Bleib für immer
Lindsay Armstrong
Romana 1353 2 - 2/01
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
1. KAPITEL...
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Bleib für immer
Lindsay Armstrong
Romana 1353 2 - 2/01
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
1. KAPITEL
Olivia Lockhart strich sich die feuchten blonden Strähnen aus dem Gesicht und lüftete ihre rot-beige karierte Bluse, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Sie saß auf einem Holm im Fütterungsunterstand - einer nach allen Seiten hin offenen Dachkonstruktion, an deren Wellblechbelag bereits der Zahn der Zeit genagt hatte. Vier Kinder standen um sie herum und hörten ihr aufmerksam zu. „Und deshalb", sagte sie jetzt, „müssen wir ganz besonders vorsichtig ..." Sie verstummte unvermittelt und hob den Blick, da in diesem Augenblick noch zwei andere Kinder keuchend auf sie zugerannt kamen: ein Junge und ein Mädchen mit den gleichen roten Locken, dem gleichen sommersprossigen Gesicht und dem gleichen Zahnlückenlachen. Die beiden hatten außerdem den Ruf, Unheil magisch anzuziehen. Dieser Meinung waren zumindest die Bewohner der großen Rinderzuchtfarm im östlichen Australien. „Was habt ihr denn schon wieder ausgefressen?" fragte Olivia seufzend. „Nichts! Zumindest nichts Schlimmes", antwortete Ryan Whyte und verzog beleidigt das Gesicht, um sich dann Zustimmung heischend seiner Schwester Sonia zuzuwenden. Das Mädchen nickte energisch. „Livvie ..." „Nicht jetzt, Sonia. Lass mich erst mal ausreden! Wir dürfen kein Wasser verschwen..." „Livvie ..." „Sonia, tu einmal, was man dir sagt! Wo seid ihr überhaupt gewesen?" „Unten auf der Pferdekoppel, und ..." „Ihr wisst doch, dass ihr da nicht allein hingehen sollt. Euer Vater wird sehr böse sein. Wo war ich stehen geblieben?" Olivia blickte nachdenklich in die Gesichter der Kinder, denen sie gerade erklärte, warum es so wichtig war, sparsam mit dem Wasser umzugehen. Bei der munteren Schar handelte es sich ausnahmslos um Sprösslinge, deren Eltern auf der Farm lebten und arbeiteten. „Ach ja, bis es das nächste Mal regnet, müssen wir wirklich..." „Livvie, wir haben einen Mann gefunden", beharrte Sonia stur. „Wir müssen wirklich aufpassen, dass wir kein Wasser verschwen..." „Er ist tot!" sagte Ryan. Es dauerte einen Augenblick, bis sich Olivia der ganzen Tragweite dieser Worte bewusst wurde. Dann sprang sie vom Zaun und sagte warnend: „Wenn ihr das wieder erfunden habt!" „Nein, Livvie, er liegt auf dem Boden und blutet. Außerdem bewegt er sich nicht mehr. Wir haben ihn mit einem Stock gepiekst, aber es ist nichts passiert." „Er ist nicht tot", stellte Olivia beruhigt fest, als sie neben dem Mann auf der staubigen Koppel kniete, während die Sonne erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel auf sie herniederbrannte. „Aber er ist ohnmächtig. Er hat wohl einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen." Sie nahm eine Mullbinde aus dem Erste-HilfeKasten, den sie mitgebracht hatte. „Wer, um alles in der Welt, ist das, Jack, und wie kommt er hierher?" Jack Bentley, der Aufseher der Farm, schob den breitkrempigen Hut zurück und kratzte sich am Kopf. „Hab den Kerl noch nie im Leben gesehen. Aber wir bringen ihn besser zum Wohnhaus und verständigen die Ambulanz. Wie er hierher kommt, ist mir auch ein Rätsel. Ein herrenloses Pferd scheint hier jedenfalls nirgends zu sein." Er beschattete mit der Hand die Augen und ließ den Blick suchend über die weitläufige Koppel schweifen. „Eigenartig, sehr eigenartig", murmelte Olivia mehr zu sich selbst. Laut sagte sie: „Dann wollen wir mal. Ich nehme ihn bei den Füßen." Aber das war leichter gesagt als getan. Der Fremde war wenigstens einen Meter
achtzig groß und entsprechend schwer. Obwohl sie so vorsichtig wie möglich mit ihm umgingen, gestaltete es sich schwierig, ihn auf die Ladefläche des Landrovers zu hie ven. Aber auch bei dieser Prozedur kam der Mann nicht zu Bewusstsein. Olivia kletterte hinten zu ihm auf den Wagen, und Jack setzte sich ans Steuer, um sie zum Wohnhaus zu fahren. Unterwegs sah sich Olivia den Mann genauer an. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig und hätte schwören können, dass er blaue Augen hatte. Auf jeden Fall hatte er dichtes schwarzes Haar und einen hellen Teint. Daher auch der extreme Sonnenbrand. Sein Gesicht war außerdem schmutzig und blutverschmiert, aber es war nicht zu übersehen, wie gut er aussah. Seine Gesichtszüge wirkten jetzt entspannt, ließen aber darauf schließen, dass sie einen ganz schön in Bann ziehen konnten. Der Rest von ihm war nicht minder beeindruckend. Der Unbekannte hatte einen muskulösen Körper und' bestimmt kein Gramm zu viel. Bekleidet war er mit einem zerrissenen khakifarbenen Overall. Olivia runzelte die Stirn und durchsuchte vorsichtig die Taschen des Fremden. Sie enthielten nur ein bisschen Geld und ein Taschentuch, aber nichts, was auf die Identität des Mannes schließen ließ. „Wer immer du auch bist", flüsterte sie danach kopfschüttelnd, „ich will nicht hoffen, dass du unter Gedächtnisverlust leidest. Es sieht mir nämlich fast so aus, als würdest du von einem anderen Stern kommen!" Zwei Stunden später richtete sich der Arzt, der mit dem Ambulanzhubschrauber gekommen war, auf und blickte stirnrunzelnd auf den Fremden hinunter. Der Verletzte war zuvor in eines der Gästezimmer gebracht worden. Jack und der Arzt hatten ihm den Overall ausgezogen und den Mann dann mit Olivias Hilfe gewaschen, bevor die Platzwunde an seiner Schläfe genäht worden war. Aber egal, was sie auch taten, der Fremde rührte sich nicht. „Ist er im Koma?" fragte Olivia besorgt, während sie den Mann betrachtete, der da auf dem blütenweißen Laken lag. „Sieht ganz so aus. Außerdem hat er eine überdimensionale Beule an der Stirn. Aber Herz- und Pulsschlag sind normal, und er atmet gleichmäßig. Nun, ich würde sagen, er hat zu viel Flüssigkeit verloren, deshalb werde ich ihn wohl an den Tropf hän... Moment mal!" Der Mann hatte sich bewegt, und die Umstehenden traten näher ans Bett heran. Da murmelte er etwas und schlug die Augen auf, die tatsächlich blau waren. Tiefblau, aber auch komplett ausdruckslos. „Wo ... Wo bin ich?" brachte er nur mühsam hervor. Der Doktor beantwortete ihm die Frage und fügte dann bedauernd hinzu: „Die Sache ist nur die, wir wissen nicht, wie Sie hierher gekommen sind." „Welch... Welcher Bundesstaat ist das?" „Queensland. Klingelt's da bei Ihnen?" Aber der Mann blinzelte nur benommen mit seinen wunderbar blauen Augen und sagte: „Ich kann mich nicht mal an meinen Namen erinnern! Können Sie sich das vorstellen?" Dann versuchte er unvermittelt, sich aufzusetzen, und Olivia hatte plötzlich ein ganz schlechtes Gewissen, als wären ihre Gedanken schuld an seinem Gedächtnisverlust. Draußen auf der Veranda besprachen Olivia, Jack und der Arzt rasch, was nun zu tun sei. „Ich schätze mal, dass es sich nur um eine zeitlich begrenzte Amnesie handelt", erklärte der Arzt. „Er wird sich allmählich wieder an alles erinnern, und unser Problem ist gelöst. Wir müssen nur dafür sorgen, dass er genug trinkt und sich ruhig verhält. Wahrscheinlich hat er auch eine Gehirnerschütterung. Meinst du, dass du damit klarkommst, Livvie?" „Natürlich, ..." Olivia machte eine hilflose Geste. „... aber was, wenn der Gedächtnisverlust nicht vorübergehend ist? Sollten wir den Mann nicht besser ins
Krankenhaus fliegen?" „Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass das in diesem Stadium notwendig ist, und außerdem stehen wir im Augenblick wirklich ziemlich unter Druck. Ich war gerade auf dem Weg zu einem Patienten mit einem komplizierten Beinbruch, als ich deinen Not ruf erhielt, Livvie. Und der andere Hubschrauber ist zu einem, möglichen Meningitisfall unterwegs. Aber wenn sich der Mann hier in den nächsten ein, zwei Tagen immer noch nicht erinnert, müssen wir ihn wohl ins Krankenhaus bringen. Sollte sich sein Zustand verschlechtern, kannst du mich aber jederzeit anrufen. Irgendwie finden wir dann schon eine Lösung. Ist dein Onkel zu Hause?" „Nein", Olivia schüttelte den Kopf, „er ist in Japan mit einer Marketingdelegation von Rinderzüchtern. Aber Jack ist ja da, falls ich Hilfe brauche. Wir müssen auf jeden Fall die Polizei verständigen." Sie verstummte und runzelte nachdenklich die Stirn, bevor sie fortfuhr: „Er ist bestimmt von einem angrenzenden Besitz herübergeritten. Womöglich hat ihn sein Pferd abgeworfen und ist dann allein nach Hause galoppiert." „Hört sich plausibel an", stimmte Jack ihr zu. „Ich werd das mal überprüfen." „Sind Sie Krankenschwester?" Olivia richtete sich auf, sah zu ihrem Patienten hinunter und sagte: „Nein, aber ich habe einen ausführlichen Erste-Hilfe-Kurs gemacht." Sie strich noch die Laken glatt und setzte sich dann auf einen Stuhl neben das Bett. „Wie fühlen Sie sich?" „Furchtbar", antwortete der Mann mit einem gequälten Lächeln. „Ich hab höllische Kopfschmerzen, mir ist ganz heiß, und alles tut mir weh. Außerdem scheint mir meine Zunge doppelt so dick zu sein wie sonst." „Das liegt daran, dass Sie zu wenig Flüssigkeit im Körper haben, und an Ihrem Sonnenbrand. Hier in der Gegend sollte man draußen aber auch nicht ohne Kopfbedeckung rumlaufen. Und die Schmerzen kommen von der riesigen Beule an Ihrem Kopf und davon, dass Sie an der Schläfe mit drei Stichen genäht wurden. Sonst scheint mit Ihnen alles in Ordnung zu sein." Er verzog das Gesicht. „Und was ist mit dem Nebel, der mich umgibt?" „Vorübergehende Amnesie", sagte Olivia sofort, und es hörte sich an, als wäre sie davon überzeugt. „Der Arzt schätzt, dass Ihnen nach und nach alles wieder einfällt." „Hoffentlich hat er damit Recht!" Der Fremde rutschte unruhig auf seinem Lager hin und her, und Olivia stand auf, um ihm die Kissen zurechtzuschütteln, damit er es ein wenig bequemer hatte. Die Verandatür stand offen, und man hörte das Gackern eines Perlhuhnpaars, das draußen unter den Holzbohlen scharrte. Ein Duft nach warmer Erde erfüllte das Zimmer, dessen hohe Decke das schmiedeeiserne Bett und die hübschen alten Möbel erst richtig zur Geltung brachte. Es war schon spät am Nachmittag, und die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten alles in ein goldenes Licht. Auch Olivia erstrahlte im Glanz der Abendsonne, und der Mann auf dem Bett betrachtete sie interessiert. Wohlwollend registrierte er die großen grauen Augen, den hellen Teint und den grazil geschwungenen Hals. Die Strähnchen, die sich aus ihrem blonden Knoten gelöst hatten, umspielten sanft das schöne Gesicht. Aber die derbe Bluse und die lange kha kifarbene Arbeitshose wollten nicht so recht zu ihr passen. Während der Mann sie ansah, huschte ein Schatten über sein Gesicht, aber Olivia vermochte nicht zu sagen, warum. Schließlich fragte er: „Könnten Sie mir ein bisschen mehr über sich erzählen und wo ich hier bin?" „Nur wenn Sie das austrinken." Sie stand auf, nahm ein Glas vom Nachttisch und reichte es ihm. Er rümpfte die Nase. „Das riecht ja furchtbar!" „Es ist eine isotonische Lösung, die Ihrem Körper all die notwendigen Mineralien und Nährstoffe wieder zuführt, die Sie verloren haben. Sehen Sie es doch mal so: Wenn Sie das hier trinken, bleibt Ihnen der Tropf erspart." „Na, Sie hätten mit Sicherheit eine ausgezeichnete Krankenschwester abgegeben",
antwortete der Mann mit einem schalkhaften Augenzwinkern. „Es ist Ihre Gesundheit! Trinken Sie's, oder lassen Sie's bleiben!" erwiderte Olivia, allerdings mit einem Lächeln. Er trank das Glas in einem Zug leer und verzog das Gesicht. Zufrieden setzte sich Olivia wieder hin und begann zu erzählen: „Ich bin Olivia Lockhart, und Sie befinden sich hier auf der Wattle-Creek-Farm. Sie gehört meinem Onkel. Zurzeit ist er in Übersee. Ich lebe schon immer hier und helfe ihm, die Farm zu füh..." „Wie alt sind Sie?" „Fünfundzwanzig - und wir züch..." Wieder unterbrach er sie. „Haben Sie denn nie etwas anderes getan? Ich finde, dass Sie gar nicht wie ein Cowgirl aussehen." „Und doch bin ich genau das." Da Olivia nicht weitersprach, sondern ihn stattdessen prüfend ansah, fragte er: „Was ist denn?" Dabei klang seine Stimme irgendwie besorgt, obwohl er lächelte. „Ich überlege mir gerade, ob Sie mich auch weiterhin ständig unterbrechen wollen, Mr. ... nun, wie immer Ihr Name auch sein mag." „Wir können ja erst mal einen erfinden", sagte er mit einem merkwürdigen Sinn für Humor. „Ich lege nämlich keinen Wert darauf, hier als der Mann ohne Namen eingeführt zu werden." , Olivia dachte einen Moment nach. „Was halten Sie von ... Max oder Hasso?" Beleidigt sah er sie an. „Ihnen fällt doch bestimmt noch was Besseres ein - mit so einem Namen würde ich mir doch wie ein streunender Straßenköter vorkommen!" Sie lachte, wurde aber gleich wieder ernst. „Können Sie sich denn an überhaupt nichts ...? Nein, vergessen Sie's, ich ..." „An überhaupt nichts erinnern, wollten Sie sagen? Nein, kann ich nicht, ganz bestimmt nicht", sagte er nachdenklich, „und das ist ein ziemlich blödes Gefühl, wenn Sie's genau wissen wollen." „Quälen Sie sich nicht", entgegnete Olivia, der es Leid tat, auf seine missliche Situation angespielt zu haben. „Ich bin sicher, dass es besser ist abzuwarten, bis die Erinnerung von allein zurückkommt. Außerdem hatten Sie Recht: Mir fällt was Besseres ein. Diesmal beginne ich mit dem ersten Buchstaben des Alphabets", fügte sie aufgeräumt hinzu. „Da hätten wir noch Adam, Adrian, Alexander ... Mit so einem Namen würden Sie sich doch bestimmt nicht mehr wie eine Promenadenmischung vorkommen, nicht wahr? Oder wie wär's mit Alfred, Arnold ...?" „Warten Sie mal!" rief er plötzlich aus. „Arnold? Arnold? Nein, wissen Sie was, ich glaube, ich heiße Benedict ... Ben ... Ben ..." Aber der Nachname wollte ihm partout nicht einfallen, und er ließ sich fluchend zurück in die Kissen sinken. „Sie kennen Ihren Vornamen! Das ist doch großartig", rief Olivia begeistert. „Das beweist, dass Ihre Erinnerung allmählich zurückkehrt. Aber Sie ruhen sich jetzt besser aus." „Jawohl, Ma'am", murmelte er trocken, „aber nur, wenn Sie mir noch mehr von sich erzählen." „Da gibt's nicht mehr viel zu sagen ..." „Da muss es doch noch was geben! Wieso haben Sie zum Beispiel keine sonnengegerbte, faltige Haut?" „Ich ..." Olivia war sprachlos. Es war ihr unangenehm, dass er sie nun schon wieder von Kopf bis Fuß musterte. Als er ihr schließlich erneut ins Gesicht sah, erklärte sie: „Ich habe immer gut auf mich aufgepasst, Sunblocker benutzt und einen Hut auf gesetzt, lange Ärmel getragen und so weiter. Meine Mutter hat das auch so gemacht. Aber ..." Sie zuckte die Schultern. „... darunter bin ich genauso hart im Nehmen wie jedes andere Cowgirl." „Und Sie haben in Ihrem Leben wirklich noch nie was anderes getan als Kühe
gehütet?" Er ließ nicht locker. „Doch, und das tu ich immer noch." Olivia faltete die Hände, führte aber nicht weiter aus, was sie neben dem Kühehüten sonst noch machte. „Wenn Sie's mir nicht erzählen", sagte der Mann leise, „wird mir wieder ganz heiß und schlecht." Olivia sah ihn durchdringend an und entgegnete: „Ich hab so das Gefühl, dass Sie immer Ihren Kopf durchsetzen müssen. Wie das geht, scheinen Sie jedenfalls nicht vergessen zu haben, Benedict." Aber er sah sie nur mit einem ganz unschuldigen Blick an. Olivia seufzte. „Der Himmel weiß, warum Sie derart an meinem Privatleben interessiert sind!" „Man wird schließlich nicht jeden Tag von einer so attraktiven Krankenschwester umsorgt." Olivia merkte, wie sie rot wurde. „Na gut", sagte sie schließlich, „ich war drei Jahre auf der Uni und hab dort Kunstvorlesungen besucht. Ich male und entwerfe Glückwunschkarten und hab auch das Wohnhaus hier renoviert", sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, „und es zu seinem alten Glanz zurückgeführt. Ich habe ein Faible für alte Häuser und Trödel. Mehr gibt's über mich nicht zu sagen. Sind Sie nun zufrieden, Ben?" „Nein, nun ist mein Interesse erst richtig geweckt. Was sind das für Grußkarten, die Sie da malen?" „Szenen von der Landschaft hier draußen oder Zeichnungen der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt. Solche Sachen eben." „Ich bin beeindruckt. Sie scheinen ja ein sehr erfülltes und produktives Leben zu führen. Gibt es auch einen Mr. Olivia Lockhart?" Er ließ den Blick zu ihrer rechten Hand gleiten. „Ah, wie ich sehe, sind Sie nicht verheiratet, oder Sie tragen Ihren Ring nicht immer." „Es gibt keinen Mr. Olivia Lockhart", erwiderte sie ungerührt und verstummte, als von der Veranda her Fußtritte und Flüstern zu hören waren. Sie lauschte einen Augenblick und lächelte ihrem Patienten dann vielsagend zu. „Ich bin sicher, es macht Ihnen nichts aus, Ihren beiden Rettern zu beweisen, dass Sie tatsächlich noch leben. Die zwei haben mir erzählt, dass sie Sie mit einem Stock angestoßen haben. Als Sie nicht reagierten, dachten sie, Sie wären tot." Der Fremde warf ihr einen empörten Blick zu, und Olivia musste sich ein Lachen verbeißen. Dann rief sie: „Kommt rein, Ryan und Sonia!" Auf Zehenspitzen tippelten die Zwillinge ins Zimmer und stellten sich neben das Bett. „Das ist Ben", erklärte Olivia, und Ben stieß hervor: „Ja, was haben wir denn da? Einen Fall von Chaos im Doppelpack, wenn ich mich nicht irre." „Da haben Sie nicht ganz Unrecht", murmelte Olivia. „Das sind doch nicht etwa Ihre?" „Nein. Die Eltern der beiden arbeiten hier auf der Farm." „Er kann sprechen!" sagte Ryan zu Sonia und in vorwurfsvollem Ton zu Ben: „Als wir Sie gefunden haben, konnten Sie das nicht." „Wir haben gedacht, Sie wären tot!" fügte Sonia hinzu, „und haben einen Riesenschreck gekriegt." „Hiermit entschuldige ich mich dafür. Ich muss mich irgendwie selbst k.o. geschlagen haben. Aber ich bin euch sehr dankbar, dass ihr mich gefunden habt. Wirklich sehr dankbar." Die Zwillinge waren zufrieden, und Ryan stellte fest: „Das heißt also, dass wir keine Tracht Prügel bekommen, obwohl wir auf der Pferdekoppel gewesen sind. Meinst du nicht auch, Livvie?" vergewisserte er sich dann vorsichtshalber noch einmal bei Olivia.
„Ryan, du weißt ganz genau, dass du nie Prügel bekommst. Dein Vater macht sich nur Sorgen um euch. Auf der Koppel können Schlangen oder sonst was sein." „Wenn er einen nur anguckt, hat man den Eindruck, als würd's was mit dem Gürtel setzen, Livvie", erklärte Sonia ernst. „Er kann einem das Gefühl geben, als ob man so klein ist." Dabei deutete sie mit Daumen und Zeigefinger eine Spanne von wenigen Zentimetern an. „Und deshalb gehorcht ihr ihm auch so gut", erwiderte Olivia, bemüht, streng zu klingen, wobei sie sich sehr zusammenreißen musste, um nicht laut zu lachen. „Aber unter diesen Umständen wollen wir mal ein Auge zudrücken. Und jetzt raus mit euch!" „Wiedersehen, Mr. Ben!" flöteten die beiden im Chor und rannten hinaus. „Was glauben Sie, Olivia, wie ich auf diese Koppel mit den Schlangen - und was immer es da sonst noch gibt - gekommen bin?" fragte Ben, der sich nach wie vor keinen Reim darauf machen konnte. „Ich kann mir nur vorstellen, dass Sie von einem angrenzenden Besitz herübergeritten sind, und Ihr Pferd ..." Olivia zuckte die Schultern. „... hat sich womöglich erschreckt und Sie abgeworfen." „Ich bin in meinem ganzen Leben noch von keinem Pferd gefallen. Nun ja, zumindest seit meinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr." „Woher wollen Sie das denn so genau wissen?" Olivia war erstaunt. „Ich ... ich weiß es eben", sagte er frustriert. „Aber es kann doch jeder mal vom Pferd fallen", gab Olivia zu bedenken. „Ich meine, Ihr Pferd könnte doch vor einer Schlange gescheut haben. Wie auch immer. Jack, unser Aufseher, zieht gerade Erkundigungen ein. Er wird auch die Polizei verständigen. Aber ich glaube, Sie sollten sich jetzt ausruhen. Sie sehen mir schon wieder sehr angegriffen aus." „Es geht mir auch nicht gut!" Der Mann bewegte sich unruhig hin und her und verzog vor Schmerz das Gesicht. „Dann sollten Sie eine von diesen Tabletten hier nehmen. Und liegen Sie ruhig", riet sie ihm freundlich. „Ich weiß, dass Männer an sich furchtbare Patienten sind, aber Sie doch nicht!" Der Fremde sah ein wenig verärgert aus und erwiderte: „Zum Teufel, was glauben Sie eigentlich, wie alt ich bin, Olivia Lockhart?" „Um die dreißig? Ein Grund mehr, sich zu benehmen", entgegnete sie ungerührt und gab ihm die Tablette. Dann goss sie aus einem bereitstehenden Krug Wasser in das Glas auf dem Nachttisch und reichte es dem Fremden. Sie sagte kein Wort, sondern sah ihn nur gelassen an. Er zögerte einen Augenblick, schluckte die Tablette dann aber brav hinunter. „So ist es gut." Olivia nahm ihm das Glas wieder ab und deutete auf ein silbernes Glöckchen auf dem Nachttisch. „Ich fang jetzt mit den Vorbereitungen fürs Abendessen an. Wenn Sie noch was brauchen, klingeln Sie einfach. Und dass Sie mir ja im Bett bleiben! Verstanden?" „Ich hab mich geirrt", sagte Ben zerknirscht, „Sie hätten eher das Zeug zu einem Feldwebel." Olivia lächelte schwach und fühlte ihm die fiebrige Stirn. „Schlafen Sie jetzt. Ich bin sicher, dass alles schon viel besser aussieht, wenn Sie sich ausgeruht haben." Als das Abendessen fertig war, schlief der Mann immer noch, und Olivia störte ihn nicht. Während sie allein beim Essen am Küchentisch saß, kam Jack Bentley von seinen Nachforschungen zurück, und Olivia bot ihm einen Kaffee an. „Gibt's was Neues, Jack?" fragte sie und nahm zwei Tassen aus dem altmodischen Küchenbüfett. „Nein, nichts, gar nichts. Kein Mensch im ganzen Distrikt scheint ihn zu kennen oder jemanden als vermisst gemeldet zu haben. Die Polizei stellt nun auch Nachforschungen an. Ich habe den Beamten eine Beschreibung von ihm gegeben.
Übrigens, Livvie, da ist etwas, das von Interesse sein könnte. Im angrenzenden Bezirk hat es schwere Regenfälle gegeben, mehrere Meter, und zwar in wenigen Stunden. Und ein paar Straßen sind gesperrt. Könnte sein, dass er stecken geblieben ist, beschloss, zu Fuß weiterzugehen, und sich dabei verlaufen hat. Aber ..." „Oh Jack", stieß Olivia aufgeregt hervor, „meinst du, die Regenwolken ziehen zu uns?" „Ganz sicher sogar!" Er nickte begeistert. „Das Tiefdruckgebiet kommt direkt auf uns zu." Dann verstummte er und machte eine hilflose Geste. „Aber du weißt ja, wie unberechenbar das Wetter in dieser Gegend ist! Wenn es fünfzig Meilen von hier reg net, heißt das noch lange nicht, dass es auch bei uns Regen gibt. Aber auf jeden Fall zieht das Tiefdruckgebiet in unsere Richtung. Das ist ja immerhin schon was." „Wollen wir das Beste hoffen!" sagte Olivia, nahm die gelbe Emaillekanne vom Herd und goss Jack eine Tasse wunderbar duftenden Kaffees ein. „Erst heute Nachmittag hab ich noch allen Kindern auf der Farm erklärt, wie wichtig es ist, sparsam mit dem Wasser umzugehen." Nach einer kleinen Pause fuhr sie seufzend fort: „Das Letzte, was wir ... zu all dem jetzt noch gebrauchen können, ist eine weitere Dürreperiode." „Du sagst es", pflichtete Jack ihr bei. „Mit den niedrigen Rindfleischpreisen und den Währungsschwankungen sind wir schon gestraft genug." „Aber Wattle Creek hat bisher noch alles überstanden, und das schon seit geraumer Zeit", sagte Olivia und klang wieder ganz zuversichtlich. „Hm", murmelte Jack. „Leider bringt uns das, was diesen Kerl betrifft, auch nicht weiter. Wie geht's ihm überhaupt?" „Er ist total erledigt, aber es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Sein Puls ist stabil, und er kann sich an seinen Namen erinnern, zumindest an den Vornamen. Er heißt Benedict." „Ich hab mir schon gedacht, dass er einen ausgefallenen Namen hat." „Oh, tatsächlich?" Olivia sah Jack über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg fragend an. „Er klang irgendwie, als wäre er was Besseres." Jack zuckte die Schultern. Olivia schnitt ihm ein Gesicht. „Er ist außerdem überzeugt davon, dass kein Pferd wild genug ist, um ihn abzuwerfen." Jack grinste. „Eingebildet auch noch, hm?" „Eher ganz schön selbstsicher, würde ich sagen." Jack zog eine Augenbraue hoch. „Brauchst du Hilfe? Ich könnte heute Nacht hier bleiben." „Nein, das ist nicht nötig. Aber trotzdem vielen Dank, Jack", antwortete sie und sah zur Küchentür, die plötzlich hin- und herschwang. Auch die Gardinen bewegten sich ein wenig. „Der Wind frischt auf", stellte sie fest und stützte den Kopf in die Hände. „Wollen wir hoffen, dass das Tiefdruckgebiet auf diese Weise zu uns kommt." Jack stand auf. „Ich werd mal lieber nachsehen, ob alles gut angebunden und abgedeckt ist. Bis morgen früh dann, Livvie. Und vergiss nicht, mich anzurufen, wenn Mr. Benedict dir zu anstrengend wird." Nachdem Jack gegangen war, begann Olivia, das Geschirr zu spülen und die Küche aufzuräumen. Es war eine großzügige, altmodische Küche, beherrscht von dem wuchtigen alten Büfett mit den bunten Steinguttellern. In dem Raum stand außerdem ein großer Essund Arbeitstisch, und von der Decke hing ein hölzernes Abtropfregal, an dem Olivia Töpfe, Körbe und Blumensträuße sowie Kräuter und Blätter zum Trocknen aufhängte. Die Wände waren zartgelb gestrichen, und an den Fenstern hingen dazu passende Vorhänge mit Margeritendruck. Dem Büfett gegenüber an der anderen Wand stand ein langer, schmaler Tisch mit alten Küchenutensilien: ein Fleischwolf, eine hölzerne Kaffeemühle, eine
Messingwaage, verbeulte Zinnförmchen für kleine Kuchen und andere Leckereien einer längst vergangenen Zeit sowie Olivias wertvolle alte Porzellantellersammlung mit blauweißem Muster. Der Küchenboden war grün gefliest, und die Stühle am Tisch hatten lederbespannte Rückenlehnen und Sitzflächen aus Binsengeflecht. Zwar verfügte das Wohnhaus der Wattle-Creek-Farm über wesentlich repräsentativere Räume, aber die Küche war das Herz des Hauses. Als Olivia fertig war, ging sie auf die Veranda und atmete tief die Abendluft ein. Fast konnte man den Regen schon riechen. Zufrieden stellte sie fest, dass sich bereits dunkle Wolken vor den Mond schoben. Das würde sicher eine unruhige Nacht werden. Sie ging wieder hinein und machte vorsichtshalber einen Rundgang durchs Haus, um alle Türen und Fenster zu schließen. Dann sah sie noch einmal nach ihrem Patienten. Sie hatte in seinem Zimmer Licht brennen lassen und die Lampe auf der dem Bett zugewandten Seite mit einem Tuch abgedeckt. Er schlief noch, bewegte sich aber unruhig hin und her. Olivia beobachtete ihn eine Weile nachdenklich. Er trug eine Py jamahose ihres Onkels, die ihm viel zu kurz und zu weit war. Ihr Onkel hatte einen beträchtlichen Taillenumfang, der Fremde allerdings nicht, entsprechend saß die Hose. Aber daran war im Augenblick nichts zu ändern. Olivia wandte ihre Aufmerksamkeit nun seinem Gesicht zu mit den klaren Zügen, der vom Sonnenbrand geröteten Haut und dem Schatten auf dem Kinn. Im Schlaf wirkte der Mann irgendwie verletzlich. Aber wenn er ihr die Wahrheit erzählt hatte, gehörte Verletzlichkeit wohl nicht zu seinen Eigenschaften. Trotzdem fühlte sich Olivia irgendwie zu ihm hingezogen. Deshalb streckte sie schließlich einen Arm aus und legte dem Mann vorsichtig die Hand auf die Stirn. Er murmelte etwas Unverständliches, tastete nach Olivias Hand, zog sie an die Lippen und drückte ihr einen Kuss auf die Handfläche. Gleichzeitig schlug er die Augen auf und sagte: „Schatz, ich ..." Dann verstummte er unvermittelt. Olivia erstarrte und versuchte, sich ihm zu entziehen, aber er verstärkte den Griff, atmete tief durch und erklärte: „Wenn das nicht Feldwebel Lockhart ist." „Genau der", erwiderte Olivia scharf. „Tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen." „Ich bin nicht enttäuscht. Ich wüsste nicht, von wem ich mir jetzt lieber die Stirn kühlen ließe." „Würden Sie mich bitte endlich loslassen?" „Bin ich Ihnen etwa zu nahe getreten?" „Nein ... Ich wollte sagen, natürlich nicht." Olivia entzog ihm die Hand. „Sie machen mir aber den Eindruck, als ob es Ihnen überhaupt nicht gefallen hätte", bemerkte er. „Wer weiß, wie weit Sie unter der fehlerhaften Annahme, ich sei Ihr wie auch immer gearteter Schatz, noch gegangen wären?" erwiderte sie trocken und zog einen Stuhl zu sich heran. „Wie fühlen Sie sich jetzt?" Er musterte sie einen Augenblick, aber Olivia hätte nicht sagen können, was er dabei zu entdecken hoffte. Ohne auf ihre Frage einzugehen, wollte er dann wissen: „Waren Sie schon mal irgendjemandes Schatz, Olivia?" „Das geht Sie überhaupt nichts an!" sagte sie mühsam beherrscht. „Konzentrieren wir uns lieber darauf, Wie es Ihnen geht." Er zog vielsagend eine Braue hoch'. „Schwingt da so was wie Zurückhaltung mit, was Ihr Liebesleben angeht? Haben Sie etwa schlechte Erfahrungen gemacht?" Olivia atmete tief ein. „Jetzt passen Sie mal auf! Sie könnten genauso gut der Mann im Mond sein. Ich weiß überhaupt nichts von Ihnen. Da erwarten Sie doch nicht wirklich, dass ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzähle!" „Vielleicht bin ich sogar der Mann im Mond", sagte er plötzlich stirnrunzelnd. Aber dann zog er die Mundwinkel nach oben und fügte spöttisch hinzu: „Es hilft, uns die Zeit zu vertreiben."
„Da muss ich Sie leider enttäuschen: Ich hab nicht vor, mir die Zeit zu vertreiben, indem ich Ihnen einen Schwank aus meinem Leben erzähle. Sagen Sie mir jetzt, wie es Ihnen geht, oder muss ich erst Jack Bentley holen, damit er sich von nun an um Sie kümmert?" „Ist das der Mann, der nicht der Arzt war?" „Genau der", antwortete sie zuckersüß. „Er ist unser Aufseher, und ich kann Ihnen versichern, dass er herzensgut ist..." Sie machte eine undefinierbare Geste. „Nun, er kann sehr gut mit dem Lasso umgehen, und wenn eine Kuh kalbt, kann man sich keinen besseren Geburtshelfer vorstellen. Ich weiß nur nicht, wie er mit Patienten umgeht." „Das würden Sie mir doch nicht antun, Olivia!" Ben tat entrüstet. „Ganz bestimmt sogar. Deshalb sollten Sie sich besser nicht so für mein Liebesleben interessieren, Mr. Benedict Arnold, und mir lieber sagen, wie es Ihnen geht!" Er musste leise lachen. „Ja, Ma'am. Ich entschuldige mich auch, Ma'am! Aber wie kommen Sie bloß auf Benedict Arnold? Das war doch dieser Verräter im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg." „Nun, als ich Arnold vorschlug, fiel Ihnen Benedict ein", entgegnete Olivia und stand auf. „Hm, wie ich mich fühle, wollen Sie also wissen?" beeilte er sich nun zu sagen. „Es geht mir ein wenig besser als das letzte Mal, da ich Ihnen Bericht erstatten musste. Die Kopfschmerzen sind schwächer geworden, und ich würde fast sagen, dass ich ein bisschen hungrig bin." Olivia ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. „Das ist gut. Ich hab Ihnen was vom Abendessen aufgehoben. Wollen Sie auch was dazu trinken?" „Hm, ja", sagte er zögerlich. „Aber das bringt ein weiteres Problem mit sich." „Das finde ich nicht. Es ist gut, wenn Sie Durst haben." „Andererseits hat die ungeheure Menge der widerlichen Flüssigkeit, die Sie mich zu trinken gezwungen haben, dazu geführt, dass ich ein ganz dringendes Bedürfnis verspüre. Darf ich aufstehen?" „Sie meinen, ob Sie aufstehen dürfen, um auf die Toilette zu gehen?" fragte Olivia. „Nein, das dürfen Sie nicht. Ich ..." „Olivia, selbst der Mann im Mond muss mal auf die Toilette. Da können Sie meinetwegen die Kaiserin von China sein ..." „Ich hab nicht vor, Sie in Verlegenheit zu bringen", entgegnete Olivia mit einem verschlagenen kleinen Lächeln. „Aber der Arzt hat mir geraten, Sie nicht zu früh aufstehen zu lassen. Denn wenn Ihnen dann wieder schwarz vor Augen wird, hab ich meine liebe Mühe, Sie zurück ins Bett zu bringen - abgesehen davon, dass Sie sich dadurch noch weitere Verletzungen zuziehen könnten." „Ich verstehe." Der Mann mit Namen Ben sah sie beinah argwöhnisch an. „Was schlagen Sie also vor?" „Dass ich Ihnen ein Gefäß bringe und mich danach diskret zurückziehe", antwortete Olivia gelassen. „Sie denken aber auch an alles!" murmelte er. „Wie ich Ihnen schon sagte - nun ja, ich bin nicht ins Detail gegangen -, aber ich hab einen ausführlichen Erste-Hilfe-Kurs gemacht, als ich auf der Universität war, weil es hier draußen nicht schaden kann, wenn man was von Krankenpflege versteht. Ich war sogar ein paar Tage als Schwesternhelferin in einem Krankenhaus." „Ich verstehe", sagte er wieder. „Ich brauche also nicht zu befürchten, dass ich Ihr Schamgefühl verletze?" „Nein", sagte Olivia und verließ das Zimmer, um das versprochene Gefäß zu holen. Eine halbe Stunde später brachte sie ihm eine kleine Portion vom Abendessen und vorweg etwas Suppe.
