1
Yu Hua
Brüder
Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz S. Fischer
2
Der Verlag dankt dem Übersetzungsfonds des Amt...
28 downloads
530 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1
Yu Hua
Brüder
Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz S. Fischer
2
Der Verlag dankt dem Übersetzungsfonds des Amtes für Presse und Publikationswesen der VR China für die großzügige Förderung der Übersetzung. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Xiongdi« im Verlag Schanghai Wenyi Chubanshe, Schanghai, 2005 (Teil I) und 2006 (Teil II). This translation published by arrangement with Pantheon Books, a division of Random House, Inc. © 2005/2006 Yu Hua Für die deutsche Ausgabe: © 2009 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: H & G Herstellung GmbH Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-10-095803-7 3
Teil I Glatzkopf-Li, der Super-Multimillionär in unserer kleinen Stadt Liuzhen, hegte einen fantastischen Plan: Er wollte sich für zwanzig Millionen Dollar ein Ticket für das russische »Sojus«-Raumschiff kaufen. Mit geschlossenen Augen auf seinem stadtbekannten vergoldeten Klosett thronend, stellte er sich vor, wie er auf seiner Umlaufbahn durch die unendlichen Weiten des Weltraums kurven würde, ringsumher nichts als unermessliche Stille, während sich tief unter ihm die Schönheit unseres herrlichen Erdballs langsam entrollte, sodass ihm vor lauter Ergriffenheit Tränen in die Augen traten. In diesem Moment kam ihm zum Bewusstsein, wie einsam und verlassen er in dieser Welt war. Es gab einmal einen Menschen, der ihm nahestand wie kein anderer. Das war sein Bruder Song Gang, ein Jahr älter und einen Kopf größer als er. Doch dieser aufrechte, unbeugsame Mann, der seinem Namen alle Ehre gemacht hatte - gang bedeutet »stählern« -, war seit drei Jahren tot, war nur noch ein Häufchen Asche in einem kleinen Holzkasten. Selbst der kleinste Baum hinterließ mehr Asche, als von seinem toten Bruder übrig geblieben war! Als seine Mutter noch lebte, hatte sie oftmals zu ihm gesagt: »Wie der Vater, so der Sohn!« Damit hatte sie Song Gang gemeint. Ein aufrechter, ein guter Mensch sei der, genau wie sein Vater - zwei Melonen, die an einer Ranke gewachsen seien. Über Glatzkopf-Li sagte sie so etwas nicht. Sie schüttelte
4
nur immer wieder den Kopf und meinte, Glatzkopf-Li und sein Vater seien grundverschieden. Ihre Meinung änderte sie jedoch gründlich, als ihr vierzehnjähriger Sohn dabei erwischt wurde, wie er in einer öffentlichen Toilette die Hinterteile von fünf Frauen ausspionierte. Da musste sie erkennen, dass der Junge und sein Vater in Wahrheit ebenfalls zwei Melonen an einer Ranke waren. Glatzkopf-Li entsann sich genau, wie erschrocken seine Mutter damals die Augen abgewandt und ihm den Rücken zugekehrt hatte, als sie unter Tränen murmelte: »Ach ja, wie der Vater, so der Sohn!« Diesen Vater hatte Glatzkopf-Li allerdings nie kennengelernt, denn der hatte am Tag seiner Geburt buchstäblich zum Himmel stinkend das Zeitliche gesegnet. Der Mutter zufolge war er ertrunken. Glatzkopf-Li fragte, ob im Fluss, in einem Teich oder im Brunnen, aber sie hatte eisern geschwiegen. Erst später, als er in der Toilette bei der Frauenarschbeschau ertappt wurde und sich sein schlechter Leumund mit Windeseile in unserer kleinen Stadt Liuzhen verbreitete, ging ihm auf, dass er und sein Vater tatsächlich zwei Melonen - zwei stinkende Melonen! - waren, die an ein und derselben Ranke wuchsen, denn der Vater war bei dem Versuch, Frauenhintern von unten zu beäugen, in der Jauchegrube des Plumpsklos ertrunken. Von da an machte der Spruch »Wie der Vater, so der Sohn!«, in unserer kleinen Stadt Liuzhen die Runde - so gewiss jeder Baum Blätter hat, so unfehlbar führte jedermann diese Worte im Munde. Alte und Junge, Männer und Frauen, jeder ließ sich die sieben Silben genüsslich auf der Zunge zergehen. Selbst die Allerkleinsten, die gerade erst mühsam 5
das Sprechen erlernten, konnten sie schon lallen. Man zeigte mit Fingern auf Glatzkopf-Li, zerriss sich hinter seinem Rücken das Maul und machte sich mehr oder minder unverhohlen lustig über ihn. Er aber spazierte mit ungerührter Miene durch die Stadt, als wäre nichts geschehen. Dabei konnte er sich das Lachen kaum verbeißen, denn mit knapp fünfzehn (so alt war er damals) wusste er bereits, was das ist ein Mann. In der heutigen Zeit kannst du dich vor nackten Frauenärschen nicht retten. Im Fernsehen, im Kino, aufVCD und DVD, in der Werbung und in Illustrierten, auf Kugelschreibern und Feuerzeugen überall lacht dich ein blanker Hintern an. Es ist gar nicht mit Blicken zu erfassen, was dir da alles geboten wird: weiße Ärsche und gelbe, schwarze und braune, importierte und einheimische, große und kleine, fette und magere, glatte und raue, junge und alte, falsche und echte ... Ein nackter Frauenhintern ist heute nichts Besonderes; du reibst dir die Augen und siehst einen, du musst niesen und hast einen vor dir, du gehst um die Ecke und stolperst über einen. Das war früher anders, da war ein blanker Hintern noch etwas, das nicht mit Gold aufzuwiegen war. Auch nicht mit Silber oder sonstigen Schätzen. Damals konntest du nur versuchen, im Klo einen zu erspähen. Ebendeshalb gab es solche kleinen Spanner wie Glatzkopf-Li, der sich dabei erwischen ließ, oder solche großen Spanner wie seinen Vater, den sein Trieb sogar das Leben kostete. Die öffentlichen Toiletten waren zu jener Zeit anders als die heutigen. Heute bekämst du selbst mit Hilfe eines Periskops keinen Frauenhintern zu sehen. Früher aber waren die Abor6
te für Männer und Frauen zwar durch eine dünne Trennwand voneinander geschieden, die Jauchegrube darunter jedoch war nicht unterteilt. Wenn jenseits der Trennwand eine Frau klein oder groß machte und du alle Geräusche klar und deutlich mit anhörtest, sodass du ganz gieprig wurdest, konntest du dich ungeachtet des beißenden Gestanks, der dir die Tränen in die Augen trieb, mit angelegten Armen wie ein Wettschwimmer auf dem Startblock kopfüber durch das eigentlich für deinen Hintern bestimmte Loch in dem Sitzbrett hinablassen und mit Bauch und Beinen abgestützt, die Hände fest um den Rand gekrallt, von Schmeißfliegen umschwirrt (aber die bemerktest du gar nicht!) - dich von unten nach Herzenslust an den Hinterteilen der Frauen ergötzen, und zwar umso besser, je tiefer du in der Sitzöffnung stecktest. Glatzkopf-Li bekam damals fünf Ärsche zu sehen, einen kleinen, einen fetten, zwei dünne und einen genau richtigen, fein säuberlich nebeneinander aufgereiht wie fünf Stücke Schweinefleisch beim Schlachter. Der fette Hintern sah wie frisches Fleisch aus, die beiden dünnen Ärsche wirkten eher gepökelt, der kleine Popo war nicht der Rede wert, aber der fünfte, nicht zu dick und nicht zu dünn und direkt vor seinen Augen - der gefiel Glatzkopf-Li ausnehmend gut, denn er war prall und rund und so fest, dass unter der straff gespannten Haut das Steißbein zu erahnen war. Heftig erregt versuchte er, einen Blick auf das Schamhaar und den Ort, wo es entspross, zu erhaschen. Zu diesem Zweck ließ er sich noch tiefer hinunter, doch als er fast am Ziel war, wurde er an seinem eigenen Hinterteil gepackt und mir nichts, dir nichts herausgezogen. 7
Just in diesem Moment war nämlich jemand in das Toilettenhaus gekommen, ein gewisser Zhao, dem seine Eltern den schönen Vornamen Shengli (»Sieg«) gegeben hatten, einer der beiden Geistesfürsten in unserer kleinen Stadt Liuzhen. Als er sah, dass da jemand kopfunter in der Abortöffnung hing, war er sofort im Bilde, packte den Übeltäter am Hosenboden und riss ihn mit einem Ruck heraus wie eine Rübe aus dem Acker. Obwohl zu jener Zeit erst zwanzig Jahre alt, hatte Zhao bereits ein Gedicht in der hektographierten Zeitschrift unseres Kreiskulturhauses veröffentlicht. Dieser Vierzeiler hatte ihm den respektvollen Spitznamen »Dichter Zhao« eingetragen. Während der Dichter in der Toilette Glatzkopf-Li dingfest machte und ihn auf die Straße bugsierte, vor freudiger Erregung ganz rot im Gesicht, begann er schon mit seiner Moralpredigt (auch diese natürlich bilderreich und poetisch): »Die goldgelbe Pracht des blühenden Rapsfelds, die siehst du nicht! Die Fische, die sich im Bach tummeln, sie lassen dich kalt! Die weißen Wolken am azurblauen Himmel, für all diese Schönheit hast du überhaupt keine Augen! Aber ein stinkiges Klo, da kriechst du kopfüber hinein ... « So ging es bestimmt zehn Minuten lang. Dichter Zhaos Tirade, so lautstark er sie auch vortrug, verfehlte allerdings ihre Wirkung auf die Frauen im Toilettenhaus, die eigentlichen Adressatinnen. Schließlich wurde er ungeduldig, stellte sich an die Tür der Damenabteilung und forderte die fünf Ärsche mit lauter Stimme auf, endlich herauszukommen. Ohne zu bedenken, dass er eigentlich ein kultivierter Dichter war, rief er, plötzlich recht vulgär: »Nun hört doch mal auf zu schif-
8
fen und zu scheißen! Jemand hat eure Ärsche angeguckt, und ihr wisst von nichts! Kommt endlich raus!« Das wirkte. Wutschnaubend, rachedürstend, kreischend oder schluchzend - je nachdem - stürmten die Besitzerinnen jener fünf Gesäße aus dem Toilettenhaus. Die Schluchzende war ein elf oder zwölf Jahre altes Mädchen. Ihr gehörte der kleine Hintern, der nach Glatzkopf-Lis Meinung nicht der Rede wert war. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte so bitterlich, dass es sie schüttelte. Man hätte annehmen können, sie sei soeben nicht belauscht, sondern vergewaltigt worden. Von Dichter Zhao mit eisernem Griff umklammert, stand Glatzkopf-Li vor dem schluchzenden Ärschlein und dachte: Was heulst du denn bloß? Wegen so eines winzigen, unterentwickelten Popos braucht man doch nicht zu flennen! Auf den hätte ich keinen Blick verschwendet, wenn er mir nicht zufällig mit untergekommen wäre! Als Letzte kam ein vielleicht siebzehnjähriges hübsches Mädchen heraus, das Gesicht schamrot. Nach einem flüchtigen Blick auf Glatzkopf-Li wandte sie sich ab und eilte davon. Dichter Zhao rief ihr nach, sie solle zurückkommen und ohne falsche Scham für Recht und Gerechtigkeit kämpfen. Das Mädchen jedoch drehte sich nicht einmal um und beschleunigte den Schritt. Beim Anblick ihrer schwingenden Pobacken war sich Glatzkopf-Li sicher, wem der pralle Hintern gehörte, den er eben bewundert hatte. Nachdem der Knackarsch fort war, verzog sich auch der schluchzende Kinderpopo, während die Besitzerin eines der beiden dünnen Hinterteile eine Schimpfkanonade losließ und Glatzkopf-Li ins Gesicht spuckte. Dann wischte sie sich 9
den Mund ab und verließ ebenfalls den Ort des Geschehens. In Hosen hat sie überhaupt keinen Arsch mehr, konstatierte Glatzkopf-Li im Stillen. Die drei Verbliebenen - der triumphierende Dichter, der an frisches Fleisch erinnernde Fettarsch und der zweite Pökelarsch - eskortierten Glatzkopf-Li durch die Straßen unseres 50000-Seelen-Städtchens zum Polizeirevier. Unterwegs stieß der zweite Geistesfürst aus unserer kleinen Stadt Liuzhen zu ihnen, ein gewisser Liu Chenggong. Liu Chenggong war wie Dichter Zhao über zwanzig Jahre alt. Auch er hatte seinem Vornamen (Chenggong bedeutet »Erfolg«) alle Ehre gemacht, indem er ein eigenes Werk in der hektographierten Zeitschrift unseres Kreiskulturhauses veröffentlichte, eine Erzählung, die zwei eng bedruckte Seiten umfasste - ganz etwas anderes als der irgendwie in eine Lücke zwischen zwei andere Beiträge gequetschte Vierzeiler von Dichter Zhao! -, und auch ihm hatten die Leute schon einen Spitznamen verpasst: Schriftsteller Liu. In dieser Hinsicht stand er Dichter Zhao also nicht nach, und natürlich durfte er ihm auch in keiner anderen nachstehen! Als er jetzt mit einem leeren Sack in der Hand - er war gerade auf dem Weg in den Reisladen - auf den Dichter traf, der einen Frauenpo- Beschauer lebend gefangen hatte und jetzt im Triumphzug durch die Stadt führte, stand deshalb für ihn fest, dass er ihn auf keinen Fall allein im Rampenlicht stehen lassen dürfe. Nein, auch er, Schriftsteller Liu, wollte teilhaben an dieser Ruhmestat! Wie ein Helfer in höchster Not eilte er auf Dichter Zhao zu und rief schon von Weitem: »Ich komme schon! Ich helfe dir!« 10
Zhao und Liu waren enge Dichterfreunde, seit Liu den kleinen Vierzeiler des Dichters in den höchsten Tönen gelobt und jener sich mit noch überschwänglicheren Lobeshymnen auf Lius Zwei-Seiten-Erzählung revanchiert hatte. Als der lautstark seine Hilfe anbietende Schriftsteller auf der Bildfläche erschien, überließ daher der Dichter, der bis dahin Glatzkopf-Li allein vor sich hergetrieben hatte, Liu die rechte Flanke und begnügte sich damit, Glatzkopf-Li von links am Schlafittchen zu packen. Seite an Seite paradierten jetzt die bei den Geistesfürsten mit ihrem Gefangenen durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Zwar verkündeten sie jedem, der es hören wollte oder nicht, sie würden ihn der Polizei übergeben, doch um das nahe gelegene Revier machten sie wohlweislich einen Bogen. Stattdessen schlugen sie den Weg zu einem weiter entfernten Polizeirevier ein und vermieden zudem die Abkürzung durch kleine Gassen. Denn beim Gang durch die Hauptgeschäftsstraßen, so ihre Überlegung, würden auch sie etwas von der öffentlichen Aufmerksamkeit abbekommen, um die sie Glatzkopf-Li glühend beneideten. Schriftsteller Liu sagte zu ihm: »Du kannst von Glück sagen - so ein kleiner Ganove, und wirst gleich von zwei Geistesgrößen abgeführt!« Woraufhin Dichter Zhao vielsagend ergänzte: »Sozusagen von Li Bo und Du Fu.« Schriftsteller Liu empfand diesen Vergleich als ziemlich verfehlt, waren das doch beides Lyriker, er aber schrieb schließlich Prosa! Daher korrigierte er: »Vielmehr von Li Bo und Cao Xueqin.« Glatzkopf-Li hatte während des Marsches durch die Straßen mit unbeteiligter Miene den Blick schweifen lassen. Doch als 11
er hörte, wie sich die beiden Geistesfürsten unserer kleinen Stadt Liuzhen mit dem berühmten Lyriker Li Bo und dem nicht minder berühmten Autor des Romans »Der Traum der Roten Kammer« Cao Xueqin verglichen, prustete er plötzlich los: »Das weiß ja sogar ich, Li Bo lebte in der Tang-Zeit, Cao Xueqin aber tausend Jahre später in der Qing-Zeit. Wie sollten die beiden zusammenkommen?« Großes Gelächter unter den Schaulustigen am Straßenrand. Glatzkopf-Li habe ganz recht, lautete das einhellige Urteil. Die beiden Geistesfürsten mochten als Literaten ein hohes Niveau haben, aber ihre Geschichtskenntnisse reichten nicht einmal an die eines kleinen Spanners heran, der Frauenärsche ausspionierte. Peinlich berührt und mit roten Ohren reckte Dichter Zhao den Hals und erklärte trotzig: »Das war ja bloß ein Vergleich.« »Genau!«, ergänzte Schriftsteller Liu. »Jedenfalls wirst du von einem Dichter und einem Schriftsteller abgeführt. Sagen wir eben: von Guo Moruo und Lu Xun.« Mit diesem Vergleich waren die Zuschauer einverstanden immerhin hatten ja diese Literaten beide ihre Werke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Auch Glatzkopf-Li nickte. »Das kommt schon eher hin«, sagte er. Seine beiden Bewacher aber vermieden jetzt weitere literarische Vergleiche und gingen dazu über, mit dick aufgetragener moralischer Entrüstung Glatzkopf-Lis Unsittlichkeit anzuprangern. Die vielen Gaffer, die Li am Straßenrand sah manche kannte er, manche nicht -, reagierten je nach Temperament mit Gekicher, Gejohle oder Gelächter auf die Darlegung der Zusammenhänge, die die zwei nicht müde wur12
