steht hauptsächlich Minnesang, der besonders vom Adel und Hochadel gepflegt wurde; danach folgen die von Neidhart und seinen Nachahmern betriebenen Minnesang-Parodien; zuletzt findet sich vor allem Spruchdichtung. Innerhalb der einzelnen Corpora stehen sogenannte Leichs (eine besonders kunstvoll gebaute Liedgattung mit wechselnden Strophenformen: den Versikeln) voran, sofern unter dem Namen der Autoren solche Dichtungen überliefert sind. So wird beispielsweise das Œuvre Walthers von der Vogelweide im Anschluss an das Autorportrait13 mit einem Leich eröffnet (Bl. 124v/125r; vgl. Abb. 14). Das Schriftbild zeigt hier im Gegensatz zu den Handschriften A und B eine zweispaltige Einrichtung. Am Beginn des Textcorpus steht eine zweifarbige Fleuronnée-Initiale, die sich über mehrere Zeilen erstreckt. Der Schrifttypus ist stark formalisiert; es handelt sich um eine Textualis formata.14 Der Blick auf die folgende Seite zeigt das Ende des Leichs und den Beginn des Reichstons, eines aus drei gleich gebauten Strophen bestehenden Spruchs, der die Doppelwahl eines staufischen und eines welfischen Königs im Jahr 1198 zum Thema hat. Am Ende der Spalte schliesst sich ein weiteres Gedicht in einem neuen Ton an, was hier – wie auch sonst in Handschrift C – durch einen Farbwechsel der Initiale angezeigt wird. 13 Nr. 45, Bl. 124r; vgl. dazu die Abbildung und die Ausführungen in: Codex Manesse. Die Miniaturen. Hg. u. erläutert v. Ingo F. Walther [Anm. 2], S. 90-93. 14 Vgl. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. B: Ergänzungsreihe; 8), S. 38 u. S. 45.
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Hinsichtlich der Anfertigung der Manessischen Liederhandschrift lassen sich mehrere Entstehungsschichten unterscheiden. Am sogenannten Grundstock des Codex arbeiteten in den Jahren um 1300 mindestens zwei Schreiber, deren Arbeit während des ersten Drittels des 14. Jahrhunderts durch mehrere Nachtragsschreiber ergänzt wurde. Eine vergleichbare Schichtung zeigt sich bei der Bebilderung: Den Hauptanteil trägt ein Grundstockmaler, der – möglicherweise unterstützt von Gehilfen – in der Zeit um 1300 tätig war. Ergänzungen durch drei Nachtragsmaler erstrecken sich bis in die dreissiger Jahre des 14. Jahrhunderts. Diese Angaben lassen sich aus paläographischen und ikonologischen Untersuchungen gewinnen: dem Vergleich von Schrifttypen und Bildstilen mit jenen verwandter handschriftlicher Zeugnisse der Zeit. Solche Analysen ermöglichen neben der Datierung auch eine Lokalisierung des Codex Manesse: Die Schreibweisen sprechen deutlich für Zürich als Entstehungsort, die Malstile sind eng verwandt mit Bilderhandschriften aus der Gegend des Oberrheins und des Bodensees, lassen aber auch Beziehungen zu Wandmalereien des Zürcher Raums erkennen.15 Aus diesen Befunden kann also die mutmassliche Entstehung im Umkreis der Zürcher Patrizierfamilie Manesse, die sich in den Versen Hadlaubs andeutet, gestützt werden, auch wenn die Handschrift selbst dafür keine konkreten Anhaltspunkte bietet. Auffällig ist der bewegliche Herstellungsprozess des Codex Manesse, der sich noch heute als »Resultat eines komplexen, nie eigentlich abgeschlossenen Sammelvorgangs«16 darstellt. Gisela Kornrumpf konnte glaubhaft machen, dass der ursprüngliche Kern der Handschrift aus zwei Lagen mit insgesamt etwa 24 Blättern bestand, die dann sukzessive um weiteres Material ergänzt wurden.17 Der Kernbestand ist geprägt durch einen bestimmten, einheitlichen Initialstil, aber auch durch die Zurückhaltung gegenüber handschriftlichen Abkürzungen, die in den späteren Entstehungsphasen, dann ganz offensichtlich zunehmen. Interessant ist nun, dass man bei den Erweiterungen des Kernbestands bestrebt war, die ständische Ordnung der Autorencorpora aufrecht zu erhalten.
15 Vgl. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Das stilistische Umfeld der Miniaturen. In: E. Mittler, W. Werner (Hg.): Codex Manesse [Anm. 2], S. 302-349. 16 Kornrumpf: Heidelberger Liederhandschrift C [Anm. 2], Sp. 586. 17 Vgl. Gisela Kornrumpf: Die Anfänge der Manessischen Liederhandschrift. In: Volker Honemann, Nigel F. Palmer (Hg.): Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985. Tübingen 1988, S. 279-296.
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Dies aber machte die nahezu vollständige Umgestaltung der ersten beiden Lagen notwendig.18 Dabei wurden, wie etwa beim Œuvre des Markgrafen Otto von Brandenburg, nachträglich eingelegte Einzelblätter mit roten Seidenfäden an die bereits beschriebenen Blätter angenäht (Nr. 6, Bl. 13r, vgl. Abb. 15). Der Insertionsvorgang zeigt sich in diesem Fall auch am Stil des Autorportraits, das nicht zum Grundstock gehört, sondern vom ersten Nachtragsmaler stammt. Es stellt den Dichter beim Schachspiel mit einer Dame dar. Als Begleiter der kleinen Szene treten vier Spielleute auf: zwei Businenbläser, ein Trommler und ein Dudelsackbläser – ein Motiv, das im Grundstock der Handschrift nicht vorkommt. Der bewegliche Herstellungsprozess findet eine eigenwillige Entsprechung in der bewegten, ja abenteuerlichen Geschichte der Handschrift.19 Während über ihre Aufbewahrung im 14. und 15. Jahrhundert keine Nachweise existieren, ist sie im Jahr 1571 im privaten Bücherverzeichnis des Heidelberger Kurfürsten Friedrich des III. von der Pfalz belegt. Wenige Jahrzehnte später befindet sie sich als Leihgabe auf Schloss Forstegg bei Rorschach am Bodensee, dem Stammsitz des Freiherrn Johann Philipp von Hohensax, der in den Diensten des Heidelberger Kurfürsten steht. Nach dem Tod des Freiherrn ›geistert‹ der Codex durch die Schweiz und findet sich unter anderem bei dem St. Galler Juristen Bartholomäus Schobinger, der für sein unbekümmertes Interesse am Besitz mittelalterlicher Handschriften bekannt ist. Erst 1607 kann sie nunmehr von dem Kurfürsten Friedrich IV. nach Heidelberg zurückgeholt werden. Dort gerät sie wenige Jahrzehnte später in die Wirren des Dreissigjährigen Krieges. Offensichtlich hat die in Geldnot geratene Witwe des Heidelberger Kurfürsten die Handschrift während ihrer Exiljahre an Frankreich verkauft. Jedenfalls taucht sie im Jahr 1657 in der Pariser Bibliothèque du Roi auf und ist nunmehr in Besitz des Sonnenkönigs Ludwig des XIV. Über zweihundert Jahre verbleibt die Handschrift nun in Paris und überdauert dort Revolutionen und Kriege. Nur einmal, im Jahr 1746, wird sie für kurze Zeit an Johann Jakob Bodmer in Zürich ausgeliehen, der erstmals auch den Bezug zur Patrizierfamilie Manesse namhaft macht. Die von Jacob Grimm zwischen 1813 und 1815 angestellten 18 Dazu Hellmut Salowsky: Codex Manesse. Beobachtungen zur zeitlichen Abfolge der Niederschrift des Grundstocks. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 251-270. 19 Vgl. zum Folgenden auch: Wilfried Werner: Die Handschrift und ihre Geschichte. In: W. Koschorreck, W. Werner (Hg.): Codex Manesse [Anm. 2], S. 13-39, bes. S. 25-36; Ders.: Schicksale der Handschrift. In: E. Mittler, W. Werner (Hg.): Codex Manesse [Anm. 2], S. 1-21; Codex Manesse. Die Miniaturen. Hg. u. erläutert v. Ingo F. Walther [Anm. 2], S. XI-XIII.
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Bemühungen, den Codex nach Deutschland zu holen, bleiben erfolglos. Heinrich Heine erwähnt ihn in seiner Denkschrift Ludwig Börne und betont, dass er sich anlässlich seines ersten Paris-Aufenthalts eilends zu der Pariser ›Minnesänger-Handschrift‹ begeben habe: dass ich nemlich gleich bey meiner Ankunft nach der Bibliotheque-royale gegangen und mir vom Aufseher der Manuskripte den Manessischen Codex der Minnesänger hervorholen liess.20 Im Jahr 1888 gelingt es schliesslich dem Strassburger Buchhändler Karl Ignaz Trübner durch ein gewagtes Tauschgeschäft die Handschrift für Deutschland zu erwerben, wobei er die Unterstützung höchster politischer Instanzen, darunter Kaiser Wilhelms des I. und des Kanzlers von Bismarck geniesst. Seit dieser Zeit befindet sich der Codex Manesse nun in der Universitätsbibliothek Heidelberg, einem Ort, der – wie häufig in der Geschichte von Handschriften – nicht mit dem Herstellungsort identisch ist. Nach diesem Blick auf die bewegte Geschichte der Handschrift gilt es im Folgenden die Entstehungszeit jener Dichtungen zu betrachten, die in der Grossen Heidelberger Liederhandschrift überliefert sind. Dies soll zunächst am Beispiel des bereits erwähnten Reichstons Walthers von der Vogelweide geschehen, der mit seinen historischen Anspielungen relativ genaue Rückschlüsse auf die Entstehungskontexte und den vom Dichter dabei eingenommenen Parteienstandpunkt zulässt. Der Text liegt seit nunmehr zehn Jahren in einer Neuausgabe von Christoph Cormeau vor.21 Er ist dort nach Handschrift A eingerichtet, berücksichtigt u.a. im kritischen Apparat aber auch die Parallelüberlieferung in den beiden Handschriften B und C (daneben sind keine weiteren Manuskripte des Reichstons bekannt). Dabei wird deutlich, dass die Reihenfolge der drei Strophen in der Ausgabe allein Handschrift A entspricht, während die Handschriften B und C die zweite und dritte Strophe in ihrer Position vertauschen. Der Blick auf die Strophenanfänge zeigt, dass der Sprecher hier in einer anaphorisch wiederholten Ich-Pose auftritt, in der sich unterschiedliche Rollen manifestieren: Ich saz ûf eime steine – Ich hôrte ein wazzer diezen – Ich sach mit mînen ougen.22 Schon nur diese wenigen Besonderheiten lassen erkennen, wie 20 Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift und Kleinere politische Schriften. Bearb. v. Helmut Koopmann. Hamburg 1978 (Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke; 11), S. 92. 21 Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen v. Thomas Bein u. Horst Brunner. Hg. v. Christoph Cormeau. Berlin/ New York 1996, S. 11-13. 22 Der Kursivdruck der in eckigen Klammern stehenden ersten vier Verse in Strophe III (S. 13) zeigt an, dass dieser Textabschnitt in Handschrift A fehlt und nach den Hand-
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stark ein Herausgeber in den überlieferten Textbestand eingreifen muss, um einen nach seiner Einschätzung verlässlichen Text herzustellen. Der auf diese Weise konstituierte Text ist in Strophenabfolge und Wortlaut so in keiner der drei Handschriften greifbar. Im Folgenden sollen nun einige Kernaussagen der drei Strophen herausgegriffen und in Bezug zum mutmasslichen Entstehungskontext gesetzt werden. Zu Beginn der ersten Strophe präsentiert sich der Sprecher in einer Pose, die traditionell den melancholisch Nachdenkenden und damit auch den prophetischen Dichter kennzeichnet; sie kehrt als Bildtypus auch in den Autorenportraits des Codex Manesse und der Weingartner Liederhandschrift wieder:23 Ich saz ûf eime steine und dahte bein mit beine. dar ûf sazte ich den ellenbogen, ich hete in mîne hant gesmogen mîn kinne und ein mîn wange. (I, v. 1–5) ›Ich sass auf einem Stein und hatte ein Bein über das andere geschlagen. Darauf setzte ich den Ellenbogen, und ich hatte mein Kinn und eine meiner beiden Wangen in meine Hand geschmiegt.‹
In dieser Haltung stellt der Sprecher Überlegungen darüber an, wie man in der Welt drei Güter erwerben könne, ohne eines davon zu verlieren: wie man driu dinc erwurbe, der deheinez niht verdurbe. (I, v. 9f.)
Als diese Gütertrias werden Ansehen und beweglicher Besitz (êre unt varnde guot, I, v. 11) genannt, ferner Gottes Huld, welche die beiden ersten überrage (I, v. 13f.):
schriften BC übernommen ist. Ein entsprechender Vermerk findet sich im Lesartenapparat, dem ersten der beiden Apparate unterhalb des Textes in der rechten Spalte. 23 Vgl. dazu Horst Wenzel: Melancholie und Inspiration. Walther von der Vogelweide L. 8,4 ff. Zur Entwicklung des europäischen Dichterbildes. In: Hans-Dieter Mück (Hg.): Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek; 1), S. 133-153; Ders.: Autorenbilder. Zur Ausdifferenzierung von Autorenfunktionen in mittelalterlichen Miniaturen. In: Elizabeth Andersen u.a. (Hg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meissen 1995. Tübingen 1998, S. 1-28.
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[...] gotes hulde, der zweier übergulde.
Der Sprecher betont, dass es dem Menschen nicht möglich sei, diese drei Werte in Einklang zu bringen. Es könne nicht sein, dass sie zesame in ein herze komen (I, v. 19).
Als Grund dafür gibt der Sprecher unsichere äussere Umstände an, die er am Ende der ersten Strophe genauer beschreibt: untriuwe ist in der sâze, gewalt vert ûf der strâze, fride und reht sint sêre wunt. diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt. ›Verrat lauert im Hinterhalt, Gewalt herrscht auf der Strasse, Friede und Recht sind schmerzlich verwundet, die drei – nämlich: Ansehen, Besitz und Gottes Huld – haben so lange keine Sicherheit, solange die zwei – nämlich: Friede und Recht – nicht gesunden.‹
Mit fride und reht werden Formeln des mittelalterlichen Krönungseids aufgegriffen: pax et iustitia, so der Sprecher, seien bedroht. Die Formulierung deutet darauf hin, dass sich die Verse auf politische Gegebenheiten beziehen und sich an die höchste Adresse richten.24 Man geht davon aus, dass der Reichston im Kontext der Doppelwahl des Staufers Philipp von Schwaben und des Welfen Otto IV. entstanden ist. Nach dem Tod des (wohl seinerseits im Codex Manesse abgebildeten) Stauferkaisers Heinrich des VI. war ein Machtvakuum entstanden, da Heinrich einen unmündigen Sohn Friedrich (den späteren Friedrich II.) hinterlassen hatte. Die staufische Partei setzte deshalb 1198 Heinrichs Bruder Philipp als Reichsregenten ein, während die welfische Partei Otto als Gegenkandidaten aufstellte. Beide Kandidaten wurden gekrönt, aber an beiden Krönungen haftete ein Makel: Philipp von Schwaben war im Besitz der echten Throninsignien, wurde aber am falschen Ort (Mainz) und durch den falschen Erzbischof (den Burgunder Aimo von Tarenteise) gekrönt. Otto fehlten zwar die Throninsi24 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe. Bd. 1: Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. komm. v. Günther Schweikle. Stuttgart 1994 (Universal-Bibliothek; 819), S. 335-339 (mit Verweis auf die einschlägige Forschungsliteratur).
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gnien, aber er konnte geltend machen, dass seine Krönung am rechten Ort (Aachen) durch den rechten Erzbischof (Adolf von Köln) erfolgte. In dieser Situation spielten die Reichsfürsten durch wechselnde Parteinahmen eine unheilvolle Rolle; es kam zu Unruhen im Deutschen Reich. Die Situation verkomplizierte sich noch dadurch, dass ebenfalls im Jahr 1198 der Italiener Lothar von Segni im Alter von nur 37 Jahren als Innozenz III. zum Papst gewählt wurde. Er verfolgte eine Politik universaler päpstlicher Gewalt und wurde damit zum grossen Gegenspieler der deutschen Könige. Nach einigen taktischen Schachzügen erkannte Innozenz III. schliesslich im Jahr 1201 Otto IV. als König an und setzte dessen Gegenspieler Philipp von Schwaben in den Bann. Auf die Situation der staufisch-welfischen Doppelwahl dürfte sich die Klage in der ersten Strophe des Reichstons beziehen. Anhaltspunkte dafür liefern die folgenden beiden Strophen: In Strophe II tritt der Sprecher in der Rolle eines Naturkundigen auf, der die festen Ordnungen des Tierreichs mit dem desolaten Zustand des Reichs kontrastiert. Am Ende ergeht an den Staufer Philipp die Aufforderung, die verlorene Ordnung durch seine Krönung wiederherzustellen: die circel sint ze hêre, die armen künege dringent dich: Philippe, setze den weisen ûf, und heiz si treten hinder sich. (II, v. 22-24)
Der Sprecher hält Philipp von Schwaben vor, dass ihn die armen künege (die kleinen Vasallenkönige) bedrängten. Die Anmassung dieser Vasallenkönige konkretisiert sich in deren Kronreifen (circel), die zu hoch hinauswachsen – ze hêre werden. Philipp, so der Sprecher, solle den weisen aufsetzen. Damit ist metonymisch die Reichskrone gemeint, die nach mittelalterlicher Auffassung den weisen, einen besonders seltenen Edelstein trug.25 In der dritten Strophe nimmt der Sprecher die Rolle eines Visionärs an, der die Vorgänge im fernen Rom beobachtet. Dabei wird deutlich, dass es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Klerikern und Lai25 Vgl. dazu Hubert Herkommer: Der Waise, aller fürsten leitesterne. Ein Beispiel mittelalterlicher Bedeutungslehre aus dem Bereich der Staatssymbolik, zugleich ein Beitrag zur Nachwirkung des Orients in der Literatur des Mittelalters. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 44-59. Nachdruck in: Rüdiger Schnell (Hg.): Die Reichsidee in der deutschen Dichtung des Mittelalters. Darmstadt 1983 (Wege der Forschung; 589), S. 364-383.
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en kam, bei denen die Kleriker zu einem probaten Mittel gegriffen hätten: si bienen, die si wolten, und niht, den si solten. (III, v. 17f.) ›Sie bannten, wen sie wollten, aber nicht jenen, den sie hätten bannen sollen.‹
Wer den Bann ausgesprochen hat, das lässt der Visionär am Ende der Strophe einen fern in einer Klause sitzenden Eremiten beklagen: ›owê, der bâbest ist ze junc, hilf, hêrre dîner cristenheit!‹ (III, v. 24)
Der Vorwurf zielt auf Innozenz III., der den König Philipp im Jahr 1201 exkommuniziert hat. Er ist hier in ein mehrfach gestaffeltes Diskursgefüge verpackt, bei dem die Rede des Klausners durch einen Visionär wiedergegeben wird, der seinerseits eine Rolle darstellt, die der Sprecher in dieser Strophe eingenommen hat. Es ist denkbar, dass diese Verschachtelung im Rahmen einer Vortragssituation durch einen Sänger stimmlich hörbar und durch entsprechende Mimik und Gestik vielleicht auch sichtbar gemacht wurde. Informationen dieser Art gehen freilich im Medium der Schrift vollkommen verloren. Allenfalls das Autorportrait, das den Dichter Walther von der Vogelweide in der Denkerhaltung zeigt, ist ein schwacher Abglanz jener Möglichkeiten, die in einer Aufführungssituation durch die reale Präsenz des Sängers gegeben sind. Die Vielfalt der Rollen, die in den Strophen des Reichstons entworfen wird, reduziert sich in dieser Abbildung auf die Pose des melancholisch Nachdenkenden. Insgesamt aber lassen die Strophen mit der Anrede an Philipp und der Klage über den zu jungen Papst relativ genaue Aufschlüsse über den Entstehungskontext der Jahre um 1200 zu. Möglicherweise hat Walther die Ereignis-neutrale Strophe I mit ihren Reflexionen über die verlorene Gütertrias jeweils nur zusammen mit einer der beiden folgenden Strophen vorgetragen: im Jahr der Doppelwahl 1198 mit der an Philipp gerichteten Strophe II und im Jahr des Bannspruchs 1201 mit der das jugendliche Alter des Papstes beklagenden Strophe III. Dafür könnte die unterschiedliche Strophenordnung in den Liederhandschriften sprechen: In Handschrift A begegnet die Folge I-II-III, in den Handschriften BC die Folge I-III-II. Die jeweils zuletzt eingetragene Strophe wäre dann nicht Bestandteil der Aufführungen von 1198 bzw.
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1201 gewesen, sondern hätte erst im Zuge der Sammeltätigkeit Eingang in den Strophenverband gefunden.26 Das Beispiel zeigt, dass es nicht ganz leicht ist, von der Überlieferungsgestalt der Liederhandschriften auf die Entstehungs- und Aufführungszusammenhänge der darin überlieferten Dichtungen rückzuschliessen. Es ist hier nur ein tastendes Vorgehen möglich, das mit Spekulationen und Hypothesen behaftet bleibt. Dabei bietet die politische Spruchdichtung mit der Nennung von Herrschernamen und der Anspielung auf historische Ereignisse immerhin noch ungefähre Anhaltspunkte. Sehr viel schwieriger wird es beim Minnesang mit seinen unbestimmten Aussagen und dem Sprechen zu bzw. über eine ungenannte Dame. Auf ein einschlägiges Beispiel wird am Ende des Beitrags noch einzugehen sein. Vorab bleibt festzuhalten, dass Liederhandschriften wie der Codex Manesse die überlieferten Texte in einem schriftlichen Vermittlungsprozess präsentieren, der in merkbarer Distanz zu den Entstehungs- und Aufführungszusammenhängen steht. Da aber in vielen Fällen ältere Textaufzeichnungen fehlen, bleibt unsere Wahrnehmung der Lyrik der höfischen Zeit auf die Überlieferungsgestalt der Liederhandschriften angewiesen. Es ist nun interessant zu beobachten, wie die für die Einrichtung des Codex Manesse verantwortlichen Personen auf ihre Weise versucht haben, den Abstand zwischen den aufgezeichneten Texten und den Dichtern auszugleichen. Die Autorenportraits geben ein sprechendes Zeugnis für dieses Bestreben ab. Am Beispiel Walthers von der Vogelweide zeigt sich, wie hier aus einem Verschnitt von im Text enthaltenen Informationen und den topisch-ikonographischen Traditionen der Denkerhaltung ein pseudo-authentisches Autorenbild entsteht. Weitere Bildelemente tragen zur Herstellung dieser Pseudo-Authentizität bei. So zeichnen Schwert, Wappen und Helmzier Walther als einen Dichter von Stand aus. Das fiktive Bildmotiv des Vogelkäfigs ist dabei mangels eines verfügbaren Wappens des Dichters nach Walthers Beinamen gewählt; es handelt sich um ein sogenanntes »redendes Wappen«27. In den Portraits hochadeliger Dichter, etwa jenem des Markgrafen von Bran-
26 So lautet die These von Ulrich Müller: Zur Überlieferung und zum historischen Kontext der Strophen Walthers von der Vogelweide im Reichston. In: William C. McDonald (Hg.): Spectrum Medii Aevi. Essays in Early German Literature in Honour of George Fenwick Jones. Göppingen 1983 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 362), S. 397-408. 27 Vgl. im Zusammenhang mit dem Codex Manesse Harald Drös: Wappen und Stand. In: E. Mittler, W. Werner (Hg.): Codex Manesse [Anm. 2], S. 127-152, bes. S. 133.
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denburg, konnten die Maler dagegen auf vorhandene Familienwappen zurückgreifen. Auffällig ist ferner die unbeschriebene Schriftrolle, die Walther als einen Urheber von Texten ausweist. Der Sänger Walther tritt hier folglich als mit einem typischen Schriftlichkeitssignal versehener Autor in Erscheinung. Der Versuch einer Herstellung von Nähe, der sich in dem Autorportrait bekundet, erweist sich damit als rückgebunden an Vermittlungsprozesse der Schriftlichkeit, denen ihrerseits die Herstellung des Codex entstammt.28 Denn davon, dass Walther seine Sprüche und Lieder schriftlich aufgezeichnet hätte, ist weder in den Strophen des Reichstons noch in Walthers sonstigen Dichtungen die Rede. Die Pseudo-Authentizität des Autorportraits wird in der Beigabe der Schriftrolle nur um so augenfälliger. Das Bildmotiv der Denkerhaltung lässt sich auch in anderen Autorenportraits29 greifen, so etwa in jenem des Grafen Rudolf von Neuenburg (Nr. 10, Bl. 20r) oder jenem Heinrichs von Veldeke (Nr. 16, Bl. 30r). Auch die Beigaben von Wappen, Helmzier und Schriftrolle finden sich in diesen Beispielen. Leichte Abwandlungen begegnen in Portraits wie jenen des Grafen Otto von Botenlauben (Nr. 14, Bl. 27r) und des Markgrafen von Hohenburg (Nr. 15, Bl. 29r), denen sich jeweils eine Botenfigur beigesellt. Das hier konstant wiederkehrende Bildmotiv der Schriftrolle dürfte auf Traditionen des Autorenbilds in lateinischen Handschriften zurückgehen, in denen der Autor häufig in seiner Funktion als Schreiber dargestellt wird. Als Beispiel sei eine Darstellung des Theologen und Dichters Alanus ab Insulis in einer niederbayerischen Handschrift aus der Mitte des 14. Jahrhunderts angeführt (St. Peter in Kastl; Schloss Pommersfelden, Schönbornsche Bibliothek, Ms. 215, Bl. 162r, Abb. 16).30 Die Miniatur zeigt Alanus, wie er am Schreibpult seine
28 Vgl. dazu Michael Curschmann: Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse. In: Hagen Keller u.a. (Hg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (Akten des Internationalen Kolloquiums, 17.-19. Mai 1989). München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften; 65), S. 211-229, bes. S. 222-226. 29 Vgl. zu den folgenden Angaben grundsätzlich die Abbildungen und Hinweise in: Codex Manesse. Die Miniaturen. Hg. u. erläutert v. Ingo F. Walther [Anm. 2], deren Bezifferung beigegeben wird. Verwiesen sei ferner die Ausführungen von Schnyder im vorliegenden Band, S. 126-131. 30 Bilderzyklus zum Hexameterepos Anticlaudianus des Alanus ab Insulis (verfasst um 1182/83). Vgl. dazu zuletzt Michael Stolz: Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter. 2 Bde. Tübingen/ Basel 2004 (Bibliotheca Germanica; 47), Bd. 1, S. 225-235, hier bes. S. 230. – Weitere Beispiele des Bildmotivs in den Beiträ-
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Feder mit einem Messer spitzt. Im Pult stecken sogenannte Tintenhörnchen, in denen Tinten in verschiedenen Farben aufbewahrt werden. Eine Geisttaube flüstert dem Dichter die rechten Worte ein. Die Autorenportraits des Codex Manesse weisen daneben aber auch Sujets auf, die sich völlig vom Typus des Schreiberbilds gelöst haben. Es finden sich regelrechte Genrebilder, welche die Vielfalt höfischer Fest- und Geselligkeitskultur einfangen. Die Portraits zeigen die Dichter als Ritter und Reiter, zeigen sie bei der galanten Unterhaltung und beim Tanz, bei Jagd und Turnier, beim Brettspiel und Konzert. Daneben begegnen Szenen der Belehrung, der Marienverehrung, der Schiffsreise, aber auch Bildmotive, die Viehraub, Mord oder Krieg thematisieren. Dazu einige Beispiele: So wird Hartmann von Aue als ritterlicher dienstman dargestellt (Nr. 60, Bl. 184v). Der von Kürenberg erscheint im Gespräch mit einer vornehmen Dame, dies möglicherweise in Anlehnung an den sogenannten »Wechsel«31 von Männer- und Frauenstrophen, der für die Dichtungen des Kürnbergers charakteristisch ist (Nr. 26, Bl. 63r). Markgraf Heinrich von Meissen begegnet auf der Jagd (Nr. 7, Bl. 14v), der Herzog von Breslau als Sieger im Turnier (wohl Heinrich IV. von Schlesien-Breslau; Nr. 5, Bl. 11v). Eine Lehrszene zeigt den Schulmeister von Esslingen (Nr. 96, Bl. 292v), vor einem Marienaltar kniet der Dominikaner Eberhard von Sax (Nr. 21, Bl. 48v), im unhöfischen Beruf eines Schmieds wird der Dichter Regenbogen dargestellt (Nr. 123, Bl. 381r). Andere Autoren begegnen wie Friedrich von Hausen bei der Überfahrt ins Heilige Land (Nr. 41, Bl. 116v) oder wie Jakob von Warte beim Bade (Nr. 20, Bl. 46v). Der historisch bezeugte Mord an Reinmar von Brennenberg (Nr. 61, Bl. 188r) ist Thema eines weiteren Portraits. Nicht selten wird auch die musikalische Aufführung dargestellt, so etwa in den Portraits von Reinmar dem Viedler (Nr. 104, Bl. 312r), Heinrich Frauenlob (Nr. 129, Bl. 399r) oder dem Kanzler (Nr. 137, Bl. 423v). Zumeist werden die Protagonisten dabei mit Wappen und Helmzier gezeigt; es lässt sich der Versuch erkennen, die Autoren gemäss ihren Namen oder aufgrund der Aussagen in ihren Texten in einem scheinbar persönlich-biographischen Profil zu vergegenwärtigen. An diesem Vorgehen kann der hohe Konstruktionsgrad der Autorenportraits ermessen werden. Sie leisten eine »Bürgschaft gelebter Realität«, welche die romanistische Forschung an vergleichbaren Konstruktionsmassnahmen in altfranzösischen Trobador-Handschriften aufgezeigt hat: an gen von Therese Bruggisser-Lanker (Abb. 2-4) und Hans E. Braun (Abb. 27) sowie bei Wenzel: Autorenbilder [Anm. 23]. 31 Vgl. Günther Schweikle: Minnesang. Stuttgart 1989 (Sammlung Metzler; 244), S. 132.
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den Geleitstrophen, Vidas und Razos, die dort den Gedichten der Trobadors beigegeben sind.32 Wie im Codex Manesse ikonographische Traditionen33 mit jenem Bild, das sich die Hersteller der Handschrift von den Autoren machten, zusammenwirken, zeigt sich besonders deutlich am Portrait des Dichters Marner (Nr. 116, Bl. 349r, Abb. 17), eines Fahrenden, dessen Dichtungen aus den Jahrzehnten zwischen 1230 und 1267 stammen.34 Man sieht einen bärtigen, nicht mehr ganz jungen Mann mit Wanderhut und schlichtem Mantel, der auf einer Bank sitzt und aus einem bauchigen Krug trinkt. Vor dem Dichter lodert ein offenes Feuer, über dem ein jugendlicher Schenke eine Kanne wärmt. Die Darstellung folgt hier der Bildformel des Monats Januar, wie sie in zeitgenössischen Kalender-Illustrationen begegnet. Als Beispiel lässt sich der in Thüringen oder Sachsen angefertigte Fenitzer Psalter aus der Zeit um 1270 anführen (Nürnberg, Landeskirchliches Archiv der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, Fenitzer Nr. 415, vgl. Abb. 18).35 Die Kalenderseite ist zweispaltig angelegt, links sind die Gedenktage des Januar eingetragen, rechts ist der heilige Petrus zu sehen, der erste unter den zwölf Aposteln, die sich im Kalender über die Monate des Jahres verteilen. Oberhalb beider Spalten schliessen sich 32 Vgl. Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Christoph Cormeau (Hg.): Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Gedenkschrift Hugo Kuhn. München 1979, S. 120-159, der in diesem Zusammenhang von dem »Spiel mit der Möglichkeit einer Identität von besungener und realer Erfahrung«, dem »Anspruch der Fiktion, gelebte Realität zu werden« spricht (S. 130). Zur Repräsentation dieser ›Realität‹ im Medium des Bildes Peters: Ordnungsfunktion [Anm. 5], bes. S. 400-429 (mit umfangreichen weiterführenden Literaturangaben). 33 Vgl. dazu grundsätzlich Ewald M. Vetter: Die Bilder. In: W. Koschorreck, W. Werner (Hg.): Codex Manesse [Anm. 2], S. 41-100, bes. S. 62-80; Ders.: Bildmotive – Vorbilder und Parallelen. In: E. Mittler, W. Werner (Hg.): Codex Manesse [Anm. 2], S. 275301. 34 Vgl. zum Portrait Gustav Ehrismann: Rezension zu: Fritz Traugott Schulz: Typisches der grossen Heidelberger liederhandschrift und verwandter handschriften in wort und bild. Eine germanistisch-antiquarische untersuchung. Göttinger dissertation. 1899. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 35 (1903), S. 114-120, hier S. 118; Walter Koschorreck: Die Bildmotive. In: W. Koschorreck, W. Werner (Hg.): Codex Manesse [Anm. 2], S. 101-127, hier S. 116; Codex Manesse. Die Miniaturen. Hg. u. erläutert v. Ingo F. Walther [Anm. 2], S. 236. Zum Marner Burghart Wachinger: Anmerkungen zum Marner. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 114 (1985), S. 70-87; Ders.: Der Marner. In: 2VL 6 (1987), Sp. 70-79; Jens Haustein: Marner-Studien. Tübingen 1995 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters; 109). Ausgabe: Der Marner. Hg. v. Philipp Strauch. Nachdruck der Ausgabe Strassburg 1876 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker; 14). Mit einem Nachwort, einem Register u. einem Literaturverzeichnis v. Helmut Brackert. Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters). 35 Vgl. Vetter: Bildmotive [Anm. 33], S. 288, und die Abbildung ebd., S. 610.
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Dreiviertelkreise an, von denen einer das zugehörige Tierkreiszeichen, der andere das entsprechende Monatsbild zeigt. Den Januar repräsentieren der Wassermann, der ein Gefäss ausgiesst, und ein am Feuer sitzender Alter, der aus einer Schale trinkt und die wärmenden Flammen schürt. Deutlich sind die Parallelen zum Marner-Portrait des Codex Manesse erkennbar. Möglicherweise wurde die Motivwahl durch den Namen des Dichters angeregt. Mhd. marnaere bedeutet ›Seefahrer‹ oder ›Seemann‹, was sich immerhin mit dem Sternzeichen Wassermann des Kalenderbilds vermitteln liesse. Urkundlich kann der Name ›Marner‹ nicht nachgewiesen werden. Möglicherweise ist die Bezeichnung metaphorisch zu verstehen: Der Titel ›Marner‹ mag auf den ›Seefahrer‹ oder – vertreten durch das Werkzeug des Weber-Schiffchens – auf den ›Weber‹ zielen. Schiffahrt und Webkunst sind traditionelle Metaphern für dichterische Tätigkeit, würden sich folglich gut als Bildspender für einen Dichternamen eignen. Doch auch diese Deutung ist unsicher. Das Wenige, was man über den Marner weiss, muss aus seinen Werken und jenen einiger Dichterkollegen erschlossen werden.36 Dort deutet sich an, dass er ein fahrender Berufsdichter ohne feste Position war, dass er zeitlebens von der Gönnerschaft adeliger Herren und von den Launen eines unberechenbaren Publikums abhing. Diese aus den Texten ableitbaren Hinweise spiegeln sich ihrerseits in dem Autorportrait der Manesse-Handschrift: Ein in die Jahre gekommener Mann, der sich dankbar am Feuer wärmt, passt gut zu den Unsicherheiten jener Lebensform, von denen die Gedichte des Marner Zeugnis ablegen. In der nach dem Januarbild gestalteten Pose steht das Portrait des Marner für die Urheberschaft der im Codex Manesse unter diesem Namen versammelten Texte ein. Wie sich auf diese Weise in der Heidelberger Liederhandschrift Autorschaft konstituiert, lässt sich im übrigen nicht nur an der das Marner-Corpus eröffnenden Abbildung, sondern auch an den Schlusseinträgen dieses Corpus ablesen. Das Marnersche Œuvre in Handschrift C gerät auf diese Weise von seinen Rändern her in den Blick. Auf Blatt 354v (vgl. Abb. 19) lässt sich deutlich erkennen, dass die Sammlung der Marnerschen Dichtungen nachträglich ergänzt wurde. Im unteren Drittel der rechten Textspalte findet sich ein Notat, das, anders als bei den davor stehenden Strophen, nicht mehr rubriziert verziert wurde. Dies lässt sich aus dem Fehlen der Initiale, dem Buchstaben F, ersehen. Vollständig müsste die erste Zeile des Nachtrags lauten: Fundamentum arcium ponit grammatica – ›Das Fundament der Künste 36 Vgl. Haustein: Marner-Studien [Anm. 34], S. 14-47.
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legt die Grammatik‹. Es handelt sich um das Incipit einer lateinischen Strophe über die freien Künste und Wissenschaften – der einzigen lateinischen Strophe, die im Codex Manesse aufgezeichnet ist. Im Schriftbild sind die Unterschiede zu den benachbarten Einträgen gut erkennbar.37 Die Buchstaben sind kleiner und anders gebaut als in den vorausgehenden Strophen, wie sich etwa an den unterschiedlichen Formen der Wörter zwíualt gv˚ t (Schluss des deutschsprachigen Eintrags) und grammatica (Schlusswort des ersten lateinischen Verses) zeigen lässt: Im deutschsprachigen Text ist der Buchstabe a gerundet, im lateinischen Nachtrag ist er eher kastenförmig. Beim t des deutschen Textes fallen die Zierstriche weniger lang aus als im Schriftbild des Nachtrags (vgl. auch auslautend in ponit). Der Unterbogen des g in gv˚ t ist geschlossen, jener in grammatica dagegen geöffnet. Hieran wird deutlich, dass ein wohl um 1330/40 tätiger Nachtragsschreiber den frei gebliebenen Platz für ein zusätzliches Notat genutzt hat.38 Die lateinische Strophe über die Wissenschaften ist, bei geringfügigen Abweichungen des Reimschemas, in derselben Strophenform wie die unmittelbar vorausgehenden deutschsprachigen Gedichte abgefasst.39 Der Nachtrag zeigt, wie hier ein im Schriftbild und in der Sprache von der Umgebung abweichender Text aufgrund metrischer Übereinstimmungen in das Marner-Corpus Eingang gefunden hat. Ob die Strophe dem Marner tatsächlich zuzusprechen ist, blieb bis in die jüngste Forschungsgeschichte strittig. Während der Mittellateiner Udo Kühne die Strophe dem Marner nach wie vor zuschreiben will, machte sie ihm der Germanist Jens Haustein streitig.40 Es geht bei dieser Auseinandersetzung um mehr als um die eitle Beanspruchung eines Dichters für das ein oder andere Philologenfach. Der Eintrag am Ende des Marner-Corpus im Codex Manesse betrifft 37 Vgl. den Abdruck in: Der Marner. Hg. v. Philipp Strauch [Anm. 34], S. 129 (XV,19). 38 Vgl. zu diesem in der Forschung Ks genannten Nachtragsschreiber auch Werner: Die Handschrift [Anm. 19], S. 19; Haustein: Marner-Studien [Anm. 34], S. 117f.; Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit [Anm. 2], S. 159. 39 Vgl. auch Haustein: Marner-Studien [Anm. 34], S. 118, der die auf den zweiten Stollen beschränkten Unterschiede mit der Charakterisierung »eklatante Abweichung« doch überschätzt. 40 Vgl. Haustein: Marner-Studien [Anm. 34], S. 121-123 (Datierung der Strophe ins 14. Jahrhundert) sowie die sich daran anschliessende Kontroverse: Udo Kühne: Überlegungen zum Marner. Zweisprachiges Œuvre, ›Lateinkenntnis‹, ›Modernität‹. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 125 (1996), S. 275-296; Jens Haustein: Überlieferung und Autorschaft beim lateinischen Marner. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 126 (1997), S. 193-199. Kühnes Argument, dass die in der lateinischen Strophe beschriebene Artes-Reihe dem Wissenschaftssystem des 13. Jahrhunderts entspricht und der lateinisch gebildete Marner damit durchaus als Autor in Frage kommt, scheint mir prinzipiell überzeugend.
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vielmehr den Begriff der Autorschaft im Mittelalter. Er berührt damit grundlegende mediävistische Diskussionen, die in den letzten Jahren, angeregt durch die von Michel Foucault aufgeworfene Frage ›Was ist ein Autor?‹, geführt wurden.41 Foucault hatte damit bekanntlich einen von der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts dominierten Autorbegriff kritisiert. Er versuchte, den Autorbegriff von biographistischen Konzeptionen zu entkoppeln und dabei dem Autornamen allenfalls eine »klassifikatorische Funktion« für die Bündelung bestimmter Texte zuzuschreiben.42 Mit Foucault könnte man diese Bündelung von Texten auch in den Autorcorpora des Codex Manesse aufspüren – ohne Gewähr, dass sich solche Textgruppen mit den Schöpfungen eines historischen Autorindividuums decken müssen. In der Tat überliefert die Handschrift C einige Strophen unter zwei verschiedenen Namen, so etwa im Fall Reinmars des Alten und Heinrichs von Rugge.43 Mit Foucault könnte man die ›Abwesenheit‹ eines biographischen Autors aber auch dort erkennen, wo eine Autorfigur mittels komplizierter Operationen konstruiert wird. Die Autorenportraits der Grossen Heidelberger Liederhandschrift zeigen die Dichter ja in einem komplexen Verschnitt von Spuren, die in deren Werkäusserungen und Namen sowie in heterogenen Bildtraditionen angelegt sind. Die Autor-Corpora 41 Vgl. stellvertretend: Walter Haug u. Burghart Wachinger (Hg.): Autorentypen. Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea; 6), darin bes. den Aufsatz von Burghart Wachinger: Autorschaft und Überlieferung (S. 1-28); Andersen u.a. (Hg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter [Anm. 23]; Rüdiger Schnell: ›Autor‹ und ›Werk‹ im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven. In: Joachim Heinzle u.a. (Hg.): Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Berlin 1998 (WolframStudien; 15), S. 12-73; Karl Stackmann: Autor – Überlieferung – Editor. In: Eckart Conrad Lutz (Hg.): Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997. Freiburg (Schweiz) 1998 (Scrinium Friburgense; 11), S. 11-32. 42 Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen v. Karin von Hofer u. Anneliese Botond. Frankfurt a.M. 1988 (Fischer Wissenschaft), S. 7-31, hier S. 17. Französisches Original: Qu’est-ce qu’un auteur? In: Bulletin de la Société française de Philosophie 63 (1969), S. 73-104; erw. Nachdruck in: Ders.: Dits et Écrits 1954-1988. 2 Bde. Paris 2001, Bd. 1, S. 817-849, hier S. 826 (»fonction classificatoire«). Vgl. jetzt auch die deutsche Neuübersetzung: Michel Foucault: Was ist ein Autor. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Übers. v. Michael Bischoff u.a. Auswahl u. Nachwort v. Martin Stingelin. Frankfurt a.M. 2003 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1675), S. 234-270, hier S. 244: »ein Autorname [...] besitzt in Bezug auf andere Diskurse eine bestimmte Rolle: er garantiert ihre Einteilung; mit einem solchen Namen kann man eine gewisse Zahl von Texten zusammenfassen«. 43 Vgl. dazu zuletzt Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen/ Basel 1999 (Bibliotheca Germanica; 40), S. 62-64 u. S. 339-342.
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selbst erweisen sich, wie das Beispiel der lateinischen Marner-Strophe zeigt, als Textsammlungen mit offenen Grenzen. Ein solches Autorverständnis aber hat Konsequenzen für einen dynamisierten Textbegriff, zu dem es in der Überlieferung des Marner einige aussagekräftige Beispiele gibt. Eines davon soll im Folgenden herausgegriffen werden: In der unteren Hälfte der rechten Textspalte von Bl. 349v beginnt, eingeleitet durch eine rotfarbige Initiale, ein dreistrophiges Tagelied. 44 Die Strophe enthält typische Konstituenten der Gattung Tagelied, die traditionell den Moment der Trennung eines unverheirateten Paars am Morgen nach einer gemeinsam verbrachten Liebesnacht beschreibt.45 Häufig kommt es dabei einer Wächterfigur zu, das Paar zu wecken und vor der drohenden Entdeckung durch Aussenstehende zu warnen.46 Typisch ist auch die nach romanischem Vorbild gebaute Kanzonenform mit doppelstolligem Aufgesang und selbständig gebautem Abgesang – jene Strophenform, die in den meisten der mittelhochdeutschen Liebeslieder begegnet. Die Besonderheit im Tagelied des Marner besteht darin, dass der Zeitpunkt des erzählten Geschehens hier auf den Nachmittag oder Abend vor der Liebesnacht verlegt wird. Dies in einer Rede der Dame, die sich an den Wächter wendet und ihm Instruktionen erteilt: Guot wahter wîs, dû merke wol die stunt, sô die wolken verwent sich Und werdent grîs: die zît tuo mir kunt (Str. 1, v. 1-5)
Der als weise (wîs) apostrophierte Wächter wird ersucht, auf den Zeitpunkt (die stunt, v. 2) am Morgen zu achten, zu dem sich die Wolken verfärben und grau werden, damit er diesen Moment der Dame kundtue. Gattungsmotive des Tagelieds wie das Morgengrauen werden hier also in die den Weckzeitpunkt antizipierende Rede der Dame verlagert. Nach diesem Prinzip wird der Wächter sodann zur Warnung vor der 44 Vgl. den Abdruck in: Der Marner. Hg. v. Philipp Strauch [Anm. 34], S. 85f. (III,1-3). 45 Vgl. zur Gattung: Arthur T. Hatto: Eos. An Enquiry into the Theme of Lovers’ Meetings and Partings at Dawn in Poetry. London u.a. 1965; Alois Wolf: Variation und Integration. Beobachtungen zu hochmittelalterlichen Tageliedern. Darmstadt 1979 (Impulse der Forschung; 29); Christoph Cormeau: Zur Stellung des Tagelieds im Minnesang. In: Johannes Janota u.a. (Hg.): Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1992, S. 695-708. 46 Vgl. dazu zuletzt Christian Kiening: Poetik des Dritten. In: Ders.: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a.M. 2003, S. 157-175.
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argen huote (›vor den böswilligen Aufpassern‹) angehalten (v. 7f.). Die Dame erwartet von ihm, dass er die Signale des anbrechenden Morgens nicht verpasse (Vers 9f.): kius den morgensterne, sanc der kleinen vogellîn. (Str. 1, v. 9f.) ›Achte auf den Morgenstern und den Gesang der Vögelein.‹
Von sich selbst sagt sie (v. 11f.): ich wære gerne langer hie; des mac niht sîn. (Str. 1, v. 11f.) ›Ich wäre gerne länger hier, doch kann dies nicht sein.‹
Das Treffen soll hier offensichtlich nicht, wie sonst im Tagelied üblich, in der Kemenate der Dame stattfinden, sondern an einem anderen Ort – so zumindest im Wortlaut des Codex Manesse. Die Verschiebung des Orts korrespondiert hier mit dem gegenüber den Gattungskonventionen verschobenen Zeitpunkt, der Antizipation des Tageliedgeschehens in der Rede der Dame. Diese Problematisierung der Zeit, für die es zahlreiche Belege innerhalb des Marnerschen Œuvres gibt, setzt sich im übrigen auch in der dritten Strophe des Tagelieds fort – hier ist es nunmehr die personifizierte Zeit selbst, die Alarm schlägt und der offenbar bis zu einem gewissen Grad die Schuld für die Trennung der Liebenden zugewiesen wird: diu zît meldet melde. kumt, diu selten ie gelac, an minne gelde hât Unminne noch ir bejac. (Str. 3, v. 9–12) ›Die Zeit meldet die melde (die der Minne feindliche Kundschafterei); kommt diejenige, die selten ruhte (die Zeit oder die melde), so hat Unminne (das, was der Minne feind ist) – am Geben und Nehmen der Minne doch noch ihre Beute.‹47
47 In Wortlaut und Interpunktion der Strophe folge ich Wachinger: Anmerkungen zum Marner [Anm. 34], S. 83, und Haustein: Marner-Studien [Anm. 34], S. 128f. Vers 10 scheint mir gleichermassen auf zît wie auf melde beziehbar.
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Anstelle einer ausführlichen Betrachtung der zweiten48 und dritten Strophe soll nunmehr gezeigt werden, wie die Eingangstrophe des Tagelieds in einen veränderten Überlieferungskontext gerät. Dies ist in Codex 260 der Berner Burgerbibliothek der Fall, der in der MinnesangPhilologie die Sigle p trägt. Die wohl 1352 in Strassburg angefertigte Handschrift enthält vorwiegend chronikalische, moralphilosophische und naturkundliche Texte in lateinischer Sprache.49 Auf einigen frei gebliebenen Blättern sind mittelhochdeutsche Liedstrophen nachgetragen. Der Eintrag der deutschen Strophen beginnt in der rechten Spalte von Bl. 234r, die mit her morung überschrieben ist.50 Dieser Name, der auf den Minnesänger Heinrich von Morungen verweist, wird im zeitgenössischen Inhaltsverzeichnis der Handschrift allein auf die erste Strophe bezogen (Bl. 14v).51 Es schliesst sich eine namenlose Strophe52 an, danach folgen, ebenfalls anonym, der Eingang von Marners Tagelied und eine Strophe, die im Codex Manesse dem Dichter Ulrich von Winterstetten zugeschrieben wird.53 Mit einer Überschrift versehen, fügt sich schliesslich der Beginn des unter Neidharts von Reuental Namen überlieferten Rosenkranz an. 54 Auffällig ist, dass die Berner Handschrift, anders als der Codex Manesse, sowohl auf das Corpusprinzip wie auf eine konsequente Handhabung des Autorprinzips verzichtet. Es werden Dichtungen aus der Zeit um 1200 bis nach 1300 gereiht, die nur sehr sporadisch mit Namenoder Titelzuschreibungen versehen sind – ein typisches Beispiel der oben erwähnten Streuüberlieferung. 48 Hier werden u.a. Troja (mit der Helena-Handlung) sowie Tristan und Isolde als Exempla verbotener Liebe angeführt (v. 7f.; vgl. auch Haustein: Marner-Studien [Anm. 34], S. 130). 49 Vgl. zur Handschrift Edward Schröder: Die Berner Handschrift des Matthias von Neuenburg. In: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Kl. Göttingen 1899, S. 49-71; Voetz: Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik [Anm. 2], S. 259-261; Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit [Anm. 2], S. 363-370; ferner Haustein: Marner-Studien [Anm. 34], S. 131-134. 50 Vgl. die Abbildung in: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben v. Karl Lachmann u. Moriz Haupt, Friedrich Vogt u. Carl von Kraus bearb. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren. Bd. 2: Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen. 36., neu gestaltete u. erw. Auflage. Stuttgart 1977, S. 163. 51 Vgl. die Abbildung in: E. Mittler, W. Werner (Hg.): Codex Manesse [Anm. 2], S. 571. Ausgabe: Des Minnesangs Frühling [Anm. 50]. Bd. 1: Texte. 38., erneut rev. Auflage. Stuttgart 1988, S. 282 (letztes unter den Liedern Heinrichs von Morungen). 52 Ausgabe: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hg. v. Carl von Kraus. 2 Bde. 2. Auflage, durchges. v. Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978, Bd. 1, S. 283 [Nr. 38, Namenlos (2p)]. 53 Ausgabe: ebd., Bd. 1, S. 518 [Nr. 59, VII, Str. 1 (4p)]. 54 Dieses unechte Lied ist ediert in: Neidharts Lieder. Hg. v. Moriz Haupt. 2. Auflage, neu bearb. v. Edmund Wiessner. Leipzig 1923, Nr. XXVII,9-XXX,5, S. XLI-XLV.
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Dabei bleibt jedoch ein gewisser thematischer Zusammenhang durchaus gewahrt, selbst wenn die Strophenformen wechseln. Die ersten vier Strophen etwa handeln allesamt von erfüllter Minne und ergeben hintereinander gelesen durchaus Sinn. Strophe 1 erzählt, wie der Minnende sein trûren aufgibt, weil er erfährt, dass die Dame ihn erhören wolle. Strophe 2 besingt die Ankunft des Wonnemonats Mai, der allen Kummer vertreibe. Das Stichwort nahtegal im letzten Vers leitet über zu Strophe 3 mit der Rede der Dame an den Wächter aus dem Marnerschen Tagelied. Strophe 4 schliesslich bietet eine Antwort des Wächters, welche die von der Dame erbetene Warnung und einen Abschiedsgruss enthält. Der vierstrophige Block endet also mit TageliedThematik und in dem erwähnten Inhaltsverzeichnis der Berner Handschrift werden die beiden Schlussstrophen auch konsequent als tage liet bezeichnet, was ein Gattungsbewusstsein des Redaktors verrät. Der neue Kontextbezug ist freilich nicht die einzige Veränderung, welche die Eingangsstrophe des Marner-Lieds in der Berner Handschrift gegenüber der Fassung des Codex Manesse aufweist. Vielmehr bestehen hier auch Varianten im Wortlaut: Vers 11f. weicht von der im Codex Manesse gebotenen Fassung ich wære gerne langer hie ab (vgl. oben, S. 88). Die Dame betont hier nicht, dass sie an einem von ihrer Kemenate entfernten Ort, verweilen wolle. Vielmehr sagt sie: ich sehín gerne lenger moe ht es sin – ›ich sähe ihn gerne länger (bei mir), wenn das nur sein könnte‹.55 Die auf die Zukunft der kommenden Liebesnacht projizierte Verlängerung bezieht sich hier also nicht auf das Bleiben der Dame, sondern auf jenes des Ritters. Damit entfällt die lokale Verschiebung, welche im Manesse-Codex zur zeitlichen Verschiebung der Rede auf den Vorabend der Liebesnacht hinzutritt. Welcher Fassung aus textkritischer Sicht der Vorzug zu geben ist, dürfte unentscheidbar bleiben. Insgesamt demonstriert die Fassung der Handschrift p die Beweglichkeit oder, um mit dem Romanisten Paul Zumthor zu sprechen, die mouvance,56 der das Marnersche Strophenmaterial in der Berner Hand55 Wachinger: Anmerkungen zum Marner [Anm. 34], S. 81, und Haustein: MarnerStudien [Anm. 34], S. 132, erstellen daraus den hybriden Text: ich saehe in gerne langer hie – ein typisches Beispiel rekonstruierender Textphilologie. 56 Vgl. Paul Zumthor: Essai de poétique médiévale. Paris 1972. Neuauflage: Essai de poétique médiévale. Avec une préface de Michel Zink et un texte inédit de Paul Zumthor. Paris 2000 (Points. Essais; 433), hier S. 84-96, 610. Vgl. zu dem von Zumthor erarbeiteten mittelalterlichen Textbegriff auch Ders.: La Poésie et la voix dans la civilisation médiévale [Anm. 7]; Ders.: La Lettre et la voix. De la ›littérature‹ médiévale. Paris 1987. Zur Anwendung in der germanistischen Mediävistik sei stellvertretend genannt: Thomas Cramer: Mouvance. In: Helmut Tervooren, Horst Wenzel (Hg.): Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Berlin 1997 (Zeitschrift für deutsche Philo-
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schrift unterliegt. Das Beispiel zeigt, welche Wandlungen das Tagelied in der durchdachten Aufbereitung erfahren kann und welches eigenständige Sinnpotential die neue Zusammenstellung eröffnet. Die Eingangsstrophe des Tagelieds gerät hier in einen Überlieferungsdiskurs »ohne Autor« 57 und entfaltet gerade darin neue Aussagemöglichkeiten. Zugleich wird an dem Berner Codex ein eher beiläufiges Aufzeichnungsverfahren deutlich, das von dem systematischen, an Autorennamen geknüpften Sammelprinzip der Grossen Heidelberger Liederhandschrift abweicht. Eine weitere Alternative zu der Sammeltätigkeit des Codex Manesse bekundet ein Textzeugnis, das ebenfalls Strophen des Marner und einiger seiner Zeitgenossen überliefert. Es handelt sich um das Fragment einer Pergamentrolle, die in der Öffentlichen Bibliothek der Universität Basel aufbewahrt wird (N I 6, Nr. 50, vgl. Abb. 20).58 Das stark verschmutzte, von Benutzerspuren beeinträchtigte Rollenfragment dürfte um 1300 im ostalemannischen Raum angefertigt worden sein und enthält ausschliesslich mittelhochdeutsche Sangspruchlyrik. Zusammen mit zwei weiteren Rollenfragmenten aus Los Angeles (University of California Research Library 170/575) und Berlin (Bibliothek des geheimen Staatsarchives, Stiftung Preussischer Kulturbesitz, XX. HA StA. Königsberg, Hs. 33,11), die wohl noch dem 13. Jahrhundert entstammen, bezeugt die Basler Rolle den Gebrauch der Sangspruchdichtung in einer Phase, die vergleichsweise nahe an die Lebenszeit der überlieferten Autoren heranreichen dürfte.59 logie; 116. Sonderheft), S. 150-181; Ders.: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik. Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen; 148), darin bes. Kap. 1: Mittelalterliche Lyrik und Schriftlichkeit (S. 9-49), Kap. 2: Mouvance (S. 50-124). 57 Vgl. Helmut Tervooren: Die Frage nach dem Autor. Authentizitätsprobleme in mittelhochdeutscher Lyrik. In: Rüdiger Krohn, Wulf-Otto Dreeßen (Hg.): Dâ hœret ouch geloube zuo. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anlässlich seines 65. Geburtstags. Stuttgart/ Leipzig 1995, S. 195-204, hier S. 202. 58 Vgl. Martin Steinmann: Das Basler Fragment einer Rolle mit mittelhochdeutscher Spruchdichtung. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 117 (1988), S. 296-310; Haustein: Marner-Studien [Anm. 34], S. 270 u.ö. 59 Vgl. Bumke: Höfische Kultur [Anm. 10], Bd. 2, S. 773-775; Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit [Anm. 2], S. 24f.; Ders.: Typen der Verschriftlichung mittelhochdeutscher Lyrik vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. In: Anton Schwob, András Vizkelety (Hg.): Entstehung und Typen mittelalterlicher Lyrikhandschriften. Akten des Grazer Symposiums, 13.-17. Oktober 1999. Bern u.a. 2001 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte; 52), S. 107-130, hier S. 117. Speziell zu der Rolle aus Los Angeles: Richard H. Rouse: Roll and Codex. The Transmission of the Works of Reinmar von Zweter. In: Gabriel Silagi (Hg.): Paläographie 1981. Colloquium des Comité International de Paléographie München. 15.-18. September 1981. Referate.
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Die Rollenaufzeichnung diente im Mittelalter hauptsächlich der Konservierung unliterarischer Texte, etwa jener von Statuten und Tarifen oder Nekrologien. Im Bereich der Spruchdichtung deutet sie wohl hin auf »die vorläufigen Formen der Niederschrift, die mehr zum Gebrauch als zur Bewahrung bestimmt waren« 60 und bei denen die Textgestalt gegenüber der Festschreibung in den grossen Sammelhandschriften noch vergleichsweise variabel war. Möglicherweise dokumentiert das Dichterbild Reinmars von Zweter im Codex Manesse (Nr. 112, Bl. 323r) einen solchen Aufzeichnungsvorgang. Die Figur in der linken unteren Ecke beschriftet eine Wachstafel und hält vielleicht einen ersten Entwurf dichterischer Rede fest. Die junge Dame in der Mitte aber sitzt vor einer Rolle und scheint eine vorläufige Reinschrift zu besorgen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Rollenfragment aus Los Angeles ausschliesslich Sprüche Reinmars von Zweter enthält, der in den Dichtungen des Marner als Kollege und Rivale genannt wird.61 (Jenes aus Berlin überliefert Spruchstrophen aus dem Wartburgkrieg.) Das Basler Rollenfragment ist 9,1 bis 9,5 cm breit, was den Besitzern erlaubte, es bequem in die Tasche zu stecken. Verschleissspuren machen eine solche Verwendung wahrscheinlich. Vielleicht wurde die Rolle auf diese Weise zur Vorbereitung oder Stütze eines Vortrags benutzt.62 Der Rotulus ist beidseitig beschriftet. Die Marner-Strophen, die vorwiegend religiöse Themen behandeln, finden sich allesamt auf München 1982 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung; 32), S. 107-123, Tafeln XI-XV; Franz H. Bäuml u. Richard H. Rouse: Roll and Codex. A New Manuscript Fragment of Reinmar von Zweter. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 105 (1983), S. 192-231 u. S. 317-330; Christa Bertelsmeier-Kierst: Das Budapester Fragment und die Lyrik-Überlieferung im bairischösterreichischen Raum bis 1300. In: Anton Schwob, András Vizkelety (Hg.): Entstehung und Typen mittelalterlicher Lyrikhandschriften. Akten des Grazer Symposiums, 13.-17. Oktober 1999. Bern u.a. 2001 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte; 52), S. 37-64, hier S. 40-42. Speziell zu der Rolle aus Berlin: Ralf G. Päsler: Katalog der mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg. Nebst Beschreibungen der mittelalterlichen deutschsprachigen Fragmente des ehemaligen Staatsarchivs Königsberg. Auf der Grundlage der Vorarbeiten Ludwig Deneckes erarb. v. Ralf G. Päsler. Hg. v. Uwe Meves. München 2000 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte; 15), S. 161f. 60 Bumke: Höfische Kultur [Anm. 10], Bd. 2, S. 775. 61 Vgl. Haustein: Marner-Studien [Anm. 34], S. 14-31. 62 Einen solchen Gebrauch legt auch ein vergleichbares, allerdings deutlich jüngeres Zeugnis aus dem späten 14. Jahrhundert nahe: Vgl. Eckhart Conrad Lutz: Das Diessenhofener Liederblatt. Ein Zeugnis späthöfischer Kultur. Mit einem Facsimile, mit einem Beitrag zur Musik v. René Pfammatter u. mit einer Einspielung der Lieder durch das Salzburger Ensemble Dulamans Vröudenton. Freiburg i.Br. 1994 (Literatur und Geschichte am Oberrhein; 3), bes. S. 15 u. S. 35.
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der einen, besser erhaltenen Seite. Jede der insgesamt neun Strophen enthält ein Autor-Signet, üblicherweise den abgekürzten, in roter Tinte geschriebenen Namen des Dichters. Die Rollenfragmente mit Spruchdichtung deuten an, wie die in Verbindung mit einer Vortragssituation stehende Textaufzeichnung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ausgesehen haben könnte. Angesichts der nur in geringer Zahl und isoliert erhaltenen Zeugnisse bleiben Überlegungen dazu freilich notwendig spekulativ. Und über die Aufführung der höfischen Lyrik in den Jahrzehnten um 1200 vermögen die bislang bekannten Rotuli ohnehin keinen Aufschluss zu geben. Gleichwohl soll abschliessend der Versuch der Annäherung an die Vortragssituation eines im Codex Manesse überlieferten Lieds der Zeit um 1200 gewagt werden. So sind gewisse Indizien, die sich auf die Aufführung, weniger als eine empirische, denn eine ästhetische Kategorie beziehen, den überlieferten Texten selbst eingeschrieben.63 Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Lieder das Singen thematisieren und in ihrem deiktischen Gestus das ›Hier‹ und ›Jetzt‹ einer Vortragssituation aufrufen. Und dies gilt ferner dann, wenn sich einzelne Lieder mit Inhalt und Strophenform so eng an romanische Vorbilder anlehnen, dass sie als Kontrafakturen erkennbar werden. Eine solche Ausgangslage ist etwa bei dem Lied Nu enbeiz ich doch des trankes nie des Dichters Bernger von Horheim gegeben.64 Er ist 1196 in der Umgebung Philipps von Schwaben bezeugt und dürfte zu einer Gruppe adliger Dichter im Umkreis des Stauferhofs gehört haben, die sich alle an der romanischen Formkunst orientierten. Das Autorportrait des Codex Manesse (Nr. 55, Bl. 178r) zeigt Bernger mit seiner Minnedame; in der Geste der ineinander gelegten Hände deutet sich nach mittelalterlichem Rechtsbrauch ein Treuegelöbnis an. 63 Vgl. zu diesem Ansatz Jan-Dirk Müller: Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19 (1994), S. 1-21. Wieder abgedruckt in: Ders.: Minnesang und Literaturtheorie. Hg. v. Ute von Bloh u.a. Tübingen 2001, S. 107-128, bes. S. 110: »Die Übereinstimmung der im Lied aufgerufenen mit der gemeinsam erfahrenen Situation und die Übereinstimmung der dort genannten mit den hier und jetzt anwesenden Interaktionspartnern muss nicht tatsächlich gegeben sein, doch muss sie das Lied als möglich unterstellen, damit seine deiktischen Gesten funktionieren.« Ähnlich Ders.: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang. In: Michael Schilling, Peter Strohschneider (Hg.): Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Heidelberg 1996 (Germanisch-Romanische Monatsschrift; Beiheft 13), S. 43-74. Wieder abgedruckt in: Ders.: Minnesang und Literaturtheorie, S. 177-208, vgl. hier bes. S. 184-186 (»Aufführungssituation und Deixis«). 64 Ausgabe: Des Minnesangs Frühling. Bd. 1: Texte [Anm. 51], S. 224f. Vgl. zum Autor Günther Schweikle: Bernger von Horheim. In: 2VL 1 (1978), Sp. 749-752.
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Bei dem erwähnten Lied handelt es sich um die Kontrafaktur einer Kanzone des Chrétien de Troyes, an deren vierte Strophe Onques du buvrage ne bui sich Bernger in seiner ersten Strophe auch inhaltlich anlehnt.65 Da zu Chrétiens Kanzone eine Melodie überliefert ist, kann man diese auch Berngers Text unterlegen.66 Berngers Lied gehört dem Hohen Minnesang an, in dem die Dame unnahbar ist; der Minnesänger spricht nicht zu ihr, sondern über sie. Die Komplexität von Chrétiens Vorlage wird dabei kaum erreicht, allerdings führt Bernger in seiner Arbeit an dem romanischen Muster durchaus eigenständige Neuerungen ein. Wie Chrétien beruft sich Bernger auf die mittelalterliche Tristansage67 und setzt sich dabei von der magischen Wirkung des Minnetranks ab: Onques du buvrage ne bui – Nu enbeiz ich doch des trankes nie – ›Niemals habe ich von dem Trank gekostet‹, heisst es gleichermassen bei Chrétien wie bei Bernger. Dem Zwang der magischen Tristanliebe stellt Chrétien in seiner vierten Strophe die Kräfte von Herz und Willen, fins cuers et bone volentez (v. 31), gegenüber – es geht ihm dabei um eine Rationalisierung und Moralisierung der Liebe. Bei Bernger dagegen reduziert sich das Minnetrankmotiv auf einen Überbietungstopos: ›Noch herzlicher als Tristan Isolde‹, so der Sänger, ›liebe er seine Minnedame‹: noch herzeclîcher minne ich sie/ danne er Îsalden (v. 3f.). Wie Chrétien (v. 34) beruft sich Bernger auf die Augen als Einfallstor der Liebe, entwickelt daraus aber ein Motivgeflecht der Minnegefangenschaft und der Masslosigkeit, das sich so bei Chrétien nicht findet (v. 5-8). Am Schluss der ersten Strophe wird die Stimmung des Minnenden dann mit einer Einzigartigkeitshyperbel als zutiefst ›bekümmert‹ zusammengefasst: sô kumberlîche gelebte ich noch nie (v. 9). Die zweite Strophe thematisiert demgegenüber die Beständigkeit bei ausbleibendem Minnelohn und betont damit ihrerseits jene Verstan65 Vgl. Volker Mertens: Intertristanisches – Tristan-Lieder von Chrétien de Troyes, Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke. In: Johannes Janota (Hg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Tübingen 1993 (Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik; 3), S. 37-55, bes. S. 38-49 (dort auch ein vollständiger Abdruck des Lieds von Chrétien mit deutscher Übersetzung). 66 Vgl. Des Minnesangs Frühling [Anm. 50]. Bd. 3: Kommentare. 3,1: Carl von Kraus: Des Minnesangs Frühling. Untersuchungen. Leipzig 1939. Durch Register erschlossen u. um einen Literaturschlüssel erg. hg. v. Helmut Tervooren u. Hugo Moser. Stuttgart 1981, S. 255-258; 3,2: Carl von Kraus: Des Minnesangs Frühling. Anmerkungen. Nach Karl Lachmann, Moriz Haupt u. Friedrich Vogt neu bearb. v. Carl von Kraus. 30. Auflage Zürich 1950. Durch Register erschlossen u. um einen Literaturschlüssel erg. hg. v. Helmut Tervooren u. Hugo Moser. Stuttgart 1981, S. 443. Eine Einspielung bietet die CD des Ensembles I Ciarlatani: Codex Manesse – Grosse Heidelberger Liederhandschrift. Heidelberg 1996. 67 Zum Motiv im Tagelied des Marner oben, Anm. 48.
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des- und Willensleistung, die Chrétien in den Begriffen fins cuers und bone volentez fasst: doch vlîze ich mich alle tage,/ daz ich ir ein staetez herze trage (v. 6f.). Allerdings bindet Bernger, anders als Chrétien, die Beständigkeit an eine transzendente Grösse – Gott soll den Minnenden in der Absicht leiten, am Minnedienst festzuhalten: nu wîse mich got an solhen sin,/ daz ich noch getuo, daz ir behage (v. 8f.). Die dritte Strophe schliesslich bezieht einige in Chrétiens Kanzone verstreute Gedanken über die rechte und falsche Minne unmittelbar auf den gesanglichen Vortrag des Minnenden. Frauendienst, so legen die Verse am Strophenbeginn nahe, konkretisiert sich hier im Minnesang: Swer nû deheine vröide hât,/ des vingerzeige muoz ich sîn (v. 1f.). Der Fingerzeig, von dem hier die Rede ist, könnte sich auf Personen ausserhalb der am Vortrag teilhabenden Kommunikationsgemeinschaft beziehen. Aber sehr viel naheliegender ist es doch, dass sich der Sänger hier im Rahmen einer inszenierten Aufführungssituation, deren Realitätsgrad im Einzelnen näher zu bestimmen wäre, positioniert. Das Paradoxon des Minnesangs besteht ja darin, dass der Vortrag – trotz der Klage des Minnenden – höfische Freude bereiten soll. Von dieser vröide scheint in Strophe 3, v. 1, die Rede zu sein. Offen bleibt dabei, ob der Inhaber dieser Freude Subjekt oder Objekt des in v. 2 erwähnten ›Fingerzeigs‹ ist. Der Vers des vingerzeige muoz ich sîn kann bedeuten, dass derjenige, der Freude besitzt, auf den Sänger mit Fingern zeigt. Dieser Vers könnte sich aber auch auf den Sänger beziehen, der auf den oder die Inhaber der Freude deutet. Die Freude ist dabei gleichermassen contrarium des in den vorausgehenden Strophen thematisierten Kummers wie Reaktion des Publikums auf den vorgetragenen Gesang. Auf diese Weise wird über die Mehrdeutigkeit des ›Fingerzeigs‹ regelrecht eine Interaktion zwischen Sänger und Publikum inszeniert, die sich im übrigen auch in den folgenden Versen fortsetzt: swes herze in guoten gebiten stât, die selben vorhte die sint mîn. (v. 3f.) ›wessen Herz in guter Hoffnung verharrt, dessen Ängste sind auch meine.‹
Hier ist nun vom Herzen als Sitz der Gefühls- und Verstandeskräfte jenes oder jener Adressaten die Rede, die über den ›Fingerzeig‹ in die Kommunikationssituation einbezogenen sind. Zugleich setzt sich die Dialektik von Kummer und Freude fort, da der Sprecher betont, dass die ›geduldige Hoffnung‹, welche diese Personengruppe auszeichnet, zugleich schon Gegenstand seiner Ängste sei. Damit wird die Gefähr-
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dung dieser ›geduldigen Hoffnung‹, suggeriert, die stets in Kummer, den in den vorausgehenden Strophen artikulierten Gemütszustand des Sprechers, umschlagen kann. Der in den Eingangsversen der dritten Strophe hergestellte Kontakt mit den Adressaten erfährt im folgenden Vers eine beinahe irritierende Wendung: daz sî mir tuon ir nîden schîn! (v. 5). Hier werden die Adressaten aufgefordert, ihre feindselige Gesinnung (ir nîden), offen zu zeigen. Die nicht ganz auflösbare Spannung dieses Verses könnte sich mindern, wenn man in Rechnung stellt, dass mit den über den ›Fingerzeig‹ in die Kommunikationssituation einbezogenen Adressaten ganz konkret Konkurrenten des Dichters gemeint sein könnten – seien es Konkurrenten im Bereich des volkssprachigen Minnesangs oder lateinischsprachige Dichter, die am Stauferhof gefördert wurden, oder aber jene Träger von Konkurrenzveranstaltungen, wie sie bei höfischen Festen die Turniere, akrobatischen Darbietungen, Tänze oder Festmahle darstellten. Der im Medium schriftlicher Aufzeichnung nur schwer verständliche Vers dürfte in der Pragmatik einer Aufführungssituation referenzialisierbar gewesen sein. Auf die feindliche Gesinnung antwortet der Sprecher in den Schlussversen der Strophe, indem er an der eingenommenen Sängerrolle festhält: Er thematisiert nun explizit sein singen, klagen, trûren, macht dieses selbstreflexiv in der eigenen Rede, im Vortrag präsent (v. 6f.). In freier Abwandlung einiger Verse aus Chrétiens Kanzone wendet sich der Sprecher zuletzt direkt an das Herz und gibt ihm die Schuld an seinem kummervollen Zustand: herze, die schulde wâren dîn:/ du gaebe mir an sî den rât (v. 8f.). Er positioniert sich dabei erneut als Trauernder inmitten jener Adressaten, die über den zu Beginn der Strophe thematisierten Fingerzeig (v. 2) in die Kommunikationssituation einbezogen werden. Zumindest anspielungsweise dürfte in der Anrede an das Herz auch das Herz derjenigen gemeint sein, die, wie es dort heisst, in guoten gebiten, ›in guter Hoffnung‹ stehen (v. 3). Dem lokalen Zeigegestus entspricht im übrigen eine temporale Deixis, die sich an prominenten Stellen des Lieds in dem Adverb nu artikuliert (Strophe 1, v. 1; Strophe 2, v. 8; Strophe 3, v. 1). Sie kann im Vortrag zu einer pragmatischen Vergegenwärtigung der Sprechsituation genutzt werden. Das Beispiel zeigt, wie sich aus den im Codex Manesse aufgezeichneten Liedern Indizien für eine Aufführungssituation gewinnen lassen – eine Aufführungssituation, die hier nicht empirisch – wie etwa bei den mutmasslichen Entstehungskontexten von Walthers Reichston – zu verstehen wäre, sondern die vielmehr den überlieferten Texten als ästhetische Kategorie eingeschrieben ist.
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Die in Liedern der höfischen Zeit wie jenen des Bernger von Horheim dokumentierte Präsenz des Frauendienstes im Minnesang ist nun in der zeitgleich mit der Anfertigung des Codex Manesse entstehenden Minnedichtung nicht mehr recht greifbar. Dies zeigt sich an den Liedern des Johannes Hadlaub, die ja ihrerseits auf Vorstufen der Liederhandschrift anzuspielen scheinen. Zwar beschreibt Hadlaub einen Kreis von Adligen und Patriziern, der offensichtlich den Nachvollzug älterer Minnesangtraditionen auch in gesellschaftlichen Ritualen praktizierte. Der Vollzug edlen sanges gilt dabei als Ausdruck edler sinne, deren Sitz ähnlich wie im Hohen Minnesang das Herz ist:68 Swem ist mit edlem sange wol, des herze ist vol gar edler sinne (III,3, v. 1f.),69
lautet ein Verspaar bei Hadlaub, das in seiner syntaktischen Struktur wie ein Echo auf den Beginn der dritten Bernger-Strophe tönt. Doch gestaltet Hadlaub den Minnedienst als Rückschau, erzählt davon im epischen Präteritum. Dies gilt auch für jene beiden Szenen, die im Autorportrait des Codex Manesse festgehalten sind (Nr. 122, Bl. 371r). Die Darstellungen dieses Doppelbilds beziehen sich auf Momente der Minnewerbung, die in den Liedern gestaltet werden: In der unteren Bildhälfte heftet der als Pilger verkleidete Dichter verstohlen einen Liebesbrief ans Gewand der Dame. Die obere Bildhälfte zeigt, wie der Dichter bei einem ersten Treffen, das durch die Vermittlung hoher herren zustande kommt, einen Schwächeanfall erleidet. Angehörige der vornehmen Gesellschaft sind Zeugen dieser Szene. In Hadlaubs Liedern werden sie namentlich genannt. Der exklusive Kreis um Rüdiger Manesse ist hier nicht nur, wie das Publikum der höfischen Zeit, Adressat der Minnelieder, sondern wird vielmehr zum Mitspieler, ja Arrangeur der beschriebenen Minnehandlung. Diese Handlung aber erscheint nicht nur in hohem Masse nachgestellt und künstlich, sie wird in der Rede des Dichters auch als erinnerte Retrospektive referiert. Die inszenierte Präsenz des Minnesangs der höfischen Zeit ist damit einer historisierenden Perspektive gewichen. Die ›Aura der Autorschaft‹, welche die Textcorpora der Manessischen Liederhandschrift umgibt, könnte vor diesem Hintergrund beschreibbar werden. Die »Bürgschaft gelebter Realität«70, welche diese Autorkonstruktionen leisten, ist keine originale, sondern eine aus Texten abgeleitete. Die in der Retrospektive gestalteten Minnehandlungen 68 Vgl. Müller: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung [Anm. 63], S. 203. 69 Johannes Hadlaub: Lieder und Leichs. Hg. v. Rena Leppin [Anm. 1], S. 38. 70 Vgl. oben, S. 83 mit Anm. 32.
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der Hadlaubschen Gedichte ebenso wie die im Codex Manesse fassbaren Autorkonkretisationen sind nur möglich im Rekurs auf eine wirkmächtige literarische Tradition, im Rekurs auf einen komplexen Prozess von Verschriftlichungsvorgängen. Letztere sind fassbar in den erschliessbaren Vorstufen der Liederhandschriften ABC, in Konservierungsformen wie den erwähnten Spruchrollen sowie in Aufzeichnungsweisen, die der Codex Manesse mit Autorenportraits wie jenem Reinmars von Zweter zur Darstellung bringt. Sie bezeugen die Reproduktion einer in semioralen Kontexten entstandenen Dichtung im Medium der Schriftlichkeit. Gegenüber dem ›Hier‹ und ›Jetzt‹ einer Aufführungssituation muss eine solche Reproduktion notwendig sekundär bleiben. Im Anschluss an das medienästhetische Aura-Konzept, das Walter Benjamin in seinen Schriften zur Geschichte der Photographie und zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwickelt hat, könnte man der Aufführungssituation den Status einer originalen Aura zuschreiben, die nach Benjamin in der Einmaligkeit von Kult und Ritual verwurzelt ist.71 Der Verfall der Aura, den Benjamin in Reproduktionstechniken wie der Photographie konstatiert, aber wäre bis zu einem gewissen Grad mit den Verschriftlichungsvorgängen im Bereich der mittelalterlichen Lyrik vergleichbar. Am Beispiel der frühen Photographie versucht Benjamin zu zeigen, dass Massnahmen wie die Retouche dazu genutzt wurden, eine im Zuge der technischen Reproduktion verlorengegangene Aura wieder herzustellen. Dieses Vortäuschen einer Pseudo-Aura wäre – wenngleich unter ganz anderen medialen Voraussetzungen – auch in den historisierenden Liedern Hadlaubs und in den Autorbildern des Codex Manesse auszumachen. Sie dienen letztlich dazu, die um 1300 nicht mehr einholbare Präsenz der Sänger in den Aufführungsritualen einer semi-oralen Gesellschaft zu kompensieren. Die ›Aura der Autorschaft‹ im Codex Manesse wäre auf diese Weise ein Surrogat jener körperlichen Präsenz, die den Sänger zum Garanten seines Textes macht. Wie das Beispiel Berngers zeigt, wird diese Präsenz freilich auch in den Liedern der höfischen Zeit durch textuelle und intertextuelle Verfahren hergestellt, ja inszeniert. Die ›Aura der Autorschaft‹ ist also bereits in dieser Phase eine vermittelte, ja konstruierte. 71 Vgl. Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie (1931), abgedruckt in: Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften. Mit einem Nachwort von Detlev Schöttker. Frankfurt a.M. 2002, S. 300-324; Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/39), abgedruckt ebd., S. 351-383. Vgl. zu Benjamins Aura-Begriff auch Josef Fürnkäs: Aura. In: Michael Opitz, Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. 2 Bde. Frankfurt a.M. 2000, Bd. 1, S. 95-146.
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Benjamin weist zugleich einen Weg, sich der vereinnahmenden Wirkung einer solchen Aura durch eine kritische Objektbetrachtung zu entziehen. Er stellt dem Begriff der Aura jenen der Spur gegenüber: Während er die Aura als einmalige »Erscheinung einer Ferne« begreift, definiert er die Spur als »Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie [sc.: die Spur, M.St.] hinterliess«.72 »In der Spur«, so Benjamin, »werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser«.73 Die Spur aber muss sich in einem dauerhaften Medium materialisieren, um als Spur einer dahinterliegenden Phänomenologie überhaupt erkannt zu werden. Vielleicht lässt sich der Codex Manesse auf diese Weise fassen – als Spur einer spezifisch volkssprachigen Form vormoderner Autorschaft.
72 So Benjamins prägnante Definition in: Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf Tiedemann. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1982, Bd. 1, S. 560. 73 Ebd.
III.
Objekt und Symbol Das Buch im Buch
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Mehr als ein Text. Das ungelesene Buch zwischen Symbol und Fetisch Die Auseinandersetzung mit der Buchkultur des Mittelalters erfordert die besondere Berücksichtigung der Gegebenheiten von der Produktion (Auftrag und Herstellung) über die Rezeption bis hin zur sozialen Funktion von Büchern. Die Forschung, die sich seit längerem mit den technischen Einzelheiten des Schriftwesens und mit der Identität der mittelalterlichen Schreiber und Leser befasst, ist in den letzten zwanzig Jahren fast beiläufig zur Feststellung gelangt, dass Bücher eine Vielzahl von sozialen Zwecken erfüllten, die mit Schreiben und Lesen wenig zu tun hatten. Im Folgenden habe ich die Absicht, einigen von diesen Zwecken nachzugehen, wobei ich mir bewusst bin, dass dies die Materialität des Buches betonen und seinen Inhalt vernachlässigen wird. Es mag unangebracht erscheinen, wenn eine Literaturwissenschaftlerin vorschlägt, über einen Gebrauch von Büchern nachzudenken, der losgelöst ist vom Inhalt derselben. Immerhin ist der Inhalt eines Buches Bestandteil der kommunikativen Tätigkeit des Lesens und Schreibens, wenn auch nicht immer der Literatur im engeren Sinne des Wortes. Hat nicht der Romanist Ernst Robert Curtius – der sich auf unvergessliche Weise mit dem Buchwesen und der Buchsymbolik im Abendland befasst hat – gemahnt, dass es die Aufgabe des Philologen sei, den Inhalt eines Buches zu erschliessen, da das Buch vor allem ein Text sei? »Ein Buch ist, abgesehen von allem anderen, ein Text. Man versteht ihn oder versteht ihn nicht.«1 Und doch ist es wohl eines der grossen Privilegien der Mediävisten, sich immer wieder auch mit der Materialität von Textproduktion und -vermittlung zu befassen. Schliesslich würde sich keine mittelalterliche Definition eines Buches auf dessen Inhalt beschränken. Sowohl in sprachgeschichtlicher Hinsicht als auch unter Berücksichtigung seiner literarischen Darstellung ist das (mit dem Christentum um 600 in die britischen Inseln eingeführte) Buch im eng-
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Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage der Ausgabe Bern 1948. Tübingen/ Basel 1993, S. 24.
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lischen Mittelalter in erster Linie das Produkt von Handarbeit, wozu das Schreiben selber letztlich auch gehört. Zur Sprachgeschichte des semasiologischen Feldes ›Buch‹ sei hier einerseits bemerkt, dass die Bezeichnung manuscript, welche die handschriftliche Eintragung im Artefakt hervorhebt, für England erstmals im Jahr 1600 belegt ist,2 während das Wort boc – belegt für die Gesamtheit des mittelalterlichen Englisch – von den Etymologen allgemein verstanden wird als Verweis auf beechwood, also das Buchenholz, aus welchem die Tafeln gemacht waren, auf die ursprünglich Runen geritzt wurden.3 Dieses Wort ist genauso in der Materie des schrifttragenden Objekts verwurzelt wie das Lehnwort codex (von lat. caudex, Baumstamm), das seit 1570 in der englischen Sprache belegt ist.4 Auch maken, ein Wort für ›komponieren‹, das für das ganze englische Mittelalter belegt ist, weist auf die Verwandtheit des Dichtens mit der Handarbeit hin. Einen frühen literarischen Beleg für das Verständnis des Buches als materieller Gegenstand liefern zwei von den 95 altenglischen aenigmata, oder Rätseln, die um die Jahrtausendwende in das sogenannte Exeter Book aufgenommen wurden, und die beide für ihre Lösung ein solches Bücherverständnis voraussetzen. Die Schrift, durch deren Auffressen der Bücherwurm nicht weiser wird, wiewohl menschlicher Äusserung (gied) entstammend, wird hier dennoch auf ihre pergamentene Materialität reduziert: Eine Motte frass ein Wort. Mich dünkte das ein sonderbares Geschehen, als ich von diesem Wunder erfuhr, dass der Wurm irgendeines Mannes Spruch verschlang, der Dieb im Düstern die mächtige Rede mitsamt ihrem festen Fundament. Der Stehlende wurde kein Bisschen gescheiter als er die Worte frass. 5
Die Schrift wird also nicht gelesen, sondern wortwörtlich – vielleicht in parodistischer Anspielung auf die Heilige Schrift6 – gefressen. 2 3 4 5
Oxford English Dictionary [OED]. Hg. v. Andrew Simpson u. Edmund S. C. Weiner. 2. Auflage. Oxford 1989, Bd. 9, S. 344. OED [Anm. 2] 2, S. 393. OED [Anm. 2] 3, S. 429. Mohhe word fræt. Me \æt \uhte wrætlicu wyrd, \a ic \æt wundor gefrægn,/ \æt se wyrm forswealg wera gied sumes,/ \eof in \ystro, \rymfæstne cwide/ ond \æs strangan stahol. Stælgiest ne wæs/ wihte \y gleawra,/ \e he \am wordum swealg. The Exeter Book. Hg. v. George Philip Krapp u. Eliott van Kirk Dobbie. New York/ London 1936 (Anglo-Saxon Poetic Records; 3), S. 205. Nicht nur für die Übersetzung dieses Gedichts, sondern für die Überarbeitung der deutschen Fassung dieses Beitrages bin ich Nicole Nyffenegger-Staub äusserst dankbar.
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In den Zeilen 1-14 eines weiteren Rätsels im selben Codex enthüllt sich das personifizierte Buch durch Prosopopeia, Periphrase und Metonymie nach und nach als das Endprodukt eines langen kunsthandwerklichen Prozesses.7 Dieser beginnt mit der abgezogenen Tierhaut, die nach komplexer Behandlung zu Pergament wird, geht weiter mit dem enthaarenden Messer und der tintenspendenden Feder, und endet schliesslich mit den hölzernen Buchdeckeln und der wertvollen Filigranarbeit des Goldschmiedes: Ein bestimmter Feind beraubte mich meines Lebens, nahm mir meine sterbliche Kräfte, besprengte mich und tauchte mich ins Wasser, nahm mich wieder heraus, und legte mich in die Sonne, wo ich gewaltsam der Haare, die ich hatte, beraubt wurde. Dann sezierte mich eine harte Messerklinge, poliert von Makeln. Finger falteten mich und des Vogels Wonne hinterliess wiederholt Spuren auf mir mit glückspendendem Vogeldreck. Über den polierten Rand würde sie die Farbe des Baumes hinunterschlucken, ein Mass an Flüssigkeit, und zu mir zurückkommen und ihre schwarze Spur hinterlassen. Dann kleidete mich ein Mann in schützende Bretter und bedeckte mich mit Haut und schmückte mich mit Gold. Sogleich verschönerten mich des Schmiedes exquisite Artefakte, umgeben von Filigran.8
Nicht nur solche literarische Hinweise auf seinen Herstellungsprozess verleihen dem mittelalterlichen Buch Materialität, auch Darstellungen des Leseprozesses betonen häufig die Berührbarkeit des schrifttragenden Objekts. Ein gutes Beispiel dafür liefert der angelsächsische Laaamon, der als erster Verfasser einer englischsprachigen Verschronik der britischen Könige – darunter Artus – gilt. Im kurzen Prolog zu seinem Brut (um 1200) stellt er sein Verhältnis zu seinen Quellen äusserst anschaulich dar. Nachdem er sich dazu entschlossen hatte, die Gründungsgeschichte der Engländer zu erzählen – so berichtet er über sich selbst in der dritten Person – reiste er durchs ganze Land, um sich her6
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Das bitter-zu-verdauende, süss-schmeckende Büchlein, das in der Offenbarung 10, 9-10 vom Verfasser gegessen wird, ist selbstverständlich in einem übertragenen Sinn als Wort Gottes zu verstehen. Erst in einem zweiten Schritt (Zeilen 15-28) offenbart sich das Buch durch den Hinweis auf seinen heilbringenden Inhalt als Evangeliar – immerhin also nicht irgendein Buch, sondern das heiligste überhaupt. Mec feonda sum feore besny\ede,/ woruldstrenga binom, wætte si\\an,/ dyfde on wætre, dyde eft \onan,/ sette on sunnan, \ær ic swi\e beleas/ herum \am \e ic hæfde. Heard mec si\\an/ snah seaxses ecg, sindrum begrunden;/ fingras feoldan, ond mec fugles wyn/ geond speddropum spyrede geneahhe,/ ofer brunne brerd, beamtelge swealg,/ streames dæle, stop eft on mec,/ si\ade sweartlast. Mec si\\an wrah/ hæleh hleobordum, hyde be\enede,/ gierede mec mid golde; for\on me gliwedon wrætlic weorc smi\a, wire bifongen. Exeter Book [Anm. 5], Riddle 26, S. 193. Ich danke Susanne Meichtry für ihre Hilfe beim Übersetzen dieses Gedichts.
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vorragende Bücher zu beschaffen, die ihm als Vorlage dienen sollten (Laaamon gon lihen wide aond \as leode,/ and biwon \a æhela boc \a he to bisne nom.)9 Dreimal wiederholt er das Wort nom, das auf den Prozess des Aneignens hinweist, und dreimal bezeichnet er den Autor seiner jeweiligen Quelle als denjenigen, der das beschaffte Buch hergestellt hat (makede): Er nahm das englische Buch, das Sankt Beda machte,/ Er nahm ein zweites Buch auf Latein, das Sankt Albinus gemacht hatte,/ und der gute Augustinus, der hier die Taufe ins Land eingeführt hat./ Ein drittes Buch nahm er dann, und legte es in die Mitte,/ das von einem französischen Kleriker gemacht wurde.10
Nachdem er das dritte Buch, von Wace, zwischen die beiden anderen gelegt hat, fährt der Autor mit seiner Selbstinszenierung als Leser fort, indem er uns zuschauen lässt, wie er die Seiten seiner Bücher, die er liebevoll anschaut, umblättert: Laaamon leide/ \eos boc and/ \a leaf wende; he heom leofliche biheold.11 Laaamons Darstellung der Beziehung des lesenden Schriftstellers zu seinem Quellenmaterial als eine ›körperliche‹ wirft die Frage nach dem Fetischisierungspotential des Buches auf. Auf diese Frage werde ich im Folgenden wiederholt eingehen, hier zunächst im Zusammenhang mit den Büchern, die einer schottischen Königin angelsächsischer Herkunft gehörten, besonders mit einem Evangeliar, das sich heute in der Bodleian Library befindet (Lat. litur. fol. 5). Die Biographie, bzw. Hagiographie, von Margaret of Scotland, die kurz nach ihrem Tod in 1092 verfasst wurde, wird es uns auch erlauben, einigen von den zahlreichen Interaktionen zwischen Menschen und Büchern nachzugehen, die nicht aus der Beziehung zwischen Leser und Text entstanden. Inwiefern mittelalterliche Texte über diese Interaktionen überhaupt Auskunft geben können, ist eine schwierige Frage. Welche Schlüsse dürfen wir z.B. aus dem inventarisierten Besitz von Büchern ziehen? In Bezug auf die Bücher, die mit Margaret in Verbindung gebracht werden, dürfen wir Richard Gamesons Mahnung an Historiker ernst nehmen, mit äusserster Vorsicht vorzugehen, bevor sie Zeilen 14-15. Zitate aus dem Brut sind aus der Ausgabe: Laaamon: Brut or Hystoria Brutonum. Hg. v. William Raymond Johnston Barron u. S. Caroline Weinberg. London 1995. 10 He nom \a Englisca boc \a makede Seint Beda./ Ano\er he nom on Latin \e makede Seinte Albin/ and \e feire Austin \e fulluht broute hider in./ Boc he nom \e \ridde, leide \er amidden/ \a makede a Frenchis clerc [...]. Laaamon: Brut [Anm. 9], Zeilen 1620. 11 Laaamon: Brut [Anm. 9], Zeilen 24-25. 9
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aus Belegen für Bücherbesitz und -schenkungen Schlüsse ziehen. Denn wenn auch diese Königin unzweifelhaft belesen war, so ist doch der Besitz von Büchern per se nicht ausreichender Beweis für die Fähigkeit zu lesen: »There is a widening awareness of the variety of ways in which people could interact with books [...] besides reading them personally«.12 Wenn Bischof Turgot13 die Enkelin des angelsächsischen Königs Edmund Ironside als eine gelehrte, belesene Frau darstellt, ist dies wohl nicht nur einem hagiographischen Topos zuzuschreiben; dass sie die heiligen Schriften, über die sie sich mit vielen gelehrten Männern unterhielt, besser als alle verstand, und dass keiner ihren Tiefsinn und Brillanz zu übertreffen vermochte, bringt ihr Hagiograph jedoch nicht ausschliesslich mit ihrer Lesefähigkeit in Verbindung. Belesenheit konnte frau sich schliesslich auch durch die Vermittlung gelehrter Kleriker aneignen. Gamesons Skepsis geht nicht so weit, dass er Margarets Lesefähigkeit grundsätzlich in Frage stellt. Jedoch hinterfragt er Eigenschaften, die wir mit Belesenheit verbinden würden: It should be stressed that our knowledge of the Queen’s literacy remains scanty and ambiguous. […] It is worth remembering that we know next to nothing about her education; we have little way of knowing how proficient she was at reading, how much time she devoted to it, nor how important a role literacy played in her life as a whole. Our sources are not concerned to supply this information. The only one of Margaret’s books we possess was possibly not written for her; it contained texts which will have been very familiar; it was written in such a way as to make the task of using it as easy as possible; and she made no additions to it.14
Selbst wenn wir diese Skepsis nicht teilen, müssen wir wohl einsehen, dass es dem Hagiographen bei der Evozierung von Margarets sapientia hauptsächlich darum ging, dass andere durch die Belesene bekehrt und belehrt wurden: Kein Wunder, dass die Königin sich und die Ihren weise regierte, sie wurde nämlich jederzeit von der allerweisesten Lehre der Heiligen Schrift geleitet. Denn – was ich an ihr sehr zu bewundern pflegte – sie gab sich inmitten des Aufruhrs der Geschäfte, inmitten der vielfältigen Sorge ihres Königtums mit wundersamem Eifer der Lektüre der Heiligen Schrift hin. Sie stellte im Kreise 12 Richard Gameson: The Gospels of Margaret of Scotland and the Literacy of an Eleventh-Century Queen. In: Lesley Smith, Jane H. M. Taylor (Hg.): Women and the Book. Assessing the Visual Evidence. Toronto 1997, S. 149-164, hier S. 162. 13 Ob dieser Beichtvater Margarets oder aber der von den Bollandisten erwähnte Mönch Theoderic der Verfasser ihrer Biographie war, ist umstritten. Ich werde im Folgenden den Autor immer als Turgot bezeichnen. 14 Gameson: The Gospels of Margaret of Scotland [Anm. 12], S. 161.