Es bereitete ihm sichtlich Mühe, sich aufzusetzen, und Olivia stopfte ihm noch einige Kissen in den Rücken. „Ich bin hilflos wie ein Baby", stellte er dabei fest und hörte sich richtig ärgerlich an. „Nach dem Essen werden Sie sich besser fühlen. Ich hab hier Suppe und Hühnerfrikassee für Sie", sagte Olivia und hob die Deckel von den Schüsseln. „Mmh", sagte er und schnupperte begeistert den appetitlichen Geruch der Speisen. „Wie mir scheint, sind Sie auch eine Superköchin." „Viele Leute können kochen. Das ist nichts Besonderes", tat sie das Kompliment ab und hielt ihm eine Serviette hin. „Erzählen Sie mir ein bisschen mehr von ... Wattle Creek? So heißt die Farm doch?" „Ja." Olivia zögerte, setzte sich dann aber doch zu ihm ans Bett und begann: „Die Farm befindet sich seit hundert Jahren im Besitz der Lockharts. Jetzt führt sie mein Onkel. Er war der Bruder meines Vaters. Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich zwölf war." „Gehört Ihnen auch ein Teil von der Farm?" Wieder antwortete Olivia ihm nicht gleich, kam dann aber zu dem Schluss, dass dieses Thema immer noch besser war, als mit einem ihr völlig Fremden über ihr Liebesleben zu reden. Und so fuhr sie fort: „Ja, ich hab den Anteil meines Vaters geerbt. Aber da er der jüngere von beiden war, verfügt mein Onkel über die Mehrheit der Anteile." „Queensland", sagte Ben nachdenklich. „Ich hab das Gefühl, als ob ich eine Menge darüber weiß, kann mir aber nicht erklären, wieso. Nun ..." Er sprach nicht weiter und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Teller zu. „... ich könnte mir vorstellen", fuhr er schließlich fort, „dass Wattle Creek in den hundert Jahren sein Päckchen an Dürreperioden, Überschwemmungen, Pestepidemien und Feuersbrünsten zu tragen hatte - bestimmt aber auch gute Zeiten gesehen hat?" „Bisher hat die Farm alles überstanden", sagte Olivia nicht ohne Stolz, „und sie wird auch die nächsten hundert Jahre überdauern." Ben ließ den Blick einen Moment nachdenklich auf Olivia ruhen. Dann sagte er stirnrunzelnd: „Manchmal kommt es anders, als man denkt. Die Dinge ändern sich." „Bestimmt tun sie das", pflichtete sie ihm bei, „aber wir Lockharts sind aus einem harten Holz geschnitzt." „Erzählen Sie mir doch ein bisschen mehr von Ihrem Onkel. Hat er einen Erben?" „Ja, im Augenblick bin ich das", sagte sie lächelnd. „Er hat nie geheiratet. Er kann nämlich manchmal ein ganz schöner Miesepeter sein. Aber ich mag ihn sehr." „Es gibt also keinen Lockhart, der den Familiennamen weiterführen würde?" Olivia zuckte die Schultern. „Nein, außer, ich bringe meinen potenziellen zukünftigen Ehemann dazu, meinen Namen anzunehmen. Aber trotz allem wird Lockhart-Blut in den Adern unserer Kinder fließen." „Würden Sie das wirklich tun?" fragte Ben neugierig. „Was?" „Ihren zukünftigen Ehemann dazu überreden, seinen Namen zu ändern?" Olivia dachte einen Augenblick ernsthaft darüber nach und sagte dann: „Warum nicht?" „Das stell ich mir nicht so leicht vor. Zu viel Familienstolz kann gefährlich sein." „Das sagen Sie nur, weil Sie ein Mann sind." Er sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck an. „Und Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht den Ruf wegkriegen, die Hosen anhaben zu wollen." „Der Ruf hängt mir wahrscheinlich schon lange an", erwiderte Olivia ungerührt. Erstaunt zog er eine Braue hoch. „Und das macht Ihnen gar nichts aus?" Lächelnd sah sie ihn an. Es wäre ihr vorher nie in den Sinn gekommen, von einem
potenziellen Ehemann zu verlangen, seinen Namen zu ändern, so wie dieser Fremde es ihr nun unterstellte. Allerdings musste sie zugeben, der Umstand, dass sie kein Single war, konnte durchaus etwas damit zu tun haben, dass sie eine für Frauen zweifellos untypische Abneigung dagegen hatte, sich auf einen Mann verlassen zu müssen. „Wie darf ich dieses Lächeln verstehen?" fragte Ben nun. „Ich ..." Sie zuckte die Schultern. „Ich bin gern ungebunden." „Das glaub ich Ihnen aufs Wort." Olivia zog abschätzig die Mundwinkel nach unten. „Es würde mich nicht wundern, wenn Sie nicht auch extrem ungebunden sind." Er tat erstaunt. „Wie kommen Sie denn darauf?" „Ich weiß nicht. Nur so ein Gefühl, das ist alles. Vielleicht weil Sie sich so sicher sind, dass kein Pferd wild genug ist, Sie abzuwerfen." Er schob das Tablett weg und lehnte sich zurück in die Kissen. „Und ich hab so ein Gefühl, als hätten Sie Recht." „Außerdem kann ich mir denken, dass Sie jemandem leicht zu viel werden", bemerkte Olivia. „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Sie darauf kommen!" Olivia musste lachen. „Man kann mir nichts vormachen, Ben." „Das lag zwar nicht in meiner Absicht, aber ich werd's mir für die Zukunft merken", sagte er bedauernd. „Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Aber vielleicht sollten Sie besser Tee trinken. Kaffee hält Sie womöglich nur wach." „Nein, danke, ich trinke weder Tee noch Kaffee." Olivia war erstaunt, wie er sich dessen so sicher sein konnte, und zog verwundert eine Augenbraue hoch. „Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß", sagte er und klang frustriert, „ich weiß es einfach." „Wenn Sie eine so genaue Vorstellung davon haben, was Sie nicht mögen, erinnern Sie sich vielleicht auch daran, was Ihnen schmeckt?" „Nun, ich glaube, ein schönes kaltes Bier würde bei mir nicht schal werden ..." „Da haben Sie leider kein Glück", sagte Olivia. „Heißt das, Sie trinken nur Tee? Ist das hier etwa ein alkoholfreier Haushalt?" fragte er beinah entsetzt. „Ganz und gar nicht. Aber Alkohol ist Ihrem Gesundheitszustand im Augenblick nicht zuträglich, und da wir wollen, dass Sie bald wieder auf den Beinen sind, kommt Bier als Getränk nicht infrage. Wie wär's mit einem schönen kühlen Glas Milch?" „Nun, das hört sich doch gut an!" sagte er. Olivia sah ihn verwundert an. „Sie stecken voller Überraschungen, Ben!" Dann stand sie auf, nahm das Tablett vom Bett und brachte ihm das versprochene Glas Milch. „Was nun?" fragte er, nachdem er ausgetrunken hatte. „Jetzt ist Schlafenszeit", sagte sie wie auf Kommando. „Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen aussieht, aber ich bin im Morgengrauen aufgestan... War das da gerade ein Donner?" „Hat sich ganz so angehört." „Gott sei Dank! Hoffentlich regnet es auch!" Sie ging zur Verandatür und blickte hinaus, als die ersten dicken Tropfen auch schon aufs Blechdach fielen. „Brauchen Sie Regen?" Olivia wandte sich ihm wieder zu. „Unbedingt sogar, wenn unsere Rinder nicht vom Fleisch fallen sollen. Die Wasserreservoirs und Bäche sind fast ausgetrocknet, und das Gras ist auf den Weiden verdörrt. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie nötig wir den Regen haben." Er sah sie forschend an, schien etwas sagen zu wollen, änderte dann aber seine
Meinung. Schließlich sagte er betont locker: „Vielleicht hab ich Ihnen Glück gebracht, Olivia." Sie lächelte. „Schon möglich, Ben. Aber wie auch immer ... Haben Sie vielleicht noch einen Wunsch? Falls Sie noch nicht müde sind, kann ich Ihnen ein Buch ..." „Nein, danke." Er schien plötzlich ein Gähnen unterdrücken zu müssen und kuschelte sich noch tiefer in die Kissen. „Der Himmel weiß, warum, aber auf einmal bin ich furchtbar müde." „Gut. Mein Schlafzimmer ist nebenan, und ich lasse die Tür einen Spalt offen. Wenn Sie noch was brauchen, können Sie jederzeit rufen oder mit dem Glöckchen hier klingeln. Gute Nacht, Ben." „Gute Nacht, Mutter Theresa", murmelte Ben. Aber als er sah, dass Olivia nicht gerade begeistert auf diese Anspielung reagierte, fügte er noch hinzu: „Nehmen Sie's mir nicht übel, Olivia. Ich finde Sie einfach wunderbar und bin Ihnen unendlich dankbar." Sie wollte erst noch etwas darauf erwidern, zuckte dann aber nur leicht die Schultern und ging hinaus. Als Olivia aus der Dusche kam, setzte sie sich an ihre Frisierkommode, um sich die Haare zu bürsten. Dabei ging ihr alles Mögliche durch den Kopf. Außerdem war sie irgendwie aufgekratzt, obwohl sie sich nicht erklären konnte, warum. Vielleicht, überlegte sie dann, lag es an dem wunderbaren Geräusch, das die dicken, schweren Regentropfen verursachten, die aufs Dach prasselten. Schließlich legte sie die silbergefasste Bürste zur Seite und sah sich im Zimmer um. Früher war es das Schlafzimmer ihrer Eltern gewesen, deshalb stand auch ein wunderschönes Doppelbett mit kunstvoll geschnitztem Kirschholzrahmen darin. Der Raum war ganz in Blau und Weiß gehalten. Auf der Tapete rankten sich stilisierte hellblaue Zweige und Blüten vor einem weißen Hintergrund. Bettüberwurf und Gardinen waren farblich darauf abgestimmt. Olivia hatte auf dem Flohmarkt die Kirschholzkommode mit Drehspiegel entdeckt und später restauriert. Außerdem be fand sich noch ein wunderschönes Vertiko mit schier unendlich vielen Schubladen in dem Raum. Der Teppich war leuchtend blau. An den Wänden hingen von Olivia selbst gemalte Miniaturen und Familienfotos, die teilweise so alt waren, dass sie schon gelbstichig wurden. Auf dem Vertiko stand Olivias Sammlung gläserner und silberner Parfümfla kons, und am Kopfende des Bettes thronten zwei große Damastkissen mit Spitzenbordüre. Aber diesmal hatte das Schlafzimmer nicht die sonst übliche beruhigende Wirkung auf Olivia, und so wandte sie sich schließlich wieder seufzend dem Spiegel zu. „Sei ehrlich, Livvie", sagte sie dann leise zu sich selbst, „es war der Ausdruck in seinen Augen, als er dir sagte, du seist wunderbar, was dich so aufgekratzt hat." Sie schnitt ihrem Spiegelbild ein Gesicht, aber das änderte auch nichts an ihrem Eindruck, dass der Fremde mit dem wunderbar nicht ausschließlich ihre Fähigkeiten als Krankenschwester gemeint hatte. Mit einem viel sagenden Blick aus blauen Augen war es ihm gelungen, sie dazu zu bringen, dass sie seine Bemerkung auch auf ihr Gesicht und ihre Figur bezog. Olivia senkte die Lider, zwang sich dann aber, sich wieder ihrem Konterfei zuzuwenden. Sie hatte eine reine Haut, und ihr Haar schimmerte wie ein reifes Weizenfeld im Sonnenlicht. Die grauen Augen blickten klar, und die Wimpern waren lang und schwarz bis in die Spitzen. Schulterpartie und Hals waren wohlgeformt, und sie hatte eine gute Figur. Wenn sie sich ein bisschen zurechtmachte, sah sie ganz gut aus und vielleicht sogar elegant, wie ihr jemand mal gesagt hatte. Aber sie hielt sich nicht für besonders attraktiv. Außerdem machte sie sich nur selten die Mühe, sich schick anzu ziehen. Ich bin eben immer viel zu beschäftigt, dachte sie amüsiert. Aber sie wurde schnell wieder ernst und überlegte, dass sie wohl auch immer viel zu viel um die Ohren hatte, um sich was aus Männern zu machen. Warum sollte es
also einem ihr völlig Fremden plötzlich gelingen, eine derartige Reaktion in ihr her vorzurufen? Was fiel ihm überhaupt ein, ihr solche Blicke zuzuwerfen, wenn das Einzige, woran er sich erinnerte, sein Vorname war? Olivia stand auf, zog einen mit weißen Paspeln abgesetzten Seidenpyjama an und legte sich ins Bett. Denk an den Regen, befahl sie sich. Er darf nicht zu früh aufhören. Vielleicht kannst du kraft deiner Gedanken dafür sorgen, dass es noch ein bisschen länger regnet!
2. KAPITEL
Ein paar Stunden später wurde Olivia von einem lauten Geräusch geweckt. Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Vom Gästezimmer aus schien Licht in den Flur. Ben wird doch nicht aus dem Bett gefallen sein, dachte sie und eilte ins angrenzende Zimmer. Aber Ben saß völlig verblüfft in den Kissen, den Finger immer noch auf dem Schalter der Nachttischlampe. Sogleich offenbarte sich Olivia die Ursache des lauten Geräuschs: Eine der Verandatüren schwang wie wild hin und her, und der Wind trieb Regentropfen ins Zimmer. „Verdammt! Ich hab sie vorhin wohl nicht richtig zugemacht", sagte Olivia mehr zu sich selbst und ging durchs Zimmer. Es kostete sie große Anstrengung, die Tür bei dem Sturm, der ums Haus fegte, zu schließen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Tür diesmal auch wirklich nicht mehr aufgehen konnte, sagte sie zu Ben: „Es tut mir Leid, dass Sie dadurch geweckt wurden, wo Sie ein bisschen Ruhe nun wirklich nötig haben. Und dann dieser Höllenlärm mitten in der Nacht:.." „Ich ..." Ben legte sich wieder hin. „Ich konnte mir überhaupt nicht erklären, wo dieses Geräusch auf einmal herkam. Da draußen stürmt's ganz schön!" „Ja, da haben Sie Recht. Ich hoffe nur, dass es auch schön lange regnet. Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Sie sehen blass aus." „Es geht mir gut, nun ja, relativ gut." „Wie wär's mit 'nem Schluck Brandy?" „Das ist eine hervorragende Idee!" „Ich glaub, ich könnt jetzt auch einen vertragen", sagte Olivia, ging ins Wohnzimmer und kam mit zwei kristallenen Schwenkern zurück, die je zu einem Daumenbreit mit Alkohol gefüllt waren. „Macht Ihnen der Sturm denn gar nichts aus?" wollte Ben wissen, nachdem sie ihm ein Glas gereicht hatte. „Nein." Sie nippte an der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. „Ich finde es toll!" „War wohl auch 'ne blöde Frage." „Wieso? Macht es Ihnen denn was aus, Ben?" „Ja, ein bisschen, obwohl man das von einem Mann kaum vermuten würde. Ich hab mal erlebt, wie ein Pferd von einem Blitz getroffen wurde, und seitdem bin ich einfach nicht mehr derselbe. Obwohl ich mich mittlerweile nicht mehr unterm Bett verstecken muss." Olivia lachte. „Das glaubt Ihnen doch kein Mensch!" „Es stimmt aber." „Wo ist das mit dem Pferd denn passiert?" Ben runzelte die Stirn. „Ich kann mich nicht mehr erinnern, aber..." „Versuchen Sie's erst gar nicht", sagte Olivia, als sie sah, dass er sich vergebens bemühte. „Tut mir Leid, dass ich danach gefragt habe. Trinken Sie lieber einen Schluck Brandy." Ben sah sie beinah traurig an, aber plötzlich hellte sich seine Miene wieder auf. „Es gibt da noch was Besseres, als sich unterm Bett zu verkriechen." „Und das wäre?" „Mit jemandem ins Bett zu kriechen, an den man sich ankuscheln kann." Olivia sah ihn erstaunt an, und es entstand eine kleine Pause, während der Ben den Blick über ihren marineblauen Pyjama und die offenen Haare gleiten ließ. Dabei stellte sich Olivia vor, wie es wohl wäre, zu diesem Mann, der ihr doch eigentlich immer noch fremd war, unter die Bettdecke zu schlüpfen. Sie schluckte vergebens, räusperte sich und sagte dann: „Sie kommen ja ganz schön schnell zur Sache, Mr. Arnold." „Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, außerdem stell ich mir das sehr nett vor.
Vielleicht schlaf ich dann auch wieder ein, was sonst mit Sicherheit nicht der Fall sein wird", fügte er noch hinzu. „Doch, doch, Sie werden auch so bald Ruhe finden. Ich gebe Ihnen noch eine von diesen Tabletten." „Das können Sie mir doch nicht antun! Ich steh nicht gern unter Drogen. Außerdem machen Sie sich ja keine Vorstellung, was für ein unangenehmes Gefühl es ist, wenn man danach wieder aufwacht." Er klang wirklich bemitleidenswert. „Nun, auf jeden Fall werde ich nicht zu Ihnen ins Bett kriechen - Sie müssen ja völlig verrückt sein." Was anderes fiel ihr dazu nicht ein. „Gehen Sie doch lieber davon aus, dass diese Anwandlungen meinerseits auf meinen Gedächtnisverlust und meine Abneigung gegen Stürme zurückzuführen sind." Er lächelte, und trotz der Kratzer, der spröden und teilweise aufgesprungenen Lippen und der Bartstoppeln war Olivia von seinem Gesicht fasziniert. Es donnerte, und Ben zuckte zusammen. „Könnten Sie nicht noch ein bisschen bleiben und sich mit mir unterhalten? Sie scheinen doch auch hellwach zu sein." „Ich ..." Olivia hatte ihm eigentlich eine abschlägige Antwort geben wollen. Aber sie musste sich eingestehen, dass sie wirklich nicht müde war, und dann dachte sie, wie schrecklich es sein musste, wach im Bett zu liegen und darüber nachzugrübeln, wer man ist. „Gut", sagte sie schließlich, „aber nur ein bisschen. Ich hol mir schnell meinen Morgenmantel." „Um irgendwelchen ungebührlichen Vorschlägen meinerseits entgegenzuwirken?" „Genau, und weil mir kalt ist", erwiderte Olivia und verließ das Zimmer. Als sie wiederkam, trug sie einen weißen Frotteemantel, hatte sich dicke Baumwollsocken angezogen und brachte auch eine karierte Decke mit. Sie schob noch einen Ohrensessel ans Bett, setzte sich darauf, breitete die Decke über den Beinen aus und legte die Füße auf die Bettkante. Dann trank sie den Brandy und fragte ihren Gast: „Haben Sie's auch richtig warm?" „Ja, danke der Nachfrage", antwortete Ben. „Worüber sollen wir uns unterhalten?" „Nun, da ich mich an nichts erinnere, werden wir wohl über Sie reden müssen, Olivia." „Ich hab Ihnen schon alles gesagt, was ich Ihnen von mir erzählen wollte", erwiderte Olivia und runzelte die Stirn. „Wir müssen ja nicht ins Detail gehen, sondern können ganz allgemein über Dinge reden. Sie haben doch sicher bestimmte Vorstellungen und Ziele - oder ist Ihr ganzes Leben und Denken auf Wattle Creek ausgerichtet?" Olivia seufzte und lehnte sich im Sessel zurück. „So wie Sie das sagen, hört es sich richtig ... beengt und limitiert an." „Oh, tatsächlich? Das wollte ich nicht. Wie alt sind Sie noch mal, Olivia?" „Fünfundzwanzig. Aber was hat das denn damit zu tun?" „An sich nichts, aber ist es nicht an der Zeit, dass Sie dafür sorgen, dass Wattle Creek einen Erben bekommt, der nach Ihnen die Farm weiterführt?" „Ich denke, darüber sollten Sie sich am wenigsten den Kopf zerbrechen, Ben." Olivia senkte die Lider, schwenkte das Glas und beobachtete scheinbar fasziniert die Reflexionen des Lichts in der goldbraunen Flüssigkeit und dem Kristallschliff des Gla ses. Schließlich sah sie Ben wieder an und sagte: „Wenn ich ehrlich sein soll, finde ich Ihre Frage unmöglich." Aber Ben zeigte sich unbeeindruckt und entgegnete schulterzuckend: „Haben Sie sich schon mal überlegt, dass Männer Sie ganz anders sehen als Sie sich selbst?" Wieder sah Olivia ihn stirnrunzelnd an: „Ich weiß nicht, was Sie damit andeuten wollen." „Nun, vielen Frauen ist überhaupt nicht bewusst, welche Wirkung sie auf Männer haben."
„Wenn ich wüsste, worauf Sie hinauswollen, könnte ich Ihnen auch sagen, wie ich das sehe", erklärte sie lächelnd. „Aber wenn Sie sich einbilden, dass ich Sie jetzt frage, wie Sie mich finden, haben Sie sich geschnitten." „Nein, davon bin ich nicht ausgegangen. Dazu sind Sie viel zu selbstsicher, aber ich sag's Ihnen trotzdem. Ich sehe eine junge Frau, die einen Mann ernsthaft interessieren könnte - vorausgesetzt, dass es ihm jemals gelingt, die erste Hürde zu nehmen. Ja, und ..." Er verstummte und sah sie an, wobei sich seine Mundwinkel leicht nach oben zogen. „... wenn man Kinder haben will, muss man diesen Schritt auf jeden Fall einmal tun." „Woher wollen Sie denn wissen, dass das bisher noch nicht geschehen ist?" „Ist es denn?" An diesem Thema schien er wirklich sehr interessiert zu sein. Olivia trank auch noch den letzten Schluck Brandy und erwiderte: „Das ist etwas sehr Persönliches und nichts Allgemeines, Ben." „Sie wollten doch wissen, worauf ich hinauswill!" „Aber nur, weil Sie mich dazu gebracht haben ... Na schön, ich will Ihnen meine Meinung dazu sagen, unter der Bedingung, dass wir danach über etwas anderes reden." Ben nickte. „Zunächst ist die Liebe an sich ja etwas Schönes. Ich hab mich schon ein paar Mal verliebt, mit allem Drum und Dran. Nur dass es nicht besonders lang gehalten hat, obwohl alles auf sehr lockerer Basis war, ohne die Alltagsprobleme, die eine Ehe und Kinder nun mal mit sich bringen. Oder ein alter Hausdrachen, der die Hosen anhat, wie ich", spielte sie lächelnd auf Bens Bemerkung vom Nachmittag an. Ben erwiderte ihr Lächeln, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Aber wenn Sie Wattle Creek nun einmal verlieren würden - ich meine, so was ist ja nicht auszuschließen -, was würden Sie dann mit Ihrem Leben anfangen?" „Zunächst würde ich mich mit Zähnen und Klauen dagegen wehren, Wattle Creek aufzugeben", erwiderte Olivia kämpferisch. „Man müsste mich hier schon raustragen, und auch dann würde ich noch wild um mich schlagen und sogar beißen, wenn es sein muss!" Sie schnitt ein Gesicht. „Aber wenn es jemandem gelingen sollte, mich hier zu vertreiben, hab ich immer noch meine Malerei. Wer weiß, vielleicht könnte ich ja auch als Krankenschwester arbeiten, für unheilbar an Gedächtnisverlust Erkrankte." „Oh, vielen Dank", murmelte Ben. Olivia wollte noch etwas sagen, besann sich dann aber eines Besseren. Ben sah sie amüsiert an. „Kommen Sie schon, Olivia, was liegt Ihnen auf der Zunge?" „Ich sollte Sie das eigentlich nicht fragen, aber ich überlege mir einfach, ob Sie bei den wenigen Dingen, an die Sie sich erinnern, auch so etwas wie eine Meinung zur Liebe und Ehe haben?" Ben stellte das leere Glas auf den Nachttisch und kuschelte sich unter die Bettdecke. Dann sagte er: „Ganz allgemein bin ich der Ansicht, dass es sich bei der Ehe um eine sinnvolle Einrichtung handelt. Aber so wie Sie auch, kann ich mir nur schlecht vorstellen, dass das Feuer des ersten Verliebtseins anhält, wenn man all die Probleme bedenkt, die im Alltag auf einen zukommen können. Aber vielleicht liegt das nur daran, dass weder ich noch Sie jemals richtig verliebt waren." „Heißt das, Sie könnten sich vorstellen, verheiratet zu sein?" „Ich ... Ich erinnere mich an keine Frau." Er verstummte und runzelte die Stirn. „Ich kann's einfach nicht lassen, Ben. Tut mir Leid. Aber ich bin sicher, dass die Polizei spätestens morgen weiß, wer Sie sind." „Das will ich hoffen. Aber wo wir schon mal beim Thema sind: Was glauben Sie, was Sie für eine Ehefrau abgeben würden?" „Ich hab keine Ahnung. Können Sie sich denn vorstellen, wie Sie als Ehemann wären?"