den, immerfort zu wiederholen, in ihrem Berufsethos mindestens so untadelig wie heutzutage die Moderatoren im Fernsehen. Ihre »Stargäste«, die zwei verbliebenen Frauen, die Glatzkopf-Li ausgespäht hatte, sekundierten ihm dabei, indem sie das passende Mienenspiel beisteuerten, das mal Wut, mal Kränkung, mal beides zusammen erkennen ließ. Eine der beiden Frauen - die mit dem ausladenden Hintern stieß plötzlich einen schrillen Schrei aus, denn sie hatte unter den Schaulustigen ihren Mann entdeckt. Sie schluchzte wie auf Kommando los und rief ihm zu: »Er hat meinen Po gesehen! Und wer weiß, was sonst noch! Hau ihm ein paar hinter die Löffel!« Alle Gaffer schauten höchst amüsiert zu dem bedauernswerten Gatten hin, der mit rotem Kopf und gerunzelter Stirn dastand, aber nichts dergleichen tat, sodass Dichter Zhao und Schriftsteller Liu sich bemüßigt sahen einzugreifen. Als würfen sie einem Hund einen Fleischknochen vor, zerrten sie ihren Gefangenen vor den Mann, begleitet von dem Gezeter der schluchzenden Ehefrau mit dem mächtigen Hintern, die ständig ihre lautstarke Aufforderung wiederholte, GlatzkopfLi zu verprügeln. »Meinen Hintern hat noch nie jemand anders gesehen als du!«, schrie sie. »Außer diesem Wüstling hier! Nur zwei Menschen auf der ganzen Welt haben meinen Hintern gesehen. Was soll ich bloß machen? Du musst ihn verprügeln! Steh hier nicht rum, gib ihm Saures! Wegen ihm hast du dein Gesicht verloren!« Die Umstehenden johlten los, und sogar Glatzkopf-Li kicherte ein bisschen. Nicht wegen mir verliert er sein Gesicht, dachte er, sondern wegen seiner fettärschigen Frau. 13
Der war seine Heiterkeit nicht entgangen. »Guck mal! Guck bloß mal!«, kreischte sie. »Der Kerl grinst auch noch! Freut sich über seinen gelungenen Coup! Verprügele ihn, mach schon! Oder willst du das etwa auf dir sitzen lassen?« Bei dem Mann handelte es sich um den in Liuzhen stadtbekannten Schmied Tong, in dessen Werkstatt Glatzkopf-Li als kleiner Junge oft zugesehen hatte, wie beim Schmieden des Eisens die Funken stoben. In diesem Moment jedoch war Schmied Tong vor Wut noch grauer im Gesicht als das Eisen, das er täglich bearbeitete. Er holte mit seiner gewaltigen Pranke aus, als hätte er ein Schmiedestück vor sich, und versetzte Glatzkopf-Li eine schallende Ohrfeige. Der ging sofort zu Boden. Diese Strafe ging ihm denn doch nahe. Nicht nur, dass er Sterne sah und sein Gesicht im Nu anschwoll- er verlor auch zwei Zähne und sollte noch ein halbes Jahr lang unter Ohrensausen leiden. Wenn mir noch einmal der Arsch einer Schmiedegattin unterkommt, schwor er sich, können sie mir sonst was bieten - ich mach die Augen ganz fest zu und gucke weg! Nachdem Glatzkopf-Li seine Prügel bezogen hatte, setzten Dichter und Schriftsteller ihre Prozession mit dem völlig verschwollenen, aus der Nase blutenden Delinquenten fort. Sie zogen im Kreis durch die Straßen der Stadt und waren schon dreimal an jenem Polizeirevier vorbeigekommen, ohne Glatzkopf-Li den Gesetzeshütern zu überantworten, obwohl diese jedes Mal neugierig vors Tor getreten waren, um zu schauen, was es da draußen Aufregendes zu sehen gäbe. Doch Dichter Zhao, Schriftsteller Liu und die beiden Ärsche - einer fett, einer mager drehten weiter unermüdlich ihre Runden mit Glatzkopf-Li, bis am Ende der an frisches 14
Fleisch erinnernde Fettarsch die Lust verlor und auch der magere Pökelarsch nicht mehr laufen mochte. Nachdem die beiden Arschgeschädigten heimgegangen waren und Dichter und Schriftsteller mit ihrem Gefangenen noch eine letzte Runde gemacht hatten, waren auch sie so kreuzlahm und hatten sich zudem so heiser geschrien, dass sie Glatzkopf-Li endlich doch auf dem Polizeirevier ablieferten. Alle fünf Volkspolizisten des Reviers liefen zusammen und begannen, Glatzkopf-Li zu verhören. Nachdem sie zunächst die Namen der fünf betroffenen Frauen ermittelt hatten, befragten sie ihn zu jedem einzelnen Namen beziehungsweise Hintern einzeln, ausgenommen blieb lediglich der Kinderpopo. Das Ganze wirkte weniger wie ein Verhör als vielmehr wie ein Gespräch unter Männern. Als Li in seinem Geständnis auf den Hintern von Lin Hong zu sprechen kam (so hieß die Besitzerin jenes weder zu dicken noch zu dünnen Knackarsches), hingen die fünf Vopos förmlich an seinen Lippen, als ob er eine spannende Geistergeschichte erzählte. Jenes knackärschige Mädchen war nämlich eine stadtbekannte Schönheit, und jeder von den fünf Polizisten hatte ihren hübschen Hintern durch die Hose hindurch schon einmal abtaxiert, wenn er ihr auf der Straße begegnete. Dasselbe hatten im Übrigen auch zahlreiche andere Männer der Stadt getan. Der Einzige jedoch, der ihren Hintern leibhaftig, ohne Hosen!, zu Gesicht bekommen hatte, war Glatzkopf-Li. Natürlich packten daher die fünf Vopos die Gelegenheit beim Schopfe und befragten ihren Arrestanten besonders penibel. Als Glatzkopf-Li auf Lin Hongs straffe Haut und das sich darunter abzeichnende Steißbein zu sprechen kam, leuchteten ihre Augen plötzlich auf wie Lampen, die gerade jemand 15
angeknipst hat, nur um sogleich wieder zu verlöschen, als er hinzufügte, weiter habe er nichts gesehen. In ihrer offensichtlichen Frustration schlugen sie auf den Tisch und brüllten ihn an: »Das war doch noch nicht alles! Nur wer gesteht, kann mit Milde rechnen! Verstockte trifft die ganze Härte des Gesetzes! Also was hast du noch gesehen?« Angstschlotternd gestand Glatzkopf-Li, er habe sich noch ein Stückchen weiter hinabgelassen, um zu ergründen, wie Lin Hongs Schamhaare aussehen - und die Stelle, wo sie wachsen. Die Vopos lauschten mit angehaltenem Atem, denn vor lauter Angst sprach er nur ganz leise. Freilich war die Geistergeschichte schon wieder zu Ende, ehe der Geist endlich seinen Auftritt hatte. Denn Glatzkopf-Li sagte aus, er habe Lin Hongs Schamhaar letztlich doch nicht zu sehen bekommen, weil Dichter Zhao ihn im entscheidenden Moment am Schlafittchen kriegte. »Es fehlte nur ein ganz kleines Stückchen ... «, schloss er bedauernd. Als er seinen Bericht beendet hatte, kam von den fünf Polizisten zunächst keine Reaktion. Nach wie vor hingen sie wie gebannt an seinen Lippen. Erst als die sich nicht mehr bewegten, ging ihnen auf, dass auch dieser Geschichte die Pointe fehlte. Die Gesichter der fünf verrieten ihre Enttäuschung: Sie erinnerten an hungrige Esser, die mit ansehen müssen, wie die gebratene Ente ihnen vom Teller fliegt. Einer der Vopos machte seinem Ärger Luft: »Konnte dieser Zhao nicht hübsch zu Hause bleiben und Gedichte schreiben? Wieso muss der Kerl immerzu aufs Klo rennen?« Als die Polizisten das Gefühl hatten, sie würden GlatzkopfLi keine weiteren Details entlocken, beschlossen sie, ihn von seiner Mutter abholen zu lassen. Der Junge hatte ihnen ge16
sagt, sie heiße Li Lan und arbeite in der Seidenfabrik. Einer der Vopos ging auf die Straße hinaus und rief, ob jemand von den Passanten eine gewisse Li Lan kenne, die Li Lan aus der Seidenfabrik. Nachdem er seine Frage fünf oder sechs Minuten lang wiederholt hatte, geriet er endlich an jemanden, der auf dem Weg zur Seidenfabrik war. Li Lan möge zum Revier kommen und ihren ungeratenen Sohn abholen, ließ ihn der Polizist ausrichten. Den ganzen Nachmittag musste Glatzkopf-Li auf dem Revier ausharren wie eine Fundsache, die darauf wartet, dass sie vom Besitzer abgeholt wird. Während er auf der Besucherbank saß, beobachtete er das durch das Portal einfallende Sonnenlicht. Zuerst war die Lichtfläche auf dem Zementestrich so groß wie das Türblatt, aber dann wurde sie immer schmaler, bis sie nur noch so breit wie ein Bambusrohr war und schließlich ganz verschwand. Er ahnte nicht, dass er inzwischen eine Berühmtheit war. Jeder, der am Polizeirevier vorbeikam, ging schnell mal hinein, um einen Blick auf diesen Kerl zu werfen, der da in der öffentlichen Toilette Frauenärsche ausspionierte. Wenn gerade kein Neugieriger anwesend war, kam der eine oder andere Vopo, der die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben hatte, zu Glatzkopf-Li hinüber, schlug auf den Tisch und schrie ihn an: »Hast du wirklich nichts mehr zu gestehen? Überleg's dir gut!« Glatzkopf-Lis Mutter erschien erst nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Revier. Sie hatte extra so lange gewartet, weil sie Angst hatte, die Leute auf der Straße würden mit Fingern auf sie zeigen. Fünfzehn Jahre zuvor hatte schon Glatzkopf17
Lis Vater auf dieselbe unsägliche Art Schande über sie gebracht, und jetzt goss auch noch der Sohn Öl ins Feuer! Als sie am Abend, mit Kopftuch und Mundschutz maskiert, so unauffällig wie möglich das Polizeirevier betrat und ihren Sohn dort sitzen sah, wandte sie die Augen vor Schreck gleich wieder ab. Dann stand sie völlig verschüchtert vor dem Vopo, der eigentlich schon längst Dienstschluss hatte, und sagte ihm mit zitternder Stimme, wer sie sei. Der Polizist schnauzte sie wutentbrannt an, was sie sich eigentlich dabei gedacht habe, so spät zu erscheinen. »Es ist acht Uhr, verdammt noch mal! Ich hab noch keinen einzigen Bissen im Bauch! Und ich wollte ins Kino gehen! Da stürz ich mich ins Getümmel an der Kasse, schiebe, stoße, trete, schimpfe, bloß um dieses Scheißticket zu ergattern - und jetzt? Jetzt könnte ich ein Flugzeug chartern und würde es trotzdem nur noch zum Abspann schaffen. >Auf Wiedersehen in Ihrem Filmtheater!< - Scheiße auch!« Glatzkopf-Lis bedauernswerte Mutter ließ diese Schimpfkanonade geduldig über sich ergehen und nickte zu jedem einzelnen Vorwurf des tobenden Vopos, bis der am Ende schrie: »Verdammt noch mal, hören Sie endlich auf zu nicken! Machen Sie, dass Sie fortkommen! Ich will hier zusperren.« Als Glatzkopf-Li mit seiner Mutter auf die Straße trat, huschte sie mit gesenktem Kopf an den Rand des Fußweges, wo das Licht der Straßenlaternen nicht hinkam, während er selbst großspurig die Arme schwenkend hinterherging, als wäre überhaupt nichts passiert. Man hätte meinen können, nicht er habe in der Toilette gespannt, sondern seine Mutter. Zu Hause angelangt, verschwand sie ohne ein Wort in ihrem 18
Zimmer. Auch nachdem sie die Tür geschlossen hatte, kam von drinnen kein Laut. Mitten in der Nacht hatte GlatzkopfLi im Schlaf das unbestimmte Gefühl, sie stehe vor seinem Bett und zöge seine heruntergerutschte Decke zurecht, wie sie es für gewöhnlich tat. Mehrere Tage lang sprach Li Lan kein Wort mit ihrem Sohn. An einem regnerischen Abend brach sie endlich ihr Schweigen. »Wie der Vater, so der Sohn!«, sagte sie unter Tränen. Im Dunkel hinter der funzeligen Lampe sitzend, erzählte sie Glatzkopf-Li mit zu der düsteren Beleuchtung passender Grabesstimme, wie sein Vater bei dem Versuch, Frauenhintern auszuspionieren, ertrunken war. Wie sie zuerst gedacht habe, sie müsse sich aufhängen, weil sie den Leuten nie wieder ins Gesicht sehen könne, und wie sie es dann wegen ihres weinenden Wickelkindes doch nicht getan habe. Hätte sie damals gewusst, sagte sie, dass er auch so ein Ferkel sein würde, wäre der Tod wirklich besser gewesen. Nachdem Glatzkopf-Li wegen der Klo-Affäre in Verruf geraten war, kannte jeder einzelne Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen diesen Vierzehnjährigen. Junge Frauen, die ihm auf der Straße begegneten, wichen ihm aus, ebenso auch kleine Mädchen und alte Frauen. Das erboste ihn, schließlich hatte er die Frauenärsche nicht einmal zwei Minuten lang angeschaut, und dennoch wurde er jetzt wie ein Vergewaltiger behandelt! Andererseits hatte die Sache doch auch ihr Gutes: Er hatte Lin Hongs Hintern gesehen, den Hintern der schönsten unter den Schönen in unserer kleinen Stadt Liuzhen! Jeder Mann, der Lin Hong sah, ob alt oder jung oder noch in den 19
Entwicklungsjahren, verschlang sie mit den Augen, während ihm das Wasser im Munde zusammenlief (und manch einem lief vor lauter Erregung sogar das Blut aus der Nase). Keiner weiß, wie viele Männer sich in wie vielen Wohnungen auf wie vielen Betten mit geschlossenen Augen die eine oder andere Partie ihres schönen Körpers vorstellten und sich dabei einen runterholten. Für all diese armen Teufel war es normalerweise schon das höchste der Gefühle, sie einmal in der Woche zu Gesicht zu bekommen - natürlich nur Kopf, Hals und Hände, im Sommer mit etwas Glück vielleicht zusätzlich die Füße oder die Waden -, während Glatzkopf-Li als Einziger auch ihr Gesäß gesehen hatte. Darum beneideten ihn alle Männer in unserer kleinen Stadt Liuzhen auf das Heftigste. Wahrscheinlich habe er sich in seiner vorigen Existenz außergewöhnliche Verdienste erworben, um jetzt so viel Glück in der Liebe zu haben, meinten sie. Mochten die Frauen ihn auch meiden wie die Pest, für die Männer war Glatzkopf-Li eine Art Lokalmatador, bei dessen Anblick sie vielsagend zu grinsen begannen und den sie freundschaftlich um die Schulter fassten und unter irgendeinem Vorwand ins Gespräch zogen. Wenn sie sich vergewissert hatten, dass niemand zuhörte, fragten sie flüsternd: »Komm schon! Erzähl, was du gesehen hast!« Glatzkopf-Li pflegte dann absichtlich laut zu trompeten: »Na, ihren Arsch habe ich gesehen.« Woraufhin der Frager ihn erschrocken in den Arm knuffte »Nicht so laut, verdammt noch mal!« -, sich nach allen Seiten umsah und schließlich, wenn die Luft rein war, flüsternd fortfuhr: »Also, Lin Hongs Arsch - wie sieht er aus?« 20
Glatzkopf-Lis Ruf mochte ruiniert sein, dennoch kannte er schon in diesem zarten Alter seinen Marktwert. Er war gewissermaßen wie eine Scheibe Stink-Tofu: übel riechend, aber wohlschmeckend. Vier von den fünf Ärschen, die er gesehen hatte, waren nichts wert, die bekam man an jeder Straßenecke zum Schleuderpreis. Lin Hongs Hintern aber, das war ein Fünf-Sterne-Superarsch, der war nicht mit Gold zu bezahlen! Dass Glatzkopf-Li später zum Super-Multimilliardär unserer kleinen Stadt Liuzhen wurde, verdankte er seiner angeborenen Geschäftstüchtigkeit. Schon mit vierzehn Jahren machte er jetzt seine Geschäfte mit Lin Hongs Hintern, verstand sich sogar aufs Feilschen. Er brauchte bloß das vertrauliche Grinsen der lüsternen Männer zu sehen, die ihn um die Schulter fassten oder ihm auf die Schulter klopften, um zu wissen, was die Glocke geschlagen hatte: Sie wollten ihm das Geheimnis von Lin Hongs Hintern entlocken. Als die fünf Vopos im Revier eben das getan hatten - ein klassischer Fall von vorgeschobenem öffentlichem Interesse zur Erlangung privater Vorteile! -, hatte er ihre Fragen wahrheitsgemäß beantwortet und nicht gewagt, irgendetwas für sich zu behalten. Seither aber verteilte er, das hatte ihn die Erfahrung gelehrt, keine kostenlosen Mahlzeiten mehr, sondern hielt den Mund verschlossen wie eine Flasche, sobald er jenes plumpvertrauliche Grinsen bemerkte. Nicht einmal den Schatten eines Schamhaars gab er preis, lediglich das Wort »Arsch« kam ihm über die Lippen, sodass die Männer, die etwas Näheres über Lin Hongs Hintern zu erfahren gehofft hatten, hinterher genauso klug waren wie zuvor.
