„Brautjagd“ von Thomas Knip
der Geburtenrate beschäftigt; sie waren sich nicht sicher, ob es an der Zunahme allgemeine...
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„Brautjagd“ von Thomas Knip
der Geburtenrate beschäftigt; sie waren sich nicht sicher, ob es an der Zunahme allgemeiner Strahlung lag oder an einer anatomischen Veränderung, die den Frauen Geburten immer mehr erschwerten. Immer mehr Frauen waren gebärunfähig, und die Zahl an Totgeburten nahm stetig zu. Und sicher war nur, dass „Thyne Hope“ seit knapp zehn Jahren eine Lösung für dieses eine Problem bot. Wie für viele andere auch. Doch diese Lösungen hatten zu solch weitreichenden Veränderungen in der Gesellschaft geführt, dass politische Entscheidungen auf die Entwicklung nur noch reagieren konnten. Aufhalten konnten sie sie nicht mehr. Geklonte Menschen, in ihrer Erbanlage zusammengesetzt aus modifizierter DNA verschiedener Träger, resistent gegen jeweils nur ein „störendes Element“, das der Menschheit im Lauf der letzten zweihundert Jahre das Überleben erschwert hatte. Ausgestattet mit gewissen Grundrechten, kamen sie in ihrer Stellung dennoch nahe an die der Sklaven im Nordamerika des 19. Jahrhundert. Sie konnten gekauft werden, sie waren Besitz, sie besaßen keine individuellen Rechte. Sei es „TomTom“, resistent gegen Strahlung in den Bergwerken der Kolonien auf Mond und Mars, „Liquidd“ zur Jagd nach den Fischschwärmen, die sich in immer tiefere Bereiche der Ozeane zurückgezogen hatten, oder eben „Lisa“, Glücksbringer für verzweifelte Eltern. Ortiz steckte seine ID-Karte in den unscheinbaren Schlitz rechts neben der verschlossenen Tür. Ein schwach sichtbarer Scanner tastete seinen Körper mit einem grünlich leuchtenden Gitternetz ab und verglich die biometrischen Muster mit den Angaben auf dem Chip der Karte. Peitschend riss der feuchte Wind an Nathaniels Mantelenden, und ein leichter
„Du bist sicher, dass sie hier rein ist?“ Nathaniel Ortiz blickte zweifelnd auf das kleine Display in seiner Hand. Hinter ihm löste sich der dunkle Schatten des AeroGleiters vom Anlege-Dock und schwebte lautlos zurück in die Tiefe der Stadt. Der Wind zerrte an seinem Mantel und unterlegte die Stimme aus dem Lautsprecher mit einem leichten Quäken. „Wir haben eine klare Erfassung ihres Neuralchips, Nate. Keine Ahnung, wie sie es geschafft hat, die Sperren zu überwinden. Sieht so aus, als ob sie Hilfe hat. Sei also vorsichtig.“ Ortiz verzog die Lippen. Wenn eine gesuchte Person genau dorthin flüchtete, wo der Mann zu finden war, der sie suchte, wurde er mehr als nur misstrauisch. Er hob seinen Kopf an. Das Ende des Wolkenkratzers konnte er nur irgendwo dort oben vermuten, in diesem schlierigen Dämmerlicht des dunstverhangenen Himmels, das sich im schwarzen, metallisch glänzenden Glas der Fassade widerspiegelte. Der Thevissen-Komplex war wie die meisten Geschäftsgebäude in mehrere Ebenen unterteilt. Im unteren Bereich die allgemein zugänglichen Etagen mit allen möglichen Einkaufsund Freizeitmöglichkeiten, direkt darüber der Wohnbereich. Doch den dritten, den Geschäftsbereich des jeweiligen Unternehmens, konnte man eigentlich nur betreten, wenn man dazu autorisiert war. Und dieses Mädchen, das er suchte, war mit Sicherheit nicht dazu berechtigt. Lisa-28, speziell genetisch konditioniert auf komplikationsfreie Geburten. Geflüchtet vor drei Tagen. Gesucht mit Verdacht auf illegale Abtreibung. Zahlreiche Wissenschaftler der nördlichen Hemisphäre hatten sich seit Beginn des Jahrhunderts mit dem Problem