„Ich glaube, ein ziemlich guter", antwortete Ben nachdenklich. „Ich gehe im Haushalt zur Hand, ich mag Kinder und Frauen ..." „Ich hoffe, immer nur eine auf einmal, denn sonst wären Sie kein guter Ehemann." „Nun, vorausgesetzt natürlich, dass ich die Richtige gefunden habe. Aber wenn ich sage, dass ich Frauen mag, meine ich damit, dass mich ihre kleinen Schwächen nicht über Gebühr stören." „Die da wären?" Olivias Stimme klang ernst, aber die Lachfältchen um die Augen verrieten, dass sie amüsiert auf Bens Antwort wartete. „Zum Beispiel dass sie Kleidung so wichtig nehmen. Eine Frau ist viel besser gelaunt, wenn sie ihrer Meinung nach das Richtige anzuziehen hat und ihre Frisur sitzt. Dabei vergessen die meisten, dass Männer auf ganz andere Dinge achten." „Soll ich Ihnen mal was sagen, Mr. Benedict Arnold? Das hört sich ganz schön überheblich an." Er lachte jungenhaft. „Aber es stimmt, Olivia Lockhart. Auf jeden Fall bin ich der Meinung, dass ich einen guten Lebenspartner abgeben würde." „Ihr Selbstvertrauen in allen Ehren, aber ich bin der Ansicht, dass Sie ein erbärmlicher Ehemann wären." „Woher wollen Sie das denn wissen?" „Weibliche Intuition", erwiderte sie trocken. „Nicht jede Frau macht sich so viel aus Kleidern, dass sie für alles andere blind ist." Ben überlegte einen Moment, bevor er seine nächste Frage formulierte. „Gibt es irgendwas bei Männern, das Sie nicht ausstehen können?" „Ich ..." Olivia verstummte, fuhr dann aber fort: „Ich komme mit Männern zufällig ganz gut aus." „Das liegt vielleicht daran, dass Sie keine überaus feminine Frau sind." Für einen Augenblick entglitt Olivia die Kontrolle über ihre Gesichtszüge, aber dann fing sie an zu lachen. „Viele würden das bestimmt als Beleidigung ansehen." „So hab ich das aber nicht gemeint. Lassen Sie's mich erklären..." „Das sollten Sie auch, denn wenn ich mich nicht irre, sind Sie im Augenblick auf mein Wohlwollen angewiesen." „Also gut. Es gibt Frauen, bei denen man ausschließlich an Sex denkt, wenn man mit ihnen zusammen ist. Ich will damit sagen, dass man sich mit ihnen kaum über was anderes unterhalten ..." „Ich bin der Meinung, dass ein Mann nicht mit einer Frau ins Bett gehen sollte, wenn er ihr sonst nichts zu sagen hat." „Bei einem Mann gehört es nun mal dazu, zunächst oder zumindest auch an Sex zu denken", erwiderte Ben amüsiert. „Nennen Sie es Veranlagung oder wie auch immer ... Was ich eigentlich sagen wollte, Olivia, ist, dass Sie ganz offensichtlich genau wissen, was Sie wollen, und dass ich mich sehr gern mit Ihnen unterhalte, weil Sie nämlich nicht zu den Frauen gehören, die die ganze Zeit leidenschaftlich und verführerisch tun. Sie sind eine Frau, die die Männer ernst nehmen, und zwar in jeder Beziehung. Soll heißen: sowohl im Bett als auch außerhalb." Nach diesem kleinen Monolog sah ihn Olivia eine ganze Weile an, ohne dass er hätte sagen können, was dabei in ihr vorging. „Aber Sie kennen mich doch erst seit ein paar Stunden!" stellte sie schließlich fest. „Einen Vorteil hat es, wenn man sich an nichts erinnert: Man ist für neue Eindrücke viel aufgeschlossener." „Und es macht Ihnen gar nichts aus, diese Dinge einer Wildfremden zu erzählen? Sie müssen mir darauf nicht antworten. Das war eine rhetorische Frage." Er lachte schalkhaft. „Nun, Olivia, wie mir scheint, bin ich kein Mensch, der viel um den heißen Brei herumredet." „Den Eindruck hab ich auch", meinte sie trocken. „Aber ich sag Ihnen jetzt mal was, das Ihnen zu denken geben sollte: Wenn ich noch mehr von diesem Gerede höre,
geh ich auf der Stelle ins Bett." „In Ordnung. Dann erzählen Sie mir doch, was für Rinder Sie hier züchten, wie viel Personen auf der Farm beschäftigt sind und wie viel Quadratmeter Fläche Wattle Creek umfasst." Olivia wollte ihm gerade eine passende Antwort darauf geben, aber er sah aus, als meinte er es ernst. Trotzdem verzog sie die Mundwinkel nach oben. „Sie können mir nichts vormachen, aber da Sie schon mal danach gefragt haben ..." „Es interessiert mich wirklich", verteidigte er sich. Olivia versuchte auch noch den letzten Tropfen Brandy aus dem Glas zu bekommen, machte es sich dann im Sessel so gemütlich wie möglich und fing an zu erzählen. Ab und zu unterbrach Ben sie, um einige erstaunlich spezifische Fragen zu stellen, und Olivia konnte nicht umhin, anzumerken: „Sie scheinen von diesem Geschäft ja eine Menge zu verstehen, Ben." „Kommt mir auch so vor, aber warum, steht auf einem ganz anderen Blatt." Er gähnte. „Ich glaube, es ist Zeit zum Schlafen." „Wollen Sie mich etwa verlassen?" Olivia betrachtete Ben eingehend und sagte dann: „Da gibt es etwas, das Sie noch nicht von mir wissen." Die Augen beinah schon geschlossen, zog Ben neugierig eine Braue hoch. „Ich hab auch eine Stimmausbildung gemacht", sagte Olivia. „Wie wär's, wenn ich Ihnen noch ein Schlaflied singe?" Er schien nicht so richtig zu wissen, was er davon halten sollte, und Olivia hätte beinah laut gelacht. „Ich werd auch sehr leise singen", beruhigte sie ihn und stimmte ein altes Cowboylied an. Sie hatte eine klare, angenehme Stimme, und Bens Züge entspannten sich bald. Innerhalb von wenigen Minuten war er eingeschlafen. Olivia wollte schon aufstehen, um das Licht zu löschen und selbst ins Bett zu gehen, aber dann fand sie es so bequem in dem Sessel. Nur ein paar Minuten noch, dachte sie, bis Ben fest eingeschlafen ist. Dann steh ich auf. Aber dazu sollte es in dieser Nacht nicht mehr kommen. Am nächsten Morgen wurden sie von Jack Bentley geweckt. „Livvie, da bist du ja!" Olivia rappelte sich im Ohrensessel auf, und Ben öffnete verschlafen die Augen. „Was ist denn passiert, Livvie?" fragte Jack besorgt. „Hat er ... Ist was ... Sind Sie in Ordnung, Mann?" wandte er sich schließlich an Ben. Olivia stand auf und reckte und streckte sich. „Es geht ihm gut, Jack. Nun, zumindest war das letzte Nacht noch der Fall. Er konnte nur nicht einschlafen, deshalb hab ich ihm ein bisschen Gesellschaft geleistet." Sie ging zum Fenster und stellte fest: „Schön, dass es immer noch regnet!" „Es regnet nicht nur, es gießt", sagte Jack. „Wir werden einige Tiere woanders unterbringen müssen." „Gibt's was Neues über mich", mischte sich nun Ben in das Gespräch der beiden ein und versuchte, sich aufzusetzen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, tat ihm dabei alles weh. „Nun", sagte Jack, „die Leute erzählen sich, dass der Pilot einer kleinen Zweipropellermaschine vermisst wird, die irgendwo hier in der Nähe runtergegangen sein soll. Ich denke, dass Sie dieser Mann sein könnten." Olivia brachte vor Staunen kein Wort heraus, während Ben langsam sagte: „Ja, jetzt erinnere ich mich! Ich musste irgendwo im Nichts notlanden, die Treibstoffanzeige fing plötzlich an zu blinken. Aber ..." „Der Name Bradshaw sagt Ihnen wohl nicht zufällig was?" fragte Jack spitz. „Bradshaw, Bradshaw", wiederholte Ben und runzelte dabei die Stirn, wie Olivia es
nun schon so oft bei ihm gesehen hatte. Aber mit dem Namen schien er tatsächlich nichts anfangen zu können. „Machen Sie sich nichts draus", versuchte Olivia ihn zu trösten. „Das wird schon wieder." Dann wandte sie sich an Jack: „Ich zieh mich nur schnell an und sag den Polizisten Bescheid, dass unser Gast gesund und munter ist. Dann können wir beratschlagen, was wir mit dem Vieh machen." Sie nahm noch die Decke vom Sessel und verließ das Zimmer. Jack Bentley und Ben Bradshaw sahen ihr beinah bedauernd nach. „Eine sehr patente junge Dame", sagte Ben schließlich. „Da haben Sie Recht, Mann. Außerdem genießt sie auf Wattle Creek hohes Ansehen", fügte Jack noch hinzu und warf Ben einen unmissverständlichen Blick zu. „Alles ... Alles klar", erwiderte Ben. „Gut, es bringt nämlich nichts, sich an sie ranzumachen und auszunutzen, dass ihr Onkel nicht da ist." Ben zog eine Augenbraue hoch und erwiderte: „Ich glaube, dass da keinerlei Gefahr besteht. Olivia scheint mir mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen." „Kann schon sein. Ich dachte nur, dass ich Sie vorwarne", sagte Jack und fuhr etwas freundlicher fort: „Ihre Erinnerung kommt also langsam zurück. Haben Sie irgendeine Vorstellung, wo Sie notlanden mussten ... Obwohl wir bei dem Regen im Augenblick auch nicht viel ausrichten können." Ben ließ sich wieder zurück in die Kissen sinken. „Mal überlegen: Ich muss ein paar Stunden rumgeirrt sein. Nach der Notlandung konnte ich mich daran erinnern, dass ich kurz vorher über das Haus hier geflogen bin. Also hab ich versucht, in die entsprechende Richtung zu gehen - das heißt nach Südwesten -, so dass das Flugzeug sich etwa nordwestlich von hier befinden müsste." „Erinnern Sie sich daran, warum Sie hier herumgeflogen sind?" Ben wollte gerade darauf antworten, als Olivia zurück ins Zimmer kam. Sie trug eine derbe Reithose, eine Regenjacke und hielt einen breitkrempigen Hut in der Hand. „Ben, Sie sind gestern Morgen von Longreach aufgebrochen und wollten dort gemäß Ihres Flugplans am Nachmittag wieder eintreffen", beantwortete nun Olivia mehr oder weniger Jacks Frage. „Die Behörden verständigen Ihre nächsten Anverwandten. Aber es sieht so aus, als müssten Sie ein, zwei Tage bei uns bleiben. Es hat überall Überschwemmungen gegeben. Die Straßen sind unpassierbar und die Telefonverbindungen in vielen Gegenden unterbrochen. Überall sitzen Leute fest. Unsere Landebahn steht unter Wasser, und das einzige Kommunikationsmittel, das wir noch haben, ist das Satellitentelefon." „Ich verstehe, aber ..." Doch Olivia ließ ihn nicht ausreden, sondern fragte stattdessen: „Wie geht es Ihnen heute?" Dabei überprüfte sie mit Hilfe ihrer Armbanduhr Bens Puls. „Mir geht's schon viel besser. Ich hab nur noch ein bisschen Muskelkater." „Keine starken Kopfschmerzen mehr? Und Sie sehen auch nicht doppelt?" Während er den Kopf schüttelte, betrachtete Olivia ihn forschend und hielt ihm dann ein Thermometer unter die Nase. „Mund aufmachen!" Er verzog das Gesicht, gehorchte aber. „Keine Schmerzen im Brustbereich oder Probleme beim Wasserlassen?" Wieder schüttelte er den Kopf, und Olivia kniff ihm in den Unterarm, um zu sehen, wie die Haut reagierte. Das Ergebnis schien zufriedenstellend zu sein, da Olivia daraufhin kommentarlos den Verband von Bens Schläfe entfernte. „Die Wunde sieht gut aus", sagte sie nur und legte einen neuen Verband an. Schließlich nahm sie das Thermometer aus Bens Mund und kommentierte die Temperaturanzeige mit: „Ziemlich normal. Trotzdem bleiben Sie im Bett!" „Aber ich..." „Keine Widerrede, Benedict Arnold! Ich werde Sie jetzt für ein paar Stunden allein
lassen. Aber Kay, Jacks Frau, kommt gleich rüber, um Ihnen Frühstück zu machen und auch später nach Ihnen zu sehen. Ich hoffe, dass Sie ihr keine Schwierigkeiten machen und im Bett bleiben. Der Arzt vom Ambulanzhubschrauber wird Sie im Lauf des Tages anrufen. Sie können ihm dann ganz genau erzählen, wie es Ihnen geht. Sicher ist es ein gutes Zeichen, dass Sie sich schon wieder an einige Dinge erinnern." „Jawohl, Ma'am!" antwortete Ben und warf Jack einen viel sagenden Blick zu. Olivia fing den Blick auf und fragte: „Was hat denn das zu bedeuten?" „Nichts", sagten die beiden Männer wie aus einem Munde, wobei Jack sehr zufrieden aussah. „Bist du so weit, Jack?" „Ich warte nur auf dich, Livvie." Die beiden verließen das Zimmer, und Ben blickte ihnen ein wenig verwirrt nach. Gleich darauf erschien eine sehr mütterlich wirkende Frau an der Tür - Kay Bentley und brachte ihm das Frühstück. Es war schon halb fünf, als Olivia völlig erledigt und klitschnass ins Wohnhaus zurückkehrte. Es goss immer noch in Strömen. „Wie geht's ihm?" wollte sie als Erstes wissen, als sie zu Kay in die Küche kam. „Wunderbar, er hat ziemlich viel geschlafen, aber der Arzt vom Ambulanzhubschrauber sagte, er könne später ruhig mal aufstehen. Ach übrigens, Livvie, das Satellitentelefon ist auch noch ausgefallen." Olivia fluchte leise vor sich hin. „Ich hab's runter zu Davo gebracht. Er versucht, es wieder hinzukriegen. Er ist so ein liebenswürdiger Mann - Mr. Bradshaw, meine ich." Kay war ganz begeistert. „Er ist so wohlerzogen, bedankt sich immer und bringt einen zum Lachen." „Er hat dir offensichtlich nicht..." Olivia verstummte. Eigentlich hatte sie sagen wollen: „Er hat dir wohl nicht vorgeschlagen, zu ihm ins Bett zu kommen", beschloss aber, das besser für sich zu behalten. „Ich hab ihm auch ein paar von Grahams Sachen gebracht", fuhr Kay fort. Graham war ihr einundzwanzigjähriger Sohn. „Die Kleidung deines Onkels ist ihm doch viel zu weit und zu kurz", fügte sie lachend hinzu. „Das ist lieb von dir, Kay." Olivia hatte sich an den Küchentisch gesetzt. „Man kann es kaum glauben: Gestern hab ich mir noch Sorgen um eine Dürreperiode gemacht, und heute hab ich Angst, dass es zu viel regnen könnte." „Es ist immer zu viel oder zu wenig des Guten, Olivia, aber auf lange Sicht wird es dem Boden nicht schaden", versuchte Kay sie zu beruhigen. „Da hast du schon Recht, aber kurzfristig haben wir ein echtes Problem mit dem Vieh, das bis zum Bauch im Wasser steht." „Ich mach dir erst mal einen guten, starken Tee. Hast du heute überhaupt schon was gegessen?" In diesem Augenblick ging Olivia erst auf, dass sie tatsächlich kaum etwas zu sich genommen hatte. „Nicht viel", gestand sie Kay ein. „Einen kleinen Happen zum Frühstück, im Hinausgehen sozusagen." Kay wurde sofort aktiv, und in kürzester Zeit stand eine dampfende Tasse Tee und ein leckeres Tomaten-Käse-Sandwich vor Olivia. „Ich hab euch auch einen Auflauf fürs Abendessen vorbereitet. Du brauchst ihn nur noch in den Ofen zu schieben." „Danke, Kay, auf dich kann man sich wirklich verlassen." „Wann ist denn dein Onkel wieder da?" „Erst in einer Woche. Aber wir kommen schon klar - wenn bloß dieses blöde Telefon nicht auch noch den Geist aufgegeben hätte!" „Warum legst du dich nicht ein bisschen hin", schlug Kay vor. „Ich kann die Stellung hier noch für 'ne Stunde halten. Auch länger, wenn's sein muss." „Wie nett von dir! Ein bisschen Ruhe wird mir jetzt gut tun." Olivia legte sich zwar nicht hin, nahm aber ein schönes heißes Bad. Danach zog sie
eine weich fallende schwarze Hose und ein orangerotes Seidenshirt mit modisch tiefem V-Ausschnitt an. Sie nahm die Haare im Nacken zusammen und überlegte, ob sie sich den Pony noch ein wenig nachschneiden sollte, konnte sich dann aber doch nicht dazu aufraffen. Stattdessen cremte sie sich das Gesicht sorgfältig mit Feuchtigkeitsemulsion ein und legte ganz gegen ihre Gewohnheit auch noch ein wenig Lippenstift auf. Ich muss verrückt sein, dachte sie dabei. Was versuche ich mir hier eigentlich zu beweisen? Dass ich keine nüchterne, ernsthafte und gegen sämtliche Verführungskünste gefeite Frau bin? Nur weil dieser Ben Bradshaw zufällig auf meiner Farm gelandet ist? Aber als sie ins Gästezimmer kam, war Ben nicht mehr da. Schließlich fand sie ihn allein am Küchentisch sitzend. „Sind Sie sicher, dass Sie aufste...", fing sie an. „Ganz sicher", unterbrach er sie und erhob sich. „Ich hab sogar den Segen des Doktors." „So was hat Kay auch gesagt", murmelte Olivia und sah sich Ben genauer an. Er trug Jeans und ein blau-weiß kariertes Hemd. Sein dichtes, dunkles Haar war ordentlich zurückgekämmt, und er hatte sich rasiert, allerdings nicht überall: Die Stellen mit den Kratzern und Schrammen hatte er ausgelassen. Sein Sonnenbrand schien sich auch zu bessern. „Sie sehen müde aus", stellte Ben fest, während Olivia ihn musterte. Olivia verzog das Gesicht. „Eine Nacht im Sessel und ein Tag im Sattel gehen nicht spurlos an einem vorbei." „Irgendwie fühle ich mich schuldig. Ich hab Sie letzte Nacht nicht nur vom Schlafen abgehalten, sondern Ihnen wohl auch ein bisschen zu viel Regen gebracht." „Das müssen wir erst noch abwarten", antwortete sie und ging zum Schrank, um zwei langstielige Gläser zu holen. „Das Leben auf dem Land ist eben so. Es gibt immer ein bisschen zu viel oder zu wenig von allem - das sagt zumindest Kay. Das Problem mit dem Regen ist leider, dass wir auch mit den Wassermengen klarkommen müssen, die von Norden her unsere Kanäle und Bäche überfluten." Olivia zog sich einen Stuhl heran. „Aber erzählen Sie mir doch, was Sie heute gemacht haben." „Nicht allzu viel", erwiderte er. „Ich hab mit dem Ambulanzarzt gesprochen und dann die Polizei angerufen. Aber während ich mit dem zuständigen Polizisten redete, fiel das Satellitentelefon aus. Es tut mir Leid, dass ich keine besseren Neuigkeiten für Sie habe, Olivia." „Kay hat mir das mit dem Telefon schon erzählt. Da es bei uns ja leider nie einfach nur regnet, sondern immer schütten muss, bleibt das nicht aus." Olivia verzog das Gesicht. „Aber Davo, unser Mechaniker, ist so was wie ein Genie, und er glaubt, dass er es wieder hinkriegt. Haben Sie bei der Polizei denn vorher noch irgendwas über sich erfahren können?" „Ja, gewissermaßen. Ich bin wohl tatsächlich dieser Ben Bradshaw und arbeite für eine Agrargesellschaft. Ich bin dreiunddreißig und war auf dem Weg nach Campbell Downs. Sonst wohne ich in Charleville." Olivia sah ihn eine Weile nachdenklich an und sagte dann: „Herzlichen Glückwunsch. Das heißt also, dass Ihr Gehirn nicht mehr von Nebelschwaden umgeben ist?" Ben rang sich ein Lächeln ab. „Es gibt immer noch ein paar weiße Flecken, aber der Nebel lichtet sich allmählich." „Gott sei Dank." Olivia stand auf und nahm eine Flasche australischen Chardonnay aus dem Kühlschrank. Anschließend gab sie Ben einen Korkenzieher und stellte die Flasche vor ihn hin. „Sie trinken doch Wein, oder etwa nicht?" „Ja, sehr gern sogar." „Dann machen Sie doch bitte die Flasche auf." Olivia zog sich einen dicken
Küchenhandschuh über, öffnete die Ofenklappe des altmodischen, noch mit Holz befeuerten Herdes und schob Kays Auflauf hinein. „Wie sieht es mit Verwandten und Freunden aus?" fragte sie dann und setzte sich wieder an den Tisch. Ben reichte ihr ein Glas des goldschimmernden Weines. „Zum Wohl, Olivia, und nochmals vielen Dank für alles." „Trinken wir darauf, dass Sie sowohl die Notlandung als auch die sengende Mittagssonne so gut überstanden haben." Sie tranken jeder einen Schluck. „Also?" sagte Olivia, nachdem sie das Glas wieder abgesetzt hatte. Erstaunt zog Ben eine Braue hoch. „Wie steht's mit Ihrer Familie und Ihren Freunden?" wiederholte sie ihre ursprüngliche Frage. „Meine nächste Anverwandte ist meine Mutter - ich erinnere mich auch an sie. Derzeit befindet sie sich wie Ihr Onkel außer Landes. Aber ich glaube, die Polizisten wollten noch jemand anders verständigen, doch in dem Moment fiel das Telefon aus." „Dann sind Sie also nicht verheiratet?" „Offensichtlich nicht", sagte er und sah Olivia amüsiert an. „Warum fragen Sie?" „Ihre Frau wäre sicher entsetzt, wenn sie wüsste, auf was für Ideen Sie kommen, wenn Ihr Gedächtnis aussetzt." „Ich glaube nicht, dass ich mich so danebenbenommen habe", sagte Ben lächelnd. Diese Antwort amüsierte nun wieder Olivia. „Sie wissen ganz genau, dass Ihr Verhalten unmöglich war." „Wahrscheinlich liegt es daran, dass Sie mich verzaubert haben, Olivia." „Das möchte ich aber doch ganz stark bezweifeln. Ich bin immerhin schon fünfundzwanzig und habe bisher keine derartige Wirkung auf Männer gehabt - warum das so ist, wurde mir von Ihnen ja bereits ausführlich erklärt." Ben lehnte sich im Stuhl zurück und spielte mit dem Stiel des Weinglases. Schließlich sah er Olivia wieder mit diesen unendlich blauen Augen an und sagte: „Ich finde, dass Sie heute Abend zwar müde, aber trotzdem ganz reizend aussehen." Sie spürte, wie sie rot wurde, und für einen Augenblick fehlten ihr die Worte. Dann wandte sie den Blick ab und sagte: „Danke, aber es wäre mir lieber, wir würden jetzt das Thema wechseln." „In Ordnung. Wie viele Rinder haben Sie heute an einen anderen Ort getrieben?" Daraufhin unterhielten sie sich ausführlich über die derzeitige Situation auf der Farm und danach über die Gegend im Allgemeinen. Dabei ließen sie sich Kays hervorragenden Rindfleisch-Pilz-Auflauf schmecken, und schließlich fragte Ben, ob Olivia ihm das Haus zeigen würde. „Mit Vergnügen", sagte sie. Es war ein weitläufiges altes Haus mit einem riesigen Wohnzimmer, an das sich ein nicht minder großes Esszimmer anschloss, das man vom Wohnzimmer aus durch einen hübschen hölzernen Rundbogen erreichte. Die Wände waren dunkelgrün gehalten, die Sofas und Stühle mit einem bordeauxroten Brokatstoff bezogen. Der runde Tisch im Esszimmer war eine wertvolle Antiquität aus den Gründerzeiten Australiens. An den Wänden hingen Ölgemälde mit vergoldetem Rahmen, eine herrliche Pendeluhr und über dem Kamin das Bild einer blonden Frau. „Das ist meine Mutter", sagte Olivia und hörte sich ein wenig traurig an. „Das muss damals schrecklich gewesen sein." „Ja, das war es." „Sie sehen ihr sehr ähnlich." „Danke, aber in meiner Erinnerung war meine Mutter eine echte Schönheit. Das hier ist mein Vater." Olivia wies auf ein kleineres Porträt im Esszimmer. „Und das ist Onkel Garth." „Er kommt mir ... Nun, er scheint ein harter Brocken zu sein."
„Das ist er, und ich könnte ihn jetzt gut gebrauchen." „Haben Sie ... Aber nein, Sie waren noch zu klein, um diese Bilder zu malen." „Richtig, aber davon abgesehen, zeige ich Ihnen gleich in meinem Atelier, warum dies gar nicht meine Bilder sein können." Ben folgte ihr, drehte sich aber im Türrahmen noch einmal um und ließ einen letzten bewundernden Blick durch den Raum gleiten. „In Sachen Einrichtung haben Sie wirklich was los, Olivia." Sie zuckte die Schultern. „Ich hatte auch eine gute Ausgangsbasis. Heutzutage findet man nur noch selten so großzügige Räume ... Hier haben wir das Frühstückszimmer - wie Sie sehen, sehr viel moderner eingerichtet. Und hier", Olivia öffnete eine andere Tür, „ist mein Atelier. Ich habe eine Veranda verglasen lassen, so wie für einen Wintergarten, damit viel Tageslicht hereinfällt. Davon kann man im Augenblick natürlich nichts sehen." Der Regen prasselte auf die Glasscheiben, aber ein Deckenfluter tauchte den extrem aufgeräumten Raum mit den Holzdielen in ein grelles Licht. In der Mitte standen ein großer Tisch und einige Hocker, daneben zwei Staffeleien, und an der Wand war ein Waschbecken angebracht. „Sie wollten mir doch etwas zeigen", erinnerte Ben sie, als er auf die Staffeleien zuging. „Ach ja. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen kann ich am besten Miniaturen malen. Deshalb sind Grußkartenentwürfe auch wie geschaffen für mich." „Das ist ja merkwürdig." Er wandte sich zu ihr um. „Ich weiß, es gibt auch keine Erklärung dafür. Mein inneres Auge muss irgendwie einen Verkleinerungseffekt auf alles haben, was ich sehe." „Das hier ist gut!" Ben betrachtete gerade eingehend das Motiv in Öl auf der kleinen aufgespannten Leinwand vor sich und dann das auf dem Skizzenblock daneben. Auf der Leinwand war eine Szene an einem Bach dargestellt, in deren Mittelpunkt ausladende, Schatten spendende Eukalyptusbäume standen, während der Skizzenblock eine hübsche, in Pastellkreiden ausgeführte Darstellung eines rosa und grau gefiederten australischen Kakadus zeigte, der auf einem Ast saß. „Das ist alles so detailreich und exakt - sind Sie Naturalistin?" „In gewisser Weise. Ich male gern so, wie die Wirklichkeit ist, nur kleiner eben." Olivia strich sich den Pony aus der Stirn und fuhr fort: „Wissen Sie, manchmal denke ich, dass ich vor hundert Jahren zu den Damen gehört hätte, die mit hochgeschlossenen weißen Gewändern, einem riesigen Hut und einem Zeichenblock durch die Landschaft gewandelt sind." „Oh, ich glaube, auch vor hundert Jahren wären Sie dazu viel zu energisch gewesen." „Möglicherweise, aber in dieser Zeit erwartete man von einer Dame, dass sie sich wie eine Dame benahm." „Ich glaube, niemand zweifelt daran, dass Sie eine Dame sind, Olivia." Sie sah ihn spöttisch an. „Woher wollen Sie denn das so genau wissen?" „Nun ..." Er lehnte sich lässig gegen eine Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. „... Sie reden, als wäre Ihnen der Befehlston mit in die Wiege ..." „Gestern haben Sie mir noch gesagt, dass man das leicht dahingehend deuten könnte, dass ich eine Frau bin, die gern die Hosen anhat." „Was das angeht, habe ich meine Meinung geändert. Sie wirken sehr höflich und distinguiert, wenn Sie Befehle geben. Dann haben Sie so eine Art, mit unmöglich neugierigen Fremden umzugehen." „Das war mir überhaupt nicht bewusst", sagte Olivia verwundert. „Sie haben mich dazu gebracht, über Dinge zu sprechen, die ich normalerweise nicht einmal im Traum mit einem mir völlig Unbekannten bereden würde." „Das liegt vielleicht daran, dass es zwischen uns knistert", sagte er betont locker,
sprach aber schnell weiter, bevor sie etwas dagegen einwenden konnte. „Außerdem waren Sie die ganze Zeit über trotz allem sehr zurückhaltend. Und Sie malen, Sie dekorieren die Wohnung, Sie kochen vorzüglich ..." „Der Auflauf heute Abend war von Kay." „Aber gestern haben Sie gekocht." Er stieß sich von der Wand ab. „Ja, ich glaube, Sie sind eine echte Dame." „Ich ... Einige der besten Köche sind Männer", entgegnete Olivia überflüssigerweise, wie ihr danach aufging. Außerdem musste sie feststellen, dass sie plötzlich merkwürdig kurzatmig war und auch den Blick nicht von ihrem Gegenüber lassen konnte. Aber dann zwang sie sich, gleichmäßig zu atmen und das Gespräch wieder aufzunehmen: „Ich weiß an sich kaum, wie sich ein Gentleman verhalten sollte, aber Sie hören sich ganz so an, als kämen Sie aus gutem Hause, Ben." Seine Lippen verzogen sich kaum merklich zu einem Lächeln. „So, tue ich das?" „Ja, Jack ist es als Erstem aufgefallen. Und er hat Recht. Sie hören sich an, als hätten Sie eine gute Ausbildung genossen. Sie drücken sich sehr gewählt aus, und kaum etwas kann Sie aus der Ruhe bringen, selbst wenn Sie unter zeitweiligem Gedächtnisschwund leiden. Eine solche Selbstsicherheit geht häufig mit einem privilegierten familiären Hintergrund einher." „Meine Mutter wäre entzückt, Sie so reden zu hören, Olivia. Aber mein Vater war Schmied." Erstaunt sah Olivia ihn an. Ben erwiderte den Blick mit einem schalkhaften Lächeln. „Es tut mir Leid, wenn ich Sie enttäuscht..." „Natürlich nicht. Ich wollte damit nur sagen ..." Olivia war völlig verwirrt. „Es hat nichts zu bedeuten ... Oh, jetzt denken Sie bestimmt, dass ich total eingebildet bin, aber das stimmt nicht. Wieso haben Sie mich derart hinters Licht geführt?" Ben lachte und blieb vor ihr stehen. „Ich habe nur versucht, Ihnen zu sagen, dass Sie eine tolle Frau sind." „Um wieder gutzumachen, dass Sie mir gestern erzählt haben, wie unattraktiv ich bin?" bemerkte Olivia spitz. „Es tut mir Leid, wenn Sie das so aufgefasst haben. Aber ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass es noch so viel mehr über Sie zu sagen gibt." „Ich weiß auch nicht, warum ich mir das so zu Herzen nehme", antwortete sie niedergeschlagen. „Ich kenne Sie doch überhaupt nicht." In Bens Augen trat ein gewisses Funkeln. „Vielleicht liegt es ja genau daran", sagte er dann und berührte Olivia ganz sacht an der Wange. Und plötzlich war Olivia wie verzaubert. Das Prasseln des Regens auf dem Glasdach, die ihr so vertraute Umgebung des Ateliers, die Sorge um die überfluteten Weidegründe, all das war nicht mehr wichtig. Es gab nur noch Ben Bradshaw, dessen sprühende Lebenskraft und Attraktivität ihr erst jetzt richtig bewusst wurden. Sie war so erschrocken über die Intensität der Gefühle, die sie ihm urplötzlich entgegenbrachte, dass sich ihre Augen weiteten. Noch nie hatte sie sich derart zu einem Mann hingezogen gefühlt. Aber das lag nicht nur an dem schlanken, athletischen Körper und den breiten Schultern, sondern auch an seinem Sinn für Hu mor und an all den kleinen Eigenheiten, die sie mittlerweile schon von ihm kannte: dass er Gewitter hasste und gern Milch trank, aber weder Tee noch Kaffee. Eigentlich ganz banale Dinge, aber sie hatten dazu beigetragen, dass sie ein Gefühl der Zärtlichkeit für diesen Mann entwickelte und es zwischen ihnen zu funken begann. Das bildete sie sich bestimmt nicht nur ein. Denn so, wie er nun den Blick über ihr Seidenshirt gleiten ließ und einen Augenblick an ihrem Halsansatz verharrte, hatte sie das Gefühl, als strichen ihr seine langen, wohlgeformten Hände über den Körper und berührten dabei ganz intime Stellen. Die einzige Erlösung von dieser süßen Folter schien in seinen Armen zu liegen.
Das kann ich gar nicht glauben, dachte Olivia dabei, aber ihr wild klopfendes Herz belehrte sie eines Besseren. Auch ihre Brüste reagierten auf Bens merkwürdig verhangenen Blick. Wie kann es sein, dass er mir so bewusst ist? Wieso reagiert mein ganzer Körper auf diesen Mann, der doch nur meine Wange berührt und mich ansieht? „Nicht ...", hauchte sie schließlich, und er ließ die Hand sinken. Olivia trat ostentativ einen Schritt zurück. „Sie haben Recht", sagt er gelassen. Erstaunt sah Olivia ihn an und räusperte sich. „Womit habe ich Recht?" „Dass wir nichts überstürzen sollten." Aber so wie er sie dabei ansah, schien er genau das Gegenteil ausdrücken zu wollen. „Überstürzen ... Ich ... Sie glauben doch nicht etwa ..." Olivia fehlten die Worte. Spöttisch zog er eine Braue hoch und führte ihren Satz fort: „Dass Sie mit mir ins Bett gehen möchten? Nun, ich bin mir sicher, dass wir das beide wollen. Aber ich werde Sie bestimmt nicht darum bitten, weil ich mir keine Ohrfeige einhandeln will." „Bitte ... machen Sie keine Witze darüber." Ben wurde wieder ernst. „Was möchten Sie denn dann, Olivia?" Sie strich sich den Pony aus der Stirn. „Nichts, Ben. Ich muss Sie erst besser kennen lernen, und ich weiß nicht einmal, ob das überhaupt möglich sein wird." „Wieso nicht?" „Nun ..." Sie sah ihn ein wenig hilflos an. „... wir wissen doch gar nicht, ob sich unsere Lebenswege parallel entwickeln." Seine Augen wurden schmal. „Meinen Sie damit, ob sich mein Leben parallel mit Wattle Creek entwickelt?" Sie zuckte die Schultern. „Ich wohne hier, und Sie leben in Charleville." „Das habe ich nicht damit gemeint, Olivia. Das wissen Sie genau." „Ben ..." Olivia rieb sich plötzlich die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich kann jetzt nicht ... bitte ... Das entbehrt doch jeder Grundlage!" Wieder sah er sie an, aber Olivia hätte nicht sagen können, was er dabei empfand. Schließlich berührte er sie noch einmal an der Wange, aber diesmal nur mit den Fingerspitzen. „Gehen Sie schlafen", sagte er dann. „Aber wir bleiben dabei, dass wir nichts überstürzen wollen." „Ja ... Aber ich kann noch nicht gleich ins Bett gehen. Außerdem sind Sie derjenige ..." „Was müssen Sie denn noch tun?" „Abwaschen, alle Fenster und Türen schließen, das Licht ausmachen. Ach ja, und bügeln wollte ich auch noch!" „Das ist doch nicht Ihr Ernst?" „Nun ..." Sie zögerte und ließ plötzlich die Schultern hängen. „Vielleicht muss ich heute Abend nicht mehr unbedingt bügeln. Das kann warten, aber das andere nicht." „Das kann ich doch machen." Sie runzelte die Stirn. „Das meinen Sie jetzt aber nicht ernst!" „Doch, ich hab Ihnen ja schon gesagt, dass ich im Haus zur Hand gehe." „Ich weiß, aber ..." „Außerdem habe ich die ganze Zeit im Bett gelegen und bin überhaupt nicht müde, wohingegen Sie den ganzen Tag auf den Beinen waren. Da fällt mir noch was ein, was ich vorhin beim Aufzählen Ihrer weiblichen Vorzüge vergessen habe: Sie singen auch sehr gut." Olivia musste plötzlich lachen. „Sie hätten mal Ihr Gesicht sehen sollen, als ich Ihnen das vorschlug." „Ich war so überrascht", entgegnete Ben. „Ich brauch heute auf jeden Fall kein Schlaflied. Also wenn Sie ..." Olivia zögerte. „Wenn Sie das wirklich alles tun wollen." „Ich glaube, das bisschen Haushalt und das mit dem Licht krieg ich schon hin."
„Dann gute Nacht, Mr. Arnold", sagte sie lächelnd und hielt ihm die Hand hin.
„Gute Nacht, Miss Lockhart."
Sie schüttelten sich die Hände. Aber nachdem er ihre Hand losgelassen hatte, sahen
sie sich noch eine ganze Weile tief in die Augen, bis Olivia sich zum Gehen wandte.
3. KAPITEL
Olivia schlief fast augenblicklich ein, war aber gegen zwei Uhr morgens schon wieder wach. Es regnete immer noch, und sie konnte nicht wieder einschlafen. Das lag aber nicht am Regen. Während sie sich unruhig im ehemaligen Bett ihrer Eltern hin-und herwälzte, dachte sie an Ben Bradshaw. Was war er wohl für ein Mensch? Seine Gemütsruhe hatte sie seinem familiären Hintergrund zugeschrieben, aber das musste nicht unbedingt der wahre Grund dafür sein. Aus gutem Haus zu kommen hieß gar nichts. Aber der Mann war unheimlich attraktiv und charmant. Fragte sich bloß, wie wahllos er diesen Charme versprühte? Sein rasantes Vorgehen war schon verdächtig, und Olivia wollte nicht eine von vielen sein. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn und drehte sich auf die andere Seite. Es war bestimmt schon drei Jahre her, dass ein Mann sie wirklich interessiert hatte. Wenn das so weiterging, bestand durchaus Gefahr, als alte Jungfer zu enden. Dann ging ihr auf, dass sie von Ben Bradshaw lediglich wusste, dass er für eine Agrargesellschaft arbeitete und auf dem Weg nach Campbell Downs gewesen war. Dabei handelte es sich um einen riesigen, an die Wattle-Creek-Farm angrenzenden landwirtschaftlichen Besitz, der vor kurzem den Eigentümer gewechselt hatte. Was mochte Ben dort wohl vorgehabt haben? Olivia konnte sich überhaupt nicht erklären, warum sie ihn das nicht gefragt hatte. Plötzlich klopfte es an der Tür, und Olivia zuckte zusammen. Rasch knipste sie die Nachttischlampe an und zog sich die blauweiße Zudecke bis zum Kinn. „Was gibt's?" Die Tür öffnete sich, und da stand Ben. „Olivia ..." „Also das geht doch wirklich zu weit!" unterbrach sie ihn. „Wenn Ihnen auch sonst kein Grund einfällt, aber wenigstens aus reiner Dankbarkeit könnten Sie mich in Ruhe lassen ..." „Olivia ...", versuchte es Ben noch einmal und kam ins Zimmer. „Wenn Sie glauben, dass ich Sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf hole, um Sie zu verführen, irren Sie sich." „Was soll ich denn sonst denken?" „Sehen Sie nicht, dass ich komplett angezogen und völlig durchnässt bin?" Tatsächlich, das Haar klebte ihm am Kopf, und Grahams Hemd und Jeans waren nicht nur nass, sondern lehmverschmiert. „Nun?" „Leider muss ich gestehen, dass mir nichts ferner lag, als Sie zu verführen." Er verstummte. Olivia ließ die Bettdecke ein wenig sinken, hob aber hochmütig das Kinn. „Worum geht's dann?" Einen Moment lang sah er sie mit seinen blauen Augen spöttisch an, dann erklärte er: „Ihr Dach hat ein Loch, Miss Lockhart, Ma'am. Zufällig direkt über meinem Bett, und obwohl ich sehr gern in ein anderes Nachtlager umziehen würde, glaube ich nicht, dass es eine gute Idee wäre, es weiter reinregnen zu lassen. " „Warum sagen Sie das nicht gleich!" fuhr ihn Olivia an und war mit einem Satz aus dem Bett. „Da oben laufen elektrische Leitungen ..." „Sie haben mich ja nicht ausreden lassen", murmelte er, während sie sich daranmachte, ihr Pyjamaoberteil aufzuknöpfen. „Ich glaube, ich lass Sie dann mal allein." „Hier", sagte sie wenige Minuten später und hielt Ben einen Regenmantel hin. Sie selbst hatte schon einen an und stülpte sich jetzt noch die zugehörige Mütze über. „Ich nehme an, dass Sie schon draußen waren, um sich das Ganze anzusehen?" „Ja, aber ich konnte nicht viel erkennen. Dazu muss man aufs Dach." „Das mach ich!" „Ich bin durchaus in der Lage ..."