21
Jener Schriftsteller Liu zum Beispiel. Der war eigentlich Dreher in der Metallfabrik unserer kleinen Stadt Liuzhen. Sein Faible für die Schriftstellerei und sein flinkes Mundwerk hatten ihn jedoch so sehr in der Achtung des Werkleiters steigen lassen, dass der ihn zum Chef der Einkaufs- und Absatzabteilung gemacht hatte. Schriftsteller Liu hatte bereits eine Freundin, nicht schön, aber auch nicht hässlich. Seitdem er jedoch Abteilungsleiter war und eine Zwei-SeitenErzählung in der hektographierten Zeitschrift des Kreiskulturhauses veröffentlicht hatte, sah er sich selbst als Senkrechtstarter und fand, seine bisherige Freundin passe nicht mehr zu ihm. Das neue Objekt seiner Begierde war Lin Hong. (In dieser Hinsicht waren sich übrigens alle Männer in unserer kleinen Stadt Liuzhen einig im guten Geschmack, egal ob schon verheiratet oder noch Junggeselle.) Die Frau, die Schriftsteller Liu loswerden wollte, gab sich allerdings nicht so schnell geschlagen. Sie war entschlossen, ihren so erfolgreichen Freund nicht aus den Klauen zu lassen. Weinend und schluchzend stellte sie sich vor das Portal des Polizeireviers und verkündete aller Welt, sie sei bereits von Schriftsteller Liu beschlafen worden. Während ihrer Anklagerede hatte sie die Finger dramatisch gespreizt, sodass die Menschen in unserer kleinen Stadt Liuzhen annehmen mussten, es handele sich um zehn Beischläfe. Am Ende stellte sich jedoch zur allgemeinen Überraschung heraus, dass es in Wirklichkeit hundert waren. Nach diesem Vorfall wagte es der Schriftsteller nicht mehr, ihr den Laufpass zu geben. Damals war es ja so, dass ein Mann und eine Frau, die miteinander geschlafen hatten, heiraten mussten. Und so hatte der Direktor der Metallfabrik 22
Schriftsteller Liu einen gewaltigen Rüffel gegeben und ihn vor die Alternative gestellt, entweder seine Freundin zu ehelichen - und Leiter der Absatzabteilung zu bleiben - oder aber sich von ihr zu trennen. In letzterem Fall könne er vielleicht in seiner nächsten Existenz wieder mit einem Leitungsposten rechnen, in der jetzigen jedoch würde er sich damit begnügen müssen, den Eingang zu bewachen und die Toiletten zu reinigen. Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile entschied sich Schriftsteller Liu für die berufliche Karriere und leistete seiner Freundin Abbitte. Von da an waren beide wieder ein Herz und eine Seele, bummelten Arm in Arm durch die Geschäfte, gingen zusammen ins Kino und bestellten in Vorbereitung der Eheschließung sogar schon Möbel beim Tischler. Dichter Zhao nahm großen Anteil an dem schweren Los, das dem Schriftsteller beschieden war. Es sei wirklich großes Pech, dass dieser sein Schicksal in die Hände eines derart schamlosen Weibsbildes habe legen müssen und wegen einer vorübergehenden Gefühlswallung sein ganzes ferneres Leben zerstört habe. Bedauernd schloss er: »Ja ja, so ist es: Einmal gefehlt, tausendmal bereut!« Seine Gesprächspartner waren damit jedoch nicht einverstanden. »Was heißt hier, einmal gefehlt? Hundertmal haben sie miteinander geschlafen!« Dichter Zhao schwieg einen Moment, dann versuchte er es mit einem anderen geflügelten Wort: »Vor schönen Frauen werden selbst starke Helden schwach!« Aber auch das stieß auf Ablehnung. »Der soll ein Held sein? Und sie eine schöne Frau?!« Der Dichter nickte und musste im Stillen zugeben, die Volksmassen haben tatsächlich scharfe Augen. Was konnte 23
man von diesem Schriftsteller Liu schon erwarten, einem Mann, der selbst vor einer gar nicht so schönen Frau schwach wurde? Er hörte also auf, ihn zu bemitleiden. Wenn die Rede auf Liu kam, winkte er nur noch ab und sagte verächtlich: »Ach, der! Aus dem wird doch sowieso nichts.« Der solchermaßen Geschmähte bereitete zwar - wie erwähnt - seine Hochzeit vor, aber ohne rechte Begeisterung. Insgeheim verzehrte er sich vor Sehnsucht nach der schönen Lin Hong und stellte sie sich vor dem Einschlafen in der Hoffnung auf ein geträumtes, wenn auch leider nicht reales Liebeserlebnis in allen Einzelheiten so intensiv vor, als ob er Qigong-Übungen machte. Zwar hatte er, gemeinsam mit Dichter Zhao, Glatzkopf-Li durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen getrieben, doch sah er ihn als Hüter des Geheimnisses von Lin Hongs Hintern jetzt mit ganz anderen Augen. Dieses Geheimnis wollte er unbedingt ebenfalls ergründen, um die Wirklichkeitsnähe seiner vorgestellten beziehungsweise geträumten Vereinigung mit der Angebeteten zu erhöhen. Deshalb begrüßte er Glatzkopf-Li jedes Mal, wenn er ihn traf, wie einen alten Freund, nur um durch dessen stereotypes Ich-habenur-ihren-Arsch-Gesehen ein ums andere Mal enttäuscht zu werden. Eines Tages tätschelte er ihn freundschaftlich wie ein älterer Bruder am Hinterkopf und sagte: »Kannst du nicht mal was anderes erzählen?« »Was willst du denn hören?« »>Arsch< - das ist so abstrakt. Geht's vielleicht ein bisschen konkreter?« Laut und vernehmlich fragte Glatzkopf-Li zurück: »Was soll an einem Arsch konkret sein?« 24
»Pst! Schrei doch nicht so!« Schriftsteller Liu vergewisserte sich, dass niemand lauschte, und fuhr dann, seine Worte durch entsprechende Gesten untermalend, fort: »Ärsche gibt's ja kleine und große, dicke und dünne ... « Glatzkopf-Li, die in der Toilette aufgereihten fünf Hinterteile vor seinem geistigen Auge, antwortete lebhaft, als hätte er soeben eine freudige Entdeckung gemacht: »Genau! Es gibt kleine und große, dicke und dünne.« Dann schwieg er wieder. In der Annahme, er müsse ihm auf die Sprünge helfen, fuhr Schriftsteller Liu geduldig fort: »Ein Arsch ist wie ein Gesicht, jeder Mensch hat einen anderen. Der eine hat zum Beispiel ein Muttermal im Gesicht, der andere keins. Also - wie ist es bei Lin Hong?« Glatzkopf-Li dachte angestrengt nach. Dann: »Lin Hong hat kein Muttermal im Gesicht.« »Das weiß ich doch«, sagte der Schriftsteller, »ich habe nicht nach ihrem Gesicht gefragt, sondern nach ihrem Arsch!« So jung er noch war, so gut verstand sich Glatzkopf-Li schon auf ein falsches Lächeln. Flüsternd erkundigte er sich: »Und was habe ich davon, wenn ich es dir sage?« Schriftsteller Liu sah ein, er kam um eine kleine Gratifrkation nicht herum. Für ein Kind wie Glatzkopf-Li, dachte er, reichen ein paar Bonbons. Glatzkopf-Li stopfte die Bonbons in den Mund, der andere musste sich bücken, damit er ihm ins Ohr flüstern konnte, und dann beschrieb er ihm, ganz Unschuldslamm, jenen Kinderpopo, der nicht der Rede wert war. Der Schriftsteller hörte sich das an und flüsterte argwöhnisch: »Das soll Lin Hongs Arsch sein?« 25
»Nein, das war der kleinste von den Ärschen, die ich gesehen habe.« »Du verdammtes Schlitzohr!«, schimpfte Schriftsteller Liu, immer noch im Flüsterton. »Ich habe dich nach Lin Hongs Arsch gefragt!« Kopfschüttelnd erwiderte Glatzkopf-Li: »Über den möchte ich nicht reden.« »Verdammt noch mal, sie ist doch nicht deine Mutter oder Schwester!« Das ließ sich nicht bestreiten, deshalb sagte Glatzkopf-Li: »Du hast recht, sie ist nicht meine Mutter. Auch nicht meine Schwester ... « Dann jedoch schüttelte er erneut den Kopf: »Aber sie ist die Geliebte meiner Träume! Über sie kann ich dir nichts erzählen.« »Welche Träume kannst du kleiner Furzer schon haben!« Schriftsteller Liu wurde immer ungeduldiger. »Was muss ich tun, damit du mir etwas erzählen kannst?« Glatzkopf-Li legte seine Stirn in Falten und dachte nach. Schließlich sagte er: »Wenn du mir eine Schüssel Nudeln spendierst, werde ich mich überwinden.« Nach kurzem Zögern stimmte Schriftsteller Liu zähneknirschend zu: »Na gut.« Glatzkopf-Li lief schon das Wasser im Munde zusammen, aber er beschloss, sich nicht mit dem kleinen Finger zu begnügen, sondern die ganze Hand zu nehmen: »Brühnudeln zu neun Fen die Schüssel mag ich aber nicht! Ich will die mit Fisch und Fleisch und Krabben zu fünfunddreißig. « »Was? Nudeln der drei Köstlichkeiten?«, schrie Liu. »So ein kleiner Furzer und schon so anspruchsvoll! Solche Nudeln kann ich als bekannter Schriftsteller mir kaum leisten und da soll ich dich einladen? Vergiss es!«
26
Glatzkopf-Li pflichtete ihm kopfnickend bei: »Natürlich! Wie könntest du mir Nudeln der drei Köstlichkeiten spendieren, wo du sie dir doch selber nicht gönnst!« »Eben!«, sagte Schriftsteller Liu befriedigt. »Dann also Brühnudeln, ja?« Glatzkopf-Li schluckte seinen Speichel hinunter, beharrte aber mit dem Ausdruck tiefen Bedauerns: »Zu Brühnudeln kann ich mich leider doch nicht überwinden.« Schriftsteller Liu wurde fuchsteufelswild. Zu gern hätte er Glatzkopf-Li eins in die Schnauze gegeben und ihn verdroschen, bis das Blut aus allen sieben Körperöffnungen herausspritzte. Am Ende stimmte er dennoch unter Flüchen und Verwünschungen zu, Glatzkopf-Li eine Schüssel Nudeln der drei Köstlichkeiten zu spendieren. Er sagte: »Also gut, du kriegst deine drei Köstlichkeiten. Aber dann musst du mir auch alles ganz genau erzählen!« Nach Lin Hongs Hintern erkundigte sich auch Schmied Tong, jener Mann, der Glatzkopf-Li damals auf der Straße mit seiner mächtigen Schmiede faust zwei Zähne ausgeschlagen und ihm hundertachtzig Tage Ohrensausen beschert hatte, weil er Tongs fettärschige Gattin ausgespäht hatte. Wenn es von Schriftsteller Liu hieß, er bereite seine Hochzeit ohne rechte Begeisterung vor, so konnte man Ähnliches auch über Schmied Tong sagen: Zwar schlief er jeden Abend in den Armen seiner dicken Ehefrau ein, aber sobald er die Augen zumachte, nahm er nur mehr die anmutige Gestalt von Lin Hong wahr. Anders als Schriftsteller Liu redete Schmied Tong nicht lange um den heißen Brei, denn er war ein Freund klarer Worte. Als er Glatzkopf-Li unterwegs traf, baute er sich in seiner vollen Größe vor ihm auf, beugte sich 27
zu ihm hinunter und fragte: »He, Kleiner! Kennst du mich noch?« Glatzkopf-Li schaute zu ihm auf. »Sie würde ich sogar noch in der Urne erkennen!«, sagte er. Die Miene des Mannes verfinsterte sich. »Soll das heißen, du wünschst mir den Tod an den Hals?«, knurrte er. »Nein! Nein!«, beruhigte Glatzkopf-Li ihn eilig, fürchtete er doch nichts mehr als neuerlichen Kontakt mit jener gewaltigen Pranke. Mit beiden Händen seinen Mund aufreißend, sodass der Schmied hineinschauen konnte, nuschelte er: »Sehen Sie's? Da fehlen zwei Zähne. Haben Sie mir ausgeschlagen!« Dann deutete er auf sein linkes Ohr und sagte: »Und hier summt es immer noch, als ob ein Bienenschwarm drin wäre.« Schmied Tong lachte auf und verkündete, halb an die Umstehenden gewandt: »Na gut, weil du noch ein Kind bist, spendiere ich dir als Wiedergutmachung eine Portion Nudeln.« Sprach's, und marschierte mit Glatzkopf-Li im Schlepptau in Richtung »Volksgasthof«. Der Vorsitzende Mao hat gesagt, auf der Welt gibt es weder grundlose Liebe noch grundlosen Hass - wenn der mich plötzlich zu Nudeln einlädt, will er bestimmt etwas über Lin Hongs Hintern erfahren!, dachte Glatzkopf-Li, während er, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, vergeblich versuchte, mit dem Schmied Schritt zu halten. Schließlich schloss er im Laufschritt zu ihm auf und flüsterte: »Sie spendieren mir jetzt Nudeln, damit ich was über die Ärsche erzähle, stimmt's?«
28
Schmunzelnd nickte der Schmied. »Kluges Kerlchen!«, sagte er anerkennend. »Daheim haben Sie aber doch selber schon einen ... « »Männer«, erwiderte der Schmied, »Männer haben die Schüssel vor der Nase und schielen trotzdem in den Topf, so ist das nun mal!« So großspurig er in den »Volksgasthof« eingezogen war, so kleinlich benahm er sich, nachdem er mit dem Jungen Platz genommen hatte: Gewöhnliche Brühnudeln bestellte er! Aus der Traum von den drei Köstlichkeiten! Glatzkopf-Li hätte vor Enttäuschung um ein Haar aufgestöhnt, blieb aber stumm. Als die Brühnudeln aufgetragen wurden, machte er sich mit seinen Essstäbchen so gierig darüber her, dass ihm der Schweiß ausbrach und die Nase tropfte. Schmied Tong sah zu, wie ihm der Rotz bis zum Mundwinkel lief und von dort geräuschvoll wieder nach oben gezogen wurde, nur um sogleich abermals langsam herunterzurinnen und erneut hochgezogen zu werden. Nachdem sich das mehrmals wiederholt hatte und die Nudeln zur Hälfte aufgegessen waren, ohne dass von Glatzkopf-Li ein Sterbenswörtchen gekommen wäre, wurde er ungeduldig. »Na, komm schon!«, rief er. »Du kannst hier nicht bloß fressen. Sag endlich mal was!« Glatzkopf-Li zog den Rotz hoch, wischte sich den Schweiß von der Stirn, sah sich nach allen Seiten um und fing mit leiser Stimme zu reden an. Aber nicht über Lin Hongs wohlproportionierten Hintern, sondern über einen Fettarsch. Als er fertig war, musterte Schmied Tong ihn misstrauisch.
