Nr. 506
Bordnomaden
von Hubert Haensel
Es geschah im Dezember des Jahres 3586, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten...
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Nr. 506
Bordnomaden
von Hubert Haensel
Es geschah im Dezember des Jahres 3586, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten die SOL verließ und zur BASIS übersiedelte, nachdem er den Solgeborenen das Generationenschiff offiziell übergeben hatte. Die neuen Herren der SOL sahen sich somit endlich in die Lage versetzt, ih re Wünsche zu realisieren. Sie trennten sich von der Menschheit, um ihre eigenen Wege zu gehen. Sie betrachteten den Weltraum als ihren eigentli chen Lebensbereich und das Schiff als ihre Heimat — und die meisten von ihnen scheuten davor zurück, das Schiff zu verlassen und einen Himmels körper zu betreten. Seit der Zeit, da die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf gro ße Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs ge hört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit — und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten ent lassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert. Die chaotischen Verhältnisse an Bord des Schiffes zwingen den Arkoni den, das Leben eines Gejagten zu führen. Und so kommt es, daß Atlan bei seinen Streifzügen durch die SOL auch auf eine ganz spezielle Gruppe von Solanern stößt —die BORDNOMADEN . . .
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tig bewußt. „Nicht unsere Welt ist schlecht. Es Sie hatte gewußt, daß es eines Tages sind die Menschen, die in ihr leben." so kommen mußte, und doch hatte sie Überrascht sah Marra auf. Das wa sich immer davor verschlossen. ren die Worte eines Kindes, dennoch Ein Monster! steckte in ihnen mehr Weisheit und Welch schrecklichen Beigeschmack Lebenserfahrung, als das Alter vermu besaß dieses Wort. Welche Grausam ten ließ. keiten konnten sich darin ausdrücken. Sie konnte stolz sein auf ihre Zwil Sanft strich ihre Hand über weiches, linge. schulterlanges Haar. Ein Blick aus Sylva, die ältere von beiden war tiefgründigen blauen Augen dankte es schon eine richtige kleine Dame, ihrer ihr — ein Blick, der Mutter wie aus dem eine einzige stum Gesicht geschnit me Frage war. ten. Die großen, In all den langen hellen Augen, das Die Hauptpersonen des Romans: Jahren hatte sie nie blonde, gelockte Atlan — Der Arkonide bei der Gruppe die Hoffnung auf Haar — wenn Marra der Bordnomaden. gegeben. Nächte ihre Tochter ansah, Horm Brast, Mira Willem und Mark lang hatte sie wach glaubte sie, in einen Hartem — Drei Bordnomaden gelegen, von Alp Spiegel zu blicken. träumen immer Chart Deccon — Schiffsführer der Sylva hatte ge SOL. wieder aufge lernt, Schläge ein schreckt, sobald die Homer Gerigk — Ein verräterischer zustecken aber Magnide Müdigkeit sie über auch auszuteilen, mannte. Sollte wenn andere ihr zu Marra — Die Mutter eines Monsters. wirklich alles ver nahe traten. Sie gebens gewesen hing sehr an ihrer sein? jüngeren Schwe Zehn Jahre hatte sie ihre ganze Lie ster. be geschenkt, weil sie wußte, daß ei „Ich liebe Germa", hatte sie einmal nes Tages alles vorbei sein würde. gesagt. „So wie sie ist." Jetzt war die Zeit gekommen, aber sie Das war vor vielen Wochen gewe weigerte sich, das einzusehen. sen. „Marra . . . " Fast flehentlich sah das Aber wie weit würde ihre Liebe ge Mädchen zu ihr auf. „Mutter!" hen? Würde sie sich den Ferraten ent Sie wischte dem Kind die Tränen ab gegenstellen, wenn diese Jagd auf das und das Blut, das aus einigen Platz Monster machten? In den nächsten wunden sickerte. Tagen mußten die Brüder und Schwe „Warum? — Warum nur ist diese stern der sechsten Wertigkeit von Ger Welt so schlecht?" mas Existenz erfahren. Marra bemerkte nicht, daß sie ihre Sylvas Schwester war immer kränk Gedanken laut aussprach. Erst als sie lich gewesen. Und gerade in letzter eine Hand sanft auf ihrer Schulter Zeit schien sie von einer schnell fort spürte, wurde sie sich dessen schlagar schreitenden Auszehrung betroffen zu 1.
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sein. Fiebrig glänzend lagen ihre Au gen tief in den Höhlen, über ihren Wangenknochen spannte sich eine langsam verhärtende Haut. Marra befürchtete, daß bald auch Germas Gesicht ebensolche rissige Schuppen aufwies wie ihr übriger Körper. Lange genug hatte sie es vor den anderen aus ihrer Gemeinschaft verbergen können. Und niemand hat te je bemerkt, daß das Mädchen außer ihren beiden dürren Armen zwei wei tere besaß, jeder etwa dreißig Zenti meter lang. In Höhe der Hüftknochen wuchsen sie aus dem Körper. Das machte Germa zum Monster, zur Ausgestoßenen, die von nun an immer auf der Flucht sein würde. Wie ich jene hasse, dachte Marra, die nur stumpfsinnig in den Tag hinein le ben, denen drei Mahlzeiten bereits die Erfüllung bedeuten. Sie merken nicht, daß sie immer tiefer in einen Sumpf gezerrt werden, dem sie nicht entrin nen können. Sie fühlte es heiß in sich aufwallen. Plötzlich mußte sie nach Luft ringen. Ein eiserner Ring schien sich um ihren Brustkorb zu legen. „Mutter!" Wie aus weiter Ferne drang die Stimme in ihr Bewußtsein. Zwei Hände, die ihr über die Schlä fen strichen, holten die Frau in die Wirklichkeit zurück. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn; ein stechender Schmerz in ihrer Brust, der bis weit in den linken Arm ausstrahlte, machte das Atmen zur Qual. In letzter Zeit häuften sich Anfälle dieser Art. Allerdings war es nie so schlimm gewesen wie diesmal. Es ist das Herz, dachte Marra. Ich werde sterben. Sie fühlte keine Trauer, nur Mitleid
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mit ihren Kindern. Was sollte aus Germa werden, die vor wenigen Stunden erfahren hatte, was es hieß, anders zu sein als die anderen? Das Mädchen schluchzte leise vor sich hin. Marra fühlte Sylvas Blick auf ihr ruhen und wußte plötzlich, was sie zu tun hatte. Es gab einen Ausweg. Sie tastete hinter sich. Ihre Finger glitten über das glatte, kalte Metall des Bodens. Dann fühlte sie den Griff aus Plastik, der sich weich in ihre Hand schmiegte. Die Klinge des Mes sers war lang genug, um ein schnelles Ende zu machen. Erst Germa. dann sie selbst. Ich hasse euch! schrien Marras Ge danken. Euch alle, die ihr aus den Zu ständen an Bord der SOL Profit zieht. Aber sie meinte vor allem einen Mann, der ihr vor nunmehr fast elf Jahren begegnet war. Den Vater ihrer Kinder. In der Hierachie des Schiffes stand er ganz weit oben. Er besaß die Macht, über Tod und Leben zu ent scheiden. Und sie, Marra, hatte damals das Leben gewählt. Doch zu welchem Preis? Tränen traten ihr in die Augen, wäh rend sie das Messer langsam an sich zog. Germa war jetzt völlig ruhig. „Nicht, Mutter!" Sylva fiel ihr in den Arm. Zwei Kinderhände umklammer ten ihr Handgelenk. Aber Marra stieß dennoch zu. Sie wußte, wenn sie zö gerte, würde sie nie wieder den Mut dazu aufbringen. Im letzten Moment entriß Sylva ihr das Messer und schleuderte es an die Wand. Marra sackte haltlos in sich zu sammen. Sekundenlang herrschte völlige Stille. Dann erklang von irgendwoher das Wimmern auf Vollast laufender
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Aggregate. Eine Erschütterung durch lief die SZ-1. Ein zweiter, weitaus hef tigerer Stoß folgte. Die Wände der Ka bine schienen in Schwingung zu gera ten. Aber der seltsame Vorgang hielt nicht einmal eine Minute an. Danach war alles wieder wie vorher. Nur aus der Ferne erscholl das Schrillen einer Sirene. „Warum", herrschte Marra ihre älte ste Tochter an, „hast du mich daran gehindert?" „Ist der Tod eine Lösung?" fragte Sylva zurück. „Willst du Germa die letzte Hoffnung nehmen?" Für ihr Al ter war das Mädchen erstaunlich reif und verständig. „Die letzte Hoffnung?" Marra lachte schrill. „Hoffnung . . . worauf? Daß ei ner der Brüder sie erwischt, vielleicht gar dieser Aksel von Dhrau? Lieber soll sie durch meine Hand sterben. Glaube mir, ich weiß, was es heißt, mit der SOLAG konfrontiert zu werden." „Unser V a t e r . . . " , begann Sylva un verhofft. „Du hast nie mehr von ihm erzählt, als daß sein Name Homer ist." Marra schreckte auf. „Schweig!" zischte sie. „Ich will nichts davon hören." Aber Sylva bohrte weiter. „Du hast ihn nicht geliebt?" „Liebe, Kind — was ist das noch'"' Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit. „Sieh dir Germa an, dann weißt du, was du von deinen Mitmenschen zu erwarten hast." „Alle können nicht böse sein." „Die, deren Befehl Gesetz ist, schon." „Unser Vater ist einer der Brüder' " Marra schwieg. „Ich m u ß die Wahrheit wissen, Mut ter. Hat er schuld daran, daß Germa ein . . . ein Monster ist?"
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Die Frau schluckte krampfhaft. „Mag sein", nickte sie nach einer Weile. „Er wollte nichts als sein Ver gnügen, und ich mußte gehorchen." „Geh zu ihm. Er soll Germa helfen." „Sie beschützen womöglich? Oh nein, diese Demütigung würde ich nicht überleben. Homer Gerigk ist ein Mann, der sich nimmt, was er haben will und dich schon nach einer Stunde zum Teufel jagt, wenn er deiner über drüssig ist." „Welche W e r t i g k e i t . . . ? " „Er ist ein Magnide." „Dann", ein Lächeln huschte über Sylvas Züge, „kann er Germa helfen. Niemand wird es wagen, sich ihm zu widersetzen. Er muß sie ganz einfach bei sich aufnehmen, denn sie ist sein Fleisch und Blut." Traurig schüttelte Marra den Kopf. „Du bist zu jung, um das zu verstei hen", sagte sie. „Aber Homer hat be stimmt mehr Kinder als euch beide." „Laß uns zu ihm gehen. Mutter. Bit te. Wir sollten es wenigstens versu chen." „Die Wachen werden uns daran hin dern, den Mittelteil des Schiffes zu betreten." „Du warst einmal bei ihm", platzte Sylva heraus, „und kannst es wieder schaffen. Aber du willst nicht. Dir ist egal, was aus Germa wird. Gib es doch zu, du bist nicht anders als alle." Das Mädchen steigerte sich in einen zorni gen Redeschwall hinein. Marra machte den zaghaften Ver such einer Rechtfertigung. „Nein!" schrie Sylva sie an. „Wenn du Germa nicht hilfst, will ich nichts mehr von dir wissen." Mein Gott, dachte die Frau. Meine eigene Tochter klagt mich an. Was ha be ich bloß falsch gemacht?
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Damals vor elf Jahren, war sie jung gewesen, schön und begehrenswert. Homer Gerigk hatte sie trotzdem schon nach kurzer Zeit weggeschickt. Und heute . . . ? Ihr Gesicht war aufgedunsen, tiefe Falten hatten sich unter ihren Augen eingegraben, und ein Zug von Verbit terung lag um ihren Mund. Ihr Haar war grau gewoden und hatte seinen Glanz von einst verloren. Auch die Ge burt der beiden Kinder hatte deutli che Spuren hinterlassen. Wieder fuhr es ihr wie mit glühenden Nadeln durch die linke Brustseite. Kalter Schweiß trat Marra auf die Stirn. Sie fühlte eine stärker werdende Übelkeit in sich aufsteigen, die sie zwang, die Augen zu schließen. Alles um sie her schien mit einemmal in Be wegung begriffen zu sein. Doch schwanden die Symptome ebenso schnell wie sie aufgetreten wa ren. Zurück blieb die Furcht, schon der nächste Anfall könne der letzte sein. Diese Angstzustände, verbunden mit dem Gefühl, ersticken zu müssen, traten immer häufiger auf. „ . . . will ich nichts mehr von dir wissen!" Wie blanker Hohn klangen Sylvas Worte. In Gedanken glaubte Marra, sie immer wieder zu hören. Hatte sie das verdient? ..Bringe uns zu Homer Gerigk! Zei ge, daß du es wirklich ernst meinst!" Sie sah in Sylvas Augen, erkannte den winzigen Funken, der in ihnen glomm. Kindlicher Trotz war es, ge paart mit der Hoffnung des Unwissen den. Weshalb wehre ich mich eigentlich dagegen? schoß es ihr durch den Sinn. Wahrscheinlich habe ich nicht mehr lange zu leben. Soll meine Toch
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ter stets die Enttäuschung spüren, wenn sie an mich zurückdenkt? Falls sie wirklich die Verbindung zum Mittelteü erreichten, würden sie dort ohnehin zurückgewiesen werden. „Mag sein, daß du recht hast", hörte Marra sich sagen. „Wir werden uns auf den Weg machen."
Die Bildschirme zeigten einen zer klüfteten Felsbrocken, dessen mittle rer Durchmesser bei fünfhundertsie benundsechzig Meter lag. Er näherte sich der SOL mit rasender Geschwin digkeit und war deshalb erst vor weni gen Minuten entdeckt worden. Wenn man den augenblicklichen Kurs bei behielt, würde es in weniger als zehn Minuten unweigerlich zur Kollision kommen. Obwohl dem High Sideryt sämtli che Ortungsergebnisse in seine Klau se überspielt wurden, hatte er sich zu dem überraschend aufgetauchten Pro blem noch nicht geäußert. Glaubte er, daß die Magniden es auch ohne sein Zutun meistern konnten? „Wieviele Gläserne sind zur Zeit draußen?" wollte Nurmer wissen und kratzte sich gleichzeitig mit einer Hand den kahlen Schädel. Er zählte immerhin 102 Jahre, war damit der äl teste der Magniden und am längsten in Amt und Würden. Schon unter der Herrschaft Tineidbha Daraws und de ren Vorgänger hatte er zu den Brüdern der ersten Wertigkeit gehört. Obwohl sein schlaffes, runzliges Gesicht ihm eher einen Ausdruck von Behäbigkeit verlieh, zeugten seine blassen blauen Augen doch von gro ßer Intelligenz. Ständig waren sie in Bewegung. Ihnen schien nichts von
10 dem zu entgehen, was in der geräumi gen Zentrale im Mittelteil der SOL ge schah. „Fünfundzwanzig", antwortete Ur sula Grown, eine aufgedonnerte Frau mit künstlicher, blau gefärbter Haar pracht, aufgesetzten Biogeweben und gestrafften Haut- und Muskelpartien. Sie war 89 Jahre alt und mit 1,70 Meter auf den Zentimeter so groß wie Nur mer. „Die Buhrlos tummeln sich ir gendwo in der Nähe des Ringwulsts der SZ-2. Wahrscheinlich genießen sie es sogar, daß die SOL ohne Bestim mung durch den Raum treibt." „Einzig und allein dafür wurde das Schiff auch geschaffen", hakte Curie van Herling sofort ein. „Wir alle sind für den Weltraum geboren." „Blödsinn", winkte Ursula Grown heftig ab. „Was wir betreiben, ist nichts als eine unnötige Vergeudung von Energie und Material. Der Mensch wurde geboren, um seine Umwelt zu erforschen und zu immer neuen Er kenntnissen zu gelangen. Wo wären wir denn ohne unsere Neugierde, die man auch Wissensdrang nennen kann?" „Das ist überhaupt nicht das Pro blem", unterbrach Nurmer schroff. „Oh doch", fuhr Ursula Grown auf. „Wenn alle Menschen nur die Tradi tion wahren und sich jedem Neuen ge genüber verschließen, würden wir noch in Höhlen leben und mit Pfeil und Bogen auf Mammutjagd gehen." Curie van Herling platzte lauthals heraus. „Lache nur", wetterte Ursula. „Es wird dir bald vergehen — euch allen." „Und dir dazu", ließ Wajsto Kolsch vernehmen. „Die SOL hat nun ein Ziel, so wie ihr angeblich Fortschrittli chen es immer fordert."
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„Ja?" kam es verblüfft und ungläu big zugleich. „Mausefalle!" meinte Kolsch zy nisch. „Behaupte bloß nicht, daß wir daran schuld sind." Und ob ich das tue. Wer wollte un bedingt dieses System anfliegen?" „Nur um die Vorräte zu ergänzen. Außerdem macht sich unter den Pyr riden eine gewisse Unlust breit. Sie waren schon zu lange nicht mehr drau ßen." „Wohin eure blöden Forderungen führen, sieht man nun." Arjana Joe ster sah sich veranlaßt, für Wajsto Kolsch Partei zu ergreifen. Immerhin war es allgemein bekannt, daß sie inti me Beziehungen zueinander unter hielten. „Wir sind in einem Zugstrahl gefangen, gegen den selbst unsere Triebwerke nichts auszurichten ver mögen. Der uns verbliebene Aktions radius von 1.500 Kilometern ist gera dezu lächerlich gering im Vergleich zu dem, was die SOL zu leisten imstande ist." „Hätten wir ein Ziel, eine Aufgabe, wäre es nie nötig gewesen. Mausefalle anzufliegen", behauptete Ursula Grown. Lyta Kunduran deutete auf die Bild schirme und die eingespiegelten Ent fernungsangaben: „Falls es noch jemanden interes siert; der riesige Asteroid ist durchaus imstande, die Außenhülle der SOL aufzureißen.- Es wird Zeit, ein Aus weichmanöver zu fliegen." „Dann muß einer den Befehl geben, daß die Buhrlos eingeschleust wer den", sagte Ursula Grown. Nurmer wandte sich zu ihr um. „Wie lange sind sie schon draußen?" erkundigte er sich mit ausdruckloser
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Miene. Die Frau wußte genau, worauf er hinaus wollte. Nurmer war hinter E-kick her wie der Teufel hinter einer armen Seele. ..Knapp vier Stunden", antwortete sie wahrheitsgemäß. Die Reaktion des Mannes mit dem bis auf die Brust rei chenden silbernen Kinnbart interes sierte sie. Vielleicht können die Gläsernen im Raum bleiben", meinte er spontan. Es bedurfte eines Weltraumaufent haltes von mindestens fünf Stunden, damit die unsichtbare energetische Aura, mit der die Buhrlos sich auflu den, transformierbar wurde. „Sie stecken irgendwo in der Nähe der Ringwulsttriebwerke der SZ-2", erinnerte Ursula Grown. „Willst du, daß sie verglühen?" „Verdammt", platzte Nurmer her aus. Er hatte nicht die Absicht, auch nur auf ein Quentchen E-kick zu ver zichten. „Sie sollen sich zurückziehen aber auf keinen Fall das Schiff betre ten." Als er Ursulas forschenden Blick auf sich ruhen fühlte, fügte er rasch hinzu: „Vielleicht hilft uns ihre Di rektbeobachtung, wenigstens einen Teil des Rätsels zu lösen, das den ge heimnisvollen Zugstrahl umgibt." Über Funk gab jemand eine Nach richt an die Haematen durch, die mit den Buhrlos im All schwebten. Keine Minute später Hefen die Triebwerke an. Der Asteroid war mittlerweile ge fährlich nahe. „Wir sollten die Schutzschirme akti vieren", schlug Palo Bow vor. Aber Arjana Joester winkte ab. „Ist nicht mehr erforderlich." Die Positionsangaben auf ihrem Kontrollpult veränderten sich in ra scher Folge. Sie vermochte den
11 schnell wechselnden Daten kaum zu folgen. Nur manchmal stoppte sie den Zeilenlauf und ließ die Zahlen und Buchstaben länger stehen. Die SOL schwenkte herum. Distanzalarm wurde automatisch ausgelöst, von Hand jedoch sofort wie der unterbrochen. Nur wenig mehr als dreihundert Me ter von der SZ-1 entfernt raste der Asteroid vorüber. Seine Masse war groß genug, um die Schiffszelle kurz fristig zu beeinflussen. „Es kursieren die wildesten Gerüch te", ließ Wajsto vernehmen. „Viele So laner glauben, wir würden in den Schlund eines gigantischen Ungeheu ers hineingerissen. Dieser neuerliche Vorfall wird Anlaß für weitere Unru hen sein. Aber", Kolsch grinste still vergnügt vor sich hin, „möglicherwei se scheucht er einige Monster aus ih ren Verstecken auf." „Dein Jagdfieber erwacht?" fragte Arjana anzüglich. Kolschs große blaue Augen ruhten für eine Weile auf ihr. Mit seinen 1,91 Meter war er vor Palo Bow der Größte unter den Magniden. Eine durchaus imposante Erscheinung, denn er wirk te durchtrainiert, war sportlich und muskulös. Das harte Gesicht mit dem vorspringenden Kinn verlieh ihm ei nen kalten, berechnenden Ausdruck, der durch das kurzgeschnittene schwarzgraue Haar noch verstärkt wurde. Seine Freizeit verbrachte er, außer in Arjanas Armen, am liebsten mit der Jagd auf Monster und Extras, die ihn manchmal bis in die entlegensten Winkel der SOL führte. Auch gesellte er sich gelegentlich zu den Pyrriden, um an deren rüden Feiern teilzuneh men. Obwohl Chart Deccon, der High
12 Sideryt, ihm mehrmals sein diesbe zügliches Mißfallen zu verstehen gege ben hatte, ließ er nicht von seinen Ge wohnheiten ab. Wahrscheinlich lag dieses Verhalten in der Aufgabenstel lung der Brüder der vierten Wertigkeit begründet. Denn die Pyrriden hatten die SOL bei Planetenlandungen mit Rohstoffen und allen anderen lebens notwendigen Dingen zu versorgen. Nebenher fingen sie auf vielen Welten Extras ein und brachten diese zur Un terhaltung an Bord. Über einen zu er wartenden Mangel an geeigneten Jagd objekten brauchte Wajsto Kolsch sich also nicht zu beklagen. Wie Arjana Joester und Nurmer zählte auch er zu den sechs Traditiona listen unter den Magniden. Manchmal glaubte er, mit seinen durch die Jag den geschärften Sinnen spüren zu können, daß Chart Deccon sie insge heim ablehnte und mit den Fort schrittlichen sympathisierte. Aber wirklich glauben konnte er es nicht, denn der High Sideryt hatte in seinen Augen über den Dingen zu stehen. Die vorübergehend zur Kurskorrek tur aktivierten variablen Schubdüsen der NUG-Protonenstrahltriebwerke wurden von der Zentrale aus wieder abgeschaltet; die zugehörigen Schwarzschildreaktoren bis auf mini male Leistung gedrosselt. Noch immer schien der Bruder ohne Wertigkeit, Chart Deccon, es nicht für erforderlich zu halten, unmittelbar in das Geschehen einzugreifen. Schon wollte Wajsto Kolsch von sich aus eine Interkomverbindung schalten, doch schreckte er im letzten Moment zu rück. Der High Sideryt würde ein sol ches Vorgehen als unangemessenen Eingriff in seine Privatsphäre betrach-