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der gelehrtesten Männer öfter sogar scharfsinnige Erörterungen an. Doch unter diesen übertraf sie keiner an Tiefsinn oder Brillanz. Deshalb geschah es öfter, dass selbst Rectores sie viel gelehrter verliessen, als sie gekommen waren.15
Zu denen, die von Margaret in ganz besonderer Weise bekehrt und belehrt wurden, zählt der Hagiograph ihren königlichen Gemahl, den ungebildeten Kriegerkönig Malcolm den Dritten von Schottland (ignarus litterarum). Es ist interessant festzustellen, dass die Liebe des Ehemannes zu seiner Ehefrau zwar dazu führt, dass er lernt, ihre Bücher zu schätzen, nicht aber zu lesen. Somit könnte Kapitel II, 1116 veranschaulichen, wie illiterati im Zeitalter der ›transitional literacy‹ gewissermassen doch an der Buchkultur teilhaben konnten. Dieses Kapitel beschäftigt sich damit, wie die Königin ihren kriegerischen Ehemann sozusagen zu einem zivilisierten Menschen macht. Wir erfahren, dass der König die Andachtspraktiken von ihr lernt und ihre Werte annimmt: Was auch immer sie zurückwies, wies auch er zurück, was sie liebte, liebte er aus Liebe zu ihrer Liebe [...] so dass [Malcolm], obschon des Lesens unkundig, in Büchern blätterte, oder sie auch nur betrachtete, welche sie für ihre Gebete und zum Lesen brauchte. Und wenn er bemerkte, dass sie ein Buch besonders schätzte, fand auch er es wertvoll, und küsste und streichelte es dauernd. Manchmal rief er sogar einen Goldschmied und befahl ihm, das Buch mit Gold und Edelsteinen über und über zu schmücken. Den so geschmückten Codex pflegte der König dann der Königin, gleichsam als Zeichen seiner Hingabe, zu überreichen.17
15 Nec mirandum, quod sapiente se suosque regimine moderabatur Regina, quae sapientissimo sacrae semper Scripturae magisterio regebatur. Nam, quod ego in illa multum admirari solebam, inter causarum tumultus, inter multiplices regni curas, miro studio divinae lectioni operam dabat, de qua cum doctissimis assidentibus viris etiam subtiles saepius quaestiones conserebat. Sed sicut inter eos nemo illa ingenio profundior, ita nemo aderat eloquio clarior. Evenit itaque saepius, ut ab ea ipsi rectores, multo quam advenerant abscederent doctiores. Vita s. Margaritae Reginae Scotiae. Hg. v. Joannes Carnandet. In: Acta Sanctorum Iunii II. Hg. v. Joannes Bollandus. Paris u.a. 1863-1940, S. 324-331, hier S. 326. Für die Hilfe mit meinen Übersetzungen aus dem Latein bin ich Thomas Schmid äusserst dankbar. 16 Die Kapitelnummern weichen in der Acta Sanctorum-Version [Anm. 15] des Textes von den in Gameson [Anm. 12] zitierten Nummern ab. 17 Quae ipsa respuerat, eadem et ipse respuere, et quae amaverat, amore amoris illlus [sic!] amare. Unde et libros, in quibus ipsa vel orare consueverat, vel legere; ille, ignarus licet litterarum, saepe manuversare solebat et inspicere; et dum ab ea quis illorum esset ei carior audisset, hunc et ipse cariorem habere, deosculari, saepius contrectare. Aliquando etiam advocato aurifice ipsum codicem auro gemmisque perornari praecepit, atque perornatum ipse Rex ad Reginam, quasi suae devotionis indicium, referre consuevit. De sancta Margarita [Anm. 15], S. 326.
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Dieser Passus zeigt, wie Bücher, über ihre Bedeutung als Wertgegenstände hinaus auch dazu dienen, einerseits die intellektuelle Überlegenheit der Königin und andererseits deren Rolle in der Bildung ihres Mannes zu veranschaulichen. Dabei ist dies kein Prozess, der Malcolm etwa zu einem Leser der devotionalen Texte macht, sondern ein Prozess, der ihm die Fähigkeit verleiht, die Objekte der spirituellen Liebe der Königin so zu lieben und anzubeten, als wären sie stellvertretende Fetische. Dies belegen schliesslich seine sinnlichen und weltlichen Gesten des Verschönerns, Herumtragens, Berührens und Küssens. Auch in Kapitel III, 25 besitzt das Buch die Fähigkeit, sich stellvertretend für seine Eigentümerin einzusetzen. Turgot hat gerade gestanden (III, 24), dass er keine Belege für Mirakel hat, die beweisen würden, dass Margaret eine Heilige war, jedoch weiss er von einem Ereignis, das die Heiligkeit ihrer Lebensweise bestätigt. Er erzählt die Geschichte der wundersamen Erhaltung ihres liebsten Evangeliars, welches versehentlich in einen Fluss gefallen war, als ein Priester es in den Falten seiner Kleidung trug, während er eine Brücke überquerte: Sie besass ein Evangeliar, das über und über mit Edelsteinen und Gold geschmückt war, indem Goldmalerei die Bilder der vier Evangelisten zierte; doch auch jede Initiale glänzte ganz von Gold. An diesem Codex hing sie schon immer mehr als an den übrigen, die sie zu studieren gewohnt war. Als einer, der das Buch – unsorgfältig in Tücher gewickelt – mit sich trug, eben eine Furt durchquerte, da fiel es mitten ins Wasser. Der Träger bemerkte es nicht und legte den begonnenen Weg sorglos zurück. Als er dann aber das Buch vorweisen wollte, erkannte er, dass er es verloren hatte. Man suchte lange danach, fand es aber nicht. Endlich fand man es in der Tiefe des Flusses offen liegend: Seine Blätter wurden von der Strömung ohne Unterlass hin und her gezerrt, und die seidenen Läppchen, welche die goldenen Buchstaben bedeckten, damit sie nicht durch die Berührung mit den Blättern abstumpften, waren von der Gewalt des Flusses abgerissen worden. Wer hätte gedacht, dass das Buch noch etwas wert sein könnte? Wer hätte geglaubt, dass darin auch nur ein Buchstabe weiterbestehen würde? Und doch: unversehrt, unverdorben, unbeschädigt zog man es mitten aus dem Fluss, so dass es schien, als sei es überhaupt nicht mit dem Wasser in Berührung gekommen. Denn das Strahlen der Blätter und die gänzlich unversehrte Gestalt der Buchstaben waren so erhalten geblieben, wie sie waren, bevor das Buch in den Strom fiel.18 18 Habuerat librum Evangeliorum, gemmis et auro perornatum, in quo quatuor Evangelistarum imagines pictura auro admixta decorabat; sed et capitalis quaeque littera auro tota rutilabat. Hunc codicem, prae ceteris, in quibus legendo studere consueverat, carius semper amplexata fuerat. Quem quidam deferens, dum forte per vadum transiret; liber, qui minus caute pannis fuerat obvolutus, in medias aquas cecidit: quod ignorans portitor, iter quod inceperat securus peregit: cum vero postea librum proferre vellet, tum primum quod perdiderat agnovit. Quaerebatur diu nec inveniebatur. Tandem in profunda fluminis apertus jacere reperitur, ita ut illius folia impetu aquae sine cessa-
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Diese seltsame, aber keineswegs einzigartige Geschichte eines Buches, das ein Eintauchen in das bücherfeindliche nasse Element übersteht, erinnert an die wundersame, jungfräuliche Unversehrtheit des Märtyrerkörpers nach den Folterungen, die nicht selten aus Eintauchen in kochendes Blei, Öl oder Wasser bestanden. Ausserdem dürften Bezeichnungen wie integer, incorruptus, illaesus in der Hagiographie im Zusammenhang mit den exhumierten Leichen von Heiligen wohl häufiger vorkommen als mit Andachtsobjekten. Das Buch wird somit zur Verkörperung seiner heiligen Besitzerin: Es veranschaulicht die moralische und körperliche Integrität einer Frau, die ihr weltliches Leben unversehrt überstanden hat. Auf diese Eigenschaft des Buches, metonymisch bzw. stellvertretend für seinen Besitzer zu funktionieren, werde ich in Zusammenhang mit dem angelsächsischen König Alfred zurückkommen. Zunächst jedoch eine weitere Bemerkung über die Tatsache, dass am fraglichen Tag das Buch von einem Ort zum anderen transportiert wurde, um darauf einen Eid zu schwören (wie wir aus einer anderen zeitgenössischen Darstellung dieses Wunders erfahren).19 Der häufige Gebrauch von Büchern für die Durchführung religiöser und quasimagischer Rituale deutet eine weitere wichtige Form von Interaktion zwischen Menschen und Büchern an, bei der das eigentliche Verstehen des Geschriebenen unwesentlich scheint. Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen der sogenannten ›transitional literacy‹ beschäftigen, welche auf die Einführung der Latinitas im angelsächsischen England des siebten Jahrhunderts folgte, weisen darauf hin, dass gewisse Arten von Büchern, im Speziellen von der Gemeinde verehrte Bücher wie Bibeln oder Evangeliare, zu rituellen Zwecken eingesetzt wurden. Dabei wurden den des Lesens ja überwiegend unkundigen Zuschauern eindrucksvoll die unwiderruflichen Konsequenzen des jeweiligen symbolischen Aktes demonstriert.
tione agitarentur, et panniculi de serico violentia fluminis abstraherentur, qui litteras aureas, ne foliorum contactu obfuscarentur, contexerant. Quis ulterius librum valere putaret? Quis in eo vel unam litteram parere crederet? Certe integer, incorruptus, illaesus, de medio fluminis extrahitur, ita ut minime ab aqua tactus videretur. Candor enim foliorum, et integra in omnibus formula litterarum ita permansit, sicut erat antequam in fluvium cecidisset [...]. De Sancta Margarita [Anm. 15], S. 329. Dieselbe Geschichte erzählt ein Gedicht, welches zu besagtem Evangeliar noch im 12. Jh. hinzugefügt wurde, und das Gameson sowohl ediert als auch übersetzt. Gameson: The Gospels of St. Margaret [Anm. 12], S. 165. 19 Hunc librum quidam inter se iurare uolentes/ Sumpserunt nudum sine tegmine nonque ligatum. Gameson: The Gospels of St. Margaret [Anm. 12], S. 165.
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Ein Beispiel hierfür bieten Zeremonien, in deren Verlauf einem Begünstigten Land zugesprochen wird.20 Die die Landvergabe beurkundenden Pergamentblätter zeigen das Bedürfnis der frühen Kirchenmänner, eine schriftliche Sicherheit für ihre Besitztümer zu haben. Nun stellt sich jedoch die Frage, welche rechtliche Kraft solche Urkunden überhaupt haben konnten, wenn doch das geschriebene Wort ausserhalb von Klostermauern und Kirchenraum kaum anzutreffen war? Der Klerus konnte zwar versichern, dass seine eigenen Aufzeichnungen ausreichender Beweis für seine Besitzrechte seien, doch musste die Gültigkeit des geschriebenen Wortes erst von den Laien anerkannt werden. Anhand der frühen Urkunden haben Forscher nun herausgefunden, dass sichtbare und fassbare Rituale eingesetzt wurden, um der schriftlich festgehaltenen Vergabe breite Anerkennung zu verschaffen.21 So konnte metonymisch ein Klumpen Erde als visueller Teil des vergebenen Landstücks zusammen mit der Urkunde auf ein Evangeliar gelegt werden. Diese Zeremonien, die manchmal auch das Berühren des Pergamentes als formelle Garantie seiner Echtheit beinhalteten, interessieren uns nur insofern, als dass sie deutlich zeigen, dass das Lesen des Inhaltes nicht selten einer rituellen Funktion des Objektes untergeordnet wurde. Dies machte den Vertrag rechtlich bindend, ohne dass dabei auf seinen Inhalt Bezug genommen wurde. Als Beispiel hierfür weist Susan Kelly auf die Klosterstiftung König Aethelbalds von Mercia an Christ Church, Canterbury, im späten 8. Jh. hin.22 Um die Vergabe abzusichern, schickte Aethelbald einen Klumpen Erde mit sämtlichen Dokumenten nach Christ Church, damit sie dort auf dem Altar zur Schau gestellt würden. Nach dem Tod des damals waltenden Erzbischofs wurden die Dokumente aber gestohlen und zu einem anderen König namens Cynewulf gebracht, der daraufhin das Kloster und alle seine Besitztümer sofort für sich beanspruchte. Offenbar konnte Landbesitz mit den dazugehörigen Urkunden einem neuen Besitzer übertragen werden, ohne dass der Text geändert wurde. Die Urkunde musste am jeweiligen Ort lediglich sichtbar sein. Land, das urkundlich vergeben wurde, wurde als bocland bezeichnet. Es war die einzige Kategorie von Land, über welche der Besitzer frei verfügen konnte und war damit viel 20 Das Pergamentblatt, auf dem solche Vergaben festgehalten wurden, wurde nicht selten in einem Evangeliar aufbewahrt, wodurch dieses wertvolle Buch seinerseits auch eine Archivfunktion einnahm. 21 S. insbesondere: Brian Stock: The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries. Princeton 1983, S. 47f. 22 Susan Kelly: Anglo-Saxon Lay Society and the Written Word. In: Rosamond McKitterick (Hg.): The Uses of Literacy in Early Medieval Europe. Cambridge 1990, S. 36-62, hier S. 46. S. weiter Ann Williams: Land Tenure. In: The Blackwell Encyclopaedia of Anglo-Saxon England. Hg. v. Michael Lapidge u.a. London 1999, S. 272-278.
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begehrenswerter als die andere, begrifflich nicht mit dem Buch verbundene, Kategorie folcland. Auf Land dieser Kategorie hatten nicht nur Erben und Verwandte Anspruch, es wurden auch Steuern darauf erhoben. In einer Gesellschaft, die sich noch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bewegt, ist die Macht des ungelesenen Buches also auch in dieser Hinsicht eine beträchtliche. Neben Ritualen der Landvergabe gab es sicherlich weitere – man denke z.B. an Exkommunikationsriten und Kirchenbannformeln, die im römischen Pontifikale Ordo excommunicandi et absolvendi aufgenommen wurden 23 – welche die Präsenz eines Buches verlangten, ohne dass dabei zwingend darin gelesen oder daraus vorgelesen wurde. Viele dieser Rituale gehen zurück auf eine Zeit, als nur ein kleiner Teil der Bevölkerung des Lesens mächtig war. Sie sind vor allem für das 11. und 12. Jh. belegt, weil in dieser Zeit Schriftstücke aller Art neu für Zwecke genutzt wurden, die zuvor ohne das geschriebene Wort ausgekommen waren. Im Verlauf der allmählichen Verschriftlichung des Rechtswesens im frühen englischen Mittelalter spielte die Anschaulichkeit des (oft undatierten und unsignierten) Pergaments eine von der Forschung längst anerkannte symbolische Rolle. Zu einer Zeit, als das geschriebene Wort im Rechtswesen noch nicht mit dem Schwert konkurrieren konnte, ›anthologisierte‹ der König von Wessex, Alfred der Grosse (gest. 899), die – ihm und seinen Beratern genehmen – bereits existierenden sowie die von ihm selbst erlassenen Gesetze in einer Gesetzessammlung, die einen wichtigen frühen Beitrag zu diesem Prozess darstellt. Um diesen Prozess, so spannend er auch sein mag, kann es hier nicht gehen. Wohl jedoch möchte ich König Alfreds Biographie erwähnen als Beleg dafür, wie das Buch sowohl als Stellvertreter seines Besitzers, als auch als Ware dargestellt wurde – zwei Eigenschaften, die es einem Fetisch ähnlich erscheinen lassen.
23 Buch, Glocke und Kerze sind die drei Artefakte, welche seit dem 8. Jh. mit dem Akt der Exkommunikation in Verbindung gebracht wurden, als Papst Zacharius eine Reihe von Formeln zusammenstellte, die beim Anathema verwendet werden sollten. Die noch immer geläufige Redewendung ›Book, Bell and Candle‹ (der wir auch in der Reihenfolge ›Bell, Book and Candle‹ begegnen) wird auch abkürzend für den Kirchenbann verwendet. Nachdem der Bischof, von zwölf Priestern begleitet, die Glocke geläutet hatte, den Kirchenbann oder das Anathema über einem geöffneten Buch ausgesprochen hatte, schloss er dasselbe Buch und löschte schliesslich die Kerze, indem er sie umkippte und zu Boden warf. Damit war die Exkommunikation vollzogen. Vermutlich funktionierte das Buch hier als sakrales Objekt, dessen Gegenwart die Performanz des gesprochenen Wortes sicherstellte. Falls es ein Evangeliar war, stand das offene Buch für die Präsenz des potentiell heilbringenden Wortes; wurde es geschlossen, so entzog man dem Exkommunizierten symbolisch die Gegenwart Gottes.
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Schauen wir zunächst eine Episode aus Alfreds Jugend an, in der dieser des Lesens noch nicht mächtig ist. Obschon die Formulierungen von Alfreds walisischem Biographen oftmals nicht eindeutig chronologisch einzuordnen und häufig unklar sind, was Alfreds Lesefähigkeit betrifft, schreibt Bischof Asser im 22. Kapitel seines De Rebus Gestis Alfredi, dass Alfred [...] durch die beschämende Nachlässigkeit seiner Eltern und Lehrer bis zu seinem zwölften Lebensjahr oder sogar noch länger nie mit dem Schriftwesen in Berührung kam. Aber er war Tag und Nacht ein aufmerksamer Zuhörer, wenn andere ihm englische Gedichte rezitierten und behielt sie gerne im Gedächtnis. 24
Asser schweigt über den Inhalt dieser englischen Gedichte, die in dem Buch enthalten sind, welches in seinem nächsten Kapitel eine wichtige Rolle spielt. Kapitel 23 nämlich erzählt von einem Buch (Saxonicum poematicae artis librum), das mit einer wunderschönen Initiale versehen war und Alfreds Mutter Osburgh gehörte. Asser misst diesem ungelesenen Buch offenbar grosse Wichtigkeit für den Bildungsprozess des künftigen Königs bei, auch wenn Alfred vielleicht nie zu mehr im Stande war, als Texte in Englisch und später auch in Latein zu lesen. Denn es gibt keine Belege dafür, dass er selbst schreiben konnte, obschon er gemeinhin als ›Verfasser‹ von ausgewählten, kanonbildenden Übersetzungen aus dem Erbgut der Latinitas gilt.25 In dem erwähnten Kapitel nun verspricht Osburgh, dass derjenige ihrer vier Söhne das Buch von ihr erhalten werde, der am schnellsten seinen Inhalt auswendig lernen könne. Alfred bringt das Buch zu seinem Lehrer, der ihm auf nicht näher erklärte Weise hilft, sich den Inhalt zu merken, so dass er diesen dann wiederum vollständig vor seiner Mutter rezitieren kann. Es kommt hier nicht darauf an zu entscheiden, ob Asser damit die phänomenale Gedächtnisleistung des Kindes betonen will oder ob er uns überzeugen will, dass Alfred durch die Aussicht, das Buch zu besitzen, erstmals dazu angeregt wurde, lesen zu 24 Indigna suorum parentum et nutritorum incuria usque ad duodecimum aetatis annum, aut eo amplius, illiteratus permansit. Sed Saxonica poemata die noctuque solers auditor, relatu aliorum saepissime audiens, docibilis memoriter retinebat. Asser’s Life of King Alfred. Hg. v. William Henry Stevenson. Oxford 1959, S. 20. 25 Es scheint mir merkwürdig, dass viele Historiker diese Leistung Alfreds verschweigen. Dass Asser selbst auch nichts über Alfreds Verfassertätigkeit berichtet, wird meistens der Tatsache zugeschrieben, dass die königlichen Übersetzungen erst nach 893 – also nach Assers De rebus gestis Alfredi – erfolgten. Einen aufschlussreichen Überblick über Alfreds volkssprachliche Versionen der Cura pastoralis, der Consolatio philosophiae, der augustinischen Soliloquia sowie der Psalmen bietet Allen Frantzen: King Alfred. Boston 1986 (Twayne’s English Authors Series; 425).
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lernen. Worauf es mir ankommt ist, dass dieses Buch Alfreds Eifer in seiner Eigenschaft als schönes Objekt angestachelt hat – als Ware, deren Wert darin besteht, dass man sie austauschen und nebenbei auch den Geschwistern abgewinnen kann: Eines Tages also, als seine Mutter ihm und seinen Brüdern ein Buch angelsächsischer Dichtung zeigte, das sie in der Hand hielt, sagte sie: ›ich werde dieses Buch demjenigen von Euch schenken, der es am schnellsten auswendig lernen kann‹. Angespornt durch ihre Stimme, oder vielmehr durch göttliche Eingebung, und angetan von der Schönheit der Initialen jenes ungelesenen Buches, gab Alfred seiner Mutter die folgende Antwort, mit der er seinen Brüdern zuvorkam, die ihm an Alter um Jahre voraus waren, nicht aber an Fähigkeiten: ›Schenkst Du tatsächlich dieses Buch diesem unter uns, der es als erster verstehen und vor Dir rezitieren kann?‹ Mit vergnügtem Lächeln versicherte sie ihm: ›Demselbigen schenke ich es‹. Sofort nahm er ihr das Buch aus der Hand, ging zu seinem Lehrer, und lernte es auswendig. Als er es auswendig gelernt hatte, brachte er es zu seiner Mutter zurück und rezitierte es.26
Asser zeichnet an zwei weiteren Stellen (Kapitel 24 und 88f.) Alfred so, als sei er mit einem Buch so untrennbar verbunden, wie man das etwa mit einem Doppelgänger oder mit einem Fetisch (ein Objekt, das nach psychoanalytischer Auffassung metonymisch für die idealisierte Mutter steht)27 sein kann. So sehen wir in diesen Kapiteln, wie Alfred, nachdem er König geworden war, Tag und Nacht ein Büchlein bei sich trug, das nicht nur Gebete und Psalmen enthielt, sondern auch Weisheiten und Sprüche, die ihm erinnerungswürdig erschienen. Das daraus resultierende Enchiridion oder kleines Handbuch, wie es im Kapitel 89 genannt wird, war vollgestopft mit allen möglichen Dingen (erat enim omnino multis ex causis refertus).28 Dabei ist es unwahrscheinlich, dass der König diese Denkwürdigkeiten auch selbst aufgeschrieben hat, 26 Cum ergo quodam die mater sua sibi et fratribus suis quendam Saxonicum poematicae artis librum, quem in manu habebat, ostenderet, ait: ›Quisquis vestrum discere citius istum codicem possit, dabo illi illum.‹ Qua voce, immo divina inspiratione, instinctus, et pulchritudine principalis litterae illius libri illectus, ita matri respondens, et fratres suos aetate, quamvis non gratia, seniores anticipans, inquit: ›Verene dabis istum librum uni ex nobis, sciliet illi, qui citissime intelligere et recitare eum ante te possit?‹ Ad haec illa, arridens et gaudens atque affirmans: ›Dabo,‹ infit, ›illi‹. Tunc ille statim tollens librum de manu sua, magistrum adiit et legit. Quo lecto, matri retulit et recitavit. Asser’s Life of King Alfred [Anm. 24], S. 20. 27 Sigmund Freuds psychoanalytisches Verständnis des männlichen Fetischismus als eine sexuelle Perversion, die in der libidinösen Besetzung eines metonymisch für den Körper der Mutter (besonders für den ihr verwehrten Phallus) stehenden Objekts besteht, hat er 1927 in seinem Aufsatz ›Fetishism‹ ausgeführt. Sigmund Freud: Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud. Hg. v. James Strachey. London 1953-1973, S. 147-158. 28 Asser’s Life of King Alfred [Anm. 24], Kap. 88, S. 74.
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denn er bat Asser eines Tages darum, einen Passus, den der Bischof ihm gerade vorgelesen hatte – ex quodam quoddam testimonium libro illi29 – im bereits übervollen Enchiridion aufzuschreiben. Alfreds Handbuch war jedoch so vollgeschrieben, dass der königliche Berater (Asser selbst) diesem Wunsch seines Herrschers nicht entsprechen konnte, und eine neue Lage anfangen musste. Generationen von Wissenschaftlern haben immer wieder über den möglichen Inhalt des heute verlorenen Handbuchs gerätselt, in der Annahme, dass es das Gedankengut seines Besitzers wiederspiegle, so wie das vielleicht eine Handtasche, gefüllt mit persönlichen Gegenständen und Andenken, zu tun vermag. Körpernähe und Körperähnlichkeit (besonders mit dem Mutterleib) erlauben diesen Vergleich von Buch und Tasche, der im übrigen an die verbreitete Metapher des literarischen Werkes als Nachwuchs des Autors erinnert. Wir wissen über dieses Buch jedoch nur, dass es sich mit der Zeit zu einer Anthologie von der Grösse eines Psalters entwickelt hatte und dass der König es gewissenhaft Tag und Nacht bei sich trug und daraus nicht geringen Trost bezog.30 Nun besteht kein Zweifel, dass das verlorene Enchiridion, was auch immer sonst noch darin enthalten gewesen sein mag, ein persönliches Gebetsbuch war. Es wäre nicht unlogisch, zu denken, dass persönliche Gebetsbücher dafür gedacht waren, von ihren Besitzern gelesen zu werden, doch auch hier warnen Wissenschaftler vor voreiligen Schlüssen. Michael Clanchy weist zum Beispiel darauf hin, dass die Gebetsund Stundenbücher im Besitz von Laien die jeweils aktuelle Mode der Buchmalerei wiederspiegeln sollten: »Everyone needed a prayerbook, their own interactive record of scripture, whether or not they could read«.31 Besonders die spätmittelalterlichen Stundenbücher stehen im Verdacht, dass sie nicht in erster Linie zum Lesen bestimmt waren, speziell, wenn sie im Besitz von Frauen waren. Neuere, auf Testamenten basierende Statistiken über Buchbesitz im England des 14. und 15. Jahrhunderts belegen, dass viel mehr Frauen als Männer im Besitz eines Stundenbuches waren. Zwar befanden sich 95% der Gesamtzahl der belegbaren Bücher im Besitz von Männern, von den Stundenbüchern aber waren nur etwa 5% nachweislich im Besitz von Männern.32 Wis29 Ebd., S. 73. 30 Quem enchiridion suum, id est manualem librum, nominari voluit, eo quod ad manum illum die noctuque solertissime habebat; in quo non mediocre, sicut tunc aiebat, habebat solatium (ebd., S. 75). 31 Michael Allen Clanchy: From Memory to Written Record. England 1066-1307. London 1979, S. 110f. 32 Sandra Penketh: Women and Books of Hours. In: Lesley Smith, Jane H. M. Taylor (Hg.): Women and the Book. Assessing the Visual Evidence. Toronto 1997, S. 266281, hier 270f.
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senschaftler wie Sandra Penketh, welche die komplexen Beziehungen von Frauen zu ihren Stundenbüchern untersucht hat, stellen sich heute folgende zugespitzt formulierte Frage: Wenn wir wissen, dass eine Frau ein Stundenbuch besass, heisst das dann automatisch, dass sie es auch benützen konnte, oder war das Buch nicht vielmehr einfach nur ein nettes Accessoire? So hat etwa der französische Dichter Eustace Deschamps im 14. Jahrhundert zu den Stundenbüchern satirisch bemerkt, dass ihre Besitzerinnen behaupteten, es nicht ertragen zu können, ohne sie in der Kirche gesehen zu werden: Ein Stundenbuch unserer Heiligen Jungfrau brauche ich in glänzender Handarbeit, in Gold und Blau, reich geschmückt, schön ordentlich und kunstvoll bemalt, bedeckt mit feinem Goldstoff. Und, damit die Seiten richtig verschlossen werden können, braucht es zwei goldene Schnallen. 33
Der Illuminator, der in den Randminiaturen des Luttrell Psalters ein hybrides Monster schuf – halb Frau, die ein Gebetbuch in der Hand hält, halb Vogel – wollte gemäss Michael Camille darauf hinweisen, dass eine Frau, die ein geschlossenes Buch zur Schau stellte, nicht viel besser war als ein gefiedertes Tier: »The fact that she holds the book closed and with its spine outwards, as though showing it off as an object of luxury rather than a work to be opened and read, is significant.« 34 Man kann darüber diskutieren, ob es die an sich verdächtige Assoziation einer Frau mit einem Buch ist, die hier als monströs betrachtet wird oder ob im Gegenteil der Missbrauch des Buches als Accessoire kritisiert wird. Gehen wir hier nicht auf die unterschiedlichen und oft kontroversen Einschätzungen bezüglich der Lesefähigkeit mittelalterlicher Frauen ein,35 sondern bleiben wir bei der Überlegung, die Liebe 33 Heures me fault de Nostre Dame.../ Qui soient de soutil ouvraige,/ D’or et d’azur, riches et cointes,/ Bein ordonnées, et bien pointes,/ De fin drap d’or bien couvertes,/ Et quant elles seront ouvertes,/ Deux fermaulx d’or qui fermeront. Eustache Deschamps nach Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting. Its Origins and Character. Bd. 1. Cambridge (Mass.) 1958, S. 68, Anm. 3. 34 Michael Camille: Mirror in Parchment. The Luttrell Psalter and the Making of Medieval England. London 1998, S. 304. 35 So dürfen wir laut Penketh nicht einmal aus einer Illumination, die Maria von Burgund mit einem aufgeschlagenen Stundenbuch darstellt, schliessen, dass diese ihr eigenes Stundenbuch tatsächlich lesen konnte. Die Illumination belegt lediglich, dass Maria ein Stundenbuch besass und dass sie es zur privaten Andacht benutzte. Aus der Tatsache, dass sie das Buch benutzte und nicht nur mit sich herumtrug, schliesst Penketh vorsichtig, dass »eine wenigstens rudimentäre Lesefähigkeit oder minimales Verstehen des In-
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des Besitzers oder der Besitzerin zum Buch könne unter Verdacht stehen, bloss in dessen Materialität gegründet zu sein. Neben den wunderbar illuminierten mittelalterlichen Gebetsbüchern, die unklare Aussagen über die Lesefähigkeit ihrer Besitzer machen, aber für die Selbstdarstellung genauso wichtig waren wie etwa Kleidung, und den schönen, aber unhandlichen Psaltern, die weniger zum Lesen als für symbolische Zwecke hergestellt wurden, gab es auch im Falle der profanen Literatur sowohl bequem lesbare Ausgaben als auch prunkvolle Exemplare, die noch heute aussehen, als ob sie nie gelesen worden sind und als ob sie einfach für den sozialen Status ihres Eigentümers standen.36 Vielleicht ist es überflüssig zu betonen, dass die mittelalterliche Buchproduktion nicht nur auf Leser abzielte, sondern auch auf Buchbesitzer, die empfänglich dafür waren, Bücher aus Gründen zu schätzen, die viel mehr mit ihrer Eigenschaft als Artefakt denn mit ihren Inhalten zu tun hatten. Zum Schluss möchte ich wegkommen vom Buch als möglichem Statussymbol, oder als Projektionsfläche sozial erwünschten Ansehens, und das Buch als Objekt von ›bibliophilem Begehren‹ betrachten. Ich bin mir bewusst, dass der Begriff ›bibliophiles Begehren‹ das Verhältnis zwischen dem Sammler und seinem Buch als krankhaft erscheinen lässt, aber es gibt gute Gründe dafür, zu glauben, dass die Sammelleidenschaft des Bibliophilen – besonders wenn die Bücher sauber und geschlossen waren – im mittelalterlichen England tatsächlich als Anomalie angesehen wurde. Bereits im 13. Jahrhundert tadelte John of Wales die Scholaren seiner Zeit für ihre grosse Leidenschaft, sich Bücher zu erwerben,37 und ohne Zweifel gab es weitere, die von der Unvereinbarkeit der Liebe zu Gott und der Liebe zu Büchern, in ihrer Eigenschaft als Ware, überzeugt waren. Richard Augerville de Bury legt in seinem einzigen bekannten Werk, dem Philobiblon, nahe, dass seine Leidenschaft für teure und prunkvolle Bücher ihn anfällig machte für haltes« angenommen werden kann. Penketh: Women and Books of Hours [Anm. 32], S. 269. Der Umstand, dass die Inhalte von Stundenbüchern auch aus Illuminationen bestehen, welche biblische, spirituelle und moralische Beispiele veranschaulichen, erschwert die Suche nach dem tatsächlich gelesenen Inhalt. Penketh schliesst: »obschon mittelalterliche Pietät unzweifelhaft ein nicht zu vernachlässigendes Element von öffentlicher Zurschaustellung enthielt, wäre es vielleicht allzu zynisch zu sagen, dass der Besitz dieser Bücher keinen anderen Zweck hatte, als die Besitzerin zu schmücken [...]. Schliesslich war es üblich, dass eine Frau mehrere Ausgaben eines Stundenbuches besass, wovon eine für besondere Gelegenheiten und eine weitere für den täglichen Gebrauch bestimmt war« [Übersetzung M.Br.]. Penketh: Women and Books of Hours [Anm. 32], S. 269. 36 Derek Pearsall: John Lydgate. London 1970, S. 76. 37 S. Christian Zacher: Curiosity and Pilgrimage. The Literature of Discovery in Fourteenth-Century England. Baltimore/ London 1976, S. 64.
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den Vorwurf der avaritia, der superbia, und der curiositas. De Bury war ein prominentes Mitglied des Klerus und ein Staatsdiener mit beträchtlichem sozialen Ansehen. 1333 hatte er dem Papst in Avignon als Kapellan gedient und im folgenden Jahr machte ihn sein ehemaliger Schüler König Edward III. zum Schatzmeister, Bischof von Durham und Kanzler von England. Heute scheint seine historische Bedeutung vor allem in der faszinierenden Apologie seiner Liebe zu Büchern zu liegen. Seinen Freunden und Bekannten, zu denen nicht nur Gelehrte aus Oxford und Cambridge gehörten, sondern auch der italienische Humanist und Büchersammler Petrarca, galt Richard de Bury als Mann von bewundernswerter Gelehrtheit, die auch Kenntnisse des Griechischen, besonders der Werke des Aristoteles, umfasste. Ein Zeitgenosse berichtete, Richard besässe eine unendliche Anzahl – aber wenigstens mehr als fünf grosse Wagenladungen – an Büchern.38 Wieder ein anderer sagte, er besässe mehr Bücher als alle anderen Bischöfe Englands zusammen, die Bücher füllten die Bibliotheken in allen seinen Residenzen, und einige Räume in seinen Wohnsitzen seien so mit Büchern gefüllt, dass man sie nicht mehr betreten könne.39 Die materiellen Spuren von de Burys Sammelleidenschaft sind leider grösstenteils verloren gegangen, so dass es heute unmöglich ist, den Inhalt seiner Bibliothek zu rekonstruieren und ihren Umfang auch nur annähernd zu schätzen. Ich weiss nicht, wie zuverlässig die von Christian Zacher geschätzte Zahl von 1500 Büchern ist – sie war auf jeden Fall gross genug, dass de Bury seine Bücher der Universität von Oxford vererben und eine Bibliothek stiften konnte, für welche er die Bedingungen für Verwaltung und Ausleihe in Kapitel 19 des Philobiblon festlegte. Es kann hier aber nicht um die Quantität der Bücher gehen, sondern vielmehr um die Qualität von de Burys Verhältnis zu ihnen sowie um die Kritik, der er ausgesetzt war, und die wir nur ex negativo, mit Hilfe seiner Apologie, rekonstruieren können. Kapitel 18 seines Philobiblon erwähnt die drei Hauptgründe, warum der leidenschaftliche Buchsammler dem Tadel vieler Zeitgenossen ausgesetzt war: Denn obwohl der Liebe eines Klerikers zu den Büchern die Ehrbarkeit entsprechend der Natur ihres Gegenstandes auf der Stirn geschrieben steht, hat sie merkwürdigerweise vielfache Kritik hervorgerufen. Man verstand uns nicht, sah uns schief an und bezichtigte uns bald übertriebener Wissbegierde, bald
38 Murimuth, zitiert in: Zacher: Curiosity and Pilgrimage [Anm. 37], S. 62. 39 De Chambre, zitiert in: Zacher: Curiosity and Pilgrimage [Anm. 37], S. 62.
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der Habsucht, zum mindesten auf diesem Gebiete, bald ungezügelter Masslosigkeit [voluptatis]. 40
Einer der obengenannten Gründe für seine Verunglimpfung, seine exzessive curiositas, bezieht sich auf de Burys unersättliches Begehren für Wissen aller Art, vor allem aber für esoterisches Wissen. Die beiden anderen Gründe für Tadel lagen, gemäss de Bury, in seiner Zurschaustellung von vanitas, sowie in seiner intemperantia voluptatis – eine Zügellosigkeit, über die ich kurz im Zusammenhang mit dem Fetisch nachdenken möchte. Bereits am Beispiel von König Malcolms quasi-erotischen Aufmerksamkeiten für die Bücher seiner Frau und ebenso bei Alfreds Tendenz, sein geliebtes Handbuch zu personifizieren, handelte es sich um äusserst intensive persönliche Beziehungen zwischen Personen und einzelnen Büchern, die wir als ›körperliche‹ Beziehungen bezeichnen können. Es liegt auf der Hand, dass de Burys Liebe zu seinen Büchern einem Prozess von Fetischisierung nahe kommt. Obschon ich Michael Camilles sehr bemühte Parallele zwischen dem Freudschen Fetisch und den Büchern des Bibliophilen nicht in allen Details nachvollziehen kann, sehe ich ein, dass der Bibliophile sich selbst, genauso wie der Fetischist, als jemanden versteht, der zwanghaft Objekte begehrt, die, obschon allgegenwärtig und äusserst sichtbar, dennoch durch soziale Konventionen als ›out of bounds‹ tabuisiert sind.41 De Burys Bücher scheinen ausserdem mit einem Fetisch den paradoxen Zustand von gleichzeitiger Bejahung und Verleugnung zu teilen. Dieses Paradox kennzeichnet den Freudschen Fetisch insofern, als dieser einen Körperteil (den Phallus) der Mutter darstellt, der als fehlend wahrgenommen wird. Denn einerseits führen viele der Argumente, die der Autor zur Verteidigung seiner Bücherliebe anführt dazu, ihren Status als Artefakt zu verneinen, indem sie bejahen, dass ihr Wert in ihrer Fähigkeit, Wissen und Wahrheit zu vermitteln liegt – mit anderen Worten darin, dass sie Texte sind. Andererseits scheinen viele seiner Aus40 Quamvis enim amor librorum in clerico ex obiecti natura praeferat honestatem, miro tamen modo obnoxios nos effecit judiciis plurimorum; quorum admirationibus obtrectati nunc de curiositate superflua, nunc de cupiditate in illa duntaxat materia, nunc de vanitatis apparentia, nunc de voluptatis intemperantia circa litteras notabamur [...]. Richardus de Bury: Philobiblon oder über die Liebe zu den Büchern. Übers. v. Alfred Hartmann. Basel 1955, S. 76. Die Übersetzung (S. 152), die nicht einen Begriff des Fetischismus berücksichtigt, gibt leider den erotischen Sinn von intemperantia voluptatis nicht wieder. 41 Michael Camille: The Book as Flesh and Fetish in Richard de Bury’s Philobiblon. In: Dolores Warwick Frese, Katherine O’Brien O’Keeffe (Hg.): The Book and the Body. Notre Dame 1997 (University of Notre Dame Ward-Phillips lectures in English language and literature; 14), S. 34-77, hier S. 35.
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sagen auch das zu bekräftigen, was sie scheinbar verleugnen, eben das, was aus sozialer und moralischer Sicht ›out of bounds‹ ist. Eine Bekräftigung wie kein Preis ist zu hoch für die Anschaffung eines Buches 42 gründet das Begehren für Bücher in ihrem Status als Objekt oder Gebrauchsgut, was wiederum der dominante Aspekt des Fetisch im marxistischen Gedankengut ist. So sehr der Philobiblon auch protestiert, seine Liebe zu Büchern gelte in Wirklichkeit der Gelehrsamkeit, so kann er doch nicht den leidenschaftlichen Fokus auf das Sammelstück verbergen: Diese ekstatische Liebe, so de Bury in seinem Prolog, hat uns so stark eingenommen, dass wir allen Gedanken an andere weltliche Dinge entsagt haben und uns der glühenden Leidenschaft des Bucherwerbs hingeben (meine Übersetzung).43 Schlussendlich wird die Materialität des fetischisierten Buches triumphal bejaht im Zusammenhang mit dem Wunsch nach Erhaltung der unberührten Integrität des geliebten Objektes. In seinem ausserordentlich lebendigen 17. Kapitel drückt de Bury seinen Ekel aus bei dem Gedanken, dass Bücher durch verschiedene Körperflüssigkeiten und andere Beschmutzungen ungestümer Jünglinge geschändet werden könnten.44 Der Nasenschleim des erkälteten Jugendlichen tröpfelt auf das Blatt;45 der schwarze Schmutz, der sich unter den Fingernägeln gesammelt hat,46 sowie Obst- und Käsereste47 beflecken das Pergament; dazu kommt schliesslich der Speichel aus dem Mund heftig streitender Studenten,48 ihre fettigen Fingerabdrücke,49 und der Eiter, der trotz sauber gewaschener Hände gewissenhafter Kleriker, aus deren aufgekratzten Pickeln tritt: Sauber gewaschene Hände würden sowohl den Studenten als auch den Büchern zugute kommen, wären nicht Hautekzeme und Pickel für den Kleriker charakteristisch (meine Übersetzung).50 42 Kapitel 3: Nullam videlicet debere caristiam hominem impedire ab emptione librorum [...]. De Bury: Philobiblon [Anm. 40], S. 29. 43 Hic amor exstaticus, tam potenter nos rapuit, ut, terrenis aliis abdicatis, ab animo acquirendorum librorum solummodo flagraremus affectu (ebd., S. 21). 44 Ebd., S. 105-107. 45 [...] nasus irriguus frigore comprimente distillat. De Bury: Philobiblon [Anm. 40], S. 73. 46 Cui utinam loco codicis, corium subderetur sutoris. Unguem habet fimo faetenti refertum, gagati similimum (ebd., S. 73). 47 Fructus et caseum super librum expansum non veretur comedere [...] in libris dimittit reliquias fragmentorum (ebd., S. 73f.). 48 [...] librum in gremio subexpansum humectat spargine salivarum (ebd., S. 74). 49 Digitis sagimine delibutis (ebd., S. 74). 50 Conferret autem plurimum tam libris quam scholaribus, manuum honestarum munditia, si non essent scabies et pustulae, characteres clericales (ebd., S. 75).
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Kein einziges Mal im ganzen Philobiblon nennt de Bury einen Autor oder einen Text, den es zu retten gilt, sondern immer wieder geht es ihm darum, eine Schändung des Codex zu verhindern. Benützer von unseren eigenen akademischen Bibliotheken, die täglich mit befleckten und beschädigten Exemplaren konfrontiert sind, können wahrscheinlich Sympathie für de Burys Besessenheit aufbringen. Im grossen und ganzen dürfte sich unser heutiger Umgang mit Büchern und anderen beschrifteten Artefakten nicht allzu radikal von den jeweils hier dargestellten Interaktionen zwischen mittelalterlichen Menschen und ihren Büchern unterscheiden. Zierliches Objekt der Sammelleidenschaft, quasi-erotischer Fetisch, Wertgegenstand, modisches Accessoire, Bestandteil von juristischen und anderen Ritualen – all das vermag ein Buch oder Schriftstück unabhängig von seinem schriftlichen Inhalt zu sein. Sorgfältig gefertigt wie ein mittelalterliches Manuskript und Teil eines Rituals der feierlichen Verabschiedung ist auch die vorliegende Festschrift für unseren verehrten Kollegen. Möge Hubert Herkommer diesem Band – gelesen oder ungelesen – die Wertschätzung der Berner Mediävisten entnehmen.
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Das Buch im Buch Von lehrreicher, erfreulicher und gefährlicher Lektüre in mittelalterlichen Texten Quel giorno più non vi leggemmo avante. Dieser Vers führt in eine der berühmtesten Szenen der Divina Commedia Dantes hinein; er pflegt, in Italien mindestens, beim Publikum ein verständnisvolles Schmunzeln auszulösen, hat doch Dante hier eine rhetorisch elegante Figur des Verschweigens gesetzt. Weil wir allerdings nicht in Italien sind, bekomme ich die Chance zu einem Spannungseffekt. Wer also jetzt durch die Frage gequält wird, welche Lektüre da unterbrochen wurde und was denn die Sprechenden anstelle des Leseaktes unternahmen, wird diese Pein bis zum Schluss des Beitrags ertragen müssen. Jedenfalls: um ein Buch geht es in jener Szene, und es ist nach Massgabe der Chronologie naturalmente, un manoscritto, um damit einen andern berühmten, ungleich jüngeren, ebenfalls schreibenden Landsmann Dantes, zwar keinen Florentiner, aber einen aus Bologna zu zitieren.1 Aus jener Szene Dantes sprang für mich der erste Funken für das Thema des vorliegenden Beitrages. Dessen Absicht wäre, eine Reihe von Texten und auch Bildern, in denen Bücher eine Rolle spielen, zu mustern. Texte also, in denen das Buch oder das Bücherschreiben zum Thema wird. Zu diesen nur vordergründig trivialen Fragen sind in den letzten Jahren mehrere Forschungsfelder neu oder erneut unter den Pflug genommen worden. So wird heute über den Zusammenhang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit,2 über die unterschiedlichen Autorkonzep-
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Umberto Eco: Il nome della rosa. Milano 1980, Motto der Einleitung. Vgl. etwa Michael Curschmann: Hören – Lesen – Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 106 (1984), S. 218-257; Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; Jan-Dirk Müller (Hg.): ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter
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te,3 über die Verbindung von Bild und Text4 und schliesslich – dies wohl die hier am tiefsten schürfende Diskussion – über die Materialität der Kommunikation5 debattiert. Es versteht sich, dass in unserem Rahmen von keinem dieser Forschungsbereiche auch nur eine aufs Elementare begrenzte Auslegeordnung der Probleme und Methodenfragen gegeben werden kann. Wir müssen uns vielmehr mit Andeutungen, Seitenblicken, Verweisen hier und dort begnügen. Eine erste Schwierigkeit unseres Themas »Buch im Buch« besteht darin, an einschlägiges Material heranzukommen. Zwar fehlt es nicht an Einzeluntersuchungen, doch diese werden, falls es gelingt, sie überhaupt aufzuspüren, in Methode und Gegenständen sehr unterschiedlich sein. So mag man sich zu Beginn an eigene Lektüreerinnerungen und Textkenntnisse, wenn auch lückenhaft, halten. Da stösst man etwa mit geringer Mühe auf manche Stelle, meist in einem Prolog oder einem Epilog, wo der Autor vom buoch redet, das ihm als Vorlage gedient habe. Dies dürfte überhaupt der häufigste Typus von Buch im Buch sein. Rasch wird einem etwa wieder einfallen, dass bei Konrad von Würzburg in der Erzählung vom Weltlohn der galante Poet Wirnt von Gravenberg bei der Lektüre eines Romans von Frau Welt besucht wird und so seine heilsentscheidende Konversion zum Jenseitigen vollzieht. Oder man wird sich St. Brandans erinnern, jenes legendenhaften irischen Mönches, der dem Buch, das von den Wundern der Schöpfung erzählt, nicht traut, es verbrennt und in der Folge eine Weltreise antreten muss, um sehend zu erfahren, was er lesend nicht geglaubt hat. Oder man mag – immer noch von Analogien geleitet – an den Mönch in Zwingäuers Geschichte vom schwangeren Mönch denken, der da in seiner Zelle sass, in seinem Buch von der minne bant las, nur zu gerne wissen wollte, was es damit auf sich habe, und so auf ziemliche Abwege geriet.
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und Früher Neuzeit. DFG Symposium 1994. Stuttgart 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände; 17). Vgl. etwa Elizabeth Andersen u.a. (Hg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meissen 1995. Tübingen 1998; Rüdiger Schnell: ›Autor‹ und ›Werk‹ im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven. In: Joachim Heinzle u.a. (Hg.): Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Berlin 1998 (Wolfram-Studien; 15), S. 12-73. Vgl. etwa Hagen Keller u.a. (Hg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (Akten des Internationalen Kolloquiums 17.-19. Mai 1989). München 1992 (Münstersche Mittelalter Schriften; 65). Dazu der Sammelband von Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M. 1988 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 750).
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Vielleicht fällt uns auch noch jene Schilderung im Helmbrecht ein, wo von der materiellen und immateriellen Fülle eines höfischen Festes die Rede ist; dazu gehört neben Tanz, Gesang, Musik auch Literatur: sô gie dar einer unde las/ von einem, der hiez Ernest (v. 956f.)6 – ein Buch im Buch, so selbstverständlich, dass der Terminus nicht einmal fällt. Nun sind derlei Belegsammlungen ebenso bunt und damit reizvoll wie letztlich etwas beliebig, solange es nicht gelingt, sie in weitere Zusammenhänge, die womöglich durch die Forschung (mindestens auf methodischer Ebene) schon aufbereitet worden sind, einzuordnen. Solche Kontextualisierung wird beim jetzigen Forschungsstand eher gelingen, wenn wir von Einzelwerken oder zusammengehörigen Werkgruppen ausgehen und so das allzu Disparate meiden; dies empfiehlt auch die räumliche Beschränkung eines einzelnen Beitrags. So werden wir jeweils fragen, wie das Motiv in seinem jeweiligen spezifischen Kontext gestaltet ist, was es leistet, worin seine Funktion im Kontext und seine Tragweite für einen gegebenen Autor liegen. Dabei ist ein ›Buch‹ für uns hier ein materiales Objekt ebenso gut wie ein literarisches, damit geistiges Gebilde; auch werden wir den Begriff des ›materialen Buches‹ grossherzig so weit fassen, dass darunter Schriftmedien überhaupt, Schreibtafel, Buchrolle, Blatt, Brief, verstanden werden. Wir beginnen vorab – diesen Aspekt habe ich eben ausgespart – mit Bildern des Buches im Buch. Eine reiche Quelle dafür bietet die in den ersten Jahrzehnten nach 1300 in Zürich entstandene Manessische Liederhandschrift. Nicht weniger als 38 der insgesamt 137 Autorbilder zeigen ein Buch im eben erwähnten weiten Sinn.7 Dieses erscheint in ganz unterschiedlichen, meist szenischen Kontexten. Ei n Reiz beim Betrachten der Miniaturen besteht darin zu verfolgen, wie die anfänglich aufscheinende Vielfalt sich bei der Vermehrung des Vergleichsmaterials auf eine relativ begrenzte Zahl typischer Bildformeln zurückführen lässt. Und im Gegenzug stösst man beim Weiterblättern dann immer wieder auf höchst originelle, einzigartige Variationen des einfachen Grundmusters. Mit einigen Beispielen ist dieser Wechsel der Perspektive – die Einheitlichkeit in der Vielfalt und die Variation des Gleichen – nachzuvollziehen.
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Wernher der Gartenaere: Helmbrecht. Hg. von Friedrich Panzer u. Kurt Ruh. 10. Auflage, besorgt v. Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 1993 (Altdeutsche Textbibliothek; 11). Es handelt sich um die folgenden Miniaturen: 1, 10, 12, 14-17, 21, 26, 28, 33, 34, 36, 37, 38, 42-45, 51, 52, 54, 58, 66, 78, 79, 84, 88, 91, 96, 100, 103, 112, 114, 120, 121, 122, 124.
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Kaiser Heinrich (Codex Manesse,8 Nr. 1), das Eröffnungsbild der Handschrift. Minnesang erscheint hier als Herrenkunst; er verbindet im Zeichen der Ritteridee gruppenübergreifend, integrativ, den weltlichen Anführer der Christenheit und den letzten Ministerialen miteinander; Heinrich wird so in der Doppelrolle des Kaisers und des Autors vorgeführt; darauf verweisen die zwei Attribute, Szepter und Schriftband, in seiner Hand. Rudolf von Fenis-Neuenburg (Codex Manesse, Nr. 10) Rudolf, hochadliger Vertreter des frühen Minnesangs, durch seine geographische Position zugleich ein Zeuge für den Austausch zwischen provenzalischer und deutscher Kultur, sitzt in sich gekehrt und sinnend da; blickt man auf die rechte Hand, gewinnt man den Eindruck (dies eine mögliche Interpretation), er führe ein Selbstgespräch. Auffälligerweise sind die Schriftbänder in diesen beiden (und bis auf eine Ausnahme9 auch in allen anderen) Fällen leer. Die Forschung hat dafür unterschiedliche Erklärungen vorgeschlagen: Man rechnete mit der Unfertigkeit der Bilder oder man sah – dies eine besonders raffinierte interpretatorische Pirouette – im Fehlen des Textes einen Hinweis auf »das typische, erlebnisfremde hochmittelalterliche Minnelied«.10 Wieder andere verstanden dies als allgemeinen Hinweis auf die Autorenrolle der dargestellten Figuren schlechthin. Dafür bietet die vermutlich bekannteste Miniatur aus cpg 848 überhaupt, das Bild Walthers von der Vogelweide (Codex Manesse, Nr. 45), ein gutes Argument. Bekanntlich besteht ja hier ein präziser Textbezug des Bildes auf den ersten Spruch im Reichston: Ich saz ûf eime steine. Der Sänger repräsentiert sich in dieser Strophe in der Pose sorgenvollen Nachsinnens und – daraus folgend – im Gestus des prophetischen Aufrufs zur Umkehr. In der ganzen einschlägigen Strophe ist dabei nirgends von einem geschriebenen, ja nicht einmal von einem mündlichen Text die Rede: es geht um einen inneren Monolog. Das Schriftband in Walthers Hand also in genauerem Sinne auf das Produkt dichterischer Tätigkeit beziehen zu wollen, ginge am Befund vorbei. Der Streifen kennzeichnet vielmehr Walther wie schon zuvor in unseren Beispielen Heinrich und Rudolf als A utor .11 Codex Manesse. Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift. Hg. u. erläutert v. Ingo F. Walther unter Mitarbeit v. Gisela Siebert. Frankfurt a.M. 1988. 9 Vgl. unten, S. 128. 10 Frühmorgen-Voss (zitiert nach Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen/ Basel 1995 (Bibliotheca Germanica; 19), S. 72, Anm. 246). 11 Eine genauere Subtypologie bei Hella Frühmorgen-Voss: Bildtypen in der Manessischen Liederhandschrift. In: Hans Fromm (Hg.), Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Bd. 2. Darmstadt 1985 (Wege der Forschung; 608), S. 81-83. 8
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Mit der Miniatur des Herrn von Kürenberg (Codex Manesse, Nr. 26) kommen wir zu einem neuen Zusammenhang: Hier betritt das weibliche Gegenüber die Szene, der Mann ist so aus seiner Isolation befreit. Man wird sich die Dame in der Doppelrolle einer einzig im Rezeptionsvorgang gefühlsmässig affizierten Zuhörerin, aber auch in jener der Geliebten vorzustellen haben; ihr entspricht auf Seiten des Mannes die Doppelfigur des Autor-Sängers und des liebenden, werbenden, die Frau preisenden männlichen Ichs. Unser Bild bietet so den einfachsten Beleg für den Typus des Gesprächsbildes. Das Schriftband erscheint übrigens nur als Vorzeichnung, was in der Hs. C nicht ganz selten ist. Das Gespräch des Paares kann vom Maler in einen deutlicher charakterisierten Raum hinein gestellt werden; dann entsteht etwa der Typus ›Übergabe der Liebesbotschaft an die Dame in der Burg‹. Dafür kann beispielsweise Konrad von Kirchberg (Codex Manesse, Nr. 12) stehen: Der Liebhaber (um ihn, nicht einen Boten, handelt es sich wohl) zu Pferd vor der Burg; die Dame schaut zum Fenster heraus und übernimmt (oder übergibt?) das Schriftband (das der Maler entgegen der Vorzeichnung so gekürzt hat, dass man auch von einem Brief in respektabler Länge reden könnte). Anderswo (etwa bei Nr. 52 Leuthold von Seven oder Nr. 88 der von Stammheim) schrumpft das Band noch stärker, so dass wir das Format eines Blattes erreichen, was die Szene etwas näher an Alltagsrealität heranzurücken scheint. Die ganze Szenerie mit der Dame in uneinnehmbarer Position in der Burg lässt anderseits das Zeichenhafte, Nicht-Reale dieser Darstellung durchschaubar werden. Nicht immer aber gelingt dem Liebhaber die Annäherung an die Dame; dann ist er auf einen Boten angewiesen; so sind wir bei der banalen Methode der mittelalterlichen Briefpost, beim Typus des Botenbildes: So etwa Otto von Botenlauben (Codex Manesse, Nr. 14). Der Autor scheint ohne Redegestus der Hände noch gleichsam dichtend in sich gekehrt, das Blatt entfällt offenbar dem wie abwesend Dargestellten, wird vom dienstbereiten Boten aufgefangen und zur Beförderung entgegen genommen. Sachlich steht dem Botenbild das Diktatbild nahe, das seinerseits als eine Variante des schreibenden Autors fassbar ist. Es tritt im Manessecorpus nur selten auf, insgesamt dreimal; die beiden andern Belege neben Bligger (Codex Manesse, Nr. 58) sind vom Standpunkt des Schriftmediums aus gleich bemerkenswert, bringt doch die Darstellung Reinmars von Zweter (Codex Manesse, Nr. 112) zwei von deren Grundtypen gleichzeitig ins Bild: das Diptychon und die Rolle, während die Konrad-von-Würzburg-Miniatur (Codex Manesse, Nr. 124) das Buch als Codex zeigt.
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Darüber hinaus drängt Konrads Bild beim Blick auf das unentzifferbare Gekritzel, mit dem der Schreiber seine Buchseite bedeckt, erneut zur naheliegenden Frage, ob denn in unserer Handschrift die Schriftmedien überhaupt immer unbeschrieben erscheinen. Im Fall der Schriftbänder gibt es eine einzige Ausnahme, die des Eberhard von Sax, Nr. 21. Der Autor, vermutlich mit dem 1309 in Zürich belegbaren bruoder Eberhart von Sax, Predier ordens identisch und Verfasser eines zwanzigstrophigen Marienlobs, kniet vor dem Marienbild. Das sich aus seinen gefalteten Händen nach hinten entrollende Schriftband enthält einen Verstext (Kürzel aufgelöst, Buchstabenformen normalisiert): dirre kranke presant/ vrouwe si dir gesant/ empfahe in von mir für guot/ dur dinen tugentlichen muot/ iemer si von dir bewart/ von Sax bruoder Eberhart. Diese Dedikation erscheint im Werk Eberhards selber nicht; insofern repräsentiert das Band auch nicht dieses Werk, sondern es steht als Zeichen mündlicher Kommunikation zwischen Personen, die auf dem Bild dargestellt sind: Eberhard betet zu Maria. – Der Streifen hat also hier annähernd die Funktion der modernen Sprechblase im Comic.12 Anderswo präsentiert sich die Sachlage (abgesehen vom Fehlen einer Beschriftung) anders, indem vielfach (aber keineswegs immer) der Streifen oder das Blatt oder das Buch als Ob jek t e verstehbar sind, welche von den dargestellten Personen innerhalb einer Aktion manipuliert werden. Dies gilt etwa für die Botenbilder: der Bote nimmt ein Dokument, das er überbringen soll, entgegen. Das gilt auch für die Diktatbilder: der Autor diktiert, was man vielleicht vom Akt des Dichtens unterscheiden sollte, und sein Schreiber zeichnet die Worte auf das Medium auf. 13 Nun wenden wir uns den Buchformen im Codex Manesse zu. Hier ist zugleich auch immer Beschriftung gegeben; wir mustern die knappe Belegreihe. Zu erwähnen einmal die Miniatur dessen von Buchein (Codex Manesse, Nr. 91; Abb. 21). Der Sänger erscheint im Rahmen des Gesprächsbildes zusammen mit der Dame. Sein Wappen des Liebhabers erscheint als wunderliche Blüte des Baumes ausgebildet, rot wie die richtigen Blüten. In seinem Feld nun unser Buch, auf seiner aufgeschlagenen Doppelseite ein Zweizeiler: Minne sinne twinget/ Strale qwale bringet.
12 Vgl. Franz Bäuml u. Richard H. Rouse: Roll and Codex. A New Manuscript Fragment of Reinmar von Zweter. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 105 (1983), S. 222. 13 Näheres zu dieser Forschungsdebatte aus jüngerer Zeit bei Holznagel: Schriftlichkeit [Anm. 10], S. 66-88.
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Ein Zitatbezug zum knappen Werk des Albrecht Pilgrin von Buochhein, urkundlich zwischen 1251 und 1282 als Ministeriale der Grafen von Calw nachweisbar, besteht nicht. Damit öffnet sich für die Interpretation ein gewisser Freiraum. Es liesse sich sagen, dass der Buchtext der maien- und liebeseligen Heiterkeit des übrigen Bildes einen klaren Kontrapunkt entgegen setzt: die Minne erscheint als widervernünftige Macht und als Quell von Schmerz. Gerade diesen Aspekt evoziert übrigens auch ein weiteres Element des Bildes, das Trinkglas, durch das sich leicht der Gedanke an die Tristan-Minne einstellt. Auch der andere Fall des beschrifteten Buches gibt einige reizvolle Rätsel auf; es handelt sich um Alram (oder nach aktueller Nomenklatur um Waltram) von Gresten (Codex Manesse, Nr. 103; Abb. 22). Wieder ein Gesprächsbild, wieder das lebhafte Spiel der Hände; wieder ein Liebesbaum, wieder das Wappen ins Geäst des Baumes hinein gefügt, nun allerdings das Wappen nicht gleichsam als Frucht, sondern der Baum quasi als Schildhalter ausgebildet, dabei formen die zwei Äste erst noch ein Herz. Das Schriftelement ist hier nun verdoppelt; einmal der lapidare Eintrag im Wappen: Amor, das andere Mal ein längerer Text auf der Doppelseite des Buches. Diese Devise bedarf kaum einer Erklärung; doch wie ist der Buchtext zu entziffern? Zweifellos so: Swer recht wort merchen kan/ der gedenche wie… und nicht etwa wis wie die frühere Forschung annahm. Damit ergibt sich freilich das Problem, dass wir einen unvollständigen, syntaktisch offenen Text vor uns haben – ganz abgesehen davon, dass wir nicht wissen, woher er stammt. Rasch zu klären war jedenfalls, dass es sich nicht um ein Zitat aus dem schmalen, durch Zuschreibungsprobleme belasteten Œuvre Waltrams handeln kann. Die Identifikation des Textes ist erst 1975 Hellmut Salowsky gelungen;14 es handelt sich um die Anfangsverse aus dem Lanzelet des Ulrich von Zatzikhoven. Vollständig lautet diese Passage so: Swer rehtiu wort gemerken kan, der gedenke wie ein wîse man hie vor bî alten zîten sprach, dem sît diu welt der volge jach. in dûhte der niht wol gemuot der al der liute willen tuot.
14 Hellmut Salowsky: Ein Hinweis auf das Lanzelet-Epos Ulrichs von Zazikhoven in der Manessischen Liederhandschrift. Zum Bilde Alrams von Gresten. In: Heidelberger Jahrbücher 19 (1975), S. 40-52.
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Der Text des Buches mag in doppelter Perspektive gelesen werden; einmal als allgemeine, freischwebende Sentenz, einmal als Maxime, die vom Maler genau auf die Szene bezogen ist. Salowsky entscheidet sich für diese letzte Option. Er liest die Szene als Werbeszene; der Mann hat seine Werbung vorgebracht und die Dame, in deren Hand sich ja das Buch und damit der Text befindet, antwortet nun. Salowsky schreibt dazu: [Die Dame] reagiert […] auf die expressive Gebärde des Ritters ganz nach dem Vorbild höfischer Zucht. Fast unpersönlich, nur durch ein leichtes Neigen des Hauptes und durch einen Fingerzeig weist sie das Ansinnen des Ritters zurück, indem sie einen anderen für sich sprechen lässt: den wîsen man, dessen Ausspruch ihr hier willkommene Hilfe bietet.
Und: […] die Dame erteilt dem Ritter auf die in seinem Gedicht geäusserte Minnelohn-Erwartung eine – leicht verschlüsselt in die Worte des Lanzeletprologs gekleidete – Absage.15
Soweit Salowsky. Seine Deutung scheint mir freilich nicht zwingend. Ihre Antwort ist (mindestens aus dieser Perspektive gesehen) sicher kein ›Ja‹. Ist es denn aber so sicher ein ›Nein‹? Hier liesse sich auch ein ›Jein‹ hören, in diesem Falle gewiss ein: ›Später‹: Denn, wie das Lanzelet-Zitat besagt, soll man nicht den Willen aller Leute tun. Aber vielleicht den Willen ein er Person? Oder vielleicht, später, wird dieser fremde Wille auch der Wille der Dame sein? Ergänzen wir hier noch einen semantischen Aspekt, der Salowsky entgangen ist; das Deutsche Wörterbuch (Bd. 14 II, Sp. 162f.) vermerkt, dass die »verhüllenden, erotischen verwendungen [von ›Wille‹] in der alten sprache äusserst reich entwickelt« sind. In den ausgebreiteten Belegen geht es gelegentlich um den Willen der Frau, sehr oft um den Willen des Mannes, nicht selten aber auch um den Willen beider.16 Nun präsentiert sich für die Deutung der Szene im Lichte des Zitats noch eine grundsätzlich andere Möglichkeit; Salowsky hat sie gesehen, aber sogleich ausgeschlossen: Das Zitat meint nicht sich selber, sondern 15 Ebd., S. 51f. 16 Das Deutsche Wörterbuch bringt neben frühneuhochdeutschem Material auch einen Beleg aus Reinmar (MF 181,6), dazu Wigalois v. 2075. Zum einschlägigen Wortgebrauch von ›Wille‹ in ausserliterarischen Quellen vgl. Lyndal Roper: Sexualität, Sprache und Macht in Augsburger Kriminalprozessen. In: Heide Wunder (Hg.): Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit. Frankfurt a.M. 1991 (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft; 913), S. 180-197.
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stellvertretend den ganzen Text, den diese Verse eröffnen. Bei der sich damit eröffnenden Freiheit der Interpretation scheint ihm unbehaglich zu sein; er bemerkt: »solch ein im Grunde beziehungsloser Hinweis auf das Gesamtepos würde einem Verzicht auf jede individuelle Aussage gleichkommen.« 17 So sicher scheint mir das nicht; immerhin ist ja durch das Bild, nicht zuletzt durch die hinreichend klare Devise im Wappen der Assoziation des Betrachters ein klarer Weg gewiesen, abgesehen davon, dass ja nun der Held Lanzelet für mittelalterliche Begriffe ein recht scharfes Profil hat; Ulrich nennt ihn (v. 5528): wîpsaelig – was sich übersetzen liesse mit: un homme à femmes. Zudem führt der Weg des Helden zu einem klaren Höhepunkt (nicht ohne dass verschiedene Damen an Zwischenstationen auftreten, Damen, die sich ihrerseits und durchaus ›mit bestem Willen‹ um den Helden bemühen…); der Höhepunkt (aber nicht der Schlusspunkt) seiner amourösen Abenteuer ist die Begegnung mit Iblet. Die erste Liebesvereinigung mit ihr findet (anders als die mit den übrigen Frauen) in der freien Natur statt (v. 4661-4673) – ein szenisches Detail, das sich unschwer mit unserem Bild verknüpfen lässt. Nun, wir brauchen uns nicht weiter auf die verschlungenen Wege Lanzelets zu begeben; das Zitat in unserem Bild, soviel dürfte klar geworden sein, bot kundigem mittelalterlichem Publikum zweifellos die Möglichkeit, Szenen aus dem Roman mit der Szene auf dem Bild assoziativ zu verbinden. Damit ergibt sich die Möglichkeit, für die dargestellte Werbung einen sehr anderen Ausgang, als ihn Salowsky vorschlägt, anzunehmen: die Dame sagt demzufolge ›Ja‹. Dafür entsteht zusätzlich Plausibilität (falls es solcher argumentativer Unterstützung noch bedarf), wenn man an die eingangs zitierte Szene aus Dante denkt, geht es doch dort auch um L an z el o t -Lektüre (natürlich nicht um die der deutschen Fassung Ulrichs, aber das spielt keine Rolle). … Wir kommen darauf zurück. So verlassen wir jetzt die freundliche Bilderwelt der Manessischen Liederhandschrift, wenden uns einem eher düsteren Werk zu und betrachten nun ein Buch im textuellen Buch. – Hartmann von Aue hat im Gregorius das weltliterarisch bedeutungsvolle Motiv des Inzestes gleich doppelt gestaltet. Spät kommt der zweite Inzest, der ungewollt zwischen Mutter und Sohn begangene, ans Licht; die entscheidende Rolle spielt dabei ein Buch, eine Schreibtafel, ein Diptychon eigentlich. Die verzweifelte Mutter, vor die Notwendigkeit gestellt, das eben geborene Kind wieder hergeben zu müssen, damit die Schande nicht 17 Salowsky: Hinweis [Anm. 14], S. 49.
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ans Licht kommt, tut alles, um dem Sohn das Überleben – wenn ihm denn ein solches auf seiner Meerfahrt gelingt – zu erleichtern: sie legt prächtige Seidenstoffe ins Fass, das den Säugling aufnimmt, dazu 20 Goldmark für seine Erziehung und schliesslich noch etwas, das nun dieses Überleben entscheidend komplizieren wird (v. 719-725):18 Ein tavel wart getragen dar der vrouwen diu daz kint gebar, diu vil guot helfenbein was, gezieret wol als ich ez las von golde und von gesteine, daz ich nie deheine alsô guote gewan.
Es wird sich entweder um eines der bekannten Wachstäfelchen handeln, in denen das Mittelalter Briefe, Konzepte und andere kurzlebige Texte aufzeichnete; hier ist nun freilich das übliche Trägermaterial Holz durch kostbares Elfenbein ersetzt; denkbar auch, dass die junge Frau direkt mit Tinte auf das geglättete Elfenbein schrieb. Für beide Konkretisierungen bietet die Realiengeschichte eine Stütze.19 Es spielt dieser Gegenstand von jetzt eine die Handlung in entscheidenden Momenten lenkende und hintergründig auch deutende Rolle. Verfolgen wir diese Peripetien. Bevor Gregorius als Ritter das Inselkloster verlässt, übereignet der Abt ihm seine bisher unter Verschluss gehaltenen Besitztümer: Geld, Stoffe, Tafel. Die Lektüre der letzteren löst bei Gregorius widerstreitende Gefühle aus: er weint über die Sünde, in der er geboren, und er empfindet freudigen Stolz über seine hohe Abkunft (v. 1739-1755). Die Tafel wird er auf seiner Ritterfahrt nicht mehr aus der Hand geben; so wie die Mutter es in ihrer Aufzeichnung vom Sohn verlangt hat, so wird er nun täglich für die schuldbeladenen Eltern beten und die Erinnerung von seiner Herkunft als Anlass zur Demut kultivieren, dabei dieses schamvolle Bewusstsein durchaus dem prächtigen Leben eines Dynasten akkommodieren (v. 2277-2287). Als seine Frau von der Dienerin über die absonderlichen Gepflogenheiten Gregors erfährt und Nachforschungen anstellt, entfaltet das 18 Hartmann von Aue: Gregorius. Hg. v. Hermann Paul. Neu bearb. v. Burghart Wachinger. 15., durchges. u. erw. Auflage. Tübingen 2004 (Altdeutsche Textbibliothek; 2). Stellenangaben zu Zitaten aus Hartmanns Gregorius erfolgen hinfort mit Kurzverweisen im Text. 19 Etwa die beiden spätantiken Diptycha an cod. 53 und 60 der Stiftsbibliothek St. Gallen; dazu: Johannes Duft u. Rudolf Schnyder: Die Elfenbein-Einbände der Stiftsbibliothek St. Gallen. Beuron 1984 (Kult und Kunst; 7), S. 13-93.
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Objekt Schreibtafel seine verhängnisvolle Wirkung: Der Fund der Tafel öffnet nämlich der Ehefrau die Augen für das Schreckliche: sie hat ihren Sohn geheiratet. Nachdem Gregorius der Mutter und Frau ihren weiteren Bussweg aufgezeigt hat, bricht er selber auf – zu einer Busse, für deren Radikalität und Schwere Hartmann keine darstellerischen Mittel spart. Als er nach drei Tagen des entbehrungsreichen Marsches durch die Wildnis bei einem Fischer ankommt, führt er die Tafel mit sich. Am Morgen jedoch, als man zur Felseninsel, dem Ort der Busse aufbrechen will, bleibt die Tafel in der Aufregung einer überstürzten Abfahrt ungewollt zurück. Ein letztes Mal ist dann von der Tafel die Rede, wenn die römischen Abgesandten nach ihrer erfolgreichen Suche nach dem verheissenen Papst Gregorius, den guten Sünder, zur Krönung in die ewige Stadt zurückbringen. Die erste Etappe der Triumphfahrt des neuen Papstes (und künftigen Heiligen) ist die Fischerhütte, von der er 17 Jahre zuvor zu seiner ungeheuren Busse aufgebrochen war. Nun erst erfahren wir, wie Gregorius damals vor 17 Jahren der Verlust der Tafel schmerzte – Anlass, bei der Fischerhütte gleich nach dem kostbaren Stück zu suchen (v. 3682-3693). Dem Fischer freilich scheint dies aussichtslos: die Hütte, wo die Tafel zurückblieb, sei längst abgerissen, abgebrannt, da wüchsen nur Nesseln und Unkraut, gibt er zu bedenken. – Dennoch: man sucht – und nicht vergeblich (v. 37263735): nu giengen si zestunde mit gabelen und mit rechen und begunden nâher brechen daz unkrût und den mist. nu erzeigte der dâ gnaedic ist an dem guoten Grêgôriô ein vil grôzez zeichen dô, wande er sîne tavel vant als niuwe als si von sîner hant vüere der si dâ worhte.
Die Tafel begleitet Gregorius also durch alle Stationen seines ereignisreichen Lebens hindurch, bevor sie, kurz vor seiner Besteigung der Cathedra Petri nach einem letzten glanzvollen Aufleuchten in der Erzählung endgültig und spurlos daraus verschwindet. Die Einsicht, die Tafel repräsentiere den Helden, stehe für ihn, sei in gewissem Sinne sein Doppel, liegt also nahe und sie erschliesst uns als Prämisse weiterer Interpretation einige Einsichten.
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Eine der Antike und dem Mittelalter wohl vertraute Analogie sieht den Menschen, sein Gedächtnis, sein Bewusstsein, ja seine Person als Wachstafel. So betrachtet ritzt die Mutter ihre Vorstellungen vom künftigen Weg des Kindes also nicht bloss in die reale Wachstafel ein: christliche Taufe, Schulbildung (was nach Lage der Dinge wohl heissen dürfte: nicht-adlige, vielmehr klerikale Lebensform), Vermeidung der Superbia, Memoria für die Eltern. Die Mutter schreibt diesen sehr klaren Plan auch dem Leben ihres Kindes ein. Anderseits zeigt diese Aussteuer, welche die Mutter dem Sohn fürs Leben mitgibt, auch Merkmale, die dem erklärten Ziel, das Kind vor Überhebung zu bewahren, mindestens potentiell zuwider laufen; wir denken neben dem Reichtum der gesamten Ausstattung besonders an den vom Erzähler neidvoll herausgestrichenen Prunk der Schreibtafel, welche die Aufforderung zur Bescheidenheit enthält: Medium und Inhalt der Botschaft stehen zueinander in Spannung. In dem Moment da das Kind, ein junger Mann geworden, diese Botschaft liest, befindet Gregorius sich in einer Krise seiner Selbsterkenntnis: ich enbin niht der ich wânde sîn (v. 1403). Da legt nun die Tafel mehr durch ihre prachtvolle äussere Erscheinung als durch ihre ausdrückliche Botschaft den sozialen Rang des Findlings fest und bestätigt damit vorab ihm selber seinen eigenen Wunsch und seine eigene Vermutung, er stamme vielleicht aus einem vornehmen Geschlecht (v. 1496-1500). Freilich ist der durch Jahre klösterlicher Schulung und Bildung gegangene Gregorius ein zu genauer Leser, als dass ihn beim Lesen der Tafel neben Genugtuung und Stolz nicht auch ein anderes Gefühl beschliche (v. 1748-1751). Besonders dieses Gefühl der Scham und Schuld wird nun beim weiteren Umgang des Gregorius mit der Tafel vorherrschen. Einmal am Hof der unerkannten Mutter, als Landesherr zugleich ihr Ehemann geworden, zieht er sich täglich in seine Kammer zurück, liest, gleichsam in mönchischer Ruminatio ihre Botschaft und vergiesst Tränen, leistet bei Gott Fürbitte für die Eltern; daneben führt er indessen das Leben eines hohen Herrn, ohne dass dies ihn anzufechten scheint. Für den Erzähler hingegen erhebt sich allerdings die Identitätsfrage; ihm erscheint Gregorius mit einer Blindheit geschlagen, die uns an die Blindheit des Ödipus erinnert: und erkande niht der schulde, diu ûf sîn selbes rücke lac (v. 2290f.). Blicken wir auf das vorletzte Auftreten der Tafel. Gregorius vergisst sie am Morgen in der Hast seiner Überfahrt zur Insel, obwohl er sie zusammen mit der Fussfessel am Abend zuvor umsichtig bereitgelegt hatte (v. 3078-3084). Dieser Verlust aus Vergesslichkeit trifft ihn herb; wir hören das in der Erzählung freilich erst im Rückblick aus
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einer Distanz von 17 Jahren, als er am Ende seiner Busszeit, kaum betritt er wieder festen Boden, gleich nach der Tafel sucht (v. 3684-86). – Das liest sich bei Thomas Mann so (S. 452f.):20 Ihn aber beschwerte nur eine Sorge, die ihn durch siebzehn Wetterjahre des Felsens nur im Schlafe verlassen hatte, und die er allem voranstellte, auch der Weiterreise nach Rom. [...] Das war der Kummer um seine Tafel, die er an dem Morgen, als er dem Fischer nachgeeilt war, im Bettschilf des Beischlags vergessen hatte, worin er genächtigt; und dringend frug er nach ihrem Verbleib. Wer hätte ihn da wohl trösten können?
Jene Interpreten, die den Helden wegen seiner Akkommodation von Busse und Herrenleben in Scheinhaftigkeit gefangen sahen, mögen die Absenz der Tafel bei der wahren Busse als Bestätigung ihres früheren Ansatzes verbuchen. Sie mögen auf die bekannte Unterscheidung von Buchstaben und Geist hinweisen und sie mögen als hier besonders einschlägigen Beleg aus dem 2. Korintherbrief 3,2f. zitieren: Ihr seid unser Brief, geschrieben in unsre Herzen, erkannt und gelesen von allen Menschen, weil über euch offenbar wird, dass ihr ein Brief Christi seid, ausgefertigt durch unsern Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geiste des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischernen Tafeln des Herzens.
Man wird sich hier jedenfalls des früher erwähnten Ansatzes, wonach die Tafel eine Repräsentation, die zweite Erscheinung, ja der zweite Körper des Helden sei, erinnern. Dann erscheint die frühere, ritualisierte, auf genau gemessene Zeitabschnitte und genau abgezirkelte Gesten begrenzte Busse eben als Busse im Zeichen des Gesetzes; die Tafel, Trägerin der Identität des Gregorius, ist dabei noch ein von ihm abgegrenztes Objekt: aus ihm liest er, »seinen Augen zum Schmerz«, wie es heisst, die Geschichte der Eltern. In den 17 Jahren der Inselbusse hat er dagegen total, mit seinem ganzen Leib, bis hin zur schier grenzenlosen Auszehrung gebüsst (vgl. v. 3101-3136, 3371-3475). Er hat nicht einzig nur mit einem Sinn, den Augen, aus einer Tafel eine Schrift gelesen, die von fremder Schuld, jener der Eltern erzählte. Er hat vielmehr seine Busse sich selber eingeschrieben, ist selber zur Tafel geworden, hat so das Objekt ›Tafel‹ überflüssig gemacht. 20 Thomas Mann: Der Erwählte. Roman. Stockholm u.a. 1967 (Thomas Mann. Werke. Stockholmer Gesamtausgabe in zwölf Bänden; 2), S. 452f. Stellenangaben zu Zitaten aus Thomas Mann erfolgen hinfort mit Kurzverweisen im Text.
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Wenn unsere Tafel dann bei der Suche nach 17 Jahren freilich entgegen jeder Alltagslogik nicht verschwunden bleibt (und Hartmann wendet einiges auf, um dies zu demonstrieren), sondern wenn sie wieder auftaucht, nun aber wie neu gemacht, dann mag unser Ansatz uns auch hier beim Lesen weiterhelfen (v. 3726-35). Im zitierten Schlusssatz der Passage (vgl. oben, S. 133) verwischt sich das grammatische Subjekt: »so neu, wie wenn sie eben aus der Hand dessen, der sie machte, käme.« Wessen Hand ist gemeint? Die Gottes? Oder nur die des Elfenbeinschnitzers? Die Unschärfe ist wohl nicht zufällig, sondern gewollt. Sie trifft sich mit dem Bemühen des Erzählers, das materiale Objekt ›Tafel‹ verschwinden zu lassen: kein Wort der Beschreibung, kein Wort darüber, was aus der Schrift geworden ist. Die Tafel hat hier vorab einen Funktionswandel durchgemacht: sie dokumentiert nicht mehr vergangene Schuld, sondern zeugt als Wunder von der in die Zukunft gerichteten Erwählung des Helden, des Heiligen. Thomas Mann hat aus dieser Einsicht heraus eine Konsequenz auf der Ebene der Darstellung gezogen; er lässt an genau diesem Punkt der Erzählung den Helden vor dem Leser statuarisch erstarrt, gleichsam schon als Heiligenfigur zur Ehre der Altäre erhoben erscheinen (S. 453f.): […] und hervor zog er, so nett und rein, als käme es eben aus des Kunstwerkers Hand, auch die Tinte ganz unverblasst, des Kindes Mitgift, seiner Mutter schmerzhaften Schuldbrief, den ihm die Erde so lange verwahrt, wie vordem der treue Abt es getan, siebzehn Jahre lange. Den hielt er nun in der einen Hand und in der andern den Schlüssel und sprach bei sich den Spruch […].
Dieser Änderung der Funktion, welche die Tafel im Erzählprozess hat, entspricht eine weitere Wandlung: die Tafel steht weiterhin für den Helden, nun aber für sein neues, von Gott, nicht der inzestuösen Mutter, geschenktes, begnadetes Leben. Die eben zitierten Verse nehmen bei Hartmann den seinerzeit vom Abt geäusserten Wunsch auf, jener, der Gregorius geschaffen habe, möge ihm seine Herkunft und sein Wesen enthüllen (v. 1806-1808). Halten wir, diesen Abschnitt schliessend, fest: Die Tafel, unser Buch im Buch, ist vorab mehrfach handlungsauslösendes Moment: so bestimmt sie den Weggang des Gregorius aus dem Kloster mit, indem sie ihm den letzten Anstoss für diesen Entschluss gibt, und sie führt später zu Entdeckung des zweiten Inzestes. Dem entspricht gegenbildlich, dass sie an einem gewissen Moment, beim Aufbruch zu Busse auf dem Stein, verschwindet, aus der Handlung herausfällt, nicht mehr handlungsaktiv sein kann. Die Tafel ist sodann (dies unser zweiter Ge-
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sichtspunkt) mehr als ein schriftliches Zeugnis, sie ist »das materielle Symbol, das für die Sohnschaft des Gregorius steht, Zeugnis seiner Vorgeschichte, seiner Geschichte und seiner göttlichen Erwählung.«21 Wir kommen nun zum letzten Teil unserer Betrachtungen und kehren damit zum Eingangszitat der Divina Commedia zurück; es entstammt dem 5. Gesang des Inferno. Der Jenseitswanderer Dante befindet sich hier noch ganz am Beginn seiner Höllenwanderung, im zweiten Kreis; in ihm büssen die Wollüstigen. Wir vergegenwärtigen uns den Ablauf der Szene, bevor wir in einem zweiten Anlauf nach deren Sinn und Bedeutung fragen, besonders natürlich der darin beschworenen Buchlektüre. Dante betritt hier den ersten eigentlichen Strafort, kommt er doch aus dem Limbus, wo die Seelen der Gerechten, allerdings Ungetauften, damit über kein Entréebillett für den Himmel Verfügenden, sich aufhalten. So verwundert es nicht, dass hier gleich am Beginn der Höllenrichter sitzt, der die Verdammten in Empfang nimmt, sie befragt und ihnen dann den ihnen gebührenden Kreis zuweist. Es wird jetzt dunkel, Dante hört die Schmerzensschreie der Verdammten und er hört vor allem das Tosen und Heulen eines nie endenden Orkanes. In seinem Stürmen werden die Seelen der lussuriosi ohne Rast und Ruhe, ewig herumgeschleudert, ein erstes Beispiel für die zahlreichen spiegelnden Strafen denen Dante auf seiner Jenseitswanderung begegnet; ein Vers bildet dies rhythmisch eindrucksvoll ab: così quel fiato li spiriti mali/ di qua, di là, di giù, di su lì mena (Inferno, 5,42f.).22 Zweimal dient auch ein Bild aus der Welt der Vögel dazu, das Herumgeschleudertwerden dieser Verdammten zu veranschaulichen, einmal sind es die Schwärme der Stare, die in der kalten Jahreszeit in riesigen und dichten Wolken herumflattern. Niemand hebt sich aus dieser ersten Gruppe der Lüsternen ab: alle werden gleichermassen haltlos zur ewigen Strafe umgetrieben, wie sie einst gleichermassen haltlos unter dem Impuls ihrer Triebe das Leben lebten. Eine zweite, deutlich geordnete Schar kommt wenig später wie die Kraniche in langem Zug daher; und hier nun werden einzelne Seelen und Paare von Seelen unterscheidbar: jene, die durch Liebe starben. 21 Edith Wenzel u. Horst Wenzel: Die Tafel des Gregorius. Memoria im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Harald Haferland, Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. München 1996 (Forschungen zur älteren deutschen Literatur; 19), S. 112. 22 Zitat hier und im Folgenden nach der Ausgabe Dante Alighieri: Tutte le opere. A cura di Luigi Blasucci. Firenze 1965. Vossler übersetzt: ›So fegt der Höllensturm die bösen Geister/ nach rechts, nach links, hinauf, hinab – dahin.‹ Stellenangaben zu Zitaten aus Dante erfolgen hinfort mit Kurzverweisen im Text.
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Dante lässt sich von Vergil einige nennen: Semiramis, Dido, Kleopatra, Helena, Achill, Paris, Tristan. Der Anblick erschüttert und verwirrt Dante tief: pietà mi giunse, e fui quasi smarrito. Dieser Vers (v. 72) steht genau in der Mitte des Gesangs – kaum zufällig, geht doch diese exponierte Position mit seinem Inhalt parallel; die mit pietà umschriebene Gefühlsaufwallung des irdischen Beobachters wird im Verlauf des nun folgenden Gesprächs mit einer der Seelen sich als dumpfes langes Schweigen erneut regen (Inferno, 5,109-111); und sie wird am Ende des Gesangs sich ein weiteres Mal, dabei in enorm gesteigerter Form wiederholen (Inferno, 5,139-142). Der Name Tristans hat ein weiteres wichtiges Signal gesetzt, gehört er doch als einziger der vorher aufgezählten donne e’ cavalieri in Dantes Gegenwart, ins Mittelalter. Die jetzt folgende Begegnung erweist sich als eine Wiederholung in eindrucksvoll gesteigertem Sinn: nur noch zwei Seelen, diesmal das zusammengehörende Paar, werden jetzt in Dantes Blickkreis treten – vielmehr: der unaufhörliche Sturm wird sie her antr agen , ja h era nschl eu d e rn .23 Jene, die Dante antwortet, ist Francesca da Polenta, die gegen ihren Willen um etwa 1275 aus dynastischem Kalkül mit Gianciotto Malatesta, einem Sohn des Herrschers von Rimini, verheiratet, diesen mit seinem jüngeren Bruder Paolo betrügt, dabei in flagranti vom Ehemann überrascht und zusammen mit dem Liebhaber ermordet wird. Der jähe Eintritt ihres Todes hat den beiden die Gelegenheit zur Busse genommen, und so gehören sie nun zu den Verdammten. Schon von weitem fallen Dante die einträchtig durch die Luft Getragenen auf; es regt sich die Erinnerung an ein Taubenpaar. Er ruft sie herbei, und bevor er nach ihrem Namen fragen muss, gibt sich die Frau wort- und klagenreich zu erkennen. Mit dreifacher anaphorischer Wiederholung des Schlüsselwortes Amor gipfelt ihre Rede:
23 Dieser letzte Punkt verdient umso mehr Beachtung, als die deutsche Übersetzung suggeriert, das Paar schwebe gleichsam ruhig heran. Dieser Eindruck ist zum einen Folge des grundsätzlichen Problems einer Übersetzung, zum andern Konsequenz einer zweifelhaften Auffassung des Wortes leggieri in v. 75 im Sinne des Gegenwartsitalienischen; massgebliche Interpreten (vgl. Francesco Mazzoni: Il canto V. In: Casa di Dante in Roma (Hg.): Inferno. Letture degli anni 1973-1976. Rom 1977, S. 118) weisen darauf hin, dass das Wort hier im Sinne von ›schnell‹ zu verstehen ist: als nicht schönes schwereloses Gleiten, sondern rasches, stürmisches Getriebenwerden. Den Eindruck des Heranschwebens suggeriert freilich auch der Taubenvergleich (Inferno 5, v. 82-84). Wir stossen hier – und dieser Aspekt wird uns noch beschäftigen – auf die Tatsache, dass literarisches Sprechen (hier die Anwendung eines bewusst nur sehr begrenzt adäquaten Vergleichs) die Realität formen, überformen und dabei eine Täuschung erzeugen kann.
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Amor, ch’al cor gentil ratto s’apprende, prese costui della bella persona che mi fu tolta; e ’l modo ancor m’offende. Amor, ch’a nullo amato amar perdona, mi prese del costui piacer sì forte, che, come vedi, ancor non m’abbandona. Amor condusse noi ad una morte: Caina attende chi a vita ci spense. (Inferno, 5,100-107)
Diese Worte lassen Dante in tiefes, bedrücktes Schweigen fallen, und es braucht die Intervention Vergils, um ihn wieder in die Gegenwart zurück zu holen, so dass er sich nun, wie gewünscht, mit einer ausdrücklichen Frage an die Frau wenden kann. Die Danteforschung hat herausgearbeitet, wie Francescas Worte – namentlich, aber nicht nur die eben zitierten – ein dichtes Gewebe von Text- und Motivzitaten des dolce stil nuovo und seiner Liebeskonzeption bilden. In starker Verdichtung werden tragende Begriffe und Vorstellungen dieser Liebeslehre mehr evoziert als entfaltet: So etwa die Schönheit als Ursache der Liebesverzückung, die Unentrinnbarkeit solcher Liebe, die Unlösbarkeit des Liebesbundes, die Nähe von Liebe und Tod.24 Francesca erscheint so als gelehrige Leserin einschlägiger Lyrik und Traktate, befliessen, das Gelesene auch ins Leben umzusetzen – in diesem Punkt der Mme Bovary vergleichbar, die in ihrer Provinz sentimentale Liebesromane zu leben versucht. Nach langem, dumpfem Schweigen, gleichsam wachgerüttelt von Vergil, kann Dante das Gespräch durch eine zweite Frage weiterführen. Den Auftakt bildet die Anrede des Gegenübers mit Namen: Francesca […] (Inferno, 5,116) – dass Dante hier aus eigener Kenntnis schöpft und keine erklärende Nachhilfe seines Jenseitsführers benötigte, unterstreicht zusätzlich die vorab zeitliche Nähe dieses Paares zu ihm. Eine zeitliche Nähe, der aber offensichtlich auch eine emotionale Nähe entspricht. Dantes Frage zielt auf Umstände und Zeichen, die diese Liebe für das Paar erkennbar gemacht haben. Vor allem wird sie aber zu einer Klärung der Beziehung zwischen Schuld und Literatur führen:25 a che e come concedette amore/ che conosceste i dubbiosi disiri? (Inferno, 5, 119f.).26 24 Giorgio Bárberi-Squarotti: Francesca o la vittima della letteratura. In: Ders.: L’ombra di Argo. Studi sulla Commedia. Torino 1986, S. 165f., ferner: Mazzoni: Canto V [Anm. 23], S. 121-123. 25 Barberi-Squarotti: Francesca [Anm. 24], S. 174. 26 ›Erzähle mir, da ihr noch schmachtet,/ wodurch und wie hat euch die Liebe da/ den scheuen Wunsch der Herzen kund gemacht?‹ (Vossler).