„Bestimmt sollte man eine Kopfverletzung, die mit vorübergehendem Gedächtnisschwund einhergeht, richtig auskurieren." „Ich pass schon auf mich auf. Außerdem war ich so frei, Ihren Verbandskasten nach wasserabweisendem Pflaster durchzusehen." Er wies auf seine Stirn. „Ich sehe, aber ich glaube, ich sollte doch lieber Jack holen. Andererseits hat er einen harten Tag hinter sich. Er war schon Stunden vor mir auf ... Auch die anderen ..." „Wo finde ich eine Leiter?" fragte Ben unbeirrt. „Ein Stück Teerpappe werden wir auch brauchen." Eine Stunde später hatten sie das Loch in dem an vielen Stellen rostenden Blechdach notdürftig geflickt und waren dabei, die Leitungen zu überprüfen. „Scheint alles in Ordnung zu sein", stellte Ben schließlich fest. „Igitt!" war von Olivia nur zu hören, während sie sich Spinnweben aus dem Gesicht wischte. „Sie mögen wohl keine Spinnen", sagte Ben und leuchtete sie mit der Taschenlampe an. „Ich hasse sie ... Nun, mehr können wir im Augenblick wohl nicht tun. Außerdem ist es ganz schön kalt hier oben. Wir sollten nach unten gehen." „Nach Ihnen, Ma'am." Olivia kletterte durch die Luke hinunter in die Küche und seufzte erleichtert, weil in dem alten Holzkohleherd noch Glut schwelte. Sie zog rasch Mantel und Hut aus und stellte sich vor den Herd. Dann drehte sie sich zu Ben um und musste lachen. Er war patschnass und ganz schwarz im Gesicht. „Wir sehen bestimmt aus wie zwei nasse Ratten. Hat Ihnen Kay noch was anderes zum Anziehen gegeben?" „Einen Schlafanzug und einmal Jeans und Hemd zum Wechseln." „Dann sollten Sie sofort aus den nassen Sachen raus. Ich will nämlich nicht, dass Sie sich auch noch eine Lungenentzündung holen." „Ich vertrag viel mehr, als es den Anschein haben mag ...", sagte Ben. „Wie wär's, wenn wir uns beide was Trockenes anziehen, und dann mach ich uns einen schönen heißen Kakao." Olivia war erstaunt und wusste erst gar nicht, was sie darauf erwidern sollte. „In Ordnung", sagte sie schließlich. Sie stellte sich rasch unter die Dusche und kam in Pyjama und Bademantel wieder in die Küche, dabei rubbelte sie ihr Haar mit einem Handtuch trocken. Ben war schon da - ebenfalls im Schlafanzug und mit dem Wintermorgenmantel ihres Onkels. Ben hatte Wasser aufgesetzt, und zwei Tassen standen auch schon bereit. „Das ging aber flott!" Ben wandte sich zu ihr um. „Ich kann schnell arbeiten, wenn nötig." „Darf ich mal einen Blick auf Ihre Wunde werfen? Bestimmt ist sie nass geworden oder aufgebrochen, so wie Sie auf dem Dach geackert haben." „Alles halb so wild", sagte Ben, setzte sich aber gehorsam auf einen Stuhl, damit Olivia seine Schläfe inspizieren konnte. „Hm", sagte sie nach einigen Sekunden. „Ein bisschen rot an den Rändern. Ich werd noch mal Desinfektionsmittel drauftun und einen frischen Verband anlegen." Ben beobachtete Olivia, wie sie mit gebeugtem Kopf im Erste-Hilfe-Kasten nach einer neuen Bandage suchte. Er hatte noch nie eine Frau erlebt, die so geschickt und unerschrocken eine Leiter hinaufkletterte, auf einem regennassen Dach balancierte und sich, ohne mit der Wimper zu zucken, durch die engsten Hohlräume zwängte. „Was ist denn mit Ihren Fingern?" Olivia sah auf. „Nur ein paar Schürfwunden." Sie legte die Hände auf den Tisch und inspizierte sie eingehend. „Ich behandle meine Hände wohl immer ein bisschen stiefmütterlich." Sie hatte sicher keine weichen, manikürten Finger mit langen roten Nägeln wie
andere Frauen in Bens Bekanntenkreis. Aber ihre Hände waren trotz allem sehr gepflegt und sahen so aus, als könnten sie zupacken. Aber die Vorstellung von roten Nägeln ließ Ben nicht mehr los. Woran erinnerten sie ihn bloß? „Ein bisschen schäbig, finden Sie nicht?" sagte Olivia lachend, die Bens veränderten Gesichtsausdruck auf ihre Hände bezog. „Oh nein, daran habe ich gar nicht gedacht." „Woran dann?" „Ich hab gedacht, dass Sie wohlgeformte Hände haben und sich kurze Fingernägel bei der Art von Leben, das Sie führen, bestimmt besser eignen. Und dass Ihre Hände sehr geschickt aussehen." „Lügner!" gab Olivia augenzwinkernd zurück. „Können Sie eigentlich Gedanken lesen?" In Bens Augen trat ein geheimnisvolles Glitzern. „Im Augenblick schon. Und ich hab so das Gefühl, dass Sie an etwas ganz anderes gedacht haben." „Wie wahr, wie wahr", sagte er langsam und wandte sich von ihr ab, um den Kakao zu machen. „Wollen Sie mir meine Frage denn nicht beantworten, Ben? Als ich gestern so reagiert habe, haben Sie mir gesagt, dass Ihnen gleich wieder ganz heiß und schlecht wird." Er zuckte die Schulter, stellte die beiden Tassen Kakao auf den Tisch und setzte sich wieder zu Olivia. Schließlich sagte er: „Ich hab darüber nachgedacht, dass meine Bemerkung über so genannte weibliche Schwächen nicht nur ganz schön unverschämt war, sondern in Ihrem Fall auch völlig unberechtigt. Und es erstaunt mich, dass Sie nicht heftiger darauf reagiert haben." Olivia umfasste ihre Tasse und sah Ben an. „Glauben Sie mir etwa nicht?" „Nicht ganz." Er lächelte. „Schon wieder richtig geraten: Ich hab ein bisschen geschwindelt. In Wirklichkeit dachte ich, dass Sie ganz anders sind als die Frauen aus meinem Bekanntenkreis. Aber das kommt letztlich aufs Gleiche Taus. Ehrlich!" „Außer, Sie dachten an eine ganz bestimmte Frau", wandte Olivia nach einer kleinen Pause ein. „Mein Erinnerungsvermögen lässt immer noch etwas zu wünschen übrig." „Haben Sie das auch dem Arzt vom Ambulanzhubschrauber erzählt?" „Ja, er hat gesagt, dass es ganz normal ist, wenn die Erinnerung nur bruchstückhaft und wahllos zurückkommt." „Was hat mich nur geritten, dass ich Ihnen erlaubt hab, aufs Dach zu steigen?" „Olivia, Sie müssen sich keine Sorgen machen, mir geht es gut." Dabei legte er eine Hand auf ihre. Sie wollte ihm die Hand eigentlich entziehen, aber es war so angenehm. Um sich abzulenken, fragte sie: „Wird man sich in Ihrer Firma nicht Gedanken wegen des Flugzeugs machen?" „Im Augenblick können die sowieso nicht viel tun." „Ja, das stimmt." Olivia blickte nun auf ihre beiden Hände hinunter. Dann sah sie Ben in die Augen und sagte: „Ich ... Ich bin immer noch genauso weit wie vorhin. Nun, Sie wissen schon, als wir im Atelier ..." „Ja, ich weiß." Ein kleines Lächeln hatte sich um seinen Mund gelegt. „Sie können sich einfach nicht entscheiden, ob Sie es bei mir mit einem hergelaufenen Heiratsschwindler zu tun haben …" Olivias Wangen überzogen sich mit einer leichten Röte. „Hätten Sie an meiner Stelle nicht auch Bedenken?" „Vielleicht." Er zog eine Braue hoch. „Aber es ist ja nicht so, dass ich Sie zu
irgendwas zwinge." Olivia lag auf der Zunge zu sagen, dass es bereits eine Form von Nötigung darstelle, so nah bei ihr zu sitzen, mit der Hand auf ihrer, besonders nachdem sie zuvor gemeinsam gegen die Kräfte der Natur angekämpft hatten. Aber sie kam schnell zu dem Schluss, dass es besser war, Zurückhaltung zu wahren. Ben lächelte gezwungen und wechselte das Thema. „Ihr Dach muss dringend überholt werden." Mit diesen Worten nahm er auch die Hand weg. Olivia lehnte sich im Stuhl zurück, unsicher, ob sie nun erleichtert oder traurig sein sollte. Aber auch sie flüchtete sich gleich in das neue Thema. „Eigentlich brauchen wir ein ganz neues Dach, aber es ist eine riesige Fläche." Sie zuckte die Schultern. „Ich wollte es Stück für Stück erneuern, aber es gibt immer andere Dinge, die Vorrang haben: Zäune, Grundwasserbohrungen, Düngung der Weidegründe und so weiter. Außerdem hält Onkel Garth das mit dem Dach für nicht so eilig." Ben sah sich in der Küche um. „Das ist aber schade, denn sonst scheint das Haus sehr solide zu sein." „Das ist es", pflichtete ihm Olivia eifrig bei. „Diese Mauern sind für die Ewigkeit gebaut. Verstehen Sie etwas von alten Häusern?" Für einen Augenblick sah er erstaunt drein. Dann lächelte er wieder. „Ich fürchte, ich bringe nicht die gleiche Begeisterung dafür auf wie Sie. Aber ich kann mich auch nicht mit einem hundert Jahre alten Besitz rühmen." Olivia verzog das Gesicht. „Nun, Besessenheit trifft es wohl eher als Begeisterung. Aber ich kann einfach nicht anders. Es ist nur ... Ich ... Ach, lassen wir das!" „Ich denke, Sie sollten es mir sagen." „Natürlich", Olivia klang ein wenig bitter, „Sie bestehen ja immer darauf, meine geheimsten Gedanken zu erfahren." „Es gibt hier nun mal nur uns beide und außen nun eine Menge Wasser", versuchte er, sie zu besänftigen. „Können Sie Karten spielen?" Er sah sie amüsiert an. „Soweit ich mich erinnere, ja. Aber ist das nicht ein sehr langweiliger Zeitvertreib, falls Sie das vorhaben sollten?" „Das hatte ich allerdings, weil ich nämlich langsam den Eindruck habe, als wäre ich hier bei der Inquisition." Ben drehte seine Tasse so, dass er den Griff bequem anfassen konnte, und trank den Kakao in einem Zug leer. Dann sagte er: „Andererseits sind wir doch übereingekommen, dass wir eine gewisse Anziehungskraft aufeinander ausüben. Ich weiß schon", fuhr er fort und hob abwehrend die Hände, „wir wollen nichts überstürzen, wir sind nicht einmal sicher, ob es da etwas gibt, das man überstürzen könnte. Aber das werden wir auch nicht erfahren, wenn wir so tun, als wäre da überhaupt nichts. Stimmt's?" „Das scheint bei Ihnen ja zur fixen Idee zu werden." Olivia sah ihn beinah schon genervt an. „Und genau aus diesem Grund übe ich mich lieber in Zurückhaltung und ziehe es vor, nicht gleich mein ganzes Seelenleben vor Ihnen auszubreiten, Mr. Benedict Arnold." Bens Augen wurden schmal. „Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass das richtige Leben an Ihnen vorbeigehen könnte, weil Sie nur Wattle Creek und Ihre hundertjährige Familiengeschichte im Kopf haben?" Olivia biss sich auf die Lippe und strich sich nervös den Pony aus der Stirn. Er lächelte. „Das scheint Sie wohl auch noch zu amüsieren?" fragte sie spöttisch. „Nein, ich muss darüber lächeln, wie Sie sich immer die Haare aus dem Gesicht streichen, wenn Sie irgendwas aufregt." „Der Pony muss geschnitten werden, das ist alles." „Lügnerin!" Er hatte es ganz freundlich und mit einem Augenzwinkern gesagt,
genau wie Olivia, als sie ihn im Scherz der Lüge bezichtigte. Doch Olivia wurde rot vor Wut und stieß schließlich hervor: „In Ordnung, wenn es Sie beruhigt: Es ist mir schon mal in den Sinn gekommen, dass ich als alte Jungfer enden könnte." „Gut ... Nein ..." Er hob beschwörend die Hände, als er sah, dass sie kurz davor war, in die Luft zu gehen. „Ich meine es ganz uneigennützig, wenn ich sage, dass es gut ist, nicht allein zu bleiben. Sie haben nämlich so viel zu bieten, und das Leben kann so schön sein im Hier und Jetzt, dass es eine Schande wäre, es einfach so an sich vorbeiziehen zu lassen, weil man von der Vergangenheit nicht loskommt." Das brachte Olivia erst recht auf die Palme. Ihre Nasenflügel bebten, und sie hatte die Lippen zusammengekniffen. Aber Ben nahm ihr sofort den Wind aus den Segeln: „Sie sollten Ihre Energien und Ihre wunderbaren geistigen und künstlerischen Fähig keiten mit einem Mann teilen und Kinder bekommen, meine Liebe. Ich glaube nämlich, dass Sie einer Familie ein wunderbares Zuhause schaffen würden." Olivia sah ihn fassungslos an. Dann schluckte sie sichtlich vergebens und fragte: „Sie ... Sie kennen nicht zufällig meinen Onkel?" Ben zog eine Braue hoch. „Warum fragen Sie?" „Das, was Sie da soeben gesagt haben, hätte auch von ihm stammen können." Ben lachte. „Entschuldigen Sie, ich hatte ja keine Ahnung, wie er darüber denkt. Aber ich weiß, wie unangenehm es ist, wenn jemand einem dauernd vorschreiben will, was man mit seinem Leben anfangen soll..." „Das scheint Sie ja nicht davon abzuhalten, den gleichen Fehler zu machen", antwortete Olivia mit einem bitteren Unterton. „Ich bin ja nicht ins Detail gegangen", erwiderte er langsam und runzelte die Stirn. Nach einem Augenblick fuhr er fort: „Das heißt also, dass Ihr Onkel ein bisschen ungeduldig wird, was einen potenziellen Lockhart-Erben angeht, selbst wenn der nicht Lockhart heißen sollte?" „Mein Onkel ist in solchen Sachen ziemlich altmodisch", entgegnete Olivia spitz. „Wenn eine Frau mit einundzwanzig nicht in Sack und Asche geht, ständig schwanger ist und nichts anderes tut, als Geschirr abzuwaschen, ist sie seiner Ansicht nach nicht viel wert. Außerdem ist er überzeugt davon, dass ich zwangsläufig als alte Jungfer ende." „Merkwürdige Denkweise für einen Junggesellen", war Bens Kommentar dazu. „So komisch nun auch wieder nicht: Seine Braut hat ihn wenige Tage vor der Hochzeit wegen eines anderen sitzen lassen. Das erklärt zwar nicht, warum er Junggeselle geblieben ist, aber warum er beim Thema ,Frauen' so viel Zynismus an den Tag legt." „Aber er weiß Ihre Hilfe beim Führen der Farm doch sicher zu schätzen?" Olivia zuckte die Schultern und seufzte. „Ja, schon. Aber er sagt immer, dass ich so - ziellos und ungebunden bin." „Wäre." Plötzlich herrschte Schweigen, nur das Prasseln der Regentropfen war noch zu hören. Dann platzte Olivia heraus: „Was fällt Ihnen eigentlich ein, mich zu korrigieren? Glauben Sie, ich kann kein Englisch?" Ihre Stimme klang sehr bedrohlich. „Olivia, ich glaube, Sie wissen genau, dass ich das nicht so gemeint habe. Ich wollte damit andeuten, dass Sie in Wirklichkeit keineswegs ziellos sind, sondern Ihr Onkel nur denkt, dass Sie es wären." Als Olivia darauf nicht reagierte, versuchte er es mit einem Lächeln. „Ich weiß auch nicht, warum, aber scheinbar befinden wir uns in einer Situation, in der wir uns gegenseitig immer die unmöglichsten Beweggründe zuschreiben. Ich finde, wir sollten in unserer Wortwahl nicht so pingelig sein." Jäh stieß Olivia nun ihren Stuhl zurück und stand auf, aber Ben blieb seelenruhig sitzen und sah sie erwartungsvoll an.
„Ich überlege mir immer genau, was ich sage!" Er zog ganz langsam eine Augenbraue hoch. „Egal, welche Worte Sie auch wählen, dass da was zwischen uns ist, bleibt eine Tatsache." „Da irren Sie sich aber gewaltig. Ihre Wortwahl hat nämlich soeben jegliches Interesse meinerseits an Ihrer Person zum Erliegen gebracht, Mr. Bradshaw. Tut mir Leid, aber ich bin nun mal so." „Warum gehen Sie jetzt nicht ins Bett, Olivia?" schlug er vor. „Was ... Wie ... Für wen halten Sie sich eigentlich?" „Ich gebe zu, ich könnte genauso gut der Mann im Mond sein, aber deshalb darf ich doch einen wohl gemeinten Rat äußern. Sie sind müde und überreizt, und zwar derart, dass Sie sich sogar in grammatikalische Spitzfindigkeiten hineinsteigern. Trotzdem bin ich Ihnen immer noch sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben." Olivia blieb wie angewurzelt stehen und stieß einen lächerlichen kleinen Seufzer aus, um ihrem Ärger Luft zu machen. Hätte das eine andere Frau getan, hätte Olivia sie mit Sicherheit verachtet. Bevor sie noch völlig die Fassung verlor, drehte sie sich lieber auf dem Absatz um und ging geradewegs zur Tür. Im Hinausgehen wandte sie sich Ben noch einmal zu und sagte kurz angebunden: „Sie können im anderen Gästezimmer schlafen." Ben Bradshaw blieb noch eine Weile allein am Küchentisch sitzen. Zunächst umspielte ein winziges Lächeln seinen Mund, das aber immer mehr verschwand. Schließlich blickte er starr ins Leere und dachte darüber nach, dass sein Leben plötzlich unheimlich kompliziert geworden war. Ich sollte hier wirklich weggehen oder besser gesagt wegschwimmen, überlegte er. Konnte ein Schlag auf den Kopf Dinge denn wirklich so grundlegend verändern? Wie war es nur möglich, dass er sich an fast alles erinnern konnte, aber nicht an das Wichtigste? Und wodurch fühlte er sich überhaupt so zu Olivia hingezogen? Es gab schönere Frauen. Sie war provozierend selbstständig und derart praktisch veranlagt, dass man sich fragen musste, ob sie überhaupt jemanden brauchte ... Ah, das musste es wohl sein! Olivia gab ihm Rätsel auf! Und er konnte nicht abstreiten, dass er neugierig geworden war. Inwiefern das mit seinem vorübergehenden Gedächtnisschwund zu tun hatte, konnte er allerdings nicht sagen. Schließlich stand Ben auf, spülte die Kakaobecher und ging ins Bett. Als er am nächsten Morgen die Augen öffnete, fixierten ihn zwei scheinbar riesengroße braune Augenpaare, die, wie er erst kurz darauf feststellte, zu zwei beinah identischen sommersprossigen Gesichtern gehörten. Ryan und Sonia knieten direkt neben seinem Bett und hatten wohl gewartet, bis er von allein aufwachte. „Meine Güte!" stieß er erschrocken hervor und setzte sich, noch völlig schlaftrunken, im Bett auf. „Wenn das nicht die himmlischen Zwillinge sind." Die beiden kicherten. „Wir wollten nur mal nach Ihnen sehen." „Wie nett von euch! Seid ihr auf Delfinen hergeritten?" „Quatsch", sagte Sonia. „Es hat doch aufgehört zu regnen. Aber draußen gibt's ein paar tolle Pfützen. Wir haben unsere Gummistiefel auch auf der Veranda stehen lassen", fügte sie noch schnell hinzu. „Warum schlafen Sie jetzt hier?" wollte Ryan wissen. „Bei meinem anderen Zimmer hat's reingeregnet. Ist Olivia schon wach?" „Nein, sie schläft wie ein Murmeltier. Wir haben uns auch zu ihr ans Bett geschlichen, aber da war nichts zu machen." „Ja, wir waren ganz überrascht, dass sie noch schläft", sagte Sonia. „Denken Sie, es geht ihr gut? Sonst ist sie um diese Uhrzeit schon lange auf." Ben erklärte den beiden, dass Olivia und er die halbe Nacht auf dem Dach verbracht und auch die Nacht davor kaum geschlafen hatten. „Solange Olivia noch im Bett ist, könnten wir Sie doch ein bisschen rumführen",
schlug Ryan vor. „Das ist außerordentlich nett von euch", erwiderte Ben, und die beiden kicherten wieder. „Hab ich was Witziges gesagt?" „Sie reden so komisch, als ob wir Erwachsene wären. Meinst du nicht auch, Sonia?" Seine Schwester nickte heftig. „Schließlich habt ihr mir das Leben gerettet", murmelte Ben und sagte dann laut. „Lasst ihr mich einen Augenblick allein, damit ich mich anziehen kann?" Jedes Mal, wenn Olivia wach wurde, öffnete sie die Augen ein wenig, um sogleich wieder einzunicken. Das ging eine ganze Weile so, bis ihr bewusst wurde, dass die Sonne bereits hell ins Zimmer schien. Ein Blick auf den Wecker sagte ihr, dass es schon halb zehn war. Verwundert setzte sie sich auf. Wieso hatte sie bloß so lange geschlafen? Es dauerte einen Moment, bis ihr alles wieder einfiel: die Sache mit dem Dach und ihr Streit mit Ben. Daraufhin ließ sie sich mit einem' Seufzer zurück in die Kissen sinken. Wie sollte sie Ben Bradshaw heute Morgen bloß gegenübertreten? Da sie auf diese Frage keine Antwort wusste, ließ sie sich erst einmal viel Zeit beim Anziehen. Dann machte sie das Bett und räumte ausgiebig das Zimmer auf. Schließlich setzte sie sich sogar an die Frisierkommode, um sich den Pony zu schneiden. Als sie danach die blonden Haare zu einem losen Dutt aufsteckte, runzelte sie unwillkürlich die Stirn. Die ganze Zeit über war es im Haus totenstill gewesen. Ben wird wohl noch schlafen, dachte sie dann und zwang sich nun endlich, das schützende Schlafzimmer zu verlassen. Aber Ben war weder im anderen Gästezimmer noch sonst irgendwo im Haus. Nachdem Olivia alles abgesucht hatte, fing sie an, sich Sorgen zu machen. War der Gedächtnisschwund womöglich zurückgekehrt, und Ben irrte nun irgendwo da draußen herum? Oder hatte Ben eine Blutvergiftung bekommen, weil Schmutz in die Wunde geraten war? Wie hatte sie ihm nur erlauben können, sich derart zu verausgaben? Sie hatte schon den Telefonhörer in der Hand, um Jack anzurufen, als Ben durch die Hintertür in die Küche geschlendert kam. „Wo, zum Teufel, sind Sie gewesen?" fuhr sie ihn an und knallte den Hörer auf. Er sah sie verwundert an und ignorierte absichtlich ihren rüden Ton. „Guten Morgen, Olivia. Ja, es ist ein wunderbarer Morgen. Überall noch eine Menge Wasser, aber ..." „Sie wissen genau, was ich meine!" „Nein, das weiß ich nicht", antwortete er und sah sie fragend an. „Ich dachte, dass Sie womöglich draußen herumirren, weil Sie wieder Ihr Gedächtnis verloren haben oder im Fieberwahn sind, weil sich die Wunde entzündet hat oder ... Was ist denn daran so witzig?" „Entschuldigung", sagte Ben und wurde ernst. „Ich hab überhaupt nicht bedacht, dass Sie sich Sorgen machen könnten. Sonia und Ryan haben mir einen Besuch abgestattet. Sie hielten es für eine gute Idee, mir ein bisschen die Farm zu zeigen." „Sonia und Ryan!" „Hm, wir kamen zu dem Schluss, dass es besser wäre, Sie schlafen zu lassen." Für einen Augenblick entbehrte Olivias Gesichtsausdruck jeder Beschreibung. Dann setzte sie sich an den Tisch und sagte finster: „Diese beiden Gören rauben mir noch den letzten Nerv ... Hat Ihnen der kleine Rundgang denn gefallen?" fragte sie dann wieder versöhnlich und stand auf, um Eier, Schinken und eine Tomate aus dem Kühlschrank zu nehmen. „Nun, ich war im Geräteschuppen und hab mich ein bisschen mit Jack unterhalten und mit Davo, der übrigens ziemlich sicher ist, dass das Satellitentelefon bald wieder
funktioniert. Ach ja, und den Vater der Zwillinge hab ich auch kennen gelernt. Die Männer sind übrigens der Meinung, dass es morgen wohl möglich sein wird, mit einem Allradfahrzeug zum Flugzeug rauszufahren, vorausgesetzt, es regnet nicht noch mehr." Olivia legte einige Streifen Schinken in die heiße Pfanne und schnitt die Tomate in zwei Hälften. Dann nahm sie eine Banane aus dem Obstkorb und schälte sie. „Hat Jack was wegen des Wetters gesagt?" „Er meint, dass noch ein weiteres Tief im Anzug ist, es aber ein paar Tage dauern könnte, bis es uns erreicht." „Hoffentlich", sagte Olivia und fing an, den Tisch zu decken. „Wär's denn so schlimm, wenn's noch mal regnet?" „Es hat ja jetzt schon mehr Wasser gegeben, als der Boden aufnehmen kann. Noch so ein Unwetter würde uns wahrscheinlich sintflutartige Zustände bescheren." „Aber Sie müssen doch irgendwo noch höher gelegene Gebiete haben", erwiderte Ben und setzte sich an den Tisch. „Dort wird's aber mittlerweile ziemlich eng." „Was ist mit den angrenzenden Besitzen? Könnten Ihre Nachbarn nicht aushelfen?" „Nun, ich glaube nicht", sagte Olivia, während sie den Schinken wendete. „Naroo im Osten geht es wahrscheinlich genauso wie uns. In Campbell Downs gibt's zwar ein paar höher gelegene Gebiete, aber dort hat gerade unter ziemlich traurigen Umständen der Besitzer gewechselt. Und ich ..." Sie verzog das Gesicht. „... möchte die neuen Eigentümer nicht gern um einen Gefallen bitten müssen." Ben lehnte sich im Stuhl zurück und schob die Hände in die Taschen. „Und warum nicht?" fragte er stirnrunzelnd. Olivia schlug zwei Eier in die Pfanne und gab auch noch die Tomatenhälften und die Banane dazu. Dann wandte sie sich zu Ben um. „Das war auch ein Familienbetrieb, so wie Wattle Creek. Aber äußere Einflüsse zwangen sie, an einen multinationalen Konzern zu verkaufen, der, glaube ich, ursprünglich in Argentinien ansässig war und riesige Rinderherden sein Eigen nennt." Dabei fuchtelte sie mit dem langen Pfannenmesser in der Luft herum. „Das scheint Ihnen offensichtlich nicht zu gefallen." Ben runzelte immer noch die Stirn. Olivia zögerte, bevor sie fortfuhr: „Ich sollte vielleicht keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber die Leute, denen die Farm vorher gehört hat, haben alles gegeben und dafür gekämpft, dass sie sie behalten können. Natürlich gab es auch gute Zeiten nehme ich zumindest an. Aber generell kann ich die unpersönliche Struktur dieser Riesenkonzerne nicht leiden und die Tatsache, dass die Primärerzeuger, die sich nicht zu Kooperativen zusammengeschlossen haben ... Nun, kaum jemand in der Be völkerung weiß, was für ein harter Job es ist, eine Farm zu führen." „Da fällt mir ein Sprichwort ein, das Buchmacher beim Wetten mit Landwirten vergleicht. Es heißt darin, die Ersteren würden niemals zugeben, dass sie dabei Gewinne machen, und dass die Letzteren niemals aufhören zu jammern." Olivia wandte sich wieder dem Herd zu und sagte mit dem Rücken zu Ben: „Das ist doch absoluter Blödsinn. Ich hoffe nicht, dass das auch Ihre Meinung widerspiegelt." „Würde ich sonst kein Frühstück bekommen?" versuchte es Ben mit einem Scherz. Aber als sich ihm Olivia wieder zuwandte, sah sie ziemlich niedergeschlagen aus. „Finden Sie nicht auch, dass dieses Sprichwort nur wiedergibt, was die einfachen Leute in ihrer Unwissenheit glauben? Ich gestehe, dass ich auch keine Ahnung von Buchmachern habe, aber was in der Landwirtschaft los ist, weiß ich genau ... Wie auch immer, könnten Sie vielleicht schon mal den Toast machen?" Anstandslos tat Ben zwei Scheiben in den Toaster. Dann legte er Messer und Gabel auf den Tisch, holte auch noch Salz und Pfeffer aus dem Schrank und reichte Olivia schließlich die beiden Teller.
Wenig später saßen sie am Tisch und ließen es sich schmecken. Ben machte Olivia ein Kompliment zu dem gelungenen Frühstück, aber sie sagte nur: „Sie haben mir noch keine Antwort gegeben." „Ich kann Ihnen da sowieso nur ganz allgemein drauf antworten", entgegnete er und widmete sich wieder seinem Teller, bevor er erklärte: „Alle Menschen satt zu bekommen wird immer schwieriger, Olivia. Und genau deshalb haben es kleinere Farmer heute so schwer." Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Geht's noch allgemeiner?" „Es mag sich wie eine Platitüde anhören, ist aber doch der springende Punkt", gab er zurück und sah sie plötzlich ganz merkwürdig an. „Sie werden doch wohl zugeben müssen, dass Qualität und Geschmack extrem leiden, wenn man alles in großem Stil betreibt. Nehmen wir zum Beispiel diese wunderbaren Eier hier. Sie kommen nicht von Legebatteriehennen, sondern von glücklichen Hühnern, die noch frei herumlaufen dürfen." „Schon möglich, aber auf der anderen Seite ist die Milch, die Millionen von Australiern in diesem Augenblick im Kaffee trinken, garantiert frei von Tuberkelerregern, um nur ein Beispiel zu nennen." „Damit haben Sie wohl Recht." Olivia seufzte. „Kontrollen müssen sein. Aber ich bin überzeugt davon, dass es besser ist, wenn Farmer, die sich um ihr Land und ihre Erzeugnisse wirklich Gedanken machen, die Bevölkerung ernähren, anstatt ir gendwelche Großkonzerne, die nur auf Profit aus sind. Das müsste doch eigentlich auch die Regierung einsehen." „Wie wahr, wie wahr", murmelte Ben. „Aber Sie sind trotzdem anderer Meinung?" Er legte Messer und Gabel zur Seite. „Ich glaube nur, dass das heutzutage alles nicht mehr so einfach ist." Olivia schnalzte unwillig mit der Zunge und fragte dann: „Kaffee oder Tee? Ach, das trinken Sie ja nicht. Vielleicht Milch oder Orangensaft?" „Orangensaft, danke", sagte Ben. „Ich bin sehr erleichtert, dass Sie heute Morgen überhaupt mit mir reden." Olivia schenkte ihm ein Glas ein und setzte für sich Kaffeewasser auf. „Das wollte ich eigentlich nicht, aber dann hatte ich solche Angst, dass Ihnen was passiert sein könnte." „Heißt das, Sie fühlen sich für mich verantwortlich, Olivia?" „Nur was Ihre Gesundheit angeht." Ben wartete, bis Olivia sich eine Tasse Kaffee eingeschenkt hatte und wieder an den Tisch kam. Dann sah er sie lange an. Um abzulenken, fragte ihn Olivia: „Ist Ihnen heute schon etwas Neues eingefallen?" „Nein." Sie lächelte. „Was würden Sie denn heute gern unternehmen?" „Und Sie?" „Ich wollte ausreiten, um mir selbst anzusehen, was die Wassermassen mit Wattle Creek angestellt haben. Aber ich denke, Ihrer Verletzung bekommt es besser, wenn Sie sich noch ein bisschen ausruhen." „Ach, ein ruhiges Pferd könnte ich bestimmt reiten." „Ich werde beim Abwasch darüber nachdenken." Ben sah ihr eine Weile zu, wie sie mit dem Geschirr hantierte, dann stand er auf, um ihr beim Abtrocknen zu helfen. Keiner von beiden sagte ein Wort. Hin und wieder berührten sie sich aus Versehen. Oder war es Absicht? Beim dritten Mal warf Olivia Ben einen bösen Blick zu. Der neigte betont verwundert den Kopf und trat einige Schritte zur Seite. Aber Olivia war immer noch verärgert und wollte ihn loswerden: „Würde es Ihnen was ausmachen, den
Erste-Hilfe-Koffer zu holen?" „Zu Befehl, Kapitän!" sagte Ben und überließ die zähneknirschende Olivia sich selbst. Nachdem sie mit dem Abwasch fertig war und Ben immer noch auf sich warten ließ, wurde ihre Laune noch schlechter. Olivia wollte sich gerade auf die Suche nach ihm machen, als er pfeifend mit dem Erste-Hilfe-Kasten unterm Arm wieder in die Küche kam. „Das hat aber lange gedauert!" „Ich hab noch die feuchte Matratze zum Lüften rausgestellt und die nassen Laken aufgehängt", antwortete er zuckersüß. „Sie sind der Traum jeder Hausfrau", sagte sie, aber mit einem bitteren Unterton. „Kein Wunder, dass Sie das Gefühl haben, einen guten Ehemann abzugeben." „Hab ich das gesagt?" „Können Sie sich denn nicht mehr daran erinnern?" Olivia sah ihn ganz erschrocken an. „Doch", Ben lachte jungenhaft, „aber meine Bemerkung hat sich nicht ausschließlich auf Hausarbeit bezogen." „Stimmt. Sie sagten, dass Sie Frauen mögen und ihre kleinen Schwächen Sie nicht auf die Palme bringen ..." „Wie ich sehe, muss ich ganz genau aufpassen, was ich Ihnen erzähle", murmelte er. „Sie scheinen mir ja ein ausgezeichnetes Gedächtnis zu haben." „Was man von Ihnen im Augenblick wohl kaum behaupten kann. So, jetzt wollen wir uns aber mal Ihre Schläfe ansehen." Ben setzte sich gehorsam auf einen Stuhl, und Olivia entfernte den Verband. Die Rötung um die Stiche war abgeklungen. „Sieht gut aus. Wie geht's der Beule?" Ben befühlte seinen Hinterkopf. „Höchstens noch halb so groß." „Ihre Kratzer scheinen auch allmählich abzuheilen", sagte Olivia, während sie eingehend Bens Gesicht inspizierte. Er ertrug es mit Gleichmut, lächelte aber amüsiert, als sich ihre Blicke trafen und Olivia ganz rot wurde. Dabei hatte sie nur daran gedacht, wie unendlich blau und wunderschön seine Augen waren. Rasch richtete sie sich nun wieder auf und sagte: „Es liegt bei Ihnen, ob Sie mitkommen wollen." „Ich glaube, ein bisschen Bewegung wird mit gut tun." „Dann mal los, ich leih Ihnen einen Hut." Eine halbe Stunde später saßen sie im Sattel. Olivia auf einem braunen Wallach und Ben auf einer schwarzen Stute mit weißen Fesseln und traurigen Augen. Eine Zeit lang ritten sie nebeneinander her, ohne ein Wort zu wechseln, während sich Olivia ein Bild vom Zustand der Weidegründe machte. Die Sonne schien immer noch, aber am Horizont entstanden nach und nach riesige Wolkengebilde. Es war sehr warm, und der Boden dampfte. Olivia rückte den breitkrempigen Hut zurecht und fühlte, wie ihr Schweißperlen übers Gesicht liefen und ihr die Bluse allmählich am Körper festklebte. Hin und wieder sah sie verstohlen zu Ben hinüber, aber ihm schien es wunderbar zu gehen. Die Zügel locker in der Hand, saß er auf der schwarzen Stute, als hätte er nie etwas anderes getan. Auch das Pferd schien sich wohl zu fühlen. Olivia kam es so vor, als wäre der weltschmerzbeladene Ausdruck aus den Augen des Tieres gewichen. Die Stute hatte außerdem erwartungsvoll die Ohren gestellt und schien regelrecht be schwingt daherzutraben. Plötzlich musste Olivia lachen, und ihre schlechte Laune war wie weggeblasen. „Was amüsiert Sie denn so?" fragte Ben und schloss zu ihr auf. „Sie." „Ich? Vorhin hätten Sie mir am liebsten den Kopf abgerissen." „Ja, stimmt, aber das ist nun vorbei. Außerdem hab ich das Gefühl, dass Sie mit den
weiblichen Vertretern jeder Gattung wunderbar klarkommen. Sie müssten sich nur mal Bonnies ..." Sie deutete auf sein Pferd. „... Augen ansehen. Ich glaube, so zufrieden war sie seit Jahren nicht mehr." „Wenn das so ist, könnten wir vielleicht einen kleinen Galopp wagen. Was meinen Sie?" „Ja, aber nicht zu schnell, denken Sie an Ihren Kopf." Danach ritten sie mehrere Weiden ab und entdeckten dabei ein kläglich muhendes Kalb, das im Schlamm festsaß. Ben band dem Tier ein Seil um, das Olivia immer dabei hatte, wenn sie draußen unterwegs war. Das andere Ende befestigten sie am Sattel von Olivias Pferd. Sie saß wieder auf, und Ben stellte sich hinter das Kalb, um es anzutreiben, während sich Olivias schwarzer Hengst in Gang setzte, um es rauszuziehen. Danach sah Ben selbst aus, als hätte man ihn aus dem Schlamm befreien müssen. Schließlich zeigte ihm Olivia die Weide, auf der die Zwillinge ihn gefunden hatten. Sie saßen beide ab, und Ben verzog das Gesicht, als er den Stein entdeckte, an dem er sich den Kopf angeschlagen haben musste. „Ich war von der Landung bestimmt noch ganz benommen, denn an diese Weide kann ich mich überhaupt nicht erinnern." „Das denke ich auch, zumal Sie sonst sicher nicht ohne Hut losgelaufen wären. Aber an die Landung selbst erinnern Sie sich doch?" „Ich weiß noch, wie das Flugzeug aufsetzte, aber das ist auch alles. Puh, ist das heiß hier!" „Stimmt, und Sie sehen vielleicht aus! Kay wird sich freuen, wenn sie Grahams Jeans und Hemd so sieht." Olivia lachte. „Aber ich glaub, ich hab da die Lösung. Kommen Sie mit!" Sie schwangen sich wieder aufs Pferd, und Olivia führte Ben zu dem großen Bach, dem die Wattle-Creek-Farm ihren Namen verdankte. An den Ufern standen riesige Eukalyptusbäume und uralte Akazien, in denen zahllose Vögel zwitscherten. Der bis vor einigen Tagen beinah ausgetrocknete Bachlauf war nun so gut gefüllt, dass er an manchen Stellen fast über die flachen grünen Ufer trat. Olivia saß ab und führte ihr Pferd zum Wasser. Nachdem es seinen Durst gestillt hatte, nahm sie ihm Sattel und Zaumzeug ab und ließ es frei grasen. Ben tat dasselbe mit seiner Stute, fragte sicherheitshalber aber: „Haben Sie keine Angst, dass die beiden uns durchgehen?" „Bei einem Pferd, das ich dressiert hab, passiert so was nicht. Außer der Busch brennt. Aber da besteht heute wohl keine Gefahr", fügte sie noch hinzu. Dann zog sie die Stiefel aus, legte den Hut daneben und watete ansonsten komplett bekleidet in die Fluten. „Es ist herrlich", rief sie Ben zu, setzte sich mitten in den Bach und spritzte sich Wasser ins Gesicht. „Passen Sie nur auf, dass der Verband nicht feucht wird!" Er kam ihr nach und setzte sich neben sie ins Wasser, und sie lachten und planschten vergnügt im kühlen Nass wie zwei ausgelassene Kinder. „Das war eine hervorragende Idee, Olivia. Und die blöde Verletzung kann mir gestohlen bleiben!" Er tauchte zwar den Kopf nicht unter Wasser, aber sonst genoss er in vollen Zügen die herrliche Erfrischung. Schweiß und Schmutz verschwanden bald, als hätte es sie nie gegeben. Schließlich lehnte sich Olivia zurück, wobei sie sich mit den Händen auf dem Grund des Bachs abstützte und zu den Baumwipfeln hochblickte, durch die das Sonnenlicht ein hübsches Schattenmuster warf. „Dies ist einer meiner Lieblingsplätze", sagte sie und schloss die Augen. „Das kann ich verstehen! Es ist wunderbar hier." „Nun, natürlich ist es nicht das ganze Jahr über so, aber ein paar Stellen trocknen nie aus. Und im Frühjahr, wenn die Wiesenblumen sprießen und die Akazien in voller Blüte stehen, ist es fast noch schöner."
„Ein Paradies für Künstler, hm?" meinte Ben und besah sich eingehend die von der Sonne gebleichten, knorrigen Baumstämme. „Genau!" sagte Olivia und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich bin glücklich", sagte er leise. „Weil es hier so paradiesisch ist?" „Deshalb auch, aber vor allem, weil Sie den Pony nicht zu kurz geschnitten haben." Sie wollte schon etwas darauf erwidern, besann sich aber eines anderen und schöpfte sich noch ein bisschen Wasser über den Kopf. Ben ließ den Blick zunächst auf Olivias Gesicht ruhen, das von den feuchten Haarsträhnen effektvoll eingerahmt wurde. Dann senkte er die Lider, und Olivia spürte, wie er den Blick allmählich über ihren Hals gleiten ließ und schließlich ihre sich unter der nassen Bluse abzeichnenden Rundungen bewunderte. Sie bewegte sich, als hätte er sie unsittlich berührt, und er sah weg. Aber das passte ihr auch nicht. Es änderte nämlich nichts an der Erregung, die plötzlich von ihr Besitz ergriffen hatte. Und dadurch, dass er sich wegdrehte, wurde es nur noch schlimmer. Denn im Gegensatz zu ihm konnte sie unmöglich den Blick von ihm lassen. „Olivia", sagte Ben schließlich ganz leise, und sie zuckte zusammen, als hätte er sie bei irgendetwas ertappt. Er sah ihr nun wieder in die Augen und fuhr fort: „Sie haben Recht: Es ist vielleicht keine gute Idee." Nun wandte sie sich doch ab und betrachtete eingehend ihre Hände unter dem klaren, fließenden Wasser. „Sie glauben wohl, dass Sie Gedanken lesen können?" „Ich glaube, dass der Umstand, so herrlich erfrischt und an diesem wunderbaren Ort zu sein, dazu beiträgt, dass wir uns noch mehr zueinander hingezogen fühlen. Auch wenn wir den ganzen Morgen versucht haben, dieser Tatsache aus dem Weg zu gehen. Wenn wir mal ehrlich sind." Sie sah wieder zu ihm hinüber und entdeckte einen verwegenen Ausdruck in seinen Augen, wodurch sie sich selbst zu einer überaus gewagten Antwort verleiten ließ. „Wenn ich ehrlich sein soll, kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als mir die Kleidung vom Leib zu reißen - obwohl ich das natürlich nicht tun würde - und hier ein paar Runden mit Ihnen zu schwimmen." „Zufällig ging mir gerade etwas Ähnliches durch den Kopf. Aber ich bin der Dumme, wenn Ihnen plötzlich wieder einfällt, dass Sie mich nicht gut genug kennen und ich es dann erneut mit Ihrer kämpferischen Seite zu tun bekomme." „Blöder Kerl!" erwiderte sie, sprang auf und spritzte ihn nass. Aber er ließ sich von dem bisschen Wasser nicht aufhalten und machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen. Blitzschnell drehte sie sich um und watete aufs Ufer zu. Doch er kam immer näher und packte sie, als sie sich gerade an Land ziehen wollte. Obwohl er sie danach ganz zärtlich in den Armen hielt, schien eine dunkle Macht von ihm auszugehen. „Ich warne Sie!" Olivia klang irgendwie gehetzt. „Reg dich nicht auf, Olivia", sagte er sanft. „Ich will dich doch nur küssen." „Oh nein, das werden Sie nicht!" „Nach diesem hübschen Bild, das du da von uns gezeichnet hast, meine Liebe, ist ein Kuss das Mindeste, was ich für dich tun kann." Seine Lippen waren jetzt ganz dicht an ihrem Ohr. „Und mit weniger wirst du mir auch nicht davonkommen."