29
»Kommt mir beinahe vor wie der Arsch meiner Frau«, murmelte er argwöhnisch. »Das war der Arsch Ihrer Frau!«, bestätigte Glatzkopf-Li. Schmied Tong brauste in jähem Zorn auf und holte zu einer Ohrfeige aus. »Verdammter Mistkerl!«, schrie er. »Ich schlag dich zu Brei!« Blitzschnell sprang Glatzkopf-Li auf, um der Ohrfeige auszuweichen. Inzwischen waren die Köpfe aller Gäste den beiden zugewandt, sodass Schmied Tong, das Gesicht vor Wut bläulich verfärbt, gezwungen war, sich zu beherrschen. Als der Junge ihm wieder gegenübersaß, fuhr er ihn an: »Los! Erzähl von Lin Hongs ... « Glatzkopf-Li sah sich um und gönnte sich, als er feststellte, dass die anderen Gäste des Restaurants immer noch herschauten, ein sonniges Lachen. Dann flüsterte er: »Jedes Ding hat seinen Preis - eine Schüssel Brühnudeln, das ist der Preis für den Hintern Ihrer Frau. Lin Hongs Arsch kostet eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten!« Vor Zorn brachte der Schmied kein Wort heraus. Der Anblick von Glatzkopf-Lis Unschuldsmiene war zu viel für ihn er riss ihm die Schüssel mit den Brühnudeln, die er gerade zum Munde führte, aus der Hand und zischte wütend: »Stopp! Die esse ich jetzt selbst!« Glatzkopf-Li drehte sich zu den verständnislos staunenden Zuschauern um. Eben noch war es der Junge gewesen, der geräuschvoll seine Nudeln geschlürft hatte, und jetzt plötzlich der Schmied? ... Glatzkopf-Li erklärte es ihnen schmunzelnd: »Es ist so: Er hat mir eine halbe Portion Nudeln spendiert, und jetzt revanchiere ich mich. Auch mit einer halben Schüssel!« 30
Hinfort gab er von vornherein seinen Preis an: eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten für das Geheimnis von Lin Hongs Hintern. Während der sechs Monate, in denen er unter Ohrensausen litt, kam er insgesamt sechsundfünfzigmal in den Genuss dieser Delikatesse. Bis zu seinem fünfzehnten Geburtstag mauserte sich der blasse Hänfling auf diese Weise zu einem vor Gesundheit strotzenden Kraftprotz. II Ende gut, alles gut!, dachte der Junge bei sich. Jetzt habe ich in einem halben Jahr so viele Nudeln der drei Köstlichkeiten gegessen, wie ich sie sonst vielleicht in meinem ganzen Leben nicht bekommen hätte. Zu jener Zeit konnte er noch nicht wissen, dass er später einmal ein Multimillionär werden sollte, dem die erlesensten Delikatessen aus aller Herren Länder schon sehr bald zum Halse heraushängen würden. Damals war er noch ein armer Schlucker, für den eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten ein himmlischer Hochgenuss war. Wie im Paradies kam er sich vor, wenn er dieses Gericht genoss - sechsundfünfzig Besuche im Paradies in einem halben Jahr! Freilich ging es nicht immer ohne Komplikationen ab, im Gegenteil: Er musste jedes Mal aufs Neue kämpfen, denn die Interessenten für das Geheimnis von Lin Hongs Hintern wollten ihn unweigerlich zunächst mit gewöhnlichen Brühnudeln abspeisen. Glatzkopf-Li ließ sich darauf jedoch gar nicht erst ein, sondern feilschte geduldig, bis ihm seine drei Köstlichkeiten sicher waren, sodass man ihm widerwillig Respekt zu zollen begann. Dieses kleine Schlitzohr, so mein-
31
ten seine Klienten, der ist ja mit fünfzehn schon durchtriebener als mancher alte Ganove mit fünfzig! Schräg gegenüber der Werkstatt von Schmied Tong war eine Schleiferei, die von Vater und Sohn betrieben wurde Scherenschleifer Guan der Ältere und Scherenschleifer Guan der Jüngere, wie man sie nannte. Guan der Jüngere hatte mit vierzehn das Handwerk bei seinem Vater erlernt. Inzwischen zwanzig Jahre alt, unverheiratet und noch ohne Freundin, interessierte auch er sich schon lange für Lin Hang und wollte daher dem Geheimnis ihres Hinterns auf den Grund gehen, aber nur für eine Schüssel Brühnudeln. Als er Glatzkopf-Li kommen sah, winkte er ihn mit seiner vom Schleifmittel weiß verfärbten Hand zu sich heran. Die guten Zeiten würden bald vorbei sein, warnte er ihn, denn Lin Hang würde sich über kurz oder lang einen Freund zulegen, und dann würde kein Mensch mehr ihm - Glatzkopf-Li - Nudeln spendieren. Er solle deshalb diese letzte Gelegenheit beim Schopf packen und sich mit den Brühnudeln begnügen, die er ihm jetzt anbiete, denn später würde das, wie gesagt, niemand mehr tun - nicht einmal das Nudelkochwasser würde man ihm bieten! Glatzkopf-Li hörte sich das alles an, verstand aber nicht recht, was der andere meinte. »Warum?«, fragte er. »Denk doch mal nach! Wenn Lin Hong einen Freund hat, dann weiß der doch viel besser Bescheid als du! Da erkundigen sich alle bei dem, und du bist abgeschrieben.« Das leuchtete Glatzkopf-Li zunächst ein. Als er es sich aber genauer überlegte, entdeckte er einen Widerspruch in den Worten von Scherenschleifer Guan dem Jüngeren. Kichernd 32
entgegnete er: »Glaubst du im Ernst, dass Lin Hongs Freund über so was reden würde?« Er warf den Kopf in den Nacken, verengte die Augen zu zwei schmalen Schlitzen und erklärte im Brustton der Überzeugung: »Eines Tages wird nämlich Lin Hong meine Freundin sein. Und ich werde es dann sein, der nichts sagt!« Abschließend trumpfte er auf: »Du solltest also die Gelegenheit beim Schopfe packen! Mir Nudeln der drei Köstlichkeiten spendieren, solange ich noch nicht ihr Freund bin!« So unnachgiebig Glatzkopf-Li auf seinen drei Köstlichkeiten beharrte, so rückhaltlos gab er nach gehabtem Genuss sein gesamtes Wissen über Lin Hongs Hintern preis - er war nämlich sehr auf seinen guten Ruf als fairer Geschäftspartner bedacht. Deshalb riss auch der Strom seiner Kunden nie ab, und er konnte die Nachfrage kaum befriedigen. Manche kamen sogar noch ein zweites - und einer, der wohl etwas vergesslich war, ein drittes - Mal zu ihm. Alle hatten den gleichen Gesichtsausdruck, während sie Glatzkopf-Lis Beschreibung von Lin Hongs Hintern lauschten: Mit halb geöffnetem Mund hörten sie wie gebannt zu, ohne zu merken, dass sie vor Erregung sabberten. Zum Schluss kam unweigerlich der traumverlorene Seufzer: »Irgendwas hat da also doch nicht gestimmt ... « Dank Glatzkopf-Lis detaillierter Beschreibung wussten sie jetzt, dass Lin Hongs Hintern nicht so aussah, wie sie sich ihn abends beim Masturbieren vorgestellt hatten. Auch der Dichterfürst unserer kleinen Stadt Liuzhen suchte Glatzkopf-Li auf; eine von den sechsundfünfzig Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten stammte von Dichter Zhao. Der Junge aß sie mit besonderem Genuss und versicherte 33
dem Dichter, die von ihm spendierten Nudeln seien irgendwie noch schmackhafter als die von anderen Kunden, er wisse selber nicht, wieso. Voller Stolz schlug er sich an die Brust und verkündete: »In ganz China gibt es nur einen, der mehr Nudeln der drei Köstlichkeiten gegessen hat als ich!« »Und wer soll das sein?«, fragte Dichter Zhao. »Der Vorsitzende Mao!«, antwortete Glatzkopf-Li mit frommem Augenaufschlag. »Der kann natürlich jederzeit essen, worauf er Appetit hat. Aber sonst kann sich keiner mit mir vergleichen!« Auch Dichter Zhao hielt öfter in jenem Toilettenhaus Ausschau nach Frauenhintern - man könnte direkt sagen, er war dort Stammkunde -, hatte jedoch in einem ganzen Jahr Lin Hongs Hinterteil nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, wohingegen dieser verflixte Glatzkopf-Li in seinem, des Dichters, ureigenen Beritt nur einmal vorbeigeschaut hatte und sogleich fündig geworden war. Die Vorfahren pflanzen den Baum, und die Nachkommen genießen den kühlen Schatten, dachte Dichter Zhao bitter. Wäre Glatzkopf-Li ihm an jenem Tag nicht zuvorgekommen, hätte zweifellos er selbst als Erster Lin Hongs Hintern zu sehen bekommen. Der Kerl müsse mit höheren Mächten im Bunde stehen, dass er jetzt solch ein Glück hatte. An dem Tag, da er Glatzkopf-Li erwischte, hatte er eigentlich selbst auf die Pirsch gehen wollen, doch sein unverhoffter Fang hatte ihn so erregt, dass er sich überhaupt nicht mehr für Frauenhintern, sondern nur noch für Glatzkopf-Li interessiert hatte und mit diesem dann stundenlang durch die Stadt marschiert war.
34
Nun aber, da so viele andere das Geheimnis von Lin Hongs Hintern ergründet hatten, wollte auch Dichter Zhao nicht zurückstehen - undenkbar, dass gerade er sich Glatzkopf-Lis Wissen entgehen ließe! Und natürlich würde er ihm keine Nudeln der drei Köstlichkeiten spendieren - oh nein, nicht einmal einfache Brühnudeln! Zwar hatte er ihn Spießruten laufen lassen und ihn in Verruf gebracht, aber dafür verdankte der Kerl allein ihm, dem Dichter Zhao, mehr als fünfzig Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten und seine strotzende Gesundheit, da konnte man wohl erwarten, dass er seinen Wohltäter nicht vergessen würde! Dichter Zhao nahm also die hektographierte Zeitschrift des Kreiskulturhauses zur Hand, schlug sie auf der Seite mit seinem Gedicht auf, bemühte sich, wie ein Verschnitt von Li Bo und Du Fu auszusehen, und wedelte Glatzkopf-Li sein Werk hin. Doch als der danach greifen wollte, schlug er ihm blitzschnell die Hand zur Seite, als ob der andere versucht hätte, ihm sein Portemonnaie zu entreißen. Berühren sollte Glatzkopf-Li das kostbare Blatt nicht - seine Hände seien viel zu schmutzig, sagte der Dichter. Nur lesen dürfe er das Gedicht. Das tat Glatzkopf-Li jedoch nicht. Stattdessen zählte er die Anzahl der Schriftzeichen. »Zu wenig!«, befand er. »Nur vier Zeilen zu sieben Schriftzeichen - gerade mal achtundzwanzig.« Der Dichter ärgerte sich sehr. »Dafür ist aber jedes Wort kostbar wie eine Perle!«, entgegnete er. Glatzkopf-Li zeigte Verständnis dafür, dass Dichter Zhao sich an seinem Werk berauschte. »Ja ja, bei literarischen Werken gefallen einem stets die eigenen, bei Ehefrauen immer die der anderen«, bemerkte er altklug. 35
»Davon verstehst du kleiner Furzer doch überhaupt nichts!«, entgegnete der Dichter verächtlich. Dann kam er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen: Er schreibe gerade eine Erzählung über einen Burschen, der dabei erwischt wird, wie er in einer Toilette Frauenärsche ausspioniert, und da gebe es ein paar Passagen über die Psyche des Helden, bei denen er auf seine Glatzkopf-Lis - Hilfe angewiesen sei. »Was sind denn das für Passagen?«, erkundigte sich Glatzkopf-Li. »Nun, zum Beispiel wie ihm zumute ist, wenn er einen Frauenarsch mit eigenen Augen sieht. Nehmen wir mal Lin Hongs-« »Ach so!«, unterbrach ihn Glatzkopf-Li. »Du willst wissen, wie Lin Hongs Hintern aussieht! Macht einmal Nudeln der drei Köstlichkeiten!« »Unsinn!«, erwiderte der Dichter entrüstet. »Wofür hältst du mich eigentlich? Lass dir gesagt sein: Ich bin nicht Schriftsteller Liu, ich bin Dichter Zhao! Ich habe schon vor geraumer Zeit mein Leben ganz der heiligen Kunst geweiht! Ich habe geschworen, falls ich nicht in einer von den großen Literaturzeitschriften etwas veröffentliche, werde ich mir erstens keine Freundin zulegen, zweitens nicht heiraten und drittens keine Kinder zeugen.« Glatzkopf-Li hatte das undeutliche Gefühl, irgendetwas stimme nicht an den Worten des Dichters, und bat ihn, sie zu wiederholen, was dieser auch mit noch gesteigertem Ausdruck tat - in dem Glauben, der Junge bitte ihn vor lauter Ergriffenheit darum. Jetzt erkannte Glatzkopf-Li den Widerspruch. Voller Genugtuung sagte er: »Da stimmt was nicht: Wie kannst du überhaupt heiraten und Kinder zeugen, wenn 36
du dir keine Freundin zulegst? Dein erster Schwur reicht also völlig aus, die beiden anderen sind überflüssig.« Dichter Zhao war so wütend, dass er für einen Moment kein Wort herausbrachte. Nach ein paar vergeblichen Anläufen stieß er hervor: »Du verstehst nichts von Literatur! So etwas diskutiere ich gar nicht mit dir! So, und jetzt wieder zu deiner Psyche-« Glatzkopf-Li unterbrach ihn: »Erst eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten!« Dichter Zhao dachte im Stillen: Schlimm, was für schamlose Menschen es gibt! Mit übermenschlicher Anstrengung schluckte er jedoch seinen Groll hinunter und redete Glatzkopf-Li honigsüß lächelnd zu: »Überleg doch mal: Du bist die Hauptfigur in meiner Erzählung, und wenn ich damit berühmt geworden bin, wirst auch du berühmt, stimmt's?« Er vergewisserte sich, dass der Junge ihm zuhörte, und fuhr fort: »Ja, und dann bist du mir Dank schuldig, oder wie sehe ich das?« Glatzkopf-Li lachte etwas gekünstelt. »Du stellst mich als Unhold dar, und ich soll dir auch noch dankbar sein?!« Dichter Zhao erschrak. So ein altkluger Bengel! Kein Wunder, dass die Leute sagten, dieser kleine Rotzbengel sei mit seinen fünfzehn Jahren durchtriebener als so mancher alte Ganove mit fünfzig! Mit einem gequälten Lächeln entgegnete er: »Am Schluss bekehrt sich der Bursche aber zum Besseren ... « Glatzkopf-Li interessierte sich überhaupt nicht für die Erzählung.