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Francesca darauf: Noi leggiavamo un giorno per diletto/ Di Lancilotto […] (Inferno, 5,127f.). – Damit sind wir ein weiteres Mal bei unserem Thema angelangt: Das Buch im Buch. Wie vorher bei der Miniatur Waltrams von Gresten fungiert der Lanzelot-Roman als Code, mit dessen Hilfe das Paar kommuniziert. – Ahnungslos-ahnungsvoll hätten sie, so Francesca, im französischen Lanzelot-Roman gelesen, dann wie durch Zufall innegehalten: Aufsehen vom Buch, Blick in Blick, der erste Kuss. Dieser Bericht zeigt in genauester Weise die Umsetzung literarischer Fiktion in Lebenswirklichkeit. Das Paar liest vom Ehebruch der Ginevra mit Lancillotto, und es bricht daraufhin selber die Ehe. Dies führt – so die Botschaft des Textes – zum Untergang, zur ewigen Verdammung, handelt es sich doch bei dieser Art von Literatur um schöne Dichterlügen, nicht die Wahrheit. In genau dem Moment, wo das Paar pflichtvergessen aus Fiktion Realität werden lässt, findet auch die Lektüre ihr Ende: quel giorno più non leggemmo avante (5,138). Der Vers fungiert im Sinne einer Verschweigung, Aposiopese, wie ein Vorhang, der nun fallen muss und fällt, weil das Folgende für Dante aus Schicklichkeitsgründen nicht mehr darstellbar ist und auch gar nicht mehr dargestellt zu werden braucht. Denn Dantes Frage hat hier die im Rahmen dieses Gesanges ›letzte‹ Wahrheit herausgetrieben: die Kritik an einer gottvergessenen, lügenhaften weltlichen Liebesliteratur und die Kritik an jenen, die derlei als Lebensregel nehmen wollen. Wir empfinden heute vor einem andern literaturtheoretischen Hintergrund und inmitten anderer Lebenswirklichkeit eine derartige Kritik gewiss als fremdartig; Dante befindet sich hingegen damit in einer vielköpfigen Gemeinschaft gleich Urteilender; ich verweise nur auf einen, der ähnlich wie er denkt, ebenfalls ein Italiener, freilich einer, der deutsch schrieb: Thomasin von Zirklaria mit seinem Welschen Gast; darin werden auch die Regeln, nach denen die Lektüre von Abenteuerromanen einzig als bekömmlich gelten kann, erörtert; Thomasin hebt auf das pictura-liber-illiteratorum-Argument und auf die Integumentum-Metapher ab, um seine Postion zu klären: Romane bieten Bilder, geeignet zur Belehrung der Illiteraten, der Ungeschulten, etwa der Jugendlichen. Romane verhüllen – dies der zweite Gedanke – die Wahrheit durch gefällige Täuschung: die âventiure sint gekleit dicke mit lüge harte schône: diu lüge ist ir gezierde krône. ich schilt die âventiure niht, […] wan si bezeichenunge hât
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der zuht unde der wârheit. daz wâr man mit der lüge kleit.27
Ebenso abrupt wie der Bericht Francescas endet diese Szene und damit der Gesang selber, nur noch eine Terzine und der alles abschliessende Vers folgen: die Seele Francescas bricht in Tränen aus, die Seele Paolos, der die ganze Zeit über nie ein Wort gesagt hat, bricht in Tränen aus, Dante aber, erneut unter dem Ansturm der pietà28 stürzt wie tot zu Boden: Mentre che l’uno spirto questo disse, l’altro piangea, sì che di pietade io venni men così com’io morisse; e caddi come corpo morto cade.
Fragen wir uns nach der Bedeutung der Szene und namentlich nach dem Sinn und der Bedeutung, welche das Buch darin spielt, dann stehen wir, wie leicht zu vermuten, vor einer enormen Masse an Interpretation. Francesco Mazzoni hat dies bereits in einer lectura Dantis von 1977 vorgeführt und kenntnisreich die grossen Linien der Interpretationsgeschichte nachgezeichnet. Im seither vergangenen Vierteljahrhundert hat die einschlägige Forschungsliteratur weiter zugenommen. Was den Erzähler hier erschüttert, ist einmal die Einsicht in die Ambivalenz der Liebe: göttliches Prinzip, das den ganzen Kosmos durchwirkt und durchwaltet (vgl. v.a. die Schlussgesänge des Paradiso), anderseits Anlass zu schwerer menschlicher Verwirrung und Verfehlung. Es geht – auf eine knappste Formel verkürzt – um die wahre und die falsche Liebe. Anderseits mag man sich die Dante-Figur insofern persönlich nicht unbeteiligt gegenüber dieser Debatte denken, hat der Autor selber doch in seinem vorausliegenden frühen Werk dieser Liebes-Ideologie gehuldigt. Dabei wird diese Diskussion in unserem Gesang kaum explizit geführt. Francesca und Paolo wird hier nicht der Prozess gemacht, und sie selber legen auch keine Beichte ab; es ist vielmehr vorab eine Reihe erzählerischer Einzelzüge, welche die philosophische Tragweite des Einzelfalles Paolo-Francesca andeuten. Dazu kommt zweitens, dass Dante den Disput über die wahre und falsche Liebe auch auf der Ebene des stilistischen Ausdruckes ablaufen lässt. 27 Thomasin von Zirclaria: Der wälsche Gast. Hg. v. Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung u. einem Register v. Friedrich Neumann. Berlin 1965, v. 1118-1126. 28 Darin in deutlicher Steigerung ein motivisches Echo auf den bereits zitierten zentralen Vers 72 und auf v. 109-111.
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Es erweist sich so das Buch, der Roman, über dessen Lektüre sich die beiden als Paar erkennen, als weit mehr denn nur ein (im Übrigen kaum fassbar gemachtes) Requisit in einer epischen Szene. Das Buch im Buch bekommt stattdessen in mehrfacher Hinsicht Gewicht: Es ist einmal materialer Träger eines Textes mit einer – aus Sicht Dantes – im genauesten Sinn verhängnisvollen, verderblichen Liebesideologie. Sodann ist, zweitens, das Buch für das Paar (freilich in einer verkehrten Weise), Mittel der Selbsterkenntnis und Handlungsanleitung, ›Spiegel‹ in diesem doppelten Sinne, wie er uns in der Gattungsbezeichnung der mittelalterlichen Specula-Literatur allgemein entgegentritt.29 Speziell und auf Dante bezogen gilt, – dies ein dritter Aspekt – dass die zur Verdammung führende verhängnisvolle Rolle dieses Buches ex negativo den hohen Wert, den der Autor im Allgemeinen dem Buch und der Lektüre zumisst, demonstriert. Und schliesslich – dies eine vierte Dimension der Präsenz des Buches im Text – speziell und auf Dante bezogen – reflektiert dieser Textausschnitt der Commedia in seiner stilistischen Faktur das, was der zitierte Roman narrativ umsetzt: höfische Liebe. Kritik an der Literatur, am Buch: dieser Befund erhält dann sein volles Gewicht, wenn wir uns abschliessend noch kurz vergegenwärtigen, welche Bedeutung Dante der Literatur, dem Buch, zumisst. Ernst Robert Curtius30 hat dafür eine stattliche Belegreihe zusammengestellt; aus ihr kann ich mich hier bedienen. Bereits im ersten Satz des autobiographischen Liebesromans, der Vita nuova taucht das Wort libro, charakteristischerweise als Metapher für Lebensrealität, ja für den Menschen selber auf: In quella parte del libro de la mia memoria. Für Dante ist ferner die Bildung entscheidend an das Studium von Büchern gekoppelt; gleich am Anfang der Begegnung mit Vergil erwähnt er, er habe dessen volume mit Eifer und Liebe hervorgesucht (Inferno, 1,84). Auch die Commedia selber möchte ein Lehrtext sein, entsprechend wird der Leser angeredet: Se Dio ti lasci, lettor, prender frutto/ di tua lezione […]. (Inferno, 20,19f.) Mangelhaftes Lesen oder Skepsis gegenüber dem Gelesenen kann in die Irre führen, falsches Handeln bewirken. Die Korruptheit der zeitgenössischen Kleriker etwa sieht Dante darin erwiesen, dass sie die Bibel und die grossen Doctores nicht mehr lesen, umso mehr hingegen, aus materieller Begehrlichkeit verwickelt in alle denkbaren Streitigkeiten, die kirchlichen Rechtsnormen, Dekretalen, so dass deren Seiten 29 Zu diesem Realitätsbezug von Buch und Text vgl. Bárberi-Squarotti: Francesca [Anm. 24], v.a. S. 188f. 30 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage der Ausgabe Bern 1948. Tübingen/ Basel 1993, S. 329-335.
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vom häufigen Blättern völlig abgegriffen sind (Paradiso, 9,133-135). Dies ein Beleg für die Lektüre der falschen Bücher; am Paar Francesca und Paolo zeigt sich, wie ausgeführt, die unkritische, damit falsche Lektüre von Büchern. Manche schöne Metapher gilt dem Buch als einem materialen Gebilde; aus Raumgründen übergehe ich dies indessen. Curtius bemerkt mit Blick auf derlei Metaphorik, sie sei oft nicht mehr nur »sinnreiches Spiel; sie kann zentrale geistige Funktion annehmen«.31 Dabei hat er v.a. eine Stelle am Werkschluss, im 33. Gesang des Paradiso im Auge. Das Buch mit seinen Blättern, die es gebunden zusammenhält, wird dort zum ersten Bild in einer sich steigernden Reihe weiterer Metaphern für sonst Unsagbares, für das Göttliche: Nel suo profondo vidi che s’interna legato con amore in un volume, ciò che per l’universo si squaderna. (Paradiso, 33.85-87)
Es gilt so, was Curtius zum Auftakt des Abschnittes über das Buch bei Dante bemerkt: »dass die gesamte Buchmetaphorik des Mittelalters in Dantes Dichtung gesammelt, erhöht, erweitert und durch kühnste Phantasie erneuert ist«.
31 Ebd., S. 335.
IV. Archiv und Gebrauch Das Buch in in der Bibliothek
Anke von Kügelgen
Bücher und Bibliotheken in der islamischen Welt des ›Mittelalters‹ Bμcher sind in der islamischen Welt μber Jahrhunderte hinweg ein verehrtes, kostbares und vielbegehrtes Gut gewesen.1 Das hat mehrerlei Grμnde. Die beiden wichtigsten seien gleich zu Beginn genannt: Zum einen sind durch die arabische Eroberung mehrere Schriftkulturen zusammengefμhrt worden. Mit der Unterwerfung der arabischen Halbinsel, Mesopotamiens, Ägyptens, Palästinas, Syriens und Persiens sowie Nordafrikas und Spaniens im Westen und einiger Gebiete Zentralasiens im Osten hatten die Araber einen ungeheuren Reichtum nicht nur an materiellen sondern vor allem auch an geistigen Gμtern erobert. Diese Gebiete kamen im Verlaufe von nur ungefähr 120 Jahren unter arabische Oberherrschaft. Die Eroberer adaptieren in den meisten Fällen die vorgefundenen Verwaltungsstrukturen und beliessen damit die hochgebildeten Oberschichten in ihren Ämtern. Zum anderen ist das Schriftliche in der Hauptquelle des Islams, dem Koran, positiv besetzt. In der Sure 96, Vers 1-5, die den meisten Muslimen als die erste Offenbarung gilt,2 heisst es: Im Namen des barmherzigen und gμtigen Gottes. Trag vor! im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen aus einem Embryo erschaffen hat! Trag vor! Dein Herr ist der Edelmμtigste; er,
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Fμr die kritische Durchsicht dieses Artikels danke ich herzlich Jind¸rich Strand (Biel), Michael Kemper (Canton), Reinhard Schulze (Bern) und Jasmin Doπan-Bμrki (Bern). Theodor Nöldeke rekonstruiert, weshalb diese Verse von wenigen berμhmten Ausnahmen wie dem Historiker und Koranexegeten a†-‡abarı (gest. 923) abgesehen als die erste Offenbarung angesehen werden (Theodor Nöldeke: Geschichte des Qorns. Bearb. v. Friedrich Schwally. 3 Teile in 1 Bd. Fotomechanischer Nachdruck der 2. Auflage. Leipzig 1909-1938. Hildesheim 1961, Erster Teil: ˜ber den Ursprung des Qorns, S. 78-88).
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der durch das Schreibrohr gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er 3 nicht wusste.
Diese Offenbarung, so der Konsens vieler Muslime, ist Mu˛ammad durch den Engel Gabriel μberbracht worden, und dieser hiess ihn vorzutragen. 4 Die Beschreibung Gottes als denjenigen, der durch das Schreibrohr gelehrt hat, wird häufig auf die Tora und das Evangelium bezogen; Juden und Christen werden im Koran als die Leute des Buches/ der Schrift, als ahl al-kitb bezeichnet. Es gibt noch eine andere Lesart dieser Stelle, wonach sie zu interpretieren wäre als: »der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat«. 5 Beide Lesarten dieses Koranverses zeugen von dem hohen Wert, welcher der Schrift beigemessen wurde, und zugleich von ihrer Bindung an das Sakrale. Die Niederschrift der Worte Gottes sowie auch der guten und schlechten Taten der Menschen sind im Koran vielfach erwähnt. 6 Es bestehen inzwischen nur noch wenig Zweifel daran, dass der Koran in einem Umfeld der Schriftlichkeit geoffenbart wurde. Er diente in thematischer wie formaler Anlehnung an die Bibel und jμdische wie christliche Pseudepigraphen der liturgischen Lektμre, hatte die Funktion eines Lektionars;7 dementsprechend wird qur√n, d.h. ›Koran‹, vom Syrischen qeryn ›Schriftlesung, Unterricht‹ abgeleitet.8 Die meisten muslimischen Gelehrten leiten qur√n vom arabi3
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Zu den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten dieser Koranverse s. Rudi Paret: Der Koran. Kommentar und Konkordanz. Mit einem Nachtrag zur Taschenbuchausgabe. Stuttgart u.a. 1980, Kommentar zu Sure 96, 1-5. Auf Parallelen zur Bibel sowie zu jμdischen und christlichen Pseudepigraphen und auf weitere Lesarten verweisen Gμnter Lμling: ˜ber den Ur-Qur√n. Ansätze zur Rekonstruktion vorislamischer christlicher Strophenlieder im Qur√n. Erlangen 1974, S. 29-43; Christoph Luxenberg: Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlμsselung der Koransprache. Berlin 2000, S. 293-296 und Alfred-Louis de Prémare: Les fondations de l’Islam entre écriture et histoire. Paris 2002, S. 311-312. Nöldeke: Geschichte des Qorns [Anm. 2], S. 78 u. S. 86. William Montgomery Watt: Die Lebensbahn Mohammeds. In: Ders., Alford T. Welch: Der Islam I. Mohammed und die Frμhzeit – Islamisches Recht – Religiöses Leben. Stuttgart u.a. 1980, S. 53-59. Zu der weitverbreiteten, aber nicht gesicherten Meinung, der Prophet Mu˛ammad sei Analphabet gewesen s. ebd., S. 164f. Die Hμter Gottes (die Engel) verzeichnen die Taten der Menschen (82: 10-12, 6: 61, 50: 17-18 u.a.). Das Verb kataba (›schreiben‹) hat im Koran vielfach aber auch die Bedeutung von ›vorschreiben‹ im Sinne von ›auferlegen‹ (4: 77, 5: 32, 5: 45 u.a.). Mit z.T. neuen Argumenten stμtzen diese These Luxenberg: Die syro-aramäische Lesart des Koran [Anm. 3], S. 54-60, S. 79-81, S. 96-97 u. S. 275 und de Prémare: Les fondations [Anm. 3], S. 312, S. 322 u. S. 327. S. auch Rémi Bragues Rezension beider Bμcher (Le Coran: sortir du cercle? In: Critique 671 [2003], S. 232-251). S. auch: A. T. Welch: al-‚Kur√n. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition 5 (1986), S. 400.
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schen Verb qara√a: ›(vor-)lesen‹, ›rezitieren‹ ab. 9 Die meisten Suren und Verse des Koran wurden mit grösster Wahrscheinlichkeit bereits zu Lebzeiten des Propheten und auf seine Veranlassung hin schriftlich fixiert; nur bildeten sie noch keinen festen Korpus und war ihre Anordnung noch nicht festgelegt.10 Die Tatsache, dass mit dem Wort qur√n in der frμh- und mittelmekkanischen Periode Einzeloffenbarungen, später aber auch ihre Zusammenstellung bezeichnet wurde, zeigt, dass mit ›dem Koran‹ zunächst nicht die Vorstellung eines Buches verbunden war. In spätmekkanischer und medinensischer Zeit indes »sind die einzelnen zur Rezitation kommenden Teile (min alkitb) bereits Perikopen im Wortsinne, d.h. jeweils auszuwählende A ussc h nitt e aus dem Gesamtkorpus«. 11 Die Wendung min al-kitb (aus der Schrift / dem Buch) bezieht sich im Koran allerdings in der Regel auf die sich bei Gott befindende (Ur-)Schrift;12 al-kitb bezeichnet verschiedentlich aber auch den Koran im Sinne einer Gesamtheit.13 Der Wunsch, ein Gesamtkorpus zu erstellen, scheint be9
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Als Beispiel seien a†-‡abarı und einige seiner Gewährsleute genannt (Abü ∏afifar Mu˛ammad ibn ∏arır a†-‡abarı: Tafsır a†-‡abarı – ∏mifi al-bayn fian ta√wıl [y] alQur√n. Hg. v. Ma˛müd Mu˛ammad ¯Skir, A˛mad Mu˛ammad ¯Skir. 16 Bde. Nachdruck der Ausgabe Kairo 1954-1969. Kairo 1969 (Unvollständige Ausgabe), Bd. 1, S. 94-98; Abû Jafifar Mu˛ammad Ibn Jarîr at-Tabarî: Commentaire du Coran. Abrégé, traduit et annoté par Pierre Godé. Paris 1983, Bd. 1, S. 30. Eine besonders ausgewogene Darstellung aller genannten Interpretationen von ›qur√n‹ bietet William A. Graham: Beyond the Written Word. Oral Aspekts of Scripture in the History of Religion. Cambridge 1987, S. 88-95. Angelika Neuwirth verweist auf die wichtigsten Studien zu diesem Thema (Koran. In: Grundriss der Arabischen Philologie. 3. Bde. Wiesbaden 1982-1992, Bd. 2: Literaturwissenschaft. Hg. v. Helmut Gätje. Wiesbaden 1987, S. 101-103). Umstritten ist dagegen, ob Worte des Propheten bereits zu seinen Lebzeiten schriftlich festgehalten wurden. De Prémare bejaht dies und hat jμngst die plausibel begrμndete These aufgestellt, dass bei der Erstellung des ›kodifizierten Koran‹ (mu߲af; s. Anm. 14) die Trennung zwischen Gottes- und Prophetenwort noch nicht eindeutig war (Les fondations [Anm. 3], S. 317-321). Neuwirth: Koran [Anm. 10], S. 103. So in 2: 174, 4: 44, 4: 51, 5: 15, 5: 48 u.a.; vgl. Luxenberg: Die syro-aramäische Lesart des Koran [Anm. 3], S. 80-83. 2: 231, 5: 15 u.a. al-Qur√n und al-kitb werden zu Beginn zweier Suren einander gleichgestellt (15: 1 Dies sind die Verse der Schrift und eines deutlichen Korans; 27: 1 Dies sind die Verse des Korans und einer deutlichen Schrift; zu einer möglichen anderen Lesung von mubın [›deutlich‹] s. Luxenberg: Die syro-aramäische Lesart des Koran [Anm. 3], S. 80-83). Diese beiden Verse fμhrt Jacques Berque als Argument gegen eine vielzitierte Hypothese von Richard Bell (Introduction to the Qur√n. Edinburg 1953, S. 128-138; etwas abgemildert in: William Montgomery Watt (Hg.): Bell’s Introduction to the Qur√n. Edinburgh 1970, S. 135-147) an, dass im Koran qur√n die erste Phase der Offenbarung zum Ausdruck bringe, in der sie als Rezitation von Einzelstμcken aufgefasst worden sei, während in späteren Versen kitb an seine Stelle trete, die Offenbarung mithin als ein ›Buch‹, als etwas Schriftliches verstanden worden sei (Jacques Berque: The Koranic Text. From Revelation to Compilation. In:
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reits den Propheten bewegt zu haben. Die Erstellung eines solchen mu߲af (nicht kitb) 14 genannten Buches geschah auf Betreiben von fiU±mn (reg. 644-656), des dritten sogenannten rechtgeleiteten Kalifen. Parallel dazu existierten – vermutlich aufgrund verschiedener Rezitationsweisen und Niederschriften zu Lebenzeiten des Propheten – noch andere Lesarten. Diese Codices wichen darμber hinaus, wie im μbrigen auch einzelne Kopien des ›fiu±mnischen‹ Textes, aufgrund der damals noch häufig unpunktiert geschriebenen arabischen Schrift und der sich daraus ergebenden Mehrdeutigkeit einiger Buchstaben voneinander ab. ›Identische‹ Rezitationstexte respektive Bμcher (des Korans) gibt es erst ungefähr seit der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, nachdem mehrere Lesarten verworfen und andere als ›kanonische‹ – meist sieben an der Zahl – sanktioniert und die diakritischen Zeichen fixiert worden waren. 15 Neben dem Koran ist das Schriftliche auch in der zweiten Hauptquelle des Islam, der Sunna, hoch gehalten worden, d.h. in den Worten und Taten des Propheten Mu˛ammad und der seiner engsten Gefährten. Dem Propheten Mu˛ammad werden die Worte zugeschrieben: Das erste, was Gott erschaffen hat, ist das Schreibrohr; auf Gottes Geheiss schrieb es alles dereinstige Weltgeschehen auf,16 sowie die Verheissung: Am
George Nicholas Atiyeh (Hg.): The Book in the Islamic World. The Written Word and Communication in the Middle East. New York 1995, S. 18f.). Berques Einwand vermag allerdings nicht zu erklären, weshalb in den späten Koranversen qur√n nur noch selten vorkommt; die Deutung, dass zu jener Zeit viele Verse bereits niedergeschrieben waren, liegt nahe. S. auch William A. Graham: Beyond the Written Word. Oral Aspects of Scripture in the History of Religion. Cambridge 1987, S. 80-95. 14 Die Schreibweisen von mu߲af variieren und die Etymologie (äthiopisch?) ist auch nicht gesichert. In jedem Fall ist es aber im Sinne von ›Buch‹ verwendet worden. (J. Burton: Mu߲af. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition 7 [1993], S. 668f.). Mit kitb wurde im Frμhislam offenbar entweder ›Heilige Schrift‹ oder einfach ›schriftliche Mitteilung‹, ›Schriftrolle, Schriftstμck‹, ›Geschriebenes‹ assoziert; vgl. Wörterbuch der klassischen arabischen Sprache 1 (1970), S. 40-42: ›kf‹, s.v. ›kitb; weitere Literaturhinweise bei Gregor Schoeler: Die Frage der schriftlichen oder mμndlichen ˜berlieferung der Wissenschaften im frμhen Islam. In: Der Islam 62 (1985), S. 208 Anm. 39). 15 Eine auch auf eigenen Studien beruhende Zusammenfassung des Forschungsstandes mit zahlreichen Literaturhinweisen bieten Welch: al-‚Kur√n [Anm. 8], S. 402-409 und Neuwirth: Koran [Anm. 10], S. 101-110. 16 Dieses ˛adı± wird von dem Koranexegeten und Historiker a†-‡abarı (gest. 923) in mehreren Varianten μberliefert (Ta√rıƒ ar-rusul wal-mulük/ Annales quos scripsit Abu Djafar Mohammed Ibn Djarir at-Tabari. Hg. v. Michael Jan de Goeje. 15 Bde. Lugduni Batavorum 1879-1901, Bd. 1, S. 29-38; es zählt allerdings nicht zu den allgemein akzeptierten Prophetenworten (Ignaz Goldziher: Neuplatonische und gnostische Ele-
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Tage des Jüngsten Gerichts wiegt die Tinte der Gelehrten so viel wie das Blut der Märtyrer.17
Von engen Prophetengefährten schliesslich ist die Aufforderung μberliefert: Haltet das Wissen schriftlich fest!18 Die schriftliche Fixierung von Wissen hatte mithin bereits in der Frμhzeit des Islam einen hohen Stellenwert.19 In der islamischen Zivilisation hat die Entstehung von Bμchern in den verschiedenen Wissenschaftsarten, den ›religiösen‹ und den von anderen Völkern μbernommenen und weiterentwickelten ›nicht-religiösen‹ Wissenschaften sowie in Poesie und erbaulicher Prosa während der ersten vier Jahrhunderte einen unterschiedlichen Verlauf genommen. Seit dem 10./11. Jahrhundert haben sich das Abfassen und das Kopieren von Bμchern sowie die Methoden ihrer Weitervermittlung im Unterricht jedoch immer stärker angeglichen, und sie scheinen sich bis zur Einfμhrung des Buchdruckes im 18./19. Jahrhundert wenig verändert zu haben. Die Geschichte des Buches in der islamischen Welt ist indes noch nicht geschrieben. Wieviele es noch der offenen Fragen gibt, fμhrte nicht zuletzt eine 1990 von der Library of Congress zu diesem Thema organisierte Konferenz vor Augen. 20 Die arabische Bibliotheksgeschichte von ihren Anfängen bis ins 15. Jahrhundert ist in einigen Aspekten recht gut aufgearbeitet.21 Allerdings ist die Quellenlage dazu teilweise recht dμrftig: Die Bibliotheken sind selten beschrieben, ihre Verwaltungstruktur und das Ausleihsystem kaum festgehalten, und die Bibliothekskataloge haben grösstenteils nicht μberlebt.
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mente im ˘adı±. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Joseph Desomogyi. Bd. 5. Hildesheim 1970 (Collectanea; 2,5), S. 111. Abü ˘mid Mu˛ammad al-flGazlı: I˛y√ fiulüm ad-dın. 4 Teile. Kairo [1358] 1939, Teil 1, S. 12. Die ˜berliefererkette dieses Prophetenwortes gilt als ›schwach‹ (∂afiıf; ebd.), indes steht dagegen die grosse Autorität des Mystikers, Rechtswissenschaftlers und Theologen al-‰azlıs (gest. 1111). Qayyadü l-fiilm bil-kitb (Abü Mu˛ammad fiAbdallh ad-Drimı: Musnad ad-Drimı al-mafirüf bi-‘Sunan ad-Drimı’. 4 Bde. (Ar-)Rijad [1421] 2000, Bd. 1: alMuqaddima, a†-†ahra, Kap. 43, bes. S. 437-438). Zu der vieldiskutierten und nach wie vor nicht gelösten Frage der Authentizität der Sunna s. jμngst: Herbert Berg: The development of exegesis in early Islam. The authenticity of Muslim literature from the formative period. Richmond 2000. George Nicholas Atiyeh hat die Konferenzakten herausgegeben: The Book in the Islamic World. The Written Word and Communication in the Middle East. New York 1995. Youssef Eche: Les biblioth™e ques arabes publiques et semi-publiques en Mésopotamie, en Syrie et en Égypte au Moyen Âge. Damas 1967; Imad E. Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte von Damaskus 549-922/ 1154-1516. Bonn 1969.
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Meine nachfolgenden Ausfμhrungen skizzieren einige Charakteristika der Verbreitung und des Sammelns von Bμchern in der islamischen Welt. Ich konzentriere mich dabei auf das Buch als Medium der Vermittlung von Wissen. Viele Aspekte, wie die handwerkliche und kμnstlerische Gestaltung des Buches,22 verschiedene Funktionen, die dem Buch beigemessen werden konnten (Abwendung von Unheil, Stärkung der Geisteskraft;23 Garant fμr die Einhaltung eines Eides24 u.a.) und das Buch als literarische Metapher z.B. fμr ›den Freund‹, ›das Leben‹, ›die Welt‹25 werden nur am Rande berμcksichtigt. Die Zeitspanne, die hier ins Auge gefasst ist, reicht von den Anfängen des Islams im 7. Jahrhundert bis zum sogenannten Mongolensturm im 13. Jahrhundert, in dem das Kalifat der fiAbbsiden gestμrzt wurde. 26 Ich bezeichne sie in Anlehnung an die europäische Periodisierung mit ›Mittelalter‹, ohne indes die Kennzeichen der europäischen Geschichtsentwicklung und die Klassifikationsparameter fμr das europäische Mittelalter auf die islamische Welt μbertragen zu wollen, sind doch viele davon dort nicht oder aber in anderer Weise auszumachen.
22 Einen umfassenden ˜berblick hierμber mit vielen Literaturverweisen bietet Gerhard Endre˝: Handschriftenkunde. In: Grundriss der Arabischen Philologie. 3 Bde. Wiesbaden 1982-1992, Bd. 1: Sprachwissenschaft. Hg. v. Wolfdietrich Fischer. Wiesbaden 1982, S. 274-285; zu neueren Studien s. François Déroche u. Francis Richard (Hg.): Scribes et manuscrits du Moyen-Orient. Paris 1997. 23 S. z.B. Annemarie Schimmel: Calligraphy and Islamic Culture. New York/ London 1984, bes. S. 82-87, 190-191; Michael Chamberlain: The Production of Knowledge and the Reproduction of Afiyn in Medieval Damascus. In: Nicole Grandine, Marc Gaborieau (Hg.): Madrasa. La transmission du savoir dans le monde musulman. Paris 1997, S. 34 u. S. 37-38. 24 So hatten beispielsweise in der Gemeinde von Ma¸c ada (Daghestan, Nordkaukasus) die Ältesten, die jeweils ein Jahr lang den Ältestenrat bildeten, der fμr die öffentliche Ordnung verantwortlich zeichnete, nach Ablauf ihrer Amtszeit einen Eid auf den Koran zu leisten, alle Pflichten korrekt erfμllt zu haben. Wenn sie den Eid verweigerten, wurde ihnen von ihren Nachfolgern eine Strafzahlung auferlegt (Michael Kemper: Communal Agreements (ittifqt) and fidt-Books from Daghestani Villages and Confederacies [18th –19th Centuries]. In: Der Islam 81 [2004], S. 139-140). 25 Annemarie Schimmel: The Book of Life-Metaphors Connected with the Book in Islamic Literatures. In: George Nicholas Atiyeh (Hg.): The Book in the Islamic World. The Written Word and Communication in the Middle East. New York 1995, S. 71-92. 26 Ich berufe mich, da weder diese Jahrhunderte noch das Thema ›Buch‹ zu meinen Forschungsschwerpunkten zählen, in erster Linie auf einschlägige Studien dazu. Primärliteratur fμhre ich in der Regel nur dort an, wo bloss eine Quelle als Referenz vorhanden ist und verweise, wo möglich, auf ˜bersetzungen in europäische Sprachen.
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Eines der Hauptkennzeichen der Entwicklung der religiösen Wissenschaften (al-fiulüm a¸s -¸s arfiıya) 27 und bis zu einem gewissen Grade auch der Poesie ist in den ersten Jahrhunderten des Islams die persönliche Vermittlung des Wissens. Der Stoff wurde entweder vom Autor/Lehrer oder von einem von diesem bestimmten fortgeschrittenen Schμler in Anwesenheit des Lehrers auswendig vorgetragen oder von einer schriftlichen Vorlage abgelesen. Dem auswendigen Vortrag wurde der Vorzug gegeben, doch ist auch hier davon auszugehen, dass der Gewährsmann respektive Lehrer teils schriftliche Notizen, teils ausgearbeitete Manuskripte vorliegen hatte; ›mμndlich‹ darf also keineswegs im Sinne von ›oral tradition‹ verstanden werden. Mit ›mμndlicher ˜berlieferung‹ (ar-riwya almasmüfia) wird vielmehr nur zum Ausdruck gebracht, dass die ˜berlieferung vom Rezipienten gehört wurde, nicht aber, dass der ˜berlieferer keine schriftliche Vorlage hatte. Die ersten Bμcher zu Recht, Prophetenμberlieferung, Kommentaren zum Koran und Dichtung beruhen auf solchen ›gehörten‹ (auswendig oder nach Vorlage vorgetragenen) ˜berlieferungen und waren kompilatorischer Natur. Sie hatten noch keine endgμltige, fest umrissene Gestalt. Die Kompilatoren verstanden sich offenbar noch nicht als Verfasser von Bμchern im eigentlichen Sinne, und ihre Sammlungen wurden ebenfalls von Angesicht zu Angesicht bzw. μber das Ohr weitervermittelt, so dass entsprechend den Unterschieden der schriftlichen Vorlagen respektive der Variationen beim Vortragen bzw. häufig auch durch Auslassungen und Hinzufμgungen die ›Kopien‹ dieser ersten Kompilationen ebenfalls oft erheblich voneinander abwichen. Die von einigen Forschern vorgebrachte These, die Kompilatoren hätten auf klar umrissene schriftliche Quellen, ja Bμcher zurμckgegriffen, ist ebensowenig haltbar wie die von anderen Forschern vertretene Position der ausschliesslich mμndlichen ˜berlieferung (ohne schriftliche Vorlagen). 28 27 Zu der Unterteilung der ›religiösen Wissenschaften‹, die auch als ›Überlieferungswissenschaften‹ (al-fiulüm an-naqlıya) bezeichnet wurden, in einzelne Fachgebiete s. Louis Gardet, M[arie]-M[arcel] Anawati: Introduction à la théologie musulmane. Essai de théologie comparée. Paris 1948 (Études de philosophie médiévale; 37), S. 108123. 28 Schoeler: Die Frage [Anm. 14], S. 201-230. S. auch Brinkley Messick: The Calligraphic State – Textual Domination and History in a Muslim Society. California 1993 und Michael Chamberlain: Knowledge and Social Practice in Medieval Damascus, 1190-1350. Cambridge 1994, S. 133-151; ähnlich in: Ders.: The Production of Knowledge [Anm. 23], bes. S. 31-42, fundierte ˜berlegungen zu dem Missverständnis einer Dichotomie von Mμndlichkeit und Schriftlichkeit im Islam respektive zu ihrer gegenseitigen Verflechtung.
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Im Verlaufe der ersten Jahrhunderte der islamischen Geschichte gab es einen Wandel in der ˜berlieferungsmethode dieser Wissenschaften und offenbar damit einhergehend gewannen dort fest umrissene Texte, d.h. durch Widmungen, Vorworte/Einleitungen bzw. Schlussworte in sich geschlossene und klar gegliederte Bμcher die Oberhand. 29 Die Werke wurden nun nicht mehr in Diktatkollegien (Sing. iml√) diktiert und hernach in Form der Mitschrift vom Lehrer respektive vom Autor zur Weiterμberlieferung autorisiert, indem er eine schriftliche Lehrerlaubnis (iπza) erteilte. Das Prinzip der Erteilung der Lehrerlaubnis fμr einzelne Bμcher (nicht fμr Fächer) wurde zwar beibehalten und hat sich an allen islamischen Bildungseinrichtungen bis ins 19., teilweise bis ins frμhe 20. Jahrhundert gehalten. 30 Es setzte sich jedoch um das 10./ 11. Jahrhundert durch, dass die Studenten den Text vorliegen hatten und dieser vom Lehrer oder einem fortgeschrittenen Studenten vorgetragen und erläutert wurde (tadrıs); die Erläuterungen vermerkten die Studenten oft als Randkommentare. Daneben existierte aber auch die Autorisierung der Weitergabe eines Textes durch reines Abschreiben des Exemplares vom Professor oder einer mit diesem kollationierten Kopie. Diese Methode war aber lange nicht so angesehen wie jene, die durch die Präsenz in der Unterrichtsstunde erlangt wurde. 31 Sie wurde praktiziert, indes war die Reise zum Meister ›auf der Suche nach Wissen‹ (fı †alab al-fiilm), vor allem jenem, das die religiösen Kenntnisse betraf, keineswegs ein literarischer Topos; sie ist auch nach dem 9. Jahrhundert noch vielfach belegt.32 Das Buch im eigentlichen Sinne, also eine als in sich geschlossen konzipierte und nicht zu verändernde Einheit, hat sich in den religiösen Wissen-
29 Schoeler: Die Frage [Anm. 14], S. 216-218; Peter Freimark: Das Vorwort als literarische Form in der arabischen Literatur. Mμnster 1967, bes. S. 74-114. 30 George Makdisi: Madrasa and University in the Middle Ages. In: Studia Islamica 32 (1970), bes. S. 260-264. Zur Einfμhrung offizieller Prμfungen und der Abschaffung des iπza-Systems in Ägypten, einem der Länder, wo es bereits Ende des 19. Jahrhunderts abgelöst wurde, s. A. Chris Eccel: Egypt, Islam and social Change. Al-Azhar in conflict and accomodation. Berlin 1984, S. 127 u. S. 217-229. 31 Umfangreiche Literaturhinweise liefert Endre˝: Handschriftenkunde [Anm. 22], S. 286-288 u. S. 311; s. auch Schoeler: Die Frage [Anm. 14], bes. S. 204, S. 208-210 u. S. 224-228. 32 Ignaz Goldziher: ‡alab al-˛adîth. In: Muhammedanische Studien. 2 Bde. in 1 Bd. Nachdruck der Erstausgabe Halle a.d.S. 1888. Hildesheim u.a. 2004, Bd. 2, S. 175193; Johannes Pedersen: The Arabic Book. Translated by Geoffrey French. Edited with an Introduction by Robert Hillenbrand. Princeton (New Jersey) 1984, S. 21f.; Ian Richard Netton: Seek Knowledge. Thought and Travel in the House of Islam. Richmond 1996.
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schaften mithin – parallel zum vereinheitlichten Korantext – im 10. Jahrhundert durchgesetzt. In den sogenannten fremden, den ›antiken‹ bzw. ›philosophischen‹ Wissenschaften 33 war das Buch in jenem Sinne von vornherein das Medium des Wissensererwerbs und der Wissensvermittlung. Das Aufkommen der nach damaligem Verständnis philosophischen Bμcher – vor allem Schriften der Metaphysik, Naturwissenschaften und Medizin – ist eng mit den Interessen, den hohen kulturellen Ansprμchen der fiabbsidischen Herrschaftselite in Bagdad und ihren Bibliotheksgrμndungen verbunden. 34 Abü ∏afifar al-Manßür (reg. 754-775), der zweite fiAbbsidenkalif, der im Jahre 762 Bagdad als neue Hauptstadt grμndete, förderte die ˜bersetzung vor allem astrologischer und astronomischer, aber auch logischer, medizinischer und literarischer Werke aus dem Griechischen, Mittelpersischen und Syrischen ins Arabische. Darμber hinaus hielt er die Gelehrten seiner Zeit dazu an, eigenständige Werke auf arabisch zu verfassen. 35 Die ˜bersetzungen und eigenständigen Werke bildeten offenbar den Grundstock einer Palastbibliothek. 36 In noch weit grösserem Masse als der Grμnder von Bagdad förderte der in der heutigen westlichen Welt vor allem mit Tausendundeine Nacht assoziierte Hrün arRa¸sıd (reg. 786-809) das ˜bersetzen wissenschaftlicher Werke. Der von ihm geschaffene ›Speicher der Weisheit‹ (ƒiznat al-˛ikma; auch ›Kabinett der Weisheit‹ [bayt al-˛ikma]) 37 genannt, ist die erste 33 Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen der ›nicht-religiösen Wissenschaften‹ und den darunter gefassten Wissenschaftsdisziplinen s. Gardet, Anawati: Introduction [Anm. 27], S. 100-124. 34 Die erste uns bekannte ›Palastbibliothek‹ wurde bereits von dem ersten Umayyadenkalifen Mufiwiya (reg. 661-680) begrμndet. Wir wissen μber diese Bibliothek nur, dass sie kleine Sammlungen von Worten des Propheten und seiner Gefährten sowie Historisches, d.h. Schlachtenbeschreibungen und Biographisches zu frμheren Herrschern enthielt. Diese Bibliothek, die Teil seines Palastes in Damaskus gewesen sein muss, wurde von den darauffolgenden Kalifen und anderen Mitgliedern des Umayyaddenclans beibehalten und durch neue Bμcher bereichert (Eche: Les biblioth™e ques arabes [Anm. 21], S. 11-20). 35 Gerhard Endre˝: Die wissenschaftliche Literatur. In: Grundriss der Arabischen Philologie. 3 Bde. Wiesbaden 1982-1992, Bd. 2: Literaturwissenschaft. Hg. v. Helmut Gätje. Wiesbaden 1987, S. 420-421; Eche: Les biblioth™e ques arabes [Anm. 21], S. 21. Einigen arabischen Quellen zufolge soll al-Manßür auch mathematische Schriften μbersetzen haben lassen (Eche: Les biblioth™e ques arabes [Anm. 21], S. 20-22). 36 Es ist unklar, ob diese neue Bibliothek Bestände der Bibliothek des ersten Umayyadenkalifen al-Mufiwiya einschloss (s. oben Anm. 33; Eche: Les biblioth™e ques arabes [Anm. 21], S. 11-20). 37 Die beiden Bezeichnungen wurden synonym gebraucht (Endre˝: Die wissenschaftliche Literatur [Anm. 35], S. 423 Anm. 49). Die Palastbibliothek des ersten Umayyadenkalifen Mufiwiya [Anm. 34] wird in einer Quelle aus dem 9. Jahrhundert als ›Kabinett der Weisheit‹ (bayt al-˛ikma) bezeichnet (Eche: Les biblioth™e ques arabes
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Institution, welche sich in systematischer Weise der Sammlung und ˜berlieferung des Wissenschaftserbes annahm. Unter seiner Ägide wurden beispielsweise der Almagest von Ptolemaios, die Physik des Aristoteles und die Elemente des Euklid ins Arabische μbersetzt. Das geschah häufig durch einen Umweg μber das Syrische. 38 Harün ar-Ra¸sıds Sohn al-Ma√mün (reg. 813-833) fμhrte in seiner ebenfalls bald ›Weisheitskabinett‹ (bayt al-˛ikma), bald ›Weisheitsspeicher‹ (ƒiznat al-˛ikma) genannten Palastbibliothek die Förderung der ˜bersetzungen der antiken Wissenschaften fort. Unter ihm erreichte sie ihre höchste Blμte, und in seiner Bibliothek trafen sich die grossen Gelehrten der Zeit und diskutierten miteinander. 39 Eine vielfach μberlieferte Legende sieht Aristoteles als Auslöser dieser Aktivität al-Ma√müns: Al-Ma√mün sah im Traum einen Mann von heller, etwas rötlicher Hautfarbe, mit weiter Stirn, zusammengewachsenen Brauen, kahlhäuptig, blauäugig, von schöner Wesensart, der auf seinem Bett sass. Al-Mafimün berichtet: »Es war als ob mich seine Gegenwart mit Ehrfurcht erfμllte, so fragte ich ihn: ›Wer bist du?‹ Dieser antwortete: ›Ich bin Aristoteles.‹ Da freute ich mich und sprach: ›Oh Weiser, darf ich Dich etwas fragen?‹ Er antworterte: ›Frage nur.‹ So fragte ich: ›Was ist das Gute?‹ Er antwortete: ›Was vor der Vernunft (fiaql) gut ist.‹ Ich fragte weiter: ›Und was noch?‹ Er antwortete: ›Was vor dem Gesetz (¸ s arfi) gut ist.‹ Ich fragte weiter: ›Und was noch?‹ Er antwortete: ›Was vor der Menge (al-πumhür) gut ist.‹ Ich fragte weiter: ›Und was noch?‹ Er antwortete: ›Sonst nichts.‹40
Mit der Nacherzählung dieses Traumes beginnt der Buchhändler und Kopist Ibn an-Nadım (gest. um 990), dem wir das älteste μber[Anm. 21], S. 11-12); ˛ikma (›Weisheit‹) wurde allerdings zu jener Zeit noch nicht mit der ›antiken Weisheit‹, der Philosophie, gleichgesetzt. 38 Endre˝: Die wissenschaftliche Literatur [Anm. 35], S. 421-422. Harün ar-Ra¸sıd bereicherte die Bibliothek vor allem durch Bμcher, die seine Armee als Beute ergatterte (ebd., S. 423); Eche fμhrt noch weitere Quellen an (Les biblioth™e ques arabes [Anm. 21], S. 23). 39 Eche: Les biblioth™e ques arabes [Anm. 21], S. 27-57. 40 Ibn an-Nadım fμhrt anschliessend noch eine leicht variierende ˜berlieferung an, derzufolge Aristoteles ihm am Ende geraten habe, sich an das Dogma von der Einheit Gottes (tawhıd) zu halten. Abü l-Faraπ [Ibn] an-Nadım al-mafirüf bil-Warrq: Kitb al-fihrist. Hg. v. Ri∂ Taπaddud. Teheran [ca. 1391] 1971, S. 303-304; The Fihrist of al-Nadım – A Tenth-Century Survey of Muslim Culture. Hg. u. übers. v. Bayard Dodge. 2 Bde. New York/ London 1970, Bd. 2, S. 583-584. In einigen Wendungen der ˜bersetzung halte ich mich an Gerhard Endre˝, der den Text teils wörtlich μberträgt, teils in Paraphrase wiedergibt (Der erste Lehrer. Der arabische Aristoteles und das Konzept der Philosophie im Islam. In: Udo Tworuschka (Hg.): Gottes ist der Orient. Gottes ist der Okzident. Festschrift fμr Abdoldjavad Falaturi zum 65. Geburtstag. Köln/ Wien 1991, S. 151).
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lieferte Bμcherverzeichnis verdanken, seinen Bericht μber den Grund dafμr, weshalb sich die Bμcher der Philosophie und anderer alter Wissenschaften in diesem Lande vermehrt haben. Der Traum ist »eine anekdotische Verdichtung eines historischen Prozesses«, denn in der Regierungszeit von al-Ma√mün wurden nicht bloss die meisten Werke des Aristoteles ins Arabische μbersetzt, sondern in dieser Zeit bildete sich auch eine arabisch-islamische Philosophie und Wissenschaft eigenen Ranges heraus. 41 Grosse Förderung liess alMa√mün vor allem der Astronomie angedeihen. Er hat in Bagdad und Damaskus gezielte Sternenbeobachtungen durchfμhren lassen und durch μberliefertes Material μberprμfen und ergänzen lassen. 42 Neben den weltlichen Wissenschaften unterstμtzte al-Ma√mün die rationalistische Exegese des Koran, d.h. wissenschaftliches Denken sollte auch fμr die Formulierung und Verteidigung des islamischen Monotheismus eingesetzt werden. 43 Die ˜bersetzer und Forscher waren unter al-Ma√mün noch stärker als unter seinem Vater mit dem ›Weisheitskabinett‹ verknμpft. Es war zu einer akademischen Institution gereift, die die ˜bersetzung der antiken Wissenschaften und die Beschäftigung mit ihr systematisch förderte und mit ihrer Hilfe eine reiche Bibliothek schuf. Zu dieser ›halb-öffentlichen‹ Bibliothek hatten ausgesuchte Gelehrte Zugang. ˜ber die Verwaltung der Bibliothek, die offenbar neben der Bagdader Hauptstelle noch verschiedene Zweigstellen hatte, sind nur ganz vereinzelt Informationen μberliefert. Die Hauptverwalter waren, soweit bekannt, hochgebildete Männer, z.T. selbst ˜bersetzer oder Autoren von Kommentarwerken. Ihre Aufgaben scheinen vielfältiger Art gewesen zu sein; die Anschaffung von Bμchern gehörte in jedem Fall mit dazu und sie implizierte auch die eine oder andere Reise.44 Nicht nur in Bagdad, der Hauptstadt der fiAbbsidenkalifen, blμhten die halböffentlichen Bibliotheken der Regierungspaläste. 41 Endre˝: Der erste Lehrer [Anm. 40], S. 152. 42 Aydªn Sayªlª: The observatory in Islam and its place in the general history of the observatory. 2. Auflage. Ankara 1988, S. 50-87. Endre˝: Die wissenschaftliche Literatur [Anm. 35], S. 434-435. 43 Hans Ferdinand Uhrig: Das Kalifat von al-Ma√mün. Aus den Annalen von a†-‡abarı übers. u. unter Heranziehung der sonstigen bedeutenden Quellen ausführlich erläutert. Frankfurt a.M. u.a. 1988; Dominique Sourdel: La politique religieuse du calife fiabbside al-Ma√mün. In: Revue des Études Islamiques 30 (1962), S. 26-48; Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frμhen Islam. 6 Bde. New York 1997, Bd. 4: Gesamtregister s. v. Ma√mün, Kalif. 44 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 37-47.
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Spätestens ab dem 10. Jahrhundert finden sich auch in anderen Städten der islamischen Welt grosse Palastbibliotheken, die aus einem regen Interesse der Herrschenden an den verschiedensten Wissenszweigen erwuchsen. Die schnelle Verbreitung der in Bagdad μbersetzten Bμcher hängt auch wesentlich mit der Benutzung von Papier als relativ billigem Schreibmaterial zusammen. Die Papierproduktion wurde einigen arabischen Quellen zufolge Mitte des 8. Jahrhunderts – unter Anleitung chinesischer Kriegsgefangener – in Samarkand aufgenommen 45 und hatte Ende des 11. Jahrhunderts in der gesamten islamischen Welt die Verwendung von Papyrus und Pergament weitgehend verdrängt. 46 Die berμhmtesten Palastbibliotheken des 10. Jahrhunderts, in denen Bμcher zu Poesie und Literatur und zu allen im islamischen Raum bekannten Wissenschaften gesammelt worden sein sollen, sind jene von Córdoba und Kairo. Die Bibliothek von al-˘akam II. (961-976), des umayyadischen Beherrschers von al-Andalus, ist, wie es der ˜berlieferung zufolge heisst, in einem Katalog verzeichnet gewesen, der 44 Hefte mit je 20 Blättern umfasste, wobei jeweils nur die Titel der Bμcher vermerkt gewesen seien. Er hatte μberall im Osten seine Agenten, welche vor allem versuchten, Autographe, d.h. vom Autor selbst erstellte Handschriften, fμr ihn zusammenzutragen. 47 Der zuweilen mit 400.000 Bänden bezifferte Bibliotheksbestand ist allerdings höchstwahrscheinlich μbertrieben. 48 Doch sollte der Bestand auch nur ein Zehn45 Abü Manßür fiAbd al-Malik a±-¤afilibı: ¤imr al-qulüb fı l-mu∂f wal-mansüb. Hg. v. Mu˛ammad Abü l-Fa∂l Ibrhım. Kairo [1384] 1965, S. 543; die gleiche Passage findet sich in einem weiteren Buch dieses Autors: The Book of Curious and Entertaining Information – The La†√if al-mafirif of Thafilibı [a±-¤afilibı]. Translated with Introduction and Notes by C. E. Bosworth. Edinburgh 1968, S. 140; ¯Sihb ad-Dın A˛mad anNuwayrı: Nihyat al-arab fı funün al-adab. 29 Bde. Kairo 1933-1954, Bd. 1, S. 367; Joseph Karabacek: Das arabische Papier. Eine historisch-antiquarische Untersuchung. In: Mittheilungen aus der Sammlung der Papyrus Erzherzog Rainer. Bd. 2 u. 3. Wien 1887, S. 111-114. 46 Karabacek: Das arabische Papier [Anm. 45], S. 87-178; Ders.: Neue Quellen zur Papiergeschichte. In: Mittheilungen aus der Sammlung der Papyrus Erzherzog Rainer. Bd. 4. Wien 1888, S. 75-122. 47 Trıƒ al-fiAllma Ibn ∫aldün: Kitb al-fiIbar wa-dıwn al-mubtada√ wal-ƒabar fı ayym al-fiArab wal-fiAπam wal-Barbar wa-man fißarahum min ≤awı s-sul†n alakbar. Bd. 4. Beirut 1968, S. 316-317; Reinhart Pieter Anne Dozy: Histoire des musulmans d’Espagne jusqu’à la conquête de l’Andalousie par les Almoravides (7111110). Nouvelle édition revue par E. Lévi-Provençal. 3 Bde. Leiden 1932. Bd. 2, S. 183-184. Es ist leider weder festgehalten, wie der Katalog noch wie die Bibliothek geordnet gewesen sind. 48 Dozy: Histoire [Anm. 47], S. 183-184.
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tel davon ausgemacht haben, so wäre er im Vergleich zu europäischen Bibliotheken immer noch ausserordentlich gross gewesen. So besass die Dombibliothek zu Konstanz im 9. Jahrhundert 356 Bände, Benediktbeuren im Jahre 1032 etwas μber 100 und die Dombibliothek zu Bamberg im Jahre 1130 bloss 96 Schriften; etwas umfangreicher waren nur die Bμchersammlungen und Bibliotheken der Päpste; fμr das Jahr 1475 sind im Index der Vatikanbibliothek von Sixtus IV. beispielsweise 2527 Bände verzeichnet.49 Die Palastbibliothek von Kairo, wo zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert die schiitische Dynastie der F†imiden (909-1171) den Sitz ihres Kalifats aufgebaut hatte, soll nach einigen Angaben zwischen 120.000 und 160.000, 50 nach anderen zwischen 200.000 und 600.000 Bände umfasst haben. Davon sollen 18.000 Handschriften Themen der ›antiken‹ Wissenschaften gewidmet gewesen sein und 2.400 Werke Koranabschriften ausgemacht haben. Auch in dieser Bibliothek wird der Reichtum an Autographen hervorgehoben. Einzelne Werke sowohl der theologischen als auch der profanen Wissenschaften sollen mehrfach, manche sogar in 100 Exemplaren vorhanden gewesen sein. 51 Das Vorhandensein dieser Bμcher in mehrfacher Ausfertigung kann als ein Indiz dafμr gewertet werden, dass die Bibliothek einer ganzen Reihe von Gelehrten und Hofbeamten offenstand. Palastbibliotheken gab es indes nicht nur in den Hauptstädten der drei Kalifate. Auch Fμrsten und andere Staatsbedienstete einzelner Provinzen des islamischen Reiches unterhielten dergleichen halböffentliche Bibliotheken. Der grosse Philosoph und Arzt Ibn Sın, im Westen bekannter unter seinem latinisierten Namen ›Avicenna‹ (gest. 1037), berichtet Ende des 10. Jahrhunderts, dass er einmal in seiner Funktion als Arzt den damaligen samanidischen Gouverneur von Buchara erfolgreich behandelte und daraufhin dessen Bibliothek benutzen durfte. Ibn Sın beschreibt diese Palastbibliothek als einen gesonderten Bau mit zahlreichen Räumen, in denen Bμcher auf Regalen μbereinandergestapelt gewesen seien. Jeder Raum sei einem Fachgebiet zugeordnet gewesen. Er nennt u.a. die Disziplinen ›arabische Sprache‹, 49 Theodor Gottlieb: Ueber mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890, S. 27, S. 23, S. 22 u. S. 235. 50 Ibn ∫aldün: Trıƒ Ibn ∫aldün [Anm. 47], S. 173 (er spricht von »an die 120.000«); Adam Mez: Die Renaissance des Islams. Hildesheim 1968, S. 165. 51 Kurt Holter: Der Islam. In: Handbuch der Bibliothekswissenschaft 3,1 (1955), S. 213 (er vermerkt, dass die Zahl der Bμcher zu Themen der ›antiken‹ Wissenschaften wahrscheinlich μbertrieben ist, während die der Koranexemplare eher als niedrig einzustufen ist, es sich vielleicht um eine Teilsammlung handelte).
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›Poesie‹, ›Rechtswissenschaft‹ und ›die Wissenschaften der Alten‹, d.h. der Griechen. Die Werke, die ihn interessierten, habe er sich aufgrund des Kataloges herausgesucht und bestellt.52 Aus dem Bibliothekstypus des ›Weisheitskabinetts‹ oder ›Weisheitsspeichers‹, in dem ausgesuchte Gelehrte μbersetzten, kopierten, forschten, kompilierten und disputierten, der jedoch als halböffentliche Palastbibliothek weiteren ausgewählten Gelehrten und Staatsdienern offenstand, entwickelte sich zu Beginn des 10. Jahrhunderts in verschiedenen Städten die dr al-fiilm, eine Art ›Akademie der Wissenschaft‹, in der alle Wissenschaften vertreten waren. 53 Sie unterscheidet sich vor allem durch drei Merkmale vom bayt al-˛ikma: – die Bibliothek war in einem eigenen Gebäude untergebracht; – sie wurde aus einer frommen Stiftung (waqf) finanziert; 54 – sie öffnete ihre Tore nicht nur fμr die grossen Gelehrten, sondern fμr jedermann. Die dr al-fiilm war mithin der erste öffentliche Bibliothekstypus in der islamischen Welt. Wessen Geldtasche schmal war, der bekam Papier, Tinte und Feder in der Bibliothek gestellt und konnte auf diese Weise Schriften fμr sich kopieren. Die Stifter kamen fast ausschliesslich aus Regierungskreisen, doch waren neben Landesherren auch viele Minister darunter. Das Spektrum an Schriften erreichte rasch eine grosse Breite. Neben Bμchern, die sich mit den religiösen Wissenschaften im engeren Sinne befassten, wozu auch die Rechtswissenschaft zählte, gab es viele literarische Werke, Abhandlungen zu Sprache und Prosodie sowie Werke zu Geschichte, Medizin, Astronomie, Astrologie, Metaphysik, Geometrie und anderen Wissenschaften. 55 Allerdings wurden nun kaum mehr ˜bersetzungen angefertigt. Das hatte seinen Grund vermutlich nicht in mangelndem Interesse an den Wissenschaften der Griechen, Inder und Perser. Es scheint vielmehr, dass im 10. Jahrhundert die Aufmerksamkeit hauptsächlich der Weiterfμhrung und Transformation des Gedankengutes der Antike und
52 The Life of Ibn Sina – A Critical Edition and Annotated Translation by William E. Gohlmann. Albany (New York) 1974, S. 34-37 u. S. 122-123; eine ausfμhrlicher kommentierte ˜bersetzung bietet Dimitri Gutas: Avicenna and the Aristotelian Tradition. Introduction to Reading Avicenna’s Philosophical Works. Leiden 1988, S. 28-29. 53 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 3f. u. S. 67-161. 54 Die grosse Nachfrage nach Bμchern zwang die muslimischen Juristen, auch Bμcher und nicht nur unvergängliche Gμter als ›fromme Stiftung‹ (waqf) zu akzeptieren (ebd., S. 68-74). 55 Ebd., S. 76-79 u. S. 104-105, et passim.
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Versuchen galt, dieses mit religiösen Lehren zu neuen Synthesen zu bringen. An den Akademien, d.h. in deren Bibliotheken, fanden weiterhin zahlreiche Diskussionsrunden statt, die Gelehrte aus nah und fern anzogen. Darμber hinaus diente die dr al-fiilm bisweilen auch als Lehrstätte.56 Der Stifter heuerte dafμr – je nach persönlicher Präferenz – einen in den religiösen oder profanen Wissenschaften ausgewiesenen Gelehrten an oder μbernahm den Unterricht selbst, wie z.B. im Falle des Stifters der Wissenschaftsakademie von Mosul, Abü l-Qsim ∏afifar b. Mu˛ammad b. ˘amdn, eines grossen Kenners der islamischen Rechtswissenschaft als auch der griechischen Wissenschaften, der Astrologie und der Poesie.57 Er begrμndete seine dr al-fiilm um die Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert; sie gilt als erste ihrer Art. 58 Gewöhnlich waren diese Bibliotheken jeden Tag geöffnet.59 Die Ausleihe in den öffentlichen wie zuvor auch in den halböffentlichen Bibliotheken erfolgte in der Regel μber das Hinterlegen eines Pfandes, doch durften offenbar nicht alle Bμcher nach Hause mitgenommen werden. Die zwei bekanntesten Bibliotheken des Typus ›Akademie der Wissenschaften‹ entstanden in Bagdad Ende des 10. Jahrhunderts respektive in Kairo zu Beginn des 11. Jahrhunderts. Die Bagdader Bibliothek wurde von einem Schiiten, Sbür b. Arda¸sır (gest. 1025), gestiftet. Er war Minister der Büyiden, einer schiitischen Gouverneursdynastie, die zeitweilig sogar die fiabbsidischen Kalifen entmachtet hatte. Seine Bibliothek soll 10.400 Bμcher umfasst haben, darunter 100 Koranexemplare, die von verschiedenen Mitgliedern einer berμhmten KalligraphenFamilie angefertigt worden sein sollen. Als Autor in dieser Bibliothek mit eigenen Werken zu figurieren galt als ein grosses Privileg. So ist μberliefert, dass der damalige Staatsschreiber Ägyptens die ersten beiden Bände seiner Poesie-Sammlung an den Bibliothekar der Bagdader dr al-fiilm und auch an andere Notablen der Stadt 56 Ebd., S. 89 u. S. 115. 57 ¯Sihb ad-Dın Yqüt: Mufiπam al-udab√ al-mafirüf bi-Ir¸sd al-arıb il mafirifat al-adıb or Dictionary of Learned Men of Yáqút. Hg. v. D[avid] S[amuel] Margoliouth. 2. Auflage. Bd. 2. London 1925, S. 420-424. 58 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 98-99. Die Lebensdaten des Stifters sind ungesichert (ebd.). 59 Ebd., S. 367. Yqüt gibt an, dass die Bibliothek (ƒiznat kutub) der dr fiilm von Abü lQsim ∏afifar b. Mu˛ammad b. ˘amdn täglich geöffnet war, dass jederman Zutritt zu ihr hatte und er jeden mit Papier versorgte, dem es daran mangelte (Mufiπam aludab√ [Anm. 57], S. 420).
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schickte, damit sie entscheiden möchten, ob das Werk es wert sei, neben den vielen Tausenden von Meisterwerken zu stehen. Im Falle eines positiven Entscheides wμrde er auch die weiteren Bände schikken. Die Bibliothek von Sbür muss ein wahrer Publikumsmagnet gewesen sein. Das lag offenbar an ihrer guten Ausstattung und Zugänglichkeit, die Gelehrte und Literaten aus der gesamten islamischen Welt anzog. Einer der bekanntesten arabischen Poeten der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, al-Mafiarrı, der ein scharfer Kritiker aller Bigotterie und häufig pessimistisch gestimmt war, preist diese Bibliothek in mehreren seiner Gedichte als ›den besten aller Orte‹ an, und bedauert, dort nicht fμr ewig verweilen zu dμrfen. Nicht nur seien in dieser Bibliothek alle Bμcher vorhanden, nach denen sein Herz begehre, sondern er habe dort darμber hinaus viele Gelehrte kennengelernt und von den zahlreichen Diskussionen mit ihnen den grössten Nutzen davongetragen. Fμr Sbür b. Arda¸sırs dr al-fiilm ist auch der Personalbestand belegt. Er setzte sich zusammen aus einem Bibliothekar, der selbst ein Gelehrter war, einem Bibliotheksgehilfen, Laufburschen und Kopisten; letztere zählten möglicherweise nicht zum ständigen Personal, sondern wurden bei Bedarf angestellt.60 Nicht minder angesehen war die dr al-fiilm, die Wissenschaftsakademie in Kairo. Ihr Grμnder ist al-˘kim bi-amr Allh (reg. 996-1021), ein exzentrischer Kalif der zuvor bereits kurz einmal erwähnten schiitischen F†imidendynastie. Er verstand sich selbst als die Inkarnation des göttlichen Intellekts und war berμchtigt fμr seine grausamen Verfolgungen sunnitischer, christlicher und jμdischer Untertanen, die von kurzen Perioden grosser Milde ihnen gegenμber unterbrochen wurden. 61 Die Wissenschaften hingegen, und zwar sowohl schiitische als auch sunnitische, sowie profane Wissenschaften, förderte er mit grosser Intensität. Von der dr al-fiilm ist das Stiftungsdokument erhalten, aus dem der jährliche Etat der Akademie zu entnehmen ist. Der Etat betrug 257 Dinare: 62 An Gehältern gingen davon 48 Dinare an den Bibliothekar, 15 an den 60 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 102-117. 61 Eine der wichtigsten Quellen zu al-˘kim ist die seines Landsmannes und Zeitgenossen, des arabischen melkitischen Christen Ya˛y b. Safiıd al-An†aqı (937/38-1033/34) (Histoire de Ya˛y Ibn Safiıd D’Antioche [Ya˛y b. Safiıd al-An†aqı]. Édition critique du texte arabe préparée par Ignace Kratchkovsky et traduction française annotée par Françoise Micheau et Gérard Troupeau. In: Patrologia Orientalis. Turnhout 1997. Bd. 47, Fasc. 4, N° 212, S. 384-445. 62 A˛mad Ibn-fiAlı al-Maqrızı: al-Mawfii÷ wal-ifitibr fı ≤ikr al-ƒi†a† wal-±r. 2 Bde. Bulq [1270] 1853, Bd. 1, S. 458f.
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Diener und 12 an den Verwalter von Papier, Tinte und Schreibrohr. 48 Dinare durfte der Stiftungsverwalter vermutlich nach seinem Gutdμnken verteilen. Der Rest war fμr Materialien und deren Instandhaltung bestimmt: 90 Dinare fμr das frei zur Verfμgung gestellte Papier, 13 fμr Reparaturen, 12 fμr Trinkwasser, 10 fμr Sitzmatten, 5 fμr Winterteppiche und 4 fμr Winterdecken. 63 Die Gehälter waren ansehnlich, denn zu Beginn des 11. Jahrhunderts konnte man in Ägypten fμr einen Dinar durchschnittlich 100 Kilogramm Weizen erstehen. 64 Das Gehalt von 48 Dinaren fμr den Bibliothekar war deutlich höher als das der meisten μbrigen Staatsangestellten. So erhielten beispielsweise Imame – je nach Bedeutung der Moschee – bis zu 28 Dinaren und die Professoren der Medresen, der islamischen Hochschulen, verdienten nur 12 Dinare, wobei ihnen jedoch noch einige Naturalien wie Brot und Fleisch zugeteilt wurden. Mit Blick auf die Tätigkeit in einer Bildungsinstitution wurde allein eine Person vom Staate höher bezahlt, nämlich der Freitagsprediger der al-Azhar-Moschee. 65 Seine Bevorzugung nimmt indes nicht wunder, war der Freitagsprediger von Kairo unter den F†imiden doch der wichtigste Propagandist ihrer schiitisch-ismfiilitischen Staatsdoktrin. Als Ort der fatimidischen Propaganda diente neben der Moschee auch die Wissenschaftsakademie, d.h. die Bibliothek. Seit dem frμhen 12. Jahrhundert wurde sie sogar vorwiegend zur Verbreitung schiitisch-ismfiilitischer Doktrin verwendet. 66 Die fatimidische Bibliothek bzw. Akademie μberlebte allerdings das 12. Jahrhundert nicht: Mit der Eroberung Ägyptens durch Saladin im Jahre 1171 fand sie ein jähes Ende. Saladin war ein μberzeugter Sunnit und selbst kein besonderer Bμcherfreund. Er liess die meisten Bibliotheken auflösen, d.h. er liess ihre Bestände verkaufen, wobei er seinen engsten Vertrauten das Recht einräumte, sich aus diesen Bibliotheken frei zu bedienen. 67 Unter Saladin florierte indes eine andere Art von Bibliothek respektive Bildungsinstitution: die an eine Medrese angeschlossene Studienbibliothek, deren Bestand sich an den Bedμrfnissen der Leh63 Eche, der das gesamte Stiftungsdokument, in dem auch der Unterhalt fμr zwei Moscheen, eine davon die al-Azhar, geregelt ist, studiert hat, konstatiert einige Rechenfehler und erachtet das Dokument bzw. dessen ˜berlieferung durch alMaqrızı als nur bedingt glaubwμrdig. Den allgemeinen Verteilungsschlμssel der Gelder hält er indes fμr realistisch (Les biblioth™e ques arabes [Anm. 21], S. 85-86). 64 Eliyahu Ashtor: Histoire des prix et des salaires dans l’Orient médiéval. Paris 1969, S. 124 u. S. 131-132. 65 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 353. 66 Ebd., S. 75-85 u. S. 89-94. 67 Ebd., S. 75, 134-135 u. S. 250-251.
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re orientierte und μberwiegend nur den dort Lehrenden und Studierenden offenstand. Medresen sind bereits in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts nachweisbar, doch in grösserem Massstab fanden sie erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts durch die Bau- und Stiftungsinitiativen des streng sunnitischen Seldschuken-Wesirs Ni÷m al-Mulk (gest. 1092) Verbreitung. 68 Die Seldschuken-Sultane hatten sich dem Kalifen von Bagdad unterstellt, um gegen die Schiiten, speziell gegen die Büyiden und F†imiden, vorzugehen und dem Sunnitentum wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Die von einer Reihe von Forschern vertretene These, diese Medresen seien eine sunnitische Antwort auf die schiitischen Stiftungsbibliotheken des Typus der ›Wissenschaftsakademien‹, 69 ist, wie u.a. Makdisi,70 Sourdel 71 und La Viere Leiser72 haben zeigen können, zu kurz gegriffen. Die Medresengrμndungen zur Zeit von Saladin indes, denen allen eine Stiftungsbibliothek zugewiesen war, standen in jedem Fall deutlich unter dem Stern antischiitischer Propaganda. 73 Die ersten bekannten Stiftungsbibliotheken, die Medresen angeschlossen waren, gehen auf Ni÷m al-Mulk zurμck. Sie waren, da an diesen Hochschulen vorwiegend islamisches Recht unterrichtet wurde, mit Bμchern zu diesem Thema und den dazu benötigten Wissenschaften, wie u.a. Grammatik der arabischen Sprache, Koranexegese und ˛adı±-Kunde, ausgestattet. An späteren Medresen wurde der Fächerkanon erweitert: es kamen aristotelische Logik und islamische scholastische Theologie, z.T. auch Geschichtswissenschaften sowie Mystik und schöne Literatur religiöser Färbung hinzu. Indes blieben ›Philosophie‹, d.h. die ›antiken Wissenschaften‹, an vielen Medresen verpönt und konnten dort nur in ihrer an bestimmte Glaubensdog68 Johannes Pedersen – [G. Makdisi] nennt die einschlägigen Studien dazu (Madrasa I. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition 5 [1986], S. 1125-1126). 69 Max van Berchem: Matériaux pour un Corpus Inscriptionum Arabicarum. Bd. 1: Égypte. Fasc. 1: Le Caire. Kairo 1903 (Mémoires publiés par les membres de la Mission archéologique française au Caire; 19), S. 260, Anm. 3; Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 154-161; H. Bowen – [C. E. Bosworth]: Ni÷m al-Mulk. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition 8 (1995), S. 71-72. 70 George Makdisi: Muslim institutions of learning in eleventh-century Baghdad. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 24 (1961), S. 1-56. 71 Dominique Sourdel: Réflexions sur la diffusion de la Madrasa en Orient du XI e au XIII e siècle. In: Revue des Études Islamiques, Hors série 13: L’Enseignement en Islam et en Occident au Moyen Âge. Medieval Education in Islam and the West. Paris 1976, S. 165-184. 72 Gary La Viere Leiser: The Restoration of Sunnism in Egypt. Madrasas and Mudarrisün 495-647/ 1101-1249. Diss. Pennsylvania 1976, S. 111-186. 73 S. beispielsweise ebd., S. 187-267.
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men des Islam assimilierten Form gelehrt werden; hellenistische Philosophie wurde im Privaten weiter unterrichtet.74 Der Bestand der Studienbliotheken wurde vor allem durch die Lehrer vergrössert, die ihre Privatbibliothek in Teilen oder auch als Ganzes ihrer Lehrstätte vermachten, 75 so dass von vielen Werken mehrere Kopien vorhanden waren. Der Bibliothekar genoss, soweit wir das ermessen können, ein gutes Ansehen. In der 1233 eröffneten Mußtanßirıya, einer der grossen Bagdader Medresen, war er in der Entlöhnung dem Professor fast gleichgestellt. Beide erhielten 12 Dinare im Monat, nur die täglichen Brot- und Fleischrationen waren fμr den Professor etwas höher bemessen. 76 Studienbibliotheken gehörten zu jeder kleineren oder grösseren Bildungsanstalt. Neben den Medresen und den nach deren Verbreitung teilweise weiterhin auch als Ausbildungsort genutzten Moscheen 77 gab es spezielle Schulen respektive Hochschulen zur Tradierung der Prophetenworte (dr al-˛adı±), 78 zur Vermittlung sufischer Lehren 79 und medizinischen Wissens80. Darμber hinaus
74 Pedersen – [Makdisi]: Madrasa I. [Anm. 68], S. 1129-1130. Eche fμhrt die Bμcherbestände der Aleppiner ⁄hirıya-Bibliothek an (Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 218-233). Stifter, die an ihren Medresen Medizin unterrichten liessen (Gotthard Strohmaier: Ärztliche Ausbildung im islamischen Mittelalter. In: Klio 61 [1979], S. 524) oder sogar Astronomie und höhere Mathematik, wie der Timuride Ulü∞-Bek (gest. 1449) in Samarkand (Endre˝: Die wissenschaftliche Literatur [Anm. 35], S. 433 u. S. 459) bildeten die Ausnahme. Erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert haben auch von religiösen Bindungen losgelöste profane Wissenschaften in den Lehrkanon der Medresen Eingang gefunden (s. z.B. fμr eine Vielzahl islamischer Länder den von Nicole Grandine und Marc Gaborieau herausgegebenen Sammelband: Madrasa. La transmission du savoir dans le monde musulman. Paris 1997; zu Ägypten s. zudem: Eccel: Egypt, Islam and social change [Amn. 30]). 75 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 180-181 u. S. 218-233; Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte [Anm. 21], S. 113. 76 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 177. 77 Pedersen – [Makdisi]: Madrasa I. [Anm. 68], S. 1123-1124 u. S. 1126; Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte [Anm. 21], S. 41-62, et passim; Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], s.v. ›Mosquée(s) (de)...‹. 78 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], s.v. ›dr al-˛adı±‹; Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte [Anm. 21], S. 81-106; Fuat Sezgin: Dr al-˘adıth. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition 2 (1991), S. 125-126. 79 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 236-239, et passim; Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte [Anm. 21], S. 134-137. Die Zahl der Sufikonvente (ƒnqh, zwiya, teils auch rib† genannt) wuchs nach der Etablierung verschiedener Sufiorden seit dem 12. Jahrhundert erheblich an (s. die zahlreichen Einträge zu †arıqa in: The Encyclopaedia of Islam. New Edition 10 [2000], S. 243-257). 80 Es gab sowohl eigenständige als auch in Krankenhäuser integrierte medizinische Schulen (Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 235-236 u. S. 260-261; Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte [Anm. 21], S. 140-149). Einen ˜berblick μber die
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wurden auch einige Mausoleen als Unterrichtsstätten genutzt und waren mit Bibliotheken ausgestattet.81 Diese Bibliotheken waren zum Teil recht umfangreich. So barg die Grosse Moschee von Damaskus, in welcher in vielen Räumen Bμcher untergebracht waren, die jeweils einem Gelehrten gehörten oder fμr einen spezifischen Lehrkreis bestimmt waren, zwischen dem 12.-14. Jahrhundert bis zu 5000 Bμcher; allein eine der dortigen Bibliotheken fμr den Lehrkreis des ˛anafitischen Ritus umfasste 761 Bände. 82 Umschlagplätze von Bμchern aller Art, nicht zuletzt von Bμchern der ›antiken Wissenschaften‹ waren – neben all diesen Bibliotheksarten – Privathäuser respektive -bibliotheken sowie die ›Märkte der Papierhändler, Kopisten und Buchhändler‹ (Sing. süq al-warrqın). Es scheint kaum einen Gelehrten gegeben zu haben, der sich nicht mit Bμchern umgab, und auch hohe Staatsdiener sammelten Bμcher. 83 In biographischen Werken, die es zu jedem Berufstand gibt, finden Privatbibliotheken, wahrscheinlich weil sie als selbstverständlich galten, selten Erwähnung. Eine Ausnahme bildet Ibn Abı Ußaybifias (gest. 1270) Ärztebiographie, die zahlreiche Berichte μber z.T. immense Bibliotheksbestände seiner Kollegen enthält.84 Bμcher konnten sich die Gelehrten auf dem süq alwarrqın kaufen, den es in allen grösseren Städten des islamischen Reiches gab. 85 Dort fanden sie darμber hinaus auch die nötigen Schreibmaterialien, Kopisten, die sie – gegen Bezahlung – eigene oder fremde Bμcher abschreiben lassen konnten (ein Beruf, dessen
medizinischen Lehranstalten gibt Endre˝: Die wissenschaftliche Literatur [Anm. 35], S. 440-448. 81 Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte [Anm. 21], S. 48-50 u. S. 138. Mausoleen wurden verschiedentlich Bμchersammlungen gestiftet (Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], s.v. ›turba‹). 82 Eche: Les bibliothèques arabes [Anm. 21], S. 202-208 (der ˛anafitische Stifter vermachte seine Privatbibliothek, so dass auch Bμcher zu Medizin und ›antiken‹ Wissenschaften in der Umayyadenmoschee ihren Platz fanden, ebd., S. 207); Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte [Anm. 21], S. 44-62. 83 Pedersen: The Arabic Book [Anm. 32], S. 120-126; Max Meyerhof: ˜ber einige Privatbibliotheken im Fatimidischen Ägypten. In: Rivista degli Studi Orientali 12 (1929/30), S. 286-290. 84 S. dazu Meyerhof: ˜ber einige Privatbibliotheken [Anm. 83], S. 286-290; Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte [Anm. 21], S. 141-150. 85 Ab wann genau sich Bμchermärkte etablierten, ist nicht gesichert. Der Historiker und Geograph al-Yafiqübı (gest. vermutlich um 905) schreibt in seinem historischgeographischen Werk Kitb al-Buldn, dass zu seiner Zeit in Bagdad auf dem Markt des Viertels Wa∂∂˛ die warrqün die grösste Zahl an Händlern stellte und sie mehr als hundert Buchläden besassen (Yafikübı: Les pays [Kitb al-Buldn]. Traduit par Gaston Wiet. Kairo 1937, S. 24).
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Ansehen und Bezahlung nach Ort und Zeit sehr variierten). 86 Auf dem Bμchermarkt traf man sich aber auch, um zu diskutieren und sich gegenseitig zu belehren. 87 Einer der Literaten und Gelehrten, der die Bμchermärkte regelmässig frequentierte, war al-∏˛i÷ (gest. 868 oder 869). An seinem Beispiel lässt sich die Wertschätzung, die das Buch in der islamischen Zivilisation genoss, besonders gut zeigen. Er war einer der berμhmtesten Autoren seiner Zeit und gilt bis heute als einer der scharfzμngigsten und geistreichsten arabischen Prosaisten. Al-∏˛i÷, der als einer der ersten arabischen Prosaschriftsteller Bμcher im eigentlichen Sinne verfasste, hat seinen Lebensunterhalt u.a. damit bestritten, dass er seine Bμcher einflussreichen Persönlichkeiten widmete, die ihm seine Widmungen mit Geld und Naturalien grosszμgig entgolten. 88 Er muss ein echter Bμchernarr gewesen sein, denn es kursieren zahlreiche Anekdoten μber seine Bibliophilie, die noch lange nach seinem Tode ausgesponnen wurden. So soll er zeitweilig Buchläden gemietet haben, um dort – leihweise – der Lektμre zu frönen, und starb schliesslich einen echten Bibliophilentod: die um ihn herum geschichtete Bμchermauer sei eines Tages umgefallen und habe ihn erschlagen, heisst es spätestens ab dem 14. Jahrhundert. 89 In mehreren seiner Schriften äussert sich al-∏˛i÷ geradezu hymnisch μber den Nutzen des Buches, und er hat diesem Thema auch eine kurze in sich geschlossene Abhandlung gewidmet: Das Lob der Bμcher und die Ermunterung, sie zu sammeln (Risla fı mad˛ al-kutub wal-˛a±± il πamfiih). 90 Al-∏˛i÷ wendet sich darin an ein fiktives Gegenμber (im Folgenden einige Auszμge):
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M. A. J. Beg: Warrq. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition 11 (2002), S. 150-151; Pedersen: The Arabic Book [Anm. 32], S. 37-53. 87 Endre˝: Die wissenschaftliche Literatur [Anm. 35], S. 450-451; ˘abıb Zayyt: alWirqa wal-warrqün fı l-Islm. In: al-Ma¸sriq (Revue Catholique Orientale) 41 (1947), S. 349-350. 88 An-Nadım: Kitb al-Fihrist [Anm. 40], S. 208-212; The Fihrist of al-Nadım [Anm. 40], Bd. 1, S. 397-409; Charles Pellat: Arabische Geisteswelt. Ausgewählte und μbersetzte Texte von al-∏˛i÷ (777-869). Unter Zugrundelegung der arabischen Originaltexte aus dem Französischen μbertr. v. Walter W. Mμller. Zμrich/ Stuttgart 1967, S. 19 u. S. 444. 89 Mez: Die Renaissance [Anm. 50], S. 165. 90 Ahmet Rufai: ˜ber die Bibliophilie im älteren Islam. Nebst Edition und ˜bersetzung von Gâ˛i÷‘ Abhandlung Fî Mad˛ al-kutub. Istanbul 1935, S. 36-46. Sie ist in weiten Teilen mit ∏˛i÷‘ Lob des Buches in Kitb al-˘ayawn (›Buch der Tiere‹), einem seiner Hauptwerke, identisch. Pellat hat einige Passagen daraus μbersetzt (Arabische Geisteswelt [Anm. 88], S. 211-214).
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Du hast das Buch getadelt. Doch welch ein Schatz und Hilfsmittel ist es! [...] Was fμr ein Freund fμr die Stunde der Einsamkeit und was fμr ein Bekannter in fremden Ländern! Was fμr ein Genosse, Freund, Ratgeber und Gast! Das Buch ist ein Sack voll Wissenschaft, ein Behälter voll Klugheit und ein Gefäss voll Scherz und Ernst. [...] Wer kann dir sonst einen arabischen, östlichen, indischen, persischen, griechischen, antiken oder modernen Arzt empfehlen, der fμr dich zugleich ein toter und ein lebendiger Gegenstand sein kann. 91 [...] Das Buch ist etwas, das, wenn du darauf achtest, deine Habe vermehrt, deinen Verstand schärft, deine Sprache verschönert, deine Beredsamkeit vermehrt, deinen Worten Kraft verleiht, dein Herz stärkt und dir die Achtung der Leute und die Freundschaft der Könige schenkt. Du erfährst durch es in einem Monat, was du nicht in einem Jahre aus dem Munde der Menschen erfährst, ohne Geldausgabe, ohne Mμhe des Studiums, ohne an der Tμr der Schule zu warten, ohne mit Leuten zusammenzusitzen, die dir nicht gleich sind an Geburt und Rasse, ohne mit Hassern 92 zusammenzusitzen und sich Reicheren zu nähern. [...] Wenn es dir keine andere Wohltat und keinen anderen Liebesdienst erwiese, ausser der Tatsache, dass es dich davon abhält, an deiner Tμr zu sitzen und nach den Passanten zu sehen und dadurch selbstverständliche Rechte zu verletzen [...] und von der Gewohnheit, dich in fremde Dinge einzumischen [...], dann wäre auch das schon gut. 93
Al-∏˛i÷ teilt uns nicht mit, an welches die Bμcher tadelnde Gegenμber er sich mit seinem Loblied richtet. Er benutzt das Gegenμber offenbar als einen literarischen Kunstgriff. Indes gibt es auch eine Reihe von Zeugnissen dafμr, dass einige Gelehrte ein sehr zwiespältiges Verhältnis zum Buch hatten. Das gilt zum einen fμr besonders fromme Muslime. So wird von dem Theologen und Rechtsgelehrten Da√üd a†-‡√ı (gest. 781/82) berichtet, seine Bμcher hätten ihn von der Konzentration auf Gott abgelenkt. Er habe daraufhin μberlegt, sie zu verkaufen oder zu verschenken, sei aber schliesslich zu der ˜berzeugung gelangt, es sei am besten, sie zu verbrennen, denn durch Verkauf und Verschenken könne man sich ihnen nicht entziehen, die Leidenschaft fμr sie dauere unerbittlich fort. 94 Skrupel anderer Art beschreibt noch im 11. Jahrhundert alMwardı (gest. 1058), ein berμhmter Rechtsgelehrter und Autor einer der wichtigsten Kalifatstheorien. Er soll keines seiner Bμcher in Umlauf gebracht haben, aus Furcht, damit möglicherweise nicht allein Gott gedient haben zu wollen. Sterbend bittet er einen Vertrauten, ihm kurz vor dem Hinscheiden die Hand zu reichen. Wenn 91 Rufai: ˜ber die Bibliophilie [Anm. 90], S. 36 (in der ˜bersetzung steht versehentlich »unb« statt »und«), S. 43 (arab. Text). 92 bu∞a∂√ ist im Deutschen besser mit ›verhassten Menschen‹ zu übersetzen. 93 Rufai: ˜ber die Bibliophilie [Anm. 90], S. 38-39 (˜bersetzung), S. 44-45 (arab. Text). 94 Ebd., S. 22.
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er sie schliesse, dann bedeute das, dass er seine Werke nicht akzeptiere und ihn bitte, alle Bμcher in den Tigris zu werfen. Wenn er sie hingegen öffne, so habe er, al-Mwardı, sich keine niederen Motive vorzuwerfen und könne seine Schriften akzeptieren. 95 In beiden Fällen haben wir es also nicht mit einer Abneigung gegen Bμcher oder das Schreiben an sich zu tun, sondern vielmehr mit einem Gefμhl eigener Unzulänglichkeit, die moralische Skrupel nach sich zieht. Ein weiterer ganz anders gelagerter, aber vielzitierter Fall einer ambivalenten Haltung gegenμber Bμchern ist der von Abü ˘ayyn at-Taw˛ıdı (gest. 1023), eines zu seinen Lebzeiten verkannten Autors unter büyidischer Herrschaft, der sich seinen Lebensunterhalt durch das Kopieren von Bμchern verdienen musste. Er verbrannte alle seine Bμcher kurz vor seinem Tode mit der Begrμndung, er halte seine Landsleute fμr unfähig, den Wert von wahrem Wissen zu erkennen und zu schätzen. Seine Bμcherverbrennung erregte Aufsehen, und im Angesicht des Richters, der von ihm eine Rechtfertigung forderte, verwies er auf verstorbene Gelehrte, die ihre eigenen Sammlungen ebenfalls zerstört hätten. 96 Soweit die Quellen hierμber Auskunft geben, scheint die Zahl derer, die ihre ihnen offenbar einst teuren Buchbestände vernichteten, gegenμber jenen, die sie bewahrten, jedoch verschwindend gering gewesen zu sein. Zahlreicher sind die Klagen μber den Verlust von Bibliotheken. Sie werden bisweilen in anekdotischer Manier oder in poetischer Form ausgeschmμckt. So beschreibt ein fiAbbsidenkalif in einem seiner Gedichte, wie sich Termiten Röhren bauend durch seine Bμcher gefressen haben und ihn auf diese Weise um die Frμchte des Geistes brachten. 97 Bei weitem die grösste Zahl an Anekdoten kursierte jedoch μber die Bμchernarren: μber die Unfähigkeit der Gelehrten, sich von ihren Bμchern loszureissen. Wir hören von Gelehrten, die jede Zeit des Wartens, beispielsweise im Vorraum zum Audienzsaal eines Staatsbeamten damit verbrachten, dass sie ein Buch aus ihrem Ärmel zogen und sich darein vertieften; von nicht eingehaltenen Gelμbden, eine Pilgerreise zu vollziehen, weil eine unschätzbare Bibliothek auf dem Wege nach Mekka das eigent95 Ibn ∫allikn: Wafayt al-afiyn wa-anb√ abn√ az-zamn. Hg. v. I˛sn fiAbbs. 8 Bde. Beirut 1968-1972, Bd. 3, S. 282-283; Kitb Wafayt al-afiyn. Ibn Khallikan’s Biographical Dictionary. Translated from the Arabic by Bn Mac Guckin de Slane. 4 Bde. Nachdruck. Beirut 1970, Bd. 2, S. 225. 96 Yqüt: Mufiπam al-udab√[Anm. 57], Bd. 5, S. 386 u. S. 389. 97 J. Christoph Bμrgel: Von Bμchern und Termiten. In: Wolfhart Heinrichs, Gregor Schoeler (Hg.): Festschrift Ewald Wagner zum 65. Geburtstag. 2 Bde. Beirut 1994 (Beiruter Texte und Studien; 54), Bd. 2: Studien zur arabischen Dichtung, S. 337-349.
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liche Ziel vollkommen in Vergessenheit geraten liess; oder auch von Ehefrauen, die mit der Trennung drohten oder gar die Bμcher ihrer Männer verbrannten. 98 Die grosse Liebe zum Buch der Gelehrten und Literaten und auch der herrschenden Elite nimmt nach dem Sturz der fiAbbsiden im Jahre 1258 nicht ab. Im Gegenteil, aufgrund der Aufsplitterung des Reiches in zahlreiche Herrschaftsterritorien entstehen noch weit mehr Bibliotheken; vor allem die Studienbibliotheken von Medresen nehmen an Zahl zu, wenngleich auch die Bμcher zu den ›antiken Wissenschaften‹ nun fast nur noch in medizinischen Bibliotheken, 99 in Privathäusern und in bestimmten Buchläden zu finden sind, und ausser Kommentarwerken im Verhältnis zum 9.-12. Jahrhundert wenig neue Schriften hinzukommen. An späteren Fμrstenhöfen bildet sich darμber hinaus ein Bibliothekstypus heraus, in welchem Kalligraphen, Vergolder, Buchbinder und besonders Miniaturmaler als Hauptakteure figurieren. 100 Bibliotheken vom Typus des ›Weisheitsspeichers‹ und der ›Akademie der Wissenschaften‹ hat es – unter anderen Bezeichnungen – vor allem in der vermeintlichen islamischen Peripherie gegeben. Zeugnis davon legen beispielsweise die Bibliotheken einiger Moghulherrscher in Indien ab. So unterhielt Akbar (reg. 1556-1605) eine gewaltige Palastbibliothek, an die ein ˜bersetzungsbμro angeschlossen war, in dem wichtige Werke aus dem Sanskrit, dem Arabischen und aus Turksprachen ins Persische μbertragen wurden. Sie soll bei seinem Tode 24.003 Bände ausgemacht und Schriften zu allen zu seiner Zeit in Indien bekannten religiösen wie profanen Wissenschaften umfasst haben. 101 Neben der Diversifizierung der Bibliotheken und ihrer stärkeren Spezialisierung ist in den Jahrhunderten nach der Auflösung des fiAbbsidenreiches in Gelehrtenkreisen vieler islamischer Länder eine wachsende Tendenz der Verfeinerung und Vervollständigung der z.T. bereits im 9. Jahrhundert etablierten klaren Regeln fμr den 98 Mez: Die Renaissance [Anm. 50], S. 165-166; an-Nadım: Kitb al-Fihrist [Anm. 40], S. 208; The Fihrist of al-Nadım [Anm. 40], Bd. 1, S. 398. 99 Ghanem: Zur Bibliotheksgeschichte [Anm. 21], S. 141. 100 S. beispielsweise Thomas W. Arnold: Painting in Islam. A Study of the Place of Pictorial Art in Muslim Culture. New York 1965, bes. S. 71-78; Ernst Kμhnel: Miniaturmalerei im islamischen Orient. Berlin 1922, S. 23-49. 101 Dharma Bhanu (Bharat): The Mughul Libraries. In: Journal of the Pakistan Historical Society 2 (1954), S. 290-291 u. S. 299; Der Universalgelehrte Abü l-Fa∂l (15511602), ein enger Berater Akbars, vermittelt einen Eindruck von der thematischen Breite der Bibliothek (The Ain i Akbari [A√ını Akbarı] by Abul Fazl ™Allami. Translated from the Original Persian by H. Blochmann. 2 Teile in 3 Bden. Nachdruck der Ausgabe Calcutta 1873. Frankfurt a.M. 1993, Bd. 1, S. 103).
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Umgang mit einem Buch auszumachen. Ein hervorragendes Beispiel dafμr ist ein Traktat, das in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfasst und im 16. Jahrhundert, in leicht μberarbeiteter Form, gleich von zwei Autoren in eigenen Werken verwendet wurde. 102 Darin wird dargelegt, dass Bμcher fμr alle nμtzlichen wissenschaftlichen Zwecke unentbehrlich seien, und dass es wichtig sei, sie zu lesen und möglichst viel davon im Kopf zu haben. Es wird angeraten, Bμcher, so es geht, zu kaufen, ansonsten aber zu kopieren oder sie sich auszuleihen. Dabei wird genauestens bestimmt, wie und wo die Bμcher fμr eine klare Ordnung und zu ihrem Schutze am besten zu plazieren seien und wie mit ausgeliehenen Bμchern umzugehen sei. Am ausfμhrlichsten widmen sich die Autoren der Kunst des Kopierens in ihren verschiedensten Facetten. Vieles betrifft Formalia: So wird der Kopist u.a. angehalten, jede Nennung Gottes oder des Propheten mit einer Eulogie zu begleiten (sollte diese im Original fehlen) und als Markierungen abgeschlossener Geschichten und ˜berlieferungen dicke Punkte (auf der Zeilenmitte) zu setzen. Es wird ihm erklärt, welche Art von Tinte und Feder sich besonders gut zum Schreiben eignen und wie bestimmte häufig auftauchende Floskeln abzukμrzen sind. Als die Hauptaufgabe und die Hauptverantwortung des Kopisten aber wird die Korrektheit seiner Abschrift erachtet; ihr wird mit Bestimmtheit der Vorrang vor der Schönheit der Handschrift eingeräumt. Die Korrektheit der Kopie, das war Konsens unter den Gelehrten verschiedenster Disziplinen und Couleur, kann nur gewährleistet sein, wenn die Kopie entweder vom Verfasser des Originalwerkes abgesegnet oder sie mit dem Original oder einer autorisierten Abschrift (aßl) kollationiert wird, so dass alle vorhandenen Fehler ausgemerzt werden. 103 Die Gelehrten der religiösen wie nicht-religiösen Wissenschaften pflegten die Authentizität des μberlieferten Wissens als das höchste Gut.104 Wo es nicht durch die unmittelbare Vermittlung des Autors/ 102 Franz Rosenthal hat die Fassung von al-fiAlmawı (gest. 1573) in seinem Mufiıd fı adab al-mufıd wal-mustafıd μbersetzt und kommentiert (The Technique and Approach of Muslim Scholarship. In: Analecta Orientalia 24 (1947), S. VII-XI u. S. 7-18 [˜bersetzung]). Er macht darauf aufmerksam, dass Ibn ∏amfia, der Autor aus dem 13. Jahrhundert, und al-fiAlmawı eine gemeinsame Quelle aus dem 11. Jahrhundert vorliegen gehabt haben könnten (ebd., S. 8). 103 Rosenthal: The Technique [Anm. 102], S. 7-18 (bis S. 74 mit weiteren Belegen bei anderen Autoren). Wie welche Art von Fehlern zu beheben sind, wird genau festgelegt (ebd., S. 14-16 u. S. 26-35); Endre˝: Handschriftenkunde [Anm. 22], S. 286 u. S. 288. 104 Rosenthal: The Technique [Anm. 102], S. 22-24; Endre˝: Handschriftenkunde [Anm. 22], S. 286-288; Ders.: Die wissenschaftliche Literatur [Anm. 35], S. 452-453; Schoeler: Die Frage [Anm. 14], bes. S. 227-228.