4. KAPITEL „Ich hab meine Meinung geändert!" fuhr sie ihn an. „Nein, das stimmt nicht. Du kommst dir nur ein bisschen lächerlich vor und wünschtest, dass du das mit dem Nacktbaden nicht gesagt hättest." Er zog eine Braue hoch. „Aber sieh es doch mal so: Das könnte unsere Beziehung ein für alle Mal klären." „Unsere Beziehung? Was soll das heißen?" „Nun, wenn du es nicht schön findest, mit mir zu baden und von mir geküsst zu werden oder umgekehrt, können wir als Freunde auseinander gehen." „Oh!" stöhnte sie. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich es mit dir ausgehalten habe. Und nach all dem, was ich für dich ..." Ben unterbrach ihren Redefluss auf klassische Weise und küsste sie endlich. Dabei berührte er zunächst nur ganz sacht Olivias Lippen und raunte ihr zu, dass sie nach Wattle Creek schmecke, dass das aber ganz herrlich sei. Als sie sich von ihm wegdrehte, bedeckte er ihren Nacken mit Küssen und sagte, dass ihr Hals ganz wunderbar sei, so grazil und schlank, und er die beiden Nächte zuvor bereits davon geträumt habe. Statt zu antworten, stemmte sie die Hände gegen seine Brust, konnte aber kaum etwas ausrichten. Er ignorierte ihre Bemühungen, sich von ihm loszumachen, und sagte nur, dass sie eine wunderbar schlanke Figur habe und dass ein schöner Rücken auch entzücken könne - und besonders ihr süßer kleiner Po, dessen Kompaktheit sie sicherlich dem Reiten verdanke. Olivia atmete hörbar aus, um ihrem Ärger Luft zu machen, aber auch wegen der Wirkung, die Bens Liebkosungen auf sie hatten. Trotzdem fuhr sie ihn schließlich an, dass er sie endlich in Ruhe lassen solle. Er lachte leise, drehte sie zu sich um und nahm sie beinah brüderlich in die Arme, drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und sagte dann schalkhaft, dass er leider nicht wisse, wie er das anstellen solle. „Du ... Du spielst doch nur mit mir!" warf sie ihm daraufhin vor. „Nein, überhaupt nicht", entgegnete er mit ernster Miene, von der sie sich allerdings nicht beirren ließ. „Doch, du meinst es kein bisschen ernst, genau wie der Mann im Mond. Erzähl mir nicht, dass du eine Frau, von der du wirklich was willst, so küssen würdest." Sobald sie das gesagt hatte, biss sie sich auf die Lippe und wurde knallrot. „Aha", sagte er und ließ sie los, packte sie aber gleich wieder beim Handgelenk und berührte mit der anderen Hand ihre Lippen. „Nun, wenn ich es ernst meinen soll, könnte es tatsächlich ganz anders aussehen." „Da bin ich mir sicher!" Sie warf den Kopf zurück. „Ich glau..." „Olivia", unterbrach er sie, „bevor du mir die Erbsünde vorwirfst, darf ich dir vielleicht noch etwas sagen. Ich habe eine goldene Regel: Ich laufe nicht herum und küsse Frauen leidenschaftlich, die das gar nicht wollen." „Gerade eben hast du noch gesagt, dass ich es auch will", entgegnete Olivia und bemerkte zu spät, dass er ihr damit eine Falle gestellt hatte. Er lächelte dann auch amüsiert und sagte: „Aber trotzdem ist es nicht an mir, das endgültig zu entscheiden, nicht wahr, Miss Lockhart? Nicht nur wegen meiner Prinzipien, sondern auch, weil du so gern bestimmst, wo's langgeht." „Soll das heißen, dass du, solange ich dir nicht versichere, dass ich willens bin ..." „Ganz richtig." „Glaubst du eigentlich, ich bin von gestern?" Ben seufzte, und seine Augen wurden plötzlich schmal. „Ich weiß, was wir tun können." Er ließ ihr Handgelenk los, blieb aber stehen, wo er war. „Wenn du nicht willst, dass ich dich richtig küsse, kannst du dich auf eine dir angemessen
erscheinende Art aus der Affäre ziehen - würdevoll oder wild um dich schlagend." Er lächelte. „Aber wenn du dich entschließt zu bleiben, gehe ich davon aus, dass du auch willst..." Sie sah ihn ungläubig an. „Und du meinst, dass ich dann nicht wieder das Gefühl habe, dass du nur mit mir spielst?" „Ich fürchte, Olivia, das musst du auf dich zukommen lassen", sagte er langsam. „Aber darf ich darauf hinweisen, dass unser Problem daher rührt, dass du nicht weißt, ob du von mir ernst genommen werden willst oder nicht?" „Ich habe es immer ernst gemeint, wenn ich einen Mann geküsst habe", flüsterte sie und zuckte die Schultern. „So bin ich eben." Dann fügte sie noch hinzu: „Das nur für den Fall, dass es dir besser gefällt, mich zu küssen, als du angenommen hast." „Damit drückst du dich eigentlich vor der Entscheidung, Olivia." Er sah sie amüsiert an, aber in seinen blauen Augen meinte sie noch eine andere Regung zu entdecken, die sie aber nicht genauer definieren konnte. Dann aber wurde ihr klar, was es war: eine Aufforderung zum Duell. „Das hängt ganz von dir ab, Ben." Auch Olivias Blick war plötzlich kühl und herausfordernd. „Man wird niemals behaupten können, dass ich meine Chancen nicht nutze", erwiderte er spöttisch. „Oder dass du mal um eine Antwort verlegen wärst", bemerkte Olivia trocken. Aber plötzlich war da zwischen ihnen noch etwas anderes. Das war kein Spiel mehr. Nicht, dass Olivia jemals vorgehabt hätte, mit Bens Gefühlen zu spielen, außer vielleicht in dem Moment, als sie ihn mit Wasser bespritzt hatte. Aber auch das freundschaftliche Miteinander war plötzlich verschwunden. Beinah hatte sie den Eindruck, dass so etwas wie Feindseligkeit in der Luft lag, durchwoben von nacktem Verlangen. Es bestand kein Zweifel, dass Ben, der nun wieder den Blick über ihren Körper gleiten ließ, mehr wollte als nur einen Kuss. Man konnte fast meinen, dass er sie in Gedanken bereits auszog, zumal sich ohnehin jede ihrer Kurven unter den nassen Sachen abzeichnete. Sie erschauerte, aber nicht vor Kälte. Sie begann nun ihrerseits, Bens Körper eingehend zu betrachten. Besonders lange ruhte ihr Blick auf den breiten Schultern. Aber sie fühlte sich nicht nur von seinen körperlichen Attributen angezogen. Ben hatte auch eine so bemerkenswerte Persönlichkeit, dass sie ihm schon allein deshalb kaum widerstehen konnte, wenn ... wenn er sie nicht gerade wieder einmal zur Weißglut brachte. Er ... Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf und schloss für einen Moment die Augen. Und plötzlich hatte sie gar nicht mehr den Eindruck, als ginge eine Gefahr von Ben aus. Dann, ohne dass sie wusste, wie es geschah, hielten sie einander bei den Händen, und nur Momente später, nachdem sie suchend die Augen geöffnet hatte, fand sie sich in seinen Armen wieder und wurde auf eine Weise von ihm geküsst, die überhaupt nicht mehr spielerisch, sondern sehr erwachsen und äußerst erregend war. Dabei fuhr er ihr leidenschaftlich über Brüste und Po, und sie fühlte, wie die Lust wieder von ihr Besitz ergriff. Ein Kribbeln überlief sie in immer wiederkehrenden Wellen, während sie begierig den Zungenkuss erwiderte und sich so dicht wie möglich an Bens breiten, muskulösen Oberkörper drängte. Hin und wieder nahm er sich ein wenig zurück, und sie hatte überhaupt nicht den Eindruck, dass es irgendetwas änderte, ganz im Gegenteil, dadurch bekam die Leidenschaft eine zärtliche Note. Noch nie hatte sie bei einem Mann das Gefühl gehabt, dass sie sich nichts vergab, einfach so die Arme in die Luft zu strecken, damit er ihren Oberkörper erkunden konnte. Und dann, als sie ihm die Arme schließlich um den Nacken legte, drückte er sie fest an sich, und sie spürte seine ganze Stärke. Olivia sträubte sich auch nicht dagegen, dass er den Kragen ihrer Bluse ein wenig zur Seite schob, damit er ihren Halsansatz besser küssen konnte, stattdessen lehnte sie
sich zurück und ließ ihn gewähren. Schließlich umfasste sie sein Gesicht und führte es behutsam zurück zu ihren Lippen. Daraufhin küssten sie einander so hingebungsvoll, dass Olivia glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Die Pferde unterbrachen schließlich ihr Liebesspiel. Bonnie war laut schnaubend zu den beiden ans Ufer getrottet, um nicht minder geräuschvoll vom kühlen Nass zu trinken, so dass die Vögel in den Bäumen erschreckt und wild schimpfend aufflatterten, um sich an anderer Stelle wieder niederzulassen. „Oh", stieß Olivia ganz außer Atem hervor, als Ben sie losließ. Aber er umfasste gleich darauf wieder ihre Taille, um ihr Halt zu geben. Dann sagte er: „Gerade noch zur rechten Zeit, mh?" und zog dabei fragend eine Augenbraue hoch. Olivia blinzelte nur schwach und setzte sich wieder in den Bach, um sich mit hohler Hand Wasser ins Gesicht und über die Haare zu schöpfen. Ben ließ sich neben ihr nieder und sagte nach einer Weile: „Du hast Recht gehabt." „Womit?" „Dass ich mehr bekommen habe als erwartet." Olivia wischte sich das Wasser aus den Augen und drückte die Haare aus, sagte aber nichts. „Heißt das, kein Kommentar?" „Im Moment fällt mir nichts dazu ein." Sie stand auf und kletterte aus dem Bach. Ben blieb, wo er war, und beobachtete, wie Olivia versuchte, das Wasser aus ihrer Arbeitshose zu drücken. Dann sagte er unvermittelt: „Ich glaube nicht, dass wir es dabei bewenden lassen sollten." „Nun, ich schon", erwiderte sie, zog die Stiefel an und nahm den Hut in die Hand. Jetzt stand auch Ben auf. „Falls du der Ansicht bist, dass das, was geschehen ist, für sich selbst spricht, bin ich deiner Meinung", sagte er lächelnd. „Es war wirklich unbeschreiblich schön." „Ich will es gar nicht beschreiben", sagte Olivia, schnalzte mit der Zunge und stieß einen leisen Pfiff aus. Gehorsam kam ihr Pferd auf sie zugetrottet, und Bonnie stelzte in den Bach, um Ben mit der Nase gegen den Oberkörper zu stupsen, wobei sie leise schnaubend die Nüstern blähte. Jetzt lächelte auch Olivia. „Unsere Anstandsdame hat Recht: Es wird Zeit, wieder zu gehen." Dann schwang sich Olivia in den Sattel. Auch Ben kam nun aus dem Wasser, dicht gefolgt von Bonnie, die scheinbar ganz ungeduldig darauf wartete, dass Ben endlich so weit war, um wieder auf ihr zu reiten. Seite an Seite und hoch zu Ross sitzend, verließen Olivia und Ben schließlich das kleine grüne Paradies am Bach, wohl wissend, dass sie sich gleich wieder der unbarmherzigen Hitze des australischen Sommers stellen mussten. Es dauerte dann auch nur wenige Minuten, bis ihre nassen Sachen zu trocknen begannen. Nach einer Weile sagte Olivia: „Du brauchst nicht zu glauben, dass ... Nun, ich bin keine unerfahrene Jungfrau, die von ein paar Küssen total überwältigt ist." „Ich auch nicht. Soll heißen, ich bin genauso wenig unerfahren, aber trotzdem hin und weg." „Das kann ich mir kaum vorstellen!" „Ich weiß. Es gibt eine Menge Dinge, die du dir bei mir nicht vorstellen kannst. Aber um ehrlich zu sein, geht es mir mit dir im Augenblick genauso." „Tatsächlich?" Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. „Ich dachte, du kannst in mir lesen wie in einem offenen Buch, Ben Bradshaw." Er zuckte die Schultern. „Das war aber, bevor du mich auf eine Weise geküsst hast, die - wenn Bonnie nicht eingeschritten wäre - wer weiß wo hätte enden können. Obwohl ich dich schon küssen wollte, als du mir wie Mutter Theresa erschienen bist."
„Bitte lass uns nicht wieder davon anfangen", sagte Olivia, die den Vergleich mit der bekannten Ordensschwester immer noch unpassend fand. „Ich bin der Meinung, wir sollten mit überhaupt nichts anfangen, solange ich nicht Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken ... Weißt du, das alles hätte wirklich nicht ungelegener kommen können!" Frustriert ließ sie den Blick über die vom Wasser verwüstete Landschaft schweifen und sah dann hinauf zum Himmel. „Es gibt so viel zu tun, dass ich mich nicht auch noch damit befassen kann, ob du nun ein hergelaufener Schürzenjäger bist oder es tatsächlich ernst meinst." Er lachte schallend. „Es tut mir so Leid, Miss Lockhart. Ich werde mich bemühen, Ihnen in den nächsten Stunden aus dem Weg zu gehen." Sie sah ihn skeptisch an, gab ihrem Pferd die Sporen und erreichte bald darauf die Ställe. Olivia sollte Ben tatsächlich erst am Abend wieder sehen. Jack war nämlich zu dem Schluss gekommen, dass der Boden mit einem geländegängigen Wagen schon jetzt wieder befahren werden konnte, und hatte Ben im Landrover mitgenommen, um sich auf die Suche nach dem Flugzeug zu machen. Olivia bereitete gerade das Abendessen vor, als Ben mit einer Aktentasche unterm Arm in die Küche kam. Draußen verdunkelten gerade schwere Regenwolken den Sonnenuntergang. „Ihr habt das Flugzeug also gefunden", sagte Olivia, als sie die Aktentasche bemerkte. „Hm", sagte Ben nur und hängte den geliehenen Hut an den Haken an der Tür. Er sah angespannt und müde aus. „Warum machst du dich nicht ein bisschen frisch? Danach geb ich dir ein Bier aus." Er bedeutete ihr mit den Augen, dass ein Bier wunderbar wäre, sah dann aber wehmütig an sich herab. „Das Problem ist nur, dass ich nichts mehr zum Wechseln habe, und diese Klamotten fühlen sich an, als wären sie hinzementiert." „Wie wär's mit Grahams Pyjama", schlug Olivia vor, und auf den überraschten Blick, den er ihr daraufhin zuwarf, erwiderte sie: „Keine falschen Hoffnungen, ich bin wieder im Mutter-Theresa-Modus und werd's schon überleben, wenn du hier im Schlafanzug aufkreuzt." „Wie schade!" murmelte er beim Hinausgehen, die Aktentasche immer noch unterm Arm. Kaum hatte Ben die Küche verlassen, steckte Jack den Kopf durch den Türspalt. „Komm rein", sagte Olivia freundlich. „Wie wär's mit 'nem Bier?" „Ich sterbe für ein Bier", sagte er und stellte eine Kiste mit dem Satellitentelefon auf den Tisch. „Davo hat's wieder hingekriegt. Wir haben übrigens das Flugzeug gefunden", fügte er noch hinzu und sah sich nach Ben um. „Er ist im Bad", erklärte Olivia und gab Jack ein Bier. Sich selbst schenkte sie ein Glas Wein ein, an dem sie hin und wieder nippte, während sie die Bolognesesoße umrührte, die es später zusammen mit den Spaghetti geben sollte. „Er hat verdammtes Glück gehabt, dass er da heil rausgekommen ist", stellte Jack nach einem großen Schluck aus der Flasche fest. „Er muss ein verflucht guter Pilot sein und enorme Ausdauer haben. Bevor er auf unserer Weide zusammenbrach, ist er zehn Kilometer gelaufen. Deshalb haben wir wahrscheinlich auch weder was gesehen noch gehört." Olivia setzte sich stirnrunzelnd zu Jack an den Tisch. „Erinnert er sich denn mittlerweile, was er in Campbell Downs wollte und welche Position er bei dieser Agrargesellschaft bekleidet? Der Doktor sagte zwar, dass sein Gedächtnis nur bruchstückhaft zurückkäme, aber ..." Olivia machte eine hilflose Geste. „Ich würde sagen, dass er in dieser Firma ein ziemlich hohes Tier ist", mutmaßte Jack. „Er scheint auch genau zu wissen, wovon er redet. Ich mein, wenn's um Rinderzucht und solche Sachen geht ... Und ich werd das Gefühl nicht los, dass er uns
irgendwas verheimlicht. Irgendwie ist er in manchen Dingen sehr zurückhaltend, was aber nicht auf seinen Gedächtnisschwund zurückzuführen ist." Olivia brauchte einen Augenblick, um zu verdauen, was Jack da soeben gesagt hatte. Dann stellte sie fest: „Nun, wir sind mittlerweile ja nicht mehr von der Welt abgeschnitten, es sei denn, heute Nacht regnet's wieder. Bestimmt wird morgen jemand von seiner Firma oder ein Familienangehöriger kommen, um ihn abzuholen." Jack trank auch noch den letzten Schluck Bier und stand auf. „Ich muss jetzt los. Und was unseren Gast angeht, hätte man ihn schon lang holen können. Mit 'nem Hubschrauber war das kein Problem gewesen. Bis morgen dann, Livvie." Warum habe ich bloß nicht selbst daran gedacht? wunderte sich Olivia, als sie wieder am Herd stand, um die Hackfleischsoße umzurühren und die Nudeln ins heiße Wasser zu geben. Dann hob sie die Salatblätter unters Dressing und stellte die Schüssel auf den Tisch sowie eine Glasschale mit geriebenem Parmesan. Zum Nachtisch sollte es Käsekuchen geben, den sie kunstvoll mit Früchten verziert hatte. Dann nahm sie das Glas Wein, setzte sich an den Tisch und versuchte, was Ben anging, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war immer noch ganz vertieft, als Ben frisch gewaschen, gekämmt und in seinem eigenen Overall hereinkam. Olivia hatte das Kleidungsstück zwar gewaschen und notdürftig geflickt, aber völlig vergessen. „Darf ich?" fragte Ben und wies auf den Kühlschrank. „Natürlich." Er bediente sich, trank aber nicht wie Jack direkt aus der Flasche, sondern nahm ein Glas vom Büfett und schenkte sich ein. Dann setzte er sich zu Olivia und prostete ihr zu: „Cheers." „Cheers." Ben trank einen großen Schluck, und Olivia beobachtete dabei das Muskelspiel an seinem Hals. „Jack sagt, dass du ein wahres Wunder vollbracht hast, dich und das Flugzeug verhältnismäßig unbeschadet runterzubringen." Ben zuckte die Schultern. „Ich glaube, dass ich einfach mehr Glück als Verstand hatte." „Was wirst du nun mit dem Flugzeug machen?" „Das ist ein echtes Problem. Man kann es weder aus der Weide rausfliegen noch abschleppen, weil das Bugrad kaputt ist. Man wird es auf einem ziemlich großen LKW abtransportieren müssen. Aber vielleicht gibt's ja noch eine andere Lösung ..." Olivia stand auf, um die Spaghetti abzugießen und die Bolognesesoße in eine Schüssel zu füllen. Dann sagte sie unvermittelt: „Erzähl mir mehr von der Agrargesellschaft, für die du arbeitest, Ben, und warum sie keinen Hubschrauber geschickt haben, um dich hier rauszuholen." Ben schien zu wissen, worauf sie hinauswollte, und lächelte. „Sie haben wahrscheinlich gedacht, dass ich hier ziemlich sicher bin, und den Hubschrauber an den Rettungsdienst ausgeliehen. Ich könnte mir vorstellen, dass es nach diesem Unwetter eine Menge Leute gab, die ihn nötiger hatten als ich." Das erschien Olivia plausibel, und sie nickte zustimmend. Sie stellte die dampfenden Schüsseln auf den Tisch und sagte: „Lass es dir schmecken." Aber dann fragte sie doch: „Was macht sie?" „Meine Firma? Du hast wahrscheinlich noch nicht von ihr gehört. Das ist das erste Mal, dass sie hier in der Gegend tätig ist." „Trotzdem würde ich gern mehr wissen." In diesem Augenblick klingelte das Telefon, und Olivia nahm den Hörer ab. „Onkel Garth!" rief sie gleich darauf erfreut aus. Und dann schilderte sie ihrem Onkel ausführlich, wie es nach dem Unwetter auf der Farm aussah. Abschließend versicherte sie ihm noch, dass er nichts zu überstürzen brauche, weil Jack und sie schon klarkamen. Erst als sie sich wieder zu Ben an den Tisch gesetzt hatte, stellte sie
fest: „Jetzt hab ich ihm gar nichts von dir erzählt!" „Das hab ich mitbekommen. Welchen Rat hätte er dir wohl gegeben?" „Dass ich dir einen Strick um den Hals binden und Fußfesseln anlegen soll." Ben neigte ungläubig den Kopf und verzog die Mundwinkel. „Das meinst du doch nicht ernst, Olivia?" „Doch, aber nur so lange, bis er sich selbst davon überzeugt hätte, dass du aus gutem Hause kommst, kreditwürdig bist und gute Zähne hast ..." „Soll das heißen", sagte Ben langsam und tat so, als wäre er vor allem damit beschäftigt, die Spaghetti um die Gabel zu wickeln, „dass er jeden, der sich für dich interessiert, auf Herz und Nieren prüft?" „Nein, das nicht, weil es meist gar nicht so weit kommt. Aber Onkel Garth weist mich regelmäßig dezent darauf hin, wenn ein Mann seiner Meinung nach infrage käme." „Wie ... unangenehm!" stellte Ben fest. „Oh, ich bin's gewöhnt", entgegnete Olivia gut gelaunt. „Und, wirst du es tun?" Sie lehnte sich im Stuhl zurück und sah ihn an. „Dir Fesseln anlegen? Nein, Ben, da könnte ich wohl genauso gut versuchen, den Wind einzufangen." „Ist diese Aussage darauf zurückzuführen, dass du dir während der letzten paar Stunden ernsthaft Gedanken gemacht hast?" fragte er und schien sehr gespannt auf ihre Antwort zu warten. Olivia zog eine Braue hoch und spielte mit dem Stiel des Weinglases. „Nein, Ben, es ist nur so ein Gefühl. Ich weiß doch so wenig von dir. Sagen wir, es hat etwas mit Intuition zu tun." „Mir gefällt der Ton nicht, in dem du das sagst", sagte er leise und schob den Teller weg. „Danke übrigens für das Essen. Es war wunderbar." „Was soll das heißen: Dir gefällt mein Ton nicht?" fragte Olivia ein wenig verärgert, nachdem sie aufgestanden war, um den Käsekuchen zu holen. Dann fuhr sie fort: „Ich kann's nicht ändern: Selbst wenn du dich mittlerweile an jedes winzige Detail deines Lebens erinnern könntest, hätte ich immer noch das Gefühl, mit meinem Vorbehalt richtig zu liegen." „Nun, ich halte es nicht für klug, mich wegen einer bloßen und meiner Meinung nach unbegründeten Vermutung zu verurteilen. Ich könnte es nachvollziehen, Olivia, wenn du der Meinung wärst, dass wir uns im Bett nicht verstehen." Insgeheim zuckte sie zusammen. Wie konnte er das alles nur auf den Sex reduzieren, den sie noch nicht einmal gehabt hatten? Männer! Geräuschvoll stellte sie die Schüsseln weg, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn aufgebracht an. Ihre Geduld war zu Ende. „Olivia", versuchte es Ben ganz freundlich, „wir waren heute Morgen doch schon so nah dran, und erzähl mir jetzt nicht, dass du es nicht auch wolltest. Wie können wir denn da so tun, als wäre nichts gewesen?" „Darum geht es doch gar nicht!" stieß sie hervor. „Seit du hier bei mir reingeschneit bist, denkst du nur an das eine, und dabei weißt du überhaupt nicht, ob in Charleville nicht jemand auf dich wartet. Was, wenn ich mich in dich verliebe?" Ben ließ sich Zeit mit der Antwort, sah Olivia dafür aber lange und zärtlich an. Sie trug einen Jeansrock und ein kurzärmeliges graues Seidenjäckchen. Das blonde Haar hatte sie wie immer in einem Dutt zusammengenommen, und ein paar Strähnchen um spielten weich das Gesicht. Plötzlich sagte er: „Du bist wirklich etwas ganz Besonderes, weißt du das? Ich kenne genug Frauen, die in der Stadt leben und arbeiten und deren Haut nicht annähernd so zart und hell ist wie deine." Olivia atmete tief durch, setzte sich wieder hin und erklärte mühsam beherrscht: „Ich hab's dir doch schon mal erklärt, ich will nicht als Trockenpflaume enden.
Vielleicht bin ich auch nur eitel", fügte sie dann etwas freundlicher hinzu. „Nicht so, wie man das normalerweise verstehen würde. Aber ich finde es gut, dass du auf dich aufpasst." Seine Worte hatten auf sie eine ganz merkwürdige Wirkung, vielleicht weil er besonders aufrichtig geklungen hatte. Trotzdem sah sie ihn stirnrunzelnd an, als sie schließlich mit einem wehmütigen Lächeln antwortete: „Ben, ich hab einfach so das Gefühl, dass du ein echter Casanova bist. Du findest immer die richtigen Worte und weißt immer, wie du es anstellen musst, aber ..." „Das könnte ich von dir auch behaupten, wenn ich an heute Mittag denke", unterbrach er sie und sah sie eindeutig zweideutig an. „Ich finde, dass das am Bach äußerst... erotisch war." Heiße Röte stieg ihr ins Gesicht. Aber auch Olivia erinnerte sich ganz genau und gern daran, wie Ben sie unten am Bach geküsst hatte. Fast wäre sie wieder schwach geworden. Aber dann fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, wie Bonnie scheinbar dazwischengegangen war, um Ben dazu zu bewegen, ihr noch einmal einen so wunderbaren Ausritt zu verschaffen, und Olivia musste lauthals lachen. Ben sah sie verwundert an. „Darf ich mitlachen?" Olivia stand auf. „Ich musste nur daran denken, wie Bonnie deine Annäherungsversuche untergraben hat. Das ist alles. Aber ich will dir mal was sagen: Ob du nun ein notorischer Herzensbrecher bist oder nicht - du hast Stil, und ich bin froh, dich kennen gelernt zu haben. Aber damit hat sich's." Dann wandte sie sich dem Waschbecken zu. „Moment mal, Olivia", sagte Ben in einem Ton, den sie gar nicht von ihm kannte kalt und abgehackt -, so dass sie sich erneut zu ihm umdrehte. Auch er war aufgestanden, schob den Stuhl wieder an den Tisch und legte die Hände auf die Rückenlehne, bevor er fortfuhr: „Glaubst du nicht, dass dein plötzlicher Rückzieher etwas damit zu tun hat, dass ich nicht so leicht herumzukommandieren bin, wie du das gern hättest?" Olivia atmete tief durch. „Vielleicht hast du ja ein Problem damit, dass ich nicht nach deiner Pfeife tanze!" „Wohl kaum. Aber wenn ich mich zu jemandem hingezogen fühle, will ich eigentlich nicht ausfechten müssen, wer wem überlegen ist, und außerdem stelle ich Wasserpfützen nicht über mein Gefühl zu einem Menschen." Er klang ein wenig sarkastisch. „Das hättest du mir nicht sagen dürfen, Ben Bradshaw!" Olivias Lippen waren weiß vor Zorn. „Warum? Bist du jetzt sauer, weil es der Wahrheit entspricht?" „Nein, weil es so weit von der Realität entfernt ist wie nur irgend möglich!" stieß Olivia hervor und stob aus der Küche. Sie stürmte direkt in ihr Atelier und rannte dort eine ganze Weile auf und ab, wobei sie versuchte, ein bisschen Ordnung in ihr Gefühlschaos zu bekommen. Zunächst einmal konnte sie kaum glauben, dass ein Mann, den sie kaum kannte, sie derart in Rage brachte. Genauso abwegig war seine Erwartungshaltung -gerade weil sie sich kaum kannten. Aber am meisten machte ihr zu schaffen, wie leicht er es gehabt hatte, sie in seinen Bann zu ziehen. Schließlich blieb sie vor der Staffelei mit den Kakadus stehen, nahm den Block in die Hand und blätterte spontan weiter. Eine Weile blickte sie starr auf die leere weiße Fläche vor sich, ohne zu wissen, was sie zeichnen wollte. Dann nahm sie den Bleistift und fing einfach an. Allmählich tauchte da Wattle Creek vor ihr auf, genauer gesagt, der Bach mit den alten Bäumen und dann ein Mann und ein Pferd, die im Wasser standen - Ben und Bonnie. Warum gerade diese Szene? fragte sich Olivia wehmütig, als sie sich zurückgesetzt
hatte, um ihr Werk zu begutachten. Es war wirklich gelungen. Es strahlte eine wunderbare Wärme aus, weil die freundschaftliche Beziehung zwischen Mensch und Tier so ausgezeichnet getroffen war - ein ideales Grußkartenmotiv. Aber während Olivia so das Bild betrachtete, wusste sie auch, dass sie ihr Schaffensdrang der Lösung des Problems keinen Schritt näher gebracht hatte. Nachdenklich kaute sie auf dem Ende des Bleistifts, als es an der Tür klopfte. „Herein!" rief sie, ohne zu zögern, weil sie davon ausging, dass es nur Jack oder jemand anders von der Farm sein konnte. Sie schob sich den Bleistift hinters Ohr und stand auf. Aber es war Ben, der ein Tablett mit einer Kaffeekanne und zwei Tassen vor sich hertrug. „Ich wollte mich entschuldigen", sagte er leise und stellte das Tablett ab. „Ich ... dachte, du trinkst keinen Kaffee." „In der einen Tasse ist Kakao. Den Kaffee hab ich genau nach Anleitung gemacht. Hoffentlich schmeckt er dir." „Du bist unmöglich", sagte Olivia. „Wieso? Weil ich mich entschuldigen möchte?" antwortete er mit einem jungenhaften Lächeln. „Nein, weil du ... mir jedes Mal den Wind aus den Segeln nimmst." „Ich hatte gehofft, du würdest sagen, dass ich manchmal ziemlich nett sein kann." Wieder war da dieses jungenhafte Lächeln, diesmal ein bisschen ausgeprägter. Aber so einfach sollte er ihr nicht davonkommen. „Ich hab nicht vergessen, was du mir vorhin in der Küche gesagt hast." „Hätte ich mich vielleicht vom Dach stürzen sollen?" fragte er nun breit lachend. Jetzt musste auch Olivia lächeln. „Nein, natürlich nicht." Und scherzhaft fügte sie noch hinzu. „Aber ich muss erst mal sehen, ob mir der Kaffee auch schmeckt..." „In Ordnung. Ich war vorhin wirklich ... Oh!" rief Ben aus, als er die Skizze von sich und Bonnie sah. „Hast du das gerade eben gemacht?" „Ja", sagte sie und nahm den Bleistift wieder in die Hand. „Hat das irgendwas zu bedeuten?" fragte Ben, während er sich die Skizze näher ansah. Olivia goss sich eine Tasse Kaffee ein. „Ja, dass Künstler manchmal sehr impulsiv sein können und dass es gewissermaßen sowohl ein sehr bewegender als auch ein sehr lustiger Moment war." „Ich verstehe", sagte Ben. „Möchtest du das Bild haben?" Olivia wusste selbst nicht, was sie zu dieser großzügigen Geste veranlasste. „Als Erinnerung an Wattle Creek, nachdem du mich ein für alle Mal von hier verbannt hast?" Olivia tat so, als müsste sie erst einmal den Kaffee verkosten. Dann zog sie sich einen Hocker an den Tisch heran, und Ben setzte sich neben sie. „Olivia?" Sie zuckte die Schultern. „Ich hab Bonnie noch nie so gesehen und wollte das bildlich festhalten. Das ist alles." „Ich kann mich aber des Gefühls nicht erwehren, dass es mir jetzt ohne Bonnies Zuneigungsbekundungen besser ginge." Olivia schnitt ihm ein Gesicht. „Was wollte ich noch sagen, bevor ich das Bild sah? Ach ja, ich war wirklich wütend und deshalb wohl auch ein bisschen unfreundlich." „Ich möchte gar nicht erst wissen, was bei dir sehr unfreundlich bedeutet." Ben sah sie an. „Hab ich da vorhin vielleicht einen wunden Punkt getroffen?" „Nein. Ich mag ja unabhängig sein, aber ich war nie der Meinung, dass ich dominant bin. Außerdem kann es wirklich brenzlig für unsere Herden werden, wenn's heute Nacht noch mal regnet."
Sie sahen sich an, bis Ben vorschlug: „Sollen wir Waffenstillstand schließen?" Olivia wollte etwas darauf erwidern, aber Ben war schneller. „Ich meine, so dass wir beide wenigstens gut schlafen können, was wir uns bestimmt verdient haben. Du siehst mir ganz so aus, als ob du ein bisschen Schlaf gebrauchen könntest." Er legte ihr den Arm um die Schultern. Nachdem sie sich zunächst ein wenig gesträubt hatte, ließ sie es geschehen. „Freunde?" fragte er betont locker. Sie zögerte, gab dann aber nach. „Ja, aber ..." „Sag es nicht, ich hab schon verstanden: Du willst allein ins Bett. Das war ja auch ein harter Tag für dich." Wie gern hätte Olivia ihm jetzt übers Gesicht gestrichen, all die Formen und Linien nachgefahren, die ihn so anziehend machten, um ihm dann vorm Zubettgehen noch einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Aber da nahm er den Arm weg, und sie hielt sich zurück und sagte nur: „Schlaf gut, Benedict Arnold. Hoffentlich wird's eine ruhige Nacht." Olivia erwachte, und ihr erster Gedanke galt Ben Bradshaw. Die Sonne erschien gerade am Horizont, und Olivia konnte einfach nicht anders, sie musste hinaus auf die Veranda, um sich den Sonnenaufgang anzusehen. Die Wolken vom vergangenen Abend hatten sich verzogen, und die Bedrohung durch weitere Regenfälle schien gebannt. Es war ein wenig kühl, und auf dem spärlichen Pflanzenbewuchs lag Morgentau. Aber wenn sich die apricotfarbenen Strahlen der morgendlichen Sonne erst mal den Weg über das Land ertasteten, wären auch die Tautropfen schnell verschwunden. Während Olivia so dastand - immer noch im Schlafanzug -und das wunderbare Naturschauspiel beobachtete, zog es sie in den Garten, den der Regen zu neuem Leben erweckt hatte. Eins mit sich und der Natur, pflückte Olivia einen Blumenstrauß. Danach ging sie hinüber zum Rasenstück, lehnte sich gegen den Gartenzaun und betrachtete das Haus mit den alten Ziegeln, dem gebogenen Wellblechdach und dem Efeu, der sich an den Streben der Veranda hochrankte. Wie gern saß sie dort in den bequemen Rattanstühlen im Schatten der zahllosen Kübelpflanzen! Und wieder einmal wurde ihr bewusst, wie viel ihr das alles bedeutete. Aber das galt nicht nur für das Wohnhaus, sondern für ganz Wattle Creek. Sie drehte sich um und ließ den Blick zum Horizont schweifen. Die Luft war klar, und man konnte meilenweit sehen. Jetzt lag der sintflutartige Regenguss gerade mal vierundzwanzig Stunden zurück, aber das Land machte schon wieder den Eindruck, als wäre es sonnenverbrannt. Die Morgenröte brachte den ohnehin schon rötlichen Boden regelrecht zum Glühen - ein Phänomen, das selbst Einheimische immer wieder faszinierte. Aber in kürzester Zeit würde auch dort draußen alles wieder grün, wenn die im Boden gespeicherten Wasserreserven die Grassamen sprießen ließen. Olivia nahm all diese Eindrücke begierig in sich auf und fühlte, wie sich ein erhebendes Gefühl in ihr ausbreitete. Aber sie wusste ganz genau, dass es nicht allein an dem idyllischen Blick auf Wattle Creek lag, und sie barg das Gesicht in den Blütenköpfen. Der Hauptgrund für ihre gute Laune schlief noch - höchstwahrscheinlich zumindest. Sie war mit dem Gedanken an Ben Bradshaw aufgewacht, und das hatte sie mit einem Hochgefühl und dem Wunsch nach einem Neubeginn erfüllt. Und das konnte nur eins bedeuten. „Ich hab mich in ihn verliebt", sagte sie leise zu den Blumen. „Ich weiß, dass ich das nicht hätte tun sollen, weil ich ihn und sein Umfeld ja kaum kenne. Aber ich konnte einfach nicht anders. Es ist ein herrliches Gefühl... Schön, dass er immer noch da ist. Er bringt mich zum Lachen, und ich kann mich geistig mit ihm messen, auch wenn unsere Wortgefechte manchmal so weit gehen, dass ich böse auf ihn bin ... Trotzdem verlangt es mich nach ihm, und ich fühle mich so lebendig. Ich muss
verliebt sein!" „Wie ich nun damit umgehe, steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt", sagte Olivia schließlich kaum hörbar zur aufgehenden Sonne.