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ten und entsprechend darauf reagie ren. Die Korridore und Antigravschäch te in der Nähe der Farm lagen verlas sen da. Es war Nacht. Nur eine trübe Notbeleuchtung brannte. Bei den Anpflanzungen hingegen war alles hell erleuchtet. Mehrere Kunstsonnen verbreiteten jenes dun kelgelbe Licht, das die SOL-Birnen brauchten, um zu gedeihen. Sie hatten einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus, denn die Rotationsdauer des fremden Planeten, von dem die Pflanzen stammten, betrug 58 Stunden. „Bist du sicher, daß sie heute kom men?" Die leise flüsternde Stimme gehörte einer jungen Frau. Sie war fast noch ein Mädchen. Aber ihre Haltung und ihr ruheloser Blick verrieten eine Er fahrung, die nur schwer in Einklang zu ihrem Alter von vielleicht 18 Jahren zu bringen war. Sie trug eine normale lindgrüne Kombination. Auf der linken Brust seite prangte ein handtellergroßes, aus blutrot leuchtendem Metall gefertig tes Abzeichen mit dem Atomsymbol. Zweifelsohne gehörte dieses Mäd chen zur SOLAG. Neben ihr kauerten zwei Männer. Der eine, untersetzt, mit hoher, flie hender Stirn und an den Schläfen be reits deutlich gelichtetem Haar, spiel te nervös mit einer kurzstieligen Neuropeitsche, wie sie in der Regel von den Pyrriden benutzt wurden. Je de Berührung mit der zweieinhalb Meter langen Schnur löste heftige Schocks aus — mehr als zehn Schläge konnten sogar tödlich sein. Horm Brast, das war der Name des
Bordnomaden Mannes, trug ebenfalls das blutrote Abzeichen. Sein von Narben übersä tes Gesicht machte es unmöglich, sein Alter zu bestimmen. Als Heranwach sender, behauptete er, hatte er sich in eine der verbotenen Zonen gewagt und war dort mit Giftstoffen in Berüh rung gekommen, die beinahe sein En de bedeutet hätten. Seither machten ihm die Wundmale zu schaffen. Über das Jahr seiner Geburt schwieg er sich jedoch aus. Vielleicht, so vermutete Mira Wil lem, weil er es selbst nicht kannte. Mi ra war die junge Frau, die jetzt vor sichtig das Versteck verließ und in den Korridor hinaus trat. Der andere Mann hieß Mark Har tem. Ein Durchschnittstyp ohne be sondere Merkmale, wie es ihn zu Hunderten an Bord der SZ-1 gab. Sein Gesicht war weich und ebenmäßig, das Haar kurzgeschnitten und nach hinten gekämmt. Das einzig Auf fallende an ihm war das lederne Hol ster, in dem ein kleiner Thermostrah ler steckte. „Meine Information ist zuverlässig", antwortete er auf Miras Frage. „Aber es gibt viele Wege, die zur Verteilerstelle führen", bemerkte Horm Brast. „Sie werden diesen nehmen, weil es der kürzeste ist." Die drei bewegten sich durch einen Teil des Schiffes, für den überwiegend große Räumlichkeiten charakteri stisch waren. Früher mochten sie Werkstätten oder Laboratorien beher bergt haben, aber jetzt war von all dem kaum noch etwas zu erkennen. Mehrere Generationen hatten die Ein richtungsgegenstände demontiert. Was dabei aus den Werkzeugen und Instrumenten geworden war, konnte
13 niemand sagen. Die SOL-Farmer la gerten hier Düngemittel und Samen. „Es stinkt", bemerkte Mira Willem beiläufig und rümpfte die Nase. Mark Hartem hielt sie an der Schul ter fest und zwang sie, ihm in die Au gen zu sehen. „Wo an Bord der SOL stinkt es nicht? " fragte er. „Wie meinst du das?" „So wie ich es sage. Ist nicht das ge samte System in Verwesung überge gangen? Man erzählt sich, daß vor zweihundert Jahren vieles anders war. Die Schiffsführung achtete noch die Würde des einzelnen. Jeder hatte sei nen Platz in einer festgefügten Ord nung und gab sein Bestes für das Wohl aller." „Du wirst zynisch", platzte Mira her aus. „Märchen", ließ Horm Brast verneh men. Etwa hundertfünfzig Meter vor ih nen mündete der Hauptkorridor in ei ne von ihrem augenblicklichen Stand ort aus nicht zu überschauende Halle. Im Schein der Kunstsonnen waren nur die zwei Meter hohen Fruchtstän de der Birnen zu erkennen. Ein Weg führte durch das ausgedehnte Feld hindurch und verlor sich im Ungewis sen. Auf der Höhe einer seitlichen Ni sche hielt Hartem an. Neben techni schen Geräten, deren Sinn und Zweck ihm fremd waren, barg sie auch einen halb zerstörten Interkomanschluß. „Hier bleiben wir", entschied er. Überrascht sagte Mira: „Du willst warten? Wie lange?" „Notfalls die ganze Nacht." „Und wenn man uns entdeckt?" Mark Hartem grinste. „Du vergißt, daß man die Brüder
14 und Schwestern der fünften Wertig keit fürchtet. Niemand weiß, ob es uns wirklich gibt. Aber gerade Gerüchte verbreiten Angst und Schrecken. Troi liten werden nicht umsonst für die meisten Todesfälle an Solanern und sogar an SOLAG-Mitgliedern verant wortlich gemacht. Man munkelt, daß wir die eigentliche Geheimpolizei des High Sideryt seien und dort auftreten, wo Vystiden und Haematen versagen. Leider gibt es keine lebenden Zeugen, die das entweder bestätigen oder ver neinen können." Seine Begleiter lachten leise. „Wißt ihr noch", fuhr Hartem fort, „was die beiden Pyrriden letzte Woche für dumme Gesichter machten?" „Sie haben sich übertölpeln lassen wie zwei unwissende Extras", nickte Horm Brast. „Still!" zischte Mira plötzlich. Sie deutete auf das Ende des Korridors. Auch Brast hatte die flüchtige Be wegung bemerkt, das sekundenlange Aufblitzen im Licht der Kunstsonnen. Jetzt aber war alles wieder wie zuvor. „Ein Roboter?" wollte er wissen und packte den Griff seiner Neuropeitsche fester. Hartem winkte ab. „Du wirst sehen", sagte er. ..es läuft ab wie immer. Ich verstehe nicht, war um du derart nervös bist." „Dann frage doch diesen Atlan. Al les, was er sagt, scheint Hand und Fuß zu haben. Irgendwie stimmt mich das nachdenklich." ..Du glaubst seinen Reden?" ..Du nicht?" stellte Brast die Gegen frage. Der seltsame Solaner mit den roten Augen und dem kurzen, silbernen Haar wurde von einer Aura der Zuver sicht umgeben. Vor zwei Tagen war er
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Hartem auf einem ihrer Raubzüge über den Weg gelaufen und hatte sich weder duch die sofort ins Auge ste chenden Troiliten-Abzeichen noch durch ihre Waffen einschüchtern las sen. Mira und Horm waren nicht dabei gewesen, aber die anderen hatten ih nen erzählt, wie der Fremde sie be siegte. Unverständlich, daß er ihr Le ben danach schonte. Mark jedoch war davon so beeindruckt gewesen, daß er Atlan spontan anbot, ihn in ihre Ge meinschaft aufzunehmen. Das Leben als Nomade war durchaus reizvoll. Und vor allem kannte es kaum einen Mangel. Alles, was man brauchte, ließ sich auf die eine oder andere Weise be schaffen. Da war derselbe flüchtige Reflex wieder, den Mira eben bemerkt hatte. Eine Antigravplattform bog um die Ecke. Auf ihr stapelten sich ein Dut zend kleiner Container. „Lebensmittel für mehrere Wo chen", murmelte Mark Hartem. „We nigstens für einige Zeit werden wir keine Sorgen mehr haben." Eine zweite Plattform folgte. Brast stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Das ist mehr, als wir erwarten durf ten. Mit den paar SOL-Farmern, die ihr Gemüse begleiten, werden wir spielend fertig." „Du solltest genauer hinsehen", riet Mira. „Seit wann tragen die Pflanzen heinis dunkelblaue Uniformen?'* „Fünf Rostjäger sind es", stellte Hartem fest. „Und fünf Farmer." „Mist!" schimpfte Brast. „Willst du aufgeben?" Im Schrittempo kam der Transport näher. Etwa hundert Meter war er noch entfernt. „Das nicht", erwiderte Horm. „Aber wir werden sie töten müssen. Atlan
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sagt a l l e r d i n g s . . . " „ A t l a n . . . " , äffte Hartem nach. „Wenn es nach ihm ginge, hätten wir innerhalb kürzester Zeit am Hunger tuch zu nagen." „Aber er ist ein hervorragender Kämpfer." „Nur aus diesem Grund habe ich da für gestimmt, ihn aufzunehmen", sag te Hartem. Die erste Antigravplattform glitt vorüber. Die Schritte der nebenher marschierenden Wachen hallten durch den Gang. Als auch das zweite Gefährt vorbei war, verließen die Troiliten ihr Ver steck. Horm Brasts Neuropeitsche zuckte durch die Luft und schlang sich einem der Farmer um den Hals. Ein Zittern ging durch dessen Körper, bevor er in sich zusammensank. Gei stesgegenwärtig fing Mira ihn auf. Mit einem wohlgezielten Handkan tenschlag hatte Hartem mittlerweile einen zweiten der Bewacher außer Ge fecht gesetzt. Die anderen ahnten nichts von dem, was sich völlig lautlos hinter ihrem Rücken abspielte. Aber dann geschah es. Die Peitsche traf einen der Ferraten, und der stieß noch ein ersticktes Gur geln hervor, ehe der erlittene Schock ihm die Besinnung raubte. Die anderen wirbelten herum, rissen ihre Waffen hoch. Ohne zu überlegen, sprang Hartem vor und brachte seinen Thermostrah ler in Anschlag. „Halt!" donnerte er. „Wagt nicht, euch zu widersetzen." Seine Gedanken überschlugen sich. Die drei verbliebenen Farmer waren waffenlos, von den vier Ferraten be saß nur einer ebenfalls einen Strahler, die anderen hielten Schocker in Hän
15 den. Zwei der Rostjäger konnte Horm mit der Peitsche erreichen. Die Chan cen standen also nicht schlecht. Die Brüder der sechsten Wertigkeit zögerten. Waren es die blutrot leuch tenden Abzeichen der Troiliten, die ih nen, wie jedem normalen Solaner auch, Respekt einflößten? Hinhalten! dachte Hartem. Zeit gewinnen! Laut sagte er: „Wir haben Befehl, den Transport zu übernehmen." „Davon ist uns nichts bekannt", er widerte einer der Ferraten. Mit Genug tuung registrierte Mark, daß zumin dest dieser eine den Schocker senkte. „Der High Sideryt selbst hat uns den Auftrag erteilt." „Wir wurden nicht davon unterrich tet." „Das ist auch unnötig. Ihr Rostjäger meßt euch eine größere Bedeutung bei, als euch zukommt. Mein Wort hat dir zu genügen. Wenn n i c h t . . . " Mark Hartem ließ die Drohung unausge sprochen. Dann überschlugen sich die Ereig nisse. Für einen Augenblick achteten er und seine Begleiter nicht auf die Far mer. Das genügte diesen, um sich in ihrer Angst herumzuwerfen und zu fliehen. Mit einer fast spielerisch an mutenden Bewegung wirbelte Brast die Neuropeitsche hinter ihnen her. Gleichzeittig schien einer der Ferra ten die Nerven zu verlieren. Er drück te auf den Auslöser seines Schockers. Mira wurde wie von einer unsichtba ren Faust zu Boden geschleudert. Hartem schrie auf und hechtete in den Schutz der Antigravplattform. Im Fallen löste er seinen Thermostrahler aus. Die Glutbahn fauchte zur Decke empor und brach sich in flammenden
16 Kaskaden, ohne jedoch Schaden anzu richten. Horms schwungvoll geführte Peit sche schlug einem der Rostjäger den Schocker aus der Hand. Mit zucken den Gliedern sackte der Mann zu Bo den. Über Hartem glühten die Container auf. Das Leichtmetall verflüssigte sich in Sekundenschnelle und begann her abzutropfen. Aber da schnellte der junge Mann bereits hoch. Drei Schrit te brachten ihn an den Rand des Kor ridors. Sein Zeigefinger lag auf dem Auslöser der Waffe, und der Energie strahl fauchte in die Richtung, in der er den Ferraten vermutete, der ihn un ter Feuer genommen hatte. Mark warf sich förmlich in die Nische. Hinter ihm flammte der Bodenbelag blasen werfend auf — ein Beweis, daß es ihm nicht gelungen war, den Rostjäger auszuschalten. Die folgende Stille schmerzte ihn. Wahrscheinlich hatte es Horm ebenso erwischt wie das Mädchen. Und er selbst saß in der Falle. Er hätte sich ohrfeigen können für seine Dumm heit. Unmittelbar hinter ihm war zwar ei ne Tür, doch ließ diese sich nicht öff nen. Sie mußte zugeschweißt worden sein. Schritte näherten sich — vorsichtig und zaghaft. Bevor es Mark möglich war, die Richtung zu lokalisieren, ver stummten sie wieder. Aber es konnte nur der Ferrate sein. Da war das Geräusch wieder. Instinktiv beugte Hartem sich vor und schoß. Im Widerschein des Glut strahls glaubte er einen Schatten zu erkennen, der sich zwischen den bei den Antigravplattformen eng an die Wand drückte.
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Er sah auch noch etwas anderes. Keine drei Meter von dem Rostjäger entfernt lag Horm in verkrümmter Haltung am Boden. Ein Lähmstrahl schien ihn niedergestreckt zu haben. Der Ferrate war eindeutig im Vor teil. Mark durfte sich keinesfalls zu weit vorwagen, wollte er nicht ein deutlich erkennbares Ziel abgeben. Ihm unmittelbar gegenüber, auf der anderen Seite des Korridors, brannte ein Element der Notbeleuchtung. Er feuerte aus dem Handgelenk heraus, und die Lampe implodierte mit trok kenem Knall. Sofort wurde es merk lich dunkler. Mark glaubte, den Bruder der sech sten Wertigkeit heftig atmen zu hören. Möglicherweise narrte ihn aber nur seine Einbildung. Dennoch wagte er sich nicht erneut vor. Vielleicht warte te der andere darauf, ebenso wie er dem Augenblick entgegenfieberte, in dem der Ferrate vor ihm stand. Ohne zu zögern, würde er abdrücken. Du oder ich — eine andere Alterna tive gab es nicht. In eine Situation wie diese waren die Bordnomaden noch nie geraten. Einmal geht jede Glückssträhne zu Ende, Das ist ein einfaches Gesetz der Logik, das sich anhand unzähliger Beispiele leicht beweisen läßt Verdammt, dachte Hartem. Warum fallen mir ausgerechtnet jetzt die Wor te dieses Atlan ein? Die Anwendung von Gewalt provo ziert stets neue Bluttaten. Niemand darf glauben, daß er solchem Teufels kreis wirklich wieder entkommen kann. Mit einer unwilligen Handbewe gung wischte Hartem seine Überle gungen beiseite. Sie irritierten ihn nur.
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Der Ferrate mußte schon in unmit telbarer Nähe sein. Mark stieß sich ab, schnellte in ge bückter Haltung aus seiner Deckung hervor, warf sich der Länge nach zu Boden und schoß. Ein Glutstrahl, der ihn um Haaresbreite verfehlte, ver sengte sein Gesicht. Er schrie auf, als er den brennenden Schmerz ver spürte. Der Rostjäger war nicht dort, wo Hartem ihn vermutete, sondern stand halb durch die Ladung einer Platt form verdeckt mitten im Gang. Der Mann schien das Gefühl seines Triumphs zu genießen. Bedächtig hob er den Strahler. Mark wußte, daß er verloren hatte. Aber er bedauerte nichts. Er hatte sein Leben gelebt wie es ihm richtig erschien. Ein kurzes Le ben zwar, doch war dieses von mehr Freiheit bestimmt gewesen, als man cher andere je erreichte. Peitschenknall schreckte ihn auf. Der Ferrate erstarrte, die Waffe ent glitt seinen kraftlos werdenden Fin gern. ..Horm". rief Mark Hartem aus. „Das war in letzter Sekunde." Der Freund nickte, während er sich mühsam erhob und humpelnd näher kam. . i c h mußte warten, bis ich sicher sein konnte, ihn mit einem einzigen Schlag niederzustrecken. Dabei durfte er nicht merken, daß ich noch bei Be sinnung war. Zum Glück ist nur mein linkes Bein gelähmt." Während Hartem den Strahler des Rostjägers an sich nahm, beugte Brast sich über das Mädchen. „Mira hat es voll erwischt", stellte er fest. „So schnell wacht sie nicht auf." „Trotzdem müssen wir von hier ver schwinden. Die SOL-Farmer werden
17 die Brüder der oberen Kasten alar miert haben." Eine der beiden Antigravplattfor men war so schwer beschädigt, daß sie sich nicht mehr von der Stelle bewe gen ließ. Hartem ging daran, von der anderen einige Container herunterzu werfen. „Mist", schimpfte er. „Diesmal ist es total daneben gelaufen." Für seinen Geschmack dauerte das Ganze schön viel zu lange. Bisher waren sie stets in nerhalb weniger Minuten wieder von der Bildfläche verschwunden. „Hilf mir jetzt, Mira hochzuheben", wandte er sich an Horm, der ihre Um gebung beobachtete. Sie legten das Mädchen auf die Plattform. Die Beute war nun kleiner, als sie sich erhofft hatten. Hartem hob den Strahler. „Was hast du vor?" fragte Brast er schrocken. „Die Ferraten sind gefährliche Zeu gen. Sie könnten uns die gesamte SO LAG auf den Hals hetzen." „Aber — das ist Mord." Hartem zuckte die Schultern. „Glaubst du, mir gefällt es?" „Ich werde das jedenfalls nicht zu lassen", sagte Brast scharf. „Wir sind es gewohnt, von einem Versteck ins andere zu fliehen. Was also sollte sich ändern?" Mark Hartem schwieg. „Atlan meint, daß sich letzten Endes die Achtung vor dem Menschen wie der durchsetzen wird", fuhr Horm fort. „Wir müssen lernen, in Frieden miteinander auszukommen. Und ich finde, so unrecht hat er nicht." „Er wird uns noch das Plündern ver bieten", brauste Hartem auf. „Wovon sollen wir dann leben, hä? Von norma ler Arbeit vielleicht? "
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..Zuviele Fragen auf einmal", wehrte Brast ab. „Jedenfalls weiß ich, daß ich zuschlagen werde, sobald du den Aus löser berührst. Steck den Strahler weg, oder . . . " Abschätzend wog er die Neuropeitsche in der Rechten. Hartem erkannte, daß der Freund zu allem entschlossen war. Ein wenig fühlte er sich sogar erleichtert, daß ihm auf die se Weise die Entscheidung abgenom men wurde. Obwohl die Rostjäger ih rerseits nicht gezögert hätten, verspür te er gewisse Skrupel, sich an Wehrlo sen zu vergreifen. Machte der Einfluß des Fremden auch vor ihm nicht halt? Er wollte es sich nicht eingestehen, aber dieser At lan besaß eine Ausstrahlung, die ihn seltsam berührte. Auf unbestimmbare Weise wirkte der Mann mit dem silber nen Haar zeitlos. Hartem war sich nicht sicher, doch glaubte er, den Namen irgendwann schon einmal gehört zu haben. Er mußte mit der Vergangenheit der SOL oder der Menschen überhaupt zusammenhängen. Allerdings war jetzt weder der rich tige Zeitpunkt noch der rechte Ort, um solchen Gedanken nachzugehen. Mark Hartem schob seine Waffe ins Holster und setzte die Plattform in Be wegung Nach etwa zweihundert Metern stieß er auf einen Antigravschacht, der groß genug war, um selbst sperrige Lasten aufzunehmen. Fünf Haupt decks höher wandten die vermeintli chen Troiliten sich in Richtung auf die Außenhülle. Sie wurden von einer Gruppe junger Leute erwartet, die sich crfng auf die Container stürzten und diese weg schleppten.
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2.
Wie ein Kartenhaus brach alles in sich zusammen. Das Gefühl der Ge borgenheit wich jähem Erschrecken, als jemand lautstark an das Schott pochte. Marra vernahm mehrere Stim men, die wirr durcheinander redeten, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Germa, die in den Armen ihrer Mut ter eingeschlafen war, zuckte zusam men. Sie jammerte leise. Der Blick ih rer tiefgründigen Augen war eine ein zige stumme Frage. Sie kommen mich holen? Was sollte Marra darauf antworten? Eine Lüge, um das Mädchen zu beru higen? Sie hatte ihre Kinder nie ange logen und würde es auch jetzt nicht tun. Sie sah zum Schott hinüber, das von innen verriegelt war. Es würde den heftiger werdenden Schlägen eine Zeitlang widerstehen können. „Die Männer wollen Germa an die Ferraten ausliefern", sagte Sylva leise. Marra nickte stumm. Sie würde es nicht verhindern können. Einmal hat te sie den Mut besessen, das Messer gegen sich und ihre Kinder zu richten, jetzt konnte sie es nicht mehr. „Warum hassen sie uns? Germa hat ihnen doch nichts getan." „Die Solaner versprechen sich Vor teile davon", murmelte Marra. „Größere Zuweisungen an Lebens mitteln. Waffen und was weiß ich." Die Kabine besaß keinen zweiten Zugang. Sie saßen also in der Falle. „Mach auf, Marra", erklang es wü tend von draußen. „Von dir und Sylva wollen wir nichts." ..Germa werdet ihr nicht bekom men", schrie die Frau. ..Nicht lebend
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jedenfalls, ihr Scheusale." Sie wußte, daß sie es nicht tun konnte — aber sie konnte ebenso we nig stumm abwarten und sich dem Schicksal ergeben. Auf dem Gang wurde es still. Zu still, wie Marra fand. Die Solaner schienen irgendeine Teufelei zu pla nen. Vielleicht holten sie auch die Rostjäger zu Hilfe. Denen mußte es ein leichtes sein, das Schott aufzubre chen. „Was ist?" rief sie, bemüht, ihren Worten einen festen Klang zu verlei hen. „Habt ihr euren Irrtum eingese hen?" Die Antwort kam prompt und un mißverständlich : „Warum sollen wir unsere Kräfte vergeuden? Es gibt andere, die das für uns erledigen. Wir passen nur auf, daß das kleine Monster nicht entwischt." Germa begann zu weinen. Sie ver grub ihr Gesicht in den Handflächen und lehnte sich an ihre Mutter an. Marra war der Verzweiflung nahe. Wieder spürte sie, daß der Schlag ihres Herzens unregelmäßig wurde. Mein Gott! schrie es lautlos in ihr. Hilf mir nur dies eine Mal Laß nicht zu, daß sie sich an Germa vergreifen. Beinahe schmerzhaft pochte das Blut in ihren Schläfen. Das heftige Dröhnen wurde immer lauter. Aber da war auch ein anderes Geräusch, das rasch zum hohlen Brausen anschwoll. Marra benötigte einige Minuten, um es zu identifizieren. Die Klimaanlage hatte sich eingeschaltet, und das nor malerweise kaum hörbare Summen narrte ihre ohnehin überreizten Sinne. Als ihr Blick das Gitter des Lüf tungsschachts streifte, durchlief es sie siedenheiß. Das konnte die Rettung sein.