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Urhebers oder eines durch die islamische Bildungsmethode autorisierten Lehrers gewährleistet werden kann, erhält die Kollation die Funktion der Autorisierung, ist sie die Garantie fμr die Authentizität. Angesichts dieser Sorge um die Korrektheit, um die immer wieder zu verbμrgende Authentizität des ˜berlieferten und die darauf verwendete Sorgfalt verwundert es nicht, dass sich die muslimischen Gelehrten μber Jahrhunderte hinweg dem Buchdruck verweigerten. Es haben sicher noch viele andere Grμnde eine Rolle gespielt, wie u.a. die Sorge der Kopisten um ihren Lebensunterhalt, die Ästhetik der Handschriften, das religiöse Dogma des Verbots frevelhafter Innovationen, die Angst der Herrscher vor massenhafter Verbreitung aufwieglerischer Schriften, 105 und doch scheint mir das islamische ˜berlieferungssystem einer der Hauptgrμnde gewesen zu sein, weshalb das gedruckte Buch erst so spät in nennenswertem Umfang in Umlauf kam. 106 Die verschiedenen Arten des Druckwesens waren dabei in einigen von Muslimen beherrschten Ländern bereits sehr frμh bekannt. Der Blockdruck war – zumindest in Ägypten – spätestens seit der Mitte des 10. Jahrhunderts bekannt, 107 und aufgrund der zeitweilig sehr regen Handels- und diplomatischen Beziehungen der Muslime zu Ostasien werden ihnen auch die chinesischen beweglichen Lettern aus Ton nicht verborgen geblieben sein. Ebenso waren Muslime bereits frμh mit der Erfindung Gutenbergs in Berμhrung gekommen. Europäischen Gesandtschaftsberichten zufolge soll den Safawidenherrschern fiAbbs I. (reg. 1588-1629) und fiAbbs II. (reg. 1642-1666) die Technik des Typendrucks vorgefμhrt worden sein.108 Fuss fasste diese Drucktechnik indes zunächst nur unter Nichtmuslimen. Mehrere jμdische und christliche Gemeinden in Konstantinopel und Isfahan hatten zwischen dem späten 15. und 17. Jahrhundert Typendruckanstalten fμr die Buchproduktion ihrer ei-
105 A[ndré] Demeerseman: Une étape décisive de la culture et de la psychologie sociale islamiques – Les données de la controverse autour du problème de l’imperimerie. In: Revue de l’Institut des Belles-Lettres Arabes 17 (1954), S. 29-46 u. S. 113-140. 106 Ich folge hierin Endre˝: Handschriftenkunde [Anm. 22], S. 293. 107 Karl Schaefer: Arabischer Druck vor Gutenberg – Arabische Blockdruckamulette. In: Eva Hanebutt-Benz u.a. (Hg.): Sprachen des Nahen Ostens und die Druckrevolution. Eine interkulturelle Begegnung. Katalog und Begleitband zur Ausstellung. Mainz 2002, S. 123. 108 Ulrich Marzolph: Zur frμhen Druckgeschichte in Iran [1817 – ca. 1900]/ Early Printing History in Iran [1817 – ca. 1900]. Teil 1: Gedruckte Handschrift/ Part 1: Printed Manuscript. In: Eva Hanebutt-Benz u.a. (Hg.): Sprachen des Nahen Ostens und die Druckrevolution. Eine interkulturelle Begegnung. Katalog und Begleitband zur Ausstellung. Mainz 2002, S. 249-268.
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genen religiösen Schriften eingerichtet.109 Die ersten Drucke religiöser wie auch profaner Werke mit arabischen Lettern entstanden hingegen in Europa und zwar bereits im 16. Jahrhundert.110 Die erste Druckausgabe des Korans in arabischer Schrift (Venedig, um 1530) war aller Wahrscheinlichkeit nach fμr den Export ins Osmanische Reich bestimmt.111 Sie wurde jedoch vermutlich aufgrund ihrer Fehlerhaftigkeit eingestampft. 112 Die Typendrucktechnik und die mit ihr verbundene Möglichkeit kostengμnstiger und zeitsparender Verbreitung von Wissen konnte sich jedoch in den meisten islamischen Ländern erst im 19. Jahrhundert durchsetzen. Die erste Druckerei in der islamischen Welt, die mit staatlicher Genehmigung 1727 in Istanbul von einem zum Islam konvertierten Ungarn, Ibrhım Mμteferriq (gest. 1745), gegrμndet worden war, wurde nach dessen Tode nur noch zeitweilig wieder in Betrieb genommen. Ihr war auch nur der Druck profaner Werke, wie Wörterbμcher, Grammatiken, historischer und geographischer Werke u.a. gestattet worden. 113 109 Endre˝: Handschriftenkunde [Anm. 22], S. 292-293. Weitere Literaturhinweise und konzise ˜berblicke liefern George Nicholas Atiyeh: The Book in the Islamic World. The Written Word and Communication in the Middle East. New York 1995, S. 236238 u. S. 250-251 und Dagmar Glass u. Geoffrey Roper: Arabischer Buch- und Zeitungsdruck in der arabischen Welt/ Arabic Book and Newspaper Printing in the Arab World. Teil 1: Arabischer Buchdruck in der arabischen Welt – Part 1: The Printing of Arabic Books in the Arab World. In: Eva Hanebutt-Benz u.a. (Hg.): Sprachen des Nahen Ostens und die Druckrevolution. Eine interkulturelle Begegnung. Katalog und Begleitband zur Ausstellung. Mainz 2002, S. 177-181. 110 Endre˝: Handschriftenkunde [Anm. 22], S. 291-292. 111 Ein Exemplar dieser Ausgabe μberlebte: Angela Nuovo: Il Corano ritrovato. In: La Bibliofilia 89 (1987), S. 237-271; Dies.: A lost Arabic Koran rediscovered. In: The Library 12 (1990), S. 273-292. 112 Maurice Borrmans bringt plausible Argumente fμr diese These vor (Observations à propos de la première édition imprimée du Coran imprimé à Venise. In: Quaderni di Studi Arabi 8 (1990), S. 3-12; Ders.: Présentation de la première édition du Coran imprimée à Venise. In: Quaderni die Studi Arabi 9 (1991), S. 93-126. Zur Geschichte der Korandrucke in Europa und ihren Anfängen in der islamischen Welt s. Hartmut Bobzin: Von Venedig nach Kairo. Zur Geschichte arabischer Korandrucke (16. bis frμhes 20. Jahrhundert) – From Venice to Cairo. On the History of Arabic Editions of the Koran (16th – early 20th century). In: Eva Hanebutt-Benz u.a. (Hg.): Sprachen des Nahen Ostens und die Druckrevolution. Eine interkulturelle Begegnung. Katalog und Begleitband zur Ausstellung. Mainz 2002, S. 151-176. 113 Endre˝: Handschriftenkunde [Anm. 22], S. 293; Gμnay Alpay Kut: Ma†bafia. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition 6 (1991), S. 800f. Dem ersten Buch, das die Presse druckte, setzte Ibrhım Mμteferriq ein fμnfseitiges feuriges Plädoyer fμr den Buchdruck und seinen Nutzen fμr die Bildung voran (Wasılat a†-†ibfia) (Christoph K. Neumann: Buch- und Zeitungsdruck auf Tμrkisch. 18. bis 20. Jahrhundert/ Book and Newspaper Printing in Turkish. 18th – 20th Centuries. In: Eva Hanebutt-Benz u.a. (Hg.): Sprachen des Nahen Ostens und die Druckrevolution. Eine interkulturelle Begegnung. Katalog und Begleitband zur Ausstellung. Mainz 2002, S. 230. Ibrhım Mμteferriq lobte die Vorteile des Buchdrucks fμr die Verbreitung nμtzlichen Wis-
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Anke von Kügelgen
Erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts etablierten sich Typendruckereien kontinuierlich und wurde auch der Druck religiöser Werke zugelassen. 114 Höchst bemerkenswert ist das grosse Bemμhen um die ˜bereinstimmung der Drucke mit den handschriftlichen Originalen. In den staatlichen Druckereien wurden alle Schriften, auch jene profanen Inhalts, vor ihrer Veröffentlichung von einem sorgfältig ausgewählten Komitee angesehener Gelehrter mit den Originalen bzw. den autorisierten Texten kollationiert und korrigiert. Auf diese Weise sollte wohl versucht werden, die Tradition des islamischen ˜berlieferungswesens beizubehalten. 115 Wesentlich leichter hingegen hatte es der Steindruck, die Lithographie. Während sie sich in Europa, wo sie 1796/97 entwickelt worden war, kaum durchsetzte, wurde sie in der islamischen Welt, wie Demeerseman zeigt, innerhalb kμrzester Zeit zum grössten Teil euphorisch aufgenommen und eingefμhrt (z.B. in Persien 1832 [die erste Litographie war ein Koran], 116 in Ägypten 1838, in fast allen μbrigen arabischen Ländern im Verlaufe des 19. Jahrhunderts).117 In einigen islamischen Ländern genoss die Lithographie auch um die Wende zum 20. Jahrhunderts noch den Vorzug vor der Typographie. 118 Die Technik des Steindrucks bot den grossen Vorteil, dass es sich dabei um ›gedruckte Handschriften‹ handelte, d.h. die Arbeit in der Hand der Kopisten respektive Kalligraphen blieb und somit sowohl die Genauigkeit der Reproduktion gewährleistet als auch die Schönheit der Schrift gewahrt wurde; zudem waren die Investitionsund Wartungskosten wesentlich geringer. 119
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sens auch in Vorworten zu anderen in seiner Druckerei gedruckten Bμchern (z.B. in: Ta√rıƒ-i Tımür Gürgn = Ibn fiArab h: fiAπ√ib al maqdür fı naw√ib Tımür. Aus dem Arabischen ins Osmanische übers. v. Na÷mızde. Nachdruck der Ausgabe Istanbul [1142] 1729. Istanbul [1277] 1860). Endre˝: Handschriftenkunde [Anm. 22], S. 294-295; Glass u. Roper: Arabischer Buch- und Zeitungsdruck in der arabischen Welt. Teil 1 [Anm. 109]; Neumann: Buch- und Zeitungsdruck [Anm. 113], S. 227-248; Marzolph: Zur frμhen Druckgeschichte in Iran [Anm. 108], S. 249-263. Demeerseman: Une étape décisive [Anm. 105], S. 121-133. Marzolph: Zur frμhen Druckgeschichte in Iran [Anm. 108], S. 256-268. A[ndré] Demeerseman: Une étape importante de la culture islamique. Une parente méconnue de l’imprimerie arabe et tunisienne. La lithographie. In: Revue de l’Institut des Belles-Lettres Arabes 16 (1953), S. 365. S. die Nachweise bei Endre˝: Handschriftenkunde [Anm. 22], S. 295; Demeerseman: Une étape importante [Anm. 117], S. 381-384; Martin Hartmann: Das Buchwesen in Turkestan und die tμrkischen Drucke der Sammlung Hartmann. In: Mitteilungen des Seminars fμr Orientalische Sprachen an der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin. Abteilung 2: Westasiatische Studien. Berlin 1904, S. 69-103. Demeerseman: Une étape importante [Anm. 117], S. 351-368; Marzolph: Zur frμhen Druckgeschichte in Iran [Anm. 108], S. 263-268.
Bücher und Bibliotheken in der islamischen Welt
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Im Rahmen dieses Aufsatzes konnten nur einige Charakteristika des im Mittelalter an Umfang und Qualität zweifelsohne herausragenden islamischen Buch- und Bibliothekswesens erörtert werden. Spätestens im 10. Jahrhundert hatte sich das Buch als eigenständiges Medium der Bewahrung und des Transfers von Wissen in allen Disziplinen etabliert. Zu den hervorstechendsten Merkmalen der schriftlichen ˜berlieferung der religiösen wie profanen Wissenschaften gehört sicherlich das stete Bemμhen um die Wahrung der Authentizität des in Bμchern fixierten Wissens, sei es durch die Korrektur des Lehrers oder durch die Kollation mit einem autorisierten Text. Die verschiedenen Arten von Bibliotheken – halb-öffentliche Palastbibliotheken und Studienbibliotheken sowie vor allem die öffentlichen Bibliotheken des Typus der ›Akademie der Wissenschaft‹ – zeugen ebenso wie die Elogen μber die Vorzμge des Buches und die Anekdoten μber die Bibliophilen von der grossen Wertschätzung der islamischen Kultur gegenμber Bμchern und der durch sie vermittelten Bildung.
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Des Fürsten Spiegel? Anmerkungen zu den Bibliotheken der burgundischen Herzöge im 14. und 15. Jahrhundert Als Karl der Kühne, der letzte burgundische Herzog aus dem Hause der Valois, am 6. Januar 1477 vor den Toren der Stadt Nancy sein bekanntermassen unrühmliches Ende fand,1 wurde die Nachricht von seinem Tod in der Eidgenossenschaft in erster Linie mit Erleichterung aufgenommen, ja vielleicht sogar mit Genugtuung. Deutliche Worte fand etwa der Basler Chronist Johannes Knebel, der nicht nur das Ereignis selbst festhielt, sondern zugleich eine Begründung bot. Überraschenderweise dachte er dabei nicht nur an die militärischen oder politischen Hintergründe, die in modernen Darstellungen dieses kritischen Moments überwiegen. Stattdessen erklärte er den jähen Sturz des einst so mächtigen Fürsten mit dessen fehlerhaften Lesegewohnheiten und deren charakterlichen Folgen: Der Herzog von Burgund, der vor kurzem getötet wurde, las, solange er lebte, stets die Geschichten davon, wie sich die Heiden Reiche erwarben, beachtete aber nicht, wie sie danach untergingen. Er las die Geschichten von Alexander dem Grossen, wie dieser sich die Griechen, Perser und viele andere Völker unterwarf, und er las nicht, dass er in der Blüte des Mannesalters starb; er las die Geschichte der Trojaner, wie sie wegen der schönen Helena, die Paris entführte, mannhaft gegen die Griechen und deren Verbündeten kämpften, aber er las nicht, wie sie alle in der Blüte des Mannesalters starben. So wollte er in den Lauf der Herrschaft eintreten, aber er wollte nicht lange herrschen.2 1
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Vgl. Richard Vaughan: Charles the Bold. The last Valois duke of Burgundy. 2. Auflage. Woodbridge 2002, S. 429-432. Zu den vorangegangenen Monaten und dem Zustand Karls nach seinen Niederlagen bei Murten und Grandson im Jahre 1476 im Bild der zeitgenössischen Chronistik s. Jean Devaux: La fin du Téméraire… ou la mémoire d’un prince ternie par l’un des siens. In: Le Moyen Age 95 (1989), S. 105-128. Im Überblick zur Geschichte des spätmittelalterlichen Burgund Bertrand Schnerb: L’État bourguignon 1363-1477. Paris 1999. Johannes Knebel: Basler Chroniken. Bd. 3. Hg. v. W. Vischer. Leipzig 1887, S. 104: Dux Burgundie jam occisus, dum viveret semper legit hystorias, quomodo gentiles sibi acquisiverunt regna, sed non animadvertebat, quomodo interierunt postea. Legit hysto-
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Die Informationen, auf denen Knebel seine Polemik aufbaute, waren zu seiner Zeit weithin bekannt und entsprachen eigentlich dem herzoglichen Wunsch der Selbstdarstellung – Karl der Kühne hatte eine ausgesprochene Vorliebe für das Vorbild eines Cäsar oder Alexander,3 wie zahlreiche Sachzeugnisse aus dem burgundischen Umfeld heute noch deutlich vor Augen führen.4 Der Bezug zwischen dem künstlerischen Objekt und der Person des Herrschers ist aber keineswegs als Einbahnstrasse einer simplen Identifikation zu konstruieren, wie sowohl das interpretatorische Spiel mit dem Vorbild deutlich macht,5 als auch die von Aussen an den Fürsten herangetragenen Modelle.6
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rias Alexandri Magni, quomodo sibi subegerit Grecos, Persa et multas alias gentes, et non legit quod in flore virilis etatis interiit, legit hystoriam Trojanam, quomodo viriliter pugnaverunt contra Grecos et sibi adherentes propter Elenam pulcram quam Paris abstulit, sed non legit, quomodo omnes interierunt in flore virilis etatis. Sic voluit iniciare ambitum regni, sed non voluit diu regnare. Zum Autor s. 2VL 4 (1983), Sp. 1272-1274. S. zuletzt Birgit Franke: Herrscher über Himmel und Erde. Alexander der Grosse und die Herzöge von Burgund. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 121-169; Chrystèle Blondeau: Les intentions d’une oeuvre (Faits et gestes d’Alexandre le Grand de Vasque de Lucène) et sa réception par Charles le Téméraire. Ycellui Alexandre pas ne vous doit estre exemple de vertus. In: Revue du Nord. Histoire 83 (2001), S. 731-752. Petra Ehm-Schnocks: Très invaincu César. Antikenrezeption am burgundischen Hof unter Philipp dem Guten und Karl dem Kühnen. In: Rudolf Suntrup u.a. (Hg.): The Mediation of Symbols in Late Medieval and Early Modern Times. Frankfurt a.M. 2005, S. 275-295. Der Chronist Konrad Stolle, Vikar der Severi-Kirche in Erfurt, legt Herzog Karl ein längeres Zitat in den Mund, das die Identifikation mit den Herrschaftsansprüchen Alexanders expliziert, s. Konrad Stolle: ThüringischErfurtische Chronik. Hg. v. Ludwig F. Hesse. Stuttgart 1854, S. 61f.; zum Autor s. 2VL 9 (1995), Sp. 359-362. Zur burgundischen Kunstproduktion s. Birgit Franke u. Barbara Welzel (Hg.): Die Kunst der burgundischen Niederlande. Eine Einführung. Berlin 1997. Die burgundischen Tapisserien, also Wandteppiche, die zum Schmuck der Räumlichkeiten dienten, in denen der Herrscher und sein Hof residierten, legen in zuweilen monumentaler Form Zeugnis von dieser Neigung ab, s. Birgit Franke: Assuerus und Esther am Burgunderhof. Zur Rezeption des Buches Esther in den Niederlanden. Berlin 1998, v.a. S. 53-60; im Überblick Anna Rapp Buri u. Monica Stucky-Schürer: Burgundische Tapisserien. München 2001. Die berühmten Berner Cäsar-Teppiche sind indessen nicht im Auftrag des Herzogs entstanden, sondern wohl auf die Bestellung Guillaumes de La Baume hin, der eine hohe Position am Hof innehatte (ebd., S. 111). Für Philipp den Kühnen wie für Philipp den Guten ist der Erwerb einer Alexander-Folge belegt (S. 381f. u. S. 398). Blondeau: Les intentions [Anm. 3], S. 752. Im Überblick zum Trierer Tag Petra Ehm: Burgund und das Reich. Spätmittelalterliche Aussenpolitik am Beispiel der Regierung Karls des Kühnen (1465-1477). München 2002 (Pariser Historische Studien; 61), S. 130-196 (zum Alexander-Motiv in den Tapisserien S. 156f.). So schrieb Vasco da Lucena, der seine Übersetzung der Alexandergeschichte des Quintus Curtius Karl dem Kühnen überreichte, im Epilog seines Werks: Puisque Alexandre conquist tout Orient sans grant nombre de gens d’armes, sans geans, sans enchantemens, sans miracles et sans sommes d’argent moult excessives comme il appert assez par ce livre, il n’est pas doncques impossile que ung aultre prince le puis réconquester. En oultre s’il n’a point semblé difficile à Alexandre de conquester tout Orient pour sa-
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Dabei mögen herausragende Einzelstücke regelrecht dazu verführen, etwa in der Bibliothek der burgundischen Herzöge einen ›Spiegel‹ ihrer Person zu erblicken – zeigen die vorhandenen Texte doch ein reiches Repertoire literarischer Modelle, historischer Exempel oder didaktischer ›Fürstenspiegel‹. Besonders attraktiv wird diese Einschätzung zumal in solchen Fällen, in denen sich einerseits die Kunstform der veristischen Darstellung (und schliesslich des Portraits) Bahn brach, und andererseits ein persönliches Engagement des Herrschers erkennbar wird. So bestellte Herzog Philipp der Gute gegen 1446 bei Jean Wauquelin die Übertragung der Geschichte des legendarischen ersten Herzogs von Burgund, Girart de Roussillon, in ein zeitgemässes Französisch.7 Er sorgte persönlich für Nachforschungen zur Geschichte seines Vorgängers, in dessen Fussstapfen zu treten er sich anschickte. Ausser dem historischen Argument, an die frühere Herrschaft anknüpfen zu können, kam Philipp auch der Inhalt der zugrundeliegenden Erzählung entgegen: Girart gehört zu den im 12. Jahrhundert mehrfach besungenen barons revoltés, die ihre Rechte im Kampf gegen ihren (karolingischen) König verteidigten.8 Philipp hatte sich seinerseits gegen den französischen König Karl VII. gewandt und in der Frontstellung des 100jährigen Krieges für die englische Option mit Heinrich V. votiert. Noch 1435, als er im Frieden von Arras schliesslich zum Ausgleich mit Karl kam, setzte er das Privileg durch, diesem Herrscher, der
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ouler le vain appetit de sa gloire, il m’est aviz que moins difficile devroit sembler a ung bon prince chrétien icellui conquester pour le reduire a la foy de Jhesuscrist. (Danielle Régnier-Bohler (Hg.): Splendeurs de la cour de Bourgogne. Récits et chroniques. Paris 1995, S. 626); vgl. Blondeau: Les intentions [Anm. 3]. Das Umfeld des burgundischen Hofes macht das Identifikationsangebot an den Herzog deutlich, bildete der Kreuzzugsgedanke doch seit dem Ende des 14. Jahrhunderts ein präsentes Motiv, s. Heribert Müller: Kreuzzugspläne und Kreuzzugspolitik des Herzogs Philipp des Guten von Burgund. Göttingen 1993 und Jacques Paviot: Les ducs de Bourgogne, la croisade et l’Orient (fin XIVe siècle – XVe siècle). Paris 2003. Dagmar Thoss: Illuminierte Bücher. In: Franke, Welzel (Hg.): Die Kunst [Anm. 4], S. 103-119, hier S. 105. Zur Tätigkeit Wauquelins s. Pierre Cockshaw: Jean Wauquelin – documents d’archives. In: Ders., Christiane van den Bergen-Pantens (Hg.): Les Chroniques de Hainaut ou les Ambitions d’un Prince Bourguignon. Turnhout 2000, S. 3749; Anne van Buren-Hagiopan: Jean Wauquelin de Mons et la production du livre aux Pays-Bas. In: Publication du Centre d’Etudes burgondo-médianes 23 (1983), S. 53-74. Für eine knappe Zusammenfassung des Stoffes s. Mary Hackett u. Geneviève BrunelLobrichon: Girart de Roussillon. In: Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Age. Hg. v. Geneviève Hasenohr u. Michel Zink. 2., neu bearb. Auflage. Paris 1992, S. 546f.; zur Prosafassung Wauquelins s. auch Georges Doutrepont: Les Mises en prose des Épopées et des Romans chevaleresques du XIVe au XVIe siècle. Brüssel 1939 (Mémoires de l’Acad. roy. de Belgique, in-8o; 40), S. 108-114 und weitere.
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bei der Ermordung seines Vaters (1419) zugegen gewesen war, nicht den traditionellen Lehnseid für sein Herzogtum leisten zu müssen.9 In der prächtigen Dedikations-Handschrift des Girart de Roussillon tauchte der Herzog dann gleich zweifach persönlich auf: Nicht nur zeigt ihn das Widmungsbild inmitten seines Hofstaates beim Empfang des Werks,10 sondern auch eine Miniatur im Text selbst verleiht dem Titelhelden augenscheinlich seine Züge.11 Die ›Spiegelfunktion‹ des Objekts Buch geht damit noch über jene Aspekte hinaus, die in den zahlreich vorhandenen Widmungs- und Präsentationsminiaturen des burgundischen Milieus aufscheinen.12 Wenn man bereits der damit verbundenen Abbildung der hierarchisch untergeordneten Geber eine bedeutende Wirkung bei der Herausbildung einer neuen Auffassung von der Autorrolle zuspricht,13 welche Auswirkungen mag dann die Integration der Herrscherfigur in den inhaltlichen Rahmen selbst haben? Philipps Sohn Karl etwa liess sich in einem Stundenbuch und einer Reliquiarstatuette als Protégé des Heiligen Georg portraitieren, der noch dazu seine Gesichtszüge trägt.14 In künstlerischer Form nimmt hier ein Selbstbild Gestalt an, das nicht nur die eigene Wahrnehmung geformt haben mag, sondern vor allem auch zum Zweck herrschaftlicher Repräsentation diente. Nicht wenige der Präsentations- oder Dedikationsminiaturen
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S. insgesamt Richard Vaughan: Philip the Good. The Apogee of Burgundy. 2. Auflage. Woodbridge 2002, S. 1-28. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2549, Bl. 6r; zur Handschrift s. Otto Pächt u.a.: Flämische Schule I. Wien 1983 (Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der Österreichischen Nationalbibliothek; 6), Textband S. 34-60 u. Tafelband Taf. 3 (Abb.); Dagmar Thoss: Das Epos des Burgunderreiches. Girart de Roussillon. Graz 1989. S. Yves Cazaux: Philippe le Bon et Girart de Roussillon. Du manuscrit d’un moine de Pothières au chef-d’œuvre de Jean Wauquelin. In: La chanson de geste et le mythe carolingien. Mélanges René Louis. Bd. 2. Saint-Père-sous-Vézelay 1982, S. 903-925, hier S. 907 (mit Abb.). Vorsichtiger formulieren Pächt u.a.: Flämische Schule [Anm. 10], S. 52f. Zusammenfassend und mit weiteren Literaturhinweisen Cyriel Stroo: De celebratie van de macht. Presentatieminiaturen en aanverwante voorstellingen in handschriften van Filips de Goede (1419-1467) en Karel de Stoute (1467-1477). Brüssel 2002, S. 15-28. Vgl. Roger Chartier: Le prince, la bibliothèque et la dédicace. In: Marc Baratin, Christian Jacob (Hg.): Le pouvoir des bibliothèques. La mémoire des livres en Occident. Paris 1996, S. 204-223. S. Hugo van der Velde: The donor’s image. Gerard Loyet and the Votive Portraits of Charles the Bold. Turnhout 2000, Abb. S. 136; ebd., S. 122-153 zu Karls ›Georgs‹Bezügen; Philippe George: Le reliquaire de Charles le Téméraire du Trésor de la Cathédrale de Liège. Un message à déchiffrer. In: Annales de Bourgogne 74 (2002), S. 3-23.
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zeigen feierlich-höfische Szenen und bieten zugleich Raum für die Darstellung von Herrschaftszeichen verschiedenster Art.15 Johan Huizingas klassische Studie zum ›Herbst des Mittelalters‹ führt trotz aller Korrekturbedürftigkeit heute noch plastisch vor Augen, dass die Geschichte der burgundischen Herrschaft ohne die Kunst und Literatur der Epoche nicht verstanden werden kann.16 Hierzu gehört auch eine Buchkultur, die mehreren Bedürfnissen der Zeitgenossen gleichzeitig entsprechen konnte – neben der Herrschaftsrepräsentation zählten die Unterhaltung17 durch ritterliche und historische Literatur, Aspekte der Frömmigkeit und pädagogische Ziele. Als »grösste Sammlungen vor der Erfindung des Buchdrucks« wurden die Bibliotheken der vier Valois-Herzöge schon früh und intensiv zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen: 18 Vor allem Georges Doutrepont untersuchte am Beginn des 20. Jahrhunderts detailliert die Bestände, welche die Fürsten von Philipp dem Kühnen bis zu Karl dem Kühnen sammelten.19 Neben den zahlreichen heute noch erhaltenen Manuskripten, die zum grössten Teil in Paris und Brüssel aufbewahrt werden,20 bieten vor allem die Besitzinventare, die nach dem Tod der jeweiligen 15 Neben Herrschaftsinsignien die direkt mit dem Körper des Fürsten verbunden sind und daher im Dedikationsbild selbst erscheinen (Krone, Herzogshut, Szepter, Ordensketten u.ä.), kann auch der Marginaldekor solche herrscherlichen Attribute enthalten, etwa in Form von Wappendarstellungen oder Devisenmotiven, s. Stroo: De celebratie [Anm. 12], S. 51-92 u. Taf. 5, mit der Darstellung der Dedikationsminiatur des ersten Bandes der Chroniques de Hainaut (Brüssel, KBR, ms. 9242, Bl. 1) als ›Archetyp und Modell‹ für die burgundische Tradition. 16 Johan Huizinga: Herfsttij der Middeleeuwen. Haarlem 1919 (dt.: Herbst des Mittelalters. 11. Auflage. Stuttgart 1975). In weiterer Fassung, die auch Huizingas Blick auf den frankophonen Raum des späten Mittelalters entspricht, Colette Beaune: Le Miroir du Pouvoir. Les Manuscrits des Rois de France au Moyen Age. Paris 1989. 17 S. die knappen Bemerkungen bei Jean Verdon: Les loisirs au Moyen Age. Paris 1980, S. 259-282, der aus der erbaulichen und didaktischen Funktion der Literatur das Fazit zieht: »Ainsi, à la fin du Moyen Age, le goût de la lecture augmente en dehors des cercles cléricaux, mais en tant que loisir cette occupation reste encore limitée.« (S. 281f.) 18 Die Einschätzung entstammt Joseph Barrois (Hg.): Bibliothèque protypographique, ou Librairies des fils du roi Jean, Charles V, Jean de Berri, Philippe de Bourgogne et les siens. Paris 1830, S. XXIX. 19 Georges Doutrepont: La littérature française à la cour des ducs de Bourgogne. Paris 1909. 20 Für eine quantitative Einschätzung zuletzt Hanno Wijsman: Manuscrits illustrés dans les Pays-Bas bourguignons. Quelques remarques quantitatives. In: Gazette du livre médiéval 43 (2003), S. 23-33, hier S. 27f., sowie ders.: Gebonden weelde. Productie van geïllustreerde handschriften en adelijk boekenbezit in de Bourgondische Nederlanden (1400-1550). Diss. phil. Leyden 2003 (Publikation in englischer Übersetzung angekündigt). Die in Brüssel aufbewahrten Handschriften der burgundischen Bibliotheken sind derzeit Gegenstand einer umfassenden Katalogpublikation: Bernard Bousmanne u.a. (Hg.): La Librairie des ducs de Bourgogne. Manuscrits conservés à la Bibliothèque royale de Belgique. Turnhout 2000/2003. (bislang 2 Bde.).
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Herzöge oder ihrer Gattinnen angelegt wurden, eine wichtige Grundlage für einschlägige Analysen.21 Zahlreiche Arbeiten, die beide Materialkorpora kombinieren, zeigen die Bedeutung und Inanspruchnahme der Literatur und des konkreten Gegenstands Buch durch die Herzöge.22 Ein Aspekt, der neben diesen vorwiegend philologisch und kunsthistorisch ausgerichteten Studien weitgehend vernachlässigt wurde, zum Verständnis der Wirkungsmöglichkeiten des Mediums Buch aber essentiell scheint, besteht in der Untersuchung der materiellen Gebrauchsbedingungen der oftmals luxuriös-repräsentativen Handschriften, aber auch ihrer weniger aufwendig ausgeführten Gegenstücke. Um einzuschätzen, wie die Inhalte rezipiert werden konnten und welchen Einfluss sie auf den geistigen Horizont ihrer Besitzer gehabt haben mögen, ist auch zu klären, wie der Umgang mit ihnen konkret aussah. Wo wurden die Bücher aufbewahrt und wer besass Zugang zu ihnen? In welchen Situationen wurden sie gelesen und von wem? Die Quellenlage erlaubt es nicht, wirklich detaillierte und erschöpfende Antworten auf diese grundlegenden Fragen zu bieten. In einer ersten Skizze soll im Folgenden aber versucht werden, Basisinformationen zur Institutionalisierung der Lektüre am burgundischen Hof zusammenzutragen. 21 Ein knapper Überblick über die Inventarsituation bei Doutrepont: La littérature [Anm. 19], S. XXXIII-LI. Acht Inventare (1404, 1405, 1423, 1467, 1485, 1487 und 1504) sind bereits (mit Mängeln) bei Barrois: Bibliothèque [Anm. 18], gedruckt, hinzu kommt ein weiteres Verzeichnis von 1420, s. Inventaire de la ›librairie‹ de Philippe le Bon 1420. Hg. v. George Doutrepont. Nachdruck der Ausgabe Brüssel 1906. Genf 1977, S. VIf. Eine jüngere monographische Analyse hat bislang lediglich der Bestand Philipps des Kühnen erfahren, s. Patrick M. de Winter: La bibliothèque de Philippe le Hardi, duc de Bourgogne (1364-1404). Étude sur les manuscrits à peintures d’une collection princière à l’époque de ›style gothique international‹. Paris 1985. Neben monographischen Studien bieten vor allem diverse Ausstellungskataloge einen Einblick, s. etwa Pierre Cockshaw u.a. (Hg.): Charles le Téméraire. Brüssel 1977; Georges Dogaer u. Marguerite Debae (Hg.): La Librairie de Philippe le Bon. Brüssel 1967; Léon M. J. Delaissé (Hg.): La Miniature flamande, le mécénat de Philippe le Bon. Brüssel 1959. 22 Neben den bereits zitierten klassischen Titeln von Huizinga und Doutrepont, sowie der Studie von Stroo: De celebratie [Anm. 12], zuletzt Laetitia Le Guay: Les princes de Bourgogne lecteurs de Froissart. Les rapports entre le texte et l’image dans les manuscrits enluminés du livre IV des Chroniques. Turnhout 1998; Paviot: Les ducs [Anm. 6]. Fallstudien bieten Richard E. F. Straub: David Aubert, escripvain et clerc. Amsterdam/ Atlanta 1995, und die Beiträge in Cockshaw u. van den Bergen-Pantens (Hg.): Les Chroniques de Hainaut [Anm. 7]. Weiterhin grundlegend für die literarischhistorische Tradition in den burgundischen Herrschaftsansprüchen Yvon Lacaze: Le rôle des traditions dans la genèse d’un sentiment national au XVe siècle. La Bourgogne de Philippe le Bon. In: Bibliothèque de l’École des Chartes 129 (1971), S. 303-385. Den legitimatorischen Hintergrund chronikalischer Textproduktion untersucht am Beispiel Brabants Robert Stein: Politiek en historiografie. Het ontstaansmilieu van Brabantse kronieken in de eerste helft van de vijftiende eeuw. Löwen 1994.
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Die leitende Grundfrage, die hier näher dargestellt werden soll, ist jene nach dem materiellen Hintergrund der verkürzenden Bezeichnung ›Bibliothek‹. In der Zeit der vier Herzogsgenerationen, von denen hier zu handeln ist, stellte der Besitz von Büchern längst nicht mehr ein Privileg geistlicher Institutionen dar, wie es noch im hohen Mittelalter der Fall war.23 Der Buchbesitz von Adeligen wie von Gelehrten war bereits weit verbreitet, wenngleich die burgundischen Sammlungen aufgrund ihrer Grösse einen Sonderfall bildeten.24 Ausgehend von den 248 Handschriften, die im Inventar des Jahres 1420 nachgewiesen sind, baute Philipp der Gute bis 1467 seinen Besitz auf nahezu 900 Manuskripte aus. Die Grundlage dieser Sammeltätigkeit legte allerdings be-
23 Aufschlussreich hier der tabellarische Überblick über die erhaltenen BibliotheksInventare in Frankreich von Anne-Marie Genevois u.a. (Hg.): Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle. Paris 1987. Auf den Bestand im Besitz klerikaler Institutionen konzentriert sich das Gros der Beiträge in: Contributions à l’Histoire des Bibliothèques et de la Lecture aux Pays-Bas avant 1600. Hg. v. Instituut voor Middeleeuwse Studies (Löwen). Brüssel 1974. 24 Die allgemeine Entwicklung ist bislang vor allem für den französischen Raum dargestellt worden, s. André Vernet (Hg.): Histoire des bibliothèques françaises. Bd. 1: Les bibliothèques médiévales. Du VIe siècle à 1530. Paris 1989 (hier S. 249 zum quantitativen Vergleich); zur Entwicklung der später königlichen Bibliothek in Blois, die auf den Orléans’schen Beständen aufbaute, s. Ursula Baurmeister u. Marie-Pierre Laffitte: Des livres et des rois. La bibliothèque royale de Blois. Paris 1992. Die französische Buchkultur scheint im deutschen Adel vorerst keine Parallele gefunden zu haben, s. knapp Richard Mummendey: Von Büchern und Bibliotheken. 6. Auflage. Darmstadt 1984, S. 210-212. Leicht korrigiert wird diese Einschätzung durch Christine Reinle: Auf Spurensuche. Recherchen zu Bibliotheken der Ritterschaft im Süden und Südwesten des Alten Reiches. In: Kurt Andermann (Hg.): Rittersitze. Facetten adligen Lebens im Alten Reich. Tübingen 2002, S. 71-109. – Von den zahlreichen Einzelstudien zum Buchbesitz von Adligen und Gelehrten sei hier lediglich auf ausgewählte jüngere Beiträge verwiesen: Anke Paravicini u. Werner Paravicini: L’arsenal intellectuel d’un homme de pouvoir. Les livres de Guillaume Hugonet, chancelier de Bourgogne. In: Denis Boutet, Jacques Verger (Hg.): Penser le pouvoir au Moyen Âge (VIIIe-XVe siècle). Études d’histoire et de littérature offertes à Françoise Autrand. Paris 2000, S. 261-325; Philippe Contamine: Bibliothèques nobiliaires du XVe siècle. Livres ayant appartenu à Charles de Melun (vers 1420-1468). In: Jean-Claude Faucon u.a. (Hg.): Miscellanea mediaevalia. Mélanges offerts à Philippe Ménard. Bd. 1. Paris 1998, S. 369-375; Christine van den Bergen-Pantens: Héraldique et bibliophilie. Le cas d’Antoine de Bourgogne. In: Anny Raman, Eugène Manning (Hg.): Miscellanea Martin Wittek. Album de codicologie et de paléographie offert à Martin Wittek. Löwen/ Paris 1993, S. 323-353; Maximiliaan P. J. Martens (Hg.): Lodewijk van Gruuthuse. Mecenas en europees diplomaat (ca. 1427-1492). Brügge 1992; Antoinette Naber: Les manuscrits d’un bibliophile bourguignon du XVe siècle. Jean de Wavrin. In: Revue du Nord. Histoire 72 (1990), S. 223-253; dies.: Jean de Wavrin, un bibliophile du XVe siècle. In: Revue du Nord. Histoire 69 (1987), S. 281-293; Janet M. Backhouse: Founders of the Royal Library. Edward IV and Henry VII as Collectors of Illuminated Manuscripts. In: Daniel Williams (Hg.): England in the Fifteenth Century. Proceedings of the 1986 Harlaxton Symposium. Woodbridge 1987, S. 23-41.
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reits sein Grossvater Philipp der Kühne, der als Sohn Johanns II. von Frankreich in eine geradezu bibliophile Familie geboren wurde. Philipps des Kühnen Bruder, König Karl V., der als ›der Weise‹ in die Geschichte einging, schuf nicht nur die Basis für eine herausragende Sammlung in seiner Hauptstadt Paris, sondern er institutionalisierte auch deren Rahmen als Bibliothek.25 Diese Einrichtung prägt weithin das Bild in der modernen Forschung und soll daher aus Vergleichsgründen kurz präsentiert werden. Mit dem Louvre besass der König im Gegensatz zum burgundischen Herzog eine feste Hauptresidenz, die auch den Grossteil seiner Handschriftensammlung aufnehmen konnte. Ab 1367 wurde sie hier zunächst in den ersten beiden Stockwerken, später auch in der dritten Etage, der Tour de la Fauconnerie (auch Tour de la librairie genannt) eingerichtet, welche die nordwestliche Ecke des Palastbaus einnahm und damit angrenzend an die Privatgemächer des Königs lag.26 Nur kurze Zeit später sorgte der Herrscher, der in Miniaturen zuweilen als Gelehrter und ohne königliche Insignien an seiner Kleidung dargestellt wurde,27 auch für einen organisatorischen Rahmen, indem er das Amt eines garde de la librairie schuf, mit dem 1369 Gilles Malet betraut wurde.28 Malet legte ab 1373 als erster Bibliothekar ein Inventar der königlichen Sammlung an, das heute noch in zwei Kopien von 1380 überliefert ist.29 War man somit bereits strukturell auf die Benutzung durch einen weiteren Leserkreis vorbereitet, so machte die Einrichtung die Bibliothek zu einem Arbeitsort, an dem sich Gelehrte der Lektüre widmen konnten. Die Räumlichkeiten waren reich geschmückt und auch das nötige Mobiliar für die Benutzer war vorhanden, wie die Existenz von Bänken und zweier Leseräder bezeugt, auf 25 S. v.a. Léopold Delisle: Recherches sur la librairie de Charles V, roi de France (13371380). 2 Bde. Nachdruck der Ausgabe Paris 1907. Amsterdam 1967; François Avril u. Jean Lafaurie (Hg.): La librairie de Charles V. Paris 1968, S. 45-54. 26 S. Mary Whiteley: Royal and Ducal Palaces in France in the Fourteenth and Fifteenth Centuries. Interior, ceremony, and Function. In: Jean Guillaume (Hg.): Architecture sociale. L’organisation intérieure des grandes demeures à la fin du Moyen Age et la Renaissance. Paris 1994, S. 47-63 (Grundriss S. 59); Françoise Robin: Le luxe des collections aux XIVe et XVe siècles. In: Vernet (Hg.): Histoire des bibliothèques. Bd. 1 [Anm. 24], S. 193-213, hier S. 194f. 27 So etwa im Dedikationsbild einer Bible historiale, die ihm 1372 von Jean de Vaudetar überreicht wurde; heute aufbewahrt in Den Haag, Museum van het Boek/ Museum Meermanno-Westreenianum, ms. 10 B 23, Bl. 2r, s. Maurits Smeyers: Flämische Buchmalerei. Vom 8. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Die Welt des Mittelalters auf Pergament. Löwen/ Stuttgart 1999, S. 181. 28 Knapp zu den Lebens- und Karrieredaten Malets Jean-Bernard de Vaivre: Monuments et objets d’art commandés par Gilles Malet, garde de la librairie de Charles V. In: Journal des Savants 1978, S. 217-239, hier S. 218-220; Delisle: Recherches [Anm. 25], Bd. 1, S. 10-20. 29 Delisle: Recherches [Anm. 25], Bd. 1, S. 23-25.
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denen die konsultierten Manuskripte gelagert werden konnten.30 Von der Zugänglichkeit der Bestände profitierte noch 1428 der junge Nikolaus von Cues, der auf der Durchreise in Paris Handschriftenforschungen in mehreren Bibliotheken betrieb.31 Nichts dergleichen ist im burgundischen Rahmen zu beobachten; schon die Spezialisierung des Bibliothekarsamtes ist unbekannt: unter Philipp dem Kühnen war Richard Le Comte, der herzogliche Barbier, für die Aufsicht über die Bücher zuständig. Immerhin wurde die Verantwortung damit einer engen Vertrauensperson des Fürsten übertragen, aber von einer Professionalisierung ist nicht zu reden. Während seine zeitgenössischen Kollegen im Dienst des französischen Königs oder Jeans de Berry, dem Bruder Philipps des Kühnen, die Sammlungen ihrer Herren signifikant zu vergrössern halfen, ist von Le Comte nichts dergleichen bekannt, obschon er die Aufsicht über den gesamten Buchbestand ausübte und 1404 nach dem Tod des Herzogs das wenig sorgfältig ausgeführte Inventar verfasste.32 Auch in den späteren Organisationsschüben des Hofes, die in der Reihe der erhaltenen Hofordnungen nachvollzogen werden können, ist keine grundlegende Änderung der Situation zu beobachten. Während die Verwaltung der Tapisserien hinreichend wichtig erschien, um ein eigenes Amt zu rechtfertigen,33 unterstand die Aufsicht über die Bücher stets dem garde des joyaulx d’or, d’argent, de pierrie et de livres, der in der Hofordnung Philipps des Guten von 1433 erstmals genannt wird 30 Anne Prache: Bâtiments et décor. In: Vernet (Hg.): Histoire des bibliothèques. Bd. 1 [Anm. 24], S. 350-363, hier S. 361; Jean Vezin: Le mobilier des bibliothèques. In: ebd., S. 364-371, hier S. 370; Delisle: Recherches [Anm. 25], Bd. 1, S. 7f. 31 Rudolf Haubst: Les études sur manuscrits entreprises par Nicolaus de Cues dans sa jeunesse, en 1428, à Paris. In: Annie Cazenave, Jean-François Lyotard (Hg.): L’Art des confins. Mélanges offerts à Maurice de Gandillac. Paris 1985, S. 83-92, hier S. 85 u. S. 88. 32 Über Le Comte ist darüber hinaus recht wenig bekannt, s. De Winter: La bibliothèque [Anm. 21], S. 32f. Die Vereinigung der beiden Ämter ist interessanterweise nicht ohne Parallele, da auch die Barbiere des Grafen von Flandern und des Grafen von Artois zeitweise die Aufsicht über deren Bücher ausübten (ebd.). 33 Werner Paravicini: Die Hofordnungen Herzog Philipps des Guten von Burgund. Edition. I-V. In: Francia 10 (1982), S. 131-166; 11 (1983), S. 257-301; 13 (1985), S. 191211; 15 (1987), S. 183-231; 18,1 (1991), S. 111-123, hier 15 (1987), S. 208 (Nr. 313 und 314), Nennung eines Fouet tapissier et garde de la tapisserie und zweier Gehilfen. Das Amt erschien schon vor 1433, etwa in der Hofordnung für Philipp den Guten und dessen Frau Michelle de France, die 1415 von Johann Ohnefurcht erlassen wurde, s. ebd., Francia 10 (1982), S. 153 (Nr. 66): Colinet Denfer aide de chambre et garde de la tapisserie […] Der oben genannte Fouet, mit vollem Namen Jehan Prevost, erscheint bereits in der Hofordnung von 1426/27 in diesem Amt (ebd., Francia 11 [1983], S. 278 [Nr. 271]). Von früheren Hofordnungen unter Philipp dem Kühnen und Johann Ohnefurcht ist lediglich ein kurzes Fragment erhalten (ebd., Francia 10 [1982], S. 131).
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und unter anderem die Pflicht hatte, über den Besitzstand und dessen Veränderungen ein Verzeichnis zu führen.34 Eine solche Zuordnung kann im Blick auf die Wertschätzung des Buches als Gegenstand natürlich ambivalent interpretiert werden: Einerseits besassen die Handschriften augenscheinlich nicht hinreichend Gewicht, um zur Ausprägung einer eigenen Institution zu nötigen, die sich ihnen ausschliesslich widmete. Gleichzeitig wird aber der repräsentative Stellenwert des Objekts Buch deutlich, das in einer Reihe mit den weiteren Schätzen des trésor genannt ist. Bereits 1386 empfand man angesichts der zahlreichen Ankäufe und Vergabungen kostbarer Gegenstände am Hof die Notwendigkeit, das Amt eines Argentier zu etablieren, der über den herzoglichen Besitz Buch führen sollte.35 Es ist erstaunlich, dass trotz der vielen in den Rechnungen verzeichneten Buchkäufe und auch Schenkungen die Verwaltung der Bestände im Gegensatz zu den Tapisserien nicht gesondert institutionalisiert wurde. Immerhin scheint aber die Durchführung der Inventarisierungspflicht funktioniert zu haben: 1432 vermerkte Boulongne, der garde des joyaulx, im Randkommentar zum Zahlungsbeleg für einen livre des faits de Godeffroy de Buillon, dass dieser in das Inventar aufgenommen werden sollte.36 Dieses Bild der Hoforganisation entspricht zugleich der materiellen Situation des burgundischen Hofes, der aufgrund der weit gestreuten Interessen der Herzöge zu einer fortgesetzten Praxis des Reisens ge34 Ebd., Francia 15 (1987), S. 218 (Nr. 462); es handelt sich hier um einen Valet namens ›Boulongne‹, ebd., S. 208 (Nr. 303). Vgl. Holger Kruse: Die Hofordnungen Herzog Philipps des Guten von Burgund. In: Ders., Werner Paravicini (Hg.): Höfe und Hofordnungen 1200-1600. Sigmaringen 1999 (Residenzenforschung; 10), S. 141-165, hier S. 159. In einer aussergewöhnlichen Kurzformel bezeichnete sich Richart Le Comte 1401 selbst als premier barbier et garde des livres de mon seigneur le duc de Bourgogne, s. De Winter: La bibliothèque [Anm. 21], S. 263. 35 Inventaires mobiliers et extraits des comptes des ducs de Bourgogne de la maison de Valois (1363-1477). Hg. v. Bernhard Prost u. Henri Prost. 2 Bde. Paris 1902-1913, Bd. 2, S. 218-221 (Nr. 1388): Premierement, pour ce que ledict seigneur a fait et fait chascun jour tant en achat de joyaux, de vaisselle d’or et d’argent, de pierrerie, draps d’or et de soie, ouvraige de brodure et de orfevrerie et encoires est tailliez de faire plus grant, tant pour les mariaiges de ses enfens comme autrement, est avisé qu’il ait un argentier qui soit bons et souffisans, [...] car par les comptes du receveur général de Mgr, tant pour les mariaige de mess. ses enfens comme autrement, renduz depuis le temps passé jusques à présent et par espécial depuis dix ans, il est à doubter qu’il n’y ait de tres grosses faultes, lesquelles ne se pourroient pas bonnement atteindre ne vériffier. (Ordonnanz vom 13. Juli 1386) 36 Léon de Laborde: Les ducs de Bourgogne. Études sur les lettres, les arts et l’industrie pendant le XVe siècle et plus particulièrement dans les Pays-Bas et le duché de Bourgogne. Preuves. 3 Bde. Paris 1849-53, Bd. 1, Nr. 909: [...] soit ledit liure mis en l’inventoire, Bouloingne garde des joyaulx de MS le duc. Wenige Einträge darauf steht ein ähnlicher Vermerk bezüglich einer Handschrift der Chroniques de Flandres und einer Vegetius-Handschrift, s. ebd., Nr. 920.
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zwungen war. Schon die Vielzahl der verschiedenen Territorien des sich immer stärker ausweitenden Herrschaftsraumes liess die Konzentration auf eine Hauptresidenz nicht zu, die zum dauerhaften Standort der Bibliothek hätte werden können.37 Zwar fungierte unter Philipp dem Kühnen augenscheinlich ein Turm des herzoglichen Palais in Dijon als Tour de la librairie, was dem weithin geübten Brauch entsprach, die Buchbestände ähnlich den Schätzen und Archiven in festungsartigen Gebäudeteilen unterzubringen.38 Die Situation änderte sich aber vermutlich ab dem Ende der 1370er Jahre, als Philipp immer stärker in Paris präsent war, um dort als Vormund des minderjährigen Karl VI. Einfluss auf die französische Politik zu üben, und schliesslich nach 1384 mit dem Antritt des flandrischen Erbes.39 Es ist bezeichnend, dass nach dem Tod des Herzogs im Jahre 1404 das Inventar seines (Buch-) Besitzes in Paris angelegt wurde, während das Nachlassverzeichnis seiner Gattin Margarete 1405 die Güter in Arras beschrieb.40 Ebenso wenig, wie sich auch Philipps Nachfolger angesichts ihrer weitgreifenden politischen Interessen auf eine einzige Residenz hätten beschränken können,41 liess sich auch ihre Handschriftensammlung auf einen Ort fixieren. Einen Teil der Bestände bildeten ohnehin liturgische Handschriften, die zur Benutzung auf die Kapellen der Residenzen aufgeteilt waren, wie die unregelmässig angelegten Besitzinventare aufzeigen,42 wenngleich ihre Bedeutung proportional zum Gesamtvo-
37 Im Überblick Patrick M. de Winter: Castles and Town Residences of Philip the Bold, Duke of Burgundy (1364-1404). In: Artibus et Historiae 8 (1983), S. 95-118 (Übersichtskarte S. 99); Werner Paravicini: Die Residenzen der Herzöge von Burgund (13631477). In: Ders., Hans Patze (Hg.): Fürstliche Residenzen im spätmittelalterlichen Europa. Sigmaringen 1991 (Vorträge und Forschungen; 36), S. 207-263. 38 De Winter: La bibliothèque [Anm. 21], S. 32; zur Residenz in Dijon s. Arthur Kleinclausz: L’Hôtel des ducs de Bourgogne à Dijon. In: La Revue de l’Art ancien et moderne 27 (1910), S. 179-190 u. S. 275-286, hier S. 276f. u. S. 284. 39 Paravicini: Die Residenzen [Anm. 37], S. 209f. u. S. 215. 40 De Winter: La bibliothèque [Anm. 21], S. 115f., S. 121, S. 130 u. S. 142. Das Inventar von 1404 belegt zudem die institutionelle Trennung zwischen den Büchern der Kapelle, die von Jean de Halarville verzeichnet wurden (ebd., S. 121), und den livres et romans des Herzogs, die sich in der Obhut Richard le Comtes befanden (ebd., S. 130). Diese Zweiteilung wurde im Inventar von 1420 fortgeführt, s. Doutrepont: Inventaire [Anm 21], S. XVIII-XX, S. 1 u. S. 29, das zudem auch weitere Kategorien von Wertobjekten enthält. 41 Paravicini: Die Residenzen [Anm. 37], S. 237, quantifizierend zu Philipp dem Guten, dessen nachweisbare Aufenthalte sich folgendermassen verteilten: Brüssel 22 %, Lille 11 %, Brügge 10 %, Dijon 6 %. 42 Vgl. Prost u. Prost (Hg.): Inventaires [Anm. 35], Bd. 1: Nr. 1129 (Rouvres), 1627 (Chaussin), 1681 (Montbard), 2124 (Saulx), 2841 (Aisey-le-Duc); Bd. 2: 336 (Rouvres), 952 (Gosnay), 1031 (Avesnes-le-Conte), 2136 (Rupelmonde), 2276/2282 (Lille) und 3082 (Brügge). Vgl. De Winter: La bibliothèque [Anm. 21], S. 31f.
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lumen im Laufe des 15. Jahrhunderts stetig abnahm.43 Auch Bücher profanen Inhalts waren von dieser Streuung des Besitzes aber keineswegs ausgenommen: ein Inventar des Jahres 1384 erfasste in Gosnay einen roumant de Merlin, also eine Handschrift des arthurischen Themenkreises, die sich im Besitz der Kinderaufsicht befand.44 Die häufig nötigen Reparaturen an den Büchern, sei es zur Ausbesserung der Seiten, des Einbands oder einer weiteren Schutzhülle, belegen zudem die wenig geordnete Unterbringung sowie die Mitführung auf Reisen. Besonders bildhaft zeigen dies jene seltenen Rechnungsbelege, die neben der Reparatur und deren Kosten auch die Umstände nennen, die sie nötig machten: 1407 liess Johann Ohnefurcht die Reinigung eines Arthusromans bezahlen, den die Hunde im herzoglichen Haushalt zerrissen hatten;45 1438 mussten ein Missale und ein Brevier Philipps des Guten repariert werden, weil die Truhe, in der sie zwischen Lille und Arras transportiert wurden, ins Wasser gefallen war.46 Auf eindrückliche Weise bestätigen derlei Eintragungen die Praxis, den Buchbesitz nicht vorrangig an sicheren Orten zu verwahren, sondern für den Gebrauch in der eigenen Umgebung mitzuführen. Am offensichtlichsten ist dies bei solchen Handschriften nachzuvollziehen, die für die Ausübung der Frömmigkeit benötigt wurden, also vor allem bei Stundenbüchern und weiterem religiösem Schrifttum. Wie andere Fürsten verfügte Philipp der Gute über eine transportable Privatkapelle,47 für deren Ausstattung auch Bücher benötigt wurden. Ähnlich wie sich seine Residenz letztlich dort befand, wo er sein Wappen aufschlug, 48 muss man sich daher einen guten Teil des Bücherbestandes auf häufigen Reisen vorstellen. Nahegelegt wird dies einerseits durch Anschaffungen, bei deren Abrechnung der persönliche Gebrauch direkt vermerkt ist,49 andererseits aber dort, wo etwaige Verluste verzeichnet 43 S. Geneviève Hasenohr: L’essor des bibliothèques privées aux XIVe et XVe siècles. In: Vernet (Hg.): Histoire des bibliothèques [Anm. 24], S. 214-263, hier S. 249 (Tabl. 5). 44 Prost u. Prost (Hg.): Inventaires [Anm. 35], Bd. 2, Nr. 1006. Die Situation ist weniger aussergewöhnlich, als es auf den ersten Blick scheinen mag: nach einer Inventaraufnahme der Bibliothek von Cîteaux aus dem Jahr 1480 befanden sich weniger als die Hälfte der Bände in den eigentlichen Bibliotheksräumen, s. André Masson: Le décor des bibliothèques du Moyen Age à la Révolution. Genf 1972, S. 13. 45 De Winter: La bibliothèque [Anm. 21], S. 32 u. S. 134 (Nr. 41). 46 Laborde: Les ducs [Anm. 36], Bd. 1, Nr. 1202: Pour avoir fait réparer et relier tout de neuf le Missel et le Breviaire de MS, qui avoient esté mouilliés, pour ce que ung des cofres estoit cheu en l’eaue entre Lille et Arras; s.a. Paravicini: Die Residenzen [Anm. 37], S. 247. 47 Vaughan: Philip [Anm. 9], S. 128f. 48 Paravicini: Die Residenzen [Anm. 37], S. 247. 49 Vor allem bei Stundenbüchern und Psaltern erscheint häufig der private Besitz bezeichnet, vgl. Prost u. Prost (Hg.): Inventaires [Anm. 35], Bd. 1, Nr. 2018, 2352, 2382;
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wurden. So ist etwa überliefert, dass die Schweizer Truppen bei den verheerenden Niederlagen, die sie Karl dem Kühnen in den Kriegszügen von 1474 bis 1476 beibrachten, auch guldin buecher oder buecher und […] heres ordnungen in ihren Besitz brachten.50 Wenngleich heute keine einzige Handschrift mehr diesen Eroberungen ohne Zweifel zugeordnet werden kann, so belegt dies doch die Praxis des letzten burgundischen Herzogs, auch auf militärischen Kampagnen Bücher bei sich zu führen. Bereits den Zeitgenossen erschien dies bemerkenswert, verzeichnete doch der weit vom Ort des Geschehens entfernte Erfurter Chronist Konrad Stolle: [...] deme herzogen von Burgundien worn ouch genomen zwey halßbant vnd sine liberie, die er gar hoch geschatzt vnd gar vngerne vorloren hatte.51 Diese Nähe zum Objekt ›Buch‹ ähnelt in gewisser Weise dem Verhalten weiterer Fürsten des späten Mittelalters: Ähnlich wie Karl V., der seine Bibliothek im Louvre direkt neben seinen eigenen Gemächern einrichten liess, schuf sich im 14. Jahrhundert auch Papst Clemens VI. in seinem Palast zu Avignon eine Bibliothek und einen Leseraum, die an sein Schlafzimmer angrenzten.52 Wenngleich Karl der Kühne über kein ›Studio‹ verfügte, das sich mit der avignonesischen Chambre du Cerf oder gar dem berühmten studiolo des Herzogs von Urbino hätte messen können,53 so fällt doch auf, dass auch er in seinem Palast zu Brüssel von seiner Kammer aus direkten Zugang zum als librairie bezeichneten Raum hatte.54 Für eine vergleichende Betrachtung mit der Raumgliederung in Karls weiteren Residenzen fehlen derzeit noch die nötigen Detailstudien. Es lässt sich aber feststellen, dass für die burgundischen Herzöge, im Gegensatz zu anderen Fürsten in ihrem Umfeld, keine gesonderten Ausgaben für die Einrichtung von Bibliotheksräumen bekannt wurden. Zwar investierten sie keine geringen Beträge in die Aufbewahrungsbe-
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Bd. 2, Nr. 110 und weitere. Zu einer Vita des Heiligen Remigius vermerkt der Zahlungsbeleg explizit: [...] que MdS a fait prendre et achetter de luy et icelluy fait mettre en garde et deppost pardevers luy. (Laborde: Les ducs [Anm. 36], Bd. 1, Nr. 1115) Deutlicher noch der Verweis einer Abrechnung von 1466/67: [...] ung breviaire que MdS a fait faire pour servir à dire ses heures […] (ebd., Bd. 1, Nr. 1922). Die Burgunderbeute und Werke burgundischer Hofkunst (18. Mai – 20. September 1969). Hg. v. Bernischen Historischen Museum. Bern 1969, S. 231. Stolle: Chronik [Anm. 3], S. 108. Masson: Le décor [Anm. 44], S. 41; Marie-Henriette Jullien de Pommerol u. Jacques Monfrin: La bibliothèque pontificale à Avignon au XIVe siècle. In: Vernet (Hg.): Histoire des bibliothèques [Anm. 24], S. 146-169, hier S. 152. Vgl. Masson: Le décor [Anm. 44], S. 43f. Krista de Jonge: Le palais de Charles Quint à Bruxelles. Ses dispositions intérieures aux XVe et XVIe siècles et le cérémonial de Bourgogne. In: Guillaume (Hg.): Architecture [Anm. 26], S. 107-125, hier S. 122 (Organigramm).
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hälter ihrer Handschriften und in Ausbesserungsarbeiten um einzelne Manuskripte gebrauchsfähig zu halten,55 aber spezifische Möbel wie Bücherräder oder Pulte scheinen bislang nicht in ihrem Besitz nachgewiesen zu sein.56 Dem entspricht auch der Befund, dass in den vorliegenden Beschreibungen von Residenz- und Burganlagen trotz zuweilen minutiöser Auflistung der Raumfolgen und entsprechenden Nutzungsverweisen keine Hinweise auf eine bibliothèque oder librairie zu finden sind. Als im Château de Maisey 1386/87 die Schlösser kontrolliert und ausgebessert wurden, hielt die Rechnungslegung detailliert die Räume von der premier chambre de la tour über die garde robe bis zur grange au foin fest, ohne eine Bücherei zu nennen; 57 gleiches gilt für die Residenz in Brügge anlässlich der Umbauarbeiten in Brügge zur Vorbereitung der Hochzeit Karls des Kühnen mit Margarete von York (1468).58 Es passt zu diesem Bild, dass Herzogin Margarete, die Gattin Philipps des Kühnen und Urgrossmutter Karls, die ihre letzten Lebensjahre beinahe ausschliesslich in Arras zubrachte, ihre Handschriften dort ungeordnet gemeinsam mit anderen Gegenständen in Truhen verstaute.59 Im Überblick scheinen sich die Herzöge und ihr Umfeld daher auf recht pragmatische Weise ihrer Bücherbestände bedient zu haben, die sie zum Teil mit sich führten, zum Teil in verschiedenen Residenzen lagerten. Neben den historiographischen Zeugnissen für ihre Lektüre belegen vor allem Kleingegenstände60 und die fortgesetzte grosszügige Anschaffungspolitik, vor allem unter Philipp dem Guten, ihr Interesse am Medium Buch.61 Eine besondere Rolle spielte sicherlich die individuelle Frömmigkeit, die zuweilen beinahe abergläubische Formen annehmen konnte, wenn sich etwa Herzogin Margarete 1389 zur Nie55 Beispiele in Prost u. Prost (Hg.): Inventaires [Anm. 35], Bd. 1, Nr. 3086; Bd. 2, Nr. 90, 116, 1508, 1659 und 2597. 56 Anders stellt sich die Situation bezüglich der Archivmaterialien dar: so wurden 1364/65 aus Gründen der Sicherheit drei grosse Eichenholztruhen für die lettres et chartes im Archiv von Talant angeschafft, s. ebd., Bd. 1, Nr. 432. Diese Bestände wurden in der sog. Tour du Trésor oder Tour des Lettres aufbewahrt, vgl. Joseph Garnier: Le château de Talant. Monographie. In: Mémoires de la Commission des Antiquités du Département de la Côte-d’Or 3 (1853), S. 215-311, hier S. 282 u. S. 284. 57 Prost u. Prost (Hg.): Inventaires [Anm. 35], Bd. 2, Nr. 1573-1598. 58 Laborde: Les ducs [Anm. 36], Bd. 2, S. 293-318. In Lille ist ebenfalls zwar eine chambre des joyaulx bekannt, aber keine Bibliothek, s. M[ax] Bruchet: Notice sur la construction du palais Rihour à Lille. In: Bulletin de la Commission départementale des monuments historiques du Nord 31 (1922), S. 209-250, hier S. 233. 59 De Winter: La bibliothèque [Anm. 21], S. 33f. 60 Ein interessantes Schlaglicht bieten hier die Verweise auf die Brille, die Philipp der Kühne kaufte und die noch im Inventar von 1420 verzeichnet ist, s. Prost u. Prost (Hg.): Inventaires [Anm. 35], Bd. 2, Nr. 3240; Laborde: Les ducs [Anm. 36], Bd. 2, Nr. 4247. 61 Zusammenfassend zur massiv angestiegenen Anschaffung unter Philipp dem Guten s. Thoss: Illuminierte Bücher [Anm. 7], S. 103-119, hier S. 104 u. S. 106.
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derkunft eine bestimmte Evangelienhandschrift aus einer anderen Residenz herbeischaffen liess.62 Die Nutzung im Sinne unterhaltsamer, erbaulicher und lehrreicher Lektüre tritt dahinter aber kaum zurück, wie die häufigen Verweise in historiographischen Quellen oder auch das anderweitig nachweisbare literarische Engagement nahelegen. Abgesehen von der vor allem bei Philipp dem Kühnen und Philipp dem Guten bedeutsamen Patronage der Buchproduktion liesse sich etwa auf Philipps des Kühnen tragende Rolle (gemeinsam mit Herzog Ludwig von Bourbon) bei der Gründung der Cour amoureuse im Jahr 1400 verweisen, einer Art literarischem Zirkel, in dem sich Adlige und Poeten im literarischen Wettstreit betätigten.63 Über ein halbes Jahrhundert später beschrieb Guillaume Fillastre d.J., Kanzler des Ordens vom Goldenen Vlies, Philipp den Guten dann als fleissigen Arbeiter, der sich häufig noch spät nachts der Lektüre widmete.64 Auch sein Sohn Karl der Kühne, der bereits zeitgenössisch als le Travaillant bezeichnet wurde,65 besass, wie schon eingangs bemerkt, eine starke Neigung zur Literatur, zumal wenn sie sich mit den Taten grosser Helden beschäftigte, die ihm Potential zur Identifikation boten.66 Gelegenheiten, sich mit diesen Stoffen zu beschäftigen, mag es im Leben seines Hofes häufiger gegeben haben, etwa im Kreis der jungen Adligen, die ihn dem Chronisten Olivier de La Marche zufolge stets umgaben.67
62 Prost u. Prost (Hg.): Inventaires [Anm. 35], Bd. 2, Nr. 3312. 63 Ein knapper Überblick bei Carla Bozzolo u. Hélène Loyau: La cour amoureuse dite de Charles VI. Bd. 1. Paris 1982, S. 1-4. Ähnlich wie im Falle Burgunds mag es für eine gewisse Familientradition sprechen, wenn das Hôtel de Bourbon in Paris 1465 über eine gut eingerichtete Bibliothek verfügte, s. Simone Roux: Résidences princières parisiennes. L’exemple de l’hôtel de Bourbon, fin XIVe – milieu XVe siècle. In: Paravicini, Patze (Hg.): Fürstliche Residenzen [Anm. 37], S. 75-101, hier S. 91. 64 Guillaume Fillastre d.J.: Ausgewählte Werke. Hg. v. Malte Prietzel. Ostfildern 2003 (Instrumenta; 11), S. 299: Je l’ay souvent veu (sy ont pluseurs) couchier a deux heures aprés mynuit et estre levé a 6 heures du matin. [...] Et jamais n’estoit oyseux, qu’il ne se occupast ou en estude de livres ou en tirer de l’arc ou pour exercice en quelque esbatement honneste ou en conseil de haultes choses quant le cas le requeroit. 65 Z.B. Olivier de La Marche: Mémoires. Hg. v. Henri Beaune u. J. D’Arbaumont. 4 Bde. Paris 1883-88, Bd. 1, S. 122 u. S. 147; s.a. Werner Paravicini: Karl der Kühne. Das Ende des Hauses Burgund. Göttingen 1976, S. 38f. 66 Vaughan: Charles [Anm. 1], S. 163f. 67 Olivier de La Marche: Estat de la maison du duc Charles de Bourgoingne, dit le Hardy. In: Ders.: Mémoires [Anm. 65], Bd. 4, S. 1-94, hier S. 16: Et quant le duc a tout le jour labouré en ses affaires et donné audience à ung chascun, il se retrait en sa chambre, et iceulx escuiers vont avec luy faire compaignie. Les ungs chantent, les autres lisent romans et nouvelletez, les autres se devisent d’amours et d’armes, et font le prince passer le temps en gratieuses nouvelles.
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Wie wir gesehen haben, lag diesem Umgang mit dem Medium Buch und der Literatur aber keine gut geregelte Bibliothek zugrunde, die sich an den Ordnungsvorstellungen der beginnenden Renaissance oder an den Bedürfnissen der Gelehrtentätigkeit orientiert hätte. Das Buch stellte im Umfeld der Burgunderherzöge vielmehr ein vertrautes Objekt dar,68 dessen vielseitige Nutzbarkeit es in den Schnittpunkt von Frömmigkeit, Erziehung, Vergnügen und Politik rückte, ohne ihm einen Bereich abgesonderter Institutionalität zuzuweisen. Die entstehenden Sammlungen sind damit besser als Teil einer umfassenden kulturellen Ausrichtung zu betrachten, denn als Ausdruck einer bewussten Politik der Instrumentalisierung. So beherrscht die Repräsentation der eigenen Macht den Dialog der Manuskripte eben nicht allein, sondern auch die Stimmen der fürstlichen Umwelt sind mehr oder minder deutlich zu vernehmen. Eine kulturell offene Variante der Bibliothek, wie wir sie als gelebte und gebrauchte Sammlung in Burgund antreffen, eröffnet einen Raum, der trotz aller Sachzwänge das Aushandeln verschiedener Modelle der Herrschaft ermöglichte. Hier konnten sich die Herzöge in ihren Büchern in verschiedener Gestalt erblicken – so wie sie sich selbst sehen wollten, aber auch im Bild, das andere ihnen vorhielten. In diesem Sinne erklärte der Hofhistoriograph Georges Chastellain, der sich mit einem ermahnenden Text in der Fürstenspiegeltradition an den frisch zum Herzog gewordenen Karl den Kühnen wandte, auch den Wert der in den Büchern anzutreffenden historischen Exempel: Diese und solchermassen beschaffene Fürsten sind, während sie herrschen, durch ihr Tun Beispiele und Spiegel für ihre Zeitgenossen und für die, die nach ihnen kommen. 69
68 Vgl. Doutrepont: Les Mises en prose [Anm. 8], S. 676: »[...] les livres des ducs Philippe le Bon et Charles le Téméraire n’étaient pas chez eux du simple mobilier décoratif.« 69 Georges Chastellain: Avertissement au duc Charles soubs fiction de son propre entendement parlant à luy-mesme. In: Ders.: Œuvres. Hg. v. Kervyn de Lettenhove. 8 Bde. Nachdruck der Ausgabe Brüssel 1863-1866. Genf 1971, Bd. 7, S. 285-333, hier S. 320: Iceulx et sifaits princes, au temps qu’ils règnent, sont exemples et miroirs, par ainsy faire, à leurs contemporains et à ceux qui après eux viennent.
V.
Abschrift und Reproduktion Das Buch im technischen Wandel
Karénina Kollmar-Paulenz
Buchdruck und Buchkultur in Tibet und der Mongolei Einleitung Die Sektion über das »Buch im technischen Wandel« mit einem Beitrag über Asien, genauer Zentralasien, zu eröffnen, scheint auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich. Es wird aber verständlich, wenn wir uns zwei Daten vergegenwärtigen, die im Hinblick auf das Thema Buchkultur für Orient und Okzident gleichermassen von hoher Relevanz sind: Das Jahr 835 und das Jahr 1456. Das erstgenannte Jahr ist für die Geschichte des Buchs in China von grosser Bedeutung. Wir finden für dieses Jahr die erste literarische Erwähnung einer Druckerei in der chinesischen Provinz Sichuan.1 Der älteste chinesische Blockdruck, der erhalten geblieben ist, stammt aus dem Jahr 868. Nach 1040 wurden in China chinesische Texte mit beweglichen Lettern gedruckt, fünfhundert Jahre früher als in Europa.2 Die Technik des Buchdrucks verbreitete sich rasch in China und den angrenzenden Gebieten. So wurde der erste bekannte Blockdruck der Mongolen in uigurischer Schrift und mongolischer Sprache 1312 in einer Druckerei der damaligen Hauptstadt des mongolischen Yuan-Reichs, Dayidu (das heutige Beijing), hergestellt, und zwar in der stattlichen Auflage von 1000 Exemplaren.3 Erhalten geblieben ist davon lediglich ein Fragment eines einzigen Exemplars, das von einer der deutschen Turfan-Expeditionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Turfan-Oase nach Berlin verbracht wurde. Der Buchdruck wurde in Asien 700 Jahre vor Gutenberg erfunden, und er war zu einer Zeit verbreitet, in der in Europa die Skriptorien ihre 1 2 3
Vgl. Wolfram Eberhard: Geschichte Chinas. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1980, S. 244. Interessanterweise setzte sich diese Errungenschaft nicht in China, sondern ab dem 13. Jahrhundert in Korea durch, s. ebd., S. 244. György Kara: Blockdrucke und Handschriften. In: Walther Heissig, Claudius C. Müller (Hg.): Die Mongolen. Begleitband anlässlich der Ausstellung des Staatlichen Museums für Völkerkunde München, 22. März – 28. Mai 1989. 2 Bde. Innsbruck/ Frankfurt a.M. 1989, Bd. 2, S. 250-253, hier S. 250.
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Blütezeit hatten. Schon aus diesem historischen Grund, so erscheint es mir, gebührt einem Beitrag, der die Buchkultur in Asien thematisiert, tatsächlich ein Platz am Anfang dieser Sektion. Ich werde mich im Folgenden auf zwei unterschiedliche Aspekte der Buchkultur im buddhistischen Zentralasien konzentrieren, die jedoch nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Zum einen sollen Aspekte der Schriftlichkeit und des Buchdrucks, zum anderen die Bedeutung des Buchs für die religiösen Kulturen im buddhistischen Zentralasien behandelt werden. Vorab muss bemerkt werden, dass ›Zentralasien‹4 weder genau in seinen geographischen Grenzen definiert ist noch linguistische und kulturelle Homogenität besitzt. Für das buddhistische Zentralasien können wir zwar ab dem 16. Jahrhundert tatsächlich von einem gemeinsamen tibeto-mongolischen kulturellen Raum sprechen, der vom Himalaya bis zur unteren Wolga (in die heutige kalmückische Republik) reichte und durch die gemeinsame Religion, den tibeto-mongolischen Buddhismus, eine gewisse kulturelle Homogenität besass. Linguistisch haben wir es jedoch mit zwei völlig verschiedenen Sprachräumen zu tun, die keinerlei Verwandtschaft zueinander aufweisen. Schriftlichkeit hat sich in Tibet und der Mongolei zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen sozio-kulturellen und politischen Bedingungen entwickelt. Ich werde daher in einem ersten Abschnitt meines Beitrags dieser Diversität Rechnung tragen und die Entwicklung Tibets und der Mongolei zu Gesellschaften, in denen Schriftlichkeit eine überragende Rolle spielte, getrennt behandeln. Der zweite Abschnitt ist technischen Bemerkungen zur Kunst des Schreibens, Schreibutensilien, Buchformaten und natürlich der Technik des Buchdrucks gewidmet. In Bezug auf den Buchdruck bestehen nur wenige Unterschiede zwischen Tibet und der Mongolei. Häufig lässt sich die Provenienz eines in tibetischer Sprache gedruckten Buches, wenn ein Druckvermerk fehlt, nicht zweifelsfrei bestimmen: Es könnte in Tibet, der Mongolei oder auch in China gedruckt worden sein.5 Im dritten Abschnitt meiner Ausführungen werde ich auf die eingangs genannte Frage nach der Relevanz des Buchs in den tibetischen und mongolischen Gesellschaften der Vormoderne eingehen. 4
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Hier ist lediglich die Rede vom ›buddhistischen‹ Zentralasien, das wiederum nur ein Teilgebiet der riesigen Landmasse, die gemeinhin mit dem Begriff bezeichnet wird, ausmacht. Unter ›Zentralasien‹, im Russischen auch häufig ›Mittelasien‹ genannt, werden heute vornehmlich die verschiedenen islamischen Länder der GUS subsumiert, die vor dem Zusammenbruch des Sowjetreichs Teilrepubliken der UdSSR bildeten. Zuweilen gibt die Herkunft des Papiers einen Hinweis. Ab dem 19. Jahrhundert wurde in der Mongolei vermehrt russisches Papier verwendet.
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I. Die Entstehung von Schriftlichkeit in Tibet Die Anfänge der Schriftlichkeit sind in Tibet mit dem Namen Srongbtsan-sgam-po 6 verbunden, dem ersten historisch fassbaren Herrscher der tibetischen Yar-lung-Dynastie in Zentraltibet, der von ungefähr 629 bis 649 unserer Zeitrechnung regierte. Der Legende nach erbat er sich vom chinesischen Kaiser im Jahr 648 Papier und Tusche, und zugleich entsandte er seinen Minister nach Indien mit dem Auftrag, eine Schrift für die tibetische Sprache mitzubringen.7 Das tibetische Alphabet besteht aus insgesamt zweiunddreissig Konsonanten, die zusammen mit dem Vokal a ausgesprochen werden. Es handelt sich also genaugenommen um eine Silbenschrift. Die Vokale i, u, e und o werden über oder unter die Konsonanten geschrieben. Die damals wahrscheinlich aus der nordwest-indischen Gupta-Schrift entwickelte Schrift ist bis heute unverändert im Gebrauch, ebenso wie die Orthographie, die im 7. Jahrhundert festgelegt wurde und die heutige Sprache in ihrem Lautwert schon längst nicht mehr wiedergibt. Das Tibetische kennt nicht nur eine Schriftart, sondern mehrere, so z.B. die dbu can (›mit Kopf‹) genannte (Abb. 23), deren man sich vor allem im Buchdruck bedient, die dbu med (›ohne Kopf‹), die sowohl im Druck als auch handschriftlich verwendet wird, oder die `khyug yig (›schnelle Schrift‹), die sowohl privatem als auch offiziellem handschriftlichem Schriftverkehr vorbehalten ist. 8 Es ist keineswegs historische Zufälligkeit, dass sich in Tibet der Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit in der Periode der Etablierung des tibetischen Grossreichs vollzog, eines Reichs, das anderthalb Jahrhunderte später auf dem Höhepunkt seiner Macht die umliegenden Himalaya-Länder, Teile Ost- und Westturkestans und Chinas erobert hatte sowie seine militärische Präsenz bis nach Westasien ausgedehnt hatte, wo es mit den vordringenden Arabern in militärischen
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Zur Umschreibung des Tibetischen benutze ich Turrell V. Wylie: A Standard System of Tibetan Transcription. In: Harvard Journal of Asiatic Studies 22 (1959), S. 261-276. Die Wiedergabe des Mongolischen folgt einer vereinfachten Umschrift: Für das hinterv vokalische wird gh verwendet, und j werden ohne Haek wiedergegeben. Das Sanskrit wird nach den international gültigen Regeln transliteriert. Der tibetische Gelehrte `Gos lo ts ba gZhon nu dpal berichtet in seinem 1478 verfassten Werk Deb ther sngon po, den Blauen Annalen, ausführlich über die Entsendung des Ministers und die Entwicklung der tibetischen Schrift, s. `Gos lo tsa ba gZhon nu dpal: Deb ther sngon po. 1478. Neudruck in 2 Bden. Beijing 1984, Bd. 1, S. 64-65. Natürlich gibt es neben den wenigen hier aufgeführten noch weitere Schriftarten.
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Kontakt kam.9 Spätere buddhistische Historiographen wollen uns glauben machen, dass die Einführung der Schrift vor allem der frommen Absicht des tibetischen Herrschers entsprang, den Buddhismus mit Hilfe ins Tibetische übersetzter indischer Texte zu verbreiten. Srongbtsan-sgam-po verfolgte offensichtlich weniger hehre Ziele. Uns liegen eine Reihe von Quellen vor, die einen ganz anderen Gebrauch der Schrift belegen.
II. Die Textfunde aus Dunhuang Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten zwei Forscher, Paul Pelliot und Sir Aurel Stein, in Dunhuang in Ostturkestan, neben buddhistischen Tempeln und Heiligtümern auch zugemauerte Höhlen, die sich als riesige ›Friedhöfe‹ für gebrauchte und später aussortierte Texte erwiesen. Die Höhlen, die im späten 10. Jahrhundert zugemauert wurden, enthielten Textdokumente in nicht weniger als 24 verschiedenen Sprachen, u.a. auch in Alt-Tibetisch. Dunhuang war im 8. und 9. Jahrhundert ein militärischer Posten der tibetischen Truppen, die Ostturkestan besetzt hielten. Unter den in alttibetischer Sprache verfassten Texten und Textfragmenten fanden sich zwar auch Texte mit buddhistischem Inhalt, die Mehrheit der Texte war jedoch säkularer Natur: Annalen, administrative Dokumente, Bruchstücke von Gesetzestexten. Es fanden sich auch Holzstücke, die von den Soldaten benutzt wurden, um Botschaften oder Nachrichten niederzuschreiben. Die Rückseite von nicht mehr gebrauchten Textdokumenten wurde von den Soldaten für Schreibübungen verwendet. Diese mehrfach benutzten Fragmente bezeugen nicht nur den grossen materiellen Wert des verwendeten Schreibmaterials, sondern deuten auch darauf hin, dass Schriftlichkeit im 8./9. Jahrhundert keineswegs auf die kulturellen Eliten beschränkt war. Entgegen den Aussagen tibetischer Historiker bezeugen die Textfunde von Dunhuang, dass die ersten tibetischen Texte nicht religiösen Inhalts waren, sondern Gesetzestexte. Den engen Zusammenhang zwischen Schrift und innerer politischer Ordnung bestätigen die Blauen Annalen aus dem 15. Jahrhundert:
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Zur Geschichte des tibetischen Grossreichs s. Christopher Beckwith: The Tibetan Empire in Central Asia. A History of the Struggle for Great Power among Tibetans, Turks, Arabs, and Chinese during the Early Middle Ages. Princeton 1987.
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[Der König] lehrte seine Untertanen in angenehmer Weise das gute Gesetz zusammen mit den Bestrafungen für Mord, Diebstahl und Ehebruch [sowie] den Gebrauch der Schrift und der sechzehn weltlichen Regeln. 10
In den in Dunhuang gefundenen tibetischen Annalen wird das Jahr 65511 für die schriftliche Fixierung eines Gesetzescodex in tibetischer Sprache und der gerade erst neu entwickelten Schrift genannt.
III. Die Entwicklung der tibetischen Literatur Ab dem späten 10. Jahrhundert setzte eine ungeheure literarische Produktivität in Tibet ein, die dazu führte, dass Schriftlichkeit bis zu einem bestimmten Mass Oralität in Tibet ablöste. Um das Verhältnis zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Tibet zu bestimmen, müssen wir jedoch dreierlei bedenken: 1. Die mündliche Tradierung von Texten erstreckte sich nicht nur auf die sogenannten ›klassischen‹ Bereiche mündlicher Literatur, das Epos, Märchen, Volkslieder usw., sondern auch auf Bereiche wie die Politik und die Gesetzgebung. Das gleiche gilt für die Mongolei im 13. Jahrhundert: Bei den Mongolen wurde z.B. das Gewohnheitsrecht über Jahrhunderte hinweg mündlich tradiert. 2. Neben und zusammen mit Schriftlichkeit spielte die mündliche Überlieferung auch weiterhin eine prominente Rolle in der Tradierung kultureller Formen, da die Lehren des tantrischen Buddhismus, die in Tibet besonders verbreitet sind, prinzipiell mündlich tradiert werden, gerade auch unter den religiös-kulturellen Eliten. Neben dem Textstudium kommt daher der mündlichen Belehrung ein sehr hoher religiöser Stellenwert zu. 3. Ein grosser Teil der tibetischen Bevölkerung war illiterat. Dies bedeutete, dass die kulturellen Eliten auf Mittel der Oralität und der Visualität zurückgreifen mussten, um sozio-kulturell und religiös relevantes Wissen zu vermitteln. Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit lässt sich damit nicht als ein diachrones beschreiben, sondern beide Formen von Textproduktion und Wissenstradierung bestehen synchron bis in die Moderne, wobei der Schriftlichkeit eindeutig die dominante Position zukommt. Ich habe eben erwähnt, dass die Textproduktion ab dem 10. Jahrhundert förmlich explodierte. Was waren das für Texte, die Tibet in eine Gesellschaft transformierten, in der dem Buch eine ausserordentlich dominante Rolle sowohl für die Wissensvermittlung als auch als 10 `Gos lo tsa ba gZhon nu dpal: Deb ther sngon po [Anm. 7], S. 65. 11 Ein ähnliches Datum für den ersten Gebrauch der tibetischen Schrift, das Jahr 648, wird in chinesischen Quellen genannt.
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Objekt religiöser Verehrung zukam? Unsere Kenntnis der tibetischen Literatur ist leider immer noch recht einseitig und bruchstückhaft. Vor allem ist sie von der Vorgabe bestimmt, dass wir es hier mit ausschliesslich religiöser Literatur zu tun haben. Diese Vorgabe hat dazu geführt, dass ein quantitativ grosser Teil tibetischen literarischen Schaffens überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden ist, so z.B. die in den Klosterarchiven aufbewahrten Urkunden und Schriftstücke, die die Entwicklung der Klöster als wirtschaftliche, politische und religiöse Einheiten über Jahrhunderte hinweg minutiös dokumentieren und historische Quellen von unschätzbarem Wert darstellen.12 Die einseitige Bestandsaufnahme tibetischer Literatur ist jedoch vor allem dem ›orientalistischen‹ Blick der ersten Tibetologinnen und Tibetologen zu verdanken, die am buddhistischen Schrifttum interessiert waren und fast ausschliesslich buddhistische Texte aus dem Tibetischen übersetzten. Darüber hinaus ist die tibetische Literatur selbst zweifellos charakterisiert durch eine gewisse Fokussierung auf die Religion. Dies rührt teilweise daher, dass in Tibet die Klöster in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht mächtige Institutionen darstellten und deshalb die kulturelle Elite des Landes in der Mehrzahl zugleich die religiöse Elite war. Nichtsdestotrotz verfolgten jedoch die geistlichen Würdenträger der verschiedenen tibetisch-buddhistischen Lehrtraditionen durchaus auch säkulare geistige Interessen. Diese spiegeln sich sogar in den Curricula der klösterlichen Ausbildung wieder. Neben den religiösen Eliten bildete sich ein säkularer Adelsstand heraus, der eine auf den säkularen Wissenstraditionen basierende Ausbildung erhielt, oft literarisch hochgebildet war und selbständig schöngeistige Literatur verfasste. Es gibt keinen tibetischen Begriff, der mit ›Literatur‹, hier verstanden im weitesten Sinne als jede Form schriftlicher Aufzeichnung, korrespondiert. Am ehesten könnte man hier tib. rig gnas, eine Abkürzung der Phrase rig gnas gyi gzhung, nennen, was soviel heisst wie ›Text des kulturellen Wissens‹. Rig gnas kann mit ›kulturelles Wissen‹ übersetzt werden, aber in einem didaktischen Sinn: Literatur im tibetischen kulturellen Kontext wird funktional definiert als diejenigen Texte, deren Studium die Art von Wissen beziehungsweise Erkenntnis verspricht, die sich zu besitzen lohnt. Ein Wissen, das sich zu besitzen lohnt, ist ein Wissen, das zu einer positiven ethischen Veränderung (natürlich im
12 S. Dieter Schuh: Das Archiv des Klosters bKra-sis-bsam-gtan-gli von sKyid-gro. 1. Teil: Urkunden zur Klosterordnung, grundlegende Rechtsdokumente und demographisch bedeutsame Dokumente, Findbücher. Bonn 1988 (Monumenta Tibetica Historica, Abt. 3: Diplomata et epistolae; 6).
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buddhistischen Sinne) führt.13 Innerhalb des hier skizzierten übergeordneten Bezugsrahmens von ›kulturellem Wissen‹ gibt es verschiedene innertibetische Einteilungen von Literatur.14 ›Kulturelles Wissen‹ wird in die beiden grossen Bereiche der ›fünf untergeordneten Wissensgebiete‹15 und der ›fünf hauptsächlichen Wissensgebiete‹ unterteilt. Zu den erstgenannten gehören unter anderem die Poesie, das Drama und die Lexikographie, zu den letztgenannten werden Grammatik, Logik, die Wissenschaft von der Heilkunst (Medizin, Astrologie und Divination), das Ingenieurwesen (Physik, Architektur, Malerei, Steinmetzkunst) und das ›Wissen hinsichtlich der Inneren Bedeutung‹ (tib. nang don rig pa), d.h. das Studium der Lehre des Buddha, gerechnet. Tibetische Texte, ob sie nun der Übersetzungsliteratur aus dem Sanskrit und anderen Sprachen angehörten oder von den einheimischen Eliten abgefasst wurden, wurden in solchen und ähnlichen Kategorien geordnet. Die Tibeter müssen schon sehr früh ein Bedürfnis nach Ordnung und Übersicht entwickelt haben, denn sie legten Listen an, die die Titel verschiedener Texte nach Gruppen geordnet aufführten und oft auch text- und quellenkritische Angaben enthielten. Die früheste derartige Liste stammt aus dem 9. Jahrhundert.
IV. Die Einführung des Blockdrucks in Tibet Der Buchdruck bzw. genauer Blockdruck war in Tibet durch chinesische Vermittlung schon sehr früh bekannt. Der älteste tibetische Blockdruck stammt aus dem 9. Jahrhundert und wurde in Turfan in Ostturkestan gefunden. Bis zum frühen 15. Jahrhundert wurde der Druck als Möglichkeit der Textvervielfältigung jedoch nur selten eingesetzt. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Ich nehme an, die sparsame Anwendung der Blockdrucktechnik lag an ihren hohen Herstellungskosten. Holz war, zumindest in Zentraltibet, rar, musste über weite Strekken transportiert werden und war daher sehr teuer. Papier hingegen wurde in Tibet selbst hergestellt. Erst nach dem 14. Jahrhundert können wir beobachten, dass die Technik des Blockdrucks in grösserem Umfang angewandt wurde, sicherlich inspiriert durch die Zusammenstel13 Tibet ist nicht die einzige asiatische Gesellschaft, die Literatur in diesem didaktischen Sinne definiert. In China wurde Literatur als ein Medium ›für die moralische Unterweisung‹ angesehen. 14 Solche emischen Kategorisierungen von Literatur existieren natürlich ebenso in der Mongolei. Auf sie kann hier jedoch aus Gründen des limitierten Umfangs des Beitrags nicht eingegangen werden. 15 Tib. rig pa kann auch als ›Wissenschaft‹ übersetzt werden.
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lung der beiden grossen ›kanonischen‹ Textsammlungen Kanjur (bKa‘ `gyur), das Wort des Buddha, und Tanjur (bsTan `gyur), der Kommentarliteratur zum Kanjur. Der erste Druck des Kanjur mit einem Umfang von 100 Bänden mit mehr als 1000 Einzelwerken wurde 1410 in Beijing durchgeführt, auf Veranlassung des Yung-lo Kaisers der chinesischen Ming-Dynastie. Es folgten in kurzen Abständen weitere KanjurDrucke in China. Erst in den Jahren 1730 bis 1732 wurde der erste Kanjur in sNar thang in Westtibet gedruckt, dem der Druck des Tanjur 1742 in insgesamt 225 Bänden folgte. Die gesamte riesige Textproduktion wurde in Tibet von speziell dafür ausgebildeten Schreibern immer wieder abgeschrieben und ab dem 15. Jahrhundert auch gedruckt. Die Texte zirkulierten zwischen den einzelnen Klöstern und Privathäusern. Weder in Tibet noch in der Mongolei gab es Bibliotheken in unserem Sinne. Die Bücher befanden sich entweder in Kloster- oder Privatbesitz und wurden dort bei Bedarf weitergereicht. ›Bedarf‹ bedeutete im tibeto-mongolischen Kontext meistens rituell-performativen Bedarf, nicht so sehr Lektürebedarf zwecks Erkenntnisgewinn. Da dem geschriebenen und gedruckten Wort eine grosse religiöse Bedeutung zukam, genossen Bücher als äusserliche ›Stützen der Buddha-Lehre‹ eine ausserordentliche Hochschätzung in allen Bevölkerungsschichten. Die Distribution von Manuskripten und Blockdrucken von einem Ort zum anderen benötigte Zeit, ein Faktum, das uns in einer Zeit, in der man grosse Strecken mit dem Flugzeug zurücklegt, gar nicht mehr bewusst ist. Tibet ist ein Bergland, die Distanzen zwischen einzelnen Orten sind gross und wegen der Unwegsamkeit des Landes schwer zu bewältigen. Manuskripte und Blockdrucke, oft auch die Druckstöcke, wurden meistens auf dem Rücken von Yaks transportiert, ein zeitaufwendiges Unternehmen, weil sich Yaks nicht so zügig wie ein europäisches Postauto von Ort zu Ort bewegen. Sie sind im Gegenteil als störrische und eigenwillige Tiere bekannt.