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Ortiz unterbrach die Verbindung und steckte das ComPalm in seine Manteltasche. Vor ihm öffnete sich der weite Raum einer Empfangshalle. Dieses Stockwerk war die Drehscheibe für alle Aufzüge in die oberen Bereiche. Zu den Bürozeiten herrschte hier eine rege Tätigkeit, doch jetzt, am frühen Abend, verloren sich die wenigen Personen in der großzügig eingerichteten Anlage. Verglichen mit dem Klima draußen begrüßte ihn hier das Paradies. Weit geschwungene Treppen und Balustraden durchzogen den mehr als acht Meter hohen Saal und spannten sich über eine lichtdurchflutete, grüne Oase, in der helles Vogelgezwitscher echter Tiere die klare, angereicherte Luft erfüllte. Ortiz ging zielstrebig auf den zentral gelegenen Empfangsterminal zu, an dem ihn zwei asiatische Schönheiten lächelnd begrüßten. Seine metallbeschlagenen Stiefel erzeugten auf dem gekachelten Boden einen dumpfen Widerhall. Er lehnte sich gegen das Pult aus dunklem Obsidian, wobei er sich der zierlichen Asiatin zu seiner Rechten vorstellte. Ihr Lächeln fror etwas ein, als er ihr sagte, weshalb er hier sei. Während sie ihn mit einem Seitenblick im Auge behielt, wandte sie sich etwas von ihm ab und aktivierte das an ihrem rechten Ohr angebrachte Comlink. Ohne ihn eines weiteren Blicks zu würdigen, widmete sie sich in der Zeit, in der sie auf Antwort wartete, dankbar einem Kunden in dunklem Anzug, der jedoch nur wissen wollte, wie er zur Unterhaltungsebene kam. Die nächsten Minuten betrachtete Nathaniel die kleine Asiatin, die kaum älter als siebzehn sein mochte, wie sie immer kurz nickte, wobei ihre wachen Augen imaginäre Punkte im Raum ansteuerten, tunlichst darauf bedacht, Blickkontakt mit ihm zu vermeiden. Sie bestätigte die überspielten Informationen mit einer kurzen Antwort auf Japanisch. Die meisten Menschen taten sich damit bis heute schwer, dass Englisch als Geschäftssprache 2028 durch Japanisch
Regen setzte ein. Er befand sich im 80. Stockwerk. Natürlich verlor die Klimaregulierung der City hier oben an Wirkung. Und natürlich gab es gesicherte Zugänge im Inneren des Gebäudes, die bereits von der Lobby aus in die oberen Bereiche führten. Aber die standen nur befugten Personen zur Verfügung. Leute wie er, Sauberhalter, zählten nicht zu dieser Kategorie. Es war den Kunden meist unangenehm, auf private Sicherheitskonzerne zurückzugreifen, denn es bedeutete, dass sie ein Problem hatten, das weder der unterbesetzte Polizeiapparat noch ihre eigenen Sicherheitsdienste zu lösen vermochten. TriLogic, die Firma, für die er arbeitete, war eine der anerkanntesten. Natürlich ging Juliet Arnold, die Besitzern, auf Thevissens Empfängen ein und aus und ließ sich hofieren. Sie sorgte dafür, dass der Dreck der oberen Klasse nicht bis zum Boden durchrieselte. Und vor allem nicht bis zu den Medien. Nur versuchte man den Kontakt mit jenen Leuten, die die Arbeit für sie machten, gerne zu vermeiden. „Träumst du, Nate? Die Tür steht seit einer Minute offen.“ Jonathan, eine Steuerperson. Seine Steuerperson. Eingerichtet, nachdem die Aktionen diverser Sauberhalter den Unmut der wohlhabenden Bevölkerung hervorgerufen hatten. Bevor sich die Sicherheitskonzerne mit einer Schließung konfrontiert sehen wollten, richteten sie diese halbstaatlichen Wachhunde für ihre Mitarbeiter ein. Ortiz fragte sich manchmal, ob sie nicht genauso eine Klonvariante waren, denn alle, mit denen er bisher zu tun hatte, waren mit dem gleichen ätzenden Humor ausgestattet, der sie so sympathisch machte. „Das ist nicht verboten, oder? Also fick dich ins Knie!“, erwiderte er nur unwillig in das Display des ComPalm in seiner Linken. „Ahaha! Wenn ich welche hätte! Wenn ich wel-“
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kugeligen Kopf leicht vor. Nathaniel grinste ihn an. „Du glaubst nicht, dass ich danach fragen werde, oder?“ „Nicht, bitte! Komm ... das gibt mehr als Ärger! Ich brauch‘ den Job!“ Die ID-Karte verschwand in einem Terminal neben den Schächten. Ortiz nahm die Karte wieder an sich. Ein leises Klingeln ertönte, und in der Röhre öffnete sich sirrend eine Tür, die hinter ihm mit dem Material der gläsernen Wände nahtlos verschmolz. „Nate, hey!“ Er betrachtete sich kurz das Infodisplay und verschaffte sich einen Überblick über den Aufbau der Stockwerke. „Hallooo!“ Seine Finger wanderten über einen Bereich knapp unterhalb des obersten Stockwerks. Fließend setzte sich der Aufzug in Bewegung und trug Ortiz nach oben. „Schweinebacke!“ Er lächelte finster und schaltete das ComPalm wieder ab.