37
Er reckte seinen Finger hoch und unterbrach den Dichter brüsk: »Meine Psyche oder Lin Hongs Arsch, beides macht einmal Nudeln der drei Köstlichkeiten!« »Also gut! Der Klügere gibt nach«, überwand sich Dichter Zhao seufzend. Als Glatzkopf-Li mit dem Dichter im »Volksgasthof« saß und auf dessen Rechnung schmauste, begann er, seine Gefühle bei der Arschbeschau zu schildern. Am ganzen Körper gezittert habe er damals, sagte er. Dichter Zhao hakte ein: »Das war das Physische. Und wie ging es dir psychisch?« »Innerlich habe ich genauso gezittert.« Diese Formulierung gefiel dem Dichter. Schnell notierte er sie in seinem Büchlein. Dann brachte er die Rede wieder auf Lin Hongs Hintern. Der vom Nudelessen erhitzte GlatzkopfLi wischte sich den Schweiß von der Stirn und den Rotz von der Nase, dachte lange nach und verkündete schließlich: »Dabei habe ich nicht gezittert.« Der Dichter wunderte sich: »Wieso denn nicht?« »Es war eben so! Ich war so hingerissen von Lin Hongs Arsch. Habe gar nichts gefühlt. Da war nur dieser Hintern, den wollte ich noch länger sehen, noch deutlicher. Ich war blind und taub für alles andere, sonst hätte ich ja bemerkt, wie du reinkamst.« »Ich verstehe!«, rief Dichter Zhao mit glitzernden Augen. »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold! Manchmal ist Schweigen beredter als Worte - das ist dann Kunst von letzter Vollendung!«
38
Anschließend beschrieb Glatzkopf-Li Lin Hongs straffe Haut und das sich darunter schwach abzeichnende Steißbein. Dichter Zhao begann, heftig zu schnaufen. Als der Junge erzählte, wie er sich noch tiefer hinabließ, um die Schamhaare und den Ort, wo sie entsprießen, in Augenschein zu nehmen, war die Miene des Dichters so hingerissen, als lauschte er einer spannenden Geschichte, genauso, wie Glatzkopf-Li es auch bei den Volkspolizisten erlebt hatte. Und wie alle anderen fieberte auch er der Pointe entgegen, nur um feststellen zu müssen, dass Glatzkopf-Li kurz davor in Schweigen verfiel. »Und dann?«, fragte er aufgeregt. »Da war kein dann«, antwortete Glatzkopf-Li wütend. »Wieso denn nicht?«, fasste Dichter Zhao nach, gepackt von dem eben Gehörten. Glatzkopf-Li haute auf den Tisch. »Weil irgendein verdammter Idiot mich im entscheidenden Moment rausgezogen hat!« Trübselig schüttelte der Dichter den Kopf. »Wäre ich Dussel doch bloß zehn Minuten später gekommen!«, seufzte er. »Zehn Minuten?«, zischte Glatzkopf-Li. »Zehn Sekunden hätten mir gereicht!«
III Glatzkopf-Lis eigentlicher Name war Li Guang. Seinen Spitznamen bekam er schon als Kleinkind, das gerade erst laufen lernte. Seine Mutter wollte nämlich Geld sparen und ließ den Jungen jedes Mal kahlscheren, damit sie nicht so oft mit ihm zum Frisör zu gehen brauchte. Jeder nannte ihn 39
Glatzkopf-Li, Kinder ebenso wie Erwachsene, sogar seine eigene Mutter. Wenn sie ihn bei seinem Namen Li Guang rief, rutschte ihr manchmal unbewusst ein zusätzliches »tou« heraus, sodass aus »Guang« - was Glanz bedeutet - »Guangtou« wurde, glänzender Kopf, also Glatzkopf. Am Ende blieb auch sie selbst schließlich ganz bei diesem Namen. Glatzkopf-Li nannten die Leute den Jungen sogar dann, wenn sein Schopf einmal strubblig wie ein Heuhaufen war. Als Erwachsener ließ er sich daher kurzerhand eine richtige Glatze schneiden, denn Glatzkopf-Li würde man ihn ohnehin nennen, egal ob mit Haaren oder ohne. Damals noch nicht der reichste Mann in unserer kleinen Stadt Liuzhen, sondern ein armer Schlucker, machte er die Erfahrung, dass die Pflege seiner spiegelnden Glatze ihn doppelt so teuer zu stehen kam wie andere ihre Haarfrisur. Richtig arm sein hat auch seinen Preis!, schwadronierte er überall herum. Während sein Bruder Song Gang nur einmal im Monat zum Frisör gehe, müsse er sich mindestens zweimal den Schädel blank schaben lassen, damit er seidig schimmere und heller glänze als das Rasiermesser selbst, denn nur so sei er der echte Glatzkopf-Li und trüge seinen Namen zu Recht. Glatzkopf-Lis Mutter Li Lan segnete das Zeitliche, als ihr Sohn fünfzehn Jahre alt war. Dieser sagte von ihr, seine Mutter sei besonders auf ihre Ehre bedacht gewesen, wohingegen er selbst, wie sein Vater, überhaupt kein Schamgefühl habe. Einen Finger hochreckend, erklärte er, Frauen, deren Ehemann und Sohn beide Mörder waren, gebe es vielleicht noch mehr, eine Frau, deren Ehemann und Sohn beide dabei ertappt wurden, wie sie auf der Toilette Frauenärsche ausspähten - die gebe es wahrscheinlich nur einmal: seine Mutter. 40
Zu jener Zeit spionierten viele Männer heimlich Frauen auf der Toilette hinterher, ohne dass ihnen irgendetwas passierte. Ausgerechnet Glatzkopf-Li wurde dabei ertappt und musste Spießruten laufen, ausgerechnet sein Vater fiel in die Jauchegrube und ertrank! Der Junge hatte das Gefühl, sein Vater sei der größte Pechvogel der Welt: Für einen Blick auf einen Frauenhintern sein Leben zu verlieren, das war ein ausgesprochenes Verlustgeschäft, gegen das sich der sprichwörtliche Handel Melonen gegen Sesamkörner geradezu rentabel ausnahm. Er selbst aber - Glatzkopf-Li - sei der zweitgrößte Pechvogel, denn er habe sich auf ebendiesen Tausch Melonen gegen Sesam eingelassen. Ein Glück nur, dass er sein Kapital, sprich: sein Leben, dabei nicht auch noch eingebüßt und dass er später aus einem Verlustgeschäft sogar noch einen Profit in Gestalt von sechsundfünfzig Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten geschlagen hatte. Wie heißt es so schön? Solange der Wald steht, gibt's Holz zum Heizen! Für Glatzkopf-Lis Mutter allerdings gab es weder Wald noch Holz. Alles Pech, von dem ihr Mann und ihr Sohn verfolgt wurden, sammelte sich letztlich bei der schuldlosen Li Lan. Auf diese Weise war in Wahrheit sie der »größte Pechvogel der Welt«. Wie viele Frauenhintern der Vater zu Gesicht bekommen hatte, wusste Glatzkopf-Li natürlich nicht. Seine eigene Erfahrung sagte ihm jedoch, dass der Vater damals buchstäblich zu sehr in die Tiefe gegangen war. Um möglichst deutlich zu sehen, hatte er sich gewiss immer weiter hinabgelassen, sodass die Füße sich schließlich vom Boden lösten und sein ganzes Gewicht auf den Händen lastete, mit denen er sich am Rand des Sitzlochs festhielt - der wiederum von den 41
unzähligen Ärschen, die daraufgesessen hatten, glatt und schlüpfrig war. Was folgte, musste sich ungefähr so abgespielt haben: Als der arme Teufel die erträumten Schamhaare wirklich und wahrhaftig zu Gesicht bekam, machte er Augen so groß wie Vogeleier. Und gewiss tränten und juckten sie ihm von dem beißenden Gestank der Jauchegrube, sodass er unentwegt blinzeln musste. Die um den Sitzlochrand gekrallten Hände wurden vor Erregung und Anstrengung nass vor Schweiß. Just in diesem Moment stürzte ein ein Meter fünfundachtzig großer Mann, im Laufen schon an seinem Hosenschlitz nestelnd, in höchster Eile in das Männerklo. Als er die aus dem Sitzloch stakenden, scheinbar herrenlosen Beine erblickte, schrie er vor Schreck laut auf, als hätte er einen bösen Geist gesehen. Glatzkopf-Lis selbstvergessen genießender Vater erschrak darüber seinerseits buchstäblich zu Tode, denn er verlor den Halt und stürzte kopfüber in die Jauche. Der zähe Fäkalschlamm verstopfte ihm innerhalb von Sekunden Mund, Nase und Luftröhre, sodass Glatzkopf-Lis Vater bei lebendigem Leibe erstickte. Der Mann, von dem der Schreckenslaut kam, war ein gewisser Song Fanping, Vater des Jungen Song Gang und späterer Stiefvater von Glatzkopf-Li. Als Song Fanping die aus dem Sitzloch stakenden Beine urplötzlich verschwinden sah, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Einige Sekunden verharrte er starr vor Entsetzen. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn. War das ein Dämon gewesen - am helllichten Tag? Da ertönten aus dem Frauenklo nebenan spitze Schreie, denn als Glatzkopf-Lis Vater wie eine Bombe in die Jauche einschlug, spritzte diese hoch und besudelte die Hinterteile 42
der Sitzenden, die erschrocken aufsprangen und dabei den Mann in der Grube entdeckten. Es folgte ein heilloses Durcheinander. Das aufgeregte Gezeter der Frauen lockte zahlreiche Schaulustige an, Männlein wie Weiblein. Eine Frau, die in der Eile vergessen hatte, ihre Hosen hochzuziehen, als sie panisch aus der Toilette stürzte, rannte beim Anblick all der lüstern gaffenden Männer heulend wieder zurück. Andere stellten fest, dass das mitgebrachte Papier nicht ausreichte, um die Spuren der Jaucheexplosion zu tilgen, und baten in ihrer Not die draußen Stehenden um Hilfe, woraufhin drei Männer sofort eine Platane erklommen, einen großen Teil ihres dichten Laubwerks abrissen und dann eins von den neugierig herbeigeeilten Mädchen mit einem Armvoll Blätter zu den mit hochgereckten Ärschen im Klo harrenden Frauen schickten, damit diese sich damit abputzten. In der Männerabteilung auf der anderen Seite des Toilettenhauses spähten mittlerweile die sich dort drängelnden Männer durch die elf Sitzlöcher des Aborts hinunter zu Glatzkopf-Lis Vater in der Jauche und debattierten hitzig, ob er noch lebe oder schon tot sei und wie man ihn wohl heraufhieven könne. Jemand schlug vor, ihn mit Bambusstangen herauszufischen, doch andere widersprachen sogleich: Mit Bambusstangen könne man höchstens eine Henne herausholen, bei einem Menschen würden die sofort brechen. Eine Eisenstange wäre das Richtige, aber woher sollte man eine so lange Stange nehmen? Inzwischen rannte Glatzkopf-Lis späterer Stiefvater, jener Mann na- mens Song Fanping, zu dem Außenbecken der Jauchegrube neben dem Toilettenhaus, über das die Reini43
gungskräfte von Zeit zu Zeit die Fäkalien abpumpten, und sprang kurzentschlossen hinein. Es war diese Tat, die Li Lan dem Mann später besonders hoch anrechnete. Alle anderen standen nur herum und wetzten die Zungen, er aber sprang in die Jauche! Bis zur Brust in dem stinkenden Schlamm stehend, von unzähligen Schmeißfliegen umschwirrt, watete er mit hoch erhobenen Armen los. Die Fliegen, die ihm in Mund, Nase, Augen und Ohren krochen, verscheuchte er, ohne seinen langsamen Vormarsch zu unterbrechen. Mühsam arbeitete er sich in den unter dem Abort befindlichen Teil der Jauchegrube vor, packte sich Glatzkopf-Lis Vater auf die Schultern, watete langsam wieder zurück, legte den Verunglückten am Rand der Grube ab und hievte sich, mit beiden Händen auf der Einfassung abgestützt, aus dem Becken. Die dort versammelten Schaulustigen stoben mit lauten Schreckenslauten auseinander, schaudernd beim Anblick der beiden über und über mit Kot bedeckten, von Maden und Fliegen wimmelnden Männer, die so entsetzlich stanken, dass alle Gaffer sich Mund und Nase zuhielten. Song Fanping kniete sich neben Glatzkopf-Lis Vater und hielt eine Hand erst an dessen Nase, dann auf die Magengrube. Gleich darauf stand er auf und sagte in die Runde: »Er ist tot.« Groß und kräftig wie er war, nahm Song Fanping GlatzkopfLis Vater huckepack und setzte sich mit ihm in Bewegung. Ein von Kot starrender Lebender, der einen nicht minder kotigen Toten trägt - das war eine noch größere Sensation als Jahre später Glatzkopf-Lis unfreiwillige Prozession durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Die Jauche tropfte von den Leibern der beiden Männer und erfüllte zwei Haupt44
verkehrsstraßen und eine Gasse mit beißendem Gestank. Schätzungsweise zweitausend Gaffer säumten die Wegstrecke, mehr als einhundert Personen beklagten den Verlust ihrer Schuhe im Gedränge, ein gutes Dutzend Frauen zeterte, irgendwelche Unholde hätten ihren Hintern betatscht, und mehrere Männer schimpften wie die Rohrspatzen, weil man ihnen die Zigaretten aus der Hosentasche gestohlen hatte. Eskortiert von über zweitausend Menschen, gelangten Glatzkopf-Lis beide Väter - der leibliche, tote, und der zukünftige, lebende - endlich zu dem Haus des Verunglückten. Glatzkopf-Li befand sich zu jener Zeit noch im Leib seiner armen Mutter, die die schlimme Nachricht bereits erfahren hatte und mit ihrem gewaltigen Neunter-Monat-Bauch vor ihrem Haus stand und mit leerem Blick dem unbekannten Mann entgegensah, der sich da mit ihrem bewegungslosen Gatten auf dem Rücken näherte. Der Tote, den der Mann schräg vor ihr auf die Erde legte, kam ihr wie ein Wildfremder vor. So plötzlich hatte der unverhoffte Schlag sie getroffen, dass sie wie ein Zombie an der Tür lehnte und nicht begriff, was überhaupt ablief. Sie war sich nicht einmal bewusst, dass sie an ihrer eigenen Haustür stand. Nachdem Song Fanping Glatzkopf-Lis Vater abgeladen hatte, ging er zum Brunnen und säuberte sich mit zahllosen Eimern Wasser gründlich. Das eisige Wasser - es war erst Mai ließ ihn vor Kälte erschauern. Als er den Kot von Kopf und Körper gespült hatte, wandte er sich zu Li Lan um. Sie wirkte so abwesend, dass er es nicht fertigbrachte, gleich fortzugehen, sondern mit weiteren Eimern Brunnenwasser auch noch Glatzkopf-Lis Vater säuberte. Er wälzte die Leiche hin und 45
her, um sie von allen Seiten abspülen zu können. Dann ging er zu Li Lan und sah sie an. Immer noch kam keine Reaktion von ihr. Kopfschüttelnd nahm er Glatzkopf-Lis Vater auf die Arme und ging zur Haustür, an der Li Lan nach wie vor bewegungslos lehnte, sodass er gezwungen war, sich mit dem Leichnam seitlich an ihr vorbei ins Haus zu schieben. Im hinteren Zimmer stand das Bett. Auf Kissen, Laken und Bezügen sah er das eingestickte rote Schriftzeichen für »doppeltes Glück«, Überbleibsel einer zweifellos noch nicht allzu lange zurückliegenden Hochzeit. Einen Moment stand er unschlüssig da, schließlich legte er Glatzkopf-Lis toten Vater ab - nicht auf dem Fußboden, sondern auf dem Bett, das noch vor kurzem als Hochzeitslager gedient hatte. Als er beim Hinausgehen feststellte, dass die sensationslüsterne Menschenmenge das Haus nach wie vor belagerte, sagte er mit leiser Stimme zu der immer noch bewegungslos am Türrahmen lehnenden Frau, sie solle hineingehen und die Tür hinter sich zumachen. Sie rührte sich jedoch nicht von der Stelle, als hätte sie seine Worte nicht gehört, und sah ihn auch nicht an. Da nickte er ihr kurz zu und ging los, tropfnass, wie er war. Die Gaffer öffneten blitzschnell eine Gasse für ihn (dabei hatte er sich doch inzwischen von dem Kot gesäubert), und wieder beschwerten sich einige, sie hätten ihre Schuhe verloren oder man habe ihren Hintern begrapscht. Song Fanping fror erbärmlich wegen des eiskalten Brunnenwassers, mit dem er sich gewaschen hatte, und musste mehrmals niesen, als er aus der kleinen Gasse auf die große Straße einbog. Hinter ihm schlossen die Schaulustigen sofort wieder ihre Reihen und wandten sich in freudiger Erwartung weiterer Sensationen wieder der bedauernswerten Witwe zu. 46
Gerade da sank Li Lan, immer noch am Türrahmen lehnend, langsam in sich zusammen. Im nächsten Moment lag sie auf dem Boden, das eben noch völlig ausdruckslose Gesicht schmerzverzerrt, die Beine weit von sich gestreckt, beide Hände in den Lehmboden gekrallt, als wollte sie sich an Mutter Erde festhalten. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Stumm und starr blickte sie mit weit aufgerissenen Augen auf die Umstehenden. Jemand sah, dass sich ihre Hose blutrot färbte. Erschrocken schrie er auf: »Schaut nur! Schaut - sie blutet!« Eine Frau, die schon einmal ein Kind geboren hatte, wusste, was das bedeutete. »Es geht los!«, rief sie. »Das Kind kommt!« IV Seit der Geburt ihres Sohnes litt Li Lan unter Migräne. Solange Glatzkopf-Li denken konnte, kannte er sie nur mit einem Tuch um den Kopf, wie es Bäuerinnen bei der Feldarbeit tragen. Das dumpfe Dauerkopfweh und die plötzlichen Schmerzattacken, die ihr die Tränen in die Augen trieben, ließen das ganze Jahr über niemals nach. Wenn sie mit den Fingern auf den Schädel trommelte, was sie häufig tat, klang es mit der Zeit immer heller, ein bisschen wie beim »Holzfisch«, dem fischförmigen Klangholz, das im Tempel während der Sutralesung geschlagen wird. Glatzkopf-Lis Mutter hatte den Verlust ihres Mannes nicht mit vollem Bewusstsein erlebt. Als ihr später allmählich klar wurde, was geschehen war, fühlte sie weder Trauer noch Zorn, sondern einzig und allein Scham. Nach der Geburt ihres Sohnes war ihre Mutter vom Dorf in die Stadt gekom47
men, um Tochter und Enkel zu versorgen, daher brauchte Li Lan während ihres dreimonatigen Mutterschaftsurlaubs das Haus nicht zu verlassen. Vor lauter Angst, jemand könnte sie sehen, ging sie nicht einmal in die Nähe des Fensters. Nach Ablauf der drei Monate musste sie jedoch wieder zur Arbeit. Totenbleich und angstschlotternd trat sie vor die Tür, als ob sie im nächsten Augenblick in einen Kessel mit siedendem Öl springen müsste. Immerhin - sie hatte sich hinausgewagt! Als sie endlich auf der Hauptstraße angelangt war, hielt sie sich, den Kopf tief gesenkt, im Schatten der Häuser. Es kam ihr vor, als durchbohrten alle Vorübergehenden sie mit Blicken wie spitze Nadeln. Ein Bekannter rief sie bei ihrem Namen, da schrak sie zusammen wie von einer Kugel getroffen und wäre um ein Haar zu Boden gegangen. Der Himmel weiß, wie sie es bis zur Seidenfabrik schaffte, einen ganzen langen Arbeitstag an der Haspelmaschine durchstand und abends wieder nach Hause kam. Von da an verfiel sie in Schweigen. Sogar in ihrer eigenen Wohnung, hinter verschlossenen Türen und Fenstern, allein mit ihrer Mutter und ihrem Sohn, redete sie nur ganz wenig. Als Säugling wurde Glatzkopf-Li scheel angesehen. Sobald seine Großmutter sich mit ihm auf dem Arm draußen sehen ließ, zeigten die Leute mit Fingern auf ihn. Manche umringten die Frau sogar wie einen Guckkästner und zerrissen sich das Maul über das Baby. »Der Spanner, der in der Scheiße ersoffen ist, von dem stammt das Balg! Ganz wie der Vater!« - so etwa gingen ihre hämischen Bemerkungen. (Wohlgemerkt: Bewusst oder unbewusst sagten sie nicht »Ganz der Vater!«, denn damit wäre ja nur die äußere Ähnlichkeit ge48