19 Germa, die sich an ihr festklammern wollte, schob sie sanft von sich. Sie mußte sich auf die Zehenspitzen stel len, um das Gitter zu erreichen. Aber es saß fest und gab nicht einen Milli meter nach. Das Messer fiel Marra ein. Sie holte es und auch einen Stuhl, auf den sie steigen konnte. Jetzt sah sie die Halte rung, die im Innern des Lüftungs schachts nachträglich angebracht worden war. Die Klinge schrammte über korro sionsbeständiges Metall und brach schon beim ersten Versuch, eine der beiden Schrauben zu lockern. Trotz dem ließ Marra sich nicht entmutigen. Sie war sicher, daß sie es schaffen konnte. Nach einigen Minuten wurde es vor der Kabine erneut laut. Seltsam krat zende Geräusche verrieten Marra, daß sich abermals jemand am Schott zu schaffen machte. Sie verdoppelte ihre Anstrengun gen. Der Schweiß rann ihr in Strömen über den Körper. Endlich hatte sie es geschafft. Der Querschnitt des Schachtes war gerade groß genug, daß sie sich hindurch zwängen konnte. Für die beiden Mäd chen stellte er erst recht kein unüber windbares Hindernis dar. Germas Augen glänzten feucht, aber sie schien ihre Fassung wiedergefun den zu haben. „Danke", flüsterte sie, als ihre Mut ter ihr half, hinaufzukommen. Marra war als letzte an der Reihe. Die Enge wirkte bedrückend auf sie, und sie mußte darauf verzichten, das Gitter wieder anzubringen. Sie konnte nur hoffen, daß ihr Vorsprung groß genug war, denn die Spur, die sie da mit hinterließ, war nicht zu überse
20 hen. Der Schacht verlief waagrecht. Des halb fiel es einigermaßen leicht, vor wärtszukommen. Marra scheuerte sich dennoch die Ellbogen und Knie wund. Sie fühlte es warm über ihre Haut laufen, aber das störte sie nicht. Eine vollkommene Finsternis herrschte. Die zurückgelegte Entfer nung war lediglich gefühlsmäßig ab zuschätzen. Es mochten fünfzig Meter sein, bis der Schacht sich verzweigte — und weitere zwanzig, bis sein Quer schnitt größer wurde und es erlaubte, sich halb aufzurichten. An manchen Stellen hatten sich Ablagerungen ge bildet, die wie zäher Schleim an allem hafteten. Marra hielt kurz inne und lauschte. Sie glaubte, das Rattern von Bohrma schinen zu hören. Demnach waren die Rostjäger bereits dabei, ihre Kabine aufzubrechen. Wie selbstverständlich übernahmen die beiden Mädchen auch weiterhin die Führung und bestimmten das Tempo. Zweifellos wären Germa und Sylva allein schneller vorangekom men. Nach einer Weile stießen sie auf ei nen Seitenschacht, der schräg abwärts führte. Ihm vertrauten sie sich an. Der stete Luftzug brachte angenehme Kühle mit sich. Allerdings wurde schnell ein beißender Geruch wahr nehmbar. „Dort vorne", rief Germa überrascht aus. „Das Leuchten . . ." Es war wie das Licht der Sterne, die Marra vor vielen Jahren einmal gese hen hatte. Sie erinnerte sich daran, als sei dies gestern erst gewesen. Winzige Leuchtpunkte inmitten der Schwärze. Damals hatte sie geschaudert, und
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ihr war, als spürte sie den Ruf der Unendlichkeit. Seither ahnte Marra daß es die Bestimmung der SOL sein mußte, jene unvorstellbaren Weiten zu überwinden. „Warte!" wollte sie Germa zurufen, aber das Mädchen war schneller. Auch Sylva hastete vorwärts. Sekunden später schienen beide von einem flirrenden Vorhang aus Licht umgeben. Germa jauchzte vor Entzücken. Mit beiden Händen wir belte sie die Helligkeit auf, die sich langsam über den Schacht verteilte. Es waren Schuppen, wie sich gleich darauf herausstellte. Aus einem horn artigen Material bestehende, ungefähr drei Zentimeter lange Plättchen, die von innen heraus zu glühen schienen. Marra erschrak. Immerhin konnte sie erkennen, daß keine zwei Meter ent fernt Stoffetzen lagen und die schon halb verwesten Überreste von Syntho fleisch. Was das bedeutete, war klar. Ohne es zu wollen, hatten sie das Versteck eines Extras oder Monsters aufge spürt. „Wir müssen sofort weiter!" rief Marra halblaut aus. Ein unverkennbarer Hauch von Ge fahr lag in der Luft. Die Frau schau derte bei dem Gedanken an ein wehr haftes Ungetüm, das sich mit messer scharfen Klauen auf sie stürzte. „Schnell!" raunte sie. „Fort von hier!" Die Mädchen gehorchten, ohne zu fragen. Erst nach einigen Minuten wurde Marra klar, wie dumm ihr Ver halten doch gewesen war. Wer immer sich in den Schächten der Klimaanla ge verstecken mußte, konnte nicht bösartig sein, sondern war auf der Flucht vor den Jägern.
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Auch Germa war in den Augen der Solaner ein Monster. Das durfte sie nie vergessen. Ich bin nahe daran, mich von der all gemeinen Hysterie anstecken zu las sen, gestand Marra sich ein. Allmäh lich begann sie die Männer, Frauen und Kinder zu verstehen, die beim An blick des Fremden, des Andersgearte ten in Panik verfielen. Ihre ganze Um gebung war schuld daran, dieses Ein gesperrtsein in einem Sarg aus Ynke lonium-Terkonit-Verbundstahl, der zwar groß genug war, um die doppelte Anzahl von Menschen aufzunehmen, doch schon jetzt viel zu klein für deren Wünsche und Ängste. Lediglich die Buhrlos bildeten eine Ausnahme. Marra beneidete die Gläsernen ob ih rer Freiheit. Viel hätte sie dafür gege ben, einmal mit ihnen zusammen hin ausgehen zu können. Unvermittelt versperrte ein feinma schiges Netz den weiteren Weg. Marra zwängte sich an den Mädchen vorbei und lauschte. Alles blieb still. Sie schloß daraus, daß sie sich in irgendei nem unbewohnten Teil des Schiffes befanden. Das Gitter war lediglich festge klemmt und gab nach, als sie sich mit aller Kraft dagegenstemmte. Im letz ten Moment entglitt es ihren Fingern und polterte zu Boden. Marra erstarrte. Falls Rostjäger in der Nähe waren, mußten diese den Lärm gehört haben. Aber niemand kam. Nach fast fünf Minuten schob die Frau sich vorsichtig und mit den Bei nen zuerst aus der entstandenen Öff nung. Dann ließ sie sich fallen. Sie kam relativ h a r t auf, weil der Boden tiefer lag," als sie vermutet hatte. Gleichzeitig flammte die Beleuchtung
21 auf. Marra erkannte, daß sie in einer leerstehenden Lagerhalle herausge kommen waren. Sylva sprang als nächste herab und dann Germa, und sie fing beide auf. Wieder drohten heftige Schmerzen ihr die Luft abzudrücken, aber sie ließ sich nichts anmerken. Ein doppelwandig wie eine Schleu se angelegtes Tor führte hinaus auf ei nen hell erleuchteten menschenleeren Gang. Allerdings mußte man über die zerstörten Reste eines Transportbands hinwegsteigen. Dieser Teil der SZ-1 war Marra un bekannt. Obwohl nicht sehr weit von ihrer Kabine entfernt, war sie nie zu vor hier gewesen. Sie vermutete, daß sie sich der Außenwandung des Schif fes genähert hatten. Der Durchgang zum Mittelstück der SOL mußte auf jeden Fall viel tiefer liegen. Nach wie vor hatte die Frau nicht die Absicht, wirklich zu den Magni den vorzudringen. Sie wußte, daß dies unmöglich war. Aber die Ereignisse hatten ihr zunächst keine andere Wahl gelassen. Homer Gerigk, dachte sie verbit tert. Wahrscheinlich würdest du dich nicht einmal erinnern. Sie konnte es dafür um so besser. Denn manchmal verfolgte sein Ge sicht sie bis in ihre Träume. Irgendwie sah er immer ein bißchen erstaunt aus. Seine grobporige Haut und die Knollennase wirkten absto ßend. Selbst seine dunklen Augen und das schwarze, lockige Haar ver mochten daran nichts zu ändern. Ho mer war ein wenig kleiner als Marra, maß allerhöchstens 1,77 Meter. Die Fi stelstimme, mit der er sprach, paßte nicht zu ihm, offenbarte aber seine Ge fährlichkeit.
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Daß sie auf einen Antigravschacht stießen, hinderte die Frau daran, wei ter über Vergangenes nachzugrübeln und brachte sie auf andere Gedanken. Sie folgte ihren Kindern, die sich lang sam in die Tiefe sinken ließen. Nach sieben Decks endete der Schacht. Marra konnte sich nur unge fähr ausrechnen, wo sie sich befanden. Mit Sicherheit jedoch weit vom Mittel teil des Schiffes entfernt. Die Gänge waren stark verschmutzt. Aber immerhin hatte jemand ver sucht, den Unrat zusammenzukehren und diesen in den Interkomnischen angehäuft. Marra vermochte sich eines unguten Gefühls nicht zu erwehren. Auch Germa schien das Gespür für eine drohen de Gefahr zu entwickeln. Immer häu figer blieb das Mädchen stehen und wandte sich um. Der Korridor endete vor einer schweren Stahltür, die von dieser Sei te aus nicht zu öffnen war. Also kehrte die Frau um. Dreißig Meter zuvor hat ten sie eine rechtwinklige Abzwei gung passiert, diese jedoch, da sie nur spärlich erhellt war, unbeachtet gelas sen. Nun mußten sie jenen Weg gehen. Eine Leuchtschrift in großen, grel len Buchstaben stach förmlich ins Auge. TERRANER WEHRT EUCH! stand da zu lesen. „Wer oder was sind Terraner?" woll te Sylva wissen. Marra zuckte die Schultern. „Genau kann ich es auch nicht sa gen", meinte sie. „Aber ich glaube, daß es nur ein weiterer Ausdruck für Solaner ist." Vom anderen Ende des schmalen Ganges näherten sich hastige Schritte. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse
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konnte Marra zwei Männer in silber nen, hochglänzenden Metallfolienan zügen erkennen. „Vystiden-*. raunte sie erschrocken. „Wir müssen weg von hier." Aber die Brüder der zweiten Wertig keit waren schon auf sie aufmerksam geworden. „Bleibt stehen!" rief einer mit lauter Stimme. Marra wußte, daß es sinnlos war zu fliehen. Die Vystiden trugen weitrei chende Waffen. „Sagt nichts", flüsterte sie ihren Kindern zu. „Wenn sie etwas fragen, überlaßt mir die Antwort.'" Die Männer kamen näher. „Was sucht ihr hier?" herrschte ei ner Marra an. „Wir sind auf dem Weg in unsere Ka bine", murmelte die Frau. „Lauter!" Marra wiederholte den Satz. Der Vystide schien damit zufrieden. „Und das da?" Er deutete auf den Schriftzug. „Warum beschmiert ihr die Wand mit solchem Unsinn?" „Wir waren es nicht." „Aber ihr habt es gelesen. Das ist mindestens ebenso schlimm." Als Marra nichts darauf erwiderte, brüllte er sie an: . „Antworte gefälligst. Habt ihr es ge lesen?" „Ja", kam es zögernd. „Was ist das, ein TERRAN'ER?" platzte Germa mit weinerlicher Stim me heraus. „Meine Mutter konnte es uns nicht sagen." „So", machte der Vystide über rascht und funkelte Marra wütend an. „Dein Glück, daß du es nicht weißt. Es könnte dich sonst den Kopf ko sten." Der andere sagte:
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„Wir verfolgen ein Monster, einen Kerl mit leuchtenden Schuppen, wa ren ihm schon nahe. Habt ihr ihn gese hen?" Marra bemerkte die Entschlossen heit in den Augen des Mannes und er starrte innerlich. „Nein", kam es ton los über ihre Lippen. „ U n s . . . ist keine dieser Mißgeburten begegnet." Sie fühlte förmlich, wie ihr die Röte ins Gesicht schoß. Germa griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. „Und ihr", fuhr der Vystide die Kin der an. „habt natürlich ebenfalls nichts bemerkt?" Sylva schüttelte stumm den Kopf; Germa begann leise zu schluchzen. „Sie haben Angst vor euch", sagte Marra. Schon wollten die Brüder der zwei ten Wertigkeit ihren Weg fortsetzen, als der eine stockte. „He", rief er überrascht aus. „Was ist das?" Er starrte Germa an. Dann bückte er sich, packte sie mit einer Hand am Kinn und hob ihren Kopf hoch. Dicke, dunkel verfärbte Haut wurde sichtbar, wie die Rinde mancher Pflanzen in den SOL-Farmern. Über den Halsschlagadern war sie aufge platzt und ließ blutiges Fleisch erken nen. Der Vystide stieß einen lauten Pfiff aus, als er außerdem die beiden ver kümmerten Ärmchen bemerkte, die sich unter Germas Kleidung schwach abzeichneten. „Sieh da, ein Monstrum. Ich habe es doch gleich geahnt, daß mit euch eini ges nicht stimmt. Ihr glaubt, uns ent kommen zu können, wie? Aber so leicht ist das nicht. Früher oder später erwischen wir jeden. Es wäre gelacht, wenn wir nicht Ordnung in das Schiff
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bringen könnten." Hart ergriff er das Mädchen an den Schultern. „Du kommst mit uns." „Nein!" schrie Marra auf. „Germa tut niemand etwas zu leide. Nehmt mich mit, aber laßt sie am Leben." „Dich?" brennende Blicke muster ten sie. „Du magst vor zehn Jahren at traktiv gewesen sein." Sylva stürzte sich auf den Mann und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Aber er lachte nur und stieß sie zur Seite. Fast gleichzeitig war da ein kratzendes Geräusch, das sich anhörte als schleife Metall aneinander. Die Vysti den wirbelten herum, doch ihre Reak tion, wie schnell sie auch sein mochte, kam zu spät. Ein Schatten flog durch die Luft, traf den einen an der Stirn und schleu derte ihn besinnungslos zu Boden. Der andere fand noch Zeit, seine Waffe auszulösen, und ein fauchender Ener giestrahl brach sich an der Decke und verbreitete eine deutlich spürbare Hit ze — dann sank er ebenfalls in die Knie. Der Schatten entpuppte sich als ein knapp ein Meter großes Wesen, dessen Haut in allen Farben funkelte. Marra erinnerte sich plötzlich der Schuppen, die sie im Lüftungsschacht gefunden hatten. Sie fühlte Angst in sich aufsteigen und wich zurück, bis die Wand ihren Schritten Einhalt gebot. Jemand der zwei Vystiden besiegte, mußte gefähr lich sein. Marra konnte es sich gar nicht anders vorstellen. Das Wesen blieb stumm. In seine großen ausdrucksvollen Augen trat ein feuchter Schimmer. Dann hob es einen Arm und winkte. Wollte es, daß sie ihm folgten? Mar
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ra sah hinter ihm eine dunkle Öff nung, von der vorher nicht einmal ei ne Andeutung zu erkennen gewesen war. Aber sie zögerte. Germa gab schließlich den Aus schlag. „Der Kleine ist nicht böse", sagte das Mädchen. „Ich fühle, daß er es gut meint." Sie riß sich los und rannte auf den Geheimgang zu. Das geschuppte Wesen nickte und winkte abermals auffordernd. Mein Gott, dachte Marra. Warum fürchte ich mich vor ihm? Er ist nicht anders als meine Tochter. Gerade als sie Germa folgen wollte, bogen Ferraten um die Ecke. Die Rostjäger begannen sofort zu rennen. Aber sie kamen zu spät. Als sie die Stelle erreichten, wo die beiden be wußtlosen Vystiden lagen, hatte die Öffnung in der Wand sich schon wie der geschlossen.
Es bestanden keine Zweifel mehr: Die SOL wurde auf die siebte Welt von Mausefalle-Sonne zu gezogen. Dabei hielt dieser Planet sein Ant litz sowohl von den optischen Erfas sungsgeräten als auch vor den Nor mal- und Hyperortungen hartnäckig verborgen. Es war längst nicht mehr das erste Mal, daß die Magniden versuchten, Mausefalle-Sieben sein Geheimnis zu entreißen. Aber die einzige wirkliche Erkenntnis, die sie dabei gewannen, war jene, daß von allen Seiten Objekte der verschiedensten Größenordnun gen auf den Planeten zustürzten. Und dies mit häufig wechselnden Ge schwindigkeiten, wie auch die SOL unerklärlichen Schwankungen unter-
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worfen war. Niemand konnte also vor hersagen, wann man den geheimnis vollen Stern erreichen und in seine At mosphäre eintauchen würde, wie gleichfalls niemand wußte, ob diese Welt tatsächlich eine Lufthülle besaß. Nur die Zeit würde das Geheimnis lüften. „Wenn es für uns dann nicht zu spät ist", meinte Homer Gerigk, und die Art wie er es sagte, ließ kaum Zweifel daran aufkommen, daß er dem High Sideryt die Fähigkeit absprach, die SOL in dieser extremen Situation al lein zu befehligen. Er trat dafür ein, erneut mit allen Mitteln unter Aufbietung sämtlicher Energien zu versuchen, dem Zug strahl zu entkommen. Ein Versuch, der dem sechseinhalb Kilometer mes senden Schiff unter Umständen mehr schaden als nutzen konnte. Aber er wollte es einfach wissen, wie er sich ausdrückte. Immerhin verfügte jedes der beiden Kugelschiffe der Univer sum-Klasse über 12 NUG-Kraftwerke mit jeweils 8 Schwarzschildreaktoren. Bei einer Leistung von 800 Milliarden Megawatt pro Kraftwerk ergaben sich für die SZ-1 und die SZ-2 zusammen 19,2 Billionen Megawatt. Das zylinderförmige Mutterschiff mit seiner Länge von 1.500 Metern und demselben Durchmesser (den Ringwulst mit seiner Höhe von 400 Metern nicht berücksichtigt) besaß nochmals 8 NUG-Kraftwerke zur Ver sorgung. Homer Gerigks Absicht war es, sämtlichen Energieverbrauch im Schiff für kurze Zeit auf das absolut erforderliche Minimum zu drosseln und die gesamte freiwerdende Lei stung sowohl auf die Schutzschirme wie auch die Offensivwaffen zu legen.
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Ein Übertritt der SOL in den Linear raum war unter den augenblicklichen Bedingungen illusorisch, da die relati ve Geschwindigkeit des Schiffes weit unter der erforderlichen Anfangsfahrt von mindestens 10.000 km pro Sekun de lag. Und die Raumkugel, innerhalb der man frei manövrieren konnte, war lächerlich gering in ihrem Ausmaß. Wenn, dann mußte mit aller Kraft versucht werden, aus dem Zugstrahl auszubrechen. Die Schubkraft sämtli cher Strahltriebwerke sollte dazu ei gentlich ausreichen. Man mußte es nur hartnäckig genug versuchen und nicht schon nach den ersten Mißerfol gen klein beigeben. Jede SOL-Zelle besaß 24 NUGStrahltriebwerke nach dem gepulsten Protonenstrahlverfahren in Verbin dung mit dem Antimaterieeffekt, der eine unvorstellbar hohe Leistungsaus beute gewährleistete. Alles in allem waren die NUG-Triebwerke in der La ge, den eingespeisten Treibstoff hun dertprozentig zu verwerten, während andere Verfahren, das wußte Gerigk aus der Lektüre technischer Beschrei bungen, nur selten bis zur 10-prozenti gen Ausbeute reichten. Und das Mut terschiff besaß nochmals 12 NU-Gas reaktoren auf der Schwarzschildbasis. „So nachdenklich?" wurde er von Curie van Hernng angesprochen. Die 56jährige Frau hatte wie immer ver sucht, ihrem runden Gesicht mit ei nem starken Make-up wenigstens ei nen Hauch jenes exotischen Reizes zu verleihen, der Arjana Joester auszeich nete. Dabei vergaß sie ganz, daß sie trotz ihrer schwarzen Haare und der ebenfalls schwarzen Augen nicht gera de eine Schönheit war. Ihre untersetz te, schon füllig zu nennende Figur war eine Folgeerscheinung der üppigen
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Essensgewohnheiten. In der Füh rungsspitze der SOLAG ging ihr der Ruf voraus, häufig nur ausgefallene kulinarische Genüsse im Sinn zu ha ben und zeitweilig darüber sogar ihre eigentliche Aufgabe zu vergessen. Was Wunder, daß Curie van Herling eben falls zu den Traditionalisten zählte und jede Veränderung der bestehen den Verhältnisse von vornherein ver urteilte. „Es muß eine Möglichkeit geben, die SOL aus der Falle herauszumanö vrieren", antwortete Homer Gerigk auf ihre Frage. Sie lachte. „Überlasse diese Entscheidung ru hig dem High Sideryt. Deccon wird wissen, wie weit er gehen kann." „Vielleicht", überlegte Gerigk, ohne darauf einzugehen, „sollte man die SOL auseinanderkoppeln und versu chen, mit allen drei Einheiten gleich zeitig an verschiedenen Stellen diesen verdammten Zugstrahl zu durchbre chen . . . " Homer wurde durch einen über raschten Ausruf Palo Bows unterbro chen. Der 1,81 Meter große, zur Fettlei bigkeit neigende Farbige, der seinen Dienst an den Ortungsgeräten versah, war gleichzeitig der einzige Mann in der Gruppe der Fortschrittlichen, zu der außer ihm nur noch Lyta Kundu ran und Ursula Grown gehörten sowie Brooklyn, deren richtigen Namen kei ner der Magniden kannte. „Wir bekommen schon wieder Be such", rief Bow mit einem spöttischen Unterton in der Stimme. „Und", machte Gerigk. „Was ist dar an besonderes? Wir werden laufend von irgendwelchen Objekten über holt, die schneller sind als wir, und fliegen unsererseits an Gesteinstrüm
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mern und anderem vorbei." „Diesmal scheint es sich nicht um irgendein Objekt zu handeln." „Meine Güte", fauchte Gerigk auf gebracht, „laß dir nicht die Würmer einzeln aus der Nase ziehen. Was hast du auf dem Schirm ? " „Wenn ich es wüßte, wäre mir woh ler", meinte Bow. Palo Bow war ein Mann der Ruhe und des Ausgleichs, konnte aber auch mürrisch sein und verschlossen. Mit seinen 78 Jahren zählte er zu den älte ren unter den Magniden und blickte gleichzeitig auf eine lange Zeit der Er fahrung zurück. Er mochte das geselli ge Leben nicht unbedingt, sondern zog sich oft allein zurück, um zu lesen. „Mach kein Geheimnis daraus", fauchte Gerigk. Er und Curie van Her ling wandten sich den Schirmen zu. Die eingespiegelten Werte gaben le diglich über die Geschwindigkeitsdif ferenzen Auskunft. Demnach würde das Objekt — vorausgesetzt, die au genblicklichen Verhältnisse blieben während dieser Zeit konstant — die SOL in ungefähr zwei Standardtagen passieren. „Die Massewerte entsprechen etwa denen einer SOLzelle", erklärte Bow. „Genaueres läßt sich leider nicht sa gen, da die Ortungen von Störungen überlagert werden." „Was kannst du überhaupt?" brummte Gerigk aufgebracht. Der Dunkelhäutige grinste nur. Plötzlich hallte eine Stimme durch die Zentrale, die alle kannten. Chart Deccon, der Bruder ohne Wertigkeit, sprach zu ihnen. „Ich wünsche eine Lageerörterung", sagte er. „Es gibt verschiedene Dinge zu klären, insbesondere hinsichtlich der Kompetenzen." Galt das Homer
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Gerigk? Der Magnide zuckte jeden falls mit keiner Wimper. „Ich erwarte euch in genau fünf Minuten in meiner Klause. Die Brüder und Schwestern, die nicht in der Zentrale anwesend sind, werde ich persönlich zu mir ru fen." Damit unterbrach der High Side ryt die Verbindung wieder. * Der Sphärenklang hätte reiner nicht sein können. Er schien von überallher zu kommen, als schwebe man in einer Luftblase inmitten einem von Musik überquellenden Ozean. Die grenzenlo se Freiheit des Weltenraums drückte sich darin aus, das Gefühl, nach den Sternen greifen und sie zu sich heran ziehen zu können. Arjana Joester, 41 Jahre jung, schlank und sportlich, mit rotbraunen Haaren, blauen Augen und einem hübschen leicht asiatisch geschnitte nen Gesicht, gab sich ganz der Melo die hin. Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem leise verwehenden Klang, während ihr Körper sanften Vi brationen unterworfen war. Arjana lag auf einem Regenbogen, der seine Farben stetig mit der Tonfol ge veränderte — eine Mulde aus ge richteten, sich sanft ihrer Figur anpas senden Antigravstrahlen. Ein Paukenschlag ertönte, dumpf und rollend wie der Vorbote nahen den Unheils. Das Leuchten, das Arja na umspielte, wechselte schlagartig vom zarten Gelb in ein düster glühendes Rot. Schrille Mißtöne folgten. Die Frau kannte das Stück, hatte es oft genug gehört und wußte, welcher Genuß kommen würde. Endlich war es ihr möglich, sich völlig zu entspannen.
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Das Donnern auf Vollast laufender Raumschifftriebwerke zerriß die Sphärenklänge. Ganze Quinten über springende Folgen wimmerten in den verschiedensten Lautstärken durch den Raum. Jäh aufzuckende grelle Blitze wechselten mit absoluter Fin sternis. Ein Heulen, Kreischen, Fau chen und Dröhnen setzte ein, das jeden anderen innerhalb kürzester Zeit an den Rand des Wahnsinns getrieben hätte. Arjana Joester aber lauschte dem voll Verzückung. Sie verstand nicht, warum die Magniden, ja selbst die Fortschrittlichen unter ihnen, die se Kunstmusik als schrill und schreck lich ablehnten. Apokalypso nannte sie diesen Klang. In gewisser Weise war er wirk lich so etwas wie ein Weltuntergang. Er beinhaltete alle Elemente des Chaotischen, vermischten sie mit Me lancholie und einem Hauch von Sehn sucht und gebar daraus etwas völlig Neues... Die Lautstärke fiel abrupt ab, um dann abermals in mehreren Stufen an zuschwellen. Arjana Joester schwelgte in Verzückung, soweit ihre Gefühle dies erlaubten. Trotzdem war sie in der Lage, den Mißton herauszuhören. Das Summen wiederholte sich, wur de drängender, wie es schien. Und das in einem Moment, in dem die kom pakte Einheit des Stückes sich lang sam herauskristallisierte. Der Mißton blieb. „Mist!" schimpfte Arjana inbrün stig. Sie schnippte mit den Fingern, woraufhin die Musik endete und die Beleuchtung aufflammte. Jemand versuchte, sie über Inter kom zu erreichen. Arjana nahm das Gespräch entgegen.