5. KAPITEL
Zur gleichen Zeit stand Ben Bradshaw im Schatten am Fenster seines Zimmers und beobachtete, wie Olivia mit dem Strauß Blumen im Arm zum Haus zurückging. Sie war offensichtlich tief in Gedanken. Was geht dir wohl jetzt gerade durch den Kopf, meine wunderschöne Olivia? fragte er sich. Erstaunlich eigentlich, noch vor zwei Tagen war ich der Meinung, dass es genug schönere Frauen gibt. Wie sich die Dinge ändern können! Aber ich hab auch nicht damit gerechnet, wie leidenschaftlich du sein kannst. Ich konnte mir nicht mal vorstellen, dass es mir so viel Spaß machen würde, dich zu küssen. Die Frau hatte es ihm angetan. Doch Ben konnte nicht umhin, bei diesem Gedanken die Stirn zu runzeln. Er musste Olivia endlich die Wahrheit sagen. Je früher, desto besser. Olivia war im Waschhaus und sortierte Wäsche. Die Tür stand offen, und davor pickten Perlhühner im Sand. Ben blieb draußen stehen und wünschte ihr einen guten Morgen. Olivia sah auf und erwiderte den Gruß, klang allerdings ein wenig zurückhaltend. „Ist das nicht ein toller Tag?" sagte sie dann. „Ja, ganz wundervoll. Es hat also doch keinen Regen mehr gegeben ... Kommen die manchmal auch in den Kochtopf?" „Meinst du die Perlhühner?" Olivia zog empört eine Braue hoch. „Nein, natürlich nicht!" „Aber sie sind essbar. Ich kenne eine Farm im Bundesstaat Victoria, die damit ein hervorragendes Geschäft macht. Das Fleisch schmeckt nicht nur sehr gut, sondern hat auch extrem niedrige Cholesterinwerte und quasi kein Gramm Fett." „Das mag ja alles sein", Olivia richtete sich auf und sah Ben mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck an, „aber meine Perlhühner kommen nicht in den Topf! Ich finde es einfach schön, sie um mich zu haben. Aber du scheinst dich ja erstaunlich gut damit auszukennen." „Nun, wenn ich ehrlich sein soll, gehört es zu meinem Beruf, mich mit solchen Dingen zu beschäftigen." „Was meinst du damit?" „Lass uns ein bisschen spazieren gehen, Olivia, dann erklär ich's dir." „Ich ..." Sie deutete auf die Wäscheberge. „Du hast selbst gesagt, dass es ein wunderbarer Tag ist." „Na gut, ich glaub, die Wäsche kann warten." Sie schlenderten zum Garten hinüber und ließen sich im Schatten eines Eukalyptusbaumes auf dem Rasen nieder. „Es ist so schön hier, wenn's geregnet hat", sagte Olivia und ließ den Blick übers Land schweifen. „Man könnte fast vergessen, dass alles in ein paar Wochen wieder trocken und staubig sein wird ..." Olivia zog die Beine an und stützte das Kinn auf die Knie. „Also, warum sollte ich mit dir herkommen? Das hörte sich ja beinah unheilvoll an." Ben lehnte sich gegen den Baumstamm und streckte die langen Beine von sich. „Ich bin der Geschäftsführer der Firma, die Campbell Downs gekauft hat." „Was?" „Das ist leider die Wahrheit. Und das meinte ich damit, als ich sagte, dass es zu meinem Beruf gehört, mich zum Beispiel mit den Vermarktungschancen von Perlhühnern auszukennen ... Wir besitzen nämlich nicht nur Weideland und Viehherden." Olivia war sprachlos. „Ich wusste, dass dir das nicht gefallen würde", sagte Ben leise. „Ich bin platt", sagte sie nun. „Arbeitest du nur für die Firma, oder bist du ein
millionenschwerer Viehbaron?" „Ich weiß nicht, wie viel meine Aktien im Augenblick wert sind, aber ich halte die Mehrheit. Mit anderen Worten: Es ist meine Firma." „Kein Wunder, dass du in Sachen Campbell Downs nicht meiner Meinung warst!" stieß Olivia aufgebracht hervor. „Wie lange weißt du es schon?" Er hielt ihrem Blick stand und erwiderte: „Am Anfang kam sie bruchstückhaft zurück - meine Erinnerung, meine ich. Aber das meiste fiel mir wieder ein, als Jack das Flugzeug erwähnte." „Und du hast mir nichts davon erzählt! Wie konntest du nur?" Olivia war zutiefst verletzt. „Es ..." Er verstummte. „... gab einen Grund dafür." „Da bin ich mir sicher", sagte sie steif. „Es war wohl praktischer für dich, mich in dem Glauben zu lassen, dass du nur der Sohn eines Schmieds bist." Verbitterung sprach aus ihren Zügen. „Damit ich mich nicht zu sehr in dein vieles Geld verliebe?" „Mein Vater war wirklich Schmied, Olivia, und meine Mutter Lehrerin. Sie erbte eine alte, heruntergekommene Farm mit relativ viel Land. Die beiden haben den Boden Gewinn bringend weiterverkauft und damit ein kleines Vermögen gemacht. So fing alles an, und mit Hilfe meiner Mutter wurde mein Vater vom eisenharten Haudegen aus dem Busch zum knallharten Geschäftsmann. Als er starb, übernahm ich die Leitung der Firma." „Warum hab ich dann noch nie was von einer Bradshaw Company gehört?" „Weil sich der Firmenname anders zusammensetzt. Bestimmt ist. dir Pascoe Lyall ein Begriff." „Natürlich, die Leute von Campbell Downs haben oft genug davon gesprochen." Sie zuckte die Schultern. „Pascoe ist der Mädchenname meiner Mutter, und Lyall war der Vorname meines Vaters ... Falls es weiter so geregnet hätte, hätte ich dir natürlich angeboten, deine Rinder in Campbell Downs in Sicherheit zu bringen." „Wie nett von dir! Aber warum musste ich erst zwei Tage im Sattel zubringen?" Er zog eine Braue hoch. „Du schienst Grund genug dafür zu haben, mir nicht zu trauen. Und als ich deine Meinung über große, unpersönliche Agrarkonzerne hörte, dachte ich, dass ich mich lieber eine Zeit lang bedeckt halte. Das war zumindest einer der Gründe für mein Schweigen." „Feigling!" sagte Olivia aufgebracht. „Warum erzählst du es mir dann jetzt?" Ben wandte den Blick ab, und Olivia hatte das Gefühl, dass er nicht sicher war, was er ihr antworten sollte, als Jack keuchend den Gartenweg entlangkam. „Da seid ihr ja!" stieß er hervor. „Ich hab ganz Wattle nach euch abgesucht. Davo hatte nämlich eine Superidee, wie wir das Flugzeug relativ einfach herschaffen können. Anstatt einen Abschleppwagen zu organisieren, der groß genug ist, hat Davo ein Seilzugsystem entwickelt, mit dem wir das Flugzeug vorn aufbocken können, um es auf den Hinterrädern von der Weide zu ziehen. Was hältst du davon, Ben?" „Das könnte gehen", sagte Ben nachdenklich. „Sie melden immer noch Regen, auch wenn's im Augenblick nicht danach aussieht. Wir. sollten uns beeilen!" fügte Jack mit Nachdruck hinzu. „Vielleicht kann man das Flugzeug gleich hier reparieren, dann braucht es nicht weitertransportiert zu werden." „Gute Idee!" sagte Ben und stand auf. „Willst du mitkommen, Olivia?" „Nein, danke. Ich hab hier genug zu tun." Sie zögerte, als er ihr die Hand hinhielt, ließ sich aber doch von ihm aufhelfen. Forschend sah er ihr in die Augen, aber sie wandte den Kopf ab. Dann sagte er langsam: „Heute Nachmittag kommt ein Hubschrauber, um mich abzuholen. Nur für den Fall, dass wir uns verspäten sollten ..." „Ich sag dem Piloten Bescheid. Und jetzt los mit euch!" sagte sie, bemüht, fröhlich zu klingen.
Als die beiden sich auf den Weg gemacht hatten, ging Olivia wie in Trance zurück zum Waschhaus. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und gab sich irgendwie selbst die Schuld dafür. Noch wenige Stunden zuvor war sie überzeugt davon gewesen, sich in einen Mann verliebt zu haben, von dem sie gar nichts wusste, außer dass sein Vater Schmied war. Sie hätte sogar in Kauf genommen, dass er viele Frauen vor ihr gehabt hatte. Aber jetzt, da sie wusste, wer Ben tatsächlich war und dass er etwas im Leben darstellte ... Sie rieb sich die Schläfen. Was sollte sie bloß davon halten? Zum einen hatte er ihr absichtlich die Wahrheit verheimlicht, zum anderen war er Chef einer dieser riesigen Agrargesellschaften, die sie nun absolut nicht leiden konnte. Allein bei der Vor stellung, eines Tages den Konkurrenzkampf gegen eine derartige Firma zu verlieren und Wattle Creek verlassen zu müssen, war Olivia unerträglich. Aber warum änderte das etwas an ihrer Haltung Ben gegenüber, den sie doch als netten, sympathischen Mann kennen gelernt hatte? Seinetwegen war sie am Morgen mit einem Hochgefühl aufgewacht. Olivia zwang sich schließlich weiterzuarbeiten, aber die ganze Zeit über war sie nervös und unruhig. Als Jack und Ben auch um die Mittagszeit noch nicht von ihrer Flugzeugrettungsaktion zurück waren, machte sich Olivia einige belegte Brote und setzte sich auf die Veranda. Sie hatte gerade den letzten Bissen mit einem Schluck Tee hinuntergespült, als sie ein Summen vernahm, das immer lauter wurde und sich schließlich als das Rotorgeräusch eines Hubschraubers entpuppte. Da konnte sie ihn auch schon sehen, wie er über die Stallungen flog. An der Seite prangte der Schriftzug „Pascoe Lyall". Außer dem Piloten war noch jemand an Bord. Die Person konnte es scheinbar nicht erwarten, bis die Rotorblätter zum Stillstand kamen, und sprang sofort aus der Kabine, als die Kufen auf dem Rasen vorm Haus aufsetzten. Es war eine Frau, die sich da unter den Rotorblättern hindurchbückte und ungeachtet der gigantischen Staubwolke auf die Veranda zugerannt kam. Sie hatte dunkle Haare, trug ein elegantes, kurzärmeliges Kostüm und hochhackige Riemchensandaletten. Olivia stand auf, um ihr entgegenzugehen. Dabei wurde sie noch auf einige andere Attribute der Dame aufmerksam. Sie hatte eine sensationelle Figur und strahlte nur so vor Selbstbewusstsein. Die langen roten Fingernägel passten perfekt zum Rot der Lippen. Sie trug eine goldene Uhr, ein goldenes Gliederarmband, diamantbesetzte Ohrringe und einen großen Diamantring an der linken Hand. Au ßerdem kam sie Olivia irgendwie bekannt vor. Die beiden trafen sich am Gartentürchen, und die Frau sagte: „Hallo, das ist doch Wattle Creek, oder?" Irgendwie hätte Olivia das am liebsten abgestritten, aber da hielt ihr die Frau auch schon die Hand hin. „Sie müssen Olivia Lockhart sein. Ich bin Caitlin Foster, Bens Verlobte. Ich will ihn abholen." Olivia brauchte eine Weile, um sich von dieser Neuigkeit zu erholen, und musste sich regelrecht zwingen, halbwegs freundlich zu klingen, als sie sagte: „Ben ist gerade nicht da. Mein Aufseher und er wollen das Flugzeug herschleppen. Aber kommen Sie doch herein ..." Mittlerweile war auch der Pilot hinter Caitlin aufgetaucht. Er stellte sich als Steve Williams vor und machte den Eindruck, als wäre ihm irgendwas unangenehm. Aber Olivia achtete nicht weiter darauf, da mittlerweile eiskalte Wut von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie führte die beiden ins Wohnzimmer, obwohl sie sonst mit allen immer erst in die Küche ging. Warum eigentlich? fragte sie sich. Weil ich ein bisschen angeben möchte? „Nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Tee, Kaffee oder lieber etwas Kaltes?"
„Für mich bitte was Kaltes", sagte Caitlin. „Aber machen Sie sich bloß nicht zu viele Umstände. Wir sind Ihnen auch so schon zu großem Dank verpflichtet - für alles, was Sie für Ben getan haben. Wie geht es ihm? Wie ich gehört habe, hat er eine Zeit lang das Gedächtnis verloren." „Nur teilweise", murmelte Olivia. „Ich Verstehe nicht", sagte Caitlin und zog erstaunt eine Braue hoch. „Nun, er hat sich von Anfang an an so manches erinnert, aber eben nur bruchstückhaft. Entsprechend kam auch sein Gedächtnis wieder. Aber das sei ganz normal, hat der Arzt gesagt." Olivia wandte sich zum Gehen und kam kurze Zeit später mit eisgekühlter Zitronenlimonade und zwei hohen Gläsern zurück. „Wie lange sind Sie denn schon mit Ben verlobt, Caitlin?" „Sechs Monate." Caitlin bemerkte Olivias erstaunten Gesichtsausdruck und fuhr fort: „Ich sage ihm auch immer, dass es Zeit wird, uns endlich richtig zu binden, aber zwischen unseren diversen Verpflichtungen haben wir bisher noch nie die Zeit dazu gefunden. Ich bin Fotomodell und Schauspielerin, müssen Sie wissen." „Oh!" rief Olivia aus, die froh war, das Thema wechseln zu können. „Deshalb kamen Sie mir gleich so bekannt vor." Nun endlich trug auch Steve etwas zur Unterhaltung bei. „Wie ich gehört habe, musste Ben genäht werden." „Ja, aber die Wunde an der Schläfe verheilt gut, und ..." Draußen fuhr ein Wagen vor. „Da ist er ja! Jetzt kann er Ihnen alles selbst erzählen." Olivia stand auf und wurde wieder auf Steve Williams' merkwürdigen Gesichtsausdruck aufmerksam. Sie runzelte die Stirn, wandte sich dann aber der Tür zu, als sich von draußen Schritte näherten. „Wir sind im Wohnzimmer, Ben", rief sie und fügte im Stillen hinzu: „Du Mistkerl!" Ben kam ins Zimmer. „Mission ausge..." Er verstummte unvermittelt, als er Caitlin erblickte, die sich davon nicht beirren ließ, sondern aufstand und ihn herzlich umarmte. „Schatz, ich bin fast verrückt geworden vor Sorge. Warum hast du mich denn nicht angerufen?" Ben Bradshaw beugte den Kopf zu Caitlin hinunter, die ihn begeistert anstrahlte. Olivia hoffte, dass er sich irgendwie verwundert oder erschrocken zeigen würde, weil er sich erst jetzt wieder an diese Frau erinnerte. Denn dann hätte sie, Olivia, ihm sein Verhalten ihr gegenüber verzeihen können. Aber da sagte Ben auch schon: „Wie hast du Steve eigentlich dazu gebracht, dich mitzunehmen, Caiti?" Dabei warf er dem Piloten einen strengen Blick zu, und Steve sah noch betretener aus als vorher. Er hatte also Order gehabt, Caitlin zu Hause zu las sen. Das bedeutete, dass Ben sich schon länger an sie erinnert hatte. „Sie wollte einfach ein Nein nicht akzeptieren, Chef", entschuldigte sich der Pilot kleinlaut. „Warum sollte ich auch?" sagte Caitlin gut gelaunt und berührte vorsichtig den Verband an Bens Schläfe. „Nun sei nicht böse auf Steve, Liebling ... und erzähl mir bloß nicht, dass du dich nicht mehr an mich erinnerst!" „Das wäre ja nicht auszudenken!" murmelte Ben und gab Caitlin einen freundschaftlichen Kuss auf die Stirn. Dann wandte er sich Olivia zu. „Darf ich mich zu euch gesellen? Ich bin am Verdursten." „Ich hol noch ein Glas", sagte Olivia ausdruckslos. Aber als sie zurückkam, saßen Caiti und Ben allein im Wohnzimmer. Steve hatte sich wohl schon wieder zum Hubschrauber begeben. „Dann lass ich euch zwei mal allein." Es gelang ihr tatsächlich, ruhig zu klingen. „Bestimmt habt ihr euch eine Menge zu erzählen. Huft mich einfach, wenn ihr fertig seid." Olivia ging direkt ins Atelier und griff mit zittrigen Fingern nach der Zeichnung von Ben und Bonnie. Aber Ben musste ihr sofort nachgekommen sein, denn sie hatte das Blatt gerade vom Block gerissen, um es zu zerreißen, als Ben es ihr auch schon
aus der Hand nahm. „Geh weg!" fuhr sie ihn an. Olivia war so aufgeregt, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, wie er ins Zimmer gekommen war. „Aber wo du schon mal da bist, Ben Bradshaw, wann genau hast du dich an Caitlin erinnert? Vom ersten Tag an? Hast du überhaupt länger als ein, zwei Stunden dein Gedächtnis verloren?" „Ja, und das weißt du auch, Olivia", sagte er ruhig. „Aber du hast noch nicht mal überrascht ausgesehen, als sie da im Wohnzimmer saß", gab Olivia eisig zurück. „Ich war auch nicht überrascht", gestand er ihr ein. „Ich hatte mich bereits wieder an sie erinnert." „Wann?" „Es war ganz komisch, wieso sie mir wieder einfiel", erklärte Ben. „Erinnerst du dich an die Nacht, als wir das Dach repariert haben und danach über deine Hände sprachen? Es war der Unterschied zwischen deinen Händen, die zupacken können, und Caitlins Händen mit den langen, immer lackierten Fingernägeln. Das war wirklich das Erste, woran ich mich bei Caitlin erinnerte." „Also noch bevor wir am Bach waren!" Olivia bekam kaum noch Luft. „Wie kannst du einfach so dastehen und mir das ins Ges...?" „Ich fühlte mich zu dir hingezogen." „Das ist kein Grund", sagte Olivia nach einer Weile. „Du hast dich an deine Verlobte erinnert und mich ..." Es war ihr unmöglich weiterzusprechen, und mit Entsetzen stellte sie fest, dass ihr Tränen in den Augen standen. „Wie konntest du nur!" „Wir!" sagte Ben. „Ja, aber ich habe nicht gewusst, dass du schon vergeben bist, Benedict Arnold. Dieser Name passt wirklich wunderbar zu dir. Du hast mich und meine Gefühle verraten!" stieß Olivia wütend hervor. „Wag das bloß nicht noch einmal!" „Aber du hast es doch gemocht. Auch wenn das alles vielleicht nur beginnen konnte, weil ich vorübergehend mein Gedächtnis verloren habe. Ich weiß noch genau, wie ich dachte, dass mein Leben plötzlich ganz schön kompliziert geworden ist, als ich mich an Caitlin erinnerte. Aber ich kann eine Frau doch nicht heiraten, nur weil ich mit ihr verlobt bin, obwohl ich mich zu einer anderen hingezogen fühle." Olivia lachte gekünstelt und verstummte plötzlich. Dann sagte sie: „Komischerweise hätte ich dir das ja noch verziehen, aber nicht, dass du Caitlin schließlich vor mir geheim halten wolltest." „Wieso nicht?" Wütend blitzte sie ihn an. „Muss ich dir das wirklich sagen? Damit hast du mich letztlich dreimal belogen! Du wusstest von Anfang an, wer du warst, und ziemlich schnell, dass du verlobt bist. Und du wärst hier weggegangen und hättest mich in dem Glauben gelassen, dass du noch zu haben bist. Warum? Weil es so praktisch ist, mal eben von Campbell Downs rüberzukommen und ein kleines Nümmerchen zu schieben?" „Olivia!" „Bestimmt hättest du mir nichts von Caitlin erzählt, weil du nicht damit gerechnet hast, dass sie hier auftaucht. Du hättest mal das Gesicht deines Piloten sehen sollen!" „Ich wollte dir gerade von ihr erzählen, als Jack heute Morgen zu uns kam." „Tatsächlich! Aber was hättest du denn vorgeschlagen? Die Verlobung mit ihr zu lösen, bis du dir sicher bist, was du von mir willst?" „Ich hatte noch keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, Olivia. Ich hab das alles nicht geplant, genauso wenig wie den Absturz über deinem Grund und Boden." Olivia atmete tief durch und wandte sich von ihm ab. „Außerdem war mir nicht klar, dass ich dir so viel bedeute", hörte sie Ben hinter sich leise sagen. „Du warst doch diejenige, die mir erzählt hat, dass sie keine
verschüchterte Jungfrau ist und die Sache mit der Überschwemmung Vorrang hat." „Ich weiß, was ich gesagt habe." Olivia schnauzte sich und wandte sich ihm wieder zu. „Wo ist Caitlin jetzt?" „Sie wartet mit Steve beim Hubschrauber. Olivia ..." Er verstummte, als er ihre Augen feucht glänzen sah. Aber Olivia tupfte sich die Tränen rasch weg. Dann nahm sie die Skizze vom Tisch und reichte sie Ben. „Nimm das mit." Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Du wirst Wattle Creek nicht wieder sehen." Dann ging sie zur Tür. „Olivia!" Als sie sich zu ihm umdrehte, hatten die Tränen in ihren Augen einem wütenden Funkeln Platz gemacht. „Es ist alles gesagt, Ben Bradshaw. Gehen wir!" Ein kleines Lächeln erschien auf Bens Gesicht, das sie hätte warnen sollen. Er kam auf sie zu, richtete mit zwei Fingern ihr Gesicht zu sich auf und flüsterte: „Ob damit alles gesagt ist, werden wir ja sehen. Bis dahin pass gut auf dich auf, Olivia. Du warst eine wunderbare Krankenschwester." Und er küsste sie liebevoll. „Wir haben kein einziges Tier verloren, obwohl es manchmal ziemlich knapp war", sagte Olivia vier Tage später zu ihrem Onkel, als sie gemeinsam in der Küche beim Abendessen saßen. „Glücklicherweise hat es nicht noch mehr geregnet." „Was ist mit dem Flugzeug geschehen?" „Sie haben einen Mechaniker geschickt, der es vor Ort repariert hat und dann damit zurückgeflogen ist." Garth Lockhart war am Nachmittag nach Hause gekommen und hatte außergewöhnlich müde ausgesehen. Olivia schrieb das dem Jetlag und der Tatsache zu, dass ihr Onkel die dreihundert Meilen vom Flughafen in Mackay nach Wattle Creek allein gefahren war. Sie selbst hatte sich auch schon mal besser gefühlt. Während der letzten vier Tage hatte sie kaum ein Auge zugetan und nur wenig gegessen. Ben und ihre Gespräche waren ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Hatte sie etwas falsch verstanden? Hätte sie zurückhaltender sein sollen? Hatte er wirklich nur mit ihr gespielt? Um derartigen Überlegungen zumindest ein wenig Einhalt zu gebieten, hatte sich Olivia noch mehr als sonst in die Arbeit gestürzt. Stundenlang saß sie im Sattel, um die Zäune abzureiten. Nicht ein Loch war ihrem Adlerauge entgangen. So hatte wenigstens Wattle Creek von ihrem Schmerz profitiert! Auch die Tiere befanden sich alle wieder auf den ursprünglichen Weideplätzen und standen gut im Futter. Beim Verkauf sollte es keine Probleme geben. Als ihr Onkel seinen Teller von sich schob, riss das Olivia aus ihren Gedanken. Er hatte nicht einmal die Hälfte gegessen. „Ich hätte wohl doch etwas Leichteres machen sollen als Lammrücken", sagte Olivia zerknirscht. „Daran liegt es nicht, Livvie", beruhigte er sie. Einen Augenblick ließ er den Blick nachdenklich auf seiner Nichte ruhen, dann fragte er: „Was hältst du von ihm?" „Von wem?" „Ben Bradshaw." „Warum? Willst du mich etwa mit ihm verkuppeln? Du kennst den Mann doch gar nicht!" „Doch, Livvie", antwortete ihr Onkel und klang irgendwie traurig. „Ich hab ihn zumindest schon mal getroffen." „Was?" Olivia sprang auf. „Mach dir keine Sorgen, du sollst ihn ja nicht gleich heiraten. Trotzdem versteh ich nicht, warum du dir nicht langsam einen Mann suchst, Livvie." „Fang bitte nicht schon wieder davon an", presste Olivia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ihr Onkel seufzte, dann sagte er: „Setz dich bitte wieder hin, mein Kind, ich muss mit dir reden." „Stimmt was nicht, Onkel Garth?" Olivia war ehrlich besorgt und legte die Hand auf seine. „Nun, ich bin nicht nur nach Tokio geflogen, Livvie. Ich war auch im Krankenhaus und hab ein paar Tests machen lassen ..." Olivia schloss für einen Moment die Augen. „Ich fürchte, es sieht nicht gut aus. Ich muss unters Messer. Es ist eine HerzKreislauf-Sache, irgendwas mit der Halsschlagader. Aber selbst wenn die Operation erfolgreich verläuft, werde ich für den Rest meines Lebens kürzer treten müssen." „Aber warum hast du mir das bloß nicht früher erzählt?" fragte Olivia, stand auf und nahm ihren Onkel in den Arm. „Das wird schon wieder ... Wie hast du es überhaupt hingekriegt, das vor mir zu verheimlichen?" „Nun, die paar Mal, wo es mir wirklich schlecht ging, hab ich dir gesagt, dass ich mir das Kreuz verrenkt hätte, oder sonst was erfunden. Vor einem Monat bin ich dann zu Doktor Hayden gegangen. Er wollte mir gleich einen Termin bei einem Spezialisten geben. Aber ich bestand darauf, mir noch ein bisschen Zeit zu lassen, damit ich ... nun ja', einiges organisieren konnte." „Aber deine Gesundheit geht vor! Du musst dich so schnell wie möglich operieren lassen. Es gibt sowieso nichts zu organisieren." „Ich fürchte doch, Livvie. Und das ist auch der Grund, warum ich Ben Bradshaw kenne." „Ich verstehe nicht?" Olivia sah ihn erstaunt an. Ihrem Onkel schien sichtlich unangenehm, was er ihr nun zu sagen hatte: „Wir können so nicht weitermachen, Livvie, jetzt nicht mehr. Es war die letzten Jahre sowieso ein einziger Kampf. Das weißt du genauso gut wie ich. Und du kannst das alles nicht allein..." „Warum nicht? Was willst du mir damit sagen?" flüsterte Olivia und war ganz blass geworden. „Ich bin zu Ben Bradshaw gegangen, weil ich wusste, dass er sich für Wattle interessiert. Es grenzt an seinen neuen Besitz ... Es ist wirklich das Einzige, was wir tun können, mein Kind." Olivia stand auf und stützte die Hände auf den Tisch. „Du weißt anscheinend überhaupt nicht, was das für ein Mensch ist, Onkel Garth. Aber ich werd's dir jetzt sagen. Er hat mir kein Wort von alledem erzählt und volle drei Tage hier verbracht. Dabei hat er sich natürlich einen wunderbaren Einblick in alles verschaffen können, und zwar unter Vorspiegelung falscher Tatsachen!" „Ich hab ihn beschworen, kein Wort darüber zu verlieren, bevor ich nicht die Möglichkeit haben würde, persönlich mit dir zu reden. Außerdem hatte er doch sein Gedächtnis verloren." „Ja, allerdings nur sehr bruchstückhaft." „Was soll denn das heißen?" „Er..." Olivia verstummte. „Er wusste vom ersten Tag an, was es mit Wattle Creek auf sich hatte!" Ihr Onkel zuckte die Schultern. „Selbst wenn das stimmt, hat er doch sein Wort gehalten." „Wie auch immer, Onkel Garth. Mich kriegt hier keiner weg!" sagte Olivia und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Dir bedeutet die Farm doch auch eine Menge. Gibt's denn keinen anderen Weg?" „Glaubst du, ich hätte nicht alles immer wieder durchgerechnet, Livvie?" fragte ihr Onkel gequält. „Aber Wattle Creek vereinnahmt dich sowieso viel zu sehr, Mädchen", fügte er noch hinzu. „Es wird dir gut tun, mal was anderes zu sehen!" Er hatte aufmunternd klingen wollen, erreichte aber bei Olivia genau das Gegenteil. „Ich
wusste, dass es ein Schock für dich sein würde, Kind. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass du Ben Bradshaw schon vorher kennen lernst und ihr einander nicht leiden könnt", sagte Garth Lockhart hilflos. Olivia rang nach Luft. „Aber du hast doch immer noch deine Malerei, und wenn du auch weiterhin an einen alten Kerl wie mich gefesselt sein willst, können wir uns irgendwo was Kleineres suchen. Livvie, wir müssen aufhören, solange es noch was zu verkaufen gibt. Du weißt, wie viele einfach so gehen mussten, weil sie zu lange gewartet haben." „Ja", murmelte sie nachdenklich. „Aber auch wenn du nicht mehr arbeiten kannst, haben wir doch immer noch deine Erfahrung ..." „Wer weiß, wie die Operation ausgeht." „Es wird alles gut! An etwas anderes darfst du gar nicht erst denken! Warum kann ich die Farm nicht weiterführen, wenn du mir sagst, wie?" Garth Lockhart lehnte sich müde im Stuhl zurück und sah seine Nichte betrübt an. „Livvie, ich war nur ein paar Wochen weg, und du siehst jetzt schon fix und fertig aus." „Aber das ist nicht der ..." Sie biss sich auf die Lippe. Dann zwang sie sich, den schrecklichen Gedanken, Wattle Creek verlieren Zu müssen, erst mal wegzuschieben und sich auf das Wichtigste zu konzentrieren. „Bekommst du Medikamente, Onkel Garth? Und gibt es schon einen Termin für die Operation?" „Ja, in drei Tagen, Livvie. Sie haben darauf bestanden. Ich darf nicht länger warten. Und in der Zwischenzeit haben sie mir diese Pillen hier verschrieben. Ich soll mich nicht anstrengen und keinen Alkohol trinken." Er zuckte die Schultern. „Eigentlich darf ich überhaupt nichts tun." Olivia stand auf. „Es tut mir so Leid ..." „Es ist doch nicht deine Schuld, Livvie. Ich hätte es dir früher erzählen sollen. Aber ich hab einfach nicht die richtigen Worte gefunden." „Mach dir um mich keine Sorgen. Aber du solltest dich jetzt erst mal hinlegen." „Da ist noch was, Livvie", sagte Garth Lockhart zögerlich. Auf alles gefasst, sah Olivia ihn an. „Er kommt morgen." „Ben?" Garth Lockhart nickte, und Olivia schluckte. „Du wirst ihn mir doch nicht vergraulen?" „Natürlich nicht! Jetzt aber ab ins Bett mit dir." Aufgeregt ging Olivia in ihrem Atelier hin und her. Männer! dachte sie. Ich hab genauso viel Arbeit und Liebe in dieses Land gesteckt wie Onkel Garth, zumindest im Verhältnis. Aber er beschließt einfach über meinen Kopf hinweg, es zu verkaufen. Und dann Ben. Er hat das alles gewusst und kein Wort davon gesagt. Noch eine Lüge! Soll er doch mit seiner Schauspielerin glücklich werden! Die passt sowieso besser auf Jetsetpartys als ich. Außerdem, was fange ich mit einem Mann an, der mich von meinem Grund und Boden vertreiben will? Eine Weile blickte sie gedankenverloren ins Leere. Dann richtete sie sich auf, atmete tief ein und dachte: Aber das werden wir erst noch mal sehen, Ben Bradshaw.