V. Die Entwicklung von Schriftlichkeit in der Mongolei Ebenso wie in Tibet stand die Einführung einer Schrift in engem Zusammenhang mit der politischen Situation in der Mongolei. In den offiziellen Annalen der chinesischen Yuan-Dynastie wird berichtet, dass Chinggis Qan im Jahr 1204 einem gefangenen gebildeten Literaten der türkischen Naiman befahl, die uigurische Schrift für die mongolische Sprache zu benutzen. In dem ältesten literarischen Werk der Mongolen, der sogenannten Geheimen Geschichte der Mongolen, heisst es wieder-
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um, dass Chinggis Qan im Jahr 1206 seinem Adoptivbruder Shigi Qutughtu befahl, die von ihm erlassenen Gesetze und Edikte in blauer Schrift auf weissem Papier aufzuschreiben und in Buchform zu binden. Dieses sogenannte Blaue Buch sollte als normative Handlungsanleitung für künftige Generationen dienen. Es ist nicht überliefert worden, und wir wissen nicht, ob es je existierte. Die uigurische Schrift, in der das Mongolische, das zur Gruppe der ural-altaischen Sprachen gehört, verschriftet wurde, hat sich aus einem nordsemitischen Alphabet entwickelt, das in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung durch die indoeuropäischen Sogder nach Zentralasien importiert wurde. Über mehrere Stadien wurde diese Schrift weiterentwickelt. Sie wurde im 6. und 7. Jahrhundert für alttürkische Texte verwendet und danach von den Uiguren, ebenfalls einem Turkvolk, benutzt. Schliesslich wurde sie für das Mongolische modifiziert. Zuerst von rechts nach links und waagrecht geschrieben, schrieb man sie ab dem 9. Jahrhundert senkrecht von links nach rechts (Abb. 24). Im 13. Jahrhundert lernten die Mongolen den Buddhismus kennen. Auch hier waren die Uiguren noch vor den Tibetern die ersten Vermittler dieser den Mongolen unbekannten Religion. Der Buddhismus stiess bei den mongolischen Eliten auf Interesse, und schon bald begann eine rege Übersetzungstätigkeit buddhistischer Schriften, zuerst aus dem Uigurischen, später aus dem Tibetischen. Wie schon eingangs erwähnt, wurde zur Distribution der buddhistischen Texte vermehrt das Blockdruckverfahren eingesetzt, im Gegensatz zu Tibet. Dies wird in frühen mongolischen Chroniken des 17. Jahrhunderts bestätigt, so z.B. im Erdeni tunumal neretü sudur, dem »Stra genannt ›edelsteingleiche Klarheit‹«, in dem es heisst: Der unvergleichliche, Qayisan 16 genannte, Külüg qaghan, wurde [...] geboren, der viele der erhabenen Lehren durch den allwissenden Mönch Chos kyi `od zer Lama17 ins Mongolische übertragen liess, der Druckplatten schneidend, sie verteilen und verbreiten liess. 18 16 Ein Herrscher der mongolischen Yuan-Dynastie. Er regierte von 1307 bis 1311. 17 Wohl der berühmteste Übersetzer seiner Zeit. Nach dem tibetischen doxographischen Werk Grub mtha‘ shel gyi me long, Kapitel Hor li shambha la rnams su grub mtha‘ byung tshul grub don bshad par mjug bsdu ba dang bcas pa, Bl. 4v4-5, begab er sich während der Regierungszeit des Temür Öljeitü (1294-1307), des Enkels des berühmten Khubilai Qaghan, in die Mongolei und entfaltete seine Tätigkeit vornehmlich während der Regierung des Qayisan külüg. 18 Erdeni tunumal neretü sudur. Kopie der in der Bibliothek des Instituts für Geschichte und Literatur der Innermongolischen Akademie der Gesellschaftswissenschaften, Hohot, Innere Mongolei, VR China, aufbewahrten Handschrift, Bl. 2r13-16. Vgl. Karénina Kollmar-Paulenz: Erdeni tunumal neretü sudur. Die Biographie des Altan qaan der Tümed-Mongolen. Ein Beitrag zur Geschichte der religionspolitischen Beziehungen
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Ich vermute, dass der vermehrte Einsatz der Drucktechnik in der Mongolei zum einen daran lag, dass das mongolische Teilreich sein kulturelles Zentrum in Nordchina hatte, wo der Buchdruck seit Jahrhunderten eine Selbstverständlichkeit des kulturellen Lebens darstellte. Zum anderen standen dem mongolischen Reich grössere materielle Ressourcen zur Verfügung, durch die Steuern und Tribute, die sie den von ihnen unterworfenen Gebieten auferlegten. Der Blockdruck war eine kostspielige Angelegenheit, wie ich weiter unten noch zeigen werde. Schriftlichkeit spielte in der Mongolei nach 1240 eine hervorragende Rolle für die administrative Funktionsfähigkeit des Reichs. Die hauptsächlichen Zentren des mongolischen Weltreichs waren denn auch die Verwaltungsbüros, in denen administrative und juristische Dokumente verfasst und aufbewahrt wurden. Wir wissen nichts Genaues über die Alphabetisierungsrate in der Mongolei des 13. und 14. Jahrhunderts, können jedoch vermuten, dass nicht nur die Eliten, sondern auch einfache Soldaten des Lesens und Schreibens kundig waren. In der Turfan-Oase wurden mongolische Dokumente aus dem 14./15. Jahrhundert gefunden, die Briefe, militärische Anordnungen, Kalender und Teile des Alexanderromans enthielten. Der letztgenannte diente sicherlich zur Unterhaltung der Truppen. Es gab ›Yurten-Schulen‹, in denen die Kinder der Steppenaristokratie und die für die staatliche Bürokratie benötigten Nachwuchskräfte ausgebildet wurden.19 Literarität war offensichtlich nicht nur auf die Oberschichten beschränkt. Erst zum Ausgang des 16. Jahrhunderts, mit der flächendeckenden, endgültigen Bekehrung der mongolischen Völkerschaften zum tibetischen Buddhismus, wurden die Klöster wie in Tibet zu literarischen Zentren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden in mongolischen Klöstern zwischen 45 und 60 Prozent der männlichen Bevölkerung ausgebildet, die jedoch nicht in den Klöstern blieben, sondern nach ihrer Ausbildung in ihren Ayil20 zurückkehrten und ihr Leben als viehzüchtende Nomaden wieder aufnahmen.
zwischen der Mongolei und Tibet im ausgehenden 16. Jahrhundert. Wiesbaden 2001 (Asiatische Forschungen; 142), S. 151 u. S. 223. Die Angabe wird bestätigt im Jirükenü tolta-yin tayilburi, dem zwischen 1727 und 1736 von dem bsTan √dzin grags pa der Üjümücin verfassten Kommentar zum Jirüken-ü tolta des Chos kyi `od zer vom Beginn des 14. Jahrhunderts. Vgl. P. B. Baldan apov (Hg.): Jirüken-ü tolta-yin tayilburi. Mongol’skoe grammatieskoe soinenie XVIII veka. Ulan-Ude 1962 (Akademija Nauk SSSR, sibirskoe otdelenie, Burjatskij kompleksnyj Nauno-issledovatel’skij Institut), S. 41 (Bl. 7r2-9). 19 Erika Taube u. Manfred Taube: Schamanen und Rhapsoden. Die geistige Kultur der alten Mongolei. Wien 1983, S. 228. 20 Eine Yurtensiedlung.
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Die Technik des Buchdrucks wurde, mit Unterbrechungen, in der Mongolei des späten 13. Jahrhunderts bis zum Ende des 14. Jahrhunderts und dann wieder ab dem Ende des 16. Jahrhunderts eingesetzt. Der älteste erhaltene mongolische Blockdruck stammt aus der späten YuanZeit.21 Wie in Tibet löste der Buchdruck keineswegs die Handschriften ab, sondern Handschriften und Blockdrucke wurden gleichermassen geschätzt und genutzt bis ins 20. Jahrhundert hinein.
VI. Schreibutensilien in Tibet und der Mongolei Geschrieben wurde in Tibet mit Federn (tib. smyug gu), die meistens aus Bambus geschnitzt waren. Sie sind vorne gespalten und schräg abgeschnitten. Da Bambus importiert werden musste, waren Federn teuer. In der Mongolei wurde häufig mit der Schilfrohrfeder (mong. qulusun bir) und mit dem Pinsel geschrieben. Tusche wurde aus Russ hergestellt, der aus Yakmist, Öl oder Kiefernholz gewonnen wurde. Leim22 diente hierbei als Bindemittel. Die Tusche wurde in feste Kügelchen oder Würfel geformt, die man in Wasser legte und sie auf diese Weise verflüssigte. Es gab (und gibt heute noch) sehr kostbare Tuschen aus Gold, Silber, Kupfer, Türkis und Koralle. Sie werden durch Verreiben dieser Substanzen mit Leim hergestellt. Man schrieb in Tibet und der Mongolei im Sitzen, indem man das Blatt auf die Knie legte. Ein längerer Text wurde auf einer Holztafel vorgeschrieben, die mit einer Schicht Fett und darüber mit Asche oder Kalk eingerieben war, so dass sich Fehler leicht verbessern liessen. Solche Tafeln dienten auch Kindern zum Schreibenlernen. Benutzt wurde von Anfang an Papier (tib. shog bu). In Miran in Zentralasien wurden zwar einige wenige tibetische Dokumente auf Holz gefunden, aber diese stellten eine Ausnahme dar, wenn kein Papier zur Verfügung stand. Papier wurde zuerst wahrscheinlich aus China importiert, aber schon sehr früh in Tibet selbst hergestellt.23 Bis zum 17. Jahrhundert wurde, besonders in der Mongolei, häufig auf Birkenbast geschrieben. In Tibet wurden auf diesem Papier nur kurze Texte verfasst, wie Mantras oder Gebete. In der Mongolei hat 21 Vgl. Walther Heissig: Die Pekinger lamaistischen Blockdrucke in mongolischer Sprache. Materialien zur mongolischen Literaturgeschichte. Wiesbaden 1954 (Göttinger Asiatische Forschungen; 2), S. 7, Abb. 4 gegenüber S. 8. 22 Leim wurde durch das Auskochen von Tierhäuten gewonnen. 23 Auf die Papierherstellung kann ich hier nicht weiter eingehen. Eine ausführliche Beschreibung gibt Günter Grönbold: Die Schrift- und Buchkultur Tibets. In: Claudius C. Müller, Walter Raunig (Hg.): Der Weg zum Dach der Welt. Innsbruch/ Frankfurt a.M. o.J., S. 365-368.
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man 1970 eine grosse Anzahl von buddhistischen Texten in mongolischer und tibetischer Sprache gefunden, die zum Grossteil auf Birkenbast geschrieben und in der Mehrzahl um das Jahr 1600 verfasst worden sind.
VII. Tibetische und mongolische Buchformate Das älteste tibetische Buchformat (aus dem 8./9. Jahrhundert) ist die thang yig genannte Rolle, die aus China übernommen wurde, als das Kanzleiwesen nach chinesischem Vorbild organisiert wurde. Solche Rollen, die entweder aus aneinandergeklebten Blättern oder aus Seide bestehen, wurden bis in die Moderne für offizielle Dokumente und Urkunden benutzt. Das bekannteste Buchformat ist jedoch das im Tibetischen dpe cha genannte, das aus Indien nach Tibet und in die Mongolei übernommen worden ist: schmale, längliche einzelne Blätter, beidseitig beschrieben oder bedruckt, die zwischen zwei Holzdeckeln liegen (Abb. 25). In alten Texten findet man links oben oft ein rundes Loch, ein Überbleibsel der Methode, eine Schnur durch die Holzdeckel und die einzelnen Blätter zu ziehen, die das Ganze zusammenhält. In tibetischen Handschriften werden häufig die Zeilen, unter die die Buchstaben geschrieben werden, mit feinen Linien vorgezeichnet. Rechts und links des Schriftspiegels finden sich meistens zwei Begrenzungslinien, oft in roter Farbe ausgeführt. Die Seitennumerierung erfolgt auf der Vorderseite des Blattes am linken Rand, parallel zur Schmalseite. Sie wird in Tibet fast ausschliesslich in Zahlwörtern wiedergegeben, sehr selten in Ziffern. In der Mongolei wird die Zahl auf der Vorderseite ausgeschrieben, während auf der Rückseite des Blattes oft die Ziffer gegeben wird. In den Klöstern werden die Bücher, in Stoff eingewikkelt, der Länge nach in Regale hineingeschoben. An der sichtbaren Schmalseite wird ein Zettel aus Stoff angebracht, auf dem der Kurztitel des Werks und die Bandnummer verzeichnet sind, wenn es sich um eine Gesamtausgabe handelt. Die Bandnummer verläuft nach den Buchstaben des tibetischen Alphabets. Besonders eindrucksvoll sind die mongolischen Blockdrucke aus der Qing-Zeit (17.-19. Jahrhundert), die in Beijing gedruckt wurden. Sie sind grossformatig, die ersten beiden Seiten rot gedruckt und mit roten oder blauen Ornamenten am Rand verziert. Es gibt auch Prachthandschriften und Drucke, die in limitierter Auflage auf dunkelblau oder schwarz gefärbtem Papier gedruckt wurden, mit Gold, Silber oder anderen ›Juwelenfarben‹ geschrieben.
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Die Mongolen kennen weitere Buchformate. Das Faltbuch, das in Fragmenten schon aus dem 14. Jahrhundert bekannt ist, wurde wohl häufig in der inneren Mongolei im 19. Jahrhundert gebraucht. Dieses Format scheint besonders beliebt gewesen zu sein bei den sogenannten badarci, den Wandermönchen, die von Yurte zu Yurte in der Steppe zogen und den Nomaden ihre religiösen Dienste anboten. Die Texte, die sie bei sich trugen, waren kleinformatig und die einzelnen Seiten waren aneinandergeklebt, so dass sich der gesamte Text wie eine Ziehharmonika auseinanderfalten liess. Sie waren für die Reise gut geeignet. Ein zweites recht beliebtes Format waren die Doppelblatthefte, die wie lose gebundene Schulhefte aussehen. Dieses Format haben die katholischen Missionare der Scheuter Mission für ihre christlichen Traktate in mongolischer Sprache bevorzugt.24
VIII. Der Blockdruck: Herstellungsverfahren Wie wird ein Blockdruck angefertigt? Am Beginn der Herstellung eines Druckstocks steht die Schreibtätigkeit. Der Text wird einseitig, nicht beidseitig, auf Papier geschrieben. Die Schriftseite des Blattes wird dann mit Stärkekleister auf ein vorbereitetes Holzbrett aufgeklebt und einige Zeit lang feucht gehalten. Die bevorzugten Holzarten waren Birke, Hasel- und Walnussbaum. Durch die Feuchtigkeit nehmen die Poren des Holzes die Russpartikel der Tusche in sich auf. Ist dies geschehen, wird das Papier entfernt und der Text steht nun spiegelverkehrt auf dem Holz. Nun kann der Druckstockschneider (tib. par rkos pa) mit seiner Arbeit beginnen: Er schnitzt alles Holz weg, das die Schriftzeichen umgibt, so dass diese schliesslich im Relief und als Negativ, im Spiegelbild, stehenbleiben. Wenn man nun auf diesen Druckstock, auf dem die Schriftzeichen spiegelbildlich verkehrt geschnitzt sind und nachdem man den Druckstock mit Tusche eingerieben hat, ein Blatt Papier drückt, erscheinen auf dem Papier die Schriftzeichen richtig herum. Auf diese Weise wird Blatt um Blatt hergestellt.
24 S. Karénina Kollmar-Paulenz u. Dorothea Heuschert-Laage: A Catalogue of the Tibetan, Mongolian and Manchu Collection of Block-Prints and Manuscripts Preserved at the University Library of the Catholic University of Leuven. Bonn 1998 (unveröffentlichtes Typoskript), S. 62-63. Vgl. auch Karénina Kollmar-Paulenz: The Tibetan and Mongolian Manuscripts and Block-Prints preserved in the Library of the Catholic University of Leuven. In: Ku Wie-ying (Hg.): Missionary Approaches and Linguistics in Mainland China and Taiwan. Leuven 2001 (Leuven Chinese Studies; 10), S. 253-265, hier S. 265.
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IX. Blockdruckschneider und Druckereien Blockdruckschneider waren gewöhnlich Laien-Buddhisten. Sie übten die Tätigkeit meistens als eigenen Beruf aus. Es kam jedoch auch vor, dass Bauern bzw. Leibeigene in ihrer Freizeit als Nebenerwerb Druckstöcke schnitten. Die Ausbildung zum hauptberuflichen Druckstockschneider war lang. Sie dauerte mindestens sechs Jahre und implizierte neben der reinen Schneidetechnik eine gründliche Ausbildung in Kalligraphie und Grammatik.25 Druckstockschneider waren von Steuerabgaben befreit,26 konnten jedoch für Staatsaufträge von der Regierung rekrutiert werden. In der sozialen Hierarchie sehr angesehen, rangierten sie direkt hinter den Thangkha-Malern. Das hieraus resultierende Selbstbewusstsein spiegelt sich in den Kolophonen der Werke wieder, in denen sich die Druckstockschneider oft mit Namen nennen. Wurde von einem reichen Gabenherrn, der in den meisten Fällen ebenfalls ein Laie war, einem Kloster ein grosser Druckauftrag erteilt, holte das Kloster die entsprechenden Fachleute. Für einen einzigen Druckstock des Kanjur, d.h. für beide Seiten, benötigte ein Druckstockschneider vier Tage. Für den gesamten Kanjur (sNar thang-Edition) wurden 800 Druckstockschneider anderthalb Jahre lang beschäftigt. Waren mehrere Druckstockschneider angestellt, wurde Arbeitsteilung betrieben. Bei sämtlichen geschnittenen Tafeln wurde sorgfältig Korrektur gelesen. Wenn Fehler bemerkt wurden, wurden sie entweder ausgeschnitten, oder bei grösseren Passagen wurde ein Holzstück mit dem korrigierten Text in die Holzplatte eingesetzt.27 Zuweilen wurde als Schneidevorlage der Abdruck eines anderen Blockdrucks genommen. Dies lässt sich oft relativ leicht durch einen Vergleich feststellen.28 Die fertiggestellten Druckstöcke wurden am Rand gekennzeichnet und in eigenen Lagerhallen aufbewahrt, die zu den Druckereien gehör25 Laut Auskunft eines Druckstockschneiders im indischen Exil musste jemand, der »ein Meister werden wollte, [...] mindestens noch zehn Jahre weiter üben«, s. Veronika Ronge: Das tibetische Handwerkertum vor 1959. Wiesbaden 1978 (Beiträge zur Südasienforschung. Südasien-Institut Universität Heidelberg; 43), S. 55. 26 Damit war natürlich auch von Regierungsseite ein Anreiz gegeben, den Beruf zu erlernen. Für den westtibetischen Ort sNye mo in der Nähe des Klosters sNar thang, das auch eine berühmte Druckerei besass, ist belegt, dass ein Zehntel der gesamten Bevölkerung vom Druckstockschneiden lebte, s. Ronge: Handwerkertum [Anm. 25], S. 120. 27 Zur Korrektur schon geschnittener Tafeln s. Ove K. Nordstrand: Some Notes on the Discoveries Made During the Restauration of a Mongolian Block-Print in the Royal Library, Copenhagen. In: Central Asiatic Journal 3 (1957/58), S. 256-266. 28 Zu satz- und textspiegelidentischen Blockdrucken s. Helmut Eimer: Satz- und textspiegelidentische Pekinger Blockdrucke in tibetischer Sprache. In: Zentralasiatische Studien 4 (1970), S. 429-442.
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ten. Für die Lhasa-Edition des Kanjur von 1930, die bei 100 Bänden insgesamt 48.184 Druckstöcke umfasste, war eine ganze Halle als Lagerraum notwendig. Die Druckereien waren oft den Klöstern angegliedert. Gedruckt wurde in Tibet und der Mongolei nur auf Bestellung, und nur im Sommer, da der gesamte Druckprozess im Freien ausgeführt wurde. Der Auftraggeber musste Geldmittel für Papier, Druckerschwärze und die Drucker zur Verfügung stellen. Das Drucken wurde von mehreren Leuten, Mönchen oder Laien, arbeitsteilig ausgeführt. Einer strich mit einem Filzpolster die Farbe auf, der nächste legte ein Blatt Papier darauf und drückte es mit einer Lederwalze fest an. Der Druck mehrbändiger Werke war entsprechend zeitaufwendig. So dauerte ein Kanjur-Druck ungefähr drei Monate und beschäftigte 45 Drucker. Wenn ein Band fertiggestellt war, wurden die Blätter zwischen zwei Holzdeckel gelegt, die oft aufwendig geschnitzt und bemalt waren. In Tibet spezialisierten sich die bekanntesten Druckereien auf bestimmte Texte. So wurden im Kloster `Bras spungs die gesammelten Werke der einzelnen Dalai Lamas gedruckt, während dPal spungs auf rNying ma pa-Werke spezialisiert war. Sehr berühmt war auch die Druckerei Zhol dpar khang direkt am Fuss des Potala.29 In der Mongolei war die Situation etwas anders. Während der Mandschu-Zeit wurden die meisten Blockdrucke nicht in der Mongolei, sondern in Beijing gedruckt. In der Mongolei selbst sind die Druckereien von Köke qota (Kuei-hua ch’eng), Caghan aghula-yin süme und Yeke küriye in Urga (dem heutigen Ulanbator) besonders bekannt, die seit dem 19. Jahrhundert in den Kolophonen buddhistischer Literatur belegt sind.30 Für Beijing sind in der Qing-Zeit allein sieben Druckereien belegt. Die berühmte Druckerei Fu dalai, die schon für die frühe Qing-Zeit belegt ist und auf mongolische buddhistische Blockdrucke spezialisiert war, befand sich ausserhalb des An-ting-men-Tores von Beijing. Von 1650 bis 1911 wurden in Beijing einschliesslich des mongolischen Kanons (Kanjur und Tanjur) 554 Werke gedruckt.31 Wir wissen allerdings nicht, wie hoch die Auflage der einzelnen Werke war. Häufig wird spekuliert, dass wegen der hohen Kosten stets nur wenige Abzüge auf Auftrag hin angefertigt wurden. Dies stimmt im Grossen und Ganzen mit dem Bestand tibetischer und mongolischer Blockdrukke in europäischen Bibliotheken überein. Andererseits sprechen auch 29 Grönbold: Schrift- und Buchkultur [Anm. 4], S. 368, nennt einen Aufsatz von J. van Manen, erschienen in: Journal and Proceedings of the Asiatic Society of Bengal NS 18, (1922), S. 472f., in dem 21 tibetische Druckereien aufgezählt werden. Der Aufsatz lag mir leider nicht vor. 30 Vgl. Heissig: Blockdrucke [Anm. 3], S. 1. 31 Vgl. ebd., S. 2, dort auch eine Aufstellung dieser Werke nach Literaturgattungen.
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Fakten für die gegenteilige These: Im Bernischen Historischen Museum befindet sich der vollständige Bestand der Bibliothek eines kleinen Klosters aus der Tschachar-Mongolei, der in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts von einem Schweizer Ethnographen erworben wurde. Bei den insgesamt 72 Texten (68 Blockdrucke, 4 Handschriften) handelt es sich um 51 mongolische und 21 tibetische Texte, die meisten von ihnen Pekinger Blockdrucke, zum Teil aus dem 18. Jahrhundert. Der Umfang dieser vollständig erhaltenen Klosterbibliothek lässt darauf schliessen, dass selbst kleinere, unbedeutendere Klöster oft zwischen 50 und 100 Blockdrucke besassen. Allein in der Inneren Mongolei gab es noch in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts 1243 Klöster.32 Rechnet man die Zahl von 50 Blockdrucken auf diese Zahl hoch, kommt man auf die stattliche Summe von 62.150 Blockdrucken! Selbst bei einer angenommenen Menge von 20 Blockdrucken pro Kloster kommen wir immer noch auf die Zahl von 24.860 Blockdrucken. Darüber hinaus ist ebenfalls bekannt, dass sich in tibetischen und mongolischen Bibliotheken noch eine Vielzahl nicht katalogisierter Texte befindet, so dass wir in Zukunft wohl noch mit mancher Überraschung rechnen können.33 Heinrich Harrer, der sich sieben Jahre lang in Tibet aufhielt, stellte fest, dass man »in jedem wohlhabenden Haus [...] sowohl die sämtlichen Bände der tibetischen Bibel, als auch die zweihundertvierzig Bände ihrer Auslegung« fände.34 Sollte diese Beobachtung korrekt sein, dann fragt man sich, wo diese ganzen Kanon-Ausgaben geblieben sind? Eine permanente Gefahr für die Druckereien war Feuer. Wenn die Druckstöcke einer Druckerei einem Brand zum Opfer fielen, bedeutete das die Vernichtung ihrer Existenzgrundlage. Wollte jemand einen bestimmten Text erwerben, wandte er sich an einen Drucker, der zugleich auch Buchhändler war. Dieser veranlasste den Druck des gewünschten Werks. Die Kommerzialisierung des Druckwesens belegt die Werbeanzeige einer chinesischen Druckerei, 32 Diese Zahlen werden in der Einleitung zur Übersicht der Klöster und Tempel im JirimBanner genannt, s. Autorenkollektiv: Jirim-un süm-e keyid. (Die Klöster und Tempel des Jirim-Banners). O.O. 1993, S. 3. 33 Seit geraumer Zeit werden im Internet eine Vielzahl mongolischer und tibetischer Handschriften und Blockdrucke, allesamt aus der Mongolei, angeboten. Darunter finden sich manche für die Geschichte des mongolischen Druckwesens sehr wertvolle Texte, so u.a. eine unvollständige Pekinger Blockdruck-Ausgabe des Geser Khan-Epos aus dem Jahr 1716 und die von dem berühmten Übersetzer Siregetü güsi corji angefertigte Üliger-ün dalai-Übersetzung, die 1714 ebenfalls in Peking gedruckt wurde. (Herr Prof. em. Richard Ernst, Winterthur, stellte mir den Band aus seinem Privatbesitz freundlicherweise zur Verfügung.) 34 Heinrich Harrer: Sieben Jahre in Tibet. Mein Leben am Hofe des Dalai Lama. Berlin 1966, S. 234.
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die sich seit der Ming-Zeit auf den Druck und die Übersetzung tibetischer buddhistischer Schriften spezialisiert hatte. Sie preist in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf dem von ihr benutzten Verpakkungspapier ihr Verlagsprogramm an, in tibetischer und mongolischer Sprache.35
X. Kosten Der Wert der Blockdrucke war entsprechend dem damit verbundenen Arbeitsaufwand hoch: Wir besitzen jedoch nur wenig Zahlenmaterial über die Kosten der Anfertigung eines Werks, vom Schneiden bis zum Drucken. Zuweilen wird in den Kolophonen der Werke eine Aufstellung der Kosten der Drucklegung gegeben. Für die Mongolei lassen sich einige wenige Zahlen nennen: Die gesammelten Werke des berühmten Mergen diyanci blama aus den Jahren 1780-1783, die insgesamt 1300 Folios umfassten, kosteten 140 Unzen Silber. Die Inflation in diesen Jahren muss enorm gewesen sein, denn fünfzig Jahre später betrugen die Kosten mehr als das Doppelte: Im Jahr 1839 musste für das Schneiden des 139 Folio starken tibetisch-mongolischen Wörterbuchs mit dem wohlklingenden Namen ›Wörterbuch, genannt das helle Licht des Mondes, das die Bedeutung der Worte aufhellt‹ (mong. nere udq-a-yi tododqaghci saran-u gerel kemegdekü dokiyan-u bicig), 70 Unzen Silber bezahlt werden. Leider wissen wir nichts Genaues über die damalige Kaufkraft einer Silberunze, so dass diese Aussagen keinen absoluten, sondern nur relativen Aussagewert besitzen. Für das Tibet der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts gibt Heinrich Harrer an, dass eine gedruckte Kanjur-Ausgabe dem Wert eines Dutzends bester Yaks oder dem eines edlen Pferdes entsprach.36
XI. Das Buch als Verehrungsobjekt Betrachtet man die in den Oasenstädten Ostturkestans gefundenen riesigen Mengen an Schriftgut unterschiedlichster Sprachen und kultureller Provenienz, so lässt sich feststellen, dass christliche und manichäische Texte fast ausschliesslich in Handschriften vorliegen, während wir unter den buddhistischen Texten neben Handschriften sehr viele Blockdrucke finden. Diese Beobachtung trifft für buddhistische Texte in 35 Eine Abbildung der Anzeige gibt Heissig: Blockdrucke [Anm. 3], S. 6, Abb. 3. 36 Harrer: Sieben Jahre in Tibet [Anm. 34], S. 235.
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Sanskrit, Chinesisch, Tibetisch, Uigurisch, Tangutisch und Mongolisch zu. Wir können hieraus schliessen, dass in den Gesellschaften, deren Mitglieder mehrheitlich Buddhisten waren, der Buchdruck eine besondere Förderung erfuhr. Warum war das so? Um es gleich vorweg zu sagen: Die Beantwortung dieser Frage bedürfte eines umfangreichen Forschungsprojekts zu dem Thema, schon aus dem Grund, weil der gesamte Themenkomplex, der die kulturgeschichtliche Relevanz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Handschriften- und Buchkultur in tibetischen und mongolischen Gesellschaften umfasst, bisher von der Forschung kaum beachtet worden ist. Ich kann im Rahmen dieses kleinen Beitrags das Problemfeld lediglich umreissen. Zwei Aspekte der Verehrung des Buchs erscheinen mir im tibetomongolischen buddhistischen Kontext besonders wichtig. Beide können auf frühe buddhistische Konzepte zurückgeführt werden. Gregory Schopen hat schon 1975 auf die Bedeutung des ›Buchkults‹ (cult of the book) im Kontext der Entstehung des Mah y na-Buddhismus aufmerksam gemacht.37 In der Prajñap ramit -Literatur finden wir textuelle Evidenz,38 dass das Buch bzw. der Text Verehrung erfährt, da die Rezitation der Lehre die Präsenz des Buddha evoziert. Hier wird an ältere, frühbuddhistische Konzeptionen von der Identität des dharma mit dem Buddha angeknüpft.39 In tibetischen und mongolischen Gesellschaften wird dem Buch in seiner materialen Präsenz rituelle Verehrung entgegengebracht, da es die Buddhanatur nicht nur in ihrer sprachlichen, sondern auch in ihrer körperlichen Manifestation repräsentiert. Eine kleine Anekdote aus dem Tibet des 18. Jahrhunderts möge dies illustrieren: Die Kapuziner hatten während ihres kurzen Aufenthalts in Lhasa zu Beginn des 18. Jahrhunderts versucht, bewegliche Lettern einzuführen, die ja in China schon seit langem bekannt waren und auch benutzt wurden. In Lhasa setzten sie sich mit dieser Neuerung jedoch nicht durch. Daraufhin lagerten sie die beweglichen Drucktypen, die in Rom geschnitten worden waren, in Lhasa unter der Treppe ihres Hauses. Als tibetische Lamas davon erfuhren, weigerten sie sich, die Treppe zu betreten, weil sie dann die Schrift mit Füssen getreten hätten. Dieser Respekt vor allem Geschriebenen, gleichgültig, in welcher Form 37 S. seinen Aufsatz The Phrase `sa prthiv prade a caityabh to bhavet‘ in the Vajracchedik . Notes on the Cult of the Book in Mah y na. In: Indo-Iranian Journal 17 (1975), S. 147-181. 38 So in der Vajracchedik -und der Aas hasrik -Prajñ p ramit sowie im K yapaparivarta. 39 In der P li-Formulierung yo dhammam passati so Bhagavantam passati, s. Majjhima Nikya (1. M la pan. n. sakam). In: P. V. Bapat (Hg.): The Majjhima Nik ya (1. M la pan. n. sakam). Patna 1958, S. 190-191.
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und welchen Inhalts, ist heute nicht anders.40 Das geschriebene Wort gehört zu den ›drei Stützen‹ des Körpers, der Sprache und des Geistes, die den Lebewesen helfen, den Weg zur Befreiung aus dem Kreislauf der Existenzen zu beschreiten. Diese Haltung gegenüber dem Buddhawort wird oft auch heute noch, besonders von älteren Tibetern, auf alles Geschriebene ausgedehnt. Über die symbolische Relevanz des Buchs als Vergegenwärtigung des Buddha hinaus ist die religiöse Bedeutung des Buchs im Buddhismus eng mit der Lehre vom ›Verdienst‹ (skt. puya) verbunden, dessen Erwerb für das individuelle Karma und damit die nächste Existenz im Kreislauf der Existenzen (skt. sasra) von grosser Bedeutung ist. Eine Möglichkeit, Verdienst zu erwerben, stellt die Rezitation des Buddhawortes dar. Andere Möglichkeiten bieten das Abschreiben des Buddhawortes, z.B. eines S tra, oder aber die Bezahlung der Drucklegung eines buddhistischen Textes. Der Vorrang dieser Mittel für den Verdiensterwerb gegenüber anderen Möglichkeiten wie z.B. der Errichtung eines Klosters wird häufig betont. In der Vorrede zur uigurischen Übersetzung des Goldglanz-Stras aus dem Jahr 1022 finden wir die folgende Begründung für die Präferenz des Buchs: Was ferner nun das Verdienst des Errichtens von Klöstern betrifft, so gehört es von den dreierlei Spenden (dna) der materiellen Spende an. Was das Verdienst des Abschreibenlassens eines Dharma(text)-Juwels betrifft, so gehört es ausdrücklich zur Dharma-Spende.41
Die Mandschu-Kaiser, die die Drucklegung des gesamten tibetomongolischen Kanons finanziell förderten, erwarben sich durch diese Handlung in buddhistischer Sicht ungeheuren religiösen Verdienst.
XII. Zusammenfassung und Ausblick Sowohl für Tibet wie auch die Mongolei gilt, dass beide kulturellen Räume wesentlich durch Schriftlichkeit bestimmt waren, neben einer lebendigen oralen Tradition. Die handschriftliche Herstellung von Tex40 Während meines Aufenthalts in einem tibetischen Kloster in den Jahren 1984-86 bin ich einmal von einer Nonne sehr getadelt worden, weil ich ein Buch auf einen kleinen, circa 50 cm hohen Tisch abgelegt hatte. Bücher dürfen weder auf den Boden noch auf niedrige Ablagen gelegt werden. 41 Peter Zieme: Religion und Gesellschaft im Uigurischen Königreich von Qoo. Kolophone und Stifter des alttürkischen buddhistischen Schrifttums aus Zentralasien. Opladen 1992 (Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften; 88), S. 62.
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ten und der Buchdruck wurden synchron genutzt, wobei offizielle Dokumente, Urkunden etc., generell handschriftlich verfasst wurden, während bei religiöser und schöngeistiger Literatur beide Medien gleichermassen gebraucht wurden.42 Die unterschiedlichen Präferenzen liegen im Gebrauch des jeweiligen Textes und in der Leserschaft begründet: Von offiziellen Dokumenten wurden jeweils nur einige wenige Exemplare angefertigt. Darüber hinaus wird die Wertschätzung des Adressaten u.a. in einer vollkommenen Kalligraphie ausgedrückt. Dies kommt besonders deutlich in der Form der kaiserlichen Erlasse der Qing-Zeit zum Ausdruck, die häufig viersprachig verfasst waren, in Mandschurisch, Tibetisch, Mongolisch und Chinesisch. Mein Beitrag konnte lediglich eine Faktenbasis liefern, auf der aufbauend die Forschung erst beginnen kann, den kulturhistorisch relevanten Fragen nachzugehen. So müsste untersucht werden, welche kulturellen, sozialen, religiösen und politischen Transformationsprozesse die tibetischen und mongolischen Gesellschaften durchlaufen haben an den beiden Bruchstellen ihrer Geschichte, einmal beim Übergang von einer mehrheitlich mündlich bestimmten zur schriftlichen Tradierung ihrer kulturellen Erinnerung, zum anderen durch die Einführung des Buchdrucks und der damit verbundenen Möglichkeit der schnelleren Verbreitung von Wissen. Inwiefern hat Schriftlichkeit überhaupt erst die Konsolidierung des mongolischen Weltreichs mit seinem ausdifferenzierten Kanzlei- und Administrationswesen ermöglicht? Was haben Buch und Buchdruck zur Herausbildung einer gemeinsamen tibetomongolischen religiösen und kulturellen Identität im ausgehenden 16. Jahrhundert beigetragen, einer Identität, die gerade heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wieder in der politischen Geschichte der zentralasiatischen buddhistischen Länder, von Tibet über die Mongolei bis weit nach Russland hinein, eine zentrale Rolle zu spielen beginnt? Dies sind Fragen, zu denen dieser Beitrag lediglich sehr bescheidene Vorarbeiten liefern konnte.
42 Es ist schwer, hier eine Präferenz auszumachen, da quantitative Untersuchungen fehlen.
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Von der Handschrift zum gedruckten Buch Kommunikation erfolgt, chronologisch gesehen, primär oral, auch mit Hilfe deiktischer, non-verbaler Signale (Mimik, Gestik, Riten, Akustik),1 sodann potenziert durch die aus einem komplexen Werdeprozess entstandene Schrift.2 Bis in die frühe Neuzeit dominierte die Schrift in chirographischer Form, ehe sie durch die Typographie weitgehend abgelöst wurde. Von den zwei wichtigsten schriftgebundenen Kommunikationssystemen der westlichen Welt ist im Folgenden, in gebotener Vereinfachung, zu handeln: unter Ausklammerung der Antike, vom (früh-)mittelalterlichen Schreiben und vom frühneuzeitlichen Drucken. Am schicksalhaften Übergang von der Spätantike zu den frühen christlichen Jahrhunderten gelang es zahllosen Skriptoren, das Gesetz von Genesis kai Phthora, des Entstehens und Vernichtens (Aristoteles), unter dem die Textüberlieferung seit jeher stand, zu mildern, einen bedeutenden Teil des klassischen Erbes weiter zu tradieren und neue Bereiche zu erschliessen.3 Skriptoren vermittelten antike Bildung über die westlichen Provinzen an die sich zivilisierenden barbarischen Völker sowie über Ostrom und Syrien schliesslich in den arabischen Bereich. Diese Mediation wäre undenkbar gewesen ohne den Grosseinsatz byzantinischer Schreiber, welche die Texte von den fragilen Papyrus-
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Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 27 u. S. 41. Vgl. Jack Goody u.a.: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Frankfurt a.M. 1986 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 600). Zu den im Mittelalter von Schreibern geschaffenen Büchern im allgemeinen vgl. Jean Glénisson (Hg.): Le livre au Moyen Âge. Turnhout 1988; Christine Jakobi-Mirwald: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung. Stuttgart 2004 (UniversalBibliothek; 18315). – Zur Überlieferung klassischer Autoren s. L[eighton] D[urham] Reynolds u. N[igel] G[uy] Wilson: Scribes and Scholars. A Guide to the Transmission of Greek and Latin Literature. Oxford 1991. – Zu Textverlusten vgl. Walter Muschg: Tragische Literaturgeschichte. 2. Auflage. Bern 1953, S. 713; Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers. In: Ders.: Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart. München 1994, S. 39-67, hier S. 56f.
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rollen in die robusteren Pergamentcodices transkribierten.4 Im Westen stemmte sich mit einmaligem Engagement Cassiodor (um 485- ca. 580) gegen Textverlust und Textkorrumpierung. Sein Gelehrtenkloster Vivarium leistete Unschätzbares.5 Gross sind die Verdienste der bücher- und bildungsfreudigen Iren, die im Frankenreich, von den Merowingern unterstützt, Klöster mit Skriptorien gründeten, so Columbanus in Luxeuil, später in Bobbio.6 Im 7. Jahrhundert kamen u.a. dazu Solignac (632), Jumièges (654)7 und das dank seiner vielen schreibenden Nonnen in karolingischer Zeit berühmt gewordene Chelles (um 658/9).8 Die irisch-merowingischen Skriptorien wurden an Bedeutung noch übertroffen vom Handschriftenfundus, den angelsächsische Mönchsmissionare anlegten, die vor und nach Karls des Grossen Zeit in den Kontinent einwanderten. Von Papst Gregor d. Gr. hatten die Angelsachsen eine grosszügige Spende von Büchern erhalten, welche sie unermüdlich ergänzten, unter Zugabe auch klassischer Autoren, u.a. dank Benedikt Biscops (628-689/90) Bücherbeschaffungen während sechs Reisen zwischen 663 und 684 auf dem Festland.9 Die Quellen, aus denen Beda Venerabilis (673/4-735) in seinen Schriften schöpft, und Alkuins Preisgedicht auf die Kathedrale von York lassen die Reichhaltigkeit angelsächsischer Bücherbestände an theologischen, grammatischen, hagiographischen, säkular- und kirchengeschichtlichen sowie poetischen Werken der Antike ermessen.10 Einmal auf dem Kontinent etabliert, beschafften sich die angelsächsischen Benediktinermis4
Vgl. Herbert Hunger: Schreiben und Lesen in Byzanz. Die byzantinische Buchkultur. München 1989. 5 Zu Cassiodor und Vivarium vgl. M. Alonso-Núñez u. J. Gruber: Cassiodor(us). In: LexMA 2 (1983), Sp. 1551-1554; Fabio Troncarelli: Vivarium. I libri, il destino. Turnhout 1998 (Instrumenta patristica; 33). – Textausgabe seiner Institutiones in: Migne, Patrologia Latina; 70. Nachdruck der Ausgabe Paris 1865. Turnhout 1967, Sp.11441220. 6 Zu Luxeuil vgl. Friedrich Prinz: Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert). 2. Auflage. Darmstadt 1988, S.121-151 u. S. 485-489; H. Finger: Luxeuil. In: 2LGB 4 (1995), S. 635. Zu Bobbio vgl. Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Berlin 1979. 2. Auflage. Berlin 1986 (Grundlagen der Germanistik; 24), S. 249-251; W.Goez u. A. Petrucci: Bobbio. In: LexMA 2 (1983), Sp. 295-297. 7 Vgl. Prinz: Frühes Mönchtum im Frankenreich [Anm. 6], S. 152-185; Martina Hartmann: Aufbruch ins Mittelalter. Die Zeit der Merowinger. Darmstadt 2003, S. 139-147. 8 Bernhard Bischoff: Die Kölner Nonnenhandschriften und das Skriptorium von Chelles. In: Ders. (Hg.): Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte. Bd. 1. Stuttgart 1966, S. 16-34. 9 Karl Christ u. Anton Kern: Das Mittelalter. In: Handbuch der Bibliothekswissenschaft 3/1 (1955), S. 243-498, hier S. 321. 10 Prinz: Frühes Mönchtum [Anm. 6], S. 512f.
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sionare Handschriften aus ihrem Stammland, aus Italien (Rom, Neapel, dem griechisch geprägten Süden) und aus Gallien (besonders Lyon). Echternach, Fulda und Würzburg bildeten später bevorzugte Sammelbecken des angelsächsischen Manuskriptenimports. Auf dem Umweg über England gelangten wiederum italische Codices ins Frankenreich, wo das Skriptorium von Corbie zu einem wichtigen Umschlagsplatz wurde.11 Karl der Grosse, der beseelt war von einem mächtigen Bildungsdrang und von hohem Verantwortungsbewusstsein, nahm diese Impulse auf, bündelte die Kräfte und setzte sie kraft seiner herrscherlichen Autorität auf breiter Ebene ein. Er schuf die Grundlagen zu einer umfassenden Rettung, Erweiterung und Weitergabe abendländischen Kulturgutes, Reichs- und Kirchenreform, Bildung und Rechtssprechung.12 Um sein Vorhaben im Rahmen der Karolingischen Renovatio13 durchzusetzen, berief er Gelehrte und Kirchenmänner aus verschiedenen Gegenden des Reichs, allen voran Alkuin von York (um 730-804). 14 Unter dessen Führung begann gemäss den von Karl dem Grossen in der Admonitio generalis von 789 und in der Epistola de litteris colendis (ca. 800) gegebenen Anweisungen eine turba scriptorum (ein Schwarm von Schreibern, so Alkuin) die für Reich, Kirche und Schulen benötigten Schriften zu sammeln, zu kollationieren und von der Hofbibliothek15 und der Hofschule16 aus als Musterexemplare in einer gut lesbaren Schrift, der karolingischen Minuskel, an die zahlreichen Skriptorien im Reich weiterzuleiten. Die Vorbildfunktion der Hofschule wirkte sich auch nachhaltig in der Buchmalerei aus.17 Vom 8. bis zum 12. Jahrhun11 Ebd., S. 514-525. 12 Vgl. J. Fleckenstein: Bildungsreform Karls des Grossen. In: LexMA 2 (1983), Sp.187189; Friedrich Prinz: Von Konstantin zu Karl dem Grossen. Entfaltung und Wandel Europas. Düsseldorf/ Zürich 2000, S. 464-469. 13 Rosamond McKitterick: Die karolingische Renovatio. In: Christoph Stiegemann, Matthias Wemhoff (Hg.): 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Grosse und Papst Leo III. in Paderborn. Katalog der Ausstellung der Stadt Paderborn 1999. Bd. 2. Mainz 1999, S. 668-685. 14 M. Folkerts: Alkuin. In: LexMA 1 (1980), Sp. 417; Donald A. Bulloch: Alcuin. Achievement and Reputation. Leiden 2004; Ernst Tremp u.a. (Hg.): Karl der Grosse und seine Gelehrten. Zum 1200. Todesjahr Alkuins (gest. 804). Katalog zur Ausstellung in der Stiftsbibliothek St. Gallen (22. Dezember-14. November 2004). St. Gallen 2004. 15 Bernhard Bischoff: Die Hofbibliothek Karls des Grossen. In: Ders. (Hg.): Karl der Grosse. Lebenswerk und Nachleben. Bd. 2: Das geistige Leben. Düsseldorf 1965, S. 42-62. 16 Franz Brunhölzl: Der Bildungsauftrag der Hofschule. In: Bischoff (Hg.): Karl der Grosse. Lebenswerk und Nachleben. Bd. 2 [Anm.15], S. 28-41. 17 Vgl. Florentine Mütherich: Die Buchmalerei am Hofe Karls des Grossen. In: Wolfgang Braunfels, Herrmann Schnitzler (Hg.): Karl der Grosse. Lebenswerk und Nachleben. Bd. 3: Karolingische Kunst. Düsseldorf 1965, S. 9-53.
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dert lag die Hauptlast des Schreibens auf Klöstern, vor allem der Benediktiner, denen Karl das Kopieren und Schulehalten, entgegen ihrer Regel, als edle Pflicht oktroyierte,18 und auf Skriptorien der Kathedralen. Beeindruckende Leistungen erbrachten sowohl ganze Schreibschulen wie jene von Tours 19 oder von St. Gallen 20 als auch einzelne grosse Gelehrte, Anreger und Förderer.21 Gattungsschwerpunkte begannen 18 Vgl. Hans E. Braun: Schreiberlob. In: Therese Bruggisser-Lanker, Bernhard Hangartner (Hg.): Congaudent angelorum chori. P. Roman Bannwart OSB zum 80. Geburtstag. Festschrift. Luzern 1999 (Schriftenreihe der Musikhochschule Luzern; 1), S. 53-98, hier S. 61-64. – In den seit dem 4. Jahrhundert im Westen gegründeten Klöstern war das Schreiben schon immer geläufig, doch diente es nur dem Eigengebrauch und blieb begrenzt auf die Bedürfnisse des monastischen Lebens. Vgl. Karl Suso Frank: Lesen, Schreiben und Bücher im frühen Mönchtum. In: Ursula Schaefer (Hg.): Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Tübingen 1993 (ScriptOralia; 53), S. 7-18. 19 Vgl. B. Chevalier: Tours. In: LexMA 8 (1997), Sp. 922-925. Nicht zu vergessen, dass Tours und viele andere Klöster des Frankenreichs zur Zeit Karls des Grossen und Ludwigs des Frommen die monastische Lebensform aufgaben und sich in Kanonikerstifte umwandelten. Vgl. Josef Semmler: Karl der Grosse und das fränkische Mönchtum. In: Bischoff (Hg.): Karl der Grosse. Lebenswerk und Nachleben. Bd. 2 [Anm.15], S. 255289. Als Kanoniker bzw. Kanonisse galt, wer nicht die reine Benediktinerregel befolgte, sondern nach sog. Institutionen lebte, die asketisch weniger anspruchsvoll waren. Vgl. Rudolf Schieffer: Die Karolinger. 2. Auflage. Stuttgart u.a. 1997 (UrbanTaschenbücher; 411), S. 116. Diese Anpassung dürfte für die Arbeit im Skriptorium förderlich gewesen sein, da mehr Zeit für das Kopieren blieb. 20 Das Galluskloster zählte am Ende des 8. Jahrhunderts bereits achtzig, im ersten Drittel des 9. Jahrhunderts gegen hundert Skriptoren. Vgl. Peter Ochsenbein u.a.: Vom Schreiben im Galluskloster. Handschriften aus dem Kloster St. Gallen vom 8. bis 18. Jahrhundert. St. Gallen 1994, S. 106. Neben den Codices fallen in St. Gallen die vielen Urkunden ins Gewicht (aus dem 8. bis 10. Jahrhundert sind über 800 erhalten). Vgl. Rosamond McKitterick: Schriftlichkeit im Spiegel der frühen Urkunden St. Gallens. In: Peter Ochsenbein (Hg.): Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert. Darmstadt 1999, S. 69-82 u. S. 237f. 21 Neben Alkuin besonders Theodulf, Bischof von Orléans und Abt von Fleury (ca. 760821), vgl. H. Sauer: Theodulf. In: LexMA 8 (1997), Sp. 647f.; Hrabanus Maurus von Fulda bzw. Mainz (um 780-856), vgl. R. Kottje: Hrabanaus Maurus. In: LexMA 5 (1991), Sp. l44-147 und sein Schüler Lupus von Ferrières (um 805-ca. 862), vgl. H. Mordek: Lupus von Ferrières. In: LexMA 6, Sp.15f. Im 10. Jahrhundert ragen Abbo von Fleury (940/5-1004) und Gerbert von Aurillac (950-1003) hervor. Zu Abbo von Fleury vgl. K. F. Werner (mit J. Pinborg). In: LexMA 1 (1980), Sp. 15; zu Gerbert vgl. U. Lindgren. In: LexMA 4 (1989), Sp. 1300-1303. Neben seinen literarischen, mathematischen und astronomischen Studien erwarb sich Abbo grosse Verdienste um Skriptorium und Bibliothek von Fleury. Vgl. Lumières de l’an mil en Orléanais. Autour du millénaire d’Abbon de Fleury. Exposition au musée des Beaux-Arts d’Orléans 16 avril11 juillet 2004. Turnhout 2004, bes. S. 188-195. Gerbert d’Aurillac, der spätere Papst Silvester II., war als universeller Gelehrter rastlos auf der Suche nach Manuskripten. Seine Korrespondenz bietet faszinierende Einblicke in das Beschaffen von Texten im Frühmittelalter. Vgl. Gerbert d’Aurillac: Correspondance. Texte établi, traduit et commenté par Pierre Riché et Jean-Pierre Callu. 2 Bde. Paris 1993 (Les Classiques de l’Histoire de France au Moyen Age; 35, 36), vor allem die Briefe 17, 24, 25, 40, 44, 86,
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sich abzuzeichnen. Das Hofskriptorium konzentrierte sich auf Evangelistare, Evangeliare und Rechtsbücher, klösterliche Skriptorien auf die Bibel, allen voran St-Martin in Tours. Während etwa 60 Jahren wurden hier jährlich zwei monumentale Bibeln fertiggestellt. Im exportorientierten Skriptorium, das zügig arbeiten musste, organisierten die Schreiber das Kopieren planmässig: Standardformat, übersichtliches und einheitliches Layout, leicht leserliche Schrift in hierarchischer Abstufung (Bibeltext in karolingischer Minuskel, Einleitungen und Vorreden in Unziale und Halbunziale, Explicit in Capitalis rustica), konstante Zeilenabstände und -zahl. Von den anfänglich schmuckarmen, später reich illuminierten,22 umfangreichen (400 bis 500 grossformatige Pergamentblätter umfassenden) und dementsprechend gewichtigen Touroner Pandekten sind weltweit 18 Exemplare erhalten. Das Kopieren der Bibelhandschriften geschah bereits mit Ansätzen von Textkritik. Während Alkuin vor allem orthograpische und grammatikalische Fehler verbesserte, kollationierte Theodulf von Orléans (ca. 760-821) mit eigenen Siglen gekennzeichnete Handschriften.23 Er erhöhte die Übersichtlichkeit durch schriftgradmässige und farbliche Gliederung des Textes. St-Amand-en-Pévèle legte das Schwergewicht auf Sakramentare,24 Fuldaer Mönche kopierten mit Vorzug Schriften der Kirchenväter und zur Zeit von Hrabanus Maurus (um 780-856) auch volkssprachliche Literatur.25 Die im ›goldenen Zeitalter‹ St. Gallens (9. und frühes 10. Jahrhundert) geschaffenen Codices (vgl. Abb. 26) sind ein Paradigma dafür, wie Forderungen Karls des Grossen nach Anheben der
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105, 123, 130 und 134. Vgl. Braun: Schreiberlob [Anm. 18], S. 58f. Zur Persönlichkeit Gerberts vgl. Pierre Riché: Gerbert d’Aurillac. Le pape de l’an mil. Paris 1987. Vgl. Otto Mazal: Frühmittelalter. Graz 1999 (Geschichte der Buchkultur; 3/1), S. 143149. Vgl. Birger Munk Olsen u. Pierre Petitmengin: Les bibliothèques et la transmission des textes. In: André Vernet (Hg.): Histoire des bibliothèques françaises. T. 1: Les bibliothèques médiévales du VIe siècle à 1530. Paris 1989, S. 414-436, hier S. 427; vgl. Wemhoff (Hg.): 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit [Anm.13], S. 813-815. Die kritische Arbeit am Text der Vulgata wird sich während des ganzen Mittelalters fortsetzen, u.a. durch Abt Stephan Harding (gest. 1134), einen der Gründer der Zisterzienser, der sich für das Alte Testament von jüdischen Gelehrten beraten liess (Olsen u. Petitmengin: Les bibliothèques, S. 427) und im 13. Jahrhundert an den Universitäten von Paris (Hugo von St-Cher) und Oxford (Wilhelm de la Mare). Vgl. J. Schmid: Bibelkorrektorien. In: 2LThK 2 (1958), Sp. 363. Rosamond McKitterick: Carolingian Book Production. Some Problems. In: The Library 12 (1990), S. 1-33 [St-Amand S.14-29]. Vgl. H. Finger: Fulda. In: 2LGB 3 (1991), S.78f.; Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachlicher Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700-1050/60). 2., durchges. Auflage. Tübingen 1995 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit; 1,1).
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Bildung auf der Grundlage der Septem artes liberales erfüllt wurden.26 Mit St. Gallen wetteiferte die nahe Reichenau im Bodensee.27 In ottonischer Zeit erlebte das Inselkloster mehr als hundert Jahre lang eine Blüte, während der im Auftrag höchster Würdenträger des Reichs herausragende liturgische Handschriften geschaffen wurden.28 Deren Illuminierung ist gekennzeichnet von einer spezifischen Bildsprache mit vergeistigten, auf entnaturalisierten Grund gesetzten »Gebärdefiguren«.29 Skriptorien von Kathedralschulen, welche in karolingischer Zeit die Erneuerung der Bildung vorantrieben, konnten auf ältere Gründungen zurückgreifen, z.B. in Verona30 und in vielen gallischen Bischofsstädten.31 Lyon war ein Zentrum für Patristik und Rechtssammlungen, Orléans für die Bibel, Laon für paläographische Vereinheitlichung. Unter Erzbischof Hincmar (gest. 882) erreichte die Schule von Reims einen Höhepunkt, jene von Köln unter Erzbischof Hildebald (gest. 818). Dank der gewaltigen Arbeit der Schreiber vorab in nordfränkischen, rheinischen und alemannischen Klöstern waren bis zum Ende des 9. Jahrhunderts grosse Teile der lateinischen Literatur der klassischen Antike, Werke von etwa 70 Autoren, kopiert, den Schulen zugänglich gemacht und für die Nachwelt gerettet.32 Dies jedoch nicht zur Freude aller. Gewisse monastische Reformkreise drängten nicht nur darauf, weltliche und bischöfliche Einflussnahme auf innerklösterliche Belange zurückzudrängen (Cluny), sondern verlangten eine Konzentration ausschliesslich auf Liturgie und Beschaulichkeit. Die Aachener Synoden 26 Peter Ochsenbein: Die St. Galler Klosterschule. In: Ders. (Hg.): Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert. Darmstadt 1999, S. 95-107 u. S. 241-244. 27 Vgl. Walter Berschin: Eremus und Insula. St. Gallen und die Reichenau im Mittelalter – Modell einer lateinischen Kulturlandschaft. Wiesbaden 1987. 28 Z.B. der Codex Egberti (um 977-93, Trier, Stadtbibliothek Cod. 24), die Bamberger Apokalypse (um 1001/02, Bamberg, Staatsbibliothek Bibl. 140) oder das Perikopenbuch Heinrichs II. (um 1002-12, München, Bayerische Staatsbibliothek Clm. 4452). 29 Hans Jantzen: Ottonische Kunst. Hamburg 1959. Vgl. auch Henry Mayr-Harting: Ottonische Buchmalerei. Liturgische Kunst im Reich der Kaiser, Bischöfe und Äbte. Stuttgart/ Zürich 1991. 30 A. Piazzi: La civiltà del libro. Cenni storici sulla Biblioteca Capitolare di Verona. In: Veronensis capitularis thesaurus. Verona 1990, S.10-30. 31 Pierre Riché: Education et culture dans l’Occident barbare. VIe-VIIIe siècle. 4. Auflage. Paris 1995 (Points. Histoire; 195), S. 233-35. 32 Vgl. McKitterick: Die karolingische Renovatio [Anm. 13], S. 675; Otto Mazal: Die Rezeption der klassischen Autoren des Frühmittelalters. In: Ders.: Frühmittelalter [Anm. 22], S. 9-58. Diese Leistung ist um so eindrücklicher, als frühmittelalterliche Handschriften kirchlichen Inhalts etwa 90 Prozent der Gesamtproduktion in Anspruch nahmen. Vgl. Prinz: Von Konstantin zu Karl dem Grossen [Anm. 12], S. 496.
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von 816 und 817 sowie der Reformabt Benedikt von Aniane (um 750821) standen sogenannten äusseren Schulen und damit auch dem Kopieren profaner Texte feindlich gegenüber.33 In Cluny wurden die Schriften heidnischer Klassiker (mit Ausnahme des Stilvorbilds Vergil) im Sinne des Hieronymus als cibus demonum34 taxiert und der Zugang zu ihnen mit abschätzigen Signa loquendi erschwert.35 Wie mag Skriptoren, die sich hinter ihrem Werk meistens verbergen, bei ihrer Arbeit zumute gewesen sein? Schreiber hatten sich in eine Gruppe einzufügen, bestehend aus vielen Persönlichkeiten mit unterschiedlichem Charakter und Temperament. Um Zeit zu gewinnen, kopierte man die Vorlagencodices lagenweise, oft waren es 10, 20, 24 verschiedene Hände, die einen Codex abschrieben. Vor weitere organisatorische Herausforderungen waren die Verantwortlichen von Skriptorien gestellt, wenn, in dem Masse wie die Illuminierung reicher wurde, die Arbeit von Schreiber und Buchmaler koordiniert werden musste (sofern es sich nicht um dieselbe Person handelte). Stufenweise wurden die auf ihre Eignung geprüften Kopisten, manche schon als pueri, in die Schrift des jeweiligen Skriptoriums eingeübt. Sie wurden angeleitet, drei bis vier Alphabete, unter Umständen auch die Neumenschrift zu beherrschen.36 Bewunderungswürdig ist die Kunstfertigkeit voll ausgebildeter karolingischer Schreiber, die es verstanden, eine Musterhandschrift lagen- oder gar seitenkonform mit höchster Präzision zu kopieren oder eine in Unziale
33 Zu Benedikt von Aniane vgl. J. Semmler u. H. Bacht: Benedikt von Aniane. In: LexMA 1 (1980), Sp. 1864-1866. Monastisch verschärft wird die alte Ambivalenz im Umgang von Christen mit paganer Literatur erkennbar. Vgl. Jean Leclerq: L’amour des lettres et le désir de Dieu. 2. Auflage. Paris 1957, S. 108-141; Birger Munk Olsen: I classici nei monasteri tra fascino e inquietudine. In: Mariano Dell’Omo (Hg.): Virgilio e il Chiostro. Manoscritti di autori classici e civiltà monastica. Rom 1996, S. 7-16; Prinz: Von Konstantin zu Karl dem Grossen [Anm. 12], S. 496-513. 34 In der berühmten ›Traumepisode‹ (Ep. 22,30) hatte sich Hieronymus vehement von den heidnischen Autoren distanziert. Eine ähnliche Haltung begegnet im Hortus deliciarum der Herrad von Hohenburg. Die mit Zauberern gleichgesetzten Dichter (poete vel magi) figurieren ausserhalb des Kreises, der die Artes liberales umschliesst. Isti immundis spiritibus inspirati scribunt artem magicam et poetriam id est fabulosa commenta. Vgl. Herrad of Hohenburg: Hortus deliciarum. Hg. v. Rosalie Green u.a. 2 Bde. London u.a. 1979 (Studies of the Warburg Institute; 36), Commentary, S. 104, Reconstruction, S. 57 (Abb.). 35 Walter Jarecki (Hg.): Signa loquendi. Die cluniacensischen Signa-Listen. Eingel. u. hg. v. Walter Jarecki. Baden-Baden 1981 (Saecvla spiritualia; 4). 36 W[ilhelm] Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. Nachdruck der 3. Auflage. Leipzig 1896. Graz 1958, S. 440f.; Bischoff: Paläographie [Anm. 6], S. 61-64.
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geschriebene Seite auf eine nur die Hälfte des Umfangs benötigende Sparte in karolingischer Schrift umzuschreiben.37 Schreiber mussten grosser körperlicher Beanspruchung standhalten, denn ihre Arbeit bereitete Mühe. Das Pergament konnte sperrig sein, das Halten der Hand war ermüdend, da nur die Spitze der Feder, die von der einen Hand geführt wurde, die Unterlage berührte, während die andere Hand das Messer hielt, das zum Auskratzen von Geschriebenem und zum Anspitzen der Feder diente und der federführenden Hand sowie der Pergamentunterlage Halt gab (vgl. Abb. 27).38 Die zu kopierenden Texte hatten ihre eigenen Tücken. Die Lesbarkeit variierte je nachdem, ob die Vorlage kontunierlich (in scriptura continua) oder mit Worttrennung geschrieben war39 oder falls schwer zu entziffernde Handschriften transkribiert und Abkürzungen aufgelöst werden mussten.40 Der Durchhaltewille der Skriptoren wurde zudem auf eine harte Probe gestellt, wenn sie bei schwachem Licht, zur Nachtzeit, bei Kälte, geplagt von Rheumatismus und abnehmendem Augenlicht zu schreiben hatten. Es verwundert nicht, dass Schreibern hie und da, wenn das Herz voll war, der Mund überging: sie klagen, dass drei Finger schreiben, aber der ganze Körper leidet,41 sie ärgern sich über schlecht arbeitende Vorgänger: Diabolus fecit tam sanctam epistolam vitio scriptoris depravari42 (der Teufel ist schuld, dass ein so heiliger Text durch den Fehler des Schreibers verunstaltet wurde), sie verwünschen im voraus den Dieb, der sie um die Frucht ihrer Mühen bringen könnte,43 sie machen ihrem Unmut Luft: in einem Cicero-Manuskript kommt der Schreiber an die Textstelle der Vorlage Nolo plura dicere, bricht kur-
37 Jean Vezin: Manuscrits ›imposés‹. In: Henri-Jean Martin, Jean Vezin (Hg.): Mise en page et mise en texte du livre manuscrit. Paris 1990, S. 423-425, hier S. 423. 38 Cambridge, Trinity College, Ms.R 171, Bl. 283v. Vgl. Paul Saenger: Lesen im Spätmittelalter. In: Roger Chartier, Guglielmo Cavallo (Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt a.M./ New York 1999, S. 181-217, hier S. 196. Vgl. das Porträt des englischen Schreibers Eadwin im Psalter des Trinity College Cambridge (Ms.R 17.1, Bl. 283v). Abb. in: Ralf W. M. Stammberger: Scriptor und Scriptorium. Das Buch im Spiegel mittelalterlicher Handschriften. Darmstadt 2003, S. 51. 39 Am frühesten wurde mit der Worttrennung im 7. Jahrhundert auf den Britischen Inseln begonnen. Seit dem 11. Jahrhundert setzte sie sich auf dem Kontinent durch. Vgl. Paul Saenger: The Separation of Words and the Order of Words. The Genesis of Medieval Reading. In: Scrittura e Civiltà 14 (1990), S. 49-74. 40 Wattenbach: Schriftwesen [Anm. 36], S.293-295. 41 Ebd., S. 282-285. 42 Ebd., S. 332. 43 Beispiel bei Anton Legner: Illustres manus. In: Ders. (Hg.): Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik. Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museums. Köln 1985, Bd. 1, S. 187-263, hier S. 217.
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zerhand das Schreiben ab und setzt als Schlussschrift nolo plura scribere.44 Dass unter Zwang auferlegtes Schreiben Missmut und Widerwillen auslöste, ist mehr als einmal belegt. In einem Lorscher Codex des 9. Jahrhunderts hat eine Hand den Vermerk Jacob scripsit ergänzt: einen gewissen Teil dieses Buches hat er nicht freiwillig [geschrieben], sondern gezwungenermassen, mit Beinfesseln, wie man einen Unsteten und Ausreisser in Bande legen muss.45 Die Brüder Purchardus und Chuonradus wurden zwar nicht gefesselt, aber sie beklagen sich in einem Schreibereintrag, dass sie nach liebevoll-ködernder Einladung (prece et caritate invitati) des Domherrn Hillinus nur unter massivem Druck (coacti) das vorliegende Buch geschrieben hätten. Am Ende liessen sie sich dennoch versöhnen.46 Unglücklich endete dagegen auferlegtes Schreiben für Wolo, einen recht gebildeten (admodum literatus), aber ungebärdigen Grafensohn, der – so erzählt Ekkehard IV. (gest. um 1060) in den Casus Sancti Galli – dem Kloster des heiligen Gallus zur Erziehung übergeben worden war. Mit seiner Widerborstigkeit kamen die Verantwortlichen nicht zu Rande.47 Eines Tages wurde Wolo zur Strafe verboten, die Klausur zu verlassen. Im Skriptorium sollte er das Johannesevangelium kopieren. In der Geschichte vom kranken Sohn des königlichen Beamten von Kapharnaum kam er an die Stelle incipiebat enim mori (denn er lag im Sterben, Io 4,47), da sprang er unvermittelt auf. Man rief ihm zu: Wohin nur Wolo, wohin?, doch er eilte die Stufen des Glockenturms hinauf, denn wenn er schon nicht hinaus durfte, wollte er wenigstens mit den Augen die Berge und die Fluren ringsum schauen und so den 44 Zit. bei Munk Olsen u. Petitmengin: Les bibliothèques [Anm. 23], S. 430. Weitere Beispiele von schreiberlichen Stossseufzern finden sich in der irischen PriscianHandschrift der Stiftsbibliothek St. Gallen (Cod. Sang. 904). Vgl. Peter Ochsenbein u.a.: Vom Schreiben im Galluskloster [Anm. 20], S. 90f. 45 Quandam partem huius libri non spontanea voluntate, sed coactus, compedibus constrictis sicut oportet vagum atque fugitivum vincire, zit. bei Wattenbach: Schriftwesen [Anm. 36], S. 440. 46 Es handelt sich um die Handschrift 12 der Kölner Dombibliothek, den zwischen 1018 und 1020 entstandenen Hillinus-Codex. Wortlaut des Eintrags in: Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek. München 1998, S. 350; zum Hillinus-Codex ebd., S. 349-356. 47 Zur selben Zeit lebte hier im Kloster ein junger, recht gebildeter [admodum literatus] Mönch, ein Grafensohn namens Wolo; der war ein unruhiger und unsteter Geist, und seinem inneren Trotz konnten weder der Dekan noch der Herr Notker [sein Lehrer] noch die übrigen gebieten, und während er häufig mit Worten und Schlägen gezüchtigt wurde, ohne dass er sich läuterte, tat es allen leid um den Mann, der so schöne Begabung zeigte. Ekkehard IV.: Casus Sancti Galli (St. Galler Klostergeschichten). Hg. u. übers. v. Hans Frieder Haefele. Darmstadt 1980 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters; 10), c. 43, S. 97-99.
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Drang seines Gemütes stillen. Er stürzte, verletzte sich tödlich. Notker Balbulus, sein Lehrer, wurde herbeigerufen, um dem Sterbenden beizustehen.48 Skriptoren boten ein buntes Bild: Laien- und Lohnschreiber, Kleriker, Mönche, Nonnen.49 Es gab bienenfleissige Schreiber (den ›Bücherheiligen‹ Patrick [gest. 461] und andere legendenumwobene Iren) und faule, denen schon Isidor von Sevilla wünschte, man sollte sie mit der Rute züchtigen. Es gab bescheidene Kopisten, die namenlos in ihrem Werk entschwinden, oder andere, die selbstbewusst ihre Leistung herausstreichen wie Winithar von St. Gallen, der sich brüstete, dass in diesem Buch [gemeint ist eine Sammelhandschrift, Codex 238 der Stiftsbibliothek] kein einziges Längenzeichen und kein Buchstabe stehe, die nicht seine Hand gemalt hätte.50 Es gab fröhliche Schreiber, die Zufriedenheit ausstrahlten,51 und verzagte, die um ihr Seelenheil bangten. 48 Lateinischer Text der Woloepisode in: Ekkehard IV.: Casus Sancti Galli [Anm. 47], S. 96-98. Ekkehard bringt Wolos Verhalten in Zusammenhang mit dessen Herkunft: Denn hatte auch St. Gallen immer nur Mönche von freier Geburt besessen, so wichen doch die Vornehmeren unter ihnen häufiger vom Wege ab (S. 99). Johannes Fried: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024. Berlin 1994 (PropyläenGeschichte Deutschlands; 1), S. 102: Wolo »zerbrach an der Spannung zwischen adeliger Herkunft und monastischen Lebensnormen«. 49 Wattenbach: Schriftwesen [Anm. 36], S. 444-447; Régine Pernoud: La femme au temps des cathédrales. Paris 1980; Peter Dronke: Woman Writers of the Middle Ages. A Critical Study of Texts from Perpetua (gest. 203) to Marguerite Porete (gest. 1310). Cambridge 1984; Rosamond McKitterick: Nun’s scriptoria in England and Francia in the VIIIth century. In: Francia 19 (1992), S. 1-35; Legner: Illustres manus [Anm. 43], S. 226 u. S. 244f. Zum Gemeinschaftswerk des Hortus deliciarum der Herrad von Hohenburg vgl. Michael Curschmann: Herrad von Hohenburg. In: 2VL 3 (1981), Sp. 1138-1144. – Literaturangaben auch bei Martha W. Driver: Women Printers and the Page. 1477-1541. In: Gutenberg-Jahrbuch 73 (1998), S. 139-153; Kathrin Graf: Bildnisse schreibender Frauen im Mittelalter. 9. bis Anfang 13. Jahrhundert. Basel 2002, beschränkt sich auf die Ikonographie (vgl. S. 81f.). 50 Vgl. Cimelia Sangallensia. Hundert Kostbarkeiten aus der Stiftsbibliothek St.Gallen. Beschrieben v. Karl Schmuki u.a. St. Gallen 1998, S. 30. Zu Winithar vgl. Peter Ochsenbein: Sonderling im Galluskloster. Winitharius – Der erste Schriftsteller des Klosters St. Gallen. In: Ders.: Cultura Sangallensis. St. Gallen 2000 (Monasterium Sancti Galli; 1), S. 148-153. 51 Vgl. den Eintrag in der Priscian-Handschrift der St. Galler Stiftsbibliothek (Cod. 904, 9. Jahrhundert). Der beschwingte irische Skriptor hat seine Tätigkeit in die freie Natur verlegt: Rings umschliesst mich Waldeshag, der Amsel Lied schallt zu mir her; bei meinem Pergament, dem linienreichen, klingt mir der Vögel trillernder Gesang. Von Baumeswipfeln ruft mit heller Stimme Im grauen Mantel mir der Kuckuck zu. Fürwahr, es schütze mich der Herr!
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Im 12./13. Jahrhundert erfuhr das mittelalterliche Buchwesen die am tiefsten gehenden Veränderungen seiner ganzen Geschichte.52 Schriftlichkeit weitete sich explosionsartig aus.53 Die Buchproduktion verlagerte sich weitgehend zu bürgerlichen Berufsschreibern. Ihre Kolophone spiegeln den Mentalitätswandel wider. Schlossen fromme Skriptoren des Frühmittelalters ihre Arbeit mit der Formel Finito libro reddatur gratia/gloria Christo, so tönt es jetzt völlig anders: In fine laboris reddatur precium operantis oder Pro tali precio numquam plus scribere volo oder handfester: Detur pro penna scriptori pulchra puella.54 Der Urbanisierungsprozess intensivierte den Ausbau der Schulen verschiedener Stufen, den steigenden Schriftverkehr im Fernhandel, in der Verwaltung und im juristisch-notariellen Bereich. Die Schrift prägte das tägliche Leben. Entsprechend wuchsen Lesefähigkeit und Lesefreude. An den Universitäten wandelte sich das Buch zum Instrument intellektueller Arbeit.55 Es war zweckorientiert, käuflich erworben, statt eigenhändig abgeschrieben, gemäss dem in Bologna entwickelten, von Paris und Oxford übernommenen Peciensystem.56 Von ungebundenen, von den Universitätsbehörden (petiarii) autorisierten Musterexempla-
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Schön schreibt’s sich unter dem Waldesdach. Zit. bei Christ u. Kern: Das Mittelalter. Geschichte der Bibliotheken [Anm. 9], S. 315. Bischoff: Paläographie [Anm. 6], S. 291. Vgl. Uwe Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte. 2 Bde. Wiesbaden 1998, S. 221. Zu den Quantensprüngen der Schriftlichkeit seit dem 12. Jahrhundert und zum erhöhten Kanzleiausstoss vgl. Esch: ÜberlieferungsChance [Anm. 3], S. 39-69; Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986. Bd. 2, S. 624-633. Wattenbach: Schriftwesen [Anm. 36], S. 491-534; Lucien Reynhout: A propos de la formule Finito libro, reddatur cena magistro. Essai d’interprétation comparative. In: Scriptorium 42 (1988), S. 93-101: Kurt Otto Seidel: Tres digiti scribunt totum corpusque laborat. Kolophone als Quelle für das Selbstverständnis mittelalterlicher Schreiber. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 7 (2002), S. 147-156. Jacques Le Goff: Les intellectuels au Moyen Âge. 2. Auflage. Paris 1985, S. 95-97. Vgl. auch: Robert Marichal: Les manuscrits universitaires. In: Martin, Vezin (Hg.): Mise en page et mise en texte [Anm. 37], S. 211-217. Vgl. Karl Christ: Petia. Ein Kapitel mittelalterlicher Buchgeschichte. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 55 (1938), S. 1-44; Louis Bataillon u.a. (Hg.): La production du livre universitaire au Moyen Age. Exemplar et pecia. Actes du symposium tenu au Collège San Bonaventura de Grottaferrata en mai 1983. Paris 1991; Bischoff: Paläographie [Anm. 6], S. 65; Antonino Sambataro: Il libro medievale dal monstero all’università. Catania 1992, S. 57-77; Richard H. Rouse u. Mary A. Rouse: The Dissemination of Texts in Pecia at Bologna and Paris. In: Peter Rück (Hg.): Rationalisierung der Buchherstellung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ergebnisse eines Buchgeschichtlichen Seminars, Wolfenbüttel, 12.-14. November 1990. Marburg a.d.L. 1994 (Elementa diplomatica; 2), S. 69-77.
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ren, wurden die für Vorlesung und Disputation benötigten Texte unter Aufsicht des Stationarius lagenweise (per pecias), befristet und gegen festen Tarif an Kopisten, in Italien vielfach Schreiberinnen, verteilt. Das arbeitsteilige Kopieren weist zurück auf das frühe Mittelalter, die Kostenpflichtigkeit auf die gewerbsmässige Bücherherstellung der Zukunft. Deutsche Professoren hielten am Diktieren der benötigten Texte fest.57 Engpässe in der Bücherversorgung konnten sich trotzdem ergeben. Ein englischer Bericht aus dem 14. Jahrhundert beklagt, dass es in Oxford wegen der vielen an die Universität drängenden Mendikanten kein einziges Buch über Philosophie oder Theologie mehr zu kaufen gebe: Bücher über Medizin und Kirchenrecht findet man nur noch bei seltenen Gelegenheiten, weil die Bettelorden, die viele neue Niederlassungen gegründet haben, alles für ihre Klöster hamstern. Als erstes stellt man bei ihnen eine schöne grosse Bibliothek für die Gemeinschaft zusammen. Darüber hinaus wird insbesondere jeder Student reichlich mit Büchern ausgestattet. Wegen dieser Aufkäufe der Bettelorden ist auf dem Markt eine solche Knappheit an Arbeitsmitteln entstanden, dass sogar drei oder vier Geistliche, die der Erzbischof nach Oxford geschickt hatte, gezwungen waren, ihr Studium abzubrechen. 58
Auf ästhetisches Beiwerk verzichteten die Hersteller universitärer Handschriften. Ausser bei den reichen Juristen in Bologna, deren Handbücher oft aufs prächtigste ausgestattet sind. Rechtsprofessoren wachten mit Argusaugen und raffiniert eingebauten Sicherungen über Kopien ihrer Schriften, besonders wenn diese ihre Glossen mitenthielten, was den Geldwert steigerte. Ein Bologneser Rechtsgelehrter des 13. Jahrhunderts schützte die Authentizität und die Kostenpflichtigkeit seiner Kommentare, indem er die Initialen seiner Quaestiones derart anordnete, dass sie, in richtiger Reihenfolge gelesen, seinen Namen und seine Autorschaft attestierten: Roffredo Beneventanus iuris civilis professor factor operis.59 Nur kurz sei angemerkt, dass sich die Instrumentalität der Handschriften im Zeitalter der Universitäten verfeinerte, indem wichtige zukunftsweisende Hilfsmittel zum Erschliessen von Texten und zum besseren Verständnis der Bibel, des Rechts und der Theologie eingeführt wurden – Verbesserungen, die keineswegs erst der Buchdruck erfunden hat: Kapiteleinteilung der lateinischen Bibel, Seitengliederung
57 Bischoff: Paläographie [Anm. 6], S. 296. 58 Zit. bei Jacqueline Hamesse: Das scholastische Modell der Lektüre. In: Chartier, Cavallo: Die Welt des Lesens [Anm. 38], S. 155-180, hier S. 179f. 59 Sambataro: Il monaco e il copista [Anm. 56], S. 66.
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von Schriften der Kirchenväter, Wort- und Sachindices, Verbalkonkordanzen, Spezialglossare.60 In der Gotik, an Höfen, im gehobenen stadtbürgerlichen Milieu, in Frauenklöstern, in denen die Mystik den Blick nach innen richtete, mehrten sich Handschriften. Die Buchmalerei erlebte eine Glanzzeit in Paris, am burgundischen und am Prager Hof, auch in der Bodenseegegend, im Gebiet von Zürich und Konstanz (Manessische Liederhandschrift, Graduale von St. Katharinental). Aus Platzgründen muss es mit diesem Hinweis sein Bewenden haben. Buchgeschichtlich heben sich im 14./15. Jahrhundert zwei sehr unterschiedliche Arten von Produktionszentren voneinander ab, elitäre und handwerkliche. Für das eine stehe ein Beispiel aus Italien, für das andere eines aus dem alten Reich. Die frühhumanistische Buchkunst Italiens steht im Zeichen der Hinwendung zu Texten der Antike.61 Petrarca war der grosse Anreger und Sammler. Fürsten, Mäzene und Buchhändler trieben die Antikenbegeisterung weiter voran. Grossartige Bibliotheken enstanden in Florenz, Ferrara, Mailand, Neapel, in Rom die vierte Vaticana. Exklusive Schreibateliers, in Florenz vor allem, führten Grossaufträge für Bibliophile und Souveräne aus.62 Um 1400 kreierte eine kleine Gruppe florentinischer Humanisten um Poggio Bracciolini eine neue Schrift für klassische und humanistische Texte, die Antiqua. Sie breitete sich innerhalb von zwanzig Jahren in ganz Italien aus, griff auf den Buchdruck über und bedrängte nach und nach auch in anderen Ländern die gotische Fraktur. Gleichzeitig mit der Antiqua entstand in Italien ein neuer Dekorationsstil, dessen Hauptmotive die sog. bianchi girari (weisse Rankenschlingen) und spielerisch balancierende Putten sind. Unter den Meistern humanisti60 Richard H. Rouse u. Mary A. Rouse: Concordances et index. In: Martin, Vezin (Hg.): Mise en page et mise en texte [Anm. 37], S. 219-228; Ivan D. Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt a.M. 1991. Vgl. auch Jacqueline Hamesse: Gli strumenti di lavoro intellettuale in ambito monastico. In: Dell’Omo: Virgilio e il Chiostro [Anm. 33], S. 33-43. Hamesse hebt neue grundlegende Erkenntnisse bezüglich der Pionierarbeit der Zisterzienser beim Erarbeiten von Hilfsmitteln der Texterschliessung (Indices, Randverweise, Textunterteilungen) hervor. Als erste im Westen, schon Ende des 12. Jahrhunderts, benutzten die Zisterzienser die sog. arabischen Zahlen, noch in horizontaler Schreibweise; die vertikale wurde erst im 13. Jahrhundert üblich (S. 39-41). 61 Bischoff: Paläographie [Anm. 6], S. 305-309. 62 Jonathan J. G. Alexander: Patrons, Libraries and Illuminators in the Italian Renaissance. In: Ders. (Hg.): The Painted Page. Italian Renaissance Book Illumination 14541550. München 1994, S. 11-20. Zum Buchhändler Vespasiano da Bisticci vgl. G. Montecci: Bisticci, Vespasiano da. In: 2LGB 1 (1987), S. 451; G. Busetto: Bisticci. In: LexMA 2 (1983), Sp. 250f.
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schen Schreibens ragt der in Padua und Rom tätige Venezianer Bartolomeo Sanvito hervor. Ihm sind mehr als hundert Codices zuzuschreiben, er dürfte auch als Miniaturist gearbeitet haben.63 Die handwerklichen Schreiber bescheidener spätmittelalterlicher Bücher lassen sich demgegenüber in drei Gruppen einteilen: 1. Unter den religiös motivierten Schreibern und – vermehrt – Schreiberinnen stammen viele aus dem Kreis der Devotio moderna und der monastischen Reformbewegung (Melk, Bursfelde). Mit grosser Hingabe arbeiteten die Kartäuser, vom bedeutenden Prior Guigo II. (gest. 1193) ermahnt, das Kopieren von Büchern als Vorzugsaufgabe zu betrachten. Sie überwachten sorgfältig die Verlässlichkeit ihrer Kopien und vermehrten fleissig die Bestände ihrer Bibliotheken, die ausserordentliche Ausmasse erreichten. Die Büchersammlung der Grande Chartreuse war eine der grössten in ganz Frankreich, jene der Kölner Kartause die umfangreichste in der Stadt, beachtlich war auch die Handschriftensammlung der Kartause Basel.64 2. In der Mitte des Wegs von den rein religiösen zu den rein gewerblichen Schreibern situieren sich die Brüder vom gemeinsamen Leben. Diese im 14. Jahrhundert in den Niederlanden entstandene und sich rasch ausbreitende Gemeinschaft strebte persönliche religiöse Vertiefung an und stellte sich gleichzeitig in den Dienst der Mitmenschen. Ihre Bibliotheken machten sie der Öffentlichkeit zugänglich und kopierten zu ihrem Lebensunterhalt vor allem erbauliche Schriften. Sie arbeiteten auftragsweise, gemäss schriftlicher Übereinkunft vor Zeugen, verlangten eine Anzahlung und händigten die fertige Kopie erst aus, wenn der volle Betrag beglichen war. Ein bemerkenswertes Beispiel gewerbsmässiger Bücherherstellung mit spirituellem Hintergrund.65 3. Spätmittelalterliche Schreibstuben gab es im deutschsprachigen Raum manche – beispielsweise jene von Viktor Schopf in Freiburg i.Br. oder jene der Clara Hätzerlin in Augsburg, die durch ihre Liedersammlung bekannt ist.66 Doch wurden sie überragt vom Unternehmen, das Diebold Lauber im elsässischen Hagenau mit mehreren Mitarbeitern betrieb. Gewerbsmässig, auf Vorrat, wie spätere 63 Silvia Maddalo: Sanvito e Petrarca. Scrittura e immagine nel codice Bodmer. Messina 2002, S. 85-108. 64 Vgl. H. Finger: Kartäuserbibliotheken. In: 2LGB 4 (1995), S. 167f. 65 Vgl. R. Stupperich: Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben. In: LexMA 2 (1983), Sp. 733-736; Ders.: Brüder vom gemeinsamen Leben. In: TRE 7 (1993), S. 220-225. 66 Zu den verschiedenen Schreibstuben s. Hans-Joachim Koppitz: Studien zur Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. München 1980, S. 34-62.
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Verleger, und für einen breiten Kundenkreis in Marktorten, Städten und Burgen wurden Historienbibeln, Legenden, naturkundliche Werke, deutsche Epen und Lieder kopiert und mit schlichten, bewusst stereotypen Buchmalereien ausgestattet.67 Mit Diebold Lauber, dem bekanntesten Vertreter einer manuellen, gewinnorientierten, seriell arbeitenden Buchwerkstätte zeichnet sich, noch diffus, eine Grenzscheide zwischen zwei Zeitaltern ab: zwischen einem von der Handschrift dominierten und einer Ära, in welcher ein technisches, völlig neuartiges Herstellungsverfahren von Büchern aufkommen wird. Die Drucker werden weitgehend die Schreiber verdrängen – jedoch nicht ganz. Das pragmatische Schrifttum wird in der Hand von Rats-, Stadt-, Gerichts- Steuerschreibern und Notaren verbleiben,68 Kalligraphen und Schreibmeister werden das Büchergestalten gehobener Art fortsetzen und zum Beispiel mit grossformatigen liturgischen Prachthandschriften im 16. und 17. Jahrhundert eine späte Blüte heraufführen.69 Während des ganzen Mittealters haben Schreiber eine stupende Leistung erbracht, in allen literarischen Gattungen, in allen damals möglichen wissenschaftlichen Sparten. Gemäss den statistischen Methoden, die heute in der quantitativen Kodikologie auf der Basis von Handschriftenrepertorien, Katalogen alter Bibliotheken und solchen der datierten Handschriften angewendet werden, kann – so problematisch das Vorgehen sein mag – für das Gebiet des alten Reichs in den ungefähren Grenzen von 1500, in der Zeit vom 8. Jahrhundert bis zum Buchdruck, auf ein Gesamt von rund 2 Millionen hergestellter Manuskripte (ohne pragmatische Schriften) geschlossen werden. Von diesen wären etwa 120.000-130.000 erhalten, aus dem schreibintensiven 15. 67 Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau. 2 Bde. Wiesbaden 2001; Überblick über weitere neue Forschungsliteratur bei Christoph Fasbender: Werkstattschreiber. Aus Anlass der jüngeren Forschung zur Handschriftenproduktion Diebold Laubers. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 7 (2002), S. 110124. 68 Martin macht auf eine verbleibende Kategorie von Schreibern besonderer Art, die zu grauen Eminenzen in den Geheimgemächern von Regierenden mutierten, aufmerksam. Aus dem Skriptor wurde der Secretarius (im Sinn der Renaissance: Verwalter des Secretum). »Toujours, désormais, régneront les maîtres du calame ou de la plume chargés de concrétiser les décisions du souverain, et qui usurperont, comme par un mécanisme inéluctable, les réalités du pouvoir« (Henri-Jean Martin: Histoire et pouvoirs de l’ecrit. Paris 1988, S. 467). 69 Gewisse in der Liturgie verwendete Texte verblieben, sofern überhaupt das Bedürfnis je bestand, sie in Druckform umzusetzen, in handschriftlicher Gestalt, so Exultet-Rollen mit ihrer gegenläufigen Anordnung von Text/Melodie und Illuminierung. Vgl. Guglielmo Cavallo (Hg.): Exultet Rotoli liturgici del medioevo meridionale. Rom 1994.
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Jahrhundert allein 75.000.70 Zum Vergleich: mit etwas grösserer Sicherheit ist zwischen 1450 und 1500 eine gesamteuropäische Produktion von 18 [nach anderen sogar 20] Millionen Inkunabeln anzunehmen. Davon sind noch ca. 450.000-550.000 erhalten, was bei dem unvergleichlich grösseren Verschleiss, denen Wiegendrucke ausgesetzt waren, einem Verlust von durchschnittlich (je nach Gattung und Gegend) 97% entspricht.71 Genesis kai Phthora … 18 bzw. 20 Millionen – der Pionier, der diese Lawine losgetreten hat, ist Johannes Gutenberg aus Mainz.72 Während mehr als zwanzig Jahren entwickelte er schrittweise seine Erfindungen (metallische Einzeltypen mit entsprechender Legierung, Pressen, Druckerei) und brachte sie um 1450 zur Reife, zunächst in Kleindrucken (Donaten [lateinischen Elementargrammatiken], Kalendern, Ablassbriefen) und kurz darauf in einem überragenden Meisterwerk, der Gutenbergbibel (B 42).73 Dazu einige Details. Die Gutenbergbibel umfasst in der Regel zwei Bände bei den (ca. 140) Papierexemplaren und drei bis vier Bände bei den (ca. 40) auf Pergament gedruckten. Insgesamt zählt sie 643 Blätter, d.h. 1286 (inkl. 3 leere) Seiten. Das bewundernswert ausgeglichene Textbild mit Textura-Schrifttypen ist komponiert nach handschriftlichem Vorbild, gemäss dem Gesetz des Goldenen Schnitts, mit einem präzisen Gleichlauf der Zeilen (vgl. Abb. 28). Dieser ist möglich, da der Typenapparat nicht nur die Buchstaben des Alphabets, sondern auch Abkürzungen und Ligaturen umfasst, insgesamt 299 Zeichen. Abgesehen vom typographischen Erscheinungsbild weckt die Gutenbergbibel besonderes Interesse, weil sich der Druckvorgang ziemlich genau verfolgen lässt. Bei näherer Prüfung stellt man fest, dass Guten70 Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch [Anm. 53], S. 191; vgl. das ganze Kapitel: Die handschriftliche Buchproduktion, S. 163-307. 71 Ebd., S. 79. 72 Kurz zusammenfassend zur Erfindung des Buchdrucks s. Tilo Brandis: Handschriften und Buchproduktion im 15. und frühen 16. Jahrhundert. In: Ludger Grenzmann, Karl Stackmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände; 5), S.176-196; Hans E. Braun: Zur Erfindung des Buchdrucks. In: Le livre parmi les hommes – Das Buch unter den Menschen. Freiburg (Schweiz) 1987 (Défis et dialogues; 11), S. 53-100. 73 Kurzinformation bei G. Franz: Bibel mit 42 Zeilen (Gutenbergbibel/ B 42). In: 2LGB 1 (1987), S. 347-349. Ausführlich: Severin Corsten: Die Drucklegung der zweiundvierzigzeiligen Bibel. Technische und chronologische Probleme. In: Kommentarband zu Johann Gutenbergs zweiundvierzigzeiliger Bibel. Faksimile-Ausgabe nach dem Exemplar der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Berlin. München 1979, S. 33-65; Guy Bechtel: Gutenberg et l’invention de l’imprimerie. Une enquête. Paris 1992, S. 431-473.
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berg noch während des Setzens experimentiert hat. Auf den ersten fünf Blättern besteht eine Seite aus 40 Zeilen, auf Blatt 5 verso erhöht sich die Anzahl auf 41 und erreicht mit Blatt 6 recto die durchgehenden 42 Zeilen. Offensichtlich wurde der Durchschuss verändert. Da ab Blatt 129 ein zweiter Setzer gleichzeitig am Werk war, wiederholt sich der Übergang von 40 auf 42 Zeilen auf den Blättern 129 bis 132. Die parallele Tätigkeit von im ganzen vier Setzern ist auch an Leerstellen zu erkennen, da die Textmenge von einem Setzerabschnitt zum andern nicht genau im voraus kalkulieren liess. Der Tatbestand verwirrt sich, weil einzelne Exemplare der Gutenbergbibel von Anfang an 42 Zeilen aufweisen. Es hatte somit ein Neusatz stattgefunden, des Kauferfolgs wegen, von dem der aufschlussreiche Piccolomini-Brief berichtet.74 Wenn vier Setzer nebeneinander am Werk waren und die Drucker kontinuierlich arbeiten konnten, lässt sich die Herstellungsdauer der Gutenbergbibel auf die Jahre 1452 bis 1454 festlegen. Vielleicht wurde aber der Druck schon 1450 begonnen und 1453 abgeschlossen. Gutenberg war nicht nur ein Techniker mit hellem Kopf und Spürsinn für Kommendes, sondern auch ein umsichtig kalkulierender Unternehmer, der Geldgeber zu überzeugen, Mitarbeiter zu motivieren und einen Betrieb mit völlig neuen Dimensionen und Anforderungen aufzubauen verstand.75 Gewiss, Gutenberg trat nicht ganz als Deus ex machina auf.76 Er konnte sich manche Errungenschaft im Bereich der Metallbearbeitung zunutze machen, auch eigene Frühversuche (Aachener
74 Erich Meuthen: Ein neues frühes Quellenzeugnis (zu Oktober 1454?) für den ältesten Buchdruck. Eneo Silvio Piccolomini am 12. März 1455 aus Wiener Neustadt an Kardinal Juan de Carvajal. In: Gutenberg-Jahrbuch 57 (1982), S. 108-118. 75 Verwiesen sei auf folgende neuere Darstellungen: Bechtel: Gutenberg [Anm. 72]; Stephan Füssel: Gutenberg und seine Wirkung. Frankfurt a.M./ Leipzig 1999; Gutenberg, Aventur und Kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution. Hg. v. der Stadt Mainz. Mainz 2000. 76 Offen bleibt die Frage einer Beeinflussung durch weitaus ältere fernöstliche Druckverfahren mit beweglichen Lettern. An eine präzise Vermittlung ist nicht zu denken, da die technischen Unterschiede zu offensichtlich sind und nicht erklärbar wäre, weshalb die Experimentierphase Gutenbergs so lange gedauert hat. Zu erwägen wäre, dass Stempel, die in vielen Gewerben verwendet wurden, eine mäeutische Bedeutung gehabt hätten. Vgl. Bechtel: Gutenberg [Anm. 72], S. 84-89. – Die Frage, ob Blockbücher als Vorstufe der Typographie gelten können, wird von der neueren Forschung mehrheitlich verneint. Vgl. Sabine Mertens: Was sind Blockbücher? Technik, Themen, Terminologie. In: Blockbücher des Mittelalters. Bilderfolgen als Lektüre. Hg. v. GutenbergGesellschaft u. Gutenberg-Museum. Mainz 1991, S. 13-18, hier S. 17; Ursula Baurmeister: Das Blockbuch – Vorläufer oder Konkurrent des mit beweglichen Lettern gedruckten Buchs? In: Rück (Hg.): Rationalisierung der Buchherstellung [Anm. 56], S. 147-164, hier S. 156.
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Heilsspiegel).77 Es mochten gewisse Kontakte bestanden haben zu Experimentierern, die mit ähnlichen Vorhaben befasst waren. Denkbar wären z.B. Waldfoghel oder Ferrose in Avignon.78 Ohne die unterdessen verbreitete Verwendung von Papier wäre Gutenbergs Erfindung undenkbar gewesen, ebenso illusorisch wie ein so bedeutendes Unternehmen zu wagen ohne Beihilfe finanzkräftiger Bankiers, die Kredite gegen Gewinnbeteiligung gewährten. Bekannt sind Gutenbergs Beziehungen zum Strassburger Finanzmann und vielseitigen Unternehmer Hans Friedel von Seckingen.79 Mit dem Kreditgeber Johannes Fust sollte sich sein Weg in Mainz kreuzen. Der Durchbruch, in dem sich alle Ansätze und alle seine Vorarbeiten bündelten, ist Gutenbergs souveräne Leistung. Seine Erfindung besteht darin, dass er die manuelle Wiedergabe der Schrift durch ein autonomes Verfahren, mittels einer ausgeklügelten Gusstechnik, in technische Reproduktion überführte. Durch das Zerlegen der Textmenge in Einzelteile, die theoretisch unendlich neu kombinierbar und vervielfältigbar sind, schuf er ein geniales System, das mehr als 350 Jahre fast unverändert praktiziert worden ist.80 (Erst in unseren Tagen wurde es abgelöst, zunächst durch den Photosatz, dann durch Desktop Publishing und durch neue digitale Verfahren)81. Unvorstellbar für die Zeitgenossen war der Quantensprung von der komplizierten Anfertigung handschriftlicher Unikate zum gedruckten Buch, das in grösseren Mengen, in identischen Exemplaren, rationeller und schneller verfügbar war, zunächst zwar nur in Mainz, etwa zehn Jahre später auch in Bamberg und Strassburg, dann wie von einem Flächenbrand erfasst, in anderen Ländern, in Italien vorab und hier besonders in Venedig. 1470 waren Druckereien in 16 Orten im Betrieb, zehn
77 Zu Neuerungen in der Metallverarbeitung vgl. Volker Schmidtchen: Technik im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zwischen 1350 und 1600. In: Karl Heinz Luwig, Volker Schmidtchen: Metalle und Macht 1000 bis 1600. Frankfurt a.M./ Berlin 1992 (Propyläen Technikgeschichte), S. 356-392. – Zu den Heilsspiegeln vgl. Kurt Köster: Gutenbergs Strassburger Aachenspiegel-Unternehmen von 1438/1440. In: GutenbergJahrbuch 58 (1983), S. 24-44. 78 Vgl. Wolfgang von Stromer: Zur ars artificialiter scribendi und weiteren künsten der Waldfoghel aus Prag und Girard Ferroses aus Trier. Nürnberg 1433-34 und Avignon 1444-46. In: Technikgeschichte 49 (1982), S. 279-289. 79 Wolfgang von Stromer: Hans Friedel von Seckingen, der Bankier der Strassburger Gutenberg-Gesellschaften. In: Gutenberg-Jahrbuch 58 (1983), S. 45-48. 80 Hans Adolf Halbey: Der neue Gutenberg-Aspekt. In: Imprimatur NF 9 (1980), S. 32f. 81 Stephan Füssel: Gutenberg goes electronic. In: Gutenberg-Jahrbuch 71 (1996), S. 1522; Alexander Schorsch: Crossmedia – nach Gutenberg die zweite Revolution in der Druckgeschichte. In: Gutenberg-Jahrbuch 76 (2001), S. 254-260.