ersetzt worden war – die Oberschicht hingegen war dankbar, eine Elitesprache gefunden zu haben, um sich geschickt von der breiten Masse abheben zu können. Geschäftsmäßig lächelte sie Ortiz zu und bat ihn um seine ID-Karte. Sie steckte sie in den Terminal vor sich und zog sie nach wenigen Sekunden wieder heraus. „Hiermit haben Sie für vier Stunden Zugang zu allen Bereichen des oberen Gebäudes. Nach Ablauf dieser Zeit werden wir Ihre Anwesenheit als unbefugtes Eindringen auf Level 80 plus verfolgen lassen. Wir wünschen ihnen einen schönen Tag!“, beendete sie ihre frostige Erklärung. Ortiz lächelte nicht weniger routiniert eiskalt zurück. Er zog seine großkalibrige Pistole aus dem Holster und entsicherte sie mit einem hörbaren Schnappen, um sie dann wieder betont auffällig verschwinden zu lassen. Das Gesicht der Asiatin gefror zu einer Grimasse. „Sie werden doch nicht -?“, entfuhr es ihr leise. „- den Boden schmutzig machen?“, beendete er ihre Frage. „Nicht, wenn es sich vermeiden lässt, Kleines.“ Ein paar Cagney-Filme zuviel gestreamt, schalt er sich innerlich, doch er genoss den unsicheren, versucht streng wirkenden Blick, mit dem sie ihn verabschiedete. Er ging ein paar Schritt zur Seite, schaltete sein ComPalm auf Empfang und ließ sich mit seiner Steuerperson verbinden. „Irgendwelche Informationen, John?“ Das kleine Display flimmerte grünlich. Ein dickliches, haarloses Gesicht zeichnete sich darauf ab. „Nichts, Nate. Du scheinst dich durch die ganzen Stockwerke wühlen zu müssen, gnobgnobgnob.“ „Ich denke, ich werde oben anfangen. Sie kommt nicht umsonst in die Höhle des Löwen.“ Ortiz lenkte seine Schritte zu den zentral gelegenen Expressaufzügen, die sich wie gläserne Pfeiler nach oben zogen. „Du glaubst, du kommst zu Thevissen durch?“ Jonathan beugte seinem kleinen
Der Lift öffnete sich zu einem runden, knapp fünf Meter durchmessenden Eingangsbereich. Links und rechts stand jeweils ein niedriger Empfangspult, aus dem nur ein schmaler Monitor ragte. Spartanisch platzierte Pflanzen wechselten sich mit Hologrammbildern ab, die Ortiz‘ Meinung nach nur nach psychologischen Gesichtspunkten ausgewählt worden waren. Er war völlig allein. Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn. Normalerweise hätte ihn hier oben ebenso jemand empfangen müssen. Niemand konnte in abgetrennte Bereiche vorstoßen, ohne wieder und wieder überprüft zu werden. „Hallo“, rief er in die Leere des Raumes, und wie vermutet erhielt er keine Antwort. Ortiz löste die schwere 0.50Halbautomatik aus dem Holster und trat vorsichtig aus dem Lift. Leise, beruhigende Musik empfing ihn und schlich sich
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Wand. Ortiz sprang vor, orientierte sich kurz und riss die Waffe hoch. „Stehenbleiben“, presste er kurz hervor und zielte auf den Schatten, der sich hinter dem Schreibtisch zu seiner Rechten versteckte. „Gott, nein ...“, kam eine keuchende Antwort. Ein kurzes Husten folgte. „Bitte! Nicht; ich kann ... -“ Ortiz machte einen Schritt zur Seite und fluchte. Er steckte die Waffe weg und riss sein ComPalm hervor. „John? Sofort ein Medic-Team in den 148. Stock. Nimm meine Peilung. Opfer, männlich, schwerverletzt. Schusswunde.“ Er wartete die Bestätigung nicht ab und beugte sich neben dem Mann nieder, der sich nur mühsam gegen einen Pflanzenkübel in seinem Rücken lehnte. Sein graublauer Anzug, der mehr gekostet haben mochte, als Ortiz in einem Monat verdiente, war an der linken Hüfte blutdurchtränkt. „Ruhig“, flüsterte er dem Mann zu, der kaum älter als Anfang zwanzig aussah. „Wer sind Sie?