meint gewesen ... ) Man hätte denken können, es war das Baby, das sich für Frauenhintern interessierte. Glatzkopf-Lis Großmutter wurde abwechselnd rot und blass bei diesen Reden und ging von da an nicht mehr außer Haus mit dem Baby, stellte sich höchstens gelegentlich mit ihm auf dem Arm ans geschlossene Fenster, damit es ein bisschen Sonne abbekam, und trat blitzschnell wieder in die Dunkelheit des Zimmers zurück, sobald ein Passant sich neugierig umwandte. Auf diese Weise kam Glatzkopf-Li regelmäßig um sein Sonnenbad, sodass er überhaupt nicht so rosig und pausbäckig aussah wie andere Babys. Unterdessen litt Lin Lan an ihrer Migräne. Immer wieder zog sie vor Schmerzen Luft durch die Zähne. Seit dem unrühmlichen Ende ihres Gatten hatte sie keinem Menschen mehr ins Gesicht geschaut, hatte nicht laut gewehklagt und sich trotz ihrer heftigen Kopfwehattacken jeden Schmerzenslaut verbissen (bis auf das Zischen der Luft, die sie unablässig durch die Zähne zog, und gelegentlich den einen oder anderen Wehlaut im Schlaf). Wenn sie ihren Sohn auf den Arm nahm und sein blasses Gesicht und die dünnen Ärmchen sah, weinte sie jedes Mal bitterlich. Dennoch brachte sie nicht den Mut auf, tagsüber, wenn die Sonne schien, mit dem Kleinen auf die Straße zu gehen. Nachdem sie über ein Jahr gezögert hatte, stahl sie sich in einer mondhellen Nacht mit dem Baby auf dem Arm aus dem Haus. Den gesenkten Kopf an das Gesichtchen ihres Sohnes geschmiegt, lief sie wie gehetzt durch die Straßen und hielt sich dabei immer dicht an den Häusermauern. Erst als sie sich vergewissert hatte, dass vor und hinter ihr keine Schritte zu hören waren, verlangsamte sie das Tempo, schaute auf 49
zum Himmel mit der hellen Mondscheibe und genoss die kühle Nachtluft. Auf der um diese Zeit völlig menschenleeren Brücke über den Fluss blieb sie stehen, um sich an dem Glitzern des Wassers im Mondlicht und den Wellen zu erfreuen. Die Bäume am Ufer schienen zu schlummern, ihre mondbeschienenen Wipfel waren gekräuselt wie das Wasser des Flusses. Das Spiel der Leuchtkäfer, die hin und her, auf und nieder schwirrten, erinnerte sie an das Auf und Ab einer Gesangsmelodie. Das Kind auf dem rechten Arm, mit der Linken auf den Fluss unter der Brücke, die Bäume entlang des Ufers, den Mond am Himmel und die in der Luft tanzenden Leuchtkäfer zeigend, sagte Li Lan zu ihrem Sohn: »Das da heißt Fluss, und das ist ein Baum, da oben ist der Mond, und das sind Glühwürmchen.« Zu sich selbst sagte sie: »Was für eine wunderschöne Nacht!« Sie war glücklich. Von da an konnte Glatzkopf-Li, wenn er schon das Sonnenlicht entbehren musste, wenigstens nachts im Mondlicht baden. Wenn alle anderen Kinder längst schliefen, war er noch wach, weil seine Mutter mit ihm auf dem Arm wie eine Nachtschwärmerin unsere kleine Stadt durchstreifte. Eines Nachts schlug Li Lan ganz in Gedanken verloren den Weg ins Freie ein. Als sie durch das Südtor trat und die mondbeschienenen Felder sah, die sich bis zum Horizont erstreckten, unterdrückte sie mit Mühe einen Aufschrei der Freude. Die geheimnisvolle Stille der Häuser und Straßen im Mondlicht war ihr vertraut, jetzt aber entdeckte sie plötzlich für sich auch die mystische Schönheit der nächtlichen Flur. Glatzkopf-Li an ihrer Brust wurde ebenfalls ganz aufgeregt, 50
streckte beide Ärmchen zu den unendlich weiten Feldern aus und gab piepsende Geräusche von sich wie ein Mäuschen. Viele Jahre später, als Glatzkopf-Li, inzwischen der SuperMultimillionär unserer kleinen Stadt Liuzhen, beschloss, einen Weltraumtrip zu machen, und sich mit geschlossenen Augen ausmalte, wie er aus dem Weltraum auf die Erde herabblicken würde, kehrten die im Säuglingsalter empfangenen Eindrücke wundersamerweise wieder zurück. Denn die Schönheit des Erdballs, wie er sie in seiner Vorstellung an Bord des russischen »Sojus«-Raumschiffes erlebte, entsprach genau dem Anblick, der sich damals dem Säugling auf dem Arm der Mutter geboten hatte, als diese zum ersten Mal mit ihm vor das Südtor gegangen war und sich die mondbeschienenen Felder endlos vor seinen Augen erstreckt hatten. So lernte Glatzkopf-Li in der Stille heller Mondnächte von seiner Mutter, was das ist - eine Straße, Häuser, Felder, der Himmel ... Noch keine zwei Jahre alt, blickte er mit staunenden Augen in diese lautlose, helle Welt. Einmal begegnete Li Lan beim Spaziergang im Mondschein Song Fanping. Sie ging gerade mit dem Kind auf dem Arm eine stille Straße entlang, da kam ihr auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Familie entgegen, die sich laut unterhielt - Song Fanpings Familie. Der hochgewachsene Vater führte einen Jungen an der Hand - Song Gang, ein Jahr älter als Glatzkopf-Li -, und seine Frau trug einen Korb. Ihre hellen Stimmen störten die nächtliche Stille wie lautes Klopfen an eine Tür. Li Lan horchte auf - die Stimme des Mannes, die kannte sie doch! Das war doch der Mann, der gottserbärmlich stinkend mit ihrem ebenso gottserbärmlich stinkenden Ehemann auf dem Rücken plötzlich vor ihr gestanden hatte, 51
als sie damals wie benommen an ihrer Haustür lehnte! Sie hatte gar nicht so richtig mitbekommen, was um sie herum geschah, aber die Stimme des Mannes, die würde sie ihren Lebtag nicht vergessen. Und auch nicht, wie er erst sich selbst und dann ihren toten Gatten gesäubert hatte. Gut möglich, dass ihre Augen jetzt aufleuchteten, als sie zu Song Fanping hinüberschaute. Gleich darauf jedoch senkte sie wieder den Kopf und hastete weiter, denn der Mann auf der anderen Straßenseite war stehen geblieben und sagte mit leiser Stimme etwas zu seiner Frau. Li Lan traf Song Fanping in der Folgezeit noch zwei weitere Male auf ihren nächtlichen Spaziergängen mit dem kleinen Glatzkopf-Li, einmal wieder mit Frau und Sohn, das zweite Mal allein. Plötzlich stand er in seiner vollen Größe da und versperrte ihr den Weg. Er streichelte mit seiner kräftigen Hand Glatzkopf-Li, der zu ihm aufschaute, übers Haar und sagte zu Li Lan: »Der kleine Kerl ist aber dünn! Sie sollten öfter mit ihm an die Sonne gehen, wegen der Vitamine.« Die arme Frau wagte nicht einmal, ihn anzuschauen. Sie zitterte am ganzen Leib, und mit ihr Glatzkopf-Li auf ihrem Arm - wie ein Haus während eines Erdbebens schwankt, so schwankte das Baby hin und her. Song Fanping lachte auf und ging weiter, wobei er ihren Arm streifte. In dieser Nacht war Li Lan blind für die Schönheit des Mondlichts und kehrte sehr bald mit ihrem Kind nach Hause zurück. Wie gewohnt zog sie geräuschvoll Luft durch die Zähne, diesmal aber vielleicht - nicht wegen der Migräne. Als Glatzkopf-Li drei Jahre alt war, verließ seine Großmutter Tochter und Enkel und ging in ihr Dorf zurück. Der Jun52
ge konnte schon laufen, war aber immer noch sehr dünn, noch magerer sogar als im Säuglingsalter. Seine Mutter litt nach wie vor unter Kopfschmerzen, mal mehr, mal weniger, und hatte inzwischen einen Rundrücken, weil sie den Kopf stets gesenkt hielt. Seitdem die Großmutter fort war, kam Glatzkopf-Li endlich auch in den Genuss des Sonnenlichts, denn Li Lan nahm ihn zum Einkaufen mit. Der Junge hielt sich an ihrer Jacke fest und wackelte schwankend und taumelnd hinter ihr her, während sie mit gesenktem Kopf hastig die Straße entlanglief, hatte sie doch immer noch das Gefühl, von unzähligen Blicken durchbohrt zu werden. Dabei verschwendete inzwischen niemand mehr seine Aufmerksamkeit auf sie, geschweige denn, dass irgendjemand mit Fingern auf die beiden gezeigt hätte. Glatzkopf-Lis schmächtige Mutter musste alle zwei Monate im Reisladen ihre Ration abholen. Das war für den Jungen stets ein Freudentag, denn sobald die Mutter den Sack mit den vierzig Pfund Reis auf den Buckel lud, begann sie zu keuchen und zu zischen (sie hatte mittlerweile angefangen, auch dann zischend Luft durch die Zähne zu ziehen, wenn sie redete oder eben keuchte). Sie musste alle paar Meter stehen bleiben und eine Pause machen, sodass Glatzkopf-Li sich nicht mehr darauf konzentrieren musste, mit ihr Schritt zu halten, sondern Muße hatte, sich unterwegs nach Herzenslust umzusehen. An einem Herbsttag tauchte mittags Song Fanping vor Mutter und Sohn auf, als Li Lan sich gerade den Schweiß von der Stirn wischte. Eine starke Hand nahm ihr plötzlich den Reissack vom Rücken, und als sie erschrocken aufschaute, er-
53
kannte sie Song, der lächelnd sagte: »Ich trag ihn für Sie nach Hause!« Den Sack mit den vierzig Pfund Reis in der rechten Hand schwenkend, als wäre es ein leerer Korb, nahm Song Fanping mit der Linken den Jungen hoch und setzte ihn sich auf die Schultern. Glatzkopf-Li, der sich mit beiden Händen an der Stirn des Mannes festhalten musste, jauchzte glückselig. Noch nie hatte er aus derart luftiger Höhe auf die Straße herabgeschaut. Sonst musste er immer den Kopf recken, wenn er etwas sehen wollte, jetzt aber schaute er zum ersten Mal nach unten, um die Passanten zu beobachten. Während der hünenhafte Mann, beladen mit Li Lans Reissack und ihrem Sohn, sich einen Weg durch das Gedränge auf der Straße bahnte, redete er munter auf die Frau ein. Li Lan dagegen lief mit gesenktem Kopf neben ihm her, in kalten Schweiß gebadet, das Gesicht kreideweiß. Am liebsten hätte sie sich in eine Erdspalte verkrochen, hatte sie doch das Gefühl, alle Menschen der Welt machten sich in diesem Moment über sie lustig. Unterwegs fragte Song Fanping nach diesem und jenem, doch von ihr kam außer Kopfnicken und ihrem gewohnheitsmäßigen Zischeln keine andere Reaktion. Als sie endlich an Li Lans Haus ankamen, setzte Song den Jungen ab und schüttete den Reis aus dem Sack in die Vorratskruke. Mit einem flüchtigen Blick auf das Bett stellte er fest, dass das eingestickte Schriftzeichen »doppeltes Glück« auf Laken und Bezug verblasst und ausgefranst war. Beim Hinausgehen sagte er zu Li Lan, er heiße Song Fanping und sei Lehrer an der Mittelschule. Sie könne sich in Zukunft an ihn wenden, wenn körperlich schwere Arbeiten anstünden, zum Beispiel Reis oder Kohle kaufen. Als er weg war, ließ sie 54
zum ersten Mal ihren Sohn allein vor dem Haus spielen. Sie selbst schloss sich drinnen ein - wer weiß, was sie dort trieb. Erst nach Einbruch der Dunkelheit machte sie die Haustür wieder auf. Da saß der Junge auf der Erde und war, an die Tür gelehnt, eingeschlafen. Glatzkopf-Li entsann sich später, dass Song Fanpings Frau in dem Jahr ihrer Krankheit erlag, als er fünf wurde. Nachdem Li Lan davon erfahren hatte, stand sie lange am Fenster, zog wie gewohnt Luft durch die Zähne und sah zu, wie die Sonne unterging und der Mond am Himmel erschien. Dann ergriff sie die Hand ihres Sohnes und ging mit ihm still und leise durch die helle Nacht zu dem Haus, in dem Song Fanping wohnte. Sie hatte aber nicht den Mut hineinzugehen, sondern beobachtete, hinter einem Baum versteckt, die Leute, die drinnen im trüben Lampenlicht um den Sarg herumsaßen oder hin und her gingen. Glatzkopf-Li, der sich an der Jacke der Mutter festhielt, hörte sie wie gewohnt zischeln. Als er den Kopf hob, um den Mond und die Sterne zu sehen, kam es ihm vor, als weine seine Mutter, denn sie wischte sich ständig die Augen. »Weinst du, Mama?«, fragte er. »Mmh!«, antwortete sie und erzählte ihm, dass in der Familie ihres Wohltäters jemand gestorben sei. Nach einem Weilchen nahm sie ihn an die Hand und ging ebenso still und leise, wie sie gekommen war, wieder nach Hause. Am nächsten Tag setzte sie sich gleich nach der Arbeit an den Tisch und verfertigte aus Papier einen großen Haufen »Käsch« und »Barren«, also Scheidemünzen und Edelmetallstücke, die sie jeweils auf eine weiße Schnur fädelte. Glatzkopf-Li fand das hochinteressant. Er setzte sich neben 55
die Mutter und sah zu, wie sie erst mit der Schere das Papier zerschnitt, dann daraus einen »Barren« faltete und schließlich auf einige von den »Barren« das Schriftzeichen jin (Gold), auf andere yin (Silber) schrieb. Mit einem »Goldbarren«, erklärte sie dem Jungen, konnte man in früheren Zeiten ein ganzes Haus kaufen. »Und mit dem hier?«, fragte Glatzkopf-Li, auf einen »Silberbarren« zeigend. »Auch ein Haus, nur ein bisschen kleiner«, antwortete die Mutter. Beim Anblick all der »Goldbarren« und »Silberbarren« überlegte der Junge, wie viele Häuser man damit wohl kaufen könne. Er hatte damals gerade die Zahlen gelernt, aber als er jetzt die »Barren« zählen wollte, kam er immer nur bis zehn, dann fing er wieder mit eins an. Auf dem Tisch wuchs der Haufen immer höher, bei ihm jedoch blieb es bei zehn »Barren« - es war, als befände er sich in einer Sackgasse, aus der er nicht wieder herausfand. Vor Anstrengung brach ihm der Schweiß aus, und seine Mutter konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Nachdem Li Lan genügend Papier-Barren gefaltet hatte, begann sie, Papier-Käsch zu verfertigen, runde Scheiben, aus denen sie ein Viereck schnitt und die sie zum Schluss sorgfältig mit lauter Linien und Schriftzeichen bemalte, damit sie genauso aussahen wie die echten Kupfermünzen früher. Glatzkopf-Li fand das viel aufwendiger als die Anfertigung der »Barren«. Bestimmt konnte man mit einem »Käsch« gleich mehrere Häuser kaufen, vermutete er. Die Mutter zeigte ihm die auf eine Schnur gefädelten »Käsch« und sagte, das habe damals gerade für eine Bluse gereicht. Wie denn? Eine Bluse war teurer als ein Haus?, überlegte der Junge und fing abermals an zu schwitzen, weil er so angestrengt nach56
dachte. Li Lan erklärte ihm, zehn Schnüre Käsch seien nicht einmal so viel wert gewesen wie ein Barren. Und wieder hatte Glatzkopf-Li so viel Stoff zum Nachdenken, dass er erst recht schwitzte. Warum, so fragte er sich, gab sich seine Mutter so viel Mühe mit den Papier-Käsch, wenn man dafür weniger kaufen konnte als für die Papier-Barren? Li Lan sagte, mit diesem »Geld« könne man ohnehin im Diesseits überhaupt nichts anfangen, nur im Jenseits - es sei das Reisegeld für eine Tote. Als Glatzkopf-Li das Worte Tote hörte, erschauerte er. Dann schaute er in die Dunkelheit draußen vor dem Fenster und erschauerte ein zweites Mal. Für wen das Totengeld bestimmt sei, wollte er wissen. Li Lan ließ die Schere sinken und sagte: »Für die Frau unseres Wohltäters.« Am Vormittag des Tages, da Song Fanpings Frau zu Grabe getragen wurde, legte Li Lan die aufgefädelten Papier-Käsch und die »Goldbarren« und »Silberbarren« in einen Korb, nahm den Jungen an die Hand und ging mit ihm vor bis zu der großen Straße, um dort zu warten. In Glatzkopf-Lis Erinnerung war dies das erste Mal, dass Li Lan auf der Straße den Kopf hob: Sie hielt Ausschau nach dem Trauerzug. Einige Passanten, die sie kannten, blickten verwundert in den Korb, manche griffen sogar hinein und begutachteten das von ihr verfertigte Totengeld. Nicht nur gescheit sei sie, sondern auch geschickt - aber gebe es denn etwa in ihrer Familie schon wieder einen Trauerfall? Li Lan senkte den Kopf und erwiderte leise: »Nicht in unserer Familie ... « Es war nur ein Dutzend Menschen, die Song Fanpings verstorbener Frau das letzte Geleit gaben. Der Sarg stand auf einem Pritschenkarren, der quietschend die mit Steinplatten 57
gepflasterten Straßen entlangrumpelte. Glatzkopf-Li sah, dass sich die weinenden und schluchzenden Männer und Frauen in dem Trauerzug weiße Bänder um Stirn und Taille gebunden hatten. Der Einzige, den er kannte, war Song Fanping - auf dessen breiten Schultern war er schon einmal geritten und hatte die Welt von oben betrachtet. Song Fanping hatte seinen Sohn Song Gang an die Hand genommen. Als er an Li Lan vorüberkam, zögerte er kurz, drehte sich nach ihr um und nickte ihr zu. Song Gang tat es ihm nach und nickte Glatzkopf-Li zu. Li Lan und ihr Sohn schlossen sich dem Trauerzug an und folgten ihm auf den gepflasterten Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen und auf den ungepflasterten Wegen draußen vor der Stadt. Glatzkopf-Li kam der Weg sehr weit vor, doch endlich hielt der Zug der still vor sich hin weinenden Trauergäste an dem offenen Grab. Als der Sarg in der Grube verschwand, ging das leise Wimmern sofort in lautes Jammern und Wehklagen über. Den Korb über dem Arm, den Jungen an der Hand, stand Li Lan etwas seitlich und sah zu, wie die Trauernden weinend Erde auf den Sarg schaufelten, bis der Grabhügel fertig war und aus dem lauten Jammern wieder leises Schluchzen wurde. Song Fanping drehte sich um und trat zu Li Lan und Glatzkopf-Li. Mit Tränen in den Augen sah er die Frau an, nahm aus ihren Händen den Korb entgegen, ging zum Grab zurück, bedeckte es mit den PapierKäsch und Barren und zündete zum Schluss das Totengeld mit einem Streichholz an. Als es aufloderte, wurde aus dem Wimmern abermals lautes Wehklagen. Glatzkopf-Li beobachtete, dass auch seine Mutter herzzerreißend zu schluchzen begann. Sie musste in diesem Moment an ihr eigenes Unglück denken. 58
Es folgte der lange Rückweg in die Stadt. Wieder ging Li Lan hinter dem Trauerzug her, immer noch den Korb in der einen, Glatzkopf-Li an der anderen Hand. Song Fanping, an der Spitze des Zuges, drehte sich mehrmals nach den beiden um, und als der Zug an die Stelle kam, wo sie in ihre Gasse abbiegen mussten, blieb er stehen und sagte leise etwas zu Li Lan. Er lud sie und ihren Sohn zum Abendessen zu sich nach Hause ein, zur Tofu-Mahlzeit zum Gedenken an die Tote, so, wie es in unserer kleinen Stadt Liuzhen Brauch ist. Li Lan zögerte, schüttelte dann den Kopf und bog mit dem Jungen in ihre Gasse ein. Zu Hause angelangt, fiel GlatzkopfLi, der fast den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war, sofort in einen tiefen Schlaf, kaum dass er im Bett lag. Li Lan dagegen, zischend Luft durch die Zähne ziehend, saß im hinteren Zimmer und blickte mit leeren Augen aus dem Fenster. Es war schon dunkel, da klopfte es an der Tür. Li Lan fuhr erschrocken hoch und öffnete. Draußen stand Song Fanping. Sein plötzliches Auftauchen versetzte sie in Panik. Sie sah nicht den Korb, den er in der Hand hatte, vergaß, ihn zum Nähertreten aufzufordern, stand einfach nur da, den Kopf gewohnheitsmäßig gesenkt. Erst als Song Fanping ihr die Speisen, die er in seinem Korb gebracht hatte, überreichte, begriff sie, er war gekommen, um sie doch noch an dem Trauermahl teilhaben zu lassen. Es gelang ihr nur mit Mühe, ihrer Aufregung Herr zu werden, während sie die Schüsseln mit den verschiedenen Tofu-Gerichten aus seinen Händen entgegennahm, schnell in ihre eigenen Schüsseln umfüllte und dann sein Geschirr in fliegender Eile abwusch. Als sie ihm die gespülten Schüsseln zurückgab, zitterten ihre Hände. Song Fanping legte die Schüsseln in den Korb und wand59
te sich zum Gehen. Da hatte Li Lan bereits wieder wie gewohnt den Kopf gesenkt. Die Schritte des Mannes verhallten, und ihr fiel siedend heiß ein, dass sie ihn nicht einmal hereingebeten hatte. Als sie aufblickte und die dunkle Gasse hinunterspähte, war er bereits verschwunden.