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Jahre später bereits in 87 Städten.82 Um 1500 arbeiteten in rund 250 Lokalitäten etwas mehr als 1100 Offizinen, die ca. 30.000 Werke in 20 Millionen Exemplaren herstellten.83 Mit voller Intensität breitete sich die Typographie erst 70 Jahre nach der Erfindung aus, als ab 1520 mit der Reformation ein gewaltiger Ausstoss von Bibeln, Broschüren und Flugschriften erfolgte, welcher die Menge der Ausgaben und der Auflagen in die Höhe schnellen liess. Nach Schätzungen wurden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts 100.000 Werke in 50 Millionen Exemplaren fertiggestellt.84 Bewegten sich die Auflagezahlen anfangs im Durchschnitt zwischen 180 (Gutenbergbibel), 250, 500 bis 1000 Exemplaren,85 waren nun unter Umständen 3000 Bücher, wie Luthers September-Testament, in wenigen Wochen ausverkauft. Die Druckqualität sank jedoch in Deutschland im Verlauf des 16. Jahrhunderts empfindlich. Damit sind wir der Entwicklung vorausgeeilt. Der Medienübergang von der Handschrift zum Druck vollzog sich nicht brüsk, er war vielmehr fliessend. Drucker ahmten in der Frühphase bewusst das Erscheinungsbild der Manuskripte nach. Gutenberg reproduzierte technisch eine Bibelhandschrift des 14. Jahrhunderts, allerdings mit einer raffinierten Differenzierung der Lettern und Ligaturen. Wegen der Ähnlichkeit mit einem Manuskript liess man sich in der Lambeth Palace Library bis ins 19. Jahrhundertin in die Irre führen und verwechselte eine Gutenberg- mit einer handgeschriebenen Bibel.86 Anfangs gab es Überschneidungen von Chirographie und Typographie. Drucke mussten handschriftlich ergänzt werden, weil der Zweifarbendruck, den z.B. Gutenberg auf einigen Blättern versucht hatte, technisch und zeitlich zu aufwendig war. Der Platz für Initialen war 82 Ursula Rautenberg: Von Mainz in die Welt. Buchdruck und Buchhandel in der Inkunabelzeit. In: Gutenberg. Aventur und Kunst [Anm. 75], S. 236-247, hier S. 239. 83 Wolfgang Neuber: Ökonomie des Verstehens. Markt, Buch und Erkenntnis im technischen Medienwandel der frühen Neuzeit. In: Horst Wenzel u.a. (Hg.): Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Mailand 2000 (Schriften des Kunsthistorischen Museums Wien; 3), S. 181-211, hier S. 181. 84 Rudolf Hirsch: Printing, Selling and Reading 1450-1550. 2. Auflage. Wiesbaden 1974, S. 105. 85 Zur Auflagenhöhe vgl. ebd., S. 66f. S. Corsten: Auflagenhöhe der Frühdruckzeit. In: 2 LGB 1 (1987), S. 167f. Eine zahlenmässige Sonderstellung nimmt das Missale Cluniacense ein, das der ursprünglich in Basel tätige Michael Wenssler 1493 in Cluny druckte, und zwar in einer nach den Bedürfnissen der einzelnen Priorate des Ordensverbandes sich richtenden Auflage von 3000 Exemplaren. Vgl. Joseph Leisibach u. Michel Dousse (Hg.): Liturgica Friburgensia. Des livres pour Dieu. Schrift und Gebet. Freiburg (Schweiz) 1993, S. 93. 86 Martin: Histoire et pouvoirs de l’ecrit [Anm. 68], S. 221.
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ohnehin für den Illuminator ausgespart,87 ehe Holzschnittinitialen die gemalten Einfügungen ersetzten. Auch wenn Fust und Schöffer auf Grund der Vorarbeit von Gutenberg mit dem Psalterium Moguntinum von 1457 und mit dem Psalterium Benedictinum von 1459 bewundernswerte Leistungen im Mehrdruckverfahren erbrachten, blieb es vorerst bei diesen einzelnen Erfolgen. Die gliedernde Qualität der farbigen Rubriken, geschweige von Lombarden (rot-blauen Zeichen für Textabschnitte oder Satzanfänge), war verloren und musste, besonders in juristischen Handschriften, als Nachteil der neuen Erfindung empfunden werden. Ein reizvolles Beispiel für das Hand-in-Hand-Gehen von Frühdruck und Schreibermetier ist die Schrift De laude scriptorum des Abtes Johannes Trithemius (1462-1516). Er verteidigt das aussterbende klösterliche Schreiben in einer D r u c k schrift, aber keineswegs in nostalgischer Polemik gegen das neue Medium, sondern aus Sorge um den Verlust an Spiritualität, welcher stilles Schreiben förderlich war.88 Schreibertum und Drucken verschränkten sich in einigen Klöstern, bes. jenen der Benediktiner. Parallel zu bestehenden Skriptorien wurden Klosterdruckereien eingerichtet. Im Kloster Subiaco stand die Wiege des Druckens in Italien. Am bedeutendsten war die Klosterdrukkerei von St. Ulrich und Afra in Augsburg.89 Gleitende Übergänge zwischen Handschrift und Druck gab es auch im gegenläufigen Sinn: Drucke wurden, wohl aus Kostengründen, 90 handschriftlich rückkopiert. Das Abschreiben geschah mitunter so mechanisch, dass auch Ligaturen, Akzente und Abkürzungen, die nur im Druck Sinn machten, übernommen wurden. So kopierte der Abschreiber einer gedruckten Geschichte Spaniens auch das Kolophon, in welchem sich der Drucker rühmt, den Text ohne Feder hergestellt zu haben. Es kam vor, dass Drucker Schreiber beauftragten, fehlende
87 Die eingefügten Initialen der Gutenbergbibel in der Bodmeriana lassen nicht nur den Buchmaler (Heinrich Molitor) identifizieren, sondern geben auch einen wichtigen Hinweis auf ein Segment des Käuferkreises der Gutenbergbibel: auf bayerische Reformklöster. Für solche war Molitor des öftern tätig; vgl. Eberhard König: Möglichkeiten kunstgeschichtlicher Beiträge zur Gutenberg-Forschung. Die 42zeilige Bibel in Cologny, Heinrich Molitor und der Einfluss der Klosterreform um 1450. In: GutenbergJahrbuch 59 (1984), S. 83-102. 88 Michael Embach: Skriptographie versus Typographie. Johannes Trithemius’ Schrift De laude scriptorum. In: Gutenberg-Jahrbuch 75 (2000), S. 132-144. 89 H. Finger: Klosterdruckereien. In: 2LGB 4 (1995), S. 246f. 90 Noch längere Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks überwog der Preis für eine Inkunabel jenen für die entsprechende Handschrift. Ab 1470 wurden Drucke zwischen 50 bis 80 % billiger als Manuskripte des gleichen Texts. Vgl. Hirsch: Printing [Anm. 84], S. 68f.
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Druckseiten handschriftlich zu ersetzen, um den Weiterverkauf nicht zu gefährden.91 Eindrückliche Symbiosen resultierten aus der Zusammenarbeit von Druckern und Buchmalern. So liess der Buchhändler Antoine Vérard in Paris Pergamentdrucke, die er für Könige und andere hochgestellte Persönlichkeiten reservierte, von namhaften Künstlern illuminieren.92 Im Jüngeren Gebetbuch Kaiser Maximilians I. umspielen Randzeichnungen der grössten Meister der Zeit (Dürer, Cranach, Burgkmair u.a.) die kunstvolle, reich abgestufte, exklusiv für des Kaisers einziges Exemplar geschaffene Typographie.93 Das an Umfang und Rang am meisten frappierende Phänomen eines gleitenden Übergangs, einer Überlagerung von technischen und manuellen Elementen im Frühdruck, auf das die Forschung noch nicht allzulange aufmerksam geworden ist, lässt sich in Venedig beobachten.94 Hier pflegten Drucker seit etwa 1470/80, also gleich bei Einführung der Typographie 1469 in Italien, einen Teil der Gesamtauflage von auf Pergament gedruckten Inkunabeln ausserordentlichen Formats (bis 440 x 285 cm messend!) mit klassischen, patristischen, juristischen usw. Texten an solvente Kunden zu verkaufen. Bankiers, darunter auffallend viele in der Lagunenstadt ihre Geschäfte treibende Deutsche, beauftragten prominente Künstler, die sowohl als Tafelmaler als auch als Miniaturisten tätig waren, mit der Ausstattung der Drucke. Dank der Aufträge des Financiers und Sammlers Peter Ugelheimer (gest. 1487) arbeitete Venedigs berühmter Drukker Nicolas Jenson mit Künstlern wie Girolamo da Cremona, Benedetto Padovano, Franco dei Russi u.a. zusammen. Girolamo da Cremona und der Meister der Sieben Tugenden illuminierten die von Jenson 1477 gedruckte Ausgabe von Gratians Decretum und schufen die wohl
91 Zit. bei Paul Saenger: Word Separation and its Implications for Manuscript Production. In: Rück (Hg.): Rationalisierung der Buchherstellung [Anm. 56], S. 41-50, hier S. 50. Vgl. Hans Lülfing: Die Fortdauer der handschriftlichen Buchherstellung nach der Erfindung des Buchdrucks – ein buchgeschichtliches Problem. In: Lotte Hellinga, Helmar Härtel (Hg.): Buch und Text im 15. Jahrhundert. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung; 2), S. 17-26; M. D. Reeve: Manuscripts copied from Printed Books. In: Joseph Burney Trapp (Hg.): Manuscripts in the fifty years after the Invention of Printing. Some Papers read at a Colloquium at the Warburg Institute on 12.-13. March 1982. London 1983, S. 12-20. 92 Lucien Febvre u. Henri-Jean Martin: L’apparition du livre. 2. Auflage. Paris 1972, S. 179f. 93 Das Gebetbuch Kaiser Maximilians. Der Münchner Teil mit den Randzeichnungen von Albrecht Dürer und Lucas Cranach d.Ae. Rekonstruierte Wiedergabe. Einführung v. Hinrich Sieveking. München 1987. 94 Lilian Armstrong: The Hand-Illumination of Printed Books in Italy 1465-1515. In: Alexander (Hg.): The Painted Page [Anm. 62], S. 35-47 u. S. 163-208.
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prachtvollste, vierbändige italienische Inkunabel (vgl. Abb. 29).95 Ein grossformatiges bedrucktes Pergamentblatt präsentiert sich in einem mit Perlen, Gemmen, Satyrn, Nymphen und Putti reich dekorierten, in einer Landschaft aufgerichteten Rahmen. Das Blatt ist illusionistisch eingerissen, so dass zwischen den beiden Textkolonnen als Untergrund eine Dedikationsszene sichtbar wird. Gratian überreicht dem Papst sein Werk. Raffiniert fügt sich unterhalb das in grösseren Lettern zweifarbig gedruckte und mit prachtvoll gemalten Initialen hervorgehobene Incipit des Decretum ein. Es wird abgeschlossen mit einer Inschrift, die Ugelheimers Geschäfte und seine finanzielle Beteiligung an Jensons Drukkerei hervorhebt.96 Die Überlagerungsphase von Handschriftlichkeit und Buchdruck war nur eine Verzögerung des unaufhaltsamen Medienwandels. Gutenbergs Erfindung, einmal breit rezipiert, potenzierte die kommunikativen und wissensfördernden Strategien in nie gekanntem Ausmass, beschleunigte den Aufstieg moderner Wissenschaft und modifizierte in der Folge das ganze soziale, intellektuelle und religiöse Leben, besonders, was 70 Jahre später die Reformation und die Gegenreformation betrifft.97 Der Buchdruck verstärkte die schon von der Verschriftung gegenüber der Oralität bewirkte Verschiebung von der auditiven zur visuellen Wahrnehmung und »ersetzte […] die in der Welt des Denkens und des Ausdrucks fortwährende Dominanz des Hörens durch eine Vorherrschaft des Sehens.« 98 Durch ihn wandelte sich die Beziehung zwischen Produktion und Rezeption. Chirographische Kultur war am Schreiber orientiert, welcher unter grosser Mühe, zuweilen mit platzsparender Miniaturisierung der Schrift (Pariser Bibeln!) und mit Abkürzungen, auf jeden Fall im Hochmittelalter mit leserunfreundlichen Verfahren sein Unikat vollendete. Das weniger anstrengende Drucken dagegen richtete sich aus auf den Verbraucher, dem das Pro-
95 Heute in Gotha, Landesbibliothek, Mon. Typ. 1477, 2o (12). Reproduktion und Kommentar in: Alexander (Hg.): The Painted Page [Anm. 62], S.190-193. 96 Ebd., S. 191f. 97 Vgl. Elizabeth L. Eisenstein: The printing press as an agent of change. Communications and cultural transformations in early-modern Europe. 2 Bde. 2. Auflage. Cambridge u.a. 1982, S. 163-302; Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987, S.118-123. Eisenstein betrachtet den Buchdruck als Ursache der ›Medienrevolution‹, während andere den Buchdruck als Folge vorausgehender multipler Veränderungen (z.B. Zunahme der Schriftlichkeit, breitere Leserschaft) verstanden wissen möchten. So Frieder Schanze: Der Buchdruck, eine Medienrevolution? In: Walter Haug (Hg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea; 16), S. 286-311, bes. S. 300-302. 98 Ong: Oralität und Literalität [Anm. 97], S. 122.
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dukt in Vielzahl, übersichtlich und leicht nachvollziehbar zur Verfügung gestellt wurde.99 In der Hand der Drucker bekam das Buch einen neuen Stellenwert. Die Typographen mussten anders als die Lohnschreiber des Spätmittelalters vom Ertrag ihrer Investitionen in technisches Gerät und von ihrer Arbeit leben, das Gedruckte gewinnbringend verkaufen können. Das Buch war zur Ware geworden,100 mit der sich Handel treiben und Gewinn erzielen liess, sofern die Marktlage, der Erwartungshorizont der potentiellen Käufer, richtig eingeschätzt wurde. Künftig hing über den Buchherstellern das Damoklesschwert des finanziellen Erfolgs.101 Sie konzentrierten sich daher auf absatzsichere, meist ältere Stoffe, was zur Folge hatte, dass der Buchdruck in der Frühphase sich restriktiv auf die Textauswahl, besonders deutscher Literatur auswirkte.102 Welche konzeptionelle und distributive Neuerungen brachte das gedruckte Buch gegenüber dem Codex? Wissen liess sich in nie gekanntem Ausmass überregional und seit dem 16. Jahrhundert interkontinental verbreiten.103 Auf präzise wissenschaftliche Abbildungen angewiesene Disziplinen wie Botanik, Geometrie, Kartographie, Anatomie usw. erhielten Aufwind.104 Aus dem intensivierten Wissenstransfer zogen nicht nur Professoren, Studenten, Gelehrte Nutzen, sondern auch Juristen, Kaufleute, Reisende. Den Text dokumentierende, ikonographisch qualitätvolle Abbildungen öffneten den Blick für unbekannte Welten, etwa Breidenbachs von Erhart Reuwich illustrierte Peregrinatio in terram sanctam (Mainz 1486) oder die Schedelsche Weltchronik von 1493 mit ihren detailfreudigen Veduten grosser Städte. 99 Ebd., S. 122f. 100 Vgl. Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M. 1991, S. 640-645; Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch [Anm. 53], S. 363. 101 »[…] die Erfindung des Buchdrucks hatte teilweise geradezu gegensätzliche Folgen […] sie gab der Verbreitung von Büchern enormen Aufschwung, drosselte aber zugleich die Zahl der überlieferten Titel, sorgte dafür, dass immer mehr Werke aus dem Traditionsstrom in rasch versickernde kleine Seitenarme abgeleitet wurden.« HansJoachim Koppitz: Zum Erfolg verurteilt. Auswirkungen der Erfindung des Buchdrucks auf die Überlieferung deutscher Texte bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts. In: Gutenberg-Jahrbuch 55 (1980), S. 67-78, hier S. 75. 102 Vgl. auch Koppitz: Studien [Anm. 66], S. 162-168. 103 Vgl. Febvre u. Martin: L’apparition du livre [Anm. 92], S. 243-246 u. S. 158-281 (überregional), S. 282-305 (interkontinental). 104 Paradebeispiel: die einem Tizianschüler zugewiesenen Holzschnitte in Andreas Vesalius’ 1543 bei Oporin in Basel erschienenem Werk De humani corporis fabrica Libri septem. Vgl. Frank Hieronymus: Oberrheinische Buchillustration. Bd. 2: Basler Buchillustration 1500-1545. Basel 1984, S. 644-652.
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Drucker der zweiten Generation begannen, Alltagsbedürfnisse der Menschen in schnellem Zugriff zu erfassen, in Pesttraktaten, gesundheitlichen Ratgebern, Arzneischriften auch für Tiere, Rechnungsfibeln, erbaulichen oder unterhaltsamen Traktaten, mit oft direkt aus mündlicher Tradition geschöpften, gut illustrierten Kleinschriften.105 Die kommerziell geprägte Ausrichtung der Buchherstellung und des Büchervertriebs wirkte sich nachhaltig auf die Buchgestaltung aus. Sie musste die Attraktivität der Druckerzeugnisse fördern. Dazu gehörte insbesondere Handlichkeit. Gegenüber den Handschriften verkleinerte sich das Format. Neu eingeführt wurde das Titelblatt.106 Es ersetzte das Kolophon der Manuskripte und erhielt, nach embryonalen Ansätzen um 1480, durch Wolfgang Stöckel in Leipzig 1500 die uns geläufige Form mit Buchtitel, Name des Verfassers und des Druckers sowie Erscheinungsjahr.107 Merkantiler Sinn der Verleger verstand es, in das Titelblatt Werbung zu integrieren und ihr Produkt als gar nützlich und hübsch zu lesen zu empfehlen,108 was um so nachhaltiger wirkte, wenn in Bibeln Holzschnitte grosser Meister und Formschneider (Dürers Apokalypse) oder wenn in Druckschriften erzählenden Inhalts auch noch so bescheidene Abbildungen zu bewundern waren. Mit dieser leisen Werbung um die Gunst des privaten Käufers und Lesers kontrastierte die in die Augen der Öffentlichkeit springende, massenhaft verbreitete, manipulierende politische Propaganda. Erst dank Gutenbergs Erfindung wurde sie effizient. Typographische Propaganda wurde angesichts der Türkenbedrohung bereits mit Gutenbergs Unterstützung betrieben. Kaiser Maximilian hat es wie kein anderer 105 Anneliese Schmitt: Zum Verhältnis von Bild und Text in der Erzählliteratur während der ersten Jahrzehnte nach der Erfindung des Buchdrucks. In: Wolfgang Harms (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien. Berichtsbände; 11), S. 168-182. Vgl. Peter Jörg Becker u. Eef Overgaauw (Hg.): Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln. Mainz 2003, S. 446-459. 106 Vgl. Ferdinand Geldner: Inkunabelkunde. Eine Einführung in die Welt des frühesten Buchdrucks. Wiesbaden 1978 (Elemente des Buch- und Bibliothekswesens; 5), S. 107112. 107 Zukunftweisend war diese Neuerung ebenfalls für die Bibliotheken, die nun Signaturen einführen, die Bücher eindeutig registrieren und zugänglich machen konnten. Vgl. Uwe Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte. Stuttgart 1999 (Universal-Bibliothek; 8915), S. 82-85. 108 Jörg Wickram preist sein 1555 publiziertes Rollwagenbuechlin folgendermassen an: Ein neüws, vor unerhhoerts Büechlein, darinn vil guter schwenck und Historien begriffen werden, so man in schiffen und auff den wegen deßgleichen in scherhheuseren unnd badstuben, zu langweiligen zeiten erzellen mag, die schweren Melancolischen gemueter damit zu ermünderen vor aller menigklich Jungen und Alten sunder allen anstoß zu lesen und zu hoeren. Allen Kauffleüten so die Messen hin und wider brauchen zu einer kurtzweil an tag bracht und zusammen gelesen.
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verstanden, durch Wort und Bild die öffentliche Meinung zu beeinflussen, mit kaiserlichen Mandaten, d.h. befehlsmässigen Aufrufen, Reichsaufgeboten, Achterklärungen und mit Flublättern im Schwabenbzw. Schweizerkrieg. In Feldmären (Zeitungsliedern), die mit reportageartigen Holzschnitten illustriert waren, wurde über siegreiche Schlachten berichtet. Kaiserliche Flugschriften riefen das Volk von Venedig auf, sich gegen die Obrigkeit zu erheben. In hochstilisierten Selbstdarstellungen wie im Theuerdank, in dem er sich seine Gedechtnus schuf, und weit gestreuten Einblattdrucken mit seinem Porträt rief sich Maximilian permanent in Erinnerung.109 Der amplifizierenden Propaganda folgte politische Restriktion auf dem Fuss: die den Druck regulierende und disziplinierende Zensur. Erst schwelte sie nur, erstmals in einer Kölner stadtrechtlichen Kontroverse, dann bald aus religiösen Gründen.110 Im Zeitalter des Absolutismus wurde sie als Vor- und Nachzensur zum Flächenbrand. (Dennoch waren viele Drucker schlitzohrig genug, obrigkeitliche Massnahmen zur Sozialdisziplinierung zu umgehen, durch Camouflage unter Angabe falscher Buchtitel und Druckorte, durch Abtauchen in den Untergrund, von wo aus sie – so in Frankreich – ihre libelles kolportierend in verschwörerischen Umlauf setzten).111 Eine neue, dem Zeitalter der Manuskripte fremde Situation entstand, als im aufwühlenden religiösen Zerwürfnis der Reformation riesige Massen von dogmatischen und vor allem pamphletischen Schriften und Flugblättern Glaubensüberzeugungen beeinflussen sollten. Die Frage ist berechtigt, ob die Reformation ohne den Buchdruck eine so grosse Durchschlagskraft besessen hätte, ohne das neue Druckzentrum Wittenberg, wo zeitweilig zwölf Offizinen nebeneinander arbeiteten, und ohne das calvinistische Genf, wo Refugianten, vor allem
109 Georg Wagner: Maximilian I. und die politische Propaganda. In: Ausstellung Maximilian I. Innsbruck 1969. S. 33-46; Eberhard Isenmann: Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter Friedrichs III. und Maximilians I. In: August Buck u.a. (Hg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 10), Bd. 3, S. 583-587; Füssel: Gutenberg und seine Wirkung [Anm. 75], S. 101-105; Jan-Dirk Müller: Kaiser Maximilian I. In: 2VL 6 (1987), Sp. 204-236, bes. Sp. 212f. 110 Zum Kölner Streit vgl. Otto Zaretzky: Der erste Kölner Zensurprozess. Ein Beitrag zur Kölner Geschichte und Inkunabelkunde. Köln 1906. Zur Zensur allgemein: Hirsch: Printing [Anm. 84] S. 87-103; Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982 (UTB; 1208). 111 Vgl. Robert Darnton: Literatur im Untergrund. Lesen, Schreiben und Politisieren im vorrevolutionären Frankreich. München 1985.
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aus Lyon, so billig arbeiteten, dass die Genfer Druckerzeugnisse konkurrenzlos in aller Welt verbreitet werden konnten.112 Die Liste der hier nur angedeuteten Bruchstellen zwischen dem Zeitalter der Manuskripte und jenem des gedruckten Buches liesse sich leicht verlängern. Die Zäsur ist jedoch nicht nur an einzelnen Phänomenen abzulesen, sondern auch an Menschen, welche die Wende am eigenen Leib erlitten bzw. diese ausgelöst und zum Erfolg geführt haben: Skriptoren hier, Typographen dort. Mit den ersten haben wir begonnen, mit letzteren sei dieser summarische Überblick abgeschlossen.113 Der Beruf des Druckers war eine Neuschöpfung der Ära Gutenberg. Er entstand im Umfeld der Metallverarbeitung, abzulesen nicht nur an den einzelnen Phasen von Gutenbergs Laufbahn, sondern auch daran, dass manche Inkunabeldrucker und deren Geldgeber vom familiären Umfeld her eine Affinität zum Metallbereich besassen.114 Bücher wurden neu mittels technischem Gerät hergestellt. Der Umgang damit musste gelehrt und gelernt werden. Einen wichtigen Fundus für das zu schaffende Metier stellten naturgemäss jene dar, durch deren Hand Texte bisher zustande kamen: die Schreiber.115 Einer der ersten Mitarbeiter Gutenbergs, Peter Schöffer,116 war in Paris als Schönschreiber tätig gewesen, somit als Schreiber höherer Stufe, mit einer ausgesprochenen Affinität zu Schrift und Text. Gleichzeitig hatte er dort studiert. Damit wird eine weitere Qualität von Druckpionieren manifest: sie verfügten häufig über eine höhere Bildung mit akademischen Graden und zeichneten sich durch geistige Beweglichkeit aus. (Oft blieben sie auch ohne Abschluss, was böse Zungen behaupten liess, Druckereien
112 Vgl. Henri-Jean Martin: Livre, pouvoir et société à Paris au XVIIe siècle (1598-1701). 2 Bde. Genève 1969 (Histoire et civilisation du livre; 3), Bd. 2, S. 31f. Zur Bedeutung des Buchdrucks für die Reformation vgl. Eisenstein: The Printing Press as an agent of change [Anm. 97], S. 303-450; Jean-François Gilmont (Hg.): La Réforme et le livre. L’Europe de l’imprimé (1517-v. 1570). Paris 1990; Füssel: Gutenberg und seine Wirkung [Anm. 75], S. 106-125; Schanze: Der Buchdruck, eine Medienrevolution? [Anm 97], S. 302. 113 Vgl. C. W. Gerhardt u. H. Neß: Drucker. In: 2LGB 2 (1989), S. 362-364. 114 Z.B. Michael Wenssler in Basel. Vgl. Carl Wehmer: Deutsche Buchdrucker des fünfzehnten Jahrhunderts. Wiesbaden 1971, Nr. 70. 115 Über Frühdrucker s. Ferdinand Geldner: Die deutschen Inkunabeldrucker. Ein Handbuch der deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts nach Druckorten. 2 Bde. Stuttgart 1968/1970. 116 S. Corsten: Schöffer, Peter d.Ä. In: 2LGB 6 (2003), S. 579f.; Hellmut Lehmann-Haupt: Peter Schoeffer of Gensheim and Mainz, with a list of his surviving books and broadsides. Rochester (New York) 1950; Cornelia Schneider: Peter Schöffer. Bücher für Europa. Mainz 2003.
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seien ein sicherer Hafen für gescheiterte Studenten).117 Viele waren Kleriker ohne höhere Weihen, sog. clerici uxorati: Peter Schöffer, Heinrich Keffer, Ulrich Zell, die nach Italien ausgewanderten Sweynheym und Pannartz u.a. Soziologisch ist bemerkenswert, dass das neue Metier früh auch Frauen eigene Wege öffnete. Die erste Frau, die im Kolophon eines deutschen Drucks erwähnt wird, ist Anna Rüegerin in Augsburg 1483. Selbständigen Unternehmerinnen begegnen wir in wachsender Zahl in Strassburg, London und Paris. Viele führten als Witwen die Offizin ihres verstorbenen Mannes weiter. Über Töchter von Druckervätern stieg mancher Geselle zum Meister auf.118 Frühdrucker mussten nicht nur manuell-technisch begabt und voll intellektueller Neugier und Agilität sein, sondern auch einen gesunden Geschäftssinn besitzen, um der Konkurrenz und den bald in Erscheinung tretenden skrupellosen Raubdruckern standzuhalten. Dazu bedurfte es neuer Strukturen. Zu Gutenbergs Zeiten bestand noch eine Personalunion von Drucker, Setzer und Buchhändler. Eine verantwortliche Person hielt die Fäden in der Hand, vom Herstellen des Druckapparats, vom Einkauf des anfangs noch teuren Papiers (mit Vorliebe aus Italien), dem Beschaffen riesiger Mengen von Pergament für luxuriöse Drucke (für 40 Pergamentexemplare der Gutenbergbibel waren 7000 Kälberhäute nötig) bis zum Verkauf der Drucke. 117 Vgl. Ferdinand Geldner: Bildungsstand und ursprünglicher Beruf der deutschen Buchdrucker des 15. Jahrhunderts. In: Hellmut Lehmann-Haupt (Hg.): Hommage to a Bookman. Essays on Manuscripts, Books and Printing, written for Hans P. Kraus on his 60th Birthday Oct. 12, 1967. Berlin 1967, S. 117-131. Ders.: Die ältesten Buchdrucker als ›Cives academici‹. Ein Nachtrag. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 11 (1970/1), Sp. 374-378. Geiler von Kaysersberg wetterte 1498 in seinen Fastenpredigten über das 27. Kapitel von Brants Narrenschiff (!), die Studenten kehrten unwissend und verdorben von der Universität zurück. Aus ihnen würden dann Drucker, Tagediebe, Gaukler, Possenreisser oder Badewärter, wenn es nicht noch schlimmer käme. Zit. bei Geldner: Bildungsstand, S. 119. 118 Wie unter den Schreiberinnen befanden sich unter den Druckerinnen auch Nonnen. Die ursprünglich als Skriptorinnen tätigen Dominikanerinnen von San Jacopo de Ripoli in Florenz arbeiteten gegen Entlöhnung als Setzerinnen und Typendesignerinnen in einer Offizin, die von zwei Predigerbrüdern geleitet wurde. Innerhalb von acht Jahren produzierten die Klosterschwestern 113 Editionen, darunter Boccaccios Decamerone. Drukkende Birgitinnen waren in England aktiv in enger Zusammenarbeit mit dem dortigen Erstdrucker William Caxton. Vgl. Driver: Women Printers [Anm. 49], S. 139-153, Lit. S. 152f.; E. Geck: Frauen im Druckgewerbe. In: 2LGB 3 (1991), S. 40f. Zusammenfassend Driver, S. 151: »With the invention of printing, we find women working with men to choose what would be printed, to set type, to operate the press, and to illustrate and to proofread the text. In an era when women’s social, economic, and legal status was subordinate yet intimately tied to that of husbands or of male relatives, or in the case of religious women, their superiors, in a time when women were directed to be chaste, silent and obedient, women did useful and productive work in the new public medium of printing.«
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Diese grosse Beanspruchung zwang zu differenzieren. Wie aus dem Schreiber der Drucker wurde, so aus dem Drucker der Verleger. Seine organisatorischen Fähigkeiten waren voll gefordert. Führte ein Verleger seine Geschäfte erfolgreich, konnte ein länderübergreifendes Unternehmen entstehen. Koberger in Nürnberg im 15., Plantin in Antwerpen im 16. Jahrhundert stehen als Beispiele. Andernfalls drohte der Ruin – den Skriptoren unbekannte Schattenseiten des neuen Berufs.119 Verband beide die Härte der Arbeitsbedingungen,120 so trennte sie mentalitätsmässig die grundverschiedene Einstellung zu ihrer Tätigkeit. Im beschaulich-mittelalterlichen Skriptorium mochte einer zwar trotzen, nolo plura scribere, die anderen aber sassen schreibversunken an ihren Pulten.121 In den Druckereibetrieben dagegen begann es laut und hektisch zuzugehen. Ein neues Zeitalter meldete sich an, in welchem Arbeitskonflikte entbrennen konnten, von Verbalinjurien protestierender Gesellen bis zu Streiks korporativ sich organisierender Setzer und Drukker, die gegen reich und mächtig werdende Unternehmer aufstanden.122 Schreiber und Drucker, Winithar und Gutenberg: zwei Berufe, zwei Namen, zwei Welten. Ein neues Medium, einem altehrwürdigen entsprossen, ein altes, vom neuen nicht gänzlich ausgelöscht. Und doch sassen bildlich gesprochen beide, Skriptograph und Typograph, noch im gleichen Boot. Erst die elektronische Medienrevolution unserer Tage schickt sich an, sie miteinander an einem Strand auszusetzen, an dem vorbei ganz neue Horizonte angesteuert werden. 119 Venedig bietet dafür ein Exempel: die Zahl von dort tätigen mehr als 100 Druckereien vor 1490 verminderte sich im letzten Jahrzehnt auf 23 und sank 1500 auf zehn ab. Hirsch: Printing [Anm. 84], S. 42. »It was indeed a survival of the fittest (if not always the best). The number of failures of presses was large, but we might well wonder why it was not much larger« (ebd., S. 29). 120 Der Arbeitstag eines Druckers währte im 16. Jahrhundert durchschnittlich zwölf Stunden, mit Beginn um 5 Uhr morgens. Febvre u. Martin: L’apparition du livre [Anm. 92], S.192-197. Eine Tag-Ordnung für Drucker aus dem 18. Jahrhundert schreibt auch noch eine Arbeitsdauer von 11 Stunden vor, ebenfalls ab 5 Uhr. Vgl. Karl J. Benziger: Geschichte des Buchgewerbes im Fürstlichen Benediktinerstifte U. L. F. v. Einsiedeln. Einsiedeln u.a. 1912, S. 164f. 121 Vgl. die Schilderung der Skriptoren von Saint-Martin in Tournai: Scriptorum quippe a Domino sibi datam exultabat, ita ut, si claustrum ingredereris, videres plerumque 12 monachos iuvenes in cathedris sedentes et super tabulas diligenter et artificiose compositas cum silentio scribentes ([…] beim Betreten des Skriptoriums hätte man zwölf meist junge Mönche auf ihren Stühlen und an kunstreich zusammengefügten Pulten sitzen und unter Stillschweigen schreiben sehen können) (Herimanni liber de restauratione S. Martini Tornacensis. In: Supplementa tomorum I-XII, Pars II. Supplementum tomi XIII. Hg. v. Georg Waitz u.a. Hannover 1883 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores in folio; 14), S. 274-317, hier S. 313). 122 Vgl. Febvre u. Martin: L’apparition du livre [Anm. 92], S. 199-202; Hirsch: Printing [Anm. 84], S. 38f.
Yvonne Dellsperger
Sebastian Franck und der Buchdruck Einleitung Die Lebenszeit Sebastian Francks (geboren 1499 in Donauwörth – gestorben 1542 in Basel) fällt in eine Epoche, in der sich das abendländische Christentum in einer tiefgreifenden Umbruchsphase befand. Das Auftreten Martin Luthers und die Entfaltung einer neuen Theologie hatten zur Folge, dass die bestehende alte Kirche in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Mit der Kritik an der spätmittelalterlichen römischen Kirche, insbesondere an deren kirchlichen Dogmen und Lehrtraditionen, wurde die Unmittelbarkeit zwischen dem einzelnen Menschen und seinem Gott in stärkerem Masse betont und die Predigt des reinen Evangeliums ohne menschliche Lehre und Zusatz propagiert. Als eine ursprünglich »innerkirchliche Erneuerungsbewegung« brachte die Reformation schon bald eine Vielfalt von sozialen, kulturellen, ökonomischen, verfassungsrechtlichen, innen- und aussenpolitischen Veränderungen mit sich und löste in Deutschland, wo die Umwälzungen ihren Anfang nahmen, heftige gesellschaftliche Konflikte aus. Mit dem Bauernkrieg und der Entstehung der verschiedenartigen evangelischen Kirchen verschärften sich die Interessengegensätze zunehmend, was zu einem Dauerkonflikt verschiedener Institutionen und Konfessionsparteien führte. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen spielte die Erfindung der Drucktechnik zweifellos eine zentrale Rolle: Mit Hilfe der neuen medialen Möglichkeiten und insbesondere der zahlreichen Verbreitung von Flugschriften versuchten die widereinander streitenden Konfessionen die Meinungsbildung ihrer Gemeindemitglieder zu formen und zu kontrollieren. Der Buchdruck, erstmals am Anfang des 16. Jahrhunderts als Massenmedium eingesetzt, hat in diesem Sinne wesentlich zur Verschärfung des gesellschaftlichen Konfliktpotentials beigetragen.1 1
Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 2: Reformation und Neuzeit. 2., durchges. Auflage. Gütersloh 2001, S. 1-9; Zur Reformation als »innerkirchliche Erneuerungsbewegung« sowie den wichtigsten theologischen Grundpositio-
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Sebastian Franck war sich als sogenannter »radikaler Reformer« 2 dieser Situation zweifellos bewusst. Er hat sich deshalb als Schriftsteller und Buchdrucker des neuen Mediums mit besonderer Vorsicht und taktischem Geschick bedient. Einige Schlaglichter auf seine schriftstellerische Tätigkeit und seinen Werdegang als Buchdrucker sollen dies im Folgenden erhellen. Zunächst wird ein kurzer Blick auf seinen unsteten Lebenslauf geworfen, bevor einzelne Stationen von Francks Druckertätigkeit beleuchtet werden. Ferner soll der Frage nachgegangen werden, wie sich Franck in seinen Schriften zu den neuen medialen Möglichkeiten geäussert hat: Hat er die Erfindung der Buchdruckerkunst ebenso optimistisch beurteilt wie viele seiner Zeitgenossen?
I. Wer war Sebastian Franck? Wenn in der Literatur Sebastian Francks Lebensgang nacherzählt wird, ist oft von der Einsamkeit und dem Verlassensein des aus Schwaben stammenden Autors die Rede. Berühmt ist die Stellungnahme Wilhelm Diltheys hierzu: »Dieser Mann ist einsamer noch als nachher Spinoza.« 3 Was hat es mit diesem in vielerlei Variationen immer wieder ausgeführten Bild des Einzelgängers und weltfremden Grüblers auf sich? Sebastian Franck stammt aus einfachen Verhältnissen: Vermutlich als Sohn eines Webers wurde er 1499 in der Reichsstadt Donauwörth geboren und hat an der Universität Ingolstadt und dem Dominikanerkolleg zu Heidelberg seine Studien absolviert.4 Ob er dort im Jahre 1518 Luthers Verteidigung seiner Disputationsthesen vor dem Ordenskonvent der Augustinereremiten selbst miterlebt hat, ist ungewiss. Als gesichert hingegen gilt, dass er mit Martin Bucer und Martin Frecht in Heidelberg zusammen studiert hat – zwei Bekanntschaften, die Francks späteres Leben entscheidend geprägt haben. Die folgenden sechs Jahre
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nen vgl. Peter Blickle: Die Reformation im Reich. 3., umfassend überarb. u. erg. Auflage. Stuttgart 2000, S. 23-85; Zur Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern und den kulturgeschichtlichen Folgen vgl. Jan-Dirk Müller: Formen literarischer Kommunikation im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Werner Röcke, Marina Münkler (Hg.): Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München/ Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte; 1), S. 21-53. Vgl. dazu George Huntston Williams: Radical Reformation. In: Oxford Encyclopedia of the Reformation 3 (1996), S. 375-384. Wilhelm Dilthey: Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 5 (1892), S. 337-400, hier S. 400. Zu den biographischen Einzelheiten vgl. besonders Alfred Hegler: Franck, Sebastian. In: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 6 (1899), S. 142-150 sowie Bruno Quast: Sebastian Franck. In: Stephan Füssel (Hg.): Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450-1600). Ihr Leben und Werk. Berlin 1993, S. 464-476.
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nach der Heidelberger Studienzeit sind bis heute nicht aufgehellt, so dass die Franck-Forschung sich hier leider mit einer Lücke in der Biographie konfrontiert sieht. Die anlässlich der späteren Ulmer Verhandlungen geäusserte Behauptung Martin Frechts, Franck habe zunächst als geweichter päbstischer [...] predicant 5, als katholischer Priester gewirkt, lässt sich urkundlich nicht belegen. Ab 1524 ist sein Lebensgang jedoch wieder detailliert nachvollziehbar: Im Jahre 1524 ist Franck in Büchenbach als lutherischer Kaplan tätig und taucht 1527 als evangelischer Frühmesser in dem Nürnbergischen Flecken Gustenfelden auf. 1528/29 legt Franck sein Pfarramt nieder, übersiedelt nach Nürnberg, heiratet seine erste Frau Ottilie Behaim und ist fortan als freier Schriftsteller tätig. In rastlosem Schreiben hat er in den nachfolgenden Jahren als Literat, Übersetzer, Kompilator und Sammler von Sprichwörtern ein riesiges Werk verfasst. Bis zu seinem Tod im Jahre 1542 lebte er in Strassburg, Esslingen, Ulm und Basel. Sucht man nach Gründen für den unsteten Lebensgang sowie das beständige Vertriebensein, so lässt sich geltend machen, dass Franck in einer Zeit der konfessionellen Auseinandersetzungen hartnäckig und unnachgiebig immer wieder das Recht des Individuums auf eine eigene Meinung in Glaubensangelegenheiten gefordert, mit dieser Haltung seine Zeitgenossen provoziert und womöglich überfordert hat. Seine Ideen muten bis heute überraschend modern an: Erstmals in aller Ausführlichkeit dargelegt hat er seine, einem mystischen Spiritualismus verpflichteten Gedanken in dem berühmten Brief an den niederrheinischen Antitrinitarier Johannes Campanus (1500-1575): Franck fordert in dem nur in frühneuhochdeutscher Abschrift und mittelniederländischer Übersetzung erhalten gebliebenen Dokument aus dem Jahre 1531 seinen Freund im Sinne seiner Toleranzidee dazu auf, auch all türcken vnd heiden als Brüder zu achten, da vil christen seien, die Christi namen nimmer gehort haben.6 Die Kirche bezeichnet er hingegen als eine seit der Apostelzeit unwiederbringlich verfallene kirch, um deren Wie-
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Vgl. dazu die Ulmer Akten, die Walther Köhler mit weiterem Quellenmaterial aus dem Nachlass Alfred Heglers herausgegeben hat: Alfred Hegler: Beiträge zur Geschichte der Mystik in der Reformationszeit. Hg. v. Walther Köhler. Berlin 1906 (Archiv für Reformationsgeschichte. Texte und Untersuchungen. Ergänzungsband; 1), S. 113-216, hier S. 203. Sebastian Franck: Brief an Johannes Campanus. In: Quellen zur Geschichte der Täufer. Bd. 7: Elsass. 1. Teil: Stadt Strassburg 1522-1532. Bearb. v. Manfred Krebs u. Johann Georg Rott. Gütersloh 1959 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte; 26), S. 301-325, hier S. 317. Eine ausführliche Inhaltsangabe gibt Karl Rembert: Die ›Wiedertäufer‹ im Herzogtum Jülich. Studien zur Geschichte der Reformation, besonders am Oberrhein. Berlin 1899, S. 217-226.
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deraufbau man sich nicht bemühen soll.7 Francks Ausführungen bringen insgesamt zum Ausdruck, dass es ihm nicht auf das äussere Bekenntnis, sondern auf eine Art von Frömmigkeit ankommt, die mit Gedanken an die innere Wiedergeburt in engem Zusammenhang steht und der individuellen Glaubenserfahrung jedes einzelnen Menschen grundlegende Bedeutung zumisst. Diese mystische Grundtendenz ist die Wurzel der unparteilichen Haltung Francks, vor deren Hintergrund auch sein Bruch mit der äusseren Kirche zu verstehen ist.8
II. Sebastian Franck als Buchdrucker in Strassburg, Ulm und Basel In der Einleitung zu seiner Franck-Bibliographie hat Klaus Kaczerowsky darauf hingewiesen, dass die meisten Ausgaben von Francks Werken und Bearbeitungen bis 1542 als »Originaldrucke« zu bezeichnen sind, an deren Herstellung Franck persönlich und in engem Kontakt mit dem jeweiligen Drucker beteiligt war.9 Die Feststellung erstaunt und wirft folgende Frage auf: Lässt sich aus den Quellen Genaueres über Francks Mitarbeit ermitteln, so dass man sich ein Bild davon machen könnte, auf welche Art und Weise – seltsam genug – ein Spiritualist wie Franck in einer Offizin handwerklich tätig war? Gehen wir die einzelnen Stationen von Francks Buchdruckertätigkeit nacheinander durch: Ob Franck möglicherweise schon beim Satz seiner 1530 veröffentlichten Chronica unnd beschreibung der Türckey,10 einer Verdeutschung und Bearbeitung des Tractatus de ritu et moribus Turcorum, in Nürnberg beteiligt gewesen ist, lässt sich aus den Quellen nicht ermitteln. Der Beginn von Francks Buchdruckertätigkeit fällt nach einer Darstellung des Franck-Biographen Eberhard Teufel erst in die StrassFranck: Brief an Johannes Campanus [Anm. 6], S. 316. Quast: Sebastian Franck [Anm. 4], S. 465f. Klaus Kaczerowsky: Sebastian Franck. Bibliographie. Verzeichnisse von Francks Werken, der von ihm gedruckten Bücher sowie der Sekundär-Literatur. Mit einem Anhang: Nachweise von Francks Briefwechsel und der Archivalien zu seinem Leben. Wiesbaden 1976, S. 11. 10 Vgl. dazu: Stephen C. Williams: ›Türckenchronik‹. Ausdeutende Übersetzung. Georgs von Ungarn ›tractatus de moribus, condictionibus et nequicia Turcorum‹ in der Verdeutschung Sebastian Francks. In: Dietrich Huschenbett, John Margetts (Hg.): Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Vorträge des XI. Anglodeutschen Colloquiums 11.-15. September 1989 Universität Liverpool. Würzburg 1991 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie; 7), S. 185-195. 7 8 9
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burger Zeit: Mitte Mai 1531 lässt sich Franck in Strassburg nieder und lässt in der von radikalen Reformern häufig frequentierten Offizin des Balthasar Beck am 5. September 1531 seine Chronica, Zeytbuoch vnnd Geschychtbibel erscheinen.11 Über die Zusammenarbeit von Franck und Balthasar Beck, der von 1527-1551 als Drucker in Strassburg tätig war und unter anderem Schriften von Melchior Hoffmann und Johannes Bünderlin herausgab, lässt sich wenig sagen.12 Den Strassburger Ratsprotokollen lässt sich nur gerade die Information entnehmen, dass Franck seine Chronica an den Zensurbehörden vorbeigeschmuggelt hat: Diese empörten sich darüber, dass Franck im druck mehr darin geschrieben und zugethan habe als ursprünglich dargelegt.13 Allein die Tatsache, dass Franck ein Jahrzehnt später heimlich – da aus der Stadt verbannt – nach Strassburg zurückkehrt, um die Stieftochter des Drukkers und seine zweite Frau, Margaretha Beck, zu heiraten, deutet auf eine enge Bekanntschaft und mögliche Zusammenarbeit hin.14 Aufgrund der Ulmer Akten hingegen lassen sich genauere Angaben zu Francks Buchdruckertätigkeit in den nachfolgenden Jahren von 1534 bis 1539 machen.15 Schon bald nach seiner Ankunft in Ulm konnte Franck in der berühmten Buchdruckerei von Hans Varnier tätig sein.16 Hier half er selbst beim Setzen seines philosophischen Hauptwerks, den 1534 erschienenen Paradoxa.17 Bei Varnier wurde im gleichen Jahr Das theur und künstlich Büchlin Morie Encomion gedruckt, ein Werk, das die von Franck selbst sogenannten Vier Kronbüchlein enthält. Dass Varnier als Drucker von Francks Büchern kein geringes Risiko einging, zeigt die Tatsache, dass er von der Zensur deswegen mehrmals gerügt 11 Zitiert wird im Folgenden nach dem Faksimiledruck der Ausgabe von 1536: Sebastian Franck: Chronica, Zeitbuoch vnnd Geschichtbibell [...] Ulm 1536. Reprographischer Nachdruck nach dem Exemplar der Hofbibliothek Donaueschingen. Darmstadt 1969. 12 Eberhard Teufel: Landräumig. Sebastian Franck, ein Wanderer an Donau, Rhein und Neckar. Neustadt an der Aisch 1954, S. 35. Zu Beck als Buchdrucker in Strassburg vgl. Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. 2., verb. u. erg. Auflage. Wiesbaden 1982, S. 442; Friedrich Ritter: Elsässische Buchdrucker im Dienste der Strassburger Sektenbewegung zur Zeit der Reformation. In: Gutenberg-Jahrbuch 38 (1963), S. 97-108, hier S. 104ff. 13 Zit. in: Quellen zur Geschichte der Täufer. Bd. 7 [Anm. 6], S. 395. 14 Will-Erich Peuckert: Sebastian Franck. Ein deutscher Sucher. München 1943, S. 185. 15 Julius Endriß: Sebastian Francks Ulmer Kämpfe. Ein Vortrag mit Anlagen. Ulm 1935, S. 3-45. 16 Hans Varnier d.Ä. (1431-1547?) druckte auch Schriften von Paracelsus und Kaspar von Schwenckfeld. Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts [Anm. 12], S. 470. 17 Francks Werke sowie die von ihm gedruckten Bücher sind alle verzeichnet bei: Kaczerwowsky: Sebastian Franck. Bibliographie [Anm. 9]. In den Fussnoten werden im Folgenden nur diejenigen Werke ganz zitiert, die als Quellen für vorliegende Arbeit gedient haben.
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wurde.18 Es dürfte ihm deshalb nicht unangenehm gewesen sein, dass Franck sich schon bald selbständig machte: Dank grosszügiger Unterstützung eines guten Freundes und ehemaligen Landsmanns aus Donauwörth, des reichen Augsburger Patriziers Jörg Regel, erhielt Franck zur Einrichtung einer Druckerei 700 Gulden vorgeschossen. Jörg Regel schrieb an den Ulmer Bürgermeister im Januar 1535, dass er beabsichtige, Sebastian Franck eine kleine Hilf zu tun und einen reichen Buchdrucker aus ihm zu machen [...], da er für ein solches gar vil Vorteils, Künst und Schicklichkeit habe. Er hoffe sehr, dass Gott sein Hilf und Segen dazu geben werde, damit Franck nit allweg andern Buchdrukkern helf, dass sie reich werden, Wein trinken und er Wasser. Ausserdem bat Regel, man möge Franck für seine Druckerei einen Raum in einem Kloster zur Verfügung stellen und einen Juden aus Augsburg, der hebräische Buchstaben habe und bei Franck hebräische Bücher setzen wolle, als Gehilfe und Druckerknecht zur Seite stellen.19 Franck konnte daraufhin in den Jahren von 1536-1539 in Ulm eine eigene Druckerei unterhalten und besass neben seiner Werkstatt einen eigenen Buchladen.20 Dennoch konnte er seinen Beruf nicht ungestört ausüben: Aus seiner eigenen Feder erschienen in seiner Druckerei im Jahre 1537 nur kürzere Texte.21 Alle grossen Werke der späten dreissiger Jahre, namentlich die 1538 erschienene Guldin Arch, das Germaniae Chronicon aus demselben Jahr sowie Das verbütschiert, mit siben Sigeln verschlossen Buoch aus dem Jahre 1539 mussten zunächst ausserhalb von Ulms Stadtmauern gedruckt werden.22 Dieser Umstand zeigt, dass Franck während seiner Ulmer Zeit wie bereits in Strassburg mit strengen Zensurbedingungen zu kämpfen hatte. In der Tat lässt sich in den zahlreichen Ratsprotokollen nachlesen, dass Franck beständigen 18 Teufel: Landräumig [Anm. 12], S. 57. 19 Endriß: Sebastian Francks Ulmer Kämpfe [Anm. 15], S. 3-46, hier S. 36. Der Brief von Jörg Regel ist in den Anlagen vollständig abgedruckt. Vgl. dazu auch Hegler: Beiträge zur Geschichte der Mystik in der Reformationszeit [Anm. 5], S. 102f. 20 Teufel: Landräumig [Anm. 12], S. 77. 21 Franck druckte in diesen Jahren die aus dem Lateinischen übersetzte, von Sebastian Münster stammende Schrift mit dem Titel 613 Gebot und Verbot der Juden, ein satirisches Gedicht über das Geld, Des Grossen Nothelfers und Weltheiligen Sankt Gelds oder Skt. Pfennigs Lobgesang, die Auslegung eines Psalms sowie ein Vorpsalm zu einer Übersetzung des Psalter-Texts. Kaczerowsky: Sebastian Franck. Bibliographie [Anm. 9], S. 89-93. 22 Die erste Ausgabe der Guldin Arch erschien in Augsburg bei Heinrich Steiner. Das Germaniae Chronicon druckte Christian Egenolff im August 1538 in Frankfurt a.M. Das verbütschiert Buch erschien wiederum in der ersten Ausgabe bei Heinrich Steiner in Augsburg. Erstaunlich ist, dass das Germaniae Chronicon in zwei Ausgaben im Jahre 1539 bei Hans Varnier in Ulm gedruckt wurde. Drei Monate später musste Franck die Stadt verlassen.
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Angriffen der Ulmer Prädikanten ausgesetzt war, die schliesslich auch seine Ausweisung aus Ulm erwirkten. In einem Brief (Abb. 30), den Franck von Basel aus am 22. Mai 1539 an den Seckelschreiber Eberhard Rümlang in Bern schrieb, um anzufragen, ob er sich mit seiner Druckerei in Bern niederlassen dürfe, schildert er seine Lage folgendermassen: Ich bin von Ulm diese raiss ausszogen, mir durch gots eingeben und schickung ein ort zu suchen und erwölen, da ich mich und die mein in ehern (Ehren) zu erhalten mer gelgenheyt, comoditet, fug und platz möchte haben dann zu Ulm. Erstlich ist zu Ulm kein papir, dan was ich 20 meil her von Basel oder Strassburg mit grosser gfar, sorg, wogung und kosten füeren lass und von dann wider wol 40 meil gen Franckfort; zum andern, das das grösst ist, dz man etwas zu vil Lutterisch oder waiss nit, wie ichs sol nennen, bei uns ist und die verordneten censores librorum keinen gfallen ab meinen Büechern haben und mir weder mein Arch, noch mein Germania, noch ytz mein verschlossen Buch zu trucken wöllen zu lassen, bin derhalb auss not verursacht worden, die an andere ort umb ein klein gelt zu verkauffen, als nemlich gen Franckfort und Augspurg, da seind es guten bücher und offenlich durch die censores zu trukken vergönt worden.23
Das Dokument gewährt Einblick in die damaligen Lebensumstände Francks und zeigt, mit welchen verzweifelten Bemühungen er erneut versucht hat, im Druckgewerbe den Lebensunterhalt für sich und seine kinderreiche Familie – Franck schreibt, er sei mit kindern überfall[en] – zu verdienen. Nicht ohne Stolz versucht er sich vor dem Berner Sekkelmeister ins beste Licht zu rücken, indem er ihm auseinandersetzt, was er Bern zu bieten habe: Ein schon truckerei sowie 10 schrift mit aller zu gehör, die er wegen der eitlen forcht der censorn wenig zu Ulm gebraucht habe. Es sei sein innigster Wunsch, bey den Schweitzer oder Aidgenossen zu sein, sonderlich bey euch zu Bern oder Basel. In Bern möchte Franck – da er noch biss umb 250 fl. (Gulden) bücher zu Ulm habe – einen schonen laden mit bücher[n] haben. Ferner gibt Franck Eberhard von Rümlang zu bedenken, dass der Markt in Basel bereits mit Buchdruckereien gesättigt sei, so dass er als armer Buchdrucker dort keinerlei Hoffnung auf ein bescheidenes Auskommen finden werde:
23 Sebastian Franck: Brief an Eberhard von Rümlang, Seckelschreiber in Bern. Bern, Staatsarchiv, B III 31, S. 55-58. Veröffentlicht von Adolf Fluri. In: Anzeiger für Schweizer Geschichte. NF 7 (1894-1897), S. 539-541, hier S. 540. Die neuhochdeutschen Zusätze in runden Klammern, wie sie von Adolf Fluri eingefügt worden sind, werden hier übernommen.
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So hab ich an Basel den mangel, es seind vil reicher trucker hern dar, 12 auf diesen tag, bei den kein armer gsel ergibt oder wol aufkomen kann. Darneben ists mit büchern übersetzt und wol 10 gäden oder läden mit allerley gattung von gar reichen Buchhandlern dar fail, ergib ich fremder armer under in (ihnen) wie ein flieg in einem stifel.24
Basel galt in dieser Zeit als das Zentrum des humanistischen Buchdrucks. Der überragende Gelehrte seiner Zeit, Erasmus von Rotterdam, hat längere Zeit dort gelebt und mit dem Drucker Johann Froben (14911527) zusammengearbeitet. Die Lebendigkeit der Erinnerung an Erasmus mag Franck darüber hinweggetröstet haben, dass er sich nun doch – ungeachtet des gesättigten Büchermarkts – in Basel niederlassen musste. Eberhard von Rümlang hat ihn vermutlich nicht dazu ermuntert, nach Bern zu kommen, da sich zwei Jahre vorher bereits Mathias Apiarius (1537-1554) hier niedergelassen hat. In Basel vergesellschaftete sich Franck mit dem Buchdrucker Nikolaus Brylinger (15371565).25 Franck muss im Herbst des Jahres 1542 in Basel gestorben sein, da bereits am 31. Oktober die gerichtliche Nachlass-Aufnahme in seinem Haus stattfand.26
III. Der Buchdruck – ein Quell göttlicher Weisheit? Sebastian Franck hat sich zeit seines Lebens nicht nur als Buchdrucker mit den neuen technischen Möglichkeiten auseinandergesetzt, sondern auch als Schriftsteller sein Interesse an den medialen Neuerungen der eigenen Zeit bekundet. An verschiedenen Stellen seines Werks ist von der Erfindung Gutenbergs die Rede. Wie hat Franck auf die veränderten Bedingungen öffentlicher Kommunikation reagiert? Begeisterung über die Erfindung des neuen Informationsmediums spricht aus einem Textausschnitt, der Francks Chronica, Zeytbuoch unnd Geschichtbibell entnommen ist. Bemerkenswert sind vier verschiedene Aspekte: Erstens scheint sich Franck nicht ganz im Klaren darüber zu sein, wer eigentlich als Erfinder der Buckdruckerkunst bezeichnet werden kann. Zweitens wird die Erfindung der neuen Technik hochgelobt, weil der Buchdruck die kostbaren Schätze schriftlicher Kunst dem grab der unwissenheit entrissen hat. Drittens dient die kunst 24 Franck: Brief an Eberhard von Rümlang, Seckelschreiber in Bern [Anm. 23], S. 541. 25 Zu Matthias Apiarius und Nikolaus Brylinger vgl. Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts [Anm. 12], S. 52 u. S. 39. 26 Franck hinterliess eine beachtliche Büchersammlung. Vgl. dazu Albert Bruckner: Verzeichnis der hinterlassenen Bücher Sebastian Francks. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 54 (1937), S. 286-289.
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der truckerey dazu, dass göttliche und unaussprechliche weisheit in die gemein ausgeteilt werden und viertens begegnet das häufig benutzte nationale Leitmotiv, wonach Deutschland mit der Erfindung des Buchdrucks gleichsam aus der Barbarei befreit worden sei. Nach Christi Geburt. M.cccc.xl.jar/ hats sich erstlich erzeigt under Keyser Friedrich.iii. die nimmer genuogsam gelobte kunst des buochtruckens in Teütschen landen/ von Johanne Genssfleisch zuo Mentz. Wiewol etlich die erfindung dieser kunst zuoschreiben Johanni Guottenberg von unn zuo Strassburg. Dardurch die kostbarn schætz schrifftlicher kunst/ in dem grab der unwissenheit lange zeit verborgen gelegen/ erœffnet seind/ und herfür an das liecht gelangt/ also das vil treffenliche und zuo menschlichem brauch nottürfftige büecher/ so etwan nit on kleine kostung zuo zeügen waren/ nun mit leichtem schatz gezeügt mœgen werden. Wolt Gott die kunst were aus vergunst zeitlicher erfunden/ so weren on zweifel etwan vil büecher/ unnd die besten Plinij/ Titi Livii. etc. nit also undertruckt und verloren worden. Durch die kunst der truckerey wirt der lang verschlossen brunn Gœtlicher und unaussprechlicher weissheit/ unnd kunst in die gemeyn aussgeteylt. Darumb die Teütschen/ besunder der erfinder dieser kunst alles lobs werdt ist/ ja Gott in jm/ durch den uns Gott diese kunst geben hat. Die dritten sagen/ diese kunst sei erdacht und auffkummen von Johanne Guottenberg einem Ritter zuo Mentz/ Anno. M.cccc.l27
Es handelt sich hier um einen bekannten, oft zitierten Textausschnitt aus der Chronica, der insbesondere in den Untersuchungen von Hans Widmann und Michael Giesecke Erwähnung gefunden hat.28 Zunächst stellt sich die Frage, was es mit der eigenartigen Aufspaltung in zwei Erfindergestalten auf sich hat, da im zitierten Textausschnitt einerseits von einem Johanne Genssfleisch, andererseits von einem Johann Guotenberg die Rede ist. Obwohl Gutenbergs Erfinderschaft in zeitgenössischen Quellen vielfach belegt ist,29 haben die Untersuchungen von Hans Widmann gezeigt, dass aus Gutenbergs Umgebung immer wieder 27 Sebastian Franck: Chronica, Zeitbuoch vnnd Geschichtbibell [Anm. 11], Bl. CCXLIIv. 28 Hans Widmann: Gutenberg im Urteil der Nachwelt. In: Ders. (Hg.): Der gegenwärtige Stand der Gutenberg-Forschung. Stuttgart 1972 (Bibliothek des Buchwesens; 1), S. 251-272; Ders.: Vom Nutzen und Nachteil der Erfindung des Buchdrucks – aus der Sicht der Zeitgenossen des Erfinders. Mainz 1973 (Kleiner Druck der GutenbergGesellschaft; 92), S. 7-56; Ders.: Die Wirkung des Buchdrucks auf die humanistischen Zeitgenossen und Nachfahren des Erfinders. In: Fritz Krafft, Dieter Wuttke (Hg.): Das Verhältnis der Humanisten zum Buch. Boppard 1977 (Kommission für Humanismusforschung; 4), S. 63-88; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M. 1991. 29 Alfred Swierk: Johannes Gutenberg als Erfinder in Zeugnissen seiner Zeit. In: Hans Widmann (Hg.): Der gegenwärtige Stand der Gutenberg-Forschung. Stuttgart 1972 (Bibliothek des Buchwesens; 1), S. 79-90.
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andere Namen vorgeschlagen wurden, um den Erfinder des Buchdrucks zu bezeichnen. Es kann in diesem Sinne von einem »planmässig[en] und von Erfolg begleitete[n] Versuch« gesprochen werden, das »Gedächnisbild Gutenbergs als des Erfinders zu verwischen [...].« 30 Insbesondere die Nachfahren des Maklers und Fürsprechers Johannes Fust, mit dem Gutenberg sich Anfang der 1450er Jahre zu einem Gemeinschaftsunternehmen zusammengetan hatte, versuchten durch tendenziöse Meinungsbildung den Glanz der Familientradition zu erhöhen: So behauptete Peter Schöffer, Enkelsohn des Johannes Fust, bereits in einer 1503 gedruckten Schlussschrift des Hermes Trismegistus, er stamme aus dem Geschlecht der Erfinder. Und einige Jahre später bezeichnete Schöffer in den Schlussschriften der beiden Ausgaben eines Mainzer Breviers seinen Grossvater Fust als »den ersten Erfinder und Urheber der Buchdruckerkunst«. Damit war der Grundstein gelegt, dass die Erinnerung an Gutenberg im Lauf dieses Jahrhunderts durch die Namen von Johannes Fust und Peter Schöffer zurückgedrängt wurde.31 Auch wenn Johannes Fust und Schöffer bei Franck namentlich nicht erwähnt werden, so ist die Verwirrung um die Person des Erfinders auf die eben dargelegte, eitle Verschleierungstaktik zurückzuführen. Die Aufspaltung in zwei Erfindergestalten mit den Namen Genssfleisch und Gutenberg geht dabei letztlich auf Jakob Wimpfeling zurück.32 Was bei Franck zunächst wie ein eigenständiges Verwirrspiel mit verschiedenen Namen anmutet, lässt sich durchaus mit zeitgenössischen Tendenzen in Zusammenhang bringen, die Gutenbergs Erfinderschaft immer mehr in neblige Entfernung rückten. Originell ist indes eine Äusserung Francks im vierten Kronbüchlein, die den eben skizzierten Sachverhalt pointiert zum Ausdruck bringt: Dort heisst es: Alle [...] künst sind eittel/ vnd müessen mit jren erfindern vnd besitzern vergehen.33 Auch hinsichtlich der Lobpreisung des jungen Buchdrucks und dem gleichzeitig zum Ausdruck gebrachten Bedauern über die verloren gegangenen Schätze der Vergangenheit folgt Franck dem zeitgenössischen Grundtenor: Die Humanisten, allen voran Francesco Petrarca, machten dem Mittelalter fahrlässiges Ignorieren der geistigen Tradition der Antike zum Vorwurf. Das Motiv findet nach Ausführungen von Hans Widmann »vollends Nahrung seit dem Aufkommen des Buch30 31 32 33
Widmann: Gutenberg im Urteil der Nachwelt [Anm. 28], S. 257f. Ebd., S. 260f. Widmann: Vom Nutzen und Nachteil [Anm. 28], S. 26, Anm. 46. Sebastian Franck: Kronbüchlein 4. Lob des göttlichen Worts. In: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Bd. 4: Die vier Kronbüchlein. Hg. v. Klaus Peter Knauer. Bern u.a. 1992, S. 236.
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drucks«.34 Der Jubel darüber, dass mit Aufkommen der neuen Technologie viele Kostbarkeiten der literarischen Überlieferung nun dem grab der unwissenheit entrissen werden können, geht häufig mit dem Bedauern einher, dass die mediale Revolution nicht schon früher stattgefunden hat. Sebastian Franck argumentiert in seiner Geschichtsbibel exakt auf diese Weise und stellt seufzend fest, dass on Zweyfel ettwa vil Bücher, insbesondere die besten Plinii, Titi Livii etc. nicht also verdruckt und verloren worden wären.35 Aus anderer Perspektive hat Michael Giesecke den zitierten Textausschnitt interpretiert: Nach seiner Darstellung gilt es auf der einen Seite die im Zitat verwendete Lichtmetapher, auf der anderen Seite die metaphorische Verknüpfung von »Kommunikation« und »Bewässerung« hervorzuheben. Giesecke macht darauf aufmerksam, dass – obwohl von den »Zeitgenossen gewiss nicht intendiert« und »möglicherweise nur auf der Ebene der Selbstbeschreibung« eine »grundlegende Wandlung der erkenntnistheoretischen Tradition« eingeleitet wird, wenn nicht mehr nur »Gott und die menschliche Vernunft« als Erkenntnisorgane gelten, sondern auch die Druckerei selbst zu einem Erkenntisorgan wird. In dem zitierten Textausschnitt aus der Chronica wird nach Giesecke diese Vorstellung dadurch hervorgerufen, dass der Buckdruck wie ein Scheinwerfer sein »Licht auf die vergessen geglaubten Worte und auf die Handschriften« richtet, die in »den düsteren Winkeln der mittelalterlichen Schatzkammer verstaubten«. Auf diese Weise finde gleichsam eine »Technisierung der Erkenntnis, der Illumination oder der Aufklärung« statt.36 Auf der anderen Seite ist nach Giesecke bemerkenswert, dass in dem Zitat ein Bild aus dem »Bereich der Bewässerungswirtschaft« herangezogen wird, um die »kommunikativen Leistungen der neuen Technologie zu veranschaulichen.« So wird der Gedanke formuliert, dass erst durch die Druckkunst der bis anhin verschlossene Brunnen göttlicher Weisheit und Kunst in die gemeyn aussgeteilt wird und man sich die Informationsvermittlung dementsprechend wie einen Wasserstrom vorstellen kann, der »ausgehend von einem ›Brunnen‹ oder einem anderen Reservoir über sich verzweigende Kanäle zu den potentiellen Empfängern fliesst«. Giesecke bringt die so hergestellte metaphorische Verknüpfung zwischen Bewässerung und 34 Widmann: Die Wirkung des Buchdrucks [Anm. 28], S. 78f. 35 Franck: Chronica, Zeitbuoch und Geschichtbibell [Anm. 11], S. CCXLIIV; Widmann verweist in diesem Zusammenhang etwa auf den Zürcher Universalgelehrten Konrad Gesner, der im Widmungsbrief seiner 1545 erschienenen Bibliotheca universalis ähnliche Überlegungen formuliert. Hans Widmann: Die Wirkung des Buchdrucks [Anm. 28], S. 78f. 36 Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit [Anm. 28], S. 150f.
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Kommunikation an anderer Stelle mit der biblischen Tradition in Zusammenhang: Die christliche Gemeinschaft wird traditionellerweise über die Taufe hergestellt, so dass alle Mitglieder der Christengemeinde durch das Wasser mit Gott in Berührung gekommen sind. Gott »erscheint in dieser Konzeption als Ursprung des Wassers, als Quelle«.37 Vor diesem Hintergrund bleibt Gott eigentlich nur das Amt, den Menschen den Buchdruck zu schenken. Dieser Aspekt, ebenfalls dem zeitgenössischen Grundtenor entsprechend, wird zum Schluss des Zitats ausgeführt: Die Buchdruckerkunst wird als eine Gabe Gottes gepriesen und den Deutschen, insbesondere dem Erfinder der Kunst das höchste Lob ausgesprochen. Nationaler Stolz und Dankbarkeit für das Gottesgeschenk verbinden sich hier.38 Betrachtet man den zitierten Abschnitt vor dem Hintergrund der Untersuchungen von Hans Widmann und Michael Giesecke, so lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Franck häufig verwendete Metaphern reproduziert und sich im Grunde wenig originell als Sprachrohr der damals üblichen Argumentationen darbietet. Damit ist vorläufig wenig darüber gesagt, welche Bedeutung er der neuen Technologie insgesamt zugeschrieben hat. Diese Annahme bestätigt sich vollends, wenn man einen Blick auf die der Chronica zugrunde liegende Quelle, die Schedelsche Weltchronik von 1493, wirft. Hier findet sich beinahe der gesamte Wortlaut, wie wir ihn von Francks Chronica her kennen, wieder. Einzig die Verwirrung um den Erfinder des Buchdrucks wird bei Schedel nicht thematisiert.39 Es stellt sich somit die Frage, ob sich zu Textpassagen anderer Werke weiterführende Überlegungen anstellen lassen.
IV. Schriftkritik und Wiedergeburt Seit einiger Zeit ist man sich in der Franckforschung einig darüber, dass es der Mithilfe von Forscherinnen und Forschern aus verschiedenen Disziplinen bedarf, um das vielgestaltige Werk des originellen Schwaben zu erschliessen. In dem 1993 in der Reihe der »Wolfenbütteler Forschungen« veröffentlichten Band zu Sebastian Franck finden sich Beiträge nicht nur von Fachvertreterinnen und -vertretern der Theologie, Philosophie, Geschichts- und Literaturwissenschaft, sondern auch der Judaistik und Geographie. Gleichzeitig mit dem Erscheinen des 37 Ebd., S. 157-159. 38 Zum Buchdruck als »allerletztes Geschenk Gottes« ebd., S. 159-167. 39 Hartmann Schedel: Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493. Einleitung u. Kommentar v. Stephan Füssel. Faksimile-Nachdruck. Köln 2001, Bl. CCLIIv.
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Sammelbands ist in der Franckforschung eine neue Fragestellung aufgetaucht: Nach Jan-Dirk Müller hat man sich Francks Werk lange Zeit zu Unrecht nur unter den »methodischen Prämissen der Geistesgeschichte« genähert: »Das eigentlich Erklärungsbedürftige, nämlich die Dispersion des Franckschen Schreibens auf so vielerlei Felder« sei jedoch – so Müller – »auf diese Weise nicht zu erfassen« gewesen. Vielmehr müsse danach gefragt werden, »welcher Platz dem ›Autor‹ oder besser: dem ›Schreiber‹ in den Werken zugewiesen wird, die Francks Namen tragen«.40 Im Zuge dieser neueren Forschungstendenzen hat Bruno Quast in seinen Untersuchungen zu der 1539 von Franck unter dem Pseudonym Friedrich veröffentlichten Friedensschrift, dem Kriegbüchlin des frides gezeigt, wie Franck seine Quellen auf raffinierte Weise umgestaltet: »Francks Schreibweise fordert die ungeteilte Aufmerksamkeit für jeden Satz: er kann sich bei näherem Hinsehen als Zitat, Paraphrase, Zitaterweiterung oder eigener Gedanke entpuppen.«41 Vor dem Hintergrund dieses aufs Detail konzentrierten Umgangs mit Quellen mutet es beinahe paradox an, dass für Francks Gesamtwerk eine fundamentale Kritik menschlicher Schrift und Kunst charakteristisch ist. Ebenso seltsam erscheint, dass sich innerhalb seines Gesamtwerks Textpassagen finden, die mit Blick auf den Buchdruck das Gegenteil dessen auszusagen scheinen, was oben anhand des interpretierten Textausschnitts aus der Chronica ausgeführt worden ist. So wird der Buchdruck in seinem 1528 erschienenen Frühwerk mit dem Titel Vonn dem grewlichen laster der trunckenheit mit allen möglichen Verderbnissen der damaligen Gegenwart in Zusammenhang gebracht: Ich geschweyg/ das fast in disen .100. jaren buochtrucken/ püchsengiessen/ alle scharpffe spitzige künst/ gotslesterung/ sauffen/ fressen/ mord/ vnkeüschheyt/ jha alle sünd und schand so gar ist auffkommen/ das kein schand vnnd sünd mehr ist/ dann das wehe thuot/ vnd der welt in jrm lust wider ist [...]. 42
Solche oder ähnliche Passagen mögen den Franck-Biographen Eberhard Teufel zu der Behauptung veranlasst haben, dass Franck insgesamt 40 Jan-Dirk Müller: Zur Einführung. Sebastian Franck. Der Schreiber als Kompilator. In: Ders. (Hg.): Sebastian Franck (1499-1542). Wiesbaden 1993 (Wolfenbütteler Forschungen; 56), S. 13-38, hier S. 14. 41 Quast: Sebastian Franck [Anm. 4], S. 472f. 42 Sebastian Franck: Vonn dem grewlichen laster der trunckenheit. In: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Bd. 1: Frühe Schriften. Hg. v. Hans Gert Roloff. Berlin u.a. 1993, S. 408. Franck erwähnt die Truckerey auch in seiner Chronica. Des gantzen teutschen lands und bringt die neue Erfindung mit dem büchsen schiessen in Zusammenhang. Vgl. dazu Sebastian Franck: Chronica. Des gantzen. Teutschen lands [...] Getruckt zuo Bernn inn Vechtland by Mathia Apiario [...] Anno 1539, Vv und CCXLVIIIr.
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die Erfindung der Buchdruckerkunst bedauert habe.43 Teufel, der diese These mit Blick auf die Vier Kronbüchlein formuliert, hat entsprechende Textausschnitte allerdings nicht vor dem Hintergrund der zahlreichen und ausführlichen Überlegungen Francks zu den menschen kunsten betrachtet. Seiner These ist ferner entgegenzuhalten, dass ein klares Bedauern über die Erfindung Gutenbergs in den Kronbüchlein an keiner Stelle formuliert wird. Vielmehr gilt es zu berücksichtigen, dass Franck seine fundamentale Kritik an menschlicher Schrift und Kunst in den Vier Kronbüchlein vom Standpunkt der Wahrheit des gœtlichen Worts ausgeführt hat.44 Dies lässt sich auch anhand seiner 1535 verfassten Ulmer Deklaration aufzeigen, die Franck zur Verteidigung seiner »Irrlehren« den Ulmer Schulpflegern unter der Leitung von Martin Frecht vorlegen musste. Das Dokument enthält einen kurzen Abschnitt mit der Überschrift: Von menschen kunsten, wie si ausz dem teufel sein genent worden, ob sy wol gaben gottes seind.45 Alle sprach und erbere kunst – so führt Franck aus – sind gar edel gaben gottes: kunstlich steinhauen, zimmern, pallieren, graben, stechen, sticken, malen in silber, gold, ertz, stein und holtz – gegen alle diese Tätigkeiten und Menschenkünste sei im Grunde nichts einzuwenden. Im Anschluss daran gibt Franck allerdings zu bedenken, dass mit Blick auf die sündhafte Menschennatur alle Gottesgaben sich in ihr Gegenteil verkehren können. Er beruft sich in diesem Zusammenhang auf Agrippa von Nettesheim und Erasmus von Rotterdam. Auch Bernhard von Clairvaux dient als Gewährsmann: Auf diese weisz haben vor mir Cornelius Agrippa, Erasmus in Moria und andere die menschen kunst und fund deuflisch genent, und s. Bernhard haiszt den berg, darauf Luciper zuom fall gestanden und gefallen sey, den berg der kunst, dz er sich etwas neben got hat wœllen wiszen und duncken laszen.46
43 »Die vier Kronbüchlein, von der Zensur stark angefochten, stellen die Weisheit und Frömmigkeit der Welt in Gegensatz zur göttlichen ›Torheit‹, erweisen die Nichtigkeit aller irdischen Künste, wobei Franck mit dem Pessimismus des Agrippa ganz übereinstimmt und sogar die Erfindung der Buchdruckerkunst bedauert.« Teufel: Landräumig [Anm. 12], S. 57. 44 Jan-Dirk Müller: Buchstabe, Geist, Subjekt. Zu einer frühneuzeitlichen Problemfigur bei Sebastian Franck. In: Modern Language Notes 106 (1991), S. 648-674. 45 In Kurzform trägt Franck hier die Kerngedanken seiner Anschauung zusammen, die er insbesondere in den Paradoxa und den Vier Kronbüchlein ausführlich zur Darstellung gebracht hat. Sebastian Franck: Deklaration (Stadtarchiv Ulm). In: Alfred Hegler: Beiträge zur Geschichte der Mystik in der Reformationszeit. Hg. v. Walther Köhler. Berlin 1906 (Archiv für Reformationsgeschichte. Texte und Untersuchungen. Ergänzungsband; 1), S. 140-179. 46 Franck: Deklaration [Anm. 45], S. 165.
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Franck betont im Anschluss an diese Ausführungen immer wieder die Torheit menschlichen Wissensstrebens und beruft sich vornehmlich auf Paulus, wenn es ihm um eine Verherrlichung apostolischer Einfalt geht: und Paulus: wer weisz will werden, der werde ein narr in dieser welt, auf dz er vor got weisz werd, dann der welt weiszheit und künst seyen ein torheit, tod, greul, und feindschaft vor got, 1. Cor [V. 25], 3. [V. 18]; Rom. 1 [V. 22], 8 [V. 7]; Luc. 16 [V. 8].47
Ausgehend von dieser paulinischen Anschauung ist es Francks Anliegen, zu zeigen, dass der Mensch vor allen Künsten gotlich werden müsse. Wiederum mit Berufung auf Paulus spricht er sich gegen alle weltweisen und schrifftgelehrte[n] aus, die aufgrund eigener Kunst, Weisheit und Frömmigkeit nicht wissen, was es bedeutet, kunst in got ledig zu besitzen. Franck argumentiert in mystischen Kategorien, verwendet den Begriff der widergepurt und zeigt auf, dass alle Kunst verlernt werden muss, um gottes kunst zu lernen. Obwohl der Begriff der ›Gelassenheit‹ in diesem Abschnitt fehlt, wird mit der Wendung der kunst in got ledig zu besitzen, genau diese Haltung als Ergebnis eines Vollzugs beschrieben: Die Weltweisen und Gelehrten müssen ›lassen‹ um gottes kunst teilhaftig zu werden.48 Diese Haltung, auf die Franck in Anlehnung an die deutsche Dominikanermystik und die Theologia Deutsch in seinen Schriften immer wieder hindeutet, ist auch Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis der Heiligen Schrift, die nach Franck nicht uneingeschränkt mit dem wahrhaftigen wort gottes gleichgesetzt werden kann.49 Diese Überzeugung erörtert er im ersten Abschnitt der Ulmer Deklaration. Mit Hinweis auf den Prolog des Johannesvangeliums führt Franck aus: Gottes wort, dz da ewig ist und bleibt, auch ee die schrift war, ist gott selbs, Joan. (1) [V. 1.], kan derhalb kein buch, buochstab oder schrift sein, die nit alweg gewesen noch ewig sein wird.50
Im weiteren Verlauf der Argumentation wird erklärt, dass Gottes Wort, oder anders ausgedrückt, der Logos, mit verschiedenen Ausdrücken umschrieben werden kann: Neben dem Schöpfungslogos ist Gottes 47 Franck: Deklaration [Anm. 45], S. 165f. 48 Franck: Deklaration [Anm. 45], S. 165-167. Zum Begriff der ›Gelassenheit‹ vgl. Bernhard Fraling: Gelassenheit. In: Wörterbuch der Mystik. Hg. v. Peter Dinzelbacher. 2., erg. Auflage. Stuttgart 1998. (Kröners Taschenausgabe; 456), S. 184f. 49 Zur Theologia Deutsch, vgl. Josef Weismayer: Theologia Deutsch. In: Wörterbuch der Mystik [Anm. 48], S. 484f. 50 Franck: Deklaration [Anm. 45], S. 140.
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Wort ebenso mit dem sin Christi und dem geist der schrift in Verbindung zu bringen. Franck wechselt mit Absicht häufig die Bezeichnungen, mit denen er Gottes Wort umschreiben will.51 An anderer Stelle ist die Rede vom liecht des glaubens, vom geist Christi oder schlicht von geist und leben. Franck will mit diesem terminologischen Verwirrspiel deutlich machen, dass das Wort Gottes nicht auf eine Formel gebracht oder definitorisch festgeschrieben werden kann. Und entsprechend der paulinischen Unterscheidung von Geist und Buchstaben (II Cor 3, 6) wird ausgeführt, dass dem äusseren, geschriebenen oder gesprochenen Wort eine geringere Bedeutung zukommt als dem eigentlichen Wort Gottes. Die Heilige Schrift, die vorrucklich und zergencklich ist, soll deshalb lediglich ein zeugnus sein: Darin besteht nach Franck die eer und der brauch der schrift, die zeugen, weisen und erinnern soll, was von der salbung und dem vater des liechts gelehrt werden muss. Franck beteuert: Damit will ich der schrift ir gepürlich eer nit genomen sonder gegeben haben.52 Die Spiritualisierung der Schrift und die damit einhergehende Aufhebung des ›sensus historicus‹ bedeutet nicht, dass sie keine Achtung mehr verdient.53 Von diesem Standpunkt aus lässt sich abschliessend darlegen, mit welcher Wirkungsabsicht Franck sein Schreiben verbindet und auf welche Art und Weise sein Selbstverständnis als ›Autor‹ und Buchdrucker umschrieben werden kann. Als Schreiber und Kompilator hat Franck den Anspruch, Zeugnis von der göttlichen warheit abzulegen, die jedoch letztlich niemals geschrieben oder gesagt werden kann und sich auch nicht uneingeschränkt mit dem Buchstaben der Heiligen Schrift identifizieren lässt. Gottes kunst und Gottes art offenbart sich nach seinem Verständnis jedoch in den lebendigen historien oder in den von alters her überlieferten Sprichwörtern, die eine schriftlose, ursprüngliche Weisheit zu Ausdruck bringen.54 Als Verfasser einer umfangreichen Sprichwörtersammlung und mehrerer Chroniken ist es sein Anliegen, auf das lebendige Wort Gottes, wie er es in Weltgeschichte und Proverbien erfährt, hinzudeuten. Letztlich bleibt es aber Aufgabe des 51 Diese Tendenz zieht sich – wie Alfred Hegler ausgeführt hat – durch das Gesamtwerk. Alfred Hegler: Geist und Schrift bei Sebastian Franck. Eine Studie zur Geschichte des Spiritualismus in der Reformationszeit. Freiburg i.Br. 1892, S. 85. 52 Franck: Deklaration [Anm. 45], S. 143. 53 Francks Anschauungen decken sich hier im Wesentlichen mit denjenigen des Kaspar von Schwenckfeld. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Spiritualistische Exegese im Streit. Brenz, Soto, Schwenckfeld, Flacius. In: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Radikalität und Dissent im 16. Jahrhundert. Radicalism and dissent in the sixtheenth century. Berlin 2002 (Zeitschrift für historische Forschung. Vierteljahresschrift zur Erforschung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Beiheft; 27), S. 141-166, hier bes.: S. 154-159. 54 Müller: Buchstabe, Geist, Subjekt [Anm. 44], S. 656.
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Lesers, sich auf die Suche nach dem lebendigen Wort Gottes zu machen, da nach Francks Überzeugung keine menschliche Kunst Gottes Wort lehren kann. In seiner berühmten Vorrede zu Chronica wendet sich Franck dementsprechend in einer direkten Anrede an den Leser, der dazu aufgefordert wird, das göttliche Wort, das alles in allem (I Cor 15, 28) ist, in allen Dingen zu ergreifen: Ursach/ das wort und sein krafft will in seim thuon und wercken/ wie allmechtig es sei/ erkannt werden/ welchs nit allein schrifft/ oder in der schrifft verfasst ist/ ja nit geschriben mag werden/ sonder alles in allem ist/ darumb muostu dz wort nit allein in der schrifft/ sonder in allen dingen ergreiffen/ soltu dich daran als an ein stecken auffleinen/ unn in Gott richten.55
Die Aufforderung an den Leser, Gottes wort in allen Dingen zu ergreifen, geht mit dem Ansuchen einher, sich in geistiger Stille zu halten, um im Hinmerken auf Gott zu eigenem wort/ werk und glauben zu kommen. Der Gedanke an die innere Wiedergeburt, der für das Gesamtwerk von zentraler Bedeutung ist, spielt hier eine wichtige Rolle. Franck geht es nicht darum, Weltwissen zu vermitteln, sondern dem Leser die Möglichkeit einer subjektiven Erfahrung von Gottes wort zu eröffnen. Dies lässt sich jedoch nur mittels Schrift verwirklichen, obwohl Franck mit Schrift letztlich Schriftlosigkeit bewirken will. In diesem Sinne ist Franck auf den Buchdruck angewiesen: Nur mittels der neuen Technologie kann er sich als ein Schreiber betätigen, der den Leser zu einer schrift- und wortlosen Glaubenswahrheit hinleitet. Sebastian Francks Lebensgang ist dementsprechend gleichsam von einer doppelten Tragik geprägt: Als Buchdrucker wurde er zeitlebens von Ort zu Ort gejagt und am Schreiben gehindert, obwohl er im Grunde genommen nicht vor den Zensoren, sondern vor der Schrift, Buchstabengläubigkeit und der damit verbundenen Intoleranz gegenüber Heiden, Türken oder ganz allgemein der ›Ketzer‹ auf der Flucht war. Tag und Nacht mit Buchstaben, beweglichen Lettern, Schrifttypen und Druckerschwärze beschäftigt, war er indes vielleicht nicht nur ein völlig vereinsamter, weltabgewandter Pessimist und Einzelgänger, sondern auch ein humorvoller und seinen Mitmenschen gegenüber aufgeschlossener Zeitgenosse, der sich gegen Ende seines Lebens bloss eines gewünscht hat: In Bern einen schonen laden mit allerlei Büchern zu haben.
55 Franck: Chronica, Zeitbuoch vnnd Geschichtbibell [Anm. 11], Bl. 4r.
VI.
Bild und Buch Kulturen des Sehens
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Dürer und das Bilderbuch Aus kunsthistorischer Warte interessiert am gedruckten Buch ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Prominenz des Bildes. Wissen, Unterhaltung und Belehrung wurden infolge jener produktionstechnologischen Revolution, die Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse (um 1450) mit sich brachte, massenhaft, simultan, interaktionsfrei und global vertrieben.1 Damit veränderten sich nicht nur die Inhalte der in den Büchern angebotenen Informationen, sondern auch die Formen der Vermittlung. Denn über Selektion und Distribution des Wissens entschieden nicht mehr, wie im Falle der meisten Handschriften des Mittelalters, Teilnehmer aus begrenzten Sozialsystemen – die Autorität eines Bischofs oder eines Fürsten, sondern die Marktteilnehmer insgesamt. Ein erfolgreiches Verlagswesen, das die grosse Menge anonymer Konsumenten in den grossen Handelszentren anzusprechen suchte, musste sich diesen neuen marktwirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen. Das hatte zur Folge, dass die traditionellen skriptographischen und ikonographischen Modelle in Hinblick auf ihre Medientauglichkeit einer Prüfung unterzogen wurden.2 Dynamischere Kommunikationsformen, als sie das Buch bislang entwickelt hatte, und eine klarere Ar1
2
Grundlegend Isa Fleischmann: Metallschnitt und Teigdrucke. Technik und Entwicklung zur Zeit des frühen Buchdrucks. Mainz 1998; Pierre Louis van der Haegen: Der frühe Basler Buchdruck. Ökonomische, soziopolitische und informationssystematische Standortfaktoren und Rahmenbedingungen. Basel 2001; Peter Schmidt: Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Köln/ Weimar 2003. Die dogmatische Dominanz der Schrift vor dem Bild verkehrt sich bezeichnenderweise dann ins Gegenteil, wenn die Handschriften für Frauen geschaffen wurden. So erscheint im St. Albans Psalter der Christina von Markyate aus dem 12. Jahrhundert der vierzigseitige Abbildungsapparat vor dem Text. Auf der ersten Seite wird das berühmte Dictum Papst Gregors d. Gr. auf lateinisch und englisch zitiert, »probably as textual justification for his forty, totally textless full-page pictures« (Michael Camille: Seeing and Reading. Some visual implications of medieval literacy and illiteracy. In: Art History 8 [1985], S. 26-49). Vgl. Otto Pächt: The Rise of Pictorial Narrative in Twelfth-Century England. Oxford 1962, S. 21f. Zur Konkurrenz von Buchdruck und Handschrift Thomas Haye: Filippo della Strada. Ein Venezianer Kalligraph des späten 15. Jahrhunderts im Kampf gegen den Buchdruck. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 38 (1997), S. 279-313.
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tikulation der Gegenstandsbereiche entsprachen dem Informationsbedürfnis der Wissensuchenden, das immer mehr aus den bürgerlichen Schichten kam. Ceci tuera cela – (1831) mit diesem Ausspruch hatte Victor Hugo im Glöckner von Notre Dame den durch die Druckerpresse bedingten Medienwechsel kommentiert, der eine sichtbare Schranke zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit errichtete. Denn das Bilderbuch machte nicht nur die Bilderwelten der Kathedralen und Altäre im privaten Raum verfügbar, sondern es unterwanderte die Autorität der textlichen Exegese. Wie beklagenswert dies aus Sicht der Theologen und Literaten auch immer gewesen sein mag: den Künstlern öffneten sich am Beginn der frühen Neuzeit vollkommen neue Betätigungsfelder. Dass bei dem in Bildern sprechenden Buch, gemessen am Anteil von 90-95% Analphabeten an der Gesamtbevölkerung selbst in Universitätsstädten wie Köln oder Basel am Ende des 15. Jahrhunderts, gegenüber einem auf Schrift festgelegten Wissenstransfer grössere Chancen für den Absatz lagen, und das Bilderbuch somit prädestiniert für einen Paradigmenwechsel war, bedarf keiner näheren Erläuterung. Heutige Neurologen (und die Werbestrategen in ihrem Gefolge) wissen etwas über die Quantität von Bildern, die das Gehirn im Unterschied zum Text verarbeiten kann. Doch das wusste auch schon einer der einflussreichsten Promotoren des bebilderten Buches im späten 15. Jahrhundert. Sebastian Brant, mit Dürer befreundet, hat es gleich zu Beginn seines 1494 in Basel bei Johann Bergmann von Olpe gedruckten und reich illustrierten Narrenschiffes (einem Bestseller aufgrund seiner zahlreichen Auflagen noch im 15. Jh.) klar ausgesprochen: Wär jemand, der die Schrift veracht’t,/ Oder einer, der sie nicht könnt lesen,/ Der sieht im Bilde [molen] wohl sein Wesen.3 Brants Einsicht in die Macht des Bildes war nicht ganz neu. Die Umstellung auf visuelle Formen der Information zog sich vielmehr das gesamte 15. Jahrhundert hin. Sie entwickelte sich in zwei Stufen: Die erste Stufe wird in der Andachtsliteratur der 40er und 50er Jahre greifbar – Armenbibeln, Heilsspiegeln und dergleichen.4 Hier überwiegt noch die Vermittlung der Glaubensinhalte. Es sind die bildungsmässig 3
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Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Übertr. v. Hermann A. Junghans. Durchges. u. mit Anmerkungen sowie einem Nachwort neu hg. v. Hans-Joachim Mähl. Stuttgart 1964, S. 7. Vgl. dazu Matthias Vogel: Das Bild im Zeitalter der Verschriftlichung. Zur didaktischen und ästhetischen Funktion der Buchillustration im 16. Jahrhundert. In: Werner Meyer, Kaspar von Greyerz (Hg.): Platteriana. Beiträge zum 500. Geburtstag des Thomas Platter (1499?-1582). Basel 2002 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft; 175), S. 123-155. Blockbücher des Mittelalters. Bilderfolgen als Lektüre. Hg. v. Gutenberg-Gesellschaft und Gutenberg-Museum. Mainz 1991.
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Unterprivilegierten, für deren häusliche Andacht komplexe theologische Zusammenhänge in Form einfacher, das heisst ästhetisch anspruchsloser Illustrationen zusammengestellt werden. Dabei denkt man sich das Wirken der Brüder des gemeinsamen Lebens um Gert Grote an den Anfang der Bewegung. Die spätmittelalterliche Industrie gedruckter Heiligenbilder (helgen), die in die Gebetbücher einzulegen oder zuhause an die Wand zu nageln waren, die Produktion von Weihmünzen, Pilgerspiegeln, Betpfennigen und dergleichen, die man an Messen und Kirchfesten kaufen konnte und die wie Talismane am Körper getragen wurden, hatte dieser Entwicklung schon seit 1400 den Boden bereitet.5 Die frühen Bilddrucke sehen einander recht ähnlich. Ein markanter Umriss, ohne jegliche Binnenschraffur, dafür farbig ausgefüllt, war in der Regel alles, was der Bildermarkt anbot.6 Der zweite Einschnitt ereignete sich ab 1460. Er leistete den Transfer des billigen Andachtsartikels auf ein zunächst gehobenes, dann höchstes Niveau – wobei die künstlerische Form als solche mit der zunehmenden Kennerschaft des Publikums wetteiferte. Dies geschah pari passu mit einer von Italien ausgehenden, theoretischen Neupositionierung, in deren Folge dem Gesichtssinn, dem Auge, die absolute Vorrangstellung gegenüber allen anderen Organen zuerkannt wird; dem Ohr zumal, das nur noch als sekundäres Wahrnehmungssystem galt. Für Bernhard von Clairvaux, der auf das Verlesen von Texten Wert legte und gegen die Ablenkung durch Bilder wetterte, stand dieser bezeichnenderweise noch an erster Stelle.7 Der Bilderdruck wandte sich von den sozial niedrig Stehenden und Ungebildeten an die Klasse der Gehobenen und Gebildeten, um am Ende bei den happy few, den Reichen und den Kennern zu landen. Dieses neue Publikum wurde von den Künstlern selbst rekrutiert – doch nicht auf dem Gebiet des Holzschnitts und mithin des Buches, sondern auf dem Gebiet des Kupferstichs. Ein gutes Beispiel stellen die Kupferstiche des Meisters E S dar, die dieser 1466, anlässlich der fünfhundertjährigen Wiederkehr der Einsiedler Kirchweihe von 966 geschaffen hatte. Es war ein Massengeschäft: Bereits in den ersten 5
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Fleischmann: Metallschnitt und Teigdrucke [Anm. 1], S. 173-192; Eberhard König: The history of art and the history of the book at the time of the transition from manuscript to print. In: Lotte Helinga, John Goldfinch (Hg.): Bibliography and the Study of 15th Century Civilisation. London 1987, S. 154-184. Max Geisberg: The German Single-Leaf-Woodcut 1500-1550. Überarb. u. hg. v. Walter L. Strauss. 4 Bde. New York 1974, Bd. 1; Hans Körner: Der früheste deutsche Einblattholzschnitt. Mittenwald 1979, S. 63-68. Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M. 1991, S. 574f.; van der Haegen: Der frühe Basler Buchdruck [Anm. 1], S. 155.