6. KAPITEL
Am nächsten Morgen zog sich Olivia besonders sorgfältig an, und ihr Onkel stellte erleichtert fest, dass sie sogar das Haar richtig frisiert hatte und nicht einfach bloß aufgesteckt. Punkt elf landete ein Hubschrauber der Pascoe-Lyall-Gesellschaft vor dem Haus. Ben war selbst geflogen und brachte noch jemanden mit. Olivia und Garth Lockhart gingen den beiden entgegen. „Hallo, Ben, so sieht man sich wieder." Als Olivia Ben die Hand gab und ihm in die Augen sah, fragte sie sich, wie sie nur hatte vergessen können, wie blau sie waren. „Schön, dich zu sehen, Olivia!" Zu Garth gewandt fuhr Ben fort: „Ich weiß nicht, ob Olivia es Ihnen erzählt hat, Sir, aber Ihre Nichte war außerordentlich freundlich zu mir, und das trotz der widrigen Umstände." Bevor Onkel Garth darauf antworten konnte, sagte Olivia schnell: „Ich hab nur getan, was ich für jeden getan hätte." Dann wandte sie sich dem anderen Mann zu, um auch ihm die Hand zu schütteln. Ben stellte sie einander vor. Der Mann hieß Mark Bennet und war Bens Buchhalter. Danach gingen sie ins Wohnzimmer, und Olivia brachte Tee und ein Glas Apfelsaft für Ben. Am Anfang plauderten sie über dies und jenes und kamen schließlich auf Garth Lockharts Gesundheitszustand zu sprechen. Dann schlug Ben vor, sich die Bü cher anzusehen, und die Mahner gingen in Garth Lockharts Büro, während Olivia den Tisch abräumte. Zehn Minuten später erschien Ben bei ihr in der Küche, groß, breitschultrig und gut aussehend. Es kostete Olivia einige Überwindung, ruhig zu bleiben. „Jetzt weißt du auch noch das Schlimmste von mir." „Hoffentlich ist das jetzt alles, denn eine weitere Überraschung in Sachen Ben Bradshaw kann ich nun wirklich nicht mehr verkraften." „Ich musste deinem Onkel versprechen, nichts zu erzählen." „Wenn du glaubst, dass du damit aus dem Schneider bist, irrst du dich." Ben zog eine Braue hoch. „Was hättest du denn an meiner Stelle getan?" „Ganz einfach. Ich hätte mich so schnell wie möglich abholen lassen. Das wäre für dich ja wohl kein Problem gewesen. Auf jeden Fall hätte ich mich nicht unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hier einquartiert." Ben blieb ganz ruhig und sagte: „Red nur weiter, ich bin sicher, da ist noch mehr, das du loswerden willst." „Sehr richtig. Ich hätte niemandem schöne Augen gemacht in dem Bewusstsein, dass ich diesem Menschen später sehr wehtun musste." „Ich kann nur wiederholen, dass ich das alles nicht geplant habe." „Lassen wir das. Aber eins kann ich dir versprechen, ich werde nicht untätig zusehen, wie du mir Wattle wegnimmst." Bens Augen wurden schmal. „Glaubst du, dass das vernünftig ist, Olivia? Dein Onkel..." „Ich weiß, was du sagen willst. Ihr denkt, dass ihr mich kleinkriegt, weil er krank ist. Aber ich hab heute Morgen mit seinem Arzt gesprochen, und der ist der Meinung, dass Onkel Garth die Operation gut übersteht. Danach wird er auch wieder klar denken können. Dann werden wir ja sehen, ob er noch verkaufen will." Ben sagte nichts dazu, sondern schob die Hände in die Taschen der Anzughose. Olivia tat so, als wäre er gar nicht mehr da, und wusch weiter ab. „Ich hab das Bild rahmen lassen", sagte er da unvermittelt hinter ihr. Sie zuckte nur die Schultern. „Olivia, ich weiß, dass das mit dem Verkauf der Farm für dich bestimmt ein Schock war. Aber deshalb können wir doch wie zivilisierte Menschen miteinander reden." „Benehme ich mich etwa daneben?" murmelte sie. „Ich dachte eigentlich, dass ich
mich ziemlich ruhig und gefasst verhalte." „Aber in Wirklichkeit brodelt es unter der Oberfläche", sagte er. „Würdest du dich nun bitte mal hinsetzen, damit ich dir erklären kann, warum sich Wattle Creek so einfach nicht länger trägt?" „Nein", fuhr sie ihn an. „Und zwar nicht nur, weil ich deine Art von Firma hasse, sondern nebenbei auch noch allergisch auf Lügner bin." „Wenn du das auf die Sache unten am Bach beziehst, würde ich gern mal wissen, warum du mich da in einer Weise geküsst hast, dass es kein Zurück mehr gegeben hätte, wäre Bonnie nicht dazwischengetreten?" „Ich wusste damals noch nichts von deiner Verlobten!" „Hattest du dich nicht vielleicht auch ein bisschen in mich verliebt?" „Könnte es sein, dass du ein bisschen sehr von dir eingenommen bist, Ben Bradshaw?" Seine Augen wurden schmal. Zufrieden stellte Olivia fest, dass sie ihn damit wohl getroffen hatte. „Gut", sagte er, „lassen wir das und kommen zum Geschäftlichen. Wie viel willst du für deinen Anteil haben? Bedenke aber, dass es nur dreißig Prozent sind und ich dich immer überstimmen könnte, wenn dein Onkel seinen Anteil verkauft. Auf jeden Fall wirst du mit deinem Anteil den Verkauf nicht blockieren." „Gut, dann mache ich dir folgenden Vorschlag: Wenn mein Onkel nach der Operation noch verkaufen will, bekommst du meinen Anteil zu gleichen Bedingungen." „Dass wir mit dem Verkauf bis nach der Operation warten, war sowieso schon ausgemacht. Allerdings hab ich deinem Onkel mein Wort gegeben, mein Angebot aufrechtzuerhalten." Das erste Mal seit dem Abend zuvor kam in Olivia so etwas wie Hoffnung auf. Wenn ihr Onkel erst wieder der Alte war, würde er sich die Sache mit dem Verkauf sicher noch einmal überlegen. Doch als hätte Ben ihre Gedanken gelesen, sagte er nun: „Es wird sich allerdings nichts ändern." „Das werden wir ja sehen!" „Ihr könnt euch mit dem Ausziehen Zeit lassen. Ich muss zwar einen Verwalter bestellen, aber der kann in einem der anderen Häuser wohnen." „Also das ..." Olivia fehlten die Worte, und sie kämpfte mit den Tränen. Das war doch alles ein bisschen viel gewesen. Erst tat er so, als wäre er ein Niemand, machte ihr schöne Augen und bildete sich nun ein, dass sie von ihm auch noch Almosen an nahm. „Bestimmt werde ich nicht hier wohnen bleiben, wenn Wattle dir gehört!" Diese Vorstellung brachte das Fass zum überlaufen, und eine Träne rollte ihr die Wange hinunter. Sofort reichte Ben ihr sein Taschentuch. Sie wollte ihm eigentlich eine bissige Bemerkung darauf geben, ließ es aber und schnauzte sich stattdessen. „Normalerweise weine ich nicht", sagte sie dann verbittert, „aber ..." Sie ließ die Schultern hängen. „Es tut mir Leid ..." „Ich wünschte, du würdest zurück zu deiner Verlobten gehen", fuhr ihn Olivia an und knüllte Bens Taschentuch zusammen. „Du solltest vielleicht mal darüber nachdenken, warum dich der Gedanke an Caitlin so aufbringt." Olivia wollte gerade etwas darauf erwidern, erkannte aber die Falle und ließ es. „Nur eins noch, Olivia: Meine Gefühle am Bach waren ehrlich. Also denk darüber nach ... Wie ich gehört habe, wird dein Onkel an der Gold Coast operiert." Olivia schluckte mehrmals und sagte schließlich: „Ja, es musste alles sehr schnell gehen, und der einzige Kardiologe, der noch einen Termin frei hatte, war nun mal dort." Sie runzelte die Stirn. „Mir wäre das Rockhampton-Base-Krankenhaus lieber
gewesen. In Rocky wohnen Freunde von mir, und es ist nicht so weit bis nach Wattle ..." Sie zuckte die Schultern. „Aber Hauptsache, Onkel Garth ist gut aufgehoben." „Wegen der Entfernung brauchst du dir keine Gedanken zu machen", sagte Ben ruhig. „Ich hab deinem Onkel angeboten, euch hinzufliegen. Außerdem gehört mir ein Haus am Meerjungfrauenstrand. Ich weiß nicht, wie gut du dich an der Gold Coast auskennst. Aber der Meerjungfrauenstrand ist nicht weit von Tugun und dem Krankenhaus entfernt." „Oh, das würde ich niemals annehmen!" sagte Olivia empört. Etwas gelassener fügte sie noch hinzu: „Ich meine, vielen Dank, aber..." „Doch, natürlich kannst du das annehmen! Dein Onkel hält es für eine großartige Idee, und außerdem ist es das Mindeste, was ich für dich tun kann, um mich zu revanchieren. Du hättest das Haus auch ganz für dich allein." In diesem Augenblick kam Garth Lockhart in die Küche, und Olivia stellte fest, wie erleichtert er aussah. „Livvie, Kind, Ben hat mir gerade vorgeschlagen ..." „Ich weiß, Onkel Garth", sagte sie, sichtlich bemüht, ein wenig Begeisterung an den Tag zu legen. „Ich bin ... ihm wirklich sehr dankbar." Einen Tag später kam Steve Williams mit dem Hubschrauber, um Garth und Olivia zum Krankenhaus zu bringen. Olivia blieb noch einige Stunden bei ihrem Onkel, bis er ihr sagte, dass sie nun zu Bens Haus fahren solle, damit sie beide noch ein wenig Ruhe bekamen. Die Operation war für den nächsten Morgen angesetzt. „Ich komm wieder, bevor du unters Messer musst, Onkel Garth", versprach sie und gab ihm einen Kuss. . Ben hatte ihr einen Leihwagen besorgt, und da sie die Gold Coast von mehreren Urlauben mit Freunden ganz gut kannte, fand sie schnell die Straße und das Haus der Bradshaws am Meerjungfrauenstrand. Es war ein zweistöckiges Gebäude. Nachdem Olivia die Tür aufgeschlossen hatte, staunte sie nicht schlecht. Schon die Frontansicht war beeindruckend gewesen, aber nun lag vor ihr eine große, nach oben hin offene Halle, die ganz mit champa gnerfarbenem Marmorboden ausgelegt war. Die großen Fenster rechts und links ließen sicher viel Licht herein, wenn die Lamellenjalousien erst einmal zur Seite geschoben waren. Von der Eingangstür aus hatte man einen direkten Blick über die Terrasse aufs Meer. Im Wohnbereich stand eine herrliche pfirsichfarbene Polstergarnitur, und an den Wänden hingen luxuriöse Spiegel. Hier und da standen kleine Konsolentischchen mit wertvollen Schnitzereien. Die Sonne ging gerade über dem Meer unter und schickte ihre letzten Strahlen durch die Fensterfront auf der Terrassenseite ins Haus. Das Türkisblau des Wassers zeugte von einer ruhigen See, die, von den letzten Sonnenstrahlen angeleuchtet, hier und da ins Rosefarbene spielte. Die winzigen Schaumkrönchen der am Strand auflaufenden Wellen untermalten das Bild mit einem strahlenden Weiß. Olivia stellte ihre Reisetasche ab und bereute, dass sie keine Badesachen eingepackt hatte. Denn jetzt hätte sie nichts lieber getan, als ein erfrischendes Bad im Meer zu nehmen. Aber daran war nichts zu ändern. Stattdessen suchte sie das Zimmer, das Ben „das Gästezimmer im Erdgeschoss" genannt hatte. Es musste gleich linker Hand liegen. Als sie die Tür öffnete, empfing sie ein ganz in Blautönen gehaltener Raum. Die Wände waren in Wischtechnik von Aquamarinblau bis hin zu Pastellblau gestri chen. Wie Olivia gleich darauf feststellte, verfügte das Gästezimmer nicht nur über ein eigenes Bad, sondern hatte auch einen direkten Zugang zur Veranda. Außerdem gab es eine kleine Couchecke und einen geschickt integrierten Fernsehapparat. Bei einem derart ausgestatteten Gästezimmer brauchte sie vom Rest des Hauses nur noch die Küche zu benutzen. Zum Abendessen machte sie sich Spiegeleier und schlief dann tief und traumlos in dem riesigen blauen Bett.
Das Warten am nächsten Tag war ziemlich nervenaufreibend. Aber gegen vier Uhr nachmittags teilte man Olivia endlich mit, dass die Operation gut verlaufen sei. Natürlich würde ihr Onkel zunächst noch auf der Intensivstation untergebracht sein, aber die Ärzte gingen davon aus, dass er eine ruhige Nacht hätte. Olivia wollte eigentlich dabei sein, wenn er aufwachte, aber man informierte sie darüber, dass er wahrscheinlich auch eine ganze Weile danach noch relativ benommen wäre und absolute Ruhe brauchte. Deshalb riet man ihr, sich selbst auch ein wenig zu entspannen und nach Hause zu gehen. So fuhr sie zurück zum Meerjungfrauenstrand, um noch ein wenig die Nachmittagssonne zu genießen. Unterwegs kaufte sie sich noch schnell einen Badeanzug - einen gelben. Sobald sie die Tür des Traumhauses hinter sich geschlossen hatte, zog sie ihn an und rannte zum Strand hinunter. Das Wasser war wunderbar, und sie wollte gar nicht mehr raus. Als sie endlich wieder ans Ufer kam und sich das Wasser aus den Haaren schüttelte, dämmerte es bereits. In der Nähe ihres Badehandtuchs saß ein Mann. Aber es waren viele Menschen am Strand, und Olivia beachtete ihn nicht weiter. Doch da stand er plötzlich auf, nahm das Handtuch und kam auf sie zu. Als Olivia ihn erkannte, war sie zunächst sprachlos, dann sagte sie: „Was machst du denn hier?" Augenblicklich besann sie sich aber, dass es wohl unpassend war, den Eigentümer des herrlichen Hauses, in dem sie untergebracht war, so eine Frage zu stellen. „Ich meine, wie lange bist du schon hier?" „Etwa zwanzig Minuten." „Und was willst du?" Ben verzog den Mund. „Dich zum Essen einladen." „Aber das musst du nicht, und ich glaube, ich möchte auch lieber nicht mitkommen. Vielleicht ruft man aus dem Krankenhaus an, wenn was mit Onkel Garth ist." Ben sah sie gedankenverloren an und sagte schließlich: „Du bist ja schon wieder nass." Dabei folgte er mit dem Finger einem Wassertropfen, der an Olivias Hals hinunterlief. Olivia trat einen Schritt zurück, um seiner lasziven Geste auszuweichen. „Im Krankenhaus hat man meine Handynummer, falls was sein sollte. Aber so wie ich gehört habe, hat dein Onkel die Operation gut überstanden." „Ja, das schon, aber Genaueres können sie erst nach ein paar Tagen sagen." „Noch ein Grund mehr, mit mir ins Restaurant zu gehen, Olivia. Du verhungerst mir sonst." „Ben, das ist wirklich nicht nötig", hauchte Olivia beinah. „Sagst du das, weil ich verlobt bin, Wattle kaufen möchte oder einfach nur, weil du nicht mit mir ausgehen willst?" Dabei umspielten kleine Lachfältchen seinen Mund. „Von allem ein bisschen", antwortete sie schon etwas energischer. Er lachte leise. „Aber einen Happen essen kannst du doch mit mir, in aller Freundschaft. Als ich dir in Wattle geholfen hab, das Dach zu flicken und das Kalb zu befreien, war ich kein anderer, und wir haben auch abends zusammen gegessen." „Ich ... Nun ja ... Aber ..." Ben wartete noch einen Augenblick, und als kein Nein kam, sagte er: „Wunderbar, also los!" „Kann ich mir wenigstens noch was anderes anziehen?" „Natürlich." Ben nahm Olivia bei der Hand und ging mit ihr zurück zum Haus. „Wie gefällt es dir?" „Sehr beeindruckend, was ich bisher davon gesehen habe", sagte sie und fuhr stirnrunzelnd fort: „Was ist das hier eigentlich, eine neue Strategie?" „Was meinst du damit?" „Dein kumpelhaftes Getue." Lächelnd sah er sie an, während sie immer noch Hand in Hand die Stufen zur
Veranda hinaufgingen. „Vielleicht", sagte er dann und lächelte jungenhaft. Olivia wollte ihm die Hand entziehen, aber er hielt sie fest. „Geh dich umziehen, Olivia! Wenn du was gegessen hast, bist du mir bestimmt freundlicher gesonnen." Als Olivia zu Ben auf die Terrasse kam, wo er auf sie gewartet hatte, musste sie gähnen. Es war ihr ein wenig peinlich. Aber die Anspannung der letzten Tage forderte ihren Tribut. Doch Ben lachte nur und sagte: „Wir laufen zum Restaurant, dann wirst du wieder wach. Es liegt ein paar hundert Meter den Strand aufwärts." Also schlenderten sie auf der Promenade entlang bis zum Broadbeach, und Ben führte Olivia in ein kleines Restaurant, das für seine Nudelgerichte berühmt war. „Ich dachte, da du selbst so vorzügliche Spaghetti machst, kannst du sicher am Besten beurteilen, ob das Restaurant seinem Ruf gerecht wird." Sie setzten sich an einen der Tische mit den rot-weiß karierten Decken, und der Kellner gab ihnen Speisenkarten und zündete die Kerze an. Nachdem sie die Gerichte ausgewählt hatten, bestellte Ben noch eine Flasche Rotwein. „Hast du gewusst, dass ein, zwei Gläser von diesem Zeug sogar gesund sind, Olivia?" fragte er und sah sie über den Rand des Weinglases hinweg an. „Das hab ich auch gelesen", antwortete Olivia kurz angebunden, die auch schon vorher kaum etwas gesagt hatte. „Hast du auch gelesen, dass es ganz schlecht für die Gesundheit ist, wenn man alles in sich hineinfrisst?" Olivia setzte sich zurück und ließ die Schultern hängen. Schließlich sagte sie: „Ich wollte eigentlich nicht wieder darauf zu sprechen kommen, aber du bist der Grund für all meine Probleme." „Das ist wohl nicht ganz richtig. Zum einen bin ich nicht schuld daran, dass dein Onkel krank wurde." Olivia nippte nur an ihrem Wein. „Zum anderen ist dein Onkel zu mir gekommen - und nicht umgekehrt -, und zwar deinetwegen. Er ist davon überzeugt, dass er dir mehr schuldet als einen ständigen Kampf ums Überleben. Du wirst auch nicht jünger, Olivia. Außerdem hat er sich Sorgen um eure Mitarbeiter gemacht. Wenn du die Farm weiterführst wie bisher, werdet ihr über kurz oder lang einige entlassen müssen, wohingegen ich ihnen ihre Arbeitsplätze garantieren kann." Olivia zuckte zurück, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen. „Es tut mir Leid, Olivia. Ich hab vielleicht einen unpassenden Augenblick gewählt, um dir das zu sagen, aber für dich selbst wäre es vielleicht auch besser, als diesen sinn..." „Diesen sinnlosen Träumen nachzuhängen, meinst du? Wie gewinnträchtig ist dieses Geschäft für dich, Ben?" Sein Mund wurde schmal. „Ich würde mehr verdienen, wenn ich euch noch eine Weile so weitermachen ließe." In diesem Augenblick kam das Essen: Fettuccine marinara für Olivia und Ravioli für Ben. Dazu ein italienischer Salat und Brot. Der Kellner wünschte ihnen wortreich einen guten Appetit, aber Olivia stocherte nur auf ihrem Teller herum. „Mir ist der Appetit vergangen", sagte sie schließlich. „Nein, ich glaub nicht. Du musst es nur wollen. Nimm eine Gabel voll, und es wird dir schmecken." Olivia warf Ben einen wenig freundlichen Blick zu und sagte spöttisch: „Du scheinst immer ganz genau zu wissen, was mir guttut." Er zog eine Braue hoch. „Ich wüsste da noch etwas, was deinem Wohlbefinden sicher enorm zuträglich wäre." „Tatsächlich! Was könnte das wohl sein?"
„Lass es mich dir so erklären ..." Er senkte den Blick, und als er Olivia wieder ansah, war er ganz ernst. „Nachdem wir gegessen haben, gehen wir gemütlich am Strand zurück. Wenn du dann noch einen kleinen Schluck trinken möchtest, setzen wir uns raus auf die Terrasse und beobachten den Mond. Wusstest du, dass heute Vollmond ist?" „Nein." Er lächelte leicht. „Und dann ziehen wir uns in das blaue Schlafzimmer zurück, und ich lasse meine Hände über deinen Körper gleiten, so wie damals am Bach. Aber diesmal werde ich dir nach und nach die Kleidung ausziehen. Und wir können endlich tun, wonach wir uns schon die ganze Zeit gesehnt haben: uns lieben, mit all der Leidenschaft, derer du - wie ich weiß - fähig bist. Danach erzählen wir uns Geschichten und lachen zusammen. Und vielleicht singst du mir auch wieder ein Lied, Olivia." Während Ben ihr in diesen schönen Worten darlegte, wonach sich ihr Körper tatsächlich schon seit Wochen verzehrte, durchlief sie ein Beben, das sie kaum zu unterdrücken vermochte. Auch Ben hatte es bemerkt, sagte aber nichts. Doch so schön die Vorstellung auch war: Ben war verlobt. „Findest du nicht ..." Olivia befeuchtete die Lippen und fing noch einmal an. „Findest du nicht, dass das über die Pflichten eines Gastgebers hinausgeht, Ben?" „Ich versichere dir, dass es nichts mit Pflichterfüllung zu tun hat, Olivia." „Das muss es aber", widersprach sie ihm. „Denn wie würdest du deinen Teil dieses Szenarios sonst wohl nennen. Mir fällt die Bezeichnung dafür gerade nicht ein, aber bestimmt gibt es einen Ausdruck für solche Männer, die ihrer Zukünftigen schon vor der Hochzeit untreu werden." „Man könnte auch sagen, besser davor als danach, aber ..." Er verstummte und spielte mit dem Weinglas. „... auf mich trifft das wohl nicht zu, weil es nämlich keine Hochzeit geben wird. Caitlin und ich haben unsere Verlobung gelöst."
7. KAPITEL
„Wie kannst du einfach so ruhig dasitzen, nachdem du mir das gesagt hast? Lässt dich das denn völlig kalt?" Olivia war empört. Ben zog eine Braue hoch. „Ich hab nicht gesagt, dass es mir egal ist." „Aber du musst sie doch mal geliebt haben. Warum hättest du sie sonst bitten sollen, deine Frau zu werden? Und dann eine Verlobung einfach so zu lösen, nur wegen eines Schlages auf den Kopf! Das ist doch verrückt." Olivia war ein wenig laut geworden. „Nein, das ist es nicht", erwiderte Ben leise. „Aber falls du wirklich nichts mehr essen möchtest, sollten wir aufbrechen und diese Unterhaltung woanders fortsetzen. Vor allem, wenn du dich noch mehr darüber aufregen willst." Olivia atmete tief durch und sah sich um. Tatsächlich waren mehrere Augenpaare auf sie gerichtet. „Gehen wir", zischte sie. „Aber ich werde nicht mit dir ins Bett steigen, Benedict Bradshaw. Und zwar, weil du ein Casanova der übelsten Sorte bist." Dann stand sie auf und verließ das Lokal. Gedankenverloren und blind für den herrlichen Mondschein, ging sie allein auf der Promenade zurück zum Haus. Aber es dauerte keine fünf Minuten, und Ben war wieder bei ihr. „Du hast Angelos Herz gebrochen, weil du nicht aufgegessen hast." „Zum Teufel mit Angelos Herz, was ist mit Caitlins?" „Das ist ausschließlich eine Sache zwischen mir und Caiti, aber ich glaube nicht, dass ich ihr das Herz gebrochen habe." Olivia sah stur geradeaus und ging mit großen Schritten weiter. Ben tänzelte beinah neben ihr her und sagte schließlich: „Da wären wir." „Ich geh da nicht rein!" „Das ist doch kindisch, Olivia." „Nein, das ist es nicht. Ich ... ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll, dass du deine Verlobung gelöst hast." Sie schloss die Augen und schüttelte verwirrt den Kopf. „Angelo hat darauf bestanden, dass ich den Wein mitnehme, da wir jeder kaum ein Glas davon getrunken haben." Als Olivia die Augen wieder öffnete, hielt Ben das längliche Paket mit der Flasche hoch, das ihr bisher gar nicht aufgefallen war. „Setzen wir uns doch auf die Terrasse und reden über alles. Dann kannst du immer noch zum Strand runterlaufen, wenn dir irgendwas nicht passt." „Das werde ich mit Sicherheit tun", warnte sie ihn schon einmal vor. Ben holte zwei Gläser und schenkte den Wein ein. Eine Zeit lang saßen sie einfach ganz still auf der Terrasse und genossen den lauen Abend. Als in weiter Ferne das Turbinengeräusch eines Flugzeugs zu hören war, musste Olivia unwillkürlich an ihren Onkel denken. Anscheinend hatte Ben ihre Gedanken gelesen, denn nun legte er sein Handy vor sie auf den Tisch. „Du kannst das Krankenhaus gern anrufen." Olivia nickte dankbar, wählte und war schon viel besser gelaunt, als sie ihm das Telefon nach wenigen Minuten zurückgab. „Alles in Ordnung. Er schläft jetzt." „Gut." Ben steckte das Handy zurück in die Hemdtasche. „Olivia, was ich dir noch wegen Caiti sagen wollte ..." „Ich dachte, das wäre eine Sache zwischen euch beiden." „Ich möchte dich nicht mit Einzelheiten langweilen, aber du hattest schon Recht, am Anfang war ich der Meinung, dass ich Caiti liebte, aber es war nur ein Strohfeuer. Und ich war in meinem Leben nie ehrlicher als in dem Augenblick, da ich dir sagte, dass ich mir nicht vorstellen könne, wie so ein Verliebtsein eine Ehe überdauern soll. Weißt du noch?" „Ja, in diesem Punkt waren wir ausnahmsweise mal einer Meinung." „Dass es zwischen uns knisterte, als ich mich nicht mehr an Caiti erinnerte, brachte
mich zu dem Schluss, dass sie und ich wohl doch nicht das ideale Paar sind." „Aber warum denn?" fragte Olivia mit Nachdruck. „Du hast dich doch am Anfang an gar nichts mehr erinnert. Dass Caiti dir erst ein paar Stunden später wieder einfiel, bedeutet gar nichts!" Ben warf Olivia einen kritischen Blick zu, verschränkte die Hände im Nacken und streckte die Beine aus. „Vielleicht hast du Recht. Aber nachdem ich Wattle Creek verlassen hatte, habe ich mich gefragt, warum Caiti und ich den Termin unserer Hochzeit immer wieder verschoben haben. Obwohl Caiti sehr amüsant ist, umwerfend gut aussieht und wir uns im Bett hervorragend verstehen, hatte ich immer den Eindruck, dass da irgendwas fehlt." Olivia sah ihn empört an, griff dabei nach dem Glas und murmelte: „Arme Caiti!" Ben schien die Bemerkung absichtlich zu überhören und fuhr fort: „Ich konnte meine Bedenken nie wirklich in Worte fassen. Sicher ist es vielmehr mein Fehler gewesen als ihrer. Ich hab versucht, meine etwas zynische Ansicht in Sachen Liebe und Ehe zu begraben, und machte mir vor, dass Caiti und mich genug verband, um eine leidlich gute Ehe zu führen." „Du bist immer noch zynisch!" platzte Olivia heraus. Er sah ihr kurz in die Augen und zuckte die Schultern. „Da gab es noch andere, äußere Zwänge." „Die da wären?" „Du weißt ja, wie es ist, wenn man der Einzige ist, auf den sich die Hoffnungen der älteren Generation in Sachen Erben richten. Ich hab keine Geschwister, und meine Mutter verzehrt sich geradezu nach Enkelkindern. Sie war überzeugt davon, dass Caiti und ich ganz süße Sprösslinge hätten." Olivia blickte ihn überrascht an. „Nun, sie hatte offensichtlich nichts dagegen, dass du Caiti heiratest." „Nein, aber sonst hat sie eine Menge gegen die Dinge, die ich tue." „Ich versteh nicht, was du damit meinst." „Meine Mutter hat mir gesagt, dass ich mich glücklich schätzen könne, Caiti getroffen zu haben. Denn wenn sie nicht die Richtige wäre, würde ich wahrscheinlich nie mehr eine Frau zum Heiraten finden. Denn das, was ich suche, würde es nicht geben." „Und du hast ihr geglaubt?" „Kann man so sagen." „Dann war es ja ein echter Glücksfall, dass du den Schlag auf den Kopf bekommen hast." Olivia schüttelte den Kopf und trank den Wein aus. „Heißt das, du hast deine Meinung mir gegenüber geändert?" „Ich meinte, es war Glück mit Caiti. Und was dich angeht, bin ich mehr denn je überzeugt davon, dass du ein echter Casanova bist... Aber ist sie nicht..." „Der Beruf ging bei ihr immer vor. Auch jetzt hat sie wieder einen Vertrag unterschrieben, der sie vier Monate lang täglich zu Dreharbeiten verpflichtet, an einem Ort, der tausend Kilometer von Charleville entfernt liegt. Zwar wäre sie hin und wieder am Wochenende nach Hause gekommen, aber ... die Hochzeit hätten wir wohl erst mal vergessen können." Ben schenkte sich den Rest des Weines ein, und Olivia blinzelte. „Bist du schon wieder sprachlos?" fragte er langsam. „Ich ... Das geht mich alles nichts an." Ben lächelte. „Meine liebe Olivia, du hast aber ein erstaunlich kurzes Gedächtnis!" „Warum sagst du eigentlich immer Olivia zu mir und nicht Livvie?" Das hatte sie ihn schon immer fragen wollen, auch wenn sie nun merkte, dass sie rot dabei wurde. „Ich mag den Namen." „Aber warum?" „Ich finde, Olivia passt besser zu dir als Livvie. Ich werde dich immer Olivia
nennen. So können wir die ganz privaten Dinge auch ganz privat sein lassen. Livvie nennt dich doch jeder." „Ben ..." Olivia machte eine hilflose Geste. „Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass die Tatsache, dass du deine Verlobung gelöst hast, weil du zu dem Schluss gekommen bist, dass du Caiti nie geliebt hast, dich mir empfiehlt?" Ben sah sie erstaunt an. „Und das, nachdem du mir auf Wattle Creek drei Tage dieses verlogene Theater vorgespielt hast, von wegen, woran du dich erinnerst und woran nicht. Von den anderen Dingen, die ich an dir nicht mag oder derentwegen ich dir nicht vertraue, ganz zu schweigen." „Mag sein, dass ich gelogen habe. Aber wenn du mal aufhören würdest, dich selbst zu belügen, wüsstest du, dass ich genau der Mann bin, den du haben willst. Genauso wie ich dich haben will." „Haben, haben, haben - das ist das Einzige, woran du denken kannst. Meinst du nicht, dass du dich mit dieser Einstellung in der letzten Zeit schon in genug Schwierigkeiten gebracht hast?" Ben musste plötzlich lachen, aber Olivia sollte nicht erfahren, was ihn so amüsierte, da in diesem Augenblick das Telefon klingelte. Es war das Krankenhaus. Olivias Onkel hatte einen Kreislaufkollaps erlitten. Ein Blutpfropf drohte die Hauptschlagader zu verstopfen. Er musste noch einmal operiert werden. „Ich bring dich hin", sagte Ben. „Nein, ich..." „Fang jetzt bitte keinen Streit an, Olivia." Sie gehorchte. Erst gegen zehn Uhr am nächsten Morgen kehrten sie zurück in das Haus am Meerjungfrauenstrand. Garth Lockhart hatte die Notoperation überstanden. Aber die Tatsache, dass er noch einmal hatte operiert werden müssen, verhieß nichts Gutes. Ben war die Nacht über bei Olivia im Krankenhaus geblieben, die das Ganze sehr mitgenommen hatte. „Für dich wird es jetzt aber höchste Zeit, ins Bett zu gehen", sagte Ben, als sie in der großen Halle standen. „Damit du schlafen kannst, solltest du das hier nehmen." Er reichte ihr eine Tablette. „Was ist das?" „Ein leichtes Schlafmittel. Ich hab die Schwestern im Krankenhaus darum gebeten." „Danke, aber ich glaube, es wäre besser, wenn ich wach bleibe, falls..." Ben lächelte und streichelte Olivia beruhigend die Wange. „Ich bleibe auf und wecke dich, wenn nötig." Die Sonne ging bereits unter, als Olivia erwachte. Sie blieb noch eine Weile im Bett liegen und ließ die Ereignisse der vergangenen vierundzwanzig Stunden und der Wochen davor Revue passieren. Was sollte sie bloß mit einem Mann wie Ben Bradshaw anfangen? Er hatte nicht nur die ganze Nacht bei ihr gesessen, sondern ihnen vorher auch noch den Hubschrauber und das Haus zur Verfügung gestellt, andererseits hatte er sie angelogen, und nicht nur einmal. Am Ende beschloss Olivia, einige Runden zu schwimmen, in der Hoffnung, danach klarer denken zu können. Als sie im Bandeanzug aus dem Gästezimmer kam, saß Ben mit dem Rücken zu ihr auf der Terrasse und schien zu lesen. Sie zögerte, aber er musste sie gehört haben, da er nun das Buch weglegte und sich ihr zuwandte. „Fühlst du dich besser, Olivia?" „Ja, danke. Gibt's was Neues?" „Er schläft jetzt wieder, und alle Werte sind normal."
Olivia seufzte erleichtert und blinzelte Ben zu. „Kommst du mit zum Schwimmen?" „Warum nicht." Gemeinsam gingen sie zum Strand hinunter und tauchten in die türkisblauen Fluten ein. „Das ist fast so schön wie am Bach in Wattle Creek", rief Ben gegen das Rauschen der Brandung an und kraulte hinaus aufs Meer. Olivia hatte ihn bald eingeholt. „Für ein Mädchen aus dem australischen Busch schwimmst du ziemlich gut." „Das hab ich im Internat gelernt." Nach einer halben Stunde kehrten sie zum Strand zurück und ruhten sich am Ufer aus, den Körper halb im Wasser. Ben lag auf dem Rücken und Olivia bäuchlings neben ihm, die Ellbogen aufgestützt. Hin und wieder trug die Brandung eine Welle heran, die ihnen bis zu den Schultern ging. „Bist du denn gar nicht müde?" wollte Olivia wissen. „Ich hab mich auch ein bisschen hingelegt - mit dem Telefon direkt neben mir." „Aber du gehörst wahrscheinlich sowieso zu den Leuten, die nicht besonders viel Schlaf brauchen." Er wandte sich ihr zu und zog ein Gesicht. „Ist das schon wieder ein Minuspunkt?" „Nein, ich versuche nur, mir ein Bild von dir zu machen." „Ich glaube nicht, dass es so schwer ist, mich einzuschätzen." Ben drehte sich auf den Bauch, stützte das Kinn auf die Handflächen und sah Olivia tief in die Augen. „Du bist nur verunsichert wegen der Umstände, unter denen wir uns kennen gelernt haben." Er lag nun so dicht bei ihr, dass seine breiten Schultern und die langen, wohlgeformten Beine sie fast berührten. Nach dem Schwimmen war seine Muskulatur noch ausgeprägter. Wie reizvoll sich sein Oberkörper zur Taille hin verjüngte! In seinem dunklen Brusthaar hatten sich zahllose Wassertröpfchen verfangen, die im Schein der untergehenden Sonne glitzerten. Wie gern hätte Olivia Ben noch näher bei sich gespürt. Es verlangte sie so sehr danach, von ihm berührt zu werden, dass sie an nichts anderes mehr denken könnte. Allein bei dem Gedanken, sich ihm hinzugeben, überlief sie ein lustvoller Schauer nach dem anderen. Es hungerte sie regelrecht nach körperlicher Erfüllung. Aber sie durfte sich nicht von ihren Gefühlen leiten lassen. Sie schluckte und stand auf. „Olivia?" „Ich geh jetzt rein. Ich hab Hunger ..." Sie biss sich auf die Lippe, als ihr die Ironie dieser Bemerkung bewusst wurde, und hoffte, dass Ben nicht ihre wahren Gedanken gelesen hatte. „Wenn du mich bitte entschuldigen würdest." „Unter einer Bedingung." Auch er war aufgestanden. „Die da wäre?" Olivia war ein wenig verunsichert. Er ließ den Blick über ihren Körper gleiten, und der neue gelbe Badeanzug trug seinen Teil dazu bei, dass Ben auf fast all ihre weiblichen Reize aufmerksam werden konnte. Als sie unwillkürlich vor ihm zurückwich, sagte er lächelnd: „Dass ich dir was zum Essen machen darf." „Ich wusste ja gar nicht, dass du kochen kannst", sagte Olivia verwundert. „Es gibt eine Menge Dinge, die du von mir nicht weißt. Aber lassen wir das ... Ich hab auch einen Bärenhunger." „Was gibt's denn?" „Garnelen." „Lecker!" Sie schlenderten zurück zum Haus, und während Ben sich sogleich in der Küche zu schaffen machte, zog sich Olivia ins Gästezimmer zurück. Sie ging erst mal ins Bad, hängte das Handtuch auf und schälte sich aus dem nassen Badeanzug - die Gedanken bei Ben. Wie lange könnte sie ihm wohl noch widerstehen? Musste sie das überhaupt? Es wäre auf jeden Fall vernünftig, denn bisher hatte sie nicht einmal Zeit gehabt,
sich in Ruhe zu überlegen, was sie davon halten sollte, dass er die Verlobung mit Caitlin gelöst hatte. Und dann bestand da immer noch die Gefahr, Wattle Creek zu verlieren - seinetwegen. Wie konnte bloß so viel in einer Woche passieren? Olivia stellte das Wasser auf ganz kalt. Vielleicht würde ihr das helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Als sie aus dem Bad kam, rief sie erst einmal das Krankenhaus an. Garnelen hin oder her - sie sollte bei ihrem Onkel sein. Doch die Oberschwester war da ganz anderer Meinung. „Die Ärztin hat gerade nach ihm gesehen, und sein Zustand gibt keinerlei Anlass zur Besorgnis, Miss Lockhart. Außerdem wurde er ruhig gestellt, und das wird auch die Nacht über so bleiben. Sie brauchen also nicht herzukommen. Ruhen Sie sich lieber aus." „Das hab ich den ganzen Tag gemacht." „Trotzdem, Sie sollten Ihre Kräfte sparen, solange Sie noch die Möglichkeit dazu haben. Die Genesungsphase Ihres Onkels wird noch lange genug dauern. Und dann sind Sie gefordert." Olivia verabschiedete sich von der Schwester und blickte starr und gedankenverloren auf den Telefonhörer. Ins Krankenhaus konnte sie sich also auch nicht flüchten, um noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken. Sie musste sich dem Feind folglich wohl oder übel stellen. „Du siehst sehr hübsch aus", sagte Ben anerkennend, als Olivia in den Salon kam. Der Meinung war sie selbst eigentlich nicht. Sie trug ein schlichtes mintfarbenes Baumwollkleid, und Ben reichte ihr ein hohes Cocktailglas, dessen Zuckerrand zufällig dieselbe Farbe hatte wie das Kleid. „Was ist das?" „Meine eigene Kreation." „Hoffentlich nicht zu stark!" Ben wiegte bedächtig den Kopf hin und her. „Nicht wirklich. Das meiste ist Ananassaft und Sahne mit einem Schuss Cointreau und ein paar Tröpfchen Pfefferminzlikör. Aber nimm doch bitte Platz. Es sieht aus, als ob du auf dem Sprung wärst." Sie warf ihm einen schrägen Blick zu, setzte sich dann aber doch auf die pfirsichfarbene Couch. „Ich hab das Krankenhaus angerufen." „Und?" Olivia erzählte ihm, was die Schwester gesagt hatte, und er stellte fest: „Nun, das sind doch gute Neuigkeiten, abgesehen vielleicht von der langen Rekonvaleszenz. Aber dein Onkel ist bei dir ja hervorragend aufgehoben." Olivia nippte am Cocktail, der wirklich köstlich war. Dann stellte sie das Glas auf den Tisch, strich sich den Pony aus der Stirn und sagte: „Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich wirklich eine gute Krankenschwester bin. Ich hab nicht einmal bemerkt, dass mit Onkel Garth was nicht stimmt." „Er hat mir erzählt, dass er alles darangesetzt hat, um die Sache vor dir geheim zu halten." „Ich weiß. Er hat immer gesagt, dass ihm der Rücken wehtut, und dann hab ich ihn mit Kräuteröl massiert und ihn auch noch damit aufgezogen, dass er unbedingt mehr für seine Rückenmuskulatur tun müsse." Sie zuckte die Schultern. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie dumm ich mir deshalb vorkomme." „Dich trifft keine Schuld, Olivia." Ben hatte es sich in Shorts und T-Shirt auf der Couch gegenüber gemütlich gemacht. Olivia sah ihn eine Weile an und sagte schließlich langsam: „Doch, Ben!" „Aber wieso denn?" „Ich war so von Wattle Creek vereinnahmt und damit beschäftigt, das Wohnhaus in Schuss zu halten, dass ich für alles andere blind gewesen bin." Sie trank noch einen Schluck von dem Cocktail. „Du hast mir das auch schon mal vorgeworfen."