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„Ja", nickte sie. „Ich komme so fort." Es war Chart Deccon, der High Side ryt.
Der Bruder ohne Wertigkeit meldete sich auch in der Zentrale nochmals. „Wajsto", rief er, und seine Stimme klang ungehalten. „Ich will, daß du umgehend Gallatan Herts aufsuchst. Er muß in seiner Kabine sein, aber er hält es nicht für nötig, auf meinen An ruf zu reagieren." Bevor Kolsch ant worten konnte, hatte Deccon wieder abgeschaltet. „Wenn es sein muß, schleppe 'Rum pelstilzchen' mit Gewalt her", riet Cu rie van Herling. Keiner der Magniden wollte privat viel mit Gallatan Herts zu tun haben. Er war ein wahrer Giftzwerg und er wies sich bei jeder Gelegenheit als reizbar und steitsüchtig. Den Spitzna men Rumpelstilzchen hatte ihm zum einen seine geringe Größe von nur 151 Zentimeter eingebracht, zum anderen die Tatsache, daß er dürr und leicht verwachsen war. Meist zog er den Kopf zwischen die Schultern und krümmte den Rücken wie unter einer schweren Last. Niemand verstand, weshalb er diese körperlichen Mängel nicht operativ beseitigen ließ. Aber mit seinen 100 Jahren war er eben doch schon recht eigensinnig. Seine Kabine lag nicht weit vom Kommandoraum im Mittelteil der SOL entfernt. Zwei Kampfroboter standen davor Wache. Ihre Linsen ruhten unverwandt auf Wajsto Kolsch, als dieser näherkam. In der Regel hielten die Magniden sich in der Zentrale des Mutterschiffs
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auf oder in den ihnen privat zur Verfü gung stehenden Räumlichkeiten. Sie waren Techniker, Wissenschaftler und Piloten, die fast alle Geheimnisse des Schiffes und seiner Vergangenheit kannten und auch mit den Beibooten, den 100-m-Kreuzern, Korvetten und Space-Jets umzugehen verstanden. Wenn wichtige Anlässe es erforderten, begaben sie sich hin und wieder in die anderen SOL-Zellen, wobei sie unter einander stets durch Bildsprechfunk verbunden blieben. Jeder verfügte über eine eigene Leibwache von zwölf Robotern. Die Brüder und Schwestern der er sten Wertigkeit waren es, die das Raumschiff wirklich flogen. Neben dem High Sideryt verfügten sie als einzige der SOL-Arbeitsgemeinschaft über IV-Schirme und Desintegratoren und durften das E-kick, mit dem die Buhrlos sich während ihrer Weltraum aufenthalte aufluden, nutzen. „Halt!" befahlen die beiden Roboter gleichzeitig und versperrten Wajsto Kolsch den Weg. Der Magnide blieb stehen und nannte seinen Namen. Er wußte, daß die Roboter in diesem Au genblick miteinander kommunizier ten und seine Identität überprüften. „Du kannst passieren. Gallatan Herts hält sich in seiner Kabine auf." Kolsch betätigte den Summer. Als sich aber nach einigen Sekunden nichts rührte, wurde er ungeduldig. „Wißt ihr genau, daß euer Herr sei nen Wohnbereich nicht verlassen hat?" fragte er die Roboter. „Ja", schnarrten sie. Gallatan hat schon auf den Anruf des High Sideryt nicht reagiert, über legte Wajsto. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen. Obwohl er lieber unverrichteter
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Dinge abgezogen wäre, befahl er den Robotern, das Schott zu öffnen. Mit dem passenden Impulsschlüssel war dies eine Sache von Sekunden. Der Raum, den Kolsch betrat, war leer. Kyr-Kyr fiel dem Magniden ein, der hundeähnliche Extra, den Rum pelstilzchen als Haustier hielt — mög licherweise als Ersatz für mangelnden menschlichen Kontakt. Immerhin war dieses Wesen halbintelligent. Es haßte Herts, aus welchem Grund auch im mer, und dieser meinte, daß er KyrKyr nie den Rücken zuwenden dürfe. „Mag sein, daß er so unvorsichtig war", dachte Wajsto und fühlte kei nerlei Bedauern dabei. Aus der Naßzelle erklangen undefi nierbare Geräusche, die sich wie ein Knurren anhörten. „Gallatan", rief Kolsch spöttisch, „was treibst du da drinnen? Der High Sideryt will uns alle sprechen." Er erhielt keine Antwort. Statt des sen wurde das Knurren eine Nuance gereizter. „Öffne die Tür!" befahl Wajsto Kolsch einem der beiden Roboter. Der Anblick, der sich ihm dann bot, reizte ihn unwillkürlich zum Lachen. Allein wenn er daran dachte, wie lange Herts schon unter der Dusche stand und nicht einmal wagte, das Wasser abzustellen... Rumpelstilzchen zitterte — ob vor Kälte oder Angst, ließ sich nicht fest stellen. Aus seinem ohnehin bleichen und hageren Gesicht war jegliche Far be gewichen. Deutlich traten die Bak kenknochen hervor und verliehen Gallatan gemeinsam mit der langen, scharfrückigen Nase und den schma len Lippen das Aussehen eines Raub vogels. Tief lagen seine wasserblauen Augen in den Höhlen, von schwarzen
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Rändern gezeichnet. Das strohblonde, kurze Haar hing ihm in triefenden Strähnen in die Stirn. Unmittelbar vor dem Bruder der er sten Wertigkeit kauerte ein violettes Wollknäuel mit angespannten Mus keln und entblößten Lefzen: Kyr-Kyr, der Extra. In dem Augenblick, da Gallatan Herts den Roboter und Wajsto Kolsch bemerkte und eine unbedachte Bewe gung machte, duckte sich das hunde ähnliche Geschöpf tief an den Boden. Als wolle es im nächsten Moment sei nem Herrn an die Kehle springen. Gallatan blieb nur ein ergebenes Seufzen. Schlagartig wurde Kolsch bewußt, weshalb der High Sideryt ausgerech net ihn geschickt hatte, obwohl er „Hertsblatt" nicht minder unaussteh lich fand als die anderen Magniden. Immerhin hatte er bei seinen gele gentlichen Jagdzügen durch das Schiff wiederholt Extras erlegt oder gefangen, die Kyr-Kyr ähnlich gewe sen waren. Er hätte das vierbeinige Biest mit seinem Thermostrahler töten können. Doch er tat es nicht. Einfach aus dem Grund, weil er dem Alten zeigen woll te, daß ein Wajsto Kolsch niemals Furcht empfand. Drei Schritte trennten ihn noch von Kyr-Kyr, als das Wesen unvermittelt herumfuhr und ihn anbellte. Kolschs Blick bohrte sich in die Augen des Tie res. „Komm nur", murmelte er leise. „Komm her, du Bestie, ich werde dir den Hals umdrehen." Kyr-Kyr zog den Schwanz zwischen die Hinterläufe und wich kaum merk lich zurück. Wajstos Auftreten schien ihn zu irritieren.
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„Du wirst ihm nichts tun", keifte Gallatan Herts los, kaum daß er die Gefahr von sich abgewendet sah. Den Moment der Unachtsamkeit nutzend, sprang Kyr-Kyr. Der Robo ter, nur darauf programmiert, Herts zu schützen, ließ es geschehen. Wajsto Kolsch riß abwehrend die Arme hoch, aber der Anprall des Tie res warf ihn zu Boden. Schon war der Extra über ihm. Zwei Reihen spitzer Zähne schnappten nach seinem Hals. Wajsto entging den zuschlagenden Kiefern nur durch eine blitzschnelle Drehung zur Seite. Kyr-Kyr ließ ein enttäuschtes Knurren vernehmen. Der Magnide packte ihn an den Vorderläu fen und versuchte, ihn zur Seite zu sto ßen. Aber das Tier erwies sich als überaus flink, seine Krallen gruben sich in Kolschs rechten Handrücken. Der Bruder der ersten Wertigkeit schrie auf. Gleichzeitig zog er die Knie an und stieß sie dem Extra in den Leib. Kyr-Kyr wurde über ihn hin weggeschleudert, kam aber auf allen vieren auf und fuhr sofort herum. Wajsto Kolsch zerrte seine Waffe aus dem Holster. Bevor er sie jedoch entsi chern konnte, riß Herts' ..Schoßtier' sie ihm aus der Hand. Dafür versetzte er Kyr-Kyr einen wütenden Fußtritt, daß der Extra sich jaulend zusammen krümmte. „Schluß", kreischte Gallatan. „Ich werde dich zur Verantwortung ziehen, wenn meinem . . . " Eine gewisse Intelligenz war dem Tier nicht abzusprechen. Geschickt unterlief es die Deckung seines Geg ners und sprang dem Magniden er neut an die Kehle. „Hilf Wajsto!" befahl Herts dem Ro boter, sicherlich mehr aus Sorge um Kyr-Kyr als um Kolsch. Kyr-Kyr haß
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te ihn, und doch bestanden Bande zwischen beiden, die tiefer gingen. Rumpelstilzchen brauchte den Extra; manchmal redete er zu ihm wie zu ei nem Menschen. Ein Lähmstrahl traf das Tier und ließ es jaulend einknicken. Wajsto Kolsch erhob sich umständ lich. Er sagte nichts, überging geflis sentlich Herts' triumphierenden Aus druck und wandte sich der Tür zu. „Warte", rief Gallatan ihm nach. „Du sagtest, Chart Deccon will uns sprechen?" „In seiner Klause", nickte Kolsch, während er den Raum verließ. „So fort." Herts grinste noch, als der andere seine Kabine längst verlassen hatte. Er warf einen flüchtigen Blick auf KyrKyr, dessen Lähmung noch eine Zeit lang anhalten würde, und legte dann das wallende weiße Gewand der Magniden an. Auf der linken Brustseite, unmittel bar über dem Herzen, funkelte das Atomsymbol aus lupenreinen Brillan ten.
Sein aufgedunsenes rotes Gesicht hatte sich weiter verfärbt. Chart Deccon liebte es nicht, wenn man ihn warten ließ. Mochte es hun dert Entschuldigungen geben, für ihn zählte nicht eine einzige. Soeben war Wajsto Kolsch einge troffen. Er wirkte gehetzt und außer Atem; sein rechter Handrücken blute te. Aber der High Sideryt nahm davon nur flüchtig Kenntnis und verwies ihn stumm an seinen Platz.
31 Deccon ließ den Blick über die An wesenden schweifen. Nur Gallatan fehlte. Die oberste Kaste der SOLAG zählte derzeit zehn Mitglieder, fünf Frauen und fünf Männer. Jeder von ihnen war vom High Sideryt persönlich berufen worden. Je nachdem, ob sich geeigne te Brüder und Schwestern fanden, lag ihre Zahl zwischen zehn und zwanzig. Chart Deccon spielte mit dem Gedan ken an Neuzugänge. Denn gerade in der augenblicklichen schwierigen Phase war jede Hilfe bei der Schiffs führung willkommen. Die von dem geheimnisvollen Zugstrahl ausgehen de Gefahr wurde womöglich noch im mer nicht richtig erkannt. Die Magniden, jeder von zwei oder drei Robotern begleitet, warteten dar auf, daß der High Sideryt die Konfe renz eröffnete, Deccon kannte ihre Ei genheiten zur Genüge. Homer Gerigk war der schlimmste unter den Traditionalisten, ein gefähr licher Stratege und Intrigant, der sich wechselhaft mit den anderen verbün dete — wenn es sein mußte sogar mit den Fortschrittlichen, um seine eige nen, hochgesteckten Ziele zu verwirk lichen. Sein Streben galt schon lange der absoluten Macht. Chart Deccon wurde den Verdacht nicht los, daß Gerigk nicht nur mit ei nem Auge nach dem Titel des Bruders ohne Wertigkeit schielte. Als High Si deryt würde er ein erbarmungsloser Tyrann sein und die unumschränkte Macht der SOLAG betonieren. Er schien zu hoffen, daß Deccon ihn als Nachfolger benannt und seinen Na men in SENECA gespeichert hatte. Alles an Homer Gerigk war auf die Erlangung der Macht ausgerichtet. Mit dem, was er in den 58 Jahren sei
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nes Lebens bereits erreicht hatte, gab er sich noch nicht zufrieden. Unver ständlich war nur, weshalb er sich in seiner knapp bemessenen Freizeit ausgerechnet mit Hologrammkunst beschäftigte. Vielleicht wollte er eines Tages den perfekten Doppelgänger seiner selbst erzeugen. Wissen konnte man bei ihm nie, für welche Zwecke er die erworbenen Kenntnisse auszunut zen gedachte. Nervös trommelte Deccon mit den Fingern auf das Tischchen, auf dem der Akku mit dem gespeicherten E-kick stand. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Be handlung, obwohl er sich schlaff und abgespannt fühlte. Sein Blick wanderte weiter und blieb für eine Weile an Nurmer hän gen, dem ältesten der Magniden. Ent sprechend kehrte dieser auch mit gro ßer Attitüde den Erfahrenen und vä terlichen Freund heraus. Daß die an deren mitunter wenig Wert auf seine Ratschläge legten, störte ihn dabei kaum. Nurmer war immer gierig auf Zu satzrationen von E-kick. Und nicht nur das. Angeblich ließ der über schlanke, glatzköpfige Mann mit dem silbernen Kinnbart sich des öfteren junge Solanerinnen in seine Kabine bringen. Die SOLAG hat die Macht, dachte Deccon. Weshalb sollte nicht jeder sie auf seine Weise nutzen. Es hieß, daß auch Palo Bow enge Beziehungen zu einer Frau unterhielt, die nicht den Kasten angehörte. Neben Nurmer hatte Lyta Kundu ran Platz genommen. Sie zählte zu den Fortschrittlichen unter den Magniden. Mit ihren 29 Jahren war sie bisher das jüngste Mitglied der Führungsge
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meinschaft. Obwohl sie erst vor einem Jahr für diese Aufgabe berufen wor den und daher zeitweilig noch unsi cher war und sich bis heute nicht recht etabliert hatte, entwickelte sie doch ei nen hin und wieder geradezu krank haft anmutenden Ehrgeiz. Lyta Kunduran war übermäßig schlank, manche nannten sie „durch sichtig". Ihr wächsernes Gesicht wur de von großen grauen Augen be herrscht. Trotz einer gewissen Schön heit, die ihr keinesfalls abzusprechen war, hatte sie mit Männern nichts im Sinn. Dem anderen Geschlecht ge genüber gab sie sich kalt und abwei sen. Lyta lebte nur für ihre „Beru fung". Ihr fast paranormales Verständ nis für Positroniken hatte ihr schon nach kurzer Zeit den Spitznamen Bit eingebracht. Chart Deccon glaubte jedoch zu spüren, daß sie ihm mit Verehrung be gegnete. Allerdings war dies rein pla tonischer Natur. Sie bewunderte ihn wegen seiner Fähigkeiten, vor allem aber, weil er ganz oben stand und die SOL sein Schiff war. Unter vier Augen hatte sie dem High Sideryt deutlich ihr Vertrauen zu ver stehen gegeben. Etwas mehr als drei Wochen lag das inzwischen zurück; genauso gut aber hätte es erst gestern gewesen sein können. Befragt, wer überhaupt in der Lage wäre, die SOL zu befreien, lautete ihre Antwort: „Du. Oder ein Wunder." Chart Deccon schreckte aus seinen Gedanken auf, als Gallatan Herts end lich die Klause betrat. Ohne ein Wort der Entschuldigung ließ der Magnide sich auf dem letzten freien Platz nie dersinken und lehnte sich zurück. Man hätte eine Nadel fallen hören können, so still wurde es plötzlich.
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„Du kommst zehn Minuten zu spät" stellte der High Sideryt mit gefährlic leiser Stimme fest. „Es ist nicht meine Schuld", erwi derte Herts. „Wessen denn?" „Kyr-Kyr..." Deccon ließ den Magniden nicht ausreden. „Du nimmst das etwas zu leicht", grollte er. „Was wäre wohl im Falle ei nes Alarms geschehen?" Gallatan Herts mußte die Antwort schuldig bleiben. „Jage den Extra zum Teufel", for derte Deccon. „Viele Brüder und Schwestern der SOLAG würden sich freuen, seiner Spur folgen zu dür fen." „Nein." Herts sprang auf. „Keiner wird das Tier anrühren, wenn ich es nicht will." Der High Sideryt funkelte ihn wü tend an. „Sieh dich vor, Gallatan." Dann wechselte er unvermittelt das Thema. „Wir schreiben heute den 7. April 3791. Seit rund sieben Wochen ist die SOL nicht mehr in dem Maß manövrierfähig, wie wir uns das wün schen. Der Zugstrahl, der das Schiff gefangenhält, beschränkt unseren Ak tionsradius drastisch auf 1.5oo Kilo meter. Sämtliche bisherigen Versu che, aus Mausefalle zu entkommen, scheiterten kläglich. Trotz der sich häufig ändernden Ge schwindigkeit ist inzwischen unge fähr abzusehen, wann wir das uns auf gezwungene Ziel erreichen werden. Palo, ich denke, dazu kannst du mehr sagen." Der Farbige nickte kurz. „Den Umlaufbahnen der einzelnen
33 Planeten entsprechend steht nunmehr fest, daß der Zugstrahl von Nummer Sieben ausgeht. Allerdings ist jed Fernortung unmöglich, wir können al so nicht erkennen, was uns dort erwar tet. Ich denke, und darin sind wir uns ei nig, daß es künstliche Sperrfelder und Reflektoren in der Atmosphäre und im Orbit des Planeten gibt, die eine Erkundung seiner Oberfläche zumin dest zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unmöglich machen. Wir sind ge zwungen abzuwarten, bis wir mit Bei booten jene Welt erreichen können." „Demnach wissen wir so gut wie gar nichts..." „So will ich es nicht ausdrücken. Was immer uns erwartet, die SOL ist nur eines von unzähligen Objekten, denen das gleiche Schicksal bevor steht. Der Zugstrahl ist nach allen Richtungen wirksam." „ . . . also in einem kugelförmigen Raumsektor", stellte Chart Deccon fest. „Nichts anderes habe ich erwar tet. Lassen sich daraus bereits irgend welche Rückschlüsse ziehen?" „Keine, die uns weiterhelfen wür den", warf Homer Gerigk ein. „Weshalb gestehen wir nicht end lich ein, daß es keinen Ausweg gibt? platzte Ursula Grown heraus. „In der Vergangenheit haben wir genug Feh ler gemacht, deren Auswirkungen wir nun zu spüren bekommen." „Fehler?" fuhr Gallatan Herts auf. „Das ist lächerlich." „Wenn du es so ausdrücken willst...", zischte Ursula Grown. Curie van Herling warf der 33 Jahre älteren Frau einen vernichtenden Blick zu. „Wer hat diese angeblichen Fehler begangen?" wollte sie wissen.
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„Wir alle. Ihr, weil ihr die Zeichen der Zeit nicht erkennt und nicht einse hen wollt, daß es gefährlich ist, ohne Ziel und Aufgabe ein Schiff wie die SOL zu befehligen — und wir, weil wir uns nicht mit dem erforderlichen Nachdruck dagegen gewehrt haben." „Pah", machte Curie. „Diese abge droschenen Phrasen tragen bestimmt nicht zur Rettung bei." „Man hätte eben eher auf uns hören sollen", sagte Brooklyn. Sie war ganz Dame, charmant und liebenswürdig, aber starr in ihrer Meinung und voller Vorurteile gegen andere. Ihren richti gen Namen kannte niemand. Brooklyn war sechzig Jahre alt, grauhaarig und mit 1,75 Meter durch schnittlich groß. „Jeder tut so, als befänden wir uns bereits auf dem geraden Weg in die Hölle", brauste Homer Gerigk auf. „Dabei ist bisher nichts geschehen, was uns in Furcht versetzen könnte." „Aber es kann jeden Augenblick so weit sein. Vielleicht braut sich, wäh rend wir hier sitzen, einige Lichtstun den entfernt das Unheil zusammen." „Schwarzmalerei." „Und was ist mit dem gewaltigen Objekt, das hinter uns herrast? Wenn wir ihm nicht ausweichen können, werden wir nicht einmal mehr Mause falle-Sieben erreichen." „Noch ist keineswegs sicher, daß es uns wirklich einholen wird." „Besitzt zufällig jemand die Güte, mich zu unterrichten, worum es bei dieser Diskussion überhaupt geht?" zischte der High Sideryt ungehalten. Von seinem thronähnlichen Sessel aus funkelte er die anderen wütend an. Palo Bow nickte. „Wir haben vor kurzem ein gewalti ges Etwas geortet, das aus dem freien
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Raum auf uns zukommt und wesent lich schneller ist als die SOL. Aller dings läßt sich nicht feststellen, um was es sich handelt. Ein Raumschiff vielleicht..." Chart Deccon schlug mit der Faust auf das Tischchen, auf dem der E kick-Akku stand. „Was ich heute höre, sind lauter Wenn und Aber", wetterte er. „Hat keiner eine Idee, wie die SOL aus der Falle befreit werden kann? Manchmal glaube ich, daß ich nur von Idioten umgeben bin, die sich gegenseitig alle möglichen Beschimpfungen an den Kopf werfen, ihre Arbeit aber für ne bensächlich halten." „Einen Vorschlag habe ich zu unter breiten", ließ Homer Gerigk verneh men. „Bitte", forderte der Bruder ohne Wertigkeit ihn auf. Gerigk erhob sich zu seiner vollen Größe von 1,77 Meter, Triumphie rend wanderte sein Blick durch den Raum, als fühle er sich schon als der nächste High Sideryt. „Unter Einsatz sämtlicher verfüg baren Energien sollte nochmals ver sucht werde, das umgebende Zugfeld zu durchbrechen. Die Chancen, we nigstens einen Teil der SOL — natür lich das Mutterschiff — zu retten, stei gen, sobald wir die Trinität auseinan derkoppeln und mit Waffenge walt . . . " Chart Deccon vollführte eine entschieden ablehnende Handbewe gung. „Nein!" Nur dieses eine Worte sagte er. Doch drückte sich mehr darin aus als in ei nem langen Satz. „Und trotzdem . . . " , beharrte Ge rigk, wurde aber sofort wieder unter
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brochen. „Entweder gelingt es uns, die ganze SOL in Sicherheit zu bringen, oder al le an Bord des Schiffes gehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Dazu zählen auch die Mitglieder der Ar beitsgemeinschaft. Eine andere Alter native gibt es für mich nicht. Ich hoffe, wir haben uns verstanden." Homer Gerigk preßte die Lippen zu sammen, bis sie nur mehr einen schmalen Strich bildeten. Die dunkel brauen Flecken in seinem Gesicht, die aussahen, als rührten sie von Verbren nungen her, färbten sich rot. Sie wa ren die Folgeerscheinung einer häufi gen E—kick—Bestrahlung, die er als einziger der Magniden bisher nicht oh ne äußerlich sichtbare Spuren ertra gen hatte. „So abwegig ist das gar nicht, was Homer vorschlägt", meldete Curie van Herling sich zu Wort. „Man müßte das Vorhaben allerdings leicht modifizie ren und etliche Dutzend Beiboote, 100-m-Kreuzer und was wir sonst noch haben, ausschleusen." „Was willst du damit erreichen?" fragte der High Sideryt aufgebracht und grollend. „Die Boote sollen die uns verbliebene Operationsraumkugel aufspren gen. Irgendeine energetische Barriere muß vorhanden sein, selbst wenn sie sich mit unseren Mitteln nicht lokali sieren läßt." „Einige Dutzend . . . ? " fragte Chart Deccon scharf. Curie van Herling nickte. „Ob mehr oder weniger, was spielt das für eine Rolle? Wir verfügen über ausreichend große Einsatzreserven." „Sicher", sagte der High Sideryt lei se. Dann aber platzte er heraus: „Und wer, verdammt, soll die Kreuzer flie
35 gen? Du vielleicht — und die anderen Magniden? Fürwahr, eine hervorra gende Idee." Zum erstenmal seit lan gem sah er die Frau nach Worten rin gen. Sie begriff, wo der Fehler lag. Ma terial gab es zur Genüge, nur keine Menschen, die damit umzugehen ver standen. „Spare dir deinen Zynismus", fauchte Curie. „Wir haben Roboter die lediglich programmiert zu werden brauchen und dann . . . " „ . . . bis in die Hölle fliegen, falls wir dies von ihnen verlangen", fuhr Chart Deccon fort. Er, der sonst keine Ge fühle zu kennen schien, lächelte. Aber es war ein eisiges Lächeln. Curie van Herling schluckte krampfhaft. „Wer", fragte der Bruder ohne Wertig keit lauernd, „wird die Roboter pro grammieren?" „Bit!" kam es von Arjana Joester. Lyta Kunduran blickte unsicher in die Runde. Sie schien etwas sagen zu wollen, fand aber offenbar nicht den Mut dazu. Überraschenderweise wich sie dem High Sideryt jedoch nicht aus, als dieser sie unverwandt ansah. „Angenommen, wir starten die Hälf te aller Korvetten und der Leichten Kreuzer der Planetenklasse, das sind jeweils 50 aus den beiden SOL-Zel len. Um voll manövrierfähig zu sein, benötigen diese eine Besatzungsstär ke von 20 beziehungsweise 60 Mann, insgesamt also eine Gesamtzahl von . . . viertausend. Nehmen wir weiter an, beim Einsatz von Robotern und wenn die Aktionen auf das Nötigste beschränkt werden, genüge ein Viertel dieser Zahl, so blei ben immerhin l.ooo Blechkameraden, die für ihre neue Aufgabe vorzuberei ten sind. Was glaubst du, Lyta, wieviel Zeit du dafür benötigen würdest?"