V Glatzkopf-Li wusste nicht, wie es gekommen war, dass Song Gangs Vater ein Auge auf seine Mutter warf, und er war fast sieben Jahre alt, als er erfuhr, dass dieser Mann Song Fanping hieß. Am Spätnachmittag eines Sommertages nahm Li Lan ihren Sohn an die Hand und ging mit ihm erst zum Frisör, wo sie ihm eine richtige Glatze schneiden ließ, und dann zum Sportplatz gegenüber dem Kino, dem einzigen beleuchteten Sportplatz in unserer kleinen Stadt Liuzhen, der aus diesem Grunde allgemein »Lichtspielfeld« genannt wurde. An diesem Abend sollte die Basketball-Mannschaft von Liuzhen gegen das Team einer anderen kleinen Stadt spielen. Über tausend Männer und Frauen schlappten in ihren Plastiksandalen zu dem Match und umringten das Lichtspielfeld in mehrfach gestaffelten Reihen, sodass es aussah wie eine riesige Grube, an deren Rändern sich der Aushub türmt. Die Männer rauchten, die Frauen knabberten Melonenkerne, Horden von kreischenden Kindern hatten die Bäume erklommen. Sogar auf der Umfassungsmauer standen Witze reißende Männer dicht an dicht. Dennoch versuchten manche von den sich unten Drängenden immer wieder, auch noch einen Platz auf der Mauer zu ergattern. Sie wurden von 60
den bereits oben Stehenden mit Fußtritten und Fausthieben daran gehindert, was aber lediglich dazu führte, dass sie fluchend und schimpfend ihre Anstrengungen hinaufzugelangen verdoppelten. Hier war es, dass Glatzkopf-Li zum ersten Mal mit Song Gang redete. Der Junge, ein Jahr älter als er selbst, trug ein weißes ärmelloses Unterhemd und kurze blaue Hosen. Der Rotz lief ihm aus der Nase, und er hielt sich ängstlich an Li Lans Jackenzipfel fest. Li Lan ihrerseits streichelte sein Haar, streichelte sein Gesicht, streichelte seinen zarten Hals - am liebsten hätte sie ihn wohl vor lauter Liebe aufgefressen! Dann schob sie die beiden Jungen nebeneinander und redete mit lauter Stimme auf sie ein, doch Glatzkopf-Li und Song Gang verstanden dennoch kein einziges Wort, weil um sie herum die Leute laut durcheinanderschrien, die Melonenkern-Knackerinnen über ihren Köpfen die Hülsen ausspuckten, die Zigarettenraucher ihre Rauchringe in die Luft pusteten, die Männer an der Umfassungsmauer sich inzwischen prügelten und von einem der Bäume ein Ast abbrach, sodass zwei Kinder herunterpurzelten. Li Lan redete die ganze Zeit unbeirrt weiter, und schließlich verstanden die beiden Jungen doch noch etwas. Auf Song Gang zeigend, sagte Li Lan zu Glatzkopf-Li: »Das ist dein großer Bruder! Er heißt Song Gang.« Glatzkopf-Li nickte und grüßte Song Gang mit seinem Namen, wie es sich gehört. Dann zeigte Li Lan auf Glatzkopf-Li und sagte zu Song Gang: »Das ist dein kleiner Bruder! Er heißt Glatzkopf-Li.«
61
Song Gang hörte diesen Spitznamen zum ersten Mal und kicherte über den spiegelblanken Kahlkopf des anderen: »Glatzkopf-Li? Das ist aber ein komischer Name!« Schon sehr bald sollte ihm jedoch das Lachen vergehen, denn jemand verbrannte ihm mit der glühenden Zigarette den Arm. Die schmerzvoll zusammengekniffenen Augen des weinenden Jungen fand wiederum Glatzkopf-Li komisch. Doch als er gerade losplatzte, berührte ein anderer Mann ihn selbst mit seiner Zigarette am Hals, woraufhin er ebenfalls losheulte. Dann begann das Match. Auf dem gleißend hellen Platz, inmitten des an einen Taifun erinnernden, ohrenbetäubenden Stimmengewirrs, zeigte Song Fanping, was in ihm steckte. Li Lan kriegte den Mund gar nicht mehr zu vor Bewunderung für diesen hochgewachsenen Hünen, seine kraftvollen Sprünge und seine überlegene Technik. Am Ende hatte sie sich heiser geschrien und gerötete Augen vor lauter Aufregung. Jedes Mal, wenn Song Fanping einen Ball in den gegnerischen Korb geworfen hatte, riss er beide Arme hoch und rannte an Li Lan und den Jungs vorbei, als würde er im nächsten Moment abheben. Einmal sprang er direkt unter dem Korb hoch und stopfte den Ball mit beiden Händen von oben durch den Ring, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben. Auch für die mehr als tausend Zuschauer war es das erste und einzige Mal in ihrem Leben, dass sie so ein spektakuläres Dunking mit eigenen Augen sahen. Sie verstummten wie auf Kommando und blickten einander ungläubig an, als wollten sie sich vergewissern, dass das, was sie soeben erlebt hatten, nicht nur ihrer Fantasie entsprungen war. Im nächsten Moment brandete rund um das Lichtspielfeld ein sol62
cher Höllenlärm auf, wie ihn nicht einmal die japanischen Invasoren vollführt hatten, als sie seinerzeit zum Sturm ansetzten. Song Fanping, selbst verblüfft über seine Großtat, blieb einen Augenblick wie erstarrt unter dem Korb stehen. Als ihm bewusst wurde, was er gerade geleistet hatte, wurden seine Augen ganz rund und sein Gesicht dunkelrot. Er rannte zu Li Lan, streckte seine Arme aus, und schon hatte er Song Gang und Glatzkopf-Li hochgehoben und lief mit ihnen zum Korbbrett, wo er sie, vor Freude außer Rand und Band, wahrscheinlich durch den Ring des Korbständers »gedunkt« hätte, wenn sie nicht vor lauter Angst wie am Spieß gebrüllt hätten. So fiel ihm zum Glück gerade noch rechtzeitig ein, dass die beiden keine Bälle waren. Lachend lief er mit den Jungen wieder zurück, setzte sie ab und nahm im Überschwang der Freude Li Lan in die Arme, die auf diese Weise buchstäblich ein paar Zentimeter über dem Boden schwebte und das vor aller Augen! Damit löste er eine wahre Lachsalve aus. Allerdings reagierten die Leute ganz unterschiedlich: Manche wieherten vor Lachen, andere lächelten, manche lachten schrill, andere heimtückisch, manche fein, andere dreckig, manche blöd, andere gezwungen, manche herzlich, andere falsch - in einem großen Wald nisten allerlei Vögel, und in einer Menschenmenge gibt's Lacher aller Art. Dazu muss man wissen, wenn man zu jener Zeit Zeuge wurde, wie ein Mann eine Frau umarmt, war das etwa das Gleiche wie heute vielleicht der Besuch eines Pornofilms. Nachdem Song die Frau wieder auf die Füße gestellt hatte, lief er mit triumphierend hochgerissenen Armen zurück aufs Spielfeld. Li Lan aber war nach ihrer Starnummer im Porno63
film quasi ein anderer Mensch, denn nur noch die Hälfte der Zuschauer verfolgte das Spiel, die anderen interessierten sich viel mehr für Li Lan, zerrissen sich sensationslüstern das Maul und zeigten mit Fingern auf sie. Natürlich war auch wieder die Rede von ihrem Verflossenen: Ist das nicht die, deren Alter zu Tode kam, als er auf der Toilette Frauenärsche ausspionierte?! Und jetzt geht die mit diesem Mann! Weiß man's doch endlich! - so oder ähnlich redeten sie. Li Lan aber, mit zitternden Lippen und Augen, die vor Glück und Freude in Tränen schwammen, war das in diesem Moment herzlich egal. Nach dem Abpfiff zog Song Fanping sein schweißnasses Hemd aus und gab es Li Lan, die das stinkende Trikot an die Brust drückte, als wäre es eine große Kostbarkeit. Dann zogen die beiden Familien zusammen los, um eine Erfrischung zu sich zu nehmen. Als alle vier saßen, war Li Lans weiße Bluse vorne von Songs Unterhemd so feucht, dass ihre Brüste sich abzeichneten, was sie aber überhaupt nicht bemerkte. Song bestellte zwei Schüsseln Mungbohnensuppe - ein sämiges Erfrischungsgetränk - für die Kinder und zwei Flaschen Brause, beides eisgekühlt. Er öffnete die Flaschen, reichte Li Lan die eine und stürzte selber in einem Zug die zweite hinunter, woraufhin Li Lan ihm ihre Flasche hinüberschob, die sie nicht angerührt hatte. Nach kurzem Zögern goss er auch die zweite Brause hastig hinunter. Als wären die Kinder gar nicht anwesend, saßen die beiden da und verschlangen einander mit den Augen. Song Fanpings Blicke wanderten immer wieder zu Li Lans Brüsten unter der feuchten Bluse, während ihr beim Anblick seines nackten Ober64
körpers, seiner breiten Schultern und seiner muskulösen Arme das Blut in Wallung geriet und sie unwillkürlich errötete. Glatzkopf-Li und Song Gang beachteten ihrerseits die Erwachsenen ebenfalls nicht. Für beide war es das erste Mal, dass sie im Sommer eine eisgekühlte Speise genossen, vorher hatten sie nie etwas Kälteres gekannt als Wasser aus dem Brunnen. Die Mungbohnensuppe aber kam aus einem Kühlschrank! Und obenauf war sie mit weißem Zucker bestreut, der aussah wie Schneeflocken. Wie wunderbar allein schon die Kälte der Schüssel in der Hand - viel erfrischender als Brunnenwasser! Und dann der Zucker, der auf der Suppe langsam durchfeuchtete und dunkel wurde wie ein schmelzender Schneeteppich! Welch ein Hochgefühl aber erst, als sie den Löffel hineinsteckten, ihn dann zum Munde führten und endlich - mitten im glutheißen Sommer - die kühle, süße Suppe auf der Zunge schmeckten! Nach dem ersten Mundvoll war es, als ob eine Maschine angeworfen worden wäre: Die Jungen konnten einfach nicht mehr aufhören und löffelten ihre Suppe so hastig, dass die Kälte im Rachen schmerzte und sie mit weit aufgerissenen Mündern nach Luft schnappten, als hätten sie sich verbrannt, und sich mit der flachen Hand auf die Wangen schlugen wie beim schlimmsten Zahnweh. Gleich darauf aber schlappten sie weiter die köstliche Erfrischung, bis sie aufgegessen war und sie nur noch die Schüssel auslecken konnten. Nachdem auch die letzten Spuren von Mungbohnensuppe verschwunden waren, kamen ihre Zungen noch lange nicht zur Ruhe, denn jetzt leckten sie weiter an den immer noch kühlen Schüsseln herum, bis diese am Ende wärmer waren als ihre Zungen und sie sie schweren 65
Herzens schließlich doch abstellten. Sie schauten auf, sahen die Erwachsenen an - Song Gang seinen Vater, Glatzkopf-Li seine Mutter - und bettelten: »Morgen wieder, ja?« Song Fanping und Li Lan antworteten, ebenfalls unisono: »Na klar!«
VI Glatzkopf-Li und Song Gang wussten nicht, dass Li Lan und Song Fanping zwei Tage später heiraten wollten. Li Lan kaufte zwei Pfund Schanghaier Bonbons, röstete je eine große Portion Puffbohnen und Melonenkerne und mischte alles in einem Holzkübel. Zum Schluss griff sie noch einmal hinein und gab Glatzkopf-Li eine Handvoll. Er sortierte sie auf dem Tisch, zählte einmal und noch einmal: zwölf Puffbohnen, achtzehn Melonenkerne, zwei Bonbons es wurden einfach nicht mehr. Am Tag der Hochzeit war Li Lan schon vor dem Morgengrauen auf den Beinen, zog ihre neue Bluse, die neue Hose und ein Paar glänzende neue Plastiksandalen an, setzte sich auf den Bettrand und beobachtete, wie draußen die Nacht langsam der aufgehenden Sonne wich. Sie zog wie gewohnt zischend die Luft durch die Zähne, diesmal allerdings nicht, weil ihr der Kopf schmerzte, sondern weil sie vor lauter Aufregung wegen der bevorstehenden Hochzeit von Minute zu Minute heftiger atmete. Ihr Gesicht brannte, die Ohren waren heiß, und das Herz wollte ihr fast zerspringen, wie sie so dasaß und voller Ungeduld auf das Ende der Nacht wartete. Als endlich die Morgenröte aufzog, wurde sie immer erregter und ihr Zischen immer lauter, sodass Glatzkopf-Li dreimal 66
aus dem Schlaf hochfuhr. Beim dritten Mal ließ Li Lan den Jungen nicht wieder einschlafen. Er musste unverzüglich aufstehen, sich rasch die Zähne putzen und das Gesicht waschen und dann in größter Eile sein neues Hemd, die neue kurze Hose und die neuen Sandalen anziehen. Während Li Lan vor ihm kniete und ihm die Verschlüsse seiner Sandalen zumachte, hörte sie, dass ein qietschender Pritschenkarren vor ihrer Tür zum Stehen kam. Sie sprang auf wie von der Tarantel gestochen, stürzte zur Tür und riss diese auf. Draußen stand Song Fanping, freudestrahlend. Song Gang, auf dem Karren, begrüßte Glatzkopf-Li fröhlich mit seinem Namen und meinte dann kichernd zu seinem Vater: »Glatzkopf-Li - hört sich ja wirklich zu komisch an!« Inzwischen waren Li Lans Nachbarn zusammengelaufen und beobachteten erstaunt, wie Song Fanping und Li Lan die Wohnungseinrichtung auf dem Karren verstauten. Unter den Zuschauern befanden sich auch drei Mittelschüler: ein gewisser Sun Wei (Sun »der Große«, wie ihn seine Eltern hoffnungsvoll genannt hatten), der wegen seiner langen Mähne auffiel, sowie Liu Chenggong und Zhao Shengli, die beiden späteren Geistesfürsten unserer kleinen Stadt Liuzhen, zu jener Zeit aber noch nicht Schriftsteller Liu und Dichter Zhao, sondern zwei einfache Mittelschüler. Nachdem aus ihnen Schriftsteller Liu und Dichter Zhao geworden waren, sollten sie es sein, die wegen der heimlichen Ausspähung von Frauenhintern Glatzkopf-Li in den Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen Spießruten laufen ließen. Die drei Mittelschüler stellten sich höchst interessiert vor den Karren und fragten Li Lan, dreckig grinsend und einan-
67
der verschwörerisch zuzwinkernd: »Da wollen Sie also wieder heiraten, ja?« Li Lan, hochrot, näherte sich mit dem Holzkübel den gaffenden Nachbarn und verteilte ein paar Handvoll Puffbohnen, Melonenkerne und Bonbons. Auch Song Fanping unterbrach die Arbeit und verteilte aus einer Schachtel Zigaretten an die Männer. Puffbohnen kauend, Melonenkerne knackend, Bonbons lutschend sahen die Nachbarn neugierig und vergnügt zu, wie die beiden den Karren mit Kleidung und Bettzeug, Tisch und Bänken, Waschschüssel und Fußwanne, dazu Töpfen, Geschirr, Messern, Löffeln und Essstäbchen beluden. Als alles verstaut war, machten sich die vier auf den Weg. Glatzkopf-Lis wiederverheiratete Mutter und Song Gangs wiederverheirateter Vater gingen vorneweg, die beiden Jungen, die sie mit in die Ehe brachten, hinterher. Der Pritschenkarren rumpelte über die Steinplatten der sommerlich heißen Straßen. Unter der schweren Last schwankte immer mal eine lose Platte. Die hölzernen Strommasten an den Straßenecken summten, als wären es Bienenstöcke. Li Lan hatte nicht nur Glatzkopf-Li, sondern auch Song Gang eine Handvoll von dem Knabberzeug aus ihrem Holzkübel zugesteckt. Zwar balancierten die Kinder sie äußerst vorsichtig auf ihren kleinen Handflächen, doch konnten sie nicht verhindern, dass ihnen ein paar von den Puffbohnen und Melonenkernen durch die Finger rutschten. Beide Hände voll der schönsten Leckereien, mussten sie dennoch darben. Denn sie hatten keine Hand frei, um einen Melonenkern, eine Puffbohne oder einen Bonbon in den Mund zu