Ben sagte nichts dazu, aber der plötzliche mitleidige Ausdruck in seinen Augen entging Olivia nicht. Er gibt mir also Recht, dachte sie und fühlte sich schmerzlich berührt. Irgendwie hatte sie gehofft, dass er ihr widersprechen würde. Aber sein Mitleid wollte sie bestimmt nicht. „Hast du denn schon Zeit gefunden, über all das nachzudenken, was ich dir gesagt habe, Olivia?" Nein, das hatte sie nicht. Aber wie bei einer plötzlichen Eingebung wusste sie mit einem Mal ganz genau, was sie nicht wollte: noch einmal in dem Bewusstsein aufwachen, dass sie sich in diesen Mann verliebt hatte, nur um gleich darauf zu erfahren, wie unerreichbar er für sie war. Diese Erkenntnis wog stärker als das Verlangen nach ihm. Schon einmal hatte sie dem nachgegeben und war deshalb die letzten Wochen durch die Hölle gegangen. Warum sollte sie sich das alles noch einmal antun? Sie musste sich jetzt um ihren Onkel kümmern. Dabei würde sie weder Zeit für die Arbeit auf der Farm haben noch sich damit auseinander setzen können, was dieser Ben Bradshaw wirklich von ihr wollte. Da blieb letztlich nur eine Antwort. Sie atmete tief ein und erwiderte: „Das Einzige, was ich tun kann, ist nachzugeben." Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, dann zwang sie sich, Ben direkt anzusehen: „Ich werde mich dem Verkauf von Wattle nicht mehr entgegenstellen." Er zog erstaunt eine Braue hoch, da er mit der Frage an sich ihre Einstellung zu ihm gemeint hatte. Er ahnte ja nicht, dass das eine das andere bedingte. Trotzdem ging er darauf ein und sagte: „So einfach gibst du auf? Vor ein paar Wochen hast du mir noch was ganz anderes erzählt." „Es zerreißt mir das Herz, Wattle verlassen zu müssen, aber ich habe eingesehen, dass es falsch ist, ein Gebäude oder ein Stück Land höher zu bewerten als die Menschen in meiner nächsten Umgebung. Deshalb muss ich die Farm aufgeben." Olivia war sehr blass geworden. „Nun, diese Entscheidung ist bewundernswert. Aber vielleicht solltest du noch einen Schluck von dem Cocktail trinken." Olivia stand auf und sah Ben mit großen Augen an. Wie konnte er nur so gefühllos sein und jetzt an seinen blöden Cocktail denken! „Ich wollte dich nicht verletzen, Olivia." Auch er war aufgestanden und ging nun um den Tisch herum auf sie zu. „Tu's nicht...", flüsterte sie. „Sei nicht albern", sagte er. „Was glaubst du, was ich vorhabe?" „Ich weiß auch nicht, aber ..." „Pass auf, du setzt dich jetzt wieder hin, bevor du mir hier noch in Ohnmacht fällst." Als sie nicht reagierte, drückte er sie einfach zurück auf die Couch und setzte sich neben sie. Dann nahm er das Glas und hielt es ihr hin. „Trink jetzt!" Sie zögerte, trank dann aber doch einen großen Schluck und fühlte, wie ihre Wangen wieder Farbe bekamen. „Würdest du mir wenigstens noch eine Sache verraten, Olivia?" Ben zog ein Gesicht. „Vielleicht wird das meiner amoralischen, opportunistischen Grundeinstellung Einhalt gebieten." „Was willst du wissen?" Olivia schwante nichts Gutes. „Ich habe ein Riesenproblem damit, einfach so neben dir zu sitzen, deinen Duft zu atmen und mir immer wieder vorzustellen, wie herrlich du dich angefühlt hast, wie gut deine Lippen geschmeckt haben und was mich noch alles an unser Zusammensein am Bach erinnert, aber trotz allem nicht die Erlaubnis von dir zu bekommen, dass es für dich noch einmal so sein könnte." Olivia schluckte und rutschte unruhig hin und her, aber sie sagte kein Wort. „Lass es uns noch mal probieren! Warum willst du dir deine Gefühle mir gegenüber
nicht eingestehen?" Als hätten Bens Worte Olivias Empfänglichkeit für körperliches Empfinden stimuliert, wurde ihr auf einmal bewusst, dass sie ganz dicht nebeneinander saßen. Jetzt erinnerte sie sich auch wieder daran, wie gut Ben sich angefühlt hatte. Sie registrierte seinen männlich herben Duft und dachte daran, wie sie sich geküsst hatten. Es war ein erhebendes Gefühl gewesen, dem sie sich bereitwillig hingegeben hatte. Genauso hatte sie es genossen, seinen muskulösen, durchtrainierten Körper an ihren weichen, weiblichen Rundungen zu spüren. Wie dicht und fest doch sein dunkles Haar gewesen war, als sie mit den Fingern ... „Ich ..." Sie verstummte und wandte den Kopf, um Ben anzusehen. Er war ganz ernst und schien darauf zu warten, dass sie ihm seine Frage beantwortete. „Ich weiß, wohin es führen würde, wenn ich dir dieses Zugeständnis mache, Ben", sagte Olivia heiser. „Aber das wäre ein Fehler." „Ich verstehe nicht, was daran so falsch sein kann, Olivia", sagte Ben ruhig und hielt ihr einen Finger unters Kinn, als sie den Kopf wegdrehen wollte. Olivia schloss die Augen, seufzte und hob dann wieder die Lider. „Das ist doch nicht so schwer. Noch vor wenigen Tagen warst du mit einer anderen Frau verlobt. In ein paar Tagen wird dir Wattle Creek gehören, und ich werde nicht mehr da sein. Viel leicht sehe ich das alles überspitzt, aber ich kann einfach nicht vergessen, dass du mich damit von meiner Heimat vertreibst. Und dass du deine Verlobung gelöst hast, um mir den Hof zu machen, kann ich auch nicht gutheißen." „Mit anderen Worten, Olivia ..." Er gab ihr Kinn frei. „... könntest du mir niemals verzeihen." „Richtig." Sie nippte an ihrem Cocktail und fügte erklärend hinzu: „Ich glaube, ich kenne mich gut genug, um mir, was das angeht, sicher zu sein." „Ich verstehe", sagte Ben und rückte ein wenig von ihr ab. „Du meinst also, dass es für uns beide keine Zukunft gibt." Sie nickte. „Nur ein Nicken? Mehr gestehst du mir nicht zu", flüsterte er, „nicht mal einen Abschiedskuss?" Sie schüttelte den Kopf. „Nun ja, gewinnen ist immer auch ein bisschen verlieren ... Aber die Garnelen warten." Ben hatte auf der Terrasse den Tisch gedeckt. Das Essen war vorzüglich, und obwohl Olivia eigentlich überhaupt keinen Appetit mehr gehabt hatte, aß sie schließlich mit Genuss. Sie empfand es sogar als äußerst angenehm, mit Ben beim Essen zu sitzen. Obwohl sie ihm kurz zuvor noch diese Abfuhr erteilt hatte, verhielt er sich wie ein guter Freund, erzählte ein wenig von seinen Geschäften in Argentinien und plauderte über sein Leben im Allgemeinen. „Bist du eigentlich oft in Charleville?" fragte Olivia. „Nun, bedingt durch unseren Firmensitz hier in Australien, relativ häufig. Aber ich hab auch oft in Brisbane, Sydney und Melbourne zu tun." „Aber wo ist für dich dann dein Zuhause?" Er sah sie nachdenklich an. „Eigentlich überall und nirgends. In einigen Städten besitze ich ein kleines Apartment und hier am Meerjungfrauenstrand bin ich auch hin und wieder." „Was ist mit dem Ort, an dem du aufgewachsen bist?" „Auch als ich noch ein kleiner Junge war, waren wir nicht immer am gleichen Ort. Deshalb bin ich auch ein so geselliger, aufgeschlossener Mensch", sagte er und lächelte jungenhaft. „Du meinst, du hast viel Zeit auf abgeschiedenen Farmen verbracht?" „Meistens", gestand er ihr ein. „Onkel Garth sagte, dass du die richtigen Schulen besucht hast und ..."
Er zog eine Braue hoch und lächelte schalkhaft. „Das war wohl mein Glück, denn sonst wäre ich kein so aalglatter, schnieker Typ geworden. Außerdem hab ich auch sehr gute Zähne." Sie musste lachen, obwohl ihr das Herz blutete. Aber Ben schien von ihrem Gefühlswirrwarr nichts zu bemerken, obwohl er sich sichtlich Mühe gab, es ihr so einfach wie möglich zu machen, und tunlichst Themen vermied, die sie an Wattle Creek und ihre Entscheidung ihn betreffend erinnerten. So wurde es doch noch ein ganz netter Abend. Gemeinsam räumten sie schließlich das Geschirr ab und in die Spülmaschine. Als alles fertig war, stand Olivia etwas hilflos da, weil sie nicht wusste, wie sie Ben sagen sollte, dass sie nun ins Bett wollte. Allein. „Du solltest dich jetzt hinlegen, Olivia, damit du morgen fit bist", nahm er ihr schließlich die Entscheidung ab. „Aber eins möchte ich dir noch sagen ..." Olivia sah ihn unsicher an. Ben lehnte nur wenige Schritte von ihr entfernt an der Anrichte, die Arme vor der Brust verschränkt. Nervös befeuchtete sie sich die Lippen und nickte. „Das Einzige, worüber du dir jetzt wirklich Gedanken machen solltest, ist dein Onkel und dass er wieder auf die Beine kommt." „Ich glaube ..." Sie strich sich wie immer, wenn ihr etwas unangenehm war, den Pony aus der Stirn. „... diese Lektion habe ich gelernt, Ben." Er sah sie mit seinen blauen Augen an und ließ den Blick dann nachdenklich über ihr Kleid gleiten. Olivia spürte, wie sie insgeheim verkrampfte. Aber dann sah er ihr wieder ins Gesicht und sagte: „Wenn du jemals Hilfe brauchst, ruf mich an, Olivia." „Danke", flüsterte sie, „aber ich komm schon klar. Gute Nacht." Dann verließ sie die Küche. Danach rannte sie beinah in ihr Zimmer und warf sich weinend auf das schöne blaue Bett. Sie wusste ganz genau, dass sie Ben Bradshaw niemals vergessen würde, selbst wenn er ein notorischer Schürzenjäger war und ihr auch sonst viele Dinge an ihm nicht passten. Aber sie hatte so viele schöne Stunden mit ihm verlebt ... Die Erinnerungen daran würden sie nie mehr loslassen: Da waren Ben und Bonnie am Bach, die gemeinsamen Abendessen, ihre Gespräche, dieses herrliche Haus am Meerjungfrauenstrand und wie sie zusammen geschwommen waren, aber auch, was Ben gesagt hatte, als sie ihm zu verstehen gegeben hatte, dass es keine Zukunft für sie beide geben könne: „Gewinnen ist immer auch ein bisschen verlieren." Als Olivia am nächsten Morgen aufstand, war Ben nicht mehr da. Am Kühlschrank hing ein Zettel. Warum Ben gegangen war, stand nicht darauf, sondern nur, dass sie so lange über das Haus verfügen konnte wie nötig. Außerdem war da eine Telefonnum mer, unter der Steve zu erreichen war, wenn ihr Onkel entlassen wurde. Olivia nahm den Zettel und las ihn noch einmal mit tränenfeuchten Augen. Es klang alles so unpersönlich, bis auf die Unterschrift. Ben hatte mit Benedict Arnold unterschrieben, dem Namen des Mannes, der im amerikanischen Unabhängigkeits krieg die Sache der Kolonisten an die Krone verraten hatte. Sie wollte das Stückchen Papier schon zerreißen, aber dann tat sie etwas sehr Ungewöhnliches. Sie hob den Zettel an den Mund und küsste ihn, bevor sie ihn regelrecht zu Konfetti verarbeitete. Das hätten wir also, dachte sie und rief das Krankenhaus an.
8. KAPITEL
Zwei Wochen später flog Steve Williams Olivia und ihren Onkel zurück nach Wattle Creek. Dort wartete bereits ein Begrüßungskomitee auf der Landebahn. Als Olivia all die bekannten Gesichter sah, musste sie mehrmals tief ein- und ausatmen, um nicht vor Rührung und Trauer in Tränen auszubrechen. Aber dann fiel ihr wieder ein, dass wenigstens ihre Mitarbeiter in Wattle Creek bleiben durften. Als der für ihren Onkel zuständige fliegende Arzt drei Wochen später einen Routinebesuch auf Wattle Creek machte, nahm er Olivia beiseite. Sie sah ihn besorgt an und fragte: „Ist etwas nicht in Ordnung?" Aber der Mann beruhigte sie: „Nein, Livvie, ich wollte dir nur sagen, dass du da großartige Arbeit geleistet hast. So wie ich das sehe und in Anbetracht der Untersuchungen, die wir gemacht haben, geht es deinem Onkel ausgezeichnet. Und das wird auch so bleiben, wenn er sich nicht wieder, einen Sechzehnstundentag zumutet. Mit anderen Worten: Du kannst dich jetzt erst mal ein bisschen ausruhen. Wie mir scheint, hat dich das alles sehr mitgenommen." Olivia seufzte erleichtert. „Du solltest ihn allerdings auch weiterhin auf Diät halten. Es lohnt sich, nicht nur was sein Herz-Kreislauf-Problem angeht." „Das mach ich." Olivia klang sehr erleichtert, obwohl sie plötzlich gar nicht mehr guter Dinge war. Während der Genesungsphase ihres Onkels hatten sie in gegenseitigem Einvernehmen nicht darüber gesprochen, dass sie Wattle Creek bald verlassen mussten. Aber nun war es sicher bald so weit... Einige Tage später kam die wöchentliche Postsendung. Olivia war gerade in der Küche und reihte Plätzchendosen auf. Ihr Onkel nahm die Briefe entgegen und kam gleich darauf mit einem ganz verwunderten Gesichtsausdruck zu ihr in die Küche. „Livvie, Livvie, du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist!" Erstaunt beobachtete sie ihn. Er hatte sich an den Küchentisch gesetzt und las den Brief noch einmal. Zwischendurch sah er auf und sagte: „Vielleicht hab ich mich vertan oder träume ... Wenn du mir vielleicht eine Tasse Tee machen könntest?" Das Wasser im Kessel auf dem Herd war noch heiß, und sie goss zwei Tassen auf. Als sie sich wieder ihrem Onkel zuwandte, blickte er immer noch wie gebannt auf das Schreiben in seiner Hand. Glücklicherweise sah er nicht so aus, als handelte es sich um eine schlechte Nachricht. „In Ordnung", sagte Livvie nun, „bevor ich hier noch vor Neugier sterbe, lass die Katze aus dem Sack!" „Livvie, Ben Bradshaw macht uns einen Vorschlag." Jetzt erschrak Olivia doch. „Anstatt sich ganz Wattle Creek einzuverleiben, will er jedem von uns die Hälfte seiner Anteile abkaufen. Das heißt, wir wären immer noch Mitinhaber und könnten hier bleiben. Außerdem wird uns die Finanzspritze gut tun - und Bens Fachwissen ebenfalls." „Autsch!" Olivia hatte die Tasse so fest umklammert, dass sie sich dabei ein wenig Tee über die Hand geschüttet hatte. „Aber das macht er doch nicht einfach so! Was stellt er für Bedingungen?" „Gar keine. Ich hab immer noch ein Mitspracherecht, brauche aber nicht mehr körperlich zu arbeiten. Er schlägt vor, Jack zum Verwalter zu machen und ihm einen Mitarbeiter an die Hand zu geben, der mir - und dir - die Arbeit abnimmt." Olivia stockte der Atem. Dann zwang sie sich zu sagen: „Aber, ich weiß nicht... was wird das für ein Gefühl für dich sein, wenn du nicht mehr das letzte Wort hast? Wo du doch so lange dein eigener Herr warst?" „Ich komm bestimmt gut mit Ben klar", beruhigte er sie. „Männer wie er haben mir schon immer imponiert. Bevor ich ihn kennen lernte, war ich allerdings ganz anderer
Meinung. Ich hab ihn mir als kaltschnäuzigen, knallharten Geschäftsmann vorgestellt. Aber er war ganz anders. Natürlich wusste er genau, wovon er sprach, bildete sich aber nichts darauf ein, sondern war sehr höflich und respektvoll. Auch als ich mich von ihm verabschiedete, hatte ich nicht das Gefühl, als Bittsteller zu gehen, sondern als ebenbürtiger Partner." Olivia befeuchtete sich nervös die Lippen. „Und wieso?" „Nun ..." Garth ließ offensichtlich jenen Nachmittag vor seinem inneren Auge noch einmal Revue passieren. „... ich hatte das Gefühl, als ob meine Erfahrungen für ihn auch wertvoll waren ... Ich hab mich einfach nicht wie ein bankrotter alter Knacker ge fühlt." Dass sich ihrem Onkel beim Verkauf von Wattle Creek auch noch die Frage stellte, ob er wohl versagt hatte, hatte sich Olivia noch nie überlegt. Auch für ihn war Bens Vorschlag deshalb die beste Lösung. Aber wie sollte sie damit umgehen, dass sie nun wieder öfter Kontakt mit Ben hätte und vielleicht ... Aber nein! „Und er schreibt ganz ausdrücklich, dass das Wohnhaus hier zu unserem Anteil gehört und du damit tun und lassen kannst, was du willst. Allerdings bietet er an, als Einstand sozusagen, das Dach auf seine Kosten decken zu lassen." „Das ... das kann ich nicht ..." Eigentlich hatte Olivia ablehnen wollen, aber als sie feststellte, wie glücklich und zufrieden ihr Onkel aussah, sagte sie schnell: „... glauben." „Oh Livvie, die ganzen letzten Wochen bist du hier rumgelaufen wie ein angeschossenes Känguru, obwohl du dir wirklich alle Mühe gegeben hast, tapfer zu sein. Ich hab gedacht, dass ich wüsste, wie viel dir Wattle bedeutet, aber ich konnte es mir nicht einmal annähernd vorstellen. Doch jetzt hast du es wieder, mein Kind!" Wenn du nur wüsstest, dachte Olivia, und trank schnell einen Schluck Tee. Es hätte mich nicht halb so viel Kraft gekostet, Wattle Creek zu verlassen, wie Ben Bradshaw zu verlieren. Und jetzt das. „Wann müssen wir uns entscheiden?" „Was gibt's denn da noch zu überlegen?" fragte ihr Onkel aufgeräumt. „Ben kommt übrigens morgen - so um die Mittagszeit." Am nächsten Tag war es brütend heiß, und kein Wölkchen stand am blassblauen Himmel. Als Olivia das Flugzeug hörte, rannte sie beinah aus der Küche, weil sie es drinnen einfach nicht mehr aushielt. Ihr Onkel war schon vorher mit dem Landrover zur Landebahn gefahren. Sie stand im Schatten eines Eukalyptusbaumes, als am Vordereingang des Gartens ein Jeep vorfuhr. Es war nicht der Jeep ihres Onkels, sondern ein Pick-up aus dem Fahrzeugpool der Farm. Außerdem saß nur eine Person darin. Olivia beobachtete, wie Ben ausstieg und sich umsah. Dabei hämmerte ihr das Herz wie eine Buschtrommel. Jetzt hatte er sie gesehen ... Wenige Augenblicke später stand er direkt vor ihr. Groß und stark, der Mann ihrer Träume, in khakifarbener Ar beitshose, Schnürstiefeln und mit einem gelben T-Shirt. Aber seine blauen Augen wirkten ungewöhnlich dunkel. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Ben." Er lächelte. „Dann sag einfach nichts, und ich erklär dir alles." „Aber..." Er legte ihr zärtlich einen Finger auf den Mund. „Nein, jetzt bin ich dran." „Ich..." „Wie wär's, wenn wir uns erst mal setzen?" Sie zögerte, ließ sich dann aber doch zu Boden sinken, wobei sich der Rock ihres Kleides um sie bauschte wie bei einer Prinzessin. Ben nahm neben ihr Platz und lehnte sich gegen den mächtigen hellen Stamm des Eukalyptusbaumes. „Ben, ich..." „Hör mich bitte erst mal an. Dann kannst du mir alles erzählen, was du auf dem
Herzen hast." Er sah sie ein wenig unsicher an, sprach aber sofort weiter. „Ich liebe dich, Olivia. Am Anfang war es nur Neugier, weil ich noch nie eine Frau wie dich getroffen hatte. Dann hast du mich so fasziniert, dass ich einfach noch länger bleiben musste. Deshalb habe ich mich nicht gleich abholen lassen. Dabei wurde der Wunsch, dir nahe zu sein, immer stärker und hat schließlich in einer Weise von mir Besitz ergriffen, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Ich verzehrte mich nach dir und verspürte ein unendliches Verlangen, dir ganz, ganz nah zu sein, und zwar in jeder Beziehung. Dieses Gefühl war und ist so stark, dass ich all meinen Zynismus, das Thema ,Liebe und Heirat' betreffend, verloren habe. Dich zu heiraten erscheint mir nicht wie ein Zwang von außen, sondern wie ein unbedingtes Muss meines Herzens. Weil ich ganz genau weiß, dass ich es nicht ertragen könnte, den Rest meines Lebens ohne dich zu verbringen." Olivia sah ihn mit leicht geöffneten Lippen und riesengroßen Augen an. Er lächelte ein wenig verlegen. „Nein, sag nichts, ich will es dir erklären ... Natürlich war ich am Anfang geschockt, dass mir das alles passieren musste, wo ich doch bereits mit einer anderen Frau verlobt war. Und noch schlechter konnte ich damit umgehen, dass du quasi alles, was mit mir zu tun hatte, abgelehnt hast - um es mal freundlich auszudrücken." Er verzog wehmütig den Mund. „Aber du hast die ganze Zeit an deinen Prinzipien festgehalten. Das hat mich sehr beeindruckt, und ich wusste erst nicht, was ich anstellen sollte, damit du mich wieder akzeptierst. Natürlich musste ich dir als derjenige erscheinen, der dir das alles kaputt machen will. Doch ich wusste ja, was dich und deine Welt ausmacht. Solche Frauen wie dich gibt es da draußen nicht oft. Das ist mir später klar geworden. Deshalb würde ich mich sehr freuen, wenn du mein Angebot annimmst. Und vielleicht kannst du mir auch eines Tage verzeihen und mich so lieben wie ich dich." Ihre Blicke trafen sich, und Ben fuhr fort: „Ich hab das alles wirklich nicht geplant. Ich hab gedacht, dass ich mein Leben ganz gut im Griff hätte und mir die Heirat mit Caiti gut tun würde und die Tatsache, dass sie so sehr an ihrer Schauspielkarriere hängt, uns ein wenig ... Raum zum Atmen ließe. Andererseits kann ich mir kaum vorstellen, eine Sekunde ohne dich zu sein. Die letzten Wochen bin ich wirklich durch die Hölle gegangen." Olivia schluckte und strich sich den Pony aus der Stirn. „Meinst du, du kannst irgendwann akzeptieren, dass ich kein Frauenheld bin, sondern nur ein armer Trottel, der keine Ahnung von der Liebe hatte, bevor ich auf deiner Pferdekoppel ohnmächtig wurde und du mir als rettender Engel erschienen bist? Auch was mein Geschäftsgebaren angeht, bin ich nicht das Ungeheuer, für das du mich gehalten hast. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dich aus Wattle Creek zu vertreiben, Olivia, und wenn du wirklich willst, können unsere Kinder auch einen Doppelnamen haben." „Das ist sehr großzügig von dir, Ben." Sie zwinkerte ihm zu und zog lächelnd eine Braue hoch. „War das ein Heiratsantrag, Ben Bradshaw?" „Ja, was hältst du davon?" „Nun, das kommt alles ein wenig unerwartet, aber ich hab auch noch nie einem Mann ein Schlaflied gesungen ... Das muss Liebe sein!" Und dann lachten sie und küssten einander lange und zärtlich. „Darf ich dich ein wenig auf unserem Besitz herumführen, mein Schatz?" fragte Ben schließlich. „Jetzt gleich?" „Ja, sofort." Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. Dann führte er sie durchs Gartentürchen zum Jeep. Kaum saß sie im Wagen, da brauste Ben auch schon los. Während sie holpernd über die Sandpiste fegten und eine rote Staubwolke hinter sich ließen, sagte Olivia: „Ich glaub, ich weiß, wo du hinwillst. Aber Onkel Garth wird sich wundern, wo wir bleiben ..."
Als sie am Bach ankamen, parkte Ben den Wagen unter den riesigen alten Eukalyptusbäumen, die zusammen mit den Akazien das Ufer säumten. Dann sah er Olivia diebisch grinsend an und sagte: „Ich hab dafür gesorgt, dass dein Onkel eine Weile beschäftigt ist." Sie stiegen aus und umarmten sich. Nach einem langen, innigen Kuss fragte Olivia Ben: „Bedeute ... bedeute ich dir wirklich so viel?" Statt zu antworten, drückte er sie ganz fest an sich. Dann holte er eine Decke aus dem Wagen und breitete sie auf dem Grassaum am Ufer aus. Sie legten sich nebeneinander und genossen eine Weile einfach nur ihr Beisammensein. Schließlich sagte Ben: „Du hast mich mal gefragt, wo mein zu Hause wäre. Es ist genau hier, bei dir - in deinem Herzen. Aber da du und Wattle Creek unzertrennlich seid, werde ich mich hier auch Zuhause fühlen." „Das hast du schön gesagt, Ben, aber du musst nicht hier bleiben, wenn du nicht willst." „Was meinst du damit?" Ben stützte sich auf einen Ellbogen und sah stirnrunzelnd zu Olivia hinunter. „Dass ich es nie wieder zulassen werde, dass mir ein Stück Land, Ziegel und Zement mehr bedeuten als Menschen aus Fleisch und Blut." Für einen Augenblick sah er beinah betroffen drein und sagte dann lachend: „So viel also zum Thema großzügige Gesten." Ein feines Lächeln umspielte Olivias Mund, als sie sich aufsetzte. „Darf ich dir jetzt was sagen?" „Natürlich." „Es ist schon ein paar Wochen her, da bin ich morgens aufgewacht - an dem Tag, nachdem wir uns hier zum ersten Mal näher gekommen sind ..." „Daran erinnere ich mich noch sehr gut", sagte er ernst und setzte sich ebenfalls hin, so dass sie sich an den Schultern berührten. Sie wandte ihm den Kopf zu und wurde ein bisschen rot, als sie die Begierde in seinen Augen sah. Trotzdem fuhr sie fort: „Ich wachte also an diesem Morgen auf und war verliebt. Ich hab mir immer wieder gesagt, dass es falsch wäre, weil ich dich doch kaum kannte. Ich wusste nur, dass du wahnsinnig charmant sein konntest, und ich hab schwer vermutet, dass dich auch zahlreiche andere Frauen unwiderstehlich finden. Aber das war mir egal." „Olivia ..." Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. „Nein, jetzt bin ich dran, Ben ... Jeder noch so vernünftige Grund, der gegen dich sprach, änderte nichts daran, dass die Welt für mich eine andere geworden war - besser. Ich fühlte mich ganz leicht und beschwingt und war gespannt auf das, was da kommen würde, wie ein junges Mädchen, das zum ersten Mal verliebt ist." Er seufzte und legte einen Arm um sie. „Und dann hast du eine böse Überraschung nach der anderen erlebt." „Ja, aber nachdem ich dir am Meerjungfrauenstrand gesagt hatte, dass ich für uns keine Zukunft sah, liebte ich dich umso mehr. Und dabei wurde mir klar, dass sich meine Gefühle dir gegenüber niemals ändern würden." „Olivia, mein Schatz", stieß er überwältigt hervor, „es ..." „Ben, ich erzähl dir das alles nicht, damit du dich schlecht fühlst", sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln, „sondern damit du weißt, wie sehr ich dich brauche. Ich schwebe wie auf Wolken, wenn du nur in meiner Nähe bist. Deshalb musst du dir keine Gedanken machen, dass deine großzügige Geste, mir Wattle Creek zu überlassen, nicht ganz so überschwänglich auf genommen wurde." Ben war einen Augenblick lang sprachlos, dann mussten sie beide lachen, und Ben besonders laut. Schließlich sagte er. „Jetzt habe ich nur noch ein Problem: Eigentlich sollte ich dich bis zum Mittagessen adrett und ordentlich zurückbringen. Aber ich
glaube nicht, dass ich im Moment dazu in der Lage bin." „Ich wäre auch sehr enttäuscht, wenn du mich nicht vorher noch einmal küsst", flüsterte sie. „Hm, ich hatte eigentlich noch etwas anderes vor." „Vielleicht sollten wir diesmal zuerst unsere Sachen ausziehen", bemerkte Olivia ganz ernst, aber der Schalk sprach ihr aus den Augen. Danach alberten sie im Wasser herum und bespritzten sich gegenseitig, bis sie sich lachend in die Arme fielen. Schnell gewann die Lust die Oberhand, und sie konnten lange nicht mehr voneinander lassen. „Genau so habe ich mir dich vorgestellt, Olivia", sagte Ben schließlich mit heiserer Stimme. „Was meinst du?" fragte Olivia, immer noch ganz außer Atem. „Deine Haut: weiß wie die Blüte eines Pfirsichbaumes und samtweich wie dessen Frucht." Er hielt Olivia etwas von sich ab und ließ den Blick über ihren Körper gleiten, von den wohlgeformten Brüsten über die leichte Wölbung ihres Bauches bis hin zu dem dunkel gelockten Dreieck darunter und den schlanken Beinen. „Du bist so durch und durch weiblich unter deinem toughen Cowgirl-Äußeren ..." „Wenn du mich so ansiehst, Ben, fühle ich mich auch wie Aphrodite höchstpersönlich. Allerdings war mir von Anfang an klar, dass du unter deiner Kleidung der Inbegriff eines Adonis bist." „Da hattest du mir wieder mal etwas voraus, Olivia." „Meinst du?" Sie fuhr ihm über die Schulter und ließ die Hände dann über seinen muskulösen Oberkörper gleiten, während er ihren kleinen, festen Po drückte. „Aber ich weiß noch, dass ich dir schon letztes Mal, als wir so beieinander standen, volles Vertrauen entgegenbrachte." Dabei streckte sie wie beim ersten Mal am Bach die Hände über den Kopf. Gern wiederholte er seine zärtliche Geste von jenem Nachmittag und flüsterte ihr dabei ins Ohr: „Schon damals hat mich das wahnsinnig erregt, und da hatte ich noch Sachen an." Dann hob er sie hoch und trug sie zur Decke. Bereitwilligst gab sie sich ihm hin und seufzte mehrmals „Oh Ben", wobei der Ausruf alle möglichen Bedeutungen hatte, von Lust über Verzückung bis hin zu flehentlichem Bitten, nicht aufzuhören, als die Leidenschaft so stark war, dass Olivia es kaum noch aushalten konnte. Und schließlich war es der Beweis höchster Ekstase. Danach sagte eine Zeit lang keiner ein Wort. Beide waren noch viel zu überwältigt von dem wunderbaren Erlebnis ihres ersten richtigen Beisammenseins. „War es schön?" fragte Ben schließlich. „Einfach himmlisch", seufzte Olivia, und er barg den Kopf zwischen ihren Brüsten. „Noch einmal?" „Ich ... ich glaube, dann würde ich ohnmächtig werden. Ich hätte nie gedacht, dass es mich so berauschen könnte, mit dir zu schlafen, Ben." „Siehst du, was das anging, war ich dir voraus. Ich wusste von Anfang an, dass es so sein würde und immer so sein wird." Olivia betrachtete eine Zeit lang forschend sein Gesicht. „Für einen Ehemuffel und Ungläubigen in Sachen Liebe sind das hehre Worte, Benedict Arnold!" „Ich hab mir schon überlegt, ob du mich je wieder so nennen würdest." „Nun, als ich deine unpersönliche Mitteilung im Haus am Meerjungfrauenstrand fand, habe ich mich gefragt, ob die Tatsache, dass du mit Benedict Arnold unterzeichnet hast, eine geheime Botschaft enthielt. Aber dann hab ich mir gesagt, dass das wohl nur meinem Wunschdenken entsprach." „Es gab Zeiten, da war es mein innigster Wunsch, dass du wenigstens bemerkt hättest, dass ich mit diesem Namen unterschrieben habe." Olivia seufzte. „Natürlich hab ich das! Ich hab den Zettel sogar geküsst. Aber dann
hab ich ihn in klitzekleine Fetzen zerrissen." „Typisch Olivia!" sagte Ben, und wieder mussten sie herzlich lachen. Allmählich fühlte sich Olivia auch wieder in der Lage, der Welt entgegenzutreten. Als sie das Ben mitteilte, fügte sie noch hinzu: „Wenn ich wieder adrett und ordentlich zu Hause auftauchen soll, könnte ich aber trotzdem ein bisschen Hilfe gebrauchen." „Was soll ich tun?" fragte Ben prompt. „Zunächst musst du mich mal loslassen. Ich glaube nämlich nicht, dass ich die Willenskraft aufbringe, von allein aufzustehen." „Du weißt ja gar nicht, was du da von mir verlangst!" erwiderte Ben mit einem schalkhaften Lachen und küsste sie noch einmal hingebungsvoll. Aber dann gab er sie frei, half ihr auf und führte sie zurück zum Bach. „Oh nein!" stöhnte Olivia. „Hier hat alles angefangen." „Du musst einfach nur auf die abkühlende Wirkung des Wassers vertrauen", riet ihr Ben, während sie sich den Liebesschweiß abwuschen. Schließlich nibbelten sie sich gegenseitig mit einem alten, rauen Handtuch trocken, das ebenfalls im Fond des Wagens gelegen hatte. Als Olivia gerade ins Auto steigen wollte, nahm Ben sie noch einmal bei der Hand. „Du sagtest vorhin etwas von wegen Ehemuffel und Ungläubigem, Olivia." „Ja ..." Ben brauchte sie nur anzusehen, und schon verschwamm alles um sie her: das gesprenkelte Sonnenlicht, das Gezwitscher der Vögel und das Plätschern des Baches. „Dass wir miteinander glücklich werden, ist meine vollste Überzeugung.. Nie im Leben war ich mir einer Sache so sicher." „Ben, ich glaube auch, dass wir füreinander bestimmt sind." Er hob zärtlich ihre Hand an die Lippen, und dann sahen sie sich tief in die Augen. Aber wie aus einem Munde sagten sie schließlich: „Nein", und Olivia fügte hinzu: „Wir müssen stark sein." „Ich will es versuchen." „Denk an meinen armen Onkel ... Der wird vielleicht Augen machen, wo ich jetzt doch keine alte Jungfer werde, die aus lauter Langeweile Bildchen malt und sich um das liebe Vieh kümmert!" „Und meine Mutter erst. Sie ist übrigens mitgekommen ..." „Was?" „Sollen wir den beiden die frohe Nachricht jetzt gleich überbringen?" „Ja, los!" sagte Olivia lachend. -ENDE-