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„Das hängt von den zur Verfügung stehenden Daten ab", antwortete die Positronik-Spezialistin. „Wahrschein lich werden wir Mausefalle-Sieben jedoch eher erreichen." „SENECA soll dir behilflich sein", platzte Gallatan Herts unvermittet heraus. Dem High Sideryt fiel auf, daß die Diskussion überwiegend von den Tra ditionalisten unter den Magniden be stritten wurde. Fühlten diese sich un bewußt doch schuld an der augen blicklichen Situation? Sie waren sechs, bekamen aber nie die Ober hand, weil Deccon stets auf eine Aus gewogenheit beider Gruppen achtete. Insgeheim sympathisierte er mit den Fortschrittlichen, die der SOL und den in ihr lebenden Menschen endlich ein Ziel und eine Aufgabe geben woll ten — und sei es nur ein fiktives. Sie glaubten erkannt zu haben, daß der Müßiggang über kurz oder lang ins Verderben führen würde. Bit lachte hell auf, als Herts sie triumphierend anstarrte. „Mein Lieber", sagte sie spöttisch, „von Positroniken verstehe ich wohl etwas mehr als du. Zum gegenwärti gen Zeitpunkt erscheint es mir völlig unmöglich, SENECA mit solchen Din gen zu behelligen. Es kann durchaus geschehen, daß eine solche Maßnah me den endgültigen Zusammenbruch herbeiführt." „Aber sicher bist du dir nicht", hak te Herts nach. Lyta zögerte. „Wenn du glaubst, es besser zu kön nen als ich, tu dir keinen Zwang an. Die Verantwortung liegt dann aber einzig und allein bei dir." Sie wandte sich an Chart Deccon. „Der High Side ryt wird sich an unser Gespräch vor
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einigen Wochen erinnern, in dem es unter anderem darum ging, SENECA mit dem Kodegeber direkt anzuspre chen," „Das ist richtig", nickte der Bruder ohne Wertigkeit. „Ich verbiete euch jeglichen Versuch, der die Großposi tronik weiter schädigen könnte." Brooklyn räusperte sich dezent. „Es ist klar", sagte sie dann, „daß es so nicht geht. Allerdings sollten wir uns endlich darüber einig werden, wer dieses Desaster zu verantworten hat." „Schicksal", murmelte Nurmer vor sich hin. Jedoch nicht leise genug, als daß Lyta Kunduran ihn nicht verstan den hätte. „Es ist euer Gleichmut", platzte sie heraus. „Wie oft haben wir gefordert, der SOL ein Ziel zu geben." „Das ist lächerlich", rief Arjana Joe ster. „Wem wollt ihr damit imponie ren?" Ihr hübsches Gesicht verzog sich zur wütenden Grimasse. Arjana galt als eiskalt, berechnend und mord lustig. Wenn es darum ging, Strafen gegen Mitglieder der unteren Kasten oder gar einfache Solaner zu verhän gen, war sie am erbarmungslosesten. „Warum begreifst du nicht, was es bedeuten würde, endlich stabile Ver hältnisse an Bord zu haben?" erwider te Ursula Grown, ohne auf die gestell te Frage einzugehen. „Hört sie an", rief Homer Gerigk mit seiner Fistelstimme dazwischen. „Das ist das Geschwätz von Weltverbesse rern und Taugenichtsen, wie es sie zu Dutzenden an Bord beider SOL-Zel len gibt. Diese sind es, die ihre Mit menschen aufwiegeln und die Macht der SOLAG zu brechen versuchen." Ursula Grown schoß die Röte ins Gesicht. , „Willst du damit behaupten, daß der
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Keim für alle Unruhen in unserer Mit te gelegt wird?" fragte sie lauernd. „Wenn du es so auffaßt, ja", schleu derte Gerigk ihr entgegen. „Man könnte durchaus meinen, daß dem so ist." „Wir sollten uns nicht streiten", rief Palo Bow, „sondern die Differenzen zu einem späteren Zeitpunkt austra gen, falls es die SOL dann noch gibt." „Ah", machte Wajsto Kolsch. „Wenn jemand Streit sucht, seid ihr es", stellte Curie van Herling fest. „Aus deinen Worten spricht Trotz ei nes kleinen Kindes." Ursula Grown gestikulierte heftig. Ein lauter Schrei schreckte sie alle auf. Chart Deccon schwang seine mas sige Gestalt aus dem Sessel. Sein Ge sicht hatte sich verfinstert, und er mu sterte die Versammelten mit stechendem Blick. „Hört endlich auf damit", brüllte er. „Wenn man euren Reden folgt, be kommt man wirklich das Gefühl, es mit Unmündigen zu tun zu haben. Gibt es denn nichts anderes als die Frage nach der Ursache?" Nie zuvor hatte der High Sideryt die Magniden in einem derart aufgebrach ten Zustand erlebt. Allerdings mußte er sich eingestehen, daß es die An spannung der letzten Tage und Wo chen war, die sie nervös und überemp findlich reagieren ließ. Manchmal fühlte auch er die Versuchung, um sich zu schlagen. Eine Lösung wäre das jedoch sicher nicht gewesen. Die Brüder und Schwestern der er sten Wertigkeit wußten genau, daß sie aufeinander angewiesen waren. Aber möglicherweise war es gerade dieses Gefühl des Voneinander-abhängig • Seins, das sie zusätzlich reizte. Ob Traditionalisten oder Fort
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schrittliche, in ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen waren sie sich sehr ähn lich. Jeder konnte die Arbeit des an deren ausführen, keiner war wirklich nur auf ein Gebiet spezialisiert. Nach außen hin versuchten die Mag niden sämtliche Zeichen von Unei nigkeit zu vermeiden. Man hätte so fort den Respekt vor ihnen verloren — allen voran wohl der Vystiden-Chef Aksel von Dhrau, der unerbittlich ge gen andere war und darüber hinaus ein kalter Rechner und hervorragen der Kämpfer. Er würde ohnehin eines Tages in den Kreis der ersten Kaste aufgenommen werden. Chart Deccon sah betretene Gesich ter. „Wenn ihr schon eure überschüssi gen Kräfte abreagieren müßt", sagte er, „tut das auf andere Weise. Ich will nur an diesen geheimnisvollen Frem den erinnern, den einige Buhrlos an Bord gebracht haben. Bisher hat er es immer wieder verstanden, sich der Ge fangennahme zu entziehen und ir gendwo in der SZ-1 Unterschlupf zu finden." „Das würde bedeuten, daß ihm un ser Schiff keineswegs fremd ist", warf Ursula Grown ein. Chart Deccon nickte. „Der Name Atlan ruft gewisse Erin nerungen in mir wach", meinte er. „Sie drehen sich alle um die Vergan genheit der SOL und der Menschheit überhaupt." Homer Gerigk deutete auf das mit silbernen Beschlägen verzierte Elfen beinkästchen, in dem das Logbuch aufbewahrt wurde. „Falls Atlan jemals eine bedeutende Rolle gespielt hat, werden seine Taten darin erwähnt sein. Es ist immer gut, einen Gegner genau zu kennen. Nur
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dann kann man seine Schwächen aus nutzen, um ihn zu überwältigen." „Später", winkte der High Sideryt ab. „Ich bin sicher, ich werde noch so manches in den Aufzeichnungen ent decken, was von Interesse ist." „Vieles spricht dafür, daß Atlan die SOL wie seine Westentasche kennt", stellte Nurmer fest. „Richtig", griff Gerigk den Faden auf. „Das heißt, daß wir ihm mit nor malen Mitteln nicht allzu schnell bei kommen werden. Wir haben es ja er lebt, als Atlan aus der SOL-Farm floh. Nicht nur er, sondern auch diese Terranie, die anscheinend für kurze Zeit seine Begleiterin war, konnte ent kommen. Wenn ich nochmals einen Vorschlag unterbreiten d a r f . . . " Er zögerte — bewußt, wie es schien, weil er dem High Sideryt die Abfuhr von vorhin nachtrug. „Bitte", machte Deccon und voll führte mit der Rechten eine auffor dernde Geste. „Wir sollten Atlan in eine Falle lok ken. Wenn du als der Bruder ohne Wertigkeit ihn über Interkom bittest, sich zu stellen, und ihm gute Behand lung und Straffreiheit zusicherst, wird er die Gelegenheit sicher beim Schopf packen." Nachdenklich kratzte Chart Deccon sich am Kinn. „Ähnliche Überlegungen habe ich bereits in Betracht gezogen", sagte er. „Einen Versuch ist es mir wert. Wenn Atlan allerdings den Braten riecht, wird er künftig noch vorsichtiger sein." „Ich gehe jede Wette ein, daß er kommt", sagte Curie van Herling. Niemand achtete auf Gerigk, der in sein weit fallendes weißes Gewand
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griff. In seinen Augen glomm ein tük kischer Funke. Als er die Hand dann blitzschnell wieder hervorzog, hielt er einen Ther mostrahler fest umklammert. Sein Zeigefinger lag auf dem Auslöser. Be vor überhaupt jemand fähig war, das Ungeheuerliche zu erkennen, fauchte der tödliche Schuß zum Podest des High Sideryt hinauf. Verbitterung lag auf Gerigks Zügen. „Du bist unfähig, die SOL zu len ken", schrie er. „Ich werde alles an ders machen." Niemand wußte, wen Deccon als sei nen Nachfolger in SENECA gespei chert hatte. Aber jeder Magnide konn te es sich an den Fingern ausrechnen, daß Homer Gerigk hoffte, derjenige zu sein. Er schien sogar überzeugt davon. Hätte er sich sonst zu einem Attentat hinreißen lassen? Der Energiestrahl brach sich an dem Schutzschirm, von dem der High Si deryt plötzlich umgeben war. Hoch empfindliche Sensoren hatten die Gefahr Sekundenbruchteile zuvor re gistriert und das Abwehrfeld aufge baut. Die sieben Kampfroboter, die als Deccons Leibwache fungierten, rissen ihre Waffen hoch. „Nicht schießen", brüllte der Bru der ohne Wertigkeit. „Nehmt auf die anderen Magniden Rücksicht." Homer Gerigk feuerte abermals. Doch nur einige Teppiche gingen in Flammen auf. Er lachte. Es war ein irres, verzwei feltes Lachen. In diesem Augenblick wurde Ge rigk klar, daß er verspielt hatte. Er hat te viel riskiert und alles verloren. Von nun an würde er auf der Flucht sein. Irgendwie hatte er dies sogar
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geahnt und seine Vorkehrungen ge troffen. Auch jetzt konnte er noch hof fen, den High Sideryt zu stürzen und an dessen Stelle zu treten. Chart Deccon gab seinen Wachrobo tern einen befehlenden Wink, worauf hin diese sich sofort in Bewegung setz ten. Daß Gerigk noch unter den Leben den weilte, verdankte er ausschließ lich der unmittelbaren Nähe der an deren. Sobald er aber versuchte, das Schott zu erreichen, hatten die Robo ter freies Schußfeld. Der Schreck des Attentats steckte den Brüdern und Schwestern der er sten Wertigkeit in den Gliedern. Es war ein Schock für sie. daß ausgerech net einer aus ihrer Mitte den High Si deryt bedrohte. Lyta Kunduran war Gerigk am nächsten. Hart packte er zu und zerrte sie aus ihrem Sessel hoch. Die Frau ließ es widerstandslos geschehen. Wie einen Schild zog er sie an sich, die Mündung des Strahlers preßte er ihr in den Rücken. „Bleibt, wo ihr seid", rief er den an deren zu. „Und du, Chart, pfeife deine Roboter zurück." Der High Sideryt reagierte in kei ner Weise. „Tu, was ich dir sage, oder Lyta stirbt", schrillte Gerigk. Ich habe nichts mehr zu verlieren."" Langsam wich er zurück. Palo Bow. der sich un beobachtet fühlte und ihm die Waffe aus der Hand schlagen wollte, rammte er seinen Ellbogen in den Leib. Äch zend sank der Farbige zu Boden. Unbehelligt erreichte Homer Gerigk das Schott. Lyta Kunduran zitterte in seinem Griff. Die Wand glitt vor ihm zur Seite. „Gebt mir Rückendeckung", befahl
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Gerigk seinen drei mechanischen Leibwächtern. Dann wandte er sich erneut an Deccon. ..Wir sehen uns wieder", sagte er. „Bald werden alle erkennen, daß du sie ins Verderben führst." Das Mienenspiel des High Sideryt blieb unbewegt. „Feuer!" befahl er seinen Wachen. Aber die gleißenden Strahlbahnen brachen sich an den Schutzschirmen von Gerigks Robotern, die hinter ih rem Herrn den Raum verließen. Bevor das Schott sich schloß, erhaschte Ho mer einen letzten Blick auf das wü tend verzerrte Gesicht des High Side ryt. Er stieß Lyta weiter vor sich her. Nach knapp zweihundert Metern gab es einen Antigravschacht, dem er sich anvertraute. Erleichtert und ein we nig überrascht zugleich stellte Gerigk fest, daß niemand ihm folgte. Für sei ne Flucht wählte er einen Weg aus dem Mittelteil der SOL in die SZ-1. Irgendwann betäubte er Lyta Kun duran mit einem Schocker und ließ sie zurück. Kurz darauf stießen die restlichen Roboter seiner Leibwache zu ihm. 4.
Sie wissen, daß sie dem Tod nur knapp entronnen sind, meldete sich das Extrahirn. Doch es macht ihnen nichts aus. Sie lieben das Leben, das sie führen, weil es die Illusion von Frei heit bietet, nach der viele tausend So laner vergeblich streben. Zum wiederholten Mal fragte Atlan sich, was im Lauf von rund 2oo Jahren aus der SOL geworden war Niemand hatte je erwartet, daß die Verhältnisse
40 sich derart kraß verändern würden. Perry hat es nicht gewußt, meinte der Logiksektor. Wenn er nur etwas von dieser Entwicklung geahnt hätte, wäre alles anders gekommen. Was mag aus ihm geworden sein? gab Atlan in Gedanken zurück. Aus ihm und der Menschheit? Dabei wußte er genau, daß er jetzt nicht ins Grübeln verfallen durfte. Es war schwer — aber seiner harrte eine Aufgabe, die er nur dann erfüllen konnte, wenn die SOL wieder zu dem wurde, was sie einmal gewesen war; ein voll einsatzfähiges Fernraumschiff mit einer hervorragend geschulten Be satzung. Sehnsüchtig glitt sein Blick hinüber zu der Space-Jet, die an längst vergan gene Zeiten erinnerte. Manchmal war es schwer, unsterblich zu sein und die Bilder der Jahrtausende nicht verges sen zu können. Egal ob gut oder böse, mitunter verfolgten sie ihn im Schla fen wie im Wachen. Doch das, worauf es jetzt ankommt, dachte Atlan voll Ironie, hast du ver gessen. Was war hinter den Materiequellen geschehen? Die Antwort darauf mußte er schul dig bleiben. Er kannte nur den Auf trag, den die Kosmokraten ihm erteilt hatten. Genauer gesagt, die Koordina ten des Raumsektors VarnhagherGhynnst. Dort sollte er eine ihm unbe kannte Ladung an Bord nehmen und ein Ziel anfliegen, das ihm ebenfalls genannt worden war. Mehr wußte er nicht. Noch nicht? Würde ihm zu gegebener Zeit alles wieder einfallen? Nachdenklich starrte Atlan auf die Frucht, die er in der Hand hielt. Selbst
sein Extrahirn konnte ihm nicht sa gen, wie die Kosmokraten ausgesehen hatten. Die Birne stammte aus einer der SOL-Farmen. Sie war kernig und wohlschmeckend und stillte Durst und Hunger zugleich. Diebesgut, meinte der Logiksektor spöttisch. Atlan ging nicht auf die Bemerkung ein. Was hätte er auch antworten sol len. Im Grunde genommen war er froh, für einige Tage einen sicheren Unterschlupf gefunden zu haben. Der kleine Hangar lag im Ringwulst der SZ-1. Mehrere Umbauten hatten es schwierig gemacht, den Zugang auf zufinden, wie überhaupt vieles an Bord verändert worden war. „So nachdenklich?" Atlan blickte auf und sah in das ju gendliche Gesicht von Mira Willem. Eine grimmige Entschlossenheit stand in ihren Augen geschrieben, aber auch eine mühsam unterdrückte Neugierde. „Ich frage mich", sagte der Arkoni de und rutschte ein wenig zur Seite, so daß sie sich neben ihn auf den Contai ner setzen konnte, „weshalb ihr stän dig euer Leben riskiert. Ist es nur die Lust am Abenteuer, die euch dazu treibt? Wie gut ließen sich das Können und die Kraft, die ihr beweist, auf an dere Weise einsetzen." „Wir sind zufrieden", erwiderte das Mädchen. „Du siehst selbst, daß es uns gut geht — besser jedenfalls als der Mehrzahl aller Solaner. Was wir brauchen, das holen wir uns eben. Die Gefahr, dabei gestellt zu werden, ist gering — immerhin besitzen wir das h i e r . . . " Stolz klopfte sie auf das blut rote Abzeichen an ihrer Kombina tion. Atlan seufzte.
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Obwohl er erst einen Teil des riesi gen Raumschiffes kennengelernt hat te, konnte er schon jetzt sagen, daß es eine Gemeinschaft an Bord, wie er sie kannte, nicht mehr gab. Jeder lebte mehr oder weniger nur für sich und seine Interessen. Trotzdem bildeten sich überall klei ne Gruppen. Sobald diese aber über ein gewisses Maß hinaus an Einfluß und Stärke gewannen, schritten Ferra ten, Pyrriden und Vystiden dagegen ein. Die SOLAG schien bis in die ober sten Kasten von der Furcht verfolgt zu werden, jemand könne ihr eines Tages die Herrschaft streitig machen. Welches diktatorische Regime muß nicht ständig auf der Hut sein? dachte Atlan bitter. Er hatte genügend Bei spiele dafür erlebt, wie Menschen sich zum absoluten Herrscher aufschwan gen und wieder gestürzt wurden. Valara Brackfaust, die sich auch Terranie nannte, hatte ihm die Ge schichte der Terra-Idealisten erzählt, die unter ständiger Verfolgung litten. Sie predigten die Rückkehr zur Schol le eines Planeten, bevorzugt natürlich zur Erde. Die einstige Bestimmung der Solgeborenen, nämlich die endlo se Weite des Weltraums, schien sie völ lig vergessen zu haben. Dabei waren die Ziele der TerraIdealisten zweifellos mehr als nur eine bloße Lebensanschauung, denn über raschender Weise gehörten ihnen auch ein Extra namens Argan U und zwei Buhrlos an. Gerade die Gläsernen aber konnten auf keiner Welt überle ben; sie brauchten das All, um ihren Metabolismus in Gang zu halten. Wahrscheinlich sind es psychologi sche Vorgänge, welche die Bildung von Gruppen mit manchmal schon sektenähnlichen Charakter begünsti
gen, überlegte Atlan. Man sträubt sich unbewußt gegen die Herrschaft der Kasten und die Mißwirtschaft, die an Bord betrieben wird, und weiß doch gleichzeitig, daß ein einzelner nichts ausrichten kann. Der Mut, wirklich et was zu unternehmen, fehlt indes allen. Sobald man sich in der Gemeinschaft halbwegs stark und sicher fühlen kann, stellt man die eigentlichen Pro bleme hinten an und beginnt damit, die eigenen Bedürfnisse zu befriedi gen. Ein leises Lachen schreckte den Ar koniden aus seinen Überlegungen auf. Deine geliebten Barbaren, hörte er. Waren sie nicht immer so? Egoistisch, stur und selbstbewußt. Früher vielleicht, gestand Atlan ein. Bis ins 2o. Jahrhundert, wo sie sich auf ähnliche Weise bis an den Rand der Selbstvernichtung brachten. Dann aber wurden sie gezwungen, in anderen Maßstäben zu denken. Sie mußten erkennen, wie klein und un bedeutend ihre Welt im Grunde ge nommen doch war.
Und...? Die Menschen haben gelernt, in kos mischen Maßstäben zu denken, sind reifer geworden . . . Jetzt betrügst du dich, kam es zy nisch vom Extrahirn. Wo ist dieses neue Bewußtsein, von dem du sprichst? Haben die Solaner es inner halb weniger Jahre wieder verloren? Der Arkonide schwieg. „Du bist nicht einverstanden mit dem, was wir tun", stellte Mira Willen zögern fest. „Das ist schade, denn du könntest mir gefallen. — Besser je denfalls als Mark oder einige der ande ren", fügte sie rasch hinzu, als sie At lans erstaunten Augenaufschlag be merkte. „Du bist so . . . anders eben."
„Euer Weg führt ins Verderben", sagte er. „Glaube mir, Mira, Rauben und Plündern zahlt sich nicht aus. Ir gendwann wird es euch erwischen. Das kann heute sein oder morgen, vielleicht auch erst in einem Jahr. Geht dorthin zurück, woher ihr gekommen seid. Ihr könntet wirklich mithelfen, die Zustände an Bord zum Besseren hinzuwenden." In den zwei Tagen, die Atlan bei die ser Gruppe von fünfzehn vornehmlich jungen Solanern beiderlei Ge schlechts weilte, hatte er vieles erfah ren. Sie nannten sich selbst Bordno maden, weil sie, von einer inneren Un rast getrieben, ständig auf der Wan derschaft durch das Schiff waren. Aus den verschiedensten Schichten ka men sie — einer behauptete sogar, daß sein Bruder vor zehn Jahren von den Ferraten gekauft worden war. Viel leicht würde er ihn erkennen, wenn er ihm irgendwann von Angesicht zu An gesicht gegenüberstand. Es war ein wilder, aber mitleiderre gender Haufen, der hin und wieder auch Jagd auf Monster und Extras machte, um sich zu bereichern. Daß sie noch nicht gefaßt und bestraft wor den waren, verdankten sie neben ihrer Entschlossenheit vor allem ihrer rela tiv guten Bewaffnung und nicht zuletzt einem Umstand in der SOLAG-Hier archie, den sie sich geschickt zunutze machten: Bei allen ihren Raubzügen gaben sie vor, Brüder der fünften Wer tigkeit zu sein. Dabei existierten nur Gerüchte über die Kaste der Troiliten. Die Nomaden trugen keine einheit liche Kleidung, aber weithin sichtbar die Abzeichen mit Atomsymbolen aus blutrot leuchtendem Metall. Und sie traten ausschließlich zu dritt auf.