68
stecken, sosehr ihnen auch das Wasser im Mund zusammenlief. Ein paar Hennen und Hähne liefen den bei den Jungen hinterher und pickten gackernd die heruntergefallenen Kerne auf. Manche drängten sich in ihrer Gier zwischen die Beine der Kinder und hackten sogar flügelschlagend nach ihren Händen, sodass erst recht Kerne und Bohnen herunterfielen. Während Song Fanping den Karren zog und Li Lan mit dem Holzkübel an seiner Seite lief, beide über das ganze Gesicht strahlend, wurde die Menschenansammlung auf den Straßen immer größer. Viele Leute, die die beiden kannten, blieben neugierig stehen, verwundert über die von allerlei Federvieh verfolgten Kinder. Was mochte das wohl bedeuten? Song Fanping stellte immer mal den Karren ab und teilte Zigaretten an die Männer aus, während Li Lan die Frauen und Kinder aus ihrem Eimer mit Knabberzeug bedachte. Beide waren rot und verschwitzt, nickten freudestrahlend ihren Bekannten zu und erzählten ihnen mit zitternder Stimme, sie hätten gerade geheiratet. Alle nickten eifrig, dann wanderte ihr Blick von Song Fanping und Li Lan zu Song Gang und Glatzkopf-Li, und schließlich fingen sie an zu lachen, jeder nach seiner Fasson. »Aha, ihr habt also geheiratet! ... «, sagten sie schmunzelnd. Während Song Fanping und Li Lan in bester Stimmung weiterzogen und unermüdlich alle Bekannten, die sie trafen, über ihre Eheschließung informierten, rauchten diese die spendierten Hochzeits-Zigaretten, lutschten die HochzeitsBonbons, knusperten die Hochzeits-Puffbohnen und knackten die Hochzeits-Melonenkerne. Für die beiden Jungen hinter dem Karren jedoch, die buchstäblich alle Hände voll zu 69
tun hatten, ihre Schätze gegen die gefiederten Verfolger zu verteidigen, gab es nicht einmal einen Hochzeits-Furz. Beim Anblick all der schlemmenden Fremden lief ihnen erst recht das Wasser im Mund zusammen, aber es half alles nichts: Sie konnten nur ihre eigene Spucke schlucken. Die Leute auf der Straße hatten mittlerweile genügend Gesprächsstoff. Welcher von den Jungen ist wohl der Klotz am Bein, wenn Song Fanping und Li Lan sich jetzt zusammentun? So rätselten sie untereinander. Am Ende kamen sie zu dem Schluss: »Alle beide!« Zu den Eltern aber sagten sie: »Passen wirklich gut zusammen, die beiden Buben! ... « Schließlich kamen die vier vor Song Fanpings Haus an. Damit war endlich die eher an einen Vorbeimarsch erinnernde Hochzeitsfeier vorbei. Song Fanping trug die Sachen vom Karren ins Haus, während Li Lan noch vor der Tür stehen blieb und aus ihrem Holzkübel Knabberzeug verteilte, diesmal an Songs Nachbarn. Der Eimer war allerdings schon ziemlich leer, und wenn sie hineingriff, bekam sie immer weniger zu fassen. Glatzkopf-Li und Song Gang lagen inzwischen schon bäuchlings auf dem Bett im hinteren Zimmer, vor sich das Knabberzeug, das feucht und klebrig war, weil sie es die ganze Zeit mit ihren verschwitzten Händen umkrampft hatten. So groß war ihre Gier, dass sie jetzt die ganzen Puffbohnen, Melonenkerne und Bonbons auf einmal in den Mund stopften. Rund und aufgebläht, wie ihre Wangen mit einem Mal waren, erinnerten ihre Gesichter an Kinderpopos. Ihre Münder konnten sie allerdings auf diese Weise nicht mehr bewegen, also mussten sie auch jetzt noch weiter darben. 70
In diesem Moment rief Song Fanping draußen vor dem Haus ihre Namen. Die Schaulustigen, die sich dort drängten, hatten sich an den wiederverheirateten Hochzeitern satt gesehen und wollten jetzt die Söhne des Paares in Augenschein nehmen. Als Glatzkopf-Li und Song Gang auf der Bildfläche erschienen, die Münder immer noch so prall gefüllt, dass ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengt waren, brach ein Sturm des Gelächters los. »Ihr habt wohl was Leckeres im Mund?«, fragten die Leute. Die Jungen schwankten zwischen Nicken und Kopfschütteln - sprechen konnten sie ja nicht. Einer von den Gaffern sagte grinsend: »Den Mund haben die beiden ja wirklich voll. Prall wie ein frisch aufgepumpter Fußball! Aber ein bisschen Platz ist immer noch!« Sprach's und lief in Song Fanpings Haus, wo er nach kurzer Suche die Deckel von zwei weißen Porzellantrinkbechern fand, deren Form rund mit einem Knubbel in der Mitte - entfernt an eine Frauenbrust erinnerte. Jedem von den bei den Jungen steckte er einen Knubbel zwischen die Lippen, womit er einen ungeheuren Heiterkeitserfolg bei den Umstehenden erzielte. Die Leute kriegten sich überhaupt nicht mehr ein, lachten nicht nur Tränen, sondern auch Rotz und Spucke und sogar Fürze, weil in ihren Augen Glatzkopf-Li und Song Gang mit den Porzellannippeln im Mund aussahen wie zwei Säuglinge an der Mutterbrust, sprich: an Li Lans Brust. Li Lan, hochrot vor Verlegenheit, schaute Hilfe suchend zu ihrem neuen Ehemann hinüber, der ebenso peinlich berührt war wie sie, und den Kindern die Porzellandeckel aus dem Mund nahm. 71
»Geht rein!«, sagte er. Glatzkopf-Li und Song Gang legten sich abermals auf das Bett, immer noch mit ihren vollgestopften, bewegungsunfähigen Mündern, und sahen einander kummervoll an. So viel Leckeres hatten sie im Mund, und konnten doch nichts davon genießen! Glatzkopf-Li reagierte als Erster: Rasch holte er Stück für Stück mit zwei Fingern das Knabberzeug heraus. Song Gang folgte seinem Beispiel. Dann lagen die wieder ausgegrabenen Puffbohnen, Melonenkerne und Bonbons, klebrig und schleimig glänzend wie Rotz, in zwei Häufchen vor ihnen auf dem eben noch makellos reinen Laken des Hochzeitsbetts. Als die Jungen nun Bohnen und Kerne einzeln in den Mund steckten, mussten sie feststellen, dass sie denselben nicht mehr zukriegten sie hatten ihn allzu lange überdehnt. Ein mitleiderregendes Bild, wie die beiden einander hilf- und ratlos auf die weit aufgesperrten Münder starrten! In diesem Augenblick riefen draußen Song Fanping und Li Lan ein weiteres Mal nach ihnen. Inzwischen waren nämlich Li Lans Nachbarinnen und Nachbarn mitsamt ihren Kindern - Mittelschüler oder noch kleiner - eingetroffen, nachdem sie sich unterwegs mühsam bis zu Song Fanpings Haus durchgefragt hatten. Li Lan war erstaunt und erfreut, sie zu sehen, aber ihre Freude war so kurzlebig wie ein Niesen und schlug im Nu in Enttäuschung um. Denn die Leute waren keineswegs gekommen, um ihr und Song Fanping zur Hochzeit zu gratulieren. Vielmehr waren sie auf der Suche nach ihren vermissten Hennen und Hähnen, die Glatzkopf-Li und Song Gang bis auf die Haupt-
72
straße hinterhergelaufen waren. Was danach mit ihnen geschehen war, wusste niemand. Die erregten Besitzer des verirrten Federviehs redeten auf Li Lan und Song Fanping ein: »Wo sind die Hühner, verdammt noch mal? Wo sind sie geblieben?« Die Jungverheirateten hatten keine Ahnung, wovon die Leute redeten. »Was für Hühner?«, fragten sie. »Unsere Hühner!« Aufgeregt durcheinander schreiend, beschrieben Li Lans Nachbarn, wie ihre Hühner aussahen. Viele Leute hätten beobachtet, riefen sie, wie ihr Federvieh hinter den bei den Jungen her auf die Hauptstraße gelaufen sei. Song Fanping wunderte sich: »Hunde laufen hinter Menschen her, das ist bekannt. Aber Hühner? Wie sind sie denn auf die Straße gelangt?« Die erbosten Hühner-Besitzer schrien, viele hätten gesehen, wie Glatzkopf-Li und Song Gang - diese kleinen Bastarde! unterwegs ihren Hennen und Hähnen Melonenkerne und Puffbohnen hingestreut hätten, die dann natürlich von ihnen aufgepickt worden seien. Bis zur Hauptstraße hätten die Kinder sie gelockt! Dies war der Moment, da Song Fanping und Li Lan die beiden nach draußen riefen. »Wo sind die Hühner? Die Hühner!«, stellten sie sie zur Rede: Die beiden konnten ihre aufgerissenen Münder nicht bewegen, sodass sie nur mit heftigem Kopfschütteln ihre absolute Ahnungslosigkeit kundtun konnten. Der elfköpfige Hühner-Suchtrupp, der die Jungen umringte, bestand aus drei Männern, drei Frauen und drei Mittelschülern, dazu noch zwei Jungen, die vielleicht drei oder vier Jahre älter waren als Glatzkopf-Li und Song Gang. 73
Alle redeten auf die beiden ein: »Wo sind die Hühner? Stimmt es, dass sie hinter euch hergelaufen sind?« Als Glatzkopf-Li und Song Gang nickten, drehten sich die Verhörer zu Song Fanping und Li Lan um und riefen: »Habt ihr's gesehen? Sie haben genickt, die kleinen Bastarde!« Dann wandten sie sich erneut den Jungen zu: »Wo sind die Hühner? Verdammt noch mal, wo stecken sie?« Glatzkopf-Li und Song Gang schüttelten den Kopf. Das brachte die Leute erst recht in Wut: »Eben haben sie noch genickt, die Bastarde! Und jetzt schütteln sie den Kopfl« Hühner seien keine Flöhe oder Läuse, schrien sie, die könnten nicht plötzlich einfach so von der Bildfläche verschwinden - sie würden sie jetzt suchen! Und schon waren sie in Song Fanpings Haus, rissen Schränke und Schubladen auf, stöberten unter den Betten und kontrollierten den Inhalt von Töpfen und Schüsseln. Der langhaarige Mittelschüler, jener Sun Wei, schaute Glatzkopf-Li und Song Gang in die Münder und machte die Riechprobe, um zu prüfen, ob sie am Ende nach Hühnerfleisch rochen. Er war sich aber nicht sicher, sodass er Zhao Shengli und, als auch dieser im Zweifel war, Liu Chenggong in die Münder der bei den Jungen hineinriechen ließ. Liu Chenggong schnupperte und befand schließlich: »Ich glaube eigentlich nicht.« Als die Durchsuchung auch nicht das kleinste Hühnerfederchen zutage förderte, verließen die Leute unflätig fluchend und schimpfend das Haus. Song Fanping war inzwischen nicht mehr der freudestrahlende Bräutigam von vor ein paar Minuten, sondern ein totenbleicher Bräutigam, den seine ebenso leichenblasse Braut ängstlich am Jackenzipfel fes74
thielt, da sie ahnte, ihr frischgebackener Ehemann war kurz davor, handgreiflich zu werden. Song Fanping schluckte jedoch seinen Ärger mit übermenschlicher Anstrengung hinunter und reagierte nicht einmal auf die wüsten Beschuldigungen der Eindringlinge, maß sie lediglich mit finsteren Blicken. Draußen setzte der Suchtrupp die Fahndung mit unvermindertem Eifer fort. Nicht einmal der Brunnen wurde ausgelassen, doch die Leute, die nacheinander ihre Köpfe hineinsteckten, erblickten statt ihrer vermissten Hühner nur das eigene Spiegelbild im Wasser. Die Mittelschüler waren wie drei Äffchen auf einen Baum geklettert, um von dort aus nachzuschauen, ob die Hühner vielleicht auf dem Dach seien. Hühner sähen sie keine, schrien sie, aber ein paar Spatzen hüpften dort umher! Nachdem die Leute nichts gefunden hatten, zogen sie wieder ab ohne ein Wort der Entschuldigung. Im Gegenteil: Sie schimpften und zeterten immer noch weiter. Jemand höhnte: »Vielleicht sind sie ja im Klo ertrunken! Beim Ausspionieren von Frauenärschen!« »Interessieren sich Hühner überhaupt für Frauenärsche?« »Hähne schon!« Großes Gelächter - vielmehr: Wiehern - seitens der Männer, Kichern seitens der Frauen. Li Lan zitterte inzwischen am ganzen Körper. Sie wagte nicht einmal mehr, Song Fanpings Jackenzipfel anzufassen, so schuldbewusst war sie, dass sie ihren frisch angetrauten Ehemann mit in diesen alten Skandal hineingezogen hatte. Song Fanping konnte es kaum mehr ertragen, wie die abziehenden Spötter sich gegenseitig die Bälle zuspielten: »Und die Hühner?« 75
»Die warten darauf, dass die Hähne ersaufen! Dann können sie wieder heiraten.« »Komm mal her!«, brüllte Song und zeigte auf den Mann, von dem diese letzte Bemerkung stammte. Alle blieben stehen und wandten sich geschlossen zu ihm um: die drei Männer und die drei Mittelschüler, dazu die drei Frauen und die beiden kleineren Kinder. Song Fanping rief: »Kommt alle hierher!« Jetzt erst recht belustigt, kamen die drei Männer und die drei Mittelschüler zurück und umringten Song Fanping, während die drei Frauen mit den beiden kleineren Jungen an der Hand sich daneben aufstellten, um sich das zu erwartende Schauspiel aus sicherer Entfernung anzuschauen. Im Bewusstsein ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit machten sie sich über Song lustig und fragten, ob er sie vielleicht zum Hochzeits-Schnaps einladen wolle. Mit einem Unheil verkündenden Lächeln antwortete er: »Schnaps gibt's hier keinen, nur Fäuste!« Er zeigte auf einen von den Männern und sagte: »Sag noch mal, was du eben gesagt hast!« Dreckig grinsend fragte der Mann zurück: »Was habe ich denn eben gesagt?« Song Fanping zögerte kurz, dann erwiderte er: »Irgendwas mit Hühnern.« »Ach das!« Der Mann tat, als erinnere er sich mit Mühe. »Ich soll das noch mal sagen?«, vergewisserte er sich. »Wenn du es wagst, das noch einmal zu sagen«, versetzte Song, »dann polier ich dir die Fresse!« Mit einem Seitenblick auf seine Kumpane - und die drei Mittelschüler - fragte der Mann grinsend: »Und wenn nicht?« 76
Song Fanping stutzte einen Moment, dann lächelte er bitter und sagte mit einer wegwerfenden Handbewegung: »Ach, haut schon ab!« Große Heiterkeit ringsumher. Die drei Mittelschüler versperrten Song den Weg und fragten im Chor: »Heiraten die Hennen jemand anders, wenn die Hähne ertrunken sind?« Song Fanping ballte die Faust, ließ sie aber gleich wieder sinken und sah die drei nur kopfschüttelnd an, schob sie beiseite und wollte ins Haus zurück. Da sagte der Mann, der eben schon gesprochen hatte: »Was heißt hier >jemand anders