“ „Rudgers“, entgegnete dieser ihm und beugte sich vor. Ortiz legte ihm die Hand auf die Schulter und zwang ihn dazu, liegen zu bleiben. Er zog ein Polsterkissen von einem der Stühle und legte es unter den Kopf des Verwundeten. „Jasper Rudgers“, wiederholte der Mann. „Persönlicher Referent vor Sensei Thevissen.“ Schweiß perlte von seiner Stirn. Sein Atem ging rascher, als es Ortiz recht war. Er hoffte, die Ärzte kamen bald. „Was ist passiert?“, hakte er nach. Mit fiebrig leuchtenden Augen sah ihn der junge Mann an. „Ich war gerade dabei, meine Unterlagen zusammenzusuchen und mich -“, er zuckte hoch und verzog die Lippen schmerzerfüllt, „- mich fertig zu machen, als die beiden reinkamen.“ „Die beiden?“ Ortiz runzelte überrascht die Stirn. „Wer war das?“ „Ein Mann und eine Frau, beide jünger
dudelnd in sein Unterbewusstsein. Angespannt schlich er vorwärts, den Blick auf das andere Ende des Flurs gebannt. Aus dem Augenwinkel blickte er zurück zu den Pulten. Er hielt inne. Mit einem Kopfschütteln ging er zurück zu einem der Tische und betrachtete den flachen, ins Holz eingelassenen Bildschirm. Auf der schematischen Darstellung des Stockwerks leuchteten mehrere gleichmäßig verteilte Punkte. Nathaniel drückte auf den, der dem Rund des Eingangs am nächsten war. Wie erhofft öffnete sich ein kleines Fenster auf dem Touchscreen und zeigte ihm eine Videoübertragung jener Stelle. Zufrieden nickte er, versicherte sich, nichts übersehen zu haben und wählte dann die nächste Markierung an. Alle dargestellten Gänge oder Zimmer zeigten sich verlassen. Langsam war Ortiz die Wahl an Möglichkeiten durch. Er tippte auf die Fläche nahe eines zentral liegenden Raumes und betrachtete sich die uninteressante Zusammenstellung von Sitzgruppe und Pult, die im Halbdunkel lag. Doch etwas ließ ihn innehalten. Im Dämmerlicht schob sich ein Schatten über den Boden. Langsam, stockend in seinen Bewegungen. Ortiz merkte sich die Position des Raumes und rannte los. Die losen Enden seines Mantels schlugen gegen seinen Körper. Angespannt umschlossen die Finger den metallenen Griff der Waffe. Es war verblüffend, wie viel Sicherheit ihm dieses Gefühl nach all den Jahren immer noch gab. Niemand kam ihm in den Gängen entgegen. Nur das gleichmäßige leise Rauschen der Lüftung, die aromatisierte Düfte verteilte, begleitete seinen rauen Atem. Nathaniel erreichte die Tür zu jenem Zimmer, das er auf dem Bildschirm zuletzt kontrolliert hatte, und atmete tief durch, um seinen Pulsschlag zu beruhigen. Er brachte die Waffe in Anschlag und stieß mit dem linken Fuß die Tür auf. Nur halb angelehnt schwang sie heftig zurück und schlug krachend gegen die
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Sitzecke war der Raum nur spartanisch eingerichtet. Es gab keine Möglichkeit, sich hier zu verstecken, also durcheilte Ortiz das Zimmer mit weiten Schritten. Er suchte einen weiteren Ausgang. Hastig bog er um eine Raumblende, die den rechten hinteren Teil des Büros abtrennte und stolperte über eine am Boden liegende Frau. Der hintere Teil ihres Kopfes war eine einzige blutige Masse. Sie musste aus nächster Nähe erschossen worden sein. Direkt hinter ihr erhoben sich die schweren dunklen verschlossenen Türen eines privaten Aufzugs. Die Frau trug eine hautenge Uniform und ein Abzeichen auf ihrer linken Schulter, das Ortiz gut genug kannte – JenSec, einer ihrer Konkurrenten im Sicherheitsgewerbe. Anscheinend hatte sie Thevissen in Empfang nehmen wollen, um ihn zu begleiten, und war dabei ahnungslos in die Arme ihrer Mörder gelaufen. Ortiz fluchte. Das machte die Lage unangenehmer. Die beiden mussten den Unternehmer in ihrer Gewalt haben. Und sie waren skrupellos genug, sich ihren Weg freizuschießen. Dass Thevissen sich offensichtlich nicht nur auf einen Sicherheitsdienst