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zwei Wochen der Feier waren 130.000 der aus Blech gestanzten Pilgerzeichen verkauft worden, die nur zwei Pfennige kosteten. Doch die Einsiedler Mönche, die für diesen Grossanlass eigens ein Zeichenamt ins Leben gerufen hatten, das für den Verkauf ihrer Devotionalien zuständig war, gaben sich damit nicht zufrieden. Sie wussten, dass noch viel mehr Geld zu verdienen war, wenn man, wie man es heute täte, zugleich Luxusprodukte anbot, die einem höheren Anspruchsniveau und grösseren finanziellen Möglichkeiten genügten. So kamen sie überein, bei dem damals hochberühmten und wohl in Konstanz ansässigen Meister E S drei Kupferstiche in Auftrag zu geben. Bei der sogenannten grossen Einsiedler Madonna, also der Luxusausführung, boten das Format (212 x 126 mm), die Ikonographie (mit vollständigem Segen, Ablasszettel und Pilgerpaar) sowie die aufwendigere Technik (die Feinschraffur betreffend) überzeugende Anreize. Im Vergleich misst die kleine Einsiedler Madonna nur noch 136 x 90 mm und weist eine stark verkürzte Ikonographie auf, während die kleinste Einsiedler Madonna, die sich gerade noch auf das Wesentlichste beschränkt und ohne jedwede künstlerische Finessen auskommt, nur noch 102 x 68 mm beträgt.8 Diese Errungenschaften des frühen Kupferstichs führten Dürer und seine Zeitgenossen dem Buchdruck im Medium des Holzschnittes zu. Wie kam es dazu? In Nürnberg, am 21. Mai 1471 geboren, wuchs Dürer in einem Kreis von Künstlern und Buchdruckern auf. Sein Vater Albrecht und dessen Schwiegervater waren Goldschmiede, Dürers Lehrer wurde der Maler und Holzschneider Michael Wohlgemuth, der mit Wilhelm Pleydenwurff die Vorzeichnungen für Anton Kobergers Bücher produzierte. Koberger, Dürers Pate und Mentor, war zugleich einer der grössten Unternehmer seiner Zeit. Er besass vierundzwanzig Drukkerpressen, beschäftigte über hundert Mitarbeiter und brachte zweihundertfünfzig Titel, die meisten bebildert, auf den Markt.9 Sein Erfolgsrezept bestand darin, künstlerisch sehr anspruchsvolle Bücher zu produzieren. Dabei machte er selbst eine Entwicklung durch. Die bei Koberger 1483 erschienene illustrierte Bibel kam noch mit den Vorla8
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Norberto Gramaccini: Meister E S und Israhel van Meckenem als KünstlerUnternehmer. In: Christine E. Stauffer (Hg.): Festschrift für Eberhard W. Kornfeld zum 80. Geburtstag. Bern 2003, S. 13-36. Darunter die deutsche Bibel von 1483, der Schatzbehalter von 1491 und die Schedelsche Weltchronik von 1493. Vgl. dazu: Christoph Reske: Die Produktion der Schedelschen Weltchronik in Nürnberg. CD. Wiesbaden 2000, S. 323-333; Ders.: Albrecht Dürers Beziehungen zur Schedelschen Weltchronik unter besonderer Berücksichtigung des Berliner Stockes. Quellenkundliche, formale und kunsthistorische Anmerkungen. In: Gutenberg-Jahrbuch 78 (2003), S. 45-66; Peter Zahn: Albrecht Dürer und die Holzschnitte der Schedelschen Weltchronik. In: Gutenberg-Jahrbuch 77 (2002), S. 124-144.
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gen der Quentellschen Kölner Bibel von 1479 aus, deren Druckplatten er sich auslieh. Von da an verfügte Koberger über genügend Ansehen und Kapital, um Künstler ersten Ranges als Entwerfer zu verpflichten. Er bildete ein eigenes Handelsmonopol aus. Mit sechzehn auswärtigen Niederlassungen und einem internationalen Vertrieb avancierte Koberger binnen kürzester Zeit zum Doyen des deutschen Buchhandels. Alle bisherigen Versuche, eine Mitarbeit des jungen Dürer bei Koberger nachzuweisen, sind misslungen. Dürers Wanderschaft begann am Ostersonntag, den 11. April 1490, mit sechzehn Jahren. Sie endete vier Jahre später, Pfingsten, den 18. Mai 1494. Damit lässt sich weitgehend ausschliessen, dass Dürer an den Hauptwerken der Nürnberger Offizin, Schatzbehalter und Schedelsche Weltchronik, beteiligt gewesen wäre, die erst nach seinem Weggang unter der Leitung Wohlgemuths entstanden sind. Es sind aber vor kurzer Zeit einige Vorzeichnungen für die Seitengestaltung der Weltchronik aufgetaucht, die ein Licht auf die fortschrittlichen Produktionsbedingungen, besonders das Verhältnis von Zeichnung (Riss) und Holzschnitt betreffend, werfen.10 Der skizzenhafte Charakter belegt, dass dem Holzschneider offenbar wenige Angaben genügten, um die Komposition nach eigenem Gutdünken auszuführen. Seine künstlerische Verantwortung war, gemessen an der geradezu sklavischen Unterordnung, wie sie früher herrschte, demnach gewachsen. Und es ist dieser Arbeitsverkürzung zuzuschreiben, wenn derart gewaltige Werke innerhalb kürzester Zeiträume entstehen konnten. Dass Dürer, der seit 1486 bei Wohlgemuth in der Lehre war, von diesem nicht nur das Handwerk erlernte, sondern auch die Arbeitsökonomie, mit allem, was sie an Können verlangte, daran kann ebensowenig Zweifel bestehen, wie dass der Nürnberger Humanismus ihm die Grundlagen eines neuen Künstlerselbstbewusstseins vermittelte. Wolfgang Schmid hat diese Bezüge mit den Wohnverhältnissen in der Burgstrasse der Pfarrei von St. Sebald erklärt.11 Die Künstler, die Handwerker und die Humanisten wohnten Haus an Haus: Albrecht Dürer und seine Familie, Anton Koberger, Michael Wohlgemuth, Wilhelm Pleydenwurff auf der einen Seite, auf der anderen Dr. Christoph Scheurl, Dr. Hartmann Schedel und der Kirchmeister Sebald Schreyer. Der Buchdruck schloss sie arbeitsökonomisch und finanziell zusammen. 10 Stephan Füssel: Die Weltchronik. Eine Nürnberger Gemeinschaftsleistung. In: Ders. (Hg.): 500 Jahre Schedelsche Weltchronik. Nürnberg 1994 (Pirckheimer Jahrbuch; 9), S. 7-30; Eberhard Slenczka: Die Weltchronik des Hartmann Schedel aus Nürnberg. In: Hermann Maué u.a. (Hg.): Quasi Centrum Europae. Europa kauft in Nürnberg. Katalog der Ausstellung Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Nürnberg 2002, Kat.Nr. 9597. 11 Wolfgang Schmid: Dürer als Unternehmer. Kunst, Humanismus und Ökonomie in Nürnberg um 1500. Trier 2003 (Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte; 1), S. 64f.
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Das Selbstportrait des dreizehnjährigen Dürer vor dem Spiegel (eine Silberstiftzeichnung, daher im Verfahren dem Holzschnitt ähnlich) und andere Proben seines frühreifen Könnens dürften dafür gesorgt haben, dass sein Talent in diesem Ambiente rasch erkannt wurde und nachhaltige Förderung erhielt.12 Man schickte ihn weg, nachdem er das Handwerk beherrschte, damit er sein Wissen in der Fremde vervollständigte. Der junge Dürer lenkte seine Schritte wohl zuerst nach Nordwesten, in die Niederlande (Brügge, Ghent, Antwerpen, wohin es schon seinen Vater gezogen hatte) dann aber vermutlich nach Köln (vielleicht um bei Kobergers Partner Quentell seine Lehre zu vervollständigen).13 Kein Dokument aus dieser Zeit hat sich erhalten. Nach Verstreichen von zwei Jahren zog es ihn an den Oberrhein. Anfang 1492 traf Dürer in Colmar ein. Seine Bestimmung war der Kupferstecher Martin Schongauer, mit dessen Werken Dürer bereits während der Ausbildung bei Wohlgemuth (1487-1490) in Berührung gekommen war. Doch er traf den grossen Meister nicht mehr am Leben – Schongauer war am 2. Februar 1491 in Colmar gestorben. Seine Brüder empfingen Dürer zwar freundlich, schenkten ihm auch Zeichnungen und Stiche, dann aber musste er weiterreisen. Mitte 1492 traf er in Basel ein. Forschungsmeinung ist, der in Basel ansässige Goldschmied Georg Schongauer, ein Bruder Martin Schongauers, habe dem jungen Dürer gewisse Versprechungen gemacht, bei ihm tätig zu sein. Aber das Goldschmiedehandwerk hatte Dürer schon in Nürnberg auf die Seite gelegt. Ein vermutlich wichtigerer Grund waren die Adressen von Johann Amerbach und Nikolaus Kessler, den Basler Geschäftspartnern und Korrespondenten seines Paten Anton Koberger.14 Hier konnte er sich Aufträge erhoffen. Und so geschah es auch. Der einzigartige Fund, der Dürers Basler Tätigkeit ein sicheres Fundament verleiht, ist Daniel Burckhardt 1892 geglückt: Dürers Signatur auf der Rückseite eines geschnittenen Holzblocks (Kupferstichkabinett, Basel): Albrecht Dürer von Nörmergk.15 Der Holzschnitt, den Kirchenvater, Kardinal und Bibelübersetzer Hieronymus in seiner Stube darstellend, war die Vorlage zum Titelblatt für eine Ausgabe der Opera omnia, die am 8. November 12 Klaus Albrecht Schröder u. Marie Luise Sternath (Hg.): Albrecht Dürer. Wien 2003, Kat.Nr. 1, S. 114. 13 Vgl. zu Köln: Stephan Kemperdick: Zur Lochner-Rezeption ausserhalb Kölns. In: Frank Günter Zehnder (Hg.): Stefan Lochner. Meister zu Köln. Herkunft – Werke – Wirkung. 4. Auflage. Köln 1993, S. 76f. 14 William M. Conway: The Literary Remains of Albrecht Dürer. Cambridge 1889, S. 74; Rudolf Wackernagel: Geschichte der Stadt Basel. 3 Bde. Basel 1924, Bd. 3, S. 135; Werner Weisbach: Die Basler Buchillustration des XV. Jahrhunderts. Strassburg 1896. 15 Daniel Burckhardt: Albrecht Dürers Aufenthalt in Basel 1492-1494. München/ Leipzig 1892.
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1492 in Basel bei Nicolaus Kessler, einem Geschäftspartner Amerbachs erschienen ist (Abb. 31).16 Die erste Ausgabe, drei Jahre früher (1489) im gleichen Verlag erschienen, war noch ohne Titelholzschnitt ausgekommen. Offenbar wollte man den Verkauf durch eine attraktivere Aufmachung nochmals ankurbeln. Dass dies glückte, steht ausser Frage. Denn Dürers Holzschnitt wurde bereits 1495 kopiert – im Titelbild der Biblia latina bei Froben.17 Nicht genug mit diesem Zeugnis unmittelbarer Beeinflussung, scheint der gerade einundzwanzigjährige Dürer dem Basler Bilddruck wichtige künstlerische Impulse vermittelt zu haben. Dafür zeugt der Vergleich seines Hieronymus mit dem Holzschnitt des Kirchenvaters Ambrosius in einer Buchpublikation, die im gleichen Jahr 1492 bei Amerbach erschien (Abb. 32). Es handelt sich, in Anlehnung an italienische Usanzen, möglicherweise um einen organisierten Künstlerwettbewerb. Dürers überragende Meisterschaft lässt sich in drei Punkten bemessen: 1. Im Bereich der Zeichnung: der perspektivisch organisierte Innenraum mit Blick auf eine Landschaft und den zahlreichen Gerätschaften des sitzenden Heiligen; 2. Im Bereich der Bildung: die Worte Genesis (1, 1) Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst sind auf griechisch, lateinisch und hebräisch in den aufgeschlagenen Seiten der Bücher eingetragen, die den Heiligen umgeben; 3. Im Bereich des Holzschnitts: die Technik erlaubt es, lineare Strukturen von äusserster Feinheit und Präzision zu reproduzieren, die in ihrer variierenden Tonalität atmosphärische Werte erzeugen.18 Der Holzschnitt löst sich von der bestimmenden Konstruktion der Vorzeichnung, wie es um die gleiche Zeit die Meister der Koberger-Publikationen beherrschten (Schatzbehalter), und verfolgt, wie die Zeichnung selbst, eigene ästhetische Ziele. Das für die Zeitgenossen bestechend Neue war demnach auch die ökonomische Vorgehensweise. Dürer erledigte die anfallenden Aufgaben in eigener Regie und Verantwortung. Er überwindet die hergebrachte Arbeitsteilung nach Berufsständen, derzufolge der Reisser, ein Künstler von Stand, dem Formenschneider, einem Handwerker und Angehörigen der Tischlerzunft, durch seine Zeichnung bedeutete, was dieser zu tun habe. Auf dieser Unter16 Walter L. Strauss (Hg.): The Woodcuts and Wood Blocks of Albrecht Dürer. New York 1980, S. 38, Kat.Nr. 10. 17 Werner Weisbach: Der Meister der Bergmannschen Officin und Albrecht Dürers Beziehungen zur Basler Buchillustration. Strassburg 1896, S. 60. Weitere Kopien bei Erwin Panofsky: Albrecht Dürer. 2 Bde. 2. Auflage. Princeton 1945, Bd. 2, S. 26. 18 Werner Weisbach: Der junge Dürer. Basel 1906.
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ordnung beruhte die Vereinfachung des Holzschnitts in technischer wie ideeller Hinsicht. Erst dank der Vereinheitlichung der Arbeitsvorgänge können sich Zeichnung und Holzschnitt zu einer neuen, autonomen Bildform verbinden.19 Der unbekannte Gegenspieler Dürers, der den hl. Ambrosius schuf, war von diesen Möglichkeiten noch weit entfernt und kam infolgedessen über das handwerklich Biedere nicht hinaus. Indem er seine künstlerische Erfindung spontan und unmittelbar in den Druckstock zu übertragen vermochte, verlieh Dürer dem Holzschnitt die gleiche künstlerische Wertigkeit, wie sie der zeitgenössische Kupferstich besass.20 Er ist peintre graveur und nicht blosser Handwerker. Dabei scheint die technische Voraussetzung gewesen zu sein, dass Dürer die viel feineren Grabstichel des Kupferstechers auf die Bearbeitung des Holzes übertragen hat. In seinem Hieronymus verrät sich somit das moderne Streben nach künstlerischer Autonomie durch Monopolisierung der Arbeitsbereiche, die zuvor getrennt waren.21 Er übernimmt von anderen Künstlern seiner Zeit (Michael Pacher) frühkapitalistische Formen eines Unternehmertums, wie es die Handelsgesellschaften der Fugger und ähnliche monopolistische Unternehmer, zu denen Koberger als Grossverleger gehörte, mit grossem Erfolg ausgebildet hatten.22 Dürers Holzschnitt des Hieronymus allein hätte die durchgreifende Reform des Bild- und Buchwesens am Oberrhein, die bevorstand, nicht nach sich ziehen können. Er machte aber auf eine Reihe wichtiger Neu19 Noch in Jost Ammanns Ständebuch von 1568 entsprechen den unterschiedlichen Arbeitsvorgängen unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten. Diese aus Künstlerdünkel und Zunftzwängen hervorgegangene Einstellung hatte der Entfaltung des Holzschnitts als eines selbständigen künstlerischen Ausdrucksmittels gegenüber den Möglichkeiten des Kupferstichs (wo der Künstler von Anfang an Zeichnung und Stich behandelte) begreifliche Schranken auferlegt. Vgl. dazu Jost Amman: Ständebuch. Hg. v. Manfred Lemmer. Nachdruck der Ausgabe Frankfurt 1568. 5., erw. Auflage. Frankfurt a.M. 1975. 20 Dürers Satz Daraus kummt, dass Manicher etwas mit der Federn in ein Tag auf ein halben Bogen Papier reisst oder mit seim Eiselein in ein klein Hölzlein versticht, das würd künstlicher und besser dann eines Anders grosses Werk, daran derselb ein ganzes Jahr mit höchstem Fleiss macht hat schon Max J. Friedländer: Der Holzschnitt. 4. Auflage. Neu bearb. v. Hans Möhle. Berlin 1970 (Handbücher der Staatlichen Museen), S. 56, als Beleg »entscheidend gegen solchen Dualismus« aufgefasst. 21 Vgl. den Prozess der Holzschneiderzunft in Löwen gegen Jan van den Berghe (1452); vgl. dazu Friedrich Lippmann: Über die Anfänge der Formschneiderkunst und des Buchdruckes. In: Repertorium für Kunstwissenschaft 1 (1876), S. 236. 22 Michael Baxandall: Die Kunst der Bildschnitzer. Tilman Riemenschneider, Veit Stoss und ihre Zeitgenossen. Aus dem Englischen übertr. v. Brigitte Sauerländer. München 1985, S. 116. Vgl. Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1985.
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erungen aufmerksam und war der Karriere des jungen Künstlers in hohem Masse förderlich. Als es um einen grösseren Auftrag ging, sollte Dürer sich in einem Team von Illustratoren bewähren. Jetzt erst, im unmittelbaren Nebeneinander, vermochte der Funke überzuspringen. Diese Teamarbeit fand Ende 1492 und Anfang 1493 anlässlich der Publikation des Ritters vom Turn statt – finanziert von Bergmann von Olpe und gedruckt von Michael Furter, einem weiteren Korrespondenten Kobergers, der 1483 von Augsburg nach Basel gekommen war. Das der Erziehung junger Frauen gewidmete Erbauungsbuch war zuvor aus dem Französischen von Marquard vom Stein übersetzt worden; die Urausgabe (ohne Illustrationen) hatte Chevalier Geoffroy de la Tour Landin 1371 für seine Töchter geschrieben. Konnten die älteren Basler Buchpublikationen mit dem Bild des Heiligen in der Stube auf eine etablierte Ikonographie zurückgreifen, so bestand die Aufgabe beim Ritter vom Turn darin, eine neue Bildersprache zu erfinden.23 Dass hierbei Dürers Einsatz entscheidend war, ist unbestritten. Die Qualitäten des Hieronymus in Bezug auf disziplinierte Körpermodellierung und Raumbildung treten in den besten Blättern des Ritters vom Turn klar zutage (Abb. 33). Man erkennt seine Handschrift an den feinen, parallelen Strichlagen, die die Mitarbeiter selten zustande brachten. Schon Sebastian Brants kurz darauf (1494) veröffentlichtes Narrenschiff reicht, was Präzision und Feinheit der Zeichnung betrifft, an dieses Niveau nicht mehr heran (Abb. 34).24 Dürer war weiter gezogen – man arbeitete bereits in seiner Manier. Mit dem Ritter vom Turn erlischt Dürers kurze aber leidenschaftliche Begegnung mit dem Buchdruck alter Manier. Nürnberg (Koberger) und wohl auch Köln (Quentell) waren wichtige Vorstufen. Hier war er allerdings mehr am Rande tätig gewesen – mehr Zuschauer als Akteur, so scheint es. Erst in Basel, bei den fernen Ablegern Kobergers, war es ihm gestattet, selber in das Geschehen einzugreifen und der Druckkunst eine neue Richtung zu geben. Es verändern sich Gestalt und Anspruch des Buchholzschnittes am Oberrhein im Sinne einer zunehmenden Freisetzung der künstlerischen Gestaltung und Ausführung. Die Produktionsbedingungen aber bleiben noch bestehen. Dürer musste erkannt haben, dass es auch diese Bastion zu nehmen galt. Nach Nürnberg zurückgekehrt und gefeiert, von seinem Italienbesuch bestärkt, den er gleich im Anschluss unternahm, machte er sich 1496 daran (unterstützt von Kobergers Typen und Druckerpressen), ein Buch nicht nur ganz allein zu zeichnen und zu schneiden, sondern auch ganz alleine zu ver23 Strauss: Woodcuts and Wood Blocks [Anm. 17], Kat.Nr. 12, S. 63. 24 Ebd., Kat.Nr. 13, S. 64-81.
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legen: Die heimlich Offenbarung Johannis (Apocalipsis cum figuris). Die erste Auflage erschien 1498. Es ist das erste echte Künstlerbuch.25 Das Buch besteht aus fünfzehn grossformatigen Holzschnitten, gedruckt im Format 39, 5 x 28, 1 cm, in der Grösse eines halben Papierbogens. Schon das durchgehende Grossformat ist singulär. Doch das ist nicht alles. Die Holzschnitte liegen in den gebundenen Ausgaben jeweils auf der rechten und wichtigen Seite. Sie stehen frei auf dem ansonsten leeren Blatt und sind gänzlich unbehindert von Texten, die sie legitimieren und redimensionieren, wie es beim Ritter vom Turn noch der Fall war. Das vordergründige Daseinsrecht des Papiers besteht darin, das Bild und nicht den Text zu tragen. Denn die Texte sind jeweils auf den Rückseiten der Holzschnitte aufgedruckt. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, das vorausgehende Bild im nachhinein zu kommentieren. Die simultane Betrachtung von Text und Bild ist damit unterbrochen. Nur das Bild enthält die Gesamtheit aller Informationen, die sich dem Blick des Betrachters à coup d’oeil erschliessen sollen. Die Sprache hingegen ist zur untergeordneten Referenz geworden. Dies findet auch darin sichtbaren Ausdruck, dass der Text durchlaufend ist und sich auf verschiedene Seiten verteilt. Seine Fragmentierung ist der Einheitlichkeit des Bildes eindeutig unterlegen. Was die Herstellung der Apokalypse betraf, so duldete Dürer weder Verleger noch fremde Financiers – er liess das Werk von Kolporteuren durchs Land tragen (bis nach Italien, wie es Koberger tat) und trug das verlegerische Risiko selber.26 Sein Alleinanspruch fand auch in dem Bestreben Ausdruck, die eigenen Bilderbücher durch ein kaiserliches Copyright zu schützen.27 Dies aber war nicht möglich. Kein Kupferstecher wurde so oft von den Zeitgenossen kopiert wie gerade Dürer.28 Abschliessend sei festzuhalten: Die verlegerische Hierarchie alten Schlages wurde von Dürer auf den Kopf gestellt. Der Reisser, ehemals das unterste Glied der Produktionskette, ist zum Unternehmer geworden. Mit seinem Aufstieg an die Spitze der Pyramide hat sich auch das Verhältnis des Bildes zum Wort ins Gegenteil verkehrt. Der Produzent von Worten, der, einer allgemein herrschenden Zuordnung von Kunst zu den artes mechanicae folgend, bislang über dem blossen Hersteller von Bildern stand, hatte das Nachsehen. Dies war zur gleichen Zeit in 25 Peter Krüger: Dürers Apokalypse. Zur poetischen Struktur einer Bildererzählung der Renaissance. Wiesbaden 1996 (Gratia; 28), S.42-67. 26 Schmid: Dürer als Unternehmer [Anm. 12], S. 122. 27 Hans Rupprich (Hg.): Dürers schriftlicher Nachlass. 2 Bde. Berlin 1956, Bd. 1, S. 76, Nr. 23. 28 Peter Strieder: Vorbild Dürer. Kupferstiche und Holzschnitte Albrecht Dürers im Spiegel der europäischen Druckgraphik des 16. Jahrhunderts. Katalog der Ausstellung Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Nürnberg 1978, S. 7-11.
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Italien durch Leonardo da Vinci gefordert und begründet worden. Die Bilderzählung, die sich mit einem einzigen Blick der Betrachtung erschliesst, sei dem ermüdenden, weil sukzessiven Nachvollzug der Spracherzählung, des Lesens oder Zuhörens überlegen: »Eine Malerei stellt dir in einem Nu ihren Inhalt in die Sehkraft hinein, und zwar durch das gleiche Mittel, durch welches das Eindrucksvermögen auch die wirklichen Dinge empfängt; sie tut dies ausserdem im nämlichen Zeitabschnitt, in welchem sich auch die harmonisch klingende, den Sinn befriedigende Gesamtverhältnismässigkeit der das Ganze zusammensetzenden Teile ineinander fügt. Und das Gedicht trägt dieselbe Sache vor, aber mit Hilfe eines Mittels, das geringer von Rang ist als das Auge und mit mehr Langsamkeit ins Auge einführt, als das Auge, der wahre Vermittler zwischen Gegenstand und Eindrucksvermögen, der unmittelbar, mit höchster Wahrheit, die wahrhaftigen Flächen und Figuren des sich vor ihm Darstellenden abbildet.«29 Aus dieser Botschaft bezieht die Kunstgeschichte nicht nur ihre gegenwärtige Konjunktur, sondern hier zeigt sich zugleich eine Tücke. Denn im Ernst: wozu bedarf es der Worte überhaupt? Benedikt Schwalbe (Chelidonius) wurde von Dürer gerade noch angestellt, damit er ihm die gewünschten Texte heraussuchte. Auch das ist neu und zukunftsweisend: Im autonomen und zunehmend selbstreferentiellen Kunstwerk, zu dem das Bilderbuch seit Dürer gehört, hat der homme de lettres nichts mehr zu suchen.
29 Leonardo da Vinci: Traktat von der Malerei. Nach der Übersetzung v. Heinrich Ludwig. Hg. v. Marie Herzfeld. Jena 1925, S. 21, Nr. 27.
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Die Warnung vor dem Bilde. Medienkritik im frühen Buchdruck? In der Zeit der Inkunabeln und des frühen Buchdrucks – also in der Zeit zwischen 1470 und 1530 – wurden einige Texte mit erstaunlichen Bildern versehen. Erstaunlich sind manche von diesen scheinbar unspektakulären Holzschnitten deshalb, weil sie einen Einblick in das komplexe Bild-Textverständnis des Spätmittelalters bzw. der Frühen Neuzeit erlauben.1 Im Folgenden sollen einige ausgesuchte Bilder vorgestellt werden, in denen die Mehrdeutbarkeit, die Ambiguität oder Polyvalenz des Mediums Bild für den Betrachter thematisiert wird.2 Zahllose Holzschnitte schmücken die gedruckten zumeist volkssprachlichen Bücher der Übergangszeit vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Aber welche Funktion haben diese Bilder? In der Forschung werden vor allem drei Thesen diskutiert. Zum einen dienten die Bilder als Schmuck, um den Betrachter zu erfreuen (delectare), und sollten in Anlehnung an die kostbaren illuminierten Handschriften zum Kauf reizen.3 Zum anderen stellten die Bilder parallel zum Wort einen Wissenszugang dar, damit auch aussertextliche Informationen, wie etwa Bilder von Pflanzen, Tieren, Städten usw., weitergereicht (docere) werden konnten.4 Und zum dritten werden Bilder in Verbindung mit Tex-
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Carsten-Peter Warnke: Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Forschungen; 33), S. 17-28. Valentin Groebner u. Lucas Burkart: Bilder, Zeichen, böse Spiegel. Medienwandel und Visualisierung um 1500. In: Helga Nowotny, Martina Weiss (Hg.): Shifting Boundaries of the Real. Making the Invisible Visible. Zürich 2000, S. 5-30 und besonders S. 29. Beate Braun-Niehr u. Joachim Ott: Bilder lesen. Zur bildlichen Ausstattung deutschsprachiger Handschriften des Mittelalters. In: Peter Jörg Becker, Eef Overgaauw (Hg.): Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln. Mainz 2003, S. 13-26. Klaus Krüger: Die Lesbarkeit von Bildern. Bemerkungen zum bildungssoziologischen Kontext von kirchlichen Bildausstattungen im Mittelalter. In: Christian Rittelmeyer, Erhard Wiersing (Hg.): Bild und Bildung. Ikonologische Interpretationen vormoderner Dokumente von Erziehung und Bildung. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Foschungen; 49), S. 105-133; Pierre Louis van der Haegen: Der frühe Basler Buchdruck. Ökonomi-
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ten im Sinne der Rhetorik als ein didaktisches Mittel gedeutet.5 Bilder dienten in diesem humanistischen Verständnis zur Stärkung der Erinnerung, der ars memoria, wie sich dies etwa aus den rhetorischen Schriften Ciceros, Quintilians, Notker Teutonicus’ und Friedrich Riederers entnehmen lässt.6 Dass sich durch Bilder bzw. Zeichen (imagines, signa) Erinnerungsorte im Gedächtnis markieren lassen, wodurch dem Redner bzw. Leser das Wiederauffinden erleichtert wird, dafür sei hier stellvertretend auf die Augsburger Inkunabel ars memorativa um 1480 verwiesen.7 Bilder können demnach Narrationen zusammenfassen und helfen somit, die Geschichte auf den Punkt zu bringen.8 Sucht man in diesen antiken und humanistischen Rhetoriken nach kritischen Anmerkungen zum Bild, so sucht man dort vergebens. Einen problembewussten medientheoretischen Diskurs, der ein Vorläufer zu heutigen Erörterungen sein könnte, findet man dort nicht. Explizit gewarnt wird vor dem Bild im Bereich der Kleinepik, der Fabeln und der Ständesatire. In diesen Literaturgattungen des Spätmittelalters finden sich Beispiele, die den richtigen oder falschen Umgang mit dem Medium Bild thematisieren. Bilder können in diesem Kontext – in Analogie zur didaktischen Funktion dieser Bücher – als speculum (Spiegel) des eigenen Lebens verstanden werden.9 Das Bild wird somit
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sche, sozio-politische und informationssystematische Standortfaktoren und Rahmenbedingungen. Basel 2001, S. 154-165. Joachim Knape: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte. Stuttgart 2000, S. 225. Marcus Tullius Cicero: Vom Redner. De oratore. Aus dem Lateinischen übers. v. Liselot Huchthausen u.a. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Liselot Huchthausen. Berlin/ Weimar 1989, Bd. 2, S. 178-181, 2,351-360; Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt 1975, Bd. 2, S. 590-597, Buch XI, 2,11-26; Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespaere. Berlin 1994, S. 102-122; Joachim Knape: Mnemonik. Bildbuch und Emblematik im Zeitalter Sebsatian Brants. In: Werner Bies, Hermann Jung (Hg.): Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und Mythologie. Festschrift für Manfred Lurker zum 60. Geburtstag. Baden-Baden 1988, S. 133-178. Knape: Allgemeine Rhetorik [Anm. 5], S. 91-235. Anonymus: Ars memorativa. Hie nach volget ein loblich büchlin. Zu latein genannt Ars memoratiua. Augsburg: Johann Bämler, um 1480 (München, Bayerische Staatsbibliothek, 4 Inc. s.a. 213), Bl. b6a. Cicero: Vom Redner [Anm. 6], S. 180, 2,358. Viele Bücher des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit führen in ihren Titeln den Begriff Speculum: Sister Ritamary Bradley, C.H.M.: Backgrounds of the Title Speculum in Mediaeval Literature. In: Speculum. A journal of medieval studies 29 (1954), S. 100-115; Herbert Grabes: Speculum. Mirror und Looking Glass. Kontinuität und Originalität der Spiegelmetapher in den Buchtiteln des Mittelalters und der englischen Literatur des 13. bis 17. Jahrhunderts. Tübingen 1973 (Buchreihe der Anglia; 16), S. 53-55 u. S. 100-112; Nina Hartl: Die Stultifera Navis. Jakob Lochers Übertragung von Sebastian Brants Narrenschiff. Münster u.a. 2001. Bd. 1,2. Teiledition und Übersetzung
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zum Fallbeispiel, mittels dessen nicht nur richtiges bzw. falsches Handeln vor Augen geführt wird, sondern auch in einem zweiten Schritt gut und böse voneinander unterschieden werden können. Wenn gut und böse in einem Bild gleichzeitig gezeigt werden können, dann spricht dies für die besondere Qualität des Mediums, für dessen Ambiguität. Aufgrund dieser Mehrdeutigkeit haftet dem Bild ein Rätselcharakter an, der nach einer Auflösung, nach einem ausdeutenden Text verlangt. Aus diesem Problemfeld leiten sich die Vorstufen der Emblematik her, wie sie später dann durch Andreas Alciatus im Jahr 1531 in kanonischer Weise ausgeformt wurden.10 Bereits vor 1500 wird jedoch ein BildText-Problembewusstsein in ersten Ansätzen erkennbar, auf dem unser heutiger Begriff der Medientheorie gründet.11 Worin aber liegen nun die konkreten Gefahren der Bildbetrachtung und der Bildausdeutung? Ein Beispiel für die Ambiguität, die in Bildern liegen kann und deren sich der Betrachter gewahr werden muss, findet sich in den Fabeln des Äsops.12 Der hier gezeigte Holzschnitt (Abb. 35) mit dem Untertitel (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit; 1), S. 34-35: Contemplator age hoc speculum, quicunque cupiscis Scire hominum vitas interitusque graves. Nam qui se vitamque suam speculatur in isto Codice, non dicet se facile esse bonum (Auf, auf! Schau in den Spiegel, der du den Lebenswandel der Menschen und ihr schlimmes Ende zu kennen wünschst! Denn wer sich und sein Leben in diesem Buch erblickt, wird nicht leichtlich sagen, er sei redlich und gut). Ebd., S. 40-41: Intueatur ergo hunc perlegatque, quisquis veluti in speculo conditionem vitamque suam novisse perspexisseque laborat, quo foelicius transigere valeat aevum [Dieses (Buch) möge also jeder betrachten und aufmerksam lesen, der bemüht ist, wie in einem Spiegel die Beschaffenheit seines Lebens zu erkennen und zu durchschauen, um sein Leben fortan glücklicher zubringen zu können]. 10 Andreas Alciat: Emblematum liber. Mit Holzschnitten von Jörg Breu. Nachdruck der Ausgabe Augsburg 1531. Hildesheim u.a. 1977 (Emblematisches Cabinet; 10). 11 Einen weit gefassten Ansatz vertreten: Günter Helmes u. Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie. Stuttgart 2002, S. 17-19. 12 Neben dieser Fabel sind zwei weitere zu diesem Themenkreis enthalten in: Heinrich Steinhöwel u. Sebastian Brant: Aesopus leben und Fabeln mit samt den Fabeln Aniani, Adelfonsi, vnd etlichen schimpffreden Pogij. Darzu vßzüge schöner fabeln vn[d] exempeln Doctors Sebastian Brant. Freiburg 1535. (München, Bayerische Staatsbibliothek, Res. 4 A.gr.b. 55), Bl. XXXIXr-XXXIXv. Die xiiii. fabel von dem bild und dem wolff. Von dem wenig weisen setzt Esopus ein solliche fabel. Ein wolff fand uff einen acker ein wolgeschnyttens und schones bild. Er keret das offt hin und her, und fand an jm das es kein synn oder vernunft het, do sprach er O wie ein schön gestalt von einem bild und hat doch kein hirn. Die fabel ist uff die menschen gesetzt die in grosse eer und glori gesetzt sind, und weder kunst noch wyssheit habent. Auch uff die schönen unkündenden frawen, von den mann spricht, Das ist eyn bild on gnad. Ebd., Bl. CLVr-CLVv. Von einem fuchs und marmelsteinin bilde. Ein Fuchs ging etwan in eins lautenschlagers und spilmans hauss, do er nun alle instrument und seyten spyl unnd allen haussrat ersucht und erschneigt, fandt er ein wolffs
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De homine et leone (Über Mensch und Löwe) ist der Ausgabe Sebastian Brants aus dem Jahr 1501 entnommen.13 Bei dem gezeigten Bild handelt es sich um eine getreue Kopie nach der Ulmer Ausgabe von Heinrich Steinhöwel des Jahres 1476. Die Darstellungen aus Steinhöwels Äsop wurden weitgehend unverändert für viele nachfolgende Ausgaben übernommen.14 Im Bild sind zwei Szenen zu erkennen. Links sieht man eine Stele, kenntlich durch die rechteckige Rahmung, auf der ein Mann die Kiefer eines Löwen auseinander reisst. Es ist ein damals bekanntes Bildmotiv, das der zeitgenössische Betrachter auf zweierlei Weise auslegen konnte. Entweder interpretierte er es unter dem sensus historicus15 als siegreichen Simson und heldenhaften Herkules oder auf
kopf, der künstlich und wol uss marmelstein gmacht was. Do er den in die hend nam sprach er, O haupt wie mit grossen synnen bistu gemacht und hast doch keyn synne. Die fabel gehört zu denen die des leibs würde haben und schöne gestalt, aber gantz keyn klugheit des gemüts und der synne. Deren todt und leben achtet der historicus gar bey geleich, dann von jn beydenn würt geschwigen und nichts gesagt. Darumb was under einem gemaleten menschen oder steinen bild, und einem unbesunnen unweisen menschen underscheid sey, kann man nit leichtlich sehen noch erkennen. 13 Sebastian Brant: Esopi apologi sive mythologi cum quibusdam carminum et fabularum additionibus Sb. Brant. Basel 1501, Bl. k 4v. (Berlin, Staatsbibliothek, 4 VK 3392 R); Gerd Dicke u. Klaus Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987, S. 450-453, Nr. 390. 14 Christian Ludwig Küster: Illustrierte Aesop-Ausgaben des 15. und 16. Jahrhunderts. Diss. phil. Hamburg 1970, S. 45-47; ders.: Die gedruckte Fabelillustration im 15. und 16. Jahrhundert. In: Ulrike Bodemann (Hg.): Fabula docet. Illustierte Fabelbücher aus sechs Jahrhunderten. Wolfenbüttel 1983 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek; 41), S. 37; Regine Timm: Spiegel kultureller Wandlungen. In: Wolfgang Metzner, Paul Raabe (Hg.): Das illustrierte Fabelbuch. 2 Bde., Frankfurt a.M./ Berlin 1998, Bd. 1, S. 7; Sebastian Brant: Fabeln. Hg. v. Bernd Schneider. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999 (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur; 4), S. 416 u. S. 434; Steinhöwel u. Brant: Aesopus [Anm. 12], Bl. LVv-LVIr. Die xv. fabel von dem man und löwen. Die wordt sollendt mit den werken bestegiget werden. Darvon hör die fabel. Ein mann und ein löw zweytän sich mit einander mit worten welcher der kreffiger wer, umb solliche zweiung suchten sie kuntschaft und wysung. Also füret der mann den löwen über ein grab dar an gmalt stund wie ein man den löwen erwürgt, dass zeigt er jm sein meinung zewissen. Do sprach der Löwe, dass gemel ist von eim menschen gmacht, künd ich aber auch malen ich het gmalt wie ein löw den mann het erwürgt. Aber ge mit mir uf den frouden plan, da man des fechtens pfliget, so will ich dir war urkund zeigen. do sie also dahin kamen, da zeiget er jm warliche werck dass er strecker wer und würget jn, und sprach. Geferbte zügniss des grabs ist nit gnügsam die warheit zebewisen, dass sich stu an den wercken dass ich stercker bin. Diese fabel wyset dass geblümbte lügy lichtlich von der warheit über wunden werden. 15 Michael Rupp: Narrenschiff und Stultifera navis. Deutsche und lateinische Moralsatire von Sebastian Brant und Jakob Locher in Basel 1494-1498. Münster u.a. 2002, S. 4445: Darlegung oder Dialog über die hervorragende Grösse von Kirchengelehrten. In diesem Abschnitt wird der vierfache Schriftsinn auf die vier Kirchenväter übertragen:
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der Ebene des sensus allegoricus als Fortitudo (Tapferkeit).16 Auch auf der rechten Seite erblickt man in einer durch einen Baum angedeuteten Landschaft einen Löwenkampf. Aber in dieser Szene ist der Mensch im Kampf mit dem Löwen – im wahrsten Sinne des Wortes – als Unterlegener gezeigt. Derartige Darstellungen waren dem damaligen Betrachter aus der mittelalterlichen Kirchenplastik bekannt, wie etwa die Löwe-Mensch-Gruppe aus Reichenhall um 1200 zeigt.17 Dass jedoch zwei gegensätzliche Szenen in einem Bild vereint sind, ist neu und macht auf den ersten Blick wenig Sinn. Dieser offensichtliche Widerspruch, reclamatio oder contrarium (Gegensatz), weckt die Neugier beim Betrachter nach einer plausiblen Auflösung, nach einem sinnstiftenden Text. Die paradoxe Bildaussage macht nicht nur neugierig, sondern lässt auch die Grenzen des Bildverstehens, der Bildinterpretation deutlich werden, womit wir beim eigentlichen Thema dieses Beitrages und dieser Fabel angelangt sind. Der gedruckte Text hält die Auflösung des paradoxen Bildes für den Leser bereit. Die Fabel ist schnell erzählt: Mensch und Löwe streiten sich, wer der Überlegene sei und suchen nach Beweisen. Als Beleg für die Überlegenheit des Menschen führt dieser ein Bild an, auf dem ein Löwe von einem Menschen bezwungen worden ist. Der Löwe lehnt diesen Beweis ab, mit dem Hinweis, dass dieses Bild von Menschen Hieronymus wird der sensus historicus, Gregor der sensus moralis oder tropologicus, Ambrosius der sensus allegoricus und Augustinus der sensus anagogicus zugeordnet. Erasmus bewertet den vierfachen Schriftsinn in der kirchlichen Auslegungspraxis negativ: Desiderius Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Laus Stultitiae. Deutsche Übersetzung v. Alfred Hartmann. Einl. u. Anm. v. Wendelin Schmidt-Dengler. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Lateinisch und deutsch. Hg. v. Werner Welzig. 8 Bde. Darmstadt 1995, Bd. 2, S. 154: Hic mihi stultam aliquam et indoctam fabulam, ex speculo, opinor, historiali, aut gestis Romanorum in medium adferunt, et eamdem interpretantur allegorice, tropologice, et anagogice (Jetzt wählen sie eine törichte, flache Fabel aus, die in dem Geschichtsspiegel oder vielleicht auch in den Taten der Römer zu finden ist, und interpretieren sie allegorisch, tropologisch, oder anagogisch). Auch Melanchthon lehnt den vierfachen Schriftsinn für die Bibel ab, jedoch legt er das Bild des Christophorus in allegorischer, tropologischer und anagogischer Weise aus: Philipp Melanchthon: Elementa rhetorices. Mit den Briefen Senecas, Plinius’ d.J. und den Gegensätzlichen Briefen Giovanni Picos della Mirandola und Franz Burchards. Grundbegriffe der Rhetorik. Hg. v. Volkhard Wels. Berlin 2001 (Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben; 7), S. 193-217. 16 Übereinstimmungen mit diesem Herkules-Motiv, das auf Pollaiulo zurückgeht, ergeben sich aus den fliegenden Kopfbändern und dem Backenbart: Timothy Wilson: Pollaiulo`s Lost Hercules and the Lion Recorded on Maiolica? In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 53 (1990), S. 299-301. 17 Philipp Maria Halm u. Georg Lill (Hg.): Die Bildwerke des Bayerischen Nationalmuseums. 1. Abteilung. Die Bildwerke in Holz und Stein vom XII. Jahrhundert bis 1450. Augsburg 1924 (Kataloge des Bayerischen Nationalmuseums; 13), S. 3, Nr. 9, Tafel 7, Löwe aus Reichenhall, um 1200, Inv.Nr. MA 111.
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gemalt sei (hoc ab homine pictum est18), wogegen es von Seiten der Löwen sicherlich mit einem Sieg des Löwen gemalt worden wäre (nam si leo pingere nosceret: pictum videres quomodo leo suffocasset hominem19). Als unumstösslichen Beweis (verum testimonium20) führt der Löwe den Menschen ins Amphitheater, wo Menschen von Löwen zerrissen werden. Hiermit kommen wir zur Moral dieser Geschichte: Diese Fabel beweist, dass eine farbig aufgeputzte Lüge rasch der Wahrheit unterliegt, wenn es zur harten Prüfung kommt.21 In der Fabel nimmt der Mensch eine induktive Beweisführung vor, da er vom Einzelfall, dem verehrungswürdigen, heldenhaften Beispiel eines menschlichen Sieges, auf den Regelfall schloss. Der Löwe hingegen führt keinen Einzelfall an, sondern folgert vom Allgemeinen auf das Einzelne. Und damit ist auf den fundamentalen Unterschied zwischen Bildern der Kunst und Bildern der Realität verwiesen: In der menschlichen Kunst liegt zumeist die Bildwürdigkeit in der Einmaligkeit, weshalb sich deren Bilder von Bildern der Realität scheinbar klar unterscheiden lassen. Klingt hier bereits ein grundsätzliches Gefahrpotenzial von Bildern an, das in der Polyvalenz derselben liegt? Doch wenden wir uns dem Holzschnitt selber zu. Anhand der Gegenüberstellung der beiden Medien, von Text und Bild, wird verständlich, dass aus der Fabel zwei bestimmte Sequenzen ausgewählt und illustriert worden sind: es sind die beiden Beweise (argumenta) des Menschen und des Löwen. Sie sind in einem Bild zusammen und damit gleichwertig wiedergegeben. Damit ist eine bildliche Offenheit erlangt, die dem Betrachter die Rolle eines Richters geradezu aufzwingt. Er hat über die ihm bildhaft vorliegenden Beweismittel zu urteilen. Der auktoriale Erzähler des Textes und damit der ihm folgende Leser der Fabel fällt ein klares Urteil, indem er das Bild im Bild als Lüge, als blossen Schein, abqualifiziert, wohingegen das Bild der Realität den Sieg davon trägt. Der Betrachter des Holzschnittes hat es da schon schwieriger als der Leser der Fabel. Ausser den bildimmanenten Zeichen des Rahmens für die Bild-im-Bild-Situation und des Baumes22 auf dem Hügel für das Bild der Realität hat er keinen Hinweis dafür, dass sich die beiden Bil18 Brant: Esopi apologi [Anm. 13], Bl. k 4v. 19 Ebd.: Hec fabula probat mendacium coloribus compositum a veritate cito superari, ubi est probatio certa. 20 Ebd. 21 Antike Fabeln. Aus dem Griechischen u. Lateinischen übers. v. Johannes Irmscher. Berlin/ Weimar 1978 (Bibliothek der Antike), S. 400; Brant: Esopi apologi [Anm. 13], Bl. k 4v: Hec fabula probat mendacium coloribus compositum: a veritate cito superari/ ubi est probatio certa. 22 Das Wappenschild am Baum lässt sich auf die Dedikation an Sigismund von Tirol beziehen.
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der im Holzschnitt in ihrem Wirklichkeitsgehalt voneinander unterscheiden lassen. Im Gegenteil beide Szenen sind Bestandteil eines Bildes und damit – so könnte man ketzerisch sagen – auf derselben Ebene des Scheins bzw. der Wirklichkeit verortet. Die in sich logische Beweisführung der Fabel im Medium des Textes wird im Medium des Bildes mehr als fragwürdig. Denn würde man die Quintessenz der Fabel auf alle Bilder anwenden – was ja die Intention der Fabel ist, gleichgültig ob es sich um Darstellungen des Herkules, des Simson oder – auf diesen typologisch bezogen – um eine Darstellung Christi handelt23 – so müsste man alle diese Bilder, die von der Vergangenheit künden und nicht mehr durch Taten für sich selber eintreten können, aufgrund ihres Scheins als potenzielle Lügen verdammen.24 Sollte dieser Vorwurf an das Bild durch den Künstler zurückgewiesen worden sein, indem er für das Bild im Bild das damals bekannte Motiv des Herkules bzw. Simson als Würdeformel wählte, der im typologischen Verständnis seit den Kirchenvätern als Prägfiguration des den Tod bezwingenden Christus verstanden wurde?25 Doch setzen wir hier zunächst einen Punkt, um noch weitere Bilder zu befragen. Im Buch Der Ritter vom Turn aus dem Jahre 1493 findet sich ein weiteres Beispiel zur Warnung vor dem Bilde in Verbindung mit dem Thema des Bildes im Bild (Abb. 36). Zusammen mit der Überschrift: Von eyner edlen frowen wie die vor eym spiegel stund, sich mutzend, unnd sy jn dem spiegel den tüfel sach jr den hyndern zeigend sieht man einen Holzschnitt, der einen Innenraum wiedergibt. Eine junge Frau steht vor einem Rundspiegel26 und betrachtet sich in selbigem gedankenversunken beim Kämmen der Haare. Im Spiegel erblickt man aber nicht – wie man zunächst annehmen könnte – das hübsche Gesicht der 23 Vgl. etwa der Klosterneuburger Altar von Nikolaus von Verdun aus dem Jahr 1181: Floridus Röhrig: Der Verduner Altar. München/ Wien 1955, S. 80-81, Tafel 37: Vir gerit iste tuam leo mortis christe figuram [Dieser Mann vollzieht Dein Vorbild, Christus, der Löwe das Vorbild des Todes]; Wolfger A. Bulst: Samson. In: LCI 4 (1972), Sp. 3038. 24 Aurelius Augustinus: Der Lehrer. De magistro. Hg. u. übers. v. Carl Johann Perl. 3. Auflage. Paderborn 1974, S. 86-87. 25 Abb. in: Röhrig: Der Verduner Altar [Anm. 23], Tafel 37. 26 Marquard vom Stein: Der Ritter vom Turn von den Exempeln der gotsforcht und erberkeit. Basel 1493 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 631), Bl. 20 r. Zum Spiegel in der nordalpinen Kunst vgl. Heinrich Schwarz: The Mirror of the Artist and the Mirror of the Devout. In: Studies in the history of art. Dedicated to William E. Suida. London 1959, S. 90-105; Jan Bialostocki: The eye and the window. Realism and Symbolism of Light-Reflections in the Art of Albrecht Dürer and His Predecessors. In: Horst Keller (Hg.): Festschrift für Gert von der Osten. Köln 1970, S. 159-176; Jan Bialostocki: Man and Mirror in Painting. Reality and Transcience. In: Ders.: The Message of Images. Studies in History of Art. Wien 1988, S. 93-107; Yvonne Yiu: Jan van Eyck. Das Arnolfini-Doppelbildnis. Reflexionen über die Malerei. Frankfurt a.M. 2001.
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Frau, sondern das hässliche Gesäss eines Teufels, der hinter ihr als Kommentar zu ihrem eitlen Tun sein Unwesen treibt. Die junge Frau hat offensichtlich die Anwesenheit des Teufels hinter ihr noch nicht bemerkt. Dies löst beim Betrachter eine gewisse Verwunderung aus und macht ihn neugierig. Man fragt sich, warum reagiert sie nicht? Und warum sieht man ausgerechnet das Hinterteil des Teufels in ihrem Spiegel? Doch vergegenwärtigen wir uns zunächst die Geschichte, bevor wir auf das Bild näher eingehen.27 Auch in diesem Fall ist der Text schnell erzählt: Eine Frau, wobei im Text nicht von einer jungen Frau die Rede ist, verbringt viel Zeit beim Kämmen ihrer Haare und bei der damit einhergehenden selbstgefälligen Betrachtung im Spiegel. Hierüber kommt sie wiederholt zu spät zur Kirche, was den Unwillen der Gemeinde erregt. Auch an einem Sonntag versäumt sie bei ihrem eitlen Tun wieder einmal die Zeit. Alle Gläubigen warten in der Kirche bereits auf sie und wissen um ihr lasterhaftes Tun zu Hause. Da erscheint ihr plötzlich ein Teufel, dessen Hinterteil sie im Spiegel sieht: Also jn der selben stund da sy sich also spieglet, ward sy den tüfel jn dem spiegel sehen, so gar grusamer gestalt, unnd jr den hyndern zeiende [...].28 Sie erschrickt daraufhin so nachhaltig, dass sie ganz von Sinnen wird und mit schwerer Krankheit lange Zeit danieder liegt. Aber Gott liess sie wieder gesunden und sie legte daraufhin ihr untugendhaftes Wesen ab. Der Text endet mit den moralisch-didaktischen Worten: Und sagt mit demütigen hertzen got dem hern siner straffen lob und danck also das sy dar durch jr lebenn selicklichen verendet [...].29 Im Text nimmt der Spiegel eine zentrale Stellung ein. Womit wir erneut in den Diskurs der Gefahren des Bildes eintreten. Die Gefahr des Bildes, besser gesagt des Spiegelbildes, wird im Text direkt angesprochen. Dem Verständnis der Zeit30 folgend interpretierte man solche 27 Zu den Unterschieden der französischen und der deutschen Fassung: Ruth Harvey: Marquard vom Stein: Der Ritter vom Turn. Kommentar. Aus dem Nachlass von Ruth Harvey. Hg. v. Peter Ganz u.a. Berlin 1996 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit; 37), S. 43. 28 Marquard vom Stein: Der Ritter vom Turn [Anm. 27], S. 124. 29 Ebd. 30 Johannes Agricola: Die Sprichwörtersammlungen. Hg. v. Sander Lawrence Gilman. Bd. 1. Berlin/ New York 1971, S. 495, Nr. 682. Die Weiber treiben all yhren wandel mit radt des spiegels. Der Ritter vom Thurn lernet seine töchter, wie sie sich vor ubrigem schmucken hütten sollen, dann sie verdammen damit yhre seelen. Eyn weib wie gesagt, hatt keyn grossere lust, denn schmucken, darumb haben sie eynen radtgeben, der heysset spiegel, der lernet sie die schlayer faltzen, das maul einbeissen, uber sich und auff die seitten sehen, den halss regiern, lachen und schertzen, geen und stehen, Consilio speculi gerit omnia mulier.
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Darstellungen im Sinne des sensus allegoricus bzw. moralicus, etwa bei Hieronymus Bosch Der Tisch der Todsünden (um 1475-80)31 als superbia (Stolz) oder bei Sebastian Franck als philautia bzw. Aigenlieb.32 In diesem allegorischen Verständnis ist hier die Selbstverliebtheit als Krankheit und die Teufelserscheinung als Schock gezeigt, die beide mittels des im Text genannten Spiegelbildmotivs ursächlich aufeinander bezogen sind. Im Angesicht des Bildes können sowohl Narzissmus als auch Erkenntnis einem gewahr werden. Soweit die Aussage des Textes, aber was sieht man im Holzschnitt? Die junge Frau ist im Moment des Narzissmus gezeigt. Gleichzeitig nimmt man hinter ihr bereits den Teufel wahr, der ihr demonstrativ sein Hinterteil zudreht. Auch im Spiegel sieht der Betrachter das Hinterteil des Teufels, das die junge Frau nach den Gesetzen der Optik jedoch gar nicht sehen kann, da der Teufel hinter ihr steht und sein Gesäss sich zudem nicht auf ihrer Kopfhöhe befindet. Damit wird deutlich, dass es sich bei diesem Bild im Bild nicht um eine empirische oder äussere Wahrnehmung, sondern um eine innere Vorstellung, um eine Vision handelt. Der innerbildliche Widerspruch, dass die junge Frau in ihrem Narzissmus gezeigt ist und nicht auf die erkennbare Teufelsvision im Spiegel reagiert, stellt ein Paradoxon dar, das in der Bibel wiederholt als Topos vorkommt, wie etwa im 115. und 135. Psalm: [...] sie haben Augen und sehen nicht. 33 Dieser Widerspruch aktiviert den Betrachter, bringt ihn zum Nachdenken und involviert ihn somit ins Bildgeschehen. Der Betrachter sieht sich also durch den innerbildlichen Widerspruch veranlasst, nach einer logischen Erklärung zu suchen. Und er findet sie in dem Augenblick, in welchem er das kleine Bild im Spiegel als Hinterteil des Teufels erkennt. In diesem Moment ist er im Gegensatz zu der gezeigten jungen Frau – also noch vor ihr – in den Zustand der Erkenntnis versetzt, da er quasi selber die Teufelsvision hat. Der Betrachter nimmt also eine bildliche Inversion vor, indem er die äussere 31 Madrid, Museo Nacional del Prado, Inv.Nr. 2.822. 32 Zu: Philautia, Aigenlieb und wolgefallen: Sebastian Franck: Sprichwörter. Schöne, Weise, Herrliche Clugreden und Hoffsprüch. Vorwort v. Wolfgang Mieder. Hildesheim u.a. 1987, Bl. 40v-41r: Die täsch auff dem arss will nyemandt sehen; Eygen lob stinckt; Eygen ruhm ist lesterns werdt; Wer sich selbs lobt, heysst der lesterlin; Wer sich selbs liebt, den hassen vil; Der jm selbs heyltumb, ist anderen ein grewel. 33 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1968, Ps 115,5 und 135,16. Ebd. Fünftes Buch Moses [= Dt], 29,3. Und der Herr hat euch bis auf diesen heutigen Tag noch nicht ein Herz gegeben, das verständig wäre, Augen, die da sähen, und Ohren, die da hörten. Ebd. Mt 13,13 Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es auch nicht. Ebd. Rm 11,8.
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Schönheit der jungen Frau als innere Hässlichkeit erkennt. Dass derartige Umkehrungen ein approbates Bildverfahren darstellten, wird deutlich, wenn man etwa die Teufelsdarstellung mit einem zweiten Gesicht am Gesäss aus dem Kirchenväteraltar (Abb. 37) Michael Pachers um 148034 heranzieht.35 Aber nicht nur im heutigen deutschen Sprachgebrauch klingen Gesicht und Gesäss ähnlich, sondern auch im Lateinischen ergibt sich eine Assimilation der Worte narcissus (Narziss) und natis (Gesäss). Derartige Wortspiele könnten für einen damaligen gebildeten Betrachter einen zusätzlichen Reiz dargestellt haben.36 Im Gegensatz zum Holzschnitt der Äsop-Fabel ist das Bild im Bild – hier das Spiegelbild – kein Trugbild mehr, sondern ein Bild der Erkenntnis, der Wahrheit. Nicht die äussere Welt der trügerischen Farben, sondern die innere Welt der Visionen ist der Garant für die Wahrheit des Bildes. Damit haben wir nun zwei gegensätzliche Bildvorstellungen kennen gelernt, die durch den Vergleich, durch das rhetorische Mittel 34 München, Alte Pinakothek, Inv.Nr. 2599 a. Alte Pinakothek. Erläuterungen zu den ausgestellten Gemälden. Hg. v. Bayerische Staatsgemäldesammlungen. 2. Auflage. München 1986, S. 380: Der Teufel weist dem hl. Augustinus das Buch der Laster vor, in dem auch Versäumnisse des Heiligen stehen; diese werden durch die Wirkung des Gebetes des Heiligen aus dem Buch getilgt. 35 Franck: Sprichwörter [Anm. 32], Bl. 122r: Nun auss der angebornen eygen lieb kompt, dass eim ieden sein weiss am besten gefellt, Ob gleich der Aff und Eul in spiegel sihet, so ist doch die natur in vihe und leut so blind, das iede creatur mit eygner lieb besessen, sich selbs nit kennt, sihet oder sehen kann. Da stilt der dieb, die eygen lieb, und alle urteyl, sin, witz, frömmkeit ec, also das die augen im kopf nun uber sich und neben sich, nit hinder oder under sich sehen wöllen auff den ruck oder die füss, dann kommen letze urteyl, schelhewitz und litz, das ein ieder nun für sich und neben sich sihet, was eim andern an der stirn geschriben steh. Sein laster sack auff dem ars hangen, und sein kühaut an der stirn uberschriben, kann er nit lesen noch sehen, dann er vor eim spiegel, so kompt dann all schrifft letz, das ers aber nit lesen kann. Darumb bleibt der mensch ewig in sein eygen sachen unnd gegen jm selbs blind und ein narr, und sihet der pfaw nun sein schön federn, der bock sein gehörn an, die füss will aber der pfaw, und den hindern der bock nit sehen, man zeyge jms dann. Knape: Allgemeine Rhetorik [Anm. 5], S. 225. In der ersten deutschsprachigen Rhetorik des Friedrich Riederer Spiegel der Rhetorik (1493) werden im Kapitel VI. Gedächtniss zwölf Verfahren aufgezeigt, nach denen man Erinnerungszeichen gewinnen kann. Darunter befinden sich die Möglichkeiten, dass Körperteile für Eigenschaften stehen (pars corporis) und dass das Gegenteil für die Sache steht (oppositum). 36 Zum Wortspiel vgl. Desiderius Erasmus von Rotterdam: Briefe. Hg. v. Walther Köhler. Nachdruck der 3. Auflage. Bremen 1956. 4., um Vorwort u. Bibliographie erw. Auflage v. Andreas Flitner. Darmstadt 1995, S. 89. Erasmus an Thomas Morus, Paris (?) 9. Juni 1511. Auf die selbst gestellte Frage, wie er, Erasmus, auf die Idee zum Lob der Torheit kam: Nun, zunächst mahnte mich Dein Geschlechtsname Morus, der kommt dem Wort ›Moria‹ [Narrheit] so nahe, als Du ihr sachlich fern stehst – wirklich, ganz fern, das sagen alle. Vgl. Knape: Allgemeine Rhetorik [Anm. 5], S. 225. In Riederers Rhetorik findet sich ein Verfahren zur Gewinnung von Erinnerungszeichen, das er unter dem Begriff der Lautmalerei (onomathopeia) fasst.
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der comparatio, das falsche Bild (Narzissmus und Kunstwerk) vom richtigen Bild (Vision und Realität) zu unterscheiden trachten. Um der Gefahr des trügerischen Bildes nicht zu erliegen, stellt sich somit zwingend die Frage nach den Parametern unter denen ein Bild Glaubwürdigkeit erlangt. Ergo: Ein Bild ist noch lange nicht wahr, nur weil es schön oder gut gemacht ist oder weil das Gezeigte wiedererkennbar oder vertraut erscheint, sondern weil es im direkten Vergleich von inneren mit äusseren Bildern bestehen kann. Erst durch das rhetorische Mittel der gezielten Gegenüberstellung, durch Bildvergleiche und Bildgegensätze wird die Differenz sichtbar gemacht und damit potenziell die Möglichkeit geschaffen zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.37 Doch wenden wir uns einem dritten Bildbeispiel zu, um der Frage nach den Gefahren der Bildrezeption weiter nachzugehen. In Sebastian Brants Narrenschiff38 aus dem Jahr 1494 findet sich ein Holzschnitt mit 37 Zu diesem Themenkreis s. auch die Fabel in: Quidenon Cyrillus: Cyrillum Bischoff zu Basel. Spiegel der wyszheit, durch kurtzwylige fabeln, vil schöner sitlicher und Christlicher lere angebende, im iar Christi 1520 usz dem latin vertutscht. Basel 1520, (München, Bayerische Staatsbibliothek, Res 4 Hom. 967 b), Bl. XLVIr-XLVIv. Das sich niemand erhebe hübsche halb syns lybs/ lert diese fabel von dem Pfawen und Rappen. Cap. xxv. Es zücht dich zu solchen bracht die begird eigens wolgefallen, welche ir lieb habet als bald der torheit underwirfft. Dann als bald du erzeigst din hübsche, glich wirstu mit ungestalt erblösst an dem hindern. Ja wenn du glorierest dines lybs hübsche halb, als bald entstelt dich dyn usswendiger schyn, und nimmt dir hin die hübsche der sel.Und also ist nichts schnöders weder die hoffertikeit, durch welche die sel beraubt wirt aller gezierde und tugent, ia das gantz wol geordnet leben wirt durch die hoffart verkert. [...] Dass gemüt wirt ungestalt als bald es beraubt wirt der waren innerliche gezierd. So vil ein schnöde sel ein hübscheren lyb hat, also vil wüster ist auch sy. So ein Aff geziert wirt schynet er vil ungestalter an synem hindern weder vor hin. Und also wenn die innerliche schöne nit i[n] eim ding ist, ist all andere hübsche ein ungestalt. Den trachten ertödt syn edler stein, und das gemält einer natern entstelt sy, des glychen wirfft der blitz von im uss ein grusamliche flamm. Darum ist allein die tugent ein ware gestalt des gemüts, und die klare vernunfft ein erlich gezierd der selen. 38 Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Übertragen v. Hermann A. Junghans. Durchges. u. mit Anmerkungen u. Nachwort neu hg. v. Hans-Joachim Mähl. Stuttgart 1988, S. 212. Zu den Holzschnitten: Hellmut Rosenfeld: Sebastian Brant und Albecht Dürer. Zum Verhältnis von Bild und Text im Narrenschiff. In: Gutenberg-Jahrbuch 47 (1972), S. 328-336; Klaus Manger: Das Narrenschiff. Entstehung, Wirkung und Deutung. Darmstadt 1983, S. 52-65; Konrad Hoffmann: Wort und Bild im Narrenschiff. In: Ludger Grenzmann, Karl Stackmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände; 5), S. 392-422; Gudrun Aker: Narrenschiff. Literatur und Kultur in Deutschland an der Wende zur Neuzeit. Stuttgart 1990, S. 89-90; Dan Lettieri: Some Sources and Methods for the Illustration of Narrenschiff. In: GutenbergJahrbuch 69 (1994), S. 95-105; Cornelia Schneider: Das Narrenschiff. Mainz 1994, S. 47-58. Die Illustrationen gehen in ihrem ikonographischen Gehalt (visierliche Angebung – wahrscheinlich schematische Zeichnungen und schriftliche Erläuterungen) auf Brant zurück (S. 48). Der Hauptmeister ist in Dürer zu vermuten (S. 57); Cordula Pe-
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der Bildunterschrift bzw. der Kapitelüberschrift Von im selbs wolgefallen (Abb. 38). Im Bild erkennt man einen Innenraum, in dem ein Mann vor einer Feuerstelle steht, um mit einem Löffel im Kessel zu rühren.39 Während er mit der einen Hand den Kochlöffel führt, hält er in der anderen einen Spiegel. Seine Aufmerksamkeit ist jedoch nicht zweigeteilt, sondern ganz auf das Spiegelbild fixiert, das auch der Betrachter im ovalen Spiegel gut erkennen kann. Vor welchen Gefahren wird hier der Betrachter im Medium des Bildes gewarnt? Doch zunächst zum Text, um den gedanklichen Horizont des Lesers gewahr zu werden. Auf die Frage: Wer wähnet, dass er weise sei, gibt der Text die Antwort, dass wer sich selbst gefällt: In den Spiegel sieht [...] wie toll.40 Zum Narren wird also der, der glaubt, dass er allein ein Weiser sei, denn so fährt der Text weiter fort: Wo sollte sonst noch einer sein? Vereinzelung, Selbstsüchtigkeit und Egozentrik gehen einher mit der Hybris weise zu sein. Als Beispiele für die selbstgefälligen und auf sich selbst fixierten Narren werden Kaiser Otto, die Frauen im Allgemeinen, Pygmalion und Narziss genannt. Bei all diesen Exempeln dominiert im Text die Metaphorik des Spiegels, der durch seine Faszination den närrischen Betrachter in Selbstgefälligkeit, Selbstüberschätzung (Narr), Egoismus (Otto, Frauen) und Eigenliebe (Pygmalion, Narziss) verstrickt.41 Ein Entkommen aus diesem gefährlichen Zustand wird selbst am Ende des Textes nicht in Aussicht gestellt. Im Gegenteil der Narr: Will mit Gewalt nicht klüger werden.42 Doch wovon handelt der Holzschnitt? Im Bild selber finden sich einerseits Gegenstände, die im Text genannt werden, andererseits aber auch Elemente, die über den Text hinaus führen und daher unabhängig vom Text eine eigenständige Interpretation beanspruchen dürfen. Zwei Beispiele für ein Bildverstehen unter den Parametern des sensus moralicus und allegoricus auf der Grundlage des Textes sind etwa die zwei Löffel und das Schaf. Die zwei dicht hinter dem Kopf des Mannes aufragenden Kochlöffel lassen sich aufgrund ihrer räumlichen Platzierung und Form als Ohren deuten. Sie finden ihre textliche Entsprechung in der Zeile: Hans Eselsohr mein
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per: zu nutz und heylsamer ler. Das Narrenschiff von Sebastian Brant (1494). Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Text und Bild. Leutesdorf 2000. Für die hier geführte Diskussion nicht ergiebig. Brant: Narrenschiff [Anm. 38], S. 212. Ebd., S. 213. Zur Weisheit: Ulrich Gaier: Studien zu Sebastian Brants Narrenschiff. Tübingen 1966, S. 140-141. Aker: Narrenschiff [Anm. 37], S. 91-96. Brant: Narrenschiff [Anm. 38], S. 214.
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Bruder was.43 Auch das Schaf ist als sprechender Kommentar auf die Handlung des Mannes zu beziehen. Im Text heisst es dazu: Mancher blickt stets zum Spiegel hin, Der doch nichts Hübsches sieht darin. Wer so sehr ist ein närrisch Schaf, Der will auch nicht, dass man ihn straf [...].44 Neben diesen ikonographischen Ausdeutungen auf der Grundlage des metaphorischen Textes hält der Holzschnitt aber auch noch andere Sinnschichten bereit, womit wir wieder zum eigentlichen Thema dieser Untersuchung, den Gefahren des Bildes, kommen. Der dargestellte Mann trägt deutlich sichtbar seine Narrenkappe auf dem Rücken. Er selber sieht sich rein äusserlich im Spiegel jedoch nicht als Narren, kann sich als solchen so gar nicht sehen, da sein Bild des Spiegelbildes, seine Wahrnehmung – hier verstanden als Selbstwahrnehmung – zu klein geraten ist. Seine mentale Begrenztheit wird hierin sprichwörtlich im Sinne des sensus allegoricus zur Anschauung gebracht. Hiermit ist erneut ein Gefahrenpotenzial des Bildes deutlich herausgestellt, das in der Warnung vor dem Verlust des äusseren Umfeldes besteht, wenn man den Fokus des Interesses, den Rahmen des Ausschnittes, zu klein wählt. Dass zu dieser Deutung noch weitere hinzutreten können, zeugt für die Komplexität des Mediums Bild. Ausgehend von der Tatsache, dass der Mann sein Konterfei im Spiegel stark fokussiert sieht und nur Augen, Nase und Mund zu sehen sind, gibt erst der ovale Rahmen des Spiegels dem Gesicht des Mannes seine äussere Form. Der wellige Rahmen des Spiegels ist demnach in zweifacher Weise zu verstehen. Zum einen bildet er die Gesichtskontur, zum anderen ist er einfach der Rahmen des Spiegels. Folgt man der Ausdeutung des Spiegelrahmens als Gesichtskontur und vergleicht dieses Bild mit anderen Holzschnitten des Narrenschiffs, so kann der Spiegelrahmen auch mit einer Narrenkappe assoziiert werden. Denn auch in einigen anderen Holzschnitten finden sich Narrenkappen mit einem gewellten Rand, die auf diese charakteristischeWeise das Gesicht nach aussen hin abschliessen. Als Beispiele für derartige Narrenkappen seien die Bilder zu den Kapiteln Verachtung der Heiligen Schrift45 und Vom Borgen 46 genannt. Die Möglichkeit der doppelten Sichtweise des Spiegelrahmens in seiner 43 Ebd., S. 212. Vgl. auch das Kapitel Von unnützem Wünschen und dem dazu beigefügten Holzschnitt, in dem Midias mit Eselsohren dargestellt ist (S. 96-97). Franck: Sprichwörter [Anm. 32], Ander theyl der Sprichwörter, Bl. 13r: Den Esel kent man bei den ohrn, Und bei den worten den thorn. 44 Brant: Narrenschiff [Anm. 38], S. 214. 45 Ebd., S. 44. 46 Ebd., S. 93.
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realen Funktion und in seiner moralischen Implikation eröffnet dem Betrachter im aktiven Nachvollzug parallel die gegensätzlichen Perspektiven der Selbstsucht und der Selbsterkenntnis. Erst dieser zweifache Blick macht die Differenz zwischen der äusseren und inneren, das heisst moralischen Haltungen für den Betrachter erfahrbar, die sich in den polarisierenden Begriffen von Eigenliebe und Erkenntnis manifestiert. Diese moralische Ausdeutung des Spiegels als Narrengesicht öffnet den Blick über den Rahmen des Bildes hinaus und führt damit über die zuvor vorgenommene allegorische Interpretation der narzisstischen Isolation zur demütigen Einsicht der eigenen närrischen Handlung. Erneut erfährt der Betrachter, wie schon am Holzschnitt des Ritters vom Turn, anhand des Spiegelbildes die Möglichkeit einer Inversion. Potenziell eröffnet das Bild aufgrund seiner inneren Rückbezüge die Möglichkeit zur kritischen Selbstwahrnehmung und somit den Schritt in Richtung Selbsterkenntnis, womit das Bild im Gegensatz zum Fazit des Textes potenziell Gnade und Erlösung bereit hält. Dass dieser zweite Blick, die moralische Interpretation des Spiegels im Holzschnitt intendiert ist, wird an zwei Bildelementen kenntlich: am Breikochen und an der Narrenmütze. Der Narrenbrei wird im Text zweimal erwähnt. Gleich zu Beginn im Zusammenhang mit dem Umstand, dass der Narr sprichwörtlich auf den Geschmack kommt, eben Gefallen an seinem Spiegelbild findet47 und das andere Mal in Verbindung mit der Weisheit: Der rühret wohl den Narrenbrei, Wer wähnet, dass er weise sei.48 Die Tätigkeit des Breikochens könnte jedoch auch in Hinblick auf ein bekanntes Proverbium des Terenz aus dessen Phormio49 gedeutet werden. – Dies ist erneut ein Beleg dafür, dass das Bild, ebenso wie der mit Zitaten reich versehene Text, für den Wissenden Anspielungen und damit weitere Sinnebenen bereit hält, die sowohl zur Steigerung seines 47 Ebd., S. 212: Des Narrenbreis ich nie vergass, Da mir gefiel das Spiegelglas. Vgl. Sebastian Brant u. Jakob Locher: Navis Stultifera. Basel 1406 [1506], (München, Bayerische Staatsbibliothek, 4 Rar. 1464), Bl. [56 v]: Dulce modo stulto est q[uod] coxerit ipse polenta. Nec videt in speculo q[oud] se sit pulchrius ipso [Durch dumme Weise ist er/es süss, dass die Gerstenraupe selbst koche und er/es sieht nicht im Spiegel, dass er/es selbst sei, sondern nur schöner als sich selbst]. 48 Brant: Narrenschiff [Anm. 38], S. 213. 49 Deutsche Übersetzung des Phormio in: Publius Terentius Afer: Comoedia. Terentius der Hochgelert vnd aller brüchlichest Poet. Mit Kommentar. Strassburg: Johann Reinhard Grüninger, 1499 (München, Bayerische Staatsbibliothek, 2 Inc.c.a. 3822 m), Bl. CXXIIIIv: phormio zu Dir gät die summ der sach. du hast selb das yngebrocket. dir ist es alles uss zeessen, gürt Dich zu. [Randglosse:] Du hast selbs dz ingebrocket. Ein gute glichnyss einen zututtler und schlecker vom essen. und kumpt von dem mörser, dar in myn spyse ettwan zerstossen ist. Nun der hat sie nit wol zerstossen, dz die sach nit wol geschaffet. Darumb müst du sie ussessen ec.
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Vergnügens als auch zum komplexen Verstehen dienen können. – Das Sprichwort des Terenz lautet: Tute hoc intristi, tibi omnest exedendum.50 Ins Deutsche übersetzt: Du hast es eingerührt, du musst es ganz auslöffeln oder freier wiedergegeben: Was man sich eingebrockt hat, das muss man auch wieder auslöffeln. In diesem Sinnspruch klingt erneut die kritische Sicht auf das eigene Tun an, die die Voraussetzung zur Selbsterkenntnis und damit den ersten Schritt zur Erlangung der Weisheit darstellt.51 Auch das zweite Bildelement, die am Rücken des Mannes herabhängende Narrenkappe, kann mit einem solchen moralischen Sinngehalt verbunden werden. Im Gegensatz zur getragenen Narrenkappe kann die abgestreifte Narrenmütze in den Bildern des Narrenschiffes für Erkenntnis und Weisheit stehen. Besonders deutlich wird dies, wenn man den Holzschnitt des Kapitels Verleumdung des Guten heranzieht.52 Im dortigen Bild sieht man eine stehende Figur, die sich die Narrenkappe über den Kopf herabzieht. Die entsprechende Textstelle lautet hierzu: Sagt dir dies Narrenbuch nicht zu, So lass es doch nur ruhig laufen, Ich bitte keinen, es zu kaufen, Er wolle denn klug werden draus, Und ziehen selbst die Kappe aus, An der ich lang gezogen hab, Und zog sie ihm doch nicht ganz ab.53
Als Metapher der Selbsterkenntnis wird im Narrenschiff wiederholt der Griff an die Narrenmütze oder das Abstreifen der Kappe in den Holzschnitten dargestellt. Weise ist demnach derjenige, der seine Narrheit nicht leugnet, sondern diese erkennt und daraus die Konsequenz zieht, um zum rechten gottgefälligen Tun zu finden.54 Im Textabschnitt Von der Selbstgefälligkeit ist der Spiegel explizit als Metapher von Eigenliebe, Egozentrik und Isolation begriffen. Dagegen zeichnet sich der Spiegel im Medium des Bildes, wie schon anhand der zuvor untersuchten Holzschnitte aufgezeigt, durch eine 50 Publius Terenz Afer: Phormio. Hg. v. John Barsby. Cambridge 2001, S. 46-47, II,2, § 318. Ins Deutsche übersetzt: Du hast es eingebrockt, jetzt musst du alles löffeln. Publius Terenz Afer: Phormio. In: Ders.: Werke in einem Band. Übers. v. Dietrich Ebener. Berlin/ Weimar 1988, S. 197. 51 Damit ist auf den ursprünglich griechischen Sinnspruch verwiesen: erkenne dich selbst ( ó [nosce te]), der zumeist Thales von Milet zugeschrieben wird. Vgl. Franck: Sprichwörter [Anm. 32], Bl. 158v. Unter Tahles (Thaletis) steht das Sprichwort: Sich selbst kennen, die grösst kunst. 52 Brant: Narrenschiff [Anm. 38], S. 418. 53 Ebd., S. 419. 54 Ebd., S. 207-208. Seiner selbst vergessen. Georg Baschnagel: Narrenschiff und Lob der Torheit. Zusammenhänge und Beziehungen. Frankfurt a.M. u.a. 1979, S. 195-204.
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bildimmanente Ambivalenz aus. Das Bild ist – in Analogie zum metaphorischen Text – eben nicht eindeutig und deshalb nicht auf eine Aussage hin zu reduzieren. Zusammen mit der abgestreiften Narrenmütze kann der Spiegel daher auch zur moralischen Instanz werden. Der Spiegel steht traditionell neben Narzissmus, philautia und Eigenliebe sowohl für negative Allegorien, wie Fortuna, Vanitas und Luxuria, als auch für positive Inhalte, wie Veritas (Wahrheit) und Prudentia (Klugheit).55 Der Spiegel birgt somit die Fähigkeit, die ungeschminkte, die reine Wahrheit wiedergeben zu können. Ausgehend von dieser letzten allegorischen Ausdeutungsqualität, der Prudentia, kann sich der Spiegel vom Objekt zum Subjekt wandeln. In dieser Rolle kehrt er als Sprechender das Innere nach Aussen. Der Spiegel wiederholt nicht, er kommentiert. Mit Hilfe des Spiegels wird somit ein menschliches Phänomen verbildlicht. Der Mensch als Sehender sieht nämlich auch mit geschlossenen Augen.56 Er kennt daher zwei Bilder: das innere Bild, das sich an ihn wendet und mit ihm spricht, und das äussere Bild, über das man mit anderen spricht, weil es stumm und interpretationsbedürftig ist. Dieser Topos, dass der Mensch aus seinem Innern sowohl Bilder als auch Worte evozieren kann, ist aus der antiken Rhetorik bekannt und findet seine einprägsamste Formulierung in der Sentenz: Ein Gedicht ist ein sprechendes Gemälde, ein Gemälde ein stummes Gedicht.57 Oder mit anderen Worten, um diese zunächst gegensätzlich erscheinenden Sinneinheiten aufzulösen: 58 Zum Gehörten, dem Gedicht, können
55 Vgl.: Katalog der Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts im Kupferstichkabinett Basel. Bearb. v. Tilman Falk. Teil 1: Das 15. Jahrhundert. Basel 1979, S. 49, Nr. 20, Tafel 9. Vier Tugenden mit Spruchbändern, um einen Spiegel gruppiert (Prudentia – Iustitia – Fortitudo – Temperantia), um 1470-80. Allgemein: Benjamin Goldberg: The mirror and man. Charlottesville 1985, S. 112-162. 56 Martin Luther: Das Büchlein vom vollkommenen Leben. Eine deutsche Theologie (1518). Hg. v. Herman Büttner. Jena 1920, S. 10: Nun hat die geschaffene Seele des Menschen auch zwei Augen. Das eine ist die Gabe, in die Ewigkeit zu blicken, das andere, zu blicken in die Zeit und die Kreaturen, darin Unterschied wahrzunehmen wie vorhin gesagt, un dem Leibe Leben und Notdurft zu geben, und den zu richten zu regieren nach dem Besten. 57 Marcus Tullius Cicero: Rhetorica ad Herennium. Hg. v. Theodor Nüsslein. München/ Zürich 1994, Buch IV, 39, S. 252 f.: Poema loquens pictura est, pictura tacitum poema debet esse. Zum Interpretationsproblem, ob Bilder einer innerweltlichen Logik, einer Fiktion zuzuzählen sind: Hans Belting: Hieronymus Bosch. Garten der Lüste. München u.a. 2002, S. 96-98. »Abbildung und freie Erfindung liessen sich dabei immer wieder in einer verführerischen Ambivalenz verbinden. In dieser Ambivalenz befand sich die Grenzlinie zwischen Sein und Schein in ständigem Fluss.« (S. 98). 58 Diese Sentenz wird unter anderen Beispielen für das Stilmittel der Umstellung (commutatio) in der Rhetorica ad Herennium angeführt [Anm. 57]. Aus zwei zunächst widersprüchlichen Gedanken wird ein tiefer gemeinsamer Sinn erzeugt.
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innere, fiktive eben sprechende Bilder entstehen und zum Gesehenen, dem äusseren Bild, können innere Dialoge, Selbstgespräche treten. Als ein Beispiel des sprechenden, des inneren Bildes, das als solches über den Gegensatz zum stummen, zum äusseren Bild erfahrbar wird, sei hier eine Zeichnung (Abb. 39) Hans Holbeins d.J. aus Erasmus von Rotterdams Laus Stultitiae (Lob der Torheit) aus dem Jahr 1515 vorgestellt.59 Holbein hat hier einen Mann gezeichnet, der sich im Spiegel betrachtet. Als Kommentar zu seinem törichten Tun hängt auf seinem Rücken eine Narrenmütze herab. Hierin ist es dem zuvor gezeigten Holzschnitt des Narrenschiffes zum selbigen Thema vergleichbar. Im Gegensatz zum Holzschnitt des Narrenschiffes sieht der Mann diesmal jedoch sein Gesicht vollständig im Spiegel, also mit der Gesichtskontur. Die mentale Begrenztheit ist hier nicht das Thema. Statt dessen klingt nun ein neues Thema an, da nicht das Gesicht des Mannes im Spiegel einfach wiederholt wird, sondern ihm das Spiegelbild die Zunge ausstreckt. Die Konsequenz hieraus ist, dass der Betrachter erneut zwei widersprüchliche Bilder sieht und sich die Frage aufdrängt, welches der beiden Bilder die Wahrheit zeigt. Fand in der Fabel Der Mann und der Löwe eine textliche Auflösung des bildlichen Widerspruchs statt, so lässt sich aus dem zur Holbein-Zeichnung zugehörigen Textabschnitt des Erasmus keine Lösung des internen Bildwiderspruchs finden, da dort der Spiegel kein Thema ist. Die Frage drängt sich von daher auf, in welchem Verhältnis die Zeichnung Holbeins, die wohl in Zusammenarbeit mit dem Humanisten Oswald Geisshüsler, genannt Myconius, entstand, zum Text des Erasmus steht. Bei der Analyse des Textes lassen sich strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Medien aufzeigen, die Auskunft über das Zusammenspiel geben. Ausgangspunkt ist Erasmus’ Widmungsschreiben an Thomas Morus: [...] nichts aber ist feiner, als Lächerliches so gestalten, dass nichts weniger als Lächerliches herausschaut. Ob dies mir gelang, mögen andere entschei59 Abb. in: Katalog der Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts. Teil 2A. Die Zeichnungen von Hans Holbein dem Jüngeren und Ambrosius Holbein. Kupferstichkabinett der öffentlichen Kunstsammlungen Basel. Bearb. von Christian Müller. Basel 1996, S. 50-51 u. S. 54, Nr. 22, Tafel 8. (Erasmi Roterodami encomium i.e. Stultitiae laus, Basel: Johann Froben, 1515, Bl. E 2v, Inv.Nr. 1662.166). Zur Doppeldeutigkeit des Spiegelmotives und der Selbstwahrnehmung: Erika Michael: The Drawings by Hans Holbein the Younger for Erasmus Praise of Folly. New York/ London 1986, S. 71 und besonders S. 227-229. Oskar Bätschmann u. Pascal Griener: Hans Holbein. Köln 1997, S. 151-152.
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den; doch wenn nicht Selbstgefälligkeit mich narrt, darf ich wohl sagen: der Torheit galt mein Hymnus, aber ganz töricht ist er nicht. 60
Drei Aspekte lassen sich hier festmachen: der Witz (festiuius), die Selbstreflexion (me fallit) und in der abschliessenden Sentenzen: der Torheit galt mein Hymnus, aber ganz töricht ist er nicht (sed non omnino stulte), das rhetorische Verfahren der Umkehrung von Worten und Sinnzusammenhängen, der commutatio. Diese drei Begriffe geben nicht nur für den gesamten Text, sondern auch für Holbeins Zeichnung die Parameter der Interpretation vor. Holbeins Entscheidung für das Spiegelmotiv lässt sich aus dem Text nicht direkt herleiten, wird jedoch dadurch motiviert, dass der Spiegel im Sinne des sensus tropologicus für die weibliche Allegorie der Selbstgefälligkeit, die Philautia, die Schwester der Torheit stehen kann.61 In Form eines Selbstgespräches lobt Philautia sich im zugehörigen Textabschnitt und behauptet rühmend von sich, dass sie für jedermann unentbehrlich sei.62 Frau Selbstgefälligkeit legt in logischer Art und Weise ihre Argumente dar. Aus ihrem Munde spricht folglich die Wahrheit. Diese ironisch witzige Umkehrung von Torheit in Weisheit oder von Weisheit in Torheit63 und die Verlagerung des Gesprächs nach Innen in Form eines Selbstgespräches verbinden den Text mit Holbeins Zeichnung. Hier wie dort geht es um einen inneren, sowohl selbstkritischen als auch witzigen Prozess, um Wechsel und Veränderung (commutatio), auf dass der äussere Schein respektive das stumme Bild den Betrachter nicht verführt, sondern er durch das innere, hier sprechende Bild zur Erkenntnis gelangt. Der ganze Abschnitt zur Selbstgefälligkeit, der Philautia, steht dabei unter der zentralen Frage, ob nicht nur in der Kunst, sondern vielmehr bei jedem Tun das geschmackvolle Wie die Hauptsache ist.64 In ironisch witziger Weise verbindet Erasmus als Beweis für seine These, dass bei jedem Tun das geschmackvolle Wie die Hauptsache ist65 die Eigenliebe und das Eigenlob mit dem rhetorischen Ziel der Überredung (persuasio)66:
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Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit [Anm. 15], Bd. 2, S. 6-7. Ebd., S. 47. Ebd., S. 48f. Johan Huizinga: Europäischer Humanismus. Erasmus. Basel 1962, S. 63-71. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit [Anm. 15], Bd. 2, S. 47. Ebd. Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt 1972, Bd. 1, S. 230-243, Buch II 15,1-38: Wesen und Ziel der Rhetorik.
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Was aber ist törichter, als sich selber schön finden, sich selber bewundern? Und doch: wie kannst du etwas Hübsches, Gefälliges, Schönes schaffen, wenn du an dir keine Freude hast? Nein, ohne meinen stärkenden Trank im Leib zündet kein Redner trotz all seinem Pathos, [...] den Maler retten all seine Farben67 nicht vor dem grauen Elend [...] – so unerlässlich ist es, dass jeder sich auch selber schmeichle und mit ein bisschen Eigenlob erst sich selbst gewinne, bevor er andere gewinnen will. 68
Torheit und Wahrheit liegen dicht beieinander. Beinahe untrennbar scheinen beide, so dass man fast geneigt ist beide Aspekte aufeinander zu beziehen, wie die bekannten zwei Seiten einer Medaille. Doch zurück zur Zeichnung. Hier sieht man, dass nicht nur der Betrachter über die Torheit der gezeigten Person im Bilde ist, da er die am Rücken herabhängende Narrenmütze sehen kann, sondern auch der sich im Spiegel sehende Mann, weil er mit der ausgestreckten Zunge konfrontiert ist. Die zunächst eindeutige narzisstische Handlung, der Blick in den Spiegel, wird in dem Moment doppeldeutig, in dem die Zeichnung – am Text des Erasmus orientiert – auf der einen Seite Eigenliebe und auf der anderen Einsicht bedeuten kann. Über die Differenz zwischen Person und Spiegel erkennt der Betrachter – dank der ausgestreckten Zunge, dass der Spiegel, ebenso wie in zwei Fabeln des Bischoffs Quidenon Cyrillus,69 zum magischen Subjekt geworden ist, der nicht mehr nur ein äusseres, sondern auch ein inneres Bild zeigen kann. Das Urteil ist somit – vom Text unabhängig – aufgrund des augenfälligen Vergleichs in die Zeichnung eingeschrieben. 67 Zur Methaporik der Farbe: Bei der Äsop-Fabel Über Mann und Löwe stand die Farbe für die Lüge. Vgl. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit [Anm. 15], Bd. 2, S. 13f.: Auf meinem Gesicht [Frau-Torheit] steht deutlich genug zu lesen, wer ich bin; und sollte einer behaupten, ich sei Minerva oder die weise Sophia, so lehrt ein Blick in meine Augen, dass er lügt, selbst wenn mir die Sprache fehlte, der ehrlichste Spiegel der Seele. Von Schminke weiss ich nichts, nichts spricht mein Mund, als was ich denke, und vom Scheitel bis zur Sohle bin ich echt. 68 Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit [Anm. 15], Bd. 2, S. 48 f. 69 Quidenon Cyrillus: Cyrillum Bischoff zu Basel. Spiegel der wyszheit, [Anm. 37]. Cap. xxi, Bl. XLIIIr-XLIIIv: Do uff ein zyt ein Aff sich in einem spiegel mit eygnem wolgefallen besehen wolt, sprach zu im der spiegel. Erfreuw dich mer des das du bist, weder das du in dem liecht erschinest. Dann so du bist, hastu ein warliche substanz, aber so du in dem spiegel erschynest, ist solcher schyn allein ein schatten von dir. Ebd., Cap. xxii, Bl. XLIIIv-XLIIIIr: Du hast diss nit gewisst, do uff ein zit ein aug sahe in ein spiegel, und sich der spiegel wolt berümen glych als wer er ein andre welt, sprach zu im das aug. Was erhebstu dich von dem schyn? Lüg hin der dich, so finstu das du bedeckt bist mit der dunckelheit die dem liecht widerig ist. Darumb sind die bild, die in dir erscheynen nit warhafftig sunder lügenhafftig und betrüglich. Vgl. zur Basler Ausgabe: Ulrike Bodemann: Die Cyrillusfabeln und ihre deutsche Übersetzung durch Ulrich Pottenstein. München 1988, S. 227-231.
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Mit dieser Zeichnung ist erneut auf das zentrale Problem einer jeden Bildrezeption hingewiesen, in der auch die Warnung vor dem Bilde begründet liegt. Bilder sind – in Anverwandlung an Erasmus’ Text – sowohl Wahrheit als auch Lüge. Mittels ihrer kann auf einer kognitiven und das heisst hier sprachlichen Ebene das rhetorische Verfahren der commutatio, der Veränderung, des Wechsels, des Vertauschens, vollzogen werden, das trotz oder gerade wegen des augenscheinlichen Widerspruchs im Bilde zu einer tieferen Einsicht, zur Erkenntnis führen kann. Auf Holbeins Zeichnung bezogen liesse sich das Stilmittel der commutatio in interpretatorischer Weise wie folgt übertragen: Wenn Narren in den Spiegel sehen, sieht sie die Wahrheit an.
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Ein Buch mit fünf Siegeln. Überlegungen zum Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection I. Die Kultur theatraler Praktiken steht in einem spannungsreichen Verhältnis zu jener der Bücher. Aristoteles, der in seiner Poetik die Inszenierung als den ›kunstlosesten‹ Teil der Dichtkunst bezeichnete, leistete einer Spaltung von Theater in Literatur und Aufführung Vorschub. Diese Spaltung trieb fortan in der Theatergeschichte des europäischen Raumes merkwürdige Blüten. So christianisierte etwa Hroswitha von Gandersheim Terenz-Stücke, auf dass ihre ›Lesedramen‹ andere profane Lektüren und vor allem Spiele verdrängen sollten. Und auch dem ›ältesten deutschsprachigen Drama‹ – dem Osterspiel von Muri – war ein merkwürdiges Schicksal zwischen Bühne und Buch beschieden. Stilistisch zeigt sich der zwischen 1240 und 1260 entstandene Text der Blütezeit höfischer Literatur verpflichtet, weshalb gar Zweifel aufkamen, ob es je gespielt wurde. Die späteren, nicht annähernd so sublimen geistlichen Spiele konnten nämlich problemloser mit den grossen, volkstümlichen Aufführungen des 14. und 15. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden. Und als diese im Schwange waren, scheute sich ein Handwerker denn auch nicht, die Schriftrolle aus dem 13. Jahrhundert als Material zur Verstärkung eines Vulgata-Einbandes zu verwenden. Erst die Editionsphilologie befreite den wertvollen Text und machte ihn wieder zum Buchinhalt, der fortan allerdings häufiger von Forschenden denn von Spielenden zur Kenntnis genommen wurde. Diese Metamorphose eines Spieltextes nimmt sich jedoch neben der Tatsache, wie gründlich jene theatralen Praktiken dem Vergessen anheim fallen, die auf Verschriftlichung teilweise oder ganz verzichten, als ein rührendes Wechselspiel des Geschmacks aus. Viele oral und körperlich orientierte Spieltraditionen sind nämlich per se nur durch Verbote, moralische Erörterungen, Randillustrationen in mittelalterlichen Büchern oder zufällige Überlieferungen nicht ganz aus dem kul-
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turellen Gedächtnis eliminiert worden. Sich in diesen Fällen den Phänomenen wieder zu nähern, ist schwierig, da sich das Improvisierte, Körperliche, Doppeldeutige, bildhaft Angedeutete oder nicht ausgesprochene Gemeinte kaum in Bücher überführen lässt, von denen die wissenschaftliche Forschung zumeist ausgeht. Der geschärfte Sinn für die ›performative‹ Konstruktion der Kultur bringt ohne entsprechende methodologische Sensibilität wenig. Es ist deshalb erforderlich, das Verhältnis dessen, was in Büchern in Text und Bild dargestellt ist, zu konkreten theatralen Praktiken zu erkennen und uns – damit wir nicht bloss das erkennen, was wir erkennen wollen – dabei auch der eigenen Sichtweisen und Absichten zu vergewissern.