„Wovon sprecht ihr?" Keiner von beiden hatte Mark Har tem herankommen hören. Mira wand te sich zu ihm um. „Atlan meint wieder einmal, daß wir unser Leben ändern sollen", sagte sie. „Fürchtet er, wir könnten getötet werden?" fragte der Anführer der Bordnomaden spöttisch. „Wie lange sind wir nun schon beisammen Mira? Ein Jahr, zwei. . .? Und nichts ist in dieser Zeit geschehen. Warum sollten wir einfach alles aufgeben, was wir er reicht haben?" „Niemand hat das Glück ewig auf seiner Seite", mahnte Atlan. „Ich wer de alles daran setzen, um die Zustände an Bord der SOL zu bessern — aber auf meine Weise." „Wir haben den richtigen Weg ein geschlagen", lachte Hartem. „Nie mand weiß, ob es die Troiliten wirk lich gibt oder ob sie jemals existiert haben. Trotzdem begegnet man uns voll Scheu und Zurückhaltung. Die Solaner fürchten sich — und wir tun natürlich alles, um die Gerüchte zu schüren. Mein Angebot gilt noch, Atlan, schließe dich uns an. Du bist ein her vorragender Kämpfer." „Nein." Der Arkonide schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, daß du es dir überle gen wirst", behauptete Hartem. In Wirklichkeit werden sein Zweifel, ob es richtig war, dich mitzunehmen, immer größer, bemerkte das Extra hirn. Du weißt inzwischen zuviel, als daß er dich einfach ziehen lassen könnte. Atlans Absicht war es von Anfang an gewesen, die jungen Leute dahin gehend zu beeinflussen, daß sie zu ei nem halbwegs normalen Leben zu
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rückkehrten. Den nötigen Respekt hatte er sich bereits verschafft. Aber noch wollte keiner sich wirklich sei ner Meinung anschließen. Horm Brast war vielleicht der einzige, den er nahe zu überzeugt hatte. Plötzlich lag ein leiser Pfiff in der Luft. Hartem zuckte kaum merklich zusammen. „Es kommt jemand", murmelte er. Einige der Nomaden rannten zur of fenstehenden Schleuse der Space-Jet hinauf. Von dort aus konnten sie sich notfalls gegen eine mehrfache Über macht verteidigen. Atlan hörte ein rhythmisches Po chen. Unzweifelhaft das Geräusch von Schritten. „Verdammt", zischte Hartem. „Fred, schalte endlich das Gerät aus." Es handelte sich um eine einfache Konstruktion, die jedem Techniker nur ein Lächeln entlockt hätte. Aber sie erfüllte ihren Zweck. Eine Art Richtmikrophon, das jedes Geräusch in einer bestimmten Entfernung wie dergab und auf den Zugang zum Han gar ausgerichtet war. Der Anführer der Bordnomaden entsicherte seinen Thermostrahler. Doch waren es nur drei der Ihren, die sich näherten. „Wir haben eine Sache aufgespürt", riefen sie, „von der kaum noch jemand weiß. Selbst bei der SOLAG scheint sie in Vergessenheit geraten zu sein." „Heraus mit der Sprache", forderte Hartem. „Etwas Wertvolles?" „Ein Archiv." „Was soll das?" kam es enttäuscht. „Bücher sind das letzte, was wir brau chen." „Sicher", nickte einer der drei. „Aber bei dem Material, das angeblich dort lagert, soll es sich um Dokumente
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aus der Vergangenheit der SOL han deln." Jetzt schien Mark Hartem hellhörig zu werden. „Woher wollt ihr das wissen?" fragte er. Sein Gegenüber begann zu grinsen. „Es mag seltsam klingen, aber ein Extra hat uns das Versteck verraten. Er war schon alt und besaß sonst nichts, mit dem er sich freikaufen konnte." „Und wenn er euch belogen hat?" „Das tut er bestimmt kein zweites Mal. Immerhin wissen wir, wo er zu finden ist." „Was sind das für Unterlagen", er kundigte Atlan sich. „Keine Ahnung." Der Mann zuckte die Schultern. „Wir werden sie uns ansehen", be stimmte Hartem. „Wer weiß, unter Umständen stoßen wir dabei auf inter essantes Material, aus dem wir Ge winn schlagen können." Wie zufällig streifte sein Blick den Arkoniden. Er hofft, daß du ihn begleitest, schoß es Atlan durch den Sinn. Die Dokumente, falls es sich wirk lich um solche handelte, reizten den Unsterblichen. Vielleicht konnte er aus ihnen erfahren, was er noch nicht wußte. Es gab etliche Fragen, die einer bal digen Klärung harrten: Wann hatte die verhängnisvolle Ent wicklung an Bord der SOL ihren An fang genommen und wodurch war sie ausgelöst worden? Was hatte es mit den geheimnisvol len Schläfern auf sich? Und . . . u n d . . . Wenn du mit Hartem gehst, hat er al len Grund, zu triumphieren. Das m u ß ich in Kauf nehmen, erwi
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derte Atlan lautlos. Eine verpaßte Ge legenheit bringt mir niemand zurück. Im übrigen nehme ich an, daß ein wirklich wichtiges Archiv abgesichert ist. Ich begleite die Nomaden also nicht eines bloßen Vorteils wegen, sondern auch zu ihrem eigenen Schutz. Laut sagte er: „Wenn du einverstanden bist, Mark, möchte ich mit euch gehen." Hartem legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich wußte es, Freund Atlan, daß du deine Meinung ändern würdest. Wir brechen sofort auf."
Chart Deccon war wieder allein — allein mit sich und seinen düsteren Gedanken. Manchmal wünschte er, Ti neidbha Daraw hätte ihn nicht zu ih rem Nachfolger berufen. Sein Leben wäre weit weniger hektisch verlaufen. Auch wenn er es niemals zugeben würde, das Attentat hatte ihn zutiefst erschüttert. „Nur Homer Gerigk konnte es wa gen", murmelte er leise vor sich hin. „Meine Ahnung hat mich also nicht getrogen." Er zog das Tischchen mit dem Akku näher zu sich heran und befestigte die Elektroden an seiner Haut. Dann lehn te er sich im Sessel zurück und schloß die Augen. Die Transformation von E-kick war nicht zu spüren, dennoch glaubte er wahrzunehmen, wie die be ginnende Schwäche von ihm wich. Seine Gedanken schweiften ab. „Du wirst es schaffen, Chart. Keiner sonst besitzt deine Fähigkeiten." Das war Tineidbhas Stimme, sanft und zärtlich und doch so bestimmt
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wie die keiner anderen Frau. In rau schende Gewänder gehüllt, kam sie langsam näher. Sie schien zu schwe ben. Chart Deccon wollte ihren Namen rufen, aber kein Laut drang über seine Lippen. Tineidbha hatte ihn geliebt — nur aus diesem Grund war er jetzt ganz oben. Und ich werde oben bleiben, nahm sich der Bruder ohne Wertigkeit vor. Ich bin es ihr schuldig. Ein plötzliches Stimmengemurmel ließ ihn aufsehen. Da saßen sie wieder, die Magniden, und starrten ihn an. Ihre Gesichter wa ren starr und ausdruckslos, und ein Blick in ihre Augen schien in die Ewigkeit zu führen. Alle waren versammelt. Sie saßen zu Gericht über den High Sideryt, der unfähig war, die Rettung der SOL her beizuführen. Unaufhaltsam stürzte das mächtige Raumschiff in den gierig aufgerissenen Schlund eines kosmi schen Ungeheuers. „Ich beantrage die Todesstrafe..." Das Antlitz des Vorsitzenden schälte sich langsam aus einem diffusen Nichts heraus. Ein bißchen erstaunt sah es aus und war von dunkelbrau nen Flecken gezeichnet. Homer Gerigk richtete seine Waffe auf den Angeklagten. „Das Urteil wird sofort vollzogen", rief er mit schriller Stimme. Ein sonnenheißer Glutstrahl hüllte Chart Deccon ein. Der High Sideryt schrie gellend auf. Seine Gefühle und Empfindungen versanken in einem monotonen Summen, das sich in sei nem Schädel ausbreitete. Die Magniden verschwanden, aber das Geräusch blieb.
46 Es war der Melder des Interkoms. Chart Deccon brauchte einige Se kunden, um vollends in die Wirklich keit zurückzufinden und seine arg strapazierten Nerven zu beruhigen. Dann löste er mit fliegenden Fingern die Elektroden und nahm das Ge spräch entgegen. Er kannte den Mann nicht, identifi zierte ihn aber sofort aufgrund des lang fallenden hellblauen Kleidungs stücks und des bronzefarbenen Atom symbols als einen der insgesamt 678 Ahlnaten. „Moilnar", meldete der sich kurz. Sein Blick heischte um Aufmerksam keit. Es schien, als sei sein Anliegen überaus wichtig und von größter Dringlichkeit. Der High Sideryt forderte ihn mit ei nem kurzen Nicken zum Sprechen auf. „Ein Transport zur Verteilerstation 7 wurde überfallen", platzte der Bru der der dritten Wertigkeit heraus. Er sprach bedeutungsvoll leise und seine Gesten dazu wirkten theatralisch. „Und?" machte Chart Deccon irri tiert. „Weshalb werde ich mit solchen Nichtigkeiten belästigt?" Der Ahlnate verzog das Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen. „Zehn Container voll frischem Obst und Gemüse wurden entwendet", fuhr er zögernd fort. Deccon winkte heftig ab. „Das interessiert mich herzlich we nig. Stellt die Täter und zieht sie zur Rechenschaft. Ich will damit nichts zu tun haben. — Du mußt neu sein, daß du solche Lappalien ernst nimmst. Aus welcher Kaste kommst du?" „Bis vor vier Wochen gehörte ich den Ferraten an", erwiderte Moilnar. Deccon streckte schon die Hand aus,
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um die Verbindung zu unterbrechen, als der Ahlnate laut rief: „Warte. Du solltest wissen, daß Troi liten die Täter waren." Dem Bruder ohne Wertigkeit schwollen Adern auf Stirn und Schlä fen an. „Wer behauptet solchen Unsinn?" bellte er. „Die Ferraten, die den Transport be gleiteten. Und auch die SOL-Farmer. Außerdem ist es nicht der erste Vorfall dieser Art. Vor einigen Wochen wur den zwei Brüder der vierten Kaste ebenfalls überfallen, ihren Aussagen maß aber niemand Bedeutung bei." „Unmöglich." Der High Sideryt vollführte eine entschieden ablehnen de Handbewegung. „Und doch scheint es so", beharrte Moilnar. „Wurde in dieser Angelegenheit be reits etwas unternommen?" Der Ahlnate schüttelte den Kopf. „Ich hielt es für richtig, dich zu ver ständigen, bevor Vystiden und Ha ematen den Befehl einzugreifen erhal ten." „Dann belasse es dabei. Wer weiß von den Vorfällen?" „Nur einige Brüder der dritten Wer tigkeit und die Betroffenen selbst." „Veranlasse sie, darüber zu schwei gen. Und zu niemandem sonst ein Wort. Ich hoffe, wir haben uns klar verstanden. Ich werde geeignete Mit tel ergreifen, um dem Unwesen ein ra sches Ende zu setzen." Damit unterbrach der High Sideryt das Gespräch. Für eine Weile wirkte er nachdenklich. Er saß nur da und hielt den Kopf in beide Hände gestützt. Schließlich schaltete er eine Verbin dung über die gesamte SZ-1. Das Pro blem, das dieser Atlan darstellte, er
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schien ihm fürs erste wichtiger. * Das Wesen mit den funkelnden Schuppen schritt vor ihnen her durch eine beklemmend wirkende Enge. Die Finsternis ringsum wollte kein Ende nehmen. Bald verlor Marra die Orientierung. Aber Germa, die von Anfang an ein besonderes Verhältnis zu dem Kleinen zu entwickeln schien, zog sie einfach hinter sich her. Nach einiger Zeit wurde der Tunnel weiter. Überall lagen leuchtende Schuppen am Boden. Das Monster — vielleicht war es auch ein Extra; so genau konnte man das nicht abgrenzen — wandte, sich um und bedeutete mit einer stummen Geste, daß man am Ziel war. Germa ließ sich einfach niedersinken. Dank bar lächelte sie den Kleinen an. „Es fällt mir schwer, etwas zu sa gen", begann Marra zaghaft. Noch im mer bedachte sie das geschuppte We sen mit zögernden, beinahe mißtraui schen Blicken. Dabei mußte sie sich eingestehen, daß sie ihm gerne unvor eingenommen begegnet wäre, nur schafft sie es nicht, in ihm das arme und bedauernswerte Geschöpf zu se hen, wie Germa es war. Seine Gefähr lichkeit hatte er allein durch den An griff auf die Vystiden bewiesen. Dabei hatte Marra allen Grund, ihm dankbar zu sein, denn ohne sein Ein greifen würden die Brüder der zwei ten Wertigkeit Germa entweder getö tet oder mit sich geschleppt haben. Trotzdem brachte sie es nicht fer tig, ihm ihre Dankbarkeit wirklich zu zeigen. „Du mußt nichts sagen", murmelte
das Mädchen. „Der Kleine ist froh, daß er jemandem helfen konnte, der ebenfalls verfolgt wird. Er kennt die Ignoranz der Solaner zur Genüge." Als habe er jedes Wort verstanden, nickte der Geschuppte heftig. Dann brachte er etwas, das in undurchsich tige Folie eingeschweißt war und reichte es Marra. Als die Frau die Vakuumverpak kung aufriß, wurde ihr der nagende Hunger bewußt, den sie verspürte. Dennoch hielt sie das Brot erst dem Kleinen hin, der aber den Kopf schüt telte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge. Jetzt war es auch Marra, als könne sie ihn ohne Worte verstehen. Und sie begriff, daß längst nicht alles verloren war, solange wenigstens im Verborge nen ein Zusammenhalt bestand. Ob irgendwann bessere Zeiten kom men werden? dachte sie bedrückt." Eine Stunde später krochen sie wie der durch Kabelschächte und kletter ten über längst in Vergessenheit gera tene Nottreppen. Germa hatte sich alle Mühe gegeben, ihrem Freund begreif lich zu machen, wo ihr Ziel lag. Er schien auch wirklich verstanden zu haben, daß sie in das Mittelstück des Schiffes überwechseln wollten. Schießlich gelangten sie in eine Hal le, in der das gesamte Brauchwasser zusammenströmte und regeneriert wurde. Marra Hatte die riesigen Tanks und Behälter nie zuvor gesehen, er kannte aber sofort, welchem Zweck sie dienten. Alles erfolgte vollautomatisch. Die Arbeitsgeräusche verschiedener Ma schinen waren ein gleichmäßiges lei ses Summen. Der Geschuppte, dessen Namen Marra wohl nie erfahren würde, weil er
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stumm war, führte sie und ihre Töch ter zu einem kleinen Schott. Bevor er es öffnete, strich er Germa sanft mit ei ner Hand übers Haar. Das Mädchen lachte. „Wir verstehen uns auch ohne Wor te. Ich werde dich nie vergessen, Klei ner. Wenn das Schicksal es will, sehen wir uns vielleicht eines Tages wieder." Er blickte sie auffordernd und fra gend zugleich an. Dann tastete er vor sichtig nach ihren verkümmerten Ar men. Germa verstand. „Ja", nickte sie. „Wir sind uns ähn lich." Sie öffnete ihre Kombination und streckte die beiden Stümpfe her vor. „Deshalb verfolgt man mich." Marra bemerkte die Tränen in den Augen ihrer Tochter. Kurz entschlos sen betätigte sie den Öffnungsmecha nismus. Das Schott war noch nicht völlig aufgeglitten, als ein gleichmäßiges Dröhnen den darunterliegenden Kor ridor erfüllte. Es hörte sich an wie das Geräusch schwerer Schritte. Und es kam unzweifelhaft näher. Marra reagierte sofort. Mehrfach war sie Robotern begegnet und wußte des halb um die Gefährlichkeit dieser Ar beits- und Kampfmaschinen. Gleich zeitig weckte der Klang unangenehme Erinnerungen in ihr. Erinnerungen, die sie lieber verdrängt hätte, die aber in ihren Töchtern ebenfalls lebendig blieben. Homer Gerigk hatte sich da mals mit einer Leibwache aus zwölf Robotern umgeben. Lautlos glitt das Schott wieder zu. Als am Ende des Gangs der erste me tallische Reflex sichtbar wurde, drückte Marra die Arretierung. Sie mußt in Kauf nehmen, daß das Tor ei nen Spalt breit geöffnet blieb. Doch keinesfalls durften die Maschinen-
menschen durch die Bewegung auf merksam gemacht werden. Die Roboter stapften achtlos vor über. Ihr Ziel schienen höher gelegene Regionen des Schiffes zu sein. Marra wartete, bis nichts mehr zu hö ren war. Dann erst wagte sie sich aus der Halle hinaus. Zum Abschied drückte sie dem We sen, das sich als Freund erwiesen hat te, die Hand. 5. Es kann sich nicht um wirklich wich tiges Material handeln, meinte der Lo giksektor. Das hätte die SOLAG längst an sich gebracht Und wenn das Archiv tatsächlich in Vergessenheit geriet? gab Atlan zu rück. SENECA müßte davon wissen. Soweit der Arkonide aus den Reden der Bordnomaden herausgefunden hatte, lag das angebliche Archiv in un mittelbarer Nähe der ehemaligen hy droponischen Gärten und Reparatur werkstätten. Er wußte nichts davon, allerdings konnte es gut sein, daß in den ersten Jahren nach der Übernah me des Schiffes durch die Solaner ent sprechende Informationsstellen ein gerichtet worden waren. Die hydroponischen Anlagen hatte man zur SOL-Farm umgebaut. Schon von weitem waren die ausgedehnten Felder zu erkennen. Dunstwolken stiegen von ihnen auf und verdunkel ten das Licht der künstlichen Sonnen, die beste Wachstumsbedingungen für die verschiedenen Pflanzenarten ga rantierten. Es roch nach Düngemitteln und feuchter Erde. Wahrscheinlich war erst vor kurzem eine künstliche
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Beregnung erfolgt. „Wir sollten die Farm umgehen", sagte Mark Hartem. ..Gerade jetzt sind erfahrungsgemäß besonders viele Ar beiter auf den Feldern anzutreffen." Er, Mira Willem und Atlan hatten den direkten Weg gewählt, während Horm Brast mit zwei der Nomaden, die das Archiv ausfindig gemacht hat ten, von der anderen Seite her vor drangen. Angeblich lag es nach den ehemaligen Werkstätten. Die ersten Räume, an denen man vorbeikam, wurden noch von den Farmern als La gerhallen genutzt und vor allem die verschiedensten Samen dort aufbe wahrt. Manche behielten ihre Keimfä higkeit nur in kühlem, feuchtem Kli ma, andere benötigten die trockene Hitze eines Wüstenplaneten. Obwohl Hartem es nicht gerne sah, öffnete Atlan verschiedene Türen, um sich einen ungefähren Überblick zu verschaffen. Die Gefahr, hier entdeckt zu werden, war im Augenblick nur ge ring. Von den Feldern klangen die Stimmen der Menschen herüber. „Wir sollten uns beeilen", mahnte der Anführer der Bordnomaden schließlich. Sie durchquerten einige kleinere Hal len, in den Maschinen und Ersatzteile wahllos angehäuft waren. Manche, das erkannte Atlan, waren Präzisionsin strumente zur Herstellung von Werk zeugteilen. Die unsachgemäße Lage rung tat ihnen bestimmt nicht gut. Spätestens in einigen Jahrzehnten wird der Rückschritt nicht mehr aufzu halten sein. Dann werden selbst die Mitglieder der SOLAG sich nur noch mit psychedelischen Farbspielen über Wasser halten können, wie vor rund 1.800 Jahren die Arkoniden. Atlan zuckte innerlich zusammen.
49 Die Bemerkung seines Extrahirns hat te ihn getroffen. Soweit darf es nie kommen, gab er heftig zurück. „Was ist mit dir?" wollte Mira Wil lem wissen. „Du wirkst mit einemmal so nachdenklich." „Es ist nichts", wehrte Atlan ab. „Nur die Erinnerung an frühere Zei ten." „Sie waren besser?" „Besser oder schlechter, das sind re lative Begriffe. Es kommt darauf an, wie die jeweiligen Verhältnisse sich entwickeln." Mira nickte stumm. Sie ließen die Hallen hinter sich, überquerten einige schmale Korrido re, waren überraschend gezwungen, einem Trupp von acht Ferraten auszu weichen und setzten ihren Weg dann in aller Eile fort. Kurz darauf erreichten sie das Ar chiv — ein Raum, der sich übergangs los zwischen mehrere Kabinen ein gliederte. Horm Brast und seine Be gleiter traten plötzlich aus einem Sei tengang hervor. „Wir wußten nicht, wer kommt", sagte Horm, „und zogen es deshalb vor, uns zu verbergen." Er deutete auf das Schott. „Ist nicht aufzukriegen. Wir haben es mindestens zehn Minu ten lang versucht." Eine achtstellige Kodezahl sicherte den Zugang. Um wirklich alle Kombi nationen einzustellen, mußte jemand monatelang ungestört arbeiten kön nen. Nicht nur Atlan, sondern auch die Bordnomaden erkannten dies sofort. „Es ist aussichtslos", gestand Mira Willem ein. „Genauso gut können wir versuchen, die Zentrale zu überfallen." „Ich gebe nicht auf", zischte Har tem. „Ich will wissen, was hinter die
50 ser Wand ist." Recht unsanft stieß er das Mädchen zur Seite und begann, mit fliegenden Fingern eine Zahl einzustellen. Aber nichts veränderte sich. Kein leises Klicken zeigte an, daß die Sper re ausrastete. „Möglicherweise steht die Kombina tion in Zusammenhang mit dem Ma terial, das hier gesammelt sein soll", sagte Atlan. „Falls das Archiv wirklich kurz nach der Übergabe der SOL an gelegt wurde, kann es sich nur um Da ten handeln, die entweder das Raum schiff selbst oder die Menschheit be treffen." Acht Stellen, meldete sich der Lo giksektor. Das könnte ein Datum der terranischen Zeitrechnung bedeuten. Dann mach dich nützlich, forderte Atlan in Gedanken. Ein Tag, der Geschichte gemacht hat. Die Wahrscheinlichkeit dafür dürfte bei rund neunzig Prozent liegen. „Der Tag, an dem Helma Buhrlos Baby geboren wurde und an dem die Übergabe der SOL erfolgte", platzte der Arkonide laut heraus. „Bitte?" machte Mark Hartem ver ständnislos. „Was haben die Gläser nen damit zu schaffen?" „Ich meine", erklärte Atlan, „daß es sich bei der Kodezahl um ein für die SOL und ihre Besatzung wichtiges Datum handelt. Der 24. Dezember des Jahres 3586 kann zweifellos als ein sol ches angesehen werden." „Nie davon gehört", meinte Hartem. „Aber du scheinst es ganz genau zu wissen. Warst du dabei?" „Nein." Atlan lächelte. „Das war ich nicht." Spötter! flüsterte das Extrahirn. Er kläre ihnen, daß du unsterblich bist und über ein photographisches Ge-
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dächtnis verfügst. „Vierundzwanzig . . ." „Zwölf..." „Drei — Fünf — Acht — Sechs." Horm Brast stellte die Kombination ein. Doch nichts geschah. „Du hast dich getäuscht, Atlan", platzte Hartem heraus. „Weshalb soll te auch ausgerechnet dir etwas gelin gen, wofür andere Monate benötigen würden? Zaubern kannst selbst du nicht." „Es gibt noch andere Daten." „Er soll es versuchen", forderte Mi ra. „Was haben wir schon zu verlie ren?" Drei weitere Zahlen erwiesen sich ebenfalls als Fehlschläge. „Gib es auf, Atlan", meinte nun so gar Horm Brast. „Hier ist für uns nichts zu holen. Wir könnten zwar das Schott mit den Strahlern aufschwei ßen, nur würde uns das innerhalb we niger Minuten die Ferraten auf den Hals hetzen." Der Arkonide stellte bereits eine neue Kombination ein. 19 — 06—1971 Irgendwo war ein leises Klicken zu hören. Dann glitt das Schott langsam auf. „Meine Anerkennung", sagte Har tem, und in seiner Stimme schwang so etwas wie Stolz mit. „Eigentlich war es ganz einfach", schwächte Atlan ab. „Der oder die Un bekannte haben den Starttermin von Perry Rhodans erstem Mondflug ge wählt. Das beweist, daß in dem Ar chiv Daten aus früheren Vergangen heiten zu finden sind." „Wer war dieser Rhodan?" fragte Mira. Atlan wollte gerade zu einer Erwide
Bordnomaden
rung ansetzen, aber Hartems wüten der Ausruf hinderte ihn daran. „Leer! Beim Geist der Schläfer . . . " Jetzt betrat auch der Arkonide das Archiv. Mit jedem Schritt wirbelte er Staub auf, der dick den Boden und die an den Wänden befestigten Regale be deckte. Staub war so ziemlich das ein zige, was hier zu finden war. „Mist!" fluchte Markem im Brust ton der Überzeugung. „Und das, was soll das bedeuten?" Er zeigte auf ei nen in greller Leuchtfarbe aufgemal ten Schriftzug. ALLE MENSCHEN GEHÖREN NACH TERRA, stand da zu lesen. „Ähnliche Kritzeleien finden sich überall in der SOL", bemerkte Horm Brast leise. „Wie es scheint, ist uns je mand zuvorgekommen." „Sehr scharfsinnig beobachtet", fuhr Hartem ihn an. „Kannst du mir auch sagen, wo wir diesen Jemand finden?" Atlan dachte an die Terra-Idealisten. Ob Valara Brackfaust von dem Archiv gewußt und es für ihre Zwecke ausge beutet hatte? Vielleicht hat das Material, das hier aufbewahrt wurde, überhaupt erst zur Idee der „Terraner" beigetragen, gab der Logiksektor zu bedenken. Möglich, erwiderte Atlan. Unter den augenblicklichen Umständen wird sich das aber nicht mehr feststel len lassen. „Hier", rief Mira Willem aus. „Seht euch das an." Auf einem der Regale hatte sie meh rere vertrocknete graubraune Klum pen entdeckt. Diese zerbröselten bei der geringsten Berührung. „Erde", stellte Hartem verblüfft fest. Der Brocken fiel Atlan ein — das Symbol der Terra-Idealisten, von dem
51 Valara ihm erzählt hatte. Sollte tat sächlich ein Zusammenhang beste hen? Eine Lautsprecherstimme schreckte ihn auf. Er glaubte, seinen Namen zu hören, war sich dessen aber nicht ganz sicher. „Atlan", rief einer der Wache halten den Bordnomaden von draußen her ein. „Die Interkomdurchsage gilt dir." Der Arkonide eilte auf den Gang hin aus, weil das Archiv keinen eigenen Empfangsanschluß besaß. Jetzt konn te er das Gesagte deutlicher verstehen. Es war eine befehlsgewohnte, grol lende Stimme, die sprach. Und sie schien bar jeglichen Gefühls. Die Durchsage wurde wiederholt: „Ich, Chart Deccon, High Sideryt an Bord der SOL, rufe den Fremden, der sich Atlan nennt. Ich weiß nicht, ob du wirklich der bist, für den du dich aus gibst, aber gerade das will ich heraus finden. Sicher kennst du den Zugang zum zentralen Antigravlift, ein Deck unter halb der Ultrakomp-Lineartriebwerke in der SZ-1 gelegen. Ich fordere dich auf, dich dort schnellstmöglichst ein zufinden. Du wirst abgeholt. Selbst verständlich sind dir eine gute Be handlung, die deiner Person angemes sen ist, sowie völlig Straffreiheit zu gesichert. Ich will mir dir reden, Atlan." Der Tonfall ließ eine gewisse Besorgnis erkennen. Entweder waf Deccon ein hervorragender Schau spieler, oder er hoffte wirklich. Atlans" Rat zu bekommen. Immerhin war die augenblickliche Situation der SOL al les andere als rosig. „Du wirst doch nicht wirklich ge hen?" fragte Hartem erregt. Atlan nickte.