verlassen wollte, beschäftigte ihn nicht wirklich. Er ließ sich mit dem Hauptempfang verbinden und befahl der Dame am anderen Ende, ihm die User-Daten des Aufzugs zu überspielen. Keine zwanzig Minuten war es her, dass der Aufzug nach oben zum Flugdeck bewegt wurde. Ortiz schlug mit der flachen Hand gegen den Schalter und wartete. Es dauerte nur Sekunden, bis sich die Tür vor ihm öffnete. Hastig stieg er ein und betrachtete das Bedienungspanel. Es gab nur einen Schalter nach oben und nach unten, ohne dass einzelne Stockwerke angezeigt wurden. Nathaniel lächelte. Schön, wenn einem die Wahl abgenommen wurde. Er schnippte mit dem Finger gegen die Taste, die nach oben zeigte, und betrachtete sich die runde Kabine. Das matte, gedämpft leuchtende Aluminium wirkte völlig sauber. Dann jedoch
als ich“, kam die Antwort. „Sie verlangten Thevissen zu sprechen. Als ich ihnen sagte, dass er nicht da sei, riss der Mann eine Waffe heraus und bedrohte mich, ich solle den Zugang zum Büro freigeben.“ Rudgers Lippen zuckten. „Ich wiederholte, er sei schon gegangen, da brüllte mich der Mann an, die Frau schrie und ich wurde nach hinten gerissen. Das ging alles so schnell, dass ich nicht mal mehr Alarm geben konnte. Komisch, man merkt zuerst gar nicht, dass auf einen geschossen wird.“ Ein schwaches Lächeln kam über seine Lippen. „Wie lange ist das her?“, wollte Nathaniel wissen. Thevissens Angestellter schüttelte leicht den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich wurde ohnmächtig, und vor ein paar Minuten wachte ich wieder auf.“ Ortiz kramte sein ComPalm hervor und aktivierte eine Datei auf dem Display. „War es diese Frau?“ Er hielt Rudgers das Gerät nahe vor die Augen. Dieser nickte bestätigend. „Eine Verbrecherin?“, wollte er wissen. Ortiz grinste müde. „Nein, nur ein Auftrag. Nichts für die Nachrichten.“ Er legte Rudgers in eine Seitenlage und stand auf. „Ärzte werden gleich kommen. Ich muss den beiden nach.“ Der junge Mann nickte nur unbeteiligt. Sein Kopf sackte leicht nach vorne. Ortiz sah ihn kurz an und setzte dann seinen Weg vor. Es war ihm nicht recht, den Verwundeten hier zurücklassen zu müssen. Die Tür zum gegenüberliegenden Raum stand offen. Er zog die Waffe erneut und sah vorsichtig in das, was er für Thevissen Büro hielt. In seinen Ausmaßen mochte das Zimmer die Hälfte des Stockwerks einnehmen. Weite Panoramafenster eröffneten einen freien Ausblick auf die lichtdurchflutete Stadt und schwangen am oberen Ende nach innen, um soviel Himmel wie möglich einzufangen. Außer einem gewaltigen Schreibtisch und einer mit Pflanzen und einem in den Boden eingelassenen Brunnen geschmückten
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er in die Leere hinein. „Verdammt, holen Sie mich hier raus!“, folgte die prompte Antwort. „Wofür bezah- … agh!“ Die Geräusche eines kurzen Handgemenges erfüllten den Raum. Ortiz hob den Kopf und blickte über den Container hinweg. Die Gruppe befand sich keine zwanzig Meter von ihm entfernt vor ihm. Rechts konnte er den freien Himmel sehen. Auf der offenen Landefläche stand die gedrungene Form eines Aero-Gleiters. Bis zum dem Schiff gab es keine Deckung. Er nickte zufrieden. Spätestens hier konnte er die beiden stellen. „Verdammt, noch so eine Scheiße, und Sie haben einen toten Auftraggeber!“ „Das macht nichts. Wir sind versichert“, erwiderte Ortiz und sprang vor. Er feuerte eine kurze Salve in einem weiten Fächer in die Richtung der Stimmen. Hoch genug, um niemanden zu treffen, doch hoffentlich verschaffte ihm das einige Sekunden. Als Antwort folgten einige Schreie und Schüsse, die blind in verschiedene Richtungen gingen. Ortiz kauerte hinter einer breiten Säule und war zufrieden. Eine weibliche Stimme erklang leise. Er konnte nicht hören, was sie sagte, doch aus dem folgenden Disput konnte er schließen, dass sich beide nicht ganz einig waren. „Lisa? Bist du das?