II. Nachfolgend geht es um einen besonders problematischen Fall im Dreiecksverhältnis von Buch, Theaterpraxis und Forschungsinteresse, und zwar im Bereich einer Theatertradition, die für gewöhnlich als Commedia dell’Arte bezeichnet wird. Die neuere Forschung folgt heute eher wieder der Terminologie des 16. und 17. Jahrhunderts und spricht von Commedia all’improvviso, Commedia italiana oder Commedia mercenaria. Es stehen ihr viele Texte und Bilder aus diesem Zeitraum zur Verfügung, obwohl sich bei dieser Art von Improvisationstheater die künstlerischen Praktiken erst recht zwischen Spielenden und Zuschauenden realisierten und sich der Fixierung in Büchern widersetzten. Diese paradoxe Situation erklärt sich aus dem Umstand, dass sich die Commedia dell’Arte parallel zur Druckindustrie entwickelte.1 Wie Robert Henke hervorgehoben hat, waren die italienischen Berufsschauspieler im fraglichen Zeitraum daran interessiert, sich der Printmedien zu bedienen. Die Motivation der Comici, in Text oder Bild auch in Druckerzeugnissen präsent zu sein, hing mit der Erhöhung des Bekanntheitsgrades, mit sozialer Reputation und allenfalls mit der Erschliessung einer neuen Einnahmequelle zusammen. Die ältesten Drukke des Receuil Fossard stammen aus der Zeit um 1577 und zeigen eine ganze Reihe von Commedia-Figuren.2 Gleichzeitig erscheinen diverse 1
2
Robert Henke: Performance and Literature in the Commedia dell’Arte. Cambridge 2002, S. 45: »The commedia dell’arte emerged at the very time when printing press was producing and marketing material for readers that included the commercial and even artisan classes.« Agne Beijer (Hg.): Receuil de plusieurs Fragments des premières Comédies Italiennes qui ont esté représentées en France sous le Règne de Henry III. Receuil dit de Fossard conservé au Musée National de Stockholm. Paris 1928.
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Zanni- und Pantalonetexte.3 Und Szenarien, welche ursprünglich hinter der Bühne dazu gedient haben sollen, Spielerinnen und Spielern die Handlung und vor allem Auf- und Abtritte in Erinnerung zu rufen, gelangten erstmals 1611 in den Druck. Neben diesen Produkten sind aber auch eine Reihe von handgeschriebenen und -illustrierten Büchern bekannt. Damit sind wir bei diesem ganz besonderen Buch, um das es hier gehen soll – wir werden zuerst erklären, warum wir es als einen anregenden ›Problemfall‹ im Spannungsverhältnis von Buch- und Theaterkultur sehen. Wer schon etliche Stunden seines Lebens mit dem Studium der Commedia dell’Arte verbracht hat und dann in der »Oxford Illustrated History of the Theatre« von 1995 blättert, staunt nicht schlecht, bei Seite 118 auf eine merkwürdige Serie von sechs Bildern zu stossen: offensichtlich handelt es sich um handkolorierte Zeichnungen, die jeweils über eine Doppelseite eines Buches reichen. Das erste zeigt einen unter einem Baum musizierenden Orpheus samt der herbeiströmenden Tiere, die seiner Musik lauschen wollen. Das zweite einen Teufel, der einen Sünder an einem Spiess brät. Das dritte einen Dudelsackbläser und eine tanzende Frau. Das vierte eine Kampf- bzw. Turnierszene mit teilweise schon am Boden liegenden Pferden und Kämpfern. Auf dem fünften sind zwei Commedia-Masken abgebildet, nämlich ein Zanni, der hinter einem Pantalone hergeht (Abb. 40).4 Und auf dem fünften sind zwei bucklige Priester zu erkennen, die zu einer ebenfalls buckligen Gemeinschaft von einer Kanzel herunter sprechen.5 Erstaunlich ist das in mindestens zweifacher Hinsicht: erstens weil die meisten zeitgenössischen Bilder von Commedia-Masken x-fach reproduziert wurden und werden, dieses Zanni/PantaloneAquarell hier aber zum ersten Mal veröffentlicht ist. Zweitens wegen des Kontexts der anderen Bilder, in dem es hier steht. Beim Konsultieren der Bildlegende wird die Neugierde nicht gestillt, sondern weiter angeregt. Es handle sich um Abbildungen aus einem »Catalogue of 3
4 5
1585 erschien beispielsweise zum Andenken an den ersten Zanni der Gelosi-Truppe Simone da Bologna (in Arte Zan Panza de Pegora, also Zan Schafsbauch) das Werk, Die tränenreiche Klage von Zan Salcizza und Zan Capella, welche alle Philosophen und Poeten sowie alle Lastenträger des Tales einladen, den Tod von Zan Panza di Pegora zu beweinen. Oder 1601 die Kapricen und neue Fantasien nach venezianischer Art des Pantalon de’ Bisognosi. Vgl. Henke: Performance and Literature in the Commedia dell’Arte [Anm. 1], S. 106-152. Die Autoren bedanken sich bei der New York Public Library für das Recht, sieben der Doppelseiten abbilden zu dürfen. John Russel Brown (Hg.): The Oxford Illustrated History of the Theatre. Oxford/ New York 1995, Farbtafel nach S. 118 ohne Seitenzahl. Sämtliche Farbtafeln fehlen in den Paperback-Ausgaben dieser Theatergeschichte von 1997 und 2001.
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theatrical wares for an Italian travelling troupe, 1580s«, der in der Spencer Collection der New York Public Library lagert.
III. In die Theatergeschichte von »Oxford University Press« eingebracht hat diese Bilder samt Legende Louise George Clubb, eine Romanistin aus Berkely. In ihrem Kapitel »Italian Renaissance Theatre« gibt sie bei der Darstellung der Commedia dell’Arte weitere Erklärungen und Beschreibungen zu diesem aussergewöhnlichen Theaterkatalog einer italienischen Theatertruppe des 16. Jahrhunderts ab.6 Im Erscheinungsjahr der Theatergeschichte hat sie zudem in den »Lettere italiane« über den Bildcodex selber informiert, den sie nach unserem heutigen Wissensstand erstmals unter theaterhistorischen Gesichtspunkten diskutiert.7 Fassen wir also zusammen, was über dieses Buch und sein Verhältnis zur Commedia-Spielpraxis in ihren Beiträgen in Erfahrung zu bringen ist. Auf den Fund scheint sie durch den Katalog der New York Public Library gestossen zu sein, wo der Codex als Repertorio di una compagnia della Commedia dell’Arte8 verzeichnet ist. Bei Nachforschungen liess sich in Erfahrung bringen, dass der Mailänder Buchantiquar Carlo Alberto Chiesa das Unikat als Repertorio illustrato per compagnie teatrali toskanisch-umbrischer Provenienz aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Kauf angeboten hat. Die New York Public Library erwarb es im Februar 1968 unter diesem Prätext und archivierte es als Ms. 180 der Spencer Collection.9 Es handle sich um ein Buch ohne Worte, nach den Wasserzeichen zu urteilen zwischen 1569 und 1591 entstanden, wobei die Mode der abgebildeten Figuren den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts entspreche. Es enthalte 138 numerierte Doppelseiten aus dickem Zeichenpapier, die mit 117 Skizzen in Aquarelltechnik illustriert wurden, während die übrigen Seiten leer geblieben sind. An den Rändern seien halbmondförmige Einschnitte zu erkennen, die 6 7 8 9
Vgl. Louise George Clubb: Italian Renaissance Theatre. In: John Russel Brown (Hg.): The Oxford Illustrated History of the Theatre. Oxford/ New York 1995, S. 126-128. Louise George Clubb: Un repertorio illustrato per compagnie teatrali. In: Lettere Italiane 47 (1995), S. 240-242. Dies ist die offizielle Bezeichnung des Ms. gemäss schriftlicher Auskunft der New York Public Library. Clubb: Un repertorio illustrato [Anm. 7], S. 240: »In the catalogue issued by the Milanese rare book firm of Carlo Alberto Chiesa, from whom The New York Public Library acquired the codex in 1968, it is described as the repertory of a commedia dell’arte company of the second half of the Cinquecento, of Tuscan-Umbrian provenance.«
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durch eingesetzte Papierstücke so verstärkt wurden, dass Bilder aus »fünf Kategorien von Theater-Szenen« jeweils als zusammengehörig ausgewiesen werden konnten. Die fünf Bildkategorien benennt Clubb mit: 1. »Hell-fire and damnation«, 2. »Comedies, farces and games«, 3. »Music and dancing«, 4. »Chivaltic pageantry and battles«, also Ritterspiele und Schlachten, sowie 5. »Backdrops«, Hintergrundprospekte.10 Im Text über die italienische Theatergeschichte der Renaissance legte Clubb dar, in welchem Zusammenhang die Bilder zu verstehen sind. Genauso wie die mittelalterlichen Bänkelsänger, Joculatores und Wunderärzte hätten sich auch die neuzeitlichen Comici darum bemüht, ihre Unterhaltungskünste überall zu verkaufen, wo dies im privaten oder öffentlichen Rahmen nur immer möglich gewesen sei. Dabei hätten sie alles nur Erdenkliche und Gewünschte gezeigt. Trotz der Differenzierung unter den Commedia-Truppen – einige standen in direktem Kontakt mit Höfen und Akademien, andere wirkten ausschliesslich auf Jahrmärkten – mussten sie grundsätzlich alles anbieten können, um ein Auskommen zu finden. Sogar die berühmte Truppe der ›Gelosi‹ hätte 1573 einerseits Torquato Tassos fünfaktige Pastorale Aminta und auf der anderen Seite 1579 in Mantua eine Komödie der Buckligen gespielt, worin Zanni, Pantalone, Graziano und alle übrigen Figuren falsche Buckel getragen hätten. In diesem Sinne kommt Clubb auf das Repertoirebuch zu sprechen, das sie einer »prosperous company« zuordnet. Sie erkennt darin Bilder, die – wie etwa jenes von Zanni und Pantalone – mit der Aufführungspraxis der Commedia dell’Arte in enger Verbindung stehen. Daneben spricht sie von der Sondergattung der »gobbo comedy«, also der Buckligen-Komödie, die im schon erwähnten Zusammenhang mit den ›Gelosi‹ aktenkundig geworden ist und in diesem Repertoirebuch vielfach abgebildet sei. Die Bilder würden etwa einen buckligen Barbier zeigen, der einen buckligen Kunden bedient. Oder Bucklige, die eine an einer Leine aufgehängte Gans zu packen versuchen, stelzenlaufende Bucklige oder einen Tanz buckliger Zwerge etc. Clubb spricht von Präfigurationen des neapoletanischen Pulcinella oder des Lancelot Gobbo aus Shakespeares Merchant of Venice. Die Darstellung von Teufels- bzw. Höllenszenen sieht sie sowohl im Zusammenhang mit der Partizipation der Comici in geistlichen 10 Clubb: Un repertorio illustrato [Anm. 7], S. 241.
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Spielen wie auch in Intermezzi im Rahmen der höfischen RenaissanceSpielpraxis. Die Reiter- und Schlachtszenen ordnet sie der Tragödie zu sowie dem Beitrag der Berufsschauspieler zu Turnieren. Und schliesslich setzt sie die Musik- und Tanzbilder ohne weitere Erklärungen in den Kontext der Musik- und Tanzpflege auf den Commedia-Bühnen. 11 Insgesamt bestätige sich daraus die Funktion des Buches als einer Musterkollektion eines Capocomico und seiner Truppe, die künftigen Auftraggebern vorgelegt werden konnte.12 Während ihre Ausführungen in der illustrierten OxfordTheatergeschichte mit viel Mut das neue Material ohne grundsätzliche Problematisierung direkt für die Beschreibung von Theaterpraxis verwenden, betont Clubb im kurzen Artikel der »Lettere italiane«, dass das einzigartige Buch einen neuen Blick auf die Aktivitäten der Berufskomödianten des 16. Jahrhunderts eröffne, sein Wert in dieser Hinsicht jedoch noch nicht abzuschätzen sei.13 Angesichts der engen und homogenen Vorstellungen, die sich oftmals mit dem Begriff der Commedia dell’Arte verbinden, handelt es sich so gesehen in der Tat um eine kleine Sensation. Etliche der Argumente von Clubb überzeugen auf den ersten Blick: Warum sollten die aus den mittelalterlichen Joculatores hervorgehenden Comici sich im 15. und 16. Jahrhundert von den hergebrachten Spieltraditionen gelöst haben? Warum sollten sie insbesondere auf das »Mittun in Sacre rappresentazioni« verzichtet haben? Da doch bekannt ist, was den Hofkünstlern alles abverlangt wurde, um die Renaissancefeste mitzutragen und mitzugestalten: warum sollten da ausgerechnet die Komödianten nicht auch in alle theatralen Praktiken wie Turniere und Schaukämpfe eingebunden worden sein? Das Buch wäre also der Beleg dafür, dass Commedia-Truppen nicht nur in mehreren Sprachen und Dialekten, die auch vermischt wurden, Komödien, Pastoralen, Tragödien, Tragikomödien spielten, Libretti variierten und dabei tanzten und sangen. Nein, die unbekannte Truppe hätte auch Diablerien gezeigt, sich an Narrenfesten beteiligt, eine beachtliche Viel11 Clubb: Italian Renaissance Theatre [Anm. 6], S. 126-128. 12 Clubb: Un repertorio illustrato [Anm. 7], S. 241: »The volume might have served as a record and reference collection for a capocomico and his troupe and as a sample book to show to prospective clients.« 13 Ebd., S. 242: »Apparently far removed from high art, the résumé of activity offered by the collection of images nevertheless testifies to an astonishing range of entertainments and will necessarily broaden current ideas of the capacities of Italian Renaissance acting companies. Any new addition at all to existing visual illustrations of commedia dell’arte figures and of theatrical practices at this early period would be of signal importance to the history of drama, but this Repertorio is like nothing else we possess so far and its value is incalculable.«
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zahl von Musikinstrumenten beherrscht, Ritterspiele und Kämpfe aufgeführt oder parodiert sowie ein Arsenal von 23 Hintergrundprospekten mit sich geführt. Angesichts einer solchen Forschungsperspektive fällt es schwer, sich mit diesen sechs Bildern und den knappen Ausführungen zufrieden zu geben. Konsultiert man in der Folge den Codex, wächst allerdings die Faszination für dieses Material in dem Masse, wie auch Zweifel an der angegebenen Funktion des Buches und damit an dem von Clubb erläuterten Zusammenhang zur Spielpraxis aufkommen.
IV. Ein Antiquar ist im Besitz eines wertvollen Unikats aus dem 16. Jahrhundert und – vielleicht weil er etwas über dessen Herkunft weiss, vielleicht weil die wenigen Commedia-Szenen thematisch am deutlichsten zuzuordnen sind – bezeichnet es als »repertorio per una compagnia teatrale«, worauf es auch von der erwerbenden Bibliothek unter einem nahezu gleichlautenden, weiterhin auf die Commedia dell’Arte zugespitzten Titel katalogisiert wird. Die Romanistin und Kennerin der Theatergeschichte lernt das Buch unter diesem Prätext kennen und liefert eine Beschreibung, welche die fünf Bildkategorien in einen theaterpraktischen Zusammenhang stellt, um damit unsere Perspektive auf das neuzeitliche Berufstheater zu erweitern. In einem zweiten Schritt verwirft Clubb die Idee des Repertoirekatalogs, sieht aber im Ms. 180 immer noch eine »variety of spectacle in Italian show business« repräsentiert.14 Ausstehend im Umgang mit diesem Buch sind damit noch immer die Gegenproben, das Erwägen von ganz anderen möglichen Funktionen und damit auch eine jeweilige Neubestimmung des Theaterbezugs. Beginnen wir mit dem Zweifel an der Bezeichnung der einen Bildkategorie als ›Hintergrundprospekte‹. Es handelt sich um insgesamt 23 Bilder, die mehrheitlich ein markantes architektonisches Monument vor 14 George Louise Clubb in einer Mail an Andreas Kotte vom 31. März 2002: »My subsequent research revealed that although the volume certainly contains images from the commedia dell’arte and related subjects, it is not a repertory or sample-book of a theatrical troupe but rather a series of pictures of entertainments put together for a different purpose. When the Oxford History was reprinted in 1997 I corrected my description in the 1995 edition.« Vgl. Louise George Clubb: Italian Renaissance Theatre. In: John Russel Brown (Hg.): The Oxford Illustrated History of the Theatre. Oxford/ New York 1995, S. 127 f. Der überarbeitete Passus beginnt mit den Worten: »The variety of spectacle in Italian show business at this period is illustrated by a unique and recently discovered watercolour book containing 117 images of entertainments.«
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dem Hintergrund einer Landschaft präsentieren. Teilweise handelt es sich um berühmte Architektur, erkennbar sind etwa aus Rom das Kolosseum, die Cestius-Pyramide (Abb. 44) und die Engelsburg oder aus Florenz die Ponte alla Carraia. Die Integration solch ›ewiger Monumente‹ kennen wir zwar tatsächlich aus den Bühnenbildern des 16. Jahrhunderts. Nur sind sie dort jeweils in die an Sebastiano Serlio angelehnten Standardbühnen integriert und auf Zentralperspektive getrimmt – was in diesen Aquarellen bis auf eine einzige Andeutung einer Winkelrahmenbühne nicht der Fall ist. Soll dieses Buch unseren Blick weiten, ist das Argument ›So sehen Bühnenprospekte in dieser Zeit nicht aus!‹ vielleicht müssig. Aber es gibt einen inneren Widerspruch, der sich kaum wegdiskutieren lässt: Warum ist in den anderen Bildkategorien, die doch mehrheitlich Spielszenen zeigen sollen, nicht ein einziges Mal eine klar erkennbare Bühnenanlage zu sehen? Eine Truppe, die über so viele Prospekte verfügt und es auf sich nimmt, mit diesen zu Fuss, per Pferd, Wagen und Schiff herumzureisen, würde doch stolz die gesamten bühnenarchitektonischen Spezialitäten im Bild einem Auftraggeber in spe gezeigt haben. Es lässt sich ein Vergleich heranziehen, der diesen Einwand stützt. Im gleichen Zeitraum ist neben unserem Problembuch auch die Sammlung der sog. Scenari Corsiniani entstanden.15 Diese Szenariensammlung weist die Besonderheit auf, dass jedes der darin enthaltenen einhundert Stücke ein Titelblatt mit farbiger Illustration enthält. Diese Bilder zeigen jeweils komprimiert die wichtigsten Handlungselemente und spektakulärsten Bühnenbildelemente der aufgeführten Komödien, Pastoralen etc. Nur wenige davon (und immer dieselben) wurden bis heute in Farbe publiziert, aber immerhin hat Vito Pandolfi sie alle stark verkleinert und schwarz-weiss in seiner Sammlung von Commedia-Material abgedruckt.16 Die meisten Bühnensituationen sind in den Corsini-Illustrationen geprägt durch eine Strassenszene mit Winkelrahmendekoration und Zentralperspektive, die vordersten Häuser sind in der Regel begehbar. Auch die satyrische Szene Serlios fehlt nicht. Sie wird variiert in Gärten mit Tempeln, das fremde Arkadien, das Feld vor der Stadt, den Wald. Ein sich öffnender Berg gehört standardmässig zu vier Pastoralen. Flugmaschinen und ein Höllenmaul kommen vor. Kurz: entweder wird die Bühnenkonstruktion betont oder es werden zumindest die besonderen Effekte und Maschinen hervorgehoben. Und ausgerechnet auf diese zeittypischen Innovationen und Sensationen hätte der Illustrator unseres Buches verzichtet, 15 Vgl. Elsebeth Aasted: The Corsini Scenarios. The Oldest Surviving Commedia dell’Arte Collection. In: Nordic theatre studies 2 (1989), S. 94-110. 16 Vito Pandolfi: La Commedia dell’Arte. Storia e testo. Florenz 1955, Bd. 5, S. 252-276.
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wenn der Capocomico mit Hilfe des Buches doch potentielle Auftraggeber von der Brillanz seiner Truppe zu überzeugen gedachte? Der Zweifel an der Bildkategorie ›Bühnenprospekte‹ lässt sich nicht ohne weiteres aus der Welt schaffen. In der Folge steht jedoch die Funktion des Buches als Repertoirebuch grundsätzlich in Frage.
V. Kommen wir noch einmal auf seine Gliederung zurück, die sich in wichtigen Punkten präzisieren lässt. Das Buch folgt nämlich einem strengen Aufbau, der erheblich dazu beitragen müsste, das Geheimnis seiner Funktion zu klären. Nach zwei leeren Blättern und zwei einzelnen Bildern der Kategorien Spiele sowie Musik und Tanz folgt eine leere Doppelseite. Dann beginnt eine bis zum Ende beibehaltene Blockbildung. Je fünf doppelseitige Aquarelle, jedes zu einem anderen Thema, dann wieder eine leere Doppelseite, der nächste Block usw. Insgesamt 23 solche Bildserien umfasst das Buch. Die Abfolge der fünf Themen – die wir in der Bezeichnung nachfolgend etwas offener fassen wollen – bleibt mit zwei Ausnahmen, wo jeweils zwei Bildkategorien auf einer Doppelseite kombiniert werden, gleich: 1. Turniere und Schlachten 2. Landschaften mit Architektur 3. Teufel, Verdammte, Tod 4. Spiele und Spielszenen Buckliger 5. Musik und Tanz Zuerst gab es ein leeres Buch mit halbmondförmigen Randeinschnitten, dann wurde in das Buch gemalt und danach wurden Vierecke herausgeschnitten, die mit den Markierungen überklebt wurden. Dieses Prinzip des Randregisters ermöglicht es, dass die den fünf Themen zugeordneten Bilder direkt zu finden sind. Für den ausserordentlich häufigen Gebrauch des Buches spricht, dass es ältere und neuere Markierungen gibt. Da das neue Papier heller war als die alten Seiten, wurden die neuen Markierungen jeweils leicht eingefärbt. Ohne weiter auf das Kompositionsprinzip des Buches einzugehen, muss in unserem Zusammenhang sogleich eine Kernfrage gestellt werden: Ist eine solche Abfolge sinnvoll, um anderen einen Blick ins Repertoire zu gestatten? Wäre es nicht vorteilhafter, aufeinander folgende Bilder logisch durch eine Geschichte zu verbinden? Dann bedürfte es nicht des Registers, um die Trennung der Einzelmotive aufzuheben. Und warum hätte eine Zusammenstellung des Repertoires so ausschliesslich auf das Bild gesetzt? Die Auftraggeber der Feste, Feiern und Theaterspiele
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waren sicher der Schrift mächtig und hätten gerne auch eine Auflistung der Titel von Komödien, Tragödien, Pastoralen, geistlichen Spielen etc. konsultiert. Auf solchen Gedanken aufbauend, lässt sich eine weitere kritische Frage stellen. Selbst wenn die von Clubb angestrebte Weitung des Blickes grundsätzlich zu unterstützen ist: Wie lässt sich erklären, dass der um 1580 äusserst populären Commedia all’improvviso im engeren Sinn in diesem Repertoirebuch ein so kleiner Stellenwert zukommt? Maximal vier der vierundzwanzig Bilder der Kategorie ›Spiele und Spielszenen Buckliger‹ können dem Problemkreis Wandertruppe oder Commedia dell’Arte zugeordnet werden. Davon lässt uns jedoch nur das Zanni/Pantalone-Bild die unabdingbaren Commediamasken erkennen (Abb. 40). Bei den beiden übrigen sind es die Grundsituationen, die von der Commedia her in Bild und Text bekannt sind. Eine Barbierszene zum Beispiel (Abb. 42), ein ›Dottore Graziano‹ in der Funktion eines Medicus, dem ein Patient vermutlich in Erwartung eines Klistiers das Hinterteil entgegenstreckt (Abb. 43) sowie die Gruppe von drei Dottores, die mit dem Gehilfen eines Guillare einen vierstimmigen Choral aus einem Buch singt, das Letzterer auf dem Buckel trägt, während sein Affe die Seiten umblättert (Abb. 41). Wir sehen an diesen vier Beispielen auch, dass die von Clubb vorgenommene Unterscheidung zwischen Bildern der Commedia all’improvviso und der »gobbo comedy« nur bedingt richtig ist, haben doch auch die identifizierbaren Commediafiguren (mit Ausnahme von Zanni?) einen Buckel. Auch dieser Umstand lässt sich wieder in ein Argument gegen den Repertoirekatalog kehren: Wenn die »gobbo comedy« innerhalb einer Truppe eine solche zentrale Stellung gehabt haben sollte, warum gibt es insgesamt so wenige Anzeichen dafür, dass dieses Genre überhaupt existiert hat? Neben der Nennung späterer Formen dieses Phänomens (Pulcinella, Lancelot Gobbo und einer entsprechenden Figur in Margherita Costa’s Stück Buffoni von 1641) vermag Clubb mit der Aufführung der ›Gelosi‹ nur gerade einen konkreten Hinweis zu geben.17 Dass Bucklige in einer zentral über groteske Kör17 Bei dem von ihr angeführten Jahr 1579 scheint es sich zudem um einen Irrtum zu handeln. Nachzuweisen ist eine Comedia dai Gelosi che fosse tutta ridicolosa e faceta in der »tutti i recitanti erano gobbi« 1582 durch einen Brief des Ferraresischen Botschafters aus Rom. Nachweis dieses heute im »Archivio di Stato di Modena« aufbewahrten Schreibens in Anne Macneil: Music and Women of the Commedia dell’Arte in the Late Sixteenth Century. Oxford 2003, S. 212. Teilabdruck des Dokuments in: Vito Pandolfi: Isabella Comica Gelosa. Avventure di Maschere. Rom 1960, S. 7. In der älteren Forschung findet sich zuweilen der Hinweis darauf, die Gelosi hätten 1582 ein auf einer Erzählung aus Straparolas »Piacevoli Notti« basierendes Stück mit dem Titel »I tre Gobbi« aufgeführt. Dabei scheint es sich allerdings um eine Mutmassung zu handeln, die ebenfalls auf das oben erwähnte Schreiben zurückgeht.
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perlichkeit funktionierenden Theaterform zuweilen vorgekommen sind, erstaunt nicht. Aber ob sich das in einer besonderen Ausprägung der Commedia oder Farce so verdichtet hat, wie es sich in den Aquarellen unseres Buches verdichtet? Hier können sich die Buckligen verkleiden, erzählen, tanzen, einem buckligen König huldigen und sich frisieren lassen. Sie können sich gegen Schnecken oder einen Ochsen wappnen. Aber ob es sich dabei um einen Reflex auf Theaterpraxis handelt? Ein Zanni und ein Pantalone zusammen machen noch keine Commedia – die Masken könnten hier auch im Kontext von beispielsweise dem Karneval zugehörigen Brauchtumsformen stehen. Die ganze Abbildungsserie könnte von Phantasien über andere Völker, von Märchen oder anderen primär oralen Erzähltraditionen, von Sprichwörtern etc. inspiriert sein. Ähnlich wie mit den Bildkategorien ›Landschaften mit Architektur‹ sowie ›Spiele und Spielszenen Buckliger‹ verhält es sich auch mit den anderen. Es ist zwar nicht abwegig, sie im Zusammenhang theatraler Praktiken zu sehen, aber es handelt sich keineswegs um den einzig möglichen Zugriff. Bei einer Teufelsszene steht am rechten Bildrand tatsächlich ein Höllenrachen, wie wir ihn vom Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert hinein von den Bühnen für geistliche Spiele her kennen. Zwei Teufel befördern mit ihren Keulen einen nackten Menschen in diesen grässlichen, feuerspeienden Schlund hinein. Aber sowohl auf diesem wie den anderen Bildern derselben Kategorie gibt es keinen ikonographischen Hinweis darauf, dass es sich dabei um verkleidete Schauspieler handelt. In der Kategorie ›Musik und Tanz‹ werden zentral Frauen dargestellt, die auf den mutmasslichen Commedia-Bildern fehlen, obwohl gerade Frauen in den 1570er und 1580er-Jahren die Sensation des italienischen Berufstheaters darstellten.18 Offensichtlich ging es dem Maler zudem darum, möglichst alle ihm bekannten Instrumente in jeweils einer Szene abzubilden – die Truppe hätte also auch einen ganzen Wagen voller Musikinstrumente mit sich schleppen müssen. Und wieviele verschiedene Pferde sind auf den Turnierszenen abgebildet – wo doch die berühmtesten Comici dell’Arte, wie wir aus einigen Briefstellen wissen, froh waren, wenn sie überhaupt ein Pferd hatten.19 Es liessen sich weitere Argumente für oder gegen das Buch als 18 Vgl. Kristine Hecker: Die Frauen in den frühen Commedia dell’Arte-Truppen. In: Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Geschichte der weiblichen Bühnenkunst. Frankfurt a.M./ Leipzig 2000 (Insel Taschenbuch; 2665), S. 33-67. 19 Zu den schwierigen Reisebedingungen der italienischen Theatertruppen des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. das Kapitel »L’invenzione viaggante« in: Siro Ferrone: Attori mercanti corsari. La commedia dell’Arte in Europa tra Cinque e Seicento. Turin 1993 (Saggi; 773), S. 3-49.
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»catalogue of theatrical wares« anfügen – nachdem aber eine ganze Reihe von Vorbehalten gegen diese Auffassung im Raum stehen, scheint es geboten, sich weitere Gedanken über seine Funktion zu machen.
VI. Die erste umfangreiche Beschreibung einer Commedia-Aufführung, sie stand unter der Leitung von Hofkapellmeister Orlando di Lasso, geht zurück auf die am 8. März 1568 in München gefeierte Fürstenhochzeit. Ab den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts sind zudem Reisen von Comici dell’Arte nach Spanien und Paris nachzuweisen. Nachdem festgestellt wurde, dass ein reines ›Bilderbuch‹ in Italien selber wenig Sinn gemacht hätte, könnte die Existenz eines Repertoirekatalogs damit begründet werden, dass die italienischen Truppen den nicht Italienisch sprechenden Veranstaltern an Höfen oder städtischen Behörden in Bayern, Spanien, England oder Frankreich eben Bilderreihen dessen, was sie realisieren können, gezeigt hätten. Allerdings kennen wir für das 16. Jahrhundert keinen solchen Repertoirekatalog, weder geschrieben, noch gemalt. Dass die Comici den geistlichen oder weltlichen Behörden hingegen Szenarien oder Stücktitellisten vorgelegt haben, ist für Italien vereinzelt bezeugt. So hat die Administration des Mailander Erzbischofs Carlo Borromeo im Jahr 1583 Szenarien der ›Gelosi‹ im Sinne der Zensur begutachtet.20 Und Giacomo Casanova – 1744 unterwegs, um in Otranto eine Theatertruppe zu verpflichten und sie zum Karneval nach Korfu zu bringen – berichtet in der Geschichte meines Lebens (Bd. 2, 5. Kapitel) von einem Repertoirekatalog, der ihm von einem um diesen Auftrag konkurrierenden Theaterdirektor vorgelegt wurde. 21 Dabei handelte es sich jedoch um ein geschriebenes Stückeverzeichnis und es geschah rund 160 Jahre später. Welche alternative Funktion könnte also der Codex Ms. 180 sonst gehabt haben?
20 Vgl. Ferdinando Taviani: La Commedia dell’Arte e la Società Barocca. La fascinazione del teatro. Reprint der Ausgabe Rom 1969. Rom 1991 (La Commedia dell’Arte. Storia, Testi, Documenti; 1,1), S. 6. 21 Giacomo Casanova: Geschichte meines Lebens. Hg. u. komm. v. Günther Albrecht in Zusammenarbeit mit Barbara Albrecht. Bd. 2. München 1984 (Bibliothek des 18. Jahrhunderts), S. 144.
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VII. Die an einzelnen Bauwerken der Kategorie ›Landschaftsprospekte mit Architektur‹ identifizierbaren Orte könnten nahe legen, dass ein Reisender Skizzen anfertigte, um sich später an die Route erinnern zu können und den Daheimgebliebenen anschaulich zu berichten. Dass wir nur zehn von 23 Bildern einem Ort zuschreiben können, mag durchaus an mangelnden geographischen Kenntnissen liegen, dass aber in systematischer Weise seltsame Bucklige oder Teufel den Weg des Reisenden kreuzen, macht die Idee vom Erinnerungsbuch doch fragwürdig. In Erwägung zu ziehen ist auch die Möglichkeit, dass es sich um das Skizzenbuch eines Künstlers handelt. Es ist vorstellbar, dass ein Maler sich in einer Reihe von Themen ausprobiert, zum Beispiel das Thema ›Teufel, Verdammte und Tod‹ variiert und dabei das Motiv Charon und verdammte Seelen in der Sixtinschen Kapelle kopiert (Abb. 45). Doch die Skizzen in den uns bekannten Skizzenbüchern ab 1400, beginnend in der Lombardei mit den Detailstudien von Tieren – z.B. Giovannini de’ Grassi, später Jacopo Bellini – werden variantenreich bei klar aufeinander folgenden Themen erstellt. Warum auch sollte man trennen, was thematisch zusammen gehört – und es dann durch ein Register wieder verbinden? Auch um ein Skizzenbuch kann es sich deshalb beim Bildcodex nicht handeln. Am Ende des 16. Jahrhunderts war es üblich, nicht ohne ein Stammbuch (Album amicorum) von Ort zu Ort zu ziehen. Zu diesem Zweck konnten Blankalben erworben werden, in denen sich Gastgeber und wichtige Persönlichkeiten verewigten. Diese reinen Text- oder kombinierten Text-/Bild-Einträge folgten zeit- und klassenspezifischen Strukturierungskonventionen. Auf dem Markt gab es zudem auch vorgefertigte, schon illustrierte Stammbücher.22 Seit den Untersuchungen von Margret A. Katritzky steht ausser Frage, wie wichtig dieser Buchtyp für die Geschichte der Commedia all’improvviso ist. Nirgends finden sich nämlich so viele Abbildungen von Ciarlatanibühnen, wo jeweils mindestens ein Zanni und ein ›Medico Ciarlatano‹ und oftmals auch weitere komische Figuren sowie Schauspielerinnen abgebildet sind. Es handelt sich bei diesen Bildern um Schlüsselbelege für die Frühzeit der Commedia. Ziehen wir als Beispiel dieser Buchgattung das auf 1584 datierte Stammbuch von Jakob Praun aus der Stadtbibliothek
22 Zu den Präsentationsformen und Strukturierungskonventionen von Stammbüchern vgl. Werner Wilhelm Schnabel: Das Stammbuch. Konstitution und Geschichte einer textsortenbezogenen Sammelform bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit; 78), S. 124-133 sowie 146-149.
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Nürnberg heran.23 Eine Doppelseite zeigt links einen Ciarlatano, der seiner Heilmittelkiste gerade ein Fläschchen entnimmt, während ein Zanni neben ihm auf einer Viola spielt. Auf der rechten Seite prangt eine heraldische Darstellung. Links stehen über der farbig aquarellierten Ciarlatano-Szene drei handschriftliche Textzeilen, rechts eine oberhalb und zwei unterhalb des Wappenbildes. Dieses eine Vergleichsbild reicht aus, um die Möglichkeit, dass es sich beim Codex der Spencer Collection um ein Stammbuch handeln könnte, auszuschliessen. Selbst wenn wir annehmen, das Buch sei fertiggestellt, aber nicht seinem Zweck zugeführt worden, spricht doch gegen ein Stammbuch, dass unsere Aquarelle die Blätter ganz ausfüllen. Nirgends wird Platz gelassen für später einzusetzende Texte. Zudem ist schon diese Grundannahme eines bebilderten aber ansonsten leer gebliebenen Album amicorum abwegig, da die häufige Benutzung ja an den Gebrauchsspuren zu erkennen ist. Häufige Benutzung ohne Einträge schliessen sich bei einem Stammbuch aus, weshalb es sich bei unserem Bildcodex nicht um ein solches handeln kann. Allerdings ist – wie schon mit den Ciarlatani angedeutet – die thematische Nähe der Stammbücher zu beachten. Als bildliche Einträge herrschten anfangs farbige Wappen vor, die bei Briefmalern in Auftrag gegeben wurden. Dann mehrten sich Miniaturen, die entweder vom Eintragenden selbst oder von beauftragten Berufsmalern angefertigt wurden. Genre-, Jagd- und Spielszenen, allegorische Darstellungen, Landschafts-, Städte- und Architekturbilder, Szenen aus dem Studentenleben, Silhouetten, Kostümdarstellungen, Quodlibets, aber auch eingeklebte Stiche, Flechtarbeiten aus Haaren oder Papier und Stickereien waren weit verbreitet.24 Wolfgang Klose bietet eine Übersicht über die verschiedenen Themen in Stammbüchern vor 1574. Ihre Übereinstimmung mit jenen im vermeintlichen Repertorio ist verblüffend: Italienische Kostümdarstellungen, Landschaften, Liebespaare, Musiker und Musikinstrumente, Schlachten, Stadtansichten, Narrenszenen, Mohren, Pferde, Reiter, Ritter und Turniere.25 Alle Stammbuchthemen finden sich in unserem Buch ohne Worte. Lediglich die Teufel figurieren selten, und dann wahrscheinlich eher in satirischen Darstellungen. 23 Margret A. Katritzky: Was Commedia dell’Arte performed by Mountebanks? Album amicorum illustrations and Thomas Platteres description of 1598. In: Theatre Research International 23 (1998), S. 104-125. Die beschriebene Seite aus dem Stammbuch von Jakob Praun ist in dieser Publikation als Tafel 3 abgebildet. 24 Lexikon der Buchkunst und Bibliophilie. Hg. v. Karl Klaus Walther. München u.a. 1988, S. 334. 25 Wolfgang Klose: Stammbucheintragungen im 16. Jahrhundert im Spiegel kultureller Strömungen. In: Ders. (Hg.): Stammbücher des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden 1989 (Wolfenbütteler Forschungen; 42), S. 24 f.
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Nichtsdestotrotz spricht gegen ein Stammbuch, dass sich zwar stilistische Unterschiede zwischen den Bildern nachweisen lassen, es sich aber kaum um Beiträge zahlreicher Personen handelt, wie dies für ein Stammbuch, sofern es nicht vorgedruckt ist, charakteristisch wäre. Ausserdem fehlen jegliche Namens-, Zeit-, oder Ortsangaben und auch das Register stört.
VIII. Der rege Gebrauch lässt uns noch an eine ganz andere mittelalterliche und neuzeitliche Buchkategorie denken, an das Musterbuch (exemplum, pattern book, libro di modello etc.). Damit bezeichnet man alle in den bildenden Künsten und besonders im Kunsthandwerk verwendeten Vorlagensammlungen, die aus dem mittelalterlichen Bauhütten- oder Werkstättenbetrieb hervorgegangen sind. Sie sicherten durch die Klarheit der Präsentation die Kontinuität der figürlichen, thematischen und sonstigen Muster. Die Vorlagenzeichnungen wurden häufig erneuert, ergänzt, übermalt, aufgefrischt. Ihr Hauptzweck war es, solche Formund Bildvorstellungen oder Figuren- bzw. Kopftypen oder auch Moden zu fixieren und zu konservieren, die man als mustergültig ansah. Musterbücher halfen beim Erlernen des Handwerks und bei der Ausführung von Aufträgen. Sie beruhen auf Kopien vorhandener Werke oder wichtiger Elemente aus diesen und stellen gleichzeitig Vorbilder für neue Gestaltungen dar. Bei uns kann die Referenz nicht ein sitzender Löwe sein oder ein Medusenkopf. Aber in der Kategorie ›Musik und Tanz‹ fällt auf, dass auf den ersten sechs Bildern Kostüme präsentiert werden, die folgenden 18 Bilder dann Instrumente und deren Gebrauch zeigen. In der Folge ihres Auftretens unter Weglassung zweier Wiederholungen: Harfe – Klavichord – Viola da braccio – Dudelsack – Schellentrommel – Laute – Flöte oder Schalmei – Querflöte – Einhandflöte evtl. mit Hackbrett – Lira da braccio – Gitarre – Harfe – Schalmei – Mandola – Pommer – Viola da Gamba (Abb. 46: Dudelsackspieler und Tänzerin). Tatsächlich wird hier, wie in Musterbüchern üblich, ein Spektrum deutlich. Von den damals bekannten Instrumenten fehlen nur Orgel, Cembalo und Blechblasinstrumente wie die Posaune oder Trompete, es fehlen damit die höheren sozialen Ständen zugeordneten Instrumente.26 Die für die26 Die Autoren bedanken sich bei Victor Ravizza, Bern, für die Bestimmung der Instrumente.
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sen Bereich erkennbare Musterbildung lässt sich zwar nicht so ohne weiteres auf die anderen Bereiche ausweiten und auch zur Problematik des Registers müsste erst eine Erklärung gefunden werden. Aber immerhin handelt es sich mit der Zuordnung des Codex zu den ›libri di modelli‹ um eine Forschungshypothese, die der weiteren Vertiefung wert scheint. Zum Beispiel könnten die unterschiedlichen Bildkategorien auf Grotesk-Dekorationen bezogen werden. Die Ausmalung von Palästen mit Grotesken war im Zeitraum um 1580 keine Sache ambitionierter Künstler mehr, sondern eben der Kunsthandwerker. Sie hätten in diesem Buch Anregungen für die zwischen den Groteskverzierungen üblichen Bilder gefunden. Landschaftsmalerei, Musik und Tanz, Ritterspiele, Teufelsszenen und die Abbildung Buckliger bei verschiedensten Spielen könnten in diesem Kontext durchaus nebeneinander gestanden haben. Beispiele gibt es ausreichend und nahezu in jedem im 16. Jahrhundert erbauten Palazzo. Zu erinnern ist etwa an den langen Korridor, der die einzelnen Räume der Florentiner Uffizien verbindet. Basierend auf dieser Hypothese könnte die Abfolge der Kategorien im Ms. 180 damit erklärt werden, dass innerhalb eines umfangreichen Bildprogramms eine vorgegebene Grobstruktur mit wechselnden Motiven derselben Kategorie ›ausgefüllt‹ wurde. Das mutmassliche Modellbuch hätte die Vorlagen in Gruppen zusammengefasst, damit der ausführende Maler direkt sieht, welche fünf Bilder in die nächsten zwei Laufmeter Korridordekoration einzufügen sind. In der strengen Gliederung des Buches wäre demnach nicht ein noch zu entschlüsselndes künstlerisches oder narratives Prinzip zu vermuten, vielmehr wäre sie Ausdruck manieristischer Kunstproduktion. Doch mit diesem Gedanken wird die Modellbuch-Hypothese in Bezug auf das um 1580 entstandene Buch auch schon wieder zweifelhaft. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte nämlich die frühindustrielle Produktion von gedruckten Modellbüchern die von Hand gemalten bereits weitgehend verdrängt.27 Als Modellbuch wäre unser Forschungsgegenstand also eher ein Anachronismus, weshalb es nicht naheliegend scheint, sein Kompositionsprinzip mit den zeitspezifischen Zeichen manieristischer Kunstproduktion zu erklären. Zudem wäre der systematische Aufbau für ein Musterbuch untypisch, wo meist mehrere Sujets in verschiedenen Grössen auf einer Seite abgebildet sind. Auch die Maltechnik entspricht nicht der Norm der meist gezeichneten Pattern books und erst recht wirken die Darstellungen des Amateurs nicht eben modellhaft.
27 Howard Creel Collinson: Pattern book, after c. 1440. In: The Dictionary of Art 24 (1996), S. 271-273.
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Das Buch weist deutliche Verwandtschaften mit anderen Bucharten auf, lässt sich aber keiner ganz zuordnen. Es bleibt momentan ein Unikat. Seine Nähe zum Musterbuch wie zum Stammbuch lässt auch an eine Verbindung denken: an ein Musterbuch für Abbildungen in Stammbüchern.28 Weil nicht jedermann fähig war, selbst den Eintrag zu gestalten, liess man oft die entsprechende Seite durch einen Maler mit dem gewünschten Motiv versehen, man brauchte dann nur noch die Widmung hinzuzufügen. Wir hätten also ein Buch mit Entwürfen vor uns, die der Maler als Vorschläge bereithielt. Einzuwenden wäre… ergänzen nun Lesende sofort, und sie haben Recht.
IX. Es ist uns in dieser ersten sondierenden Erörterung also lediglich gelungen, die Benennung des Ms. 180 als Repertorio di una compagnia della Commedia dell’Arte zu falsifizieren. Dies geschieht schweren Herzens, denn ein ein solches Repertorio wäre eine Sensation, die Theaterhistoriographen in Freudentaumel versetzt. Die fünf Themen sind zu klären, die fünf Siegel zu brechen, bevor sich die tatsächliche Funktion des Buches offenbart. Ausgegangen sind wir vom Dreiecksverhältnis zwischen Buch, historischer Theaterpraxis und Forschungsinteressen. Louise George Clubb war darauf bedacht, aus den Aquarellen direkt auf frühneuzeitliches Theater zu schliessen. Es scheint jedoch trotz der verführerischen Evidenz von Zanni und Pantalone geraten, mit einer entsprechend breiteren Forschungsperspektive von einem komplexeren Verhältnis auszugehen. Nicht alle Bildkategorien des Buches sind a priori auf theatrale Praktiken zu beziehen, was nach einer Erklärung ihrer Koexistenz im Codex verlangt, die letztlich mit der Funktion desselben im Zusammenhang steht. Die Situierung des Unikats mit seinem charakteristischen Randregister innerhalb der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Buchkultur bleibt eine Herausforderung. Eine weitere liegt in der kunsthistorischen Beschreibung und Problematisierung der einzelnen Aquarelle. Drittens gibt es einen explizit theaterhistorischen Weg der Forschung, der sich allerdings nicht darauf beschränken kann, in den Bildern der Kategorie ›Spiele und Spielszenen Buckliger‹ Theaterpraxis erkennen zu wollen. Sicher ist es für die Geschichte der Commedia dell’Arte von vordringlicher Wichtigkeit zu eruieren, wie Zanni, Pantalone und die diversen Dottores hier in die Gesellschaft eines Volkes von Buckligen geraten sind, die einen ausge28
Die Autoren bedanken sich bei Laura Marrer, Bern, für diese Idee einer Verbindung.
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prägten Sinn für groteske Spielereien aufweisen. Aber neben konkreten spielerischen Praktiken, die als Reflexe volkskultureller Realität zu erkennen sind, dürfte auch die Imagination zentral sein. Jene Phantasien, auf denen Märchen, Erzählungen und komödiantische Praktiken basieren, aber auch jene des Illustrators selber, der ohne weiteres konkrete Erfahrungen mit diesen vermischen kann, wie er dies auch in der Bildkategorie ›Teufel, Verdammte, Tod‹ tut. Selbst wenn in diesem Sinne nicht von einem direkten theaterpraktischen Reflex in den Aquarellen ausgegangen werden kann, heisst das noch lange nicht, dass wir mit unserem Forschungsgegenstand nicht vielleicht einen noch wichtigeren Faden in den Händen halten. Einen, der uns nicht zur Geschichte, dafür aber zu den Vorgeschichten und Grundlagen der Commedia all’improvviso führt.
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Biobibliographien
Das Einsiedler Wallfahrstheater der Barockzeit. Ein Beitrag zur Schweizer Theatergeschichte, zum Ordensdrama und zum Volkstheater. Diss. phil. Freiburg (Schweiz) 1969; Das Barocktheater einer ›geistlichen Stadt‹. Einsiedeln/Schweiz. In: Albrecht Schöne (Hg.): Stadt-Schule-Universität-Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. München 1976, S. 57-72; Zur Erfindung des Buchdrucks. In: Le livre parmi les hommes – Das Buch unter den Menschen. Freiburg (Schweiz) 1987 (Défis et dialogues; 11), S. 53-100; Zur Szenographie von barocken Volks- und Ordenstheaterbühnen. In: Antoine Schnapper (Hg.): La scenografia barocca. Bologna 1982 (Atti del XXIV Congresso Internazionale di Storia dell’Arte 1979; 5), S. 43-50; Hand-Änderungen. In: Joseph Jung (Hg.): … am literarischen Webstuhl … Ulrico Hoeppli 1847-1935, Buchhändler, Verleger, Antiquar, Mäzen. Zürich 1997, S. 301-314; Schreiberlob. In: Therese Bruggisser-Lanker, Bernhard Hangartner (Hg.): Congaudent angelorum chori. Festschrift P. Roman Bannwart OSB zum 80. Geburtstag. Luzern 1999 (Schriftenreihe der Musikhochschule Luzern; 1), S. 53-98. Margaret Bridges, geb. 1944 in Mount Gambier, Australien; Studium der Germanistik, Romanistik und Anglistik in Cambridge und Genf; universitäre Lehre (der englischen Mediävistik) in Genf, Lausanne und Los Angeles; ordentliche Professorin für ältere englische Sprache und Literatur am Institut für englischen Sprachen und Literaturen der Universität Bern; Mitgründerin des Berner Mittelalterzentrums und des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Genderforschung (IZFG); Vorstandsmitglied der Schweizer Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften; Präsidentin der Schweizer Gesellschaft der Anglisten (SAUTE). Generic Contrast in Old English Hagiographical Poetry, Copenhagen 1984 (Anglistica; 23); Herausgeberin u.a. von Monographien über interkulturelle Kontakte, sowie über westliche und östliche Darstellungen Alexanders des Grossen; Aufsätze zur altenglischen Literatur, zu mittelenglischen und -lateinischen Gründungslegenden; frühneuzeitlicher Reiseliteratur und ihren Wortinventaren, zu Ekphrasis in Chaucer, zur Sprachproblematik der englischen Reisenden (insbes. Margery Kempe), sowie zu Fragen von ›closure‹ im mittelenglischen Traumgedicht (›Dream Vision‹). Therese Bruggisser-Lanker, geb. 1954 in Herisau (AR); Studium der Musikwissenschaft, der Mittelalterlichen Geschichte und der Neueren Geschichte an der Universität Bern (Promotion 1999); 1996-2001 Do-
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zentin für Musikgeschichte an der Musikakademie St. Gallen, seit 1999 Dozentin am Berner Mittelalter-Zentrum (Universität Bern), Lehraufträge und Gastprofessur an den Universitäten Bern, Zürich und Fribourg; seit 2002 Präsidentin der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft. Hauptarbeitsgebiete sind die Kirchenmusik des Mittelalters und der Renaissance, Musik aus Schweizer Klöstern, Gregorianik und Frömmigkeitspraxis; Fragen im Zusammenhang mit Kulturphänomenen der ›longue durée‹ im Kontext der Historischen Anthropologie sowie zur Musik im Spannungsfeld von Symbolik, Ritualität und kulturellem Gedächtnis. Publikationen: Geistliche Musik in Berns Kirchen und Klöstern. Eine Annäherung. In: Rainer C. Schwinges (Hg.): Berns mutige Zeit. Das 13. und 14. Jahrhundert neu entdeckt. Bern 2003, S. 457-460; König David und die Macht der Musik. In: Walter Dietrich, Hubert Herkommer (Hg.): König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Freiburg (Schweiz)/ Stuttgart 2003, S. 589629; Musik und Liturgie im Kloster St. Gallen in Spätmittelalter und Renaissance. Göttingen 2004; Aufsätze zur schweizerischen Musikgeschichte, zu Monteverdi und Mozart. Yvonne Dellsperger, geb. 1974 in Bern; Studium der Germanistik und Geschichte in Bern und Halle a.d.S.; seit 2001 Assistentin am Lehrstuhl für Ältere deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar in Bern; Dissertationsprojekt zu Sebastian Francks Chronica, Zeitbuoch und Geschichtbibell (1531). Norberto Gramaccini, geb. 1951 in Bern; Studium der Kunstgeschichte in Hamburg, Florenz und London; 1978 Promotion an der Universität Hamburg, 1988 Habilitation an der Universität Trier; Forschungsaufenthalte in London und Paris, seit 1992 Ordinarius für ältere Kunstgeschichte am Kunsthistorischen Institut der Universität Bern; Publikationen: Alfonso Lombardi. Frankfurt a.M. u.a. 1980 (Neue kunstwissenschaftliche Studien; 9); Natur und Antike in der Renaissance. Frankfurt a.M. 1985/1986/1987; Mirabilia. Das Nachleben antiker Statuen vor der Renaissance. Mainz 1996; Berner Kunst Almanach. Bern 1996 (Berner Almanach; 1); Theorie der französischen Druckgraphik im achtzehnten Jahrhundert. Eine Quellenanthologie. Bern u.a. 1997 (Neue Berner Schriften zur Kunst; 2); Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov. Ostfildern 1998; Ellen J. Beer, Norberto Gramaccini u.a. (Hg.): Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt. Bern 1999; Franz Gertsch: Sylvia. Chronicle of a painting. Baden 2000; Museum Franz Gertsch. Das Buch zum Museum. Bern 2002; Christian Denzler – Anachronismen. Bern 2003; Die Kunst der Inter-
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Biobibliographien
pretation: Französische Reproduktionsgraphik 1648-1792. München 2003; Aufsätze zur mittelalterlichen Skulptur und Zeichnung, zur Antikenrezeption, zur Kunsttheorie, zum Kultursponsoring, zur Druckgraphik, zur mittelalterlichen Malerei in Bern, zur Malerei der Renaissance, zur Kunst während der französischen Revolution und des Barock. Stefan Hulfeld, geb. 1967 in Bern; Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik; Forschungsaufenthalte in Berlin, London und Rom. Oberassistent am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern, seit September 2005 Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds; Publikationen: Zähmung der Masken, Wahrung der Gesichter. Theater und Theatralität in Solothurn 1700-1798. (Theatrum Helveticum; 7) Zürich 2000; Aufsätze zur Kulturgeschichte des Theaters und zur Theatertheorie. Karénina Kollmar-Paulenz; Studium der Tibetologie, Mongolistik, Religionswissenschaft, Indologie und Zentralasiatischen Turkologie in Bonn, M.A. 1984, anschliessend Postgraduiertenstudium in New Delhi/Indien, 1984-1986 Feldforschung in Nordindien, 1991 Promotion, 1999 Habilitation, Lehrtätigkeit an den Universitäten Bonn, Marburg und Moskau/Russland, seit 1999 Ordinaria für Religionswissenschaft an der Universität Bern; Publikationen: Der Schmuck der Befreiung. Die Geschichte der Zhi byed- und gCod-Schule des tibetischen Buddhismus. Wiesbaden 1993; Erdeni tunumal neretü sudur. Die Biographie des Altan qaghan der Tümed-Mongolen. Wiesbaden 2001; Die Mythologie des tibetischen und mongolischen Buddhismus. Stuttgart 2002. Andreas Kotte, geb. 1955 in Dresden; Bauzeichner, Beleuchter; Studium der Theaterwissenschaft, Kulturwissenschaft und Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin; 1985 Dr. phil.; 1988 Habilitation; Privatdozent in Berlin; Forschungsaufenthalte in Ungarn; seit 1992 Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Bern; Publikationen: Ungarisches Theater heute – Strukturveränderungen im ungarischen Theater 1980-1987. Berlin 1989 (Teildruck); Theatralität im Mittelalter. Das Halberstädter Adamsspiel. Tübingen 1994; Einführung in die Theaterwissenschaft. Köln 2005. Leitung des Grossprojektes Theaterlexikon der Schweiz. Zürich 2005 (4 Sprachen, 3 Bde., 3’700 Artikel), das eine beabsichtigte Theatergeschichte der Schweiz vorbereiten hilft. Aufsätze zur Theatertheorie und europäischen Theatergeschichte sowie zum Verhältnis von Ikonographie und Theater.
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Herausgeber der Buchreihen Theatrum Helveticum und Materialien des ITW Bern (17 Bände). Präsident der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (Sitz Mainz). Anke von Kügelgen, geb. 1960 in Thalwil (ZH); Studium der Islamwissenschaft, Geschichte und Arabistik an der FU Berlin; zahlreiche Forschungsaufenthalte in verschiedenen Staaten der arabischen Welt und Zentralasiens; 1990 M.A. (Mohammed Arkoun und die islamische Philosophie); 1992 Dissertation (Averroes und die arabische Moderne Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden 1994); 1990-1998 Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Assistentin am Seminar für Orientalistik und Indologie der Ruhr-Universität Bochum; 1998-1999 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 2000 Habilitation (Die Legitimierung der mittelasiatischen Mangitendynastie in den Werken ihrer Historiker [18.-19. Jahrhundert]. Istanbul/ Würzburg 2002; Übers. ins Russ. Almaty 2004); seit März 2000 Ass.-Professorin/ ausserordentliche Professorin am Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie der Universität Bern; Koordinatorin verschiedener teils durch die EG teils durch den SNF finanzierter Forschungsprojekte zu Islam in Russland und Zentralasien (Muslim Culture in Russia and Central Asia from the 18th to the 20th Centuries. 4 Bde. Berlin 1998-2004; Disputes on Muslim Authority in Central Asia [19th -20th Centuries]: Critical Source Editions and Source Studies. Bd. 1. Tashkent u.a. 2004); Aufsätze zu europäischen Reisenden in Zentralasien, zu muslimischen Theologen und Philosophen des 12.-14. Jahrhunderts, zu muslimischen Mystikern und Historiographen des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts. Adrian Mettauer, geb. 1966 in Muri (AG); Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Bern und Paris; 1998/99 SNFForschungsaufenthalt in Göttingen; seit 1997 Assistent am Lehrstuhl für Ältere deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar in Bern; Dissertation u.d.T. Transzendenz und Hyperbolik. Funktionen des Wunderbaren in der fmhd. u. mhd. Literatur (Abgabe Dez. 2005); Publikationen: Berner Almanach. Bd. 2: Literatur. Bern 1998; David Sanctissimus Rex. Ein frühmittelalterliches Herrscherideal im Schnittpunkt klerikaler und laikaler Interessen. In: Ingrid Kasten, Andrea Sieber (Hg.): Höfische Literatur und Klerikerkultur. Wissen – Bildung – Gesellschaft. Berlin 2002; Wortforschung im Schnittpunkt von Sprachund Literaturwissenschaft. In: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des 10. Internationalen Germanistenkongresses in Wien 2000. Bd. 2.: Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Bern u.a. 2002,
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Biobibliographien
S. 313-319; Der König als Priester. Der Dagulf-Psalter und das kirchenpolitische Umfeld seiner Entstehung. In: Unipress. Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern 114 (2002), S. 44-46; Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. München 2003. Klaus Oschema, geb. 1972 in Bamberg; Studium der Mittelalterlichen Geschichte, Philosophie und Englischen Sprachwissenschaft und Mediävistik an den Universitäten Bamberg und Paris X-Nanterre; Promotion im Rahmen eines Co-tutelle-Verfahrens an der TU Dresden und der École Pratique des Hautes Études (Paris) als Stipendiat des Europäischen Graduiertenkollegs 625 ›Institutionelle Ordnungen, Schrift und Symbole‹; seit November 2002 Assistent für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Bern; Publikationen: Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Köln u.a. 2006 (Norm und Struktur) (Druckfassung der Dissertation, in Vorbereitung); Aufsätze zum Europa-Konzept im hohen und späten Mittelalter, Liebes- und Freundschaftsdiskurs des Mittelalters und zur spätmittelalterlichen Adelskultur (Schwerpunkt Burgund). André Schnyder, geb. 1946 in Bern; klassisch-humanistisches Gymnasium am Collège St-Michel in Freiburg (Schweiz); Studium der Deutschen Literaturwissenschaft und der Gräzistik in Bern und Wien. 1972 Gymnasiallehrerpatent, 1975 Dr. phil., 1982 Habilitation in Germanischer Philologie an der Universität Bern; Assistent, Oberassistent und Lehrbeauftragter in Bern und Genf; Professor für mittelalterliche deutsche Literatur an der Universität Lausanne; Forschungsschwerpunkt im Bereich der spätmittelalterlichen deutschen Literatur; Publikationen: Malleus maleficarum. Kommentar zur Wiedergabe des Erstdrucks von 1487. Göppingen 1993; Das geistliche Tagelied des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Textsammlung, Kommentar und Umrisse einer Gattungsgeschichte. Tübingen 2004. Michael Stolz, geb. 1960 in München; Studium der Germanistik und Romanistik in München, Poitiers und Bern; Forschungsaufenthalte in Oxford, Wien und München; 2001 bis 2005 Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds für Ältere deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Basel; Leiter des Basler Parzival-Projekts (digitale Ausgabe von Wolframs Parzival); seit 2005 Professur für Deutsche Philologie (Ältere deutsche Sprache und Literatur) an der Georg-August-Universität Göttingen; Publikationen: TumStudien. Zur dichterischen Gestaltung im Marienpreis Heinrichs von
Biobibliographien
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Mügeln, Tübingen/ Basel 1996 (Bibliotheca Germanica; 36); Artesliberales-Zyklen. Formationen des Wissens in lateinischen und deutschen Text-Bild-Zeugnissen des Mittelalters, 2 Bde., Tübingen/ Basel 2004 (Bibliotheca Germanica; 47); Die St. Galler Nibelungenhandschrift: Parzival, Nibelungenlied und Klage, Karl, Willehalm. Faksimile des Codex 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen und zugehöriger Fragmente. CD-Rom mit einem Begleitheft. Hg. v. der Stiftsbibliothek St. Gallen u. dem Basler Parzival-Projekt. 2., erw. Auflage, St. Gallen 2005; Aufsätze zur althochdeutschen Literatur, zur mittelalterlichen Reiseliteratur, Spruchdichtung und Gedächtniskultur, zu Text-BildBeziehungen und zur Editionsphilologie.
Personenregister fiAbbs I., Schah v. Persien 172
Ambrosius, Bf. v. Mailand, hl. 47, 269f., 279
fiAbbs II., Schah v. Persien 172
Amerbach, Johann 268f.
Abbo von Fleury, Abt v. Fleury-sur-Loire 218
Ammann, Jost 270 Anastasius I., Ks. 19
Ibn Abı Ußaybifia 166 al-An†aqı, Ya˛y b. Safiıd 162 Adolf, Ebf. v. Köln 78 Apiarius, Matthias 250 Aethelbald von Mercia, Kg. 111 Aristoteles 118f., 156f., 215, 276, 295 Agricola, Johannes 282 Artus 105 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 256
Ascanio Sforza 31
Aimo von Tarenteise, Ebf. 77
Äsop (Aesopus) 10, 277, 284, 293
Akbar, Grossmogul 170
Asser, Bf. v. Sherborne 113-115
Alamire, Petrus 30, 32
Augustinus, Bf. v. Hippo, hl. 17, 24f., 58, 106, 279, 281, 284
Alanus ab Insulis (Alain de Lille) 81 Bartolomé de Escobedos 31 Albinus, hl. 106 Beatus von Liebana 52, 55 Albrecht V., Hzg. v. Bayern 36, 38f. Beck, Balthasar 247 Albrecht Pilgrim von Buochheim 129 Beck, Margaretha 247 Alciatus, Andreas 277 Beda Venerabilis, hl. 42, 106, 216 Alexander d. Gr., Kg. v. Makedonien 29, 177f. Alfred d. Gr., Kg. d. Anglesachsen (v. Wessex) 110, 112-114, 119
Behaim, Ottilie 245 Bellini, Jacopo 307 Benedikt, Abt v. Wearmouth u. Jarrow 42
Alkuin von York 16, 42, 45, 49, 51-57, 62f., 216-219 al-fiAlmawı 171 Amalar von Metz 25
Benedikt, Abt v. Aniane, hl. 221 Benedikt Biscop, hl. 216 van den Berghe, Jan 270
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Register
Bergmann von Olpe, Johann 264, 271
Casanova, Giacomo 306
Bernger von Hornheim 93-95, 97f.
Cassiodor, Flavius Magnus Aurelius 54, 58, 216
Bernhard von Clairvaux, Abt v. Clairvaux, hl. 256, 265
Cathwulf 48
Bertold IV. v. Hohenburg 81
Chastellain, Georges 192
Bertschi, Nicolaus 27f.
Chinggis Qan 202f.
von Bismarck, Otto 75
Chos kyi `od zer 203f.
Blarer, Diethelm, Abt v. St. Gallen 28
Chrétien de Troyes 94-96
Bligger von Steinach 127
Chrodegang von Metz, Bf. v. Metz u. Ebf. v. Austrasien, hl. 19
Bodmer, Johann Jakob 74 Chuonradus, Mönch 223 Bonifatius, Bf. v. Mailand, hl. 50 Cicero, Marcus Tullius 276, 290 Bonifatius I., P. (Presbyter Bonifatius) 61 Cipriano de Rores 31 Bosch, Hieronymus 283 Columbanus, hl. 216 Boulongne, „Valet“ u. „Garde des joyaulx d’or“ Philipps des Guten (Hzg. v. Burgund) 186
Costa, Margherita 304 Lucas Cranach d. Ä. 235
Bucer, Martin 244 Cuontz, Joachim 28 Der von Buchein 128 Cynewulf, Kg. v. Wessex 111 Burgkmair, Hans 235 Cyrillus von Quidenon 285, 293 Bracciolini, Poggio 227 Da√üd a†-‡√ı 168 Brant, Sebastian 10, 264, 271, 277f., 285289
Dante Alighieri 7, 123, 131, 137-142
Breidenbach, Bernhard v. 237
Dagulf 42f., 46-49, 57f., 61
Brülinger, Nikolaus 250
David, Kg., 5f., 15, 29, 45-48, 50f., 53f., 56f., 59, 61-63, 69
bsTan `dzin grags pa der Üjümücin 204 Deschamps, Eustache 116 Bünderlin, Johannes 247 Campanus, Johannes 245 Carlo Borromeo (Karl Borromäus), Kardinal u. Ebf. v. Mailand 306
Diepold V. v. Vohburg, Markgf. v. Hohenburg 81 Dilthey, Wilhelm 244 Dionysos, Sohn des Zeus 19
Personen
Dungal Scotus 62
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Friedrich III. v. d. Pfalz (d. Siegreiche), Kfst. v. d. Pfalz 74
Dürer, Albrecht 9f., 235, 238, 263-273 Friedrich IV. v. d. Pfalz, Kfst. v. d. Pfalz 74 Dürer, Albrecht, Vater Albrecht Dürers 266 Friedrich von Hausen 72, 82 Eberhard von Sax 82, 128 Frecht, Martin 244f., 256 Eberhart, Prior v. St. Gallen 24 Froben, Johann 250, 269 Edmund Ironside, Kg. v. England 107 Fugger, Johann Jakob 28 Egenloff, Christian 248 Fust, Johannes 232, 234, 252 Einhard, Cancellarius am Hof Ks. Karls des Grossen 41
al-∏˛i÷ 167, 168
Ekkehard IV. v. St. Gallen 223f.
Gallus, hl. 24f.
Elipand von Toledo, Bf. v. Toledo 52, 55
Ibn ∏amfia 171
Erasmus von Rotterdam, Desiderius 250, 256, 279, 284, 291-293
Gardano, Girolamo 35 al-flGazlı 151
Ercole I. d'Este, Hzg. v. Ferrara 31, 33 Geiler von Kaysersberg 241 Ercole II. d’Este, Hzg. v. Ferrara 32 Geisshüsler, Oswald (Myconius) 291 Euklid (von Alexandria) 156 Geoffroy de la Tour Landin, Chevalier 271 Abü l-Fa∂l 170 Georg, hl. 180 Felix von Urgel, Bf. v. Urgel 52, 54f. Ferrose, Girard 232
Gerbert von Aurillac, Ebf. v. Reims, Ebf. v. Ravenna (späterer P. Silvester II.) 218
Fillastre, Guillaume d.J., Bf. v. Tournai 191
Gesner, Konrad 253
Franck, Sebastian 9, 243-259, 283, 289
Girard de Roussillon, (leg.) Hzg. v. Burgund 179f.
Franz I., Kg. v. Frankreich 34 Girolamo da Cremona, 235 Frederico da Montefeltro, Hzg. v. Urbino 189
Godescalc von Orbais (Gottschalk d. Sachse) 49
Friedrich II., Ks. 77 `Gos lo tsa ba gZhon nu dpal 197, 199 Friedrich III., Ks. 251 Graf von Calw 129 Friedrich der Weise, Kfst. v. Sachsen, hl. 30, 32
Granvelle, Antoine Perrenot de, Kardinal 37 Grassi, Giovannini de’ 307
368
Register
Gratian, Flavius, Ks. 236
Hermes Trismegistos (Trismegistus) 252
Gregor d. Gr., P., hl. 20f., 24, 42, 216, 263, 279
Herrad von Hohenburg 224 Heinrich IV., Hzg. v. Schlesien-Breslau 82
Grimm, Jacob 74 Grote, Gert 265
Hieronymus, hl. 9, 46, 50, 55f., 59-62, 221, 268, 271, 278
Guido von Arezzo 26
Hildebrand, Ebf. v. Köln 220
Guigo II., Prior der Grande Chartreuse 228
Hillinus, Domherr in Köln 223
Guillaumes de La Baume 178
Hinkmar von Reims, Ebf. v. Reims 220
Gutenberg, Johannes 8, 230-234, 236, 238, 240-242, 250-252, 263
Holbein, Hans d.J. 291f. Hoffmann, Melchior 247
Hadrian I., P. 5, 22, 41-43, 47, 50f., 57, 63 Hrabanus Maurus, Abt v. Fulda, hl. 218f. al-˘akam II. 158 Hroswitha von Gandersheim 295 al-˘kim bi-amr Allh 162 Hugo, Victor 264 b. ˘amdn, Abü l-Qsim ∏afifar b. Mu˛ammad 161
Hugo von St.Cher (de st. Caro), Kardinal 219
Harding, Stephan 219 Innozenz III., P. 78f. Hartmann von Aue 7, 72, 82, 131, 136 Isaac, Heinrich 33 Hätzlerin, Clara 228 Heine, Heinrich 74
Isabella I. (die Katholische), Kgn. v. Kastilien 32
Heinrich VI., Ks. 68f., 72, 77, 126
Isidor von Sevilla, Ebf. v. Sevilla 15, 59, 224
Heinrich V., Kg. v. England 179
Jakob von Warte 82
Heinrich der Viedler 82
Jaquet von Mantuas 31
Heinrich von Meissen (Frauenlob), Markgf. 82
Jean de Berry, Hzg. 185 Jean de Halarville 187
Heinrich von Morungen 69, 89 Jean de Vaudetar 184 Heinrich von Rugge 86 Jean Wanquelin 179 Heinrich von Veldeke 81 Jenson, Nicolaus 235f. Hermannus Contractus Augiensis (Herimann d. Lahme, Hermann v. Reichenau) 25
Johann II. (Johann der Gute) Kg. v. Frankreich 184
Personen
Johann Ohnefurcht, Hzg. v. Burgund 185, 188
369
Konrad von Kirchberg 127 Konrad von Würzburg 124, 127f.
Johann Phillip von Hohensax, Freiherr 74 Konstantin I. d. Gr., Ks., hl. 47 Johannes Diaconus v. Rom, Hymmonides 20, 43
Külüg qaghan (Qaysian), mongol. Herrscher 203
Johannes Hadlaub 67f. 70, 73, 97f. Der von Kürenberg 82, 127 Johannes Trithemius, Abt in Sponheim u. Würzburg 234 John of Wales (Johannes Guallensis, Jean de Galles) 117
di Lasso, Orlando 36-39, 306 Lauber, Diebold 228, 229 Laaamon 105f.
Josquin des Prez, Musiker am Hofe Ercoles I. (Hzg. v. Ferrara) 30-35
Leidrad, Ebf. v. Hamburg-Bremen 53
Juana von Kastilien, Juana la loca (Johanna die Wahnsinnige), Gemahlin Philipps I. des Schönen (Kg. v. Kasitilien) 32
Leidrad, Bf. v. Lyon 45
Julius Caesar, Gaius 178
Leobgytha, Äbtissin v. Tauberbischofsheim, hl. 50
Karl der Grosse, Kg., Ks., hl. 5, 41-43, 4548, 50-54, 56f., 59, 61-63, 216-218 Karl V. (der Weise), Kg. v. Frankreich 184, 189
Leo X., P. 34
Leonardo da Vinci 273 Leuthold von Seven, hl. 127 Locher, Jakob 276, 278, 288
Karl VI. (der Wahnsinnige) Kg. v. Frankreich 187
Lothar von Segni (späterer Papst Innozenz III.) 78f.
Karl VII., Kg. v. Frankreich 179 da Lucena, Vasco 178 Karl der Kühne, Hzg. v. Burgund 177f., 181, 188-192
Ludwig I. der Fromme, Kg., Ks. 47, 218
Der Kanzler 82
Ludwig II. der Deutsche, Kg. 47
Katharina, hl. 30
Ludwig XIV. (Sonnenkönig), Kg. v. Frankreich 74
Keffer, Heinrich 241 Ludwig II. der Gute, Hzg.v. Bourbon 191 Kessler, Nikolaus 268f. Luitherus, Mönch i. Kloster St. Gallen 25 Khubilai Qaghan, mongol. Herrscher 203 Knebel, Johannes 177f.
Lupus von Ferrières, Servatius, Abt v. Ferrières-en-Gâtinais 218
Koberger, Anton 9, 242, 266-268, 270-272
Luther, Martin 233, 243f., 290
370
Register
al-Mafiarrı 162 Madeleine de la Tour d'Auvergne, Gemahlin des Frederico da Montefeltro (Hzg. v. Urbino) 34
Michelle de France, Gemahlin Philipps III. des Guten (Hzg. v. Burgund) 185 Mielich, Hans 36 Molitor, Heinrich 234
Maistre Jhan 32, 34 Morus, Thomas 284, 291 Malatesta, Gianciotto 138 Mufiwiya, Kalif 155 Malatesta, Paolo 7, 138, 141, 143 Mu˛ammad, Prophet 148-150 Malcolm III., Kg. v. Schottland 108f., 119 al-Mulk, Ni÷m 164 Malet, Gilles 184 Münster, Sebastian 248 al-Ma√mün 156f. Mμteferriq, Ibrhım 173 Manesse, Rüdiger 67f., 97 Ibn an-Nadım 156 al-Manßür, Abü ∏afifar, Kalif 155 Neidhart von Reuental 72, 89 al-Maqrızı 162f. Nicetius, Bf. v. Trier 15 Margaret von Schottland, hl. 106-109 Nikolaus von Cues, Kardinal 185 Margarete von Dampierre, Hzgin. v. Burgund, Gemahlin Philipps II. des Kühnen (Hzg. v. Burgund) 190 Margarete von York, Gemahlin Karls des Kühnen (Hzg. V. Burgund) 187, 190
Nikolaus von Verdun, hl. 281 Notker Balbulus (Notker von St. Gallen, Notker der Stammler) 16, 26-28, 223f.
Maria, Mutter Jesu 30, 51, 128
Notker III (Notker Labeo, Notker Teutonicus, Notker der Deutsche) 276
von Markyate, Christina, hl. 263
Ockeghem, Johannes 33-35
Der Marner 83-85, 87-90, 94
Olivier de La Marche, Chronist 191
Marquard von Stein 271, 281f.,
Osburgh, Mutter Alfreds de. Gr. (Kg. der Angelsachsen) 113
al-Mwardı 168f. Maximilian I., Ks. 29f., 235, 238f.
Otto, Ks. (genaue Identifizierung nicht möglich) 286
de' Medici, Lorenzo II. 33f.
Otto IV., Kg., Ks. 77f.
Meister E S 265f.
Otto IV. (mit dem Pfeil), Markgf. v. Brandenburg 74, 80f.
Melanchthon, Philipp 279 Otto IV. von Botenlauben, Gf. 81, 114 Mergen diyanci blama 211 Pacher, Michael 270, 284
Personen
Padovano, Benedetto 235
Quintilian, Marcus Fabius 276, 292
Pannartz, Arnold 241
Quintus Curtius Rufus 178
Paracelsus (Theophrastus Bombastus Philippus von Hohenheim) 247
ar-Ra¸sıd, Hrün 155f.
371
Regel, Jörg 248 Patrick, hl. 224 Reinmar der Alte 69, 71, 86, 130 Paulus, Apostel 257 Reinmar der Viedler 82 Pelagius, hl. 44, 55 Reinmar von Brennenberg 82 Petrarca, Francesco 118, 227, 252 Reinmar von Zweter 92, 98, 127 dei Petrucci, Ottaviano 29, 33 Remigius, Bf. v. Reims, hl.189 Petrus, hl. 83 Reuwich, Erhart 237 Petrus Diaconus 24 Richafort, Jean 34f. Philipp von Schwaben, Kg. 77f., 93 Philipp I. (der Schöne), span. Kg. 32 Philipp II. (der Kühne, le Hardi), Hzg. v. Burgund 178, 181-186, 187, 190f.
Richard Augerville de Bury, Bf. v. Durham 117-121 Richard Le Comte 185-187 Riederer, Friedrich 276, 284
Philipp III. (der Gute, le Bon), Hzg. v. Burgund 178,f., 183, 185, 187f., 190f.
Rudolf II. von Neuenburg (Rudolf von Fenis), Gf. 81, 126
Philippe Rogier 31 Rüegerin, Anna 241 Plinius d.J. 251, 253 Rümlang, Eberhard 249f. Pleydenwurff, Wilhelm 266f. dei Russi, Franco 235 da Polenta, Francesca 7, 138, 141, 143 Sbür b. Arda¸sır 161f. Pollet, Jan 37 Saladin, Sultan 163f. Praun, Jakob 307f. Prevost, Jehan 185
Salomo (Salomon), bibl. Kg. v. Israel u. Juda 20, 46-48
Ptolemaios, Klaudios 156
Sanvito, Bartolomeo 228
Purchardus, Mönch 223
Saul, Kg. 47f.
Quentell, Heinrich 268, 271
Schedel, Hartmann 254, 267
Quickelberg, Samuel 37f.
Scheurl, Christoph 267
372
Register
Schobinger, Bartholomäus 74
a†-‡abarı, Koranexeget 147, 149f.
Schöffer, Peter 234, 240f., 252
Tasso, Torquato 299
Schongauer, Georg 268
at-Taw˛ıdı, Abü ˘ayyn 169
Schongauer, Martin 268
Temür Öljeitü 203
Schopf, Viktor 228
Terenz (Publius Terentius Afer) 288f., 295
Schreyer, Sebald 267
Theoderic, Mönch 107
Schulmeister von Esslingen 82
Theodulf, B. v. Orléans 218f.
Schwalbe, Benedikt 273
Thomasin von Zirklaria 140
von Schwenckfeld, Kaspar 247, 258
Titus Livius 251, 253
von Seckingen, Hans Friedel 232
Trübner, Karl Ignaz 75
Serlio, Sebastiano 302
Tuotilo, Mönch i. Kloster St. Gallen 27f.
Shakespeare, William 299
Turgot, Bf. v. St. Andreas, Prior v. Durham 107, 109
Shigi Qutughtu 203 Ulrich von Winterstetten 89 Sigismund von Luxemburg, Kg., Ks. 31 Ulrich von Zatzikhoven 129, 131 Sigismund von Tirol, Erzhzg. v. Österreich 280
Ulü∞-Bek 165
Ibn Sın (Avicenna) 159
Ugelheimer, Peter 235f.
Siregetü güsi corji 210
fiU±mn, Kalif 150
Sixtus IV., P. 159
Varnier, Hans 247f.
Spinoza, Baruch de 244
Vérard, Antonie 235
Srong-btsan-sgam-po 197f.
Vergil (Publius Vergilius Maro) 33, 49, 138f., 142, 221
Der von Stammheim 127 Vesalius, Andreas 237 Steiner, Heinrich 248 Wace 106 Steinhöwel, Heinrich 277f. Wagner, Leonhard 27f. Straparola, Giovan Francesco 304 Stolle, Konrad 178, 189 Sweynheym, Conrad 241
Walahfrid Strabo (Walahfrid v. d. Reichenau) 54 Walther von der Vogelweide 69, 71f., 75, 79-81, 96, 126
Handschriften
Waltram (Alram) von Gresten 129, 140
Wohlgemuth, Michael 266-268
Wenssler, Michael 233, 240
Wolo, Mönch i. Kloster St. Gallen 223f.
Wernher der Gartenaere 125
al-Yafiqübı 166
Wickram, Jörg 238
Zacharias, P. 112
Wilhelm I., Ks. 75
Zell, Ulrich 241
Wilhelm de la Mare 219
Zwingäuer (Zwickauer) 124
373
Wimpfeling, Jakob 252 Winithar von St. Gallen 224, 242
Handschriftenregister Bamberg, Staatsbibliothek – Bibl. 140 (Bamberger Apokalypse): 220
Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana – Ms. Acquisti e donni 666: 33; Abb. 8
Basel, Öffentliche Bibliothek der Universität – N I 6, Nr. 50: 91; Abb. 20
St. Gallen, Kantonsbibliothek – Vad. Slg., Ma. 292: 24; Abb. 4 – Vad. Slg., Ms.302: 4
Berlin, Bibliothek des geheimen Staatsarchives, Stiftung Preussischer Kulturbesitz – XX. Ha StA. Königsberg, Hs. 33, 11: 91
Canterbury, Trinity College – Ms.R. 17.1: 222; Abb. 27
St. Gallen, Stiftsbibliothek – Cod. 53: 132 – Cod. 60: 132 – Cod. 238: 224 – Cod: 247: 217; Abb. 26 – Cod. 359: 19 – Cod. 375: 25, 26; Abb. 5 – Cod. 376: 25 – Cod. 390: 24; Abb. 3 – Cod. 391: 24 – Cod. 443: 29 – Cod. 542: 28 – Cod. 543: 28 – Cod. 546: 27 – Cod. 556: 16 – Cod. 613: 28 – Cod. 904: 223, 224
Den Haag, Museum van het Boek/ Museum Meermanno Westreenianum – Ms. 10 B 23: 184
Gotha, Forschungs- und Landesbibliothek – Mon. Typ. 1477, 2º (12): Abb. 29 – Ms. Memb. I 90: 4
Bern, Burgerbibliothek – Cod. 260: 89, 90, 91 Bern, Staatsarchiv – B III 31: 249; Abb. 30 Brüssel, Bibliothèque royale de Belgique – Ms. 9242: 30 Cambridge, Fitzwilliam Museum – Inv.Nr. 12-1904: 19; Abb. 1
374
Register
Heidelberg, Universitätsbibliothek – Cod. Pal. Germ. 848: 6, 7, 67, 68, 70, 71, 72, 73, 74, 76, 77, 79, 80, 88, 91, 92, 93, 96, 98, 125, 126, 127, 129, 131, 227; Abb. 14, Abb. 15, Abb. 17, Abb. 19, Abb. 21, Abb. 22 – Cod. Pal. Germ. 357: 70, 71, 72, 74, 79, 98 Jena, Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek – Ms. 3: 30; Abb. 7 – Ms. 30-36: 30 Laon, Bibliothèque Municipale – Ms. 266: 19 London, British Library – Add. Ms. 42130: 116 München, Bayerische Staatsbibliothek – Clm. 4452: 220 – Mus.Ms. A I: 37; Abb. 10 – Mus.Ms. A II: 34, 39; Abb. 9 New York, Public Libary – Ms. 180: 10, 11, 295-312 Nürnberg, Landeskrichliches Archiv der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern – Fenitzer Nr. 415: 83; Abb. 18
Oxford, Bodleian Library – Lat. liturg. f. 5: 106 Paris, Louvre, Ivoires – Nr. 9: 43; Abb. 13 – Nr. 10: 43; Abb. 13 Pommersfelden, Schönbornsche Bibliothek – Ms. 215: 81; Abb. 16 Stuttgart, Württemberbische Landesbibliothek – Cod. HB XIII 1: 70, 71, 72 – Cod. Mus. I 2˚ 65: 27; Abb. 6 Trier, Stadtbibliothek – Cod. 24: 220 Weimar, Evang. luth. SuperintendenturBibliothek – Prakt. Theol. Ges. A: 30 Wien, Kunsthistorisches Museeum, Kunstkammer – Inv.Nr. 8399: 20; Abb. 2 Wien, Österreichische Nationalbibliothek – Ms. Mus. 15495: 30 – Cod. 1861: 5, 6, 41, 42, 43, 44, 53, 55, 62, 63; Abb. 11, Abb. 12 – Cod. 2549: 180
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04.01.2006
10:34 Uhr
Seite 1
Abb. 1: Elfenbeintafel mit Darstellung des Introitus. Lothringen (Metz?), spätes 10. Jh. Elfenbein geschnitzt, H. 33,3 cm, B. 11,6 cm. Cambridge, Fitzwilliam Museum, Inv.Nr. M 12-1904. Quelle: Christoph Stiegemann u. Matthias Wemhoff, (Hg.): 799 Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Grosse und Papst Leo III. in Paderborn. Bd. 2. Katalog der Ausstellung Paderborn 1999. Mainz 1999, Kat.nr. XI.30, S. 829.
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Abb. 2: Der hl. Gregor mit drei Schreibern. Lothringen (Metz?), spätes 10. Jh. Elfenbein, H. 20,5 cm, B. 12,8 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer, Inv.Nr. 8399.
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10:34 Uhr
Seite 3
Abb. 3: Der hl. Gregor diktiert seinem Schreiber die heiligen Gesänge (um 1000). St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 390 (Antiphonarium Hartkeri), S. 13.
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Seite 4
Abb. 4: Hymnarium von Eberhart: Dedikationsbild (um 1100). St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vad. Slg., Ms. 292, Bl. 175v.
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10:34 Uhr
Seite 5
Abb. 5: Luitherus übergibt dem hl. Gallus sein Buch (um 1135). St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 375 (Graduale/ Sequentiar), S. 235.
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Abb. 6: Lorcher Graduale: Weihnachtssequenz Natus ante saecula von Notker in Quadratnotation auf vier Linien. Darunter der Schreiber Leonhard Wagner, der Buchmaler Nicolaus Bertschy und seine Gattin Margareta. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Mus. I 2° 65, Bl. 236.
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Seite 7
Abb. 7: Josquin des Prez: Missa Ave maris stella. Kyrie (Contraaltus und Bassus) in weisser Mensuralnotation. In der Miniatur: Friedrich der Weise (1463-1525). Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. 3, Bl. 30 (zw. 1518 u. 1520). Quelle: The Medici Codex. A Choirbook of Motets Dedicated to Lorenzo de´ Medici, Duke of Urbino. Hg. v. Edward E. Lowinsky. 3 Bde. Chicago 1968, Faksimile, Bl.125v.
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Seite 8
Abb. 8: Josquin des Prez: Nimphes des bois aus dem Medici-Codex (1518). Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ms. Acquisti e doni 666, Bl. 125v. , Quelle: The Medici Codex. A Choirbook of Motets Dedicated to Lorenzo de Medici, Duke of Urbino. Hg. v. Edward E. Lowinski. 3 Bde. Chicago 1968.
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Abb. 9: Mielich-Codex: Herzog Albrecht V. und seine Söhne (Ernst zu seiner Rechten, Wilhelm und Ferdinand zu seiner Linken), umgeben von bayerischen Räten. München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. A II, S. 3 (um 1565-1570).
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Abb. 10: Mielich-Codex: Verumtamen in diluuio […] (Ps. 31[32],6) in weisser Mensuralnotation. Strafgericht über die Sündigen. Oben: die Hure Babylon. Mitte: Sodom und Gomorra. Unten: die Sintflut. München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. A I, S. 66 (um 1563-1365).
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Abb. 11: Dagulf-Psalter. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1861, Bl. 4v.
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Abb. 12: Dagulf-Psalter. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1861, Bl. 4r.
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Abb. 13: Elfenbeineinband (Vorder- und Rückseite) des Dagulf-Psalters. Paris, Louvre, Ivoires, Nr. 9 u. Nr. 10.
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Abb. 14: Manessische Liederhandschrift (Codex Manesse). Heidelberg, Universitätsbibliothek Cod. Pal. Germ. 848, Bl. 124v (Beginn von Walthers Leich).
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Abb. 15: Manessische Liederhandschrift (Codex Manesse). Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 848, Bl. 13r (Portrait des Markgrafen Otto von Brandenburg [Nr. 6]).
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Abb. 16: Schloss Pommersfelden, Schönbornsche Bibliothek, Ms. 215, Bl. 162r (Portrait des Alanus ab Insulis). Quelle: Michael Stolz, Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter. 2 Bde. Tübingen/ Basel 2004 (Bibliotheca Germanica; 47), Bd. 2, Abb. 33.
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Abb. 17: Manessische Liederhandschrift (Codex Manesse). Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 848, Bl. 349r (Portrait des Marner [Nr. 116]).
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Abb. 18: Nürnberg, Landeskirchliches Archiv der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, Fenitzer Nr. 415 (Kalenderseite zum Monat Januar).
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Abb. 19: Manessische Liederhandschrift (Codex Manesse). Heidelberg, Universitätsbibliothek Cod. Pal. Germ. 848, Bl. 354v (Ende des Marner-Corpus).
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Abb. 20: Basel, Öffentliche Bibliothek der Universität, N I 6, Nr. 50 (Recto-Seite der Rolle mit Spruchdichtungen des Marner, Ausschnitt).
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Abb. 21: Manessische Liederhandschrift (Codex Manesse). Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 848, Bl. 271r (Portrait dessen von Buochein [Nr. 91]).
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Abb. 22: Manessische Liederhandschrift (Codex Manesse). Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 848, Bl. 311r (Portrait Alrams von Gresten [Nr. 103]).
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Abb. 23: Tibetische Schriftart dbu can (›mit Kopf‹).
Abb. 24: Uigurische Schrift (zuerst von rechts nach links und waagrecht geschrieben, schrieb man sie ab dem 9. Jahrhundert senkrecht von links nach rechts).
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Abb. 25: Tibetisches Buchformat dpe cha (schmale, längliche einzelne Blätter, beidseitig beschrieben oder bedruckt, die zwischen zwei Holzdeckeln liegen).
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Abb. 26: Beda Venerabilis: Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 247 (um 860). Quelle: Cimelia Sangallensia. Hundert Kostbarkeiten aus der Stiftsbibliothek St. Gallen. Beschrieben v. Karl Schmuki u.a. St. Gallen 1998, Nr. 36.
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Abb. 27: Schreiber Eadwin. Psalter, Cambridge, Trinity College, Ms. R 17.1, Bl. 283v (England um 1150). Quelle: Ralf W. M Stammberger, Scriptor und Scriptorium. Das Buch im Spiegel mittelalterlicher Handschriften. Darmstadt 2003, Tafel 10, S. 51.
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Abb. 28: Biblia Latina (Gutenbergbibel) (GW 4201). Mainz, ca. 1453/54. Schluss des Buches Exodus/ Beginn Leviticus. Quelle: The Estelle Doheny Collection. Camarillo (California). Christie’s, Auktionskatalog (Teil 1). New York 1987, S. 20.
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Abb. 29: Decretum Gratiani. Nicolaus Jenson, Venedig 1477 (HC 7890). Illuminierung Girolamo und dem Meister der Sieben Tugenden zugeschrieben. Gotha, Landesbibliothek, Mon. Typ. 1477, 2° (12). Quelle: Jonathan J. G. Alexander (Hg.), The Painted Page. Italian Renaissance Book Illumination 1454-1550. München 1994, S. 191.
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Abb. 30: Sebastian Franck an den Seckelschreiber von Bern [Eberhard von Rümlang]. Bern, Staatsarchiv, B III 31, S. 51.
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Abb. 31: Albrecht Dürer: Der hl. Hieronymus in seiner Studierstube. Holzschnitt. Titelblatt der Opera Omnia. Hg. v. Nikolaus Kessler. 1492. Quelle: Erwin Panofsky, Albrecht Dürer. 2 Bde. 2. Auflage. Princeton 1945, Bd. 2, Abb. 32.
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Abb. 32: Anonym: Der hl. Ambrosius in seiner Studierstube. Holzschnitt. Titelblatt der Ambrosii Opera. Hg. v. Johannes Amerbach. 1492. Quelle: Erwin Panofsky, Albrecht Dürer. 2 Bde. 2. Auflage. Princeton 1945, Bd. 2, Abb. 33.
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Abb. 33: Albrecht Dürer: Der Tod der eitlen Frau. Holzschnitt. In: Marquard von Stein, Ritter vom Turn. Basel: Michael Furter, 1493. Quelle: Albrecht Dürer. 1471 bis 1528. Das gesamte graphische Werk. 2 Bde. 4. Auflage. München 1971, Bd. 2, S. 1305.
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Abb. 34: Albrecht Dürer: Narren auf der Fahrt. Holzschnitt. In: Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Basel: Johann Bergmann von Olpe, 1494. Quelle: Albrecht Dürer. 1471 bis 1528. Das gesamte graphische Werk. 2 Bde. 4. Auflage. München 1971, Bd. 2, S. 1367.
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Abb. 35: Unbekannter Meister: Über Mensch und Löwe. Holzschnitt. In: Sebastian Brant: Esopi apologi sive mythologi cum quibusdam carminum et fabularum additionibus Sb. Brant. Basel 1501, Bl. k 4 v.
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Abb. 36: Albrecht Dürer (?): Von eyner edlen frowen wie die vor eym spiegel stund, sich mutzend, unnd sy jn dem spiegel den tüfel sach jr den hyndern zeigend. Holzschnitt. In: Marquard von Stein, Der Ritter vom Turn von den Exempeln der gotsforcht und erberkeit. Basel 1493, Bl. 20 r.
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Abb. 37: Michael Pacher: Kirchenväteraltar. Der Teufel und der hl. Augustinus. Mischtechnik auf Holz. Um 1480. München, Alte Pinakothek, Inv.Nr. 2599 a.
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Abb. 38: Unbekannter Meister: Von im selbs wolgefallen. Holzschnitt. In: Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Basel: Johann Bergmann von Olpe, 1494, Bl. k 2 b.
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Abb. 39: Hans Holbein d.J.: Narr mit Spiegel. Randzeichnung. In: Erasmi Roterodami Encomium i.e. Stultitiae laus. Basel 1515, Bl. E 2 v.
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Seite 39
Abb. 40: New York, Public Library, Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection, Zanni und Pantalone.
Abb. 41: New York, Public Library, Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection, vierstimmiger Choral.
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Abb. 42: New York, Public Library, Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection, Barbierszene.
Abb. 43: New York, Public Library, Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection, Dottore Graziano.
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Abb. 44: New York, Public Library, Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection, Cestius-Pyramide.
Abb. 45: New York, Public Library, Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection, Charon und verdammte Seelen.
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Seite 42
Abb. 46: New York, Public Library, Bildcodex Ms. 180 der Spencer Collection, Dudelsackspieler und Tänzerin.