„Auf eine solche Gelegenheit warte ich, seit ich mich an Bord befinde." „Der Versuch, deine Träume wahr zumachen, wird dich den Kopf ko sten", warnte Mira. „Es ist eine Falle", stimmte Hartem zu. „Ich m u ß es in Kauf nehmen." Atlan zuckte die Schultern. „Das Übel kann nur an der Wurzel beseitigt werden. Und die heißt eben High Sideryt." „Du wirst scheitern, wie andere vor dir an der Macht der SOLAG zerbro chen sind", befürchtete Horm Brast. „Aber trotz allem: ich bin bereit, dich zum genannten Treffpunkt zu beglei ten. Vier Augen sehen bekanntlich mehr als nur zwei, und vielleicht wirst du Hilfe nötig haben." „Danke", sagte Atlan. Insgeheim rechnete er ebenfalls damit, daß eine Falle auf ihn wartete. Dennoch konnte er nicht anders handeln. Zuviel hing davon ab, daß er bald greifbare Erfol ge erzielte. „Selbstverständlich lassen wir dich nicht allein gehen", protestierte Mira. „Wir alle begleiten dich." * Der Treffpunkt erwies sich als ge schickt gewählt. Die unmittelbare Nä he der Lineartriebwerke schien die Solaner davon abzuhalten auch von diesem Teil des Schiffes Besitz zu er greifen. Vorerst wenigstens, denn wenn die Zahl der Menschen an Bord sich weiterhin erhöhte, würden sie ei nes Tages gezwungen sein, selbst die Hangars für ihre Bedürfnisse umzu bauen. „Keine Seele hier", stellte Horm Brast erleichtert fest. „Wir sind ihnen also zuvorgekommen."
„Wir werden an verschiedenen Punkten Stellung beziehen und ein greifen, falls dies erforderlich wird", ließ Mark Hartem wissen. „Du kannst dich auf uns verlassen, Atlan." Da der Arkonide sich auf eine länge re Wartezeit eingestellt hatte, war er überrascht, als schon nach wenig mehr als zehn Minuten Schritte laut wurden. In Begleitung zweier Kampf roboter näherte sich ein etwas fünf zigjähriger Mann. Ein wenig erstaunt, wie es schien, musterte er Atlan. „Ich habe dich noch nicht erwartet. Freund", sagte er. „Der High Sideryt läßt dir durch mich seine Grüße über bringen. Ich soll dich sicher ins Mut terschiff begleiten. Homer Gerigk ist mein Name. Du kannst mich auch als Magniden oder Bruder der ersten Wertigkeit bezeich nen, falls dir diese Begriffe inzwischen vertraut sind. Wir sind die eigentli chen Piloten der SOL." „Was will Deccon von mir?" „Er wird es dir selbst sagen, Atlan. Soweit mir bekannt ist, hofft er auf deinen Rat. Vorausgesetzt, du bist je ner Unsterbliche, der in der Vergan genheit der Menschheit eine große Rolle gespielt hat." „Wenn ich ja sage . . . " „Komm!" forderte der Magnide. Die beiden Roboter setzten sich in Bewe gung und schritten vor ihnen her. Aber schon im nächsten Moment ris sen sie ihre Waffenarme hoch. „Nicht schießen!" gellte Gerigks Be fehl auf. Für Atlan war dies ein Beweis, daß er es wirklich ehrlich meinte. Mark Hartem und Horm Brast hat ten ihre Verstecke verlassen und stan den mit angeschlagenen Strahlern im Gang.
Bordnomaden
„Alles in Ordnung", sagte der Arko nide. „Ich danke für eure Hilfe." „Wir werden weiter mit dir gehen", stellte Hartem ihn vor beschlossene Tatsachen. Aber Atlan winkte heftig ab. „Nur für mich gilt die zugesicherte Straffreiheit. Weshalb also wollt ihr euch unnütz in Gefahr begeben?" Mark Hartem nickte zögernd. Er be merkte die brennende Blicke, mit de nen Gerigk ihn und vor allem das Ab zeichen, das ihn als Troiliten auswies, anstarrte. Durchschaute der Magnide den Bluff? „Du hast recht, Atlan". hörte der An führer der Bordnomaden sich sagen. „Solltest du uns dennoch brauchen, weißt du, wo wir in den nächsten Ta gen zu finden sind." „Der High Sideryt wartet", drängte Homer Gerigk. „Es täte mir leid, wenn er ungedul dig wird", meinte Atlan mit unver kennbar spöttischem Unterton. Dann ging er schweigend neben dem Magni den her. Die Roboter bogen in die nächste Abzweigung des Korridors ein. Als der Arkonide sich umwandte, waren Hartem und die anderen bereits ver schwunden. Im nächsten Moment fühlte er stäh lerne Hände auf seinen Schultern, die ihn in die Knie zwangen. Alles ge schah so schnell, daß er weder Zeit fand, den IV-Schirm zu aktivieren noch seinen Strahler zu ziehen. Du Narr, spottete der Extrasinn. Wo hast du nur deine Gedanken, daß du dich wegen einer kurzen Unaufmerk samkeit überwältigen läßt? Die Roboter legten Atlan Fesseln an. „Was geschieht nun mit mir?" woll
53 te er wissen. „Hat der High Sideryt die Absicht, mich zu töten?" Das Gesicht des Magniden blieb un bewegt. Eine gewisse Gefühlskälte kam darin zum Ausdruck. „Wahrscheinlich will Deccon dich als unliebsamen Rivalen beseitigen. Du kannst von Glück reden, daß ich schneller an Ort und Stelle war als sei ne Häscher. Ich bin ebenfalls ein Ver folgter, dem der Bruder ohne Wertig keit nach dem Leben t r a c h t e t " Auch ohne den entsprechenden Hinweis seines Logiksektors hätte At lan dazu geschwiegen. Immerhin konnte es sein, daß Homer Gerigk nur seine Gesinnung prüfen wollte. Die Roboter stießen ihn in einen an grenzenden Raum, wo zehn weitere ihres Typs warteten. „Das ist meine Streitmacht", erklär te Gerigk stolz. „Klein aber schlag kräftig." „Du hast mich sicher nicht gefan gengenommen, um deine Stärke zu demonstrieren." Der Magnide blickte Atlan verblüfft an. „Nein", sagte er schließlich. „Ich glaube, daß du eine fundamentale Be deutung haben mußt. Dein Name ist mir bekannt, auch weiß ich einiges über deine Vergangenheit, soweit sie die SOL und die Menschheit im allge meinen anbelangt. Dein Aussehen stimmt in etwa mit den vorhandenen Beschreibungen überein — das silberne Haar, die roten Augen . . . " „Was willst du von mir?" „Hilfe im Kampf gegen Chart Dec con. Er ist unfähig, das Schiff zu füh ren. Aber noch kann ich keineswegs sicher sein, daß du wirklich der bist, für den du dich ausgibst." „Du hast keine andere Wahl, als mir
54 zu glauben, so wie ich dir ebenfalls vertrauen muß!" „Es gibt bessere Beweise als nur dein Wort. Der wirkliche Atlan soll über ein Gerät verfügen, das ihn un sterblich macht." „Der Zellaktivator." „So heißt es wohl." „Dann nimm mir die Fesseln ab, da mit i c h . . . " „Nein." Homer Gerigk schüttelte den Kopf. „Also gut", seufzte Atlan. „Wenn du derart mißtrauisch bist, öffne mein Hemd . . . " Interessiert betrachtete der Magni de das kleine metallene Ei, das der Arkonide an einer Kette um den Hals trug. ..Solltest du ein Betrüger sein, bist du jedenfalls sehr gut auf deine Rolle vorbereitet." Er schien zu überlegen. ,.Es gibt Dinge, die nur der High Side ryt und die Magniden wissen können — und natürlich du. Also heraus mit der Sprache." „Was willst du hören? Daß die SOL eigentlich aus drei selbstständig flug fähigen Einheiten besteht und nicht, wie anscheinend alle Solaner glauben, ein einziges Schiff ist. Das Mittelteil beherbergt SENECA, eine Biopositro nik in Ultramikrobauweise, die in der Leistung dem lunaren NATHAN kaum nachsteht. Überwiegend be steht der Raumer aus YnkeloniumTerkonit-Verbundstahl mit einem Schmelzpunkt von über 100.000 Grad Celsius. Vollendet wurde die SOL unter dem Zeichen der beginnenden Aphilie und startete schließlich mit nur 81 gegen die unheilvolle Strahlung der Sonne Medaillon immunen Personen an Bord. Die ersten Kommandanten der
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SZ-1 und 2 waren die Emotionauten Oberst Mentro Kosum und Oberst Senco Ahrat." „Genug", winkte Homer Gengk ab. „Nur der wirkliche Atlan kann diese Daten kennen." Und seinen Robotern befahl er: „Nehmt ihm die Fesseln ab." Spontan streckte er dann dem Arko niden seine Rechte entgegen, die die ser ohne Zögern ergriff. „Wie kommt es. daß du nach rund 205 Jahren plötzlich aus der SOL er scheinst?" fragte der Magnide schließ lich. „Woher wußtest du überhaupt wo das Schiff zu finden war?" ..Ich wußte es nicht", erwiderte At lan, „sondern wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Es muß dir unbe kannt sein, daß im Jahr 3587 die Kos mokraten mich sozusagen als Bot schafter der Menschheit hinter die Ma teriequellen holten." In knappen Sät zen berichtete er und endete schließlich mit dem Auftrag, der ihn und die SOL in den Raumsektor Vam hagher-Gynnst führen sollte. Homer Gerigk nickte mehrmals in teressiert und, wie es schien, zustim mend. Er ließ sich nicht anmerken, was er wirklich dachte, weil er erken nen mußte, daß Atlans Absichten sich weitgehend mit denen der Fortschritt lichen unter den Magniden deckten. Anererseits war das Wissen der Arko niden groß genug, um ihm, Gerigk. das Leben zu retten. ..Du kannst auf meine Unterstüt zung zählen", versprach er dann. „Wir verfolgen beide dasselbe Ziel wenn gleich unsere Beweggründe verschie dener Natur sind. Deshalb rate ich dir. auf keinen Fall Deccons Aufforderung zu folgen und dich zu stellen. Er wird dich ebenso in eine Falle locken und töten wollen.
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wie er es mit mir versucht hat. Nur dank meiner Roboter gelang es mir zu fliehen und dem heimtückischen An schlag zu entgehen. Der High Sideryt fürchtet mich, weil ich der SOL eben falls eine neue Bestimmung geben will. Sieh dich doch um, Atlan. Die Zustände, die an Bord herrschen, sind teilweise katastrophal. Im Mutter schiff und in der SZ-2 sieht es kaum anders aus als hier." „Warum schreitet SENECA nicht dagegen ein? Die Hyperinpotronik be sitzt zweifellos sämtliche Möglichkei ten, dies zu tun." „SENECA ist schon lange gestört. Dabei gelingt es nicht einmal unserer Spezialistin, die Ursache dafür heraus zufinden." „Und die Schläfer?" fragte Atlan weiter. „Stimmt es, was man sich er zählt? Sollen sie geweckt werden, wenn der SOL große Gefahr droht? " „Der High Sideryt denkt nicht daran. Sein Stolz läßt es nicht zu, daß ein an derer als er das Schiff aus der Gefahr rettet, die uns von Mausefalle-Sieben droht. Der geheimnisvolle Zugstrahl ist nach wie vor ungebrochen wirk sam." „Wieviel Zeit bleibt uns? Tage oder Wochen?" „Wenige Wochen vielleicht, wenn unsere Geschwindigkeit sich nicht gravierend verändert. Die SOL befin det sich bereits auf der Bahnhöhe des drittletzten Planeten von MausefalleSonne. Das ist ein überdurchschnitt lich großer Stern, der von insgesamt 23 Welten umkreist wird." „Wir sind also gezwungen, etwas zu unternehmen." „Gegen den Willen des High Side ryt", nickte Gerigk eifrig. „Ich werde dich zunächst zu SENECA bringen.
Vielleicht hast du als ehemals autori sierte Person mehr Glück als die ande ren vor dir." „Es war ohnehin meine Absicht, die Biopositronik bei der nächstbesten Gelegenheit zur Rede zu stellen", sag te Atlan. „Das Problem ist nur, unbemerkt ins Mutterschiff zu gelangen. Die Zu gänge werden von Robotern und Brü dern der SOLAG überwacht. Und ge rade jetzt, nachdem der Versuch des High Sideryt scheiterte, mich zu be seitigen, werden die Schleusen beson ders abgesichert sein." „Gibt es keine andere Möglichkeit, die SZ-1 zu verlassen? Wie steht es mit den Transmittern?" .Ausgeschlossen. Wir könnten nur versuchen, die Wachen abzulenken. Jeder gewaltsame Durchbruch würde sofort weitergemeldet." Homer Ge rigk stockte. Plötzlich huschte ein Aufleuchten über seine Züge. „Deine F r e u n d e . . . " , rief er aus. „Ich weiß zwar nicht, wer sie sind, aber sie könnten uns helfen. Wir soll ten sie so schnell wie möglich aufsu chen." „Nein", wehrte Atlan ab. „Wenn je mand geht, dann ich — und zwar al lein. Hartem und die anderen vertrau en mir. Ich will nicht, daß ein dummer Zufall die SOLAG auf ihre Spur bringt." 6.
Es war gegen drei Uhr morgens am 8. April. Die Nachtperiode, wäh rend der die Beleuchtung im Schiff auf ein Minimum reduziert wurde, ging langsam zu Ende. Noch herrschte Ruhe an Bord. Eine
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56 trügerische Ruhe allerdings, denn die Finsternis barg viele Geheimnisse. Dies war die Zeit der Ausgestoßenen, der Monster und Extras. Ein Schatten huschte über eines der untersten Decks der SZ-1. Er verharr te kurz, schien zu lauschen und eilte dann weiter. Marra und ihre beiden Töchter nä herten sich dem Mittelteil der SOL. Die Frau hatte Angst. Sie spürte, daß Unheil in der Luft lag. Dennoch war es jetzt zu spät zum Umkehren. Sie hatte nicht den Mut besessen, Germa und Sylva zu sagen, daß sie sich fürchtete. Alle Selbstvorwürfe nutzten nichts. War es der Glaube, den Mädchen je de Illusion zu rauben, der sie nach wie vor zögern ließ? Der Zugang zum Antigravschacht war nahe. Ein Roboter hielt unmittel bar davor Wache. An dem kommen wir nie vorbei, dachte Marra. Aber vielleicht ist es gut so. Ein leises Geräusch schreckte sie auf. Jemand näherte sich, der darauf bedacht war, den Klang seiner Schrit te zu dämpfen. Marra sah die Sehzellen des Robo ters aufblitzen, als dieser den Kopf in ihre Richtung wandte. Sie erstarrte förmlich und wagte kaum mehr zu at men. Das Geräusch kam weiter heran. Die Frau hatte nur noch Augen für das blutrote Abzeichen, das grell durch die Düsternis stach. Troiliten! schoß es ihr durch den Sinn. Damit war klar, daß sie endgül tig verloren hatte. Plötzlich spürte sie ihr Herz wieder. Sein Schlag war hart und unregelmä-
ßig. Das Atmen wurde zur Qual.
„Du willst es wirklich wagen?" frag te Mark Hartem zögernd. „Es ist ge fährlich." „Ich weiß", antwortete Atlan. „Aber gerade du solltest nicht von Gefahr reden." Der Anführer der Bordnomaden lachte leise. „Hast du es noch immer nicht aufge geben, mich überreden zu wollen? Was bietet mir das Leben, wenn nichts mich über die Masse der übrigen Sola ner hinaushebt?" Atlan ging nicht darauf ein. „Bist du bereit, mir zu helfen, oder nicht?" wollte er wissen. „Egal, wie deine Antwort ausfällt, ich werde zu Homer Gerigk zurückkehren." „Hüte dich vor dem Magniden." „Er hätte mich töten können, wenn es seine Absicht gewesen wäre." Daß er dies nicht getan hat, beweist nur, daß er dich noch braucht, be hauptete der Logiksektor. „Wer ist dafür, daß wir unseren Freund Atlan bei dieser Dummheit unterstützen?" rief Hartem aus. Mira Willem nickte kurz. „Meinetwegen", stimmte Horm Brast zu. Er hob zwei Finger der lin ken Hand, was soviel bedeutete wie alles in Ordnung. Diese Geste hatte er irgendwann von einem Buhrlo ge lernt. „Es ist jetzt kurz nach Mitternacht", sagte Atlan. „In zwei Stunden können wir bei Gerigk sein." „Was geschieht, wenn du Erfolg hast?" „Dann wird sich hoffentlich bald einiges an Bord ändern."
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„Und wenn nicht?" „Geht dorthin zurück, woher ihr kommt und helft den Solanern dabei, eine bessere Zukunft aufzubauen. Nur wenn es Menschen gibt, die sich wirk lich für andere einsetzen, wird das Le ben für viele erträglicher werden." „Du willst uns zu Märtyrern ma chen?" Mark Hartem stieß ein unsi cheres, gepreßt klingendes Lachen aus. „Nein, Atlan, dafür ist keiner von uns geboren." Zwei Dreiergruppen waren irgendwo im Schiff unterwegs. Brast hinter ließ eine kurze Nachricht für sie, dann brachen die Bordnomaden auf. Atlan war klar, daß Gerigk die Roboter nicht einsetzen durfte, um die Wachen abzu lenken. Wenn der High Sideryt nach ihm suchen ließ, und das war wahr scheinlich, würde die Anwesenheit der Maschinen ihn sofort verraten. Der Arkonide und seine Begleiter kamen ohne Zwischenfälle voran. Ob wohl sie nicht gerade die Hauptkorri dore benutzten und sogar die Anti gravlifte mieden, trafen sie noch vor Ablauf der festgesetzten Zeit mit dem Magniden zusammen. „Ich habe mir inzwischen einige Verbindungsgänge angesehen", eröff nete Gerigk. „Sie werden von jeweils vier Brüdern und zwei Robotern be wacht." „Wir sind genug, um sie zu überren nen", sagte Hartem. Der Magnide winkte heftig ab. „In dem Fall hätte keiner eine Chan ce. Du unterschätzt die Reaktion und Feuerkraft der Roboter." Nachdenk lich strarrte er auf das Abzeichen, das seine Träger als Troiliten auswies. „Gefälscht", platzte er heraus. Hartem begann zu grinsen. Er wich dem Blick des Bruders der ersten Wer
57 tigkeit nicht aus. „Meinst du?" fragte er nur. Gerigk schien tatsächlich unsicher zu sein. Er wandte sich wieder Atlan zu. „Die Ablösung der Pyrriden erfolgt alle sechs Stunden. Die letzte war ge gen 22.00 Uhr. Wir haben also noch knapp zwei Stunden Zeit und sollten diese Frist nutzen." „Wie gehen wir vor?" Horm Brast schlug sich mit der Faust an die Brust. „Niemand wird es wagen, einen Troiliten anzugreifen." „Die Roboter müssen ausgeschaltet werden", bestimmte Gerigk. „Egal wie. Das ist das einzig Wichtige. Wenn ihr nahe genug an die Pyrriden heran kommt, müßte es möglich sein. Wer von euch besitzt einen Strahler?" Das waren nur zwei der neun Noma den. Der Magnide zog aus den Falten seines Kleidungsstücks eine weitere Waffe hervor und reichte sie Hartem. Der gab sie an Mira Willem weiter. „Ich denke", sagte er, „Mira, Horm und ich werden als erste gehen und damit den schwierigsten Teil überneh men. Sollten wir in Bedrängnis gera ten, könnten die anderen sofort ein schreiten. „Wo greifen wir a n ? " „Niemand wird verhindern können, daß die Roboter eine kurze Meldung absetzen", stellte Atlan fest. „Es kommt also auch darauf an, daß Ho mer und ich möglichst schnell im Mit telstück untertauchen. Eine der Tele skopverlängerungen der Antigrav schächte erscheint mir daher als der geeignetste Ort." „Dem stimme ich zu", nickte der Magnide. „Chart Deccon reagiert überaus rasch, wenn es darum geht,
58 seine Gegner unschädlich zu machen. Auf meinem Weg in die SZ-1 hatte ich allerdings den Vorteil, daß die Wachen noch nicht informiert waren und mich deshalb passieren ließen." Nur wenige Minuten später brachen sie auf. Als der Zugang zum Lift in Sicht kam, gingen die drei Nomaden voran. Atlan, Gerigk und die anderen folgten ihnen. Den Schluß bildete Ge rigks Leibwache. „Ich sehe nur einen Roboter", hauchte Hartem. „Vielleicht hat Homer sich geirrt", vermutete Mira hoffnungsvoll. Horm Brast packte den Griff seiner Peitsche fester. „Seid froh, wenn es so ist", sagte er. „Ich bin der Meinung . . . " Er stockte, weil gerade in dem Augenblick ein Pyrride vor die erleuchtete Öffnung des Schachtes trat. Der Bruder der vierten Wertigkeit schien sie ebenfalls bemerkt zu haben. Er wechselte ein paar Worte mit dem Roboter und griff zur Waffe. „Verdammt", flüsterte Hartem. „Der Kerl wird alles vermasseln." Es juckte ihn förmlich in den Fin gern, abzudrücken. Aber noch be herrschte er sich. Was war nur mit ihm los? Früher hatte er nie Nervosität gespürt. Der Schweiß rann ihm in Stömen über die Stirn und brannte in seinen Augen. Höchstens dreißig Meter noch. „Da!" rief Mira erschrocken aus. Mark Hartem blinzelte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Erst jetzt bemerkte er den zweiten Roboter, der halb verborgen hinter einer Wand stand. Der Pyrride vollführte eine unmiß verständliche Geste. Obwohl er die drei für Troiliten halten mußte, schien
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er nicht im mindesten beeindruckt. „Weiter", zischte Horm Brast. „Al les, nur keine Blöße zeigen." In Wirk lichkeit war er nicht so ruhig, wie er sich gab. Nervös fingerte er an seiner Neuropeitsche herum. „Zeigen wir's ihm", stimmte Har tem zu. „Ganz so dumm sind wir auch nicht." Die infrarotempfindlichen Sehlinsen der Roboter folgten jeder seiner Bewe gungen. Aber noch gab es für sie kei nen Anlaß, die Schutzschirme zu akü vieren. Mark Hartem blieb stehen, als er endlich die anderen drei Pyrriden se hen konnte. Sie befanden sich etwa zehn Meter entfernt in einem blind en denden Seitengang. „Du weißt von Homer Gerigk''" fuhr Hartem den Mann vor ihm barsch an. „Hat er sich hier sehen lassen?" Sein drohender Tonfall ließ den Bruder der vierten Wertigkeit zusam menzucken. „Der High Sideryt gab uns den Auftrag, den Magniden zu stellen", redete Hartem augenblicklich wei ter. „Also?" Wie zufällig fingerte er an seinem Strahler herum. Mira Willem und Horm Brast bück ten sich währenddessen scheinbar un beteüigt um. Daß sie besonderes Au genmerk auf die beiten Roboter rich teten, fiel nicht auf. „Alles ist ruhig", sagte der Pyrride langsam. ,„Allerdings verstehe ich nicht, wieso ausgerechnet " Niemand sollte erfahren, was er nicht verstand. Denn in dem Augen blick wurde es weiter vorne im Gang laut. Die Roboter vom Typ Gladiator wandten ihre Köpfe und hoben die Ar me mit den aufgesetzten Strahlprojek toren.