“, rief er in den Streit. „Hör‘ zu, ich glaube nicht, dass du geschossen hast, richtig?“ „Sei still, Mann!“, schrie ihm ihr Partner entgegen. Ortiz fuhr unbeirrt fort. „Du wirst nur wegen illegaler Abtreibung gesucht, Lisa. Mehr nicht. Und unbefugten Verlassens des Hauses. Dafür wirst du kaum belangt …“ „Halt‘ endlich die Klappe! Sie weiß, was sie will!“, folgte die Antwort. „Wirklich? Wolltest du wegen Mordes angeklagt werden? Die Wächterin dort unten ist tot. Der Angestellte auch“, Ortiz hoffte das Gegenteil. „Soll Thevissen auch noch dran glauben? Und was dann?“ In die Gruppe, die nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, kam Bewegung. Nach einigen Sekunden der Stille
entdeckte Ortiz einige rote Flecken an der Seite links hinter sich. Es war nicht viel, genug von einer aufgeplatzten Lippe etwa. Er fuhr mit dem Finger über die Stelle. Das Blut ließ sich noch zäh verreiben. Ein leichtes Klingeln ließ ihn herumfahren. Sirrend öffneten sich die Aufzugstüren, und ein Schuss bellte auf. Rechts über Ortiz schlugen Funken aus dem Metall. Sofort ging er in die Knie und riss die Pistole heraus. Ein zweiter Schuss schlug dumpf hinter ihm die Kabinenwand. Nathaniel zielte nach oben und feuerte. Das Deckenlicht des Aufzugs erlosch schlagartig. Sein Standort lag nun im gleichen Dämmerlicht wie der Rest des Stockwerks. Ein dritter Schuss pfiff bedenklich nahe an ihm vorbei. Ortiz spannte die Muskeln an und sprang aus der Kabine. Mehrmals rollte er über den Boden und schoss dabei blind in die Richtung, in der er den Schützen vermutete. Hart prallte er gegen einen metallenen Containerkoffer. Sofort robbte er hinter ihn. Etwas fauchte an ihm vorbei und zog eine heiße Spur über seine linke Wade. Er zischte auf und kniff die Augen zusammen. Rasch zog er das Bein nach und kauerte in der Deckung. Keuchend wartete er mehrere Sekunden, doch es tat sich nichts. Weder folgte ein weiterer Schuss noch waren Schritte zu hören. „Okay, hören Sie -!“, ergriff er die Initiative. Gleichzeitig schaltete er sein ComPalm auf offenen Empfang. „Sie kommen hier nicht raus. Meine Koordinaten stehen allen Sicherheitskräften zur Verfügung. Legen Sie mich um und Sie haben innerhalb von fünf Minuten mit den nächsten zu tun.“ „Mit denen werden wir auch fertig!“, antwortete ihm eine männliche Stimme aus der Ecke nahe des Hangars. „Das haben Sie doch unten schon gesehen, oder?“ Ein heiseres, gereizt klingendes Lachen folgte. Ortiz verbiss sich mehrere Flüche. So kam er nicht weiter. „Thevissen? Geht es Ihnen gut?“, fragte
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Abends. „Ich wollte ... -“, ein rasselnder Husten ließ ihn Blut spucken, „- ihr helfen. Menschen wie sie brauchen uns. Wir -“ ein heiserer Aufschrei löste sich aus der Kehle, „- wir bringen sie weg, bringen s ...-“ Sein Kopf sackte zur Seite. Die weit aufgerissenen Augen blickten stumpf ins Leere. „Idiot“, flüsterte Ortiz matt und stand auf. Ein paar Schritt von ihm entfernt erhob sich Thevissen vom Boden. Der Mann mit den kurzen, grau melierten Haaren wirkte benommen und konnte sich nur langsam sammeln. „Sie brauchen mir nicht zu danken, Sensei“, richtete sich Ortiz an ihn und blickte ihn an. Die Pistole verschwand unter seinem Mantel im elektronisch gesicherten Holster. „Danken?!“ Thevissens Blick klärte sich. „Sie haben Nerven! Seien Sie froh, wenn ich Juliet von Ihrer Inkompetenz nicht berichte! Sie hätten schon längst hier sein sollen!