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Auch die Troiliten wirbelten herum.
Sie hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um einen der drei zu berüh ren. Zwei Männer waren es und eine Frau, und sie schritten vorüber, ohne Marra und die Kinder zu bemerken. Zu keiner Regung fähig, starrte Mar ra ihnen hinterher. Ihr war, als hätte sie soeben einen Hauch des nahen To des verspürt. Sylva zupfte sie am Ärmel. „Da kommt noch jemand", wisperte das Mädchen. Siedendheiß durchfuhr es die Frau. Sie glaubte, in den Boden versinken zu müssen. Die plötzliche Konfronta tion mit der Vergangenheit ließ sie schwanken. „Was ist mit dir?" Besorgnis und Furcht schwangen in Sylvas Stimme mit. Dann schlug sie sich in einer er schrockenen Geste die Hand vor den Mund. Ihre Augen weiteten sich in jä hem Erstaunen. Ein weißes Gewand trugen nur sehr wenige an Bord der SOL. Sylva hatte davon gehört, aber nie Mitglieder die ser Kaste gesehen. Ein Magnide! Der Blick des Mädchens huschte zu ihrer Mutter zurück. Da war eine Ah nung in ihr, ein plötzliches freudiges Gefühl... Als sie in Marras Augen sah, wußte sie, daß dieses Gefühl nicht trog. Der Mann, der in Begleitung weite rer Troiliten auf sie zu zu kam, konnte kein anderer sein als . . . . . . Homer Gerigk. Alles, was Marra von ihm erzählt hatte, stimmte. Die Größe, die Farbe seiner Haare, sein etwas erstauntes
59 Aussehen. Nur schien sein Gesicht fleckig wie nach einer überstandenen Krankheit. Seltsam, dachte Sylva, Ich habe ihn nie im Leben gesehen, aber er kommt mir nicht fremd vor. War es die Hoffnung, endlich ohne Sorgen leben zu können, die das Mäd chen so fühlen ließ? „Alles wird gut werden", flüsterte sie ihrer Schwester zu. Dann trat sie kurzentschlossen vor. „Sylva", schrie ihre Mutter entsetzt auf. „Nein!" Die Troiliten hielten an. Homer Ge rigk riß seine Waffe hoch, schoß aber nicht. Überraschung zeichnete sich in seinen Zügen ab, als das Mädchen auf ihn zu hastete. Marra taumelte hinter ihrer Tochter drein. Sämtliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Augen waren ausdruckslos wie die einer Toten. „Nein", kreischte sie abermals mit sich überschlagender Stimme. „Ho mer, tu ihr nichts." Der Magnide starrte sie verständnis los an. Hoch erhobenen Hauptes stand er da, während seine Begleiter sich rasch über den Korridor verteilten. Irgendwie machte Gerigk einen ge hetzten Eindruck. Er war anders, als Marra ihn in Erinnerung hatte. Die beiden Roboter fielen ihr ein und die Pyrriden, die kaum fünfzig Meter entfernt Wache hielten. Endlich zeigte der Bruder der er sten Wertigkeit Erkennen. Gleichzeitig aber sprach Zorn aus seinen Augen. Warum tötet er dich nicht? schoß es Marra durch den Sinn. Warum quält er dich wieder? Ohne es wirklich zu wollen, machte sie einen Schritt auf Homer zu. Er mußte wissen, daß die K i n d e r . . .
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Ein greller Blitz zuckte heran. Marra spürte einen dumpfen Schlag gegen ihren Brustkorb, gleichzeitig durch flutete wohltuende Wärme ihren Kör per. Alles schien plötzlich in ein rotes Leuchten getaucht zu werden. „Gerigk..." Der Magnide starrte sie noch immer an. Marra sah, daß er den Mund öffne te, um etwas zu sagen. Aber kein Laut drang über seine Lippen. Überhaupt herrschte mit einemmal eine vollkommene Stille. Das Rau schen des Blutes in ihren Schläfen war das einzige Geräusch, das die Frau vernahm. Und irgendwo — wie in wei ter Ferne — war ein zartes Klingen. Marra spürte nicht, daß sie stürzte. Ganz nahe sah sie Homers Gesicht über sich. Es fiel ihr schwer zu sprechen. Sie versuchte, ihrer Stimme trotzdem ei nen bedeutungsvollen Klang zu ge ben. „Germa . . . und Sylva . . . die beiden sind deine . . . " Ein letztes Zucken durchlief Marras Körper. Ihre Augen weiteten sich, als blickte sie in unendliche Fernen. Dort waren die Sterne, nach den sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte. Sie fühlte nicht mehr, daß Sylvas Hände ihr zärtlich über das Gesicht strichen. Das Mädchen weinte.
Alles ging so schnell, daß Mark Har tem und seine Begleiter keine Zeit fanden, überlegt zu handeln. „Homer Gerigk!" rief der Pyrride überrascht aus und riß seine Waffe hoch. Die beiden Roboter setzten sich in Bewegung, aber ein Befehl stoppte
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sie sofort. „R 1, Feuer frei!" bellte der Bruder der vierten Wertigkeit. Er hatte be merkt, daß der Magnide nicht allein war und schloß daraus auf eine mögli che Gefahr. Im gleichen Moment wirbelte Horm Brast seine Peitsche durch die Luft. Die Schnüre trafen den Pyrriden im Gesicht, der mit einem erstickten Rö cheln zu Boden stürzte. Mark Hartem und Mira Willem hat ten ihrerseits das Feuer auf die beiden Roboter eröffnet. Dabei war ihr Glück, daß die Maschinen ihnen den Rücken zuwandten. Die Frau zielte auf den Schädel und nahm den Finger erst vom Auslöser ihrer Waffe, als der Ter konitstahl sich zu verfärben begann. Der Roboter ruckte herum. Seine Bewegungen wurden eckig und unge lenk — ein Zeichen, daß die Positro nik bereits geschädigt war. Aus der Sprechmembrane kam ein lautes Krächzen. Die Waffenarme zuckten hoch, schienen nach Mira greifen zu wollen. Wieder feuerte sie. Das alles erschien ihr wie eine kleine Ewigkeit, und doch waren es nur Sekunden. Im Innern des Roboters erfolgte eine De tonation. Er machte einen letzten Schritt und blieb dann stehen. Das Flackern seiner Sehzellen erlosch. Mark Hartem hatte weniger Glück. Ihm war es nicht gelungen, die andere Maschine auf Anhieb zu beschädigen, so daß sie sich nicht mehr wirkungs voll zur Wehr setzen konnte. Er wußte um die drei Gesetze, mit denen auch der Gladiator-Typ von Anfang an pro grammiert gewesen sein mußte. Nur hatte ihm der Angriff auf den Magni den bewiesen, daß zumindest Teile da von gelöscht worden waren. Hoffen, daß der Roboter ihn schonen würde.
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durfte er deshalb nicht. Die Maschine kam auf ihn zu. Wie erstarrt blieb Hartem stehen. Für ihn versank alles andere in Bedeutungslo sigkeit. Er hörte zwar die Geräusche von Strahlschüssen, nahm sie aber nicht bewußt in sich auf. Ein fahles Flimmern hüllte jetzt den Roboter ein. Der Anführer der Bord nomaden ahnte, daß dieser Schutz schirm seinem Strahler standhalten würde. Trotzdem schoß er. Der gebün delte Energiestrahler brach sich in leuchtenden Kaskaden. Mira Willem schrie gellend auf, als der Gladiator sein Vibratormesser aus fuhr. Hartem hatte kaum eine Chance. Er wich zurück, bis er die kalte Wand des Korridors in seinem Rücken spürte. Vom Antigravschacht her fauchte eine Energiebahn heran und brannte unmittelbar vor seinen Füßen eine glühende Furche in den Boden. Wie der war da das schneidende Geräusch von Horm Brasts Neuropeitsche. Je mand schrie gellend auf. Es konte nur einer der drei Pyrriden sein, die inzwi schen nahegekommen waren. Plötzlich schien der Gang aufzu flammen. Der Schutzschirm des Ro- - boters brach zusammen. Etliche klei ne Explosionen erfolgten. Ein glühendes Trümmerstück traf Hartem am linken Oberarm und schleuderte ihn zu Boden. Vorübergehend wurde ihm schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, schwebte soeben der letzte von Gerigks Leib wächtern an ihm vorbei. Nur sie konn ten den Gladiator zerstört haben. Der Magnide selbst stand bereits unmittel bar vor dem Zugang zum Antigravlift. Jemand griff Hartem von hinten un ter die Arme und half ihm, auf die Bei-
61 ne zu kommen. Es war Atlan. ,.Ich bin froh", sagte er, „daß keiner von deinen Leuten etwas abbekom men hat. Lebe wohl. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder." Er drück te Mark die Hand, wandte sich dann um und eilte dem Magniden hinterher. ..Ja", murmelte Hartem. „Viel leicht . . . " Die beiden Roboter waren nur noch qualmende Wracks. Von den vier Pyr riden hatte Horm Brast zwei außer Ge fecht gesetzt, die anderen waren para lysiert. Der Anführer der Bordnomaden blickte Atlan nach, bis dieser im Anti gravschacht verschwand. Als er sich wieder umwandte, stand einer seiner Männer mit zwei kleinen Mädchen ne ben ihm, die beide ungefähr zehn Jah re alt sein mochten. „Die Frau, die von dem Roboter er schossen wurde, scheint ihre Mutter gewesen zu sein. Sie hatte Pech, daß es sie anstelle des Magniden erwischt hat. Atlan sagte, wir sollen uns um ih re Töchter kümmern." „Atlan . . . " , brauste Hartem auf. Er sah, daß die Mädchen weinten und schüttelte unwillig den Kopf. „Hört auf damit", fuhr er sie an. „Sei still", zischte Mira. „Du kannst dir nicht vorstellen, welchen Ver lust . . . " Hartem winkte barsch ab. „Ich war fünfzehn, als meine Mutter starb, weil etwas in einer Verteilerstel le nicht so klappte, wie es eigentlich sollte. Wir blieben wochenlang ohne Essen." „Das wußte ich nicht." „Dann misch dich auch nicht ein." Mark Hartem stockte. „Was ist das?" Er packte Germa, zog sie zu sich heran und fuhr mit einer Hand über die bei
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den Aufwölbungen an ihrer Hüfte. „Ein Monster", bellte er. „Ausge rechnet das hat uns noch gefehlt. Du besitzt nichts, womit du dich freikau fen könntest — oder? Also bist du nur eine Plage für die SOL." „Laß sie in Ruhe!" schrie das andere Mädchen auf und wollte sich auf ihn stürzen, aber er stieß sie mit einer Hand von sich. „Ja", platzte auch Horm Brast her aus. „Laß das Mädchen zufrieden." „Sie ist ein Monster", wiederholte Hartem mit Nachdruck. „Aber sie braucht Hilfe", sagte Brast. „Ich werde nicht zulassen, daß jemand ihr etwas antut." Drohend hob er seine Rechte, in der er den kurzen Peitschenstiel hielt. „Das wirst du nicht tun", fauchte Hartem. „Und ob. Wir nehmen die Mädchen mit, verstanden. Allein sind sie hilf los." „Meinetwegen", stimmte Hartem schließlich gezwungenermaßen zu. „Aber nur, weil jeden Augenblick An gehörige der SOLAG hier erscheinen können. Sobald wir unser Versteck er reicht haben, regeln wir diese Angele genheit." * Sie wurden schon erwartet. Eine der beiden auf Raubzug befindlichen Gruppen war auf drei Solaner gesto ßen, die im Begriff gewesen waren, ih nen zuvorzukommen. Auch sie hatten es auf das Bekleidungsdepot abgese hen gehabt. Notgedrungen mußte man die Beute teilen. Was freilich nicht viel mehr als ein Akt des guten Willens war, denn die Fremden äußer ten spontan den Wunsch, sich den
Bordnomaden anzuschließen. Allein, so meinten sie, hätten sie nie den Mut besessen, wirklich größere Unterneh mungen zu wagen. In der Gemein schaft müßte es eher möglich sein. „Das ist noch lange kein Grund, um sie sofort in den Hangar zu schlep pen", brauste Hartem auf. „Als du diesen Atlan brachtest, hast du auch nicht gefragt", hielt man ihm entgegen. Er winkte heftig ab. „Sie sind zu dritt. Die Gefahr einer Entdeckung wird dadurch nur größer. Außerdem — weiß jemand, was sie können? Mag sein, daß sie lediglich ei ne Möglichkeit suchen, sich für einige Tage über Wasser zu halten." „Wir verstehen es, uns Respekt zu verschaffen", platzte einer der Frem den heraus, der dem Zwiegespräch auf merksam gefolgt war. Hartem musterte die beiden Männer und die Frau. Ihrer unterschiedlichen Kleidung nach zu urteilen kamen sie aus verschiedenen Sektionen der SOL. Lediglich die Frau trug eine der übli chen lindgrünen Kombinationen, wel che die Formen ihres Körpers mehr betonte als verhüllte. Sie mochte höchstens fünfundzwanzig sein, war schlank und doch gut gebaut und strahlte in ihrer ganzen Erscheinung eine Entschlossenheit aus, wie diese nur selten anzutreffen war. Sie könnte mir gefallen, mußte sich Hartem eingestehen. Aber laut fragte er: „Woher kommt ihr?" „Wir ziehen schon lange durch das Schiff", sagte der Mann, „sind mal hier, mal dort, eben immer gerade da, wo es was zu holen gibt." „Und jetzt hofft ihr darauf, bei uns Beute machen zu können?" Mark Har
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tem verspürte ein immer größer wer dendes Mißtrauen. Er vermochte selbst nicht zu sagen, was es war, aber etwas an den Fremden flößte ihm Furcht ein. Dabei machten sie eher ei nen heruntergekommenen Eindruck. „Warum nehmen wir sie nicht bei uns auf?" wollte einer der Bordnoma den wissen. „Ja, warum eigentlich nicht?" pflichtete Mira Willem bei. „Zumin dest sind sie gut bewaffnet." Jeder der drei trug einen kleinen Thermostrahler. Das machte sie zu ge fährlichen Gegnern. „Stimmen wir ab!" rief jemand. Mark Hartem sah sich um. Er sah nur erwartungsvolle Gesicher. „Ich bin dagegen, daß sie bleiben", bekundete er. Die Frau trat auf ihn zu und funkelte ihn wütend an. „Du bist der Anführer d i e s e r . . . Troiliten?" Beinahe verächtlich kam es über ihre Lippen. „Bisher galt mein Wort." „Ganz recht, es galt. Aber du hast die längste Zeit Befehle gegeben." Mit einer blitzschnellen Bewegung zog sie ihre Waffe und schoß. Niemand konnte es verhindern. Der Energie strahl drang Hartem mitten ins Herz. Er war auf der Stelle tot. Ihre beiden Begleiter sprangen aus einander. Auch sie hielten plötzlich die Waffen in Händen. „Keiner rührt sich", riefen sie. „Wer eine falsche Bewegung macht, stirbt ebenfalls." Wie gebannt starrte Horm Brast die Fremden an. Sie würden nicht zögern, ihre Drohung wahrzumachen. „Was . . . was habt ihr mit uns vor?" stammelte er. „Wir werden euch ebenfalls töten",
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erwiderte die Frau, und ihre Stimme klang klirrend wie Eis, „sollte auch nur einer je über dieses Ereignis spre chen. Das gleiche wird geschehen, falls ihr wieder den Namen der Troili ten in den Dreck zieht. Die Brüder und Schwestern der fünften Wertig keit sind keine Plünderer." „Wer seid ihr?" platzte Mira heraus. Amüsiertes Gelächter war die Ant wort. „Wir treten immer zu dritt auf", sag te einer der Männer, während sie aus ihren Taschen rote Abzeichen hervor zogen und sich diese anhefteten. „Troiliten!" Mira Willem erstarrte. Also gab es die Kaste der fünften Wer tigkeit wirklich, und die Gerüchte an Bord der SZ-1 erwiesen sich als wahr. Oder war alles nur ein böser Traum? „Denkt an unsere Warnung!" rief die Frau. „Wir können euch jederzeit wie der aufspüren." Langsam zogen die Troiliten sich zurück und waren gleich darauf aus dem Hangar verschwun den. „Ein Spuk", stöhnte jemand. „Viel schlimmer", entgegnete Horm Brast. „Die waren echt." „Was n u n ? " „Alles Blödsinn. Weshalb sollten wir uns einschüchtern lassen? Wir kennen jetzt die Gefahr und können ihr begeg nen." „Hört auf damit." Horm Brast hob besänftigend die Arme. Er wirkte mü de. „Ihr wißt, daß wir verspielt haben. Es gibt nur noch die Wahl zwischen dem Tod und einem Leben, wie wir es früher führten. Atlan hatte recht, wenn er sagte, daß Gewalt immer wie der neue Gewalt nach sich zieht." Manch einer stimmte ihm zögernd zu. Mira Willem sah Brast fragend an.
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„Ich habe niemanden, zu dem ich gehen könnte. Für mich zählt das alles nicht." „Komm mit mir", bot er ihr an. „Ich werde auch die Mädchen mitnehmen und für sie sorgen. Eines Tages braucht Germa sich vielleicht nicht mehr zu verstecken." „Ja", sagte Mira und riß das Troiliten-Abzeichen von ihrer Kleidung. „Wir werden vieles besser machen."
Wütend starrte Chart Deccon auf die leeren Bildschirme. Seit Stunden wartete er darauf, daß jene, die er zu dem von ihm bestimmten Treffpunkt geschickt hatte, Atlans Ankunft meldeten. Allmählich wurde ihm aber klar, daß er vergeblich harrte. Der Arkonide schien seine Botschaft zu ignorieren. Deccon spielte mit dem Gedanken, einen nochmaligen Aufruf über Inter-
kom zu verbreiten. Aber zweifelsohne hätte dies den Anschein von Schwä che erweckt, den er sich keinesfalls ge ben durfte. Von nun an mußte er also Jagd auf zwei Männer machen: Atlan und Ge rigk. Und beide schienen sich selbst im Schlaf in der SOL zurechtzufinden. Der High Sideryt war erschöpft. Zu viele Probleme stürzten in letzter Zeit auf ihn ein. Nach wie vor raste das rie sige Raumschiff scheinbar unaufhalt sam Mausefalle-Sieben entgegen. Bald würde nur noch ein Wunder es retten könne. Aber an Wunder glaubte Chart Dec con nicht. Nervös machte er sich an dem klei nen Akku zu schaffen, in dem E-kick gespeichert war. Er wurde wütend, als er feststellen mußte, daß das Gerät erschöpft war. „Nurmer", brüllte er in den Inter kom, kaum daß die Verbindung zur eigentlichen Zentrale stand. „Schaffe mir sofort E-kick herbei."
Die Verhältnisse an Bord der SOL sind schlimm genug, wie Atlan bei seinen gehei men Streifzügen hatte feststellen müssen. Nun aber, da Gefahren drohen, die das Ende des Schiffes und seiner Insassen bedeuten können, gibt Allan sein Versteck spiel auf. Er greift bei dem Kampf gegen die Fremden ein. Mehr zu diesem Thema berichtet Hans Kneifel im nächsten Atlan-Band. Sein Ro man erscheint unter dem Titel: DIE SOL UND DER KOLOSS
ENDE ATLAN erscheint wöchentlich im Moewig Verlag, 8000 München Redaktion: Pabel Verlag KG, Falkweg 51, 8000 München 60 Druck und Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG, 7550 Rastatt. Anzeigenleitung: Verlagsgruppe Pabel-Moewig, Pabelhaus. 7550 Rastatt. Anzeigenleiter und verantwortlich: Rolf Meibeicker. Zur Zeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 4. Verkaufspreis inkl. gesetz! MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden: der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Nieder alm 300, A-5081 Anif. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mrt vorhe riger Zustimmung des Verlages. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Abonnements- und Einzelbestellungen an PABEL VERLAG KG Postfach 1780 7550 RASTATT Telefon (0 72 22) 1 32 41. Printed in Germany. j u n j 1981
Liebe Atlan-Freunde, wie ihr sicher schon bemerkt habt — und wie es auch angekündigt wurde — haben nicht nur die Romane unserer Atlan-Serie, sondern auch die LKS ihr Gesieht verändert. Zu der neuen Form der LKS sollen
auch ab und zu Leserrißzeichnungen gehören. Als erste Arbeit bringen wir einen modernen Roboter, den unser Leser Karl-Heinz Brinker, BarBelerstr. 31, 2908 Friesoyte gezeichnet hat.
Technische Daten: 1) Hochleistungshydraulik der Tentakelarme 2) Kopf eines eingefahrenen Tentakelarms mit leichtem Thermo-Intervallnadler und drei zu sammengeklappten Greiffingern 3) Programmierungsplatte 4) Hochdruck-Deuteriumtank für das NotspeicherFusionskraftwerk 5) Telekopwaffenarm mit eingebautem Irregulator str ahler 6) Letztes Segment (insges. 6) des eingefahrenen Tentakelarms 7) Energieleitung des Tentakelarms, dient gleich zeitig zum Ein- und Ausfahren des Arms 8) Antriebseinheit mit Impuls- und Antigravtrieb werk 9) StrukturriB-Einlaßprojektor zum Anzapfen der Hyperenergie 10) Schutzschirmprojektor 11) Sensoren zur Überwachung der Geräte des Ro boters 12) Speicherbatterie für die Sensoren 13) Telekopwaffenarm mit Antimateriestrahler in Mi krobauweise 14) Ausgefahrener Tentakelarm 15) Energiemodulator zur Umformung der Hyper energie 16) Notspeicher-Fusionskraftwerk zur Energiever sorgung bei Ausfall des Strukturriß-Einlaßpro jektors 17) Speicherbatterien 18) Fluoreszierend leuchtendes Kombinoband, ent hält Sensoren und Ortungsgeräte zur Orien tierung des Roboters 19) Positronik 20) Peilantennen, ein-und ausfahrbar 21) Leichter Impulsstrahler
Bis in einer Woche! Euer W. Voltz