“ „Sie wird sich über aufmunternde Worte sicher freuen“, entgegnete Ortiz nur. Dialoge wie diese kannte er nur zu gut, und sie ermüdeten ihn. „Bringen Sie mir dieses dumme Ding von Zuchtkuh nach Hause, sorgen Sie dafür, dass dieser … dieser Kretin vom Boden gekratzt wird, und dann verschwinden Sie“, herrschte ihn der Manager an. Nathaniel verzog kurz die Lippen und drehte sich um, um nach dem KlonMädchen zu greifen. Überrascht ruckte sein Kopf hoch. Schnelle Schritte hallten über den schweren Beton. Ortiz erblickte die schlanke Gestalt der jungen Frau, die über das Flugdeck rannte. Einen Fluch auf den Lippen zerdrückend setzte er ihr nach. Die neuerlichen Tiraden Thevissens überhörte er geflissentlich. Schmerzen durchzogen sein verletztes linkes Bein. Der Streifschuss brannte und behinderte ihn beim Rennen. Lisa hastete über die freie Fläche hinweg. Ihr kurzes Haar wehte im heftigen
entbrannte eine heftige Diskussion zwischen der Frau und dem Mann. Ortiz schlich leise vorwärts. Da entdeckte er den silhouettenhaften schlanken Kopf einer Frau mit kurzen, glatten Haaren, der heftig umherfuhr, während eine Hand gestikulierte. Plötzlich schritt die Frau aus ihrer Deckung und trat ins Freie. „Hören Sie! Ich gebe auf! Bitte, ich will nur, dass es aufhört!“ Sie ging unsicher zur Seite. Eine kräftige Hand packte sie am linken Unterarm und zerrte sie zurück. Ortiz sprang vor und riss die Pistole hoch. Vor dem Hintergrund des dunkler werdenden Himmels zeichnete sich der schlanke Körper eines Mannes ab, der die junge Frau zurückzog. Sein rechter Arm, mit dem er seine Waffe hielt, schwang nach hinten. Er wollte das Gleichgewicht nicht wegen der Frau verlieren, die sich gegen ihn stemmte. „Fallen lassen!“, brüllte Ortiz nur. Der Mann stieß Lisa von sich und riss den rechten Arm hoch. Nathaniel drückte ohne zu zögern dreimal ab. Der schlanke Körper wurde von den Beinen gerissen, über mehrere kleine Kisten geschleudert und nach hinten geworfen. Sofort rannte Ortiz los. Er visierte Lisa an, doch die schrie nur auf und ging verängstigt in die Knie. Ihr Gesicht verbarg sie zwischen ihren Händen. Noch immer umklammerte der Mann, der tatsächlich kaum älter als zwanzig war, den altertümlichen Revolver. Schnell bildete sich eine dunkle Lache unter seinem verrenkt daliegenden Körper und durchtränkte das helle T-Shirt. Nathaniel trat mit dem Stiefel das rechte Handgelenk des Mannes nieder und hielt damit die Waffe zu Boden gerichtet. Er ging neben ihm in die Knie. „Was sollte das?“, fragte er nur kurz. „Sollte das eine Entführung werden? Wer bist du?“ Die Brust des Verletzten hob und senkte sich hektisch. Seine Augen flackerten irre in dem knappen Licht des beginnenden
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vor sich hin. Unmerklich machte Ortiz kleine Schritte nach vorne. Die ganze Zeit war sein Blick auf den schlanken Körper gebannt, der sich vor dem pastellfarbenen Himmel einem Schemen gleich abhob. Er war nur noch einen Meter von der Balustrade entfernt, als der Kopf der jungen Frau unvermutet hochfuhr. „Tut mir Leid“, lächelte sie ihn schmerzerfüllt an. Der Wind riss heftig an ihrem Körper. Wie in Zeitlupe lösten sich ihre schlanken Finger vom Geländer. Ortiz sprang vor und griff nach dem ausgestreckten Arm, doch seine Hände glitten an den zarten Fingern vorbei. Einem Blatt Papier gleich wurde die junge Frau davongeschleudert und verschwand wie ein Schatten in der flackernden Flut der Lichter in den Straßen. Ortiz schrie auf und versuchte den Körper mit seinem Blick festzuhalten. Lautlos verschwand der helle Fleck in der Tiefe. Seine Finger krallten sich in das leuchtende Metall des Geländers und zerrten in hilfloser Wut daran. Ein leises Dröhnen erklang hinter ihm. Fast lautlos hob Thevissens automatisch gesteuerter Gleiter vom Boden ab und verschwand im abendlichen Luftverkehr. Positionsmarken leuchteten in gleichmäßigen Abständen auf dem Deck matt auf. Wie betäubt stand Nathaniel auf der leeren Plattform und atmete heftig. Für den Geschäftsmann war die Angelegenheit damit offensichtlich erledigt. Ortiz wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, der sich in der frischen Luft kühl auf seine Haut legte. Der Streifschuss an seinem Bein brannte indessen immer stärker. Sein ComPalm klingelte. Mechanisch zog er es aus der Manteltasche und schaltete das Gerät ein. Auf dem Display zeichnete sich das schmale Gesicht einer Frau mit kurz geschorenen Haaren ab. „Nate? Ich muss mit dir reden. Mir geht’s nicht so gut und mir ist langweilig, und da dachte ich an dich.“ Ortiz‘ Augen schmerzten. „Nicht jetzt, Val“, entgegnete er nur
Abendwind. Sie wusste nicht, ob die Feuchtigkeit auf ihrer Wange Tränen waren oder vom gleichmütig fallenden Regen stammte. Alle ihre Gedanken schienen sich in diesen Augenblicken von ihr zu lösen wie welke Blätter. Vor ihr kam das Ende des kreisrunden Flugdecks immer näher. Ein niedriger Balkon aus milchigem Glas begrenzte den Boden. Schluchzend stolperte sie auf das dunkel blitzende Chromgeländer zu und hielt sich Trost suchend daran fest. Ihre Augen brannten, als sich ihr Blick nach unten richtete. Weit unter ihr öffnete sich das gähnender Nichts der Stadt, dessen zahllose Lichter mitleidlos funkelten. „Ende, Lisa“, erklang Ortiz‘ Stimme tonlos hinter ihr. Sie drehte ihren Kopf nur halb und sah, wie ihr der Mann mit dem pockennarbigen Gesicht seine rechte Hand entgegenstreckte. „Komm heim. Das alles hier wird keine Konsequenzen für dich haben.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. Ihre Augen suchten den Blick des Sauberhalters, doch dieser sah sie nur kühl an. Er trat einen Schritt nach vorne. Lisa schrie auf und machte einen hastigen Schritt über das Geländer. Ihre Füße fanden auf dem schmalen Absatz auf der anderen Seite nur wenig Halt. Schwer atmend hielt sie sich an der chromglänzenden Stange fest. Sofort hielt Ortiz inne. „Nicht, heyhey! Ich tu‘ dir doch nichts. Du sollst nur heim und -“ „Nein!“ Sie biss in ihre Unterlippe und schmeckte ihr eigenes Blut. „Nein“, wiederholte sie. „Ich gehe nicht zurück. Ich lasse mich nicht mehr gegen meinen Willen schwängern! Ich bin ein Mensch! Ich will ein eigenes Leben! Meine eigenen Kinder! Joel – -“ Sie blickte zurück in den Hangar und sah dann wieder Ortiz an. „Joel sollte mir helfen zu fliehen. Er kennt Leute, die helfen uns Klonen. Sie lassen uns leben. Wie wir wollen ...“ Lisa senkte den Kopf und weinte leise
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müde. „Ich bin nicht gut drauf.“ „Was?! Hör zu, nur weil du ab und zu mit mir schlafe- …“ Nathaniel warf einen kurzen Blick auf das ComPalm in seiner Hand und schleuderte es dann über die Balustrade, begleitet von leiser werdenden Flüchen der Frau am anderen Ende. Trudelnd
verschwand das schlanke Gerät im lichterfüllten Abgrund der Stadt. Schweigend rieb sich der Sauberhalter sein linkes Bein, während er den Weg zurück ins Innere des Gebäudes setzte. Am Horizont zeichnete sich der purpurne Schimmer der Abenddämmerung ab. Es regnete noch leicht.
ENDE
Brautjagd erscheint bei vph Verlag & Vertrieb Peter Hopf, Goethestr. 7, D-32469 Petershagen. © Copyright aller Beiträge 2004 bei Thomas Knip. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Verlag gestattet. Cover: Thomas Knip Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
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